Tom Martin
Der Sirius-Schatten Inhaltsangabe Eine mächtige Geheimorganisation ist kurz davor, das geheime Wissen einer...
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Tom Martin
Der Sirius-Schatten Inhaltsangabe Eine mächtige Geheimorganisation ist kurz davor, das geheime Wissen einer längst vergessenen Zivilisation zu entschlüsseln – die Bündelung terrestrischer und kosmischer Energie zu einer gigantischen, tödlichen Kraft. Und wenn nicht bald jemand ihren Plan durchschaut, wird keiner sie mehr aufhalten können. Die junge Astronomin Catherine Donovan erhält eine verschlüsselte Botschaft und antike Landkarten. Der berühmte Professor Kent hat das Päckchen noch kurz vor seinem Tod an sie geschickt. Catherine ist überzeugt, dass er in Peru ermordet wurde. Und sicher ist auch, dass seine Killer jetzt hinter ihr her sind. Aber was hatte er entdeckt? Zusammen mit ihrem Kollegen James Rutherford sucht sie nach Antworten in Peru. Schon bald werden die beiden verfolgt. Ein erbarmungsloser Wettlauf von Südamerika bis zu den ägyptischen Pyramiden beginnt …
Unsere Adresse im Internet: www.fischerverlage.de Deutsche Erstausgabe
Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag, einem Unternehmen der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, März 2009 Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel ›Pyramid‹ im Verlag Pan Books an imprint of Pan Macmillan Ltd © Tom Martin 2007 Für die deutschsprachige Ausgabe: © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009 Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 2009 ISBN 978-3-596-17901-5 Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
für J.
PROLOG Hoch oben in der dünnen Bergluft der Anden warf Professor Kent einen letzten Blick auf die Pracht der alten, vom Mondlicht beschienenen Ruinen Machu Picchus, die sich hundert Meter unter ihm die Talflanke entlangzogen. Noch vor zehn Minuten hatte er in seinem warmen Bett im Hotel Ruinas tief und fest geschlafen, keine dreihundert Schritte vom berühmten Unesco-Weltkulturerbe entfernt. Doch dann war er unvermittelt aus den Tiefen des Schlafs gerissen worden – von zwei Fremden. Bevor er um Hilfe rufen konnte, hatten sie ihn geknebelt und aus dem Bett gezerrt. Ohne einen Ton zu sagen, hatten sie ihn gezwungen, barfuß den Flur hinab und durch die Nottüre hinauszugehen, in die Kälte der Nacht. Nach all den Jahren sind sie nun also doch gekommen, um mich zu holen. Es war eine furchtbare Erkenntnis. In den letzten Monaten hatte er an seinem gesunden Menschenverstand zu zweifeln begonnen, doch diese nächtliche Entführung bewies ihm, dass seine Entdeckungen von der enormen Tragweite waren, die er immer vermutet hatte … Jahrelang hatte er befürchtet, die Kräfte des Bösen aus ihren Schatten zu locken, falls er seine bahnbrechenden Forschungen nicht einstellte. Jede seiner Entdeckungen hatte sie offenbar etwas mehr gereizt, bis sie seine Anwesenheit auf Erden schließlich nicht länger dulden konnten. Wohin bringen sie mich bloß? Die frostige Nachtluft entzog seinem schlotternden Körper die Wärme. Sie stießen und zerrten ihn einen steilen und schmalen Pfad hinauf, in die Wildnis auf der abgelegenen Seite des Bergrückens. Er 1
bot einen erbärmlichen Anblick neben dem stämmigen Schlägertyp, der ihn im Dunkeln immer höher hinauf stieß. Sein weißer, schütterer Bart und sein Haupthaar klebten ihm verschwitzt am Kopf, und sein bleiches Gesicht hatte etwas Gespenstisches. Aber sogar in dieser schlimmen Lage zog er Trost aus dem, was er um sich sah. Von bloßem Mondlicht erleuchtet, strahlte die Landschaft eine heilige Schönheit von immenser Kraft aus. Sie erreichten eine kleine Anhöhe, und der kleinere der beiden Kidnapper, der die ganze Zeit vorausgestolpert war, drehte sich um, holte eine kleine Schachtel aus seiner Manteltasche und öffnete sie. In der Dunkelheit konnte Professor Kent nicht erkennen, was er tat. Der bullige Schläger, der die Arme des Professors hinter dessen Rücken in stählernem Griff hielt, zog sie ihm plötzlich noch mehr zusammen und zwang den vor Angst zitternden alten Mann in die Knie. In blinder Panik versuchte sich Kent zu befreien, doch der Riese drückte ihn nur umso mehr zu Boden, bis er ausgestreckt auf dem Bauch lag, mit dem Gesicht im Gestrüpp, und nicht die kleinste Bewegung mehr machen konnte. Dann wurde ihm der Knebel aus dem Mund genommen. Doch erst als er sah, wie der zweite Kidnapper mit einer Spritze in der Hand neben ihm in die Hocke ging, begann Professor Kent zu schreien. Ganz langsam – unendlich langsam kam es ihm vor – führte der Mann die Nadel vor das Gesicht des Professors. Im Mondlicht schillerte an deren Spitze ein quecksilbriger Tropfen. Der kleine Mann zischte böse ins Ohr des Professors: »Haben Sie Ihrem Lügengespinst noch etwas hinzuzufügen, Professor?« Sein Akzent war fremd, von unbekannter Herkunft. Professor Kent hob und drehte seinen Kopf, so weit er konnte, bis er aus dem Augenwinkel das Gesicht des Fragenden sehen konnte. Mit großer Anstrengung keuchte er: »Wenn es Lügen sind, warum habt ihr mich dann entführt?« Der düstere Kerl stieß ein verächtliches Lachen aus, dann lehnte er sich vor und fuhr mit der Nadel über den Hals des Professors. Kent 2
spürte den Kratzer kaum, aber er wusste, dass das schon genügte. Sogleich begannen seine Lungen sich zusammenzuziehen. Als er spürte, wie sich das Gift durch seine Adern ausbreitete, erkannte er mit einem Schlag, dass er soeben von einer gewaltigen Last befreit wurde. Alles, was er sich noch wünschte, war, in Frieden sterben zu können. Doch sein Peiniger hörte nicht auf, ihn zu verhöhnen. »Sie sind ein Teufel, Professor Kent. Und Teufel müssen zurück in die Hölle – wo sie hingehören.« »In meinem Weltbild gibt es keine Teufel – und auch keine Hölle …« »Genug!«, schrie der Kleine. Sein Komplize drückte Kent das Gesicht zu Boden, in die Dornen. Er spürte, wie er langsam das Bewusstsein verlor. »Ich habe Ihre Lügen endgültig satt. Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, dass die Vergangenheit und Zukunft nicht Ihnen gehören, sondern anderen Leuten, Professor? Viel wichtigeren Leuten.« Die Stimme des Killers bebte vor Zorn. »Haben Sie etwa geglaubt, uns überlisten zu können? Haben Sie tatsächlich gemeint, wir würden Ihnen erlauben, Ihre Entdeckungen publik zu machen?« Während er sprach, blitzte etwas in seiner Hand auf. Es war ein Rasiermesser. Was macht er da? Der Professor warf ihm einen müden Blick zu. Er hat mich doch schon mit seinem Gift zum Tod verurteilt. Der Kleine fuhr mit vor Sarkasmus triefender Stimme fort: »Trotzdem sind wir großzügig. Wir finden, dass Sie – wie der griechische Philosoph Sokrates, der sich selbst das Leben nehmen durfte – die Chance bekommen sollen, den Ehrentod zu sterben … Wir wollen keinen schockierenden Tod, der die Öffentlichkeit aufrütteln und zu Nachforschungen führen könnte, und damit zu wachsendem Interesse für das verdrehte Machwerk Ihrer so genannten Theorien. Selbstmord erregt hingegen viel weniger Aufsehen als Mord, nicht wahr, Professor?« Bei diesen Worten lockerte der Riese den Griff. Instinktiv versuchte Professor Kent sich zu bewegen, doch sein Körper reagierte nicht. Er war gelähmt. 3
Lässig rollte der Killer den alten Mann auf den Rücken. Er nahm die rechte Hand des Professors und schnitt ihm mit dem Rasiermesser die Pulsadern auf. Das Blut spritzte mit einem Schwall ins Gestrüpp und floss dann stetig aus der Wunde. Er ließ die schlaffe rechte Hand auf den Boden fallen, nahm die linke, drückte das Rasiermesser in die Handfläche und schloss die Finger darum. Dann legte er sie sorgfältig auf den Boden. »Lassen wir Gott darüber entscheiden, wie er Sie für Ihre Lästerungen bestrafen will. Ihre Zeit auf Erden ist um, alter Mann.« Der Professor versuchte mit seiner ganzen Willenskraft, die Hand zu öffnen und das Rasiermesser fallen zu lassen. Aber nichts geschah. Gelähmt lag er da – der Vollstrecker seines eigenen Todes. »Es gibt keinen biblischen Gott, der mich bestrafen kann. Man wird meine Beweise finden …« Die Stimme des Professors versagte, die Muskeln in seinem Kehlkopf erlagen dem Gift. Der Kleine fauchte zu seinem Komplizen hinüber: »Nimmt die Sturheit dieses Mannes denn nie ein Ende? Wo hat er nur seine widerwärtigen Überzeugungen her? Er ist zäher als eine Kakerlake – nicht auszurotten.« Dann beugte er sich herab und betupfte den Hals des Professors mit etwas Watte. »Unglaublich, dass ein unbedeutender Akademiker uns das Leben so schwer machen konnte. So – damit es keine Missverständnisse gibt. Komm, wir müssen zurück ins Hotel und sein Zimmer durchsuchen. Jeder Fetzen eines Beweises muss vernichtet werden.« Sie warfen noch einen kurzen Blick auf den bewegungslosen Körper. Dann verschluckte sie das Dunkel der Nacht.
Völlig gelähmt starrte Professor Kent zu den Sternen hinauf. Jahrelang hatte er auf seiner Suche nach der großen Wahrheit die Himmelsgeheimnisse erforscht, und sogar jetzt, trotz seines geschwächten Zustandes, ordnete sein Geist die Sterne den vertrauten Konstellationen 4
zu. Während ihn seine Kräfte verließen, dachte er an seine große Entdeckung. Meine Eingebung war also richtig. Ich habe das Rätsel aller Rätsel gelöst. Das bedeutet aber, dass die Welt in immenser Gefahr ist. Ob die Karten wohl in sicheren Händen sind? Und wenn ich nicht mehr da bin, wird jemand begreifen, was sie bedeuten? Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
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ERSTER TEIL
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Es war fünf vor zwölf an einem sonnigen und unverhofft warmen Dienstagvormittag im März. Catherine Donovan, mit neunundzwanzig eine der jüngsten Stipendiatinnen der Oxford University, trat durch die in das enorme Holztor der Portiersloge eingelassene kleine Tür und in die Stille des hübschen Innenhofs des All Souls College. Sonnenlicht überflutete den Rasen und wärmte die Mauern aus Cotswold-Stein, während die hell klingenden Universitätsglocken den Mittag einläuteten. Das All Souls College, wo Catherine ihr Forschungsstipendium hatte, war das prestigeträchtigste aller fünfunddreißig Colleges in Oxford, aber auch das geheimnisvollste. Dort gab es nämlich keinen einzigen Studenten ohne Abschluss, während die meisten Colleges mindestens zweihundert und die größten sogar bis zu vierhundert davon hatten. All Souls College war schlicht und einfach der exklusive Hort für ein paar wenige Weltklasse-Akademiker – und diese auserwählten Mitglieder, die Fellows, widmeten sich der Erweiterung menschlichen Wissens in so unterschiedlichen Disziplinen wie Nuklearphysik oder islamischer Kunst. Ein Außenseiter konnte diesem elitären Klub nur beitreten, indem er sich den strengsten aller Aufnahmeprozeduren der akademischen Welt unterzog. Doch für den, der sie bestand, lohnte es sich. Die Fellows wurden wie Könige behandelt. Der Weinkeller des All Souls College war einer der besten der ganzen Universität, und jene Fellows, die auch im College wohnten, konnten sich, wenn ihnen danach war, morgens von einem Butler wecken lassen, der ihnen – auf einem Silbertablett – Tee, Toast und die Morgenzeitung servierte. Und überdies war kein Fellow zur Lehre verpflichtet; sie durften ihre gesamte Zeit dazu verwenden, bahnbrechende Entdeckungen auf ihrem bevorzugten Forschungsfeld zu machen. 8
Für Catherine, eine schöne junge Frau und Amerikanerin, war das All Souls College noch immer ziemlich exotisch. Doch die andern Fellows – an alle Arten von Exzentrik gewöhnt – betrachteten sie lediglich als eine von vielen in einem College von Eigenbrötlern und nahmen sie freundschaftlich in ihrer Mitte auf, denn sie wussten, dass sie bereits die Weltbeste auf ihrem bevorzugten Gebiet war: der Astronomie.
Catherine Donovan warf einen Blick auf die Uhr. In fünf Minuten bin ich dran. Rasch betrat sie die Portiersloge, griff in ihr Fach und nahm die heutige Post heraus: ein paar uninteressante Mitteilungen des Fachbereichs Astronomie und ein großer brauner Umschlag, der offensichtlich im Ausland aufgegeben worden war. Hastig musterte sie ihn und erkannte sogleich Professor Kents Handschrift. Doch auf keinen Fall wollte sie zu spät zu ihrer Semesterschlussvorlesung kommen, deshalb stopfte sie den Umschlag in ihre Tasche und durchquerte schnellen Schrittes den Innenhof in Richtung Hörsaal. Wie immer bei Dr. Donovans Vorlesungen war der schöne alte steinerne Saal im Herzen des Colleges zum Bersten voll mit Studenten aus der gesamten Universität. Ihre Vorlesungen waren die weitaus beliebtesten des ganzen Fachbereichs. Sie hielt sie freiwillig, da sie den Kontakt zu den Studenten schätzte. Sie dankten es ihr mit treuer Teilnahme, und ihre Zahl nahm im Laufe des Semesters ständig zu. Noch am Tag zuvor war sie deswegen von einem ihrer Kollegen (beim Kaffee im Gemeinschaftsraum) schelmisch geneckt worden – er habe gehört, wie zwei Studenten von ihr als der schönsten Professorin der ganzen Universität geschwärmt hatten. Mit ihrem schulterlangen braunen Haar, ihren schönen hohen Wangenknochen und ihrer sportlichen Eleganz zog sie überall die Blicke auf sich, und sie war sich dessen bewusst. Doch an diesem Morgen war Catherine nervös. Die Tradition woll9
te es, dass man die Studenten mit einer besonders inspirierenden letzten Vorlesung des Semesters in die Ferien entließ. Heute wollte sie sie damit überraschen, ihnen eines der merkwürdigsten und unergründlichsten Rätsel des Kosmos vorzustellen – ein Rätsel, das für die gesamte Menschheit wirklich bedrohliche Folgen haben konnte. Die Studenten waren zwar helle Köpfe, aber sie waren auch sehr jung, und es tat gut, sie hin und wieder daran zu erinnern, wie zerbrechlich menschliches Wissen angesichts des Unbekannten war. Catherine schaute von dem Podest, auf dem sie stand, auf und ließ ihren Blick über das vor ihr liegende Meer von Gesichtern schweifen. Sie räusperte sich und begann: »Guten Nachmittag! Vielen Dank, dass Sie so zahlreich gekommen sind. Heute möchte ich als Erstes herausfinden, ob Sie in der Lage sind, eines der größten Rätsel aller Zeiten zu lösen.« Ein erregtes Flüstern ging durch den Saal, und die Augen der Studenten richteten sich in gespannter Erwartung auf sie. »Wie wir alle wissen, ist Sirius der hellste Stern unseres Nachthimmels. Es gibt zwar ein, zwei Sterne, die unserem Sonnensystem näher sind, doch keinen, der so hell leuchtet. Das mag auch der Grund sein, weshalb Sirius in allen Mythologien des Altertums eine zentrale Rolle spielt.« Catherine warf einen kurzen Blick auf das Meer von Gesichtern. Sehr gut – sie haben angebissen. Mit verschwörerischer Stimme fuhr sie fort: »Aber vielleicht – nur vielleicht – gibt es dafür noch andere Gründe.« Sie legte wieder eine Pause ein, diesmal um einen Schluck Wasser zu trinken. Das Glas stand auf einem Tischchen neben ihr. Sie blickte auf ihren Laptop hinab und klickte. Sogleich erschien ein Bild auf der riesigen weißen Leinwand, die hinter ihr an der Wand hing. Es waren zwei Bilder, nebeneinander gestellt. Das erste war die Fotografie einer Zeichnung, die in Sand oder lose Erde gekratzt worden war. Das zweite Bild war eindeutig mit Hilfe der neuesten astronomischen Software angefertigt worden. Es war die Darstellung eines Objekts in den Fernen des Alls, das majestätisch seiner alten Bahn folgt. Daneben befand sich ein zweites, kleineres Objekt. Seine Bahn schien 10
spiralartig um seinen größeren Nachbarn zu kreisen, in einer Anziehung gefangen, aus der es sich befreien zu wollen schien. Catherine warf einen Blick auf die Leinwand, um sich zu vergewissern, dass die Abbildungen auch wirklich scharf waren. »Was die Distanz zwischen Sternen angeht, ist Sirius praktisch unser nächster Nachbar. Weiß jemand, wie weit er von uns entfernt ist?« Sie betrachtete ihr Publikum erneut. In der dritten Reihe hob ein junger Mann mit struppigem Haar den Arm. Catherine lächelte aufmunternd, doch als der sanfte Blick ihrer schönen grünen Augen die seinen traf, schien es ihm die Sprache zu verschlagen. Sie lächelte noch immer wohlwollend, doch als sie ihn zum Reden ermutigen wollte, schlich sich eine Spur Ungeduld in ihre Stimme. »Ja?« Sein Gesicht lief dunkelrot an, als er seine Antwort zu stottern begann. »Er ist … Er ist 2,67 Parsec entfernt … das heißt 8,7 Lichtjahre oder zweiundfünfzig Billionen Meilen.« Catherine war beeindruckt. »Genau! Ausgezeichnet. Haben Sie vielen Dank. Nun, im Jahre 1844 kam der deutsche Astronom Friedrich Bessel zum Schluss, Sirius müsse einen unsichtbaren Zwilling haben. Bessel hatte viel Zeit darauf verwendet, die langsamen Bewegungen von Sirius so genau wie möglich zu messen. Dabei hatte er ein kleines Schlingern auf seiner regulären Bahn entdeckt. Bessel gelangte zu der Überzeugung, nur die Schwerkraft eines unsichtbaren Nachbargestirns könne für dieses Schlingern verantwortlich sein, doch ihm fehlte der Beweis. Zu jener Zeit existierten noch keine Teleskope, mit denen man bis zum Sternsystem des Sirius hätte sehen können.« Catherine ging näher an die Projektion heran. »Erst 1862 sah der amerikanische Teleskopbauer Alvan Clark mit Hilfe einer seiner Konstruktionen und als Erster in der Geschichte der Menschheit den bisher unsichtbaren Begleiter des Sirius – und erbrachte damit den Beweis für Bessels Theorie. Aber – war er wirklich der Erste?«, fragte sie geheimnisvoll. Ein erregtes Murmeln ging durch die Menge der Studenten, und Catherine legte eine weitere dramatische Pause ein. 11
»Heute können wir mit unseren enorm leistungsstarken Teleskopen natürlich beide Objekte sehr deutlich sehen. Wir nennen den großen Stern, den ursprünglichen Sirius – den man mit bloßem Auge sehen kann –, Sirius A und seinen Sterngefährten, den schweren, unsichtbaren Sirius, Sirius B. Nun, die Frage, die ich Ihnen heute stelle, ist eine ganz einfache, doch wenn Sie sie korrekt beantworten können, wird die NASA Sie wahrscheinlich zu ihrem Chefforscher ernennen.« Catherine holte tief Luft und stellte langsam und deutlich ihre Frage. »Wenn Sirius B für das bloße Auge völlig unsichtbar ist, wie ist es möglich, dass ein afrikanisches Volk über die letzten zweitausend Jahre hinweg komplette und exakte astronomische Aufzeichnungen von diesem Stern gemacht hat?« Durch den vollen Hörsaal ging ein verblüfftes Raunen. »Das Volk, von dem ich spreche, ist der Stamm der Dogon. Sie leben im heutigen Mali in Westafrika. Ihrer alten mündlichen Überlieferung zufolge wird der helle Stern Sirius von einem außergewöhnlich schweren und dunklen Objekt namens Po begleitet. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Sirius B in Wirklichkeit ein weißer Zwerg ist – er enthält so viel Materie wie unsere Sonne, ist im Vergleich jedoch winzig: ein Teelöffelvoll wiegt beinahe eine Vierteltonne. Offenbar wussten die Dogon nicht nur, dass Sirius B existiert – was an sich schon merkwürdig genug ist –, sondern auch, dass er ein Stern von ungewöhnlicher Dichte ist … Und das ist noch nicht alles: Sie wussten zudem, dass er seinen großen Bruder einmal in fünfzig Jahren umrundet.« Catherine lächelte in die verblüfften Gesichter ihrer Zuhörer. »Die Welt erfuhr vom Glauben der Dogon – wenn das für ihre Astronomie überhaupt der passende Begriff ist – zum ersten Mal in den Vierzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts, und zwar durch einen französischen Ethnologen. Wir wissen aber heute mit Bestimmtheit, dass ihre Theorien mindestens 1.800 Jahre alt sind – aller Wahrscheinlichkeit nach sogar noch viel, viel älter. Die Dogon hielten die Himmelsbewegungen auf Sandzeichnungen fest. In meiner Vorlesung werde ich Ihnen zeigen, wie diese Zeichnungen konserviert wurden. Doch hier sehen Sie auf der linken Seite jenes Dogon-Diagramm, das die in12
einander verschlungenen Umlaufbahnen von Sirius und seinem dunklen Gegenspieler zeigt. Und auf der rechten Seite sehen Sie die moderne astronomische Darstellung der Bewegungen von Sirius A und B.« Ihr Publikum hielt erneut den Atem an. »Wie Sie sehen: die Übereinstimmung ist perfekt. Heute wissen wir, dass Sirius B – oder Po – für seine Umrundung genau 49,1 Jahre braucht. Das steinzeitliche Volk lag mit fünfzig Jahren also ziemlich gut. Und das ist noch lange nicht alles, was die Dogon über den Kosmos wussten. Sie hielten beispielsweise fest, dass Jupiter vier Monde hat und Saturn mehrere Ringe. Nun ist es aber wiederum so, dass die Ringe des Saturn und die Jupitermonde – genau wie Sirius B – mit bloßem Auge nicht zu sehen sind; dazu braucht man ein Teleskop, und zwar ein gutes. Kann mir also jemand erklären, woher die Dogon all diese Dinge wussten?« In dem vollen Saal hätte man eine Nadel fallen hören können. Im Geheimen war sich Catherine sicher, dass man für diese rätselhafte Tatsache eines Tages eine vernünftige, wissenschaftliche Erklärung finden würde. Denn es war schlechterdings unvorstellbar, dass die Menschheit in den Tiefen ihrer primitiven Anfänge über die hoch entwickelte Technologie verfügt hatte, die notwendig war, um den kleineren der beiden Sterne zu sichten. Dennoch: Es war ihr liebstes kosmisches Rätsel, und man erzielte damit immer den gewünschten Effekt. Mit offenen Mündern und großen Augen reckten die Studenten in den vorderen Reihen ihre Hälse, um zu sehen, ob jemand weiter hinten eine Idee hatte. Aber alle schwiegen. In diesem Moment öffnete sich, wie auf ein Zeichen, die Tür auf der entgegenliegenden Seite des Hörsaals mit einem Klicken. Die gesamte Zuhörerschaft drehte sich auf ihren Stühlen um. Es war einer der Pförtner aus der Loge. Er wirkte etwas schüchtern und hustete nervös, bevor er in einer verwirrten Geste seine Hand hob. Catherine blickte quer durch den Saal. »Bitte entschuldigen Sie mich für einen Moment.« Mit ihrer Hand glättete sie kurz ihren Rock und stieg rasch von ihrem Podest herab. Sie fühlte sich plötzlich ausgestellt, als sie durch den 13
Saal auf den Pförtner zuging. Dieser hastete ihr entgegen, und sie trafen sich auf halbem Weg. »Verzeihen Sie diese Störung, Ma'am. Sie möchten bitte dringend zum Dekan kommen.« »Wie bitte? Kann das nicht eine halbe Stunde warten?« »Es dulde keinen Aufschub, sagte er, Ma'am. Er sagte, er habe eine schlimme Nachricht.« Catherines Herz begann zu pochen. Sie drehte sich zu ihren Studenten um und sagte: »Meine Damen und Herren, es tut mir äußerst leid. Offenbar ist etwas sehr Ernsthaftes vorgefallen, weshalb ich meine Vorlesung hier abbrechen muss. Verzeihen Sie mir dieses abrupte Ende. Aber ich hoffe, dass dieses Rätsel – und es ist in der Tat ein bis heute ungelöstes Rätsel – Sie durch die kommenden Wochen begleiten wird. Sie werden zweifellos jede Minute Ihrer Ferien darauf verwenden, die Texte für das nächste Semester zu lesen. Aber sollten Sie einen freien Moment haben, versuchen Sie sich an der Lösung des Siriusrätsels der Dogon. Viel Erfolg! Und wenn Sie es schaffen, gebe ich Ihnen das Sommersemester frei!«
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Die dem Dekan von All Souls vorbehaltenen Räume waren eine Flucht von eichengetäfelten Zimmern mit Aussicht auf den prächtigen Garten voller Blumenrabatten und einem makellosen, jahrhundertealten Moosrasen. Mit seinen fünfundsechzig Jahren war der Dekan ein Veteran des Universitätsbetriebs. Er war ein energischer, grauhaariger Mann mit einer großen Nase und buschigen Augenbrauen. Sein ganzes Auftreten flößte sofortigen Respekt ein. Ihm oblag nicht nur die Administration des gesamten Colleges, sondern er war zudem ein bedeutender Philosoph und Logiker. Heute befand er sich jedoch in der unglücklichen Lage, schlechte Nachrichten überbringen zu müssen. Ein Polizeibeamter des Thames Valley hatte ihn soeben davon in Kenntnis gesetzt, dass Professor Kent, ein geschätzter Kollege und guter Freund, im peruanischen Bergland bei Machu Picchu tot aufgefunden worden sei. Er sei offenbar an einem Herzschlag gestorben, der jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit die Folge eines Selbstmordversuchs war. Es sei jedoch besser, noch nicht zu sehr in die Details zu gehen, hatte der Beamte gesagt, da man mit den Ermittlungen noch am Anfang stehe. Ein Kollege der Nationalen Sicherheitspolizei sei in Lima vor Ort und stehe mit der peruanischen Polizei in engem Kontakt. Der Dekan saß gebeugt an seinem breiten alten Schreibtisch, den Kopf in seine linke Hand gestützt. Er massierte sich langsam die Stirn. Er seufzte tief und erkannte, dass er zum ersten Mal, soweit er zurückdenken konnte, nicht die geringste Ahnung hatte, wie er vorgehen sollte. Was soll ich bloß zu Catherine sagen? Der Professor war für sie wie ein zweiter Vater. In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. 15
»Herein.« Catherine sah so strahlend aus wie immer, und als er sie in ihrer Jugendlichkeit sah, durchfuhr ihn erneut großes Bedauern – warum musste ausgerechnet er ihr diese schreckliche Nachricht überbringen? Doch auf ihrem Gesicht sah er bereits Angst und Sorge. »Was ist denn geschehen, Dekan?« »Meine Liebe, es tut mir außerordentlich leid, aber Professor Kent ist tot.« Catherine ließ sich auf einen Stuhl fallen. Ihr Gesicht war aschfahl. Dann fasste sie sich. »Wie? Wann?« »Anscheinend starb er vorletzte Nacht in Peru, in Machu Picchu – bei den Inkaruinen. Polizeibeamte haben mich aufgesucht – sie sind gerade gegangen. Ich habe Sie sofort rufen lassen.« Catherines Augen hatten den ausdruckslosen Blick einer Person unter Schock. »Das kann ich nicht glauben! Ich meine, was ist passiert? Es muss ein Irrtum vorliegen. Der Professor sagte mir, er fahre nach Mexiko; er wollte gestern am späten Abend wieder hier sein.« Der Dekan versuchte so diplomatisch wie möglich zu sein. »Man weiß noch nichts Genaues. Aber die peruanische Polizei ist zum Schluss gekommen, dass es Selbstmord war.« Im Nu war Catherines Miene nicht mehr schockiert, sondern ungläubig. »Nein! Unmöglich. Niemals – das muss ein Irrtum sein.« Der Dekan erhob sich und ging um seinen Schreibtisch herum. Da er sonst nicht wusste, was er tun sollte, schenkte er ein Glas Wasser ein und brachte es zu ihr hinüber. »Meine Liebe, es tut mir wirklich leid. Es liegt nun alles in den Händen der Polizei … Sie sollten versuchen, sich zu entspannen.« Catherine schüttelte den Kopf. Sie sah ihn an. »Professor Kent hatte niemanden. Seine einzige Schwester starb vor drei Jahren. Es gibt niemand zu benachrichtigen, niemand, der sich um das Begräbnis kümmern könnte. Wie furchtbar … Aber ich muss 16
mehr darüber wissen. Es muss ein Irrtum sein. Das versichere ich Ihnen. Es ist einfach nicht möglich, dass der Professor Selbstmord begangen hat … Ich muss mit der Polizei sprechen.« Der Dekan lächelt ihr sanft zu. »Catherine, meine Liebe, ich verstehe Sie nur zu gut. Aber warten wir doch erst einmal den Untersuchungsbericht aus Peru ab. Ich bin mir sicher, dass der britische Polizeibeamte in Lima die Sache in die Hand genommen hat. Wenn der Bericht da ist, begleite ich Sie gerne auf die Polizeistation, wenn Sie möchten. Heute kann ich leider nichts mehr unternehmen, ich habe heute Nachmittag noch mehrere Sitzungen, die ich nicht einfach ausfallen lassen kann – so gern ich das würde.« Entschlossenheit breitete sich auf Catherines jugendlichem Gesicht aus. »Selbstverständlich, das verstehe ich. Vielen Dank, dass Sie mich sogleich benachrichtigt haben. Ich muss mich davon überzeugen, dass alles in Ordnung ist. Er war mein bester Freund in diesem Land, wie Sie wissen. Ich muss nach Hause gehen und mir überlegen, was ich tun soll.« »Ja, natürlich, meine Liebe. Es ist ein schlimmer Tag. Ganz schrecklich … Professor Kent war ein hervorragender Wissenschaftler und, viel wichtiger, ein guter Mensch. Es tut mir außerordentlich leid.« Catherine erhob sich von ihrem Stuhl, nahm ihre Tasche und ging zur Tür. Als ihre Hand auf der Klinke lag, sprach der Dekan erneut. »Noch etwas …« Sie drehte sich wieder zu ihm um. Es schien ihr, als habe sich sein Tonfall irgendwie verändert … aber vielleicht war sie einfach durcheinander. »Als Sie den Professor das letzte Mal sahen, sagte er Ihnen da etwas? Oder gab er Ihnen vielleicht etwas?« Tief in Catherines Unterbewusstsein ging eine Alarmglocke an. »Verzeihen Sie, aber was meinen Sie?« Der alte Dekan sah ihr unverwandt in die Augen. »Ich meine bloß, dass er vielleicht gerade an etwas arbeitete, wovon 17
er Ihnen erzählte – oder vielleicht gab er Ihnen etwas? Ich könnte es an die Polizei weiterleiten … das wäre vielleicht hilfreich.« Sie bewahrte die Fassung und hielt seinem Blick ungerührt stand. »Nein – mir fällt nichts ein … ich sah ihn vor etwa zehn Tagen zum letzten Mal in seinem Bauernhaus in den Cotswolds. Wir tranken Tee. Aber kein Geschenk oder dergleichen. Und ich kann Ihnen versichern, dass er wie immer bester Laune war.« Während sie die Tür öffnete und in den Korridor hinaustrat, hörte sie die trockene Stimme des Dekans hinter sich. »Schreckliche Sache – einfach schrecklich.« Catherine zog die Tür fest ins Schloss. Ihr Herz pochte. Sie warf einen Blick den Korridor hinauf und hinab. Dann, als sie sich vergewissert hatte, dass niemand da war, öffnete sie ihre Tasche: Der Brief aus Peru war noch immer da.
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Catherine ging geradewegs zu Professor Kents Räumen. Sie besaß einen eigenen Schlüssel, da sie sein Arbeitszimmer und seine gut bestückte Bibliothek oft benutzte, wenn er auf Reisen war. Aber auch wenn er im Land war, arbeitete er am liebsten von zu Hause aus – in einem abgelegenen Bauernhaus in Oxfordshire, seinem bevorzugten Ort zum Forschen. Es war eines jener bezaubernden Cotswolds-Häuser, mit einem farbenfrohen Garten, der von einer Steinmauer und sanft geschwungenen Hügeln umgeben war. Sie hatte viele glückliche Stunden dort verbracht, und jetzt stellte sie sich das leere Gebäude vor, das den Professor nie wieder sehen würde. Sie trat auf den Innenhof hinaus und ging zu dem mittelalterlichen Durchgang hinüber, der zum Treppenhaus des Professors führte. Während sie um den quadratischen Rasen herumging, wurde sie von Erinnerungen überschwemmt. Diese schlimme Nachricht war einfach nicht auszuhalten … »Kann ich Ihnen helfen, meine Liebe?« Es war die Stimme des Pförtners. Catherine spürte seine Hand auf ihrem Arm, und als sie plötzlich zu sich kam, merkte sie, dass sie mitten im Hof stand und ihr Tränen über die Wangen liefen. »Es tut mir leid, Fred. Ich bin nur etwas durcheinander.« Sie versuchte zu lächeln und tat ihr Bestes, um die Tränen wegzuwischen. »Kann ich Ihnen etwas bringen?« »Nein, danke – es tut mir leid, es geht mir gleich wieder besser … Ich gehe rasch in Professor Kents Zimmer und ruhe mich dort etwas aus.« Eine Minute später hatte sie die mit Büchern gefüllten Räume des Professors betreten. Da ihr nicht einfiel, was sie tun sollte, setzte sie sich in ihren Lieblingssessel am Kamin und versuchte zu verstehen, was eigentlich vorgefallen war. Sie saß hier im friedlichen, stillen Ar19
beitszimmer des Professors in Oxford, und er war Tausende von Kilometern entfernt auf einem einsamen Berg einen fürchterlichen Tod gestorben. Es war schlicht unmöglich, dass er Selbstmord begangen hatte – wie hatte man nur auf so etwas kommen können? Das Ganze war zu schrecklich, um darüber nachzudenken … und es ergab einfach keinen Sinn. Ihre Gedanken rasten, und sie versuchte sich zu erinnern, ob er bei ihrem letzten Treffen irgendetwas gesagt hatte, irgendeinen Hinweis darauf, dass er an so etwas dachte. Aber ihr fiel nichts ein. Sie hatte ihn vor rund zwei Wochen in seinem Bauernhaus besucht. Er war so warmherzig und gesprächig wie immer gewesen. Sie hatten über universitäre Angelegenheiten geredet, und er hatte ihr eine seltene Orchidee gezeigt, die ihm ein Freund geschickt hatte. Er hatte sie ans Küchenfenster gestellt, in der Hoffnung, dass sie dort gut gedeihen und blühen würde. Er hatte gesagt, er freue sich darauf, Catherine nach seiner Reise wiederzusehen, und er wolle sie einem alten Freund vorstellen, der sich für ihr Forschungsgebiet interessiere. Dann hatten sie sich verabschiedet. Sie zog ihre Tasche auf den Schoß, holte den Umschlag hervor und betrachtete ihn sorgfältig. Ja, es war eindeutig die Handschrift des Professors. Warum in aller Welt hatte sie dem Dekan nichts davon gesagt? Was hatte sie davon abgehalten? Nervös riss sie ihn auf. Es befand sich eine Klarsichthülle darin, die ein Bündel Landkarten enthielt. Daran war ein kleiner weißer Zettel von der Größe einer Postkarte geheftet, auf dem etwas geschrieben stand. Fieberhaft steckte Catherine ihre Hand in die Plastikhülle, zog den Zettel heraus und drehte ihn um, sodass sie ihn lesen konnte. Als sie sah, was darauf geschrieben stand, stockte ihr das Blut. Für den Fall, dass ich nicht zurückkehre. Eureka 40 10 4 400 30 9 30 70 100 5 200 30 10 40 1 80 5 100 400 40 10 50 10 200 300 100 8 70 9 1 50 300 10 20 800 10 300 10 200 0051172543672 20
Was geht hier vor? Was in aller Welt soll das bedeuten? Catherine stand auf und ging rasch zum Schreibtisch hinüber. Sie schob all die Papiere des Professors zur Seite und legte die Karten auf die Schreibfläche. Es waren sieben insgesamt. Meine Glückszahl, dachte sie traurig. Sie breitete sie vor sich aus und begann, sie etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Drei der Landkarten waren computergeneriert – wie man sie in Atlanten findet. Die restlichen vier waren eindeutig Kopien von früheren Dokumenten. Die Originale mussten sehr alte, möglicherweise sogar vormittelalterliche Karten sein, die über die ganze Erde verstreute Orte zeigten. Sie erkannte die darauf abgebildeten Orte nicht, aber die Karten waren offensichtlich keine erfundenen Illustrationen, sondern echt: Sie zeigten Küsten, Flussläufe, Bergzüge und Inseln. Die Papierqualität war uneinheitlich, ebenso die Qualität der Kopien. Als Catherine den Zettel noch einmal las und die seltsamen, ihr völlig unbegreiflichen Karten anstarrte, wurde sie plötzlich von Panik erfasst. Was stellen diese Karten bloß dar? Und was bedeutet die Nachricht des Professors?
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James Rutherford warf einen Blick auf die kleine Uhr in der Ecke seines Laptopbildschirms – 12 Uhr 55. Hastig packte er die Bücher auf seinem Arbeitsplatz in seine Tasche und schaltete den Computer aus. Er musste die Bibliothek sofort verlassen. Er hatte einen Termin mit Professor Kent, einem der führenden Köpfe der Universität, und den wollte er nicht verpassen. Rutherford hatte Professor Kent erst vor zwei Wochen kennen gelernt. Der Professor war bei einem von Rutherfords Kollegen zum Abendessen eingeladen gewesen. Der Zufall wollte es, dass Rutherford neben ihm zu sitzen kam. Sie waren sofort in ein intensives Gespräch geraten, da sich der Professor sehr für alte Mythologien interessierte. Sein Interesse war angesichts der Tatsache, dass das Ganze – in Rutherfords Augen – nichts mit seinem Fachgebiet zu tun hatte, ungewöhnlich groß; und Rutherford war verblüfft, wie viel Professor Kent darüber wusste. Sie sprachen drei Stunden lang über nichts anderes. James Rutherford war einer der hochkarätigsten Fachleute für die Mythologien der Erde an der Universität. Und obwohl jedermann in Oxford wusste, dass Professor Kent ein Universalgelehrter war, war er als Botaniker berühmt. Doch Botanik schien mit Rutherfords Studium alter Texte und fremder Mythen und Sagenwelten wenig gemeinsam zu haben. Und das verwirrte ihn.
Zwei Tage nach jenem Abendessen hatte sich der Professor so ziemlich aus heiterem Himmel bei ihm gemeldet und wollte sich mit ihm treffen. Rutherford war gerade von einer ausgiebigen Joggingrunde in den Universitätsparks in seine geräumige Wohnung im Norden Oxfords, 22
dem akademischsten Viertel der Stadt, zurückgekehrt. Als er die Wohnung betrat, war Anne, seine Putzfrau, gerade am Staubsaugen. James ließ sich erschöpft in einen Sessel fallen. Mit seinen achtunddreißig Jahren war er schlank und fit, und das dunkle Haar auf seinem großen Kopf war kurz geschnitten. Er achtete darauf, was er aß und trank, und bekam auch oft zu hören, dass man ihn für einiges jünger hielt als er tatsächlich war – aber ein 15-Kilometer-Lauf war ein 15-Kilometer-Lauf. »Es war Besuch da.« Rutherford horchte auf. »Aber leider keine junge Dame.« Anne war der dezidierten Meinung, dass James heiraten und eine Familie gründen sollte, anstatt die Zeit damit zu vertrödeln, ›seine Nase in alte Bücher zu stecken‹, wie sie es nannte. »Na ja, man darf die Hoffnung nie aufgeben … Aber wenn es nicht die Frau meiner Träume war, wer dann?« »Professor Kent, vom All Souls College.« Anne hob einen Umschlag hoch, der auf dem Küchentisch lag, und reichte ihn Rutherford. »Er bat mich, Ihnen diese Nachricht zu geben.« James schnellte aus seinem Sessel, nahm Anne den Umschlag aus der Hand und ging auf den geräumigen Balkon hinaus, von dem aus man einen Blick auf die Sportplätze der Universität und die dahinter liegenden sanften Hügel hatte. Hier war er ungestört und begann zu lesen. Lieber Dr. Rutherford, bei jenem Abendessen neulich habe ich es sehr genossen, mich mit Ihnen zu unterhalten. Auf die Gefahr hin, Ihre Geduld zu strapazieren, würde ich dennoch unser Gespräch über alte Mythologien gerne fortsetzen. Ich denke, dass mir ein monumentaler Durchbruch gelungen ist. Ich glaube, eine Entdeckung gemacht zu haben, die in all den verschiedenen Mythen 23
und Religionen der Erde versteckt ist – eine furchterregende Botschaft aus der Vergangenheit. Diese Botschaft, die ich erfolgreich entziffert habe, ist die Warnung eines vor langer Zeit verschwundenen Volkes, eine Warnung, die uns vor eben jener Katastrophe bewahren will, die jenes Volk zerstörte. Für das Überleben der Menschheit ist es von entscheidender Bedeutung, dass diese Botschaft bekannt wird. Andernfalls steht uns und unserem Planeten dieselbe Katastrophe bevor. Die Alten wussten, dass sich die Menschheit aus den Trümmern wieder aufbauen würde und dass man eines Tages den Inhalt ihrer Botschaft verstehen würde. Es sind jedoch Kräfte am Werk, die diese Botschaft mit allen Mitteln unterdrücken wollen, und ich glaube, die Gründe dafür entdeckt zu haben. Es wäre mir ein großes Vergnügen, Sie zu einem Kaffee zu mir ins College einladen zu dürfen. Wie sieht es bei Ihnen übernächste Woche aus, zum Beispiel Donnerstag um 13 Uhr? Wenn ich von Ihnen nichts Gegenteiliges höre, freue ich mich sehr auf Ihren Besuch. Mit besten Grüßen, Prof. Kent Rutherford traute seinen Augen nicht. Die Behauptung des Professors war atemberaubend. Kent war ein führender Akademiker und präziser Wissenschaftler und dabei ein zurückhaltender Mann, der nun behauptete, im Besitz von Informationen zu sein, die nicht nur die gängigen Theorien über die menschliche Entwicklungsgeschichte zunichtemachten, sondern bewiesen, dass die Menschheit in tödlicher Gefahr war. Das Ganze klang etwas haarsträubend, aber Rutherford hatte sich über die Jahre eine professionelle Unvoreingenommenheit angewöhnt. Er hatte sich das Motto der Royal Society zu eigen gemacht: Nullius in verba – Schwöre auf niemandes Worte. 24
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Catherine fühlte sich wie betäubt. Was in aller Welt sollte sie tun? Sie blickte sich im Arbeitszimmer des Professors um, und als sie die vertrauten Bücherregale und Möbel betrachtete, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Alles erinnerte sie daran, dass sie ihren alten Freund nie mehr wiedersehen würde. Sie erinnerte sich an ihren allerersten Besuch im Bauernhaus des Professors – schon vor vielen Jahren. Sie studierte damals in Yale und hatte durch ein Rhodes-Stipendium die Möglichkeit für einen Aufenthalt in England erhalten. Als enger Freund ihrer Eltern hatte Professor Kent angeboten, sich um sie zu kümmern. Schon damals war sein weißer Bart sein Markenzeichen gewesen. »Nun, mein Leben als Einsiedler und Wissenschaftler ist wohl nicht jedermanns Sache«, hatte er lachend gesagt. Sie waren durch den Garten geschlendert, einen Garten voller Blumen und Büsche, mit einem kleinen Teich in der Mitte, und hatten sich dann zu einem Spaziergang über die sonnigen Wiesen zu einem der beiden Wälder aufgemacht, die an das Anwesen grenzten. Die Landschaft war in ihrer sanften englischen Art von überwältigender Schönheit, und Catherine konnte gut verstehen, weshalb Professor Kent so viel Kraft aus ihr zog. »Natürlich brauchte ich dafür nicht einen halben Hektar Land. Ich gehöre schließlich nicht dem Landadel an. Ich habe nur deswegen so viel Land gekauft, weil mir nicht dasselbe wie im letzten Dorf widerfahren sollte. In den zehn Jahren, die ich dort lebte, musste ich zusehen, wie es so konsequent zu Grunde gerichtet wurde, als sei es von Dschingis Khan persönlich verwüstet worden. Ihm wurde das Herz herausgerissen. Zuerst verschwanden das Postamt und der Pub und dann die Dorfschule und schließlich fiel die gesamte prächtige Umgebung den Großunternehmen zum Opfer. Als ich ins Dorf gezogen 25
war, waren die sommerlichen Wiesen und Felder mit dem strahlend roten Mohn und den leuchtend blauen Kornblumen im goldenen Weizen noch der Stolz des ganzen Landkreises gewesen. Unter dem kobaltblauen Sommerhimmel hatte es diesseits des Jupiters wohl keinen großartigeren und prachtvolleren Anblick gegeben! Doch die Zeit der Wildblumenwiesen ist längst vorbei, und an ihrer Stelle breiten sich Hochertragsgras und seelenlose Gewerbegebiete aus.« Der Professor war ein Nostalgiker, dachte Catherine damals. Er redete von einer alten Bindung, welche die Menschen mit dem Land und den Jahreszeiten hatten, und von dem schmerzlichen Verlust dieser Bindung. Manche ihrer Kollegen lächelten darüber. Als der Professor Anhänger der ökologischen Bewegung aus Oxford anzog, die zu ihm hinausradelten, nannte ihn der Studienleiter den College-Guru, und man lachte darüber. Doch Catherine sah in ihm immer den stillen und liebenswürdigen Mann. Sie waren zum Bach hinuntergegangen, hatten sich ans Ufer gesetzt und dem leisen Gurgeln des Wassers zugehört. Sie erinnerte sich daran, wie der Professor die Schuhe ausgezogen hatte. Diesen herausragenden Gelehrten im Wasser mit den Zehen wackeln zu sehen, hatte etwas rührend Komisches gehabt. »Wohin man auf unserem Planeten auch sieht, die Aussichten sind überall dieselben. Wälder werden abgeholzt, Feuchtgebiete trockengelegt. Die Umweltverschmutzung ist allgegenwärtig. Jeden Tag sterben Tierarten aus, und das Magnetfeld der Erde verändert sich, ohne dass jemand weiß, welche Folgen das haben wird. Die Ozonschicht, die alle Lebewesen vor den ultravioletten Sonnenstrahlen schützt, verringert sich rasant, und sogar die Luft, die wir atmen, enthält immer weniger Sauerstoff und immer mehr Kohlendioxid – ein Gift, das uns vergast und den Planeten aufheizt. Warum tun wir diese Dinge? Weil wir uns dem wirtschaftlichen Fortschritt verschrieben haben und unsere gesellschaftlichen Organe völlig unfähig sind, das Problem zu erkennen und es wirkungsvoll anzugehen. Das würde uns Ideen und Opfer abverlangen. Warum probieren Sie das Wasser nicht aus, meine Liebe? Es ist einfach herrlich.« 26
Also hatte sie mit einem Lächeln Schuhe und Socken ausgezogen und ihre nackten Füße ins Wasser baumeln lassen. Er hatte recht, es war herrlich, das Wasser auf der Haut zu spüren. Gerade als Besucherin aus Amerika, sagte sie zu ihm, sei es ihr natürlich wichtig, sich den hiesigen Bräuchen anzupassen. »Allerdings! Und dabei werden Sie feststellen, dass diese Bräuche durchaus ihren Sinn haben. Ein schöner, heißer Tag wie dieser in England – da muss man doch einfach das Beste daraus machen!«, sagte der Professor. »Aber um all diese Fragen zu beantworten«, fuhr er in nüchternem Ton fort, »müssen wir der Tatsache ins Auge sehen, dass unsere Industriegesellschaft, mit ihren immer mächtigeren Institutionen und ihrer Faszination für Wachstum und Technologie, zu vergessen beginnt, was den Sinn des Lebens eigentlich ausmacht. Wir müssen wach werden und erkennen, dass es genau unsere heutige Gesellschaftsstruktur ist, die den Boden für solche extremen Machtballungen legt – Ballungen, die ein Eigenleben bekommen, das mehr ist als nur die Summe ihrer Teile. Heute, im einundzwanzigsten Jahrhundert, müsste es unser wichtigstes Ziel sein, Machtballungen zu zersprengen beziehungsweise die großen destruktiven Machtstrudel schon im Keim zu unterbinden. Aber ich bin nicht optimistisch. Macht hat ihre eigene Dynamik, und sie versteht es, ihre Anziehungskraft auf die dunkelsten Seiten der menschlichen Natur auszuüben.« Catherine, deren Füße im kühlen Wasser plantschten und die ein prächtiges Panorama von Wiesen und Feldern vor sich hatte, verstand, wovon er sprach. »Aber ich langweile Sie«, sagte der Professor. »Und Sie sollten endlich Ihren Tee bekommen. Wie schrecklich, eine neue Studentin zu sich einzuladen und dann endlos zu fachsimpeln, ohne auch nur eine Erfrischung anzubieten!« Sie waren barfuß durch das hohe Gras am Wiesenrand gegangen und lachend und unbeschwert in seinem Garten angelangt. »Das hatte ich bestimmt nicht erwartet, als man mir sagte, ich werde nach Oxford gehen. Haben Sie vielen Dank, Professor!« 27
Catherine wurde unvermittelt aus ihren glücklichen Erinnerungen in die beängstigende Wirklichkeit der Gegenwart zurückgeholt: Jemand klopfte laut an die Tür des Arbeitszimmers …
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Voller Panik stopfte Catherine den Zettel in ihre Tasche, bündelte die Karten und versteckte sie unter einem Papierstapel auf dem Schreibtisch. Dann holte sie tief Luft, ging zur Tür hinüber und öffnete sie. Im Korridor stand geduldig ein großer, dunkelhaariger, attraktiver junger Mann. Er lächelte sie an und hielt ihr die Hand hin. Seine Stimme war warm und beruhigend: »Hallo, ich bin Dr. James Rutherford – haben wir uns nicht auf einer kleinen Party des Dekans kennen gelernt? Ich bin Altphilologe am Brasenose College.« Catherine war verwirrt. Sein Gesicht kam ihr zwar bekannt vor – allzu viele gut aussehende junge Professoren gab es an der Universität auch wieder nicht –, doch sie war noch immer unter Schock und auf ein normales, freundliches Gespräch überhaupt nicht eingestellt. Da ihr nichts Besseres einfiel, öffnete sie die Tür, und Rutherford trat ins Zimmer. Er sah besorgt aus, und bevor Catherine etwas sagen konnte, sprach er: »Ich habe die Nachricht soeben vom Pförtner vernommen – es tut mir schrecklich leid. Ich kann noch gar nicht glauben, dass es wahr ist.« Sofort entspannte Catherine sich etwas. Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Für einen Moment vergaß sie den Zettel und die Karten völlig. »Ja – es ist einfach furchtbar. Ich …« Sie verstummte, und es herrschte eine kurze Stille, bis Rutherford den Grund seines Kommens erklärte. »Es tut mir wirklich leid. Ich wollte mich nicht aufdrängen. Der Pförtner sagte mir, dass Sie hier seien, und ich wollte Sie fragen, ob Sie mehr darüber wissen, was passiert ist. Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen?« Catherine ging zum Schreibtisch zurück. Sie sah, dass die Ecke einer 29
der Landkarten aus dem Stapel hervorlugte. Sie versuchte, sich so zu stellen, dass sie ihrem Besucher die Sicht darauf verdeckte. »Nein danke. Es ist ein furchtbarer Schock für mich, und obwohl ich ihm sehr nahestand, weiß ich nicht mehr als Sie. Das Ganze ist mir ein völliges Rätsel; es ergibt überhaupt keinen Sinn.« Rutherford stand noch immer etwas verlegen an der Tür: »Ich sollte ihn hier treffen, wissen Sie – wir hatten erst vor kurzem diesen Termin vereinbart. Ich kenne den Professor kaum – ich meine, natürlich kenne ich ihn aus dem Fernsehen, und ich habe seine Bücher gelesen, aber wir sind uns nur einmal begegnet. Ich war sehr geschmeichelt, als er mir schrieb, dass er mich heute sprechen wolle, da er meine Meinung als Fachmann zu etwas … Ach, verzeihen Sie, ich will Sie nicht länger behelligen. Es ist einfach so seltsam, der Professor kam mir so zufrieden vor.« Er drehte sich um, um zu gehen. Doch Catherine dachte: Vielleicht könnte James Rutherford wirklich helfen. Vielleicht würde er die alten Karten wiedererkennen. Schließlich ist er ein führender Altphilologe. Ihre Gedanken, die nach einer Lösung des Rätsels hungerten, stürzten sich auf diese Möglichkeit. Vielleicht sollte sie die Chance nutzen. Was hatte sie zu verlieren? »Nun – vielleicht können Sie mir in der Tat helfen.« »Gerne – ich werde es versuchen – was kann ich für Sie tun? Möchten Sie, dass ich einige seiner Freunde in der Fakultät aufsuche und ihnen die schlimme Nachricht überbringe?« Sie zögerte einen Augenblick. Kann ich ihm vertrauen? Ist es purer Zufall, dass er ausgerechnet heute Mittag mit dem Professor verabredet war? Oder steckt hier etwas Unheimlicheres dahinter? Bevor sie ihm die Karten und den Brief zeigen konnte, musste sie herausfinden, warum ihn der Professor heute zu sich bestellt hatte. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu sagen, worüber der Professor genau mit Ihnen sprechen wollte?« Während Catherine ihm diese Frage stellte, beobachtete sie sein Gesicht, um zu sehen, ob es ihr mehr über ihn verriet. Rutherford zuckte die Schultern. 30
»Nein, überhaupt nicht. Ich kann Ihnen die Nachricht, die er mir geschickt hat, gerne zeigen.« Er wühlte in der Innentasche seines Sakkos und zog den Brief heraus, den der Professor bei Anne hinterlegt hatte. Er ging zu Catherine hinüber und reichte ihn ihr. Sie überflog ihn rasch, und ihr Gesicht verdunkelte sich. Sie blickte auf. »Das sind kühne Behauptungen für einen Professor. Wissen Sie irgendetwas darüber? Hatte er mit Ihnen in früheren Gesprächen über diese Ideen gesprochen?« Rutherford versuchte sich zu erinnern. »Also, zunächst einmal hatten wir nur jenes eine Gespräch. Aber ich bewunderte ihn immer sehr. Ich bin, wie er, davon überzeugt, dass die Menschheit sich selber zerstört, wenn sie so weitermacht … Aber er kannte mich nicht – wir saßen einfach zufällig bei einem Balliol-Dinner nebeneinander am selben Tisch. Sobald er hörte, dass mein Hauptinteresse der klassischen Mythologie gilt, waren wir während des ganzen Essens ins Gespräch vertieft. Oder genauer gesagt, er stellte Fragen, die ich zu beantworten versuchte.« »Was für Fragen?« »Nun – vor allem interessierte er sich für frühgeschichtliche Erzählungen von großen Katastrophen. Er war überzeugt, dass sie mit seinen Forschungen in Zusammenhang standen. Wie zum Beispiel die biblische Geschichte von Noah und der Sintflut. Er betrachtete die Sintflut als eine Umweltkatastrophe, die sich vor Urzeiten tatsächlich ereignet hat.« »Wie meinen Sie das? Gibt es denn noch andere Mythen der Welt, die von dieser Flut erzählen und diese Theorie untermauern könnten?« »Die gibt es in der Tat.« Rutherford konnte ein ironisches Lachen nicht unterdrücken. »Es gibt etwa siebenhundert solche Erzählungen, und man entdeckt fortlaufend weitere.« »So viele! Dann ist die Geschichte von Noah also kein Einzelfall?« »Das ist die Untertreibung des Jahres. Wo immer Sie auf unserer Erde auch hinfahren, werden Sie genau dieser Geschichte wieder begegnen.« 31
»Auf der ganzen Welt?« Rutherford, der sich über die Gelegenheit freute, behilflich zu sein, begann begeistert zu erzählen. »Ja. Nehmen Sie beispielsweise China. Dort gibt es eine Sage über eine Flut, die mit der unsrigen fast identisch ist. Jene Geschichte besagt, dass die Menschen überheblich wurden und die Götter missachteten und dass die Götter daraufhin das ganze Universum auf den Kopf stellten und wie ein Kinderspielzeug schüttelten, sodass die Sterne und die Planeten und die Erde durcheinander stürzten. Regen fiel, und alles Land war mit Wasser überdeckt.« Catherines Augen weiteten sich vor Überraschung, doch bevor sie Rutherford um mehr Details bitten konnte, redete er bereits weiter. »Auch hier in Europa gibt es eine berühmte Sage von einer Flut, und zwar bei den Griechen, die haben sogar ihren eigenen Noah, sein Name ist Deukalion. Auch die Kelten und die Wikinger haben eine entsprechende Sage, ebenso die Inder. Lassen Sie mich Ihnen diesen Mythos erzählen. Manu, der Held der Geschichte, erblickt in einer Pfütze vor seinem Haus einen kleinen Fisch. Der Fisch ist in Wirklichkeit der Gott Vishnu, der Manu darum bittet, ihn vor den Gefahren der Welt zu beschützen, und ihm dafür eine große Belohnung verspricht. Manu fischt ihn heraus und gibt ihm einen kleinen Teich. Doch am nächsten Tag ist der Fisch so sehr gewachsen, dass Manu ihn zu einem See bringen muss. Doch dem Fisch wird auch der See zu klein. Schließlich muss ihn Manu ins Meer werfen. Zum Dank warnt ihn Vishnu vor einer bevorstehenden Überschwemmung und trägt ihm auf, ein starkes Schiff zu bauen und von allen Pflanzen der Welt Samen einzusammeln und von jedem Tier ein Paar und dann selber mit ihnen an Bord zu gehen. Als die Flut kommt, wird Manu gerettet, und Vishnu lenkt das Schiff über die Ozeane und setzt es auf einem Berg im Norden ab. Manu, Deukalion, Noah – es ist immer dieselbe Person oder Sagengestalt, meiner Auffassung nach. Möchten Sie noch andere Beispiele?« Catherine lächelte ihn still ermunternd an. Sie war beeindruckt. Rutherford sprach weiter, diesmal jedoch in tief nachdenklichem Ton. »Ich glaube, dass Professor Kent nicht nur davon überzeugt war, dass all diesen Mythen ein wahrer Kern zu Grunde liegt, sondern 32
auch, dass diese Sagen den Zweck hatten, eine geheime Botschaft – dieselbe geheime Botschaft – zu vermitteln, und dass uns unsere Vorfahren durch diese Sagen über die Jahrtausende hinweg vor einer bevorstehenden Katastrophe warnen wollten.« »Deshalb also schrieb er in dem Brief, er glaube, diese alte geheime Botschaft entziffert zu haben.« »Ja – das nehme ich an. Ich war sehr neugierig darauf, von ihm mehr darüber zu hören. Durchbrüche gelingen oft nicht den Fachleuten selbst, sondern einem Außenseiter, und dies versprach, der größte Durchbruch aller Zeiten zu sein. Ich war der Hoffnung, dass der Professor ein zweiter Heinrich Schliemann sei.« »Wer war das?« »Schliemann war jener Archäologe, der 1871 den Standort der antiken Stadt Troja entdeckte. Eigentlich war er ein Amateur. Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen und hatte mit fünfzig bereits ein Vermögen gemacht. Als ihm klar war, dass er niemals mehr zu arbeiten brauchte, ging er auf die Universität und studierte Altertumswissenschaften auf der Sorbonne in Paris. Dort befasste er sich mit der Ilias, der Geschichte von Troja. Er kam zu der Überzeugung, dass es sich dabei nicht um eine bloße Legende handelte, sondern um eine wahre Geschichte, dass der Dichter Homer in der Ilias eine echte Stadt und einen echten Krieg beschrieb und dass Achilles und Helena wirkliche Menschen waren, nicht nur die Erfindungen eines Schriftstellers. Natürlich glaubte ihm keiner, und er wurde in akademischen Kreisen als Spinner belächelt. Doch nachdem er drei Jahre lang die Ägäis abgesucht hatte, fand er die Ruinen von Troja und bewies allen das Gegenteil. Ich dachte, der Professor könnte ein zweiter Schliemann sein, verstehen Sie, ein Außenseiter, dem ein erstaunlicher Durchbruch gelingt, weil er sich nicht von den vorgefassten Meinungen und Theorien einschränken lässt – jemand, der seiner Intuition folgt.« Catherine war in Gedanken versunken. Irgendetwas sagte ihr, dass die esoterischen Forschungen des Professors in irgendeiner Weise mit den merkwürdigen Karten zusammenhingen, und ihre Intuition sag33
te ihr, dass sie James Rutherford vertrauen konnte, trotzdem hatte sie noch immer ihre Zweifel. Sie blickte tief in seine Augen und holte langsam Luft. Ihr Entschluss stand fest. Sie würde ihm die Karten zeigen, aber die Nachricht vorläufig geheim halten. »Ich möchte Ihnen etwas Wichtiges zeigen. Es wird Ihnen etwas seltsam vorkommen, aber es steht in Verbindung mit dem, was heute passiert ist. Sie sind ein Experte für das Altertum. Kennen Sie sich mit alten Karten aus?« Rutherford war sprachlos. »Äh, ja, ein wenig.« Catherine drehte sich zum Schreibtisch um und holte die Karten aus dem Papierstapel hervor. Während sie sie vor sich ausbreitete, wuchs ihre Überzeugung, dass es sich dabei um wirkliche Orte handelte. »Ich möchte, dass Sie sich diese ansehen und mir sagen, ob Sie sie erkennen oder ob sie Ihnen irgendetwas sagen. So seltsam das vielleicht klingen mag, aber es ist von großer Bedeutung. Professor Kent schickte sie mir, kurz bevor er starb.« Rutherford ging zum Schreibtisch hinüber und fing an, jede einzelne einer genauen Betrachtung zu unterziehen. Nach gut einer Minute blickte er auf und sah sie mit ernster Miene an. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen.« Catherines Mut sank. Doch dann lächelte er. »Es gibt jedoch jemand, der es kann. Dr. Von Dechend, emeritierter Professor der Geografie. Ich habe einige seiner Vorlesungen besucht – er ist ein Genie.« Catherines Augen leuchteten auf. »Natürlich! Von Dechend – warum bin ich nicht selbst auf ihn gekommen? Er ist hier, im All Souls College.« Rutherford sah sie erstaunt an. »Sie kennen ihn?« »Ja! Er ist mir nur nicht in den Sinn gekommen – wir sprechen nie über unsere Arbeit, aber im Gemeinschaftsraum plaudern wir immer miteinander.« Rutherfords Miene war ernst geworden. Er wollte nicht, dass sein 34
Treffen mit der schönen und faszinierenden Catherine Donovan bereits zu Ende ging. Die ganze Sache war viel zu aufregend – und weit entfernt von seiner akademischen Alltagsroutine. »Darf ich Sie begleiten? Vielleicht kann ich Ihnen doch noch hilfreich sein – obwohl ich bisher nicht viel tun konnte.« Catherine war sich nicht sicher, was sie sagen sollte. Worauf in aller Welt ließ sie sich ein? Gerade eben hatte sie noch ihre Semesterschlussvorlesung gehalten, und im nächsten Augenblick musste sie sich mit dem tragischen Tod ihres nahen Freundes auseinandersetzen und mit der Tatsache, dass er sich offenbar mit äußerst seltsamen Forschungen befasst hatte. Und nun schien sie gerade dabei zu sein in seine Fußstapfen zu treten und ihm ins Dunkel zu folgen … Sie sah James an. Sie war ihm für seine gelassene und beruhigende Art dankbar; und als sie sich vorstellte, dem dunklen Geheimnis des Todes von Professor Kent auf den Grund zu gehen, spürte sie, wie sich in ihrer Brust Angst ausbreitete … Aber da sie sich gleichzeitig zum ersten Mal, seitdem sie ihre Vorlesung abgebrochen hatte, wieder besser fühlte, fasste sie einen Entschluss. »Gerne. Ich würde mich sehr darüber freuen.«
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ZWEITER TEIL
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Das ikonenhafte Gebäude der Vereinten Nationen in New York steht wie ein Wächter dort, wo sich die First Avenue und die 46. Straße kreuzen, direkt am Ufer des East River, von wo man eine fabelhafte Aussicht auf ganz Manhattan hat. Von den oberen Stockwerken aus sieht man im Westen den Central Park, und im Osten breiten sich die Stadtteile Queens und Brooklyn aus, die durch das unverwechselbare Netz von Brücken mit der Insel Manhattan verbunden sind. Das Gebäude wurde nach dem Zweiten Weltkrieg entworfen, und der Bau der neununddreißig Stockwerke 1962 vollendet. Der weltberühmte Plenarsaal der Generalversammlung, in dem für jedes Land dieser Erde mindestens ein Sitz zur Verfügung steht, befindet sich auf der dritten Etage, im eigentlichen Herzen des Baus. Wenig bekannt ist jedoch die Tatsache, dass das UNO-Gebäude nicht nur hoch in den Himmel hinaufragt, sondern auch tief in die Erde hinabreicht. Insgesamt sind elf stählerne, mit Beton verstärkte Kellergeschosse tief ins Erdreich von Manhattan Island versenkt. Drei dieser Stockwerke dienen als Garage für all die diplomatischen Fahrzeuge, die ständig zwischen den zahlreichen ausländischen Botschaften und dem UNO-Hauptquartier verkehren. Ein weiteres Stockwerk beherbergt die riesigen Installations- und Klimaanlagen, die für ein Gebäude dieser Größe nötig sind. Doch unterhalb dieser Versorgungsebenen gibt es zusätzliche Geschosse, die in den Tagen vor der Kubakrise in weiser Voraussicht dafür geplant wurden, die Vollversammlung im Falle eines Großangriffs auf New York City zu beherbergen. Sie sind durch ein separates Liftsystem in der Nordostecke des Gebäudes erreichbar, und alle wichtigen Einrichtungen der oberen Etagen haben hier unten ihre Entsprechung, wie bei jeder Regierungs- und Militäranlage der USA: Es gibt eine riesige Kantine, drei Etagen nur 38
mit Büros sowie ein ganzes Stockwerk, das der Unterkunft dient. Und nicht zuletzt gibt es eine detailgetreue Kopie des großen Saals der Vollversammlung, der im Falle einer globalen Katastrophe zum Einsatz käme. Dieser Ersatzsaal, der sich im siebten Untergeschoss befindet, wurde bislang noch nicht genutzt, um die Generalversammlung zu beherbergen. Unmittelbar nach den Anschlägen am 11. September 2001 erwog der Generalsekretär diese Idee flüchtig, kam dann aber zum Schluss, dass damit ein falsches Signal an die Weltöffentlichkeit gesendet würde. Vorläufig sollten die gesamten Noteinrichtungen also leer bleiben, geschützt hinter Schloss und Riegel.
Es war ein Dienstagmorgen im März, 7 Uhr Eastern Standard Time. Die beiden geräumigen Fahrstühle, die in die unterirdischen Geschosse hinunterführten, waren seit einer Stunde in Dauerbetrieb. Seit sechs Uhr fuhr eine mehr oder weniger ununterbrochene Schlange von Limousinen und BMWs vor dem UNO-Gebäude vor und spuckte seine Passagiere auf dem Vorhof aus. Es waren ausschließlich Männer, sie kamen alleine und trugen teure Anzüge. Die Mehrheit von ihnen war weiß, dennoch schienen alle Völker des Planeten vertreten zu sein. Ohne nach links oder rechts zu blicken, schritten sie die Sicherheitsabsperrung entlang, die nach dem 11. September vor dem Gebäude aufgestellt worden war, wiesen rasch ihre Legitimation vor und gingen durch die gewaltigen Glasdrehtüren, wo sie in den gebrochenen Sonnenstrahlen verschwanden. Nach den Glastüren durchquert man in ein paar Schritten die Marmorvorhalle und gelangt zu jenem Korridor, der zur nordöstlichen Ecke des Gebäudes und zu den Fahrstühlen in die Untergeschosse führt. Niemand vom Sicherheits- oder sonstigen Personal des UNOGebäudes zuckte angesichts dieses Stroms gut gekleideter Ankömmlinge mit der Wimper. Das UNO-Gebäude wird jährlich von mehr Menschen besucht als jedes andere öffentliche Gebäude der Welt, und 39
zudem schien jeder dieser morgendlichen Besucher die nötigen Sicherheitsbestimmungen erfüllt zu haben. Es war nichts Ungewöhnliches daran, dass elegant gekleidete Herren mittleren Alters zielstrebig durch die marmornen Korridore der Macht schritten. Jeder dieser Besucher wusste genau, wohin er ging, und alle waren im Besitz von Sicherheitsschlüsseln für die Fahrstühle. Um sieben Uhr 15 herrschte im siebten Untergeschoss bereits emsiges Treiben. Der jungfräuliche Ersatzsaal für die Vollversammlung war der Schauplatz einer völlig außerplanmäßigen und ziemlich unheimlich wirkenden Zusammenkunft. Bis sieben Uhr 30 hatten sich in dem unterirdischen Raum dreihundert Männer versammelt, die bequem in den blauen Sitzreihen des Hufeisens Platz fanden. Die Zusammenkunft der Korporation konnte beginnen. Vorne am Rednertisch, wo im Ernstfall der UNO-Generalsekretär selbst säße, wartete geduldig ein blasser, dunkelhaariger, etwa sechzig jähriger Mann. Seine Hände waren auf der Tischplatte verschränkt, seine Augen starrten in den Saal hinaus. Es handelte sich um Sekretär Miller, und als Sekretär der Korporation war es seine Aufgabe – bei den seltenen Anlässen, die es erforderten –, die Zusammenkünfte des Weltregierungsrates einzuberufen. Heute war einer dieser Anlässe. Genau um sieben Uhr 40 schob er seinen Stuhl vom Tisch weg und erhob sich. Er war etwa eins fünfundsiebzig groß und sah, genau wie die anderen Männer im Saal, wie ein erfolgreicher Wall-Street-Banker oder Anwalt aus. Sein einziges auffallendes Merkmal waren seine dunklen Augen mit den schweren Lidern, unter denen er durch ein Paar dicke Brillengläser in den Saal spähte. Er wirkte erregt. Unter normalen Umständen hätte er mit den Ankömmlingen Scherze und Nettigkeiten ausgetauscht und Hände geschüttelt, doch heute schien er aus dem Gleichgewicht zu sein.
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Er war vor den Fahrstühlen langsam auf und ab gegangen, mit düsteren Falten auf der Stirn und einem Ausdruck völliger Konzentration. Es war äußerst ungewöhnlich von dem geheimen Vorstandsgremium der Korporation, ihm aufzutragen, den gesamten Weltregierungsrat einzuberufen. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte es keine solche Zusammenkunft mehr gegeben. Was bedeutete das alles? Was hatte das Gremium mitzuteilen? Wen würde es als Abgeordneten schicken? Doch bevor Miller sich länger darüber den Kopf zerbrechen konnte, wurde die Stille des Korridors vom Klingeln der Fahrstuhlglocke unterbrochen. Der Gesandte des Gremiums war angekommen. Als sich die Lifttüren öffneten, stockte Sekretär Miller das Blut. Dort stand, ganz allein im sargähnlichen Viereck des Aufzugs, kein Geringerer als Senator Kurtz. Sekretär Miller konnte seinen Schock kaum verhehlen. Senator Kurtz war ein prominenter und einflussreicher Politiker. Er war mit zahlreichen Männern aus dem engsten Umfeld des Präsidenten befreundet und trat deshalb oft in Talkshows auf. Er konnte auf eine solide Unterstützung aus den religiösen Kreisen seiner Südstaaten-Wählerschaft zählen, die ihm den Aufstieg in die höchsten politischen Sphären ermöglicht hatte. Seine privaten Verflechtungen mit der Sicherheits- und Waffenindustrie waren ein offenes Geheimnis, genauso wie die Tatsache, dass er weithin als kommender Verteidigungsminister gehandelt wurde. Doch obwohl die Korporation in ihren Reihen – nebst Politikern jeglicher ideologischer Richtungen aus aller Welt – zwei Dutzend US-Senatoren und Kongressmitglieder im Ruhestand aufweisen konnte, war es noch nie da gewesen, dass ein gestandenes Mitglied einer amtierenden Regierung aktiv im Gremium tätig war. Sekretär Miller war ein typisches Beispiel für die Männer, die das Rückgrat der Korporation bildeten. Er war ein Financier, der in seinem eigenen Reich über eine Macht verfügte, um die ihn die römischen Kaiser beneidet hätten. Er hatte von seinem Vater die Aufsicht über die Grimsel AG, eine Schweizer Privatbank, geerbt, zudem besaß er beträchtliche Aktienanteile an zahlreichen Rohstoffunterneh41
men und beschäftigte selbst Tausende von Angestellten auf der ganzen Welt. Doch er war eine graue Eminenz – in jeder Hinsicht ein Mann, der das Licht der Öffentlichkeit mied. Er war ein treuer Diener der Korporation, und seine Loyalität war ihm tausendfach vergolten worden, dennoch war er in die eigentliche Quelle und Gestaltung der Macht auf Gremiumsebene nicht eingeweiht. Er wusste nicht, auf welche Weise die Mitglieder des Gremiums gewählt wurden. Ja, er wusste nicht einmal, wie viele Mitglieder das Gremium jeweils hatte. Aber er wusste, dass es für einen langjährigen und immer noch amtierenden Politiker wie Senator Kurtz alles andere als üblich war, so sichtbar involviert zu sein. Nicht wenige in Senator Kurtz' eigener Regierung, den Präsidenten der Vereinigten Staaten eingeschlossen, wären über das tatsächliche Ausmaß der Macht der Korporation schockiert gewesen. Sekretär Miller schluckte und trat einen Schritt vor. »Willkommen, Senator. Es ist mir ein großes Vergnügen, Sie heute hier zu begrüßen.« Der Senator trat aus dem Fahrstuhl. Mit seinen eins fünfundachtzig wirkte er so gesund und vital, wie man ihn aus dem Fernsehen kannte. In jüngeren Jahren auf der Universität war er ein erfolgreicher Sportler gewesen, und offensichtlich trainierte er noch immer regelmäßig. Sein einst schwarzes Haar ergraute an den Schläfen elegant, und er war auf seine maskuline, noble Art nach wie vor ein attraktiver Mann. Er streckte die Hand aus. »Sie müssen Sekretär Miller sein.« »Ja, Sir, das ist richtig. Herzlich willkommen. Ich muss wirklich sagen, es ist eine große Ehre …« Die dunklen Augen des Senators warfen einen prüfenden Blick durch die Gänge. Seine Leibwächter warteten im Parterre. Es durften keine Ausnahmen gemacht werden, nicht einmal für ein amtierendes Senatsmitglied der Vereinigten Staaten. Sekretär Miller sagte nervös: »Es ist alles vorbereitet. Ich habe den gesamten Regierungsrat der Korporation einberufen – ganz nach dem Wunsch des Gremiums.« 42
Da die Nettigkeiten ausgetauscht waren, sagte Senator Kurtz mit einem stählernen Ton in der Stimme: »Sind Sie absolut sicher, dass wir hier nicht aufgespürt werden können?« Er blickte um sich und fuhr schroff fort: »So ironisch es sein mag, dass wir den Startschuss für unsere endgültige Machtergreifung im Hauptquartier der Vereinten Nationen geben, käme es doch sehr ungelegen, wenn wir auf unserer letzten Etappe unnötigerweise die Aufmerksamkeit auf uns zögen.« Leicht beleidigt wies der Sekretär mit seinem Arm den Weg zum großen Saal, wie ein Page seinem König. »Wir haben diesen Ort nicht aus Scherz gewählt. Das UNO-Gebäude bietet die perfekte Tarnung für unser Kommen und Gehen. Das Grundstück ist im Besitz der New Yorker Hafenbehörde, die wiederum unserer Kontrolle unterliegt. Und wie immer wird es unsere erste und letzte Zusammenkunft an diesem Ort sein.« Der Senator entspannte sich ein wenig und lächelte freundlich. »Sehr gut. Ausgezeichnete Arbeit. In absehbarer Zeit wird für all das hier ohnehin kein Bedarf mehr sein …« Er ließ in einer ausladenden Geste seine linke Hand schweifen. »Unsere Para-Regierung muss höchstens noch für ein paar Tage unter außerlegalen Bedingungen existieren, länger nicht. Am Montagmorgen, bei Tagesanbruch der Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche, können wir diese ganze Farce endlich beenden.« Er hielt inne und fragte den Sekretär in barschem Ton, als sei er auf eine Lüge gefasst: »Und der Professor?« Millers Augen verengten sich unmerklich. Unter dem prüfenden Blick des Senators fühlte er sich äußerst unwohl. Jede Faser seines Körpers sagte ihm, dass er nicht hier sein sollte. Aber weshalb war der Senator so besessen vom Professor und der Vernichtung jeglicher Dokumente seiner Arbeit – wenn sie doch kurz vor dem endgültigen Sieg standen? Welche mögliche Bedrohung konnten ein paar alte Landkarten darstellen? Sekretär Miller konnte bloß vermuten, dass das Gremium seine eigenen dunklen Gründe dafür hatte; für ihn war die ganze Angelegenheit völlig schleierhaft. Er blickte dem Senator gerade in die Augen, schluckte schwer und nickte mit dem Kopf. »Es ist erledigt.« 43
Senator Kurtz grunzte zufrieden. Dann legte sich seine Stirn in Falten. »Eine böse Sache, Sekretär, eine böse Sache. Aber wie sagte Shakespeare doch gleich? ›Was sein muss …‹« Dann drehte er sich plötzlich um und gab dem Sekretär einen Klaps auf den Rücken. »Machen Sie sich kein schlechtes Gewissen, Sekretär. Wir befinden uns im Krieg, und der Professor stellte für die Interessen der Korporation eine direkte Bedrohung dar. Kriege sind kompliziert und schmutzig – da muss man Verluste in Kauf nehmen.« Die leise Andeutung eines Lächelns spielte um die Mundwinkel des Senators. Aber so schnell es aufgetaucht war, verschwand es wieder, und stattdessen erschien ein Ausdruck von Argwohn auf seinem Gesicht. Der harte Blick des Senators richtete sich noch einmal scharf auf den Sekretär. Sein heiterer und beruhigender Ton wurde kalt und misstrauisch. »Darf ich Sie an etwas erinnern, Sekretär, an etwas von größter Wichtigkeit. Auf dieser Erde gibt es nichts, was unsere Sache mehr gefährdet, als etwas im Alleingang zu tun. Nichts. Der Professor ist ein gutes Beispiel dafür. Ein Segen unserer Verfassung ist, dass wir den Leuten einen gewissen Spielraum lassen, eine gewisse Freiheit. Einigen ist es aber bereits zu viel Freiheit.« Der Sekretär stand wie angewurzelt da. »Und das ist natürlich eine gute Sache«, fuhr Kurtz fort. »Das Problem ist nur, dass sich die Menschen gewisse Dinge in den Kopf setzen, weil sie nicht fähig sind, das Gesamtbild zu sehen – nur wir sind dazu fähig. Und so leid es mir tut, aber wir können es uns nicht leisten, auch nur das geringste Risiko einzugehen. Wenn das bedeutet, dass gewisse Leute zum Schweigen gebracht werden müssen, dann ist das der Preis, den wir bezahlen müssen. Zeigen Sie mir einen Krieg ohne Verluste, und ich zeige Ihnen eine rasche Niederlage … Man darf das Gesamtbild nie aus den Augen verlieren. Der Korporation muss es erlaubt sein, ihre Arbeit zum Wohl der Menschheit zu vollenden. Was für die Korporation gut ist, ist auch gut für Amerika. Gott stellte uns die Rohstoffe der Natur zur Verfügung, und wir müssen sie ausschöpfen, bevor uns andere zuvorkommen.« 44
Die beiden begannen, von den Fahrstühlen in Richtung Plenarsaal zu gehen. Senator Kurtz legte seine Hand auf die Schulter des Sekretärs – wie ein Coach, der einen seiner Spieler aufs Spielfeld begleitet. »Hätten die Menschen nur den Hauch einer Ahnung davon, was in nächster Zukunft auf sie zukommt, verlöre unsere Regierung von heute auf morgen die Kontrolle. Das Desaster von New Orleans erschiene im Vergleich dazu wie ein Picknick, und all unsere Anstrengungen würden in einem Augenblick zunichte. Ich übertreibe nicht. Es käme zu Ausschreitungen auf den Straßen, die Zivilisation würde völlig zusammenbrechen. Vergewaltigungen, Plünderungen, Anarchie wären die Folge. Morde wären an der Tagesordnung. Die Entscheidung, wann der Zeitpunkt für ein solches Chaos gekommen ist, muss ganz in unseren Händen liegen.« Der Sekretär murmelte seine Zustimmung. Sie näherten sich der Tür zum großen Saal. Der Senator blieb noch einmal stehen, als komme ihm ein besonders unerquicklicher Gedanke. »Aber wir dürfen nicht aufgeben«, sagte er. »Das Gremium fordert, dass Sie die früheren Mitarbeiter des Professors unter scharfer Beobachtung halten. Höchste Priorität hat nun das Auffinden und Zerstören der restlichen Landkarten. Keiner, der sich auch nur im gleichen Zimmer mit den Karten aufgehalten hat, darf entkommen. Wurden die zuständigen Agenten davon in Kenntnis gesetzt und zu seinem College entsandt? Ich nehme an, dass Sie die Karte, die uns in Peru in die Hände fiel, verbrannt haben.« »Ja, Senator, selbstverständlich – wie Sie es angeordnet hatten.« Senator Kurtz rückte seine Krawatte zurecht und holte tief Luft, bevor er sich noch ein letztes Mal vertraulich an den Sekretär wandte: »Gut. Dann ist alles in Ordnung. Was die Korporation tut, ist zum Wohl der Öffentlichkeit, dennoch muss es hinter verschlossenen Türen bleiben … Das ist der Lauf der Dinge. Und nun stellen Sie mich der Versammlung vor. Es ist Zeit, dass ich die gute Nachricht verkünde. Nur noch sechs Tage bis zur Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche, dann ist unsere Stunde endlich gekommen …« 45
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Catherine und James gingen die letzten Stufen hoch und erreichten den obersten Absatz im Treppenhaus Nummer Zwölf. Catherine war etwas außer Atem und keuchte glücklich: »Puh! Zum Glück ist er frei …« Die einzige Holztür auf diesem Absatz stand eine Handbreit offen. »Er zeigt uns nicht seine Eiche.« Rutherford runzelte die Stirn. »Er zeigt uns bitte was nicht?« »Ach, das ist eine alte Redensart. Alle Zimmer haben zwei Türen. Eine äußere aus Eichenholz und eine innere. Wer die äußere schließt, macht damit deutlich, dass er keine Besucher empfangen will – dann ›zeigt man seine Eiche‹. Kommen Sie.« Rutherford blieb auf der letzten Stufe stehen, seine Hand auf dem Geländer, und sah Catherine an. »Was meinen Sie, sollten wir ihn von Professor Kents Tod unterrichten, falls er noch nicht davon gehört hat?« Catherine war inzwischen die Zielstrebigkeit in Person. Ihre frühere Verwirrung war stählerner Entschlossenheit gewichen. »Nein – das halte ich für keine gute Idee. Wenn er es noch nicht weiß, sollten wir es nicht zur Sprache bringen. Wir sind nur hier, um ihn über die Karten zu befragen.« Sie klopfte laut. Nach einer langen Minute knarrte die schwere Eichentür in ihren Angeln und öffnete sich. Sie gab den Blick auf ein kleines, dunkles Vorzimmer frei und auf eine kleine, füllige Gestalt. Dr. Von Dechend war Anfang sechzig, hatte grau meliertes Haar und einen abenteuerlichen, etwas welken rötlichen Schnurrbart. Er trug einen eleganten, leicht abgewetzten dreiteiligen Tweedanzug mit Fischgrätmuster. Er beugte sich vor und musterte sie durch seine dicken Brillengläser. Der Duft von frischem Pfeifenrauch 46
lag in der Luft. Nach ein, zwei Sekunden erhellte sich sein Gesicht. »Catherine! Was für eine schöne Überraschung. Kommen Sie herein, kommen Sie sofort herein und trinken Sie eine Tasse Tee mit mir. Und wen bringen Sie denn da mit … einen neuen Freund vielleicht?« Catherine spürte, wie sie errötete. »Nein – das ist ein Kollege vom Brasenose College. James Rutherford. James ist Altphilologe und Experte fürs Altertum.« Dr. Von Dechend, der merkte, dass es sich nicht um einen privaten Besuch handelte, führte sie in sein gemütliches Arbeitszimmer. Catherine wirkte ungewöhnlich angespannt. Sobald die Höflichkeiten ausgetauscht und der Tee bestellt war und sie in bequemen Ledersesseln vor dem leeren Kamin saßen, kam er zur Sache. »Nun, wo drückt denn der Schuh?« Catherine warf Rutherford einen nervösen Blick zu, bevor sie begann. »Wir würden gerne wissen, ob Sie sich vielleicht ein paar Landkarten ansehen und uns sagen könnten, ob Sie sie wiedererkennen.« Sie legte den Umschlag sorgfältig auf den Tisch. Von Dechend zündete seine Pfeife an, tauschte seine dickrandige Brille gegen eine Lesebrille aus, entnahm dem Umschlag die Landkarten und breitete sie sorgsam auf seinem Schreibtisch aus. Er spürte in seinen zwei jungen Gästen eine Wissbegierde, die über die übliche akademische Neugier hinausging. Ich hoffe, dass ich diese Dinger erkenne, dachte er, sonst werde ich zwei sehr enttäuschte Gesichter vor mir haben. Er richtete seine Schreibtischleuchte direkt auf die erste Karte und nahm die vor ihm liegenden Dokumente in Augenschein. »Hmm. Sehr, sehr interessant. Wirklich äußerst interessant.« Er sah Catherine über den Rand seiner Brille an. »Woher haben Sie denn diese Karten, wenn Sie mir diese Frage erlauben?« Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte sie. Sie sah zu Rutherford 47
hinüber. Er hob die Augenbrauen, um ihr anzudeuten, dass die Entscheidung bei ihr lag. »Von Professor Kent.« »Ach! Von Kent also. Warum in aller Welt sollte ausgerechnet er an diesen Karten interessiert sein?« »Nun, wenn Sie uns etwas mehr über sie erzählen, kommen wir vielleicht dahinter.« »Nun gut, aber machen Sie sich auf etwas gefasst. Hier handelt es sich um keine gewöhnlichen Landkarten. Hier handelt es sich um die, sagen wir, beunruhigendste Karte aller Zeiten.«
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Sekretär Miller erhob sich und klopfte an das Mikrofon, das vor ihm auf dem Tisch stand. Allmählich verstummte das Stimmengewirr im riesigen Plenarsaal. Er räusperte sich und sagte: »Meine Herren, ich übergebe das Wort an Senator Kurtz.« Er stellte das Mikrofon respektvoll vor den Senator und setzte sich wieder. Aus dem Publikum erhob sich leises beifälliges Gemurmel, als der Senator sich aus seinem Stuhl erhob. Er nahm das Mikrofon und begann zu sprechen: »Vielen Dank, Sekretär Miller, und vielen Dank Ihnen allen, meine Herren, für Ihr heutiges Kommen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es auch im Zeitalter der Videokonferenzen keinen Ersatz für eine wirkliche Zusammenkunft gibt, bei der man persönlich miteinander reden und vielleicht sogar ein Bier trinken kann. Ich hoffe, unser Sekretär wird uns dafür später noch Gelegenheit geben.« Anerkennendes Lachen ging durch den Saal. Senator Kurtz warf dem Sekretär einen Blick und ein gönnerhaftes Lächeln zu, bevor er fortfuhr. »Nun, einige von Ihnen sind von weit her zu diesem Treffen angereist, weswegen ich Ihnen gleich zu Beginn versichern möchte, dass sich Ihre Bemühungen, rechtzeitig hierherzukommen, auf jeden Fall gelohnt haben. Heute werden wir den kritischen Punkt erreichen – den Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt.« Sein Publikum hing mit gespannter Aufmerksamkeit an seinen Lippen. »Am nächsten Montagmorgen um acht Uhr 05 werden sich Dinge ereignen, welche die völlige Zerstörung des globalen Status quo und unseren Aufstieg zu weltweiter Macht zur Folge haben werden. Ich spreche vom letzten, entscheidenden Streich.« 49
Erregtes Flüstern ging durch den Saal. Sekretär Miller musterte die versammelten Männer – sie waren bereits Wachs in den Händen des Senators. Er war zweifellos ein begnadeter Redner. Man konnte sich leicht vorstellen, wie er im Fernsehen das amerikanische Volk einschüchterte, um sich dann in nächster Minute gleich wieder mit ihm zu versöhnen. Der Sekretär warf einen Blick auf seine Uhr, erhob sich unauffällig von seinem Stuhl und zog sich in Richtung Tür zurück. Niemand nahm davon Notiz. Alle waren von der Rede des Senators gebannt, der ihnen die einzelnen Schritte des Plans erklärte. Ein stämmiger Sicherheitsbeamter öffnete Miller die Tür, als er sich näherte und leise in den Korridor hinaustrat. Trotz seiner persönlichen Vorbehalte, was die Verfolgung des Professors und seiner Mitarbeiter betraf, kam er um seine Aufgabe nicht herum. Die Karten des Professors waren noch immer nicht ausfindig gemacht – es war gut möglich, dass genau in diesem Augenblick irgendwo irgendjemand sie betrachtete. Höchste Zeit, die Agenten in England zu aktivieren.
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Dr. Von Dechend zeigte auf eine der Landkarten auf dem Tisch. Catherine und James starrten sie an, ohne viel zu erkennen. Sie war so abgenutzt, dass nur schwache Umrisse von Land und hier und dort ein Fluss oder eine Insel auszumachen waren. »Unser empirisches westliches Wissen ist wie ein riesiger Damm, der aus vielen, vielen einzelnen Wissensbausteinen errichtet wurde«, fing der alte Mann an. »Und manchmal stoßen die Wissenschaftler auf einen Baustein, der einfach nicht an seinen vorgesehenen Platz im Damm passt. Die Piri-Reis-Landkarte, die hier vor uns liegt, ist ein Paradebeispiel dafür. Niemand, und ich wiederhole: niemand, hat eine Erklärung für den sperrigen Baustein, den die Piri-Reis-Karte darstellt.« Dr. Von Dechend rückte seine Brille zurecht und fuhr fort. »Sie wurde 1513 in Konstantinopel von Piri Reis, dem Admiral der türkischen Flotte, angefertigt und auf Gazellenleder gezeichnet. Sie stellt die Ostküste Südamerikas, die Westküste Afrikas und die Nordküste der Antarktis dar – als diese noch ein tropisches Paradies und nicht von Eis bedeckt war. Piri Reis nahm die Vermessung natürlich nicht persönlich vor. Er sagt, er habe viele verschiedene Karten aus den Archiven des ottomanischen Reiches verwendet. Nun wissen wir aber auch mit großer Gewissheit, dass die Antarktis nur von zirka 14.000 bis 4.000 vor Christus eisfrei war. Davor herrschte die Eiszeit, und die Antarktis war unter Milliarden Tonnen von Eis begraben, genau wie heute. Sie sehen nun also, vor welche Schwierigkeiten uns diese Landkarte stellt. Es ist unmöglich, dass die Küste nach 4.000 vor Christi Geburt kartographiert wurde – da sie seither und bis zum heutigen Tag unter einer Eisschicht liegt –, doch die Zeit vor 4.000 vor Christus wird Steinzeit genannt, und es gibt keine uns be51
kannte Zivilisation, die damals bereits die Fähigkeit besaß, jene Küste zu vermessen. Kurz, diese einfache Karte scheint die Fundamente der Weltgeschichte, wie wir sie kennen, zu untergraben.« »Das ist ja unglaublich«, sagte Catherine. Sie warf Rutherford einen Blick zu. Er sah ebenso verblüfft aus wie sie. »Genau. Deshalb halte ich sie für eine der beunruhigendsten Landkarten aller Zeiten. In den Gängen dieser Universität und überhaupt in den Universitäten der westlichen Welt« – Dr. Von Dechend fuhr mit der Hand durch die Luft und wies auf die Wände seines Zimmers und darüber hinaus – »beginnt die Zivilisationsgeschichte ungefähr 4.000 vor Christus bei den Sumerern. Die letzte Eiszeit endete so etwa um 8.000 vor Christus, und mit dem Schmelzen des Eises gelangte Feuchtigkeit in die Atmosphäre, und Leben kehrte auf die Erde zurück. Für die Jägervölker der Steinzeit, die sich durch den langen eiszeitlichen Winter gekämpft hatten, wurde das Leben auf einmal etwas einfacher, und dies führte in Sumer und den Ländern des fruchtbaren Halbmondes, die im heutigen Irak liegen, zur Entwicklung der ersten sesshaften Landwirtschaftskulturen. Gemäß der konventionellen Geschichtsschreibung war die Menschheit bis 4.000 vor Christus rückständig – jedenfalls nicht dazu in der Lage, die Welt zu kartographieren. Seitdem hat sich die Zivilisation, und ich gebrauche dieses Wort mit der nötigen Ironie, bis zum heutigen Tag weiterentwickelt, und ihr Fortschritt wird inzwischen an Atombomben, Raumschiffen und Weltkriegen gemessen.« Eindeutig kein Anhänger des Fortschritts, dachte Rutherford. Aber das Ganze ist wirklich erstaunlich. Wie ist der Professor in den Besitz dieser Karten gelangt? Und was hatte er mit ihnen vor? »Wie Sie nun verstehen«, schloss Von Dechend, »gibt es für die PiriReis-Karte absolut keinen Platz in dieser offiziellen Geschichtsschreibung, und deshalb wird sie schlicht beiseitegelassen.« »Aber wie ist es möglich, dass die konventionelle Version der Geschichte immer noch vorherrscht?«, fragte Rutherford. »Warum erzählen Sie nicht allen von dieser Karte?« Dr. Von Dechend sah ihn lakonisch an. »Mein Guter, der weltberühmte Physiker Max Planck sagte einst das 52
Folgende:« – Dr. Von Dechend räusperte sich theatralisch – »›Eine wissenschaftliche Wahrheit setzt sich nicht durch, weil sie ihre Gegner überzeugt und ihnen das Licht der Klarheit schenkt, sondern weil diese Gegner allmählich sterben und eine neue Generation heranwächst, die mit der Wahrheit vertraut ist‹.« Wenn dem so wäre, dachte Catherine, dann wäre die Vergangenheit mit vergessenen, längst ausgelöschten Wahrheiten übersät. Und umgekehrt könnte man Menschen einfach töten, damit die Weltsicht der Mörder weiterhin die Oberhand behält. Dieser Gedanke erschreckte sie, und sie musste an den Professor denken. Aber Menschen werden wegen ihrer Überzeugungen doch nicht mehr umgebracht, oder? Tief beunruhigt versuchte sie, ihre Aufmerksamkeit wieder auf Von Dechend zu lenken, der sich inzwischen erhoben hatte. »Lassen Sie mich Ihnen einen interessanten Brief zeigen, wenn wir schon bei diesem Thema sind … Es ist ein Brief, den Oberstleutnant Ohlmeyer von der US Luftwaffe an Professor Charles Hapgood vom Keene College, New Hampshire, genauso ein Kartenliebhaber wie ich, geschrieben hat. Dieser Professor Hapgood hatte ihn darum gebeten, die Piri-Reis-Karte mit den Resultaten der Vermessung der Antarktis zu vergleichen. Ohlmeyers Antwort spricht für sich.« Von Dechend wackelte zu seiner Bücherwand hinüber und zog eine Mappe mit einem Bündel Briefen aus einem der oberen Regale. Er legte sie so auf den Schreibtisch, dass beide sie lesen konnten. 6. Juli 1960 USAF Westover Air Force Base Sehr geehrter Professor Hapgood, Wir sind Ihrer Bitte, gewisse ungewöhnliche Eigenheiten der Piri-Reis-Karte von 1513 zu untersuchen, gerne nachgekom53
men. Die Annahme, dass der untere Teil der Karte die PalmerHalbinsel und die Prinzessin-Martha-Küste des Königin-MaudLandes der Antarktis abbildet, ist vernünftig. Unseres Erachtens ist dies die logischste und aller Wahrscheinlichkeit nach korrekte Interpretation der Karte. Die geografischen Details auf dem unteren Teil der Karte stimmen auf bemerkenswerte Weise mit den Resultaten jenes seismischen Profils überein, das die Schwedisch-Britische Antarktisexpedition 1949 von der Eiskappe machte. Dies zeigt, dass die Küstenlinie kartographiert worden sein muss, bevor sie von der Eiskappe überzogen wurde. Die Eiskappe ist in dieser Region etwa anderthalb Kilometer dick. Wir haben keine Erklärung dafür, wie man die Messwerte auf dieser Karte mit dem geografischen Wissensstand von 1513 in Einklang bringen kann. Harold Z. Ohlmeyer, Oberstleutnant, USAF Rutherford konnte sich nicht mehr länger zurückhalten. »Aber das ist einfach unglaublich! Warum haben wir von dieser Karte nie etwas gehört? Warum hat sie nie größeres Interesse hervorgerufen?« Vor Verwirrung stand er auf und ging im Zimmer auf und ab. Catherine fielen seine starken, breiten Schultern und sein unordentliches Haar auf, das über den Kragen fiel. Von Dechend nickte weise mit dem Kopf und fuhr fort: »Tja, erstaunlicherweise nahm Hapgood, als er mit Hilfe der US Air Force diese Entdeckung gemacht hatte, mit Albert Einstein Kontakt auf. Er dachte wohl, dass wenn er sich schon Unterstützung holte, warum dann nicht gleich beim Vater der modernen Physik persönlich.« »Einstein! Wow! Hapgood hat auf jeden Fall nicht herumgetrödelt«, sagte Rutherford. »Das stimmt. Und er entschied sich für den richtigen Mann. Einstein war, wie alle wirklich großen Denker, neuen Ideen gegenüber immer sehr offen, auch wenn sie zu den Überzeugungen des Wissenschaftsbetriebs in völligem Widerspruch standen. Sehen Sie sich dies an – es ist 54
ein Ausschnitt aus dem Vorwort, das Einstein für eines von Hapgoods Büchern geschrieben hat.« Von Dechend nahm ein weiteres Buch aus dem Regal, öffnete es auf der entsprechenden Seite und schob es vor sie hin. Ich erhalte immer wieder Zuschriften von Menschen, die mich um meine Meinung zu ihren unveröffentlichten Ideen bitten. Es versteht sich von selbst, dass die Mehrzahl dieser Ideen sehr selten wissenschaftlich stichhaltig sind. Doch der erste Brief, den ich von Mr.. Hapgood erhielt, elektrisierte mich. Seine Idee ist einzigartig, von großer Einfachheit und – sollte sie sich als wahr erweisen – von großer Bedeutung für alles, was mit der Geschichte der Erdoberfläche zusammenhängt … A. Einstein Catherine und James sahen einander an. Von Dechend war nun nicht mehr zu bremsen. Mit geschlossenen Augen lehnte er sich in seinen Stuhl zurück. »Unser Professor Hapgood«, fuhr er fort, »war deshalb an der PiriReis-Karte interessiert, weil er überzeugt war, dass sie ihm half, seine Theorie von der Verschiebung der Erdkruste zu untermauern. Er glaubte, dass die Erdkruste gelegentlich verrutschte. Sie sind wohl mit der Theorie der tektonischen Erdverschiebung vertraut?« Beide nickten. »Wo zwei Kontinentalplatten aufeinandertreffen, herrscht normalerweise viel vulkanische Aktivität«, sagte Catherine. »Ganz recht. Die San-Andreas-Verwerfung, die quer durch Kalifornien verläuft, ist ein Beispiel für das Aufeinandertreffen zweier tektonischer Platten. Deshalb wird Kalifornien regelmäßig von Erdbeben heimgesucht. Wie auch immer, Hapgood war überzeugt, dass nicht nur einzelne Platten aufeinandertreffen und sich aneinander reiben, sondern dass sich manchmal alle Platten gleichzeitig bewegen. Stellen Sie sich die Lithosphäre, die äußerste Kruste der Erde, wie die Schale eines riesi55
gen Eis vor. An einigen Stellen ist die Lithosphäre kaum fünfzig Kilometer dick. Darunter brodeln geschmolzenes Gestein, Metalle und alle möglichen Gase und Flüssigkeiten. Nun, rein theoretisch gibt es keinen Grund, warum Hapgood nicht recht haben könnte. Er behauptete, die Antarktis sei früher deshalb eisfrei gewesen, weil sie sich an einem völlig anderen Ort befunden habe – ungefähr dreißig Grad nördlicher. Interessant, nicht wahr? Und Einstein unterstützte ihn darin – er glaubte ebenfalls, dass die Piri-Reis-Karte echt war. Doch weder Hapgood noch Einstein lieferten Erklärungsversuche dafür, wer denn um 4.000 vor Christus die Fertigkeit besessen haben sollte, die Antarktis zu vermessen und zu kartographieren. Es bleibt bis heute ein großes Rätsel.« Catherine und Rutherford starrten vor sich hin, während sich Dr. Von Dechend die übrigen Landkarten ansah. Er ließ ein amüsiertes und erregtes Murmeln hören, nickte dann ernst mit dem Kopf und trat einen Schritt zurück. »Er besitzt sie alle!«, stieß der Geografieprofessor voller Verwunderung aus. »Was meinen Sie damit?«, fragte Catherine ungeduldig. »Kent hat es geschafft, Kopien der vier merkwürdigsten Landkarten der Welt zu beschaffen. Sehen Sie selbst!« Von Dechend schlurfte nun aufgeregt um den Tisch herum, um jede der Karten wiederholt zu betrachten. »Hier haben wir eine Karte von einem der berühmtesten Kartografen aller Zeiten: Gerard Kremer – vielleicht ist er Ihnen unter seinem Pseudonym Mercator besser bekannt. Auch seine Karte zeigt die Antarktis, bevor sie mit Eis bedeckt war, und gibt die geografischen Gegebenheiten sehr präzise wieder. Und hier haben wir die Buache-Karte. Diese ist ganz besonders unerklärlich! Buache veröffentlichte seine Karte 1737 mit dem Kommentar, er habe dafür zahlreiche alte Karten verwendet, die längst verschwunden seien. Auf seiner Karte besteht die eisfreie Antarktis sogar aus zwei Kontinenten, die durch eine Wasserstraße deutlich getrennt sind. Einmal mehr konnte das erst im zwanzigsten Jahrhundert bestätigt werden, als aufwändige Vermessungen vorgenommen wurden.« 56
Catherine und Rutherford warfen einander erstaunte Blicke zu. Beide waren völlig fasziniert – denn die Bedeutung dieser Karten war offensichtlich enorm. Genau wie das Dogon-Rätsel, das Catherine noch vor wenigen Stunden skizziert hatte, schienen diese Landkarten unbeantwortbare Fragen aufzuwerfen – bloß handelte es sich in diesem Fall nicht einfach um ein akademisches Spiel. Diese außergewöhnliche Sammlung von Karten war der einzige Hinweis, den sie besaßen, um herauszufinden, weshalb der Professor tot war.
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Es klopfte an der Tür, und Dr. Von Dechend wirbelte herum. Eine klein gewachsene Philippinin trug ein Tablett herein, auf dem sich ein großer Teekrug, ein Milchkännchen und drei Tassen und Untertassen befanden. »Ahh – Molly. Tee. Herrlich!« Von Dechend sprang auf und schob die Karten auf eine Seite des Schreibtisches. Die Hausangestellte stellte den Tee ab und verließ das Zimmer wieder. »Lapsang souchong. Möchten Sie?« Catherine und James nickten und bedankten sich, während er einschenkte. Rutherford nippte an seinem Tee und fühlte sich sofort wieder wacher. Er hatte das Gefühl, noch ein Plädoyer für die konventionelle Geschichtsschreibung halten zu müssen. »Aber vielleicht wurden diese Gegenden von prähistorischen Nomadenvölkern vermessen? Vielleicht wanderten sie zwischen 6.000 und 5.000 vor Christus auf dem Planeten herum und zeichneten auf, was sie sahen?«, sagte er. Von Dechend sah ihn schelmisch an. »Ja – ich sehe sie schon vor mir! In ihren Booten aus Kuhleder, während die fünfzehn Meter hohen Wellen des Südatlantiks über ihnen zusammenkrachten. Ich sehe sie vor mir, wie sie nach Kompass, Papier und Bleistift suchten. Ach je, ich vergaß völlig: Bleistift, Papier und Kompass waren damals noch gar nicht erfunden. Nun, vielleicht verwendeten sie Rinde oder Muscheln oder Steintafeln und ritzten ihre Karten darauf. Dennoch: Erklären Sie mir, woher sie wussten, wo sie sich befanden? Ich meine, der heutigen Sicht der Historiker zufolge waren das primitive Steinzeit Völker ohne jegliche Technologie, ohne jegliches Wissen. Wie konnten sie, inmitten dieses furchteinflößenden Wassers, wissen, wo sie waren?« 58
»Verzeihen Sie mir – aber ich verstehe nicht.« »Was wissen Sie beide über geografische Längen und Breiten?«, fragte Von Dechend. »Nicht sehr viel«, gestand Rutherford. Catherine, die sich als Astronomin in diesem Gebiet sehr gut auskannte, begriff nicht, warum Von Dechend darauf zu sprechen kam. »Ich kenne mich damit aus, aber ich sehe nicht, was sie damit zu tun haben«, sagte sie. »Nun – vielleicht können Sie ihrem Freund hier das Konzept geografischer Länge erklären. Ich versichere Ihnen, es ist unerlässlich, dass er es versteht.« Catherine sah beide Männer an, holte tief Luft und begann: »Okay. Länge und Breite sind das Netz, das wir uns um den Erdball denken. Die waagrechten Linien auf dem Globus verlaufen von Ost nach West und werden Breitengrade genannt, und die vertikalen Linien, die von Nord nach Süd verlaufen, werden Längengrade genannt. Alles klar bis hierher?« »Absolut. Sie sind ja auf jeder Weltkarte eingezeichnet«, erwiderte Rutherford selbstbewusst. »Also. Nun stellen Sie sich vor, ich wollte Ihnen mitteilen, wo auf der Welt ich mich gerade befinde: Ich könnte Ihnen meine Koordinaten in diesem Netzraster angeben, und Sie wären in der Lage, meine exakte Position daraus abzuleiten.« »Das leuchtet ein.« »Als Erstes brauchten wir einen Hauptmeridian, eine Nulllinie, von der alle Messungen ausgehen. Wir können jeden der Längengrade nehmen, die in Nord-Süd-Achse verlaufen – Hauptsache, wir nehmen beide den gleichen. Zufälligerweise – beziehungsweise dank der britischen Vorherrschaft auf den Weltmeeren – wird jener Längengrad, der durch das königliche Observatorium in Greenwich verläuft, gegenwärtig als Nullmeridian verwendet. Wenn man also in New York ist, befindet man sich vierundsiebzig Grad westlich von Greenwich, und wenn man in Hong Kong ist, hundert Grad östlich von Greenwich, und so weiter. Können Sie mir folgen?« 59
»Bestens. Alles kristallklar bis jetzt.« »Tja, und nun wird es etwas knifflig. Auf die genauen Gründe kann ich leider nicht eingehen, die wären zu kompliziert und zeitraubend – aber damit man seine geografische Länge bestimmen kann, muss man in der Lage sein, die genaue Zeit am Ausgangspunkt zu messen und die Zeitmessung während der gesamten Reise ununterbrochen aufrechtzuerhalten, und dabei muss man mit höchster Präzision arbeiten. Das mag ganz einfach klingen, ist es aber nicht. Bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein gingen auch die besten Uhren bis zu einer Minute pro Stunde nach. Das war deprimierend, denn schon ein paar Minuten konnten die Berechnungen des Kapitäns um Dutzende von Meilen verfälschen – und er musste in Kauf nehmen, die angepeilte Küste völlig zu verfehlen. Stellen Sie sich vor, wie weit Seeleute nach ein paar Tagen, geschweige denn Monaten, vom Kurs abkommen konnten. Da die meisten Uhren einen Pendelmechanismus hatten, funktionierten sie auf hoher See natürlich nicht sehr gut, einerseits wegen des hohen Wellengangs, andererseits wegen der Temperatur- und Feuchtigkeitsunterschiede, die sich auf die Geschwindigkeit des Zeitmessers auswirkten. In der gesamten Geschichte der Menschheit träumten die Seeleute von einem Zeitmesser, der dieses Problem meistern konnte. Schließlich, nachdem zweitausend Seeleute während eines riesigen Schiffbruchs umgekommen waren, stellte die Längenkommission des britischen Parlaments ein königliches Preisgeld von 20.000 Pfund demjenigen in Aussicht, der für die Marine eine Uhr entwickeln konnte, die auch auf einer sechswöchigen Reise in die Karibik eine Genauigkeit von dreißig Seemeilen erreichte. Ein Mann namens John Harrison stellte sich dieser Aufgabe. Er brauchte vierzig Jahre, bis er für seinen erfolgreichen Chronometer die richtige Konstruktion ausgetüftelt hatte, doch als es ihm schließlich gelang, hatte er die perfekte Lösung gefunden!«, sagte Catherine. »Erstaunlich. Und wann war das?« »Um 1760.« Catherine warf einen Blick auf Dr. Von Dechend, der ihr aufmunternd zunickte. 60
»Wie auch immer – ich glaube, was uns Dr. Von Dechend eigentlich vor Augen führen will, ist, dass vor dieser Erfindung niemand, weder die Römer noch die alten Chinesen, noch die Sumerer, noch sonst eine Zivilisation –« »Eine uns bekannte Zivilisation«, warf Dr. Von Dechend ein. »… noch sonst eine uns bekannte Zivilisation die Fertigkeit besaß, mit der nötigen Genauigkeit die geografische Länge zu bestimmen.« Von Dechend nippte an seinem Tee und sah seine beiden Gäste verschmitzt an. »Wie in aller Welt kann man sich dann erklären, weshalb die auf Kents Karten so detailliert festgehaltenen Küsten und Inseln genau auf den richtigen Längen- und Breitengraden liegen?« Catherine überfiel erneut ein leicht mulmiges Gefühl. O nein! Nicht noch weitere Demontagen gängiger Geschichtsbilder. Doch Dr. Von Dechend genoss das Ganze sichtlich. »Ja. Wirklich eine gute Frage. All diese Karten setzen die von ihnen dargestellten Länder mit großer Genauigkeit an die richtige Stelle. Sogar die Zeno-Karte, die zirka um 1380 gezeichnet wurde und Grönland und die isländische See darstellt, platziert winzige Inseln in der Unendlichkeit des arktischen Ozeans ganz genau auf der korrekten Länge und Breite. Wie ist das möglich?« Der Doktor stolzierte nun angeregt im Zimmer auf und ab, von den alten Kartenmachern offensichtlich in Fahrt gebracht. »Sie haben sich wahrscheinlich schon die verschiedensten Weltkarten angeschaut. Auf manchen wirken die Länder lang und dünn, auf anderen dehnen sie sich breiter aus. Alle Karten versuchen, eine Kugel – oder den Ausschnitt einer Kugel – auf flachem Papier abzubilden. Das ist äußerst schwierig. Es ist sogar unmöglich, wenn man nicht über die dazu nötige – und ziemlich komplexe und anspruchsvolle – Mathematik verfügt. Zudem benötigt man einen jener ausgeklügelten Apparate, von denen Catherine erzählt hat. Als diese Karten angefertigt wurden – was nach 14.000 vor Christus, aber vor 4.000 vor Christus gewesen sein muss –, existierten nach Ansicht der herkömmlichen Geschichtsschreibung keine so fortschrittli61
chen Zivilisationen, die über den dafür nötigen hohen Entwicklungsstand verfügten. Hapgood wollte darüber mehr Klarheit haben, weshalb er sich an Professor Strachan am Massachusetts Institute of Technology wandte.« Dr. Von Dechend drehte sich zu ihnen beiden um und sah ihnen fest in die Augen. »Strachan bestätigte, dass die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Karten einen hohen Grad an Zivilisation voraussetzt, nicht zuletzt die Beherrschung sphärischer Trigonometrie sowie den Besitz von Instrumenten, mit denen geografische Länge und Breite präzis gemessen werden können. Wie erklärt man sich also diese perfekten, genauen Karten, die aus dem prähistorischen Dunkel zu uns gekommen sind? Die Hinweise sind von unumstößlicher Deutlichkeit. In fernen Zeiten, noch bevor die uns bekannten Kulturen entstanden sind, muss eine wirklich hoch entwickelte Zivilisation existiert haben. Trotzdem ist diese Zivilisation, so fortgeschritten sie auch gewesen sein mag, verschwunden.« Catherine war perplex. »Aber das ist unmöglich! Vor allem: Weshalb gibt es von dieser Zivilisation keine Überreste, keine Ruinen?« Von Dechend zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich erkläre Ihnen bloß die Wahrheit, die hinter diesen Karten steckt. Ich bin nur ein bescheidener Geograf.« Alle drei verstummten. Schließlich fuhr Von Dechend fort: »Stellen Sie sich dieses Volk so hoch entwickelt vor, dass es weder Metalle fördern noch nach Öl bohren musste. Stellen Sie sich vor, dass es die Windkraft und die erneuerbare Energie des Holzes zu nutzen wusste. Stellen Sie sich zudem vor, dass es der Erde auf keine Art Schaden zufügte, wie wir es heute tun – welche Spuren sollte es dann hinterlassen? Nur sehr geringe, würde ich behaupten.« Catherine war sprachlos. Ich wollte doch nur herausfinden, warum der Professor im Besitz dieser Karten war, und nun bin ich in eine so fantastische und unheimliche Sache hineingeraten. 62
Auf eine ganz naheliegende Frage fehlte ihr noch immer die Antwort. »Aber warum war Professor Kent überhaupt im Besitz dieser Karten?« »Das ist ein großes Rätsel, auf das ich, fürchte ich, nicht das geringste Licht werfen kann.«
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Catherine umklammerte den Umschlag mit den Karten, als sie aus Dr. Von Dechends Treppenhaus wieder auf den sonnigen Innenhof hinaustrat. Ihre Panik war inzwischen nur noch größer geworden. Ihr gesamtes bisheriges Weltbild schien gerade in sich zusammenzustürzen. Rutherford folgte ihr. Auch ihm drehte sich der Kopf. Dr. Von Dechends Erklärung der Karten hatte ihn völlig aus der Fassung gebracht – der Brief, den ihm der Professor geschrieben hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Unausweichlich drängte sich der Schluss auf, dass die Karten mit Professor Kents Behauptung in direktem Zusammenhang standen. Wenn es sich wirklich um eine Botschaft aus frühester Zeit handelte, dann schien es nur logisch zu sein, dass in weiter Vergangenheit, vor der schriftlich belegten Geschichte, eine großartige Zivilisation existiert haben musste. Die Karten schienen für diese Zivilisation, die in den Nebeln der Vergangenheit verschwunden war, klare Beweise zu liefern. Vielleicht hatte der Professor in der Tat eine Botschaft eines hyperzivilisierten Volkes entdeckt, die die Tiefen der Geschichte durchquert hatte, um die Nachkommen in der Zukunft zu warnen, dass ihnen dasselbe schreckliche Schicksal bevorstehe, dachte Rutherford. Aber das Ganze klang schon sehr seltsam und haarsträubend. Catherine seufzte tief. Was sollte sie nur tun? Sie brachte es nicht über sich, Rutherford zu sagen, dass der Professor offenbar gewusst hatte, in welcher Gefahr er sich befand. Nicht, dass sie James nicht vertraute, aber sie schreckte noch immer vor den Konsequenzen zurück; wenn sie ihm den Brief zeigte und ihm – oder überhaupt irgendjemandem – von ihrem Verdacht erzählte, gäbe es kein Zurück mehr. Fast verzweifelt setzte sie an: »James, ich habe noch eine Frage. Sie 64
sind doch Altphilologe – können Sie mir sagen, was Sie über das Wort ›Heureka‹ wissen?« Rutherford war perplex. Es gibt etwas, das mir Catherine verheimlicht. Doch er wollte ihr helfen, also lächelte er verständnisvoll. »Heureka? Nun, ich fürchte, es macht keinen Sinn, Sie zu fragen, weshalb Sie das wissen wollen?« Catherine sah ihn entschuldigend an. »Nein – aber bitte vertrauen Sie mir. Es ist wirklich wichtig.« Rutherford lachte und schüttelte den Kopf, während Catherine fortfuhr: »Ich weiß nur, dass Archimedes es als Erster gesagt hat. Er saß in seinem Bad und erkannte plötzlich, wie die Masse eines Körpers die entsprechende Menge Flüssigkeit verdrängt. Er schrie ›Heureka‹, was so viel bedeutet wie ›Ich hab's!‹, hüpfte aus der Wanne und rannte splitternackt auf die Straße hinaus, wo er vor Freude Luftsprünge machte.« Rutherford sah sie nachdenklich an. »Ich fürchte, Sie haben mir soeben die verfälschte Version erzählt.« »Wie meinen Sie das?« »Nun, es war nicht Archimedes, der als Erster ›Heureka‹ sagte, sondern Pythagoras, und zwar als er im rechtwinkligen Dreieck das Verhältnis zwischen der Hypotenuse und den beiden Katheten entdeckte. Die Version mit dem nackten Archimedes ist eine spätere Erfindung, die aber bei Lehrern immer sehr beliebt war.« »Aber woher wollen Sie wissen, dass es Pythagoras war und nicht Archimedes?« »›Heureka‹ zu rufen macht nur Sinn, wenn es Pythagoras war. Denn Pythagoras hatte Sinn für Humor.« Catherine war verwirrt. Was hatte Humor plötzlich hier verloren? »Wie meinen Sie das?« »Pythagoras war an Gematrie interessiert – dem Entziffern von Geheimbotschaften.« Gematrie?, dachte Catherine. Sie hatte das Wort noch nie gehört. »Wie kann es in einem einzigen Wort eine Geheimbotschaft geben? Das muss eine sehr kurze Botschaft sein.« 65
»Ja – in diesem Fall trifft das auch zu – es ist eigentlich mehr ein Wortspiel. Lassen Sie es mich Ihnen erklären. Aber ich brauche etwas zum Schreiben.« »Okay – aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne aus dem College raus, ich fühle mich schon ganz klaustrophobisch«, erwiderte Catherine. »Können wir vielleicht zu Ihnen gehen?« Rutherford hielt inne, doch ein Blick in Catherines tiefe, ernste Augen zeigte ihm, dass seine Erklärung – aus welchem Grund auch immer – für sie von größter Wichtigkeit war. Er nickte mit Bestimmtheit.
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Ein großer schlanker Mann Anfang vierzig, mit einem schwarzen Filzhut und einem eleganten grauen Anzug, über dem er einen dunkelblauen Kaschmirmantel trug, stand in den dunklen Schatten der Portiersloge von All Souls. Sein Name war Ivan Bezumov. Seit einer halben Stunde stand er dort, ohne sich zu rühren, fast ohne zu atmen, wie ein Raubvogel, der geduldig auf seine Beute wartete, und musterte jede Person, die den Hof durchquerte. Als Catherine und Rutherford auf ihn zukamen, spitzte Bezumov die Ohren, um aufzuschnappen, worüber sie sprachen. Endlich! Das ist sie. Ich darf nicht scheitern. Sie ist die einzige Verbindung zu den Nachforschungen des Professors. Als sie nur noch fünf Meter entfernt waren, holte Bezumov tief Luft und trat auf den Hof hinaus. Er versuchte, so locker und freundlich wie möglich zu wirken, setzte ein breites Lächeln auf und nahm seinen Hut ab. »Guten Tag! Mein Name ist Ivan Bezumov. Sie müssen Catherine Donovan sein.« Bezumov ignorierte Rutherford völlig, schüttelte Catherine die Hand und fuhr fort: »Der Professor hat mir viel von Ihnen erzählt.« Bezumovs russischer Akzent war unüberhörbar. Catherine sah ihn verwirrt an. Rutherford kam energisch einen Schritt auf ihn zu und streckte seine Hand aus. »James Rutherford.« »Aha – sehr schön,« Bezumov wandte sich sofort wieder Catherine zu. »Ich war ein Kollege des armen Verstorbenen. Eine furchtbare Tragödie, die mir sehr nahegeht«, fügte er hinzu. »Ich habe in der Loge auf Sie gewartet. Ich dachte, dass Sie wohl irgendwann vorbeikommen 67
würden. Es ist mir bewusst, dass dies nicht der passendste Augenblick ist, aber es ist mir wichtig, mit Ihnen sprechen zu können. Darf ich Sie vielleicht zu einer Tasse Tee einladen?« Wer ist dieser merkwürdige Mann?, dachte Catherine. So wichtig kann seine Arbeit doch nicht sein, dass sie nicht bis nach der Beerdigung des Professors warten kann. Irgendwie ist es respektlos von ihm, einfach so hier hereinzuplatzen und mit mir sprechen zu wollen. »Ich fürchte, Sie haben recht, Mr. Bezumov, der Augenblick ist wirklich nicht sehr günstig. Aber vielleicht in einer Woche oder so. Sind Sie noch eine Weile in Oxford?« Bezumov wirkte plötzlich ziemlich verunsichert. Unvermittelt griff er in die Innentasche seines Kaschmirmantels. Intuitiv traten Catherine und Rutherford einen Schritt zurück. »Hier – das ist ein Empfehlungsschreiben des Professors.« Er hielt Catherine einen Zettel unter die Nase. Darauf war etwas mit grüner Tinte geschrieben – in der Handschrift des Professors. Ohne es aus Bezumovs Hand zu nehmen, las sie es argwöhnisch. Liebe Catherine, mein Kollege Ivan Bezumov kommt aus St. Petersburg nach Oxford. Wir haben in letzter Zeit zusammen an einem Projekt gearbeitet – bitte gewähren Sie ihm während seines Aufenthalts in Oxford so viel Unterstützung wie möglich, und versehen Sie ihn mit allem, was er benötigt. Vielen Dank, Kent Wie merkwürdig, dachte sie. So formell und steif, das klingt überhaupt nicht wie der normale Ton des Professors. Bevor sie lange darüber nachdenken konnte, redete der Russe weiter: »Dr. Donovan, könnten Sie mir vielleicht sagen, ob Sie schon in den 68
Räumen des Professors waren? Wissen Sie, der Professor und ich haben an etwas sehr Wichtigem gearbeitet, bevor er starb.« Bezumov warf einen Blick auf den Umschlag, den Catherine in ihrer rechten Hand hielt. »Ich möchte die relevanten Unterlagen sicherstellen.« Catherine umklammerte den Umschlag instinktiv noch fester. Bezumov registrierte ihre Reaktion und konnte seine Augen, während er weitersprach, kaum mehr von ihrer Hand abwenden. »Ich möchte nochmals betonen, wie leid es mir tut, Sie in einem solchen Augenblick zu behelligen – aber wissen Sie, ob er irgendetwas hinterlassen hat? Dokumente? Notizen? Irgendeine Mappe vielleicht?« Bezumovs Lippen verzogen sich erneut zu einem dünnen, flehenden Lächeln. Er konnte seinen Blick von dem Umschlag in Catherines Hand nicht mehr losreißen. Die ganze Art dieses Mannes wurde ihr zusehends unheimlich. Sie dachte über den Brief nach, den Bezumov ihr gezeigt hatte. Der Professor hätte einen Brief an mich nie mit ›Kent‹ unterschrieben. War er – es schnürte ihr den Hals zusammen – dazu gezwungen worden, das zu schreiben? Oder hatte er es etwa gar nicht selbst geschrieben? Nach den seltsamen Ereignissen dieses Morgens würde es sie nicht überraschen, wenn Bezumov den Brief gefälscht hätte. Ihr drehte sich der Kopf. Plötzlich fühlte sie sich erschöpft und schwindlig. »Hören Sie – warum wenden Sie sich nicht an den Dekan? Ich bin sicher, es wird ihm eine Freude sein, Ihnen behilflich zu sein. Und in ein paar Tagen unterhalte ich mich gerne mit Ihnen.« Als Catherine sich im Innenhof nach einem Fluchtweg umschaute, erschrak sie, als sie den Dekan erblickte, der aus dem Fenster seiner Bibliothek zu ihnen herunterstarrte. Doch bevor ihr richtig bewusst wurde, was sie soeben gesehen hatte, war sein Kopf bereits wieder verschwunden. Bezumov ließ nicht mehr locker. »Bitte, Dr. Donovan, lassen Sie mich offen zu Ihnen sprechen. Ich muss diese Dokumente haben. Dies ist wichtiger, als Sie sich womöglich vorstellen können. Ich fordere Sie auf, mir zu helfen.« 69
Rutherford trat einen Schritt vor und stellte sich mit seinem athletischen Körper zwischen Bezumov und Catherine. »Mr. Bezumov, Dr. Donovan weiß nichts über diese Dokumente, von denen Sie sprechen. Ich schlage also vor, dass Sie, wie Dr. Donovan sagte, sich an den Dekan wenden. Und es wäre im Übrigen auch taktvoll, wenn Sie Leuten, die von dem Verlust eines geliebten Menschen betroffen sind, etwas mehr Mitgefühl entgegenbrächten.« Damit versuchte er, Catherine an dem hysterischen Russen vorbeizulotsen. Als letzten Versuch fummelte Bezumov in seiner Tasche herum und brachte eine Visitenkarte zum Vorschein. »Warten Sie! Verzeihen Sie mir.« Er nahm einen Füllfederhalter hervor, schraubte den Deckel ab und kritzelte auf die Karte. »Dies ist meine Mobilnummer. Rufen Sie mich an. Ich kann Ihnen behilflich sein. Und falls Sie im Besitz der Dokumente sind, Dr. Donovan, passen Sie bitte gut auf sie auf. Auch andere sind hinter ihnen her. Aber sie werden nicht so höflich sein wie ich.« Catherine nahm die Karte und entfernte sich von ihm. Sie steckte sie in ihre Tasche, und ohne sich noch einmal nach Bezumov umzusehen, traten sie und Rutherford durch die kleine Pforte der Loge auf die High Street hinaus. Bezumov sah ihnen mit einem gequälten Blick nach, während seine Hand die Krempe seines Hutes zerknautschte. Er würde seine Taktik ändern müssen.
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Als Senator Kurtz aus dem Fahrstuhl trat und rasch durch das Marmorfoyer zum Haupteingang des UNO-Gebäudes zurückging, warf er über seine Schulter einen Blick auf Sekretär Miller. »War die Rede gut, Sekretär?« Die Stirn des Sekretärs lag in Falten. »Ja, Senator, sie war perfekt für den Anlass. Aber darf ich fragen, ob es wirklich klug war, die Details des Plans bekannt zu machen, bevor wir ihn ausführen? Heute ist erst Dienstag. Können wir all den ausländischen Gesandten wirklich vertrauen? Bis Montag sind es noch sechs Tage.« Der Senator lachte verächtlich. »Es spielt überhaupt keine Rolle. Nichts kann uns mehr aufhalten – selbst wenn ich ihnen die Wahrheit gesagt hätte.« Der Sekretär schluckte schwer. Der Senator lächelte geheimnisvoll, blieb vor den großen Glastüren des Haupteingangs stehen und drehte sich zu ihm um, als wolle er seine Aussage damit unterstreichen. Der stetige Strom von Menschen, die durch die Türen kamen und gingen, floss an den beiden Männern vorbei. »Ihre Aufgabe ist es jetzt, die Gesandten über ihre individuellen Aufgaben zu instruieren und ihre Aktionen zu koordinieren.« Der Senator hielt inne und fuhr mit schmalen Augen fort: »Seien Sie sehr vorsichtig. Bald schlägt unsere Stunde.« Er blickte durch die Glastüren auf die geschäftige Stadt hinaus. »Wir sehen uns am Sonntagnachmittag wieder, in Kairo, aber wir sprechen uns vorher noch. Stellen Sie in der Zwischenzeit sicher, dass die Entdeckung des Professors keine Wellen schlägt.« Damit drehte er sich um und verschwand – von seinen Bodyguards umringt – durch die Türen in den Lärm des Tages. Der Sekretär folg71
te ihm hinaus, unsicher, was er tun sollte. Als die Limousine vorfuhr, blickte der Senator in den Himmel hinauf und lächelte. »Das Ende naht, Sekretär. Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Machen Sie Ihre Seele bereit.« Der Sekretär sah in stummer Verblüffung zu, wie der Senator auf den Rücksitz der wartenden Limousine glitt. Der Wagen fuhr davon und verschwand im Verkehr auf der UN Plaza. Sekretär Miller spürte, wie ihm übel wurde. Die Gedanken an den toten Professor nervten ihn. Wie sollte ein alter Mann mit ein paar Landkarten nur eine Bedrohung darstellen? Und warum hatte ihm der Senator geraten, seine Seele bereit zu machen? Das waren etwas merkwürdige Worte für den Kopf der weltweit mächtigsten Laienbruderschaft. Merkwürdig und völlig unangebracht. Wer war dieser Senator eigentlich? Nichts schien mehr zusammenzupassen, nichts schien mehr Sinn zu ergeben. Alles, was er mit Sicherheit wusste, war, dass sich in sechs Tagen – am nächsten Montag – die Welt für immer verändern würde, und er hatte auf jeden Fall vor, auf der Seite der Gewinner zu sein.
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Die Tür zu Rutherfords Wohnung ging auf, und Rutherford bedeutete Catherine einzutreten. »Bitte, nach Ihnen.« »Vielen Dank. Was für eine schöne Wohnung«, sagte Catherine, die etwas verstört war und unbeholfen nach banalen Nettigkeiten suchte. »Wow, Sie haben ja noch mehr Bücher als ich!« »Na ja, je mehr Bücher man hat, desto beeindruckter sind die Studenten, finden Sie nicht? Darf ich Ihnen etwas anbieten?« »Ah, ein Glas Wasser wäre prima, danke.« Rutherford eilte an ihr vorbei in die Küche. Catherine machte es sich auf dem großen Sofa bequem und ließ ihren Blick über die zig Meter Bücher gleiten – von denen scheinbar über die Hälfte auf Griechisch und Latein oder anderen altertümlichen Sprachen verfasst waren. Sie holte einen Band mit Catulls Gedichten – in Übersetzung – hervor und blätterte darin, ohne die Wörter wirklich aufzunehmen, als Rutherford zurückkehrte. Er setzte sich neben Catherine und stellte ihr Glas und legte Papier und Bleistift vor sie auf den Tisch. »Wo war ich stehen geblieben? Gematrie. Hmm …« Rutherford kratzte sich am Kopf, dachte einen Moment nach und fing dann ernsthaft an: »Gematrie ist in vieler Hinsicht wie ein Spiel. Ein äußerst schlaues und raffiniertes Spiel. Aber es ist auch viel mehr als das – von tödlichem Ernst. Gematrie ist ein Geheimcode, der von den Sehern der alten Welt verwendet wurde, und es herrschte die Überzeugung, dass sie Zauberkräfte besaß. Doch bevor wir ins Mystische abgleiten, erkläre ich Ihnen erst mal ihren eigentlichen Ursprung«, sagte er. »Die Philosophen der alten Welt teilten das Wissen nicht in verschiedene Disziplinen ein, wie wir das heute tun, denn sie glaubten, dass hinter allem geheime Formeln steckten, die alle Wissenszweige verbanden und auf 73
denen der gesamte Kosmos beruhte. Sie wären erschüttert zu sehen, wie heutzutage Wissen in verschiedenen Fachbereichen unterrichtet wird, denn für sie war es einer der Hauptzwecke der Bildung, die Einheit allen Wissens herauszuarbeiten. Durch die Beobachtung der Natur entdeckten sie, dass gewisse Zahlen immer und immer wieder auftauchen – ob in den Noten der Tonleitern oder in den Bewegungen der Planeten: In allem steckt die gleiche Hand voll Zahlen und Formeln. Wenn man herausfinden konnte, welches die entscheidenden Zahlen und Formeln sind, würde man daraus die Gesetze des Kosmos ableiten und sie auf eine klare und einfache Weise bekannt machen können. Nun war es oft der Fall, dass man diese Zahlen und Verhältnisse, welche die verborgenen Gesetze des Universums ausdrückten, in geschriebener Sprache verbarg. Jeder Buchstabe des griechischen wie auch des hebräischen und arabischen Alphabets besitzt auch einen Zahlenwert. Geschichten, Gedichte und religiöse Texte wurden verfasst, indem man Buchstaben und Wörter bestimmter Zahlenwerte verwendete. Eine auf den ersten Blick simple Geschichte kann in Wahrheit eine Art Verpackung sein für jene zentralen Formeln, welche die Beschaffenheit des Universums erklären.« Catherine hörte ihm fasziniert zu. »Sie wollen also sagen, dass es alte Bücher gibt, wo in den Wörtern der Geschichten Geheimbotschaften versteckt sind?«, fragte sie. »Ja, genau. Das ist genau, was ich meine.« »Und kenne ich vielleicht eines dieser Bücher? Haben Sie ein Beispiel?« Rutherford konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Haben Sie möglicherweise schon von der Bibel gehört?« »Die Bibel! Wirklich?« »Absolut. Die Bibel wurde ursprünglich auf Griechisch geschrieben. Viele Leute sind sich gar nicht bewusst, dass ganze Passagen unter Verwendung von Gematrie verfasst wurden, sodass die Eingeweihten Zugang zu jener Botschaft haben, die hinter der Erzählung verborgen ist. Es ist beispielsweise in der Tat so, dass die Verfasser der Evangelien die Namen der Hauptpersonen und die Schlüsselbegriffe so wählten, dass 74
ihr gematrischer Zahlenwert eine besondere Bedeutung hatte. So vermittelten sie Wissen in verschlüsselter Form.« »Moment – Sie sagen also, dass die Geschichte von Jesu Leben, Tod und Auferstehung von viel mehr handelt als nur von seinem Leben, Tod und seiner Auferstehung.« »Nun, das ist natürlich etwas sehr vereinfacht – aber eigentlich: Ja.« Catherine konnte es nicht glauben. »Aber wenn das stimmt, dann ist die Bibel ja voller Wörter, die eine tiefere Bedeutung haben.« »Genau so ist es. Ich gebe Ihnen gern ein paar Beispiele. Aber lassen Sie uns zuerst noch einmal zu unserem Ausgangspunkt zurückgehen: Pythagoras' Ausruf ›Heureka!‹ oder auf Griechisch ›ευρηϰα‹. Er bezieht sich nämlich auf die Seitenflächen drei, vier und fünf des rechtwinkligen Dreiecks, das er als Beweis für sein Theorem verwendete.« Rutherford notierte rasch das griechische Alphabet auf dem Zettel und schrieb unter jeden Buchstaben eine Zahl. α 1 ξ 60
β 2 ο 70
γ 3 π 80
δ 4 ρ 100
ε 5 σς 200
η 7 τ 300
ζ 8 υ 400
θ 9 φ 500
ι 10 χ 600
ϰ 20 ψ 700
λ 30 ω 800
μ 40
ν 50
»Wenn man diese Zahlenwerte von den entsprechenden Buchstaben nimmt und sie zusammenzählt, stellt sich heraus, dass ›Heureka‹ oder auf Griechisch ›ευρηϰα‹ eine Summe von 534 ergibt. Zufall? Ich glaube nicht.« Rutherford grinste Catherine an, als er sah, wie sich ein Ausdruck von Verblüffung auf ihrem Gesicht ausbreitete. »Sehen Sie, Pythagoras wollte also seine Entdeckung so verpacken, dass man sie sich leicht merken konnte – und baute dazu noch ein Wortspiel mit ein! Und das ist völlig typisch für das Denken der Menschen von damals. Die gesamte Weltgeschichte wäre eine ganz andere, wenn die Leute aufhörten, Mythen und Religionen wörtlich zu nehmen, und stattdessen die darin verborgenen Bedeutungen läsen.« Rutherford schrieb wie wild, während er weiterredete. »Hier ein wei75
teres Beispiel: Jesus ›Ιησους‹ 888 plus Maria ›Μαριαμ‹ 192 = Heiliger Geist ›Το Πνεμα Αγιου‹ 1.080. Und 1.080 ist auch genau der Mondumfang in Meilen. Das ist natürlich kein Zufall. Der Mond aufersteht alle siebenundzwanzig Tage neu und ist deshalb das perfekte Symbol für die Auferstehung. Und genau so sind Mond und Wiedergeburt Symbole für Maria. Oder nehmen sie die Zahl 1746 – es ist die Schlüsselzahl des Neuen Testaments. Niemand weiß weshalb, aber die Evangelien sind voll von Redewendungen, deren Summen diese Zahl ergeben. ›Ein Senfkorn‹ zum Beispiel, ›ϰοϰϰοσ σιυα πεϖο‹, oder ›der Schatz Jesu‹ ›ο Θησαυρος Ιησου‹. Ich könnte noch weitere anführen.« Catherines Körper prickelte vor Erregung. »Soll das heißen, dass die Erzählung der Bibel erfunden wurde, um auf diese Zahlen zu passen?« »Auf keinen Fall!«, erwiderte Rutherford. »Als regelmäßiger Kirchgänger weiß ich, dass die Evangelien voll göttlicher Weisheit sind, wenn wir bereit sind, ihre Lehren von Liebe und Frieden zu hören. Was ich sagen will, ist, dass die Evangelisten trotzdem die Namen der Hauptpersonen wie auch bestimmte Ausdrücke so gewählt haben können, dass sie ins gematrische Schema passten. Auf diese Weise konnten sie Botschaften über die Gesetze des Universums und über die Zahlensysteme, von denen sie gelenkt werden, weitergeben.« »Aber warum mussten sie diese Botschaften verstecken?« »Nun, angenommen, unsere Vorfahren waren von hoher Intelligenz, wovon man ausgehen darf, dann mussten sie wohl voraussehen, dass es einmal übereifrige Anhänger von Jesu Botschaft geben würde, welche die Wahrheit aus den Augen verlieren würden. Deshalb trafen sie entsprechende Vorkehrungen und vergruben sie in den Wörtern selbst, sodass die eigentliche Botschaft im Geheimen überleben konnte.« Catherine drehte sich der Kopf. Sie betrachtete diese merkwürdigen Zahlen- und Wörterlisten, die James in seiner sauberen Handschrift aufgeschrieben hatte. Aber sie durfte sich über die Konsequenzen dessen, was James ihr er76
zählt hatte, nicht zu viele Gedanken machen – irgendetwas sagte ihr, dass sie keine Zeit zu verlieren hatte. Eines wusste sie jedoch mit Bestimmtheit: Gematrie war der Schlüssel, den sie brauchte, um Professor Kents seltsam kryptische Botschaft zu entziffern.
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Catherine holte tief Luft und schaute Rutherford gerade in die Augen. »James, ich muss Ihnen etwas Wichtiges zeigen. Der Grund, weshalb ich Sie um Hilfe gebeten habe.« Catherine holte Professor Kents Nachricht aus ihrer Tasche und legte sie auf den Tisch. »Etwas Schreckliches ist im Gange. Ich kenne Professor Kent, seit ich ein kleines Mädchen war. Meine Eltern waren Akademiker in Yale, und der Professor war einer ihrer engsten Freunde. Er gehörte praktisch zu unserer Familie, und wir standen uns sehr nahe. James, der Dekan sagte mir, man gehe davon aus, er habe Selbstmord begangen. Aber es kann kein Selbstmord gewesen sein. Sich das Leben zu nehmen war für ihn ein Akt wider die Natur. Und als ich dann den Umschlag mit den Karten öffnete, fand ich diesen Zettel. Hier, sehen Sie ihn sich an.« Sie gab Rutherford die Nachricht. Für den Fall, dass ich nicht zurückkehre. Eureka 40 10 4 400 30 9 30 70 100 5 200 30 10 40 1 80 5 100 400 40 10 50 10 200 300 100 8 70 9 1 50 300 10 20 800 10 300 10 200 0051172543672 »Ich erzähle Ihnen das alles, weil er Ihnen offenbar vertraute. Und weil auch ich Ihnen vertraue.« Nachdem er den Inhalt des Zettels gelesen hatte, war Rutherfords erster Gedanke, dass er nun endlich begriff, weshalb Catherine so sehr 78
an Gematrie interessiert war. Doch dann musste er immer wieder auf den Satz starren: Für den Fall, dass ich nicht zurückkehre. Rutherford schluckte hart. Er war sich gar nicht sicher, ob er in diese Sache verwickelt werden wollte. Was noch vor ein paar Minuten nach einem spannenden intellektuellen Abenteuer ausgesehen hatte, nahm nun plötzlich eine beängstigende und düstere Wendung. Die Entdeckungen, die Einladung des Professors, die seltsamen Landkarten und jetzt dieser rätselhafte Brief – all das drückte ganz klar aus, dass er glaubte, in Gefahr zu sein. Catherine braucht Hilfe – und wünscht sie sich von mir –, und vielleicht war der Professor tatsächlich einer Sache auf der Spur, einer für die ganze Menschheit wertvollen Sache. Aber das Ganze sieht gar nicht gut aus. Während er das Papierstück betrachtete und an die Ereignisse des Vormittags dachte, erkannte Rutherford plötzlich, woran Catherine auch gerade denken musste. Ohne etwas zu sagen, legte er den gematrischen Code neben dem Zettel auf den Tisch und begann, Professor Kents Zahlenreihe aufzuschlüsseln. Schon nach den ersten Zahlen, die er gemäß dem Code in Buchstaben übersetzte, wussten beide, dass ihr Instinkt richtig gewesen war. Der Code lieferte einen Namen: Miguel Flores. Fieberhaft schnappte sich Catherine einen Bleistift und übertrug die restlichen Zahlen in Worte. Miguel Flores Lima Peru Ministerium für Denkmalschutz 0051172543672. Rutherford sah ihr mit wachsender Verblüffung zu. Mein Gott – es funktioniert in der Tat. Der Professor spricht mit uns aus dem Jenseits. Catherine setzte sich gerade hin und atmete tief aus, während sie gedankenverloren in die Ferne starrte. »Aber was bedeutet das alles? Und warum funktioniert der Schluss des Codes nicht mehr – da kommt nur noch ein Durcheinander.« Als Rutherford sprach, lag Todesangst auf seinem Gesicht. »Es ist eine Telefonnummer – eine Nummer in Peru … Ich glaube, wir müssen sie anrufen.« 79
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Beide starrten auf das Telefon, das auf dem Schreibtisch stand. Rutherford stellte auf Freisprechen um und wählte. Sie hielten den Atem an und horchten auf die Wähltöne. Dann gab es ein Klicken – das Klicken einer Verbindung, die über Tausende von Meilen hinweg hergestellt wurde. »Holà. Buenos dias.« Catherine, die ein bisschen Spanisch konnte, beugte sich vor. »Holà. ¿Habla inglés?« »Yes, I speak English. Mit wem spreche ich?« »Guten Morgen. Señor Flores? Ich bin Dr. Catherine Donovan, und ich rufe aus Oxford in England an. Mein Kollege James Rutherford ist ebenfalls hier. Es tut uns leid, dass wir Sie so aus heiterem Himmel anrufen. Ich möchte mit Ihnen über Professor Kent sprechen.« Am anderen Ende folgte eine lange Pause, dann erwiderte die Stimme mit tiefstem Argwohn: »Wer hat Ihnen meinen Namen verraten?« »Äh … wir sind auf ihn gestoßen. Wir sind Freunde von Professor Kent.« »Was geht hier vor? Wer sind Sie? Wo ist Professor Kent?« Rutherford und Catherine sahen einander bestürzt an. Da ihr keine bessere Formulierung einfiel, sagte Catherine: »Señor Flores – Professor Kent ist tot.« Ein schreckliches Schweigen folgte. »Señor Flores – bitte helfen Sie uns. Wir müssen unbedingt mit Ihnen über Professor Kent sprechen. Haben Sie mit ihm an etwas gearbeitet?« Es kam keine Antwort. »Señor Flores? Sind Sie noch da?« »Sagten Sie, Ihr Name sei Catherine?«, fragte Flores. 80
»Ja.« »Mein Gott. Der Professor sagte, dass Sie wahrscheinlich eines Tages anrufen würden.« Wieder folgte ein langes Schweigen. Dann sagte der Peruaner, und die Angst schwang in seiner Stimme hörbar mit: »Wir können nicht am Telefon sprechen. Es geht um viel zu gefährliche Dinge. Wir sind mit unserer Arbeit noch gar nicht so weit.« »Können wir Sie treffen?« »Kommen Sie nach Lima. Rufen Sie mich an, wenn Sie gelandet sind. Sagen Sie niemandem etwas über mich.« Ein Klicken, und die Leitung war tot. Rutherford sah Catherine an. »Das war sehr, sehr seltsam.« »Und es klang, als habe er große Angst. Das Ganze wird ja immer schlimmer.« Catherine schüttelte den Kopf. Ihre Stimme zitterte, doch sie klang entschlossen. »Nun, wir scheinen keine andere Wahl zu haben. Wenn Flores am Telefon nicht reden will, müssen wir eben nach Peru und persönlich mit ihm sprechen. Kommen Sie mit?«, fragte sie. Rutherford sah sie mit gerunzelter Stirn an. Nach einem halben Tag schien es ihm bereits, als kenne er Catherine seit Jahren. Zuneigung wallte in ihm auf, als er ihr starkes, besorgtes Gesicht betrachtete. »Ich gehe auf jeden Fall«, fuhr sie fort, »auch allein, wenn nötig. Ich würde es verstehen, wenn Sie sich nicht darauf einlassen wollen. Und wahrscheinlich haben Sie ohnehin andere Ferienpläne.« James dachte daran, dass er in der wirklichen Welt ein fleißiger Dozent war, auf den viel liegen gebliebene Arbeit wartete. Aber Catherine braucht Hilfe – ich kann sie nicht einfach auf eigene Faust losziehen lassen. Und wenn sie so viel Mut zeigt, kann ich nicht einfach davonlaufen. Er biss die Zähne zusammen. »Wann fliegen wir?«, erwiderte er und konnte kaum glauben, was er da gerade sagte. »Ein Urlaub in Südamerika käme mir gar nicht ungelegen. In letzter Zeit habe ich so viel gearbeitet, dass ich seit zwei Jahren nicht mehr im Ausland war.« Catherines Gesicht erstrahlte in einem breiten Lächeln. 81
»Lassen Sie mich rasch ins Internet gehen, dann gebe ich Ihnen gleich Bescheid. Packen Sie Ihre Sachen, Kamerad!«
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Tief im Bauch des UNO-Gebäudes eilte Sekretär Miller zum Ersatz-Plenarsaal zurück. Als er sich den Türen näherte, rief ihm ein gut gekleideter Mann vom andern Ende des Korridors nach: »Ein dringender Anruf für Sie, Sir.« Der Sekretär machte auf dem Absatz kehrt und folgte dem jungen Mann in ein enormes Großraumbüro mit Dutzenden von leeren Schreibtischen und freien Computern. An einer Wand befanden sich vier riesige Plasmabildschirme, offenbar für Konferenzschaltungen gedacht, und auf der gegenüberliegenden Wand hing eine riesige Weltkarte. Oberhalb der gigantischen Karte stand: UN GLOBAL COMMUNICATIONS BACK-UP-HEAD-QUARTERS In der einen Ecke gab es ein geräumiges, durch Glasscheiben abgetrenntes Zimmer, in dem ein großer Konferenztisch stand. Sekretär Miller schritt rasch darauf zu, schloss die Tür hinter sich, ging zu dem Tisch und nahm den Hörer ab. Der Assistent stellte ihm den Anruf durch. Ungeduldig bellte er in den Hörer: »Ja?« Es war der Dekan des All Souls College. »Es tut mir leid, Sie zu behelligen, Sekretär, aber ich tue es nur, weil Sie mir aufgetragen haben, Sie sofort anzurufen, falls irgendetwas Verdächtiges geschehen sollte.« Ein Ausdruck wachsenden Ärgers ging über das Gesicht des Sekretärs. »Ja, und? Fahren Sie fort.« »Der Professor war mit einer Frau befreundet. Sehr gut befreundet. Sie ist ebenfalls Fellow hier am College.« »Und?« »Ich habe den Eindruck, dass sie etwas ahnt.« 83
»Leute ahnen immer etwas. Hat sie irgendwelche Beweise?« »Das weiß ich noch nicht. Aber einer unserer Agenten hat uns darüber informiert, dass sie für sich und einen Begleiter einen Flug nach Peru gebucht hat. Wahrscheinlich will sie die Leiche des Professors sehen – oder mit der Polizei sprechen. Die Nachricht hat sie sehr mitgenommen. Ich dachte nur, dass ich Sie davon in Kenntnis setzen sollte. Nur für den Fall, dass …« Eine lange Pause folgte. Der Sekretär starrte die riesige Weltkarte an der Wand gegenüber an. Er hatte noch so viel zu tun, so viel vorzubereiten. Die banale und irritierende Angelegenheit mit diesen Akademikern stellte seine Geduld allmählich auf die Probe. Doch da kamen ihm die Worte von Senator Kurtz in den Sinn: ›Es gibt nichts, was unsere Sache mehr gefährdet, als etwas im Alleingang zu tun.‹ Ein gequälter Ausdruck kam auf das Gesicht des Sekretärs. Mit seiner freien Hand fuhr er sich über die Stirn, während er auf den Teil der Karte starrte, der Südamerika darstellte. Warum sollte ein einziger Mensch – egal wie engagiert – in der Lage sein, die Pläne des Gremiums für eine neue Weltordnung zu durchkreuzen? Obwohl er Senator Kurtz immer weniger traute, musste er davon ausgehen, dass dieser wusste, was er tat. Die Peru-Sache muss wohl oder übel sauber erledigt werden. Es dürfen keine Fehler gemacht werden. Er seufzte ungeduldig und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Anrufer. »Stellen Sie sicher, dass sie bis zum Abflug unter scharfer Beobachtung steht. Und machen Sie eine Liste von allen Menschen, mit denen sie spricht. Halten Sie mich auf dem Laufenden, wenn Ihnen sonst noch etwas zu Ohren kommt.« »Selbstverständlich, Sekretär.« Doch der hatte bereits aufgehängt.
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Das Schicksal der Akademiker war nicht das Einzige, das den Sekretär beschäftigte. Je mehr er darüber nachdachte, was der Senator vor seiner Abfahrt zu ihm gesagt hatte, desto stutziger wurde er. Was sollte eigentlich am Montag passieren? Die Machtergreifung würde eine brutale und blutige Angelegenheit werden – das war leider unvermeidlich. Aber es sollte doch nicht zum Ende der Welt kommen. Im Gegenteil: Es sollte der Beginn einer neuen Epoche werden. Die alten, korrupten, demagogischen Regierungen würden untergehen, und die direkte Herrschaft der Korporation würde sich durchsetzen. Jedenfalls war das immer der Plan gewesen. Irgendetwas stimmte hinten und vorne nicht, und der Sekretär musste eine Entscheidung treffen. Vielleicht operierte Senator Kurtz im Alleingang? Vielleicht sollte er versuchen, hinter Senator Kurtz' Rücken mit dem Gremium in Verbindung zu treten? Nein. Das wäre völliger Wahnsinn. Er würde nicht einmal bis heute Abend überleben – geschweige denn bis zum nächsten Montag. Ganz langsam hob Sekretär Miller seinen Blick vom Schreibtisch und richtete ihn auf die Ecke des Zimmers, in der ein eleganter Schrank aus Teakholz stand; hinter dessen verschlossenen Türen befand sich der fette und hässliche persönliche Safe des Sekretärs. Nein, dachte er dann aber. Noch nicht. Das wäre zu riskant. Erst wenn alle Stricke reißen … Als Erstes sollte er versuchen, mehr über den Senator herauszufinden – und über seine tatsächlichen Beweggründe.
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Als das Flugzeug hoch über Peru durch die Wolken brach, tauchte Catherine gerade aus ihrem Schlaf auf. Das Dröhnen der Motoren irritierte sie zuerst. Im Halbschlaf rollte sie ihren Kopf hin und her und fragte sich, wo in aller Welt sie sich befand. Doch dann drangen die aufgeregten Stimmen der britischen Rucksacktouristen, die hinter ihr saßen, zu ihr durch, und mit einem Adrenalinschub kam sie wieder zu vollem Bewusstsein. Es knisterte im Lautsprecher, und die Stimme des Piloten war zu hören: Um in Nordperu nicht in Turbulenzen zu geraten, hatte das Flugzeug von seiner Fluglinie nach Süden abweichen müssen, doch nun flog man wieder Richtung Norden, über dem Festland, in zirka dreißig Meilen Entfernung von der Küste, und würde in knapp einer Stunde landen können. Catherine schloss ihre Augen wieder und atmete langsam. Sie hatte von Professor Kent geträumt. Sie versuchte, die Flugzeuggeräusche und die andern Passagiere auszublenden, sodass sie die Erinnerung an den Traum noch festhalten konnte, bevor er ihr für immer entglitt. Sie hatte geträumt, dass sie im Bauernhaus des Professors war. Sie saßen zusammen in der Küche und diskutierten und lachten wie immer. Er trug noch seine mit Dreck verspritzte Hose und ein Paar große, grüne Gummistiefel. Das war, wenn er bei sich zu Hause war, seine Dienstkleidung. Sie war für ihr wöchentliches gemeinsames Mittagessen zu ihm aufs Land gefahren. Aus dem Ofen duftete es köstlich nach Hühnchen, und er hatte als Vorbereitung zu ihrem Festmahl soeben eine Flasche Rotwein entkorkt und auf den robusten Eichentisch gestellt. An diesem Vormittag schien er besonders guter Laune zu sein, und wie immer genoss Catherine seine Gesellschaft. Was sie an ihrer Freundschaft am meisten schätzte, war die Tatsache, dass sie bei jedem ihrer Tref86
fen wieder etwas Neues von ihm lernte. Dabei hatte sie nie das Gefühl, dass er ihr Vorträge hielt – er war einfach in jedem Augenblick wach und lebendig und an der Welt um ihn herum interessiert. Im Traum war ihr ein Gespräch über arbeitssparende Geräte eingefallen, das sie vor einiger Zeit geführt hatten. Der Professor hatte ihr mit seinem üblichen Talent die wahre Bedeutung dieser so genannten technologischen Fortschritte erklärt. »Plato«, sagte Professor Kent, »der Vater der westlichen Überlieferung, sagte, die Hand sei ein organon – ein Werkzeug. Wenn man die Hand ein organon nennt, meint man damit einfach, dass sie ein Werkzeug ihres Besitzers ist. Plato sagte, die Hand sei ein organon, der Hammer sei ein organon, und die hämmernde Hand sei ein organon. Hingegen ist die elektrische Fruchtpresse, die man heutzutage in vielen Küchen antrifft, etwas viel Unheimlicheres. Sie gibt sich als organon aus, ist in Wirklichkeit aber etwas ganz anderes. Sie ist eine Erscheinungsform jenes gigantischen Systems, das unsere Erde verschlingt.« Catherine spielte die Ungläubige, da sie es liebte, hin und wieder der Advocatus Diaboli zu sein. »Ach kommen Sie! Es ist doch einfach ein harmloses Gerät, das eine langweilige Tätigkeit beschleunigt, damit man mehr von seinem Tag hat. Zudem ist das Resultat ein gesunder Drink – sollen wir deswegen etwa keine Fruchtpressen mehr kaufen?« Er lächelte sie an. Er liebte es, mit ihr über alles Mögliche zu diskutieren. Er hatte dabei eher eine sanftmütige Art, scheute sich aber auch nicht, klar Stellung zu beziehen. Er genoss es, Menschen von seinen gut durchdachten Argumenten zu überzeugen oder es wenigstens zu versuchen, und seine Ansichten waren immer auf eine ganzheitliche Weltanschauung gegründet, von der er sich durch nichts abbringen ließ. »Nun, Catherine«, sagte er, »ob es Ihnen passt oder nicht, das Zeitalter der Werkzeuge ist vorbei, und wir leben im Zeitalter der Systeme. Lassen Sie es mich so sagen: Sie pressen ihre Orangen aus und machen einen köstlichen, gesunden Drink. Fabelhaft! Doch wenn Sie sich die Fruchtpresse etwas genauer ansehen, werden Ihnen ihre beunru87
higenderen Seiten auffallen. Der Strom, der die Fruchtpresse antreibt, kommt aus einem Netzwerk von Kabeln und Überlandleitungen, die aus Elektrizitätswerken gespeist werden, die wiederum von Wasserdruck, Erdölpipelines oder Tankerlieferungen abhängen, die nun wiederum Dämme, Bohrplattformen und Förderungsanlagen in weit entfernten Ländern voraussetzen. Diese lange Kette kann eine ausreichende und prompte Lieferung nur garantieren, wenn jedes seiner Glieder von Heerscharen von Ingenieuren, Planern und Finanzexperten besetzt ist, die auf Regierungen, Universitäten und vor allem ganze Industrien zurückgreifen können – manchmal sogar auf das Militär, wie wir das immer wieder erlebt haben. Wer glaubt, nur eine Fruchtpresse zu benutzen, ist auf dem Holzweg. Die Fruchtpresse ist bloß eine Tarnung – auf jeden Fall kein praktisches Gerät, sondern das letzte Glied von nur einem von Abermillionen von Tentakeln jenes riesigen Systems, das diese Welt täglich immer enger umschlingt.« »Du meine Güte«, rutschte es Catherine heraus, die vergessen hatte, dass sie eigentlich den Advocatus Diaboli hatte spielen wollen, »das klingt ja richtig beängstigend.« Der Professor schüttelte den Kopf. Ein trauriges Lächeln ging über sein Gesicht. »Ja, und durch solch tückisch getarnte Dinge wie den Mixer, die Waschmaschine, das Auto und so weiter dringen diese Tentakel in unseren Alltag ein und zwingen uns dazu, jenes System in Stand zu halten, das uns ohne Zweifel eines Tages – in nicht allzu ferner Zukunft – zerstören wird. Es liegt in der Natur von Systemen, dass sie wachsen, ein Eigenleben entwickeln und allmählich ihre eigenen neuen Ziele erschaffen, die sich von ihrem ursprünglichen Zweck erheblich unterscheiden. Sehen Sie sich organisierte Religionen an. Heutzutage gibt es weltumspannende Systeme mit Ansprüchen, die nichts mehr mit den guten Worten ihrer Propheten zu tun haben. Das Ziel unseres heutigen globalen Systems ist es, mehr und mehr Leute von genau der Energie abhängig zu machen, mit der es uns beliefert. Indem wir das System nutzen, stellen wir ihm einen Blankoscheck aus.« 88
Er ging zum Tisch hinüber und schenkte zwei Gläser Wein ein. »Und vergessen Sie nicht, die Natur ist die Bank, auf die am Ende alle Schecks gezogen werden. Aber jetzt gibt es erst mal etwas zu essen, meine Liebe. Ein Bekannter aus dem Dorf hat mir von seinem Bauernhof ein Huhn gebracht. Sie sind immer ganz köstlich – ich hoffe, es wird Ihnen schmecken!«
Verschlafen und tieftraurig darüber, dass es nie wieder solche Gespräche geben würde, schob Catherine die Blende hoch, um das Morgenlicht hereinzulassen. Unter ihnen dehnte sich, so weit das Auge sehen konnte, der Altiplano Perus aus. Es war ein großartiger Anblick. Doch dann schienen ihr ihre Augen plötzlich einen Streich zu spielen. Zu ihrer Verwirrung glaubte sie, Tausende von Metern unter ihr ein seltsames Gebilde zu erkennen, das auf dem Boden ausgelegt worden war. Es sah wie der Umriss eines gigantischen Kolibris aus. Catherine rieb sich die Augen und warf einen zweiten Blick hinunter. Doch anstatt dass die Halluzination verschwunden war, war sie noch immer da und dazu neben ihr so etwas wie eine riesige Blume. Etwas weiter weg sah sie noch andere solcher Zeichnungen: einen märchenhaften Fisch, einen majestätischen Riesenkondor, dann verschiedene geometrische Formen und schließlich zwei parallele Linien. Sie waren schnurgerade und schienen ohne Ende zu sein. Bilde ich mir das alles bloß ein? Das ist ja unglaublich! Sie drehte sich zu Rutherford um und schüttelte ihn am Arm. »James, das müssen Sie sich ansehen. Was in aller Welt sind das für Bilder, die da auf den Erdboden gezeichnet sind?« Rutherford beugte sich herüber und blickte auf diese erstaunlichen Erscheinungen hinunter. »Du meine Güte! Ich habe keine Ahnung.« Zur Linken von Rutherford, in dem Sitz am Gang, saß ein elegant gekleideter peruanischer Herr von etwa sechzig Jahren. Er hatte nussbraune Haut und die klassische Nase der Inka. Er hatte ihrem Ge89
spräch gelauscht und sagte nun mit starkem Akzent: »Das sind die berühmten Nazca-Linien. Willkommen in Peru!« Rutherford war verdutzt. »Die Nazca-Linien? Ich habe noch nie davon gehört.« Catherine wollte mehr darüber wissen. »Ich auch nicht. Warum sind sie denn aus dieser enormen Höhe sichtbar? Sie müssen riesig sein. Allein diese Parallelen müssen ja fast einen Kilometer lang sein! Und sie sind so unglaublich gerade!« Der Peruaner lächelte, seine Augen funkelten im hellen Sonnenlicht. »Señorita, sie sind viel länger! Sie sind acht Kilometer lang und absolut schnurgerade. Sie führen auf Hügel hinauf und wieder hinunter und durch Senken und weichen nie ab, kein einziges Mal.« Catherine war verblüfft. »Aber wozu sind sie da? Und wann wurden sie gemacht?« »Sie sind offensichtlich noch nie in Peru gewesen, Señorita«, grinste der alte Mann. »Sie werden das während Ihres Aufenthalts wahrscheinlich noch oft hören – aber leider weiß das niemand!«
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Ein paar Minuten später, nachdem Catherine in ihrem Reiseführer nachgeschaut hatte, drehte sie sich zu Rutherford um. Ernst und mit gerunzelter Stirn sagte sie: »Die Nazca-Linien sind die Kornkreise Lateinamerikas. Tatsächlich gibt es Hunderte dieser gigantischen Zeichnungen, und niemand hat eine plausible Erklärung dafür, wie sie entstanden sind. Manche stellen Tiere und Fische dar, doch die meisten sind einfach perfekt ausgeführte geometrische Formen: Vierecke, Dreiecke, Trapezoide und immer wieder unendlich lange, schnurgerade Linien. Am merkwürdigsten ist die Tatsache, dass man sie nur sehen und ihre Bedeutung erkennen kann, wenn man sie aus der Luft betrachtet – wie wir in diesem Moment. Am Boden ist es wegen ihrer riesigen Größe nahezu unmöglich, von ihren wahren Ausmaßen wirklich einen Eindruck zu bekommen, und da das Gelände in der Umgebung von Nazca offenbar kaum Erhebungen aufweist – es ist gleichmäßig flach –, ist die Frage, warum sie erschaffen wurden, als es noch keine Flugzeuge gab, umso rätselhafter.« Sie hielt einen Augenblick inne. Rutherford war tief in Gedanken versunken. Sie brauchte eigentlich nicht zu fragen, tat es aber doch: »Haben Sie den gleichen Gedanken wie ich?« Rutherford nickte. Auf seinem starken, schönen Gesicht lagen Sorgenfalten. »Wenn Sie auf die Theorie des Professors anspielen«, sagte er, »dass Menschen einer früheren Zeit für die künftigen Generationen Botschaften hinterlassen haben, dann ja: Ich habe den gleichen Gedanken wie Sie. Einfach unfassbar.« Catherine sah wieder zum Fenster hinaus und auf die seltsamen Muster hinab, die majestätisch unter ihnen dahinzogen. Ein riesiger Vogel und dann ein enormes leeres Parallelogramm schwebten vorü91
ber. Sie ließ das Buch in den Schoß sinken. Ein Kloß wuchs in ihrem Hals – plötzlich war ihr alles zu viel. Wie ist es möglich, dass man eine ganze Ausbildung durchläuft – Gymnasium, Universität, Doktorat, akademische Karriere – und dass einem am Ende innerhalb von vierundzwanzig Stunden das Fundament seiner bequemen Weltanschauung zerstört wird? Warum hat mir nie jemand von diesen Dingen erzählt – den Landkarten, den Nazca-Linien, der Tatsache, dass die Bibel ein Geheimcode ist, um uraltes Wissen zu überliefern? Sie spürte Rutherfords tröstende Hand auf ihrem Arm. »Catherine? Catherine – alles okay bei Ihnen?« Die Wärme menschlicher Berührung und der Klang seiner Stimme holten sie in die Gegenwart zurück. Sie drehte ihm ihren Kopf zu und versuchte zu lächeln, doch sie fühlte sich mit ihren Kräften am Ende. Er sagte mit ernster Miene: »Catherine, wir müssen die Ruhe bewahren. Und keine Angst haben. Denken Sie an den Professor – er ging seinen Weg, und wir müssen ihm folgen. Wir müssen auf die Wahrheit vertrauen und alles loslassen, was wir bisher zu wissen glaubten.« Dieses Mal war ihr Lächeln aufrichtig. Sie war froh, dass er hier war. »Danke, James. Es tut mir leid, es ist nur … In dieser kurzen Zeit ist so viel passiert! Und so viel scheint sich verändert zu haben … für mich jedenfalls.« »Ich weiß, es geht mir genauso. Ich habe keine Ahnung, wo das alles hinführt, und wenn ich an die möglichen Konsequenzen denke, bekomme ich offen gestanden ziemliche Angst. Wir sollten versuchen, nicht zu weit in die Zukunft zu schauen, sondern einen Schritt nach dem andern machen und sehen, worauf wir stoßen.« Catherine blickte wieder auf die unwirkliche Landschaft der Hochebene hinunter. Sie lag noch immer da und verhöhnte sie mit ihren geheimnisvollen Hieroglyphen. Mit frischer Entschlossenheit öffnete sie den Reiseführer wieder und las laut vor: »Zahlreiche Leute haben versucht, die Nazca-Linien zu datieren, es ist jedoch ein unmögliches Ansinnen. Für die Zeichnungen wurden keine organischen Stoffe verwendet, die C-14-Datierung kommt also nicht in Frage. Der einzige Anhalts92
punkt sind ein paar Tonscherben, die in einigen der von Menschenhand gemachten Rinnen und Gräben gefunden wurden. Die Bilder selbst werfen natürlich auch Fragen auf. Zum Beispiel: Warum kommen manche der abgebildeten Tiere in den Anden gar nicht vor? Es gibt zwar einen Kondor, doch abgesehen davon gibt es einen ganzen Haufen Tiere, die überhaupt nicht hierhin gehören, wie zum Beispiel ein Wal, ein Affe, seltsame Vogelarten und – am merkwürdigsten – eine seltene Dschungelspinne, die nur in den Tiefen des Amazonasregenwalds vorkommt. Diese Spinne ist von besonderem Interesse, da ihre Position und die Position der von ihr ausgehenden Linien ein Abbild des Sternbilds Orion und seiner benachbarten Sterne darstellen, wie die Berechnungen von Astronomen ergaben.« Catherine schloss das Buch. Als Astronomin brauchte sie nicht mehr zu wissen. »James, wer immer diese Zeichnungen geschaffen hat, eines ist sicher: Sie müssen von einer hochstehenden Kultur gewesen sein. Den Himmel zu verstehen und das Sternbild Orion auf solche Weise darzustellen, setzt eine äußerst hohe kulturelle Entwicklung voraus.« Rutherford schüttelte ungläubig den Kopf. »Ja, und was sagen Sie zu der Tatsache, dass die Hälfte der Tiere in den Anden gar nicht vorkommen?« Catherine kam plötzlich ein Gedanke. Sie lehnte sich zu dem peruanischen Herrn hinüber, der noch immer in seine Zeitung vertieft war. »Verzeihen Sie, Señor, darf ich Sie etwas fragen?« Der alte Mann ließ die Zeitung sinken und lächelte aufmunternd. »Was denken denn die Peruaner über diese Linien?« Seine dunklen Augen musterten ihr Gesicht genau. Catherine hatte plötzlich den Eindruck, als hänge seine Antwort davon ab, wie er ihren Charakter einschätzte. Sie sah ihn mit Nachdruck an. »Señorita, wir wissen, wer diese Linien gezeichnet hat. Es waren die Viracochas, die Halbgötter, die als Erste über Peru herrschten. Sie kamen vor vielen tausend Jahren über das Meer hierher. Sie stellten Gesetze auf und lehrten die Menschen viele Dinge. Die amerikanischen Archäologen und vor ihnen die Spanier glaubten immer, wir sprächen 93
von Legenden, wenn wir von den Viracochas erzählten, doch das tun wir nicht. Es gibt keine schriftlichen Aufzeichnungen von ihnen, aber wir wissen, dass sie einst hierherkamen.« Er nickte bestimmt und nahm seine Zeitungslektüre wieder auf. Rutherford lehnte sich mit einem erstaunten Blick zu Catherine hinüber und flüsterte: »Ich glaube, wir haben soeben entdeckt, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten müssen. Wer waren diese Viracochas? Und ist es möglich, dass sie tatsächlich existiert haben?« Rutherford starrte an Catherine vorbei in das endlose Blau des Himmels hinaus und murmelte fast zu sich selbst: »Ja! Genau. Einfach unfassbar …« Er sah sie an. »Mein Gefühl sagt mir, dass uns dieser Miguel Flores einiges darüber zu erzählen weiß.«
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Der Flughafen Lima war in Fiestastimmung. Als sie aus der Tür traten und die peruanische Zollbehörde hinter sich ließen, wurden all ihre Sinne mit Eindrücken nur so überflutet. Am meisten fielen einem die Menschen selbst ins Auge. Nach dem Flughafen Heathrow mit seinen elegant gekleideten Geschäftsleuten, seinen Urlaubern, die ihre sauber gepackten Koffer hinter sich herzogen und dem Grundgefühl, dass man wie eine Kugel im Flipperkasten bewegt wurde, war das bunte Chaos am Flughafen in Lima erfrischend. Der Lärm war ohrenbetäubend und die Hitze drückend, und die Tausende von peruanischen Indios, meist in traditionellem Poncho und mit Filzhut, verstärkten noch den Eindruck, auf einen Marktplatz in den Tropen geraten zu sein. Catherine und James kämpften sich an den Schwarzhändlern vorbei und schafften es schließlich zum Taxistand, wo sie nach kurzem Warten ins stille Innere eines Wagens schlüpfen konnten. Es war ein geräumiges gelbes Taxi amerikanischen Stils, das von einem freundlich aussehenden Mann Anfang zwanzig gefahren wurde. Noch außer Atem von den Strapazen bat Catherine ihn, sie in die Stadt zu fahren. Der Fahrer grinste und warf den Motor an. Das Taxi fuhr los – wobei es allerhand seltsame Geräusche von sich gab – und bog auf die schmutzige, verkehrsreiche Hauptstraße, die nach Lima City führte. Kaum hatten sie das Flughafengelände verlassen, nahm die Qualität der Gebäude rapide ab: Auf beiden Seiten der Straße breiteten sich die Slums aus. Rutherford starrte schockiert auf die Elendsviertel. Sie wirkten wie die Parodie einer amerikanischen oder europäischen Stadt. Alles war aus bekannten Materialien gebaut, die aber ihrem ursprünglichen Zweck entfremdet worden waren. Eine Kühlerhaube diente als Dach 95
eines Hauses, ein leeres Ölfass als Badewanne. Horden von schmuddeligen Kindern spielten mit Müll, der auf den Straßen herumlag. Das sind also die berüchtigten Slums von Südamerika, dachte er. Catherine war wie versteinert. Nach der heiteren Schönheit Oxfords bot sich ihr hier ein apokalyptischer Anblick. Wie können Menschen unter solch schrecklichen Umständen überhaupt ein gutes Leben führen? Sie drehte sich Rutherford zu. »Ich glaube, die Viracochas wären nicht sehr glücklich, wenn sie sähen, wie ihr Land heute aussieht.« »Nein, ganz bestimmt nicht. Es ist deprimierend.« Betroffen sah er nach draußen, wo Reihe um Reihe von notdürftig zusammengeflickten Hütten an ihnen vorbeizogen. »Ich schlage vor, dass wir direkt zum Ministerium für Denkmalschutz fahren und Flores ausfindig machen. Um ein Hotel können wir uns später noch kümmern. Was halten Sie davon?« »Gute Idee. Ich könnte jedoch einen starken Kaffee gebrauchen. Ich habe auf dem Flug nicht viel geschlafen.« Rutherford durchwühlte seinen Rucksack und zog sein Tagebuch hervor, in dem er die Adresse des Ministeriums für Denkmalschutz notiert hatte. Mit einem Lächeln gab er es Catherine und nickte in Richtung Fahrer. »Ich glaube, Sie übernehmen das besser, sonst landen wir noch irgendwo in der Pampa.« Catherine lachte und sprach mit dem Fahrer. Dann lehnte sie ihren Kopf an die Kopfstütze und schloss die Augen. Bald wissen wir, welches Geheimnis Professor Kent und Miguel Flores miteinander teilten. Und dann werden wir vielleicht eine Idee haben, warum der Professor sterben musste …
Das Ministerium für Kulturgüter- und Denkmalschutz war ein riesiges, imposantes, neoklassisches Gebäude auf der Nordseite der prachtvollen und chaotischen Plaza Mayor im Herzen Limas, dort wo vier der größten Verkehrsadern der Hauptstadt zusammentrafen. Des96
halb war die Plaza auch von morgens bis abends von einer Unsumme verschiedenster Vehikel überflutet, die alle ungeduldig ihrem Ziel entgegenfuhren; Lastautos vom Land, städtische Busse und Privatautos drängelten sich durch das Gewühl, ohne den Straßenschildern und Verkehrspolizisten irgendeine Beachtung zu schenken. Nachdem sich das Taxi einen Weg durch das Verkehrschaos geschlängelt und die Plaza einmal umrundet hatte, kam es am Fuße einer riesigen Treppe plötzlich zum Stehen. Während Catherine zahlte, hievte Rutherford ihr Gepäck aus dem Kofferraum. Da beide dem Dreck und Lärm so rasch wie möglich entkommen wollten, stiegen sie eilig die breiten Stufen hinauf. An deren Ende befand sich ein Paar großer, eiserner Türen, die weit offen standen. Dahinter gab es Glastüren, die das Innere des Ministeriums vom Getöse des Verkehrs und dem Gestank der Dieselabgase abschirmten. Oberhalb der Eisentüren hing ein Bronzeemblem in Form eines Riesenkondors, unter dem die Aufschrift ›Ministerio de Antigüedades‹ prangte. Das Atrium war eine düstere, schlecht beleuchtete, höhlenartige Halle, die Grabesstille ausstrahlte. Der Boden war aus Marmor, ebenso die Wände, und die Decke befand sich in kathedralenhafter Höhe. Abgesehen vom Empfangsschalter und einem kleinen Sofa gab es kein einziges Möbelstück. Am Empfang saß eine Dame, aber ansonsten wirkte das Ministerium für Denkmalpflege völlig menschenleer. Sie gingen zum Empfang hinüber. Catherine räusperte sich, bevor sie sich an die kleine, schwarzhaarige Dame wandte. »Buenos dias. Wir möchten gerne mit Miguel Flores sprechen, bitte. Mein Name ist Catherine Donovan, und dies ist James Rutherford – wir sind von der Universität Oxford.« Die Sekretärin sah sie bestürzt an und begann, in rasantem Spanisch auf sie einzureden. »Können Sie die verstehen?«, fragte Rutherford Catherine. »Nein«, antwortete sie. »Sie redet viel zu schnell. Moment mal, jetzt ruft sie jemanden an.« Die Sekretärin sprach rasch in den Hörer, den sie unvermittelt Catherine hinhielt. 97
»Holá – habla inglés?«, fragte Catherine. Zum Glück antwortete der Mann am andern Ende auf Englisch, mit einer freundlichen, beruhigenden Stimme. »Guten Tag. Sie sprechen mit dem Vizeminister für Denkmalpflege. Ich höre, dass Sie gekommen sind, um mit Señor Flores zu sprechen?« Catherine drehte sich zu Rutherford um und lächelte ihn verschwörerisch an. Er betrachtete sie, während sie der Stimme am anderen Ende zuhörte. Plötzlich schwand alle Farbe aus ihrem Gesicht, und sie ließ ihre Hand, die immer noch den Hörer hielt, sinken. Sie wandte sich ihm zu. Ihr Lächeln war verschwunden, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Auf ihrem Gesicht lag nackte Angst. »Flores wurde heute morgen, auf dem Weg hierher, von einem Auto überfahren. Er ist tot.«
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Das kühle Klicken von Schuhen auf Marmor ließ sie aufhorchen. Der Vizeminister war im Anmarsch. Von der andern Seite der Halle kam ein klein gewachsener, dunkler Mann mit Schnurrbart, schwarzem Anzug und Krawatte auf sie zu. Er musste etwa Mitte vierzig sein. Während er sich näherte, meldete sich Catherines Intuition. Rasch flüsterte sie Rutherford zu: »Sagen Sie ihm nicht, weshalb wir hier sind.« Der Mann trat auf Catherine zu, schüttelte ihr die Hand, wandte sich dann an Rutherford und schüttelte auch dessen Hand, während er ununterbrochen ein aufgesetztes, gewinnendes Lächeln zur Schau stellte. Er trug Goldringe an den Fingern und einen Goldzahn im Mund. Er hatte einen starken Akzent und strahlte einen gut geölten Charme aus. »Seien Sie ganz herzlich willkommen. Es tut mir furchtbar leid, Sie von dieser Tragödie in Kenntnis setzen zu müssen. Mein Name ist Rafael Mantores, ich arbeite in Señor Flores' Abteilung. Sie haben vorhin mit mir gesprochen. Bitte, nehmen Sie doch Platz.« Rutherford und Catherine waren fast schon froh darüber, dass man ihnen sagte, was sie tun sollten. Noch ganz durcheinander gingen sie zum Sofa hinüber und setzten sich. »Bitte, Señor Mantores, können Sie uns sagen, was Señor Flores zugestoßen ist?«, fragte Catherine. Er seufzte tief. Das kam Catherine ziemlich theatralisch vor, aber vielleicht war sie gerade etwas sehr ängstlich und argwöhnisch. »Ach, es ist schrecklich. Jeden Tag steigt er auf der andern Seite der Plaza aus dem Bus und geht immer quer durch den Verkehr, anstatt außen herum. Heute wurde er von einem Auto überfahren.« Rutherford traute seinen Ohren nicht. 99
»Hat der Wagen, der ihn überfahren hat, angehalten?« »Angehalten? Ha! Wir sind hier in Lima. Nein, er hat nicht angehalten, sondern ist weitergefahren.« »Gibt es keine Zeugen?« »In Lima halten die Leute nicht an. Es war ein Unfall – was hätte man tun können? Die Polizei kam erst später – eine halbe Stunde oder so. Es gibt sehr viel Verkehr hier … und wir haben hier nicht die New Yorker Polizei. Er wurde ins Krankenhaus gebracht, aber es war schon zu spät.« Catherine, die es noch immer kaum glauben konnte, sagte: »Aber das ist ja furchtbar. Hat denn niemand gesagt, wie es passiert ist oder wenigstens die Nummer des Autos aufgeschrieben?« »Was würde das helfen, Señorita? Wahrscheinlich ist es ohnehin ein gestohlenes Fahrzeug, wie die meisten in Lima. Die Polizei hätte nicht die geringste Chance, es ausfindig zu machen. Aber Sie wollten zu Señor Flores? Es tut mir sehr leid, dass Ihr Besuch eine solche Wendung nehmen musste. Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Wir haben nicht oft Leute aus Oxford hier – es ist mir eine große Ehre.« Das geübte Lächeln breitete sich wieder auf seinem Gesicht aus. Catherine warf Rutherford einen Blick zu. Paranoia ergriff sie. Sie antwortete für sie beide: »Nein, danke. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir wollten mit Señor Flores über die Inkas sprechen. Aber das ist nun völlig unwichtig. Wir werden uns im Hotel einen Führer besorgen.« Mantores ließ aber nicht locker. »Aber, Señorita, vielleicht darf ich Sie davon überzeugen, auch ein paar unserer moderneren Sehenswürdigkeiten zu besichtigen? Peru ist mehr als nur das Kulturerbe der Inkas, wissen Sie.« Sie blickte sich in der höhlenhaften Vorhalle um, als könne jeden Moment ein unbekannter Feind aus einer der Türen treten, und stotterte: »Nein, nein, haben Sie vielen Dank. Wir werden schon zurechtkommen.« »Nun, wenn ich während Ihres Aufenthaltes etwas für Sie tun kann, scheuen Sie nicht mich anzurufen. Hier ist meine Karte. Es tut mir sehr leid, dass Ihr Aufenthalt auf diese Weise beginnen musste.« Er 100
warf einen Blick auf ihre Rucksäcke, an denen noch immer die Anhängeschildchen der Fluggesellschaft hingen, und lächelte breit. »Ich bin mir sicher, es kann nur noch besser werden.« »Haben Sie vielen Dank, Señor Mantores. Das glaube ich auch, das glaube ich auch.« Doch Catherine war alles andere als überzeugt.
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Rutherford und Catherine standen vor den riesigen Eisentüren oben an den großen Stufen und sahen auf das Verkehrsgewimmel hinab, das sich langsam um den Platz wälzte. Hupen dröhnten ununterbrochen. Der Krach war ohrenbetäubend, der Gestank der Abgase überwältigend. Rutherford stellte seinen Rucksack auf den Boden und starrte auf das Chaos auf der Plaza Mayor. So deutlich sichtbar vor der riesigen Plaza kam er sich plötzlich ungeheuer verletzlich vor, und sein Instinkt sagte ihm, es wäre besser, sich zu verstecken, wieder ins Gebäude zurückzugehen, unterzutauchen. Catherine schüttelte den Kopf. Ihre Gedanken überstürzten sich. Flores muss umgebracht worden sein – es ist ein viel zu großer Zufall, dass er ausgerechnet vierundzwanzig Stunden nach unserem Anruf überfahren wurde. Aber wie konnte jemand wissen, dass wir ihn kontaktiert hatten? Wurde das Telefon abgehört? Und wenn ja – von wem und warum? Wer immer es war: Er musste hervorragende – und internationale – Beziehungen haben und wild entschlossen sein, das, womit auch immer Flores und der Professor zu tun hatten, zu stoppen. Flores hatte am Telefon gesagt, sie seien noch nicht bereit. Bereit wozu? Dann ließ kalte Logik sie in die Tiefen der Angst fallen. Sie wurde von einem Gefühl des Entsetzens gepackt. Aber wenn sie Flores ermordet haben, bloß weil er mit uns gesprochen hat, dann werden sie bestimmt … Voller Panik blickte sie um sich; am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen und hätte sich irgendwo verkrochen. Und dann dachte sie wieder an den Professor, einen Mann voller Menschlichkeit und Mitgefühl, der kaltblütig und aus Gründen, die sie noch nicht verstand, umgebracht worden war. Zorn wallte gegen die Angst auf, und ihre Entschlossenheit gewann wieder die Oberhand. 102
Wir lassen uns nicht einschüchtern. So einfach werden wir das Feld nicht räumen. Fieberhaft versuchte sie zu überlegen, welches der nächste Schritt sein musste. »Hätte es einen Zweck, die Polizei zu informieren … oder die britische Botschaft?« »Nein«, sagte Rutherford entschieden und sah sie an. »Welche Beweise haben wir denn?« Catherine setzte sich auf ihr Gepäck. Sie wusste einfach nicht, wohin sie sich als Nächstes wenden sollte. Sie hatte das Gefühl, dass sich zwischen ihnen eine Kluft auftat. Sie kannte James Rutherford ja kaum, und James Rutherford hatte den Professor kaum gekannt. Armer James. Er fragt sich bestimmt, was er hier eigentlich tut. Aber irgendwo muss es eine Lösung geben – oder wenigstens einen Anhaltspunkt, der uns weiterhilft. Rutherford ging auf den großen Steinplatten oberhalb der riesigen Treppenstufen umher. »Catherine, ich finde, wir sollten gleich wieder zum Flughafen fahren. Ich meine, wir haben es versucht … Jemand anders soll sich mit der ganzen Angelegenheit befassen. Die CIA. Das MI6. Ich weiß auch nicht, wer. Leute, die sich mit solchen Dingen auskennen.« Er blieb stehen und wollte noch etwas hinzufügen. Doch sie war ganz in Gedanken versunken. Plötzlich sprang sie auf die Füße. »Könnten Sie hier einen Moment warten und auf mein Gepäck aufpassen? Die Karten des Professors sind hier drin.« Rutherford wirbelte herum. »Was? Was haben Sie vor? He, warum gehen Sie wieder hinein? Warten Sie …« Doch es war schon zu spät. Catherine war durch die riesigen Eisentüren geschlüpft und im Dunkel der Eingangshalle verschwunden. Allein auf der großen Treppe kam es Rutherford plötzlich vor, als zöge sich eine Schlinge um seinen Hals zu. 103
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Señor Mantores ging hastig den Korridor entlang zu seinem geräumigen Büro im dritten Stock. Von seinem aalglatten Charme war nichts mehr zu sehen. Er ließ seine Hand in die Jacketttasche gleiten, nahm ein Taschentuch hervor und wischte sich über die Stirn. Das schweißgetränkte Taschentuch steckte er wieder zurück. Mit einem Ausdruck von Furcht auf dem Gesicht legte er langsam die letzten Schritte zu seiner Tür zurück, hielt einen Moment inne und drückte dann auf die Klinke. Er holte noch einmal tief Luft und trat ein. In dem bequemen Ledersessel mit der hohen Lehne saß der Mann, der Professor Kent umgebracht hatte. Der Mörder trug einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd. Seine kurzen, aber muskulösen Arme waren in höchst aggressiver Weise vor seiner Brust verschränkt. Am Fenster drüben stand ein weiterer finsterer Kerl in Schwarz und spähte durch die Jalousie auf die Plaza hinunter. Es war der Komplize des kleinen Mannes in jener dunklen Nacht oberhalb der Ruinen von Machu Picchu. Die beiden Männer strahlten etwas Militärisches aus – vielleicht waren es die kurz geschnittenen Haare oder ihre schmalen, wettergegerbten Gesichter. »Nun, alles erledigt? Kann ich Sekretär Miller sagen, dass die Sache abgeschlossen ist?« Der Vizeminister für Denkmalschutz war nur noch ein zitterndes Wrack. Das Selbstvertrauen, mit dem er in der Empfangshalle vor Catherine und Rutherford aufgetreten war, war wie weggeblasen. Seine Stimme bebte. »Ja, Señor. Ich habe mit ihnen gesprochen. Ich sagte ihnen nichts, außer dass Flores bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Sie waren schockiert. Die werden bestimmt nicht lange in Peru bleiben.« »Glauben Sie, dass sie nicht lange bleiben werden, oder wissen Sie es?« 104
Panik breitete sich auf Mantores' Gesicht aus. Seine Stimme wurde flehend und hoch. »Señor, es gibt keine Spur mehr. Sie können nichts finden. Sie werden ganz bestimmt nach Hause fahren.« Plötzlich drehte sich der Komplize, der bisher nur aus dem Fenster gespäht hatte, zu ihnen um und sagte: »Die Frau kommt wieder herein. Allein.« Dann kehrte er sich wieder zum Fenster um und drückte mit seinen Fingerspitzen die Jalousien auseinander. Sein Kollege im Ledersessel bellte: »Mantores, warum zum Teufel kommt sie wieder herein?« Mantores war am Ende. »Ich weiß es nicht, Señor. Bitte, ich werde mit ihr reden. Lassen Sie mich nochmals hinuntergehen.« Der Mann im Sessel blickte ihn finster an. »Nein. Das ist viel zu wichtig.« Damit stieß er den Sessel vom Schreibtisch zurück und erhob sich. »Wir haben klare Befehle. Wir werden dafür sorgen, dass diese Sache nicht außer Kontrolle gerät. Kommen Sie mit.«
Zwei Minuten später trat Catherine wieder aus den Türen heraus und hielt einen Zettel, auf den etwas geschrieben war, in der rechten Hand. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht. »Was ist das?«, fragte Rutherford verwirrt. »Die Adresse der Familie Flores. Ich sagte der Dame am Empfang, dass ich Blumen schicken wolle.« Rutherford konnte es nicht glauben. Sie hatte doch tatsächlich vor, ihre Reise fortzusetzen. Er war von ihrem Mut unweigerlich beeindruckt. »So einfach war das?« »Nun, es stimmt ja.« Catherine grinste. »Ich werde die Blumen sogar persönlich vorbeibringen. Kommen Sie, gehen wir.« Catherine ging zu ihrem Rucksack hinüber und hievte ihn sich auf die Schulter. Rutherford sah zu, wie sie die Stufen hinuntereilte und ei105
nem Taxi winkte. Sie kam unten an und sah sich nach ihm um. Er zögerte, und sie konnte ihn nur zu gut verstehen. Aber ich brauche Sie, James. Kommen Sie mit – bitte. Sie seufzte und rief: »Hören Sie, James, lassen Sie uns bitte die Familie Flores besuchen. Danach fahren wir zum Flughafen, ich verspreche es Ihnen. Aber ich kann nicht nach Hause gehen, ohne diese letzte Spur zu verfolgen. Damit könnte ich nicht leben.« Rutherford warf einen Blick auf ihr flehendes Gesicht, und seine Vernunft schmolz dahin. »Also gut, dann gehen wir jetzt zu den Flores und dann direkt zum Flughafen. Okay? Und nur auf einen kurzen Besuch.«
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Es war inzwischen kurz vor Mittag an diesem Mittwoch, und die Straßen von Lima waren voller Autos. Die Sonne war, wie mindestens zehn Monate im Jahr, hinter dem berüchtigten Küstennebel verborgen, der vom Pazifik herangleitet und die Stadt in einen weißen Dunst hüllt. Von den Einheimischen wird er Garoupa genannt, was ›Bauch des Esels‹ heißt, und seine drückende Wirkung verstärkt die Hitze und Luftverschmutzung nur noch mehr. Auf ihrer Fahrt durchquerten Catherine und Rutherford das alte koloniale Stadtzentrum. Es bot ein Bild von einstiger Pracht. Sie kamen an wunderschönen Holzhäusern und großen Steinpalästen vorbei, die inzwischen hauptsächlich von der Regierung als Ministeriumsgebäude und Museen genutzt wurden. Das alte Lima ist klein, und schon nach ein paar Minuten fuhr das Taxi durch die schmuddeligen, überfüllten Straßen der neueren Stadtviertel mit ihren tristen Betonbauten und baufälligen Straßen. Überall sah man die Zeichen der Armut, und als sich das Auto im Schneckentempo durch die Staus schob, wurde es von Straßenhändlern umschwärmt, die alles Erdenkliche – von Plastikkleiderbügeln bis zu Feuerzeugen – feilhielten.
Zwanzig Minuten später – und nachdem sie bei einem Blumenladen angehalten hatten, damit Catherine Lilien kaufen konnte – bog das Taxi um eine scharfe Ecke und in eine schmale, menschenleere Gasse hinein, tief im Herzen eines der Wohnviertel. Der Fahrer reckte seinen Kopf hierhin und dorthin, während er sein Gefährt sachte durch die heruntergekommene Straße lenkte. 107
»Aha! Da ist es«, verkündete er schließlich. »Die Tür dort, die grüne.« Catherine und Rutherford warfen einen misstrauischen Blick auf das zweistöckige Betonhaus, in eine Häuserreihe gequetscht, die genauso trostlos aussah. Catherine bezahlte den vereinbarten Fahrpreis und stieg aus. Die leere Straße machte sie nervös. Sie sah sich um und wandte sich an den Fahrer. »Können Sie hier auf uns warten?« »Sicherlich, Señorita. Lassen Sie sich ruhig Zeit.« Der Indio stellte den Motor ab, schaltete das Radio an, lehnte seinen Kopf zurück und zog sich mit einem zufriedenen Lächeln seine Baseballmütze ins Gesicht. Catherine und Rutherford traten zur Tür. Rutherford trat einen Schritt zurück und blickte die Straße hinab und hinauf, während Catherine klingelte. Die Stille brachte ihn aus der Fassung. Nach etwa einer halben Minute war das Drehen eines Schlüssels im Schloss zu hören. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Eine Frau blickte sie an. Ihre Augen waren rot – wahrscheinlich vom Weinen, dachte Catherine. Die Frau hatte die starken und attraktiven Gesichtszüge der Inkas – schwere Stirn, kräftige Nase, hohe Wangenknochen –, und ihre Haut war sehr dunkel. Catherine vermutete, dass sie etwa fünfunddreißig Jahre alt war. »Holà, Señora – habla inglés?« Das Gesicht der Frau blieb unergründlich. Catherine ließ nicht locker: »Nosotros somos amigos de Miguel Flores.« Als sie Flores' Namen erwähnte, ging ein Blitz des Erkennens über das Gesicht der Frau. Sie sah sie sofort offener und gleichzeitig verletzlicher an. »Ustedes conocian a Miguel? – Sie kannten Miguel?« Catherine hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie diese Frau in ihrer Trauer behelligte. »Si, Señora. Ihr Verlust tut uns außerordentlich leid …« Rutherford sah wortlos zu, wie sich diese offensichtlich äußerst delikate Situation entwickelte. 108
Schließlich, nach einem Schweigen, das länger als eine Minute dauerte, wurde die Kette ausgehängt, und die Frau, die die ganze Zeit ängstlich auf die Straße schaute, bat sie ins Haus. Sie schloss und verriegelte die Tür hinter ihnen und rief auf Quechua – jener Inkasprache, die von den Indios der peruanischen Andenprovinzen noch immer in verschiedenen Dialekten gesprochen wurde – etwas ins Haus hinein. Aus einer Tür am Ende des Korridors trat ein kleingewachsener, gut aussehender Indio, ebenfalls etwa Mitte dreißig. Er trocknete sich gerade mit einem Tuch seine Hände. Sein Gesicht drückte große Besorgnis aus. Etwas Drängendes, Erregtes lag in seiner Stimme, und er sprach rasch und fließend Englisch. »Meine Schwester sagt, Sie hätten meinen Bruder gekannt. Wer sind Sie und was wollen Sie?« Catherine wusste nicht, was sie sagen sollte. »Äh, es tut uns sehr leid, dass wir Sie unter diesen Umständen behelligen. Wir sind nur gekommen, weil es für uns überaus wichtig ist, mit Ihnen zu sprechen.« Der Indio sah sehr unglücklich aus, doch nachdem er Catherine von Kopf bis Fuß gemustert und einen Blick auf Rutherford geworfen hatte, sagte er: »Okay – aber Sie können nicht lange bleiben.« Sie folgten ihm in ein großes Zimmer, in dem sich zwei Sofas befanden sowie eine umfangreiche Bibliothek mit Büchern über Geschichte, Kultur und die Kunst der Inka. An der Wand hingen Fotografien atemberaubender Ansichten Perus, offensichtlich aus allen Ecken des Landes: aus dem Dschungel, von der Küste und, am eindrucksvollsten, aus den Anden. Catherine reichte diesem undurchschaubaren Mann die Lilien, die sie gekauft hatten. »Die sind für Sie. Offen gestanden kannten wir Ihren Bruder nicht persönlich. Wir sprachen nur ein einziges Mal mit ihm. Mein Name ist Catherine Donovan, und dies ist James Rutherford. Wir sind von der Oxford University. Wir sind heute Morgen in Peru gelandet. Wir hatten gehofft, Ihren Bruder treffen zu können. Wir hatten nicht einmal einen Termin mit ihm.« 109
Die dunklen Augen des Peruaners schossen zwischen den beiden Ausländern hin und her. Sein Argwohn war offensichtlich. »Vielen Dank für die Blumen. Bitte nehmen Sie Platz.« Er gab die Blumen seiner Schwester und zog einen Stuhl heran. Er gab nichts preis. Er schien sich sehr unbehaglich zu fühlen. »Wenn Sie meinen Bruder nicht kannten, warum sind Sie ihn dann besuchen gekommen?« Catherine schluckte nervös. Wir müssen etwas aus diesem Mann herausbekommen – so unangenehm es ist, hier zu sein, so unsensibel es sein mag, sie in ihrer Trauer zu stören – wir müssen unbedingt etwas herauskriegen. »Ein Freund von uns aus England – Professor Kent – hatte mit Ihrem Bruder an einer Sache zusammengearbeitet, bevor er starb.« Catherine hielt inne, um zu sehen, wie der Peruaner reagierte, doch er starrte sie aus seinen tiefen, dunklen, nachdenklichen Augen bloß an. »Sehen Sie«, fuhr sie fort, »ich weiß, das muss Ihnen sehr seltsam vorkommen, aber nach dem Tod unseres Freundes fanden wir den Namen Ihres Bruders verschlüsselt in seinen Papieren. Ich rief ihn an, doch er wollte am Telefon nicht sprechen. Er sagte, wir müssten dafür hierherkommen.« Der Indio erhob sich langsam, und Catherine verstummte. Er ging zu dem Kamin hinüber und drehte sich wieder zu ihnen um. »Señorita, als ich Professor Kent zum letzten Mal sah, saß er genau dort, wo Sie jetzt sitzen – aber das ist eine andere Sache. Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich denke, es ist besser, dieses Gespräch hier zu beenden. Ich möchte auch nicht mehr über Sie wissen. Bitte, wir wären Ihnen sehr verbunden, wenn Sie jetzt gehen würden.« Doch Catherine sah ihn ungläubig an. »Sie kannten Professor Kent?« »Nein, ich bin ihm nur zweimal begegnet, beide Male hier in Miguels Haus. Mein Bruder lud ihn hierher ein, damit sie ungestört sprechen konnten. Aber ich muss Sie nun wirklich bitten …« Rutherford warf ein: »Señor Flores, der Tod Ihres Bruders tut mir wirklich schrecklich leid. Aber es geschehen zurzeit schlimme Din110
ge, die man nicht einfach ignorieren kann. Wir brauchen Ihre Hilfe, denn … wir sind überzeugt, dass Professor Kent ermordet wurde. Und wir müssen herausfinden, woran er und Ihr Bruder gearbeitet haben. Wir dürfen nicht zulassen, dass beide umsonst gestorben sind.« Der Indio war offensichtlich hin und her gerissen. Rutherford spürte, dass er reden wollte, aber dass ihn die Angst daran hinderte. Rutherford ließ nicht locker: »Wäre es sehr taktlos von uns, Ihnen über die Arbeit Ihres Bruders und des Professors Fragen zu stellen? Hat Ihr Bruder überhaupt darüber mit Ihnen gesprochen?« Der Indio sah ihn an und lächelte traurig. »Das wäre alles andere als taktlos von Ihnen. Miguels Arbeit war auch für mich sehr wichtig. Darum geht es hier nicht …« Er verstummte. Er war sich nicht sicher, was er tun sollte, doch dann, als habe er sich entschieden, den Kopf nicht länger in den Sand zu stecken, sah er sie beide an und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid«, sagte er und ließ den Arm durch die Luft schweifen, »Miguel sagte mir gestern, dass ich mit niemandem sprechen solle, falls ihm etwas zustoße. Wir haben große Angst – heute ist ein schlimmer Tag. Ein sehr schlimmer Tag.« Catherine verspürte starkes Mitgefühl für den armen Mann. »Señor Flores, es tut uns leid, dass wir Sie belästigen. Aber wir wollen einfach verstehen, was hier vorgeht. Der Professor war wie ein Vater zu mir, auch ich habe jemand sehr Nahestehenden verloren.« Der Indio seufzte. »Es ist kompliziert. Ihre Arbeit war geheim. Aber wo soll ich bloß anfangen?« Für einen Moment saß er gedankenverloren da, doch dann setzte er wieder an: »Trotz unseres Namens sind wir eine reinrassige Quechua-Familie aus Cuzco, der alten Inkahauptstadt oben in den Anden. Unser Großvater nahm einen spanischen Namen an. Für Indios vom Lande sind wir ziemlich untypisch. Dass wir beide eine Oberschulausbildung hatten und Miguel an der Universität Cuzco studierte, war ein großes Glück. Er wurde Archäologe und Historiker, und ich arbeitete bis vor kurzem für eine Hilfsorganisation in der Provinz Cuzco. Unsere Arbeit, ja unsere Leben widmeten wir unserem Volk, den Quechua – den Nachfahren der Inka.« 111
Catherine seufzte erleichtert auf. Er redet … Flores fuhr mit seiner tiefen, ernsthaften Stimme fort. Er sprach langsam und überlegt und wählte jedes Wort sorgfältig aus. Die ganze Zeit blickten seine Augen zwischen Catherine und Rutherford hin und her. »Wir kennen die Geschichte unseres Volkes. Wir kennen die Geschichten der Vergangenheit, und schon als kleine Jungen kletterten wir in den alten Ruinen von Cuzco, von Ollantayatambo und Tiahuanaco – der Stadt der Viracochas am Titicacasee – herum. Wir kennen die Geschichte unseres Landes in einer Weise, wie sie spanische oder amerikanische Akademiker in ihren Büros und inmitten ihrer Bücher niemals kennen werden. Auch wir haben natürlich Bücher – wie Sie sehen. Die aktuellen Forschungen sind uns nicht unbekannt. Aber wir sind anderer Meinung.« Das Gesicht des Indios strahlte nun neue Entschlossenheit aus. Mit Bestimmtheit fuhr er fort: »Nach der Eroberung haben die Spanier und insbesondere die katholische Kirche über Generationen hinweg getan, was in ihrer Macht stand, um alle Zeugnisse unserer Kultur zu vernichten. Kulturdenkmäler und religiöse Zentren wurden zerstört, religiöse Bücher verbrannt, Priester massakriert und die Menschen durch das Schwert bekehrt. Innerhalb weniger Generationen war nichts mehr da, und sogar heute wird den Kindern noch die orthodoxe Version unserer Geschichte beigebracht. Professor Kent verstand, wie ungerecht dies ist. Wir brauchten ihm nicht zu erzählen, dass es vor den Inka eine andere und noch großartigere Hochkultur gegeben hatte. Ich weiß auch nicht warum, aber er wusste das alles schon und wollte den Beweis dafür finden. Wir haben den Beweis. Professor Kent war ein sehr gebildeter Mann. Er sagte, dass die Wahrheit, die wir ihm verraten hatten, eine noch größere Wahrheit offenbaren würde, welche die gesamte Menschheit retten könnte.« Während sie Flores' Enthüllung hörte, wusste Catherine, was als Nächstes zu tun war. »Señor Flores, dürfen wir die wahre Geschichte auch erfahren? Wir wollen die Arbeit des Professors fortsetzen.« »Nennen Sie mich bitte Hernan, Señorita. Und verzeihen Sie mir 112
meine anfängliche Unfreundlichkeit, aber hier sind wir nicht sicher. Wenn wir über diese Dinge weiter reden oder nur schon nachdenken wollen, müssen wir Lima sofort verlassen und nach Cuzco fahren.« In diesem Augenblick erschien Hernans Schwester wieder in der Tür. Es machte den Eindruck, als breche sie demnächst in Tränen aus. Sie begann, fieberhaft auf Quechua auf ihn einzureden, und deutete immer wieder vorwurfsvoll auf die beiden Ausländer. Hernan schien dies peinlich zu sein, doch die Trauer seiner Schwester erschütterte ihn auch sichtlich. Mit sanften Worten und einer ruhigen Stimme nahm er sie an den Händen, beruhigte sie geduldig und führte sie schließlich aus dem Zimmer. Rutherford hatte den Vorfall kaum wahrgenommen. Er war in ganz andere Gedanken versunken. Bis jetzt gibt es zwei Tote. Was ist wohl nach Flores' Ansicht passiert? Hernan erschien wieder und schüttelte den Kopf. Bevor er etwas sagen konnte, sagte Rutherford so taktvoll wie möglich: »Señor Flores, ich würde Ihnen gern eine Frage stellen. Haben Sie eine Vermutung, wer für den Tod von Professor Kent und Ihrem Bruder verantwortlich sein könnte?« Hernan schüttelte voller Bedauern den Kopf und blickte auf seine Uhr. »Nein, nicht die geringste. Aber es spielt auch keine Rolle, wer genau sie sind. Wichtig ist, dass sie existieren. Sie sind mächtig und offenbar zu allem bereit. Ich bin nicht paranoid. Wir sind jetzt alle in Gefahr – glauben Sie mir.« Sein Gesichtsausdruck wurde leer. Catherine musterte seine hohen Wangenknochen und seine dunklen Augen. Irgendwie schaffte es dieser Mann, trotz des tragischen Todes seines Bruders, seine Würde zu behalten. »Hernan – haben Sie vielen Dank für Ihre Hilfsbereitschaft. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mich mit James kurz unter vier Augen unterhielte?« »Nein – keineswegs. Ich muss jetzt zum Krankenhaus fahren, aber falls Sie nach Cuzco kommen wollen: der Flug geht um halb sechs. Wenn Sie irgendetwas benötigen, lassen Sie es mich einfach wissen.« 113
Hernan verließ das Zimmer. Catherine zersprang fast vor neuem Tatendrang – sie schienen in der Tat eine Spur gefunden zu haben. Mit einem Lächeln wandte sie sich Rutherford zu – doch dann verließ sie der Mut. Sie sah sofort an seiner ernsten Miene, dass sie beide nicht zum selben Schluss gekommen waren.
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Catherine sah Rutherford flehend an. Sie wollte um jeden Preis weitermachen. »James, ich finde, wir sollten unbedingt mit Hernan mitgehen …« Rutherford, dessen Stimme unglaublich angespannt klang, fiel ihr ins Wort, bevor sie fortfahren konnte: »Darf ich Ihnen nochmals die Tatsachen bewusst machen? Diese Irren – wer immer sie sind – haben bereits Miguel Flores und Professor Kent umgebracht. Auch uns werden sie töten, und zwar ohne mit der Wimper zu zucken, denn wir bedeuten ihnen nichts. Die tun, was sie wollen und egal wo – und Sie wissen das. Und wir wissen noch nicht einmal, wonach wir eigentlich suchen!« Rutherford sprang auf die Füße und ging vor dem Kamin auf und ab. Catherine wusste nicht, was sie sagen sollte. Vorsichtig begann sie: »Das ist nicht wahr. Wir wissen sehr wohl, wonach wir suchen, nämlich nach dem uralten Geheimnis, das in den Mythen der Welt verborgen ist. Wenn wir Professor Kents Spur folgen, werden wir bestimmt mehr herausfinden, dessen bin ich mir sicher.« Sie war besorgt. Es war die erste Meinungsverschiedenheit, die sie hatten. Es wurde ihr bewusst, wie sehr sie auf seine Unterstützung angewiesen war. Aber sie wollte auch um keinen Preis aufgeben, weshalb es sie wütend machte, dass er etwas anderes im Sinne hatte. Doch Rutherford, der mit verschränkten Armen vor dem Kamin stand, schien entschlossener denn je, sich nicht umstimmen zu lassen. »Catherine – zu sagen, wir seien in Gefahr, ist die Untertreibung des Jahres. Der Professor wusste haarscharf, wie mächtig und gnadenlos diese schrecklichen Leute sind, wer immer sie auch sind. Weshalb hätte er sonst den verschlüsselten Brief schreiben sollen? Wäre es nicht reiner Wahnsinn, seiner Spur weiter zu folgen?« 115
Catherine konnte ihm nicht mehr länger zuhören. »Ich verstehe Ihren Standpunkt, aber ich kann nicht umkehren. Ich werde mich nicht davon abbringen lassen, bis ich herausgefunden habe, was hier dahintersteckt, egal wie gefährlich es ist.« Rutherfords Augen blitzten. »Und was ist mit unserer Sicherheit – haben Sie keine Angst, dass es uns genauso ergehen wird?« »Ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen.« Rutherford, dessen Stirn in tiefen Falten lag, atmete langsam aus. Er wandte sich von ihr ab und sah aus dem Fenster in den Hinterhof hinaus. Plötzlich erkannte er, wie unerträglich ihm der Gedanke, sie nie mehr wiederzusehen, war. Vor weniger als achtundvierzig Stunden war sie in sein Leben getreten, hatte es auf den Kopf gestellt, und er hatte nicht die geringste Absicht, sie einfach so davonziehen zu lassen. Entschlossen drehte er sich ihr wieder zu und sah ihr in die Augen. »Also gut – ich bringe es nicht über mich –« Catherine wollte sich den Rest gar nicht erst anhören. Ihr sank der Mut. Ihre Stimme zitterte vor innerem Aufruhr, als sie sagte: »Ich verstehe. Es war sehr liebenswürdig von Ihnen, mich bis hierher zu begleiten. Dafür werde ich Ihnen immer dankbar sein.« Doch hinter ihren nüchternen Worten wurde sie von großer Angst gequält. Obwohl sie einander kaum kannten, wollte sie ihn nicht verlieren – und nicht nur, weil sie den bevorstehenden Gefahren dann allein gegenüberstehen würde. Rutherford sah sie mit einem resignierten Lächeln an. »Lassen Sie mich bitte ausreden, Dr. Donovan. Ich bringe es nicht über mich, Sie einfach hier alleinzulassen. Es sieht also ganz danach aus, als würden Sie mich nicht so rasch loswerden.«
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Catherine und Rutherford verschanzten sich den ganzen Nachmittag im Haus und vergruben sich in der Familienbibliothek der Flores. Um vier Uhr stiegen sie in das wartende Taxi, um den Abendflug nach Cuzco nicht zu verpassen. Als der Wagen auf der staubigen Straße vor dem Haus der Flores davonfuhr, tauchte aus dem Schatten einer schmalen Seitenstraße ein zweites Auto auf. Es war ein silberner Mercedes. Der Fahrer war ein untersetzter Indio mit dunkler Sonnenbrille. Neben ihm, auf dem Beifahrersitz, saß der bedrohlich aussehende Westler im schwarzen Anzug. Hinter ihm, auf dem Rücksitz, saßen sein bulliger Komplize und Señor Mantores. Schweiß rann über Mantores' Stirn. Schweigend beobachteten sie, wie das andere Auto auf der Straße davonfuhr. Der Typ auf dem Beifahrersitz drehte sich mit dem ganzen Oberkörper um, damit er Mantores besser sehen konnte, und knurrte wütend: »Wo zum Teufel fahren sie jetzt wieder hin? Von wegen ›Die werden bestimmt nicht lange in Peru bleiben‹!« Er drehte sich wieder nach vorn, sah dem davonbrausenden Taxi nach und murmelte vor sich hin: »Ich hatte doch gesagt, wir hätten die ganze Flores-Familie gleich aus dem Verkehr ziehen sollen.« Mantores' Augen waren vor Angst weit aufgerissen. Er wollte etwas sagen, aber kein Wort kam ihm über die Lippen. Der Killer nahm ein Handy aus der Innentasche seines Jacketts und wählte eine Nummer in Nordamerika. Es klingelte dreimal, dann wurde der Anruf entgegengenommen. »Sir, wir haben Flores eliminiert, wie Sie es verlangten. Aber leider haben die beiden Wissenschaftler mit seinem Bruder Kontakt aufgenommen …« 117
Eine kurze Pause trat ein, während die Stimme am anderen Ende sprach. Der gedrungene Mann hörte aufmerksam zu. »Sie können sich darauf verlassen. Verstanden. Diesmal werden wir dafür sorgen. Ja, auf jeden Fall, Sir, die Sache wird hier in Peru zu einem Ende gebracht.«
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Der Flug nach Cuzco ist ein unvergleichliches Erlebnis. Nach dem Abflug vom Flughafen Lima entfernt sich das Flugzeug von der Küste, und auf beiden Seiten werden sogleich die ersten Ausläufer der Anden sichtbar. Das Flugzeug steigt höher und höher, noch immer von Bergen umgeben, bis die Maschine schließlich durch die Wolken stößt und in die dünne Höhenluft gleitet. In der Ferne ragen die höchsten Gipfel aus der Wolkendecke und leuchten am Horizont wie Inseln in einem weißen wattigen Meer.
Catherine war nicht in der Verfassung, die Aussicht zu genießen. Erst jetzt wurden ihr der Ernst der Lage und die Bedeutung dieser zwei Todesfälle so richtig bewusst, und einmal mehr wurde sie von einem Gefühl der Angst und Panik erfasst. Waren sie auch hier über den Wolken ihres Lebens vielleicht gar nicht sicher? Sie musterte die Mitreisenden. Wie Hernan, der in der Reihe vor ihr saß, waren alle außer ihnen Indios. Stand einer von ihnen etwa im Dienst ihres dunklen Feindes? Sie war unendlich froh, dass James bei ihr war. Die ruhige und praktische Art, die er bisher bei ihrem unglaublichen Abenteuer an den Tag gelegt hatte, zeigte ihr, was für ein außergewöhnlicher Mann er war. Ein normaler Mensch hätte gleich nach der Nachricht von Flores' Tod das erstbeste Flugzeug nach Hause bestiegen. Das heißt, ein normaler Mensch wäre schon gar nicht erst mit ihr mitgekommen. Trotz seiner Bedenken schien er den Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert waren, absolut gewachsen zu sein. Das Leben in Bibliotheken, zwischen Stapeln von Büchern, schien für ihn plötzlich zu klein, zu 119
eng zu sein. Obwohl sie es sich kaum eingestehen wollte, fand sie ihn mit jeder Stunde, die verging, attraktiver.
Die uralten gepflasterten Straßen von Cuzco erinnerten Rutherford und Catherine an Oxford. Nach Lima war die Luft hier von einer köstlichen Reinheit, und für einen Augenblick vergaßen sie all ihre düsteren Vorahnungen. Während Hernan sie in einem Mietwagen in die Altstadt fuhr, redete er ununterbrochen über die alten Hochkulturen der Anden. Mit einer Hand am Steuer lenkte er den Jeep durch die engen Straßen, während er mit der anderen heftig gestikulierte, um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen. Dabei schwankte der Wagen hin und her. »Die Inka darf man nicht als Urheber betrachten – das müssen Sie als Erstes verstehen. Obwohl sich ihre wunderbaren Kunstwerke in allen Museen der Welt befinden, waren sie bloß die Hüter einer viel älteren Kultur. Die Inka gaben dies sogar selbst zu. Ein paar aufgeklärte Reisende aus Spanien, die mit ansehen mussten, wie die Inkakultur regelrecht ausradiert wurde, versuchten noch, ihre Traditionen aufzuzeichnen und festzuhalten, als diese in den Nebeln der Zeit verschwanden.« Der Jeep schlingerte gefährlich weit über die Mittellinie hinaus und konnte gerade noch einem vollgepackten kleinen, bunt bemalten Bus ausweichen, der ihnen entgegenholperte. Rutherford klammerte sich an der Rückenlehne von Hernans Sitz fest. Als ob unsere Reise nicht schon gefährlich genug ist! Catherine schloss für den Bruchteil einer Sekunde ihre Augen, als der Minibus um Haaresbreite an ihnen vorbeisauste. Sie warf Rutherford einen Blick zu und hob ihre Augenbrauen. Hernan beobachtete sie im Rückspiegel. »Oh, verzeihen Sie! Ich fahre vorsichtiger. Sie sind an unsere Fahrweise hier in den Anden noch gar nicht gewöhnt!« Er bremste auf ein gemächlicheres Tempo herab, während er mit der Beschreibung seines Volkes fortfuhr. »Ich bin mir sicher, dass die Spa120
nier all die Geschichten und Überlieferungen, die sie aus dem Mund der alten Priester vernahmen, gar nicht glaubten. In ihren Ohren klang das wohl viel zu seltsam, um wahr zu sein – dabei ist es wahr. Eine der wichtigsten Überlieferungen der Andenvölker – genau jene, für die sich Professor Kent interessierte – besagt, dass hier schon Jahrtausende vor der Inkakultur eine großartige Hochkultur existiert hat. Aber machen Sie sich keine Sorgen – Sie werden den Beweis mit eigenen Augen sehen …« Hernan versetzte Catherine und Rutherford mit seinen Erzählungen in eine andere Welt, eine Welt von Inkaprinzen und spanischen Konquistadoren und dem tragischen Untergang der Inkakultur. Aus dem Wagenfenster sahen sie die bunt gekleideten Bauern, die Nachkommen jenes einst bedeutenden Volkes, und freuten sich über die Sauberkeit der Luft und die völlige Abgeschiedenheit und entrückte Schönheit der Andenlandschaft.
Schließlich, nachdem sie die Vorstädte von Cuzco durchquert und auf bezaubernden gepflasterten Straßen die Altstadt erreicht hatten, hielt Hernan den Wagen vor der Einfahrt zu einer besonders engen Straße an. Er sprang hinaus und öffnete die Beifahrertür, damit Catherine aussteigen konnte. »Okay, da wären wir nun endlich. Ich bringe Ihr Gepäck ins Haus meines Cousins, und inzwischen können Sie sich in der Stadt etwas umsehen. Ich werde ihm sagen, dass Sie Freunde von mir sind. Was immer Sie tun, erwähnen Sie Professor Kent oder Miguel mit keinem Wort. Ich will nicht noch mehr Leute in Gefahr bringen. Bei Einbruch der Dunkelheit gehen wir zu seinem Haus, und Sie können dort übernachten, aber bei Tagesanbruch müssen wir wieder weiter – das Risiko, dass man Sie hier sehen könnte, kann ich nicht eingehen.« Catherine kletterte aus dem Jeep. »Würden Sie uns nicht besser mitnehmen und vorstellen? Wäre das nicht natürlicher?« 121
Hernan warf ihr einen beunruhigten Blick zu. »Nein. Ich glaube, es ist wirklich besser, wenn Sie mit so wenig Leuten wie möglich Kontakt haben. Sehen Sie sich ruhig ein bisschen um. Aber ich rate Ihnen, sich unauffällig zu verhalten. Wenn Sie jene Straße nehmen«, er deutete auf eine andere enge Gasse, »und geradeaus weitergehen, gelangen Sie zum Hauptplatz, der Plaza de Los Almabos. In einer halben Stunde treffe ich Sie dort, beim Eingang der Kathedrale.« Rutherford streckte seine Arme aus. »Uff, ich habe das Gefühl, dass wir die letzten vierundzwanzig Stunden nonstop unterwegs waren. Da vertrete ich mir die Beine noch so gern.« Hernan lächelte ihm zu. »Nun, dann gönnen Sie sich einen Spaziergang. Sollten Sie sich verlaufen, fragen Sie einfach nach der Kathedrale, und man wird Ihnen den Weg zeigen.« Damit setzte sich Hernan wieder in den Jeep und warf den Motor an. Das Fahrzeug holperte davon und verschwand hinter einer Ecke. Kaum war er weg, bemerkten Rutherford und Catherine, wie still es hier in Cuzcos gepflasterten Gassen war. Vor allem genossen sie die frische Luft und atmeten ein paar Mal tief ein. Der Himmel war kristallklar, und zum ersten Mal seit der Nachricht von Flores' Tod fühlte sich Catherine etwas zuversichtlicher, etwas weniger klaustrophobisch. Sie drehte sich zu Rutherford um, der gerade die Steinmetzarbeit einer großen alten Mauer betrachtete, die linkerhand der Straße entlanglief. »Glauben Sie, dass wir hier in den Anden sicher sind?« »So sicher, wie es halt geht. Aber ich sehe es so wie Hernan – ich denke, wir sollten nicht lange bleiben. Sehen Sie sich mal diese außergewöhnliche Mauer an.« Statt aus Ziegelsteinen war sie aus riesigen Granitblöcken gemacht, einige von ihnen drei Meter im Quadrat. Das Unglaubliche war, dass diese Steine, im Gegensatz zu den gleichförmigen, rechteckigen Backsteinen einer normalen Mauer, oft mehrere Seiten hatten und von unterschiedlicher Größe waren, und doch waren sie perfekt und schein122
bar ohne Mörtel ineinander gefügt. Die Fertigkeit, die nötig war, um solch riesige Granitblöcke zu entwerfen und zurechtzuschneiden, die sich rundherum in den verschiedensten Winkeln mit ähnlichen Blöcken ineinander verzahnten, ohne die Gesamtstruktur auch nur im Geringsten zu beeinträchtigen, war schlicht ehrfurchtgebietend. Catherine staunte offenen Mundes. »Wie in aller Welt waren sie dazu fähig? War das das Werk der Inka?« Sie trat näher an die Wand und fuhr mit der Hand über einen besonders großen Block. »Sehen Sie, dieser Felsblock hat zehn Seiten und ist so groß wie ein Esstisch. Einfach unglaublich – er fügt sich nahtlos an all seine Nachbarn. Nicht einmal eine Messerklinge könnte man dazwischenstecken.« Rutherford trat einen Schritt zurück und bestaunte diese Baukunst. »Ich habe wirklich keine Ahnung. Das müssen die Inka geschaffen haben, auf jeden Fall nicht die Spanier oder andere Europäer. Stellen Sie sich nur mal vor, ein solches Monster auch nur eine Handbreit zu bewegen. Die größeren hier wiegen bestimmt über zehn Tonnen. Kommen Sie, lassen Sie uns gehen und diese Kathedrale finden.« Catherine ließ die Hand über die Mauer gleiten, während sie Rutherford die leichte Steigung der Straße hinauffolgte, in Richtung des Hauptplatzes. Wenn ich daran denke, dass ich erst gestern noch meine letzte Vorlesung des Semesters gehalten und von Ferien geträumt habe. Es ist erst Mittwochabend, aber Oxford kommt mir schon eine Ewigkeit weit weg vor. Als wäre ich in meinem alten, gemütlichen Leben in ein Loch gefallen und in eine andere Welt gestürzt – in eine Welt voller Gefahren. Ihr Blick fiel auf Rutherford, der vor ihr herging. Er schaute fortwährend nach allen Seiten und bestaunte mit seiner unerschöpflichen Neugier die Mauern von Cuzco. Seine Gegenwart gab ihr Mut. Wie Hernan gesagt hatte, gelangten sie am Ende der schmalen Gasse auf den Hauptplatz, der ihnen nach der Plaza Mayor in Lima verlassen wie eine Geisterstadt vorkam. Der Platz hatte die Größe einer stattlichen englischen Dorfwiese und war auf allen Seiten von Steinhäusern umgeben. Sechs gepflasterte Straßen mündeten auf ihn. An Ruther123
fords Seite spazierte Catherine um die Plaza herum. Sie genossen die Beschaulichkeit und die Weite und waren froh, die Unannehmlichkeiten Limas hinter sich gelassen zu haben. Als sie sich der gegenüberliegenden Seite näherten, sahen sie Hernan aus einer der Gassen auf sie zukommen. »Hallo!«, rief er. »Ist es nicht wunderschön hier?« Catherine lächelte ihm zu. Rutherford grinste und rief zurück: »In solch einer Kulisse muss es einem unweigerlich gefallen – da müsste man schon etwas sehr Hässliches bauen, um diesen Anblick kaputt zu machen.« Hernan lachte. Nun stand er vor ihnen. »Ja, ja, da haben Sie wohl recht.« Die drei blickten über den Platz und die dahinter liegenden Dächer der Altstadt, die sich in der Ferne verloren. Mit einem verschmitzten Blick und einem Lächeln wandte sich Hernan zu ihnen um und sagte: »Hier in Cuzco haben die Inka den Viracocha zu Ehren einen Tempel erbaut – die so genannte Coricancha. Können Sie sie sehen?« Rutherford und Catherine schauten sich nach einem Bauwerk um, das einigermaßen nach Inkakultur aussah. Aber sie entdeckten keines, das erhaben genug war, um es sich als Tempel vorstellen zu können. Hernan zeigte geradeaus auf die gegenüberliegende Kirche. »Hier ist sie. Die Spanier haben die Kathedrale 1533 über dem Tempel erbaut – um unsere Religion auszumerzen. Es heißt sogar, dass dabei einer der letzten Inkaprinzen lebendigen Leibes eingemauert wurde; eines Tages werden wir ihn wieder befreien. Wissen Sie, wer Viracocha war?« Catherine fiel der alte Herr im Flugzeug wieder ein. »Ich habe gehört, dass man damit jenes Volk bezeichnet, das die Nazca-Linien gezeichnet hat.« Hernan blickte sie leicht überrascht aus den Augenwinkeln an. »Das stimmt, es war der Name eines Volkes. Aber Viracocha war auch ein einzelner Mann – der Anführer dieses Volkes, könnte man sagen. ›Viracocha‹ bedeutet ›Meeresschaum‹. Die Menschen, die mit ihm ka124
men, wurden Viracochas genannt. Es freut mich zu sehen, dass die Reiseführer Ihnen noch keine Hirnwäsche verpasst haben. Cuzco war seine Hauptstadt, und hier wurde er mehr als alle anderen Gottheiten verehrt.« Catherine machte einen, wie sie meinte, naheliegenden Vorschlag: »War er ein früher Inkakönig?« Hernan schüttelte den Kopf. »Nein. Er kam lange vor den Inka. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren. Wann genau, wissen wir nicht; es gibt keine schriftlichen Zeugnisse. Und da keine Dokumente existieren, ignorieren die westlichen Wissenschaftler die Viracocha-Legenden und tun sie als Märchen ab. Aber es ist ein Fehler, Viracocha zu ignorieren. Er hat überall in den Anden Spuren hinterlassen. Er zog weit herum, und die Völker dieser Region erzählen Geschichten über ihn und seine großen Taten. Die Steinarbeiten und all die wundervollen Bauwerke gehen alle auf ihn zurück. Hier in den Anden werden Sie Ruinen zu Gesicht bekommen, die Ihnen den Atem rauben werden.« Rutherford war verwirrt. »Aber stammen diese Bauten denn nicht von den Inka …?« »Nein«, unterbrach ihn Hernan. Seine strenge Miene ließ keinen Zweifel, dass es ihm überaus ernst war. »Die Inka haben einige von ihnen erbaut – aber sie haben das Können von Viracocha und seinen Anhängern geerbt.« »Aber woher stammte er? Und wann ist er gekommen?« Der Indio ließ seinen Blick über die gesamte Plaza schweifen, bevor er antwortete. »Das ist das große Rätsel. Es gibt viele mündliche Überlieferungen über seine Ankunft. Auch die Spanier des sechzehnten Jahrhunderts erwähnten diese Geschichten. Alle besagen, dass Viracocha mit seinen Gefolgsleuten über das Meer hierherkam. Er wanderte die Bergroute entlang nach Norden, wirkte Wunder, brachte den Menschen Ackerbau und Viehzucht bei, errichtete Tempel und erbaute sogar die große steinerne Stadt von Tiahuanaco. Und dann zog er weiter. Er war auch ein Heiler, wie Jesus im Christentum, und wohin er auch 125
kam, machte er die Blinden sehend und heilte die Lahmen. Die Überlieferungen sind sich alle darüber einig, wie er aussah. Einem spanischen Eroberer wurde erzählt, dass Viracocha ›ein großer, bärtiger Mann mit blauen Augen und weißen Kleidern‹ war. Manchmal heißt es auch, er habe einen weißen Bart, helle Haut und einen Wanderstock, er spreche mit den Eingeborenen in ihrer eigenen Sprache und bringe eine Botschaft von Frieden und Liebe.« Catherine war schon ganz im Banne dieser Legende. Sie sah den großen Viracocha beinahe vor sich. »Was für eine seltsame und wohltätige Gestalt«, murmelte sie vor sich hin. Hernan blickte sie aufmerksam an. »Ja, er war ein großartiger Mensch und der Zivilisator meines Volkes. Die Inka erzählten sich, dass die Menschen vor seiner Ankunft wie die Wilden gelebt hatten. Es gab keine Nutztiere, keinen Ackerbau, kurz: sie waren noch Jäger und Sammler. Als er kam, lehrte er sie nicht nur Viehzucht und Ackerbau, sondern auch Medizin, Musik und Astronomie. Er brachte Frieden und Wohlstand und war selbst ein friedvoller Mann. Nie wendete er Gewalt an, um seine Pläne zu verwirklichen. Nicht so wie die Spanier.« Rutherford wollte mehr wissen. »Aber warum kamen die Viracochas hierher? Sie scheinen wie Kolonialherren – aber offenbar nahmen sie das Land nicht in ihren Besitz.« »Das ist eine gute Frage, die auch den Professor sehr beschäftigte. Alle alten Legenden sagen, dass die Ankunft der Viracochas mit der großen Flut zusammenhing.« Bei diesem Stichwort hakte Catherine ein. »Wollen Sie damit sagen, dass es auch hier oben in den Anden einen Sintflut-Mythos gibt?« »Ja. Und ich kann Ihnen schon bald einen Beweis dafür zeigen. Es gibt viele Sagen über eine große Flut, ähnlich wie in der Bibel. Als das Wasser zu sinken begann, erschien Viracocha aus dem Titicacasee, der den Inka heilig ist. In Tiahuanaco baute er eine Festung, deren Ruinen heute noch zu sehen sind. Nachdem er sich dort einen Stützpunkt 126
eingerichtet hatte, kam er nach Cuzco, und unter seinem wachsamen Blick wurden die letzten Überlebenden der Menschheit vor der Verwilderung gerettet und begannen sich zu vermehren.« »Der Titicacasee ist also der wahre Mittelpunkt der Viracocha-Geschichte?«, fragte Rutherford fasziniert. »Ja. Es gibt noch viel, über das wir reden müssen, aber zuerst gibt es jetzt etwas zu essen. Kommen Sie – ich bringe Sie zum Haus meines Cousins. Aber denken Sie bitte daran, vor der Familie nicht über diese Dinge zu sprechen. In ihren Augen sind Sie Freunde von mir auf Ferienreise.« Hernan war zufrieden. Seine zwei Gäste begannen, die Wahrheit hinter der Geschichte von Peru zu begreifen.
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Im Haus von Hernans Cousin wurde gerade das Abendessen vorbereitet. Es war ein für Cuzco typisches altes Steinhaus mit einem großen Gemeinschaftsraum, an dessen oberem Ende sich ein offener Kamin befand. Die Küche war gleich daneben, und die restlichen Zimmer lagen im ersten Stock. Arun, der Cousin von Hernan, sprach kaum Spanisch und schon gar kein Englisch. Er war von typischer Inkastatur, etwa eins fünfundsechzig groß und sehr muskulös. Er lächelte viel und wirkte weniger ernst als Hernan. Catherine gewann den Eindruck, dass er Cuzco womöglich nie verlassen und selbst von Lima noch nicht viel gesehen hatte, geschweige denn von der weiten Welt. Hernan stellte sie vor, und mit viel Lächeln und Händeschütteln drückten sie ihre Dankbarkeit aus. Hernan sprach mit seinem Cousin ausführlich auf Quechua, bevor er mit ihm in der Küche verschwand und dann mit ein paar Getränken auf einem Tablett zurückkehrte, das er auf den Tisch in der Mitte des Raumes stellte. Catherine setzte sich ans Feuer. Während sie in die Flammen blickte, dachte sie über alles nach, was sie seit ihrer Ankunft in Cuzco bereits wieder hinzugelernt hatte. Rutherford, der den Jetlag allmählich zu spüren begann, ließ sich auf einen Stuhl sinken, und noch bevor er seine Jacke ausgezogen hatte, schlief er tief und fest. Catherine betrachtete sein Gesicht, das vom Flackern der Flammen beleuchtet war. Sie seufzte und wandte sich wieder der tröstenden Wärme des Feuers zu. Etwas später an jenem Abend, nachdem sie vorzüglich gegessen hatten, half Hernan Arun das Geschirr abzuräumen, und dann machte er sich auf den Weg zu seinem eigenen Haus. Er tat sein Bestes, um seine Gäste zuversichtlich zu stimmen, und erwähnte ihre schrecklichen Erlebnisse mit keinem Wort. 128
»Nun, ich hoffe, Sie fanden unsere Gastfreundschaft angemessen und alles, worüber wir sprachen, einigermaßen spannend. Bevor ich es vergesse: Ich denke, dies dürfte für Sie nützlich sein.« Aus seiner Tasche holte er das Buch Mythologie der Anden von Cudden. »Es ist eine solide Einführung in die Sagenwelt der Anden. Ich nenne sie lieber Geschichten; bei Mythen hat man immer das Gefühl, sie seien erfunden – was nicht stimmt, wie wir inzwischen wissen. Gute Lektüre! Ich hole Sie morgen früh um fünf Uhr wieder hier ab.« Damit verschwand Hernan in die Nacht hinaus. Arun kam wieder ins Zimmer und gab Catherine und Rutherford zu verstehen, ihm in den hinteren Teil des Hauses zu folgen. Rutherford, der schon stand, ging durch die Tür hinter ihm her und betrat am Ende des Korridors ein Schlafzimmer. Abgesehen von einem Doppelbett in der Mitte des Raumes gab es keine anderen Möbel. Im Kamin glühten die Überreste eines verloschenen Feuers. Arun legte ein paar trockene Holzstücke nach und drehte sich zu Rutherford um. Rutherford brauchte Aruns Sprache nicht zu sprechen, um zu verstehen, dass dies das einzige Schlafzimmer war und dass Catherine und er es teilen sollten. Er lächelte dem Indio zu und versuchte ihm mit Handzeichen zu sagen, dass er auch gerne auf dem Boden schlafen könne. Doch Arun lachte und schüttelte den Kopf. Dieses Angebot durfte nicht ausgeschlagen werden. In diesem Augenblick betrat Catherine das Zimmer. Arun lächelte ihnen beiden zu, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Rutherford errötete verlegen und trat in den Korridor hinaus. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich schlafe im anderen Zimmer auf dem Boden.« Er ging den Flur entlang davon. Catherine schloss die Tür hinter ihm. Dann legte sie die Handfläche auf die Tür und ließ ihren müden Kopf sinken.
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Wie vereinbart holte Hernan sie um fünf Uhr ab. Sie waren noch ganz verschlafen, als er sie zum Bahnhof fuhr und sie in den Zug setzte. Hernan versprach, dass er ihnen am nächsten Tag nach Machu Picchu folgen würde, sobald Miguels Begräbnis vorbei war.
Der alte Zug mit seinen vier Wagons zuckelte langsam zum Bahnhof hinaus und nahm eine der schönsten Eisenbahnstrecken der Welt in Angriff. Im Verlauf der dreistündigen Reise zieht die stupsnasige Lokomotive ihre kleinen Wagons im Zickzack über eine Distanz von hundertzwanzig Kilometern. Dabei zuckelt sie an Bauernhöfen und kleinen Dörfern vorbei, kämpft sich die Flanken von unendlich tiefen Schluchten hoch und schmiegt sich an überhängende Felswände. Und kurz nachdem sie die Wolken durchstoßen hat, bietet sich eine spektakuläre Aussicht weit in alle Himmelsrichtungen, bevor der Zug schließlich in Machu Picchu Terminares hält.
Die Dächer von Cuzco versanken hinter ihnen, und auch Viracochas Tempel, die Kathedrale, schrumpfte angesichts der ausgedehnten Täler und der gigantischen Andengipfel bald zu einem unbedeutenden Nichts. Catherine war nervös. Seitdem sie aufgewacht war, wurde sie das Gefühl nicht los, dass man sie verfolgte – dass eine große Maschinerie gegen sie in Gang gesetzt wurde; die Zahnrädchen waren bereits in Bewegung, und der gesamte Apparat richtete seine Energie darauf, sie 130
zur Strecke zu bringen. Sie beobachtete alle Gesichter im Wagon. Bauern und Touristen. Kein Grund zur Beunruhigung – jedenfalls noch nicht. Sie warf einen Blick auf Rutherford, und ein Seufzer der Erleichterung entfuhr ihr. Er hatte Cuddens Mythologie der Anden aus dem Rucksack geholt und las nun die Beschreibungen von Viracocha, die er sich gestern Abend angestrichen hatte. Seine Augen überflogen die Seite, und seine Gedanken rasten. Irgendetwas kam ihm äußerst bekannt vor – er konnte nur noch nicht genau sagen, was. Viracocha kam von weit weg über das Meer. Er war ein weißer Mann, groß und stark mit blauen Augen und einem langen weißen Bart. Er brachte uns all die Geschenke der Zivilisation, und er war sehr friedfertig. Doch eines Tages wurden ein paar Menschen neidisch auf ihn. Sie warteten, bis er sich zu einer längeren Reise aufgemacht hatte, und zettelten eine Verschwörung an. Als er zurückkehrte, fesselten sie ihn und töteten ihn und legten seine Leiche in ein hölzernes Boot auf dem Titicacasee … Das Boot schwamm davon, den Fluss hinab, bis ins Meer. Plötzlich hatte er eine Eingebung. »Catherine! Ich glaube, ich habe etwas entdeckt. Ich glaube, ich habe herausgefunden, womit sich der Professor beschäftigte.« Catherine genoss gerade die atemberaubende Aussicht. Überrascht sah sie ihn an. »Wie? Was meinen Sie?« »Ich glaube, ich habe das wiederkehrende Muster entdeckt. In seinem Brief schrieb Professor Kent, er habe in alten Mythen und Legenden das Geheimnis der wahren Geschichte der Welt gefunden. Seither zerbreche ich mir ununterbrochen den Kopf darüber, was genau er damit gemeint haben könnte – was ist dieses Geheimnis, diese ›wahre Geschichte‹, von der er spricht? Wenn in all den Mythen diese wahre Geschichte versteckt ist, dann muss es Motive geben, die in den verschiedensten Mythenüberlieferungen immer wieder auftauchen.« 131
Catherine sah ihn verwirrt an. »Wie meinen Sie das?« »Hören Sie zu. Die Geschichte der Sintflut findet man auf der ganzen Welt. Und der Professor war davon überzeugt, dass eine globale Katastrophe einst eine andere Welt, eine frühe Hochkultur zerstörte. Aber was für Mythen gibt es denn sonst noch, die auf der ganzen Welt in leicht unterschiedlicher Form erzählt werden? Und plötzlich, als ich eben von dem Viracocha-Mythos las, wurde mir bewusst, dass –« »Was?« »Dass es sich bei Viracochas Geschichte grob gesagt um die Geschichte von Osiris handelt, dem wichtigsten Gott des alten Ägypten. Es ist ein Muster, ein wiederkehrendes Motiv. Und es macht Sinn. In allen Kulturen gibt es unzählige kleine Legenden, aber die zentralen Mythen sind die stärksten. Sie überdauern Jahrhunderte, ja, Jahrtausende. Man braucht die ›wahre Geschichte‹ bloß in diesen Mythen zu verstecken, und sie kann nicht verloren gehen. Ich bin überzeugt, eine direkte Parallele zwischen Viracocha und der ägyptischen Gottheit Osiris entdeckt zu haben. Und es muss noch andere solche zentralen Mythen geben, die auf der ganzen Welt existieren.« »Aber das ist unmöglich«, sagte Catherine. »Zwischen den beiden Kulturen bestand keinerlei Kontakt. Sie sind durch den Atlantik getrennt.« »Nun – hören Sie sich das an …« Rutherford las ihr den Abschnitt über die Verschwörer vor, die Viracocha ermordeten, und über seine Bootsfahrt zur Küste. Und dann erzählte er Catherine den Osiris-Mythos: »Osiris ist der Gott des Todes und der Auferstehung. Gemäß der ägyptischen Mythologie kam er mit seinen Anhängern vor langer, langer Zeit nach Ägypten und brachte die Geschenke der Zivilisation mit. Wie Viracocha – und Jesus Christus – war er ein Mann des Friedens, der sein Wissen niemandem aufzwang, sondern die Menschen durch sein gutes Beispiel überzeugte. Nach einiger Zeit beschloss Osiris, in andere Länder zu gehen und den wilden Völkern den Segen der Zivilisation zu bringen. Er sagte den Ägyptern, er werde bald zurückkehren, und übertrug seinem Bru132
der Seth die Verantwortung während seiner Abwesenheit. Doch Seth war auf Osiris eifersüchtig geworden und begriff, dass sich ihm eine gute Gelegenheit bot, um gegen Osiris eine Verschwörung anzuzetteln. Er überredete einen nach dem anderen, bis er eine Gruppe von zweiundsiebzig Verschwörern um sich geschart hatte. Als Osiris von seiner Reise zurückkehrte, waren sie bereit. Zu seinen Ehren gaben sie ein großes Fest; die Hauptattraktion war ein Spiel. Alle Gäste mussten versuchen, in eine Holzkiste zu steigen, die eigens zu diesem Anlass hergestellt worden war. Wer perfekt in diese Kiste passte, würde gewinnen. Doch Seth hatte sichergestellt, dass die Kiste nur für Osiris passend war. Nachdem die anderen Gäste es versucht hatten, war Osiris an der Reihe, und er stieg hinein und legte sich auf den Rücken. Sogleich schlugen die Verschwörer den Deckel zu und verschlossen die Kiste für immer. Sie warfen sie in den Nil, auf dem sie allmählich ins Meer gelangte und bei einem Ort namens Byblos an Land geschwemmt wurde. Die Parallelen sind ganz offensichtlich«, fuhr Rutherford fort. »Viracocha und Osiris kamen beide aus einem anderen Land und brachten die Hochkultur mit. Beide kamen übers Meer. Beide waren große Zivilisatoren, und beide kamen im Frieden und wendeten keine Gewalt an. Und am Ende fielen beide einer Verschwörung zum Opfer, wurden in hölzerne Kisten gesperrt, in denen sie einen Fluss hinab bis ins Meer trieben.« »Sie haben recht, das ist wirklich unheimlich.« »Unheimlich! Es ist viel mehr als das – es ist auch mehr als bloßer Zufall. Viracocha und Osiris sind ein und dieselbe Gestalt. Genau in Mythen wie diesen muss der Code versteckt sein. Die Tatsache, dass dieselbe fundamentale Geschichte über Jahrtausende in zwei Kulturen überlebt hat, die nichts miteinander zu tun hatten, zeigt, dass sie sich auf perfekte Weise als Vehikel für eine uralte Botschaft eignen.« »Aber haben Sie schon herausgefunden, welche Botschaft sie vermitteln wollen?« »Nein – noch nicht. Aber nun wissen wir endlich, wo wir ansetzen müssen.« Rutherford lehnte sich in seinen Sitz zurück, in Gedanken über die Mythologien der Welt verloren. 133
Während sich der Zug gemächlich die lange und kurvenreiche Strecke emporwand, prägten sich ihnen die Dimensionen dieser Landschaft unauslöschlich ein. Die steilen Flanken der Täler waren von Urwald überwuchert, und allein der Gedanke, irgendetwas – und vor allem riesige Steinblöcke – diese fast senkrechten Abhänge hinaufzuhieven, um mitten in den Bergen einen Tempel zu errichten, schien völlig unvorstellbar. Schließlich ächzte und keuchte der Zug den letzten Anstieg zum Bahnhof Machu Picchu Puentas Ruinas hinauf – dem Tor zu den berühmten Ruinen. Catherine blickte auf den Urubamba, den heiligen Fluss der Inka, hinab, der sich tief unter ihnen hin und her wand und sich wie eine grüne, glitzernde Schlange um den Fuß der Berge legte.
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Der Bahnhof kam in Sicht. Auf dem Bahnsteig wimmelte es von Indios, und im Zug suchten die Fahrgäste ihre Taschen und Pakete zusammen und machten sich zum Aussteigen bereit. Plötzlich glaubte Catherine ihren Augen nicht zu trauen. Als sie auf den überfüllten kleinen Bahnsteig hinausblickte, setzte ihr Herz einen entsetzlichen Moment lang aus. Sie schloss die Augen, holte tief Luft und öffnete sie wieder. Dort stand Ivan Bezumov in einem weißen Leinenanzug. Sie atmete heftig ein und setzte sich wieder hin, während der Zug auf dem Gleis an ihm vorbeiquietschte. Catherine sah Rutherford mit aufgerissenen Augen an. »Sie werden es nicht glauben, aber ich habe soeben jenen seltsamen Russen gesehen, Bezumov. Er steht auf dem Bahnsteig. Jetzt kommt er auf uns zu. Was in aller Welt tut er hier? Mein Gott, James, was sollen wir tun? Wohin sollen wir laufen?« Rutherford zuckte wie vom Blitz getroffen zusammen. »Der ist hier? Unmöglich.« Doch kaum hatte er es gesagt, erblickte er den Russen ebenfalls, der, von zwei gedrungenen Indios begleitet, zielgerichtet auf ihren Wagon zuschritt. Genau in diesem Augenblick kam der Zug inmitten einer Kakofonie von quietschendem Stahl und zischendem Dampf mit einem Ruck zum Stehen. Rutherford, dem das Adrenalin durch die Adern pulsierte, suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Es gab nur einen Ausgang: durch die Schranke am Ende des Bahnsteigs. Doch diesen Weg versperrten Bezumov und seine Schergen. Rutherford stürzte quer durch den Wagon, öffnete die Tür auf der anderen Zugseite und hielt vor Schreck den Atem an. Die Tür drehte sich in den Angeln und pendelte frei über einer schwindelerregend steilen Geröllhalde, die Hunderte von Metern senkrecht zum Fluss hi135
nabfiel. Noch einen Schritt, und er wäre in seinen sicheren Tod gestürzt. Er fand sein Gleichgewicht wieder und drehte sich um. Catherine stand wie gelähmt da. Es war zu spät – der Mann in Weiß stand nun direkt vor ihrem Wagon. Die Zeit schien stillzustehen, während sie voller Entsetzen zur Tür starrten. Ivan Bezumov bestieg den Zug und betrat den Wagon. Mit seinem starken russischen Akzent sprach er sie an: »Dr. Donovan und Dr. Rutherford. Willkommen in Machu Picchu.« Rutherford war sprachlos. Gedankenfetzen rasten durch seinen Kopf. Erschießt er uns? Was für eine Rolle spielt er in der ganzen Sache? Hat er den Professor ermordet? Bei diesem Gedanken lief ihm ein Schauer des Schreckens über den Rücken. Aber wenn er uns nicht umbringt, was in aller Welt geht hier dann vor? Bezumov sagte als Erster etwas, mit einem breiten Lächeln: »Bitte schauen Sie mich nicht so konsterniert an. Es tut mir äußerst leid, dass ich mich bei unserem letzten Treffen so taktlos benommen habe. Geben Sie mir wenigstens eine Chance, es wiedergutzumachen.« Rutherfords Angst macht seinem Ärger Platz: »Bezumov, was zum Teufel tun Sie hier? Woher wussten Sie, dass wir nach Machu Picchu fahren würden? Wie sind Sie überhaupt hierhergekommen?« »Es tut mir wirklich leid. Ich möchte Sie nicht wie ein Psychopath verfolgen, aber ich muss einfach unbedingt mit Ihnen sprechen. Ich ging zum Dekan, der mir sagte, wohin sie gefahren sind.« Ein Schauer lief Catherine über den Rücken. Und woher in aller Welt weiß der Dekan, dass ich in Peru bin? »Und da ich mit der Arbeit des Professors so sehr vertraut bin«, fuhr Bezumov fort, »vermutete ich, dass Sie früher oder später hier auftauchen würden. Ich nahm den Flug nach Ihnen und kam geradewegs von Lima hierher. Ich wartete auf Sie, in der Hoffnung, dass Sie bald hier eintreffen würden. Als ich Sie endlich sah, war ich sehr erleichtert – aber verzeihen Sie mir bitte, ich wollte Ihnen auf keinen Fall einen Schrecken einjagen.« Wie ein alter Inkafürst trug Bezumov seinen zwei Indios auf, das Gepäck von Catherine und Rutherford zu nehmen. Rutherford trat so136
fort in die Tür, um ihnen den Weg zu verstellen. Catherine stellte sich mit wütender Miene neben ihn. Bezumov streckte ihr die Hand hin und sagte mit charmantem Lächeln: »Ich bitte Sie, gestatten Sie mir, Sie zu meinem Hotel zu bringen.« Catherine ließ sich von seinem ritterlichen Gehabe nicht beeindrucken. Schon bei ihrem ersten Treffen hatte sie ihn nicht leiden können, doch nun beunruhigten sie die Tatsache, dass er hier war, sowie sein dünnes, erwartungsvolles Gesicht und seine unverhohlene Frechheit nur umso mehr. »Nein danke, lieber nicht. Wir suchen uns ein eigenes.« Bezumov schüttelte enttäuscht den Kopf. »Ich fürchte nur, der Bus ist bereits von Rucksacktouristen überfüllt, und mein Hotel ist das einzige, das noch freie Zimmer hat. Ein Taxi wartet draußen, und ich würde Sie gerne mitnehmen. Wir können Ihr Gepäck im Hotel deponieren und dann einen Spaziergang durch die Ruinen machen. Ich werde auf Sie warten.« Bezumov drehte sich um und stieg auf den Bahnsteig hinab. Catherine und Rutherford sprangen aus dem Wagon und sahen ihn davongehen. Rutherford starrte ihm entgeistert hinterher. »Wer ist dieser Mann wirklich? Dass wir hierher reisen würden, wussten wir erst nach unserer Begegnung mit Hernan … Was meinen Sie, ist er auf der Seite der Feinde von Professor Kent, wer immer die auch sein mögen? Und warum will er um jeden Preis mit Ihnen sprechen? Es ist einfach unglaublich – er fliegt um die halbe Welt in der geringen Hoffnung, Sie irgendwie ausfindig zu machen.« Catherine dachte nach. »Ich weiß nicht. Ich bin völlig verwirrt. Aber ich fürchte mich vor ihm.« Sie drehte sich zu Rutherford um und sah ihm in die Augen. »Nun, was sollen wir tun? Sollen wir versuchen davonzurennen? Er würde uns wohl ohnehin finden, nicht wahr? Falls er gefährlich ist, wird er nichts unternehmen, bis er von uns die Informationen hat, die er braucht. Vielleicht sollten wir mit ihm sprechen und herausfinden, was für eine Beziehung er zum Professor hatte, ohne ihm jedoch ir137
gendetwas zu verraten. Und dann hauen wir so rasch wie möglich wieder von hier ab. Was halten Sie von dieser Idee?« Catherine streckte die Hand aus und drückte seinen Unterarm sanft. Rutherford dachte einen Augenblick nach, dann legte er seine Hand auf ihre und nickte.
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Bezumovs Fahrer hielt die Wagentür auf, während erst Catherine und dann Rutherford einstiegen. Bezumov saß vorne auf dem Beifahrersitz, und Catherine sah, dass er sie im Rückspiegel aufmerksam beobachtete. Trotz ihrer Angst vor dem seltsamen Russen war sie noch immer wütend auf ihn. Ein kurzes Lächeln flackerte über Bezumovs hageres Gesicht. »Dr. Donovan, meine Geheimniskrämerei tut mir außerordentlich leid. Bei unserem ersten Treffen dachte ich, Sie seien einfach irgendeine Wissenschaftlerin, deshalb wollte ich mit Ihnen nicht darüber reden, woran der Professor und ich gearbeitet hatten. Nun, da Sie hier sind, sehe ich, dass Sie mehr wissen, als ich dachte, also können wir offener zueinander sein.« Catherine und Rutherford starrten ihn an. Der Fahrer warf den Motor an und fuhr die Schotterstraße vom Bahnhof nach Machu Picchu hinauf. Bezumov fuhr fort: »Ich komme von der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften in Russland. Ich bin ursprünglich Geologe, aber meine Arbeit hat mich, wie den Professor, weit von meinem eigentlichen Forschungsfeld weggeführt. Ich wurde Spezialist für die Gesteinsarten der Antarktis und führte 1989 eine Expedition in jene Provinz der Antarktis an, die im Westen unter dem Namen Prinz-Harald-Land bekannt ist. Dort machte ich eine Entdeckung von großer Bedeutung: Ich fand Beweise dafür, dass die Antarktis im späten Paläozän oder Eozän von tropischer Flora bewachsen war. Das bedeutete natürlich, dass das Klima dort einst tropisch gewesen sein muss … Um es kurz zu machen: Die Sowjetunion brach zusammen, meiner Abteilung wurde der Geldhahn zugedreht, und niemand war mehr an meinen Forschungen interessiert – außer Professor Kent. Zum ersten Mal nahm er 1998 mit mir Kontakt auf, und seither haben wir uns ge139
meinsam mit Fragen befasst, die die neuere Geologie und das Klima der Erde betreffen.« Bezumov hakte seinen Sicherheitsgurt aus und drehte sich zu ihnen um. »Wenn ich ›neuere‹ sage, meine ich die Periode seit der letzten Eiszeit – also die letzten 100.000 Jahre.« Catherine sah ihn skeptisch an. »Und warum haben Sie uns das nicht gleich beim ersten Mal erzählt? Und warum sind Sie uns um den halben Erdball nachgereist?« Bezumov lächelte schwach und sah sie mit seltsamer, undurchdringlicher Miene an. »Meine Liebe, eine Arbeit von fünfzehn Jahren kam zu ihrem Abschluss, und plötzlich erfuhr ich, dass der Professor tot war – Sie werden begreifen, dass ich mir um die Früchte unserer Mühen Sorgen machte.« Rutherford ließ sich nicht so leicht überzeugen. »Wenn Sie wirklich zusammengearbeitet haben, warum haben Sie dann nicht auch eine Kopie der ganzen Forschungen?« Bezumovs Lächeln verschwand nicht, doch wirkte es nun ein bisschen gönnerisch, beinahe herablassend. »John – Verzeihung, James, wollte ich sagen – zwei Tage, bevor der Professor starb, rief er mich an und sagte, er habe den entscheidenden Beweis dafür gefunden, dass das Klima in der Antarktis bis 4.000 vor Christus sehr milde gewesen ist, dass es keine Eiswüste war, sondern Leben dort möglich war. Seit meiner ersten Reise hatte ich nie mehr in die Antarktis zurückkehren können, und niemand ist an meinen Forschungen interessiert. Mein Lebenswerk, meine große Entdeckung, ist in Gefahr, der Welt und der Wissenschaft verloren zu gehen. Deshalb muss ich wissen, was der Professor herausgefunden hat.« Catherine hatte nur einen Gedanken: Die Karten. Der Beweis, von dem der Professor gesprochen hatte, mussten die vier Karten sein. Vermutlich war er zu der Überzeugung gelangt, dass sie das letzte Puzzlestück waren, oder zu dem Entschluss, Bezumov von seiner Entdeckung zu erzählen. 140
»Aber warum ich? Warum haben Sie gerade mich aufgespürt?« Bezumov lächelte voller Bedauern. »Weil Sie, Catherine, gewissermaßen die nächste Angehörige des Professors sind. Wer wird seine Angelegenheiten in England in Ordnung bringen, wenn nicht Sie? Sie werden zu all seinen Dingen Zugang haben.« Catherine war verblüfft. Vielleicht hat Bezumov den Professor doch einigermaßen gut gekannt. Wie sonst könnte er wissen, dass ich ihm so nahestand? Aber warum sagt mir meine Intuition, dass man ihm nicht trauen darf?
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Die legendären Ruinen von Machu Picchu liegen auf einem Bergrücken, der in ein weites, tiefes, von Urwald überwuchertes Tal hinausragt. Man erreicht sie, indem man einem Pfad folgt, der sich nordwärts schlängelt, durch die mit Flechten bedeckten Felsen der Bergflanke führt und schließlich auf den dramatisch gelegenen Bergrücken mündet. Während sich der Weg durch Felsbrocken und Gestrüpp abwärts windet, verschwinden die Abhänge der umliegenden Berge allmählich hinter wogenden, wallenden Wolkenschwaden. Wer einmal in diese unwirkliche Landschaft hineingewandert ist, wird den Anblick nie vergessen.
Als Catherine, Rutherford und Bezumov den Weg hinunterkraxelten, kam Machu Picchu unter ihnen langsam in Sicht. Catherine blickte tief beeindruckt auf einen der schönsten Anblicke, die sich ihr je geboten hatten. Wer immer diese steinerne Stadt errichtet hatte, hatte sie in so vollkommener Weise an die Umgebung angepasst, an die Berge und Täler und terrassierten Wiesen, dass die Landschaft eine ebenso wichtige Rolle spielte wie die behauenen Megalithen. Alles war im Gleichgewicht, alles war in Harmonie. Rutherford, der ein paar Schritte hinter ihr ging, holte auf und hielt vor Staunen den Atem an. Bezumov hielt in seinem starken russischen Akzent einen begeisterten Vortrag über die Leistungen der Inka. »Die Inka glaubten, dass sie im fünften Zeitalter lebten, dass es nämlich vier Welten vor der unsrigen gab, die aber durch furchtbare Umweltkatastrophen zerstört worden waren, welche ein zorniger Gott verursacht hatte. Wie Sie sehen können …« Der Russe blieb stehen, um 142
Atem zu schöpfen, und wies dann mit der Hand auf den beeindruckenden Anblick, »… waren das keine wirklich primitiven Völker. Obwohl aber Viracocha den Andenvölkern ein Leben in Frieden vorlebte, brachten sie jedoch immer wieder Menschenopfer dar. Offenbar wurden wirklich zahlreiche Menschen geopfert, und zwar auf Altären, die alle sozusagen auf der Inka-Variante der Ley-Linien liegen. Wissen Sie, was Ley-Linien sind?« Rutherford, der froh war, in der ganzen Sache auch endlich etwas zu wissen, brach das Schweigen. »Ja, ich habe mich mit ihnen befasst.« »Vielleicht könnten Sie sie Dr. Donovan erklären?« Rutherford warf einen Blick auf Catherine. Er wollte dem Russen nicht helfen, aber Catherine wartete anscheinend auf die Erklärung. Etwas widerwillig begann er: »Ley-Linien bilden ein System von natürlichen Energielinien, die in England alle wichtigen archäologischen Fundorte miteinander verbinden. In den 1920er-Jahren sah sich ein Mann namens Alfred Watkins die Landschaft genauer an und entdeckte ein riesiges Netz von Linien, die all die heiligen alten Stätten der britischen Geschichte verbanden. Erstaunt über seine Beobachtung, kaufte er sich eine Generalstabskarte und erkannte, dass er recht hatte. Auf der Landkarte konnte er vollkommen gerade Linien ziehen, die diese heiligen Orte verbanden. In einigen Fällen erstrecken sich diese Linien über das ganze Land und führen bei einer Stätte nach der anderen mitten durch ihr Herz.« Catherine war völlig fasziniert. »Was für Stätten meinen Sie? Stonehenge, zum Beispiel?« »Ja, genau. Das ist ein besonders gutes Beispiel. Stonehenge, St. Michael's Mount im Westen Cornwalls und die Kathedrale von Salisbury sind alle genau auf einer Linie. Auch mit den modernsten Vermessungstechniken wäre eine solche Präzision nur äußerst schwer hinzukriegen, geschweige denn vor Jahrtausenden.« »Und wozu sind sie da?« Rutherford lächelte. »Tja – das weiß leider niemand so richtig. Es kann aber kein Zufall 143
oder einfach das Resultat von statistischer Wahrscheinlichkeit sein. Watkins, der ein äußerst realistischer Mann war, stellte die Theorie auf, dass es sich ursprünglich um Handelsrouten handelte.« Bezumov, der plötzlich etwas ungeduldig wirkte, warf ein: »Ja, es gibt aber auch andere Theorien. Die Ley-Linien sind oft auf die Positionen gewisser Sterne an bestimmten Tagen des Jahres ausgerichtet. Jedenfalls«, fuhr er fort, »hatten die Inka etwas, das den Ley-Linien ziemlich genau entsprach, nämlich die so genannten Ceques. Dabei handelt es sich um Abbildungen der wichtigsten Konstellationen und Sterne auf dem Erdboden. Sie liefen alle im Coricancha-Tempel in Cuzco zusammen, von dem sie wie die Speichen eines Rades in alle Richtungen ausgingen. Eine der längsten Linien fängt in Cuzco an und führt, gerade wie ein Pfeil, über achthundert Kilometer hinweg, durch Machu Picchu, Ollantayatambo und Sacsayhuaman, bis sie schließlich den Titicacasee überquert und in Tiahuanaco, der Wolkenstadt, endet.« Rutherford hatte noch nie von anderen Liniensystemen gehört. »Existieren solche Systeme auch anderswo?«, fragte er, da seine Neugier nun stärker wurde als seine Abneigung gegen Bezumov. Bezumov war in Fahrt gekommen, als sprächen sie über sein Lieblingsthema. »O ja. Die Chinesen haben die so genannten Drachenlinien. Sie sind die Grundlage für die Kunst des Feng Shui, des richtigen Platzierens von Objekten in der Landschaft. Sie hielten Lung Mei für ein geografisches Abbild jener Akupunkturlinien, die auf dem menschlichen Körper verlaufen. Die Gebäude und heiligen Tempel sind dabei wie Akupunkturpunkte, die Zugang zum Energiefluss verschaffen. Die Aborigines in Australien haben die Songlines, die Iren ihre Feenlinien, und es gibt noch unzählige weitere Beispiele. Diese Linien umspannen die ganze Welt. Ich habe meine eigene Theorie darüber, wozu sie da sind …« Bezumov unterbrach sich plötzlich. »Aber das ist eine andere Sache. Wo waren wir? Ach ja, Machu Picchu. Was ich sagen will, ist ganz einfach: Die Opferaltäre und andere wichtige Gebäude, wie auch die Stadt als Ganzes, sind so ausgerichtet, dass sie mit gewissen Sternen und Konstellationen an bestimmten wichtigen Ta144
gen des Jahres übereinstimmen. Beispielsweise an der Frühlings-Tagund-Nacht-Gleiche oder am Mittsommertag.« Bezumov hielt die Handfläche über die Augen und betrachtete Machu Picchu einen Augenblick schweigend, bevor er fortfuhr: »Nun, Dr. Donovan, Sie kennen sich doch bestimmt mit Astronomie-Computersoftware wie zum Beispiel Skyglobe aus?« Catherine nickte. »Ja, ich habe mich ihrer in den letzten Jahren oft bedient.« »Nun, wie Sie wissen, ermöglicht uns Skyglobe auch, den Himmel so zu sehen, wie er zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit ausgesehen hat.« Rutherford war beeindruckt. »Wie ist das möglich?« »Nun, die Sterne, die Planeten und die anderen Himmelskörper bewegen sich in vollkommen voraussehbaren Bahnen und Geschwindigkeiten. Skyglobe kann Ihnen zeigen, wie der Himmel zu irgendeinem Zeitpunkt in der Vergangenheit ausgesehen hat – und von jedem beliebigen Punkt auf der Erdoberfläche.« »Wirklich? Das ist ja, als könnte man die Zeit zurückdrehen.« »Ja, es ist sehr eindrucksvoll. Nun, im Falle von Machu Picchu ist dies sehr hilfreich. Wenn wir heute Abend hierherkämen, um den Altar auf irgendwelche Sterne oder Sternbilder auszurichten, würden wir den Eindruck gewinnen, dass es zwischen dieser Stadt und dem Himmel keinerlei Verbindung gibt.« »Wie wollen Sie das wissen?«, fragte Rutherford. »Professor Kent und ich haben es bereits versucht – und zwar mehr als einmal.« Catherine verstand genau, was der Professor und Bezumov versucht hatten. »Ich vermute, dass Sie mit Hilfe des Computerprogramms herausfinden wollten, zu welchem Zeitpunkt der Altar und die Sterne in Übereinstimmung gewesen sind?«, sagte sie. Bezumov sah sie mit durchdringendem Blick an. »Sie sagen es.« »Und was haben Sie herausgefunden?« 145
Der Russe hielt inne – und sah sie beide mit undurchdringlicher Miene an. »Wir entdeckten, dass Machu Picchu nicht vor fünfhundert Jahren entworfen und gebaut wurde, wie das die heutige Archäologie behauptet, sondern vielmehr irgendwann zwischen 4.000 und 3.000 vor Christus.« Einen Augenblick lang schwiegen sie verblüfft, dann murmelte Rutherford: »Was bedeuten würde, dass es ursprünglich gar keine Inkastadt war.« Catherine führte seinen Gedanken fort: »Alles führt zu derselben Schlussfolgerung. Es muss eine frühere Hochkultur gegeben haben.« Bezumov schien sehr zufrieden mit sich. »Ja. Nun wissen Sie auch, woran der Professor und ich gearbeitet haben. Sehen wir es uns aus der Nähe an.«
Nach über zwei Stunden stiegen Catherine und Rutherford endlich wieder die Stufen hinauf, die vom Gelände weg und zurück zum Hotel führten. Bezumov war eine Stunde vor ihnen aufgebrochen, damit sie sich die Ruinen alleine ansehen konnten. Als sie sich in Richtung Hotel aufmachten, hatte Catherine beschlossen, was sie als Nächstes tun wollte. »Die Dinge beginnen langsam, etwas mehr Sinn zu ergeben. Ich glaube, wir sollten Bezumov die Karten zeigen. Erstens hat er seinen Teil der Abmachung gehalten, und zudem könnte es auf die ganze Sache ein neues Licht werfen.« »Mit ihm zu sprechen ist das eine, aber wenn Sie ihm die Karten zeigen, verlieren wir unseren einzigen Trumpf. Wer weiß, was er tun wird, wenn er merkt, dass er uns nicht länger braucht?« Catherine ging zu ihm hinüber, nahm seine rechte Hand in ihre beiden Hände und drückte sie sanft. »James, vertrauen Sie mir, wenn Sie recht haben und uns der Russe etwas verschweigt, dann wird uns seine Reaktion auf die Karten etwas verraten. Wir wissen, dass es eine alte Hochkultur gab, aber ich 146
bin überzeugt, dass es noch mehr herauszufinden gibt, und Bezumov könnte uns nützliche Informationen liefern – ohne sich dessen bewusst zu sein.« Rutherford sah sie an. Er tat, als lasse ihn ihre Berührung kalt, und zuckte mit den Schultern. »Ich halte es noch immer für keine gute Idee. Wir sind hier ganz auf uns alleine gestellt. Wenn irgendetwas schiefgeht …« Catherine ließ seine Hand los und ging den Weg hinauf. »Wir müssen es versuchen«, sagte sie voller Entschlossenheit. James sah ihr nach und drehte sich noch ein letztes Mal um. Er betrachtete den magischen Anblick, seufzte tief und schüttelte den Kopf. Die ganze Sache gefällt mir gar nicht …
Als sie den Speisesaal des Hotels betraten, sahen sie Bezumov bereits an einem der Tische sitzen. Ein Kellner schenkte ihm gerade ein Glas Wasser ein. Als er sie bemerkte, sprang er von seinem Stuhl auf und bedeutete ihnen, heftig winkend, sich zu ihm zu setzen. Er strahlte eine überfreundliche Wärme aus, als er ihnen zulächelte. Dann sah er, dass Catherine den Umschlag mit den Karten bei sich hatte. Seine Augen leuchteten sofort auf. »Ahhh! Ich sehe, Sie haben etwas für mich?« Dicht gefolgt von Rutherford ging Catherine zu seinem Tisch hinüber und legte den Umschlag nieder. »Ja«, sagte sie. »Kurz vor seinem Tod schickte mir Professor Kent diese Landkarten aus Peru.« Bezumov bekam große Augen, und sein Mund verzog sich zu einem gierigen Grinsen. Er nahm seine Serviette und begann, sich heftig die Hände abzuwischen. Sein russischer Akzent wurde nun, da er die Fassung etwas verlor, deutlich stärker. »Landkarten, sagen Sie! Aber das klingt phantastisch …« Catherine öffnete den Umschlag. Bezumovs Hände flatterten ungeduldig in der Luft. Die Karten glitten auf den Tisch, und Catherine trat 147
einen Schritt zurück, damit sich der Russe ungehindert über den Dokumentenschatz hermachen konnte. Bezumov, dem die Augen aus dem Kopf zu fallen schienen, wirkte plötzlich wie ein Besessener. Ehrfürchtig, als seien sie zarter als Asche, zog er die Karten zu sich herüber. Er studierte jede aufs Genaueste, bevor er sie weglegte und zur nächsten überging. Dabei murmelte er die ganze Zeit auf Russisch vor sich hin. Rutherford, der in angemessener Entfernung des Tisches stehen geblieben war, entging diese Verwandlung nicht. Das ist also der wahre Bezumov, der hinter seinem jovialen Gehabe zum Vorschein kommt. Gierig, ja, richtig ausgehungert. Und offensichtlich sucht er nach etwas ganz Bestimmtem … Wonach bloß? Dann erstarrte Bezumov ganz plötzlich. »Ich wusste es! Die Pyramiden von Gizeh – natürlich!« Rutherford und Catherine beugten sich vor, um besser sehen zu können, was Bezumovs Aufregung ausgelöst hatte. Es schien eine gewöhnliche Weltkarte zu sein, die jedoch in der rechten oberen Ecke die Beschriftung Vermuteter Hauptmeridian der Piri-Reis-Karle – Eigentum US Air Force trug. Der Null-Längengrad der Karte verlief nicht, wie üblich, durch das Greenwich-Observatorium in London, sondern durch die Wüste gleich außerhalb von Kairo. Bezumov geiferte vor Freude und fuhr mit seinen Händen über den Rand der Karte. »Gizeh! Warum habe ich nicht auf meine Intuition vertraut?« Catherine und Rutherford sahen sich verwundert an. Catherine sagte als Erste etwas: »Was bedeutet das?« Mit einem wolfähnlichen Lächeln wandte sich der Russe ihr zu. »Das bedeutet, meine Liebe, dass irgendeine gute Seele in der amerikanischen Armee sich die Mühe gemacht hat auszurechnen, von welchem Nulllängengrad die Schöpfer der Piri-Reis-Karte ausgingen, und es war Gizeh …« Rutherford war noch immer verwirrt. »Aber was ist so besonders daran, dass die Menschen damals Gizeh als Hauptmeridian annahmen?« 148
Bezumov fixierte ihn mit einem düsteren Blick, der so heftig und eigenartig war, dass Rutherford beinahe einen Schritt zurück machte. »Das bedeutet, dass Ägypten, oder die Pyramide von Gizeh, um genau zu sein, der Mittelpunkt der letzten Welt war. Das ist von monumentaler Bedeutung.« Bezumovs Augen glühten. Er starrte gedankenverloren in die Ferne und sagte wie zu sich selbst: »All diese monumentalen Kunst- und Bauwerke – die Nazca-Linien, Angkor Wat in Kambodscha, Kathmandu, die alte Stadt im Himalaya, die geheimnisvollen heiligen Inseln im Pazifik, Nan Medol, Yap und Raiatea – sie alle sind miteinander verbunden, sind Teile eines großen Räderwerks, und das Herz, das Hirn dieses Räderwerks muss sich in Gizeh, in den Pyramiden, befunden haben. Das war also der Nabel der alten Hochkultur. Und in drei Tagen, am Montag bei Sonnenaufgang, ist Frühlingstagundnachtgleiche. Ich muss dorthin! Wer die Macht über Gizeh hat, hat die Macht über die Welt …« Er schien ihre Anwesenheit völlig vergessen zu haben. Er legte seine Hände auf den Tischrand und schob seinen Stuhl zurück. Einen Moment lang schaute er zur Decke hinauf, als ob er beten oder einen Entschluss fassen würde, dann blickte er Catherine und Rutherford an. »Mein Gott! Die ganze Aufregung hat mich völlig erschöpft. Bitte entschuldigen Sie mich. Ich fürchte, der Jetlag rächt sich nun doch noch. Ich muss mich etwas hinlegen.« Hiermit verbeugte er sich steif, machte auf dem Absatz kehrt und verließ zielstrebig den Speisesaal und verschwand in der Dunkelheit des Korridors. Verdutzt sahen sich Catherine und Rutherford an. »Was zum Teufel war denn das? Und was meinte er mit einem ›großen Räderwerk‹? Er scheint den Verstand verloren zu haben.« Rutherford starrte auf die Tür, durch welche der Russe verschwunden war. »Ich habe keine Ahnung. Eines weiß ich aber: Bezumov verfolgt ein klares Ziel, und das hat nicht nur mit der Liebe zur Wissenschaft zu tun. Und was seinen Verstand betrifft: In Anbetracht dessen, was wir 149
soeben miterlebt haben, würde ich sagen, ein definitives Urteil lässt sich da noch nicht fällen.« »Was waren das für Orte, die er erwähnte? Und wie passen die in die ganze Angelegenheit?« Rutherford, dessen Stirn in tiefen Falten lag, erklärte: »Es sind andere alte heilige Stätten. Angkor Wat ist eine der spektakulärsten Ruinenstädte der Welt. Sie liegt mitten im Dschungel Kambodschas.« »Was für Ruinen? Pyramiden?« »Nein, keine Pyramiden. Es ist eine riesige Anlage von zweiundsiebzig Palästen, astronomischen Observatorien und Tempeln aus Stein. Zum größten Palast, dem Herzstück der Anlage, führten fünf heilige Straßen, und jede Straße wird auf beiden Seiten von je vierundfünfzig Göttern gesäumt, die wie ein Seil den Körper einer Riesenschlange tragen – das sind hundertacht Götter pro Straße. Es sieht wie ein Tauziehen aus, doch die Schlange ist um ein Milchfass gewickelt, und gemeinsam schütteln sie den Ozean der Milchstraße.« »Und die anderen Orte?« »Nun, Kathmandu liegt hoch oben in den Wolken des Himalaya versteckt. Niemand weiß genau, wann es erbaut wurde. Und bei den anderen handelt es sich um kleine Inseln versteckt im Pazifik, auf denen rätselhafte alte Ruinen stehen. Sie sind Überreste lang vergangener Kulturen, und es sind alles heilige Orte.« Catherine nickte und schaute auf die Karten hinab, die über den Tisch verstreut waren. »Und Bezumov glaubt, dass all diese Stätten durch Ley-Linien miteinander verbunden sind.« Rutherfords Augen blitzten. Er hatte etwas begriffen. »Zweifellos haben wir ihm gerade das letzte Puzzleteil geliefert. Und aus irgendeinem Grund ist die Frühlingstagundnachtgleiche, die in vier Tagen stattfindet, von entscheidender Bedeutung …«
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Catherine hielt vor Schreck den Atem an. Jemand war im Begriff, das klapprige Schloss an ihrer Hotelzimmertür aufzubrechen. Sie lag im Dunkeln in ihrem Bett und spitzte die Ohren. Sie war sich sicher, dass jemand gerade bei ihr einbrechen wollte. Ein heftiger Adrenalinschub durchflutete ihren Körper. O mein Gott – es ist Bezumov – jetzt will er mich umbringen! Sie hörte, wie sich der Türknauf drehte, und spürte, wie jemand das Zimmer betrat. Gab es hier irgendetwas, das sie als Waffe verwenden konnte? Gab es einen Ausweg? Während sie versuchte, sich trotz Angst und Dunkelheit zu konzentrieren, sah sie eine kleine, muskulöse Gestalt auf sich zukommen. Instinktiv setzte sie dazu an, sich aus dem Bett und auf den Boden zu werfen. Doch beim ersten Rascheln der Bettlaken flüsterte eine Stimme im Dunkeln: »Catherine, haben Sie keine Angst, ich bin's, Hernan.« In seiner Stimme lag etwas Dringliches, fast Panisches. Catherine schnappte vor Erleichterung nach Luft und musste beinahe lachen. »Hernan! Was haben Sie sich dabei gedacht? Wollten Sie mich zu Tode erschrecken?« Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte zwei Uhr 37. Bevor sie jedoch fragen konnte, was los war, sagte Hernan völlig außer Atem: »Schhh! Sie müssen sofort hier raus.« Während das Adrenalin abflaute, versuchte Catherine zu begreifen, was vor sich ging. »Was, warum?« »In ganz Cuzco haben zwei Männer Nachforschungen über Sie angestellt. Ich weiß nicht, ob sie nicht schon von jemandem im Hotel erfahren haben, dass Sie hier sind, aber wir müssen sofort weg.« 151
»Zwei Männer? Was für Männer?« Hernan ging zum Fenster hinüber, um sicherzustellen, dass die Vorhänge ganz zugezogen waren, und schaltete dann die Lampe auf dem kleinen Schreibtisch an. »Genau das ist es, was mir Angst macht. Niemand weiß, wer die beiden sind. Es sind Ausländer, Westler. Sie haben alle Hotels und Herbergen in Cuzco abgeklappert, um herauszufinden, wer die letzten zwei Nächte dort übernachtet hat. Sie gehören nicht zur Geheimpolizei, dessen bin ich mir sicher, auch wenn sie militärisch aussehen. Sie versuchten, sehr diskret zu sein, aber es gibt niemanden in Cuzco, den ich nicht kenne. Sie sind hinter Ihnen und James her. Wir haben keine Minute zu verlieren. Früher oder später werden sie zum Bahnhof gehen und entdecken, dass Sie gestern Morgen den Zug genommen haben, und dann wissen sie, dass Sie hier sind. Vielleicht sind sie auch schon unterwegs hierher …« Einmal mehr lief Catherine das allmählich immer vertrautere eisige Kribbeln nackter Angst über den Rücken. »O mein Gott. Was können wir tun?« »Ich bringe Sie über die Grenze nach Bolivien und nach La Paz. Dort sind Sie wieder auf sich gestellt. Hauptsache, wir kriegen Sie aus Peru raus, und zwar subito. Geben Sie mir Ihre Flugtickets, und ich werde die Abflugdaten bei einem Reisebüro ändern lassen; das wird sie verwirren und Ihnen hoffentlich genügend Vorsprung geben. Okay?« Catherine begann, den Ernst der Situation zu begreifen. Da fiel ihr der Russe ein. Sie setzte sich im Bett auf und sagte: »Hernan, wir haben ein Problem.« »Was?« »Wir haben einen Bekannten aus Oxford getroffen!« Hernan sah sie ungläubig an. »Wie bitte? Wovon reden Sie?« Catherine war es ziemlich peinlich. »Hören Sie, ich weiß, es klingt lächerlich, aber ein Mann aus Oxford, der den Professor ebenfalls kannte, ist auf der Suche nach uns nach Machu Picchu gekommen.« 152
»Sie machen Witze. Die halbe Welt scheint hier in Machu Picchu zu sein. Wer ist er?« »Ein russischer Wissenschaftler. Sein Name ist Ivan Bezumov.« Als sie diesen Namen aussprach, erstarrte Hernan wie ein Tier in Panik. »Bezumov ist hier – im Hotel?« Nun erschrak Catherine ihrerseits. »Äh, ja. Kennen Sie ihn?« Bevor sie weitere Fragen stellen konnte, schnappte Hernan einen Stuhl und klemmte ihn unter den Türknauf. Er warf ihr über die Schulter einen todernsten Blick zu und hielt den Finger an die Lippen. Dann zog er aus dem Rucksack, den er trug, einen Revolver. Catherine verschlug es die Sprache. Hernan schlich zur Tür, drückte sein Ohr daran und horchte aufmerksam. Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Schließlich drehte er sich um, durchquerte leise wie eine Katze das Zimmer und kauerte sich neben sie. »Packen Sie sofort Ihre Sachen«, flüsterte er. »In welchem Zimmer ist James?« »Nummer dreiundzwanzig«, flüsterte Catherine zurück. »Hernan, was geht hier vor?« »Das sage ich Ihnen später. Glauben Sie mir, Ivan Bezumov ist kein Wissenschaftler. Wir müssen schnell handeln. Er ist ein sehr, sehr gefährlicher Mann. Wissen Sie, welches Zimmer er hat?« »Ich glaube, Nummer drei.« »Alles klar. Bleiben Sie hier. Ich bin sofort zurück.« Den Revolver in der rechten Hand, den Lauf an die Decke gerichtet, schob Hernan mit der linken Hand den Stuhl zur Seite und öffnete ganz langsam die Tür. Voller Angst sah Catherine zu, wie er im Dunkel des Korridors verschwand.
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Wie ein erfahrener Killer schlich Hernan den Korridor entlang zum Zimmer Nummer drei. Er zog den Revolverhahn zurück, lehnte sich an die Tür und legte sein Ohr ans Holz. Mit einem heftigen Stoß, in den er seine ganze Kraft legte, rammte Hernan seine stämmige Schulter gegen die Tür. Das klapprige Schloss hatte keine Chance. Im Bruchteil einer Sekunde stand er in der Mitte des Raumes, breitbeinig und die Arme vor sich ausgestreckt, und richtete den Revolver auf das Bett. Doch es war leer. Der Russe hatte sich längst aus dem Staub gemacht. Hernan fluchte laut und sicherte den Revolver. Catherine tauchte im Türrahmen auf und sah ihn mit großen Augen an. Nun, da das Adrenalin nachließ, fühlte sich Hernan plötzlich erschöpft. »Catherine, es tut mir leid …« Catherine starrte ungläubig auf den Umriss des Indios mit dem Revolver in der Hand. Hernan drehte das Licht an, winkte Catherine ins Zimmer und schloss die Tür hinter ihr. Catherine hätte ihn am liebsten mit Fragen überschüttet, aber sie merkte, dass es besser war, Hernan reden zu lassen. Allmählich gewann er die Fassung wieder. Als sein Atem sich wieder beruhigt hatte, warf er einen verlegenen Blick auf die Waffe und lächelte entschuldigend. »Ivan Bezumov ist nicht einfach ein Wissenschaftler. Doch das haben Miguel und der Professor erst nach seinem letzten Besuch herausgefunden: Er ist ein ehemaliger Oberst des russischen Marinegeheimdienstes. Er hatte uns die ganze Zeit an der Nase herumgeführt. Er ist sehr gefährlich. Und er ist sehr intelligent. Wir brauchten so lange, um hinter seine wahre Identität zu kommen, weil er wirklich eine Koryphäe in der Archäologie der Vorzeit, in der Geologie der Antark154
tis, in Urgeschichte und vielen anderen Dingen ist.« Er steckte den Revolver in den Gürtel seiner Jeans. »Bezumov ließ die Trümmer der Sowjetunion mit einem Traum hinter sich, einem Traum, den sowjetische Wissenschaftler schon seit Jahrzehnten hegten: die natürlichen Energien der Erde nutzbar zu machen – die gigantischen elektromagnetischen Strahlen, die von der Sonne auf unseren Planeten strömen. Gezeitenkraftwerke und Windenergie sind nichts im Vergleich zu den Ideen dieser russischen Wissenschaftler. Sie wollten sogar die Umlaufbewegung der Erde um die Sonne nutzen, um kostenfreien Strom in riesigen Mengen zu produzieren, den sie wiederum für ihre Ziele verwenden konnten. Bezumov gelangte zu der Überzeugung, dass sich die Menschheit diese gewaltigen Kräfte schon in der Vergangenheit nutzbar gemacht hatte. Er ist davon besessen, wieder hinter dieses Geheimnis zu kommen und dann Herr über diese ungeheuren Energien der Sonne zu werden.« »Aber das ist ja unglaublich!«, rief Catherine. »Ja, es klingt wirklich verrückt. Doch Professor Kent glaubte, dass Bezumov nicht bloß einem Phantom hinterherjagte – wie Sie ja wissen, war der Professor auch der Überzeugung, dass alle Technologie unweigerlich zur Zerstörung der Natur führt. Er hielt Bezumovs Pläne, diese Energieformen nutzbar zu machen, für viel schlimmer als unsere Versuche, Erdöl oder Kernenergie nutzbar zu machen. Sollte die Menschheit anfangen, sich an der Rotation des Planeten oder an den gewaltigen Energieströmen zwischen Erde und Sonne zu schaffen zu machen, könnte das wirklich katastrophale Auswirkungen haben.« »Inwiefern?« »Wer weiß? Von Miguel weiß ich, dass der Professor der Meinung war, dass ein Herumpfuschen an der Orbitalbewegung der Erde eine plötzliche Veränderung der Zentrifugalkraft bewirken würde, die wiederum dazu führen könnte, dass der Planet sozusagen aus den Nähten platzt oder in Flammen aufgeht.« Catherine starrte ihn mit offenem Mund an. Sie sah den schönen blauen Planeten Erde vor ihrem geistigen Auge, der majestätisch durch die unendliche Nacht des Universums schwebte. Eine zarte Kugel, auf 155
der Leben gedeiht – vielleicht die einzige in der unendlichen Schwärze –, die in Millionen von Stücken zerbirst, wie ein zerbrochener Spiegel, für immer zerstört. »Wir müssen ihn aufhalten.« »Sie haben völlig recht. Er ist größenwahnsinnig und wird vor nichts haltmachen, um sein Ziel zu erreichen. Aber gerade jetzt liegt mir Ihre Sicherheit weitaus mehr am Herzen. Wir müssen Sie hier herausbringen. Denn Bezumov ist nicht der Einzige in Peru, der hinter Ihnen her ist.«
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DRITTER TEIL
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Es war Freitagmorgen, 7 Uhr 30, in einem namenlosen Gebäude im finanziellen Herzen von New York City. Sekretär Miller saß mit zehn elegant gekleideten Herren unterschiedlichster Herkunft an einem Konferenztisch. »Meine Herren«, sagte er, »haben Sie vielen Dank für Ihren Einsatz und Ihre jahrelange Treue. Dies ist unsere letzte Morgenkonferenz. Es ist sogar die letzte Gelegenheit überhaupt, uns zu treffen. Es sind nur noch zweiundsiebzig Stunden bis zum Anbruch der Frühlings-Tagund-Nacht-Gleiche. Fassen wir kurz zusammen.« Er holte seine Lesebrille hervor, setzte sie auf und warf einen Blick auf den Notizblock, der vor ihm auf dem Tisch lag. Die elf Männer warteten schweigend. Man hätte sie für sehr wohlhabende, nicht mehr ganz junge Geschäftsleute halten können. Wie Miller strahlten sie Autorität und Intelligenz aus. Er schaute über den Rand seiner Brille und begann: »Also gut, um den Nahen Osten kümmern sich Senator Kurtz und das Gremium persönlich. Fangen wir deshalb mit Japan an.« Er sah zu drei Asiaten am anderen Ende des Tisches hinüber. Der japanische Abgeordnete verbeugte sich leicht und sagte: »Wie Sie wissen, Sekretär, ist die japanische Zentralbank seit dem Zweiten Weltkrieg in der Hand der Korporation. Wenn am Montagmorgen der Crash beginnt, wird die Bank, entgegen ihrer offiziellen Politik, alle Bestände an ausländischen Devisen liquidieren und alle in- und ausländischen Vermögen verkaufen. Der Markt wird keine Chance haben, sich zu erholen. Zudem hat sich das Gremium bereit erklärt, jegliche Liquiditätstropfen aufzuwischen, die doch noch verschüttet werden sollten.« Er verbeugte sich und nahm wieder Platz. Der Sekretär wandte sich einem Chinesen zu, der zu dessen Linken saß. Der Chinese nickte und sagte: »Sekretär, die Vorgänge in Japan wer158
den, zusammen mit dem vom Gremium gelenkten weltweiten Ausverkauf auch in China eine Bankenkrise auslösen, die zum Zusammenbruch der Finanzmärkte führen wird. In den großen Industriestädten werden über Nacht mehr als zweihundert Millionen Menschen arbeitslos sein. Es wird zu enormen sozialen Unruhen kommen, und innerhalb von zehn Tagen wird unsere Währung wertlos sein. Unsere Agenten in der chinesischen Armee haben die Pläne für die Invasion Taiwans und der koreanischen Halbinsel auf den neuesten Stand gebracht. Wir sind uns ziemlich sicher, dass die Regierung, um die Millionen von Arbeitslosen zu besänftigen, diese Pläne befolgen wird. Von unseren Brüdern in Amerika wissen wir bereits, dass die US-Navy das Festland mit ihrer nuklearen U-Boot-Flotte angreifen wird, bevor sie sowohl in Taiwan wie auch in Korea Gegeninvasionen startet. Ein kränkelndes China garantiert uns, dass die Korporation in der zweiten Phase freie Bahn hat.« Der Sekretär nickte. Der indonesische Delegierte sah ihn an und sagte: »Beim ersten Anzeichen von US-Angriffen wird die indonesische Marine die Straße von Malakka, die am meisten befahrene Handelsroute der Welt, verminen und jedes Schiff versenken, das sie noch zu durchqueren versucht. Damit wird der internationale Handel zum Stillstand gebracht, und alle Lebensmittelimporte kommen zum Erliegen. Wir gehen davon aus, dass es innerhalb einer Woche zu schweren sozialen Unruhen kommen wird – und zu einer groß angelegten Invasion Malaysias und Australiens.« Der Sekretär richtete seinen Blick auf die übrigen sieben Abgeordneten, einen Afrikaner, zwei Asiaten und vier Weiße. »Wer spricht heute für Eurasien und Afrika?« Ein schmalgesichtiger, blasser Engländer mit der Ausstrahlung eines Leichenbestatters nickte Sekretär Miller zu, der ihm bedeutete zu sprechen. »Der weltweite Crash beginnt damit, dass unsere Agenten den Anstoß zum Ausverkauf geben werden. Weder die Europäische Zentralbank noch die Bank von England werden den Markt stützen und garantieren dadurch, dass sich Panik ausbreiten wird. Zudem werden in allen Hauptstädten Europas Bomben hochgehen. Die Ölinfrastruktur 159
Europas und vor allem Russlands wird beschädigt, aber nur in einem Ausmaß, dass sie nach der Machtergreifung der Korporation rasch repariert werden kann.« Der Sprecher machte eine Pause und fuhr dann fort: »Kurz vor Mitternacht am Montag wird vor der Residenz des indischen Premierministers eine Bombe gezündet, die stark genug sein wird, um ihn und seine Familie zu töten. Eine von uns zusammengestellte islamistische Gruppe aus dem Kaschmir wird sich zu der Tat bekennen und Pakistan und Indien damit in einen anhaltenden Krieg stürzen. Zeitgleich liefern wir einen weiteren Beitrag in Afrika, indem wir einen Bürgerkrieg im Nigerdelta anzetteln. Schon seit einiger Zeit unterstützen wir drei rebellische Milizen mit Waffen und Geldern. Die Ölexporte aus jener Gegend werden zum Erliegen kommen; Hilfs- und Lebensmittelimporte ebenfalls. Auf dem gesamten Kontinent werden sich Hunger und Krieg ausbreiten.« »Gut«, sagte der Sekretär, »ich werde die USA koordinieren, gemeinsam mit dem Gremium. Ihre letzten Befehle erhalten Sie direkt von Senator Kurtz als Stellvertreter des Gremiums, aber ich bin überzeugt, dass Ihnen alle Codes bekannt sind und keine Fehler unterlaufen werden. Wir haben lange auf diesen Tag gewartet …« Die versammelten Männer nickten in feierlichem Einvernehmen, bevor der Sekretär seinen Ton mäßigte und plötzlich etwas vorsichtiger wurde. »Ich denke nicht, dass es nötig ist, meine Herren, Sie darauf hinzuweisen, dass unsere Pläne nicht die geringste Abweichung erlauben. Die Abfolge der Ereignisse ist für den endgültigen Erfolg von größter Wichtigkeit. Nichts, und ich wiederhole, nichts darf ohne den ausdrücklichen Befehl des Senators geschehen. Handeln Sie erst, wenn Sie seine letzten Anweisungen erhalten haben. Verstanden?« Die versammelte Gruppe murmelte zustimmend. Der Sekretär ordnete seine Papiere und erhob sich. »Vielen Dank, meine Herren, und viel Erfolg. Ihre Kinder und Enkelkinder werden von Ihren Taten in ihren Geschichtsbüchern lesen. Eine neue Weltordnung wird aus der Asche der alten geboren werden. Lang lebe die Korporation.« 160
Während sich die Sitzung auflöste und die Delegierten allmählich den Saal verließen, kehrte Sekretär Miller zu seinem Stuhl zurück. Der Raum leerte sich, bis nur noch sein zuverlässigster Assistent, Agent Dixon, zurückblieb. Sekretär Miller wartete, bis er die Tür geschlossen hatte, und gab ihm zu verstehen, dass er sich setzen solle. Der junge Agent nahm Platz und legte einen Stapel Papiere auf den Tisch. »Sir, gemäß Ihrem Auftrag habe ich Nachforschungen über den Senator angestellt.« »Fahren Sie fort, Dixon. Wir sind alleine.« Der Agent schien sich äußerst unbehaglich zu fühlen. Auf Geheiß des Sekretärs hatte er schon die Geheimnisse vieler Leute gelüftet, aber noch nie die eines Mitglieds des Gremiums. »Nun, Sir, anscheinend ist Senator Kurtz Mitglied einer extrem radikalen evangelischen Kirche namens Kirche der Offenbarten Wahrheit. Ihr Hauptsitz liegt in seinem Wahlkreis, und er gehört ihr seit seiner Geburt an. Beide seiner Eltern stammen aus Familien, die schon zahlreiche Generationen von Pfarrern gestellt haben.« Agent Dixon hielt inne, um sich zu vergewissern, dass seine Ausführungen den Erwartungen des Sekretärs entsprachen. Miller gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass er fortfahren solle. »Der Senator macht seine Mitgliedschaft in der Kirche der Offenbarten Wahrheit nicht publik, gibt sie jedoch offen zu, wenn man ihn danach fragt. Stattdessen nennt er sich einen ›engagierten Christen‹. Die Überzeugungen seiner Kirche werden jedoch von der Mehrheit evangelischer Christen als zu extrem betrachtet.« Die Augen des Sekretärs leuchteten. »Was für Überzeugungen?«, fragte er neugierig. Agent Dixon holte tief Luft. »Nun, Sir, scheinbar glaubt die Kirche der Offenbarten Wahrheit ernsthaft an Armageddon. Sie erwartet das Ende der Welt – ja, sie arbeitet sogar aktiv auf dieses Ziel hin. Sie ist von der Wahrheit der biblischen Offenbarung, so wie sie geschrieben steht, überzeugt. Wenn das Ende der Tage kommt, werden die Anhän161
ger dieser Kirche in den Himmel auffahren, während wir Normalsterblichen das große Gemetzel, die letzte Schlacht zwischen Gut und Böse, ausfechten müssen.« Der Sekretär saß kerzengerade in seinem Stuhl. Für einen Moment konnte er kaum atmen. Es war undenkbar, dass das Gremium von Senator Kurtz' wahren Verpflichtungen wusste. Obwohl sie zunächst auf globales Chaos und Zerstörung abzielte, hatte die Korporation auf keinen Fall vor, unwiederbringlichen Schaden anzurichten. Es ging ihr bloß darum, das Gleichgewicht der Mächte zu ihren eigenen Gunsten zu kippen. Er wurde sich bewusst, dass Agent Dixon auf eine Reaktion wartete und ihn nervös ansah. Er fasste sich. Die Zeit war gekommen, um zu handeln. »Vielen Dank, Agent Dixon. Ihre Arbeit ist wie immer mustergültig. Ich brauche nicht zu betonen, dass Sie diese Informationen für sich behalten werden. Bitte lassen Sie meinen Wagen vorfahren, ich bin in fünf Minuten oben.« Sobald Dixon das Konferenzzimmer verlassen hatte, erhob sich Sekretär Miller und ging hinüber zum Teakschrank, der in der Ecke stand. Er holte einen Schlüssel aus seiner Tasche, schloss die Türen auf und gab auf der Drehscheibe des Safes schnell die erforderlichen Ziffern ein. Die Verriegelung klickte, und die zehn Zentimeter dicke Stahltür schwang auf. Er griff hinein und holte einen unscheinbar wirkenden Umschlag hervor. Er faltete ihn einmal, steckte ihn in die Innentasche seines Jacketts, schloss die Safetür und verriegelte sie. Sein Herz raste. Er glättete sein Haar. Schweißperlen hatten sich an seinen Schläfen angesammelt. Während er sein Jackett zurechtzog, schüttelte er angesichts der Gewagtheit seines Vorhabens ungläubig den Kopf. Sollte jemand herausfinden, was er im Begriff war zu tun, oder auch nur einen entsprechenden Verdacht hegen, würde er diesen Tag nicht überleben. Und so leid es ihm tat, aber er würde Agent Dixon aus dem Verkehr ziehen müssen. Dank seiner eigenen Gründlichkeit stellte der junge Mann nun ein viel zu großes Risiko dar. Sekretär Miller ging zur Tür des Konferenzzimmers hinüber, seine 162
Hand ruhte auf der Türklinke. Die Aussichten waren düster. Der einzige tröstliche Gedanke war, dass mittlerweile wenigstens die beiden Wissenschaftler tot sein würden.
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Vier Stunden war Hernan gefahren, ohne Pause, entschlossen, seine Passagiere sicher an die bolivianische Grenze zu bringen, bevor es zu spät war. Sie umrundeten die Südspitze des prachtvollen Titicacasees und staunten über dessen unglaubliche Größe. Auf allen Seiten sahen sie die Andengipfel, manche waren in Wolken gehüllt, andere hoben sich in kristalliner Klarheit von dem atemberaubenden Blau des Himmels ab. Entlang des Seeufers war die Vegetation spärlich. Sie befanden sich weit über der Baumgrenze; die magere Erde und die fast permanente Kälte boten – außer für die widerstandsfähigsten Bergpflanzen – keine sehr günstigen Bedingungen. Hernan zeigte auf die Muscheln am Ufer und die große grüne Gezeitenlinie, die sich entlang der Felsen zog, die den See umgaben – ein Beweis dafür, dass einst eine sintflutartige Überschwemmung das Andenplateau, zweitausend Meter über dem Meeresspiegel, erreicht haben musste. Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit fuhren sie, bis sie die Ruinen der großartigen Stadtfestung von Tiahuanaco erreichten – der verlorenen Stadt in den Wolken. Hernan brachte den Wagen am Rand der modernen Straße, die an der alten Ruinenstätte vorbeiführt, zum Stehen und stellte den Motor ab. Vor ihnen, nur eine Stunde Fahrt entfernt, lag die Sicherheit von Bolivien. Auf der Ebene vor ihnen breiteten sich die Überreste einer einst riesigen Stadt bis zum Horizont aus. Die Landschaft war mit Ruinen enormer Steinbauten übersät, und pyramidenförmige Erdwälle legten Zeugnis von einer längst verschwundenen Priesterschaft ab. »Ich wollte Ihnen diesen Ort unbedingt zeigen, auch wenn wir nur ein paar Minuten Zeit haben. Es ist unsere heiligste Stätte. Im Zentrum dieser Ruinenstadt steht ein versunkener Tempel, in dem sich eine Säule aus rotem Stein befindet. In die Säule gehauen ist das Bild eines 164
Mannes. Er trägt einen Bart. Wer immer dieser Mann war, er war auf keinen Fall ein Inka.« Rutherford drehte sich um und sah Hernan fragend an. »Wie viele Indios mit Vollbart haben Sie in Peru gesehen?«, fragte er. Catherine nickte langsam mit dem Kopf. »Es ist Viracocha, nicht wahr?« »Ja! Überall in dieser alten Stadt findet man Darstellungen von ihm und seinen Begleitern. Auf einigen der Bilder sieht man ihn mit Elefanten und Pferden. In Südamerika gibt es seit über zehntausend Jahren keine Elefanten mehr. Die größte Statue zeigt Viracocha als eine Art Nixe beziehungsweise Wassermann. Sein Oberkörper ist menschlich, doch von der Taille abwärts ist er mit Schuppen bedeckt – er trägt eine Art Überzug aus Fischschuppen.« Rutherford war fasziniert. Seine Gedanken schwirrten. »Warten Sie mal! Ich habe diese Figur schon irgendwo gesehen!« Hernan sah ihn erstaunt an. Rutherford wandte sich ihm und Catherine zu, sein Gesicht strahlte. Aufgeregt sagte er: »Was wissen Sie über die Mythologie Mesopotamiens? Über die Chaldäer – die älteste bezeugte Hochkultur der Welt?« Hernan und Catherine schüttelten den Kopf. »Dort gibt es einen Halbgott namens Oannes. Er ist menschenähnlich, trägt aber Fischkleider und ist amphibisch. Er bringt den Wilden bei, zu lesen und zu schreiben, das Land zu bestellen und eine Regierung mit Verstand und Moral zu bilden. Am Ende verlässt er sie wieder und verschwindet über das Meer.« Catherine war verblüfft. »Aber das ist ja unglaublich! Das ist doch wieder die Geschichte von Osiris.« »Und das ist noch nicht alles! Erinnern Sie sich an die Maya und die Azteken und die übrigen alten Hochkulturen Zentralamerikas?« Catherine erinnerte sich nur vage an die Azteken mit ihren Pyramiden und ihrer Sonnenanbetung. Sie zuckte die Schultern und forderte Rutherford auf fortzufahren. »Die Maya glaubten an eine Gestalt namens Kukulkan, die ›geflügel165
te Schlange‹, die Azteken an Quetzalcoatl, die ›gefiederte Schlange‹ – gleiche Gestalt, etwas anderer Name. Er war ein bärtiger, weißhäutiger Gott, der offenbar in ferner Vergangenheit über das Meer nach Mexiko gekommen war. Er führte die Menschen in die Geheimnisse der Kultur ein. Es handelt sich zweifellos um ein und dieselbe Person. Er verschwand sogar auf einem Floß über das Meer … Cortés, der Anführer der spanischen Invasionsarmee, wurde nur deshalb nach seiner Landung nicht auf der Stelle getötet, weil der Aztekenkönig Montezuma überzeugt war, Cortés – mit seiner weißen Haut und seinem Bart – sei der zurückgekehrte Quetzalcoatl.« Catherine verschlug es den Atem. »Das ist ja erstaunlich. Nun haben wir schon vier Orte, an denen dieser merkwürdige weißbärtige Mann auftauchte, und in völlig verschiedenen Teilen der Welt.« Hernan schüttelte beeindruckt den Kopf. »Und es gibt hier noch weitere fundamentale Beweise«, sagte er, »dass Viracocha vor dem Beginn der herkömmlichen Geschichtsschreibung gelebt haben muss. Wissen Sie etwas über die Ausrichtung von alten Monumenten auf die Sterne und wie man mit moderner Software berechnen kann, wann sie erbaut wurden?« Catherine und Rutherford nickten ernst. »Nun, die Steine und Statuen von Tiahuanaco deuten alle auf denselben Zeitpunkt in der Vergangenheit. Viele Astronomen und Archäoastronomen haben dies überprüft und sind zu derselben unumstößlichen –« »Wann war es?«, unterbrach ihn Catherine vor Neugier und Ungeduld. »Um fünfzehntausend vor Christus.« Schweigend dachten die drei über dieses hoch entwickelte prähistorische Volk nach, das seine hohe Intelligenz und seine enormen Kräfte darangesetzt hatte, diese beeindruckende Tempelstadt zu errichten, die vor ihnen lag. Catherine schaute die beiden Männer an. »Aber es erklärt noch immer nicht, weshalb der Professor glaubte, wir würden gewarnt. Und vor allem erklärt es nicht, warum irgendwelche Mächte da draußen mit aller Kraft verhindern wollen, dass die166
ses Wissen über die Vergangenheit publik wird, und dafür sogar bereit sind, unschuldige Menschen umzubringen.« Rutherford und Hernan hatten auch keine Erklärung. Dann drehte Hernan – mit einem nervösen Blick über die Schulter – den Zündschlüssel, und der Motor sprang knatternd wieder an. »Wir sollten keine Minute länger hierbleiben«, sagte er. »Ich werde Sie an der Grenze in die Obhut eines Aymara geben. Überall hier, auf beiden Seiten der Grenze, gehört den Aymara das Land. Er wird Ihnen gefälschte bolivianische Touristenvisa geben und Sie nach La Paz bringen. Mit seiner Hilfe werden Sie hier lebend rauskommen.«
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Senator Kurtz kletterte aus dem Helikopter in den blendenden Sonnenschein des Nachmittags. Er duckte sich unter dem Getöse der Rotoren, überquerte den kleinen Hubschrauberlandeplatz und betrat den riesigen Rasen, der zum Hauptsitz der Kirche der Offenbarten Wahrheit gehörte. Als sich der Hubschrauber wieder in die Luft erhob, konnte sich der Senator ein Grinsen kaum verkneifen. Der Himmel war praktisch wolkenlos, die Luft war frisch und sauber, und dies war sein Lieblingsort auf der ganzen Welt. Was für eine Befreiung, der Hektik von Washington DC und dem Leistungsdruck in der Korporation für kurze Zeit entflohen zu sein. Natürlich war es den Aufwand wert: Schon bald würden sich die Prophezeiungen aus der Offenbarung erfüllen, und er würde einer von den wenigen Entrückten sein, denen die Qualen, die der übrigen Menschheit auferlegt würden, erspart blieben. Knapp einhundertfünfzig Meter vor ihm erhob sich der funkelnagelneue Gebäudekomplex der Kirche der Offenbarten Wahrheit in seiner ganzen Pracht. Die Fenster glänzten im Sonnenlicht. Während der Senator über den Rasen schritt, versuchte er, seinen Stolz zu unterdrücken. Es war vor allen Dingen ihm zu verdanken, dass die Kircheneinkünfte in den letzten paar Jahren auf Hunderte von Millionen Dollar angewachsen waren, mit denen sie nun jährlich rechnen konnten. Das Fernsehstudio in der Mitte des Komplexes war das schlagende Herz der Kirche. Es hatte die Form eines griechischen Amphitheaters. Ein Hufeisen von Tribünen legte sich um das zentrale Podium, wo der Prediger stand, wodurch die Intensität und Atmosphäre des jeweiligen Anlasses enorm verstärkt wurden. Die leidenschaftlichen Gottesdienste wurden im ganzen Land ausgestrahlt, es wurde zu Spenden aufgerufen, und ekstatische Menschen aus dem Publikum erzählten live von 168
den Wundern, die sie in dieser Kirche erlebt und die ihr Leben von Grund auf verändert hatten.
Senator Kurtz rauschte an der lächelnden Empfangsdame vorbei und schritt durch das Gewirr von Korridoren, bis er zu einem prunkvollen Wartezimmer gelangte. Dicke Teppiche und Ledermöbel erzeugten die behagliche Atmosphäre eines Fünfsternehotels. Die Klimaanlage summte leise. Das einzige religiöse Zeichen, ja, der einzige Schmuck an den sonst spartanischen Wänden, war ein einfaches Holzkreuz, das am anderen Ende des Raumes neben einer geschlossenen Tür hing. Auf dem Namensschild stand ›Reverend Jim White‹. Ohne zu zögern, durchquerte der Senator den Raum und klopfte energisch an die Tür. Eine Sekunde später ertönte von dahinter ein schroffes »Herein!«. Texanischer Akzent, energische Stimme. Senator Kurtz öffnete die Tür und betrat den Raum. Die kampfeslustige Gestalt des Reverend begrüßte ihn mit freudigem Geheul. Reverend Jim White war ein kleingewachsener, bulliger Mann Mitte fünfzig mit einer flachen Boxernase und einer kräftigen Stirn. »Senator! Was für eine schöne Überraschung. Ich hatte dich erst morgen erwartet.« Der Reverend erhob sich aus seinem Stuhl und umrundete seinen Schreibtisch. Der Raum war erfüllt von seiner dröhnenden Texanerstimme. Der Senator nahm den ihm entgegengestreckten Arm, und die beiden Männer schüttelten sich herzlich die Hände, umarmten sich und klopften einander auf den Rücken. Der Reverend redete Senator Kurtz nur aus freundschaftlichem Scherz mit seinem politischen Titel an – sie kannten einander von Kindesbeinen an. Gemeinsam hatten sie die Verwandlung ihrer Kirche von einer obskuren Sekte zu einer bedeutenden Größe in der evangelischen Bewegung geplant und durchgeführt. Gemeinsam waren sie einen langen, harten Weg gegangen und hatten durch die Kraft des Glaubens und pures Charisma Tausende von Durchschnittsamerikanern davon überzeugt, ihnen zu folgen. 169
Senator Kurtz trat einen Schritt zurück und musterte seinen Freund von Kopf bis Fuß. »Schön, dich zu sehen, Jim. Du siehst prima aus. Hast du meinen Rat befolgt und das Schwimmbecken fleißig genutzt?« Der Reverend lachte von Herzen. »Ha! Wenn ich die Zeit habe, wenn ich die Zeit habe. Wir hatten so viel zu tun – Sendungen aufnehmen und ausstrahlen, neue wichtige Mitglieder mit allem hier vertraut machen –, dass ich kaum eine freie Minute hatte, um nachzudenken. Aber nimm doch Platz. Ich will alles von dir hören.« Die beiden Männer gingen zu zwei Sesseln hinüber, zwischen denen ein kleiner Tisch stand. Die joviale Miene des Reverend wurde plötzlich sehr ernst, und er hielt sich mit seiner fleischigen Hand das Kinn. »Also, was gibt es zu erzählen? Stehen wir kurz vor unserem Ziel?« Senator Kurtz nickte ernst und sagte langsam und klar: »Jim, ich glaube, wir haben es geschafft.« Das Gesicht des Reverend erhellte sich wieder. Er konnte seine Erregung kaum im Zaum halten. »Ehrlich? Glaubst du wirklich, dass nun die Endzeit bevorsteht?« »Ja, Jim, so ist es. Es gibt nichts, was uns nun noch aufhalten könnte. Ich hätte mir keinen besseren Lauf der Dinge wünschen können. Die gefährlichen Ketzereien des englischen Professors sind aus den Annalen der Geschichte gelöscht. Und die geplante Machtübernahme der Korporation ist auf bestem Wege. Ich war persönlich auf der Sitzung des Gremiums. Es sind nur noch ein paar Tage bis Armageddon.« Die Augen von Reverend Jim White waren so groß wie Untertassen. Endlich, nach all ihrem Einsatz und all ihrer Mühe, schienen sie nun vor der Erfüllung ihres Traums zu stehen. Der Senator fuhr fort: »Ich werde direkt nach Kairo fliegen, wo ich meinen Stützpunkt haben werde. Ich habe alles mit unseren Agenten in Israel abgesprochen, und die sind bereit. Wir haben eine winzige thermonukleare Bombe in die alAqsa-Moschee, das muslimische Heiligtum in Jerusalem, geschmuggelt, die parallel zu der weltweiten, von der Korporation ausgelösten Krise gezündet wird. Wie du weißt, haben unsere Agenten durch das 170
alte römische Kanalisationssystem schon vor einiger Zeit die Klagemauer vermint. Wenn die Mauer zu Staub gemacht ist, werden die Israelis ihrer Luftwaffe automatisch den Befehl zur Bombardierung von Mekka geben. Der Nahe Osten wird in Flammen aufgehen. Ich bin mir sicher, dass Israel auf seine Atomwaffen zurückgreifen wird, und ich rechne mit bis zu hundert Millionen Toten in den ersten Tagen. All das wird am Montagmorgen – bei Tagesanbruch der Frühlings-Tag-undNacht-Gleiche – durch meinen Befehl ausgelöst.« Der Prediger erhob sich. Er reckte seinen rechten Arm mit gespreizten Fingern zur Decke seines luxuriösen Zimmers empor. Seine weit aufgerissenen Augen glitzerten feucht. Mit seiner dröhnenden Stimme rief er voller Entzücken: »Lobet den Herrn!«
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Es war 7 Uhr 35. Vor dem Eingang des Hotels Ruinas in Machu Picchu kam ein nagelneuer japanischer Wagen mit Vierradantrieb mit kreischenden Bremsen zum Stehen. Professor Kents Mörder und sein junger Komplize, die überhaupt nicht zu den derben Bauern und den majestätischen Gipfeln der Anden passten, stiegen auf dem staubigen Vorplatz des Hotels aus dem Fahrzeug. Die beiden Männer verloren keine Sekunde und traten zielstrebig in die Eingangshalle. Hinter der Rezeption saß ein alter Mann, und in einer Ecke wischte eine Indiofrau den Boden. Sowohl der Mann am Empfang als auch die Putzfrau sahen überrascht auf. In Machu Picchu begegnete man kaum je Männern mit Anzügen und funkelnagelneuen Autos, und in Peru wusste ohnehin jeder, vom Kind bis zum Greis, dass man um solche Typen am besten einen weiten Bogen machte. Die alte Frau lehnte ihren Wischmopp an die Wand und eilte durch die Empfangshalle davon. Der Mörder wandte sich an seinen Komplizen. Seine Stimme war kehlig und voller Frustration und Abscheu. »Ich sag's dir, wir haben sie bestimmt wieder verpasst …« Der Komplize wirkte beunruhigt. Er ging zur Rezeption hinüber und fuhr den Mann an: »Ich will die Einträge für letzte Nacht sehen. Und zwar sofort.« Der Alte sah ihn erschrocken an, fummelte an dem in Leder gefassten Gästebuch herum und versuchte, es mit seinen Gichtfingern an der richtigen Stelle zu öffnen. »Gib her, du alter Idiot.« Der junge Mann entriss es ihm und blätterte durch die Seiten. Sekunden später fuhr er mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand über die Namen zweier Gäste – Donovan und Rutherford. Er stieß einen Fluch aus und blickte auf. 172
»Okay, Viejo – wo sind sie? Dónde están los Gringos?« Die Augen des alten Mannes waren vor Angst und Unverständnis weit aufgerissen. Er schlurfte rückwärts vom Schalter weg und durch eine Tür. Der junge Mann schlug die Tresenklappe zurück und folgte ihm in das Zimmerchen hinter dem Empfang. Der Alte hockte an die Wand gekauert und redete unverständlich in einem Indiodialekt vor sich hin. Der Geduldsfaden des jungen Mannes war gerissen. Er schrie ihn an: »Wo sind Donovan und Rutherford? Dónde están Donovan y Rutherford?« Der alte Mann war auf die Knie gefallen und hielt schützend den Arm über sich, als erwarte er Schläge. In gebrochenem Englisch stieß er hervor: »Señor, das ausländische Paar ist heute Nacht weggefahren.« »Wohin? Wohin sind sie gefahren?« »In Richtung Bolivien.« Der junge Mann trat heran und packte den Mann am Kragen. »Waren sie allein? Oder war noch jemand bei ihnen?« »Ja, Señor … ja, Señor. Sie fuhren mit einem Bekannten, jemand, der auch schon hier war. Señor Flores.« Auch der Mörder betrat nun das Zimmerchen. Er verzog verächtlich den Mund. »Sie wissen, dass sie verfolgt werden. Wir dürfen keine Zeit verlieren.« Der Jüngere schleuderte den alten Mann zu Boden, und die beiden Männer stürmten aus dem Hotel.
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Nachdem Catherine und Rutherford an der bolivianischen Grenze aus dem Wagen gestiegen waren und sich den Staub aus den Kleidern geklopft hatten, zeigte Hernan an der Hütte der Grenzkontrolle vorbei auf ein einsames Allradfahrzeug, das gleich hinter der Grenze geparkt war. »Dort ist Ihre Mitfahrgelegenheit. Er wird Sie im Nu nach La Paz bringen. Sein Name ist Quitte – er spricht kein Wort Englisch. Er wird Sie bei sich in La Paz unterbringen. Von dort aus können Sie Ihre sichere Weiterreise planen.« Hernan legte seine Hände an den Mund und rief in Richtung des geparkten Wagens: »Holà, Quitte, estoy aqui con mis amigos. ¡Vamonos!« Die Fahrertür ging auf, und ein kleiner, grinsender Indio stieg aus. Er winkte ihnen zu, und Hernan winkte zurück. Hernan drehte sich ein letztes Mal zu ihnen um. Seine Augen leuchteten, und mit jeder Faser seines Körpers schien er mitzufiebern und ihnen auf ihrer Suche Erfolg zu wünschen. »Meine Freunde – viel Glück!« Er sah Catherine eindringlich an. »Und passen Sie gut auf sich auf.« Catherine hatte einen Kloß im Hals. Eine schreckliche Vorahnung packte sie. »Könnten Sie uns nicht bis La Paz begleiten und für ein paar Tage untertauchen?« Hernan lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein, Catherine. Ich muss zu meiner Familie zurück. Wir sind noch immer in Trauer, und ich will bei ihnen sein.« Sie umarmten sich. Catherine trat einen Schritt zurück, mit Tränen in den Augen. Rutherford nahm Hernans Hand und schüttelte sie herzlich. 174
»Vielen Dank für alles. Ich verspreche Ihnen, dass wir im Namen von Miguel und dem Professor alles tun werden, um die Wahrheit zu enthüllen und Ivan Bezumov zu stoppen.« Hernan beugte sich vor und umarmte den Engländer. »James, passen Sie gut auf sich auf – und auf diese schöne Frau hier.« James erwiderte die Umarmung, dann gingen sie zum letzten Mal auseinander.
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Im Sotheby's-Gebäude an der York Avenue, der Niederlassung des weltberühmten Auktionshauses in Manhattan, wurde Sekretär Miller von einer attraktiven, gepflegten jungen Frau in einen verdunkelten, fensterlosen Raum geführt. Mit ihren perfekt manikürten Händen tastete sie den Türrahmen entlang, bis sie den Lichtschalter fand und das Zimmer von der Finsternis erlöste. »Dies ist unser Kartenzimmer. Wie Sie sehen, gibt es keine Fenster, deshalb besteht nicht die geringste Gefahr, dass Ihr Objekt Schaden erleiden könnte. Bitte nehmen Sie Platz. An den Wänden sehen Sie ein paar Stücke aus unserer Sammlung, die Sie interessieren könnten. Mr. Silver sollte jeden Augenblick hier sein.« Der Sekretär betrachtete den großen, eleganten Raum. In der Mitte stand ein Konferenztisch, von bequemen Lederstühlen umgeben. Über dem Tisch hing eine technisch wirkende Lampe von der Decke herab, die in jede Richtung gehoben oder gesenkt werden konnte. Die Wände waren mit gerahmten Landkarten geschmückt. Die junge Frau fuhr fort: »Dies hier ist die Originalkarte, die Christoph Kolumbus von seiner ersten Amerikareise herstellte. Sie ist buchstäblich unbezahlbar, deshalb steckt sie hinter kugelsicherem Glas, in einem Edelstahlrahmen, der in die Gebäudestruktur eingelassen ist.« Sie ließ ihr weißzahniges Lächeln blitzen. »Darf ich Ihnen etwas anbieten? Tee oder Kaffee?« Sekretär Miller knurrte zur Antwort: »Nein, danke. Wie gesagt, ich bin kein Kenner, ich glaube, es handelt sich um eine Kopie, kein Original. Ich möchte es einfach identifizieren lassen.« In diesem Moment wirbelte die junge Frau, die noch immer im Türrahmen stand, herum. 176
»Ach, hier ist er ja!« Byron Silver, weltweit anerkannter Fachmann für alte Karten, betrat den Raum. Er war Ende fünfzig, wirkte jedoch älter. Er trug einen dreiteiligen Nadelstreifenanzug und hatte praktisch eine Glatze. Sein dünnes, blasses Gesicht legte Zeugnis ab von all den Jahren, die er im Halbdunkel von Bibliotheken mit dem Studium alter Karten und Manuskripte verbracht hatte. Er streckte die Hand aus. »Hallo. Sie müssen Mr. Miller sein.« »Ja. Haben Sie vielen Dank, dass Sie so kurzfristig Zeit für mich haben, Mr. Silver.« Der Antiquitätenhändler lächelte routiniert, seine gepflegte Stimme klang glatt wie Seide. »Aber selbstverständlich. Für jemanden, der den Wert meines Wissens zu schätzen weiß und so gut zahlt wie Sie, stehe ich jederzeit gerne zur Verfügung.« Die junge Dame verließ den Raum und schloss die Tür diskret hinter sich. Silver zeigte auf den Tisch. »Wollen wir? Bloß keine Förmlichkeiten.« Sekretär Miller ging zum Tisch hinüber, ließ die Hand in seine Jacketttasche gleiten und brachte einen braunen Umschlag zum Vorschein. Vorsichtig öffnete er ihn, zog ein Stück Kartenpapier hervor und legte es auf den Tisch. Silver runzelte die Stirn. Aus seiner Tasche holte er eine zusammenklappbare Brille und setzte sie sich auf die Nase. Dann knipste er die Lampe an und brachte sie über der Karte in Position. Sekretär Miller beobachtete ihn mit Adleraugen und hoffte auf ein Zeichen des Erkennens. Nach einer Minute blickte Silver auf und nahm die Brille ab. »Nun? Wissen Sie, was das ist?«, fragte Miller. Silver nickte weise. »Ja. Es ist eine Kopie der Piri-Reis-Karte. Wissen Sie, was das ist?« Sekretär Miller schüttelte gereizt den Kopf. Silver fuhr fort: »Es ist eine Karte, die im Mittelalter von einem türkischen Admiral namens Piri Reis angefertigt wurde. Sie beruht auf älteren – viel älteren – Karten, behauptete er jedenfalls, und war als 177
Navigationshilfe für die türkische Flotte gedacht, falls diese je die südlichen Ozeane befahren sollte.« Sekretär Miller war verwirrt. Was in aller Welt hatte das mit der ganzen Sache zu tun? Warum hatte der Senator den Professor töten lassen, und warum wollte er, dass die Karte um jeden Preis zerstört wurde? Doch Byron Silver lief erst richtig warm. »Sie stellt die Landmasse der Antarktis dar – in eisfreiem Zustand. Deshalb ist diese Karte ein Unikum, ein Sammlerstück.« »Wollen Sie damit sagen, es sei eine präzise Karte der Antarktis? Wie soll das möglich sein? Wenn ich mich nicht irre, liegt sie vollständig unter einer Eisdecke?« Byron Silver lächelte. »Nun, das weiß keiner. Und deshalb ist diese Karte auch so wertvoll, ganz abgesehen von ihrem historischen Wert. Sammler lieben Objekte, die ein Geheimnis in sich tragen. Immer wenn wir ein so rätselhaftes Artefakt wie die Piri-Reis-Karte auf den Tisch bekommen, werden wir von Interessenten nur so überrannt.« Byron Silver knipste die Lampe wieder aus und fügte geistesabwesend hinzu: »Natürlich bekommen wir auch immer viele entrüstete Reaktionen, vor allem von jenen Kunden, die, wie soll ich sagen, die Religion etwas sehr wörtlich nehmen.« Sekretär Miller erstarrte. »Wie bitte? Warum?« Byron Silver warf ihm einen raschen Blick zu. Er spürte die Spannung in der Stimme seines Kunden. »Ach, es gibt auf dieser Welt einfach ein paar Leute, denen solche Artefakte, die die biblische Version der Geschichte in Frage stellen, ein Dorn im Auge sind.« Sekretär Miller stockte das Blut. Erschrocken blickte er die Karte an. Der Professor war für die Korporation also nie eine Bedrohung gewesen. Der Senator hatte ganz offensichtlich das Agentennetzwerk der Korporation für seine persönlichen Ziele genutzt. Das hatte es noch nie gegeben. War auch Sekretär Miller inzwischen ein bloßes Werkzeug für die Pläne des Senators? Wurde die gesamte Korpora178
tion gerade vom Senator dazu missbraucht, seine religiösen Ziele zu verfolgen? Sekretär Miller konnte diese Möglichkeit nicht länger ausschließen. Doch er musste Bilanz ziehen. Es war bereits grünes Licht gegeben worden. Für die Ereignisse am Montagmorgen gab es kein Zurück mehr. Und er würde seinen Teil der Pläne trotzdem ausführen müssen. Er würde den Senator persönlich konfrontieren. Doch er würde den Augenblick klug wählen müssen, sonst würde er unweigerlich das Schicksal von Professor Kent teilen.
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Während das Auto die kurvenreiche und schwindelerregende Straße vom Alto Piano zur bolivianischen Hauptstadt hinunterfuhr, waren Catherine und Rutherford in ihre eigenen Gedanken vertieft. Der lächelnde, energiegeladene Quitte fuhr rasant, aber souverän. Catherine starrte auf die unermessliche Landschaft mit ihren Tälern und Berggipfeln und dachte an den Professor. Sie fragte sich, was er an ihrer Stelle tun würde. Sie vermisste ihn schmerzlich – seine Ernsthaftigkeit und seine Güte. Rutherford, der seit einiger Zeit wortlos aus dem Fenster sah, staunte über den spektakulären Anblick der Anden. Seine Stirn lag in Falten, und seine Augen suchten die Landschaft ab, als seien dort die Antworten zu finden. Dann drehte er sich ganz unvermittelt zu Catherine um. »Kennen Sie die Geschichte von Gilgamesch?« Sie blickten einander in die Augen. Rutherford hob erwartungsvoll die Augenbrauen. Catherine schüttelte den Kopf. Rutherford setzte sich bequemer hin, um sie besser ansehen zu können. »Sie liegt der biblischen Geschichte von Noah zu Grunde. Die erste bekannte Aufzeichnung ist in Keilschrift und stammt von etwa 2.000 vor Christus. Aber ursprünglich ist sie wohl noch älter. Gilgamesch war der König von Uruk in Sumer, und er berichtet, wie er einem anderen König namens Utnapischtim begegnete, der schon vor der großen Flut gelebt hatte. Utnapischtim war von einem der Götter vor der kommenden Flut gewarnt worden, weshalb er ein Schiff baute, auf das er die unterschiedlichsten Tiere und Pflanzen brachte. Ein gewaltiger Sturm kam, und so weit das Auge reichte, sah man nur Wasser. Utnapischtim ließ eine Taube fliegen …« Catherine unterbrach ihn: »Aber das ist doch lachhaft. Ich meine, die 180
Verfasser des Alten Testaments haben die Geschichte ja eins zu eins übernommen …« »Warum auch nicht? Es ist eine gute Geschichte. Man darf annehmen, dass Utnapischtim ein Symbol war, eine einzelne Gestalt, die für all die Menschen stand, die die Flut überlebten. Sonst hätte die menschliche Rasse niemals ihre heutige Größe erreicht. Diese Mythen erzählen anschaulich und aus erster Hand, wie eine Katastrophe fast all unsere Vorfahren tötete. Die Menschheit war praktisch vernichtet.« »Wow – was für ein Gedanke.« »Nicht wahr? Und es ist der einzige Grund, weshalb diese schreckliche Geschichte den Kern so vieler Kulturen bilden konnte. Sie bildet eine unserer frühesten kollektiven Erinnerungen. Und es gibt noch viele andere Beschreibungen von Zerstörungen, in denen Erdbeben, Kälte oder Feuer eine Rolle spielen, und sie scheinen sich alle mit den Sintflutgeschichten zu decken. Die zoroastrischen Schriften zum Beispiel.« Catherine runzelte die Stirn. »Die Zoroastrier? Wer ist denn das?« »Das sind die Anhänger des Propheten Zoroaster, oder Zarathustra, wie er auch genannt wird. Es gibt sie noch heute, zwar nur noch ein paar hunderttausend, vor allem in Bombay in Indien. Zoroaster soll eine Offenbarung von Gott erhalten haben …« Catherine sah die Parallele. »Dann ist er wie Mohammed für den Islam oder Moses für das Judentum?« »Ja. Nur ist Zoroaster älter, er lebte irgendwann vor 2.000 vor Christus. Die Zoroastrier glauben, dass ihr Volk aus dem nördlichen Russland stammt, und glauben, dass der Teufel eines Tages beschloss, das zoroastrische Paradies, Airyana Vaejo, das irgendwo in Sibirien lag, zu zerstören. Doch statt es zu überfluten, ließ er es gefrieren. Die Schriften beschreiben, wie das einst herrliche Land mit Schnee und Eis bedeckt wurde und wie zehn Monate im Jahr Winter herrschte.« Catherine hörte ihm gespannt zu. »Das ist ja ein sehr eigentümliches Schicksal – kaum etwas, das man einfach so erfinden würde.« »Ja, und auch die Wikinger hatten eine ganz ähnliche Vorstellung.« 181
Rutherford war nicht zu bremsen. »Sie glaubten, dass es eine Zeit gab, in der die Erde beinahe in den Abgrund des Chaos stürzte. Ernten wurden vernichtet, Bruder kämpfte gegen Bruder, und überall fiel Schnee. Nach der großen Kälte ging die Welt in Flammen auf und wurde zu einem riesigen Ofen. Feuer loderte aus Erdspalten, heißer Dampf zischte aus dem Boden – und alles, was lebte, verbrannte. Und zuletzt, als hätte die Erde nicht schon genug erlitten, erhoben sich plötzlich die Ozeane und begruben alles unter einer Decke von Wasser.« Rutherford klatschte in die Hände. Catherine dachte über die finstere Vision der Wikinger nach. »Das Problem ist jedoch, dass offenbar kein einziger dieser Mythen, die Sie mir gerade erzählt haben, eine Erklärung dafür liefert, was diese globale Katastrophe verursacht hat. Wenn wir aber die Ursache nicht kennen, wie können wir vermeiden, dass uns dasselbe Schicksal ereilt?« Rutherford begann laut zu denken. »Aber der Professor war doch überzeugt, dass dies der Kern der geheimen Botschaft ist.« »Vielleicht sollten wir das Problem von der anderen Seite aus betrachten.« »Wie meinen Sie das?« »Nun, um herauszufinden, wodurch jene letzte Welt zerstört wurde, sollten wir uns vielleicht nicht nur auf unsere Fähigkeit verlassen, alte Mythen zu interpretieren, sondern andere Beweise für eine monumentale Umweltkatastrophe zusammentragen. Wenn wir echte geologische Daten oder fossile Funde zu Rate zögen, sollte es uns doch möglich sein, eine solch dramatische Zeitenwende in der Erdgeschichte ausfindig zu machen. Wir könnten die technischen Werte mit den Mythen verknüpfen, wir könnten sogar ermitteln, wann genau die letzte Welt unterging.« Rutherford nickte zustimmend. »Aber werden wir dann wissen, warum sie unterging? Wird uns das helfen, die Warnung zu verstehen?« »Auf jeden Fall. Überlegen Sie einmal. Wenn wir wissen, was die wirkliche Katastrophe war, dann können wir viel eher auf ihre Ursa182
che schließen.« Catherines Augen leuchteten plötzlich, und sie schlug mit ihrer Hand auf die Rückseite des Sitzes vor ihr. »Von Dechend!« Rutherford nickte überzeugt. »Ja, natürlich – perfekt! Und wir wissen, dass wir ihm vertrauen können. Wir müssen nach Oxford zurück. Sofort.«
Hernan lenkte seinen Wagen über die leeren Straßen des Alto Piano, zurück nach Cuzco. Seit dem Tod seines Bruders war er wie gelähmt gewesen; nichts war ihm mehr wirklich vorgekommen. Obwohl sie geahnt hatten, dass sie irgendwie in Gefahr waren, war er auf den Schlag, als er kam, doch nicht vorbereitet gewesen. Mit dem Auftauchen der beiden Wissenschaftler aus Oxford hatte er plötzlich wieder eine leise Hoffnung gespürt. Dann wären der Tod von Professor Kent und Miguel wenigstens nicht umsonst gewesen. Er dachte an Catherine und Rutherford auf ihrer Flucht und drückte ihnen innerlich die Daumen. Sie müssen es schaffen. In diesem Augenblick bemerkte er vor sich auf der Straße ein Auto, das quer auf der Fahrbahn stand. Auf beiden Seiten der Straße war das Gelände voller Felsen und Schluchten: absolut kein Durchkommen. Sein Wagen kam fünf Meter vor dem Fahrzeug zum Stehen. Ein stämmiger Weißer mit schwarzer Sonnenbrille und dunklem Anzug kam dahinter hervor. Hernan sah mit Schrecken, wie der Mann einen Revolver hob und ihn durch die Windschutzscheibe direkt auf Hernans Gesicht richtete. Im Bruchteil einer Sekunde begriff Hernan, was vor sich ging. Er drückte aufs Gas und krachte frontal in das Allradfahrzeug. Der Mann sprang zur Seite und verlor für einen Moment sein Ziel aus dem Auge. Hernan zwang sein Auto in den Rückwärtsgang und rammte seinen Fuß aufs Gaspedal, doch im gleichen Augenblick fiel sein Blick auf einen zweiten Mann, dessen Pistole einen Meter von der Fahrertür entfernt auf ihn gerichtet war. 183
Plötzlich ertönte ein furchtbarer Knall, Hernan spürte einen unerträglichen Schmerz und fiel keuchend auf den Beifahrersitz hinüber. Er schien einfach keinen Sauerstoff mehr in seine Lungen zu bekommen. Alles fühlte sich feucht an. Er ergriff mit der linken Hand das Lenkrad und versuchte sich wieder aufzurichten, doch er kippte hilflos nach unten. Er hörte, wie die Beifahrertür aufging, und spürte, wie eine Hand an seinen feuchten Kleidern zog. Eine Stimme sagte: »Ja, er ist es. Aber sie sind nicht hier drin.« Dann sagte eine zweite Stimme: »Okay, lass uns weiterfahren. Wir holen auf. Nimm seinen Ausweis und sein Handy. Und mach ihn alle.« Hernan stöhnte vor Schmerz und Schrecken und versuchte vergeblich, sich aufzurichten. Er dachte an seinen Bruder. Er dachte an Rutherford und Catherine und sah sie ganz allein in der Dunkelheit stehen. Er versuchte, ihnen etwas zuzurufen, aber es war zu spät …
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Auf dem Hubschrauberlandeplatz der Kirche der Offenbarten Wahrheit stand, wie eine riesige Heuschrecke, eine zivile Ausführung des Apache-Kampfhelikopters der US Air Force. Seine schwirrenden Rotorblätter machten einen höllischen Lärm. Senator Kurtz und Reverend Jim White standen im Eingang der Kathedrale. Sie tauschten noch ein paar Worte aus, dann umarmten sich die beiden Männer ein letztes Mal. Sie standen kurz vor dem Ziel. Wie weit sie es gebracht hatten: Sie hatten die Kirche praktisch aus dem Nichts aufgebaut. Es war wahrlich ein Wunder. Der Senator schritt entschlossen über den Rasen, unter dem Arm einen kleinen Koffer. Als er sich dem Helikopter näherte, nahm er automatisch eine gebückte Haltung ein, hastete über den Landeplatz, eilte an zwei Bodyguards vorbei und stieg die einziehbaren Stufen hinauf in den Bauch der Maschine. Die Tür wurde hinter ihm rasch verriegelt, und mit ungeduldiger Miene brachte er sein zerzaustes Haar in Ordnung. Auf den Eingangsstufen der Kirche sah Reverend Jim White zu, wie der Helikopter in die Luft hinauftaumelte und davonjagte. Seine ganze Hoffnung, das auserwählte Volk zu erretten, ruhte auf dem Senator. Er drehte sich um und verschwand in den Schatten des Altarraums, um zu seinen Gebeten zurückzukehren.
Das Innere des Hubschraubers war weit entfernt von der üblichen Nüchternheit seines militärischen Zwillings. Die matte schwarzgrüne Farbgebung war komplett entfernt worden. Die Wände waren holzverkleidet und mit Videomonitoren bestückt, und die stählernen Standardsitze waren durch Lederbänke ersetzt worden. Ein Schreib185
tisch aus Eichenholz stand am einen Ende des zwanzig Meter langen Rumpfs, dahinter ein bequemer Ledersessel. Sobald die schalldichten Türen geschlossen waren, stellte sich unvermittelt Stille ein. Der Senator setzte sich an den Schreibtisch und holte ein schlankes schwarzes Telefon aus seiner Brusttasche. Er drückte eine Kurzwahltaste und hielt sich das Telefon ans Ohr. Während er auf die Verbindung wartete, schaute er zu, wie der Hauptsitz der Kirche der Offenbarten Wahrheit vor seinen Augen immer kleiner wurde, bis er nur noch aus ein paar weißen Punkten auf der riesigen Leinwand der Landschaft bestand. Doch seine Gedanken waren ganz woanders. Es war jetzt Freitagnachmittag. Nur noch zwei Tage, und der Sieg war ihm sicher. Die Verbindung war da. Eine weibliche Stimme sagte rasch und munter: »Guten Tag. Hier Global Operations.« Der Senator lehnte sich in seinem Sessel zurück, sein Gesicht vor Konzentration ganz verzerrt. Er zischte: »Geben Sie mir Sekretär Miller. Hier spricht Senator Kurtz.« Die Stimme der Vorzimmerdame klang auf einen Schlag nervös. »Ja, Sir. Sofort, Sir.« Ein paar Augenblicke war es still, dann war wieder die weibliche Stimme zu hören, diesmal schwang unüberhörbar Angst mit. »Es tut mir leid, Sir. Sekretär Miller ist zurzeit nicht zu sprechen.« Senator Kurtz' Gesicht verdüsterte sich merklich. »Nun hören Sie mir gut zu, junge Dame. Sie bewegen jetzt Ihren Hintern und sagen dem Sekretär noch in dieser Sekunde, dass ich Sie persönlich dafür haftbar mache, wenn er sich nicht in zehn Minuten bei mir meldet.«
Die Anspannung machte Sekretär Miller allmählich zu schaffen. Er saß in seinem Büro, schüttelte den Kopf und betrachtete sein Telefon. Die Vorzimmerdame ließ ihn einfach nicht in Ruhe. Er fluchte leise 186
vor sich hin, wählte eine Nummer und hielt das Handy an sein Ohr. Der Senator meldete sich sofort. Miller veränderte seine Haltung – er wurde immer angespannter. Bevor er den Senator persönlich konfrontierte, würde er bestimmt keine Befehle missachten. Er wollte keinen Verdacht erwecken. Zwei unschuldige Tote mehr oder weniger – falls sie wirklich unschuldig waren – waren im Lauf der Welt völlig irrelevant. Es war durchaus möglich, dass die Wissenschaftler tatsächlich zu viel über die Korporation gewusst hatten. Seine eigene Sicherheit und die Integrität der Korporation hatten absoluten Vorrang. »Hören Sie mir gut zu«, sagte Senator Kurtz. »Peru hat versagt. Wir sind auf der Suche nach zwei Personen. Erstens, James Rutherford, britischer Bürger, Ende dreißig. Zweitens, Catherine Donovan, amerikanische Bürgerin, Ende zwanzig. Haben Sie das? Setzen Sie sich sofort mit England in Verbindung. Verschaffen Sie sich die Handynummern der beiden, geben Sie sie an die Einsatzleiter in Lima und La Paz weiter und sehen Sie zu, dass die beiden unverzüglich gefasst werden. Ich will, dass sie auf der Stelle erschossen werden. Dies ist nun globale Priorität Nummer eins. Rufen Sie mich an, sobald die Sache erledigt ist.«
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Quitte lebte mit seiner Familie in einer Wohnung in einem der typischen zehnstöckigen Wohnblöcke im Zentrum von La Paz. Er parkte den Wagen in einer schmalen Straße voller Schlaglöcher. Auf beiden Straßenseiten standen Autos, die alle schon bessere Zeiten gesehen hatten. Quitte führte Catherine und Rutherford zum Eingang des Gebäudes hinüber. Als er die klapprige Doppeltür aufstieß, kam ihnen der scharfe Geruch von gebratenen Chilis entgegen. Auf der linken Seite der kleinen Eingangshalle befand sich der Lift. Auf der rechten Seite führte eine nicht sehr vertrauenswürdige Treppe in die oberen Stockwerke. Quitte redete heftig auf sie ein und wies mit seinen Fingern nach oben. Rutherford reckte seinen Kopf und folgte mit seinem Blick dem Geländer, das im Zickzack in die Höhe entschwand. Zuoberst entdeckte er ein winziges schmieriges Dachfenster. Er drehte sich zu Catherine um und lächelte. »Das bedeutet wohl, dass der Lift kaputt ist.« Sie hängten sich die Rucksäcke um und folgten dem Indio das Treppenhaus hinauf. Das Innere der Wohnung bot nach der schmuddeligen Straße und der deprimierenden Eingangshalle eine angenehme Überraschung. Hinter der Wohnungstür lag ein kleiner Korridor, der in ein stattliches Wohnzimmer führte. Der Balkon war zwar bescheiden, kaum groß genug für zwei Stühle, doch das Zimmer war hell und luftig, da die gesamte auf den Balkon hinausgehende Wand verglast war. Man konnte auf die Straße vor dem Haus hinuntersehen. Vom Wohnzimmer führte ein kleiner Gang zu drei Schlafzimmern und einem Bad. Alle Möbel, meist aus Holz, waren mit unglaublich bunten Indiostoffen drapiert. Überall lagen Kinderspielsachen herum, und auf dem großen Esstisch befanden sich noch die Schüsseln und das Besteck vom Frühstück. Die Familie war offensichtlich nicht wohlhabend, doch sie 188
machte das Beste aus ihren knappen Mitteln, und die Wohnung wirkte sehr gemütlich. Catherine lächelte Quitte an. Er grinste warmherzig zurück, bevor er seine beiden Gäste in eines der Schlafzimmer führte, wo sie ihr Gepäck abstellten. Er zeigte ihnen die kleine Küche, wo frischer Kaffee bereit stand, gab ihnen dann unter heftigem Gestikulieren zu verstehen, dass er in einer Stunde zurück sein würde, und verschwand im Treppenhaus.
Nachdem Catherine die Tür hinter Quitte geschlossen hatte, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. »James, zum ersten Mal seit langem fühle ich mich beinahe in Sicherheit!« Sie schaltete ihr Telefon ein und wählte Hernans Handynummer. »Ich rufe nur rasch Hernan an, um ihm zu sagen, dass alles gut gelaufen ist.« Rutherford nahm einen Schluck Kaffee und stützte seine Ellbogen auf den Tisch. Er war müde. Hundemüde. Es klingelte einmal, zweimal – ein drittes Mal. Unweigerlich wurde ihr etwas mulmig zu Mute. Plötzlich hörte das Klingeln auf. Jemand hatte das Gespräch angenommen. Erleichtert grüßte Catherine ihren Freund. »Holà, Hernan! Ich bin's.« Auf der anderen Seite herrschte Schweigen. »Hernan? Sind Sie das? Hallo?« Sie hörte, wie jemand am Telefon herumfummelte. Dann brach die Verbindung ab, als hätte jemand plötzlich abgeschaltet. Catherine und Rutherford sahen einander an. Beide hatten denselben Gedanken, aber keiner von ihnen wollte es zugeben.
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An einem Schreibtisch in einem nagelneuen Büro im fünfundsechzigsten Stock des neuesten Wolkenkratzers von La Paz saß ein kleiner, dicker Mann mit Kopfhörern auf den Ohren. Das Büro war hell, erstaunlich hell, dank der Vollverglasung. Der Mann war von einer Menge elektrischer Geräte, Fernsehmonitore und Computer umgeben. Die Aussicht aus der riesigen Fensterfront war atemberaubend. In der Tiefe zog sich eine braune Smogwolke über La Paz. In den schmuddeligen Straßen pulsierte das Leben. Winzige Autos verstopften die Chausseen, und noch winzigere Menschen flitzten über die Gehsteige. Der klein gewachsene, dicke Mann trug ein weißes Hemd und eine fettige, dunkelblaue Krawatte. Schweißflecken breiteten sich unter seinen Achselhöhlen aus. Es war nicht die Hitze, die ihn zum Schwitzen brachte – die Büros waren klimatisiert. Schräg hinter ihm stand der Killer des Professors in seinem schwarzen Anzug. Sein Gesicht drückte fast bodenlose Verachtung aus. Der dicke Mann riss sich hastig die Kopfhörer von den Ohren, sodass sich die Kabel in seinem Nacken verhedderten, und kritzelte fieberhaft etwas auf den Notizblock, der neben seiner Computertastatur lag. Er sprang aus seinem Sessel auf, riss den obersten Zettel ab und fuchtelte wild. »Boss! Boss! Ich hab sie!« Der Ausländer schnappte sich den Zettel und las die Adresse. Mit seiner linken Hand zog er sein Handy aus der Tasche und klappte es auf. Während er den Zettel betrachtete, hielt er sich das Telefon ans Ohr. Eine Sekunde später spuckte er selbstsicher ein paar Worte aus: »Wir haben sie. Gehen wir!«
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Catherine versuchte sich abzulenken und ging ins Wohnzimmer hinüber. Rutherford ließ sich aufs Sofa fallen, während sie einen Atlas aus dem Bücherregal zog. Sie setzte sich an den Tisch, öffnete ihn und begann ziellos darin herumzublättern. Ihre Augen blieben an einer doppelseitigen Darstellung der Welt hängen. Ihr Blick wanderte über die Seite, und sie flüsterte die Längengrade zahlreicher historischer Stätten vor sich hin. Catherine rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum. Ihre Stirn legte sich in Falten, während sie sich über die Karte beugte und sie mit vollster Aufmerksamkeit betrachtete. Ihr Puls beschleunigte sich, während sich jenes bekannte Gefühl wieder in ihr ausbreitete – das Gefühl, dass sie in das unermessliche schwarze Loch der Vergangenheit starrte und aus seinen Tiefen seltsame, unverständliche Signale empfing, die so alt waren wie die Zeit selbst. »James, James – wachen Sie auf!« Heftig rüttelte Catherine Rutherfords Schulter. Er stöhnte, noch ganz verschlafen. »Wie? Was ist denn? Ich bin todmüde.« »Ich kann es kaum glauben. Wenn es stimmt, ist es einfach zu fantastisch, um … hier … ich muss Ihnen etwas zeigen.« Catherine nahm ihren Kugelschreiber und begann systematisch, Linien zu zeichnen. Rutherford setzte sich zu ihr an den Tisch und sah ihr fasziniert zu. »Was haben Sie vor?« »Sie werden es gleich sehen. Schauen Sie. Stellen Sie sich vor, dass der Nullmeridian nicht durch London geht, sondern, wie Bezumov sagte, durch Gizeh, in Ägypten, genauer gesagt durch die große Pyramide.« 191
Von diesem Nullmeridian ausgehend, zeichnete Catherine alle anderen Längengrade ein. »Sehen Sie, Kathmandu ist genau vierundfünfzig Grad östlich von Gizeh. Die heilige Insel Yap liegt genau vierundfünfzig Grad östlich von Kathmandu. Und Angkor liegt genau zweiundsiebzig Grad östlich von Gizeh. Und vierundfünfzig Grad östlich von Angkor liegt Nan Madol. Es ist schlicht unglaublich …« Catherine sah ihm in die Augen, um sicherzugehen, dass er verstanden hatte. »Begreifen Sie denn nicht? Es sind alles ganze Zahlen, was an sich schon erstaunlich ist, aber noch merkwürdiger ist die Tatsache, dass alle durch sechs oder zwölf teilbar sind. Das ist viel zu unwahrscheinlich, als dass es ein Zufall sein könnte.« Rutherford betrachtete die Karte und begann, die Bedeutung dieser beunruhigenden neuen Entdeckung zu erfassen. »Meinen Sie, dass all diese Stätten absichtlich, nach einem globalen Gesamtplan, so platziert wurden?« Catherines Augen leuchteten. »Ja! Und die Zwischenräume sind besonders interessant: vierundfünfzig, zweiundsiebzig und so weiter – das sind alles Präzessionszahlen.« »Präzession?«, fragte Rutherford. »Was wissen Sie über Astronomie und die Bewegung unseres Planeten?« »Nicht sehr viel. Ich weiß, dass sich die Erde einmal in vierundzwanzig Stunden um ihre eigene Achse dreht. Ich weiß, dass sie ungefähr alle dreihundertfünfundsechzig Tage die Sonne umläuft, und ich weiß auch, dass die Erdachse schräg zu der Bahnebene steht und dass der Neigungswinkel schwankt – und zwar zwischen einundzwanzig und vierundzwanzig Grad –, und eine solche Schwankung dauert einundvierzigtausend Jahre.« »Sehr gut! Aber es gibt noch eine weitere Bewegung unseres Planeten. Die Erdachse selbst dreht sich in umgekehrter Richtung, also entgegen der Erdrotation.« »Wie meinen Sie das?« 192
»Stellen Sie sich die Erde als einen Kreisel vor, der sich um die Sonne bewegt. Er kreist um seine eigene Achse, er umrundet die Sonne, er verändert auch elegant seinen Neigungswinkel, und schließlich dreht sich seine Achse in umgekehrter Richtung zur Erdrotation. Diese Gegenbewegung heißt Präzession. Das Großartige an all diesen Bewegungen ist, dass sie vollkommen regelmäßig sind. Das ist eines der Vergnügen einer Astronomin. Eine ganze Drehung der Achse benötigt 25.776 Jahre.« Rutherford nickte. »Das klingt alles sehr elegant. Aber verfügten denn unsere Urahnen schon über ein Wissen von Präzession? Wenn sie so langsam verläuft, brauchte es ja mehrere Generationen, um diese Bewegung überhaupt wahrzunehmen.« »Bevor wir uns auf diese Reise machten, hätte ich mir nicht im Traum vorstellen können, dass die frühen Menschen etwas über Präzession wussten, aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Die konventionelle Geschichtsschreibung besagt, dass der griechische Astronom Hipparchos Zahlenmaterial aus Alexandria und Babylon sammelte. Er verglich die Messungen miteinander und stellte fest, dass es in der Position der Sterne eine Differenz gab. Deshalb stellte er die Theorie der Präzession auf. Aber vielleicht war er gar nicht der Erste; vielleicht war das Wissen um Präzession einfach vergessen worden.« Rutherford runzelte die Stirn. »Okay, aber das erklärt noch nicht das Warum. Warum sollten sich die alten Kulturen überhaupt mit Präzession befassen? Weshalb ist sie wichtig?« Catherine schwieg einen Augenblick. »Sehen Sie, als ich entdeckt habe, dass für den Standort dieser prähistorischen Stätten Präzessionszahlen eine wichtige Rolle zu spielen scheinen, fiel mir plötzlich auf, dass auch in den Mythen, mit denen wir uns befasst haben, eine der wichtigsten Präzessionszahlen immer wieder auftaucht.« »Wirklich? Welche?« »Nun, Sie erzählten, dass Osiris von zweiundsiebzig Verschwörern ermordet wurde und dass es in Angkor Wat zweiundsiebzig Tempel 193
gibt … Nun, zweiundsiebzig ist in gewisser Hinsicht die wichtigste Präzessionszahl. In der Präzession der Erdachse werden für eine Veränderung von einem Grad zweiundsiebzig Jahre benötigt. Vielleicht taucht sie auch anderswo auf.« Rutherford sah sie vor Aufregung mit großen Augen an. »Mein Gott, Sie haben völlig recht. Zweiundsiebzig. Das muss es sein. Bald haben wir den Code geknackt.«
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Rutherford war plötzlich wieder hellwach. Seine Gedanken rasten durch all die alten Mythen, die er kannte. »Gibt es noch andere Präzessionszahlen? Oder sind zweiundsiebzig und die anderen zwölf die einzigen?« Catherine überlegte einen Moment und sagte dann: »Nein, ganz und gar nicht – es gibt noch andere: 1.080, 2.160, 4.320 …« »Moment! Wie war die letzte?« »Die Anzahl Jahre, die für die Bewegung durch zwei Häuser des Tierkreises nötig sind: 4.320.« Rutherford sah aus, als habe er soeben eine Vision gehabt. »Das ist unglaublich, einfach unglaublich …« Catherine packte ihn am Arm. »Was?« Seine Augen leuchteten vor Aufregung. »Der älteste mystische Text des Hinduismus, die Rigveda, besteht aus 10.800 Strophen, und das ganze Werk ist genau 432.000 Silben lang. In der Gematrie ist die Reihenfolge der Zahlen ausschlaggebend – egal, wie viele Nullen noch folgen. Wir wissen ja, dass der Code universell anwendbar sein muss: Nun haben wir also den wichtigsten Text der Hindu-Religion, und in seiner Struktur sind zwei Präzessionszahlen verankert.« Rutherford drehte sich zu Catherine um und schaute ihr in die Augen. Sie hatte ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht. »Bingo! Wir sind auf Gold gestoßen. Wir sind dem Code auf der Spur. Wo kommen diese Zahlen sonst noch vor?« »Überall. Es ist, als seien all diese Mythen eigens dazu bestimmt, uns immer wieder an dieselben Zahlen zu erinnern, auch wenn die Geschichte an unterschiedlichen Orten unterschiedlich erzählt wird. 195
Das alte mystische Buch der Juden heißt Kabbalah. Um Ain Soph, oder Gott, zu erreichen, muss man zweiundsiebzig Wege beschreiten. Und Berossos, der babylonische Geschichtsschreiber, der den Fischmensch Oannes beschrieb, sagt, dass vor der Sintflut eine Reihe von Königen Babylon regierten, deren Herrschaft insgesamt 432.000 Jahre dauerte. Und das ist noch nicht alles: Berossos berichtet auch, dass von der Erschaffung der Erde bis zur Sintflut 2.160.000 Jahre vergingen: 2.160 ist doch die Anzahl Jahre, die es braucht, um ein Haus des Tierkreises zu durchqueren, nicht wahr?« »Ja, genau.« »Und dann die Gematrie! Erinnern Sie sich daran, wie wir die Zahlenwerte für die griechischen Wörter für Jesus und Maria, 888 und 192, errechneten. Wenn man sie zusammenzählt, erhält man 1.080 – wieder eine Präzessionszahl.« »Und diese Zahl entspricht auch dem Radius des Mondes in Meilen!«, sagte Catherine, die ihren Ohren nicht mehr traute. »Du meine Güte – das wird immer beängstigender.« Rutherford sah, wie sich in Catherines Gesicht das Gewicht dieser Entdeckungen niederschlug. »Ja. Nun beginnt alles Sinn zu machen«, sagte sie. »Es muss ein Zusammenhang zwischen der Präzession und der Zerstörung der alten Welt bestehen.« Rutherford nickte. »Ja, es ist, als wollten die Schöpfer dieser Urmythen, diese Lichtbringer, uns sagen, dass die Welt alle 26.000 Jahre, wenn unser Planet einen Zyklus der Präzession vollbringt, von einer gewaltigen Katastrophe heimgesucht wird.« Catherine schloss die Augen und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. »James, wir haben einen wichtigen Aspekt noch nicht berücksichtigt. Denken Sie an Bezumov. Erinnern Sie sich daran, was Hernan sagte? Die elektromagnetischen Ströme, die er nutzbar machen will, hängen mit der Erdumlaufbahn um die Sonne zusammen. Ich möchte wetten, dass die Menschen jener frühesten Hochkultur diese Energieströme beeinflussen konnten. Ich habe keine Ahnung, warum sie das 196
taten – vielleicht, um Strom zu erzeugen, vielleicht, um die Bewegung unseres Planeten zu ändern. Ich glaube, Bezumov ist überzeugt, dass er jetzt diese ›Energiemaschine‹ wieder in Betrieb nehmen kann. Aber ich bin mir sicher, dass es fatale Folgen haben kann, wenn jene uralte Technologie falsch verwendet wird.« Rutherford hörte ihr mit wachsendem Unbehagen zu. Er fluchte leise vor sich hin. »Dieser wahnsinnige Russe! Aber ehrlich gesagt: Wo sollte er denn beginnen? Die Ruinen einer alten Technologie zu entdecken ist das eine, aber herauszufinden, wie sie funktioniert, ist etwas ganz anderes.« »Hören Sie, Von Dechend muss uns nicht nur ein wahres und genaues Datum für die Urkatastrophe liefern, sondern auch eine präzise Beschreibung dessen, was damals genau geschah. Dann können wir vielleicht herausfinden, weshalb sich Professor Kent so sicher war, dass es sich um eine Warnung an uns handelt. Denn es passt noch immer nicht alles zusammen: Auf welche Weise hängt die Präzession genau mit der Katastrophe zusammen? Und warum werden wir gewarnt? Steht das, was den Menschen jener Vorzeit widerfuhr, auch uns bevor? Professor Kent schien davon überzeugt gewesen zu sein – aber weshalb?« Rutherford seufzte und sah Catherine in die Augen. Sie lächelte und legte ihre Hand auf sein Knie. »James, wir können es schaffen. Wir dürfen uns einfach nicht unterkriegen lassen. Wir müssen das, was wir begonnen haben, zu Ende führen, und zwar schnell.« Rutherford nahm Catherines Hand in seine und hielt sie fest. Sie wollte ihn umarmen, doch die Zeit schien ihr davonzurasen. Sie schämte sich für ihre schwachen Nerven. Am liebsten würde sie seiner Berührung nachgeben und alles vergessen – die ganze verzweifelte Verfolgungsjagd und die Gefahr, in der sie schwebten. Doch gerade als sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen, wurde die friedliche Geborgenheit von Quittes Wohnung durch einen Schuss, der unten auf der Straße abgefeuert wurde, jäh zerstört. 197
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Catherine schob den Riegel vor, drehte sich in Richtung Wohnzimmer um und presste sich mit dem Rücken gegen die Tür. Eiskalte Angst zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Ihre Stimme war brüchig und verzweifelt. »Sie sind hier … sie kommen rauf.« Sie hatte vom Treppenabsatz hinuntergespäht und drei oder vier Männer gesehen, die die Treppen hochpolterten und die Wohnungstüren in den unteren Stockwerken eintraten. Das Treppenhaus war von den Schreien der verängstigten Familien erfüllt. Rutherford stand auf dem Balkon, der zur Straße hinausging. Er spähte hinunter, um zu sehen, was geschehen war. Er erstarrte vor Schreck, als er Quittes Körper ausgestreckt auf dem Gehsteig vor dem Eingang liegen sah. Drei schwarz gekleidete Gestalten standen um ihn herum, und in der Mitte der engen Straße blockierten zwei große schwarze Allradfahrzeuge die Zufahrt zum Wohnblock. Während Rutherford zu begreifen versuchte, was er sah, zeigte eine der Gestalten zu ihm hinauf und rief auf Englisch: »Da ist er! Siebenter Stock. Los!« Rutherford raste in die Wohnung zurück. In blinder Panik versuchte Catherine, die Tür doppelt zu verriegeln. Rutherford kämpfte gegen seine Angst und wusste plötzlich, was sie tun mussten. »Nehmen Sie Ihren Pass und Ihr Geld! Schnell – jetzt gleich! Und folgen Sie mir … Vergessen Sie die Landkarten nicht!« Er riss seinen Rucksack auf und holte seine Reisebrieftasche heraus. Er stopfte sie in seine Hosentasche, sprang zur Tür und entriegelte sie. Catherine hielt ihren Pass und den kostbaren Umschlag mit den Karten in ihren Händen und stand dicht hinter ihm. »Wir können da nicht hinaus!« Rutherford riss die Tür auf und sah sie über die Schulter an. Seine Augen glühten vor Adrenalin. 198
»Wir haben keine andere Wahl.« Catherine packte seinen Arm und folgte ihm auf den Treppenabsatz hinaus. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. Rutherford warf einen Blick über das Geländer hinunter. Die bewaffneten Männer kämpften sich durch die Schwaden von Pulverrauch und durch die schreiende Menschenmenge, die sich im Treppenhaus angesammelt hatte. Er drehte sich zu Catherine um und zeigte mit seiner Hand nach oben. Ohne sich umzublicken, rannte sie die Treppen hoch. Rutherford folgte ihr und warf einen Blick zurück. Sie hetzten drei Treppen hinauf und erreichten den zehnten Stock. Eine Indiofrau starrte sie durch den Spalt ihrer Tür an. Am Ende des Treppenabsatzes befand sich eine weitere Tür, die offensichtlich aufs Dach führte. Sie rannten hinüber. Rutherford packte den Knauf und riss die Tür fast aus den Angeln. Sie war nicht verriegelt. Sie hasteten die wenigen Stufen hoch und aufs Dach hinaus. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. Das Flachdach war rund hundert Quadratmeter groß. Es wurde von einer etwa kniehohen Mauer umgeben und war von Fernsehantennen übersät. Catherine sah Rutherford verzweifelt an. »Und was jetzt?« Er rannte an den Rand des Flachdachs und sah, dass das Dach des benachbarten Gebäudes nur gut einen Meter entfernt war und etwa einen Meter tiefer lag. Das sollte gehen – wir müssten es schaffen … »Schnell, Catherine. Wir müssen springen.« Catherine rannte zu dem Mäuerchen und spähte hinüber. Dann hielt sie sich an Rutherfords Arm fest, lehnte sich vor und starrte in den schmalen Abgrund hinunter, der die beiden Gebäude trennte. Sie sah James voller Verzweiflung und Widerwillen an. »Ich hasse Höhen.« Rutherford stieg auf die Mauer und hielt ihr seine Hand hin. »Kommen Sie. Und jetzt richten Sie Ihren Blick geradeaus auf den Horizont.« Catherine holte tief Luft und gehorchte. Sie standen nebeneinander 199
auf der kleinen Mauer. Rutherfords linke Hand umklammerte Catherines rechte. »Okay – wenn ich ›los‹ sage, springen Sie, so weit Sie können, und wenn Sie landen, müssen Sie sich abrollen.« Catherine warf einen Blick zurück auf die Tür. Am liebsten hätte sie vor Angst laut geschrien. Rutherford lächelte sie an. Auf allen Seiten waren sie vom unendlichen, prächtig blauen Himmel umgeben. Sie biss sich auf die Zähne, nickte und schloss die Augen. Rutherford ging in die Knie, spürte Catherines Hand in seiner, schickte ein stilles Stoßgebet zum Himmel und konzentrierte sich. »Eins … zwei … drei … LOS.« Mit einem heftigen Schlag landeten sie auf dem Betondach des benachbarten Gebäudes. Rutherford prellte sich im Versuch, Catherines Sturz abzudämpfen, die Schulter. Beide rappelten sich auf, Rutherford mit schmerzverzerrtem Gesicht. In der Mitte des Daches befand sich ein Backsteinhäuschen mit einer Tür zum Treppenhaus, in das sie sich flüchten konnten. Die Tür war unverschlossen, und während sie hineinschlüpften, warf Catherine noch einen Blick auf Quittes Wohnblock zurück. Ihre Verfolger waren noch nicht aufgetaucht. Rutherford nahm zwei Stufen auf einmal, lehnte sich aber immer wieder an die Wand und hielt sich die linke Schulter. Sie hasteten hinunter, an Wohnungstüren vorbei, bis sie schließlich in der Eingangshalle waren. Catherine öffnete vorsichtig die Haustür und spähte auf die Straße hinaus. Sie war leer. Sie drehte sich zu Rutherford um und legte ihm ganz sanft die Hand auf die Schulter. »Okay – die Luft ist rein. Es bleibt uns nichts anders übrig, als so schnell zu laufen, wie wir können, und uns durch die kleinen Gassen davonzumachen. Geht es, James?« Er verzog sein Gesicht und nickte. »Nichts wie weg.«
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Fünf Minuten später traten Catherine und James verstört und verängstigt aus einem der vielen Gässchen von La Paz auf den geschäftigen Straßenmarkt von San Salvador. Ihre Kleider sahen ziemlich mitgenommen aus, und ihre Rucksäcke hatten sie auch nicht mehr. Alles, was sie noch besaßen, waren ihre Pässe und ihr Geld. Der alte Straßenmarkt erstreckte sich auf einem knappen Kilometer die Calle San Salvador entlang. Auf beiden Seiten der Straße, Stand neben Stand, wurden Früchte und Gemüse, Gewürze, Wolldecken, Küchen- und Haushaltsgeräte angeboten. Die Straße platzte vor Käufern und Touristen beinahe aus den Nähten. Catherine stand vornübergebeugt, die Hände auf den Knien, und versuchte wieder etwas Luft zu schöpfen. Sie atmete ein paar Mal tief ein und richtete sich dann wieder auf. »Woher wussten diese Typen, wo wir waren?« Sie sah zu Rutherford hinüber, in der Hoffnung, von ihm eine Antwort zu erhalten. »Und wer zum Teufel sind sie?« Rutherford schüttelte den Kopf und ließ seinen Blick über die Menschenmenge auf dem Markt gleiten. »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber eines kann ich Ihnen sagen – ich habe nicht vor, hier noch länger zu bleiben, um es herauszufinden. Wir müssen so rasch wie möglich zum Flughafen. Das ist unsere einzige Chance.«
In Quittes Wohnblock herrschte völliges Chaos. Jedes Zimmer in jeder Wohnung war von oben bis unten durchsucht worden, und Horden von jammernden, verängstigten Menschen drängten sich im Treppenhaus zusammen, während ihr Hab und Gut in Stücke gehauen und zu Boden geworfen wurde. Betten wurden umgekippt, Schranktüren eingetreten. Kein Stein blieb auf dem anderen. Wer dieser Gewaltorgie im Wege stand, wurde zur Seite geprügelt. Quittes Wohnung bekam eine Spezialbehandlung. Sie sah aus, als habe ein Wahnsinniger sich darin ausgetobt. Kein Möbelstück, kein Geschirr war mehr ganz. 201
Schließlich stürzten drei kahl geschorene Westler, in schwarzen TShirts, schwarzen Kampfhosen und Militärstiefeln und bis zu den Zähnen bewaffnet, auf die Dachterrasse hinaus. Ihnen dicht auf den Fersen war der schmalgesichtige Killer. Er hetzte die letzten Stufen hoch und drängte sich durch die Tür, die nach der unzimperlichen Behandlung durch die Schläger ramponiert in den Angeln hing. Das Sonnenlicht und die frische Luft schienen ihn wütend zu machen. Seine Beute hatte sich ins blaue Nichts des Himmels aufgelöst. Er untersuchte jeden Winkel des mit Antennen verstellten Flachdachs. Seine Männer schritten mit gezückten Waffen die Abschlussmauer entlang. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Seine Adern pochten vor Frustration. Einer seiner Männer stand inzwischen auf dem Mäuerchen, etwa dort, wo Catherine und Rutherford gesprungen waren, und winkte ihn heran. Heftig keuchend – mehr aus angestauter Wut als aus Erschöpfung – ging er zu ihm hinüber. Der Mann zeigte auf das Dach des Nachbargebäudes hinüber. Der Killer warf einen Blick darauf, holte sein Handy hervor und machte auf dem Absatz kehrt. »Sie sind zu Fuß im Barrio unterwegs. Setzt alle Agenten auf sie an. Stationiert Leute am Bahnhof, am Busbahnhof und am Flughafen. Und werft den Helikopter an.« Damit verschwand er im Laufschritt im Treppenhaus.
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Das Taxi verlangsamte auf Schritttempo und fuhr vor der Abflughalle des Flughafens entlang. Andere Taxis und Privatautos fanden eine Lücke am Gehsteig, zwängten sich hinein und spuckten ihre Fahrgäste aus. Taschen und Koffer wurden aus Kofferräumen gehievt. Rutherford beugte sich zum Fahrer vor. »Wenn Sie hier irgendwo anhalten können … Bin ich froh, dass wir Südamerika endlich verlassen. Was wohl aus dem irren Bezumov geworden ist? Meinen Sie, er ist den Gangstern in die Arme gelaufen? Arbeitet er mit ihnen zusammen? Oder handelt er auf eigene Faust?« Catherine hörte ihm nicht zu. Ihre Aufmerksamkeit war auf die vielen Leute vor dem Flughafen gerichtet. Sie musterte all die Gesichter. Vor allem Indios und Touristen. Irgendetwas stimmte nicht. »Moment mal, James.« Rutherford kramte gerade in seiner Brieftasche nach dem Fahrgeld. Der Fahrer manövrierte das Taxi in eine Lücke hinter einem Minibus. Ein wegfahrendes Auto versperrte ihr für einen Moment den Blick auf den Gehsteig. Oder bildete sie sich alles nur ein? Rutherford nahm ein paar Dollarnoten heraus. »Was ist?« Plötzlich wurde Catherine ganz weiß im Gesicht. Etwa zehn Meter von ihrem Taxi entfernt standen zwei weißhäutige Typen in schwarzen Anzügen. Sie steckten die Köpfe zusammen und redeten leise miteinander. Irgendetwas an ihnen – ihre gespannten Körper, ihre Wachsamkeit – unterschied sie von allen anderen Leuten hier vor dem Flughafen. Sie fasste den Fahrer an der Schulter. »¡Vamos! Fahren Sie! Sofort! James, ducken Sie sich.« Rutherford brauchte nicht zu fragen, was los war. Er tat wie gehei203
ßen. Auf den Taxisitz gequetscht, flüsterte er heiser: »Sie sind schon hier?« Sie nickte heftig und sagte zu dem verwirrten Fahrer: »Fahren Sie uns zur Ankunftshalle. Rasch!« Da ihnen nichts Besseres einfiel, kauerten sie sich auf ihren Sitz und hofften inständig, dass die unheimlichen Männer nicht in ihre Richtung blickten. Ihr Taxi fuhr los und mischte sich wieder in den Verkehr. Hundert Meter weiter vorne hielt der Fahrer wieder an. Vorsichtig hob Catherine den Kopf. Auf dem Gehsteig drängten sich Menschen, die gerade angekommen waren. Unaufhörlich strömten erschöpfte Reisende aus den Türen der Ankunftshalle. Sie hielt in alle Richtungen nach verdächtigen Gestalten Ausschau. »Okay – lassen Sie es uns wagen.« Sie öffnete die Tür und trat auf den Gehsteig hinaus. Rutherford drückte dem Fahrer ein Bündel Dollars in die Hand und folgte ihr. Hand in Hand schlängelten sie sich durch die Menge, kämpften sich gegen den Menschenstrom vor und in die Ankunftshalle hinein. Rutherford gab Catherine ein Zeichen und sagte atemlos: »Dort drüben. Sehen Sie? In der Abflughalle drüben, der American-AirlinesSchalter. Dort kriegen wir bestimmt einen Flug.« Er zeigte auf einen riesigen Durchgang, der die Ankunftshalle mit der ebenso geschäftigen Abflughalle verband. Catherine warf einen prüfenden Blick hinüber. Der Schalter der American Airlines sah leer aus, niemand stand dort an. Aber er war sehr exponiert, dort würden sie sofort auffallen. »Glauben Sie, dass sich die Typen auch in der Halle postiert haben?« Rutherford warf einen Blick über die Schulter. »Ich habe keine Ahnung. Wir müssen wohl davon ausgehen.« Catherine zog es den Magen zusammen. Sie sah wieder zum Ticketschalter hinüber. Die Passkontrolle befand sich gleich gegenüber, und dahinter lag die Sicherheit der eigentlichen Abflug-Lounge. Sie mussten sich nur die Tickets besorgen. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie löste sich aus Rutherfords Griff und steuerte auf einen Kiosk zu. Rutherford folgte ihr, ohne zu wis204
sen, was sie vorhatte. Der Kiosk hatte den klassischen Touristenkram im Angebot: T-Shirts, Schlüsselanhänger, Indiokleider. Catherine schnappte sich einen schwarzen Filzhut und einen bunten Poncho aus Lamawolle, die typische Ausstattung der Aymara-Indios, und drückte dem lächelnden Verkäufer das nötige Geld in die Hand. Sie stülpte sich den Poncho über und versteckte ihr Haar unter dem Hut. Ich bin viel zu groß, und meine Haut ist viel zu weiß, aber auf den ersten Blick falle ich in der Menschenmenge wohl nicht allzu sehr auf. Niemand erwartet eine Westlerin in der lokalen Tracht. Sie zog sich den Hut tief in die Stirn und sah zum Ticketschalter hinüber. »Geben Sie mir Ihren Pass«, sagte sie ruhig zu Rutherford. Rasch öffnete er seine Brieftasche und gab ihr das Dokument. »Sind Sie sicher?« Catherine nickte. »Ich gehe zum Schalter, kaufe die Tickets, und sobald ich mich umdrehe, kommen Sie zu dem Check-in-Schalter rüber. Dort treffen wir uns wieder.« Und schon war sie weg. Rutherford wartete in einer Nische gleich beim Durchgang zur Abflughalle und versuchte, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten, während er Catherine beobachtete. Catherine durchquerte die Halle so ruhig wie möglich und trat vor den Schalter der American Airlines. Draußen auf dem Gehsteig sah sie zwei schwarz gekleidete Westler auf und ab gehen und jedes ankommende Taxi mustern. Sie wurde wieder von heftiger Angst gepackt. Ja, es sind wirklich diese Typen. Die Angestellte der American Airlines grinste wegen Catherines Aufmachung und suchte mit ihrem Computer nach einem freien Flug. »Madam, das Beste, was ich für Sie habe, ist ein Flug in einer Stunde. Es ist aber kein Direktflug, Sie müssen in Miami umsteigen und haben dort mitten in der Nacht drei Stunden Aufenthalt. Vor morgen Abend habe ich leider nichts anderes.« »Das klingt absolut fantastisch – muchas gracias.« 205
Kurze Zeit später verstaute sie die Tickets und Pässe unter ihrem Poncho und machte auf dem Absatz kehrt. Rutherford durchquerte nun ebenfalls die Halle. Sie eilte zum Check-in-Schalter und gab Rutherford sein Ticket und seinen Pass. Sie schlängelten sich durch den mit Band eingeteilten Wartebereich, bis sie vor der Passkontrolle standen. Hinter dem Schalter saßen zwei Beamte. Der ältere der beiden nahm die Pässe und Flugtickets entgegen. Er hatte kühle, ausdruckslose Augen. Er überprüfte ihre Reisedokumente, und sein Reptilienblick pendelte zwischen den Fotos und ihren Gesichtern hin und her. Catherine versuchte ein wachsendes Gefühl der Hoffnung zu unterdrücken und lächelte ihn an. Er erwiderte ihren Blick ungerührt. »Gracias«, sagte sie und wollte weitergehen. Er reagierte nicht. Rutherford hatte die Kontrolle bereits hinter sich und mischte sich unter die Leute in der Abflug-Lounge. Sie hatte noch keine drei Schritte gemacht, als der Beamte sie – wie befürchtet – mit lauter Stimme zurückpfiff. »Madam!« Sie erstarrte. Was war ihm aufgefallen? Hatte ihm jemand gesagt, er solle sie aufhalten? Vielleicht sollte sie einfach weglaufen und in der Menge untertauchen. Weiter vorne sah sie Rutherford, der sich besorgt nach ihr umsah. Völlig enttäuscht drehte sie sich um und wandte sich dem Beamten zu. Mit versteinertem Blick sah sie ihn an. Erst dann wurde ihr bewusst, dass er lächelte. »Madam, Ihr Outfit gefällt uns!« Er und sein Kollege grinsten sie an und zeigten auf Poncho und Hut. Vor Erleichterung bekam Catherine weiche Knie. Sie grinste zurück, wirbelte herum und verschwand in der Menge.
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Für den Sekretär war die Zeit gekommen, New York zu verlassen. Sein Hubschrauber landete mit ohrenbetäubendem Getöse auf dem Landeplatz des JFK-Airport. Wie auf Kommando überquerte in dieser Sekunde ein eleganter neuer Mercedes die Piste und kam neben dem Helikopter zum Stehen. Eine stämmige Gestalt stieg aus dem Fahrzeug und blickte aufmerksam in alle Richtungen. Die Hubschraubertür ging mechanisch auf, Stufen wurden herabgelassen, und der Sekretär stieg hinunter und verschwand im mit Leder ausgekleideten Innern des Wagens. Der Leibwächter warf nochmals einen Blick über die leere Rollbahn und schlüpfte ebenfalls in das Fahrzeug. Sekunden später schoss der Mercedes über den dunklen Asphalt, auf das Gelände am anderen Ende des Flughafens zu, von wo aus die Privatjets starteten. Sekretär Miller versuchte sich, so gut er konnte, zu entspannen, wenn auch nur für einen Augenblick. Die bevorstehende Konferenz in Kairo bot die letzte Gelegenheit für eine Konfrontation mit dem Senator. Mit gerunzelter Stirn beugte er sich vor und sagte zu dem Mann auf dem Beifahrersitz: »Sagen Sie dem Piloten, dass wir nach Kairo fliegen. Aber wir machen noch einen Zwischenstopp in der Schweiz.« »Ja, Sir.« Er schloss die Augen und legte den Kopf zurück, während der Wagen über den Flugplatz raste. Es war Zeit, die Reise nach Ägypten anzutreten. Seine Arbeit in Nordamerika war getan, jedenfalls für den Moment. Er dachte an die junge Frau und ihren Begleiter. Jetzt, wo sie wieder in England ist, müssen wir etwas diskreter vorgehen. Er holte sein Handy hervor und wählte eine Nummer in Oxford. Nach mehrmaligem Klingeln ertönte die unverwechselbare Stimme des Dekans des All Souls College. 207
»Ich rufe wegen der jungen Dame an, Donovan. Ich gehe davon aus, dass sie demnächst wieder in Oxford auftaucht.« Der Dekan klang besorgt und äußerst angespannt. »Was soll ich denn noch tun? Ich habe getan, was ich konnte. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Mehr kann ich nicht tun.« Der Sekretär unterbrach ihn mit schneidender Stimme. »Machen Sie sich nicht lächerlich. Ich verlange nicht, dass alte Männer mir die Arbeit abnehmen. Ich will bloß, dass Sie jede ihrer Bewegungen überwachen und dafür sorgen, dass sie in den nächsten Tagen keine weiteren Spritztouren ins Ausland unternimmt. Ich will einfach, dass sie uns nicht mehr in die Quere kommt.« »Ihr wird aber nichts geschehen, nicht wahr?« »Das geht Sie nichts an. Alles, was ich von Ihnen will, ist, dafür zu sorgen, dass sie bis Dienstag in Oxford bleibt.« »Sie ist erst neunundzwanzig, wissen Sie – ich glaube nicht, dass sie …« »Dekan, Sie stellen meine Geduld allmählich auf eine harte Probe. Muss ich Sie wirklich an Ihre Pflichten erinnern? Dies ist Ihr letztes Semester, bevor Sie in den Ruhestand gehen. Sie wollen doch nicht etwa, dass Ihre Karriere kurz vor Schluss durch eine unliebsame Enthüllung befleckt wird, nicht wahr?« Am anderen Ende herrschte Schweigen. »Habe ich mich verständlich gemacht?« »Ja, Sekretär. Absolut.« Die Verbindung brach ab.
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Inzwischen war es Samstagmorgen. Nach einem zermürbenden Flug, inklusive einem Zwischenaufenthalt in Miami, trafen Catherine und Rutherford endlich auf dem Flughafen Heathrow ein. Wenigstens hatte ihnen der Flug die Gelegenheit geschenkt, ihrer Erschöpfung nachzugeben: Sechzehn Stunden lang schwebten sie in der Luft und in Sicherheit, außer Reichweite des Feindes, der sie quer durch die Anden gejagt hatte. Andererseits konnten sie in dieser Zeit auch keine weiteren Schritte unternehmen. In Heathrow wählten sie die kostspielige Variante und nahmen ein Taxi bis nach Oxford. Mit ihren Wissenschaftlergehältern lebten sie nicht auf großem Fuß, aber dies war nicht der Zeitpunkt, um sich darüber Sorgen zu machen. Schließlich hielten sie vor dem All Souls College an. Rutherford sprang hinaus und bezahlte den Fahrer. Er hielt Catherine die Tür auf und blickte die elegante Fassade des Gebäudes hinauf. »Nun, da wären wir. Alles beim Alten.« Catherine warf einen misstrauischen Blick auf das Eingangstor. »Da wäre ich mir nicht so sicher. Hoffen wir jedenfalls, dass Von Dechend hier ist. Wir haben keine Sekunde zu verlieren.« Während sie durch die kleine Tür die Portiersloge betraten, blickte Catherine voller Unbehagen um sich. Weshalb bin ich so nervös? Alles wirkt ganz vertraut, und doch scheint etwas nicht zu stimmen … Aus lauter Gewohnheit warf sie einen Blick in ihr Postfach. Dabei fiel ihr der Umschlag mit den Landkarten ein, jenen Karten, mit denen ihr gefährliches Abenteuer begonnen hatte. Zu ihrer Erleichterung lagen nur ein paar Zettel in ihrem Postfach. Sie ging zum Schreibtisch des Portiers hinüber. 209
»Fred? Sind Sie hier?« Eine Sekunde später erschien der Portier in der Tür. »Hallo, Dr. Donovan. Wie schön, Sie zu sehen. Ein prächtiger Tag, nicht wahr?« Würde ich nicht gerade sagen, dachte Catherine finster. Doch sie zwang sich, fröhlich zu wirken, und erwiderte die Begrüßung. »Hallo, Fred. Ich bin nur schnell vorbeigekommen, um kurz bei Dr. Von Dechend vorbeizuschauen. Ist er oben?« »Ja, er ist hier. Oh, bevor ich es vergesse: Der Dekan erwartet Sie schon ganz ungeduldig. Er ruft dauernd bei mir an oder streckt den Kopf herein, um zu fragen, ob Sie schon wieder hier sind.« Catherine warf Rutherford einen Blick zu. Doch bevor sie etwas sagen konnte, ertönte die trockene, schneidende Stimme des Dekans. Er stand hinter ihnen in der offenen Tür. Seine große, hagere Gestalt füllte den Rahmen. »Ja. Und da bin ich schon wieder.« Kein Lächeln lag auf seinem Gesicht, und er musterte Catherine und Rutherford. »Sie sind also zurück. Wie war Ihre Reise?« »Welche Reise, Dekan?« Er errötete leicht. »Oh, ich dachte, Sie müssten wohl verreist sein – auch bei Ihnen zu Hause versuchte ich vergeblich, Sie zu erreichen. Ich wollte einfach sichergehen, dass Sie auch informiert sind, dass ich für nächsten Dienstagmorgen eine Sitzung aller Fellows einberufen werde. Es ist unerlässlich, dass alle Fellows teilnehmen. Ich dachte, ich teile es Ihnen persönlich mit, damit es keine Missverständnisse gibt.« Catherine sah ihn mit einem ruhigen Blick an. »Prima. Haben Sie vielen Dank. Dann sehen wir uns am Dienstag.« Er zögerte einen Augenblick, doch dann drehte er sich etwas verunsichert um und trat durch das Tor der Portiersloge auf die Straße hinaus. »James, gehen wir zu Dr. Von Dechend.« Sie trat auf den Innenhof hinaus, und Rutherford folgte ihr. »Was sollte denn das?« 210
Catherine sah ihn amüsiert an. »Keine Ahnung. Ziemlich merkwürdig, nicht wahr? Aber ich habe dem Dekan gegenüber, schon seitdem er mich zu sich bestellt und mich über den Tod des Professors informiert hat, ein ungutes Gefühl.«
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Dr. Von Dechend war überglücklich, sie zu sehen. »Catherine! Welche Freude! Und James Rutherford ebenfalls. Ist das nicht zu viel des Guten? Die jeunesse dorée von Oxford. Die goldene Jugend. Erneut bei mir zu Besuch. Was für eine Ehre!« Catherine sah zu Rutherford hinüber und musste lächeln. Der alte Professor führte sie in seinen gemütlichen, mit Büchern gefüllten Schlupfwinkel. »Wir freuen uns auch sehr, Sie wiederzusehen, Dr. Von Dechend. Ich hoffe, es geht Ihnen gut.« »Aber ja, meine Liebe«, erwiderte er und bat sie, Platz zu nehmen. Catherine räusperte sich. »Ich fürchte, wir brauchen noch einmal Ihren Rat.« »Schießen Sie los, junge Dame, schießen Sie los. Ich stehe Ihnen voll und ganz zur Verfügung.« Catherine wartete, bis es sich Von Dechend in seinem Sessel bequem gemacht hatte, dann holte sie tief Luft und begann. »Nun, es mag Ihnen vielleicht etwas mysteriös vorkommen, aber wir möchten Ihnen eine Frage stellen. Mir fehlt leider die Zeit, Ihnen den ganzen Hintergrund zu erläutern, aber wir sind sehr auf Ihre Hilfe angewiesen …« Sie hielt inne, um zu sehen, ob Von Dechend von ihrer seltsamen Einleitung nicht abgeschreckt war. Doch er nickte langsam und bat sie fortzufahren. »Wir versuchen eine große Katastrophe zu lokalisieren, die in tiefster Vergangenheit stattgefunden haben könnte und die möglicherweise einen beträchtlichen Teil der Menschheit vernichtet hat. Wir suchen nach Beweisen aus der Geologie, aus der Paläontologie, aus fossilen Funden, woher auch immer, die auf eine gewaltige Katastrophe schlie212
ßen lassen, die wiederum all jene Mythen einer untergegangenen Welt erklären würde, die man in allen Kulturen unserer Erde antrifft.« Für eine Weile herrschte Stille. Von Dechend starrte zur Decke hinauf, als bereite er eine Rede vor. Catherine schaute Rutherford an. Sie warteten schweigend und hielten den Atem an, um die Gedanken des alten Professors nicht zu stören. Nach mehr als einer Minute begann Von Dechend zu sprechen. Seine Stimme klang ungemein ernst, seine übliche Jovialität war einem Ton absoluter wissenschaftlicher Sorgfalt gewichen. Es schien ihnen fast so, als sei ihm bei diesem Thema nicht ganz wohl. »Bevor wir ins Detail gehen, lassen Sie mich etwas klarstellen. Ich habe nicht die leiseste Absicht, irgendwelche Theorien zu unterstützen, die behaupten wollen, all die alten Legenden und Mythen von einer großen Katastrophe seien mehr als Legenden und Mythen. Es gibt schon genug Spinner auf dieser Welt, die Ihnen solchen Humbug liefern, Spinner und religiöse Fanatiker. Ich bin keins von beiden und habe nicht das geringste Interesse an solch aufgeblasenen Hirngespinsten.« Catherine und Rutherford sahen sich kurz an. Da sie einen Moment zögerte, übernahm er das Ruder. »Natürlich nicht, Dr. Von Dechend. Deswegen kommen wir auch nicht zu Ihnen. Wir hatten uns einfach eine intellektuelle Auseinandersetzung erhofft, ganz unter uns, unter sechs Augen sozusagen. Wir haben da so eine Idee und möchten bloß darüber Vermutungen anstellen, wann eine solche Katastrophe hätte stattfinden können. Es ist uns natürlich bewusst, dass dies alles nur intellektuelle Spekulation ist.« Nach einer weiteren endlos scheinenden Pause erwiderte Von Dechend: »Hmm. Ich verstehe. Nun, dann haben wir das ja geklärt, und ich kann Ihnen sagen, welche Gedanken ich mir zu diesem Thema gemacht habe.« Catherine und Rutherford hielten instinktiv den Atem an. Von Dechend paffte an seiner Pfeife und begann, etwas langsam erst, doch dann mit zunehmendem Feuer: »Mein spontanes Gefühl sagte mir immer, dass in der Vergangenheit etwas Furchtbares passiert sein muss, und zwar gegen Ende der letzten Eiszeit.« 213
Catherine und Rutherford konnten vor Spannung kaum atmen. Nach einer erneuten Kunstpause fuhr Von Dechend langsam und bedächtig fort: »Seit dem Anbeginn der Geschichte gedeiht die Menschheit außerordentlich gut. Die Weltbevölkerung ist fast ununterbrochen gewachsen. Zwar gab es die eine oder andere Seuche, den Schwarzen Tod und andere Schrecken, und hin und wieder ein paar Dschingis Khans, ja sogar Weltkriege, denen unzählige Menschen zum Opfer fielen, aber nichts hat die Gattung Mensch je wirklich bedroht. Nun, ich bin jedoch davon überzeugt, dass dies nicht immer der Fall war. Ganz und gar nicht. Vor dem Anbruch der überlieferten Geschichte ist das menschliche Leben oft nur ganz knapp der völligen Vernichtung entronnen. Ja, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass die direkten Vorfahren von jedem Einzelnen von uns immer wieder nur um Haaresbreite davongekommen sind. Mögen manche unserer heutigen Zeitgenossen auch etwas schwächlich und träge wirken, können Sie sicher sein, dass auch sie von unglaublich entschlossenen, tüchtigen und mutigen Männern und Frauen abstammen, die es irgendwie schafften, all die Katastrophen zu meistern, die die Natur ihnen entgegenschleuderte. Unsere Erfahrungen der letzten Jahrtausende haben uns dazu verleitet, als Gattung viel zu selbstzufrieden zu werden. Wir halten es für völlig normal, dass die Erde ein sicherer und größtenteils gastlicher Planet ist. Das ist ein fataler Fehler. Viel korrekter müsste man sagen, dass wir die letzten Jahrtausende im Auge des Hurrikans verbracht haben: Wir befinden uns in der heiteren Stille des Herzens eines endlosen Wirbelsturms von Gewalt und Zerstörung.« Catherine und Rutherford hörten ihm fasziniert zu. Von Dechend, der alte Rhetoriker, schien nun zum Gnadenstoß anzusetzen. »Aber gehen wir nochmals zur Eiszeit zurück. Nun, wie über fast alles, das länger als etwa fünfhundert Jahre her ist, wissen wir auch kaum etwas über die Eiszeit. Alles, was wir wissen, ist, dass sie unvorstellbar hart und gnadenlos zerstörerisch war und die Menschheit wahrscheinlich enormes Glück hatte, sie zu überleben. Man ist sich heute mehr oder weniger einig, dass die letzte Eiszeit 214
etwa um 110.000 vor Christus begann. Damals breitete sich das Eis langsam, aber sicher über die ganze Erde aus. Zwischen etwa 55.000 und 12.000 vor Christus erreichte sie ihren Höhepunkt. Die ganze Welt war davon betroffen. Aus dem All muss unser Planet wie ein Schneeball ausgesehen haben. Die Eisflächen wuchsen, schmolzen plötzlich ein bisschen und wuchsen wieder, jedes Mal ein Stückchen weiter als zuvor. Gewaltige ökologische Instabilität war die Folge – es kam zu Überschwemmungen, Erdbeben, Stürmen und so weiter. Aber ich will Ihre Aufmerksamkeit auf die letzte große Schmelze lenken. Auf dem Höhepunkt der letzten Eiszeit, um 12.000 vor Christus, war praktisch die gesamte Erde von Eis bedeckt. Doch während der nächsten fünftausend Jahre begann dieses Eis, das 100.000 Jahre lang immer dicker geworden war, mit unglaublicher Schnelligkeit zu schmelzen. Manche Wissenschaftler glauben sogar, dass diese enorme Eisschmelze in noch viel kürzerer Zeit stattfand – möglicherweise innerhalb von wenigen hundert Jahren, vielleicht sogar nicht mehr als zehn Jahren. Die fossilen Funde zeigen klar und deutlich, dass während des Verschwindens der Eisdecke gewaltige Naturkräfte auf die Bewohner der Erde einwirkten. Man würde meinen, dass sich für die Mehrzahl der Lebewesen die Bedingungen verbesserten, und längerfristig war dem auch so, doch die große Schmelze löste Naturkatastrophen aus, die für viele Gattungen verheerend waren. Auf der ganzen Welt erzählen die fossilen Funde dieselbe Geschichte von einem Massensterben unvorstellbaren Ausmaßes. In Südamerika existierten einst Pferde und andere Megafauna – doch das Pferd betrat den Kontinent erst wieder mit den Spaniern, und die übrige Megafauna ist für immer ausgelöscht.« Von Dechend sah seine Gäste mit einem durchdringenden Blick an. »Können Sie sich vorstellen, wie es gewesen sein muss, in jener Zeit zu leben? Einfach schrecklich. Wenn Sie und Ihr Volk oder Ihre Familie sich die falsche Ecke der Erde ausgesucht hatten, waren Sie verloren. Die Eisschmelze muss gewaltige geologische Störungen verursacht haben: Erdbeben, Vulkanausbrüche, Tsunamis. Es ist ein Wunder, dass die Menschheit überhaupt überlebt hat. 215
Doch die am schlimmsten betroffenen Gegenden, wo man als Mensch nicht die geringste Überlebenschance hatte, waren die Regionen am Nordpol. Unzählige Tierleichen und menschliche Überreste sind unter dem Eis entdeckt worden. Noch heute werden praktisch intakte Mammuts ausgegraben: Ihre Stoßzähne verarbeitet man zu Elfenbeinschnitzereien, und ihr Fleisch verfüttert man den Schlittenhunden.« Catherine stutzte. »Aber wenn sie sogar mitsamt dem Fleisch erhalten geblieben sind, müsste das nicht bedeuten, dass sie unglaublich schnell und unmittelbar nach ihrem Tod eingefroren sind? Anderenfalls wären sie doch verwest.« »Ja, ein ausgezeichneter Gedanke. Es ist äußerst merkwürdig. Während die ausgestorbenen Tierarten von Südamerika und Australien längst verwest im Boden liegen, scheinen die am Polarkreis gefundenen Tiere – in Alaska und Sibirien – blitzartig eingefroren zu sein, in fast schon industriellem Ausmaß. Und noch seltsamer ist die Tatsache, dass es sich nicht nur um Mammuts, Säbelzahntiger und weitere arktische Tiere handelt, sondern auch um Leoparden, Elefanten, Pferde, Rinder, Löwen und viele andere Tiere aus gemäßigten Klimazonen.« Rutherford war sprachlos. »Leoparden und Elefanten – in der Arktis?« »Es scheint so. Große, gefrorene Herden der verschiedensten Tiere, haufenweise und völlig durchmischt zusammen begraben, und dazwischen zerbrochene Äste von Bäumen. Gewaltige Kräfte müssen am Werk gewesen sein, um eine solche Verwüstung anzurichten. Sogar so weit oben im Norden wie auf den arktischen Inseln Svalbard finden Wissenschaftler regelmäßig Fossilien von Tieren aus gemäßigtem Klima, ja sogar Überreste von Flora und Fauna, die nur in tropischem Klima überleben können.« Rutherford konnte es noch immer nicht glauben. »Aber das ist ja unvorstellbar.« »Ja. Es ist eines der großen Rätsel vom Ende der letzten Eiszeit. Wie kam es, dass all diese Tiere aus warmen Zonen unter dem Eis des heu216
tigen Polarkreises begraben sind? Was wir wissen, ist, dass, während die Eiszeit auf der ganzen Welt ihrem Ende entgegeneilte, diese Regionen das Umgekehrte erlebten: Sie wurden plötzlich kälter und ungastlich. Verheerende Verwüstungen rissen ganze Herden von Tieren auseinander und ließen sie blitzartig einfrieren.« »Aber das passt doch alles nicht richtig zusammen«, sagte James. »Das Ende einer Eiszeit sollte doch warmes Wetter bringen. Und überhaupt, was hatten denn all diese Tiere aus gemäßigten Klimazonen in diesen eisigen Breiten zu suchen?« »Ja, ich gestehe, das alles ist und bleibt ein großes Rätsel. Mit Sicherheit weiß man jedoch, dass spätestens um 7.500 vor Christus die große Schmelze zu Ende war. Das Eis hatte sich zurückgezogen. Die sechsoder siebentausend Jahre davor müssen für alle Lebewesen wohl die schrecklichste aller Zeiten gewesen sein. Vulkane, Erdbeben, gewaltige Stürme, Tsunamis etcetera – und dann natürlich die sintflutartigen Überschwemmungen. Milliarden Tonnen schmelzenden Eises übten einen so enormen Druck auf die Erdkruste aus, dass es zu Verschiebungen kam und dadurch zu weiteren Erdbeben. Die Meeresspiegel stiegen an. Riesige Erdmassen gingen unter. Die Überschwemmungen und Tsunamis waren so gewaltig, dass sogar der Himalaya zeitweise unter Wasser gewesen sein könnte.« »Wie bitte? Das kann doch nicht möglich sein!«, rief Rutherford. »Nun, es ist möglich. In den Gebirgen Nordamerikas hat man Walskelette gefunden. In ganz Europa dienten zahlreiche Berggipfel wahrscheinlich als letzte Zuflucht für Tausende von zurückweichenden Tieren. Auf der ganzen Welt gibt es zahlreiche solcher auf Bergen liegender Massengräber. Sie alle legen Zeugnis ab von jenen Tieren und Menschen, die panikartig vor dem Wasser zu fliehen versuchten. Ganz Westeuropa stand mehrmals völlig unter Wasser – wir wissen nicht, wie lange, aber es ging zweifellos zwei- oder dreimal unter … Alles in allem war die Zeit zwischen 15.000 und 7.000 vor Christus, und besonders zwischen 11.000 und 8.000 vor Christus, eine Epoche furchtbarer und unaufhörlicher Überschwemmungen, plötzlicher Eisperioden und umfassender Zerstörung.« 217
Catherine schüttelte erstaunt den Kopf. Sie hatte gebannt zugehört. »Es muss absolut schrecklich gewesen sein.« »Ja. Umso mehr, als jene einfachen Menschen überhaupt nicht begreifen konnten, weshalb ihnen all das zustieß. Es scheint nur natürlich, dass sie es für den Zorn der Götter hielten, die ihnen eine schlimme Strafe schickten.« Er seufzte. »War es das, wonach Sie suchten?« Rutherford und Catherine tauschten Blicke aus. »Ja«, sagte Rutherford. »Haben Sie vielen Dank, dass Sie sich so viel Zeit für uns genommen haben. Ich hatte keine Ahnung, dass die Menschheit so furchtbare Erfahrungen durchgemacht hat, und schon gar nicht in vergleichsweise junger Vergangenheit.« »Ja, vielen Dank, Dr. Von Dechend«, stimmte Catherine mit ein. »Es gibt nicht viele Menschen, die über ein so fundiertes Wissen wie Sie verfügen, und gerade Ihre Kenntnisse über jene Zeit sind uns sehr nützlich. Aber nun sollten wir gehen. Wir haben Sie viel zu lange in Anspruch genommen.« »Keineswegs, Catherine, es ist mir immer ein großes Vergnügen. Es freut mich, dass ich Ihnen helfen konnte. Es ist wichtig, die Menschen daran zu erinnern, dass wir in einer ungewöhnlich ruhigen Zeit leben. Sie wird nicht ewig dauern!« Catherine und Rutherford erhoben sich. Der alte Professor sah Catherine mit schlauer Miene an. »Und vielleicht verraten Sie mir ja eines Tages, was es mit Ihren Fragen auf sich hat.« Catherine lächelte schuldbewusst. »Das werde ich, Dr. Von Dechend. Eines Tages werde ich es Ihnen sagen, das verspreche ich.«
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Einmal mehr verließen Catherine und Rutherford Dr. Von Dechend voller Hoffnung. Während sie die Treppen hinuntergingen, diskutierten sie aufgeregt. »James! Das war mehr, als ich mir erhofft hatte! Das erklärt alles. Und wir wissen nun, dass die große Flut tatsächlich stattfand. Präzession muss mit dem Ende der Eiszeit und der großen Schmelze zusammenhängen. Es leuchtet völlig ein. Wenn sich über einen Zeitraum von 26.000 Jahren hinweg die Umlaufbahn der Erde um die Sonne ändert, verändert sich auch die Intensität des Sonnenlichts, denen der Nordund der Südpol ausgesetzt sind. Zu jenem Zeitpunkt im Zyklus, wenn sie der Sonne am nächsten sind, beginnen die Pole zu schmelzen … und das Ende der Eiszeit ist die Antwort!« Catherines Gedanken überstürzten sich. Alles schien nun plötzlich Sinn zu machen. Rutherford war ebenso aufgeregt. »Ich weiß. Alles fügt sich perfekt zusammen … die Sintflut-Mythen sind wahre Berichte von den Katastrophen, die uns beinahe ausgelöscht hätten.« Catherine fiel ihm ins Wort: »Ja, und das Ende der Eiszeit brachte in gewissen Regionen auch jene plötzlichen, paradoxen Frosteinbrüche mit sich, von denen die Wikinger und die Zoroastrier berichten …« Plötzlich schlug sie sich mit der rechten Hand an die Stirn. »James – ich hab's! Ich kann es nicht fassen, dass wir so dämlich waren. Wir wussten die Antwort die ganze Zeit …« Catherine riss die Tür zu Professor Kents Arbeitszimmer auf und schritt zum Schreibtisch hinüber. Darauf stand ein großer Globus, und mit einem Knopfdruck brachte sie ihn zum Leuchten. Sie drehte sich zu James um und sagte: »Hapgoods Theorie von der Verschiebung der Erdkruste!« 219
Rutherford sah sie einen Moment verständnislos an. »Erinnern Sie sich nicht? Dr. Von Dechend erzählte uns davon, als wir ihm die Landkarten zeigten. Er sagte, dass Hapgood die Piri-ReisKarte benutzt hatte, um seine Theorie zu beweisen, der zufolge die Antarktis sich einst viel weiter nördlich befand, durch die Verschiebung der Erdkruste jedoch ans untere Ende des Planeten rutschte.« Sie drehte langsam den Globus, um ihren Gedanken zu veranschaulichen. »Denken Sie daran, die ganze Kruste verschob sich, nicht nur zwei tektonische Platten, sondern die gesamte Lithosphäre. Einst gemäßigte Regionen müssen dabei plötzlich über den Polarkreis hinaufgewandert sein. Kein Wunder, dass unter dem sibirischen Eis all die Löwen und Kamele und anderen Tiere aus warmen Zonen gefunden wurden.« Rutherford begriff auf einmal. Seine Augen leuchteten. »Und das bedeutet auch, dass vor dieser Krustenverschiebung die Landmasse der Antarktis von Menschen bewohnt gewesen sein könnte. Doch als sich die Antarktis nach Süden bewegte, wurden sie von Frost und nicht zuletzt von Tsunamis überrascht und alles Leben vernichtet.« »Genau! Und das heißt auch, dass die Lichtbringer aus der Antarktis gestammt haben könnten. Das erklärt die Piri-Reis-Karte. Das erklärt alles. Dass die Zoroastrier aus ihrer Heimat in den russischen Ebenen fliehen mussten, als sich diese plötzlich nach Norden verschoben und gefroren. Und dass die Hochkultur der Lichtbringer plötzlich zerstört wurde, als sich ihr Kontinent nach Süden bewegte.« Rutherfords Stirn lag vor Konzentration in tiefen Falten. »Und dies beantwortet sogar eine der wichtigsten Fragen bei allem, was wir bisher entdeckt haben: warum es von der ursprünglichen Hochkultur der Lichtbringer keine Zeugnisse, keine Überlieferungen gibt.« »Genau, denn alle Beweise sind unter drei Kilometer dickem antarktischem Eis begraben, deshalb hat sie nie jemand finden können. Die Überlebenden zerstreuten sich in alle Himmelsrichtungen. Sie erreichten die Küsten von Südamerika und vom Nahen Osten und versuch220
ten, ihr Vermächtnis wiederaufzubauen: Viracocha und Osiris und Oannes waren alles Flüchtlinge einer alten antarktischen Hochkultur, die vernichtet wurde, als sich die Erdkruste verschob.« »Ich bin mir sicher, dass es so gewesen sein muss.« »Und nicht zuletzt erklärt es auch die rasante Geschwindigkeit der großen Eisschmelze. Je mehr Eis schmilzt, desto mehr verlagert sich das Gewicht der Erdoberfläche. Deshalb verschob sich die Erdkruste; und da sich die Pole plötzlich in warmen Breitengraden befanden, wurde noch viel mehr Eis zum Schmelzen gebracht. Kein Wunder, dass die Meeresspiegel so sprunghaft anstiegen.« Rutherford spann seine Gedanken weiter. »Ja – aber ein Puzzleteil fehlt uns noch. Warum war Professor Kent der Überzeugung, dass uns ein ähnliches Schicksal bevorsteht? Im Präzessionszyklus sind wir weit von einem solchen Zeitpunkt entfernt. Auch dem Ende der Eiszeit sind wir niemals so nahe wie unsere Vorfahren es waren. Weshalb glaubte er also, dass uns die Gefahr droht, eine ähnliche Katastrophe erleben zu müssen?« »Ich glaube, wir müssen nach Gizeh fahren. Wir wissen nun, dass Gizeh das Zentrum der alten Welt war. Bezumov fährt zweifellos nach Gizeh. Und wenn er dort ist, wird er auf ähnliche Schlüsse kommen. Wir müssen ihm und seinen wahnsinnigen Plänen zuvorkommen, und dann werden wir endlich herausfinden, warum der Professor überzeugt war, dass wir in Gefahr sind.« Rutherford lächelte und schüttelte den Kopf. »Okay, Catherine. Unsere letzte Chance. Und wenn wir keinen Erfolg haben, sind wir vermutlich ohnehin alle dem Untergang geweiht. Warum machen wir also nicht noch einen letzten Ausflug vor dem Ende der Zivilisation?«
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VIERTER TEIL
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Verdutzt starrte die Empfangsdame im Luxushotel Nile Hilton in Kairo den großen, elegant gekleideten Europäer an, der auf der anderen Seite der Rezeption stand und nichts als einen Aktenkoffer bei sich hatte. Er trug einen scheinbar makellosen weißen Anzug, braune Oxford-Brogues, ein weißes Hemd mit einer raffiniert gemusterten blauen Krawatte, und er schien kein einziges Gepäckstück bei sich zu haben. Er war soeben ins Hotel geschlendert und hatte das beste freie Zimmer verlangt. »Verzeihen Sie, Sir, wie buchstabiert man das?« »C-H-E-C-H-O-V, Andrej Chechov.« Ivan Bezumov schob einen nagelneuen russischen Pass über die Marmoroberfläche der Rezeptionstheke und in die Hand der Empfangsdame. »Und bitte machen Sie schnell, ich bin in Eile.« Sonnenlicht strömte durch die riesigen Fenster, durch die man auf den majestätischen Fluss hinabblickte. In krassem Gegensatz zum Lärm und Schweiß vor dem Hotel huschten aufmerksame Kellner still durch die große, luftige Marmorhalle und brachten den gut betuchten Touristen in ihren quer durch den weitläufigen Raum verstreuten Fauteuils ihre Drinks. Die Empfangsdame räusperte sich nervös. »Natürlich, verzeihen Sie. Wie viele Nächte möchten Sie bleiben, Mr. Chechov?« »Tja, sagen wir drei, fürs Erste. Das sollte genügen.« »Möchten Sie ein Zimmer mit Blick auf den Nil?« »Ja. Geht das alles nicht ein bisschen schneller, bitte?« »Natürlich. Hier ist Ihr Schlüssel.« »Und ich brauche einen Wagen – ein Allradfahrzeug – mit Fahrer, und der Fahrer muss fließend Russisch sprechen. Und er hat mir rund 224
um die Uhr zur Verfügung zu stehen. Und bevor Sie fragen: Geld ist kein Thema. Hier ist meine Kreditkarte. Ich gehe nun für ein paar Stunden auf mein Zimmer. Bitte sehen Sie zu, dass der Fahrer in der Lobby wartet, wenn ich wieder herunterkomme.« Bezumov drehte sich um und schritt über den Marmorboden zu den Fahrstühlen.
Hoch über dem Mittelmeer rasten Catherine und Rutherford einmal mehr dem Unbekannten entgegen. Catherine fühlte sich in dem vollen Flugzeug so kurz nach dem letzten Flug ziemlich klaustrophobisch. Sie schloss die Augen. Um ihrem Körper genügend Flüssigkeit zuzuführen, was beim vielen Fliegen wichtig war, begann sie, eine Flasche Mineralwasser zu leeren. Nach einem halben Dutzend großer Schlucke sah sie zu Rutherford hinüber. Sein Gesicht drückte vollste Konzentration aus. Er las im Eiltempo ein Buch über Hieroglyphen. Catherine lehnte ihren Kopf zurück, stieß einen Seufzer aus und rieb ihre müden Augen. »Ach … ich bin völlig erschöpft. Aber wir dürfen uns nicht unterkriegen lassen. Ich will diese Sache auf jeden Fall zu Ende bringen.« Rutherford, dessen Augen gerötet waren, erwiderte entschlossen: »Ich auch. Ich bin ebenfalls hundemüde. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass unsere Spur in Ägypten endet.« Catherine pflichtete ihm bei. Wenn ich nur mehr über das alte Ägypten wüsste – wenn ich nur mehr über so ziemlich alles wüsste. Ich fühle mich wie auf einer geistigen Achterbahn. Es schien alles davon abzuhängen, ob sie es gemeinsam – mit ihrem Wissen und ihrer Intelligenz – schafften herauszufinden, warum der Professor überzeugt gewesen war, dass die Welt kurz vor einer Katastrophe stand. Und auch wenn wir herausfinden, warum uns dasselbe Schicksal bevorsteht wie damals unseren Vorfahren, müssen wir erst noch einen 225
Weg finden, die Katastrophe abzuwenden und Bezumov zu stoppen … Wenn nur der Professor noch lebte und ich mit ihm sprechen könnte. Sie öffnete ihre Augen und dehnte behutsam ihren Nacken hin und her. »James?« Rutherford, der völlig in sein Buch versunken war, murmelte, ohne aufzublicken: »Hmm?« »Ich hoffe, Sie wissen einiges mehr über unser Reiseziel als ich.« Rutherford schloss langsam das Buch und steckte es in das Fach auf der Rückseite des Vordersitzes. Er schaute sie an und lächelte gequält. »Nun, ich kann nicht behaupten, dass ich der absolute Experte bin. Aber ich fahre nicht zum ersten Mal nach Ägypten. Hier kenne ich mich definitiv besser aus als in Südamerika, jedenfalls sind mir die gängigen Theorien über das alte Ägypten geläufig. Die Frage ist nach allem, was wir inzwischen wissen, bloß, ob die gängigen Theorien tatsächlich das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt sind.« Catherine seufzte. »Das frage ich mich auch. Und es würde mich nicht wundern, wenn wir auch hier auf ein paar beunruhigende Absonderlichkeiten stießen. Und es würde mich noch weniger wundern, wenn wiederum die Präzessionszahlen hinter allem steckten. Aber ich bin eine blutige Anfängerin. Ich weiß nicht mehr als das, was Sie mir über Osiris erzählt haben und was ich noch aus der Schule behalten habe. Ich habe mich zu viele Jahre nur mit den Sternen befasst.« »Man kann nicht alles wissen. Und ohne Ihr Wissen über die Sterne hätten wir es nie bis hierher geschafft. Und überhaupt, vielleicht würde sich alles, was Sie sich all die Jahre über angeeignet hatten, ohnehin als falsch herausstellen.« »Tja, irgendwo müssen wir anfangen. Vielleicht könnten Sie mir, falls Sie nicht zu müde sind, das Wichtigste über Ägypten erzählen?« Rutherford richtete sich auf und schüttelte die Schultern, um wacher zu werden. »Bevor wir zur Geschichte übergehen«, begann er, »möchte ich Sie auf ein paar interessante geografische Fakten aufmerksam machen. Erstens liegt Gizeh, wo die Pyramiden stehen und wo sich der große 226
Nil auf seinem Weg ins Mittelmeer aufteilt, exakt auf einer Breite von dreißig Grad. Dies bedeutet, dass sich die Pyramiden genau auf einem Drittel der Entfernung zwischen Äquator und Nordpol befinden. Früher kam mir das nicht besonders wichtig vor, doch aufgrund von Bezumovs Theorie und vor allem aufgrund Ihrer Entdeckung, wie die Präzessionszahlen mit all diesen Monumenten auf der ganzen Welt zusammenhängen, scheint mir diese Tatsache nun plötzlich etwas bedeutungsvoller.« »Das ist in der Tat interessant – ich glaube jedenfalls nicht, dass es ein bloßer Zufall ist. Und was noch?« »Tja, nun, auch wieder etwas, das mir bisher nie besonders aufgefallen war, aber die Pyramiden stehen im Mittelpunkt der größten Trockenzone der Erde.« Catherine runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das? Der Mittelpunkt der Trockenzone befindet sich doch bestimmt irgendwo in Russland oder in Nordamerika.« Rutherford schüttelte den Kopf. »Nein, aus meiner Sicht nicht. Wenn man entlang dem Längengrad, der von Pol zu Pol und durch die größte Pyramide führt, eine Linie zieht, durchquert diese Linie mehr trockenes Gebiet als irgendeine andere Nord-Süd-Linie auf dem Globus. Und wenn man eine Ost-WestLinie zieht, die durch die Pyramiden verläuft, durchquert auch diese mehr trockenes Gebiet als jeder andere Breitengrad. Hier, sehen Sie sich das an.« Im Bordmagazin fand er eine Weltkarte. Er holte einen Kugelschreiber hervor und zeichnete eine vertikale Linie ein, die durch Gizeh verlief. Dann zeichnete er eine zweite, horizontale Linie ein. Catherine starrte auf die Zeichnung. Plötzlich änderte sich Catherines Miene, ein Geistesblitz ließ ihre Augen leuchten. »Da fällt einem doch gleich die Sintflut ein, nicht wahr?« Rutherford blickte sie überrascht an. »Stimmt, jetzt, wo Sie es sagen. Um die Pyramiden zu erreichen, müssten die Ozeane mehr Land überwinden als an jedem anderen Ort der Welt.« 227
»Ja, und gleichzeitig muss es eine der ersten Regionen der Erde gewesen sein, die nach dem Abfließen des Wassers wieder trocken war.« Rutherford lachte. »Natürlich – genau! Daran habe ich gar nicht gedacht.« Er überlegte einen Moment. »Man geht davon aus, dass das alte Ägypten, wie wir es kennen, um 3.000 vor Christus beginnt, mit einem Pharao namens Menes. Man nimmt an, dass die Pyramiden und andere wichtige Bauwerke in den ersten fünfhundert Jahren, also bis 2.500 vor Christus, errichtet wurden. Während dieser Zeit sollen auch die uns heute bekannten religiösen Texte auf die Wände der Bauwerke gemalt oder gemeißelt worden sein.« Catherine durchdachte, was James ihr gerade erzählte. »Und was ist mit der Zeit davor, vor Menes?« »Nun, vermutlich gab es damals eine Unzahl kleiner Königreiche und Fürstentümer. Diese Kleinstaaten brachten nichts Bedeutendes zu Stande, es waren vorwiegend primitive Völker, steinzeitliche Bauern an den Ufern des Nils. All die großartigen Errungenschaften der alten Ägypter werden den pharaonischen Zeiten zugeschrieben, die mit Menes begannen.« »Das kommt mir alles sehr bekannt vor. Es erinnert mich zu sehr an die Art und Weise, wie die Viracochas aus der Geschichte gelöscht wurden.« Rutherford zog ein weiteres Buch aus seiner Tasche. »Das finde ich auch. Hier, lesen Sie das. Inzwischen versuche ich, ein Nickerchen zu machen.« Er zog die Augenbinde über und lehnte seinen Kopf müde an die Kopfstütze. Catherine war zwar unruhig, aber auch erleichtert über das bevorstehende Ende ihrer Reise, und sie hoffte, ihre Suche irgendwo in der alten Sandwüste zu einem Abschluss zu bringen. Ihr fielen jene Männer wieder ein, die sie verfolgt hatten, die Bedrohung, die von ihnen ausgegangen war, die brutale Gewalt, die sie ausgestrahlt hatten. Diese Erinnerungen machten ihr Angst. Am liebsten wäre sie davongelaufen und hätte sich in Sicherheit gebracht, falls das 228
überhaupt noch irgendwo möglich war. Aber sie wusste, dass sie diese ganze Sache zu Ende führen und die Wahrheit herausfinden musste. Sie warf Rutherford einen Blick zu und war unendlich froh, dass er sie nie im Stich gelassen hatte, dass sie diese Sache nicht hatte allein durchstehen müssen.
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Zwei Stunden nach der Landung hatten sie den Zoll endlich hinter sich und kämpften sich mit ihrem Mietauto im Schneckentempo durch das Verkehrschaos von Kairo. Plötzlich erblickte Rutherford, wonach er Ausschau gehalten hatte. Dort drüben, am Rande der ägyptischen Hauptstadt, tauchten die unverwechselbaren Umrisse der drei größten Pyramiden von Gizeh auf: die Große Pyramide, von den modernen Ägyptologen auch Khufu- oder Cheops-Pyramide genannt, die zweite, die Chephren-Pyramide, und schließlich die dritte, viel kleinere, die Mykerinos-Pyramide. Obwohl sie außerhalb der Stadtgrenze in der Wüste liegen, sind sie so groß, dass sie, aus den Kairoer Vorstädten betrachtet, sich aus der Stadt selbst zu erheben scheinen und alles überragen. Rutherford hielt den Wagen am Straßenrand an. Der Verkehr wälzte sich unaufhörlich an ihnen vorbei. »Sehen Sie sich das an!« Catherine lehnte sich nach vorn und blickte in die Hitze hinaus. Was sie sah, verschlug ihr den Atem. Rutherford zeigte ganz verzückt auf die größte der drei. »Die Große Pyramide. Das größte Bauwerk, das je von Menschenhand errichtet wurde.« »Das kann nicht sein! Und all die Wolkenkratzer des zwanzigsten Jahrhunderts?« Rutherford lachte. »Kinderkram im Vergleich! Die Große Pyramide ist eine Klasse für sich. Sie werden verstehen, was ich meine, je näher wir ihr kommen, und vor allem wenn wir sie betreten, werden Sie ihre ungeheure Wirkung spüren.« »Niemand hat mir je gesagt, wie eindrucksvoll sie in Wirklichkeit sind.« 230
Rutherford fuhr fort: »Ja, und es ist noch viel erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass die Große Pyramide eines der ersten Bauwerke ist, die überhaupt je errichtet wurden. Sie erscheint wie aus dem Nichts am Anfang der Geschichte – Archäologen vermuten, dass sie um 2.600 vor Christus erbaut wurde unter Verwendung eines erstaunlichen Grades an technischer Präzision. Angesichts der Tatsache, dass die Erbauer der Pyramiden weder Kräne noch Bagger, noch all die anderen Geräte hatten, über die heutige Baumeister verfügen, ist es nichts weniger als ein Wunder.« Catherine starrte ihn an. Sein Blick hing wie hypnotisiert an dem gigantischen Bau. Er scheint völlig in ihrem Bann zu sein … im Bann der Pyramiden. »Kommt Ihnen das nicht etwas merkwürdig vor?« Rutherford starrte noch immer zu den Pyramiden hinauf. Ohne sie anzusehen, erwiderte er: »Was?« »Nun, es ist ein bisschen, als wolle man das erste Auto der Welt bauen – und stellt gleich einen Porsche hin. Und danach werden jahrtausendelang nur noch Schubkarren gebaut, bevor man der Fähigkeit, einen Porsche zu bauen, auch nur ansatzweise wieder näher kommt.« Rutherford hörte ihr aufmerksam zu. Sie fuhr fort: »Ich meine, dies ist alles andere als ein natürliches Entwicklungsmuster. Ich weiß nicht viel über Architekturgeschichte, aber bevor die Engländer Warwick Castle und andere große Kreuzfahrerburgen bauten, bauten sie viel simplere Burgen. Es fand ein Lernprozess statt, eine schrittweise Weiterentwicklung – sie beschlossen nicht plötzlich in dunkelster Vergangenheit, die größte und perfekteste Burg aller Zeiten zu errichten. Die Pyramiden widersprechen diesem Muster völlig, sie stehen einfach so da, am Anfang der Zeit, und blicken auf alles herab, was nach ihnen kommt.« Rutherford sah sie mit ernster Miene an. »Sie haben recht. Ich fürchte, wir durchschauen allmählich, wie fadenscheinig viele Erklärungen der offiziellen Geschichtsschreibung sind.« Er runzelte die Stirn. »Kommen Sie, ich will Ihnen etwas zeigen.« Er löste die Bremse und zwängte sich wieder in den Verkehrsstrom. 231
Nach einem Kilometer bogen sie von der Hauptstraße ab, nahmen ein paar Seitenstraßen, die sie an den Rand der Wüste führten. Sie hatten die hässlichen Betonhochhäuser im Zentrum Kairos hinter sich gelassen, und auch die schäbigen Büroblocks, die die Hauptstraße säumten, waren verschwunden. Hier strahlten die Häuser etwas beinahe Ländliches aus, als hätten sich die Vorstädte in Dörfer verwandelt oder am Rand der Wüste schlicht den Schwung verloren. Die Straßen waren nicht mehr geteert, und der von den Rädern aufgewirbelte Staub blieb in der Luft hängen. Rutherford brachte den Wagen zum Stehen. Die Pyramiden schienen direkt vor ihnen in die Höhe zu ragen, obwohl sie noch immer in weiter Ferne hinter den Dünen lagen. »Da wären wir. Von hier aus geht es zu Fuß weiter.« Die Sonne brannte unerbittlich, es war ein Uhr mittags. Sie zuckten vor dem grellen Sonnenlicht zurück, als sie ausstiegen. Der glühende Sand schien die Hitze noch zu verstärken. Der Gestank von Pferdemist hing in der Luft, Fliegen schwirrten ihnen um die Ohren. Die Ebene von Gizeh war nahezu leer. Ein oder zwei mitgenommene Wächter schritten die Grundlinie der Großen Pyramide ab, doch die meisten Touristen hatten sich vor der Sonne in ihren Hotels in Sicherheit gebracht. Nach einem mühseligen Weg durch den Sand erreichten sie schließlich die gewaltige Flanke der Großen Pyramide. Rutherford stieg die erste Steinstufe hoch. Er wirkte nicht mehr so selbstsicher. Er tätschelte einen dieser riesigen Steinblöcke, der ihm bis zur Brust reichte und bestimmt zehn Tonnen wog. Er legte den Kopf in den Nacken und blickte zum Gipfel dieses riesigen Steinhaufens hinauf. Catherine hielt die Hand über die Augen und betrachtete die weite Ebene von Gizeh. »Glauben Sie, dass wir hier sicher sind? Oder denken Sie, dass sie uns immer noch verfolgen?« Rutherford suchte mit seinen Augen unruhig den Horizont ab. Die drückende Hitze lastete schwer auf der ganzen Hochebene. »Ich weiß es nicht. Wir müssen wohl davon ausgehen. Inzwischen haben sie bestimmt herausgefunden, welchen Flug wir genommen haben. Wir dürfen keine Zeit verlieren.« 232
Catherines Mund war völlig ausgetrocknet. Sie blickte zur erhabenen Spitze der alten Pyramide hinauf. »Und wir müssen Bezumov finden. Er muss hier in Kairo sein.« Rutherford schüttelte den Kopf und sah sie an. »Nun, spätestens zur Tag-und-Nacht-Gleiche morgen früh bei Sonnenaufgang wird er hier sein, so viel ist sicher. Aber was wir genau gegen ihn unternehmen können, ist mir noch gar nicht klar.« Er kniff die Augen zusammen und sah zur Großen Pyramide hinauf. »Vielleicht sollten wir uns fürs Erste darauf konzentrieren, unser Rätsel zu lösen.« Er drehte sich um und legte seine Hand auf die Seite der untersten Steinreihe. »Eine wunderbare Konstruktion, nicht wahr? Sie besteht aus über zweieinhalb Millionen Steinblöcken, von denen jeder zwischen zwei und fünfzehn Tonnen wiegt, insgesamt also eine gewaltige Masse. Wenn nicht jeder Block genau richtig platziert wäre, würde sich der enorme Druck explosionsartig entladen und die ganze Struktur fiele in sich zusammen.« Er fuhr über die alten Steine. »Die ganze Pyramide war ursprünglich mit einer äußeren Verschalung aus einem weißen, marmorähnlichen Stein verkleidet. Das ganze Bauwerk und seine zwei benachbarten Pyramiden müssen also im hellen Sonnenlicht wie riesige Spiegel geleuchtet haben. Die Wirkung muss unglaublich gewesen sein.« Catherine trat an die Grundlinie heran. Sie fuhr mit den Fingern über die Steine. »Woher weiß man, dass sie auf diese Weise umhüllt war? Was ist mit der Verkleidung passiert?« Rutherford antwortete voller Überzeugung: »Erstens existieren Beschreibungen aus der Zeit der alten Griechen, und zudem besteht diese Verkleidung an manchen Stellen noch heute. Jede dieser Außenplatten wog mehr als zehn Tonnen, doch die Fugen zwischen den einzelnen Steinen sind so perfekt, dass man nicht einmal ein Blatt Papier dazwischenschieben könnte. Fast wie bei den Mauern in Peru«, fügte er hinzu. Catherine lehnte sich zurück und versuchte, bis ganz nach oben zu 233
schauen. Wie bei einem großen Berg war die Spitze selbst nicht zu sehen, sondern nur die nicht enden wollenden Stufen aus Stein. Rutherford trat ein paar Schritte zurück, um eine bessere Sicht auf das Bauwerk zu haben. »Aber das ist noch nicht alles. Wie Sie sehen, ist der Grundriss der Pyramide ein Quadrat.« Catherine stellte sich neben ihn. Er fuhr fort: »Die vier Seiten dieses Quadrats sind mit äußerster Präzision auf die Himmelsrichtungen ausgerichtet. Das heißt, die Nordflanke, die wir gerade betrachten, liegt genau in Richtung Norden. Die Ostflanke genau in Richtung Osten, und so weiter.« Catherine blickte von rechts nach links die gesamte Länge der Nordflanke entlang. »Aber sie sind doch bestimmt nicht perfekt ausgerichtet?« Rutherford erwiderte: »Nun, annähernd so perfekt, wie es bei einem Bauwerk dieser Größe menschenmöglich ist. Experten haben alles mit hochtechnologischen Geräten vermessen und kamen zum Ergebnis, dass die Abweichung weniger als 0,1 Prozent beträgt.« »Das ist ja unglaublich!« Rutherford genoss Catherines Reaktion sichtlich. »Nicht wahr? Und zudem macht es nicht wirklich Sinn.« »Natürlich macht es keinen Sinn – es ist völlig verrückt.« »Nein, ich meine, es ist völlig unnötig. Das menschliche Auge kann schon eine Fehlerquote von nur einem Prozent gar nicht wahrnehmen. Für einen heutigen Baumeister wäre eine Abweichung von 1,5 Prozent nicht der Rede wert. Was aber die ganze Sache wirklich völlig unbegreiflich macht, ist die Tatsache, dass es sehr, sehr schwierig ist, die Abweichung von einem auf 0,1 Prozent zu reduzieren.« Einmal mehr war Catherine verblüfft. »Aber warum wurde dann der ganze Aufwand betrieben? Zu welchem Zweck?« Rutherford fuhr sich mit den Fingern der rechten Hand über das Kinn. »Dazu komme ich gleich. Niemand hat eine plausible Erklärung da234
für. Und der Präzisionswahn hört hier noch lange nicht auf. Alle Seiten haben ebenfalls eine fast identische Länge. Und die vier Ecken sind die perfektesten Neunzig-Grad-Winkel, zu denen der Mensch fähig ist. Das Ganze ist schlicht unerklärlich.« Catherine staunte über das enorme Können, das in dieser uralten Konstruktion steckte. »Aber wodurch war man damals zu solch technischer Brillanz fähig?« Rutherford nahm die Hand von seinem Kinn und hob den Zeigefinger, wie um zu unterstreichen, was er nun sagen wollte. »Tja, das ist ja gerade das Problem. Dieses technische Niveau wird erst im zwanzigsten Jahrhundert wieder erreicht. Niemand kann sich erklären, wie man ohne die modernsten Vermessungsgeräte eine solche Genauigkeit erreichen konnte. Sogar mit diesen Geräten ist es nahezu unmöglich. Ein weiteres Rätsel, das wir zu lüften haben.«
Drüben im Nile Hilton öffnete der nubische Türsteher, in rotem Turban, eleganter roter Uniform und weißen Handschuhen, dem zielstrebigen Ivan Bezumov eine der gläsernen Eingangstüren. Während Bezumov in die flimmernde Hitze des nachmittäglichen Kairo hinaustrat, schnellte ein nervös wirkender Fahrer auf, der im Schatten einer Palme im Hotelgarten gewartet hatte, drückte seine Zigarette aus und sprang ins bereitstehende Fahrzeug. Es war ein weißer Toyota Land Cruiser mit Vierradantrieb, genau wie Bezumov verlangt hatte. Der Motor brüllte auf, als der Fahrer den Zündschlüssel drehte. Bezumov wartete ungeduldig, bis der Land Cruiser vor dem Hoteleingang zum Stehen kam. Noch bevor der Fahrer Zeit hatte, auszusteigen und um das Fahrzeug herum zu eilen, um seinem Passagier die Beifahrertür zu öffnen, so wie er es gelernt hatte, saß Bezumov bereits im Wagen. »Zu den Pyramiden – und zwar schnell.« 235
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Catherine folgte Rutherford zum Eckpunkt der Großen Pyramide. Dort stellte sie sich so hin, dass sie sowohl die Nord- wie auch die Westseite gut sehen konnte, wenn auch aus schiefem Winkel. Ihre Augen zog es unerbittlich zur Spitze hinauf. Ihr fiel auf, dass die letzten Steinstufen zu fehlen schienen. »Was ist mit dem Scheitelpunkt geschehen?« Rutherford trat einen Schritt zurück und blickte nach Westen, zu den sanft gewellten Sanddünen hinaus. »Niemand weiß etwas Genaueres. Irgendwann in den letzten Jahrtausenden muss er abgetragen worden sein. Schon vor zweieinhalbtausend Jahren berichteten Reisende, dass die letzten Stufen unter der Spitze fehlten.« »Weiß man, was sich an der Spitze befand?« »Man geht davon aus, dass ganz zuoberst der Benbenstein stand.« »Der was?« »Benben ist der Name für den pyramidenförmigen Abschluss-Stein, der zuoberst auf der Hauptstruktur der Pyramide sitzt. Die Legende besagt, dass bei Anbeginn der Zeit der ägyptische Schöpfergott Atum das Nichts in Bewegung setzte und so die anderen Götter zur Welt brachte. Und als sich die Fluten des Chaos zurückzogen, kam ein Flecken trockenen Landes zum Vorschein. Auf diesen Flecken fiel der Benbenstein.« »Wow, schon wieder ein Sintflutmythos.« »Ja, genau.« »Aber wenn es sich um einen Mythos handelt, ist dann der Benbenstein aller Wahrscheinlichkeit nach nicht eher ein bloßes Symbol, eine Metapher?« »Da wäre ich mir nicht so sicher. Vielleicht war er ein Trümmer 236
eines Meteoriten. Es gibt andere Beispiele dafür, dass Urvölker solche Steine anbeteten. Vielleicht war er aber auch einfach ein heiliger Steinblock oder sogar von Menschenhand geschaffen. Auf jeden Fall gibt es keinen Grund anzunehmen, dass er nicht existiert hat. Offenbar stand der Benbenstein zuoberst auf der Marmorverkleidung. Er strahlte hell, und sein göttliches Licht sah man auch aus einer Entfernung von mehreren Kilometern. Sogar in der Nacht leuchtete er im Licht der Sterne.« »Aber woraus war er gemacht?« »Diamant, geschliffenem Granit, Gold – wer weiß? Manche behaupten, das Auge des Horus sei auf ihm abgebildet gewesen – Sie wissen schon, das etwas beunruhigende Auge jener Pyramide, die noch heute auf jeder Dollarnote zu sehen ist. Die Überlieferung besagt, dass der Benbenstein von den Hohepriestern entfernt wurde, als sie erkannten, dass die Tage der alten Religion gezählt waren. Das Christentum war im Vormarsch, und sie wussten, dass sie den Benben entfernen mussten, da er sonst früher oder später gestohlen würde. Also holten sie ihn herunter und versteckten ihn. Das ist einfach noch ein weiteres Rätsel der Pyramiden.« Catherine blickte in die Wüste hinaus. Sand, Sand und noch mehr Sand – ununterbrochen bis zur Atlantikküste. Allzu viele Steinbrüche scheint es hier nicht zu geben … »Da fällt mir ein, James, wie in aller Welt hat man die Pyramiden überhaupt gebaut? Wie wurden all diese riesigen Steinquader durch die Wüste geschleppt und dann in solch perfekter Weise aufgetürmt?« Rutherford hatte auf diese Frage gewartet. Er lächelte. »Die Antwort wird Ihnen nicht gefallen, aber einmal mehr: Niemand weiß es.« Catherine starrte ihn ungläubig an. »Es handelt sich um mehr als zweieinhalb Millionen Steinblöcke, von denen keiner weniger als ein Auto wiegt«, sagte Rutherford. »Was würden Sie tun, wenn Sie sie – ohne einen Kran – von einem Ort zum anderen transportieren müssten?« Catherine schaute ihn streng an. »Ich bin keine Ägyptologin, und 237
schon gar nicht eine Ingenieurin. Ich habe nicht die geringste Ahnung. Was für Theorien gibt es denn?« »Nun, ich würde sagen, die populärste Theorie – die auch im Geschichtsunterricht verbreitet wird – besagt, dass die Steinblöcke mit roher Kraft zu ihrem Ziel geschleppt, geschoben, gehievt wurden. Für den Bau wurden hunderttausend Arbeiter benötigt, und das zwanzig Jahre lang.« Catherine dachte einen Moment nach. »Das ist ja eine enorme Zahl von Leuten. Nicht wenige Bäuche zu füllen. Waren das Kriegsgefangene?« »Nein. Man vermutet, dass es Bauern waren. An der Pyramide arbeiteten sie nur während jener drei Monate, in denen der Nil über die Ufer trat und die Bauern zwangsläufig Urlaub machen mussten.« Catherine begann laut zu denken. »Ein toller Urlaub! Okay, sagen wir also zwanzig Jahre lang jährlich drei Monate, das wären sechzig Monate. Nehmen wir zudem an, dass sie täglich zwölf Stunden arbeiteten. Dreißig Tage im Monat à zwölf Stunden, das ergibt insgesamt rund zwanzigtausend Arbeitsstunden. Wenn man also von zweieinhalb Millionen Steinblöcken ausgeht, von denen jeder ein paar Tonnen wog, hätten sie pro Stunde rund hundertzwanzig Blöcke transportieren müssen. Das heißt, zwei Felsblöcke pro Minute.« Rutherford blickte sie völlig ungläubig an. »Ehrlich gesagt scheinen mir zwei Steinblöcke pro Minute völlig unglaubwürdig.« »Aber noch unglaublicher ist die Tatsache, dass sie diese Felsblöcke nicht nur transportierten und irgendwo liegen ließen, sondern sie noch mehr als hundert Meter in die Höhe hievten und mit der Genauigkeit eines Hirnchirurgen an den richtigen Ort setzten.« Rutherford lachte und zuckte mit den Schultern. Catherine hatte eine weitere Frage auf Lager. »Aber sie haben mir noch gar nicht gesagt, wozu die Pyramiden überhaupt da waren.« Plötzlich sah Rutherford ziemlich niedergeschlagen aus. »Ich weiß gar nicht mehr, was ich glauben soll. Allmählich kommt es mir so vor, als sei Bezumov viel näher an der Wahrheit als die herkömmlichen Theorien.« 238
Catherines Stirn legte sich vor Verwunderung in tiefe Falten. »Wie meinen Sie das?« »Gemäß den Ägyptologen sind die Pyramiden Gräber, die letzten Ruhestätten der Pharaonen. Und ich selbst war auch lange Zeit dieser Meinung. Doch inzwischen hege ich große Zweifel.« Er starrte die Pyramide in ihren enormen Ausmaßen an. »Diese Erklärung scheint mir auf einmal viel zu einfach. Wozu dieser riesige Aufwand? Die Pyramiden müssen einfach mehr als bloße Grabkammern für tote Könige sein. Verzeihen Sie – das klingt wohl nicht sehr vernünftig. Ich sage das mehr aus dem Bauch heraus …« »Was für Beweise haben denn die Archäologen dafür, dass es Gräber sind?« Rutherford hielt einen Moment inne, um seine Gedanken zu ordnen, und sagte dann: »Es war Herodot, der griechische Geschichtsschreiber aus dem fünften Jahrhundert vor Christus, der als Erster die Theorie aufstellte, dass Chufu oder Cheops die erste Pyramide bauen ließ, sein Bruder Chaefre die zweite und dessen Sohn die dritte. Seither haben sich die Ägyptologen diesem Vorschlag angeschlossen, und wann immer sie auf ein Indiz stoßen, halten sie es gleich für den endgültigen Beweis. Sie haben beispielsweise in der Umgebung von Gizeh zahlreiche Inschriften entdeckt, die die Große Pyramide Chufu zuschreiben. Aber das ist noch lange kein Beweis – gerade so gut hätte ein Pharao das Bauwerk seiner Vorfahren zu seinem eigenen machen können. Als die Pyramiden geöffnet wurden, waren sie völlig leer – kein Schatz weit und breit, und nur in der dritten und kleinsten Pyramide wurden Knochen gefunden. Aber auch die datierte man schließlich auf die Zeit um Christi Geburt, also lange nachdem die Pyramiden erbaut wurden. Als Erklärung sagen die Historiker, dass die Große Pyramide von Grabräubern geleert worden sein muss. Aber das alles wissen wir nicht mit Bestimmtheit.« Catherine dachte darüber nach. »Okay. Wollen Sie damit sagen, dass wir eigentlich überhaupt nichts mit Bestimmtheit wissen?« Rutherford lächelte verlegen. 239
»Ja.« Er blickte wieder an der großen leeren Seitenfläche der Pyramide empor. »Es ist ein weiteres Rätsel in einem Land voller Rätsel. Wir wissen nicht, wozu sie dienten, wir verstehen nicht, wie man sie hat bauen können, wir wissen nicht, wer sie wirklich baute, und wenn ich ganz ehrlich sein will, weiß man nicht einmal wirklich, wann sie gebaut wurden. Sie standen einfach seit dem Beginn der menschlichen Geschichte hier und möglicherweise schon viel früher.« Er trat einen Schritt zurück und lächelte. »Kommen Sie, jetzt sehen wir uns ihr Inneres an.«
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Auf der anderen Seite Kairos kehrte Dr. Ahmed Aziz, Direktor der ägyptischen Altertümerverwaltung, nach einem ausgiebigen Mittagessen in sein Büro zurück. Neben seiner Funktion als Direktor der nationalen Altertümerverwaltung war Dr. Aziz auch Grabungsdirektor der Großen Pyramide sowie Vizedirektor des Ägyptischen Museums. Trotz seines vollen schwarzen Schnurrbarts wirkte er jugendlich – er sah aus wie Ende dreißig, Anfang vierzig. Heute trug er einen eleganten dunkelblauen Anzug. Er war etwas beleibt, vielleicht dank der vielen Mittag- und Abendessen, um die er nicht herumkam, wenn er einer ausländischen Delegation die prächtigen Sehenswürdigkeiten Ägyptens zeigte. Doch er schien vor Gesundheit zu strotzen. Wie er es geschafft hatte, in kürzester Zeit den Vorsitz über eine der wichtigsten Abteilungen für Altertümer auf der ganzen Welt zu ergattern, war für viele – auch innerhalb der ägyptischen Regierung – ein Rätsel. Nicht, dass er dafür nicht qualifiziert gewesen wäre. Nach seiner Doktorarbeit hatte er in den USA weiterstudiert, und für altägyptische Keramik war er der unumstrittene Experte. Trotzdem war es noch nie da gewesen, dass ein Mann in einem so jungen Alter die erhabene Direktorenwürde erhalten hatte. Das Leben hatte es mit Aziz gut gemeint. Er warf einen Blick auf die Uhr an der Wand seines gemütlichen Büros. Es war 15 Uhr 30. Das Mittagessen hatte länger als erwartet gedauert, aber das passierte oft, wenn man wichtige ausländische Würdenträger zu Gast hatte. Er setzte sich in seinen Sessel, und im gleichen Augenblick begann sein Telefon mit der Direktverbindung zu klingeln. Seine mit zwei dicken Goldringen geschmückte Hand hob den Hörer ab. Er sagte: »Salaam aleikum.« 241
»Aziz – ich bin es.« Senator Kurtz' unverwechselbare Stimme dröhnte durch die Leitung. Aziz' Miene änderte sich schlagartig. Der leichte Ärger und Frust in seinem Gesicht war verschwunden. Nun war er sichtlich beunruhigt. Er warf einen Blick auf die Tür zu seinem Büro. Sie war offen. Er konnte ins Vorzimmer sehen, wo neben der Sekretärin sein Assistent Mr. Poimandres saß, ein kleiner, schwächlicher, sechzigjähriger koptischer Ägypter. Beide wirkten beschäftigt – die Sekretärin tippte, und Mr. Poimandres telefonierte. Doch er wollte kein Risiko eingehen, vor allem nicht mit Poimandres. In Gegenwart seines Assistenten fühlte sich Aziz nie wirklich wohl. Vielleicht war es die Tatsache, dass Poimandres einer der ältesten christlichen Kirchen der Welt angehörte, die dem strengen Moslem Aziz ziemliches Unbehagen bereitete. Die Kopten verfügten seit zweitausend Jahren über viel Einfluss und Macht in der ägyptischen Gesellschaft – unverhältnismäßig viel, wie manche fanden. Würde Poimandres seine Arbeit nicht so ausgezeichnet und zuverlässig erledigen, hätte sich Aziz seiner schon vor Jahren entledigt. Aziz konnte den ungeduldigen Atem des Senators hören. »Nur einen Moment bitte, Sir.« Er legte den Hörer auf die lederne Schreibunterlage, ging zur Tür, versicherte sich, dass sich niemand sonst im Vorzimmer befand, machte die Tür zu und verriegelte sie. »Sir, hier bin ich wieder.« »Hören Sie gut zu, Aziz. Sollten Sie heute Besuch von zwei Leuten bekommen, die Ihnen Fragen über die Pyramiden stellen oder gewisse Theorien diskutieren möchten, will ich, dass Sie folgendermaßen antworten … Hören Sie mir zu?« »Ja. Natürlich, Sir!« Es folgte eine Pause. »Sagen Sie ihnen, diese Theorien seien völlig falsch. Sagen Sie ihnen, ihre Ideen seien alles andere als neu, man habe sie schon vor Jahren in aller Öffentlichkeit diskutiert, doch so faszinierend sie auch sein mögen, seien sie überhaupt nicht fundiert. Die beiden werden natürlich 242
versuchen, Sie in eine intellektuelle Diskussion zu verwickeln. Aber lassen Sie sich auf keinen Fall darauf ein. Haben Sie verstanden? Keine Diskussionen. Sagen Sie ihnen einfach, ihre Argumente seien völlig falsch.« »Ja, Sir. Oder finden Sie, dass ich Urlaub nehmen oder sie einfach nicht empfangen sollte?« »Nein. Tun Sie das auf keinen Fall. Das würde Verdacht erwecken. Das sind keine Spinner, sondern renommierte Akademiker von der Universität in Oxford. Empfangen Sie sie, lassen Sie sich aber auf keine Diskussionen ein und entkräften Sie ihre Theorien. Ist das klar?« »Ja, Sir, sonnenklar, Sir.« »Und Aziz – keine Fehler, falls Ihnen etwas an Ihrem Ansehen und Ihrer Stellung liegt. Ich werde in Kürze in Ägypten eintreffen und mich persönlich um die beiden kümmern.« Aziz schluckte nervös und tupfte sich mit seinem Taschentuch über die verschwitzte Stirn. »Sir, Sie kommen nach Ägypten?« Die Verbindung brach ab. Aziz' Puls raste, als habe er gerade einen Hundertmeterlauf hinter sich.
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Catherine und Rutherford gingen zur Mitte der Westseite der Pyramide, wo eine Treppe über ein modernes Gerüst zum Eingang führte. Als sie sich näherten, beobachtete Catherine den Sand, die Touristen und Tagesausflügler und fragte sich, ob es jemand von ihnen auf sie abgesehen haben konnte. Etwas abseits einer Gruppe stand ein einzelner Mann in arabischer Tracht, doch er schien nicht in ihre Richtung zu schauen. Dann war da noch eine Familie, die sich träge auf die Pyramide zuschleppte. Alles schien in Ordnung zu sein, doch alles konnte sich von einer Minute zur nächsten ändern, und die Vorstellung, in den Tiefen der Pyramide gefangen zu sein, behagte ihr gar nicht. Früher oder später würde Bezumov auftauchen, und sie war sich ziemlich sicher, dass er sich über ein Wiedersehen nicht freuen würde. Rutherford schaute sie an. »Kommen Sie, bringen wir es hinter uns. Deswegen sind wir hier.« Auch er machte sich Sorgen. Rasch gingen sie los und stiegen mit gesenkten Köpfen die Treppe hinauf. Dann betraten sie den höhlenartigen Eingang. Catherine schaute über die Schulter auf den Sand und den Parkplatz zurück. Autos kamen und fuhren. Sie hatte noch keinen Schritt in den riesigen Tunnel gemacht, doch ihr Hals war vor Platzangst schon ganz zugeschnürt. Rutherford streckte seine Hand aus und fuhr über die unebenen Wände. »Beachten Sie diesen Tunnel nicht weiter. Er wurde nicht von den Erbauern der Pyramide angelegt, sondern von arabischen Arbeitern, deshalb sieht er auch nicht besonders schön aus. Man nennt ihn das Loch von Mamun, nach dem ägyptischen Kalifen, der den Einbruch in die Pyramide anordnete.« 244
Schweigend durchquerten sie die schlecht beleuchtete Passage, bis sie in den Haupttunnel stolperten. Ein Korridor führte schräg abwärts ins Dunkel. Obwohl an der Decke in regelmäßigen Abständen Lampen angebracht worden waren, konnte man nicht bis an sein Ende sehen. Der Korridor selbst wirkte wie das Innere eines riesigen Stahlträgers. Die Steinwände waren glatt wie Glas. Der Anblick verschlug Catherine den Atem. Einfach unglaublich. Das kann kein Grab sein. Viel eher muss es eine Art Maschine sein. Es strahlt etwas sehr Funktionelles aus. Rutherford lächelte ihr zu. »Ich wusste, dass Sie beeindruckt sein würden. Dieser Gang führt schnurgerade hundertsechs Meter in die Tiefe, bei einem Winkel von genau sechsundzwanzig Grad, der Hälfte des Neigungswinkels der Pyramidenseiten. Das Unglaublichste daran ist jedoch, dass er so gerade verläuft, dass er auf dem ganzen Weg nach unten nicht einen Zentimeter abweicht. Sogar heute wäre es praktisch unmöglich, einen solchen Grad an Präzision zu erreichen.« Rutherford ging voran. »Wir gehen jetzt aber zur Galerie hinauf.« Unterwegs blickte Catherine sich immer wieder unruhig im Halbdunkel um. Ihre Schatten warfen flüchtige Formen auf die Wände. Sie hörte jeden Schritt, der in der Stille nur noch lauter klang. Plötzlich glaubte sie hinter sich das Echo von Schritten zu hören. Aber es blieb ihnen nichts anderes übrig, als weiterzugehen. Sie merkte, wie flach und nervös ihr Atem war, und versuchte sich zu beruhigen. Schließlich ging es ein paar moderne Stufen hinauf, und sie trat in einen aufsteigenden Gang. Er war das Ebenbild des abfallenden Tunnels. Dieselbe maschinenhafte Perfektion, dieselbe unmögliche Aufwärtsneigung. Ihre Platzangst wurde immer stärker. Die Decke war kaum einen Meter zwanzig hoch. Die Luft war zum Ersticken. Vornübergebeugt gingen sie weiter aufwärts. Nach ein paar Minuten mündete der schmale Gang plötzlich in eine viel geräumigere Kammer, fünfzig Meter lang und rund zehn Meter hoch, mit einer abfallenden, gewölbten Decke. Rutherford richtete sich ganz auf und streckte sich erleichtert. 245
»Uff – ich hätte beinahe Panik bekommen.« Catherine wischte sich über die Stirn, ohne etwas zu sagen. Sie wollte nicht zugeben, wie groß ihre Angst war. Sie hatte das wachsende Gefühl, jemand sei ihnen in die Pyramide gefolgt, um irgendeine furchtbare Rache an ihnen zu nehmen. Sie versuchte diese bedrückende Vorahnung abzuschütteln und betrachtete den Boden, der vor ihnen aufwärts verlief. »Was ist denn das?« Sie zeigte auf eine Furche, die den gesamten Kammerboden entlanglief. »Das sieht wie eine Rinne für eine Art Maschine aus oder so. Und sagen Sie mir jetzt nicht, dass man nicht weiß, worum es sich hier handelt.« Rutherford sah sie entschuldigend an. Catherine schüttelte den Kopf, während sie die Große Galerie hinaufstiegen. Nach einem weiteren Durchgang gelangten sie schließlich in einen großen Raum. Rutherford richtete sich auf, rieb sich das Kreuz und rückte seine Tasche zurecht. »Hier sind wir nun in der Königskammer.« Catherine stellte sich neben ihn und war von der beengenden Atmosphäre dieses Raumes überrascht. Sie konnte die Tonnen von Stein, die auf ihm lasteten, förmlich spüren. Es war, als bewegten sich die dunklen Steinplatten, die die Wände verkleideten, unmerklich auf sie zu. Wenn uns jetzt hier jemand töten sollte, würde niemand auch nur den leisesten Ton hören. Niemand würde es je erfahren … Rutherfords Gesicht glänzte vor Schweiß. »Und was ist das?« Catherine zeigte auf eine mannsgroße Steintruhe, die am anderen Ende des Raumes auf dem Boden lag. »Das ist eine Granittruhe. Sie ist leer. Kommen Sie, sehen wir sie uns an.« Sie gingen hinüber und schauten hinein. Rutherford las im Reiseführer nach und murmelte die Maße laut vor sich hin. Dann rief er plötzlich: »Mein Gott! Das Maßsystem, das wir in England und Amerika noch heute verwenden, mit Zoll und Fuß, ist mit jenem Maßsystem verwandt, das beim Bau der Pyramiden und dieser Truhe verwendet wurde.« 246
»Wie? Dann war dieses Maßsystem etwa die Grundlage für das unsrige?« »Es scheint ganz so. Auf diese Weise habe ich die Pyramiden noch nie betrachtet, aber nun habe ich das Gefühl, dass sie der Ursprung von allem sind. Diese Truhe muss sich schon von Anfang an hier drin befunden haben, denn sie ist viel zu groß für den Tunnel, durch den wir soeben hereingekommen sind. Verblüffend ist auch, dass alle Winkel im Innern der Truhe vollkommen rechtwinklig sind. Wie das ohne moderne Technik möglich war, ist unerklärlich: Um Granit auf diese Weise auszuhöhlen, benötigt man enormen Druck und Diamantbohrköpfe.« In diesem Moment fiel Catherine etwas ein. Angst schwang hörbar in ihrer Stimme mit, als sie sagte: »Einen Augenblick – wie waren die Maße, die Sie vorhin vorgelesen haben?« Rutherford sah sie verdutzt an und klappte seinen Reiseführer wieder auf. »Im Innern ist sie sechs Fuß und sechs Komma sechs Zoll lang –« »Genau«, unterbrach ihn Catherine. »Habe ich mich also nicht verhört. Das kann doch kein Zufall sein, nach all dem, was wir über ihren Präzisionswahn wissen. Die innere Länge dieser Truhe im Herzen des ältesten und rätselhaftesten Bauwerks der Welt ist sechs sechs sechs – die Zahl des Teufels.« In diesem Augenblick ging das Licht aus, und für eine kurze Weile lag die Kammer im Dunkeln. Catherines Puls raste. Rutherford spürte, wie sich Panik von seinem Bauch zu seiner Brust ausbreitete. Dann flackerte das Licht wieder an, und in der Kammer wurde es hell. Rutherford wirkte zehn Jahre älter. »Okay, wir bleiben keine Minute länger hier drin als nötig.« Catherine holte tief Luft. »Ich bin ganz Ihrer Meinung.« Das Licht brannte wieder gleichmäßig. Rutherford fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn und sagte mit nervöser Stimme: »Sechs sechs sechs ist nicht wirklich die Zahl des Antichrist.« Catherine, die sich in dem beengenden, grabartigen Raum umsah, verstand nicht. 247
»Wie meinen Sie das?« »Nun, sie ist viel älter als das Christentum. Es ist die heidnische Zahl der Sonne – oder der Kraft der Erde. Die Alchemisten verbanden sie mit Schwefel. In der Gematrie hat die biblische Wendung theos eini epi gaia – ›ich bin Gott auf Erden‹ – den Wert sechs sechs sechs. Erst später begannen Christen, die den Bezug zu dem alten Wissen verloren hatten, sich vor dieser Zahl und ihrer Symbolkraft zu fürchten.« Rutherford fuhr mit dem Unterarm über seine erhitzte Stirn und sah sich nervös um. »Aber es gibt noch etwas. Schnell, gehen wir dort hinüber.« Er trat zur Südwand der Königskammer hinüber. Catherine folgte ihm. Sie befürchtete, dass das Licht jede Minute wieder ausgehen könnte, und wünschte, sie hätte eine Taschenlampe mitgebracht. Rutherford zeigte auf ein kleines Loch. »Hier – dieser Schacht führt durch alle Steinblöcke der Pyramide hinaus ins Freie. Wie alles hier ist er vollkommen gerade. Er führt in einem Winkel von genau fünfundvierzig Grad aufwärts und durchbohrt unterwegs jeden einzelnen Block. Abertausende von Steinquadern müssen individuell behauen worden sein, damit dieser Schacht durch sie hindurchführen konnte. Aber das ist noch lange nicht alles. Wenn man den Schacht ins Weltall hinaus verlängert, trifft er zu gewissen Zeiten genau auf den Meridianverlauf des Oriongürtels, einer in der ägyptischen Religion heiligen Himmelsregion. In ähnlicher Weise ist der Südschacht, der von der Königinnenkammer ausgeht, perfekt auf den Stern Sirius ausgerichtet, der damals auch von größter Bedeutung war. Die Hieroglyphe für Sirius ist aus einem Stern, einer Pyramide und dem Benbenstein zusammengesetzt.« Als er Sirius erwähnte, dachte Catherine sehnsüchtig an den sonnigen Vorlesungssaal des All Souls College und an ihre Vorlesung über das Geheimnis der Dogon. Wie viel seither passiert ist: Nun sind diese Dinge keine amüsanten intellektuellen Spielereien mehr, sondern eine Frage von Leben und Tod. Rutherford fuhr fort: »Und in jeder Kammer gibt es einen Schacht, der wiederum auf einen spezifischen Stern ausgerichtet ist. Wenn einer 248
dieser Schächte auf seinen jeweiligen Stern ausgerichtet ist, zeigen die anderen für gewöhnlich irgendwo ins leere All. Aber offenbar stimmen alle vier genau überein, wenn man die Sternenuhr auf das Jahr 2.450 vor Christus zurückdreht.« »Ich frage mich, was es mit dieser Zahl für die Erbauer der Pyramide auf sich hatte. Vielleicht bezeichnet sie das Jahr, in dem der Wiederaufbau nach der Sintflut erfolgreich beendet war. Aber irgendetwas beschäftigt mich noch im Zusammenhang mit Sirius …« Catherine musste wieder an die Dogon denken. »Vielleicht hatten die Lichtbringer ihrerseits Besuch erhalten …« Rutherford konnte nicht genau verstehen, was sie sagte. »Wie bitte?« Catherine unterbrach sich. »Ach, nichts. Seltsam. Jedenfalls ist es bestimmt kein Zufall, dass diese Schächte auf die Sterne ausgerichtet sind.« Rutherford sah nervös zur Decke hinauf, als erwarte er, dass das Licht jeden Moment wieder ausgehen könnte. »Besprechen wir das draußen. Ich halte diesen Druck nicht länger aus. Diese Enge geht mir allmählich an die Nieren.« Catherine drehte sich dem Ausgang zu. »Ich bin ganz Ihrer Meinung. Sehen wir zu, dass wir hier herauskommen.«
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Die Tür des Flugzeugs ging auf, und die nordafrikanische Hitze verschlug dem Sekretär beinahe den Atem. Auf den Flughafen von Kairo brannte die glühende Sonne. Die Motoren des Flugzeugs liefen noch, ihr Dröhnen verhinderte jedes Gespräch. Es stank überwältigend nach Kerosin. Mit verächtlicher Miene stieg er die großen Stufen hinunter und stand schließlich, von seinen zwei vertrauenswürdigsten Leibwächtern umgeben, auf der Landebahn. In diesem Augenblick rumpelte ein Vier-Tonnen-Lkw heran und hielt ein paar Meter vom Flugzeug entfernt an. Ein sportlich wirkender Europäer in einem Wüstentarnanzug sprang aus der Fahrerkabine und schritt zielstrebig auf den Sekretär zu. Die Triebwerke kamen nur langsam und quietschend zum Stehen. Er musste brüllen, um den Lärm zu übertönen. »Sir, wir haben sechs Mann hier. Alle bewaffnet und einsatzbereit, und auch in ganz Kairo stehen Agenten bereit. Zu Ihrer Information: Die beiden Subjekte sind vor drei Stunden durch den Zoll gegangen und halten sich derzeit in Gizeh auf.« »Und der Mann in Weiß? Haben Sie ihn gefunden?« »Nein, Sir, von ihm fehlt jede Spur. Die Zentrale sagt, er sei ein früherer Offizier der russischen Armee, ein abtrünniger Wissenschaftler und Spion – was wohl erklärt, weshalb er uns entwischt ist. Vor ein paar Jahren arbeitete er mit Professor Kent zusammen. Er ist ein langjähriger Experte für die Polarkappen.« Der Sekretär sah seinen Adjutanten an und legte ihm mit Bestimmtheit den Plan dar. »Wir müssen die beiden Subjekte allein erwischen, dann schnappen wir sie uns. Ich will keine Wiederholung von La Paz. Das Ganze muss äußerst diskret vor sich gehen, aber ich will, dass in Gizeh bewaffnete 250
Männer bereitstehen. Was den Russen betrifft: höchste Zeit, dass wir ihn ebenfalls aus dem Verkehr ziehen. Im Augenblick dürfen wir keine Risiken eingehen. Lassen Sie allen Agenten ein Foto von ihm zukommen, und geben Sie Befehl, ihn auf der Stelle zu erschießen.« Er verstummte und blickte über die Landebahn hinweg zum Flughafengebäude hinüber, wo sich in der flirrenden Hitze menschliche Gestalten bewegten. Es waren jetzt nur noch ein paar Stunden bis zur Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche. Er wirkte müde, ja sogar alt. Zum ersten Mal verrieten seine Augen auch eine gewisse Verletzlichkeit, er schien beinahe zu zögern. Er warf einen Blick auf seine beiden Leibwächter, die er während des Flugs instruiert hatte. Sie waren erfahren, und in der Angelegenheit mit dem Senator konnte er sich auf ihre Loyalität verlassen. Der Senator war völlig mit den Plänen für die Machtübernahme beschäftigt. Als Letztes erwartete er, von einem seiner eigenen Leute verhört zu werden.
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Als Catherine und Rutherford aus dem Bauch der Großen Pyramide traten, taten ihnen im blendenden Sonnenlicht die Augen weh. Der wolkenlose blaue Himmel erstreckte sich weit in alle Richtungen, und sogar der trostlose Anblick der leeren Wüste verschaffte ihnen nach der heftigen Platzangst und Panik in den unterirdischen Gängen der Großen Pyramide eine gewisse Erleichterung. Catherine hielt sich die linke Hand über die Augen, während sie sich mit der rechten den Staub aus den Kleidern klopfte. »Ahh! Luft! Frische Luft und Sonnenschein. Gott sei Dank sind wir wieder im Freien. Hier drin möchte ich keine Nacht verbringen müssen.« Rutherford wühlte in seiner Tasche nach seiner Sonnenbrille und atmete tief durch. »Das geht mir genauso!« Sie drehte sich um und blickte nochmals an der schwerfälligen Masse der Pyramide hinauf. »Nun, eines ist jedenfalls klar: Sie wurde nicht von einem unzivilisierten Urvolk erbaut. Und bestimmt war sie mehr als nur eine Grabkammer. Wenn wir nur mit Professor Kent sprechen könnten. Er wüsste, was als Nächstes zu tun ist.« Rutherford schüttelte den Kopf und sagte mit zäher Entschlossenheit: »Wir müssen einen Schritt nach dem anderen machen. Und am Ende werden wir das Rätsel lösen.« Catherine ging zu ihm hinüber, legte die Arme um seine Schultern und umarmte ihn schweigend. So blieben sie eine Weile stehen. Dann löste sie sich aus der Umarmung und schulterte ihren Rucksack.
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Sie umrundeten die nordöstliche Ecke der Großen Pyramide. Vor ihnen lag die Nekropolis von Gizeh. »Da ist sie.« Rutherford zeigte in südöstliche Richtung, über das langsam abfallende Felsplateau hinweg, wo die Sphinx in ihren künstlichen Graben gebettet lag. Mit ihrem Löwenkörper und Menschenkopf lag sie da, die Vorderpfoten vor sich ausgestreckt, während ihr Körper mit dem Fels hinter ihr zu verschmelzen schien. Seit unzählbaren Jahrtausenden wartete sie hier geduldig. Immer wieder war sie unter dem unaufhörlich vordrängenden Sand begraben gewesen, bis wieder ein Kaiser oder König oder Statthalter kam und sie ausgrub. »Sie blickt nach Osten, glaube ich«, sagte Catherine. »Ja, genau nach Osten, direkt zur aufgehenden Sonne. In diesem Fall weisen die Erbauer auf das astrologische Zeitalter des Löwen hin, welches 10.970 vor Christus begann und 8.810 vor Christus endete.« »Verblüffend, das passt ja genau zu den Daten, die Von Dechend dem Ende der letzten Eiszeit zuordnet. Glauben Sie, sie wollten damit die Zerstörung ihrer Hochkultur markieren?« Rutherford erwiderte nichts. Sie näherten sich der Seite der riesigen Sphinx. Sie war rund zwanzig Meter hoch und dreiundsiebzig Meter lang. Es war die größte Skulptur aller Zeiten. Er reckte seinen Kopf nach oben. »Sehen Sie, wie verwittert sie ist?« Catherine betrachtete die großen Spalten und Höhlungen in dem alten Kalkstein, aus dem dieses Fabeltier gehauen worden war. An gewissen Stellen sah sie wie ein riesiges schmelzendes Wachsmodell aus. Tiefe Furchen durchzogen den Stein von oben nach unten. »Um eine solche Erosion zu bewirken, sind buchstäblich Jahrtausende nötig.« »Und wie kommt es zu dieser Erosion?« »Regen, Regen und nochmals Regen. Die Sahara ist eine junge Wüste. Es sah hier nicht immer so aus. Einst war es hier grün, fruchtbar und schön. Und es muss eindeutig viel und lange geregnet haben.« »Und wann wurde sie aus Sicht der Fachleute aus dem Stein gehauen?« 253
»Tja, nun, das hängt wiederum ganz davon ab, wen Sie fragen.« Sie gingen zur Vorderseite der Sphinx und schauten in ihr altes Gesicht hinauf. »Experten in Sachen Kalksteinverwitterung kamen zum Schluss, dass sie vor mindestens neuntausend Jahren aus dem Stein gehauen wurde, und das ist eine vorsichtige Schätzung. Sie ist ungeheuer, ja fast unvorstellbar alt. Aber wie wir natürlich wissen, behauptet die konventionelle Geschichtsschreibung, dass zu jener Zeit noch alle im Lendenschurz herumliefen und Steinzeitwerkzeug benutzten.« Catherine starrte zum unergründlichen Gesicht der Sphinx hinauf und dachte an die großartigen Menschen, die sie vor diesen Tausenden von Jahren erschaffen hatten. »Okay«, sagte sie, »wir haben also einerseits eine Pyramide von einem Perfektionsgrad, den auch die NASA heute nur mit Mühe erreichen würde. Wenn man allein schon die Pyramide betrachtet, deutet alles auf das Wissen um höhere Mathematik und Astronomie hin. Zudem weist die Pyramide Sternenschächte auf, die um 2.450 vor Christus mit ihren jeweiligen Sternen übereinstimmten. Wir haben eine Sphinx, die mindestens neuntausend Jahre alt ist – oder noch viel älter – und einen eindeutigen Bezug zum Löwezeitalter hat. Und auf der anderen Seite haben wir die gesamte Historikergilde, die diese unwiderlegbaren Beweise abstreitet.« Langsam ging Catherine um die Vorderpfoten des rätselhaften Ungetüms herum. »Außerdem hielten die Schöpfer jener Landkarten, die uns auf dieses Abenteuer geschickt haben, diesen Ort hier für den Mittelpunkt der Welt. Und zudem haben wir Mythen aus der ganzen Welt, die von einer Gruppe von Zivilisatoren erzählen, die nach der Sintflut kamen, um ihre zerstörte Hochkultur wieder aufzubauen. Diese Mythen enthalten, wie Professor Kent meinte, eine Menge an technischem Wissen, das wiederum im Zusammenhang mit einer Katastrophe steht, die durch die Verschiebung der Erdkruste ausgelöst wurde. Und zu guter Letzt können wir, dank Von Dechend, diese Katastrophe auch datieren, und zwar auf das Ende der Eiszeit, etwa um 11.000 vor Christus. Dies gibt den Flüchtlingen aus der Antarktis genügend 254
Zeit, um nach Ägypten zu gelangen, ihre Kultur hier wieder aufzubauen und die Sphinx zu erschaffen.« Rutherford sah Catherine an. Ein verschmitztes Lächeln lag auf seinem Gesicht. »Und da ist noch etwas.« Catherine runzelte ängstlich die Stirn. »Was?« Rutherford schaute auf seine Füße. »Ich hab ganz vergessen, Ihnen von den Booten zu erzählen.«
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Catherine hatte das Gefühl, ihr Kopf beginne sich zu drehen. »Was für Boote?«, fragte sie argwöhnisch. Rutherford blickte sie an. Es war ihm beinahe peinlich, noch ein weiteres Rätsel aufdecken zu müssen. »Archäologen haben aus dem Sand neben den Pyramiden mehrere Boote ausgegraben. Es handelt sich um riesige seetüchtige Wasserfahrzeuge, und Meeresarchäologen sind der Ansicht, dass sie nur das Resultat einer langen Tradition von Erfahrung im Schiffsbau sein können.« Catherine warf ihren Kopf zurück und lachte. Eine letzte, bisher ungestellte Frage hatte sie noch. »Weiß man eigentlich, was die alten Ägypter über ihre eigene Herkunft zu sagen hatten?« »Ja. Und in gewisser Hinsicht passt ihre eigene Version besser zu dem Beweismaterial als die herkömmliche Geschichtsschreibung. Das heißt, falls man bereit ist, die Mythen mit wohlwollendem Blick zu betrachten.« »Wie meinen Sie das?« »Nun, als Beispiel: Osiris ist einer der ägyptischen Götter. Die Neteru, wie man sie nannte, kamen aus ihrer eigenen geheimnisumwobenen Heimat, genau wie die Viracochas oder Quetzalcoatl und seine Anhänger. Wenn die Neteru aber aus einer fortschrittlicheren Hochkultur stammten, überrascht es nicht, dass sie den Ureinwohnern Ägyptens wie Götter vorkamen.« Catherine hing gebannt an seinen Lippen. »Dann müssen die Neteru, die von den heutigen Ägyptologen als göttliche Sagengestalten abgetan werden, also die Lichtbringer gewesen sein.« 256
»Es sieht ganz danach aus. Im Innern der Pyramiden von Unas in Sakkara wurden Inschriften gefunden, die auf etwa 2.400 vor Christus datiert werden. Sie sind deshalb interessant, weil sie, wie die Pyramiden hier in Gizeh, aus dem Nichts zu kommen scheinen.« »In welchem Sinne?« »Nun, es gibt keine schriftlichen Zeugnisse aus der Zeit vor ihnen. Es gibt keine simplen Hieroglyphen, die benutzt wurden, um Vorräte zu zählen oder das Vergehen von Tagen oder Monaten aufzuzeichnen, wie das zum Beispiel bei den frühesten Keilschriftfunden aus Babylon der Fall ist. Stattdessen fangen wir direkt mit den ausgefeiltesten Hieroglyphen der gesamten ägyptischen Kultur an. Hinzu kommt, dass sich diese Inschriften mit hoch entwickelten, abstrakten theologischen und metaphysischen Theorien befassen und ein riesiges Ensemble von höchst symbolischen Göttern und Göttinnen präsentieren. Wallis Budge, der größte Ägyptologe Großbritanniens, sagte einst, es sei schlicht unerklärlich, dass aus heiterem Himmel eine so hoch entwickelte Kultur auftauchen sollte. Es ist, als würden die Buschmänner der Kalahari innerhalb von hundert Jahren die gesamte jüdische Kultur und Religion erschaffen – und gleichzeitig in der afrikanischen Wüste das größte Bauwerk der Welt errichten.« Catherine versuchte, einen Plan auszuarbeiten, was als Nächstes zu tun war. »Wer ist für diese Altertümer zuständig? Ich meine, wer erteilt die Erlaubnis, diese Bauwerke zu studieren und neue Theorien zu erproben? Wer hat die Macht, den überholten Irrglauben der orthodoxen Historiker zu stürzen?« Rutherford sah sie aufmerksam an. »Dr. Ahmed Aziz, der Direktor der ägyptischen Altertümerverwaltung. Er kann die Karriere jedes Ägyptologen beenden, indem er ihm keine Besuchserlaubnis für die Altertümer oder sogar keine Einreisebewilligung nach Ägypten erteilt. Seine Macht ist uneingeschränkt.« Catherine nickte entschlossen. »Gut, dann wissen wir wenigstens, wer hier das Sagen hat. Wenn er veranlassen würde, dass hier alles neu datiert wird, dann könnte et257
was in Gang kommen. Wenn er der Überzeugung wäre, dass das Bild, das man heute vom alten Ägypten hat, hoffnungslos überholt ist, dann könnte er eine Veränderung bewirken.« Rutherford warf einen ehrfürchtigen Blick auf die Pyramiden zurück. »Wir sollten uns fragen, warum er genau das nicht schon längst getan hat. Man sollte doch annehmen, dass er zumindest Kenntnis von diesem Beweismaterial hat. Vielleicht ist es religiöser Druck auf die Regierung, der ihm verbietet, dieses Beweismaterial ernst zu nehmen.« Catherine konnte diesem Gedanken nicht folgen. »Warum sollte das eine Rolle spielen?« Rutherford nahm seine Brille ab und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Nun, die fundamentalistischen Moslems, die beträchtlichen Einfluss auf die ägyptische Regierung haben, unterscheiden sich nicht wirklich von den fundamentalistischen Christen in Amerika, oder den Juden, was das betrifft. Auch sie halten an ihrer Sicht der Weltgeschichte fest, einer Art islamistischen Version der christlich-kreationistischen Sicht. Ich bezweifle, dass sie Freude daran hätten, eine Erklärung dafür liefern zu müssen, dass es vor unserer heutigen Welt bereits eine frühere Welt gab. Aber das ist nur so eine Vermutung – ich weiß es nicht.« Catherine hatte das Gefühl, dass dies gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt sein könnte. »Ich finde, wir sollten mehr darüber herausfinden. Vielleicht können wir sogar diesen Aziz treffen. Was wissen Sie über ihn?« »Fast nichts. Ich habe ihn vor Jahren einmal kennen gelernt, glaube ich – er hielt in Oxford eine Vorlesung. Das war lange, bevor er zum Direktor ernannt wurde. Sein Vorgänger starb in einem Autounfall, wenn ich mich recht erinnere. Aziz' Ernennung sorgte damals für ziemliche Aufregung, er war jung und hatte in den USA studiert.« Rutherford hielt inne. »Vielleicht sollten wir es in der Tat versuchen. Bis jetzt ist auch Bezumov nicht aufgetaucht, aber es sind ja noch zwölf Stunden bis zur Tag-und-Nacht-Gleiche. Was er genau im Schilde 258
führt, weiß ich auch nicht. Was kann man mit Millionen Tonnen von Steinen anfangen?« Rutherford zuckte die Schultern. »Okay, versuchen wir es mit Aziz. Mal sehen, was er zu all diesen Ungereimtheiten sagt.« Er warf nochmals einen Blick auf das ausdruckslose Gesicht der Sphinx, bevor er seine Tasche schulterte. »Gehen wir zum Wagen zurück.« Catherine starrte zum unsterblichen Gesicht der alten Skulptur hinauf und murmelte vor sich hin: »Wir werden schon noch hinter dein Geheimnis kommen, große Sphinx.« Sie drehte sich um und folgte Rutherford die leichte Steigung zur Gizehhochebene hinauf und zurück zum Wagen.
»Stopp!« Auf diesen scharfen Befehl hin brachte Bezumovs Fahrer den Land Cruiser am Rande des Parkplatzes von Gizeh abrupt zum Stehen. Hinter dem Fahrzeug stieg eine Staubwolke in die Luft. Bezumov traute seinen Augen nicht. Er spähte zu den beiden Westlern hinüber, die von der Sphinx auf den Parkplatz zukamen. Sein Gesicht überzog eine Mischung von Wut und Überraschung. Als die beiden Gestalten näher kamen, bestätigte sich sein Verdacht. Er beobachtete sie, bis sie bei ihrem Auto waren. Zuerst stieg Donovan ein, dann dieser lästige Engländer. Bezumov schlug mit der Handfläche auf das Armaturenbrett. Instinktiv griff er unter sein Jackett und tastete nach seinem Schulterhalfter. Die Waffe war dort. Aber hier ist nicht der richtige Ort … Das Auto verließ den Parkplatz und fuhr davon. »Folgen Sie diesem Wagen«, sagte er zu seinem Fahrer. »Und verlieren Sie ihn nicht aus den Augen – keine Sekunde lang.«
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Kairo ist keine einfache Stadt für Autofahrer. Viele Straßen gleichen einander aufs Haar, Verkehrsschilder sind spärlich und weit auseinander, der Verkehr ist entsetzlich, und die Einheimischen betrachten die Straßenverkehrsordnung im besten Fall als gut gemeinte Richtlinie, im schlechtesten Fall als völlig belanglos. Nach zahlreichem falschem Abbiegen und unablässigem Gehupe gelangten Catherine und Rutherford schließlich auf den Parkplatz hinter der Altertümerverwaltung. Rutherford sah ziemlich gestresst aus. »Was für ein Albtraum. Ich dachte, wir würden nie hierherfinden, und ich hatte sogar das Gefühl, dass man uns verfolgt, bis ich mir gesagt habe, dass auch der entschlossenste Verbrecher bei diesem Verkehr wohl kaum eine Chance haben würde.« Er sprang aus dem Wagen und schaute zu dem Gebäude hinüber, in dem die Altertümerverwaltung untergebracht war. Irgendwie strahlte es etwas Ungutes aus. »Glauben Sie wirklich, dass sich der Versuch lohnt, einen Termin bei Aziz zu bekommen? Ich meine, was soll er uns erzählen – falls er uns überhaupt empfängt?« Catherine warf die Beifahrertür zu. »James, unser Vorgehen war bisher erfolgreich. Wenn nichts dabei herauskommt, suchen wir uns ein Hotel und denken uns einen neuen Plan aus. Ich möchte einfach sehen, wie er reagiert.« Ein Wächter in einer schlecht sitzenden braunen Uniform mit Schirmmütze kam aus dem Wachhäuschen und zeigte auf den Hintereingang des Gebäudes. Catherine und Rutherford gingen zu ihm hinüber. »Salaam aleikum. Ihre Pässe, bitte.« Sie händigten ihm ihre Pässe aus, und nach einer eher flüchtigen 260
Prüfung gab er ihnen zu verstehen, dass sie durch die Tür gehen durften. Im Innern führte ein mit schäbigem Linoleum bedeckter Korridor geradeaus zum Empfangsschalter – falls man dem Schild an der Decke trauen durfte. Die Türen auf beiden Seiten des Ganges waren geschlossen, ab und zu zweigten weitere Korridore nach irgendwo ab. Catherine schaute den tristen, schlecht beleuchteten Gang entlang und warf Rutherford einen Blick zu. »Was meinen Sie?« Er zögerte, bevor er erwiderte: »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich sollten wir zum Empfangsschalter gehen.« Nach ein paar Schritten entdeckte Rutherford ein Schild auf Englisch und Arabisch, das in Richtung eines Korridors zeigte, der nach rechts abzweigte. Darauf stand: Büro des Direktors und Konferenzraum. »Andererseits: Warum lassen wir die Empfangsdame nicht aus und überspringen eine Stufe der Bürokratie? Sie würde uns ohnehin stundenlang warten lassen. Wenn unser Freund, der Direktor, uns sehen will, dann empfängt er uns sofort, und wenn nicht, dann kann er es uns gleich persönlich sagen – außer er ist gerade beim Mittagessen.« »Oder außer Lande«, fügte Catherine hinzu. Auf der Hälfte des Ganges befand sich die Tür zum Büro des Direktors. Rutherford hob seine Hand und hielt einen Moment inne. Er schaute Catherine an. »Okay, dann mal los.« Er klopfte laut und deutlich. Sie warteten nervös. Nach etwa dreißig Sekunden wurde die Tür von einer jungen Frau mit dem üblichen muslimischen Kopftuch geöffnet. Sie schien überrascht, Catherine und Rutherford vor sich im Gang zu sehen. »Hallo, wie kann ich Ihnen helfen?« Sie sprach gutes Englisch mit starkem ägyptischen Akzent. Rutherford warf Catherine einen Blick zu, dann begann er: »Äh, ja, wir möchten Dr. Aziz sprechen. Ist er hier?« Die Sekretärin schaute sie argwöhnisch an. 261
»Haben Sie einen Termin mit ihm?« Rutherford war unsicher, wie er reagieren sollte, doch bevor er etwas sagen konnte, ergriff Catherine die Initiative. In ihrer Stimme lag tiefe Empörung, als sie zu der Frau sagte: »Verzeihen Sie …« Sie stellte sich vor Rutherford. »Ja, wir haben in der Tat einen Termin. Könnten Sie Dr. Aziz bitte ausrichten, dass Catherine Donovan und James Rutherford von der Universität Oxford hier sind? Und würden Sie so nett sein und uns hereinlassen – ich schätze es gar nicht, im Korridor warten gelassen zu werden, vor allem nach einem langen Flug.« Das half. Die Sekretärin öffnete blitzartig die Tür zu Ahmed Aziz' geräumigem Vorzimmer. Sie winkte sie herein. Das Büro hatte große Fenster, aus denen man auf einen gepflegten ägyptischen Garten hinuntersah. Eine zweite Tür schien zu Ahmed Aziz' persönlichem Büro zu führen. Zudem gab es zwei ausladende grüne Ledersofas mit dekorativen Wasserpfeifen, und als Catherine sich in dem Zimmer umsah, entdeckte sie eine weitere Person in diesem Büro – einen kleinen, zierlichen Ägypter, dem der zweite Schreibtisch gehörte. Er lächelte sie mit einem Funkeln in seinen dunklen Augen an. Die Sekretärin, die sehr nervös wirkte, führte sie zu einem der Sofas. »Bitte, nehmen Sie Platz. Mr. Rutherford und Miss Donovan – nicht wahr?« Catherine erwiderte überheblich: »Dr. Rutherford und Dr. Donovan, um genau zu sein. Vielen Dank.« Die Sekretärin blickte sie noch einmal nervös an, bevor sie zu ihrem Schreibtisch ging und sich hinsetzte. Sie hob den Hörer ab und wählte eine Nummer. Rutherford beobachtete jede ihrer Bewegungen. Nachdem sie kurz ein paar Sätze in kehligem Arabisch gesagt hatte, legte sie wieder auf. »Dr. Aziz empfängt Sie gleich.« Catherine warf Rutherford einen verschwörerischen Blick zu, dann setzten sich beide auf eines der großen Ledersofas. Eine Minute später ging die zweite Tür auf und Dr. Aziz trat heraus. »Hallo. Willkommen in Kairo. Bitte, kommen Sie doch herein.« 262
Catherine und Rutherford folgten ihm. Sie waren von der Freundlichkeit des Empfangs etwas überrascht. So einfach konnte es doch nicht sein; auf der ganzen Welt war es sonst verdammt schwer, bei Leuten von Aziz' Kaliber so kurzfristig vorgelassen zu werden. Sehr seltsam, dachte Rutherford. Er hatte sich auf Schwierigkeiten eingestellt, darauf, dass sie mit der Erklärung ›kommen Sie morgen oder übermorgen wieder‹ abgewimmelt würden. Und nun wurden sie augenblicklich empfangen, ohne weitere Fragen.
Aziz' Büro war luxuriös mit türkischen Teppichen und Ledersesseln ausgestattet. An den Wänden hingen Poster des ägyptischen Ministeriums für Fremdenverkehr mit den Sehenswürdigkeiten des Landes, und auf seinem Schreibtisch lag ein Briefbeschwerer: eine zehn Zentimeter große, bronzene Miniaturausgabe des Benbensteins. Aziz forderte sie auf, Platz zu nehmen, und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Er sprach mit einem deutlichen ägyptischen Akzent, doch sein Englisch war fließend. Sein Ton war zuvorkommend, aber, wie Catherine fand, auch etwas schmierig. »Ich möchte mich vielmals entschuldigen. Meine Sekretärin scheint unseren Termin übersehen zu haben.« Er lehnte sich zurück, einen Arm auf die Armlehne gelegt, und lächelte sie an. Er schien alle Zeit der Welt zu haben. »Kaffee? Pfefferminztee?« Rutherford wunderte sich noch immer, weshalb er so freundlich war. Catherine lehnte sich vor. »Wir sind hier, weil wir Ihnen ein paar Fragen stellen möchten … Fragen über das Alter der Pyramiden und der Sphinx.« Aziz lehnte sich ebenfalls vor, stützte seine Ellbogen und Unterarme auf dem Schreibtisch auf und verschränkte die Hände. »Aber gerne. Darüber weiß ich das eine oder andere.« Aziz musste über seinen eigenen Scherz schmunzeln. Rutherford beschloss, dass es Zeit war, auf den Punkt zu kommen. 263
»Wir würden gerne wissen, was Sie von den Schlussfolgerungen gewisser Geologen halten, die – meiner Ansicht nach – überzeugend beweisen, dass die Pyramiden Tausende von Jahren älter sind als bisher angenommen.« Aziz' Miene änderte sich schlagartig. Plötzlich wurde er ernst. Sein Charme verflüchtigte sich, und seine Stimme bekam einen aggressiven Unterton. »Von diesen wilden Theorien habe ich natürlich gehört. Unsere Geologen haben die Sphinx untersucht und diese Behauptung entkräftet. Es fällt mir schwer zu glauben, dass zwei Akademiker von einer so renommierten Universität wie Oxford ernsthaft in Erwägung ziehen, solch lachhaften Ideen Glauben zu schenken. Jahrhunderte wissenschaftlicher Arbeit wurden in das Bemühen gesteckt, die korrekte Chronologie unserer ägyptischen Vergangenheit zu ermitteln. Jahrhunderte. Unzählige namhafte Experten aus aller Welt, nicht zuletzt aus Ihren eigenen Ländern, haben ihren Beitrag dazu geleistet.« Er sah sie mit einem glühenden Blick an. »Ihre Behauptung ist anmaßend und beleidigend, nicht nur für mich, sondern für die gesamte Fachschaft der Ägyptologen. Ich bin fassungslos.« Catherine war von der unvermittelten Heftigkeit seiner Reaktion völlig überrumpelt. Aziz lehnte sich zurück und blickte seine beiden Gäste kühl an. »Ich schlage vor, Sie suchen irgendwo – warum nicht in Oxford – eine Bibliothek auf und machen zuerst mal Ihre Hausaufgaben, bevor Sie jemanden in meiner Position erneut behelligen. Und«, er senkte seine Stimme, »ich würde Ihnen raten, dass Sie Ihrem Ruf als Wissenschaftler zuliebe mit dieser Art Unfug nicht zu sehr hausieren gehen. Viele Jahre sind nötig, um eine akademische Reputation aufzubauen, doch wie leicht ist sie zerstört.« Catherine warf Rutherford einen Blick zu, der vor Verwunderung und Überraschung die Augenbrauen hob und den Kopf schüttelte – hier würden sie nicht weiterkommen. Sie erhob sich. »Haben Sie vielen Dank, Dr. Aziz, es war uns ein Vergnügen, mit Ihnen zu sprechen. Wir sind auf diesem Forschungsgebiet nur 264
Amateure. Bitte verzeihen Sie uns, wenn wir Ihnen zu nahe getreten sind.« Aziz erhob sich ebenfalls, ging zur Tür und öffnete sie weit. Er verharrte in Schweigen, was weitere Fragen oder Bemerkungen unmöglich machte. Catherine und Rutherford verließen sein Büro und traten ins Vorzimmer. Aziz rief an ihnen vorbei: »Poimandres, bitte begleiten Sie unsere Gäste hinaus.« Aziz wandte sich noch einmal kurz an sie und verabschiedete sich rasch und mit kühler Miene. »Guten Tag, Dr. Donovan, Dr. Rutherford – es war mir ein Vergnügen.« Der dunkelhäutige Kopte erhob sich von seinem Schreibtisch und lächelte sie an.
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Catherine starrte ungläubig auf die Tür zu Aziz' Büro, deren glatte Oberfläche der Unwiderruflichkeit ihres Rauswurfs entsprach. »Guten Tag, mein Name ist Poimandres, ich bin der Assistent von Dr. Aziz.« Der zierliche Kopte streckte Catherine die Hand hin. Etwas verdutzt schüttelte sie sie. »Sehr erfreut, Mr. Poimandres. Ich bin Catherine Donovan, und das ist James Rutherford.« Rutherford schüttelte Poimandres' Hand. »Hallo, freut mich, Sie kennen zu lernen«, sagte Rutherford. »Sie werden also dafür sorgen, dass wir dieses Haus auch wirklich verlassen?« Poimandres lächelte Rutherford an. Er hatte das knochige, ehrliche Gesicht eines asketischen Mönches. »Ja, das könnte man so sagen. Würden Sie mir bitte folgen?« Rutherford lächelte. Etwas Unwirkliches, fast Ätherisches ging von diesem kleinen, dunkelhäutigen Mann aus. Nach Aziz' feindseliger und herablassender Art strahlte Poimandres Wärme und Ruhe aus. Er schritt an der Sekretärin vorbei, die schweigend an ihrem Schreibtisch saß, in den Korridor hinaus. Nachdem sie den dunklen, stillen Gang betreten hatten, schloss Poimandres die Tür hinter ihnen. Dann warf er einen raschen Blick in beide Richtungen, wie um sicherzugehen, dass der Korridor leer war. »Sie wollten mit Dr. Aziz über die Ursprünge der ägyptischen Hochkultur sprechen?« Catherine sah kurz zu Rutherford hinüber – er wirkte ebenso verblüfft wie sie. 266
»Wir wollten uns mit ihm in der Tat über einige Theorien unterhalten. Er hatte dafür aber leider nicht viel … Zeit übrig.« Poimandres ließ nicht locker. »Dr. Aziz ist in einer nicht ganz einfachen Lage. Es steht ihm nicht frei, gewisse Spekulationen anzustellen.« Rutherford war fasziniert. Warum verriet ihnen dieser Mann diese Dinge? Er packte die Gelegenheit beim Schopf und fragte: »Mr. Poimandres, halten Sie unsere Hypothesen für plausibel?« Der Kopte ließ seine dunklen Augen ganz langsam zu Rutherford hinübergleiten. »Dr. Rutherford, das hängt sehr davon ab, weshalb Sie das wissen wollen.« Catherine sagte: »Wie meinen Sie das – weshalb wir das wissen wollen?« »Ich meine, was ist Ihr Motiv? Geht es Ihnen um akademischen Ruhm oder …« Er verstummte. Seine leuchtenden dunklen Augen prüften ihr Gesicht, als versuchten sie herauszufinden, was dahinter vorging. »Oder geht es Ihnen um etwas anderes?« Sein eindringlicher Blick machte Catherine bewusst, dass dieser Moment für ihre Suche von entscheidender Bedeutung war. Sie hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging, aber sie wusste intuitiv, dass nun alles von ihrer Antwort abhing. Er weiß etwas. Er ist auf unserer Seite. Sie spürte, dass Poimandres wartete. Plötzlich tauchte vor ihrem inneren Auge jenes berühmte Bild aus den Pyramidentexten auf. Es stellt die Gerichtshalle des Osiris dar. Osiris, der in seiner ganzen Pracht auf dem Thron sitzt, muss über die Seele eines kürzlich Verstorbenen richten. In seinen Händen hält er eine Waage. Er wiegt das menschliche Herz mit einer Feder – dem Inbegriff von Leichtigkeit und Wahrheit. Ist dieses Herz rein? Sie blickte Poimandres in die Augen und fasste einen Entschluss. »Wir glauben, dass die Welt in großer Gefahr ist. Wir glauben, dass die historischen Beweise vorsätzlich gefälscht worden sind, um die Wahrheit über die Vergangenheit zu vertuschen. Erkenntnisse über eine Hochkultur der Vorzeit werden der Menschheit mit Absicht vorenthalten, dabei sind es gerade diese Erkenntnisse, die uns vielleicht 267
noch retten könnten. Wenn wir nicht herausfinden, was die Menschen der alten Welt wussten, werden wir wie sie in einer furchtbaren Umweltkatastrophe untergehen. Die Pyramiden wurden nicht von Pharaonen um 2.500 vor Christus erbaut, vielmehr sind sie das Denkmal jener Menschen, die die Sintflut überlebten.« Poimandres senkte seinen Blick. Seine Antwort war ein Flüstern. »Bitte, Sie müssen mit mir nach Gizeh kommen. Aber zuerst …« Er öffnete eine der Türen und führte sie hinein. Es war eine Art Werkstatt oder Lagerraum. Nebst Werkzeugen, Farbtöpfen und anderen Utensilien gab es hier auch ägyptische Arbeitskleider. »Hier, ziehen Sie diese Djellabas an.« Poimandres reichte beiden eine knöchellange Tunika. Catherine und Rutherford sahen einander erstaunt an, bevor sie sich diese Überwürfe über den Kopf zogen. Mit den Kapuzen waren sie kaum wiederzuerkennen. Poimandres öffnete die Tür zum Korridor. Die Luft war rein. »Folgen Sie mir.«
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Gegenüber der Altertümerverwaltung wartete ein weißer Toyota Land Cruiser am Straßenrand. Die Abenddämmerung hatte sich über Kairo gelegt, doch Bezumov war wachsamer denn je und wartete darauf, was als Nächstes passierte. Es schienen Stunden vergangen zu sein, als sich endlich etwas regte. »Was ist jetzt los?« Das Warten hatte an Bezumovs Nerven gezerrt. Seine Geduld ging langsam zu Ende. Er war von Natur aus ein Mann der Tat. Er beobachtete, wie ein kleiner, ausgemergelter Mann in einer weißen Djellaba vorsichtig aus dem Gebäude trat. Da der Wächter sofort Haltung annahm, schien der Mann offenbar eine nicht unbedeutende Position innezuhaben. Der alte Mann schlurfte davon; zwei Gestalten in schmutzigen Mänteln mit Kapuzen folgten ihm. Bezumov blickte zu seinem Fahrer hinüber, der vor sich hindöste. Er versetzte ihm einen Schlag auf den Arm. Dann entdeckte er im fahlen Licht, das aus der offenen Tür fiel, Catherines elegante europäische Schuhe, die unter dem Überwurf hervorlugten. Sie sind es!
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Poimandres brachte den Jeep im Dunkeln am Fuß der Großen Pyramide zum Stehen. Bei der Zufahrt auf das Gelände hatte er kurz mit den Nachtwächtern gesprochen, die ihn sofort passieren ließen. Sie waren am Parkplatz vorbei und direkt auf das Gelände gefahren. Rutherford und Catherine sahen sich schweigend an und stiegen aus dem Wagen. Am klaren nordafrikanischen Himmel leuchteten die Sterne prächtig. Catherine warf die Tür zu, schaute zur riesigen Masse der Pyramide hinauf und dann zu dem Kopten hinüber, der am Ende der Zufahrt geduldig auf sie wartete. Leise flüsterte sie: »Okay, nun werden wir sehen, was er uns zu sagen hat. Halten Sie Ihre Augen nach dem Russen offen.« Poimandres blickte sie feierlich an. Der Fahrer wartete außer Hörweite beim Jeep. Poimandres verbeugte sich kurz und begann: »Die Errichtung der Großen Pyramide war der letzte Versuch einer sterbenden Hochkultur, ihr altes Wissen zu bewahren.« Er blickte sie aufmerksam an. »Wenn ich mich nicht irre, wissen Sie das bereits. Deswegen sind Sie hier, deswegen wollten Sie mit Aziz sprechen.« Catherine und Rutherford nickten verhalten. Er fuhr fort: »Und Sie glauben zu Recht, dass die Welt in Gefahr ist. Ich weiß nicht, woher Sie das wissen, aber das brauche ich auch nicht. Sie wurden zu mir geführt, weil Sie reinen Herzens sind. Im Universum gibt es keine Zufälle. Es ist meine Pflicht, jedem zu helfen, der die Wahrheit sucht. Ich werde Ihnen die Geheimnisse der Großen Pyramide enthüllen, um Ihnen auf Ihrer Suche zu helfen. Wir haben lange auf Ihr Kommen gewartet – sehr, sehr lange.« Poimandres drehte sich zur Pyramide um. Dank eines Scheinwerfers, der sich wohl in der Nähe des Wachtpostens befand, erstrahlte sie in 270
einem mattgelben Licht. Die letzten Touristen waren schon längst fort, und es herrschte eine unheimliche Stille. Die Sanddünen erstreckten sich ununterbrochen, über Tausende von Kilometern, bis zur Atlantikküste. Es war eine apokalyptische Landschaft, übernatürlich schön und gleichzeitig seltsam bedrückend: eine Landschaft ohne Leben und Liebe. Poimandres' Gesicht war schmal, seine Wangen hohl, und auch seine knochigen Augenhöhlen wirkten ungewöhnlich eingefallen. Er sprach mit leiser Stimme, in der dennoch etwas Dringliches lag. »Die Große Pyramide wurde errichtet, um das älteste Wissen der Welt für immer zu bewahren, damit künftige Generationen die Wahrheit erfahren würden, auch wenn jene Hochkultur, die die Pyramide erbaute, untergegangen sein würde. Die Zahlenverhältnisse ihrer Maße enthalten alle mathematischen Formeln, die das Universum lenken, und ergeben eine große Zahl von Funktionen. Sie ist ein Lehrbuch, das aus allen numerologischen Formeln besteht, die das Weltall regieren. Die Anordnung der Felsblöcke entspricht dem Aufbau des Himmels, ja des Lebens selbst. Die Pyramide enthält eine Botschaft an uns Menschen der Zukunft, und gleichzeitig ist sie ein voll funktionsfähiger Energiespeicher, der gewaltige Kräfte anziehen und nutzbar machen kann. Aber bevor ich Ihnen ihre Geheimnisse erläutere, möchte ich nochmals deutlich machen, dass es Welten und Hochkulturen vor unserer eigenen gab. Ich nehme an, das ist Ihnen klar?« Catherine nickte. »Ja, nach all den Beweisen, die uns vorliegen, können wir uns etwas anderes gar nicht mehr vorstellen.« Rutherford nickte zustimmend. »Wir haben nicht den geringsten Zweifel daran.« Poimandres überlegte einen Moment, dann setzte er vorsichtig zu seinen Erklärungen an. »Die Erde wurde schon in der letzten Welt von der vorangegangenen Hochkultur vermessen. Ihre Ausmaße wurden präzise berechnet …« Catherine nickte erneut. »Ja, wir haben jene Landkarten gesehen, die eine Verbindung zwischen all ihren Bauwerken auf der ganzen Welt herstellen.« 271
Der Kopte blickte seine beiden Zuhörer an, um sicherzugehen, dass sie ihm folgen konnten. »Das weltweite Netz von Energielinien, das man in England Ley-Linien nennt, ist ein Zeichen ihrer Arbeit. Die Katastrophe, die jene alte Hochkultur zerstörte, war von solcher Gewalt, dass sie zu einer so unerhörten Verschiebung der Kontinente führte, dass sich die Muster der Sonnen- und Erdenergien für immer veränderten und das Zentrum dieser Energien verschob. Die Überlebenden hatten keine Wahl: Ihre Heimat war überflutet, ihre wichtigste Aufgabe war es, nach der Neuausrichtung der Erdkruste ein neues Energiezentrum zu ermitteln. Als sie es fanden, erbauten sie neben ihrer Hauptstadt auch das Instrument, um die gewaltigen Kräfte wieder nutzbar zu machen. Und hier, im Herzen der trockenen Landmasse, befindet sich die Große Pyramide.« Poimandres blickte zur Pyramide hinauf, deren Spitze im künstlichen Licht glühte. »Stellen Sie sich eine mit Fell überzogene Kugel vor oder auch die Haare auf unseren Köpfen. Auf dieser Kugel oder auf dem Kopf richtet sich ein einzelnes Haar auf – und all die anderen Haare richten sich nach ihm aus. Genauso ist es mit dem Magnetfeld unseres Planeten.« Rutherford musste an Ivan Bezumov denken. Der Russe hatte tatsächlich recht, genau wie Professor Kent vermutet hatte. Poimandres ging zum Fahrer hinüber und wechselte ein paar Sätze auf Arabisch mit ihm, dann kehrte er zurück. »Aber hier draußen sind wir nicht sicher. Wir müssen in den Bir hinuntergehen – das ist Arabisch für ›Brunnen‹. Erst dort kann ich Ihnen die Geheimnisse der Pyramide enthüllen und erklären, weshalb die Welt in Gefahr ist. Bitte folgen Sie mir.«
Poimandres führte sie im Dunkeln zum Weg hinüber, der von der zweiten Pyramide, der Chephren-Pyramide, in östlicher Richtung verlief, zur Sphinx hinunter. Die Wächter nahmen ihren ersten nächtli272
chen Rundgang vor, um sicherzustellen, dass niemand im Begriff war, die Pyramiden hochzuklettern. Sie folgten dem Weg in Richtung Sphinx. Auf halbem Weg blieb Poimandres stehen. Er wechselte ein paar Worte mit dem Fahrer und gab Catherine und Rutherford durch Winken zu verstehen, dass sie ihm folgen sollten. Er verließ den befestigten Weg und sprang auf den Sand hinunter. Der Fahrer blieb beim Wagen. Wahrscheinlich als Beobachtungsposten, dachte Rutherford. Sie folgten Poimandres auf den Sand hinunter und erblickten zu ihrer Überraschung den Eingang in einen Tunnel, der sich unter den großen Kalksteinblöcken, auf denen der Weg verlief, auftat. Ein paar Meter hinter der Öffnung befand sich ein schweres, eisernes Gittertor. Poimandres durchwühlte die Taschen seiner Djellaba und holte einen Bund großer Schlüssel hervor. Er bedeutete ihnen, in die Tunnelöffnung zu treten, damit sie außer Sichtweite der Wächter waren. Er schloss das Tor auf und führte sie in eine kleine Höhle. Dann bückte er sich und schaltete eine schwache elektrische Lampe an. In der Ecke der Höhle befand sich ein Brunnen, in dessen Schacht eine Stahlleiter hinunterführte. Poimandres schloss das Tor hinter sich. »Ich gehe voran. Folgen Sie mir einfach. Vorsicht, die Stufen sind etwas glitschig.« Catherine und Rutherford sahen einander verblüfft an. Er forderte sie tatsächlich auf, ihm in den Bauch der Erde zu folgen. Poimandres verschwand im Dunkeln, und Rutherford holte tief Luft. »Es bleiben uns nur noch fünf Stunden bis zum Sonnenaufgang. Nun gibt es kein Zurück mehr. Möchten Sie als Erste gehen?« Catherine biss die Zähne aufeinander und hielt sich an der Leiter fest. »Okay. Dann sehen wir uns unten wieder.« Wenn es wirklich ein Unten gibt, dachte Rutherford, als Catherine im Dunkeln verschwand.
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Sekretär Miller und seine beiden Leibwächter kletterten vor dem Hubschrauberhangar aus dem Lastwagen. Der Sekretär klopfte seine Kleider aus. Drei muskulöse weiße Männer mit schwarzen TShirts, Sturmgewehren und dunklen Sonnenbrillen bewachten den Eingang. In seinem staubigen Straßenanzug kam sich der Sekretär deplatziert und verletzlich vor. Doch dann erfasste ihn eine große Entschlossenheit. Jetzt oder nie. Mit seiner rechten Hand tastete er nach der Pistole, die in seinem Schulterhalfter steckte, dann nickte er seinen Leibwächtern zu und schritt durch den schmalen Spalt zwischen den riesigen Wellblechtoren in den Hangar. Doch als sich seine Augen an das düstere Licht gewöhnt hatten, erkannte er, dass er verloren war. Bevor er einen weiteren Schritt machen konnte, spürte er den kalten Stahl eines Gewehrlaufs an seiner Schläfe. In der nächsten Sekunde ging das Licht an und zeigte dem Sekretär, was für einen schrecklichen Fehler er begangen hatte. Vor ihm stand ein gutes Dutzend schwer bewaffneter Männer, deren Gewehre auf ihn gerichtet waren. Bevor Sekretär Miller und seine beiden Leibwächter auch nur einen Gedanken fassen konnten, bellte eine Stimme: »Okay, ihr beiden. Legt euch auf den Boden. Wird's bald!« Die beiden Leibwächter des Sekretärs sahen einander erschrocken an, bevor sie dem Befehl folgten und sich auf dem kalten Betonboden ausstreckten. Wortlos ließ der Mann, der seine Waffe an die Schläfe des Sekretärs hielt, seine Hand ins Schulterhalfter des Sekretärs gleiten und holte die Pistole hervor. Dann stieß er ihm seine eigene Pistole in die Rippen und zwang ihn, auf eine einzelne Tür am anderen Ende des Hangars zuzugehen. 274
Von Angst und Grauen erfüllt, setzte sich der Sekretär in Bewegung. Ein Dutzend Helikopter standen in der höhlenartigen Halle und warfen groteske Schatten, wie Dinosaurier in einem Museum. Das Klacken seiner Absätze hallte in dem riesigen Hangar wider, während er unsicher vorwärts ging. Niemand sonst bewegte sich, kein anderes Geräusch war zu hören. Er spürte, wie sein Herzschlag sich mit jedem Schritt beschleunigte. Seine Sinne liefen auf Hochtouren. Was sollte er tun? Was sollte er sagen? Im Dunkel am Ende des Hangars erschien ein Lichtspalt in der Wand, der zu einem türgroßen weißen Rechteck anwuchs. Er beschleunigte seine Schritte, verlangsamte sie jedoch wieder, als er sich der Tür näherte. Das Licht von draußen war so hell, dass er nichts erkennen konnte – es war, als blicke er in ein Paralleluniversum. Er wusste, dass er durch diese Tür gehen musste. Er warf einen Blick über seine Schulter auf den enormen, luftigen Raum und wurde von einem großen Kummer erfasst. Und dann trat er in das Licht jenseits der Tür. Er sah die Piste und dahinter die blassen Dünen, und vor ihm stand eine Art seltsames Flugzeug. Es war schwarz, etwa so groß wie ein Tarnkappenbomber, aber es war runder, flacher, wie ein riesiger runder Tiefseefisch, der sich den Millionen Tonnen Druck am Boden des Ozeans auf perfekte Weise angepasst hatte. Seine schwarze, samtene Farbe schien alles Licht in sich aufzusaugen. Es war schön, unglaublich schön. Doch es strahlte eine schreckliche Kraft aus. Aus seinem Bauch senkte sich eine ausfahrbare Treppe auf den Teer hinab, dort stand Senator Kurtz mit zwei anderen Männern. Dem Sekretär gefror das Blut. Mit ungerührter Miene hob Kurtz die Pistole in seiner rechten Hand und richtete sie auf die Stirn des Sekretärs. In blinder Panik stammelte Sekretär Miller: »Nein! Bitte. Das ist doch nicht nötig.« Ohne mit der Wimper zu zucken, drückte Senator Kurtz ab. Der Kopf des Sekretärs wurde zerfetzt, und sein Körper sank wie der einer leblosen Puppe zu Boden. In aller Ruhe ging Senator Kurtz hinüber, um den Schaden zu besichtigen. Er blickte auf die entstellte Leiche hinunter und schüttelte den Kopf. 275
»Ruhe in Frieden, Sünder. Möge dir Gott am Jüngsten Tag, der nun nicht mehr fern ist, gnädig sein.« Er machte auf dem Absatz kehrt, steckte die Waffe in sein Schulterhalfter und ging langsam zu dem seltsamen Fluggerät zurück.
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Nach einem Abstieg von zehn Metern erreichten sie am Ende der Leiter einen kleinen Absatz. Poimandres holte drei kleine Taschenlampen aus seinem Gewand. »Hier, nehmen Sie sie. Weiter unten gibt es kein Licht mehr.« Catherine und Rutherford steckten sie ein. Auf der anderen Seite des Absatzes führte eine zweite Leiter senkrecht in die Tiefe. Es gab gerade noch genügend Licht, um wahrzunehmen, dass die Schachtwände von Menschenhand gemacht und nicht bloße Felsspalten waren. Rutherford fuhr mit den Fingern über die Wand. Sie war nass. Wie alt ist dieser Brunnenschacht wohl?, fragte er sich. Poimandres war über den Rand des Absatzes in die Dunkelheit verschwunden. Catherine packte das obere Ende der Leiter und betete innerlich verzweifelt: Hilf uns bitte, dass wir nicht hier unten stecken bleiben! Nach zehn Metern endete die Leiter in der Ecke einer feuchten unterirdischen Höhle. Poimandres knipste rasch seine Taschenlampe an. Ihr schwacher Strahl reichte, um die Ausmaße dieses Raumes zu erkennen. Er war etwa sechs mal dreizehn Meter groß und etwa drei Meter hoch. Als sich Catherines Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, fiel ihr Blick auf zwei Granittruhen – eine auf jeder Seite der dunklen Höhle. »Was machen denn die hier?« Rutherford landete neben ihr. »Mein Gott. Sarkophage.« Poimandres zeigte in die Ecke dieses beengenden Raumes. Dort befand sich ein noch dunkleres Loch – ein weiterer Bir, der noch tiefer hinunterführte. 277
»Wir sind noch nicht an unserem Ziel. Folgen Sie mir.« Schweigend gingen sie zur schwarzen Öffnung des Brunnens hinüber. Poimandres knipste seine Taschenlampe aus, ließ sie in einer Tasche seines Gewandes verschwinden, ergriff die Leiter und ließ sich in die Dunkelheit hinuntergleiten. Kopfschüttelnd folgte ihm Catherine. Rutherford, der kaum glauben konnte, was sie da taten, warf einen letzten Blick in die Höhle, bevor er ihnen ins Unbekannte folgte. Weitere fünfzehn Meter tiefer landete Rutherford in einer geräumigen Höhle. Catherine richtete ihre Taschenlampe bereits hierhin und dorthin und sah sich staunend um. Obwohl es im Dunkeln nicht ganz einfach war, die Dimensionen richtig einzuschätzen, schien dieser Raum etwa vierzig Quadratmeter groß zu sein. Die Decke war niedrig, und Wasser rann über die Wände. Rutherford richtete den schwachen Strahl seiner Lampe auf die Mitte. Dort schien sich eine etwa drei Meter breite Insel zu befinden, die von einem Wassergraben umgeben war. Auf der Insel lagen Steinbrocken herum, als seien sie einst Teil eines Gebildes gewesen, das längst abgebrochen oder mutwillig zerstört worden war. Poimandres wartete, bis sie sich etwas orientiert hatten, und sagte dann: »Dies ist der unterste Raum. Oder um genau zu sein: einer der untersten Räume. Das Gelände von Gizeh ist von Tunneln und Räumen regelrecht durchzogen.« Catherine traute ihren Ohren nicht. »Heißt das, es gibt noch andere solcher Höhlen?« »Catherine, dieser Raum ist noch gar nichts. Es gibt hier riesige Gewölbe. Gewaltige Kammern mit ganzen Bibliotheken voll alten Wissens. Die größte und wichtigste Kammer ist die so genannte Schriftenhalle – dort wird das gesamte Wissen aus der Zeit vor der Sintflut aufbewahrt.« Rutherford war sprachlos. Sein ganzes Leben lang hatte er im Versuch, die Vergangenheit zu rekonstruieren, alte Mythen und Religionen erforscht, und nun standen sie hier, tief unter der Erdoberfläche, und erfuhren, dass sich die ganzen Geheimnisse der Geschichte hier unten befanden. 278
»Aber, Poimandres, warum wird dann diese Schriftenhalle nicht einfach geöffnet? Haben Sie sie gesehen? Hat Aziz sie gesehen?« Poimandres schüttelte feierlich den Kopf. »Nein. Ich kann an den Fingern meiner Hände abzählen, wie viele Menschen je Zutritt zu dieser Kammer erhalten haben.« Catherine sah ihn ungläubig an. »Aber warum weiß die Welt nichts davon? Warum informiert Aziz die Öffentlichkeit nicht?« Poimandres' Miene war ernst. »Aziz weiß nur über diesen Raum Bescheid. Er hat keine Ahnung von der Schriftenhalle, und das ist auch gut so, sonst würde er sich Zutritt verschaffen und sie dann versiegeln oder sogar vernichten … Aziz will keine neuen Entdeckungen machen. Beziehungsweise seine wahren Herren wollen nicht, dass neue Entdeckungen ans Licht kommen. Sie haben Angst vor der Pyramide und ihren Geheimnissen. Schreckliche Angst. Sie wollen nicht, dass irgendjemand weiß, was sich hier unten befindet, sie wollen nicht, dass irgendjemand danach fragt, und sie wollen vor allem nicht, dass irgendwelche Leute hier unten Nachforschungen anstellen.« Rutherford war baff. »Aber warum? Und wer sind denn Aziz' wahre Herren?« »Es gibt eine Organisation, welche Korporation genannt wird. Diejenigen, die glauben, die Macht über die Korporation zu haben, sind selbst Sklaven der Macht. Sie glauben, Gutes zu tun, wenn sie sich die Macht über andere Menschen und über die Welt aneignen. Deshalb ist es ihr Ziel, die Herrschaft über die ganze Welt zu erlangen. Und es ist ganz in ihrem Interesse, dass wir weiterhin an die herkömmliche Version der Geschichte glauben.« Poimandres hielt inne und schaute sie ernst an. »Wenn die Wahrheit ans Licht käme, müsste die heutige Menschheit ihre gesamte Sicht der Welt ändern. Vor allem würde sich dann zeigen, was die Überzeugungen, die unsere heutige, von Wachstum besessene Welt antreiben, in Wirklichkeit sind: ein gefährliches System, das die Ressourcen der Erde erschöpft und uns unweigerlich in eine neue Katastrophe stürzen wird. Wenn die Wahrheit ans 279
Licht käme, würde die Öffentlichkeit die heutige ›Wachstum um jeden Preis‹-Mentalität und die dahinterliegende bodenlose Habgier nicht länger in Kauf nehmen, da sie uns unaufhaltsam ins Verderben führen.« Catherine war völlig fassungslos. Sie drehte sich zu Rutherford um. »Diese Korporation muss hinter der Ermordung von Professor Kent und Miguel Flores stecken.« Sie schüttelte den Kopf. Das Ganze überstieg ihre momentanen Kräfte. Rutherford legte ihr die Hand auf die Schulter und wandte sich wieder an Poimandres. »Aber es ist dennoch unglaublich, dass die Existenz dieser unterirdischen Räume und vor allem der Schriftenhalle nie ans Licht gekommen ist.« Der ruhige Blick des Kopten stand in krassem Gegensatz zu den fassungslosen Mienen der beiden Wissenschaftler. »Ich weiß nur, dass Aziz und diese schrecklichen Leute, für die er arbeitet, um jeden Preis verhindern wollen, dass die Wahrheit über die alte Welt an die Öffentlichkeit kommt.« Rutherford war noch immer ratlos. »Und warum bringen Sie die Wahrheit nicht ans Licht?« »Wenn Wissen in falsche und unkluge Hände gerät, kann dies tödliche Folgen haben, wie man überall auf der Welt sieht. Die heutigen Menschen sind für ein solches Wissen in keiner Weise gerüstet. Sie sind nicht klug genug und würden damit bloß Unheil anrichten. Wir müssen warten, bis die Zeit reif ist und man den Menschen zutrauen kann, jene Macht nicht zu missbrauchen, die dieses Wissen mit sich bringt. Die Männer, die hinter der Korporation stecken, sind zwar wahnsinnig, aber für die dunkle Zeit, in der wir leben, völlig normal. Stellen Sie sich nur vor, was sie tun würden, wenn sie sich die Macht der Alten zu eigen machen könnten. Deshalb ist es also ganz im Interesse von uns allen – von uns und Aziz –, diese Dinge totzuschweigen.« Rutherford konnte kaum glauben, was er da hörte. Ein großer Wissensschatz – die Aufzeichnungen der Lichtbringer – befand sich hier in Reichweite, doch die Einzigen, die davon wussten, setzten alles daran, dass er nie gefunden wurde. 280
»Aber was ist, wenn es tatsächlich zu einer weiteren Katastrophe kommt? Was, wenn die Welt untergeht, bevor die Menschen reif für dieses Wissen sind?« »Dieses Risiko müssen wir eingehen. Irgendwann wird wieder eine neue Welt entstehen, genau wie unsere heutige Welt nach der Katastrophe der Sintflut entstand. Wir können bloß hoffen, dass eine harmonischere Welt entsteht und dass die Menschen der Zukunft würdigere Erben für die Weisheit der alten Welt sind.« Poimandres begann, zum Rand des Wassers hinüberzugehen. »Kommen Sie. Auf die Insel.« Im Dunkeln war es schwierig abzuschätzen, wie tief dieses öligschwarze Wasser war, aber Poimandres zögerte keinen Moment. Er setzte seinen Fuß auf die Wasseroberfläche und ging, ohne einzusinken, weiter. In fünf Schritten hatte er trockenen Boden erreicht. »Nehmen Sie denselben Weg wie ich. Zwei Zentimeter unter der Wasseroberfläche gibt es dort einen kleinen Damm.« Catherine warf Rutherford einen Blick zu und trat an den Wassergraben heran, an die Stelle, von der aus Poimandres hinübergelaufen war. Sie hielt die Luft an, während sie den rechten Fuß aufsetzte. Als ihr Stiefel die Oberflächenspannung des Wassers durchbrach, spürte sie erleichtert das Vorhandensein von hartem Stein. Nervös ging sie auf die Insel hinüber. Rutherford biss die Zähne zusammen und folgte ihr. Auf der Insel hatte Poimandres damit angefangen, Kerzen anzuzünden. Zwischen den verstreuten Steinblöcken stand eine Art Podest aus Stein. Dort stellte er sechs Kerzen auf, bevor er auch auf den anderen Felsbrocken Kerzen befestigte – bis all diese Megalithen mit hellen Lichtpunkten übersät waren. Die flackernden Flammen beleuchteten sein hageres Gesicht. Seine Wangenknochen waren hoch und hart. Seine Stirn war knochig und kräftig. Sein Gesicht wirkte müde. Im Halbdunkel sah er ganz ausgetrocknet aus, wie eine Mumie. »Ich gehöre der ältesten christlichen Kirche der Welt an – der koptischen Kirche Ägyptens. Im Jahr 45 erreichte der Evangelist Markus in Alexandria die ägyptische Küste und begann, das Wort Jesu zu verbreiten. Wir führen unser Christentum direkt auf ihn zurück. Aber 281
ich bin nicht nur ein koptischer Christ, sondern auch ein Gnostiker, ein Sucher der Gnosis. Gnosis ist das altgriechische Wort für ›Wissen‹.« Poimandres hielt einen Moment inne. »Wir Gnostiker sind die Erben der letzten Überreste einer geistigen Tradition, die bis in die Zeit vor der Sintflut zurückreicht. Die Vorväter jener Menschen, die die Pyramiden entwarfen, kamen vor langer Zeit nach Gizeh und wussten, dass die Seele unsterblich ist und wir alle Teil eines universellen Bewusstseins sind. Wir alle sind Bruchstücke eines Ganzen: alle Menschen, alle Pflanzen, die gesamte Materie, alles was im Raum-Zeit-Kontinuum enthalten ist. Wir haben dieses Wissen von unseren Vorfahren geerbt, die vor der Sintflut lebten, und haben es in den Evangelien von Jesus Christus versteckt. Wahres Christentum ist einfach eine Weiterführung des alten Wissens. Der heilige Markus war natürlich ein Gnostiker, wie alle frühen Christen. Heute ist man sich dessen jedoch nicht mehr bewusst. Stattdessen nehmen die Menschen die Geschichte der Evangelien wörtlich, und sie lesen andere angeblich christliche Bücher, wie zum Beispiel die Schriften des Apostels Paulus. Aber Paulus und andere, die nach den Evangelisten schrieben, waren keine Gnostiker, weshalb in ihren Büchern auch kein altes Wissen enthalten ist. Das Christentum wurde von der Kirche vereinnahmt. Eine Priesterschaft wurde erschaffen, die Wahrheit wurde verschleiert, und das Wissen um die alte Botschaft ging verloren. Statt zu einem Instrument der Wahrheit wurde die Kirche zu einem Instrument der Macht und Unterdrückung. Und die moderne westliche Gesellschaft hat die Kirche schließlich als belanglos abgestempelt. Alles was übrig geblieben ist, ist die Gier nach Macht und Kontrolle, das Verlangen, sich die Menschen und die Natur Untertan zu machen.« Poimandres schüttelte den Kopf und fuhr fort: »In den letzten Jahren ist eine neue Gefahr für die Welt aufgetaucht. Eine radikale Kirche ist erstarkt, welche die wörtliche Wahrheit der Bibel predigt. Diese Kirche versucht, alle Beweise, die der biblischen Schöpfungsgeschichte widersprechen, auszumerzen, vor allem natürlich Beweise für die letz282
te Welt. Aber noch schlimmer ist, dass diese Kirche beabsichtigt, die schrecklichen Visionen aus dem Buch der Offenbarung Wirklichkeit werden zu lassen. Sogar in diesem Augenblick versuchen diese Leute, Armageddon, die letzte große Schlacht, herbeizuführen. Wenn es ihnen gelingt, die Korporation zu infiltrieren, sind wir verloren, fürchte ich, denn dann werden sie Zugang zu dem unermesslichen Reichtum und der weltlichen Macht der Korporation erhalten. Diese neue Kirche ist die endgültige Verkörperung jener Kräfte, die das alte Wissen verdammen – anstatt den Kosmos zu umarmen und die gesamte Natur als eine Einheit anzusehen, trachten ihre Anhänger danach, die materielle Welt zu zerstören, um sich mit Gott zu vereinigen. Sie begreifen nicht, dass wir alle Gott sind.« Der alte Mann seufzte. »Wir Gnostiker sind friedfertige Menschen. Wir können gegen unsere Feinde nicht die Waffen erheben, denn das würde gegen das alte Wissen und gegen die Lehre Christi verstoßen. Gewalt führt nur zu noch mehr Gewalt, und Macht korrumpiert jeden, der sich mit ihr verbündet oder sich ihrer bedienen will. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als die Geheimnisse des alten Wissens vor diesen Leuten geheim zu halten, damit sie nie erfahren, was sich unter den Pyramiden befindet.« Rutherford konnte kaum glauben, was er hörte. Er wusste über die Gnostiker und ihre weit zurückreichende Tradition Bescheid, aber angeblich waren sie vor langer Zeit ausgestorben. Mit Nachdruck fuhr Poimandres fort: »Nach der letzten Sintflut waren die überlebenden Menschen in kleinen Gruppen über die ganze Welt zerstreut. Die Menschheit war beträchtlich dezimiert, aber nicht völlig vernichtet worden. Die Menschen der Vorzeit kamen nach Gizeh und an ein paar andere Orte auf der Erde und versuchten, ihre Welt inmitten der Überlebenden der Menschheit wieder aufzubauen. Als sie hier ankamen, war die Erde grün und fruchtbar, und die Menschen waren offen und lernbegierig. Die Menschen der Vorzeit vermittelten ihnen landwirtschaftliche und technische Kenntnisse und vor allem das alte Wissen, dass Gott universell ist. Dieses Wissen überlebte Tausende von Jahren, bis Pythagoras, der Vater der westlichen Wis283
senschaft, nach Ägypten kam. Als er nach Griechenland zurückkehrte, brachte er dieses Wissen mit und machte es zur Grundlage der griechischen Philosophie und Wissenschaft. Nicht lange danach versuchten unsere Vorväter, die ersten gnostischen Christen, dieses Wissen um die Wahrheit den Juden zu bringen, deshalb wurden in Judäa die Evangelien geschrieben. Der Sohn eines Zimmermanns aus Nazareth, in einer jungfräulichen Geburt zur Welt gekommen, wurde den Juden als Symbol für Osiris und Dionysos dargestellt.« Nun konnte sich Rutherford nicht mehr länger zurückhalten. »Was! Wollen Sie damit sagen, dass Jesus nur ein Symbol für Osiris und Dionysos ist? Dass er gar nicht existierte?« »Ja und nein. Er war eine reale Person, aber er war auch ein Symbol. Osiris starb und auferstand, ebenso Dionysos und Jesus. Alle drei hatten jungfräuliche Mütter. Alle drei hatten zwölf Jünger. Alle wurden unter einem Stern geboren. Alle sind Gottmenschen, die sich freiwillig verfolgen und quälen ließen … Alle starben für unsere Sünden und wurden wiedergeboren, damit auch wir wiedergeboren werden wie sie … Alle drei predigten denselben Glauben: Wenn dir jemand Unrecht tut, dem halte auch die andere Wange hin, und es gibt nur einen Gott. Die Gnostiker wollten das alte Wissen den Juden bringen, die einem Irrglauben an einen Stammesgott anhingen. Mit der Geschichte von Christus haben sie es versucht. Wir wollten das alte Wissen weitergeben, bevor wir vernichtet wurden.« Plötzlich hielt Poimandres inne. »Aber genug davon. Wir haben nur wenig Zeit. Ich muss Sie in die Geheimnisse der Pyramide einweihen. Nur wenn man die Harmonie der Zahlen versteht, kann man die Harmonie des Universums begreifen. Wo die moderne westliche Wissenschaft in Zahlen nichts weiter als eine Mengenangabe sieht, sah die frühe Hochkultur in ihnen die miteinander verknüpften Teile eines kosmologischen Rätsels.« Er legte die Hände aneinander wie im Gebet. »Wer Zahlen und ihr Verhältnis zueinander versteht, kann die wesentlichen Gesetze des Universums entschlüsseln. Die göttlichen Zahlen tauchen in ganz verschiedenen Lebensbereichen immer wieder 284
auf – in den Tonleitern, im elektromagnetischen Spektrum, in den Bewegungen der Sterne. Was immer die Hochkultur der Vorzeit erschuf, es begründete und bezog sich auf diese alles lenkenden Zahlen und Formeln, die durch gematrische Codes in den heiligen Texten der Welt verborgen sind.« Catherine spürte ein erregtes Kribbeln, als sie Poimandres' Erklärung voller Staunen zuhörte. »Ebenso ist jedes heilige Bauwerk der Antike in einer Weise angelegt, dass seine Abmessungen von gematrischer Bedeutung sind. So verkörpert und vermittelt es rein von seiner Form her die göttlichen Zahlen. Die Kunst der Gematrie ist keine Erfindung der Griechen – schon die Ägypter beherrschten sie, denn sie hatten sie nach dem Zusammenbruch der alten universellen Ordnung bewahrt.« Poimandres blickte auf. Er strahlte Geduld und Weisheit aus. »Es gibt viele Tore zur Vergangenheit. Sie sind versteckt und unzugänglich, außer man weiß, wonach man sucht. Die Große Pyramide ist ein solches Tor – es ist eines der realen Bauwerke, die uns mit jener Hochkultur verbinden, welche vor der Sintflut existierte. Um die Geheimnisse zu verstehen, beginnen wir am besten mit dem konkreten Gegenstand. Kennen Sie die Abmessungen der Großen Pyramide von Gizeh?« »Ja«, antwortete Catherine rasch und sah Rutherford an, »nicht wahr, James?« »Ja. Am Boden hat jede ihrer Seiten eine Länge von 755 Fuß, der Umfang der gesamten Pyramide beträgt also 3.020 Fuß. Und ihre Höhe beträgt 480,5 Fuß – oder 275 ägyptische Ellen.« »Ja, das stimmt. Und was wissen Sie über Gematrie?« Wieder schaute Catherine Rutherford an. »Ein paar wenige Dinge.« Poimandres hielt einen Moment inne, als überlege er, wie er am besten fortfahren sollte. »Nun, 755 – die Seitenlänge am Boden – entspricht dem Zahlenwert von o petros, ›der Fels‹.« Er kam um das Podest herum zu ihnen und fuhr langsam und sorg285
fältig fort, als befürchte er, sie mit seiner Erklärung zu verwirren, falls er schnell redete. »Jesus sagte, sein Jünger Petrus sei der Fels, auf den er seine Kirche bauen wolle – Petros bedeutet also Fels und ist zugleich der griechische Name für Peter. Vergessen Sie nicht, dass wir Gnostiker das Neue Testament nicht so wörtlich nehmen wie die meisten Christen, da uns immer auch bewusst ist, dass es in gematrischem Code verfasst ist: Anhand einer Geschichte gibt es das alte Wissen weiter. Die Geschichte handelt von Leben, Tod und Auferstehen Jesu. Petrus, der Fels, ist das alte Wissen unserer Vorväter, wie es auch die Große Pyramide von Gizeh verkörpert. Jesus wollte seine Kirche auf das alte Wissen bauen, und es liegt hier, vor aller Augen.« Rutherford hörte ihm fasziniert zu. Er war eine Koryphäe, was Mythen und Religionen betraf, doch er spürte, dass ihn Poimandres in völlig unbekannte Gefilde führte und dass dies alles andere als intellektuelle Spielerei war. Poimandres war im Begriff, ihnen die Geheimnisse zu enthüllen, die während Jahrtausenden sorgfältig gehütet worden waren.
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Poimandres bündelte seine Gedanken. »Wie Sie bemerkt haben werden, fehlt der Großen Pyramide die Spitze. Die letzten fünf ägyptischen Ellen des Bauwerks wurden vor langer Zeit entfernt, bevor die Macht des alten Wissens endgültig schwand. Ohne ihre Spitze schrumpfte die Pyramide auf eine heutige Höhe von 275 ägyptischen Ellen. Dies entspricht einer Zahl von fünf Großellen, da eine Großelle fünfundfünfzig ägyptische Ellen umfasst. Dies ist natürlich kein Zufall – fünf ist die Zahl der Schöpfung und der Erneuerung. Sie ist die Quintessenz: Fünf Teile ergeben ein Ganzes – Erde, Luft, Feuer, Wasser sowie das fünfte Element, der göttliche Funke, der die anderen vier zum Leben erweckt. Fünfundfünfzig ist also selbst eine Pyramidenzahl: Der Eingang zur Großen Pyramide befindet sich natürlich auf der fünfundfünfzigsten Steinstufe.« Catherine und Rutherford hörten Poimandres gebannt zu. »Die Spitze, die entfernt wurde, ist in sich wieder eine Pyramide und misst genau fünf ägyptische Ellen. Der zentrale Grundsatz der Vorväter, oder der Lichtbringer, wie Sie sie nennen, war: ›Wie oben, so unten.‹ Dieselben Gesetze, die das Wachstum einer menschlichen Zelle lenken, lenken auch die Bewegungen der Galaxien.« Er ging langsam zu dem Steinpodest zurück. »Diese zweite, kleine Pyramide, die von der Großen Pyramide entfernt wurde, hatte wiederum eine Spitze, und zwar den Benbenstein. Er war genau fünf Kubikzoll groß. Er hätte bequem auf Ihrer Hand Platz … Seit Tausenden von Jahren ist spekuliert worden, was aus dem Benbenstein geworden ist – wer ihn entfernte, wo er versteckt wurde, was genau seine Funktion war und so weiter.« Poimandres drehte ihnen nun den Rücken zu und beugte sich über das Podest. 287
»Und dies – dies ist der Benbenstein.« Er drehte sich um. In seiner ausgestreckten rechten Hand lag eine wunderschöne, golden leuchtende Pyramide, die nur ein paar Zoll hoch war. An ihrer Spitze befand sich ein Kristall, der im Kerzenlicht glitzerte und Millionen von flackernden Funken auf die Wände und Decke der Höhle warf. Catherine und Rutherford hielten vor Ehrfurcht den Atem an. Catherine konnte nicht genau sehen, woraus er bestand. »Was ist das dort an seiner Spitze?« »Ein Diamant. Er ist das ›Senfkorn‹ – auf Griechisch kik-kos sinapeos. Was in der Gematrie den Zahlenwert 1.746 ergibt. Ein Kreis mit dem Umfang 1.746 hat den Durchmesser 555. Damit wären wir wieder bei den Fünfen.« Rutherford staunte mit offenem Mund. Er war sprachlos. Das ganze Bauwerk ergab allmählich einen perfekten, göttlichen Sinn; die Zahlen schienen in einem Wasserfall kosmischer Perfektion aufwärts und abwärts zu strömen. Poimandres fuhr fort: »Es ist auch die Summe, die sich aus der Sonne, 666, und dem Mond, 1.080, ergibt. Und wie Sie wahrscheinlich wissen, waren die Alchemisten davon überzeugt, dass das Leben der Verbindung von Schwefel und Quecksilber entsprang – wobei Schwefel für die Sonne steht und Quecksilber für den Mond. Alles auf Erden wird von der Sonne genährt, alles Leben, auch die Erdrotation, entstammt dem Gravitationsfeld der Sonne. Und Quecksilber, der göttliche Funke, vereinigt sich mit dem Schwefel und erzeugt Leben.« Poimandres schaute sie mit äußerstem Ernst an. »Die Energie der Pyramiden kann als Kraft zum Guten verwendet werden, doch wenn sie in falsche Hände gerät, kann diese Kraft ungeheuer Böses verursachen. Niemand, der nicht richtig ausgebildet ist und dessen Seele nicht vollkommen rein ist, darf diese Energien nutzen. Als das alte Wissen schwand, wurde die Pyramidenspitze deshalb entfernt. Die Vorväter wussten, dass ein dunkles Zeitalter anbrach, deshalb beschlossen sie, den Benbenstein und die obersten fünf Ellen 288
der Pyramide zu entfernen, damit niemand die Maschinerie in Gang setzen konnte.« Rutherford musste unvermittelt an Bezumov denken. »Dann ist die Pyramide also doch eine Maschine!« Der Kopte schaute Rutherford an. Sein Gesicht war von undurchdringlichem Ernst. »O ja, die Pyramide ist die größte je gebaute Maschine. Ihre Form wurde eigens dazu entworfen, die Energien des Universums zu speichern. Die Position der Pyramide sorgte dafür, dass die Erdenergien gebündelt und gespeichert und dann an die vielen anderen Stätten in aller Welt geschickt werden konnten. Sobald man den Benbenstein auf die Pyramidenspitze setzt, setzt sich die Maschine wieder in Gang. Die Energie, von der sie angetrieben wird, nennt man heute das Magnetfeld, eine noch immer kaum verstandene Kraft.« Poimandres drehte sich um und legte den Benbenstein sorgfältig auf das Podest. Der Stein schien sein eigenes inneres Licht zu erzeugen – obwohl dies natürlich unmöglich war. Die ungeheure Einfachheit und Kraft, die er ausstrahlte, zogen Catherine an. »Im Erdinnern – ganz in der Mitte – befindet sich eine feste Eisenkugel von etwa derselben Größe wie der Mond. Sie schwimmt in einer kochenden Schicht flüssigen Eisens, die wiederum von mehreren tausend Kilometern Lava umgeben ist. Alles zusammen wird von der Lithosphäre umhüllt. Diese riesige Eisenkugel in der Mitte unseres Planeten dreht sich eine Spur schneller als der Rest der Erdkugel. Vielleicht liegt darin der Ursprung der Magnetkräfte, aber das weiß niemand wirklich, und das Wissen darüber ist inzwischen verloren. Die Vorväter wussten, wie man diese Energien speichern und lenken konnte. Wie Sie gesehen haben, konnten sie ungeheure Bauwerke errichten, sie konnten Materialien behauen und bearbeiten, die härter als Eisen sind, und sie konnten die Umlaufbahn der Erde kontrollieren und regulieren.« Catherine kam die geheime Botschaft in den Sinn. »Mr. Poimandres, ich muss Ihnen eine Frage stellen.« »Aber natürlich.« 289
»Unser Ziel war herauszufinden, was die letzte große Katastrophe verursacht hat und wie wir vermeiden können, dass es zu einer weiteren kommt. Wir wissen nun, dass die Katastrophe ausgelöst wurde, weil sich die ganze Lithosphäre auf einmal verschob, und wir wissen auch, dass diese Verschiebung mit der Präzession und der Umlaufbewegung der Erde zusammenhängt. Aber wir verstehen nicht wirklich, warum es erneut dazu kommen soll.« Poimandres nickte langsam. Sein weises Gesicht war voller Verständnis, und er lächelte sie an. »Sie haben einen langen Weg hinter sich. Ich kann Ihnen auf den letzten Schritten behilflich sein. Sie haben recht: Die alten Texte warnen die heutige Welt vor einer bevorstehenden Gefahr. Wir steuern auf eine zweite Apokalypse zu. Mit jedem Jahr, das vergeht, verringert sich das alte Wissen. Die Zahl derer, die noch darüber verfügen, wird kleiner, während ihre Feinde immer stärker werden. Die Herren der Korporation sind so mächtig wie nie. Ihre Besessenheit von der materiellen Welt, von der Unterwerfung der Natur und der Menschen stürzt uns demnächst in einen Abgrund. Ihre Maschinen und Systeme verschlingen die Welt, und jeden Tag fällt ein weiteres Stück Natur diesen Flammen zum Opfer. Sie stecken buchstäblich die Welt in Brand.« Sein Gesicht war unglaublich traurig, als sähe er keine Hoffnung mehr. »Während diese bösen Männer ihr Feuer schüren, schmelzen die Polarkappen. Je stärker sie die Öfen ihrer Gier einheizen, desto schneller erhöht sich die Grundtemperatur des Planeten und desto rasanter verflüssigen sich die großen Eisschilder.« Catherine nickte ermutigend. Sie spürte, dass sie aus den Lippen des zierlichen Kopten das Schicksal der Menschheit erfahren würde. »Die Lage der Lithosphäre unseres prachtvollen Planeten wird von der Gewichtsverteilung auf der Erdoberfläche bestimmt. Obwohl die Erde eine Kugel ist, ist das Gewicht nicht gleichmäßig auf die Erdkruste verteilt. In manchen Regionen mit trockenem Gebirge ist die Lithosphäre dick und stabil. Auf der Antarktis liegt eine kilometerdicke Eisschicht, die Milliarden von Tonnen wiegt. Sie erzeugt auf der Unter290
seite des Planeten ein enormes Gewicht, das dazu beiträgt, dass die Lithosphäre stationär bleibt. Dadurch und durch das Gewicht von Millionen von Tonnen Eis am Nordpol werden auch die Zentrifugalkräfte ausgeglichen. Das Anwachsen der Eiskappen dauerte Jahrtausende, und wenn man der Natur nicht in die Quere käme, würden sie an Ort und Stelle bleiben, bis die Antarktis aufgrund der Präzession näher an die Sonne rutschte und das Eis nach unzähligen weiteren Jahrtausenden zu schmelzen begänne. Das Ganze ist ein perfektes, unausweichliches Uhrwerk. Das ist die geheime Botschaft. Das ist es, was die alten Genies uns mitteilen wollen, und es ist einer der Gründe, weshalb sie das globale Netz errichteten – um die Präzession zu beeinflussen und uns vor dem unvermeidlichen Schicksal zu bewahren. Aber sie waren zu wenige. Zu wenige, die ihrer eigenen Katastrophe entgingen. Innerhalb weniger Generationen waren sie verschwunden und hinterließen nur die Überreste ihrer Technologie sowie die geheime Warnung in den Mythen.« Catherine war erschüttert. »Aber ich verstehe noch immer nicht, warum uns gerade heute Gefahr droht. Es dauert doch bestimmt noch Jahrtausende, bis die Präzession eine neue Sintflut verursacht, nicht wahr? Es mag ein unausweichlicher Prozess sein, aber er ist auch sehr langsam.« Der alte Kopte sah sie feierlich an. »Heute ist die Erde im Gleichgewicht, die Erdkruste ist derzeit hinsichtlich der Gewichtsverteilung in der korrekten Position, und es gibt nur wenig Bewegung. Wenn aber das Eis schmilzt und zu Wasser wird, wie am Ende der letzten Eiszeit, verlagert sich dieses ganze Gewicht in die Weltmeere. Dann – genau wie nach der letzten Eiszeit – wird sich die Lithosphäre neu ausrichten müssen, damit sich die Erde weiter um sich selbst drehen kann. Und deshalb wird sie sich erneut verschieben und das Leben auf der Erde, wie wir es kennen, auslöschen. Was wir heute mit eigenen Augen beobachten, ist der von Menschenhand ausgelöste Beginn dieser unvermeidlichen Entwicklung. Wir brauchen nicht mehr auf die Präzession zu warten – wir schmel291
zen das Eis eigenhändig. Die Vorväter sahen etwas Derartiges nicht voraus. Sie hätten sich nie erträumt, dass wir bewusst unsere eigene Zerstörung herbeiführen würden.« Catherines Augen wurden vor Entsetzen immer größer. Es leuchtete ihr völlig ein. »Mr. Poimandres, ist es bereits zu spät? Können wir die Katastrophe überhaupt noch verhindern?« Aber bevor er ihr antworten konnte, hörten sie plötzlich ein Geräusch, das aus dem Brunnenschacht kam. Es war das Geräusch von Fußtritten, die so leise wie möglich die Leiterstufen herunterstiegen.
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Aus dem Dunkel des Brunnenschachts trat Ivan Bezumov. Mit vor Sarkasmus triefender Stimme sagte er: »Es tut mir schrecklich leid – ich störe hoffentlich nicht.« In seinem weißen Anzug wirkte er wie ein Gespenst in den dunklen Schatten dieser unterirdischen Kammer. Bezumov ließ seine Hand in die Innentasche seines Jacketts gleiten, und als er sie wieder hervorholte, sah Catherine, dass er etwas hielt. Ihr Herz klopfte vor Angst. »Bezumov, was ist das?« »Das, Catherine, ist ein Revolver. Eine Heckler und Koch, um genau zu sein.« Der Russe zog geübt den Hahn zurück. Catherine, Rutherford und der Kopte blieben wie angewurzelt stehen. »Was fällt Ihnen ein? Sind Sie verrückt? Stecken Sie diese Waffe weg.« »Nein, Catherine, ich bin nicht verrückt. Und die Waffe bleibt leider in meiner Hand. Ich will, dass Sie sich alle drei von dem Felspodest wegbewegen – dort hinüber. Tun Sie bitte nichts Unüberlegtes, wie es im Film immer heißt. Sie wären nicht die Ersten, die ich erschieße, und wahrscheinlich auch nicht die Letzten.« Rutherford sagte erschrocken: »Warum tun Sie das, Bezumov?« Den Revolver lässig in der rechten Hand, warf Bezumov den Kopf in den Nacken und stieß ein verächtliches Lachen aus. »Endlich einmal eine intelligente Frage, Dr. Rutherford. Ihre lange Leitung in Sachen Astronomie ging mir enorm auf die Nerven. Ich sage Ihnen gern, warum ich diesen Revolver auf Sie richte. Es ist Zeit, den großen Pädagogen aus Oxford eine Lektion zu erteilen.« Mit eindeutigen Bewegungen seines Revolverlaufs scheuchte er sie zum hinteren Teil der Insel. 293
»Ich tue das, weil ein fabelhaftes wissenschaftliches Instrument darauf wartet, wieder in Betrieb genommen zu werden.« Den Revolver weiterhin auf sie gerichtet, bückte sich Bezumov und las ein paar Kieselsteine auf. Dann trat er an den Rand des Wassers. Er streute die Kiesel auf die Wasseroberfläche. Diejenigen, die auf dem kleinen Damm landeten, blieben halbwegs sichtbar. Er begann, den Wassergraben zu überqueren. »Diese Maschine ist das größte technische Meisterwerk, das die Menschheit je erschaffen hat. Ihre Konstruktion ist so raffiniert und ausgeklügelt, dass sie die Umlaufbewegung der Erde um die Sonne nutzbar macht, und zwar zum Schutz unseres Planeten. Unsere modernsten Konzepte der Energiegewinnung sind im Vergleich zu ihr unglaublich primitiv. Sie haben recht, Catherine, diese Maschine setzt der Präzession ein Denkmal, aber sie wurde errichtet, um das Mahlen der Mühle zu kontrollieren. Die Energien der Erdrotation können beherrscht und genutzt werden.« Er war nur noch ein paar Schritte von ihnen entfernt. Catherine konnte seine Augen deutlich sehen. Sie wirkten leer, so als sei er ferngesteuert. Er war völlig von seinem Wahn absorbiert, ein Besessener. Und doch lächelte er. »Nun habe ich endlich den Benbenstein. Ich werde ihn dorthin bringen, wo er hingehört, auf die Spitze der Großen Pyramide, und dann werden die unsichtbaren Ströme, die die Erde ohne Ende umfließen, endlich wieder von den Menschen kontrolliert.« Catherine konnte sich nicht länger zurückhalten, trotz des Revolvers. »Nein! Bezumov, Sie begehen einen furchtbaren Fehler. Die Vorväter haben den Benbenstein aus gutem Grund entfernt. Sie wissen nicht, was Sie da tun.« Bezumov ignorierte sie und trat auf den Kopten zu. »Mr. Poimandres, haben Sie vielen Dank für Ihre informative Vorlesung. Ich fand sie sehr aufschlussreich, doch sie bestätigte nur all meine Vermutungen. Händigen Sie mir nun den Benbenstein aus, wenn ich bitten darf.« Mit einem krankhaften Lächeln machte der Russe ei294
nen weiteren Schritt vorwärts. »Wenn ich daran denke, dass ich bereits Angst hatte, ihn nicht rechtzeitig zu finden.« Poimandres drückte den Stein an seine Brust. »Niemals! Nur über meine Leiche …« Der Russe hob seine rechte Hand, zielte ruhig auf die Brust des Kopten und erwiderte lakonisch: »Ich dachte mir schon, dass Sie das sagen würden. Nun, wenn Sie darauf bestehen …« Als der Schuss in diesem engen Raum losging, war der Knall so laut, dass Catherine meinte, ihr Trommelfell sei geplatzt. Instinktiv duckte sie sich und hielt die Arme über den Kopf. Als sie einen Moment später wieder den Kopf hob und die Augen öffnete, sah sie Rutherford in einer ähnlichen Stellung – halb kauernd, halb auf dem Sprung. In der Ecke lag Poimandres' Körper verdreht da, und sie konnte nicht sehen, ob er noch atmete. Er war aus der Nähe angeschossen worden, und sie befürchtete, dass er tot war. Sie spürte, wie sie von einer ungeheuren Wut gepackt wurde. Eine wahnsinnige Gewalttat hatte seine ganze Weisheit ausgelöscht – genau wie beim Professor. Der Gestank von Schießpulver brannte in ihrer Nase. Tränen liefen ihr über das Gesicht, und sie musste sich auf die Zähne beißen, um den brutalen Russen nicht anzuschreien. Als Bezumov wieder sprach, war sein Ton bestimmt: »Sie beiden rühren sich nicht von der Stelle. Ich will Ihnen nicht unnötigerweise etwas zu Leide tun.« In Catherines Ohren dröhnte es, und sie blickte zu der gekrümmten Gestalt Poimandres' hinüber. Blut floss über den Steinboden. Poimandres und dem Professor und all diesen Trägern des alten Wissens zuliebe – diesen letzten Bollwerken gegen den Wahn eines Bezumov und gegen die finsteren Machenschaften der Korporation – musste sie etwas unternehmen. »Bezumov! Was Sie vorhaben, ist reiner Irrsinn«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Unsinn! Ich bin der Einzige, der dazu imstande ist, das Steuer der Erde herumzureißen und den Planeten in Sicherheit zu bringen. Ich 295
bin der Einzige, der diese großartige Maschine versteht. Wenn ich diese Aufgabe nicht erfüllen kann, wird die Erde vernichtet werden.« Bezumov wog den Stein in seiner Hand. Seine Augen loderten, und auf seinem Gesicht lag ein fiebriges Leuchten. Seine Stimme war ernst, und er flüsterte beinahe: »Fünftausend Jahre lang haben wir auf unserem Planeten eine ökologisch friedliche Zeit erlebt. Aber das ist nicht natürlich. Schon bald wird die Welt wieder wie früher von gewaltigen Stürmen geschüttelt und die Menschheit weggefegt. Können Sie sich vorstellen, was geschehen wird, wenn demnächst ein großer Vulkan ausbricht? Es wäre in der Geschichte der Erde nicht das erste Mal, und eines kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen: Es wird passieren. Und wenn er ausbricht, wird das Licht ausgehen. Seine Asche und seine Schlacke werden, wie schon früher, den Himmel mit einer Staubwolke verdunkeln, dass die Sonne nicht mehr durchdringt. Die Ernten werden zu Grunde gehen, die Industrie wird sofort zusammenbrechen, es wird Chaos herrschen. Zweifeln Sie vielleicht an dieser Zukunftsvision? Halten Sie sie etwa für unrealistisch? Die Geschichte der Vergangenheit ist auch die Geschichte der Zukunft. Sogar Mr. Poimandres hätte mir zugestimmt. Sowohl die Ereignisse der Vergangenheit wie auch jene der Zukunft existieren. Doch sie können nur geändert oder vermieden werden, wenn ich die Maschine in Gang setze und uns in Sicherheit bringe.« Catherine starrte ihn entsetzt an. Seine schreckliche Prophezeiung mochte zutreffen, trotzdem war er vollkommen wahnsinnig. Er musste aufgehalten werden. »Sie dürfen das nicht. Sie werden alles zerstören.« Bezumovs Zähne blitzten, als er sie anlächelte. Sein Selbstvertrauen war im Halbdunkel beinahe greifbar. »Ich habe nicht die Absicht, mich mit Ihnen wie ein spießiger Akademiker zu streiten. Ich habe zu tun.« Damit drehte er sich um und überquerte den Wassergraben. Wie ein Gespenst schwebte er zum Brunnenschacht hinüber, bevor er sich ein letztes Mal an sie wandte. »Versuchen Sie nicht, hinter mir herzuklettern. Ich würde Sie ohne Zögern erschießen. Ich werde auch das Zugangstor verriegeln. Haben 296
Sie keine Angst – Sie werden nicht ersticken, und vielleicht wird man Sie ja befreien, bevor Sie vor Durst oder Hunger sterben! Leben Sie wohl.« Er knipste die Taschenlampe an und war verschwunden.
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Catherine rannte zu Poimandres hinüber. Er lag auf dem Rücken neben dem steinernen Podest. Seine rechte Hand umklammerte die blutgetränkte Vorderseite seiner Djellaba, während seine linke schlaff herunterhing. Catherine kauerte sich neben ihn, berührte seine Wange und suchte seinen Puls. »James, er lebt noch!« Rutherford war zu ihnen geeilt. »Wir müssen ihn sofort zu einem Arzt bringen. Ich werde versuchen, durch den Schacht hier herauszukommen.« Catherine blickte zu ihm hinauf. »Das ist zwecklos. Sie haben doch gehört, was Bezumov gesagt hat.« Rutherford war verzweifelt. »Was können wir denn sonst tun? Wir können doch nicht hier warten, bis Poimandres stirbt und Bezumov die Maschine in Gang setzt.« Catherine sah auf die Uhr. »Nur noch eine Stunde bis Sonnenaufgang.« Sie stand auf und ließ ihre Arme vor Ratlosigkeit hängen. Sie schüttelte den Kopf und sagte rasch: »Also gut, versuchen Sie's, aber seien Sie vorsichtig, James. Ich kann einfach nicht glauben, dass wir es bis hierher geschafft haben und nun Bezumov den Benbenstein überlassen müssen.« Rutherford drehte sich um, rannte durch das Wasser und zum Brunnenschacht und der Leiter hinüber. Unterdessen wandte sich Catherine Poimandres zu. Sie kniete sich neben ihn und legte seinen Kopf behutsam auf ihre Knie. Leise sagte sie zu dem bewusstlosen Kopten: »Geben Sie die Hoffnung nicht auf, Mr. Poimandres – halten Sie durch.«
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Ivan Bezumov trat von der obersten Leitersprosse in die kleine Grotte unter dem befestigten Weg. Nach der tiefen Schwärze der unterirdischen Höhlen war er über das Sternenlicht, das hier hereinschimmerte, richtig erleichtert. Auch ohne Taschenlampe sah Bezumov die Leiche des Fahrers auf dem Boden liegen. Bezumov klopfte sich den Staub aus den Kleidern und machte dann die Stahlklappe über dem Brunnenschacht zu. Er hängte das schwere Vorhängeschloss ein und klickte es zu. Er machte einen Schritt über den Fahrer, schlüpfte aus dem Tor und verschloss es hinter sich. Wind war aufgekommen, ein Sturm schien sich zusammenzubrauen. Sandwolken begannen über die Ebene von Gizeh zu fegen, am Horizont brodelte der schwarze Himmel, und über der alten Wüste war Donnerrollen zu hören. Zielstrebig schritt Bezumov den Weg zur Großen Pyramide hinauf, nur vom Hyänengeheul des kalten Wüstenwinds begleitet.
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Rutherford tauchte wieder am Fuß der Leiter auf und überquerte den Wassergraben. Schweiß rann ihm von der Stirn. Atemlos keuchte er: »Der Schacht ist verschlossen. Ich weiß nicht, was wir jetzt tun können.« Catherine fuhr mit einem Taschentuch, das sie in das kühle unterirdische Wasser getaucht hatte, über Poimandres' Stirn. Poimandres' Augen schienen sich einen Spalt zu öffnen. »Mr. Poimandres«, sagte Catherine sofort. »Seien Sie stark. Wir werden einen Weg finden, Sie hier herauszubringen.« Hilflos sah sie zu Rutherford hinauf, der voller Entsetzen den sterbenden Kopten betrachtete. Während sie ihrem Patienten weiterhin über die Stirn strich, sprach sie mit ruhiger Stimme und versuchte mit aller Kraft, die Gefühle zu verbergen, die sie zu überwältigen drohten. »Mr. Poimandres, gibt es noch einen anderen Ausweg? Gibt es vielleicht einen versteckten Ausgang?« Sein Mund öffnete und schloss sich wieder. Dann sagte er mit letzter Kraft: »Im Wasser …« Rutherford kniete sich neben sie. »Wo?« Poimandres stöhnte leise und sprach dann wieder mit nahezu unhörbarer Stimme. Catherine beugte sich über ihn, um ihn besser zu verstehen. »Es gibt einen geheimen Tunnel im Wasser. Hinter dem Steinpodest. Gehen Sie – schwimmen Sie – Sie werden in die heiligen Kammern gelangen. Nehmen Sie die rechte Abzweigung, sie führt ins Freie. Was immer Sie tun, gehen Sie nicht in die Schriftenhalle. Und wenn Sie diesen Tag überleben, erzählen Sie nie jemandem, was Sie gesehen haben. Sie müssen es mir versprechen. Bitte, Sie müssen …« 300
Seine Augen schlossen sich. Rutherford war aufgesprungen. Das Licht seiner Taschenlampe wurde immer schwächer. Er ging um das Podest herum und blieb am Rand des schwarzen Wassergrabens stehen. Er war drei Meter breit, und auf der anderen Seite sah Rutherford die felsige Höhlenwand, die ganz zerklüftet war und bis zur Decke hinaufreichte. Das Wasser hätte genauso gut auch Öl sein können – es war unmöglich zu sehen, wie tief es war und was sich in diesen Tiefen befand. Sorgfältig legte Catherine den Kopf des Verwundeten auf eine zusammengerollte Djellaba und stand auf. Dabei flüsterte sie einen feierlichen Eid: »Ich verspreche es, Mr. Poimandres … Halten Sie durch.« Rutherford ging mit seiner Taschenlampe auf und ab und versuchte, den Lichtstrahl so zu richten, dass er erkennen konnte, was sich unter der Wasseroberfläche befand. Catherine kam zu ihm. »Sehen Sie irgendetwas?« »Nichts. Absolut nichts. Es ist hoffnungslos.« Catherine sah zu Poimandres hinüber und dann auf das Wasser hinunter. »Wir haben keine Wahl. Wir müssen es versuchen, sonst sitzen wir hier fest, und Bezumov wird sein Ziel erreichen, und Poimandres wird sterben.« Sie hielt sich an James' Arm fest, kickte ihre Schuhe weg und schritt ins Wasser. Der Untergrund führte steil abwärts. Sie setzte sich an den Rand des Wassergrabens und ließ sich vorsichtig ins Wasser sinken. Es war eiskalt und tintenschwarz. Ein elektrischer Strom schien jedes Atom ihres Körpers zu durchdringen, als das kalte Wasser sie umschloss. Keuchend ruderte sie mit den Armen, um den Kopf über Wasser zu halten. Sie hielt sich am Rand fest, atmete tief ein und blickte zu James hinauf. »Kommen Sie?« Schweigend zog er die Schuhe aus und ließ sich ins eisige Wasser gleiten. Vor Schock riss er die Augen auf. »Okay. Sehen wir nach, wie es hier unten aussieht …« Er holte tief Luft und verschwand unter der Oberfläche. Alles war 301
schwarz. Alles war kalt und lautlos. Er tauchte hinab und berührte einen Augenblick später die Felswand auf der anderen Seite des Grabens. Mit den Händen tastete er sie ab. Die Wand war rau. Die Luft ging ihm allmählich aus, und er konnte sich kaum mehr unten halten. Wie ein Blinder tastete er herum, und plötzlich hatte er ihn gefunden. Rechts unter ihm hörte die Wand auf und mündete in den Tunnel. Der Durchgang war etwa einen Meter breit. Das genügte. Im Auftauchen atmete er aus und kam prustend an die Oberfläche. »Ich habe den Tunnel gefunden. Er hatte recht. Hier unten ist er.« Er schwamm zu der fröstelnden Catherine hinüber. »Ich schwimme voraus. Folgen Sie mir. Wenn Ihnen die Luft ausgeht, kehren Sie um.« Sie holten tief Luft, tauchten ihre Köpfe ins eisige Wasser und schwammen in das lautlose Unterwasserreich.
Rutherford schwamm direkt auf den Tunnel zu. Er versicherte sich nochmals, dass er noch da war, und zögerte eine Sekunde, bevor er sich ins Unbekannte stürzte. Drei kräftige Züge später schwamm er noch immer vorwärts. Seine Lungen kamen allmählich an ihre Grenzen. Catherine, die eine ausgezeichnete Schwimmerin war, folgte ihm dicht auf den Fersen. Sie konnte die Strudel spüren, die von seinen paddelnden Füßen herrührten. Sie versuchte, ruhig zu bleiben. Noch ein Zug und noch einer. Langsam wurden sie von Panik erfasst, doch dann sah Rutherford plötzlich seine Hände vor sich im Wasser – Licht! Erleichtert tauchte er auf, eine Sekunde nach ihm kam Catherine an die Oberfläche. Vor Verwirrung prallten sie aneinander, keuchten nach Luft und versuchten zu begreifen, wo sie waren. »Wo sind wir denn hier?«, platzte Rutherford heraus. Sie waren in einem schmalen, etwa vier Quadratmeter großen Wasserbecken. Die Wände des Beckens bestanden aus kunstvoll geschliffenem Granit. Das Becken befand sich in einem kleinen Raum, gerade etwa zweimal so groß wie das Becken und etwa anderthalb Meter 302
hoch. Zwei perfekt gemeißelte Stufen führten aus dem Becken und auf einen Durchgang zu, der in einen dunklen Tunnel mündete. Die Wände des Raumes waren glatt – vollkommen glatt – wie im Inneren der Königskammer. Hieroglyphen prangten auf ihnen, die in einer goldenen Substanz gemalt waren, sodass sie im Dunkeln schwach leuchteten. Die Decke des kleinen Raumes schimmerte ebenfalls. Sie war mit Tausenden von kleinen Lichtpunkten übersät. Ihre Schönheit verschlug Catherine den Atem. »Unglaublich! Es sind Sterne! Sehen Sie nur, dort sieht man das Sternbild Orion.« Rutherford hievte sich auf die Stufen und half Catherine aus dem Wasser. Einen Augenblick blickten sie wie gebannt auf diesen verblüffenden Lichteffekt. Staunend sagte Rutherford: »Diese Hieroglyphen – ich erkenne kein einziges Zeichen wieder, kein einziges … es sind alles unbekannte Symbole. Stellen Sie sich vor, wenn die Welt davon erfährt, stellen Sie sich vor, was das alles bedeutet …« Catherine spähte durch den Durchgang in den dunklen Korridor hinein. »Was meinen Sie, wohin das führt?« Sie traten durch die Öffnung und blickten in das Halbdunkel des Ganges. »Ich habe keine Ahnung. Es ist einfach unglaublich …« Er konnte seine Augen kaum von der Pracht der Wände losreißen. Catherine trat in den Gang. Er war weniger dunkel als erwartet, auch hier wiesen Sternenfunken an der Decke den Weg. Mit pochendem Herzen begann sie, den Gang entlangzugehen. Rutherford warf einen letzten Blick auf diese atemberaubende Ansammlung von Hieroglyphen, drehte sich dann um und folgte ihr.
Als Bezumov vor die unterste Steinstufe an der Südflanke der Großen Pyramide trat, ertönte der erste Schuss auf der Ebene von Gizeh. Im Wind hörte er Stimmen, die – nicht auf Arabisch, sondern auf Eng303
lisch – etwas brüllten. Hatte man ihn etwa entdeckt? Er umklammerte den Benbenstein und zog sich mit der freien Hand auf den ersten Felsblock. Er kam sich wie ein Liliputaner im Land der Riesen vor. Die massiven, zehn Tonnen schweren Granitquader reichten ihm fast bis zum Hals. Er presste seinen Rücken an die tote Masse der Steinblöcke auf der zweiten Stufe und blickte auf die Wüste hinaus. Er sah niemanden – wer schoss hier auf wen? Und wo waren sie? Plötzlich explodierte hoch oben im Nachthimmel, über der Pyramidenspitze, ein Leuchtgeschoss – wie Feuerwerk – mit strahlend weißem, phosphoreszierendem Licht. Dann hat man mich also noch nicht entdeckt … Vorsichtig hielt er sich an der nächsten Steinkante fest und zog sich zur nächsten Stufe hinauf. Die Leuchtfackel, die die Südflanke nur kurz beleuchtet hatte, wurde vom Wind erfasst und mit großer Geschwindigkeit in Richtung Wüste getrieben. Er war wieder in Dunkelheit gehüllt. Fieberhaft kletterte er hinauf. Jede Stufe forderte ihm enorme Kraft ab. Minuten vergingen; eine weitere Leuchtfackel explodierte. Er kauerte sich an die Felsblöcke und versuchte, sich unsichtbar zu machen. Er war nun auf halber Höhe. Der Blick in die Tiefe war schwindelerregend. Er konnte zahlreiche Gestalten sehen, die auf die Pyramide zurannten. Der Wind, der in die Dünen fegte und den Sand in riesigen Wolkenwirbeln in die Höhe schleuderte, trug auch das zweite Leuchtgeschoss in die Wüste hinaus. Wussten sie, dass er sich hier oben befand? Er drehte sich wieder zu den kalten Steinquadern um und kletterte weiter. Es gab nicht die geringste Möglichkeit, sich zu verstecken. Er konnte nicht umkehren. In dieser Höhe waren die Granitblöcke etwas kleiner, wie er erleichtert feststellte. Er beschleunigte seinen Rhythmus. Zu seinem großen Entsetzen glitt plötzlich der Strahl einer Taschenlampe über seinen ausgestreckten rechten Arm und fuhr über die riesige Pyramidenflanke, wie ein gelbes Gespenst, ein tanzender Lichtkreis, der hierhin und dorthin sprang. Er erstarrte. Es fehlte nur noch wenig bis zur Spitze. Als er hinunterblickte, entdeckte er vier Männer am Fuß der Südflanke, von denen einer eine Taschenlampe 304
hielt. Verzweifelt schaute Bezumov nach links und nach rechts. Bis zur Spitze war es nicht mehr weit, und der Grat, wo Süd- und Westflanke aufeinandertrafen, lag etwa zehn Meter links von ihm. Er presste sich noch dichter an den Stein und begann, die Stufe entlang seitwärts zu rutschen. Der Lichtstrahl tänzelte über die Granitblöcke ganz in seiner Nähe. Und dann hatte er ihn gefunden. Er ruhte auf ihm, hob ihn aus der Dunkelheit und erhellte seinen Kopf und seine Brust wie einen Engel in der Nacht. Plötzlich ertönten Schüsse, und rund um ihn schlugen Kugeln ein. Als sie auf den Granit trafen, machten sie ein splitterndes Geräusch. Verzweifelt hetzte er zur Kante hinüber, verlor beinahe das Gleichgewicht, nahm einen kühnen Satz und zog sich auf die Westflanke der Pyramide. Seine Verfolger rannten die Pyramide entlang. Es blieben ihm nur noch Sekunden. Er schaute hinauf – es war nicht mehr sehr weit. Behutsam legte er den Benbenstein neben sich auf die Stufe, zog seinen Revolver hervor und begann systematisch zu schießen. Seine langen Jahre in der sowjetischen Armee kamen ihm nun zugute.
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Hand in Hand folgten Catherine und Rutherford auf Zehenspitzen dem Gang in die geheimnisvolle Dunkelheit hinein. Es war unmöglich zu sagen, wie lange dies alles hier unentdeckt geblieben, und noch schwieriger, wann es erbaut worden war. Unbestreitbar war jedoch, dass die herausragende Qualität der Ausstattung den inneren Kammern der Großen Pyramide völlig ebenbürtig war. Rutherford konnte sein Staunen kaum zurückhalten, und seine Augen leuchteten fasziniert, als er atemlos flüsterte: »Catherine, das ist es! Das ist das Geheimnis unseres Ursprungs. Die Menschheit war schon früher großartig. Die letzte Welt existierte tatsächlich. Und das ist ihr letztes Zeugnis.« Catherine war ebenso überwältigt und spähte mit offenem Mund ins Halbdunkel. »Schauen Sie! Da vorne trifft der Gang auf einen anderen Tunnel.« In der Tat mündete der Gang etwa fünfzehn Meter vor ihnen in einen quer verlaufenden Korridor, der wiederum mit denselben, perfekt aneinandergefügten Granitplatten verkleidet war. Die Fugen zwischen den Platten waren feiner als ein menschliches Haar, und die Oberfläche der Wände und der mit Sternen übersäten Decke war glatt wie geschliffenes Eis. Sie standen an der Weggabelung. Nach rechts schien der Tunnel abzufallen, enger zu werden und im Dunkeln zu verschwinden. Nach links stieg er unmerklich an und war in dreißig oder vierzig Metern Entfernung in ein golden glühendes, warmes und behagliches Licht getaucht. Von der Schönheit des unirdischen Lichts gebannt und angezogen, ließ Rutherford Catherines Hand los. »Mein Gott, so etwas habe ich noch nie gesehen …« Catherine, deren Gesicht in dem hypnotisierenden Glühen schimmerte, trat neben ihn. 306
»Was ist das? Was befindet sich wohl dort hinten?« Sie blickten einander in die Augen. Dann ergriff Catherine Rutherfords Hand und drückte sie. »Aber denken Sie an Poimandres – er sagte, wir sollen den Weg nach rechts gehen.« Rutherford sah sie mit starrem Blick an. Er schien nicht zu hören, was sie sagte. »Das müssen wir uns ansehen, um jeden Preis. Diese Gelegenheit dürfen wir nicht verpassen.« Catherine war hin und her gerissen. Das goldene Licht zog auch sie an, doch ihr Gewissen erinnerte sie an Poimandres' Worte und an das Versprechen, das sie ihm gegeben hatte. Unfähig, den Blick abzuwenden und umzukehren, schritten sie auf das Licht zu. Sie näherten sich der Lichtquelle, und plötzlich öffnete sich der Gang und bot einen unwahrscheinlichen Anblick. Vor, über und unter ihnen breitete sich eine riesige, Hunderte von Metern lange Halle aus, die wie eine Kathedrale anmutete. Nicht in ihren wildesten Fantasien hatten sie so tief unter der Erde einen derartigen Anblick erwartet. Der Korridor mündete auf eine aus Granit gehauene Galerie in halber Höhe der rund achtzig Meter hohen Wände, und nun standen sie fassungslos auf diesem Sims. Unter ihnen wuchsen mehr als dreißig Pyramiden aus dem Boden, deren Spitzen bis halb unter die Decke ragten. Jede von ihnen war mit prächtigem weißem Stein verkleidet, und ihre Spitzen bestanden aus einer Art weißem Metall. Zwischen ihnen pulsierte ein wundervoll transparentes blaues Licht, als lecke es – wie die Zunge einer unirdischen Flamme – einmal an dieser, einmal an jener. Im gesamten Bau erklang ein tiefer summender Ton, und während die zwanzig Meter lange blaue Lichtzunge sich langsam von Spitze zu Spitze schlängelte, gab sie ein knackendes Geräusch von sich, wie trockenes Holz in einem Ofen. Catherine war von diesem Anblick zugleich entsetzt und fasziniert. »Wo in aller Welt sind wir hier?« Rutherford, der angesichts dieser unheimlichen Vision gleichermaßen zwischen Grauen und Entzücken schwankte, erwiderte: »Ich habe 307
nicht die leiseste Ahnung. Aber ich glaube, wir werden hier Zeuge einer Art Technologie, die unser Begriffsvermögen weit übersteigt.« So war es: Während Catherine über diesen unglaublichen Anblick staunte, kam ihr unweigerlich der Gedanke, dass dies das Herz der Maschine sein musste. Der Sims, auf dem sie standen, zog sich um den ganzen, riesigen Saal herum. In gewissen Abständen führten steinerne Treppen in den Raum hinunter und Korridore wie derjenige, durch den sie eingetreten waren, verschwanden im Felsen. Rutherford fielen fast die Augen aus dem Kopf. Er drehte sich zu Catherine um. »Wir müssen dort hinüber – sehen Sie!« Mit ausgestrecktem Arm zeigte er auf die andere, ihnen genau gegenüberliegende Seite der langen Halle. Dort war ein gewaltiges Tor in Licht getaucht. Licht strömte aus der Öffnung, und über dem Durchgang war – in leuchtenden, märchenhaft schönen Riesenhieroglyphen – eine unentzifferbare alte Botschaft geschrieben. »Die Schriftenhalle!« Er konnte seine Begeisterung nicht mehr im Zaume halten. »Dort muss sie sein. Ich weiß es einfach. Hinter jenem Tor. Wir können einfach diesen Sims entlanggehen. Kommen Sie!« Catherine starrte ihn entsetzt an. »Nein, James, wir kehren um. Ich habe es Poimandres versprochen, der in dieser Minute im Sterben liegt. Und wir müssen Bezumov aufhalten. Dies ist es, wovon er immer sprach, dies ist die Maschine, die er wieder in Gang setzen will. Dabei hat er keine Vorstellung davon, woran er sich wirklich zu schaffen macht. Wir müssen ihn aufhalten, und zwar auf der Stelle!« Rutherford sah sie verzweifelt an. Er zeigte mit der Hand auf diese außergewöhnliche Halle. »Aber wir können jetzt doch nicht einfach gehen …« Catherine packte seine beiden Hände und blickte ihm fest in die Augen, als versuche sie, ihn aus dem Bann der Maschine zu befreien. Leise sagte sie: »Wir können wieder hierher zurückkehren. Diese Halle wird immer hier sein. Aber wir haben eine Aufgabe zu erfüllen – in der jetzigen Welt. Mit der letzten Welt befassen wir uns wieder, wenn wir Zeit dafür haben. Wir müssen los – bevor es zu spät ist …« 308
Rutherford warf einen Blick zurück auf die gewaltige Kammer und auf das große, leuchtende Tor in der Ferne. Er schüttelte den Kopf und blickte auf seine Füße. »Aber wir haben dies alles wirklich gesehen, nicht wahr? Wir träumen doch nicht etwa?« Catherine sah ihn an und schaute dann noch einmal in die wundersame Halle tief unter der Ebene von Gizeh hinab. »Nein, wir träumen nicht. Nun wissen wir es: Eine andere Hochkultur, die über eine unglaubliche Technologie verfügte, existierte tatsächlich, und sie ging unter, genau wie es der unsrigen Kultur blüht.« Sie blickte ihn wieder an. »James, wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Wir brauchen die Schriftenhalle nicht. Verstehen Sie denn nicht: Wir verfügen über alles Wissen, das wir benötigen. Es gibt keine Rätsel mehr. Wir müssen Bezumov und diese Korporation stoppen und die Menschen zur Umkehr bewegen. Das ist genau, was Professor Kent immer sagte. Aber ich will nicht, dass Poimandres wie der Professor einen sinnlosen, einsamen Tod stirbt. Ich will, dass er gerettet wird, um jeden Preis. Auf der Welt gibt es viel zu wenige Menschen wie ihn, und wir brauchen jeden Einzelnen von ihnen.« Rutherford hörte ihr schweigend zu, hob den Blick und nickte dann langsam. »Sie haben recht, Catherine.« Sie küsste ihn auf die Wange. Dann drehte sie sich um, zog ihn hinter sich her, und zusammen rannten sie zurück in den Tunnel, durch den sie gekommen waren. Im Laufschritt waren sie wieder bei der Abzweigung, die zum Raum mit dem Wasserbecken führte, und hetzten nun, wie Poimandres sie angewiesen hatte, jenen anderen, nach rechts führenden Gang entlang. Mit jedem Schritt wurde es dunkler. Der Gang krümmte sich immer mehr nach rechts, sodass sie beim Zurückblicken den Eingang in die gewaltige Halle nicht mehr sehen konnten. Schließlich, nach etwa fünfzig oder sechzig Metern, veränderten sich die Steinwände plötzlich. Der perfekt behauene und geschliffene Granit machte rauem, unbehauenem Fels Platz, und die Decke wurde immer niedriger, sodass sie sich bücken mussten. Nach weiteren hundert Metern endete der Gang plötzlich, und sie standen vor einem Haufen 309
Schutt und Sand, der aus einer breiten, etwa einen halben Meter hohen, waagrechten Spalte im Fels gerutscht war. Entsetzt sagte Rutherford: »Der Gang ist eingestürzt. Wie sollen wir nun weiterkommen?« Catherine krabbelte über den Schutt zu dem Spalt hinauf. »Wir kriechen hindurch.« Sie hievte sich hoch und kroch in den Felsspalt. Es war, als halte sie ihren Kopf in den Rachen eines Löwen, der jeden Moment zuschnappen konnte. Sie versuchte, an etwas anderes zu denken, und schob und zog sich auf dem Bauch vorwärts. Sie hörte, wie Rutherford hinter ihr herrobbte. Nach zehn Metern – Schweiß rann ihr über die Stirn – war der Durchgang ganz mit Sand zugeschüttet. Fieberhaft und wutschnaubend scharrte sie mit bloßen Händen. Dies darf nicht das Ende sein. Nicht hier, nicht jetzt, bitte … Hartnäckig grub sie sich durch den Sand, und plötzlich spürte sie sie: die kühle Nachtluft der weiten Ebene. Sand rieselte ihr übers Gesicht, doch sie spürte den frischen Luftzug auf ihrer Haut. Fieberhaft grub sie wie ein Maulwurf weiter, ihre Hände zu Schaufeln geformt. Schließlich konnte sie ihren Kopf in die Luft hinausstrecken, und das Heulen des Sturmes kam ihr wie ein Segen vor. »Wir haben es geschafft!« Wie ein Tier, das aus einem Ei schlüpft, zwängte sie sich durch Schutt und Sand in die Außenwelt hinaus. Erschöpft blieb sie liegen. Einen Augenblick später streckte Rutherford den Kopf in den Wind, zwängte sich ebenfalls hinaus und ließ sich neben sie fallen. Unter den Sturmwolken und den Sternen lagen sie entkräftet auf der leeren Sandfläche. Am Himmel dämmerte es bereits. Ein paar Sekunden blieben sie liegen und schöpften Atem, bis Rutherford sich aufrappelte und sich umsah. In etwa zweihundert Metern Entfernung, am Fuß der Westflanke der Pyramide, erblickte Rutherford einige rennende Gestalten. Doch bevor er darüber – oder über ihre eigene abenteuerliche Flucht – nachdenken konnte, gingen Schüsse los. Instinktiv warf er sich wieder zu Boden. »Wer ist das? Schießen sie auf uns?« 310
Die Schüsse wurden durch heftiges Feuer aus automatischen Gewehren erwidert. »Nein, es kommt von der Großen Pyramide.« Plötzlich explodierte hoch in der Luft ein Leuchtgeschoss, und sein phosphoreszierendes Licht erhellte das ganze Gelände. Rutherford kroch bis zum Rand der Sanddüne, auf der sie lagen. Er traute seinen Augen nicht. »Mein Gott – schauen Sie! Dort ist Bezumov, fast an der Spitze.« Catherine kroch neben ihn und strich ihr Haar aus dem Gesicht. Dort drüben, weit oben auf der Pyramide und nur ein paar Stufen unterhalb der Spitze, stand Bezumov. Die Leuchtfackel und gleich darauf der Strahl einer Taschenlampe beleuchteten ihn auf dem riesigen Bauwerk. Er schwankte und sah aus wie ein Mann, der Selbstmord begehen wollte. Doch unerbittlich kämpfte er sich die letzten Stufen zum Gipfel hinauf. Kugeln jagten neben ihm in die Steinquader, doch geduldig wie ein routinierter Bergsteiger stemmte er sich in die Höhe und meisterte eine Stufe nach der anderen. Unwillkürlich standen Catherine und Rutherford auf. Machtlos mussten sie erkennen, dass Bezumov kurz vor dem Ziel war. In wenigen Minuten würde die Sonne aufgehen, und es schien völlig aussichtslos, ihn jetzt noch aufhalten zu können. War ihre ganze Reise umsonst gewesen?
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Mit letzter, ungeheurer Anstrengung stemmte sich Bezumov auf die Spitze der Großen Pyramide. Es war eine Fläche von etwa sechs auf sechs Metern. Der Wind zerrte an seinen Kleidern und drohte ihn von der Pyramide zu fegen. Von Millionen Tonnen Stein beschützt, kroch und robbte er außer Sichtweite der Scharfschützen und brach in ein manisches Lachen aus. »Ich habe es geschafft! Hier bin ich! Jetzt werden wir ja sehen! Jetzt wird die Welt endlich begreifen, dass ich recht habe.« Er stand auf und hielt mit seinen Händen den Benbenstein wie ein kostbares Juwel vor sich. Seine irren Augen hielten am Horizont nach der glühenden Scheibe der aufgehenden Sonne Ausschau, doch der Sturmhimmel war viel zu bewölkt, um sie sehen zu können. Während er in die Ferne starrte, hörte er plötzlich einen schrecklichen Lärm, der sogar das Heulen des Windes übertönte. Es war, als ob tausend Düsenjäger gleichzeitig den Motor anwarfen. Bestürzt blickte er sich um und drückte den Stein an seine Brust. Panik zeichnete sein Gesicht. Von dem beißenden Wind und der undurchdringlichen Dunkelheit nur noch verwirrter, wirbelte er herum. Und nun sah er es: In weniger als zehn Metern Entfernung tauchte ein monströses schwarzes Flugzeug auf. Es schwebte wie ein unheimliches, dunkles Insekt auf ihn zu. Sein riesiger, runder, flacher Rumpf hatte einen Durchmesser von etwa zwanzig Metern. Auf der Vorderseite richteten sich zwei speerähnliche Antennen angriffslustig auf ihn. Zwischen den Antennen befand sich eine schwarze Windschutzscheibe, genau auf Augenhöhe mit ihm. Nach einem kurzen Blick wandte er sich nach Osten. Dort, mitten in der Finsternis, tauchte das untrügliche erste Glühen der aufgehenden Sonne auf. Bezumov fuhr herum und brüllte in die sterbende Nacht hinaus: »Niemals! Ihr könnt mich niemals aufhalten! Ihr kommt zu spät!« 312
Entschlossen stellte er sich in die Mitte der kleinen Fläche. Unter ihm ruhte die gesamte sagenhafte Masse der Pyramide. Er hob die Hände über den Kopf und streckte den Benbenstein den verlöschenden Sternen entgegen. In diesem Augenblick schien ein enormes Gewitter loszubrechen. Blaugrelle Blitze zuckten rundherum durch die Wolken und jagten wie ein Himmelsbrand aus allen Richtungen auf die Pyramide zu. Obwohl Catherine und Rutherford Hunderte von Metern entfernt in der Wüste standen, zuckten sie unwillkürlich zusammen, als sich der ganze Himmel mit Blitzen füllte, die auf die Große Pyramide zurasten und sich schließlich in einem einzigen, ungeheuer blendenden Blitz über ihr entluden. Es gab einen ohrenbetäubenden Donnerschlag und eine gewaltige Lichtexplosion – hundert Mal heller als die phosphoreszierenden Leuchtkörper, die kurz zuvor noch den Himmel erleuchtet hatten. Sie versuchten zurückzuweichen, wurden aber von der ungeheuren Druckwelle zu Boden geworfen. Dann ertönte ein zweiter Knall, noch viel lauter als der erste. Es war das seltsame Flugzeug: Es war von einem riesigen Blitz getroffen worden und auf der Stelle in Flammen aufgegangen. Es hagelte Metalltrümmer in alle Richtungen. Catherine rollte sich zu einer Kugel zusammen, und Rutherford legte sich schützend über sie. Er betete, dass keiner dieser glühend heißen Scherben, die vom Himmel fielen, sie treffen würde. Die letzten Trümmer krachten zu Boden, dann war alles still. Sogar der Wind schien sich gelegt zu haben, als sei er von der gewaltigen Explosion vertrieben worden. Catherine lugte zwischen ihren Fingern hervor. Die Pyramide stand felsenfest da. Hinter ihrer riesigen Silhouette löste sich die Nacht auf: Die Sonne ging auf. Es war der Morgen der Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche, und es schien, als hätte sich seit Zehntausenden von Jahren nichts geändert. Stumm und erhaben legten die Pyramiden Zeugnis von der Torheit der Menschen ab. Catherine kroch auf die Düne hinauf. Weit über den Wüstensand verstreut lagen brennende Flugzeugtrümmer. Auf dem Boden am Fuße der Pyramide konnte sie im dämmernden Tageslicht mehrere reglose Körper ausmachen. Rutherford kroch zu ihr hinauf. Schockiert und sprachlos 313
starrten sie auf dieses stille, unheimliche Bild. Sie sahen, wie Fahrzeuge der ägyptischen Polizei heranrasten, Polizisten vorsichtig ausstiegen und verwundert die glimmenden Trümmer am Fuße der Pyramide in Augenschein nahmen. Plötzlich fiel Rutherfords Blick auf ein leuchtendes Etwas, das zwanzig Meter vor ihnen im Sand lag. »Schauen Sie doch – dort drüben! Was ist das?« »Mein Gott«, entfuhr es Catherine, »ist das etwa …« Halb kroch, halb rannte sie darauf zu. Sie drehte sich um und rief: »James, er ist es! Es ist der Benbenstein!« Rutherford rannte zu ihr, und auf allen vieren näherten sie sich vorsichtig dem Stein. Dort lag er, scheinbar völlig unversehrt – seine perfekte goldene Oberfläche schimmerte warm in der Nacht, sein Diamant funkelte wie ein Stern. Catherine streckte ihren Arm nach ihm aus. »Unglaublich! Wie in aller Welt hat er das überlebt? Autsch!« Kaum hatte sie ihn berührt, ließ sie ihn wieder fallen. »Er ist glühend heiß.« Rutherford riss sich den Ärmel von seinem noch immer feuchten Hemd und legte ihn über das schimmernde Juwel. Behutsam hob er es auf und wickelte den Stofffetzen ganz um die kleine Metallpyramide. »Ich hab ihn.« Er warf einen Blick über die Sandfläche zu dem Fahrweg und dem Zugang zum Bir hinüber. Polizisten rannten brüllend umher. »Sehen Sie«, sagte er. »Offenbar haben sie die Leiche unseres Fahrers gefunden. Gut. Nun steigen sie in den Brunnenschacht hinab, dann werden sie auch Poimandres finden.« Er suchte das Gelände nach einem Fluchtweg ab. Polizeisirenen erfüllten mit ihrem schrillen Gekreische die Luft, und eine Reihe von Scheinwerfern, die üblicherweise für touristische Lichtspektakel eingesetzt wurden, wurden auf die vier Flanken der Pyramide gerichtet. Ihr Widerschein und das Licht der aufgehenden Sonne ließen den Sand erglühen. Rutherford nahm Catherine bei der Hand. »So! Höchste Zeit, dass wir uns aus dem Staub machen.« Sie drehten sich um, orientierten sich kurz und gingen auf die Dünen zu und in die friedliche Stille der Wüste hinaus. 314
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Später am Tag wachte Rutherford in einem sauberen, spärlich ausgestatteten Hotelzimmer auf und räkelte sich in den frischen Bettlaken. Sonnenlicht strömte durch das Fenster, und eine warme Brise bewegte die durchscheinenden weißen Vorhänge sanft. Dahinter war der wolkenlose blaue Himmel sichtbar. Auf der Stelle fielen ihm die Ereignisse der letzten Nacht wieder ein. Er drehte seinen müden Kopf und sah Catherine im Tiefschlaf neben sich liegen. Dann hatte er sich also doch alles nicht nur eingebildet. Seine Augen glitten durch das Hotelzimmer und blieben an dem Hemdfetzen auf dem Stuhl gegenüber hängen. Er warf einen raschen Blick auf Catherine und schlüpfte so leise wie möglich aus dem Bett. Er nahm das Bündel, legte es sorgfältig auf das Bett und packte es aus. Vor ihm lag der Benbenstein in seiner ganzen geheimnisvollen Pracht. In diesem Augenblick drehte sich Catherine um und öffnete die Augen. »James! Wo sind wir?« Er lächelte sie voller Wärme an, beugte sich zu ihr herunter und küsste sie sanft auf die Lippen. »Wir sind in dem Hotel, das wir am Stadtrand von Kairo gefunden haben. Und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie spät es ist.« Catherine schaute den Benbenstein an. »Wir haben ihn also tatsächlich wieder – es war nicht einfach nur ein verrückter Traum. Und Bezumov …« Rutherford beendete ihren Satz: »Bezumov ist tot. Und die Herren der Korporation wahrscheinlich auch. Das unheimliche Flugzeug, das in Millionen von Stücken zerfetzt wurde, muss wohl ihnen gehört haben. Es ist vorbei, und wir sind vorläufig in Sicherheit. Schau!« Er zeigte mit einem Lächeln auf das Fenster. »Es ist ein herrlicher Tag.« 315
Catherine stützte sich auf ihre Ellbogen und blickte in den friedlichen blauen Himmel hinaus. »Aber was ist wohl mit Poimandres? Wir müssen herausfinden, wie es ihm geht.« Rutherford stand auf. »Ich gehe zur Rezeption hinunter und rufe im Krankenhaus von Gizeh an. Vielleicht ist er dort. Wir sollten ihn besuchen.« Catherine betrachtete die prächtigen Muster auf dem Benbenstein. Sie berührte ihn sanft. »Ja, und wir müssen einen Weg finden, um diesen außergewöhnlichen Stein wieder dorthin zu bringen, wo er hingehört.« Rutherford knöpfte sein Hemd zu, zog seine Schuhe an und band die Schnürsenkel. »Warum duschst du nicht und wirst richtig wach? Ich bin in zehn Minuten zurück, und dann gehen wir los.« Catherine lächelte ihn an. Die Brise, die durchs Fenster wehte, blies den Vorhang zur Seite, und ihr Gesicht war in Sonnenlicht getaucht. »James!« Er drehte sich um, seine Hand schon auf der Türklinke. »Ja?« Sie strahlte ihn an. »Vielen Dank für alles.«
Poimandres lag reglos im Krankenhausbett. Das frische Laken war bis an sein Kinn gezogen. Warmes, belebendes Sonnenlicht strömte durch die Jalousien. Sein Gesicht wirkte noch mehr als sonst wie die strenge Totenmaske eines längst verstorbenen Pharaos. Die Krankenschwester trat an seine Seite und berührte sanft seine Schulter. Dann beugte sie sich zu ihm hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sogleich öffnete Poimandres die Augen. Für einen Moment irrte sein Blick verloren im Zimmer umher, doch als er seine beiden Besucher erblickte, erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. 316
Dieses Lächeln verlieh seinem Gesicht wieder etwas Farbe und Leben. Catherine ging ums Bett herum und setzte sich auf den Stuhl neben seinem Nachttisch. Rutherford blieb am Fuß des Bettes stehen. Die Krankenschwester nickte Catherine zu und verließ den Raum. Catherine beugte sich zu ihm hinab. Sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Sie begriff selbst noch kaum, was eigentlich alles vorgefallen war. »Mr. Poimandres, es ist alles in Ordnung. Wir haben den Benbenstein. Wir haben ihn nach der Explosion gestern Nacht in Sicherheit gebracht.« Catherine hob ihre Tasche hoch und stellte sie sich auf den Schoß. »Wie können wir ihn wieder zurückbringen?« Sie sah sich im Zimmer um. Poimandres' Bett war von den übrigen Patienten durch einen Vorhang abgeschirmt. Dieser unschätzbar wertvolle Gegenstand schien hier völlig fehl am Platz zu sein. Poimandres öffnete und schloss den Mund. Seine Lippen verzogen sich zu einem schwachen, aber entschlossenen Lächeln. Dann bot er seine ganze Kraft auf und sagte: »Es spielt keine Rolle. Der Benbenstein ist nicht wichtig.« Er sah die schockierten und überraschten Gesichter seiner Besucher. Er hustete und setzte von neuem an. Er wollte unbedingt, dass sie verstanden. »Er ist nichts. Er ist nur ein Symbol.« Catherine traute ihren Ohren nicht. »Wollen Sie damit sagen, dass er nicht funktioniert? Aber wir haben mit eigenen Augen gesehen – gestern Nacht – er …« Poimandres hustete erneut. »Nein, nein – er funktioniert durchaus. Es braucht aber nicht unbedingt dieser Stein zu sein. Der Benben ist ein Teil der Maschine. Die Eingeweihten können ohne Aufwand einen neuen herstellen. Zum Glück wissen das nicht allzu viele.« Rutherford musste lachen. Ach – und dafür hätte ich beinahe mein Leben gelassen … Poimandres schaute ihn an. »Darf ich Sie bitten, ihn einfach verschwinden zu lassen? Das wäre am sichersten.« 317
Rutherford nickte zustimmend. Poimandres fuhr mit der Zunge über seine trockenen Lippen und fuhr fort: »Wunder sind geschehen. Wir sind nur knapp dem Tod entronnen. Der Mann im weißen Anzug wurde aufgehalten. Die Korporation wurde daran gehindert, hinter die Macht der Pyramiden zu kommen. Zumindest ein paar ihrer Männer sind tot, und ihre schlimmen Pläne sind fürs Erste vereitelt.« Catherine runzelte die Stirn. »Aber sie arbeiten weiterhin an der Zerstörung der Welt. Wir haben sie bloß einen Tag zurückgeworfen. Aber was tun wir nun angesichts der Tatsache, dass das Schmelzen der Polarkappen zu einer fatalen Verschiebung der Erdkruste führen wird?« Rutherford vergewisserte sich, dass die Krankenschwester nicht in der Nähe war. »Vielleicht können wir lernen, die Maschine selbst in Gang zu setzen? Wir könnten ihre Energien nutzbar machen und die Menschheit vom Rand des Abgrunds zurückreißen. Vielleicht verfolgte ja Bezumov das richtige Ziel, aber mit der falschen Methode.« Poimandres unterbrach ihn mit einem heftigen, trockenen Husten. »Nein, James. Es gibt noch niemanden, der bereit wäre, mit ihren Energien richtig umzugehen. Wir müssen der Versuchung, die Maschine zu benutzen oder auch die Schriftenhalle zu öffnen, widerstehen. Sie beide verstehen schon sehr viel. Wenn man der Korporation mit Gewalt beikommen will, wird man von ihr zerstört, oder die Macht korrumpiert einen, genau wie sie jene Männer korrumpiert hat, die sich für die Herren der Korporation halten. Es gibt nur einen Weg, um die Korporation zu besiegen.« »Welchen?«, fragte Catherine. »Ganz einfach. Man muss die Menschen von der Wahrheit überzeugen. Und dabei darf man keinen Zwang anwenden, sonst gerät man in die Fahrwasser der Korporation. Vergessen Sie nie, die Wahrheit ist stärker als jede physikalische Kraft im Universum.« Poimandres lächelte. »Ein neues Zeitalter bricht an. Die Korporation scheint unaufhaltsam ihre Macht zu vergrößern, doch das ist ein Irrtum – wir sind dem Sieg über die Korporation näher als je zuvor. Wenn man den 318
Menschen die Wahrheit sagt, werden sie erkennen, dass die modernen Rezepte ›Fortschritt‹ und ›Wirtschaftswachstum‹ die eigentlichen Krankheiten sind: denn sie führen in die Versklavung. Wir müssen dafür sorgen, dass die nächste Generation die Wahrheit erkennt und ihre Überzeugung an ihre Kinder weitergibt. Dann werden wir uns aus der Gewalt der Korporation befreien und die drohende Katastrophe abwenden können. Daran glaube ich fest. Wir können es schaffen. Wir müssen es schaffen. Und wenn es uns nicht gelingt, dann ist unsere Gattung auch nicht wert, gerettet zu werden. Am Ende ist alles ganz einfach, nicht wahr?« Poimandres hielt inne, um Atem zu schöpfen. »Nun verstehen Sie auch, warum die Schriftenhalle oder jedes andere Geheimwissen nicht von Bedeutung ist. Wir müssen unser Verlangen nach Macht und Reichtum freiwillig aufgeben, denn nur durch dieses Verlangen geben wir der Korporation die Macht über uns. Wenn wir uns von diesem Materialismus abwenden können, dann werden die Korporation und ihre korrupte Brut als das sichtbar, was sie wirklich sind – der direkte Weg ins Verderben. Aber der Aufwand dafür ist beträchtlich. Gehen Sie nun. Kehren Sie in Ihre Heimat zurück und verbreiten Sie die Wahrheit. Die Gegenwart gehört noch immer der Korporation, aber die Zukunft – die Zukunft wird uns gehören.« Bei seinen letzten Worten wurde Poimandres von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. Die Krankenschwester erschien. Streng blickte sie Rutherford und Catherine an. Der Kopte bot nochmals seine ganzen Kräfte auf und sagte: »Sie sind nun außer Gefahr.« Rutherford war besorgt. »Aber was ist mit der Explosion? Wird sie nicht das Interesse der ägyptischen Polizei und der Medien wecken? Und die Trümmer dieses unheimlichen Flugzeugs?« Mit letzter Kraft sagte Poimandres: »Die ägyptische Regierung wird diese Angelegenheit vertuschen. In Gizeh geschehen immer wieder die merkwürdigsten Dinge. Sie brauchen nichts zu befürchten. Konzentrieren Sie sich auf die Zukunft.« 319
Die Krankenschwester trat zu Poimandres und wandte sich an die beiden Wissenschaftler. »Sie sollten nun gehen. Mr. Poimandres ist noch zu schwach für anstrengende Gespräche.« Catherine stand auf. »Ja, natürlich. Verzeihen Sie …« Sie beugte sich zu Poimandres hinab, damit er sie ohne Mühe hören konnte. »Wir werden tun, was Sie sagen. Wir werden die Menschen warnen und sie davon überzeugen, ihre Gewohnheiten zu ändern. Wir werden die Wahrheit verbreiten. Wir versprechen es.«
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Als sie das Krankenhaus verließen und wieder im gleißenden Sonnenlicht standen, merkte Catherine plötzlich, dass sie seit langer Zeit zum ersten Mal auf einen öffentlichen Platz trat, ohne sich gleich ängstlich umzublicken. Zum ersten Mal seit dem Tag, als sie vom Tod des Professors erfahren hatte, fühlte sie sich wieder entspannt. Ein tiefer Seufzer der Erleichterung entfuhr ihr. »Tja, nun wissen wir, welche Arbeit uns bevorsteht. Aber als Erstes haben wir eine Pause verdient. Fahren wir zum Flughafen und sehen, ob wir einen Flug nach London erwischen?« Rutherford lächelte sie an. »Ja. Ich glaube, wir haben auf dieser Reise genug erlebt und gelernt. Es ist Zeit, nach Hause zu fahren.« Sie schloss die Augen und genoss die Wärme der Sonne auf ihrer Haut. Als sie sie wieder öffnete, war James verschwunden. Irritiert sah sie sich um, bis sie ihn an der gleichen Häuserzeile vor dem Eingang eines etwas heruntergekommenen Touristenladens stehen sah. »Nur einen Augenblick«, rief er. »Ich habe mir geschworen, noch etwas zu tun, bevor wir Ägypten verlassen.« Er grinste über das ganze Gesicht. Catherine schaute ihn verdutzt an. »James! Was führst du jetzt wieder im Schilde?« »Warte – nur einen Moment.« Rutherford schlüpfte zwischen den Passanten hindurch und verschwand in dem Souvenirladen. Das Innere war eine wahre Schatzhöhle aus Tausendundeiner Nacht, voller Schnickschnack und Kleinkram: Ledertaschen, ausgestopfte Lederkamele, persische Teppiche, Wasserpfeifen und ganze Schubladen voller Schmuck – Ringe, Halsketten, Ohrringe, alles aus den verschiedensten Materialien und teil321
weise mit ägyptischen Symbolen verziert. Rutherford ließ seinen Blick über die Schmuckkisten und -kästen gleiten. Auf einem Tischchen lag ein Stück Schwamm, in dem ein paar Dutzend Ringe steckten. Es handelte sich um einfache Silberringe mit Fassungen, in welche bunte, aber nicht wirklich kostbare Steine eingelassen waren. Rutherford betrachtete sie und wählte einen aus. Aus dem schattigen Hintergrund des Ladens schlurfte ein alter Mann, zweifellos der Besitzer, zu ihm herüber – offenbar überrascht, dass sich ein Kunde in sein schummriges Reich verirrt hatte. Rutherford sah ihn an und grinste. »Ich möchte gern diesen Ring kaufen.« Der Ladenbesitzer brummte: »Einhundert ägyptische Pfund.« Es war Rutherford völlig egal, zu viel zu bezahlen. »Einverstanden. Aber ich möchte, dass Sie den Stein entfernen.« Der alte Mann starrte ihn verständnislos an. Rutherford zeigte ihm mit allen möglichen Gesten, was er wollte. Der alte Mann war verwirrt. »Stein weg? Aber noch immer hundert Pfund. Nicht billiger ohne Stein.« Rutherford nickte. »Ja, ja, ich verstehe. Ich bezahle dasselbe, seien Sie unbesorgt.« Der alte Mann schüttelte den Kopf und lächelte – verrückte Touristen! Er schlurfte in den hinteren Teil des Ladens und kramte in den verschiedensten Kisten herum. Rutherford warf einen Blick durch die Glastür. Catherine stand im Sonnenschein auf dem Gehsteig und beobachtete die Passanten. Sein Herz glühte, als er sie betrachtete. Der alte Mann berührte ihn am Ellbogen. »Geben Sie.« Rutherford reichte ihm den Ring. Der alte Mann hielt eine Zange in der Hand. Geschickt öffnete er den Verschluss, der den Stein auf dem Ring hielt. Dann hob er den Ring umgekehrt in die Höhe, bis ihm der Stein in die Hand fiel. Er reichte ihn Rutherford, der jedoch lächelte und den Kopf schüttelte. »Behalten Sie ihn. Nun möchte ich, dass Sie Folgendes tun …« Aus seiner Tasche holte Rutherford den Benbenstein. Die Augen des 322
Alten weiteten sich entzückt, als er den Diamanten sah, der auf der kleinen Pyramide befestigt war. Rutherford gab ihm mit Handzeichen zu verstehen, dass er den Diamanten entfernen und auf dem Ring befestigen solle. »Ahhh!« Der Alte hatte verstanden. Zufrieden lächelnd nahm er Rutherford den Benbenstein aus der Hand, wuselte in den hinteren Teil des Ladens zurück und durchwühlte einmal mehr seine diversen Werkzeugkästen. Nach längerem Gemurmel und mehreren Anläufen, den Stein mit den verschiedensten Werkzeugen von der kleinen Pyramide zu trennen, stieß er einen leisen Jauchzer aus. Der alte Mann hielt den befreiten Diamant hoch, damit Rutherford ihn sähe, und machte sich daran, ihn mit der Fassung auf dem Ring zu befestigen. Eine Minute später, nach der nötigen Feinarbeit, hielt er Rutherford das fertige Stück hin. »Schön!«, sagte der alte Ägypter stolz. »Geschenk?« Rutherford grinste. »Genau.« Rutherford bezahlte, verabschiedete sich und trat durch die Glastür auf die Straße hinaus. Der Alte schlurfte zur Tür und sah seinem seltsamen Kunden fasziniert hinterher. Rutherford holte tief Luft, überquerte die Straße und ging auf Catherine zu, die ihn amüsiert angrinste. »Was hast du mit dem Benbenstein gemacht?« Mit einem Augenzwinkern erwiderte Rutherford: »Oh, ich dachte, ich mache einen Verlobungsring daraus.« Unwillkürlich errötete sie, und ihre Wangen leuchteten wie zwei zarte Rosen. Sie lächelte wie noch nie zuvor und nahm den Ring, ohne zu zögern, entgegen. Sie schob ihn sich auf den Finger. In den Armen ihres Geliebten spürte sie, dass ihre Liebe nun endlich unter einem guten Stern stand.
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DANKSAGUNG Ich möchte mich bei Peter Straus, meinem Literaturagenten, bei Maria Rejt, meiner Lektorin bei Pan Macmillan, und bei Anna Valdinger, der Lektoratsassistentin, für ihre Erfahrung und ihre Klugheit bedanken.