Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 554 All‐Mohandot
Der SOL‐Hirte von Peter Terrid
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 554 All‐Mohandot
Der SOL‐Hirte von Peter Terrid
Anschlag auf die Führung des Generationenschiffes
Seit Dezember des Jahres 3586, als die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört. Schließlich ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Jetzt schreibt man an Bord des Schiffes den April des Jahres 3792, und der Arkonide hat trotz seines relativ kurzen Wirkens auf der SOL bereits den Anstoß zu entscheidenden positiven Veränderungen im Leben der Solaner gegeben – ganz davon abgesehen, daß er gleich nach seinem Erscheinen die SOL vor der Vernichtung rettete. Inzwischen hat das Generationenschiff viele Lichtjahre zurückgelegt, und die Solaner haben in dieser Zeit viele Konflikte mit Gegnern von innen und außen mehr oder weniger unbeschadet überstanden. Unter Breckcrown Hayes, dem neuen High Sideryt, bahnt sich nun eine weitere Stabilisierung und Normalisierung an Bord an. Alle sind damit einverstanden – bis auf einen. Dieser eine ist DER SOL‐HIRTE …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide im Brennpunkt eines neuen Konflikts. Breckcrown Hayes ‐ Der neue High Sideryt in Schwierigkeiten. Joscan Hellmut, Bjo Breiskoll und Sternfeuer ‐ Mitglieder von Atlans Team. Der SOL‐Hirte ‐ Ein Unbekannter trachtet nach der Macht in der SOL.
1. »Wehe ihm, wenn er versucht hat, uns zu täuschen! Wir werden ihm einheizen, daß er es nie vergessen wird!« Sagh Nurager schwang drohend die geballte Faust. Die Gebärde galt dem Interkomschirm, auf dem vorläufig nur das Pausenzeichen zu sehen war. In wenigen Minuten sollte der Mann zur Besatzung der Gesamt‐SOL sprechen, der seit kurzer Zeit das Sagen an Bord des Riesenschiffs hatte. Zahllose Solaner, traditionalistisch eingestellte ebenso wie fortschrittlich gesinnte, warteten auf den Beginn der Rede von Breckcrown Hayes. Die erste Ansprache des High Sideryt war unzweifelhaft ein voller Erfolg gewesen. Das lag zum Teil an der ruhigbesonnenen Ausstrahlung des neuen High Sideryt. Maßgeblich war auch der klare und energische Tonfall, in dem er seine Absichten verkündet hatte. Und nicht zuletzt hatte sich an Bord eine Stimmung breitgemacht, die einfach nach einer Veränderung schrie – es war vielen wichtig, daß etwas geschah, wobei es wenig zählte, was nun in die Wege geleitet wurde. Hauptsache, man kam aus dem Trott heraus, der das Leben an Bord immer mehr zu ersticken gedroht hatte. »Ich bin gespannt, was er uns zu sagen hat«, stimmte Gashy Pender zu, eine junge Frau, die gleich Sagh Nurager eher konservativ eingestellt war. Im Fall dieser beiden hatte diese Einstellung einen recht einfachen Grund – beide hatten gute Aussichten gehabt, es in der alten SOLAG recht weit nach oben zu
bringen. Nun, da Willfährigkeit und Liebedienerei keinerlei Karriere mehr begründen sollten – Breckcrown Hayes hatte auch ohne viele Worte klargemacht, daß er derlei nicht länger dulden würde –, waren die Aussichten dieser beiden und etlicher anderer auf bequeme Beförderung, beträchtliches soziales Ansehen und persönlichen Einfluß vorüber. Diese beiden fühlten sich um ihre Zukunft geprellt. Es gab auch andere an Bord, solche, die die gerade verwendeten Begriffe gänzlich anders gedeutet hätten. Was für einen strebsamen SOLAG‐Angehörigen als angemessene Aufstiegsmöglichkeit galt, würde von etlichen Betroffenen schlicht als schmarotzerhafte Ausbeutung Unterdrückter angesehen. Das soziale Ansehen der SOLAG‐Mitglieder war nicht selten auf Furcht und Schrecken zurückzuführen gewesen, und statt persönlichem Einfluß ließ sich die Vetternwirtschaft unter den SOLAG‐Leuten auch als hemmungslose Klüngelei bezeichnen. Diese beiden Ex‐Ferraten saßen in einem Gemeinschaftsraum, zusammen mit einem Dutzend anderer Soldaten. Die Stimmung war durchwachsen; einige waren für Hayes, andere entschieden gegen ihn. Was man Hayes ein wenig ankreidete, war die Tatsache, daß er sich offenbar aus eigener Machtvollkommenheit zum High Sideryt aufgeschwungen hatte. Jedenfalls wurde in einigen Quartieren so gemunkelt. Sagh Nurager war der gleichen Meinung. Herausfordernd sah er sich um. »Er ist ein Uso … ein Usu …« »Usurpator«, half ihm ein grinsender junger Mann aus. »Richtig, er hat sich die Macht einfach unter den Nagel gerissen«, murrte Nurager. »Angeblich ist er der Sohn des alten High Sideryt Chart Deccon, aber wer glaubt das schon.« »Ich!« sagte der grinsende Frechling. Es war einer von diesen neumodischen Brüdern, die nicht den Schnabel halten konnten,
wenn Erwachsene redeten. Früher hatten sie den Ferraten lange Nasen gedreht und sich über die ehrwürdigen Ahlnaten lustig gemacht. Es wurde Zeit, daß diesem frechen Gesindel gezeigt wurde, wo der Kurs hinführte. »Ach?« sagte Sagh, dem vorläufig keine bessere Antwort einfiel. »Und was ist mit den Vorschriften, eh? Gibt es nicht die Regel, daß nur der amtierende High Sideryt seinen Nachfolger bestimmt? Und zwar dadurch, daß er den Namen des Betreffenden in SENECA einspeichert, wie es sich gehört? Ist nicht Deccon selbst erst High Sideryt geworden, weil die gute alte Tineidbha Dharaw ihn dazu gemacht hat, indem sie seinen Namen in SENECA gespeichert hat?« »Du sprichst von Deccons Vorgängerin, als hättest du sie persönlich gekannt …!« »Unsinn«, wehrte Sagh ab. »Aber früher, da hatten wir es entschieden leichter, sage ich.« »Haltʹs Maul«, warf einer dazwischen. »Paßt lieber auf, die Sendung beginnt.« In der Tat wechselte der Interkomschirm gerade das Bild. Breckcrown Hayes wurde sichtbar. »Bei allen Raumteufeln«, stieß Nurager hervor. »Wie sieht der denn aus?« Breckcrown Hayes war nie eine Schönheit gewesen, stets hatte er einen eher kantigen Eindruck gemacht. Nun aber war sein Gesicht verunstaltet durch etliche häßliche Narben. »Hast du nicht davon gehört? Es sollen SOL‐Würmer gewesen sein, und er hat es überlebt.« »Schade«, knurrte Sagh und hielt das für einen prächtigen Scherz. »Ich wende mich an euch, meine Solaner, um weitere Mißverständnisse und Zweifel auszuräumen«, eröffnete Hayes seine Ansprache. Er blickte ruhig, ihm war keine Nervosität anzumerken. »Aha! Habt ihr es gehört? Mißverständnisse und Zweifel! Es geht also schon los mit der Mißwirtschaft!« Ein wütender Blick ließ Nurager vorläufig schweigen. Zum
anderen merkte er sich das Gesicht des Burschen, der ihn derart verweisend angesehen hatte. So etwas konnte man mit einem Ex‐ Ferraten vom Schlage eines Sagh Nuragers nicht machen, nicht mit ihm, wahrhaftig. »Ich habe es bereits gesagt, die Zeiten der sogenannten alten Ordnung sind vorbei. Es gibt keine SOLAG mehr, keinen ehernen Orden, der euch bewacht, bespitzelt und herumkommandiert. Ich bin nicht euer Befehlshaber, sondern euer Kommandant, der die SOL an ihre Ziele führen wird.« »Hört sich gut an«, sagte eine klare Frauenstimme. »Er ist wenigstens kein bißchen überheblich.« »Pah«, murrte Nuragers Begleiterin. »Gewäsch, nicht mehr, nur Gewäsch!« »Es gibt, das weiß ich, an Bord viele, die diesem Wechsel mißtrauen, die immer noch die Träume der Vergangenheit träumen. Ihnen erscheint der Wechsel der Verhältnisse zu hart, zu brutal – und vor allem, ich spreche es offen aus, illegitim.« »Was habe ich gesagt!« schrie Sagh Nurager. »Ein Usu …« »Es widerstrebt mir, auf die Machtstrukturen früherer Tage zurückzugreifen. Sie sind der heutigen Zeit nicht mehr gemäß. So wird es keinen von oben ernannten High Sideryt mehr geben. Damit ihr aber wißt, daß beide Ansichten eine Vereinigung in mir möglich machen, möchte ich klarstellen – ob durch die Umstände dazu gemacht oder von oben ernannt: Ich, Breckcrown Hayes, bin rechtmäßig High Sideryt. Das gilt auch für jene, die den alten Zeiten nachtrauern. Ich bin von Chart Deccon in dieses Amt berufen, auch wenn ich seinen Geist und seinen Stil grundsätzlich reformieren werde.« »Phrasen!« schrie Sagh Nurager zum Bildschirm hinüber. »Beweise deine Worte!« Natürlich konnte Hayes diese Worte nicht hören, aber er schien mit diesen Reaktionen der Traditionalisten gerechnet zu haben. »Ich werde daher in einer Sendung, die jeder an Bord verfolgen
kann, SENECA beauftragen, die Namen zu veröffentlichen, die in ihm gespeichert sind als Entscheidungen Chart Deccons, wer sein Nachfolger sein soll.« »Da bin ich aber gespannt«, murmelte Sagh. Die Eröffnung des High Sideryt hatte ihm fürs erste die Sprache verschlagen. »Ich will nicht verhehlen, daß ich dies hauptsächlich deswegen tue, um jene besorgten Gemüter zu beruhigen, die fürchten, nun würde buchstäblich alles und jedes auf den Kopf gestellt. Auch jene, die der alten Ordnung noch verhaftet sind – und das muß durchaus nicht aus Eigennutz sein –, sollen wissen, daß die Veränderungen, die es geben wird, ihre Richtigkeit haben. Das ist alles für diesen Augenblick. Sobald eine Verbindung mit SENECA hergestellt worden ist, werde ich mich wieder bei euch melden, Solaner!« Breckcrown Hayes zeigte ein Lächeln. Es war ein wenig zaghaft, und gerade das gefiel. Ein einstudiertes Werbegrinsen hätte man Hayes schwer verübelt. Gerade der Umstand, daß ihm die geschliffene Eleganz abging, mit der Magniden und vor allem die Ahlnaten in früheren Jahrzehnten die Besatzung fast nach Belieben hatten einseifen können, sprach für den High Sideryt. Er schien ein Mann zu sein, der eine klar umrissene Aufgabe lösen wollte, keiner, der die SOL zur Befriedigung persönlichen Ehrgeizes oder eigener Eitelkeit verwenden wollte. »Dürftig«, sagte Sagh Nurager, kaum daß der Bildschirm dunkel geworden war. »Sehr dürftig.« »Was hast du erwartet, er ist neu im Amt«, sagte der junge Frechling. Die Haare waren natürlich zu lang, und die anderen Manieren ließen auch zu wünschen übrig. Man kannte diese Leute, und man würde sich die Gesichter merken. Eines Tages würde wieder Ordnung herrschen an Bord, und dann würde es diesen aufrührerischen Elementen an die ungewaschenen Kragen gehen. »Pah«, machte Nurager. »Ich bin sicher, das ist ein Taschenspielertrick, nichts weiter.«
»Und diese Sache mit den Stabspezialisten«, ereiferte sich Gashy Pender. »Was soll das nur wieder sein? Alles, durcheinander, keine richtige Ordnung. Ahlnaten und Magniden …« »Ehemalige Ahlnaten«, sagte der junge Mann. »Meinetwegen, alles nur Wortgeklingel. Früher, da wußte man, woran man war. Klare Uniformen, klare Vollmachten. Man wußte, wen man zu grüßen hatte und wer etwas zu befehlen hatte.« »Und wie war es mit den Fähigkeiten?« »Was für Fähigkeiten?« fragte Gashy giftig. »Die Uniform macht nicht den Mann«, sagte der junge Mann. Gashy fand ihn recht sympathisch, auch wenn er verschrobene Ansichten hatte und ein wenig strubbelig aussah. Wenn man ihn und seinesgleichen ein wenig härter angefaßt hätte, dann wäre sicherlich brauchbare Menschen aus ihnen geworden. »Was soll das heißen?« schrie Sagh Nurager, der sich – wohl nicht zu Unrecht – angegriffen fühlte. Der junge Mann lächelte freundlich – für Sagh wirkte es allerdings sehr herausfordernd. »Könnt ihr das nicht verstehen? Dieses Kastensystem der SOLAG brachte für uns doch nur Starrheit, Beschränkung, Bewegungsunfähigkeit.« »Wieso Bewegungsunfähigkeit?« fragte Gashy. »Was meinst du damit? Früher, da wußte man noch genau, woran man war, was man wann und wie zu tun hatte.« Der junge Mann breitete die Arme aus. »Du hast es ganz genau gesagt. Jeder hat immer nur das getan, was er einmal auswendigvgelernt hatte. Begreifst du nicht, daß es dann keinerlei Bewegung geben kann? Daß es nichts Neues gibt, keinen Fortschritt?« »Fortschritt«, ereiferte sich Sagh Nurager. »Wenn ich das schon höre, Fortschritt! Junger Mann, wir sind ein paar Jahrhunderte durch den Raum geflogen, prächtig geflogen, und wir sind ohne solche Sprüche ausgekommen, oder?« »Wohin wir gekommen sind, kann man wohl sehen! Wenn Atlan
…« »Hör auf mit dem«, brüllte Sagh Nurager, nun außer sich vor Zorn. »Da schleicht sich dieser Fremdling an Bord, wirft alles über den Haufen, kehrt das Unterste zuoberst, und was ist nun? Hast du es nicht gehört? Er hat sich ein eigenes Quartier zuweisen lassen. SOL‐City nennt er es, und diese ganze Extrabande, die hat er um sich geschart. Die Molaaten und den Roxharen, und diese Gedankenschnüffler. Das ist mir einer, erst krempelt er alles um, und jetzt hält er sich zurück.« Sein Gegenüber machte ein verblüfftes Gesicht. Die Gedankenakrobatik, mit der Sagh Nurager Atlan das zum Vorwurf machte, was er an Hayes vermißte und umgekehrt, war mehr, als der junge Mann verdauen konnte. »Er drückt sich vor der Verantwortung, dieser Atlan«, maulte Nurager weiter. »So einer ist das.« »Und was ist mit Hayes?« »Der sollte seine plumpen Finger von wichtigen Dingen lassen«, forderte Nurager grimmig, ohne zu bemerken, wie gegensätzlich und unausführbar seine Forderungen waren. Um sich nicht weiter Belästigungen auszusetzen, stürmte Sagh Nurager aus dem Raum, in dem die anderen blieben und darauf warteten, daß die Schaltung zwischen dem High Sideryt und SENECA zustande kam. »Unglaublich«, murmelte der junge Mann und schüttelte den Kopf. »Du hast sehr seltsame Ansichten«, sagte Gashy Pender. Irgendwie fand sie den anderen ganz nett, auch wenn er ein wenig absonderlich war. Man mußte ihn ein wenig erziehen, dann würde sich das mit den Ansichten schon geben. »Das mag aus deinem Blickwinkel richtig sein«, sagte der Angesprochene. »Aus meiner Sicht habt ihr sehr seltsame, um nicht zu sagen, erschreckende Ansichten.« »Und du willst uns wohl bekehren?« fragte Gashy spöttisch.
»Keineswegs«, bekam sie zur Antwort. »Ich glaube, es hat sehr wenig Sinn, mit euch reden zu wollen.« »Hältst du uns für blöde?« Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Möglich, daß ich mich irre, auch wenn ich es für sehr unwahrscheinlich halte. Im Notfall, wenn ich guten Argumenten begegne, kann ich meine Ansichten ändern. Aber ich habe das sichere Gefühl, daß eure Einstellung mit eurem Selbstwertgefühl so verknotet ist, daß ihr beides nicht mehr auseinander bekommt. Und das ist schade.« Auf seltsame Weise machte dieser ruhig vorgetragene Einwand Gashy betroffen. Sie mußte sich eingestehen, daß sie sich tatsächlich sehr blöde vorgekommen wäre, wären ihre Ansichten zur Lage falsch gewesen – in diesem Fall hätte sie sehr viel dummes Zeug für bare Münze genommen. »Wie heißt du eigentlich?« versuchte sie abzulenken. »Neiger Lyngk«, antwortete der junge Mann. »Aber paß auf, da kommt der zweite Teil der Übertragung.« »Jetzt wird es ernst«, murmelte Gashy. Wieder erschien das Gesicht von Breckcrown Häyes auf dem Schirm. Der Schirm war elektronisch zweigeteilt worden. Die andere Hälfte wurde von SENECAS Symbol eingenommen. »Breckcrown Hayes ruft SENECA«, ließ sich die ruhige Stimme des High Sideryt vernehmen. Eine längere Pause entstand – eigentlich ein Unding, wenn man bedachte, wie schnell SENECA reagieren konnte, vorausgesetzt, die Biopositronik wäre voll einsatzbereit gewesen. Leider war sie ganz erheblich beschädigt, wie jedermann an Bord wußte. Niemand wußte allerdings, wo dieser Schaden lag, wie er aussah, was ihn hervorgerufen hatte und – wichtiger als alles andere – wie man ihn hätte beheben können. Die Verbindung kam zustande. Der neue High Sideryt redete mit SENECA, und atemlos verfolgte die Besatzung der SOL den
Wortwechsel. Ob Breckcrown Hayes die allgemeine Spannung nur anheizen wollte, oder ob er andere Motive hatte, ließ sich später nicht mehr feststellen. In jedem Fall verwickelte er die Biopositronik zunächst einmal in ein harmloses Gespräch. »Etwas stimmt nicht«, sagte Neiger Lyngk nervös. »Könnt ihr es nicht hören?« »Was?« fragte Gashy. Lyngk rieb mit dem Daumen der rechten Hand über die Fingerkuppen, als wolle er etwas verreiben. »Der Tonfall«, sagte er irritiert. »SENECA klingt unsicher, fast verstört. Das macht mich stutzig.« »Ach, Unsinn«, wehrte Gashy ab. »Wann hätte man dergleichen je erlebt, eine nervöse Positronik?« Unterdessen war Hayes in seinem Gespräch mit SENECA am entscheidenden Punkt angekommen. »Ich fordere dich auf, SENECA, allen Zuhörern und Zuschauern bekanntzugeben, welcher Name als der von Chart Deccons Nachfolger im Amt des High Sideryt in dir gespeichert ist.« »Darauf kann ich keine Antwort geben«, lautete der Kommentar der Positronik. »Was hat das nun wieder zu bedeuten?« rief ein Mann, der neben Gashy Pender saß und nun vor Erregung aufgesprungen war. »Warum kannst du keine Antwort geben?« fragte Breckcrown Hayes. Es war ihm anzusehen, daß er betroffen war. Vermutlich hatte er mit einer ganz anderen Aussage gerechnet. SENECAs Antwort schlug bei der Besatzung ein wie eine Bombe. »In dem fraglichen Spezial‐Speicher ist kein Name gespeichert«, verkündete SENECA, und jeder an Bord konnte sehen, wie Breckcrown Hayes schluckte. »Der Speicher enthält keinerlei Informationen.«
2. »Das darf nicht wahr sein!« rief ich aus. Ich war aufgesprungen. Die Eröffnung der defekten Biopositronik hatte auch mich in höchstem Maße überrascht. Ich sah Joscan Hellmut an, den Kybernetiker, der SENECA eigentlich besser kennen sollte, als irgendein anderer an Bord. »Hast du dafür eine Erklärung?« fragte ich den ruhigen und wortkargen Wissenschaftler. Hellmut preßte die Lippen aufeinander. Es betraf ihn jedesmal, wenn einer seiner positronischen Lieblinge Ausfallerscheinungen zeigte, und beim augenblicklichen Zustand der Biopositronik hatte er mehr als genug Grund zum Verdruß. »Ich weiß es nicht«, sagte er halblaut. Mein Blick wanderte zu Sanny, aber die Molaatin machte eine Geste der Verneinung. Ich stieß eine Verwünschung aus. Das war das Letzte, was wir an Bord jetzt gebrauchen konnten. Ein vor aller Augen als illegitim ausgewiesener High Sideryt, der sich auf keinerlei von SENECA und der Tradition abgeleitete Autorität mehr berufen konnte. Für gewisse traditionalistisch eingestellte Kreise an Bord war diese Pleite ein gefundenes Fressen, genau der Zündstoff, auf dem rückschrittliche Fanatiker das Süppchen ihres unbefriedigten Ehrgeizes kochen konnten. »Es wird Ärger geben«, sagte Joscan Hellmut, und das war eine gelinde Untertreibung. Hayes hatte sich unterdessen aus der Bordkommunikation ausgeschaltet, nachdem er knapp verkündet hatte, auch dieses Problem werde gründlich geklärt werden. Mit derart unverbindlichen Absichtserklärungen konnte Hayes in dem emotionalen Hexenkessel, der an Bord zu brodeln begann, keinerlei Wirkung erzielen. Im Gegenteil, diese offenkundige Fluchtreaktion konnte das allgemeine Durcheinander nur noch aufheizen. »Ich werde Hayes aufsuchen«, erklärte ich. »Ich muß mit ihm
reden.« »Sollen wir mitkommen?« Ich schüttelte den Kopf. »Versucht, von SOL‐City aus die Lage zu analysieren und herauszufinden, was sich an Bord tut. Erst wenn wir wirklich genau wissen, was gespielt wird, können wir unsere Kräfte sinnvoll einsetzen. Vorher würden wir uns nur verzetteln.« »Es könnte riskant werden …«, gab Hage Nockemann zu bedenken. Ich zuckte die Schultern. »Damit muß ich rechnen«, sagte ich. Ich verließ den Bereich, den Hayes uns zur Verfügung gestellt hatte. Der Weg war nicht weit, nur knapp fünfzig Meter bis zur Hauptzentrale und der Klause des High Sideryt. Hayes wartete bereits auf mich. Sein Gesicht war verdüstert. Ich konnte es ihm nachfühlen. »Eine üble Panne«, sagte ich nach einer knappen Begrüßung. »So kann man es nennen«, murmelte Hayes. Er wirkte ein wenig niedergeschlagen, aber offensichtlich war er schon dabei, die Lage zu durchdenken und sich etwas einfallen zu lassen. Der neue High Sideryt ließ sich so leicht nicht unterkriegen. Es tat gut, das zu wissen – stabile Verhältnisse an Bord waren unser vordringliches Ziel. »Was willst du unternehmen?« fragte ich Hayes. Der zuckte mit den Schultern. »Sieh dir das an!« forderte er mich auf. Ein halbes Dutzend Bildschirme war in Betrieb. Die Optiken zeigten, wie es an Bord aussah. »Schalte den Ton dazu«, bat ich Hayes. Der erfüllte meine Bitte sofort. »Aufknüpfen müßte man den Emporkömmling …«, das waren die ersten Worte, die aus einem kleinen Lautsprecher klangen. Hayes wölbte die Brauen. »Die Volksseele kocht«, stellte er fest.
Was sich auf den Schirmen abspielte, konnte man wohl als repräsentativ für die Stimmung der Besatzung gelten lassen. Ein Teil der Leute wollte ganz einfach seine Ruhe haben und scherte sich um gar nichts, aber das war eine Minderheit. Die Mehrheit, das war klar zu erkennen, hielt zu dem neuen High Sideryt, während eine andere Minderheit offenen Umsturz predigte. Daß die Hetzredner dabei vornehmlich an die eigene Wohlfahrt dachten, wußten sie sehr geschickt zu verbergen. An einigen typischen, einstudierten Bewegungen – sie verrieten die Schulung durch Ahlnaten – ließ sich ablesen, daß die Mehrzahl der Umstürzler sich aus den Reihen der ehemaligen SOLAG rekrutierten. »Es ist ihre letzte Chance«, stellte Hayes kaltblütig fest. »Sie werden alles daran setzen, sie weidlich zu nutzen.« Ich breitete die Arme aus. »Wie konnte das nur passieren?« fragte ich Hayes. Für einen Augenblick trat Wut in die Augen des High Sideryt. Er schlug mit der geballten Faust auf die Lehne seines Sessels. »Ich begreife es nicht«, rief er. »Ich begreife es wirklich nicht. Ich habe fest damit gerechnet, daß ich durch diese Sendung die Gemüter an Bord würde beruhigen können.« Ein Teil der SOL‐Besatzung war deutlich hörbar seiner Meinung. »Er müßte völlig verrückt sein«, konnte ich einen älteren Mann sagen hören, der dicht beim Mikrofon stand. »Nur ein Narr würde in eine so offene Falle laufen. Dieses Versagen von SENECA …« »Was heißt hier Versagen?« wurde ihm das Wort abgeschnitten. »Wir alle wissen, daß es zu den Pflichten – habt ihr gehört? Pflichten – des amtierenden High Sideryt gehört, den Namen seines Nachfolgers in SENECA zu speichern. Keine Sekunde lang darf die SOL ohne High Sideryt sein, erinnert ihr euch denn nicht mehr daran?« Breckcrown Hayes deutete auf den Bildschirm, auf dem der aufgeregte Sprecher zu sehen war.
»Er hat zweifelsfrei recht«, sagte der High Sideryt. »Der Speicher muß einfach einen Namen enthalten!« »Also, Leute, überlegt einmal«, zeterte der Ex‐Ferrate weiter. »Das heißt doch wohl, daß Hayes entweder ein falsches Spiel mit uns getrieben hat, indem er den Dialog mit Seneca nur vorgetäuscht hat …« »… dann hätte er auch seinen eigenen Namen herauslocken können«, wurde dem Ferraten entgegengehalten. Es gab offenkundig auch ein paar Leute, die ihre Sinne beieinander hatten und logisch dachten. »… oder aber, und das ist viel schlimmer, er hat an SENECAs Speicher herumgepfuscht. In jedem Fall gehört er weg, einfach weg.« Breckcrown Hayes sah sich diesen Ausbruch des Zorns mit erstaunlicher Ruhe an. Er dachte, was auch ich überlegte; es lag auf der Hand. Was die Kameras einfingen, das war jene Stimmung, die öffentlich geäußert wurde. Die Diskutierenden wußten, daß sie von irgendwelchen Kameras erfaßt werden konnten, wie sie an Bord eines so gigantischen und komplizierten Schiffes an zahlreichen Orten zu Beobachtungszwecken einfach unerläßlich waren. Wenn sie sich dort schon derartig zankten, wie mochte es dann in jenen Bereichen zugehen, die keinerlei Beobachtung zugänglich waren, in den Privaträumen und den anderen Bereichen, in denen die Respektierung der Privatsphäre selbstverständlichen Vorrang genoß vor irgendwelchen Sicherheitsüberlegungen. Dort gab es natürlich keine Kameras und Mikrofone, und dort fielen vermutlich weit härtere Worte als auf den öffentlichen Plätzen. »Wartet ab«, riet ein Besonnener. »Übereifer kann in einer so heiklen Lage nur schaden.« »Ach was«, wehrte der eifrige Ferrate ab. »Wenn wir Hayes noch mehr Zeit lassen, wird er sich nur noch heftiger an seinen angemaßten Posten klammern.«
Hayes ließ die Schirme dunkel werden. »Es dürfte überall so aussehen«, stellte er ruhig fest. »Es brodelt und gärt.« »Was willst du unternehmen?« fragte ich drängend. Hayes breitete die Arme aus. »Mit SENECA reden«, sagte er gelassen. »Oder willst du es versuchen?« Ich überlegte nicht lange. * Nur mit Mühe hatte Gashy es verhindern können, daß in dem Aufenthaltsraum eine regelrechte Prügelei ausgebrochen war. Traditionalisten und Hayes‐Anhänger waren nahe daran gewesen, die Argumente durch Faustschläge zu ersetzen. Mit einiger Beschämung hatte die Ex‐Ferratin erkennen müssen, daß diese handfeste Aggression in der Mehrzahl der Fälle von ihren Freunden ausgegangen war. Es gab allerdings auch genügend Hitzköpfe unter den Hayes‐Anhängern, die eine Keilerei mitgemacht hätten und keinem Kampf aus dem Weg gingen. In dem allgemeinen Durcheinander war es mehr einem glücklichen Zufall denn der sorgfältigen Beobachtung zuzuschreiben gewesen, daß jemand entdeckte, daß Hayes sich wieder gemeldet hatte. Die ersten paar Augenblicke seiner Ansprache waren in dem Geschrei verlorengegangen. »Laßt uns hören, was er zu sagen hat«, rief Gashy. »Vielleicht klärt sich jetzt alles auf.« »Schön gesagt«, bemerkte Neiger Lyngk. »Hoffen wir das Beste.« In dem Raum kehrte allmählich Ruhe ein – vermutlich zum letzten Mal für geraume Zeit. Wenn die nächsten Stunden nicht in irgendeiner Form eine Entscheidung brachten, würden die beiden
verfeindeten Parteien so schnell nicht wieder friedlich zusammenkommen. An Bord der SOL – Gashy ahnte es bereits dumpf – drohte ein Bürgerkrieg. »Ich werde es versuchen, das neu aufgetauchte Problem zu lösen, und zwar so, wie es begonnen hat«, erklärte Breckcrown Hayes, »vor den Kameras des Interkomnetzes.« Gashy atmete heftig aus. Man mochte über Hayes sagen, was man wollte, Mut konnte man ihm nicht absprechen. Neben Hayes war ein weiteres Gesicht erschienen, das des Arkoniden Atlan. »Aha«, stieß einer der Ex‐Ferraten hervor. »Die beiden stecken also unter einer Decke!« »Hör mit dem Lästern auf«, bekam der Sprecher zu hören. »Achte lieber auf das, was in der Klause geschieht.« In den Räumen des High Sideryt wurde gerade wieder die Verbindung zu SENECA hergestellt. »Der High Sideryt spricht«, eröffnete Breckcrown Hayes den Dialog mit der Biopositronik. Wieder konnte die gesamte SOL mithören. Von SENECA kam keine Antwort. Das ließ viele Ausdeutungen zu. »Ich fordere dich noch einmal auf, den Inhalt des Spezial‐ Speichers zu veröffentlichen.« »Keine Information gespeichert«, lautete SENECAs knappe Antwort. »Aber es müssen Namen gespeichert worden sein«, beharrte Hayes. »Das wüßte ich aber.« Hayes zuckte mit keiner Miene, als er diesen Satz hörte, mit dem SENECA schon manch einen zur Verzweiflung getrieben hatte. »Atlan spricht«, klang es aus den Lautsprechern. »Identifiziert«, kommentierte SENECA knapp. »Kannst du uns Informationen über den Spezial‐Speicher geben?«
fragte der Arkonide. Die Kamera zeigte jetzt vor allem sein Gesicht. »Möglicherweise«, sagte SENECA. »Ich brächte jedem Götzen von hier bis zum Ende des Universums ein Opfer dar, wenn dieses Biest endlich wieder so reagieren würde, wie man es von einer Biopositronik erwarten kann«, stieß Neiger Lyngk hervor. »Welche Bedingungen müssen wir erfüllen, um an die Informationen herankommen zu können?« SENECA schwieg lange. Für alle, die wußten, wie schnell eine hochwertige Biopositronik zu denken vermochte, war diese sekundenlange Wartezeit eine Tortur. »Die anderen«, ließ sich SENECA vernehmen. »Wo sind die anderen?« »Puh«, machte Gashy Pender. »Was meint er nun damit schon wieder?« »Sie sind gegangen«, sagte Atlan. Er hatte eine kleine Pause eingelegt, wahrscheinlich lieferte ihm sein Extrahirn den Hinweis, wie er SENECAs krause Frage beantworten sollte. »Sie sind nicht mehr an Bord.« »Wann kommen sie wieder?« Gashy sah, wie einige Menschen in ihrer Nähe die Fäuste ballten. Sie konnte die Reaktion gut verstehen. Tausende, eher noch Millionen Schaltvorgänge wurden tagtäglich von der Biopositronik umgesetzt. In unzähligen Lebensbereichen an Bord war SENECA integriert, ohne die Biopositronik war das Riesenschiff vermutlich nicht mehr als ein metallener Klotz – ganz genau wußte das niemand, und niemand hatte Lust, das jemals auszuprobieren. Jeder aber wußte, wie weitgehend der normale Bordbetrieb vom Funktionieren SENECAs abhing. Unter diesen Umständen das wirre Frage‐und‐Antwort‐Spiel erleben zu müssen, in das der Arkonide und SENECA verwickelt waren, schmerzte. So absurde, ja lächerliche Formen nahm diese Zwiesprache an, daß Gashy unwillkürlich zu befürchten begann,
jemand würde kommen und SENECA zwecks Einweisung in eine psychiatrische Klinik abholen. An manchen Stellen hatte man das Gefühl, als spräche Atlan mit einem Geisteskranken. »Eines Tages«, murmelte ein Mann in der hintersten Reihe, »wird dieser Kasten endgültig verrückt. Dann wird er die Triebwerke mit synthetischer Nahrung beliefern und die Menschen in Konverter stecken. Das Ding ist völlig übergeschnappt.« Das traf natürlich nur auf sehr beschränktem Gebiet zu – der Alltagsbetrieb an Bord hatte sich in den letzten Wochen und Monaten erheblich verbessert, verglichen mit dem Zustand vor einigen Jahren. Es war den Solanern niemals besser gegangen – aber das minderte ihre Sorgen nicht, wenn sie sich den Dialog zwischen Atlan und SENECA anhören mußten. »Du brauchst dich nicht zu sorgen …«, konnte Gashy den Arkoniden sagen hören, und von der anderen Seite klang eine mürrische Stimme in ihr Ohr: »Was für ein Satz einer Positronik gegenüber!« »Gleiche werden an ihre Stelle treten«, sagte Atlan. »Du brauchst dir wegen der anderen keine Sorgen zu machen.« Gashy hatte das seltsame Empfinden, als schliche sich der Arkonide mit diesen eigenartig verwaschenen Worten langsam in das geistige Innenleben der Biopositronik hinein. Der Dialog erinnerte sie stark an ein Gespräch mit einem Kleinkind, das sich ängstigt; auch da waren mitunter die Sinngehalte der Worte weit weniger wichtig als der beruhigende Klang und das ständige Wiederkehren bestimmter Klänge und Wortfolgen. »Kannst du dich nun erinnern?« fragte Atlan. Seine Stimme klang weich und einschmeichelnd. »Möglicherweise«, antwortete SENECA zum Entsetzen der Fachleute, die natürlich wußten, daß die ratioonale Logik einer Positronik genaugenommen kein Vielleicht kennen durfte. Gashy Pender sah auf dem Schirm, wie sich Atlan ein wenig zurücklehnte, als müsse er Luft schöpfen. Sie hätte viel darum
gegeben, die Gedanken des Arkoniden lesen zu können. * Das alte Leiden. Jeder Vorteil mußte mit einem Nachteil erkauft werden. Nur zu gut entsann ich mich des brillanten Großrechners, der jahrzehntelang die Geschicke des Arkon‐Imperiums geleitet hatte. An der Rechensturheit dieser Maschine war das Imperium beinahe zugrunde gegangen, die absolute Seelenlosigkeit dieser Positroniken hatte eine Bewertung irrationaler Gegebenheiten einfach nicht zugelassen. Die Geschicke der Völker von Menschenhirnen lenken zu lassen, hatte desgleichen ihre Schwächen offenbart. Menschen handelten – da sie menschlich waren – immer wieder aus irrationalen Gründen. In jede noch so kluge Politik flossen Vorurteile, Ängste, Sehnsüchte, unausgegorene Hoffnungen und nicht überprüfbare Klischees ein. Die Menschheit hatte auch auf diesem Gebiet einiges in ihrer langen wechselhaften Geschichte hinnehmen müssen. Diesen Konflikt hatten vor Urzeiten auch die Bewohner des Planeten Mechanica gekannt, und sie hatten eine auf den ersten Blick geniale Lösung gefunden – die Verbindung einer hochgezüchteten Positronik mit einem fühlenden Plasmawesen hatte die Vorteile beider Denkstrukturen miteinander zu unerreichbarer Größe verbinden sollen. Was dabei herausgekommen war, hatte ich am eigenen Leibe erleben dürfen. Für ein paar schmerzliche Augenblicke tauchte meine Erinnerung zurück in die Schreckenszeit, in der die Posbis die Milchstraße verheert hatten, weil Plasma und Hyperinpotronik in einen schier unauflöslichen Konflikt geraten waren. Erst das Eingreifen des genialen Robotikers van Moders hatte es möglich gemacht, die hypertoiktische Verzahnung auf der Hundertsonnenwelt wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Seither lebten dort Plasma und
Hyperinpotronik reibungslos zusammen. Bei der Konstruktion SENECAs hatte man diesen Fehler vermeiden wollen – und was dabei herausgekommen war, stellte sich nun dar. Wieder waren die Gedankengänge der logisch kalkulierenden Positronik und der einfühlsamen Plasmateile aneinandergeraten. Und da SENECA um einiges pfiffiger konstruiert war als seine Vorgänger, war dieser innere Zwiespalt noch schwieriger zu orten als je zuvor. Ich ahnte nicht einmal, wo etwas bei Seneca nicht stimmte. Wie ein solcher Fehler zu beheben war, schien eine unlösbare Frage. Und doch mußten wir miteinander auskommen, es gab keine andere Wahl. Eine sanfte Berührung von Breckcrown Hayes riß mich aus meinen Gedanken. Ich konzentrierte mich wieder. Jedes Wort konnte jetzt von entscheidender Bedeutung sein. Gebrauchte ich ein Wort, einen Begriff falsch, dann war alles verloren – SENECA würde dann in beinahe wortwörtlichem Sinn »einschnappen« und jede weitere Zusammenarbeit noch schwieriger machen. »Du hast diesen Spezial‐Speicher gehabt?« fragte ich. SENECA antwortete rasch. »Ja, bis vor zwei Tagen«, klang es aus dem Lautsprecher. Das war eine hochwichtige Information, aber ich wollte vorerst nicht darauf eingehen. »Ist dir der Inhalt dieses Speichers noch zugänglich?« »Nein.« »Ist an anderer Stelle – zufällig ‐gespeichert, was dieser spezielle Speicher enthalten hat?« »Namen.« »Kannst du dich dieser Namen erinnern?« »Ja.« »Nenne sie, wenn du kannst!«
Die Antwort kam rasch, als hätte es nie diesbezügliche Probleme gegeben. »Breckcrown Hayes, Atlan.« Ich wechselte einen raschen Blick mit dem High Sideryt. Das fehlte noch, daß in dem Speicher mein Name enthalten gewesen war, womöglich noch als letzter. Hochspannung lag vermutlich über der ganzen SOL, als ich weiterbohrte. »Kannst du die exakte Reihenfolge reproduzieren?« »Ja. Sie lautet: Breckcrown Hayes – Atlan – Breckcrown Hayes.« Ich ließ langsam die Luft aus den Lungen. Wir hatten es geschafft. Ich wollte jetzt noch versuchen, den Eindruck zu verstärken, den diese Liste bei den Bewohnern der SOL – hoffentlich – hervorrufen würde. »Waren andere Namen enthalten?« »Nur diese beiden, kein dritter. Ich habe die Information, daß der Name Atlan nur für drei Tage gespeichert war.« Ich lächelte Hayes zu, aber er reagierte nicht darauf. Er beugte sich vor, näherte seinen Mund dem Mikrofon und stellte, ehe ich ihn daran hindern konnte, eine weitere wichtige Frage. »Was hat zum Verlust des Spezialspeichers geführt?« Auch diesmal antwortete SENECA sehr rasch. »Jemand hat die Programmsicherungen unterlaufen und den Inhalt gelöscht.« Was sich hinter diesen dürren Worten verbarg, konnten nur Spezialisten erfassen – ein Genie mußte am Werk gewesen sein, das SENECA vielleicht besser kannte als sonst jemand an Bord. »Bist du informiert, wer diese Person war?« Die Antwort versetzte uns den nächsten Schock. »Der SOL‐Hirte!« 3.
»Was tun?« Ich sah mich in der kleinen Runde um. In SOL‐City war versammelt, was mir an Beratern und Freunden zur Verfügung stand – angesichts der neuen, völlig überraschenden Entwicklung ein ziemlich kümmerlich wirkendes Häufchen von Lebewesen. Qualität mußte ersetzen, was an Quantität nicht aufzubieten war. Sanny warf einen Blick auf Bjo Breiskoll. »Vielleicht können die Telepathen …?« Ich sah Breiskoll an. Die leicht schrägstehenden Augen des Solaners schienen förmlich durch mich hindurchzusehen. Bjo dachte nach. Ein Blick auf Sternfeuer zeigte mir, daß auch die zierliche Mutantin in Gedanken versunken war. »Wollt ihr es versuchen?« Sternfeuer preßte die schmalen Lippen aufeinander. »Es ist schwierig«, sagte sie. »Du machst mit, Bjo?« »Selbstverständlich«, bekam sie zur Antwort. Breiskoll sah mich forschend an. »Wonach sollen wir suchen?« . Mit dieser knappen Frage hatte er das Problem mit wenigen Worten bereits genau umrissen. »Findet den SOL‐Hirten, wenn ihr könnt«, sagte ich etwas lahm, denn ich wußte sehr wohl, daß diese Worte erschreckend inhaltslos waren. Sanny warf mir einen verschmitzten Blick zu. »Und wie sieht er aus, der SOL‐Hirte?« Ich breitete die Arme aus, eine Geste, die meine Ratlosigkeit deutlich machte. Was wir über die Figur des sogenannten SOL‐Hirten an Informationen hatten zusammentragen können, war entsetzlich dürftig gewesen – sofern man so großzügig war, ein paar wirre Gerüchte, unzuverlässige Aussagen halb hysterischer Zeugen und ähnliche Unterlagen als Information anzusehen. Es hatte ein paar Leute gegeben, die hatten den SOL‐Hirten
tatsächlich gesehen. Danach mußten es sich um einen halbnackten, vermummten Zwergriesen weiblichen Geschlechts mit einem unterarmlangen weißschwarzen Bart handeln, der ungeachtet gewaltiger Körperkräfte den Eindruck eines schwächlichen Greisenjünglings machte – kurz, all diese Aussagen waren eindeutig mehr den Phantasien der Zeugen entsprungen als wirklicher Beobachtung. Diese sogenannten Aussagen – vielleicht war eine einzige wahrheitsgemäße darunter? – konnten wir getrost vergessen. Mit diesem Material ließ sich nicht das geringste anfangen. Des weiteren hatten wir eine beachtliche Portion an Gerüchten vorzuweisen. Diese »Informationen« unterschieden sich von den Daten der ersten Gruppe nur dadurch, daß sie ehrlicherweise auch im Gewand eines Gerüchts daherkamen und gar nicht erst vorgaben, Tatsachen zu sein. Das Ergebnis dieser Unkereien, Latrinenparolen, Schauergeschichten und Legenden war ebenso widersprüchlich, ja in sich selbst paradox wie die unbrauchbaren Zeugenaussagen. Ich mußte unwillkürlich an die Troiliten denken – auch sie hatten für lange Zeit als Gerücht gegolten, und in dieser Form waren sie allgegenwärtig gewesen. »Sucht nach einer Legende«, sagte ich bitter. Hage Nockemann schaltete sich in die Debatte ein. »Ob Legende oder nicht«, sagte er bedächtig. »Das spielt hier keine Rolle. Ein Mythos, der geglaubt wird, ist an Bord eine Realität – ob dahinter Tatsachen stehen oder nicht. Wir sollten daher in zwei Richtungen forschen.« Mein Extrahirn griff diesen Gedanken auf und verarbeitete ihn mit gewohnter Schnelligkeit. Ich ließ aber Nockemann seine Überlegungen weiter vortragen, obwohl ich sehr bald wußte, worauf er hinaus wollte. »Zum einen müssen wir nach dem SOL‐Hirten fahnden. Entweder müssen wir seine Existenz nachweisen, oder wir müssen
einwandfreie Beweise besorgen, daß es ihn nicht gibt.« »Wie beweist man eine Nichttatsache?« fragte Sanny ein wenig spöttisch. Nockemann lächelte. »Da spricht die Wissenschaftlerin«, sagte er freundlich. »Die Antwort auf diese Frage liegt im zweiten Weg des Vorgehens – sofern es den SOL‐Hirten nicht gibt, müssen wir die Person …« »… oder mehrere …«, warf Sanny ein. »… oder die Gruppe finden, die sich diesen Mythos zunutze macht. In diesem Fall erledigt sich das Problem von selbst, hoffe ich jedenfalls.« Joscan Hellmut schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe mich umgehört«, sagte er mit leiser Stimme. »An Bord ist es für den Augenblick ruhig. Die Solaner warten ab, aber irgendwann werden sie in der einen oder anderen Form handeln. Die Lage ist gespannt, ich habe es aus Diskussionsfetzen deutlich hören können. Es gibt viele an Bord, die der bordpolitischen Streitigkeiten müde sind. Sie wollen nichts weiter als ihrer Arbeit nachgehen und sich eines geruhsamen oder unterhaltsamen Privatlebens erfreuen.« Hellmut hatte einen sehr wichtigen Punkt angeschnitten, das wußte ich aus Erfahrung. »Viele Solaner sind noch immer in den Denkgeleisen der SOLAG‐ Herrschaft, und das nicht, weil sie diese Herrschaft sonderlich gemocht hätten. Die SOLAG ist aber für sehr viele eine sehr bequeme Regierung gewesen, die einem das eigene Denken abnahm. Damals brauchten sehr viele nur offen zu gehorchen und heimlich ein wenig zu stänkern, dann hatten sie ihre Ruhe. Ständige Unruhe und Aufregung zermürbt unsere Freunde, und dabei ist es ziemlich egal, ob diese Aufregung von positiven oder negativen Veränderungen herrührt. Der SOL‐Hirt – ob eine Person oder ein zweckentfremdeter Mythos – kann die gespannte Lage zur Explosion bringen.«
Ich nickte. Joscan hatte einige wenige wesentliche Gesichtspunkte zusammengefaßt, die es zu bedenken galt. »Das bedeutet in der Praxis«, warf Bjo Breiskoll ein, »daß Sternfeuer und ich suchen sollen, und zwar entweder nach einer Person, die der SOL‐Hirte ist, oder aber nach jemand, der vorgibt, der SOL‐Hirte zu sein. Richtig?« »Vollkommen«, stimmte ich zu. Bjo sah mich an. »Ich danke für das Vertrauen«, sagte er mit trockenem Sarkasmus. »Aber kann mir einer von euch sagen, wie wir das machen sollen? In diesem Riesenraumschiff schwirren ja im Augenblick Tausende von Gedanken durcheinander, und ich vermute, daß sich mindestens jeder zehnte in Gedanken mit dem SOL‐Hirten beschäftigt.« »Ich bin mir über die Schwierigkeit im klaren«, sagte ich. »Dazu kommt, daß der SOL‐Hirte selbst, wenn wir ihn zufällig gerade erfaßt haben sollten, womöglich gerade ausschließlich und völlig unverbindlich an sein Abendessen denkt und nicht im geringsten finstere Pläne schmiedet.« Ich sah die beiden Telepathen an, und die anderen Mitglieder des Teams taten das gleiche. Sternfeuer lächelte, und Bjo grinste breit. »Überredet«, sagte Bjo. »Ich schlage vor, Sternfeuer, daß wir uns einen ruhigen Raum suchen und dort arbeiten.« Sternfeuer nickte, und die beiden zogen sich zurück. »Möchtest du eine kurze Berechnung der Erfolgschancen haben?« fragte Sanny mich. »Ich verzichte«, sagte ich hastig. »Ich ahne, daß sie gering sind, aber ich bin in meinem Leben schon ein paarmal auf Hochseilen der Wahrscheinlichkeitsmathematik spazierengegangen, die eigentlich niemals hätten halten dürfen – und es ist gutgegangen.« Sehr viel Begeisterung konnte ich mit diesem Optimismus nicht hervorrufen. Er war auch nicht sehr ernst gemeint. Der SOL – und
damit uns allen – standen schwere Stunden ins Haus. * Ich schlug mit den Fingerspitzen einen leisen Trommelwirbel auf die Platte des Tisches. Um mich herum saßen einige der früheren Magniden, die – wenigstens einige von ihnen – zum neuen Team der Stabspezialisten gehören würden. Hier herrschte eine Stimmung ähnlicher Ratlosigkeit wie im Team von SOL‐City. Wir warteten auf Breckcrown Hayes, der zu uns stoßen sollte und auf sich warten ließ. »Hoffentlich hat der High Sideryt etwas gefunden«, bemerkte Brooklyn. »Anders kann ich mir nicht erklären, daß er unpünktlich ist. Das entspricht nicht seiner Art.« »Er wird Gründe haben«, warf Arjana Joester ein. Die Exmagnidin machte einen besorgten Eindruck, ja, sie wirkte auf mich sogar betroffen. Keine voreiligen Spekulationen, machte sich das Extrahirn bemerkbar. In der Tat hatte ich mir gerade überlegt, ob es vielleicht Fäden zwischen Hayes und Arjana gab, die über die dienstlichen Belange hinausgingen. Arjana war zweifelsfrei eine attraktive Frau, schlank und sportlich; ihre Züge erinnerten mich an eurasische Gesichter, wie ich sie von Terra her kannte. Dazu kamen wohlfrisierte rotbraune Haare und intensiv blaue Augen. Arjana hatte, das war bekannt, einen leisen Hang zum Exotischen, zudem stand sie in dem Ruf, berechnend zu sein, dabei hochintelligent und ebenso heißblütig wie gefühlskalt, eine Kombination, die auf den ersten Blick widersprüchlich wirkte, psychologisch aber durchaus zu erklären war. Ich konnte mir vorstellen, daß Arjana Gefallen an Breckcrown
Hayes gefunden hatte. Zwar mußte Hayes neben Arjana etwas hölzern und ungeschlacht wirken, aber das konnte unter Umständen für eine solche Frau der besondere Reiz in einer solchen Beziehung sein. Ehrgeizig war Arjana natürlich auch – alles das zusammen ergab eine pikante Mischung. Zwar konnte ich mir nicht vorstellen, daß Breckcrown Hayes ausgerechnet in diesen turbulenten Zeiten mit einer sicherlich sehr schwierigen Frau wie Arjana Joester anbandelte, aber mein Gedächtnis erinnerte mich daran, daß ich schon wesentlich abenteuerlichere menschliche Beziehungen erlebt hatte. »Ich jedenfalls hoffe, daß wir diesem SOL‐Hirten‐Spuk möglichst bald ein Ende machen können«, sagte Arjana. Brooklyn wölbte die Brauen. »Auf deine besondere Art und Weise?« Arjana warf den Kopf zurück. »Was willst du damit sagen?« Ich wußte, worauf Brooklyn anspielte. Arjana war – jeder wußte es, niemand redete davon – längere Zeit mit Wajsto Kölsch liiert gewesen, der sein Vergnügen in Extra‐ und Monsterhatzen gesehen hatte. Und auf diesem Gebiet hatte es Arjana sehr wohl mit ihm aufnehmen können. »Immerhin scheint der SOL‐Hirte eines schon erreicht zu haben«, sagte ich, um die Stimmung zu entspannen. »Er ist Gesprächsgegenstand Nummer eins, und er entzweit die Gemüter.« »Das glaube ich nicht«, sagte Arjana. Ihre blauen Augen fixierten mich. »Für uns gibt es in dieser Lage nur eines zu tun – die gerade erst aufgebauten Positionen zu festigen und zu bewahren. Uneinigkeit können wir uns nicht leisten, und für private Eifersüchteleien und Machtkämpfe haben wir später noch genug Zeit.« Das war treffend und richtig. »Glaubst du an diesen Mythos?« fragte Brooklyn. »Kein Wort«, sagte Arjana. »Da benutzt einer eine alte Legende für
seine Zwecke. Aber wer es auch ist, er oder sie ist gefährlich.« »Wieso?« fragte ich. Es interessierte mich, Arjanas Meinung zu erfahren. »Jemand, der in der Lage ist, SENECA auszutricksen – und anders kann man es wohl nicht nennen –, ist ein hochkarätiger Fachmann. Wer heute Informationsspeicher zu löschen versteht, kann morgen Aktionsspeicher mit neuen Befehlen füllen – und dann haben wir SENECA womöglich gegen uns. Muß ich euch erklären, was das bedeuten würde?« Brooklyn nickte bedächtig. »Ich stimme dir zu«, sagte die Ex‐Magnidin. »Ich sehe noch eine weitere Gefahr …« »Ein Fachmann braucht eine Schulung, braucht Lehrer«, sagte Arjana. »Und Gefolgsleute. Von alledem haben wir bisher nichts geahnt. Dieser Mythos hat sich unbeschwert ausbreiten können – und niemand vermag zu sagen, wie weit diese Ausbreitung schon fortgeschritten ist. Wenn wir es nicht mit einem übergeschnappten Genie zu tun haben, das für sich allein steht und fällt, dann haben wir eine sehr schwere Aufgabe vor uns.« Mit dieser ebenso treffenden wie klaren Analyse hatte Arjana bewiesen, daß sie nicht nur ihres guten Aussehens wegen Magnidin geworden war – woran im übrigen ohnehin niemand gezweifelt hatte. Breckcrown Hayes würde bei der Zusammenstellung seiner Stabsspezialisten auf hervorragende Leute zurückgreifen können, dessen war ich mir sicher. Ich wollte gerade den Mund zu einem Kommentar öffnen, als der Interkom sich meldete. Brooklyn schaltete das Gerät ein. Bjo Breiskoll wurde sichtbar. Sein Gesicht zeigte Triumph. »Wir haben ihn«, sagte er knapp. Ich sprang auf. »Den SOL‐Hirten?« Bjo nickte. Neben ihm tauchte Sternfeuers Gesicht auf. Der Mutantin war eher als Breiskoll am Gesicht abzulesen, welche
geistige Kraftanstrengung beide hinter sich hatten. »Weiter!« drängte ich. »Willst du ihn nicht selbst fassen?« fragte Bjo. »Wir haben seinen genauen Standort geortet – und ich rate dazu, ihn so schnell wie möglich festzunehmen.« »Grund?« Bjo preßte die Lippen aufeinander. »Wenn dieser Mann seine Pläne verwirklicht, dann werden an Bord der SOL Ströme von Blut fließen. Er wälzt gerade Pläne – und sie sind entsetzlich.« Ich sah Brooklyn an. Sie hatte die Zähne zusammengebissen. Arjanas Augen funkelten. »Kann ich mitkommen?« Ich lächelte. »Gern, aber …« Wortlos warf die Ex‐Magnidin ihre Waffe auf die Tischplatte. »Vorwärts«, sagte sie. »Ihr anderen wartet.« Wir verließen den Raum, rannten durch die Gänge. In ein paar Minuten hatten wir die Telepathen erreicht, und ebenso schnell war ein Robotkommando zusammengestellt. Bjo führte uns. Der SOL‐Hirte verstand etwas von Tarnung. Er lebte in einem Bezirk der SOL, der von jeher niemals besonders mit Glücksgütern gesegnet worden war. Auch die Instandsetzungskommandos, die in den letzten Wochen und Monaten unterwegs gewesen waren, um die SOL in allen Winkeln zu ihrer früheren technischen Perfektion zurückzuführen, hatten diesen Bezirk bislang noch nicht erreicht. Schäbigkeit, wohin man auch blickte. Die wenigen Solaner, denen wir begegneten, trugen in den Gesichtern noch die Spuren früherer härterer Zeiten. Einige dieser Gesichter waren sogar noch vom Hunger gezeichnet, ein Anblick, der mich erschreckte. Vor einer Tür blieb Bjo stehen. Er machte ein verschlossenes Gesicht. Sternfeuer war sogar zurückgeblieben.
»Gräßlich«, murmelte Bjo. »Es ist kaum auszuhalten. Macht schnell!« Ich zog meine Waffe. Arjana stand neben mir, unbewaffnet. Sie hatte die Zähne aufeinandergepreßt, die Lippen leicht geöffnet. Sie sah aus wie eine sprungbereite Raubkatze, schön und gefährlich zugleich. Ich gab Bjo ein Zeichen. In einer schnellen, fließenden Bewegung öffneten wir das Schloß, Bjo warf sich mit seiner unnachahmlichen Bewegungsschnelligkeit in das Dunkel des Raumes. Das Aufeinanderprallen zweier Körper war zu hören, dann ein Ächzen. »Macht Licht, ich habe ihn.« Ich fand den Schalter rasch, die Beleuchtung flammte auf. »Wa … wa …?« Ich ließ die Waffe sinken. Bjo hatte einen Mann gefaßt, einen Burschen von höchstens zwanzig Jahren, bleich und aufgedunsen, das Gesicht von einer großen, schlecht verheilten Narbe entstellt. Neben dem Bett standen einige leere Flaschen. In den Augen des Mannes flackerte panische Angst, zudem war er nur mit einem zerschlissenen Schlafanzug bekleidet. Bjo begriff die Lage. Er ließ den jungen Mann los, der schwach auf sein Bett zurückfiel und dort mit leicht glasigen Augen sitzenblieb. Bjo zuckte mit den Schultern. »Das konnte ich nicht wissen«, sagte er. Der Blick, mit dem er den jungen Mann betrachtete, verriet Mitleid. Ein von Minderwertigkeitsgefühlen gepeinigter junger Mann, wegen der Narbe vermutlich noch depressiver gestimmt, weil ohne Erfolgschancen bei Frauen, der seine unterschwelligen Aggressionen in alkoholgeschwängerten Blutrauschträumen austobte und die Mär vom SOL‐Hirten zum Gegenstand seiner Träume gemacht hatte.
»Es sah aus wie Wirklichkeit«, sagte Bjo entschuldigend. Ich winkte ab. Mit solchen Fehlschlägen mußte man rechnen. Arjana Joesters Gesicht verriet Betroffenheit. Sie sah mich an. »Wir bringen ihn zu einem Arzt, erst zu einem kosmetischen Chirurgen und dann zu einem guten Therapeuten«, sagte sie leise. »Vielleicht können die ihm helfen.« Diese Bemerkung freute mich. Ganz so gefühlskalt schien diese Frau doch nicht zu sein. »Helft ihm«, befahl ich den Robots. Wir kehrten zur Zentrale zurück. Brooklyn empfing uns mit versteinertem Gesicht. »Der High Sideryt ist spurlos verschwunden«, eröffnete sie uns ohne Umschweife. »Vermutlich verschleppt.« Meine Gedanken waren einen Augenblick lang völlig gelähmt. Ich dachte nur eines – diese Nachricht kann nicht stimmen. Sie durfte nicht stimmen. »Und wer hat das getan?« fragte Bjo Breiskoll. »Darüber haben wir keine Informationen«, antwortete Brooklyn. »Wir wissen nur, daß ein Kampf stattgefunden hat. Wir haben entsprechende Spuren gefunden, Blutspuren.« Ich unterdrückte eine Verwünschung. »Die histologische Auswertung hat ergeben, daß es sich um abgeschürfte Hauptpartien handeln muß. Wenn Hayes keine inneren Verletzungen davongetragen hat, dann fehlt ihm nichts.« »Wie war das möglich?« fragte ich laut, obwohl ich mir völlig klar darüber war, daß es darauf keine Antwort gab. Arjana Joester preßte die Kiefer aufeinander. »Der SOL‐Hirte, oder die Gruppe, die in seinem Namen handelt«, sagte sie zähneknirschend. »Was muß dieser Verbrecher für eine Macht haben, daß er an Hayes herankommen konnte, ohne daß er sich richtig wehren konnte.« »Ein Paralysatortreffer ist keine Sache, gegen die man sich wehren kann«, warf Brooklyn ein.
»Informieren wir die Öffentlichkeit?« Arjana Joester stellte einmal mehr ihre intellektuellen Qualitäten unter Beweis – sie hatte das drängendste der Nachfolgeprobleme sofort erfaßt. Wenn sich herumsprach, daß der SOL‐Hirte Hayes entführt hatte und als Geisel benutzte, kam es an Bord mit Sicherheit zu bürgerkriegsähnlichen Situationen, und das war das letzte, was wir uns leisten durften. Brooklyns Augen wanderten von einem zum anderen. »Ich schlage Schweigen vor«, sagte sie rauh. Bjo Breiskoll berührte kurz meine Schulter. Er machte eine kaum erkennbare Geste der Verneinung. Ich begriff – er hatte alle Anwesenden kurz telepathisch belauscht, um festzustellen, ob einer der Ex‐Magniden etwas von dem Anschlag geahnt oder gar gewußt hatte. »Haben wir ein paar Bänder mit Hayes, auf denen er irgendwelche weniger wichtige Erklärungen abgegeben hat? Wir müssen, wenn wir die Besatzung wirklich täuschen wollen, wenigstens Pseudoinformationen herausgeben. Wenn Hayes sich tagelang nicht über Interkom meldet, nachdem er gerade erst verschwenderisch mit der Informationsfreiheit umgegangen ist, wird auch der treueste Hayes‐Anhänger nervös werden.« Brooklyn zeigte ein bitteres Lächeln. »Natürlich haben wir alte Bänder«, sagte sie. »Nur fehlen darin die SOL‐Würmer. Den neuen High Sideryt bildlich zu fälschen, hatten wir keine Zeit. Uns bleiben nur ein paar Stunden, dann bricht an Bord der Vulkan los.« »Atlan, sieh du mit deinen Leuten zu, ob ihr etwas herausbekommt, oder ob ihr einen rettenden Einfall habt. Ich werde das gleiche mit unserem Stab tun.« Ich ging auf Brooklyns Vorschlag ein. Eine knappe halbe Stunde später saßen wir in einem der Versammlungsräume von SOL‐City. Die Gesichter waren mürrisch, einige waren aus dem Schlaf hochgeschreckt worden.
»Ist schon etwas durchgesickert?« fragte ich die Runde. »An Bord ist alles ruhig«, konnte Bjo melden. »Ich habe mit Sternfeuer ein paar Stimmungsbilder registriert, danach kümmert sich die Mehrzahl der Solaner im Augenblick um private Dinge, Mahlzeiten, Spiele und Unterhaltung. Bordpolitik ist um diese Zeit nicht aktuell.« »Um so besser«, murmelte ich. »Ihr wißt Bescheid, Hayes ist verschwunden, jemand hat ihn verschleppt.« »Geiselnahme?« »Vermutlich«, beantwortete ich Joscan Hellmuts Frage. »Dann können wir die Geheimniskrämerei gegenüber der Besatzung beenden«, sagte Sanny. Die Molaatin zeigte ein unzufriedenes Gesicht. »Der SOL‐Hirte wird ohnehin den Druck der Bordgemeinschaft auf uns als Mittel ausnutzen.« »Das glaube ich nicht«, ließ sich Hage Nockemann vernehmen. »In diesen Fall wäre nämlich der SOL‐Hirte als Kidnapper keine sehr vertrauenswürdige Person. Das aber muß er sein, wenn er etwas erreichen will. Ich nehme an, daß wir dieser geheimnisvollen Person alle das gleiche als Ziel unterstellen – daß er die Macht an Bord in Besitz nehmen will, und zwar ausschließlich.« »Warum hat er dann so lange gewartet?« warf Sternfeuer ein. »Weißt du darauf auch eine Antwort?« Das Extrahirn lieferte mir eine. »Unser Gegner brauchte ein Machtvakuum, in das er hineinstoßen kann, unsichere Zeiten, allgemeine Verwirrung, Angst und Besorgnis. Nur in diesem Klima können Umstürzler gedeihen. Solange Deccon als High Sideryt fest im Sattel saß, hatte der SOL‐ Hirte keine Möglichkeit, irgend etwas zu unternehmen, dazu war Deccon als High Sideryt viel zu unerschütterlich.« »Falls es diesen SOL‐Hirten nicht erst seit ein paar Tagen gibt«, bemerkte Nockemann. »Wir sind uns immer noch nicht darüber klar, ob es diese Figur tatsächlich gibt.« Dies war einer der wichtigsten Punkte überhaupt, an ihm
entfachte sich eine Diskussion, die sich über mehrere Stunden erstreckte und trotz aller gemeinsamer Bemühung zu keinerlei Ergebnis führte. Es gab zu viele Fragen, die erst geklärt werden mußten, bevor man eine Strategie gegen den SOL‐Hirten entwerfen konnte. Als wir unsere Bemühungen endlich einstellten, waren meine Mitarbeiter völlig ermüdet und dem Zusammenbruch nahe. Einzig ich konnte mich noch recht gut auf den Beinen halten, was ich dem Zellaktivator zu verdanken hatte – aber auch ich sehnte mich nach einem bequemen Bett. Ich stellte kurz eine Verbindung zu Brooklyn und Arjana Joester her. Deren Team war nicht sonderlich erfolgreicher gewesen – kurz gefaßt ließ sich sagen: Wir steckten fest – die Initiative lag jetzt beim SOL‐Hirten, ein Gedanke, der uns schaudern machte. * Ich steckte in einem Haus, das von einer Sturmflut bedroht war. Es war die sechste Hochflut, die gegen unsere Stadt anbrandete, und diesmal waren die Wellen besonders hoch. Überall gellten Alarmsirenen … … ich war heilfroh, als ich erwachte und aus diesem bedrohlich werdenden Traum aussteigen konnte. Jemand verlangte mich am Interkom zu sprechen. Ich rappelte mich hoch und schaltete die Beleuchtung ein. Als der Interkomschirm hell wurde, zeigte er das Gesicht von Arjana Joester. »Schalte um auf allgemeine Bordkommunikation«, sagte sie ohne ein Wort der Begrüßung. Ich zögerte keinen Augenblick lang. »… ist es endlich an der Zeit, der Schlappheit und Energielosigkeit ein Ende zu bereiten …«
Auf dem Schirm war eine nicht sehr gute Zeichnung der SOL zu sehen, die von zwei sie schirmenden Händen umgeben war. Es waren muskulöse Männerarme, stellte ich fest. »… ich, der SOL‐Hirte, bin nunmehr verantwortlich …«, erklang es aus dem Lautsprecher. Ich konzentrierte mich auf die Stimme, sog den Klang gleichsam in mich auf, damit ich ihn jederzeit wiedererkennen konnte. Was der SOL‐Hirte zu verkünden hatte, war weniger wichtig – das Extrahirn würde die wesentlichen Worte ohnehin registrieren und verarbeiten. Es kam auf das Wie an. Stimmlage, Tonfall, Modulation, Aussehen, häufig benutzte Floskeln, Klangfärbung der Vokale, Spezialausdrücke – jede Kleinigkeit konnte wichtig werden. Laien staunten immer wieder, wenn sie mit den Ergebnissen solcher Sprachanalysen konfrontiert wurden, wie sie im Polizeidienst vieler Welten immer wieder verwendet wurden. Daß Siganesen keinen ordentlichen Baß zuwege brachten, war jedem klar, und daß ertrusische Koloratursoprane gleichfalls spärlich gesät waren, lag bei den Körperproportionen dieser galaktischen Völker auf der Hand. Auch Laien vermochten anhand der Stimmen Geschlecht und meist auch auf ein Jahrzehnt genau das Alter des Sprechers herauszufinden. Dialekteinfärbung ließ eine noch genauere Lokalisation zu. In Großstädten vermochten Kenner der Verhältnisse einen Sprecher mindestens auf ein Stadtviertel genau zu bestimmen. Dazu kamen berufsspezifische Kennzeichen. Jemand, der zu einem schwierigen Problem eine Anamnese verlangte und Maßnahmen für kontraindiziert hielt, war mit ziemlicher Sicherheit Mediziner oder gab sich als solcher aus. Das Wort »obsiegen« gehörte zum Fachjargon der Juristen, und von den Soziologen hieß es, daß ihre ganze Wissenschaft aus nichts anderem als dem Mißbrauch eines zu diesem Zweck erfundenen Wortschatzes bestand. Ich wußte, daß es früher auf der Erde hochkarätige Spezialisten
gegeben hatte, die einen gesuchten Frauenmörder anhand von Tonbandpassagen auf einen bestimmten Straßenzug in einer bestimmten Industriegroßstadt zurückgeführt hatten. In ähnlicher, wenn auch viel weniger wissenschaftlicher Art und Weise versuchte ich, die Stimme des SOL‐Hirten nach typischen Merkmalen durchzufiltern. Nach ein paar Minuten gab sich sogar mein Extrasinn geschlagen. Wer auch immer den Text des SOL‐Hirten verfaßt oder gesprochen hatte, er hatte meine Überlegungen bereits beim Abfassen ins Kalkül gezogen. Nichts ließ sich aus der Stimme ablesen, nicht einmal das Geschlecht. Und doch war es keine künstlich verzerrte Stimme, keine synthetische Stimme, wie ich sie erwartet hatte. Es war ein Mensch, der sprach, aber er verwendete einen so vielgestaltigen Wortschatz, daß sich eine genaue Zuordnung nicht ergab. Redewendungen aus dem Vokabular der Raumfahrer fielen, aber ich hörte auch ein paar Spezialausdrücke, die üblicherweise in den Bereich der Positroniker und Robotpsychologen gehörten. Dazu war die Stimme völlig akzentfrei, jedenfalls für meine mäßig geschulten Ohren. Was der SOL‐Hirte inhaltlich vorzutragen hatte, ließ sich kurz zusammenfassen: Das Essen würde besser, die Kleidung bunter werden, es sollte Bonbons für Schulkinder geben, Glücksspieler würden immer gewinnen, selbst der eigenbrötlerischste Griesgram würde endlich ein holdes Weib gewinnen, und sämtlichen Hobbygärtnern würden preisgekrönte Rosen wachsen … Er versprach jedem das, was er vermutlich gerne hören würde. Alle diese Verheißungen waren nur an die schlichte Aufforderung gekoppelt, die Geschicke der SOL künftig in die starken, kraftvollen, aber Behutsamen Hände des SOL‐Hirten zu legen. Ich hatte in zehn Jahrtausenden Menschheitsgeschichte etliche Tyrannen gekannt, die ihren Völkern mit solchen Reden Honig ums
Maul schmierten, aber ich hatte nie zuvor einen so gerissenen und psychologisch brillanten Verführer reden gehört. Der SOL‐Hirte machte seine Sache perfekt. Er wählte haargenau den richtigen Ton, der Herz und Hirn gleichermaßen ansprach. Er versprach keine goldenen Berge, aber viele Dinge, die sich vielleicht einzeln, niemals aber zusammen würden durchführen lassen. Er lockte und drohte zugleich – es war, das mußte ich neidlos anerkennen, eine rednerische Meisterleistung, und sie lieferte einen Beweis mehr: Der SOL‐Hirte war von herausragender Gefährlichkeit. Es gehörte schon viel erfahrungssatter Sarkasmus dazu, seine schwungvolle Rede in die zynische Kurzform zu bringen, in der ich ihren Inhalt zusammengefaßt hatte. Ich zweifelte, ob die Mehrzahl der wenig verwöhnten Solaner selbstkritisch genug war, den Leim zu wittern, auf den die Gimpel gelockt werden sollten. Er ließ sich viel Zeit, bevor er auf das Thema zu sprechen kam, das uns besonders am Herzen lag: der verschwundene High Sideryt. »Der Mann, der sich das Amt des High Sideryt erschlichen hat – ihr alle habt seine klägliche Darbietung gesehen, sein wehleidiges Feilschen um die Publikumsgunst. Eine solche Person ist zu einer wirklich energischen, straffen und gerechten Führung der SOL ungeeignet. Daher wurde Breckcrown Hayes aus seinem Amt entfernt, und das gleiche Schicksal wird allen widerfahren, die sich wider mich zu erheben wagen. Zertreten werden sie sein im Staub zu meinen Füßen, ausgespien und der Vergessenheit überantwortet. Wer aber mir folgen will, der halte sich gerüstet und harre weiterer Botschaften. Der Hirte der SOL hat gesprochen.« Das leicht antiquiert wirkende, fast schon archaische Vokabular ließ auf einen früheren Ahlnaten schließen. In deren Kreisen war eine solche hohepriesterliche Sprache gepflegt worden. Aber während ich bei den Ahlnaten, die ich kennengelernt hatte, immer wieder den Eindruck gehabt hatte, daß sie sich selbst in einen
Rausch hineinredeten, hatte ich beim SOL‐Hirten den Eindruck eines genau berechneten Manövers. Der SOL‐Hirte spielte auf der Tastatur menschlicher Schwächen und Eitelkeiten mit einer erschreckenden Virtuosität; jeden wußte er zu packen – die einen am Stolz, die anderen an der Eitelkeit, andere an Gier nach Reichtum, wieder andere an geheimen Sehnsüchten, die sich die Angesprochenen niemals eingestanden hätten. Allein wie der SOL‐ Hirte es in zwei kurz nacheinander folgenden Absätzen fertiggebracht hatte, die Einführung einer neuen moralisch strafferen Ordnung zu fordern – Sitte, Anstand und Schicklichkeit sollten zu neuen Ehren gebracht werden – und den Jüngeren Freiheit und Ungebundenheit zu versprechen, war meisterlich. Das verlogene Symbol des SOL‐Hirten verschwand vom Bildschirm. Wie viele mochten wohl gemerkt haben, daß diese vermeintlich schützenden Hände in Wirklichkeit zum Würgegriff auf die Freiheit der SOL ansetzten? »Nun, was meinst du?« fragte Arjana, deren Bild danach auf dem Schirm zu sehen war. »Meisterlich«, sagte ich knapp. »Und eben deswegen hochgefährlich. Ich bin sicher, daß diese Rede durchschlagenden Erfolg haben wird.« »Das befürchte ich auch«, sagte Arjana bedrückt. »Wir müssen diesen Gegner sehr ernst nehmen, ihn mit allen Mitteln bekämpfen.« »Das wird schwerfallen«, sagte ich. »Wir kennen diese Person nicht. Ich schlage vor, eine strukturelle Sprachanalyse von SENECA vornehmen zu lassen, obwohl ich große Zweifel habe, daß das Manöver Erfolg hat. Trotzdem müssen wir alles unternehmen, um diesen Feind erst einmal als Person kenntlich zu machen, ihm ein Gesicht zu geben. Solange wir nicht wissen, mit wem oder was wir es zu tun haben, ist jeder Gegenschlag zum Scheitern verurteilt.« »Ich stimme zu«, sagte Arjana. »Wollen wir uns treffen?« Ich nickte. »Ich werde meine Leute wecken«, sagte ich. »Sie werden fluchen,
aber das läßt sich nicht ändern. Wir sehen uns in ein paar Minuten unten in der Zentrale.« Arjana schaltete sich aus. Ich stellte eine Verbindung zu Bjo her. Der Telepath war schlagartig wach und versprach, die anderen zu wecken. Ich ließ den Schirm dunkel werden und setzte mich auf einen Stuhl. Nachdenklich betrachtete ich die technische Einrichtung meiner Unterkunft. Über welche technische Machtmittel mochte unser Gegner verfügen? Ich hatte einen schrecklichen Verdacht – den, daß es ihm bereits gelungen war, SENECA auszumanövrieren. Oder, schlimmer noch: daß der SOL‐Hirte bereits die Kontrolle über die Riesenpositronik gewonnen hatte. Daß er weite Kreise der Solaner bereits eingeseift hatte, stand für mich fest; der SOL‐Hirte war der geschickteste Propagandist, der mir je untergekommen war. Wo lag bei dieser Person die Achillesferse? Jeden Menschen konnte man auf die eine oder andere Art fassen, unter Druck setzen, vielleicht sogar manipulieren. Das galt auch für mich – ich wußte, daß diese Zeit an Bord der SOL für mich von den Kosmokraten auch als eine Art Prüfung und Bewährung gedacht war. Verwundbare Stellen fanden sich auch bei mir – aber es gehörte zu den typisch menschlichen Eigenschaften des Menschen, sich selbst gegenüber mehr oder weniger betriebsblind zu sein. Auch wenn ich den Balken in meinen Augen nicht fand – was für ein Splitter ließ sich beim SOL‐Hirten finden? Perry Rhodan hatte man – in sehr engen Grenzen allerdings – beeinflussen können, wenn man an sein unerhört fein ausgebildetes Empfinden für Verantwortung und Gerechtigkeit appellierte, vor allem, wenn es um andere Menschen ging. Reginald Bull war ein Mann der geradlinigen, deftigen Aufrichtigkeit gewesen, ein Mann impulsiver, tief empfundener, aber manchmal vielleicht voreiliger Entschlüsse. Gucky hatte eine gewisse Eitelkeit nie verleugnen
können; wer wußte, daß er als einziger lebender Ilt – im bekannten Teil des Kosmos – manchmal unter Einsamkeitsqualen litt, die außer ihm niemand erfassen konnte, der sah ihn richtig. Diese drei – seltsam, daß ich mich in diesem Zusammenhang ausgerechnet so stark an sie erinnerte – hatten allerdings gemeinsam gehabt, daß sie ihre privaten Schwächen recht gut kannten und so gegen plumpe Manipulationsversuche gefeit waren. Bei den ehemaligen Magniden lag der Fall anders. Curie van Herling mit ihren offenkundigen Figurproblemen, Arjana Joester, die ich im Verdacht hatte, Männer sexuell bis zur Siedehitze zu reizen, um sie dann von der Bettkante zu stoßen – bei diesen Personen waren die blinden Flecke offenkundiger. An welchem Pferdefuß war der SOL‐Hirte zu fassen? Machtehrgeiz, das mit Sicherheit. Aber wer so brillant auf der Gefühlsklaviatur anderer herumzuspielen vermochte, der mußte eigentlich auch in der Selbsterkenntnis weit gediehen sein. Reine Eitelkeit und Ruhmsucht kam als grundlegendes Motiv nicht in Frage, der Fall lag wahrscheinlich viel komplizierter. Achtung! Der Warnruf kam zu spät. Ich fuhr nach dem Blitzimpuls des Extrahirns in die Höhe, aber da traf mich auch schon etwas Hartes am Kopf, und ich kippte halb bewußtlos zur Seite. Von der Wirkung des Schlages fast gelähmt, konnte ich nichts unternehmen. Ich sah aus verschleierten Augen, wie sich etwas Schwarzes über meinen Kopf senkte, spürte das Streifen von Gewebe an den Armen und begriff, daß man mich in einen Sack steckte. Im nächsten Augenblick spürte ich, wie sich eine Schnur um Arme und Brustkorb legte, dann wurde ich zugeschnürt und aufgehoben. Bevor mich der nächste Schlag auf den Kopf endgültig außer Gefecht setzte, schoß mir noch ein Gedanke durch den Kopf: Der SOL‐Hirte! Nur ein ebenso intelligenter wie boshafter Feind konnte angesichts
der technischen Möglichkeiten unserer Zeit auf die demütigende Idee kommen, einen ehemaligen Kristallprinzen von Arkon, Imperator des Arkon‐Imperiums, Lordadmiral der USO und so fort auf eine so brutale Weise niederzuschlagen und, eingeschnürt in einen schäbigen Sack, ab‐ zutransportieren wie ein Bündel Putzlumpen. 5. Als Bjo Breiskoll auf den Gang trat, sah er – nur wenige Schritte entfernt –, wie eine Gestalt um die Ecke bog und verschwand. Da er mit ziemlich viel Hektik und Durcheinander an Bord rechnete, nahm Bjo den Vorgang nicht weiter ernst. Er machte die wenigen Schritte zu Atlans Kabine … … und erstarrte. Ein Stuhl umgeworfen, die Kabinentür weit geöffnet, am Boden die Waffe Atlans … Bjo zögerte nur für einen winzigen Augenblick. Mit einem Satz war er hinter den Verschwundenen her. Um die Ecke herum, und dann sah er sie in einem weiteren Gang verschwinden. Bjo setzte hinterher, zog im Laufen die Waffe, entsicherte sie. Nur seiner unglaublichen Beweglichkeit und Reaktionsschnelligkeit hatte es Bjo zu verdanken, daß er die nächsten Augenblicke lebend überstand. Denn kaum hatte er die Öffnung des Ganges erreicht, als ihm auch schon ein Schußhagel entgegenschlug, dem er nur mit einem gewaltigen Satz ausweichen konnte. Einen einzigen Schuß konnte Bjo abfeuern, mitten im Sprung. Er kam auf dem Boden auf, rollte sich ab und war einen Herzschlag danach wieder auf den Beinen. Dort, wo er gerade noch gestanden hatte, glühte ein halbes Dutzend Einschläge an der metallenen
Wand des Ganges – ein beredetes Zeichen für die Rücksichtslosigkeit, mit der der SOL‐Hirte seine Pläne durchführte. Bjo versuchte, in den Gang hineinzuspähen. Er war verlassen. Bjo tippte auf Roboter, nur die waren schnell genug, eine solche Strecke in wenigen Sekunden zurückzulegen und in Windeseile gleichsam in der Luft zu verschwinden. »Bleib zurück, Sternfeuer!« rief Bjo. Er hatte telepathisch das Kommen der Mutantin wahrgenommen. »Es wird sehr gefährlich!« Er nahm die Beine in die Hand und setzte nach. Einige hundert Meter weit kam er, ohne daß er auf Widerstand stieß. Dann entdeckte er eine Verzweigung, und im rechten der beiden Gänge bewegte sich in weiter Entfernung etwas. Bjo mußte sich in Sekundenbruchteilen entscheiden, und er hatte das Gefühl, einem Täuschungsmanöver aufzusitzen, aber ihm blieb keine andere Wahl. Er folgte der Bewegung, rannte hinter der Gestalt her, die Waffe schußfertig in der Hand, jederzeit gegenwärtig, einem neuerlichen Angriff auszuweichen. Nach einigen bangen Minuten hatte Bjo die Gestalt erreicht. Es war ein Robot, eine reichlich ungeschlachte Maschine, die ein schweres Bündel trug. »Bleib stehen!« rief Bjo. Mit schweren Schritten tappte der Robot weiter. Bjo zielte einen Augenblick lang auf die Beine der Maschine, dann sagte er sich, daß bei einem Treffer sehr wohl der Robot vornüber kippen konnte, und dann wurde Atlan unter dem Gewicht der Maschine förmlich begraben. Bjo feuerte nicht. Er setzte den Wettlauf fort, und mit wachsendem Mißtrauen stellte er fest, daß er den Robot überholen konnte. Ein neuerlicher Befehl fruchtete nichts, daher blieb Bjo keine andere Wahl, als zu schießen. Er paßte einen Augenblick ab, der ihm günstig schien, und traf den Robot an einem wichtigen Gelenk. Sekundenlang schwankte die Maschine hin und her, dann landete sie krachend auf dem Rücken.
Von dem Treffer waren Funken hochgestiegen, die jetzt kleine Löcher in den dunklen Sack schmorten, den der Robot immer noch umklammert hielt. Bjo gab dem Robot den Rest, erst dann lösten sich die metallenen Arme von dem Verschleppten. Es war – Bjo hatte es schon geahnt – eine Täuschung gewesen. Das Bündel enthielt lediglich eine grobschlächtige Puppe. Die wahren Entführer waren längst im metallenen Dickicht der SOL verschwunden. Bjo stieß einen Fluch aus. Er eilte zum nächsten Interkomanschluß und beorderte Arbeitsroboter her, die ihren zerstörten Kollegen und die Gliederpuppe abholen sollten. Vielleicht ergaben sich aus einer eingehenden kriminaltechnischen Untersuchung brauchbare Hinweise auf den Ursprung der beiden Körper. Selbst die winzigste Fährte mußte in einer solchen Lage beachtet werden. Bjo steckte die Waffe ein und machte sich auf den Rückweg. Nach kurzer Zeit stieß er auf Sternfeuer. »Hast du Atlan gefunden?« fragte die Frau. Bjo schüttelte den Kopf. Die beiden Mutanten machten einen kurzen Versuch. Das Ergebnis sah so aus, wie sie es erwartet hatten. Atlan war völlig betäubt und daher auch für Telepathen nicht zu orten. »Eine beachtliche Pleite«, stellte Bjo bitter fest. »Die beiden wichtigsten Männer der SOL praktisch unter den Augen ihrer Freunde verschleppt. Für uns eine blamable Vorstellung, und der SOL‐Hirte wird sich freuen.« »Nicht lange«, sagte Sternfeuer zwischen zusammengebissenen Zähnen. *
Die beiden schwiegen, als sie langsam zurückkehrten zur Hauptzentrale der SOL. Die Lage an Bord war nun noch gespannter geworden, die Unruhe unter der noch immer friedlichen Oberfläche wuchs beständig. Von Vorteil war lediglich, daß im Augenblick niemand ganz genau voraussagen konnte, wie sich die Dinge möglicherweise in naher Zukunft entwickeln würden. Das gab den Ex‐Magniden und Atlans Team noch ein paar Stunden der Besinnung. Gelang es danach, dem SOL‐Hirten in irgendeiner Form eine Schlappe beizubringen, war das Spiel wieder offen. Schlug aber der geheimnisvolle Feind erneut zu, noch einmal mit dieser plumpen Durchschlagskraft, die die Verteidiger gleichsam zu Hampelmännern erniedrigte, dann war der Kampf um die Macht in der SOL vermutlich verloren. Zahlreiche Solaner würden sich rechtzeitig auf die Seite des künftigen Siegers zu schlagen versuchen, und dieser Zulauf hatte die Tendenz, sich selbst hochzuschaukeln, einer Lawine ähnlich, die Hayes und Atlans Freunde im Handumdrehen von der Bühne fegen konnte. »SENECA«, murmelte Bjo. »Wir müssen SENECA aktivieren.« Sternfeuer warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. »Glaubst du, der SOL‐Hirte hat das nicht bedacht? Vermutlich hat er die Positronik längst außer Gefecht gesetzt oder so bearbeitet, daß sie ihm hilft.« »Willst du aufgeben?« fragte Bjo knapp. Sternfeuer schüttelte den Kopf. In der Zentrale der SOL herrschte eine bedrückende Ruhe. Die Ex‐ Magniden saßen in sich zusammengesunken auf den Sitzen, nur Brooklyn und Arjana Joester hatten die Köpfe erhoben und sahen den Eintretenden forschend entgegen. Es bedurfte keiner Worte. Die beiden Frauen begriffen sofort, was geschehen war. »Hayes und Atlan«, murmelte Brooklyn. »Das hat uns gerade noch gefehlt.«
Arjana Joester kräuselte die Lippen. »Wenn wir uns davon so aus der Fassung bringen lassen, können wir sofort aufgeben«, sagte sie. »Der SOL‐Hirte mag weite Teile der Besatzung beeindruckt haben, aber er darf uns nicht verzagt und mutlos machen. Wir dürfen das nicht zulassen.« »Wacker gesagt«, meinte Bjo. Er setzte sich. »Und was schlagt ihr vor zu tun?« »Wir …«, begann Arjana Joester, wurde aber von einem schrillen Sirenenton unterbrochen. Überdeutlich zeigte sich in diesem Augenblick, wie sehr der SOL‐ Hirte die Ex‐Magniden bereits verunsichert hatte. Mit bleichen Gesichtern sprangen die meisten auf. Nur Brooklyn und Arjana Joester zeigten keine deutlich erkennbaren Furchtreaktionen. Joscan Hellmut kam in den Raum gestürzt. »Wir werden angegriffen«, stieß er hervor. »Roboter!« »Was für Typen?« fragte Brooklyn. Sie eilte zu den Instrumenten, um die Umgebung der Zentrale beobachten zu können. Nacheinander wurden die Bildschirme hell. »Niemals gesehen«, kommentierte Bjo, als er die Bilder sah. Sehr langsam rückten sie vor. Es waren ungefähr zwanzig Exemplare, die lautlos näher kamen. Die Gestalten glichen schwebenden Kugeln, die etwa einen Meter Durchmesser aufzuweisen hatten. Die glatte Oberfläche war an einigen Stellen von Erhebungen durchbrochen; unschwer ließen sich darin Sensoren, Antennen oder Projektoren erkennen, vermutlich auch Waffen. »Rosafarbene Schutzschirme«, stellte Brooklyn fest. »Auch die sind neu.« Joscan Hellmut stieß mit dem Fuß auf und knurrte etwas Unverständliches. Für ihn, der noch zur ersten Generation der Solaner zählte, mußte es besonders bedrückend sein, daß in dem Schiff, das er einmal bestens gekannt hatte, immer wieder neue, noch dazu unangenehme Überraschungen auftauchten.
»Ob die überhaupt von der SOL stammen?« murmelte Sternfeuer. Bjo zuckte mit den Schultern. Diese Frage war im Augenblick von untergeordneter Bedeutung. Wichtig war, was diese Maschinen wollten. Ihr Ziel war unzweideutig die Hauptzentrale der SOL. Wer sich den Robots in den Weg stellte, wurde langsam und unwiderstehlich zurückgedrängt. Noch war kein Schuß gefallen. »Was sollen wir tun?« fragte Brooklyn. »Kämpfen!« rief Arjana Joester. »Abwarten«, empfahl Bjo Breiskoll. »Sie greifen uns nicht an, vermutlich wollen sie verhandeln.« »Im Auftrag des SOL‐Hirten?« fragte Arjana spöttisch. »Dann sind es sehr dezent auftretende Diplomaten.« Brooklyn stellte, wie Bjo aus den Augenwinkeln heraus verfolgen konnte, eine Verbindung zu SENECA her, rief die Positronik aber einstweilen nicht an. Dann erschien die erste der Kugeln in der Zentrale. Geräuschlos schwebte sie heran, verharrte mitten im Raum. Bjo hatte die Rechte am Kolben der Waffe. Die Stimme, die einen Augenblick später durch den Raum klang, war unverkennbar das Organ des SOL‐Hirten. »Ich fordere die hier Versammelten auf, die Führung des Schiffes unverzüglich dem einzig wahren Herrn der SOL zu überantworten – mir, dem Hirten der SOL.« Spontan rief Arjana Joester: »Wir denken gar nicht daran!« »Widerstand gegen diese Anordnung ist zwecklos und wird schwer geahndet«, erklärte der Robot. Eine zweite Kugel schob sich langsam heran. Brooklyn deutete auf die Tür. »Zwei Abgesandte genügen vorerst. Schließt ab.« Seltsamerweise ließen sich die Roboter des SOL‐Hirten diese Maßnahme gefallen.
Die Verhandlungen konnten fortgesetzt werden. »Wie stellt der SOL‐Hirte sich die Übergabe der Macht vor?« »Ihr räumt eure Unterkünfte und werdet bis auf weiteres in sicheren Gewahrsam gebracht.« »Sicher für wen?« faße Brooklyn nach. »Für die SOL«, lautete die knappe Antwort. »Ergebt ihr euch?« »So schnell geht das nicht«, sagte Brooklyn darauf. Ab und zu sah sie auf die Bildschirme. Es blieb bei den zwanzig Kugelrobots, und diese Streitmacht mußte doch zu überwinden sein – das waren Bjos Gedanken. Da war immerhin auch noch Chart Deecons Robotleibwache in der Nähe, und mit Waffen umzugehen verstanden auch die Ex‐Magniden. »Euch bleibt Zeit, euch zu beraten.« »Was ist mit Breckcrown Hayes geschehen?« fragte Arjana Joester. »Und mit Atlan?« »Sie sind ausgeschaltet worden«, erklärte der Robot. »Getötet?« »Ausgeschaltet.« Die Antwort ließ viele Ausdeutungen zu. Bjo hatte das sichere Gefühl, daß Atlan und Hayes noch lebten. Wäre es dem SOL‐Hirten nur darum gegangen, die beiden Männer zu töten, hätte er sie nicht erst verschleppen müssen. Vermutlich waren sie irgendwo gefangen und wurden aufgespart für einen jener Schauprozesse, mit denen Diktatoren der Abrechnung mit ihren Amtsvorgängen das Mäntelchen der Legalität umzuhängen versuchten. »Ich rufe SENECA«, sagte Brooklyn laut. Bjo hatte irgendeine Antwort der Robots erwartet, aber die blieb aus – und das erschreckte Bjo sehr. Hatte der SOL‐Hirte auch auf diesem Gebiet bereits seine Fäden gesponnen? »Ich höre.« Brooklyn gab einen knappen, unmißverständlichen Lagebericht, den die Kugelrobots schweigend verfolgten. Das Rosa ihrer Schutzschirme wurde nur ein wenig dichter und sah scheußlich
bonbonfarben aus. »Du mußt uns helfen, SENECA, im Sinn deiner Erbauer«, beschwor Brooklyn die Riesenpositronik. Die Antwort war enttäuschend und erschreckend zugleich. »Was soll ich helfen? Und wem? Überall sehe ich nur Streit und Hader, nirgendwo den Ansatz einer Lösung im Sinn der anderen. Es wird besser sein, die Angelegenheit nimmt einen natürlichen Verlauf. Vielleicht ist es besser so.« »Du kannst doch die SOL nicht einem Wesen wie dem SOL‐Hirten überlassen?« rief Brooklyn sichtlich erschüttert. »Er hat Hayes und Atlan in seine Gewalt gebracht.« »Na und?« ließ sich SENECA vernehmen. »Für alles und jedes kommt einmal das Ende.« »Wäre dieser Kasten ein Mensch, würde ich auf einen schweren depressiven Schub tippen«, knurrte Bjo. »Aber so – SENECA ist wieder einmal völlig durcheinander.« »Ausgerechnet jetzt«, murmelte Sternfeuer. »Falls jemand überlebt, soll er sich irgendwann melden«, sagte SENECA. Der laute Knackser aus dem Lautsprecher war technisch natürlich völlig überflüssig, dergleichen Schaltgeräusche kamen bei SENECA im Normalbetrieb nicht vor, aber der Laut sollte wohl jedem klarmachen, daß SENECA es vorzog, sich in Schweigen zu hüllen. »Damit stehen wir allein«, murmelte Bjo. Joscan Hellmut schüttelte verzweifelt den Kopf. Wie schwer mußte die Riesenpositronik innerlich erschüttert sein, daß ihr das Schicksal der SOL‐Besatzung nun völlig gleichgültig war. »Falls jemand überlebt …«, murmelte Hellmut erschüttert. »Was ist nur aus SENECA geworden, ich begreife es nicht.« »Ich erwarte eine Antwort«, meldete sich nun wieder einer der beiden Abgesandten des SOL‐Hirten. »Sie lautet selbstverständlich nein«, sagte Ar Jana Joester rasch. »Wir denken nicht an Unterwerfung und Übergabe.«
Der Robot zögerte sekundenlang. Schaltungstechnisch war das selbstverständlich nicht nötig. Es war einer der vielen kleinen psychologischen Tricks, die der SOL‐Hirte einsetzte, um seine Gegner weichzukochen. »In diesen Fall erklären wir euch für verhaftet. Folgt uns!« »Wir denken nicht daran!« Ein gleißender Waffenstrahl zuckte durch die Zentrale und zerschmolz das Schloß des Eingangs. Im nächsten Augenblick öffneten sich die Türen, und ein Dutzend Bewaffneter stürmte vor. »Feuer!« rief Arjana und griff nach ihrer Waffe. Der Überfall gelang. Ein halbes Dutzend Treffer schlug gleichzeitig bei den Robots ein, während sich die Menschen in der Zentrale in Sicherheit zu bringen suchten. Bjo riß Sternfeuer von den Beinen und stieß sie in eine Nische, während Joscan Hellmut Brooklyn aus der Gefechtszone zu bringen suchte. Die Treffer zeigten Wirkung. Die Robots wurden durch den Raum gestoßen, berührten Instrumentenpulte. Explosionen krachten, grelle Entladungen zuckten hoch, Kabel begannen zu schmoren. Aber die rosafarbenen Schirme standen, nur die mechanische Gewalt der Treffer hatte gewirkt. »Konzentriert den Beschuß!« rief Arjana. Da niemand ihr den Rang streitig zu machen suchte, leitete sie den Kampf um die Zentrale. Und sie machte ihre Sache überraschend gut. Auch Bjo unterstellte sich sofort ihrer Befehlsgewalt. Er richtete seine Waffe auf den vorderen der Kugelroboter, der mit boshafter Langzeitwirkung herumschwenkte und schoß. Sieben Waffenstrahlen trafen gleichzeitig und recht genau auf den gleichen Punkt. Grelle Energiefluten bündelten sich, der Schirm bekam für ein paar Augenblicke eine tiefrote Farbe, dann war der Robot von der Wucht der Treffer aus der Bahn geworfen, die Schützen fanden ihr Ziel nicht länger, und eine Zehntelsekunde
danach sah der Robot wieder aus wie zuvor. Jetzt wehrten sich die Kugelmaschinen. Mit präziser Langsamkeit – sicherlich auch das eine gewollte Programmierung – nahmen sie die Menschen in der Zentrale unter Beschuß. Sie verzichteten auf den Einsatz tödlicher Waffen, sie benutzten Paralysatoren. Und sie erzielten Wirkung. Zwei der Ex‐ Magniden brachen getroffen zusammen. »Wir brauchen schwerere Waffen!« schrie Arjana. »Am besten von Kampfrobots!« Bjo Breiskoll hatte seine Zweifel, ob das ausreichen würde. Der Kampf um die Macht in der Hauptzentrale war in vollem Gang, und es sah ganz danach aus, als beweise der SOL‐Hirte einmal mehr seine Überlegenheit. 6. Es war dunkel, der Boden hart, metallisch. Das waren die ersten Eindrücke, die ich beim Erwachen empfing – abgesehen von einem scheußlichen Brummschädel. Dann gab es ein paar Schritte entfernt ein Geräusch. »Endlich bist du erwacht«, sagte eine wohlvertraute Stimme. Breckcrown Hayes, registrierte ich. »Dich hat man auch hier festgesetzt?« fragte ich. Ich betastete meinen Kopf: Verletzungen waren nicht zu fühlen, nur eine mittelgroße Beule. Nun, auch solche Schäden heilten dank eines Zellaktivators rasch ab. »Seit Stunden sitze ich in diesem Loch und zergrüble mir den Schädel, wie ich wieder herauskomme.« »Hast du gesehen, wie man mich hergebracht hat?« »Zwei Robots haben einen Sack abgeladen, offenbar ein probates Transportmittel für einen alten Arkon‐Admiral.« Hayes bärbeißiger Humor bewies mir, daß er sich noch nicht
aufgegeben hatte. Es tat gut zu wissen, jetzt zu zweit zu sein – vielleicht ließ sich so mehr erreichen. »Nach Ausrüstung brauchst du nicht zu suchen«, sagte Hayes. »Man hat uns alles abgenommen. Diese Zelle mißt sechs zu sechs Meter, ist höher als ich mit ausgestreckten Armen in die Höhe springen kann, und Licht gibt es ebenfalls nicht.« Hayes hatte unser Verlies also schon erkundet. Diese Mühe konnte ich mir ersparen. »Wie geht es dir?« fragte ich. »Prächtig«, sagte Hayes mit hörbarem Grimm. »Nur ein wenig beengt, und die Gesellschaft ist nicht die beste.« »Keine Verletzungen?« »Man hat mich sehr zuvorkommend niedergeschlagen und auf ähnlich noble Art und Weise hier abgeladen wie dich. Die Säcke liegen noch irgendwo am Boden.« Vielleicht konnten sie uns irgendwann zu irgend etwas helfen, ich registrierte jedenfalls die Tatsache. »Was ist während meines Ausflugs geschehen?« wollte Hayes wissen. Ich nahm das fotografische Gedächtnis zu Hilfe und rekapitulierte den Propagandatext des SOL‐Hirten. Hayes stieß ab und zu ein wütendes Knurren aus. Er war nicht so selbstunkritisch, daß er die unerhörte rhetorische Geschmeidigkeit des SOL‐Hirten nicht erkannt und richtig als Gefahr eingeschätzt hätte, vor allem im direkten Vergleich mit sich selbst. Bei einem Rededuell wäre der eher kantige Hayes dem SOL‐Hirten nicht gewachsen gewesen; Hayes Aufrichtigkeit wäre der lügnerischen Eleganz des SOL‐Hirten unterlegen. »Gegen Ende der Sendung wurde ich dann verschleppt«, beendete ich meinen Bericht. »Gesehen hast du nichts?« »Ich habe keine Ahnung«, gestand ich. »Jemand hat uns irgendwo irgendwie festgesetzt – zu mehr Exaktheit reicht es nicht.«
»Wer führt die SOL zur Zeit?« »Brooklyn oder Arjana Joester, eine tüchtige Frau, wie sich für mich herausgestellt hat.« »Leider werden wir nicht mehr herausfinden können, wie unentbehrlich wir beide sind«, sagte Hayes sarkastisch. »Ich sehe nämlich keinen Weg, hier herauszukommen.« »Abwarten«, empfahl ich. »Was ist das übrigens für ein scheußlicher Geruch?« »In einer Ecke des Raumes steht eine Pfütze, ziemlich faulig, die riecht so.« »Also gibt es Wasser?« »Eine Pfütze, nicht mehr.« Ich stand auf und machte ein paar Schritte. Das Geräusch war eindeutig, es plätscherte. »Die Pfütze ist ziemlich groß«, stellte ich fest. »Und von irgendwoher muß das Wasser wohl kommen.« »Groß?« hörte ich Hayes verwundert sagen. Einen Augenblick später stand er neben mir. Ich konnte im Dunkeln spüren, wie er niederkniete. »Sieh an«, sagte er ruhig. »Sie ist größer geworden – und zwar erheblich. Ahnst du etwas?« »Wir sollen ersäuft werden«, folgerte ich. »Und das offenbar in Jauche«, kommentierte Hayes ergrimmt. »Der Gestank ist widerwärtig.« Das also war der Plan des SOL‐Hirten. Vor meinem geistigen Auge sah ich die Szenen, die folgen würden – lebhaftes Bedauern des neuen Machthabers, der für diesen Fehler seiner Roboter natürlich nichts konnte. Woher hätte er wissen sollen, daß die dummen Maschinen uns ausgerechnet in einen Abwasserbehälter eingesperrt hatten. Uns würde das zwar nicht mehr lebendig machen, aber der SOL‐Hirte konnte sich dadurch wenigstens teilweise von dem Verdacht befreien, uns vorsätzlich getötet zu haben. Obendrein hatte diese Vorgehensweise noch einen anderen,
für den SOL‐Hirten recht erfreulichen Aspekt – Opfer eines spektakulären Schauprozesses konnten vielleicht noch zu Märtyrern hochstilisiert werden, aber zwei Helden in einer Abwassertonne mit Sicherheit nicht. »Er hat es wohl ziemlich eilig«, bemerkte Hayes. »Hörst du es?« »Ich spüre es vor allem«, sagte ich. Jemand hatte den Hahn weit aufgedreht. Das Wasser stieg, und das ziemlich rasch. Jetzt war bereits der ganze Boden des Raumes benetzt. »Ich werde dir helfen«, sagte Hayes. Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken – er war auf den gleichen Gedanken gekommen wie ich. Hayes lehnte sich mit dem Rücken an eine Wand und hielt die Hände so, daß ich auf seine Schulter steigen konnte. »Zum ersten Mal empfinde ich dich als Person von Gewicht«, spöttelte Hayes, als ich auf seinen Schultern stand. Beobachtern wäre es vielleicht seltsam vorgekommen, daß wir in einer solchen Lage zu dummen Spaßen fähig waren; für uns war das unerhört wichtig – Hayesʹ Worte verrieten mir, daß er frei von Panik war, sich zwar fürchtete, aber deswegen nicht durchdrehte. Das war nötig, um selbst in so kritischen Lagen den Kopf für brauchbare Gedanken freizuhalten. Ich reckte die Finger in die Höhe, bekam aber nichts zu fassen. »Geh an der Wand entlang«, schlug ich vor. Wir machten ein Dutzend Proben, die alle das gleiche Ergebnis hatten – der Raum war so hoch, daß wir die Decke nicht erreichen konnten. Als wir wieder auf dem Boden standen, reichte uns die stinkende Brühe bis an die Knöchel. Und sie stieg unaufhaltsam weiter. »Plündere deinen Erfahrungsschatz, Arkon‐Häuptling«, sagte Hayes. »Dem High Sideryt fällt nichts ein.« »Mir fällt eine uralte Geschichte ein«, sagte ich. »Eine Fabel.« »Wenigstens etwas«, spottete Hayes. »Wir werden buchstäblich märchenhaft zugrunde gehen. Laß dich nicht stören.«
Ich wußte, daß er nachdachte, während er mir zuhörte. Hayes würde, das wußte ich, bis zum letzten Augenblick mit klarem Verstand nach Rettungsmöglichkeiten suchen. Unser Geschwätz war nichts weiter als eine Art Beschäftigungstherapie, dem Singen vergleichbar, mit dem ein nächtlicher Wanderer im Wald seine Furcht zu überspielen versucht. »Es waren einmal zwei Frösche, die fielen in einen großen hohen Eimer voll frischgemolkener Milch.« »Beneidenswert«, sagte Hayes. »Mach weiter.« Er klopfte langsam und gründlich die Wände ab, während ich erzählte und das gleiche tat. »Der eine Frosch gab sich nach kurzer Zeit geschlagen, versank in der Milch und ertrank.« »Und der andere?« »Der dachte nicht daran, sich geschlagen zu geben. Er schwamm eine ganze Nacht lang, und als der Morgen graute …« »Ja?« »Saß er auf einem Berg von Butter und hüpfte von dort ins Freie.« Hayes stellte das Klopfen ein. »Du meinst …?« »Allerdings. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder ist dieser Raum dicht, dann wird das Wasser nur eine bestimmte Höhe erreichen, darüber wird sich eine Luftblase bilden. Das gibt uns wenigstens Zeit.« »Auf unseren Tod zu warten? Erfreuliche Aussichten.« »Die andere Möglichkeit ist die, daß die Luft aus diesem Raum entweichen kann – in diesem Fall können wir vielleicht den gleichen Weg nehmen wie die Luft.« Hayes schwieg einen Augenblick lang. Er wußte so gut wie ich, wie gering unsere Chancen waren. Ruhig klang seine Stimme durch das Dunkel. »Du gibst wohl nie auf?« »Erst mit dem letzten Schlag meines Herzens«, antwortete ich.
»Sag mir, wenn es soweit ist«, sagte Hayes trocken. »Ich werde es mir dann überlegen.« * Die Zeit, Witze zu reißen, war vorbei. Wir mußten Luft und Kräfte sparen. Das Wasser, falls man diese stinkende Brühe so hochtrabend bezeichnen wollte, war inzwischen mindestens drei Meter hoch gestiegen. Wir mußten schwimmen. Hayes hatte es dabei erheblich schwerer als ich. Zum einen war der High Sideryt kräftig gebaut und hatte es daher schwerer, sich über Wasser zu halten; zum anderen wurden meine Körperkräfte vom Zellaktivator regeneriert – Hayes mußte mit dem auskommen, was er an Energie besaß. »Ich glaube, daß du richtig kalkuliert hast«, sagte Hayes. »Die Luft entweicht.« »Dann müssen wir nur noch das Loch finden«, antwortete ich. Ein Schwall der Jauche schwappte mir über das Gesicht. »Ein neuer Versuch?« »Meinetwegen.« In unregelmäßigen Abständen versuchte ich, mit einem kräftigen Beinschlag aus dem Wasser hochzugreifen, damit wir endlich die Decke zu fassen bekamen. Ich schwamm sehr ruhig, dann spannte ich die Kräfte an, schnellte mich hoch, riß den rechten Arm nach oben. Einen Augenblick später lag ich wieder im Wasser, tauchte unter und kam prustend hoch. »Geschafft«, stieß ich hervor. »Über uns ist eine Metalldecke.« Ich hatte sie mit den Fingerspitzen gerade noch berühren können. »Und?« »Dort muß es irgendwo einen Luftabzug geben«, sagte ich. Der
Geschmack der Jauche war noch scheußlicher als ihr Geruch. Der SOL‐Hirte war ein ausgemachtes Scheusal, daß er uns einen so erbärmlichen Tod zugedacht hatte. »Und den willst du nun finden?« »Haben wir eine andere Wahl?« Wir machten uns an die Arbeit. Es war mörderisch kräftezehrend, denn wir mußten nach jedem Satz eine Pause einlegen, um Kräfte zu sammeln. Dazu kam, daß wir im Dunkeln natürlich nicht richtig zielen und gründlich suchen konnten. Nachdem wir den ganzen Raum einmal abgesucht hatten, war noch immer kein Entlüftungsloch aufgetaucht. Hayes schnaufte vernehmlich. »Ich mache die Runde noch einmal«, sagte ich. Meine Glieder schmerzten fürchterlich. Die immer wiederkehrenden einseitigen Bewegungen führten zu Krämpfen und Verspannungen. Nur durch kurze Entspannungsübungen zwischendurch konnte ich verhindern, daß ich steife Glieder bekam. Ich war nahe daran, die Geduld zu verlieren, als ich endlich etwas fand. Meine Innenhand schrammte über eine Metallkante. Ich stieß einen gedämpften Schmerzenslaut aus. »Gefunden?« »Hoffentlich«, stieß ich hervor. Beim nächsten Versuch bekam ich die Kante zu packen. Ich spannte die Armmuskeln an, zog mich in die Höhe. Es war eine gräßliche Anstrengung, denn die Öffnung war nur ein wenig größer als nötig war, mich durchzulassen. Daß meine Kleidung dabei in Fetzen ging, störte mich wenig, wohl aber der Umstand, daß ich mir an den scharfen Kanten die Hände und Unterarme zerschrammte, Verletzungen, die nicht erheblich waren, aber sehr schmerzten. »Was hast du gefunden?« fragte Hayes. »Eine Röhre, groß genug für uns. Komm, ich helfe dir in die Höhe – greif nach meinem Bein.«
Hayes hatte es einfacher als ich. Er brauchte nur mein linkes Bein zu packen, dann konnte ich ihn langsam in die Höhe ziehen. Dennoch war es sehr anstrengend, wir schnappten beide keuchend nach Luft, als wir endlich im Trockenen waren. Lange konnte unser Aufenthalt in diesem Raum nicht währen – das Wasser stieg noch immer, und es war deutlich der Zug der entweichenden Luft zu spüren. »Ich erkunde den Weg«, sagte ich und begann mich in der Röhre in die Höhe zu schieben. Nach vier oder fünf Metern wurde die Röhre enger und enger, schließlich blieb ich stecken. Mit der ausgestreckten Hand konnte ich eine faustgroße Öffnung spüren, durch die augenscheinlich unsere Atemluft entwich. »Ich habe den Abzug gefunden!« rief ich zu Hayes hinab. Dumpf schallte seine Stimme zu mir herauf. »Verstopfe das Loch!« »Womit?« fragte ich. Eine kurze Pause entstand, dann meldete sich der High Sideryt wieder. »Ich werde nach den Säcken tauchen, die man uns übergestülpt hat.« »Bleib hier!« rief ich erschrocken. »Das ist Wahnsinn!« Der Ruf kam zu spät. Ich hörte bereits das Klatschen, mit dem sich Hayes in die Brühe zurückfallen ließ. Jetzt hatte ich Zeit genug, mir die Schrecknisse auszumalen, die dieser Mann zu durchstehen hatte. Hinabzutauchen in das stinkende Wasser, ohne etwas zu sehen, nach ein paar glitschigen Säcken zu fischen, die irgendwo in dieser Schmutzbrühe herumtrieben. Und über ihm näherte sich der Wasserspiegel bedrohlich der Decke. Das hieß, daß Hayes beim Auftauchen auf Anhieb den Schacht finden mußte – zu langem Suchen blieb ihm dann weder Zeit noch Luft. »Einer!«
Ich spürte, wie er mir etwas Nasses gegen die Beine klatschte. Ich faßte hinunter und zog den Sack in die Höhe. »Einer wird reichen«, rief ich, aber Hayes war schon wieder getaucht. Der Mut dieses Mannes war bewundernswert. Schade, daß die Solaner von alledem nichts zu sehen bekamen – sie würden vielleicht einen anderen Eindruck von ihrem High Sideryt gewinnen. Eine gräßlich lange Zeit verstrich, dann endlich konnte ich spüren, wie Hayes wieder auftauchte. Er hatte es tatsächlich geschafft, auch den zweiten Sack herauszufischen. Er war völlig außer Atem, schnaufte und schnappte gierig nach Luft. »Gib her!« Ich knüllte die beiden Säcke zusammen, schob sie an mir vorbei und preßte sie in die Verengung hinein. Ich steckte meine letzte Kraft in die Arme, boxte das Bündel zusammen. »Spürst du etwas?« fragte ich Hayes. »Der Luftzug hat aufgehört«, keuchte er. »Es sieht aus, als hätten wir es fürs erste geschafft.« Diese Einschränkung war richtig, denn gerettet waren wir noch immer nicht. Was sich nun abspielte, ließ sich mühelos vorherberechnen. Das Wasser mußte weiter steigen. Da die Luft – hoffentlich – nicht mehr entweichen konnte, mußte irgendwann der Luftdruck so hoch sein, daß er dem Druck des Wassers standhalten konnte. Dann saßen wir in einer Blase zusammengepreßter Luft einstweilen trocken. In dieser Zeit mußten wir einen weiteren Ausweg finden, denn zum einen war der Luftvorrat begrenzt, zum anderen wurde der Druck mit Sicherheit langsam unerträglich hoch. Ich konnte Hayes schnaufen hören. Der Mann war erschöpft, hatte kaum noch Reserven. »Steigt das Wasser noch?« »Ja, es spült mir um die Füße – aber es steigt langsamer. Sollen wir jetzt mit dem Buttermachen anfangen?«
Ich mußte lachen. Hayes ließ sich auch jetzt nicht unterkriegen. »Ich will versuchen, diese Röhre aufzudrücken«, sagte ich. »Diese Platten sind für so hohe Drücke nicht geschaffen – vielleicht können wir eine heraussprengen, dann sind wir frei.« »Viel Glück«, wünschte Hayes. Sein Atem beruhigte sich. Es war unerhört schwierig, sich in dieser engen Röhre so zu drehen und zu wenden, daß von der Muskelkraft überhaupt etwas an der Wand wirksam wurde. Diese Röhre war zur Ausübung von menschlicher Kraftentfaltung der denkbar ungeeignetste Platz. Endlich hatte ich eine Stellung erreicht, in der ich, verkrümmt wie nie zuvor, einen Teil meiner Beinmuskelkraft als Druck auf eine der Platten wirken lassen konnte. Ich spannte die Muskeln an. Ich spürte das Blut in meinen Adern pochen, hörte das heftige Schnaufen meines Atems. Der Druck wurde immer höher. Das Atmen fiel schwer, mein Brustkorb war eingeklemmt. »Das Wasser steigt langsam weiter«, sagte Hayes. »Wie hoch?« »Es spült mir um die Brust.« Die Stimme, mit der der High Sideryt das sagte, verriet zwar Atemnot, aber keine Furcht. Ich wußte aber, daß wir nur noch wenige Minuten zur Verfügung hatten. Noch einmal die Kräfte angespannt, jede Faser, jedes Quentchen Kraft. Diese schreckliche Platte mußte doch nachgeben, ich konnte sie sich biegen fühlen – oder war das Sinnestäuschung, hervorgerufen durch Todesangst und Luftmangel? Es gab einen Knall, der mir wie Himmelsmusik erschien, dann flog die Platte zur Seite. Und im gleichen Augenblick schoß das Wasser an mir in die Höhe. 7.
Mit einer schnellen Bewegung hatte ich meinen Oberkörper in Sicherheit gebracht. Zu langem Umsehen blieb mir keine Zeit – Breckcrown Hayes hatte nur noch wenig Zeit, bis ihm endgültig die Luft wegblieb. Trotz der Hektik und Aufregung merkte ich noch, daß er sich unglaublich ruhig verhielt, nicht drängte oder schob. Ich ließ mich vornüberfallen und versuchte gleichzeitig, mich festzuhalten. Auf eine Weise, die mir selbst ein Rätsel war, schaffte ich es – im nächsten Augenblick hing ich mit beiden Händen an einer scharfen Metallkante, dreckiges Wasser strömte über mich hinweg, spülte über eine Reihe übler Schnitt‐ und Schürfwunden, aber ich bekam Luft, das war die Hauptsache. Ich versuchte nach oben zu sehen, aber das gelang mir nicht, dazu strömte zuviel Wasser über meinen Körper. Ich wandte den Kopf. Unter mir ging es knapp vier Meter in die Tiefe – nicht gerade günstig für einen Mann, der seine Knochen und Gelenke gerade erst bis zum Äußersten strapaziert hatte. Ich hatte aber keine andere Wahl, ich ließ mich fallen. Ein stechender Schmerz zuckte vom rechten Fuß durch die Hüfte bis in den Brustkorb. Ich kippte zur Seite, schlug mit dem rechten Arm auf, landete mit dem Kopf auf dem Boden. Fast verlor ich die Besinnung. Der kalte Wasserschwall brachte mich rasch wieder in die Wirklichkeit zurück. Ich robbte ein Stück zur Seite, dann sah ich nach Hayes. Der High Sideryt hatte es ebenfalls geschafft – zur Hälfte. Er hatte den Kopf aus der Öffnung gesteckt, durch die ich gerade geschlüpft war. Aber die Schultern des Mannes waren zu breit – er konnte die Öffnung nicht passieren. Hayes fluchte wütend, weil er sich nicht aus eigener Kraft befreien konnte. Zudem wurde er unablässig von der Jauche überspült, die an ihm vorbei in die Halle strömte. »Hol mich hier heraus, Atlan«, rief Hayes.
Das war leichter gesagt als getan, denn unversehens tauchten in dem Raum zwei Robots auf – Reinigungsmaschinen, die sich sofort daran machten, die Halle von Verunreinigungen zu befreien. Wie sie programmiert waren, konnte ich nur ahnen – in jedem Fall hielten sie mich in meiner durchnäßten, stinkenden und zerfetzten Kleidung wohl für ein Bündel Putzlumpen. Entgeistert sah ich, wie eine der Maschinen schnurstracks auf mich zugeeilt kam. Ich brachte mich mit einem verzweifelten Satz in Sicherheit. Die Maschine war ungeheuer klobig und verfügte über eine vier Meter breite und knapp zwei Meter hohe rotierende Scheuerbürste. Hinter sich zog sie eine Bahn spiegelblank gescheuerten Hallenbodens, und ein paar Trümmer der gesprengten Verkleidung wurden von dem Robot einfach aufgesogen und im Innern – ich konnte das Kreischen des Metalls hören – zu einem handlichen Klumpen komprimiert. Ähnliches stand auch mir bevor, wenn ich mich nicht rettete. Die Lage war schlichtweg grotesk, aber dennoch sehr wirklich. So lächerlich ich mir auch vorkommen mußte, wenn ich nicht komprimiert im Auffangbehälter des Reinigungsrobots landen wollte, mußte ich etwas unternehmen. Und das rasch – die Robots waren bei aller Klobigkeit recht wendig, und in mir hatten sie einen angeschlagenen Flüchtling vor sich. Ich rannte los, versuchte zunächst einmal, eine ausreichende Distanz zwischen mich und meine Peiniger zu bringen. Die andere Maschine stellte sich unterhalb der Öffnung in Positur und machte sich an die Arbeit, das gesamte Schmutzwasser aufzusaugen. Ich versuchte es mit Hakenschlagen, aber der Robot war viel zu dumm, um auf ein so gescheites Manöver hereinzufallen. Er ließ mich laufen, berechnete einen Grundkurs und hielt den stur bei. Langsam aber sicher wurde ich abgedrängt. Aus dem Maul des Reinigungsrobots quoll weißer Schaum; die rotierenden Borsten verteilten ihn gründlich auf dem Boden, und
das schuf neue Gefahr. Ich merkte es, als ich es endlich geschafft hatte, in den Rücken der elenden Maschine zu gelangen. Ein unbedachter Schritt, und ich lag der Länge nach auf dem gewienerten Boden. Mit grausamer Gemütlichkeit drehte sich der Robot um und walzte auf mich zu. Ich sah nur eine Chance – Frontalangriff. Ich kam auf die Beine, rannte auf den Robot zu. Mit dem‐rechten Bein versank ich in dem Bürstenrotor, fand Widerstand für den Fuß und legte alle Kraft in den Sprung. In hohem Bogen flog ich über die Maschine hinweg, kam in ihrem Rücken auf und richtete mich so schnell wie möglich wieder auf. Der Robot drehte sich herum. Ich hatte mich selbst in eine Falle manövriert – jetzt gab es kein Entkommen mehr. Ein zweites Mal würde mir dieser Sprung nicht gelingen, das wußte ich. Es war – Ironie des Zufalls – der SOL‐Hirte, der uns rettete. Der erste Robot hatte minutenlang verzweifelt versucht, der Wassermassen Herr zu werden. Da seine Rechenkapazität auf solche Probleme nicht eingerichtet war, versuchte er auch das Wasser in handliche Form zu komprimieren. Dieser Versuch ging daneben. Es krachte und schepperte, dann flog der Robot auseinander. Eine Fontäne aus weißem Schaum und schmutzigbrauner Jauche schoß durch den Raum und traf meinen Gegner, der im Handumdrehen hoffnungslos verdreckt war. Im nächsten Augenblick ließ mein Hygienefeind von mir ab und machte sich an die Arbeit, seinen lädierten und gleichermaßen besudelten Mitarbeiter zu reinigen. Ich hatte keine Zeit, dem kurzweiligen Kampf der beiden Reinigungsrobots zuzusehen, obwohl es sich gelohnt hätte – wenn solche Primitivrobots einmal ihre einprogrammierten Denkbahnen verließen, ging es meist sehr gründlich daneben. »Ich komme dir zu Hilfe«, rief ich zu Hayes hinüber. »Das wird auch Zeit!« brüllte der zurück. »Ich bekomme kaum
noch Luft!« »Wenn es noch zu solchem Geschrei reicht, wird es so schlimm wohl nicht sein«, gab ich zurück. Ich suchte mit Blicken die Halle ab auf der Suche nach einem technischen Hilfsmittel, mit dem ich Hayes aus seiner wenig beneidenswerten Lage befreien konnte. Mein Blick blieb schließlich an einem Kran hängen, einer Laufkatze mit einem daran hängenden schweren Korb. Der Zufall wollte es, daß der Läufer kurz vor dem feuchten Gefängnis des High Sideryt endete. Ich ließ schnell den Korb herab, füllte ihn mit allen schweren Teilen, die ich in der Eile finden konnte, und ließ den Kran wieder aufsteigen. »Du sollst nicht spielen, sondern mir helfen«, ereiferte sich Hayes in gespieltem Zorn. Er hatte längst erkannt, welchen Plan ich verfolgte. Ich ließ die Laufkatze zurückgleiten bis ans äußerste Ende des Läufers, dann ließ ich sie Fahrt aufnehmen. Mit der Fernsteuerung ließ ich die Katze auf Hayes zugleiten. Kurz bevor die Konstruktion bei Hayes ankam, stoppte ich die Fahrt. Wie ich erwartet hatte, flog der schwer beladene Korb weiter – und er krachte unmittelbar vor Hayes gegen die Wand. Ein großes Stück brach heraus, ein Schwall Wasser ergoß sich in die Halle, und einen Augenblick später polterte Hayes mit weiteren Trümmern auf den Boden. Mit katzenhafter Gewandtheit schaffte er es, sich aus dem Borstenwirrwarr der beiden ineinander verkeilten Reinigungsroboter herauszuhalten. Zwei Sekunden danach stand er wieder auf festem Boden. Ich mußte an mich halten. Hayes war vollkommen verdreckt. Allerlei fester Unrat, der in der Jauche herumgetrieben war, hatte sich an seiner zerschlissenen Kleidung festgesetzt. Das Gesicht war blutverschmiert, eine jener stark blutenden und daher publikumswirksamen Stirnwunden, die
nicht als ernsthafte Verletzung gelten konnte. Hayes jedenfalls sah aus, als wollte er in einem Gruselfilm als Frankensteins Urgroßenkel auftreten. Dazu funkelten seine Augen noch sehr böse. »Glaubst du, Arkon‐Häuptling, daß du einen stattlicheren Eindruck machst?« Ich sah an mir herunter und fiel in das Gelächter ein. Wir sahen entsetzlich aus, aber wir waren frei – was wollten wir mehr. »Jetzt weg von hier«, sagte Hayes. »Ich möchte so schnell wie möglich in Erfahrung bringen, in welchem Teil der SOL wir stecken – und was das alles mit dem SOL‐Hirten zu tun hat.« »Dort ist eine Tür!« sagte ich und deutete mit der Hand darauf. »Worauf warten wir?« fragte Hayes und setzte sich in Bewegung. * Die Überraschung konnte kaum größer sein. Wir waren auf eine Fabrik gestoßen, eine regelrechte Produktionsstätte für Roboter. Der Typ war unbekannt – es handelt sich um Kugelroboter, ungefähr einen Meter groß. Sie wurden vollautomatisch hergestellt, und die fest installierten Roboter, die diese Aufgabe versahen, waren hochmodern. Mir war es ein Rätsel, wie diese Fabrik in aller Heimlichkeit hatte errichtet werden können. Hayes sah mich an. »Der SOL‐Hirte?« »Ich nehme es an«, versetzte ich. »Er hat sich ziemlich viel Mühe gegeben«, sagte Hayes. Seine Stimme klang ein wenig bedrückt – eine Anlage dieser Größe hätte eigentlich nicht unbemerkt bleiben dürfen. »Und er ist offenbar schon ein paar Jahre an der Arbeit«, ergänzte ich und deutete auf den Maschinenpark. Langsam bewegte sich eine Kugel über ein energetisches
Transportband. Aggregate wurden eingebaut, alles mit höchster Präzision. Ich hatte keine Lust, zu erproben, wozu die so gefertigten Robotkugeln im Ernstfall in der Lage waren. »Ob wir hier Waffen finden werden?« murmelte Hayes. »Mit Harfen wird der SOL‐Hirte seine Robotschäfchen wohl nicht ausrüsten«, sagte ich bitter. In der Tat fand sich am Band eine Stelle, an der den Robotkugeln Waffen eingebaut wurden. Es war gar nicht so einfach, einem der Verarbeitungsautomaten eine solche Waffe zu entwenden, ohne dabei einen Alarm auszulösen. Aber schließlich hielt ich einen Impulsstrahler in der Hand. »Kannst du mit dem Ding überhaupt schießen?« fragte Hayes. Die Waffe sah, da sie zur Bedienung durch einen Robot gedacht war, anders aus als die Handfeuerwaffen für Menschen. Es dauerte daher einige Zeit, bis ich den winzigen Hebel gefunden hatte, der die Waffe losgehen ließ. Selbstverständlich konnte ich nicht probehalber in der Gegend herumschießen, obwohl ich überzeugt war, daß der SOL‐Hirte längst etwas von unserem Ausbruchsversuch erfahren hatte. Irgendwo gab es mit Sicherheit eine Überwachungsanlage, die uns längst erfaßt hatte. »Ich glaube, ich habe die Lösung«, sagte ich schließlich. Das Extrahirn hatte mir dabei geholfen, den Aufbau der Maschinenwaffe zu verstehen. »Und jetzt schlage ich vor, daß wir schleunigst verschwinden.« »Und das alles einfach stehenlassen?« fragte Hayes entgeistert. »Damit der SOL‐Hirte munter weiter seine Robots produzieren kann?« »Wir haben nicht mehr viel Zeit, mein Freund«, erwiderte ich. Ich hatte eine Tür entdeckt und bewegte mich darauf zu. »Wie kommst du darauf?« »Lange wird er uns nicht allein lassen wollen«, sagte ich. »Ich bin fest davon überzeugt, daß er sehr bald erscheinen wird, um sich
nach unserem Zustand zu erkundigen.« Die Tür, stellte sich heraus, war mit einem Codeschloß gesichert, einer siebenstelligen Zahlenkombination. Bis wir die herausgetüftelt hatten, konnten Jahre vergehen. »Dann nehmen wir einen anderen Weg«, sagte ich. Ich suchte eine verdeckte Seite der Fabrikhalle auf und richtete die Mündung meiner Waffe auf die Wand. Ein Feuerstrahl löste sich, als ich den Hebel betätigte. Ich brauchte nicht lange, dann hatte ich uns einen Weg ins Freie geschaffen. Auf der anderen Seite des Loches war ein Gang, wie er überall in der SOL zu finden war. Wenn es uns gefiel, uns abzusetzen, hatten wir nun eine gute Möglichkeit. Ich hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als auf dem Gang Lärm zu hören war. Ich sah Hayes an. »Flüchten oder standhalten?« fragte ich. Hayes machte ein grimmiges Gesicht. »Ich will wissen, was an Bord meines Schiffes passiert«, sagte er finster. »Und ich möchte diesen elenden SOL‐Hirten endlich sehen.« »Dann müssen wir uns verstecken«, erklärte ich. Wir hasteten zurück in die Fabrik. Ein Versteck war rasch gefunden. Die überall stehenden, eng aneinandergedrückten Maschinen machten es möglich. Unwillkürlich hielt ich den Atem an, als ich das Geräusch des sich öffnenden Schlosses hören konnte. Sehr vorsichtig schob ich meinen Kopf in die Höhe. Weit schwangen die Flügel der Tür zur Seite. Auf der Schwelle waren nur Robots zu sehen, ein Schwarm von knapp zwei Dutzend Exemplaren, eingehüllt in rosafarbene Schutzschirme. Sie umgaben einen Mittelpunkt, in dem zunächst nichts zu erkennen war. Rasch schwärmten die Robots auseinander. Darauf gefaßt, ausgespäht zu werden, drückte ich mich in unser Versteck.
»Was gibt es?« »Unser besonderer Freund«, hauchte ich. »Der SOL‐Hirte, mit Leibwache.« Hayes rümpfte die Nase. Diese Leibwache paßte uns natürlich nicht ins Konzept. Da wir nicht belästigt wurden – keiner der Robots tauchte in unserem Blickfeld auf –, wagte ich es, ein zweites Mal zu spähen. Diesmal war er klar zu sehen. Eine schlanke hochgewachsene Gestalt, eingehüllt in einen bodenlangen hellblauen Umhang, wie er früher üblicherweise von den Ahlnaten getragen worden war. War das ein Hinweis auf das Herkommen des SOL‐Hirten? War er früher Ahlnate gewesen? Vielleicht ließ sich mit SENECAs Hilfe die Personalkartei der SOLAG entsprechend durchforschen; allzu viele Ahlnaten hatte es nicht gegeben, denen man die geistige Potenz zu einem solchen Streich zutrauen konnte. Die Zahl der Kandidaten konnte möglicherweise stark vermindert werden. Der SOL‐Hirte drehte sich einmal kurz um. Die Gestalt war vom Umhang so verhüllt, daß sich nicht einmal erkennen ließ, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Das Gesicht wurde von einer Maske verdeckt, die keine einzelne Züge erkennen ließ. Auch die Augen waren verborgen. Einer der Kugelrobots kehrte zurück, schwebte in Ohrhöhe an den Kopf des SOL‐Hirten und berichtete ihm etwas, so leise, daß wir es nicht hören konnten. Da der Robot aber aus jenem Raum kam, in dem unser Befreiungsversuch gelungen war, mußte der SOL‐Hirte jetzt wissen, daß wir ausgebrochen waren. »Sucht sie, findet sie und nehmt sie gefangen«, sagte der SOL‐ Hirte. Die Stimme wurde durch die Maske verzerrt, und zwar so stark, daß ich sie nicht zu erkennen und einzuordnen vermochte. Klar war nur, daß es sich um den gleichen Sprecher handelte, der auch die
lange Propagandarede über Interkom vorgetragen hatte. Ein zweiter Roboter hatte dem SOL‐Hirten etwas zu melden. Diesmal setzte sich die Person in Bewegung. Sie schritt an uns vorbei, auf jenes Loch in der Wand zu, das ich mit dem erbeuteten Impulsstrahler geschnitten hatte. Ich konnte hören, wie unser Gegner den Befehl gab, das Ausbruchsloch zu schließen. Ich grinste Hayes an. Offenbar war der SOL‐Hirte davon überzeugt, daß wir längst das Weite gesucht hatten. Er sollte eine Überraschung erleben. »Sollen wir angreifen?« wisperte Hayes. Ich schüttelte den Kopf. Wir besaßen nur eine Waffe, waren körperlich von den Strapazen unserer Haft und Befreiung ausgelaugt – und die kleinen Robotkugeln hatten sicherlich trotz ihrer Größe eine Bewaffnung, die sie uns beiden überlegen machte. »Wir warten ab«, entschied ich. Gerne hätte ich gewußt, was sich jetzt in der Nähe der Hauptzentrale der SOL zutrug, welche Pläne der SOL‐Hirte verfolgte. Aber dazu fanden wir keine Gelegenheit. Umgeben von seinem schwirrenden Gefolge, verließ der SOL‐ Hirte die Robotfabrik. Zu meiner freudigen Überraschung tat er das durch jene codegesicherte Tür, die wir nicht hatten öffnen können. Beim nächsten Versuch würden wir es schaffen, das wußte ich – der SOL‐Hirte erlaubte es mir nämlich, ihn beim Einstellen der Kombination zu beobachten. Meinem fotografischen Gedächtnis würde es nicht schwerfallen, die Kombination ein zweites Mal einzustellen. Als die Tür hinter dem SOL‐Hirten wieder ins Schloß fiel, sah ich Hayes triumphierend an. »Jetzt ist der Weg frei!« 8.
Das Hämmern von Maschinenwaffen klang durch die Räume. Überall wurde gekämpft. Kleine Flammen tanzten blakend über Pfützen zerschmolzenen Metalls. Die Schlacht um die Zentrale der SOL war in vollem Gang. Bjo Breiskoll lag in Deckung und lud seine Waffe nach. Er war in Schweiß gebadet. Seit Stunden tobte dieser Kampf, und es sah gar nicht günstig aus für die Verteidiger. Erst einen der Kugelrobots hatten sie zerstören können. Ein schweres Impulsgeschütz auf einer Selbstfahrlafette, wie es bei Landeoperationen von zwei bis vier Mann bedient wurde, hatte einen der Kugelrobots getroffen und ihn in einer furchtbaren Detonation vergehen lassen. Gegen diese Waffen waren die Kämpfer des SOL‐Hirten also nicht gefeit. »Können wir noch mehr von diesen Dingern bekommen?« fragte Bjo ächzend und deutete auf den Haufen zerstörten Metalls in Sichtweite – die Kämpfer des SOL‐Hirten ihrerseits hatten nur ein paar Augenblicke gebraucht, um das Geschütz zu zerstören. »Möglicherweise«, sagte Arjana Joester. Sie hatte sich bewunderungswürdig gehalten, wie eine Löwin gekämpft und mehr als einem der Verteidiger durch umsichtiges und entschlossenes Eingreifen das Leben gerettet. Bjo hatte einen knappen Streifschuß abbekommen, der ein Volltreffer geworden wäre, hätte Arjana ihn nicht im letzten Augenblick aus der Schußlinie gestoßen. »Wie sieht es aus?« fragte Bjo. »Hast du einen Überblick?« Arjana strich sich das schweißverklebte Haar aus der Stirn. Ihr Atem ging schwer. »Ungefähr ein Dutzend dieser bonbonfarbenen Ungeheuer streitet sich mit uns herum, der Rest umkreist wie ein Schwarm Hornissen die Umgebung der Zentrale und hindert uns am Ausbruch und eventuelle Helfer daran, zu uns zu stoßen. Die Nachrichtenverbindungen zum Rest des Schiffes sind zerstört – wir sitzen in einer Bilderbuchfalle.«
Bjo nestelte eine Thermoladung vom Gürtel, zündete sie und warf sie einem Angreifer entgegen. Grellweiß erstrahlte der Feuerball mitten auf dem Gang. Somit waren die Schirmfelder der Robots zwar nicht zu knacken, aber sie scheuten diese gewaltigen Hitzeentladungen, die auf engstem Raum einige Zehnerpotenzen an Kalorien mit einem Schlag freisetzten. Man konnte die Roboter damit zum Stehen bringen, mehr nicht. »Ich möchte wissen, warum sie uns nicht einfach zusammenschießen«, murmelte Arjana. »Mach ihnen den Vorschlag, vielleicht gehen sie darauf ein«, sagte Bjo. »Darüber habe ich mir noch nicht den Kopf zerbrochen.« »Aber ich«, versetzte Arjana. Die kurze Kampfpause gab Zeit, für ein paar köstliche Augenblicke die Beine auszustrecken und tief durchzuatmen. »Sie sind uns zweifelfrei überlegen, aber es gibt mit Sicherheit nicht wesentlich mehr von den Dingern, als wir hier sehen. Was also ist der Plan des SOL‐Hirten?« »Wir werden es herausbekommen«, sagte Bjo grimmig. »So oder so.« Er richtete sich auf. Das Toben der entfesselten Hitzegewalten hatte aufgehört. Zwei Quadratmeter Boden brodelten, und einer der Kugelroboter machte Anstalten, über die Lache siedenden Stahls hinwegzusetzen. Bjo machte sich nicht die Mühe, auf den Robot zu schießen. Handfeuerwaffen halfen überhaupt nicht. Der Mutant nahm den Boden in der Nähe des Robots unter Beschuß. Es war eine Qual, die provozierende Langsamkeit mit ansehen zu müssen, die die Bonbonrobots an den Tag legten – offenbar sollten die Verteidiger auch noch psychologisch weichgekocht werden. Bjo jedenfalls konnte eine Reihe von Schüssen anbringen, bevor er zurück mußte in die Deckung eines Umspanners, dessen metallene Wandung schon einige Treffer zu verkraften gehabt hatte. »Klappt es?« fragte Bjo. Er schloß die Augen, dann nickte er. »Es hat geklappt.«
In dem Gang klaffte jetzt ein Loch – Bjo hatte dem Boden mit seinem gezielten Feuer den Rest gegeben, und der Kugelrobot war ein paar Meter in die Tiefe gestürzt. »Und jetzt heißt es laufen, Mädchen«, sagte Bjo. Er stand auf und sprintete los. Es war ein Sprung auf Leben und Tod ‐landete er am Rand des Loches, war er im Bruchteil einer Sekunde tödlich verbrannt. Kam er zu nahe an dem weißglühenden Umfeld auf, würde er die nächsten Monate auf der Medo‐Station verbringen müssen. Es war ein Satz, für dessen Bewältigung nur zwei Motive ausreichten – der unbedingte Siegeswille eines hervorragenden Sportlers und der Mut der Verzweiflung. Bjo schaffte es. Er prallte auf der gegenüberliegenden Seite des Loches auf den Boden, schrie auf, weil das Metall auch an dieser Stelle noch ekelhaft heiß war, kam aber sofort wieder auf die Füße, die Waffe auf die Öffnung im Boden gerichtet. »Arjana!« Die Ex‐Magnidin zögerte. Ihr Anlauf war viel zu kurz, sah Bjo mit Entsetzen, und mitten im Flug wurde sie zum einen von einem Paralysatorschuß getroffen, zum anderen wurde ihr Körper blitzschnell von einem Fesselfeld gepackt und mit unglaublicher Geschwindigkeit in die Tiefe gezerrt. In den verhallenden Schreckensruf der Frau erklang die ruhige Stimme eines Kugelrobots, der sie mit boshafter Feierlichkeit für verhaftet erklärte. Bjo ging so nahe an die Öffnung heran, wie es die Gluthitze zuließ – er konnte gerade noch sehen, wie einer der Kugelrobots mit seiner Last aus dem Sichtkreis verschwand. Zu schießen wagte Bjo nicht – er hätte damit nur Arjana Joester gefährdet. So mußte der Mutant hilflos mit ansehen, wie eine der fähigsten Verteidigerinnen der Zentrale der SOL von den Robots des SOL‐Hirten verschleppt wurde. Bjo stieß einen Fluch aus, aber dies brachte nur wenig
Erleichterung. Der Kampf ging weiter. Hinter Bjo gab es eine Bewegung. Wieder einer der Bonbonrobots, wie die Verteidiger ihre Bedränger in bitterem Sarkasmus genannt hatten. Bjo sah nur noch eine Möglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen – er sprang hinab in das Loch, durch das Arjana Joester verschwunden war. Er landete auf den Füßen, federte ab und sah sich rasch um. Seltsam ruhig war es geworden. Bjo spitzte die Ohren. Der Kampflärm schien erheblich abgenommen zu haben. Hatten die Robots mit Arjanas Verschleppung das Ziel erreicht, das sie angestrebt hatten? Bjo konnte es sich kaum vorstellen, aber er hatte inzwischen begriffen, daß man beim SOL‐Hirten auf jede Überraschung gefaßt sein mußte. Verschwitzt und erschöpft erschien Joscan Hellmut, der sich in erster Verwirrung umsah und dann zufrieden lächelte, als er Bjo erkannte. »Sie lassen uns in Ruhe«, sagte er und lehnte sich gegen die Wand. Sein Brustkorb hob und senkte sich in heftigen Atemstößen. »Ich weiß nicht warum, aber sie schießen nicht mehr.« »Verschwunden sind sie aber auch nicht, oder?« Hellmut schüttelte den Kopf. »Ein ziemlich einseitiger Waffenstillstand«, sagte Bjo grimmig. »Nun, wir werden ihn zu nutzen wissen.« * »Was willst du damit machen?« Hayes machte eine herrische Geste. »In die Luft jagen«, sagte er. »Wenn der SOL‐Hirte uns in seinem Waffen‐ und Roboterarsenal zurückläßt, dann soll er für diesen
Fehler bezahlen.« Ich wiegte den Kopf. »Wenn wir diese Produktionsstätte nur lahmlegen, dem SOL‐ Hirten nur abnehmen und nach seiner Besiegung erneut in Besitz nehmen, dann hat die SOL eine recht gute vollautomatische Roboterfabrikation mehr. Ist das ein Argument?« Hayes preßte die Kiefer aufeinander. »Und was ist, wenn wir den SOL‐Hirten nicht so schnell zu fassen bekommen?« fragte er zurück. »Ich will kein Risiko eingehen – ich werde diese Fabrik sprengen.« »Tu, was du willst – es ist dein Schiff«, sagte ich. Hayes machte sich an die Arbeit. Er brauchte meine Hilfe nicht, ich konnte mich also in aller Ruhe umsehen. Der SOL‐Hirte ließ sich offenkundig bei der Herstellung seiner Robotdiener Zeit. Ob das daran lag, daß er all das in eigener Regie entwickelt und aufgebaut hatte, oder daran, daß diese Roboter besonders hochgezüchtet waren, ließ sich nicht feststellen. Ich sah zu, wie Kugeln sich auf den Energiebändern langsam bewegten, von robotischen Greifern gepackt und gedreht wurden. Andere Arme stopften die Hohlräume mit vorgefertigten Modulen voll – Positroniken, Auswertungsautomaten, Schutzschirmprojektoren und anderem. Gern hätte ich versucht, einen der Schirmprojektoren zu ergattern – wenn wir ihn später in Ruhe auseinanderbauten und seinen technischen Aufbau rekonstruierten, dann hätten wir unter Umständen eine neue Defensivwaffe gefunden. Ich trat zu jenem Teil des Bandes, an dem nach meiner Einschätzung die Schutzschirmprojektoren eingebaut wurden. Der Einbauautomat hatte einen kleinen Vorrat einbaufertiger Projektoren. Er mußte sie nur an die richtige Stelle im Innern des Robots bringen, dort festkleben und die Kabelverbindungen zusammenstecken. Allein aus der Zahl der verwendeten Anschlüsse ließ sich ablesen, daß es sich bei dem Projektor um ein ziemlich
kompliziertes Gerät handeln mußte. Ich sah mir den Vorgang an – das fotografische Gedächtnis konnte mir später bei der Auswertung helfen. Sorgfältig merkte ich mir die Kabelkontakte, und mit den Augen versuchte ich herauszufinden, welche anderen Bauteile mit dem Projektor in Verbindung standen. »Was machst du da eigentlich?« fragte Hayes. Er schleppte ein halbes Dutzend Hochenergieerzeuger, die einen Robot dieser Größe für etliche Tage mit den nötigen Energien versorgen konnten, bevor sie nachgeladen werden mußten. »Ich versuche herauszubekommen, was hier geschieht – und zwar ganz genau«, antwortete ich. »Und du?« Hayes grinste spitzbübisch. Er schien schon bei dem Gedanken an das Feuerwerk gute Laune zu bekommen. »Ich werde einige wichtige Teilstücke dieser Anlage mit diesen Dingern bestücken. Und dann werde ich das Band so umprogrammieren, daß die ganze Fabrik in tausend Stücke fliegt.« »Viel Spaß beim Bombenlegen«, wünschte ich. Hayes hatte mich auf eine Idee gebracht. Wenn die Robots vom Band liefen, waren sie nicht intelligenter als eine rostige Schraube – was sie erst gefährlich machte, war die Programmierung. Wo aber fand die statt? Ich sah, daß gerade ein fertiggewordener Roboter das Band verließ. Eine recht ungeschlacht aussehende Kugel – vermutlich ein Prototyp aus früheren Reihen nahm den frischgebackenen Kollegen in Empfang und transportierte ihn ab. Im Nachbarraum fand sich dann der Produktionsabschnitt, der mir am Herzen lag. Der Robot wurde energetisch eingespannt, und in einem besonderen Arbeitsgang wurden ihm dann vorprogrammierte Mikroprozessoren eingepflanzt. Das Verfahren war in mehr als einem Sinn ungewöhnlich. PROMs waren an Bord der SOL durchaus üblich. Für so beschränkte Aufgabenbereiche wie die Steuerung von
Waschautomaten, Fernwarnanlagen und ähnlichen Geräten waren vorprogrammierte Mikroprozessoren eine wesentlich kostengünstigere Lösung als Positroniken. Ein reißnagelkopfgroßer Prozessor mit einer Speicherkapazität von 256 Kilobyte war erheblich einfacher und billiger herzustellen als eine ebenso große Positronik, deren Fähigkeiten in einer vollautomatischen Privatküche ohnehin nie auch nur annähernd ausgeschöpft wurden. Solch einen Mikroprozessor konnte man beispielsweise zu Beginn eines Jahres mit einer Menüliste programmieren. Dann durfte der Besitzer oder die Eigentümerin zuverlässig erwarten, daß der Vollrobot zehn Minuten vor der üblichen Essenszeit die Einzelteile des Mahles aus dem Tiefkühlfach nahm, sachgerecht zubereitete und auf die Sekunde pünktlich essenswarm servierte. Daß eine solche Anlage später auch spülte und regelmäßig für die Auffüllung der Vorräte sorgte, verstand sich von selbst. Bei Maschinen wie den Robotern des SOL‐Hirten lag der Fall anders. Diese Rechengehirne mußten Entscheidungen treffen, und das erforderte einen erheblich größeren Speicherplatz und vor allem eine erhöhte Rechenkapazität. Hier konnten nur kompakte Positroniken weiterhelfen, die in der Lage waren, Tausende von Parametern zu speichern, zu berechnen und in einer Fülle von Rechenschritten gegeneinander abzuwägen, damit schließlich ein brauchbares Ergebnis dabei entstand. Was der SOL‐Hirte machte, kam ungefähr dem Versuch gleich, die Triebwerke der SOL mit Feuerwerksraketen zu speisen – die Proportionen waren ähnlich absurd. Ich ahnte, was für einen Vorteil das hatte. Die Programmierung von Robotpositroniken war keine einfache Kunst – und sie war praktisch nur zu bewerkstelligen, wenn man auf andere Positroniken zurückgreifen konnte oder vorgefertigte positronische Module einsetzte, vor allem ein Sprachmodul, mit dessen Hilfe man ‐zumindest in der Theorie – auch mündlich komplizierte Programme für den Rest seines sonst leeren Gehirns
eingeben konnte. Der SOL‐Hirte hatte es zwar verstanden, von irgendwoher positronische Module zu bekommen – ich konnte mich an die Stelle am Band erinnern, an der sie eingebaut worden waren –, aber er hatte offenbar nur Rohmaterial auftreiben können. So leistungsfähig diese Steckmodule auch waren – ohne Programmierung waren sie nichts weiter als hochqualifizierter Schrott. An positronische Programmierautomaten war der SOL‐Hirte bisher nicht herangekommen – also hatten ihm die gemausten Module nicht viel helfen können. Mikroprozessoren wurden in aller Regel vom Hersteller bereits mit einer Programmiersprache ausgerüstet. Sie in dieser Sprache mit einem gewünschten Programm zu versehen, war eine Kunst, die selbst Laien in ein paar Wochen im Ansatz lernen konnten. Eine qualifizierte Kraft, die zudem viel Zeit hatte, konnte auf der Basis von Mikroprozessoren im Lauf der Zeit hochkomplizierte Programme zustande bringen. Danach brauchte er nur noch dieses Programm in die leere Positronik zu überspielen. Das sagte sich leicht, war aber in Wirklichkeit hochkompliziert und erforderte sehr viel logisches Denkvermögen und eine große Geduld. Einen Augenblick lang sah ich zu, wie der einstweilen noch programmlose Robot mit den sorgfältig vorbereiteten Mikroprozessoren gefüttert wurde. In der nächsten Sekunde spürte ich eine Hand auf der Schulter und fuhr hoch. Hayes stand hinter mir, etwas weiß im Gesicht, ansonsten aber grinsend. »Brauchst du noch viel Zeit hier?« fragte er. »Weiß nicht«, antwortete ich ein wenig verblüfft. Hayes grinste noch breiter. »Ich habe einen kleinen Fehler gemacht, irreparabel, leider. Wir haben noch knapp zweieinhalb Minuten, verstanden?«
Ich hatte begriffen. Es kam jetzt auf Sekunden an. Ich machte mich an die Arbeit. Zu einer weitgreifenden Programmänderung blieb mir keine Zeit mehr. Aber ich konnte dem SOL‐Hirten eine Menge Ärger bereiten. Hastig schaltete ich das Pult vor mir ein. Wie ich nicht anders erwartet hatte, hatte der SOL‐Hirte hier manche Stunde damit verbracht, die Mikroprozessoren zu programmieren. Ich griff nach einem der Chips. Es handelte sich um ein EPROM, einen jener Prozessoren, die man programmieren, aber auch wieder löschen konnte, mit speziellen Hilfsmitteln. Der Programmrechner arbeitete zügig, binnen weniger Augenblicke war der Chip leergeräumt. Ich schaltete das ursprüngliche Programm auf den Schirm, ließ es bis zum Ende durchlaufen und stoppte es dann. Eine halbe Minute brauchte ich, um mich auf das Programm zu konzentrieren. Der Logiksektor übernahm die Arbeit für mich. Ich mußte die Programmsprache erfassen, die innere Logik des Programmaufbaus, und ich mußte das Programm an der richtigen Stelle anfassen, wenn ich es knacken wollte. »Beeile dich«, sagte Hayes. »Die Uhr läuft!« Zwei Programmsperren gab es, die ausgetrickst werden mußten. Meine Finger huschten über die Tastatur. Und wieder war es das Extrahirn, das mir half. Jedem anderen wären bei dieser Arbeit die Finger zittrig geworden, und jeder noch so kleine Tippfehler hätte das gesamte Programm über den Haufen geworfen. Mikroprozessoren waren unsagbar blöde – für die war ein Wort eine Zeichenkette. War die Abfolge bekannt, handelte das Programm exakt. War ein Buchstabe falsch getippt, lief nichts mehr – ein Semikolon an der Stelle eines Punktes konnte entscheiden. Die Sperren waren beseitigt. Das Extrahirn führte die Finger in rasender Geschwindigkeit. Jetzt der Umkehrbefehl. Und dann der Auslöser. Ein Wort.
Unwillkürlich stieg der Name in mir hoch. Nicht zuletzt ihm hatte ich die ARK SUMMIA zu verdanken und damit die Aktivierung des Extrahirns. FARTULOON. »Tempo!« stieß Hayes hervor. »Noch eine Minute!« Ich ließ den neu programmierten Chip aus dem Automaten gleiten, packte ihn mit einer Pinzette und legte ihn zuoberst auf den Stapel der Chips, die in den Kugelrobot eingebaut werden sollten. Danach ließ ich alles fallen. Wir rannten los. Etwas knisterte in der Fabrikhalle, ein Brand war ausgebrochen. Hayes hatte augenscheinlich recht – wir mußten uns höllisch beeilen. Die Tür. Das Codeschloß. Klar und deutlich stand die Kombination vor meinen Augen. Ich gab sie ein. Die Tür öffnete sich quälend langsam. Ich half mit aller Körperkraft nach. »Endlich!« stieß Hayes hervor. Wir huschten durch den Spalt, und wir hatten kaum das Freie erreicht, als hinter uns das Aufbrüllen einer Explosion zu hören war, und im gleichen Augenblick klappten die Türen unter der Wucht der Druckwelle wieder zu. Wäre einer von uns nicht um diese eine Sekunde schneller gewesen … Hayes war kreideweiß, und in meinem Gesicht mußte sich ähnlicher Schock widerspiegeln. »Lauf!« rief ich. »Nimm die Beine in die Hand!« 9. »Was hast du eigentlich angestellt?« fragte ich, während ich Luft in meine schmerzenden Lungen pumpte. Wir waren ein paar hundert Meter von der Fabrik entfernt, und unter unseren Füßen zitterte der Boden – eine Explosion jagte die nächste.
»Nicht sehr viel«, keuchte Hayes mit heraushängender Zunge. »Ich habe vor allem dafür gesorgt, daß die gesamte Energie, die in der Fabrik fließt, sich an einer Stelle entlädt.« »Dort wird der SOL‐Hirte jedenfalls nichts mehr bauen«, sagte ich. »Du hast ganze Arbeit geleistet.« »Das ist meine Art«, ächzte Hayes. »Weiter«, stieß ich hervor. »Ich wette, daß unser Feind längst darüber informiert ist, daß wir seine Fabrik zerlegt haben. Er wird bald erscheinen, um nach dem Rechten zu sehen.« Hayes nickte. Wir hatten inzwischen herausgefunden, daß wir im Mittelteil der SOL herumliefen, also nicht sehr weit von der Zentrale entfernt waren. Es gehörte schon eine außerordentliche Portion Frechheit dazu, eine solche Roboterfabrik in dieser räumlichen Nähe zum Schaltzentrum der SOL aufzubauen – oder aber die Notwendigkeit, rasch von einem Bereich in den andern wechseln zu können. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, daß ich den SOL‐Hirten bereits kannte. Ich vermutete, daß jemand ein Doppelspiel trieb – tagsüber vielleicht Ahlnate oder hochqualifizierter Techniker, nachts unterwegs als SOL‐Hirte. Stimmte diese Vermutung, dann war klar, warum die Robotfabrik so nahe bei der Zentrale zu suchen war: Der SOL‐Hirte mußte des öfteren sehr rasch seine Rollen wechseln. Wir schlugen einen flotten Trab an, der Luft sparte und es uns möglich machte, beim Laufen zu reden. »Weißt du, was ich für einen Verdacht habe?« fragte Hayes. »Noch nicht, aber du wirst es mir sagen.« »Ich glaube, daß der SOL‐Hirte jemand ist, den wir kennen.« »Ich wette darauf«, antwortete ich. »Besser gesagt, gekannt haben«, fuhr Breckcrown Hayes fort. »Ich denke an Chart Deccon.« Ich blieb stehen und sah Hayes entgeistert an. »Wie um alles in der Welt kommst du auf diesen verrückten Einfall?«
Hayes blieb schweratmend vor mir stehen. »Überlege – ein solches Doppelspiel wäre genau das, was man dem gerissenen High Sideryt Deccon zutrauen kann. Seine Rolle als SOL‐Hirte, von langer Hand vorbereitet, ist eine gute Rückversicherung für den Fall, daß er als High Sideryt Schwierigkeiten bekommen sollte.« Ich schüttelte den Kopf. »Deccon war in vielen Schwierigkeiten, und nie hat er den SOL‐ Hirten aktiviert«, hielt ich Hayes vor. »Wer weiß, welche Pläne Deccon noch hatte?« fragte er zurück. »Ich traue Deccon jede Raffinesse zu, auch die, daß er sich vielleicht in ein paar Jahren von selbst von der verkrusteten SOLAG getrennt hätte.« »Reichlich unwahrscheinlich«, sagte ich. »Aber nicht völlig unmöglich.« Falsche Spur, kommentierte der Logiksektor knapp. »Und wer ist die vermummte Gestalt, die wir gesehen haben?« »Ein Vertrauter Deccons, der auf eigene Faust handelt«, setzte Hayes seine Überlegungen fort. »Hältst du das für so unwahrscheinlich?« »Wir werden es erleben«, sagte ich. »Wenn wir den SOL‐Hirten gestellt haben.« Wir trabten weiter. Schon nach wenigen hundert Metern lief uns jemand über den Weg, der einen Freudenschrei ausstieß, als er uns trotz unseres Zustands erkannte. Bora St. Felix kam auf uns zugerannt. »Endlich!« rief die Buhrlo‐Frau. »Wir haben uns schon große Sorgen gemacht. Wo habt ihr gesteckt? Puh!« »Der Geruch beweist es – in einer Abwassergrube«, sagte ich. »Aber wir sind der fürsorglichen Obhut des SOL‐Hirten entwischt. Und was hat sich inzwischen zugetragen?« »Der SOL‐Hirte hat zugeschlagen«, sagte Bora, während wir unseren Weg fortsetzten. »Er hat die Zentrale besetzt mit seinen
Kugelrobots …« Ich nickte. Damit war der letzte Beweis geliefert, daß der Vermummte aus der Fabrik tatsächlich der SOL‐Hirte war. »… und vor ein paar Stunden haben sie Arjana Joester verschleppt. Brooklyn und Bjo versuchen einstweilen, die Lage unter Kontrolle zu halten.« »Kämpfe?« »Im Augenblick nicht«, berichtete Bora St. Felix. »Eine Gruppe von Robots hält die Zentrale besetzt und erlaubt keinerlei Flugmanöver. Eine andere hat den Bereich um die Zentrale völlig abgeriegelt. Da niemand zu Bjo und den anderen kann, wissen wir seit drei Stunden nicht einmal mehr, ob sie überhaupt noch leben. Der SOL‐Hirte hat damit fast die gesamte Führungsmannschaft als Geiseln in der Zentrale gefangen.« »Und unser Team? Wie sieht es in SOL‐City aus?« »Auch von Kugelrobots besetzt, hauptsächlich von der kleineren Sorte.« Hayes stieß ein Knurren aus. Die Lage war verfahren. »Ich schlage vor, daß wir uns erst einmal mit brauchbaren Waffen ausrüsten«, sagte ich. »Dann werden wir versuchen, SOL‐City freizukämpfen.« »Dann laufen wir Gefahr, daß die Robots die Geiseln massakrieren«, sagte Bora. »Das werden wir über Bjo kontrollieren können«, hoffte ich. »Von SOL‐City aus werden wir den alten Geheimgang zur Klause nehmen. Dort müßten eigentlich noch Deccons Robotleibwachen zu finden sein. Und mit etwas Glück gelingt uns ein überraschender Angriff auf die Robots in der Zentrale.« »Ein sehr gewagter Plan«, sagte Hayes. »Wenn er fehlschlägt …« »Der SOL‐Hirte hat versucht, uns beide umzubringen. Im Augenblick hat er Arjana in seiner Gewalt. Wenn er die SOL übernimmt und alle Macht hat, dann ist unser Leben ohnehin keine Kilokalorie mehr wert – und das gilt auch für die Geiseln.«
»Ich werde euch führen«, sagte Bora. Ein Waffenlager war rasch gefunden. Das Impulsschloß sprach auf Hayes an und ließ das schwere Schott im Boden versinken. Dahinter fand sich alles, was wir brauchten. »Nur schwere Impulsstrahler sind in der Lage, die Schirme zu knacken«, wußte Bora zu berichten. »Leichtere Handwaffen sind daher sinnlos.« Hayes und ich bepackten uns, als wollten wir eine ganze Armee ausrüsten, und das traf in gewissem Sinn auch zu. Wir brauchten auch Waffen für unsere Freunde. Mit vereinten Kräften schafften wir unsere Vorräte näher an SOL‐ City heran. Dort hatte sich bereits eine Menge neugieriger Solan er eingefunden, die den patrouillierenden Kugelrobots zusahen. Niemand wagte den Versuch, die Demarkationslinie zu überschreiten, die die Robots vorgegeben hatten. Zwei reglose, offenbar unverletzte Körper auf dem Boden zeigten, was demjenigen blühte, der den Befehl mißachtete. »Weg von hier!« rief Bora. Die Menge wandte sich um. Rufe wurden laut – einige hatten Hayes trotz seines ramponierten Aussehens erkannt. »Haltet Ruhe, Leute, nennt keine Namen und verzieht euch – es wird heiß hergehen.« Der überschwere Impulsstrahler in seinen Händen gab seiner Aufforderung das nötige Gewicht. Die Neugierigen verzogen sich rasch, ein paar Unentwegte allerdings nur bis zur nächsten Biegung des Ganges. Nun, das war ihr Risiko. Ich sah Hayes an. »Fertig?« Bora und Hayes nickten. Die Buhrlo‐Frau hatte eine einfache Waffe – gegen die kleineren Robots konnte sie vielleicht damit etwas ausrichten. »Wir warten noch einen Augenblick.«
Ein Bonbonrobot bewachte den Zugang, zwei andere jagten vermutlich auf kreisförmigen Bahnen um den Zentralebereich herum. Alle paar Minuten trafen sie sich genau vor unseren Augen. »Wir warten, bis wir alle drei im Schußfeld haben, dann schlagen wir los, auf mein Zeichen.« »Einverstanden.« Es dauerte nicht lange. Von rechts und links schoß je ein Kugelrobot heran. Ich drückte ab. Während die Kugel in einer Explosion zerplatzte, schoß neben mir Hayes und traf ebenfalls. Bora St. Felix brachte mit ihrer Waffe nichts mehr zuwege, als daß der dritte Robot aus der Bahn geworfen wurde. Zerstört wurde er durch meinen nächsten Schuß. »Jetzt vorwärts!« Wir sprinteten los, soweit sich das mit den entsetzlich schweren Beidhandstrahlern machen ließ. Fast wäre ich ins Stolpern gekommen und der Länge nach auf dem Boden gelandet. Sobald wir die Wachbahn rings um die Zentrale überquert hatten, drehten wir uns um. Wie ich nicht anders erwartet hatte, erschien sofort eine Zweiergruppe von kleinen Robots auf dem Plan. Bevor sie noch wußten, was das alles zu bedeuten hatte, waren sie zerstört. »Dem Himmel sei Dank für die langsamen Mikroprozessoren«, sagte ich seufzend. Sie machten unsere Gegner so langsam, daß wir im Kampf gute Chancen hatten. Wenn das auch für die großen Kugeln galt, sahen unsere Aussichten gar nicht einmal so schlecht aus. Wir drangen weiter vor. An einer Wegkreuzung schwebte eine der großen Kugeln und hielt Wache. Offenbar waren die zerstörten Zwergrobots gar nicht erst dazu gekommen, einen Notruf abzugeben, und solange kein unmittelbarer Befehl kam, dachte die große Kugel nicht daran, sich von ihrem Posten zu lösen. »Beide zugleich?«
Ich nickte. Jetzt kam es darauf an. Wenn wir diese Maschine nicht auf der Stelle zerstörten, wurden auch die anderen alarmiert – und dann war der Kampf erst richtig entbrannt. Gleichzeitig hoben wir die Waffen. Zwei unterarmdicke Energiebündel jagten auf die Kugel zu. Das Krachen und Donnern betäubte uns fast, und das grelle Leuchten der aufbrandenden Energien machte uns halb blind. Durch die Lider sah ich schemenhaft eine Explosion, und einen Herzschlag später spürte ich, wie die Druckwelle meinen Körper zurückstieß. Ich prallte gegen die Wand, brach ein wenig in die Knie, fiel aber nicht um. »Treffer!« frohlockte Hayes. In der Tat, von der Robotkugel war nichts mehr übriggeblieben. Vielleicht hatten wir zufällig das Waffenenergiemagazin getroffen, in jedem Fall wußten wir nun, daß wir gegen die Bonbonkugeln reelle Chancen hatten. »Nach links, dort ist unser Quartier!« Hayes folgte mir. Wir kamen gerade recht, um Hage Nockemann dabei erwischen zu können, wie er mit einem gut gezielten Schuß einen der kleinen Roboter außer Gefecht setzte. Hage winkte uns zu. »Kommt her!« sagte er laut. »Wir brauchen eure Hilfe!« Ein paar Augenblicke später war das Rumpfteam beieinander. Es fehlten Bjo und Joscan Hellmut. »Sie sind in der Zentrale«, berichtete Sternfeuer. »Kannst du Verbindung aufnehmen?« Sternfeuer nickte. »Ich habe Bjo bereits durchgegeben, daß ihr wieder frei seid«, berichtete die Mutantin. »Er meldet, daß es in der Zentrale ruhig ist. Die Leute stehen oder sitzen herum und langweilen sich, aber mehr können sie nicht tun. Wer sich bewegt, wird von den Kugeln sofort paralysiert.« »Hm«, machte ich. Diese Nachrichten klangen einigermaßen beruhigend. Offenbar
hatte der SOL‐Hirte noch nicht mitbekommen, daß wir seinen Robots auf die Schirme zu rücken begannen. Je länger wir allerdings warteten, um so größer wurde die Gefahr von Gegenmaßnahmen. Ich berichtete schnell, was ich mir überlegt hatte, um an die Zentrale herankommen zu können. »Gib Bjo durch, daß er auf ein Zeichen von uns warten soll«, befahl ich Sternfeuer. »Dann schlagen wir gleichzeitig los – von der Klause aus, über die normalen Verbindungswege und mitten aus der Zentrale. Wenn das nicht ausreicht, die Macht der Kugeln zu brechen, dann weiß ich es nicht.« Ich verteilte die einzelnen Rollen während des Kampfes. Hayes würde mich begleiten, desgleichen Federspiel. Er sollte die Verbindung zu Sternfeuer aufrechterhalten, die mit Sanny, Hage Nockemann und den anderen in SOL‐City bleiben sollte. Bora St. Felix sollte ihnen dabei helfen, aus den Leuten, die sich in der Nähe der Zentrale herumtrieben – es standen allen Ernstes Schaulustige auf den Gängen – einen Stoßtrupp zu formieren, der sich in die Nähe der Zentrale schleichen sollte: Jeder der Freunde hatte seine Aufgabe rasch begriffen. Es konnte also losgehen. Hayes und ich schleppten je einen Zweihandstrahler, Federspiel trug eine Last Thermohandgranaten, mit denen man nach Bjos Erfahrungen die Robots wenigstens beschäftigen konnte, wenn es schon nicht möglich war, sie damit zu zerstören. »Bereit? Dann vorwärts, wir müssen uns beeilen.« »Noch sind die Robots ruhig, zur Eile ist kein Grund«, warf Sanny ein. Ich schüttelte den Kopf. »Der SOL‐Hirte hat Arjana Joester, und mit jedem Augenblick, den wir verplaudern, wächst das Risiko, daß er sie tötet. Deshalb müssen wir schnell machen – aber nichts übereilen.« Wir verließen den Besprechungsraum. Draußen standen vier Männer, die uns neugierig ansahen und von
unserer kriegerischen Aufmachung sichtlich beeindruckt waren. Ich sah sie scharf an. »Besorgt euch Waffen und kämpft mit«, sagte ich so autoritär wie möglich. »Unterstellt euch den Freunden in diesem Raum – und beeilt euch sonst sind eure Tage als freie Solaner gezählt.« »Machen wir, sicher, machen wir.« Ich sah sie hastig verschwinden, als wir unseren Weg fortsetzten. In dem Augenblick, in dem wir den Hauptgang verließen, kehrten zwei von ihnen allerdings mit Waffen zurück. Immerhin etwas, dachte ich. Wir wurden nicht behelligt, als wir uns zum Eingang jenes Geheimgangs schlichen, den Chart Deccon dazu benutzt hatte, seine Klause unbemerkt verlassen und wieder betreten zu können. Jetzt waren die Impulsschlösser auf Breckcrown Hayes eingestellt, und sie öffneten sich sofort. Leise schlichen wir durch den dunklen Stollen. Ich rechnete damit, daß wir auf Widerstand stoßen würden und war entsprechend vorsichtig. Wer immer der SOL‐Hirte war, er mußte die Klause kennen, und ihm war auch bekannt, daß dort Deccons Robotleibwächter zu finden waren. Es war schwierig, sich mit den klobigen Waffen in dem Gang zu bewegen, ohne zusammenzustoßen oder Lärm zu machen, aber es gelang uns. »Nachricht von Sternfeuer. Es haben sich inzwischen sechs Solaner mit Waffen gemeldet.« »Sie soll mit dem Angriff warten«, ließ ich durchgeben. »Was macht Bjo?« »Er beobachtet die Zentrale. Nach wie vor alles ruhig.« »Weiter!« Das andere Ende des Geheimgangs war erreicht. Behutsam öffnete Hayes das Schloß. Wie ich erwartet hatte – der SOL‐Hirte war schlau gewesen. Die sieben Robotleibwachen standen reglos da, und außerdem hingen
zwei der Kugeln im Raum, die einer inzwischen als Hirtenhunde bezeichnet hatte. Es würde sich herausstellen, wie bissig sie waren. »Die Gruppe aus SOL‐City soll losrücken«, ließ ich über die Telepathen weitergeben. »Bjo soll noch warten.« »In SOL‐City wird gekämpft«, berichtete Federspiel. »Ein Haufen von den kleineren Robots ist erschienen, und die Solaner greifen sie an. Sie haben Erfolge, aber auch Verluste. Es hat Tote und Verletzte gegeben.« Minuten vergingen, in denen wir vor Beginn des entscheidenden Kampfes noch einmal unseren Gedanken nachhängen konnten. Ich hatte keine Lust nachzurechnen, das wievielte Risikounternemen es war, in das ich mich in ein paar Augenblicken einließ – es waren gewiß Hunderte. Und wie jedesmal war ich nicht frei von Furcht. Jede andere Reaktion wäre mir allerdings auch buchstäblich unmenschlich vorgekommen – nur komplette Narren ließen sich auf ein Gefecht ein, in dem sie sterben konnten, ohne dabei Furcht zu empfinden. Irgendeine Kleinigkeit, ein Stolpern, ein Waffenversagen, das Ausfallen der Beleuchtung oder ein Übernervöser, der mit seiner Waffe nicht zurecktkam – all das waren Risiken, die sich niemals kalkulieren und vorher ausschalten ließen, und die den Tod herbeiführen konnten. Selbst nach ein paar Jahrtausenden, die mit Abenteuern und Kämpfen gespickt gewesen waren, war ich noch nicht abgebrüht genug, um gegen solche Gedanken gefeit zu sein. Und das war gut so. »Sternfeuers Gruppe hat bald die Zentrale erreicht«, flüsterte Federspiel. »Bjo wartet auf unser Zeichen.« Ich spähte in Deccons Klause. Wir waren bereit. »Breckcrown?« Hayes schob sich neben mich. Ein knapper Blickkontakt, dann stieß ich die Tür mit einem kraftvollen Tritt auf. Die Schlacht um die SOL‐Zentrale begann.
10. Endlich ist es soweit. In ein paar Stunden gehört die SOL mir. Mir allein. Niemandem mehr Untertan sein, niemandem mehr gehorchen müssen. Ich werde dieses Gefühl genießen wie nichts sonst. Meine Robotarmee ist bereit. Sie ist klein, aber schlagkräftig. Für meine Zwecke wird sie ausreichen. Alles habe ich bedacht, jedes Risiko kalkuliert. Es kann nichts schiefgehen. Meine Planung ist perfekt. Ich weiß, daß sie jetzt angreifen werden. Nach meinem Plan müssen sie das tun. Und meine Robots berichten mir, daß sie sich verhalten, als stünden sie schon unter meinem Kommando. Sie gehorchen mir bereits, ohne daß sie es wissen. Arme, verblendete Narren, wenigstens die meisten. Unter meiner Führung werden sie die SOL neuen, glanzvollen Zeiten entgegensteuern. Nur ein paar werde ich endgültig ausschalten müssen. Hayes natürlich. Mit den Narben der SOL‐Würmer im Gesicht ist der klobige Kerl noch häßlicher geworden, und seine Manieren sind auch nicht die besten. Und Atlan. Ich werde mich ein wenig mit ihm amüsieren, bevor ich ihn töten lasse, aber sterben muß er in jedem Fall. Er ist zu gefährlich, zu hartnäckig und für meine Pläne zu uneinsichtig. Er wird mein Feind bleiben, solange er lebt, und deswegen muß er sterben. Und die anderen? Ich habe meine Pläne und werde sie rechtzeitig kundtun. Es wird Zeit für mich. Ich muß in der Zentrale erscheinen. In dem Augenblick, in dem sie glauben, mich besiegt zu haben, werde ich meinen endgültigen Triumph feiern.
Ich – der Hirte der SOL. Das war mein bester Einfall, diesen altmodischen Mythos auszugraben und in die Wirklichkeit umzusetzen. Und wieviel Zeit und Schweiß hat es mich gekostet, meine Pläne auch nur durchzukalkulieren. Jeden Tag habe ich im Gedächtnis, und ich werde keinen, einzelnen vergessen. Nicht die endlosen Monate des Trainings, der erbarmungslosen Selbsterziehung. Fast ein Jahr habe ich gebraucht, bis ich soweit war – einer und zugleich zwei. Den Gedanken kontrollieren, noch bevor er gedacht wird. Dafür zu sorgen, daß niemals auch nur ein Gedanke in meinem Hirn auftaucht, der mit dem SOL‐Hirten etwas zu tun hat. Jederzeit durchschaubar zu sein für Telepathen – um auf einen selbstgegebenen autohypnotischen Befehl hin als SOL‐Hirte erwachen zu können. Ich bin sicher, daß Atlan mich mit Hilfe seiner Freunde kontrolliert hat. Ich habe damit gerechnet, es sogar herbeigeführt. Sie haben nichts gefunden. Sie konnten nichts finden. Es war nichts da. Alles, was mit dem Hirten der SOL zu tun hatte, lag in meinem Kopf vergraben, verdrängt. Aber ich brauche in meiner Kabine nur eine Schublade zu öffnen, einen lächerliche unwichtigen Gegenstand zu betrachten – und sofort war meine Identität als SOL‐ Hirte wieder da, einsatzbereit, genial. So konnte man mir niemals auf die Schliche kommen. Ich befehle meine Roboter zu mir. Noch trage ich den hellblauen Umhang eines Ahlnaten, noch wird mein Gesicht von einer Maske verdeckt. Nicht einmal meine Stimme haben sie erkannt, die Narren. Wie auch? Ich hatte sie auf die gleiche Weise verändert wie mein bewußtes Denken. Sie werden Augen machen, wenn sie mich sehen. Ich verlasse mein Reich. Sie haben meine Robotfabrik zerstört,
aber das ändert nichts an meinen Plänen. In wenigen Stunden wird mir die ganze Robotarmee der SOL zu gehorchen haben, und mit SENECAs Hilfe werde ich herrschen über die SOL. Unumschränkt, unwiderruflich. Sie werden mir gehorchen, oder sie werden meine Macht zu spüren bekommen. Wer wider mich ist, wird zertreten werden. Ich bewege mich langsam. Ich habe Zeit. Sie arbeitet für mich, seit Jahren schon. Und niemand hat etwas bemerkt, Deccon nicht, Atlan nicht, und dieser Tölpel Hayes natürlich auch nicht. Ich habe sie alle getäuscht, perfekt. Die ersten meiner Untertanen begegnen mir. Die Menschen haben Furcht in den Gesichtern. Schon jetzt erzittern sie vor meiner Macht, obwohl sie sie noch nicht kennen. Später werden sie mich fürchten – und lieben. Ich werde sie dazu zwingen, mich zu lieben, ihren Hirten. Sie machen eine Gasse frei für den Schwarm meiner metallenen Diener. Es sind mindestens fünfzig, dazu kommen noch sechs der großen Kugeln. Sie sind mein Meisterwerk, in aller Stille erdacht, geplant und gebaut. Niemand hat mir geholfen, alles habe ich allein gemacht. Und darum wird auch die Macht mir allein gehören, für immer. Keiner wird mir widerstehen. Ich bekomme eine Funkbotschaft. Die Magniden in der Zentrale und ihre Verbündeten haben zum Entscheidungsschlag gegen meine Roboter ausgeholt. Atlan hat in einem – angeblich – überraschenden Angriff die beiden Wächter ausgeschaltet, die ich bei den Leibwächtern von Deccon postiert hatte. Soll er – er wird glauben, er stehe vor dem Sieg. Wie bitter wird seine Enttäuschung werden, wenn er begreift, daß er nur ein Werkzeug in meiner Hand ist. Während ich mich langsam und würdevoll dem Zentrum meiner Macht nähere, empfange ich die Nachrichten von den Kämpfen.
Sie verhalten sich so, wie ich es erwartet habe. Die Angreifer haben Erfolge, die sie sich selbst zuschreiben, nicht meiner Erlaubnis. Woher sollten sie auch die feinen Strukturen meiner Pläne kennen, die alles Umfassen und durchdringen? Ich gebe meinen Robotern den Befehl, den Widerstand zu steigern. Jetzt werden sie ihre Waffen einsetzen und den Gegner zurücktreiben. Nicht sehr weit – ich will sie schließlich nicht vernichten. Sie sollen alles genau mitbekommen, jedes Detail meines meisterlichen Planes. Erst mein Erscheinen wird die endgültige Entscheidung bringen. Ich will sie sehen, wenn ich sie besiege. Schwindel erfaßt mich. Ist es die Folge der ungeheuren geistigen Anstrengungen, die hinter mir liegen? Bin ich vielleicht krank? Ich, der SOL‐Hirte? Unmöglich. Ein dreister Kerl wagt es, sich mir in den Weg zu stellen. Er kann mich nicht sehen, folgert aber aus den Bewegungen meiner kleinen Diener, wo ich bin. Der Narr. Ein Paralysatorschuß streckt ihn nieder. Nun hassen sie mich. Ich kann es sehen, während ich an dem Betäubten vorbeischreite. Mögen sie mich hassen. Ich fürchte mich nicht davor. Später werden sie mich lieben und bewundern, und wenn ich Hunderten die Köpfe vor die Füße legen muß, um sie dazu zu bringen. Sie werden mich lieben, ich will es, und das genügt. Wir erreichen den Zentralbereich der SOL. Wie oft bin ich schon hier gewesen, bin durch diese Gänge geschritten? Ich weiß es nicht – meine eigentliche Zeit kommt erst noch. Sie beginnt heute, mit dem Tag meines Triumphes. Ein paar von Atlans Getreuen stellen sich mir in den Weg. Ich lasse sie betäuben, ich brauche sie später noch. Der Rest verläuft sich. Hinter mir drängt sich die Menge. Ich werde großes Publikum haben im Augenblick des Sieges. Der größere Teil meiner Roboter ist von den Kämpfern des High
Sideryt ausgeschaltet worden. Auch damit habe ich gerechnet. Sie werden alle Roboter zerschießen und zerstören, die kleinen zuerst und dann die großen. Ich bekomme die Rückmeldungen, erfahre, in welchem Maß mein Plan gedeiht. Einer von Deccons Röbotwächtern ist zerstört worden. Sehr gut – sie sind von den Verteidigern der Zentrale besonders ernst zu nehmen. Sie müssen als erste vernichtet werden. Noch ein paar Schritte, dann ist die Zentrale erreicht … * Ich lag auf dem Rücken und betätigte die Waffe. Es war eine Aktion, die aus höchster Todesnot geboren war. Die Kämpfe in der Zentrale dauerten an. Die Robots des SOL‐ Hirten setzten sich verbissen zur Wehr. Sie leisteten einen sehr zähen, hartnäckigen Widerstand. Die sieben Robotwachen des früheren High Sideryt waren zerstört. Die Kugeln hatten sie vernichtet, einen nach dem anderen. Mir war dabei aufgefallen, daß die Kugeln des SOL‐Hirten im Kampf mit den Robotern wesentlich reaktionsschneller und auch rücksichtsloser waren als im Umgang mit uns Menschen. Es hatte fast den Anschein, als sollten sie uns schonen. War das Milde? Ich konnte mir eine solche Geisteshaltung bei einer Person, die kaltblütig dafür gesorgt hatte, daß Hayes und ich in einer Abwassertonne ersäuft werden sollten, nicht vorstellen. Ich rechnete vielmehr mit einem neuerlichen Psychotrick. Die Kugel, auf die ich gezielt hatte, zerplatzte. Die Trümmer schwirrten durch die Luft, zerschlugen Einrichtungsgegenstände. Ein unterarmlanger Splitter schlitzte ein Polster auf, die Füllung quoll heraus und begann zu schmoren. Fetter Qualm wirbelte hoch und verteilte sich in einer Luft, die erfüllt war von den Geräuschen und Gerüchen des Kampfes.
Da war das hitzige Feuern der kleinen Handstrahler, das Dröhnen der Zweihandimpulsstrahler, ab und zu das Fauchen einer explodierenden Thermogranate, das Schreien und Rufen der Menschen. Es waren Wutschreie, Angriffs‐, aber auch Wehlaute. Es stank nach Kabeln, nach Schweiß, dazu kam der unverkennbare Geruch verbrannten Metalls. Aus Instrumentenpulten quollen gebündelte Kabelstränge hervor, Blitze zuckten. Der Boden war übersät mit Trümmern, Glasscherben, Metallteilen, und an einigen Stellen war das Rot nicht auf das Verglühen von Schüssen zurückzuführen, sondern auf vergossenes Blut. Wir würden die Zentrale vollständig erneuern müssen, schoß es mir durch den Kopf. Andere Sorgen hast du nicht? erkundigte sich der Logiksektor voller Spott. Ich rollte mich zur Seite. Eine Handbreit neben mir fiel ein durchschossenes Kabel auf den blanken Metallboden, und ein heftiger Stromschlag zuckte durch meine Glieder. Ich verkampfte mich, stieß einen Schrei aus. Die Waffe kollerte mir aus den Händen. Minutenlang, so schien es, tobte der elektrische Strom in meinen Gliedern, dann endlich flog irgendwo die Sicherung heraus, und die Marter endete. Ich war gelähmt, unfähig, mich zu rühren. Was die Robots mit ihren Paralysatoren nicht erreicht hatten, hatte der Zufall vollbracht – ich war verteidigungsunfähig. Ich konnte nicht einmal mehr schreien – nur meine Lungen vermochten noch in hektischen Stößen die Luft einzusaugen. Ich blieb liegen, wo ich war. Wenigstens sehen konnte ich. Und hören. Ich sah, wie ein Lichtblitz durch die Zentrale strahlte, dann hörte ich den Jubelruf einer Frau. »Das war der letzte …« Und im nächsten Augenblick einen erschreckten Aufschrei.
Über mein Gesicht hinweg, nur knapp eine Handbreit über meinen Augen, fegte ein rosafarbener Schemen durch den Raum. Ein Ächzen ertönte, dann spürte ich durch den Boden hindurch das Aufprallen eines Körpers. »Greift an!« Das war Bjo. Erneut brandete der Kampf auf. Und ich konnte nicht eingreifen. Hilflos mußte ich den Kampf miterleben. Mit einem wuterfüllten Feuerschlag fegten die Verteidiger die erste Schar angreifender Kugeln hinweg. Es war der kleine Typ, der nicht sehr gefährlich war. Immerhin schafften es die Kugeln, zwei der Verteidiger der Zentrale mit Paralysatorschüssen auszuschalten. Dann aber erschien der wahre Gegner. Ich konnte aus den Augenwinkeln heraus nur den Saum des blauen Umhangs erkennen, der auf dem Boden schleifte. Dann aber sah ich die Schuhe – und wußte Bescheid. * Er ist da, der Augenblick des Triumphs. Jahre habe ich damit verbracht, diese kostbare Sekunde vorzubereiten, nun, da sie gekommen ist, durchströmt mich ungeheure Kraft. Sie sind wehrlos, gelähmt. Nichts rührt sich mehr in der Zentrale der SOL. Es ist genau so gekommen, wie ich es berechnet hatte. Der letzte verzweifelte Widerstand hat meine Roboterschar furchtbar dezimiert. Nur einer der großen Robots ist mir geblieben. Aber das genügt, mehr ist nicht vonnöten. So genau habe ich es berechnet. Ich habe es gewußt, ganz genau. Ein Robot würde mir am Ende bleiben, nicht mehr. Und genau so ist es gekommen. Warum liegt ihr da und starrt so?
Wollt ihr nicht begreifen, daß ihr verloren habt, daß ihr von mir unwiderruflich besiegt seid? Oder erschüttert euch die logische Vollkommenheit meines Plans, die alles durchdringende Geistesschärfe, die darin liegt? Sie liegen da und glotzen mich an. Sollen sie. Sie können mich jetzt sehen, allerdings nur den Umhang und die Maske. Es ist der Augenblick gekommen, diese Maske fallen zu lassen. Ja, da staunt ihr, nicht wahr? Damit habt ihr nicht gerechnet. Du nicht, Hayes, der du mit weit aufgerissenen Augen auf dem Boden liegst, dort, wo dich der Paralysatorschuß getroffen hat. Auch du nicht, Atlan. Bleib ruhig gelähmt liegen und gaffe scheel nach mir. Ich bin es – Arjana Joester. Der SOL‐Hirte. Sie begreifen es nicht. Sie haben mich unterschätzt, wie ich es wollte. Sie haben mein Doppelspiel nicht durchschaut, sie wären auch nicht dazu in der Lage gewesen. Da lehnt Bjo Breiskoll an der Wand, auch er gelähmt wie alle anderen. Du hast mich telepathisch ausspioniert, nicht wahr? Du tust es auch in diesem Augenblick. Nun denn, so sieh denn zu. Ich muß mich nur ein wenig konzentrieren. Ganz ruhig werden, ganz entspannt. Nach langer Übung gehorchen Körper und Geist jeder Vorstellung. Die Entspannung tritt ein … Wie komme ich her? Um Himmels willen. Der SOL‐Hirte hat die Zentrale überwältigt. Sie sind alle betäubt und liegen auf dem Boden. Und da ist der Kugelrobot, der mich wohl hergebracht hat. Was trage ich für einen Umhang? Ich bin doch keine Ahlnatin. Und was hat der seltsam geformte Knopf an meinem Gürtel … Hast du es mitbekommen, Bjo? Ein bißchen Entspannung und Übung, und schon verschwindet der SOL‐Hirte in den Tiefen
meines Unterbewußtseins, dorthin, wo ihn keiner finden kann, auch du nicht, und wenn du ununterbrochen schnüffelst. Etwas, das nicht gedacht wird, kann auch ein Telepath nicht erfassen. Schlau habe ich das gemacht, nicht wahr? Und ich brauche nur diesen Knopf an meinem Gürtel zu betrachten – und das tue ich jeden Tag ein paar Mal –, und schon steigt der SOL‐Hirte aus den Tiefen meines Gehirns ans Licht, mit seiner begnadeten Intelligenz, seiner unwiderstehlichen Kraft. Er ist ich, und doch ist er anders als ich. Ich habe merken können, daß er meinen Gang veränderte, daß er meine Stimme gewandelt hat. Manchmal habe ich den Eindruck, als habe sich dieser Teil meiner Persönlichkeit schon selbständig gemacht. Unfug. Unsinn, sich in einem solchen Augenblick damit das Gemüt zu beschweren. Sie sind geschlagen, besiegt, und jetzt gehört die SOL mir, mir ganz allein. Ich. Arjana Joester, werde die Geschicke der SOL künftig bestimmen. Nicht als High Sideryt, der Posten war gerade gut genug für meine Vorgänger. Nein, ich werde der erste in einer Reihe von SOL‐Hirten sein, die das Schiff einer glanzvollen Zukunft entgegenführen werden. Ich werde damit beginnen. Die Schwachen und Weichen werde ich ausmerzen, rücksichtslos. In unserer Welt haben feige Schwächlinge keine Berechtigung. Ein Volk aufrechter, harter Solanerinnen und Solaner werde ich heranbilden, erbarmungslos, aber gütig, wie es meine Art ist. Kraftvolle gesunde Menschen, willensstark und mir völlig ergeben – dann werden wir alles erreichen können, was ich mir vornehmen werde. Ich werde hart durchgreifen müssen. Wenn man die Menschen nicht hart anfaßt, verlieren sie den Respekt und die Zuneigung, die sie uns schulden, die wir besser und höhergestellt sind als das gemeine Volk.
Von denen, die hier in der Zentrale der SOL liegen, werde ich wohl ausnahmslos alle töten müssen. Sie könnten mir gefährlich werden in späteren Jahren. Ich kenne sie, weiß, wie hartnäckig und zäh sie sind. Vor allem Hayes und Atlan werden niemals aufgeben, sie werden mich so intensiv und gründlich bekämpfen, wie ich sie bekämpft habe. Also müssen sie sterben. Ich werde das Urteil mit meiner eigenen Hand vollstrecken. Es ist gut und richtig, den Leuten zu zeigen, daß der SOL‐Hirte selbst durchgreift und solche Arbeit nicht nur seinen Robotern und Untertanen überläßt. Mit eigener Hand werde ich die Urteile vollstrecken. Atlan, du kommst als erster an die Reihe. Seit du an Bord bist, bist du mir ein Ärgernis. Du störst uns, Arkonide, begreifst du das nicht? Wir sind jahrhundertelang ohne dich ausgekommen, und wir werden in den nächsten Jahrhunderten ohne dich auskommen. Aufregung und Unruhe hast du gestiftet. Wenn du nicht wärest, würde Chart Deccon vielleicht noch leben und etliche andere. Andererseits wäre ich dann nicht hier – nur euch Schwächlinge konnte ich so offen angreifen. Deccon hätte sich nicht so tölpelhaft in Fallen locken lassen wie ihr. Egal, ob du mir geholfen oder geschadest hast, Arkonide, in Zukunft werde ich keinen Gedanken mehr an dich verschwenden. Du wirst sterben, Atlan, hier und jetzt. Wie gefällt dir der Gedanke? Ist das Furcht, was ich in deinen roten Augen lese? Oder haßt du mich so sehr? Hahaha, bewege dich nur. Versuche es. Du bist gut, Arkonide, sehr gut. Trotz des Paralysatortreffers kannst du dich ein bißchen bewegen. Ich werde dir den Spaß noch ein paar Augenblicke lassen. Reden willst du? Deine Lippen bewegen sich. Eine beachtliche Leistung für einen Paralysierten. Du solltest dich sehen, Arkonide, wie dein Körper
zuckt und sich windet. Du kannst tatsächlich sprechen, meine Hochachtung. Was hast du gesagt? »Fartuloon!« Was hat das nun schon wieder zu bedeu … ENDE Die Gefahr, die von dem SOL‐Hirten ausging, ist besiegt. Doch die Schwierigkeiten an Bord der SOL sind damit noch längst nicht überwunden. Atlan bemerkt dies, als er mit SENECA, der Biopositronik des Schiffes, kommuniziert. Er läßt sich auf ein lebensgefährliches Abenteuer ein und wird zum Opfer der PLASMA‐TRÄUME … PLASMA‐TRÄUME – das ist auch der Titel des nächsten Atlan‐Bandes. Der Roman wurde ebenfalls von Peter Terrid verfaßt.