KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN N A TUR- UND K U L T U R K U N D L I C H E H E F T E
VITAL1S P A N T E...
62 downloads
340 Views
895KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN N A TUR- UND K U L T U R K U N D L I C H E H E F T E
VITAL1S P A N T E N B U R G
DER STAUDAMM A L U M I N I U M AUS D E R W A S S E R K R A F T DER ROCKY MOUNTAINS
VERLAG SEBASTIAN
LUX
MURNAU•MÜNCHEN•1NNSBRUCK•BASEL
An der Hochgebirgs- und Waldwildnis British Columbias an der kanadischen Pazifikküste entstand das größte Aluminiumhüttenwerk der Welt. Was kühne Planer und Ingenieure hier in wenigen ]ahren schufen, hat gigantische Ausmaße, Unerhörte Schwierigkeiten waren zu meistern. Die Geschichte des Projektes K1TIMAT liest sich wie ein spannender Zukunftsroman und ist doch Wirklichkeit. Silbergleißendes Aluminium wird hier mit billiger Energie — gewonnen aus gezähmte Wildwassern — in riesigen Mengen hergestellt.
Ingenieur Knewstubb hat eine Idee An einem Sommermorgen des Jahres 1928 sitzt Frederic Williai Knewstubb, Landmesser und Ingenieur im Landwirtschaftsministerium der kanadischen Provinz British Columbia, wieder einmal über seinen Skizzen und Plänen. Gestern ist eine Sendung mit Luftaufnahmen dazugekommen, und Knewstubb vergleicht nun das unzulängliche Kartenmaterial, das von den nördlichen Rocky Mountains vorliegt, mit den haarscharf gestochenen Fotos. Diese Aufnahmen aus der Vogelschau beweisen ihm, worüber er schon oft nachgegrübelt hat. In diesem Teil des Gebirges bietet die Natur die besten Voraussetzungen für eine riesige Talsperre und ein gewaltiges Kraftwerk, wie sie sich die menschliche Phantasie kaum idealer und kühner ausdenken kann. — Knewstubb kommt zu einem Entschluß, packt Karten und Luftbilder in eine Büromappe und geht hinüber in die Direktionsabteilung des Ministeriums. 2
Vermessungsingenieur Knewstubb gilt als tüchtiger und einfallsreicher Beamter. Wie kaum ein anderer ist er seit mehr als dreißig Jahren mit den Rocky Mountains vertraut. Noch liegen für den kanadischen Teil des Felsengebirges nur wenige zuverlässige Beschreibungen vor, und weite Strecken des Hochlandes müssen noch vermessen werden. Auch vom Gebiet des Tweedsmuir-Nationalparks, dem Schauplatz seines erträumten Talsperren-Kraftwerks, sind bisher nur Kartenskizzen vorhanden. Mr. Knewstubb betritt das Büro seines Abteilungschefs mit der Miene des Siegers: „Schauen Sie sich das doch einmal an, Mr. Towsend", sagt er und breitet seine Karten und die Luftbilder auf der Schreibtischplatte aus. „Die ersten Luftaufnahmen vom Nationalpark! Erst anhand der Luftfotos bekommt man einen richtigen Eindruck von dieser Landschaft. Sehen Sie, wie die Wasserläufe und die Seen da ineinander verflochten zu sein scheinen. Ich bin überzeugt, daß sie tatsächlich alle miteinander in Verbindung stehen. Ein geradezu idealer Fall." Der Chef-Landmesser versteht nicht gleich, worauf Knewstubb hinauswill: „So etwas gibt es doch nicht nur hier, sondern auch an vielen anderen Stellen unserer Provinz", meint er. „Aber sehen Sie denn nicht", gibt Knewstubb zur Antwort, „daß das hier etwas Besonderes ist? Ein richtiges Sammelbecken, von Bergen eingerahmt, mit vielen Tälern, durch die das Wasser einen Ausweg sucht, der aber leicht versperrt werden kann. Wenn man diese Abflußöffnung verstopft, mit einem Damm verriegelt, dann hat man einen einzigen Hochgebirgssee von über 200 Kilometern Länge und vielen Dutzend Kilometern Breite. Und wenn man dann dem Riesensee nicht mehr wie bisher nach Osten hin, wo das Gefälle geringer ist, sondern nach Westen hin einen Auslauf verschafft, so würden die Wasser fast 800 Meter tief herabfallen, weil dort der Stille Ozean bis an den Fuß der Rocky Mountains heranspült. 800 Meter — bedenken Sie, Chef, was das heißt! Ich schätze die Turbinenleistungen, die durch ein solches Wassergefälle in einem Kraftwerk zu erzielen wären, auf Millionen Kilowatt." 3
„Und wo würden Sie den Hahn zudrehen, damit Ihr Wasserbecken auch dicht ist?" fragt Mr. Towsend. Geometer Knewstubb ist ganz in seinem Element. Jetzt kann er offenbaren, was ihm seit langem wie eine Vision vorschwebt und was er in vielen Skizzen bis in die Einzelheiten durchdacht hat. Aus dem Fotostapel holt er eine der Luftaufnahmen hervor und weist mit dem Zeigefinger auf eine bereits angekreuzte Stelle'-). „Hier, Mr. Towsend, ist der Platz für den Wasserhahn, wie Sie sich auszudrücken belieben, hier an der engsten Stelle des Nechako-River, wo er sich durch den engen Canyon zwängt. Ein einziges Wehr, dort hingesetzt, hält die Wassermassen der ganzen Seen- und Flußkette auf. Und was für Wassermassen! Ich glaube, man könnte hinter einem solchen Staudamm zwei Dutzend Milliarden Kubikmeter Wasser anstauen." „Und Ihr Kraftwerk würden Sie nicht an diesem Canyon-Damm, sondern am entgegengesetzten Ende Ihres Milliarden-Sees aufstellen, wenn ich Sie richtig verstehe." „Ja, dort im Westen läge das Kraftwerk, nahe am Stillen Ozean, wo ganze Flotten in die Fjorde einfahren können — und das zu jeder Jahreszeit. In der Hochregion am Nechako-River müßte man mit langen Wintern rechnen, in denen ein Kraftwerk völlig von der Außenwelt abgeschnitten wäre." Mr. Towsend holt tief Atem: „Well, Knewstubb, Sie imponieren mir, Ihre Idee ist in der Theorie geradezu ideal — aber bleiben wir auf dem Boden der Tatsachen. Sie wollen einen Staudamm, ein Kraftwerk und was weiß ich alles bauen und bedenken das Gelände nicht: völlige Wildmark, nichts als Felsen, Urwälder, Gewässer, Moore, Schluchten und Berge. Von Osten führt nicht mal ein Waldweg in diese Gebirgswelt. Die Kanadische National-Eisenbahn hält sich so weit entfernt, daß sie als Zubringer nicht in Betracht kommen kann. Wie aber wollen Sie Menschen da hinaufschaffen, die das alles schaffen sollen, was Ihnen im Kopf herumgeht?" „Die fehlenden Straßen werden wir bauen", erklärt Knewstubb, „das lohnt sich, wenn Sie die Energiemengen, die wir gewinnen *) vgl. zu den folgenden geographischen Angaben die Kartenzeichnung Seite 4. 5
werden, dagegenhalten. Und selbstverständlich würde man eine Industrie dort ansiedeln." Mr. Towsend sieht sein Gegenüber erstaunt an. Das mit der Industrie in der Wildnis geht wirklich über seinen Horizont.
Die Aussichten sind gleich Null Im Jahre 1928, als dieses Gespräch stattfindet, gilt das kanadische Hochgebirgs- und Küstengebiet zwischen Vancouver im Süden und Prince Rupert im Norden als „Land des goldenen Zwielichts am Saum des großen Unbekannten". So hat Lord Tweedsmuir, ein kanadischer Generalgouverneur nach dem ersten Weltkrieg, dieses Gebiet genannt. Da er auch Dichter ist, hat er die urweltliche Wildnis immer wieder besungen. Auf seine Anregung geht auch der Gedanke zurück, die noch unangetastete Landschaft im Hochgebirge der Rocky Mountains zum Nationalpark erklären zu lassen. Dadurch ist das Wild völlig unter Naturschutz gestellt und jeder unkontrollierte Eingriff in die Naturgegebenheiten verboten. Es gibt keinen einzigen Menschen dort oben; lediglich am westlichen Gebirgsfluß, im innersten Winkel des Douglas-Fjords, liegt ein kleiner Weiler, der von wenigen Indianern bewohnt ist: Kitimat. Mr. Knewstubbs Zukunftstraum spricht sich herum, auch die Regierung beschäftigt sich mit dem tollkühnen Projekt. Die Aussichten auf eine Verwirklichung? Sie sind gleich Null! Denn eben in dieser Zeit bricht die Weltwirtschaftskrise über die Alte und Neue Welt herein und erschüttert auch den Staatshaushalt Kanadas. Dennoch entschließt sich die Regierung, einen Erkundungstrupp in die Hochregion des Tweedsmuir-Nationalparks zu entsenden. Und wer könnte sich besser dazu eignen, wer würde diese Aufgabe lieber übernehmen als Frederic William Knewstubb?
Pack-train bricht in die Wildnis auf Vanderhoof ist zu jener Zeit noch eine unbedeutende Station an der Strecke, die von Prince Rupert nach Prince George führt. Die Kanadische National-Eisenbahn fährt zwischen diesen beiden Orten 6
an der Westflanke des Tweedsmuir-Nationalparks entlang und folgt dann dem Tal des Frazer River. Im Sommer 1929, als Knewstubb von Vanderhoof aus mit seiner kleinen Expedition nach Westen in die Rocky Mountains aufbricht, besteht der Bahnhof aus einer winzigen Bretterbude und einigen Holzhäusern ringsum. Immerhin ist es für die Männer des Trupps der letzte von Menschen bewohnte Platz der zivilisierten Welt. Außer dem Leiter gehören ein Geologe, ein Wasserbauingenieur, ein Gehilfe und zwei Pferdeführer der Expedition an. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, in die urwelthafte Wildnis der Rockies einzudringen und sich dort zu bewegen: der „pack-train". Der Kanadier versteht darunter eine Koppel von Sattel- und Saumpferden zur Beförderung von Reitern mit ihrer Ausrüstung, Verpflegung und allem, was man sonst unterwegs noch braucht. Nur das Notwendigste wird auf einem „pack-train" mitgeführt; zu diesem Notwendigsten gehören vor allem Jagdwaffen und Angelgerät, damit man sich aus dem Wildbestand laufend mit frischer Nahrung versorgen kann. Zu jener Zeit ist ein derartiges Unternehmen ein regelrechtes Abenteuer, die Männer ziehen völlig Unbekanntem entgegen. Der Gebrauch von Flugzeugen und Funkgerät auf solchen Expeditionen zu Vermessungs- und Forschungsaufgaben ist noch keineswegs selbstverständlich, von Hubschraubern ganz zu schweigen. Bei aller Romantik sind solche Reisen beschwerlich und gute Ergebnisse nur mit großen Mühen zu erzielen. Für Knewstubb, der die Arbeit als Vermessungsingenieur in der Natur draußen weit mehr schätzt als das Sitzen im Büro oder den Umgang mit toten Akten, bedeutet dieser Auftrag weit mehr als nur eine ehrenvolle dienstliche Angelegenheit. Er will den Beweis dafür erbringen, daß er kein Phantast, sondern ein Mann ernsthaften Planens ist. Den ganzen Sommer über arbeiten die Männer in dem schwer zugänglichen Gebiet. Knewstubbs Leute sind die ersten Forscher, die ihren Fuß in diese Wildnis setzen, um das Land und seine Möglichkeiten zu untersuchen. Unermüdlich messen sie die Höhen der Seen über dem Meeresspiegel, loten ihre Tiefen aus, stellen die Strömungsgeschwindigkeiten fest, errechnen — wenigstens überschlägig 7
— die Wasserinhalte und erledigen, was es sonst alles für Entdecker unbekannten Landes zu tun gibt. Als Hauptaufgabe beschäftigen sie sich mit der schluchtenreichen Verengung des Nechako-River und untersuchen Beschaffenheit und Festigkeit des Felsgesteins an der Stelle des Canyons, die Knewstubb für ein Wehr als die günstigste vorgeschlagen hat. Die Schlüsse, die Knewstubb aus den Luftbildern gezogen hat, werden durch die Feldarbeit im Gelände vollauf bestätigt. Die Seenplatte ist tatsächlich ein ungeheures System aus vielen größeren und mittleren Seen; alle zeigen sie fingerartige Formen, und ihre Spitzen, ihre Ausläufer, weisen alle nach Osten; zuletzt vereinigen sich diese flußartigen Ausläufer und münden allesamt in den NechakoRiver. Die Namen dieser Seen sind mit wenigen Ausnahmen indianischen Ursprungs, und so sind sie auch auf den höchst ungenauen Karten verzeichnet: Ootsa, Eutsuk, Tetachuk, Natalkuz, Cheslatta. In der Mitte des Reviers liegt ein See mit dem beschaulichen englischen Namen „Weißes Segel" — Whitesail. Alle Seen sind — Knewstubbs Annahme bestätigt sich — durch Bäche oder sonstige Wasser'läufe miteinander verbunden und liegen durchweg 900 Meter über dem Meeresspiegel; der westlichste See — der Tahtsa-See — liegt mit seinem westlichen Ufer etwa sechzehn Kilometer Luftlinie vom Stillen Ozean — der Bucht des Gardner Kanals — entfernt. Der Nechako, in den die Hochgebirgsseen schließlich alle ihre Wasser schicken, ist ein Nebenfluß des Frazer, dem er nach 461 Kilometern bei Prince George seine Wasser zuführt. Wie Knewstubb erneut und genauer errechnet, würde nach Rückstauung des Nechako und der Seen das zukünftige Wasserbecken eine Länge von 240 Kilometern und eine Breite bis zu 100 Kilometer haben.
Pläne verstauben im Aktenschrank Knewstubb ist überzeugt, daß sich das anscheinend schwierigste technische Problem, das Aufstauen der enormen Wassermassen im Nechako-Canyon durch ein hohes, genügend widerstandsfähiges Stauwehr dank guter natürlicher Voraussetzungen verhältnismäßig
Die „Kugelwalze" überrollt den Urwald, um Platz für die zukünftige Musterstadt Kitimat zu schaffen. 9
leicht lösen läßt. Der Vermessungsingenieur hält nicht einmal kostspielige Betonmauern für erforderlich; es genügt nach seiner Auffassung ein Wall aus gebrochenen Felstrümmern, Geröll, Kies, Sand und Lehm. Durch das Wehr am Nechako-Canyon wird sich die Wasserscheide in diesem Teil des Hochgebirges nach Westen verschieben, nämlich bis an den dort das Seeufer abschließenden Berg. Er müßte durchtunnelt werden, damit die gezähmten Wasser 800 Meter tief zu Tal stürzen und zur Arbeitsleistung in- dem unten zu errichtenden Kraftwerk gezwungen würden. Voll interessanter Erkenntnisse und mit einer Fülle von Notizen, Zahlenkolonnen, Kurvenzeichnungen, Fotos, Gesteinsproben kehrt Knewstubbs „pack-train" unmittelbar vor Wintereinbruch aus den Rocky Mountains zurück. Der Minister und seine Fachleute finden den umfassenden Bericht ausgezeichnet; angesichts der inzwischen noch bedrohlicher gewordenen Weltwirtschaftskrise ist jedoch an die Verwirklichung des kühnen Projektes noch weniger als zuvor zu denken. Karten, Bilder, Pläne, Berichte und Gutachten wandern als umfängliches Bündel in die hinterste Ecke eines verstaubten Aktenschrankes. Knewstubb ist als einziger fest davon überzeugt, daß man das Bündel eines Tages wieder hervorholen wird.
Stromfressendes Aluminium Aluminium, das silbrige Metall mit dem geringen spezifischen Gewicht, gehört heute zu den meistbegehrten und meistverwendeten Werkstoffen. Es liegt ungefähr an fünfter Stelle hinter Eisen, Kupfer, Blei und Zink. Die Welt benötigt in zunehmendem Umfang Aluminium und Leichtmetall-Legierungen: für Flugzeuge, Hubschrauber, Eisenbahnwagen, leichte Omnibusse, Verbrennungsmotoren, im Schiffsbau, für Brücken und zur Isolierung, in Form dünner Folien zur Verpackung von Butter, Schokolade, Pralinen und aller Art von Lebensmitteln. Es gibt schon mehrere tausend Verwendungsmöglichkeiten für dieses Leichtmetall. Um es aus Bauxit, einer kieselsäurearmen Tonerde, herauszuschmelzen, braucht man sehr große Mengen elektrischer Energie. Für eine einzige Tonne Aluminium sind ebenso viele Kilowattstunden erforderlich wie ein moderner Haushalt von 10
fünf Personen in etwa acht Jahren verbraucht. Für den Standort einer Aluminiumhütte ist es deshalb ausschlaggebend, ob sich geeignete Wasserkraftanlagen in der Nähe befinden, weil sie immer noch die billigsten Stromlieferanten sind. Kanada ist schon im letzten Kriege zum zweitgrößten Aluminiumproduzenten der Welt geworden, unmittelbar hinter den USA. Kurz nach Kriegsschluß sucht die einflußreiche und kapitalstarke ALCAN (= Aluminium Company of Canada), die bereits im Osten des Landes, am unteren St. Lorenz, eines der größten Aluminiumwerke der Welt besitzt, nach einem weiteren Standort mit günstigen Vorbedingungen zu einer Aluminiumschmelze mit größter Leistungsfähigkeit. Fast durch Zufall geraten die ALCAN-Fachleute in British Columbia an die Pläne und Vorarbeiten des Vermessungsingenieurs F. W. Knewstubb. Geradezu genial erscheint ihnen Knewstubbs Einfall, die Abflußrichtung der enormen Wassermassen umzukehren und sie 800 Meter tief an den Flanken des Mount DuBose herabstürzen und Arbeit leisten zu lassen. Die Gesellschaft läßt die Unterlagen und die Voraussetzungen für eine große Kraftwerk- und Hüttenanlage sorgsam prüfen.
Auf Knewstubbs Spuren Bereits im Sommer 1948 entsendet die ALCAN mehrere Teams von Ingenieuren und anderen Fachleuten in den Tweedsmuir-Nationalpark, um das Gelände zu erkunden, sorgsam alles zu vermessen und die örtlichen Vorbedingungen für ein geschlossenes Industrierevier zu untersuchen. Die Landkarten dieser Gegend sind noch genauso unzureichend wie zur Zeit Knewstubbs. Zwar kann auch die ALCAN-Expedition noch nicht ganz ohne Reit- und Packpferde auskommen, aber die Ingenieure und Geologen reisen jetzt doch lieber im Hubschrauber, Wasserflugzeug oder im Außenbord-Kanu. Jede Gruppe steht jederzeit in Funkverbindung mit allen anderen und dem Stab. Die technischen Hilfsmittel erleichtern alles beträchtlich, so daß die Arbeit auch im schwierigsten Gelände weit besser und schneller durchzuführen ist als zwanzig Jahre zuvor. 11
Ein spannendes Abenteuer für die durchweg jungen Leute bleibt diese Expedition trotz allen neuzeitlichen technischen Großaufwands freilich doch. Wie sollte ein Gelände nicht locken, das noch völlig unerschlossen und menschenleer ist, durchsetzt mit dschungelartigem Wald, mit großen Seen und reißenden Flüssen, tiefen Schluchten und tosenden Wildbächen, gekrönt mit gletscher- und firnbedeckten Berggipfeln, aber auch bewohnt von königlichem Wild: angriffsfreudigen Grizzlybären, kapitalen Elchen und manch anderem bepelzten und gefiederten Getier! Nicht weniger als zwanzigtausend Kilometer legen die Teilnehmer während ihrer sorgfältigen Untersuchungen zurück. Sie stellen fest, daß Knewstubbs Berechnungen sich erstaunlich genau mit ihren eigenen Messungsergebnissen decken. Auch seine Vermutung über die Wasserverteilung in den Rocky Mountains stimmt: Alle Seen sind untereinander gleichsam röhrenartig verbunden. Sie messen, bohren, machen Gesteinsproben, verzeichnen die kleinsten Einzelheiten und rechnen und werten die Ergebnisse in ihren Berichten aus. Fast drei Jahre verstreichen, ehe die Entwürfe mit allen Einzelheiten des Riesenprojektes fertig vorliegen und die letzten Entscheidungen getroffen werden können. Nach den Messungen der Ingenieure reichen die ständig zur Verfügung stehenden Energien für eine Jahresproduktion von mindenstens 500 000 Tonnen Rohaluminium aus. Das neue Werk der ALCAN würde schon damit zur leistungsfähigsten Aluminiumhütte der Welt; die Gesellschaft würde zugleich an die Spitze der Aluminiumerzeuger der Welt rücken, noch vor der amerikanischen ALCOA (Aluminium Company of America), der bisher größten Produzentin der Erde. Eine faszinierende Aussicht für Kanada. Das ALCAN-Unternehmen bekommt auch einen Namen: „Nechako-Kemano-Kitimat". Es sind die drei Schwerpunkte des geplanten Industrielandes: der Nechako-Damm mit dem Stausee; die KemanoZulaufanlagen mit dem Kraftwerk; das Kitimat-Aluminium-Hüttenwerk mit dem Seehafen und der Stadt. Die Ziele sind weit- und hochgesteckt: Das Kraftwerk wird nach dem Endausbau eine Leistung haben, die die Stromlieferung sämtlicher deutscher Wasserkraftwerke überbietet. In Amerika übertrifft nur Grand Coulee, die 12
bisher größte Anlage der Welt, diese Leistung, jedoch nicht an Fallhöhe der Wassermassen des Stausees. Bei Grand Coulee sind es nur 105 Meter, während bei Kemano das Wasser 800 Meter tief hinunterjagt. Das ist sechzehnmal mehr als die von aller Welt bewunderte Fallhöhe des Niagara. Die Kosten der Bauten in der westkanadischen Wildnis sind allerdings ebenfalls beachtlich; ALCAN rechnet für den ersten Ausbau mit einem Aufwand von fast zweieinhalb Milliarden Mark. Der Schauplatz ist abgelegen, es fehlen alle Voraussetzungen für die Unterkunft und Versorgung Tausender und aber Tausender Ingenieure und Arbeiter, es gibt keine Autostraßen und Eisenbahnen, die dorthin führen. Es gehört ein fast unglaublicher Mut dazu, eine solche Hochgebirgs-Einöde in eine Industrielandschaft umzuwandeln. Einen überaus günstigen Vorteil bietet allerdings die Natur: Vom Westen her gewähren das Meer und die Küste mit ihrem tiefgegliederten Netzwerk von Buchten, kanalartigen Wasserläufen und Fjorden bequeme Zugänge.
Hafenbau am Stillen Ozean Dieser Küstenstrich Kanadas am Stillen Ozean breitet sich regellos und zerklüftet, gespickt mit zahllosen Inseln und Eilanden, vor dem westlichen Fuß der gewaltigen Felskette der Rocky Montains aus. Wer einmal über diese Landschaft dahinfliegt oder sie mit einem Dampfer befährt, glaubt sich in eine norwegische Fjordlandschäft versetzt: Hier wie dort ein dichtes Kleid grüner Wälder und firngleißende Zacken himmelragender Berge. Der große Unterschied ist, daß dieses Gebiet vom Menschen noch nicht in Besitz genommen ist. Nur selten begegnet man hier einem Fischkutter; kaum findet sich hier und dort am äußersten Saum der Inselkette ein kleiner Weiler, fast ungenutzt ist der Segen des immer eisfreien Meeres, unangetastet und nicht einmal oberflächlich erforscht ist das Land. Oft ist der Himmel verhangen von regenschweren Wolken. Gleich Schleusen öffnen sie sich unversehens und überschütten Buchten, Wälder und Berge mit klatschenden Güssen. Die Wolkenmassen bringen viel Wasser heran, von draußen, vom Ozean her, und im Win13
ter reichlich Schnee, so daß sich in den Mulden und Senken des Hochgebirges ständig riesige Wassermassen sammeln, die ungenutzt zu Tal brausen. Kanadas Pioniere haben dieses majestätische Land und seine Wasserschätze bis dahin noch nicht entdeckt, auch nicht die Reichtümer, die in seinen wundervollen, hochgewachsenen Wäldern stecken mit ihren riesigen kerzenschlanken Sitkafichten, Hemlocks, Zedern und Douglastannen. Selbst die Regierung der Provinz British Columbia hat nicht einmal annähernd eine Vorstellung von diesen Naturschätzen. Das soll nun mit einemmal anders werden. Die ALCAN beginnt mit dem Bau des Stauwerks, des Kraftwerks und der Hütte. Wagemutige Unternehmer aus dem dichter besiedelten, industrialisierten Osten entsenden ein großes Aufgebot erfahrener Ingenieure und tüchtiger Helfer. Sie führen eine Ausstattung an technischem Rüstzeug mit sich, wie die Welt es so modern, so vielgestaltig und wirkungsvoll bei einem ähnlichen Vorhaben in Friedenszeiten bislang kaum je erlebt hat. Der Douglas-Fjord, einer der tief ins Land gehenden Einschnitte, wird schon bald zu einer belebten Schiffsstraße. Transporter laufen in den brandneuen Hafen Kemano ein. Es sind „landing-crafts", große Marine-Landungsboote, die im letzten Krieg im Kampf gegen die Japaner im Stillen Ozean eingesetzt waren. Jetzt stoßen sie gegen den notdürftig vorbereiteten Strand vor; ihr einziger Gegner ist der menschenleere Urwald. Die Ladeklappen öffnen sich, nicht um Tanker und Seesoldaten herausstürmen zu lassen, sondern Straßenbauer und ihr Gerät, Erdschieber auf breiten Raupen, Kipplastwagen, Proviantkisten und tausenderlei andere Dinge. Vier Wochen später ist mit Hilfe der kolossalen Straßenbaumaschinen eine achtzehn Kilometer lange Autostraße bis an den Mount DuBose durch die Wald- und Sumpfwildnis gebrochen. Am Fuß des Berges wird ein ausgedehnter Werkplatz angelegt, Baracken und Werkschuppen werden aus Fertigteilen zusammengeschraubt, um die Männer und ihre Maschinen aufzunehmen. Wer unter solchen Bedingungen, fern den vielen Annehmlichkeiten der Zivilisation, weit weg von Städten 14
und anderen Menschen leben und hart arbeiten soll, muß mindestens gut untergebracht und reichlich verpflegt werden. Für alles ist gesorgt. In der Lagerstadt fehlen weder Arzt noch Krankenrevier, weder Kino noch Gaststätten. Am schnell wachsenden Kemano-Hafen laden die Schiffe immer neue technische und lebensnotwendige Nachschubgüter aus. Aus der langen Reihe wartender Lastwagen.löst sich einer nach dem anderen heraus, wird beladen, rollt los, talauf zum Werkplatz KemanoKraftwerk. Hier arbeiten allein sechstausend Mann. Die Arbeiterscharen sind zu einer ganzen Armee geworden, und zu ihrer Unterbringung, Betreuung und laufenden Versorgung sind weitere Hunderte Hilfskräfte erforderlich. Der Seeweg vom Hauptnachschubhafen Vancouver beträgt fast 800 Kilometer. Alles muß mit Schiffen herangebracht werden, es gibt ja, wie gesagt, keine Bahn- oder Autostraßenverbindung vom Binnenland her.
Tunnels länger als der Gotthard-Tunnel Gleich, nachdem die Kraftwagenstraße bis an den Fuß des Mount DuBose herangeführt ist, beginnen Bergleute mit dem Heraussprengen der Tunnels und der Schächte, der Zulauf- und Ablaufstollen im Innern des Granitberges. Von zwei Seiten zugleich wühlt man sich mit den Methoden moderner Bohr- und Sprengtechnik und allem nur erdenklichen Rüstzeug in das Felsmassiv. Ununterbrochen hämmern seit den ersten Frühlingstagen des Jahres 1951 Hunderte und aber Hunderte Preßluftmeißel auf den Berg los, die Sprengschüsse der gewaltigen Ladungen lassen den Riesen erbeben; die Steilwände im engen Tal hallen wider vom Lärm der Motoren. Flugzeuge ziehen als oft einzige Verkehrsmittel zwischen den Arbeitsstätten und Ingenieurstäben dröhnend ihre Bahnen; Hubschrauber schrauben sich im Libellenflug hoch und schwirren zu sonst unzugänglichen Stellen hin. Von jedem Punkt aus ist jeder andere Punkt, auch die entlegenste Baustelle, über UKW-Sprechfunk erreichbar. Oben bohren sie vom Westufer des Tahtsa-Sees her zwei nebeneinanderliegende Tunnels 15
durch den härtesten Fels, deren jeder fast eineinhalb Kilometer länger ist als der St.-Gotthard-Tunnel in der Schweiz. Die Tunnels sind so breit, daß darin drei Kraftwagen nebeneinander herfahren könnten. Aber diese Riesenstollen werden nicht dem Verkehr dienen; später werden durch sie in jeder Sekunde zwölf hundert Tonnen Wasser aus dem künftigen Stausee in leichtem Gefälle bis an den Rand des Gebirges schießen. Hier am Ende des Doppcltunnels baut man schon an dem sogenannten „Wasserschloß" — kein romantisches Bergschloß wie etwa das Königsschloß Schachen im Wettersteingebirge in den Alpen, sondern ein Sperr- und Öffnungsschloß für das aus dem See herandrängende Wasser, das hier mit riesigen Schiebern je nach Bedarf angehalten oder zum Weiterfluß freigegeben werden kann. Denn im „Schloß"-Gebäude an der Gebirgskante beginnen die stählernen Fallrohre, die in steiler Neigung 800 Meter in die Tiefe zum Kraftwerk führen werden. Durch diese Rohrstränge wird das vom Wasserschloß freigegebene Wasser herunterstürzen und herunterprallen mit von Meter zu Meter steigendem Druck. Noch nirgends in der Welt hat man es mit einem ähnlich großen, ja ungeheuren Wasserdruck zu tun gehabt, und viele Vorkehrungen sind erforderlich, damit die Rohre unter dem gigantischen Wasserdruck nicht zerspringen. Die Stahlrohre, die oben am wenigsten Druck erfahren, sind hier nur 1,5 Zentimeter dick, vor den Turbinen aber, 800 Meter tiefer, mißt die Wandstärke über sechs Zentimeter. Aber auch das genügt den Ingenieuren nicht. Sie verlegen die Fallrohre in Schächte, die aus dem Granit herausgesprengt sind und umkleiden sie mit einem Betonmantel, der alle Risse und Lücken im Fels ausfüllt. Im Sommer 1954 sollen die Rohrstränge in ihrer Betonhülle liegen, die Schieber im Wasserschloß sich öffnen und nach wenigen Sekunden die Wassermassen in die Schaufeln der Kraftwerksturbinen auf dem Talgrund fallen. Jedes der Stahlrohre wird vier Turbinen bedienen, die ihre rotierende Energie auf die Achsen der stromerzeugenden Generatoren übertragen. Sechzehn Maschinensätze sind vorgesehen, jede Kombination Turbine—Generator wird eine Leistung von 130 000 Kilowatt erzeugen — rund zwei Millionen Kilowatt sollen die Gesamtleistung des Kraftwerks sein. 16
Das Höhlenkraftwerk Auch dieses Kraftwerk wird einmalig in der Welt sein. Da sich kein Platz bietet für ein Bauwerk im Freien, soll die Turbinen-Generatorenhalle in den Berg verlegt und aus ihm herausgesprengt werden. Sie wird so^ hoch und so breit sein wie das Mittelschiff der Peterskirche in Rom und mehr als doppelt so lang. Jeder Maschinensatz wird 875 Tonnen wiegen — soviel wie sechs elektrische Güterzuglokomotiven von 100 km/st Geschwindigkeit. Zugang und Zufahrtsweg zur Kraftwerkhöhle wird ein halbkilometerlanger Tunnel sein, durch den auch die Kabel verlaufen. Der Tunnel wird die Halle entlüften und Frischluft heranbringen. Seitlich dieses Eingangstunnels werden mehrere Ablauftunnels verlaufen, durch die das Wasser nach Durchlaufen der Turbinen nach draußen, in den KemanoRiver, in wirbelnden Wasserfällen entströmen kann. Als Höhlenkraftwerk hat die Anlage noch einen besonderen Vorzug: Während in dieser Gegend bei einem Außenbau im Winter wegen der Kälte, der Stürme, des hohen Schnees und der Eisbildung die Arbeiten eingestellt werden müßten und die Arbeiter sechs und in den Höhenlagen sieben Monate nichts zu tun hätten, kann im wettergeschützten Berginnern ohne Unterbrechung weitergebaut werden, und man spart nicht nur Zeit, sondern auch hohe Kosten. Ohne Pause, Tag und Nacht, Woche um Woche, Monat um Monat — „round the clock", wie die Mineure hier sagen, also rund um die Uhr, das heißt, im 24-Stunden-Tag — wird geschafft. Jeder Trupp hat den Ehrgeiz, dem anderen voran zu sein; außer der Anerkennung durch Lob und öffentlichen Anschlag gibt es gute Prämien. Die erfahrenen Ingenieure des Baustabes Kemano-Kraftwerk, die viel gewohnt sind, staunen, als ihre Tunnelbauer einmal melden: 87,7 Meter Länge vorgetrieben — in einer einzigen Arbeitswoche von sieben Tagen und Nächten. Eine stolze, in der Geschichte des technischen Fortschritts noch nicht erreichte Leistung. Zwei Jahre lang kommt das Innere des Mount DuBose nicht zur Ruhe. Die aus dem Berg gesprengten Gesteinstrümmer werden am Kemano-Fluß angeschüttet. Hunderte 15-Tonnen-Kipplader werfen dort 2 700 000 Tonnen Gestein ab. Zusammen werden vier Millionen Tonnen Gestein aus dem Mount DuBose herausgeschafft. In der Re18
gel verstreicht kaum eine halbe Stunde, in der der Berg nicht in seinen Grundfesten erbebt, weil wieder einmal eine Sprengladung ihre Druckwellen durch den Fels schickt.
Auf den Zentimeter genau Eines der denkwürdigsten Ereignisse trägt sich in der Nacht vom 1. auf den 2. Dezember 1953 zu. Oben im 16 Kilometer langen Zulauftunnel sind sich die vom Tahtsa-See und von Westen her einander entgegenarbeitenden Bergleute so nahe, daß nach den Berechnungen der Grubenfeldmesser, der Markscheider, bei der nächsten Sprengung der Durchbruch erfolgen muß. Gleichzeitig zieht man hüben und drüben die Bohrmaschinen zurück. Die staubverkrusteten Männer begeben sich in ihre Deckungsnischen, das pausenlose, nervenzerreißende Schüttern der Preßluftbohrer noch im ganzen Körper verspürend. Aber während sonst ihre Gesichter fahl und grau sind, steht jetzt Glanz in ihnen, Stolz über das Geleistete; mit Spannung erwarten sie die Krönung ihrer harten Arbeit. Wie unzählige Male vorher stopfen die Sprengmeister die marzipanfarbenen Dynamitladungen und Zündkapseln mit langen Stangen in die Bohrlöcher. Hier wie bei den Kollegen auf der anderen Seite sind es, wie stets, zwölf Ladungen, gut über die ganze Wand verteilt. In ihre Nischen geklemmt, verständigen sich die Ingenieure hüben wie drüben telefonisch: „Klar!" kommt es von beiden Seiten. Diesmal löst der Chefingenieur selbst die Sprengungen aus. „Achtung!" warnt der Boß und tippt auf das winzige Köpfchen, das die Funken gleichzeitig knistern und zünden läßt. Ruuumms — ruumms — ruumms! Gewaltige Detonationen zerreißen die Stille, erschüttern wieder einmal den ganzen Berg. Schutzhelme fliegen von den Köpfen und rollen scheppernd über den Fußboden. Großzackige Felsbrocken lösen sich unter der Gewalt der Zerreißkräfte des Sprengstoffs aus der Wand, poltern über den rissigen Fels. Blaue Rauchschwaden, vermischt mit grauem Gesteinsstaub und erstickendem Dynamitqualm, 19
wehen durch den Tunnel. Die Männer pressen die Atemmasken vor den Mund. Als sich der Rauch verzieht, recken sie wie erlöst die Hälse und starren dorthin, wo noch vor Sekunden eine zehn Meter dicke Wand aus gewachsenem Granit im Tunnel stand. Nun klafft riesengroß die Öffnung. Lichtschein geistert hindurch. Die Strahlenbündel der Scheinwerfer tasten sorgsam den Spalt nach lose an der Decke hängenden tückischen Felsbrocken ab. Als erster zwängt sich der junge Ingenieur vom oberen Tunnelteil durch die Öffnung. Der Chef streckt ihm die Hand entgegen, haut ihm kameradschaftlich, hocherfreut auf die Schulter. „Hallo, Boy, das habt Ihr fein gemacht." Die Mineure stecken sich eine Zigarette an. Die Markscheider aber machen sich unverzüglich wieder an die Arbeit. Sie stellen fest, daß die beiden Tunnelenden fast zentimetergenau ineinander übergehen, es ist wieder einmal „Maßarbeit!" Aber Zeit zu einer langen Feierpause bleibt den Männern nicht. Schon rasseln von beiden Tunnelgängen her die klobigen Löffelbagger heran, in ihrem Gefolge leere 15-Tonnen-Kipplader. Rasch und mit ohrenbetäubendem Lärm füllen sich die stählernen Kästen mit Felsgestein. Die Arbeit hat wieder eingesetzt. Was hatte doch der Chef im Weggehen wie oft schon herübergerufen: „Denkt immer daran, Boys, timc ist money!"
25 Milliarden Kubikmeter Wasser werden gestaut Während das alles geschieht, brechen schwere Raupen mit mächtigen Stahlschaufeln weit im Osten, von der Canadian-NationalBahnstrecke her, Wege durch den Urwald und die Berge. Die hinter ihnen vorrückenden Straßenbauer schütten Dämme für die zwei Zufahrten in das Seengebiet und zum Nechako-Canyon auf. Von den Stationen Burns Lake und Vanderhoof aus sind es immerhin 180 bzw. 100 Kilometer Straße, die neu angelegt werden müssen, damit man an die Baustellen für den geplanten Canyon-Damm herankommen kann. Die Schwierigkeiten, die sich den Straßenbauern entgegenstellen, könnten jeden entmutigen. Zu allem Unglück setzen Tauwetter und Schneeschmelze viel früher ein als sonst. Überflutende Bäche, nasser Schnee, Regen verwandeln alles in unvorstellbaren 20
Morast. Trotz dieser Widrigkeiten dringen die Fahrbahnen unaufhaltsam vor, kaum langsamer als man es gewünscht und berechnet hat. Den Straßenbauern folgen Lastwagen und Raupenschlepper mit den mannigfaltigsten und umfänglichsten Versorgungsgütern hinauf in die Berge. Als die Straßen fertig sind, machen sich die Staudamm-Fachleute ans Werk, an mehreren Stellen zugleich; denn nicht nur am NechakoCanyon, sondern auch an anderen Talausgängen des Seengebietes muß das Wasser gesammelt werden, damit ein einziger Stausee entstehen kann, der nur noch nach Westen, zum Kemano-Kraftwerk hin, Abfluß hat. Am Nechado-Canyon tragen Dieselschaufeln, Löffelund Flachbagger einen nahen Geröllberg ab; Großkipper räumen Felstrümmer, Kies und Sand beiseite. Das alles geht in unglaublichem Tempo, bei ununterbrochenem Arbeitsgang, buchstäblich in rollendem Einsatz vor sich. Nach nur zwei Sommcr-Bauperioden steht bereits im Herbst 1952 das zyklopische Wehr im Nechako-Canyon, das zweitgrößte dieser Art auf der Erde. Es erhält den Namen „Kenney-Damm". Die aus dem riesigen Einzugsgebiet heranströmenden Zuflüsse beginnen sich vor ihm zu stauen. Die Sperre zwingt die Wassermassen buchstäblich, „bergauf" zu laufen, damit sie die Turbinen in dem rund 250 Kilometer entfernten Höhlen-Kraftwerk Kemano treiben — genau wie F. W. Knewstubb es sich einmal vorgestellt hat. Aber erst fünf Jahre später ist der Stausee bis obenhin angefüllt. Die Dammkrone ist 475 Meter lang und 28 Meter breit. Die Höhe, vom Felsboden im Flußbett gerechnet, beträgt 97 Meter, fast die doppelte Höhe wie bei den Niagara-Fällen. Dann vergrößert man den Wasserzufluß, indem man auch zwei nördlich des Tahtsa-Sees liegende Seen einbezieht. Der Stausee für das Kemano-Kraftwerk ist nun fast doppelt so groß wie der Bodensee und faßt ungefähr 25- Milliarden Kubikmeter Wasser. Die alljährliche Schneeschmelze führt weitere 2,6 Milliarden Kubikmeter hinzu. Diese Gesamtmenge entspricht annähernd dem Fünffachen der Menge, die die ganze Bundesrepublik in einem Jahr für ihre Industrie und alle Haushalte verbraucht. 21
Jetzt kann der See auch schon für Transporte benutzt werden. Maschinen, Geräte und Materialien aller Art, die Unterkünfte und unzählige andere Dinge für die Baustellen rings an den Ufern werden in flachgehenden Lastprähmen herangebracht. Auch Schwimmerflugzeuge können jetzt als Transporter Hilfe leisten.
Kugelwalzen gegen den Urwald Und noch ein drittes Unternehmen — neben Kraftwerk und Stauwehren — ist in diesen Jahren im Gange: der Bau des riesigen Aluminium-Hüttenwerkes in der Wildnis und die Anlage einer Arbeiterstadt, ohne die ein solches Werk nicht funktionsfähig ist. Kitimat am Ende des langen Douglas-Golfs, wo das Aluminiumwerk entstehen soll, war vor der Ankunft der ALCAN-Männer nichts als ein Häuflein elender Indianerhütten, deren Bewohner sich mehr schlecht als recht vom Fischfang und ein wenig Jagd ernährten. Wahrscheinlich sähe es heute in diesem gottverlassenen Winkel der Pazifikprovinz ohne diese Männer noch genauso aus wie vor hundertfünfzig Jahren, als der britische Captain Vancouver im Auftrag der kgl. britischen Marine als erster diese Gegend befuhr, um ihre Umrisse und Besonderheiten wenigstens grob in die Landkarte einzuzeichnen. Der Winter 1950/51 ist kaum zu Ende, als auch hier ein Konvoi von Schiffen erscheint, um Männer und Maschinen an Land zu setzen. Zunächst gibt es nicht einmal genügend Platz für eine Handvoll Zelte oder Notbaracken, geschweige denn für große Planierraupen. Mächtige Stämme müssen umgelegt, dschungelartig verfilztes Unterholz geräumt, das Wurzelwerk beseitigt und Felsen weggesprengt werden, damit man überhaupt Fuß fassen kann. Das große Roden beginnt. Bald hallen der Fjord, das Tal des Kitimat-Flusses, die dunklen Wälder und die Bergriesen wider vom Donner der Motoren, der Bulldozer und Raupen, vom Hämmern hunderter Handwerker und von den dumpfen Schlägen der Rammen. Das größte Problem ist die Riesenmenge des anfallenden Urwaldholzes. Was soll man mit all diesen herrlich gewachsenen Baumriesen anfangen? In Vancouver 22
Auf dem Abraum aus dem Höhlenkraftwerk Kemano steht am Rand des Hochgebirges die Aluminiumhütte Kitimat. 23
würde das kernige Holz hoch bezahlt werden; doch die schönsten Bäume taugen nichts, wenn Hau- und Transportkosten höher sind als der Preis, den man beim Verkauf erzielt. Es gibt nur eins, vernichten, Raum schaffen um jeden Preis und so schnell wie möglich. Auch hier heißt es: Zeit ist Geld; jeder Tag, um den sich die Fertigstellung des Mammutunternehmens verzögerte, verschlänge zehntausend Dollar. Das Verfahren, auf schnellste, billigste und rücksichtsloseste Weise Wald zu beseitigen, hat ein kanadischer Holzfäller erfunden. Das Vernichtungsgerät ist eine Kugel von zwei Metern Durchmesser, die aus starkem Stahlblech zusammengeschweißt, mit Beton ausgegossen und mit einer durchgesteckten Achse versehen ist. Das fertige Ungetüm wiegt fast sechs Tonnen. In Ringe an den Enden der Stahlwelle hakt man armdicke Stahldrahttrossen, jede gegen hundert Meter lang, und an jedes dieser Seile spannen sich zwei hintereinandergekoppelte Mammut-Raupenschlepper. Auf einen schrillen Pfiff des Vormanns rumpeln dröhnend die Dieselraupen los. Die stählernen Seile straffen sich, federn und zirpen wie hochgespannte Saiten. Langsam kommt in die Kugelmasse Bewegung; sie rollt an und beginnt über umgerissene Bäume, Astwerk und Wurzelballen zu klettern. In Reih und Glied steht, kerzengerade, die Mauer der wundervollsten Zedern und Fichten. Schwerfällig holpernd, tanzend prallt die Kugelwalze gegen den ersten Stamm. S.irrend spannen sich wie zum Bersten die Seile, aber sie halten stand. Heller dröhnen die schweren Motoren und vereinen ihre Kräfte von tausend PS. Die erste meterstarke Zeder biegt aus, stemmt sich gegen das Ungetüm. Vergebens — unaufhaltsam schiebt sich die Walze an diesem ersten, mehr und mehr sich neigenden Stamme hoch, immer höher. Die Baumkrone sucht Halt beim Nachbarn, aber es nützt nichts; die Kraft der Schlepper aus Stahl und Eisen ist stärker. Das Erdreich gibt nach, die Wurzeln reißen aus, tonnenweise rieselt Erde nach. Krachend stürzt der erste Stamm gegen den nächsten und reißt auch diesen mit unter der unwiderstehlichen Gewalt der durch die Baumreihe geschleppten Kugel. Ohrenbetäubender Lärm erfüllt die Luft. Stammholz und Astwerk kracht und splittert. Vorwärts klettert die Walzkugel und legt einen brei24
Silbrig schimmernde Aluminiumbarren werden am Kai von Kitimat verladen. 25
ten Streifen des unmeßlichen mehrhundertjährigen Urwaldes um. Schließlich wendet sie, um einen neuen Streifen daneben niederzuwalzen. Hinter dem seltsamen Gespann des respektlosen Waldvernichters rasseln Räumraupen mit großen, blanken Stahlsdiaren heran; sie rücken ebenso unwiderstehlich vor, sdiieben den entstandenen Wirrwarr zusammen und schaufeln alles zu hohen Kämmen auf. In ihrem Gefolge schwärmen sogleich Männer aus, sprühen öl und Benzin über die Haufen und zünden sie an. So hilft das Feuer mit, das Vernichtungswerk zu vollenden. Was dann noch nicht zu Asche geworden ist, beseitigen Planierraupen, die das Gelände zum Abstecken der Hallen und Fahrstraßen vorzubereiten haben. Erschreckt sind die braunen Bären und die zottigen Grizzlys, aus ihrem Winterschlaf unsanft aufgescheudit, in die weite Umgebung verschwunden.
Die Schmelzhütte entsteht In wenigen Wochen folgen den paar Dutzend Pionieren der Vorhut hunderte, schließlich einige tausend Männer an den Werkplatz der Hütte. Tag und Nacht lösen sie sich in drei Schiditen ab. Ruhetage gibt es hier ebensowenig wie auf den übrigen Großbaustellen. Wofür auch? Abwechslung, Vergnügen gibt es nicht viel, und die meisten sind nach ihren Schichten rechtschaffen müde. Als einzigen Ausgleich haben die Leute ungewöhnlich hohe Löhne und ein vorzügliches Essen bei einfacher, guter Unterkunft. Der Sommer ist kurz und das Klima in dieser Gegend nicht gerade reizvoll. Die Arbeit im Freien wird oft genug durch strömenden Regen erschwert oder unmöglich. In drei Jahren, im Jahre 1954, soll das Aluminium-Hüttenwerk stehen und arbeiten! So lautet die Anweisung der ALCAN-Direktion an die leitenden Organisatoren des Unternehmens Kitimat. Die Produktion von 1954, die ersten 100 000 Tonnen Aluminium, sind bereits vorverkauft, und ihre Lieferung ist von der Gesellsdiaft zum festen Termin zugesagt. Der Ausgangsrohstoff für das Aluminium, der Bauxit, muß aber weither, über See, hierhin geschafft werden, denn Kanada besitzt keinen Bauxit. Die ALCAN hat des26
halb Vorräte in Mittelamerika erworben und verarbeitet das Rohmaterial dort gleich zu Aluminiumoxyd, um Frachtraum zu sparen. Das Produkt geht durch den Panamakanal nach Kitimat, über einen Seeweg von 8500 Kilometern. Dennoch lohnt es sich, in British Columbia reines Aluminium zu erschmelzen, da hier die gebändigte Wasserkraft Strom billig und in genügenden Mengen liefert. Die Barren des schönen silbrig schimmernden Metalls werden von hier ihren Weg zu Abnehmern und Weiterverarbeitern nehmen, deren Betriebe wiederum Tausende von Kilometern von der Pazifikküste entfernt liegen.
Strombrücke über den Paß Während das Riesenwerk Kitimat am Douglas-Fjord heranwächst, sorgen Elektro-Ingenieure schon für die Stromverbindung zwischen der Schmelzhütte und dem 77 Kilometer entfernten Kraftwerk Kemano zu Füßen des Mount DuBose. Auch diese Strombrücke, die gewaltige Energien zu tragen hat, ist in dieser bergzerklüfteten Wildnis ein bewundernswertes Werk. Die Hochspannungsanlagen übersteigen den 1600 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen KildalaPaß. Der dabei auftretende unvermeidliche Energieverlust ist so groß, daß er ausreichte, eine Großstadt von 200 000 Menschen laufend mit aller benötigten elektrischen Energie zu versorgen. Nur drei Monate im Jahr können die Mastbauer und Leitungsleger auf der Paßhöhe arbeiten. Ihre stabilen, ganz flach gebauten Unterkünfte sind an Stahldrahtseilen und in den Fels getriebenen Stahlankern verspannt. Hubschrauber müssen Leute und Material heranschaffen und Versorgung und Ablösung des Bautrupps übernehmen. Häufig macht rauhes Wetter einen Strich durch die Flugpläne. Da sich auf diesem Wege schwere Mastenteile aus Stahl nicht auf den Paß befördern lassen, stellt man erstmals Türme aus vergütetem Aluminiumrohr auf, die Stück für Stück von den Helikoptern herbeigeschafft werden. Ungeheure Belastungen müssen die Türme aushalten: Winterstürme mit bis zu 200 km/st Geschwindigkeit und Eislasten von unvorstellbarem Gewicht. Die Luftkabel sind besonders stark konstruiert, sie gelten als die bisher stärksten Fernlei27
tungen. In biegsamen, immer unter Druck mit öl gefüllten Rohren von 10 bis 15 cm Durchmesser verlaufen die doppelt isolierten Kupferstränge. Um ganz sicher zu sein, hat man vorher zwei Winter lang am Paß an Modelltürmen die Belastungsfähigkeit der Hochspannungskabel erprobt und sich dann erst zum Mastenbau entschlossen.
Stadt aus der Retorte So werden Hütte und Kraftwerk unter unsäglichen Mühen aneinandergekettet. Aber auch der Bau der Stadt Kitimat selber stellt die Verantwortlichen vor größte Aufgaben. Da das Gelände am Fjord, in den der Kitimat-River mündet, gerade für das Hüttenwerk und den Hafenkai ausreicht, nicht aber für eine moderne, weiträumig angelegte Stadt, verlegt man sie an den Fuß der ewig schneebedeckten Berge, an den Saum des Urwaldes. Die vielen Ingenieure, Angestellten und Arbeiter, ihre Angehörigen, Frauen und Kinder müssen in dieser weltfernen Gegend mit ihrem reichlich feuchten, bedrückenden Klima nicht nur ausharren; sie sollen auch Leben und Berufsarbeit angenehm und erträglich finden. Daher muß alles vorhanden sein, was eine moderne Stadt zu bieten hat, besser, noch einiges mehr. Einige Jahre lang untersuchen Klima-Sachverständige und Ärzte die Lebensbedingungen in der weiten Umgebung. Man verpflichtet führende Architekten aus New York, die mit suchen helfen, ihre Gutachten abgeben und die Baupläne entwerfen. Und das Ergebnis? Den Bewohnern der Urwald-Stadt Kitimat fehlt heute nichts an Bequemlichkeiten der Zivilisation, weder zentral erzeugte und gelieferte Heizung, noch Elektroküchengeräte, Radio, Fernsehen, Unterhaltungsstätten und dergleichen. Die Hausfrauen, die sich die schönen Auslagen in den neonbestrahlten Fenstern der Geschäftsstraßen anschauen, brauchen nicht einmal ihren Schirm aufzuspannen, selbst wenn es Bindfäden regnet, was hier im Küstengebiet so häufig vorkommt. Die Bürgersteige in den Geschäftsvierteln sind durch Überdachungen aus Glas geschützt; kein Kraftwagen darf in das Stadtzentrum, damit der Motorenlärm die Ruhe der Bürger nicht stört und die Auspuffgase die Lungen nicht behelligen. 28
Seit 1956 ist die Aluminiumstadt Kitimat ein geordnetes Gemeindewesen. Sie hat längst Bahn- und Autostraßenverbindungen zum Binnenland. Doch gleich hinter der Stadt beginnt das Reich der Wildmark. Die Kinder dieser Mustersiedlung wundern sich kaum noch, wenn eine Bärin mit ihren drolligen Jungen am frühen Morgen zum Schuttplatz zottelt, um mit leeren Konservendosen zu spielen und Abfälle zu schlecken.
Herbst am Nechako-Stausee Mit flammendem Rot überhaucht die niedrig stehende Sonne die Zinnenreihe der Bergkette im Westen. Der erste Schnee, Vorbote des bald eintretenden Winters, läßt sie kaltbläulich gleißen. Im Hinuntergleiten der feurigen Scheibe beginnt das viele Licht sich aufzulösen, das den ganzen Tag über dem herbstbunt gefärbten Hochland des Tweedsmuir-Nationalparks gelegen hat. Unweit des mächtigen gewölbten Sperrdammes im Nechako-Canyon sitzt auf der Holzbank vor seinem kleinen festen Blockhaus Ted Colville, Ranger für dieses Gebiet, und läßt den Blick über den riesigen See gleiten. Er dehnt sich so weit nach Westen, daß sich auch mit einem scharfen Glas das Einzugstor am Westende des Sammelbeckens nicht ausmachen läßt. Ted lebt seit den zwanziger Jahren hierzulande, zuerst als Fallensteller an einem aus dem Tweedsmuir kommenden Flüßchen. Als Pfadsucher und Führer des „pack-trains" hat er an Knewstubbs Expedition teilgenommen und später als guter Landeskenner auch bei den Voruntersuchungen und den Bauarbeiten Dienst getan. Jetzt bekleidet er den Posten eines Distriktwächters der Provinzregierung. Ein geradezu idealer Job für einen Mann am Abend eines naturnahen Lebens. Teds „cabin" — sein Dienstsitz sozusagen — liegt auf einer kleinen bewaldeten Kuppe, nahe dem Canyon. Zu den Pflichten eines Rangers gehört es, sehr sorgsam auf jedes verdächtige Rauchwölkchen in den Urwäldern zu achten und es über Funk sofort an die nächste Regierungsstelle zu melden. Nebenbei beaufsichtigt er für die ALCAN das große Wehr. 29
Von der Bank vor seinem Blockhaus übersieht Ted mit einem Blick die Riesenwölbung des Staudamms. Der Spiegel des nun vollgelaufenen Sees steht nur wenige Meter unterhalb der Dammkrone. An den Ufern, wo vor Jahren die schmucklosen Baracken, die nüchternen Schuppen und Magazine standen, wo Raupen, Lastschlepper und Riesenreifen tiefe Furchen in die Erde pflügten, wuchert längst wieder frisches Grün, recken sich junge Baumtriebe nach der Sonne. Auch dort drüben, auf der anderen Seite des Sees, wo die Maschinen die Flanken des Berges Mont DuBose abschrapten, überzieht ein neuer grüner Teppich die Narben. Die Natur hat sich wieder durchgesetzt. Zwar vermißt Ted Colville das Rauschen des kleinen Flüßchens, an dessen Ufer früher einmal seine Blockhütte gestanden hat. Seit aus den Seen und fließenden Gewässern vor der Sperre des Nechako-Wehrs ein einziger See geworden ist, ist auch sein Flüßchen in den Fluten „ertrunken". Das Wassereinzugsgebiet des Sees ist heute so groß, daß fast ganz Holland darin unterzubringen wäre. Dieser gewaltige Stausee lebt auf die ihm eigene Art. Seine Wellen plätschern und klatschen, überschlagen sich zuweilen, setzen weiße Kämme auf, manchmal aber peitschen ihn wilde Stürme auf, die im Herbst über das Hochland daherjagen. Zur Freude Teds ist nach dem Lärm der Bauperiode der Schrei der hochsegelnden Adler wiedergeweckt, und im feuchten Gras stehen die Fährten ziehender Hirsche und Elche — all das Naturgeschehen, das ihm vertraut ist seit seinen jungen Jahren, ist in Berg und Wald wiedererstanden. Das ist es, was Ted Colville bewogen hat, anstelle eines gutbezahlten Postens unten in der Musterstadt Kitimat lieber hier oben als Ranger in der Freiheit der großartigen Natur zu leben.
Flug über die Industrielandschaft Ein Ereignis ist Ted in besonders schöner Erinnerung: Tom Rowland, einer der Ingenieure, die er im Sommer 1928 geführt hat, holte ihn vor kurzem mit einem Hubschrauber ab, um ihm zu zeigen, was inzwischen aus Kitimat geworden ist. Sie glitten über den See, am Mont DuBose vorbei, hinunter ins Tal des Kemano. Am 30
Kraftwerk waren die Blechbaracken und Werkstätten verschwunden. Nur die große Umspannanlage lag da mit ihren glänzenden Porzellan-Isolatoren, mit dem Gewirr der Sammelschienen und Drähte und den abgehenden Strängen der Leitungen. Wenige Häuser standen da, schöne Heime für die Handvoll Ingenieure, Schaltund Maschinenmeister, die das Kraftwerk bedienen. Der Helikopter trug sie in sachtem Libellenflug längs der „line", der Fernleitung, talauf zum Paß Kiidala. Hell gleißten im Scheine der hohen Sommersonne die Türme aus Aluminium. Dann sahen sie, als der Paß hinter ihnen lag, aus der durchsichtigen Plexiglaskanzel die Werkanlagen der Kitimat-Hütte mit den flachen Aluminiumdächern und den langen Verladekais. Frachter hatten festgemacht; unaufhörlich hoben die ausladenden Greifarme der Kräne ganze Stapel hüttenfrischer silbriger Rohaluminiumbarren hoch und ließen sie in die großen Mäuler der Ladeluken ab. Aus den geräumigen Bäuchen anderer Schiffe förderten endlose Transportbänder braunen Bauxit, Rohstoff für die unersättlichen Schmelzöfen, in das Innere der weiträumigen Hütte Kitimat. Tom Rowland hatte die Maschine einige Kreise über die Anlage ziehen lassen und nahm schließlich Kurs auf die Stadt, die nun den gleichen Namen hatte wie das Werk. Linealgerade Reihen von Häusern, eines wie das andere, waren schachbrettartig mitten ins Grüne gestellt. Hübsche moderne Erholungsstätten, Krankenhäuser, Schulen und Kirchen hoben sich aus der ein wenig einförmig wirkenden Siedlung heraus. Diesen Menschen, die mithalfen, aus bräunlichem Stoff der Erdkruste ein hochgeschätztes Metall herzustellen, schien nichts zu fehlen. Und trotzdem würde Ted Colville, der Ranger und Wehraufseher, nicht mit ihnen tauschen.
Der große Feuerball der Sonne ist inzwischen hinter den Bergketten im Großen Ozean versunken. Sie scheint die bunte herbstliche Pracht mitgenommen zu haben. Dämmerung kommt auf, und feuchte Kühle dringt vom See her. Noch einmal läßt der Ranger den Blick seiner noch immer scharfen Pfadfinderaugen ins weite Rund schweifen. Sein geschultes Ohr vernimmt zwischen dem Plätschern der Wellen die ihm so vertrauten Rufe der Tiere. 31
Wenig später sitzt Ted vor dem Scheitfeuer seines Kamins. Nachdenklich schaut er dem blauen Rauch der Pfeife nach. In seiner Erinnerung ziehen die Menschen vorüber, mit denen ihn gemeinsam zurückgelegte Wegstücke und Erlebnisse verbinden. In dieser langen Reihe steht als erster der aufrechte Knewstubb. Seine Kenntnisse des Landes, sein Weitblick und schließlich sein kühner Plan waren der Beginn zu dieser großartigen Tat der Ingenieure: die Wildwasser eines vergessenen Hochlandes zu nützlicher Arbeit in Turbinen und Generatoren zu zwingen . . .
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bilder: Vitalis Pantenburg Lux-Lesebogen
395
(Technik)
Heftpreis
30
Pfg.
Natur- und kulturkundliche Hefte — Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1,80) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig — Druck: Hieronymus Mühlberger, Augsburg — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München — Herausgeber: Antonius Lux.
&lla Cux-CasabocfCH, können einzeln oder in größerer Anzahl — wichtig z. B. für Klassenlektüre — nachbezogen werden. Alle Lesebogen entsprechen dem neuesten Stand des Wissens. Der Verlag schickt jedem auf Anforderung
1. ein vollständiges Titelverzeichnis 2. ein Verzeichnis der neuen Sachgruppenbände der Lux-Lesebogen-Buchreihe Bitte bestellen Sie! Wir senden die Verzeichnisse auch gern an interessierte Freunde und Bekannte, wenn Sie uns deren Anschrift mitteilen. Zur Verteilung an interessierte Lehrpersonen, Schüler etc. bitten wir ebenfalls, die erforderliche Menge anzufordern.
VERLAG SEBASTIAN LUX 811 Murnau, Postfach 68