Der Spiegelkäfig
DER SPIEGELKÄFIG
The Captives
Science-Fiction-Roman von Michael Fisher
EDITIONS RENCONTRE LAUSAN...
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Der Spiegelkäfig
DER SPIEGELKÄFIG
The Captives
Science-Fiction-Roman von Michael Fisher
EDITIONS RENCONTRE LAUSANNE
Aus dem Englischen übertragen von Mary Hammer Die Originalausgabe erschien unter dem Titel THE CAPTIVES im Verlag Constable & Co. Ltd. London
© Copyright 1970 by Michael Fisher Lizenzausgabe mit Genehmigung des Lichtenberg Verlags GmbH, München, für Editions Rencontre Lausanne Redaktion: W. Jeschke Gedruckt von Union-Rencontre, Mülhausen Printed in France e-Book by Brrazo 09/2009
1 Als sie ihn kommen hörten, begannen die Tiere unruhig zu werden. Die Katzen reckten sich und zeigten ihre Krallen. Die Hunde erhoben sich, spitzten die Ohren und liefen auf und ab. Als sie hörten, daß er die Tür auf schloß, fingen sie an zu bellen. Jakob Berg betrat die Tierstation. »Hscht! Ruhig!« sagte er. »Was soll der Radau?« Die Hunde sprangen gegen die Gitterstäbe, bellten und winselten. Er tätschelte sie und kraulte ihre Köpfe. Die Katzen stellten ihre Schwänze auf und zogen sich zurück. Er wartete mit ausgestreckter Hand, bis sie sich wieder näherten und sich an seinen Fingern rieben. Dann wandte er sich den Hamstern und Mäusen zu, die umhertrippel ten, stehen blieben, schnuppernd ihre Nasen reckten und ihn ansahen. Er lächelte und kehrte zu den Hunden zu rück, um sie wie jeden Abend zu untersuchen. Jakob betrat die Käfige, und mit Hilfe einer Brille mit starken Linsen studierte er das Rückenfell der einzelnen Tiere. Alles schien gut zu verlaufen, und zufrieden machte er sich seine Notizen über jedes der Tiere. Bald würde er einige von ihnen opfern müssen, dachte er, um sie unter dem Mikroskop auf eventuelle Nebenwirkungen und Veränderungen der inneren Organe zu untersuchen. Ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn bei dem Gedanken, aber er hatte das Sezieren schon viel zu lang vor sich her geschoben. Es war höchste Zeit, daß er mit den Untersu chungen begann. Als er die Mäuse durchgemustert hatte, wählte er eine von ihnen aus und hob sie am Schwanz hoch. Er betrach tete sie, wie sie so mit dem Kopf nach unten hing, ihre Beinchen verrenkte, kämpfte und ihren Kopf nach hinten 7
drehte, um wieder in die gewohnte Lage zu gelangen. Über ihren Rücken, genau in der Mitte ihres schneeweißen Fells, verlief ein Streifen dunkler Behaarung, säuberlich eingepaßt. Die werde ich nehmen, sagte er sich, ließ die Maus in eine Schachtel fallen und machte den Deckel zu. Als er den Raum verließ, fingen die Hunde wieder an zu winseln und zu bellen. Sie protestierten, weil er sie verließ. Im Raum nebenan stellte Jakob die Schachtel auf eine Arbeitsbank, während er die eben gemachten Notizen in ein großes Journal übertrug. Er stellte das Buch in das Regal zurück, das mit vielen solcher Bände gefüllt war, nahm die Schachtel und trug sie ans Ende der Bank, wo sich der Seziertisch befand. Das Tageslicht verblaßte hin ter den schmalen Fenstern, die hoch oben in die Wand eingelassen waren, und Wolken waren zu sehen, rosa gefärbt vom Licht der untergehenden Sonne. Er schaltete die Beleuchtung ein. Er öffnete die Schachtel. Die Maus versuchte, sich in einem Winkel zu verkriechen, aber nur für einen Mo ment. Als sie keinen Anlaß zur Furcht sah, richtete sie sich auf, legte ihre Vorderpfoten auf den Rand der Schachtel und prüfte die neue Umgebung mit Nase und gesträubten Barthaaren. Mit einer raschen Bewegung kletterte sie über den Rand und ließ sich auf die Bank hinunterfallen, wo sie sich einen Moment zusammen duckte, den rosaroten Schwanz ringelte und die runden rosaroten Ohren wachsam bewegte. Ihre Augen glühten wie kleine Rubine. Sie rannte einen Meter die Bank ent lang, duckte sich wieder, sträubte witternd die Barthaare. Jakob beobachtete sie eine Weile. Du bist eine gute Maus, dachte er. Ich habe kein Recht dazu, das zu tun, was ich mit dir vorhabe. 8
Er fing sie ein, packte sie am Schwanz und ließ sie vor sich auf die Arbeitsplatte fallen. Er hielt sie zwischen zwei Fingerknöcheln seiner linken Hand hinter ihrem Kopf fest, dann wickelte er ihren Schwanz um einen Fin ger seiner rechten, um einen guten Griff zu haben. Die Maus krampfte sich zusammen. Mit einem Ruck brach er ihr das Rückgrat, und der Körper des Tiers erschlaffte. Er zog sich einen Stuhl heran, und mit Schere und Pinzette machte er sich an die Arbeit. Einige Minuten später begann das Telefon im Büro nebenan zu läuten. Über seine Arbeit gebeugt, ignorierte Jakob eine Zeitlang das Schrillen. Als es nicht aufhörte, stand er fluchend auf, wischte seine Hände an einem Tuch ab und ging in den Nebenraum. »Ja, was ist denn los?« »Störe ich Sie gerade, Jake?« Es war die Stimme sei nes Professors. »Allerdings, Henry.« »Das tut mir leid, aber da ist etwas – und ich möchte Sie bitten, daß Sie es für mich erledigen. Ein Journalist liegt mir schon den ganzen Tag in den Ohren wegen eines Interviews. Er läßt sich nicht abwimmeln. Würden Sie bitte hinuntergehen – er sitzt unten in der Empfangshalle. Vielleicht versuchen Sie einmal, ob Sie ihn uns vom Hals schaffen können.« »Ich bin gerade mitten in einem Experiment, Henry.« »Sobald Sie einen Moment unterbrechen können, Jake. Es ist wichtig. Sie wissen doch, sobald wir die Leute von der Zeitung im Haus haben …« »Natürlich. Das sehe ich ein.« »Also gut. Ich danke Ihnen.« Jakob legte den Hörer auf und kehrte an seinen Sezier tisch zurück. Er führte die Sektion zu Ende und schnitt die 9
Gewebeproben heraus, die er unter dem Mikroskop unter suchen wollte, präparierte sie und legte sie in den Apparat, der ihnen bis zum nächsten Tag die notwendigen Färbun gen geben würde. Dann fütterte und tränkte er die Tiere. Als er fertig war, hängte er seinen weißen Labormantel im Büro an einen Haken und zog seine abgetragene Jacke an. Vor dem Fenster standen schwarz die hohen Türme von Manhattan gegen den orangefarbenen Himmel im Westen und waren schon mit vereinzelten Lichtmustern gespren kelt. Weit unten in der Abenddämmerung zeigten rote und gelbe Punkte, in welcher Richtung der Verkehr floß. Jakob zündete sich seine Pfeife an und verließ das Büro. Die langen Korridore lagen verlassen. Er ging durch die dämmrigen Tunnel, und das Echo seiner langsamen und schweren Schritte hallte in den Gängen. Er bog ein paarmal links und rechts ab, dann erreichte er die Auf zugsschächte. Er drückte einen der Knöpfe und wartete reglos und in Gedanken an seine Arbeit versunken, bis der Aufzug eintraf. Er versteckte seine Pfeife in der hoh len Hand und trat zu den Leuten in die Kabine, die er nicht kannte und die ihn anstarrten. Er wandte ihnen den Rücken zu und hielt seine Augen fest auf die Tür gerich tet, wahrend sie ins Erdgeschoß hinuntersanken. Es waren eine Menge Menschen in der Eingangshalle, Angestellte, die das Gebäude verließen und sich auf den Heimweg machten. Der Marmorboden verstärkte das Trippeln der Absätze zu einem Stakkato. Jakob wandte sich an das Mädchen am Empfangsschalter, das sich auch eben fertig machte, um nach Hause zu gehen. »Ich bin Doktor Berg. Professor Laker sagte mir, daß hier ein Journalist sitzt, der ihn sprechen möchte.« »Ja, Herr Doktor. Der Professor sagte mir schon, daß Sie kommen würden. Das ist aber schon eine ganze Weile her.« 10
»Wir werden nicht alles aus den Händen fallen lassen und herunterhetzen, bloß weil jemand von der Presse hier auftaucht. Wo ist er?« »Wir haben ihn inzwischen ins Besucherzimmer gebe ten.« »Wie heißt er?« »Nathan King. Er ist sehr nett.« »Das ist uninteressant. Woher kommt er?« »Associated Press.« »Hat irgend jemand mit ihm gesprochen?« »Nur ich.« »Das ist gut.« Er nickte ihr zu und wandte sich zum Besucherzim mer. Der Wachmann an der Tür trat beiseite, und Jakob ging hinein. Der Raum war leer, bis auf einen Lehnsessel am anderen Ende, und darin saß ein Mann, der in einem Magazin herumblätterte. Er wirkte ungeduldig und ge langweilt und starrte finster vor sich hin. Jakob sprach ihn an. »Sie sind sicher Herr King.« Der Mann sprang auf und kam ihm entgegen. Er war groß und hager und hatte langes schwarzes Haar. Sein Anzug war elegant, aber schon recht abgetragen. Ein hoffnungsvolles Lächeln wischte den gelangweilten und melancholischen Zug aus seinem Gesicht. »Ja, ich bin Nathan King.« »Ich bin Doktor Berg, Jakob Berg. Professor Laker schickt mich zu Ihnen. Wir werden sehen, ob ich Ihnen behilflich sein kann.« Sie schüttelten sich die Hände, und Nathan sagte: »Ich möchte Ihnen nur ein paar kurze Fragen stellen, die Ihre Arbeit hier im Institut betreffen, Herr Doktor.« »Einverstanden. Aber hier ist es nicht gerade bequem. Wie wär’s, wenn wir uns ein gemütliches Lokal suchen 11
würden. Ganz in der Nähe ist eine nette Bar, da könnten wir uns bei einem Gläschen unterhalten.« »Ich hatte eigentlich gehofft, einen Blick in Ihr Labor werfen zu dürfen.« »Zunächst wollen wir uns mal unterhalten. Alles andere wird sich zeigen, das können wir später noch. Ich könnte jetzt einen Schluck vertragen. Sie nicht auch?« »Doch, ich denke schon.« Jakob geleitete ihn hinaus. Als sie durch das doppelte Glasportal traten, brach der Straßenlärm von allen Seiten über sie herein. Autos und Lastwagen mit dröhnenden Motoren krochen langsam durch den zähflüssigen Ver kehr, die Fahrer hupten nervös. Auf den Gehsteigen drängten sich die Menschen und quetschten sich in die U-Bahn-Schächte. Über ihnen glühten friedlich die Wol kenkratzer im abendlichen Licht, doch hier unten waren Lärm und Unruhe. Jakob ging rasch, schob sich mit seinem untersetzten Körper durch die Menge, von der er überhaupt keine Notiz zu nehmen schien. Nathan folgte in seinem Kiel wasser, trotzdem mußte er ständig Leuten ausweichen, stieß mit ihnen zusammen. Nachdem sie einige Häuser blocks weit gegangen waren, blieb Jakob vor einer Bar stehen. »Dougan« stand in goldenen Buchstaben quer über die Scheibe. Man konnte nicht hineinsehen, denn im Innern war es zu dunkel. Das Glas warf nur düster ihr Spiegelbild und das der Straße hinter ihnen zurück. »Hierher wollte ich Sie einladen«, sagte Jakob. »Sind Sie damit einverstanden?« »Ja, ich denke schon«, sagte Nathan zweifelnd, und sie traten ein. Das Lokal wirkte wie eine Höhle, mit Schatten gefüllt. Die einzige Lampe brannte hinter einer Batterie von Fla 12
schen, die ihr Licht in düsteren Farben brachen, das die Dunkelheit schwach erhellte und den Raum schimmern ließ wie eine Unterwassergrotte. Kräftige Männer in Ar beitskleidung lümmelten an der Bar, schwarze Schatten, über Bierkrüge gebeugt. Andere, in Anzügen, tranken Whisky. Fast niemand unterhielt sich. An der Wand gegenüber der Theke waren einige holzverkleidete Nischen. Jakob und Nathan setzten sich in eine von ihnen. Ein Kellner in rotem Jackett erschien, wischte den Tisch ab und nahm ihre Bestellung entgegen, ohne auch nur ein Wort zu sagen. »Nun erzählen Sie mal, was Sie schon über unsere Ar beit im Institut wissen«, sagte Jakob. »Ich weiß eigentlich fast gar nichts. Deshalb bin ich ja gekommen. Ich möchte ein bißchen darüber in Erfahrung bringen.« »Wenn Sie Associated Press hergeschickt hat, dann müssen die irgend etwas gehört haben, von dem sie glau ben, daß sie eine Story daraus machen könnten. Was war das?« Nathan rutschte unruhig hin und her und verschränkte nervös seine langen Finger ineinander. »Das haben sie mir nicht gesagt.« Jakob betrachtete ihn aufmerksam. Nathan hatte trau rige Augen und einen großen beweglichen Mund, der von einem Moment zum andern lächeln konnte, um so fort wieder Niedergeschlagenheit auszudrücken. »Sie sind nicht von Associated Press, stimmt’s?« sagte Jakob. Nathan sah ihn an, als ob er ihn geschlagen hätte. »Sie haben recht«, sagte er. »Ich bin freier Schriftstel ler. Ein Freund hat mir seinen Presseausweis geliehen.« »Das hört sich schon anders an. Sie haben aufs falsche 13
Pferd gesetzt, wenn Sie glaubten, daß Sie mit diesem Trick mehr erreichen könnten.« »Ich dachte, es wäre leichter, wenn man von einer großen Agentur kommt.« »Im Gegenteil. Wir haben kein Interesse, daß die Zei tungen über unsere Forschungen berichten. Was wollen Sie eigentlich schreiben?« »Ich möchte einen Artikel für ein Magazin machen, was in so einem Laboratorium vor sich geht, welche Menschen da arbeiten, was mit den Tieren geschieht, so in der Richtung.« »Für welches Magazin?« »Nun, ich dachte an …« »Ach, Sie haben also gar keinen Auftrag, sondern Sie sind selbst auf die Idee gekommen.« »Ja.« »Gut. Nun wissen wir wenigstens, wie wir dran sind.« Der Kellner brachte ihre Getränke, und Nathan sagte: »Noch zweimal dasselbe, bitte«, und leerte sein Glas in einem Zug bis zur Hälfte. »Haben Sie schon viele Artikel geschrieben?« fragte Jakob. »Ein paar.« »Haben Sie Geld damit verdient?« »Nicht viel. Ich dachte, daß ich vielleicht diesmal …« »Ich vermute, daß Sie auch schon einen Roman ge schrieben haben.« »Ja, das stimmt.« »Und Sie haben damit auch kein Geld verdient?« »Nein. Auch mit dem Malen nicht. Das ist nämlich mein eigentlicher Beruf.« »Sind Sie verheiratet?« »Bis vor einem Monat war ich verlobt. Sie kam zu 14
dem Schluß, daß ich nie genug Geld verdienen würde, um sie zu ernähren, und damit war die Geschichte zu En de.« »Wie steht’s mit Ihrer Familie, hat die Geld?« »Haufenweise, aber sie wollen mir nichts mehr geben. Sie haben einen großen Besitz in Westchester, wissen Sie, und es kostet eine ganze Menge, um alles instand zu halten. Wir haben uns in letzter Zeit nur sehr selten gese hen.« »Ihnen scheint also das Wasser bis zum Hals zu ste hen, nicht wahr, Nathan?« Nathan trank sein Glas leer und hielt Ausschau nach dem Kellner, der das zweite Glas bringen sollte. Dann wandte er sich Jakob zu und sagte: »Nun, es ist nicht so schlimm, daß ich heute deshalb noch ins Wasser gehe aber, wer weiß, morgen könnte es vielleicht soweit sein.« »Sie könnten sich doch eine geregelte Arbeit suchen.« »Sie reden wie mein Vater. Natürlich könnte ich. Ich könnte zum Beispiel ein guter Werbetexter werden, wenn ich wollte, eine Menge Geld verdienen und meine Ver lobte zurückgewinnen.« »Warum tun Sie’s nicht?« »Dann lieber gleich ins Wasser, das geht schneller.« Ein plötzliches Lächeln ließ sein Gesicht aufleuchten, doch er fiel sofort wieder in seine Mutlosigkeit zurück. Der Kellner brachte ihre Gläser. »Sie haben es geschafft«, sagte Nathan. »Eine schöne Anstellung, regelmäßiges Einkommen. Sicher haben Sie auch Frau und Kinder.« »Glauben Sie. Sie haben das Institut gesehen – impo sant, wie? Die Gold-Stiftung läßt es sich was kosten, was die Ausstattung anbetrifft. Das wird dann wieder an den Gehältern der Angestellten eingespart. Der halbe Kom 15
plex steht leer, weil sie niemanden überreden können, bei diesen Gehältern zu arbeiten. Frau und Kinder, nein, habe ich nicht. Ich bin geschieden. Kinder hatten wir keine. Sie sehen, so weit liegen unsere Probleme gar nicht aus einander. Meine Arbeit versöhnt mich zwar mit vielem, aber ich frage mich manchmal, wie es weitergehen und wo es hinführen soll.« »Ich möchte gern sehen, was Sie da im Institut ma chen.« »Vielleicht, Nathan. Ich glaube, wir könnten uns ge genseitig schon ein bißchen helfen.« »Wenn Sie mir behilflich sind, würde ich alles tun, um mich bei Ihnen zu revanchieren.« »Sehr gut. Ich werde darauf zurückkommen.« »Wann darf ich Sie aufsuchen?« »Gleich, wenn Sie wollen.« »Wunderbar! Ich danke Ihnen. Gehen wir.« »Wir wollen nichts überstürzen. Vielleicht sollten wir zuerst etwas essen. Es gibt hier gute Hamburger.« »Wie Sie wünschen.« Nathan sah sich um in der Dunkelheit und betrachtete die schweigsamen Männer, die an der Bar vor ihren Glä sern saßen. »So übel ist dieser Laden gar nicht«, sagte er. »Ich mag ihn gern. Er ist ruhig und liegt auf halbem Weg zwischen dem Institut und meiner Wohnung. Ich bin oft hier.« »Hier scheint niemand viel zu reden.« »Dafür sorgt schon Dougan selbst. Das ist der grau haarige Mann hinter der Theke. Sein Motto ist: Behalte deine Sorgen für dich, ich habe genug eigene. Nach einer halben Stunde verläßt jeder das Lokal in verhältnismäßig aufgeräumter Stimmung.« 16
Nachdem sie gegessen hatten, traten sie wieder auf die Straße hinaus. Inzwischen war es dunkel geworden, und der Verkehr hatte nachgelassen. Einige Paare waren un terwegs, betrachteten die Schaufenster oder lasen die ausgehängten Speisekarten vor den billigen Restaurants. Die Schaufenster waren große gelbe Rechtecke in der Dunkelheit. Sie boten eine Welt an, in der schöne Men schen wertvolle Kleider trugen. Etwas weiter verkünde ten die großen Neonreklamen eines Kinos, daß diese Menschen dort zum Leben erwachten. Eine Reihe dunk ler Schatten wartete am Eingang. Sie bogen ab und gingen, bis sie das gläserne Portal erreichten, auf dem in kupfernen Lettern stand: GoldStiftung, und darunter: Institut für biomedizinische For schung. »Wir nehmen den Seiteneingang«, sagte Jakob. »Da ersparen wir uns die Mühe, dem Portier zu erklären, wer Sie sind und was Sie hier wollen.« Sie bogen in eine Durchfahrt für Lastwagen ein, die zur Rückseite des Gebäudes führte. Sie kamen zu einer Stahltür, und Jakob zog einen Bund Schlüssel aus der Tasche, wählte einen aus und schloß auf. Sie traten ein. Ihr Weg führte sie durch spärlich beleuchtete Tunnel zu einem Lastenaufzug. Hinter einer Tür, an der sie vorbei kamen, hörten sie Stimmen und Gelächter; die Nacht wächter und Nachtportiers saßen beim Abendessen. Kein Mensch begegnete ihnen. Schweigend standen sie im Aufzug, der sie nach oben brachte, Jakob tief in Gedanken versunken, und Nathan sagte nichts, um ihn nicht zu stören. Sie erreichten den siebzehnten Stock, und Nathan folgte Jakob durch ein neues Labyrinth von dunklen Gängen, bis sie endlich eine Tür erreichten, die Jakob aufschloß. 17
»Wir sind da«, sagte er. »Treten Sie ein.« Er schaltete das Licht an, und Nathan ging durch den Vorraum ins Büro. Er sah die Regale, vollgestopft mit Büchern, in dunklem Rot und Grün gebunden, den Tisch, bedeckt mit Zeitschriften und überquellenden Ordnern, die olivgrünen Karteischränke. Er trat ans Fenster und blickte auf die niedrigeren Gebäude hinunter. Tief unten strömte ein Schwarm Lichter durch die Dunkelheit. Er wandte sich wieder um und betrachtete den Raum. »Ich sehe nirgends Fotografien, keine Bilder, keine Andenken, nichts dergleichen. Haben Sie überhaupt kein Privatleben?« Jakob wies auf die Bücher und Aktenordner. »Das ist mein Privatleben. Was wollen Sie, suchen Sie Sentimen talitäten für Ihren Artikel?« »Ein bißchen human touch muß dabei sein, wissen Sie. Das macht sich immer gut.« »Ich bin ein Mensch wie jeder andere auch. Ich glaube nicht, daß es da irgend etwas Bemerkenswertes gibt.« »Ich dachte nur so …« »Sie dachten nur so«, spottete Jakob. »Kommen Sie. Ich zeige Ihnen interessantere Dinge als diesen human touch. Aber zunächst können Sie hier einen Blick hinein werfen.« Er öffnete eine andere Tür des Büros. Dahinter lag ein weiterer Büroraum, unbenutzt und kahl bis auf eine Couch. »Das war für meinen Assistenten vorgesehen, den ich nie bekommen habe. Daneben ist übrigens die Toilette. Manchmal verbringe ich die Nacht auf der Couch, wenn es zu spät geworden ist, um nach Hause zu gehen.« »Wo wohnen Sie normalerweise?« »Ich habe ein kleines Apartment nicht weit von hier.« 18
»Das hätte ich mir auch gern angeschaut.« »Dort gibt es nichts, was Sie interessieren könnte. Es ist ebenso kahl und einfach wie dieser Raum. Meine Frau hat den human touch mitgenommen, als sie auszog. Ge hen wir ins Labor, das wollten Sie doch sehen.« Jakob ging voraus, Nathan folgte ihm und sah sich in dem langgestreckten Raum um. Werkbänke, auf denen eine Vielzahl von Geräten stand, liefen die beiden Längswände entlang. In den Ecken noch mehr Geräte. Alles blitzte vor Sauberkeit. Das Fenster auf der einen Seite war zu hoch oben in die Wand eingelassen, als daß man hätte hinaussehen können. Es reflektierte nur das Licht der Leuchtstoffröhren an der Decke. »Sie waren großzügig«, sagte Jakob. »Nur das Beste vom Besten, denn technische Ausrüstung, die kann man sehen, Gehälter nicht. Hier sieht man, für was Geld aus gegeben wird. Sehen Sie sich das an: drei verschiedene Mikroskope, ein achtkanaliger Polygraph, Inkubator, Os zillograph, Zentrifuge, Mikrotom, Sterilisiergerät, Chro matograph – was man sich nur wünschen kann. Das ist ein neuer Szintillationszähler, das allerneueste Modell.« »Was ist das?« fragte Nathan und deutete auf eine Ap paratur aus Chromstahl in der Ecke. »Sieht aus wie ein Bügelbrett.« »Das ist ein Operationstisch. Wenn ich ihn in der Mitte des Raums aufstelle, kann ich Tiere fast jeder Größe ope rieren oder sezieren. Kommen Sie, sehen Sie sich meine Instrumente an.« Jakob zeigte Nathan die Glasschränke. Auf den Zügen lagen blitzende Reihen von Scheren, Pinzetten, Nadelhal tern und Klammern. Nathan musterte sie mit leichtem Schaudern und ging weiter. »Es ist sehr beeindruckend, und ich denke, daß Sie 19
sehr stolz auf alles sind«, sagte er. »Nur verstehe ich nichts davon. Wozu brauchen Sie diese vielen Instrumente?« »Um das zu verstehen, müssen Sie sich erst einmal meine Tierstation ansehen.« Durch die Tür am anderen Ende des Labors drang, kaum hörbar, das Gebell von Hunden. Erst als Jakob sie öffnete, brach das Gebell mit voller Lautstärke in den Raum. Die Hunde gerieten außer sich, denn sie waren es nicht gewohnt, daß um diese Stunde noch jemand kam, geschweige denn ein Besucher. Nathan prallte auf der Schwelle zurück. »Mein Gott, was für ein Gestank.« »Ja, das sind die Mäuse und Hamster. Sie haben eine beißend riechende Ausdünstung, aber seltsamerweise gewöhnt man sich daran. Ich selbst rieche es nicht mehr.« Nathan ging bis in die Mitte des Raums. Da war ein Gang, der zwischen Käfigen verschiedener Größe auf beiden Seiten verlief, einige von ihnen aus Gitterstäben, andere aus Maschendraht. Am hinteren Ende stand ein Gestell mit kleinen Käfigen für die Mäuse und Hamster. Der Raum war groß, und es war noch mehr als genügend Platz. »Dahinter liegt noch ein Waschraum und ein Vorrats raum für die Futtermittel, wenn man durch die Tür dort geht«, sagte Jakob. »Daran schließt sich noch eine Kam mer an, die ich die Küche nenne. Dort finden Sie Koch platten, einen Kühlschrank und eine Tiefkühltruhe für Gewebeproben und Sera.« Nathan hörte nicht zu. Er ging auf und ab und betrach tete die Tiere in den Käfigen. Sie witterten nervös nach ihm, zogen sich in den hinteren Teil ihrer Käfige zurück und starrten ihn an. »Sie sehen nicht sehr glücklich aus«, sagte er. 20
»Sie sind glücklich genug. Promenadenmischungen, streunende Katzen – wenn sie nicht hier wären, hätte man sie schon längst erschlagen, oder sie wären auf andere Weise umgekommen.« »Haben Sie ihnen Namen gegeben?« »Wozu sollte ich? Ich kenne sie, und außerdem hat je des Tier seine Registriernummer.« Nathan tätschelte die Hunde durch das Gitter und ging wieder auf und ab. Der Gestank verschlug ihm zwar nicht mehr den Atem, aber er schien sich trotzdem nicht recht wohl zu fühlen. Er war unruhig. Vor zwei großen leeren Käfigen blieb er stehen. »Wozu sind die gedacht?« »Primaten, Menschenaffen, aber ich kann mir keine leisten. Die Aufwendungen für diese Spezies scheinen unter dieselbe Kategorie zu fallen wie die Gehälter.« Die Tür eines Käfigs stand offen. Nathan trat ein und schritt das Innere ab – fünf Schritte lang, vier Schritte breit. Jakob stand am Gitter und sah ihm zu. Im hinteren Teil des Käfigs war eine Art Bunker einbetoniert, mit flachem Dach und einem niedrigen Eingang, der in den dunklen, geschlossenen Innenraum führte. »Und in dem Ding würden sie schlafen?« fragte Na than. »Primaten brauchen ab und zu ein wenig Privatleben.« Nathan bückte sich und blickte in den Bunker. »Es ist genügend Platz hier. Da könnte fast ein Mensch drin schlafen.« »Vielleicht sollten Sie es mal versuchen«, sagte Jakob. »Das würde Ihnen authentisches Material für Ihren Arti kel liefern.« Nathan lachte. »Ich glaube, so weit möchte ich es dann doch nicht treiben.« 21
Er richtete sich wieder auf und ging nach vorn. Er zog an der Tür des Käfigs, drückte, aber sie gab nicht nach. »He!« rief er. »Sie haben die Tür abgeschlossen.« »Ja«, sagte Jakob. »Was soll das? Ist das ein Witz?« »Nein«, sagte Jakob. »Ich möchte, daß Sie da drin bleiben.« Nathan hob die Stimme. »Sind Sie verrückt? Lassen Sie mich sofort hinaus! Ich habe keine Lust, hier die Nacht zu verbringen.« »Das tut mir leid, Nathan«, sagte Jakob. »Aber ich glaube, es wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben.«
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2 Die Tiere waren die ganze Nacht unruhig. Die Mäuse und Hamster raschelten in ihrem Stroh. Die Katzen stelz ten umher, richteten sich an dem Gitter ihrer Käfige auf und zupften mit den Krallen an dem Maschendraht, der jedesmal ein scharfes, klingendes Geräusch von sich gab. Die Hunde liefen auf und ab, ihre Krallen klickten auf dem Boden, dann legten sie sich winselnd und seufzend nieder, nur um einige Minuten später wieder aufzustehen und wieder hin und her zu laufen. Nathan lag auf einem Bündel Stroh, das Jakob aus dem Vorratsraum geholt und durch das Gitter gestopft hatte. Er hatte seine Jacke abge legt, die Krawatte losgebunden und die Schuhe ausgezo gen. Er lag auf dem Rücken und starrte zur Decke. Er hatte die Wolldecke über sich gebreitet, die ihm Jakob aus dem unbenutzten Büro gebracht hatte. Neben ihm stand ein Krug Wasser und ein leerer Eimer, lagen seine Zigaretten und Streichhölzer. Von Zeit zu Zeit rauchte er, hustete, richtete sich auf und drückte die Zigarette sorg fältig aus. Die Hunde sahen ihn an, ihre Augen leuchte ten phosphoreszierend in dem schwachen Nachtlicht, das Jakob hatte brennen lassen, und sie jaulten fragend. Gegen Morgen begann das kleine Fenster auf der an deren Seite grau zu werden. Es war hoch in der Wand angebracht und wies nach Osten. Man sah nichts als ei nen rechteckigen Ausschnitt grauen Himmels. Langsam wurde das Rechteck hell und färbte sich gelb. Gleichzei tig erschien ein gelbes Rechteck an der Wand gegenüber. Nun wurden auch die Tiere munter, die geschlafen hatten. Sie gähnten und streckten sich, darauf schlossen sie sich ihren Kollegen an und gingen auf und ab. Nathan stand auch auf, streckte sich und zupfte das Stroh von 23
seinen Kleidern. Er trank Wasser aus dem Krug, zog das Hemd aus und wusch sich das Gesicht und den Nacken. Die Tiere blieben stehen und starrten ihn an. Nathan bückte sich, um den Eimer zu benutzen. Dann zog er das Hemd wieder an und starrte auf die Tiere. Die meisten von ihnen befanden sich auf der gegenüberliegenden Sei te. Gleich neben ihm, auf der linken Seite, stand ein zweiter Affenkäfig. Rechts von ihm ein Käfig mit zwei Terrierbastarden. Er wandte sich ihnen zu und blickte sie an. Einer der Hunde hatte sich wieder hingelegt und nahm keine Notiz von ihm, aber der andere war hellwach und beobachtete ihn. Ein Ohr hatte er gespitzt, das andere baumelte hin und her. Er hielt den Kopf schräg, und seine glänzenden Kulleraugen waren starr auf ihn gerichtet. »Na, komm«, sagte Nathan. »Komm her, sei ein bra ver Kerl. Komm her!« Er streckte seine Hand durch die Gitterstäbe. Der Ter rier legte den Kopf auf die andere Seite. Plötzlich sprang er vorwärts und schnappte nach Nathans Hand, sprang zurück, starrte ihn an, den Schwanz steil aufgerichtet, den Kopf zwischen die gestreckten Vorderbeine gesenkt. Er fing an zu bellen, schrill, scharf, bissig, legte die Oh ren zurück und fletschte knurrend die Zähne. Nathan zog sich zurück, setzte sich und zündete sich eine Zigarette an. Plötzlich wurden die Tiere erregt. Sie schauten zur Tür und spitzten die Ohren. Nathan schloß daraus, daß sie Jakob hören konnten. Er stand ebenfalls auf, trat ans Git ter und blickte erwartungsvoll auf die Tür. Es dauerte einige Minuten, bis sich überhaupt etwas rührte. Jakob schien zunächst wichtigere Dinge im Labor zu erledigen. Doch da begannen die Hunde zu bellen, und die Tür wurde geöffnet. 24
Jakob wirkte unnahbar in seinem weißen Mantel, der ihm etwas überlegen Akademisches gab. Er war munter und voll Tatkraft, sein kräftiges Kinn war frisch rasiert, und seine kurzen, dichten, buschigen Haare standen wie eine neue schwarze Bürste auf seinem Kopf. Seine Au gen funkelten unter den borstigen Augenbrauen und mu sterten Nathan von oben bis unten. »Nun, Nathan. Haben Sie eine angenehme Nacht ver bracht?« »Nein, es war keine angenehme Nacht. Es war eine verdammt ungemütliche Nacht.« »Es tut mir leid, das zu hören.« »Sie haben kein Recht, so etwas zu tun.« »Ich weiß. Ich behaupte auch nicht, daß ich ein Recht dazu habe. Es tut mir leid für Sie, aber die Gelegenheit war zu günstig, um sie nicht zu nutzen.« »Na schön, vielleicht war es ein wichtiges Experiment für Sie, wenn Sie’s sagen. Aber nun lassen Sie mich her aus, und wir reden nicht mehr darüber.« Jakob hob die Augenbrauen. »Ich glaube, Sie haben mich immer noch nicht verstanden, Nathan«, sagte er. »Sie lassen mich doch jetzt heraus, oder nicht?« sagte Nathan. Jakob runzelte die Stirn und zögerte. Schließlich sagte er: »Nein, jetzt noch nicht.« »Machen Sie keine Geschichten. Sie müssen mich ’rauslassen. Ich habe schließlich zu arbeiten und kann nicht den ganzen Tag hier vertrödeln.« »Nein, nicht jetzt, Nathan«, sagte Jakob und ging wei ter zum nächsten Käfig. »Laß mich ’raus!« brüllte Nathan. »Du blöder Hund! Laß mich sofort ’raus hier!« 25
Jakob gab keine Antwort, sondern setzte seine Runde fort, streichelte die Tiere und füllte ihre Tränken nach. Nathan schrie ihn an und beschimpfte ihn, außer sich vor Wut. Als Jakob seine Arbeit beendet hatte, kam er zu Na than zurück. »Mich stört es nicht, wenn Sie schreien, Nathan. Der Raum ist gut schallisoliert. Aber bitte tun Sie es trotzdem nicht, es macht die Tiere nervös.« »Laß mich ’raus!« schrie ihm Nathan ins Gesicht. »Ich koche jetzt Kaffee. Sie können auch einen haben, wenn Sie wollen. Mögen Sie ihn mit Zucker?« Nathan brüllte ihn an, so laut er konnte. Jakob wartete geduldig. Schließlich ging Nathan der Atem aus. »Ja, mit Zucker«, keuchte er, und Jakob ging hinaus in die Küche. Nachdem er Nathan seinen Kaffee gebracht hatte, kehrte Jakob ins Labor zurück und bereitete die Gewebe proben der Maus für die mikroskopische Untersuchung vor. Es war eine zeitraubende und nervenaufreibende Beschäftigung. Es mußten Sektionen aller inneren Orga ne gemacht und untersucht werden. Er goß jede Probe in Paraffin ein. Als er die letzte eingegossen hatte, war das Wachs der ersten bereits hart genug für das Mikrotom. Er befestigte das weiße Würfelchen auf dem kleinen Tisch des Geräts. und drehte an den Stellschrauben, bis er die gewünschte Schnittbreite hatte. Darauf senkte er die Klinge durch das Wachs und schabte ein dünnes, sich rollendes Flöckchen von der Probe. Mit einem feinen Haarpinsel hob er es auf und schwenkte es im Dampf über einem Becher mit heißem Wasser. Das Flöckchen entrollte sich und wurde glatt. Er schob ein Glasplättchen darunter, hob es auf und legte es auf ein Handtuch zum Trocknen. Er seufzte. Um die Maus völlig zu untersu 26
chen, würde er noch eine Unzahl solcher Schnitte anfer tigen müssen, und jeder einzelne Schnitt erforderte eine sorgfältige und langwierige Durchmusterung unter dem Mikroskop. Viele Tage und Wochen ermüdender und monotoner Arbeit lagen vor ihm. Es mochten einige Stunden vergangen sein, als es an der Eingangstür zum Vorraum klopfte. Er stand auf, ging durch das Büro und öffnete. Ein sechzehnjähriger Junge in Ar beitsuniform, graues Hemd und graue Hose, stand vor der Tür. Er hatte einen Besen und einen Eimer in den Händen. »Komm ’rein, Simon«, sagte Jakob. Er verschloß die Tür hinter dem Jungen und wandte sich wieder seinem Mikroskop zu, während Simon durch das Labor in die Tierstation marschierte. Als plötzlich eine fremde Person erschien, war Nathan zunächst überrascht und dann erleichtert. Er trat ans Git ter seines Käfigs. »Hallo«, sagte er zu Simon. Der Junge lächelte ihn freundlich an. »Hallo«, erwi derte er. »Wie heißt du?« »Simon.« »Schön, Simon. Ich weiß, es hört sich wie ein Witz an, aber ich bin hier eingesperrt. Doktor Berg hat sich einen Scherz erlaubt, aber jetzt möchte ich gern wieder hinaus. Würdest du bitte den Schlüssel für den Käfig holen und aufschließen?« Simon lächelte noch immer. »Hallo«, sagte er. »Ja, ja, hallo. Aber jetzt schließ bitte auf!« Simon steppte ein paar Tanzschritte auf dem Gang und schwenkte seinen freien Arm im Rhythmus einer imagi nären Musik. »Simon«, sagte er lächelnd. 27
Nathan schrie ihn an. Simon zuckte zusammen und machte ein Gesicht, als ob er weinen wollte. Er ließ die Schultern hängen, schlurfte davon und machte sich an seine Arbeit. Er holte aus dem Vorratsraum einen kleinen leeren Käfig und stellte ihn auf den Tisch neben dem Ge stell mit den Hamster- und Mäusekäfigen, öffnete den ersten, griff hinein und quartierte die Tiere in den leeren um. Darauf kehrte er den Mist und das alte Stroh heraus und streute ihn mit frischem aus. Er füllte den Futtertrog mit Schrot aus einer Schachtel und sah nach, ob Jakob nicht vergessen hatte, die Tränke zu füllen. Dann steckte er die Tiere in den Käfig zurück und wiederholte dassel be beim nächsten. Er wandte Nathan den Rücken zu und ignorierte ihn, obwohl dieser ständig auf ihn einredete. Für die Katzen holte Simon einen größeren Käfig. Als er den Käfig betrat, zogen sich die Katzen in den hinteren Teil zurück und fauchten ihn empört an, doch sie taten ihm nichts, sondern erlaubten ihm sogar, daß er sie auf hob und in den mitgebrachten Käfig steckte, solange er ihren Stall säuberte. Die alte Streu kehrte er auf den Mit telgang, dann holte er einen Schlauch, schloß ihn an ei nem Wasserhahn im Vorratsraum an und spritzte den Boden des Käfigs aus. Darauf bedeckte er den Boden mit frischem Stroh, ließ die Katzen wieder hinein und machte sich an den nächsten Käfig. Bei den Hunden machte er es ebenso. Solange er ihren Stall säuberte, wurden sie in den kleinen Käfig gesperrt. Sie trotteten freiwillig in ihr Notquartier, anscheinend war es für sie ein längst vertrautes Spiel. Sie bellten nur, wenn ihnen das Wasser zu nahe kam. Simon lachte und spritzte sie an, worauf sie noch lauter bellten. Nathan hatte längst aufgehört, auf Simon einzureden und ihn anzuschreien. Er saß nun auf seinem Bunker, 28
hielt sich sein Taschentuch vor die Nase gepreßt, um den Gestank zu mildern, und sah dem Jungen zu. Simon kam zu seinem Käfig, rüttelte an der Tür und runzelte verwirrt die Stirn. Er legte den Besen aus der Hand, stellte den Kübel zu Boden und ging hinaus, um Jakob zu holen. Jakob kam herein und kratzte sich hinter dem Ohr, als er das Problem überdachte. »Wir müssen Sie in den Nachbarkäfig umquartieren, solange Simon bei Ihnen saubermacht, Nathan.« Er schloß die Tür des zweiten Primatenkäfigs ab und öffnete ein Vorhängeschloß, das einen Hebel außerhalb des Gitters zwischen den beiden Käfigen sperrte. Er legte den Hebel um, und ein kleiner Durchschlupf im Gitter zum Nachbarkäfig öffnete sich. »Würden Sie bitte durch die Öffnung kriechen, Na than?« Nathan schüttelte den Kopf. »Ich rühre mich nicht von der Stelle«, sagte er. »Es ist in Ihrem Interesse, Nathan.« »Wieso sollte ich Ihnen auch noch behilflich sein? Sie haben mich hinauszulassen.« Jakob seufzte und schwieg. »Wie lange wollen Sie mich denn noch hier festhalten?« fragte er. Jakob sah in schweigend an. »Warum kommt ihr denn nicht herein? Ihr seid doch zu zweit.« »Ich wende nie Gewalt an, wenn es sich vermeiden läßt«, sagte Jakob. »Gewalt ist immer die schlechteste Methode.« Simon steckte den Besen durchs Gitter und stieß nach Nathan. Dieser versuchte ärgerlich, den Stiel zu fassen, und Jakob wies den Jungen zurecht. 29
»Halten Sie mir diesen Kerl vom Leibe.« »Sie brauchen vor Simon keine Angst zu haben. Er ist ein gutherziger Junge.« »Was ist eigentlich los mit ihm?« »Er ist schwachsinnig, wie Sie sehen. Er ist der Sohn von einem unserer Arbeiter im Institut. Wir haben ihm diese Arbeit hier verschafft, und wie Sie sehen, macht er sich sehr nützlich.« »Sie sollten ihn in den Käfig sperren, nicht mich.« »Das war nicht schön, was Sie eben gesagt haben, Na than.« Nathan schnaubte verächtlich. Er saß auf dem Dach seines Bunkers, hatte die Knie bis ans Kinn gezogen und die Arme um seine Beine geschlungen. Aus der sicheren Deckung seiner Knie starrte er sie finster an und gab kei ne Antwort. »Also gut«, sagte Jakob. »Lassen wir es für diesmal. Es wird uns schon noch was einfallen.« Er schloß die Öffnung zwischen den Käfigen, schüttel te den Kopf, winkte Simon ab und ging hinaus. Simon machte sich wieder an die Arbeit, kehrte die Abfälle auf dem Mittelgang zusammen und spritzte ihn ebenfalls mit dem Schlauch aus. Nathan sah ihm eine Weile zu, dann stand er auf und reichte Simon seinen Kübel durchs Git ter. Der leerte ihn, spülte ihn im Waschraum aus und reichte ihn lächelnd zurück. Das Lächeln des Jungen hat te einen Charme, daß Nathan nicht anders konnte, als zurückzulächeln. Doch gleich darauf starrte er wieder finster vor sich hin, zog sich auf das Dach seines Bunkers zurück und kauerte sich zusammen. Als Simon mit seiner Arbeit fertig war, winkte er Nathan zu und ging hinaus. Nathan blieb regungslos hocken und rührte sich die nächsten Stunden nicht von der Stelle. 30
Endlich ließ sich Jakob wieder blicken, und Nathan sagte: »Sie wissen, daß Sie Schwierigkeiten kriegen wer den, wenn Sie das so weitertreiben. Man wird mich ver missen und Nachforschungen anstellen.« »Das glaube ich nicht«, sagte Jakob. »Ich werde sehr oft angerufen.« »Ich weiß. Sie haben es den Leuten leicht gemacht, Sie ausfindig zu machen, deshalb hatte ich auch keine Schwierigkeiten damit. Es steht nämlich nur ein Journa list Nathan King im Telefonbuch. Drei-sechzehn Ost, Dreiundsiebzigste Straße, stimmt’s? Ich habe angerufen und dem automatischen Auskunftsdienst mitgeteilt, daß Sie auf einer längeren Dienstreise sind, um Material für einen Artikel zu sammeln. Ich könnte mir vorstellen, daß Ihre Familie und Ihre ehemalige Verlobte höchst erfreut sein werden, wenn sie anrufen und erfahren, daß Sie et was arbeiten.« »Der Hausmeister wird Verdacht schöpfen, wenn ich nicht in mein Apartment zurückkehre.« »Auch ihn habe ich angerufen – die Auskunft hat mir seine Nummer gegeben – und ihm dasselbe mitgeteilt. Er hat mir versichert, daß er dem Zeitungsjungen Bescheid sagen wird, damit keine Zeitungen mehr zugestellt wer den, bis Sie wieder zurück sind. Der Hausmeister schien ebenfalls erfreut zu sein, als er hörte, daß Sie wieder mal etwas arbeiten, denn ich hatte den Eindruck, daß es mit der letzten Monatsmiete ein bißchen Schwierigkeiten gegeben hat.« »Aber ich kann doch nicht einfach von der Bildfläche verschwinden, und niemand merkt es.« »Nathan, schauen Sie, wir sind hier in New York, nicht in irgendeinem Provinznest. Jeden Tag kommen und gehen da eine Menge Leute.« 31
»Was ist mit Ihren Kollegen? Es kann doch jederzeit jemand hier hereinkommen.« »Nein. Wir würden uns nie gegenseitig bei der Arbeit stören. Höchstens ein Anruf, und auch das nur, wenn un umgänglich. Simon ist der einzige, der die Station betritt. Die Büros werden zwar von Reinemachefrauen geputzt, aber es ist ihnen strengstens untersagt, auch nur das La bor zu betreten, geschweige denn die Tierstation. Außer dem würden sie nie hereinkommen, selbst wenn es ihnen erlaubt wäre. Dazu sind sie viel zu ängstlich. Nein, es gibt nur ein Problem, wenn ich Sie hier festhalte, näm lich wie ich Sie durchfüttern soll. Sie sind ein Sonder fall für das Institut – ich glaube es wenigstens –, und das Büro für Tierversorgung hat solche Fälle nicht vor gesehen.« »Ich werde sowieso nichts essen. Wenn Sie mich nicht hinauslassen, trete ich in den Hungerstreik.« »Ja, das ist die übliche Reaktion in den ersten paar Ta gen, aber das hält nicht lange an. Hunger ist eine unge heure Kraft, und der Anblick einer guten Mahlzeit über windet gewöhnlich den Widerstandswillen in kürzester Zeit. Deshalb werde ich Sie mit Essen versorgen, auch wenn ich erwarte, daß Sie in den ersten Tagen nichts an rühren werden. Die Frage ist nur, als welche Art Tier ich Sie klassifizieren soll. Ich habe mir vom Büro für Tier versorgung Formblätter kommen lassen. Wir werden sie durchgehen und sehen, welches Tier Ihren Eßgewohnhei ten am besten entspricht.« »Sie Dreckstück! Ich bin ein Mensch!« »Natürlich sind Sie das.« »Ich bin kein Tier!« »Was meinen Sie mit dieser Feststellung? Soll das heißen, daß Sie keine Nahrung brauchen?« 32
Nathan sprang auf die Füße, packte den Kübel und die Wasserkanne und schleuderte sie nach Jakob. Sie krach ten gegen das Gitter und polterten zu Boden. Nathan raffte das Stroh zusammen und warf es hinterher. Die Luft war plötzlich voll flatternder gelber Partikel. Jakob betrachtete ihn gelassen. »Stöcke zu werfen ist eine normale Zornreaktion bei Primaten«, stellte er kühl fest. Nathan zog sich in seine Hockstellung auf dem Bun kerdach zurück. »Das Problem ist nur«, sagte Jakob, »daß ich Sie im Hinblick auf die Ernährung schlecht als Primaten einstu fen kann. Die Versorgungsabteilung würde uns Unmen gen von Früchten und Gemüse anliefern, und das würde Ihnen bald zum Hals heraushängen, auch wenn Sie dabei hinreichend mit Protein versorgt würden, wenn Sie genug davon verzehrten. Aber das hat keinen Sinn. Vielleicht könnte ich Sie als Fleischfresser melden. Aber Sie wür den die Katzennahrung wahrscheinlich nicht mögen und die Hundekuchen und das rohe Fleisch noch weniger. Es gibt nur ein Tier, das dasselbe ißt wie Sie, und das ist das Schwein. Wir haben eine Menge von ihnen im Institut, zu Herzforschungszwecken. Ihr Herz ähnelt dem menschlichen ebenso wie ihre Ernährung. Wie war’s mit Schweinefutter, Nathan?« Nathan schnaubte angewidert. Jakob kicherte. »Was war das, Nathan? Haben Sie ge grunzt? Es hörte sich fast so an.« Er wurde sofort wieder ernst. »Entschuldigung, Nathan. Es tut mir leid, ich habe Sie ein wenig auf den Arm genommen, denn es gibt – soweit ich sehe – nur eine Möglichkeit: Sie bekommen mein Mittagessen, und für den Abend werde ich für uns beide etwas einkaufen. Sie machen mir eine Menge Ar 33
beit und Auslagen, Nathan. Ich hoffe nur, daß Sie sich dessen auch würdig erweisen.« »Lassen Sie mich in Ruhe!« sagte Nathan. »Gut«, sagte Jakob und kehrte an sein Mikroskop zu rück. Um die Mittagszeit wurde die Stille des Labors durch ein lautes Klopfen an der Außentür unterbrochen. Jakob ignorierte es. Erst als er die Durchmusterung des Schnitts, den er gerade untersuchte, abgeschlossen hatte, ging er hinaus und holte seine tägliche Mahlzeit herein, die man vor der Tür abgestellt hatte: belegte Brote mit Schinken, Käse und Tomatenscheiben, einen Apfel und einen Pappbecher voll Kaffee. Hungrig betrachtete er das Essen und seufzte, dann trug er es in die Tierstation. Nathan lehnte am vorderen Gitter seines Käfigs und sah ihm wortlos entgegen. Jakob beachtete ihn nicht, aber er vermied es, in seine Reich weite zu kommen. Er schob das Tablett unter dem Gitter des leeren Nachbarkäfigs durch, prüfte nach, ob die Tür auch abgeschlossen war, und legte den Hebel um, der den Durchschlupf öffnete. Nathan rührte sich nicht von der Stelle. Jakob ging wieder hinaus und folgte den Korridoren zu den Aufzugsschächten. Er fuhr hinunter ins Erdge schoß und betrat die Cafeteria. Er haßte es, hier zu essen. Das Gedränge der Leute, der Lärm, das Klappern des Geschirrs, das Stimmenge wirr machten ihn nervös und brachten ihn auf. Er nahm sich ein Tablett und Besteck und stellte sich an, reihte sich ein hinter Technikern, Stenotypistinnen und Arbei tern, die an der Theke auf die Essensausgabe warteten. Die Bedienungen schwatzten miteinander und waren un 34
aufmerksam, als sie seine Bestellung ausführten. Die we nigsten Doktoren aßen hier unten; sie ließen sich ihren Imbiß ins Büro bringen. Ein paar von ihnen fanden sich in der Regel in einem der Aufenthaltsräume zusammen, um dort ihre belegten Brote zu verzehren. Gelegentlich setzte sich auch Jakob zu ihnen. Er suchte sich einen leeren Tisch und setzte sich, aber gleich darauf machte sich eine Gruppe geschwätziger Laborassistenten und -assistentinnen neben ihm breit, die er nicht kannte. Sie redeten laut miteinander und lachten. Jakob war unangenehm berührt über ihre Unverfrorenheit, mit der sie sich in seine private Sphäre drängten, zudem beneidete er sie um ihre fröhliche Ungezwungenheit, mit der sie sich bewegten. Als er seinen Kaffee ausgetrunken hatte und sich erhob, war er zwar erleichtert, aber ebenso ein bißchen traurig. Er nickte ihnen zu, als er den Tisch verließ, erwiderte ein paar Grüße beim Hinausgehen und ging zum Lift, um in sein Labor zurückzukehren. Er beugte sich wieder über sein Mikroskop, bis ihm die Arbeit so langweilig wurde, daß er sich nicht länger darauf konzentrieren konnte. Er stand auf, zog seine Jacke an, und ohne noch einmal nach Nathan zu sehen, fuhr er wieder hinunter und verließ das Institut. Er ging zur Third Avenue. Es war ein heißer, staubiger Nachmittag. Der Verkehr lärmte und stank wie gewöhn lich. Der Reflex der Sonne glitzerte in gelben Klecksen auf den Glasfassaden der Hochhäuser, die die Straße säumten. Hinter ihnen, dachte Jakob, arbeiten unzählige Menschen, und sie sind ebenso anonym wie ich. Er betrat einen Laden, der sich als Discount für Ar meerestbestände ausgab und vollgepfropft war mit billi gen Kleidern, Sportartikeln und Campingzubehör. Als er ihn wieder verließ, trug er eine Anzahl Pakete, darunter 35
einen großen Karton. Er ging noch in eine Drogerie und in einen Supermarkt und am Schluß zu Dougan, um ein Bier zu trinken. Das kühle, dunkle Innere des Lokals war ihm ein willkommener Zufluchtsort nach dem Staub und der Hitze der Straße, und niemand machte eine Bemer kung über seine vielen Pakete. Ins Labor zurückgekehrt, zog er wieder seinen weißen Mantel an und betrat die Tierstation. Nathan lehnte noch immer – oder wieder – am vorderen Gitter. Jakob sah, daß die Platte mit belegten Broten im anderen Käfig un berührt war. Er sagte nichts, aber er schloß die Öffnung im Gitter dazwischen. Dann schloß er den leeren Käfig auf und trug die Pakete hinein. »Ich habe Ihnen einige Sachen besorgt«, sagte er und packte sie aus. Nathan rührte sich nicht, aber er schielte neugierig zu ihm hinüber. »Hier ist eine Zeltplane, die Sie sich auf das Stroh le gen können, da liegen Sie bequemer, denn Sie sind von Natur aus nicht so gut ausgerüstet wie ihre Nachbarn in den anderen Käfigen. Hier ist ein Klappstuhl aus Segel tuch, damit Sie sitzen können. In dem großen Karton da ist ein Campingklosett. Simon wird es jeden Morgen aus leeren und reinigen. Das hier ist ein batteriegespeister Elektrorasierer, hier ist eine Waschschüssel, hier Seife, da Zahnpasta und eine Zahnbürste. Alle anderen in der Station können sich ohne künstliche Hilfsmittel sauber halten, aber ich nehme an, daß ich das von Ihnen nicht verlangen kann. In diesen Paketen sind Nahrungsmittel, aber solange Sie das nicht gegessen haben, was ich Ihnen hingestellt habe, ersparen Sie mir die Arbeit, Ihnen heute abend noch etwas zu kochen. Ich glaube, das ist alles. Ach ja, hier ist noch ein Springseil. Ich wünsche, daß Sie es benutzen, um sich körperlich in Form zu halten.« 36
Das veranlaßte Nathan zu seinem ersten Kommentar. Er schnaubte verächtlich. »Ja, Nathan. Glauben Sie mir, es ist das Hauptproblem bei dieser Art von Dasein: es fehlt die ausreichende Be wegung. Die Tiere gleichen es dadurch aus, daß sie stän dig in ihren Käfigen auf und ab laufen, aber ich vermute, daß Sie nicht so viel Verstand aufbringen, das regelmä ßig zu tun. Wenn Sie irgendeinen Nutzen für mich haben sollen, dann müssen Sie in bester gesundheitlicher Ver fassung sein.« Jakob las das Einwickelpapier zusammen, stopfte es in den leeren Karton und trug ihn mit den Lebensmitteln hinaus in die Küche. Er kam zurück, schloß die Käfigtür wieder ab und öffnete den Durchschlupf, damit Nathan an die Dinge herankam, die er ihm mitgebracht hatte. Er brachte noch ein kleines Handtuch aus der Toilette hinter dem leerstehenden Büro und legte es dazu. Dann holte er sein Notizbuch aus dem Labor und machte sich auf seine Inspektionsrunde durch die Käfige. Nathan sah ihm eine Weile zu, dann fragte er: »War um halten Sie mich eigentlich hier fest?« »Natürlich aus demselben Grund, aus dem ich die Tiere halte.« »Was geschieht mit ihnen?« »Das werde ich Ihnen bei passender Gelegenheit er klären, Nathan. Zunächst möchte ich, daß Sie sich hier eingewöhnen. Ich muß erst meine Experimente mit den Tieren zu Ende führen, bevor ich mich Ihnen zuwenden kann. Sie sind alle bei bester Gesundheit, nicht wahr? Sie wären nicht so zutraulich zu mir, wenn ich ihnen weh tun würde. Sie sehen also, daß Sie nicht die geringste Veran lassung haben, sich vor irgend etwas zu fürchten.« »Und wie lange wollen Sie mich festhalten?« 37
»Das kann ich Ihnen wirklich noch nicht sagen.« Jakob fütterte und tränkte die Tiere, dann nahm er Na thans Wasserkrug, der vorn am Gitter lag, und füllte ihn ebenfalls auf. Er sah sich noch einmal im Raum um und sagte: »Gute Nacht, Nathan.« Nathan gab keine Antwort. Jakob schaltete die Decken beleuchtung aus und ließ nur das schwache Nachtlicht am vorderen Ende des Gangs brennen. Er ging hinaus und verschloß die Tür hinter sich. Nathan ging noch eine Weile auf und ab, unruhig und vor sich hin brütend. Doch die Tiere hatten sich inzwi schen an ihn gewöhnt, die meisten ließen sich sofort nie der, als das Licht erlosch. Die Hunde seufzten zufrieden, als sie sich ins Stroh kuschelten, nur einige waren noch auf den Beinen. Sie sahen Nathan freundlich an, jaulten leise und wedelten mit dem Schwanz. Sie lächelten, die Lefzen nach hinten gezogen, bleckten ihre Zähne, und ihre Augen funkelten. Nathan legte sich aufs Stroh und starrte stundenlang zur Decke. Dann plötzlich, als vermeide er es, darüber nachzudenken, wälzte er sich auf den Bauch und kroch auf Händen und Füßen durch die Öffnung in den anderen Käfig. Dort setzte er sich auf den Campingstuhl, aß die belegten Brote und den Apfel und trank den kalten Kaf fee. Er benutzte das Campingklosett und stellte fest, daß Jakob auch das Papier nicht vergessen hatte. Er wusch sich, nahm die Zeltplane mit in seinen Käfig und breitete sie über sein Strohlager. Er legte sich nieder und wickelte sich in die Decke ein. Er fühlte sich seltsam behaglich und zufrieden, und bald war er in einen tiefen, friedlichen Schlaf gesunken.
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3 Als Simon am nächsten Morgen kam, leistete Nathan keinen Widerstand, sondern kroch bereitwillig in den leeren Käfig, solange der Junge seinen säuberte. Er pro testierte zwar und sagte, daß es nicht nötig sei, weil er ihm nichts tun würde, wenn er in den Käfig käme, aber Jakob meinte, er wolle kein Risiko eingehen, es wäre unfair Simon gegenüber, wenn er ibn auch nur der Mög lichkeit einer Gefahr aussetzte. Jakob rief die Kantinenverwaltung an und meldete, daß er nun einen Assistenten habe, und bat darum, daß man von jetzt an zu Mittag zwei Mahlzeiten ins Büro liefern möge. Es bestand für sie kein Grund, diese Angabe zu überprüfen, denn das Essen war jeweils am Ende der Woche in bar zu bezahlen. Aber er hatte keine Lust, jeden Mittag hinunter in die Cafeteria zu gehen. Als es an der Eingangstür klopfte, ging Jakob hinaus, nahm das Tablett mit der doppelten Portion belegter Brote in Empfang und trug es in die Tierstation. Er reichte Na thans Anteil durchs Gitter, holte sich aus dem Labor ei nen Stuhl und setzte sich vor den Käfig, um gemeinsam mit Nathan zu essen. Sie sprachen nicht miteinander, aber beide empfanden sie die Gegenwart des anderen als angenehm. Am Abend, nachdem er die Tiere inspiziert hatte, ging Jakob in die Küche, packte die Lebensmittel aus und briet Hamburger. Er sah nicht ein, warum er sich zwei mal die Mühe machen sollte zu kochen, erst hier für Na than und dann zu Hause noch einmal für sich selbst. Des halb machte er gleich zwei Portionen, und sie aßen wie der gemeinsam. Danach tranken sie zusammen Kaffee, Jakob zündete sich seine Pfeife an, und Nathan rauchte 39
seine letzte Zigarette. Er bat Jakob, ihm am nächsten Tag welche mitzubringen. Als Jakob nach Hause ging, fühlte er sich beinah ein wenig traurig. Nach der Stille in der Station schienen ihm die Straßen noch lauter und scheußlicher und sein Apartment noch leerer und kahler zu sein als sonst. Es war keine Post für ihn da, bis auf ein paar Rechnungen, und der einzige Telefonanruf des Abends kam von Pro fessor Laker. Sein Apartment lag auf der Rückseite eines alten Gebäudes und blickte auf einen staubigen Hinter hof, in dem einige wenige Bäume wuchsen. Der Himmel darüber war zerschnitten von einem Gewirr von Wäsche leinen, die man überall von Fenster zu Fenster gespannt hatte. An den schwarzen Ziegelmauern der umliegenden Häuser sah man eiserne Feuerleitern, und der umschlos sene Raum hallte wider vom Klappern des Geschirrs aus vielen Küchenfenstern. Der Vorteil dieses Apartments, so hatte er seinerzeit überlegt, lag darin, daß es vom Stra ßenlärm abgeschirmt war. Nun wäre er froh gewesen, wenn er durchs Fenster ein bißchen Straßenleben gese hen hätte. Er blickte hinaus und beobachtete interessiert die gelben Rechtecke der gegenüberliegenden Fenster, aber alles, was es sah, waren gelegentliche Schatten, die sich hin und her bewegten. Als er zu Bett ging, fühlte er, daß er Nathan um die Gesellschaft der Tiere beneidete, die nachts um ihn waren. Am Morgen fragte er Nathan, wie er geschlafen ha be. Sehr gut, sagte Nathan, die Tiere hätten ihn nicht gestört. Jakob freute sich, daß Nathan heute besser ge launt schien. Aber das hielt nicht lange an, denn die erste Frage Nathans war, ob er ihm Zigaretten mitge bracht habe. »Nein, tut mir leid, ich habe keine.« 40
»Sie haben sie vergessen? Ich sehne mich nach einer Zigarette. Könnten Sie mir nicht eine Schachtel holen?« »Ich habe sie nicht vergessen, Nathan. Ich wünsche, daß Sie nicht mehr rauchen, solange Sie hier sind.« »Aber, es stört doch die Tiere nicht, und ich verspre che Ihnen, ganz vorsichtig zu sein, damit kein Feuer aus bricht.« »Das ist nicht der Grund, Nathan. Ich denke vielmehr an Ihre Gesundheit. Solange Sie hier sind, bin ich für Ihren Gesundheitszustand verantwortlich. Abgesehen davon, daß Sie mir nur nützen, wenn Sie in bester Ver fassung sind, kann ich Ihnen nicht erlauben, daß Sie sich auf diese Weise kaputt machen.« Nathan war empört und begann von neuem, Jakob zu beschimpfen. Jakobs Gesicht wurde starr. Er gab keine Antwort, und als er mit seiner Arbeit in der Station fertig war, ging er hinaus ins Labor und schloß die Tür hinter sich, während Nathan nicht aufhören wollte, hinter ihm herzubrüllen. Jakob arbeitete zwei Stunden lang intensiv am Mikro skop. Er verbannte Nathan aus seinen Gedanken und konzentrierte sich ganz auf die Gewebeproben, die er durchmusterte. Schließlich kehrte er wieder in die Tier station zurück. »Da ist noch etwas«, sagte er. »Ich möchte, daß Sie gesund bleiben, deshalb – müssen Sie mir Ihre Kleider geben.« »Was meinen Sie damit?« »Sie sollen mir Ihre Kleider geben, das ist alles. Sie sehen selbst, wie schmutzig und zerknittert sie bereits sind. Wir wollen nicht nachlässig sein, sonst haben Sie in kürzester Zeit Läuse und Flöhe. Ich glaube nicht, daß das Stroh ganz frei von Parasiten ist. Ich habe stets darauf 41
geachtet, daß keines der Tiere Ungeziefer hat. Ich möchte nicht, daß sich das durch Sie jetzt ändert.« »Also gut. Bringen Sie mir frische Wäsche und andere Kleider, dann ziehe ich mich um.« »Das meine ich nicht.« »Sie erwarten doch nicht etwa, daß ich hier nackt he rumsitze?« »Warum nicht? Ihre Nachbarn sind auch unbekleidet.« »Aber ich muß Kleider haben! Ich bin kein Tier.« »Ja, Nathan«, seufzte Jakob. »Das haben Sie schon einmal gesagt. Sie überraschen mich, daß Sie als Journa list immer wieder mit denselben abgedroschenen Phrasen argumentieren.« »Ich muß mich doch mit etwas bedecken. Wie stellen Sie sich das vor?« »Haben Sie keine Sorge. Sie werden nicht frieren. Ich werde die Temperatur hier im Raum konstant so halten, daß Ihnen immer warm ist, und außerdem haben Sie ja noch die Decke, wenn es nötig sein sollte.« Nathan zog sich in den Hintergrund seines Käfigs zu rück und kauerte sich auf dem Dach seines Bunkers zu sammen. »Ich werde mich nicht ausziehen«, sagte er. »Auch gut«, sagte Jakob. »Warten wir’s ab.« Er ging wieder hinaus. Als um die Mittagszeit die belegten Brote angeliefert wurden, nahm sie Jakob in Empfang und trug sie in die Station. Nathan zog sich sofort wieder auf das Dach sei nes Bunkers zurück, als er kam. Jakob ließ das Gitter herunter, das den Durchschlupf verschloß, dann schob er Nathans Portion in den leeren Käfig, holte sich einen Stuhl aus dem Labor, setzte sich und begann zu essen. Er schmatzte genüßlich, um Nathan den Mund wäßrig zu machen. Dieser starrte ihn nur finster an. Keiner von 42
ihnen sagte ein Wort, und Nathan rührte sich nicht von der Stelle. Als Jakob die Brote verzehrt hatte, nahm er den Apfel und aß ihn auf, dann schlürfte er den Kaffee. Nathan rührte sich noch immer nicht. Darauf nahm Jakob Na thans Essen und verteilte es an die Hunde, die sich über die unerwartete Zusatzration freuten. Jakob war zwar nicht recht wohl dabei, denn er haßte Verschwendung, aber er freute sich, als er sah, daß er den Tieren ein Ver gnügen bereitete. Dann ging er zurück ins Labor und blieb den ganzen Nachmittag bei seiner Arbeit. Am Abend verharrte Nathan immer noch in seiner Trotzhaltung und lehnte jeden Kontakt ab. Jakob kochte für sie beide ein Abendessen, er briet einige Hammelko teletts. Wieder schob er Nathans Anteil in den leeren Kä fig, setzte sich und begann zu essen, ohne ein Wort zu sagen. Als er fertig war, nahm er Nathans Teller und ver fütterte die Koteletts an die Hunde, die ihr Glück gar nicht fassen konnten. Sie sahen ihn prüfend an, während sie an den Knochen nagten, als müßten sie sich vergewis sern, ob es damit auch seine Richtigkeit habe. Jakob füllte Nathans Wasserkrug, schaltete die Deckenbeleuchtung aus und ging nach Hause. Am Mittag des nächsten Tages wiederholte sich der selbe Vorgang, doch Nathan rutschte auf seinem Lieb lingsplatz auf dem Bunker unruhig hin und her und fluchte leise vor sich hin. Am Abend machte Jakob Steak mit gebratenen Zwie beln. Nathan schimpfte und fluchte – und begann sein Hemd und seine Hose auszuziehen. »Alles«, sagte Jakob. Nathan zog sein Unterhemd über den Kopf, dann die Socken aus und schließlich seine Unterhosen. Er war 43
nackt. Er zitterte, als ob er friere, und schlug sich die Decke um die Schultern. »Werfen Sie die Kleider heraus«, sagte Jakob. Nathan steckte das Bündel durch die Gitterstäbe und ließ es auf den Mittelgang fallen. Jakob schob es mit dem Fuß außer Reichweite, dann öffnete er das Schloß, legte den Hebel um und gab den Durchschlupf frei. Auf Hän den und Füßen kroch Nathan zu seinem Zwiebelsteak. Am nächsten Morgen war es Nathan, als ob die Luft nicht mehr so kalt sei, und er begann sich daran zu ge wöhnen, ständig nackt zu sein. Als Jakob eintrat, nahm dieser nicht mehr Notiz von ihm als sonst, brachte Kaffee und beaufsichtigte Simon beim Reinigen der Käfige, ganz wie sonst auch. Simon grinste Nathan zwar an, aber das tat er jeden Morgen. Auch ihm war nicht anzumer ken, ob er seinen Anblick als etwas Ungewöhnliches empfand oder nicht. Als sie sich zum Mittagessen auf ihren Stühlen nieder ließen, sagte Nathan zu Jakob: »Haben Sie eigentlich jemals darüber nachgedacht, wie lächerlich Sie aussehen mit den Lappen von Kleidungsstücken, die Sie sich um den Körper gehängt haben?« Jakob lachte. »Ich weiß. Sie haben recht. Ich habe das Gefühl, ich falle hier drin mit meinen Kleidern unange nehm auf. Ich wünschte, ich könnte ebenso herumlaufen wie Sie.« »Dazu würden Sie sich besser eignen als ich; Sie sind viel stärker behaart. Ich denke manchmal, die Tie re müssen sich wundern, warum ich so wenig Fell ha be.« »Ich hoffe, daß ich da etwas für Sie tun kann«, sagte Jakob. 44
Nathan spürte plötzlich ein Würgen im Hals. »Was wollen Sie damit sagen?« »Haben Sie denn keine Ahnung, an was ich arbeite?« »Wie sollte ich?« »Sie haben jetzt mit diesen Tieren einige Tage zu sammengelebt, haben Sie keine Besonderheiten an ihnen bemerkt?« »Sie benehmen sich ganz normal, wie sich eben Tiere verhalten, die eingesperrt sind.« »Fällt Ihnen nichts an ihrem Aussehen auf?« »Nichts Ungewöhnliches, soweit ich sehe.« »Ich nehme an, daß ich das als ein Kompliment für den Erfolg meiner Arbeit auffassen darf, aber ich glaube, Sie sind kein guter Beobachter.« Jakob öffnete einen der Hundekäfige. Die Hunde sprangen an ihm hoch. Er suchte sich einen von ihnen aus, hob ihn hoch, trug ihn heraus und verschloß die Tür wieder. »Ruhig, Junge«, sagte er, denn der Hund wand sich in seinem Griff und glaubte, man wolle mit ihm spielen. Er brachte ihn zu Nathan und zeigte ihm das Rückenfell des Tieres. »Sehen Sie sich das Fell an. Fällt Ihnen etwas auf?« »Es sieht gesund aus. Hier ist ein Fleck, der eine ande re Farbe hat.« »Richtig. Wissen Sie, woher dieser Fleck stammt?« Jakob brachte den Hund in seinen Käfig zurück und holte eine von den Katzen. Er zeigte sie Nathan. »Von ihr stammt er. Ich habe Austauschtransplanta tionen durchgeführt. Sehen Sie hier – dieser Fleck ist ein Stück Hundefell. Bei den Mäusen sieht man es noch deutlicher.« Jakob trug die Katze zurück und griff sich eine Maus 45
aus dem Käfig. Er zeigte Nathan ein braunes Rechteck auf ihrem weißen Rücken. »Das ist Hamsterfell, was hier angewachsen ist.« »Das ist wirklich erstaunlich, aber was soll das für ei nen Sinn haben?« »Ich arbeite an der Entwicklung von Transplantationsverfahren zwischen verschiedenen Spezies. Wie Sie viel leicht wissen, ist das Hauptproblem bei solchen Übertra gungen – selbst innerhalb derselben Gattung – die Ab stoßung des organfremden Transplantats durch die Im munreaktion des Empfängers. Bei verschiedenen Spezies Transplantationen durchzuführen ist noch um ein Vielfa ches komplizierter, denn die Abstoßung ist weit heftiger. Viele Forscher wie ich arbeiten seit Jahren an der Ent wicklung von immer besseren Methoden, um diese Ab wehrreaktion zu vermindern. Mir ist es gelungen, ein neuartiges Antileukozytenserum zu finden, von dem ich hoffe, daß es alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. Ich habe es an diesen Tieren getestet, und – wie Sie selbst sehen – die bisherigen Ergebnisse sind recht viel versprechend.« »Wozu dienen Hautverpflanzungen?« »Ihr Anwendungsbereich ist tatsächlich gering. Man verwendet sie bei schweren Verbrennungen und ähnli chen Verletzungen, aber sie sind technisch einfach durchzuführen, und der größte Vorteil ist, daß man leicht beobachten kann, wie sich das Transplantat im fremden Gewebe verhält. Anderseits ist die Hautverpflanzung hinsichtlich der Immunreaktion eine der kompliziertesten Transplantationen, wegen der großen Berührungsflächen. Daraus ergibt sich, daß ich, wenn es mir gelingt, Haut verpflanzungen erfolgreich durchzuführen, also wenn das fremde Gewebe vom Organismus nicht mehr abgestoßen 46
wird, sondern anwächst, mit Sicherheit ebenso erfolg reich Transplantationen von Herzen, Lebern oder Nieren durchführen kann.« »Aber sicher können Sie nicht ein und dasselbe Serum bei allen Spezies verwenden.« »Das nicht, aber die Methode seiner Gewinnung ist im Prinzip bei allen dieselbe.« »Werden Sie es eines Tages auch bei Menschen an wenden können?« »Ich hoffe, ja. Es wurden bereits Schweineherzen und Affennieren in den menschlichen Organismus verpflanzt, aber die Ergebnisse waren nicht so zufriedenstellend, wie man erwartet hatte. Ich denke, ich habe die nötige Ausrü stung hier, um einen derartigen Versuch erfolgreich durchzuführen; tiefgefrorene Organkonserven, wenn Sie es genau wissen wollen.« Nathan spürte wieder das Würgen in der Kehle. »Sie haben auch ein Serum, das für Menschen geeignet ist?« »Natürlich. Ich habe mein eigenes Blut als Grundlage für die Herstellung benutzt.« Nathans Stimme sank zu einem heiseren Flüstern herab, als er fragte: »Und das ist der Grund, warum Sie mich hier festhalten?« »Ja, Nathan. Sobald ich noch mehr tierische Organis men seziert und mikroskopiert habe und völlig sicher bin, daß keine Unregelmäßigkeiten oder Veränderungen in den Zellen auftreten, sind Sie an der Reihe. Dann werde ich Ihre Nacktheit bedecken und Ihren Körper mit einem schönen Fell ausstatten, wie es Ihre Vorfahren hatten.«
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4 Am nächsten Morgen zeigte Nathan eine feindselige Hal tung. »Ich habe nicht erwartet, Sie heute zu sehen«, sagte er. »Warum nicht?« »Es ist Sonntag. Ich dachte, da hätten Sie was anderes vor. Oder kommen Sie jeden Sonntag, um die Tiere zu füttern?« »Gewöhnlich nicht. Sie erhalten normalerweise am Samstagabend eine Extraration und kommen dann einen Tag ohne mich aus. Ich bin gekommen, um nach Ihnen zu sehen.« »Es tut mir leid, daß ich Ihnen so eine Last bin.« »Das sind Sie nicht. Sie sind sehr wichtig für mich.« »Als Versuchskaninchen, meinen Sie?« Jakob spürte den Widerwillen in Nathans Stimme. »Was ist los?« fragte er. »Sie brauchen doch keine Angst zu haben, weil ich gestern sagte, ich werde Sie mit einem Fell ausstatten. Ich habe nicht die Absicht, ihren ganzen Körper zu behaaren. Das war doch Spaß. Nur ein paar kleine Stückchen. Es wird auch nicht weh tun, denn ich werde Sie örtlich betäuben, wenn ich operiere.« »Das ist äußerst beruhigend«, sagte Nathan sarkastisch. »Ich hoffe, daß Sie mit mir zusammenarbeiten. Das würde die Dinge beträchtlich erleichtern.« »Sie tun ja ganz so, als sei das etwas völlig Normales, was Sie mit mir vorhaben.« »Nun ja. Es ist doch nicht die Welt, oder?« Nathan ging ein paarmal in seinem Käfig auf und ab. Dann sagte er: »Würden Sie mir wenigstens die Sonn tagszeitungen bringen? Ich möchte gern wissen, was in der Welt draußen vor sich geht.« 48
»Wozu?« »Ja, zum Donnerwetter, Jakob, es ist doch schließlich ein normales menschliches Bedürfnis, Zeitungen zu lesen, oder? Ich bin doch keins von Ihren Tieren, für was Sie mich auch sonst halten mögen.« »Über das Thema brauchen wir uns wirklich nicht mehr zu unterhalten, Nathan. Natürlich sind Sie ein Mensch, aber ich halte es für besser, wenn Sie ohne Zei tungen auskommen. Sie beschäftigen sich sonst nur mit Dingen, von denen Sie so überhaupt nichts erfahren und an denen Sie sowieso nichts ändern können.« »Ich muß doch wissen, was in der Welt los ist.« »Warum? Soll ich Ihnen sagen, was heute in den Zeitungen steht? Also gut, etwa folgendes: Die Russen haben ein neues Nervengas entwickelt, das beim Feind entsetzliche Schmerzen hervorruft, ohne ihn zu töten. Um das militärische Gleichgewicht wiederherzustellen, arbeiten wir an einem Kampfgas, das dem Gegner die Augen aus dem Gesicht ätzt, ohne ihn sonst zu verlet zen. Kuba hat eine Methode herausgefunden, wie man Milzbrandsporen mit Hilfe des Golfstroms quer durch den Atlantik transportieren kann, und ganz Westeuropa zittert vor Angst und Schrecken vor dieser Möglich keit. Als weiterer Staat hat sich Guatemala mit seiner ersten Atombombe den Zugang zum Club der Atom mächte gesprengt. Auf dem südostasiatischen Kriegs schauplatz haben die Verluste auf beiden Seiten diese Woche wieder einen neuen Rekord erreicht; unsere Militärs freuen sich aber, darauf hinweisen zu können, daß der Norden mindestens doppelt so hohe Verluste zu beklagen hat wie der Süden. – War es das, was Sie lesen wollten?« »Es gibt andere Dinge, die …« 49
»Es ist viel besser, wenn Sie das Zeug nicht lesen. Was mich betrifft, ich finde es scheußlich.« »Sie halten nicht viel von der Welt, nicht wahr, Ja kob?« »Nicht von dem Teil, in dem der Mensch eine Rolle spielt, noch dazu, wenn er seine Rolle so miserabel spielt.« »Sieh mal an«, sagte Nathan, und boshaft fügte er hinzu: »Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, warum Sie keine Freunde haben?« Jakob sah verwirrt zu Boden. »Was meinen Sie damit? Natürlich habe ich Freunde.« »Den Eindruck machen Sie nicht auf mich. Sie haben auch nie jemanden erwähnt und scheinen nicht oft auszu gehen.« »Nun, meine besten Freunde, die ich von der Universi tät her kenne, wohnen nicht in New York, und von den Ehepaaren, die ich kannte, habe ich mich zurückgezogen. Das ist ganz natürlich, wenn man geschieden ist.« »Und unter die Leute gehen Sie nie?« »Aber sicher tue ich das! Wie kommen Sie darauf?« sagte Jakob ärgerlich. »Bilden Sie sich doch nicht ein, daß Sie sich über mich ein Urteil erlauben können, nach dem Sie mich kaum eine Woche kennen.« Er dachte an den Telefonanruf von Laker am Abend vorher und sagte: »Wenn Sie’s genau wissen wollen: Ich bin am Dienstag zu einer Party eingeladen, zu einer wichtigen sogar.« »Ach was! Und wer gibt sie?« »Mein Professor. Er hat einige einflußreiche Leute von der Gold-Stiftung dazu eingeladen. Er gibt diese Par ties von Zeit zu Zeit, um seine Stellung im Institut zu festigen und auszubauen.« »Und warum hat er Sie dazu eingeladen?« fragte Na than spöttisch. 50
Jakob runzelte die Stirn und entgegnete mit gespiel ter Beiläufigkeit. »Gewöhnlich bin ich nicht eingela den, aber diesmal hat auch Judith Gold zugesagt. Sie wird das erstemal persönlich erscheinen, und der Pro fessor hat mich gebeten, mich ein wenig um sie zu kümmern.« Er wußte natürlich genau, daß ihn Laker nur eingela den hatte, weil der einzige standesgemäße Mitarbeiter seiner Abteilung gerade krank war und er für ihn ein springen mußte, aber Jakob sah keine Veranlassung, dies Nathan mitzuteilen. Nathan war tatsächlich beeindruckt. »Ich habe ihr Bild einige Male in den Zeitungen gesehen«, sagte er. »Sie ist die Tochter des alten Gold, nicht wahr?« »Ja. Sie hat zwar offiziell mit der Stiftung nichts zu tun, aber sie zeigt Interesse an den Institutionen, seit ihr Vater gestorben ist. Mein Professor scheint anzunehmen, daß sie einigen Einfluß hat.« »Sie hat schon einige Ehen hinter sich, wenn ich mich nicht irre.« »Ja, aber keine Kinder, soviel ich weiß.« »Nicht gerade Ihr Typ, kann ich mir denken«, sagte Nathan. »Kann man nie wissen«, lächelte Jakob, der natürlich nicht zugeben wollte, daß er Judith Gold noch nie gese hen hatte. Er war so befriedigt, bei Nathan einen wunden Punkt entdeckt zu haben, an dem er ihn verletzen konnte, daß er ihm gnädig einige medizinische Zeitschriften zum Lesen brachte. Nathan setzte sich auf seinen Stuhl und versuchte, die Aufsätze zu verstehen, wahrend Jakob an sein Mikro skop zurückkehrte.
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Die Party fand in Professor Lakers Wohnung in der Park Avenue statt. Der Professor verdiente auch nur das übliche bescheidene Gehalt eines Institutsangestellten, aber seine Frau hatte Vermögen mit in die Ehe gebracht. Deshalb war er in der Lage, ein komfortables Leben zu führen. Zwölf Personen waren zum Essen geladen, drei Direkto ren der Stiftung mit ihren Frauen, der Professor und der geschäftsführende Direktor des Instituts mit ihren Frauen, dann Jakob und natürlich Judith Gold. Jakob erschien als einer der ersten. Er begrüßte seinen Gastgeber, einen großen glatzköpfigen Mann mit blaß blauen Augen, die dauernd unruhig umherwanderten, als sei er ständig auf der Suche nach irgend etwas, das er vergessen oder verloren hatte. Er sagte zu Jakob, wie er freut er über sein Kommen sei, und seine Frau sagte das selbe noch mal, als ob man es unterstreichen müsse, um es glaubhafter zu machen. Sie war eine großgewachsene und starkknochige Frau mit einem energischen Kinn und stammte aus einer alten Bostoner Familie. Sie hatte die Gewohnheit, mit allen Leuten zu sprechen, als ob sie es mit Pferden zu tun hätte. Jakob war daran gewöhnt, aber es widerte ihn an. Die Direktoren der Stiftung, einflußreiche Männer in der Wall Street, waren grauhaarig und grauäugig und trugen hellgraue Krawatten zu dunkelgrauen Anzügen. Sie redeten viel, ohne viel zu sagen, und lachten laut, aber ihre Augen blitzten ständig hierhin und dahin und vermittelten den Eindruck, als entginge ihnen nichts, und wenn sie nicht gerade lachten, hatten sie harte Züge um den Mund. Der geschäftsführende Direktor des Instituts und seine Frau fanden keine Zeit, sich mit Jakob zu befassen. Sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich ins rechte Licht 52
zu rücken, den Direktoren der Stiftung zu beweisen, daß niemand mehr als sie die Voraussetzungen mitbrachte, um den verantwortlichen Posten der Institutsleitung zu bekleiden und auszufüllen, andererseits ständig darauf bedacht, dabei Professor Laker und Frau nicht zu verlet zen, damit nicht eines Tages von dieser Seite Gefahr für die Anstellung drohen könnte. Jakob stand zwischen den Grüppchen herum und schwieg, weil sich niemand mit ihm unterhalten wollte. Er wartete wie alle anderen auch auf das Erscheinen von Judith Gold. Niemand beachtete ihn. Er dachte an Nathan in seinem Käfig, und aus irgendeinem sonderbaren Grund gab ihm der Gedanke an ihn Sicherheit. Er mußte sich genau überlegen, wie er Nathan die Party am besten schildern würde, und dann würden sie gemeinsam dar über lachen. Endlich erschien auch Judith Gold, und alle umringten sie, um sie zu begrüßen. Jakob stellte fest, daß sie faszi nierend aussah. Sie war mittelgroß, schlank, hatte eine blendende Figur und lebhafte Augen in einem schmalen Gesicht, gerahmt von schulterlangem lohfarbenem Haar. Sie mußte etwa dreißig sein, schätzte er, nicht viel jünger als er und ein wenig älter als Nathan. Sie trug ein kostbares Abendkleid aus indischem Brokat mit Goldstickereien auf altrosa Grund, das Beutestück aus dem Palast eines Maharadschas. Jakob wurde ihr als letzter vorgestellt. Sie musterte ihn aufmerksam und begrüßte ihn mit demselben festen Hän dedruck wie die anderen. Dann machte sie ein paar scherz hafte Bemerkungen und lachte, alle stimmten in ihr Lachen ein, und damit war die Förmlichkeit des ersten Augenblicks rasch überwunden. Die Party nahm ihren Fortgang, wur de geselliger, hatte Niveau, und alle kamen in Stimmung. 53
Jeder wollte sich mit Judith unterhalten. Sie redete viel, fragte viel, scherzte und erhielt alle Informationen, die sie interessierten, sei es über das Institut oder über die Stiftung, wobei sie es verstand, nicht den Eindruck zu erwecken, daß sie ihre Nase in Dinge stecke, die sie nichts angingen. Sie waren alle nur allzu glücklich, sich vor ihr interessant zu machen. Nur Jakob hielt sich zurück, beobachtete sie und fand, daß ihr Gesicht etwas Geheimnisvolles an sich hatte. Ihre Wangen verliefen von ihren ausgeprägten Backenkno chen flach zu einem kleinen runden Kinn und verjüngten sich zu einer schmalen, vorspringenden Nase. Ihre Augen lagen schräg und etwas weit auseinander, und ihr extra vagantes Make-up ließ sie groß und glänzend erscheinen. Es war etwas Schlangenartiges in diesem Gesicht, dachte Jakob. Wenn die alten Ägypter eine Schlangengöttin dar gestellt hätten, sie müßte wie Judith ausgesehen haben. Vielleicht war sie sich dieser Erscheinung bewußt, denn sie schien die Schlange als ihr persönliches Emblem ge wählt zu haben. Der Verschluß ihrer Perlenkette, die sie um den Hals trug, hatte die Form einer geringelten Schlange und war mit Rubinen besetzt, und dasselbe Mo tiv aus Rubinen wiederholte sich an den Ohrringen. Schließlich wandte sie sich wieder an Jakob und fragte ihn nach seiner Tätigkeit am Institut. »Ganz gewöhnliche Forschungsarbeit«, sagte er. »Nicht besonders aufregend.« Sie sah ihn an. Unter der blauen und grünen Schminke auf ihren Lidern wirkten ihre klaren goldbraunen Augen wie Topase. »Das ist was Neues«, sagte sie. »Bisher hat mich jeder zu überzeugen versucht, wie wichtig seine Tätigkeit ist.« »Nun ja«, sagte Jakob. »Es sind wichtige Leute. Aber 54
was mich anbetrifft, ich versuche meine Arbeit zu tun und bin froh, wenn man mich dabei in Ruhe läßt. Ich könnte Sie nicht von meiner Wichtigkeit überzeugen, selbst wenn ich es wollte.« »Seien Sie nicht so bescheiden«, sagte sie. »Ich sehe Ihnen an, daß bei Ihnen mehr dahintersteckt, als Sie vor geben. Setzen wir uns, und dann erzählen Sie mir ein bißchen über sich.« Sie setzte sich in eine Sofaecke und strich die Kissen neben sich glatt. Jakob setzte sich zu ihr, und Judith schenkte ihm ihre ganze Aufmerksamkeit. Von Zeit zu Zeit sah er, daß jemand vor ihnen stand und wartete, um auch mit ihr ins Gespräch zu kommen, aber sie beachtete es nicht, und sie zogen sich wieder zurück. Ihre Fragen waren sehr persönlich und neugierig, aber es war ihm nicht so unangenehm wie sonst, wenn jemand versuchte, in seine private Sphäre einzudringen. Im Gegenteil, denn sie schien so herzlich und verständnisvoll zu sein, daß es ihm wohltat, einige der behüteten Geheimnisse seines Lebens vor ihr ausbreiten zu dürfen. Sie fragte nicht nur, sie berichtete auch sehr freimütig aus ihrem Privatleben, und als er von seiner Ehe und seiner Scheidung sprach, erzählte sie ihm von den beiden Männern, mit denen sie verheiratet gewesen war. »Der erste war ein fleißiger und tüchtiger Rechtsan walt, als ich ihn heiratete«, sagte sie. »Aber nach zwei Jahren Ehe wurde ein Playboy aus ihm, und ich verlor allen Respekt. Deshalb heiratete ich beim zweiten Mal gleich einen stadtbekannten Playboy, damit mir das nicht mehr passieren konnte. Eine Zeitlang führten wir eine lustige Ehe, aber dann wurde das Verhältnis fad, und wir hatten uns nichts mehr zu sagen.« Es wurde zu Tisch gebeten, und sie gingen ins Speise 55
zimmer. Judith fand ihren Platz zur Rechten des Profes sors, griff nach der Tischkarte rechts von ihr und tauschte sie mit der Jakobs aus, die weiter unten an der Tafel stand. »Wir sind mitten in einer interessanten Unterhaltung«, sagte sie und beantwortete damit den leicht indignierten Blick der Gastgeberin. Frau Laker lächelte süßsauer und sagte: »Aber natürlich, Fräulein Gold. Wie Sie wün schen.« Jakob ahnte, daß sie und ihr Mann, den er unversehens von seinem Platz verdrängt hatte, sich zu gegebener Zeit daran erinnern und es ihn spüren lassen würden. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, sagte Ju dith lächelnd, die seine Besorgnis bemerkte. Für den Au genblick war es ihm auch gleichgültig, denn so nah bei ihr sitzen zu dürfen war einige Unannehmlichkeiten wert. Als die Party zu Ende ging und sie immer noch bei einander saßen, sagte Jakob: »Ich fürchte, ich habe Ihnen den ganzen Abend gestohlen.« »Aber nein«, sagte Judith. »Ich habe es nicht anders gewollt. Sie sind der einzige Mensch hier, mit dem mir eine Unterhaltung Spaß gemacht hat.« »Warum? Die anderen hätten Ihnen sicher mehr zu bieten gehabt als ich.« Sie lächelte und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Nun enttäuschen Sie mich doch noch. Nach all dem, über was wir uns unterhalten haben, sollten Sie mich besser ken nen.« »Was gefällt Ihnen an den Leuten nicht?« »Es sind nur Schauspieler, Jakob. Sie ziehen sämtliche Register und spielen ihre Rollen herunter, die sie für sich ausgesucht haben. Sie versuchen sich gegenseitig und mich zu beeindrucken, aber die meiste Zeit wissen sie 56
nicht einmal, wer sie hinter ihren Masken sind. Sie sind wirklich, Jakob, und Sie brauchen sich nicht hinter einer Maske zu verstecken. Das ist es, was ich an Ihnen mag.« »Ich dachte immer, daß diese Leute viel wirklicher sind als ich. Sie stehen in der Welt, tun wichtige Dinge, kommen viel mit Menschen zusammen. Ich dagegen lebe in einer kleinen, abgeschlossenen Welt, daß mir manch mal ist, als träume ich.« »Nein, Jakob. Sie sind aufrichtig, diese Leute sind es nicht. Ob eine Welt groß oder klein ist, das ist nicht ent scheidend. Es ist die Aufrichtigkeit, die sie wirklich macht. Ich habe so viele unaufrichtige Menschen getrof fen und kennengelernt, und deshalb weiß ich es zu schät zen, wenn ich jemanden treffe wie Sie.« »Danke«, sagte Jakob und wußte nicht recht, was er darauf antworten sollte. Er hätte ihr gern auch ein ähnli ches Kompliment gemacht, aber er fand nicht die richti gen Worte, um es auszudrücken. »Darf ich Sie gelegentlich zum Essen einladen?« frag te Judith. »Es wäre mir ein Vergnügen.« »Wie wär’s am Samstag? Würde Ihnen das passen? Ich gebe Ihnen meine Adresse.« Jakob notierte sie sich, und keinem der Anwesenden entging es. »Kommen Sie so gegen acht.« Judith lächelte ihn an, dann stand sie auf und ließ ihn allein. Sie machte ihre Runde und unterhielt sich mit jedem, als wollte sie es wiedergutmachen, daß sie sie den größ ten Teil des Abends vernachlässigt hatte. Nun war es Ja kob, der sich vernachlässigt fühlte. Pflichtschuldigst schüttelte sie allen zum Abschied herzlich die Hand, be 57
dankte sich bei den Gastgebern und wünschte eine gute Nacht. Als sie sich von Jakob verabschiedete, bot er ihr an, sie nach Hause zu bringen, doch sie lehnte ab. Es sei unnötig, sagte sie, der Pförtner werde ihr ein Taxi rufen. Enttäuscht sagte Jakob: »Also dann bis Samstag.« Judith nickte, lächelte und ging.
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5 Nathan lehnte es ab, für Jakobs Partyerlebnisse auch nur eine Spur Interesse zu zeigen. Im Gegenteil, jede Andeu tung schien ihn noch mehr zu verbittern und zu ärgern. Jakob fand diese Reaktion unsinnig. Wenn er schon mal auf eine Party ging, und er war in seinem Leben wahrhaf tig sehr selten auf einer gewesen, dann hatte Nathan kein Recht dazu, verbittert zu sein, denn er hatte sicher schon Hunderte mitgemacht. Nathan zog sich nach hinten in den Käfig zurück und schwieg trotzig. Jakob war ge zwungen, an sein Mikroskop zurückzukehren, ohne daß er Judiths Einladung zum Abendessen hatte erwähnen können. Jakob untersuchte die letzten Schnitte der präparierten Maus und war mit den Ergebnissen zufrieden. Es fanden sich keine Anzeichen von Veränderungen in den inneren Organen. Doch es waren noch weit mehr Untersuchun gen dieser Art durchzuführen, bevor er sich seines Er folgs sicher sein konnte. Er trug die letzten Ergebnisse in das Laborjournal ein und ging in die Tierstation zurück. »Nun muß ich eine der Katzen opfern«, sagte er zu Nathan. »Ich würde wahllos eine herausgreifen, aber wenn Ihnen einige der Tiere besonders ans Herz gewach sen sind, lassen Sie es mich wissen, dann nehme ich eine andere.« »Machen Sie, was Sie wollen«, sagte Nathan. »Es in teressiert mich nicht.« »Dann nennen Sie mir eine Zahl zwischen eins und zehn.« »Sieben.« »Gut. Das ist diese hier.« Jakob nahm die Katze mit der Sieben auf der Marke am Halsband heraus. Es war 59
ein schwarzweiß getigerter Kater mit einem braunen Transplantat im Rückenfell. Er hob ihn hoch und zeigte ihn Nathan. Das Tier duckte sich auf seinem Arm, legte die Ohren an und hielt die Augen halb geschlossen. »Das ist Ihr Opfer«, sagte Jakob. »Das ist nicht mein Opfer, das ist Ihres«, sagte Na than. »Versuchen Sie die Schuld nicht auf mich zu schie ben.« »Wollen Sie ihm nicht Lebewohl sagen?« Jakob strei chelte mit einer Fingerspitze den Kopf des Katers, den das Tier an seinen Arm schmiegte. Nathan wandte sich ab und schwieg. »Auch gut«, sagte Jakob. »Es ändert auch nichts an seinem Schicksal.« Er trug die Katze ins Labor und sperrte sie in einen schmalen, engen Käfig. Er zog eine Spritze auf und inji zierte die tödliche Flüssigkeit. Wieder hatte er das Ge fühl, wie ein korrupter Richter zu handeln, der ohne Recht und Gesetz seine Urteile fällt. Die Katze starb, und er machte sich an die Arbeit. Er sezierte sie und bereitete Gewebeproben zum Mikroskopieren vor. Am nächsten Tag begann er mit der Untersuchung der Schnitte. Wieder war es eine mühsame und monotone Beschäftigung. Beim Mittagessen hoffte er, daß er sich mit Nathan ein wenig unterhalten könnte, aber dieser blieb verschlossen und abweisend. Er brütete vor sich hin, gab kaum Antwort auf Jakobs Fragen und aß schwei gend seine belegten Brote. Während des Abendessens verharrte Nathan in dersel ben Haltung, und Jakob überlegte sich, was er dagegen tun könnte. Er beschloß, daß er mindestens versuchen müßte, Nathan aus seinem katatonischen Zustand aufzu rütteln. 60
Nachdem sie am nächsten Morgen gefrühstückt hatten und Simon die Käfige gesäubert hatte, ging Jakob zu sei nem Schrank und holte seine medizinischen Instrumente, die noch aus seiner Zeit in der Klinik stammten, darunter ein Stethoskop und eine Blutdruckmanschette, und brachte sie in die Tierstation. Nathan lag reglos auf dem Dach seines Bunkers. »Ich werde jetzt zu Ihnen in den Käfig kommen, Na than«, sagte Jakob. »Ich möchte Sie gründlich untersu chen. Soweit ich es so beurteilen kann, sind Sie gesund, aber ich möchte es genau wissen. Ich brauche exakte Da ten über ihre körperliche Verfassung, um Vergleichs grundlagen für spätere Untersuchungen zu haben.« »Tun Sie, was Sie wollen«, sagte Nathan. Jakob zögerte einen Moment, dann schloß er die Kä figtür auf. Es war das erste Mal, daß er sie öffnete, seit Nathan in dem Käfig saß. Er steckte den Schlüssel in die Tasche und trat ein. Dann zog er die Tür zu und ließ das Schloß wieder einschnappen. Nathan blieb bewegungslos Hegen. »Sie können so liegen bleiben, wenn Sie wollen«, sagte Jakob. »Ich kann Sie auch so untersuchen.« Er ging auf Nathan zu. Dieser beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, aber er rührte sich immer noch nicht. Jakob griff nach Nathans Handgelenk, doch plötzlich packte ihn dieser, zog sich mit einem Ruck an ihm hoch und schlug auf ihn ein. Jakob versuchte, seine Hände festzuhalten, und ein paar Minuten lang rangen sie keu chend miteinander. Dann gelang es Nathan, sich loszu reißen, und er rannte zur Tür. Jakob setzte ihm nach und erwischte ihn von neuem, aber er konnte den nackten Körper nicht festhalten. Mit einem Satz war Nathan an 61
der Tür, rüttelte daran und stieß einen enttäuschten Schrei aus, als er merkte, daß sie verschlossen war. Er wandte sich um und stellte sich mit dem Rücken zur Tür. »Gib den Schlüssel ’raus, Jakob!« sagte er. »Du kommst nicht ’raus, Nathan.« »Gib den Schlüssel her, oder keiner von uns beiden verläßt diesen Käfig.« Jakob holte den Schlüssel aus der Tasche seines wei ßen Mantels und steckte ihn in die Hosentasche. Er zog den Mantel aus und warf ihn durchs Gitter auf den Mit telgang, band seine Krawatte ab und steckte sie in die Hosentasche; dann begann er seine Ärmel hochzukrem peln. Nathan beobachtete ihn lauernd und hielt sich an der Tür fest, sein schmaler, fast haarloser Körper glänzte von Schweiß. Er sah, daß Jakobs Arme stark und musku lös waren. Die Tiere in den Nachbarkäfigen äugten ge spannt herüber. »Bist du dir auch sicher, mein lieber Nathan, daß du mit mir kämpfen willst?« fragte Jakob. »Ich möchte dir nicht weh tun.« Nathan fuhr mit der Zunge über seine trockenen Lip pen. »Du kommst hier nur ’raus, wenn ich mit ’raus komme.« »Nein, Nathan. Du irrst dich.« Jakob ging langsam auf ihn zu, mit einer plötzlichen Bewegung versuchte er ihn zu packen, doch Nathan holte aus und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Jakob er wischte sein Handgelenk und hielt es fest; mit dem ande ren Arm umfaßte er seinen Körper. Mit seiner freien Hand bearbeitete Nathan Jakobs Rippen, aber sichtlich ohne den geringsten Erfolg. Er versuchte einen Handkan tenschlag gegen Jakobs Genick, doch dieser hielt ihn so 62
fest an sich gepreßt, daß er nicht weit genug ausholen konnte, um einen harten Schlag zu führen. Also riß er mit einem Ruck das Knie hoch und stieß es mit aller Kraft in Jakobs Unterleib. Jakob stöhnte vor Schmerzen auf und taumelte zurück. Nathan, selbst etwas erschrocken über die Wirkung, rang nach Atem und nützte seinen Vorteil nicht. Jakob drehte sich, riß Nathans Handgelenk, das er nicht losgelassen hatte, über die Schulter und bückte sich; Nathan verlor den Stand, fühlte sich hochgehoben, durch die Luft gewirbelt und krachte mit dem Rücken auf das Strohlager, wo er benommen liegen blieb. Er stöhnte vor Schmerz und zog die Knie an. Während er sich lang sam wieder erholte, hatte Jakob längst die Tür geöffnet, den Käfig verlassen und ihn wieder abgeschlossen. Während Jakob die Ärmel herunterrollte, die Krawatte band und seinen Labormantel wieder anzog, beobachtete er Nathan, ob er ihn verletzt hatte. Es schien nicht der Fall zu sein. Er nahm seine medizinischen Geräte und ging ins Labor zurück. Zu Mittag kam Jakob nur für einen Moment und schob Nathan die belegten Brote unten durchs Gitter. Seine Portion aß er im Büro. Er betrachtete die Glasfassaden der Wolkenkratzer vor dem Fenster. Sie sahen aus wie Facettenaugen riesiger Insekten, und jede Facette schien ihn anzustarren. Er fühlte sich nackt und verletzlich, und die kleine Freude, die er nach seinem Sieg über Nathan empfunden hatte, war längst verschwunden. Nach dem Essen ging Jakob aus dem Büro, fuhr hin unter und verließ das Institut. Der Verkehr und die Men schenmassen, die in den Straßen um die Fundamente der Gebäude brandeten, kamen ihm vor wie eine brodelnde, schlammige Flut, in der die kristallinen Gebilde der Wolkenkratzer langsam eingeschmolzen wurden. Er ging 63
zu dem Discountladen für Armeerestbestände und kaufte einige Sachen, die er schon das letzte Mal hatte mitneh men wollen; aber da hatte er schon zuviel zu tragen ge habt. Danach trank er bei Dougan noch einen Whisky, bevor er wieder ins Institut zurückkehrte. Nathan saß mit gesenktem Kopf auf seinem Klapp stuhl und hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt. Er wirkte erschöpft und sehr niedergeschlagen. Er sah auf, als Jakob die Tierstation betrat. »Was willst du jetzt schon wieder von mir?« »Nach wie vor dasselbe, Nathan. Ich muß dich gründ lich untersuchen.« »Und wenn ich nicht will, was dann? Was willst du dann machen? Du brauchst dir nicht einzubilden, daß du jedesmal Sieger bleibst.« »Ich habe nicht die Absicht, mich noch einmal mit dir zu prügeln. Es war dumm von mir, daß ich mich über haupt in eine Schlägerei mit dir eingelassen habe. Ich hätte daran denken müssen, wie gefährlich du bist. Natür lich geben die Dienstvorschriften für Tierhaltung und Labortechnik keine Anweisungen, wie man mit Ver suchskaninchen deiner Art umzugehen hat.« Das war als scherzhafte Bemerkung gemeint, aber sie konnte Nathan nicht einmal die Spur eines Lächelns ent locken. Jakob zeigte ihm das Paket, das er mitgebracht hatte. »Ich hoffe, damit werden wir in Zukunft jeden Ärger vermeiden.« »Was ist das?« »Das wirst du gleich sehen.« Jakob riß das Papier auf und zeigte ihm zwei Paar Handschellen. Nathan schrie auf. 64
»Das wirst du nicht tun! Du darfst mich nicht fesseln!« »Ich sehe drei Möglichkeiten, Nathan«, sagte Jakob. »Ich kann Gewalt anwenden, aber das ist für uns beide mit großen Unannehmlichkeiten verbunden, und viel leicht wirst du das nächstemal ernstlich verletzt dabei. Ich kann dir das Essen vorenthalten und dich hungern lassen, bis du nachgibst. Oder aber du gibst jetzt nach, wir bringen es beide rasch hinter uns und ersparen uns eine Menge Ärger.« Nathan dachte eine Weile nach. Schließlich sagte er: »Es ist nicht nötig, mich zu fesseln. Du kannst herein kommen und mich untersuchen, ich werde mich nicht wehren.« »Tut mir leid, Nathan. Ich bin überzeugt, daß du es ehrlich meinst, und ich vertraue dir auch, aber ich kann mich trotzdem nicht darauf einlassen. Ich kann dir nicht zumuten, daß du dich gegen deine natürlichen Instinkte verhältst.« »Du willst mich demütigen.« »Aber, Nathan! Zwischen uns beiden ist doch kein Platz mehr für derartige Gefühle, oder?« Nathan überlegte eine Weile, dann sagte er: »Also gut. Wie willst du mich fesseln?« »Komm her und stell dich mit dem Rücken ans Git ter.« Nathan gehorchte. Jakob faßte seine Handgelenke und zog sie zwischen den Stäben durch, dann ließ er die Handschellen einschnappen. Mit dem anderen Paar fes selte er Nathans Fußgelenke zusammen, denn er wollte nicht noch einmal mit dem Knie in den Unterleib gestoßen werden. Nachdem er Nathan sicher befestigt hatte, ging er hinaus ins Büro und holte die medizinischen Instrumente, kehrte zurück, schloß die Käfigtür auf und trat ein. 65
Er musterte Nathan von oben bis unten und sagte: »So ist es besser.« Dann begann er mit seiner Arbeit. Er beugte Nathans Kopf herunter und untersuchte die Kopfhaut nach Verletzungen und Parasiten. Er fand nichts. Darauf nahm er eins der Instrumente, steckte es in Nathans Ohren und besah sich das Mittelohr. Dann leuchtete er mit einem Lämpchen in die Augen und beo bachtete die Kontraktion der Pupillen. Er verstellte die Brennweite des Instruments und musterte die Retina. Während er diese Untersuchung durchführte, standen sie ganz nahe beisammen, fast Wange an Wange. Befriedigt legte Jakob das Instrument zu Boden und bat Nathan, den Mund zu öffnen, damit er Mundhöhle und Rachen unter suchen könne. Nathan spuckte ihn an. Jakob nahm sein Taschentuch und wischte sich das Hemd ab. »Das war unnötig, Nathan«, sagte er ruhig. »Verflucht noch mal, Jakob, kann dich denn nichts aus der Fassung bringen?« »Warum auch? Du benimmst dich ganz natürlich. Ich kann in etwa deine Reaktionen vorhersagen, weil ich das typische Verhalten kenne, und treffe meine Vorsichts maßnahmen. Wenn du mich noch einmal anspuckst, dann werde ich dich knebeln.« Nathan sagte nichts mehr, und Jakob untersuchte un gestört seinen Rachen und seine Mundhöhle, darauf ta stete er den Hals und die Achselhöhlen auf Drüsen schwellungen ab, untersuchte den Brustkorb, klopfte auf die Rippen, nahm sein Stethoskop und kontrollierte den Herzschlag. Der Puls ging rasch, aber man hörte keine Nebengeräusche. Darauf horchte er die Lunge ab, und um die Resonanz des Brustraums zu kontrollieren, bat er Nathan, bis drei zu zählen. 66
Nathan schwieg hartnäckig. Jakob seufzte. Er suchte im Hintergrund des Käfigs, bis er das Springseil fand. Er legte die beiden Enden zu sammen, schwang es und führte einen kräftigen Schlag gegen Nathans Brust. Nathan schrie auf. »Ja, so ist es ausgezeichnet«, sagte Jakob. »Schrei noch ein paarmal so, das genügt.« Nathan fluchte und fragte Jakob, für wie pervers er ihn halte. Jakob, das Stethoskop in den Ohren, murmelte dann und wann zustimmend, hörte aber nicht, was Na than schimpfte. Er prüfte nur die Resonanz seiner Stimme. Sie war normal. Als Jakob den Unterleib auf Brüche und die Hoden untersuchte, fing Nathan von neuem an, ihn zu beschimp fen. Doch als er sah, daß Jakob sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ, verfiel er wieder in Schweigen. Zuletzt maß Jakob Nathans Blutdruck. Es war nicht einfach, die Manschette um Nathans verdrehten Arm zu legen, aber die Messung verlief trotzdem zufriedenstel lend. Schließlich verließ er den Käfig wieder, nahm aber Nathan die Handschellen nicht ab. Er kehrte mit einer großen Spritze und einigen Reagenzgläsern zurück. Er säuberte Nathans Armbeuge und entnahm der Armvene eine Blutprobe. Nathan ließ es schweigend über sich er gehen. Als er fertig war, befreite er Nathan von seinen Fes seln und gab sich gutgelaunt und leutselig, um seine ei gene Verlegenheit zu überspielen. »Ja, Nathan. Du bist in bester körperlicher Verfassung. Soviel ich feststellen kann, fehlt dir nichts.« »Natürlich fehlt mir nichts«, sagte Nathan, schwenkte seine Arme und rieb seine Muskeln, damit sie wieder 67
besser durchblutet wurden. Er war bereit, den kalten Krieg mit Jakob wiederaufzunehmen. »In ein paar Tagen werden wir die Untersuchung wie derholen und noch eine Blutprobe machen, damit wir eine solide Vergleichsgrundlage für später haben. Du mußt dich langsam entscheiden, wie du dich verhalten willst, wenn wir die Transplantation durchführen. Ich kann dich natürlich auch in Handschellen operieren und Vorsorge treffen, daß du danach nicht in der Lage bist, mit den Händen an das Transplantat heranzukommen und es abzureißen, aber es würde uns beiden nur Schwierig keiten und unnötigen Ärger machen. Mir wäre es lieber, wenn du dich willig zeigen und ernsthaft mit mir zu sammenarbeiten würdest. Das würde natürlich auch für dich das beste sein, Na than.« »Ich dachte, du hast kein Vertrauen mehr zu mir, Ja kob.« »Ich traue dir nicht mehr als unbedingt notwendig.« »Wie ist das eigentlich bei den Tieren? Traust du ih nen?« »Ich bringe nach der Operation an der betreffenden Stelle eine feste Bandage an, die sie nicht wegkratzen oder wegscheuern können, eine Art Zwangsjacke. Ich glaube, ich könnte für dich auch etwas ähnliches entwer fen, mit einem abschließbaren Reißverschluß etwa, aber ich müßte es speziell anfertigen lassen.« »Was willst du unternehmen, wenn ich nicht mitma che?« »Ich müßte eine Art Pranger konstruieren, eine Halsschließe aus Holz, durch die dein Kopf gesteckt wird, und links und rechts davon kleinere Schließen für die Hände, damit du dich nicht kratzen kannst. Das wäre das 68
einfachste und dazu viel billiger als eine Zwangsjacke. Glücklicherweise brauche ich nicht zu berücksichtigen, daß du dich mit den Hinterbeinen kratzen könntest. Ich kann dir eine Bandage anlegen, die widerstandsfähig ge nug ist, um das Transplantat gegen Drücken und Wetzen an den Gitterstäben zu schützen, wenn du das tun soll test.« »Einen hölzernen Pranger?« »Ja. Warum? Hast du einen besseren Vorschlag?« Nathan starrte ihn ungläubig an. »Du bist kein Mensch, Jakob. Das ist unmenschlich.« »Aber sicher bin ich ein Mensch, und ich bin sogar sehr menschlich. Oder weshalb, glaubst du wohl, führe ich diese Experimente hier durch? Für den Menschen, Nathan. Aber abgesehen davon, was veranlaßt dich ei gentlich dazu, eine so hohe Meinung vom Menschsein zu haben?« »Ein Mensch ist doch zumindest mehr als ein Tier.« »Glaubst du? Soll ich dir sagen, wie die Schlagzeilen von heute lauten? In Chikago wurden bei einer Anti kriegsdemonstration über zweihundert Personen verletzt, davon dreißig schwer. In Washington hat man einen Bundesrichter aus dem Hinterhalt erschossen. In England haben Demonstranten ein Forschungsinstitut für biologi sche Kampfstoffe gestürmt und die Laboratorien verwü stet, mit dem Ergebnis, daß jetzt die Beulenpest um sich greift und sich rasch in Richtung London verbreitet. Mein lieber Nathan, an deiner Stelle wäre ich froh, dort zu sein, wo du bist. Tiere scheinen besser als Menschen damit fertig zu werden, in einer veränderten Umwelt zu leben. Sie können wenigstens immer sicher sein, daß sie nicht von ihren Artgenossen getötet werden.«
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6 Als der Samstag näher rückte, wurde Jakob immer ver schlossener. Er sagte Nathan nichts von der Einladung, aber Nathan bemerkte seine wachsende Nervosität, und als Jakob dann zum Abendessen nur eine Mahlzeit zube reitete und sagte, daß er ausnahmsweise früher wegmüsse, fragte ihn Nathan: »Was hast du heute abend vor? Eine Verabredung mit Judith Gold?« Jakob war verärgert über Nathans hellseherische Fä higkeiten, aber er fühlte sich zugleich geschmeichelt. Es war ihm unangenehm, daß Nathan vielleicht dachte, er kenne nur diese eine Frau, aber andererseits war es eine Bekanntschaft, um die man ihn beneiden konnte, und deshalb sagte er: »Ja, mit Judith Gold.« Darauf hielt ihm Nathan einen ebenso gutgemeinten wie ironischen Vortrag, wie er sich während des Abends zu verhalten habe. Wenn er schon selbst nicht ausgehen könne, sagte er, so würde er doch alles tun, um ihm ein wenig behilflich zu sein, weil er doch die größere Erfah rung in solchen Dingen habe. Aber als Jakob sich schließlich zum Gehen anschickte, schlug Nathans Ironie in Bitterkeit und Haß um, und er beschimpfte ihn. Jakob hörte ihm einige Minuten lang zu, dann ging er. Der Auf zug, mit dem er ins Erdgeschoß hinunter fuhr, war über füllt. Er trat auf die Straße hinaus. Nathans Unzufrieden heit bedrückte ihn und verdarb ihm die Laune. Er ging zunächst in sein Apartment, duschte sich und zog einen dunklen Anzug an. Seine Begeisterung für den Abend wurde immer gedämpfter. Es fiel ihm ein, daß er überhaupt nicht wußte, über was er sich mit ihr unterhal ten sollte, und fühlte, daß er sich nur zum Narren machen würde und unnötigerweise seine Gefühle in Verwirrung 70
brachte. Es war lächerlich. Wenn einem gewisse Bereiche des Lebens verschlossen sind, sagte er sich, dann sollte man nicht mit Gewalt versuchen, einen Blick hineinzu werfen. Nachdem er sich fertig angezogen hatte, goß er sich ein Glas voll und setzte sich ans Fenster. Er starrte hinaus in den dunklen, vertrauten Hinterhof und wünschte sich, nicht hingehen zu müssen. Er blickte auf die Uhr, sah, daß es höchste Zeit war, trank mit einem Zug das Glas aus, eilte hinunter auf die Straße und winkte ein Taxi heran. Judiths Apartment lag in der östlichen Sechziger zwi schen der Fünften und der Madison Avenue. Das Taxi hielt vor einer schmalen, unauffälligen, nicht überdachten Einfahrt. Jakob war ein wenig enttäuscht, aber da eilte schon ein weißhaariger, distinguiert aussehender Herr in dunkelblauer Livree herbei und öffnete die Wagentür. Jakob sagte ihm, daß er bei Judith Gold eingeladen sei, und er wurde hereingebeten und in eine komfortable, mit weißem und schwarzem Marmor ausgelegte Halle ge führt. Ein zweiter weißhaariger und vornehm aussehen der Herr brachte ihn in einem knarrenden Lift nach oben. Die Aufzugstür öffnete sich in ein kleines Foyer, ebenso schwarz und weiß in Marmor gekachelt wie die Eingangshalle, mit einem vergoldeten Wandtischchen und einem goldgerahmten Wandspiegel. Jakob wollte seine Krawatte zurechtrücken und seine Haare ein bißchen in Ordnung bringen, aber der Mann, der den Aufzug bedient hatte, blieb hinter ihm stehen und wartete offenbar, bis Jakob eingelassen wurde. Er genierte sich vor ihm und verzichtete darauf, vor den Spiegel zu treten. Von dem Foyer führten zwei Türen zu den beiden Apartments, die auf diesem Stockwerk lagen. Der Mann wies zur Linken, und Jakob drückte den Summer. 71
Es rührte sich nichts, und Jakob überlegte, ob es nicht vielleicht ein anderer Abend gewesen war, den sie aus gemacht hatten, oder ob Judith die Verabredung verges sen hatte. Er kam sich lächerlich vor, und es war ihm wi derlich, hier herumzustehen und zu warten, während der Mann, der ihn im Aufzug heraufgebracht hatte, wortlos hinter ihm stand und ihm ins Genick starrte. Er wollte eben ein zweites Mal klingeln, als die Tür geöffnet wurde. Ein älteres Dienstmädchen in einem grauen Kleid sah ihn fragend an. Jakob nannte seinen Namen, sie trat zur Seite, ließ ihn ein und geleitete ihn zu einer offenen Tür, die gegenüber lag. Aufgeregt und gespannt betrat er das Zimmer, weil er dachte, daß ihn Judith dort erwarte, aber zu seiner großen Enttäuschung war niemand im Raum. Das Dienstmäd chen zog sich zurück, und er stand verloren mitten in dem großen Wohnzimmer und sah sich um. Niedrige weiche Sofas, bedeckt mit Kissen in allen Schattierungen von Altrosa, persische Wandteppiche mit verschlungenen Mustern in dunkelroten Farbtönen. Der Summer über der Eingangstür ertönte, und Jakob wandte sich um. Er konnte vom Wohnzimmer aus in den Vorraum sehen, aber das Dienstmädchen ließ sich nicht blicken. Er kam zu dem Schluß, daß sie taub sein mußte, und überlegte, ob er öffnen sollte. Es summte wieder ein paar Male kurz, Jakob ging hinaus und öffnete. Vor der Tür stand ein großer, schwarzhaariger, gut aussehender Mann und ein blondes Mädchen, das ungewöhnlich hübsch war. Der Mann blickte Jakob an und sagte: »Aha, Judith hat einen neuen Butler.« Sie traten ein und gingen ins Wohnzimmer. Jakob 72
folgte ihnen. Er war sich nicht sicher, ob diese Bemer kung ein Witz gewesen war, eine Beleidigung oder ein fach ein Mißverständnis; deshalb sagte er: »Ich warte ebenfalls auf Fräulein Judith Gold. Mein Name ist Jakob Berg.« Der Mann lächelte ihn in einer Weise an, die nur ver muten ließ, daß seine Bemerkung sowohl ein Witz, eine Beleidigung und ein Mißverständnis gewesen sein konnte. Er entschuldigte sich und stellte ihm das Mädchen vor; sie hieß Lorette. Sein Name war Paul Raven. »Wo ist Judith?« fragte er. »Ich weiß nicht«, sagte Jakob. »Ich habe sie bisher auch noch nicht gesehen.« »Machen Sie sich nichts daraus. Das ist typisch für sie. Sie werden sich noch daran gewöhnen.« Jakob wunderte sich, woher dieser Raven wissen konnte, daß dies sein erster Besuch hier war. »Wie wär’s?« fragte Paul. »Wir können ebensogut et was trinken, solange wir warten.« Er ging auf einen Schrank zu, der in der Ecke stand und mit Einlegearbeiten aus Elfenbein geschmückt war, öffnete ihn, fand eine Flasche Whisky und Gläser und goß ein. Sie standen vor dem Kamin und hielten ihre Gläser in der Hand. Paul musterte Jakob mit amüsiertem Interesse, das Mädchen verhielt sich zurückhaltend und war ganz mit ihrer Schönheit beschäftigt, die sie im Spiegel bewunderte. Jakob fühlte sich immer unbehagli cher. Er wußte nicht recht, ob er sich ärgern oder froh sein sollte, daß er nicht allein bei Judith Gold eingeladen war. Zumindest würden ihm diese Leute die Konversati on abnehmen, die ihm besonders lästig war, und er durfte sich in sein Schneckenhaus zurückziehen. Dann ging die Tür auf. Man hörte Schritte und das Ra 73
scheln von Kleidern. Judith trat ins Zimmer. Sie hatte einen langen marokkanischen Burnus an, pfauenblaue Seide mit Goldstickerei, mehr als knöchellang, sie zog den Saum wie eine Schleppe hinter sich her. Ihr dichtes Haar trug sie straff nach hinten frisiert, ihre Ohren lagen frei und trugen Schmuck, schlangenförmige Ohrringe, mit Saphiren besetzt. Sie begrüßte Paul mit einem Kuß und umarmte ihn herzlich, dann wandte sie sich Lorette zu, küßte sie und machte ihr Komplimente, wie gut sie aussehe in ihrem goldenen Sarong, den sie trug. Lorette gab das Kompli ment zurück, und ein paar Minuten lang unterhielten sie sich über ihre Kleider. Jakob hatte den Eindruck, daß Judith ihn nicht bemerkt haben konnte. Er stand schwei gend herum und kam sich überflüssig und ziemlich al bern vor. Doch da wandte sie sich plötzlich ihm zu und gab ihm die Hand. »Wie geht es dir, Jakob?« fragte sie. Sie sagte du zu ihm, und es war soviel Wärme in ihrer Stimme, als wären sie längst alte Freunde und hätten es gar nicht nötig, sich überschwenglich zu begrüßen. »Ich nehme an, ihr habt euch untereinander schon be kannt gemacht«, sagte sie. »Lorette muß mich bei Paul ersetzen. Ist sie nicht schön? Du erinnerst dich doch, ich habe dir an jenem Abend von Paul erzählt.« Zunächst konnte sich Jakob nicht erinnern, doch dann fiel ihm ein, daß Judiths zweiter Mann Paul geheißen hatte. Er war einigermaßen verblüfft, aber nun verstand er, warum er sich in Judiths Wohnung beinahe so selbst verständlich bewegte, als ob er hier zu Hause wäre. »Wenn Judith jemanden findet, an dem sie Interesse hat«, sagte Paul, »dann wird er ihren Exgatten vorge 74
führt. Sie möchte ihre Zustimmung haben. Sie werden sicher auch Edward noch kennenlernen, er ist nur zur Zeit verreist. Er hat sich kürzlich wieder verheiratet, und zwar mit einer Frau, die Judith für ihn ausgesucht hat. Überaus nett und überaus reich, aber natürlich nicht so reich wie Judith. Das wäre auch wohl zuviel verlangt.« Judith lachte, und für ein paar Minuten unterhielten sie sich über Edward und seine Heirat. Jakob wandte sich Lorette zu. Irgendwie spürte er, daß sie nicht vermögend war, und er dachte, daß hier etwas Verbindendes zwi schen ihnen sein könnte, woran sich anknüpfen ließe. Aber, auch wenn sie nicht reich war, sie hoffte, es zu werden, und deshalb gab es für sie in diesem Punkt keine Gemeinsamkeiten, und so behandelte sie Jakob mit der selben Zurückhaltung wie zuvor. Jakob sah sich nach Judith um, aber auch sie schien keine Zeit für ihn zu haben. Jakob fühlte sich ein wenig verletzt, aber bevor er sich noch tiefer in seinen Mißmut vergraben konnte, setzte sich Judith zu ihm, fragte ihn, wie es ihm ginge, legte ihre Hand auf seinen Arm und lächelte ihn an, und er war wieder zufrieden. Dann gingen sie hinaus auf die Terrasse und nahmen auf den schmiedeeisernen Liegen Platz, die dick mit Kis sen bedeckt waren. Eine hohe Hecke schirmte jeden Blick auf die umgebenden Gebäude ab. In einer Ecke wuchs ein Baum, die andere zierte ein steinerner Löwen kopf, aus dessen Maul ein schmaler Wasserfall mit lei sem Plätschern in ein Marmorbassin fiel. Die Terrasse lag so hoch über der stickigen Luft in den Straßen, daß man sogar die Sterne am Himmel sehen konnte, goldene Funken in tiefdunklem Blau. Wie ein kostbares Gewebe, dachte Jakob, das Judith speziell für sich hatte anfertigen lassen. 75
Nach ungefähr einer Stunde – Paul hatte ihnen Drinks gemixt, und sie waren in Stimmung gekommen und ge sprächig geworden – gab auch Lorette ein wenig ihre Zurückhaltung auf. Judith forderte Jakob auf, etwas von seiner Arbeit im Institut zu erzählen. Er schilderte ihnen seine Tätigkeit und ihre Bedeutung für die Zukunft, wenn die Transplantationen von tierischen Organen in den menschlichen Körper eine Selbstverständlichkeit sein würden. Sie hörten ihm interessiert zu und unterhielten sich, welche Organe von welchen Tieren sie sich gern einpflanzen lassen würden. Sie fragten Jakob nach seiner Meinung, und er zauberte für sie phantastisch bizarre Kombinationen, neue Sphinxe und Greife, Chimären und Zentauren, und sie schienen das nächtliche Dunkel, das sie umgab, unsichtbar zu bevölkern. Das Dienstmädchen brachte Geschirr und deckte den Tisch am Ende der Terrasse. Judith beaufsichtigte das Servieren, dann sagte sie ihr, daß sie nach Hause gehen könne. Sie setzten sich an den Tisch. In der Silberterrine war ein Bœuf Stroganoff mit Reis, in einer Schüssel ein Salat aus Avocatobirnen. Paul öffnete zwei Flaschen Wein. Jakob war begeistert, sowohl über den Stil als auch über die Einfachheit des Mahls, beides war ganz nach seinem Geschmack. Bald nachdem sie gegessen hatten, sagten Paul und Lorette, daß sie nun gehen müßten, sie seien noch zu ei ner Party eingeladen. Paul versuchte, Judith zu überre den, daß sie und Jakob sie begleiten sollten, doch sie lehnte ab. Jakob war enttäuscht, er hatte soviel wie mög lich sehen wollen, wenn er schon einmal ausging, denn für ihn würde sich nicht so schnell wieder eine ähnliche Gelegenheit bieten. 76
Eine Minute später war er noch mehr enttäuscht, als Paul Judith zum Abschied küßte und zu ihr sagte: »Wir werden uns also nicht mehr sehen, bis du wieder zurück bist.« »Warum kommst du am Montag nicht zu Roberto?« fragte sie. »Oder am Dienstag zu Sylvia? Sie geben beide eine Abschiedsparty für mich. Ich fahre ja erst am Don nerstag.« »Vielleicht. Mal sehen«, sagte er. »Und wenn nicht, dann wünsche ich dir gute Reise. Ich biete dir gar nicht erst an, dich zum Flugplatz zu fahren. Ich weiß, daß du das nicht magst.« »Wo fährst du hin?« fragte Jakob und stellte fest, daß diese Menschen, von denen er schon angenommen hatte, daß sie seine Freunde seien, in Bereichen lebten, von de nen er keine Ahnung hatte. »Kaschmir«, sagte Judith. Sie und Paul lächelten sich an, als sie Jakobs erstaunten Gesichtsausdruck bemerkten. »Keine Bange«, sagte Paul. »Sie kommt wieder. Wir werden inzwischen aufpassen, daß du nicht verloren gehst.« »Was hältst du von ihm?« fragte Judith Paul mit einer Kopfbewegung zu Jakob hin. »Er hat so etwas Besonde res an sich. Findest du nicht auch?« »Mir gefällt er gut«, sagte er. »Er ist nicht so ein Windhund wie ich. Ich glaube, er ist genau das, was du brauchst. Außerdem, wer weiß, vielleicht brauchen wir seine wissenschaftlichen Fähigkeiten eines Tages noch. Also, halt ihn fest.« Er nickte Jakob freundschaftlich zu. »Und vergiß meinen Löwenschwanz nicht, den du mir versprochen hast, Jakob. Ich möchte ihn gern. Die übri gen Sachen haben ja noch Zeit. Ich hoffe, daß ich sie vor läufig noch nicht brauche.« 77
Lorette, die inzwischen gemerkt hatte, daß Jakob dabei war, als vollgültiges Mitglied in ihre Gemeinschaft auf genommen zu werden, verabschiedete sich betont freund lich von ihm und reichte ihm ihre seidenweiche Wange zu einem Abschiedsküßchen. Jakob war zwar erfreut über die kameradschaftliche Zuneigung, die ihm Paul und Lorette entgegenbrachten, aber zugleich ärgerte er sich über ihre gönnerhafte He rablassung, mit der sie ihn behandelten. Er verabschiedete sich von ihnen linkisch und beinahe schroff, und von sei ner geistreichen und phantasievollen Art, in der er sie kurz vorher noch unterhalten hatte, war nichts mehr zu spüren. Er hatte befürchtet, daß ihr Aufbruch eine so plötzli che Leere um ihn und Judith zurücklassen und sich die Situation noch peinlicher gestalten würde, aber das war nicht der Fall; denn kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, wirbelte sie herum, umarmte ihn und küßte ihn auf beide Wangen. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn zurück ins Wohnzimmer. »Ich bin froh, daß sie gegangen sind«, sagte sie. »Ich habe dich eingeladen, um mich mit dir allein unterhalten zu können, doch dann bin ich nervös geworden und habe Paul und Lorette gebeten, auch zu kommen. War das nicht albern von mir?« »Warum bist du nervös geworden?« »Weil du, Jakob, ein Mann bist, der einen irgendwie einschüchtert, oder hast du das noch nie bemerkt? Nein, ich glaube, du bist dir dessen nicht bewußt. Das ist auch so ein Punkt, der dich sympathisch macht.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß du dich durch ir gend etwas einschüchtern läßt, und schon gar nicht von mir.« 78
»Du wirst dich wundern, aber ich bin längst nicht so selbstsicher, wie es den Anschein hat. Auf jeden Fall ha ben wir jetzt Gelegenheit, uns in aller Ruhe zu unterhal ten. Machen wir’s uns bequem. Aber so kannst du dir’s ja überhaupt nicht bequem machen. Freunde sagen mir im mer wieder, daß dieser Raum hier etwas von einem Zelt hat, das mitten in der Wüste steht. Du mußt dich also ent sprechend anziehen.« Sie forderte ihn auf, seine Jacke und seine Schuhe auszuziehen und seine Krawatte abzulegen. Inzwischen brachte sie aus dem Schlafzimmer einen arabischen Bur nus aus grobgewebter Seide mit breiten dunkelroten und weißen Streifen. Sie warf ihn Jakob über den Kopf, und das Gewand fiel ihm von den Schultern bis zu den Knö cheln. Sie brachte ihm offene Ledersandalen und zog ihn vor den Spiegel. Jakob war überrascht, wie gut ihm die ses seltsame Kleidungsstück stand. Mit seinem dunklen Gesicht, seinen buschigen schwarzen Haaren und Au genbrauen sah er tatsächlich aus wie ein Wüstennomade, dazu seine dunklen, glitzernden Augen. »Mein Gebieter, der Emir«, sagte Judith. Jakob wandte sich um und sah sie an. Einen Moment lang hielt sie seinem Blick stand, dann schlug sie die Au gen nieder. »Du siehst so streng aus«, sagte sie. »Du erinnerst mich sehr an meinen Vater.« Jakob streckte sich auf einem der Sofas aus. »Dann bring mir einen Brandy, Tochter.« Sie lächelte und gehorchte. Jakob schwenkte die Flüs sigkeit in seinem Glas, und der Duft und das Aroma wa ren ihm sehr angenehm. Judith legte sich neben ihn, und als sie ihm ihr Gesicht zuwandte, war es ihm, als ob es von der warmen Glut des Brandys beleuchtet würde. 79
»Wie lang wirst du fort sein?« fragte er. »Etwa einen Monat, ich weiß noch nicht. Es hängt da von ab, wie es mir gefällt.« »Warst du schon einmal in Kaschmir?« »Schon zweimal, letztes und vorletztes Jahr.« »Ist es so schön, wie man erzählt? Weiße Berggipfel und blaue Seen?« »Ja, es ist schön; aber mehr als das: es ist so friedlich dort, so ruhig, wenigstens in der Gegend, wo ich hinfah re. Ich habe Ruhe nötig nach dem anstrengenden Leben hier.« »Wo ist das?« »Hoch im Gebirge. Es ist ein Kloster, wo sie Frauen gestatten, im Gästehaus zu wohnen. Ich lebe dort sehr einfach und unterhalte mich viel mit dem Abt des Klo sters, der ein wenig Englisch spricht. Kaum zu glauben, nicht wahr? Deshalb habe ich auch noch keinem meiner Freunde in New York davon erzählt. Sie würden es nicht verstehen. Du bist der einzige.« »Wieso gerade ich?« »Vielleicht, weil du irgendwie Ähnlichkeit mit dem Abt des Klosters hast.« »Und er hat irgendwie Ähnlichkeit mit deinem Vater.« Sie nickte. »Hast du noch nicht versucht, das Kloster zu kaufen?« »Ach Jakob. Das ist eine grausame Frage. Ich schäme mich, es zugeben zu müssen. Als ich das erste Mal dort war, habe ich es tatsächlich versucht.« »Und der Abt hat dir zu verstehen gegeben, daß du ihn mit deinem Ansinnen beleidigst?« »Nein. Er lächelte nur und sagte, es wäre ganz gut, wenn ich einige Zeit im Kloster verbringen würde. Er hatte recht. Ich bin nie wieder auf die Idee gekommen, 80
eine derartige Frage zu stellen, im Gegenteil, ich habe mich geschämt.« »Du bist eine seltsame Frau.« Sie lächelte. »Eigentlich nicht. Wenn ich nicht so viel Geld hätte, wäre ich vielleicht wie die anderen, oder wenn andere Frauen reich genug wären, um sich jeden erdenklichen Wunsch zu erfüllen, dann wären sie wahr scheinlich so wie ich. Aber trotzdem habe ich eigentlich nie gefunden, was ich wirklich will, nach was ich mich wirklich gesehnt habe.« »Nach was sehnst du dich wirklich? Nach jemand, der dir deinen Vater ersetzt?« »Nach jemand, der mir das gibt, was er mir nie gege ben hat.« »Er hat dir doch offenbar eine ganze Menge gegeben.« »Er hat mir eine Menge Geld gegeben, aber er hatte nie Zeit für mich, und das war es, was ich wirklich brauchte, seine Zeit, seine Aufmerksamkeit. Das wußte er natürlich, aber er versuchte mich zu entschädigen, in dem er mir Dinge schenkte. Aber das genügte mir nicht. Ich möchte jemanden wie ihn, jemanden, vor dem ich Achtung habe und der mir seine ganze Aufmerksamkeit widmet. Natürlich gibt es eine Menge Leute, die mir ihre ganze Aufmerksamkeit entgegenbringen, besonders jetzt, aber was soll’s, wenn ich keine Achtung vor ihnen ha be?« »Bist du sicher, daß du nicht in demselben Moment, in dem sie dir ihre Aufmerksamkeit schenken, deine Ach tung vor ihnen verlierst?« »Jakob, deine Fragen sind hart, sie tun mir weh. Aber du hast recht, ich mißtraue den Menschen und ihren Mo tiven. Es kann etwas Wahres dran sein.« »Mir scheint, damit hast du dich selbst in eine ausweg 81
lose Situation gebracht, du sitzt in der Falle, die du dir selbst gestellt hast.« »Ich weiß, aber ich muß heraus, sonst werde ich nie glücklich. Willst du mir dabei helfen, Jakob?« Er fühlte eine tiefe Zuneigung zu ihr, als sie ihn so in ständig um seine Hilfe bat. Er lächelte und sagte: »Wenn ich kann, helfe ich dir, Judith. Ich fange an, dich gern zu haben.« Ihr Gesicht schien wieder zu leuchten, doch diesmal kam der Schein von innen. »Ich bin so froh«, sagte sie. »Weißt du, schon so viele Leute haben mir ihre Liebe versichert, aber was heißt das schon? Ich weiß es nicht. Daß sie mich haben wollen, nehme ich an, oder daß sie etwas von mir haben wollen. Ich freue mich viel mehr, wenn du einfach sagst, daß du anfängst, mich gern zu haben.« Sie sah ihn an, und ihre Augen leuchteten. Sie ergriff seine Hand. »Was meinst du, Jakob?« sagte sie. »Sollen wir heiraten?« Die Plötzlichkeit ihrer Frage verwirrte ihn. Er hielt ihre Hand fest und runzelte nachdenklich die Stirn, aber er brachte kein Wort heraus. »Du brauchst jetzt nicht zu antworten, Jakob«, sagte sie. »Nimm dir Zeit und denke darüber nach. Komm mit mir nach Kaschmir, dort sieht man die Dinge klarer. Gib mit dort deine Antwort.« »Du weißt nicht, wie du mich in Versuchung führst.« »Wir könnten so unser Leben verbringen. Wir suchen uns solche Orte aus und fahren von einem zum anderen.« »Und meine Forschungen?« »Deine Forschungen werden nicht darunter leiden. Mit dem Vermögen der Stiftung im Rücken könntest du mehr erreichen als je zuvor.« 82
»Judith, du versuchst mich zu kaufen wie das Klo ster.« Sie sah ihn nachdenklich an, dann lächelte sie. »Ich glaube, du hast recht. Und als nächstes wirst du mir wahrscheinlich sagen, daß ich, wenn ich Erfolg damit hätte, dich nicht mehr haben möchte.« »Nein. Du würdest dich damit nur von dem momenta nen Wunsch befreien, mich zu besitzen.« »Es ist mehr als nur ein momentaner Wunsch.« »Ist es das wirklich, Judith?« »Es ist viel mehr.« Sie rückte näher an ihn, er legte seinen Arm um sie und küßte sie. Sie schmiegte sich an ihn, und er hielt sie fest und streichelte sie, und mit einemmal hatte sie etwas Kindliches an sich. Nach einer Weile löste sie sich von ihm und stand auf. Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn mit sich ins Schlafzimmer. Es war genau, wie er es sich vorgestellt hatte; die Decke des Schlafzimmers war mit Tuch ausgeschlagen, dunkel blau und goldbestickt. Judith hatte sich den Nachthimmel gekauft. Ein kleines Flämmchen flackerte über einer Öl lampe. Durch die Tür, die zur Terrasse führte, konnte man das Plätschern des Wassers hören, das in das Mar morbassin fiel. Judith legte den Burnus ab. Sie war nackt, und die aufgelösten Haare fielen ihr über die Schultern. Sie wirk te jetzt eher wie andere Frauen, ebenso zart und so ver letzlich. Als sie sich aufs Bett legten, beugte sie sich über ihn und küßte seinen knorrigen, muskulösen Körper mit einer fast scheuen Verehrung. Dann ließ sie sich zurück fallen und öffnete ihm ihre Knie. Als er sich seinen Weg in ihren Schoß bahnte, drängte sie sich ihm ungeduldig entgegen, und bald spürte er in ihrer Unterwerfung eine 83
Gewalttätigkeit, als ob sie ihn herausfordern wollte, ihr weh zu tun. Mitten in der Nacht lag Jakob wach und starrte an die blaue gestirnte Decke über sich. Judith schlief an ihn ge schmiegt, und er hatte einen Arm um sie gelegt. Man hörte das monotone Plätschern des Wassers draußen auf der Terrasse. Er war umgeben von Seide. Seidig das La ken, seidig ihr Haar an seiner Wange, seidig ihre Haut. Selbst ihr Atem an seiner Brust war ein seidiger Hauch. Er bewegte seine Hand und strich sanft über ihre Haut. Plötzlich dachte er an Nathan, wie er auf seinem Strohla ger schlief, in seinem Käfig, die Tiere um sich. Der Ge danke traf ihn wie ein Peitschenhieb, und er zuckte vor Schmerz zusammen. Judith murmelte protestierend im Schlaf, und er lag wieder ganz ruhig.
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7 Am folgenden Morgen wachte Jakob zuerst auf und sah sich im Zimmer um. Die Sonne schien zur Tür herein, die auf die Terrasse führte, und tauchte den Raum in helles Licht. Blauer Teppich, blaue Decke, blaue Wände. Nun, da er alle Einzelheiten klar erkennen konnte, war es ihm, als hätte er das Zimmer noch nie gesehen. Er überlegte, wie er plötzlich hierher gekommen sein mochte. Auf ein mal sah er sich in einem der Spiegel an der Wand gegen über dem Fußende des Bettes, eine dunkle ungeschlachte Gestalt. Er starrte auf sein Spiegelbild und war überrascht, daß er mit diesem Eindringling identisch sein sollte. Er drehte sich um und sah, daß nun auch Judith er wacht war und ihn lächelnd betrachtete. »Du machst ein Gesicht, als wolltest du davonlaufen«, sagte sie. »Du brauchst nicht zu erschrecken. Es ist alles wirklich.« »Bist du sicher? Ich habe das Gefühl, alles geträumt zu haben.« »Erinnere dich, was ich dir gesagt habe. Alles, was aufrichtig ist, das ist wirklich. Wenn du heute nacht auf richtig warst, dann war alles wirklich, wenn nicht, dann war es nichts.« »Es war aufrichtig.« »Ich denke auch. – Ich freue mich.« Sie streckte ihre Arme nach ihm aus. Er legte sich auf ihren warmen, seidenweichen Körper, und sie umschlang ihn mit den Armen und streichelte ihn. An diesem Mor gen war er ihr Kind und sie seine Mutter. Er mußte ganz ruhig liegen bleiben. Sie liebkoste ihn, lächelte ihn zärt lich an und sang ihm leise ins Ohr, doch dann drängte sie ihren Schoß an ihn, zog ihn an sich und half ihm hinein. 85
Einige Zeit später tranken sie Kaffee auf der Terrasse. Die Sonne brannte heiß herunter, und ein brauner Dunst umgab sie jenseits der grünen Hecke über der Stadt, aber der Himmel über ihnen war ein klares und tiefes Blau. »Wir könnten segeln gehen«, sagte sie. »Einige Freunde haben mich auf ihre Jacht eingeladen. Oder wir könnten an die Küste fahren. Mir gehört ein schönes Stück in East Hampton, das dir sicher gefallen würde, und die Fahrt dorthin dauert nicht lange. Oder möchtest du lieber hier bleiben und faulenzen? Das wäre vielleicht die beste Idee.« »Ich kann weder das eine noch das andere«, sagte Ja kob und blickte finster vor sich hin. »Ich muß leider ins Labor.« »Aber doch nicht heute, oder? Heute ist ein besonderer Tag.« »Jeden Tag – auch heute.« »Könntest du es nicht so einrichten, daß du dich nicht lange dort aufhältst und wieder hierher zurückkommst?« Jakob überlegte. Er könnte hingehen, Nathan etwas zu essen machen und dann wieder zurückkehren, aber er fühlte sich heute besonders verpflichtet, ihm Gesellschaft zu leisten. »Nein«, sagte er niedergeschlagen. »Ich habe den gan zen Tag dort zu tun. Es tut mir leid.« »Möchtest du, daß ich dich begleite und dir Gesell schaft leiste?« »Ich fürchte, das geht nicht.« »Ich möchte heute gern mit dir beisammen sein.« Nun war auch sie niedergeschlagen, und er begann die ganzen Umstände zu hassen. Nach einer Weile sagte sie: »Soll das etwa heißen, daß deine Arbeit es auch unmög lich macht, mit mir nach Kaschmir zu kommen?« 86
»Leider ja.« »Also nur eine Nacht. Und damit soll alles vorbei sein?« »Nein, Judith. Es ist nichts vorbei. Glaub mir. Ich kann heute abend wieder zu dir kommen.« »Ich bin heute abend nicht zu Hause.« »Dann morgen – oder Dienstag.« »Ich muß zu diesen Parties. Du hast es doch gehört.« »Ich könnte dich begleiten.« »Das möchte ich lieber nicht.« »Du hast Paul eingeladen?« »Ja, aber das ist etwas anderes. Jeder kennt ihn. Wenn ich mit dir beisammen bin, möchte ich mit dir allein sein, vor allem am Anfang.« Sie schwiegen eine Zeitlang, beide ein wenig ver stimmt und verletzt. Dann seufzte Judith und sagte: »Ich möchte dich bitten, etwas für mich zu tun. – Würdest du mich am Donnerstag zum Flugplatz begleiten?« »Ich dachte, du hast es nicht gern, wenn dich jemand begleitet.« »Das stimmt. Vor allem wenn es Leute sind, die herum stehen und besonders lässig und amüsant wirken wollen. Sie langweilen mich. Aber bei dir ist das etwas anderes.« »Dann komme ich natürlich mit.« »Ich danke dir. Ich möchte dich gern in frischer Erin nerung haben, wenn ich abreise, und solange ich fort bin, denke darüber nach, was ich dir gestern abend gesagt habe. Ich weiß, heute morgen scheint auf einmal alles nicht mehr zu stimmen, aber wir können wieder alles in Ordnung bringen, wenn wir nur wirklich wollen und fest daran glauben.« Jakob lächelte. »Du sprichst wie ein kleines Mädchen, das an Märchen glaubt.« »Natürlich glaube ich an Märchen. Du nicht?« 87
»Eigentlich nicht.« »Ich werde es dich lehren, Jakob. Wenn ich zurück bin, werde ich dich lehren, wie man daran glaubt.« »Ich werde auf dich warten.« Er zog sich an, und sie begleitete ihn zur Tür. Er fand, daß sie schön war in ihrem langen blauen Kleid, und er ärgerte sich, daß er gehen mußte. »Also dann, bis Donnerstag«, sagte sie. »Mein Flug zeug geht abends um elf. Komm aber früh genug, damit wir noch etwas Zeit für einander haben.« »Ich komme so bald wie möglich.« Sie küßten und verabschiedeten sich. Er drückte den Knopf, um den Lift zu rufen. Sie lächelte ihm zu, dann schloß sie die Tür und zog sich in ihre eigene Welt zu rück. Er stand allein in dem kleinen Foyer mit den schwarzen und weißen Marmorkacheln, umstellt von drei geschlossenen Türen, der zu Judiths Wohnung, der Auf zugstür und einer dritten, die irgendwohin führte. Er hatte plötzlich den Wunsch, durch diese unbekannte Tür in ein unbekanntes Reich zu treten, aber da hörte er, daß der Aufzug heraufkam. Er warf rasch einen Blick in den Spiegel und zog seine Krawatte gerade. Die Aufzugtür öffnete sich. Diesmal war es ein ande rer weißhaariger Herr, der den Lift bediente, hüstelte und mit leiser Stimme sagte: »Guten Morgen, mein Herr«, und dann auf den Boden starrte, solange sich der Aufzug nach unten bewegte. Die Straßen waren fast leer. Jakob beschloß, zu Fuß zu gehen, obwohl es bereits recht heiß und die Luft in den Straßen staubig und stickig war. Als er endlich das Insti tut erreichte, war er in Schweiß gebadet. Es war ange nehm, durch die kühlen, dunklen Korridore zu gehen. Im 88
Büro zog er den Labormantel an, und alles war noch ge nauso, wie es immer gewesen war. Er ging in die Tierstation und wurde wie gewöhnlich von den Hunden begrüßt. Nur von Nathan kam keine Reaktion. Er hatte seine Schlafstelle in den dunkelsten Winkel seines Bunkers verlegt, und alles, was man von der Tür aus von ihm sehen konnte, waren seine Füße auf dem Stroh. Jakob rief ihm einen Gruß zu, bekam aber keine Ant wort. Nur die Füße wurden bewegt und ins Innere des Bunkers gezogen. Jakob ging hin und her, durchs Labor ins Büro, zurück ins Labor, wieder in die Tierstation. Es war ihm unmög lich, sich hinzusetzen und sich eine Arbeit vorzunehmen. Es gab auch nichts für ihn zu tun. Er wurde immer wü tender auf Nathan. Er hätte mit Judith an die Küste fah ren oder diesen Jachtausflug mit ihr machen sollen, an statt hierher zurückzukommen, denn Nathan würdigte seine Anwesenheit nicht im geringsten, er nahm über haupt keine Notiz von ihm. Um die Mittagszeit war Jakob fast ebenso verbittert wie Nathan, fühlte sich ebenso eingesperrt wie er und langweilte sich, weil er nicht wußte, was er tun sollte. Deshalb beschloß er, wieder zu gehen, wenn Nathan ihn nicht mochte. Er saß vor dem Telefon und hatte ein schlechtes Ge wissen, weil er Nathan allein lassen wollte, aber anderer seits freute er sich darauf, wieder bei Judith zu sein. Er wählte ihre Nummer, aber niemand meldete sich. Er wählte noch einmal, dachte, daß er sich vielleicht ver wählt hatte, aber wieder meldete sich niemand. Er kam zu dem Schluß, daß sie wahrscheinlich ohne ihn zum Segeln oder nach East Hampton gefahren war. 89
Er ging wieder in die Tierstation, und seine Laune wurde immer schlechter. Er beschimpfte Nathan und warf ihm Feindseligkeit vor. Darauf reagierte Nathan; er kam aus seinem Bunker gekrochen, und einige Minuten lang schrien sie sich gegenseitig an und machten sich Vorwürfe. Danach fühlten sie sich beide etwas wohler. Jakob kochte das Mittagessen, und sie aßen zusammen, auch wenn sie nicht viel miteinander sprachen. Jakob hätte Nathan zu gern sein Erlebnis mit Judith erzählt, aber er verzichtete darauf, weil Nathan so mißmutig und schlecht gelaunt war. Die Stimmung änderte sich den ganzen Nachmittag nicht. Am Abend versuchte Jakob noch einmal, Judith anzurufen, aber wieder meldete sich niemand. Schließ lich ging er einsam und bedrückt nach Hause. Er machte sich Sorgen um Nathans Zustand. Während der ersten Tage der folgenden Woche blieb Nathans Verhalten besorgniserregend. Nur gelegentlich gab er Lebenszeichen von sich, und diese waren unver ändert feindselig und verbittert. Die meiste Zeit lag er lethargisch in der Dunkelheit seines Bunkers und zeigte für nichts Interesse. Jakob holte einen Hund und ließ ihn zu Nathan in den Käfig, um ihm ein wenig Gesellschaft zu verschaffen, aber Nathan nahm keine Notiz von dem Hund und stieß ihn weg, wenn er ihm zu nahe kam. Bald fing das Tier an zu winseln und zu betteln, um wieder zu seinen Artgenossen zurückkehren zu dürfen, und weil Jakob Mitleid mit ihm hatte, ließ er ihn wieder heraus und brachte ihn zurück. Jakob brachte viele Stunden damit zu, über Judith nachzudenken. Seine Erinnerung an die Nacht, die sie zusammen verbracht hatten, hatte etwas Traumhaftes an sich. Er sehnte sich danach, Judith wiederzusehen, um ihr 90
Verhältnis zueinander wieder in der Wirklichkeit anzu siedeln. Andererseits würde es am Donnerstag für lange Zeit das letzte Mal sein, daß sie beisammen waren, und während sie verreist war, würde sich ihr Verhältnis mit ziemlicher Sicherheit auflösen. Sie würde an ihn denken, wie sie eben auch an andere Männer dachte – wenn sie überhaupt an ihn dachte. Zwischen den Berggipfeln Kaschmirs würde ihre Erinnerung an seine Existenz zur Bedeutungslosigkeit schrumpfen. Am Donnerstag stellte Jakob Nathan am späten Nachmittag sein Abendessen hin. Nathan sagte kein Wort, fragte ihn auch nicht, wo er hingehe. Seine nieder geschlagene und apathische Haltung machten ihm große Sorgen.
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8 Das Dienstmädchen war schon nach Hause gegangen, und es war Judith selbst, die ihm öffnete. Sie war mit einer Bluse und langen Hosen bekleidet und schon eifrig beim Packen. Sie schien nervös und aufgeregt zu sein. Sie begrüßten sich scheu, und beide waren nicht ganz sicher, wie sie sich verhalten sollten, und so konnten sie sich beide nicht zu einer Umarmung aufraffen, die not wendig gewesen wäre, sie wieder zu vereinen. Judith goß Jakob einen Drink ein, und er saß allein im Wohnzimmer, während sie ins Schlafzimmer zurück kehrte, um weiter zu packen. Jakob blieb einige Minuten lang sitzen, doch dann war es ihm unmöglich, länger ru hig zu bleiben. Er stand auf und ging im Wohnzimmer auf und ab. Das Apartment schien ihm unnatürlich still und leer zu sein, als hätte es Judith schon verlassen. Die Atmosphäre hatte für ihn etwas seltsam Vertrautes, ob wohl ihm die kostbare Ausstattung dieser Wohnung na türlich ungewohnt war. Das konnte es nicht sein. Schließ lich merkte er, was ihn so vertraut berührte: Das Apart ment war von der düsteren Aura der Einsamkeit erfüllt. Er ging ins Schlafzimmer. Judith saß auf dem Bett und starrte auf einen halb gefüllten Koffer. Sie schien traurig zu sein, und als sie ihm ihr Gesicht zuwandte, sah er, daß sie Tränen in den Augen hatte. »Was ist los?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Nichts«, sagte sie. »Jedes mal wenn ich verreise, habe ich so eine depressive Stim mung. Ich frage mich, warum ich überhaupt wegfahre und was ich zu finden hoffe, wenn ich am Ziel bin. Mach dir keine Sorgen. Es geht vorüber.« Er setzte sich neben sie und legte seinen Arm um sie. 92
Einen Moment lang legte sie ihren Kopf an seine Schulter. »Ich wünschte, du könntest mit mir kommen, Jakob.« »Das wünschte ich auch«, seufzte er. Er küßte sie und begann sie zu streicheln, aber sie war zu nervös, um darauf einzugehen und ihn gewähren zu lassen. Sie schob ihn sanft von sich und sagte: »Bitte nicht, Jakob. Es hat keinen Sinn. Nicht jetzt. Ich bin nicht in der richtigen Stimmung.« Sie stand auf und beschäftigte sich wieder mit ihrem Koffer, während ihr Jakob schweigend zusah. Er betrach tete lüstern und gierig ihre nach Parfüm duftenden Klei der, die sie zusammenfaltete und in den Koffer legte. Sie bat ihn, den Koffer zuzumachen, als sie ihn gefüllt hatte. Er legte seine Hand auf den Berg aus Seide und Brokat und drückte ihn zusammen. Am liebsten hätte er sein Gesicht hineinvergraben. Er schloß den Deckel, ließ die Schlösser einschnappen und zog den Riemen fest. Indessen hatte sie ihre Hosen und ihre Bluse ausgezogen und suchte in einem der Schränke, bis sie ein cremefar benes Leinenkleid mit zitronenfarbenem Seidenfutter gefunden hatte. Sie stieg hinein, zog das ärmellose Ober teil über die Schultern, hob mit den Händen ihr dichtes Haar und drehte Jakob den Rücken zu. »Würdest du mir bitte den Reißverschluß zumachen?« Er trat dicht an sie heran, umschlang sie mit beiden Armen und legte die Hände auf ihre Brüste. Die weiche Rundung ihres Halses, die sie ihm darbot, war weiß und zart, ein geheimnisvolles, jungfräuliches Stück ihres Körpers. Er beugte sich hinab und küßte die Stelle, dann biß er fest in das weiße Fleisch. Sie bewegte sich nicht und schrie nicht auf, sondern zuckte nur unter seinen Zähnen und schien sich zusammenzukrümmen. Sie war wie gelähmt. 93
Er ließ los, und langsam richtete sie sich wieder auf. Er zog den Reißverschluß zu, und sie ließ ihr Haar in den Nacken fallen. Dann drehte sie sich blitzschnell um und schlug mit der flachen Hand nach seinem Gesicht, aber er hatte den Schlag erwartet und war einen Schritt zurück getreten, so daß sie ihn nicht erreichte. Eine Sekunde lang starrten sie sich an, dann ließ die Spannung nach. Er hob den Koffer vom Bett, als sei nichts gewesen, und sie suchte eine Jacke, die zu ihrem Kleid paßte, und zog sie an. Dann gingen sie ins Wohnzimmer. »Wir haben noch eine Menge Zeit, bis das Flugzeug geht«, sagte sie. »Möchtest du essen gehen?« »Ich würde jetzt keinen Bissen hinunterbringen. Ich werde schon im Flugzeug etwas bekommen, wenn ich bis dahin Hunger haben sollte.« »Was möchtest du dann gerne tun?« »Ich weiß nicht. Ich möchte nur nicht hier herumsit zen. Es ist so trübselig, und wir hätten einander nichts zu sagen. Warum gehen wir nicht zu dir?« »Es ist nicht gerade bequem bei mir zu Hause.« »Das spielt keine Rolle. Ich möchte sehen, wie du lebst.« »Also gut. Wenn du willst.« »Ja, ich will. Komm, gehen wir. Hier halte ich es kei ne Minute länger aus.« Jakob schloß die Fenster und die Türen zu der Terras se. Das Dienstmädchen würde sich um die Pflanzen kümmern. Judith ging hinaus ins Foyer und läutete nach dem Aufzug. Jakob nahm den Koffer und zog die Woh nungstür hinter sich zu. Sie schloß sich mit einem lauten Klicken, das seltsam leer und endgültig klang. Sie nahmen ein Taxi zu Jakobs Apartment und stiegen 94
die Treppen des alten Gebäudes hinauf. Das Treppenhaus war sauber und geräumig. Jakob schloß auf und ließ sie eintreten. Sie ging in der Wohnung auf und ab, sah sich genau um und sagte, wie schön sie die alten Häuser mit ihren hohen Decken finde, das mache die Räume luftiger. »Es ist sehr kahl hier«, sagte Jakob. »Natürlich ist es das«, sagte sie. »Es wäre nicht deine Wohnung, wenn es das nicht wäre. Mir gefällt es so. Si cher, man könnte noch ein oder zwei Dinge hinzufügen, ohne die Kargheit des Raums zu zerstören und doch ein bißchen mehr Wärme und Behaglichkeit hineinzubrin gen. Ein Zebrafell etwa, als Teppich, und ein paar Kissen aus Leopardenfell.« Jakob lächelte, und sie sagte: »Nun ja, warum nicht? Ich werde mich ein wenig um dich kümmern, wenn ich wieder zurück bin, ob du willst oder nicht. Du hast es nötig, daß man dich etwas an die Kandare nimmt, Ja kob.« »Ich glaube nicht, daß ich zu der Sorte Männer gehöre, die man an die Kandare nehmen kann.« »O doch, ich glaube schon. Du bist zwar schwieriger als die meisten, aber ich denke, daß man es schon schaf fen könnte.« »Und wenn ich dann zahm bin und dir aus der Hand fresse, was willst du dann mit mir tun?« »Ach, Jakob, verdammt noch mal! Du kannst doch le ben, wie du willst. Ich will dir doch nichts aufzwingen, ich möchte dir nur helfen, das ist alles. Ist denn das so schlimm?« »Ich weiß nicht«, sagte er besänftigend. »Ich glaube nicht, daß es das ist. Ich habe nur so das ungute Gefühl, daß deine Leopardenfellkissen mich eines Tages auffres sen könnten.« 95
»Oh, du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Bitte. Das ist etwas, was ich von dir verlange: Du darfst nie Angst vor mir haben.« »Ich wüßte auch nicht warum. Aber ich werde es mir merken.« Er goß für jeden einen Drink ein, und sie setzten sich in die Sessel und unterhielten sich, aber das Echo ihrer Stimmen hallte von der Decke und von den kahlen Wän den wider, und sie fühlten sich beide unbehaglich. »Gehen wir wieder«, sagte sie. »Ich möchte jetzt gern dein Labor sehen. Dann weiß ich erst richtig, wie du lebst, und ich kann mir dich besser vorstellen, wenn ich fort bin, oder möchtest du es mir nicht zeigen?« »Möchtest du wirklich, daß wir jetzt hingehen?« »Dort verbringst du doch den größten Teil deines Le bens, oder nicht? Sogar den Sonntag, an dem du hättest bei mir sein können, hast du dort verbracht. Wie könnte ich etwas über dich wissen, bevor ich dein Labor nicht gesehen habe?« »Das stimmt.« »Dann zeig es mir«, sagte sie und saß ganz aufrecht, begierig und begeistert von ihrer Idee. »Du mußt mir auch die Tiere zeigen, von denen du uns an jenem Abend erzählt hast.« »Die willst du auch sehen?« »Natürlich. Ich will alles sehen.« »Gut. Wenn du darauf bestehst.« »Wir können meinen Koffer hier lassen und ihn später abholen, wenn wir zum Flugplatz fahren.« »Ja, das ist eine gute Idee.« Jakob ging voraus zur Tür, und Judith folgte ihm, aber auf der Schwelle drehte sie sich um und sah sich noch einmal alles an, als widerstrebe es ihr, zu gehen. 96
»Weißt du, Jakob. Es gefällt mir hier. Ich möchte es doch nicht verändern. Ich glaube, es ist gerade diese klö sterliche Einfachheit, die mir so gefällt. Wenn ich hier herkommen könnte, wann ich wollte, dann müßte ich nicht jedes Jahr nach Kaschmir fahren.« »Du kannst auf der Stelle hier bleiben und Kaschmir vergessen, wenn du willst.« »Nein, ich kann nicht. Diesmal nicht. Ich brauche jetzt Bewegung. Versuche nicht, mich festzuhalten, Jakob. Jetzt noch nicht. Außerdem möchte ich jetzt dein Labor sehen.« »Du wirst es noch klösterlicher finden.« »Dann weiß ich, daß es mir gefallen wird.« »Gut. Gehen wir.« Er trat zur Seite, sie wandte sich um und ging hinaus. Es war nun dunkel draußen. Sie gingen zu Fuß in Richtung Third Avenue. Auf der einen Seite des Geh steigs stand die endlose Reihe geparkter Autos, auf der anderen führten Treppen hinauf zu den höhlenartigen Hausgängen mit ihren Reihen Namenschildchen, Klin gelknöpfen und Briefkästen. Wie immer, war die Third Avenue voll Menschen und Verkehrslärm. Die Scheinwerfer der Autos und das Flackern der Neonreklamen erstreckten sich kilometer weit in beiden Richtungen und setzten sich nach oben fort mit den Lichtreflexen in den Glasfassaden der Hoch häuser, ebenso kilometerweit, wie es schien. Sie trennten sich und versuchten beide, ein Taxi zu erwischen. Judith lief durch den Verkehr auf einen Wagen zu, der frei zu sein schien, dann aber doch besetzt war. Jakob beobach tete sie. Trotz ihrer eleganten Kleider hat sie etwas von einer jagenden Wölfin an sich, dachte er. Sie bewegte sich zwischen den fahrenden Autos wie eine Wölfin, die einen Wald durchquert, raubgierig und zielbewußt. Sie 97
stieß in demselben Moment auf ein freies Taxi wie ein anderer Passant. Mit einem Knurren zeigte sie ihm ihre Zähne und zwang ihn zum Rückzug. Jakob beeilte sich, um mit ihr einzusteigen. An einem Seitenausgang des Instituts stiegen sie aus, und Jakob schloß die Tür auf. Sie traten ein und erreich ten das siebzehnte Stockwerk, ohne daß ihnen jemand begegnete, und die Gänge, in denen seine Abteilung lag, waren wie immer leer. »Es scheint ganz verlassen zu sein«, sagte Judith. »Wo sind denn die Leute?« »Die meisten sind schon nach Hause gegangen. Au ßerdem arbeiten in diesem Stockwerk nicht viele. Alle wollen entweder in den oberen oder in den unteren Stockwerken sein.« Ihre Stimmen hallten in den langen Korridoren wie ih re Schritte, sonst war kein Laut zu hören. »Es ist ein bißchen unheimlich hier«, sagte Judith. »Denke daran, daß ist meine Version eines Bergklo sters im Himalaja. Es ist also selbstverständlich, daß es hier einsam und ruhig ist.« Jakob schloß die Eingangstür auf und ließ sie eintreten. Er legte seine Jacke ab und zog seinen weißen Mantel an, der im Vorraum hing. Judith sah ihm lächelnd zu. »Warum tust du das?« »Was? Ach so, ja. Ich glaube, das ist bei mir schon zur Reflexhandlung geworden.« »Macht nichts. Es ist gut, daß ich dich so sehe. Nun weiß ich endlich, wie der wirkliche Jakob aussieht.« »Du glaubst, daß der wirkliche Jakob immer so einen weißen Mantel anhat?« »O nein, ich habe den anderen Jakob, der nichts anhat te, keineswegs vergessen – wenn du das meinst.« 98
»Das freut mich. Möchtest du etwas trinken? Ich muß hier irgendwo noch einen Whisky haben.« »Zuerst mußt du mich herumführen.« »Gut.« Er ging mit ihr durch sein Büro und verschwendete viel Zeit damit, ihr die Bücher und den Tischcomputer zu zeigen. Dann führte er sie durch das Labor und erklärte ihr, welchem Zweck die verschiedenen Geräte und In strumente dienten, aber Judith zeigte nicht das geringste Interesse für Maschinen und ähnliches und deutete auf die andere Tür. »Sind dort deine Tiere?« »Ja, da sind sie drin.« »Ich möchte sie sehen. Bitte.« »Nun ja, ich weiß nicht recht, ob ich das darf.« »Jetzt hör aber mal zu, Jakob. Das ist das Institut mei nes Vaters, damit habe ich wohl das Recht dazu, alles zu sehen, was ich sehen will.« »Also gut, Judith. Wenn du die Dinge so siehst. Bitte.« Er holte den Schlüssel aus der Tasche und schloß die Tür auf. »Nicht sprechen«, flüsterte er. »Ich möchte die Tiere nicht mehr stören als unbedingt notwendig.« Er öffnete die Tür, und sie betraten die Tierstation. Die Katzen und Hunde, die nicht schliefen, drängten sich an die Gitter, um sie zu begrüßen. Judith tätschelte die Hunde und kraulte die Katzen. Jakob warf einen Seitenblick in Nathans Käfig und sah, daß er in seinem Bunker schlief. Er hatte seine Beine angezogen, denn sie waren nicht zu sehen. »Ist das ein Gestank hier«, flüsterte Judith. »Das sind die Hamster und Mäuse«, sagte Jakob leise. »Daran kann man nichts ändern, es liegt nicht an der 99
Sauberkeit, es ist ihre Ausdünstung, aber man gewöhnt sich schnell dran.« Er zeigte ihr die Käfige, wo die kleinen Tiere im Stroh herumhuschten, und machte sie auf die Transplantate aufmerksam, die er ihnen ins Fell operiert hatte. Dann drehten sie sich um und gingen auf der anderen Seite des Gangs die Reihe der Käfige entlang. Nathan war aufgewacht und lauschte. Er war sicher, daß er Stimmen und Schritte von mehr als einer Person gehört hatte. Erschreckt zog er seine Beine noch weiter in den Bunker. Judith blickte in Nathans Käfig. »Da ist etwas drin«, sagte sie, als sie das Rascheln hörte. »Es hört sich wie ein großes Tier an. Was ist es?« »Ein Primat«, sagte Jakob. »Ich habe Affen gern. Darf ich ihn sehen?« »Er schläft jetzt.« »Darf ich ihn aus der Nähe sehen? Der Käfig daneben ist doch leer, oder? Den darf man doch betreten. Läßt du mich hinein?« Jakob ließ sorgfältig das Gitter zwischen den beiden Käfigen herab, dann öffnete er für sie die Tür zu dem leeren Käfig. Sie trat ein und blickte angestrengt auf den Eingang zu Nathans Bunker. Diesmal hörte Nathan ein Flüstern, das Geräusch von Schritten und das Knistern von seidigen Stoffen. Zu nächst verkroch er sich im hintersten Winkel seiner Höhle. Dann, vorsichtig, auf allen vieren, nur so konnte er sich in dem engen Raum bewegen, schob er sich auf den Ein gang zu. An dem Rascheln des Strohs merkte Judith, daß der Bewohner des Bunkers erwacht sein mußte. Sie hielt den Atem an und wartete auf sein Erscheinen. Alles, was sie zunächst sehen konnte, war die obere 100
Seite eines Kopfes, dunkel und mit wirrem, ungekämm ten Haar bedeckt, und sie war gespannt, was für eine Art Affe es wohl sein mochte. Dann, als das Wesen geduckt und mit schlenkernden Bewegungen weiter herausgekro chen war, hob es seinen Kopf und blickte sie an, und da sah sie, daß es ein menschliches Gesicht hatte. Im ersten Moment dachte sie, daß Jakob den Kopf eines Menschen auf den Körper eines Affen verpflanzt haben müsse. Sie stieß einen Schrei aus und wandte sich ab. Erschreckt durch ihren Schrei zog sich das Wesen wieder in die Dunkelheit seiner Höhle zurück. Judith schrie von neuem und stürzte zur Tür des Käfigs. Sie riß und rüttelte hilflos an den Gitterstäben. Sie gaben nicht nach, und sie schrie noch lauter. Jakob beobachtete sie, und in seinen Augen war Mitleid.
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9 Um Judith zu beruhigen, rief Jakob Nathan zu, er solle herauskommen und sich zeigen. Nach einem Moment der Stille hörte man wieder das Rascheln von Stroh im Bun ker, und Nathan erschien von neuem. Judith hatte sich in den entgegengesetzten Winkel des anderen Käfigs ge flüchtet und hielt sich aus Angst durch das Gitter an Ja kob fest. Nathan sah sie an, sein Blick war stumpf und teilnahmslos; er dachte, daß sie nichts anderes als eine neugierige Besucherin sei, die Jakob mitgebracht hatte, damit sie sich über seinen Anblick amüsieren konnte. Er richtete sich auf, trat an das Gitter zwischen den beiden Käfigen und starrte sie an. Es kam ihm nicht einmal der Gedanke, daß er nackt war und sich hätte in die Decke hüllen können. »Du siehst, er ist ganz normal«, sagte Jakob. »Sein Name ist Nathan. Nathan, das ist Judith.« Sie gaben beide keine Antwort, sondern musterten sich schweigend. Dann, als habe Nathan gesehen, was er sehen wollte, und habe es satt, angestarrt zu werden, drehte er sich um, ging zum Eingang seines Bunkers, ließ sich auf alle viere nieder und kroch zurück in die schüt zende Dunkelheit. »Gibt es hier mehrere wie ihn?« fragte Judith, und in ihrer Stimme schwang immer noch Entsetzen mit. »Soviel ich weiß, ist er der einzige – abgesehen von dir natürlich.« Sie verzog die Lippen und brachte eine Art Lächeln zustande. »Nun, Jakob«, sagte sie. »Das war zwar amüsant, aber jetzt reicht es. Laß uns den Spaß beenden. Ich muß mein Flugzeug erreichen.« 102
Jakob war erstaunt. »Du hast nicht verstanden«, sagte er. »Ich fliege nach Kaschmir, Jakob.« Jakob schüttelte den Kopf. »Nein, du fliegst nicht.« »Mach keine Dummheiten, Jakob, und laß mich hin aus.« »Ich will, daß du hier bleibst, Judith.« »Es interessiert mich nicht, was du willst.« »Ich glaube, diesmal hast du keine andere Wahl.« Judith wurde wütend und fauchte ihn zornig an. Es war nicht die Angst, die sie so erregte, sondern die Em pörung darüber, daß Jakob ihr seinen Willen aufzwingen wollte. Jakob nahm an, daß ihr das bisher nur sehr selten passiert war und sie es deshalb als ungeheure Beleidi gung empfinden mußte. Jakob drehte sich um und ging ins Labor hinaus, ließ aber die Tür hinter sich offen. Er setzte sich auf einen Stuhl, legte seine Arme auf die Werkbank und bettete sein Gesicht darauf. Nach einigen Minuten sah Judith ein, daß Jakob ihren Forderungen und Drohungen kein Gehör schenkte, und schwieg. Jakob stand auf und ging in die Tierstation zu rück. In ihrem eleganten cremefarbenen Kleid und ihrer Jacke bildete sie einen seltsamen Kontrast zu dem kahlen Käfig und den Gitterstäben, an denen sie sich festhielt. Jakob bemerkte, daß sie zwar noch wütend war, aber doch schon den arroganten Gesichtsausdruck verloren hatte, mit dem sie noch vor wenigen Minuten ihre Frei lassung gefordert hatte. Statt dessen war es ihm, als ob in ihren Zügen sich der Widerschein einer geheimen Befriedigung abzeichnete, einer seltsamen Lust. Jakob ging in den Vorratsraum und holte einen Arm 103
voll Stroh für ein Nachtlager. Er stopfte es durch das Git ter in ihren Käfig. Sie nahm es wortlos, trug es nach hin ten in den Bunker und breitete es auf dem Boden aus. Dann holte er ihr die zweite Wolldecke von dem Sofa in dem leeren Büro. »Hast du Hunger?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Ich hätte jetzt gern den Drink, den du mir vorhin angeboten hast.« Er holte den Whisky aus dem Büro und brachte zwei Gläser. »Was ist mit ihm?« fragte Judith und nickte mit dem Kopf in die Richtung von Nathans Bunker. Jakob ging hinaus und holte ein drittes Glas. Judith zog die Jacke und ihre Schuhe aus und legte sie auf das Dach ihres Bunkers, dann setzte sie sich auf den Boden und lehnte sich an die gegenüberliegende Käfigwand, so daß sie zu Nathan hinübersehen konnte. Jakob reichte ihr ein Glas und rief Nathan zu: »Willst du einen Whisky?« Einen Augenblick lang war es still, als müsse sich Na than das ungewöhnliche Angebot erst überlegen, dann kam er herausgekrochen, nahm sein Glas in Empfang, stellte seinen Stuhl gegenüber von Judith ans Gitter und setzte sich. Jakob holte sich auch einen Stuhl. Die Tiere im Hintergrund beobachteten sie neugierig und warteten, was nun als nächstes geschehen würde, aber sie wurden enttäuscht. Es geschah nichts. Die drei Menschen saßen ruhig da und tranken ihren Whisky in kleinen Schlucken und waren viel zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, als daß sie miteinander gesprochen hätten. Als Nathan sein Glas ausgetrunken hatte, reichte er es Jakob zurück und verschwand wieder in seiner Höhle. »Möchtest du noch ein Glas, Judith?« fragte Jakob. »Ja, bitte.« 104
Er verteilte den Rest aus der Flasche in ihre beiden Gläser, und sie tranken weiter, sahen sich nachdenklich an und grübelten vor sich hin. Als Judith ausgetrunken hatte, nahm Jakob ihr Glas und kippte den Rest seines Whiskys hinunter. »Glaubst du, daß du bequem genug schlafen kannst?« »Ich nehme an.« »Dann werde ich dich jetzt schlafen lassen.« »Ach! Willst du nicht mit mir schlafen?« Er schüttelte langsam den Kopf. Sie lächelte ihn spöttisch an. »Du hältst nichts davon, Tiere mit Menschen zu kreuzen, nicht wahr?« Er lächelte nicht, sondern sagte ernst und ein wenig traurig: »Ich glaube, es ist besser, wenn man es nicht tut.« »Wie du willst.« »Gute Nacht, Judith.« »Gute Nacht, Jakob.« Er ging hinaus, ließ aber die Tür hinter sich offen. Er hörte sie rufen: »Nathan! Nathan, komm ’raus und unter halte dich ein bißchen mit mir!« Er ging in das leere Büro und ließ alle Türen zwischen sich und der Tierstation offen. Er legte sich auf die Couch. Er hatte nichts, um sich zuzudecken, und es war ihm kalt. Nach einigen Minuten, als sich sein Gehör an die Stil le gewöhnt hatte, hörte er Stimmengemurmel aus der Tierstation. Er blieb liegen, aber schließlich konnte er es nicht mehr ertragen, stand auf und ging nach hinten. »Bitte, nicht sprechen«, sagte er. »Ihr stört die Tiere.« »O nein, die freuen sich«, sagte Judith. Jakob sah sich um, und sie schien recht zu haben, denn keine der Katzen und keiner der Hunde lief nervös auf 105
und ab. Sie hatten sich alle niedergelegt, und obwohl vie le von den Tieren wach waren und mit ihren phosphores zierenden Augen neugierig die Menschen beobachteten, war keine Spur von Spannung oder Aufregung zu spüren. Sie schienen sich im Gegenteil wohler zu fühlen und friedlicher zu sein als sonst, als ob das Murmeln der Stimmen eine beruhigende Wirkung auf sie hätte. Jakob kehrte in sein Büro zurück und legte sich wieder hin, das Gemurmel ging weiter. Er drehte und wälzte sich unruhig auf der harten Couch hin und her – er war der einzige, den die Unterhaltung störte. Nach kurzem Schlaf erwachte Jakob sehr früh am Morgen, wusch sich im Waschbecken auf der Toilette, zog seinen Labormantel an und ging in die Tierstation. Die Hunde und Katzen machten an diesem Morgen kaum Anstalten, ihn zu begrüßen. Sein Erscheinen war offenbar kein besonderes Ereignis mehr für sie. Judith und Nathan lagen beide in ihren Bunkern und schienen tief zu schlafen. Er ging ins Labor hinaus und setzte sich ans Mikroskop. Eine Stunde später kehrte er zurück. Dieses Mal be wegten sich Nathan und Judith. Er rief ihre Namen, und sie steckten ihre Köpfe heraus und blinzelten verschlafen. Sie sahen beide aus, als hätten sie gut geschlafen und eine angenehme Nacht verbracht. Ihm fiel auf, daß Na than etwas von seiner stumpfen, apathischen Art verloren hatte. Jakob fragte sie, ob sie Kaffee wollten, und machte sich daran, das Frühstück zuzubereiten. Zur gewohnten Stunde tauchte Simon auf, und Jakob stellte ihm Judith vor. Simon schien überglücklich, als er sie sah, und streckte seine Hände durch das Gitter nach ihr aus. Jakob sagte ihr, daß sie vor dem Jungen keine Angst zu haben brauche, und Judith trat näher ans Gitter. 106
Simon streichelte ihre Arme und fuhr ihr übers Haar, rieb den Stoff ihres Kleides entzückt zwischen den Fingern, als habe er noch nie so etwas Kostbares berührt, und war außer sich vor Freude. Er drehte sich um und tanzte den Mittelgang entlang. Beide Arme ausgestreckt, bewegte er sich im Takt einer imaginären Musik. Dann kehrte er zurück und begann Judith von neuem zu streicheln. Sein Vergnügen und seine Heiterkeit waren so ansteckend, daß sie ihren inneren Widerstand aufgab und ihm erlaubte, ihr Haar und ihre Kleider zu berühren. Inzwischen überlegte sich Jakob das Problem, wie er nun die beiden Affenkäfige reinigen lassen sollte, nach dem sie beide besetzt waren. Er bat Nathan, sich mit dem Rücken ans Gitter zu stellen, und Nathan gehorchte und erklärte Judith, daß es keinen Zweck habe, sich zu wei gern oder zu protestieren. Jakob fesselte ihn mit Hand schellen ans Gitter und ließ Simon hinein, um den Käfig auszukehren. Als Simon fertig war, ließ er Nathan gefesselt und öff nete den Durchgang zwischen den Käfigen. Dann bat er Judith, durch die Öffnung in Nathans Käfig zu kriechen. Sie gehorchte, und während Simon beschäftigt war, ihren Käfig zu reinigen, benutzte sie die Gelegenheit, sich Na than aus der Nähe anzusehen. »Du hast eine gute Figur«, sagte sie. »Aber du fängst an, ein bißchen schlaff zu werden.« »Das ist nicht wahr«, sagte Nathan unwillig. »Ich habe ihm geraten, ein wenig Gymnastik zu trei ben«, sagte Jakob. »Mach dir keine Sorgen«, sagte Judith. »Ich werde darauf achten, daß er sie in Zukunft macht. Wir können in unserem Labor keine ungesunden Tiere brauchen, nicht wahr, Jakob?« 107
»Und was ist mit dir?« fragte Nathan. »Das gilt natürlich auch für mich«, sagte sie. »Aber warum läuft er nackt herum, Jakob?« »So kann ich ihn leichter sauberhalten.« »Soll das heißen, daß ich mich auch ausziehen muß?« »Heute noch nicht, Judith. Wir wollen nichts überstür zen. Wir müssen uns mit einer Idee erst eine gewisse Zeit vertraut machen, bevor wir einen Schritt weitergehen und sie ausführen.« »Ich bin mit der Idee durchaus vertraut, Jakob.« »Aber ich könnte nicht sagen, daß ich es schon bin.« »Nun ja, aber ich sehe keinen Grund, warum wir we gen dir noch Zeit verschwenden sollten. Nathan hat mir erzählt, welche Experimente du mit uns vorhast. Je eher du damit anfängst, desto besser ist es für uns alle. Ich möchte so kooperativ sein wie möglich, Jakob. Ich halte sehr viel vom Wert deiner Forschungen und möchte, daß ich dir dabei von Nutzen sein kann. Weiß Gott, bisher habe ich in der Welt noch niemandem von besonderem Nutzen sein können.« »Ich freue mich, daß du so denkst.« »Dann wollen wir nicht unnötig Zeit verlieren, mein lieber Jakob.« Sie griff nach hinten und zog den Reißverschluß ihres Kleides auf, streifte es von den Schultern und stieg her aus. Sie legte es zusammen und reichte es Jakob durchs Gitter. »Ich werde es sorgfältig aufbewahren«, sagte er. »Keine Umstände, Jakob. Das macht nichts. Ich habe genug.« Sie streifte ihre Strümpfe ab, hakte ihren Büstenhalter auf und zog ihn aus, schob den Schlüpfer hinunter und schüttelte ihn von den Füßen. 108
»Ich mochte wissen, was mein Vater dazu sagen würde, wenn er mich als Versuchskaninchen in seinem eigenen Institut sehen würde«, sagte sie. Sie musterte belustigt die beiden Männer, die sie an starrten, und sah Simon zu, der vor Begeisterung eine Gigue tanzte. Nathans Handschellen klirrten gegen die Gitterstäbe, als er sich unruhig bewegte. Sie fragte ihn: »Siehst du irgend etwas Besonderes an mir?« »Nein«, sagte Nathan. »Dann brauchst du mich doch auch nicht so anzustar ren, oder? Ich bin doch ganz normal gebaut.« »Ja«, sagte Nathan und wandte den Blick ab. »So ist es schon besser«, sagte sie. »Wenn Simon fer tig ist, krieche ich zurück. Da, Jakob!« Sie reichte ihm ihre Unterwäsche und kehrte in ihren Käfig zurück. »Warte«, sagte sie zu Jakob, als dieser das Verbindungs gitter herunterlassen wollte. »Nathan wird das brauchen«, sagte sie und schob das Campingklosett durch die Öff nung zu Nathan hinüber. »Wie soll ich es benutzen, wenn du dabei bist?« fragte er. »Es sieht so aus, als ob ich in nächster Zeit keine an dere Wahl hätte, als in deiner Nähe zu sein. Du wirst dich also daran gewöhnen müssen. Außerdem, mich stört es nicht, wenn du in meiner Nähe bist.« Jakob ließ das Zwischengitter herunter und befreite Nathan von seinen Handschellen. Nathan benutzte kurz und mit sichtlichem Unbehagen die Toilette. Dann fessel te ihn Jakob von neuem, während Simon die Klosett schüssel hinaustrug, ausleerte, säuberte und zurückbrach te. »Ich werde ein zweites besorgen«, sagte Jakob. Dann nahm er Judiths Kleider und ging mit Simon hinaus. Er 109
hängte die Kleider in einen Schrank in dem unbenutzten Büro. Der Duft und die Geschmeidigkeit der weichen Stoffe ihrer Kleider und ihrer Wäsche erfüllten ihn mit Sehnsucht. Er verschloß die Schranktür sorgfältig. Jakob arbeitete den ganzen Vormittag ohne Unterbre chung. Der Gedanke an Judith, die nun ganz in seiner Nähe war, erfüllte ihn mit neuer Energie. Als das Klop fen an der Tür die Anlieferung des Mittagessens verkün dete, erinnerte er sich, daß er vergessen hatte, eine dritte Portion belegter Brote zu bestellen. Er überlegte, ob er das veranlassen könne, ohne unliebsame Neugier zu wecken, und beschloß, daß er das Risiko auf sich nehmen wolle. Ab morgen würde er drei Mahlzeiten anfordern. Er holte die belegten Brote und reichte sie durchs Gitter. Dann ging er zum Aufzug und fuhr hinunter in die Cafeteria. Diesmal fühlte er sich nicht so unbehaglich, als er in mitten des Lärms an einem Tisch saß, und er beneidete die Techniker und Assistenten nicht mehr um ihre Gesel ligkeit. Tatsächlich war er so gut gelaunt, daß er sich mit unbekannten Leuten, die sich an seinen Tisch gesetzt hat ten, in eine Unterhaltung einließ und sie sogar zum La chen brachte. Er überlegte, was sie wohl dazu sagen würden, wenn er ihnen erzählte, was in seinem Laborato rium vor sich ging, und er mußte sich geradezu beherr schen, es nicht zu tun, denn in gewisser Weise war er stolz auf sich. Welcher Forscher hätte wohl je etwas Ver gleichbares fertiggebracht? Natürlich gab es Mediziner, die mit Freiwilligen arbeiteten, um Versuche an Men schen durchzuführen, aber das war in der Regel unbe friedigend. Die Freiwilligen kamen meist nur einmal am Tag zu einer kurzen Visite ins Labor. Selbst wenn sie sich dazu überreden ließen, stationär zu bleiben, so hielten sie es meistens nur wenige Tage aus, und dann gingen 110
die Schwierigkeiten los. Gewöhnlich drohten sie, das Experiment abzubrechen, wenn ihnen irgend etwas nicht paßte. Andere Forscher umgingen diese Schwierigkeit, in dem sie Strafgefangene als Versuchspersonen benutzten, aber dafür mußten sie persönlich zu den Gefängnissen fahren, und Gefangene sind nur unzureichend medizi nisch zu überwachen, weil die Aufseher ständig Schwie rigkeiten machen. Nein, es gab keinen Zweifel: Er hatte die beste Lösung des Problems gefunden, und die Ergeb nisse seiner Forschungen würden sein unkonventionelles Vorgehen am Ende rechtfertigen. Wenn es soweit war, daß er seine Ergebnisse veröffentlichen konnte, würde er sich überlegen müssen, ob er alle Einzelheiten der Expe rimente enthüllen sollte. Es würde wohl nötig sein, was ihm natürlich einiges an Kritik von selten seiner Kolle gen einbringen dürfte, aber er brauchte diese Kritik nicht ernst zu nehmen, denn im Grunde würden sie ja nur nei disch sein und bedauern, daß sie nicht das Zeug dazu hat ten, auf ähnliche Weise vorzugehen wie er. Was Judith betraf, so war er außerordentlich froh, daß sie nun ganz in seiner Nähe war und nicht in Kaschmir, unerreichbar für ihn und vielleicht für immer verloren. Durch sie wurde das Labor zu einem angenehmen Auf enthaltsort, natürlich auch für Nathan. Das war genau das, was Nathan die ganze Zeit gefehlt hatte, die Gesell schaft eines Artgenossen, der mit ihm seine Gefangen schaft teilte. Wie rasch seine Lethargie von ihm abgefal len war, das war der beste Beweis dafür. Was Jakobs Verhältnis zu Judith betraf, wenn sie wieder aus Kasch mir zurück gewesen wäre, die Heirat, die sie angedeutet hatte, das alles hätte mit Sicherheit keine festen Formen angenommen, und selbst wenn, es wäre alles nach ihren 111
Plänen und Wünschen verlaufen. Ihr ganzes Zusammen leben hätte ihren Stempel getragen. So war es viel besser. Nach dem Mittagessen arbeitete er weiter, doch nach einiger Zeit verließ er das Institut. Er hatte das Gefühl, als habe er Urlaub, und er ließ sich Zeit und bummelte durch die Straßen. Er ging zu seiner Wohnung und holte sich eine Decke, weil er beschlossen hatte, in Zukunft seine Nächte im Labor zu verbringen und im Büro zu schlafen. Er wußte, daß es keinen stichhaltigen Grund dafür gab, jetzt sogar noch weniger als zu der Zeit, als Nathan noch allein ge wesen war, aber es war ihm angenehmer, bei ihnen zu sein, als allein zu Hause zu schlafen. Vielleicht, warf er sich selbstkritisch vor, hatte es ihm nichts ausgemacht, allein zu sein, solange auch Nathan allein war, aber er war eifersüchtig, wenn Nathan Judiths Gesellschaft hatte und er nicht. In dem Discountgeschäft für Armeerestbestände kauf te er eine zweite Zeltplane, einen weiteren Campingstuhl, ein Campingklosett und – nach kurzem Überlegen – noch zwei Paar Handschellen. Er bemerkte, daß er im Begriff war, eine recht ungewöhnliche Zusammenstellung von Artikeln zu kaufen, und das war sicher auch der Grund, warum ihm der Verkäufer einige mißtrauische Blicke zuwarf. Er war plötzlich selbst etwas unangenehm über rascht, und einen Moment lang fühlte er einen Anflug von Schrecken, als er sich die Empörung des Verkäufers vorstellte, wenn er ihm sagen würde, zu welchem Zweck er die Sachen benötigte. Er ging zu Dougan, um sich bei einem Glas Whisky von seinem Schrecken zu erholen, und bald hatte er seine Sicherheit wieder zurückgewon nen. Auf dem Rückweg zum Institut ging er noch in den 112
Supermarkt und kaufte einige Lebensmittel für das Abendessen ein. Mit einem Arm voll Paketen kehrte er zum Institut zu rück und verstaute sie in seinem Büro. Als er in die Tier station kam, wollten Judith und Nathan wissen, ob er ih nen Whisky mitgebracht habe. Sie seien hier nicht in einem Hotel, sagte er ihnen, wenn es ihnen auch so vor kommen möge. Der gestrige Abend sei eine Ausnahme gewesen. Im übrigen erlaube er es ihnen von nun an nicht mehr, daß sie sich mit Alkohol oder Nikotin ver gifteten. »Aber du hast dir einen genehmigt«, sagte Judith, die eine gute Nase hatte. »Meine Gesundheit ist nicht so wichtig wie eure«, sagte Jakob. Er gab sich Mühe, ihnen ein gutes Abendessen zuzu bereiten, und er war befriedigt über den Erfolg seiner Anstrengungen, als er ihnen die Teller reichte. Er schob sie unter dem Gitter durch, und sie setzten sich zusam men hin, um zu essen. Aber Judith mokierte sich über seine Kochkünste und schlug ihm vor, bei ihr in die Leh re zu gehen, und Nathan, durch Judiths Bemerkung er mutigt, beschwerte sich zum erstenmal über das Essen. Jakob fand das zwar reichlich unfair von ihm, aber es war ihm ein Beweis, daß Nathan wieder mehr Interesse am Leben zeigte. Nach dem Essen unterhielten sie sich noch eine Weile. Als Jakob dachte, daß es nun Zeit sei, schlafen zu gehen, stand er auf und kontrollierte noch einmal die Käfige, sah nach, ob die Tiere genug Wasser hatten, und tätschelte und streichelte sie. Judith trat ans Gitter, und als Jakob vorbeikam, streichelte er auch sie. Er ließ seine Hand langsam über die seidenweiche Haut ihrer Hüfte gleiten. 113
Judith lächelte, und weil das Gitter zu eng war, um ihm einen Kuß auf die Lippen zu geben, küßte sie seine Hand. Als sie sich alle zum Schlafen niedergelegt hatten, hörte Jakob kein Stimmengemurmel, das ihn hätte stören können, und er war zufrieden mit seiner großen Familie. Das einzige, was ihn trotzdem lange nicht einschlafen ließ, waren seine Gedanken an Judith. Er wäre am lieb sten aufgestanden und hätte ihren Käfig aufgeschlossen, um mit ihr auf dem Stroh zu schlafen, aber das war natür lich unmöglich. Die Situation erforderte, daß er Zurück haltung übte, und er mußte sich fügen.
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10 Als Simon am nächsten Morgen erschien, überlegte Ja kob, welche Maßnahmen er diesmal ergreifen sollte. Es widerstrebte ihm, Judith wieder in Nathans Käfig krie chen zu lassen, auch wenn er keine Schwierigkeiten be fürchtete; andererseits wollte er aber auch nicht die Handschellen benutzen, die er für sie gekauft hatte. Als ihm Judith versicherte, daß sie Simon nicht behindern werde, vertraute er ihr. Nun war es Simon, der nervös wurde. Er sträubte sich dagegen, Judiths Käfig zu betreten, solange sie nicht ge fesselt war, und er schielte hilfesuchend nach Jakob. Ju dith lächelte ihm aufmunternd zu, und schließlich, nach langem Zögern, kam der Junge herein. Jakob schloß die Tür hinter ihm ab. Zuerst war Simon wie erstarrt und nicht in der Lage, irgend etwas zu tun. Da begann Judith zu singen, breitete die Arme aus und machte ein paar Tanzschritte. Das war der richtige Schlüssel zu Simons Herzen, und im selben Augenblick war seine Angst vor ihr verschwunden. Er strahlte über das ganze Gesicht und begann ebenfalls zu tanzen. »Hör auf! Jetzt reicht’s!« sagte Jakob. »Laß ihn! Er soll seine Arbeit tun.« Judith setzte sich auf ihren Stuhl in der Ecke, und ent täuscht nahm Simon seinen Besen in die Hand und be gann den Käfig auszukehren. Am späten Vormittag entschloß sich Jakob, Judith gründlich zu untersuchen. Sie versicherte ihm, daß sie keine Schwierigkeiten machen wolle; darauf holte er sei ne Geräte und kam in den Käfig. Das Dach des Bunkers hatte genau die richtige Höhe, und deshalb bat er sie, sich darauf niederzulegen. Sie streckte sich aus, und er be 115
gann mit seiner Untersuchung. Wie sie versprochen hatte, machte sie keine Schwierigkeiten, ja war beinah gefügig; sie schien die Aufmerksamkeit zu genießen, die er ihrem Körper entgegenbrachte. Nathan stand am Gitter zwi schen den Käfigen und sah ihnen zu, aber Judith sagte zu ihm, er solle verschwinden. Zum Schluß entnahm Jakob ihrer Armvene eine Blutprobe, verließ den Käfig und sperrte die Tür hinter sich ab. Zu Mittag wurden drei Portionen belegter Brote gelie fert, und sie aßen sie gemeinsam. Danach fragte Judith: »Was hast du heute nachmittag vor, Jakob?« »Ich habe eine Menge zu mikroskopieren.« »Wann willst du mit uns anfangen?« »Nicht bevor ich damit fertig bin, was ich gerade mache. Vielleicht in ein paar Wochen.« »Das ist aber noch eine ganz schön lange Zeit.« »Ihr müßt Geduld haben, wir dürfen nichts überstür zen.« »Was sollen denn wir die ganze Zeit machen?« »Wie meinst du das?« »Wir sollten irgend etwas zu tun haben.« »Ihr seid doch zu zweit, ihr könnt euch miteinander unterhalten. Wenn du in deinem Kloster in Kaschmir wärst, würdest du doch auch nichts anderes tun, oder?« »Du hast recht. Also Nathan, über was unterhalten wir uns? Ich bin sicher, wir können uns zusammen amüsie ren.« Einige Tage lang war die Stimmung in der Station harmonisch. Jakob arbeitete viel und kam gut voran. Ju dith und Nathan fanden viele Gemeinsamkeiten und er zählten sich ihr bisheriges Leben. Ihr Essen nahmen sie alle drei gemeinsam ein. Sie lachten viel miteinander, und die Hunde bellten, weil sie an dem Spaß teilhaben 116
wollten. Judith dachte sich Hüpfspiele aus, damit sie kör perlich fit blieben, und sie bestand darauf, daß auch Ja kob sich daran beteiligte. Nachdem sie ihre anfängliche Befangenheit überwunden hatten, wetteiferten sie mitein ander, bis sie müde waren. Nachts schliefen sie gut und dachten kaum an das vielfältige Leben der riesigen Stadt, in der sie lebten. Im Laufe der Zeit jedoch wurden Judith die Unterhaltun gen mit Nathan langweilig, und sie begann wieder unru hig zu werden. »Du mußt uns irgend etwas zu tun geben, Jakob«, sagte sie. »Es gibt nichts zu tun für euch. Achtet darauf, daß ihr gesund und in guter körperlicher Verfassung bleibt. Das ist alles, was ich von euch verlange.« »Es ist langweilig.« »Du enttäuschst mich. Schau dir diese Tiere an. Ihnen wird es nicht so schnell langweilig.« »Wir sind keine Tiere.« »Aber Judith! Das ist Nathans alte Platte. Das hätte ich von dir eigentlich nicht erwartet.« »Gut. Tut mir leid. Aber die Tatsache bleibt, wir brau chen irgend etwas, das unser Interesse fesselt, sonst dre hen wir durch.« »Weißt du, ihr seid beide außergewöhnlich. Ihr habt euch überraschend schnell an dieses Leben hier angepaßt, besonders du, Judith, viel schneller als die meisten Tiere hier, und doch könnt ihr es nicht aushalten, ohne ständig euer Interesse zu stimulieren. Woher kommt das? In deinem Kloster kämst du sicher nie auf die Idee, dich über Langeweile zu beklagen, oder?« »Hier ist es nicht wie im Kloster. Dort kannst du den 117
ken. Im Hochgebirge hast du beinah das Gefühl, du seist körperlos, und du kannst deine Gedanken frei über die ganze Welt schweifen lassen. Das ist eine herrliche Emp findung, denn du vermißt nichts. Hier aber sind wir ein geschlossen, daß ich das Gefühl habe, nur noch ein Kör per ohne Gehirn zu sein. Wir können nicht denken. Alles, was wir hier können, ist essen, schlafen und sich zuhö ren, wie man atmet.« »Ich tu für euch, was ich kann.« »Zeitungen«, sagte Nathan. »Nein, keine Zeitungen. Ich will hier keine Zeitungen sehen.« »Hast du wenigstens wieder ein paar Schlagzeilen im Kopf?« »Ja, wenn du sie hören willst. Der Verschmutzungs grad der Luft in New York City hat wieder mal einen neuen Rekord erreicht, und die tägliche Sterberate durch Abgasvergiftungen hat sich entsprechend auf über fünf zig erhöht. Dagegen ist die Luft an den Stränden von Long Island besser. Dort unternimmt die Kommission für Landschaftschutz größte Anstrengungen, um der Ölpest Herr zu werden und den angeschwemmten Teer an der Küste zu beseitigen. Einige Stellen von ein paar hundert Quadratmeter sind schon für Badegäste freigegeben wor den. Letztes Wochenende wurden dort dreizehn Erwach sene und dreiundzwanzig kleine Kinder zu Tode getram pelt, als man die Eingänge stürmte. Dagegen sind die Sterbeziffern im Straßenverkehr ermutigender. Die Stei gerung der Unfallquote mit tödlichem Ausgang war nicht größer, als man erwartet hatte.« »Hör auf«, sagte Judith. »Ich will von solchen Dingen nichts hören. Bring uns Bücher, Schallplatten oder Spiele, mit denen wir uns beschäftigen können.« 118
»Ich bring euch ein Spiel Karten mit, wenn ihr wollt.« »Wann machst du endlich das Verbindungsgitter auf?« fragte Nathan. »Du brauchst uns doch nicht getrennt hal ten.« Jakob gab ihm keine Antwort, er wandte sich um und verließ die Station. Als er am späten Nachmittag Lebens mittel einkaufen ging, kaufte er auch ein Spiel Karten. Damit konnten sie auch durch das Gitter spielen, und nach dem Abendessen pflegte er sich am Spiel zu beteili gen. Eine Zeitlang waren sie wieder abgelenkt. Er be schloß, ihnen ein anderes Spiel zu kaufen, wenn ihnen das Kartenspielen langweilig wurde. Doch Judith hatte bald von jener Art Spiel genug. Sie bat ihn, ihr eine der Katzen in den Käfig zu bringen, weil sie etwas zum Streicheln haben wollte. Jakob lehnte ab. Das Gitter ihres Käfigs war nicht eng genug, und wenn sie herumstreunte, konnte sie die ganze Tierstation in Aufruhr bringen, die Hunde rebellisch machen und die Hamster und Mäuse in Angst und Schrecken versetzen. Doch er gestattete ihr einen Hund, einen netten weiß braunen Terrierbastard, und eine Zeitlang verwöhnte sie ihn und spielte mit ihm. Dann bat sie um einen anderen Hund, und er brachte ihr einen anderen. Nach ein paar Tagen hatte sie sämtliche Hunde durch und ihnen allen Namen gegeben, auf die sie auch hörten. Doch bald hatte sich ihr Interesse auch darin erschöpft. Die Langeweile stellte sich bereits ein, als sie den letzten Hund im Käfig hatte. Jakob beobachtete sie, wie sie, um sich die Zeit zu vertreiben, das Tier neckte und ihm weh tat, so daß es winselte und vor ihr floh. Auf ihrem Gesicht war ein ver zerrtes Lächeln. Sie hatte ihren Spaß nicht daran, daß der Hund Schmerzen bei ihren Quälereien empfand, sondern daran, daß sie die Macht hatte, ihn grausam zu behan 119
deln. Jakob öffnete den Käfig, um den Hund zu erlösen, und beinah erleichtert gab sie ihn heraus. Trotzdem protestierte sie empört, als Jakob einen der Hunde zum Sezieren holen wollte. »Das darfst du nicht tun!« schrie sie ihn an. »Es sind meine Freunde. Unter steh dich, einen von ihnen zu töten.« »Tut mir leid, Judith, aber es ist notwendig.« »Hast du denn nicht schon genügend untersucht?« »Eine Maus und eine Katze bisher, und ich sollte einige Exemplare von jeder Gattung mikroskopieren. Dazu müßte ich aber einen Assistenten haben.« »Warum genügt das nicht, wenn du schon zwei unter sucht hast?« »Um mit Experimenten an euch zu beginnen, muß ich mindestens noch eine Spezies untersuchen. Wenn bei Anwendung meines Serums bei der einen Gattung keine Schwierigkeiten auftreten, so bedeutet das noch keines wegs, daß es für Menschen ungefährlich ist. Ich habe es an so vielen Spezies wie möglich auszuprobieren, bevor ich es mit gutem Gewissen bei euch verwenden kann. Ihr wollt doch nicht, daß ich bei euch ein größeres Risiko eingehe als nötig, oder?« »Nein, natürlich nicht. Also, dann nimm einen.« »Welchen soll ich nehmen?« »Du mußt ihn aussuchen. Ich kann es nicht.« Jakob griff sich beliebig einen der Hunde heraus, aber als sie ihn sah, schrie sie: »Nein! Das ist Susie. Die darfst du nicht nehmen.« Jakob setzte Susie wieder in ihren Käfig zurück und nahm einen anderen. »Nein!« schrie Judith. »Das ist Gregory, das ist mein liebster.« Jakob holte einen dritten heraus und trug ihn hinaus ins Labor, während Judith um das Leben Peterkins flehte, dem aller liebsten ihrer Hunde. Aber Jakob verschloß sein Herz, 120
steckte das Tier in den Todeskäfig und zog die Spritze mit Gift auf. Er spürte irgendwo in sich ein bißchen Ei fersucht auf dieses Tier, das es fertiggebracht hatte, so viel Gefühl in Judith zu wecken, und obwohl er sich deswegen verurteilte, gab er Peterkin mit weniger Gewis sensbissen als sonst und ohne das Gefühl, eine Ungerech tigkeit zu begehen, die tödliche Injektion. Als er in die Tierstation zurückkehrte, bemerkte er, daß Judith ihm gegenüber eine ausgesprochen feindselige Haltung einnahm. Nun, da es geschehen war, ließ sie sich durch kein vernünftiges Argument mehr überzeugen, daß Peterkins Tod eben notwendig war. Sie sagte, daß sie lieber das Risiko eingegangen wäre, selber bei dem Ex periment Schaden zu leiden, nur um das Leben des Hun des zu retten. Jakob kehrte ins Labor zurück und fing an, Peterkin zu sezieren. Judith zeigte ihm für den Rest des Tages die kalte Schulter. Am nächsten Tag sprach sie zwar nicht mehr von Pe terkin, aber sie verhielt sich unverändert feindselig, ver spottete Jakob und stellte ihm höhnische Fragen, sobald er nur in ihre Nähe kam. Sie ermutigte Nathan, es ihr gleichzutun, und zusammen fielen sie über Jakob her, verspotteten ihn und machten sich über ihn lustig und überwanden so einiges von ihrer Langeweile und Frustra tion. Sie verhöhnten Jakobs Ernsthaftigkeit und Gründ lichkeit, eben jene Charakterzüge, die Judith in Wirk lichkeit an ihm schätzte. So ging es am nächsten Tag weiter. Sie stichelten und brachten ihn schließlich so weit, daß er, nachdem er Kaf fee gekocht hatte, seine Tasse nahm und allein im Büro frühstückte. Als Simon kam, mußte er wohl oder übel wieder in die Tierstation zurückkehren. Nathan grinste ihn spöttisch 121
an, als er kam und ihn ans Gitter fesselte. Offenbar spürte Simon die gespannte und feindselige Atmosphäre, denn als er mit Nathans Käfig fertig war, weigerte er sich er neut, zu Judith hineinzugehen, weil sie ungefesselt war. Judith versuchte, ihn zu ermuntern. »Komm, Simon! Komm rein und tanz mit mir! Wir beide machen jetzt eine Party, du und ich. Zum Teufel mit Jakob. Wir tanzen zusammen. Komm rein!« Sie fing an zu singen und streckte Simon ihre Arme entgegen. Er trat in den Käfig, und Jakob schloß die Tür hinter ihm ab. Langsam stahl sich ein Lächeln in Simons Ge sicht, und dann begann er ebenfalls zu tanzen. Judith trat ganz nahe an ihn heran, hob die Hände über den Kopf, tanzte und schwang die Hüften im Takt ihrer Melodie, ein entzückter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Simons Gesicht strahlte vor Vergnügen, und er streckte seine Hände aus und berührte sie, zuerst ihr langes zersaustes Haar und dann, als sie ihm nicht wehrte, ihre Schultern und Arme und schließlich ihre Brüste. »Nun reicht’s aber!« rief Jakob. »Hört auf damit!« Er holte schnell die zwei Paar Handschellen, die er für Judith gekauft hatte, öffnete den Käfig und trat hinein. Er umschlang Judith mit den Armen und drängte sie an das Gitter des Käfigs. Sie schien seltsam entrückt, sang, schimpfte, winkte Simon zu, und in ihrem Lachen war eine Spur Hysterie. Jakob packte ihre Handgelenke, legte die Handschellen herum, ließ sie einrasten und fesselte sie mit dem anderen Metallring ans Gitter. Judith setzte sich kaum zur Wehr, aber sie sang weiter und tanzte, so weit es ihr noch möglich war. Ihre Hände nach hinten ans Gitter gefesselt, bewegte sie sich auf Simon zu, bis ihre Arme gestreckt waren und sie nicht weiter konnte. Na than in seinem Käfig, ebenfalls noch gefesselt, lachte 122
nervös und erregt. Jakob wandte sich an Simon: »Mach deine Arbeit, Simon.« Simons Gesicht war trotzig und empört. Er nahm sei nen Besen und schlug damit nach Jakob. Dieser fing den Schlag ab und hielt den Besen fest, als wolle er ihn Si mon wegnehmen. Simon setzte sich zur Wehr. Schließ lich ließ Jakob los, und der Junge nahm den Besen und begann zu kehren. Er war niedergeschlagen und hatte Tränen in den Augen. Jakob wartete, bis er fertig war, dann ließ er ihn aus dem Käfig und schloß die Tür wieder ab. Simon begann den Mittelgang zu putzen, und Jakob ging in sein Büro, wo er sich an seinen Schreibtisch setz te und durch das Fenster die Glasfassaden der gegenüber liegenden Häuser anstarrte. Schließlich war Simon mit seiner Arbeit fertig, und Jakob ließ ihn hinaus. Judith und Nathan blieben ans Gitter gefesselt.
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11 Jakob versuchte zu arbeiten, doch die Auseinanderset zung mit Judith und ihr Gelächter hatten ihn durcheinan dergebracht. Die Atmosphäre in der Station war so un normal, so fremdartig geworden, daß es ihm unmöglich war, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er kehrte in die Tierstation zurück und fand, daß Judiths und Nathans Widerstand zwar weitgehend gebrochen war, aber sie begegneten ihm nach wie vor mit kalter Feindseligkeit, doch das störte ihn wenig. Er befreite sie von ihren Handschellen und kehrte an sein Mikroskop zurück. Doch bald darauf lief er schon wieder unruhig im La bor auf und ab und dachte mit finsterer Miene über Judith und Nathan nach. Er ging wieder ins Büro zurück und starrte auf die Glasmonolithen vor dem Fenster. Dann blickte er auf die Straße hinunter und betrachtete die Menschen, die tief unter ihm hin und her liefen wie ge schäftige Ameisen. Nachdem er eine Zeitlang gegrübelt hatte, ging er zum Schrank, in dem er Judiths Sachen aufbewahrte. In ihrer Krokodilledertasche fand er einen Kamm, Lippenstift, Lidschattenfarbe und andere Kosmetika, dazu einen klei nen Spiegel. Er nahm die Sachen und brachte sie in die Tierstation. Judith und Nathan saßen mit hängenden Köpfen auf ihren Stühlen, schweigend und die Hände in den Schoß gelegt. Jakob schob die Toilettenartikel unter dem Gitter durch in Judiths Käfig. Judith sah ihm zu und sagte: »Ach, Jakob, was soll das? Glaubst du wirklich, daß das einen Zweck hat? Für was hältst du mich eigentlich?« Doch ihre Augen ruhten mit Interesse auf den Kosme 124
tika, und ihre Züge hellten sich auf. Jakob lächelte zu frieden, als er an sein Mikroskop zurückkehrte. Judith blieb noch einige Minuten sitzen, nachdem er gegangen war. Sie wollte Nathan keine Chance geben, sie wegen ihrer Eitelkeit zu verspotten, doch dann wurde die Anziehungskraft dieses kleinen Häufchens blitzender Gegenstände so stark, daß sie aufstand und näher trat. Zuerst griff sie nach dem Spiegel und blickte hinein. »Mein Gott!« rief sie, als sie das Gesicht mit den unge kämmten Haaren sah, das ihr entgegenstarrte. Sie nahm den Kamm und machte sich daran, die verfilzten Haare auszukämmen. Nathan fand das interessant und rückte seinen Stuhl näher. Judith mochte es, wenn er ihr dabei zusah. Das erinnerte sie an Nächte in ihrem Apartment, als sie vor ihrem Toilettentisch gesessen war und ihre Haare bürstete, während ihr ein Mann vom Bett aus zusah. Nach einer Weile hatte sie ihr Haar ausgekämmt. Sie warf den Kopf zurück und kämmte es nach hinten in den Nacken. Nun wirkte es wieder voll und glänzend. »Jetzt sieht es wieder schön aus«, sagte Nathan. »Darf ich es anfassen?« Sie stellte sich mit dem Rücken ans Zwischengitter, und Nathan ließ seine Hand über ihr Haar gleiten. Es kni sterte elektrisch, und er fuhr mit den Fingern tiefer in die Fülle ihrer Haare. Er spürte, daß es seidenweich war, und die Berührung war ihm angenehm und tat wohl. Judith beugte den Kopf noch weiter zurück, so daß ihr Haar frei in den Nacken fiel. Nathan griff mit beiden Händen hin ein und ließ es durch die Finger gleiten. »Ich habe das sehr gern«, sagte Judith, als sie den sanften Zug seiner Finger spürte. Nach einigen Minuten sagte sie: »Nun muß ich mir 125
mein Gesicht ansehen.« Sie ging vom Gitter weg und hob den Spiegel auf, blickte hinein und sah sich um, ob sie ihn irgendwo aufstellen konnte. »Ich werde ihn dir halten«, sagte Nathan. Er rückte seinen Stuhl ganz nah ans Gitter und hielt den Spiegel gegen die Stäbe auf ihrer Seite, und sie setzte sich auf ihren Stuhl gegenüber. Sie beugte sich vor, um besser zu sehen, drückte eine Creme aus einer Tube und verteilte sie über das Gesicht, wischte sie wieder ab, trug Creme aus einer anderen Tube auf, fügte Farbtupfer aus verschiedenen kleinen Tiegeln hinzu und massierte alles in die Haut ein. Dann begann sie Lidschatten aufzutra gen. Nathan sah ihr zu, war ganz hingerissen, als sie das Weiß mit Grün übermalte und dann die Augen mit Dun kelblau umrandete. Sie gab sich dabei mehr Mühe als sonst, weil sie ja ungeheuer viel Zeit hatte. Mit einer kleinen Bürste trug sie Lippenstift auf, zuerst ein blasses Rosa, dann eine glatte Glanzschicht darüber. Nathan be wegte sich, und sie verlor ihr Spiegelbild aus den Augen. »Was ist los?« fragte sie. »Ich bin schon ganz verkrampft. Ich kann nicht die ganze Zeit in derselben Stellung dasitzen.« »Dann machen wir eine Pause.« Sie standen beide auf, und Judith ging in ihrem Käfig auf und ab. Sie hätte gern einen größeren Spiegel gehabt, in dem sie sich hätte ganz sehen können. Ein paar Minu ten später bat sie Nathan, ihr wieder den Spiegel zu hal ten, und sie fuhr fort, ihr Make-up zu vervollständigen. Jakob kam herein, aber keiner von ihnen bewegte sich und schenkte ihm irgendwelche Beachtung. Jakob sah ihnen bei ihrer Tätigkeit, die sie ganz in Anspruch zu nehmen schien, eine Weile zu. Er freute sich, daß sie so beschäftigt waren, er war aber gleichermaßen ein bißchen 126
irritiert. Er ging ein wenig auf und ab, fühlte sich unbe haglich, dann ging er wieder hinaus, ohne etwas gesagt zu haben. Am Abend kehrte er mit einem riesigen rechteckigen Paket zurück, das mit dickem braunem Papier eingepackt war. »Das ist für dich«, sagte er zu Judith und schob es zwischen den Gitterstäben durch. »Ich danke dir, Jakob.« Sie lächelte ihn an, und ihre Augen hatten wieder jenes schlangengleiche Glitzern, das er kannte. Ihr Gesicht sah jetzt genauso aus wie da mals, als sie sich zum ersten Mal getroffen hatten, und es berührte ihn seltsam, darunter anstatt ihrer exotischen Kleider ihren nackten Körper zu sehen. Sie machte sich über das Paket her und wickelte das Packpapier ab. Es war genau das, was sie sich gewünscht hatte, denn was schließlich zum Vorschein kam, war ein großer Spiegel mit einem silbernen Rahmen. Jakob brachte einen Hammer und Nägel, die er eben falls gekauft hatte, und befestigte den Spiegel an der Na thans Käfig gegenüberliegenden Wand. »So ist es doch besser, oder nicht?« Der Spiegel war hoch genug, daß sich Judith, wenn sie sich nahe genug davorstellte, fast in ihrer ganzen Größe sehen konnte. Sie drehte und wendete sich nach allen Seiten, als sie ihn ausprobierte, dann musterte sie auf merksam ihr Gesicht. »Ja, so ist es viel besser«, sagte sie, und beide, sie und Jakob, waren zufrieden. Nur Nathan schien untröstlich. Am nächsten Tag fuhr Judith fort, sich im Spiegel zu bewundern, schminkte ihr Gesicht ab, legte ein neues Make-up auf, während Nathan mißmutig hinter ihrem Rücken in seinem Käfig herumsaß und ihr zusah. 127
Am Abend, als Judith zum vierten- oder fünftenmal neue Lidschatten malte, sagte Nathan: »Weißt du, sehr interessant ist das eigentlich nicht. Es ist immer wieder dasselbe, wie du es seit jeher gemacht hast. Wenn du schon hier bist und soviel Zeit hast, könntest du eigent lich mal was Neues ausprobieren.« »Wie meinst du das?« »Mach mal was Besonderes aus deinem Gesicht, et was Bizarres. Bin ja nur ich da, der es sehen kann – und Jakob natürlich. Du könntest also ungeniert experimen tieren.« »Ja, und wie stellst du dir das vor?« »Ich kann es dir ja zeigen, wenn du Lust hast. Komm ’rüber ans Gitter, dann werde ich es mal versuchen.« »Verstehst du was davon?« »Ich bin Maler. Wenn du erlaubst, benutze ich dein Gesicht als Leinwand.« Voller Zweifel, aber doch mit einer gewissen Neugier reichte Judith ihre Kosmetika Nathan hinüber und rückte ihren Stuhl ganz ans Gitter zwischen ihnen. Nathan setzte sich ihr gegenüber und versuchte ihr Gesicht zu errei chen, aber die Entfernung war zu groß, als daß er hätte bequem arbeiten können. »Ich muß näher ’ran«, sagte er. »Kannst du dich nie derknien?« Sie knieten sich jetzt beide auf den Boden, die Gesich ter einander zugewandt; nur das Gitter war zwischen ih nen. Nun war Judith nahe genug, und sie hob ihr Gesicht zu ihm auf. Nathan säuberte es zunächst sorgfältig von allen alten Farben, dann begann er ein extravagantes Mu ster in Weiß, Purpur, Grün und Rot zu entwerfen. Judith hielt ihre Augen geschlossen, sie wagte weder zu lächeln noch zu sprechen, damit ihre Haut glatt und gespannt 128
blieb. Nathan konzentrierte sich ganz auf seine Arbeit. Er stellte die Cremetiegel, Farbtöpfchen und Tuben neben sich auf den Stuhl, damit er alles schön in Reichweite hatte, und er dachte an nichts anderes als an das Gesicht vor ihm. »Ich mache eine Orchidee aus dir«, sagte er. »Eine jener seltenen und üppigen Orchideen, die nur in den Dschungeln am Amazonas wachsen.« Jakob kam herein, sah auf sie hinunter und runzelte mißbilligend die Stirn. »Ich mache jetzt das Abendessen«, sagte er. »Filet steak mit Champignons. Wie möchtet ihr es gern?« Er bekam keine Antwort. Sie waren viel zu sehr in ihre Arbeit vertieft. Ärgerlich wandte er sich ab und ging hin aus, um ihnen ihr Essen zuzubereiten. Als er fertig war, brachte er die Teller herein und schob sie durchs Gitter. »Kommt her und eßt, bevor es kalt wird.« »Stell es nur hin«, sagte Nathan, und in seiner Stimme war auf einmal ganz ungewohnte Autorität. Er wandte nicht einen Blick von Judiths Gesicht. »Wir werden es sen, wenn wir Zeit dazu haben.« »In meiner Handtasche ist eine Haarschleife, Jakob. Würdest du sie mir bitte holen?« sagte Judith, ohne die Augen zu öffnen und die Lippen mehr zu bewegen als unbedingt notwendig. Jakob ließ seinen Teller stehen und ging hinaus zum Schrank. Er öffnete ihn und betrachtete ihre Kleider. Er ergriff mit beiden Händen ihr Leinenkleid und preßte es an sein Gesicht, dann hob er den Saum, drehte das Futter nach außen und legte seine Wange an den kühlen Seiden stoff. Erst dann durchsuchte er die Handtasche, bis er die Haarschleife fand, ein Band aus blauem Samt. Er spannte 129
es über seinen Handrücken und führte es an die Lippen, dann trug er es in die Tierstation. Judith streckte nur ihre Hand aus, ohne die Augen zu öffnen, und er reichte es ihr. Sie band ihr Haar damit zusammen, damit es nicht störend ins Gesicht fiel, und wandte ihr Gesicht wieder Nathan zu. »Mußt du hier herumstehen und uns stören, Jakob?« fragte Nathan. Jakob sah schweigend noch einige Minuten zu, dann ging er hinaus und brachte aus dem Futtermittelraum ein Bündel Stroh. Nathan nahm es, schob einen Teil unter Judiths, den anderen unter seine Knie und arbeitete wei ter, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich nahm Jakob sei nen Teller und ging hinaus ins Büro, wo er sich hinsetzte und allein aß und auf die unermeßliche Zahl erleuchteter Fenster starrte. Nachdem er gegessen hatte, versuchte er zu lesen, aber er konnte sich nicht konzentrieren. So starrte er weiter zum Fenster hinaus und brütete vor sich hin. Nach eini ger Zeit ging er wieder in die Tierstation zurück und fand Nathan und Judith immer noch in derselben Stellung. Das Essen war unberührt. »Es ist jetzt Zeit zum Schlafen«, sagte er. »Ich werde gleich das Licht auslöschen.« »Noch nicht!« sagte Nathan. »Es ist noch zu früh.« »Doch, jetzt«, sagte Jakob. »Ihr habt lange genug Zeit gehabt.« Er löschte das Licht, und außer der schwachen Notbeleuchtung war nun Dunkelheit im Raum. Judith stieß einen lauten Schrei aus. »Licht an! Ich möchte es sehen. Ich möchte es sehen.« Jakob schaltete die Beleuchtung wieder ein. Judith stand auf und trat vor den Spiegel, ohne die Augen weiter als einen Spalt breit zu öffnen. Sie blickte in den Spiegel 130
und sah, daß sich ihr Gesicht in eine seltsame vielfarbige Blume verwandelt hatte. Sie öffnete ihre Augen weiter, und sie leuchteten strahlend aus dem Blütenkelch wie zwei lebendige Staubgefäße. »Wie schön das ist«, sagte sie und stieß einen zweiten Schrei aus, als Jakob das Licht endgültig ausschaltete.
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12 Am nächsten Tag wollte Nathan sein Werk fortsetzen, und Judith war begeistert damit einverstanden. Nathans einziger Kummer war, daß sie sich alle paar Minuten im Spiegel betrachten wollte, um zu sehen, was er hinzuge fügt hatte. Immer wieder starrte sie lange in die Wirbel aus Rot und Purpur, Grün und Weiß, die ihr Gesicht be deckten, bis Nathan ungeduldig wurde und sie aufforder te, sich wieder hinzuknien. Am Ende des Vormittags standen sie vor einem gro ßen Problem: Sie hatten alle Kosmetika aufgebraucht. Sie warteten ungeduldig, bis Jakob das Mittagessen brachte, und baten ihn, neue zu besorgen. Zunächst lehnte Jakob ab, aber sie bettelten so lange, bis er schließlich einwil ligte. Sie erklärten ihm, wie wichtig es für sie wäre, be schäftigt zu sein, und das konnte er nicht abstreiten. Judith bat um Papier und Bleistift und schrieb eine lan ge Liste kosmetischer Artikel auf, vor allem Farben, die sie vorher nie benutzt hatte, und alles in Mengen, die weit über das normale Maß hinausgingen. Sie gab Jakob die Adresse eines Geschäftes an, wo er die Sachen einkaufen sollte, und sagte ihm, er solle es in ihrem Namen und auf ihre Rechnung kaufen. Sie bat ihn auch, in ihr Apartment zu gehen – er könne sich den Schlüssel aus ihrer Handta sche holen – und ihr von dort einige Cremes und Lotions mitzubringen. Jakob sah sich gezwungen einzuwilligen. Nach dem Essen kehrte Jakob zunächst für eine Weile an sein Mikroskop zurück. Er wollte erst ein Stück Arbeit hinter sich bringen, um dann mit klarem Kopf diese Ex pedition durchzuführen. Als er fertig war, tauschte er seinen weißen Mantel mit der Jacke, fuhr mit dem Auf zug hinunter und trat auf die Straße. 132
Obwohl es mitten im Hochsommer war, ging eine Bri se, und der Nachmittag war weder heiß noch schwül. Die Straßen leuchteten im hellen Sonnenlicht in klaren Far ben, gelb, orange und kastanienbraun, aber als Jakob in Richtung Park Avenue ging, schlossen sich die gläsernen Wolkenkratzer um ihn wie schattige Schluchten, in denen die Farben zu metallischen Blau- und Grautönen verblaß ten. Ein Windstoß wehte von einem Springbrunnen Was serfahnen über die Straße, und die Tropfen schlugen ihm kalt ins Gesicht. Vor den Restaurants warteten schwarze Limousinen, und elegante Damen traten aus den vorneh men Speiselokalen, leuchtend helle Gestalten auf dem schattigen Grund der Schlucht, und sie zwitscherten und lachten wie seltene Paradiesvögel. Jakob musterte sie im Vorbeigehen, doch sie schenkten niemandem und nichts ihre Aufmerksamkeit als sich selbst. Einige der Damen gingen in derselben Richtung wie Jakob zur Fifth Avenue. Sie waren sicher auf dem Weg zu ihrem nachmittäglichen Einkaufsbummel, dachte er; ein Besuch beim Juwelier und in einem der Modesalons war ihre Art, sich angenehm die Zeit zu vertreiben. Vor Jakob ging eine dieser Damen, und sie sah so blendend aus und war so extravagant gekleidet, daß er nicht umhin konnte, sie sich näher anzusehen. An der nächsten Kreuzung holte er sie ein, weil sie warten mußte, bis die Ampel auf Grün schaltete. Sie wandte den Kopf und bemerkte, daß er sie anstarrte. Er blickte schnell in eine andere Richtung. »Hallo, Jakob!« hörte er sie sagen. »Erinnerst du dich nicht mehr an mich?« Erstaunt drehte er sich wieder nach ihr um. Er konnte sich wirklich nicht erinnern, woher sie sich kennen sollten. »Also Jakob, das ist nicht gerade schmeichelhaft für 133
mich. Ich bin’s, Lorette. Erinnerst du dich nicht mehr an den Abend bei Judith?« »Ja, natürlich!« sagte er. »Wie unaufmerksam von mir. Es tut mir leid, aber ich konnte mich nicht erinnern, jemanden zu kennen, der so blendend aussieht wie du.« »Oh, das klingt schon besser – wenn es ein Kompli ment sein soll.« »Ja, doch. Du siehst wunderbar aus.« »Mein Schatz, ich danke dir. Es ist nett, dich mal wie derzusehen. Wie geht es dir eigentlich? Bist du noch im mer vollauf mit deinen Tieren beschäftigt?« »Ich stecke bis zum Hals in Arbeit.« »Hast du wieder neue Experimente gemacht, von de nen du mir erzählen könntest?« »Ja, ich bin zur Zeit mit etwas Außergewöhnlichem beschäftigt, aber es ist noch zu früh, etwas darüber zu sagen.« »Aber Jakob, tu doch nicht so geheimnisvoll. Weißt du, ich habe schon so vielen Bekannten von deinen Ver suchen erzählt, und sie sind alle fasziniert davon und möchten gern mehr wissen. Wir müssen uns unbedingt einmal treffen, und dann werde ich dich ausquetschen. Hast du übrigens etwas von Judith gehört?« »Ja, es geht ihr gut.« »Oh, das ist aber ungewöhnlich. Sie schreibt nämlich sonst nie. Sie läßt kein Wort von sich hören, wenn sie verreist ist nach Kaschmir oder sonst wohin.« »Judith und ich stehen uns sehr nahe.« »Scheint mir auch so. Paul sagte schon, ihr beide wer det sicher heiraten.« »Wir haben uns darüber unterhalten, aber wir haben noch keine Entscheidung getroffen.« »Ich denke, ihr solltet heiraten. Ihr ergänzt euch sehr 134
gut. Außerdem wäre es für euch beide höchste Zeit, Kin der zu haben.« »Meine Tiere sind meine Kinder.« »Wie kannst du so etwas sagen, Jakob? Ich muß Judith wirklich vor dir warnen, wenn ich sie das nächste Mal sehe.« »Ich glaube, sie kennt mich längst von meiner schlech testen Seite.« »Hast du tatsächlich so schlimme Angewohnheiten?« »Einige Leute sind der Meinung.« »Du machst mich immer neugieriger. Wir sollten uns mal irgendwo treffen, bevor Judith zurückkommt.« »Ich würde gern, aber ich gehe nicht viel aus.« »Du gibst mir einen Korb, Jakob?« »Nein, das will ich wirklich nicht.« Die Ampel schaltete auf Grün, und sie überquerten zu sammen die Straße. Jakob fand, daß er sich an der Seite eines Mädchens noch nie so aufsehenerregend vorge kommen war, es sei denn als Teenager. Ihr blendendes Aussehen, ihre blonden Haare und ihr schickes lindgrü nes Kostüm zogen die Blicke aller Passanten auf sich. Sie bogen in die Fifth Avenue ein. »Wo gehst du hin?« fragte Lorette. Jakob wollte schon auf die kupferbeschlagene Ein gangstür des Schönheitssalons zeigen, doch er hielt sich noch rechtzeitig zurück. Es wäre ihr doch eigenartig vor gekommen, und vielleicht ging sie selbst dorthin, was für ihn noch peinlicher gewesen wäre. »Ich muß mir ein paar Bücher besorgen«, sagte er deshalb und wies auf eine Buchhandlung auf der anderen Straßenseite. »Was für ein ernsthaftes Leben du führst. Nichts als Bücher und Tiere. Du solltest dich zur Abwechslung mal mit Menschen beschäftigen.« 135
»Du hast recht«, sagte Jakob ernst. »Das sollte ich.« »Ich gehe jetzt Badeanzüge anprobieren. Sachen gibt es da! Wenn du die sehen würdest, du würdest bestimmt sagen, sie seien schamlos. – Also Jakob, gib dir einen Ruck, komm aus deinem Schneckenhaus und ruf mich gelegentlich an.« »Vielleicht.« »Aber, Jakob, du scheinst nicht gerade zu den größten Charmeuren der Welt zu gehören, nicht wahr? Macht nichts, ich mag dich trotzdem. Also dann, mach’s gut. Ich hoffe, wir sehen uns so bald wie möglich.« »Mach’s gut, Lorette. Ich hoffe auch.« Sie lächelte ihn an, und ihr Lächeln schien ihn zu ver golden und aus der Menge herauszuheben, aber als er dann an der nächsten Ecke stehenblieb und ihr nachsah, um sicher zu gehen, daß sie nicht doch in den Schön heitssalon ging, da verstrahlte der Glanz rasch, der um ihn gewesen war, als würde er von ihrem goldenen Haar wieder aufgesogen, während sie sich entfernte, und bald fühlte er sich wieder ebenso grau und unscheinbar wie die Menschen, die ihn umgaben. Er ging auf die kupferbeschlagene Tür zu, zögerte ei nen Moment lang und trat ein. Das Innere war eine Welt in Rosa und Gold, weich, warm und duftend. In seiner Jacke, die nach Pfeifentabak roch, kam er sich plötzlich eklig und schäbig vor. Er sagte sich, daß dieser Effekt beabsichtigt war, um Männern wie ihm das unangenehme Gefühl zu geben, daß sie in eine Welt der Frauen einge drungen waren. Sie sollten sich deplaciert fühlen, und das war bei ihm der Fall. Frauen kamen hierher, um ihre ver borgenen Riten sinnlicher Anziehungskraft zu verrichten, geheimnisvoll und narzißtisch. Der Mann war der Ein dringling, der Vertreter jener groben äußeren Welt, die 136
man hier bewußt ausklammerte durch eine duftende At mosphäre luxuriöser Intimität. Jakob suchte die Abteilung für Kosmetika. Hinter dem Ladentisch stand ein dunkelhaariges Mädchen in einem korallenfarbenen Arbeitsmantel. Zunächst behandelte sie ihn herablassend, konnte dann aber doch nicht ihre Über raschung verhehlen, als er seine Liste präsentierte. Sie brauchte zwanzig Minuten, bis sie alles zusammenge sucht hatte, was er wollte. Sie holte ihren Rechnungs block, um alles aufzuschreiben. Jakob gab ihr Judiths Namen und Adresse. Mit einemmal legte sie eine beinah unterwürfige Diensteifrigkeit an den Tag, und Jakob schämte sich der geheimen Befriedigung, die er empfand. Nicht zum erstenmal stellte er sich vor, wie es wohl sein mochte, mit Judith verheiratet zu sein. Er verließ den Laden mit einem Paket, eingewickelt in rosarotes Papier und verschnürt mit einem rosaroten Bändchen. Eigentlich hatte er erwartet, daß er sich mit seiner Last selbstbewußter bewegen würde, aber als er die Fifth Avenue entlangging, hatte er das ungute Gefühl, als Kavalier aufzufallen. Trotzdem bummelte er mit einer gewissen dreisten Heiterkeit durch die Straßen, ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen zielstrebigen Art, in der er sich fortbewegte. Er wollte kein Taxi nehmen, und so bummelte er weiter die Fifth Avenue hinauf, vorbei an den vornehmen Geschäften und Luxushotels, bis das Sonnenlicht durch die Blätter der Bäume des Central Park fiel und den Gehsteig unter seinen Füßen mit Goldmünzen bestreute. Da, mit einemmal, fiel ihm ein, daß das Paket in seiner Hand ihn nur auf sehr dürftige Weise mit Judith verband und daß sein Verwendungs zweck überhaupt nichts mit ihm zu tun hatte. Seine Lau ne verschlechterte sich, seine Schritte wurden zielstre 137
biger, und er zertrat die Goldmünzen unter seinen Schuh sohlen. Als er die Straße erreichte, in der Judith wohnte, bog er ab und suchte, bis er vor der Eingangstür stand. Der Portier und der Aufzugführer wiegten zweifelnd ihre weißen Häupter, als er darum bat, in Judiths Apartment gelassen zu werden. Als er aber versicherte, daß er ihre Einwilligung habe, das Paket und ihre Wohnungsschlüs sel vorwies sowie einige Dollarnoten verteilte, waren sie überzeugt, daß er ein ehrenwerter Mann und ein Gentle man war, und man brachte ihn hinauf. Unter den wach samen Augen des Aufzugführers, der darauf brannte, sich ihm auch weiterhin nützlich zu machen, schloß er die Tür auf und trat ein. Das Apartment war dunkel und still, die Vorhänge wa ren zugezogen. Jakob schloß die Eingangstür und ging ins Wohnzimmer. Es fiel genug Licht herein, um den Weg zu finden. Lichtflecken schimmerten auf Spiegeln und polierten Holzflächen wie Geister, die als einzige den düsteren Ort bewohnten. Jakob schritt über die dicken Teppiche ins Schlafzim mer. Wie Judith es ihm beschrieben hatte, fand er unten in einem der Schränke einen kleinen Koffer, den er mit den Tiegelchen und Fläschchen füllte, die auf dem Toi lettentisch standen und die er im Badezimmer fand. Er sammelte alles hastig ein, als habe er kein Recht, sich hier aufzuhalten, und müßte jeden Augenblick befürch ten, entdeckt zu werden. Er schloß den Koffer und war gerade dabei, das Apartment wieder zu verlassen, als er innehielt und sich verwundert fragte, warum er sich so schuldbewußt fühlte und davonlaufen wollte wie ein Dieb. Er stellte den Koffer ab, zog einen der Wohnzimmer 138
vorhänge auf und öffnete die Tür zur Terrasse. Licht flu tete herein, und er konnte gedämpft den Lärm der Stadt hören. Staub lag auf den Kacheln und in dem trockenen Marmorbassin. Die Pflanzen waren braun und verwelkt, als ob sich das Dienstmädchen nicht darum gekümmert hätte. Seine Schuhsohlen knirschten auf dem Staub, denn so hoch die Dachterrasse auch über der Stadt lag, der Luftverschmutzung konnte man auch hier nicht entgehen. Jakob trat in die Wohnung zurück, schloß die Tür und zog den Vorhang wieder zu. Er schaltete eine kleine Lampe ein, setzte sich bequem in einen Sessel und legte die Hände in den Schoß. Einige Minuten lang betrachtete er die Tapeten, die ihn einzuhüllen schienen. Er stand wieder auf und ging, wie Paul es getan hatte, zu dem Ein legeschränkchen in der Ecke, in dem er Flaschen voll Whisky, Cognac und Likören entdeckte. Er zögerte wäh lerisch und beschloß, diesmal nicht so etwas Gewöhnli ches wie Whisky zu trinken. Er goß sich einen grünen Chartreuse ein. Dann zog er seine Jacke aus, seine Krawatte und seine Schuhe, legte sich auf eins der großen Sofas, nippte an seinem Chartreuse und strich mit der Hand über den alt rosa Samt der Kissen. Er fragte sich, wo wohl dieser Burnus sein mochte, den ihm Judith seinerzeit zum Anziehen gegeben hatte. Er stand auf und ging wieder ins Schlafzimmer und öff nete einen der Schränke. Er war mit Kleidern vollge stopft, und eine Duftwolke schlug ihm entgegen. Er durchstöberte ihn, konnte aber den Burnus nicht finden. Er konnte keines der Kleider finden, die er kannte, und zog ein paar von ihnen heraus und versuchte sich vorzu stellen, wie Judith darin aussah. Er öffnete einen zweiten Schrank und tauchte hinein, 139
schwamm darin herum, so schien es ihm, wie in einem Meer weicher Stoffe. Er fand den Burnus, den er suchte, und auch den aus pfauenblauer Seide, den Judith ange habt hatte. Er zog ihn heraus und versuchte sich zu erin nern, wie sie darin an jenem Abend ausgesehen hatte, und obwohl dieses Kleidungsstück so nichtig und so leer aussah, erinnerte es ihn nur zu schmerzhaft an sie und an jenen Abend, doch es konnte ihm nichts geben. Er drück te den Burnus an die Brust, und es überkam ihn das Be dürfnis, ihn anzuziehen. Er versuchte, ihn überzustreifen, aber er war ihm zu eng, weil er seine Kleider anhatte. Deshalb zog er sich nackt aus und schlüpfte hinein. Er lag eng an seinem Körper, und Jakob fühlte sich wie mit Seidenbändern gefesselt. Er betrachtete sich im Spiegel. Zunächst fand er, daß der Burnus nicht zu ihm paßte, der Kontrast zwischen seinem breiten, massigen Kopf und dem kunstvoll gemusterten Kleidungsstück war zu groß, aber dann kam ihm der Gedanke, daß ein Wüstenscheich sehr wohl so gekleidet sein könnte. Er legte sich aufs Bett und musterte sich im Spiegel. Seine Nerven sirrten und vibrierten, als ob sein Körper ein Bienenstock wäre. Er spürte, wie der Burnus ihn einhüllte und seinen Leib umspannte. Ihr Parfüm umgab ihn, und das Rascheln der Seide betäubte ihn weich. Er fühlte sich von Judith um schlungen, als läge er in ihren Armen. Später, widerstrebend, erhob er sich, zog den Burnus aus und seine eigenen Kleider wieder an. Er wollte den Burnus gerade wieder an seinen Platz im Schrank hän gen, als er es sich anders überlegte, ihn zusammenfaltete und in den Koffer zu den Toilettensachen legte. Er nahm den Koffer und das rosarote Paket, ging hinaus und ver schloß die Eingangstür hinter sich. Das Apartment kam ihm nun vor wie seine ganz persönliche Schatzkammer, 140
die er behüten mußte. Bevor er das Haus verließ, verteilte er noch einmal reichlich Trinkgelder, um im voraus alle Schwierigkeiten auszuräumen, wenn er das nächste Mal kam.
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13 Seltsam: Als er sich seinem eigenen Herrschaftsbereich näherte, spürte Jakob, wie sein Machtgefühl und sein Besitzerstolz immer mehr dahinschwanden. Er fühlte beinahe Furcht, als er aus dem Taxi stieg und das Institut betrat. Im Büro öffnete er den Koffer und nahm den Burnus heraus. Er legte ihn auf den Tisch, wobei der Glanz der pfaublauen Seide und der goldenen Stickereien recht ei genartig mit seinen Büchern und Papieren kontrastierte. Er betrachtete ihn einige Minuten lang, bevor er ihn auf hob und in den Schrank einschloß. Er starrte aus dem Fenster, zog seinen Labormantel an, ging auf und ab, und schließlich, als er merkte, daß er die Dinge nur hinaus schieben wollte, nahm er den Koffer und das Paket und ging durchs Labor in die Tierstation. Judith und Nathan sprangen auf und eilten ans Gitter, um ihn zu begrüßen, aber ihr Interesse galt nicht ihm, sie hatten nur Augen dafür, was er ihnen mitgebracht hatte. Jakob setzte sich auf seinen Hocker, öffnete den Koffer und das Paket und reichte die Sachen langsam Stück für Stück in den Käfig. Er genoß so lange wie möglich das Gefühl, ihr Wohltäter zu sein. Sie reichten sich gegensei tig die Fläschchen und Tuben zu und besprachen erregt die Möglichkeiten, die sich ihnen jetzt eröffneten. Was Jakob für sie getan hatte, nahmen sie offenbar als selbst verständlich hin, und sie kamen nicht einmal auf die Idee, sich bei ihm zu bedanken. Zerstreut sah er ihnen zu, als sie mit ihrem neuen Ma terial zu arbeiten begannen. Als es Zeit zum Abendessen wurde, bereitete er ihnen ihre Mahlzeit nicht mit der ge wohnten Sorgfalt zu, aber sie schienen es nicht zu be 142
merken. Nur als er wieder zeitig das Licht ausschaltete, gelang es ihm, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Am nächsten Tag waren sie wieder ganz in ihre Tätig keit versunken. Jakob sagte sich, daß es besser sei, nicht auf seine eigenen Gefühle zu achten, sondern froh zu sein, daß sie beschäftigt waren. Er versuchte, sich vorzu stellen, wie er sich wohl fühlen mochte, wenn er den ganzen Tag nichts zu tun hätte, kein Mikroskop benutzen dürfte; er konnte sich eher vorstellen, blind und taub zu sein als ohne Arbeit. Nein, sie waren alle drei glücklich, und das war gut so. Er mußte nur lernen, seine Eifersucht zu zügeln, und dann würden auch die Tage wieder in all gemeiner Harmonie verlaufen. Der nächste Tag verlief harmonisch. Am Tag darauf jedoch sah Jakob, als er die Tierstation betrat, Judith und Nathan auf ihren Stühlen sitzend. Sie erwarteten ihn. Schon ihrer Haltung war anzumerken, daß sie neue Forderungen an ihn stellen wollten, die er ihnen nicht gern erfüllen würde, und augenblicklich ver steifte er sich in eine Abwehrhaltung. »Wir können so nicht weitermachen«, sagte Nathan. »Es ist unmöglich«, sagte Judith. »Was ist denn los?« fragte Jakob. »Ich kann nicht durch ein Gitter malen«, klagte Na than. »Das bringt mich um, und ich kann auch nicht so arbeiten, wie ich gern möchte.« »Er muß mich ganz bemalen, den ganzen Körper«, sagte Judith. »Das Gesicht allein … So sehe ich lächer lich aus.« »Es sieht grotesk aus«, sagte Nathan. »Das Gesicht wirkt hervorragend, aber die Diskrepanz zum Körper, diese nackte Haut! Es wirkt unvollständig.« »Die Tiere dürfen auch zusammen im Käfig sein«, 143
sagte Judith. »Wieso schlägst du uns ab, was du ihnen erlaubst?« Jakob sah sie an, aber in ihrem Gesicht, bedeckt von farbigen Wirbeln, konnte er kein Mienenspiel ausma chen, doch in ihren Augen meinte er ein hämisches Fun keln zu entdecken. Er war wütend, fühlte sich hintergan gen und enttäuscht. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging ins Labor hinaus. Den ganzen Vormittag verbrachte er über das Mikro skop gebeugt, wo vor seinem Auge die Welt zu einem kleinen Lichtkreis schrumpfte und alles, was außerhalb lag, in Dunkelheit versank. Doch auch in diesem Licht kreis entdeckte er immer wieder gefleckte Gewebestück chen, Fleisch, rot und violett eingefärbt, natürlich Kon trastfarben, aber seine gereizte Phantasie glaubte immer wieder Judiths Gesicht zu entdecken. Die Zellstruktur begann vor seinen Augen zu verschwimmen und nahm ihre Züge an, spöttisch, fordernd und furchteinflößend. Als er um die Mittagszeit in die Tierstation zurück kehrte, hatten Judith und Nathan ihre Stellung nicht ver ändert, sie saßen untätig auf ihren Stühlen. Er sprach sie ein paarmal an, aber ihre einzige Antwort auf alles war: »Mach das Verbindungsgitter auf, Jakob.« Er reichte ih nen die belegten Brote, doch sie rührten sich nicht, und Judith sagte: »Wir werden nichts essen, solange das Git ter geschlossen ist.« »Wenn du deine Arbeit mit uns zu einem sinnvollen Abschluß bringen willst, Jakob, dann mußt du das Gitter öffnen«, sagte Nathan. Jakob ließ die belegten Brote stehen und ging wieder hinaus. Als er am Abend zurückkehrte, um die Tiere zu inspizieren, war das Essen unberührt. Er sagte nichts, aber als er mit seiner Arbeit fertig war, ging er in die Kü 144
che und bereitete ein besonders pikantes Abendessen zu. Er schob die gefüllten Teller unter dem Gitter durch, aber sie reagierten nicht darauf, sondern warfen ihm nur fin stere Blicke zu. Als er zurückkam, um das Licht zu lö schen, sah er, daß das Essen wieder unberührt geblieben war, und er bekam keine Antwort, als er ihnen eine gute Nacht wünschte. Er ging in das leere Büro und legte sich auf die Couch, um zu schlafen, doch seine Gedanken kamen nicht zur Ruhe, sie kreisten um Judith, während er schlaflos auf dem Rücken lag. Schließlich stand er wie der auf und holte ihren Burnus aus dem Schrank. Er legte ihn auf das Kissen und bettete seinen Kopf darauf, aber der weiche Stoff und der Duft ihres Parfüms brachten ihm keine Erleichterung, im Gegenteil, sie verschlimmer ten nur seine Qual. Am nächsten Tag wurde kein Wort gewechselt. Judith und Nathan lehnten jede Nahrungsaufnahme ab. Ihre Haltung ihm gegenüber war feindselig, und Jakob spürte, daß in ihrem Trotz keine Launenhaftigkeit war, sondern etwas anderes. Er fühlte in ihrer Haltung eine Verstört heit, die zugleich körperlicher wie geistiger Natur schien und ihn ernstlich beunruhigte. Am Tag darauf saß Jakob an seinem Mikroskop, aber er war unfähig, weiterzuarbeiten. Ständig dachte er an die beiden in ihren Käfigen, die durch ihn litten, und er litt mit ihnen. Wenn sie überleben und zufrieden sein sollten, und das war die Voraussetzung, wenn sein Experiment mit irgendeiner Hoffnung auf Erfolg weitergeführt wer den sollte, so hatte er keine andere Wahl – er mußte ih nen erlauben, daß sie zueinander konnten. Er erschrak über das Klopfen an der Tür, als das Mit tagessen angeliefert wurde. Einige Minuten später ging er hinaus, holte es herein und trug es in die Tierstation. Nun 145
war ihm, als sei er der Verstörteste von allen. Er stellte die belegten Brote in die Reihe der Teller mit unberühr ten Mahlzeiten und betrachtete Judith und Nathan, die reglos auf ihren Stühlen saßen und ihn anstarrten, schweigend, lauernd, verbittert. Jakob seufzte, und dann holte er den Schlüsselbund aus der Tasche. Er suchte einen Schlüssel heraus und sperrte das Vorhängeschloß auf, mit dem der Hebel des Zwischengitters festgehalten wurde. Obwohl sie sich nicht bewegten, spürte er, wie sich ihre Körper in ihrer Stellung verkrampften und ihre Augen zwischen dem Gitter und ihm hin und her wanderten. Er legte sein Ge wicht auf den Hebel, drückte ihn herunter, Metall kreischte, und das Gitter fuhr nach oben. Judith und Na than saßen starr aufrecht und sahen ihn an, als ob in sei nen Bewegungen oder in seiner Erscheinung etwas Un wirkliches wäre. Jakob erwartete, daß sie etwas zu ihm sagen würden, aber sie verharrten schweigend, und ihm fiel auch nichts ein, was er hätte sagen sollen. Er blieb noch einen Augenblick lang stehen, dann ging er ins La bor hinaus und ließ die Tür hinter sich offen. Eine Zeitlang bewegte sich weder Judith noch Nathan, dann, fast im selben Moment, sprangen sie auf, streckten sich und gingen in ihren Käfigen auf und ab, als wären sie bisher in einem viel zu engen Raum eingesperrt ge wesen und könnten sich jetzt wieder frei bewegen. Dann setzten sie sich wieder auf ihre Stühle und schlangen heißhungrig die belegten Brote und einen Teil der kalten Mahlzeiten hinunter. Sie blieben noch eine Weile sitzen, nachdem sie fertig waren; dann stand Nathan auf, nahm seine Malutensilien und kroch damit in Judiths Käfig. Als Jakob hereinkam, lag Judith auf dem Bauch auf einem Lager aus Stroh, und Nathan war dabei, ihr 146
schwungvolle Muster auf den Rücken zu malen. Sie lä chelte, und Nathan summte eine Melodie vor sich hin, während er arbeitete. Die Atmosphäre im Raum hatte sich mit einem Schlag verändert, und sogar die Tiere, so schien es Jakob, wirkten plötzlich viel lebhafter. Nur er, er allein fühlte sich ausgeschlossen und verwirrt. Nathan aß sein Abendbrot in Judiths Käfig und machte sich danach gleich wieder an die Arbeit. Als es Zeit wur de, das Licht auszuschalten, stand Jakob da und starrte sie kläglich an, aber er konnte nichts tun. Er hatte die Entscheidung getroffen, daran war nichts mehr zu än dern. Er konnte Nathan nicht zwingen, in seinen eigenen Käfig zurückzukehren. Er schaltete das Licht aus. »Gute Nacht«, sagte er, und seine Stimme war voll Bitterkeit. »Gute Nacht«, sagte Nathan flüchtig, als ob er ihn so schnell wie möglich loswerden wollte. »Gute Nacht, Jakob«, sagte Judith. Ihre Stimme klang spöttisch, aber doch konnte man eine Spur von Sympa thie heraushören – und eine gewisse Traurigkeit. Jakob ging hinaus, und diesmal schloß er die Tür hin ter sich, als ob er damit auch das Bild aus seinem Be wußtsein ausschließen könnte, wie Nathan und Judith im Schein der Nachtbeleuchtung eng beieinander saßen.
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14 Jakob wußte, daß es zwecklos war, wenn er zu schlafen versuchte, also setzte er sich ans Mikroskop und hoffte, daß die Arbeit ihn ganz ausfüllen und seine Gedanken ablenken würde. Doch der Eingang zur Tierstation war zu nah, und es war nur allzu einfach, sich vorzustellen, was da, nur einige Meter von ihm entfernt, jetzt vor sich ging. Die Tierstation schien auf ihn zuzuwachsen, ihn von allen Seiten einzuschließen, bis er spürte, daß er im Labor keinen Platz mehr zum Atmen hatte. Er zog sich ins Büro zurück und schloß die Tür hinter sich, als ob sie dem Wachsen der Tierstation Einhalt gebieten könnte. Er setzte sich an den Schreibtisch und versuchte zu arbeiten, aber die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen, und er brachte keinen sinnvollen Satz zusammen. Er wandte sich dem Stapel medizinischer Zeitschriften zu, die auf Durchsicht warteten, aber er konnte sich auch darauf nicht konzentrieren. Nach einer Weile gab er es auf und trat ans Fenster. Er starrte auf die langen senk rechten Ketten erleuchteter Fenster, und es war ihm, als sehe er in jedem ein Gesicht wie sein eigenes, das zu rückstarrte. Plötzlich schien die Tür zwischen Büro und Laborato rium nachzugeben, und die schwüle Atmosphäre der Tierstation begann auch hier einzusickern. Er flüchtete in das leerstehende Büro und sah sich gehetzt um, aber er sah keine Möglichkeit zu entkommen. Er eilte ins Büro zurück, zog seinen weißen Mantel aus und seine Jacke an und hatte dabei ständig das Gefühl, daß er, wenn er sich nicht beeilte, eingeschlossen und erstickt würde. Er hetz te durch den Vorraum, flüchtete durch die Eingangstür, schloß sie hinter sich ab und rannte den Korridor entlang 148
zu den Aufzügen. Er wartete ungeduldig, als käme hinter ihm etwas den Korridor entlang, das ihn verfolgte und ihn einholen würde, wenn der Fahrstuhl nicht bald kam. Endlich war der Aufzug da, er stürzte hinein und sah mit Erleichterung, wie sich die Tür seufzend schloß. Unten angekommen, rannte er in die feuchtwarme, schwüle Nacht hinaus. Nach der kühlen Trockenheit der klimatisierten Atmosphäre des Instituts war es, als würde er in eine feuchte Decke eingeschlagen, doch das Gefühl war nicht unangenehm; zumindest gab es ihm die Ge wißheit, daß die Welt des Instituts nun endgültig hinter ihm lag und er entkommen war. Er ging die Straße ent lang, und für einige Augenblicke fühlte er sich stark und frei. Aber das Gefühl hielt nicht lange an. Nach einigen Minuten war ihm heiß, und er begann zu schwitzen. Er zog die Jacke aus und hängte sie über die Schulter. Er stapfte die Straße entlang, als sei sie plötzlich zum Sumpf geworden. Es waren eine Menge Leute unterwegs, in Hemdsärmeln oder in dünnen Kleidchen, um sich im Freien Kühlung zu verschaffen, und ihn ekelte es vor ihnen, weil er förmlich spüren konnte, wie fettig und klebrig sie waren. Er bahnte sich seinen Weg durch die Passanten, bis er Dougans Bar erreichte. Er war kaum fünfzehn Minuten im Freien gewesen, und schon sehnte er sich wieder nach der kühlen Trockenheit einer klimati sierten Welt. Er fand einen freien Hocker an der Theke inmitten ei ner Reihe weißer, gekrümmter Hemdrücken. In dem Moment, als er Platz nahm, war die Reihe lückenlos. Er war sich seiner Flucht in die Anonymität bewußt, und er suchte zwischen den Reihen der Flaschen, die ihm gege nüberstanden, nach dem Spiegelbild seines Gesichtes, 149
aber er sah nur Bruchstücke von Köpfen und Schultern, verzerrt und zerrissen, die ebensogut einem Nachbarn gehören konnten wie ihm selbst. Einen Augenblick lang erhaschte er einen stechenden Blick aus dunklen Augen unter buschigen, schwarzen Brauen, der sich von ir gendwo zwischen den Flaschen auf ihn heftete, und er dachte, daß das sein Gesicht sein mußte, aber als er seine Stellung veränderte, um besser sehen zu können, konnte er sich nicht mehr finden. Dougan hob die Augenbrauen; damit deutete et zu gleich Wiedererkennen, eine Begrüßung und die Frage nach seinen Wünschen an. Jakob bestellte sich einen Bourbon. Dougan schob das Glas über die Theke und wandte sich wieder ab. Jakob stellte sich vor, wie sich alle Köpfe nach ihm umdrehen würden, wenn Dougan jetzt etwa überschwenglich gesagt hätte: »Hallo, Doktor. Wie geht’s Ihnen?«, und wie dann seine Nachbarn ihre Krankheiten vor ihm ausgebreitet hätten, in der Hoff nung, den Rat eines Mediziners umsonst zu ergattern. Aber heute hätte Jakob selbst dies dem Schweigen vor gezogen. Er stürzte seinen Bourbon hinunter und bestellte einen zweiten. Auch dieser war schneller leer als erwartet, und er wollte eben einen dritten bestellen, als er sich plötzlich wie aus einiger Entfernung sitzen sah, eine einsame Ge stalt in einem weißen Hemd in einer langen Reihe einsa mer Gestalten in weißen Hemden, trinkend, um sich Er leichterung zu verschaffen und um sich in der Anonymi tät zu verkriechen. Es ekelte ihn vor sich selbst. Er stand auf, zahlte und trat wieder hinaus auf die dampfend heiße Straße. Er ging ein Stück weit, zögerte vor dem Eingang eines Kinos; doch er sah ein, daß auch das nur ein Betäubungsmittel war, und ging weiter. 150
Schließlich kam er zu dem Wohnblock, in dem sein Apartment lag. Er stieg die Treppen hinauf und trat ein. Er war seit einigen Tagen nicht hier gewesen, und al les war staubig. Das Geräusch seiner Schritte hallte leer von der hohen Decke wider. Er ging umher, in die Kü che, ins Schlafzimmer, ins Bad, versuchte, dem Ort Le ben einzuhauchen, sich einzureden, daß das sein Zuhause sei, doch umsonst; das spärliche Mobiliar sah kahl und schäbig aus, und das Echo blieb. Er setzte sich in einen Sessel, und es war so still um ihn, daß er seinen eigenen Atem hören konnte. Im Lichtschein der Tischlampe konnte er sehen, wie die winzigen Staubpartikeln, die er durch seine Bewegung aufgewirbelt hatte, langsam wie der niedersanken. In der Ecke hinter der Eingangstür be merkte er Judiths Koffer, und wieder begannen seine Ge danken zu kreisen. Nach einer halben Stunde konnte er es nicht länger er tragen. Er stand auf und verließ seine Wohnung, ohne zu wissen, wohin er gehen sollte. Er trat auf die Straße und wandte sich nach rechts, und ohne daß er bewußt einen Entschluß gefaßt hatte, lenkte er seine Schritte in eine bestimmte Richtung. Zwanzig Minuten später stand er vor dem Haus, in dem Judiths Apartment lag. Der Pförtner erkannte ihn und meinte vage und unbestimmt: »Es ist heiß heute nacht, nicht wahr?« Jakob ging zum Aufzug. Der Fahr stuhlführer sagte nichts und wußte, wohin er wollte. Langsam setzte sich der Lift in Bewegung. Die Maschi nerie ächzte und knirschte, und das alles berührte ihn wohltuend und anheimelnd. Er fühlte sich hier mehr zu Hause als in seiner eigenen Wohnung. Der Fahrstuhlfüh rer wartete im Foyer, bis Jakob die Tür zu Judiths Apartment aufgeschlossen hatte, dann fuhr er wieder 151
hinunter, und Jakob war allein. Er hätte gern gewußt, ob hinter der anderen Tür auch eine Welt lag, die so interes sant war wie die von Judith. Für ihn war Judiths Welt einmalig, aber die andere Tür war mit der zu ihrem Apartment völlig identisch. Vielleicht war Judith nur eine Sonne in einem Universum mit zahllosen Sonnen, von dessen Existenz er nur keine Ahnung hatte. Er betrat ihr Apartment und schaltete das Licht im Vorraum ein. Er kam sich wie ein Dieb vor, weil er zu so später Stunde hier eindrang. Er schlich ins Wohnzimmer, das Licht in der Garderobe war hell genug, daß er sich zurechtfand. Er trat an das Einlegeschränkchen, goß sich einen Bourbon ein und legte sich auf eines der Sofas, auf dem er weich einsank. Er machte es sich bequem, und die einladende Atmosphäre aus Wärme und weicher Sanft heit beruhigte ihn. Doch seinen Gedanken und seiner Phantasie konnte er nicht entrinnen. An seinem inneren Auge zogen Bilder vorbei, die ihn beunruhigten und verletzten. Sie schienen im umgebenden Dunkel Gestalt anzunehmen. Er starrte um sich, als müßte er sich versichern, daß sich auf den Sofas keine schattenhaften Paare bewegten und alles wirklich war, kompakt und auf seinem Platz. Plötzlich sah er mit Entsetzen am Fußende seines Sofas zwei um schlungene Schatten liegen, einen dunklen und einen hel leren darunter. Er strengte seine Augen an, um zu erkennen, was es war. Er wälzte sich vom Sofa herunter und stand auf. Er schwankte sekundenlang, weil er zuviel getrunken hatte. Er riß sich zusammen, ging hin und streckte seine Hand nach dem oberen Schatten aus. Er fühlte es an, es war aus Stoff, er hob es auf, es war ein Herrenjackett. Er atmete erleichtert auf, aber dann fragte er sich verwundert, wem 152
das Kleidungsstück gehören mochte. Jakob griff nach dem helleren Schatten. Er fühlte sich seidig an und er wies sich als eine leichte Damenjacke. Auch dafür gab es keine Erklärung. Bei seinem letzten Besuch hatte hier nichts gelegen. Mit ausgestreckten Armen hielt Jakob die beiden Kleidungsstücke von sich. Sie schienen ein seltsames Eigenleben zu führen, sich zu umarmen und ihn zu bedrohen. Er legte sie wieder hin, ging zur Schlafzimmertür und horchte, aber er hörte nichts. Vorsichtig, weil er keine Ahnung hatte, was ihn erwartete, öffnete er die Tür. Kein Aufschrei, kein Schuß wurde ihm ins Gesicht gefeuert, aber er hörte jemanden tief und ruhig atmen. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er auf dem Bett unter einem Laken eine große Gestalt liegen, einen dunkelhaarigen Kopf, das Gesicht von ihm abge wandt, in ein Kissen vergraben. Der Kopf bewegte sich nicht, und so schlich er näher. Auf der anderen Seite des dunkelhaarigen Kopfes lag ein zweiter. Er war blond. Es waren Paul und Lorette. Jakob zog sich zurück und schloß leise die Schlaf zimmertür hinter sich. Seine erste Reaktion war, die Wohnung so schnell wie möglich zu verlassen, aber dann fiel ihm ein, daß er nirgendwo anders sein wollte. Hier war er am liebsten, selbst wenn er das Apartment mit Paul und Lorette teilen mußte. Selbst wenn sie ihn nur allzusehr an seine eigene Einsamkeit erinnerten, tröstete ihn ihre Anwesenheit, und indem er seine Gedanken auf die beiden nebenan konzentrieren konnte, gelang es ihm ein wenig, sich von Nathan und Judith abzulenken. Er legte sich wieder auf das Sofa und fühlte sich ir gendwie wohler, als sei er nun nicht mehr so weit vom wärmenden Zentrum allen Lebens entfernt, und bald dar 153
auf ließ ihn das bißchen Wärme, das ihn von dort erreich te, in den Schlaf sinken. Jakob erwachte langsam, drehte, streckte sich und wälzte sich auf die andere Seite, um weitere zehn Minuten zu schlafen. Er haßte den Tag, der auf ihn zukam, und er versuchte zu bleiben, wo er war, eingehüllt in Schatten. Plötzlich hatte er das Gefühl, daß er nicht allein im Raum war und ihn jemand anstarrte. Seit langer Zeit hat te er immer allein geschlafen – abgesehen von der Nacht mit Judith –, und das Gefühl, daß sich noch jemand in der Nähe befand, war ihm fremd. Er schlug die Augen auf und sah Paul und Lorette. Sie lachten beide über das Gesicht, das er machte. Paul hatte sich ein Handtuch um die Hüften gebunden, anson sten war er nackt, während Lorette einen geblümten Morgenmantel von Judith anhatte. Jakob war verwirrt, weil er nicht wußte, wie er sich ihnen gegenüber verhal ten sollte, aber sie zeigten sich weder herablassend noch vorwurfsvoll und taten ganz so, als habe er ebenso das Recht, sich hier aufzuhalten, wie sie auch. Sie entschuldig ten sich nur, daß sie das Bett mit Beschlag belegt hatten. »Du hättest dich ruhig noch zu uns legen können, auf meine andere Seite«, sagte Lorette. »Das wäre doch wohl kaum gegangen«, sagte Jakob. »Warum nicht?« sagte Paul. »Wir sind alle sehr tole rant.« Die beiden gingen ins Schlafzimmer zurück. Jakob hörte ihre Stimmen und ihr Lachen, das immer lauter wurde, dann hörte man es seltener und dann eine Weile nichts, außer dem rhythmischen Knarren des Betts. Eini ge Minuten später lief die Dusche, und man hörte sie beide singen. 154
Sie kamen wieder ins Wohnzimmer, Paul in Hemd und Hose und Lorette immer noch im geblümten Mor genmantel, nur ihr blondes Haar war frisiert und glänzte frisch gekämmt und gebürstet. Sie schienen mit dem Le ben sehr zufrieden zu sein. »Was möchtest du zum Frühstück?« fragte Lorette. »Ist überhaupt etwas im Haus?« »Es ist immer etwas da, um ein Frühstück zu machen. Dafür wird schon gesorgt.« »Kommt ihr öfter hierher?« »Ab und zu«, sagte Paul. »Hier ist es gemütlicher als bei mir.« »Es stört dich nicht, daß du hier mit Judith gelebt hast?« »Wieso sollte mich das stören? Sei doch nicht so kon servativ, Jakob.« »Du hast recht. Warum sollte dich das stören? Ich glaube, ich bin wirklich stockkonservativ.« »Das würde ich nicht behaupten«, sagte Lorette. »Ich glaube, du bist einer der seltsamsten Männer, die mir je begegnet sind.« Sie machte das Frühstück und brachte es auf einem Servierbrett auf die Terrasse. Der Tag war schon wieder heiß und stickig, und bald zogen sie sich ins Wohnzim mer zurück, wo es kühler war. Paul trank seinen Kaffee aus und zog sich vollends an. Er trug einen cremefarbe nen Leinenanzug, dazu ein blaues Hemd und eine rote Krawatte. Jakob fragte sich, ob er es wohl je fertigbrin gen würde, sich so lässig und auffallend zu kleiden. Paul sagte, daß er ins Büro seines Bruders müsse, um wieder mal nachzusehen, wie die Dinge liefen. Er ging und ließ sie allein. Jakob sagte, daß auch er jetzt zurück an seine Arbeit müsse. 155
»Warum?« fragte Lorette. »Das eilt doch nicht, oder? Warum bleibst du nicht noch ein bißchen und leistest mir Gesellschaft?« »Im Institut warten Leute auf mich.« »Laß sie warten. Heute ist es sowieso zu heiß zum Ar beiten. Es ist viel angenehmer, es sich hier gemütlich zu machen.« Sie band den Gürtel des geblümten Morgenmantels auf, und der Mantel öffnete sich, und sie sagte lächelnd: »Glaubst du nicht auch?« »Ja«, sagte Jakob. »Es ist sicher viel gemütlicher hier.« »Dann vergiß die Leute, wer es auch immer sein mag, komm her zu mir und sei lieb.« »Also gut«, sagte Jakob. Er setzte sich neben ihr aufs Sofa und nahm sie in die Arme. Lorette wandte ihm ihr Gesicht zu, er faßte ihren Kopf, und fast brutal küßte er ihre Lippen. Sie riß ihren Mantel weit auf, und er nahm ihre Brüste in die Hand, beugte sich hinunter und faßte mit seinem Mund eine ihrer rosaroten Brustwarzen. Lorette hielt den Atem an, stöhnte, wühlte mit ihren Händen in seinem buschigen Haar und preßte ihren Leib an ihn.
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15 Es war fast Mittag, als Jakob endlich ins Labor kam. Er war guter Laune, wie schon lange nicht mehr. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und rief Simons Vorgesetzten an, er solle den Jungen noch mal herschicken, er habe sich heute leider verspätet. Dann ging er in die Tiersta tion. Das kleine Fenster ließ nicht viel Licht herein, und der Raum war dämmrig; deshalb schaltete er die Beleuch tung ein. Er sah, daß Nathan in Judiths Käfig war. Na than beschwerte sich sofort über die Verspätung und daß er keinen Kaffee bekommen hatte. Judith sagte nichts, aber sie sah ihn trotzig an, als ob sie ihn herausfordern wollte, ihr Vorwürfe zu machen, was sie in der Nacht getrieben habe. Jakob ignorierte Nathans Beschwerden und gab Judith einen ebenso trotzigen und herausfor dernden Blick zurück. Judith war überrascht. Das war nicht die Reaktion, die sie von ihm erwartet hatte. Er hätte entweder bedrückt und niedergeschlagen oder wütend und gereizt sein müs sen. Sie hätte gern gewußt, was er die Nacht über getan hatte. Einige Minuten lang starrten sie sich an, dann sagte Jakob: »Ich werde euch jetzt einen Kaffee machen.« Judith fiel auf, daß seine Stimme wieder an Festigkeit und seine Bewegungen neue Elastizität gewonnen hatten. Ihr Verdacht wurde ihr zur Gewißheit: Er mußte die Nacht mit einer Frau verbracht haben. Der Gedanke quälte sie. Es war ungeheuerlich, daß Jakob so etwas tun konnte, und vor allem, daß sie nicht wußte, wer die andere Frau war, daß sie hier gefangensaß und sich nicht dagegen wehren konnte, wie sie es sonst getan hätte. Aber sie würde schon einen Weg finden, et 157
was dagegen zu unternehmen, dachte sie. Alle Waffen kann man mir nicht nehmen! Als Jakob um die Mittagszeit in die Station kam, sah er, daß Nathan auf dem Bauch im Stroh lag und Judith rittlings auf ihm saß. »Was macht ihr da?« fragte Jakob. Judith lächelte und hielt einen Augenbrauenstift hoch. »Ich zeichne schon deine Transplantationen ein.« »Daß laß nur meine Sorge sein.« »Nein. Das werden wir dir nicht allein überlassen. Laß dir gesagt sein, daß wir nicht damit einverstanden sind, wenn du einfach gewöhnliche Hautstücke herausschnei dest und sie irgendwohin verpflanzt, wie es dir gerade gefällt. So etwas muß ebenso künstlerisch wie wissen schaftlich durchgeführt werden. Wir sagen dir noch ge nau, wo du deine Transplantate anbringen mußt.« Jakob war einen Moment lang verblüfft, dann sagte er: »Von mir aus, aber eins müßt ihr bedenken: Die Gewe bestücke müssen lang und schmal sein, nicht etwa qua dratisch, damit die Durchblutung von den Rändern her gewährleistet ist, und sie dürfen nicht an irgendwelchen beanspruchten Körperstellen liegen, wo sie etwa der Rei bung ausgesetzt wären.« »Wir werden uns danach richten.« Nathan hob sein Gesicht aus dem Stroh. »Da ist noch ein Punkt, Jakob, den du dir überlegen solltest. Wir wer den nicht zulassen, daß du uns mit dem Fell dieser Ba starde von Hunden und streunenden Katzen hier ausstat test. Wir möchten etwas Wertvolleres, etwas, das unse rem Niveau entspricht. Ich sage dir jetzt schon, mein Entwurf für Judith sieht Otter und russischen Zobel vor, ein ausgezeichneter Kontrast. Ich schlage vor, daß du dich bald darum kümmerst, die nötigen Tiere zu beschaffen.« 158
»Otter und Zobel!« rief Jakob. »Du mußt den Verstand verloren haben, Nathan.« »Im Gegenteil. Ich denke ganz praktisch. Beides sind kleine Tiere und leicht zu halten, und beide sind längst nicht so gefährlich wie etwa Nerze. Bedenke, Jakob, ich hätte ja auch Leoparden vorschlagen können.« »Die Kosten, Nathan. Denk an die Kosten«, sagte Ja kob matt. »Die Kosten spielen keine Rolle, wenn es um Judith geht.« Jakob dachte an die Meerkatzen und Schimpansen, die er eventuell beschaffen könnte, wenn man sie ihm bewil ligte, und er sagte entrüstet: »Du vergißt, was wir hier vorhaben, Nathan. Wir treiben hier keinen Unfug, um dein Aussehen zu verschönern, sondern wir führen wis senschaftliche Experimente durch, und zwar gründlich und diszipliniert. Da gibt es weder Schlampereien noch exotische Tiere und bizarre Fellkombinationen. Die Transplantate werden wir den Hunden und Katzen dieser Station entnehmen. Was ich euch zugestehen will, ist, daß ihr euch die Tiere aussuchen könnt, von denen ihr Fell verpflanzt haben wollt.« Kurze Zeit herrschte Schweigen, dann sagte Judith: »Schön, Jakob, ich bin einverstanden. Ich möchte dazu beitragen, daß etwas erreicht wird, solange ich hier bin, und das weißt du auch.« »Gut. Und wie steht’s mit dir, Nathan?« Judith drückte Nathans Kopf ins Stroh und sagte: »Na than tut, was ich sage. Stimmt’s Nathan?« Aus der Tiefe des Strohs kam ein halberstickter, aber lachender Laut der Zustimmung. Jakob beobachtete die wachsende Intimität zwischen beiden mißmutig und mit einem neu aufkeimenden Verlangen nach Judith. Trotz 159
seiner Ablehnung setzten Nathan und Judith ihre bizarren Entwürfe fort und versicherten Jakob, daß es sich dabei um eine rein künstlerische Betätigung handle und daß sie ihm keine Schwierigkeiten machen wollten. Judith ent warf auf Nathans Haut ein Muster aus Zebrafell, Nathan für sie eins aus Ozelot. Sie führten ihre farbigen Entwürfe Jakob vor, und er gab zu, daß sie hervorragend wären, wenn sie sich durchführen ließen. »Warum sollte das nicht möglich sein?« fragte Judith. »Mit Nathans künstlerischen Fähigkeiten und deinen Er fahrungen als Chirurg könnten wir der menschlichen Rasse ein neues Aussehen geben!« Einen Moment lang war Jakob verärgert über den fri volen Aspekt, unter dem man den Wert seiner Arbeit sah, aber dann stimmte er sehr ernsthaft zu. Er sagte, daß er sich durchaus für die Möglichkeit interessiere, die menschliche Rasse ihrem tierischen Ursprung wieder etwas anzunähern. »Warum hältst du so wenig von der menschlichen Rasse?« sagte Nathan. »Das tue ich nicht«, sagte Jakob. »Ich glaube sogar, daß der Mensch das beste aller Tiere ist, das anmutigste, das geschickteste und das edelste. Wäre ich nicht dieser Meinung, dann wäre es mir ziemlich gleichgültig, was sich die Menschen gegenseitig antun. Aber weil ich die ser Meinung bin, mache ich mir große Sorgen über die Art und Weise, in der wir das innerste Wesen unserer Natur korrumpiert haben.« »Das innerste Wesen unserer Natur?« sagte Judith. »Du glaubst an so etwas, Jakob?« »Das ist alles, was ich glaube. Ich möchte gern wissen, wie es dazu kam, daß unsere Natur so entstellt ist. Ir gendwo in unserer Entwicklung muß der Schlüssel zu 160
diesem Geheimnis liegen, diesem Defekt, der uns so grausam gegeneinander sein läßt, wie es bei keiner ande ren Tierart, die wir bisher entdeckt haben, der Fall ist.« »Glaubst du, daß wir dem Geheimnis je auf die Spur kommen?« »Wenn nicht, dann sind wir als Spezies dazu verur teilt, auszusterben. Das Schlimme ist, daß wir in der fal schen Richtung suchen. Wir starren unentwegt hoff nungsvoll in die Zukunft, als könne die Antwort durch den Fortschritt gefunden werden, indem man nur immer weiter fortschreitet. Ich glaube eher, daß wir in der ande ren Richtung suchen sollten, indem wir uns mit unseren tierischen Vorfahren beschäftigen.« Einige Minuten lang schwiegen sie. Dann schien Na than das Problem nicht weiter zu interessieren, weil er keinen Zusammenhang zu seinen Problemen sah, und er sagte zu Judith: »Komm, wir machen ein paar neue Ent würfe.« Judith sah Jakob nachdenklich an, aber Nathan riß sie aus ihren Gedanken, und schließlich sagte sie: »Ja, laß uns weitermachen«, wandte sich ab und schenkte wieder Nathan ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Jakob sah ihnen eine Zeitlang zu, seine Hände fest um die Gitterstäbe des Käfigs geschlossen, dann kehrte er zu den Gewebeproben unter dem Mikroskop zurück. In den folgenden Tagen schien es für Judith nur Nathan zu geben. Wenn Jakob in die Tierstation kam, wandte sie sich demonstrativ Nathan zu, küßte ihn und überhäufte ihn mit Zeichen leidenschaftlicher Zuneigung und inti mer Zärtlichkeit. Nathan hatte rasch herausgefunden, daß er sich auf diese Weise an Jakob rächen konnte, und er widerte Judiths Liebkosungen. Wenn Jakob wieder hi 161
nausging, lachten sie gemeinsam über ihn, wenn er sich die Blöße gab und seine Eifersucht zeigte. Doch Jakob stellte fest, daß er den notwendigen Drit ten zu diesen Umarmungen darstellte, daß sie kaum in derselben Art stattfinden mochten, wenn er nicht zugegen war. Er war eigentlich auch mehr eifersüchtig auf Na thans Entwürfe, denen Judith so viel Interesse entgegen brachte; denn was seine künstlerischen Fähigkeiten anbe traf, war ihre Bewunderung ernsthaft, und Nathan begann einzusehen, daß Designer in der Modeindustrie vielleicht die Betätigung für ihn war, nach der er sein Leben lang gesucht hatte, die seinen Talenten entsprach und ihn be friedigen könnte. Judith ermutigte ihn dazu. Sie sagte, wenn sie wieder draußen wären, würde sie ihn ins Ge schäft bringen und finanziell unterstützen. So sprachen sie stundenlang über Zukunftspläne, aus denen sich Ja kob ausgeschlossen fühlte. Jakob versuchte, sich wieder mit Lorette zu treffen, aber er hatte sich weder ihre Adresse noch ihre Telefon nummer aufgeschrieben, und er wußte nicht einmal ihren Familiennamen. Er ärgerte sich über seine Nachlässig keit. Hätte er sich nicht denken können, als er mit ihr bei sammen war, daß er sich in kürzester Zeit wieder nach ihr sehnen würde? Er ging noch einmal in Richtung der Fifth Avenue, aber in den vornehmen Restaurants war zu dieser Zeit nicht viel los. Die schönen Frauen verbrach ten ihre Sommertage in Hampton oder in Europa, und nirgends eine Spur von Lorette. Jakob drängte sich durch die dichte, schwitzende, alltägliche Menschenmenge und fragte sich, wie er überhaupt die Hoffnung hegen konnte, sie unter diesen Leuten zu entdecken. Ironie des Schick sals, dachte er; wie leicht war sie zu finden gewesen, als er sie nicht gesucht hatte. 162
Am Abend ging er in Judiths Apartment, aber auch dort fühlte er sich nicht mehr so richtig wohl. Er ging durch die Zimmer und durchstöberte die Schränke, um die Kleider zu streicheln, die Judith getragen hatte. Er hoffte, daß Lorette auftauchen würde, und selbst wenn sie mit Paul gekommen wäre, es hätte seine Gedanken für einige Zeit von Judith ablenken können, aber sie er schien nicht. Er lag mit offenen Augen in Judiths Bett, starrte in den künstlichen Himmel über sich und versuch te, nicht an jene Nacht zu denken, in der er mit Judith hier gelegen hatte. Jakob spürte, daß er immer unduldsamer, gereizter und aggressiver wurde. Fast jeden Abend ging er in Dougans Kneipe, in der Hoffnung, sich dort etwas zu beruhigen, aber der Alkohol schien nur die logische, kontrollierende Instanz seines Gehirns zu betäuben, worauf ihm seine Emotionen nur noch mehr zu schaffen machten. Manch mal hatte er das Gefühl, als ob in seinem Gehirn Schaumbläschen nach oben stiegen, als würde es jeden Moment anfangen zu sieden. An einem Mittag, kurz nachdem die belegten Brote ein getroffen waren, kam es zur Krise. Als er die Tierstation betrat, um mit Judith und Nathan das Mittagessen zu ver zehren, fand er die beiden eng umschlungen auf dem Stroh liegen. Sie hielten sich mit den Armen umkrampft, und Nathan lag zwischen Judiths Schenkeln. Der Anblick traf Jakob wie ein Messerstich. Bisher hatten sie sich nie erlaubt, dabei entdeckt zu werden. Ei nige Minuten lang bemerkten sie überhaupt nicht, daß er eingetreten war, und paarten sich weiter. Bei dem An blick fühlte Jakob plötzlich eine innere Wandlung. Ihr Akt zeigte nicht das ursprüngliche, natürliche Vergnügen, 163
das andere höhere Tierarten beim Geschlechtsverkehr empfinden, sondern wirkte eher wie die würgende, um klammernde Raserei von Insekten. Ihre Nervensysteme, so schien es, reagierten unerbittlich auf ganz bestimmte Reize, und nun, ob sie es wollten oder nicht, waren sie gezwungen, sich gegenseitig in Stücke zu reißen. War dieser Organismus, der sich da krümmte, festkrallte, hi neinfraß und aufgefressen wurde, tatsächlich Judith? Da bemerkten sie, daß er ihnen zusah. Sie lösten sich voneinander und lagen verkrümmt nebeneinander auf dem Stroh, abgekämpft, beschämt, verlegen und trotzig. Ihre Gesichter waren gerötet, und sie rangen nach Atem. Es schien tatsächlich, als seien sie von der Überreiztheit ihrer Nerven überwältigt worden und ihr Verkehr viel leidenschaftlicher ausgefallen, als sie es ihm zugedacht hatten. Jakob war sprachlos. Er nahm seinen Teller mit Broten und ging hinaus. Er ging in seinem Büro auf und ab und hatte ständig das Bild vor Augen, das er eben gesehen hatte. Er setzte sich hin, um zu essen, aber er brachte keinen Bissen hin unter. Er zog sich um, fuhr hinunter und ging zu Dougan. Zwei Stunden lang trank er und brütete vor sich hin. Die Mittagsgäste verließen das Lokal, und schließlich war er der einzige im Raum. Er stand auf, zahlte und machte sich auf den Weg ins Institut. Er zog seinen weißen Mantel an und betrat die Tiersta tion. Nach außen hin wirkte er ganz ruhig. »Ich möchte euch ein letztes Mal gründlich untersu chen, bevor wir mit unserem Experiment beginnen. Ich hoffe, ihr macht mir keine Schwierigkeiten.« Sie protestierten, weil sie ihm mißtrauten und es ihnen unmöglich war abzuschätzen, was in ihm vorging, aber er sagte ihnen, daß die Untersuchung notwendig sei und sie 164
nicht anfangen könnten, bevor er nicht genaue Daten hatte. Widerstrebend trat Nathan ans Gitter. »Geh bitte in deinen Käfig, Nathan.« Nathan schimpfte und grollte, aber er bückte sich und kroch durch die Öffnung in seinen Käfig, wo er sich ans Gitter stellte. Jakob holte zwei Paar Handschellen aus der Tasche seines Mantels und schloß Nathan fest. »Du auch«, sagte er zu Judith. »Das brauchst du bei mir nicht zu machen.« »Ich mußte feststellen, daß du ebenso gefährlich sein kannst wie Nathan. Also bitte, tu, was ich dir sage.« Sie wollte von neuem protestieren, aber ein Blick auf sein Gesicht ließ sie verstummen. Sie zitterte ein wenig, und mit dem Versuch eines Lächelns gehorchte sie und stellte sich mit dem Rücken ans Gitter. Jakob zog ihre Hände durch und legte ihr Handschellen an, dann fesselte er auch ihre Füße. Jakob sah sich die beiden an. Nathan war mit breiten gelben und schwarzen Streifen bemalt, Judith mit einem rautenförmigen Muster aus grünen und goldenen Schup pen bedeckt. Nathan war also zum Tiger geworden, und sie hatte sich in eine Viper verwandelt, in ihr altes Sym bol. Auf Jakob, der sich längst an ihr buntes Aussehen gewöhnt hatte, wirkte ihre Bemalung nicht mehr unge wöhnlich, im Gegenteil, er kam sich schon beinahe anormal vor, weil er Kleider anhatte. Er holte seine medizinische Ausrüstung, schloß Na thans Käfig auf und trat ein. Er machte zwar jeden Hand griff einer gründlichen Untersuchung, aber er war so durcheinander, daß er seine Gedanken nicht darauf kon zentrieren konnte und kaum wußte, was er tat. Die Be wegungen und ihre Reihenfolge waren so genau vorge schrieben und ihm in Fleisch und Blut übergegangen, daß 165
er sie gedankenlos ausführen konnte, wie ein längst fest gelegtes Ritual, das er jetzt erfüllte. Mehr Medizinmann als Arzt, versuchte er Nathan den Tiger durch die Macht seiner Kunst zu unterwerfen. Die Bewegungen Nathans wurden während der Unter suchung immer ruhiger, und als Jakob fertig war, ließ Nathan den Kopf auf die Brust hängen. Jakob trat einen Schritt zurück, aber Nathan hob den Kopf nicht, er wollte seinem Blick ausweichen. Jakob nahm eine Spritze, säu berte Nathans Armbeuge und zapfte ihm Blut aus der Vene ab. Dieser winzige Aderlaß schien Nathan noch mehr zu schwächen und zu erniedrigen. Jakob verteilte die Blutprobe in mehrere Reagenzgläser, und es war ihm, als zerstückle er Nathan damit in immer kleinere Teile. Er verließ den Käfig und trug die Blutproben ins La bor, dann kehrte er zurück und öffnete Judiths Käfig. Sie versteifte sich, hob den Kopf und funkelte ihn trotzig an, als er auf sie zutrat. Wieder begann er mit seinem Ritual der Untersuchung, aber ihr Stolz war stärker als der Na thans, und ihr Widerstand ließ sich nicht brechen. Mit den Bewegungen seiner Hände auf ihrem Körper konnte er sie nicht unterwerfen. Er säuberte ihre Armbeuge, nahm eine frische Spritze und stach die Nadel in ihre Ve ne. Er zog den Kolben zurück, und dunkelrotes Blut quirlte in die Glasröhre. Wieder war es ihm, als sei das mehr als nur Blut, als sei es Lebenselixier, ihre Energie, die er abzapfen könne; aber ihre Haltung bewies ihm das Gegenteil. Sein Unmut wuchs. Er trug seine Instrumente aus dem Käfig und kam wieder herein. Er zog seinen weißen Mantel aus, als empfinde er plötzlich Ekel davor, knautschte ihn zusammen und warf ihn in die Ecke. Dann riß er sich den Rest seiner Kleider vom Leibe und warf 166
sie zu Boden. Er reckte die Schultern und fühlte sich wie von einer Last befreit. Endlich stand er hier mit den glei chen Voraussetzungen wie Nathan und Judith; doch nun merkte er auch, wie armselig und primitiv sich sein Kör perhaarwuchs, der seine Brust bedeckte und sich über den Bauch nach unten zog, neben ihrer farbenprächtigen Bemalung ausnahm. Er trat vor Judith hin und nahm ihren Kopf zwischen seine Hände. Er starrte ihr in die Augen, als ob er in ihrer klaren Tiefe das Bild jener anderen Frau wiederfinden könnte, die sie einst gewesen war, aber die beiden Topa se waren nur ein Teil des Musters aus grünen und weißen Schuppen, das sie umgab. »Laß mich los!« sagte sie barsch. Er schüttelte den Kopf. »Laß mich los!« schrie sie, und ihre Stimme wurde schrill. Er preßte ihren Kopf zwischen seinen Händen zusam men, als ob er ihn in seinem Zorn wie ein rohes Ei zer quetschen wollte, doch dann ließ er sie los, drehte sich um und suchte das Seil, mit dem sie einst Hüpfspiele gemacht hatten. Er band damit ihre Handgelenke inner halb des Gitters zusammen, suchte den Schlüssel aus sei ner Manteltasche und schloß ihre Hand- und Fußfesseln auf. Judith fiel nach vorn und stolperte in die Mitte des Kä figs, die Arme auf den Rücken gebunden. Im anderen Käfig zerrte Nathan an seinen Fesseln, schlug mit den Handschellen gegen das Gitter und brüllte. Da ging Ja kob auf Judith los. Sie schrie und versuchte zu entkom men, aber in dem engen Raum und mit ihren ungeschick ten Bewegungen durch das Seil um ihre Handgelenke hatte sie keine Chance. Jakob umschlang sie. Sie wand 167
sich unter seinem Griff und zischte wie eine Viper in Angst und Wut. Seine Arme fest um sie gepreßt, drängte Jakob sie zu dem niedrigen Eingang ihres Bunkers, drückte sie zu Boden und zwang sie hinein aufs Stroh. Hinter ihnen überschlug sich Nathans Stimme, und die Hunde bellten wie irr. Judith versuchte, sich zu drehen, aber Jakob war stark und hielt sie nieder. Bald schien sie ihn durch ihre Bewegungen eher zu sich heranzuziehen, als ihn abzuwehren, ihre Schreie verloren den angstvol len Unterton und klangen jetzt ebenso wild und ungestüm wie die seinen. Wie ein Echo von Nathans anhaltendem Kreischen schrien sie sich ihre Namen ins Gesicht. Dann verloren ihre Stimmen jeden Klang. Er brüllte und grunzte, und sie stieß einen langen und gellenden Schrei aus. Das Bellen der Hunde wuchs zu einem Krescendo. Nur Na than war die Gabe, Worte zu formen, nicht abhanden ge kommen, aber niemand war mehr da, der sie hätte ver stehen können. Die Geräusche ebbten ab. Jakob und Judith lagen keu chend beieinander, Nathan hing in seinen Fesseln am Gitter und murmelte vor sich hin. Die Hunde liefen in ihren Käfigen auf und ab und winselten unsicher. »Laß mich jetzt los«, sagte Judith, und Jakob spürte ih ren Atem in seinem Ohr. Mit einem Ruck richtete er sich auf die Knie auf und schlug dabei mit dem Hinterkopf gegen die rauhe zementierte Innenfläche des Bunkerdachs. Er wälzte Judith auf den Bauch, knotete den Strick um ihre Handgelenke los und ließ sie frei. Sie rollte sich wie der auf den Rücken und betrachtete erstaunt die roten und weißen Striemen um ihre Handgelenke. Sie rieb sie gegen einander und versuchte sie wegzumassieren, dann wandte sie sich ächzend zu Jakob: »Du hast mir weh getan.« 168
»Habe ich das?« »Du hast mir sogar sehr weh getan.« Trotzdem schlang sie ihre Arme um ihn und hielt ihn liebevoll fest, und es war kein Vorwurf in ihrer Stimme, wie sie es sagte. Nach einer Weile fuhr sie fort: »Du solltest ihm auch die Fesseln abnehmen.« »Ich muß«, sagte Jakob. Er kroch aus dem Bunker, suchte den Schlüssel, krab belte durch das Verbindungsgitter in Nathans Käfig und schloß seine Handschellen auf. Nathan rieb sich seine Knöchel und Handgelenke, schlürfte schweigend zu sei nem Bunker, ließ sich nieder und verschwand in der Dunkelheit. Jakob kehrte zu Judith zurück und legte sich wieder neben sie. Nach einer Weile umarmten sie sich und paarten sich von neuem, diesmal mit leidenschaftli cher Zärtlichkeit. Danach lagen sie schweigend neben einander und atmeten den warmen Geruch des Strohs und ihrer Körper. »Ich habe Hunger«, sagte Jakob. »Ich habe nichts zu Mittag gegessen.« »Wenn du willst, koche ich dir etwas«, sagte Judith. Er dachte einen Moment lang nach, dann sagte er: »Ja, bitte.« Er ging voraus und trat aus dem Käfig. Judith folgte ihm in die Küche und sah sich neugierig um, denn es waren die ersten neuen Eindrücke, die sie seit langer Zeit wahrnehmen konnte. Jakob zeigte ihr, wo die Lebensmittel aufbewahrt wurden, dann ließ er sie allein und kümmerte sich um die Tiere. Darauf kehrte er in den Käfig zurück und ließ sich auf das Strohlager vor dem Eingang des Bunkers nieder, auf dem Judith und Nathan gelegen und sich gegenseitig die Körper bemalt hatten. 169
Judith erschien mit zwei Tellern, einen reichte sie Ja kob, den anderen schob sie in Nathans Käfig. »Dein Abendessen, Nathan«, sagte sie. Nathan knurrte etwas Unverständliches. »Ich habe es gekocht. Also komm lieber heraus und iß, sonst bin ich böse mit dir.« Sie ging in die Küche zurück, holte sich ihren Teller und setzte sich neben Jakob. »Komm schon, Nathan!« rief sie. Er knurrte wieder, aber dann kam er aus seiner Höhle. Er ging zu seinem Teller, nahm ihn und setzte sich auf seinen Stuhl, und alle drei begannen zu essen. Als sie fertig waren, blickte Jakob an sich hinab und sah, daß sein Körper ganz mit Grün und Gold ver schmiert war. »Ich trage dieselben Farben wie du«, sagte er zu Ju dith, deren Schuppenhautmuster kaum mehr wiederzuer kennen war. »Wir werden für dich was Besseres finden«, sagte sie. »Stimmt’s Nathan? Wir werden für Jakob ein ganz be sonderes Muster entwerfen.« »Das ist unmöglich«, sagte Nathan. »Er ist viel zu haa rig.« Seine Stimme klang noch mürrisch, aber er zeigte durch ein Lächeln seine Freude, daß Judith nach wie vor ihre alte Gemeinsamkeit in diesen Dingen aufrechter hielt. »Das ist nicht unmöglich«, sagte Judith. »Ich möchte, daß Jakob etwas Prächtiges erhält. Du mußt bedenken, Nathan – er ist jetzt einer von uns.«
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16 Am nächsten Morgen stellte Judith eine neue Einkaufsli ste für Jakob zusammen. Er zog seine Kleider an und machte sich wieder einmal auf den Weg. Der Schönheitssalon war an diesem Sommervormittag fast menschenleer, und die luxuriöse Atmosphäre wirkte müde und verblaßt. Das Mädchen in der Kosmetikabtei lung brachte die Töpfchen und Tiegelchen und Tuben, die er kaufen sollte, ohne Verwunderung an den Tag zu legen. Er verließ das Geschäft mit einem schweren Paket und hatte nicht den Wunsch, einen Bummel zu machen und sich die Schaufenster oder die Leute anzusehen. Er nahm ein Taxi bis in die Nähe des Instituts und dort, in seinem gewohnten Supermarkt, kaufte er einen großen Vorrat Lebensmittel, genug, um nicht so bald wieder ein kaufen zu müssen. Als er mit seiner Last in die Kühle des Instituts trat, fühlte er keine Sehnsucht nach der heißen, staubigen Welt mit ihrem trägen Leben, das er hinter sich ließ. Als er mit dem Fahrstuhl hinauffuhr und den langen Korridor entlangging, erfüllte ihn ein Gefühl der Erwartung auf das, was vor ihm lag. Am Nachmittag lag Jakob nackt auf einem Bund Stroh in Judiths Käfig, während die beiden ein Muster auf sei nem Körper entwarfen. Nathan hatte gefordert, daß Jakob seine Brust rasieren sollte, aber er hatte abgelehnt; des halb mußten die Umrisse groß und auffällig sein, denn so verschlungene Muster, wie sie Judith und Nathan trugen, waren nicht möglich, wenn Haare die Umrißlinien un scharf machten. Sie wollten ihm nicht verraten, was sie vorhatten, er mußte sich ihnen ausliefern und sich gedul den, bis sie fertig waren. Jakob wand sich unter dem har 171
ten Druck der Augenbrauenstifte, dann, als sie die Farben auftrugen, lag er still, mit einem ungewohnten, aber kei neswegs unangenehmen Zittern seiner Nerven, unter ih ren Pinseln. Die Farben fühlten sich naß und schlüpfrig an, aber bald trockneten sie und schlossen sich um ihn wie eine zweite Haut. Als sie fertig waren, besprühten sie ihn mit einem farblosen Lack, den Judith diesmal bestellt hatte. Schließlich erlaubten sie ihm, vor den Spiegel zu treten, und Judith und Nathan warteten gespannt auf die Reakti on, die er beim Anblick seiner veränderten Erscheinung zeigen würde. Eine fremdartige, furchteinflößende Gestalt blickte ihn aus dem Spiegel an. Nathan und Judith hatten ihre Inspi rationen aus der Erinnerung an Bilder von primitiven Idolen bezogen. Um seine Augen lagen große weiße Kreise, breite Streifen in Purpurrot und Gold gingen von ihnen aus, liefen über seinen Nacken und rund um seinen Körper. Er stellte kein Tier dar, aber er war auch kein Mensch mehr; er war ein Wesen, das von beiden etwas hatte, sich über das Tier erhob, das der Dschungel bisher verborgen gehalten hatte, der Urwald, die Urnacht, um jetzt in ihm hervorzubrechen und die Menschen zu schre cken. Als er so dastand und sich ansah, spürte er, wie ihn ein Gefühl der Macht überkam, und als er sich nach Ju dith und Nathan umdrehte, saßen sie schweigend auf dem Boden und starrten ehrfürchtig auf die Gestalt, die sie geschaffen hatten. Das Gefühl hielt an. Jakob saß auf seinem Stuhl, den er aus dem Laboratorium in Judiths Käfig geholt hatte, und sie saßen vor ihm auf niedrigen Stühlen und verhiel ten sich ihm gegenüber mit einer seltsamen Schüchtern heit und Furcht. Als es Abend wurde, kochte Judith wie 172
der das Essen, und Jakob erlaubte auch Nathan, den Kä fig zu verlassen, nachdem er ihm genaue Anweisungen gegeben hatte, wie die Tiere zu füttern waren. Als sie gegessen hatten, befahl Jakob Nathan, in sei nen eigenen Käfig zurückzukehren. Nathan gehorchte wortlos, und Jakob folgte Judith in ihren Bunker. Wieder verbrachten sie die Nacht miteinander. Am Morgen stand Jakob spät auf. Als erstes trat er vor den Spiegel und inspizierte sein Äußeres. Der Lack hatte verhindert, daß sich die Farben verwischten, und seine Erscheinung wirkte nach wie vor glitzernd, furchteinflö ßend und despotisch. Er verbrachte lange Zeit vor dem Spiegel, um sich selbst an sein neues Aussehen zu ge wöhnen. Es war nicht einfach, sich vorzustellen, daß er das war, dessen Bild er vor sich hatte. Einen Moment lang fühlte er dieselbe Art furchtsamer Scheu, wie sie Nathan und Judith vor ihm empfanden. Er bewegte sich und gestikulierte, um sich zu vergewissern, daß die Er scheinung im Spiegel seinen Bewegungen auch folgte. Dennoch war es ihm, als stecke er in einem Bild, dessen Gesicht und Gliedmaßen er bewegen konnte. Dieser Gedanke beunruhigte ihn, und er spürte das Bedürfnis, sich seines alten Selbst wieder zu versichern. Deshalb zog er seinen Labormantel an, aber das sah der art widersinnig aus, daß der Bann sofort gebrochen war und Judith und Nathan über ihn zu lachen begannen. Auch er bemerkte so schnell die Komik dieser Diskre panz, daß er ihn sofort wieder auszog. Er ging ins Labor und setzte sich ans Mikroskop, nahm sich einen neuen Gewebeschnitt vor, schob das Glasplättchen auf den Ob jektträger und stellte das Gerät ein. Er starrte durch den schwarzen Tunnel auf die farbigen Zellen darunter, aber er konnte den Gedanken an die Präsenz seines gold- und 173
purpurfarbenen Körpers nicht beiseite schieben. Es war ihm unmöglich, sich auf die Arbeit zu konzentrieren; obwohl er schon mehr als eine Stunde an dem Gerät saß und peinlich genau Handgriff für Handgriff durchführte, um den Schnitt sorgfältig durchzumustern, war er am Ende zu keiner Entscheidung gekommen, um sich ein Urteil bilden zu können, ob er krankhafte Abweichungen gesehen hatte oder nicht. Er stand auf und ging ins Büro, um wenigstens etwas Schreibtischarbeit zu erledigen, aber auch dabei war die Präsenz seiner ungewöhnlichen Erscheinung so stark, bedrängte ihn so fordernd, daß er seine Bemühungen aufgab. Er sah zum Fenster hinaus; die Glasfassaden schienen nähergerückt zu sein und mehr denn je voller Augen, die ihn beobachteten. Mit einem Gefühl der Erleichterung kehrte er in die Tierstation zu rück, wo Judith und Nathan und die Tiere ihn umgaben, wo er geborgen war und in seiner natürlichen Umwelt. Am nächsten Tag versuchte Jakob noch einmal mit seiner Laborarbeit weiterzukommen, aber ebenso ohne Erfolg. Am Tag darauf verzichtete er auf einen weiteren Versuch und fügte sich völlig in seine neue Rolle. Sein gold- und purpurfarbener Körper mit den riesigen weißen Augen wurde zur drohend beherrschenden Er scheinung in der Tierstation. Judith und Nathan begegne ten ihm mit wachsender Furcht und Verehrung. Ihre Un terwerfung war vollständig, und sie schienen Freude da bei zu empfinden, seine Befehle auszuführen. Sogar die Tiere duckten sich in ihren Käfigen, wenn er den Mittel gang entlangschritt. Wenn er sie zu sich winkte, kamen sie herangekrochen, die Hunde zogen den Schwanz ein, winselten und leckten ihm die Finger, die Katzen berühr ten seine Hand mit der Nase und schauderten zurück. Der einzige Besucher war, wie immer, Simon. Als er 174
Jakob zum erstenmal in seiner Bemalung sah, erschrak er und versuchte wegzulaufen, aber Jakob fing ihn ein, be ruhigte ihn und überredete ihn dazu, seine Arbeit zu tun. Danach geleitete er ihn hinaus, und in Simons Gesicht spiegelte sich Trauer und Mutlosigkeit, weil er allein wieder in seine Welt der düsteren, grauen Uniformen zurückkehren mußte. Am nächsten Tag jedoch malte ihm Judith eine kleine Kopie des Musters, wie sie es trug, auf die Brust, und Simon behütete es unter seinem Hemd als sein kostbares Geheimnis. Jeden Morgen, wenn Simon mit seiner Arbeit fertig war, legte sich Jakob auf einen frischen Bund Stroh, und Nathan und Judith arbeiteten an seinem Körper, beseitig ten und reparierten jeden Schaden in seiner Bemalung, die in der Nacht entstanden war, während er mit Judith schlief. Sie trugen eine frische Lackschicht auf, damit das Muster wieder feucht glitzerte. Dann pflegte er sich auf seinen erhöhten Stuhl zu setzen und ihnen zuzusehen, wie sie sich gegenseitig bemalten. Wenn sie damit fertig waren, ließ er sie vor sich hin treten und ein Ritual vollziehen, das er sich für sie aus gedacht hatte und durch das sie ihre Verehrung ausdrüc ken mußten. Jeden Tag fielen ihm neue Gesten ein, die er in das Zeremoniell einbaute, mit dem Ergebnis, daß es bald einige Stunden dauerte, um das ganze Ritual zu ze lebrieren, weil Jakob keine Auslassungen duldete und darauf bestand, daß es jeden Tag vollständig wiederholt wurde. Die Zeremonie wurde so formal und kompliziert wie ein religiöses Ritual. Sie hatten sich dabei hierhin zu stellen, aber nicht dorthin, mußten bestimmte Worte und Sätze aussprechen, während sie andere unter keinen Um ständen gebrauchen durften, sie hatten vorgeschriebene Bewegungen in ganz bestimmter Weise auszuführen, 175
während andere streng verboten waren. Bald gab es keine Minute ihres Tagesablaufs mehr, in der Nathan und Ju dith nicht unter Zwang und nach vorgeschriebenen Re geln handeln mußten; doch sie beklagten sich nicht. Im Gegenteil, sie unterwarfen sich vollständig den Vor schriften des Rituals und waren rasch dabei, sich gegen seitig Vorwürfe zu machen, wenn dem anderen ein Feh ler unterlief. Eines Nachmittags erinnerte sich Jakob an Judiths Burnus und beschloß, sich zusätzlich mit ihm zu schmü cken. Er schritt durch das Laboratorium, das er jetzt nur noch selten betrat, und ging ins Büro. Er fröstelte und kam sich entblößt und ungeschützt vor. Die beiden Räu me, die einst der Mittelpunkt seines Lebens gewesen wa ren, schienen ihm jetzt feindselig und voll von scharfen, gefährlich glitzernden Mechanismen, zu denen er über haupt kein Verhältnis mehr hatte. Die Fenster ließen un erträglich viel Tageslicht herein, sie schienen ihn mit Helligkeit ertränken zu wollen. Er nahm den Burnus aus dem Schrank und flüchtete zurück in die dämmrige, warme Geborgenheit der Tierstation. Der kostbare Glanz der pfaublauen Seide und der gol denen Stickereien schien den Raum zu erleuchten. Judith traf der unerwartete Glanz schmerzhaft, denn er erinnerte sie mit einemmal an alles, auf das sie hatte so lange ver zichten müssen. Das Verlangen, wieder schöne Kleider zu tragen, durchfuhr sie wie ein stechender Schmerz, und sie schrie auf: »Mein Burnus! Wie kommst du zu mei nem Burnus? Gib ihn her! Ich will ihn anziehen.« Ihre Forderung war die Verletzung einer von Jakobs strengsten Regeln, die alles Recht auf persönliche Besitz tümer und Wünsche verbot. Er warnte Judith, aber sie fuhr fort und beharrte darauf, daß der Burnus ihr gehöre 176
und sie ihn anziehen wolle. Er befahl ihr, daß sie vor ihn hintrete, und befahl Nathan, ihm das Seil zu bringen, aber sie blieb trotzig, selbst als er ihr die Arme auf den Rüc ken drehte, sie fesselte, in die Knie zwang und ihre Handgelenke mit den Fußgelenken zusammenschnürte. Erst als er schwarze Farbe nahm und das vielfarbige Mu ster ihres Gesichts übermalte und auslöschte, gab sie nach und bereute schreiend ihren Fehler. Doch Jakob hörte nicht auf, ihr mit dem Pinsel schwarze Farbe mit dicken Strichen über Stirn und Wangen, Augenlider und Lippen, Schultern und Brüste zu schmieren, bis man nur noch an wenigen Stellen Reste des ursprünglichen Mu sters sah. Dann nahm Jakob den Burnus und breitete ihn über seinen Stuhl. Er verwandelte ihn damit in einen Thron, einen Altar. Er nahm darauf Platz, ein gold- und purpur farbenes Idol, auf pfaublaue Seide gebettet. Nathan zerrte Judith nach vorn, bis sie zu Jakobs Füßen kniete, und kauerte sich hinter sie, um sie zu stützen. Judith mußte reglos vor ihm ausharren, gefesselt, krummgeschlossen, tränenüberströmt und schluchzend, bis Jakob entschied, daß sie ihre Sünde abgebüßt habe.
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17 Jakob geruhte weiterhin, ihre Verehrung entgegenzu nehmen, aber unter der gleichgültigen Maske, mit der er ihr tägliches Ritual verfolgte, wuchs die Angst. Die Le bensmittel wurden knapp. Milch, Obst, Eier und Gemüse waren genügend vor handen, davon hatte er große Mengen in getrockneter Form eingekauft. Es mangelte vor allem an frischem Fleisch, und danach sehnten sie sich von Tag zu Tag mehr. Judith versuchte, so gut sie konnte, jeden Tag aus dem Vorhandenen eine schmackhafte Mahlzeit zu berei ten, aber schließlich war es nicht mehr als ein wäßriger und unansehnlicher Brei, den sie zustande brachte. Na than und Judith aßen ihn widerstrebend, aber sie wagten kein Wort der Kritik, und Jakob konnte nicht umhin ein zusehen, daß auch er diesen Fraß nicht länger hinunter brachte. Doch er haßte den Gedanken, eine weitere Expedition nach draußen zu unternehmen. Er war schon so weit, daß er nicht einmal mehr ins Labor hinausging, wenn es nicht unbedingt sein mußte. Jedesmal sah er mit Widerwillen dem unvermeidlichen Gang zur Eingangstür entgegen, wenn er Simon einlassen oder das Mittagessen hereinho len mußte, und er tat es immer so schnell wie möglich, um es hinter sich zu bringen. Die Welt jenseits dieser Tür schien ihm weit entfernt und voller Schrecken. Wollte er zu einer Expedition in sie aufbrechen, dann hätte er seine Erscheinung zu zerstören und Kleider anzuziehen. Die Alternative, so unangenehm sie auch sein mochte, war ihm lieber. Er war abgeneigt, irgend etwas zu unter nehmen, und so saß er den ganzen Tag lang auf seinem Thron und ließ sich das Für und Wider durch den Kopf 178
gehen, bevor er die Entscheidung traf. Endlich, es war schon Abend, fragte er Judith: »Hast du schon mal ein Kaninchen gebraten?« Sie und Nathan waren eben dabei, ihr Nachtlager her zurichten, und wurden durch seine plötzliche Frage auf geschreckt. Sie zögerten, aber weil sie nicht wußten, ob er ihnen eine Falle stellen wollte, damit sie ihre vorge schriebene Tätigkeit unterbrachen, fuhren sie mit ihrer Arbeit fort und hofften, daß er ihr sekundenlanges Zö gern nicht bemerkt hatte. »Antworte mir!« befahl Jakob. Sie hielten inne, und Judith sagte: »Nein, aber ich könnte es ja versuchen.« »Gut«, sagte Jakob. »Ich esse gern Kaninchenbraten.« Er nickte ihnen zu, daß sie mit ihrer Arbeit fortfahren sollten, und bei dem Gedanken an eine Fleischmahlzeit wurden ihre Bewegungen plötzlich flinker und kraftvol ler, aber sie erschlafften sofort wieder, als sie sich frag ten, wo Jakob ein Kaninchen auftreiben wollte. Als sie fertig waren, erlaubte ihnen Jakob, sich hinzu setzen. Wieder überlegte er hin und her, während sie schweigend auf ihren Stühlen saßen und er seine Augen auf ihnen ruhen ließ. Schließlich seufzte er, erhob sich schwerfällig und ging auf den Mittelgang hinaus. Er betrat einen der Katzenkäfige. Die Tiere strichen um seine Beine, rieben sich an ihm und schnurrten, sie hatten sich jetzt noch mehr an ihn gewöhnt. Jakob bückte sich und streichelte sie, dabei suchte er die fetteste von ihnen aus – ein grau getigertes Weibchen – und hob sie hoch. Er hielt sie im Arm, als er aus dem Käfig trat und die Tür hinter sich verriegelte. Judith und Nathan starrten ihn an und verzogen ange widert das Gesicht. »Der letzte Kaninchenbraten, den ihr 179
gegessen habt, war vielleicht auch eine Katze«, sagte er zu ihnen. »In vielen Restaurants ist das so üblich.« Sie unterhielten sich darüber, und schließlich sagte Ju dith: »Also gut, aber ich möchte es nicht sehen. Wenn du sie mir abgezogen und ausgenommen bringst, dann brate ich sie.« Jakob kraulte die Katze hinter den Ohren und trug sie ins Labor hinaus. Sie schnurrte und rieb ihren Kopf an seinem Arm. Er ging zum Todeskäfig und setzte sie hin ein. Plötzlich erschreckt, fauchte die Katze und kratzte ihn, doch er drückte die Tür zu. Er ging zu einem Schrank, um die Injektionsspritze und das Gift zu holen, doch dann überlegte er, daß das wohl nicht ganz das Richtige war, wenn sie das Fleisch essen wollten. Er ging wieder zu dem Käfig und hob das kleine Gitter vor dem Kopf der Katze. Sofort steckte sie den Kopf hindurch und versuchte zu entkommen. Jakob drückte das Gitter wieder so weit hinunter, daß ihr Hals fest eingeklemmt war. Die Katze wand sich, aber sie konnte nun weder vorwärts noch zurück und fing an, kläglich zu miauen. Jakob ging zu einem anderen Schrank und holte sich ein Springmesser. Die scharfe Klinge saß auf einer Spi ralfeder, die aus dem Schaft herausragte. Er faßte die Spannzapfen zwischen zwei Fingern und zog die Klinge in den Schaft, bis die Feder ganz gespannt war und die Zapfen einrasteten. Er ging zu der Katze und griff ihr mit einer Hand unters Kinn, während er mit der anderen das Springmesser im Genick ansetzte. Das Tier krümmte sich zusammen und gab keinen Laut von sich, als wüßte es, was es erwartete. Wieder hörte Jakob jene Stimme in seinem Innern, die er kannte und die ihm vorwarf, daß er im Begriff war, 180
eine Ungerechtigkeit zu begehen, und daß er das nicht tun dürfte. Diesmal konnte er es nicht mit medizinischen Argumenten entschuldigen. Er sagte sich, daß er kein Vegetarier sei und deshalb auch bereit sein müsse, es auf sich zu nehmen und zu töten, wenn er Fleisch haben wol le, aber das Argument schien ihm recht dürftig zu sein. Er sah sich, wie er immer weiter tötete und tötete, bis keines der Tiere in der Station mehr am Leben war. Und was dann? Er bewegte das Springmesser und drückte den Abzug. Die Klinge schnellte heraus und fuhr mit einem dumpfen Laut tief in die hölzerne Tischplatte. Er zog sie heraus und legte das Messer in den Schrank zurück, befreite die Katze aus dem Todeskäfig und trug sie in die Tierstation zurück. Judith und Nathan sahen ihn mit glänzenden und hungrigen Augen an, als er hereinkam. Der Ausdruck änderte sich, als sie sahen, daß die Katze auf seinem Arm noch lebte. »Ich konnte es nicht tun«, sagte Jakob. »Es wäre un gerecht gewesen.« Sie sagten zwar nichts, aber er spürte, daß sie ihn we gen seiner Schwäche verachteten. Er trug die Katze in ihren Käfig zurück, und Judith ging in die Küche, um den üblichen Fraß zu kochen. Als sie fertig war und ihn ser viert hatte, aßen sie schweigend, aber Jakob spürte, daß jedes Scharren ihrer Löffel in den Tellern ein Vorwurf sein sollte, der gegen ihn gerichtet war. Am nächsten Morgen bestand Judith darauf, daß er auf brach und Lebensmittel für sie besorgte, und Jakob muß te sich mit der Notwendigkeit abfinden. Er saß auf einem der niedrigen Stühle, während Judith und Nathan sich 181
abmühten, sein Gesicht und seine Hände von Farbe zu säubern. Zunächst gingen sie sehr zögernd und übervor sichtig heran, scheuten sich, ihn mit den Händen zu be rühren, aber je mehr Farbe abging und je mehr von seiner Haut zum Vorschein kam, desto selbstsicherer wurden sie, und schließlich schrubbten sie kräftig an dem Werk, das sie selbst geschaffen hatten. Als sein Gesicht und seine Hände gesäubert waren, kamen sie überein, daß dies vollauf genüge. Sie setzten sich hin, und Jakob ging ins Labor, wo seine Kleider la gen, um sich anzuziehen. Mit der Krawatte um den Hals und den geschlossenen Manschettenknöpfen sah er ganz normal aus, und niemand hätte darunter goldene und purpurfarbene Streifen vermutet. Er ließ sich von Judith die Einkaufsliste geben. Es entging ihm nicht, daß Na than und Judith sein Aussehen irgendwie komisch zu finden schienen. Die Expedition hinaus ins grelle Sonnenlicht war für ihn eine Qual, genau wie er befürchtet hatte. Er blinzelte und mußte die Augen zusammenkneifen, um sich in der Helligkeit zurechtzufinden, und er bemerkte, daß er zit terte, wenn ihm Leute allzu nahe kamen. Das Durchein ander und der Lärm der Straße brachen über ihn herein, daß er glaubte, sich mitten in einer Schlacht zu befinden, und als er endlich den Supermarkt erreichte, dachte er zuerst, daß er nicht fähig sei, einen der Gitterwagen zu nehmen und die Sachen zu suchen, die er kaufen sollte. Einige der einkaufenden Frauen starrten ihn an, und er duckte sich in die Tiefen der Regale, bis sie weitergegan gen waren. Als er zurückkehrte, rissen ihm Judith und Nathan die Tüten aus der Hand und durchstöberten sie, jauchzten erfreut über die Dinge, die er mitgebracht hatte, kritisier 182
ten ihn aber, als sie feststellten, daß er nicht immer die richtige Sorte gewählt und sogar einiges vergessen hatte. Judith nahm die Steaks, ging in die Küche und briet sie. Sie und Nathan schlangen das Fleisch heißhungrig hinun ter, doch Jakob hatte plötzlich keinen Appetit mehr. Er zog seine ungewohnte Kleidung aus und fühlte sich et was wohler, aber es war ihm unbehaglich zumute mit seinem blassen Gesicht und seinen nackten Händen. Er aß ein Stückchen von seinem Steak, aber als Judith sah, daß er nur herumstocherte, nahm sie ihm den Rest und teilte ihn sich mit Nathan. Als sie fertig waren, versuchte Jakob, wieder in seine Rolle zu schlüpfen, und befahl ihnen, ihm Hände und Gesicht zu bemalen, doch sie lehnten ab. »Versuch’s doch selbst, wenn du es unbedingt willst«, sagte Judith. Jakob nahm die Farben und setzte sich vor den Spie gel, aber er konnte nicht richtig damit umgehen. Nathan und Judith sahen ihm zu und machten sich über seine Ungeschicklichkeit lustig. Er versuchte das alte Muster wiederherzustellen, aber das Ergebnis waren nur schwa che Umrißlinien und alles andere als eine autoritäre Aus strahlung. Er wirkte eher wie eine Karikatur dessen, was er einst gewesen war. Er wischte alles wieder ab und begann von neuem, aber der Erfolg war wieder gleich Null. Er bat sie, es für ihn zu machen, aber sie lachten ihn nur aus. Wütend schlug er den einzigen Weg ein, der ihm offenstand: Er verließ den Käfig, schloß die Tür ab und ging ins Labor hinaus. Dort saß er, halb bemalt, bis er seinen Zustand derart unerträglich fand, daß er sich wieder anzog. Am Abend gestattete er Judith, den Käfig zu verlas sen, damit sie das Abendessen kochte, und sie und Na 183
than aßen wieder riesige Portionen. Sie sagten ihm, daß er nun jeden Tag zum Einkaufen gehen müsse. Als es Zeit war, zu Bett zu gehen, zog Jakob seine Kleider aus und befahl Nathan, in seinen Käfig zu gehen. Nathan war unerwartet bereitwillig. »Aber selbstver ständlich, Jakob«, sagte er und stand auf. Mit einem Hoffnungsschimmer dachte Jakob, daß seine Autorität doch noch nicht ganz verblaßt war. »Da ist nur noch etwas …«, fuhr Nathan fort. »Und das wäre?« fragte Jakob. »Judith kommt mit mir.« Jakob stieß einen seltsamen Schrei aus, aber Nathan kümmerte sich nicht darum, streckte eine Hand nach Ju dith aus und fragte: »Kommst du?« Einen Moment lang zögerte sie. Ihre Augen wanderten von Nathans leuchtend getigerter zu Jakobs halbnackter Gestalt mit seinen fahlen Händen und seinem blassen Gesicht. »Ja, ich komme«, sagte sie und ergriff Nathans Hand. Nathan ließ sie vor sich durch die Öffnung im Gitter kriechen. Lachend krochen sie miteinander in den Bun ker. Jakob saß auf seinem Thron und war zu erschüttert, um sich zu wehren oder zu protestieren. Nach einigen Minu ten hatten die Geräusche in Nathans Bunker, das Kichern und das Rascheln des Strohs, auf dem sie sich umherwälz ten, die beabsichtigte Wirkung auf Jakob. Sie wurden ihm unerträglich. Er sammelte seine Kleider auf, verließ den Käfig, schloß ihn ab und ging in das leere Büro. Zum er stenmal seit langer Zeit mußte er die Nacht allein verbrin gen und wälzte sich schlaflos auf der harten Couch. »So kann es nicht weitergehen«, schluchzte er. »Es kann nicht so weitergehen.« 184
18 »Es muß weitergehen«, sagte Judith. »Glaubst du, wir können jetzt einfach Schluß machen?« »Ich möchte euch freilassen«, sagte Jakob. »Und die ganze Zeit, die wir hier verbracht haben, soll umsonst gewesen sein?« »Ihr möchtet nicht frei sein?« »Erst wenn das, weswegen wir hier sind, abgeschlos sen ist.« »Wir fühlen uns wohl hier«, sagte Nathan. »Wir haben es nicht eilig, hinauszukommen.« »Du mußt eben arbeiten«, sagte Judith. »Du hast viel zuviel Zeit vergeudet. Halt dich mehr ’ran.« »Ich möchte mit euch keine Experimente mehr ma chen«, sagte Jakob. »Es hat keinen Zweck mehr, wie die Dinge jetzt liegen. Meine Tierversuche werden ausrei chen, um zu einem Ergebnis zu kommen.« »Du hast keine andere Wahl, du mußt weitermachen.« »Ich werde euch hinauswerfen, wenn ihr nicht gehen wollt.« »Damit wir zur Polizei gehen? Du bist dir wohl nicht im klaren, was für ein schweres Verbrechen du begangen hast, Jakob? Man kann doch Leute nicht einfach einsper ren.« »Ihr könntet mich auch anzeigen, nachdem wir die Experimente gemacht hätten.« »Nein. Wenn du die Versuche durchfuhrst, dann hätte unser Aufenthalt hier einen Sinn gehabt, und wir würden nichts gegen dich unternehmen. Aber wenn du uns jetzt ’rauswirfst, Jakob, ich warne dich, dann wirst du Jahre im Gefängnis sitzen, verlaß dich drauf. Außerdem würde ich dich auf Schadenersatz verklagen, so daß dir der letzte 185
Pfennig genommen wird. Du hast mich noch nicht erlebt, wenn ich wütend bin, Jakob. Ich würde dich auseinan dernehmen, daß nichts mehr von dir übrigbleibt!« Für Jakob war dies eine Drohung, die ihm wirklich Angst einjagte. Mit der Polizei und Gerichten zu tun zu haben war das Schrecklichste, was er sich vorstellen konnte. Er hatte natürlich daran gedacht, daß so etwas auf ihn zukommen würde, wenn alles vorüber war, aber die Möglichkeit war ihm sehr vage und weit entfernt er schienen, und wenn seine Arbeit abgeschlossen gewesen wäre, hätte ihm das auch nicht soviel ausgemacht. Aber jetzt stand mit einemmal diese schreckliche Drohung ganz real vor ihm, und er konnte nichts dagegen unter nehmen. »Also gut«, murmelte er. »Ihr könnt von mir aus hier bleiben, wenn ihr wollt.« Er ging ins Labor zurück und starrte in die kleine und einzig friedliche und ungestörte Welt hinunter, die er kannte, die farbigen Zellen unter seinem Mikroskop. Er beschäftigte sich mit seinen Gewebeproben, um seine Gedanken abzulenken, und nun, da er wieder or dentlich bekleidet war und seinen weißen Mantel anhatte, fiel es ihm gar nicht mehr so schwer, sich zu konzentrie ren und mit der Arbeit voranzukommen. Bald hatte er den Satz mit Peterkins Schnitten durchgemustert. Alles war normal und nirgends eine Spur von Abwehrreaktion zu entdecken. Trotzdem konnte er sich nicht mehr mit dem Gedan ken befreunden, mit Judith und Nathan zu experimentie ren. Die Durchführung der Transplantation, selbst wenn es sich nur um einen schmalen Hautstreifen handelte, erforderte einen kühlen Kopf und Fingerspitzengefühl. In seinem jetzigen Zustand konnte er unmöglich operieren. 186
Er sagte ihnen, daß die Proben von der Katze zweifel haft gewesen seien und weitere Tiere untersucht werden müßten, bevor man an Menschenversuche gehen könne. Sie waren ungeduldig und schimpften über seine Trödelei, aber sie konnten nichts dagegen tun. Die graugetigerte Katze starb nun doch noch ihren Opfertod. An den folgenden Tagen hielten ihn Judith und Nathan auf Trab. Sie schickten ihn täglich zum Einkaufen, und jedesmal wenn er zurückkehrte, fiel ihnen etwas Wichti ges ein, das sie vergessen hatten, ihm aufzutragen, und er mußte noch einmal in den Supermarkt. Judith lehnte es ab, weiterhin zu kochen, und diese Arbeit verschlang eine Menge seiner Zeit, denn sie machten ihm detaillierte Vorschriften, wie ihre Mahlzei ten zubereitet werden sollten, und sie machten ihm ge hässige Vorwürfe, wenn er sich nicht genau daran gehal ten hatte. Sie beschäftigten sich weiterhin damit, sich gegensei tig ihre Körper zu bemalen, aber langsam schienen sie das Interesse daran zu verlieren, denn meistens besserten sie sich nur noch die Muster aus, wenn sie sich in der Nacht verwischt hatten. Wenn Judith mit ihrem Äußeren zufrieden war, lag sie auf ihrer Tagescouch aus Stroh, über die sie ihren pfaublauen Burnus gebreitet hatte, und dachte sich neue Schikanen für Jakob aus, wobei ihr Na than als Berater zur Seite stand. Jakob klagte nicht und erfüllte geduldig jeden ihrer Wünsche. Obwohl er die Käfige abgeschlossen hatte, waren sie nicht mehr seine Gefangenen, stellte er fest, er war der ihre. Das Gitter setzte Judiths Kommunikationsmöglichkei ten, mit denen sie Jakob erreichen konnte, eine Grenze. Sie konnte ihn lediglich mit Worten drangsalieren, aber 187
oft dachte sie, daß das zu wenig sei. Sie hatte das Be dürfnis, ihn auch physisch zu quälen. Deshalb wechselte sie die Tonlage und versuchte, ihn in ihren Käfig zu loc ken, doch Jakob war auf der Hut. Darauf versuchte sie ihn zu provozieren und ihn so wütend zu machen, daß er wieder über sie herfiel, aber er ertrug stoisch ihre Ge meinheiten, zeigte keinerlei Anzeichen von Eifersucht und reagierte auf nichts, was sie auch anstellen mochte. Meistens führte er schweigend ihre Befehle aus, und wenn sie zu weit ging, ignorierte er sie, ebenso schwei gend. Judith war rasend über diese Art von Behandlung. Sie war gewöhnt, daß die Menschen in ihrer Umgebung auf sie reagierten, daß sie Mittelpunkt war. Deshalb mußte Nathan als Ersatz herhalten, und nun begann sie ihn zu quälen und zu provozieren. Eine Zeitlang machte es Nathan Spaß, und er versuch te sie seinerseits zu necken, aber da zeigte Judith ihre Krallen. Ihr Ton wurde schärfer und ihre Worte verlet zender. Nathan blieb ihr nichts schuldig. Sie stritten mit einander, brüllten sich an und warfen sich gehässige Be leidigungen an den Kopf. Doch letztlich war Nathan kein Gegner für Judith, sie war weitaus schlagfertiger und gewitzter als er, und sie hatte vor allem keinerlei Hem mungen. Wenn sie kämpfte, dann kämpfte sie mit jeder Waffe, derer sie habhaft werden konnte, und sie kümmer te sich nicht darum, ob sie fair oder ungerecht war. Nathan begann sich zurückzuziehen und gab den Kampf auf. Wenn Judith ihn zu provozieren suchte, dann ignorierte er sie wie Jakob, stellte sich taub und sah in die entgegengesetzte Richtung. Das war aber genau die Reak tion, die sie wahnsinnig machte und dazu bringen konnte, über ihn herzufallen und ihm das Gesicht zu zerkratzen. 188
Nathan betrat ihren Käfig nicht mehr, sondern blieb in seinem eigenen und beschäftigte sich mit den Hunden nebenan. Judith sprach ihn an, schrill oder schmeichle risch, je nach Laune, und als er keine Antwort gab, kroch sie durch die Öffnung, um auf ihn loszugehen. Doch dar auf reagierte Nathan – und zwar mit ungewöhnlicher Heftigkeit. Sie hatte kein Recht, ihn in seinem eigenen Käfig zu belästigen. Er packte sie brutal und schleifte sie in ihren Käfig zurück, und zum erstenmal hatte sie tat sächlich Angst vor ihm. Angst zu haben aber war für Judith eine erregende Empfindung, die sie genoß, und deshalb versuchte sie sofort einen neuen Vorstoß in Nathans Käfig. Wieder warf er sie hinaus und schlug brutal und rücksichtslos auf sie ein. Daraufhin wagte sie sich zwar nicht mehr durch die Öffnung, aber sie blieb davor stehen, als wolle sie es jeden Moment wieder versuchen, nur um Nathan heraus zufordern, sie von neuem anzugreifen, worauf sie natür lich in den Hintergrund ihres Käfigs geflohen wäre, um ihn zu foppen. Sie hoffte, Nathan so weit zu provozieren, daß er sich in ihren Käfig gewagt hätte, dann wäre sie über ihn hergefallen und hätte ihn hinausgejagt. Aber diese Streitereien wurden bald langweilig, weil sie immer wieder in denselben Gleisen verliefen und Ju dith nichts einfiel, wie man ihnen hätte neue Reize abge winnen können. Wieder kam die Langeweile, träge und bedrückend. »Du mußt etwas unternehmen!« schrie sie Jakob an. »So kann es nicht weitergehen!« »Wir müssen weitermachen«, sagte Jakob. »Ich kann unmöglich schon mit den Versuchen an euch beginnen.« »Dann mußt du uns herauslassen. Ich kann diese Lan 189
geweile nicht mehr ertragen, ich werde verrückt in die sem Käfig. Wenn du nicht mit uns experimentieren kannst, was sollen wir dann hier?« »Es tut mir leid. Ich wünschte, ich könnte euch gehen lassen, aber es ist unmöglich. Ihr habt selbst gesagt, daß ihr die Polizei auf mich hetzen und mich vor Gericht bringen wollt.« »Wir werden es nicht tun. Ich verspreche es dir.« »Ich kann euren Versicherungen nicht trauen. Wenn ihr einmal in Freiheit seid, werdet ihr keine Ruhe geben, bis ihr euch gerächt fühlt, ganz gleich, welche Verspre chungen ihr mir gegenüber gemacht habt. Das ist auch ganz natürlich, und ich muß zugeben, daß ich mir dar über Gedanken gemacht habe, wie ich es wiedergutma chen könnte, was ich euch angetan habe. Denn es ist doch so: Wie lange habe ich euch hier festgehalten? Nur ein paar Wochen. Aber wenn ihr zur Polizei geht, dann werden sie mich einige Jahre lang einsperren, das habt ihr selbst gesagt. Und das wäre ungerecht.« »Was hast du also vor?« »Ich weiß es nicht. Ich kann euch nicht einfach töten wie zwei Katzen. Ich fürchte, ich werde euch für immer hierbehalten müssen.« Judith stieß einen Schrei aus, und Jakob sah sie mitlei dig und ratlos an. »Ich weiß«, sagte er. »Es ist auch für mich ein schrecklicher Gedanke, aber was soll ich tun?« Einige Zeit lang war Judith niedergeschlagen. Sie hörte auf, mit Nathan zu streiten, und führte mit ihm lange, besorgte Gespräche über ihre Zukunft. Schließlich zeichneten sich ihr die Umrisse eines Plans ab. Sie dachte lange darüber nach, dann besprach sie den Einfall mit Nathan. Dieser stimmte der Idee sofort zu, 190
weil er darin die einzige Hoffnung auf einen Ausweg sah, und war einverstanden, daß man mit Jakob darüber reden sollte. Als Jakob das nächste Mal in der Tierstation erschien, sagte Judith zu ihm: »Ich habe einen Vorschlag zu ma chen. Ich glaube, ich habe einen Ausweg aus unserem Dilemma gefunden.« »Weiß Gott«, sagte Jakob. »Wenn das tatsächlich der Fall sein sollte, wäre ich glücklich.« »Was würdest du davon halten, wenn wir, Nathan und ich, anstatt zur Polizei zu gehen, unsere Rache an dir selbst vollziehen?« »Wie stellst du dir das vor?« »Mein Vater hat in Maine einen riesigen Grundbesitz gekauft, der jetzt mir gehört. Wenn du damit einverstan den bist, bringen wir dich dorthin und halten dich dort so lange fest, wie du uns hier festgehalten hast. Du bringst uns hier heraus, wir fahren gemeinsam nach Maine, und bevor es Herbst wird, hast du deine Zeit abgebüßt. Wir haben unsere Genugtuung, Gerechtigkeit ist geschehen, und du kannst beruhigt an deine Arbeit zurückkehren, ohne befürchten zu müssen, daß wir noch etwas gegen dich unternehmen.« »Das ist eine verrückte Idee«, lachte Jakob. »Ich halte es im Gegenteil für eine gute Idee. Bedenke doch, Jakob: Wenn du uns hier weiterhin festhältst, wirst du nie mehr in Ruhe arbeiten können. Dafür würden wir sorgen. Läßt du uns einfach laufen, dann wirst du ständig in der Furcht leben müssen, daß wir gerichtliche Schritte gegen dich unternehmen. Es ist für dich am besten, wenn du deine Buße auf dich nimmst, und wir bringen die Sa che hinter uns.« »Ich kann mich euch nicht auf diese Weise ausliefern.« 191
»Willst du lieber den Gerichten ausgeliefert sein?« Jakob knurrte angewidert bei dieser Vorstellung und ging ins Labor hinaus. Er setzte sich hin und überlegte hin und her. Dann ging er in die Tierstation zurück und sagte: »Es ist unmöglich, Judith. Wir müssen einen ande ren Ausweg suchen.« »Kannst du dir einen anderen Ausweg vorstellen?« fragte sie. Er ging wieder ins Labor zurück und dachte weiter nach. Die ganze Nacht brütete er über dem Problem. Als er am nächsten Morgen in die Tierstation kam, fragte er: »Wie würdet ihr mich behandeln?« »Wir würden dich nicht schlecht behandeln, nicht schlechter als du uns behandelt hast.« »Ich habe mein möglichstes für euch getan.« »Wir wissen, was du für uns getan hast.« Den ganzen Tag über ließ sich Jakob die Sache immer wieder durch den Kopf gehen, aber er fand keinen ande ren Ausweg und kam zu dem Schluß, daß Judiths Vor schlag, so sehr er ihm mißfiel, den Vorteil hatte, daß die ganze Angelegenheit in wenigen Wochen bereinigt sein würde. Jede andere Lösung würde sich bestimmt über Monate, wenn nicht über Jahre hinziehen. Am späten Nachmittag kehrte er in die Tierstation zu rück. Judith und Nathan sahen ihm gespannt und erwar tungsvoll entgegen, als ahnten sie, daß er seine Entschei dung gefällt hatte. »Gut«, sagte Jakob. »Ich glaube, mir bleibt nichts an deres übrig, als dem Vorschlag zuzustimmen.« Judith und Nathan warfen sich einen Blick zu. Es dau erte einige Sekunden, bis sie die Bedeutung seiner Worte voll erfaßt hatten. Dann, als ihnen bewußt wurde, daß er sie tatsächlich freilassen wollte, stahl sich ein Lächeln in 192
ihre Gesichter, sie sprangen auf, lachten und tanzten um her. Jakob sah ihnen mit gemischten Gefühlen zu. Es war ihm, als sei in ihrer Fröhlichkeit etwas, das er nicht ganz begriff. Sollte er auch fröhlich sein? Judith und Nathan wollten feiern, und nach einigem Zögern stimmte Jakob zu, daß dies ein Grund zum Feiern sei. Er ging in den Supermarkt und in ein Spirituosenge schäft, um einige Sachen zu besorgen, kehrte zurück und öffnete eine Flasche Whisky. Bald waren sie in bester Stimmung. Judith und Nathan kochten ein ganz besonde res Abendessen, dazu tranken sie einige Flaschen Wein. Sie wurden immer fröhlicher. Nach dem Essen beschlossen sie, daß sie ihrer Zeit in der Station irgendwie noch einen letzten Höhepunkt ge ben sollten. Judith schlug vor, eines der alten Rituale zu Ehren Jakobs zu zelebrieren. Jakob zog seine Kleider aus, legte den pfaublauen Burnus auf seinen Stuhl und wurde wieder zum Idol. Man konnte sogar noch schwach die goldenen und purpurfarbenen Streifen auf seinem Körper erkennen. Unter Gelächter vollzogen sie das Waschritual an Jakobs Händen, das sie noch gut in Erin nerung hatten, aber es war ihnen unvorstellbar, daß sie das einmal ernst genommen hatten. Aber als sie fortfuhren, spürten sie nach einer Weile doch noch etwas von dem alten Geist. Das Lachen er starb, und eine gewisse Feierlichkeit und Würde kam in ihre Bewegungen. Sie merkten, daß ihr Leben in jener Zeit glücklich gewesen war, weil ihre Tage ganz mit Pflichten ausgefüllt waren und ihr Dasein einen Zweck gehabt hatte. In ihren rituellen Bewegungen war eine Spur Trauer und Sehnsucht nach den vergangenen Zeiten.
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19 Am nächsten Morgen unterhielten sie sich darüber, wie sie am besten das Institut verlassen könnten. Judith und Nathan wollten zunächst nach Hause, aber Jakob stellte dies als seine letzte Bedingung: Sie müßten vom Institut direkt zum Flugplatz fahren. Er wollte nicht riskieren, daß sie Bekannte trafen oder ihre Post lasen, so daß sie vielleicht von wichtigen Dingen erfuhren, mit denen sie sich beschäftigen und die sie ablenken würden. Dabei könnten sie ihre Meinung ändern und doch zur Polizei gehen. Wenn sie dann im Flugzeug säßen, sagte er, soll ten sie bestimmen, was weiter geschehen sollte, aber bis dabin bestimme er, was getan werde. Er erklärte sich aber bereit, ihre Apartments aufzusuchen, um das Nötig ste, was sie für die Reise und in Maine brauchten, in Kof fer zu packen und herzubringen. Sie stimmten zu, weil sie nicht von neuem mit ihm Streit anfangen wollten. Es blieb ihnen in ihrer Lage auch nichts anderes übrig. Bevor er sich auf den Weg machte, rief Jakob Profes sor Laker an, um ihm zu sagen, daß er dem Institut einige Wochen fernbleiben werde, weil er einen Bericht über seine Experimente ausarbeiten wolle. Da das Institut sei nen Mitarbeitern in solchen Dingen größte Freiheit zu gestand, war die Erlaubnis nichts als eine Formsache. Als dies erledigt war, zog sich Jakob an, nahm seine Jacke und verließ das Institut. Mit einem Taxi fuhr er zuerst zu Nathans Wohnung. Es war ein heller, moderner Bau, in dem das Apartment lag. Er fuhr mit dem Fahr stuhl hinauf, in dem aus einem Lautsprecher Musik zu hören war, und schloß mit Nathans Schlüssel auf. Das Wohnzimmer war klein, aber teuer ausgestattet, Möbel in einem klaren, modernen Stil, schwarze Leder 194
sessel, ein Tisch mit Stahlfüßen und Glasplatte, Kakteen, inzwischen verdorrt. Das Licht fiel auf Bilder in Plakat farben, wahrscheinlich hatte sie Nathan selbst gemalt. Das Schlafzimmer war noch luxuriöser eingerichtet. Ein dicker Teppich, eine Seidendecke über dem Bett, Sei denkissen. Jakob sah sich um und versuchte, sich Nathan hier vorzustellen. Ohne Zweifel hatte Nathan oft Gäste, die Möbel waren von jener selbstbewußten Eleganz, die Be wunderung heischte, aber man konnte auch jene Spuren entdecken, die so typisch für die Behausung eines Jung gesellen sind: ein Haufen schmutziger Wäsche im Klei derschrank, alte Zahnbürsten im Bad, unabgespültes Ge schirr in der Küche, eine geöffnete Fleischkonserve, längst verschimmelt, eine Flasche verdorbener Milch im Kühlschrank. Jakob fühlte sich unbehaglich. Er hatte ge dacht, alles über Nathan zu wissen, was es Wissenswer tes gab, und nun fand er hier einen Ort, der geradezu ein Teil Nathans war, sichtlich von ihm geprägt, und er hatte sich ihn nicht einmal vorstellen können. In einem Schrank fand Jakob einen Koffer, den er mit farbigen Hemden, Pullovern und Hosen füllte, um die Nathan gebeten hatte. Er goß auch die Pflanzen, obwohl er annahm, daß sie längst abgestorben waren, und warf die Fleischkonserve und die Milchflasche in den Müll schlucker. Dann nahm er den Koffer und verließ das Apartment. Im Hausgang öffnete er Nathans Briefkasten. Unter dem Wust von Reklamedrucksachen fand er einige Briefe, ein paar mit der Maschine, ein paar von Hand geschrie ben, doch alle von verschiedenen Absendern. Nichts wies darauf hin, daß sich jemand über seine Abwesenheit Sor gen gemacht hätte oder wissen wollte, warum er einen 195
Brief nicht beantwortet hatte. Jakob steckte die Briefe wieder in den Kasten und schloß ihn ab. Als nächstes ging er zu seiner eigenen Wohnung. Er sah sich in seiner Behausung um und verglich sie mit Nathans Apartment. Sie war so nackt, so schmucklos und enthielt so gut wie keinen Hinweis auf die Person des Bewohners. Einen Augenblick lang war er neidisch auf Nathan; er hätte sich gewünscht, daß seine Wohnung wenigstens ein bißchen der seinen ähnelte, ein bißchen farbiger, stilvoller wenigstens, ein Ort, zu dem man Freunde einladen könnte. Er sah seine Post durch, die er mit heraufgebracht hatte, aber es war nur Reklame, und selbst davon war in Nathans Briefkasten mehr gewesen. Der einzige Brief, der angekommen war, stammte von seiner geschiedenen Frau, die ihm Grüße sandte und ihn darauf aufmerksam machte, daß seine Alimente überfäl lig waren. Jakob packte seinen eigenen Koffer, nahm den von Judith, der die ganze Zeit hinter der Tür gestanden hatte, und den von Nathan. Schwerbeladen machte er sich auf den Weg nach unten. Er winkte sich ein Taxi heran und ließ sich zu Judiths Apartment fahren. Er nahm ihren Koffer mit hinauf, während er die beiden anderen beim Portier abstellte. Er sah ihre umfangreiche Post durch. Wieder konnte er keine Anzeichen entdecken, daß sich jemand Sorgen machte. Warum auch? Ihre Freunde ver muteten sie in Kaschmir. Als Jakob den Schlüssel ins Schlüsselloch steckte, fühlte er eine Erregung, die ihm nun schon fast vertraut war. Trotzdem war er überrascht, als er von innen eine Frauenstimme hörte. »Wer, zum Teufel, kommt da?« Er ging ins Wohnzimmer und fand Lorette, nur mit ei 196
nem Schlüpfer bekleidet, eine Jadeplastik wurfbereit in der erhobenen Hand. »Ach du bist es, Jakob!« rief sie. »Freut mich, dich mal wieder zu sehen.« Sie stellte die Plastik ab, fiel ihm um den Hals und drückte ihre Brüste an ihn. »Paul ist eben gegangen«, sagte sie. Jakob küßte sie und dachte bitter an die verpaßten Ge legenheiten. Wie hatte er sie gesucht und hier zu finden gehofft? Um sie zu beschäftigen, bat er sie, ihm einen Kaffee zu machen. Während Lorette in der Küche hantierte, schlich er ins Schlafzimmer, leerte Judiths Koffer mit den Kleidern für ihre Indienreise und füllte ihn mit den Pullovern und Ho sen, die sie nach Maine mitnehmen wollte. Als Lorette den Filter vollgegossen hatte, kam sie wie der herein. »Was machst du da?« fragte sie verwundert. Jakob, völlig überrascht, fiel nichts anderes ein, als zu sagen: »Judith ist zurückgekommen.« »Ach! Deshalb bist du plötzlich so unnahbar, ver dammt noch mal. Wo ist sie?« »In meiner Wohnung. Wir fahren zusammen nach Maine, um den Rest des Sommers dort zu verbringen. Ich muß ein paar Sachen für sie holen.« »Das ist typisch Judith! Sie findet immer einen Mann, der ihr die Arbeit macht. Ausgerechnet jetzt, wo ich dich wieder getroffen habe, muß sie auch da sein. Das paßt mir gar nicht. Vielleicht kann ich Paul dazu überreden, daß wir auch nach Maine fahren.« »Für besonders einfallsreich halte ich das nicht.« »Danke für den Wink. Was ist los mit dir, Jakob? Hat dir der Vormittag, den wir hier zusammen verbracht ha ben, keinen Spaß gemacht?« 197
»O ja, sehr sogar.« »Und mit dem einen Mal bist du schon zufrieden?« »Aber nein. Ich hätte dich ja gern wiedergetroffen, aber ich wußte nicht, wie ich dich finden sollte.« »Ich war verreist, aber jetzt bin ich wieder zurück. Willst du nicht ein bißchen dableiben?« »Es tut mir leid, Lorette, aber das ist unmöglich.« »Weil Judith zurück ist? Bist du wirklich so verliebt in sie?« Jakob sah sie einige Sekunden lang nachdenklich an, dann sagte er: »Ist mein Kaffee noch nicht fertig?« Sie brachte ihn, und er trank eine Tasse. Dann packte er den Koffer fertig und trug ihn in den Vorraum. Er kehrte ins Wohnzimmer zurück, um sich von Lorette zu verabschieden. Als ob er nun nicht mehr würdig wäre, sie halb unbe kleidet zu sehen, hatte sie sich inzwischen ein Kleid an gezogen und saß schmollend und mit verdrossenem Ge sicht auf dem Sofa. Jakob fand, daß sie trotzdem hinrei ßend aussah. Lorette blickte auf. »Gehst du jetzt?« »Ja, ich muß.« »Ich sage dir eins, Jakob. Eines Tages wird es dir leid tun. Eines Tages wirst du es bereuen, daß du nicht hier bei mir geblieben, sondern zu Judith zurückgegangen bist.« »Vielleicht hast du recht. Ich muß aber trotzdem ge hen.« »Also gut, dann geh. Auf Wiedersehen.« »Auf Wiedersehen, Lorette.« Sie rührte sich nicht von der Stelle. Er beugte sich über sie, küßte sie auf ihre seidige Wange und ließ seine Hand über ihr blondes Haar gleiten. Einen Augenblick 198
lang zögerte er. Dann nahm er den Koffer und verließ das Apartment. Der Portier rief ihm ein Taxi, und er ließ sich mit den drei Koffern zum Institut fahren. Judiths und Nathans Koffer trug er in die Tierstation. Sie fielen darüber her und stöberten in ihren Kleidern herum. Wie Jakob erwartet hatte, schimpften sie ihn, weil er einige falsche Sachen gebracht hatte, aber glückli cherweise war ihm kein schwerwiegender Fehler unter laufen, denn er hatte keine Lust, den Weg noch mal zu machen und andere Kleider zu holen. Sie wollten wissen, ob Post für sie dagewesen war, und waren erbost, weil er sie ihnen nicht mitgebracht hatte, obwohl er ihnen aus drücklich gesagt hatte, daß er es nicht wollte. Hatte sich niemand nach ihnen erkundigt, wollten sie wissen, hatte sie niemand vermißt? Er versicherte ihnen, daß nichts darauf hingedeutet habe, daß sie von irgend jemandem vermißt wurden. Im Sommer verreisen doch die meisten, sagte er, und zwei oder drei Monate Abwesenheit seien nichts Ungewöhnliches. Die belegten Brote wurden gebracht, und Jakob fiel ein, daß er den Lieferdienst der Cafeteria anrufen mußte, damit die Zustellung bis auf Widerruf eingestellt wurde. Nach dem Essen zog sich Jakob aus, und alle drei schrubbten sich gegenseitig ab, bis die letzten Spuren ihrer Bemalung getilgt waren. Als sie alle drei wieder ihre natürliche Hautfarbe hat ten, sahen sie sich gegenseitig an und fühlten sich unbe haglich. Mit einemmal kamen sie sich voreinander wie Fremde vor und wurden sich ihrer Nacktheit bewußt, die sie so lange für selbstverständlich gehalten hatten. Jeder zog sich in eine andere Ecke zurück, um sich die Kleider anzuziehen, die sie auf der Reise tragen wollten. 199
Am Abend saßen sie auf ihren Stühlen in der Tiersta tion und fühlten sich riesenhaft grotesk in ihren Kleidern. Sie wunderten sich, wie sie so lange hatten in den Käfi gen leben können, die ihnen plötzlich so unerträglich klein, kahl und hart erschienen. Sie waren weder lustig noch freudig erregt bei dem Gedanken, daß sie am näch sten Morgen in die Welt zurückkehren würden. Im Ge genteil, sie waren ein wenig traurig und sogar ein biß chen ängstlich.
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20 Als Simon am nächsten Morgen kam, war er überrascht, sie alle in Kleidern zu sehen. Zunächst konnte er sie überhaupt nicht wahrnehmen und suchte in den Käfigen nach den farbenprächtigen Wesen, die ihm vertraut wa ren. Er verstand, daß sie ihn verlassen wollten, und war niedergeschlagen und unglücklich, doch Judith malte ihm ein neues Muster auf die Brust, das richtete ihn wieder ein wenig auf. Jakob rief Simons Vorgesetzten an, und sie vereinbarten, wie die Tiere in seiner Abwesenheit gefüttert und gepflegt werden mußten. Als Simon mit seiner Arbeit fertig war, wurde das Stroh aus den Primatenkäfigen entfernt, die Stühle und Campingklosette in einer Ecke des Futtermittelraums verstaut, die Zeltplanen und Decken zusammengefaltet und weggeräumt, bis nichts mehr darauf hinwies, daß die Käfige je bewohnt gewesen waren. Judith und Nathan starrten durch die Gitter, und es fiel ihnen schwer, sich vorzustellen, wie sie da gelebt hatten. Irgendwie war es deprimierend für sie, daß die Betonflächen und Eisenstäbe so nackt und kahl wirkten, daß keine Spur ihres farbigen Lebens in dem Grau zurückgeblieben war und sie nicht einmal einen winzigen Schimmer darauf hinterlassen hatten. Um sie aus ihrer melancholischen Stimmung zu rei ßen, wandte sich Judith Simon zu und sang und tanzte mit ihm. Er machte mit, und sie tanzten den Mittelgang auf und ab, während die Hunde sie aufgeregt anbellten. Judith küßte Simon und verabschiedete sich herzlich von ihm. Als Jakob ihn zur Tür brachte, liefen dem Jungen die Tränen über die Wangen. Darauf verabschiedeten sie sich von den Tieren. Sie 201
kannten längst jeden einzelnen der Hunde und alle Kat zen, und jedes Tier hatte einen Namen. Selbst die Mäuse und Hamster konnten sie inzwischen an individuellen Zügen unterscheiden. Da gab es welche, die waren im mer quicklebendig, andere immer schläfrig und wieder andere besonders neugierig. Die Katzen und Hunde schienen zu ahnen, daß sie von ihnen verlassen wurden, denn sie schauten sie traurig an. Nathan tätschelte seinen besten Freund, einen Terrier mit Hängeohren, der sein Käfignachbar gewesen war, und ließ sich von Jakob ver sprechen, daß er ihn nach ihrer Rückkehr aus Maine mit nach Hause nehmen dürfe. Judith erinnerte sich mit Verwunderung daran, wie wütend sie gewesen war, als Nathan sich mit dem Hund anstatt mit ihr unterhalten hatte. Sie streichelte die Kat zen und sagte Jakob, daß auch sie eine von ihnen als Er innerung haben möchte, sobald sie zurück seien. Jakob untersuchte ein letztes Mal die Transplantate im Fell der Tiere; alles war tadellos. Er trug die Ergebnisse ins Journal ein, tätschelte die Hunde, kraulte die Katzen und ging ins Labor zurück. Er packte eins der Mikrosko pe in einen Schutzbehälter und legte es in seinen Koffer, nahm die restlichen Schnitte der graugetigerten Katze und steckte die Objektträger in ein Kästchen mit ge schlitzten Halterungen, das speziell zur Aufnahme dieser Glasstreifen diente. »Was machst du da?« fragte Judith. »Ich möchte mir ein bißchen Arbeit mitnehmen.« »Wir gehen in die Wildnis, Jakob. Außerdem ist das Mikroskop viel zu schwer als Fluggepäck.« »Glaubst du?« Er sicherte das Gerät sorgfältig für den Transport. »Es ist zwar schwer, aber wir können ja etwas draufzahlen.« 202
»Das ist unmöglich. Es kann nicht befördert werden.« »Ach so. Nun, wenn du meinst. Dann nehme ich we nigstens meine Aktentasche mit. Ich habe, weiß Gott, auch Schreibarbeit genug, um mehr als beschäftigt zu sein.« »Tut mir leid«, sagte Nathan. »Aber die wirst du auch nicht mitnehmen.« »Wieso? Das Gewicht ist doch nicht der Rede wert.« »Hör zu, Jakob! Kannst du dich erinnern, daß du mir nicht einmal das Zeitunglesen erlaubt hast? Und genau deshalb wirst du auch deine Aktentasche dalassen.« Jakob blickte Nathan prüfend an und sah, daß dieser es ernst meinte. »Also gut, Nathan«, sagte er. »Ich nehme an, daß es gerechtfertigt ist, wenn du die Sache so siehst.« Es überkam ihn ein winziger Anflug von Furcht, als er Nathans Gesicht betrachtete, diese schmale Stirn. Was würde dahinter wohl noch alles ausgebrütet werden, um es ihm heimzuzahlen? Nathan trug schon die Koffer hinaus, während sich Ja kob noch einmal im Labor umsah, ob alles in Ordnung war. Er sah die Schränke durch, aber von Judiths Sachen war alles verschwunden; der pfaublaue Burnus war ein gepackt, das cremefarbene Leinenkleid ebenso. Für die Reise nach Maine trug sie einen dunkelblauen Hosenan zug im Military-Look mit glänzenden Messingknöpfen, den Jakob aus ihrer Wohnung geholt hatte. Er ging ein letztes Mal in die Tierstation und verab schiedete sich von seinen Tieren. Er hoffte, daß sie gut versorgt würden während seiner Abwesenheit. Er be trachtete die gähnende Leere der Primatenkäfige, und ein plötzliches Gefühl der Trauer überkam ihn. Dann eilte er zur Eingangstür, wo Judith und Nathan schon auf ihn warteten. Sie gingen den langen dämmrigen Korridor 203
entlang zu den Aufzugsschächten. Jakob drückte einen Knopf, und sie standen da, die Augen auf die Signaltafel geheftet, auf der die Lichter das langsame Näherkommen von Fremden und Unbekannten anzeigten. Als die Tür aufglitt, sahen sie, wie erwartet, eine Rei he fremder Gesichter, die ihnen entgegenstarrten. Sie zögerten einen Moment, doch dann stiegen sie rasch ein und drehten sich zur Wand, um nicht all den Blicken standhalten zu müssen, die auf ihnen ruhten. Sie standen näher beieinander, als es notwendig gewesen wäre, als müßten sie sich gegenseitig in dieser ungewohnten und scheinbar feindseligen Welt ihrer Anwesenheit versi chern. Der Portier an der Eingangstür sah sie neugierig an, aber bevor ihm einfiel, was er sie hätte fragen können, hatte Jakob schon ein Taxi herangewinkt. Sie verstauten ihr Gepäck im Kofferraum und quetschten sich auf den Rücksitz. Jakob saß in der Mitte. Sie fuhren die Straße hinunter und bogen in die Third Avenue ein. »Mein Gott, ist das ein Lärm«, sagte Judith. Sie zuckte zusammen und hielt sich die Ohren zu. Der Fahrer lä chelte, – warf ihr im Rückspiegel einen Blick zu und drückte auf die Hupe, um den Lärm noch zu verstärken. Sie fuhren den East River entlang. Er lag zu ihrer Rechten und war voll mit Schleppern und Lastkähnen. Dann fuhren sie über die Triborough-Brücke. Hinter ih nen sahen sie die hohen Türme von Manhattan, die sich gegen den Himmel abzeichneten, und sie versuchten in der zerklüfteten Gebirgskette der Wolkenkratzer das In stitut auszumachen, aber sie konnten es nicht entdecken, die City hatte es verschluckt. Sie erreichten den La-Guardia-Flughafen und fuhren 204
zum Boston-Terminal. Ein Träger nahm ihre Koffer, Ja kob bezahlte das Taxi, und dann gingen sie durch die Eingangshalle und die langen Korridore entlang. Sie mußten sich anstellen und einige Minuten warten, dann durften sie auf den Flugsteig hinaus. Ein Flugzeug warte te, sie gingen die Treppe hinauf, traten gebückt durch die niedrige Tür und fanden drei Plätze nebeneinander. Nach einigen Minuten wurden die Motoren angelas sen, sie rollten auf die Startbahn und hoben ab. Als sie eine Kurve flogen, erhaschte Jakob einen Blick auf Man hattan. Aus dieser Höhe wirkte die Ansammlung riesiger Gebäudekomplexe wie ein Erdhügel, den Ameisen auf einem trockenen Feld erbaut hatten. Ein Fußtritt hätte genügt, um ihn zu zermalmen. Die Stewardeß verteilte Zeitungen. Nathan ließ sich eine geben und vergrub sich darin. Nach einer Weile sagte Jakob: »Haben meine Schlagzeilen gestimmt?« »Nein«, sagte Nathan. »Die Dinge stehen noch schlechter.« »Haben wir noch eine Frist?« »Wer?« »Wir, die wir auf dieser Erdoberfläche leben.« »Es sieht nicht danach aus.« Jakob stellte fest, daß Nathan davon nicht sonderlich beeindruckt schien, denn er wandte sich dem lokalen Teil zu. Die Stewardeß kam mit ihrem Flugkartenblock. Judith reichte ihr eine Kreditkarte und sagte: »Die beiden Her ren gehören zu mir.« Nachdem sie in Boston gelandet waren, mußten sie eine Stunde auf Anschluß warten. Sie setzten sich mit ihrem Gepäck in die Halle des Flughafengebäudes. Jakob sah einem Mädchen zu, das lebendige Hummer aus einem 205
Wasserbottich fischte, in Kartons verpackte und an Rei sende verkaufte, die zu ihren Flugzeugen gingen. Er be wunderte die Geschicklichkeit, mit der sie die Tiere handhabte. Nathan fand einen Zeitungsstand und kaufte einen Stapel Magazine, darunter sämtliche Modezeit schriften, die vorrätig waren. »Na also«, sagte Jakob. »Jetzt haben wir ja was zum Lesen.« »Die sind nicht für dich gedacht«, sagte Nathan. Sie fanden eine Bar und tranken, bis endlich ihr Flug zeug ausgerufen wurde. Eine Weile später starteten sie, und bald lag Boston hinter ihnen. Die Spuren der Zivilisation unter ihnen wurden spärlicher, nur ein paar Kleinstädte und Dörfer auf dem Saum zwischen Land und Meer. Bald darauf kam eine größere Stadt in Sicht, und das Flugzeug be gann tieferzugehen.
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21 Der Flugplatz von Bangor hatte nur eine Landepiste und ein kleines Abfertigungsgebäude. Sie hatten keine Eile, und deshalb ließen sie sich Zeit, suchten ihre Sachen zu sammen und kletterten aus dem Flugzeug. Die anderen Passagiere, offenbar Einheimische, hasteten eilig davon. Ein paar Männer in abgetragenen karierten Jacken be grüßten die Ankömmlinge. Als sie endlich ihr Gepäck hatten, waren alle Taxis vor dem Gebäude verschwunden, und kein Mensch war mehr zu sehen. Judith fand endlich einen Flugplatzangestellten und befahl ihm ärgerlich, ein Taxi zu bestellen. Wenn sie sonst angekommen sei, erklärte sie ihm, sei immer ein Wagen für sie bereitgestanden. Sie gingen am Rand des Flugplatzes auf und ab und besahen sich die Gegend. Es dauerte über eine Stunde, bis endlich ein Taxi kam. Der Fahrer war mürrisch und verlud wortlos ihre Kof fer. Judith sagte ihm, wohin sie wollten: zu Duttons An legeplatz. Er fuhr sie in Richtung Stadt, ohne ein Wort zu verlieren. Das sei die typische Willkommensgeste der Bewohner von Maine gegenüber Fremden, erklärte Ju dith. Sie fuhren in die Stadt und kamen zu einem Lan dungssteg am Ufer des Flusses. Zwischen Lagerhäusern und kleinen Fabriken stand ein Holzgebäude. In großen Buchstaben hatte man Dutton an die Front gemalt. Sie fanden alle Türen verschlossen, und der Taxifahrer fuhr davon, bevor sie ihn um Hilfe bitten konnten. Sie ließen ihre Koffer am Landungssteg stehen und gingen die Straße entlang. An einer Tankstelle fanden sie einen Mann, der ihnen sagte, daß bei Dutton nur über die Mittagszeit geschlossen sei und in einer Weile sicher 207
wieder jemand da sein werde. Es war nun fast drei, und sie hatten Hunger. Über die Straße lag ein kleines grün gestrichenes Cafe, wo man zwar nichts Alkoholisches bekam, dafür aber eine Fischsuppe in schmutzigen Tel lern mit altem Zwieback und Hamburger mit Ketchup. Sie saßen über ihren Tassen mit ölig schmeckendem Kaf fee und waren sehr niedergeschlagen. »Ich dachte, du hättest uns was Besseres zu bieten, Ju dith« sagte Nathan. »Wir hätten eine Nachricht schicken sollen, daß wir kommen«, sagte sie. »Wieso müssen wir auf diesen Dutton warten? Kön nen wir nicht mit dem Taxi fahren?« »Es ist zu weit.« »Soll das heißen, daß wir noch gar nicht da sind? Sieht ja das schon wie das Ende der Welt aus.« »Wir müssen noch hundert Meilen nach Norden.« »Hundert Meilen? Wieso sitzen wir dann ewig hier herum? Mieten wir doch einen Wagen und fahren los.« »Es gibt keine Straße dorthin, Nathan. Du mußt dich gedulden.« Sie gingen zurück zur Anlegestelle und stellten fest, daß Dutton inzwischen geöffnet hatte. Sie traten ein. Es war ein Laden voll mit Seilen, Ketten und Planken. Ein alter, grauhaariger Mann kam aus dem Hintergrund auf sie zugeschlurft und knurrte sie an: »Was wollt ihr hier?« »Erinnerst du dich nicht mehr an mich, Herbert?« fragte Judith. Der Alte fingerte nach einer metallgefaßten Brille, setzte sie sich auf die Nase und äugte angestrengt durch die Gläser. Darauf stieß er einen überraschten Schrei aus, der in einen Hustenanfall überging. Als er sich wieder erholt hatte, stürzte er auf Judith zu und schüttelte ihr die 208
Hand, brachte Stühle angeschleppt und machte ihr Vor würfe, daß sie ihn nicht benachrichtigt hatte und so aus heiterem Himmel hier auftauche, denn um das Nötige zu veranlassen, sei eine rechtzeitige Vorwarnung nötig. »Ruf Harry ’runter«, sagte Judith. Der Alte kurbelte gehorsam an seinem Telefon und brüllte etwas in den Hörer. Ein paar Minuten später hörte man draußen einen uralten Wagen heranheulen, der mit kreischenden Bremsen zum Stehen gebracht wurde. Ein grauhaariger Mann in einer rotkarierten Jacke und einer Baseballmütze auf dem Kopf stürzte zur Tür herein und begrüßte Judith. Es war Herberts Sohn. »Ist im Haus alles in Ordnung, Harry?« fragte sie. »Alles in Ordnung, Fräulein Judith. Ich habe erst vor einem Monat nach dem Rechten gesehen. Es ist noch alles genauso, wie es ihr alter Herr verlassen hat.« »Dann brechen wir auf, wenn du bereit bist.« »Ich bin immer bereit, Fräulein Judith. Dafür ist Dut ton bekannt.« Harry ging wieder hinaus, und Jakob und Nathan folg ten ihm. Sie hatten nicht die leiseste Ahnung, was auf sie wartete. Etwas bestürzt sahen sie deshalb Harry zu, als dieser in ein winziges Ruderboot stieg, das an dem Lan dungssteg vertäut lag, es losmachte, abstieß und auf den Fluß hinausruderte. Ihre Bestürzung wuchs, als sie be merkten, daß er auf ein einmotoriges Wasserflugzeug zuruderte, das mitten im Fluß verankert war. Harry band das Boot an die Ankerboje, stieg auf einen der Schwimmer des Flugzeugs und kletterte in die winzi ge Kabine unter der Tragfläche. Gleich darauf hörte man eine Reihe hustenähnlicher Geräusche, Rauchwolken wurden in die Luft gepustet, der Propeller drehte sich ein paarmal, ruckte und stand wieder still. Nach mehreren 209
Versuchen sprang der Motor an, der Propeller begann zu wirbeln und wurde zu einer röhrenden Scheibe. Harry kletterte aus der Kabine, warf die Ankerleinen los, klet terte wieder hinein und steuerte die Maschine auf den Landungssteg zu. Als er heranglitt, stellte er den Motor ab, und der alte Herbert packte den Flügel, der über ihren Köpfen schwebte, zog das Flugzeug heran und hielt es fest. »Du erwartest doch nicht etwa von uns, daß wir mit diesem Ding da fliegen, Judith?« fragte Nathan entsetzt. »Es ist völlig sicher. Es fliegt schon seit vielen Jahren. Mein Vater benutzte es jedesmal, wenn er hierher kam.« Harry verstaute ihre Koffer in dem winzigen Gepäck raum hinter der Kabine. Jakob sah ein, daß Judith recht gehabt hatte mit dem Transport des Mikroskops. Es schien ihm schon unwahrscheinlich genug, daß das Flug zeug mit vier Personen fliegen sollte. Trotzdem stieg er auf den Schwimmer, der unter seinem Gewicht tief ins Wasser eintauchte, kletterte in die Kabine hinauf und kroch auf den hinteren Sitz, während Harry die Maschine an den Landungssteg hielt. Nathan kam ihm nachgeklet tert und ließ sich neben ihm auf den Sitz sinken. Er sah recht blaß aus, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Judith stieg ein und setzte sich neben den Pilotensitz vor ihnen. Sie genoß sichtlich das Unbehagen ihrer beiden Freunde. Als letzter kletterte Harry an Bord. Das Flug zeug schaukelte und schwankte, bis er endlich auf dem Pilotensitz Platz genommen hatte. Er sah sich um und vergewisserte sich, ob sie alle auf ihren Plätzen saßen. »Wo sind die Schwimmwesten?« wollte Nathan wis sen. »Zum Teufel mit diesem Zeug«, sagte Harry. »Mit so was geben wir uns nicht ab, stimmt’s, Fräulein Judith? 210
Wenn wir tatsächlich ’runterknallen, dann helfen uns auch Schwimmwesten nichts mehr.« Er kicherte, gab seinem Vater durchs Fenster ein Zeichen und ließ den Motor an. Als die Maschine auf Touren kam, ließ Herbert den Flü gel los, und sie steuerten in die Mitte des Flusses. Plötzlich gab Harry Vollgas, der Motor brüllte auf, und sie rasten auf einem Zickzackkurs den Fluß hinunter, um ankernden Booten auszuweichen. Gischt sprühte auf beiden Seiten hoch. Vor ihnen wuchs eine Brücke auf sie zu, die den Fluß überspannte. Der Gischt fiel zurück, als sie abhoben und genau die Mitte der Brücke anzusteuern schienen. Harry zog die Maschine in kaum zwei Meter Höhe über das Geländer, und Jakob sah die Autodächer ganz nahe unter sich. Wäre ein Lastwagen auf der Brücke gewesen, dachte er, dann hätte es sie erwischt. Nach wenigen Augenblicken war die Stadt und der Fluß hinter ihnen verschwunden, und sie flogen über be waldetes Gebiet, unterbrochen von braunen und gelben Rechtecken landwirtschaftlicher Nutzflächen. Sie über flogen eine Kette kleiner Seen, an denen Wochenendhäu ser lagen. Jakob konnte das weiße Kielwasser von Renn booten erkennen, die Wasserskiläufer hinter sich her zo gen. Aber bald wurden die Häuser und Felder spärlicher, und eine geschlossene Waldlandschaft mit einsamen Seen lag unter ihnen. Das Dröhnen des Motors war zu laut, als daß man sich hätte unterhalten können. Trotzdem beugte sich Harry zu Judith hinüber und brüllte ihr etwas ins Ohr. Sie drehte ihren Kopf nach hinten zu Jakob und Nathan und schrie: »Harry will wissen, ob ihr die direkte oder die sichere Strecke fliegen wollt.« »Was heißt hier sichere Strecke?« brüllte Nathan zu rück. 211
»Das heißt, wir machen einen Umweg über den Moo sehead Lake und fliegen dann von See zu See. Wenn auf dieser Route irgend etwas schiefgeht, dann können wir jederzeit auf dem Wasser niedergehen. Der direkte Weg ist über die Wälder.« »Wir fliegen den direkten Weg«, sagte Jakob. Harry hörte es und nickte. Judith lächelte und setzte sich wieder in ihrem Sitz zurecht, während Nathan Jakob einen haßerfüllten Blick zuwarf. Jakob sah geradeaus. Judiths Schultern wirkten schmal in der militärisch geschnittenen Jacke ihres Anzugs, und sie sah sehr adrett aus. Sie hatte sich einen seidenen Schal über das Haar gebunden. Die massigen Schultern neben ihr in der rotkarierten Jacke machten einen ebenso militärischen wie kompromißlosen Eindruck. Jakob mu sterte das Gesicht unter der spitzigen Baseballmütze, es war ausdruckslos. Vor ihnen schwirrte die schimmernde Scheibe des Propellers. Weit voraus baute sich eine be waldete Bergkette auf, dahinter, blaugrau, höhere Berg gipfel. Jakob blickte aus dem Seitenfenster und konnte tief unten die hohen, dicht aneinander stehenden Wipfel der Tannen erkennen, die das Land von Horizont zu Ho rizont bedeckten. Er versuchte, in den Wäldern Spuren menschlicher Ansiedlungen zu entdecken, die Andeutung einer Straße oder sonstige Anzeichen menschlicher Tä tigkeit auszumachen. Einmal überflogen sie eine Lich tung, wo man Holz geschlagen hatte, aber sonst war nichts zu entdecken. Endlich, als Jakob schon dachte, das Dröhnen des Motors werde ihm den Kopf zersprengen, sah er, daß Harry nach vorn deutete und Judith auf etwas aufmerksam machte. Er beugte sich auch nach vorn und bemerkte einen grau 212
blauen Fleck inmitten des grünen Waldteppichs. Er tippte Judith auf die Schulter und fragte, indem er ihr ins Ohr schrie, ob das ihr Ziel sei. Sie nickte, und er starrte wie der nach vorn, versuchte die Ausdehnung der Wasserflä che zu schätzen und hatte erhebliche Zweifel, ob sie groß genug sei, um zu landen. Als der See näher kam, konnte man erkennen, daß er lang und schmal war, aber gebogen wie eine Sichel, eine blaue Sichel, die tief im grünen Herzen des Waldes steckte. Sie flogen zwischen zwei Hügeln hindurch, und plötzlich war Wasser unter ihnen. Sie kurvten steil hinun ter, das Wasser hob sich ihnen entgegen, kippte hoch, drehte sich um sie, Wald, Wasser, Wald, dann wieder Wasser. Nathan keuchte und hielt sich krampfhaft fest. Das Flugzeug kam wieder in die Horizontale und setzte hart auf. Wasser gischte hoch, klatschte gegen den Rumpf und lief über die Seitenfenster herunter. Der Motor brüllte auf, wieder knallten sie aufs Was ser, noch mehr Gischt spritzte hoch, endlich wurde die Maschine langsamer, und die Schwimmer sanken ein. »Wir sind da«, sagte Harry. Er wendete das Flugzeug und hielt aufs Ufer zu. Jakob sah einen hölzernen Anlegesteg und dahinter, zwischen dem Wasser und den bewaldeten Hügeln, ein langge strecktes, stabiles Haus aus grauen, roh behauenen, vom Wetter gebeizten Baumstämmen. Harry stellte den Motor ab, und sie glitten auf den Steg zu. Judith öffnete die Tür auf ihrer Seite und kletterte auf den Schwimmer hinunter. Als sie nahe genug waren, sprang sie auf den Steg und hielt das Flugzeug an einer Tragflächenstrebe fest. Mit ein paar Leinen in der Hand kletterte Harry hinaus und machte die Maschine an den Eisenringen fest, die am Steg angebracht waren. Darauf 213
krabbelten auch Jakob und Nathan aus ihren Rücksitzen und kletterten mit zittrigen Beinen über den Schwimmer auf den Steg. »Habt ihr den Elch gesehen?« fragte Judith. »Ich habe überhaupt nichts gesehen«, sagte Jakob. »Du hättest ihn sehen müssen. Er ist riesig. Er ist jedesmal hier, wenn jemand ankommt, und wartet am Lan dungssteg. Wir haben ihn jetzt verschreckt, aber er kommt wieder zurück.« Harry holte ihre Koffer aus dem Gepäckraum, und dann gingen sie über die Holzplanken an Land und zum Haus hinauf. Die Stämme, aus denen es gebaut war, hat ten riesenhafte Ausmaße, jeder von ihnen hatte fast einen Meter Durchmesser. Starke Holzläden sicherten die Fen ster. »Jetzt habe ich ein bißchen Angst«, sagte Judith. »Ich war nicht mehr hier, seit mein Vater tot ist.« Jakob reichte ihr den Arm, und sie hielt sich daran fest. »Warum bist du seither nicht mehr da gewesen?« fragte er. »Ich wollte nicht allein herkommen, auch wenn ich manchmal gern allein bin. Es ist selbst für mich etwas zu einsam, aber andererseits wollte ich nicht eine Menge Leute mitbringen, die nicht hierherpassen würden.« »Gibt es denn an dem See nicht noch andere Häuser?« fragte Nathan. »Natürlich nicht. Mein Vater wollte keinen anderen Menschen in der Nähe haben, wenn er hier wohnte. Er hat den See und die umliegenden Wälder gekauft, soweit das Auge reicht, einige hundert Quadratkilometer jung fräulichen Urwald. Das Haus ist mit allem Notwendigen ausgerüstet. Er konnte hierherfligen, wenn es ihm gera 214
de einfiel, wenn er gerade Lust dazu hatte, ohne sich ums Kofferpacken oder um Proviant kümmern zu müs sen.« »Und das alles gehört jetzt dir?« fragte Nathan. »Ja. Es ist das einzige, was nicht an die Stiftung oder irgendeine Verwaltungsgesellschaft gefallen ist. Er wußte, daß ich es in seinem Sinne verwalten und die Holzfäller nicht in das Gebiet lassen würde. Das ist auch ein Grund, warum ich diesen Ort so liebe, hier habe ich die wenigen Stunden erlebt, in denen mein Vater Zeit für mich fand.« Harry brachte einen großen eisernen Schlüssel zum Vorschein und öffnete die Eingangstür. Sie quietschte in den Angeln, als sie aufschwang. Sie traten in das dunkle, muffig riechende Innere, ein großer Raum, starke Dach balken über ihren Köpfen. Harry ging umher und öffnete die Fensterläden, der Tag drang herein wie das Licht von Scheinwerfern, das die schweren Möbelstücke erfaßte, die von Schutzüberzügen bedeckt waren. Während Nathan und Jakob sich umsahen, gingen Ju dith und Harry in die Küche. Auch dort öffnete Harry die Läden, dann setzte er den mit Petroleum funktionieren den Kühlschrank und die Tiefkühltruhe in Betrieb, sah nach, ob genügend Flaschengas für den Herd und den Warmwasserspeicher vorhanden war, und kontrollierte die Vorräte. Darauf brachte er neue Batterien für das drahtlose Telefon im Büro und tauschte sie gegen die alten aus. Er probierte das Gerät aus, indem er mit sei nem Vater in Bangor Verbindung aufnahm, und schrieb die Nummer auf, unter der ihn Judith erreichen konnte, wenn sie wieder abgeholt werden wollten oder irgendein Notfall eintrat. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrten, standen Jakob 215
und Nathan schweigend an einem der Fenster und sahen auf den See hinaus. »Wie ist das eigentlich mit Lebensmitteln hier?« fragte Nathan. »Es ist alles da – in Büchsen: Fleisch, Gemüse, Eipulver, Trockenmilch, Butter, Mehl.« »Dann gibt es also nichts Frisches.« »Aber natürlich! Wir können uns jeden Tag frisches Brot backen, wenn wir wollen. Du kannst dir im See Fo rellen fangen oder in die Wälder zur Jagd gehen.« »Nicht gerade mein Fall«, sagte Nathan. »Was Wald anbetrifft, beschränken sich meine Erfahrungen nur auf den Central Park.« »Als ich ein Junge war«, sagte Jakob, »hat mich mein Vater oft in die Adirondacks zum Zelten mitgenommen. Für Fische und frisches Fleisch könnte ich sorgen.« Nathan warf ihm einen feindseligen Blick zu. »Warum gibt es hier keinen elektrischen Generator?« fragte er Judith. »Dazu würde man einen Motor brauchen. Wenn sich mein Vater hierher zurückzog, wollte er nicht nur keine Menschen sehen, sondern auch keinen Motorenlärm hö ren. Wenn Harry abgeflogen ist, wird es in weitem Um kreis keine Maschine mehr geben.« »Die gesamte Einrichtung des Hauses wurde doch si cher nicht mit dem Flugzeug hergebracht.« »Nein. Damals, als das Haus gebaut wurde, hat man vom nächsten Holzfällerlager eine provisorische Straße angelegt. Aber das Lager ist nun längst verlassen und die Straße wieder zugewachsen.« Harry fragte, ob sie noch irgendwelche Wünsche hät ten, sonst würde er sich jetzt auf den Rückflug machen. Judith verneinte, und sie begleiteten ihn zum Landungs 216
steg hinunter. Jakob hielt die Maschine an den Tragflü gelverstrebungen fest, während Harry die Ankerleinen loswarf und einholte. »Auf Wiedersehen, Fräulein Judith«, sagte er. »Rufen Sie an, wenn Sie mich brauchen.« Er schüttelte ihr die Hand, nickte Jakob und Nathan zu und kletterte in die Kabine, wo er zunächst seine Geräte überprüfte. Knat ternd sprang der Motor an und heulte auf, daß das Echo von den umliegenden Hügeln widerhallte. Harry winkte, die Maschine kam dröhnend auf Touren und glitt zur Mitte des Sees. Harry drehte sie in den Wind, gab Voll gas, der Motor brüllte auf, und das Flugzeug wurde im mer schneller. Es zischte über die Wasseroberfläche, die beiden Schwimmer warfen Gischt hoch, dann hob es ab. Ein paar Minuten später war es nur noch ein laut sum mendes Insekt am Himmel, das Kurs auf die nahen Ber gen nahm und hinter ihnen verschwand. Eine ungeheure Stille senkte sich herab. Sie standen am Ende des Landungsstegs und blickten über das Wasser, das in der Abendsonne wie Silber glitzer te. Bald kehrten die Geräusche zurück, das Schnalzen eines hochschnellenden Fisches, Insekten, die sie umsummten. »Dort drüben ist er«, rief Judith. »Seht ihr ihn? Genau da drüben.« Sie blickten in Richtung ihres ausgestreckten Arms, und da sahen sie den Elch. Er stand knietief im Wasser, seine Silhouette hob sich gegen die silbrig glitzernde Oberfläche des Sees ab, ein massiger, dunkler Schatten mit ungeheuren Schultern und riesigen Schaufeln, die seinen Kopf krönten. Sein großes, langgestrecktes Ge sicht war ihnen zugewandt. Er sah sie an. »Hallo!« rief Judith. »Bist du gekommen, um mich zu begrüßen?« 217
Der Elch schüttelte den Kopf, als müsse er ein paar Fliegen verjagen, die ihn belästigten, dann ging er ein paar Schritte im Wasser auf sie zu. »Gehen wir lieber ins Haus zurück«, sagte Nathan. »Hast du noch nie einen Schaufler gesehen, Nathan?« fragte Judith. »Aber natürlich«, sagte er. »Im Zoo von Bronx.« »Er tut dir nichts. Trotzdem gehen wir jetzt ins Haus. Wir haben noch eine Menge zu tun, bevor es dunkel wird.« Sie verließen den Steg, und hinter ihnen stand die schwarze Masse des Elchs, die wie ein Schatten über dem glitzernden Wasser zu schweben schien. Aus dem Holzschuppen hinter dem Haus trug Jakob dicke Scheite ins Wohnzimmer und entfachte in dem Steinkamin ein großes Feuer. Judith zog die staubigen Schutzbezüge von den Möbeln, dann brachte sie Bettwä sche und Decken aus einem Schrank. »Ich weiß nicht, wie ihr darüber denkt«, sagte sie. »Aber ich möchte jetzt eine Weile allein schlafen. Ich glaube, das ist das Beste für uns alle.« Beide Männer schwiegen, und Judith richtete drei Bet ten in verschiedenen Schlafzimmern her. Sie brachte Handtücher und Seife, machte sich dann in der Küche zu schaffen und schob schließlich eine Kasserolle in den Herd. Mit einer Flasche Whisky in der Hand kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und setzte sich zu ihnen. Nathan schenkte die Gläser voll, und sie setzten sich alle drei auf das riesige Sofa vor dem Kamin. Einige Zeit lang blickten sie schweigend in die Flammen, die zuc kend hochleckten und im Kamin verschwanden. Die Stille war vom Knacken und Knistern der brennenden Scheite erfüllt, vom Zischen der Petroleumlampen und vom Ticken der Insekten, die gegen die Fensterscheiben flo 218
gen. Der Geruch von Harz und Holzrauch umgab sie, und aus der Küche drang der Duft des Essens. Judith streckte ihre Hand nach Jakob aus. Er nahm sie in die seine und hielt sie fest. »Na, du Gefangener«, sagte sie. »Wie gefällt dir deine Gefangenschaft?« »Ausgezeichnet«, sagte er. Er konnte sich nicht erin nern, sich jemals wohler gefühlt zu haben. »Ich wünschte, ich könnte immer so ein Leben führen.« »Wir behandeln dich besser, als du uns behandelt hast, nicht wahr?« »Ja, du hast recht.« »Du behandelst ihn viel zu gut«, sagte Nathan. »Es ist ungerecht, wenn wir ihn so behandeln.« Eine Weile fielen sie wieder in Schweigen und erin nerten sich daran, aus welchem Grund sie zusammen hier waren. Judith streckte ihre andere Hand nach Nathan aus. »Laß uns Frieden schließen, Nathan. Wenigstens für heute nacht sollten wir Frieden schließen.« Nathan ergriff ihre Hand und führte sie an die Lippen. »Einverstanden, Judith. Für heute nacht wollen wir Frie den schließen.« Wieder saßen sie schweigend beisammen und starrten in die zuckenden Flammen. Plötzlich hörten sie draußen laute Schritte. Sie fuhren erschreckt zusammen. »Keine Angst«, sagte Judith. »Es ist der Elch. Er möchte in unserer Nähe sein. Er ist neugierig und möchte wissen, was wir tun.« Die höckrige schwarze Gestalt mit den ungeheuren Schaufeln schien plötzlich ihren Schatten über das Feuer zu werfen. Jakob stand auf und trat ans Fenster. Er blick te angestrengt hinaus, konnte aber in der Dunkelheit nichts erkennen. Er kehrte zum Sofa zurück und streckte seine Hände nach den Flammen aus. 219
22 Am nächsten Morgen war von dem Elch nichts mehr zu sehen. Der Tag war hell, und die Sonne schien. Der Himmel und der See waren in ein tiefes Blau getaucht, und dazwischen lagen die Berge wie ein dunkelgrünes Band, ein doppeltes Band, denn das Wasser des Sees spiegelte sie noch dunkler wider. Über Steinplatten, die man in den dichten, wuchernden Rasen gelegt hatte, gingen sie zum Landungssteg hinun ter. Dort setzten sie sich hin und sahen in die kühle grüne Welt des Wassers, in der kleine Fische herumschwam men und an Unterwasserpflanzen knabberten. »Sie haben keine Ahnung, daß wir hier sind«, sagte Judith. »Wir kommen und gehen, aber ihre Welt bleibt dieselbe.« »Vielleicht eine Ölspur auf dem Wasser von dem Flugzeug«, sagte Jakob. »Das ist alles, was sie von uns wahrnehmen. Aber auch sie ist inzwischen verschwun den. Die Menschheit könnte von heute auf morgen aus gerottet werden. Sie würden es nicht einmal merken.« Die Fische zuckten mit ihren Flossen und schossen hierhin und dahin. Sonnenstrahlen vergoldeten ihre grüne Welt. Eine Zeitlang saßen sie in der warmen Sonne. Sie hat ten gut gefrühstückt, und der Tag, der vor ihnen lag, schien lang zu werden, und sie hatten viel Zeit und wenig zu tun. »Es ist ein kleines Ruderboot da«, sagte Judith. »Sol len wir auf den See hinausrudern?« »Gern«, sagte Jakob. »Nein, danke«, sagte Nathan. »Ich gehe lieber ein we nig am Strand spazieren.« 220
»Komm doch mit, Nathan«, sagte Judith. Nathan stand auf und sagte ärgerlich: »Nein, ich gehe lieber spazieren.« Nun war Judith ein bißchen verärgert: »Wenn du un bedingt willst, bitte«, sagte sie. Nathan ging ins Haus zurück, und Judith sah ihm nach, dann wandte sie sich Jakob zu, lächelte und reichte ihm die Hand. »Komm, wir gehen«, sagte sie. Sie ging voraus zu einem kleinen Bootshaus, nicht weit vom Landungssteg. Es war fast von Gras und Brombeersträuchern überwuchert, aber sie bahnten sich einen Weg und öffneten die Tür. Im Innern lag ein wei ßes Ruderboot, das mit Wasser gefüllt war, um nicht aus zutrocknen. Sie schöpften es aus und schoben es zum Ufer hinunter. Jakob holte die Ruder, die an der Wand der Hütte hingen, und Judith brachte die Dollen. Sie stieg ein, und Jakob schob das Boot über die Kiesel, bis es schwamm, gab ihm einen letzten Stoß und schwang sich hinein. Durch Schilf glitten sie ins offene Wasser. Jakob befestigte die Dollen und hängte die Ruder ein. »Wo fahren wir hin?« sagte er. »Wohin du willst. Am oberen Ende des Sees mündet ein Bach. Wenn es dir nichts ausmacht, rudern wir hin.« Jakob ruderte eine Zeitlang, dann hob er die Ruder aus dem Wasser. Stille war um sie, man hörte das Wasser von den Ruderblättern tropfen. Die Wellen, die sie verur sachten, breiteten sich aus und verebbten ins Nichts. Das Boot schaukelte, als sich Judith bewegte und sich etwas vorbeugte, um ins Wasser hinunterzublicken. Hier senk ten sich die Sonnenstrahlen tiefer in die grüne Unterwas serwelt, und darunter lag eine dunklere Welt in tiefem Blau. 221
Jakob ruderte weiter, die Ufer auf beiden Seiten ka men näher, der See verengte sich. Sie steuerten in die Mündung eines kleinen Flüßchens, in dem große Felsbrocken lagen, das Wasser über flaches Geröll rauschte und dann wieder an tiefen Stellen langsam zwischen den Steinen quirlte. Bäume ließen ihre Äste übers Wasser hängen, und ihre Blätter verfärbten sich bereits, Vorzei chen des nahenden Herbstes. »Es ist so ruhig, daß ich das Gefühl habe, der erste Mensch hier zu sein«, sagte Jakob. »Du bist auch beinah der erste Mensch.« »Bestimmt haben hier Indianer gelebt, bevor dein Va ter kam.« »Nein. Die Indianer haben näher an der Küste ihre Siedlungen gehabt. Wir haben keine Spuren gefunden, daß hier jemals Menschen gelebt haben.« »Dann sind wir also wirklich die ersten.« »Ich glaube, ja.« Sie ruderten weiter und kamen zu einer großen Aus buchtung, in der das Wasser klar war und beinah die Far be von Cognac hatte. Jakob ließ das Boot neben einen Felsen gleiten, und sie stiegen aus. Er befestigte es an einem Ast, damit es nicht abtrieb, dann kletterten sie auf den Gipfel des Felsens, setzten sich nebeneinander in die Sonne und blickten in das Wasser hinunter. Das Wasser war hier von Schilf und Felsbrocken eingefaßt, am Ufer wuchs hellblättriger Feld- und Bergahorn, und dahinter lag der dichte Gürtel des dunklen immergrünen Waldes. Als ihnen heiß war, zogen sie sich aus und sprangen ins Wasser. Sie tauchten wieder auf, lachten und rangen nach Atem, weil es eiskalt war, schwammen herum und spritz ten sich gegenseitig an. Dann kletterten sie wieder hinaus und setzten sich in die Sonne, um sich trocknen zu lassen. 222
Mehr als eine Stunde saßen sie da, sprachen kaum miteinander und sahen dem Wasser zu, wie es die Felsen umspülte. Endlich sagte Judith: »Dir gefällt es wirklich hier, nicht wahr, Jakob?« »Ja. Das ist eine Welt, in der ich am liebsten leben möchte.« »Das freut mich.« Als sie Hunger bekamen, zogen sie sich wieder an, ru derten das Flüßchen hinunter und über den See nach Hause. Jakob vertäute das Boot am Landungssteg. Von Nathan war keine Spur zu entdecken, und Judith sagte: »Wenn er sich verlaufen hat, dann soll er mich kennenlernen.« Jakob rief seinen Namen, und von der anderen Seite des Hügels hinter dem Haus kam eine Antwort. Bald konnte man im Wald Schritte hören, wo sich Nathan kra chend einen Weg durch das Unterholz in Richtung Wald rand bahnte. »Was hast du da hinten gemacht?« fragte Jakob. »Ich habe mich umgesehen. Sagte ich doch.« »Gibt es da hinten was zu sehen?« »Vielleicht.« Am Nachmittag arbeiteten sie im Haus, fegten den Boden und räumten auf. Judith führte Jakob ins Büro ihres Vaters. In einem Waffenschrank hinter dem Schreibtisch standen eine Reihe Sportflinten und Jagd gewehre. Judith zeigte ihm, wo die Reinigungswerkzeuge aufbewahrt wurden, und Jakob machte sich an die Arbeit. Den Abend verbrachten sie wieder vor dem Kamin. Sie waren alle sehr müde und gingen bald zu Bett. Als Jakob erwachte, war es dunkel draußen. Er lag noch eine Weile ruhig in seinem Bett und dachte nach, dann 223
stand er auf und zog sich an. Seine khakifarbene Klei dung war eine ausgezeichnete Tarnung. Judith erschien im Bademantel und machte ihm das Frühstück. Nathan schlief noch. Jakob nahm eins der Jagdgewehre, füllte das Magazin und steckte sich einige Patronen ein. Judith brachte ihm einen Kompaß und ein Mittel gegen Insekten. Jakob trat aus dem Haus. Der Himmel begann schon hell zu werden, aber das Haus und der Wald lagen noch in Dunkelheit gehüllt; dort war es noch Nacht. Judith wünschte ihm eine gute Jagd. Sie stand in der Tür und rieb sich die Hände in der morgendlichen Kühle. Jakob stapfte durch das hohe Gras auf den Waldrand zu. Seine Hosen waren sofort vom Tau durchnäßt, und er spürte, wie sie kalt an seinen Beinen klebten. Am Waldrand wuchs eine Brombeerhecke und hohes Gras, aber nachdem er sich dort einen Weg durchgebahnt hatte, kam er leichter vorwärts. Die Wipfel der Bäume über ihm waren dicht miteinander verwachsen, aber es gab kaum Unterholz. Der Boden war von einem dicken Teppich aus Tannennadeln bedeckt, und das einzige, was ihm manchmal den Weg versperrte, waren herabgefalle ne, vermodernde Äste. Es war immer noch zu dunkel, als daß man hätte etwas ausmachen können. So blieb Jakob stehen und wartete geduldig, bis die Baumwipfel von den ersten Sonnenstrahlen getroffen wurden und ein heller Schimmer seine Welt hier unten erfüllte. Er legte sich mit dem Kompaß eine Richtung fest und machte sich auf den Weg tiefer in den Wald. Die Luft war kühl und frisch, und er fühlte sich wach und voll Lebenskraft. Vor ihm öffnete sich eine vom Sonnenlicht gesprenkelte Allee zwischen den Baum stämmen, und er begann zu laufen. Er rannte die Allee entlang, seine Füße flogen lautlos über Tannennadeln, 224
und die Baumstämme flitzten links und rechts an ihm vorbei. Er fühlte sich eins mit dem Wald, als sei er ein Teil von ihm, so flink und behende wie eines seiner Tie re, nein, flinker als sie; denn welches Tier, dachte er, konnte in dieser Haltung, balancierend auf nur zwei Bei nen, diese Geschwindigkeit erreichen? Er rannte weiter, die Allee war zu Ende, er fand eine neue, die weiterführte, tiefer in den Wald hinein, er rann te sie entlang, fühlte triumphierend seine Kraft und Ge schwindigkeit, war stolz auf seine einzigartige Fähigkeit. Doch bald begann das Gewehr schwer zu werden. Er wurde langsamer, fiel wieder in Schritt und ging langsam weiter, spähte die Alleen entlang, die sich immer wieder zwischen den Bäumen auftaten, an deren Ende sich der Blick in einem grauen, nebligen Zwielicht zwischen Stämmen und Ästen verlor. Als die Sonne höher stieg, schoben sich Lichtbalken durch das Dach des Waldes, schlugen glänzende, goldene Schneisen und ließen die Schatten noch dunkler erschei nen. Er hörte Vögel in den Bäumen, aber es waren nicht viele. Er vernahm einen einzelnen Ruf, eine grelle Folge von Tönen, ein anderer Ruf antwortete in einiger Entfer nung, dann war es wieder still, stiller als zuvor. Mit einemmal wurde diese Stille von einem Summen und Sirren erfüllt, und plötzlich, innerhalb weniger Mi nuten, flirrte die Luft von Insekten. Winzige schwarze Fliegen umschwärmten Jakob und fielen unbarmherzig über ihn her. Er blieb stehen und rieb sich Gesicht und Hände mit dem Insektenmittel ein. Er erinnerte sich dar an, was Judith gesagt hatte: Um in den Wäldern zu über leben, sei ein Mittel gegen Insekten wichtiger als Wasser und Nahrung. Ohne diesen Schutz könne sich kein Mensch der zahllosen Stechmücken erwehren. 225
Kein Luftzug war im Wald zu spüren, die Welt schien wie unter Wasser zu liegen. Jakob zündete ein Streich holz an, um an der Flamme festzustellen, wie der Wind stand. Er blies es aus, sah auf den Kompaß und ging ge gen den Wind weiter. Er fand Losung von Rotwild und Spuren an der Rinde der Bäume, wo Hirsche ihre Stangen gefegt hatten. Die Losung war alt, aber bald darauf stieß er auf frische. Er folgte der Richtung, die sie andeutete, wich behutsam trockenen Ästen aus und schlich lautlos auf dem Teppich aus Tannennadeln weiter. Sachte lud er die Waffe durch, leise klickte die Patrone in den Lauf, darauf vermied er jedes weitere Geräusch. Er stellte die Kimme auf sechzig Meter ein, mehr betrug die Sicht nicht zwischen den Bäumen. So angestrengt er auch Ausschau hielt, er konnte nir gends eine Bewegung ausmachen, alles schien tot. Reg los umstand ihn der Wald, nichts als Bäume und dicke Lagen von Tannennadeln. Plötzlich glaubte er, auf der anderen Seite einer Lichtung zu seiner Rechten ein kur zes Flattern bemerkt zu haben. Sofort blieb er stehen und spähte aufmerksam in diese Richtung. Ein breites Band Sonnenlicht fiel durch die Baumwipfel und erhellte die Lichtung, auf der Gras wuchs, das in hellem Grün leuch tete. Das Sonnenlicht füllte rauchig wie Nebel die Luft und war kaum mit den Augen zu durchdringen. Er konnte nichts sehen. Langsam und vorsichtig bewegte er sich weiter, seitwärts, ständig bemüht, Bäume zwischen sich und der Lichtung zu haben, bis er schließlich den gege nüberliegenden Rand der Lichtung aus einem anderen Blickwinkel einsehen konnte, ohne daß das Licht dazwi schen stand. Wieder blieb er stehen und wartete lange, aber es rühr 226
te sich nichts mehr. Doch Jakob beobachtete geduldig weiter. Da sah er plötzlich die flatternde Bewegung wie der, und es war genau das, was er vermutet hatte, die hel le Unterseite eines Hirschwedels, der kurz hin und her zuckte. Etwas höher eine zweite Bewegung, ein fächeln der Lauscher, mit dem sich das Tier der Fliegen erwehr te. Nun konnte er die Konturen ausmachen. Es waren drei Tiere; ein ausgewachsener Hirsch, eine Kuh und ein Junghirsch. Sie standen am Rand der Lichtung und si cherten in seiner Richtung, doch es war noch durch nichts zu erkennen, ob sie etwas bemerkt hatten oder nicht. Jakob wartete reglos, bis sich ihre Unruhe gelegt hatte und sie die Köpfe senkten, um weiter zu äsen. Von Zeit zu Zeit hob der alte Hirsch den Kopf und stellte die Lau scher auf. Trotzdem gelang es Jakob, langsam unbemerkt näher zu kommen, bis er freie Sicht hatte, um einen guten Schuß anzubringen. Hinter einem Baum ließ er sich auf die Knie nieder und legte an, aber er drückte nicht ab. Die Tiere am Rand der besonnten Lichtung boten so ein Bild des Friedens, daß er zögerte, es zu zerstören. Er sag te sich, daß seine Absicht nichts Unmoralisches habe, er sich nicht zu schämen brauche, weil das Bedürfnis nach Nahrung einen legitimen Grund zum Töten darstellte. Er wählte das Jungtier; sein Fleisch würde zarter sein. Es war einerseits groß genug, um sie für viele Tage mit Frischfleisch zu versorgen, und andererseits nicht zu schwer, als daß er es nicht hätte transportieren können. Der Junghirsch stand quer zur Schußrichtung und gab zwischen dem grüngoldenen Vordergrund der Lichtung und der grauen Dämmerung des Waldes dahinter ein gutes Ziel ab. Es würde kein schwieriger Schuß sein, auch wenn die Bäume dazwischen ziemlich dicht standen. Jakob 227
legte auf ihn an und zielte auf die Stelle, wo der schlanke Hals des Tieres in die kräftige Schulter überging. Er drückte ab, und das Krachen des Schusses schmet terte durch den Wald. Schreiend flogen Vögel auf, und der Knall war so laut, daß es ihm schien, als würden die Bäume geschüttelt und das Licht wirble vor seinen Au gen. Das Echo hallte die Alleen der Bäume entlang und erstarb in der weichen Tiefe des Waldes. Die Vögel be ruhigten sich wieder, und bald war alles wieder wie zu vor, nur auf der anderen Seite der Lichtung war der Junghirsch niedergebrochen und lag zuckend im Todes kampf in seinem Schweißbett. Staub stieg auf und zog wie Rauch durchs Sonnenlicht über die Lichtung. Der alte Hirsch und die Kuh waren verschwunden. Jakob sprang auf und trat mit dem Gewehr im Arm auf die Lichtung. Der Hirsch sah ihn herankommen und ver suchte verzweifelt sich aufzurichten, aber die Beine ge horchten ihm nicht mehr. Er starrte Jakob an und ver suchte den Kopf mit dem Geweih auf ihn zu richten. Sei ne Augen waren groß und von einem dunklen, weichen Braun, feucht und glitzernd. Jakob zog sein Jagdmesser aus der Scheide am Gürtel und trat auf das Tier zu. Ver geblich versuchte es mit den Stangen nach ihm zu stoßen, denn es war zu schwach, um den Kopf zu drehen. Jakob packte die Stangen und hielt sie fest. Der Hirsch sah ihn an, und Jakob war sicher, daß er der erste Mensch war, den das Tier je gesehen hatte. Er stieß ihm das Messer in den Hals und trennte die Halsschlagader durch. Der Hirsch zuckte unter dem Stich zusammen, aber er hörte nicht auf, ihn anzustarren, während helles Blut aus seiner Halswunde quoll. Langsam verloren die großen Augen ihren Glanz, wurden trüb, als käme Nebel in ihnen auf. Dann sank der Kopf und fiel schwer zur Seite. 228
Jakob stand auf und fragte sich, welches andere Raub tier wohl den Tod bedauerte, den es seinem Opfer brach te, und dann sann er darüber nach, um wieviel schöner seine Beute doch gewesen war, als sie noch lebte. Nein, sie alle freuten sich über eine erfolgreiche Jagd, auch die menschlichen Jäger. Gefühle, wie sie ihn jetzt überka men, waren bestimmt auch bei menschlichen Jägern sel ten. Aber selbst er, war er im Grunde nicht auch stolz auf sein Töten? Freute er sich nicht jetzt schon auf Judiths und Nathans Lob und Bewunderung, wenn er seine Beute nach Hause brachte? Er zog ein Stück starker Schnur aus der Tasche, das er zu diesem Zweck eingesteckt hatte, und band ein Ende am Geweih fest. Er hob den Kopf des Tieres hoch, schlang sich das andere Ende um die rechte Schulter, drehte sich um, knüpfte eine Schlinge, warf das Gewehr über die andere Schulter und zog. Er schleifte das Tier hinter sich her. Es rutschte überraschend leicht auf dem glatten Boden aus Tannennadeln. Doch bald kam er ins Schwitzen, denn der Wald war inzwischen heiß wie ein Backofen geworden, und die Insekten schwärmten zu Myriaden. Die Wunden des Tie res waren ständig von schwarzen Wolken umlagert. Er ging in der Richtung zurück, aus der er gekommen war, so gut er sich erinnern konnte, aber jede Lichtung, jede Allee sah ebenso vertraut wie fremd aus, so daß er zwar ziemlich sicher, aber doch nicht ganz sicher war, ob er sie schon gesehen hatte oder nicht und ob er auf dem richtigen Weg war. Da die Sonne nun fast im Zenit stand, gab es keine andere Möglichkeit, eine Richtung von der anderen zu unterscheiden, als mit dem Kompaß. Jakob ging mehr als eine Stunde und schleppte den schweren Hirsch hinter sich her. Die Schnur schnitt ein, 229
seine Schulter schmerzte, und die Fliegen brachten ihn an den Rand des Wahnsinns. Die Luft unter dem Dach des Waldes wurde derart heiß und stickig und war derart von Insekten erfüllt, daß er kaum noch atmen konnte. Es schien ihm unglaublich, daß dies derselbe Wald war, durch den er in der kühlen Frische des Morgens einen Dauerlauf gemacht hatte. Schließlich sah er ein, daß es so nicht weiterging, daß er den Hirsch liegen lassen mußte, um den Weg zurück zu suchen. Ohne die Last würde er zügiger vorwärts kommen, und wenn er den Weg nicht auf Anhieb fand, könnte er zurückkehren und es in einer anderen Richtung versuchen. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ er das Tier los. Es lag wie ein Sack auf dem Waldboden und schien plötzlich wieder zum Leben zu erwachen; denn kaum lag es ruhig, ließen sich sofort Wolken schwarzer Fliegen auf ihm nieder. Jakob bedeckte es mit Tannenna deln, um die Insekten fernzuhalten, dann bohrte er daneben einen langen Zweig in die Erde und band als Zeichen sein Taschentuch an der Spitze fest. Ohne die schwere Last erholte er sich rasch, er fühlte sich wieder kräftig und zuversichtlich und kam zügig voran. Er war tatsächlich auf dem richtigen Weg gewe sen, denn gleich darauf sah er die dichte Brombeerhecke vor sich, und hinter dem Dornengestrüpp lag eine große Lichtung in der Sonne. Er mußte ohne Zweifel ganz in der Nähe des Hauses sein. Er bahnte sich einen Weg durch das Hindernis, und da sah er das Haus vor sich, fest und sicher, und Judith hatte an einer Leine Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Jakob rief Nathans Namen, und wieder kam die Ant wort von der Anhöhe hinter dem Haus. Nathan kam an geschlendert und sah Jakob mürrisch an. Sein Blick wurde 230
noch finsterer, als Jakob ihm sagte, daß er ihm behilflich sein sollte. Er antwortete nicht, aber er weigerte sich auch nicht, sondern rieb sich Gesicht und Hände mit dem Insektenmittel ein, das Jakob ihm reichte, und folgte ihm in den Wald. Sie fanden den Hirsch ohne Schwierigkeiten. Jakob suchte einen dicken Ast und brach die Zweige ab. Dann band er die Beine des Tieres zusammen und schob den Ast als Tragstange durch. Sie hoben die Last auf ihre Schultern, und der Hirsch hing zwischen ihnen und schaukelte bei jedem Schritt, als sie sich auf den Weg machten, und sein Geweih zog eine schmale Furche in den Waldboden. Als sie das Haus erreichten, kam Judith heraus, be wunderte die Beute und gratulierte Jakob. Sie fragte ihn, ob er gleich zum Schwimmen gehen wolle oder ob sie ihm zuerst etwas zum Trinken machen solle, aber Jakob wollte erst mit seiner Arbeit fertig sein. Auf dem Beton boden vor dem Hintereingang machte er sich daran, den Hirsch auszuweiden und ihm das Fell abzuziehen. Judith saß auf der Schwelle und sah ihm zu. Nathan saß daneben und untersuchte das Gewehr, das Jakob mitge habt hatte. Als Jakob fertig war, wickelte er das Wild in ein Netz und hängte es in die kühle ausgemauerte Speisekammer. Judith sagte, daß sie es am nächsten Tag in Stücke zerle gen und einfrieren wolle. Jakob seufzte zustimmend, wischte sich den Schweiß von der Stirn und war froh, daß er seinen Arbeitstag hinter sich hatte. Da sagte Na than: »Und nun kommst du mit mir und siehst dir an, was ich heute gearbeitet habe.« »Aber nicht jetzt, Nathan«, sagte Jakob. »Für heute habe ich genug.« 231
»Laß ihn zum Schwimmen gehen«, sagte Judith. »Ich mache erst etwas zum Trinken und richte etwas zu essen her.« »Nein«, sagte Nathan. »Ich will, daß wir jetzt gehen. Komm, Jakob!« Er hielt das Gewehr in der Hand und hatte die Mün dung auf ihn gerichtet. Jakob sah ein, daß er gehorchen mußte. Der Ausdruck auf Nathans Gesicht war finsterer und böser denn je. »Wohin soll ich mit dir gehen?« fragte Jakob. »Es ist nicht weit, gleich da hinten. Komm!« Nathan ging voraus über die Wiese und auf den Wald rand zu, Jakob folgte ihm und in einigem Abstand dahin ter Judith. Die Sonne brannte heiß vom Himmel, und es war blendend hell. Sie brachen durch das Brombeerdickicht, und Jakob sah, daß hier einst ein breiter Weg verlaufen war, den man allerdings längst hatte zuwachsen lassen, aber Na than hatte ihn bis zu einem gewissen Grad wieder begeh bar gemacht. Der Wald war dunkel, als sie aus dem hel len Sonnenlicht kamen, und im ersten Moment war es kühl im Schatten. Doch bald wirkte die feuchte Luft un ter den Bäumen wieder stickig. Der Weg führte die niedrige Anhöhe hinter dem Haus hinauf. Neben ihm verlief eine Wasserleitung, die halb unter Tannennadeln begraben lag. »Von wo kommt diese Leitung?« fragte Jakob. »Sie führt von der Zisterne auf dem Hügel zum Haus«, sagte Judith. »Dort verläuft ein unterirdischer Bach. Im Frühling bei der Schneeschmelze füllt sich die Zisterne auf, und durch das Rohr wird das Wasser zum Haus hin unter geleitet.« »Es sieht noch ganz neu aus.« 232
»Das ist es auch. Früher hatten wir ein anderes Sy stem. Da wurde der unterirdische Bach direkt angezapft, aber im Sommer funktionierte das nie richtig. Es war immer zu wenig Wasser da.« »Das ist es, was ich dir zeigen will«, sagte Nathan, »den unterirdischen Bach.« Sie erreichten eine größere Lichtung. Am Rand des Tannenwaldes standen Ahornbäume, deren Blätter sich schon rot und golden verfärbt hatten. Die freie Fläche war mit hohen Grasbüscheln bestanden. Der Weg führte zur Mitte der Lichtung, und dort, im hohen Gras fast ver steckt, war eine niedrige Mauer aus aufgeschichteten Steinen, die eine runde Öffnung im Boden von etwa sechs Meter Durchmesser einfaßte. »Ein seltsamer Ort«, sagte Jakob. »Der unterirdische Bach hat hier eine große Höhle aus dem Fels gewaschen, später ist ein Teil der Decke einge brochen, und das ist das Loch. Wir haben ein Mäuerchen darum ziehen lassen, damit nicht Tiere oder gar Men schen hineinfallen. Im Innern wurde ein kleiner Damm gebaut, um das Wasser aufzustauen. Von ihm aus führte früher eine Leitung zum Haus hinunter.« Jakob beugte sich über der Rand. Unter sich im Son nenlicht sah er einen halbhohen Hügel aus Felsbrocken und Erdreich, die eingestürzte Decke des ehemaligen Hohlraums, nun mit Gras und Buschwerk bewachsen. Der Raum seitlich davon lag im Dunkeln. Auf der ei nen Seite sah er einen Damm aus Steinen und das Glit zern von Wasser. Man konnte hören, wie der unterirdi sche Bach in seinem Bett im Innern der Höhle plät scherte. »Jemand hat da drüben am Rand eine Leiter stehenlas sen«, sagte Jakob. »Wir sollten sie zum Haus hinunter 233
tragen, denn sie sieht aus, als sei sie noch brauchbar. Sie muß schon seit Jahren hier stehen.« »Nein, das stimmt nicht«, sagte Nathan. »Ich habe sie erst heute morgen vom Haus geholt und heraufgetragen.« »Tatsächlich? Ich hätte nicht gedacht, daß du so eine Entdeckerlust entwickelst.« »Oh, ich klettere gern in Höhlen herum, aber diese ist nicht groß, nicht viel größer, als man von hier oben sehen kann. Doch der Bach verläuft nur auf der einen Seite durchs Innere, der übrige Boden ist sauber und trocken. Man kann sicher gemütlich drin hausen.« Jakob fuhr herum und sah Nathan an. Dieser stand ei nige Schritte hinter ihm und hielt die Waffe auf ihn ge richtet. »Du hast doch nicht etwa erwartet, daß wir dich wei terhin so ein bequemes und angenehmes Leben führen lassen wie bisher, oder?« sagte Nathan. »Nein«, sagte Jakob mit resignierter Stimme. »Das habe ich nicht erwartet.« Nathan schwenkte das Gewehr. »Zieh deine Kleider aus und gib sie her!« Jakob sah sich nach Judith um. »Hast du davon ge wußt?« fragte er. »Natürlich«, sagte sie. »Nathan und ich haben alles genauestens geplant, als wir noch in unseren Käfigen saßen.« »Warum hast du mir gestern nichts davon gesagt?« »Ich wollte, daß du noch einen Tag glücklich bist, Ja kob. Ich wollte, daß du dich wenigstens an einen schönen Tag hier erinnern kannst, solange du da unten sitzt.«
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23 Als Jakob den Fuß der Leiter erreicht hatte, blickte er nach oben. Alles, was er sehen konnte, war die Öffnung über ihm, ein kreisrundes Stück Himmel, umgeben von einem Kranz Büschen und dahinter die Wipfel der Bäu me am Rand der Lichtung. Judith und Nathan beugten sich über das Mäuerchen und betrachteten ihn. »Laß die Leiter los, Jakob«, sagte Nathan. Jakob gehorchte, und Nathan zog sie hinauf und legte sie so ins Gras, daß das untere Ende auf der Umfas sungsmauer lag. »Wir werden dir bald etwas zu essen bringen«, sagte Judith. Sie starrten noch eine Weile auf ihn hinunter, dann wandten sie sich zum Gehen. Jakob konnte den dumpfen Widerhall ihrer Schritte hören, wie sie sich durch das hohe Gras entfernten. Er sah sich um, aber zunächst sah er nur das Dunkel der Höhle, das ihn auf allen Seiten umgab. Er kletterte von dem Geröllhügel herunter und stolper te in den Schatten. Dort sah er sich wieder um. Die Höhle war etwa fünfundzwanzig Meter lang und zehn Meter breit, und die Öffnung befand sich ziemlich genau in der Mitte der Decke, so daß sich auf beiden Seiten ein großes Stück überdachter Raum befand. Die Seitenwände waren steil und verliefen überhängend bis zum Rand der Öff nung. Unter dieser lag der sonnenbeschienene Geröllhü gel. Zwischen seinem Gipfel und dem Rand der Öffnung klaffte ein großer Abstand, eine Menge leerer Raum. Ja kob seufzte; ohne Zweifel, der Platz war genial ausge wählt. Er untersuchte die Höhle. Auf einer Seite rann ein 235
winziges Bächlein, auf der höhergelegenen Seite fand er eine Mulde im Boden, in der sich die Blätter angehäuft hatten, die der Wind in den letzten Jahren durch die Öff nung hereingeweht hatte. Jakob legte sich darauf nieder, und obwohl die Blätter auf seiner nackten Haut kratzten und die Stechmücken über seinen ungeschützten Körper herfielen, schlief er sofort ein, weil er todmüde war. Er erwachte am späten Nachmittag. Der Hügel in der Mitte der Höhle lag noch immer in der Sonne, doch im Schatten wurde es bereits merklich kühl. Er stand auf und kletterte auf den Hügel. Dort fand er einen Korb mit Es sen, den man für ihn hinuntergelassen hatte. Er enthielt belegte Brote, einen Teller mit Fleisch, Obst und eine Thermosflasche voll heißen Kaffee. Jakob aß einiges da von, dann setzte er sich auf dem Gipfel des Hügels in die Sonne und erschlug die Stechmücken, die sich auf ihm niederließen. Die Sonne senkte sich, und der Schatten des Rands der Öffnung über ihm kroch langsam den Hügel herauf und auf ihn zu. Da hörte er näherkommende Schritte, und Judith und Nathan erschienen, dunkle Silhouetten vor der Sonne. Sie setzten sich auf den Rand der Einfassung und blickten zu ihm hinunter. »Hast du den Korb gefunden?« fragte Judith. »Morgen bring’ ich dir wieder einen.« »Es wird kalt werden heute nacht«, sagte Jakob. »Du wirst es überleben, Jakob«, sagte Nathan. Der mißmutige Ausdruck auf seinem Gesicht war ver schwunden. Er lächelte, seine Haltung drückte jetzt eher zynische Befriedigung aus. »Willst du mir nicht meine Kleider wiedergeben?« »Bei dir durften wir unsere auch nicht behalten.« »Aber ich habe euch nicht frieren lassen.« 236
»Aber, Jakob. Was bist du für ein armseliges Tier, wenn du Kleider brauchst, um dich warm zu halten? Hast du schon einmal ein Tier gesehen, das Kleider anhatte?« »Das ist ein schlechter Witz, Nathan.« »Ach, weißt du, Jakob. Ich wollte eigentlich schon immer wissen, ob ein Mensch haariger wird, wenn man ihn ungeschützt der Kälte aussetzt. Siehst du, das ist nun mein wissenschaftliches Experiment, das ich durchführen möchte. Du bist, weiß Gott, schon haarig genug. Ich weiß gar nicht, über was du dich beklagst.« Jakob wandte sich an Judith. »Gibst du mir auch nichts?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich, Jakob?« sagte sie, aber ihre Stimme war nicht ganz ohne Mitleid. »Bettle nicht um Begünstigungen, Jakob«, sagte Na than unwirsch. »Du bekommst jeden Tag dein Essen, nicht mehr und nicht weniger.« Jakob schwieg. Nach einer Weile standen sie auf und wandten sich zum Gehen. Jakob blinzelte zu ihnen hin auf. Die Sonne, die hinter ihnen stand, schien sie mit ei ner Aureole zu umgeben. »Gute Nacht, Jakob«, sagten sie und gingen. Jakob lauschte ihren Schritten nach, die sich raschelnd und knisternd durch das Gras entfernten, bis sie in der Ferne unhörbar wurden. Aber selbst als es wieder voll kommen still war, konnte er mit Hilfe seiner Vorstel lungskraft ihre Bewegungen weiterhin wahrnehmen, ih ren Weg verfolgen, sah sie ins Haus treten und ihre Vor bereitungen für die Nacht treffen, die sie miteinander verbringen würden. Am Rand der Öffnung, wo sie eben noch gesessen hat ten, standen nun die Büsche und das Gras vor der Abend sonne, und der Schatten wuchs weiter auf ihn zu, erreichte 237
den Gipfel des Hügels und kletterte an seinem Körper hoch. Er stand auf, um die letzten warmen Strahlen zu erhaschen. Als sie ihn nicht mehr erreichten, setzte er sich wieder auf die Steine. Die Höhle lag grau um ihn, und ihr Inneres füllte sich schon mit Nacht. Er kletterte hinunter, nahm den Korb und trug ihn zu seiner Schlaf mulde. Dort setzte er sich und aß noch ein paar Bissen. Dann durchquerte er die Höhle und ging zu dem Bäch lein. Der alte Steindamm war zwar eingestürzt, aber er staute immer noch einen kleinen Tümpel Wasser auf. Er trank daraus und wusch sich sein Gesicht. Das Bächlein rieselte über die Reste des Damms, bildete ein schmales Rinnsal, das durch die ganze Länge der Höhle floß und am niedriger gelegenen Ende in einer Felsspalte ver schwand. Dort ließ Jakob Wasser, dann sammelte er sich mühsam einige Arme voll trockener Blätter und trug sie zu seiner Schlafmulde, legte sich hinein und bedeckte seinen Körper mit einer dicken Laubschicht. Die Öffnung zeigte noch ein ovales Stück Abendhim mel, der langsam verblaßte, doch im Innern der Höhle war es schon fast völlig dunkel. Jakob fror trotz der Blät ter, aber er machte sich keine Sorgen deswegen. Er wuß te, daß er daran nicht sterben würde. So tief unter der Erde gab es keinen Frost, und es ging kein Wind, der ihn hätte unterkühlen können. Die Kälte war eine Qual, aber mindestens ebenso peinigend waren die Insekten, die sein Gesicht umschwirrten oder in den Blättern und über sei nen nackten Körper krabbelten. Er dachte an Judith und Nathan. Sie lagen jetzt sicher beieinander auf dem Sofa vor dem Kamin. Er konnte keinen richtigen Schlaf finden. Er döste ein, wachte auf, döste wieder ein, erwachte von neuem. Eine 238
Anzahl Sterne glitzerte in der Öffnung. Er zählte sie und versuchte vergeblich, eine bekannte Konstellation auszu machen. Eine Weile später zählte er sie noch einmal und versuchte anhand ihrer Positionsveränderung die Zeit aus zurechnen, die seit der letzten Zählung vergangen war. Endlich wurde die ellipsenförmige Fläche der Öffnung fahl, und langsam wich das Grau dem Blau des Himmels, doch längst war die Welt über ihm voll Sonne, bevor der Schatten des Randes vor einem schmalen Bogen Licht zurückwich. Jakob grub sich aus seinen Blättern und kletterte auf den Hügel, wo er zitternd vor Kälte wartete, bis ihn die ersten Sonnenstrahlen erreichten. Endlich be rührten sie seine Stirn, und er blinzelte in die Sonne. Mit geschlossenen Augen stand er da und spürte, wie sich die Wärme über sein Gesicht ausbreitete, die Brust erreichte und schließlich den Bauch und die Hüften überflutete. Er zitterte noch immer, aber nach und nach fühlte er, wie die Wärme in ihn eindrang und Leben in seinen Körper zu rückkehrte. Er sonnte sich und genoß die Köstlichkeit des wärmenden Lichts. Er wußte, daß dieser angenehme Zu stand nicht lange anhalten würde, in spätestens einer hal ben Stunde würden ihn die kleinen schwarzen Fliegen entdecken. Im Laufe des Vormittags wurde die Fliegenplage uner träglich. Alle paar Sekunden spürte er irgendwo einen schmerzhaften Stich. Er schlug danach, aber wie er sich auch verrenkte und die Plagegeister zu Dutzenden er schlug, Tausende umschwärmten ihn und lauerten, um im geeigneten Moment über ihn herzufallen. Er versuch te, sich in ständiger Bewegung zu halten, und schlug pausenlos mit den Armen um sich. Dadurch konnte er zwar die Häufigkeit der Stiche herabsetzen, aber mehr als genug dieser Biester ließen sich dadurch nicht stören und 239
ließen sich auf seinem Rücken und seinem Hintern nie der, um sich mit seinem Blut vollzusaugen. Der Kampf war ermüdend und aussichtslos. Es war ihm klar, daß er das unmöglich den ganzen Tag durchhalten konnte, denn sowie er ein wenig in seinen Bewegungen nachließ, fie len die Insekten in doppelter Anzahl über ihn her. Er sann auf Auswege, um sich zu schützen. Er kletterte von dem Hügel herunter und ging zu dem eingestürzten Damm. Das Wasser war nur einige Zentimeter tief, und darunter lag eine dicke Schicht schwarzer Schlamm. Er grub eine Handvoll nach der anderen heraus und be schmierte seinen Körper, seine Arme und seine Beine damit. Die Masse blieb auf der Haut kleben, und er klatschte sie sich auf die Schultern, den Nacken und den Rücken. Der Schlamm war kalt und fühlte sich fettig an, aber nachdem er wieder auf den Hügel gestiegen und sich in die Sonne gesetzt hatte, merkte er, daß sich auf den bedeckten Stellen tatsächlich nicht mehr so viele Fliegen niederließen. Trotzdem spürte er Stiche, die Schutzschicht war also nicht dick genug. Er ging zu dem Tümpel zurück und beschmierte jeden Quadratzentimeter seines Körpers, so dick es ging, seine Geschlechtsteile, seine Ohren, seinen Hals, sein Gesicht, so daß er schließ lich in einem dicken Panzer aus nassem schwarzem Schlamm steckte, aus dem nur noch die Augen weiß her ausschimmerten. Selbst seine Haare hatte er verkleistert, damit die Fliegen nicht in seine Haare krochen und ihm in die Kopfhaut stachen. Wieder kletterte er auf den Hügel und setzte sich in die Sonne. Jetzt erwies sich der Panzer als undurchdring lich. Der Schlamm trocknete auf seiner Haut und wurde dunkelgrau. Er fühlte sich wie in einem dicken gestärkten Anzug, und ihm wurde immer heißer darunter, aber er 240
blieb reglos sitzen, weil er Angst hatte, daß sonst Batzen des verbackenen Schlamms an seinen Gelenken absprin gen und den Fliegen neue Angriffsflächen bieten würden. Vorsichtig rutschte er aus der Sonne, damit der Schlamm nicht zu hart wurde, und bereitete sich innerlich darauf vor, den langen Tag zu überstehen. Um die Mittagszeit hörte er Schritte, die sich näherten, und Nathan und Judith erschienen. Sie blickten herunter, aber zunächst konnten sie seine dunkle Gestalt überhaupt nicht erkennen. »Was hast denn du mit dir gemacht?« fragte Judith er staunt. »Er ist zum Wilden geworden«, sagte Nathan. »Er sieht ja scheußlich aus. Da haben wir schöner ausgese hen, nicht wahr, Judith?« Nathan lachte, und Jakob blieb ruhig sitzen, obwohl er große Lust hatte, einen Stein zu nehmen und nach ihm zu werfen, doch er wußte, daß er das nicht konnte, weil er in seiner Rüstung aus Schlamm gefangen saß. »Das Leben hier oben ist herrlich, Jakob«, sagte Na than. »Weißt du, was ich heute vormittag gemacht habe? Ich habe Forellen gefischt. Ich war gar nicht schlecht, nicht wahr, Judith?« »Du bist ein Naturtalent«, sagte sie. »Du hast, was man dazu braucht, gefühlvolle Hände und starke Arme.« »Fünf Forellen«, sagte er. »Ganz schön groß. Was sagst du dazu, Jakob? Wir werden sie uns zum Mittages sen auf dem Grill braten. Hast du was gesagt, Jakob? Willst du etwa auch eine?« »Ich esse, was ihr mir gebt«, sagte Jakob. »So ist’s brav«, sagte Nathan. »Ich bin dagegen, daß wir dich zu gut füttern. Du bekommst dein Körbchen wie immer. Komm und hol es dir!« 241
Nathan ließ an einem Seil einen Korb hinunter. Jakob kletterte von seinem Hügel herunter, ergriff ihn und band ihn los, holte den leeren Korb vom vorherigen Tag und band ihn an das Ende des Stricks. Nathan zog ihn hoch, und Jakob ging zu dem Tümpel, um die Stellen wieder auszubessern, wo die Schlammkruste bei seinen Bewe gungen abgeplatzt war. Am Abend, als die Fliegenplage nachließ, beschloß Jakob, den Schlamm auf seiner Haut zu lassen, denn er stellte auch eine gute Wärmeisolierung dar. Tatsächlich spürte er die Kälte nicht, als er in seinem Bett aus Blät tern lag. Es war schön warm unter der harten Kruste, und er schlief sofort ein. Mitten in der Nacht erwachte er, weil er über sich auf der Lichtung seltsame Geräusche hörte. Er konnte sich nicht denken, was Nathan um diese Zeit hier wollte. Au ßerdem deuteten die Laute auf etwas Größeres hin. Die Schritte kamen näher, und plötzlich sah er die Silhouette eines riesigen Kopfes vor den Sternen. Ein langes, schmales Gesicht sah auf ihn hinab, und die ungeheuren Schaufeln schienen wie ein Paar verkrümmter Arme aus der Stirn zu ragen. Jakob schrie erschreckt auf, bevor ihm einfiel, was es war. Der Elch schnaubte und schüttelte seinen Kopf, dann wandte er sich ab und trottete davon, seine Hufe dröhnten wie Herzschläge durch die Höhle.
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24 Einige Tage später saß Judith allein auf der Umfassungs mauer in der Abendsonne. Sie hatte einen dunkelblauen Pullover und hellblaue Hosen an, um den Kopf trug sie einen Seidenschal in derselben Farbe. Unten stand Jakob und sah zu ihr auf. Seine Augen leuchteten weiß aus dem dunkelgrauen Schlamm. Er hatte ihn nicht abgewaschen, sondern die abgeplatzten Stellen immer wieder repariert, so daß er jetzt von einem dicken, verkrusteten Panzer be deckt war, der ihn wie die Haut eines Nilpferds umschloß. »Ich kann es nicht mehr länger mit ansehen, wie du herumläufst«, sagte sie. »Du siehst schrecklich aus. Ich kann nachts nicht schlafen, wenn ich nur daran denke.« »Das tut mir leid«, sagte Jakob. »Ich habe dir etwas zum Anziehen gebracht.« »Ich möchte nichts anziehen.« »Du mußt. Du mußt diesen Dreck abkratzen. Hier ist eine alte Bärenfelljacke meines Vaters, sie wird dich bei Nacht warm halten. Mein Vater hatte immer einen gro ßen Vorrat warmer Kleidung hier.« Sie warf die schwere Jacke hinunter, sie schlug neben ihm auf den Boden. Er hob sie auf und strich mit der Hand über das dichte kurzhaarige Fell. »Aber sie bietet keinen Schutz gegen die Stechflie gen«, sagte er. »Ich weiß. Deshalb habe ich dir das mitgebracht.« Sie warf einen kleinen Kanister mit Insektenmittel hinunter. Jakob fing ihn auf und dankte ihr. »Du bist so geduldig, Jakob«, sagte sie. »Du gerätst nicht in Wut, wenn wir dich schlecht behandeln, du be klagst dich nicht. Nathan ist enttäuscht. Er möchte, daß du dich auflehnst, daß du protestierst.« 243
»Warum sollte ich mich auflehnen? Ich wüßte nicht, weswegen ich protestieren sollte.« »Du mußt es aber tun. Wie sollten wir sonst später in Frieden leben können?« »Darüber mache ich mir weniger Sorgen als Nathan und du. Wie geht es übrigens Nathan?« »Wir schlafen nicht miteinander, wenn du das meinst. Ich habe ihn gern, Jakob. Er ist sehr nett und zuvorkom mend. Er ist nur dir gegenüber so hart, und das kommt davon, weil er eifersüchtig auf dich ist. Du wirst es nicht glauben, warum. Weil er dich nämlich bewundert. Ich führe ihn herum und zeige ihm die Gegend, zeige ihm, wie man fischt und solche Dinge. Er freut sich wie ein Kind über das Leben in der Natur, weil er es nie kennen gelernt hat. Offenbar ist er, als er klein war, mit seinen Eltern nie aus der Stadt herausgekommen, und wenn, dann nahmen sie ihn in irgendeinen Badeort mit. Du bist der Glücklichere von euch beiden.« »Ich könnte nicht sagen, daß ich mich besonders glücklich fühle«, brummte Jakob. Ein Anflug von Spott war in ihrer Stimme, als sie sagte: »Aber Jakob! Was willst du denn mehr? Du hast dein Essen, hast Wasser, hast einen Platz zum Schlafen, reicht dir das nicht?« »Weißt du, was mir hier unten am meisten fehlt, nach was ich mich am meisten sehne?« sagte Jakob. »Was denn?« fragte sie lächelnd. »Ich möchte laufen oder wenigstens aufrecht gehen kön nen. Die Höhle liegt voll Felsbrocken. Und hier, der Hügel in der Mitte! Ich kann keine zwei Schritte geradeaus gehen, ohne über etwas klettern oder mich bücken zu müssen.« »Ich wußte nicht, daß du so ein Sportler bist«, sagte Judith enttäuscht. 244
»Das bin ich auch nicht. Ich hatte selten das Bedürfnis, zu laufen, außer an jenem Tag, an dem ich in den Wald zur Jagd gegangen bin. Jetzt, da es mir unmöglich ist, sehne ich mich förmlich danach. Ich habe nicht geahnt, daß die Möglichkeit, sich frei zu bewegen und aufrecht zu gehen, so ein Vergnügen ist.« »Tut mir leid, Jakob. Ich wüßte nicht, was ich da für dich tun könnte.« »Nichts, nehme ich an.« Judith fröstelte. »Es wird kühl«, sagte sie. »Warum wäschst du dir den Schlamm nicht ab?« »Dazu ist es für heute zu spät. Die Sonne geht bald un ter, und ich würde nicht mehr trocken werden.« »Ich möchte nicht noch eine Nacht daran denken, daß du so herumläufst.« »Ich werde es morgen tun. Du wirst dich noch eine Nacht damit abfinden müssen.« Am nächsten Tag erschien Judith schon frühmorgens am Rand der Öffnung. Unten stand Jakob auf seinem Hügel und wartete darauf, daß ihn die ersten Strahlen der Mor gensonne erreichten. Schließlich berührte der Rand des Lichtscheins sein schlammverkrustetes Haar, das wie eine dunkle Krone auf seinem Kopf stand, und ganz langsam breitete sich das Gold des Tages über seinen grauen Körper aus. »Jetzt kannst du dich waschen«, sagte Judith. Steif und unbeholfen in seiner harten Panzerung, stol perte Jakob den Hügel hinunter und ging zu dem Tümpel, um sich zu waschen, doch bald mußte er feststellen, daß der Schlamm auf seiner Haut inzwischen zu einer massi ven, harten Schale zusammengebacken war, gegen die man mit Wasser nichts ausrichten konnte. Er machte sich 245
auf die Suche nach einem scharfkantigen Stein, mit dem er sich abkratzen und aus dem Panzer schälen konnte. Er bemerkte, daß er es nicht gern tat. Er hatte sich so an seine Schale aus Schlamm gewöhnt, daß er sie schon als Teil seines Körpers empfand, als einen soliden Schutz gegen die Außenwelt, in dem er sich sicher fühlte. Nun machte er sich wieder verwundbar. Verdrossen kratzte und schabte er an sich herum, ganze Schollen brach er los, und bald saß er inmitten steinharter Batzen und Krümel. Als die ersten Partien nackter Haut zum Vor schein kamen, sahen sie so rosig und weich aus, daß man sie hätte für einen Teil seiner inneren Organe halten kön nen. Als er den größten Teil der Kruste mit dem Stein ab geschabt hatte, ging er zu dem Tümpel zurück und schöpfte Wasser auf die graue Staubschicht, die noch auf der Haut lag. Sie verwandelte sich im Nu in eine schwar ze, schmierige Masse, die den ganzen Körper überzog, und er sah schlimmer aus als zuvor; doch nach und nach gelang es ihm, seine Haut sauber zu bekommen. Das Wasser war kalt, und er mußte einige Male in die Sonne zurückkehren, um sich aufzuwärmen. Judith verfolgte seine Bemühungen und redete ihm gut zu. Endlich hatte er es geschafft, sein Körper und sogar seine Haare waren wieder sauber. Seine Haut schimmerte so rosig wie die eines Säuglings. Hungrig fielen die Flie gen über ihn her, aber er rieb sich gründlich mit dem In sektenmittel ein, und das hielt sie fern. Er fühlte sich plötzlich so nackt und ungeschützt, daß er zögerte, in die Sonne zurückzukehren, wo Judith ihn sehen konnte. »Zieh die Jacke an«, sagte sie. »Ich möchte sehen, ob sie dir paßt.« Er zog sie an. Zuerst war das Seidenfutter kühl, aber 246
die Jacke war schwer und dick, und bald spürte er, wie warm sie war. Sie ging ihm über die Hüften und reichte etwa bis zur Mitte seiner Oberschenkel. Er kletterte auf den Hügel und zeigte sich Judith. »Sie paßt sogar sehr gut«, sagte sie. »Als ob sie für dich gemacht worden wäre.« »Jetzt muß ich mehr denn je wie dein Vater ausse hen.« Sie gab keine Antwort, sondern drehte sich lauschend um. »Nathan kommt«, sagte sie. Einen Augenblick später konnte auch Jakob Schritte hören, die sich näherten. Judith rief einen Gruß. Nathan trat an den Rand der Öffnung, und sein Ge sicht verfinsterte sich. »Das hättest du nicht tun sollen, Judith. Warum soll er nicht nackt herumlaufen?« »Nein, Nathan«, sagte sie. »Erinnerst du dich, was er mit uns machen wollte? Er wollte uns ein Fell wachsen lassen. Jetzt habe ich ihn in ein Fell gesteckt.« Einen Moment lang schwieg Nathan, dann begann er zu lachen. »Du hast recht«, sagte er. »Du hast ihn in ein Fell gesteckt.« »Er sieht aus wie ein Bär«, sagte sie. »Unser Tanz bär.« »Das ist wohl ein Bär«, sagte er. »Unser Bär. Na, Bär, komm! Tanz für uns! Na los, Bär! Tanze!« Jakob knurrte etwas Unverständliches und zog sich in den Schatten seiner Höhle zurück.
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25 Das Geräusch eines Motors war in dieser Gegend so un gewöhnlich, daß Jakob zunächst gar nicht wußte, was es war. Der Lärm wuchs zu einem Brüllen, wie der Schrei eines unbekannten Tiers in den Wäldern, und Jakob zog sich in den dunkelsten Winkel seiner Höhle zurück, um nicht entdeckt zu werden, bis die Vernunft wieder die Oberhand gewann und ihm klar wurde, daß es das Was serflugzeug sein mußte, das zurückkam. Er kletterte auf den Hügel und starrte durch die Öff nung in den Himmel, aber es kam aus einer anderen Rich tung, und er konnte es nicht sehen. Plötzlich überlegte er mit Schrecken, was wohl der Grund für seine Ankunft sein mochte. Er rief Judiths und Nathans Namen, aber na türlich konnten sie ihn nicht hören. Niemand konnte ihn hören, außer den Insekten in der Höhle und vielleicht ein paar Tieren im Wald. Weit weg, unten am Landungssteg, standen Judith und Nathan und warteten auf das Flugzeug. Es war Nachmittag, und seinen Korb mit Essen hatte er schon erhalten, und sie hatten ihm nichts gesagt, daß das Flugzeug kommen werde. Er lauschte, hörte am Mo torengeräusch, wie die Maschine aufsetzte, wie sie zum Landungssteg kurvte. Dann wurde der Motor abgestellt, und es war wieder still. Er versuchte, sich vorzustellen, was vor sich ging, und einige schreckliche Vorstellungen gingen ihm durch den Kopf. Er rief von neuem, und seine Stimme gellte ihm in den Ohren, das Echo wurde von den gewölbten Wänden der Höhle verstärkt zurückge worfen, und er wußte, daß nur ein winziger Bruchteil des Schalls wie ein winziges Rauchwölkchen durch die Öff nung nach außen drang, wo er von den Bäumen rings um die Lichtung verschluckt wurde. 248
Nach einiger Zeit hörte er, daß der Motor wieder an geworfen wurde. Vor seinem inneren Auge sah er, wie Harry vom Landungssteg wegsteuerte und in die Mitte des Sees kurvte. Er konnte hören, wie der Motor etwas leiser wurde, als Harry die Maschine in die richtige Startposition drehte, dann bei Vollgas aufbrüllte. Das Dröhnen steigerte sich zum Krescendo, als das Flugzeug immer rascher über das Wasser pflügte, bis es schließlich abhob. Diesmal überflog es die Höhle, und Jakob winkte verzweifelt mit beiden Armen, wußte nicht, wem er winkte, Harry allein, oder auch Judith und Nathan, aber er wußte im selben Augenblick, daß er hier in seiner Höhle unter der Erde aus der Luft unsichtbar war. Wieder senkte sich Stille herab. Ihm schien es eine schreckliche und unermeßliche Stille, als ob selbst der menschliche Atem aus der Welt verschwunden wäre. Er stand auf dem Gipfel seines Hügels und lauschte. Die Sonne sank, der Schatten des Rands kroch die Höhlenwand hinauf und hinterließ Kälte und Dämme rung. Schließlich war es dunkel, aber er stand immer noch auf seinem Platz und lauschte, doch er hörte nichts. Er aß einige Bissen, legte sich in seine Mulde, konnte aber keinen Schlaf finden. Er lag auf dem Rücken und starrte in den dunkelnden Himmelsausschnitt. Die Sterne kamen heraus, und er überlegte zum hundertsten Mal, was geschehen sein mochte. Er hatte gedacht, daß er Ju dith und Nathan kannte, wie nur ein menschliches Wesen ein anderes kennen kann, und dennoch konnte er nicht mit Sicherheit entscheiden, ob sie abgeflogen waren und ihn zurückgelassen hatten. Plötzlich gewahrte er eine leichte Erschütterung der Erde, ein Beben und dumpfes Stampfen. Das muß der 249
Elch sein, dachte er zuerst, aber das Geräusch war zu schnell. Es ist mein Herzschlag, dachte er dann, aber es war ein anderer Rhythmus. Er überlegte beunruhigt, was es wohl sein mochte. Nach einigen Minuten stand er auf und kletterte auf den Hügel, um besser zu hören. Weit entfernt, hoch in der Nachtluft hörte er ein kaum wahrnehmbares Wehklagen, einen hohen Ton. Er horchte angestrengt und versuchte herauszufinden, was es war. Da erkannte er es: Es war eine Frauenstimme, die sang. Er lauschte noch eine Weile, dann kehrte er zu seinem Lager zurück, lag auf dem Rücken und wachte. Er lächel te, und die begleitenden Trommeln ließen um ihn leise die Erde erbeben. Am nächsten Morgen saß Jakob auf seinem Hügel in der Sonne und wartete ungeduldig. Endlich hörte er Schritte und sprang auf. Es war Judith, die ihm seinen Korb brachte. »Was ist los?« rief er. »Was geht draußen vor sich?« Judith lächelte amüsiert. »Du benimmst dich ja wie Nathan, als er nach Zeitungen jammerte. Gar nichts ist los. Nathan und mir ist es abends immer so langweilig. Es gibt nichts zu tun, und uns fällt nichts mehr ein, über was wir uns unterhalten könnten. Deshalb haben wir Harry angerufen, und er hat uns einen Plattenspie ler und einige Platten gebracht. Mein Vater wäre ent setzt, wenn er das wüßte, aber es bringt ein bißchen Zerstreuung.« »Ich hoffe, das ist der Fall.« »Das klingt so enttäuscht. Was dachtest du denn, was es war?« »Ich dachte, es sei vielleicht jemand angekommen.« »Wer sollte denn hierher kommen?« »Paul und Lorette etwa.« 250
»Nein, die sicher nicht. Paul haßt diesen Ort, er ist ihm viel zu ruhig, und Lorette würde ohne ihn nie kommen. Warum? Hättest du gern Gesellschaft?« »Nein«, sagte Jakob. »Aber ich dachte, daß du viel leicht …« »Wieso ich?« fragte Judith mit einem dünnen Lächeln. »Ich habe doch Nathan.« »Ich weiß«, sagte Jakob verdrossen. Judith blickte eine Weile auf ihn herab. Sie lächelte immer noch. »Sag mir, was du gemacht hast, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.« »Einige Fliegen mehr erschlagen«, sagte er. »Eines Tages werde ich ein Buch über das Leben der Insekten in einer Höhle von Maine schreiben.« »Was hast du noch gemacht?« »Was soll ich sonst gemacht haben? Möchtest du wis sen, was für mich das bedeutendste Ereignis des Tages ist? Schau her!« Er hob einen scharfkantigen Stein auf und ging zu ei nem geglätteten Stück Boden, in dem eine Reihe Kerben eingeritzt waren. Bedächtig und sorgfältig kratzte er eine weitere tiefe Kerbe hinein. »Hast du gesehen? Das ist mein Tagwerk. Ich versage es mir, es vor Mittag zu tun, bevor ihr mir den Korb ge bracht habt. Danach mache ich das Zeichen und zähle die Tage nochmals nach, ob mir kein Fehler unterlaufen ist. Darauf zähle ich die Tage, die noch vor mir liegen. Das ist alles, was hier unten geschieht.« »Bist du nicht einsam?« »Natürlich bin ich das. Aber ich werde es überleben.« Judith sah ihn einen Moment lang mißmutig an, dann stand sie auf und ging, ohne ein Wort zu sagen. Am Abend, nachdem die Sonne untergegangen war, 251
lauschte Jakob wieder der fernen Musik, die aus dem Haus heraufklang. Am nächsten Vormittag, als Judith den Korb brachte, fragte Jakob: »Was hast du gestern abend gemacht?« »Nichts Besonderes. Wir haben herumgesessen und Platten angehört.« »Habt ihr nicht getanzt?« »Wir hatten keine Lust dazu.« »Wenn ich dabeigewesen wäre, hätten wir getanzt. Es ist merkwürdig, ich habe mir nie etwas daraus gemacht, aber jetzt würde ich gerne tanzen.« »Mit jemandem, meinst du.« »Mit irgend jemandem, oder auch allein.« Judith sah auf ihn herunter. Es war jetzt etwas Feind seliges in ihrem Blick, aber er konnte es nicht deuten. »Sag mal, Jakob«, sagte sie nach einer Weile. »Wie kommst du eigentlich darauf, daß Paul und Lorette hierher kommen könnten? Woher sollten sie wissen, wo wir sind?« Jakob zögerte eine Sekunde lang, dann sagte er: »Ich habe es Lorette gesagt. Sie war in deinem Apartment, als ich deine Sachen holte.« »Ach was! Sie war in meinem Apartment? Sieh mal an! Paul, dieser Bastard, wird sie dort vergessen haben. Und was habt ihr miteinander getrieben? War’s schön? Na, sag schon.« »Ich habe nichts mit ihr gehabt.« »Nichts mit ihr gehabt? Aha! Und das andere Mal? Ihr habt euch doch vorher schon getroffen, gib’s doch zu.« »Nein, ich habe sie vorher nie getroffen.« »Sag mir die Wahrheit, Jakob! Ihr habt doch was mit einander gehabt, das sehe ich dir doch an.« »Also gut, ich habe sie vorher einmal getroffen«, gab er zu. 252
»Und ich weiß sogar genau, wann das war«, sagte sie bitter. »Du scheinst mir nicht sonderlich treu gewesen zu sein, Jakob, stimmt’s?« »Du warst mir auch nicht treu.« »Ja, nur hatte ich keine andere Wahl, um mich zu wehren.« Sie schwiegen. Plötzlich brach Judith in ein rauhes Lachen aus. Sie sagte nichts mehr, sondern stand auf und verließ ihn. Am Abend, als die Musik wieder spielte, kletterte Ja kob in seinem Bärenfell auf den Gipfel des Hügels. Der Mond war fast voll und schien durch die Öffnung herein, beleuchtete den Hügel und erhellte die Umgebung mit seinem rauchfarbenen Licht. Aufrecht stehend, die Dun kelheit der Höhle unter sich und über sich die glänzende Scheibe des Mondes, lauschte er der fernen Musik, die von der Nachtluft zu ihm heraufgetragen wurde. Bald bewegten sich seine Füße im Rhythmus der leisen Melo die, und er tanzte. Das war gefährlich, denn der Hügel war steil, und er hätte hinunterstürzen und sich verletzen können, aber er tanzte weiter. Er hielt die Arme weit aus gestreckt, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und er drehte und drehte sich auf seinem mondbeschienenen Gipfel bis tief in die Nacht.
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26 Die nächsten Tage brachte Nathan das Essen. Er schien seine gute Laune verloren zu haben, und das Leben hier schien ihm keinen Spaß mehr zu machen, trotz der all abendlichen Musik. Er sagte nicht viel, und Jakob war besorgt, weil er spürte, daß irgend etwas Unheilvolles in seiner Haltung lag. Eines Mittags, als er den Korb hinunterließ und den leeren wieder hochzog, ging Jakob wie jeden Tag zu sei nem provisorischen Kalender, um gewissenhaft die näch ste Kerbe einzuritzen. Nathan saß am Rand der Öffnung und sah ihm dabei zu. »Was machst du da überhaupt, Jakob?« fragte er. »Ich verzeichne die Tage, die vergangen sind.« »Und was soll das für einen Sinn haben?« Widerwillig antwortete Jakob: »Damit ich weiß, wie viele Tage ich noch hier unten verbringen muß.« Nach einer kurzen Pause sagte Nathan beiläufig, aber mit einem bösen Unterton in der Stimme: »Du glaubst wohl, wir lassen dich heraus, wenn die Zeit um ist?« Jakob warf ihm einen entsetzten Blick zu. »Natürlich. Ihr müßt! Wir haben es doch vereinbart.« Nathan grinste ihn an. »Da wäre ich mir nicht so si cher, Jakob. Weißt du, du mußt die Sache so sehen: Als du uns in die Käfige eingesperrt hast, hast du eine Unge rechtigkeit begangen, denn wir hatten dir nichts getan. Warum sollen wir jetzt nicht den Spieß umdrehen und dich ungerecht behandeln?« Jakob schrie auf. »Das ist unfair, Nathan!« »Wie oft habe ich dasselbe zu dir gesagt, als ich im Käfig saß, erinnerst du dich? Ich wußte nicht, womit ich das verdient hatte, was du mir angetan hast, und ich habe 254
mindestens tausendmal wie du geschrien: ›Das ist unfair! Das ist unfair!‹ Weißt du jetzt, was ich meine? Wir be handeln dich erst gerecht, wenn wir dich auch ungerecht behandeln, wie du uns behandelt hast.« Jakob spürte, wie der Zorn in ihm hochstieg. »Soll das heißen, daß es euch völlig gleichgültig ist, wie viele Tage ich hier unten verbracht und aufgezeich net habe?« »Völlig gleichgültig. Deine Kritzeleien sind reine Zeitverschwendung, es sei denn, du willst dir einen Ka lender anlegen, an dem du die Jahreszeiten ablesen kannst, die vergehen werden.« »Ihr könnt mich doch nicht für immer hier vegetieren lassen, Nathan!« »Was sollte uns daran hindern? Wer wird dich schon vermissen, wenn du nicht mehr nach New York zurück kehrst? Und wenn schon, glaubst du, hier würde dich jemals ein Mensch finden?« In einem Anfall von Wut nahm Jakob den Stein, mit dem er seine Kerben geritzt hatte, und warf ihn nach Na than. Er verfehlte Nathans Schläfe nur um wenige Zen timeter. Nathan wurde blaß und trat einige Schritte zu rück. »Wenn du das noch mal tust, bekommst du nichts mehr zu essen«, drohte er. Jakob fluchte und warf einen weiteren Stein nach ihm. Diesmal wehrte sich Nathan. Er sammelte sich Steine neben der Umfassungsmauer und schleuderte sie auf Ja kob hinunter. Da er in der besseren Position war, mußte sich Jakob bald in den geschützten Teil seiner Höhle zu rückziehen. Nathan warf noch einige Steine hinter ihm her, die auf den Felsbrocken abprallten und ins Innere der Höhle kollerten, dann drehte er sich um und ging zum Haus zurück. 255
Jakob kam aus seiner Deckung und kletterte wieder auf seinen Hügel. Seine Wut ebbte ab, aber dafür wuchs seine Besorgnis. Er betrachtete seinen Kalender und dachte mit Schmerzen an die Sorgfalt und Mühe, die er darauf verwendet hatte. Wenn Nathan ernst damit war, was er sagte, dann waren diese Kerben nichts als ein paar Kratzer im Boden, staubig, unregelmäßig und völlig sinnlos. Von neuem durchforschte Jakob verzweifelt seine Höhle in der Hoffnung, daß es vielleicht doch irgendwo einen Ausweg gab, den er bisher übersehen hatte. Er un tersuchte die beiden Enden der Höhle, wo der Bach her einsickerte und wieder hinausfloß, versuchte die Felsen zu lockern, aber das Gestein war massiv, und die Öff nungen zu klein. Zwar konnte er den Arm ein Stück weit hineinstecken, aber zum Durchschlüpfen waren sie viel zu eng. Aber selbst wenn er sich hätte durchzwängen können, nichts deutete darauf hin, daß sie woanders hin führten als noch tiefer in die Erde. Er wandte sich wieder der Öffnung in der Decke zu. Sie lag sechs Meter über ihm. Er machte ein paar vergeb liche Versuche, die Seitenwände hinaufzuklettern. In der Nähe des Bodens waren sie zwar rauh und griffig, und er kam etwa zwei Meter hoch, aber darüber waren sie so glatt, daß seine Finger keinen Halt mehr fanden. Viele Jahre war während der Schneeschmelze Wasser herun tergelaufen und hatte sie völlig glatt gewaschen. Er dachte an den Strick, an dem der Korb herabgelas sen wurde, aber er war nutzlos für ihn. Selbst wenn er ihn hätte Nathan entreißen können, war er viel zu dünn, als daß er einen Bruchteil seines Gewichts hätte tragen kön nen. Kein Zweifel, Nathan hatte das von Anfang an be dacht. 256
Jakob versuchte sich darüber schlüssig zu werden, wie weit Nathan wohl gehen würde. Er wollte ihn doch nicht etwa den Winter über hier unten lassen? Er überlegte sich, ob er das überleben könnte. In der Höhle würde die Temperatur sicher nicht so tief sinken wie an der Ober fläche, Schnee konnte nur durch die Öffnung fallen, und er wäre vor allem gegen den Wind geschützt, aber er konnte kein Feuer machen. Die Bärenfelljacke würde als Schutz gegen Kälte nicht ausreichen. Und wie stand es mit Nahrung? Würde Nathan einen Vorrat für ihn hinter lassen? Oder wollte er ihn dazu zwingen, daß er sich selbst versorgte, nach Larven und Insekten suchte, um sich am Leben zu erhalten? Er würde nicht genug finden und müßte elend verhungern. Nathan kam nun jeden Tag mit seinem Essen, ließ den vollen Korb hinunter und zog den leeren vom vorigen Tag hinauf. Jakob versuchte, an seinem Gesicht abzule sen, was er vorhatte, aber Nathan blickte nur finster auf ihn hinunter, woraus nur zu schließen war, daß er schlechte Laune hatte. Sie sprachen nichts miteinander, auch Jakob wußte nicht, was er hätte sagen sollen. Sie hätten sich nur gestritten, und das schien ihm demütigend und zwecklos. Er hätte gern Judith wieder einmal gese hen, aber sie ließ sich nicht blicken. »Wo ist Judith?« rief er schließlich eines Tages. »Wa rum besucht sie mich nicht mehr?« »Sie möchte allein sein«, sagte Nathan mürrisch. »Ich habe ihr gesagt, daß sie nicht heraufkommen braucht und daß ich mich um dich kümmern werde.« »Ich möchte mit ihr sprechen.« »Sie kommt, wenn sie kommen will, und ich glaube nicht, daß sie das Bedürfnis danach hat. Sie ist schlecht gelaunt und möchte von niemandem belästigt werden. 257
Sie redet ja nicht einmal mit mir, also wird sie von dir schon gar nichts wissen wollen. Nein, Jakob, nur wir bei de, du und ich, haben miteinander zu tun.« »Verdammt noch mal, Nathan!« schrie Jakob. »Das ist nicht fair!« »Ich weiß, wie dir zumute ist, Jakob«, sagte Nathan. Er ging, und Jakob schrie ihm nach: »Das ist nicht fair! Das ist nicht fair!« Seine Stimme war dünn und schwach, und es hörte sich an wie das Greinen eines Kindes. Ja, dachte er, es ist wie das Greinen eines Kin des. Alle Kinder, kaum daß sie laufen können, schreien protestierend: »Das ist nicht fair!« Es ist beinahe, als ob der Sinn für Gerechtigkeit mit dem Sinn für Gleichge wicht gekoppelt wäre und erlittene Ungerechtigkeit sie aus dem Gleichgewicht bringen und eines der fundamen talsten Prinzipien des Lebens verletzen würde. Und doch, dachte er, ist so vieles im Leben von Natur aus ungerecht. War der Grund, daß Menschen an Unge rechtigkeit weit mehr litten als Tiere, ihr aufrechter Gang und ihr besonders entwickelter Gleichgewichtssinn? Am nächsten Tag begann es zu regnen. Jakobs runder Himmelsausschnitt war grau verhangen, und die Wolken zogen tief über die Baumwipfel hin. Graue Regenschleier fielen durch die Öffnung, klatschten auf die Steine seines Hügels, und Wasserfäden rannen dünn über die grünen, schlüpfrigen Felswände seiner Höhle. Jakob saß zusam mengekauert in seiner Jacke auf seinem Lager aus Blät tern. Ein paar Meter neben ihm schäumte und gurgelte der Bach, zu dem das Rinnsal aus dem Felsen ange schwollen war. Jakob zitterte vor Kälte und sehnte sich nach Judith.
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27 Es regnete und regnete. Jeden Mittag erschien Nathan, mit einem Ölzeug bekleidet wie ein Fischer, ließ den Korb hinunter und kehrte so schnell wie möglich in die warme Behaglichkeit des Hauses zurück. Jakob saß auf seinem Lager, das glücklicherweise trocken blieb, hörte dem Regen zu und dem Bach und beobachtete den Tanz der Insekten, die unter seinem Dach Schutz gesucht hat ten. Er überlegte, wie lange ihm Nathan wohl noch etwas zum Essen bringen würde, denn irgendwann mußte ihm doch der Einfall kommen, daß Jakob sich eines Tages doch selbst mit Nahrung versorgen müßte, wenn man ihn allein zurückließ. Das könnte man ihm aber genausogut jetzt schon überlassen, und er konnte sich den täglichen Gang durch die Nässe sparen. Die Stunden tropften langsam dahin. Jakob verbrachte seine Zeit damit, Insekten zu fangen und sie zu untersu chen. Er studierte die kleinen schwarzen Fliegen, die so winzig zwischen seinen dicken Fingern waren, nur Flügel und Augen zu sein schienen. Wie sie nur so schmerzhaft stechen konnten? Sie schienen eine besondere Abneigung gegen ihn zu haben, und bald würde der Kampf mit ihnen wieder losgehen, denn das Insektenmittel ging zur Neige. Er benutzte davon so wenig wie möglich und versuchte sich gegen die Stiche abzuhärten. Einen Vorteil würde der Winter haben, die Insekten würden verschwinden. Die Gräser und Büsche auf seinem Hügel wurden wieder grün, und das Gras begann zu wachsen. Er beo bachtete es und stellte fest, welche Grassorten täglich um wieviel Millimeter wuchsen. Wenn es hoch genug war, würde er es abreißen und aufbewahren, um es während des Winters zu verzehren. 259
Immer wieder kam er auf den Winter, aber trotzdem waren seine Gedanken an ihn nur flüchtig. Der Zorn auf Nathan war es, der ihn am meisten erfüllte. Er sagte sich immer wieder, daß diese Wut zwecklos und witzlos sei und daß er sich besser damit beschäftigen sollte, wie er einen Ausweg finden könnte, oder ernsthafte Vorberei tungen für den Winter treffen, was das auch immer sein mochte. Aber wenn er daran dachte, überkam ihn wieder die Wut, und er überlegte, wie er sich an Nathan rächen könnte, wenn er die Gelegenheit dazu hätte. Eines Morgens erschien eine Gestalt in einem olivgrünen Ölzeug am Rand der Öffnung. Diesmal war es Judith, nicht Nathan. Jakob erkannte sie nicht gleich, denn das Ölzeug war weit und unförmig, und sie hatte die Kapuze über den Kopf gezogen, die ihr Gesicht halb verdeckte. Sie blieb schweigend stehen und sah zu ihm hinab, aber es war kein Zweifel, an der schlanken Figur und der Größe erkannte er, daß es nur Judith sein konnte. »Geh unter das Dach«, sagte sie. »Deine Jacke wird naß.« Jakob gehorchte und trat in den Schutz der Höhle zu rück, wo er sich hinkauerte, und durch die dichten Re genschleier, die zur Öffnung hereinwehten, starrte er zu Judith hinauf. »Ich habe so lange gewartet, daß du einmal kommst«, sagte er. »Ja?« sagte sie. »Warum?« »Du wirst mich herauslassen. Du wirst es nicht dul den, daß ich den Winter hier verbringen muß.« »Ist das der einzige Grund?« »Ist das nicht Grund genug? Kannst du dir vorstellen, was das heißt, hier den Winter überstehen zu müssen?« 260
»Darüber habe ich mir noch keine Gedanken ge macht.« »Dann denke darüber nach. Du wirst mir nicht zumu ten, daß ich das durchmache.« »Und warum nicht?« »Um Gottes willen, Judith! Bist du immer noch nicht zufrieden? Ist es noch nicht genug?« »Warum redet ihr beide denn ständig darüber, ob es genug ist oder nicht? Ich habe schon längst meine Genug tuung.« »Dann mußt du mich herauslassen.« »Ich wüßte wirklich nicht warum. Aus welchem Grund?« »Es ist ungerecht, wenn ihr mich weiter einsperrt.« »Das beeindruckt mich nicht im geringsten.« »Aber es gibt hundert Gründe …« »Die brauchst du mir gar nicht aufzuzählen, sie inter essieren mich nicht. Nenn mir einen Grund, weshalb ich nur einen Gedanken daran verschwenden sollte, was mit dir geschieht.« »Das kümmert dich überhaupt nicht?« »Im Augenblick habe ich nicht einen Funken Gefühl für dich übrig. Ob du herauskommst oder da unten bleibst, das ist mir völlig gleichgültig. Und wenn Nathan will, daß du eingesperrt bleibst, warum sollte ich mich dagegen sträuben?« »Wenn ich dir so gleichgültig bin, warum bist du dann heraufgekommen?« »Ich wollte ein bißchen an die frische Luft. Ich bin zu lange im Haus herumgesessen, ich habe es nicht mehr ausgehalten. Außerdem war ich neugierig, wie es dir geht.« »Es geht mir dreckig, Judith.« 261
Sie blickte lange schweigend auf ihn hinab und über legte. Jakob sah sie flehentlich an. »Nein, Jakob«, sagte sie schließlich. »Du bleibst ein gesperrt.« Er schrie auf. »Aber warum, Judith? Sag mir einen Grund!« »Darum. Es muß nicht alles einen Grund haben. Ich habe einfach keine Lust dazu, dich freizulassen.« »Und warum nicht?« »Ich weiß nicht. Vielleicht, weil ich keinen Bären um mich möchte. Ich habe Angst vor Bären, ich kann sie nicht leiden, sie sind tückisch und grausam.« »Ich bin kein Bär!« »Doch, das bist du. Du bist ein grausamer Bär, Jakob, und ich mag dich nicht. Komm her und nimm deinen Korb, ich werde naß.« Sie ließ den Korb hinunter, und er sah, daß sich ihr Gesicht verfinstert hatte. Kaum hatte sie den leeren Korb nach oben gezogen, drehte sie sich um und eilte zum Haus zurück, ohne auch nur noch ein Wort zu sagen. Ja kob stand im strömenden Regen auf seinem Hügel und fühlte sich trostlos einsam. Am nächsten Tag wartete er ungeduldig, wer ihm sein Essen bringen würde. Wenn es Judith war, die kam, dachte er, dann gab es noch einen Funken Hoffnung für ihn. Wenn er ihr wirklich völlig gleichgültig war, dann würde sie nicht kommen. Eine olivgrüne Gestalt erschien am Rand und ließ den Korb hinunter. Es war Nathan. Am folgenden Tag kam die Sonne wieder durch. Re gentropfen hingen an den Blättern der Büsche am Rand der Öffnung und funkelten in der Sonne. Wie Diamanten fielen sie in seine Höhle herunter. Der Himmel war blau, 262
und bauschige weiße Wolken segelten über ihn hin. Er hörte die Vögel in den Bäumen zwitschern. Die Anzahl der Fliegen schien sich in der Zwischenzeit verdoppelt zu haben. Jakob war sicher, daß heute Judith kommen würde, und er wartete auf sie, und die Zukunft schien ihm mit einemmal weniger trostlos. Um die Mittagszeit hörte er Schritte, die sich über die Lichtung näherten. Sie waren schwer und stapfend, aber er sagte sich, daß Judith natürlich feste Schuhe anziehen würde bei der Nässe. Es war Nathan, der wortlos den Korb hinunterließ. Am Abend begann es wieder zu regnen, und es regne te die ganze Nacht hindurch. Als zu Mittag die olivgrüne Gestalt auftauchte, regnete es immer noch. Jakob kauerte in der dunklen, trockenen Ecke seiner Höhle und ver suchte zu erkennen, wer es war. »Bist du es, Nathan?« rief er. Keine Antwort, aber an der Art, wie sich die Gestalt über den Rand beugte und in die Höhle spähte, um ihn in der Dunkelheit auszumachen, erkannte er, daß es Judith war, und sein Herz schlug ihm plötzlich bis zum Hals. Er stolperte aus der Höhle und erkletterte den Hügel. »Warum hast du die Jacke nicht an?« fragte sie. »Ich trage sie nicht mehr«, sagte er. »Sie ist tot und begraben.« »Wirklich? Also kein Bär mehr, nur noch du?« »Nur noch ich.« Sie seufzte und setzte sich auf die Mauer. Der Regen rann in Tropfen über das Ölzeug, und sie glitzerten wie die Tränen, die ihr in den Augen standen. »Ist es nicht kalt im Regen?« fragte sie. »Sehr kalt.« »Möchtest du gerne heraus?« 263
»Nein«, sagte er. »Ich möchte nicht.« »Warum nicht? Ich dachte, das ist dein größter Wunsch.« »Ich möchte lieber, daß du zu mir herunter kommst.« »O Jakob! Warum bist du so ein Narr? Ich könnte dich umbringen!« »Was meinst du damit?« »Warum hast du das nicht längst zu mir gesagt?« Sie stand auf, hob das Ende der Leiter hoch und schob sie über die Mauer, bis sie fast den gegenüberliegenden Rand der Öffnung erreichte. Von seinem Platz aus konnte Jakob sehen, wie die zwei Parallelen den Kreis schnitten, verbunden durch kurze, senkrecht dazu stehende Gera den, eine geometrische Figur, die er sich so oft vorge stellt und die ihn bis in seine Träume verfolgt hatte, daß sie für ihn zu einem abstrakten Symbol geworden war, dessen praktische Bedeutung er im ersten Moment gar nicht mehr erfassen konnte. Judith senkte das untere En de der Leiter herunter, und Jakob suchte einen guten Standplatz zwischen den Felsbrocken. Er hielt sie fest, während Judith, nach einem Augenblick des Zögerns, einen Fuß auf die oberste Sprosse setzte und langsam, vorsichtig herunterstieg, denn ihr tropfnasses, rascheln des Ölzeug machte ihre Bewegungen schwerfällig. Als sie am Fuß der Leiter angelangt war, stützte sie sich auf Jakob, um das Gleichgewicht zu halten. Er fühlte das glatte, naßkalte Ölzeug an seiner Haut und erschau derte. Er nahm sie bei der Hand, half ihr den Hügel her unter und geleitete sie in die Dämmerung seiner Höhle. Er half ihr aus dem Ölzeug, sie trug darunter ihren dun kelblauen Pullover und ihre hellblauen Hosen. »Wo schläfst du?« fragte sie. Er zeigte ihr seine laubgefüllte Mulde. 264
Sie kniete nieder und ließ ihre Hand durch die Blätter gleiten, dann setzte sie sich und sah sich die Felswände und das plätschernde Bächlein an. »Es ist hübsch hier«, sagte sie. »Mir gefällt es. Nur ein paar Dinge müßten …« »Ein Zebrafell auf den Boden und ein paar Kissen aus Leopardenfell«, sagte er. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und lachte, dann brach sie plötzlich in Tränen aus. »O Jakob! Ich weiß nicht, was ich mit dir machen soll.« Sie umschlang ihn mit den Armen und zog ihn auf das Lager aus Blättern. Sie klammerte sich an ihn und schluchzte an seinem Ohr, als hätte sie einen Toten zu beweinen. Nach einiger Zeit ließ ihr Schluchzen nach, sie weinte leise vor sich hin und beruhigte sich wieder. Ihre Arme lösten sich von ihm, und sie lagen ruhig nebeneinander. Jakob bewegte sich, und sofort klammerte sie sich wieder an ihm fest. »Es ist alles gut«, sagte er. »Ich bleibe ja bei dir.« Aber sie hielt ihn weiter fest umschlungen, daß er sich nicht bewegen konnte. Er rührte sich nicht und schwieg. Schließlich sagte sie: »Sollen wir ins Haus gehen, Ja kob?« »Wie du willst«, sagte er. »Jetzt bin ich auch hier glücklich.« »Ich auch«, sagte sie. »Ich komme morgen wieder, um dich zu besuchen.« Sein Herzschlag stockte eine Sekunde lang, aber dann sagte er ganz ruhig: »Wenn du willst. Ich wünsche mir nichts sehnlicher.« Einige Minuten lagen sie schweigend aneinanderge schmiegt, dann seufzte sie und sagte: »Gut, Jakob. Ich gebe auf. Gehen wir ins Haus.« 265
»Was ist los mit dir?« fragte er. »Sind dir meine Blät ter zu hart? Stechen dich meine Insekten?« »Ja, das tun sie. Komm, gehen wir! Im Haus ist es warm und gemütlich.« »Ich habe fast vergessen, daß es außer diesem Ort noch andere gibt.« »O ja, es gibt welche. Komm, ich werde sie dir zei gen.« »Willst du das wirklich?« »Ja, bitte komm!« »Gut, dann will ich es auch.« Sie standen auf und entfernten sich gegenseitig die Blätter, die an ihnen hingen. »Ich habe deine Kleider mitgebracht«, sagte Judith. »Sie liegen im Korb.« »Du bist also schon in der Absicht heraufgekommen, mich herauszulassen?« »Nein, ich war mir nicht sicher. Ich wollte dich zuerst sehen. Die Kleider hätte ich dir in jedem Fall gegeben, denn das Wetter wird kälter.« »Ich danke dir, Judith.« Es waren die Kleider, die er auf der Jagd getragen hatte, khakifarbenes Hemd und Hose, Segeltuchschuhe. Die Kleider fühlten sich seltsam an auf der Haut, als er sie angezogen hatte. Sie traten wieder unter die Öffnung und sahen, daß es aufgehört hatte zu regnen. Judith wickelte ihr Ölzeug zu einem Bündel zusammen und kletterte die Leiter hinauf. Als sie oben angekommen war, begann Jakob den Auf stieg. Vorsichtig setzte er die Füße auf die glitschigen Sprossen, um nicht abzurutschen in der Hast und Unge duld, die ihn erfüllte. Während er stieg, öffnete sich langsam die Welt um ihn, zuerst die Tannen, dann der Ahorn, dann die Büsche 266
und die nassen Stämme der Bäume, dann die Spitzen der Grashalme und schließlich, als er den Kopf über den Rand hob, die dichtbewachsene Erde selbst, in leuchten dem Grün und dunklem Braun, naßglitzernd vom Regen, aufleuchtend wie die letzten Wolken, die abzogen und den Himmel freigaben. Und da brach die Sonne wieder durch.
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28 Jakob stieg über die Mauer am Rand der Öffnung und setzte seinen Fuß auf die Erde. Auf allen Seiten umgab ihn die Lichtung, eine ungeheure Fläche nach der Enge der Höhle. Er drehte sich um und sah hinunter. Da lag sie, grau und schattenhaft, ein düsterer Ort. Er machte einen großen Schritt weg vom Rand und begann zu ren nen, rannte um die Lichtung und warf die Arme hoch. Judith sah ihm lächelnd zu. Jakob rannte, sprang in die Luft und bewegte die Ar me, bis er sich nicht mehr steif fühlte und seine Muskeln wieder geschmeidig waren. Dann kam er zu Judith zu rück. »Fertig? Wollen wir gehen?« fragte sie. »Wo ist Nathan?« »Im Wald. Er ist auf die Jagd gegangen. Deshalb bin ich heute gekommen. Er versucht einen Hirsch zu schie ßen.« »Ich habe noch keinen Schuß gehört.« »Vielleicht hat er noch nichts aufgespürt.« »Dann scheint er kein großer Jäger zu sein.« »Er wird es lernen. Man muß ihm nur Zeit lassen.« »Ich bin froh, daß er nicht da ist. Er hätte sicher etwas dagegen.« »Du solltest dich nicht zeigen, bevor ich ihn überredet habe.« »Glaubst du, daß du ihn überreden kannst? Er war in den letzten Tagen recht feindselig.« »Ich werde schon mit ihm fertig, wenn du mich einige Zeit mit ihm allein läßt.« »Ich werde mich im Bootshaus verstecken.« »Das ist eine Idee. Komm, gehen wir.« 268
Sie lächelten sich an und gingen zum Haus hinunter. Judith ging voraus über die Lichtung und den Pfad durch den Wald. Der Teppich aus Tannennadeln war feucht und dampfte in der Sonne, die durch die Zweige fiel. Sie traten auf die Lichtung, auf der das Haus stand, groß, fest, rechteckig und massiv. Jakob blieb stehen und sah es an. Nach seiner langen Abwesenheit wurde er plötzlich gewahr, was es für ein erstaunliches Ereignis darstellte, wenn man mitten in diesem unberührten Wald auf dieses Haus stieß. Erwartungsvoll dachte er an die Bequemlichkeit und die Freuden, die es versprach. Er wandte sich lächelnd Judith zu, faßte ihre Hand und ging rasch auf den Eingang zu. Plötzlich hörte man das Geräusch von Schritten, die sich einen Weg durchs Unterholz brachen. Sie blieben erschreckt stehen, Nathan trat auf die Lichtung. Er hatte Stiefel und Jagdkleidung an und ein Gewehr in der Hand. Sein Gesicht war von Wut verzerrt. »Das habe ich erwartet, Judith«, sagte er. »Ich dachte mir, daß du so was vorhast.« »Aber Nathan!« schrie sie. »Wir müssen ihn freilas sen. Er hält nicht mehr länger durch.« Nathan schüttelte heftig den Kopf. »Seine Zeit ist noch nicht um.« »Ich gehe nicht mehr zurück«, sagte Jakob. »Du mußt, Jakob. Wir haben vereinbart, daß du ge nauso lange eingesperrt bleibst wie wir.« »Du hast gesagt, daß ich für immer in der Höhle blei ben müsse.« »Ich habe es nicht so gemeint. Ich werde dich freilas sen, wenn die Zeit um ist.« »Ich traue dir nicht, Nathan. Ich gehe nicht mehr zu rück.« 269
»Es tut mir leid, Jakob, du mußt.« Nathan klemmte den Schaft des Gewehres unter den Arm und richtete den Lauf auf Jakob. »Ich schieße dich über den Haufen, wenn du dich wei gerst.« Jakob trat ein paar Schritte zurück und starrte ihn un gläubig und entsetzt an. »Nathan, du weißt nicht, was du sagst.« »Glaubst du, ich mache Witze, Jakob?« Jakob ließ ihn nicht aus den Augen. Er sah, daß Na than blaß geworden war und schwitzte. Ein gefährliches Feuer glomm in seinen Augen. Er war tatsächlich bereit zu schießen. Eingeschüchtert trat Jakob noch einige Schrit te zurück. »Ich will nicht mehr in die Höhle«, sagte er. »Du gehst, bis deine Zeit um ist, Jakob.« Jakob schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Nein, das ist ungerecht …« »So wäre es ebenso ungerecht.« Sie starrten sich einige Sekunden lang an. Die Span nung wuchs. Jakob sah das düstere Bild der Höhle vor sich, und plötzlich machte er kehrt und rannte verzweifelt auf den Waldrand zu. Nathan hob das Gewehr an die Schulter und rief: »Bleib stehen, Jakob, oder ich schieße!« Jakob rannte weiter, gehetzt und angstvoll. Er hätte gar nicht stehenbleiben können. »Ich schieße!« rief Nathan nochmals, aber Jakob rannte weiter. Nathan hob das Gewehr und zielte auf Jakobs breiten khakifarbenen Rücken, der sich schwankend von ihm wegbewegte. Er preßte den Schaft an die Schulter und krümmte den Finger um den Abzug. Jakob schlug einen Haken und rannte seitwärts. Na than drückte ab, viel zu hart, weil er keine Erfahrung mit 270
dem Stecher hatte, das Gewehr schlug heftig zurück, der Schuß krachte und ging in die Baumwipfel. Jakob er reichte den Waldrand, aber es gelang ihm nicht, durch die Brombeerhecke zu kommen. Er blickte über die Schulter und sah, daß Nathan von neuem auf ihn zielte, und obwohl die Dornen seine Kleider und seine Haut zerfetzten, hechtete er in das Dickicht und war durch. Judith stürzte auf Nathan zu und schlug den Gewehr lauf herunter. Die Kugel fuhr in den Boden. »Nicht!« schrie sie. »Nicht schießen!« Nathan riß sich von ihr los, warf die Patronenhülse aus, und eine neue Patrone klickte aus dem Magazin in den Lauf. Er hob das Gewehr wieder an die Schulter, aber Jakob war inzwischen durch die Hecke und ver schwand im Wald. Nathan rannte los, quer über die Lichtung, brach durch die Dornen und ihm nach in den Wald. Er sah, wie Jakob mit aller Kraft eine Baumallee entlanglief, eine helle Ge stalt, die sich gut vor dem Dunkelbraun der nassen Tan nennadeln und dem Schwarz der Baumstämme abhob. Sie flimmerte, wenn Jakob durch die Balken des durch die Wipfel brechenden Sonnenlichts rannte, hell, dunkel, hell, dunkel. Nathan legte an, zielte auf die undeutliche Gestalt und drückte ab. Der Schuß ging wieder daneben. Nathan fluchte und rannte hinter Jakob her. Hinter ihm folgte Judith, und die drei Gestalten stolperten, rannten und schwankten unter den Bäumen entlang, die zum er stenmal in den Jahrhunderten ihres Daseins sahen, wie ein Wesen ein anderes seiner eigenen Art jagte. Jakob wechselte von einer Allee in die andere, seine Füße flogen, sein Atem ging keuchend, und er war voll Angst. Hinter sich hörte er Nathan näher kommen, dann Stille, wenn er stehenblieb, um auf ihn anzulegen. Ja 271
kob schlug einen Haken, und die Kugel pfiff an ihm vorbei. Bald hatte Nathan seinen letzten Schuß abgefeuert. Judith holte ihn ein, als er wütend an dem Auswerf mechanismus riß, als ob eine weitere Patrone einrasten würde, wenn er es nur oft genug tat. »Ich gehe zurück und hole Munition«, sagte er. Judith wollte unter allen Umständen Jakob retten, des halb sagte sie: »Wenn du das tust, hat er genügend Zeit, um im Wald unterzutauchen und auf Nimmerwiederse hen zu verschwinden.« »Dann werde ich ihm folgen.« »Sei vorsichtig, Nathan! Er ist stärker als du.« »Keine Sorge, mit dem werde ich fertig.« Nathan schwang das Gewehr, aber es war ein plumper und schlecht ausbalancierter Knüppel. Er brach sich ei nen dürren Ast von einem Baum, setzte seinen Fuß auf das dünne Ende und knickte es ab. Er hielt einen schwe ren Knüppel aus hartem grauem Holz in der Hand, der mit kurzen scharfkantigen Auswüchsen besetzt war, wo früher kleine Zweige ansetzten. Er rannte los. Judith folgte ihm, so gut sie konnte, aber er war ein ausgezeichneter Läufer, und sie verlor ihn bald aus den Augen. Sie lief in der Richtung, aus der sie das Geräusch brechender trocke ner Äste hörte. Plötzlich war Stille vor ihr. Sie blieb stehen und lauschte, konnte aber nichts hören. Sie erschrak bei dem Gedanken, allein mitten im Wald zu sein, und rief: »Na than, wo bist du?« Sie erhielt keine Antwort und rannte weiter. Sie fand ihn an einen Baumstamm gelehnt und nach Atem ringend. Er stand auf seinen Knüppel gestützt und keuchte. 272
»Er kann nicht weit sein«, sagte er. »Er muß sich hier irgendwo versteckt haben.« Er wandte sich nach Judith um, und sie sah auf seinem schweißbedeckten Gesicht einen gehetzten Ausdruck, als ob er es wäre, der gejagt wurde. »Gib es auf«, sagte sie. »Ich werde ihn suchen.« »Nein. Ich werde ihn kriegen, was immer auch ge schieht. Bleib hier stehen und ruf nicht noch mal. Er darf nicht wissen, wo ich bin.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, und seine geängstigten Augen hetzten umher, aber er sah nur un zählige Baumstämme, die alle gleich aussahen, und hin ter jedem von ihnen konnte sich der Gesuchte verborgen haben. Nathan schlich weiter und versuchte, sich möglichst lautlos zu bewegen. Es war schwer, achtzugeben, wohin er trat, und zugleich die Umgebung im Auge zu behalten, um auf einen Überraschungsangriff gefaßt zu sein. Judith blieb stehen und wartete, aber als Nathan nach einigen Minuten zwischen den Bäumen verschwunden war, hatte sie Angst, allein zu sein, und ging hinter ihm her. Jakob, erschöpft und nach Atem ringend, sprang auf und rannte weiter. Er hielt auf einen Abhang zu. Wenn es ihm gelang, ihn zu erklettern, dachte er, könnte er sich ver stecken und besser verteidigen. Dann und wann blieb er stehen und lauschte. Wenn er irgendwo hinter sich einen knackenden Ast hörte, rannte er weiter und machte dabei genug Lärm, daß ihm Nathan auf der Spur bleiben konnte. Bald stieg das Gelände an. Die Tannennadeln lagen in dicken herabgerutschten Lagern am Hang, und die Bäu me wuchsen in immer spitzigerem Winkel aus dem Bo den. Jakob hetzte hinauf und kletterte zwischen Felsen 273
hindurch. Weiter oben wurde der Boden immer felsiger und ging in einen schroffen Kamm über, der den Gipfel der Anhöhe bildete, darunter fiel der Boden steil zum Wald hin ab. Quellwasser trat aus dem zerklüfteten Fel sen, rann über die Steine und verschwand unter den Tan nennadeln. Jakob rastete einen Moment und hielt seine Hände unter einen winzigen Wasserfall, der aus einer bemoosten Felsspalte plätscherte. Er wusch sich das Ge sicht und trank eine Handvoll Wasser, dann kletterte er am Rand des Steilabfalls weiter, die Felswand zur Rech ten, den Wald zur Linken. Nach einer Weile blieb er wieder stehen und horchte. Er hörte, daß Nathan näher kam. Er saß hier in der Falle, auf der einen Seite der steile Kamm, auf der anderen der Wald, der aus dieser Höhe gut zu überblicken war. Wenn er hier weiterging, dann würde ihn Nathan einholen, be vor sich ein Ausweg bot. Er sah die Felswand hoch und versuchte einen Einstieg zu finden. Er kletterte ein Stück weit und dachte mit Entsetzen daran, daß Nathan ihn ein holen könnte, solange er hilflos am Felsen hing und sich nicht wehren konnte. Er stieg weiter, und schließlich ge lang es ihm, sich über den oberen Rand zu ziehen. Er blieb einige Sekunden liegen und rang nach Atem, dann stand er auf und schlich vorsichtig den Kamm entlang in der Richtung, aus der er gekommen war. Auch Nathan war am Ende seiner Kräfte, seine Schuhe schienen immer schwerer zu werden, und je steiler das Gelände wurde, desto öfter rutschten sie ihm auf den glatten Tannennadeln weg. In der einen Hand hielt er seinen Knüppel und stützte sich damit ab, mit der ande ren suchte er Halt, aber was immer er auch anfaßte, einen Busch, einen herabgefallenen Ast, einen Haufen Tannen nadeln, alles gab nach, und er rutschte wieder ab. Judith 274
dagegen hatte beide Hände frei und kam besser voran. Nach wenigen Minuten sah sie Nathan wieder vor sich. Dieser war den Abhang hinaufgeklettert und hatte auch den Rand des Steilabfalls erreicht. Er fand den klei nen Wasserfall in der bemoosten Felsspalte, trank hastig einen Schluck Wasser und fuhr sich mit den nassen Hän den über das schweißglänzende Gesicht. Judith holte ihn ein und starrte ihn an. Seine Brust hob und senkte sich schwer atmend, seine Augen waren dun kel und tief in die Höhlen gesunken. Wut und Verzweif lung standen ihm ins Gesicht geschrieben. So hatte sie ihn noch nie gesehen. »Gib auf, Nathan«, sagte sie. »Ich werde ihn suchen.« »Nein, ich muß ihn finden.« Er drehte sich um und ging am Rand der Felswand entlang. Nach einigen Minuten blieb er stehen und horch te, aber alles war still. Nicht einmal ein Vogelruf war zu hören, die Vögel waren erschreckt vor ihnen geflohen, selbst das Summen der Insekten schien leiser geworden zu sein, es war, als teile der Wald sein Gefühl lähmender Angst. Am liebsten wäre er umgekehrt, aber er ging weiter. Plötzlich hörte er Steine über Fels poltern. Es mußte ganz in der Nähe gewesen sein, aber er wußte nicht, von wo das Geräusch gekommen war. Er blieb stehen und sah sich furchtsam um. »Nathan!« hörte er Jakob laut rufen. Nathan blickte nach oben. Jakob stand über ihm auf dem Rand der Felsbarriere. Er hatte die Arme erhoben und hielt in den Händen einen großen Felsbrocken. Eine Sekunde lang trafen sich ihre Augen, mit bleichen Ge sichtern und gehetztem Blick starrten sie sich an, beide im Zustand äußerster Erregung und voll Angst. Da stieß Jakob die Arme nach vorn und schleuderte den Stein. 275
Nathan stieß einen gellenden Schrei aus, dann traf der Brocken seinen Kopf mit einem klatschenden Geräusch, und der Schrei brach ab. Nathan taumelte, stürzte und blieb liegen. Der Felsbrocken polterte den Abhang hinun ter und verschwand krachend im Wald, bis er an einen abgebrochenen Ast stieß und in einem Haufen Tannen nadeln liegen blieb. Dann war alles wieder still. Jakob starrte keuchend auf den leblosen Körper hinun ter. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Judith kam herangeeilt und stieß einen leisen Schrei aus, als sie sah, was geschehen war. Sie blickte auf Na than hinab, dann zu Jakob hinauf und wieder auf Nathan. Sie ließ sich neben ihm auf die Knie nieder und begann trocken zu schluchzen, als sie seinen zerschmetterten Kopf sah. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte erstickt. Jakobs Lächeln erstarrte. Er machte sich auf die Suche nach einem Abstieg über die Felsbarriere. Langsam und wie gelähmt kletterte er hinunter, ging zu Nathan und kniete ebenfalls neben ihm nieder. Er blickte ihm in die weit geöffneten Augen, die ihn immer noch erschreckt anstarrten, und fuhr mit den Fingerspitzen den Rand des großen Risses entlang, den ihm der Stein in die Schläfe geschlagen hatte. Jakob fühlte sich plötzlich unsagbar müde und elend, und Nathan sah jetzt, da er tot war, wie das Wild, das er erlegt hatte, plötzlich viel unscheinbarer aus als der Nathan, den er gekannt hatte.
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29 Jakob stand auf und ging zu dem Wasserfall zurück. Er wusch sich das Gesicht und löschte seinen Durst. Judith folgte ihm und trank ebenfalls. Dann lehnten sie an der Felswand und blickten in den Wald hinunter. Sie schwie gen. Das einzige Geräusch war das dünne Plätschern des Wassers. Als sie sich beide etwas beruhigt hatten, gingen sie zu Nathan zurück. Jakob suchte einen starken Ast und brach die Zweige ab, dann legte er ihn auf den Toten und band mit seinem Taschentuch und Judiths Schal Nathans Hände und Füße zusammen. Sie faßten an beiden Enden an und hoben ihn hoch. Auf den Schultern trugen sie ihn, und Nathans Körper hing schlaff zwischen ihnen. Sie hatten vorher bei ihrer Jagd durch den Wald so oft die Richtung gewechselt, daß sie nur eine sehr vage Vor stellung hatten, wo das Haus liegen könnte. So beschloß Jakob, einfach immer bergab zu gehen, irgendwann muß ten sie dann den See erreichen, dann konnten sie dem Seeufer folgen, bis sie zum Haus kamen. Es war ein langsamer und aufreibender Marsch. Na thans Gewicht ging fast über Judiths Kräfte, aber sie sagte kein Wort. Es war, als ob sie auf dem holprigen und ab schüssigen Weg, den Abhang hinunter, Umwege su chend, herabgefallenen Ästen ausweichend, Nathan auf seinem letzten Gang begleite und fest entschlossen sei, kein Wort der Klage zu äußern. Schließlich sahen sie den See zwischen den Bäumen glitzern und gingen parallel zum Ufer. Sie blieben unter den Bäumen, denn dort fiel das Gehen leichter; in Ufernähe wären sie in sumpfige Stellen geraten oder hätten Wasserlöchern ausweichen müssen. Nathan schwang und 277
wiegte sich zwischen ihnen bei jedem ihrer Schritte, und manchmal hatte Judith das Gefühl, es müsse ihn doch schmerzen, wenn das Taschentuch und der Schal, mit denen sie ihn an Hand- und Fußgelenken festgebunden hatten, so tief einschnitten. Von Zeit zu Zeit hielt Jakob an, und sie ließen Nathan behutsam zu Boden, legten sich neben ihm zu einer kurzen Rast nieder und starrten schweigend ins dichte Netzwerk der Äste über ihnen. Die Sonne begann unterzugehen, und Jakob fürchtete, daß sie die Nacht hungrig und frierend im Wald würden verbringen müssen. Sie konnten Nathan auch nicht ein fach liegen lassen, um ihn am nächsten Tag zu holen, denn sie waren sicher nicht die einzigen im Wald, die Hunger hatten. Mit dem Herannahen des Winters zogen auch die Wölfe weiter südlich und tauchten in dieser Ge gend auf. Die Sonne ging unter, und es war fast dunkel, als sie endlich das Haus erreichten. Sie trugen Nathan durch den hinteren Eingang in den kleinen Vorratsraum, wo Jakob den Hirsch aufgehängt hatte. Sie ließen ihn auf den Bo den nieder und banden seine Gelenke los, damit sein Körper ausgestreckt liegen konnte. Hier würde er vor Aasfressern sicher sein. Sie blieben eine Weile stehen und sahen den Toten an, dann gingen sie hinaus. Judith zündete im Haus die Lichter an und setzte den Wasserboiler in Betrieb. Jakob machte im Kamin ein großes Feuer. Dort standen sie und tranken einige Schnäpse. Als das Wasser heiß war, ging Judith ins Bad, und als sie fertig war, ließ sie für Jakob Wasser ein. Er ließ sich langsam in die Wanne sinken, spürte, wie das heiße Wasser ihn angenehm durchwärmte, und sah dem aufsteigenden Dampf nach. Als er sich abseifte, war es ihm, als wasche er all die vielen vergangenen Tage von 278
sich ab. Er rasierte sich und zog frische Wäsche an, die sich auf seiner nun wieder empfindlichen Haut rauh und schwer anfühlte. Als er fertig war, kehrte er an den Ka min zurück und trank ein Glas mit Judith. Schließlich machte sie etwas zu essen, und sie fielen mit Heißhunger darüber her. »Er hätte dir nicht so tief in den Wald hinein folgen sol len«, sagte Judith plötzlich. »Ich habe ihn davor gewarnt.« »Ja«, sagte Jakob. »Er hätte umkehren sollen, als er sein Magazin leergeschossen hatte. Er war mutiger, als ich gedacht hatte.« »Armer Nathan. Was hätte er jetzt noch für ein glückli ches Leben vor sich! Was machte ihn plötzlich so tapfer?« »Er dachte, das Recht sei auf seiner Seite.« »Das dachtest du auch.« »Ja. Sonst hätten wir nicht miteinander gekämpft.« Nach dem Essen kehrten sie an den Kamin zurück. Sie saßen auf dem Sofa, tranken und starrten lange schwei gend in die Flammen. Doch mit einemmal, als könnten sie es beide nicht mehr länger ertragen, mit ihren Gedanken allein zu sein, wandten sie sich einander zu und umarmten sich. Dann standen sie auf und zogen sich gegenseitig aus. Jakob warf einige Scheite in den Kamin, die Flammen loderten auf, und ihr Widerschein flackerte rot auf ihren nackten Körpern. Sie legten sich auf das fellbezogene Sofa und liebten sich heftig, fast gewalttätig und mit verzweifelter Leidenschaft. So verbrachten sie dort zusammen die ganze Nacht. Sie frühstückten vor dem Haus auf dem Rasen, den Na than gemäht hatte, saßen am Tisch und auf den Stühlen, die Nathan herausgetragen und aufgestellt hatte. Später 279
stiegen sie in das kleine Boot, das am Landungssteg lag, und Jakob ruderte über das glitzernde blaugrüne Wasser des Sees bis zur Mündung des klaren braunen Flusses. Sie schwammen und saßen nackt auf ihrem Felsen in der Sonne, sahen hinunter in das quirlende Wasser und be trachteten den Ahorn, dessen Blätter nun rot und golden leuchteten, doch da und dort sah man schon kahle Stel len, wo das Laub bereits abgefallen war. »Bist du auch mit Nathan hier gewesen?« fragte Ja kob. »Oft. Er liebte diesen Platz genau wie du.« Sie dachten an den Toten, der steif und kalt auf dem Zementfußboden lag. »Glaubst du, daß wir Schwierigkeiten haben werden?« fragte Jakob. »Ich glaube nicht. Kein Mensch weiß, daß er hier ist. Und Herbert und Harry werde ich erzählen, daß er mit einem Freund geflogen ist, der mit einem gemieteten Flugzeug aus Boston hier war. Wenn ich das sage, wer den sie keine weiteren Fragen stellen. Warum sollten sie auch irgendeinen Verdacht hegen? Seine Eltern werden sich wahrscheinlich fragen, was aus ihm geworden ist, aber hier werden sie ihn ganz bestimmt nicht suchen.« »Ein Mensch hinterläßt eigentlich wenig Spuren von seinem Dasein, nicht wahr?« »Sehr wenige.« »Wir müssen langsam daran denken, nach New York zurückzukehren.« »Hast du Sorgen wegen deiner Anstellung?« »Ich kann nicht für immer hier bleiben, so schön es wäre.« »Mach dir keine Sorgen. Ich werde deinem Professor, wenn es nötig sein sollte, eine Erklärung für deine Abwe 280
senheit geben. Ich werde ihm sagen, daß dir ein Erho lungsurlaub oder so etwas ähnliches bewilligt wurde, und er wird sich hüten, meine Erklärung nicht zu akzeptie ren.« »Mir scheint, du erreichst alles, was du willst.« »O nein, eigentlich nur sehr wenig.« Als sie Hunger bekamen, stiegen sie von dem Felsen herunter und ins Boot. Jakob ruderte aus der Flußmün dung und über den See durch eine Stille, in der nur das Ächzen der Riemen und das leise Plätschern des Wassers an der Außenwand des Boots zu hören war. Am Nachmittag nahmen sie ihre Handtücher mit und legten sich auf den Landungssteg in die Sonne. »Du bist am ganzen Körper braun«, sagte Jakob. »Die weißen Stellen sind verschwunden.« »Ich habe mich jeden Tag nackt gesonnt wie heute, außer wenn es regnete, natürlich.« »Und Nathan war dabei?« »Meistens.« »Ich wünschte, ich wäre dabeigewesen.« »Ja, wir hätten sehr glücklich sein können.« Die Sonne wärmte ihre Rücken, und sie schauten in die grüne Wasserwelt unter ihnen, die hell war vom Licht und in der winzige graue Fische an den Algen zupften, die an den Holzpfählen des Stegs wuchsen. »Was wirst du mit ihm machen?« fragte Judith. »Ich werde ihn morgen begraben.« »Wo?« »Ich weiß nicht. Was schlägst du vor?« »Auf jeden Fall nicht an irgendeiner Stelle, wo ihn jemand finden könnte, falls ich nächstes Jahr Gäste mit hierher bringe. Außerdem gibt es hier Wölfe, die ihn wieder ausscharren könnten.« 281
»Ich werde ihn tief genug eingraben.« »Die Erde darüber wird immer locker sein, so tief du ihn auch eingräbst, und sie werden an ihn herankom men.« »Wit sollten ihn in einen Sarg legen.« »Das ist etwas, an das mein Vater nicht gedacht hat, als er das Haus einrichtete.« »Was dann?« »Wie wäre es mit der Höhle, in der du warst? Wenn du ihn dort beerdigst, kommen die Wölfe nicht an ihn heran.« »Ja, das ist eine Idee. Der Einfall gefällt mir, er hat so etwas Harmonisches an sich, ausgleichende Gerechtig keit.« »Das interessiert mich nicht, aber es scheint mir ein guter Platz für ihn zu sein.« »Ja, ich bin einverstanden.« Als die Sonne sich neigte, wurde es kühl, und sie zo gen ihre Kleider an, blieben aber noch eine Weile auf dem Steg sitzen. Die grüne Welt unter ihnen verdunkelte sich und verschwand, und die Oberfläche des Sees wurde zu schimmerndem Quecksilber. Der Himmel hinter der schwarzen Hügelkette im Westen färbte sich rot und orange. »Dort ist der Elch«, sagte Judith und streckte den Arm aus. »Immer um diese Zeit erscheint er an dieser Stelle.« Jakob sah die flache schwarze Landzunge, die sich in den See vorschob, und dahinter, wie ein Fels im Wasser, stand der Schaufler, ein düsterer Schatten vor dem silbri gen Hintergrund. Er sah nicht zu ihnen herüber, sondern blickte über den See, reglos, riesig, höckerig und unge schlacht, als ob auch er den Sonnenuntergang beobach te. 282
»Er nimmt überhaupt keine Notiz von uns«, sagte Ja kob. »Nein. Er hat sich an uns gewöhnt. Er fürchtet uns nicht und ist nicht mehr neugierig. Wir sind ihm gleich gültig.« »Er scheint einsam zu sein. Gibt es nicht noch mehr Elche in der Gegend?« »Doch, eine ganze Menge, aber sie sind meistens für sich; sie wollen allein sein. Jeder hat sein eigenes Re vier.« »Die Menschen sollten auch so leben können.« »Dafür gibt es nicht genügend Land, oder?« Jakob streckte beide Arme aus. »Tausende von Hektar menschenleeres Land, das sollte doch reichen.« »Es war aber trotzdem nicht genug, nicht wahr?« »Nein. Du hast recht. Nicht genug.« Sie gingen auf das Haus zu, und die Dämmerung sank herab. Hinter ihnen verglühte der letzte Streifen Rot über den Hügeln, und das Silber des Sees wurde matt und dunkelte. Der Elch stand immer noch an derselben Stelle, ein regloser Schatten in der hereinbrechenden Nacht. Sie traten ins Haus. Judith zündete die Lampen an, während Jakob Holz in den Kamin schichtete und Feuer machte. Judith schien bedrückt zu sein, und auch er fühlte sich niedergeschlagen. Sie gingen bald zu Bett, in Judiths Bett. Mitten in der Nacht erwachte Jakob und bemerkte, daß Judith nicht schlief. »Über was denkst du nach?« fragte er. »Über Nathan«, sagte sie. Jakob spürte einen plötzlichen Schmerz und drehte sich auf die andere Seite.
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30 Der Morgen war kalt und der Himmel grau und wolken verhangen. Als sie aufstanden, zitterten sie vor Kälte und zogen sich rasch an. Es war noch früh am Tag, aber sie wollten beide nicht länger liegenbleiben. Judith machte das Frühstück, und sie aßen am Holztisch in der Küche. Nachdem sie fertig waren, gingen sie ums Haus in den Vorratsraum. Nathan lag noch genauso auf dem Zement fußboden, wie sie ihn hingelegt hatten, nichts hatte sich verändert, nur daß sein Gesicht noch fahler aussah und sich unter seinem Nacken eine verkrustete Blutlache ge bildet hatte. Sie banden von neuem seine Hände und Füße über dem Ast zusammen, aber die Gliedmaßen waren nun steif, und sie hatten Schwierigkeiten, sie zu bewe gen, und Jakob bereute, daß er die Gelenke überhaupt erst losgebunden hatte. Als sie es endlich geschafft hatten, ihn wieder an dem Ast zu befestigen, holte Jakob einen Spaten und ein Stück Seil. Dann nahmen er und Judith die Last wieder auf die Schultern, und Nathan hing wieder zwischen ih nen, schwingend bei jedem Schritt wie an jenem Tag. Das Gras war feucht und durchnäßte ihre Hosen und Nathans Kleider. Es war schwierig, durch die Brombeer hecke zu kommen, und als sie endlich durchgebrochen waren, hatten sie alle drei Dornen in der Haut und in den Kleidern. Sie stiegen den Weg unter den Tannen bergauf, düsteres Licht umgab sie und eine Stille, und nur das Tropfen des Wassers von den Zweigen war zu hören. Sie kamen zu der Lichtung und gingen zu der Öffnung der Höhle, in der immer noch die Leiter lehnte. Das Loch in der Erde erschien Jakob dunkler als je zuvor. Sie legten Nathan neben der Umfassungsmauer nieder und rieben 284
sich die Schultern, auf denen die Last geruht hatte. Jakob zog den Ast zwischen Nathans Händen und Füßen her aus, ließ aber die Gelenke zusammengebunden. Dann zog er Nathan an den Händen hoch, bis er ihn in aufrecht sitzender Stellung hatte. »Warum setzt du ihn hin?« fragte Judith. »Halt ihn fest«, sagte Jakob. Zögernd faßte sie Nathans Handgelenke. Er schien tot schwerer zu sein als lebendig, und sie mußte sich abstüt zen, sonst wäre Nathan wieder nach hinten gefallen und hätte sie mit sich gerissen, als sei er doch noch am Le ben. Jakob zog den Strick unter Nathans Armen durch und verknotete ihn über der Brust. Nathans Gesichtsausdruck war von stoischer Duldsamkeit. Es war nicht viel Blut an der Stirn ausgetreten, denn die Fleischwunde, die der Feldsbrocken geschlagen hatte, war klein, und nun, da sie sich an das große Loch im Schläfenknochen gewöhnt hatten, schien sein Gesicht nicht mehr so sehr verunstal tet, es hatte fast normale Züge. Jakob faßte Nathan an den Schultern, und Judith nahm ihn bei den Beinen. Sie hoben ihn auf die Mauer. Dann faßte Jakob das Seil fest mit beiden Händen und stieß Nathan über den Rand der Öffnung. Er fiel so plötzlich und zerrte an dem Strick, daß sich Jakob fast die Hände verbrannte und den Halt verlor, als er den Schwung ab bremste. Jakob knallte mit dem Knie gegen die Mauer, aber trotz der Schmerzen ließ er den Strick nicht los. Er fragte sich, warum er soviel Rücksicht nahm, nur um Na than sanft in die Höhle hinunterzulassen, obwohl ihm doch nichts mehr weh tun konnte, aber schon der Gedanke, den Toten sechs Meter frei fallen zu lassen, war ihm so widerwärtig, daß er ihn überhaupt nicht erwägen konnte. 285
Als Nathan unten angekommen war, sah Jakob auf ihn hinunter und fragte sich, wie er wohl von da oben ausge sehen hatte, als er unten stand und Nathan auf ihn herab blickte. »Ich steige ja nicht gern noch einmal da hinunter«, sagte er, »aber ich werde ihn wohl eingraben müssen.« »Du kannst ihn unmöglich so liegen lassen. Es könnte ihn jemand entdecken.« »Es ist vor allem wegen der Insekten«, sagte Jakob. »Sie werden ihn auf jeden Fall kriegen, aber mir ist es lieber, wenn das unter der Erde geschieht. Ich möchte nicht für den Rest meines Lebens das scheußliche Bild vor mir haben, wie Nathan, schwarz von Fliegen, hier unten liegt.« Er nahm den Spaten auf die Schulter, stieg auf die Mauer und trat auf die Leiter. Er erinnerte sich daran, wie herrlich die Lichtung ausgesehen hatte, als er aus seinem Gefängnis heraufgestiegen war, nun wirkte sie grau, naß und häßlich. Vorsichtig stieg er die Leiter hinunter. Er schauderte, als er den Rand der Öffnung wieder von un ten sah, doch als er den Boden betrat, war die Höhle gar nicht so dunkel, wie sie von oben ausgesehen hatte. Er blickte sich um, sah die Schlafmulde voll Blätter und die vertrauten Markierungen seines Kalenders im Boden. Er fühlte sich beinahe wieder wie zu Hause. Er stieg den Hügel hinauf zu Nathan, legte den Spaten zu Boden und band den Strick um Nathans Brust los. Ju dith zog ihn hinauf. Dann ging er in der Höhle umher und prüfte mit dem Spaten, wo die lockere Erde tief genug war, um ein Grab zu schaufeln. Am Ende der Höhle, wo das Bächlein im Fels verschwand, war sie mindestens einen Meter tief. Das würde der ideale Ruheplatz für Na than sein, von oben nicht zu sehen, genügend Erde, um 286
ihn zu bedecken, und das Bächlein, das mit der Zeit die Produkte seines Verfalls tief in die Erde spülen würde. Jakob kehrte auf den Hügel zurück, faßte Nathan unter den Armen und schleifte ihn mühsam zu dem Platz, den er für ihn ausgesucht hatte. Er setzte ihn mit dem Rücken an die Felswand gelehnt, nahm den Spaten in die Hand und begann zu graben. Es war eine mühselige Arbeit in dem niedrigen, feuch ten Winkel, und er kam ins Schwitzen. Die Erde war schwarz und feucht, durchsetzt mit Resten von Blättern und Wurzeln. Sie strömte einen herben Verwesungsge ruch aus, und obwohl sie fett war, schien es ein guter und fruchtbarer Boden für Pflanzen zu sein. Jakob fragte sich, was wohl aus Nathan wachsen würde. Erdbatzen hingen an seinen Schuhen, und die nahen Felswände warfen das Echo seines keuchenden Atems zurück, das Knirschen des Spatens und das dumpfe Klat schen der nassen aufgeworfenen Erde. Nathan saß dabei und sah ihm zu. Jakob wünschte sich, daß er ihm ein biß chen bei der Arbeit geholfen hätte. Als er einen halben Meter Tiefe erreicht hatte, be schloß er, an die frische Luft zu gehen und eine kleine Pause einzulegen. Er trat aus dem überdachten Teil der Höhle und kletterte auf den Hügel, setzte sich auf einen Stein und atmete tief die Luft ein, die durch die Öffnung kam. Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Auf der Umfassungsmauer saß Judith und sah auf ihn herunter. »Es ist alles genau wie früher«, sagte er. »Es hat sich nichts verändert, außer daß mir jetzt Nathan Gesellschaft leistet.« Judith gab keine Antwort, und plötzlich bemerkte er, daß die Höhle tatsächlich genauso war, wie er sie in Er 287
innerung hatte, nur allzu genau, denn etwas, das hinzuge fügt worden war, fehlte jetzt wieder: die Leiter. Es war ihm, als spüle eine eisige Welle über ihn hinweg. Den noch versuchte er, seiner Stimme einen scherzhaften Tonfall zu geben, als ob es doch nur ein Scherz sei, ob wohl eine furchtbare Ahnung ihm immer mehr zur Ge wißheit wurde. »Was soll das, Judith?« sagte er. »Willst du mir ein bißchen Angst einjagen?« Judith schüttelte wortlos den Kopf. Ihr langes Haar schwang ihr um die Wangen, wie um die verneinende Bewegung ihres Kopfes zu unterstreichen. »Warum hast du es dann getan?« Sie blickte ihn mit starren Augen an, und wenn sich in seinem Gesicht jetzt eine Spur von Schrecken abzeichnete, in ihrem spiegelte sich Entsetzen und Abscheu. Vielleicht war dieser Ausdruck schon seit zwei Tagen in ihren Zü gen gewesen, und er hatte es nur nicht bemerkt. Sie be wegte langsam die Lippen, und ein Wort fiel auf ihn her unter wie ein Tropfen Wasser vom Rand der Öffnung. »Mörder!« Das Wort hallte leise in der Höhle, als wäre der Trop fen auf einen Stein gefallen, doch nach einem Augen blick der Stille schien sich der Nachhall zu vervielfachen, und das Echo warf das Geräusch von den Wänden der Höhle zurück, wieder und immer wieder, als habe der kleine Tropfen Wasser die Wasser der Erde gerufen, und nun strömten sie aus dem Fels und füllten die Höhle. Das Echo des Worts hallte in seinem Innern wider, gellte von den Felswänden und toste in seinen Ohren wie ein Sturz bach. Jakob suchte atemlos nach Worten und versuchte sich zu verteidigen, wies ihre Anklage zurück, rechtfertigte 288
seine Handlungsweise, aber seine Argumente machten nicht den geringsten Eindruck auf sie. Es war, als habe er alles längst vorgebracht, und sie hätte es längst erwogen und verworfen. So sehr er sie auch von seiner Unschuld zu überzeugen suchte, so nachdrücklich er sie beschwor, Judith blieb reglos sitzen und musterte ihn mit Abscheu. Schließlich gab Jakob auf, weil ihm die Worte fehlten. »Was willst du tun?« fragte er. »Ich muß nach New York zurück.« »Soll das heißen, daß du mich hier in der Höhle zu rücklassen willst?« »Ja, Jakob.« »Dann bist du eine Mörderin!« »Das glaube ich nicht. Du wirst überleben.« »Überleben? Wie stellst du dir das vor? Denk an die Insekten, an den Winter!« »Ich weiß nicht, aber du wirst immer einen Weg fin den. Ich kann mir dich tot nicht vorstellen. Du wirst im mer irgendwie durchkommen, immer. Du bist nicht wie der arme Nathan.« Jakob warf einen Blick in den dunklen Winkel am En de der Höhle, wo Nathan an die Wand gelehnt saß und ihnen zuzuhören schien, als sei er immer noch der Dritte im Bunde. »Wann gehst du?« fragte er bang, und Hoffnungslo sigkeit war in seiner Stimme. »Ich werde jetzt Harry anrufen, er soll heute nachmit tag kommen und mich abholen.« Jakob stieß einen entsetzten Schrei aus. »Was? So bald schon? Warum hast du es plötzlich so eilig?« »Ich will weg von hier, so schnell wie möglich. Au ßerdem muß ich nach New York zu meinem Arzt.« »Zu deinem Arzt? Warum?« 289
»Ich glaube, ich bin schwanger.« Jakob dachte einige Minuten schweigend darüber nach, dann sagte er: »Ja, ich glaube, das könnte stimmen. Und was willst du unternehmen?« »Nichts. Ich würde mich freuen, wenn es zutrifft. Viel leicht ist es das, wonach ich mich so lange gesehnt habe: ein Kind, für das ich sorgen kann.« »Wer, glaubst du, ist der Vater?« »Wie soll ich das wissen? Einer von euch beiden. Vielleicht beide. Es ist mir gleichgültig, ich will es gar nicht wissen.« »Ein Kind muß einen Vater haben.« »Mein Kind wird zwei Väter haben, und der eine hat den anderen erschlagen. Welchen, meinst du, soll ich ihm zum Vater geben?« »Wer soll dann sein Vater sein?« »Ich werde es sein. Ich werde ihm alles sein, Vater und Mutter zugleich. Es wird niemanden brauchen außer mir. Wozu brauchen Kinder schon Väter? Es geht auch ohne sie. Man muß ein Kind nur ausreichend mit Geld versorgen, und davon habe ich genügend.« Jakob spürte die Bitterkeit in ihren Worten. »Laß mich für euch sorgen«, sagte er. »Bleib bei mir, ich werde für dich und das Kind sorgen.« »Eine idyllische Vorstellung, nicht wahr? Du und ich allein im tiefen, tiefen Wald, und das Kind kommt zur Welt, ganz ohne fremde Hilfe.« »Ich habe schon Entbindungen gemacht.« »Und wenn Schwierigkeiten auftreten? Nein, Jakob. Mein Kind wird mit der größtmöglichen Sorgfalt zur Welt gebracht, und das heißt, daß ich nach New York zurück muß. Vielleicht komme ich im Frühling wieder, wenn das Baby da ist, ich werde es dir dann zeigen. Viel 290
leicht haben sich meine Gefühle dir gegenüber bis dahin geändert.« »Bis dahin werde ich tot sein.« »Du wirst nicht tot sein. Du bist nicht umzubringen. Ich sehe dich vor mir, wie du überwinterst, wie ein Bär, wie ein grausamer Bär, der sich einrollt und aussieht, als sei er tot, aber wenn dann der Frühling naht, kommt wie der Leben in ihn, und dann steht er auf und tötet weiter.« »Nein, Judith. Ich will niemanden töten.« »Warum hast du es dann getan?« Jakob schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte leise. »Ich weiß nicht. Ich habe es nicht gewollt.« »Doch, du wolltest! In jenem Augenblick wolltest du.« »Er wollte mich auch töten.« »Ach so, Auge um Auge, Zahn um Zahn.« »Nein, nein, nein! Das war es nicht.« »Doch, das war es! Und es ist immer dasselbe. Es än dert sich nie.« In ihrer Stimme war ein Hauch Traurigkeit und Resi gnation, aber sie war so kalt, daß Jakob fröstelte. »Ich gehe jetzt und rufe Harry an«, sagte Judith und stand auf. »Bleib! Komm zurück!« rief Jakob ihr nach. »Ich bin noch nicht fertig … Judith! Es gibt noch so viel zu sagen … Laß uns doch noch einmal darüber reden …« »Später«, sagte Judith. »Später.« Sie trat langsam ein paar Schritte zurück und ließ ihn nicht aus den Augen. Jakob sah, wie der Rand der Öff nung zwischen ihnen emporwuchs, ihren Leib, ihre Brü ste verdeckte. Als letztes sah er ihr Gesicht, gerahmt von rotbraunem Haar, ihre Lippen, traurig, aber dennoch lä chelnd, ihre goldbraunen Augen, geweitet, die ihn an starrten, dann war sie verschwunden. Er hörte das Ge 291
räusch ihrer Schritte, wie sie ohne Hast, aber ent schlossen über die Lichtung zum Waldrand ging.
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31 Jakob blieb auf seinem Hügel sitzen, das Gesicht in den Händen vergraben. Die Sonne kam für ein paar Minuten zwischen den Wolken durch, verschwand wieder und ließ sich nicht mehr sehen. Sie wird es nicht tun, sagte er sich immer wieder, aber er wußte, daß sie es tun würde. Viel leicht würde sie wenigstens zurückkommen und einen Vorrat an Lebensmitteln bringen. Doch nein, selbst das würde sie nicht tun. Warum sollte sie noch einmal seinen Anblick ertragen? Dennoch lauschte er den ganzen Nachmittag, Stunde um Stunde, ob er nicht doch das Geräusch ihrer Schritte höre, aber es blieb still. Es war ein ungewöhnlich stiller Tag. Kein Regen fiel, kein Wasser plätscherte, und es war so kalt, daß selbst das Summen der Insekten ver stummt war. Kein Wind bewegte die Bäume. Das erste Geräusch, das er vernahm, war ein leises Brummen in der Ferne, aber das war kein Insekt. Sicher würde sie noch einmal kommen, zumindest um sich von ihm zu verabschieden, aber das Brummen wuchs zu einem Dröhnen, und immer noch war nichts von ihr zu sehen. Die Tonhöhe wechselte, als das Flug zeug hereinkurvte und niederging. Das Geräusch wurde leiser, als die Maschine auf dem Wasser aufsetzte und abbremste, schwoll wieder an, als sie drehte und zum Landungssteg steuerte. Dann wurde der Motor abge schaltet, und es war wieder Stille. Jakob stellte sich die Worte vor, die rasch zwischen Judith und Harry gewechselt wurden, während er ihr Ge päck verstaute. Er fragte sich, ob vielleicht Harry für ihn sorgen würde, aber warum sollte er? Sicher würde ihm Judith sagen, daß er mit Nathan abgeflogen sei. Harry 293
würde die Sturmläden schließen und das Haus gegen den hohen Schnee absichern, der mit dem Winter kommen würde. Jakob überlegte, ob ihn Harry wohl hören könnte, wenn er auf dem Gipfel seines Hügels aus Leibeskräften nach ihm rief, aber es war unwahrscheinlich. Wie dem auch sei, er konnte es auch nicht, fiel ihm plötzlich ein. Er käme vom Regen in die Traufe, wenn Harry ihn hier mit Nathans Leiche finden würde. Eine Stunde später wurde die Stille von einem jähen Aufheulen zerrissen, als der Motor wieder angelassen wurde. Jakob kauerte auf seinem Hügel und lauschte. Das Flugzeug legte ab und drehte in den Wind, dann wuchs das Heulen zu einem Brüllen, als es über das Wasser jagte, schneller und immer schneller, und schließlich absprang und sich in die Luft erhob. Es kurvte und zog über ihn hinweg, eine silberne Libelle, die einen Sekundenbruch teil lang in einem Sonnenstrahl aufschimmert. Jakob saß regungslos und sah es über sich hinwegflie gen. Vielleicht sah Judith herunter, um einen letzten Blick auf ihn zu erhaschen, doch er bezweifelte, ob sie ihn in der Dunkelheit seiner Höhle überhaupt ausmachen konnte. Er versuchte sich vorzustellen, wie sie da oben in der kleinen Maschine saß. Das Motorengeräusch verlor sich in der Ferne, und er strengte sein Gehör an, denn er fühlte, daß er noch nicht ganz allein war, solange er noch ein feines Summen hörte. Er horchte und hörte es noch lange, bis er bemerkte, daß es nur das Rauschen des Bluts in seinen Ohren war, dem er nachlauschte. Langsam sank der Abend herab, und die Dunkelheit der Höhle kroch um ihn die Wände hoch. Er blickte um sich und konnte gerade noch Nathan erkennen, der an die 294
Wand gelehnt saß. Seine Augen schimmerten, als sich das letzte Licht des Tages in ihnen spiegelte. Jakob stieg von seinem Hügel herunter und ging zu seiner Schlaf mulde voll Laub, die sein Bett gewesen war. Er erinnerte sich daran, als er mit Judith darin gelegen hatte – es schien in einem anderen Leben gewesen zu sein. Der Abend wurde empfindlich kalt. Er suchte seine Bärenfell jacke und zog sie an. Dann setzte er sich auf sein Lager und starrte zu Nathan hinüber, der ihm am anderen Ende der Höhle gegenübersaß. Die Jacke war warm, aber er wußte, daß sie bald nicht mehr ausreichen würde. Das Bächlein lieferte ihm genü gend Wasser, aber was feste Nahrung anbetraf … er konnte sich noch nicht vorstellen, daß Nathan jetzt nicht mehr jeden Tag kommen würde, um ihm seinen Korb mit Essen zu bringen, und das Frühstück mit Judith war seine letzte Mahlzeit gewesen. Er trank ein wenig Wasser, aber er machte keine An stalten, nach etwas zum Essen zu suchen. Um Jagd auf Insekten zu machen, brauchte er Tageslicht. Er kehrte zu seinem Lager zurück und saß an die Wand der Höhle gelehnt wie Nathan am anderen Ende ihm gegenüber. Langsam wurde es dunkler, und schließlich war es Nacht. Jakob spürte, wie seine Verzweiflung wuchs, aber sie ergriff nicht Besitz von ihm. Auf irgendeine Weise war die Anwesenheit Nathans ein Trost für ihn, er war nicht ganz allein. Mit Erstaunen bemerkte er, daß er auch Ju dith gegenüber keinerlei Groll empfand. Seine Gefühle waren längst nicht mehr so aggressiv wie damals, als Na than ihm gedroht hatte, ihn allein zu lassen. Er wunderte sich darüber und versuchte den Grund herauszufinden. Es fiel ihm auf, daß, im Gegensatz zu Nathan, Judith ihm nichts angetan hatte, was er als ungerecht empfand. Ge 295
rechtigkeit konnte er erdulden, aber Ungerechtigkeit war ihm unerträglich. Hellwach saß er die langen Stunden der Nacht und dachte nach. Weder Wut noch Verzweiflung trübten sei ne Gedanken, sie waren völlig klar, und er überlegte, was er tun konnte. Bruchstücke von Einfällen und Ideen, die ihm vor vielen Tagen durch den Kopf gegangen waren, fügten sich plötzlich zusammen und formten sich zu ei nem Plan, nach dem er vorgehen mußte. Dabei fühlte er so intensiv Nathans unmittelbare Gegenwart, daß er ein imaginäres Gespräch mit ihm führte, die Einzelheiten des Plans mit ihm diskutierte, und Nathan schien ihm zu antworten, machte Einwände, stimmte schließlich zu. Langsam dämmerte der Morgen herauf. Der Himmel war grau und wolkenverhangen, und es war kalt. Die er wartungsvolle Stille der Welt am Tag zuvor fand ihre Erfüllung. Wie ein Flüstern tanzten die ersten Schnee flocken durch die Öffnung und lösten sich in nichts auf. Jakob saß auf seinem Lager aus Blättern und studierte den Hügel in der Mitte der Höhle. Er plante die einzelnen Schritte der Arbeit, die vor ihm lag. Zunächst mußte er die gesamte Erde des Hügels abtra gen und sie auf eine Seite der Höhle schaufeln, bis er auf die Felsen stieß, die Überreste der eingestürzten Höhlendecke, die darunter lagen. Der Hügel bestand aus vielen Tonnen Erdreich und Gesteinsbrocken. Er hätte eher eine Planierraupe gebraucht als einen Spaten, aber schließlich war ein Spaten noch besser als die bloßen Hände. Wenn die Felsbrocken zutage traten, würde er sie Stück für Stück gegen eine Seitenwand der Höhle wälzen und auf einanderschichten, darauf mußte er das Erdreich des Hü gels, Tonne für Tonne, zurückschaufeln und auf die hochgeschichteten Steine werfen. Er wußte nicht, wie 296
viele Tage er dazu brauchen würde, zehn vielleicht oder zwanzig, aber wenn die Zeit um war, würde er eine Art Rampe aus Steinen gebaut haben, über die er hinaufklet tern und den Rand der Öffnung erreichen konnte. Er wußte, daß es eine harte und ermüdende Arbeit sein würde. Er durfte nicht langsam darangehen, sich Zeit lassen und mit seinen Kräften haushalten, er mußte sich mit aller Energie darauf stürzen und sie so schnell wie möglich hinter sich bringen, bevor die grimmige Kälte des Winters einsetzte. Es war auch unmöglich, diese Lei stung auf der Basis einer Diät aus Wasser, Gras und In sekten zu vollbringen. Darin bestand das Hauptproblem, aber während der Nacht hatte er den Eindruck gehabt, daß ihm Nathan eine Lösung angeboten hatte. Nun sah er ein, daß er keine andere Wahl hatte, als sein Angebot anzunehmen. Wenn die Notlage zwingend wurde, würde er sich an Nathan wenden. So würde ihm Nathan zu guter Letzt sogar noch das Leben retten. Er versuchte, sich vorzustellen, wie es dann weiterge hen sollte. Wenn er die Arbeit bewältigt hatte, würde er Nathans Überreste begraben, wie ursprünglich vorgese hen. Dann würde er hinausklettern und zum Haus hinun tergehen. Wie fest sie es auch verschlossen hatten, er würde hineinkommen. Hinter dem Haus lagen noch ge schälte Baumstämme aus der Zeit, als es gebaut wurde, die könnte er nötigenfalls als Rammböcke benutzen. Einmal im Haus, hatte er Schutz, Wärme und Nahrung, warme Kleidung und Gewehre für die Jagd. Er würde überleben, so streng der Winter auch sein mochte, wie Judith vorausgesagt hatte! Er sann darüber nach, ob Judith in allen Einzelheiten vorausgesehen hatte, was er tun würde, um zu überleben. Vielleicht? 297
Jakob stand auf, streifte die Bärenfelljacke von den Schultern. Er ging ans andere Ende der Höhle, wo Na than saß, blieb einige Minuten lang stehen und sah ihn an. Dann bückte er sich und ergriff den Spaten, ging zum Hügel und stieß ihn in die Erde.
Printed in France 298