DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN - MAGAZIN
Hausmitteilung 27. Dezember 2010
Betr.: Emissionshandel, Hunger, SPIEGEL-Gespräch
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igentlich folgt der sogenannte Emissionshandel einem unkompliziert erscheinenden Prinzip: Die EU legt die Obergrenze fest, bis zu der Unternehmen das Treibhausgas Kohlendioxid ausstoßen dürfen. Dafür erhalten sie Zertifikate. Wer mit seinen Emissionen unter dem Limit bleibt, darf Zertifikate verkaufen, wer darüberliegt, muss zukaufen. Die EU will damit den Druck auf Unternehmen erhöhen, umweltfreundlich zu produzieren. Ab 2013, wenn die nächste Stufe des Emissionshandels beginnt, kann es für die Dreckschleudern der Industrie ziemlich teuer werden. Als SPIEGELJung Redakteur Alexander Jung, 44, sich nun mit den Einzelheiten des Verfahrens beschäftigte, stieß er auf eine Fülle von Ungereimtheiten. Warum müssen zum Beispiel manche Fliesenproduzenten am Emissionshandel teilnehmen, die meisten Porzellanhersteller dagegen nicht? Und: Wie soll ein solches Instrument funktionieren, wenn es auf Europa beschränkt ist? SPIEGEL-Redakteur Nils Klawitter, 44, beschreibt „groteske Luftnummern“ im internationalen Emissionshandel, Jung sprach mit Stahlmanagern, Zementfabrikanten und Tradern an der CO²-Zertifikatebörse in Leipzig. Auch nach einem Besuch bei Beamten der Deutschen Emissionshandelsstelle in Berlin, die das gesamte System verwaltet, bleibt sein Fazit pessimistisch: „Der Aufwand ist enorm, das Resultat ziemlich fragwürdig“ (Seite 62). as Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen präsentiert sich gern als schlagkräftige Organisation. Doch ihre Aufgabe, die Hungrigsten unter den weltweit rund eine Milliarde Hungernden mit Nahrungsmitteln zu versorgen, können die Mitarbeiter des World Food Programme (WFP) kaum noch erfüllen – seit Beginn der Finanzkrise steht dem WFP weniger Geld zur Verfügung. SPIEGELReporter Uwe Buse, 47, beobachtete in Bangladesch, einem der ärmsten Länder der Welt, wie Helfer des WFP Millionen Hungernde in zwei Gruppen unterteilen: in diejenigen, die Hilfe erhalten, und die, die nichts bekommen. „Ein unlösbarer Konflikt“, sagt Buse, „ob letztlich einem hungernden Greis oder einem hungernden Kind geholfen werden soll, kann nieBuse in Bangladesch mand gerecht entscheiden“ (Seite 52).
SHEHAB UDDIN / DER SPIEGEL
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ie gilt als eine der Legenden des Entertainmentgeschäfts: Mit 16 begann das spätere Hippie-Mädchen Cher, heute 64, an der Seite des Musikers Sonny Bono ihre Karriere als Sängerin. Als Schauspielerin bekam sie 1988 einen Oscar. SPIEGEL-Reporter Thomas Hüetlin, 49, traf die Frau, die trotz mancher Rückschläge immer wieder Comebacks erlebte, in Berlin und sprach mit ihr auch über ihre Hauptrolle im Film „Burlesque“. Im Gegensatz zu vielen jüngeren Kollegen, so Hüetlin, vertraue Cher „vor allem auf ihren Instinkt“. Sie sei „ihr eigener Boss“ und lasse sich von PR-Beratern „nicht reinreden“ (Seite 170). Der SPIEGEL hat den Preis von 3,80 auf 4 Euro erhöht. Der Preis im Jahresabonnement steigt auf 3,80 Euro je Heft. Im Internet: www.spiegel.de
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In diesem Heft Titel Die Kulturgeschichte der guten Vorsätze: Warum wir zum Jahreswechsel partout bessere Menschen werden wollen ..................... 156
STEFFEN KUGLER / DAPD (O.); AXEL MARTENS (U.)
Deutschland Panorama: Scheel geht auf Distanz zu Westerwelle / Einfacherer Transit für Flugpassagiere aus den USA / Bisky bekennt sich zum vereinigten Deutschland ........ 16 Rückblick 2010 .................................................... 18 Afghanistan: Verteidigungsminister Guttenberg und FDP-Chef Westerwelle streiten um das Abzugsdatum ............................ 20 Bundeswehr: Interview mit General a. D. Egon Ramms über das Desinteresse der Politik an militärischen Fragen ...................................... 23 Konjunktur: Das neue deutsche Wirtschaftswunder – und seine größte Bedrohung 2011 ....... 26 Euro: Die Gegner der Gemeinschaftswährung formieren sich .................................................... 28 Rheinland-Pfalz: Der Befreiungsschlag der CDU-Spitzenkandidatin Julia Klöckner droht nach hinten loszugehen ...................................... 31 Bahn: Das Schneechaos traf den Staatskonzern nicht unvorbereitet ............................................. 32 Landesbanken: Sachsen verklagt die Ex-Vorstände der staatseigenen Bank auf 60 Millionen Euro Schadensersatz ...................... 33 Gedenken: Neuer Streit um das Denkmal für Sinti und Roma in Berlin .................................... 34 Strom: Kein Bundesland ist von der geplanten Energiewende so sehr betroffen wie Niedersachsen ............................................. 36 Strafjustiz: Neue Lage im Kachelmann-Prozess – ein Gutachter entlastet den Angeklagten ........... 39 Umwelt: Interview mit dem hessischen FDP-Wirtschaftsminister Dieter Posch über absurde Vorgaben der EU .................................. 42 NS-Opfer: Die Claims Conference blockiert deutsche Entschädigungsgelder, auf die Emigranten in Argentinien warten ............... 44
Streit um Truppenabzug
Seite 20
Das Thema Afghanistan entzweit die Regierung. Außenminister Westerwelle erweckt den Eindruck, die ersten Soldaten schon 2011 nach Hause zu holen. Verteidigungsminister Guttenberg hält das für voreilig.
Chaos mit Ansage
Seite 32
Verspätungen, ausgefallene Züge, vereiste Weichen – bereits im Herbst wusste die Deutsche Bahn, was bei Schnee und Eis schiefgehen würde. Dem Unternehmen fehlen schon seit längerem die notwendigen Reservezüge.
Gesellschaft Szene: Rückblick – was aus Menschen wurde, über die der SPIEGEL 2010 berichtet hat ........... 48 Eine Meldung und ihre Geschichte – ein Däne baut eine Rakete, mit der er ins All fliegen will ... 50 Gerechtigkeit: Das Welternährungsprogramm der Uno entscheidet darüber, wo Hungernden geholfen wird – und wo nicht ........ 52 Ortstermin: In Berlin prüft das Ordnungsamt, ob die Gehwege vorschriftsmäßig von Eis und Schnee geräumt sind .......................................... 57
Die Tücken des Emissionshandels
Die Planung des Emissionshandels geht in seine entscheidende Phase. Doch das größte Umweltprojekt Europas befördert weniger das Klima als die Bürokratie – und windige Geschäftemacher.
Suche nach dem perfekten Ich S. 156
Wirtschaft Trends: Rückblick auf ein Jahr voller Schulden, Krisen und Skurrilitäten ..................................... 60 Umweltschutz: Der Handel mit Emissionsrechten wird kompliziert und teuer ................................ 62 Der große CO²-Ablasshandel ............................. 66 Gesundheit: Die privaten Krankenversicherer werben aggressiv um neue Kunden .................... 69 Handel: SPIEGEL-Gespräch mit dem Bielefelder Unternehmer August Oetker über Fluch und Segen von Familienbetrieben ............ 70 Konzerne: Die Post will Konkurrenten bei der De-Mail ausbooten ..................................... 109
Unbeirrt fasst der Mensch an Silvester immer wieder gute Vorsätze fürs neue Jahr: weniger Nikotin, mehr Sport, gesunde Ernährung, mehr Zeit für die Familie. Doch der ewige Kampf gegen die schlechten Angewohnheiten ist in Wahrheit die Suche nach dem perfekten Ich in einer idealen Gesellschaft.
Medien Diskurs: Das Land braucht eine Meta-Debatte fürs neue Jahr ............................. 110 Ruhm: Daniela Katzenberger – die blondeste Karriere der Republik ....................................... 112
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Seiten 62, 66
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Ausland Panorama: Israelischer Alleingang in Syrien / Was steckt hinter dem Konflikt in der Elfenbeinküste? ...................................... 115 Rückblick 2010 .................................................. 116 Europa: Ungarns gelenkte Demokratie ............. 118 Weißrussland: Der schwere Rückfall des Alexander Lukaschenko ................................... 120 Sudan: Der ölreiche Süden will die Trennung .................................................... 122 Essay: Chinas Premier, Russlands Präsident – Reformer oder Blender? ................................... 124 Ukraine: Die Milliardenaffäre von Kiew ........... 128 Global Village: Wie schwierig es ist, als Schildkröte nach Amerika zu reisen ................. 133
Sport
Seite 118
Ungarns Rechtskonservative haben ein Gesetz beschlossen, das die Medien quasi unter Regierungsaufsicht stellt. Im Januar übernimmt das Land den EU-Ratsvorsitz, aber kann es Europa führen?
Herrscher über den Hunger
SZILARD KOSZTICSAK / DPA
Angriff auf die Meinungsfreiheit
Szene: Rückblick 2010 ...................................... 134 Fußball: Zwischen Ostjerusalem und dem Westjordanland – der Alltag eines palästinensischen Nationalspielers in der Illegalität .................................................... 136
Seite 52
Die Zahl der Unterernährten wird größer. Manchen Menschen wird geholfen, anderen nicht. Die Entscheidung trifft das Welternährungsprogramm der Uno. Das Geld für die Überlebenshilfe wird knapper.
Wissenschaft · Technik Prisma: Rückblick 2010 ..................................... 140 Anthropologie: Leipziger Genforscher entschlüsseln das Erbgut einer weiteren Menschenart ............................. 142 Ernährung: Macht die Knastkost Häftlinge aggressiv? .......................................... 145 Lernforschung: Warum Gebärdenkurse für Babys Unfug sind .............................................. 146 Geschichte: Vom Blutsauger zum Vegetarier – ein britischer Philologe auf den Spuren des Vampirmythos ......................... 148 Automobile: Wie sich Bugatti, die verrückteste Automarke der Welt, neu erfindet .................... 150
Kultur
Zuwachs in der Menschenfamilie
Szene: Rückblick 2010 – von Borderlinern, Internettragödien und First Ladys ..................... 153 Film: „Four Lions“, die erste Satire über islamistische Selbstmordattentäter .................... 166 Jahresbestseller ................................................ 167 Pop: SPIEGEL-Gespräch mit der Sängerin und Schauspielerin Cher über das perfekte Make-up, den Kampf gegen das Alter und ihren Hang zu jungen Männern ................. 170 Buchkritik: Edward St Aubyns trügerisch leichter Roman „Ausweg“ ................................. 174
Seite 142
Aus einem winzigen Knochen haben Leipziger Genforscher das Erbgut einer bisher unbekannten Urmenschenform gewonnen. Ihr Befund: Der rätselhafte Fremdling drang bis Ostasien vor – und hatte dort Sex mit dem Homo sapiens.
„Wir haben uns alles getraut“ Seite 170
Titelbild: Foto Axel Martens für den SPIEGEL
DAVE HOGAN / GETTY IMAGES
Cher gilt als eine der unverwüstlichen Legenden Hollywoods. Seit 45 Jahren feiert sie Erfolge als Sängerin und Schauspielerin, auch jetzt im Alter von 64 Jahren will sie vom Aufhören nichts wissen. Im SPIEGEL-Gespräch anlässlich ihrer Hauptrolle in der neuen Hollywood-Produktion „Burlesque“ bekennt die Entertainment-Diva: „Wir sind die erste Generation, die sich weigert abzutreten.“
Briefe .................................................................. 10 Impressum, Leserservice .................................. 176 Register ............................................................ 178 Personalien ....................................................... 180 Hohlspiegel / Rückspiegel ................................. 182
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Kultur 2011 Der KulturSPIEGEL blickt in die Zukunft: diesen Monat als Kalender zum Aufhängen, mit den wichtigsten und interessantesten Kulturereignissen des Jahres 2011. 9
Briefe
Unter die Haut gegangen
„Das Timing, ohne aktuellen Anlass einen Islam-Artikel in der Weihnachtswoche als Titel herauszubringen, zeugt von geradezu lächerlicher Ignoranz.“
Nr. 50/2010, Seuchen: Jimmy Carters Kampf gegen den Guineawurm
turen“ geht aber zu Lasten der meisten Muslime und Christen, die ihre Religion friedlich und tolerant ausüben wollen. Von daher ist es wichtig, dass alle friedlichen und toleranten Gläubigen den gegenseitigen Respekt auch weiterhin zur „Leitkultur“ ihrer jeweiligen Religion erheben.
Solche Geschichten – und so brillant erzählt, wie es Cordula Meyer gelungen ist – gehen unter die Haut. Gegenüber all den Terror- und Kriminalgeschichten, all den Alpha- und Betatierkämpfen in Politik und Wirtschaft zeigt dies die andere Seite der Menschheit. Während die einen sich der Zerstörung von Menschlichkeit und aller sittlichen Ordnung verschrieben haben, kämpfen andere um Leben, Sozialität, Natur. Überdies macht es Sinn, auch einmal an die noch nicht ganz untergegangenen uramerikanischen Tugenden zu erinnern, die Menschen wie Jimmy Carter verkörpern. Aus solchem Stoff sind auch Geschichten gemacht, die für unsere Jugend in den Schulen Symbole des Guten sein und die ihre eigene Lebensplanung beeinflussen können.
BERLIN
STUTTGART
Claus Brandt aus Meckenheim in Nordrhein-Westfalen zum Titel „Mythos Mekka – Die Schicksals-Stadt des Islam“
SPIEGEL-Titel 51/2010
Nr. 51/2010, Titel: Mythos Mekka – Die Schicksals-Stadt des Islam
Erst machte Ihr Cover den Eindruck, als würden alle von Sarrazin beschworenen Alpträume wahr und die gewohnte weihnachtliche Geschichte auf dem SPIEGELTitel würde (bereits jetzt) von einer muslimischen Titelgeschichte abgelöst. Aber nach der Lektüre sehe ich das völlig anders, denn der Text ist wirklich gelungen und betrachtet den Islam sehr differenziert und klug. Wann, wenn nicht an Weihnachten, sollte man sich in Ruhe mit anderen Religionen beschäftigen? MÜHLTROFF (SACHSEN)
BRIGITTE STEINMETZ
Seit des seligen Augstein, Rudolfs, Zeiten bangten wir Christen im Land jährlich der Weihnachtsausgabe unserer Hamburger Leib- und Magenpostille entgegen: Welchen vermeintlich für ewig fest verankerten Balken an der „festen Burg“ unseres christlichen Glaubens mochte der ansonsten verehrte „Hamburger Giftzwerg“ nun diesmal wieder angesägt haben? Und siehe da, großes Aufatmen, heuer geht’s nicht uns, sondern unsren Stiefbrüdern in Abraham ans Leder. Biblisch gesprochen: Die Axt ist diesmal ans Minarett gelegt. REICHENBERG (BAYERN)
WILHELM REINMUTH
Dieser versöhnliche Artikel macht klar, dass nur ein Teil der Religion Islam fundamental und gewalttätig agiert. Leider nähren sich die derzeitigen Noch-Minderheiten durch die jeweils aggressive Propaganda von fundamental evangelikalen Kreisen des Christentums auf der einen und dem islamistischen Kampfgeschrei auf der anderen Seite gegenseitig. Dieser „Kampf der Kul10
PROF. DR. WENZEL M. GÖTTE
Ein lohnendes Ziel Nr. 50/2010, Essay: Warum die Deutschen die Europäische Union brauchen
VERENA SCHLOSSER
Deutschland ist ein christliches Land, und als katholische Deutsche empfinde ich es als Zumutung, in der Weihnachtsausgabe eines großen deutschen Nachrichten-Magazins einen Bericht über eine heilige Stadt des Islam zu lesen! Was haben Sie sich dabei gedacht!? KRONBERG (HESSEN)
VOLKER MUNDT
MOHAMMED SALEM / REUTERS
Großes Aufatmen
Große Moschee, Hotel-Komplex in Mekka
Kapitalistisches und modernes Gesicht
Die Zeit in Mekka vergeht in großen Sprüngen, das zeigen nicht nur der neue Uhrturm von Mekka, sondern auch die Muslime, die sich sowohl um die Kaaba bewegen als auch entlang der Schaufenster der Einkaufsläden und in Luxusappartements. Mekka zeigt der Öffentlichkeit ein kapitalistisches und modernes Gesicht und unterdrückt den Fundamentalismus mit der Zeit. Die Pilgerfahrt endet eben nicht nur mit dem Gebet, sondern mit einem herzhaften Grilled Wrap von Kentucky Fried Chicken, das wissen auch die Menschen, die in Mekka investieren. ACHIM (NIEDERS.)
JULIEN BLOCK
Selten habe ich einen Essay gelesen, der so sehr wie der von Dirk Kurbjuweit vom persönlichen Engagement des Verfassers geprägt ist. So gelingt es ihm, die Interessen und Gefühle Deutschlands in Europa und gegenüber der ganzen Welt zu beschreiben. Die klare Analyse führt zur Vision eines Deutschlands, das in Europa über die wirtschaftliche, militärische und politische Einbindung hinausführt. BERLIN
Dies ist das Beste, was ich je über eine deutsch-europäische Zukunftspolitik gelesen habe. ALLMERSBACH IM TAL (BAD.-WÜRTT.) HELMUT TISCHBERGER
Der Artikel beschreibt ein Europa, wie es nur zu wünschen wäre: Deutschland als Bundesstaat eines demokratisch voll legitimierten Europa. Allerdings kann ich nicht sehen, dass Deutschland als nationaler Egoist diesem Ziel entgegensteht,
Diskutieren Sie auf SPIEGEL ONLINE ‣ Titel Was bringen gute Vorsätze zum neuen Jahr? www.spiegel.de/forum/Vorsaetze ‣ Europa Soll Ungarn wie geplant Anfang Januar die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen dürfen? www.spiegel.de/forum/Ungarn ‣ CDU Beschädigt die Mainzer Finanzaffäre die Glaubwürdigkeit der Politik? www.spiegel.de/forum/Affaere D E R
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DR. FRANZ CROMME
Briefe im Gegenteil. Es gibt kein anderes Land, das mehr Vorschuss geleistet hat in Form von Verzicht und finanziellen Beiträgen, aufgebracht von Bürgern und Steuerzahlern dieses Landes. GANDERKESEE (NIEDERS.)
MANFRED BRAUN
Warum vermittelt uns nicht jemand mal außer bürokratischen EU-Vorschriften eine große Idee, positiv, gefühlsmäßig und lustvoll? Eine schwierige Aufgabe, aber ein lohnenswertes Ziel. Europa ist schwierig, eng, aber großartig – deswegen kommen alle gern hierher. Danke für Ihr Plädoyer! HAMBURG
Kommunalpolitik aktiv und muss ständig darum betteln, dass sich Bürger an der politischen Arbeit vor Ort beteiligen. Mitwirkungsmöglichkeiten gibt es in unserer Demokratie jede Menge. Es stünde sicher besser um die Qualität mancher Entscheidungen, wenn mehr Bürger von ihren Mitwirkungsrechten Gebrauch machen würden. Aber das ist eben relativ anstrengend und wenig glamourös. LUDWIGSHAFEN (RHLD.-PF.)
Ab ins Archiv Nr. 50/2010, FDP: SPIEGEL-Gespräch mit Vorstandsmitglied Wolfgang Kubicki über den desolaten Zustand der Liberalen
ANDRÉ BAXMANN
Wenig glamourös
Ein wunderbar ehrliches Gespräch mit Herrn Kubicki. So sachlich und direkt, aber trotzdem höflich. Wenn alle Politiker sich so verhielten, wäre ich bereit, wieder eine Wahlkabine aufzusuchen.
Nr. 50/2010, Schicksale: Beim Protest gegen Stuttgart 21 verlor der Rentner Dietrich Wagner sein Augenlicht – jetzt ist er der Held des Widerstands
MARIUS BECKER / DPA
In welchem Staat leben wir eigentlich, in dem die brutale Blendung eines Rentners durch einen Wasserwerfer vom verant-
Verletzter Wagner, Helfer
Brutale Blendung
wortlichen Polizeibeamten ungestraft mit einem zynischen „selbst schuld“ quittiert werden darf, das fürs Leben schwer behinderte Opfer nachträglich noch juristisch verfolgt wird und sich keiner der politischen Repräsentanten zu einer Entschuldigung oder einem Wort der Anteilnahme durchringen kann? HOLZKIRCHEN (BAYERN)
DR. JÜRGEN LIESKE
Bisher dachte ich, es gebe auch bei Polizeieinsätzen einen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Falsch gedacht! Ich schäme mich, Bürger dieser Stadt mit so einer Polizeiobrigkeit zu sein. STUTTGART
CONSTANZE KRAUS
HAMBURG
WALTER MÖLLER
Wir sehen, wie sich die Kastenpartei FDP im freien Fall befindet und von den Protagonisten filetiert wird. Sie strebt wieder die Sektengröße an. Statt Übermut kehrt Demut ein. Die FDP-Bubis in Land und Bund produzieren viel Lärm und zeigen fast täglich ihre Substanzlosigkeit. Fazit: ab ins Archiv. RATZEBURG (SCHL.-HOLST.)
REINHOLD DECHOW
Ist das Kubickis Rache? Er war Möllemanns Freund. Nach dem MöllemannSkandal wandte sich Westerwelle von diesem ab. Seitdem ist Kubicki Westerwelles größter Parteifeind. Kubicki zieht nun einen skurrilen DDR-Untergangsvergleich. Dabei erinnere man sich an seine „merkwürdige“ Rolle in der Ost-West-SuperMüllaffäre. Kubicki wurde damals der Lüge bezichtigt. Damit kann er doch kein ernstzunehmender Kritiker sein. HAMELN (NIEDERS.)
HANS-JÜRGEN HERWIG
Nach einem Jahr Mitgliedschaft erlaube ich mir eine Bilanz. Vom Liberalen haben die Liberalen kein Verständnis. Die Zustände sind desolat, die Lage ist ernst. Die FDP ist eine ignorante Partei, die mit ihren Mitgliedern – ihrer Basis – nichts anzufangen weiß. SALZGITTER (NIEDERS.)
PATRICK JANKE
HORST BECHT
OLCHING (BAYERN)
SEBASTIAN LUBERSTETTER
Sicher ist es bedauerlich, wenn Herr Wagner bei einer Demonstration sein Augenlicht verliert. Ich selbst aber bin in der 12
MICHAEL GOTTSCHALK / DAPD
Herr Wagner hat sich den Anweisungen der Polizei widersetzt und Gegenstände auf die Beamten geworfen. Die Demokratie, für die Herr Wagner kämpfen wollte, bedeutet nun mal auch, die Polizei als Staatsgewalt zu akzeptieren.
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FDP-Politiker Lindner, Westerwelle, Niebel
Skurriler Untergangsvergleich
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Briefe
LINZ AM RHEIN (RHLD.-PF.) WOLFGANG UND INGEBORG ZANDER
„Wetten, dass ..?“-Moderator Gottschalk
Zu Ihrer interessanten Analyse fällt mir noch ein: René Descartes würde wohl heute seinen berühmten philosophischen Grundsatz „Ich shoppe, also bin ich“ nennen. BERNHARD OTTENBREIT
Unsere Endlichkeit besteht nicht mehr darin, dass wir bedürftige Lebewesen sind, sondern darin, dass wir zu wenig bedürfen können: Mangel an Mangel.
BAIERSBRONN (BAD.-WÜRTT.) JONATHAN SCHMID
Ich bin vaterloses Vertriebenenkind. Mit 15 wurde ich in ein Heim als schwer Erziehbarer „verbracht“. Der deutsche Staat war mein Vormund. Diese Erlebniswelt ist mit Worten nicht zu beschreiben, und ich persönlich werde nie verzeihen. Es gibt keine Wiedergutmachung, jedenfalls keine persönliche, die Bestrafungen wurden bewusst praktiziert. Ich verzeihe auch nicht die Vergabe von Weidenruten zum Flechten von Körben an geistig Behinderte, während sie gleichzeitig an der Wand festgekettet waren. Nichts wird jemals diese Bilder aus meinem Gedächtnis löschen, und immer werden sie verknüpft sein mit dem Begriff Gemeinwesen.
JENS M. SCHNEIDER
Zu diesem Thema fiel mir nur ein Spruch ein: Du hast den Job, den du nicht willst, um dir das zu kaufen, was du nicht brauchst (aus dem Film „Fight Club“). KAARST (NRDRH.-WESTF.)
MIKE MATTHIAS
Wie schade, dass Sie maßlosen, oberflächlichen Hedonisten knapp acht Seiten widmen. Frau Jedicke & Co. sei gesagt, dass man das zehnte Paar Louboutin-Stilettos und das iPad nicht mit ins Grab nehmen kann. MÜNCHEN
Mit Worten nicht zu beschreiben
Immer wieder schreiben Sie über Kinderheime, deren Insassen in der Vergangenheit von Kirche und Staat Unrecht erfahren haben. Dies ist richtig und sehr bedauerlich. Allerdings bestärkt dies das allgemeine Bild vieler Leute von Kinderheimen als Orte des Grauens, das zumindest heute so nicht mehr richtig ist. Wie wäre es mit einem Artikel über Kinderheime, die heute zur Heilung von Kindern gute Arbeit leisten?
Nr. 50/2010, Verbraucher: Shopping wird zur Ersatzreligion
BINGEN AM RHEIN
MERZHAUSEN (BAD.-WÜRTT.) TIAN-SHENG HUANG
Nr. 49/2010, Missbrauch: Der „Runde Tisch Heimerziehung“ scheitert mit einer schnellen Lösung für eine generelle Entschädigung der Opfer psychischer und physischer Gewalt
Mangel an Mangel
BAD KREUZNACH
in Glitzertempeln des Shoppismus ihr Maximalglück und Befriedigung. Wenn aber so oft in die Leere hinein gekauft wird, so scheint der teure Billigersatz nicht zu funktionieren. Und verlangt der Mensch dabei im Innern nicht doch nach etwas Höherem, gegen das er mit nichts eintauschen kann?
EVA-MARIA FELDERER
KASSEL
KARL HEINZ NAGEL
KLAUS BOSSEMEYER/ AGENTUR BILDERBERG
Korrekturen
Es ist bedenklich, dass Weihbischof Jaschke auch zwischen Geschenk und Konsum nicht mehr unterscheidet. Braucht es der christliche Gott, auf ein Tauschgeschäft mit Menschen einzugehen? Seitdem es den Ablassbrief gibt, steht fest, dass die Gnade käuflich ist. Und heute suchen die Massen 14
„Der Heiligenschein ist weg“
Unerbittliche Logik Nr. 50/2010, TV-Shows: SPIEGEL-Gespräch mit Thomas Gottschalk über den dramatischen Unfall eines Kandidaten bei „Wetten, dass ..?“
Dass das Leben auch ohne „Wetten, dass ..?“ gefährlich ist, ist nun wirklich eine Binse, aber wohl kaum ein Argument dafür, seine Gesundheit für eine Wette zu riskieren; und der Vergleich mit grenzwertigen Formaten wie „Jackass“ sollte sich für einen Moderator eines öffentlich-rechtlichen Senders eigentlich verbieten. HAMBURG
MICHAEL JÜRGENS
Der entscheidende Fehler bei dieser Wette war: Wie hätte sie ausgehen sollen, wenn der Kandidat verliert? TRAUNSTEIN (BAYERN)
HANS-JÜRGEN BAUER
Der Heiligenschein ist weg! Konzipiert als Familiensendung, entwickelt sich „Wetten, dass ..?“ seit Jahren, quotenbedingt, zu einer Art „Jackie-Chan-Revival-Show“. Nur, im Film geht’s immer gut aus. Finanzielle Unterstützung für Samuel, damit er wieder gesund wird, ja. Dass aber das ZDF und somit wir Steuerzahler aufkommen, nein. Bliebe noch Gottschalk. Dann hätten wir aber einen „Schuldigen“, da er als letzte Instanz den Auftritt hätte verbieten können. SCHRIESHEIM (BAD.-WÜRTT.)
zu Heft 44/2010 Seite 120, „Carpaccio hinterm Schlagbaum“: Im Bericht über das Kabuler Restaurant „Boccaccio“ wurde der Eindruck erweckt, Angehörige der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ zählten zu den regelmäßigen Gästen des Restaurants. Dies ist nicht der Fall.
Einkaufs-Mall in Buenos Aires
„Ich shoppe, also bin ich“
OLIVER BERG / DPA
Mit lächerlichen 46 und 34 Jahren FDPMitgliedschaft auf Basisebene möchten wir Herrn Kubicki zumindest in einem Punkt heftig widersprechen: Er meint, im Fall einer Präsenz seines ehemaligen Spezis Möllemann hätte die FDP erheblich weniger Probleme. Wir haben damals gegen die unerträgliche Rechtslastigkeit von Möllemann bundesweit polemisiert und sind froh, den nicht mehr ertragen zu müssen.
zu Heft 50/2010 Seite 86, „Der etwas andere Krieg“: Der republikanische US-Politiker Mike Huckabee hat nicht die Todesstrafe für „Enthüller“ von Staatsgeheimnissen gefordert, sondern für „Verräter“ von Staatsgeheimnissen. D E R
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CHRISTIAN GODON
Da können Gottschalk und die Intendanz reden, was sie wollen: Es liegt in der unerbittlichen Logik solcher Sendungen, dass irgendwann schreckliche Dinge passieren. Sensationsgier, Quotendruck, Populismus und Risiko schaukeln sich gegenseitig auf, und irgendwann versagt die Kontrolle. Diese Tragödie wird nur eine Wegmarke sein: The show must go on. Wetten, dass? LEIPZIG
PROF. DR. UWE HINRICHS
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elektronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet:
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In dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet sich im Mittelbund ein 32-seitiger Beihefter der Firma Hülsta, Stadtlohn.
Scheel, Westerwelle
FDP
Scheel geht auf Distanz zu Westerwelle D
er FDP-Ehrenvorsitzende Walter Scheel geht auf Distanz zu Parteichef Guido Westerwelle und kritisiert das Erscheinungsbild der Liberalen. „Die Partei hat viel versprochen und konnte noch nicht viel durchsetzen“, sagt Scheel. Die Gründe dafür hingen auch „mit den jeweiligen Persönlichkeiten zusammen“. Die „vielen kritischen Berichte und An-
Einfacherer Transit
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assagiere, die aus den USA nach Europa fliegen und dort umsteigen, sollen ab dem 1. April im Transitbereich nicht mehr kontrolliert werden. Darauf haben sich die EU-Kommission und die Vereinigen Staaten geeinigt. Die Bundesregierung hat der Regelung zugestimmt. Hunderttausende Transitpassagiere, die jedes Jahr aus den USA kommen und in Deutschland umsteigen, sollen so von lästigen Kontrollen und Wartezeiten befreit werden. „Umfassende Vor-Ort-Überprüfungen der EU-Kommission haben gezeigt, dass in den USA ein im Ergebnis vergleichbarer Luftsicherheitsstandard besteht“, erklärte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums. Bislang wurden Passa16
giere, die etwa von New York nach Berlin flogen und in Frankfurt umsteigen mussten, sowohl vor dem Abflug in den USA als auch im Frankfurter Transitbereich kontrolliert. Diese zweite Kontrolle soll nun in Deutschland entfallen, andere EU-Länder müssen
der neuen Regelung noch zustimmen. Nach Angaben des internationalen Fluglinien-Verbands IATA fliegen jedes Jahr sechs Millionen Menschen aus den USA nach Europa und steigen hier nochmals um. Für Fluggäste, die aus Europa in die Vereinigten Staaten reisen, gilt die neue Regelung allerdings nicht. Wenn sie auf einem USFlughafen umsteigen müssen, werden sie im dortigen Transitbereit weiterhin erneut kontrolliert. Die EU-Kommission verhandele mit der amerikanischen Regierung, auch für solche Reisen die zusätzlichen Kontrollen aufzuheben, sagte ein Sprecher von EU-Verkehrskommissar Siim Kallas. PETER GINTER / CORBIS
LUFTVERKEHR
schuldigungen in der Öffentlichkeit“ hätten ihn „wirklich traurig gestimmt“. In der Debatte um eine neue Führungsstruktur für die Liberalen stellt sich Scheel an die Seite der Nachwuchskräfte um Generalsekretär Christian Lindner und Gesundheitsminister Philipp Rösler. Es gebe bei den Freidemokraten „eine ganz erstaunlich große Zahl von hervorragenden, gerade auch jungen FDP-Politikern“. Diese Generation müsse man „fördern und in die Verantwortung nehmen“. In der Debatte um einen Rückzug Westerwelles vom Parteivorsitz hatten sich vergangene Woche die Fronten verhärtet. Während eine Reihe von Landespolitikern Westerwelle scharf kritisierten, warnte die engere Parteispitze vor einem übereilten Wechsel. Scheel war von 1968 bis 1974 Vorsitzender der Liberalen und dann bis 1979 Bundespräsident.
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DAPD / DDP IMAGES
Panorama
Deutschland MATHIEU CUGNOT / DPA
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Union gesprächsbereit
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Armer, reicher Pfahls?
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aut Ermittlungsunterlagen vermutet die Staatsanwaltschaft Augsburg, dass der frühere CSU-Politiker Ludwig-Holger Pfahls über ein „Vermögen in Höhe von über vier Millionen Euro“ verfügt, das er mit Helfern vor Gläubigern verheimlicht haben soll. Am vergangenen Mittwoch wurden der Ex-Staatssekretär und sechs weitere Beschuldigte verhaftet. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen unter anderem Bankrott vor. 2005 war Pfahls in der Schreiber-Affäre wegen Vorteilsannahme und Steuerhinterziehung zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt worden. Aufgrund des Verfahrens hat Pfahls Verbindlichkeiten in Millionenhöhe, unter anderem gegenüber dem Fiskus. Im September 2007 habe sich Pfahls für mittellos erklärt und die Zahlungen eingestellt, heißt es in den Akten. Dabei habe er ab dem 24. Oktober 2006 gut eine Million Euro über das Konto eines Rechtsanwalts in Süddeutschland in die Immobilienfirma Horn Liegenschaften GmbH in Herzogenaurach fließen lassen. Als „Sicherheit für diese Investition“ seien 50 Prozent der Gesellschaftsanteile auf die Ehefrau von Pfahls überschrieben worden.
„Ich habe mich geirrt“ Der ehemalige Linke-Vorsitzende Lothar Bisky, 69, über das Verhältnis seiner Partei zur Wiedervereinigung
SPIEGEL: In diesem Jahr wurden 20 Jah-
SPIEGEL: Innenminister Thomas de
re deutsche Einheit gefeiert. Wann sagt Ihre Partei einmal ja zur Einheit? Bisky: Wir sind längst Teil des vereinten Deutschlands, auch jene von uns, die das nie wollten, auch jene, die den Prozess anders wollten. Wir wollten eine sanftere Landung. Aber das Volk der DDR hat 1990 anders entschieden, in demokratischer Entscheidung, in freier Wahl. Diese Entscheidung mussten wir akzeptieren. SPIEGEL: Begeisterung klingt anders. Bisky: Ich will es einmal klar aussprechen: Ja, ich stehe ausdrücklich zur deutschen Einheit. Ja, dieses Land ist auch unser Land. Diese Einheit hat Freiheitsrechte garantiert, ein Grundgesetz, das hervorragend ist. Und –
Maizière (CDU) bedauerte, 1990 so rigoros mit dem Osten umgegangen zu sein. Warum tut sich die Linke so schwer, im Gegenzug das Nein zur Einheit zu bedauern? Bisky: Ich habe mich 1990 geirrt. Ich habe gefürchtet, die Einheit Deutschlands sei eine Gefahr für Europa, ich habe gedacht, ein neuer Einheitsstaat wird automatisch rechtsextrem. Unser Nein zur Einheit kam aus einem Ja zum Antifaschismus, der reflexartig war. Das war erklärlich, gut gemeint – aber falsch. Viele von uns haben im Februar 1990 einen Schreck bekommen, als Hans Modrow, damals noch SED/PDS-Mann, für ein „Deutschland einig Vaterland“ warb. SPIEGEL: „Kein Viertes Reich“ war die Losung vieler Linker. Bisky: Es gab eine Reihe rechtsextremer Übergriffe, auch gegen PDS-Politiker. Ich selbst war davon betroffen. Aber der Staat Bundesrepublik selber wurde nicht rechtsextrem, obwohl das manche unserer Sektierer orakelten. Die CDU, die nun die Kanzlerin stellt, hat sich zum Glück anders entwickelt, als viele Linke fürchteten. SPIEGEL: Was fürchteten sie? Bisky: Die Union ist weder großdeutsch geworden noch rechtsextrem. Angela Merkel ist davon, glaube ich, vollEinheitsfeier vor dem Berliner Reichstag 1990 kommen frei. Und das ist nicht selbstverständlich. Es gibt in Europa eine Tendenz zur Stärum einmal persönlich zu werden – in kung rechtsextremer Parteien – in Itadiesem Land konnten sich meine Stulien, in den Niederlanden. Bei uns denten und meine Söhne entwickeln, nicht. Gegen Ausländerfeindlichkeit wie es vorher nicht vorstellbar war. SPIEGEL: Ist solch ein Bekenntnis in Ihund Rechtsextremismus zu sein ist rer Partei mehrheitsfähig? kein linkes Privileg. Das begrüße ich. Bisky: Die Nostalgiker in unseren ReiAber ich bleibe bei meiner kritischen hen sterben doch aus. Da wollen noch Haltung zur Art der Vereinigung und ein paar die alten Lieder singen, mehr der Vereinnahmung der Ostdeutschen. SPIEGEL: Sie haben sich in diesem Jahr, nicht. Unsere Bürgermeister wollen zum zweiten Mal nach 2007, von der dieses Land gestalten, nicht auflösen. Führung Ihrer Partei zurückgezogen. Wir sind keine separatistische, sonWie schon nach dem ersten Rücktritt dern eine plurale Partei. Mir sind Forgeht es drunter und drüber. Kommt derungen nach einer Wiedererrichtung nun Ihr nächstes Comeback? der DDR jedenfalls nicht bekannt. Das Bisky: Nein, ich habe kein Amt mehr in Bekenntnis zu Deutschland ist deutder Partei und strebe keinen neuen schen Linken allerdings nicht so Posten an, höchstens den des Kassieselbstverständlich wie das Ja franzörers im Ortsverband. Aber auch das sischer Kommunisten zur Grande Nawürde ich mir gut überlegen. tion. FRIEDER BLICKLE / LAIF
or den anstehenden Vermittlungsgesprächen zur Hartz-IV-Reform wächst die Bereitschaft in der Union, der SPD bei ihrer Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn entgegenzukommen. Während Generalsekretär Hermann Gröhe entsprechende Vorschläge als „sachfremd“ zurückweist, hält es der CDU-Arbeitsmarktexperte Peter Weiß für denkbar, dass die Hartz-Vermittlung „zu Mindestlöhnen in der Zeitarbeitsbranche führen kann“. Solche Regeln könnten verhindern, dass der Arbeitskräfteverleih dazu missbraucht werde, die Löhne zu drücken, sagt Weiß. Auch die CSULandesgruppe will auf ihrer Klausurtagung in Wildbad Kreuth Anfang Januar ein Positionspapier beschließen, in dem sie sich für einen Mindestlohn in der Branche ausspricht: „Mit Blick auf die ab Mai 2011 geltende Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa sind entsprechende gesetzliche Regelungen kurzfristig auch im Interesse unserer Zeitarbeitsunternehmen erforderlich.“
DEUTSCHE EINHEIT
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Rückblick 2010 CDU
Merkel
N I C H T R AU C H E R S C H U T Z
Ein erstaunliches Comeback …
Das strikteste Qualmverbot …
… lieferte Margot Käßmann, Bischöfin a. D. Ab Januar wird sie als Honorarprofessorin an der Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum lehren, an der sie 1989 promovierte. Die Hochschule ist ein Zweckbau aus Beton und PVC und damit ein Ort, um sich glanzvoll abzuheben. Margot Käßmann wird das ziemlich sicher gelingen. Sie ist die deutsche Frau des Jahres 2010. Ursprünglich hatte sie einen Job, der eher unbeliebt machen müsste: Bischöfin einer evangelisch-lutherischen Landeskirche mit Konsistorium und viel Bürokratie. Aber Käßmann wurde nie identifiziert mit der Amtskirche, wurde nie Apparatschik. Wie kein anderer Geistlicher hat sie über ihr Leben mit Krebs und Scheidung geredet, die Institution
… auferlegten sich die Bayern. Seit die Bürger per Volksentscheid im Juli das strengste Rauchverbot der Republik beschlossen, geht das öffentliche Leben im Süden erstaunlicherweise weiter wie bisher. Der von einigen vorhergesagte Krieg am Tresen ist ausgeblieben, ebenso die Revolution, die große Kneipenpleite und der Tod der Wirtshauskultur. Sogar in den riesigen Oktoberfestzelten feierte und trank die halbe Welt ohne Qualm. Dass das Verbot ausgerechnet dort fast ausnahmslos griff, gilt als Wunder von München. Die Abstimmung, initiiert von der ÖDP, gilt dagegen als saftige Niederlage für die Regierungspartei. Die CSU wurde für ihren schwammigen Kurs beim Nichtraucherschutzgesetz – mal konsequent, mal locker –
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AXEL MARTENS / DER SPIEGEL
KIRCHE
Käßmann
überstrahlt. Ein Fehltritt – 1,54 Promille am Steuer ihres Dienstwagens – und ein schneller Rücktritt haben ihr Ansehen noch gesteigert. Verlage reißen sich um sie, auf Kirchentagen wird sie gefeiert, selbst die CSU will im Januar auf ihr Wort hören. Käßmann ist längst ein Phänomen, sie wirkt jetzt noch freier als zuvor. Ohne Amt, auf das sie Rücksicht nehmen müsste, und mit mehr Zeit für die Töchter. D E R
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abgestraft. Fast zwei Drittel der Wähler stimmten für den Vorschlag, Rauchen in allen Gaststätten generell zu verbieten. Der Hotel- und Gaststättenverband befürchtete Umsatzeinbußen von bis zu 30 Prozent. Bislang ist davon nichts zu spüren. Die bayerischen Wirte erweiterten stattdessen ihr Platzangebot im Freien auch an eisigen Winterabenden. Raucher können nun vor die Tür ausweichen und eingehüllt in Decken unter Heizstrahlern sitzen.
TOBIAS HASE / PICTURE ALLIANCE / DPA
… verzeichnete die CDU. Ohne große Geste verabschiedete Kanzlerin Angela Merkel frühere Konkurrenten auf dem Parteitag Mitte November in Karlsruhe. Ein Buchgeschenk, ein kurzes Lächeln, das war’s. Gleich reihenweise waren ihre Gegner von einst im Jahr 2010 – mehr oder weniger freiwillig – abgetreten. Jürgen Rüttgers, der sich gern als soziales Gewissen der Partei feiern ließ, musste seinen Posten als Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen nach dem Wahldebakel am 9. Mai räumen. Hessens Regierungschef Roland Koch kündigte Ende Mai an, der Politik den Rücken zu kehren. Inzwischen ist klar: Ab Juli 2011 wird er Chef des Baukonzerns Bilfinger Berger. Sein niedersächsischer Amtskollege, Christian Wulff, stieg im Juni zum Bundespräsidenten auf und hat künftig keinen Einfluss mehr in der Tagespolitik. Ole von Beust wiederum hatte nach neun Jahren genug vom Job als Hamburgs Erster Bürgermeister. Mit dem Abgang der mächtigen Länderchefs ist die CDU künftig ganz auf ihre Vorsitzende Merkel ausgerichtet. Umweltminister Norbert Röttgen und Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, die erstmals an die Parteispitze rückten, verdanken ihre Karriere der Kanzlerin. Doch der Aderlass an der Spitze birgt für Merkel auch Risiken. Gerade Stammwähler fremdeln mit der neuen CDU.
HENNING SCHACHT / ACTION PRESS
Die meisten prominenten Abgänge …
Raucherinnen
Deutschland M I S S B R AU C H
Den wohl verstörendsten Rücktritt …
Das schwierigste Jahr …
… des Jahres lieferte Horst Köhler, als er Ende Mai völlig überraschend sein Amt als Bundespräsident niederlegte, in einem zweiminütigen Fernsehauftritt, an der Hand seiner Frau. Inzwischen bekommt er keinen Staatsempfang mehr, aber er ist wieder unterwegs: Zweimal ist Horst Köhler in den vergangenen Monaten in die USA gereist, um als Mitglied einer prominent besetzten Arbeitsgruppe eine Reform des Weltwährungssystems zu ersinnen. Schon im Januar will das internationale Expertengremium seine Vorschläge vorlegen. Noch immer rätselt das Land, was Köhler zu seinem beispiellosen Rückzug bewogen haben mag: sein verunglücktes Interview zum Verhältnis von Kriegseinsätzen und freien Handelswegen? Eine überkritische Presse? Der man-
LENNART PREISS / DAPD
KARRIEREN
Köhler
gelnde Rückhalt aus den Koalitionsfraktionen? Die einen schüttelten den Kopf über seine Flucht aus der Verantwortung, die anderen sahen ihn als Opfer des mitleidlosen Hauptstadtbetriebs. Wenn er sich nun als Finanzexperte öffentlich zurückmeldet, wählt er damit nicht nur jenes Politikfeld, dem er seine Karriere verdankt; Köhler erinnert auch an einen der wirkungsvollsten Auftritte seiner Amtszeit. Im Frühjahr 2008 hatte der frühere IWF-Direktor die internationalen Finanzmärkte als „Monster“ kritisiert.
Zitate 2010
… seiner bisherigen Geschichte liegt hinter dem Berliner Canisius-Kolleg. Im Januar musste das vom Jesuitenorden getragene Gymnasium eingestehen, dass Patres über Jahre hinweg schutzbefohlene Kinder und Jugendliche missbraucht hatten. Der Skandal weitete sich auf Jesuitenschulen im gesamten Bundesgebiet aus, auf das Bonner Aloisius-Kolleg, die Hamburger SanktAnsgar-Schule und das Schwarzwälder Kolleg St. Blasien. Die Enthüllungen ermutigten auch Opfer sexueller Gewalt außerhalb der katholischen Kirche, sich zu Wort zu melden, etwa an der hessischen Odenwaldschule, dem Vorzeigeprojekt deutscher Reformpädagogik. Dennoch verzeichnet das Canisius-Kolleg nach eigenen Angaben nur eine Abmeldung unter Bezug auf den Missbrauchsskandal und fast 300 Bewerbungen für 90 Plätze im kommenden Schuljahr.
Die tragischste Falle …
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Christian Wulff, Bundespräsident, in seiner Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit
„Steuersenkungen werden auf absehbare Zeit nicht durchsetzbar sein.“ Angela Merkel, Bundeskanzlerin, zum Steuerstreit in der Koalition
„Reden Sie nicht, sondern sorgen Sie dafür, dass die Zahlen jetzt verteilt werden.“ Wolfgang Schäuble (CDU), Bundesfinanzminister, während einer Pressekonferenz zu seinem Sprecher Michael Offer, der später von seinem Amt zurücktritt
„Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.“ Guido Westerwelle, FDP-Chef, zur Debatte um Hartz IV
„Ich kann es leider auch nicht ändern, dass Polen bereits im März 1939 mobilgemacht hat.“
LO V E PA R A D E
Erika Steinbach (CDU), Präsidentin des Bundes der Vertriebenen
„Man darf auch links sein, wenn man nicht arm ist.“ Klaus Ernst, Vorsitzender der Partei Die Linke, über parteiinterne Kritik an seiner Lebensführung
DANIEL NAUPOLD / PICTURE ALLIANCE / DPA
… kostete am 24. Juli bei einer Massenpanik auf der Love Parade in Duisburg 21 Menschen das Leben. Noch immer geht die Suche nach den Verantwortlichen weiter. Die Ermittler wollen im Januar die ersten Beschuldigten in dem Großverfahren benennen, das derzeit 80 Polizisten und vier Staatsanwälte beschäftigt. Intern hieß es, voraussichtlich werde demnächst gegen elf Beschäftigte der von Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) geführten Stadtverwaltung sowie gegen sechs Mitarbeiter des Veranstalters Lopavent ermittelt. Die Polizei klärt gerade, ob die Betroffenen wegen möglicher Racheakte besonderen Schutz benötigen. Die Beteiligten hatten sich gegenseitig die Verantwortung zugeschoben. Der Veranstalter Lopavent beschuldigte die Polizei, durch drei Sperrketten im Zugangsbereich das tödliche Gedränge ausgelöst zu haben. Der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD) verteidigte den Polizeieinsatz. Lopavent sei für die Abläufe auf dem Festgelände verantwortlich gewesen – und die Behörde für die Genehmigung der Veranstaltung. Sauerland ließ Juristen darMassenpanik auf der Love Parade legen, die Stadt habe keine Fehler gemacht.
„Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“
„Was wir am Karfreitag bei Kunduz erleben mussten, das bezeichnen die meisten verständlicherweise als Krieg – ich auch.“ Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), Verteidigungsminister, nach einem tödlichen Anschlag auf Bundeswehrsoldaten in Afghanistan
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Deutschland
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Abzug ohne Abzug Außenminister Westerwelle will sich damit beliebt machen, dass er die deutschen Soldaten rasch aus Afghanistan zurückholt. Verteidigungsminister Guttenberg hält nichts von solchen Versprechen. In Wahrheit werden die Deutschen wohl noch lange in Afghanistan sein.
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rst ging es um Schuhe, dann ging es um den Abzugstermin für Afghanistan. Zweimal hat Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg innerhalb von vier Tagen das Thema in Berlin gesetzt. Und wieder war es die für ihn übliche Mischung aus Show und Politik. Am Samstag vorvergangener Woche besuchte er den Empfang nach der Sendung zu der Aktion „Ein Herz für Kinder“. Die Herren trugen Anzug und Krawatte, die Damen Abendgarderobe, Guttenberg trug eine blaue Windjacke, eine tarnfarbene Hose und Wüstenstiefel. Er kam gerade aus Kunduz, wo er mit Bundeskanzlerin Angela Merkel die deutschen Soldaten besucht hatte. Es wäre kein Problem gewesen, sich für den Empfang umzuziehen, aber Guttenberg wollte den martialischen Auftritt, der Mann aus dem Krieg. Berlin schnatterte. Am Dienstag meldete die ARD, Guttenberg sei nicht für einen schnellen Abzug aus Afghanistan ungeachtet der Lage dort. Das sah nach einer Kritik an Außenminister Guido Westerwelle aus, der dafür ist, 2011 mit dem Abzug zu beginnen. „Guttenberg rügt FDP-Chef“, schrieb die „Süddeutsche Zeitung“. Berlin raunte. Guttenberg bedient wie kein anderer das Interesse am Klatsch, an Show und Politik. Westerwelle ist da nicht viel anders. Auch er liebt den großen Auftritt und die Vermischung von Privatem und Politischem. Aber ihm fehlt die Fortune. Während Guttenberg der Star der Stunde ist, kämpft Westerwelle um sein politisches Überleben. Das Thema, das ihn retten soll, ist ausgerechnet Afghanistan, das heikelste Thema der deutschen Politik. 70 Prozent der Bürger lehnen den weiteren Einsatz der Bundeswehr dort ab. Man kann sich leicht Freunde machen, wenn man einen schnellen Abzug fordert. Westerwelle hat genau das in Aussicht gestellt. Guttenberg, dem Populismus auch nicht fremd ist, bezieht in diesem Fall die Position des Unpopulären. Dem SPIEGEL sagte er am Mittwoch, dass ein Abzug nur in Frage komme, „wenn die Lage es erlaubt“. * Bei einem Truppenbesuch am 4. November in der Nähe von Kunduz.
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Er machte deutlich, dass für ihn nicht die Jahreszahlen maßgeblich sind. „Die Lage ist entscheidend“, sagte er. Bei Westerwelle klingt das anders. Er vermittelte in seiner Regierungserklärung zu Afghanistan am vergangenen Donnerstag den Eindruck, dass der Abzug Ende 2011 beginnen werde und der gesamte Einsatz 2014 beendet sei. Zwar wird im
neuen Mandat stehen, dass ein Abzug von der Lage abhängt, aber beide Minister setzen verschiedene Schwerpunkte. Für Guttenberg ist die Lage wichtiger als die Jahreszahl. Bei Westerwelle ist es umgekehrt. Und Merkel? Sie reiht sich mal wieder mittig ein. Zwar hat auch sie gesagt, dass die Lage in Afghanistan wichtig sei für
Verteidigungsminister Guttenberg*: Die Lage ist entscheidend, nicht die Jahreszahlen D E R
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ODD ANDERSEN / AFP
Abzugsbefürworter Westerwelle*
Kampf ums politische Überleben
wäre womöglich vorbei, wenn sich die afghanische Armee nicht gegen die Taliban durchsetzen kann. Darum geht es vor allem bei dem Wort „Lage“: Kann die Regierung in Kabul selbst für Sicherheit und Ordnung sorgen?
HANNIBAL HANSCHKE / DAPD
die Frage, ob die Bundeswehr abzieht oder nicht. Aber das Datum 2011 gefällt ihr auch, weil sie damit die SPD ins Boot holen kann. Im Januar wird über ein neues Mandat abgestimmt, und Merkel möchte den Einsatz in Afghanistan nicht ohne die andere Volkspartei verantworten. So wirbelt das Thema Abzugstermin durch die Strudel der Innenpolitik. Es geht um die Rivalität der Parteien, es geht um die Rivalität zweier Minister. Das spricht nicht dafür, dass in dieser Frage, in der es um Menschenleben geht, deutsche und afghanische, zuallererst nach vernünftigen Kriterien entschieden wird. Bislang verloren 45 deutsche Soldaten dort ihr Leben. Der Strom dieser schlechten Nachrichten würde nach einem Abzug abreißen. Aber vielleicht kämen andere. Die Deutschen haben Verantwortung für den Norden Afghanistans und konnten dort bislang für halbwegs erträgliche Lebensbedingungen sorgen. Das
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Guttenbergs Position, dass die Lage entscheidend ist, wird zum Beispiel von Ruprecht Polenz unterstützt, dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag. „Es ist in Ordnung, zeitliche Ziele für einen Rückzug vorzugeben, aber man muss klarmachen, dass alles davon abhängt, wie sich die militärische und die politische Situation entwickeln.“ Falls sich die Lage bis 2014 nicht gebessert habe, müsse die Bundeswehr bleiben, sagt Polenz. Omid Nouripour, verteidigungspolitischer Sprecher der Grünen, sieht das ähnlich: „Man kann jetzt noch kein definitives Enddatum für den Abzug nennen. Wir müssen alles daransetzen, 2014 rauszukönnen, aber wir wissen jetzt noch nicht, ob das dann zu verantworten wäre.“ Die Debatte um das Abzugsdatum sei derzeit leider vor allem innenpolitisch motiviert und verliere die Lage der Menschen in Afghanistan aus dem Blick. Der frühere Generalinspekteur und Vorsitzende des Nato-Militärausschusses Harald Kujat hat für innenpolitisch motivierte Kapriolen nichts übrig: „Damit hat sich Westerwelle an die Spitze der Karawane gesetzt“, sagt er. „Ich hoffte immer, dass daraus kein Wettlauf wird, aber diese Hoffnung scheint vergebens.“ Sobald der Rückzug beginne, werde das Risiko für die Verbliebenen größer. Insofern sei das „ein ganz gefährliches Spiel, das da gespielt wird“. Der Großteil der SPD steht dagegen fest in Westerwelles Lager. Gleichzeitig aber setzt der Außenminister die SPD unter Druck: Wenn selbst er nun abziehen will, müssten die Sozialdemokraten ihn eigentlich noch überbieten, um wenigstens ein bisschen als Friedenspartei dazustehen. Dem neuen Mandat werden sie noch einmal zustimmen, drohen aber bereits, sich 2012 zu verweigern: „Die Bundesregierung muss im Verlauf des Jahres Pläne zum Abzug vorlegen, und er muss im Laufe des Jahres beginnen“, sagt das Präsidiumsmitglied Martin Schulz. „Tut sie das nicht, ist das erstens schlecht für Deutschland, zweitens handelt sie dann von 2012 an auf eigene Rechnung. Einem neuen Mandat würde die SPD dann nicht mehr zustimmen.“ Als ersten Schritt fordert Schulz: „Die flexible Reserve von 350 Mann wurde ohnehin nie in Anspruch genommen. Deshalb sollte sie so schnell wie möglich aufgelöst werden.“ So würden also zumindest die Soldaten „abgezogen“, die nie ausgerückt sind. Dies ist auch eine Debatte mit dem Salzstreuer. Man streut Salz in die Augen der Bevölkerung, redet von Lage, redet * Mit dem afghanischen Außenminister Zalmai Rassoul im Oktober in Berlin.
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MAJID SAEEDI / GETTY IMAGES
Deutschland
Ex-Talibankämpfer in Herat*: Ruhig verhalten, bis die Besatzer verschwunden sind
von Abzug, ohne dass klar ist, was diese Wörter wirklich meinen. Es gibt kein objektives Bild von der Lage in Afghanistan. Es gibt Fortschritte und Rückschritte, es gibt viele verschiedene Lagen, je nach Region, je nach Monat. Das offizielle Bild der Bundesregierung steht im „Fortschrittsbericht Afghanistan“. Dort heißt es, die Sicherheitslage habe sich seit 2006 kontinuierlich verschlechtert. Die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte funktioniere aber mittlerweile und lasse auf eine Trendwende im kommenden Jahr hoffen. Als Probleme werden genannt: Korruption, staatliche Willkür und der mangelnde Wille der Regierung in Kabul, eine funktionierende Verwaltung aufzubauen. Die Aussagen zum Abzug der deutschen Truppen bleiben vorsichtig. Die Nato unterstütze weiter das Ziel der afghanischen Regierung, bis Ende 2014 die Verantwortung für die Sicherheit im ganzen Land zu übernehmen. Ein Abzug deutscher Soldaten wird in dem Bericht erst für 2012 in Aussicht gestellt. Ziel der Bundesregierung sei es, im kommenden Jahr auch im deutschen Verantwortungsbereich den Transitionsprozess einzuleiten: „Dies wird nicht sofort zu einem Abzug von Soldaten führen, dafür aber eine klare Perspektive ab 2012 eröffnen.“ Westerwelle sollte am Donnerstag der vergangenen Woche eine Regierungserklärung zu diesem Bericht abgeben. Am Morgen telefonierte er deshalb mit Guttenberg. Die Endfassung der Rede, die Westerwelle halten würde, gab es noch nicht schriftlich. Der Außenminister woll* Bei der Abgabe ihrer Waffen im November.
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te bis zur letzten Minute mit seinem Afghanistan-Beauftragten Michael Steiner am Text feilen. Guttenberg wiederum wollte sichergehen, dass sein Kabinettskollege auch die Botschaft vermittelte, auf die man sich mit dem Kanzleramt geeinigt hatte. Es ging um die Frage, ob Westerwelle einen Truppenabzug schon im Jahr 2011 ankündigen sollte. Er wollte dies unbedingt. Guttenberg war skeptisch. Er fürchtete, dass die Regierung hinter die Zahl nicht mehr zurück könne. Man einigte sich darauf, dass Westerwelle ein mögliches Abzugsdatum nennen würde. Er versprach aber klarzustellen, dass nur Soldaten abgezogen würden, wenn gewisse Bedingungen erfüllt seien. Als Guttenberg Westerwelles Rede hörte, wunderte er sich. „Heute bin ich zuversichtlich genug, um zu sagen: Ende 2011 werden wir unser Bundeswehrkontingent in Afghanistan erstmals reduzieren können“, sagte der Außenminister. Das klang apodiktisch. Westerwelle konnte sich allerdings darauf berufen, dass er sich formal an die Absprache gehalten hatte. Die Bedingungen erwähnte er, aber nur in einem Nachsatz. Die Botschaft der Regierungserklärung, das sah nicht nur Guttenberg so, war eindeutig: Der Abzug beginnt im kommenden Jahr. Allerdings gab Guttenberg daraufhin nicht der ARD erbost ein Interview, um den Außenminister in die Schranken zu weisen, wie es zunächst den Anschein hatte. Das Interview war schon zwei Wochen alt, als es die ARD sendete. Schon damals hatte Guttenberg vor allem Westerwelle gemeint: „Jeder Ehrgeiz muss sich an der Verantwortung messen lassen. D E R
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Ich kann für mich oder die Bundesregierung nicht verantworten, verbleibende Soldaten zu gefährden, bloß weil man einer gewissen Sache nachkommen will, die man behauptet hat.“ Jeder Termin ist auch eine Einladung an die Taliban, sich ruhig zu verhalten, bis die Besatzer verschwunden sind. Mit gesammelten Kräften können sie dann den Kampf gegen die Regierung von Hamid Karzai aufnehmen. Für die afghanische Bevölkerung seien die Abzugstermine kein gutes Signal, sagt deshalb der ehemalige Nato-Befehlshaber Egon Ramms (siehe Seite 23). Doch auch in den USA nimmt die Debatte um das Abzugsdatum an Fahrt auf, und die Deutschen sind abhängig von den Verbündeten. Es ist undenkbar, dass die Bundeswehr die Stellung hält, wenn die Amerikaner weg sind. Viele der Unterstützer Obamas halten in Meinungsumfragen den weiteren Kampf am Hindukusch für aussichtslos. Selbst von den eigentlich kriegsfreudigen Republikanern sind nachdenkliche Töne zu hören. 2014 schwirrt als neue Zielvorgabe durch Washingtons Debatten. Beim Nato-Gipfel in Lissabon Ende November sprach Obama dieses Datum offen an, was sogar seine engsten Mitarbeiter überraschte. Zwar hielt auch er sich ein Hintertürchen offen. Es werde natürlich nach Lage entschieden, sagte er. Doch sein Vizepräsident Joe Biden legte in einem Fernsehinterview am vergangenen Sonntag nach: Ende 2014 seien alle US-Soldaten raus aus Afghanistan, gelobte er forsch, komme „die Hölle oder Hochwasser“. Allerdings heißt Abzug nicht, dass keine amerikanischen Streitkräfte mehr in Afghanistan bleiben sollen. Aus dem Irak sind die US-Truppen auch offiziell abgezogen. Tatsächlich stehen dort aber immer noch knapp 50 000 Soldaten. Ist das ein Abzug? Eine ähnliche Lösung stellt sich auch das Kanzleramt in Berlin vor. Merkel glaubt nicht, dass Hamid Karzai Afghanistan vernünftig regieren kann. Trotzdem will sie den deutschen Einsatz im Jahr 2014 zum Abschluss bringen. Genauer gesagt: zum Abschluss in der Form, die der Einsatz jetzt hat. Die Lösung sieht so aus: Ein Teil der Soldaten wird bleiben, aber der Auftrag verändert sich. Die Bundeswehr rückt nicht mehr regelmäßig aus, um Taliban zu bekämpfen, sondern bleibt in den Feldlagern. Nur die Ausbildung der afghanischen Nationalarmee wird fortgesetzt. Es ist also fraglich, ob der deutsche Einsatz 2014 wirklich zu Ende geht, jedenfalls wenn Schwarz-Gelb die Wahl 2013 übersteht. Seine Wüstenstiefel wird Guttenberg womöglich noch lange brauchen. RALF BESTE, CHRISTOPH HICKMANN, DIRK KURBJUWEIT, RALF NEUKIRCH, GREGOR-PETER SCHMITZ
SEAN GALLUP / GETTY IMAGES
Bundeswehr-Rekruten: „Der Bevölkerung wurde ein völlig falsches Bild vermittelt“ BUNDESWEHR
„Soldaten wollen geliebt werden“ Der ehemalige Nato-Befehlshaber für Afghanistan, General a. D. Egon Ramms, 62, über einen frühen Abzugstermin und das schwierige Verhältnis von Politik und Militär
MAURICE WEISS / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Herr Ramms, Sie waren zuletzt SPIEGEL: Viele Militärs gehen davon aus, fast vier Jahre lang Chef der gesamten dass es noch 20, vielleicht 30 Jahre dauert. Isaf-Mission in Afghanistan. Die Bundes- Sehen Sie das auch so? regierung will die Bundeswehr bis 2014 Ramms: Diese Aussage mag für den Gezumindest zu großen Teilen aus dem samtansatz richtig sein. Für den SicherLand abziehen. Wenn es nach Außen- heitsanteil ist sie nicht zutreffend. Mit der minister Guido Westerwelle und der SPD Ausbildung der afghanischen Armee und geht, soll der Abzug 2011 beginnen. Was der Polizei kommen wir ganz gut voran. Was immer noch fehlt, ist ein funktioniehalten Sie von solchen Terminen? Ramms: Für die afghanische Bevölkerung render Staat. Es fehlt ein Justizsystem, es sind sie kein gutes Signal. Ich habe selber gibt keinen funktionierenden Strafvollerlebt, wie sich Präsident zug, keine funktionierende Karzai erschrocken hat, als Verwaltung. Hier müssten ich 2007 etwas unbedacht sich neben dem Außenmivon einem Abzugsdatum nisterium und dem Entwicksprach. Unsere Gegner, die lungshilfeministerium auch Aufständischen, können andere Ressorts deutlich sich nach solchen Daten mehr engagieren. SPIEGEL: Da haben Sie sich den Wecker stellen. Wir um die Antwort gedrückt. dürfen die Afghanen nicht Was ist, wenn die Afghanen alleinlassen. Und die Deut2014 nicht selbst für ihre schen – wie alle anderen Sicherheit sorgen können? auch – warne ich vor überBleibt die Bundeswehr triebenen Hoffnungen. Wir dann doch länger? können aus Afghanistan Ramms: Die Afghanen wererst abziehen, wenn die den 2014 noch nicht selbst Afghanen in der Lage sind, für ihre Sicherheit sorgen für ihre eigene Sicherheit können, auch wenn wir zu sorgen. Das kann noch General a. D. Ramms „Militär ist unpopulär“ ihnen bis dahin die Verdauern. D E R
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antwortung übergeben. Aber schon im Jahr 2016 oder 2017 könnte es so weit sein. In Kabul leisten die afghanischen Sicherheitskräfte, die diese Verantwortung seit dem Herbst 2008 übernommen haben, schon heute sehr gute Arbeit. Aber unsere türkischen Verbündeten stehen immer noch hinter ihnen. Das ist die Realität. SPIEGEL: Viele der Soldaten und Polizisten sind wenig verlässlich. Sie ergreifen lieber die Flucht, als zu kämpfen. Zudem ist Korruption weit verbreitet. Ramms: Korruption gibt es auch in Deutschland. SPIEGEL: Gibt es bei der Bundeswehr Korruption? Ramms: Die Bundeswehr halte ich für sehr sauber. SPIEGEL: Zurück zu den afghanischen Sicherheitskräften. Bis 2014 wird es nicht gelingen, aus dieser Truppe eine schlagfertige Armee zu machen. Ramms: Wir müssen es mit allen Mitteln versuchen. Es gibt keine Alternative. SPIEGEL: Eine Alternative wäre: sofort abziehen, weil es ohnehin nicht gelingen wird, aus Afghanistan ein funktionierendes Land nach unseren Maßstäben zu machen. Ramms: Wenn wir heute das Land verließen, würden die Taliban morgen die Gewalt im Land übernehmen. Dann würde es vielen Frauen im Land so ergehen wie dem Mädchen auf dem Cover des Magazins „Time“: Nase ab. Wollen wir das verantworten? SPIEGEL: Die andere Alternative ist: sehr lange bleiben. Ramms: Das können wir aus rein innenpolitischen Gründen weder der deutschen Bevölkerung noch dem Bundeshaushalt zumuten. Die Frage ist, wie weit innenpolitische Gründe außenpolitische Handlungszwänge dominieren dürfen. 23
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war bei diesen politischen Verhandlungen nicht dabei. Ich musste das Ergebnis zur Kenntnis nehmen. SPIEGEL: Die Politik hat von Anfang an versucht, die deutschen Soldaten in Afghanistan aus den Gefahrenzonen rauszuhalten. Bundeswehrsoldaten hätten nur zu konkreter Nothilfe zeitlich befristet in den umkämpften Süden des Landes gedurft. Ist Ihnen das vor den Nato-Partnern peinlich gewesen? Ramms: Das war und ist manchmal peinlich. Wenn wir die uns zustehende Rolle im Bündnis spielen wollen, dann muss sich das ändern. SPIEGEL: Neuerdings heißen die Truppen, die in den Einsatz nach Afghanistan gehen, nicht mehr Quick Reaction Force, sondern Ausbildungs- und Schutzbataillone. Die Soldaten machen aber weitgehend dasselbe: kämpfen. Ist das Volksverdummung? Ramms: Auf einer Sitzung mit hochrangiUS-Soldat, Präsident Obama bei Ordensverleihung: „Eine Ehre, den Streitkräften zu dienen“ gen Teilnehmern wurde besprochen, wie die Bundeswehr künftig afghanische SolSPIEGEL: Auf dem Balkan sind deutsche das Parlament heute mit großer Mehrheit daten ausbildet, also wie deutsche SolSoldaten doch auch schon seit mehr als Soldaten in den Krieg, aber reden wollen daten gegen die Aufständischen kämpfen. zehn Jahren im Einsatz. viele Abgeordnete mit ihren Wählern Das Erste, was die Herren beschäftigt hat, Ramms: Sie haben schon recht. Die Politik darüber lieber nicht. Die werfen ihre war die Frage: Wie können wir das nenmüsste ehrlicher sein und von Anfang an Stimmkarte in die Urne. Fertig. nen, ohne die deutsche Bevölkerung zu sagen, dass ein solcher Einsatz sehr lange SPIEGEL: Ihre Hauptansprechpartner wa- erschrecken? Das Ergebnis: Ausbildungsren die Verteidigungsminister. Reden wir und Schutzbataillon. Klingt ganz friedlich, dauern kann. SPIEGEL: Aber die Politik hört ungern auf mal über die beiden letzten: Wie viel Ver- oder? die Generäle. Warum ist Ihre Expertise ständnis für Ihre Anliegen fanden Sie bei SPIEGEL: Die Politik in Deutschland ist bei Politikern so wenig gefragt? Verteidigungsminister Franz Josef Jung? sehr darum bemüht, alles Militärische so Ramms: Politiker haben Schwierigkeiten Ramms: Ich habe Minister Jung unmilitärisch wie möglich wirim Umgang mit Soldaten. Die haben 2008 sehr ausführlich die Lage ken zu lassen. Glauben Sie, wohl noch nicht mitbekommen, dass un- in Afghanistan geschildert. Es „Das Parlament dass sich dieses Land, das Krieg schickt Solsere Soldaten heute mit beiden Beinen war damals schon klar, dass führt, wieder an eine Kriegskuldaten in den tur gewöhnen muss? wirklich fest auf dem Boden der Verfas- sich die Situation im Norden besung stehen. In kaum einem anderen denklich zuspitzen würde. Er Krieg, aber vie- Ramms: Die Bundeswehr hat in Land ist die Kontrolle der Politik so groß. hat darauf nicht reagiert. So ge- le Abgeordnete den sechziger und siebziger SPIEGEL: Hat die Bundeskanzlerin jemals nau wollte er es gar nicht wismit dem Slogan geworwollen nicht Jahren mit Ihnen über Afghanistan gesprochen? sen. Meine Lagebeurteilung ben: „Ein Job wie jeder andeRamms: Jawohl. Die Bundeskanzlerin hat und seine Wunschvorstellung darüber reden.“ re“. Auf den Werbeplakaten mir sehr sorgfältig zugehört, allerdings lagen zu weit auseinander. standen Soldaten neben dem SPIEGEL: Was hätte Jung denn Ihrer Mei- Bäcker, dem Metzger und dem Schornerst im letzten Jahr meiner Dienstzeit. SPIEGEL: Bleiben fast drei Jahre Desinter- nung nach tun müssen? steinfeger. Da wurde der Bevölkerung ein Ramms: Man hätte mit zusätzlichen Sol- völlig falsches Bild vermittelt. Das müsesse. Wie erklären Sie sich das? Ramms: Das Verhalten der deutschen Be- daten den Einfluss der Taliban vermutlich sen wir korrigieren. Und das ist dringend. SPIEGEL: Wie soll das gehen? völkerung zu den Soldaten an sich, aber geringer halten können. insbesondere auch zu den Einsätzen ist SPIEGEL: Mit anderen Worten: Jung hätte Ramms: Das geht nicht mit einem Fingerschnipp oder mit zwei guten Reden. Das von Desinteresse gekennzeichnet. Der eine Eskalation verhindern können? evangelische Militärbischof Martin Dutz- Ramms: Sagen wir es mal so: Einfach die ist ein Prozess. Der muss bereits in der mann hat neulich gesagt: Das „freund- Augen zu verschließen kann im Krieg Schule beginnen. Es muss mehr über den Beruf des Soldaten gesprochen werden. liche Desinteresse“, wie es Horst Köhler sehr gefährlich sein. genannt hat, sei dem blanken Desinteres- SPIEGEL: Versteht Verteidigungsminister Wie bei den Amerikanern. In den USA Karl-Theodor zu Guttenberg das Militär ist es eine Ehre, den Streitkräften zu se gegenüber den Soldaten gewichen. SPIEGEL: Möchten Politiker nicht mit un- besser? dienen. populären Dingen wie dem Krieg in Af- Ramms: Mit ihm bin ich zufrieden. Aber SPIEGEL: Die Begriffe „Soldat“ und „Ehre“ klingen in Deutschland eben immer noch ghanistan in Verbindung gebracht werden? das müssen andere beurteilen. Ramms: In Deutschland ist ja nicht nur SPIEGEL: Viel mehr Soldaten hat der Ihnen seltsam. Aber eine letzte Frage: Fühlen der Einsatz in Afghanistan unpopulär. aber auch nicht verschafft. 500 zusätz- sich die Soldaten von der Politik im Stich Das Militär ist generell unpopulär. Aus liche Soldaten in Afghanistan und 350 als gelassen? historischen Gründen. Die Bundeswehr Reserve. Nach Berechnungen von Nato- Ramms: Ja. Und das muss sich ändern. Die ist nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur Kreisen wären 2500 Soldaten angemessen Soldaten wollen geliebt werden. Diese Aussage ist nicht neu; sie stammt von demokratisiert, sondern im Rahmen der gewesen. Friedensdiskussionen auch in eine Außen- Ramms: 2000 zusätzliche Soldaten wären Friedrich dem Großen. INTERVIEW: ULRIKE DEMMER, DIRK KURBJUWEIT seiterrolle gedrängt worden. Zwar schickt schon gut gewesen, das stimmt. Aber ich 24
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Deutschland bohrmaschinen oder Windkraftanlagen her. Nach dem tiefen Absturz vor zwei KONJUNKT UR Jahren zog die Nachfrage zuerst in Asien wieder an, mittlerweile ordern aber auch Kunden aus Deutschland. „Auch hier wachsen wir sehr zufriedenstellend“, berichtet Karl Haeusgen, Eigentümer und Chef des Maschinenbauunternehmens. Wirtschaft und Regierung blicken mit Zuversicht ins nächste Jahr. „Es ist unglaublich, aber das Auftrags2011 verspricht eine Fortsetzung des Aufschwungs. niveau liegt sogar schon wieder über dem unseres Rekordjahres 2008.“ Doch die Euro-Krise könnte auch Rückschläge provozieren. Die Kurzarbeit hat das Unternehmen ürzlich standen Bundespräsident Vollbeschäftigung“, jubiliert Wirtschafts- im März beendet, der Konzern mit knapp Christian Wulff und seine Gattin minister Rainer Brüderle (FDP). Was Re- 1800 Mitarbeitern stellt nun sogar wieder Bettina dem Aufschwung im Weg. gierung, Arbeitgeber und auch Gewerk- ein. In den Auftragsbüchern hat HaeusEs war Mitte Dezember, und das Präsi- schafter zuversichtlich stimmt: Anders gen in diesem Jahr 70 Prozent mehr Ordentenpaar besichtigte den Sensorenher- als in vergangenen Jahren hängt der der vermerkt als im Vorjahr. „Das ist gesteller Sick im badischen Waldkirch. Aufschwung diesmal nicht nur vom Ex- waltig“, sagt er. Mühsam zwängte sich der hohe Besuch port ab. Nicht nur die Nachfrage nach Investian den Montagetischen und Fließbändern Auch der Konsum hat merklich ange- tionsgütern belebt sich, die Deutschen vorbei. Ein richtiges Gespräch zwischen zogen. Und die Unternehmen fahren ihre haben auch ihre Freude am Konsum wiePräsident und Belegschaft gestaltete sich Investitionen hoch. derentdeckt. Das Kulturkaufhaus Dussschwierig. Schuld daran war nicht mann in Berlin-Mitte etwa ist in die Lautstärke in der Fabrikationsder Adventszeit überfüllt, die halle. Ingenieure und Monteure Schlangen an den Kassen reichen Jüngste Wachstumsprognosen, bis zur Eingangstür. „Das Weihhatten einfach keine Zeit zum 3,2 Dezember 2010 nachtsgeschäft läuft super“, freut Plaudern. Sie waren im Stress, sie mussten produzieren. sich Geschäftsführerin Julia Cla2,5 „Angesichts der Auftragslage ren. Ähnlich euphorisch gibt 2,4 2,3 2,3 konnten wir die Maschinen einsich Stefan Genth, Chef des 2,0 deutschen Einzelhandelsverbands. fach nicht anhalten“, sagt Konzernchef Robert Bauer. Man habe den „Die Stimmung bei den Händlern Wulffs eben „die reale Lage vor ist so gut wie seit zehn Jahren Krisenjahr Ort“ gezeigt. Wulff mag Präsident nicht mehr.“ Selbst die angeschlasein, aber der Kunde ist König. gene Warenhauskette Karstadt 2009 Die Wirklichkeit des Auffasst neuen Mut. „Wir merken Rückgang des 3,8 3,7 3,7 3,7 3,7 schwungs bei Sick sieht so aus: ganz klar, dass der Konsum anBruttoinlands36 3,6 2010 gingen 25 Prozent mehr Aufzieht“, sagt eine Sprecherin. produkts träge ein als im Vorjahr. 200 neue Und so soll es bleiben. Die BinLeute hat Bauer dieses Jahr in seinennachfrage wird zur Stütze des nem deutschen Werk eingestellt. Aufschwungs. Konsum und InvesMittlerweile gibt es sogar Materialtitionen werden im nächsten Jahr engpässe, weil die Nachfrage nach den größten Anteil am Wachstum Lichtschranken und Sensortechnik haben, das nach Einschätzung der in den vergangenen Monaten raKonjunkturexperten für deutsche sant stieg. „Wir arbeiten am AnVerhältnisse kraftvoll bleiben wird. schlag“, sagt Bauer. Die aktuellen Prognosen der WirtNicht nur in Waldkirch bei Freischaftsforschungsinstitute pendeln burg brummt es, in der ganzen Rezwischen 2,3 und 3,2 Prozent. publik steht die Wirtschaft unter Auch die Bundesregierung Dampf. Die Automobilindustrie kommt nicht darum herum, ihre fährt Sonderschichten, der Maschivorsichtige Vorhersage von 1,8 Pronenbau hat seine Produktionsein- IMK: Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung; IWH: Institut für zent fürs nächste Jahr nach oben Wirtschaftsforschung Halle; IfW: Institut für Weltwirtschaft bußen aus der Krise wieder wettzu korrigieren. Im Jahreswirtgemacht, auch Handwerk und schaftsbericht der Regierung, der Dienstleistungsunternehmen stellen ein. Beide Faktoren zusammen bestimmen gerade unter Federführung des BMWi erKein Zweifel, Deutschland hat die tiefste im Wesentlichen die Binnennachfrage, arbeitet und Ende Januar veröffentlicht Rezession der Nachkriegszeit in Rekord- die in Deutschland über Jahre hinweg wird, findet sich wohl eher eine Prognose geschwindigkeit überwunden. deutliche Zeichen von Schwäche zeigte. über 2,3 Prozent oder 2,4 Prozent, GeDieses Jahr wächst die Wirtschaft um Das ist vorbei. „Der Aufschwung hat sich naues steht noch nicht fest. fast vier Prozent, so stark wie seit fast 20 gefestigt und an Breite gewonnen“, heißt Die beachtlichen Wachstumsraten beJahren nicht mehr. Über 40 Millionen es in einer aktuellen Konjunkturexperti- legen, dass Deutschland von allen entwiDeutsche gehen derzeit einer Beschäfti- se des Bundeswirtschaftsministeriums ckelten Volkswirtschaften die Krise mit gung nach, so viele wie noch nie. Spie- (BMWi). am besten überwunden hat. Während die gelbildlich dazu sinkt die Arbeitslosigkeit, Wie glimpflich die deutsche Industrie USA, Frankreich oder Großbritannien die Marke von drei Millionen ist seit eini- durch die Krise gekommen ist, lässt sich noch unter den Folgen der tiefen Rezesgen Monaten unterschritten. in einer Werkhalle im Münchner Osten sion zu leiden haben, scheint die deutsche Schon erfasst manchen Politiker Über- besichtigen. Hier stellt die HAWE Hy- Wirtschaft durch nichts zu bremsen zu mut. „Wir sind auf der Schnellstraße zur draulik Ventile und Pumpen für Tunnel- sein. In der Euro-Zone ist die Bundes-
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Rein in die Krise ...
... raus aus der Krise
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Bundespräsident Wulff (r.) bei Besichtigung der Firma Sick: Keine Zeit zum Plaudern
republik längst die Wachstumslokomotive. Selbst die Turbulenzen rund um den Euro machen sich bislang kaum bemerkbar. Sämtliche Stimmungsindikatoren, vom Ifo-Geschäftsklimaindex bis zum Mittelstandsbarometer der KfW, signalisieren eine Fortsetzung des Aufschwungs. Sie spiegeln die Erwartung steigender Einkommen, Gewinne, Auslastung und Konsumneigung. Das neue deutsche Wirtschaftswunder hat viele Ursachen. Das Land erntet nun die Früchte seiner Reformanstrengungen aus dem vergangenen Jahrzehnt. Die Staatsfinanzen waren vor der Krise halbwegs saniert, der Gesamtstaat schrieb schwarze Zahlen. Die Hartz-Reformen machten den Arbeitsmarkt beweglicher. Weil die Löhne jahrelang kaum stiegen, erhöhte sich die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen. Hinzu kommt, dass Deutschland die Fehlentwicklungen in den angelsächsischen Ländern und den Randstaaten der Euro-Zone vermied. Weder hat es heute unter den Folgen einer geplatzten Immobilienblase zu leiden, noch muss es einen übermäßig gewucherten Finanzsektor gesundschrumpfen. Beides, so lehrt die Erfahrung, führt in den betroffenen Ländern zu jahrelangen Schwierigkeiten. So konnte sich der jüngste Aufschwung überraschend schnell entwickeln. „Das Wachstum der Weltwirtschaft gab dem deutschen Außenhandel Impulse und stärkte die binnenwirtschaftlichen Auftriebskräfte“, beschreibt das BMWi-Papier die Entwicklung. Investitionen und Konsumausgaben belebten sich seit dem Frühjahr. „Sie bestimmen nun, zusammen mit anhaltenden außenwirtschaftlichen Impulsen, das Expansionstempo“, schreiben die Experten von Wirtschaftsminister Brüderle.
Zusätzlich profitiert die deutsche Wirtschaft von den niedrigen Zinsen der Europäischen Zentralbank (EZB). Die sind, gemessen an der deutschen Wirtschaftsentwicklung, zu niedrig. Wäre die Bundesbank noch für die Geldpolitik in Deutschland zuständig, hätte sie die Leitzinsen längst erhöht. Die EZB aber orientiert sich am Durchschnitt der EuroZone, in der von kräftigem Aufschwung meist keine Rede sein kann. „Die Situation ist spiegelverkehrt zu der Zeit vor zehn Jahren“, sagt Joachim Scheide, Konjunkturchef beim Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW). „Damals litt Deutschland unter zu hohen Zinsen, während die Länder rund ums Mittelmeer boomten. Heute ist es umgekehrt.“ Die Niedrigzinspolitik wird das Wachstum in Deutschland weiter befeuern, da sind sich alle Konjunkturforscher einig. Unterschiedlich schätzen sie allein den weiteren Verlauf der Entwicklung ein. Das Lager der Optimisten, angeführt von Hans-Werner Sinn, Chef des Münchner Ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, rechnet mit einem lang anhaltenden Aufschwung. Sinn bezeichnet die wirtschaftliche Lage als „Wintermärchen“, die deutsche Wirtschaft habe „glänzende Aussichten“. Das private Forschungsunternehmen Kiel Economics, eine Ausgründung des renommierten IfW, überschreibt das Szenario, das es für das wahrscheinlichste hält, mit dem verheißungsvollen Titel „Die fetten Jahre“. Beide Institute sagen dauerhaftes Wachstum voraus, alle segensreichen Wirkungen inklusive. So werde sich die Lage am Arbeitsmarkt weiter spürbar entspannen. 2015, so die Prognose von Kiel Economics, sinke die Zahl der Arbeitslosen sogar unter die Grenze von zwei Millionen. Die Arbeitslosenrate liege dann unD E R
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ter fünf Prozent, eine Höhe, die Ökonomen mit Vollbeschäftigung gleichsetzen. Auch der Zustand der Staatsfinanzen werde sich rapide verbessern. 2015 könnten sich die Finanzminister von Bund und Ländern sowie die Kämmerer der Gemeinden über Überschüsse von insgesamt 80 Milliarden Euro freuen, rechnet Kiel Economics vor. Das wäre genügend Finanzmasse, um sowohl Schulden zurückzuzahlen, als auch die Steuern zu senken. Schon heute zeigt sich, welch positive Wirkungen höheres Wachstum und mehr Beschäftigung auf die Staatsfinanzen haben. Statt 80 Milliarden Euro muss Finanzminister Wolfgang Schäuble in diesem Jahr wohl weniger als 50 Milliarden Euro neue Schulden machen. Auch das Defizit von Bund, Ländern und Gemeinden fällt 2010 viel geringer aus als zunächst gedacht. Schäubles Experten rechnen derzeit mit einem Minus von rund 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Dank der Wachstumsbeschleunigung soll das Defizit nächstes Jahr schon wieder deutlich unter der Obergrenze von drei Prozent liegen. Doch es gibt auch pessimistischere Stimmen. Gustav Adolf Horn, Chef des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, sieht drei Gefahrenherde für die weitere ökonomische Entwicklung. So schwäche sich die Weltkonjunktur schon wieder ab, weil aufstrebende Volkswirtschaften, allen voran China, ihr Wachstum dämpfen. Gefahr drohe zudem aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Zahlreiche Regierungen haben einen harschen Sparkurs eingeschlagen. Und auch die noch immer ungelöste Euro-Krise könnte zu einem ernsthaften Rückschlag führen. „Für 2012 kann ein Abschwung oder gar eine Rezession nicht ausgeschlossen werden“, sagt Horn voraus. IfW-Konjunkturchef Scheide hält einen Absturz sogar schon im nächsten Jahr für möglich, wenn ein Land der Euro-Zone doch noch in die Insolvenz schlittern sollte. „Das würde noch schmerzlichere Folgen haben als die Lehman-Pleite“, sagt Scheide. In diesem Fall würde das Wachstum in Deutschland im kommenden Jahr auf unter ein Prozent stürzen. Die Wahrscheinlichkeit für dieses Szenario beziffert der Kieler Ökonom auf 20 Prozent. Dass die Euro-Krise den aktuellen Aufschwung stoppen könnte, ist auch der Bundeskanzlerin bewusst. Deshalb will Angela Merkel in ihrer Neujahrsansprache zurückhaltende Töne anschlagen und jeden Anflug von Triumph vermeiden. Sicher, sie werde ihre Freude ausdrücken, dass die Krise überwunden scheint, Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand wieder steigen, heißt es im Kanzleramt. Sie sei aber weit davon entfernt, ein „goldenes Zeitalter“ auszurufen. KATRIN ELGER, CHRISTIAN REIERMANN
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CLAUDIO HILS / AGENTUR FOCUS (L.); NORBERT MICHALKE (U.); ASU / PICTURE-ALLIANCE / DPA (M.); STEFFI LOOS / DAPD (O.)
Deutschland
Euro-Druckplatten, -Gegner Hochhuth, Adenauer, Henkel: „Rettet unser Geld!“ EURO
Deutsche Urangst Viele Bundesbürger sorgen sich um den Euro, die Parteien kümmert das wenig. Im Schatten der Krise wächst die Chance für eine Bürgerbewegung gegen die Gemeinschaftswährung.
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ls Dramatiker weiß Rolf Hochhuth, wie man zur rechten Zeit den größtmöglichen Effekt erzielt. In den sechziger Jahren kritisierte er den Papst wegen seines Schweigens zum Holocaust; als alle Welt von der Globalisierung sprach, führte er Unternehmensberatungen wie McKinsey im Theater als Ausbeutungsmaschinerie vor. Jetzt zieht Rolf Hochhuth gegen den Euro zu Felde. Seine Bühne ist das Bundesverfassungsgericht. „Warum sollen wir den griechischen Betrugsbankrott abfangen helfen? Seit Odysseus weiß die Welt, die Griechen sind die bedeutendsten aller Schlitzohren!“, sagt er. „Wie kann denn überhaupt, wenn nicht vorsätzlich geplant, ausgerechnet dieses vielbesuchte Touristenland pleitegehen?“ Im Frühjahr hat er sich einer Gruppe um den Berliner Hochschullehrer Markus 28
Kerber angeschlossen, die wegen der Griechenland-Hilfen und des Euro-Rettungsschirms Verfassungsbeschwerde eingelegt hat. Hochhuth will die Deutsche Mark zurück. „Ich weiß nicht, ob dies möglich ist. Ich weiß aber, dass Deutschland mit der Mark sehr gut gelebt hat.“ Mit dieser Meinung findet sich der fast 80-Jährige plötzlich an einer Stelle wieder, wo er früher nicht oft anzutreffen war – auf Seiten der Mehrheit. Verunsichert durch taumelnde Schuldenstaaten und milliardenschwere Rettungsschirme, wünscht sich die Mehrheit der Bundesbürger die Mark zurück. In einer Umfrage von Infratest dimap stimmten Anfang Dezember 57 Prozent der Aussage zu, die Bundesrepublik hätte besser die Mark behalten, als den Euro einzuführen. Die Urangst der Deutschen lebt wieder auf: 82 Prozent der Bürger sorgen D E R
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sich laut Forschungsgruppe Wahlen um die Stabilität ihrer Währung. Ein Netzwerk von Euro-Kritikern greift diese Stimmung auf. Ein alternder Dramatiker, ein sperriger Hochschulprofessor, ein frustrierter FDP-Abgeordneter, der Enkel eines Altkanzlers und ein ehemaliger Industriechef wollen den Euro, so wie er ist, nicht länger akzeptieren. Noch eint sie wenig mehr als ihr gemeinsames Thema, doch es wäre nicht die erste lose Verbindung, aus der am Ende eine Partei würde. „Rückkehr der Mark? Ich kann mir vorstellen, dass es zu einer deutschen Tea Party mit genau dieser Stoßrichtung kommt“, sagt Thomas Mayer, Chefvolkswirt der Deutschen Bank. Die Tea Party in den USA ist eine Bewegung ultrakonservativer Bürger, die die Partei der Republikaner unterwandert hat. Die Euro-Sorge der Deutschen ist auch ein Problem für Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Nimmt sie die Ängste ernst, muss sie unnachgiebig gegen überschuldete Länder wie Griechenland und Portugal auftreten. Präsentiert sie sich als eiserne Kanzlerin, bliebe ihr nichts übrig, als mit der europafreundlichen Tradition der CDU-Altkanzler Konrad Adenauer und Helmut Kohl zu brechen. Noch kümmert sich keine Partei um die Währungssorgen. Als Reaktion auf die Krise fordert Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) eine stärkere Verzahnung europäischer Politik – und damit das Gegenteil von dem, was viele Menschen wollen. Die Kleine-Leute-Partei SPD macht sich für Euro-Bonds stark, gemeinsame europäische Staatsanleihen, die vor allem einen belasten würden – den deutschen Steuerzahler. Die CSU wiederum kann sich nicht entscheiden, welchem von zwei Parteimitgliedern sie huldigen soll: Theo Waigel, der dem Euro als Finanzminister den Weg bereitet hat, oder Peter Gauweiler, der gegen den Euro klagt. Meinungsforscher wie Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen können sich vorstellen, dass sich eine Protestbewegung um die Euro-Angst bildet. „Die Regierung muss den Nachweis erbringen, dass die Hilfen für Griechenland und Irland dem eigenen deutschen Interesse dienen. Wenn sie die Milliardenhilfen nicht überzeugend begründet, gerät sie in eine Legitimationskrise“, sagt Jung. Frank Schäffler, der für die FDP im Bundestag sitzt, arbeitet längst an einer Unterwanderung seiner Partei nach Vorbild der Tea Party. Der „Liberale Aufbruch“, den er im September gründete, war bislang wenig mehr als der Treff einer Handvoll Politiker, die sich, frustriert vom Niedergang der Liberalen, eine Webpage und ein paar flotte Sprüche zulegten. Doch das Euro-Thema bringt den FDPSektierern Publikum. „Die Anhänger der
IMAGO STOCK & PEOPLE (L.); OLIVER LANG / DAPD (U.); THOMAS KÖHLER/PHOTOTHEK.NET (O.)
Deutschland
Protest in Athen, Euro-Skeptiker Schäffler, Kerber: Start einer Graswurzelbewegung?
FDP sind in Währungsfragen hochsensibel“, sagt Schäffler. „Westerwelle und die Fraktionsspitze tun zu wenig, um auf ihre Sorgen einzugehen. Daher müssen wir eine Graswurzelbewegung starten.“ Ein Donnerstagabend Anfang Dezember. In allen Ecken im Paulaner Bräuhaus in München lärmen Besucher bierseliger Weihnachtsfeiern. Nur im Kapuzinerstüberl hält Schäffler bei der Hayek-Gesellschaft ein trockenes Referat über die Sündenfälle, die zur Euro-Krise führten. Der Name passt. Friedrich August von Hayek, der 1974 den Nobelpreis für Wirtschaft erhalten hat, war der Ansicht, Währungen sollten ein Produkt sein wie jedes andere auch. Wie Unternehmen Radios verkaufen, könnten Privatbanken ihr eigenes Geld in Umlauf bringen. Die stabilste Währung werde sich durchsetzen. Der Euro, da sind sich Referent und Publikum rasch einig, ist schlechtes Geld. Er sollte abgeschafft werden. Über 70 Verstöße gegen den Stabilitätspakt von Maastricht hat Schäffler seit Einführung des Euro gezählt. Heftig geht er mit der Europäischen Zentralbank ins Gericht, die Staatsanleihen von Pleiteländern erwirbt, obwohl sie das eigentlich nicht soll. „Wir kaufen alles, außer Tiernahrung“, ruft der FDP-Mann. Der Applaus ist ihm sicher. In einer Dachgeschosswohnung in Berlin blättert Markus Kerber, Professor für Finanzwirtschaft, in einem Schriftsatz. In der Datumszeile steht ein X vor dem Wort Dezember, adressiert ist das Papier an das Bundesverfassungsgericht, 2. Senat, Schlossbezirk 3, 76131 Karlsruhe. Die Hoffnung auf die etablierten Parteien hat Kerber aufgegeben. Anders als Schäffler will er sich auch nicht unters Volk mischen. Seine Waffe gegen den Euro sind scharfe juristische Argumente. 30
Mit dem neuen Schriftsatz will Kerber gemeinsam mit bislang 46 anderen Klägern verhindern, dass Mittel aus dem europäischen Rettungsschirm an Portugal ausgezahlt werden. Noch haben die Portugiesen einen solchen Antrag nicht gestellt, Ökonomen gehen aber davon aus, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis das hochverschuldete Land Milliardenhilfen benötigt. Dann könnte Kerber das X im Schriftsatz gegen ein Datum austauschen und den Brief abschicken. Solche Hilfen hält Kerber genauso für einen Verstoß gegen das Grundgesetz wie die Milliarden für Griechenland oder den Rettungsschirm selbst, gegen die er Verfassungsbeschwerde eingelegt hat. Sein Argument: Mit jeder dieser Hilfen verwandele sich die Euro-Zone ein Stück mehr in eine Transferunion. „Ökonomischen Landesverrat“ wirft Kerber vor allem Finanzminister Schäuble vor. Kerbers Hoffnung ist, dass die Verfassungsrichter das genauso sehen. In den vergangenen Jahrzehnten haben die Richter die europäische Einigung zwar skeptisch begleitet, aber eben nicht aufgehalten. Kerber setzt darauf, dass sein Klägerbündnis mehr Schlagkraft entfaltet als die Einzelaktionen vergangener Jahre. „Unsere Verfassungsbeschwerde ist Ausdruck einer kritischen Bürgergesellschaft“, sagt er. Neben dem Dichter Hochhuth unterstützen ihn Autoren, Mitglieder der FDPnahen Naumann-Stiftung und AdenauerEnkel Patrick. Adenauer wähnt sich einem Schweigekartell gegenüber. „Die Tage des Euro als Einheitswährung für Länder von Irland bis Griechenland sind gezählt, wenn jetzt keine Umschuldung mit Gläubigerhaftung durchgesetzt wird“, sagt der Chef D E R
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des Verbands der Familienunternehmer. „Mich wundert, dass Parteien und große Wirtschaftsverbände dies nicht offen sagen.“ Adenauer ist sich sicher, dass sein Großvater das heute nicht anders sähe. „Er würde der Frage nachgehen, ob der gemeinsame Euro in dieser Situation wirklich für alle förderlich ist oder ob der Anpassungsdruck am Ende zu groß wird und die Union mit einem Knall politisch Schaden nimmt.“ Auch der Anführer der außerparlamentarischen Opposition in den Talkshows ist gegen die europäische Währung in der aktuellen Form. „Der Satz, dass die deutsche Industrie unglaublich vom Euro profitiert, gilt in Deutschland wie die zehn Gebote“, sagt Hans-Olaf Henkel, der langjährige Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie. „Dabei war Deutschland auch in D-Mark-Zeiten Exportvizeweltmeister. Der Anteil der EuroLänder an unseren Exporten ist sogar seit seiner Einführung gesunken.“ Henkel ist in Eile. Rechtzeitig zur EuroKrise hat der einst glühende Anhänger der Einheitswährung ein Anti-Euro-Buch geschrieben: „Rettet unser Geld!“ Auf dem Klappentext empfiehlt Thilo Sarrazin das Werk. Wie der Ex-Bundesbanker in der Migrationsdebatte will sich Henkel eine unterschwellige Stimmung in der Bevölkerung zunutze machen. Eben, bei einer Lesung, haben ihn die Zuhörer in einer Hamburger Buchhandlung gefragt, warum er nicht bei den Bürgerschaftswahlen kandidiere. Nach einer Stunde im Flieger folgt ein Auftritt in Frankfurt, dann eine Talkshow im Ersten. Einmal mehr hat Henkel eine Mission. Er will den Euro spalten. Alle „Olivenländer“ – so nennt Henkel Griechen, Italiener, Franzosen – sollen künftig mit dem Süd-Euro bezahlen. Der Norden, also vor allem Deutschland, mit dem Nord-Euro. Ökonomen halten davon nichts: Deutsche Exporte würden teurer, deutsche Banken müssten mit Milliardenverlusten im Süden rechnen. Doch der Bruch mit der herrschenden Lehre lohnt sich. Henkels Buch steht auf der Bestsellerliste. Der Ex-Industriechef ist sich sicher: „Natürlich hätte eine Bewegung ‚Gebt uns die Mark zurück!‘ eine Chance bei Wahlen.“ Manfred Brunner hat das schon 1994 geglaubt. Als Einziger hat der ehemalige EU-Spitzenbeamte das Experiment gewagt, mit einer Anti-Euro-Partei zu Wahlen anzutreten, dem Bund Freier Bürger. Damit ist er krachend gescheitert. Heute, da der Euro zu scheitern droht, sieht Brunner sich bestätigt. „Eine Währungsunion funktioniert nicht ohne Wirtschaftsregierung.“ Bei der Europawahl 1994 holte der Bund Freier Bürger ein Prozent. Danach wurde er von den Rechten unterwandert und versank in Bedeutungslosigkeit. „Heute“, sagt Brunner, „hätte ich PETER MÜLLER bessere Chancen.“
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Versteckte Zahlungen
mäß verwendet“ wurden. Seit Mai ermittelt die Staatsanwaltschaft Mainz gegen Böhr und zwei weitere CDU-Leute wegen des Verdachts der Untreue und gegen Frigge wegen möglicher Beihilfe. Dass Klöckner den Schnitt erst am vergangenen Montag vollzog, erklärt die CDU-Spitze mit „neuen Erkenntnissen“. Parteigeneralsekretär Josef Rosenbauer hatte einen Teil der Ermittlungsakten einsehen können. Nun müsse man „die Zusammenhänge neu bewerten“. Es geht um sichergestellte E-Mails zwischen C4 und Allendorf, die Rosenbauer nicht näher erläutern will, um Ermittlungen nicht zu gefährden. Tatsächlich belasten diese Mails wohl eher Frigge. Sie stammen aus der Zeit, als Hebgen nicht mehr für die Fraktion arbeitete, sondern auf CDU-Vermittlung bei der hessischen Stiftung Kloster Eberbach untergekommen war. Frigges C4 forderte in den Schreiben einen Anteil an Restzahlungen aus dem Wahlkampf, die Hebgen von Konten der Stiftung veranlasst hatte. Die Ermittler sehen darin ein Indiz für eine fortgesetzte Umwegfinanzierung. Frigge bestreitet das. Aus den Mails geht hervor, dass Allendorf und Frigge eine Teilung der Honorare vereinbart hatten, die sie von der Fraktion bekamen. Aus diesen Geldern wurden auch Posten bezahlt, für die Böhr nach eigenen Angaben externe Sponsoren aufgetrieben haben wollte – etwa eine Wahlkampfaktion mit Schülerlotsen. In Klöckners Landesverband wird bereits diskutiert, ob es wirklich klug war, gleich ein komplettes Schuldeingeständnis abzulegen und nicht einmal zu versuchen, in einem Vergleich einen Teil des Geldes zu retten. Offen zitieren lassen will sich damit aber noch niemand. Sollte es Klöckners Kalkül gewesen sein, sich mit der Böhr-Attacke Ruhe für den Wahlkampf im neuen Jahr zu verschaffen, darf der Versuch schon jetzt als gescheitert betrachtet werden. Nach diesem Schuldanerkenntnis stelle sich die Frage, wer noch alles von der illegalen Parteienfinanzierung gewusst habe, heißt es bei der SPD. Jetzt müssen sich auch rheinland-pfälzische CDU-Größen wie die Bundesintegrationsbeauftragte Maria Böhmer darauf einstellen, vor dem Untersuchungsausschuss im Landtag zur CDUWahlkampffinanzierung befragt zu werden. Er könne sich nicht vorstellen, sagt der SPD-Ausschussobmann Clemens Hoch, dass es sich beim Missbrauch von Fraktionsmitteln nur um „eine Drei-MannShow gehandelt haben soll“. REINER VOSS / DPA
CDU-Spitzenkandidatin Julia Klöckner hat ihren Vorgänger Christoph Böhr schwer belastet. Doch die Distanzierung kam zu spät.
mitten im Wahlkampf als Skandaltruppe, die mehr mit sich selbst beschäftigt ist als mit ihren politischen Gegnern. Denn Klöckners Distanzierung von Böhr erfolgte zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt und viel zu spät. Schon vor mehr als zwei Jahren hatte der SPIEGEL (45/2008) über interne Dokumente berichtet, die eine gesetzeswidrige Verwendung staatlicher Fraktionsmittel für Böhrs Wahlkampf mehr als nahelegten. Danach wurden 2005 und 2006 von Konten der Fraktion insgesamt knapp 386 000 Euro an C4, die Agentur des inzwischen zu-
CDU-Landesvorsitzende Klöckner: Politischer Totalschaden
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er Bruch war ungewöhnlich klar rückgetretenen Hamburger Finanzsenaund hart. „Ich bin empört und ent- tors Carsten Frigge, überwiesen – nachtäuscht“, bekannte die Chefin der dem Frigge ein Angebot zur Wahlkampfrheinland-pfälzischen Christdemokraten. begleitung an Böhr geschickt hatte. Ihr Vorgänger Christoph Böhr, der die Böhr beharrt bis heute darauf, er habe CDU vor fünf Jahren in einen erfolglosen „stets auf eine strikte Trennung zwischen Landtagswahlkampf geführt hatte, habe Fraktions- und Parteiarbeit Wert gelegt“. sie „hinters Licht geführt“. Nun werde C4 habe nur für die Fraktion gearbeitet, sie die „Altlasten beseitigen“, unrecht- während eine zweite, mit Frigge verbunmäßige Zuweisungen der CDU-Landtags- dene Agentur für die Partei tätig gewesen fraktion zurückzahlen und erwartbare sei: die Allendorf Media aus Köln. Strafzahlungen des BundestagspräsidenPlausibel war das schon damals nicht. ten klaglos akzeptieren. Weder Böhr noch Frigge konnten anstänAm Wochenende vor Weihnachten hat- dige Belege über die Leistungen von C4 te Julia Klöckner per Telefonkonferenz und Allendorf vorlegen. Zudem berichführende Mitglieder ihres Landesver- tete Böhrs ehemaliger Fraktionsgeschäftsbands zusammengetrommelt und ener- führer Markus Hebgen 2008, wie er schon gisch die endgültige Abkehr von Ex-Lan- 2005 gegenüber Frigge und Böhr die deschef Böhr verlangt. Mehrere CDU- „rechtlich fragwürdige“ Finanzierung anFunktionäre mussten schwer schlucken. gesprochen habe. Beide hätten geantworDrei Monate vor der Landtagswahl tet, das werde niemanden interessieren, sitzt ihre Partei nun nicht nur auf einem wenn die Wahl erst einmal gewonnen sei. voraussichtlichen finanziellen Schaden Hebgen ist ein problematischer Zeuge, von rund 1,2 Millionen Euro für Rück- da er selbst in die Kasse der Fraktion und Strafzahlungen wegen illegaler Par- gegriffen hatte. Aber auch der rheinlandteienfinanzierung. Noch schwerer wiegt pfälzische Landesrechnungshof kam zu der politische Totalschaden: Wieder ein- dem Ergebnis, dass knapp 386 000 Euro mal erscheint die Rheinland-Pfalz-CDU Fraktionsmittel „nicht bestimmungsgeD E R
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MATTHIAS BARTSCH
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Deutschland BAHN
Ausfall mit Ansage
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Vereiste Weichen, kälteempfindliche Züge – schon im Herbst wusste die Bahn, dass sie bei einem plötzlichen Wintereinbruch Probleme haben würde.
Schnee Probleme haben würde. Strecken, wo sonst nur halbvolle Züge fahren, müssten deshalb ausgedünnt und Züge verkürzt werden, um dann im Ausnahmefall entsprechende Reserven zu haben. Die für extreme Witterungen besonders anfälligen ICE dürften nur noch mit verringerter Geschwindigkeit fahren. Nur so sei ein einigermaßen reibungsloser Fahrplanablauf im Winter zu gewährleisten. Ein ganzes Paket zur „Prävention Winter 2010/2011“ legte die Bahn deswegen Ende Oktober dem Verkehrsausschuss des Bundestags vor. Auf den Strecken
Verschneite und vereiste Elektrolok: „Keine weiteren Reserven“
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in kleines Winterwunder: Der ICE 804 von Berlin nach Hamburg fährt pünktlich los. Es ist Freitagnachmittag vor einer Woche, die Stimmung an Bord ist gut, es gibt Gratiskaffee, alles scheint planmäßig zu sein. Da stoppt der Express, und der Lautsprecher geht an. Störungen auf dem Streckenabschnitt, die Weiterfahrt werde sich leicht verzögern. Wenig später die nächste Nachricht: Der Zug müsse „evakuiert“ werden. Triebwagenprobleme. Die Fahrt des Hightech-Gefährts endet auf Gleis 2 des verschneiten Bahnhofs von Boizenburg an der Elbe, 60 Kilometer vor Hamburg. Während Hunderte Bahnkunden in der Mecklenburger Provinz warten, wärmt man sich mit Erinnerungen an alte Ostzeiten. Die Bahn, merkt ein gestrandeter Passagier sarkastisch an, habe wie die Landwirtschaft der DDR vier Hauptfeinde: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Es ist ein Ausfall mit Ansage: Bereits im Herbst war den Managern der Deutschen Bahn klar, dass man bei Eis und 32
zwischen Köln und Berlin, Köln und Hamburg müsse auf je einen Entlastungszug am Wochenende verzichtet, zwischen Köln und Basel müssten fünf ICE-Direktverbindungen gestrichen werden. Zwischen Dortmund und München sollen drei von 31 ICE nur mit halber Passagierkapazität fahren. Für „normale Bedingungen“ sei der DB-Fernverkehr „gerüstet“, aber für „außergewöhnliche Ereignisse“, so das ernüchternde Fazit, seien „keine weiteren Reserven“ vorhanden. Der Bahn fehlt es schon seit längerem an neuen Zügen. Selbst an guten Tagen gibt es kaum eine Reserve. Müssen die Züge bei Eis und Schnee häufiger gewartet werden, ist der Engpass unvermeidlich. Als Tief „Petra“ im Dezember Deutschland flächendeckend einschneite, war jenes „außergewöhnliche Ereignis“ eingetreten. Wer konnte und reisen musste, nahm die Bahn. Rund 50 000 Passagiere täglich beförderte das Unternehmen mehr als sonst, weil die Flieger am Boden blieben. D E R
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Doch am Sonntag vor Weihnachten kapitulierten Bahn-Chef Rüdiger Grube und seine Manager. Das Unternehmen, das gerade sein 175-jähriges Bestehen gefeiert hatte, empfahl, auf eine Bahnreise zu verzichten oder zumindest die Hauptverkehrszeiten zu meiden. Schon erworbene Tickets könnten zurückgegeben werden, ohne die sonst üblichen Stornogebühren. Die ICE-Hochgeschwindigkeitsflotte, das Rückgrat der modernen Bahn, ist nur bedingt wintertauglich. Sinken die Temperaturen deutlich unter den Gefrierpunkt, sind Geschwindigkeiten von 250 oder 300 Stundenkilometern nur noch auf betonierten Neubaustrecken möglich. Das sind gerade einmal fünf Prozent des Streckennetzes. Die meisten Gleise verlaufen auf einem Schotterbett. Fallen Eisklumpen vom Zug, werden Steine aufgewirbelt und können den empfindlichen Unterboden der ICE beschädigen; daran hatten Industrie und Bahn bei der Entwicklung nicht gedacht. Zwar hat die Bahn nach dem vergangenen Winter mit der Nachrüstung begonnen, dennoch drosselte sie sicherheitshalber das Tempo für die ICE auf 200. Immerhin gab es keine Pannenserie wie im vergangenen Winter, als Waggontüren festfroren und ICE im Depot bleiben mussten. „Wir haben 95 Prozent unseres Fahrplanangebots aufrechterhalten können“, sagt Personenverkehrsvorstand Ulrich Homburg. Allerdings bereiten nicht nur die Züge im Winter Probleme. „Es rächt sich nun, dass jahrelang das Netz auf Verschleiß gefahren, die Instandhaltung vernachlässigt wurde“, sagt Anton Hofreiter, Verkehrspolitischer Sprecher der GrünenBundestagsfraktion. Aus dem vertraulichen Instandhaltungsbericht der DB Netz vom April geht hervor, dass allein 2009 bei der Wartung von Weichen 3,8 Millionen Euro im Vergleich zum Vorjahr eingespart wurden. Immerhin wurden in diesem Jahr mehrere hundert Weichenheizungen nachgerüstet. Die Weichen sind der neuralgische Punkt im Winter. In Berlin waren bereits beim ersten Schnee 50 Weichen festgefroren, 37 S-Bahn-Wagen mussten im Depot bleiben, 25 weitere landeten auf dem Abstellgleis. Personal zum Enteisen fehlte. 5900 Züge fielen seit dem 2. Dezember, dem Tag des ersten Schneefalls, ganz aus. Die Bundesländer, die Jahr für Jahr Milliarden an die Bahn für einen reibungslosen Betrieb zahlen, wollen derartige Einbrüche nicht mehr hinnehmen. Harry Voigtsberger, Verkehrsminister von Nordrhein-Westfalen, will nun detailliert wissen, wie „sie erheblich mehr in Wartung, Reparaturen und Gleis- und Weichenanlagen investieren kann“. JÖRG SCHMITT, ANDREAS WASSERMANN
Zentrale der Sachsen LB in Leipzig 2007
Mit Milliarden jongliert
ROGER PETZSCHE / PICTURE POINT
los die staatseigene Bank Millionen versenkte. Der Fonds nach irischem Recht, so schreiben sie in ihrer Klage, sei bereits im Verkaufsprospekt als „hochspekulatives Produkt“ beschrieben worden. „Der Totalverlust des investierten Kapitals“ habe stets gedroht. Das Risiko eines Totalverlusts bei der Synapse sei letztlich höher gewesen, „als wenn die Sachsen LB am Roulettetisch 200 Millionen Euro auf Rot oder Schwarz gesetzt hätte“. Die Zocker in Leipzig focht das nicht an. Ende März 2007 wurde der Fonds aufgelegt, fünf Tage zuvor hatte die BundesLANDESBANKEN bank noch schriftlich vor Unsicherheiten im Markt für diese sogenannten ABS-Geschäfte gewarnt. 200 Millionen setzten die Staatsbanker laut Klage ein, nach nicht einmal sechs Monaten hatte der 190 Millionen Euro vernichtet. Sachsen fordert von seinen Ex-Bankvorständen Schadensersatz Markt Rien ne va plus. in Millionenhöhe. Die Manager sollen für den An diesem Schaden macht der Freistaat jetzt exemplarisch seine ForderunBeinahe-Crash haften, die Verwaltungsräte verschont bleiben. gen gegen die Vorstände fest. Es sei m Ende wollte der Freistaat nichts Die Mitglieder des einstigen Verwal- „ohne die erforderliche Zustimmung des mehr dem Zufall überlassen. Frei- tungsrats der Bank sollen dagegen nicht Kreditausschusses“ zu den riskanten Intag vor zwei Wochen klingelten mit Ansprüchen auf Schadensersatz be- vestitionen gekommen, zudem sei der drei verwegene Boten bei einem Ex-Vor- helligt werden. Dieser war über die Jahre Geschäftsbereich Strategic Investments stand der Sächsischen Landesbank und hinweg honorig besetzt etwa mit dem „mangelhaft organisiert“ gewesen. Die drückten der verdutzten Ehefrau einen heutigen Bundesinnenminister Thomas Verlustrisiken hätten ein „existenzbedrostattlichen Umschlag in die Hand. de Maizière, dem einstigen Ministerprä- hendes Ausmaß“ angenommen. ZusätzSie solle das Kuvert sofort öffnen, sidenten Georg Milbradt, dem ehemali- lich ermittelt die Staatsanwaltschaft Leipverlangten die Herren. 216 Seiten Papier gen Porsche-Chef Wendelin Wiedeking, zig mit Unterstützung des Bundeskrimihielt die Frau in den Händen, auf dem dem einstigen Bundesminister Wolfgang nalamts seit drei Jahren wegen des VerDeckblatt scheinbar harmlos der Hinweis Tiefensee und dem heutigen Landtags- dachts der Untreue gegen ehemalige Vorauf ein Schiedsverfahren. Sechs Seiten präsidenten Matthias Rößler. Die Juristen stände der Bank. weiter begannen der Frau die Hände zu sehen hier teilweise Aussicht auf Erfolg Tatsächlich, auch das geht aus der Klazittern. Der Freistaat Sachsen fordert die einer Klage, jedoch sind dem Freistaat ge hervor, war der Synapse-Crash nur ein Verurteilung ihres Mannes zur Zahlung angeblich die Prozessrisiken zu hoch. For- Problem von vielen in jenem Katastrovon „60 Millionen Euro nebst Zinsen in derungen gegen Politiker, die jahrelang phenjahr. Während das klassische KreditHöhe von fünf Prozentpunkten über dem Einfluss auf die Geschäfte der landesei- geschäft der kleinsten deutschen LandesBasiszinssatz“. genen Bank genommen haben, droht da- bank, so Latham & Watkins, von 2003 Solche Millionenforderungen bekamen mit endgültig die Verjährung. bis 2007 bei rund 15 Milliarden Euro stagleich acht ehemalige Manager der skanDen einstigen Vorständen, die zu guten gnierte, wuchsen die hochspekulativen dalträchtigen Landesbank, die 2007 not- Zeiten außerhalb der Bilanzen mit Mil- „Kreditersatzgeschäfte“ Mitte 2007 auf verkauft wurde. Die Banker sollen ge- liardensummen am Finanzplatz Dublin mehr als 41 Milliarden Euro an. Eine gimeinsam für die Millionenverluste der jonglierten, könnte nun vor allem die In- gantische Summe, die kaum gedeckt war. Staatsbank aufkommen. Der Freistaat vestition in den Fonds „Synapse High Das Eigenkapital der Bank lag bei rund lässt das Geld über die Anwaltskanzlei Grade ABS Fund No. 1 plc“ zum Verhäng- zwei Milliarden Euro. Latham & Watkins als Schadensersatz bei nis werden. Für die Sachsen-Anwälte ist Gleichsam über Nacht drohten Mitte ihnen einklagen. Es ist eine der größten dieser ein Paradebeispiel dafür, wie sorg- 2007 zunächst Abschreibungen in Höhe Forderungen gegen ehemalige Manager, von 690 Millionen Euro, die je vor einem deutschen Gericht gelkurz darauf weitere 660 Miltend gemacht wurden. lionen und schließlich VerKurz vor Eintritt der Verjährung im bindlichkeiten von rund 16 kommenden Jahr wahren die Sachsen daMilliarden Euro. Der Freimit die Chance auf teilweisen Ausgleich staat, der für die Bank hafihrer Verluste, die auf mindestens 364 Milten müsste, hatte 2007 einen lionen Euro geschätzt werden. Durch lauJahreshaushalt von 16,6 Milfende Ausfälle bei toxischen Papieren liarden Euro. Die Bank war steigt die Summe ständig an. Die Vorstänam Ende, kurz vor der Inde selbst werden die astronomische Forsolvenz. derung nicht aufbringen können. Die Manche hatten das geSachsen hoffen, dass die Manager-Haftahnt. Die Anwälte der pflicht mit bis zu 50 Millionen Euro einSachsen verweisen auf eine Kollegen Unland, Stanislaw Tillich: Ahnungslose Kontrolleure? Untersuchung der Ratingspringt.
Leipziger Roulette
NORBERT MILLAUER / DAPD
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Deutschland
Der Zusammenbruch der SachsenLB 10. August 2007
„Die SachsenLB verfügt über ausreichende Liquidität.“ Mitteilung der Sachsen LB über die Risiken ihrer Zweckgesellschaften 17. August 2007
„Ein Pool der SparkassenFinanzgruppe hat eine Kreditlinie von 17,3 Mrd. Euro zur Verfügung gestellt und so die Liquidität ... gesichert.“ Mitteilung der SachsenLB 23. August 2007
Der für das Kapitalmarktgeschäft zuständige Vorstand Stefan Leusder verlässt die Bank. 26. August 2007
Die LBBW soll die Sachsen LB 2008 übernehmen. Im Dezember kommt eine Einigung erst nach einem Ultimatum der BaFin und einer Bürgschaft des Freistaats Sachsen über 2,75 Mrd. Euro zustande. 30. August 2007
Nach der Abberufung zweier weiterer Vorstände kündigt auch der Vorstandsvorsitzende Herbert Süß seinen Rücktritt an. 31. August 2007
Auch Sachsens Finanzminister Horst Metz zieht die Konsequenz aus dem Desaster und erklärt seinen Rücktritt. 34
hat. Zum Vergleich: Der Schmiergeldskandal bei Siemens richtete rund zwei Milliarden Euro Schaden an und kostete Ex-Konzernchef Heinrich von Pierer fünf Millionen Euro. Doch trifft die Schuld am Desaster der Sachsen-Bank allein die letzten Vorstände? Waren die honorigen Kontrolleure der Bank tatsächlich ahnungslos, welch gigantisches Rad die Provinzbank da drehte und wie sie über Jahre hinweg ihr Geld verdiente? Jurist Gercke hat da seine Zweifel: „Im Vorfeld der Krise wurde gerade das jetzt kritisierte Engagement der Sachsen LB von den Verantwortlichen der sächsischen Politik gelobt und gefeiert.“ Umso mehr über- Modell des Sinti-und-Roma-Denkmals, Partner Rose, rasche es, „dass gegen den Verwaltungsrat, der direkt oder über den KreditausGEDENKEN schuss über alle wesentlichen Schritte informiert wurde, keine Klagen eingereicht werden“. Dabei hatte der sächsische Rechnungshof das 20-köpfige Aufsichtsgremium harsch kritisiert. Einige Räte hätten „die mit diesem Amt übernommenen Aufgaben nur ungenügend“ wahrgenommen. In Berlin wird ein Denkmal für Es gibt die Geschichte einer einstigen die ermordeten Sinti und Roma Staatssekretärin, die im Kreditausschuss gebaut. Doch Künstler und der Sachsen LB von 2002 bis 2004 bei 16 Auftraggeber streiten erbittert von 24 Sitzungen fehlte. Dem Kreditausschuss, dem auch Verüber Qualität und Kosten. waltungsräte angehörten und der regelm Nikolaustag fand der Kulturmäßig Millionengeschäfte abnickte, warf staatsminister im Kanzleramt, der Rechnungshof vor, „keine MaßnahBernd Neumann, in seiner Post men zur Begrenzung der potentiellen Risikolage ergriffen“ zu haben. Aus Sicht eine unangenehme Überraschung vor. Es der Prüfer ein Verstoß gegen die Sorg- war ein Schreiben aus Israel, und es faltspflicht. Süffisant erinnerten die Be- geizte nicht mit Worten der Empörung amten an jenen fünftägigen Ausflug des wie „Schande“, „Glaubwürdigkeit“ oder Kreditausschusses an den Bankenplatz „Scheideweg“. Die Protestnote galt Neumann, 68, in Dublin, der vor allem dem Sightseeing gedient habe. „Die eigentliche KA-Sit- seiner Funktion als Gedenkwart der Nazung hat am Abreisetag stattgefunden tion. Wird ein Mahnmal für Opfer der Nazi-Diktatur errichtet, ist der Unionsund rund zwei Stunden gedauert.“ Der sächsische Finanzminister Georg mann als Bauherr am Zug. Ein Job, bei Unland (CDU) gibt sich zurückhaltend. dem eine sensible Hand vonnöten ist: Zwar seien zumindest sechs Mitglieder Schließlich geht es um den Platz der des Kreditausschusses „ihren Pflichten Opfer in der Geschichte und den Stelnicht ausreichend nachgekommen“. Auch lenwert der Opferverbände in der Gegenhätte die prüfende Kanzlei Klagen emp- wart. Fast immer wird hart und hochfohlen. Doch den hohen Kosten der Ver- emotional gekämpft, mitunter bis zum fahren stehe „keine reale Aussicht“ auf Tag der Einweihung. Diesmal geht es um das Denkmal für Eintreibung der Ansprüche entgegen. Stattdessen will der Freistaat zunächst die etwa 500 000 in Europa ermordeten versuchen, die Manager-Haftpflicht der Sinti und Roma, das unweit des ReichsBankvorstände zur Übernahme der Mil- tages errichtet wird. Der israelische lionenforderung zu bewegen – was ein Künstler Dani Karavan, 80, und der AufTreppenwitz der Geschichte wäre. Denn traggeber streiten seit Monaten, anfangs die Risiken der Banker hat die American um Baustoffe und Spesen, inzwischen International Group versichert, unter der aber ums Grundsätzliche. Der Künstler Abkürzung AIG bekannt und berüchtigt. fürchtet um die „Heiligkeit“ seines WerWährend der Bankenkrise hat der Konzern kes und droht mit seinem Ausstieg. Das innerhalb von 18 Monaten mit fast hundert Projekt steht auf der Kippe. Milliarden Dollar einen der größten VerEin kompliziertes Unterfangen war es luste der Wirtschaftsgeschichte hingelegt. von Beginn an. 1992 versprach die BunDie Firma musste von der US-Regierung desregierung den Sinti und Roma eine schließlich mit mehr als 180 Milliarden Dol- eigene Gedenkstätte, weil das HolocaustSTEFFEN WINTER lar gestützt werden. Mahnmal an die Vernichtung der Juden SABINE SAUER / DER SPIEGEL
Agentur Fitch aus jenem Jahr. Diese hatte geprüft, ob Banken ihre Zahlungsverpflichtungen aus Kunden- oder Fremdkapital refinanzieren können. Von 42 Banken schnitt die Sachsen LB am schlechtesten ab – dicht gefolgt von der deutschen IKB, die ebenfalls nur durch eine milliardenschwere Rettungsaktion vor der Pleite bewahrt wurde. Bis heute schlummern toxische Papiere der Sachsen LB in einer speziellen Gesellschaft, der „Sealink Funding Limited“. Die Verluste werden mit 19,2 Millionen Euro angegeben. 396 ABS-Papiere sind noch da, sie haben theoretisch einen Wert von fast elf Milliarden Euro. Nach Schätzungen von Wirtschaftsprüfern liegt das Ausfallrisiko im Moment zwischen 0,9 und 3,2 Milliarden Euro. Das ist der eigentliche Preis für das Roulette von Leipzig, zahlbar vom sächsischen Steuerzahler. Es ist der Stachel im Fleisch der dauerregierenden CDU, die sich damit um ihren Ruf als finanzpolitischer Musterknabe gebracht hat. Und es erklärt die Millionenforderung gegenüber den Bankern, die für Anwalt Björn Gercke, der einen ExVorstand vertritt, „reinen Alibi-Charakter“
Giftige Schriftsätze
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FOTOS: GERO BRELOER / PICTURE-ALLIANCE/ DPA
Neumann, Karavan*, Baustelle am Reichstag: „Wie viel Abweichung vom Perfekten muss der Künstler dulden?“
erinnern sollte und anderen Opfergruppen weitere Erinnerungsstätten in Aussicht gestellt wurden. Ansprechpartner für die Regierung ist in diesem Fall der Sinti-und-Roma-Zentralrat. Der Vorsitzende, Romani Rose, brachte den Israeli Karavan ins Spiel, einen eigenwilligen, aber durchaus geschätzten Künstler. Dessen Entwurf für ein Denkmal, eine Wasserschale mit einer Stele, Durchmesser zwölf Meter, wurde ohne Ausschreibung akzeptiert. Sinti, Roma, Historiker und Regierung diskutierten allerdings heftig, wie eine Inschrift zu Ehren der Opfer lauten soll. Während der Bundesrat 2009 der Verfolgung gedachte, registrierte die Polizei Handgreiflichkeiten zwischen verschiedenen Opfergruppen auf der Bundesratstoilette. Mittlerweile wird gebaut. Rund zwei Millionen Euro will der Bund ausgeben, und wer das übersichtliche BrunnenArrangement betrachtet, könnte das für eine solide finanzielle Ausstattung halten. Doch weit gefehlt: Der Anwalt Peter Raue, ein einflussreicher Kunstkenner und Freund langer Schriftsätze, hat die juristische Vertretung Karavans übernom-
GALERIE BILDERWELT
* Am 19. Dezember 2008 während einer Gedenkstunde auf der Baustelle des Denkmals.
men. „Wie viel Abweichung vom Perfekten muss der Künstler eigentlich dulden?“, fragt Raue und wirft den Berliner Behörden vor, sie seien „bürokratisch und misstrauisch“. So könnten keine Kunstwerke entstehen. Das hat er den Behörden schriftlich mitgeteilt. Gestritten wird, als würde ein zweiter Eiffelturm errichtet. Ist der verbaute Stahl wirklich rostfrei, und „kann die Rostfreiheit garantiert“ werden? Erscheint das Wasser in der Schale so dunkel, wie es der Künstler wünscht? Und wer überwacht die beauftragte Firma? Anwalt Raue klagte über „Geheimaktionen“ der Stadt, weil es Beamte gewagt hatten, ohne Karavan oder dessen Vertreter die Baustelle zu besichtigen. Selbst um Schweißnähte wurde gefeilscht oder darum, wann frisch angelieferte Segmente ausgepackt werden dürfen und wer daran schuld ist, wenn sie danach Rost ansetzen. „Unakzeptable Unebenheiten“, monierte Karavan einmal an der Schale. Um ein Haar hätte er den Bau schon gerichtlich stoppen lassen. In giftigen Schriftsätzen schieben sich beide Seiten nun die Verantwortung für Verzögerungen zu. Karavans Sonderwünsche, so Berlins Verwaltung, hätten das Vorhaben um zwei Jahre in die Länge gezogen, „mindestens“. Raue hält den
Deportation von Sinti und Roma 1940: Suche nach dem Platz in der Geschichte D E R
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städtischen Bürokraten dagegen vor, „unhöflich und destruktiv“ zu sein, und schließt ein „Scheitern des Projekts“ nicht aus: „Der Künstler wird seinen Namen zurückziehen, wenn die Arbeit seinen Vorgaben nicht entsprechend ausgeführt wird.“ Im Kanzleramt ist man derweil die ganze Sache leid. Zudem vermuten die Beamten hinter den „permanenten Änderungswünschen des Künstlers“ inzwischen System – einen Weg, um am Ende womöglich mehr Honorar fordern und höhere Spesen abrechnen zu können. Vereinbart waren mit Karavan pauschale Reisekostenvergütungen, zehnmal sollte der Israeli zu Besprechungen und Ortsterminen einfliegen. Doch dann machte er höhere Kosten geltend, für einzelne Flugtickets nach Berlin oder einmal für den Besuch der Philharmonie samt Bewirtung von Gästen. „Keinesfalls erstattungsfähig“, urteilten die Beamten. Aber wie kommt man überhaupt preiswert in die deutsche Hauptstadt? Mit El Al oder doch Lufthansa? Und darf der alte Herr Business fliegen? Anwalt Raue und die Berliner Verwaltung tauschen nunmehr in herzlicher Abneigung Noten aus, erst über Lötpunkte und Messprotokolle, inzwischen auch über die günstigsten Flugtickets. Niemals habe sein Mandant falsch abgerechnet. Weil alles so lange dauert, will Raue aber tatsächlich ein höheres Honorar für den Künstler aus Israel durchsetzen. Staatsminister Neumann ist um Ruhe bemüht, diskret versucht er, die erregten Gemüter zu besänftigen. Er will das Werk zu Ende bringen, natürlich „möglichst im Einverständnis mit dem Künstler“, wie er betont. Neumann sieht sich als Schlichter herausgefordert. Der geplante Einweihungstermin, der 28. Oktober, ist ohnehin längst verstrichen, natürlich nicht ohne Zank über einen neuen Termin. Nun wird der kommende Mai vage angepeilt. Ob das klappen wird? Vorerst ruht die Bautätigkeit. Beide SeiSTEFAN BERG ten warten auf Tauwetter. 35
FRANK DARCHINGER
Deutschland
Installation neuer Freileitungen: Das überalterte Netz ist den kühnen Visionen nicht gewachsen STROM
Stahlkreuze am Himmel Kein Land ist von der Energiewende so betroffen wie Niedersachsen: Biokraftwerke, Maisplantagen, riesige Windparks. Jetzt sollen auch noch gewaltige Trassen gebaut werden, damit der Strom in den Süden kommt. Die Proteste nehmen zu, Regierungschef McAllister laviert.
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orbert Braun stapft über ein verschneites Feld. Die Sonne scheint, es ist kalt, unten im Tal liegt friedlich Bad Gandersheim. 11 500 Einwohner, vier Kurkliniken. Östlich verläuft die A 7, westlich, auf hohen Stelzen, die ICE-Strecke zwischen Hannover und Göttingen. Und dahinten – Braun holt mit seinem Arm weit aus – sollen die „MonsterStrommasten“ hin. Kann sich das jemand vorstellen? 80 Meter hohe Masten? Die romanische Stiftskirche in Bad Gandersheim ist gerade mal ein Viertel so hoch. „Die Leitungen müssen ausreichend Abstand zu den Gleisen haben“, sagt Braun fast entschuldigend. Der Geologe und Weinhändler ist der Sprecher der örtlichen Bürgerinitiative gegen die neue 380 000-Volt-Freileitung, die der Netzbetreiber Tennet mitten durch Deutschland plant. 300 Millionen Euro will das Unternehmen in den nächsten fünf Jahren in die Trasse investieren, die zwei Umspannwerke in Wahle west36
lich von Braunschweig und im nordhessi- im Prinzip für das gleiche Ziel kämpfen: schen Mecklar, 190 Kilometer entfernt, den Umweltschutz. Kein Bundesland ist verbinden soll. von dieser Auseinandersetzung so sehr Seit die Pläne bekanntwurden, ist die betroffen wie Niedersachsen. Kleinstadtruhe dahin. Im August versamAufgrund seiner Lage und seiner Grömelten sich 800 aufgebrachte Bürger bei ße zahlt das Flächenland zwischen Nordströmendem Regen vor der Domfestspiel- see und Harz den höchsten Preis für das bühne. So etwas hat es in dem beschauli- „Zeitalter der erneuerbaren Energien“, chen Kurort noch nicht gegeben. Auch in das die Kanzlerin ausgerufen hat. In 40 den Dörfern entlang der Leitungstrasse Jahren sollen vier Fünftel des Stroms aus haben sich bereits 15 Bürgerinitiativen ge- sauberer Wind- und Wasserkraft, Solargründet. energie oder Biomasse kommen, verIm Oktober zündeten sie quer durch spricht die Regierungschefin. Ein großer das Land Mahnfeuer an. 300 Stück auf Teil davon wird wohl in Niedersachsen über hundert Kilometern, überall wo produziert werden. einmal ein Strommast errichtet werden Schon jetzt pflastern Tausende Windkönnte. Auch Braun war damals dort räder das ganze Land. Noch größere oben über der Stadt. „Das war ein wun- werden folgen, wenn dank üppiger Subderbares Signal gegen die Naturzerstö- ventionen und Flächenmangels kleine rung“, schwärmt er. Anlagen durch bis zu 150 Meter hohe So wie in Bad Gandersheim wird in Giganten ersetzt werden. In keinem Bundiesen Tagen überall in der Republik ein desland gibt es so viele Biogasanlagen. erbitterter Streit ausgetragen, in dem Über tausend gieren täglich nach Nachzwei Gruppen gegeneinanderstehen, die schub. Riesige Mais-Monokulturen haben D E R
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STEFAN SOBOTTA / DER SPIEGEL
das Landschaftsbild verändert und beein- ter in eine schwierige Lage. Einerseits sondern auch viele Konservative. Der Abträchtigen das Grundwasser. drängt der CDU-Mann selbst auf einen riss des Stuttgarter Bahnhofs trieb auch Auch das Atomzeitalter, dessen Ende schnellen Umbau der deutschen Strom- das bürgerliche Lager auf die Straßen. in Deutschland absehbar zu sein scheint, wirtschaft und will, dass die SubventioDeshalb verhinderte er in den verganwird in Niedersachsen beerdigt. Keine nen für die Offshore-Windparks in der genen Monaten die Erforschung einer zehn Kilometer von der geplanten Bad Nordsee weiter erhöht werden. Schließ- womöglich innovativen Technologie in Gandersheimer Stromtrasse liegt Schacht lich schafft das Arbeitsplätze im eigenen seinem Land, die Speicherung von CO² in der Erde. Konrad. Tausend Meter unter der Erde Land. Umweltminister Norbert Röttgen und sollen dort die strahlenden Überreste der Andererseits hat er Angst vor der Mapdeutschen Atommeiler vergraben wer- pus-Falle. Neun Monate vor den Kommu- Wirtschaftsminister Rainer Brüderle hatden. nalwahlen und damit seiner ersten gro- ten die Verpressung der Gase aus der Die alten Brennstäbe wiederum wer- ßen Bewährungsprobe will der junge Re- Kohleverfeuerung als Technik gegen den den womöglich im niedersächsischen gierungschef nicht das gleiche Schicksal Klimawandel angepriesen, doch Bund Gorleben eine letzte Ruhestätte finden. erleiden wie sein baden-württembergi- und Länder konnten sich – auch dank McAllisters Bedenken – nicht auf Pech für die Niedersachsen: Die ein Gesetz einigen. Geeignete Region eignet sich geologisch Projektgegner von Gandersheim: Kampf den Monster-Masten unterirdische Hohlräume hätte besser als andere für unterirdies vor allem in Brandenburg, sche Atommüllkippen. Trotz der Schleswig-Holstein – und Niederschlechten Erfahrungen mit dem sachsen gegeben. alten Salzbergwerk Asse, das in Seine Unterstützung des Kanzden sechziger und siebziger Jahlerkurses platziert McAllister ren mit strahlendem Müll gefüllt gern dort, wo sie kaum auffällt. wurde und nun das Grundwasser In einem Gastkommentar für das zu verstrahlen droht. weitgehend unbekannte RegioUnd jetzt auch noch die nalblättchen „Rundblick“: „DieStromtrassen. Schuld ist das jenigen, die im gleichen Atemzug überalterte deutsche Stromnetz, gegen Kernenergie, Kohlekraftdas den kühnen Visionen der werke und den für die ErneuerRegierung nicht mehr gewachsen baren Energien unverzichtbaren ist. Bislang stehen die großen Netztrassenausbau angehen, geKraftwerke am Rande von Balfährden die weitere wirtschaftlungszentren. Künftig aber sollen liche Entwicklung.“ die europäischen Länder verOb er sich mit diesem Kurs auf netzt werden, um einen stärkeDauer vor dem Bürgerzorn ren Austausch auf dem StromGeplanter Ausbau des schützen kann, ist zweifelhaft. In markt zuzulassen. Vor allem Höchstspannungsnetzes SCHLESWIG-HOLSTEIN Orten wie Bad Gandersheim hat aber muss die Energie von den in Niedersachsen MECKLENBURGman kein Verständnis mehr für teuren Windparks im Norden Stade VORPOMMERN eine zweite Meinung. Kürzlich über Hunderte Kilometer nach Wilhelmshaven 3 Hamburg sammelte die Bürgerinitiative im Süden transportiert werden, da2 besonders betroffenen Dorf Bilhin, wo der Strom verbraucht Oldenburg O lerbeck Unterschriften gegen das wird. Bremen Vorhaben. „Alle haben unterIm Emsland und im Harz wird NIEDERschrieben, hundert Prozent“, die Energiewende gewaltige LANDE NIEDERSACHSEN 4 sagt Aktivist Braun. Schneisen schlagen und ganze Die Region fürchtet um TouLandstriche zerteilen. Drei der 1 5 Hannover risten, die Stadt um ihren Ruf als vier geplanten Haupttrassen von Braunschweig Kurzentrum, die Bürger haben Nord nach Süd sollen durch NieOsnabrück Angst vor Elektrosmog und sindersachsen verlaufen, und in den SACHSENkenden Immobilienpreisen. Obnächsten Jahrzehnten könnten 6 ANHALT wohl der genaue Verlauf der es noch mehr werden. Trasse noch gar nicht feststeht, Soll der Anteil der erneuerGöttingen G NORDRHEIN-WESTFALEN haben schon 24 000 Bürger Einbaren Energie an der Stromspruch erhoben – mit tatkräftiger versorgung bis zum Jahr 2025 50 km Unterstützung aus den Rathäuauf knapp 40 Prozent mehr als sern. „Wir ziehen doch alle an verdoppelt werden, müssten in 1 Diele – Niederrhein 4 Ganderkesee – St. Hülfe einem Strang“, findet Ronny Deutschland nach einer Be2 Wilhelmshaven – Conneforde 5 Wehrendorf – St. Hülfe Rode, Bürgermeister der Nachrechnung der Deutschen Enerbargemeinde Kreiensen. gie-Agentur weitere 3600 Kilo3 Stade – Dollern 6 Wahle – Mecklar Selbst die Kirche hat sich in meter Leitungen gebaut werden. den Abwehrkampf eingereiht. Die Landesregierung in Hannover geht in internen Schätzungen davon scher Kollege Stefan Mappus. Der hatte Gottes Schöpfung dürfe nicht durch aus, dass mindestens tausend Kilometer sich entschieden auf die Seite der Stutt- „Stahlkreuze am Himmel verstümmelt davon in Niedersachsen entstehen könn- gart-21-Befürworter gestellt – und den werden“, wetterte der evangelische Pfarrer Bernd Kuchmetzki-Ludwig von der ten. Bürgerprotest völlig unterschätzt. Dass ausgerechnet sein Land die McAllister versucht nun, es möglichst Kanzel. Dabei hat sich der Bauherr alle Mühe Hauptlast der geplanten Energiewende allen Seiten recht zu machen. Er weiß, tragen muss, bringt den niedersächsi- dass längst nicht nur Grüne und Öko- gegeben, Kommunen und Bürger zuminschen Ministerpräsidenten David McAllis- Freaks gegen solche Großprojekte sind, dest ausführlich zu informieren. 16 Palet-
Umstrittene Trassen
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CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
ten voller Unterlagen seien für das Pro- die Trasse bislang dreimal geplant. Zu- würde jeder in der Region akzeptieren“, jekt Wahle-Mecklar in die Region ge- nächst als reine Freileitung, dann zur ist sich Kritiker Braun deshalb sicher. Allerdings: Gleichstrom lässt sich nicht schafft, 1835 Aktenordner bei den Be- Hälfte unter der Erde. Jetzt sollen nur hörden eingereicht worden, rechnet Lex noch acht Kilometer im Boden ver- einfach in das Wechselstromnetz integrieHartman, der Geschäftsführer von Tennet schwinden, wogegen Bürger und betrof- ren. „Zurzeit eignen sich die Kabel nur Deutschland vor. „Wir stehen für Offen- fene Gemeinden bereits Verfassungsbe- für Hunderte Kilometer lange Strecken ohne Abzweig, keinesfalls um konvenheit und Transparenz“, sagt der Nieder- schwerde eingereicht haben. länder, der erst seit ein paar Monaten in Dabei ist die teilweise Erdverkabelung tionelle Höchstspannungsleitungen zu erDeutschland ist. kaum mehr als Kosmetik, der Aufwand setzen“, dämpft Heinrich Brakelmann „Niemand mag die Strommasten, ich enorm, die Wirkung gering. Schon um von der Universität Duisburg-Essen die auch nicht“, sagt der 54-Jährige, „aber die Leitungen etwa 1,5 Meter tief zu ver- Erwartungen. Um den Strom ins Netz einspeisen zu wir müssen erreichen, dass der Netz- buddeln, sind riesige Umlenkstationen ausbau trotzdem akzeptiert wird.“ Die notwendig. Die Wechselstromleitungen können, sind riesige Konverterstationen Zeit sei knapp, denn schon heute herr- erwärmen sich zudem bis auf 90 Grad notwendig. In Moorriem etwa, einem sche auf deutschen Stromautobahnen Celsius. Da die Kühlung unter der Erde Landstrich in der Wesermarsch, soll die häufig Stau, weil man den Netzausbau schlechter ist als in der Luft, darf nur „NorGer“ ins deutsche Stromnetz eingeverschlafen habe. weniger Strom durch die Kabel geschickt bunden werden, ein Stromkabel, mit dem Neben dem Protest verzögern auch die werden. Auch über der Erde gibt es Pro- das deutsche Stromnetz mit Norwegen komplizierten Genehmigungsverfahren bleme. Der Boden trocknet über der 15 verbunden wird. Die Energie soll als Gleichstrom durch den Ausbau. Für die Strecke zwischen Meter breiten Trasse aus, Pflanzen verdas Seekabel geschickt und muss in WechWahle und Mecklar hat Tennet gleich dorren. selstrom umgewandelt werden. sieben verschiedene TrassenvaDie dazu notwendige Anlage rianten vorgeschlagen. Allein wird ein 25 Meter hoher Betondie Behörden in Niedersachsen klotz. Die gesamte Elektroinstalmussten so die Auswirkungen lation benötigt eine Fläche von der Leitungen auf fünf verbis zu 70 Fußballfeldern. schiedene Flugplätze und mehKaum wurden die Pläne in rere Landschaftsschutzgebiete Moorriem bekannt, demonstrierprüfen. ten die Bürger und sammelten Doch der ganze Aufwand Unterschriften. Auch der Norwerde kaum dazu führen, dass Ger-Betreiber, ein schweizerischdie Menschen die riesigen Masnorwegisches Konsortium, hätte ten akzeptieren, glaubt Günter die Station lieber an einem anPiegsa von der zuständigen deren Ort gebaut, sagt DeutschRegierungsvertretung Braunland-Sprecher Matthias Hochschweig: „Die Bürger sollen zustätter, etwa am Kernkraftwerk mindest erkennen, dass wir uns Unterweser. Mühe bei der Auswahl der TrasDoch diese Möglichkeit hat se gemacht haben.“ wohl die Berliner Politik verVerworren ist auch die Gebaut. Ursprünglich sollte der setzeslage. Vor drei Jahren, kurz Meiler 2012 vom Netz gehen. vor der letzten Landtagswahl, Die frei werdenden Anschlüsse hat Niedersachsen ein Gesetz hätten dann von NorGer genutzt verabschiedet, nach dem die werden können. Doch dank der Hochspannungsleitungen unter Laufzeitverlängerung darf der der Erde verlegt werden müssen, Reaktor nun acht Jahre länger wenn sie näher als 400 Meter an Strom einspeisen. Wohnsiedlungen heranreichen. Um die Menschen vor Ort zu Das werde die Akzeptanz der Unionspolitiker Röttgen, McAllister: Angst vor der Mappus-Falle besänftigen, hat sich das UnterLeitungen erhöhen, hoffte der Gravierender noch sind die Nachteile für nehmen erkundigt, wie es in der Gedamalige Ministerpräsident Christian die Betreiber. Wegen der geringeren Ka- meindekasse aussieht. Womöglich ließe Wulff. Im vergangenen Jahr allerdings erließ pazität müssen doppelt so viele Leitungen sich mit freundlicher Hilfe des Unterder Bund ein eigenes Gesetz, um den Lei- verlegt werden, was die Kosten zusätzlich nehmens die Fußgängerzone sanieren? tungsbau zu beschleunigen. Freileitungen treibt. Zudem dauern Reparaturen länger Kompensationszahlungen sind in der wurden damit wieder Standard, nur bei und sind aufwendiger. „Die Erdverkabe- Energiebranche nichts Ungewöhnliches. bestimmten Pilotprojekten können Netz- lung ist für uns vier- bis siebenmal teurer“, Doch vielen Bürgern wäre es lieber, es gäbe eine Alternative zu den Strombetreiber die Kabel teilweise unter der hat Tennet-Mann Hartmann errechnet. Eine komplette Erdverkabelung aller- schneisen. Erde verlegen. Braun zum Beispiel war beim PlaWie sich das auswirkt, lässt sich süd- dings würde wohl die Akzeptanz vor Ort westlich von Bremen beobachten. Dort erhöhen. Das Zauberwort der Bürgerini- nungsbüro, das derzeit den Ausbau der sollte in diesem Jahr eigentlich eine 56 tiativen heißt „HGÜ“, Hochspannungs- A 7 bei Bad Gandersheim koordiniert. Kilometer lange 380 000-Volt-Verbindung Gleichstrom-Übertragung. Dabei wird die Dort soll die Fahrbahn auf sechs Spuren zwischen dem niedersächsischen Gander- Energie nicht wie sonst üblich als Wechsel- verbreitert werden. „Ich wollte mal wiskesee und St. Hülfe in Betrieb gehen. strom übertragen. Die Leitung erwärmt sich sen, ob in den Lärmschutzwänden nicht Doch bislang gibt es noch nicht einmal weniger, hat geringere Verluste, und es ent- gleich Stromkabel installiert werden könsteht kein elektromagnetisches Feld, also nen“, sagt er. Die Planer hätten seine Idee genehmigungsreife Unterlagen. Wegen des Hin und Her der verschie- auch kaum Elektrosmog. Die Technik wird zumindest interessiert angehört. MICHAEL FRÖHLINGSDORF denen Gesetzgeber hat der Netzbetreiber zurzeit bei Seekabeln eingesetzt. „HGÜ 38
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Anwalt Schwenn, Angeklagter Kachelmann
RONALD WITTEK / AFP
„Das Gericht sollte auf der Hut sein“
STRAFJUSTIZ
Entgleist? Bislang bringt der Verteidigerwechsel dem Angeklagten Jörg Kachelmann wenig. Entlastet hat ihn ein Spurengutachter. Von Gisela Friedrichsen
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enn im Publikum jemand gehustet hat, spielte der Pianist Alfred Brendel einfach weiter. Allenfalls verlängerte er die Pause zwischen zwei Sonatensätzen um einen Lidschlag, worauf es sofort ruhig wurde. Denn: Bei Brendel hustete man nicht. Johann Schwenn verlangt solche Andacht auch im Gerichtssaal – wenn er das Wort hat oder sich nimmt. Wer ihn nicht adoriert, wird abgestraft. Eine hüstelnde Frau blafft er an: „Kann das jetzt mal unterbleiben?“ Räuspert sich jemand, schickt er wütende Blicke in den Zuschauerraum. Flüstern Staatsanwälte oder Richter während seines Vortrags, setzt es Tadel. Denn bei Schwenn hat man nicht zu husten oder zu flüstern. Die Kritik an solchem Hochmut – und Schwenn ist sich seiner Fähigkeiten und juristischen Brillanz überaus bewusst – wäre irrelevant, befände sich der Prozess tatsächlich in jener Schieflage, die Schwenn in der Zeitschrift „Cicero“ provokant beschrieb. Doch ist dem so?
Zwar ist das Sündenregister der Mannheimer Staatsanwaltschaft lang. Sie hatte Ermittlungen unterlassen. Sie hatte gegen die Fortdauer der U-Haft keinen Finger gerührt, sogar als Falschaussagen des angeblichen Opfers offen zutage traten. Sie hat die Öffentlichkeit, freundlich ausgedrückt, einseitig informiert und getrickst, wenn es ihr opportun erschien. Die Staatsanwaltschaft erhob auch Anklage ohne Rücksicht auf das Ergebnis eines von ihr selbst in Auftrag gegebenen aussagepsychologischen Gutachtens über die Nebenklägerin. Die Staatsanwaltschaft fragte ausgerechnet deren obskuren Therapeuten, ob die Erinnerungslücken und Widersprüche in der Aussage der Zeugin nicht typisch seien für ein durch sexuelle Gewalt traumatisiertes Opfer – wissend, dass ein Traumatherapeut nicht prüft, ob die Patientin die Wahrheit sagt, sondern das Trauma, und damit die behauptete Tat, nicht in Frage stellt. Doch zugelassen haben die Anklage die Richter. Und sie haben dabei ohne D E R
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Not eine „hohe Verurteilungswahrscheinlichkeit“ prognostiziert. Auch den Beschluss, Kachelmann nicht aus der U-Haft zu entlassen, hatten diese Richter gefasst. Erst das Oberlandesgericht Karlsruhe setzte ihn ohne Auflagen auf freien Fuß. Die Berufsrichter der 5. Großen Mannheimer Strafkammer bestimmten den in diesem Fall recht speziellen Ablauf der Hauptverhandlung: Es sollte nicht, wie sonst üblich, erst einmal die Hauptbelastungszeugin angehört werden, sondern zuvor deren erschütterte Eltern, dann die von Tränen und Zittern des angeblichen Opfers beeindruckten Kripo-Beamtinnen und im Anschluss der nicht minder beeindruckte Haftrichter. Dann enttäuschte, erboste Ex-Freundinnen des Angeklagten. Das Gericht stimmte auch zu, als einige dieser Zeuginnen, die die „Bunte“ exklusiv und gegen Bares schon unter ihre Bettdecke hatten schauen lassen, den Ausschluss der Öffentlichkeit verlangten. Der Prozess schien zeitweise zu entgleisen. Dann folgte die Kammer auch noch dem Antrag der Staatsanwaltschaft, einen der anerkanntesten und ob seiner Unbestechlichkeit geachteten Rechtsmediziner, Bernd Brinkmann, wegen angeblich zu besorgender Befangenheit als Gutachter aus dem Prozess zu entfernen. Sein Gutachten hatte ergeben, dass die Hämatome und Hautrötungen der Nebenklägerin wohl nicht so entstanden sind, wie von der Frau behauptet. Der Eindruck, hier steuere ein befangenes und in seiner Befangenheit gefangenes Gericht auf eine Verurteilung zu, verstärkte sich noch, als von weiterem Verhandlungsbedarf bis Ende März die Rede war. Der Staatsanwaltschaft geneigte Medien ließen verlauten, eine weitere Zeugin, eine Schweizerin, könne berichten, wie brutal sie von Kachelmann behandelt worden sei. Allerdings wolle sie nicht in Mannheim aussagen. Kachelmann wechselt von einem Tag auf den anderen den Verteidiger – von Reinhard Birkenstock zu Schwenn. Der beginnt, als habe er seit Monaten auf diese Gelegenheit gelauert. Kein Aussetzungsantrag zur Einarbeitung in die Akten, stattdessen Angriff gegen alle und jeden. Bissige Beanstandungen, überhebliche Belehrungen, aggressive Anträge. Beifall und Lacher beim Publikum. Der Vorsitzende versucht, des Überdrucks Herr zu werden. Schwenns Anträge, etwa eine Durchsuchung bei „Focus“ und „Bunte“, werden nicht gleich, sondern erst nach geraumer Zeit abgelehnt, bleiben erst einmal liegen. Er bittet, zu einer „sachlicheren Prozessatmosphäre zurückzukehren und gemäßigtere Anträge zu stellen“. Schwenn: „Das Gericht sollte auf der Hut sein, wenn es den Ver39
Deutschland dass die inflationär vorgebrachte „posttraumatische Belastungsstörung“ dazu dient, Falschaussagen eines vermeintlichen Opfers als Folgen der behaupteten Tat zu missdeuten. Wirklich vergewaltigte Frauen aber können durchaus unter einem Trauma leiden, auch Verlassene, Enttäuschte und Einsame. Dass heute bisweilen Schindluder getrieben wird mit Schlagworten, dafür kann Frau Greuel nichts. Sie war von der Staatsanwaltschaft beauftragt worden. Sollte man dort von ihrer Lehrtätigkeit auf eine gewisse Nähe zu den Strafverfolgungsbehörden geschlossen und sich ein entsprechendes Ergebnis versprochen haben, so ist sie diesen Erwartungen nicht nachgekommen. Sie ist eine anerkannt unabhängige, erfahrene Sachverständige. Ihr Gutachten dürfte daher umso gewichtiger – und günstiger für den Angeklagten – zu bewerten sein. Was also hat Schwenns Einsatz bewirkt? Viel Wirbel, noch mehr Aufmerksamkeit – doch der Prozess kam für die Verteidigung seit dem Mandatswechsel nicht recht voran. Denn in der Mannheimer Justiz steht man zusammen. Oberstaatsanwalt Oskar RONALD WITTEK / DPA
teidiger kritisiert bei der Antragstellung! Das ist nicht ungefährlich!“ Schwenn setzte die Scharmützel jedoch fort. Sein nächstes Ziel war Luise Greuel, Professorin an der Verwaltungshochschule in Bremen, wo sie auch Polizeibeamte unterrichtet. Sie zog sich Schwenns Groll bereits vor der Erstattung ihres Gutachtens zur Glaubhaftigkeit der Aussage des angeblichen Opfers zu. Zwar ist das Ergebnis ihrer vorläufigen Expertise – die endgültige wird erst am Ende der Beweisaufnahme erstattet – für Kachelmann positiv, da die Aus- Sachverständige Greuel: Alternativhypothesen geprüft sage der Nebenklägerin nach Greuels Analyse weder als Beleg für die Geständnis eines systematischen Betrugs behauptete Vergewaltigung noch dagegen durch den Angeklagten, dem die Frau dienen kann. Dennoch sieht Schwenn in blind vertraut haben will. Greuel diskutiert ebenso die Hypothedieser Sachverständigen eine Gefahr und unterstellt ihr, Anhängerin einer „radikal- se einer tatsächlichen Vergewaltigung wie die einer „traumabasierten Scheinerinfeministischen Irrlehre“ zu sein. Wie das? In Fachkreisen genießt Frau nerung“. Das muss eine Sachverständige Greuel einen ausgezeichneten Ruf. Denn dürfen, ohne gleich wegen Besorgnis der sie diskutiert ausführlich, wie es ihre Befangenheit abgelehnt zu werden. Doch Pflicht ist, diverse Alternativhypothesen, auf Begriffe wie „Trauma“ oder „postwelche Gründe es für Qualitätsmängel traumatische Belastungsstörung“ reagiert einer Aussage geben könnte. Im Fall Ka- Schwenn geradezu allergisch. chelmann erwägt sie unter anderem ein Er mag in mehreren Vergewaltigungsseelisches Trauma, ausgelöst durch das prozessen die Erfahrung gemacht haben,
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Gattner ist dort ein angeseheging und Mattern in eine Auner Mann. Von seinem Kolleßenseiterrolle geriet, rechtfergen Lars-Torben Oltrogge, der tigte er sich mit dem verheeSchwenns Treffern nicht gerenden Satz: „Ich habe mich wachsen ist, muss nicht die natürlich gefragt, was will der Rede sein. Doch über eine AnRichter von mir hören.“ klage, die Gattner vertritt, Mittlerweile sieht es so aus, setzt sich kein Mannheimer als treibe die Kammer den ProRichter einfach hinweg. Schon zess voran. Der Eindruck von gar nicht ein Michael Seidling, Befangenheit – wie weggeein eher gutmütiger denn ein wischt. Stand es vielleicht bestimmender Vorsitzender. schon vor dem Wechsel gar Wie werden sich die Beisitnicht so schlecht um den Anzer, vor allem zur Linken Joageklagten, wie geunkt wurde? chim Bock, selbst Vorsitzender Ging es bei dem VerteidigerRichter einer anderen Kamwechsel mehr um das Mandat mer, ein Jurist mit Ambitioals um Kachelmann? nen, und Berichterstatterin Da- Vorsitzender Seidling: Verhandlungsbedarf bis in den März In dieser Woche wurde ein niela Bültmann künftig verhalBiologe des Landeskriminalten? Die Richterin wurde von Schwenn waltschaft und Kammer souverän mit der amts vernommen: für den Angeklagten schon angegangen, nicht stets ein Expertise Brinkmanns umgegangen. ein Weihnachtsgeschenk. Der Gutachter „schmerzverzerrtes Gesicht“ zu ziehen, Besonderes Gewicht kommt nun dem hatte das Messer untersucht, das Kachelwenn er spreche. Und auch Bock musste von der Staatsanwaltschaft beauftragten mann der Frau möglicherweise zehn Misich maßregeln lassen. Heidelberger Hausgutachter, dem Rechts- nuten lang unter Todesdrohung fest an Der Rechtsmediziner Brinkmann durf- mediziner Rainer Mattern zu. Er hatte den Hals gehalten haben soll. Verwundert te als sachverständiger Zeuge seine zunächst die körperlichen Befunde der es da nicht, dass sich nur eine minimale „Wahrnehmungen und Beobachtungen“ Nebenklägerin mit einer Vergewaltigung Mischspur, die nicht eindeutig zuzuordbeim Betrachten von Fotos schildern, auf durchaus für „vereinbar“ gehalten und nen ist, auf dem Griff befindet? denen Hämatome und Hautrötungen der an Brinkmanns Schlüssen gezweifelt. Sechs Stunden lang sagt der Biologe Nebenklägerin zu sehen waren. Interpre- Nun aber will er bis Ende Januar noch aus. Es geht hin und her. Dann muss er tieren durfte er die Abbildungen nicht – weitere Versuche anstellen. eingestehen, man wisse nicht, „ob der eine groteske Situation, zu der es nicht 1990, als es in einem Prozess in Darm- Angeklagte das Messer überhaupt angehätte kommen müssen, wären Staatsan- stadt um die Bestimmung der Todeszeit fasst hat“.
Deutschland
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„10 000 Euro für einen Molch“ Der hessische FDP-Wirtschaftsminister Dieter Posch, 66, über absurde EU-Gesetze, mehr Bürgerbeteiligung und weniger Bürokratie bei der Planung von Großprojekten
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Habitat-Richtlinie. Die wurden gewissermaßen auf das deutsche Naturschutzrecht draufgesattelt, mit teilweise absurden Folgen. Gut ein Fünftel von Hessen ist zum Beispiel heute nach EU-Recht Schutzgebiet. Wenn wir eine Straße bauen, müssen wir sie irgendwie zwischen den Schutzgebieten hindurchschlängeln. Da kommen dann Trassen heraus, wie man sie sich als Planer kaum wünscht. SPIEGEL: Dafür aber hoffentlich solche, die die Umwelt schonen. Posch: Wenn es doch so wäre. In Nordhessen bauen wir zum Beispiel seit vielen Jahren an einer Autobahn von Kassel
UWE ZUCCHI / PICTURE-ALLIANCE / DPA
Schlichterspruch von Heiner Geißler fast unverändert weitergestritten, ob ein unterirdischer Bahnhof nötig ist. Warum sind solche Großprojekte in Deutschland nur noch so schwer durchsetzbar? Posch: Durch Stuttgart 21 ist ein schon lange schwelendes Thema einer breiten Öffentlichkeit bewusst geworden: Wir müssen viel mehr Mühe als bisher aufwenden, um die Menschen frühzeitig vom Nutzen und Sinn großer Verkehrsund Infrastrukturprojekte zu überzeugen. Was wir an formalen Verfahren haben, ist nicht mehr zeitgemäß. SPIEGEL: Geißler wünscht sich für die Zukunft Volksabstimmungen nach dem Schweizer Modell. Posch: Viel wichtiger als eine Abstimmung ist die Beteiligung der Bürger an der Planung – und zwar von Anfang an. Wenn die Bahn AG eine neue Trasse für nötig hält oder ein Energieversorger neue Kraftwerksblöcke bauen will, müssen diese Unternehmen damit frühzeitig an die Öffentlichkeit gehen und ihr Vorhaben ausführlich begründen. Es geht nicht, die Pläne einfach an die Politik zu reichen und zu sagen: Jetzt macht mal. SPIEGEL: Und wenn die Leute einfach sagen, „das wollen wir nicht“? Posch: Wenn ein Projekt politisch nicht durchsetzbar ist, muss man es lassen. Aber ich glaube, dass sich für wichtige Projekte breite Mehrheiten finden lassen. Nehmen Sie zum Beispiel die geplanten 380-Kilovolt-Stromleitungen, gegen die es viele Proteste gibt: Den meisten Bürgern leuchtet ein, dass wir diese Fernleitungen brauchen, weil wir mehr erneuerbare Energien einsetzen wollen und dafür den Strom von den Windparks im Norden in den Süden leiten müssen. SPIEGEL: Die Bürger wollen diese Leitungen – aber nicht vor ihrer Haustür. Posch: Die detaillierte Trassenführung ist ja erst die zweite Frage nach der Grundsatzentscheidung für oder gegen ein Projekt. Und da sind Bedenken von Anwohnern für mich oft durchaus nachvollziehbar. Leider müssen wir aus rechtlichen Gründen manchmal Routen wählen, die die Menschen stärker belasten als nötig. SPIEGEL: Wieso das? Posch: Seit etwa fünf, sechs Jahren greifen europäische Natur- und Artenschutzregelungen wie etwa die Flora-Fauna-
SCHULZ / F1ONLINE
SPIEGEL: In Stuttgart wird auch nach dem
nach Eisenach, der A 44. Auf vier Bäumen, die auf unserer geplanten Trasse liegen, wurden Quartiere der BechsteinFledermaus entdeckt. Wäre dort ein Bauernhof, könnten wir den Besitzer enteignen. Aber das Heim der Bechstein-Fledermaus steht unter besonderem Schutz. Nach EU-Recht müssen wir prüfen, ob es eine Alternativtrasse gibt. Die gibt es natürlich, nämlich den Ausbau einer Bundesstraße durch den benachbarten Ort. Aber den wollten wir durch die neue Autobahn ja gerade entlasten. Das heißt, dass wir nun möglicherweise den Anwohnern eine 6,50 Meter hohe Lärmschutzwand vor die Nase setzen, weil wir genau vier Bäumen mit Fledermäusen ausweichen müssen. SPIEGEL: Ein extremer Einzelfall, oder? Posch: Ich könnte Ihnen Dutzende solcher Fälle nennen. Wir nehmen in Hessen derzeit bei etwa 20 Straßenbauprojekten besondere Rücksicht auf die Lebensräume der Feldlerche. Ein Gutachter hat uns bescheinigt, dass Verkehrslärm von mehr als 49 Dezibel sich nachteilig auf das Wohlbefinden und Brutverhalten von Vögeln auswirken könnte. Menschen müssen nach geltender Rechtslage dagegen bis zu 62 Dezibel ertragen. SPIEGEL: Menschen können sich vor Gericht gegen Belastungen wehren, Tiere nicht. Posch: Für mich setzt das EURecht die Prioritäten falsch. Überall in Deutschland warten Anwohner auf Umgehungsstraßen oder Lärmschutz. Stattdessen bauen wir für Millionenbeträge Grünbrücken für Wildkatzen, Dachse und Rehe. An der A 44 geben wir 50 Millionen Euro für einen Autobahntunnel zum Schutz von Kammmolchen aus. Ein Kammmolch ist ein von der EU geschütztes, aber in Hessen weitverbreitetes Amphibium. In der Nähe des geplanten Tunnels soll es etwa 5000 solcher Molche geben. Damit kostet uns der Artenschutz dort rund 10 000 Euro pro Molch. Mit dem Geld könnte ich anderswo sinnvollere Dinge machen. SPIEGEL: Sie glauben, dass Artenschutz in Deutschland wichtiger genommen wird als der Schutz des Menschen? Posch: Ich glaube, dass der Artenschutz, so wie er jetzt geregelt ist, sich selbst ad absurdum führt. Bei der geplanten Bahn-Neubaustrecke Frankfurt–Mannheim zum Beispiel war die ursprüngliche Idee, die Gleise parallel zu einer
Politiker Posch, geschützter Kammmolch
„Das ist doch Irrsinn“ D E R
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Autobahn laufen zu lassen, damit der Lärm gebündelt wird und nicht überall zusätzliche Schutzwände in die Landschaft gebaut werden müssen. Aber an jedem Waldrand, also auch am Rand einer Autobahn, finden sich Tiere, die auf irgendeiner Schutzliste stehen. Die Folge ist, dass wir die Trasse in Südhessen jetzt so gelegt haben, dass möglichst wenige schützenswerte Tiere betroffen sind – sie führt nun mitten durch einen Wald. Das ist doch Irrsinn. SPIEGEL: Wenn alles so kompliziert ist, wie wollen Sie verhindern, dass die Verfahren durch eine Bürgerbeteiligung noch viel mehr Zeit in Anspruch nehmen werden? Posch: Mit unserem Planungsrecht leisten wir uns hochbürokratische Verfahren mit vielen Doppel- und Dreifachprüfungen. Die dauern oft so lange, dass wir teure Gutachten wegwerfen und wiederholen müssen, weil sich die Natur, die untersucht wurde, längst verändert hat oder weil Tierpopulationen weitergezogen sind. Mein Vorschlag: das Raumordnungsverfahren komplett streichen und durch eine Bürgerbeteiligung ersetzen. SPIEGEL: Aber dadurch würde die Planungszeit insgesamt nicht kürzer, oder? Posch: Sie muss kürzer werden, und vor allem muss das Planverfahren transparenter und demokratischer werden. Und wenn sich diese Erkenntnis jetzt so langsam über alle Parteigrenzen hinweg durchzusetzen beginnt, wären der große Konflikt und die Schlichtung um Stuttgart 21 nicht umsonst gewesen. SPIEGEL: Mehr Bürgerbeteiligung macht aber nur Sinn, wenn sich die Regierenden auch an Verabredungen halten. Den Anwohnern des Frankfurter Flughafens wurde als Ausgleich für eine neue Landebahn ein Nachtflugverbot versprochen. Jetzt, wo die Bahn gebaut wird, wollen Sie Nachtflüge sogar vor dem Bundesverwaltungsgericht durchsetzen. Das ist nicht gerade eine Werbung für Ihr Modell. Posch: Wir sind vor das Bundesverwaltungsgericht gegangen, weil wir eine Rechtsfrage geklärt haben wollen. Es geht uns um die Frage, ob ein Nachtflugverbot schon deshalb bindend ist, wenn es in einer Begründung eines Entwicklungsplans der Landesregierung steht. Wenn diese Auffassung der Vorinstanz Bestand behielte, hätte dies enorme wirtschaftliche Auswirkungen. Denn wichtige Infrastrukturvorhaben könnten dann nicht mehr oder nur noch schwer realisiert werden. SPIEGEL: Mit diesem Argument werden Sie keinen einzigen Anwohner überzeugen. Posch: Da mögen Sie recht haben. Auch wir müssen noch dazulernen, was den Umgang mit Mediationsverfahren angeht. Aber dass wir etwas in der Art brauchen, um eine bessere Bürgerbeteiligung sicherzustellen, das steht für mich fest. INTERVIEW: MATTHIAS BARTSCH, ALFRED WEINZIERL D E R
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Die Vergessene Die Enkelin eines jüdischen Industriellen, der von den Nazis enteignet wurde, galt jahrzehntelang als unauffindbar. Nun ist die Frau in Argentinien entdeckt worden und hat die Chance auf eine Entschädigung. Doch ausgerechnet die Claims Conference geht gegen ihre Ansprüche vor.
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hre Hände ruhen auf der fleckigen Tischdecke, ihr Blick ist steif. Sie sagt nichts und sitzt da wie eine, die am Rand der Welt vergessen wurde, am Lebensrand, irgendwann in den Vierzigern, nachdem sie aus Deutschland geflohen war. Gertrude Monzón Tabares, geborene Wertheim, Enkelin eines jüdischen Chemiefabrikanten aus Sachsen, 72 Jahre alt, vergreist und bleichgesichtig. Durch die Haustür dringt dumpfes Hämmern. Ihr Sohn flickt draußen einen Holzkarren, mit dem er durch die Stadt zieht und leere Ölkanister, Autoreifen und Bauschrott sammelt. Dafür drückt ihm der Schrotthändler, wenn er Glück hat, am Ende des Monats 300 Pesos in die ölverklebten Hände, etwa 60 Euro. Das Leben von Gertrude Monzón Tabares, der Vergessenen und Verschwundenen, könnte genauso düster weitergehen, wenn nicht vor kurzem eine Überraschung geschehen wäre. Am Telefon meldete sich ein Mann aus Berlin, der nebenberuflich Erben aufspürt. Er sagte, Frau Monzón Tabares könne Geld bekommen. Ihr verstorbener Großvater sei von den Nazis enteignet worden, sie habe Ansprüche auf einen Teil der Entschädigung. Die Behörden würden das sicher bestätigen. Der Mann aus Berlin redete von 70 000 Euro, vielleicht etwas mehr, genug jedenfalls, um sie, ihren Mann und ihren Sohn in Buenos Aires zu versorgen. Gertrude Ingeburg Wertheim de Monzón Tabares, wohnhaft hinter Sperrmüll in der Calle Carrasco Nummer 2686, San Justo, Buenos Aires, erschrak vor Freude. Sie könnte mit dem Geld ein sauberes Heim kaufen, sie würde nicht mehr vom Sperrmüll leben müssen, den ihr Sohn verkauft. Sie würde vielleicht sogar ein letztes Mal in ihre alte Heimat reisen, nach Sachsen, wo sie nicht mehr war, seit sie als Mädchen vor den Nazis floh. Alles sah gut aus, doch der Fall wurde kompliziert. Denn ausgerechnet die Nachfolgeorganisation „Conference on Jewish Material Claims against Germany“, die Claims Conference, wehrt sich nun gegen die Zahlung der Entschädigung. Gertrude Monzón Tabares habe eine Frist versäumt, weil sie den Antrag bis Ende Dezember des Jahres 1992 hätte stellen müssen. Kurzum: Sie habe keinen Anspruch auf das Geld.
Emigrantin Monzón Tabares: Mit einem Koffer nach Argentinien
Nun ist die merkwürdige Situation entstanden, dass das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen den Nachfahren eines Holocaust-Opfers eine Entschädigung zahlen will, die Claims Conference aber, Fürsprecherin der jüdischen Opfer und Interessen, dies ablehnt. Es geht vor allem um Fristen, also um formale Gründe. Und so ist ein bizarrer Rechtsstreit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Claims Conference vor dem Berliner Verwaltungsgericht anhängig über die Frage, wem das Geld nun überwiesen werden soll: Gertrude Monzón Tabares oder der Claims Conference. Der Streit dauert inzwischen anderthalb Jahre, ein Ende ist schwer abzusehen. Die Claims Conference und deren Deutschland-Direktor Roman Haller haben eine Anwaltskanzlei in Frankfurt am Main mit dem Fall betraut; die BundesreD E R
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publik wird vertreten durch Juristen des Amts für offene Vermögensfragen in Berlin. Es ist eine Menge Papier hin- und hergeschoben worden zwischen Hallers Anwälten und den Juristen im Bundesamt. Gertrude Monzón Tabares aber sitzt weiter hinter ihrem Müllberg in Buenos Aires und wartet. Ihre Gesundheit ist nicht mehr die beste, es ist nicht sicher, dass sie das Ende des Verfahrens erleben wird. Die Frage, um die sich der Streit zwischen der Bundesrepublik und der Claims Conference dreht, lautet: Durfte der Cousin von Gertrude Monzón Tabares vor 20 Jahren stellvertretend für sie und die übrige Familie einen Antrag auf Entschädigung stellen? Hallers Anwälte in Frankfurt sagen, nein; die alte Frau hätte damals einen eigenen Antrag ausfüllen müssen. Die Claims Conference beansprucht daher rund ein Viertel der Entschädi-
bares das Geld nicht zugesprochen werde, welches Ziel damit verfolgt werde und welche Möglichkeiten ihr noch blieben, an ihr Geld zu kommen, erhält nicht mehr als eine lapidare Auskunft. Man stehe mit den Erben im Gespräch, heißt es. Dem Fall liege eine sehr „spezielle Thematik zugrunde, deren allgemeine Bewandtnis sich nicht erschließt“. Ein Kompromiss, der das Verfahren beschleunigen würde, ist nicht in Sicht. Eine Reise von Georg Wertheim, dem Cousin
ANDREW LICHTENSTEIN
gungssumme, jenen Anteil, der Gertrude Monzón Tabares eigentlich allein zustehen würde: rund 70 000 Euro. Auch wenn das juristisch richtig wäre, bleiben moralische Zweifel. Müsste die Claims Conference der Hinterbliebenen eines jüdischen Fabrikbesitzers, der in Theresienstadt ums Leben kam, nicht unbürokratisch helfen und alles daransetzen, dass ihr möglichst schnell die Entschädigung gezahlt wird? Die Beamten im Bundesamt für offene Vermögensfragen ent-
Zentrale der Claims Conference in New York: „Spezielle Thematik“
schieden jedenfalls nach langer Prüfung im Juni 2009 im Sinne der Familie Wertheim, gegen Roman Haller und die Claims Conference. Die Familie sollte die vollständige Summe erhalten, die Claims Conference bekäme nichts. Damit wollten sich Hallers Anwälte aber nicht abfinden. Sie reichten Klage gegen den Bescheid des Bundesamts ein. Warum urteilt gerade die Claims Conference genauer, unerbittlicher als eine deutsche Behörde, die den Fall eingehend geprüft hat? Weshalb führt die Organisation ein Gerichtsverfahren gegen die Bundesrepublik, und warum ist sie nicht nachsichtiger gegenüber den noch lebenden Erben? So ganz genau kann das die Claims Conference offenbar auch nicht sagen. Vermutlich gibt es gar keine befriedigende Antwort. Wer in Frankfurt nachfragt, warum Gertrude Monzón Ta-
von Gertrude Monzón Tabares, nach Frankfurt im September 2009 brachte keine Annäherung. Nach dem fruchtlosen Gespräch mit einem der Anwälte der Claims Conference und dem Versuch, sich mit ihm zu einigen, reiste Wertheim zornig ab. Die Anwälte beharren auf der Tatsache, dass Gertrude Monzón Tabares die Frist Ende 1992 nicht eingehalten habe. Vorerst bleibt deshalb auch die Entschädigung für die übrigen Mitglieder der Familie Wertheim eingefroren. Nun muss das Berliner Verwaltungsgericht prüfen, welche Seite recht hat. Ihren Anfang nimmt die Geschichte noch vor dem Krieg, im Jahr 1938, mit Gertrudes Großvater Joseph Wertheim, einem deutschen Juden. Joseph Wertheim, der nicht verwandt ist mit der Kaufhausfamilie Wertheim, betrieb eine Fabrik zur Herstellung von Chemikalien für D E R
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die Gerberei und die Textilindustrie. Die Chemische Fabrik Meerane m.b.H. produzierte Aluminiumhydroxid, später auch ein Mittel gegen Sodbrennen. Das Geschäft lief gut, bis die Firma 1939 von den Nazis übernommen und für einen Bruchteil ihres Werts arisiert wurde. Joseph Wertheim, Gertrudes Großvater, starb im KZ Theresienstadt. Andere Angehörige wurden in Auschwitz, Stutthof und Lodz ermordet oder wurden totgeprügelt. Die Familie, die eng beisammen in Meerane lebte, wurde aus Deutschland vertrieben und verstreute sich in Südamerika. Gertrude flüchtete mit ihrer Mutter über die Tschechoslowakei und Österreich nach Belgien. Als der Krieg vorüber war, kletterte sie mit einem Rohrplattenkoffer und zwei Holzkisten auf ein Dampfschiff Richtung Buenos Aires. Dort lebt sie bis heute. Die Chemische Fabrik ihres Großvaters wurde nach dem Krieg zum Eigentum des Volks der DDR. Gertrude heiratete im Alter von 15 Jahren einen argentinischen Polizisten. An die Chemiefabrik in Sachsen dachte sie nur sehr selten. Es fällt ihr nicht leicht, ihre Erinnerungen an die Irrfahrt durch Europa in eine begreifbare Ordnung zu bringen. Mit ihrem Sohn und ihrem Mann spricht sie nur Spanisch. Ihr Deutsch ist das jenes zehnjährigen Mädchens geblieben, das sie bei der Schiffspassage nach Argentinien war. Sie entschuldigt sich, wenn sie eine Frage nicht sofort verstanden hat: „Mein Kopf tut nicht mehr so gut arbeiten.“ Bald nach der Heirat wurde ihr Ehemann aus dem Polizeidienst entlassen, nachdem er seinem Vermieter bei einem Streit eine Kugel ins Bein gejagt hatte. Er bekam Arbeit auf dem Bau, als Elektriker. Sie brachte zwei Söhne zur Welt, putzte Wohnungen und hütete die Kinder von wohlhabenden Familien. In den achtziger Jahren starb ihr jüngster Sohn, der am Stadtrand von Buenos Aires für eine Firma Brunnen in den Boden trieb, bei einem Unfall. Er wurde 23 Jahre alt. Sie ist bis heute überzeugt, dass er ermordet worden ist. Sein Bild ließ sie auf ein Emailleschild pressen, ihre Finger streichen über sein Gesicht. Draußen strahlt die Sonne, aber vor dem Fenster stapeln sich Kanister, Reifen, Holzlatten, Sprühdosen und leere Farbeimer und schlucken das Licht. Die Luft im Haus schmeckt nach feuchter Pappe und Schimmel. Viel ist ihr nicht geblieben, der Enkelin des Chemiefabrikanten Joseph Wertheim. Bald nach ihrer Ankunft verlor sie den Kontakt zu den Verwandten. Ihr Großvater hatte sieben Kinder, von denen vier vor den Nazis weglaufen konnten. Eines der vier Kinder war Gertrudes Vater, ein patriotischer Jude, der im Ersten Weltkrieg für den Kaiser gekämpft hatte. Gertrudes Mutter war keine Jüdin, damit ist Gertrude Monzón Tabares ebenfalls nicht jüdisch. Die Religion 45
NICOLAS POUSTHOMIS / SUB.COOP / DER SPIEGEL HOENSCH / MEERANE.DE
Chemiefabrikant Georg Wertheim: „Traudl, ich besorg dir einen Lastwagen, hörst du?“
Früherer Wertheim-Besitz in Meerane, Familienfoto*: Eine Steuernummer führte zu ihr
spielte keine Rolle in ihrem Leben, was nichts daran änderte, dass bis heute kein einziges Mitglied der Familie Wertheim jemals für die von den Nazis zwangsverkaufte Chemiefabrik entschädigt wurde. Die DDR fühlte sich dafür nicht verantwortlich, und nach der Wende kam die Sache auch nicht recht in Gang. Gertrudes Cousin Georg Wertheim schrieb den Antrag auf Entschädigung in dem Glauben, er könne dies stellvertretend für die gesamte Familie tun. Er wollte Gerechtigkeit. Der Antrag vom 29. August 1990 traf im Landratsamt Glauchau ein, das zuständig ist für Meerane. Nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen von 1990 hat jeder Bürger, der während der Nazi-Herrschaft aus rassischen, politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt wurde und dadurch Geld oder Grundbesitz verloren hat, das Recht auf Entschädigung. Das Gesetz galt für Vermögen und Besitz in der ehemaligen DDR, und es sah vor, dass sämtliche Ansprüche auf Entschädigungen bis zum 31. Dezember 1992 angemeldet sein müssen. Gertrudes Cousin dachte, er habe alles richtig gemacht. Es gibt inzwischen Enkel und Urenkel des alten Wertheim, des Firmengründers. Seine Nachfahren leben in den USA, in Chile, Argentinien und Brasilien. Es dauerte lange, bis in den Neunzigern alle Geburts- und Heiratsurkunden, Todeserklä46
rungen und Erbscheine beisammen waren. Schließlich fehlte nur noch eine Kleinigkeit: Gertrude. Niemand wusste, wo sie lebte. Ihr Vater war Ende der fünfziger Jahre an den Spätfolgen seiner Verletzung aus dem Ersten Weltkrieg gestorben, ihre Mutter starb kurz darauf. Man ließ nach Gertrude suchen, ohne Erfolg. Die Familie sah nur noch eine Möglichkeit. Am 5. November 2009 verschickte das Amtsgericht Berlin-Schöneberg den Beschluss, Gertrude für tot zu erklären. Aus der Küche hört man Topfgeklapper. Gertrudes Ehemann ist 82, manchmal schleppt er seinen Körper zur Apotheke, und wenn das Geld für die Tabletten nicht ausreiche, sagt Gertrude, müssten die Nachbarn einspringen. Unter dem Küchentisch zieht sie Hühner groß. Erst im Sommer dieses Jahres kam Bewegung in die Suche nach der totgeglaubten Gertrude. Ein Erbenermittler aus Berlin hatte ihre Heiratsurkunde aus dem Jahr 1953 entdeckt und bat, in einem allerletzten Versuch, einen Helfer in Buenos Aires um Unterstützung. Eine alte Steuernummer legte die Spur zu ihr. Vor einigen Wochen klopfte ein Mann an Gertrudes Tür, der sich vor Ekel schüttelte, als er ihr Wohnzimmer betrat. Der Mann war Georg Wertheim, der Cousin, * Mit Gertrude als Kind, ihrer Mutter und einem Onkel um 1940. D E R
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der 1990 den Entschädigungsantrag schrieb. Er war mit seinen Eltern wie Gertrude nach Buenos Aires ausgewandert. Sie lebten in derselben Stadt und hatten sich 57 Jahre nicht gesehen. Jetzt sitzt er ihr am Wohnzimmertisch gegenüber, ein wacher 82-Jähriger. Georg Wertheim spricht vier Sprachen, er ist der Ehrenpräsident der Firma Meranol in Buenos Aires. Seine rechte Hand wischt ein Stäubchen von dem marineblauen Blazer. Wertheim ist das strahlende Gegenteil seiner Cousine, ans Ende seiner Sätze hängt er gern ein „no problem“ oder „don’t talk about it“, wie der letzte deutsche Weltbürger. Er blickt sich in der Wohnung um und sieht den Müll vor dem Fenster. Er sagt: „Traudl, ich besorg dir einen Lastwagen, hörst du? Wir fahren den Schrott weg, das ist an einem Vormittag erledigt.“ Er schaut sie an und seufzt. „Ach, Traudl.“ Sie waren wie beste Freunde, Gertrude und ihr Cousin. „Der Georg war eine exzellente Person, er ist leider weggegangen.“ Er studierte Chemie in Buenos Aires, arbeitete in einer Kölner Chemiefirma und bei Bayer in Leverkusen. Er pendelte zwischen Argentinien und Europa, und irgendwo zwischen den Kontinenten verlor sich der Kontakt zu seiner Cousine. Gertrude Monzón Tabares sagt, sie habe Georg sehr gemocht, doch seine Mutter habe sie aus dem Haus geworfen. Georg sagt, er habe seit Ende der Neunziger nach ihr gesucht. Warum habe sie sich denn nie bei ihm gemeldet? Ihre beiden Leben gingen in verschiedene Richtungen, eines ging bergauf, das andere bergab. Womöglich ist das die Antwort. Der Stolz. Sie wollte ihn nicht belästigen. Der Müll ist ihr unangenehm. Als Gertrude nach dem Wiedersehen vor einigen Wochen ihrem Cousin berichtete, ihr Fernsehgerät sei kaputt, ließ er ihr ein neues bringen. Sie freute und sie schämte sich. Georg Wertheim hilft ihr, aber er verbringt viel Zeit in der Fabrik. Er sagt: „Ich bin ein richtiges Fabrikschwein.“ Gertrude Monzón Tabares bleibt wenig mehr, als auf die versprochenen 70 000 Euro zu warten, die durch den Rechtsstreit mit der Claims Conference blockiert werden. Das Bundesamt hat zuletzt im November noch einmal bestätigt, dass Georg Wertheim 1990, anders als die Claims Conference behauptet, für alle Erben sprechen durfte. Damals seien die rechtlichen Anforderungen an eine Antragstellung noch nicht so hoch gewesen. Die Anwälte der Claims Conference bleiben dabei: Allein die Claims Conference hat Anspruch auf die Entschädigung. Ein Fahrer wartet vor Gertrudes Haustür. Georg Wertheim lässt sich auf die Rückbank seines Wagens fallen und ruft seiner Cousine durch das heruntergelassene Fenster zu: „Lass von dir hören.“ Dann fährt er zurück in sein Büro. CHRISTOPH SCHEUERMANN
Rückblick 2010 Eine 14-jährige Berlinerin, die heiratet; ein Torero mit Angst vor Stieren; 130 Arbeitslose, von denen nur eine arbeiten kann; ein junger Malaysier, der sich in einer Castingshow zum Imam küren lässt – was wurde aus Menschen, über die der SPIEGEL 2010 berichtete? BUNDESWEHR
STIERKÄMPFE
So weit das Geld reicht
„Es ging nicht mehr“ Am 21. Mai 2010 kommt es in der Stierkampfarena von Madrid zu einem der spektakulärsten Unfälle der Stierkampfgeschichte. Ein 530Kilo-Kampfstier rammt sein rechtes Horn in den Unterkiefer von Julio Aparicio. Durch den Mund des Toreros tritt es wieder aus. Das Bild geht um die Welt. Aparicio überlebt schwer verletzt. Einige Wochen nach dem Unfall steht er wieder in der Arena. Der SPIEGEL (Heft 32/2010) beschrieb das Comeback. Kurze Zeit später kündigt Julio Aparicio an, die Saison abzubrechen.
„Was kostet ein Leben?“, Heft 32/2010
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SPIEGEL: Herr Aparicio, nach dem Unfall bekamen Sie reihenweise Angebote. Jeder Stierkampfveranstalter in Spanien und Südamerika wollte Sie in der Arena ha-
ALBERTO SIMON / AFP
Im Moment kann der Anwalt Karim Popal die Lage am besten mit einer Zahl beschreiben: 5000 Dollar pro Opferfamilie. Das ist das karge Ergebnis eines Rechtsstreits, der zu einem deutschen Präzedenzfall wurde für den Umgang mit zivilen Opfern eines Krieges. Auf Befehl von Oberst Georg Klein warfen in der Nacht zum 4. September 2009 Kampfjets zwei 500-Pfund-Bomben auf von Taliban-Kämpfern entführte Tanklaster. Es starben viele Zivilisten. Die meisten Opferfamilien sind Popals Mandanten. Das Jahr über reiste er oft nach Kunduz, recherchierte – in Deutschland verhandelte er mit der Bundeswehr über eine Entschädigung, bis sie die Verhandlungen abbrach und Konten für die Opferfamilien einrichtete, jeweils 5000 Dollar. Popal und vier weitere Anwälte arbeiten bis heute an einer Entschädigung, die sie für angemessen halten: 33 000 Dollar für jeden getöteten Zivilisten. Der Fall ist teuer. 10 000 Euro pro Kläger, sagt Popal, müssen die Anwälte als Sicherheit bereitstellen können, um Schadensersatzklage vor einem deutschen Gericht erheben zu können – Geld, das die Leute in Afghanistan nicht haben. Die Anwälte versuchen jetzt, Spenden aufzutreiben. Zum Jahreswechsel fliegt Popal wieder nach Kunduz. Anschließend soll Klage erhoben werden: zunächst wohl nur durch vier der Geschädigten. Dann müsse man sehen, wie weit das Geld reicht, sagt Popal.
ben. Das Foto machte Sie weltberühmt. Doch Ende August sagten Sie alle Termine ab. Aparicio: Die Wahrheit ist, mein Comeback war der komplette Wahnsinn. Völlig unverantwortlich. Nicht nur aus medizinischer Sicht. Alle Ärzte, die mich untersucht hatten, rieten mir davon ab, wieder zu kämpfen. Ich war weder körperlich noch geistig bereit, wieder zu kämpfen. SPIEGEL: Sie hatten Angst? Aparicio: Es ging nicht mehr. Und ja, man hat Angst, jeder Torero, der einem Kampfstier in der Größe eines Kleinwagens entgegentritt, hat das. Wer das Gegenteil behauptet, lügt. Es geht darum, diese Angst zu kanalisieren. SPIEGEL: Fiel es Ihnen schwer, die Engagements abzusagen?
Aparicio, Stier in der Madrider Arena am 21. Mai D E R
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Aparicio: Was glauben Sie denn? Kämpfen ist mein Leben. Seit ich ein Kind war, wollte ich Stierkämpfer werden. Aber manchmal muss sich das Verantwortungsgefühl durchsetzen und nicht nur das Herz. SPIEGEL: Warum haben Sie so kurz nach dem Unfall Ihr Comeback angekündigt? Aparicio: Mich hat niemand gezwungen. Der natürliche Ort eines Toreros, zumal während der Stierkampfsaison, ist die Arena. Ich wollte da raus, ich wollte kämpfen, ich wollte mich meinem Publikum zeigen. Ich war wieder da. SPIEGEL: Aber anders als vor dem Unfall. Aparicio: Es war keine leichte Zeit. SPIEGEL: Und jetzt? Aparicio: Ich trainiere in Cáceres über Weihnachten. Im nächsten Jahr möchte ich wieder kämpfen.
Gesellschaft Gut gezockt „Mein Name ist Bond. Greek Bond“, Heft 24/2010
14-jährige Jasmin, Bräutigam I N T E G R AT I O N
Ein zweites Mal verloren
Es war ein Investment aus Trotz, eine Anlage wider jede Vernunft, im April die griechische 7,5-ProzentStaatsanleihe „WKN 248017“ zu kaufen. Ein Junk-Bond, von dem Analysten naserümpfend abrieten. Damals erwarteten alle, dass Athen über kurz oder lang den Staatsbankrott erklären müsste. Dann kam das Milliarden-Dollar-Paket der EU-Finanzminister und des Internationalen Währungsfonds: Geld für die Griechen.
Der Bond „WKN 248017“ konnte gerettet werden, und mit ihm Griechenland. Das Papier, gekauft zu 84 Euro, wurde am 7. Juni wieder mit 97,70 notiert. Und mit Gewinn verkauft. Seither ist der Kurs sacht gesunken. Die Griechen sparen und leiden. Aber der Risikoaufschlag, Spread, für Greek Bonds ist wieder so hoch wie am Vorabend der Krise. Und auch für Irland und Portugal ist der Spread gestiegen. Es liegt etwas in der Luft. Kanzlerin Merkel sagt dem Bundestag, Käufer von Staatsanleihen müssten an etwaigen Rettungsaktionen beteiligt werden. Die Spekulanten wittern es. Bankrott liegt in der Luft.
ARBEIT
Ein Job fürs Leben „Das Wunder von Berlin“, Heft 20/2010
NORBERT MICHALKE
FINANZKRISE
Reyes
An einem Tag im August sagte die 15-jährige Jasmin zu ihrer Mutter, sie würde kurz ins Fitnessstudio gehen. Doch Jasmin kam nicht wieder. Stattdessen ging sie zurück zu ihrem Ehemann, jenem jungen Kurden, den sie mit 14 Jahren in einer Moschee in Berlin-Kreuzberg geheiratet hatte, nachdem 15 5oo Euro Brautgeld geflossen waren. Der Fall der „verkauften Braut“ hatte im Sommer eine Debatte ausgelöst über Integration und die Frage, warum es möglich ist, dass in Deutschland 14-jährige Mädchen heiraten. Jasmin war kurz nach der Hochzeit schwanger geworden und zu ihren Eltern geflüchtet. Ihr Mann habe sie geschlagen und eingesperrt, behauptete sie. Seitdem lebte sie bei ihren Eltern, bekam einen Jungen, plante bald wieder in die Schule zu gehen. Es sah aus, als würde sie eine Zukunft haben. Doch plötzlich war sie weg: Sie ging zurück zu ihrem Ehemann, das Baby ließ sie bei den Eltern, so erzählt es der Vater. Ihren Sohn sieht sie seither nur noch zwei Stunden in der Woche, der Kontakt zu den Eltern ist abgebrochen. Ihr Vater sagt: „Ich habe Jasmin ein zweites Mal verloren.“
NAFISE MOLAQ / ONASIA.COM
„Eine Liebe in Deutschland“, Heft 30/2010
Gewinner Asyraf in der Imam-Castingshow FERNSEHSHOWS
Spaziergang statt Porno „Der Superimam“, Heft 31/2010 Er wollte ein großer Imam werden, jetzt ist er Moderator. Asyraf Bin Mohd Ridzuan gewann im Juli die malaysische Fernsehsendung „Imam Muda“. Die Castingshow funktionierte nach den Regeln von Heidi Klums „Germany’s Next Topmodel“, nur dass hier keine Schönheit, sondern ein religiöses Vorbild gesucht wurde, ein junger Mann, der die Menschen für den Islam begeistern könne. Asyraf brachte D E R
es schnell zum Liebling der Fans und zum Favoriten der Jury. Mit Charme und gut inszenierter Frömmigkeit überbrückte er die Kluft zwischen Religion und Popkultur. Treu blieb Asyraf nicht nur seinem Glauben, sondern auch dem Sender: Heute moderiert er auf Astro Oasis eine eigene Fernsehshow. Per E-Mail wenden sich Jugendliche an ihn und fragen, wie sie den Versuchungen der Welt widerstehen können. Statt Pornos anzusehen, empfiehlt Asyraf einen Spaziergang im Grünen. Neulich war er in Brunei, eine Bank hatte ihn eingeladen und gutes Geld bezahlt. Sein Hauptgewinn bei der Show, ein Islamstudium, muss erst einmal warten.
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Von Montag bis Freitag klingelt der Wecker von Jana Reyes gegen sechs Uhr am Morgen, und sie ist immer noch froh, aufstehen zu müssen, auch wenn der Tag verspricht anstrengend zu werden. Reyes hatte nicht lang nachgedacht, als ihr die Vermittlerin der Agentur für Arbeit den Job als Zimmermädchen vorschlug, Tariflohn, 8,40 Euro brutto, sozialversicherungspflichtig. Reyes sagte zu, und diese Zusage machte sie zu einer Berühmtheit in Berlin und über die Stadtgrenzen hinaus. Denn sie war die einzige unter 130 Arbeitslosen, die bereit war, ihr Nichtstun gegen diese Art von Arbeit zu tauschen. Die übrigen 129 wollten nicht oder konnten nicht. „Struktur ist wichtig für den Menschen“, sagt Jana Reyes, „gebraucht werden auch.“ Wie es ist, keine Struktur zu haben, das weiß Reyes sehr genau. Fünf Jahre lang war sie arbeitslos. Von ihrem neuen Arbeitgeber, der Berliner Reinigungsfirma, erhielt sie einen befristeten Vertrag über sechs Monate. Er wurde vor kurzem verlängert, um weitere sechs, und Reyes hofft, dass dieser Vertrag bald in einen unbefristeten verwandelt wird. „Ich würde bei der Firma gern bis zur Rente bleiben“, sagt sie. Ihr Arbeitgeber hält das für möglich. 49
Gesellschaft
Szene
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE
Föhn me up, Scotty Wie ein Däne mit einer selbstgebauten Rakete ins All fliegen will
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würde aus den Entwürfen in 30 Jahren ein Prototyp entstehen. Bengtson war dem Himmel ziemlich nah gekommen. Aber die Sterne blieben nur ferne Glitzerpunkte, auch dort in Houston, Texas, USA. Im Jahr 2008, als sein Vertrag bei der Nasa endete, ging Bengtson zu-
BO TORNVIG / PICTURE-ALLIANCE / DPA / POLFOTO
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or zwei Jahren im Mai schrieb Kristian von Bengtson eine E-Mail an einen Erfinder. Der Mann hieß Peter Madsen, er schraubte damals an seinem dritten Unterseeboot. Bengtson schrieb: „Habe gehört, Sie bauen neben U-Booten auch Raketentriebwerke, wir sollten uns mal unterhalten.“ Ein paar Tage später besuchte Bengtson den Erfinder in der „Nautilus“, einem seiner Boote. Sie tranken Kaffee mit viel Zucker und redeten über flüssigen Sauerstoff und die Sterne. Abends kam Bengtson nach Hause zu seiner Frau Karla, sie hatte ein paar Tage vorher einen gemeinsamen Sohn geboren. Bengtson sagte: „Ich fliege ins Weltall.“ Karla kennt ihren Ehemann gut, deshalb lachte sie nicht. Zweieinhalb Jahre später, Mitte Dezember, geht Bengtson durch eine Lagerhalle aus verrostetem Wellblech in einem Industriegebiet am Stadtrand von Kopenhagen. Vor einer orangefarbenen Röhre bleibt er stehen. „Kork“, sagt er. Bengtson klopft mit den Knöcheln auf die Röhre. „Der Hitzeschild besteht aus Kork.“ Die Röhre ist seine Raumkapsel. Bengtson, 36, hat einen rasierten Schädel, er raucht filterlose Zigaretten der Marke Rocky und trägt einen ölverschmierten Thermoanzug. „Flight“, hat er mit Filzstift auf seine Brusttasche geschrieben. Flug. Darum geht es in seinem Leben: Bengtsons Flug ins Weltall. Das Universum fasziniert ihn, seit er als Kind in die Sterne schaute und wissen wollte, was da oben los ist. Er fragte die Erwachsenen, aber sie gaben keine gute Antwort. Er ließ sich alle Teile der Lego-Reihe „City Weltraum“ schenken, er wurde älter, lernte Physik, kaufte sich ein Teleskop, las Bücher über Astronomie, studierte Architektur, spezialisierte sich auf das Design von Raumsonden, schrieb seine Abschlussarbeit bei der Europäischen Raumfahrtagentur, machte einen Master an der International Space University in Frankreich, ging zur Nasa in die Vereinigten Staaten und entwickelte Raketen. Die Chefs waren zufrieden mit seiner Arbeit, sagt Bengtson, vielleicht
Bengtson, Rakete
Aus der „Süddeutschen Zeitung“
rück nach Kopenhagen. Er hatte Zeit zum Nachdenken und überlegte, warum Raumfahrt so teuer ist und ob er, der Däne Kristian von Bengtson, das ändern könnte. Wahrscheinlich überlegte er auch, wo er nun arbeiten könnte, die Zahl der Arbeitgeber im Raumfahrtgeschäft ist überschaubar. D E R
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Dann schrieb er die E-Mail an den Erfinder. Die beiden Männer fuhren in einen Baumarkt, kauften eine drei Meter lange und zwei Meter breite Platte aus Stahl, bogen sie und schweißten daraus die Röhre. Bengtson hatte einen Rohbau, er hatte einen Erfinder, der ihm ein Triebwerk basteln würde, nun brauchte er Geld. Also machte er sein Projekt öffentlich. Er stellte die Pläne für die Rakete ins Internet, zeigte jede geschweißte Naht auf Video. Zuschauer kamen zu den Triebwerktests. Der dänische Verkehrsminister schaute in der Wellblechhalle vorbei und sagte, er finde es gut, dass Dänemark nun sein eigenes Raumfahrtprogramm habe. Und die Menschen spendeten, 60 000 Euro bisher. Bengtson und Madsen kauften von dem Geld Material für ihre Rakete, sagen sie. Sie leben von Vorträgen, dem Gehalt ihrer Frauen und manchmal von Arbeitslosengeld. Die Nasa baut mit Millionen Dollar, Titan, Karbon und den Entwürfen der besten Raumfahrtingenieure. Bengtson und Madsen bauen mit 60 000 Euro, Stahl, Kork und ihren eigenen Entwürfen. Sie kaufen die Teile im Baumarkt. Sie betanken ihre Rakete mit einem Gemisch aus flüssigem Sauerstoff und Kunststoff, das sie auf minus 185 Grad Celsius kühlen. Damit das Ventil nicht zufriert, montierten sie davor einen Föhn, mit Klebeband. Im vergangenen September steht Bengtson auf einem Boot im Meer vor der Insel Bornholm. In Sichtweite schwimmt eine Plattform, darauf steht die Rakete. Bengtson hält eine Fernbedienung mit einem roten Knopf. Es soll ein Testflug werden, unbemannt. Bengtson will zeigen, dass er kein Spinner ist. Er drückt den Knopf. Aus dem Triebwerk steigt weißer Rauch. Später wird Bengtson feststellen, dass es am Föhn gelegen hat, er hat zu wenig Strom bekommen. Eine Zeitung schreibt: „Fehlstart: Bornholm, wir haben ein Problem.“ „Beim Raketenbauen kann viel schiefgehen, es ist so eine Art Kunst“, sagt Bengtson drei Monate nach dem Tag, an dem sich die Rakete als rauchende Röhre präsentierte. Möglicherweise ist sein Raumschiff mehr ein Kunstwerk als ein Transportmittel. Den nächsten Start hat Bengtson für Juni geplant. Später soll es eine bemannte Mission geben. Peter Madsen, der Erfinder, soll in der Raumkapsel sitzen. „Der hat keine Kinder“, sagt TAKIS WÜRGER Bengtson.
Gesellschaft
GERECHTIGKEIT
Die Sachzwänge der Götter
SHEHAB UDDIN / DER SPIEGEL
Wie entscheidet man, wer hungert und wer nicht? Das Welternährungsprogramm der Uno kämpft mit immer weniger Geld gegen immer mehr Hunger. Seine Mitarbeiter verteilen Nahrung und Geld – oder auch nicht. Von Uwe Buse
Bangladesch-Besucher Aylieff, Witwe Jan: Es ist entwürdigend, diesen Mann anflehen zu müssen wegen eines Sacks Reis
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uf John Aylieff wurde geschossen, es geschah in Afrika, in Burundi, der Schütze stand am Straßenrand mitten im Nirgendwo, und Aylieff hat nur überlebt, weil sein Fahrer mit dem Wagen direkt auf den Schützen zuhielt. John Aylieff hat eine Kollegin verloren, auch dies geschah in Burundi, sie musste sich vor ihren Mörder stellen und wurde exekutiert. Aylieff hat Kinder sterben sehen, auch Babys, sie verhungerten vor seinen Augen. Er hat auch alte Menschen vor Hunger sterben sehen, Männer wie Frauen, und er hat Frauen weinen sehen, er hat sie um Essen betteln hören, das letzte Mal vor einer halben Stunde. Aylieff saß auf einem Baumstamm, der auf dem Boden lag, in einem Dorf im heißen, schwülen Nordwesten Bangladeschs. Er saß zwischen erbärmlichen Hütten aus 52
Ästen und Stroh, links davon ein Weg, „Dafür danken wir“, sagt die Frau in an dessen Rändern die Dorfbewohner der Mitte der Gruppe. Ihr Name ist Alif während der Flut nächtigen würden, Jan, sie ist vielfache Großmutter, vierfarechts davon ein Fluss, der von Tag zu che Mutter, die Witwe eines Tagelöhners, Tag mächtiger wurde. sie ist die Mutige hier in der Reihe, vielVor Aylieff auf dem Boden hockten leicht auch die Verzweifeltste, sie spart fünf Männer und Frauen, alt und gebrech- sich weitere Freundlichkeiten und fragt: lich. Sie hatten gesehen, wie Aylieff ins „Wann bringen Sie wieder Reis?“ Dorf gekommen war, mit zwei weißen Aylieff beugt sich zu seinem DolmetLandcruisern, mit vier Mann Gefolge, ein scher, dann blickt er Alif Jan an, sagt: „Ich wohlgenährter Mann in Jeans, Turnschu- weiß es nicht.“ Er sagt das ruhig, nicht hen, mit schütterem Haar, weichem Ge- teilnahmslos, aber auch nicht wirklich besicht. Sie hatten ihn begrüßt, zu ihren rührt, es bleibt viel Distanz zwischen ihm Hütten gebeten, ihm den Platz auf dem und der Frau vor ihm auf dem Boden. Baumstamm angeboten und ihn dann anDie Männer und Frauen vor Aylieff vergesehen, voller Hoffnung. stehen das nicht. Da stehen die beiden Sie kannten Aylieff nicht, sie hatten Landcruiser, daneben die Männer, die Ayihn noch nie gesehen, aber sie wussten, lieff begleiten. Wie kann jemand, der aufdass er es war, der ihnen schon einmal tritt wie ein Fürst, keinen Reis besorgen Reis verschafft hatte. Einen ganzen Sack, können? Alif Jan schaut Aylieff an, sie 50 Kilo schwer, für jeden. hebt die leeren Hände: „Bitte.“ D E R
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Dieses Wort braucht Aylieff sich nicht übersetzen zu lassen, er zuckt mit den Schultern, schüttelt den Kopf, sagt: „Es tut mir leid.“ Aber die Frauen vor ihm machen einfach weiter. Sie erzählen, dass keine von ihnen in den letzten Tagen Reis gegessen habe, sie haben Reiswasser erbettelt, Wasser, in dem andere Familien ihren Reis gekocht haben, und sie haben Blätter gegessen, Bananenblätter. Es ist ihnen unangenehm, so etwas zu berichten, einem Mann, der ihr Sohn sein könnte. Es ist entwürdigend, diesen Mann anflehen zu müssen wegen eines Sacks Reis, nach mehr als fünfzig Jahren auf den Feldern, am Ende ihres Lebens. „Bitte“, sagt Jan. Sie hat Tränen in den Augen. „Es tut mir leid“, wiederholt Aylieff, „wir haben nichts mehr, was wir verteilen
können.“ Der Dolmetscher übersetzt, und Aylieff hört die Frauen weinen. Wenig später verlässt er das Dorf, er war hier, um sich über den Ablauf eines früheren Projekts zu informieren, er sitzt in seinem Wagen, hinter der Scheibe, und die Bewohner verabschieden ihn. Sie bilden ein Spalier, eine Wand aus ausgemergelten Leibern. Die Männer und Frauen stehen da, fast reglos, unfassbar dünn, und starren ins Innere des Wagens. Aylieff starrt stumm zurück. Seit 18 Jahren versucht John Aylieff die Welt zu verbessern, seit fast zwei Jahrzehnten ist er im Hungerbekämpfungsgeschäft. Er ist Brite, hat Germanistik studiert, er wollte lehren, aber dann verlief sein Leben ganz anders. Anfang der Neunziger sah Aylieff im Fernsehen Berichte über eine Hungersnot in Äthiopien. Danach vergaß er die deutD E R
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schen Klassiker, er fühlte sich schuldig, weil er im Wohlstand lebte, und er wollte nur noch helfen, so viel, so direkt, so schnell wie möglich. Aylieff hob seine Ersparnisse ab, flog nach Äthiopien und ging den Mitarbeitern der Hilfsorganisationen so lange auf die Nerven, bis er bei einer als Praktikant anfangen konnte. Jetzt ist er 42 Jahre alt, hat eine Frau, sie stammt aus Thailand, ein Kind, und über seine beruflichen Anfänge sagt er: „Ich war damals leicht zu beeindrucken.“ Zwei Jahre blieb Aylieff in Äthiopien, dann zog er weiter nach Burundi, von dort nach Nordkorea, Sri Lanka, Afghanistan, in den Irak. Er hat den Transport von Nahrung für über eine Million Flüchtlinge nach dem Genozid in Ruanda organisiert, er hat mit Warlords am Horn von Afrika verhandelt, hat ihnen erklärt, dass er ausschließlich Nahrung liefere, dass er 53
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Dorfbewohnerin in Bangladesch bei der Lohnübergabe: 78 Cent am Tag sind ein guter Verdienst
keine Schnellboote mit Maschinengewehren im Angebot habe. Von zwei Jahren abgesehen, arbeitete Aylieff immer für das Welternährungsprogramm, das World Food Programme (WFP) der Vereinten Nationen, die größte humanitäre Organisation der Welt. Derzeit ist er der stellvertretende Regionaldirektor des WFP für Asien. Das WFP hat den Auftrag, die Hungrigsten unter den Hungernden der Welt zu identifizieren, es soll sie so gut und kostengünstig wie möglich mit Nahrung versorgen, es soll sich im Namen der Weltgemeinschaft um die Ultraarmen kümmern, um Erwachsene, die nicht wissen, ob sie morgen etwas essen werden, um Kinder, die so ausgehungert sind, dass feste Nahrung sie töten würde. Es geht um rund hundert Millionen Menschen in 73 Ländern, ihnen sollen Aylieff und seine Kollegen helfen, sie sollen die Not dieser Menschen nicht nur lindern, sie sollen sie abschaffen. So lautet ihr Mandat. Es scheint unlösbar, doch eine Zeitlang wurden ermutigende Fortschritte gemacht. Hungerte 1970 noch jeder vierte Mensch auf der Welt, ist es zurzeit noch jeder siebte, und dies wurde erreicht, obwohl die Weltbevölkerung sich in diesen Jahren verdoppelte, von dreieinhalb auf knapp sieben Milliarden. Möglich machte das die Grüne Revolution und auch die Globalisierung, die, so ungerecht und mangelhaft sie auch sein mag, viele Menschen emporhob aus der Armut in den globalen Mittelstand. Hier 54
angekommen, sorgen sie sich nicht mehr ums nackte Überleben, sondern planen den Schulbesuch der Töchter. Doch seit ein paar Jahren steigt die Zahl der Hungernden wieder, sie liegt knapp unter einer Milliarde, und mit der Zahl der Bedürftigen wächst auch die Zahl der Hungrigsten unter den Hungernden. Verantwortlich dafür sind vor allem die Nahrungsmittelkrise des Jahres 2008, die Bankenkrise des Folgejahres, die Finanzkrise in diesem Jahr. Die Rettung von Banken, Staaten sog Milliarden aus den Haushalten der Geberländer und verringerte die Summe, die das WFP erhält. Waren es 2008 noch 5 Milliarden Dollar, schrumpfte der Etat 2009 auf 4 Milliarden Dollar. In diesem Jahr rechnet das WFP mit 3,7 der geforderten 7 Milliarden Dollar, und das trotz des Bebens in Haiti, trotz der Überflutungen in Pakistan. Zu wenig, um die Elenden der Welt verlässlich mit Nahrung zu versorgen. Es war der Glaube der Politiker an die Sozialverträglichkeit des freien Marktes, der die Probleme des WFP, die Probleme Aylieffs wachsen ließ. Denn die Elenden der Welt sind zwar gleich in ihrem Elend, aber sie unterscheiden sich in ihrer Attraktivität für die Geberländer, die das WFP finanzieren, und Bangladesch gehört nicht zu den attraktiven Ländern. Es ist ein Land, das auf der Prioritätenliste vieler Gebernationen weit unten steht, weil es ihm an fast allem mangelt, was nötig ist, um Geld in annähernd ausD E R
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reichendem Maße von den Satten zu den Hungernden fließen zu lassen. Bangladesch fehlt es an einer ehemaligen Kolonialmacht, die regelmäßig Geld überweist, als späte Entschuldigung für begangenes Unrecht. Das Land war vor seiner Unabhängigkeit ein Anhängsel Pakistans. Bangladesch spielt geostrategisch keine Rolle, es ist nur ein kleiner, feuchter Fleck auf der Landkarte rechts neben Indien, die Menschen leben auch nicht in einem gescheiterten Staat, ganz im Gegenteil, Bangladesch wird geschätzt als verlässlicher Handelspartner, genutzt als Nähstube der Welt. Auf die globale Nachrichtenbühne schafft Bangladesch es nur, wenn der Monsun große Teile des Landes unter Wasser setzt. Ist das nicht der Fall, hungern in Bangladesch, je nach Lage, zwischen fünf und zehn Millionen Menschen still, stoisch und weitgehend unbeachtet vor sich hin. Aylieffs Job ist es, diese Menschen mit Nahrung zu versorgen. Jeden von ihnen, theoretisch zumindest. Aber das ist illusorisch, denn Aylieff kann, wie alle Regionaldirektoren des WFP, nichts fordern, er darf bitten. Weil er aus Erfahrung weiß, dass er niemals genug Geld für alle Hungernden bekommen würde, hat er im Jahr 2009 ausgerechnet, was er braucht, um acht Millionen Hungernde zu versorgen. Es waren 257 Millionen Dollar. Er bekam 76 Millionen. Im diesem Jahr erhielt er 60 Millionen Dollar, und wie viel es im nächsten Jahr sein wird, weiß er noch nicht.
Gesellschaft Aylieff kann das Geld auch nicht so einsetzen, wie er möchte. Oft schreiben die Geberländer vor, wofür es ausgegeben werden soll. Wenn die Europäische Union beispielsweise will, dass mit ihren Spenden Projekte finanziert werden, die die Landwirtschaft fördern, dann kann Aylieff nur sehr schwer Schwangeren oder Müttern mit Säuglingen helfen. Er muss also auswählen, muss die Hungernden aufteilen in diejenigen, die etwas zu essen kriegen, und die, die nichts kriegen. Wie geht das? Wie teilt man die Millionen, die in diesem Land unterhalb des globalen Existenzminimums von eineinviertel Dollar am Tag leben, in solche, denen geholfen wird, und solche, die nichts kriegen? Wie identifiziert man sie? Wie findet man die Region, das Dorf, die Familie? Und wie verhindert man, willkürlich zu entscheiden? Oder selbst verrückt zu werden über all das? Zwei Tage bevor Aylieff auf dem Baumstamm Alif Jan gegenübersitzt, steht er auf einer Sandbank, sie liegt mitten im Brahmaputra, einem der großen Ströme Asiens, der weit entfernt in Tibet entspringt, er wird gespeist vom Monsun und von den schwindenden Gletschern des Himalajas. Die Familien, die auf dieser Sandbank leben, sind Flüchtlinge. Sie wohnten einmal am Ufer des Flusses, manche kamen vor wenigen Jahren, andere vor zwei Jahrzehnten auf die Sandbank. Die Geschichten, die hier erzählt werden, ähneln sich sehr. Immer geht es um den Fluss, um eine Flut, die nicht nur die Hütte mit sich nahm und den Besitz, sondern auch den Grund, auf dem die Hütte stand. Halbe Dörfer verschwinden so jedes Jahr, und oft trifft es die Ärmsten im Dorf, denn wer arm ist in Bangladesch, muss am Wasser leben, dort, wo es am gefährlichsten ist. Die Sandbank misst über einen Kilometer, sie liegt wie ein langer, schmaler Hügel im Wasser, und diejenigen, die hier seit 20 Jahren leben, erzählen, dass sie zwölfmal umgezogen sind. Bevor das WFP kam und half, lebten alle hier von Gelegenheitsjobs auf dem Festland. Alle hier hungerten, mal mehr, mal weniger. Das hat sich jetzt geändert, die Hilfe hat die soziale Struktur der Inselgesellschaft aufgebrochen, jetzt existiert eine Zweiklassengesellschaft. Zu den Gewinnern des sozialen Wandels gehört Rani Begum. Frau Begum lebt allein, ist jung und gesund genug, um zu arbeiten, sie besitzt kein Land, keine arbeitsfähigen Angehörigen, keine regelmäßigen Einkünfte. Sie sagt, manchmal schneide sie Schilf, das am Rand der Sandbank wächst, und verkaufe es drüben, am Ufer des Flusses, als Baumaterial. Sie wohnt in einer Hütte aus Zweigen, das Dach ist aus Gras und löchrig, es gibt ein Bett, gebaut aus groben, dünnen Lat-
ten, ein Brett, darauf stehen ihre Kochutensilien, draußen vor der Hütte ist ein Loch im Boden, das ist der Ofen. Begum besitzt keinen Stuhl, keinen Tisch, einen Kleiderschrank braucht sie nicht. Sie besitzt nur den Sari, den sie trägt. Sie sagt, die Ankunft des WFP sei ein großes Glück für sie. Begum gehört zu den 200 Bewohnern der Sandbank, die vom WFP bezahlt werden, um einen befestigten Weg zu bauen. Er ist einen Kilometer lang und führt von den Hütten zu einem Plateau auf der Sandbank, das knapp zwei Meter höher ist als der Rest der Insel. Das Plateau dient bei Hochwasser als Fluchtpunkt. Für den Bau der Straße sind zwei Monate veranschlagt worden, das Material für den Bau holen die Arbeiter und Arbeiterinnen mit Hacken aus dem Flussbett und balancieren es in flachen Körben auf ihrem Kopf nach oben. Jeder Arbeiter, jede Arbeiterin muss pro Tag einen Kubikmeter Erde bewegen. Dafür erhalten sie täglich 75 Taka, umgerechnet 78 Cent, und drei Kilo Reis. Begum sagt, dass sei ein guter Lohn, das sei viel Reis. Als Magd drüben am Ufer verdiene sie vielleicht 400 Taka im Monat, dazu bekomme
Mahlzeit am Tag. Wenn es ihr möglich ist, isst sie die nicht, sondern gibt das Essen dem Fährmann, der die Sandbank regelmäßig ansteuert. Er gibt das Essen ihrem jüngsten Sohn, der schon an der Anlegestelle wartet. Der Junge lebt mit seiner Mutter in der Hütte und ist sieben Jahre alt. Manchmal verpasst Nanda die Fähre, manchmal ist sie zu hungrig, dann bekommt der Junge nichts. Nanda ist ebenso bedürftig wie Begum, und sie beklagt, von dem Programm ausgeschlossen worden zu sein. Sie sagt, „ich kann arbeiten, ich will arbeiten, wieso darf ich nicht?“ Die Antwort auf diese Frage ist nicht ganz einfach. Der erste Teil der Antwort findet sich in Rom, in einem Gewerbegebiet am Stadtrand. Hier steht, zwischen einer Tankstelle und einer EuropcarFiliale, ein vierstöckiger Bau, das Hauptquartier des WFP, von hier werden die elenden hundert Millionen mit Nahrung versorgt. Es ist eine monströse Aufgabe, sie beginnt mit dem Einkauf, rund vier Millionen Tonnen Reis, Weizen, Mais müssen beschafft werden, Jahr um Jahr, auf den Handelsplätzen der Welt, möglichst güns-
Der Hunger der Welt Anteil der Unterernährten an der Gesamtbevölkerung
Haiti
35 % und mehr 20 bis 34% 10 bis 19% 5 bis 9 %
Tschad Sierra Leone Zentralafr. Republik Dem. Rep. Kongo Angola
Eritrea Äthiopien Burundi Sambia Mosambik
unter 5 % keine Daten
Quelle: World Food Programme
sie etwas zu essen und eine Schlafstelle auf dem Fußboden der Küche. Während Begum das erzählt, wird sie von einer Nachbarin beobachtet. Sie heißt Marizon Nanda, die beiden kennen sich schon lange, aber seit kurzem sprechen sie nicht mehr miteinander. Nanda ist nicht in das Projekt aufgenommen worden. Sie hungert, während Begum etwas zu essen hat. Und das, was Begum hat, teilt sie nicht, „denn wie sollte Nanda es mir jemals zurückgeben können?“ Nandas Hütte ist wie alle anderen hier gebaut, Möbel sind mit Ausnahme des Betts nicht vorhanden. Auch Nanda ist arbeitsfähig und allein, niemand unterstützt sie. Hin und wieder kann sie als Haushaltshilfe am Ufer arbeiten, dann erhält auch sie 400 Taka im Monat und eine D E R
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tig, möglichst nah bei den Empfängern, um Transportkosten zu vermeiden. Schiffe müssen gechartert werden, Flugzeuge, Laster, 5000 rollen täglich im Auftrag des WFP in die Hungerzonen und Krisengebiete der Welt. Für die Sicherheit der Konvois muss gesorgt sein, die pünktliche Bezahlung der Fahrer gewährleistet, ihre Integrität so gut es geht geprüft wie auch der technische Zustand der Fahrzeuge, denn das WFP hat Meldungen zu vermeiden, die sich um Unfälle, Tote und schrottreife Mietlaster drehen. Neben der Versorgung der chronisch Bedürftigen in den Armenhäusern der Welt muss die Organisation auch bereit sein für die nächste Katastrophe, ganz egal, wo sie sich ereignet. Um besser vorbereitet zu sein für das Unberechenbare, 55
Gesellschaft
CARLO LANNUTTI
sammelt das WFP verstärkt Daten über identifiziert wurden, die Elendsten unter Nanda nennt das ungerecht. Und das ist den Zustand der Welt, über die Entwick- den Elenden auszumachen. Die Orga- es auch, aber wenn man Millionen verlungen in den Krisenregionen der Erde. nisation veranstaltet regionale Volks- sorgen soll und nicht genug für alle hat, In den Datenbanken stapeln sich Meldun- zählungen, sie schickt ihre Mitarbeiter dann hat der Versuch, gerecht zu sein, gen der großen Agenturen, es geht um von Dorf zu Dorf, von Hütte zu Hütte dann hat die Bürokratie Grenzen. Und Demonstrationen, um Unruhen, um mög- mit einem Fragenkatalog, der vom WFP im Fall von Marizon Nanda war die Grenliche Indikatoren künftigen Elends. Die erstellt worden ist. Ein Mitarbeiter er- ze nach 33 Fragen erreicht. Daten können im Katastrophenfall mit- schien auch vor der Hütte von Marizon Eine Tagesreise entfernt von der Sandeinander gekoppelt werden, sie lassen Nanda. bank wird an einem Arm des Brahmapusich, als interaktive Karten, auf einem groEr fragte nach den Mitgliedern der tra an einem anderen Plateau gearbeitet, ßen Monitor im Lagezentrum des WFP Familie, nach Name und Alter. Nach Bil- auch dieses soll als Zufluchtsort während zeigen. Besucher werden gern hierherge- dung, Ausbildung, ob die Kinder zur der Regenzeit dienen. Auch hier werden führt, denn zwischen all der Technik wirkt Schule gehen, ob sie Arbeit haben. Er mehrere hundert Männer und Frauen das WFP wie eine schlagkräftige, moder- fragte nach den Erwachsenen. Arbeiten vom WFP beschäftigt. ne humanitäre Eliteeinheit der Uno. Es ist Zahltag, die Arbeiter und Arbeisie, wenn ja, wie viele Monate im Jahr, Ebenso wichtig wie das Lagezentrum, und wie hoch ist der Tageslohn? Er fragte terinnen hocken in Reihen auf dem Bowenn auch weit weniger eindrucksvoll, nach Tieren, die gehalten und verkauft den, ausgegeben werden pro Person 36 ist eine Abteilung, die das Kürzel VAM werden könnten, nach Land, das bestellt Kilo Reis und 1500 Taka für die Arbeit trägt, was für „Vulnerability Anaim vergangenen Monat. Der Reis lysis and Mapping“ steht und sich wird aus Säcken geschöpft, vor den mit „Abteilung für GefährdungsAugen der Empfänger gewogen. analyse“ übersetzen lässt. Sie wird Am anderen Flussufer steht Kogeleitet von Joyce Luma, einer hinoor Begum. Sie ist über 60 Jahenergischen Frau, die sich ihr Büro re alt, blind und ebenso bedürftig mit unzähligen Studien, Büchern wie die Menschen hier, aber sie hat und Broschüren teilt. Hier in ihrem das Pech, auf der falschen FlussseiBüro findet sich der erste Teil der te zu wohnen, in einem Bezirk, der Antwort, die Marizon Nanda eine in den Unterlagen des WFP geringhalbe Welt entfernt auf der Sandfügig besser dasteht. bank einfordert. So ist es überall im Land. In Joyce Luma ist eine BuchhalteSchulen des Saghata-Bezirks erhalrin der Armut, es ist ihre Aufgabe, ten die Kinder täglich eine HandHierarchien des Elends zu erstellen voll Kekse, sie sind vollgestopft mit und in vorgeschriebenen ZeiträuVitaminen, Mineralien, die Kinder men zu aktualisieren. Lumas Commüssen sie im Beisein eines Lehputer ist verbunden mit den Darers essen. Im Nachbarbezirk ertenbanken anderer Uno-Organisahalten die Kinder nichts. In Fulchationen und nationaler Behörden. ri, einem Bezirk im Nordwesten, Sie interessiert sich für aktuelle erhalten Mütter Milchpulver, um Ernteprognosen, für die Nahrungsdie Überlebenschancen ihrer Säugmittelpreise an den Börsen der linge zu vergrößern. Die arbeitsWelt, für die demografische Entunfähigen Alten erhalten nichts. wicklung in einzelnen Ländern, für Im Dorf Gangacgara ist es umgeihre Abhängigkeit von alten und kehrt. Dort erhalten die Alten Reis neuen Migrationsströmen, für die und die Schwangeren nichts. Anzahl von Kleinunternehmern in Dies ist die hässliche, die unZentral-Ghana, den Prozentsatz menschliche Seite der internationaungelernter Arbeiter in Nepal und len Hilfe. Solange nicht genug Geld die Frage, wie sich ein beschränkda ist, solange Milliarden ausgegeter Zugang zum Wald auf die Er- Abteilungsleiterin Luma: Hierarchien des Elends erstellen ben werden, um Banken und Staanährungslage der Hungernden in ten zu retten, so lange bedeutet HilKambodscha auswirkt. Mit Hilfe dieser wird, nach der Unterstützung durch an- fe auch, den Mangel zu demokratisieren. Daten erstellt sie Ranglisten, gegliedert dere Hilfsprogramme. Der Fragebogen Es bedeutet, die Armen so lange zu benach Ländern und Regionen, und in einer umfasst drei Seiten, insgesamt werden 33 fragen, zu ordnen, bis am Ende eine Grupdieser Listen findet sich auch die Sand- Antworten gefordert. pe überbleibt, für die das vorhandene bank, die Marizon Nanda nun ihr ZuhauMarizon Nanda lieferte sie alle, sie sag- Geld reicht. se nennen muss. Am letzten Tag seiner Reise steht John te dem Interviewer, dass sie neben dem Doch ob Marizon Nanda tatsächlich zu siebenjährigen Jungen noch einen voll- Aylieff in einem weiteren Dorf, Hausgärden Hilfeempfängern gehört, kann Luma jährigen Sohn hat. Und sie sagte ihm ten sind zu besichtigen, 100 Quadratmeter nicht entscheiden. Das ist die Aufgabe auch, dass der volljährige Sohn drogen- groß, angelegt mit Hilfe des WFP, bewirtvon Männern wie Mohammed Shahidul süchtig und seit Jahren keiner Arbeit schaftet von den Ärmsten im Dorf, die Islam, einem eifrig lächelnden Banglade- mehr nachgegangen ist, dass er seine Grundeigentümer dürfen sich die Hälfte scher, der Aylieff bei seiner Reise beglei- Sucht durch Diebstähle finanziert. der Ernte nehmen. Kürbis wird hier antet. Islam ist der Chef einer HilfsorganiDer Interviewer notierte alles, bis auf gebaut, Basilikum. Als Aylieff in seinen sation in Bangladesch, sie heißt PMUK das Schicksal des Sohnes, dafür war auf Wagen steigt, sammeln sich die Menschen und arbeitet als humanitäres Subunter- dem Formular kein Platz vorgesehen. Da am Fenster auf der Fahrerseite. Sie bitten nehmen für das WFP. Nanda nun auf dem Papier einen erwach- um Kunstdünger. Aylieff blickt aus seiDie Aufgabe von PMUK ist es, in den senen, arbeitsfähigen Sohn hatte, wurde nem Wagen hinaus, sagt: „Später, vielRegionen, die von Joyce Luma als ärmste sie nicht in das Programm aufgenommen. leicht. Versuchen Sie es erst mal so.“ 56
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Fünf Zentimeter, festjetrampelt Ortstermin: In Berlin gibt es ein neues Gesetz zum Winterdienst – es merkt nur noch keiner.
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dem Mittelstreifen parkt ein Auto im Halteverbot. Frau Schulze verschwindet im Schneetreiben, um ein Ticket unter den Scheibenwischer zu kleben. Die beiden Ordnungsamtsmitarbeiter sind auch noch für Parkvergehen, für Hunde, Parkanlagen und Ruhestörung zuständig. Der Chef der beiden, der Bezirksstadtrat Jens-Holger Kirchner von den Grünen, weiß, dass seine Leute hoffnungslos überfordert sind. Das Straßennetz ihres Bezirks ist 600 Kilometer lang. Kirchner hat Coachingseminare für die Ordnungsamtsmitarbeiter organisiert. Er will, dass sie sich nicht von der Ausweglosigkeit ihrer Lage überwältigen lassen. Vor allem aber möchte er, dass die Berliner mehr Bürgersinn entwickeln. Kirchner steht in einer verschneiten Straße im Kollwitzviertel, wo der Besitzer eines kleinen Geschenkeladens gerade erklärt hat, er habe sehr wohl vor seinem Laden gestreut, aber mit Katzenstreu. Weißer Katzenstreu. Die sehe man leider nicht, im Schnee. „Berlin definiert sich so sehr über die Freiheit, aber im Alltag zeigt der Berliner immer auf den anderen. Mach du es, nich icke. Der Stadt ist über die Jahre die Bürgerschaftlichkeit abhandengekommen. Wir müssten 6000 Mitarbeiter einstellen, um alle Ordnungswidrigkeiten festzuhalten. Das ist doch pervers“, sagt Kirchner. Frau Schulze und Herr Sobiechowski haben inzwischen die Norwegerstraße erreicht, um die nächste Beschwerde zu überprüfen. Es schneit jetzt heftig. Es sind kaum noch Unterschiede zwischen Straße und Bürgersteig zu erkennen. Am Straßenrand hat jemand einen Anhänger mit einem großen, alten Holzkahn geparkt. Es sieht so aus, als würde das Boot im Schnee schwimmen. Die beiden starren das Naturschauspiel an, als das Handy von Herrn Sobiechowski klingelt. Die Berliner Stadtreinigung ist dran, sie will, dass sie noch mal zur Gethsemanekirche fahren, um mit dem Pfarrer zu reden. Der könne doch mit seiner Gemeinde den Weg freischaufeln. „Der Pfarrer, ooch jut“, sagt Herr Sobiechowski und lächelt müde. Dann fotografiert er den Schnee auf dem BürgerALEXANDER OSANG steig. Als Beweis. FOTOS: THOMAS GRABKA
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s dauert eine Weile, bis der silber- Ende, als der Winter gar nicht mehr auffarbene Polo des Ordnungsamtes hören wollte, besuchte der Regierende Pankow einen Platz zwischen den Bürgermeister schnell einen Werkshof zugeschneiten Autos gefunden hat, die der Stadtreinigung und redete übers das Karree um die Gethsemanekirche zu- Wetter. parken. Es fängt gerade wieder an zu Klaus Wowereit entwickelte ein Geschneien. Die beiden Ordnungsamtshüter spür für Schnee, denn er will bald wieim Auto, Frau Schulze und Herr Sobie- dergewählt werden. Wetter ist ja immer chowski, ziehen sich die Handschuhe ein Thema. Es gab viele Debatten, und über, um die Beschwerde zu überprüfen, im November, kurz bevor der erste die heute bei ihnen eingegangen ist. Es Schnee fiel, präsentierte der Berliner Seist die etwa vierhundertste in diesem Mo- nat ein neues Gesetz zum Winterdienst. nat. Der Gehweg um die Kirche soll seit Grundsätzlich kann man sagen, dass es Tagen nicht geräumt worden sein. Das den Grundstückseigentümern mehr Versieht man schon von hier, vom Polo-Sitz antwortung für die Räumung der Gehweaus. Aber das genügt nicht, Schulze und ge zuschreibt. Sie sind jetzt verpflichtet, Sobiechowski brauchen Beweise dafür, dass es sich um einen richtigen Gesetzesverstoß handelt, deswegen müssen sie jetzt auch raus in den Winter. Die beiden umrunden die Kirche einmal. Feste Schneedecke, so viel ist sicher. Sobiechowski kratzt mit der Stiefelspitze ein tellergroßes Stück Schnee vom Bürgersteig, bis man die dunklen Gehwegplatten sieht. Er sagt: „Fünf Zentimeter, festjetrampelt“, dann sieht er auf den dunklen Fleck, den er freigelegt hat. Ist da Eis? Er fährt mit der Schuhsohle ein paar Mal über die Fläche. Ja, da ist Eis. Sobiechowski kramt ein kleine Digitalkamera aus seiner dicken blauen Ordnungsamtswinterjacke und macht sein Beweisfoto. Der schwarze Fleck schneit bereits wieder leicht zu. Das Foto brauchen Schneekontrolleur Sobiechowski: War da Eis? sie später vielleicht, wenn es vor Gericht geht. Der letzte Berliner Winter die Bildung von gefährlichem Glatteis hinterließ 800 Ordnungswidrigkeitsver- durch festgetretenen Schnee zu verhinfahren. 400 davon sind immer noch nicht dern. Die Ordnungsämter der Stadt sollen erledigt. Sobiechowski steckt die Kamera die Einhaltung des Gesetzes durchsetzen. wieder in die Jacke. Man fragt sich, was Wenn man so will, sind Frau Schulze und man später auf dem Foto erkennen kann. Herr Sobiechowski im Moment auch Beugt sich irgendwann, vielleicht im Wahlkampfhelfer für Klaus Wowereit. nächsten Frühjahr, ein Berliner Richter Die Frage ist, wann das Eis gefährlich über Sobiechowskis Schnappschuss und ist und wann nicht. diskutiert die Frage: War da Eis? Und Frau Schulze schaut auf den schwarzen wenn ja, war es stumpf oder nicht? Das Fleck und sagt: „Dis is janz schwierig.“ kann gut sein. Herr Sobiechowski informiert die LeitDer dunkle Fleck dort unten auf dem stelle im Pankower Ordnungsamt über Bürgersteig vor der Gethsemanekirche die Lage hier und bittet, die Stadtreiniist gewissermaßen ein Berliner Politikum. gung vorbeizuschicken. Dann fahren sie Im letzten Winter schien nicht nur die weiter in die Schivelbeiner Straße, wo Stadt, sondern auch ihre Verwaltung für heute Morgen eine Bautoilette auf der Monate eingefroren zu sein. Erst am Straße lag. Das Klo steht wieder, aber auf
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Rückblick 2010 SCHULDENKRISE
... soll über den gesamten Euro-Raum gespannt werden und könnte 750 Milliarden Euro kosten, vielleicht auch mehr. Die gewaltige Summe soll notleidende Länder unterstützen und Spekulanten davon abhalten, gegen die europäische Währung zu wetten. Nötig wurde der Rettungsschirm durch die griechische Schuldenkrise, die im Frühjahr voll ausbrach, nachdem die Hellenen offenbar jahrelang ihre Staatsbilanzen frisiert hatten. Schmähungen ließen nicht lange auf sich warten: „Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen“, trötete „Bild“. Dabei hatte auch die EU es lange nicht so genau wissen wollen. Die US-Investmentbank Goldman Sachs soll Griechenland sogar jahrelang geholfen haben, die Schulden zu verschleiern. Was vor zwei Jahren als Bankenkrise begann, hat nun die Nationalstaaten erreicht. Nach Griechenland gerieten auch Irland, Portugal und Spanien in den Verdacht, bald nicht mehr liquide zu sein. Die Not schweißt zusammen, macht aber auch das Vertragsfundament des Euro brüchig: Anders als im Maastricht-Vertrag vereinbart, stehen die EU-Länder nun finanziell füreinander ein.
THANASSIS STAVRAKIS / AP
Der größte Schirm …
Akropolis
ARBEITSRECHT
HANDEL
Jobcenter HARTZ IV
Der billigste Rechentrick … ... gelang Arbeitsministerin Ursula von der Leyen mit der Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze. Das Bundesverfassungsgericht hatte dies verlangt und dabei den betroffenen Kindern den „Ausschluss von Lebenschancen“ attestiert. Von der Leyen berechnete den Bedarf nicht mehr nach den unteren 20 Prozent der Einkommen, sondern nahm einfach die noch ärmeren untersten 15 Prozent. Das Resultat: 60
Erwachsene sollten künftig fünf Euro mehr im Monat bekommen, Kinder zusätzliche Bildungsleistungen. Damit sollte verhindert werden, was kaum jemand offen aussprechen wollte: dass Unterschichtseltern die zusätzlichen Mittel für Bier oder DVDs ausgeben statt für ihren Nachwuchs. Für die Ministerin „christlich-demokratische Politik vom Feinsten“. Doch wie sollen die Jobcenter künftig entscheiden, welches Kind welche Gutscheine bekommt? Es droht neue Bürokratie, allerdings verweigerte der Bundesrat erst mal seine Zustimmung. Nun wird weiter gerechnet. D E R
… zettelte die Supermarktkette Kaiser’s an, wegen zwei Pfandbons für 1,30 Euro, die eine Kassiererin angeblich unterschlagen hatte. Emmely, so nannte man sie, wurde fristlos gekündigt – nach 31 Betriebsjahren. Die Vorinstanzen hatten dem Unternehmen noch recht gegeben. Das löste landesweite Empörung aus, ließ Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse von einem „barbarischen Urteil asozialer Qualität“ sprechen und machte aus Emmely eine Galionsfigur der Gewerkschaften. Am Ende pfiff das Bundesarbeitsgericht die zu Tengelmann gehörende Einzelhandelskette zurück: Zwar könnten auch Bagatelldelikte eine Kündigung rechtfertigen – wegen zwei Leergutbons sei nach so langer Betriebszugehörigkeit aber das Vertrauen nicht gleich „aufgezehrt“. „Eine Ehe“, mäkelte die Anwältin von Kaiser’s, sei „leichter zu beenden, als ein Arbeitsverhältnis“.
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... stellte Klaus Hubert Görg: 43 Millionen Euro berechnete der Insolvenzverwalter für die Rettung des Kaufhauskonzerns Karstadt. Es war wohl die höchste Summe, die je ein deutscher Insolvenzverwalter aufrief – alles gemäß Gebührenordnung. Den Zuschlag für das Unternehmen bekam Nicolas Berggruen, ein Dandy, der auch Bürotürme in Shanghai und Reisfarmen in Kambodscha besitzt. Zwar versprach Berggruen, sich bei Karstadt längerfristig zu engagieren. Als er im Dezember einen neuen Karstadt-Chef vorstellte, war er aber bereits mit dem Einstieg bei einem spanischen Medienkonzern beschäftigt. HANS-CHRISTIAN PLAMBECK
CARSTEN REHDER / DPA
Den kleinlichsten Die dickste Streit … Rechnung …
Von der Leyen, Berggruen
Wirtschaft ATO M E N E R G I E
BAHN
Den faulsten Kompromiss …
Die übelsten Schwitzkästen …
… trotzten die vier großen Energiekonzerne E.on, RWE, EnBW und Vattenfall der Bundesregierung ab. Auf einem „Atom-Gipfel“ wurde Anfang September beschlossen, die Laufzeiten der 17 noch bestehenden deutschen Kernkraftwerke im Schnitt um zwölf Jahre zu verlängern. Kanzlerin Angela Merkel sprach von einer „Revolution“, Deutschlands Energieversorgung werde „die umweltfreundlichste der Welt“. Was Merkel nicht sagte: Am Parlament vorbei gewährte die Bundesregierung den Konzernen in einem Geheimvertrag weitreichende Schutzklauseln. Der Deal sorgte für breite Empörung: Die Sicherheit der Bevölkerung sei verkauft worden, behauptete die Opposition.
den Konzernvorstand wird sogar wegen fahrlässiger Körperverletzung ermittelt, weil die Schwäche der Klimaanlagen möglicherweise bekannt war. Im Winter blieb sich der Konzern treu: Da fielen wieder etliche Züge aus, diesmal aber wegen der Kälte.
ANDREAS EICKHOFF / DPA
... wurden im Sommer Züge der Deutschen Bahn. Im Juli versagten reihenweise Klimaanlagen der zweiten ICEBaureihe. In den Waggons wurde es bis zu 60 Grad heiß, Passagiere kollabierten, Schwangere versuchten in Panik, die Fensterscheiben einzuschlagen. Für die wetterfühlige Bahn, die behauptet, auch dann noch zu fahren, wenn alles andere steht, war die Hitzeschlacht der Bahn-Hitzeopfer, Helfer Image-GAU. Gegen
PROGNOSEN
HANS-CHRISTIAN PLAMBECK
Die schrägste Buchstabensuppe …
Anti-Atom-Demonstration in Berlin
... servierte die Zunft der Ökonomen. Monatelang versuchten die Fachleute, die künftige Konjunktur in Kurven abzubilden. VWL war nicht mehr nur die Abkürzung für Volkswirtschaftslehre, sondern für die drei großen Glaubensrichtungen. Vom langen Talsohlen-„L“ bis zum schnellen Auferstehungs-„V“ war alles im Angebot. Nobelpreisträger Paul Krugman sagte ein wabbliges „W“ voraus – und galt damit als „double dipper“, als Prophet der kurzen Erholung und des schnellen Wiedereinbruchs. Zu Jahresbeginn dominierten die Skeptiker mit ihren langen Krisen-L’s und U’s das Meinungsklima – darunter so renommierte Adressen wie das Kieler Institut für Weltwirtschaft. Doch im Laufe des Spätsommers zauberte fast jede Bank oder Universität irgendeinen V-Mann aus dem Hut, der es immer schon gewusst hatte. Früher lasen die Auguren aus Eingeweiden oder Kaffeesatz, heute rühren sie eine Buchstabennudelsuppe um.
Zitate 2010
„Eine falsche Bilanz ist keine gefälschte Bilanz.“ Dirk Jens Nonnenmacher, Chef der HSH Nordbank, verteidigt sich gegen den Verdacht der Untreue
„Von Facebook wird in fünf bis sechs Jahren kein Mensch mehr reden. Soziale Verlierer verbleiben in den Netzen.“ Trendforscher Matthias Horx
„In diesem Jahr ist es mit der Krise wie mit Lena MeyerLandrut. Man fragt sich: ‚Wo ist sie denn plötzlich hin?‘“
„Bisweilen kommt es vor, dass die Kunden besser informiert sind als unsere Mitarbeiter.“
Daimler-Chef Dieter Zetsche
Bahn-Chef Rüdiger Grube über das Bemühen um bessere Informationen bei Störungen
„Sie wissen, dass wir es können. Deswegen haben wir uns abgewöhnt, ständig damit zu drohen.“ Claus Weselsky, Chef der Lokführergewerkschaft GDL, über das Streikpotential seiner Organisation
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„Wir schwimmen nicht im Geld, wir ertrinken allenfalls in Schulden.“ Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) im Bundestag
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U M W E LT S C H U T Z
Handel mit heißer Luft
RAINER WEISFLOG
In zwei Jahren beginnt die nächste Stufe des Emissionshandels, dann wird der CO2-Ausstoß für die Industrie zum relevanten Kostenfaktor. Schon jetzt zeichnet sich ab: Der Aufwand ist enorm, das Regelwerk kompliziert, das Resultat fragwürdig.
Stahlproduktion in Eisenhüttenstadt: „An den industriellen Realitäten vorbei“
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rüher hatte Peter Scur noch viel an der frischen Luft zu tun. Er verwandelte alte Steinbrüche in fruchtbare Biotope und sorgte sich darum, dass die Fledermäuse ungestört in den Kalksteinhöhlen nisten konnten. Was der Umweltbeauftragte einer Zementfirma eben so tut. Jetzt bleibt Scur für all das wenig Zeit. Er hat Schreibtischarbeit zu erledigen. Scur, ein hochgewachsener Mann mit kräftigen Händen, sitzt in seinem Büro 62
im Werk Rüdersdorf von Cemex Deutschland, 30 Kilometer östlich von Berlin, und brütet über Ordnern. Alle sind mit dem Kürzel CO2 beschriftet. „Man wird von Gesetzen förmlich überschüttet“, sagt er. Scur hat keine Wahl. Er ist jetzt hier der „Carbon Manager“ und muss vorbereitet sein, wenn demnächst ein neues Zeitalter beginnt. Für Cemex. Für die Zementbranche. Für die gesamte deutsche Industrie. D E R
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2013 startet die dritte Stufe des europäischen Emissionshandels, dann kostet es die Unternehmen richtig Geld, wenn ihre Anlagen große Mengen Kohlendioxid ausstoßen. Das Klimagas, das tonnenschwer, doch unsichtbar aus dem Schornstein strömt, wird erstmals zum relevanten Kostenfaktor. Die Unternehmen beginnen sich darauf vorzubereiten, es wird auch höchste Zeit: Kurz vor Weihnachten hat die EU-
Wirtschaft Kommission entscheidende Weichen gestellt. Sie hat Obergrenzen festgelegt, wie viel CO2 ein Unternehmen bei der Herstellung eines Produkts kostenlos ausstoßen darf. Dazu wurde die gesamte Palette der Industriegüter auf 53 Produkte konzentriert und ein jeweiliger Grenzwert für die Herstellung von Dachziegeln, Stahlträgern oder Aluminiumplatten ermittelt. Sie entsprechen dem Durchschnitt dessen, was die effizientesten zehn Prozent der Anlagen in Europa erreichen. Bei Zement beispielsweise dürfen für jedes Kilo, das ein Hersteller produziert, genau 766 Gramm CO2 entweichen. Unternehmen, die mehr Kohlendioxid ausstoßen, müssen künftig dafür Verschmutzungszertifikate kaufen. Für die Stahlproduktion liegt der Wert bei 1328 Gramm, bei Aluminium sind es 1514 Gramm, bei Dachziegeln 144 Gramm. Eigentlich ein halbwegs überschaubares System. Doch der Teufel steckt im Detail: ‣ Die deutschen Ziegeleien beispielsweise beschweren sich darüber, dass sie den Grenzwert für Dachziegel nie erreichen könnten. Den Maßstab setzen
sie für Emissionen, die dabei anfallen, keine CO2-Rechte zukaufen, die Investition gilt als ökologisch vorbildlich, schließlich wurde das Gichtgas bisher zum Teil einfach abgefackelt. Nun wurde diese Befreiung gestrichen – und damit der Anreiz genommen, das Gas zu verwerten, statt es zu verbrennen. ‣ Das Papiergewerbe stellt ungefähr 3000 Produkte her, vom flauschigen Taschentuch bis zum harten Karton – in der Grenzwertliste finden sich allerdings nur sieben Kategorien, die Zuordnung fällt überaus schwer. Wer mit seinem Produkt durchs Raster fällt, muss auf sogenannte Fallback-Optionen ausweichen. Dabei wird der Wärme- oder Brennstoffbedarf als Basis genommen, was oftmals bedeutet, dass ein Unternehmen deutlich mehr CO2Rechte zu kaufen hat. ‣ Fliesenhersteller finden in der EU-Entscheidung für ihr Angebot einen einzigen Grenzwert, und der gilt nur für einen speziellen Herstellungsprozess. Damit müssen sie auskommen, ob sie nun Massenware produzieren oder spezielle Beckenrandfliesen, deren Herstellung besonders viel Energie verschlingt.
Demnach gibt der Staat eine Obergrenze für Verschmutzungsrechte vor, die jährlich sinkt, den Rest erledigt der Markt: Die Unternehmen ersteigern diese Zertifikate und handeln sie untereinander. Damit wird CO2 zu einer Art Währung, die an speziellen Börsen gekauft und verkauft wird, derzeit kostet das Recht für die Emission einer Tonne knapp 15 Euro. EU-Klimakommissarin Connie Hedegaard begeistert der findige Mechanismus. Der Emissionshandel sei die beste Lösung, die die Welt gesehen habe, meinte die Dänin kürzlich erst wieder, „bei allen Herausforderungen und anfänglichen Schwierigkeiten“. In der ersten Phase, 2005 bis 2007, haben die Staaten die Unternehmen noch großzügig mit Gratiszertifikaten ausgestattet, weit mehr, als diese benötigten. Damals musste niemand das System richtig ernst nehmen, die Energiewirtschaft erdreistete sich sogar, die Rechte, die sie kostenlos bekommen hatte, ihren Kunden in Rechnung zu stellen: Leichter lässt sich Geld nicht verdienen. Das änderte sich mit der zweiten Handelsperiode, die 2008 startete und bis 2012 andauern wird. Jetzt müssen die Unter-
Energiebedingte CO²-Emissionen in Millionen Tonnen, 2008 China pro Kopf, in Tonnen USA Russland 1594 Indien 1428 Japan 1151 Deutschland 804 804
551 511 505 501 430 408 398 389 385 368 365
Kanada Großbritannien Iran Südkorea Italien Mexiko Australien Saudi-Arabien Indonesien Frankreich Brasilien
Quelle: IEA
4,9 18,4 11,2 1,3 9,0 9,8 16,5 8,3 7,0 10,3 7,2 3,8 18,5 15,8 1,7 5,7 1,9
die Spanier, nicht wegen ihrer überlegenen Technik, sondern dank des milden Klimas in Südeuropa. Dort müssen Ziegel keinen harten Frost aushalten, sie werden bei geringerer Hitze gebrannt, was weniger Emissionen verursacht. ‣ Stahlhersteller wie Saarstahl oder Salzgitter haben in den vergangenen Jahren spezielle Kraftwerke errichtet, in denen sie aus sogenanntem Gichtgas, einem Abfallprodukt der Stahlherstellung, Strom erzeugen. Gegenwärtig müssen
6508 5596 Monatelang waren die Lobbyisten in Brüssel und Berlin immer wieder vorstellig geworden, sie schlugen Änderungen im 76-seitigen Entwurf vor, Ergänzungen, Ausnahmen, sie rangen um jeden Wert. Ein Hauen und Stechen, das im Ergebnis vor allem eines bewirkte: Es hat den Emissionshandel nur noch komplizierter und widersprüchlicher gemacht – und im Ergebnis ungerechter. Dass es überhaupt so weit gekommen ist, daran sind weder die Beamten schuld noch die Industrieverbände: Der Fehler steckt im System. Je näher die nächste Stufe im Emissionshandel rückt, desto ernster stellen sich einige grundsätzliche Fragen: Ist der Emissionshandel, wie er jetzt ausgestaltet wird, überhaupt praktikabel? Kann er tatsächlich ein Instrument sein, das auf effiziente Weise sein Ziel erreicht: CO2-Emissionen wirksam zu mindern und den Klimawandel aufzuhalten? Oder erwächst hier ein bürokratisches Monstrum? Die Idee ist zweifellos faszinierend: Knappe Umweltgüter bekommen einen Preis und die Unternehmen damit einen Anreiz, sparsam mit ihnen umzugehen, so die schlüssige Logik. Der kanadische Ökonom John Harkness Dales hat das Prinzip des „Cap and Trade“, der Limitierung und des Handels, schon vor mehr als 40 Jahren formuliert, später wurde es auf das CO2-Problem übertragen. D E R
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nehmen zumindest einen Teil ersteigern, das Gros bekommen sie allerdings weiterhin geschenkt. In der dritten Phase schließlich sollen Verschmutzungsrechte endlich zum knappen Gut werden, es beginnt das wohl größte volkswirtschaftliche Experiment seit dem Ende des Sozialismus. Und die Stromversorger trifft es am empfindlichsten. Sie müssen von 2013 an sämtliche Verschmutzungsrechte erwerben: Rund 338 der rund 428 Millionen Tonnen CO2, die im vergangenen Jahr in Deutschland ausgestoßen wurden, entfielen auf die Kraftwerksbetreiber, also mehr als drei Viertel. Unter ihnen nimmt RWE wiederum eine Ausnahmestellung ein. Der Essener Stromkonzern emittiert rund 149 Millionen Tonnen CO2 im Jahr, mehr als jeder andere Konzern in Europa. Nach heutigen Preisen würden die Zertifikate das Unternehmen 2013 mehr als zwei Milliarden Euro kosten. RWE-Chef Jürgen Großmann spricht vom „Beginn einer neuen Zeitrechnung in der Energiewirtschaft“, es ist der Aufbruch in eine ungewisse Zukunft. Glimpflicher kommt der Rest der Industrie weg, Kalkhersteller zum Beispiel, Raffineriebetreiber oder Stahlhütten. Immerhin erhalten sie den größten Teil der nötigen Rechte gratis zugeteilt, aber meist bleibt ein Rest, den sie kaufen oder er63
steigern müssen. Jeder Euro freilich, den die Unternehmen für CO2-Rechte ausgeben, schmälert ihren Gewinn. Deshalb beginnt schon jetzt das große Gejammer. Die Kalkindustrie etwa schätzt, dass die Unternehmen 20 Prozent an Zertifikaten zukaufen müssen. Nicht alle könnten sich das leisten, deshalb würden manche künftig nur noch bis Oktober produzieren, unkt Verbandsgeschäftsführer Werner Fuchs: „Dann sind sie zur Winterpause gezwungen.“ Auch die deutsche Stahlindustrie zeichnet die Zukunft in düsteren Farben. „Wir sind tief enttäuscht von diesem Ergebnis“, sagt Hans Jürgen Kerkhoff, Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl, „der Beschluss geht völlig an den industriellen Realitäten vorbei.“ Der Stahl-Grenzwert von 1328 Gramm sei „technisch nicht erreichbar“, so bleibe den Erzeugern nur der teure Kauf von Zertifikaten „in großem Umfang“. Mag sein, dass manche Prozesse etwa beim Stahlkochen weitgehend ausgereizt sind, da lässt sich die Effizienz kaum mehr erhöhen. Doch sonst besteht vielfach noch Spielraum, um Reserven zu heben und Verschwendung zu verringern: etwa durch optimierte Regeltechnik oder den Einsatz von Kraft-WärmeKopplung. Was hingegen kaum zu vermeiden ist, sind die bürokratischen Kosten, die der Emissionshandel verursacht. Jeder Industriebetrieb muss exakt dokumentieren, wie viel Kohlendioxid seine Anlagen ausstoßen. „Dieser Aufwand wird gern unterschätzt“, sagt Christian Günther. Günther ist der Innovationschef bei Saarstahl in Völklingen, einem traditionsreichen Industriestandort im Saarland. Seit mehr als 120 Jahren wird hier Metall geschmiedet. Der Manager, bekleidet mit Schutzanzug und Sicherheitsbrille, steht in der
WIKTOR DABKOWSKI / ACTION PRESS
Wirtschaft
EU-Klimakommissarin Hedegaard
„Anfängliche Schwierigkeiten“
Werkhalle, in sicherer Distanz zum Konverter, einem feuerfesten Behältnis, in dem 165 Tonnen Roheisen goldgelb glühen. Ein Spezialfahrzeug fährt vor und kippt flüssigheißes Ferromangan hinein. Ein Dutzend weitere Stoffe folgen, Bor, Aluminium, Anthrazitkohle. Jede Stahlsorte hat ihre Rezeptur. „Ein Stahlwerk ist wie eine Großküche“, sagt Günther. Die Zusammensetzung spielt eine entscheidende Rolle, um den CO2-Ausstoß zu ermitteln. Dazu halten die Techniker nämlich nicht einfach ein Messgerät in den Schornstein, das wäre viel zu unpräzise. Sie wiegen vielmehr jede einzelne Ladung, die per Lkw oder Bahnwaggon nach Völklingen geliefert wird, und er-
mitteln anhand ihres spezifischen Kohlenstoffgehalts die Menge an CO2. An Manganmetallen hat Saarstahl beispielsweise 27133 Tonnen im vergangenen Jahr verarbeitet. Sie sind für 4555 der rund 480 000 Tonnen CO2 verantwortlich, die das Werk emittiert. Da aber der Kohlenstoffgehalt mit jeder Lieferung schwankt, nehmen Laboranten fortwährend Proben und unterziehen jede einer chemischen Analyse. Auf diese Weise erfassen sie 600 Stoffströme im gesamten Werk – und tragen zu einem enormen Wust an Daten und Proben bei, die sie zudem archivieren müssen: für die Sachverständigen, die einmal im Jahr alle Ergebnisse verifizieren. Bundesweit haben sich bereits mehr als 200 Unternehmen auf die Kontrolle von Emissionsberichten spezialisiert. Sie untersuchen die Anlagen vor Ort, rechnen die Ergebnisse nach und lassen sich im Zweifel sogar Belege über einzelne Lieferungen vorlegen. Dann senden sie ihr Gutachten nach Berlin, zur Deutschen Emissionshandelsstelle (DEHSt). Die Behörde, die jeder nur „Deest“ ausspricht, ist gleichsam das Nervenzentrum des Systems. In Berlin prüfen die Beamten die Emissionsberichte, für jede Anlage führen sie ein eigenes Konto, auf dem die Zertifikate verbucht sind. Sie bestimmen, wie viele Rechte sie jeweils zuteilen, und sie verhängen Strafen, falls zum Stichtag Ende März eines Jahres die Rechnung nicht aufgeht: Jedes fehlende Zertifikat kostet 100 Euro Strafe. Die DEHSt residiert im Stadtteil Grunewald in einem alten Nazi-Bau, einst diente er als Zentrale des Reichsarbeitsdiensts. Heute kümmern sich dort 120 Mitarbeiter um alle Belange des Emissionshandels, jeder ist im Schnitt zuständig für 60 bis 100 Unternehmen. Sämtliche Prozesse verlaufen elektronisch, die Verwaltung der Anträge, der Zuteilungen, der Zertifikate – alles nur
Unsichtbare Last 2 Die Emissionszertifikate werden von der Deutschen Emissionshandelsstelle, einer Unterabteilung des Umweltbundesamts, ausgegeben.
Wie der Emissionshandel in den EU-Ländern ab 2013 funktionieren soll
1 Die EU setzt eine Obergrenze fest, die jährlich um 1,74 % reduziert wird. Große CO²-Emittenten wie Zement-, Stahl- oder Glashersteller erhalten einige kostenlose Emissionszertifikate (Erlaubnisscheine). Zugrunde gelegt werden dabei die früheren Produktionszahlen und ein Effizienz-Faktor („Benchmark“). Kraftwerksbetreiber erhalten keine Freizertifikate. Die kostenlosen Zertifikate sollen bis 2020 schrittweise reduziert werden.
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3 Für Anlagen, deren Ausstoß über dem Effizienz-Faktor liegt, müssen zusätzliche Zertifikate an einer speziellen Börse ersteigert werden. Fehlen einem Unternehmen am Ende eines Jahres die notwendigen Emissionszertifikate, muss es eine Strafe zahlen.
Alternativ können die Unternehmen in umweltfreundlichere Technik investieren und so ihren CO²-Ausstoß reduzieren. 64
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An der Börse (in Deutschland etwa die Leipziger EEX) bestimmen Angebot und Nachfrage den Preis für diese Zertifikate. Ein Erlaubnisschein entspricht einer Tonne CO²-Emission und kostet derzeit knapp 15 Euro.
CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
Kanzlerin Merkel*: Viele Firmen werden sich ungerecht behandelt fühlen
noch blinkende Zeichen auf Computermonitoren. Doch ganz ohne Papier geht es auch hier nicht, wie ein Blick in das Büro von Hans-Jürgen Nantke erkennen lässt: Hinter seinem Schreibtisch türmen sich Aktenberge. Nantke, diplomierter Chemiker, leitet die Behörde schon seit dem Start des Emissionshandels. In kürzester Zeit habe man Ende 2004 das System zum Laufen gebracht. Einen ähnlichen Kraftakt erwartet er für das kommende Jahr, wenn das Zuteilungsprocedere für die dritte Handelsphase geklärt wird. „Das wird ein heißer Sommer“, ahnt er. Erst müssen die neuen Regeln in Brüssel das Parlament und den Rat passieren. Dann beschäftigen sich die nationalen Gesetzgeber mit der Umsetzung, voraussichtlich im Frühjahr. Ist schließlich der rechtliche Rahmen verabschiedet, können Nantkes Leute endlich loslegen. Sie werden von allen Unternehmen neue Daten über Produktion und Emission einfordern und prüfen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird die Wirtschaft mehr Zertifikate beantragen als zur Verfügung stehen, die EU-Kommission hat die Menge bereits europaweit auf etwas mehr als zwei Milliarden Berechtigungen begrenzt, exakt sind es 2 039 152 882 für das Jahr 2013. In den Folgejahren sinkt das Volumen jeweils um 1,74 Prozent. Übersteigt also die Summe der eingehenden Anträge diese Menge, bekommt jedes einzelne Unternehmen proportional weniger Rechte. Die DEHSt berechnet, wie viele Zertifikate sie jeder Anlage * Beim Besuch der Zertifikatebörse EEX in Leipzig am 19. August.
zuteilt, Informatiker müssen zuvor eine passende Software dafür entwickelt und getestet haben. „Da darf kein Fehler drinstecken“, sagt Nantke. Bis zum 30. September 2011 muss die Berliner Behörde eine Liste mit sämtlichen Anlagen und den vorgesehenen Zuteilungsmengen nach Brüssel geschickt haben, Anfang 2012 will die Kommission die Dokumente absegnen. Dann endlich können die Unternehmen exakt kalkulieren, wie viele Zertifikate sie noch zukaufen müssen. Ohne Konflikte wird das Ganze kaum über die Bühne gehen. Schon in der ersten Handelsperiode legten deutsche Unternehmen rund 800-mal Widerspruch gegen Entscheidungen der DEHSt ein. Das Justitiariat in Berlin, das anfangs nur drei Stellen vorsah, beschäftigt heute zehn Kräfte. Die Fachjuristen werden auch künftig gut zu tun haben. Schließlich geht es von 2013 an um richtig viel Geld. Da werden sich Unternehmen eher durchringen, ihre Sache vor Gericht durchzufechten, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen. Und das dürfte häufig der Fall sein. Es beginnt schon mit der Frage, wer überhaupt am Emissionshandel teilnehmen muss. Weder ist die Landwirtschaft einbezogen noch die Forstwirtschaft. Auch der Immobiliensektor benötigt keine Zertifikate, ebenso wenig das Kleingewerbe und der Kraftverkehr. Unter dem Strich bleibt etwa die Hälfte aller Emissionen, die in den Himmel über Deutschland geblasen werden, vom Handel ausgenommen. Wie zufällig die Entscheidung wirkt, wer ins System fällt und wer nicht, zeigt D E R
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das Beispiel der Keramikindustrie. Während die Hersteller von Fliesen Zertifikate benötigen, bleiben die Produzenten von Tellern und Tassen verschont. Der Grund: Die Porzellanmanufakturen sind durchweg Kleinbetriebe, die unter eine Produktionsgrenze von 75 Tonnen pro Tag fallen. Das Paradoxe daran: Das Brennen von Porzellan verschlingt deutlich mehr Energie als die Herstellung von Fliesen. Ein anderer Konstruktionsfehler ist, dass bei der Zuteilung der Gratiszertifikate eine wichtige Rolle spielt, welche Mengen ein Betrieb produziert hat. Pech für Glashersteller, deren Anlagen zufällig gerade im Referenzzeitraum gewartet wurden: Alle 10 bis 15 Jahre steht eine sogenannte Wannenrevision an, die bis zu drei Monate dauert. Pech auch für Fluggesellschaften, deren Maschinen wegen Vulkanasche tagelang am Boden verharren mussten: weniger Umsatz, weniger Zertifikate. Was den Unternehmen ebenfalls Kopfzerbrechen bereitet: Künftig sollen Unternehmen, die expandieren wollen, nur Anspruch auf Extrazertifikate bekommen, wenn sie ihre Kapazitäten gleich um mehr als zehn Prozent ausweiten. Wer sich also nur geringfügig vergrößert, hat mit der gewohnten Zuteilungsmenge vorliebzunehmen – oder verzichtet dann womöglich lieber ganz auf die Investition. So wird der Emissionshandel zur Wachstumsbremse. Die deutschen Unternehmen müssen sich auf einiges gefasst machen, die wenigsten sind darauf vorbereitet. Allmählich erst werde vielen Mittelständlern bewusst, welche Kosten und Risiken auf sie 65
Wirtschaft
Lukrative Verschmutzung F
EZRA CLARK / AP
ast jeder klimaschädliche europäische Industriebetrieb muss sich Emissionszertifikate kaufen, wenn er das von ihm in die Luft geblasene CO2 nicht reduziert. Doch natürlich gibt es eine Alternative. Er kann sich freikaufen und zu Hause so weitermachen wie bisher – wenn er irgendwo auf der Welt Klimaschutzmaßnahmen bezahlt. Dieser Ablasshandel heißt Clean Development Mechanism (CDM). Es ist die wohl größte Luftnummer des gesamten Klimakonzepts. CDM-Projekte sollen den Industrieländern ermöglichen, einen Teil ihrer Reduktionen in Entwicklungs- und Schwellenländern zu erfüllen – zu deutlich geringeren Kosten. Gut 20 Prozent ihrer Emissionen können deutsche Unternehmen auf diese Weise wegrechnen. Zum Beispiel können sie in China oder Indien in umweltfreundliche Wasserkraftwerke investieren oder in Anlagen, die Methan-Grubengas absaugen. Viele dieser Objekte waren allerdings ohnehin geplant. Zwar fordert das Gesetz, dass nur neue, zusätzliche Projekte gefördert werden. Doch das ist schwer nachweisbar. Hypothetische Einsparungen werden so mit realen Emissionen verrechnet. Der Mechanismus kann nach Ansicht der Berliner Geowissenschaftlerin Nicola Jaeger sogar „zu einem Anstieg der weltweiten Emissionen“ führen. Jaeger
Kühlmittelzylinder in China
Fragwürdige Projekte in Drittstaaten
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hat für eine aktuelle Diplomarbeit Dutzende solcher Projekte mit deutscher Beteiligung untersucht. Viele waren schon in Betrieb, bevor sie als CDM angemeldet wurden. Inzwischen hat sich eine Nichtregierungsorganisation namens CDM Watch auf die Analyse solcher Zertifikate-Mogeleien spezialisiert. Ihre Mitarbeiter haben gut zu tun, denn der Handel mit Emissionsrechten hat eine milliardenschwere Klimaschutzindustrie geschaffen. Auf Messen wie der Carbon Expo bieten afrikanische Regierungsbeamte etwa Aufforstungen oder die Sanierung ihrer Müllkippen an. Vertreter der Deutschen Bank oder von Goldman Sachs helfen dann dabei, derartige Tauschgeschäfte in Klimaprojekte umzuwandeln. Besonders aktiv ist der Essener Energieriese RWE, dessen Meiler 140 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr ausstoßen. Eine 32-köpfige Truppe sucht für den Konzern deshalb weltweit nach CDMProjekten. 100 Millionen Tonnen CO2 will sich RWE bis 2020 durch diese vermeintliche Klimanachhilfe in armen Ländern und ähnliche Projekte gutschreiben lassen – und anderswo wieder ausstoßen. Der Essener Energieriese rühmt sich, „weltweit für das Klima unterwegs“ zu sein. Auf den Galapagosinseln etwa ersetzten drei Windkraftanlagen einige ältere Dieselgeneratoren, was gut 2000 Tonnen CO2 im Jahr spare – nicht einmal so viel, wie das eigene Braunkohlekraftwerk Niederaußem in jeder Stunde ausstößt. Seit CO2 ein Preisschild habe, sei „die technische Phantasie der Welt geweckt worden“, sagt Ludwig Kons, der Klimaschutzchef des Konzerns. Allerdings hilft ein bisschen Windkraft auf den Galapagosinseln da nicht viel. Großprojekte müssen her. Und da verlässt sich Kons gern auf die Weltbank, die den Markt dafür mit Projekten entwickelte, durch die „wir am günstigsten klimaschädliche Gase vermeiden können“. Mit HFC-23-Projekten in China und Indien etwa: HFC-23 fällt als Nebenprodukt in veralteten Kühlmittelfabriken an. Es ist 11 700-mal klimaschädlicher als Kohlendioxid. Eine Tonne davon unschädlich zu machen bringt Zertifikate für 11 700 Tonnen CO2.
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LI WENMING / IMAGINECHINA
Von Geschäften mit Emissionsrechten profitieren viele – nur die Umwelt kaum.
Stahlproduktion in Peking: Ein Klima-Fake, den
Das alles weiß man auch in Indien und China. Dort ist zudem bekannt, wie man diese Stoffe ersetzen kann. Fabriken, die auf alternative Kühlmittel umgestellt haben, gibt es längst. China will sogar 47 Milliarden Dollar in grünen Strom investieren. Wahrscheinlich wäre auch dort die Herstellung dieser Kühlstoffe wie in der EU längst verboten, wenn nicht die Klimaretter gekommen wären, denn erst der CDM macht die Verschmutzung lukrativ. Nun lohnt es sich auf einmal, die alten schädlichen Anlagen weiterlaufen zu lassen und in Oxidationsapparaten das HFC-23 aufzufangen. Außer dem Klima profitieren fast alle davon: der Anlagenbauer, der die Katalysatoren aufstellt. Die Kühlmittelfirma, die mit der Abgasentsorgung rund fünfmal so viel einnimmt wie mit ihrem Hauptprodukt. Der chinesische Staat, der 65 Prozent Steuern auf die Zertifikate aufschlägt. Und Finanzinstitute wie die Deutsche Bank: Sie bündeln die Verschmutzungsrechte und verkaufen sie als grünes Investment an Energieriesen wie E.on oder RWE, deren Kunden diesen Klima-Fake mit ihrer Stromrechnung bezahlen dürfen. Eva Filzmoser von CDM Watch hält die HFC-Projekte für „Betrug“. Die EUKlimakommissarin Connie Hedegaard sprach ihnen die „ökologische Integrität“ ab, und die EU-Kommission möchte die
die Kunden mit ihrer Stromrechnung bezahlen dürfen
fragwürdigen Projekte in Drittstaaten so schnell wie möglich verbieten. Trotzdem zeigt die Kritik bei der Mehrheit des zuständigen CDM-Executive Board bis heute keine Wirkung. Im Gegenteil: Auf dem Gipfel in Cancún bescheinigte das Board den HFC-Projekten klimaschonende Wirkung und genehmigte dafür 13,7 Millionen Zertifikate. Dabei war dem Uno-Mitarbeiter Lambert Schneider längst der Nachweis von Manipulation dieser Projekte gelungen. Schneider, der beim Uno-Klimasekretariat in Bonn arbeitet, hatte sich im Frühjahr alle 19 HFC-Projekte noch einmal genau angesehen. Viele davon hält er für völlig fadenscheinig. Oftmals wurde das (Abgas-)Nebenprodukt zum Kerngeschäft. Manche Anlagen liefen nur noch, um Zertifikate für das HFC23-Abgas abzuwerfen. In der Klima-Entwicklungshilfe sind inzwischen noch ganz andere Dinge möglich: Neuerdings soll auch die Kohle das Klima retten können – die ersten chinesischen Projekte sind registriert. In Ningxia etwa, im Norden, soll eine Kohlenzeche effizienter gemacht werden. RWE ist mit dabei und will davon profitieren, wenn Methan-Grubengas abgesaugt und verstromt wird. Das Problem: Auch in China ist diese Technik längst üblich, der Klimanutzen fraglich. Es gibt sogar ein Gesetz, weiß
RWE-Klimaschützer Kons, das den Einsatz von Grubengasanlagen vorsieht, wenn das Methan eine bestimmte Konzentration übersteigt. Kons hofft, dass das RWE-Projekt nicht unter dieses Gesetz fällt. Trotz der Zweifel winkte die deutsche Emissionshandelsstelle des Umweltbundesamtes das Projekt durch. Und der TÜV Süd zertifizierte es. Ein Staudammprojekt am chinesischen Bala-Fluss, das mit einer gewaltigen Umsiedlung verbunden war, nickten die deutschen Prüfer ebenfalls ab. Es war RWE von einer chinesischen Beraterfirma angeboten worden. Schon Jahre zuvor hatten die Chinesen das Vorhaben geplant, aber plötzlich hieß es, das Projekt würde nur genehmigt, wenn es zehn Prozent Rendite abwerfe – und über diese Hürde kam man angeblich nur durch den CDM. Der TÜV Süd bestätigte, die Betroffenen seien freiwillig umgezogen. Offenbar nicht alle Beteiligten, wie „Geo“ kürzlich beschrieb. Trotzdem behauptete der TÜV, der Umsiedlungsprozess sei gesetzeskonform verlaufen. Die Gefälligkeiten des weltweit zweitgrößten Prüfkonzerns waren im März sogar dem Uno-Klimasekretariat zu viel: Der Exekutivrat suspendierte die Deutschen zeitweise von allen ZertifiNILS KLAWITTER zierungen.
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zukommen könnten, sagt die Berliner Energierechtlerin Ines Zenke. Viele seien richtig geschockt, einige sähen ihr Unternehmen sogar existentiell gefährdet, so die Juristin. Hilfe versprechen Beratungsfirmen, die für ihre Kunden den gesamten Emissionshandel managen. Sie suchen im Betrieb nach Effizienzreserven, sie kaufen und verkaufen CO2-Rechte, und sie vermitteln ihnen Zertifikate, die aus Klimaschutzprojekten in Entwicklungs- und Schwellenländern stammen. Diese werden beispielsweise dafür vergeben, dass Grubengas in chinesischen Kohlenminen aufgefangen wird oder in Brasilien alte Kühlschränke entsorgt werden. Bis zu 22 Prozent solcher Gutschriften kann ein Unternehmen für sein DEHStKonto nutzen, sie kosten derzeit rund zwölf Euro, sind also gut zwei Euro billiger als herkömmliche Verschmutzungsrechte. Kritiker sprechen von einer Art Ablasshandel, ein Teil dieser Geschäfte ist zuletzt in Verruf geraten: Es wurden Schmutzindustrien nur zu dem Zweck aufgebaut, um sie gleich wieder abzuschaffen und dafür Gutschriften zu kassieren (siehe Kasten links). Beide Papiere, die Zertifikate für Entwicklungsprojekte und die klassischen Verschmutzungsrechte, werden an speziellen Börsen gehandelt, vor allem in Paris, Amsterdam und London. In Deutschland hat sich Leipzig zum größten Handelsplatz entwickelt. Über den Dächern der Stadt, im 23. Stock des Panorama Tower, ist die European Energy Exchange (EEX) untergebracht, eine Börse für Strom, Gas und eben CO2-Zertifikate. Der Handelsraum ist nicht viel größer als ein geräumiges Wohnzimmer, die Händlerin für CO2Rechte kommt mit einem Kaffeebecher in der Hand zur Tür herein, sie hat wenig zu tun an diesem Montagnachmittag. Am Spotmarkt passiert gar nichts, der Umsatz ist noch anderthalb Stunden vor Handelsschluss gleich null. Am Terminmarkt, wo Kontrakte für die Lieferung zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft gehandelt werden, gibt es zumindest ein wenig Bewegung. „Es fehlt momentan die Phantasie“, sagt EEX-Geschäftsführer Oliver Maibaum. Offensichtlich sind die Unternehmen noch immer gut versorgt mit Zertifikaten, Folge der Konjunkturkrise, die sie unfreiwillig weniger produzieren und emittieren ließ. Alle Erwartungen von Geschäftsführer Maibaum richten sich daher bereits auf die dritte Handelsperiode, wenn sich der Markt um ein Vielfaches vergrößert. „Dann kommt Musik rein.“ Damit aber könnte der Emissionshandel auch zum Dorado für Spekulanten werden, die Wetten auf die Entwicklung der Zertifikatpreise abschließen. Der CO2-Markt ist bislang relativ klein und 67
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Cemex-Werk in Rüdersdorf bei Berlin: „Von Gesetzen überschüttet“
Die Kalkindustrie fürchtet bereits, dass wenig reguliert, es existieren keine Positionslimits für Händler, also Begrenzun- sich die Produktion an die Ränder der gen, wie viele Kontrakte sie kaufen oder EU verlagert, nach Russland und Nordverkaufen dürfen. Mächtige Finanzjon- afrika, zu Lasten der hiesigen Standorte. gleure könnten die Notierungen nach Be- „Wir entwickeln uns zum grünen Hinterlieben bewegen, so die Befürchtung, zum hof“, warnt Verbandschef Fuchs. Und die Ärger der Unternehmen, die auf Zertifi- Lufthansa rechnet mit Wettbewerbsnachkate angewiesen sind: Sie müssen sich teilen bei interkontinentalen Flügen über Frankfurt am Main und München, etwa auf Preissprünge einstellen. Schon das wilde Auf und Ab an den gegenüber der Konkurrenz von Emirates, Rohstoffmärkten, bei Nickel etwa oder die das arabische Drehkreuz Dubai nutzt. Ein wahrhaft globaler Emissionshandel Kupfer, bietet einem Manager wie Saarstahl-Vorstandschef Klaus Harste allen könnte allerdings Effekte hervorrufen, die Grund zum Verdruss. Wenn auch noch die deutsche Industrie keinesfalls begeisdie Preise für CO2-Zertifikate derart tern werden. Würden die CO2-Zertifikate schwankten, sei die Kostenbasis für ein Basiswert 2005 Stahlwerk kaum mehr zu kalkulieren: „Es wird immer schwerer, einen Business2000 Plan aufzustellen.“ Noch mehr zu schaffen macht ihm aber, dass der Emissionshandel auf Europa beschränkt ist. Dadurch sieht sich Harste –21% gegenüber Wettbewerbern aus China gegenüber oder den USA benachteiligt; die beiden 1500 2005 Länder sind für 40 Prozent aller CO2Emissionen verantwortlich. „Stahl ist ein globaler Markt“, sagt Harste, „wir brauchen gleiche Spielregeln für alle.“ Das Argument, irgendjemand müsse ja den 1000 Anfang machen, lässt er nicht zu: VorGeplante Verringerung der CO²reiter zu sein sei ja gut und schön, „was Emissionsberechtigungen in der EU, aber, wenn keine Nachreiter folgen?“ in Millionen Tonnen CO² pro Jahr In der Tat deutet wenig darauf hin, dass Quelle: UBA der Emissionshandel in nächster Zeit glo500 bale Dimension annimmt – nur dann aber könnte das System richtig funktionieren. Ansonsten wird jede Tonne, die Europa an Emissionen mühsam spart, lediglich anderswo in die Luft geblasen, dorthin, 2006 08 10 12 14 16 18 2020 wo der CO2-Ausstoß nichts kostet.
Konzerne unter Zugzwang
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weltweit verteilt, dann müsste auch jeder Mensch das gleiche Recht für die Verschmutzung der Atmosphäre bekommen. Dies würde den Volkswirtschaften bevölkerungsreicher Länder wie China oder Indien noch einigen Spielraum eröffnen, Deutschland oder die USA hingegen müssten sich massiv einschränken. Ein solches System konsequenter Klimagerechtigkeit hatte einmal eine prominente Fürsprecherin: Bundeskanzlerin Angela Merkel brachte beim G-20-Gipfel 2007 in Heiligendamm das Pro-Kopf-Prinzip ins Gespräch. Inzwischen ist dazu von ihr nichts mehr zu hören. Im Energiekonzept, das die Bundesregierung im Herbst vorgelegt hat, wird der Emissionshandel nur beiläufig erwähnt. In dem 32-Seiten-Papier wurde auch der Grundwiderspruch der deutschen Energiepolitik konsequent ignoriert: Der Staat subventioniert mit Milliardensummen grüne Energien wie Wind- und Sonnenkraft, dadurch sinkt die Nachfrage nach CO2-Verschmutzungsrechten, mithin fallen ihre Preise. Damit aber lohnt es sich für Energieversorger automatisch wieder, schmutzige Braun- und Steinkohle zu verbrennen. „Die Subventionierung erneuerbarer Energien ist nicht kompatibel mit dem Emissionshandel“, kritisiert der Kieler Umweltökonom Till Requate die verfehlte Anreizpolitik. Am Ende also bleibt die Frage, was aus dem epochalen Projekt angesichts all dieser Unstimmigkeiten werden soll. Als vor vielen Jahren die Idee des Emissionshandels ins Gespräch kam, wurde eine Alternative diskutiert, die sogenannte Inputoder Upstream-Lösung. Demnach sollte der Emissionshandel nicht bei den Produkten und den Verbrauchern ansetzen, sondern gleichsam an der Quelle, dort, wo Rohöl, Erdgas oder Kohle in die Volkswirtschaft gelangen. Dann müsste jeder Raffineriebesitzer, jeder Gaslieferant und jeder Kohleproduzent Zertifikate kaufen, und zwar je nach Kohlenstoffgehalt zu unterschiedlich hohen Preisen. Die Tonne Steinkohle würde nicht bloß 80 Euro kosten, sondern ein Vielfaches. Den Stromerzeugern bliebe nichts anderes übrig, als die Kosten auf die Kunden abzuwälzen – oder in alternative Energien zu investieren. Ein solches Vorgehen hätte den Vorteil, dass es einen Großteil der Emittenten erfasste, das System wäre effizienter und weniger aufwendig. Doch diese Alternative wurde schnell verworfen. Europas Politiker fürchteten offensichtlich die Konsequenzen, wenn sie die Bürger und die Unternehmer derart brutal mit den wahren Kosten des Klimaschutzes konfrontierten. Sie favorisierten die komplexe Variante. Trotz aller ALEXANDER JUNG Widersprüche.
Unternehmen wie die Allianz Krankenversicherung oder die Deutsche Krankenversicherung leiden gar an Kundenschwund. Für die Versicherer ist das eine Katastrophe. Denn je weniger junge und gesunde Gutverdiener nachrücken, desto schwieriger wird es, die in die Höhe schiePrivate Krankenversicherer wer- ßenden Kosten für Arzneimittel und Arzthonorare zu bezahlen. Die Beiträge müsben aggressiv um neue Kunden. sen steigen. Das wiederum schreckt poDie Konzerne brauchen dringend tentielle Neukunden ab. junge und gesunde Gutverdiener. Eine fatale Abwärtsspirale ist in Gang gekommen, der die Branche nichts andeSonst kollabiert das System. res entgegenzusetzen hat als höhere Vereinen Job? Nicht einmal eine Aus- treterhonorare und den Ruf nach staatlibildung? Und zu wenig Geld auf cher Regulierung. dem Konto? Kein Problem. Wer Zwangsrabatte für Pharmahersteller finanzielle Sorgen hat, darf auf die Versi- hat der liberale Bundesgesundheitsminischerungsbranche hoffen. ter Philipp Rösler den Privatkassen, einer „Einen lukrativen Nebenverdienst“ bie- traditionellen FDP-Stammklientel, schon tet ein Kölner Versicherungsmakler jenen verschafft. Bisher gab es so etwas nur bei „Seiteneinsteigern“, die auch bereit sind, der gesetzlichen Konkurrenz. Jetzt forKontakte in ihrem „Familienkreis“ oder dert die Branche weitere Eingriffe des Gezu „Arbeitskollegen“ zu vermitteln. Auf setzgebers: Zum einen soll die schwarzseiner Internetseite sucht er sogenannte gelbe Regierung eine Obergrenze für
kann die Rechnung so nicht aufgehen“, sagt ein Konzernmanager. „Je ähnlicher wir den gesetzlichen Krankenkassen werden, desto angreifbarer machen wir uns.“ Tatsächlich behaupteten die Privatkassen jahrzehntelang, ihre Versicherten seien besser vor den Folgen der demografischen Entwicklung geschützt als die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung. Diese lässt die Jüngeren für die Älteren zahlen, angespart wird nichts. Entsprechend anfällig ist das System, wenn die Bevölkerung altert. Dann müssen immer weniger Junge für immer mehr Alte aufkommen, und die Beiträge steigen. Die private Assekuranz dagegen setzt auf das Prinzip der Kapitaldeckung: In jungen Jahren, wenn die Versicherten selten einen Arzt brauchen, legt sie einen Teil ihrer Beiträge für den Ruhestand zurück. Werden die Versicherten älter und gebrechlicher, haben die Konzerne Geld auf der hohen Kante, um die zusätzlichen Ausgaben zu begleichen. Eine Beitragssteigerung ist nicht nötig – in der Theorie. In der Praxis sind die Prämien in der Anfangsphase oft viel zu Finanzen der privaten (PKV) niedrig kalkuliert. Im Alter jagt daher und gesetzlichen (GKV) eine Beitragserhöhung Krankenversicherung die nächste. In die gesetzVeränderung gegenüber 1997 liche Krankenversiche+60% rung wechseln können LEISTUNGSPKV die Kunden aber auch AUSGABEN +40% nicht mehr, ab dem 55. je Versicherten Lebensjahr ist das so gut +20% wie unmöglich. Auch die GKV Flucht zur Konkurrenz kommt nicht in Frage, 1997 2003 2009 weil der Versicherte dann einen beträchtlichen Teil +60% BEITRAGSEINNAHMEN seiner sogenannten Alje Versicherten PKV +40% tersrückstellungen verlieQuellen: ren würde. IGES, BMG, PKV Das Finanzierungsprin+20% GKV zip der Branche greife „angesichts einer steigen1997 2003 2009 Gesundheitsminister Rösler: Zeichen der Krise den Lebenserwartung und eines ausgabentreiTerminleger, denen er bis zu 30 Euro in Maklerprovisionen festlegen. Zum ande- benden medizinischen Fortschritts zu der Stunde zahlen will. ren wünschen sich die Unternehmen bes- kurz“, schreiben Ökonomen wie Bert RüWer sich als erfolgreicher Vertreter er- sere Möglichkeiten, die Höhe der Arzt- rup in einer Studie. Es gebe „begründete weist, kann in der Branche mehrere tau- honorare auszuhandeln. Eine entspre- Zweifel“, dass die private Krankenversisend Euro verdienen, wenn er nur eine chende Klausel soll in den anstehenden cherung einen „besseren Schutz gegen einzige Krankheitsvollversicherung ver- Reformtext der Gebührenordnung für nie- Beitragssteigerungen“ bieten könne. kauft. Durchschnittlich 9 Monatsbeiträge dergelassene Mediziner eingefügt werden. Zudem treffen die allgemeinen Kostenbetragen die Provisionen, selbst 14 PräDa wundert sich nicht nur mancher Ge- steigerungen im Gesundheitswesen die mien sind keine Seltenheit. sundheitsexperte in der Koalition: „Die Privatkassen noch stärker als AOK und Die Mondverdienste in der Maklerbran- private Krankenversicherung ist auf dem Co. Allein die Arzthonorare sind für Priche scheinen auf einen Boom in der pri- besten Weg, sich selbst abzuschaffen“, vatversicherte durchschnittlich mehr als vaten Krankenversicherung hinzudeu- sagt CDU-Politiker Jens Spahn. Auch die doppelt so hoch wie für Kassenpatienten. ten – in Wahrheit sind sie ein Zeichen Branche selbst zeigt sich unsicher, ob ihr Schließlich sollen die Privatpatienten eine der Krise. Die Branche muss enorm um Geschäftsmodell auf Dauer überleben exklusive Behandlung bekommen. Das neue Kunden kämpfen. kann. Problem: Mancher Arzt röntgt dann lieWeniger als 100 000 Versicherte gewanViele Traditionsversicherer sehen mit ber zweimal oder operiert an den entzünnen die 47 deutschen Privatkassen im Argwohn, wie aggressiv manche Großkon- deten Nebenhöhlen, obwohl auch eine Jahr 2009 dazu, zieht man die Nicht- und zerne um neue Kunden buhlen. Und den regelmäßige Nasendusche helfen würde. Niedrigzahler ab. Das sind nur halb so Ruf nach dem Staat hält manch einer für Das alles hat dazu geführt, dass die Beiviele wie noch acht Jahre zuvor. Große noch gefährlicher. „Langfristig gesehen träge der Privatkassen von 1997 bis 2008 GESUNDHEIT
Fatale Abwärtsspirale
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um 52 Prozent gestiegen sind – das sind fast 20 Prozentpunkte mehr als bei der gesetzlichen Konkurrenz. Hunderttausende Briefe haben Signal, Allianz oder DKV auch in den vergangenen Wochen wieder an ihre Versicherten verschickt. Umfragen zufolge werden die Prämien branchenweit um rund 7,5 Prozent erhöht. Umso erstaunlicher ist es da, dass noch immer Versicherungsmakler mit Billigtarifen werben, die sogar noch unter 100 Euro liegen. „So etwas kann einen als seriösen Versicherungsunternehmer einfach nur noch ärgern“, sagt Klaus Henkel, Chef der Süddeutschen Krankenversicherung (SDK). Policen, die monatlich weniger als 150 Euro kosten, gelten unter Experten als fragwürdig. Henkels Kollege Rolf Bauer von der Dortmunder Continentale flankiert: „Unter fehlkalkulierten Tarifen leidet das Image der gesamten Branche.“ Beide Manager leiten Unternehmen, die als Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit längst nicht so unter Renditedruck stehen wie die börsennotierte Konkurrenz. Ähnlich wie eine Genossenschaft sind sie nur ihren Mitgliedern verpflichtet und müssen keine Rücksicht auf Aktionärsinteressen nehmen. Der Riss, der durch die Branche geht, ist tief. Denn Aktiengesellschaften wie die Allianz Krankenversicherung sind bekannt dafür, nicht gerade zimperlich mit ihren Versicherten umzuspringen. Bis zum Bundesverwaltungsgericht ging zuletzt ein Streit mit der Finanzaufsicht BaFin, weil das Unternehmen von seinen Altkunden einen pauschalen Zuschlag verlangte, wenn diese in einen neuen, billigeren Tarif wechseln wollten. Die BaFin hielt das für skandalös – genauso sahen es auch die obersten Richter. Im Juni musste die Allianz die Praxis stoppen. Imagefördernd für die Branche war das nicht. Wenig Freunde unter den Privatversicherern macht sich derzeit auch der DKV-Mutterkonzern Ergo mit seiner neuen Werbekampagne. Durch die Reklame flaniert ein Mann und raunt: „Ich will versichert werden, nicht verunsichert.“ Die Konkurrenz sieht das als Frontalangriff. Und auch in der Regierungskoalition wächst das Misstrauen. FDP und Union sind unschlüssig, ob sie auf die Wünsche der Privat-Assekuranz eingehen sollen. Die Liberalen stehen vor einem Dilemma. Denn wenn sie den Privatkassen bessere Möglichkeiten einräumen, ihre Kosten zu drücken, bekäme die Partei Ärger mit einer anderen Klientel, die ihr nicht weniger wichtig ist: den Ärzten. Die haben schon klargemacht, dass die jüngsten Pläne der Privat-Assekuranz für sie nichts anderes bedeuten als den „Weg in die Discount-Medizin“. KATRIN ELGER 70
SPI EGEL-GESPRÄCH
„Wir neigen nicht zum Protzen“ Der Unternehmer August Oetker, 66, über den kostbarsten „Gemischtwarenladen“ der Republik, Fluch und Segen eines Familienbetriebs sowie die Integration von Superreichen SPIEGEL: Herr Oetker, dieses Jahr war viel
von misslungener Integration die Rede. Was meinen Sie: Sind eigentlich die Reichen der Republik, Leute wie Sie, ausreichend integriert? Oetker: Ich kenne etliche, die sich auf viele Arten gesellschaftlich einbringen, nicht laut, aber wirkungsvoll. Die Zahl der Talkshow-Auftritte sollte man dabei jedenfalls nicht als Maßstab von Engagement nehmen. Diese Plauderrunden funktionieren oft nach festgelegtem Drehbuch. Die Rolle des Bösen besetzen die Redaktionen gern mit Unternehmern. Das tun sich viele einfach nicht mehr an. SPIEGEL: Man hat trotzdem den Eindruck, dass sich die Vermögenden hierzulande nur dann in den öffentlichen Diskurs einmischen, wenn es um Erbrecht oder Steuerfragen geht, also um ihre Pfründen. Oetker: Das erlebe ich anders. Unternehmer sind allerdings gut beraten, in ihrem D E R
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unmittelbaren Umfeld zu agieren. Dort kennen sie sich am besten aus, und sie können am meisten erreichen, auch weil sie dort das höchste Ansehen genießen, das ja durchaus abnimmt, je weiter man von ihnen und ihrem Unternehmen weg ist. SPIEGEL: Sind Sie ein guter Chef? Oetker: Da müssen Sie andere fragen. Aber über mein soziales Engagement rede ich schon gar nicht mehr. Es gibt genug Leute, die das immer gleich als Gutmenschentum misstrauisch beäugen oder einen geheim gehaltenen Geschäftszweck wittern. Gutes glaubt man mir nur, wenn ich sofort sage, was ich daran verdiene. SPIEGEL: Haben Sie den Eindruck, dass es noch gerecht zugeht im Land? Oetker: Die Schwierigkeiten fangen schon damit an, diesen Begriff überhaupt zu definieren. Für mich gehört dazu vor allem ein gerechter Zugang zu Bildung. Migrantenkinder aus Problembezirken müssen
Konzernpatriarch Oetker
FRITZ STOCKMEIER / DER SPIEGEL
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die gleichen Startchancen haben wie meine Kinder. Ebenso müsste gelten, dass akademische Abschlüsse aus dem Ausland hierzulande anerkannt werden. Stattdessen müssen manche Ärzte aus Ghana oder Osteuropa hier dann Taxi fahren. Das ist absurd. Das ist ungerecht. SPIEGEL: Man kann auch schwer erklären, weshalb eine Verkäuferin wegen ein paar Cent den Job verliert und Banker, die Milliarden verzockt haben, sich noch mit Abfindungen verabschieden dürfen. Oetker: Stimmt. Ebenso darf man fragen: Ist es gerecht, dass jemand, der nicht arbeitet und von Hartz IV lebt, mitunter fast so viel vom Staat bekommt wie jemand, der sich mit harten Minijobs selbst über Wasser hält? SPIEGEL: Ärgern Sie sich nicht über die Verantwortungslosigkeit mancher Banker? Oetker: Natürlich kommt das vor. Der Unterschied zwischen Banken und einem Familienunternehmen wie unserem ist: Wir haften für das, was wir tun. Unser Geld liegt auch nicht auf den Niederländischen Antillen, sondern steckt hier in unseren Werken. SPIEGEL: Ihr Urgroßvater begann einst mit dem Verkauf des Backpulvers Backin. Heute ist Oetker ein global operierender Konzern mit 25 000 Beschäftigten. Ihnen gehören auch Luxushotels und eine Schiffsflotte, die allein fast die Hälfte Ihres 7,9-Milliarden-Euro-Umsatzes liefert. Warum so ein Gemischtwarenladen? Oetker: Früher habe ich mich über Ihren Begriff noch geärgert. Mittlerweile habe
ich mich mit dem „Gemischtwarenladen“ angefreundet, auch wenn ich selbst in jungen Jahren kein Anhänger unserer Art von Diversifikation war. Aber in der Krise der vergangenen zwei Jahre hat sich unser Grundsatz bewährt, dass man nicht alle Eier in einen Korb legen soll. Wo das Schiffsgeschäft einbrach, blieben die Lebensmittel oder das Biergeschäft stabil. SPIEGEL: Kauften die Deutschen in der Krise mehr Bier oder Tiefkühlpizzen? Oetker: Wenn die Leute sich keine großen Freuden machen können, bleiben die kleinen. Die spielen sich im Bereich Essen und Trinken ab. SPIEGEL: Sie sind also Krisengewinnler. Oetker: So weit würde ich nicht gehen, denn dazu waren unsere Einbrüche im Schiffsgeschäft doch zu hart. Aber wir können uns auf unsere Umsätze mit Müsli, Pizzen, Puddings oder Backmischungen selbst in schlimmen Krisen verlassen. SPIEGEL: Sie selbst werden kaum noch zur eigenen Tiefkühlpizza greifen. Oetker: Oh doch, vor drei Tagen erst. Ich habe immer welche zu Hause. Das krieg sogar ich im Backofen hin. SPIEGEL: Gibt es Lebensmittel, an deren Absatz Sie Anfang oder Ende einer Krise ablesen können? Oetker: Der Konsument ist da kein guter Seismograf. Er reagiert immer mit Verzögerung auf äußere Veränderungen. Da ist die Schifffahrt viel näher dran. An den Frachtraten aus den unterschiedlichsten Ländern können Sie sofort Rückschlüsse ziehen auf die jeweiligen Märkte. SPIEGEL: Angesichts von Schlagworten wie Gel-Schinken oder Analog-Käse fragen sich viele mittlerweile, was manche Supermarktware noch mit Natur zu tun hat. Oetker: Neulich sah ich im Fernsehen einen Wissenschaftler, der am Ende einer
Geschichte über Analog-Käse erklärte, dass der eigentlich das bessere, weil hygienischere Produkt ist. SPIEGEL: Wollen Sie diesen chemischen Käseersatz verteidigen? Oetker: Nein, nein, ich will nur darauf hinaus, dass es letztlich völlig unerheblich ist, was Fachleute über Analog-Käse denken. Wichtig ist das Empfinden des Konsumenten. Der will nicht belogen werden. Er will, dass auf seiner Pizza Käse drauf ist, wenn es die Packung verspricht. Und er hat ein Recht darauf. SPIEGEL: Die Labors Ihrer Lebensmittelchemiker haben mit der romantischen Welt Ihrer Versuchsküche auch nichts mehr zu tun. Oetker: Stimmt schon … das ist heute Hightech. Aber wo ist das anders? Jede Zahnpasta hat völlig unverständliche Beipackzettel und riesige Listen mit Zusatzstoffen. Wir übersetzen unser Fachwissen wenigstens wieder für die Hausfrauen. SPIEGEL: Hat sich der Deutsche als Konsument verändert über die Jahrzehnte? Oetker: Es gibt Megatrends, die schon Jahrzehnte halten. Der Deutsche will vor allem, dass ein Fertiggericht sicher gelingt. Es soll praktisch sein und Pfannen und Töpfe nicht zu sehr beanspruchen. Und irgendwie bio soll es inzwischen möglichst auch sein. Wir bei Oetker müssen uns immer bewusst sein, dass wir nicht als Feinkosthändler eine kleine Nische beliefern, sondern für die breite Masse verantwortlich sind. SPIEGEL: 28 Jahre lang waren Sie an der Spitze des Konzerns und haben nun an Ihren Bruder Richard übergeben. Der sagte, er sei da so „hineingerutscht“. Oetker: Das können Sie getrost Koketterie nennen. Bei uns rutscht niemand aus der Familie irgendwo einfach so rein. Nach-
Geschäftsbereiche der Dr. August Oetker KG Umsätze 2009 und Firmenauswahl
NAHRUNGSMITTEL UMSATZ 2009
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Mrd. €
SCHIFFFAHRT UMSATZ 2009 Dr. Oetker GmbH Martin Braun-Gruppe Frische-Paradiese
BIER UND ALKOHOLFREIE GETRÄNKE UMSATZ 2009
1,6
Mrd. €
Radeberger Pilsner Schöfferhofer Weizen Selters
3,2
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BANK GESCHÄFTSVOLUMEN 2009
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Bankhaus Lampe
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ALKOHOLISCHE GETRÄNKE Fürst von Metternich Henkell Trocken Wodka Gorbatschow
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Chemische Fabrik Budenheim Oetker Hotel Collection
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paar Jahre, in denen ich mich erst mal selbst finden musste, um auch aufmucken zu können. In den größeren Runden, wo die Chefs der einzelnen Abteilungen zusammensaßen, konnte man durchaus zwischen die Räder kommen, wenn einen der eigene Vater mit einer Idee konfrontierte, die man nun gar nicht teilte. SPIEGEL: Wurden Sie laut? Oetker: Das kam vor. SPIEGEL: Sie sollen Ihren Vater dennoch immer Papi genannt haben. Oetker: Ja, und die Auseinandersetzungen führten oft zu einem Dilemma: Entweder ich haute ihn in die Pfanne, oder man ließ die eigenen Mitarbeiter im Regen stehen. Eine Seite machte einem später immer Vorwürfe. SPIEGEL: Zu der Auseinandersetzung mit dieser Vätergeneration gehört auch deren Rolle unter den Nazis. Ihr Vater war unter anderem Mitglied der Waffen-SS. Oetker: Wir haben darüber zu Hause nie geredet.
TV-YESTERDAY / INTERFOTO
dem in der ARD eine Reportage über unseren Konzern lief, in der es auch um die Entführung meines Bruders ging und die Generationenkonflikte, schickte ich Richard eine SMS, in der ich ihm sagte: Du warst der Beste von uns. Er war so bedächtig, authentisch, glaubwürdig. Er schrieb nur zurück: Du spinnst! So ist er. SPIEGEL: Prägt die Entführung Ihres Bruders von 1976 die Familie noch? Oetker: Erpressungsversuche und Drohungen hat unsere Familie ungezählte erlebt. Mein Bruder leidet zwar körperlich bis heute unter den Folgen der Tat, aber er hat keine psychischen Schäden davongetragen. Der Polizei wäre es wahrscheinlich am liebsten, wenn es Familien wie uns Oetkers gar nicht gäbe, dann hätte sie das Problem nicht. Oder es wird einem erklärt, man solle auf eine Insel ziehen, weil die am besten zu bewachen ist. Flucht ist aber keine Antwort aufs Leben. Und es hilft auch nicht, sich im Keller des eigenen Hauses einen Safe zu bauen, in den man sich dann einsperrt. Wir haben das immer abgelehnt. SPIEGEL: Sie sitzen nun im obersten Kontrollgremium des Konzerns, dem Beirat. Sind Sie dort so ein strenger Aufseher, wie es Ihr Vater einst für Sie war? Oetker: Nein, ich habe an meinem eigenen Vater einst ja gemerkt: Wenn man zu nah am operativen Geschäft bleibt, ist die Gefahr groß, dass man sich in die Arbeit des Nachfolgers zu sehr einmischt. Da war ich mir mit meinem Bruder einig, dass wir uns das ersparen wollen. Natürlich reden wir viel miteinander, aber ich mische mich in seine Entscheidungen nicht ein. Wie Sie schon vermuten: Ich weiß, wie anstrengend das sein kann. SPIEGEL: Ihr Vater starb 2007, Sie haben die Geschäfte bis 2009 geführt. Sie waren nur zwei Jahre wirklich frei. Oetker: Das nicht, denn der Abnabelungsprozess zwischen meinem Vater und mir war viel früher abgeschlossen. Ich hatte ja erst in der Schifffahrt gelernt und dann Abstand gewonnen zur Familie in London und New York … SPIEGEL: … wo Sie unter anderem bei Lehman Brothers arbeiteten … Oetker: … für deren Pleite mich der SPIEGEL hoffentlich nicht mehr verantwortlich macht. Mein Vater hat mich dann quasi in die Firma zurückbeordert. Er kam eigens mit dem Schiff zu mir nach New York, weil er unter Flugangst litt. SPIEGEL: Womit drohte er? Oetker: Wenn ich nicht übernähme, würde er meinen Vetter Arend fragen … SPIEGEL: … dem heute unter anderem die Konkurrenz von Schwartau gehört. Oetker: Arend wollte gar nicht zu uns. Er hatte damals schon seinen eigenen Betrieb – und kannte ja auch unsere Familie. Ich schnackte meinem Vater noch ein Jahr Freiheit in New York ab, dann kehrte ich zurück nach Bielefeld. Es dauerte dort ein
Reklame um 1957
„Für die breite Masse“ SPIEGEL: Hätten Sie es gern getan? Oetker: Natürlich. Mich hat Zeitgeschichte
sehr interessiert. Und ich habe mein Abitur in Salem gemacht, das damals nach dem Krieg einen jüdischen Schulleiter hatte. Anders als an anderen Schulen wurde das „Dritte Reich“ deshalb dort schon kurz nach dem Krieg ausgiebig behandelt. SPIEGEL: Ihr Vater steuerte gar nichts bei? Oetker: Wir Kinder konnten mit ihm weder über seine persönlichen Erinnerungen sprechen noch gar über politische Einschätzungen. Das Einzige, woran ich mich erinnere, waren gelegentliche Sätze von ihm in der Art: Es ist sehr leicht, über Entscheidungen und Menschen zu urteilen, wenn man in deren Zeit nicht gelebt hat. Ich kann das sogar nachvollziehen. Unter Hitler war der Staat überall – auch hier in Bielefeld, auch bei Oetker.
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Entführungsopfer Richard Oetker 1980, Konzernzentrale in Bielefeld: „Flucht ist keine Antwort aufs Leben“ Oetker: Früher waren diese Altersunter-
Kind generell wenig gehabt haben. Oetker: Diesen Konflikt gibt es wohl überall, wo jemand mit voller Überzeugung seine Arbeit macht. Unser Grundsatz ist: Die Interessen des Unternehmens kommen immer vor denen der Familie. Da finden sich Kinder oft nicht wieder, manchmal auch die Ehefrauen. SPIEGEL: Das gehört zu den Schattenseiten von Familienkonzernen … Oetker: … die aber auch große Vorteile haben. Sie bieten die Möglichkeit, über längere Zeiträume zu gestalten und Perspektiven zu entwickeln. Wir sind nicht zu kurzfristigem Erfolg verdammt. Sonst hätten wir zum Beispiel das Pizzageschäft nie gestartet, das dauerte sehr lange, bis es lief. SPIEGEL: Wer sich zu viel Zeit lässt, kann auch die Zukunft verschlafen. Oetker: Wir können auch ganz schnell entscheiden. Aber wir werden dabei nicht vom Finanzmarkt getrieben. AG-Vorstände sind heute in der Regel nur noch fünf Jahre auf einem Posten. Überspitzt formuliert: In den ersten beiden Jahren muss man den eigenen Vorgänger schlechtmachen, die nächsten zwei müssen Sie sich dagegen wehren, von den potentiellen Nachfolgern überrollt zu werden. Dann beginnen schon die Abfindungsverhandlungen. Kontinuität ist auch ein Wert. Oetker hatte in 120 Jahren nur fünf Chefs. SPIEGEL: Niemand dürfte dem Clan streitig machen, die Top-Positionen zu besetzen. Oetker: Es ist nicht so, dass diese fünf Chefs an ihren Sesseln klebten. Sie alle wurden von ihren Vätern oder der Firma scharf kontrolliert. Und nur weil jemand zur Familie gehört, heißt das noch lange nicht, dass er auch führen kann. SPIEGEL: Aus den drei Ehen Ihres Vaters gingen acht Kinder hervor, die nun den Gesellschafterkreis des Konzerns bilden. Einige Ihrer gleichberechtigten Geschwister könnten altersmäßig Ihre Kinder sein.
schiede zwar dieselben, wirkten sich aber noch extremer aus. Da gingen einige meiner Halbgeschwister noch zur Schule, während ich längst in der Verantwortung stand. Mit den Jahren schälte sich dann langsam raus, wer sich für was interessiert. SPIEGEL: Der Generationenkonflikt in Ihrer Familie soll ziemlich heftig sein. Oetker: In großen Familien gibt es ja immer alles: Eifersucht, Ehrpusseligkeiten, Streit, Liebe, Vertrauen, Hass. In der Führungsfrage hat allerdings bei uns immer der Beirat das letzte Wort. Und der ist mehrheitlich heute sogar mit familienfremden Managern besetzt. SPIEGEL: Wie erden Sie den Nachwuchs, der mit so viel Reichtum aufwächst? Oetker: Das Gros unseres Geldes steckt im Unternehmen. Wir neigen nicht zum Protzen. Und was die Erziehung angeht: Eine Zeitlang nimmt man auch über das Vorbild des eigenen Lebens Einfluss – hoffe ich zumindest für mich. Ich habe meinen eigenen sechs Kindern dabei auch immer gesagt, was sie nicht müssen. SPIEGEL: Nämlich? Oetker: Unbedingt ins Unternehmen drängen. Jeder soll machen, was er liebt. Aber eines wollte ich jedem meiner Kinder klarmachen: dass sie nicht abheben, denn damit schaden sie sich selbst und wiederum dem Rest der Familie. Was es da in
FRITZ STOCKMEIER / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Sie werden von Ihrem Vater als
Oetker, SPIEGEL-Redakteur* * Thomas Tuma in Bielefeld.
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anderen Familien für teils unglückliche Kreaturen gibt, kann man jede Woche in der „Bunten“ nachlesen. Na ja, und wenn die Kinder dann älter werden, geht es natürlich auch ums Taschengeld. SPIEGEL: Das Privatvermögen Ihrer Familie wird auf über sechs Milliarden Euro geschätzt. Da dürfte mit den eigenen Kindern mitunter schwer zu diskutieren sein. Oetker: Mal abgesehen davon, dass ich solche Zahlen nicht kommentiere – als es später um die Wahl des Wagens ging, stand ich immer auf dem Standpunkt: Ein VW Golf reicht, es muss kein 3er BMW sein. SPIEGEL: Versteht sich die nächste OetkerGeneration untereinander besser als Ihre? Oetker: Sie versteht sich prima und organisiert sich auch schon selbständig. Einmal im Jahr treffen sich all die Vettern und Cousinen, geben sich selbst eine Tagesordnung und reden – nicht nur übers Geschäft. Ich darf dann einen Vortrag halten, verschwinde aber auch schnell wieder. SPIEGEL: Auch Sie sind, wie einst Ihr Vater, nun zum dritten Mal verheiratet. Einige Ihrer sechs Kinder sind älter als Ihre jetzige Frau. Belastet derlei das Familienklima? Oetker: Das Gute ist, dass keines meiner Kinder mehr in einem Alter ist, wo es sich mit einer neuen Mutter konfrontiert fühlt. Die würden es mir auch sagen, wenn ihnen etwas nicht passt. SPIEGEL: Wie lernt man als Oetker zu unterscheiden zwischen wahren Freunden und denen, die eher das Geld anlockt? Oetker: Das ist umso leichter, je weiter wir uns von Deutschland entfernen. In Shanghai oder New York kennt unseren Namen niemand. Viele leben heute auch im Ausland. Hierzulande muss man ein Gefühl dafür entwickeln … ist nicht immer leicht, ich bin da auch mal schwer enttäuscht worden. Und am Ende … wenn man drei wirkliche Freunde hat im Leben, ist es doch schon viel. Auch für Menschen mit weniger bekanntem Namen, oder? SPIEGEL: Herr Oetker, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Wirtschaft einen Bruchteil der heutigen Postgebühren liefern wollen – aber dafür wär’s dann erst einmal zu spät. Die Eile der Post könnte man noch erklären, aber Vorstandschef Appel kämpft mit weit rüderen Methoden: So entzog er den Wettbewerbern Die Bundesregierung plant ein kurzerhand ein wichtiges Inrechtssicheres E-Mail-System. strument zur KundengeMillionen Briefe würden dann winnung. Um eine De-Mailüberflüssig, fürchtet die Post – Adresse zu erhalten, muss sich der Nutzer einmalig mit und trickst die Konkurrenz aus. seinem Personalausweis bei s hätte so einfach sein können, prakeiner dazu ermächtigten Steltisch und effizient. Möglichst jeder le identifizieren lassen. Für Deutsche, so sahen es die Pläne des diesen Service hatten TeleBundesinnenministeriums vor, sollte eine kom und 1&1 auf die Post verneue und einzigartige E-Mail-Adresse traut. Die bietet für Großkunerhalten. Die dazugehörige Kennung, den bereits seit Jahren ein de-mail.de, sollte den Absender der eleksogenanntes Postident-Verfahtronischen Post eindeutig identifizierbar ren in ihren Filialen an. Prinmachen. Kein Spam, kein Betrug, keine zipiell soll sich daran auch Post-Chef Appel: Jeder Tag früher ist bares Geld Fälschungen mehr. nichts ändern. Nur Telekom Schon Ende dieses Jahres sollte das Sysund 1&1 sollen den Dienst für tem starten. Millionen Briefe und ZustellIhre Angst: Sollten große Kommunika- ihre De-Mail-Kunden nicht mehr in Anfahrten könnten damit überflüssig werden. tionsriesen wie die Telekom demnächst spruch nehmen dürfen. Denn anders als bei normalen Mail- in den Markt einsteigen, würden mit eiDass Appel damit möglicherweise soSystemen sollten Sende- und Empfangs- nem Schlag Millionen Briefsendungen gar gegen Wettbewerbsrecht verstößt, protokolle künftig von Gerichten als Be- überflüssig. Rechnungen, Versicherungs- kümmert ihn offenbar wenig. BMW könweis anerkannt werden. Verbraucher und dokumente, Behördenpost, selbst An- ne auch nicht gezwungen werden, seine Großorganisationen zeigten sich begeis- walts- und Gerichtsdokumente – vieles, Motoren der Konkurrenz zur Verfügung tert. Mit De-Mail würde eine echte Revo- was heute noch durch Briefträger oder zu stellen, sagt Post-Manager Lemke. Jelution eingeläutet. Kuriere zugestellt wird, könnte dann auch der Tag, den man früher am Start sei als Doch dem rechtsverbindlichen Brief- elektronisch versandt werden. die Konkurrenz, sei bares Geld wert. system drohen nicht nur Verzögerungen, Weil aber der Briefsektor einer der Einen wichtigen Teilerfolg konnten die weil die gesetzlichen Grundlagen immer größten Gewinnbringer ist, entschloss Post-Lobbyisten bereits feiern. Ursprüngnoch fehlen. Der gesamte Plan könnte sich Appel zur Vorwärtsverteidigung. lich war nämlich geplant, alle E-Mailwomöglich am Lobbydruck und an ge- Sein gelber Riese entwickelte einen eige- Adressen des neuen Dienstes mit einer zielten Störaktionen eines großen Spie- nen E-Postbrief, der seit einigen Wochen gleichen Endung zu versehen. Egal ob lers scheitern: der Deutschen Post AG mit Millionenaufwand beworben wird. der Kunde seine Mailbox bei Telekom, und deren Chef Frank Appel. Für 55 Cent pro Stück können Privat- Post, 1&1 oder einem anderen zertifizierDabei war der Manager vor zwei Jahren kunden bei der Post elektronische Briefe ten Anbieter eingerichtet hat. vom De-Mail-System der Bundesregierung mit einer Art Zustellgarantie versenden. Der Grund dafür war nicht nur für 1&1noch sehr angetan. Damals beteiligte sich Die Verabschiedung des eigentlich not- Vorstand Jan Oetjen „äußerst plausibel“: die Post als Dienstleister an einem vom wendigen De-Mail-Gesetzes wartete der Bei einem Wechsel sollten die Nutzer ihre Innenministerium begleiteten und von der Branchenprimus erst gar nicht ab. „Wir De-Mail-Adresse problemlos mitnehmen Telekom und 1&1 (gmx, web.de) organi- haben ein gutes Produkt. Diesen Wettbe- können. Wichtiger noch: Die einheitliche sierten Pilotversuch in Friedrichshafen. werbsvorsprung nutzen wir“, sagt der zu- Endung sollte auf einen Blick zeigen, dass Behörden, Firmen, Banken und Ein- ständige Post-Manager Harald Lemke. ihre Post in einem geschlossenen, sichewohner probten dort unter Federführung Konkret bedeutet das: Die Post will ren System verfasst wurde. der Konzerne den rechtssicheren E-Mail- möglichst viele Nutzer an sich binden, beDoch genau diesen Punkt hat die Post Verkehr. „Der Erfolg war gewaltig“, sagt vor das offizielle De-Mail-System im Mai im jüngsten Entwurf zum De-Mail-Gesetz Telekom-Manager Jens Mayer. Und ge- oder Juni startet. Dann erst könnten die aufweichen können. Nun könnten plötznau das wurde für die Post-Strategen of- Verbraucher vergleichen und sehen, dass lich unterschiedlichste Kennungen zugefenbar zum Problem. andere Anbieter ähnliche Leistungen für lassen werden. Sie reichen von @e-post brief.de bis zu @t-online.de-mail.de und weiteren Varianten. Die künftige De-Mail Sollte diese Regelung durchgehen, Ein Kunde registriert Anschließend identifiziert gäbe es ein heilloses Chaos. Dann müsssich im Internet bei er sich mit seinem Austen sich Nutzer mit langen Listen wappREGISTRIERUNG einem De-Mail-Anbieter weis bei einer dafür zugenen und vergleichen, ob ihre Post von eiwie der Deutschen lassenen Stelle und erhält nem zertifizierten Anbieter oder mögliTelekom oder 1&1 als eine De-Mail-Adresse. Jetzt cherweise von einem Betrüger stammt. De-Mail-Teilnehmer. kann er elektronische Post Für den Erfolg des Dienstes wäre das mit der Sicherheit eines verheerend, glaubt 1&1-Mann Oetjen. Einschreibens verschicken. Die Post-Konkurrenten erwägen bereits FRANK DOHMEN juristische Schritte. KONZE RNE
Rüde Methoden
DIRK KRUELL / LAIF
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Sicher versendet
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Di Lorenzo
A. WARMUTH / DPA (O.L.); D. ASBACH / LAIF (O.R.); R. SCHLESINGER / DPA (U.R.); TEAM2 (U.L.)
Wagner
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Schirrmacher
Roche
R. JENSEN / PA / DPA ; L. COCH / ZEITENSPIEGEL; S.TZSCHEUSCHNER / ACTION PRESS; T. WEGNER
Deutsche Debatten-Prominenz: Es klingt alles ganz leicht und ist es auch
Medien DISKURS
Aishe – furniert Es wird Zeit, für 2011 die nächste große Debatte zu entwerfen – provokant, tabubrechend, authentisch. Von Thomas Tuma
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as Jahr 2010 war debattentechnisch ein großes: die Jungautorin Helene Hegemann und ihr Romandebüt „Axolotl Roadkill“, Kindesmissbrauch von Kirche bis Odenwaldschule, Thilo Sarrazin, Integration, Klimawandel, Stuttgart 21 und Wutbürger, Frauenquote, Hartz-IV-Reformreform. 2011 braucht einen neuen, einen Meta-Diskurs. So geht’s:
Januar Unter einem Phantasienamen reiche ich bei den Berliner Literaturagenten Eggers & Landwehr die ersten fünf Seiten eines Manuskripts ein. Nüchterner Arbeitstitel: „Das Tagebuch der Aishe A.“ Sie ist 16 und schimpft mal gegen „Emanzen-Trullas“, mal gegen den Koran oder „deutsche 68er-Sitzpinkler“ und verlangt die sofortige Abschiebung aller anatolischen Machos unter der eingängigen Formel: „Geh, wo du wohne, Dorfdepp!“ 110
Der Kontakt zu den Verlagen wird über März eine anonyme Mail-Adresse gehalten. Mehrere Lektoren melden sich, die den Text Buchmesse läuft super. Die Debatten-Lage „zornig“ und „echt“ und „rau, aber irgend- draußen im Land bleibt unübersichtlich: wie gut rau“ finden. Suhrkamp erhält den Geht es Aishe um die „Selbstfindung der Zuschlag. Die Hardcover-Ausgabe soll zur postmodernen Migrantin“ („Stern“)? Wird „Super Illu“ ausnahmsweise stilbildend, Leipziger Buchmesse erscheinen. als sie titelt: „Parallelgesellschaft KinderFebruar zimmer – Weshalb wir unseren Nachwuchs nicht mehr verstehen“? Ist Aishe Es klingt alles ganz leicht und ist es auch. die „zornige Vertreterin eines UnterschichAn zwei Wochenenden schreibe ich die ten-Hasses, auf den die Politik endlich Antrestlichen 175 Seiten, sehr zornig, sehr worten finden muss“ („Frankfurter Rundecht und auch rau. Wie üblich sichern schau“), „Sarrazin von unten“ („Focus“), sich SPIEGEL und „Bild“ die Vorabdruck- oder hat sie einfach nur „schwer einen an rechte. Die „Frankfurter Allgemeine“ ist der Waffel“ (Henryk M. Broder)? so beleidigt, dass sie die herannahende Deutschland ist sich noch nicht einig, „Lolitaliban-Masche“ beschimpft und ob es Volkszorn entladen oder Schuldunautorisierte Auszüge druckt, die Aishe gefühle entwickeln soll. Vielleicht müsste als nymphomane, frauen- wie türkenhas- Aishe auch gegen Präimplantationssende Irre aussehen lassen. Suhrkamp diagnostik sein, aber schon das Wort ist entscheidet sich, die Startauflage auf Gift für jede „Bild“-Schlagzeile. Apropos: 50 000 zu verdoppeln. Franz Josef Wagner beginnt seinen „Brief D E R
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Friedman Schwarzer
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C. KOALL/VISUM; H. KAISER / DAPD; E. KASSNER / A. PEOPLE IMAGE; D. V. NAYHAUSS / DER SPIEGEL; R. WITTEK / DPA; D. BUTZMANN; G. GAJANIN / ACTION PRESS;IMAGO STOCK&PEOPLE (V.L.N.R.)
an Aishe“: „Mensch, Mädchen, ich hab Mai auch eine Tochter …“ Was wird Frank Weitere Anfragen gehen ein: Das „SZSchirrmacher schreiben? Weil ich ja auch keine Ahnung habe, Magazin“ möchte Aishe für seine Ohnewas ich wollte, meldet sich Aishe nur noch Worte-Fotokolumne „Sagen Sie jetzt selten. Bei Twitter hat sie schon über nichts“ gewinnen, dem „Playboy“ würde 62 000 „Follower“ – „viel mehr als wie sie ohne Kopftuch völlig genügen. Das eure Irokesen-Schwuchtel Sascha Lobo“, „Zeit-Magazin“ bittet um Mithilfe für das kräht die Jungautorin in einem ihrer ge- Format „Ich habe einen Traum“. „Neon“ legentlichen Einträge („Ich guck fern, so- schlägt eine Fotostrecke vor zur geplangar bildungsfern“). Der falsche Kompa- ten Coverstory: „Wie Aishe bist du?“ Das geht aber alles nicht, weil sie ja rativ war wieder schön rau, fand ich. gar nicht existiert, was ich selbst schon April mitunter vergesse. Am Telefon im Büro melde ich mich mal mit „Aishe Tuma … Der türkische Ministerpräsident mahnt ir- du misch auch, ey“. gendwas an, der deutsche Außenminister auch. Diverse Imame rufen zu was auf. Juni Der Zentralrat der Juden hat sich noch nicht gemeldet, nur Michel Friedman. „Bild“ lanciert eine fünfteilige Das„Cicero“ titelt: „Der Aishe-Faktor – wie wird-man-doch-noch-sagen-dürfen-Serie uns eine 16-Jährige den Spiegel vorhält“. „Aishe/Deutsch– Deutsch/Aishe“. Mit SuhrUnd der „Welt“-Kulturchef druckt ein in kamps Segen starten Charlotte Roche und 47 SMS geführtes Aishe-Interview, in dem Roger Willemsen eine – innerhalb von er von ihr als „Salon-Vollpfosten“ be- zwei Tagen ausverkaufte – Lesereise mit Aishe-Texten durch 35 deutsche Unischimpft wird. Dann schreibt Alice Schwarzer in „Bild“ Städte. Der Reinerlös soll afghanischen eine Philippika gegen diese „traurige Frauenhäusern und den Angehörigen der Kriegsgewinner-Generation junger Frau- Loveparade-Opfer zugutekommen. Keine en“. Dann fordert Giovanni di Lorenzo in Ahnung, weshalb. Veronica Ferres verrät „Bunte“, dass der „Zeit“ eine substantielle Neupositionierung der Frauenbewegung. Dann schla- sie Aishe adoptieren will, worauf die twitgen Familienministerin Kristina Schröder tert: „Was juckt es eine deutsche Aishe, und Stephanie zu Guttenberg einen Run- wenn sich eine Wildsau an ihr kratzt.“ den Tisch vor. Dann hat das Frauenthema Angesichts solch unterirdischer Kalauer gewonnen gegen Integration, Parallel- ist es längst Zeit aufzuhören. In der letzten Sonntags-Talkshow von gesellschaften und Unterschicht. Dann Anne Will sitzen: Silvana Koch-Mehrin sind 350 000 Exemplare verkauft. D E R
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(FDP), Lena (Meyer-Landrut), Judith Holofernes (Wir sind Helden) sowie Ursula Engelen-Kefer (Ex-DGB-Vize) und diskutieren sich einen Wolf über Fortschritte in der Frauenfrage. Fühle misch wie Aishe furniert, ey. Aber wie ihr entkommen?
Juli Den Suhrkamp-Leuten beichte ich am Telefon alles. Sie halten mich erst für einen „Titanic“-Redakteur, beim zweiten Anruf für Oliver Pocher. Dann ist Wochenende. Am Montag wird verabredet, dass der Verlag Aishe am Dienstag via Pressemitteilung die Zusammenarbeit aufkündigen wird. Das steht am Mittwoch überall. Über die Gründe wird am Donnerstag toll gemutmaßt. Der „Süddeutschen Zeitung“ werden für eine Geschichte am Freitag vom Verlag alle Hintergründe gesteckt, worüber am Samstag wieder alle berichten. „Bild am Sonntag“ druckt das Exklusiv-Interview: „Der Mann, der Aishe war“, was am Montag … genau: Der Buchverkauf erreicht die Halbe-Million-Marke. Damit ist der Zenit leider überschritten.
August Die Staatsanwaltschaft nimmt Vorermittlungen auf wegen Betrugsverdachts. Cem Özdemir zeigt sich „fassungslos“. Mesut Özil fand Aishe „derbe geil“. Ranga Yogeshwar ist gar kein Türke, wird aber auch gefragt. Thea Dorn, Richard David Precht und Schirrmacher schreiben wie 111
Medien immer brillant-einzigartige Essays. Wo ist eigentlich Peter Sloterdijk? Peter Scholl-Latour, Ralph Giordano und Dieter Wedel haben’s immer gewusst. Ich sitze bei „Beckmann“, verstehe die Fragen nicht, spreche von einem „Tribunal“ und erinnere an Jörg Kachelmann und Nadja Benaissa. Zwei Tage später fragt Frank Plasberg: „Wie fühlt man sich so in einer 16-jährigen Türkin?“ Er grinst sein Großinquisitor-Grinsen. Das TV-Medienmagazin „Zapp“ hat nix Eigenes und macht sich deshalb über alle lustig, die auf „diesen Debatten-Zirkus“ reingefallen sind. Der Deutschlandfunk spricht von einem „medienkritischen Gesamtkunstwerk“. Aber wer hört Deutschlandfunk?
September Die „Junge Freiheit“ verteidigt mich als „Opfer eines Propaganda-Mobs wie zu ,Stürmer‘-Zeiten, nur von links“, was doch noch einen Aufschrei des Zentralrats der Juden provoziert. Ein irakischstämmiger Kneipenwirt aus Holzminden spricht eine Fatwa aus. Bushido sagt am Rande einer RTL-Box-Gala, dass er „dieser Fatwa aufs Maul hauen“ will, wenn er sie trifft. Eine Facebook-Gruppe namens „Aishe 21“ organisiert Montags-Demos. Wenn ich es recht verstehe, geht es um einen entspannteren Dialog mit dem Islam.
Oktober Tolle Sonderangebote bei Penny, wo ich nur kurz vor 22 Uhr einkaufe, weil mich dann niemand sieht.
November Der Kölner Verlegersohn Konstantin Neven DuMont fliegt auf, weil er unter insgesamt 154 verschiedenen Namen (zum Beispiel „Aishe_ihre_Schwester_seiner“) im Forum des eigenen Blogs Selbstgespräche mit seinen anderen Identitäten führte und behauptet, er sei ich. WikiLeaks veröffentlicht die „Aishe-Protokolle“ nicht, obwohl ich ihr gesamtes Œuvre als PDF losgeschickt habe.
Dezember Ein Angebot fürs RTL-Dschungelcamp geht bei mir ein. Der gesellschaftliche Tiefpunkt ist erreicht, als mir Eva Herman beim Vox-„Promi Dinner“ eine gemeinsame Tournee vorschlägt. Fürchte mich davor, dass Bernd Eichinger oder Sönke Wortmann den ganzen Quatsch noch ins Kino bringen könnten. Das Land vergisst allerdings auch schnell. Für Januar 2012 kündigt Rowohlt den „Literatur-Schock des Jahres“ an. Autorin: eine 14-jährige rechtsradikale Sudanesin aus Apolda. Ich werd’s nicht gewesen sein. Versprochen. 112
RUHM
Geschichten von Frau K. Aus Oggersheim kommt nicht nur ein Altkanzler, sondern auch die 24-jährige Daniela Katzenberger. Sie hat die blondeste Medienkarriere des Jahres hingelegt.
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an kann Daniela Katzenberger Und als sie zuvor bei Markus Lanz zu auf zweierlei Arten wahrneh- Gast war (um ihren Auftritt dort zugleich men: Einerseits ist sie eine 24- für ihre eigene Show mitfilmen zu lasjährige Kosmetikerin, die einen Großteil sen), sah sie nicht nur optisch besser aus. ihres Tages damit zu verbringen scheint, Sie zerlegte den alerten ZDF-Star hinter Wartungsarbeiten an sich durchzuführen. den Kulissen mit ihrer unverstellten BeIhr cappuccinobrauner Teint ist so falsch geisterung, während der sich durchaus wie die einst eintätowierten Augenbrau- anmerken lassen wollte, wie peinlich ihm en, die Brüste sind vergrößert, die Nägel die Frau ist. aufgeklebt und die Haare gefärbt. Es ist Aber derlei war noch nicht mal der Hönicht viel echt an dieser Frau, die ande- hepunkt ihrer bisherigen Medienkarriere. rerseits merkwürdig ehrlich und authen- Ganz oben war sie erst, als SPD-Chef Sigtisch rüberkommt. mar Gabriel jüngst lästerte, beim Besuch Man kann sie aber auch anders sehen: des Verteidigungsministers Karl-Theodor Dann ist „die Katze“ (wie sie sich selbst zu Guttenberg nebst Gattin in Afghanistan nennt) eine Frau, die so tut, als ob sie ein hätte nur die Katzenberger gefehlt. Dummchen spielt, und damit zugleich Es war nicht nett gemeint, aber in der Mittelpunkt des eigenen, perfekten Ge- Welt der Frau K. geht es nur um Aufschäftsmodells ist. So erklärt es Bernd merksamkeit. Jede Erwähnung ist wertSchumacher, ihr Manager. voll, zumal „Bild“ dann sofort einen ofSchumacher sitzt an seinem Schreib- fenen Brief der Blondine an den „lieben tisch in einer Leipziger Villa, während Sigi Knuddelbär“ druckte. Am Silvestersich „die Katze“ zwei Zimmer weiter das abend wird sie obendrein zur besten Gesicht pudern lässt. „Frühmorgens sehe Hauptabendsendezeit ihren eigenen Voxich beschissen aus“, sagt sie im breitesten Jahresrückblick präsentieren. Kurpfälzisch. Schumacher hört es, überSie ist jetzt angekommen in der Promihört es und erklärt dann: „Daniela ist Welt. Bloße Präsenz als Wert an sich. Jeeine Marke, und wir müssen einen hohen der Flop ein Knaller. Wiedererkennungswert schaffen.“ Eigentlich sollte Katzenberger mal für Früher war Schumacher mal Studioleiter die Sendung „Auf und davon“ ein Prakbei ProSieben. Inzwischen ist er 50 Jahre tikum bei der amerikanischen Fastfoodalt und Chef seiner eigenen Produktions- Kette „Hooters“ machen. Klappte nicht. firma namens „99pro media“. Er produ- Dann wollte sie sich für den „Playboy“ ziert zum Beispiel das Mini-Format „Drews fotografieren lassen. Ging auch schief. baut“, wo der „Ballermann und Bett im Aber es hätte auch gereicht, sie beim AufKornfeld“-Jürgen Drews seit 2008 versucht, stehen, Frühstücken oder Rumstehen zu ein Haus in Dülmen zu errichten. Und na- filmen. Denn zu diesem Zeitpunkt war türlich ist Schumacher auch für das Format „die Katze“ selbst schon die Geschichte. „Auf und davon“ auf Vox verantwortlich, Sie wuchs quasi erfolglos erfolgreich das gern mal gescheiterten Existenzen da- aus Schumachers Drehbuch heraus. Inbei zusieht, wie sie irgendwo im Ausland zwischen hat sie einen Werbevertrag für ein neues Leben ausprobieren. Für dieses eine Telefonauskunft, die prompt mit einer Format bewarb sich vor zwei Jahren auch Zeitungsreklame auf Gabriels Lästerei in Frau Katzenberger, als sie noch nicht der Richtung Guttenberg einstieg. zweitbekannteste Star aus Oggersheim war Katzenberger-Manager Schumacher verhinter Altkanzler Helmut Kohl. dient nun auch an den Souvenirs des ErSchumacher hat aus der öffentlichkeits- folgs. Es gibt T-Shirts, eine Bio-Stofftasche, süchtigen Kosmetikerin ein Kultobjekt ge- eine Kuscheldecke. Nächstes Jahr kommacht. So begeisterte sie zuletzt mehr als men Schmuck und Parfum dazu. 1,7 Millionen Zuschauer auf Vox mit ihrer Die größte „Katze“-Devotionalie steht wöchentlichen Personalityshow „Daniela inzwischen in Santa Ponça auf Mallorca, Katzenberger – natürlich blond“. Vor kur- es ist das „Café Katzenberger“, noch so zem saß sie sogar bei Günther Jauch in ein Produkt aus Schumachers Ideen-Kistdessen RTL-Jahresrückblick. Jauch, die chen. In einer Sendung hatte sie davon ganz große journalistische ARD-Hoffnung geträumt, ein Café zu besitzen, wie einst 2011, war völlig überfordert von der Frau ihre Mutter. Vox wollte wohl das Risiko und ihrer fröhlichen Leere. nicht übernehmen. So wurde aus dem D E R
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TV-Blondine Katzenberger: „Frühmorgens sehe ich beschissen aus“
Fernsehproduzenten der Cafébesitzer Schumacher – und aus der „Katze“ eine Umsatzbeteiligte. Wenn auch nur im „einstelligen“ Bereich. Der Laden brummt. Bald soll die Blondine ihre eigene Hauptabend-Show bekommen. Schumachers große Vorbilder sind die Amerikanerinnen Kim Kardashian und Holly Madison. Kardashian, 30, wurde durch eine Realitysoap über ihre Familie bekannt. Madison, 31, war eine „Hauptfreundin“ von „Playboy“-Gründer Hugh Hefner in einer ähnlichen Serie. Man könnte sie sich sogar gegenseitig besuchen lassen, phantasiert Produzent
Schumacher. Er managt ihr Leben, verhandelt ihre Verträge, lässt sich 15 Prozent der Einnahmen von Katzenberger auf sein Konto überweisen, und natürlich begleitet er sie auch zu Promi-Festen. Im Gegenzug tritt sie bei seiner eigenen Party namens „TV-Gesichter“ in der Leipziger Innenstadt auf. Das Treffen war Schumachers Idee, um neue vermarktbare Protagonisten zu finden, die Katzen von morgen. Es wird ein riesiger Casting-Abend. „Lieb wären mir gerade auch Männer und Frauen um die fünfzig, die auswandern wollen. Die sollten noch was Spannendes zu erzählen haD E R
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ben und vor allem unterhaltsam sein“, sagt Schumacher. „Fernsehen braucht plakative Gesichter.“ Gekommen sind Katze-Fans, Lokaljournalisten und ziemlich viele Mädchen, die der „Katze“ sehr ähneln. Das Original sitzt auf einem Sofa, mehrere Bodyguards um sich herum, und stemmt im Minutentakt die eigene Doppel-D-Auslage kameratauglich in die Höhe. Es ist nicht einfach, eine wie sie zu finden. Eine, die so ein „riesiges Geltungsbedürfnis“ (Schumacher) hat und dabei „bauernschlau“ ist, wie es einer seiner engsten Mitarbeiter nennt. Beide meinen es nicht mal böse. Und wenn die Blondine sich selbst analysiert, kommen Sätze wie: „Die Leute sagen immer, ich sei so natürlich. Dabei ist doch wirklich gar nichts echt an mir.“ Dann lacht sie. Nicht-echt-Sein kann sie echter als jede andere. Und dass sie darin ihre Lebensaufgabe sieht, hat vielleicht auch damit zu tun, dass schon ihre Mutter eine kleine TVKarriere hinter sich hat. „Katzes“ Mama war 45 Tage im „Big Brother“-Container von RTL II kaserniert. Es gibt Leute, die ihr Hartz-IV-Dasein an den eigenen Nachwuchs vererben. Mit Daniela Katzenberger gibt es nun die erste Generation junger Deutscher, denen schon die eigenen Eltern vorleben, wie man von den Untiefen des Privatfernsehens profitieren kann. Den einen dient sie als Projektionsfläche, den anderen als leibhaftiger Blondinenwitz. „Bild“ nutzt diese Vielseitigkeit lediglich am konsequentesten aus: Um die „Katze“ präsent zu halten, hat Schumacher unausgesprochen etwas geschaffen, was man als eine Art Pakt mit dem Boulevardblatt bezeichnen könnte. Maximalen Freiraum müsse man der „Bild“ lassen, sagt er. Natürlich komponiere die Zeitung auch irgendwie am Drehbuch des „Katze“-Lebens mit. Eine Woche mit Geschichten von Frau K. sieht in „Bild“ dann so aus: Dienstag – „Katzen-Double im TV“. Mittwoch – „Schwedens Antwort auf Daniela Katzenberger“. Donnerstag – „Katzenberger hasst ihren Vater“. Das Blatt entlockt ihr vorletzte Geheimnisse. Etwa, dass bei Katzenbergers Geburt ihre Mutter im Kreißsaal das Lied „The Final Countdown“ hörte und ihr Vater mit einer Leberwurstschrippe danebenstand. Oder dass ihre verschnupfte Nase bei einem Kuss „Fäden zog“. „Bild“ braucht solche Geschichten, „die Katze“ braucht Schumacher. Schumacher braucht „Bild“. Man sei an einem sensiblen Punkt angelangt, sagt der Manager. Nur Drogen, Schulden oder Überdruss des Publikums könnten seinen Star jetzt noch stoppen. Aber Katzen haben bekanntlich sieben MARTIN U. MÜLLER Leben. Mindestens. 113
Ausland
Panorama SYRIEN
ELFENBEINKÜSTE
Israelischer Alleingang
„Roter Nationalist“
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Enthauptung der Queen
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ALAMY
m wahren Leben haben die Windsors kaum Macht, die Schattenwelt der Philatelie hingegen beherrscht Königin Elizabeth II. wie eine absolute Regentin. Briefmarken kann es in ihrem Königreich nur geben, wenn ihr Kopf darauf prangt. So ist es in ihrem Fall seit fast 60 Jahren, als sie den Thron bestieg, und im Falle ihrer Vorgänger seit 1840, als ein Brite die Briefmarke erfand und Britische Briefmarke darauf die 20-jährige Königin Victoria platzierte. Jetzt droht der Briefmarken-Queen die Enthauptung – womöglich durch deutsche Hand. Die Regierung will die defizitäre „Royal Mail“ privatisieren und am liebsten an ausländische Bieter verkaufen. Die Deutsche Post gilt als Interessent. Wie Postminister Ed Davey vergangene Woche einräumte, geht der nächste Eigentümer keine Pflicht ein, Monarchen auf seinen Marken zu dulden. Die Regierung prüft nun, ob das Privatisierungsgesetz noch geändert werden soll, damit dereinst auch Charles eigene Briefmarken haben kann, ohne darum bei ausländischen Konzernen betteln zu müssen.
Protestierende Anhänger der Opposition in Abidjan
Rinaldo Depagne, 45, Westafrika-Experte bei der International Crisis Group in Dakar, über den Konflikt in Abidjan SPIEGEL: In der Elfenbeinküste brachen vergangene Woche Kämpfe aus, bei denen viele Menschen ums Leben kamen – ein Ende des Konflikts ist nicht in Sicht. Worum geht es? Depagne: Präsident Laurent Gbagbo allein ist schuld an der Gewalt, weil er sich weigerte, nach der verlorenen Wahl seinen Posten zu räumen. SPIEGEL: Das Land, französisch: Côte d’Ivoire, ist faktisch in einen Nordteil unter der Herrschaft einer Rebellentruppe und einen Süden unter Führung Gbagbos geteilt. Sind ethnische oder religiöse Unterschiede der Grund für die Kämpfe? Depagne: Die Lage ist viel komplizierter. Der Norden ist muslimisch, der Süden eher christlich-animistisch, aber das erklärt die Auseinandersetzung nicht allein. Gbagbo ist ein roter Nationalist. Er mobilisiert seine Anhän- Gbagbo D E R
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ger gegen die Uno-Schutztruppen und die ehemalige Kolonialmacht Frankreich. Er hetzt gegen Menschen aus dem Norden: Sie seien keine „echten Ivorer“. Aber seine Anhänger lehnen sich auch gegen alte Wirtschaftseliten auf, die in ihren Augen Alassane Ouattarra repräsentiert, der wahre Sieger der Präsidentenwahl. SPIEGEL: Was muss geschehen, damit es Frieden geben kann? Depagne: Es war richtig, dass die Uno, die Afrikanische Union, die USA und die Europäische Union Gbagbo mit Sanktionen massiv unter Druck gesetzt haben. Verhandlungen hätten das fatale Signal gesendet: Wahlbetrug lohnt sich. Aber um das Land wirklich zu befrieden, braucht es einen Runden Tisch. Die Gewaltakte der Vergangenheit müssen aufgearbeitet werden. Und es muss darüber beraten werden, wie die Einkünfte aus den Kakao- und Ölexporten gerechter verteilt werden. Nur so kann es gelingen, die Elfenbeinküste wieder regierbar zu machen. ISSOUF SANOGO / AFP
G R O S S B R I TA N N I E N
SCHALK VAN ZUYDAM / AP
ie Regierung in Jerusalem hat im September 2007 offenbar auf eigene Faust einen syrischen Reaktor bombardiert. Das geht aus einem Schreiben der damaligen US-Außenministerin Condoleezza Rice vom April 2008 hervor, das sich unter den amerikanischen Botschaftsdepeschen befindet. „Wir haben politische Handlungsmöglichkeiten mit den Israelis diskutiert, aber am Ende hat Israel seine eigene Entscheidung getroffen“, schreibt Rice am 25. April 2008: „Sie haben unsere Zustimmung nicht gesucht.“ Am 6. September 2007 hatte die israelische Luftwaffe einen mutmaßlichen syrischen Atomreaktor nahe der Ortschaft Deir al-Sor zerstört. Nach Angaben von Rice habe die US-Regierung erst durch eine israelische Warnung im Frühjahr 2007 von seiner Existenz erfahren. Die US-Geheimdienste hätten danach „monatelang großen Aufwand betrieben, um die Informationen zu bestätigen“. Den Amerikanern sei der Reaktor im Herbst 2006 nur als „geheimnisvoller Ort“ aufgefallen.
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Rückblick 2010 Sie kommen in den Schlagzeilen kaum vor, obwohl sie das Jahr 2010 mitbestimmt haben: eine 20-Jährige, die Polizeichefin in Mexikos Drogen-Hochburg ist, ein afrikanischer Junta-General, der sich abwählen lässt, oder eine Ärztin, die den Warlords in Somalia die Stirn bietet. EDWY PLENEL
Der Kämpfer
ROBERT KING / POLARIS / STUDIO X
Die größte Anerkennung kam im November direkt aus dem Elysée-Palast: Der Generalsekretär des Präsidenten reichte gegen den Internetdienst Mediapart eine Klage wegen Verleumdung ein. Da spätestens wusste Edwy Plenel, 58, dass er von den richtigen Leuten ernst genommen wird. Plenel, ExChefredakteur von „Le Monde“, hatte Mediapart 2008 gegründet, als unabhängige Alternative zu den von Präsident Nicolas Sarkozy gegängelten klassischen Medien. Dann kam der Skandal um die L’Oréal-Milliardärin Liliane Bettencourt. Mediapart veröffentlichte Mitschnitte von Gesprächen der Witwe mit ihrem Butler, berichtete über Bargeld in braunen Umschlägen, die an Parteifreunde Sarkozys übergeben wurden, und über die Verwicklungen seines Arbeitsministers in die Affäre.
Valles
CORENTIN FOHLEN / FEDEPHOTO / STUDIOX
Plenel
Über vier Millionen Aufrufe verzeichnete daraufhin die Nachrichtenseite im Juni. Über Nacht wurde Mediapart zu einem der bedeutendsten investigativen Medien des Landes, mit unangenehmen Folgen: Seine Journalisten würden nun vom Geheimdienst abgehört, sagt Plenel. Von 2011 an aber werde er schwarze Zahlen schreiben – und weiter über diesen „hysterischen Präsidenten“ berichten. 116
M A R I S O L VA L L E S
Die einsame Polizistin Sie war die Einzige, die sich beworben hatte für den Job des Polizeichefs von Praxedis: Marisol Valles García, eine 20-Jährige mit Brille, rosa Fingernägeln, einem kleinen Sohn und einem fast abgeschlossenen Studium der Kriminologie. Praxedis, rund 3500 Einwohner, liegt im Valle de Juárez, einer der gewalttätigsten Regionen Mexikos, 60 Kilometer südwestlich von Ciudad Juárez. Hier herrschen die Banden der Drogenkartelle und nicht der Staat, viele Einwohner sind schon geflohen vor den „Narcos“. Valles’ Vorgänger erlag der Gewalt, D E R
gegen die er kämpfte. Eines Tages fand man seinen abgeschnittenen Kopf vor der Polizeistation, und vielleicht erklärt das, warum es mehr als ein Jahr lang gar keine Bewerbungen für den Posten gab. Es ist schwierig, in einer solchen Gegend als Polizist zu arbeiten, ohne von einem Drogenkartell vor die Wahl gestellt zu werden: „plata o plomo“, Geld annehmen oder Blei abkriegen. Und wer das Geld von der einen Bande annimmt, bekommt die Kugel vielleicht genau deswegen von einer anderen. Als die Nachricht von Marisol Valles’ Ernennung um
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die Welt ging, gab es viele Meldungen darüber, dass diese mutige junge Frau sich mit der Mafia anlegen wolle. Aber das will sie gar nicht, im Gegenteil. Sie hat angekündigt, dass sich ihre Polizei, bestehend aus einem Streifenwagen, drei bewaffneten Männern und zehn unbewaffneten Frauen, in erster Linie der Sozialarbeit widmen werde. Von Drogen, Schmuggel und Banden wollen sie lieber die Finger lassen. Und so ist die Ernennung von Marisol Valles zur Polizeichefin zwar auch eine Geschichte über eine mutige junge Frau, vor allem aber ein Ausdruck dessen, was sich in vielen Teilen Mexikos zeigt: Der Staat kann die Macht der Drogenkartelle nicht brechen.
Ausland Der Putschist
Das Gewissen
Der General hat sich nicht wohl gefühlt als mächtigster Mann im Staat, das ist selten beim Chef einer Militärjunta in Westafrika. Sékouba Konaté hat sein Land in die ersten wirklich freien Wahlen in den 50 Jahren der Unabhängigkeit Guineas geführt. Und ein international anerkannter Demokrat, Alpha Condé, hat sie gewonnen. Guinea besitzt ein Drittel der weltweiten Bauxit-Vorkommen, es könnte reich sein, wenn es gut regiert würde. Schon Sékou Touré, der das Land 1958 von den französischen Kolonialherren befreite, entpuppte sich als Diktator. Nach seinem Tod 1984 putschte sich dann Oberst Lansana Conté in den Präsidentenpalast. Er wirtschaftete Guinea in 24 Jahren weiter herunter, zu einem der ärmsten und korruptesten Länder der Welt. Als Conté starb, ernannte sich der nächste Militär zum Staatschef und ließ im September 2009 eine friedliche
Sie ist die Mutter Teresa Somalias. Nur effizienter und mutiger. Als am 5. Mai einige hundert Rebellen der Hisb al-Islam das Gelände stürmten, auf dem Hawa Abdi Dhiblawe seit über 20 Jahren Flüchtlinge betreut, wich sie nicht der Gewalt. „Was habt ihr denn für die Gesellschaft getan?“, fragte sie die Angreifer. Die 63-jährige Gynäkologin baute vor der Hauptstadt Mogadischu eine Klinik auf. In einem der gefährlichsten Landstriche der Welt ließ sie Brunnen bohren, Schulen einrichten, aber auch ein kleines Gefängnis bauen. Denn es bedarf Regeln, wenn vertriebene Menschen zusammenleben – vor allem, wenn
C H A R L E S U N D DAV I D KO C H
Die rechten Sponsoren
Demonstration zusammenschießen. Es gab mehr als 150 Tote. Als dieser Tyrann von seinem eigenen Adjutanten angeschossen und schwer verletzt wurde, war die Stunde Konatés gekommen. Kaum jemand erwartete einen Kurswechsel von dem neuen Mann, den undurchsichtige Intrigen in der Armeeführung zum Chef der Junta gemacht hatten. Im Gegenteil, das Land
stand am Rande eines Bürgerkriegs. Doch Konaté verhängte den Ausnahmezustand, hielt Unruhestifter unter Kontrolle und sorgte dafür, dass die Guineer ungehindert wählen konnten. Erleichtert übergab er Anfang Dezember die Amtsgeschäfte: „Ich pfeife auf die Macht. Von Politik verstehe ich nichts“, sagte er. Das Volk tanzte auf den Straßen von Conakry.
und David Koch, gerade das nicht sind. Auf der Liste der reichsten Amerikaner stehen die Eigentümer der Firmengruppe Koch Industries auf Platz drei. Gewaltig ist ihr Vermögen, noch größer ihr Hass auf die Obama-Regierung. Sie unterstellen dem Präsidenten, das Land „sozialistisch“ umbauen zu wollen. Viele Millionen Dollar
pumpten die Milliardäre deshalb in rechte Lobby-Organisationen – darunter auch die „Amerikaner für den Wohlstand“, die in der Lage sind, bis zu einer halben Million Unterstützer zu mobilisieren und Tea-Party-Aktionen zu koordinieren. So wurden die Kochs, auch wenn kaum ein Amerikaner ihre Namen kennt, 2010 zu Obamas gefährlichsten Widersachern. Geschickt verbinden sie politisches Engagement mit privatem Nutzen: Ihr Konzern ist einer der größten Luftverschmutzer der USA. Da trifft es sich gut, dass die Tea Party den Widerstand gegen den Klimaschutz anführt. Und auch die Steuererleichterungen, die Barack Obama nun auf Druck der Tea-Party-Anhänger im Kongress verlängerte, kommen vor allem ihnen, den Superreichen, entgegen.
LARRY W. SMITH / POLARIS / LAIF
ROBERT CAPLIN / NEW YORK TIMES / LAIF
Amerikas neue Rechte, die Tea Party, gibt sich gern als die Bewegung des einfachen, des Durchschnittsamerikaners. Auch wenn ihre Sponsoren, die Brüder Charles
Konaté
Charles und David Koch D E R
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JENNIFER GRAYLOCK / AP / DDP IMAGES
HAWA ABDI
SEYLLOU / AFP
S É KO U B A KO N AT É
Hawa Abdi
Männer darunter sind. „Frauen dürfen so was nicht tun“, sagte einer der Angreifer zu ihr. Da hatten sie schon die ersten Mitarbeiter erschossen und Dr. Abdi als Geisel genommen. Sie verlangten die Übergabe des Lagers. Eine Woche wurde verhandelt. Das Kommando bot an, die Ärztin am Leben zu lassen, wenn sie die Klinik für die Rebellen weiterführe. Hawa Abdi lehnte ab. Und verlangte eine schriftliche Entschuldigung. Da gingen die Krieger, aber Hawa Abdi hielt die Entschuldigung in ihrer Hand. Sie ist Muslimin – und ein Beweis, dass die Grenze nicht zwischen den Religionen verläuft, sondern zwischen Hitzköpfen und Großherzigen, zwischen Feigheit und Mut. 117
Ausland
E U R O PA
Angst vor der Orbanisierung Ungarns rechtskonservative Regierung peitscht mit ihrer Zweidrittelmehrheit ein Presse-Knebelungsgesetz durch – das jüngste Beispiel einer bedenklichen Entwicklung. Am 1. Januar übernimmt das Land den EU-Ratsvorsitz. Sollten die Europäer Sanktionen gegen Budapest aussprechen?
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SIPA / ULLSTEIN BILD
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uropas Helden – zweimal schon waren das die Ungarn in den vergangenen Jahrzehnten. Es bleibt ins Gedächtnis eingebrannt, wie unerschrocken sie sich 1956 gegen die sowjetischen Panzer stellten und für ihre Ideale kämpften. Es bleibt unvergessen, wie mutig sie 1989 die Grenzen öffneten, die den Osten von der Freiheit trennten. Und auch in den ersten Jahren nach dem Ende des Kommunismus galt Budapest vielen als mögliches Vorbild für eine erfolgreiche de-mokratische und marktwirtschaftliche Entwicklung. Land der Magyaren, Hoffnungs-Land. Lang ist’s her. Der Vorsitz in der Europäischen Union, der am 1. Januar turnusmäßig auf Ungarn zukommt, hat keine Chancen, zum Endpunkt einer Erfolgsgeschichte zu werden – das Gegenteil droht. Budapest könnte wegen seiner Politik jetzt „große Probleme bekommen“, sagte vergangenen Dienstag Martin Schulz, Fraktionschef der europäischen Sozialdemokraten im Straßburger Parlament. Und Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn ging noch einen Schritt weiter. Er warf Ungarns Regierung vor, gegen „den Geist und die Worte der EU-Verträge“ zu verstoßen. „Es stellt sich die Frage, ob ein solches Land würdig ist, die EU zu führen. Wenn wir nichts tun, wird es sehr schwierig, mit China oder Iran über Menschenrechte zu sprechen.“ Es hat sich viel Wut angestaut. Dass Regierungschef Viktor Orbán gerade jetzt, wenige Tage vor seinem Auftritt auf großer Bühne, kaltblütig ein Presse-Knebelungsgesetz durchgepeitscht hat, ist nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Ein letzter, besonders folgenreicher Schritt in Richtung Autokratie. Kein europäischer Politiker wird künftig so einschneidende Maßnahmen gegen kritische Medien durchsetzen können wie Orbán, dessen rechtspopulistische FideszPartei im Parlament über eine Zweidrittelmehrheit verfügt. Das neue Gesetz versucht auf mehr als 170 Seiten, alle Fernseh- und Rundfunksender, Zeitungen und Internetportale zu regulieren; selbst Blogs und in Ungarn verfügbare ausländische Medien werden erfasst. Im Mittelpunkt der Kontrollmechanismen steht eine neue Behörde, ausschließ-
Fidesz-Anhängerin in Budapest
„Würdig, die EU zu führen?“
lich mit Fidesz-Leuten besetzt. Sie darf jeden Verstoß gegen inhaltlich bedenkliche Beiträge – was immer das ist, bestimmt sie – mit Geldstrafen bis zu 750 000 Euro ahnden. Die öffentlich-rechtlichen Medien werden auch personell unter Regierungsaufsicht gestellt. Inwieweit sich das von der Zensur zu Zeiten von KP-Generalsekretär János Kádár unterscheide, fragten empört Oppositionsabgeordnete und klebten sich im Parlament demonstrativ den Mund zu. Einige Zeitungen waren an den Vortagen mit leeren Titelseiten erschienen. Das neue Gesetz werde nicht restriktiv gehandhabt, versicherten Regierungsvertreter. Als ein Moderator des staatlichen Senders MR1-Kossuth Radio allerdings mit einer Schweigeminute auf die veränderte Presse-Lage hinwies, führte das bereits zu seiner Suspendierung. Für den Abstieg Ungarns in die Reihe der nur noch halbdemokratischen Staaten gibt es viele Gründe – und die Verantwortung für die Fehlentwicklung liegt nicht nur bei den Erzkonservativen und den Rechtsaußen. Die Linke beging in diesem Land eine Art Selbstmord auf RaD E R
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ten. Mehrere Legislaturperioden lang hatte sie die Gelegenheit, Ungarn zu gestalten, zuletzt von 2006 bis Frühjahr 2010. Hoffnungsvolle Ansätze waren bald erstickt, Korruption und Vetternwirtschaft bestimmten die Politik. Ein bekannt gewordener Reden-Mitschnitt des Premiers Ferenc Gyurcsány 2006 („Kein Land hat solche Blödheiten begangen, wir haben gelogen, morgens, abends, nachts“) spiegelte das Dilemma. Erst das Versagen der Sozialisten machte den Triumph des konservativen Herausforderers möglich. Den Aufstieg des Volksverführers. Viktor Orbán, 47, gilt als außergewöhnliches politisches Talent. Der Sohn kleinbürgerlicher Eltern aus der Provinz studierte in Budapest Jura und ein Jahr lang auch in Oxford, dort die Geschichte des englischen Liberalismus. Er versuchte sich als Journalist und arbeitete an einem staatlichen Institut für Managerausbildung. Der Freigeist gab nichts auf die Kirche und verachtete das kommunistische Politik-Establishment. Als er 1988 mit einigen Ex-Kommilitonen Fidesz („Bund junger Demokraten“) gründete, sollte auf seinen Wunsch hin zunächst keiner über 35 Jahren Parteimitglied werden. 1990 zog er ins Parlament ein, bei der nächsten Wahl gab es einen Rückschlag. Orbán steckte ihn weg – und rückte die Partei weiter ins Lager der Nationalkonservativen und Wende-Verlierer. Er setzte auf die Minderwertigkeitskomplexe seiner Landsleute und bediente ihre Träume von der Rückkehr Groß-Ungarns – durch den Vertrag von Trianon 1920 waren dem Weltkriegsverlierer zwei Drittel seines ursprünglichen Territoriums weggenommen worden. Orbán, Machtpolitiker par excellence, lernt dann auch aus seiner ersten, wenig eindrucksvollen Regierungszeit (1998 bis 2002) beeindruckend schnell. Kollegen beschreiben seine Obsession für die Medien – er will ein zweiter Silvio Berlusconi sein, allerdings ohne die Skandale. Außerdem besteht der Kontroll-Freak darauf, alle nur einigermaßen wichtigen Posten mit Vertrauensleuten zu besetzen. Er entwickelt ein Gespür für Stimmungen im Volk – antiamerikanische, antizionistische und antikapitalistische.
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Europäische Führer vor Schloss Bouchout in Belgien: „Große Probleme“ mit Ungarn
Fidesz-Chef Orbán, Jobbik-Chef Vona: „Anfällig für das Spiel mit dem Feuer“ D E R
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Beim Wahlkampf Anfang dieses Jahres verzichtet er fast völlig darauf, sich von der fremdenfeindlichen und gegen die Roma hetzenden Jobbik-Partei zu distanzieren. Die Rechtsradikalen erreichen knapp 17 Prozent der Stimmen und damit fast so viel wie die diskreditierten Sozialisten; Orbáns Fidesz aber schafft 52,8 Prozent, das reicht für eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Der Sieger spricht nicht von einem überragenden Wahlergebnis, er spricht von einer „Revolution“. Und er zeigt auch bald, wie er das meint. Orbán ändert den Zuschnitt der Wahlkreise, so dass die Fidesz nach den Kommunalwahlen im Oktober 95 Prozent der Bürgermeister stellen kann. Er beschließt neue Regeln zur Nominierung von Verfassungsrichtern. Er will das ganze Land umkrempeln – die Orbanisierung Ungarns. Wer nicht spurt, fliegt. Staatspräsident László Sólyom, der gewagt hat, den Premier vorsichtig zu kritisieren, verliert die Unterstützung vor seiner Wiederwahl. An seine Stelle tritt mit dem populären, aber polit-unerfahrenen Fecht-Olympiasieger Pál Schmitt ein lautloser Gefolgsmann. Linke Professoren in Beamtenstellung werden ebenso ausgemustert wie aufmüpfige Theaterdirektoren. Orbán lässt die Parteienfinanzierung auf Fidesz zuschneiden, das Rentensystem verstaatlichen und auf diese Weise Pensionen kürzen, sogar rückwirkend. Im Ausland lebenden Ungarn bietet er die doppelte Staatsbürgerschaft an – eine Provokation für die Nachbarländer mit ihren starken magyarischen Minderheiten. Das sichtbarste Zeichen für das neue Ungarn sind die Tafeln in den Amtsstuben, 70 mal 50 Zentimeter groß. Sie müssen in allen Ministerien, Kasernen und öffentlichen Gebäuden hängen – so ist es von der Regierung verordnet. „Ein neuer Gesellschaftsvertrag“ sei „nach der erfolgreichen Revolution in den Wahlkabinen“ entstanden, heißt es da, und weiter: „Die Ungarn haben ein neues System, das der nationalen Einheit, beschlossen.“ Die Regierung werde diese Einheit vollenden, „resolut, kompromisslos“. Paul Lendvai, der in Wien lebende, wohl bekannteste politische Autor Ungarns, sorgt sich um seine Heimat: „Es gibt im demokratischen Europa derzeit keinen Politiker mit einer solchen Machtfülle. Das ist gefährlich, denn er hat in seinem Umkreis keinen mehr, der ihn vor den Folgen seiner Politik warnen könnte“, sagt er. „Das einzige wirkliche Gegengewicht sind die internationale Öffentlichkeit, die Medien, die Finanzwelt. Europa muss Orbán darauf hinweisen, dass er die Freiheit der Presse zu garantieren hat – die EU-Ratspräsidentschaft ist nicht nur mit protokollarischen Würden verbunden, sondern auch mit politischen Verpflichtungen. Der Regierung 119
Ausland
CHRISTOPH SCHULT
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WEISSRUSSLAND
Ruhe und Ordnung Brutal wie schon lange nicht mehr hat Diktator Alexander Lukaschenko am Wahltag Regimegegner niederknüppeln lassen. Trotzdem steht eine schweigende Mehrheit hinter ihm.
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muss klar sein, dass Europa sie in den kommenden Monaten wie unter einem Vergrößerungsglas betrachten wird.“ Orbán imponiert der amerikanischen Supermacht – aber er löst in Washington auch Ängste aus. In den US-Geheimdepeschen heißt es beispielsweise aus der Botschaft in Budapest über eine von Fidesz angezettelte Demonstration und die Verbindung der Partei zu „gewalttätigen Protestierenden“: „Bei einem kürzlichen Treffen mit dem Botschafter erlebten wir Orbán wieder einmal in Bestform. Seine Eskapade (in Sachen Protest) zeigt, dass er aber nach wie vor anfällig ist für das Spiel mit dem Feuer.“ Der Populist verkauft sich Washington gegenüber als Bollwerk gegen die Jobbik-Ultras: „Die beste Verteidigung gegenüber der extremen Rechten ist eine gut funktionierende Mitte-rechts-Regierung.“ Auch Berlin zeigt sich äußerst besorgt über Ungarns neues Presse-Gesetz. Besonders verbittert sind deutsche Politiker darüber, dass Orbán noch im November versichert hat, die ungarische Innenpolitik werde den EU-Vorsitz seines Landes „nicht behindern“. Und nun die Presse-Provokation. Schon wird über mögliche Sanktionen spekuliert, so wie sie im Februar 2000 gegen Österreich ausgesprochen wurden – Jörg Haiders fremdenfeindliche FPÖ war als Minderheitspartner in die Regierung aufgenommen worden. Nach sieben Monaten gab man die Kontaktsperre auf. Wien sozusagen als Schmuddelkind aus der europäischen Familie auszuschließen hat sich als wenig praktikabel erwiesen, es stärkte die radikalen Elemente. Eine „schwerwiegende und anhaltende Verletzung“ der europäischen Grundwerte kann aber nach dem Lissabon-Vertrag zur Aussetzung des Stimmrechts führen – so könnte man Budapests prestigebewussten Premier hart treffen. Doch nicht alle in Brüssel wollen sich ihre Feiertagsruhe verderben lassen. Am vergangenen Dienstag, dem Tag, als das Medien-Knebelungsgesetz im ungarischen Parlament ratifiziert wird, ist EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy in Budapest zu Gast. Er macht auch dem Premier seine Aufwartung. Mit keinem Wort übt der Chefeuropäer Kritik am Umgang mit der Pressefreiheit im Land seines Gastgebers, spricht stattdessen eher abstrakt in seinem Vortrag über „die Kraft von Ideen“ und „Europas Werte“. Für Orbán findet Van Rompuy nur lobende Worte. Er gratuliert zur anstehenden Übernahme des EU-Ratsvorsitzes, sieht eine „exzellente Zusammenarbeit“ voraus. „Ich bin hier, um zu feiern“, sagt der freundliche Herr aus der europäischen Zentrale. „Ich werde mit einem ausgezeichneten Eindruck nach Brüssel zuERICH FOLLATH, rückkehren.“
Polizeieinsatz in Minsk am 19. Dezember: 600 Regimegegner zu Haftstrafen verurteilt
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ls einer der Ersten beglückwünschte Venezuelas Staatschef Hugo Chávez „den großen europäischen Führer“ Alexander Lukaschenko zur Wiederwahl. Sein Land rage heraus als „Bollwerk von Würde und Wohlstand auf einem wegen der unersättlichen Gier des transnationalen Kapitals erschütterten“ Kontinent. Der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad sprach in seiner Depesche von einem „weiteren goldenen Kapitel in der ruhmreichen Geschichte des großartigen weißrussischen Volkes“. Kreml-Chef Dmitrij Medwedew gratulierte ebenfalls – wenn auch mit einem Anflug schlechten Gewissens. Die Wahl in Minsk sei eine „innere Angelegenheit“ und Weißrussland eines der Länder, „die Russland am nächsten stehen, egal mit welcher politischen Führung“. Mit dem goldenen Kapitel, das der Iraner Ahmadinedschad erwähnte, war der Urnengang von offiziell 7,8 Millionen weißrussischen Wählern gemeint, die vorvorigen Sonntag über ihren nächsten Präsidenten abzustimmen hatten. Aber das Kapitel war nicht golden, es war blutig. D E R
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Kaum stand fest, dass Autokrat Lukaschenko an der Macht bleiben würde – es war der vierte Sieg in Folge, diesmal mit angeblich 79,7 Prozent –, da gingen in Minsk mehr als 10 000 Bürger auf die Straße. Der Versuch, das Regierungsgebäude zu stürmen, misslang. Die offenbar gut vorbereitete Geheimpolizei knüppelte die Demonstranten nieder, nahm einige hundert fest und verschleppte sieben der oppositionellen Präsidentschaftskandidaten. Von „Banditen“, die Massenunruhen ausgelöst hätten, sprach der alte und neue Präsident, und davon, dass er in seinem Land keine Revolution zulassen werde. Im Schnellverfahren ließ er knapp 600 Regimegegner zu Haftstrafen verurteilen. Und sein Justizministerium drohte an, alle Parteien, Bewegungen und Gewerkschaften, deren Mitglieder an der Demonstration teilgenommen hätten, zu verbieten – als gäbe es noch viele solcher Organisationen im Land. Es war ein übler Rückfall in alte Zeiten, das westliche Europa kommt in Erklärungsnot. Zwei Tage nach der Wahl äußerten die 27 Mitgliedsländer der EU, angesichts der Bilder aus Minsk habe sie
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alles so wird, wie es früher war.“ Lukaschenko stilisiert sich zudem als Hüter staatlicher Eigenständigkeit. Zwischen den Lockrufen der EU und den schroffer werdenden Russen, die den Juniorpartner enger an die Kette legen wollen, gibt er den „Mann der Mitte“. Bei einer Annäherung an Russland fürchten die Weißrussen den Aufkauf ihrer Firmen durch Moskaus Staatskonzerne, im Falle von marktwirtschaftlichen Reformen, wie sie die EU fordert, einen Anstieg von Inflation und Arbeitslosigkeit. So setzt Lukaschenko auf neue Geldgeber: Venezuela, Iran, China. Peking will in Weißrussland die Eisenbahn und den Minsker Flughafen modernisieren und erhält dafür eine Abhörstation. Dass der Staatschef für Prügelorgien wie die am Wahltag nicht büßen muss, hat auch mit der Schwäche der Opposition zu tun. Deren Führer genießen in der Bevölkerung wenig Ansehen, sie gelten als selbstverliebt, autoritär und als vom Ausland gesteuert. Dass sie von Spenden aus dem Westen leben, hat seinen Grund: Der Opposition fehlt der Rückhalt einer privaten Unternehmerschicht. Auch die in Minsk sehr aktive US-Botschaft hat in Berichten nach Washington immer wieder auf dieses Defizit hingewiesen. Lukaschenkos Unterstützung sei „beträchtlich“, das Regime „stark“, schrieb Botschafter George Krol im Februar 2006 vor der damaligen Präsidentenwahl. Die Opposition habe die Weißrussen nicht überzeugen können, „dass das Leben unter einem neuen Führer besser“ werde. Sie hat allerdings auch wenig Chancen, sich über Alternativen zu Lukaschenko zu verständigen, weil der Geheimdienst Regimegegner immer wieder ins Gefängnis steckt und zermürbt. In diesem Herbst brachte die Minsker Popgruppe RockerJocker den Hit des Jahres auf den Markt: das Lied „Bleibe bei uns, Sanja“. Sanja ist der Kosename Lukaschenkos. Von blauem Himmel und glücklichen Müttern, von sauberen Straßen und zuverlässigen Bussen war die Rede und von Weißrussland als „sauberstem Platz auf der Erde“. Lukaschenko, ganz pfiffig, kaufte die Rechte auf und ließ den Hit bei seinen Wahlkampfauftritten erklingen, auch die staatlichen Sender spielten ihn mehrmals am Tag. Die meisten Weißrussen begeisterte das Lied, sie verstanden den Text als Verheißungen ihres Präsidenten. Kaum jemand hatte bemerkt, dass er eigentlich ironisch gemeint war. SERGEI SUPINSKY / AFP
ein „schlechtes Gefühl“ beschlichen. Im Januar wollen sie entscheiden, ob die früheren Sanktionen gegen das Regime in Minsk wieder in Kraft gesetzt werden. Noch voriges Jahr hatte Brüssel von einer politischen Entspannung im Reich des Langzeitherrschers Lukaschenko gesprochen und die 2006 gegen ihn und knapp drei Dutzend seiner Gefolgsleute verhängten Einreiseverbote in die EU aufgehoben. Der Weißrusse habe sich bewegt, er habe politische Gefangene entlassen und zwei Oppositionszeitungen akzeptiert, hieß es damals. Prompt erging an ihn die Einladung, zur Eröffnung des EUProgramms der „Östlichen Partnerschaft“ mit nach Prag zu kommen. Lukaschenko sei nun „ein legitimer Spieler der europäischen Politik“, jubelte die Minsker „Komsomolskaja prawda“ damals. Genau das ist er eben nicht, wie der Wahltag von Minsk gezeigt hat. Wieder einmal stellt sich die Frage, was den 56jährigen Sohn einer Textilarbeiterin antreibt und wie er es immer wieder schafft, trotz aller Proteste doch noch einen Großteil des Volks hinter sich zu versammeln. Stabilität und bescheidener Wohlstand, ein nationalistischer Kurs und dazu eine zahnlose Opposition – das sind die drei Quellen, aus denen Lukaschenko Kraft und Selbstsicherheit schöpft. In den Monaten vor der Wahl hatte er schrittweise die Bezüge der 2,5 Millionen Rentner erhöht, um über 20 Prozent, die Löhne und Gehälter von Ärzten und Lehrern will er im kommenden Jahr verdoppeln. Das Land, das einmal die Heimat der Ingenieurskunst und zugleich Rüstungsschmiede der Sowjetunion gewesen war, Staatschef Lukaschenko: „Alles Banditen“ kann Erfolge vorweisen. Die Wirtschaft wuchs seit 2005 um mehr als ein Drittel. In Kasachstan regiert Nursultan NasarDie Agrarexporte haben sich in den ver- bajew seit mehr als zwei Jahrzehnten, in gangenen zehn Jahren sogar versechs- Usbekistan der Diktator Islam Karimow, facht – weil Lukaschenko Milchkombina- der schon mal Hunderte Demonstranten te modernisieren und 15 000 Traktoren zusammenschießen lässt. In der Ukraine anschaffen ließ. Im ganzen postsowjeti- ist die prowestliche „Orange Revolution“ schen Raum baue kein Land mehr Wohn- gescheitert, das Land fällt in einen autoraum pro Kopf als Weißrussland, rühmt ritären Führungsstil zurück, in Russland sich das Regime. hat Wladimir Putin eine Ein-ParteienLaut einer Umfrage des im litauischen Herrschaft errichtet und sie mit folgsaExil sitzenden „Weißrussischen Instituts men Blockparteien garniert. für strategische Forschungen“ finden 51 Alle Regime setzen auf den übernomProzent der Weißrussen, ihr Land ent- menen Unterdrückungsapparat von Gewickle sich in die richtige Richtung, 2001 heimdienst und Polizei. Und überall zähwaren es nur 38 Prozent; auch die Jugend len die Führungen darauf, dass die von sei gegenüber Lukaschenko weitgehend Geldentwertung, Krisen und Unsicherheit loyal. Offenbar ist der Diktator von gebeutelte Bevölkerung in ihrer Mehrheit Minsk der Präsident einer schweigenden Veränderungen ablehnt und auf Stabilität, Mehrheit – die ihn so lange toleriert, wie Ordnung und Ruhe setzt. sie einen gewissen Aufschwung spürt. So ist es auch im Weißrussland des Fast im Herzen Europas, weniger als Alexander Lukaschenko, wo sich der Ge1000 Kilometer von Berlin entfernt, sym- heimdienst weiterhin KGB nennen darf. bolisiert Lukaschenkos Reich eine Ent- „Das Sowjetsystem ist in den Augen viewicklung, die sich der Westen so nicht er- ler nicht schlecht gewesen, die frühen träumt hatte. Fast 20 Jahre nach dem Zer- neunziger Jahre empfanden die Menfall der Sowjetunion haben sich in den schen als Schock, aus dem Lukaschenko meisten ihrer einstigen Teilrepubliken sie erlöste“, erklärt der Minsker Politoautoritäre Systeme etabliert. loge Pawel Morosow: „Viele wollen, dass
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Registrierung von Wählern für das Referendum im Südsudan: „Wir wollen ein besseres Leben haben“ S U DA N
Der letzte Schritt zur Freiheit Im Januar stimmt der Süden des Landes über seine Unabhängigkeit ab. Wird der Norden die Spaltung akzeptieren, und ist die Elendsregion überlebensfähig?
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enk ist eine Stadt im Süden des Landes, wie sie trauriger kaum sein kann. Es gibt keinen Meter Asphaltstraße, kein Hotel, kein Kino, dafür reichlich Staub und Sand, streunende Hunde und am Stadtrand Flüchtlinge, die sich aus Äthiopien bis hierher durchgeschlagen haben. In den vergangenen Wochen ist Renk noch ein bisschen trister geworden. Hunderte von Einwohnern haben die Stadt verlassen, Tausende sitzen auf gepackten Koffern. Nicht weit entfernt stehen Panzer einsatzbereit in den Kasernen. Gut möglich, dass der Name der kleinen südsudanesischen Stadt bald in den Nachrichten auftaucht. Es sind gespannte Tage im Sudan, Afrikas größtem Flächenland: Am 9. Januar entscheidet der Süden in einem Referendum, ob er sich vom Norden abspalten will. Wenn das passiert – und im Moment sieht es danach aus –, erlebt die Welt die erste Neugründung eines afrikanischen Staats seit der Abtrennung Eritreas von
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Äthiopien 1993. Und Renk wird dann zu einem Ort von hohem strategischem Wert, denn er liegt nur eine halbe Stunde von der mutmaßlichen innersudanesischen Grenze entfernt. Nicht nur Afrika, die ganze Welt schaut bang auf den Sudan: Immerhin wäre der neue Staat etwa so groß wie Frankreich und würde dann allein und autonom über 80 Prozent der Ölvorkommen des Sudan bestimmen. Völlig offen ist deshalb die Frage, ob Präsident Umar Hassan al-Baschir, der schon in Darfur im Westen einen blutigen Krieg führt, tatenlos zusieht, wie er auch noch ein Viertel seines Staatsgebietes verliert. Und umstritten ist unter Experten auch, ob der Ölreichtum allein zum Überleben der Elendsregion reicht. Vor allem Peking und Washington zeigen sich besorgt. Die Chinesen sind der wichtigste Abnehmer des sudanesischen Öls, rund sieben Prozent ihres Bedarfs kommen aus der Region. Auch den Amerikanern käme ein weiterer fragiler Staat in dieser Gegend höchst ungelegen. Sie D E R
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haben schon genug Ärger mit Problemländern wie Somalia und der Demokratischen Republik Kongo. Präsident Barack Obama hat Khartums Herrscher Baschir deshalb ein Angebot gemacht, das dieser kaum ablehnen kann: Streichung von der Terrorliste, auf die der Sudan in den neunziger Jahren geriet, weil er dem späteren Qaida-Chef Osama Bin Laden Unterschlupf gewährte, dazu Aufhebung zahlreicher Sanktionen. Die Voraussetzung: Der Norden sabotiert das Referendum nicht. Eine friedliche Trennung des Südens wäre für das Land eine historische Zäsur. 40 Jahre lang führten der muslimische Norden und der animistische und christliche Süden gegeneinander Krieg, und immer spielte dabei auch der Zwist zwischen den arabischstämmigen Völkern und den im Süden lebenden Volksgruppen der Niloten eine Rolle. Die beiden Landesteile waren 1947 zusammengefügt worden, ohne dass der Süden gefragt wurde. Mit der Entlassung des Sudan in die Unabhängigkeit durch Großbritannien und Ägypten begann 1956 der Konflikt. Er dauerte, unterbrochen von nur wenigen Jahren Frieden, fünf Jahrzehnte, mehr als zwei Millionen Menschen kamen ums Leben. Der Süden, der nicht nur mit Erdöl, sondern auch mit viel Wasser und fruchtbaren Böden gesegnet ist, wurde in dieser Zeit trotz dieses Reichtums zu einer der ärmsten Gegenden der
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Der designierte Präsident des neuen Staats im Süden, Salva Kiir, 59, ist ein ehemaliger Rebellenführer und Freiheitskämpfer. Anders als sein Vorgänger John Garang, der 2005 bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben kam, hat er wenig Charisma. Aber er ist ein gewiefter Taktiker, und das könnte am Ende den Ausschlag geben. Kiir hat all die kleineren und größeren Warlords in den vergangenen Monaten erfolgreich eingebunden – vermutlich, weil er ihnen Einfluss und Kabinettsposten versprochen hat. Er hat erstaunlich moderate Reden gehalten und dafür gesorgt, dass sich die SPLA, die Armee des Südens, während des Referendums im Hintergrund halten will. Nur im Öldisput mit dem Norden ist er noch zu keinem Ergebnis gekommen, ganz sicher wird nach dem 9. Januar heftiger Streit entflammen. Die Bohrtürme stehen im Süden, die Pipelines jedoch führen nach Norden – zum Hafen von Port Sudan. Dort wird das Öl raffiniert und außer Landes gebracht. Bisher teilen sich Nord und Süd die Einnahmen etwa zur Hälfte. Der Süden aber will die Quoten ändern: Weil er über den Großteil der Ölquellen verfügt, soll sein Anteil steigen. Pagan Amum, Generalsekretär der Regierungspartei im Süden, ist regionaler Minister für die Umsetzung des Friedensabkommens, aber wenig kompromissbereit. „Die bisherige Verteilung des Öls kann keine Dauerlösung sein“, sagt er. „Khartum hat uns unterdrückt und ausgegrenzt, das wird nun ein Ende haben.“ Noch wird gesprochen zwischen Nord und Süd, in Addis Abeba, vor allem aber in Khartum. Der ehemalige südafrikanische Präsident Thabo Mbeki versucht zu vermitteln und zu schlichten. Denn jede Seite ist auf die andere angewiesen. Eine Lösung im Streit ums Öl ist derzeit nicht erkennbar. Eine andere Erkenntnis indes zeichnet sich immer deutlicher ab: Wenn der Süden am 9. Januar seine Unabhängigkeit beschließt, dürfte die erste Euphorie schnell verfliegen und womöglich sogar in Enttäuschung umschlagen. Denn Zehntausende Soldaten müssen entlassen werden, ohne dass jemand eine Antwort hat, was mit den ehemaligen Kriegern passieren soll. Zugleich braucht das neue Land Zehntausende Lehrer, Ärzte und Krankenschwestern, doch woher die Fachleute nehmen? Für Minister Amum zählt erst mal nur die Unabhängigkeit: „Wir wollen sie im Namen aller, die gelitten haben. Wir wollen ein besseres Leben. Im Januar werden wir zwei Staaten haben.“ HORAND KNAUP MOHAMED NURELDIN ABDALLAH / REUTERS
Welt. Erst 2005 schlossen beide Seiten ein lung dort nicht mehr gelitten zu sein. Die Friedensabkommen. Uno rechnet mit knapp 400 000 FlüchtlinKhartum hat wenig für die Entwick- gen, die schon bald in den Süden ziehen lung eines vereinten Sudan getan. Die werden. Parallel haben sich Tausende Hauptstadt ist aufgeblüht, die südliche Muslime auf den Weg Richtung Norden Metropole Juba dagegen ein verstaubtes gemacht. Nest geblieben. Universitäten, KrankenIm Zentrum von Juba, der Hauptstadt häuser, asphaltierte Straßen – das gibt es des Südens, steht eine Digitaluhr, sie zählt fast nur im Norden. die Stunden und Minuten bis zum 9. JaWenige Tage vor dem Volksentscheid nuar. Der „letzte Schritt zur Freiheit“ geben sich die Menschen im Süden selbst- steht auf großen Plakaten. bewusst. „Im Norden haben sie nie damit Den neuen Staat zu regieren heißt aber gerechnet, dass es zu einem Referendum auch, Not und Elend zu verwalten, und kommt“, sagt Deng Mading, 46. Er hat in das auf lange Zeit. Der Süden weist weltKairo Sozialwissenschaften studiert und war mal Minister in einem Süd-Bundesstaat. Jetzt sitzt er im Büro im einzigen Industriebetrieb des Südens – einer Brauerei. Sechs Jahre lang hat der Zwei-Meter-Mann gegen den Norden gekämpft, bevor ihn ein Schuss in den Oberschenkel stoppte. Der Krieg im Busch habe die künftige Elite des Südens zusammengeschweißt, sagt er. Mading kennt sie alle, die Offiziere, die als Minister oder sogar als Zentralbankchef künftig das unabhängige Land regieren werden. „Einen Guerillakrieg wird es Südsudans designierter Präsident Kiir: Streit ums Öl nicht mehr geben“, sagt er. „Wenn aber der Norden in den Öl- weit die höchste Müttersterblichkeit auf, regionen Krieg anzettelt, wäre er dumm“, neun von zehn Frauen sind Analphabesagt Mading, denn der würde diesmal tinnen. Jeder Zweite in der Region hat auch in Khartum stattfinden. „Da reichen weniger als einen Dollar pro Tag zum zwei, drei Ziele – und das öffentliche Überleben. Leben ist gelähmt.“ Außerhalb von Juba gibt es nicht eine Pausenlos reisen in diesen Wochen De- einzige Brücke über den Nil – und der legationen aus Juba in die Hauptstadt im fließt immerhin auf 1200 Kilometer Länge Norden, um die vielen Fragen zu klären, durch den Süden des Sudan. Für die 5,6 die sich mit der Abspaltung stellen. Wie Millionen Menschen existiert nur ein werden in Zukunft die Öleinnahmen Krankenhaus, das den Namen verdient – verteilt? Wer haftet für die rund 37 Mil- auch das steht in Juba und ist in ziemlich liarden Dollar Auslandsschulden, die das desolatem Zustand. Außer Bier und Land angehäuft hat? Und was passiert Trinkwasser wird nichts in größeren Menmit der ebenfalls rohstoffreichen Region gen hergestellt im Südsudan. Abyei, die ziemlich genau auf der Grenzlinie liegt und auf die Norden und LIBYEN ÄGYPTEN Süden gleichermaßen Anspruch erheben? Es gibt auch viele kleinere Probleme: die künftigen Rechte der Nomaden etwa, SUDAN die seit Jahrhunderten zwischen Norden TSCHAD und Süden hin und her ziehen. Auch die ERITREA Khartum Abwicklung des kleinen Grenzverkehrs D a r fur zwischen den beiden neuen Staaten gehört dazu oder die Stromversorgung einer Ölfelder Renk ÄTHIOPIEN Stadt wie Renk, die bei allem, was sie benötigt, bisher auf Khartum angewieAddis Abyei Abeba sen war. 200 km Und auch für die zu erwartenden Süds udan möglicher Flüchtlingsströme muss eine Lösung geGrenzverlauf Juba funden werden. Rund zwei Millionen ab 2011 Südsudanesen sollen noch im Norden leDEM. ben, Hunderttausende sind reisefertig. Sie REPUBLIK KENIA UGANDA warten auf das Ergebnis des Referendums KONGO und müssen damit rechnen, nach der Tei-
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D RACH E NO PA, KU S CH ELBÄ R C H I NAS PR EM I ER WEN , RU SSLA N DS P RÄS I DE N T M E DW E DE W: R E F ORM E R ODE R B L E N DE R ? VON ERI CH FOL L AT H
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in Tandem? So ein Ding, auf dem zwei in die gleiche Rich- nicht nur zum Knirschen führt, sondern das gemeinsame Staatstung strampeln, aufeinander angewiesen, um ordentlich gefährt zerreißen muss. vorwärtszukommen? Ein Regierungstandem, das sich die Wüsste man im Westen, welche der drei Varianten die richtige Macht teilt, zwei Männer im Gleichklang – als Modell für Russ- ist, wäre es möglich, den Lauf der Welt einigermaßen zuverland und China? Wenn es denn zwei Weltgegenden gibt, die sich lässig vorauszusagen, man könnte ihn vielleicht ein wenig in der Vergangenheit durch die Alleinherrschaft starker Männer mitbestimmen. Und einzelne Akteure gezielt ermutigen. Exisausgezeichnet haben, dann die von Moskau und Peking aus tiert eine Art Lackmustest, wie ernst es die von manchen regierten Reiche. Stalin und Mao etwa hätten gewiss keinen als „Reformer“ gefeierten Wen und Medwedew wirklich Gleichberechtigten an den Pedalen geduldet – wer immer ver- meinen? suchte, sich machtpolitisch neben oder dicht hinter die beiden Chinas Präsident Hu Jintao, 68, ist ein Parteiführer der alten zu klemmen, zahlte einen grausamen Preis: Die Trotzkis und Art, strebsam, anpassungsgewandt, skrupellos. Ein Hardliner, Lin Biaos endeten im Staub. Verder 1989, als er Provinzchef in Tinichtet. Von den Siegern sogar aus bet war, ohne Zögern das Kriegsden Geschichtsbüchern verbannt. recht verhängte und auf DemonUnd auch wenn die Zeiten anstranten schießen ließ. Ein Techdere geworden sind, nicht mehr nokrat, der die Partei von antimassenmörderisch, auch wenn quierten Zeremonien entschlackChina wie Russland „nur mehr“ te und den Ministerien Vorträge autokratisch bestimmt, sogar mit von Fachleuten verordnete, aber einigen wenigen hoffnungsvollen unabhängigen Denkern zutiefst Einsprengseln einer Zivilgesellmisstraut. Ein Stabilitätsfanatiker, schaft: „Demokratie“ assoziiert dem die Vorherrschaft der Partei man wirklich nicht mit den beiüber alles geht und der kleine den Giganten, dem flächenReformschritte allenfalls im Rahgrößten und dem volkreichsten men der KP zulassen will. Die Staat der Erde, und gewiss hat Reden des Parteichefs, den das man auch lange nicht eine friedUS-Magazin „Forbes“ kürzlich liche Arbeitsteilung zweier quasi zum mächtigsten Mann der Welt Premier Wen, Präsident Hu in Sichuan Gleichberechtigter an der Spitze erkoren hat, sind von einschläfür möglich gehalten. fernder Eintönigkeit. „Meinungsfreiheit ist unabdingbar“, sagt Doch nun, in einer verblüffenSein Gegenpart Wen Jiabao, der Premier – der Präsident stellt sich stur. 68, hat auch über die Ochsentour den historischen Parallelität: Tandems, Spitzenduos. Hier wie dort. Karriere gemacht. In Sachen TiIn letzter Zeit sieht optisch alles danach aus, als teilten sich bet war er, ohne sich selbst die Hände blutig zu machen, so wein Russland und der Volksrepublik China jeweils zwei Herren nig kompromissbereit wie das gesamte Politbüro. Bei den brutal die Macht. Auffallend, wie Duette das Bild mit ihren Auftritten niedergeschlagenen Studentenprotesten am Pekinger Platz des prägen: Präsident Dmitrij Medwedew und Premier Wladimir Himmlischen Friedens 1989 gehörte er zu denen, die VerständPutin im Reich des Bären; Präsident Hu Jintao und Premier nis für die Studenten zeigten und mit ihnen diskutierten, allerWen Jiabao im Reich des Drachen. dings immer so, dass die Karriere nicht gefährdet wurde. AuUnd es scheint, als hätten die politischen Paare sich jeweils ßenpolitisch verfolgt er seit langem gemeinsam mit dem in einer Art Arbeitsteilung gefunden, in einer Good-Cop-Bad- Präsidenten einen extrem selbstbewussten und nationalistiCop-Routine. Die Herren Putin und Hu geben die knallharten, schen Kurs. ellbogenstarken Macher, zuständig für Machterhalt, UnterdrüUnd doch unterscheidet ihn manches von dem Partner. In ckung der Opposition und straffe Führung; die beharrenden den letzten Jahren zeigte sich Wen häufig als „Mann des VolKräfte. Die Herren Medwedew und Wen gerieren sich oftmals kes“, besonders beim Erdbeben von Sichuan 2008, als er selbst als die verständnisvollen, sanften Denker, zuständig für Rechts- in die Trümmer kroch, Tränen der Rührung vergoss und Trost staatlichkeit und partizipatorische Zukunftsvisionen; die pro- spendete – für Chinas abgehobene Elite höchst ungewöhnlich. gressiven Kräfte. „Großväterchen Wen“ nennen ihn seither viele, und das ist Das ist die eine Lesart der Vorgänge. Die andere kann ange- meist anerkennend gemeint. Aber aufregender noch als seine sichts der weit auseinanderklaffenden, manchmal geradezu ge- Bürgernähe sind seine jüngsten politischen Äußerungen. gensätzlichen politischen Ansätze nur sein: In Peking wie in Im August hat der Premier in der Boomstadt Shenzhen offen Moskau gibt es eine Auseinandersetzung um den richtigen Weg, für die Wichtigkeit politischer Reformen in der Volksrepublik womöglich einen internen Machtkampf. China und Russland plädiert; ohne sie „könnte China verlieren, was es durch seine könnten auf dem Weg zu einer „Tandemokratie“ sein; sie nut- wirtschaftlichen Reformen gewonnen hat“. Gegenüber dem zen vielleicht den politischen Zweierschritt an der Spitze zu US-Nachrichtensender CNN legte er kurz darauf noch nach. einer perfiden „Tandemagogie“; oder ihre Führer lenken und „Die Wünsche und Bedürfnisse nach Demokratie sind unaufstrampeln in verschiedene Richtungen, ein Duo infernale, das haltsam. Meinungsfreiheit ist unabdingbar für jede Nation.“ 124
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Unerhörte Töne. Freilich Töne, die für die meisten Chinesen trauen in ihn verloren habe; dann aber akzeptierte er widerauch nicht zu hören waren. Die Rede von Shenzhen wurde in spruchslos einen engen Putin-Freund in diesem Amt, statt sich den offiziösen Medien weitgehend ignoriert, die wichtigsten einen eher progressiven Partner zu suchen. Seine Position bleibt CNN-Passagen weggeschnitten – die Staatssicherheit zensiert widersprüchlich: Er wagte sich tapfer in die Redaktion der opihren eigenen Premier. Wen lässt sich das gefallen. So viel positionellen Tageszeitung „Nowaja Gaseta“. Er legte sein Veto Rückgrat, auf dem vollständigen Abdruck seiner Gedanken zu gegen ein Gesetz ein, das die Versammlungsfreiheit weiter einbestehen, hat der Ministerpräsident offensichtlich nicht. geschränkt hätte; er unterzeichnet andererseits ein Gesetz, das In Russland sind die Rollen von Premier und Staatschef ge- den Geheimdiensten noch mehr Macht zugesteht. rade andersherum verteilt, der Präsident gibt sich als Reformer. hinas Möchtegern-Reformer Wen und Russlands MöchAnsonsten zeigen sich verblüffende Übereinstimmungen zu tegern-Erneuerer Medwedew wirken wie die jeweils China. Und ein Verdacht drängt sich auf: Auch hier geht es woschwächeren Politiker des Duos, wie eine austauschbare möglich nicht um wirkliche Gewaltenteilung, sondern um eine Zweitbesetzung auf dem Tandem. Dabei haben sie keinen verabredete – oder „natürlich“ gewachsene – Arbeitsteilung. Nach der russischen Verfassung ist der Premier eindeutig die Grund zu übergroßer Vorsicht: Wen Jiabao dürfte Chinas mit Nummer zwei; wenn der Premier allerdings Wladimir Putin Abstand populärster Politiker sein, Medwedew liegt mit einer heißt, vorher zwei Amtszeiten lang ein höchst populärer Präsi- Zustimmungsrate von 76 Prozent bei den Russen gleichauf mit dent, dann müssen solche papierenen Konstruktionen nicht viel Premier Putin. Wen ist als Aushängeschild der KP nach außen, zählen. Putin, 58, hat Russland aus den Wirrnissen des achtens- als menschliches Antlitz des Sozialismus chinesischer Prägung, werten, aber selten ganz nüchternen Boris Jelzin herausgeführt vorläufig unersetzbar. Und dass der russische „Alpha-Rüde“ und den Staat stabilisiert; ein Verdienst, zweifelsohne, aber sich im Sommer von Medwedew trennen will und selbst nochteuer erkauft. Der Geheimdienstgeprägte hat immer über per- mals nach dem Präsidentenamt greift, ist keineswegs ausgesönliche Kanäle regiert und Seilschaften gepflegt. Gesetze und macht. Eine zweite Amtszeit an der Staatsspitze könnte den Institutionen interessierten ihn weniger; wer loyal war, durfte Jüngeren vom Kellner zum Koch machen. Beide, Chinas Großpapa wie sich auch bereichern, wer dachte, Russlands Kuschelbär, müssten er müsse sich in direktem Widersich jetzt einmal in einer entscheispruch gegenüber dem Boss und denden politischen Sache profidem System üben, wurde mit harlieren, um ihre Statur zu festigen. ter Hand zur Seite gedrängt. Es gibt dazu in Peking wie in So entstand ein Staat mit maMoskau – auch hier die Duplizifiösen Strukturen. Stabilität ist tät der Ereignisse – eine glänzenlängst umgeschlagen in Stagnade Möglichkeit: den Einsatz für tion. Was den Judo-Experten Pueinen gerade im Zentrum des tin nicht daran hindert, sich als weltweiten Interesses stehenden supercoolen Polit-Macho zu inpolitischen Gefangenen. szenieren. Der dem Baikal-See Keiner wird von Wen Jiabao mit einem Mini-U-Boot auf den erwarten, dass er das Urteil von Grund geht, als Co-Pilot ein elf Jahren Gefängnis gegen Liu Löschflugzeug steuert, mit einer Xiaobo von 2009 in einen FreiHarley-Davidson über die Krim spruch verwandelt. Aber das brettert. Und sogar vier Tage lang Präsident Putin, Premier Medwedew in Sotschi Mindeste wäre, der Premier würeinen Lada durch Russlands wilde sich zu einer Geste gegenüber den Osten lenkt , immer mit JourWir brauchen „freie Menschen“, sagt der dem verfemten Friedensnobelnalisten – und diversen ErsatzPräsident – der Premier gibt den Macho. preisträger durchringen und seiLadas – im Gefolge. Die Kärrnerne Haftentlassung in Aussicht arbeit bleibt dem Kompagnon. Medwedew, 45, will, wie sein Vorgänger, Konkurrent und stellen – was Liu in seiner Charta 08 über eine ideale RegieTandem-Kumpel Putin, Russlands Rückkehr zur imperialen rungsform für China geschrieben hat, unterscheidet sich doch Größe, er ist ein Mann des Systems – und dennoch anders so- gar nicht so sehr von den Vorstellungen Wens. Keiner wird von Dmitrij Medwedew erwarten, dass er den zialisiert. Medwedew hat in Zivilrecht promoviert, er ist ein Technokrat der Spitzenklasse und hatte die Aufsicht über den erneuten Willkürprozess gegen Michail Chodorkowski, seinen Gazprom-Konzern. Er weiß zumindest, wie Gesetze funktio- Ex-Kollegen aus dem Ölgeschäft, als das bezeichnet, was er ist: nieren könnten. Er sieht Moskaus Defizite klar, wagt sie zu be- skandalös. Aber eine Geste Richtung vorzeitiger Haftentlassung nennen. Was Russland seiner Meinung nach falsch macht und stünde dem verbal so rechtsstaatsbewegten Präsidenten gut an. Es wäre auch kein schlechtes Tandem, das der beiden Reforwas es braucht, formuliert er mit der Schärfe eines Dissidenten: „Nur freie Menschen können die Modernisierung vorantreiben.“ mer in Peking und Moskau. Ein grenzüberschreitendes Zwiegespann, das seine gestrigen Partner hinter sich lässt und in Er will den „Rechtsnihilismus“ abschaffen. eine gemeinsame demokratische Zukunft aufbricht. ür solche Worte wurde Medwedew von vielen im Westen Dass es so kommt, können allerdings nur die größten Optischon vorschnell als „Russlands Erneuerer“ gefeiert. Ame- misten glauben: Es fehlt der Druck der Bevölkerung. In Moskau rikanische Diplomaten in Moskau zeichneten den jetzt sind die jungen Leute zynisch geworden, sie träumen vom groenthüllten Depeschen zufolge ein weit weniger schmeichelhaf- ßen Geld, von einem lukrativen Staatsjob, oder sie wollen ins tes Bild vom Präsidenten: Er sei „blass und zögerlich“ und Ausland. In China hat die KP einen faustischen Pakt mit der wohl letztlich chancenlos gegenüber dem „Alpha-Rüden“ Putin, Jugend abgeschlossen: Wer hart arbeitet und es an eine Eliteder Ton und Tenor der russischen Politik bestimme. Universität schafft, hat bessere Karrierechancen als ein verAber das harsche Urteil wurde vor den letzten Entscheidun- gleichbarer Student im Westen. Im Gegenzug hält die komgen des Präsidenten gefällt, die zumindest einen Hauch von mende Elite politisch still. Die Verbesserung des LebensstanDurchsetzungsfähigkeit zeigen: Medwedew entließ im Septem- dards interessiert. Unvergleichlich weniger fasziniert der neue ber 2010 den autoritären Moskauer Oberbürgermeister und „Thronfolger“ der KP – und die Frage, ob und wann es ein langjährigen Putin-Vertrauten Jurij Luschkow, weil er das Ver- Mehrparteiensystem geben wird. VLADIMIR RODIONOV / DPA
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Staatschef Janukowitsch: Wieder auf dem Weg zurück in einen autoritären Staat UKRAINE
Die Verschwörung von Stockholm Eine zwielichtige Firma, ein dubioser Deal und jede Menge Verhaftete – in Kiew geht ein Krimi zu Ende, der ein böses Licht auf die neue Führung wirft. Dokumente legen nahe: Präsident Janukowitsch hat die Interessen eines der größten Oligarchen bedient – zum Schaden des eigenen Staats.
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as Lukjanowker Untersuchungsgefängnis, benannt nach dem Kiewer Stadtteil Lukjanowka und gleich hinter den Kasernen des Verteidigungsministeriums gelegen, firmiert unter Hausnummer 13: Degtjarjowskaja uliza 13. Es ist ein weißgetünchter Ziegelbau, mit Wachtürmen und Stacheldraht, blauer Stahltür und grauem Schiebetor. Durch die Straße pfeift ein scharfer Winterwind, die Frauen, die mit Päckchen unterm Arm 128
vor dem Einlass warten, frieren. Der Knast ist einer der besonders übel beleumundeten in der Stadt, ein Bau aus dem 19. Jahrhundert. Er ist für 2800 Häftlinge ausgelegt, inzwischen aber mit 4000 Mann vollgestopft, und Igor Didenko, der hinter diesen Mauern sitzt, sagt, dass es furchtbar sei, „hier auch nur einen Löffel oder eine Tasse anzufassen“. Er war auf dem Weg zum Zahnarzt, als er nach Lukjanowka geriet. Er ist nicht D E R
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mehr ganz jung, 46 Jahre, er hatte sich Stifte einsetzen lassen, die sein Arzt an jenem Nachmittag überkronen wollte. Es war der 9. Juli, ein Freitag, ein Wochenende im sommerlichen Kiew begann, aber bevor Didenko die Treppe zur Klinik hinaufsteigen konnte, lag er auf dem Asphalt. Mitten im Hof. Maskierte Männer hatten ihn zu Boden geworfen, die Hände gefesselt und dann in ein Auto gestoßen, Angehörige der
Ausland Sondertruppe „Alpha“, einer Eliteeinheit Schiedsspruch, der ein großes Loch in Der plötzliche Lieferausfall trifft nicht des ukrainischen Geheimdienstes SBU. den Staatshaushalt reißt. nur den Nachbarn, sondern wenige Tage Wie einen Schwerverbrecher hatten sie Auftretende Personen in diesem Dra- später auch das übrige Europa, das von ihn behandelt, als sie ihn nach Lukja- ma sind: der Milliardär Dmitrij Firtasch, russischem Gas abhängt, den Brennstoff nowka brachten, dorthin, wo er nun seit 45, einer der mächtigsten Männer in der aber leider zu 80 Prozent über die Ukraifast sechs Monaten sitzt. Ukraine, seit Jahren erfolgreich im Gas- ne bezieht. Polen, Ungarn und Bulgarien Es hat Gnadengesuche nach seiner Ver- und Chemiegeschäft; Walerij Chorosch- melden einen drastischen Druckabfall, haftung gegeben: Filaret, der Patriarch kowski, 41, Geheimdienstchef, Medien- am 6. Januar ruft die Slowakei den Notder orthodoxen Kirche, hat sich für ihn mogul, Ex-Wirtschaftsminister und Stahl- stand aus. „Der Kreml lässt Europa frieverwandt, Leonid Krawtschuk, der erste unternehmer, auch gern der „ukrainische ren“, schreiben die Zeitungen. Präsident, drei Dutzend Abgeordnete des Berlusconi“ genannt, er kommandiert die Der Kontinent hat sich an die russischParlaments, Unternehmer, Wissenschaft- 30 000 Mitarbeiter der Staatssicherheit – ukrainischen Gaskriege fast schon geler. Die Appelle blieben ungehört. eine Behörde, die Geheimdienst, Polizei wöhnt, im Winter brechen sie mit schöner Warum ist einer wie Igor Didenko dem und Staatsanwaltschaft in einem ist; Regelmäßigkeit aus, aber was diesmal naStaat so wichtig, dass der seine Fest- schließlich: Wiktor Janukowitsch, 60, ge- hezu drei Wochen anhält, übersteigt die nahme wie die Arretierung eines Mafia- lernter Lokführer und Bergmann, verur- Geduld der Westeuropäer. bosses inszeniert? Wieso hält Didenko teilt wegen Beteiligung an einem DiebWieder einmal haben sich Moskau und es für möglich, „dass aufgehetzte politi- stahl und Schlägereien, später Premier, Kiew nicht rechtzeitig auf einen neuen sche Gruppen mir im Gefängnis nach seit Februar ukrainischer Präsident. Lieferpreis einigen können. Die Russen dem Leben trachten“, wie er bei einem hatten 450 Dollar pro 1000 Kubikmeter Und Igor Didenko. Haftprüfungstermin aus seinem Gitterverlangt, die klammen Ukrainer hielten s ist Januar 2009, als das Stück be- 235 Dollar für angemessen. „Millionen käfig hinaus in den Gerichtssaal rief? ginnt. Das neue Jahr ist keine zwölf Bürger in Europa werden von Ihnen zu Und warum behauptet Julija Timoschenko, bis März dieses Jahres Premierminis- Stunden alt, da erklärt Russland dem Geiseln gemacht“, herrscht ein bulgariterin der Ukraine, Didenkos Verhaftung Nachbarland Ukraine den Gaskrieg. Am scher Abgeordneter Vertreter Russlands sei ein Beleg dafür, „dass das Land kri- 1. Januar, 11.48 Uhr Moskauer Zeit, dreht und der Ukraine im EU-Parlament an. minellen Vereinigungen in die Hand ge- der Chefingenieur einer Verdichterstation Aber am 19. Januar gibt es eine Überin der Nähe von Kursk den Schieber raschung: Es kommt zum Waffenstillfallen ist“? Didenkos Biografie enthält nichts Auf- einer Pipeline zu. Sein Vorgesetzter, der stand, der ukrainischen Premierministeregendes. Er wurde 1964 in der Nähe von Chef des russischen Konzerns Gazprom, rin Timoschenko gelingt in Moskau ein Winniza geboren, hat Wirtschaftsinforma- hat befohlen, die Gaslieferung an die Coup: Von einem Treffen mit dem russitik studiert, dann war er Unternehmer. Ukraine zu stoppen. Mitten im eisigen schen Regierungschef Wladimir Putin Mehr als ein Jahrzehnt amtierte er als Winter. bringt sie einen Zehn-Jahres-Vertrag über Vizepräsident von Naftogas, dem die künftigen Gaslieferungen mit großen staatlichen Gaskonzern, nach Hause. Das Zugeständnis über längere Zeit hinweg sogar des Russen: ein Rabatt von 20 als dessen Chef. Er hat Frau und Prozent auf den Weltmarktpreis. Kinder und ein Haus im Kiewer In Moskau werden allerdings Villenviertel „Goldenes Tor“. noch zwei weitere Dokumente „Didenko war ein angesehemit Anlagen unterschrieben, von ner Profi, ein Manager“, sagt der denen die Öffentlichkeit lange Jurist und Parlamentsabgeordnenichts erfährt. Sie betreffen den te Sergej Wlassenko, der mit seiZwischenhändler RosUkrEnergo, nen Anwälten zusammenarbeikurz RUE genannt, über den die tet. „Er war kein Politiker.“ Gasgeschäfte zwischen Russland Und doch ist die Causa Didenund der Ukraine bislang laufen. ko hoch politisch. Sie zeigt, wie RosUkrEnergo ist jene Firma, Europas größter Flächenstaat die Igor Didenko ins Gefängnis funktioniert. Wie einige Multibringen wird. millionäre diesen Staat, den islang war das GeschäftsmoNicht-Ukrainer oft nur durch die dell von RosUkrEnergo denkFernsehbilder von Parlamentsbar einfach: Das Unternehmen schlägereien kennen, als Vehikel Partner Timoschenko, Putin*: Ein Rabatt von 20 Prozent kaufte billiges Gas aus dem zenfür ihre Geschäfte nutzen. Und 300 km Moskau tralasiatischen Turkmenistan und wie die Rechtskultur der Ukrailieß es von Gazprom bis an die ne immer weiter ausgehöhlt Gas-Pipelines Grenze der Ukraine liefern. Dort wird – eines Land, das in die EU Berlin wurde der größere Teil günstig an aufgenommen werden will. RUS S L A N D D E U TS C H L A N D den Staatsbetrieb Naftogas weiDidenkos Geschichte ist die POLE N tergereicht, die andere Menge Geschichte eines großen Deals, TS C H EC H I E N zum Weltmarktpreis an europäidie auch den Westen interessieKiew sche Kunden. Den Rest des ukrairen muss – weil er fast jeden U N G ARN nischen Bedarfs lieferte Gazprom Winter unter den Turbulenzen UKRAINE über RUE aus russischen Quellen. in der Ukraine zu leiden hat, sich Nutznießer waren alle: Die deren Hintergründe aber kaum Ukrainer konnten durch diesen zu erklären vermag. Es geht um Rund 80 Prozent seiner RU M Ä N I E N Cocktail Gas zu einem günstigen zwölf Milliarden Kubikmeter Gasexporte nach WestErdgas im Wert von mehreren europa leitet Russland durch die Ukraine. Schwarzes Meer * Am 19. Januar 2009 in Moskau. Milliarden Dollar. Und um einen ALEXANDER MEMENOV / AFP (R.); PHOTOXPRESS / VISUM (L.)
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chen Gas künftig direkt miteinander ver- getroffen: Das neue Gasabkommen kehren. zwischen Timoschenko und Putin halte Das Vertragswerk „KP-PChG“ mit sei- Firtasch für „kriminell“ und für den nen Anhängen ist ein so ausgeklügelter „dümmsten Vertrag in der ukrainischen Deal, dass ihn die beiden Konzernchefs, Geschichte“, berichtet er nach WashingAlexej Miller und Oleg Dubina, unter- ton. Firtasch würde Timoschenkos soforzeichnen müssten. Aber Dubina hat der tige Verhaftung unterstützen, so der BotStress der letzten Tage ins Krankenhaus schafter. Hätte jemand anderes solch eigebracht, er hat einen Herzinfarkt, und nen Vertrag unterzeichnet, „würde er so unterschreiben die Stellvertreter. Für längst an einer Straßenlaterne hängen“, Gazprom: Konzern-Vize Walerij Golub- habe ihm der Oligarch gesagt. jew. Für Naftogas: Igor Didenko. Andere Timoschenko-Gegner wie Jurij Die Dokumente werden nicht veröf- Boiko, Energieminister im Schattenkabifentlicht. Und erst später wird klar, dass nett der Opposition und einst selbst Mitallein Gazprom sich diese Konstruktion glied im Koordinierungsrat von RUE, ausgedacht hat. sprechen vom „Verrat nationaler InteresGazprom ist der pekuniäre Nutzen des sen“. Sie unterstellen, dass die MinisterDeals wichtig, Timoschenko jedoch der präsidentin generell für die künftigen Gaspolitische: Firtasch ist der bedeutendste lieferungen aus Russland einen zu hohen Finanzier von Oppositionsführer Wiktor Preis akzeptiert, die Transitgebühren zu
MIKHAIL FOMICHEV / ITAR-TASS (L.); ITAR-TASS / IMAGO (R.)
An den Schalthebeln der Macht
INTER TV CHANNEL PRESS SERVICE / ITAR-TASS
Preis beziehen, die Russen hielten nach außen hin an Weltmarktpreisen fest, und für den Zwischenhändler RUE fielen satte Gewinne ab. Sehr satte. RUE ist ein typisches Gewächs der osteuropäischen Gründerzeit, aber auch eines der rätselhaftesten. Die Gesellschaft gehört zu 50 Prozent Gazprom, also den Russen. 45 Prozent hält der ukrainische Oligarch Dmitrij Firtasch; die restlichen 5 Prozent ein Partner. RUE residiert im schweizerischen Kanton Zug; Firtasch wiederum steuert seine Anteile über eine „Centragas Holding“, die ihren Sitz in der Wiener Schwindgasse hat. Der Gaszwischenhandel ist undurchsichtig, aber dass aus ihm viel Geld in ukrainischen und russischen Taschen verschwindet, daran zweifelt kaum jemand. Aber wie viel und wohin? Oligarch Firtasch – der Vater war Chauffeur, die Mutter arbeitete in einer Zuckerfabrik – hat nie eine Universität besucht. Aber er besitzt, so sagt er selbst, eine „gute Nase“ für Geschäfte. Sein Leben als „Bisnesmen“ beginnt nach dem Ende der Sowjetunion mit dem Export von Konserven nach Zentralasien. Mehrere Großunternehmer ermöglichen ihm den Einstieg in den Gashandel – eine damals „gefährliche“ Branche, wie Firtasch später zugeben wird. Nach eigenen Aussagen war er bekannt mit dem mutmaßlichen russischen Unterweltboss Semjon Mogiljewitsch, den das FBI zahlreicher Betrugsdelikte beschuldigt. Sowohl Premierministerin Timoschenko als auch Gazprom haben erhebliches Interesse daran, Firtasch, den Mann mit dem kurzgeschorenen, grauen Bart, aus dem profitablen Gasgeschäft auszuschalten. Der russische Monopolist Gazprom sitzt zwar zusammen mit ihm in der RUE und hat bisher beim lukrativen Gasverkauf auf den Westmärkten gut mitverdient, aber er ist Anfang 2009 in einer misslichen Lage: Die Exportgewinne bei Gas sind eingebrochen. Gazprom braucht Geld, Firtasch aber schuldet dem Konzern 1,7 Milliarden Dollar – für Gas, das Moskau bereits geliefert, das der Oligarch aber erst mal in ukrainischen Speichern zwischengelagert hat. Er will es nach Polen und Rumänien exportieren. Bei den Verhandlungen am 19. Januar in Moskau vereinbaren Timoschenko und Putin: RosUkrEnergo muss weg. Acht Stunden dauern die hitzigen Debatten, dann finden die Unterhändler tatsächlich einen Weg, den Zwischenhändler auszuschalten: Gazprom überträgt die Schulden von RUE auf den ukrainischen Konzern Naftogas, der die 1,7 Milliarden an Moskau zahlt; dafür erhält Naftogas den Zugriff auf jene elf Milliarden Kubikmeter Gas, die Firtaschs RUE in den staatlichen ukrainischen Speichern gelagert hat. Die Regierungen in Moskau und Kiew, so die Abmachung, wollen in Sa-
Dmitrij Firtasch, 45, Sohn eines Fahrers und einer Buchhalterin, Milliardär, Chef der „Gruppe DF“ und Mitbesitzer des Gashändlers RosUkrEnergo
Walerij Choroschkowski, 41, Leiter des Staatssicherheitsdienstes, Milliardär und Besitzer eines Medienimperiums. Spitzname: der „ukrainische Berlusconi“
Janukowitsch, ihrem größten Gegner. Sie hofft, dessen wichtigste Geldquelle trockenlegen zu können, diesen „großen Futtertrog, die Schattenkasse aller Staatschefs der Ukraine“, wie sie sagt, denn bald stehen Wahlen an, und Timoschenko will – wie Janukowitsch – das Präsidentenamt. Die Premierministerin, der Russe Putin, die Westeuropäer – sie alle feiern die Abmachung von Moskau. Selbst die amerikanische Botschaft, die Firtasch als „fragwürdige Figur“ bezeichnet, hat nach Hause gemeldet: Die Ausschaltung von RUE könnte „Transparenz und Berechenbarkeit“ in den Gashandel bringen. Wie sehr Firtasch durch den Deal getroffen ist, wie sehr er schäumt, das lässt sich den amerikanischen Botschaftsprotokollen von WikiLeaks entnehmen. Mehrmals hat er sich in den letzten Monaten mit US-Botschafter William Taylor D E R
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Jurij Boiko, 52, Minister für Brennstoffe und Energie, ehemals Vorsitzender des Staatskonzerns Naftogas, Träger des Titels „Held der Ukraine“
niedrig gehalten und sich auf inakzeptable Zahlungsmodalitäten eingelassen habe. Nur um Firtasch auszuschalten. Es gibt auch direkte Drohungen. Naftogas-Vize Didenko habe in Moskau, als er noch in den Verhandlungen saß, eindeutige Anrufe aus Kiew erhalten, hat Julija Timoschenko dem SPIEGEL gesagt: Wenn er die Verträge unterzeichne, werde er „dafür sitzen“. Didenko, so stellt Timoschenko klar, „hat aber nur meine Anweisungen ausgeführt“.
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as spannendste Kapitel im Drama um RUE und die elf Milliarden Kubikmeter Gas beginnt am 24. März 2009. Firtasch und seine Hintermänner sinnen auf Rache, sie wollen das Gas zurück. Neun Klagen hat Firtasch bereits bei ukrainischen Gerichten eingereicht. Nun aber wendet er sich ans Schiedsgericht der Stockholmer Handelskammer.
Dort wird die gesamte Führungsebene ausgetauscht. Auch Igor Didenko muss gehen, „auf eigenen Wunsch“. Der neue Staatschef braucht nur wenige Monate, um sich die Exekutive, die Mehrheit des Parlaments und die meisten der ohnehin käuflichen Richter zu unterstellen. Der „uralte menschliche Instinkt der Angst muss wieder viel stärker aktiviert werden“, erklärt sein Regierungschef, der die verhasste Julija Timoschenko nach deren Wahlniederlage abgelöst hat. Die Ukraine ist wieder auf dem Weg zurück in einen autoritären Staat. Auch in Stockholm geht jetzt alles sehr schnell. Naftogas untersteht nun der Regierung Janukowitsch – damit sitzen sich vor dem Schiedsgericht nicht mehr zwei verfeindete Parteien gegenüber, sondern zwei befreundete, oder besser gesagt: ein
GRIGORIY VASILENKO / PICTURE ALLIANCE / DPA
Die fast 100 Jahre alte Institution am Stockholmer Jakobs Torg 3 zählt zu den renommiertesten Schiedsgerichten weltweit. Die Schweden nehmen sich des Falls an, aber seine Behandlung erfordert Zeit. Alle Beteiligten geben ihre Stellungnahmen ab. Firtasch hält den Deal von Moskau aufgrund bestimmter Klauseln und früherer, noch gültiger Verträge für illegal, Naftogas und damit der ukrainische Staat verteidigen ihn als rechtmäßig. Der Ausgang scheint offen, der Staat hofft sogar, das Verfahren zu gewinnen, weil ja Naftogas – nicht RUE – das Gas bezahlt hat. Da kommt es zum Machtwechsel in Kiew. Timoschenkos Rivale Janukowitsch, sechs Jahre zuvor durch die orange Revolution um das schon sicher geglaubte Präsidentenamt gebracht, wird im Fe-
Häftling Didenko: „Aufgehetzte politische Gruppen trachten mir nach dem Leben“
bruar 2010 neuer Staatschef, obwohl nur jeder dritte Ukrainer für ihn stimmt. Welch ein Triumph für die Timoschenko-Gegner! Oligarch Firtasch, nach Ansicht der Amerikaner einer der wichtigsten finanziellen Unterstützer des neuen Präsidenten, zählt plötzlich zum Olymp der Macht. Zahlreiche Firtasch-Vertraute rücken an die Schalthebel des Staats: Seine Freunde Jurij Boiko und Sergej Ljowotschkin, ein 38-jähriger Generalssohn, werden Energieminister beziehungsweise Stabschef des Präsidenten; sein Vertrauter Walerij Choroschkowski, Eigentümer des Medienimperiums „Inter“, für das Firtasch vor kurzem noch eine Kaufoption besaß, wird Staatssicherheitschef. Mit Choroschkowskis Hilfe lässt Janukowitsch Minister und Spitzenbeamte der früheren orange Regierung verhaften. Nirgendwo aber verläuft die Säuberung so radikal wie im Staatskonzern Naftogas:
und dieselbe. Auf der einen Seite des Tischs verhandeln de facto Firtasch, Janukowitsch und Boiko im Interesse von RUE, auf der anderen Seite sitzt der ukrainische Staat: Boiko als Energieminister in Vertretung seines Präsidenten Janukowitsch, beide eng verbandelt mit Firtasch. Das Verfahren wird zur Farce. Es endet am 8. Juni 2010 mit einem klaren Spruch: Die Schweden entscheiden im Sinne von RUE. Der staatliche ukrainische Gaskonzern soll die strittigen elf Milliarden Kubikmeter Gas an Firtaschs RUE zurückgeben und noch einmal weitere 1,1 Milliarden Kubikmeter als Kompensation für entgangenen Gewinn. RUE verlangt, die 12,1 Milliarden Kubikmeter in Geldform erstattet zu bekommen – und fordert den Marktpreis dafür, nicht den Sonderpreis von 1,7 Milliarden Dollar, den Gazprom seinerzeit zugestand. Damit hat sich, nach BerechnunD E R
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gen von RUE, die Summe plötzlich verdreifacht: auf 5,4 Milliarden Dollar. Das ist eine Katastrophe für die Ukraine: Gibt Kiew den Rohstoff zurück, hat das Land nicht mehr genügend Gas für die Winterzeit. Lässt es sich auf die Forderung von mehreren Milliarden Dollar ein, muss der Staat für die NaftogasSchulden aufkommen. Aber Kiew ist selber klamm, es lebt seit Ausbruch der weltweiten Finanzkrise nur noch von Krediten des Internationalen Währungsfonds. Aber warum hat Naftogas in Stockholm so klar verloren, nachdem es dort für den Staatskonzern gar nicht so schlecht aussah? Die Schweden antworten darauf nicht, die Sprüche des Schiedsgerichts sind vertraulich; auch die Regierung Janukowitsch verweigert jede Stellungnahme. Doch es gibt inzwischen Kopien der Stockholmer Entscheidung, der SPIEGEL konnte Einsicht in sie nehmen. Unter Punkt 14 auf Seite 4 heißt es: „Obwohl ,Naftogas‘ im Verlauf dieser Schiedsverhandlung zunächst behauptete, die Beschaffung der elf Milliarden Kubikmeter Gas sei rechtlich ausreichend begründet gewesen, versichert es jetzt, dass dem nicht so war.“ Und an anderer Stelle räumt Naftogas plötzlich ein, dass dieses Gas „RUE gehört und immer gehört hatte“. Die Sätze klingen staubtrocken, aber sie sind ungeheuer brisant. Jetzt wird klar, warum die neue Führung den Richterspruch nicht veröffentlicht hat: Der Konzern Naftogas, obwohl in schwerer finanzieller Lage, hat nach dem Machtwechsel in Kiew seine juristische Position um 180 Grad gedreht. Er selbst hat das Stockholmer Gericht zu der für die Ukraine unvorteilhaften Entscheidung getrieben. Außerdem hat er – auch davon konnte sich der SPIEGEL überzeugen – die Namen der verantwortlichen Gazprom-Funktionäre aus Stellungnahmen getilgt. Der russische Konzern, der den Deal vom Januar 2009 eingefädelt hatte, kam bei den Verhandlungen kaum noch vor. Es gibt gar keine andere Schlussfolgerung: Wiktor Janukowitsch, der Präsident der Ukraine, hat die kommerziellen Interessen ihm nahestehender Oligarchen bedient – auf Kosten seines eigenen Staats. Und nebenbei noch Moskau einen Gefallen getan. „Zynisch“ sei das, sagt der Anwalt und Parlamentsabgeordnete Sergej Wlassenko. Er sitzt in der Bar des Vier-SterneHotels Riviera im alten Kiewer Viertel Podol und blickt hinaus zum Ufer des Dnjepr: „Wo ist die Garantie dafür, dass morgen in einem anderen Fall nicht das Gleiche passiert?“ Wlassenko hat das Imperium des Dmitrij Firtasch auf eine gelbe Papierserviette gemalt, das Schema erinnert an die Arme eines Kraken. „Der Gewinn für Firtasch, der sich aus der Stockholmer Affäre ergibt, dürfte immens sein“, sagt er. Um 131
von diesem Vorgang abzulenken, habe Firtaschs Freund, der Geheimdienstchef Choroschkowski, eine Anti-KorruptionsKampagne entfacht, die allein führende Köpfe der letzten orange Regierung betreffe. Neben dem früheren Naftogas-Vize Didenko sind dessen Hauptbuchhalter, der Chef des ukrainischen Zolls und weitere Beamte verhaftet worden. Dazu zwei ehemalige Minister, der einstige Chef des Innenressorts steht unter Aufsicht. Am 15. Dezember wurde auch gegen Ex-Premier Timoschenko ein Strafverfahren eröffnet, es wurde ihr verboten, das Land zu verlassen. Fünf Tage später folgte die Anklage wegen „Veruntreuung“, ihr droht nun ebenfalls Haft. Es ist unübersehbar, dass es auch um eine politische Abrechnung geht. „Didenko ist nach Artikel 191 des Strafgesetzbuchs angeklagt: Unterschlagung von Vermögen in großem Umfang“, sagt Wlassenko und lächelt bitter. „Das ist absurd. Voriges Jahr hat ein Kiewer Gericht Didenko bestätigt, er habe in Moskau rechtmäßig gehandelt. Jetzt, nach dem Machtwechsel, fallen die Urteile natürlich anders aus. Jetzt soll er dafür büßen, dass der Staat für den Deal zwischen Naftogas und Gazprom Strafe zahlen muss.“ Das Treffen im Riviera findet Ende Oktober statt. Am 24. November bestätigt das Oberste Gericht der Ukraine den Stockholmer Spruch. Am 6. Dezember teilt Oligarch Firtasch mit, er habe seine Schulden gegenüber Naftogas und Gazprom getilgt und dafür die elf Milliarden Kubikmeter Gas zurückbekommen plus die 1,1 Milliarden Kubikmeter, die ihm das Stockholmer Gericht als „Schmerzensgeld“ zusprach. Er habe die Gesamtmenge inzwischen an Gazprom verkauft, behauptet Firtasch – lässt aber offen, zu welchem Preis. Nach Berechnungen von Experten hat der Staat Ukraine bei diesem Hin- und Hergeschiebe von 12,1 Milliarden Kubikmeter Gas etwa eine Milliarde Dollar Verlust gemacht. Firtasch aber macht nach heutigen Preisen einen Riesengewinn: Die 12,1 Milliarden Kubikmeter sind derzeit drei Milliarden Dollar wert. Der Oligarch bestreitet, dass die Ukraine bei diesem Deal zu kurz gekommen sei und die Gasvorräte für diesen Winter nun nicht mehr reichen. Die Kiewer Zeitung „Kommersant“ sieht das anders: Von den 24 Milliarden Kubikmetern, die derzeit in den Speichern lagern, sei nun die Hälfte weg – etwa ein Viertel des Jahresbedarfs. Damit drohe ein Energiekollaps. Igor Didenko aber bleibt weiter in Lukjanowka. Am 9. Dezember hat das Kiewer Appellationsgericht die Untersuchungshaft verlängert. Was hier laufe, sei „ein politisches Verfahren im Interesse schmutziger Wirtschaftsgruppen“, klagt Didenko. Ihm drohen etliche Jahre GeCHRISTIAN NEEF fängnis. 132
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Nur Haustiere mit Haaren Global Village: Wie zwei Schildkröten von Berlin nach Baltimore reisten
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MARK GAIL / THE WASHINGTON POST / GETTY IMAGES
reiheit, das große Versprechen Ame- Bundesamt für Naturschutz in Bonn, der Disease Control, die dem Gesundheitsrikas, jedes Jahr lockt es Tausende höchsten Behörde für artengeschützte ministerium unterstellt sind und sich um in die USA. Sie kommen aus Mexiko, Schildkröten in Deutschland. Jede Behör- alle Schildkröten kümmern, die kleiner aus China, von den Philippinen und aus de prüft, jede genehmigt, aber am Ende als vier Inches – etwa zehn Zentimeter – Indien. Auch aus Deutschland kommen ist es das Bundesamt für Naturschutz, das sind? Oder der U. S. Fish and Wildlife sie, immer noch, 35 000 waren es zuletzt. die Vorlagebescheinigung in eine Aus- Service, der zum Innenministerium geFür viele Deutsche ist der Umzug in reisegenehmigung umwandeln darf. Das hört? die USA auch ein Bekenntnis. Dass sie Dokument kommt dann per Post. Amerikas Bürokratie scheint mächtiger den deutschen Regen satthaben, die deutDie Ausreise ist die Chance des deut- und größer noch als die in Deutschland, sche Miesepetrigkeit und natürlich die schen Staates, abzurechnen mit dem und bald stellt sich heraus, dass Schilddeutsche Bürokratie: die Rechtschreib- flüchtigen Bürger, Punkt für Punkt das kröten überhaupt nicht nach Washingreform etwa, die ihre Sprache regelt, die Sündenregister durchzugehen, die klei- ton fliegen dürfen. Washington ist nämBaugenehmigungsvorschriften, die be- nen Zuwiderhandlungen gegen den deut- lich kein „designated port of entry“ für stimmen, wann man ein Gartenhaus mit schen Staat. Es ist wie eine letzte Beichte, Schildkröten, kein für Schildkröten zugeoder ohne Zustimmung der Nachbarn bevor man aufbricht in die neue Welt jen- lassener Flughafen. Man kann Sonderbauen darf. Und, nicht zuletzt: die Bun- seits von Deutschland. anträge für einen Flug nach Washington desartenschutzverordnung, stellen, aber das kann WoBArtSchV, die unter andechen dauern. rem vorschreibt, dass ich Vier Monate nachdem die Schildkröten meiner das Bundesamt für NaturKinder alle zwei Jahre einschutz die Ausreisegemal fotografieren muss, nehmigung erteilt hat, flieeinmal bäuchlings, einmal gen die Schildkröten von rücklings, damit mir das Frankfurt über Atlanta Haltungsrecht für die Tiere nach Baltimore. Wir haben nicht entzogen wird. das EinfuhrantragsformuDas also ist Deutschland: lar 3-177 eingereicht und ein guter Grund wegzuzieeine notariell beglaubighen. Aber einfach so lässt te Urkunde, um zu beleDeutschland seine Bürger gen, dass wirklich wir und seine Schildkröten die Schildkröten-Importeunicht weg. „Ohne Unterlare sind, mit Unterschriften gen können wir die Ausreivon zwei Zeugen. Wer se nicht genehmigen“, sagt kein amerikanischer Staatsdie Beamtin im Bezirksamt bürger ist, hat noch die Steglitz-Zehlendorf, Fach„Customs Importer Numbereich Naturschutz und Haustier-Verladung in Baltimore: „Sind Ihre Schildkröten gemeldet?“ ber“ zu beantragen, die Grünflächen, zuständig für Zoll-Importnummer. Berlin–Frankfurt–Washington, der Flug artengeschützte Schildkröten. Sie fängt Dann sind die Schildkröten endlich im mit den Grundlagen an: „Sind Ihre Schild- ist gebucht, Lufthansa fliegt, die deutsche Land. Sie müssen immerhin nicht ankröten in Berlin gemeldet? Haben sie eine Airline, ein Weltunternehmen. Die Inter- gemeldet werden wie in Deutschland, Geburtsurkunde? Und haben Sie die netseite gibt es auf Deutsch und Englisch, denn Amerika kennt kein Meldewesen, auch eine Transportpreise-Liste für Haus- weder für Menschen noch für SchildFotos gemacht?“ Einfach so reist eine Schildkröte nicht tiere. Sie ist nach Gewicht und Flugstre- kröten. Aber als der amerikanische Veraus, vor allem nicht, wenn es sich um cke gestaffelt, 50 bis 500 Dollar, es sieht mieter von ihnen erfährt, besteht er dareine Steppenschildkröte handelt, Testudo alles ganz einfach aus, aber dann heißt auf, den Mietvertrag entsprechend zu änhorsfieldii, und eine Griechische Land- es am Telefon: Die Lufthansa nimmt lei- dern. schildkröte, Testudo hermanni, die eine der nur Haustiere mit Haaren mit, keine Zunächst verlangt er eine persönliche Schutzstufe über der anderen steht. Es Schildkröten. Sorry, sagt die Dame der Haftpflichtversicherung für die Schildist nachzuweisen, wo das Tier gekauft Lufthansa, dafür gibt’s andere Experten. kröten über „nicht weniger als eine Die Firma PetAir zum Beispiel, die ver- Million Dollar“, abgeschlossen mit einer wurde. Wo es geschlüpft ist. Wer es gespricht, alles abzuwickeln. Es klingt, als Versicherungsfirma, die von Rating-Agenzüchtet hat. Für die Schildkröten-Ausreisepapiere sei das Schlimmste nun überstanden, als turen mit der Höchstnote AAA bewertet wird eine Vorlagebescheinigung benötigt, hätten wir die deutsche Bürokratie nun ist. Dann verzichtet er aber darauf. Zum ein Empfehlungsschreiben, das dann von endlich hinter uns gelassen und der Weg Schluss stehen die beiden haarlosen Eineiner Behörde zur nächsthöheren Behör- wäre frei in die USA. Aber die Firma Pet- wanderinnen nur einfach so im Vertrag, de weitergereicht wird, vom Bezirksamt Air steht nun vor der Frage, wer in Ame- Paragraf 5: „Zwei Schildkröten.“ Steglitz-Zehlendorf zur Berliner Senats- rika eigentlich für die Einreise von SchildGanz schön deutsch, dieses Amerika. MARC HUJER verwaltung für Umwelt, dann weiter zum kröten zuständig ist: die Centers for D E R
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Rückblick 2010
Epischer Auftritt Erst wurde eine Zuschauerin mit einem Lachkrampf ins Sanitätszelt gebracht, dann verweigerte die Anzeigetafel ihren Dienst. Nur die Spieler, die sich in der zweiten Runde des Turniers von Wimbledon auf Platz 18 gegenüberstanden, machten weiter, immer weiter. Als der US-Amerikaner John Isner gegen den Franzosen Nicolas Mahut schließlich den Matchball verwandelte, waren elf Stunden und fünf Minuten gespielt, allein der fünfte Satz hatte acht Stunden und elf Minuten gedauert. 6:4, 3:6, 6:7, 7:6, 70:68 – ein epischer Auftritt. Doch für Isner, 25, ging nun die Plackerei erst los, in den Tagen und Wochen nach Wimbledon hetzte er von Termin
STEVE RUSSELL / POLARIS / LAIF
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Entstaubte Spiele Als die Winterspiele in Vancouver begannen, hing die olympische Fahne auf Halbmast. Wenige Stunden vor der Eröffnungsfeier war der georgische Rodler Nodar Kumaritaschwili im Training tödlich verunglückt. Sportler, Trainer, Zuschauer trauerten, Olympia schien vorbei, bevor es angefangen hatte. Doch dann gingen am Cypress Mountain, oberhalb der Stadt, die Flutlichter an für die Wettkämpfe der Snowboarder und FreestyleSkiläufer, und Olympia erwachte aus der Schockstarre. 134
Es wurde getanzt, gelacht, gefeiert. Ja, es ging am Cypress Mountain auch um Medaillen. Und für Snowboarder Shaun White, Jugendidol und Sieger in der Halfpipe, wurde auch die Nationalhymne gespielt. Aber danach legte der DJ die nächste Platte auf. Die olympische Bewegung wurde in Vancouver entstaubt. Die Spiele in Kanada waren ein Fest der jungen Disziplinen, es zeigte sich die Zukunft des Sports. Bei den Rennen der Skicrosser und der Shorttracker, bislang olympische Randerscheinungen, waren die Stadien voll, die deutsche Doppelolympiasiegerin im Biathlon, Magdalena Neuner, startete meist vor halbleeren Rängen. Die größte Party stieg am letzten Tag, als Team Canada die USA im Eishockeyfinale bezwang. Bis in die Morgenstunden feierten die Fans in den Straßen Vancouvers. Olympia hatte mit einer Tragödie begonnen, am Ende, sagte Sidney Crosby, der den Siegtreffer zum 3:2 in der Verlängerung erzielt hatte, „standen wir alle auf dem Mond“. D E R
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Vettel nach dem Gewinn des WM-Titels in Abu Dhabi
FORMEL 1 UND GOLF
Die Musterschüler Formel 1 und Golf – ihre Sportarten könnten kaum unterschiedlicher sein. Sebastian Vettel sitzt vermummt in einem infernalisch lauten Rennwagen, Martin Kaymer kann man einwandfrei erkennen, wenn er dasteht und still das Bällchen puttet. Und dann die Lebensgefahr: Vettel fährt Tempo 300 und schneller, jede Kurve könnte seine letzte sein; Kaymer riskiert beim Abschlag einen Hexenschuss. Was sie beide eint, ist die Präzision, mit der sie sich ihrem Ziel nähern, der Flagge oder dem Loch. Vettel beherrschte sein Auto im Grenzbereich virtuos wie kein
IAN WALTON / GETTY IMAGES
zu Termin. Isner brachte seinen Schläger in ein Museum, war zu Gast in der LateNight-Show von David Letterman und eröffnete ein Baseballspiel mit dem ersten Wurf. Gegen sein neues Leben als Tennisheld war das Marathonspiel eine Leichtigkeit gewesen. „Irgendwann wurde es echt anstrengend, dass mich alle Leute immer wieder über die Details des Spiels ausfragten“, sagt Isner, „ich will nicht nur als der Typ in Erinnerung bleiben, der das längste Match in Wimbledon gespielt hat, sondern als erfolgreicher Tennisprofi.“ Das dürfte schwer werden. Gleich im Januar werden Isner und Mahut bei einem Turnier im australischen Perth wieder gegeneinander antreten. Die beiden können sich ausmalen, welche Fragen auf sie einprasseln werden.
TENNIS
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Sport räumen konnte – mal soll sie zusätzlichen Sauerstoff verwendet haben, was unter Extrembergsteigern verpönt ist, mal präsentierte sie Gipfelfotos von höchst fragwürdiger Aussagekraft. „Noch stilloser wäre es nur gewesen, wenn sie per Hubschrauber gleich bis auf die Gipfel geflogen wäre“, lästerte der Südtiroler Profibergsteiger Hans Kammerlander.
EXTREMBERGSTEIGEN
FUSSBALL
Bunt und offensiv
Fußball-Nationalspieler Philipp Lahm über Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der WM in Südafrika
„Wer meint, der Sport müsse sauberer, reiner sein, ein Bereich mit höheren Werten, der wird immer wieder enttäuscht werden.“ Laurent Blanc, nach der WM neuer Trainer der französischen FußballNationalmannschaft, über die Eskapaden des Teams in Südafrika
Extrembergsteigerin Oh
„Koch ist ein schwieriger Typ. Ich hätte ihm am liebsten gesagt: Rolli, sei doch mal locker!“
Nationen. Spieler mit Migrationshintergrund wie der Deutsch-Türke Mesut Özil werden seither herumgereicht als Musterbeispiele für gelungene Integration. Spanien wurde verdienter Weltmeister, und der Gastgeber hatte ein weitgehend pannenfreies Turnier hinbekommen. Ein Triumph für den Weltfußballverband Fifa und seinen Chef Joseph Blatter wurde das WM-Jahr dennoch nicht. Korruptionsvorwürfe gegen Mitglieder der Exekutive sorgten ebenso für weltweite Empörung wie ein unergründlicher Ratschluss: Die WM 2022 geht ins schwülheiße Katar.
Am Ende saß der Bundespräsident auf dem Podium im Teamquartier der Nationalmannschaft, dort, wo Bundestrainer Joachim Löw gut vier Wochen lang Fragen zur Taktik und zum Zustand der Muskelfasern beantwortet hatte. Der „Charakter“ und die „Moral“ dieses deutschen Fußball-Ensembles hatten es ihm angetan, Christian Wulff pries das Team als Botschafter für ein „buntes, weltoffenes Deutschland“. Löws multiethnische Truppe, ohne den verletzten Kapitän Michael Ballack nach Südafrika gereist, war Dritter geworden bei der Weltmeisterschaft, ihr erfrischend engagiertes Spiel, ihre Jugend und ihre Offensive begeisterten die Leute zu Hause und überraschten Deutsche Nationalspieler die teilnehmenden D E R
„Ich finde es wirklich erstaunlich, dass sie so jubeln kann nach unseren Toren, einfach vergessen kann, dass sie zu Hause auch noch ein bisschen Ärger hat.“
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Tennisprofi Andrea Petkovic über den früheren Ministerpräsidenten Roland Koch, den sie bei einem Praktikum in der hessischen Staatskanzlei kennengelernt hatte
„Ja, aber das bringt nichts.“ Magdalena Neuner, Biathlon-Olympiasiegerin, auf die Frage, ob es stimme, dass sie das Klingelschild an ihrer Haustür abmontiert habe
KIM KYUNG-HOON / REUTERS
anderer in dieser Saison und wurde Mitte November im Alter von 23 Jahren und 134 Tagen jüngster Weltmeister der Formel-1-Geschichte. Kaymer hat mit 25 Jahren sein erstes Major-Turnier gewonnen, die PGA Championship in Wisconsin, er ist zu Europas bestem Golfer aufgestiegen und hat mit dem Team gegen die US-Profis den Ryder Cup geholt. Vettel und Kaymer haben die Nachfolge der Altmeister Michael Schumacher, 41, und Bernhard Langer, 53, angetreten. Als sie noch jung waren, betrieben Schumacher und Langer ihren Sport mit einer Professionalität, wie sie damals kaum jemand in Deutschland kannte. 2011 treten die Generationen erneut gegeneinander an, Schumacher und Langer machen weiter, ihre Musterschüler Vettel und Kaymer legen gerade erst richtig los. Vorausgesetzt, alle bleiben fit. Kaymers schwerste Verletzung bislang: Er brach sich drei Zehen – bei einem Unfall im Rennkart.
Fünf Männer begleiteten die südkoreanische Höhenbergsteigerin Oh Eun Sun am Mittag des 27. April beim Anstieg auf den Gipfel der 8091 Meter hohen Annapurna. Drei waren Sherpas, zwei waren Kameramänner. Sie übertrugen für das südkoreanische Fernsehen live Bilder jener Momente, die in Ohs Heimat als Abschluss einer nationalen Mission bejubelt wurden. Mit der Besteigung der Annapurna hatte Oh als erste Frau alle 14 Achttausender bezwungen, eine der letzten Pionierleistungen des Klettersports. Im Rest der Welt war die Resonanz eher verhalten. Denn bei einigen ihrer vorherigen Expeditionen hatte die 44-jährige Asiatin Zweifel an der Einhaltung alpinistischer Ideale geweckt, die sie nie ganz aus-
Zitate 2010
YONHAP / AP
AHMED JADALLAH / REUTERS
Nationale Mission
„Ich ziehe einfach an, was mir gefällt. Stellen Sie sich vor, ich müsste in die Requisite und bekäme Waldemar Hartmanns Hemd. Den Geruch krieg ich nie wieder weg!“ Der frühere Fußballprofi Mehmet Scholl über seinen Job als TV-Experte bei der ARD Quelle: D E R S P I E G E L
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JAKOB HOFF/DER SPIEGEL
Sport
Palästinensischer Profi in Ostjerusalem am Checkpoint Kalandija: „Den Soldaten nicht in die Augen gucken, sonst verrätst du dich“
FUSSBALL
Jenseits der Mauer Es gibt einen palästinensischen Nationalspieler, der illegal in Ostjerusalem lebt, sein Club spielt auf der anderen Seite der Grenze im Westjordanland. Der Alltag des Profis erzählt vom politischen Irrsinn im Heiligen Land – und von der identitätsstiftenden Kraft des Sports.
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ie liegt nicht weit weg von seinem Haus, vielleicht fünf Minuten zu Fuß, die graue Mauer aus Beton. Acht Meter ragt sie in die Höhe, sie trennt Jerusalem von Ramallah, Israel vom Westjordanland. Die Mauer wuchert wie ein Krebsgeschwür durchs Heilige Land. Jerusalem steht auf vielen Hügeln, zerlegt in kleine Viertel. In einem davon, im östlichen Teil der Stadt, den Israel seit 1967 besetzt hält, wohnt der palästinensische Fußballer Chalil Mahmud mit seiner Frau Rawan. Chalil Mahmud heißt nicht Chalil Mahmud. Es wäre zu gefährlich für ihn, seinen richtigen Namen zu nennen, auch die Position, auf der er spielt, in seinem Club 136
und in der palästinensischen Nationalmannschaft. Es könnte passieren, dass er im Gefängnis landet, falls ihn israelische Behörden identifizieren. Denn eigentlich darf er dort, wo er wohnt, nicht wohnen und dort, wo er spielt, nicht spielen. Sein Bungalow steht in einer schmalen Sackgasse, zerlöcherter Asphalt, ein Gewirr aus Wäscheleinen und Stromleitungen. Im Wohnzimmer ein Regal mit kleinen Porzellanvasen, Blumen aus Plastik, arabischem Kitsch, neben dem Fernseher ein Vogelkäfig, überm Sofa ein Porträt von Jassir Arafat. Mahmud ist ein stiller Mann mit großen Händen und schwarzen Haaren. Er trägt einen dunkelblauen Trainingsanzug D E R
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und packt seine Tasche, zuerst ein Handtuch, dann Trikot, Hose, Stutzen, zum Schluss die Fußballschuhe. Mahmud spielt für Hilal al-Kuds; der Club, gegründet 1972, fünf Jahre nach dem Sechstagekrieg, ist Spitzenreiter der West Bank Premier League, der ersten Profiliga in Palästina. Es gibt, völkerrechtlich, kein Land Palästina, nur die beiden Bruchteile Westjordanland und Gaza-Streifen. Ein Quasistaat, der keine eigene Währung hat, aber seit 1998 Mitglied der Fifa ist, des Weltfußballverbands. Im Westjordanland gibt es nur acht Stadien, für mehr als zwei Millionen Palästinenser. Nach der zweiten Intifada, die im
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Betende Spieler des Clubs Hilal al-Kuds in der Kabine: „Wer war nicht an der Intifada beteiligt?“
* Mit Fifa-Chef Joseph Blatter und dem Palästinenser-Präsidenten Mahmud Abbas am 26. Oktober 2008 in Ramallah.
land, jenseits der Mauer. Unter der Woche fährt die Mannschaft über die Grenze, um zu trainieren, am Wochenende, so wie diesen Samstag, um zum Spiel zu kommen. Mahmud steigt in den Bus, er ist der Letzte, seine Mannschaftskameraden warten schon. Er setzt sich ans Fenster. Auf kürzester Strecke sind es zum Stadion kurz vor Ramallah etwa zehn Kilometer, aber die Mauer zwingt sie, eine Schleife zu fahren. Eine Stunde sind sie unterwegs, wenn sie gut durchkommen. Nach einer Weile erreicht der Bus den Checkpoint Kalandija, Wachtürme, Dreh-
kreuze, Stacheldraht, auf der anderen Seite liegt das Westjordanland. Die israelischen Soldaten winken den Wagen weiter, Ostjerusalem zu verlassen ist in der Regel leicht. Das Problem ist die Rückfahrt. Das Westjordanland gleicht einer kreuz und quer durchzäunten Weidelandschaft, Mahmud blickt nach draußen, sie fahren durch ein Flüchtlingslager, vorbei an rauchenden Müllsäcken, streunenden Katzen, Ruinen. In einer Seitengasse bolzen Kinder. Mahmud sieht die roten Dächer einer israelischen Siedlung, die wie Fliegenpilze auf einer Kuppe stehen. „Die Israelis rauben unsere Freiheit, und sie stehlen unser Land“, sagt er. „Sie wollen keinen Frieden.“ Mahmud saß für anderthalb Jahre in israelischer Haft: „Wer war nicht an der Intifada beteiligt?“ Jeder im Bus ist auf seine Weise betroffen: Der Assistenztrainer sagt, man habe seinen Sohn für einen Monat eingelocht, weil er Steine auf israelische Polizisten geworfen haben soll. Der linke Verteidiger, 18 Jahre alt, ein Gesicht wie ein Baby, sagt, sein Onkel sei von Israelis erschossen worden, obwohl er nichts getan habe: AMMAR AWAD / REUTERS
September 2000 begann, trugen sie für acht Jahre keine Meisterschaft aus, erst 2008 startete wieder eine Liga. Zwölf Vereine spielen in der höchsten Klasse. Mahmud ist kräftig und dabei auch flink, hat ein gutes Auge, ist sicher am Ball, er verdient 3000 Dollar im Monat, viel Geld. Am frühen Abend trifft seine Mannschaft auf Markas Balata, den Dritten der Tabelle. Sein Alltag erzählt vom politischen Irrsinn im Heiligen Land, aber auch von der identitätsstiftenden Kraft des Fußballs, den die Palästinenser so lieben. Für ein Volk, das vielen Ländern nicht vertrauenswürdig genug erscheint, um es für souverän zu erklären, eignet sich ja kaum eine Bühne besser als der Sport, um seinen Willen zur Selbstbehauptung auszudrücken. Mahmud macht sich auf den Weg zum Vereinsheim, wo sich das Team trifft. Es gibt keinen Fußballplatz in Ostjerusalem, die israelische Verwaltung verbietet den Palästinensern, einen zu bauen. Darum spielt Hilal al-Kuds immer nur im Westjordan-
Fußballfunktionär Radschub (l.)*
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„Es gibt Bilder einer Überwachungskamera, die das beweisen.“ Für sie ist die Perspektive klar, sie sind die Opfer, und der jüdische Staat ist ein zionistischer Unterdrücker, eine Macht der Vertreibung und Willkür. Doch so einfach ist es nicht. Was für die einen Besatzung ist, ist für die anderen Selbstverteidigung. Der Bus hält vorm Faisal-al-HusseiniStadion. Ein paar Fans sind schon da, singen und schwenken Fahnen. Die Arena ist vor gut zwei Jahren renoviert worden, sie bietet Platz für 7000 Zuschauer, der Platz ist aus Kunstrasen, die Loge gesichert mit Scheiben aus kugelsicherem Glas. Das Geld für den Umbau kam von der Fifa, aus Saudi-Arabien und Abu Dhabi. Im Oktober 2008 trug Palästinas Nationalelf hier ihr erstes Heimspiel aus, vorher spielte das Team in Jordanien oder Katar. Das Stadion ist der Stolz des palästinensischen Fußballverbands. Der Vorsitzende schlägt im Sessel die Beine übereinander, seine Schuhe glänzen, am Gürtel klemmen zwei Handys. Am Morgen hat er eine Delegation des japanischen Fußballverbands empfangen, später fährt er nach Jordanien, fliegt weiter nach Katar. „Ich will unseren arabi- Straßenfußballer bei Ramallah: Ruinen, rauchende Müllsäcke, streunende Katzen schen Freunden zur WM gratulieren“, sagt er, danach geht es in den Jemen, „ich „Wenn palästinensische Frauen ihre Fa- für palästinensische Fußballer zu erleichhabe viel zu tun.“ milie allein versorgen können, während tern. „Mister Blatter ist der Pate der Dschibril Radschub ist ein kahlköpfiger ihre Männer im Gefängnis hocken, dann Fußballfamilie. Ich halte große Stücke Herr von 57 Jahren, seine Augen sind können sie auch Fußball spielen“, sagt auf ihn.“ zwei dünne Striche, der Schnauzbart ist Radschub. 16 Frauenvereine gibt es in PaEr muss jetzt los. „Es ist doch ganz frisch rasiert. Seit zweieinhalb Jahren lei- lästina, sie haben bislang auf Betonplät- einfach“, sagt er noch. „Wer hoffnungslos tet er den Verband, er ist auch Chef des zen gespielt, bald beginnt die neue Saison, in die Ecke gedrängt wird, reagiert mit Nationalen Olympischen Komitees, sieht und dann sollen sechs Proficlubs ihren Gewalt. Wer aber zum internationalen aber aus, als habe er das letzte Mal als Meister suchen, auf denselben Feldern Orchester zählt, der spielt nicht falsch.“ Teenager Sport getrieben. wie die Männer. Radschub knöpft sein Jackett zu und Sein Generalsekretär und eine Assis„Alles ist möglich“, sagt Radschub. steht auf. tentin sitzen mit am Tisch, jemand ser- „Unser Hauptproblem sind die Israelis. Das Stadion hat sich gefüllt, noch zehn viert Tee mit Minze. Ihre aggressive Politik gegen unseren Minuten bis zum Anpfiff. Die Spieler von General Radschub, Mitglied im Zen- Sport ist ungeheuerlich.“ Vergangenes Hilal al-Kuds stellen sich in einer Reihe tralkomitee der Fatah, gilt als Pragmati- Jahr sei ein Nationalspieler durch israeli- auf und beten zu Allah. Danach bilden ker, er plädiert für eine Zwei-Staaten-Lö- sche Bomben gestorben. Und im Juni, sie einen Kreis, legen in der Mitte ihre sung, für ein friedliches Nebeneinander nach einer Länderspielreise, hätten die Hände übereinander und rezitieren die von Israel und Palästina. Das war nicht Israelis sechs Spielern die Rückkehr ins Fatiha, die erste Sure des Korans: „Im immer so: 1968 warf er eine Granate auf Westjordanland verweigert, für Monate. Namen des barmherzigen und gnädigen einen Militärkonvoi der Israelis, er bekam „Sie behandeln uns wie Hühner.“ Gottes …“ Dann laufen sie aufs Feld. lebenslänglich dafür, wurde aber nach Er sagt, der israelische Zoll habe TraiAuf der Tribüne stehen alte Männer 17 Jahren ausgetauscht. 2001 feuerte ein ningsausrüstung, Bälle, Tore, Trikots, al- und lassen die Perlen ihrer Gebetskette israelischer Panzer auf sein Haus, Ra- les Spenden aus Europa, für 15 Monate durch die Finger gleiten, Jugendliche dschub entkam verletzt. Später beriet er am Hafen festgehalten. „93 000 Schekel rauchen, Kinder knabbern Pinienkerne. Mahmud Abbas, den derzeitigen Präsi- mussten wir bezahlen, fast 20 000 Euro, Polizisten einer palästinensischen Spedenten der Autonomiebehörde. damit sie das Zeug rausrücken. So viel zialeinheit nehmen ihre Position ein, sie „Jetzt bin ich Sportfunktionär.“ Sagt ist es gar nicht wert.“ Er blickt in die Run- tragen blauen Flecktarn, Schlagstock, er. Radschub hat dafür gesorgt, dass jeder de, als hätte er einen Witz erzählt. Bleiweste. Proficlub 250 000 Dollar im Jahr erhält, Was Radschub berichtet, klingt nach Und mittendrin sitzt ein Mann mit eieinen Teil gibt der Verband, den Rest die Schikane. Aber ist es das wirklich? Er nem Bauch dick wie ein Fass. Abd alpalästinensische Regierung und das Büro schildert seine Version in einem Konflikt, Salam Abdin fährt einen Geländewagen des Präsidenten. in dem es keine eindeutigen Gewisshei- von Audi, in dem er kaum hinters Steuer Er hat auch eine Liga für Frauen auf ten gibt. passt. Er ist erst seit zwei Wochen zurück die Beine gestellt, mühelos war das nicht, „Gestern habe ich übrigens mit Joseph in Ramallah, die letzten zwölf Jahre hat denn in einer überwiegend muslimisch Blatter telefoniert“, sagt er. „Im Januar er in China gelebt, in Guangzhou; Abdin und patriarchalisch geprägten Gesell- will er uns besuchen.“ Der Fifa-Chef habe hat in der Industriestadt eine Firma, die schaft sind die Grenzen für das, was Frau- angekündigt, er werde Gespräche mit den mit Taschen und Schuhen handelt, mit en tun dürfen, immer noch eng gesteckt. Israelis führen und Wege suchen, Reisen T-Shirts und Holz, eben mit allem, was 138
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den Oberschenkel, es steht immer noch 0:0 zwischen Hilal und Balata, das erlösende Tor für al-Kuds will nicht fallen. Bei jedem Schuss spritzen dunkle Körner vom Boden auf, Kautschuk-Granulat. Man sieht viele Fehlpässe, und ständig liegt ein Spieler verletzt am Boden. 1:0 für Hilal, ein Abstaubertor, 67. Minute. Auf dem Platz gehen die Spieler beider Teams aufeinander los, sie schubsen sich, brüllen sich an, auch in Palästinas Liga gibt es Rudelbildung. Polizisten mit Helm und Schild laufen aufs Feld, der Schiedsrichter verteilt gelbe Karten wie Freilose. 2:0, in der 89. Minute. Auf der Gegengeraden fangen enttäuschte Zuschauer eine Prügelei an. Die Polizisten stürmen die Ränge, schlagen zu mit ihren Stöcken, treiben die Unruhestifter raus auf die Straße. Ein Fehler. Draußen liegen Steine. Brocken so groß wie Tennisbälle fliegen über die Tribüne ins Stadion, sie bleiben an der Eckfahne liegen, am Rand des Strafraums. Das Spiel läuft weiter, sieben Minuten Nachspielzeit. Dann pfeift der Schiedsrichter endlich ab. Sofort geht das Flutlicht aus, um die Gemüter zu beruhigen. Mahmud und seine Mitspieler tanzen im Dunkeln auf dem Rasen, sie tanzen weiter in der Umkleide, schreien, lachen. Als hätten sie der Welt mit ihrem Sieg bewiesen, dass es ein anderes Palästina gibt, als viele denken, ein besseres, eines, in dem nicht jeder als potentieller Terrorist verdächtigt wird. Schließlich sitzen die Spieler wieder im Bus, zurück nach Ostjerusalem. Niemand sagt etwas. Vielleicht sind sie müde, vielleicht ist es die Anspannung. Sie nähern sich der Stadtgrenze, dem Checkpoint Hisma. Nun wird es brenzlig für Mahmud. Es gibt für Palästinenser, die in Ostjerusalem leben, ein eigenes Bussystem, eigene Schulen, eigene Meldebehörden und Arbeitsämter. Sie brauchen einen speziellen Ausweis. Und den erhält nur der, dessen Familie schon vor dem Einmarsch der Israelis dort gewohnt hat. Mahmud besitzt so einen Ausweis nicht, er darf die Stadt nicht betreten. Er
man so braucht. Er trägt eine klobige Uhr und hat viel Gel im Haar. Abdin hat große Pläne mit dem palästinensischen Fußball. Er ist neuerdings Teilhaber eines Marketingunternehmens, der Team Palestine AG. Sie produziert künftig die Ausrüstung der palästinensischen Teams, dazu Kappen, Schals, Shirts. Die Sachen sollen in Supermärkten verkauft werden, im Internet, ein Shirt kostet 20 Schekel, umgerechnet vier Euro. Sechs Container warten in China darauf, verschifft zu werden. Eigentlich sollte ein großer deutscher Sportartikelhersteller die Trikots für die Nationalmannschaft liefern, aber als das Wort Palästina fiel, waren die Verhandlungen beendet. Abdin will mit seinen Partnern einen Sportkanal gründen, auf dem alle Spiele der palästinensischen Liga gezeigt werden. Er schätzt, dass sie dafür ungefähr 6,5 Millionen Dollar brauchen. „Viel Geld, sicher. Aber nur so ist es möglich, neue Sponsoren zu gewinnen.“ Bislang hat der Verband nur einen Vertrag mit Jawwal, dem größten Mobilfunkbetreiber in Palästina, die Firma zahlt eine halbe Million Dollar im Jahr. Drei bis vier Millionen sollen es mindestens werden, man will mit Banken reden, mit Versicherungen, Autoherstellern. „Etihad Airways – offizielle Fluglinie des palästinensischen Fußballs“, das wäre ein Slogan, der ihm gefiele. Abdin rutscht auf der Bank hin Unternehmer Abdin und her, klopft sich mit der Faust auf Sechs Container warten in China D E R
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lebt illegal bei Frau und Kind, fast jeden Tag mogelt er sich an den Wachleuten vorbei. Mahmud setzt sich im Bus weiter nach hinten, der Fahrer schaltet das Licht im Fond aus. Dann hält er an, dreht die Scheibe runter. „Wir sind eine Fußballmannschaft, wir haben gewonnen heute“, sagt er zur israelischen Soldatin, er lächelt, flirtet ein bisschen. Sie kommt in den Bus, vor der Brust ein Maschinengewehr, sie bleibt vorn beim Fahrer stehen. Die Spieler zeigen ihre Pässe, Mahmud hält den Ausweis des Busfahrers hoch, die zwei ähneln sich ein bisschen, im Dunkeln und auf die Entfernung kann die Soldatin keinen Unterschied erkennen. Den Busfahrer, der seinen Führerschein präsentiert, beachtet sie nicht. Sie dürfen weiterfahren. Mahmud greift zum Handy und ruft seine Frau Rawan an: alles gutgegangen. Manchmal holt Rawan, die in Ostjerusalem wohnen darf, ihn auch nach einem Spiel ab. Sie verkleiden sich als Juden, Rawan, die Hebräisch spricht, nimmt ihr Kopftuch ab, Mahmud tarnt sich mit einer Mütze, er hält sich das Telefon ans Ohr, und im Radio läuft jüdische Musik. „Man darf nicht zu schnell durch den Checkpoint fahren und nicht zu langsam, du darfst den Soldaten nicht in die Augen gucken, sonst verrätst du dich. Du musst so tun, als ginge dich die Kontrolle nichts an.“ Wenn sein Team in einen Ort muss, der weiter entfernt liegt, zum Beispiel nach Nablus, fährt Mahmud allein mit seinem Wagen, weil er niemanden gefährden will. Zwischen Ostjerusalem und Nablus liegen fünf Checkpoints der Israelis. „Es kommt vor, dass ich es nicht pünktlich zum Spiel schaffe oder umdrehen muss, weil das Risiko zu groß ist“, sagt er. „Das ist ein Problem für den Trainer. Er hat schon einen Ersatzspieler für mich geholt. Vielleicht wirft er mich aus der Mannschaft.“ Einmal erst ist Mahmud aufgeflogen, vor drei Jahren, als seine Frau schwanger war. Damals konnte ein Anwalt die Sache regeln, Mahmud musste versprechen, nie wieder einen Fuß nach Ostjerusalem zu setzen. Als Mahmud abends um halb zehn nach Hause kommt, kocht seine Frau Reis mit Huhn und Auberginen. Ihre Tochter hüpft auf dem Sofa. Mahmud schaltet den Laptop ein, er zeigt ein paar Bilder, von seiner Hochzeit, von Fußballspielen. „Ich hatte schon Angebote aus dem Jemen, aus Kuwait und Jordanien.“ Das Leben wäre einfacher für ihn dort, aber er hat abgelehnt. „Es gibt keinen schöneren Platz auf der Welt als Palästina“, sagt er. Das Essen ist fertig, Rawan ruft MAIK GROSSEKATHÖFER ihn zu Tisch. JAKOB HOFF/DER SPIEGEL
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Sport
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Rückblick 2010
BRICE
Science-Fiction-Fans sind schon lange mit Antimaterie vertraut, sie ist der Sprit, der das Raumschiff „Enterprise“ auf Warp-Geschwindigkeit bringt. 1928 hatte Paul Dirac die Existenz der spukhaften Substanz vorhergesagt, spä-
Antimaterie-Experiment am Cern U M W E LT
Tödlicher Rülpser Am 20. April explodierte im Golf von Mexiko die vom BP-Konzern betriebene Ölplattform „Deepwater Horizon“. 87 Tage lang sprudelten insgesamt 780 Millionen Liter Öl der Sorte „Louisiana Sweet Crude“ in den Ozean. Die Untersuchungen ergaben: Missmanagement und Fahrlässigkeit hatten zu der Katastrophe geführt. Die zuständige US-Aufsichtsbehörde war korrupt. BP schlampte beim Design der Bohrung. Vermutlich war am Ende undichter Spezialzement schuld daran, dass ein tödlicher Öl- und Gasrülpser aus der Tiefe aufsteigen konnte. Die US-Regierung hat – zusammen mit etwa 23 000 weiteren Klägern – einen Zivilprozess gegen BP angestrengt. Das FBI 140
hat als Beweisstück ein Sicherheitsventil des Bohrrohrs sichergestellt, das bei der Katastrophe versagte. Am Ende zeigt die Öko-Bilanz: Die Menschen und Tiere an der Golfküste haben Glück gehabt. Weil die Wetterlage günstig war und BP große Mengen des Öls mit Chemikalien im Meer versenkte, blieb die braune Flut an den Küsten weitgehend aus. Nur rund 6100 tote Vögel sammelten die Helfer ein – ein Bruchteil der nach der Havarie des Tankers „Exxon Valdez“ 1989 verendeten Tiere. Zudem scheinen Bakterien einen guten Teil des Öls im offenen Wasser bereits abgebaut zu haben. „Der Golf von Mexiko ist sehr widerstandsfähig und wird sich erholen“, sagt Larry McKinney vom Harte Research Institute for Gulf of Mexico Studies, „die Frage ist nur, wie schnell.“ D E R
L U F T FA H R T
Warten auf den nächsten Ausbruch
LUCAS JACKSON / REUTERS
Vorstoß in die Anti-Welt
ter wurden einzelne Antiteilchen tatsächlich in Beschleunigern hergestellt. Ganze Anti-Atome jedoch entzogen sich bislang hartnäckig der Forschung. Nun ist man dem Traum von der Raumschiff-Energie einen winzigen Schritt näher gekommen: Im November gelang es am Cern bei Genf erstmals, 38 flüchtige Atome des Anti-Wasserstoffs erstaunlich lange festzuhalten – immerhin knapp eine Fünftelsekunde lang. Nur ein halbes Gramm Antimaterie hätte die Explosivkraft der Hiroshima-Atombombe. Das Cern begegnet der Angst vor einer Anti-Bombe auf seiner Website so: Um die nötige Menge herzustellen, brauchte man eine Milliarde Jahre. Es sei „unwahrscheinlich, dass jemand so lange warten möchte“. Im All dagegen gehört Antimaterie zum Alltag, daher will das Cern im April eine sieben Tonnen schwere Kamera zur Internationalen Raumstation schicken, um Anti-Fotos zu schießen, unter anderem von den Überbleibseln schwarzer Löcher.
Mehr als 100 000 Flüge wurden gestrichen, Kanzlerin Angela Merkel musste sich mit dem Bus von Italien nach Hause durchschlagen, der Schaden lag bei fast fünf Milliarden Euro: Mitte April legte eine Vulkanaschewolke aus Island den Luftverkehr lahm. Wäre Europa besser gewappnet, wenn der Vulkan Eyjafjallajökull nächste Woche wieder ausbräche? Experten haben große Zweifel. „Die Schließung des Luftraums war eine totale Überreaktion auf einen relativ kleinen Vulkanausbruch; aber leider sind die Methoden zur Messung der Aschekonzentration nach wie vor ungenügend“, kritisiert der Vulkanologe Haraldur Sigurðsson von der Graduate School of Oceanography in Rhode Island. Das Grund-
F. B. RALAINSOLO/DURRELL (R.); T. GEISSMANN / FFI (L.); SOUTH WEST NEWS SERVICE LTD / ACTION PRESS (O.)
PHYSIK
Engmaulfrosch
Stumpfnasenaffe (Bildrekonstruktion), Raubtier Salanoia durrelli
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Wissenschaft · Technik ASTRONOMIE
Die Suche nach der Zwillingserde
Unfallfahrzeug, Konzernchef Toyoda AU TO M O B I L E
Die Newcomer des Jahres
Das ToyotaTribunal
Die kommende Dekade ist von den Vereinten Nationen zum „Jahrzehnt der biologischen Artenvielfalt“ erklärt worden – aber niemand weiß, wie viele verschiedene Tiere und Pflanzen es wirklich gibt. Millionen Arten gelten als unentdeckt, Jahr für Jahr werden rund 18 000 neu beschrieben. Manche verraten sich dabei von selbst, so etwa der Stumpfnasenaffe namens Rhinopithecus strykeri, dessen Riechorgan nach oben hin offen ist, weshalb er bei Regen schnell die Nase voll hat. Auch durch sein typisches Niesen kamen ihm die Forscher 2010 in Burma auf die Schliche. Leichter zu übersehen ist ein winziger Engmaulfrosch namens Microhyla nepenthicola: Ausgewachsene Männchen messen rund 12 Millimeter, weniger als eine 1-Cent-Münze. Forscher finden ihn am leichtesten, wenn er in der Dämmerung raspelartige Laute abgibt. Auch das katzenartige Raubtier Salanoia durrelli wurde 2010 eher durch Zufall entdeckt, als Biologen in einem Feuchtgebiet auf Madagaskar nach einem Lemuren suchten. Bisweilen lässt sich die Evolution sogar bei der Entwicklung neuer Mischformen beobachten: In der Arktis werden immer wieder braunfleckige Eisbären entdeckt, sogenannte Grolar Bears – Hybride, die aus Seitensprüngen zwischen Grizzly- und Eisbären hervorgehen, denen der Lebensraum unter ihren Tatzen wegschmilzt.
Ein Notruf ging um die Welt. Millionen Menschen hörten auf YouTube die Stimme des verzweifelten Passagiers eines Wagens der ToyotaLuxusmarke Lexus. Mit dem Mobiltelefon hatte der die Polizei angerufen, weil das Auto angeblich von selbst Gas gab und sich nicht bremsen ließ. Die Familie raste auf einem kalifornischen Highway in den Tod. Es war der spektakulärste einer Reihe von Unfällen in den USA mit vermeintlich selbstbeschleunigenden Toyota-Fahrzeugen. Toyota reagierte mit Rückrufen von Millionen Fahrzeugen, tauschte Fußmatten aus, an denen sich
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KEVIN LAMARQUE / REUTERS
problem sei bislang ungelöst, sagt auch Þorgeir Pálsson, Professor für Luftfahrttechnik in Reykjavík: Die Fluggesellschaften sind immer noch auf die Weisungen der Kontrollbehörden angewiesen – anders als etwa in den USA, wo sie stärker mitentscheiden können, ob sie etwa bei guter Sicht doch fliegen wollen. Derzeit werden zwar neuartige Aschedetektoren namens „Avoid“ getestet, die in Flugzeugen eingebaut werden sollen, um Piloten zu warnen. Doch bis zur Zulassung dürfte es mindestens ein Jahr dauern. Weitaus schneller hat ein irisches Online-Casino reagiert: Es nahm Wetten auf den nächsten Vulkanausbruch an. Motto: „Cash for Ash“. Favorit war der isländische Vulkan Katla.
LANDOV / PICTURE ALLIANCE / DPA
Vulkan Eyjafjallajökull am 19. April
Ende November war es so weit: Der 500. Planet außerhalb unseres Sonnensystems wurde in die Karte des Weltalls eingetragen. Diese Zahl markiert eine erstaunliche Erfolgsgeschichte. Erst 21 Jahre ist es her, dass der erste sogenannte Exoplanet entdeckt wurde. Mittlerweile kommen die Weltensammler kaum noch hinterher mit dem Zählen. Für 2011 erwarten sie eine wahre exoplanetarische Invasion; denn dann werden die Daten des Weltraumteleskops Kepler vorgelegt, das 170 000 ferne Sonnen beobachtet. Bislang sind
die meisten entdeckten Trabanten lebensfeindliche Gasplaneten ohne feste Oberfläche, außerdem wird ihre Existenz meist nur indirekt nachgewiesen. Nun fiebert die Fachwelt dem nächsten Durchbruch entgegen: der direkten Abbildung einer „Super-Erde“ – eines Planeten, der dem unseren ähnelt, mit Ozeanen, Landmassen und Atmosphäre. Ließe sich im Spektrum Sauerstoff nachweisen, wäre das ein Hinweis auf außerirdisches Leben. Dass unsere Erde irgendwo in der Milchstraße einen solchen Zwilling hat, daran zweifelt kaum jemand; schließlich gibt es allein in unserer Heimatgalaxie einige hundert Milliarden Sonnen, die extraterrestrisches Leben wärmen könnten.
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Gaspedale verhaken könnten, und korrigierte einen möglicherweise klemmanfälligen Pedalmechanismus. Konzernchef Akio Toyoda erschien im Februar in Washington vor einem Regierungstribunal und sprach den Angehörigen der Verunglückten sein Mitgefühl aus. Warum die Betroffenen nicht einfach gebremst haben statt Notrufe abzusetzen, bleibt rätselhaft. Die Kraft der Bremse übertrifft die des Antriebs bei weitem. An keinem der Unfallfahrzeuge konnte ein Bremsdefekt nachgewiesen werden. Gleichwohl zahlte Toyota kürzlich 32 Millionen Dollar Entschädigung an die US-Regierung, um Frieden mit der amerikanischen Volksseele zu bekommen. Ein Schuldeingeständnis verband der Konzern damit nicht. 141
MAX-PLANCK-INSTITUT F. EVOLUTIONÄRE ANTHROPOLOGIE (L.); DR. BENCE VIOLA / MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR EVOLUTIONÄRE ANTHROPOLOGIE (O./R.)
Wissenschaft
Altai-Gebirge, Backenzahn des Denisova-Menschen, Grabung in der Dionysos-Höhle: Eine jahrtausendealte Geschichte
ANTHROPOLOGIE
Botschaft aus dem Pleistozän Drei verschiedene Menschentypen teilten sich vor 40 000 Jahren die Weiten Eurasiens. Zwei davon sind seit langem bekannt. Nun haben Leipziger Forscher das Erbgut des dritten entziffert. Ihr erstaunlichster Befund: Die rätselhaften Fremdlinge hatten Sex mit den Ur-Melanesiern.
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as kostbarste Mitbringsel ist, wie immer, wenn Svante Pääbo auf Reisen war, in einer Tupperdose verstaut. Stolz zeigt der Forscher, was er diesmal erbeutet hat: Der Deckel ploppt auf, und Pääbo zieht ein Tütchen aus Klarsichtfolie hervor. Sein Inhalt: ein versteinerter Fußknochen. „Frisch aus Sibirien“, sagt der Paläogenetiker triumphierend, doch dann bändigt er seinen Forschereifer. „Davon weiß noch niemand etwas“, sagt er und versteckt seinen Schatz im Nachbarzimmer. Vielleicht wird das Fossil, das Pääbo da aus Russland mitgebracht hat, in ein paar Monaten die Fachwelt aufschrecken. Vorerst aber hat er genug zu tun mit der Entdeckung, die in der vergangenen Wo142
che für Aufsehen sorgte: Pääbo und seine Mitarbeiter am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie haben die Geschichte der Menschwerdung um ein Kapitel erweitert. Es geht um den „Denisova-Menschen“, einen bisher unbekannten Vetter des Homo sapiens. Wie dieser aussah? Das können die Forscher nicht sagen. Wie er gelebt hat? Auch das wissen sie nicht. Und doch können sie erstaunliche Details über das Schicksal ihres Denisova-Menschen berichten. Denn anders als bei allen paläontologischen Funden stützen sich die Wissenschaftler diesmal nicht auf die Gestalt von Knochen, sondern auf Gene. Ein einziger Backenzahn und ein Fingerknöchelchen – D E R
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viel zu wenig fossile Überreste haben sie bisher in der Hand, um daraus eine neue Menschenart zu bestimmen. Doch im Innern der Funde sind die Forscher auf genetisches Material gestoßen – Moleküle mithin, in denen eine jahrtausendealte Geschichte niedergeschrieben ist. Das erlaubte es den Leipziger Wissenschaftlern, erstmals einen neuen Menschentypus allein anhand genetischer Daten zu definieren. Den Großteil der molekularen Botschaft aus dem Pleistozän spürten Pääbo und seine Mitstreiter in einem winzigen Knochenteil auf, dessen hervorstechende Eigenschaft seine Unscheinbarkeit ist. Der Laie könnte es für den Splitter eines Kieselsteins halten oder für einen zerbro-
Gerangel um die Weltherrschaft
F. SAUR / ULLSTEIN BILD
S. PIETREK
Denkbares Szenario der Besiedlung Eurasiens
Homo sapiens
Fundort des DenisovaMenschen
Neandertaler
vor 60 000 Jahren:
Ein Trupp anatomisch moderner Menschen wandert aus Afrika aus und verbreitet sich rasch über ganz Eurasien. Er stößt dabei auf seine dort heimischen Verwandten. Irgendwann kommt es, vermutlich im Nahen Osten, zur Vermischung von Mensch und Neandertaler.
vor 300 000 Jahren:
Zwei Populationen trennen sich voneinander. Die eine wandert nach Europa ein, wo sie sich zum Neandertaler fortentwickelt. Die andere besiedelt den Osten. Sie wurde jetzt DenisovaMensch getauft.
vor 30 000 Jahren:
vor 400000 Jahren:
Eine Gruppe von Urmenschen bricht aus Afrika auf und dringt nach Eurasien vor.
FRANK VINKEN
chenen Kirschkern, gewiss aber nicht für das, was es ist: den Fingerknochen eines Urmenschenmädchens, das vor knapp 50 000 Jahren ums Leben gekommen ist. Kaum zu glauben, dass russische Forscher beim Durchforsten der sibirischen Dionysos-Höhle (Russisch: Denissowa peschtschera) auf dieses versteinerte Krümelchen aufmerksam wurden. Die Datierung der Ablagerungen bewies, dass das Knochenfragment aus jener faszinierenden Zeit stammen musste, in der zwei Arten von Mensch um die Herrschaft über den Planeten rivalisier-
Paläogenetiker Pääbo
Seitensprünge über die Artengrenze
Eine Gruppe der Neuankömmlinge dringt bis nach Südostasien vor und begegnet den dort siedelnden Denisova-Menschen. Vereinzelt kommt es zum Sex zwischen beiden Menschentypen. Später ziehen die modernen Menschen nach Neuguinea weiter, wo aus ihnen die heutigen Melanesier hervorgehen. Die zurückbleibenden Denisova-Menschen sterben aus.
ten: der moderne Homo sapiens und sein Vetter, der Neandertaler. Und wo immer Hominiden-Funde aus dieser Ära auftauchen, da stehen bald die Forscher aus Leipzig auf dem Plan. Denn im Verlauf der letzten Jahre konnten sie in Knochen des Neandertalers genug Erbgut isolieren, um daraus das Genom dieses Urmenschen zumindest in groben Konturen nachzuzeichnen. Nun suchen sie nach weiteren Funden, um das Bild zu verfeinern. Mehrfach reiste Pääbos Mitarbeiter Johannes Krause ins Altai-Gebirge, um mit den russischen Kollegen zu verhandeln. Dort, im weltfernen Grenzgebiet von Russland und Kasachstan, ist die Höhle des Dionysos gelegen. Krause hatte Erfolg: Er durfte das Knöchelchen mitnehmen in sein Leipziger Labor. Als er in Deutschland eintraf, ahnte er allerdings noch nicht, welch einen Schatz er da im Gepäck hatte. Moderner Mensch oder Neandertaler? Das war die einzige Frage, die Genforscher Krause sich stellte. Doch schon der flüchtige Blick auf die DNA-Daten offenbarte, dass hier etwas nicht stimmen konnte. Bereits im Frühjahr verkündete Krause der Weltöffentlichkeit, dass dieser Knochen weder von einem modernen Menschen noch von einem Neandertaler stammte. D E R
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Damit blieb nur eine Schlussfolgerung: Ein dritter Typ Mensch hatte beim Gerangel um die Weltherrschaft mitgemischt. Die Menschenfamilie hatte Zuwachs bekommen. In den Monaten seit seiner großen Entdeckung haben sich Krause und seine Mitstreiter darangemacht, das gesamte Erbgut dieses Neulings zu entziffern. „Und erst dabei haben wir gemerkt, was für einen Wunderknochen wir da vor uns hatten“, erzählt er. Rund 30 Milligramm Knochenmaterial bohrten die Forscher aus dem Innern des Fossils. Das ist weniger als eine Messerspitze. Doch das reichte. Denn in beispielloser Reinheit waren in diesem Knochenpuder die Erbgutschnipsel jenes urzeitlichen Mädchens verborgen. Anders als bei allen anderen Funden aus der Steinzeit hatten hier kaum Bakterien die Probe verunreinigt. So sauber war das Material, dass sich der größte Teil des drei Milliarden Buchstaben langen DNA-Textes zusammensetzen ließ – und mit ihm offenbart sich nun die Chronik jener rätselhaften Fremden, die einst im Altai-Gebirge siedelten. Vor vielleicht 400 000 Jahren, so das Szenario, brachen die Urahnen dieses Mädchens aus Afrika auf und stießen in die Weiten der eurasischen Landmasse 143
JENS SCHLÜTER / DPA
Genforscher Krause bei der Arbeit im Leipziger Reinraumlabor: Wunderknochen im Gepäck
vor. Vielleicht 100 000 Jahre währte die Wanderschaft, dann trennten sich die Wege zweier Sippschaften für immer. Die einen, inzwischen bekannt als Neandertaler, stellten in Europa Mammut und Wisent nach. Die anderen drangen gen Osten vor, nunmehr Denisova-Menschen genannt. Wahrscheinlich würden die beiden Vettern bis heute in den Wäldern Eurasiens hausen, wären ihnen nicht viele Jahrtausende später Nachzügler aus Afrika gefolgt. Diesmal waren es grazilere, geradezu schmächtige Gestalten: Der moderne Homo sapiens hatte die Bühne in Europa und Asien betreten. Viel ist darüber spekuliert worden, wie wohl das Aufeinandertreffen der Neuankömmlinge mit ihren in Europa heimischen Verwandten verlief: Bekriegten sie sich? Tauschten sie Faustkeile gegen Knochenwerkzeug? Raubten sie einander die Frauen? Oder gingen sie sich einfach aus dem Weg? Gewiss ist nur: Mindestens 10 000 Jahre lang teilten sich beide Menschenarten den europäischen Lebensraum, dann musste der Neandertaler weichen. Ein kleiner Teil von ihm jedoch hat überlebt: Er findet sich, als Erinnerung an gelegentliche artübergreifende Seitensprünge, im Erbgut aller heute lebender Eurasier wieder. Ein ähnliches Drama, so zeigt sich nun, spielte sich auch viele tausend Kilometer weiter östlich ab. Davon gibt die DNA des Denisova-Mädchens Zeugnis. Um festzustellen, ob es auch hier zu sexuellen Begegnungen mit den Zuwanderern aus Afrika kam, verglichen die Leipziger Forscher das Erbgut aus der Dionysos-Höhle mit demjenigen heute lebender Menschen. Egal, ob Europäer, Afrikaner oder Chinese – nirgends fanden sich Charakteristika des Denisova-Erbguts. Einzig in Neuguinea stießen die Forscher auf verräterische Passagen im DNA-Text. Nur durch eine Vermischung mit dem DenisovaMenschen seien diese erklärlich. 144
Die Fremden aus Sibirien, so die Deutung der Forscher, müssen einst bis nach Südostasien vorgedrungen sein, wo es irgendwann zur Begegnung mit dem einwandernden Homo sapiens kam. Die geringe Vermischung spricht dafür, dass beide nicht oft, doch immer wieder, Sex miteinander hatten, ehe die modernen Menschen dann mitsamt der genetischen Mitgift des Denisova-Menschen in Richtung der melanesischen Inselwelt rund um Neuguinea weiterzogen. Immer komplexer erscheint damit das Geschehen, aus dem am Ende der moderne Homo sapiens als einziger Überlebender hervorging. „Früher haben wir uns die Menschwerdung als einen linearen Prozess vorgestellt“, sagt der Paläoanthropologe Jean-Jacques Hublin,
„Die einzige Periode, in der nur eine Spezies Mensch auf Erden lebte, ist die Gegenwart.“ der wie Pääbo eine Abteilung am Leipziger Max-Planck-Institut leitet. „Inzwischen jedoch stellt sich die Evolution als komplizierter, vielfältig verzweigter Busch dar.“ Schon heute seien mindestens 15 verschiedene Vor- und Urmenschenarten bekannt, und Hublin rechnet damit, dass es durchaus noch mehr werden könnten. Zu jedem Zeitpunkt der Vorgeschichte lebten offenbar mehrere Varianten des Grundentwurfs Mensch nebeneinander auf Erden. Mit jedem dieser Menschentypen erkundete die Evolution eine etwas andere Anatomie, testete eine abgewandelte Lebensweise, probte ein verändertes Sozialverhalten. Immer wieder müssen sich die verschiedenen Menschenarten begegnet sein: Sie konkurrierten um Lebensraum, um Jagdbeute, um Wohnstätten, vielleicht auch um Frauen. Sie rotteten sich wechselseitig aus – aber sie vermischten sich auch miteinander. D E R
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„Die einzige Periode, in der nur eine einzige Spezies Mensch auf Erden lebte, ist vermutlich die Gegenwart“, sagt Hublin. Doch wie sieht das Erbe des Neandertalers aus, das bis heute in Europäern und Asiaten fortlebt? Und welche Eigenschaften verdanken die heutigen Einwohner der pazifischen Inselwelt ihren Ururgroßeltern aus dem Denisova-Clan? Antworten auf diese Fragen müssen die Forscher vorerst schuldig bleiben. Noch reicht eine DNA-Sequenz nicht, um abzulesen, ob ein Mensch hellhäutig, breitschultrig, intelligent, gesellig oder gewalttätig ist. Zwar sind im genetischen Buchstabensalat des Denisova-Mädchens sicher auch Informationen über seine äußere Erscheinung, über seine Intelligenz, seine Begabungen und seinen Charakter versteckt. Doch lesen können die Forscher diese noch nicht. Groß waren die Erwartungen, als vor zehn Jahren die Entzifferung des HumanGenoms gefeiert wurde. Alle drei Milliarden Buchstaben des menschlichen Erbguts lagen damit offen zutage. Nun, so glaubten die Forscher, werde es nicht mehr lange dauern, bis man die darin enthaltene Botschaft auch verstehen werde. Doch die Hoffnung trog. Das Erbgut erwies sich als äußerst komplexes Regelwerk, dem kaum einfache Aussagen zu entlocken sind. Selbst auf eine so schlicht erscheinende Eigenschaft wie die Haaroder Hautfarbe wirken mehr als hundert Gene ein. „Und die Körpergröße“, so berichtet Pääbo, „wird einer jüngeren Untersuchung zufolge sogar von rund 180 Genen beeinflusst – und zudem von einer Vielzahl von Umweltfaktoren.“ Wie sollte dieses undurchschaubare Geflecht von Wechselwirkungen je klare Antworten auf Fragen nach Aussehen oder Charakter liefern? Und wenn die Vorhersagekraft genetischer Analysen schon beim modernen Menschen versagt, wie sollte sie dann beim Urmenschen funktionieren? Die Schwierigkeiten leugnet Pääbo nicht. Geschlagen geben mag er sich trotzdem nicht. Er hofft auf weitere Fossilien von Neandertaler und DenisovaMensch, um deren Erbgut mit demjenigen heutiger Menschen zu vergleichen. Irgendwo, so seine Überzeugung, müsse im Gentext doch die Antwort darauf versteckt sein, warum einer der drei Menschen heute Flugzeuge, Fernseher und Atombomben baut, während die beiden anderen nie über die Fertigung von Faustkeilen, Steinklingen und Holzspeeren hinauskamen. „Letztlich“, sagt Pääbo, „geht es mir bei all meiner Forschung vor allem um die Antwort auf die Millionen-Dollar-Frage: ,Was hat uns zu dem gemacht, was JOHANN GROLLE wir heute sind?‘“
Wissenschaft Zaalbergs Befunde gleichen weitge- und zuckerreiche Speisen wirken auf die hend jenen Resultaten, die der britische gleichen neuralen Schaltkreise im Gehirn Physiologe Bernard Gesch von der Uni- ein wie Alkohol. Auf diesen aber ist der versity of Oxford gewonnen hat. In dem Stoffwechsel vieler Häftlinge konditioJugendgefängnis Polmont im schottischen niert: Bei einer Untersuchung kam im voReddingmuirhead beobachtete der For- rigen Jahr heraus, dass etwa 70 Prozent Gefängnisinsassen werden scher die offenkundig positive Wirkung aller jugendlichen Gefängnisinsassen in meist mit zu schwerer Kost von Nahrungsbeigaben auf jugendliche Deutschland deutliche Zeichen von Alkoverpflegt. Könnte eine Knastbewohner. Gesch fordert deshalb holmissbrauch und -abhängigkeit zeigen. gesündere Ernährung zu weniger jetzt die breitflächige Gabe von MineraEine Verbesserung der Knasternährung lien und Vitaminen an Sträflinge: „Es ist ist nur mit kooperationswilligen BehörGewalt im Knast führen? schließlich mit keinem Risiko verbunden, den möglich. Immerhin hat das niederie Justizvollzugsanstalt Mann- das Nahrungsangebot zu verbessern.“ ländische Justizministerium Zaalberg unheim verließ Häftling Nummer Im Gegenteil glaubt Gesch, dass die längst zum Berater berufen. H081008100553 nicht nur als freier, Zusatzstoffe nicht nur helfen, Randale zu In Deutschland hingegen sehen die sondern auch als erstaunlich schlanker verhindern, sondern auch die Selbstmord- Knastaufseher wenig Handlungsbedarf. Mann. Umgehend löste die ranke Erschei- rate im Strafvollzug zu drücken. Suizid Ganz im Geiste der sechziger Jahre wird nung Spekulationen aus: War der Insasse ist ein weitverbreitetes Problem im Straf- in vielen Gefängnissen wie der Hamburim Gefängnis etwa das Opfer allzu dürf- vollzug – allein in Deutschland nehmen ger Justizvollzugsanstalt Hahnöfersand tiger Mahlzeiten geworden? sich jedes Jahr rund hundert Häftlinge bis zu viermal in der Woche Fleisch serIn Wahrheit jedoch hatte sich der Wet- das Leben. viert. termoderator Jörg Kachelmann, einst Träger eines Doppelkinns, hinter Gittern ganz bewusst von der Knastkost ferngehalten – und nach Expertenmeinung gut daran getan. Derart üppig wird in den meisten Haftanstalten aufgetischt, dass viele Einsitzende über den „Mastregelvollzug“ spotten. In der Justizvollzugsanstalt in Berlin-Tegel musste die Gefängnisleitung vor wenigen Jahren sogar die Brotrationen kürzen, weil Häftlinge aus Überdruss zuhauf Brotscheiben aus dem Fenster warfen. Eine neue Studie legt nun sogar den Schluss nahe, dass die zwar reichliche, meist aber auch sehr einseitige und schwere Verpflegung im Vollzug dem Klima im Knast abträglich ist. „Es setzt sich der Eindruck fest, dass der Ernährungszustand unmittelbar mit auffälligem Verhalten gekoppelt ist“, behauptet der niederländische Psychologe Ap Zaalberg. In seiner Heimat konnte Zaalberg diesen Verdacht unlängst durch Untersuchungen in acht Gefängnissen erhärten. In einer Doppelblindstudie ließ der Wissenschaftler über Monate hinweg an zwei Gruppen von Gefangenen zusätzlich zur üblichen Verpflegung Nahrungsergänzungskapseln austeilen. Keiner der Pro- Essensausgabe im Gefängnis: „Die Häftlinge müssen lernen, was gut für sie ist“ banden wusste, ob er ein Präparat mit Vitaminen, Mineralien und Omega-3-FettDie Verteilung von Vitaminpillen dürfe Die Häftlinge speisen in einer Woche säuren erhielt – oder einfach nur ein allerdings nur ein erster Schritt sein, Bayerischen Leberkäse mit Sauerkraut, Placebo. mahnt der Ernährungsexperte: „Die Häft- Schnitzel „Mailänder Art“, Putengulasch Die Gefangenen selbst vermochten linge müssen lernen zu erkennen, wel- „Hawaii“ und am Sonntag Schweinebrakaum einzuschätzen, ob sich ihr Verhal- ches Essen gut für sie ist.“ ten – obwohl sie sich im Knast bekanntten in irgendeiner Weise geändert hatte. An dieser Einsicht jedoch mangelt es lich kaum bewegen und folglich einen Doch die Zahlen ergaben ein eindeutiges den meisten Insassen. „Wir haben beob- viel niedrigeren Kalorienbedarf haben als Bild: In der Placebo-Gruppe rempelten achtet, dass die Gefangenen häufig sehr in Freiheit. und pöbelten die Insassen sogar eher häu- schlechte Entscheidungen treffen, wenn Auf der legendären amerikanischen figer als zuvor; in der Mineralien-Gruppe es um die eigene Ernährung geht“, be- Gefängnisinsel Alcatraz servierte die Gehingegen nahm die Zahl der Zwischen- richtet Gesch. Zum Teil sei dies wohl da- fängnisverwaltung einst sogar ganz befälle um mehr als 30 Prozent ab. durch zu erklären, dass viele der Zucht- wusst eine solch üppige Speisenfolge. Wer sich normal ernährt, braucht ei- häusler in Freiheit niemals eine ausgewo- Denn die kalorienreiche Kost hatte einen gentlich keine Vitamin- oder Mineralien- gene Ernährung mit drei Mahlzeiten am durchaus erwünschten Nebeneffekt: Derpillen zu schlucken. Die niederländische Tag kennengelernt hätten. art gemästet, so das Kalkül der Aufseher, Studie zeigt daher, dass die Knastkost eine Ein anderer Grund für die Neigung zum seien die Sträflinge zur Flucht kaum in FRANK THADEUSZ schädliche Mangelernährung darstellt. Ungesunden ist physiologischer Art: Fett- der Lage. ERNÄH RUNG
Mast im Vollzug
NIEHUES / ADVANTAGE
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BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO / DER SPIEGEL
Mütter mit Babys bei Gebärdenkurs in Mannheim: Freundliches Desinteresse bei der Zielgruppe LERNFORSCHUNG
Chor der Mütter In Kursen lernen Säuglinge, sich mit Gebärden auszudrücken, noch bevor sie sprechen können. Bereichert die neueste Mode der Frühförderung wirklich das Familienleben?
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ina, neun Monate, blinzelt amüsiert spitzten Fingern. Es geht um Geduld, Wiein die Runde: Was haben diese derholung und Konsequenz. Frauen nur? Plötzlich wedeln sie Denn eines Tages, sagt Kursleiterin Pemit den Händen, dann wieder fassen sich trov, werde das Kind mit Gebärden antalle zugleich ans Kinn. Und seltsam, jetzt worten. Die Mütter müssen nur zu Hause malen sie auch noch Vierecke in die Luft. beharrlich mit dem Gestikulieren fortfahDazu singen sie lustige Lieder. Und ren, notfalls viele Wochen lang. Papa sollMama macht alles mit. te natürlich auch mitmachen. Auch Mathis, Jan und Ida haben Mühe Wenn das Kind auch nur fünf, sechs zu begreifen, was in dieser Gruppe hier Gebärden aufnimmt, sei das vielleicht geschieht, fühlen sich aber sichtlich gut schon hilfreich im Hausgebrauch. Es könunterhalten. Jan krabbelt wie aufgezogen ne dann schwierige Sachen mitteilen, die im Kreis herum, Ida zerknüllt verzückt auszusprechen es noch viel zu klein ist: die Kopien mit den Liedtexten, und Klein- „Ich habe Hunger“ – „Guck mal, ein PinMathis widmet sich dem Einspeicheln sei- guin“ – „Wo ist die Oma?“ nes Plastikschiffchens. Das ist die große Verheißung der GeSo geht es fast immer, wenn Säuglinge bärdenbewegung. Manche Kinder brinzusammenkommen, um die Gebärden- gen es angeblich auf 100 Vokabeln und sprache zu erlernen: freundliches Desin- mehr. Videos bei YouTube zeigen kleine teresse bei der Zielgruppe. Das sei ganz Virtuosen, wie sie auf Abruf der Reihe normal, versichert die Logopädin Natasa nach ihre Gesten vorführen. Petrov, die diesen Kurs im hessischen In den letzten Jahren kam das GebärStädtchen Pohlheim leitet. den weltweit in Mode. Mittlerweile gibt Der Chor der Mütter, rings um die Kin- es Kurse, Bücher und DVDs auch schon der sitzend, setzt denn auch tapfer seine in Kroatien, Malaysia oder Japan. In den Darbietung fort. Allerlei Lieder sollen die USA ist das „Baby Signing“ bereits länKleinen mit den Gebärden vertraut ma- ger populär. Das Vokabular entstammt, chen: Kommt in einem Gesangsstück der kindgerecht vereinfacht, dem Gebärden„Wind“ vor, fächeln dazu eifrig die Hän- system der Gehörlosen; wie dieses gilt es de, beim „Schiff“ werden sie bugförmig als vollwertige Sprache. Und weil eine gefaltet, beim „Huhn“ picken sie mit ge- frühe Zweitsprache angeblich die Intelli146
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genz fördert, ergreifen die Eltern gern die Gelegenheit zur frühestmöglichen Ertüchtigung ihres Nachwuchses: Er kann die zweite Sprache schon lernen, noch bevor er die erste zu brabbeln versteht. In der deutschen Frühförderungskultur geht es dagegen offenbar mehr um die optimale Einfühlung: „Ich kann früher teilhaben an dem, was die Kinder beschäftigt. Und sie sind seltener frustriert, weil sie sich besser verstanden fühlen“, beteuert Vivian König, Leiterin des Unternehmens „Zwergensprache“ mit Sitz in Markranstädt bei Leipzig. Rund 130 Kursleiterinnen verbreiten ihre Lehre bereits im deutschsprachigen Raum. Ein zweites kleines Imperium hat die Hamburger Pädagogin Wiebke Gericke unter der Marke „Babysignal“ aufgebaut. Auch sie verspricht mit ihren Kursen ein vertieftes Verständnis zwischen Eltern und Kind. Allerdings lernen Kinder ohnehin erstaunlich schnell sprechen. Kommt es da wirklich auf die paar Monate an, in denen sie vielleicht vorweg schon ein wenig mit den Händen mitreden können? Mechthild Kiegelmann, Entwicklungspsychologin an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, geht gerade der Frage nach, aus welchen Motiven die Eltern – fast immer sind es die Mütter – in die Kurse gehen. Ist es der Wunsch nach innigem Einvernehmen oder doch die schnöde Hoffnung auf Startvorteile? Das Projekt ist Teil einer großen internationalen Studie, die gerade begonnen hat. Eine der Hauptfragen, die zu klären sind: Was ist überhaupt dran am Reden mit den Händen? Die paar Studien, die es bereits gibt, zeigen nur, dass die Methode ziemlich si-
Wissenschaft cher nicht schadet. „Sie ist harmlos“, sagt wird zur „Nane“, und wenn der Vater Kiegelmann. Überzeugende Belege für das Kind „noch einmal“ in die Luft wereinen Nutzen fand die Forscherin aber fen soll, versteht er „momma“ ebenso auch nicht: „Weder lernen die Kinder si- gut. Im Zweifelsfall helfen ihm zwei hochgnifikant schneller sprechen, noch haben gereckte Ärmchen bei der Interpretation. sie einen größeren Wortschatz. Die StressSchon mit wenigen Monaten zeigten belastung der Eltern im Alltag scheint Babys das Talent, sich vorsprachlich pränicht zu sinken, und auch auf die emotio- zise mitzuteilen, meint Kiegelmann: nale Entwicklung der Kinder konnten wir „Blick zur Mutter, Blick zum Fläschchen, keinen deutlichen Einfluss feststellen.“ Blick zur Mutter, Gebrüll. Das ist eine Dennoch berichten viele Kursteilneh- ziemlich eindeutige Aussage.“ mer von der segensreichen Wirkung der Oft ist das Gebrüll aber viel schwerer Gebärden. Allein der Glaube daran in seiner Bedeutung zu erfassen – scheint schon zu helfen. schlimmstenfalls hat es keine. Das Kind Man täuscht sich leicht in einem Kind. schreit, heult, kreischt, und die Eltern verMit Begeisterung macht es alles Mögliche zweifeln: Was will es uns nur sagen? nach. Aber will es damit auch etwas mitDer totale Körpereinsatz der frühkindteilen? Oder bereitet es nur den Großen lichen Kommunikation kann nicht nur eine Freude? „Natürlich kann man ein- zarte Geister durchaus verängstigen. Hier zelne Zeichen auch einfach konditionie- springt der Gebärdenkurs ein: Er verren“, sagt Kiegelmann – das ist eine feine spricht vorzeitige Erlösung vom rohen Umschreibung für Dressur. Naturzustand, von der Kreatürlichkeit Die Eltern fragen Gesten ab, so wie sie des Kindes. Er macht glauben, in jedem eben auch gern abfragen, wie die Kuh krebsrot angeschwollenen, schreienden macht: um die Mitwelt zu beeindrucken. Monster sei ein gesittetes Wesen einge„In den USA können angeblich schon sperrt, das sich auch manierlich zu erkläSäuglinge mit drei Monaten angeben, ob ren wüsste: Dürfte ich noch um etwas sie Milch oder Wasser trinken wollen“, Milch bitten? Nur weil das Kind die Wörsagt Kiegelmann. „Das ist nicht sehr ter nicht habe, müsse es so oft losbrüllen glaubwürdig.“ vor Verzweiflung. Interessanter ist die Frage, welche GesDas berührt eine Grundfrage der koten das Kind im Alltag von selbst ge- gnitiven Entwicklung. Ab wann ist einem Kind überhaupt klar, was ihm jeweils fehlt? Erfahrene Eltern wissen, wie lange Steckt in jedem krebsrot das dauern kann. Oft wäre das Kind angeschwollenen, schreienden selbst am wenigsten imstande zu benenMonster ein gesittetes Wesen? nen, warum es brüllt. Dass es müde ist, merkt es manchmal erst, wenn es zusambraucht. Sabrina Behrends aus Hamburg mensackt und auf der Stelle einschläft. zum Beispiel ist froh, dass ihr Sohn Bodo, Der Gedanke „Ich bin müde, ich sollte knapp ein Jahr alt, nach seinem Kurs über jetzt wirklich in die Heia“ ist dagegen ein ein Repertoire von vier, fünf händischen Akt der Selbstinterpretation, der selbst Vokabeln gebietet. Neben dem Klassiker Fünfjährigen nicht immer leichtfällt. Winkewinke, den es schon immer gab, Mit einem Jahr können die Kleinen zeigt Bodo „Licht an“ oder „Licht aus“, noch kaum auseinandersortieren, ob gewenn jemand am Schalter zugange war, rade eher der Hunger zwickt, die nasse und „Drehen“, wenn er auf sein Mobile Windel scheuert oder einfach mal alles aufmerksam machen will. zu viel ist. In der Regel werden sie überAber sind das Mitteilungen, die sich wallt von einem diffusen Unwohlsein, anders nicht machen ließen? Das Haupt- automatisch gefolgt von lautem Krähen argument der Gebärdenbewegung ist nach Abhilfe. schließlich, dass die Kleinen sich mit Ges„Natürlich lernt eine Mutter auch so, ten viel besser ausdrücken können, weil ihr Kind zu deuten“, sagt Ute, die mit ihsie ihnen angeblich leichter von der Hand rem kleinen Michael gerade einen Anfängehen als Wörter wie „Pinguin“ oder gerkurs in Mannheim abgeschlossen hat. „Schlafengehen“. Dennoch will sie auch in den Fortgeschrit„Da habe ich erhebliche Zweifel“, sagt tenenkurs. Warum? Psychologin Kiegelmann. „Erstens sind In einem sind sich alle Teilnehmerinauch viele Gebärden schwierig. Und zwei- nen einig: Die Mütter selbst werden viel tens dauert es eine Weile, bis Kinder so besser verstanden, wenn sie die Hände weit entwickelt sind, dass sie Dinge über- zu Hilfe nehmen. „Man spricht automahaupt benennen können. Aber dann ist tisch deutlicher“, sagt Martina, „kurze es auch schon egal, in welcher Sprache Sätze, klare Ansagen. Und vor allem sie das tun.“ Blickkontakt.“ Die Kinder sind nicht wählerisch; sie „Babysignal“-Gründerin Gericke, die nehmen jedes Ausdrucksmittel, das funk- selbst viele Kurse gibt, kann das bestätioniert. Auch schwierige Wörter sind in tigen: „Manche Mütter merken da erst, Wahrheit kein Hindernis; sie werden wie oft sie an ihrem Kind vorbeigeredet MANFRED DWORSCHAK umstandslos passend gemacht. „Banane“ haben.“ D E R
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Wissenschaft GESCHICHTE
Handzahmer Schönling Ein Brite erforscht den VampirMythos: Einst erschaffen aus Angst vor Seuchen, wurde der Blutsauger zum Sexidol. Heute ist er nur ein Schatten seiner selbst.
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ie Eigenschaften eines Vampirs sind klar umrissen: Er beißt und saugt. Er schläft im Sarg. Er meidet das Tageslicht. So will es die Tradition – doch Edward Cullen ist anders. Der Vampir aus der populären „Bis(s)“Buchserie der US-Autorin Stephenie Meyer lebt in einem lichtdurchfluteten Designerhaus. Särge hat er nicht im Keller. Und Menschenblut ist ihm zuwider. „Wir haben gelernt, unseren Durst zu kontrollieren“, sagt der blasse Beau über seine Sippe. „Wir bezeichnen uns als Vegetarier.“ Ist aus dem Schrecken der Nacht plötzlich ein handzahmer Schönling geworden? Die Autorin Meyer präsentiert ihn so. Und diese Verweichlichung des einstigen Gruselwesens sei kein Zufall, glaubt der Literaturwissenschaftler Richard Sugg von der britischen Durham University. Der Forscher hat die Geschichte des Vampirs vom finsteren Wiedergänger des Mittelalters bis zum literarischen Bösewicht der Neuzeit aufgearbeitet. Die Figur des Edward sieht er als vorläufigen Höhepunkt einer kulturhistorischen Verwandlung. Suggs Fazit: „Der Vampir ist in einer Identitätskrise.“ Im 21. Jahrhundert habe der Blutsauger seine bösesten Eigenschaften eingebüßt. Sogar „mitfühlend“ sei er nun, so Sugg: „Er ist nicht mehr offensichtlich teuflisch.“ Wie wahr: In Meyers „Bis(s)“-Romanen spielen die Vampire Baseball und kochen italienisch. Was für ein Abstieg! Jahrhundertelang war der Vampir Inbegriff des Schreckens. Bis zurück ins zwölfte Jahrhundert reichen die Berichte über den Untoten. Damals wurde er noch für ein reales Wesen gehalten und beispielsweise für Epidemien wie Cholera oder Pest verantwortlich gemacht. Das erste Seuchenopfer im Ort sei zum Vampir gestempelt worden, erläutert Sugg. Nächtens kehrte es angeblich zurück und trug den Tod erst in die eigene Familie, dann ins ganze Dorf – ein „magischer, religiöser Weg, um mit der Furcht und dem Grauen umzugehen“. Der Ur-Vampir war dabei keineswegs bleich, dünn und blutleer wie sein moderner Vetter. Stattdessen kam er lumpig, von Faulgasen aufgebläht und mit roten Gliedern voller Blut daher. Genau dieser Anblick bot sich häufig, wenn die Gräber 148
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ROGER SCRUTON DEFD
BULLS / SCOPE FEATURES
Forscher Sugg: „Der Vampir ist in der Identitätskrise“
Vampire im Film*: Der Untote entdeckte den Sex
„Bis(s) zum Morgengrauen“-Darsteller*: Beißen mag er sie nicht
Verdächtiger eröffnet wurden – was Noch immer lebe der Glaube an VamSugg nennt die Episode „eine der erodurchaus üblich war: Um den Horror zu pire in einigen Regionen Osteuropas fort, tischsten Szenen der viktorianischen Libesiegen und die ruhelose Seele endgültig berichtet Sugg. In anderen Teilen Europas teratur“. Die „Imitation des Kusses“ zu befreien, so glaubten die Menschen, jedoch habe der Untote Anfang des 19. durch den lüsternen Biss, die „Intimität müsse der verdammte Körper zerstört Jahrhunderts eine bemerkenswerte Trans- des Nackens, der Kehle und der Brust“ – werden, sagt Sugg: „Und dabei konnte formation durchgemacht. Der grob- all das strotze vor Symbolik. man nicht gründlich genug vorgehen.“ schlächtige Vampir des Volkes verwan„Die Tabus waren damals vor allem seBis in jüngste Zeit sind solche Fälle do- delte sich in den blutleeren Schurken der xueller Art“, sagt er. Das Religiöse und kumentiert. Einwohner des rumänischen Literatur, der fortan hochwohlgeborenen Magische des Ur-Vampirs werde in verDorfs Marotinu de Sus etwa exhumierten Jungfrauen die Halsschlagader punktierte. botene „sexuelle Energie“ umgewandelt. 2004 den Körper eines Mannes, der verDieses Zeitalter des „Vampotainment“ Gleichzeitig steht die Vampirsaga der dächtigt wurde, nächtens als „Strigoi“ Un- (Sugg) läutete 1819 der Brite William Po- Moderne auch für den Kampf der Wisheil zu bringen. Die Einheimischen spal- lidori mit seiner Novelle „The Vampyre“ senschaft gegen den Aberglauben. Abrateten den Brustkorb des Toten mit einer ein. In dem Buch mimt ein gewisser Lord ham van Helsing, der Dracula-Jäger, arHeugabel und schnitten sein Herz heraus. Ruthven den Wiedergänger – aristokra- beitet mit den Werkzeugen der Neuzeit. Sie spickten die Leiche mit Pfählen und tisch, bleich und gefährlich charmant. Er Er ist Arzt, nicht Priester. Bluttransfusiobestreuten sie mit Knoblauch. „Sie ver- verführt junge Frauen und besiegelt den nen und das Winchester-Gewehr kombrannten sein Herz, lösten die Asche in Liebespakt mit seinem Biss. „Der Vampir men gegen das Böse zum Einsatz. Wasser und tranken davon“, erinnert sich ramponiert die Reputation der Damen – „Der Vampir eignet sich hervorragend Dorfbewohnerin Elisabeta Marinescu. in viktorianischer Zeit fast schlimmer als als Metapher“, sagt Sugg. Auch die Aus Griechenland ist der Fall eines ko- der Verlust der Seele“, sagt Sugg. „Der „Bis(s)“-Saga von Stephenie Meyer vermatösen Mädchens überliefert, das leben- Untote entdeckte den Sex.“ steht der Gelehrte vor allem als Abbild dig begraben wurde, weil die Eltern fürchBesonders offensichtlich werde die der Gegenwart. Die Geschichte feiere seteten, die Tochter könne andernfalls als fleischliche Lust in Bram Stokers Klassi- xuelle Enthaltsamkeit und bediene die „vrikolakas“ wiederkehren. Und auf der ker „Dracula“ von 1897. Der Rechtsan- postmoderne Sehnsucht nach traditionelInsel Euböa prüften die Einheimischen bis walt Jonathan Harker reist in dem Roman len Geschlechterrollen. „Viele Teenager in die zwanziger Jahre viele Gräber auf nach Transsylvanien, um Graf Dracula wünschen sich eine romantischere Welt verdächtige Löcher: Jene, „die es ertragen ein Haus in London zu verkaufen. Der zurück, in der Sex wieder mehr tabuisiert konnten“, spähten hinein und sahen die indes interessiert sich mehr für Harkers ist“, analysiert der Philologe. „glühenden Augen des Vampirs in der Tie- Verlobte Mina. Bald reist er nach London Ein zögerlicher Vampir kommt da gefe“, berichtet die Anthropologin Juliet du und verführt die Schöne. In einer Art ani- rade recht. Tatsächlich säuselt „Bis(s)“Boulay. Um den Zauber zu beenden, kipp- malischem Orgasmus saugt sie Blut aus Schönling Edward seiner Geliebten Bella ten die Dorfbewohner „eine Mixtur aus seiner Brust. Harker seinerseits wird in über weite Strecken der Geschichte endkochendem Öl und Essig in das Grab“. Transsylvanien fast von drei Gespielinnen lose Liebesschwüre ins Ohr. Beißen jedes Grafen vernascht. Die spitzzähnigen doch mag er sie fast bis zum Schluss nicht. * Links: Szene aus „Bram Stoker’s Dracula“ (USA, 1992); Nymphomaninnen versuchen, den JüngAls es dann endlich doch geschieht, rechts: Robert Pattinson als Vampir Edward Cullen mit sind die beiden natürlich längst verheiraKristen Stewart als seine Geliebte Bella Swan (USA, ling zu verführen. Nur knapp gelingt ihm PHILIP BETHGE schließlich die Flucht. tet. 2008). D E R
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Technik solle „in die Oper“ fahren können mit cier mit freundlichen Augen und gediesem Wagen. schmeidiger Eloquenz; er schrieb eine DiEinige der verdientesten Ingenieure des plomarbeit über die erste Epoche von BuKonzerns mühten sich mit diesem Las- gatti. Auf seiner Visitenkarte steht „Leiter tenheft, mit einem 16-Zylinder-Motor, der Tradition“, und er erlebt diese fabelhafte Mit der Wiederbelebung von Bu- neben 1000 Vortriebs-PS gut 2000 weitere Planstelle erkennbar als Offenbarung. Kruta weiß alles über Bugatti (was er gatti schuf VW das schnellste und in Form von Hitze hervorbringt und bei ersten Testläufen Teile der Prüfstands- dementiert), und er kennt alle Kunden teuerste Auto der Welt. Nun wer- anlage in Brand setzte. (was er einräumt, ohne diesen Wissensden die Käufer knapp – die Firma Es dauerte fast fünf Jahre, bis ein Auto schatz preiszugeben). Es handle sich „um soll künftig Edel-Audis bauen. herauskam, das bei Tempo 400 nicht da- eher altes Geld und um Menschen, die vonfliegt, dessen Reifen dabei nicht in sehr verantwortungsvoll damit umgehen“, ie beschaulichste Produktionsan- Fetzen gehen, dessen Motor einen Liter erklärt er pflichtschuldig. lage des VW-Konzerns steht in ei- Benzin pro Kilometer verfeuern kann, Die Aussage überprüfen zu wollen nem Park südwestlich von Straß- ohne im engen Wagenbauch am Hitz- scheint nicht sinnvoll. Bugatti bewegt sich burg. Rotwild äst auf dem Gelände, ein schlag zu verenden. Der neue Bugatti war weit außerhalb der Reichweite gewöhnnettes Schlösschen steht darauf, und der hinreichend motorisiert, um jegliche sub- licher Neidreflexe. Die meisten der Kungläserne Neubau erscheint daneben wie tile Noblesse, die dieser Marke einst an- den scheuen den öffentlichen Auftritt mit ein frisch gelandetes Raumschiff. haftete, weit hinter sich zu lassen. dem Fahrzeug. Einige treffen sich einmal Bugatti ist die kleinste Marke im VWDoch genau das sollte ja nicht pas- im Jahr auf der VW-Teststrecke nahe Verbund, und man vermeidet hier das sieren. Schulemann bewegt die Titan- Wolfsburg. Sie fahren dort unter Aufsicht Wort „Fabrik“. „Wir sagen Atelier, weil schrauben kraulend in der Handfläche. 400 km/h schnell und bekommen eine Urwir unsere Autos auch als Kunstwerke „Bugatti“, sagt er, „ist mehr als 1200 PS.“ kunde. verstehen“, erklärt Fred Schulemann. Im Lastenheft stand die Oper; und alles Nur vereinzelt haben sich die Eigner Der Werksdirektor ist ein schlanker in Molsheim zeugt von dem zähen Stre- eines Bugatti Veyron geoutet, unter ihnen Herr mit schulterlangem Haar und tadel- ben, dieses Auto gegen die Obszönität ein russischer Wodka-Krösus, ein amerilosem Auftritt. Schulemann hält einige seiner immensen Vortriebskraft zu im- kanischer Fernsehunterhalter sowie UrSchrauben in der rechten Hand wie Be- prägnieren. sula Piëch, die Frau des Aufsichtsratsweisstücke für das eben Gesagte. Es sind Zuständig für die Qualitätssicherung chefs. Sie verfügt zweifellos über altes Schrauben aus Titan, einem der leichtes- der Etikette ist dort der junge Betriebs- Geld; der Grundstock stammt aus dem ten und zugleich stabilsten Metalle der wirt Julius Kruta, ein kauziger Conféren- „Dritten Reich“. Erde. 14 dieser Schrauben halFest steht, dass die Menschen ten den Bugatti Veyron in der knapp werden, die diese Autos Mitte zusammen. Sie verbinden bezahlen können und auch hadie Fahrgastzelle mit dem hinben wollen. 300 Exemplare zu teren Rahmenteil, auf dem ein bauen war das Ziel. Der Absatz mächtiger Motor ruht. stockt derzeit bei etwa 260. Eine solche Schraube kostet Was den Rest betrifft, setzt Bu100 Euro, ein Satz Reifen 15 000, gatti auf Käufer, die schon eidas ganze Auto 1,65 Millionen. nen Veyron haben und nun eiDer Bugatti Veyron Super nen noch schnelleren wollen. Sport ist um 450 000 Euro Das war der Hauptgrund für teurer als ein gewöhnlicher Budie Leistungssteigerung. gatti Veyron, dafür aber noch So wird Bugatti mit einem an ein wenig schneller. Auf einer Stillstand grenzenden Produkwerkseigenen Teststrecke ertionstakt durch die nächsten reichte er 431 Kilometer pro Jahre gehen. 2014, beschloss Stunde, 24 km/h mehr als das kürzlich der VW-Vorstand, soll Standardmodell; mit seinen die Marke dann vom Sport1200 PS markiert er den vorläuwagenbau Abstand nehmen figen Höhepunkt eines ingeniöund stattdessen eine Limousine sen Leidenswegs. auf Basis des Audi A8 herstelBugatti war die verwegenste len. Die Stückzahl dürfte sich Wette des Konzernpatriarchen dann deutlich erhöhen. Ferdinand Piëch. Die Marke ist Im Sinne der Firmenhistorie eine Art heiliger Gral des Auist das eine legitime Option. Butomobilbaus. Sie stand für ungatti hat in der ersten Epoche vergleichliche Rennwagen und auch Luxuswagen gebaut. TraPrachtkarossen, ehe sie noch ditionsleiter Kruta ist noch vor Ausbruch des Zweiten nicht befugt, die ModellentWeltkriegs zugrunde ging. scheidung zu kommentieren. 1998 erwarb VW die MarkenEr blickt über die Parkanlage rechte, kaufte wenig später das auf den Hubschrauberlandealte Firmengrundstück im elsäsplatz, den viele Kunden gern sischen Molsheim, und Piëch nutzen, und sagt einen Satz setzte die Eckdaten für das von erhabener Gültigkeit: „Das Auto aller Autos: über 1000 PS, Letzte, was die Menschen brauüber 400 km/h und alles bitte chen, die zu uns kommen, ist CHRISTIAN WÜST vornehm und manierlich; man Extremsportwagen Bugatti Veyron: In die Oper fahren ein Auto.“ AU TOM O B I L E
Zähes Streben
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Rückblick 2010
Kultur Hegemann
CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL (L.); EDGAR HERBST / 13 PHOTO (R.)
Protest gegen Sarrazin in Berlin
Hysterie an der Grenze Jede Zeit hat ihre Psychopathologien. Im Jahr 2010 war das der Borderliner, und zwar nicht als individuelles medizinisches Phänomen, sondern als kollektive Symbolfigur. Der Borderliner ist etwas entschieden anderes als der eher idealistische Grenzgänger, der noch glaubte, Spaltungen überwinden zu können. Grenzgänger, das klingt nach Versöhnung und Handschlag. Borderliner, das bedeutet Krach und Hysterie. Die Spaltung ist weniger in seinem Kopf als in der ihn umgebenden Kultur. Als gesellschaftlicher Blitzableiter fängt er die Energie auf, die sich aus dieser Spannung ergibt. So war das bei Helene Hegemann und ihrem Buch „Axolotl Roadkill“. Die literarische Überzeugungstäterin balancierte auf dem Grat zwischen Genie und Taschendiebin – die aggressiven Angriffe und Racheschmähungen zeigten, wie sehr sich die alten Kultureliten bedroht fühlen. So war das bei
INTERNET
Die Tragödie der Generation i Man könnte sagen, dass David Finchers Satire „The Social Network“ der erfolgreichste Film aller Zeiten ist, obwohl er weit weniger Geld einspielte als etwa James Camerons 3-D-Spektakel „Avatar“. Er bewog den Milliardär Mark Zuckerberg, 26, dazu, 100 Millionen
Dollar seines Vermögens von 6,9 Milliarden Dollar für wohltätige Zwecke zu spenden. Zuckerberg, Gründer des sozialen Netzwerks Facebook, hatte das Gefühl, in Finchers Film als so gierig, rücksichtslos und kaltherzig porträtiert zu werden, dass er sich zu der großzügigen Geste genötigt sah, um sein Image zu retten. Zuckerberg hat den Film allerdings falsch verstanden. „The Social Network“ ist in Wahrheit die schreiend komische D E R
Christoph Schlingensief und seinem Lebens- und Sterbenswerk. Der Gesamtkünstler wurde in beuysscher Manier erst wie ein Scharlatan behandelt und dann bei seinem Krebstod zum Heiligen verklärt – die allgemeine Anbetung zeigte, wie groß die Sehnsucht nach der religiösen Strahlkraft der Kultur ist. So war das bei Thilo Sarrazin und seinem unheimlichen Bucherfolg „Deutschland schafft sich ab“. Der Provokateur mit dem schiefen Blick schillerte zwischen Aufklärung und Rassismusverdacht – das Hü und Hott von „Recht hat er, aber ...“ zeigte, wie groß das Angstpotential in der Gesellschaft tatsächlich ist. So war das mit Julian Assange und seinem WikiLeaks-Feldzug. Mal wird er als Vorkämpfer einer neuen Informationsfreiheit verehrt und dann wieder als Gefährder des demokratischen Systems verdammt – die amerikanischen Rachegelüste konnten nicht verdecken, dass sich das Wesen der weltweiten Öffentlichkeit verändert hat. Der Borderliner ist zur emblematischen Figur einer Epoche des Umbruchs geworden. Er bringt ans Licht, was andere nicht sehen wollen. Er ist ein Doppelagent des Fortschritts.
PHIL FISK/CAMERA PRESS/PICTURE PRESS
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Zuckerberg
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Tragödie des digitalen Zeitalters, und wie bei den alten Griechen geht es um Liebe, Verrat und Hybris. Die Generation i ist kinotauglich geworden und erscheint überlebensgroß in ihren Triumphen und unendlich verloren in ihren Niederlagen. In der letzten Szene wartet Mark Zuckerberg (Jesse Eisenberg) vor dem Computer auf eine Antwort der Frau seiner Träume. Er ist gar nicht asozial, er ist einsam. 153
Rückblick 2010 KUNST
Ladys first
Klau, schau, wem
Für den Job gibt es kein Gehalt, aber er weckt hohe Erwartungen: Die Neue soll, wenn der Amtsinhaber an ihrer Seite schon nicht die ganz große präsidiale Power versprüht, für gehobenen Staatsglamour sorgen, Ladys first! Doch das missglückte zunächst. Beim ersten Staatsbesuch in Russland lächelte Bettina Wulff noch wie ein Mädchen auf der eigenen Geburtstagsparty. Sie trug einen wippenden Mantel und Stiefel. Für eine Shoppingtour in der Innenstadt von Hannover wäre das ideal gewesen, im Kreml wirkte es etwas unbeholfen. All die vergangenen Jahre hatten die Deutschen neidisch nach Frankreich geschaut und in die USA. Carla. Michelle. Den beiden ist gelungen, was eigentlich unmöglich scheint: das Bild der First Lady zu modernisieren. Zum einen also als Anhängsel des Mannes durch die Welt zu reisen, schöne Kleider zu tragen und sich um eine wohltätige Aufgabe zu bemühen. Dabei aber trotzdem eigenständig und selbstbewusst zu wirken. Ein Dilemma, in dem auch
Das vergangene Jahr war das seit langem erfolgreichste für Diebe. Zwar tauchten Kunstwerke auch wieder auf – wie vorige Woche die 28 Werke im Wert von 2,7 Millionen Euro, die im spanischen Getafe aus einer Spedition geklaut worden waren – aber die Liste der 2010 verschwundenen Kunstwerke ist lang. Im Mai trugen Kunsträuber Bilder von Picasso, Matisse oder Modigliani im Wert von 100 Millionen Euro aus dem Pariser Museum für Moderne Kunst. Die Alarmanlage war defekt. Im Januar war in Marseille ein Gemälde von Edgar Degas im Wert von 800 000 Euro verschwunden, im August schnappten sich Diebe in Kairo van Goghs Gemälde „Mohnblumen“ – 40 Millionen Euro wert. Auch hier waren Alarmanlagen und Überwachungskameras außer Dienst. Hätten sie funktioniert, wäre immerhin zu sehen gewesen, wie ein Gegenstand abtransportiert wurde. Viele zeitgenössische Werke aber entziehen sich schnöden Raubzügen mit der Brechstange. Bestes Beispiel: die entmaterialisierte Klanginstallation „Lowlands“ von Susan Philipsz. Das Werk gilt als diebstahlsicher. Die Schottin Philipsz, 45, gewann damit im Dezember den renommiertesten britischen Preis für zeitgenössische Kunst, den „Turner Prize“. Zu sehen ist im Museum fast nichts, nur drei Lautsprecher. Die Künstlerin hatte für „Lowlands“ drei Versionen eines Volkslieds eingesungen, die im Museum gleichzeitig abgespielt werden. Wie klaut man so ein Kunstwerk? Entwendet man nächtens die CD aus der Tate Britain? Zieht man sich in einer Nacht-undNebel-Aktion drei MP3 auf den Laptop? Kunstformen wie Soundskulpturen oder Videokunst werden in Zukunft eines billiger machen: die Versicherungsprämien.
CLEMENS BILAN / DAPD
R E P R Ä S E N TAT I O N
Wulff, Guttenberg
Stephanie zu Guttenberg steckt, die zwar nur die Frau des Bundesverteidigungsministers ist, sich aber das ganze Jahr über verhielt, als wäre sie eine First Lady kurz vor der Einberufung.
T H E AT E R
„Ich kann nicht ewig in Köln bleiben“ Die Kölner Schauspielchefin und Regisseurin Karin Beier, 45, über ihre Erfolge und die Versuche, sie als Intendantin des Hamburger Schauspielhauses zu verpflichten ten als die Theater-Topkraft des Jahres 2010. Zu Recht? Beier: Sicher hat unser Erfolg hier in Köln mit günstigen Umständen und Personenkonstellationen zu tun, aber ich merke schon, dass ich in meiner Regiearbeit gerade eine gute Phase habe. Es gab eine Begegnung, die mir sicher sehr geholfen hat: die mit Elfriede Jelinek. SPIEGEL: Frau Jelinek hat die Vorlage für Ihren Abend „Das Werk / Im Bus / Ein Sturz“ geschrieben. Die Vorstellungen sind stets ausverkauft. Denken Sie dennoch darüber nach, andere Jobangebote anzunehmen, etwa für das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg, wo Sie die erste Wahl sind? Beier: Die Kölner sind toll, und ich fühle mich wohl hier. Auch die Politiker sind froh, 154
MATTHIAS JUNG
SPIEGEL: Frau Beier, Sie gel-
Beier
dass das Haus läuft, dass man uns überregional wahrnimmt. Wir hatten einen harten Kampf um die Frage nach einem Neubau oder der Sanierung des Schauspiels. Ich werde nicht ewig in Köln bleiben können, so ist das nun mal in meinem Beruf. Im Augenblick kämpfen wir darum, ob wir künftig in den Kölner Opernterrassen ein kleines Haus betreiben können oder nicht. An dieser Entscheidung können wir D E R
messen, wie sehr man uns wirklich schätzt. Was die Nachricht, dass man mich in Hamburg haben will, da bedeutet, lässt sich schwer sagen. Vielleicht sagen manche Politiker, die ich verärgert habe: Wenn sie gehen will, soll sie gehen. SPIEGEL: In Hamburg soll wohl noch vor Jahresende verkündet werden, wer Schauspielhaus-Intendant wird. Beier: Ach, wirklich? Interessant! SPIEGEL: Welche Versprechungen hat man Ihnen in den Verhandlungen gemacht? Beier: Das beantworte ich lieber allgemein. Ich rede mit vielen Leuten. Aus der Politik gibt es in regelmäßigen Abständen Wortmeldungen, die besagen, man könne Haushalte sanieren, indem man Opern oder Theater zusammenlegt und ihnen die Mittel kürzt. Das sind Wunschvorstellungen von Leuten, die in der Regel nie ins Theater gehen. Denn es gibt klare Berechnungen, die belegen, wie absurd und falsch das ist.
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Kultur West bei den MTV-Awards in Los Angeles
POP
Souveräner Größenwahn
PG/FACE TO FACE
Sie galten als vom Aussterben bedrohte Spezies, denn in den nuller Jahren hatte es keinen Nachwuchs gegeben: die globalen Superstars des Pop. Sie schienen in den Abgrund gezogen vom Siechtum der Plattenindustrie, ersetzt durch die Nischenkünstler des großen Nebeneinander im Internet. Umso erstaunlicher, mit welcher Souveränität Lady Gaga und Kanye West im vergangenen Jahr den Superstar neu erfanden. Lady Gaga inszenierte in immer neuen Outfits, mit einer aufwendigen Welttour und kontroversen Videos ihren Willen zum Ruhm. Kanye West vermischte Größenwahn, Mitteilungsbedürfnis und Verletzlichkeit zu einem faszinierenden Gesamtkunstwerk aus Musik, Kunst und Mode. Oberflächlich erinnerten sie dabei an Vorgänger wie Madonna oder Michael Jackson. Tatsächlich bewegen sie sich aber in einer gänzlich veränderten kulturellen Landschaft: Die alten Stars hingen noch an Tonträger und Fernsehen. West und Gaga bespielen mit Virtuosität den rund um die Uhr, rund um den Globus laufenden Aufmerksamkeitszirkus der sozialen Netzwerke. Ihre Kunst ist nicht mehr das Werk, sie sind es selbst.
Träume sind Schaumbeutel Erinnern Sie sich noch an den Kreisel in „Inception“? Christopher Nolans Thriller über die Labyrinthe des Unterbewusstseins, die Fallen der Erinnerung und die Konstruktion von Traumwelten ist für viele der Film des Jahres 2010. Wissen Sie, was der Kreisel bedeutet? Wissen Sie, was Bedeutung überhaupt bedeutet? Erinnern Sie sich noch an das Wort Erinnerung? Sind Sie sicher, dass Sie nicht träumen? Und wenn ja, spielt das eine Rolle? Vielleicht war ja Leonar-
do DiCaprio längst da und hat Ihnen einen Gedanken eingesetzt, den Sie nun für Ihren eigenen halten. Vielleicht waren Sie im Kino und haben sich von Christopher Nolan über Niveau unterhalten gefühlt. Und dabei gar nicht gemerkt, dass Ih-
nen hier jemand philosophische Schaumbeutel verkauft hat; dass die Sinnsuche in diesem Film nur ein Taschenspielertrick ist. Dass hier alles nichts bedeutet und nichts alles und das dann schon Tiefe sein soll. Dass hinter der hyperkomplexver-
WARNER BROS.
KINO
Szene aus „Inception“ D E R
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schraubten Geschichte vom Gedankeneinsetzer Cobb (DiCaprio) tatsächlich die große Leere lauert. Man kann das angenehm finden, weil man eh meint, dass die Vernunft überbewertet ist und der Verstand uns im Weg steht. Man kann aber auch mal sagen: Ho, ho, langsam, es rennen zwar alle zum Yoga und spielen Sudoku und atmen überhaupt gern fernöstlich ein und aus – das heißt aber noch lange nicht, dass der Kreisel in „Inception“ mehr ist als nur ein Kreisel. Es ist die Cleverness, die diesen Film so erfolgreich machte und die gleichzeitig so nervt. Doktor Freud war eben kein Experte für Spezialeffekte. 155
Titel
Verteufeltes Glück der Freiheit Jedes Jahr an Silvester fassen Menschen gute Vorsätze. Das Ritual erzählt viel vom Menschsein und von der Kraft, die unsere Zivilisation erschuf: Wir wollen immer besser werden. Aber wie? Und: Ist das überhaupt gut?
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n diesem Jahr hat es schon wieder nicht geklappt. Es war der Vorsatz des letzten und vorletzten Jahres und ganz sicher schon des halben Lebens: mehr Bewegung. Immer zu Silvester dieselbe innere Selbstverpflichtung: Das muss doch zu machen sein. Es heißt, der Mensch habe den aufrechten Gang. Aufrecht? Gang? Am Schreibtisch, am Computer, vor dem Fernseher, 156
im Auto, in der Bahn, im Flugzeug? Eher so: kauern und krümmen, bis die Evolution einen wieder am Boden hat. Bewegung also. Aufrichten. Draußen ist es kalt, es stürmt und schneit. Vielleicht lieber erst mal lesen. Hinsetzen und lesen. Philosophen aller Epochen haben sich mit den guten Vorsätzen befasst. Aktuelle Studien legen dar, warum es so schwer ist, sie umzusetD E R
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zen. Ausreden seien das große Übel, so heißt es dort. Wer den guten Vorsatz wirklich umsetzen wolle, müsse Bedingungen schaffen, die Ausreden unmöglich machten. Vertrauen zu sich selbst ist gut, Kontrolle ist besser. Es gibt einen Beruf für solche Fälle. Personal Trainer zwingen ihre Kunden, gegen Geld Sport zu treiben, sie lassen keine Ausreden zu. Madonna hat einen,
JIM RAKETE/ PHOTOSELECTION (L.); LANGER / AGENTUR FOCUS (O.R.); CHRISTIAN THIEL (R.U.)
Hausgans, Feiernde auf dem Oktoberfest in München, deutsche Erfolgsautoren: „Erlaubt ist, was sich ziemt“
alle Superstars haben einen, und sogar in einer Stadt wie Hamburg mit mäßiger Superstar-Dichte gibt es Personal Trainer. Sie präsentieren sich auf einer Homepage. Es sind ziemlich viele. 130 Euro für anderthalb Stunden. Für ein Anfangspaket von zehn Stunden könnte man genauso gut ein Kind in Afrika zum Abitur führen. Die Personal Trainer auf der Homepage blicken sehr opti-
mistisch. Bei einigen zeichnen sich unter dem T-Shirt so viele Muskeln ab, dass ihnen zuzutrauen wäre, mit ihren neuen Kunden gleich dreimal um die Alster, den großen See in der Hamburger Innenstadt, zu hetzen. Eine Frau auf der Homepage lächelt besonders freundlich. In ihrem Lebenslauf heißt es, sie sei ausgebildete Bühnentänzerin, sie wird viel von Disziplin verstehen. Sie ist 37 Jahre alt und beschäfD E R
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tigt sich auch mit fernöstlichen Heilslehren. Am Telefon sagt sie, sie komme zum Training nach Hause oder in ein Fitnessstudio. Eines aber sei wichtig: „Fragen Sie sich, worum es Ihnen wirklich geht. Überlegen Sie mal. Und dann treffen wir uns.“
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en Beginn des Jahres feiert die Menschheit seit Jahrtausenden. Es ist ein heidnischer Brauch, die bösen 157
Titel Geister müssen vertrieben werden, die Seele soll von den schlechten Erinnerungen des alten Jahres gereinigt und auf das neue vorbereitet werden. Die Kirchenglocken läuten, die Raketen steigen in den Himmel, die Böller krachen, das ist das Höllenspektakel, die Vertreibung der bösen Geister, und dann wünschen wir uns Glück und lesen die Botschaften aus der Zukunft im gegossenen Blei oder in Keksen, die niemand isst. Am Ende sind alle betrunken. Es ist ein Ritual, das jedes Jahr einen kleinen Wendepunkt im Leben markiert. Die Dinge müssen sich gründlich ändern, mal wieder. Der Mensch will ein anderer werden, wieder lernen, sich zu mögen, und abstreifen, was an ihm hängt wie nasse, alte Kleider: schlechte Angewohnheiten, Macken und Marotten, Süchte, sogar belastende Beziehungen. Alle Jahre wieder wird der Mensch moralisch. Er geht in sich, und heraus kommt der Wunsch nach Verwandlung, zu einem besseren Ich: weniger essen und sich mehr bewegen, weniger aufbrausend sein und – paradox – mehr Gefühle zeigen. In der Partnerschaft soll es liebevoller, am Arbeitsplatz effektiver zugehen. Weniger Alkohol und Nikotin, mehr Müsli und mehr Zeit für die Kinder. Das alte Jahr ist schal und unbrauchbar geworden, das neue ist bislang bloß ein Taumel der Möglichkeiten. Die Chefs bitten zu Mitarbeitergesprächen, verteilen Lob und Tadel, und auch mit sich selbst wird der Arbeitnehmer zu dieser eingetrübten Jahreszeit auf einmal seltsam unnachsichtig. Vorgaben erfüllt? Einjahresplan erfolgreich absolviert? Wo stecken die Effektivitätspotentiale? Wo ist die Einpersonenfirma namens Ego noch ausbaufähig? Die Zeit läuft. Zeit für Inventur. So wie die Kaufleute im 19. Jahrhundert, wie der Getreidehändler Jean Buddenbrook aus Lübeck, zum Jahres-Ultimo ihre Kontobücher mit Soll und Haben abschlossen, so neigt auch der Bürger der Moderne Ende Dezember zum existentiellen Schlussstrich. Jedes Silvester ein klitzekleines Jüngstes Gericht mit sich selbst. Früher lockte die Kirche mit einem einfachen Heilsversprechen: Tuet Buße, haltet die Gebote ein, lebt ein gottgefälliges Leben, dann winkt im Jenseits die Ewigkeit. Doch seitdem der liebe Herrgott bei den meisten auf der Sondermülldeponie für abgelaufene Lebensentwürfe gelandet ist, seit die Hölle mit ihren Schrecken abdankte, hat auch das Jenseits keine Zukunft mehr. Anders als die Heiden und die Gottesgläubigen hat der moderne Mensch der 158
Meditierende Mönche in Bangkok: Fernöstliche Weisheiten als Versuch, dem Gefängnis des
Aufklärung es schwer. Er ist frei, weil er annimmt, dass es keinen Gott mehr gibt, der über sein Schicksal entscheidet, nun ist er es selber, hoffentlich. Aber Freiheit heißt, sein eigenes Leben zu gestalten. Dummerweise fangen da die Probleme erst richtig an.
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ie schwierig und fallenreich eine wirklich radikale Lebenswende ist, hat der Kirchenvater Augustinus am eigenen Beispiel in seinen „Confessiones“ wunderbar geschildert. Als er sich zum Christentum bekehrte, entnahm der bis dahin lebenslustige junge Mann den Briefen des Apostels Paulus den Auftrag, künftig in Keuschheit und Gottesliebe zu leben: „Da sprach ich in meines Herzens Grunde zu mir: Bald, bald wird es geschehen! Und mit dem Worte ging ich schon ein auf den Entschluss. Fast tat ich’s und tat’s doch nicht; aber doch fiel ich nicht in das frühere zurück, sondern stand ganz nahe und verschnaufte. Und dann versuchte ich es zum zweiten Male und war beinahe am Ziele und erreichte D E R
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es beinahe und hielt es fest; und doch war ich nicht am Ziele und erreichte es weder, noch hielt ich es fest … und mehr vermochte noch in mir das gewohnte Schlechtere als das ungewohnte Bessere, und je näher mir der Zeitpunkt trat, wo ich ein anderer werden sollte, desto größerer Schauder erfüllte mich. Zurück hielten mich die Nichtigkeiten und Eitelkeit, meine alten Freundinnen, zerrten mich am Mantel meines Fleisches und flüsterten mir zu: Was, du willst uns verlassen?“ Der Philosoph Peter Sloterdijk nennt in seinem Buch „Du musst dein Leben ändern“ den Menschen einen „Anthropotechniker“, einen permanent Übenden, der sich wie ein Sportler selbst erzeugt und zu übertreffen sucht. Das Humane, die persönliche Identität, ist demnach nicht vorgegeben, sondern selbst gebildet. Jede Biografie ist ein Artefakt. Immer wieder haben Philosophen den Menschen als Suchenden bezeichnet: der Homo sapiens zugleich ein „Homo quaerens“. Alles anders, alles besser zu ma-
LUKE DUGGLEBY / REDUX / LAIF
Heinrich Faust zieht Bilanz, er betrachtet sein Leben und verzweifelt: Als Wissenschaftler habe er die Welt nicht in aller Tiefe erfassen können, klagt er, und überhaupt sei er unfähig, das Dasein voll zu genießen. Faust lässt sich auf einen Handel mit dem Teufel ein: Wenn es dem Teufel gelingen sollte, ihn aus dieser Unzufriedenheit und Rastlosigkeit zu befreien, gebe er dafür seine Seele her. Auf der Weltenfahrt, die nun beginnt, bietet der Teufel Faust die Liebe eines schönen Mädchens an. Faust will alles Mögliche, will zum sozial handelnden Individuum werden, doch obwohl er so viele seiner Fähigkeiten ausbilden darf, scheitert er, wieder und wieder. Am Ende wird er erlöst durch eine nicht wandelbare Idee, die Goethe „das EwigWeibliche“ nennt. Die Rettung Fausts durch diese vollkommene Idee ist nicht nur tröstlich. Denn wenn es sie wirklich gibt, diese Vollkommenheit, dann kann der Mensch gar nicht anders, als sich, wie es im „Faust“ heißt, „strebend“ zu „bemühen“. Es gibt keine Entlastung, keinen Ausweg, sondern nur die Fragen bis in alle Ewigkeit: Was kann ich besser machen? Ist es richtig, sich zu ändern? Wann ist es gut, sinnvoll, nützlich, gewinnbringend, und wann wird es zerstörerisch? Noch nie in der Geschichte hatten Menschen so viel Möglichkeiten, sich zu ändern, zu verwandeln, zu optimieren wie heute. Goethe hatte sich mit dem „Faust“ an dem Menschenideal der Klassik abgearbeitet: der Vorstellung, dass jedes Individuum seine guten Anlagen und Fähigkeiten ausleben solle. Gemessen an dieser Vorstellung leben wir heute in einer Hyper- oder Turbo-Klassik. Nichts ist unmöglich. Nicht die Veränderung der tiert, könne er niemals ganz schließen. kleinen Dinge und nicht die Veränderung Der Wille bleibt immer größer als das der großen Dinge. Vermögen, die Absicht hehrer als die Bald nach dem Beginn der Finanzkrise Tat – aus dieser Spannung können Tra- überschwemmten den Sachbuchmarkt Tigödien entstehen oder auch Komödien. tel, in denen eine neue Moral gefordert „Dass aus so krummen Holze, als woraus wird. Das neoliberale Gesellschaftsmoder Mensch gemacht ist, nichts ganz Ge- dell, in dem jeder Einzelne sich zu seiner rades gezimmert werden“ könne, wusste individuellen Entfaltung wie ein geschon Immanuel Kant. schmäcklerischer Genießer die Werte aus Doch das Bewusstsein des Mangels ist dem Regal einer Gourmetküche zu einem der Motor des Fortschritts. Aus der Fä- Menü zusammenstellt, überzeugt nicht higkeit, sich neue Ziele zu setzen, ist über- mehr. Gefordert wird ein neuer Gemeinhaupt nur politisches Handeln, sind Uto- sinn, Empathie, ein Wissen um die Folgen pien entstanden. Es geht bei den guten der Egotrips. Vorsätzen nicht nur ums Rauchen und Ohne kritische Selbstreflexion ist nämNichtrauchen. Der Wunsch nach Verän- lich sinnvolles Leben für den Einzelnen derungen bestimmt das ganze Dasein. und die Gemeinschaft gar nicht möglich. Nur ein Narr ist mit sich restlos zufrieden. ohann Wolfgang von Goethe hat die- Wer keine Veranlassung sieht, sich zu frasen Urtrieb in einem Drama beschrie- gen, wie sein Leben läuft, was daran verben, das zum wichtigsten Werk der deut- besserungsfähig wäre, dem fehlt es an schen Literatur geworden ist: „Faust“. Selbsterkenntnis. Das hat schon der anDer Untertitel: „Eine Tragödie“. Goethe tike Aufklärer Sokrates der jungen Athebeschreibt in seiner Hauptfigur den ner Elite gepredigt. menschlichen Hang zur Unzufriedenheit, Der amerikanische Literat Jonathan Rastlosigkeit, zur ewigen Suche. Safran Foer hat ein Sachbuch veröffent-
modernen Lebens zu entkommen
chen, im Einzelnen wie im Ganzen, sei ein Drang, so die Philosophen, der den Menschen als metaphysisches Wesen kennzeichne. Ein Tier mag Angst oder Freude oder sogar Trauer empfinden, es entwickelt dennoch kein Bewusstsein seiner selbst und denkt nicht über sich nach. Der Mensch dagegen zeichnet sich durch seine Fähigkeit aus, aus sich herauszutreten wie der Geist aus einer Maschine und sein eigenes Dasein in Frage zu stellen. Die Entwicklung des Menschen aber scheint nur möglich, wenn er eine Vorstellung von einem anderen, besseren Selbst hat. Manchmal werden Menschen sich durch Veränderungen sogar plötzlich selber wieder ähnlicher. Und manchmal werden sie sich selber fremd. Der Wunsch nach Veränderung ist ein Spiel mit ungewissem Ausgang. Nur eines steht fest: der Mensch ist ein fundamental unfertiges Wesen. Die „komische Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit“, so der britische Schriftsteller Ian McEwan, der diesen Widerspruch in seinem neuen Roman „Solar“ reflek-
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licht, mit dem er in seiner Heimat und in diesem Herbst auch in Deutschland heftige Diskussionen ausgelöst hat: Foer hat einen guten Vorsatz, nämlich kein Fleisch mehr zu essen. Aus Mitleid mit den Tieren und Sorge um das Weltklima. Foer macht daraus eine Mission: Eigentlich sollte jeder weitgehend auf Fleisch verzichten. Die deutsche Schriftstellerin Karen Duve schreibt in ihrem „Ein Selbstversuch“ untertitelten Buch „Anständig essen“, das am 3. Januar erscheinen wird: „Nun gut, das Jahr ging sowieso gerade zu Ende. Es war der passende Zeitpunkt für gute Vorsätze. Vom ersten Januar an würde ich aus meinen alten Kaufgewohnheiten aussteigen und mich nur noch meiner Überzeugung entsprechend ernähren. Doch was war eigentlich meine Überzeugung? Beziehungsweise, was war ein Schnitzel für mich?“ Verantwortung ist Martin Heidegger zufolge eine Antwort auf den „Ruf des Gewissens“. Wer aus sich selbst heraus handelt, ist frei, sagen die Philosophen. Aber sie sagen auch: die Kehrseite der Freiheit ist Verantwortung. „Erlaubt ist, was gefällt“, sagt Torquato Tasso in Goethes gleichnamigem Drama. Sofort muss er sich zurechtweisen lassen: „Erlaubt ist, was sich ziemt.“ In einer wohlhabenden Welt, so unterstellen Foer und Duve, kann sich jeder vornehmen, ein guter oder schlechter Mensch zu sein. Doch kann man das wirklich? Was sollte wirklich besser werden, und wann wird der Wille zur Verbesserung zur individuellen, zur gesellschaftlichen Neurose? Und worum geht es überhaupt bei dem Wunsch nach Veränderung? Geht es um das, was wir vorfinden in und an uns selbst, oder um den Traum vom dem, was wir sein können, wenn wir uns nur genug anstrengen? Geht es ums Glück? Um das „Streben nach Glück“, das im Geist der Aufklärung sogar als allgemeines Recht in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung aufgenommen wurde? Das Glück als Sinn? „Die Sinnfrage ist schon der Störfall“, sagt dazu nüchtern der Darmstädter Philosoph Gernot Böhme.
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ie Personal Trainerin kommt ins Büro, dieses erste Treffen ist kostenlos. Sie sagt, erst danach könne man entscheiden, ob man wirklich zusammen „arbeiten“ wolle. Sie ist groß und schlank und hat den aufrechten Gang. Das erste Gespräch nennt sie „Anamnese“. Jeder Arzt sollte sich vor einer Untersuchung die Leidensgeschichte seines Patienten anhören. Bei vielen Schulmedizinern hat sich durchgesetzt, dass etwa 90 Sekunden ausreichen, um herauszufinden, was der Patient für ein Mensch ist. Aurélie Sellschopp, die Trainerin, bleibt etwas länger als 90 Sekunden, sie bleibt über zwei Stunden. Sie fragt nach Blutdruck, Durch160
JAN GRARUP / NOOR / LAIF
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Anti-Atomkraft-Protest im Wendland: Gesellschaftliches Handeln und Utopien entstehen durch
haltevermögen, Beweglichkeit, fragt und fragt, und wenn man zurückfragt, ob sie das immer so mache, dann sagt sie: „Ja, und bei manchen Kunden geht es eigentlich nur darum, sie brauchen ein Ohr.“ Und manchmal gehe es auch gar nicht um den eigentlichen guten Vorsatz, sondern um etwas anderes. Aber es brauche Zeit, um das herauszufinden.
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sychologen und Hirnforscher arbeiten sich seit vielen Jahren an der Frage ab, warum es so schwer ist mit der Umsetzung der guten Vorsätze. Menschen scheinen sich leichter zu tun mit den ganz großen politischen, wissenschaftlichen Umwälzungen, leichter zu tun mit einer Brustoperation und dem Fettabsaugen als mit kleineren, womöglich sinnvolleren Eingriffen ins eigene Verhalten. Forscher bohren sich hinein in genetische Codes, um herauszufinden, ob sich nicht doch etwas ändern lasse an der lästigen menschlichen Disposition zum Nichtperfekten, zum Fehler im Bausatz, der sich heute ja schon bei Ungeborenen D E R
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zeigen lässt, und bei dieser Revolutionierung des Menschseins machen die Forscher unheimliche Fortschritte – zugleich bleibt es für den bereits geborenen und ausgewachsenen Menschen schwierig, sich einfach nur das Rauchen abzugewöhnen. Die Hälfte aller Menschen fasst zu Silvester gute Vorsätze, aber nur acht Prozent erreichen das gewünschte Ziel. Selbst wenn es um ihr Leben geht, halten Schwerkranke hartnäckig an ihren schlechten Gewohnheiten fest: 90 Prozent aller Herzinfarktpatienten schaffen es nicht, ihre ungesunden Marotten dauerhaft abzulegen. Neurowissenschaftliche Studien belegen zwar längst, dass das Gehirn eine dynamische Baustelle ist, also prinzipiell in der Lage, sich immer wieder neu zu organisieren, zugleich neigt das Gehirn aber dazu, all das, was sich einmal bewährt hat, immerfort zu wiederholen. Für jede Gewohnheit gibt es einen neuronalen Pfad. Diese neuronalen Pfade sind wie Trampelpfade: Man sieht, wo es
Hirnforscher Gerhard Roth, der sich intensiv mit Verhaltensänderungen befasst hat, sagt: „Die Ehefrau, die brüllt und keift, wird gegen die Marotten ihres Mannes wenig ausrichten. Aber diejenige, die im positiven Sinne kontinuierlich kleine Hinweise gibt, kann über die Jahre durchaus gewisse Erfolge erzielen.“ Doch es gilt auch als gefährlich, zu viel über sich nachzudenken: Selbst das Fachblatt „Psychologie heute“ warnt vor „endlosem Grübeln und Psychologisieren“, dann nämlich drohe „Paralyse durch Analyse“. Das Hin- und Herwenden der eigenen Schwäche könne manchmal zum Stillstand führen. Sinnvoller sei es, nach einer ersten Analyse der Defizite, schnell so zu handeln wie die Person, die man gern sein möchte. Das Positive, die schöne Perspektive solle man, so heißt es im Jargon der Psychologen, „visualisieren“. Warum aber ist das so wichtig, sich dauernd das Schöne und Gute vorzustellen, warum muss es immer der ureigene Wunsch nach Verbesserung sein, warum bringen die doch oft so vernünftigen, klaren, von außen herangetragenen Ratschläge so wenig? Mit der Antwort hierauf haben sich Wissenschaftler lange Zeit schwergetan, denn Wissenschaftler sind – wenn sie gut sind – Kinder der Aufklärung, Anhänger der Ratio. Nicht immer aber lässt sich das Dasein des Menschen über die Ratio erschließen. Der Bremer Hirnforscher Roth, der zugleich studierter Philosoph ist, hat im menschlichen Denkorgan die Bestätigung für die Auffassung von Philosophen wie dem Skeptiker David Hume gefunden: „Verstand und Intellekt haben für sich genommen keine Verhaltensrelevanz. Ausschlaggebend ist das Gefühl“, sagt Roth. Natürlich: Die Planung von Handlungen – wie läuft mein Tag – werden von jenen Hirnarealen übernommen, die für Verstand und Intellekt zuständig sind, die Durchführung von Handlungen aber werden von Gefühlen gesteuert: Will ich mein Referat wirklich schon morgen halten? Gefällt es mir schon? Oder schmeißt mich mein Professor aus dem Seminar, wenn ich mich darum drücke?
den menschlichen Urtrieb, sich immer neue Ziele zu setzen
langgeht, und es ist bequem, ökonomisch wöhnens gar nicht erst allein zu unterund meist auch nützlich, immer wieder nehmen, sondern sich sehr viel Zeit zu dieselben Wege zu gehen. Will man sich nehmen und „hochprofessionelle Hilfe“ aber den beiläufigen Griff zur Zigaretten- zu suchen. schachtel abgewöhnen, muss der Tramäufig sind schlechte Angewohnheiten pelpfad durch einen neuen ersetzt wernichts anderes als Lösungen: Vielbeden, sonst ist der Rückfall in die unerwünschte Gewohnheit programmiert. Ge- schäftigte Manager, Krankenschwestern, hirnforscher gehen davon aus, dass es Lehrer versuchen den Stress auszugleisechs bis neun Monate dauert, um einen chen, sich mit Alkohol oder Süßigkeiten neuen Pfad im Gehirn auszutrampeln – zu belohnen, zu beruhigen, aufzuheitern. und dazu braucht es Willenskraft, Fru- Da sie nicht wissen, wie sie den Stress – strationstoleranz und Durchhaltevermö- also die eigentliche Ursache des Problems gen. Damit wäre schon mal klar, dass der – beheben können, sorgen Wein, Bier und von der Schlankheitsindustrie eifrig ge- Schokolade für die nötige Entlastung, die ene Hirnareale, die für Emotionen, für nährte Wunsch nach der Blitzdiät sich nie Entspannung. Essen, Trinken, Sexualität zuständig Psychologen erklären, wie das gehen wird erfüllen können und nur der öde ärztliche Rat gilt, dass die Ernährung kann mit der dauerhaften Veränderung. sind – das limbische System – sind beson„dauerhaft“, wie es immer heißt, umzu- Sie raten dazu, erst einmal zu überlegen, ders mächtig. Das limbische System funkwie der gute Vorsatz überhaupt entstan- tioniert nach einem durchaus sympathistellen sei. Ein Vorsatz wie die Blitzdiät ist wie den ist, ob es wirklich ein eigener Wunsch schen Prinzip, das die Lust maximieren eine Silvesterrakete: Sie zündet ein- war oder ob da jemand anders zu sehr und den Schmerz minimieren möchte. drucksvoll und verpufft, kaum dass sie nachgeholfen hat. Denn wenn der Ver- „Alle Lust will Ewigkeit“, wusste schon abgeschossen ist. Das Rauchen gilt sogar änderungswille nicht wirklich eigenen der Philosoph Friedrich Nietzsche. Das als besonders hartnäckige Sucht, Exper- Wünschen entspringt, lässt er sich niemals limbische System reagiert auf Gefahren: löst Fluchtinstinkt oder Kampfeslust aus ten raten dazu, den Kraftakt des Abge- umsetzen.
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Titel und überstimmt dadurch oft die Beschlüsse des Neokortex, jenes Teils des Gehirns, der zuständig ist für Vernunft, Planung und Logik. „Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt“, sagte der französische Mathematiker, Physiker, Literat und Philosoph Blaise Pascal. Mit einem satten Bauch können sich Menschen sehr gut mit der Idee anfreunden, bald eine Diät anzufangen. Doch kaum stellen sich erste Hungergefühle ein, signalisiert das limbische System Bedrohung. Der Mensch will sich in Sicherheit bringen und langt wieder zu. Auf Zigaretten zu verzichten fällt auch deswegen so schwer, weil das Rauchen eben meist mit positiven Gefühlen verbunden ist und auch mit erfreulichen Erinnerungen: wie man sich nämlich mit 15 Jahren bei der ersten heimlich gerauchten Zigarette auf einmal erwachsen vorkam. Lebenslang holen uns unsere Erfahrungen und Gewohnheiten wieder ein. Leider erlischt auch das Suchtgedächtnis nie. Deswegen ist es für das Gehirn ein regelrechter Kraftakt, Verlockungen – die ja auf Erfahrungen und Gewohnheiten basieren – zu widerstehen. „80 Prozent der Menschen sind nur eingeschränkt zu Veränderungen fähig“, sagt Gerhard Roth. Dann gebe es noch die flexibleren 20 Prozent, die aber hätten die auch nicht immer vorteilhafte Angewohnheit, bei allem „schnell von Bord zu gehen“. Bei diesem ausgeprägten menschlichen Hang zur Verhärtung haben die guten Vorsätze, für die der rationale Neokortex zuständig ist, nur eine Chance, wenn sie mit absolut positiven, ja lustvollen Gefühlen in Verbindung gebracht werden. Keinesfalls sollte sich der auf Besserung bedachte Mensch zu sehr auf das fixieren, was er nicht darf: Sich immer nur zu sagen, dass man keine Süßigkeiten essen soll, gilt als kontraproduktiv, weil dann die Süßigkeit einen zu großen Raum im Denken und Empfinden einnimmt. Besser ist es, die Lust auf etwas anderes zu richten, auf eine Belohnung. Vor allem ist es offenbar wichtig, sich nicht zu viel vorzunehmen. Psychologen wie die Kanadier Janet Polivy und Peter Herman warnen vor den negativen Auswirkungen von etwas, was sie das FalscheHoffnung-Syndrom nennen: ein zu hohes Ziel, an dem selbst der noch so eifrig Strebende einfach scheitern muss. Lieber erst mal ein Kilo abnehmen als gleich 20, lieber nach und nach die Wohnung aufräumen, als gleich alles rauszuschmeißen. Das limbische System würde bei einer kaum zu bewältigenden Riesenaufgabe zur Flucht ermahnen. Aber wenn die Aufgabe kleiner, überschaubarer, weniger bedrohlich ist, könnte es sein, dass sich ausnahmsweise mal jene Hirnareale durchsetzen, die für die Vernunft zuständig sind. Wenn-dann-Pläne, Tagebücher, alle Protokolle des Fortkommens und des 162
Wahllokal in Bayern: Nur ein Narr ist mit sich restlos zufrieden
Scheiterns gelten im Prozess der Selbstverbesserung als nützlich. Jede nicht gerauchte Zigarette ein Strich und am Ende einer langen Strichliste vielleicht wirklich das Ende der Sucht.
Dies ist Mitteleuropa im Winter, aber die Trainerin behauptet, wir stünden auf einem Reisfeld. Beine fest im Boden verwurzelt, auseinander und leicht gebeugt, Oberkörper gestreckt, den Oberkörper absenken und mit den Armen Schaufelie Personal Trainerin hat das „An- bewegungen am Boden machen wie bei amnese“-Gespräch ausgewertet. Sie der Reisernte. Kranich-Qi-Gong. Die Erhängt an ihre E-Mail ein Dokument an klärungen der Trainerin klingen wie eine mit „Fitness- und Gesundheitsdaten“. Am Litanei: „Der Kranich ist das Symbol der Telefon spricht sie davon, „ganz langsam Reinheit. Er ist weiß. Doch er hat einen in die Bewegung“ hineinzukommen. Sie roten Kopf. Er zeigt, dass immer alles zuschlägt Qi Gong vor, eine chinesische sammengehört: das Reine und das FeuriHeilgymnastik. Menschen, die es ge- ge, das Ruhende und Vorwärtsstrebende. wohnt seien, tausend Dinge gleichzeitig Yin und Yang, die gegensätzlichen Prinzu tun – die Anrufe, die Kinder, die E- zipien sind eins.“ Mails, die Reisen, die Kollegen – könnten Merkwürdig. Man wollte sich nur in Bezwar aggressiv dabei werden, aber es wegung bringen, irgendwie. Ein bisschen habe keinen Zweck, jetzt loszulaufen joggen vielleicht. Und nun stakst man hinoder auch nur zu walken. „Stress nicht ter einer schönen Frau durchs eigene noch durch Stress verstärken“, sagt sie Wohnzimmer – „ruhig, wir gehen im Kreis, und klingt dabei sehr sanft. immer im Kreis“ – und ist ein Kranich. Im Wohnzimmer baumeln die roten ines der erfolgreichsten Bücher der Beutel vom Adventskalender, draußen vergangenen Jahre ist „Eat, Pray, wird es dunkel, zwei Kerzen in Windlichtern kämpfen im Schnee ums Überleben. Love“. Es berichtet direkt aus der Qi-
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Gong-Welt, ist ein Selbstversuch der heute 41-jährigen US-Autorin Elizabeth Gilbert, die Schilderung einer Suche nach Verbesserung. Das Buch ist 2006 in den USA erschienen, hat sich weltweit über sieben Millionen Mal verkauft und wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Und weil die Verfilmung mit einer sehr melancholischen Julia Roberts in der Hauptrolle seit Monaten in den Kinos läuft, hat sich das Buch auch in diesem Jahr wieder extrem gut verkauft. Heldin Liz hat einen Vorsatz: sich selbst wieder zu mögen. Sie macht zwar nicht den Eindruck, als sei sie über neuere Erkenntnisse der Hirnforschung informiert, aber sie setzt manches instinktiv um, folgt den Prinzipien der Lust und des Irrationalen: essen in Italien, bis der Hosenbund platzt, meditieren in einem Ashram in Indien, bis sie meint, ihre Gedanken geordnet zu haben. Auf Bali meditiert sie wieder, diesmal auf der Suche nach „Wahrheit“, und hier findet sie dann auch die Liebe, die große. Erfüllung, Ankunft im richtigen Leben.
Interessant an Buch und Film ist vor allem der Erfolg. Den Lesern scheint zu gefallen, dass sich die Sehnsucht nach Selbstverbesserung in „Eat, Pray, Love“ nicht mehr nach außen richtet, sondern nach innen, dass der gute Vorsatz hier lautet, eins zu sein mit sich. Liz will Erleuchtung, Wahrheit, Liebe. Es ist ein bisschen langweilig, dass sie das alles am Ende auch bekommt. Viel intelligenter erzählt ist ein anderes Buch, das seit diesem Herbst in Deutschland ein Bestseller ist: „Freiheit“ von Jonathan Franzen, einem der bedeutendsten amerikanischen Autoren der Gegenwart. Auch Franzens Figuren stecken voller guter Vorsätze. Sie wollen das wirklich: ihr Leben hinkriegen, ein gutes, ein besseres, nicht nur für sich, auch für die anderen. Anhand seiner Figuren dekliniert Franzen ein umfassendes Spektrum heutiger Optimierungswünsche durch. Ein heruntergekommener Stadtteil, der über die Jahre zur besten Adresse wird. D E R
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Ein Renaturierungsprojekt zugunsten aussterbender Vogelarten. Die Idee einer Kampagne gegen das Kinderkriegen, um die Überbevölkerung zu stoppen. Die Idee des exzessiven Sports, die Idee der Schönheitsoperation. Die meisten guten Vorsätze scheitern, mal grandios, mal beiläufig. Franzen zeigt die mitunter peinlichen Impulse, die den vermeintlich guten Vorsätzen oft zugrunde liegen: dass sie nämlich nicht unbedingt wegen der schönen Idee gefasst werden, sondern manchmal aus kältestem Konkurrenzdenken. Franzen aber liebt seine Figuren. Besonders Patty, die so besonders eifrig und generalstabsmäßig ihr Leben plant und so besonders gründlich scheitert, aber dann plötzlich, als sie nichts mehr verbessern will, erfährt, dass sich unerwartet alles zum Guten wendet. Es wäre schade, wenn jene nervtötende, wunderbare Patty nicht eine ähnliche Rolle in der Literaturgeschichte zuerkannt wird wie dem Gretchen, dem Mädchen, in das sich Faust verliebt, um seinen Vorsatz nach mehr Sinnlichkeit einzulösen. Patty ist eine exemplarische Frauenfigur der Jetztzeit – und deswegen viel weniger Gretchen ähnlich als Faust. Alle Figuren in „Freiheit“ sind Faust, alle streben, und alle sind mit dem Teufel (also mit sich selbst) im Bunde. Franzen zeigt, fast wie ein Hirnforscher, dass der gute Vorsatz zum Menschen dazugehört, dass er ihn braucht als eine Art Fahrplan durchs Dasein, dass er aber niemals darüber sein Leben in den Griff bekommt, weil die Gefühle dann doch wieder anderes wollen. So etwas wie Zufriedenheit gibt es bei Franzens Figuren nur für Momente: Patty zum Beispiel fühlt sich nach dem Sex mit dem besten Freund ihres Ehemanns recht wohl. Ironischerweise heißt dieses Buch „Freiheit“. Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre schrieb, der Mensch sei zur Freiheit „verdammt“. Und fügte unheildräuend an: „Alles, was mir zustößt, ist meins.“ Jonathan Franzens „Freiheit“ ist das Sittenbild einer Epoche, in der der gute Vorsatz direkt in den individuellen und gesellschaftlichen Irrsinn führt. Die „Selbstverwirklichung“, dieses vielbeschworene Ritual des postmodernen Menschen, bleibt letztlich eine Chimäre. Der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno sagte sehr hellsichtig in seinen 1963 gehaltenen Vorlesungen zur Moralphilosophie: In dem Begriff der Selbstverwirklichung stecke die Vorstellung, dass, „wenn man nur seinem eigenen Ethos, seiner eigenen Beschaffenheit nach lebe, dabei schon das richtige Leben herauskomme: was eine pure Illusion und eine pure Ideologie ist“.
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och der bis heute populäre Begriff der Selbstverwirklichung wirkt zu harmlos für das, was viele Leute derzeit 163
Titel treiben. Sie wollen den Totalumbau. Abriss und Neuaufbau des ganzen Menschen. Die Haare gefärbt, die Stirnfalten glattgezogen, die Augenlider angehoben, die Wangenknochen und Lippen aufgepolstert, die Nase und das Kinn verkleinert, Hals und Dekolleté gestrafft, die Brust vergrößert, der Bauch modelliert, die Scham rasiert, die Schamlippen verkleinert, der Po angehoben, die Pofalte gebleicht, die Beine verschlankt, die Zehennägel angeklebt. Im Mittelalter bauten die Menschen himmelstrebende Kathedralen, um ihrem Gott näher zu kommen, heute ist der Körper die Kathedrale der Moderne, ausbaufähig und allzeit veränderbar. Ständig sind alle besorgt um ihre Ernährung, weil sich die Ratschläge perpetuieren: mehr Proteine, weniger Kohlenhydrate, dann wieder umgekehrt, aber Hauptsache, alles Bio und billig. Umfragen zufolge sind nur acht Prozent der deutschen Frauen mit ihrem Körper zufrieden, nur zwei Prozent fühlen sich richtig schön. Nach Schätzungen der Vereinigung Plastischer Chirurgen lassen sich in Deutschland inzwischen pro Jahr eine Million Menschen die Stirnfalten mit dem Nervengift Botox glätten, weltweit werden geschätzte 30 Milliarden Dollar im Jahr für Schönheitsoperationen ausgegeben. Die Tatsache, dass wir unseren Körper umgestalten können, macht ihn zum Objekt ewiger Unzufriedenheit. Winfried Menninghaus, Literaturwissenschaftler an der Freien Universität Berlin, erforscht anhand der Thesen des Evolutionsbiologen Charles Darwin und des Psychoanalytikers Sigmund Freud den Schönheitswahn der heutigen Gesellschaft und sagt, wir erlebten eine Renaissance der antiken Schönheitsvergötterung, unser Rummel um Shaping und Styling trage alle Anzeichen einer „neurotisierenden Schwerstarbeit“. So vieles ist in der Medizin inzwischen möglich: Kognitive und mentale Funktionen können durch neuartige Pillen, sogenannte Neuroenhancer, gesteigert werden. Laut einer Umfrage der Deutschen Angestellten Krankenkasse nehmen mittlerweile allein hierzulande 800 000 Arbeitnehmer regelmäßig Neuroenhancer ein. Nicht an der Belastung wird herumgedoktert, sondern an der Leistungsfähigkeit. Die Medizin gibt dem Deutschen Ethikrat gut zu tun. Therapeuten sollen heutzutage nicht dazu verhelfen, Frieden zu machen mit dem, was ist, sondern herausholen, was der Charakter an Gutem und Leistbarem herzugeben imstande sein könnte. Auch 164
Junges Liebespaar: „Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt“
die Qi-Gong-Welt der sogenannten Ganz- wertgefühl lässt sich nicht nachhaltig auf heitlichkeit steht – welch Widerspruch in Kosten anderer stärken. Ohne den guten sich – im Dienste der Selbstverbesserung. Vorsatz ist der Mensch ein Egoist. Mit So ist es, aber nicht nur. Es ist das dem guten Vorsatz kann er auch einer Verfluchte und Faszinierende an den sein. Es ist ein Weg an einer Grenze entguten Vorsätzen, dass sie immer beide lang. Immer. Seiten haben: Therapie als weiteres Miter Münchner Theologe und Sachtel im Perfektionierungszirkus. Aber buchautor Werner Tiki Küstenmaauch: Therapie, also Wandel, als notwencher will sich den Glauben an den guten diges Ziel. Der rasende Autofahrer, der im Rausch Vorsatz nicht nehmen lassen. Sein Buch Befriedigung suchende Süchtige mögen „Simplify your life“ war einer der Dauerfür sich genommen nur leichtsinnig seller des vergangenen Jahrzehnts. Es eroder selbstzerstörerisch handeln – ver- schien wenige Wochen nach den Terrorantwortungslos, und damit schuldhaft, anschlägen des 11. September 2001, und verhalten sie sich gegenüber anderen. Küstenmacher glaubt, dass der Erfolg dieWer anderen Schaden zufügt, beschädigt ses Buches etwas mit dem Epochenwanauf lange Sicht sich selbst. Das Selbst- del zu tun habe. „Die Leute haben er-
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„Praxis für spirituelle Persönlichkeitsbildung“ betreibt. Auf dem Tisch liegen zwei Rosenquarze. Beim Abschied übergibt Küstenmacher seine Visitenkarte, eine Zeichnung ist darauf zu sehen. Sie zeigt einen Zug, der sein Gleis verlässt und einem Schmetterling folgt: „Überlege, was dich aufblühen lässt. Dem gehe nach“, steht darüber. Yoga, Qi-Gong, „Selbstentfaltung“ – all das hat Konjunktur. Es geht um den ganzen Menschen. Der Mensch soll keine Maschine mehr sein. Eine echte Verheißung. Und ein Markt, ein Geschäft. Begehren ist unersättlich, Erfüllung findet es nur im Augenblick. „Die Basis alles Wollens aber“, so behauptet der große Pessimist Arthur Schopenhauer, „ist Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz.“ Und das bedeutet: Solange das Ich währt, nimmt die Pein kein Ende. Nur in der Selbstlosigkeit der reinen Kontemplation oder dem Aufgehen im buddhistischen Nirwana der Selbstverneinung ließe sich der Fluch des Wollens überwinden.
CHRIS CRAYMER / TRUNKARCHIVE.COM
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kannt, mit wie viel unwichtigem Kleinkram sie sich dauernd beschäftigen, sie wollten ihr Leben in Ordnung bringen, vereinfachen.“ Küstenmacher hat selbst erlebt, was der Wille der Menschen zum Fortschritt Gutes bewirken kann und wie auch das eigene Leben durch Vorsätze besser wird. Als Kind war er sehr krank, wurde durch starke Medikamente kuriert: „Ich verdanke mein Leben der modernen Medizin.“ Und: „In der Schule wurden die anderen von selber groß, ich blieb irgendwie klein und schmächtig und war dadurch immer am Rand. Ich habe mir strategisch Freunde gesucht, habe geguckt, wer noch ein Underdog ist, mit denen habe ich mich zusammengetan. Und
weil ich unsportlich war, habe ich an meiner Stärke, dem Zeichnen, gearbeitet, das ist sowieso mein Rat: den eigenen Stärken folgen.“ Nicht alle sollen gleich sein, aber alle sollen sich gleich gut fühlen können. Eine Gesellschaft, in der alle demselben perfekten Bild nachstreben – auf ähnliche Weise schön, optimistisch, strahlend, leistungsstark –, kann tatsächlich nicht funktionieren. Gesellschaften leben von der Vielfalt und vom Variantenreichtum der Persönlichkeitsmerkmale, sie brauchen das ganze Spektrum, den Strahlemann genauso wie den Bedenkenträger. Werner Tiki Küstenmacher sitzt in den Räumen seiner Frau Marion, die eine D E R
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ie Trainerin hat das Tempo angezogen, Pilates, Yoga, Intervalltraining, und in jeder neuen Stunde sagt sie, dass es beim Sport auf die Mischung von allem ankomme: Ausdauer, Kraft, Koordination, Beweglichkeit. Komplex sei der menschliche Körper, er fordere komplexe Beanspruchung. In einem Fitnessstudio schlägt sie vor, sich auf einen Kasten zu stellen, der vibriert. Durch die Vibration würden tiefste Muskelschichten trainiert. Dummerweise vibrieren nicht nur die tiefen Muskelschichten, sondern auch alles andere, was nicht ganz fest ist am Körper. Fettschichten. Das Gesicht schwimmt hin und her, alles tanzt vor den Augen, die Stimme der Personal Trainerin dringt zitternd ins Ohr, und wenn man selbst redet, klingt man wie ein Lösegelderpresser am Telefon, metallisch, verzerrt. Der Dialog mit der Personal Trainerin klingt wie das Gespräch zweier Maschinen: – Wo haben Sie das eigentlich gelernt, was Sie jetzt tun? Bei der Tanzausbildung? – Nein, Tanzausbildung ist Drill. Jeden Tag sechs Stunden Training, und essen darf man auch nichts. Heute interessiert mich das Ganzheitliche. Das meiste habe ich von einem Arzt gelernt, der war wunderbar, hatte sich auf Traditionelle Chinesische Medizin spezialisiert. Alles hat der gewusst über seine Patienten, alles hat er für die getan. Leider lebt er nicht mehr. Vielleicht hat er zu viel gearbeitet. – War er schon älter? – Nein, 44, als er starb. – O nein. Woran denn? – Plötzlicher Herztod. – Wirklich? Wobei? – Bei einer Meditation. SUSANNE BEYER, JOACHIM KRONSBEIN, ROMAIN LEICK
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Kultur und vor ein paar Wochen auch in ausgeEs liegt also noch viel Arbeit vor ihnen, wählten US-Kinos. In vielen anderen Län- und deshalb reisen zwei der Jungs aus dern, auch in Deutschland, traute sich bis- Sheffield, Omar (Riz Ahmed) und Waj lang kein Verleih, das Werk herauszubrin- (Kayvan Novak), in ein Terrortrainingsgen. Fans von sehr schwarzem Humor camp nach Pakistan. Dort streiten sie sich können jetzt immerhin die britische DVD mit ihren Ausbildern, in welcher Himkaufen (Optimum Releasing). melsrichtung Mekka liegt. Völlig zum DeOb „Four Lions“ der passende Film ist saster gerät der Einsatz einer Panzerfaust: für ein Publikum, das gerade wieder hys- Statt eine amerikanische Aufklärungsterisch diskutiert über den Islam? Regis- drohne abzuschießen, feuert Omar ins eiseur Morris, 45, hat keine Scheu vor heik- gene Lager. Woher soll er auch wissen, len Stoffen. Jahrelang verspottete er in wo bei seiner Waffe vorn und hinten ist? der Satiresendung „Brass Eye“ im britiZurück in England, steigert sich das schen Channel 4 seine Landsleute; nach Chaos weiter. Im Umgang mit Sprengstoff
FILM
Dschihad der Dilettanten
LANDMARK / INTERTOPICS (L.)
„Four Lions“ ist die erste Satire über islamistische Selbstmordattentäter, aber der Film wird nur vereinzelt in Kinos gezeigt. Wahrscheinlich ist er zu lustig.
Dressierte Krähe mit Sprengstoff, Darsteller Adeel Akhtar in „Four Lions“: Weit entfernt von ihren Vorbildern
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er junge Mann blickt genauso entschlossen in die Videokamera wie all die anderen Fanatiker, die glauben, in den „Heiligen Krieg“ gegen die Ungläubigen ziehen zu müssen. Er trägt den üblichen olivgrünen Kampfanzug, ein Stirnband mit arabischen Schriftzeichen, sein dunkler Backenbart ist sorgfältig gestutzt. Doch irgendetwas stimmt nicht an der Inszenierung: In den Händen hält der Mann ein kleines Spielzeuggewehr aus Plastik. Und auch die Körperhaltung ist irritierend: „Setz dich so hin, als ob du es ernst meinst!“, befiehlt Omar seinem Freund Waj, dem Mann vor der Kamera. Die beiden sind Terroristen in spe, sie wollen ein Bekennervideo drehen, aber keiner weiß genau, wie das geht. Es eilt, bald gibt die Batterie in der Kamera den Geist auf. Der Dschihad, er wird geführt von Dilettanten – diesen Eindruck erweckt zumindest die Eingangsszene von „Four Lions“, dem Spielfilmdebüt des britischen Regisseurs Christopher Morris. „Four Lions“ ist der erste Film, der islamistische Selbstmordattentäter zu Helden einer Satire macht. Mit diesem provokanten Ansatz ist Morris weltweite Aufmerksamkeit sicher, was nicht unbedingt bedeutet, dass sich sein Film auch weltweit vermarkten lässt. „Four Lions“ wurde Anfang des Jahres beim Filmfestival von Sundance in Utah uraufgeführt, er lief noch auf einigen Festivals, startete im Mai in Großbritannien 166
einer Episode über den Umgang der Me- stellen sich Omars Freunde nämlich ähndien mit Pädophilie wurde die Reihe ab- lich geschickt an wie Stan Laurel und Oligesetzt. Für „Four Lions“, sagt Morris, ver Hardy beim Transport eines Klaviers. habe er drei Jahre recherchiert, er habe Einer der Möchtegern-Märtyrer stolpert, mit Imamen gesprochen, mit ganz nor- schwer beladen, auf einer Wiese über ein malen Muslimen in England, mit Terro- Schaf. Was nach der Explosion von rismusexperten und Polizisten. Sein Film Mensch und Tier übrig bleibt, passt in eimacht sich lustig über islamistische Ter- nen Plastiksack. roristen, aber nicht über den Islam, eine Viele Zuschauer dürften diese Art Huschwierige Gratwanderung, doch sie ge- mor zynisch finden. Tatsächlich bricht lingt, meistens jedenfalls. „Man kann kei- „Four Lions“ jedoch nur mit der Tradition nen Film drehen, der hundertprozentig der vergangenen Jahre, real existierende Fatwa-sicher ist“, sagt Morris. Terroristen im Kino zu coolen DespeFünf Jahre nach den Anschlägen auf rados zu stilisieren wie etwa im RAF-Wesdie Londoner U-Bahn mit 52 Toten insze- tern „Der Baader Meinhof Komplex“ niert der Regisseur die Tragödie als Farce. oder auch in „Carlos – Der Schakal“. Im Stil einer Dokumentation zeigt er fünf Statt Popstars, die leider zufällig auch junge Muslime in Sheffield, South York- Mörder waren, zeigt Regisseur Morris shire, radikalisiert durch die Botschaften unterbelichtete Fanatiker, die ihrer Ideovon al-Qaida, aber handwerklich noch logie folgen, im Zweifel bis in den Tod. weit entfernt von ihren Vorbildern. Welche Charakterisierung der WahrAnstatt sich unauffällig zu verhalten, heit am Ende näher kommt, wissen nicht backt einer einen Kuchen in Form des einmal die Täter selbst. Die größere VerWorld Trade Center. Ein anderer kauft störung beim Publikum dürfte in jedem literweise Dünger zur Sprengstoffherstel- Fall Morris’ Film auslösen: mit der bösen lung, immer im gleichen Geschäft. Zur Pointe, dass auch vermeintliche Deppen Tarnung verstellt er manchmal seine Stim- eine Katastrophe anrichten können. me und imitiert einen Belfaster Akzent, Omar und seine Freunde planen damit er klingt „wie einer von der IRA“, schließlich einen Anschlag auf den Londer nordirischen Terrorgruppe. Neben po- don-Marathon. Den Sprengstoff tragen tentiellen Anschlagszielen (McDonald’s? sie am Körper, versteckt unter viel Plüsch. Eine Drogerie? Eine Moschee?) diskutie- In Tierkostümen. Verkleidet als Vogel ren Omar und seine Leute die Frage, ob Strauß oder Kampfschildkröte, wollen sie die Polizei ihre Handys auch dann orten sich unter die Läufer mischen. kann, wenn sie ihre Sim-Karten aufessen. Sie sehen ziemlich lächerlich aus in dieVersuchen kann man’s ja mal. sen Kostümen. Bis zuletzt. MARTIN WOLF D E R
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SPI EGEL-GESPRÄCH
„Ich bin gern das schlimme Mädchen“ Die Sängerin und Schauspielerin Cher über ihren neuen Film „Burlesque“, die hohe Kunst des Make-up und ihren Kampf gegen das Alter SPIEGEL: Cher, Sie sind Oscar-Preisträge-
Cher: Man muss da großzügig sein. So war Cher: Make-up ist Teil meines Berufs. rin. Warum hat man Sie seit zehn Jahren die Rolle nun mal angelegt: Tess will ja Wenn ich nicht arbeite, brauche ich keins. in keinem neuen Film mehr gesehen? nicht mal diesen einen Song singen, sie Immer nur glamourös herumzulaufen Cher: Es gab keine Angebote, die mich ist müde, sie möchte nach Hause – sie tut würde mich in den Wahnsinn treiben. interessierten. es nur, weil der Haus-DJ sie dazu auffor- SPIEGEL: Würde man Sie erkennen? SPIEGEL: Der Regisseur Steve Antin klagt, dert. Der Song passt perfekt zu diesem Cher: Natürlich, aber ich wäre nicht diedass er ziemlich lange betteln musste, da- scheinbar aussichtslosen Kampf, in dem selbe. SPIEGEL: Wie lange haben Sie heute Mormit Sie in seinem Film „Burlesque“ mit- sich die Hauptfigur befindet. SPIEGEL: Bevor Aguilera in „Burlesque“ gen gebraucht, um sich zu verwandeln? spielen. Cher: Ich mochte diese Figur, so wie sie zum ersten Mal auf die Bühne muss, Cher: Eine Stunde und 15 Minuten – inim Drehbuch stand, nicht leiden. Ich habe schminken Sie die junge Frau und sagen klusive Haare und Klamotten. SPIEGEL: Sie sind jetzt 64 ungefähr eine Million Mal Jahre alt. Manchmal wirkt nein gesagt. Und als wir es, als ob Sie dem Altern dann drehten, beschwerte den Krieg erklärt hätten – sich der Studiochef bei mir, Ihre Generation aus den was ich für eine Nervensäge Sechzigern scheint nicht alt sei. Ich sagte ihm: Dann werden zu wollen. schmeiß mich doch raus. Er Cher: Wir sind die erste antwortete: Würde ich gern, Generation, die sich weiaber du hast ja nicht mal gert abzutreten. Denen, die unterschrieben. SPIEGEL: Sie spielen in „Burnach uns kommen, geben lesque“ eine Frau, die ein wir zwar das Gefühl, okay, altmodisches Revuetheater ihr könnt auch mitspielen, besitzt und sich gegen einen solange ihr Platz findet, Immobilienhai zur Wehr aber wir bleiben auf jeden setzt. Was ist passiert, dass Fall, wir gehen nicht weg, 1973 2010 Sie trotzdem mitgemacht wir weigern uns, das erhaben? oberte Gebiet aufzugeben. Cher: Ich durfte nachbessern Früher haben sich die AlCher und improvisieren. Ich habe ten irgendwann um die Jüngilt als eine der großen Legenden des Entertainmentgeschäfts. Als Tochter sogar Teile selbst geschriegeren gekümmert, wurden einer alleinerziehenden Mutter wuchs sie in Kalifornien in armen Verhältnisben, weil mir diese Figur in müde, sind in Rente gegansen auf und begann bereits mit elf Jahren ihre Unterschrift einzuüben, weil den ersten Versionen des gen. Das ist vorbei. Wir sie vorhatte, berühmt zu werden. Nach einer vermeintlichen Affäre mit dem Drehbuchs zu schlecht gehaben Energie, wir gehen Schauspieler Warren Beatty lernte sie als 16-Jährige den Musiker Sonny Bono launt war. Sie war nicht ins Fitness-Studio, wir eskennen, der mit ihr das Duo Sonny & Cher gründete. Hits wie „I Got You Babe“ glaubhaft als eine Frau, die sen vernünftig – wenigstens verkauften sich weltweit millionenfach. In den siebziger Jahren erreichten sie kämpft. Außerdem wollte die meiste Zeit. Wir sind mit der Fernsehsendung „The Sonny & Cher Comedy Hour“ 15 Millionen Ameich gern einmal singen in eidas Kämpfen gewöhnt, wir rikaner pro Woche. Nach der Scheidung von Bono schlug Cher, 64, eine Karnem Film. waren Rebellen in den SPIEGEL: Hat der Regisseur riere als Schauspielerin ein, die sie mit dem Oscar für ihre Hauptrolle in dem Sechzigern. SPIEGEL: Und Sie rebellieWiderstand geleistet? Film „Mondsüchtig“ krönte. Cher lebt heute in Malibu, Kalifornien. Cher: Nicht wirklich. Als ich ren jetzt gegen das Altihn das erste Mal in seinem werden? großen Büro besuchte, stellte ich fest, dass zu ihr: „Wenn du dein Make-up auf- Cher: Im Gegensatz zu den meisten Jünalle Wände gepflastert waren mit Bildern, legst, arbeitest du wie ein Künstler, nur geren heute spüre ich immer noch einen wie der Film aussehen sollte. Der Look und dass du statt einer Leinwand dein Gesicht Hang zur Auflehnung. die Tanzszenen waren ihm das Wichtigste, bemalst.“ Ist das nicht ein wenig über- SPIEGEL: Können Sie es ertragen, wenn man gegen Sie rebelliert? trieben? das Drehbuch dagegen ziemlich egal. SPIEGEL: Sie haben einen großen Auftritt Cher: Ich habe diese Szene selbst ins Dreh- Cher: Das wird schwer für die, die es verim Club, spät in der Nacht, ohne Publi- buch hineingeschrieben. Ein Gesicht ist suchen. kum. Sonst dominiert den Film musika- wie ein Klumpen Lehm, man verwandelt SPIEGEL: Es gibt eine Anekdote von Ihnen lisch die 34 Jahre jüngere Christina Agui- ihn, und am Ende sieht er viel schöner und Ihrer Tochter Chas, als Sie zusamlera. Hatten Sie das Gefühl, sich unter aus. Make-up ist große Kunst. Es ist wie men einen Film über die britische Punkbewegung im Fernsehen anschauten. Sie Wert zu verkaufen? malen, nur vergänglich. SPIEGEL: Verzichten Sie jemals auf sagten: „Wow, so eine Frisur lasse ich mir Das Gespräch führte der Redakteur Thomas Hüetlin. Schminke? auch schneiden.“
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Sexsymbol Cher 1991: „Wir haben uns schon alles getraut“ D E R
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Cher: Meine Tochter protestierte: „Bitte nicht. Das kannst du nicht tun. Du solltest diejenige sein, die mir verbietet, eine Irokesenfrisur zu tragen.“ Wahrscheinlich ist es deshalb heute so schwer für die Jüngeren: Wir haben uns alles schon getraut. SPIEGEL: Ihre Tochter Chas hat sich 2008 einer Geschlechtsumwandlung unterziehen lassen – als ob sie ahnte, dass sie keine Chance hat. Cher: Ich wusste schon früh von ihrer Homosexualität. Ich hatte kein Problem damit. Schwer war für mich nur die Tatsache, dass Chas mit allen möglichen Leuten über ihre Homosexualität sprach – nur mit mir nicht. Das hat mich verletzt. Jetzt nach ihrer Geschlechtsumwandlung ist meine Tochter ein Junge. Anfangs fand ich die Vorstellung beängstigend. Aber die Realität ist anders. Es ist immer noch dieselbe Person: Chas ist einfach Chas. SPIEGEL: Warum wurden Sie in den sechziger Jahren ein Hippie? Cher: Mein Partner Sonny und ich waren Hippies, bevor es das Wort überhaupt gab. Die Leute beschimpften uns auf der Straße: „Dreckige Kommunisten“, „Schwuchteln“, „Lesben“. Sonny musste sich prügeln, die Besitzer unseres Lieblingsitalieners baten uns, nicht mehr zu kommen. Wir waren anders, wir kleideten uns anders: Eskimostiefel, Fellwesten, Glockenhosen. Anfangs ging ich noch im Kleid auf die Bühne, Sonny im Anzug. Eines Tages war unser Gepäck auf dem Flug verlorengegangen, wir mussten in unseren Straßenklamotten auftreten. Das Publikum rastete aus. Von da an waren wir Sonny & Cher. SPIEGEL: Stimmt es, dass Sie eigentlich gar nicht singen wollten? Cher: Mein Ziel war die Schauspielerei. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass ich mit Singen Geld verdienen könnte. Sonny war der Erste, der meinte: „Cher, du kannst das.“ SPIEGEL: Ihre erste Single, auf der Sie gesungen haben, hieß: „Ringo, I Love You“. Cher: Ja. Die Radios wollten es nicht spielen. Ich habe ja eine tiefe Stimme, und es gab Leute, die glaubten, da sänge ein schwuler Mann dem Schlagzeuger der Beatles ein Liebeslied. Das war nichts Neues, schon in der Highschool gab es Probleme im Chor. Die Stimmen der Mädchen waren hoch, die der Jungs tief. Ich musste draußen bleiben. Mein Selbstvertrauen war nie sehr groß. SPIEGEL: Obwohl „I Got You Babe“ ein Welthit wurde? Cher: Bis heute nicht. Ich bin keine Künstlerin, die Projekte anpackt, weil sie sich das zutraut. Ich muss mich dazu zwingen, es ist jedes Mal ein aufreibender Prozess. Aber mein Mut war immer größer als meine Angst. SPIEGEL: Und Ihr Partner und späterer Ehemann Sonny Bono zwang Sie zu Ihrem Glück?
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Cher: Als wir uns kennenlernten, war ich Cher: Wir verbrachten viel Zeit zusam- Cher: Nein, ich hatte Lust dazu. Ein Dress16. Sonny hatte bereits eine Ehe hinter men, aber das heißt noch lange nicht, dass code für Künstler, das ist doch Schwachsich, war Vater und 27 Jahre alt. Es hieß meine Freunde glaubten, ich hätte das sinn. Kleidung ist eine Form von Ausdamals, „Trau keinem über dreißig“, Zeug zur Schauspielerin. Niemand war druck, Künstler sollten sich nicht den und Sonny war knapp drunter. Das ging bereit, mir eine Chance zu geben – bis Regeln beugen. Künstler sollen frei sein. also gerade. Ich hatte eine Menge Ener- auf Robert Altman, der eben auch ein Wie kann jemand frei sein wollen und gie, wusste aber nicht, was ich wollte. alter Rebell war. Altman inszenierte 1982 sich gleichzeitig vorschreiben lassen, wie Sonny entschied für mich. Er sagte: sein erstes Stück am Broadway, es hieß er sich anzuziehen hat? Ich habe diesen „Cher, tu dies, tu das, hier geht’s lang.“ „Come Back to the 5 and Dime, Jimmy Widerspruch damals nicht verstanden, Und mir war es ganz recht, dass er Dean, Jimmy Dean“. Alle sagten ihm: und ich verstehe ihn heute noch nicht. meist das letzte Wort hatte, vor allem „Nimm sie nicht.“ Aber Altman blieb stur: SPIEGEL: Ihre Auftritte wirken immer ein wenig exhibitionistisch – als ob Sie unter in geschäftlichen Dingen, weil die mich „Ich will Cher.“ einem inneren Zwang litten: ein ohnehin nicht interessierten. roter Teppich, und schon zeigen Ich wollte spielen, singen, ich Sie Ihren Bauchnabel. wollte eine Künstlerin sein. SPIEGEL: Sonny Bono war auch Cher: Bob Mackie, mein alter Deein wenig konservativ, und als signer, hatte meinen Bauchnabel sich schließlich das fortschrittbereits in den Siebzigern zur liche, junge Amerika in WoodAttraktion erklärt. Manchmal ist stock traf, warnte Ihr Mann es ganz angenehm, sich anzieöffentlich vor Cannabis. Sie hen zu lassen, als wäre man eine mussten sich ein neues PubliPuppe. SPIEGEL: Leute wie der Talkshowkum suchen. Cher: Wir sind dann eine Zeitmaster David Letterman machlang nur noch in spießigen, ten sich über Sie lustig: Cher sei hässlichen Hotels aufgetreten. mal wieder gekleidet gewesen Manchmal bestand das Publiwie zur Beerdigung von „Star kum aus zwei Betrunkenen und Wars“-Bösewicht Darth Vader. Cher: Das hat er gesagt, ich fand einem Typen, der eigentlich das großartig, sehr lustig, und eine Stripshow sehen wollte. Ich natürlich war es mir auch völlig habe es gehasst. Wir lebten in egal. Absteigen, wo die Tapeten von SPIEGEL: Sie waren auch berühmt den Wänden fielen. Ich musste „Burlesque“-Darstellerinnen Cher, Aguilera: „Große Kunst“ für Affären mit Männern, die auf einer Elektroplatte kochen, halb so alt waren wie Sie. Es das Pfeifen der Züge weckte uns heißt, dass Sie sich die Jungs alle zehn Minuten. Wir waren herbeiholten mit den Worten: furchtbar verschuldet, das Pu„Nehmt ihn, wascht ihn und blikum war uns weggelaufen. schafft ihn in mein Zelt.“ Die Kids wollten radikalere Cher: Das habe ich nie gesagt, Musik, und wir hatten diese aber ich wünschte, ich hätte. Mir neue Welle verpennt. SPIEGEL: Anfang der siebziger sind viele Dinge in den Mund Jahre aber hatten Sie ein Comegelegt worden. Es kümmert back. Ihre „Sonny & Cher Comich schon deshalb nicht weiter, medy Hour“ lief einmal pro Woweil die meisten Menschen, die che im Fernsehen und hatte 15 mich beleidigen wollten, heute Millionen Zuschauer. Sie haben verschwunden sind. Aber ich Ihren Mann trotzdem verlassen. bin immer noch da. Cher: Ich war einfach radikaler, SPIEGEL: Das mit den jungen und ich verlor allmählich meine Männern ist auch ein Akt der Naivität. Ich war keine 16 mehr. Rebellion? SPIEGEL: Ihre gemeinsame Firma Cher: Ich glaube, ich war in meigehörte zu 95 Prozent Ihrem nem ganzen Leben nur mit zwei Mann, die übrigen 5 Prozent be- Popduo Sonny & Cher um 1967: „Ich war radikaler“ Männern zusammen, die älter saß ein Anwalt. Sie wendeten waren als ich: Sonny und David sich an den späteren Hollywood-Mogul SPIEGEL: Wie hoch war Ihre Gage? Geffen. Sonst gab es nur unterschiedliche David Geffen, damit er Ihnen aus diesem Cher: Ich bekam nichts, im Gegenteil: Ich Formen von jünger. Sklavendasein heraushalf. War es auch musste 67 000 Dollar drauflegen – für den SPIEGEL: Hat sich das bewährt? Geffen, der Ihnen riet, es mit der Schau- Umzug meiner Familie nach New York Cher: Zurzeit habe ich keinen Freund, aber mein letzter war 52 Jahre alt. Bevor und die Hotelkosten. spielerei zu versuchen? Cher: Es war meine Idee, aber niemand SPIEGEL: Der Regisseur Mike Nichols en- wir uns zum ersten Mal trafen, ließ er in Hollywood war bereit, mir einen Job gagierte Sie danach an der Seite von Meryl mir über einen Freund ausrichten, dass zu geben. Streep für den Film „Silkwood“, Sie wur- mein Alter für ihn kein Problem sei. SPIEGEL: Zu Ihren Freunden gehörten den für einen Oscar nominiert, und für Als wir uns dann trafen, sagte er irgendFrancis Ford Coppola, Jack Nicholson, Ihre Rolle in „Mondsüchtig“ erhielten Sie wann: „Weißt du was, ich bin viel zu alt Anjelica Huston, Goldie Hawn, das wa- ihn sogar für die beste weibliche Haupt- für dich.“ ren die großen Stars Hollywoods damals. rolle. Zu den Oscar-Verleihungen erschie- SPIEGEL: Haben ältere Männer Angst vor Gab es niemanden, der Ihnen helfen nen Sie bauchfrei oder im Irokesen-Look. Ihnen, weil Sie Cher sind und den Ruf haben, nicht ganz einfach zu sein? konnte? War das Provokation?
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Cher: Keine Ahnung, fest steht jedenfalls,
dass es mit jüngeren Männern immer gut lief. Ich sitze jedenfalls nicht zu Hause, verrichte Näharbeiten und warte darauf, dass ein Mann anruft. SPIEGEL: Bei den MTV Video Music Awards haben Sie im Herbst Lady Gaga den Preis für das beste Video überreicht. Sie sagten: „Ich bin das älteste Mädchen hier mit der üppigsten Frisur und dem knappsten Kleid.“ Klingt so Altern in Würde? Cher: Cher zu sein ist manchmal ein schmutziger Job. Aber irgendjemand muss ihn tun. SPIEGEL: Warum treten Sie immer noch in Las Vegas auf und inszenieren dort eine monumentale Show, bei der Sie bis zu 17mal pro Vorstellung in immer neuere, seltsamere Verkleidungen schlüpfen müssen? Cher: Weil es eine große Freude ist, mir diese Dinge mit meinen alten Freundinnen auszudenken. Neulich kam ich als Mann auf die Bühne, mit Schnurrbart, alles wie bei Sinatra im Stil der vierziger Jahre. Ich trug einen Angeberanzug wie ein Mann aus dem Rotlichtmilieu, wunderbar, die ganze Bühne war voller Nutten, und ich war einer der Zuhälter. Nur ein Kleid und ein Mikro – das würde viel Geld sparen, wäre mir aber viel zu öde. SPIEGEL: Wann spürt eine Diva, dass sie 64 Jahre alt ist? Cher: Man muss insgesamt härter arbeiten und erreicht trotzdem weniger. Hin und wieder brenne ich aus. Eine größere Pause hilft dann meistens. Wie das eben so ist, wenn man über einen starken Willen verfügt, aber eben nur über die körperliche Konstitution einer Fruchtfliege. SPIEGEL: Es gibt ein Zitat von Ihnen, das heißt: „Ich war anders, aber als ich aufwuchs, war anders zu sein nicht angenehm. Mit dunkler Haut, dunklen Augen und dunklem Haar kam man im Showgeschäft nicht weit.“ Sie haben nun 45 Jahre lang bewiesen, dass man ganz oben mitspielen kann, ohne blond zu sein. Erfüllt Sie das mit Genugtuung? Cher: In den Disney-Filmen meiner Kindheit galten die blonden Mädchen immer als die guten, die dunkelhaarigen stets als Hexen. Ich wurde später oft für die „Vogue“ fotografiert, aber sie nahmen mich zunächst nicht aufs Cover, weil es hieß, dunkle Haare und dunkle Augen verkauften sich schlechter. Das ist vorbei. SPIEGEL: Sind Sie froh darüber? Cher: Ja, aber um ehrlich zu sein, ich bin gern das schlimme Mädchen. SPIEGEL: Setzen Sie sich manchmal eine blonde Perücke auf? Cher: Manchmal. SPIEGEL: Und? Cher: Die Menschen sprechen viel langsamer mit einem. SPIEGEL: Cher, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. D E R
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Tänzchen mit dem Tod Buchkritik: Edward St Aubyns „Ausweg“, ein Roman über die letzten Dinge
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ULF ANDERSEN/GAMMA/EYEDEA PRESSE/LAIF
in Mann erfährt von seinem Arzt, eine Spielsüchtige, die niemals nach zerrissen zwischen einem sadistischen dass er nur noch ein halbes Jahr zu Hause geht, bevor sie nicht alles verloren Vater und einer abweisenden Mutter, zerleben hat. Was nun? Keine neue hat, und er – so ihr Liebespakt – will ihr rissen in einem Doppelleben als HeroinGeschichte, gewiss nicht, doch diesmal täglich eine Million bewilligen, bis das Junkie und Oxford-Student mit Dandykommt sie trügerisch leicht, ja frivol da- Geld alle ist. Bald fletscht „die Möglich- Allüren, zerrissen von Selbsthass und her. In Edward St Aubyns Buch „Ausweg“ keit echter Gefühle die Zähne“, und ihre Größenwahn. Allein durch das Schreiben ist der Mann, den die Diagnose trifft, ein Leidenschaft entwickelt sich wie ein hat er sich gerettet. 15 Jahre später erst ist St Aubyns TriSchriftsteller, der beschließt, in seinem Waldbrand, der „ganze Landstriche verletzten halben Jahr einen Roman zu wüstet“. Doch im Casino, während An- logie, deren Hauptfigur Patrick Melrose schreiben, endlich einen aufrichtigen, gélique wie eine Berauschte spielt, heißt, auch auf Deutsch erschienen, und wahren Roman. Bisher hat Charlie Fair- schreibt er im „vergoldeten Ambiente“ seither weiß man auch hier, dass seine Art burn – ein Gentleman mittleren Alters – eines ruhigen Nebensalons seinen ulti- des Erzählens nichts zu tun hat mit aufs seinen akademisch trainierten Intellekt mativen Roman. Papier gerotzten Selbsterfahrungstexten; an Trivialitäten vergeudet, er destilliert, was einmal hauptsächlich als „AlphaQual war, zu einer Prosa Drehbuchautor“ für Hollyvon höchster Durchsichwood (Karrierehöhepunkt: tigkeit und Eleganz, zu ei„Ein Alien zum Verlienem Kunststück ironischer ben“) und sich damit eine Selbstbespiegelung – SchreiVilla in den Hügeln über ben als Überlebenskunst. „Ausweg“ ist der zweite Saint-Tropez verdient. Roman, den St Aubyn „Ich weiß nicht, wie ich nach der Trilogie geschrieden Tod in meinem vollgeben hat. Vor fünf Jahren packten Terminkalender ist er mit seinem bisher unterbringen soll.“ Doch letzten Roman „MutterCharlie jammert nicht. Ihm milch“ wieder zu Patrick ist bewusst, dass er durch Melrose zurückgekehrt. Mittäterschaft zu seinem „Ausweg“ ist St Aubyns Todesurteil gekommen ist: einziger in der ersten PerSein Schicksal heißt Leberson erzählter Roman; er zirrhose. Nun will er reinen folgt, „so viele lichte MoTisch machen, die Villa mente wie möglich“ samverkaufen, das Geld zügig melnd, dem Unglücksritter verjubeln und sich im ÜbriAutor St Aubyn Charlie auf dem immer gen den Exerzitien der einsameren Weg seiner ernsten Literatur widmen. „Deadline“ entgegen, irDie Villa wird er für gendwann ohne Angélique drei Millionen los, im CaKönnte es sein, dass dieser unverbes- auf einer kleinen Mittelmeerinsel und sino ereilt den Hasardeur das unglaublichste Anfängerglück: Er setzt eine halbe serliche Leichtfuß dem Leben beziehungs- dann tiefer und tiefer in die Sahara hinein, Million auf sein Geburtsdatum und sieht weise dem Tod trotz allem nicht mit dem wo er vielleicht in einem ekstatischen sich mit Jetons für 18 Millionen gesegnet, gebührenden Ernst begegnet? Oder hat Augenblick etwas wie „Freiheit“ erfährt. Doch „Ausweg“ enthält Stück um die er kaum in seine Hosen- und Jackett- sein Autor ihn als Ich-Erzähler mit allen Taschen stopfen kann. Da trifft es sich Spielarten der Ironie und Selbstironie be- Stück auch den Roman, den Charlie im gut, dass ihm kurz zuvor eine Femme waffnet, damit man mit ihm über die Ver- Laufe dieser Monate schreibt, ein eleganfatale namens Angélique über den Weg zweiflungsabgründe, die sich Zug um Zug tes, doch auch seltsam akademisch-artifigelaufen ist, unverkennbar einem erst- auftun, hinweglachen kann? Wohl wahr, zielles Gedankenspiel: Während einer Eiklassigen Kolportageroman entstiegen: dem „unerträglichen Gedanken an den senbahnfahrt erörtern drei Teilnehmer „Wir sahen einander mit unstillbarem unerträglichen Gedanken“ entkommt nach einem Kongress die Ungreifbarkeit man nicht, und doch wagt Charlie mit und Unergründlichkeit dessen, was man Hunger an.“ „Bewusstsein“ nennt. Charlie pfeift auf „die tragische Erfah- dem Tod ein Tänzchen. Edward St Aubyn ist dank seiner Der britische Schriftsteller Edward St rung, dass wirkliche Intimität nicht miteinander geteilt werden kann“, und tut Aubyn, 50, dessen Stammbaum bis in die Selbstironie und Brillanz einer der raren sich mit Angélique zusammen. Sie ist Normannenzeit zurückreicht, ist Anfang Macho-Autoren, die auch Frauen gern der neunziger Jahre durch eine autobio- lesen. „Ausweg“ ist durchaus auch als grafisch geprägte Romantrilogie aufgefal- Einstieg geeignet. Doch Vorsicht: Diese Edward St Aubyn: „Ausweg“. Aus dem Englischen von len, die das Elend einer aristokratischen scharfgeschliffene, funkelnde Prosa kann Dirk van Gunsteren. DuMont Buchverlag, Köln; 208 URS JENNY Seiten; 18,95 Euro. Kindheit und Jugend heraufbeschwört: zum Suchtstoff werden. 174
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Mathias Müller von Blumencron ST E L LV. C H E F R E DA KT E U R Dr. Martin Doerry D E U T S C H E P O L I T I K · H AU P T STA DT B Ü RO Leitung: Dirk Kurbjuweit, Michael Sauga (stellv.), Christoph Schwennicke (stellv.). Redaktion Politik: Ralf Beste, Petra Bornhöft, Ulrike Demmer, Christoph Hickmann, Wiebke Hollersen, Kerstin Kullmann, Ralf Neukirch, René Pfister, Christian Schwägerl, Merlind Theile. Autoren, Reporter: Henryk M. Broder, Markus Feldenkirchen Meinung: Dr. Gerhard Spörl Redaktion Wirtschaft: Markus Dettmer, Katrin Elger, Peter Müller, Alexander Neubacher, Christian Reiermann. Autor: Jan Fleischhauer D E U T S C H L A N D Leitung: Konstantin von Hammerstein, Hans-Ulrich Stoldt, Alfred Weinzierl. Redaktion: Jan Friedmann, Michael Fröhlingsdorf, Carsten Holm (Hausmitteilung, Online Koordination), Ulrich Jaeger, Guido Kleinhubbert, Bernd Kühnl, Gunther Latsch, Udo Ludwig, Christoph Scheuermann, Andreas Ulrich, Dr. Markus Verbeet, Antje Windmann. Autoren, Reporter: Jürgen Dahlkamp, Dr. Thomas Darnstädt, Gisela Friedrichsen, Beate Lakotta, Bruno Schrep, Dr. Klaus Wiegrefe Berliner Büro Leitung: Holger Stark, Frank Hornig (stellv.). Redaktion: Markus Deggerich, John Goetz, Sven Röbel, Marcel Rosenbach, Michael Sontheimer, Andreas Wassermann, Peter Wensierski. Autor: Stefan Berg W I R T S C H A F T Leitung: Armin Mahler, Thomas Tuma. Redaktion: Susanne Amann, Markus Brauck, Isabell Hülsen, Alexander Jung, Nils Klawitter, Alexander Kühn, Martin U. Müller, Jörg Schmitt, Janko Tietz. Autoren, Reporter: Markus Grill, Dietmar Hawranek, Michaela Schießl AU S L A N D Leitung: Hans Hoyng, Dr. Christian Neef (stellv.), Britta Sandberg (stellv.), Bernhard Zand (stellv.). Redaktion: Dieter Bednarz, Manfred Ertel, Jan Puhl, Sandra Schulz, Helene Zuber. Reporter: Clemens Höges, Susanne Koelbl, Walter Mayr, Mathieu von Rohr Diplomatischer Korrespondent: Dr. Erich Follath WISSENSCHAF T UND TECHNIK Leitung: Johann Grolle, Olaf Stampf. Redaktion: Jörg Blech, Manfred Dworschak, Dr. Veronika Hackenbroch, Julia Koch, Cordula Meyer, Hilmar Schmundt, Matthias Schulz, Samiha Shafy, Frank Thadeusz, Christian Wüst. Autorin: Rafaela von Bredow KU LT U R Leitung: Lothar Gorris, Dr. Joachim Kronsbein (stellv.). Redaktion: Lars-Olav Beier, Susanne Beyer, Julia Bonstein, Nikolaus von Festenberg, Dr. Volker Hage, Ulrike Knöfel, Philipp Oehmke, Tobias Rapp, Elke Schmitter, Claudia Voigt, Martin Wolf. Autoren, Reporter: Georg Diez, Wolfgang Höbel, Dr. Romain Leick, Matthias Matussek, Katja Thimm, Dr. Susanne Weingarten KulturSPIEGEL: Marianne Wellershoff (verantwortlich). Tobias Becker, Anke Dürr, Maren Keller, Daniel Sander G E S E L L S C H A F T Leitung: Matthias Geyer, Cordt Schnibben, Barbara Supp (stellv.). Redaktion: Hauke Goos, Barbara Hardinghaus, Ralf Hoppe, Ansbert Kneip, Dialika Krahe, Takis Würger. Reporter: Uwe Buse, Ullrich Fichtner, Jochen-Martin Gutsch, Thomas Hüetlin, Alexander Osang S P O RT Leitung: Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger. Redaktion: Lukas Eberle, Cathrin Gilbert, Maik Großekathöfer, Detlef Hacke, Jörg Kramer S O N D E R T H E M E N Leitung: Dietmar Pieper, Norbert F. Pötzl (stellv.). Redaktion: Annette Bruhns, Angela Gatterburg, Annette Großbongardt, Uwe Klußmann, Joachim Mohr, Bettina Musall, Dr. Johannes Saltzwedel, Dr. Rainer Traub P E R S O N A L I E N Katharina Stegelmann; Petra Kleinau i PA D Jens Radü; Nicola Abé, Jochen Brenner, Roman Höfner, Bernhard Riedmann C H E F V O M D I E N S T Thomas Schäfer, Katharina Lüken (stellv.), Holger Wolters (stellv.) S C H LU S S R E DA KT I O N Gesine Block, Regine Brandt, Reinhold Bussmann, Lutz Diedrichs, Bianca Hunekuhl, Anke Jensen, Maika Kunze, Stefan Moos, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Manfred Petersen, Fred Schlotterbeck, Tapio Sirkka, Ulrike Wallenfels Sonderhefte: Karl-Heinz Körner B I L D R E DA KT I O N Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heftgestaltung), Claudia Jeczawitz, Claus-Dieter Schmidt; Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Thorsten Gerke, Andrea Huss, Antje Klein, Elisabeth Kolb, Matthias Krug, Peer Peters, Karin Weinberg, Anke Wellnitz. E-Mail:
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Jeden Tag. 24 Stunden. DIENSTAG, 28. 12., 23.05 – 24.00 UHR | VOX SPIEGEL TV EXTRA
Männerspielzeug für Besserverdiener – Zweiradträume aus Lübeck
Was Orange County Choppers für die USA ist, ist House of Thunder für Deutschland: Hersteller exklusiver Luxusbikes, jedes ein Unikat. Hinter der Firma mit dem donnernden Namen stecken zwei Brüder: Erik und Jörg Vauth. In Lübeck bauen sie seit Mitte der Neunziger qualitativ hochwertige Motorräder. LUCAS JACKSON / REUTERS
SAMSTAG, 1. 1., 20.15 – 0.55 UHR | VOX DIE GROSSE SAMSTAGSDOKUMENTATION
2010 – Aufbruch in ein neues Jahrtausend
Vulkanausbruch am Eyjafjallajökull-Gletscher: Über den Himmel huschen Polarlichter
Zehn Jahre nach den Millenniumsfeiern ist die Welt endgültig im neuen Jahrtausend angekommen. Die Zeit ist geprägt von neuen Bedrohungen und Herausforderungen, von technischen Innovationen, die das gesell-
PANORAMA | Das war 2010 Glanzlichter, Katastrophen, Glücksmomente – auf SPIEGEL ONLINE schildern Redakteure und Autoren, wie sie die besonderen Ereignisse des Jahres erlebten.
WIRTSCHAFT | Schöne Aussichten
KULTUR | Oral History
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In diesem Jahr boomte die Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit ging zurück, der Euro schwächelte, und der Dax legte zu. Was bringt 2011? SPIEGEL ONLINE hat führende Experten zu ihren Prognosen befragt. Schausten
Einfach durch die Gegend fahren und Leute nach ihrer Geschichte fragen: Nach der Tour durch die USA hat sich Filmregisseur David Lynch mit seinem „Interview Project“ in Deutschland auf den Weg gemacht. Im Gespräch verraten die Macher, was sie auf ihrer Reise erlebt haben.
WISSENSCHAFT | Botschaften aus der Vergangenheit Vor mehreren tausend Jahren starb die babylonische Sprache aus. Jetzt wird sie dank eines Internetprojekts wieder lebendig. Sprachliebhaber tragen dort alte Gesetzestexte, Zaubersprüche und Gedichte vor.
schaftliche und individuelle Leben verändern. 13 Journalisten sprechen über eine wegweisende Dekade und darüber, was sie 2010 besonders bewegt hat. Mit dabei: Johannes B. Kerner, Bettina Schausten, Christine Westermann, Hans-Ulrich Jörges, Florian König, Jörg Thadeusz und SPIEGEL-Chefredakteur Georg Mascolo.
SPORT | Zu Tisch
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| Käseigel in der Knutschkugel Papa trug Nylonhemden und fuhr Opel Kapitän, Mama würzte mit Maggi und warf die Wäsche in den Vollautomaten: Das Lebensgefühl der fünfziger Jahre war stark durch die Produkte geprägt, die der Wirtschaftswunderboom hervorbrachte. einestages.de über Ikonen des Nachkriegsjahrzehnts.
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SONNTAG, 2. 1., 22.10 – 22.55 UHR | RTL SPIEGEL TV MAGAZIN
Wer tötete Sonja A.? – Mord nach 23 Jahren vor der Aufklärung; Das Ende der Tierliebe – Irlands Umgang mit der Krise; Sex, Lügen, Privatvideos – Die unbekannte Seite J. F. Kennedys.
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Die DSV-Adler sind bei der Vierschanzentournee Außenseiter, aber für Überraschungen gut. SPIEGEL ONLINE berichtet live von den Springen.
Kennedy mit Sohn John-John 1963
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Register so hieß die Zeitungskolumne, in der er sich bis Mitte der neunziger Jahre regelmäßig zu Wort meldete. Und Bearzots Wort hatte Gewicht. Bei 104 Länderspielen, von 1975 bis 1986, saß er als Italiens Nationaltrainer auf der Bank, länger als der nachdenkliche, Pfeife rauchende Mann hielt sich dort niemand. 1982 gewann die Squadra Azzurra unter ihm das WMFinale von Madrid gegen die deutsche Elf. Seinen Kickern war Bearzot eine Vaterfigur, er sah im Fußball vor allem ein Spiel, die Trends zu Kommerz und Verwissenschaftlichung waren ihm ein Gräuel. Enzo Bearzot starb am 21. Dezember in Mailand.
GESTORBEN
Ernst Engelberg, 101. Der Kenner preußi-
HARRY MELCHERT / DPA
scher Geschichte war im Westen Deutschlands schon geachtet, als er noch zu den führenden Historikern der DDR zählte. Seine Bismarck-Biografien „Urpreuße und Reichsgründer“ und „Das Reich in der Mitte Europas“ sind Standardwerke – farbig, detailgetreu, abgewogen. Engelberg war in Gradlinigkeit und Disziplin selbst unverkennbar Preuße und zugleich überzeugter Sozialist. Im badischen Haslach als Sohn eines Anhängers der 1848er-Revolution geboren, schloss sich der Geschichtsstudent der KPD an. 1934 von der Gestapo inhaftiert und misshandelt, emigrierte er über die Schweiz in die Türkei. Dort war er an der Universität Istanbul tätig, bis er ab 1949 erst in Potsdam und dann in Leipzig lehrte. In der DDR stieg das SED-Mitglied Engelberg zum leitenden Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften auf. Die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte aber nahm der Historiker, der frei von doktrinärer Enge war, wichtiger als viele seiner DDR-Kollegen. Unbequem blieb er später für seine Genossen in der PDS und der Linken. Ernst Engelberg starb am 18. Dezember in Berlin.
Jacqueline de Romilly, 97. In den zwanziger Jahren galt die Tochter einer alleinerziehenden Künstlerin durch ihre außergewöhnliche Kenntnis alter Sprachen in Paris als intellektuelles Wunderkind. Die Altphilologin und Kulturhistorikerin wurde als Übersetzerin klassischer griechischer Literatur bekannt. 1988 stieg sie als zweite Frau in den Kreis der 40 „Unsterblichen“ der Académie française auf. Die Professorin machte sich weit über Frankreichs Grenzen hinaus zur Anwältin der humanistischen Bildung. Jacqueline de Romilly starb am 18. Dezember in Paris.
Celia von Bismarck, 39. In den neunziger
des „Eisernen Kanzlers“, den Manager und späteren CDU-Abgeordneten Carl-Eduard Graf von Bismarck, kennengelernt. Nach der Hochzeit zog sie auf Schloss Friedrichsruh, den Stammsitz der Familie. Gegen das Etikett „Society-Lady“ verwahrte sich die vielsprachige, gebildete Frau. Sie nutzte ihre Stellung und Beliebtheit auf dem Party-Parkett für ehrenamtliche Tätigkeiten. Als 2004 die Ehe scheiterte, ging sie zurück nach Genf, wo sie am Zentrum für Sicherheitspolitik arbeitete. Später war sie als Protokollchefin des Hamburger Filmfestes und als Politikberaterin tätig. Celia von Bismarck, bei der im Oktober schwarzer Hautkrebs diagnostiziert wurde, starb am 17. Dezember in Genf.
Enzo Bearzot, 83. Noch lange nachdem er mit dem Job als Trainer abgeschlossen hatte, blieb er dem Fußball verbunden. „La Voce del Vecchio“, die Stimme des Alten, 178
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MICHAEL OCHS ARCHIVES
BILDMASCHINE.DE / CLE-PIX
Jahren wurde die Schweizerin zur Stilikone der bunten Blätter. Gerade 18-jährig hatte die Tochter eines Immobilieninvestors und einer Designerin den Ururenkel
Don Van Vliet, 69. Warum er sich Captain Beefheart nannte, ist bis heute nicht abschließend geklärt. War es ein obszöner Witz? Richtete sich der Name gegen das Establishment? Beides wäre Don Van Vliet zuzutrauen, einem der großen Avantgardisten des Pop, gefürchteter Band-Diktator und eigenartige Kultfigur. Aufgewachsen in Kalifornien, freundete er sich schon in der Schule mit Frank Zappa an und machte später mit ihm zusammen Musik. Ab Mitte der sechziger Jahre begann sich der Ruhm von Captain Beefheart and His Magic Band zu verbreiten, 1969 spielten sie schließlich ihr Meisterwerk ein: „Trout Mask Replica“, eines der einflussreichsten Alben der Popgeschichte. Die Freiheiten, die sich Beefheart herausnahm, als er die verschiedensten Stile kombinierte und auf rücksichtslose Intensität setzte, haben bis heute viele Musiker inspiriert. 1982 begann er, sein Leben der Malerei zu widmen und zog sich zurück. Don Van Vliet starb am 17. Dezember in Nordkalifornien.
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Personalien
CLAUDIO ONORATI / DPA
Papst Benedikt XVI.
Joseph Ratzinger, 83, hat es als Papst
Vater von Verteidigungsminister KarlTheodor zu Guttenberg, muss sein Schloss abriegeln. Das Bundeskriminalamt fordert, dass der Freiherr seinen Familiensitz im oberfränkischen Guttenberg mit einer drei Meter hohen Toranlage vor ungeladenen Besuchern schützt. Andernfalls fürchtet das BKA um die Sicherheit von Sohn Karl-Theodor, der zwar in Berlin lebt, gelegentlich aber am Wochenende vorbeikommt. Vater Enoch, der wie seine Vorfahren stets ein offenes Haus führte, wehrte sich lange gegen die Abriegelung seiner Besitztümer. „Das ist sehr traurig, das tut uns weh“, klagt der Freiherr. Zuletzt suchten Touristen sogar mit Bussen das Schloss der Guttenbergs auf und marschierten in Scharen durch den Park. Mit einem Hinweisschild wirbt der Schlossherr nun für Verständnis: „Aus Gründen der Sicherheit ist es uns leider nicht mehr möglich, das Betreten der Privatgrundstücke rund um die Schlossanlage zu erlauben.“
Enoch zu Guttenberg
Titelbild der russischen „Vogue“
Alina Kabajewa, 27, Abgeordnete der Putin-Partei Einiges Russland und ExOlympiasiegerin für rhythmische Sportgymnastik, sorgt als Cover-Model der russischen „Vogue“-Ausgabe für einen Skandal. Das „geheimnisvollste Fräulein des Landes“ („Vogue“) nimmt erstmals zu in Moskau und im Internet kursierenden Gerüchten Stellung, sie sei die Geliebte von Premierminister Wladimir Putin. „Ich habe so viele Lügen und Schmutz gelesen, dass mich nichts mehr wundert“, sagt sie. Putin selbst hatte entsprechende Mutmaßungen bereits früher entschieden zurückgewiesen: „Ich habe immer negativ auf diejenigen reagiert, die mit ihren rotzigen Nasen und erotischen Phantasien in anderer Leute Leben rumschnüffeln.“ Der neue „Vogue“-Titel dürfte Russlands starken Mann gleichwohl nicht erbauen. Zwischen den von einem 20 000-Euro-Designerkleid nur spärlich verhüllten Beinen der früheren Sportlerin prangen anzüglich die Worte: „Ihr wichtigster Sieg“.
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PLUSPHOTO / IMAGO
Benedikt XVI. auf die Titelseite einer russischen Zeitschrift geschafft. Die Beilage „Stil“ der Tageszeitung „Kommersant“, die Prominente über die Gedanken beim Erwerb sehr teurer Chronometer sinnieren lässt, will herausgefunden haben, dass der oberste Hirte der Katholiken die irdische Zeit entweder von einer deutschen Junghans-Uhr oder einer Schweizer Patek Phillippe Calatrava anzeigen lässt. Letztere kostet um die 10 000 Euro. Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill, liebt es offenbar noch etwas luxuriöser. Er trägt laut „Stil“ eine Breguet Classique „Le réveil du tsar“. Kostenpunkt: um die 20 000 Euro.
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DAVID PEARCE
Enoch zu Guttenberg, 64, Dirigent und
Wishart, Mitdemonstrantin
Nicky Wishart, 12, englischer Schüler, bekam wegen seines Engagements für Jugendclubs die Obrigkeit zu spüren. Der Brite hatte im Internet zu einer Demonstration gegen die Schließung von 20 Freizeitclubs in der Grafschaft Oxfordshire aufgerufen – geschickterweise vor dem Abgeordnetenbüro von Premierminister David Cameron. Drei Tage vor dem Protestdatum erschienen Polizisten in Wisharts Schule. Sie holten den Jungen aus dem Unterricht und drohten ihm mit Verhaftung, falls seine Demo aus dem Ruder laufen sollte. Die Anti-Terror-Polizei beobachte zudem seine Website, warnten die Beamten. Wishart, Gründer der FacebookGruppe „Save ALL UK Youth Centres“ fühlte sich „wie ein Krimineller“ behandelt. Seine Mutter, selbst Pro-JugendclubEngagierte, beschwerte sich bei der Polizei über deren Vorgehen. Inzwischen kam eine Entschuldigung, den Minderjährigen ohne Eltern einvernommen zu haben. Die Protestveranstaltung mit 130 Jugendlichen verlief friedlich. Premier Cameron, dem Wishart einen Brief mit seinem Anliegen schrieb, hat bislang nicht reagiert. Jens Koeppen, 48, CDU-Bundestagsabgeordneter, hat einen Krawattenstreit im Parlament ausgelöst. Der Obmann der Schriftführer im Bundestagspräsidium hatte kürzlich seine Kollegen schriftlich ermahnt, Krawatte oder „dem Entsprechendes“ zu tragen. Schließlich repräsentierten die Damen und Herren rechts und links vom Bundestagspräsidenten die Würde des Hohen Hauses. Prompt kam Gegenwind: Sven-Christian Kindler von den Grünen meinte, ein weißes Hemd plus Anzug dienten der Würde des Hauses besser als manche „Blümchenkrawatte“. Der Linke Andrej Hunko bekannte, keine Krawatte zu besitzen. „Ich kaufe ihm eine“, bietet Koeppen an. „Er darf sich die Farbe aussuchen, und ich binde sie ihm.“ Nachgeben will der CDU-Mann nicht. Mancher Anblick auf dem Präsidiumspult erinnere ihn an ein „aufgeplatztes Sofa“, schimpft er. Wenn die Abgeordneten sich nicht bald fügten, würden sie nicht mehr für Sitzungsdienste eingeteilt – zumindest nicht in der fernsehträchtigen Kernzeit.
MARVIN SCOTT JARRETT / TRUNKARCHIVE.COM
FREDERIC ARANDA / CAMERA PRESS
Tom Ford, 49, amerikanischer Modedesigner, läuft am liebsten hüllenlos herum. Der Mann, der das Luxuslabel Gucci saniert und mit seinen Kreationen schon James Bond eingekleidet hat, entblättert sich, sobald er seine Wohnung betritt. „Die meiste Zeit verbringe ich nackt“, bekannte Ford gegenüber der „Sunday Times“ und ermunterte zur Nachahmung: In der Regel sähen die Menschen ohne Garderobe einfach besser aus. Vor allem bei fülligen Frauen wirke der Verzicht auf ein Gewand vorteilhaft. Der Couturier hat zudem offenbar eine gewisse Aversion gegen seine Branche entwickelt: Textilien drückten oft Arroganz, Snobismus und Klassendenken aus, sagte Ford. „Wir sind das einzige Tier, das Kleider trägt, Ford und das ist nicht nur deshalb so, weil Hunde keine Knöpfe zumachen können.“ Ein schlichtes Tom-Ford-Herrenjackett kostet übrigens mehr als 2000 Euro. Auch ein Grund, mal etwas nicht anzuziehen.
Taylor Momsen, 17, fängt nach elf Film- und TV-Rollen (etwa als „Gossip Girl“-Star) und einem Top-Model-Vertrag an zu rocken. Dabei provoziert sie auch gern: Als Leadsängerin der Band The Pretty Reckless lüpfte die Südstaaten-Göre – wie immer in Dessous, Straps und Plateauschuhen – bei einem Auftritt im New Yorker Nachtclub Don Hill’s ihr Oberteil. Momsen glänzte aber nicht nur mit Sex-Appeal, sondern mit einer tiefen, sinnlichen Stimme. Das fetzige Fräuleinwunder stand schon mit drei Jahren vor den Kameras der Modefotografen, mit sechs spielte sie an der Seite von Dennis Hopper. Ihr Schlampen-Image hält sie für ein Missverständnis: So propagiere sie Masturbation nur, weil junge Mädchen nicht „herumpimpern“, sondern „sich erst mal selbst kennenlernen“ sollten. Sie persönlich habe kaum Freunde, arbeite täglich und hart, gehe nicht aus und trinke „niemals“. D E R
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Sarah Palin, 46, rechtskonservative US-Politikerin, legt sich mit dem mächtigen Kennedy-Clan an. In ihrem neuen Buch „America by Heart“, das sich als lange Bewerbungsrede um die Präsidentschaftskandidatur 2012 liest, greift Palin den legendären demokratischen Politiker John F. Kennedy an. Die Republikanerin konzentriert ihre Kritik auf eine berühmte Rede des späteren Präsidenten, in der Kennedy 1960 seinen katholischen Glauben verteidigte. Seine Gegner lancierten daraufhin, er sei vom Papst gesteuert. 50 Jahre später meint Palin nun, Kennedy habe im Gegenteil eine geradezu antireligiöse Haltung demonstriert und die Bedeutung der Kirche für Amerikaner „kleingeredet“. Die Reaktion kam prompt: Kathleen Kennedy Townsend, eine Nichte des früheren Präsidenten, veröffentlichte einen Artikel in der „Washington Post“. Darin attackiert sie die „gefährlichen“ Bestrebungen der konservativen Politikerin, Religion und Politik zu verquicken und fragt: „Wer hat Palin zu unserem Großinquisitor gesalbt?“ 181
Hohlspiegel
Rückspiegel
Aus der „Frankfurter Rundschau“: „Die Schauspielzunft wurde in diesem Jahr von Iris Berben vertreten, die immerhin in diesem Jahr Geburtstag hatte.“
Zitate
Aus der „Neuen Westfälischen“ Aus der „Südwest Presse“: „Kurz vor der Halbzeit musste Dudek nach einem Zusammenprall mit dem Franzosen Roy Contout mit einem Kieferbruch vom Platz. Nun wird Dudek mindestens sechs Wochen lang auf die Zähne beißen müssen – bis zum nächsten Comeback.“
Die belgische Tageszeitung „Le Soir“ zum SPIEGEL-Interview mit dem flämischen Parteiführer Bart De Wever über die Krise Belgiens (Nr. 50/2010): De Wever hat eine Bombe hochgehen lassen. „Belgien ist der kranke Mann Europas“ – diese Worte, geäußert in einem Moment, in dem unser Land im Visier der Spekulanten steht, sind ein schwerer Fehler. Sie zeugen von einer fundamentalen Verantwortungslosigkeit eines Bart de Wever. Vor den Augen Europas und der Welt – der SPIEGEL ist nicht das „Gooiker Tageblatt“ – setzt De Wever das Wohlergehen der Bürger dieses Landes aufs Spiel. Der Dramatiker Moritz Rinke im „Tagesspiegel“ zur Terrorismusberichterstattung des SPIEGEL („Vorbild Mumbai“, Nr. 47/2010):
Aus der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ Aus der „Aachener Zeitung“: „Während die Ohren in Musik schwelgten, erfreuten sich die Augen an ihrer optischen Verpackung.“
Dabei weiß ich gar nicht, ob die deutsche Terrorismusangst wirklich existiert oder nur bei den SPIEGEL-Lesern, also bei mir? … Mir ist sogar am Flughafen Tegel, im ICE nach Hannover und in der DBLounge am Berliner Hauptbahnhof aufgefallen, dass SPIEGEL-Leser kritischer ihre Umwelt wahrnehmen. In der DBLounge standen zwei mit ihrem Magazin sofort auf, als ein Mann mit dunklen Augen, der mit zusammengefalteten Händen nur still gesessen hatte, auf Toilette ging und sein Gepäck stehen ließ. Die „Stuttgarter Zeitung“ zum SPIEGEL-Interview mit Anne Will über ihr Verhälnis zur ARD (Nr. 51/2010):
Aus der Wochenzeitung „WOM“ Aus dem „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Dann kommt häufig das berüchtigte Weihnachtstauwetter, das uns die weiße Weihnacht verhagelt.“
Aus „Sonntag Aktuell“ Aus dem Bonner „General-Anzeiger“: „Die Streu- und Räumfahrzeuge waren im Dauereinsatz. So blieb es nicht aus, dass selbst auf den Autobahnen teilweise eine geschlossene Schneedecke lag.“ Aus der TV-Zeitschrift „Gong“: „Der Tod von Gerry (Gerard Butler) reißt ihn und Holly (Hilary Swank) brutal auseinander.“ 182
Lange hat Anne Will zu dem bösen Spiel, das die ARD mit ihr getrieben hat, geschwiegen. Im SPIEGEL bezieht sie jetzt Stellung ... In der Bundesliga würde ein Verein auf ein derartiges Interview mit einer Geldstrafe reagieren, auch wenn Will nur ausspricht, was allen klar ist: Nach dem Scheitern der ersten Verhandlungen zwischen Jauch und der ARD im Januar 2007 war sie für den Senderverbund bloß die Platzhalterin. Zu Recht wirft sie ihrem Arbeitgeber zwischen den Zeilen Dilettantismus vor.
Der SPIEGEL berichtete … … in Nr. 33/2010 über den Verdacht, dass die Rüstungsschmiede Heckler & Koch illegal mexikanische Unruheprovinzen beliefert haben soll. Am Dienstag ließ die Stuttgarter Staatsanwaltschaft mit rund 20 Beamten den Firmensitz von Heckler & Koch im schwäbischen Oberndorf durchsuchen. Das Unternehmen beteuert seine Unschuld. D E R
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