Das neue Abenteuer 317
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Das neue Abenteuer 317
Ulrich Waldner Der Täter kam um Mitternacht Aus der Serie „Die Drei von der K.“ Verlag Neues Leben, Berlin V 1.0 Scan by Dumme Pute & Klesen by Sokrates
Alle Rechte beim Verlag Neues Leben, Berlin 1973 Lizenz Nr. 303 (305/57/73) ES 9 A Umsehlag und Illustrationen: Karl Fischer Typografie: Walter Leipold Schrift: 8p Excelsior Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland Bestell-Nr. 641 7020 EVP 0,25
Meister Schwarzer führte die drei Genossen von der K durch das Stofflager. Er war aufgeregt und wütend. „Export nach Schweden — und alles im Eimer! Das ist eine Riesensauerei“, schimpfte er und lief den Kriminalisten immer um einen halben Schritt voraus. Er hatte es eilig, ihnen den Tatort zu zeigen. „Lundström und Svensen, einer unserer besten Vorkriegskunden! Wir haben ihn zurückerobert, sind wieder ins Geschäft gekommen mit diesem Auftrag! Und wie stehen wir jetzt da …?! ,Bedauern wir, Ihnen mitteilen zu müssen, daß wir auf Grund unvorhergesehener Ereignisse nicht in der Lage sind, vereinbarungsgemäß zu liefern!‛ Sehr schön, nicht wahr! ,Bitte, empfehlen Sie uns weiter!‛“ Das war Galgenhumor. Meister Schwarzer fühlte sich mit seinem Betrieb eng verbunden. Zumindest schien es so. Kommissar Reinhardt fand, daß er sich ein wenig zu sehr ereiferte. Und noch etwas anderes fiel ihm auf: Man hatte nicht die geringsten Vorkehrungen getroffen, den Tatort bis zum Eintreffen der Kriminalpolizei abzusichern. In den Gängen zwischen den Stoffstapeln standen Arbeiterinnen und Arbeiter und sahen ihnen mit gespannter Aufmerksamkeit entgegen. In dieser langgestreckten, sicher vorschriftsmäßig belüfteten, aber dennoch unangenehm nach Stoff, Wolle und Appretur riechenden Lagerhalle wimmelte es von Neugierigen. Wie soll man da noch Spuren sichern? Meister Schwarzer, von Reinhardt deswegen kurzerhand zur Rede gestellt, war nicht im geringsten verlegen. „Da war nichts mehr zu machen“, sagte er. „Ausgerechnet heute früh kam ich fünf Minuten zu spät. Ich hatte Futter für meine Karnickel geholt, vom Graben an der Mühlendammschleuse, und mit der Sichel habe ich mir dabei in den linken Knöchel gehackt, sonst wäre ich pünktlich gewesen!“ Er zog das Hosenbein hoch und zeigte auf den Knöchel seines linken Fußes, der von einem blutdurchtränkten Verband umhüllt war. „Ausgerechnet heute“, wiederholte er und wandte sich an die Kollegen, die sich hinter
ihnen im Mittelgang gesammelt hatten. „Oder bin ich schon jemals zu spät gekommen?“ „Nein, nein“, sagten einige, andere schüttelten den Kopf. „Aber so ist das“, fuhr er fort, „wäre ich dagewesen, hätte ich gesagt: Jungs, Finger weg. da muß die Polizei ran! Aber als sie‛s entdeckt hatten …, in ihrer Wut, Herr Kommissar …, das können Sie ihnen nicht verdenken …, zwei, drei Ballen lagen obenauf, zerschnitten. Sie wollten wissen, wieviel es sind, und haben alles durcheinandergeworfen. Ich habe sie angeschnauzt und gesagt: Ihr … na ja, ist egal, was ich gesagt habe …, wie soll die Kripo jetzt noch was finden, habe ich gesagt.“ Ein drahtiger junger Mann mit schwarzgewelltem Haar, er sah aus wie ein Kosak, sprang vor. „Hier, sehen Sie sich das mal an“, rief er und blickte dabei Kommissar Reinhardt so wild und böse an, als hätte der das Verbrechen begangen. „Sehen Sie sich das mal an!“ Er lief ein paar Meter weiter, bog um die nächste Stapelecke und wartete, bis ihm die Kriminalisten und Meister Schwarzer gefolgt waren. Der Troß der Arbeiter und Arbeiterinnen rückte zögernd in gemessenem Abstand nach. „Das ist ‛ne Spezialanfertigung!“ Der junge Kosak blieb vor einem halb herausgezogenen Ballen stehen und schlug zwei-, dreimal mit der Faust auf ihn ein. Reinhardt warf Seppel Beck und Kalle, der nun schon seit einiger Zeit sein Mitarbeiter geworden war, einen Blick zu. Die beiden wunderten sich auch über diese Erregtheit. Da schienen sie ja in einen Betrieb hitziger Männer geraten zu sein. „Das ist ‛ne Spezialanfertigung“, schrie der Junge und sah dabei die Kriminalisten wieder so an, als ob sie an allem Schuld trügen. „Kostümstoff! Original für Theater und Dekoration! So was gibt‛s noch nicht im Konsum! Klar — das bringt Devisen, und wer sich an so was vergreift, an solcher Arbeit — der ist ein Schweinehund! Wenn ich den erwische, zieh ich ihm das Fell über die Ohren! Das können Sie glauben!“
„Spiel dich nicht so auf, Nowak“, sagte Meister Schwarzer und schob den jungen Mann beiseite. Er schaute ihn an, als hätte er ihm noch ganz was anderes sagen wollen und nur die Gegenwart der Kriminalisten ihn davon abhielt. Dem jungen Nowak aber reichte das schon. Er reckte sich auf, als wollte er eine Attacke reiten. „Meister“, sagte er und betonte jedes Wort: „Ich denke, wir sind ein Arbeiter-und-Bauern-Staat. Und da darf ich wohl meiner gerechten Empörung Ausdruck geben, ob Ihnen das paßt oder nicht!“ Gleich gehen sie aufeinander los, dachte Reinhardt. Der Meister war zwar bedeutend älter, etwa fünfundvierzig, er war schlanker und weniger muskulös als der junge Heißsporn, aber er schien keine Hemmungen zu haben, ihn bei dem weißseidenen Halstuch zu packen, das sich im Ausschnitt seines Overalls bauschte. „Lassen sich denn solche Schnitte ohne weiteres ausführen?“ fragte Reinhardt und trat zwischen die beiden Kontrahenten an die Stoffballen. Dadurch trennte er sie voneinander und hatte fürs erste den Frieden erhalten. „Nicht so einfach“, sagte Schwarzer und zog die Schnittränder auseinander. Es war schwerer, in Rot und Gelb changierender Stoff. „Acht Lagen zerschnitten! Dazu braucht man schon eine haarscharfe Klinge und vor allem Kräfte, Bärenkräfte möchte ich sagen.“ „Umgestapelt sind die Dinger auch“, mischte sich der schwarzhaarige junge Nowak wieder ein. „Versuchen Sie mal, was so ‛n Apparat wiegt!“ Mit Schwung nahm er einen Ballen hoch und legte ihn Seppel Beck, der ihm am nächsten stand, in die Arme. So ein gerissener Bursche, dachte Kalle und amüsierte sich im stillen. Der Chef hat ein zu breites Kreuz, dem sieht er an, daß er zwei Zentner mühelos aufs Kreuz nimmt. Ich bin ihm zu sportlich, also sucht er sich Seppel aus, der scheint ihm am schmälsten und schwächsten. Und Seppel Beck hatte auch
tatsächlich einige Mühe, sich den Ballen nicht vor die Füße fallen zu lassen. „Ganz schön“, sagte er angestrengt und war dankbar, als Kalle ihn erlöste und das Demonstrationsobjekt auf den Stapel zurückwarf. Die Lagerarbeiter standen herum und hatten aufmerksam zugehört, doch schon im nächsten Augenblick fühlten sie sich direkt angesprochen. „Einer aus Ihrem Bereich muß es doch gewesen sein“, sagte Kommissar Reinhardt. „Früh um sieben, bei Arbeitsbeginn, waren alle Türen verschlossen. Die Fenster sind sehr hoch angebracht und außerdem noch vergittert. Durch sie kann also niemand eingestiegen sein. Um sechs Uhr soll der Nachtwächter seine letzte Runde gedreht haben, da war noch alles in bester Ordnung. Also bleibt nur noch eine Stunde: Zwischen sechs und sieben muß es geschehen sein.“ Aha, jetzt geht‛s los, dachten die Kollegen, jetzt beginnt die kriminalistische Arbeit. Aber es war keine billige Neugier, die auf ihren Gesichtern zu sehen war. „Es muß jemand gewesen sein, der sich hier ganz genau auskennt“, sagte Reinhardt und heizte mit dieser Äußerung die Spannung noch mehr an. „Ich will jetzt nicht darauf eingehen, daß Sie alle verdächtig sind.“ Allgemeine Bestürzung. „Aber entschuldigen Sie mal …“ Ein Alter mit grauem Seehundsbart trat vor. „So nicht, Herr Kommissar! Ich laß mir ‛ne Menge gefallen, aber …“ „Moment“, unterbrach ihn Reinhardt. „Wenn ein Verbrechen entdeckt wird, ist es oberstes Gesetz und die Pflicht eines jeden, am Tatort nichts zu verändern und Unbefugte fernzuhalten. Das wissen Sie doch alle aus Kriminalromanen, aus Kriminalfilmen — so was weiß man doch! Sie waren empört, sagte Ihr Meister Schwarzer — sehr verständlich! Aber daß unter zwanzig erwachsenen Menschen nicht einer ist, der daran denkt, daß man ohne Sicherung von Spuren und Beweisen nur schwer eine Straftat aufklären kann …“ Reinhardt zeigte auf
die durcheinandergeworfenen Ballen verschiedener Stapel. „Wo sollen wir denn anfangen nach dieser Wühlerei? Welche Spuren sollen wir denn sichern?“ „Wir sehen ja ein, daß es ein Fehler war, und wir bedauern das sehr, aber andererseits, Herr Kommissar, andererseits — ich sage Ihnen …“, Harri Nowak warf sich nun für seine Kollegen in die Bresche, „ … ich sage Ihnen, wenn Sie so Schindern, wenn Sie wissen, was das für‛n Auftrag ist, daß der raus muß, daß daran die Ehre unseres Betriebes hängt! — Ja, wir sind ein guter Betrieb, wir liefern erste Qualität! Und dann das …“ „Und dann das“, sagte Reinhardt, zeigte auf die zerschnittenen Stoffballen und konnte ihm so gerade noch den Wind aus den Segeln nehmen. „Eine Viertelmillion Devisen! — Wer war‛s denn nun? Um sechs war alles in Ordnung, hat der Nachtwächter gesagt — wo ist er überhaupt, der Nachtwächter?“ „Opa Tews, ja der“, Meister Schwarzer strich sich verlegen über sein militärisch kurz geschnittenes und exakt gescheiteltes rotblondes Haar, „den hat das so mitgenommen, Herr Kommissar! Wenn der man nicht sein Pülleken … Ich glaube, der schläft jetzt.“ „Ach so ist das! Aber um sechs hat er noch nicht geschlafen?“ „Nein, nein! Der hat verrückt gespielt! Es muß der erste gewesen sein, der heute morgen zur Arbeit kam, hat er immer wieder gesagt …“ „Und wer war der erste?“ fragte Reinhardt. Die Lagerarbeiter sahen sich betroffen an, dann richteten sich nach und nach die Blicke auf Harri Nowak. Es wurde ganz still. „Also wer von uns war der erste heute morgen“, wandte sich Meister Schwarzer an die Kollegen. Harri Nowak räusperte sich. Er trat einen Schritt vor und sah
Reinhardt betrübt an. „Ich, Herr Kommissar“, sagte er, „ich war der erste heute morgen.“ „Nun gut. Herr Kommissar, die Betriebsleitung hat mich beauftragt, Ihnen jedwede Unterstützung zu geben — ich muß leider gegen einen meiner Kollegen aussagen.“ Der Hauptbuchhalter Striese, ein Leichtgewicht, ein Männeken von einem Mann, strohblond, mit einem vergrämten Kindergesicht, holte einige Akten aus seinem Schreibtisch. „Sie können sich selbst überzeugen: Unser Harri Nowak ist vorbestraft. Leider.“ Er blätterte in dem Aktendeckel. Reinhardt sah sich um. Das Büro war spärlich eingerichtet. Es fehlten Büromöbel, die Tische und Regale waren überfüllt. An der Wand hingen Kalender und knallfarbige Landschaftsfotos, ein besonders großes von Hawaii. Ein riesiger schäumender Wellenkamm und braunhäutige wellenreitende Insulaner. Die Bilder gaben recht genau Auskunft über die Sehnsüchte und Wünsche des vergrämten, farblosen Hauptbuchhalters. Was nicht recht in diese Sammlung paßte, war das aus einer Zeitung ausgeschnittene Foto eines Rennreiters, der auf einem rassigen Vollblüter saß. Das Bild hing etwas versteckt neben dem Aktenschrank, als solle es nicht jeder sehen. Und unverkennbar war, daß der Jockei die gleichen Gesichtszüge hatte wie der Hauptbuchhalter am Schreibtisch, auf den er herabzulächeln schien. Striese legte die aufgeschlagene Akte vor Reinhardt auf den Tisch. „Bitte, Herr Kommissar, hier finden Sie alles Nähere. Aber wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Es war ein Dummerjungenstreich. Harri Nowak ist ein guter Arbeiter — etwas zu temperamentvoll. Sehen Sie selbst: unbefugte Benutzung eines Kraftfahrzeugs — das Motorrad eines Bekannten — , unter Alkoholeinfluß natürlich, wie konnte es anders sein.“ Reinhardt überflog die Akten, schob sie wieder zurück und machte dabei Platz auf dem überladenen Schreibtisch. Er schichtete einen Stapel Papiere beiseite und fand darunter ein
Exemplar der Pferdesportzeitung „Rennkurier“. Dem Hauptbuchhalter war das anscheinend peinlich. Er wollte etwas erklären, doch plötzlich zuckte er zusammen, faßte sich aufstöhnend in die Herzgegend und rang nach Luft. „Entschuldigen Sie, ich muß erst eine Tablette …, die Aufregung, Sie verstehen …“ Kommissar Reinhardt verstand nicht sofort, nickte aber trotzdem. Striese kramte im Schreibtischkasten nach den Tabletten. „Diese Untat gefährdet unseren Exportplan“, sagte er, schüttete zwei Tabletten aus einem Röhrchen, schluckte sie und stand auf, sich ein Glas Wasser zu holen. „ … alle Mühe und Aufregung der letzten Monate umsonst. Das kann einen schon umwerfen.“ „Und was stimmt nicht zwischen Nowak und Meister Schwarzer?“ fragte Reinhardt. Striese trank einen Schluck Wasser. „Ja, Sie haben es schon bemerkt, wie ich sehe“, sagte er lächelnd. „Diese Reibereien sind jedoch mehr privater Natur. Nowak hat sich Schwarzers Tochter genähert. Nicht ganz erfolglos, wie es scheint, und Meister Schwarzer ist nicht gerade begeistert davon.“ „Vielleicht wollte ihm Nowak eins auswischen, wäre das denkbar? Schwarzer ist immerhin der Hauptverantwortliche für das Tuchlager.“ „Nein!“ Beinahe erschrocken schüttelte Striese den Kopf. „Nein, das kann ich mir kaum vorstellen. Allerdings, ich meine, in einen Menschen hineinsehen, nicht wahr …“ Das Rasseln des altmodischen Telefons enthob ihn fürs erste jeder weiteren Antwort. Er nahm den Hörer von der hohen Gabel und meldete sich. „ … aber nein, Fräulein Wiener“, sagte er, nachdem er eine Weile stirnrunzelnd zugehört hatte. „Sie wissen doch genau, daß ich am Elften nach Berlin fahren muß. Ja, das stand schon lange fest! Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Nein, Fräulein Wiener, absolut unmöglich!“ Kommissar Reinhardt blätterte im „Rennkurier“. Er machte
das oberflächlich wie ein Laie, fand dabei aber doch, was er suchte: Für den Elften des Monats war in Karlshorst ein wertvolles Zuchtrennen angekündigt. Reinhardt faltete das Organ des Pferderennsports zusammen und legte es beiseite. „Ja, so ist das“, seufzte Striese und legte den Hörer auf. „Eine Sitzung jagt die andere, aber ich kann mich nicht zerteilen. Sie wundern sich über den ,Rennkurier‛?“ fragte er plötzlich. „Jeder hat seinen Sport“, sagte Reinhardt, „mich hat nur das Foto dort in der Schrankecke ein wenig irritiert.“ Er stand auf, um es aus der Nähe zu betrachten. „Das ist mein Bruder“, sagte Striese mit leichtem Stolz. Etwas verlegen setzte er hinzu: „Wir sind alle nicht sehr groß — eine leichtgewichtige Familie sozusagen, aber prädestiniert für den Rennsport!“ Reinhardt schmunzelte. „Gibt er Ihnen wenigstens gute Tips?“ „Ab und zu — na, und dann wage ich schon mal einen Zehner, wenn ich gerade in Berlin bin.“ „So einen Bruder wünsche ich mir auch“, sagte Reinhardt schmunzelnd. Er legte die Hände auf den Rücken und wanderte durch das Büro. „Fassen wir doch mal zusammen, Herr Striese“, begann er. „Meister Schwarzer hat gestern nach Feierabend das Lager kontrolliert. Es war alles in Ordnung.“ „Das stimmt. Schwarzer ist über jeden Verdacht erhaben.“ „Der Nachtpförtner Tews hat während seiner Kontrollgänge nichts bemerkt, heute morgen war Nowak als erster im Lager, die Schnitte aber hat nicht er, sondern merkwürdigerweise eine nach ihm gekommene Kollegin entdeckt. Alle Türen waren vorschriftsmäßig verschlossen, die Fenster sind heil — das alles sieht nicht gut aus für Nowak.“ „Ich kann das nicht glauben, Herr Kommissar“, beteuerte Striese erneut, „obgleich wiederum natürlich mancherlei möglich ist.“ Er schien zu überlegen, wie man dem Harri Nowak
aus der Patsche helfen könnte. „Wie steht es denn mit dem Tatwerkzeug?“ fragte er. „Ich würde sagen, wenn es Harri gewesen ist, dann muß er doch das Werkzeug irgendwo im Lager versteckt haben. Es nach außerhalb zu bringen, hatte er keine Gelegenheit mehr.“ „Sehr richtig“, sagte Reinhardt und studierte einen mit Reißzwecken an der Schrankwand befestigten Produktionsplan. „Außerdem muß er die Tat in wenigen Minuten ausgeführt haben, sieben vor sieben hat er das Werktor passiert, rechnen wir zwei Minuten für den Weg bis zum Lager — um Punkt sieben Uhr trat die nächste Kollegin ein: Also blieben ihm etwa fünf Minuten! Ein normaler Mann schafft das rein kräftemäßig nicht! Überlegen Sie mal …“ Seppel Beck und Karl Kaluweit wollten dem Nachtpförtner Tews einen Besuch abstatten. Sie fanden das winterfeste Häuschen in einem überwiegend mit Kartoffeln und Gemüse bestellten Garten der Laubenkolonie „Gute Hoffnung“. Unter den Obstbäumen auf der linken Seite des Gartens wuchs Gras. Hier und dort war ein Stückchen gemäht. „Kaninchenhalter“, sagte Kalle. Die Kaninchenställe sahen sie dann auch schon von der Straße aus. Die Ställe, alle mit Dachpappe benagelt, bildeten eine Art Hof in einer hinteren Ecke des Grundstücks. Und auf diesem Hof, von scharrenden Hühnern umgeben, stand ein grauhaariger Hüne und spaltete Holz. „Herr Tews“, rief Kalle. Der Mann hörte nicht. Er hob ein monströses Beil, breit und geschweift, wie es Schlächter oder Scharfrichter benutzen, und ließ es auf einen Holzkloben niedersausen. Die Stücke flogen zur Seite. „Hallo, Herr Tews“, rief Kalle ein zweites Mal. Ein zottiger schwarzer Köter, der das Anwesen zu bewachen hatte, zerrte an seiner Kette und vollführte einen Höllenlärm. Den Nachtpförtner Tews störte das nicht. Er sog an seiner
kurzen, gebogenen Försterpfeife — der Kopf mußte ein Achtelpfund Tabak fassen können! —, stieß gewaltige Dampf wölken aus und ließ erneut das Beil über seinem Haupte blitzen. „Na, dann auf in den Kampf“, sagte Seppel Beck. Der Hund fletschte die Zähne und wollte sich auf sie stürzen. Sie hatten Sorge, daß er die Hütte mitriß. „Guten Tag, Herr Tews“, sagte Seppel Beck, „wir sind von der Kriminalpolizei, wir hätten Sie gern einmal gesprochen.“ „Dat hew ick mi all dacht“, sagte Tews im schönsten Mecklenburger Dialekt. Wer weiß, was ihn hierher in den Süden, in die Textilindustriegegend, verschlagen hatte. „Cäsar, kusch!“ befahl er dem Hund, „is gaut, min Lütten! De beiden sind von de Kripo, de hebben nichs utfretten!“ Beck und Kaluweit wußten, daß dieser Mann neunundsechzig Jahre alt war. Nun gut, man sah ihm die Jahre an, aber der Händedruck, mit dem er sie empfing, verblüffte sie. Und wie er dastand in seinem kragenlosen Hemd, die schwarze Weste offen über dem mächtigen Brustkorb, auf starken Beinen, die wie Säulen in engen Tuchhosen steckten, meinten sie, einen Nachfahren Störtebeckers zu sehen. „Nun will ich Ihnen mal was sagen!“ Er sprach jetzt Hochdeutsch und blinzelte die beiden Kriminalisten aus seinen kleinen Trinkeraugen listig-überlegen an. „Der Nachtpförtner ist der wichtigste Mann im Betrieb! Jetzt, wo was passiert ist, merken die‛s auf einmal. Jetzt schicken sie euch her, auf einmal! Aber wenn‛s um Lohnerhöhung geht, da machen sie alle ‛n Bogen um mich!“ „Bekommen Sie denn wirklich so wenig?“ erkundigte sich Seppel Beck. „Jawohl“, sagte Tews und zog aus seiner hinteren Hosentasche einen Halbliterflachmann hervor. „Ick hacke schon Holz für fremde Leute“, fuhr er fort und schraubte den Verschluß von der Flasche. „In meinem Alter braucht man eben ab und zu
‛n Schluck für den Kreislauf, der will nicht mehr so.“ Er trank, wischte sich mit dem Handrücken den Mund und zwinkerte seinem Höllenhund zu. Der sah, aus der Nähe betrachtet, doch schon recht altersschwach aus. „Was, Cäsar, wir beide, wir haben jede Nacht unsere Runden gedreht, und wir haben nichts gesehen! — Oder hast du was gesehen, Cäsar?“ Der Hund ließ die Kriminalisten nicht aus den Augen und knurrte. Der Nachtpförtner Tews genehmigte sich einen zweiten Schluck, schloß die Flasche und stieß dann völlig unvermutet Seppel Beck seinen Zeigefinger vor die Brust. Der arme Seppel, dachte Kalle, heute hatte man es auf ihn abgesehen. „Jetzt werde ich euch sagen, wer die Ballen zerschnitten hat“, rief der Alte, und Seppel Beck fühlte sich von einer würzigkräftigen Kornschnapsfahne umweht. „Wer hat denn Interesse an dieser Schweinerei? Na, überlegt doch mal!“ Diese Wendung kam überraschend. Kalle und Seppel sahen sich an. „Ist das so schwer“, half Tews nach. „Kinners nee“, er schüttelte den Kopf über soviel Unverstand. „Ihr wollt von der Kripo sein? Na, wer hat Interesse“, fragte er noch einmal und gab dann erregt die Antwort: „Die da oben“, schrie er zornig, und diesmal stieß er den Zeigefinger über sich in die Luft. Seppel Beck ahnte, was im Kopf des Alten vorging, und blickte in die gewiesene Richtung. „Und wer sind die da oben?“ fragte er mit der gebotenen Vorsicht. „Die Betriebsleitung, jawoll“, rief der Nachtpförtner Tews. „Das war alles zu glatt gelaufen mit dem Exportauftrag nach Schweden. Aber jetzt — passen Sie mal auf! —, jetzt appellieren sie an die Kollegen, und dann Schindern wir Überstunden und halten doch noch den Termin. Und dann stehen sie groß da, die da oben“, er zeigte wieder gen Himmel, „die von der Lei-
tung! Dann kriegen sie Prämien, und die teilen sie unter sich auf! Die werden wer weiß wo verjubelt — das kann sich doch jeder an drei Fingern abzählen.“ „Und jeder Nachtwächter an seinem Fläschchen“, sagte Kalle mit freundlichem Lächeln. Opa Tews schien tödlich beleidigt. Im Augenblick fehlten ihm die Worte, er warf Kalle einen giftigen Blick zu. Dann entschloß er sich, nicht weiter auf die Anspielung einzugehen, sondern seine verletzte Berufsehre wiederherzustellen. „So“, sagte er erbost, „jeder Nachtwächter! Schönen Dank, Herr Kriminal! Von wegen Nachtwächter — da kennen Sie Tews schlecht …!“ Er forderte sie auf, mit in seinen Schuppen zu kommen. „Bitte, raten Sie mal, wer das ist!“ An der Rückwand seiner Werkstatt hingen über der Hobelbank einige angestaubte Bilder. Er nahm sie der Reihe nach herunter und gab sie Seppel Beck und Kalle in die Hand. „Na“, fragte er und sah den beiden abwechselnd über die Schultern. Seppel Beck hatte einen sportlichschlanken Herrn in Knickebockern zu betrachten, der vor einem Mercedes der dreißiger Jahre stand und einem in Chauffeursuniform steckenden Mann, offensichtlich Tews, leutselig die Hand schüttelte. „Das ist der ehemalige Chef unserer Tuchfabrik“, erklärte der vom Chauffeur zum Nachtwächter herabgesunkene Alte. Stolz und Bewunderung schwangen in seiner Stimme mit, und auch Trauer klang dabei mit, „Diplomingenieur Feuerhardt — ein großartiger Mann! Bis nach Paris sind wir gefahren! Das war noch ‛n Leben! Da war Geld, und da war Anerkennung. Nicht nur das Auto, das ganze Grundstück hatte ich unter mir. Und im Winter hatte ich geheizt. Jedes Weihnachten hat er mir ‛ne Flasche Henckel-Trocken in die Küche geschickt. Jawoll, so‛n Mann war das!“ Die anderen Bilder waren Gruppenfotos. Der großartige Herr Feuerhardt mit Frau und zwei halbwüchsigen Töchtern im Garten, auf der Terrasse und unterwegs; mit Großeltern, On-
keln und Tanten und auch mit dem sich steif wie ein Nußknakker in Pose stellenden Faktotum Tews im Hintergrund. „Ein ausgesprochen nobler Charakter, Ihr Chef — wie er Ihnen die Hand schüttelt“, sagte Kalle und griff noch einmal das Autobild, „ … würde er bestimmt wieder machen, wenn Sie für ihn die Tuchballen zerschnitten hätten!“ Tews stierte Kalle an. Dann brüllte er los: „Machen Sie, daß Sie von meinem Hof kommen, Sie! Oder ich laß den Hund von der Kette!“ Das war nicht notwendig. Kalle und Beck hatten sich schon zum Gehen gewandt. Seppel Beck hatte es besonders eilig — eines der ungerahmten Familienfotos steckte zusammengerollt in der Brusttasche seines Jacketts. „Sie wollen mir vorwerfen … Sie, das müssen Sie erst mal beweisen, jawoll, beweisen müssen Sie mir das!“ schrie ihnen Tews nach. „Halt‛s Maul“, fuhr er den wie rasend kläffenden Cäsar an. „Aber recht hast du ja: Die stecken alle unter einer Decke, die kommen ja auch bloß von oben!“ Er nahm das Beil, das neben dem Hauklotz lehnte, stellte einen knorrigen Kloben zurecht, holte aus und schlug ihn mit einem einzigen gewaltigen Schlag durch. Kommissar Reinhardt saß im Büro Meister Schwarzers und telefonierte. Das Büro war ein verglaster Kasten, den man in eine Ecke der Lagerhalle gebaut hatte. Reinhardt spielte mit einem elektrischen Tischventilator, stellte ihn an, stellte ihn aus. Meister Schwarzer, der neben dem Schreibtisch stand, konnte unmöglich hören, was am anderen Ende gesprochen wurde. „ … Nein, noch keine Ergebnisse bisher“, sagte Reinhardt. „Tatortuntersuchung völlig negativ — ja natürlich, Beck und Kaluweit können die Ermittlungen allein weiterführen …“ In der offenen Tür lehnte der Hauptbuchhalter Striese, er war
über dieses Telefongespräch genauso überrascht wie Meister Schwarzer. „Ja, ich habe verstanden“, sagte Kommissar Reinhardt, „morgen früh bei Ihnen, Genosse Oberst. Wiederhören.“ Der Kommissar legte auf und sah Striese und Schwarzer bedauernd an. „Nichts zu machen. Ich werde gebraucht, da muß ich zurück.“ „Sehr schade“, sagte Striese bekümmert. „Wirklich, wir alle sind doch an einer schnellen Aufklärung interessiert, womit ich nichts gegen Ihre beiden Kollegen gesagt haben will …“ Am Abend brachten Beck und Kalle den Chef zum Bahnhof. Es war ein etwas bedrückter Abschied. „Der Mensch denkt, der Oberst lenkt“, sagte Kalle, als er Walter Reinhardt auf dem Bahnsteig die Hand drückte. „Ihr werdet es schon schaffen!“ Reinhardt nickte ihnen zu und stieg ein. „Die Marschroute ist klar“, sagte er, als er sich im Abteil noch einmal aus dem Fenster beugte. „Ich wünsch euch was! Am Zwölften bin ich spätestens zurück.“ Die Lok ruckte an, die beiden winkten und sahen dem Zug nach, bis er hinter dem Stellwerkshäuschen in der Kurve verschwunden war. „Gehen wir“, sagte Seppel, und sie gingen über den vereinsamten Bahnsteig des Kleinstadtbahnhofs zurück zum lindenumsäumten Vorplatz und stiegen in ihren alten F 8. Der Sommerabend war mild, sie drehten die Wagenfenster herunter. Sie fuhren am Hotel zum „Schwarzen Adler“ — dem ersten am Platze — vorbei durch die Innenstadt zum Textilzentrum an der östlichen Peripherie. „Weißt du, was ich verwunderlich fand?“ fragte Seppel, der am Steuer saß. „Mich verwundert überhaupt nichts mehr“, brubbelte Kalle und schien nicht bereit, auf ein Gespräch eingehen zu wollen. Seppel fuhr unbeirrt fort: „Ich fand es erstaunlich, daß Walter meinen Vorschlag sofort
akzeptiert hat. Ist doch sonst nicht seine Art.“ „Was sollte er weiter tun? In Gedanken war er schon beim Chef — wir können ja sehen, wie wir fertig werden. Und was bleibt uns anderes? Dein Plan ist doch gut. Tagsüber Alibiüberprüfungen und Ermittlungsarbeit in alle Richtungen, nachts auf der Lauer liegen!“ Begeistert klang das nicht. „Ist dir inzwischen was Besseres eingefallen?“ fragte Seppel verärgert. „Vorhin, als wir die Marschroute festlegten, warst du einverstanden!“ „Bin ich auch jetzt noch!“ Kalle steckte sich umständlich eine Zigarette an. „Die Sache ist doch logisch aufgebaut: Der Export nach Schweden soll verhindert werden. In wessen Interesse, ist uns auch ziemlich klar. In der Tuchfabrik arbeiten sie mit Hochdruck, um die Verluste wettzumachen und den Liefertermin einzuhalten. In mehreren Schichten arbeiten sie. Wenn sie sich bereit erklären, die Maschinen voll auszulasten, ist damit zu rechnen, daß sie‛s wirklich schaffen. Das wiederum, da hast du völlig recht, Seppel, wird der Täter mit allen Mitteln zu verhindern suchen. Nein, nein, dein Plan ist gut, sonst hätte Walter auch nicht zugestimmt. Wir passen auf: heute nacht, morgen nacht, übermorgen … Einmal muß er ja kommen!“ „Na, dann Prost“, sagte Meister Schwarzer, setzte eine Flasche Bier an und ließ die ersten Schlucke durch die Kehle rinnen. „Prost“, sagten die Kriminalisten Beck und Kaluweit und tranken, wie sich‛s für Gäste geziemt, aus Gläsern, die ihnen Schwarzer hingestellt hatte. Sie saßen in der gemütlichen Wohnküche des Meisters auf einer mit blau-weiß kariertem Stoff bezogenen Eckbank. Der Meister aß Bratkartoffeln, es duftete lecker nach gebratenem Speck. Kalle dachte an die schmale Kost im „Schwarzen Adler“ und gab sich Mühe, nicht allzuoft auf den Teller des Meisters, auf die Schüsseln mit Rotwurst und Senfgurken zu
schauen. Er hatte sie eingeladen mitzuhalten, aber Kriminalisten müssen vieles bedenken, und ehe sie eine Einladung annehmen, lehnen sie ein Dutzend ab. Bild S13 „Wir haben den ganzen Nachmittag die Alibis Ihrer Kollegen überprüft“, sagte Seppel Beck, „und wir haben festgestellt, daß die meisten zu Haus in ihren Ehebetten lagen …“ „Moment mal“, sagte Schwarzer und spießte mit der Gabel ein Stück Senfgurke auf. „Ich denke, für die Tatzeit kommen nur fünf Minuten in Frage — oder sind Sie inzwischen der Meinung, daß jemand nachts eingestiegen ist?“ „Das wäre immerhin denkbar. Wir wissen zwar noch nicht wie, aber denkbar wäre es“, sagte Seppel und nahm einen Schluck aus seinem Bierglas. „Eigenartig ist nur, daß alle Kollegen ein glaubwürdiges Alibi erbringen konnten — auch die unverheirateten …“ Seppel Beck kniff ein Auge zu, und Meister Schwarzer lachte. „Jaja“, sagte er, „wir waren alle mal jung!“ „Nur Harri Nowak machte eine Ausnahme“, fuhr Seppel fort. „Er will bis zwölf Uhr nachts ein Rendezvous gehabt haben und weigert sich hartnäckig zu sagen, mit wem.“ Schwarzer knallte die Gabel auf den Tisch. Eben noch genüßlich mit seinem Essen beschäftigt, wurde er im nächsten Augenblick zu dem wild blickenden Mann, den sie heute morgen in der Lagerhalle kennengelernt hatten. „Ein Rendezvous?“ Er reckte das Kinn vor. „Dann weiß ich schon, mit wem!“ Seine Faust fiel hart auf den Tisch, Teller und Schüsseln klirrten. „Meine Tochter muß ja glatt den Verstand verloren haben!“ Die Tür wurde aufgerissen, ein hübsches, junges dunkelhaariges Mädchen stürzte herein. Auf halbem Weg zum Tisch blieb sie stehen und funkelte aus großen Augen ihren Vater wütend
an. „Und wenn ich den Verstand verloren habe, ich liebe Harri, jawohl! Und wenn du dich auf den Kopf stellst!“ rief sie mit der Leidenschaft einer bis über beide Ohren verliebten jungen Frau. „Harri und ich gehören zusammen, und ich laß mir keine Vorschriften machen, auch von dir nicht.“ „Das werde ich nicht tun“, sagte Schwarzer ohne jeden Humor. Er blieb erstaunlich ruhig, aber auf seiner Stirn erschien eine steile Falte. „Harri ist ein prima Kerl“, wandte sich Elvira an die Kriminalisten, „wenn er was sagt, dann stimmt das. Wir hatten ein Rendezvous. Ich mußte zwar erst meinen Vater loswerden, der mir in der Dunkelheit nachgeschlichen kam. Er nahm wohl an, daß wir uns im Park treffen, aber gerade da habe ich ihn abgeschüttelt.“ Triumphierend sah sie den Meister an. „Wir waren an der Mühlendammschleuse verabredet, ganz in der Nähe! Da staunst du, nicht wahr?“ „Sehr interessant“, rief Schwarzer. „Um halb elf warst du zu Hause. Dein geliebter Harri aber hat der Polizei gesagt, daß ihr bis um zwölf zusammen gewesen seid! Da stimmt doch was nicht — oder? Wie erklärt er diese anderthalb Stunden in seinem Alibi?“ „Du bist gemein!“ Elvira zitterte vor Empörung, sie war nun dem Heulen nahe, doch dann kam ihr ein Einfall. „Und du“, rief sie und zeigte auf ihren Vater, „wo warst du die ganze Zeit? Ich war nachts um halb elf zu Hause, aber du kamst lange nach mir! Wenn die Polizei Harri kontrolliert, muß sie auch dich kontrollieren!“ „Jetzt reicht‛s mir!“ Schwarzer sprang auf, als hätte ihn ein giftiges Insekt gebissen. „Paß auf, daß ich dir nicht den Hintern versohle, so groß du bist, du Göre!“ Kalle und Beck brauchten nicht einzugreifen. Er ließ den erhobenen Arm wieder sinken und klagte ihnen sein Leid: „Da
haben Sie‛s! Die eigene Tochter scheut sich nicht, ihren Vater zu verdächtigen! Als ob ich meine eigene Arbeit zunichte mache! Und alles wegen dieses Kerls, der ein Säufer und Großmaul ist.“ „Ich verbiete dir, so von meinem Verlobten zu reden! Das ist Rufmord, die beiden Männer sind Zeugen!“ „Raus“, schrie Schwarzer und wies zur Tür. „Pack deine Sachen und verschwinde!“ Auch Kalle war aufgestanden. „Herr Schwarzer, Sie sollten der jungen Dame einiges nachsehen“, versuchte er zu beschwichtigen. „Lassen Sie nur“, wehrte Elvira ab. „Lassen Sie nur, hier kann man sowieso nicht länger leben!“ Die Tür wurde zugeschmettert, daß in der Wohnung die Wände erbitterten. „Soll sie sehen, wo sie bleibt. Sie wird ihr blaues Wunder erleben mit diesem windigen Bruder und Kraftprotz!“ Schwarzer machte keine Anstalten, seine Tochter zurückzuhalten, sondern ließ sich schwer auf die Sitzbank fallen. Er starrte auf die Tür, durch die Elvira gegangen war, trank sein Bier aus und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Nebenan hörte man rumoren, dann fiel die Wohnungstür krachend ins Schloß. Elvira war gegangen. Der Meister ertrug das mit bewundernswerter Haltung. „Soll sie, immer soll sie gehen!“ sagte er und rührte sich nicht vom Fleck. „Mich wegen dieses Kerls zu verdächtigen. Dabei ist der Fall doch ziemlich eindeutig: Man braucht nur mal zu überlegen, wer mir eins auswischen will und ob derjenige einen Grund dazu hat. Und wenn man‛s so betrachtet, ist die Sache ganz geschickt eingefädelt …“ Er schien zu erwarten, daß die Kriminalisten ihm beipflichteten, aber Kalle und Beck bremsten seinen Eifer. „So eindeutig ist es noch lange nicht“, sagte Seppel Beck. „Ich will mich nicht in Ihre Familienangelegenheiten mischen, aber ganz
korrekt haben Sie sich wohl nicht verhalten, Herr Schwarzer.“ ,,Wieso?“ Der Meister fuhr auf und starrte Beck durchdringend an. ,,Ihr Alibi ist tatsachlich nicht weniger löchrig als das Harri Nowaks.“ Seppel wollte dem Meister den Sachverhalt erklären, kam aber nicht dazu. Das kurze rötliche Haar des Meisters schien sich zu sträuben. „Zum Teufel“, schrie er, „jetzt bin ich wohl schon zum potentiellen Täter geworden! Sehr freundlich von Ihnen, sehr freundlich!“ Harri Nowaks Junggesellenmansarde war Elvira zur Zufluchtstätte geworden. Sie saß weinend auf dem weißlackierten eisernen Bett unter der Dachschräge und zerdrückte die Kissen. Harri stand rieben ihr und streichelte ihr den Kopf. „Ist ja gut, Kleine“, sagte er, „dir darf keiner was tun, du bleibst erst mal bei mir! ,Raum ist in der kleinsten Hütte‛, sagte meine Großmutter immer. Wir richten uns eben ein.“ Ein Stück Nachthimmel war vor dem Mansardenfenster zu sehen, und mitten in diesem samtblauen Viereck schwamm die schmale Sichel des Mondes. Ja, es gibt noch Romantik, dachte Harri, setzte sich neben Elvira und drückte sie fest an sich. Sie hatte aufgehört zu weinen, und plötzlich löste sie sich aus seinen Armen und knipste die Nachttischlampe an. „Wenn ich hierbleiben soll“, sagte sie und sah sich — schon ganz aufs Praktische bedacht — in dem Dachstübchen um, „dann muß sich einiges hier verändern, Harri!“ Die Junggesellenmansarde war frisch geweißt und tapeziert, aber nicht aufgeräumt. Wäsche und Kleidungsstücke lagen auf den Stühlen; Bücher, Zigaretten und ein Schiffsmodell, an dem gebastelt wurde, auf dem Tisch; neben dem Gaskocher in der Nische stand ein Stapel ungewaschenes Geschirr. „Das ist halb so schlimm“, erklärte Elvira. „für Ordnung sorge ich schon. Ich
bitte dich nur um eins: Die ollen Dinger hier, die verschwinden!“ An der Wandschräge über dem Bett war eine monströse Waffensammlung befestigt: langläufige orientalische Pistolen, silberbelegt und ziseliert; malaiische Krise; afrikanische Speere; Tanzmasken mit hohlen Augen- und Mundhöhlen; ein uralter Vorderlader mit trichterförmiger Mündung und als Mittelpunkt und Prunkstück ein blitzblanker, haarscharf geschliffener Kosakensäbel. „Ich hatte jedesmal Angst“, sagte Elvira, „aber wenn ich hier wohnen soll, muß wenigstens der Säbel runter! Das ist ja schrecklich, der kann ja runterfallen …“ „Hast recht“, er lächelte, „ist schon Blödsinn, sich so ‛n haarscharfen Apparat übers Bett zu hängen.“ „Und überhaupt“, sagte sie. „wenn die Kriminalisten herkommen und das sehen — am besten, du wirfst den Säbel und die Messer in den See!“ „Ich hab nichts zu verbergen, verflixt noch mal!“ Harri reagierte empfindlich. „Von mir aus können sie kommen, jederzeit!“ Er brach ab und lauschte. Auch Elvira hatte etwas gehört. „Mein Vater! Das hab ich geahnt“, sagte sie erschrocken. „Quatsch! Die Kripo ist es!“ Harri stand wie erstarrt mit dem blanken Säbel in der Hand auf dem Bett. Elvira entriß ihm den Säbel und schob ihn unter die Zudecke. Harri fühlte sich vom Bett heruntergezogen und in die Ecke geschubst und sah, wie sich Elvira blitzschnell Pullover und Rock auszog, wie sie das Deckbett aufschlug und nicht ohne Anmut neben den haarscharf geschliffenen Kosakensäbel ins Bett hopste. Im gleichen Augenblick wurde an die Tür geklopft. „Mach auf“, wisperte Elvira und zog sich die Decke nur so weit hinauf, daß die wohlgerundeten, glatten Schultern frei blieben. Harri öffnete die Tür. Draußen standen die Kriminalisten.
„Guten Abend, Herr Nowak“, sagte Beck. „Wir wollten nur ein paar Fragen stellen, dürfen wir hereinkommen?“ „Wenn‛s sein muß — bitte!“ Harri ließ sie eintreten, aber er gab sich keine Mühe, freundlich zu sein. „Oh, Entschuldigung! Und nochmals guten Abend, Fräulein Schwarzer“, sagte Kalle, als er Elvira entdeckte. Er drehte sich zu Seppel Beck um, und beide betrachteten dann einige Zeit die junge Dame im Bett oder die kriegerische Sammlung an der Wand darüber. „Interessant“, sagte Beck. „Sehr interessant“, sagte Kalle. Harri räusperte sich und strich sich eine schwarze Haarlocke aus der Stirn. „Ein Hobby meines Vaters. Der war Seemann. Haben Sie was dagegen?“ Sein Ton war ziemlich aggressiv. „Weder gegen Hobbys noch gegen seefahrende Väter haben wir etwas“, sagte Beck. „Wollen Sie nicht Platz nehmen?“ forderte sie Elvira auf. „Sehr liebenswürdig!“ Kalle bedankte sich eifrig. Er wollte sich setzen, aber über dem Stuhl lag eilig hingeworfen Elviras hellblauer Pullover. Harri räumte zwei Stühle ab und bot sie an. Er setzte sich zu Beck an den Tisch. „Nun fangen Sie mal an zu fragen“, drängte er ungeduldig. „Kann mir schon denken: Elvira hat gesagt, sie war um halb elf zu Hause, und ich habe gesagt, ich war bis zwölf mit einem Mädchen zusammen. Einen Namen wollte ich nicht nennen, nun wissen Sie ihn schon! Aber was die Zeitdifferenz anbetrifft: Ich sage Ihnen, das war nur so ‛ne Idiotie von mir! Weil ich mich schon auf der Anklagebank sah. Die anderthalb Stunden habe ich zugemogelt. Besser ist besser, dacht ich!“ „So ängstlich sind Sie doch nicht“, sagte Beck. „Die Vorstrafe hängt einem an, und wenn Sie tausendmal nein sagen. Geschieht was, ist man fällig!“ „Na, na, Herr Nowak!“ Seppel Beck schüttelte den Kopf. „Das grenzt ja an Verfolgungswahn, Herr Nowak!“ „Aber Sie stehen ja immer noch, entschuldigen Sie!“ Elvira
beugte sich aus dem Bett und nahm den Pullover vom Stuhl, damit Kalle sich setzen konnte. Dabei verschob sich die Bettdecke, und der Säbelgriff sah hervor. „Danke vielmals“, sagte Kalle, setzte sich und zeigte auf den Säbelgriff: „Sie schlafen doch nicht immer damit?“ Er nahm ihn vorsichtig vom Bett und prüfte die Schneide mit dem Daumen. „Vorsicht“, rief Elvira, „das Ding ist haarscharf!“ Kalle schenkte ihr ein dankbares Lächeln. „Gewiß“, sagte er und reichte ihn Seppel Beck. „Und ob das ‛n haarscharfes Ding ist“, sagte er. Am nächsten Morgen wurden der Säbel und einige Stücke zerschnittenen Stoffs zur trassologischen Untersuchung ins KTI geschickt. Vielleicht konnten die Experten unter dem Vergleichsmikroskop feststellen, ob der Säbel als Tatwerkzeug benutzt wurde oder nicht. Seppel Beck hielt es für wenig wahrscheinlich, daß Harri Nowak — wenn er überhaupt der Täter war — sich eines so unhandlichen Werkzeugs bedient haben könnte. „Säbel sind Hieb- bzw. Stichwaffen“, erklärte er, „die Stoffballen aber wurden weder zerhackt noch zerstochen, sie wurden zerschnitten! Dazu braucht man meiner Ansicht nach ein sehr starkes Messer mit festem Griff, ein Messer, das man mit beiden Händen packen und führen kann.“ „Vielleicht bestätigen sie uns das im KTI! Dann fehlt uns zwar immer noch das Messer, aber Gewißheit haben wir, und das ist auch was wert.“ Kalle trank seinen Kaffee und sah kopfschüttelnd zu, wie Seppel mit dem Messer des Frühstücksbestecks die Grifftechnik probierte. „Dein Rührei wird kalt“, sagte er. Sie hatten sich das Frühstück im Zimmer servieren lassen. Die Küche des „Schwarzen Adlers“, mit der sie nicht zufrieden waren, gab sich nach einer Beschwerde redlich Mühe: Rührei
mit Speck und Schnittlauch, Butterbrot, ein großes Glas Milch und ein Getränk, zu dem man schon Kaffee sagen konnte. Seit einem Vierteljahr übernachteten sie meistens in Hotelzimmern. Die Aufklärung von Wirtschaftssabotagen war zu einem Schwerpunkt in ihrer Arbeit geworden. Besonders in der sächsischen Textilindustrie häuften sich die Anschläge. Zur Unterstützung der örtlichen Kräfte der Kriminalpolizei wurden Einsatzgruppen aus Berlin herangezogen. Von der Gruppe Reinhardt, der man besondere Erfahrung bei der Aufdeckung dieser Straftaten zuschrieb, wurden schnelle Erfolge erwartet. Wenn man die einzelnen Fälle analysierte, schien es kein Problem, erfolgreich zu sein. Das Motiv war fast immer das gleiche: Haß gegen die DDR. Störung ihres wirtschaftlichen Aufbaus war die Folge des Verbrechens. Kleinere und größere Fabrikbesitzer setzten sich nach Westdeutschland ab, hinterließen Steuerschulden und noch einiges andere Üble, vor allem aber „faule Kunden“. Und die mußte man finden, was nicht einfach war, denn sie hatten Weisung, unauffällig zu arbeiten. Webstühle sind sehr empfindlich, ein Putzlappen kann eine ganze komplizierte Anlage für lange Zeit außer Betrieb setzen. Oft genug fand man zerschrammte Bolzen in gesprengten Getrieben. Man schrieb das Jahr 1950. Die Gründung der DDR hatten diese Leute nicht verhindern können, aber sie spekulierten darauf, daß die junge Republik — wenn man nur etwas nachhalf — sehr bald in die Knie gehen würde. „Dann kommen wir wieder“, prophezeiten die Fabrikbesitzer. „und wer uns die Treue hielt, wird nach Verdienst behandelt.“ Man brauchte eigentlich nur nach diesen Kontaktpersonen, nach diesen „Treuhändern“ der ehemaligen Herren zu suchen. Doch das war nicht immer einfach. Man mußte vor allem das Vertrauen der Arbeiter gewinnen. Ihre Empörung über den eingetretenen Produktionsausfall und die damit verbundene
Lohnminderung war groß. Aber Empörung allein half noch nicht. Die Arbeiter mußten die Aufklärung eines solchen Verbrechens zu ihrer eigenen Sache machen. „Wir dürfen nicht in einen Betrieb fahren und als Nurkriminalisten auftreten“, hatte Reinhardt gefordert. „Spuren suchen, Spuren sichern, die üblichen Befragungen — das reicht nicht. Eine Handvoll Sand oder ein Eisenstück kann jeder im Vorbeigehen in ein Getriebe werfen. Wir würden Monate brauchen, um den Täter zu finden. Wenn wir Erfolg haben wollen, dann müssen wir überzeugen, Zusammenhänge aufdecken und die Arbeiter auf Betriebsversammlungen und im persönlichen Gespräch mitreißen können. Keine Leitartikel runterleiern! Klar und sachlich Fakten darlegen. Nicht über die Köpfe hinwegreden.“ Das hatten sie zu beherzigen versucht, und oft hatten sie schon nach zwei, drei Tagen die für sie entscheidenden Informationen erhalten. Diesmal war es ein wenig anders. Sie brauchten die Arbeiter der Tuchfabrik nicht erst zu überzeugen, Diplomingenieur Feuerhardt hatte selbst beste Überzeugungsarbeit geleistet. Es gab wohl nicht einen unter den Arbeitern, der daran zweifelte, daß die zerschnittenen Ballen auf sein Konto kamen. Vor einem halben Jahr war Feuerhardt mit seiner Familie bei Nacht und Nebel abgerückt. Es war alles vorbereitet gewesen. In Elberfeld saß er nun in der Tuchfabrik seines Schwagers auf einem Direktorensessel. Daß man ihn in der DDR enteignen würde, war ihm klar. Was ihm mißfiel, war die Tatsache, daß der von ihm im Stich gelassene Betrieb nicht schlechter als unter seiner Leitung produzierte und daß die Schweden ihren Auftrag nicht an die Elberfelder, sondern an seine inzwischen „kommunistisch“ gewordene Firma vergeben hatten. Aufgeklärt werden mußte auch, wen er als Verbindungsmann zurückgelassen hatte. „Fassen wir zusammen“, sagte Kaluweit und breitete auf dem abgeräumten Frühstückstisch eine Lageskizze aus. „In die
Tuchhalle ist von außen, von der Straßenfront her, nicht hineinzukommen, davon haben wir uns überzeugt. Ich möchte nur wissen, warum man damals einen so gewaltigen Backsteinkasten als Lagerhalle entworfen hat. Aber lassen wir‛s gut sein. Von der Straßenfront her kann niemand hinein. Bleiben das große Tor zum Hof und die eiserne Verbindungstür zu den angrenzenden Fabrikräumen. Die Schlüssel zu dieser Tür besitzt Meister Schwarzer. Er schließt sie jeden Abend ab, schließt sie auch jeden Morgen auf. Er sichert sie noch durch ein kleines Privatsiegel. Das Siegel war gestern morgen unversehrt. Also hatte sich der Täter nicht in der Fabrik einschließen lassen, um nachts durch die Verbindungstür ins Lager zu gelangen.“ „Und wenn er sich doch im Lager einschließen ließ! Es käme dann nur darauf an, sich morgens unauffällig unter die eintreffenden Arbeiter zu mischen.“ „Dagegen steht die Aussage Schwarzers: Er paßt auf, bei ihm soll so etwas unmöglich sein. Über Schwarzer reden wir noch. Bleiben wir erst einmal bei dieser Version: Es hat sich niemand einschließen lassen. Die Fenster weisen keine Spuren gewaltsamen Öffnens auf, das Schloß am Hoftor ist unversehrt. So kräftig Nowak auch ist, in den fünf Minuten vor Arbeitsbeginn hätte er unmöglich mehrere Dutzend Ballen zerschneiden können. Abgesehen davon, daß das Risiko viel zu groß war.“ „Und worauf willst du hinaus?“ fragte Seppel Beck, der sich wunderte, wie munter Kalle nach dem Kaffee wurde. Ihm saßen noch ein anstrengender Tag und fünf Stunden Nachtwache auf dem Dachboden der Lagerhalle in den Gliedern. „Wenn sich niemand einschließen ließ und wenn ein gewaltsames Eindringen unmöglich ist, dann bleibt nur noch eins“, fuhr Kalle fort: „Es muß jemand mit einem Schlüssel aufgeschlossen haben.“ „Aha“, sagte Seppel leicht ironisch, „eine verblüffend einfache Lösung. Schlüssel besitzen Meister Schwarzer, Nachtwäch-
ter Tews und Hauptbuchhalter Striese. — Ich glaube, jetzt werde ich auch langsam munter! Ganz so einfach ist die Sache wohl nicht. Schwarzer stand sich nicht gut mit seinem ehemaligen Chef. Das sagt er selbst, das sagen auch alle anderen. Bei Striese war es noch ärger, er war ernsthaft verfeindet mit dem Fabrikbesitzer Feuerhardt, er war sein Hauptbuchhalter! Hätte Striese nicht grundehrlich, ja pedantisch gearbeitet, hätte sich Feuerhardt sicher noch länger bei uns aufhalten und einiges mehr unter den Nagel reißen können. Das ist aktenkundig, du hast die Protokolle gelesen, genauso wie ich. Ihre Auseinandersetzungen gingen sogar so weit, daß Feuerhardt gewalttätig wurde. Und nun wollen wir uns daran erinnern, daß wir einen ,Vertrauensmann‛ suchen, jemanden, der für seinen ehemaligen Chef eine schmutzige Arbeit verrichtet …!“ Kalle zog die Stirn kraus. Wer gibt sich schon gern geschlagen, wenn er sich gut im Zuge glaubte? „Dann bleibt uns vorerst nur der Nachtwächter“, sagte er, „und der ist mir, offen gestanden, ein bißchen zu unbedarft.“ „Und wenn er will, daß wir das von ihm glauben?“ fragte Seppel. „Das wäre doch denkbar, mit Bauernschläue kann man auch ‛ne Menge erreichen. Wir müßten uns auch über Schwarzer und Nowak und ihre private Fehde unterhalten, nur sehe ich bei ihnen zuwenig Anhaltspunkte; ich sehe kein echtes Motiv, keines für eine solche Tat.“ „Und was schlägst du vor?“ fragte Kalle ein wenig enttäuscht. „Weitermachen“, sagte Seppel kurz und bündig. „Die Leute in der Fabrik arbeiten wie besessen, damit die Lieferung nach Schweden doch noch rausgeht, sie haben heute nacht in der Spätschicht einen Produktionsrekord aufgestellt. Meinst du, daß der, den wir suchen, das so ruhig hinnimmt? Der Bursche wird keine halbe Arbeit machen wollen, ich bin überzeugt, er kommt noch. Wir müssen Geduld haben und für die nächste Nacht eine Thermosflasche mit ordentlichem Kaffee!“
Vier Tage später kam Kommissar Reinhardt mit dem DreiUhr-Zug aus Berlin zurück. Er hatte sich telegrafisch angekündigt und wunderte sich, daß weder Kalle noch Seppel auf dem Bahnsteig waren, um ihn abzuholen. An seinem Handkoffer mit dem bißchen Wäsche, den Toilettenartikeln und den Arbeitsunterlagen hatte er nicht schwer zu tragen. Aber es ärgerte ihn, daß sie ihn durch die ganze Stadt laufen ließen und seine Anwesenheit so allzu bekannt wurde. Reinhardt drängte sich durch eine lärmende Schülergruppe, die sich vor der Sperre staute. Er mußte es sich gefallen lassen, daß eine kesse Bolle von vierzehn, fünfzehn Jahren „Mann, Opa, nicht so hastig“ zu ihm sagte. Sie ahnte sicher nicht, wie eine solche Bemerkung auf einen Mann in den besten Jahren wirkte. Es blieb Reinhardt nur übrig, die Sache als Scherz zu nehmen. „Seit wann dürfen Babys auf dem Bahnsteig spielen“, fragte er, blieb vor dem Mädchen stehen und sah auf sie herab. „Paßt denn die Mutti gar nicht auf dich auf?“ Die Jungen lachten und riefen „Bravo!“ Die anderen Mädchen schauten ihn bewundernd an, und man machte ihm Platz. Das Wort „Opa“ hatte seinen verletzenden Klang verloren. Reinhardt ging lächelnd durch den Lärm der Bahnhofshalle hinaus auf den Vorplatz. Den blauen F 8 entdeckte er an der stadtabgewandten Seite des Bahnhofs unter einer mächtigen Linde. Einsam und verlassen stand er dort, als hätte er sich ein schattiges Plätzchen zum Ausruhen gesucht. Zuerst dachte Reinhardt, eine unumgängliche Diensthandlung hätte die beiden daran gehindert, ihn zu begrüßen. Doch beim Näherkommen sah er, daß Seppel Beck mit zurückgelegtem Kopf am Steuer saß und schlief und Kalle es sich auf dem Rücksitz bequem gemacht hatte. Reinhardt faßte durchs offene Wagenfenster und schüttelte Seppel Beck an der Schulter. „Aufwachen! Polizei!“ Seppel Beck riß erschrocken die Augen auf, Kalle rappelte sich aus dem Rücksitz hoch, stieß sich den Kopf am Verdeck
und ließ sich in die Polster zurückfallen. Reinhardt mußte lachen. „Ihr zwei seid mir die richtigen Kriminalisten! Kaum laß ich euch alleine, schlaft ihr euch aus!“ „Wir haben vier Nächte auf der Lauer gelegen“, verteidigte sich Seppel und schaute zu Kalle. Beide waren noch nicht wieder ganz bei sich. „Ich verstehe das gar nicht“, sagte Kalle. „Haben wir etwa geschlafen? Der Zug kann doch noch gar nicht da …“ „Da fährt er schon wieder raus“, unterbrach Reinhardt ihn, öffnete die Wagentür und setzte sich, während er Seppel Beck auf den Nebensitz drängelte, hinter das Steuer. „Wie war‛s? Ich nehme an, ihr habt harte Tage und Nächte hinter euch, ist etwas herausgekommen dabei?“ „Nichts“, sagte Kalle mißmutig. „Aber wir freuen uns, Genosse Kommissar, daß Sie sich auch wieder mal um uns kümmern. Wie war‛s denn zu Haus in Berlin?“ „Ich habe nur Urlaub gemacht“, sagte Reinhardt trocken. „Verzeihung, ich wollte auch nur wissen, ob‛s Brandenburger Tor noch steht“, konterte Kalle etwas bissig den Spaß. „Ich merk‛s schon an der Stimmung, daß ihr keinen Erfolg hattet“, sagte Reinhardt. „Also keine neuen Spuren, keine Hinweise …“ „Hinweise jede Menge! Wir haben Befragungen vorgenommen, Aussagen überprüft, Versionen aufgestellt und wieder verworfen …“ „Und nachts blieb alles ruhig?“ fragte Reinhardt. „Tews hat seine Runden gedreht und Gespräche mit seinem Hund geführt. Er hat auch ein paarmal aus seinem Fläschchen getrunken und auf ,die da oben‛ geschimpft, wobei er nicht wissen konnte, daß wir über ihm waren.“ „Was meint ihr? Hat es jemand spitzgekriegt, daß ihr auf dem Dachboden wart?“ fragte Reinhardt. Seppel war beleidigt.
„Meinst du, wir legen uns umsonst auf die Lauer und schlagen uns die Nacht um die Ohren? Der einzige, der was weiß, ist Striese, der hat uns die Schlüssel besorgt, und auf den ist Verlaß!“ „Entschuldigt bitte, es hätte ja sein können!“ Reinhardt ließ den Motor an und legte den Gang ein. Der Mißerfolg seiner beiden Genossen schien ihn nicht sonderlich zu berühren, er zeigte weiterhin ein freundliches und ausgeglichenes Gesicht. „Kommst du heut nicht, kommst du morgen“, sagte er, gab Gas und fuhr so um den lindenumstandenen Vorplatz herum, als wollten sie zu einer Vergnügungstour starten. „Die Sache mit der Nachtwache war eine gute Idee!“ „Wie bitte?“ Seppel Beck sah sich fragend zu Kalle um, aber Kalle wußte auch nicht, wie er diese Bemerkung deuten sollte. Sollte sie ihnen Optimismus geben, war sie als väterlicher Trost gedacht oder ironisch gemeint? „Nein wirklich, Seppel“, beteuerte Reinhardt in bester Laune, „es war sogar eine ausgezeichnete Idee von dir!“ „Ja aber, es ist doch noch nichts geklärt, und da wollen Sie uns schon verlassen!“ Buchhalter Striese schaute verwirrt von Kommissar Reinhardt zu Beck und Kaluweit, die vor ihm in seinem Büro standen. „Sie haben doch selbst gesagt, daß äußerste Wachsamkeit geboten ist, daß unsere Arbeit jeden Tag aufs neue sabotiert werden kann, und die Gefahr verringert sich doch nicht, im Gegenteil! Nur noch zwei Tage, und wir haben es geschafft, pünktlich am Fünfzehnten können wir liefern! Ich bin der Meinung, daß der Täter nichts unversucht lassen wird …“ „Sie können ganz ruhig sein“, sagte Reinhardt und lächelte zuversichtlich. „Es hat sich im Bezirk ein zweiter Sabotagefall ereignet, ganz ähnlich wie bei Ihnen. Fassen Sie dies bitte als eine vertrauliche Mitteilung auf, Herr Striese: Wir haben den Verdacht, daß es sich um den gleichen Täter handelt. Als Kri-
minalist soll man keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber diesmal möchte ich sagen: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir ihm auch das Verbrechen hier nachgewiesen haben.“ Striese atmete erleichtert auf. „Ja, wenn das so ist — dann möchte man fast gratulieren …“ Reinhardt winkte ab. ,,Um Himmels willen!“ Die Nachmittagssonne schien ins Büro. Die Fotos an der Wand leuchteten in bunten Farben, alles war heiter und freundlich. Selbst Strieses vergrämtes Gesicht hellte sich auf. Doch nur für einen Augenblick, der geplagte Mann schien seines Lebens nie recht froh zu werden. Er zupfte verlegen an der schwarzen Armbinde, die er als Trauerzeichen angelegt hatte. „Ich weiß nicht, was ich tun soll“, sagte er. „Eigentlich wollte ich den Betrieb in dieser angespannten Situation nicht verlassen. Vorgestern die Fahrt nach Berlin zum Ministerium, das war unaufschiebbar, aber heute …“ Striese ging zum Schreibtisch, nahm ein Telegramm aus der Ablage und reichte es Reinhardt. „Morgen früh findet die Beisetzung statt“, sagte er. Reinhardt überflog das vor wenigen Stunden in Dresden aufgegebene Telegramm. „Gertrud?“ fragte er und gab es Striese zurück, ,, … Ihre Schwester?“ „Schwägerin“, sagte Striese. Er war sich nicht schlüssig, ob er fahren sollte oder nicht. „Aber selbstverständlich, Herr Striese!“ Kommissar Reinhardt redete ihm gut zu. „Ich bin sicher, daß sich hier nichts mehr ereignet.“ Der Buchhalter war froh, daß ihm die Entscheidung abgenommen wurde. Und weil er den für ihn günstigsten Zug nach Dresden nicht mehr erreicht hätte, fuhr ihn Reinhardt mit dem F 8 zum Bahnhof. „Kein Problem, Sie haben uns auch geholfen“, wehrte er Strieses Dank ab. „Außerdem fährt unser Zug eine halbe Stunde später, wir sind sowieso im Aufbruch.“ Er stoppte den alten Wagen, der sein Bestes gegeben hatte, vor dem Bahnhofseingang.
Der Buchhalter sprang, seine abgewetzte Aktentasche in der Hand, eilig aus dem Wagen. „Nochmals herzlichen Dank, alles Gute und viel Erfolg“, rief er im Davonlaufen den Kriminalisten zu. „Hoffentlich schafft er ihn“, sagte Reinhardt, ohne sich um die ärgerlich dreinschauenden Genossen Beck und Kaluweit zu kümmern. „Deine Menschenfreundlichkeit in allen Ehren …“, Kalle konnte seinen Unwillen nicht zurückhalten, aber Reinhardts Aufmerksamkeit galt völlig dem Zug, der aus dem Bahnhof fuhr. „Da ist er“, rief er beglückt, und zur höchsten Verwunderung von Beck und Kaluweit stieg er aus und winkte dem abreisenden Striese zu, der sich aus einem Abteilfenster des vierten Wagens lehnte. Er winkte so lange, bis der Zug mit dem zurückwinkenden Buchhalter verschwunden war. „Na, Gott sei Dank“, sagte er und setzte sich wieder hinter das Lenkrad. „Ich freue mich, daß wir ihm was Gutes tun konnten. Ein so netter, hilfsbereiter Mensch.“ Er drehte sich um, sah die langen Gesichter und fragte verwundert: „Ja, was ist denn mit euch?“ „Wir wissen nicht, was das Ganze soll“, sagte Seppel verbittert. „Du kommst aus Berlin zurück, hörst dir unsere Berichte an, nimmst sie kaum zur Kenntnis, erzählst was von einem zweiten Täter im Bezirk, teilst offiziell mit, daß unser Auftrag beendet ist und wir von hier abreisen …“ „Moment“, unterbrach ihn Reinhardt, „ich habe das nicht offiziell mitgeteilt! Ich habe das Herrn Striese und unter dem Siegel der Verschwiegenheit gesagt!“ „Irgendwas stimmt doch nicht“, sagte Kalle. „Und selbst wenn es diesen zweiten Fall im Bezirk gibt: Daß wir hier die Segel streichen, halte ich für keine glückliche Idee!“ Reinhardt wuchtete sich in seinem Sitz vollends zu ihnen herum. „Aber Jungs“, sagte er, und es war ihnen nicht klar, ob sein Erstaunen gespielt war oder nicht. „Hat der Opa was falsch gemacht? Ja,
man hat mich Opa tituliert, heute nachmittag, als ich aus dem Drei-Uhr-Zug stieg und durch die Sperre wollte, sagte so ein langhaariges Bienchen Opa zu mir! Da ist mir zum erstenmal klar geworden, daß was dran sein könnte. Vielleicht bin ich zu alt — was meinst du, Seppel?“ Er sah Seppel Beck fragend an. Einen Augenblick war Seppel verwirrt. Dann begann er laut und ungeniert zu lachen. „Du alter Fuchs“, rief er, „du alter Fuchs!“ Kalle verstand nicht, was zwischen den beiden Älteren vorging. Lange genug kannte er sie, aber offensichtlich war da etwas, was ihm noch verschlossen blieb. „Na, dann wollen wir mal irgendwohin fahren, Abendbrot essen und uns die Zeit vertreiben“, sagte Reinhardt und lachte. Kalle hatte sich selten so unsicher gefühlt. Die Arbeiter der Spätschicht verließen das Werk. Es war ein Uhr nachts. Am Tor stand Nachtwächter Wilhelm Tews und kontrollierte die Ausweise. Frauen und Männer, junge und alte, gingen durch die Pforte neben dem schmiedeeisernen Tor. Tews kannte alle, er brauchte nicht auf die Ausweise zu sehen. Wenn man sie ihm vorzeigte, war das ja nur der Kripo und der erhöhten Wachsamkeit wegen. Meister Schwarzer schloß als letzter das Stofflager ab und zeigte keinen Ausweis, als er an Tews vorbeiging. Die Tuchfabrik, ein dreistöckiges Gebäude mit flachem Dach, lag im nächtlichen Dunkel. An sie schloß sich die Tuchlagerhalle an, die mit der Fabrik verbunden war. Sie war ein riesiger Backsteinbau mit spitzem Schieferdach. Kalle hatte erfahren, daß er vor zweihundert Jahren als Speicher gedient hatte. Schwere Maschinen konnte man den Zwischendecken nicht mehr zumuten, also nutzte man den Bau als Lagerhalle. Der Himmel war bewölkt, weder Mond noch Sterne waren zu sehen. „Gehen wir“, sagte Reinhardt. Sie standen im Schatten einer Toreinfahrt und liefen nun über die Straße auf die Fabrik
zu. Sie gingen an der Längsfront der Lagerhalle entlang bis zur Ecke und bogen rechts ein. Zwanzig Meter blieben ihnen bis zum schmiedeeisernen Tor. Wächter Tews und sein Hund Cäsar machten ein Nickerchen. „Weiter“, sagte Kalle, der sich auch in der Dunkelheit bestens auskannte. An einem Schuppen machten sie halt. Walter Reinhardt bückte sich, nahm erst Kalle auf die Schulter und hob ihn bis unters Schuppendach, dann Seppel Beck. Selbst zu zweit hatten die beiden dann Mühe, ihren gewichtigen Chef hochzuziehen. Sie liefen über das Dach des Schuppens. Das nächste, höher gelegene vor ihnen gehörte schon zu dem Gebäude der Tuchfabrik. Sie schafften es ohne Mühe, auch auf das zweite Dach zu klettern. Über eine Bohle — wohl für den Schornsteinfeger bestimmt — balancierten sie zum Kesselhaus. Trotz der Dunkelheit kamen sie gut voran. Gegen das dunkle Dach hob sich die nicht geteerte Bohle als heller Schatten ab. „Hopp“, sagte Reinhardt und sprang als erster auf den Hof. Alle Achtung, dachte Seppel. Mindestens drei Meter! Und Walter kokettiert damit, daß man ihn Opa nennt! Der Nachtwächter Tews kam im Pförtnerstübchen immer noch nicht gegen den Schlaf an. Sie huschten über den Hof zum Tor der Tuchlagerhalle. „So“, sagte Reinhardt, als sie das Tor mit ihren Spezialwerkzeugen wieder verschlossen hatten und sich auf dem ersten Zwischenboden der Lagerhalle ausstreckten, „das ist geschafft. Und diesmal weiß niemand — nicht mal Herr Striese —, daß wir hier sitzen.“ Seppel und Kalle versuchten mühsam, das Gähnen zu unterdrücken, für sie war es die fünfte Nacht am Luftschacht der Lagerhalle. „Kommt, nehmt einen Kaffee!“ Walter Reinhardt schraubte
den Becher von der Thermosflasche und goß ihnen im Schein der abgeblendeten Taschenlampe einen pechschwarzen Trank ein. Ein Schlüssel kratzte im Schloß des Tors, Reinhardt knipste die Taschenlampe aus. Seppel Beck kippte den brühheißen Kaffee hinunter und beugte sich über den Luftschacht. Das Tor der Halle öffnete sich, sie sahen einen helleren Spalt in der Schwärze der Mauer. Für Sekunden tauchte der Schemen eines Menschen auf, dann wurde das Tor geschlossen. Die Kriminalisten hielten den Atem an. Wer ist es? Wird der Eindringling eine Lampe benutzen oder wird er sich im Dunkeln an die Ballen schleichen? Er läßt sich Zeit. Warum sichert er so lange? Den Kaffeeduft kann er doch nicht bis da unten spüren! Kalle gehen die merkwürdigsten Gedanken durch den Kopf. Aber eine Genugtuung erfüllt ihn schon jetzt: Der Täter besitzt einen Schlüssel! Nur mit einem Schlüssel war es möglich, in die Halle zu kommen. Vorsichtig schiebt sich Kalle an Seppel heran, der neben ihm liegt. Da flammt unten eine Lampe auf. Kalle erstarrt in der Bewegung. Nein, den Mann hatte er nicht erwartet: der Meister Schwarzer! Er geht langsam durch den Mittelgang zu den Exportballen. Der Stapel befindet sich genau unter dem Luftschacht. Schwarzer trägt eine Aktentasche unter dem Arm. Er bleibt stehen, klemmt die Stablampe unter den Arm, greift in die Tasche, sieht sich um. Kalle will aufspringen und Licht anschalten. Der Schalter ist gleich neben der Treppe, worauf wartet Reinhardt noch? Es ist doch alles abgesprochen. Reinhardt langt über Beck hinweg und legt Kalle beruhigend die Hand auf die Schulter, er weist ihn mit einer Bewegung an, zu schweigen und weiter zu beobachten. Schwarzer hat eine Tüte aus der Tasche geholt und streut nun, rückwärts gehend, ein Pulver in den Gang. Der Lichtkegel
seiner Lampe schwankt über den Boden. Geisterhaft bewegen sich die Hände darin. Die Rechte ist schwarz von dem Pulver. „Für den Auftakt nicht schlecht“, sagt Reinhardt, nachdem sich Schwarzer wieder aus der Halle geschlichen hatte. „Der Meister als Kriminalist! Baut dem Täter eine Falle, will seine Fußspuren konservieren. Gar nicht so dumm. Sorgt sich um den Betrieb, läßt sich was einfallen!“ Eine ganze Weile blieb alles still. „Weck mich, wenn was los ist“, sagte Kalle und gähnte. „Moment mal!“ Seppel stieß ihn an und zeigte nach unten. Jetzt hörten auch Reinhardt und Kalle, daß sich ein Schlüssel im Torschloß drehte. Diesmal wurde die Tür weiter geöffnet, und das Licht wurde angeknipst. Der Nachtwächter Wilhelm Tews, seinen Hund Cäsar bei Fuß, betrat die Halle. „Na, Cäsar, schnüffelst ja so, ist jemand hier?“ Er gab dem Hund einen Klaps. „Na los, such, such!“ Schweifwedelnd, die Nase am Boden, sauste Cäsar zwischen den Stapeln herum. „Versteh ich nicht“, flüsterte Seppel Beck Reinhardt ins Ohr. „Der kommt sonst immer viel später!“ Plötzlich zog Tews ein Beil unter seiner Joppe hervor. Es war das gleiche Beil, mit dem er auf seinem Hühnerhof gehackt hatte. Also doch Tews, dachte Seppel und warf Reinhardt einen Blick zu. „Worauf warten wir noch“, flüsterte er. Tews ging auf die Stoffstapel zu. Höchste Zeit, einzugreifen! War es noch nötig, ihn einen der wertvollen Ballen zerschneiden zu lassen, nur um ihm die vollzogene Tat nachweisen zu können? „Da“, flüsterte Reinhardt und zeigte zum Tor des Stofflagers. Tews hatte es offen gelassen, durch den Spalt war Harri Nowak ins Lager geschlüpft. Er nahm Deckung hinter einem Stapel. Der herumschnüffelnde Cäsar entdeckte ihn und sprang, ein wildes Geheul ausstoßend, auf ihn zu. Nowak blieb furchtlos stehen und tatsächlich: Der Köter fiel ihn nicht an und beschränkte sich auf lautes Verbellen. „Na,
nimm“, flüsterte Nowak und hielt Cäsar etwas vor die Nase. Cäsar schnappte schweifwedelnd zu. „Such Herrchen“, befahl ihm Nowak leise, „na, such!“ Der Nachtwächter Tews war bei dem Gebell herumgefahren und hatte das Beil schlagbereit erhoben. „Ist da jemand“, brüllte er, so laut er konnte, und machte sich damit wohl selbst Mut. „Faß ihn, Cäsar! Halt ihn fest, mein Hund!“ Aber sein Hund lief bereits um die nächste Stapelecke zu ihm, schielte ihn von unten herauf an und leckte sich das Maul. Tews ließ das Beil sinken. „Was denn — schon wieder ‛ne Maus“, schimpfte er. „Demnächst werd ich noch mit ‛ner Katze rumlaufen müssen!“ Er stellte das Beil ab, blickte auf die Stoffballen und spuckte in die Hände. „Na, dann wollen wir mal“, sagte er. Doch Wilhelm Tews griff nicht zum Beil, sondern zum Fläschchen. Er schraubte den Verschluß ab und setzte es an. Fröhlich hüpfte der Adamsapfel. „Prost Tews“, rief eine scharfe, böse Stimme. „Du säufst, dein Köter nimmt Wurst von jedem, und mich verdächtigt die Polizei!“ Hinter den Kohlenhaufen am Kesselhaus hatte sich Meister Schwarzer verborgen. Er sah, wie Tews und Nowak aus dem Stofflager traten. In dem hellen Licht, das aus der offenen Tür fiel, konnte er sie deutlich erkennen. Tews machte kehrt und knipste das Licht aus. Für einige Sekunden schien die Finsternis vollkommen. Die Augen mußten sich erst an den Wechsel gewöhnen. Schwarzer hörte Schritte, hörte die harte, polternde Stimme des Nachtwächters. „Sieh zu, daß du rauskommst, sonst ruf ich die Polizei. Was meinst du, wie die sich freuen.“ Die Schwärze, die das verlöschende Licht hinterlassen hatte, füllte sich langsam wieder mit Konturen. Meister Schwarzer sah den Wächter Tews mit seinem Hund auf das Pförtnerhäuschen zugehen, dessen mattgelb schim-
mernde Scheiben tröstlich durch die Nacht blinkten. Er sah aber auch, wie Harri Nowak auf das Kesselhaus zu verschwand. Schwarzer richtete sich halb auf. Als Nowak wieselflink um den Kohlenhaufen bog, faßte er zu. Es war ein Griff, der nicht ganz fair war. Harri Nowak wand und bog sich, es half ihm nichts, der Meister drehte ihm den Arm nur noch höher hinauf in den Rücken. „So, mein Junge“, sagte er dicht an Nowaks Ohr, „jetzt wollen wir uns mal unterhalten! Und daß du mir ganz friedlich bleibst!“ Eine halbe Stunde verging. Nichts rührte sich mehr. Reinhardt bot sich an, die Wache zu übernehmen, aber Kalle und Seppel lehnten es ab. Sie konnten nicht schlafen. Es lag etwas in der Luft, das noch in dieser Nacht geschehen mußte. Und es geschah auch etwas. Ein Mann kam die Straße entlang und blieb vor der hohen dunklen Fassade der Lagerhalle stehen. Er sah sich um. Die Straße war menschenleer. Der Mann war mit einem Trainingsanzug bekleidet, trug Handschuhe und eine Mütze mit einem langen Schirm, den er sich tief ins Gesicht gezogen hatte. Seine Füße steckten in weichen, wildledernen Kletterschuhen. Noch einmal sah er sich um, dann faßte er den Blitzableiter und kletterte katzengewandt, sich mit den Füßen abstemmend, die Mauer empor. Es sah aus, als liefe er zum Dach hinauf, als gäbe es keine Schwerkraft für ihn. Er erreichte den Dachrand und kniete im nächsten Augenblick nach einem geschickten Schwung in der Regenrinne. Das gelang ihm nicht geräuschlos. Reinhardt hörte das blecherne Knacken zuerst, er stieß Beck und Kaluweit an. Sie hoben die Köpfe und lauschten. Da war es wieder, ein leises Knirschen und Knacken, als ob Blech ausgebeult würde. Gleich darauf liefen schnelle, leichte Schritte über das Schieferdach. Die drei sahen sich an. Ihre Augen hatten sich an die Dunkel-
heit gewöhnt, jeder konnte die Umrisse des Gesichts des anderen erkennen. „Vielleicht eine Katze“, flüsterte Kalle. Reinhardt schüttelte den Kopf. Eine Schieferplatte löste sich aus ihrer Halterung und rutschte scheppernd die Schräge hinunter, schlug knallend in die Dachrinne und zersplitterte Sekunden später auf dem Straßenpflaster. Auf der Hofseite begann Cäsar zu bellen. Nach endlos währenden Minuten — wahrscheinlich waren es nur wenige Augenblicke — wurde hoch oben in der Spitze des Daches eine Luke geöffnet. Das Geräusch war deutlich zu hören. Die Luke wurde hochgeklappt und auf das Dach gelegt. Zu erkennen war nichts. Nach minutenlangem Warten sahen sie etwas: In der Höhe des Dachgebälks turnte ein Schatten herum, schwang sich über Balken und Streben, hangelte, sprang und rutschte herab. Ein unterdrückter Fluch wurde laut, ein keuchendes Atmen war zu hören. Der Schatten pendelte, fiel — und stand auf einem mächtigen Träger. Jetzt blitzte eine Taschenlampe auf. Das Licht tastete umher, erkundete den weiteren Weg nach unten. Der Mann blieb schemenhaft im Dunkel. Nur der Schirm seiner Mütze wurde von verstreutem Licht getroffen, als er den Kopf vorbeugte. Die Kriminalisten hatten Mühe gehabt, sich hinter eine große Löschsandkiste zurückzuziehen. Sie kauerten sich nieder und preßten sich eng an das Holz der Kistenwand, als der Schein der Lampe flüchtig über sie hinwegglitt. Dann verlöschte das Licht. Der Mann turnte behende die letzten Meter abwärts, huschte geräuschlos über den Dachboden zur Treppe, die in der äußersten Ecke hinunter ins Lager führte. Reinhardt legte Kalle und Beck, die nun wieder links und rechts von ihm neben dem Luftschacht hockten, die Hand auf die Schulter. „Abwarten! Nichts überstürzen!“ hieß das. Unter ihnen blitzte erneut die Lampe auf. Der Mann lief auf die Stoffstapel zu. Dort angelangt, stellte er die Lampe so ab,
daß sich ihr Schein an einem der Ballen brach und eine schwache indirekte Beleuchtung entstand. Der Mann zog ein starkes, abgerundetes Haumesser aus dem Gürtel, faßte es mit beiden Händen und trat an den ersten Stapel heran. „Los“, befahl Reinhardt, als der Mann das Messer zum Schnitt ansetzte. Er sprang auf, Seppel Beck mit ihm, sie rannten zur Treppe. „Halt! Stehenbleiben! Keine Bewegung“, rief Kalle im gleichen Augenblick, und der grelle Strahlenkegel seines Handscheinwerfers traf den Mann dort unten so plötzlich, daß er zusammenzuckend das Messer losließ und erschrocken nach oben starrte. Sein Gesicht war maskiert. „Volkspolizei“, rief Kalle. „Bleiben Sie stehen und heben Sie die Hände! Bei einem Fluchtversuch mache ich von der Schußwaffe Gebrauch!“ Der Mann hob langsam, wie in sein Schicksal ergeben, die Hände. Doch plötzlich bückte er sich, nahm das Haumesser auf, das blitzend am Boden lag, und war mit einem Satz hinter dem nächsten Stapel verschwunden. Kalle hätte abdrücken können, er hätte bestimmt auch getroffen — auf dem Schießstand war er einer der Besten! —, aber auf einen Menschen schräg von oben schießen, das konnte er nicht. Kalle dachte an den Schußkanal, den die Kugel reißen würde, verzichtete auf einen Warnschuß und sprang durch die Luftschachtöffnung hinunter auf die gestapelten Ballen. Er landete weich, ließ sich zur Seite rollen, fiel in den Gang, in dem der Täter verschwunden war und in dem er ihn vermutete. Noch im Fallen wurde er von zwei kräftigen Armen gepackt und zu Boden geworfen. Die Pistole entfiel seiner Hand. Er rollte sich zur Seite und blieb bewegungslos liegen. Im gleichen Augenblick wurde überall das Licht angeschaltet. Kalle sah den Mann im Trainingsanzug wenige Schritte vor sich, das schwere Messer in der Hand. Die Pistole lag zwischen ihnen. ,,Keinen Schritt“, stieß der Maskierte keuchend hervor und hob den Arm mit dem Messer, behielt Kalle im Auge und
griff nach der Pistole. Da knallte ein Schuß. Reinhardt und Beck waren heran. Sie richteten ihre Waffen auf den Maskierten, der sich aufrichtete, das Messer fallen ließ und die Arme hob. „Guten Abend, Herr Striese“, sagte Reinhardt, „ … schon zurück von der Beerdigung?“ Er trat auf den Maskierten zu, nahm ihm die Mütze mit dem langen Schirm ab und riß ihm die Maske vom Gesicht. Kalle legte Striese Handschellen an. „Ja, Herr Striese“, sagte Reinhardt. „Sehen Sie mal, dieses Foto habe ich selbst gemacht — vorgestern beim großen Zuchtpreis in Karlshorst!“ Er zeigte ihm ein größeres Foto. „Soll ich Ihnen sagen, wer die Dame an Ihrer Seite ist?“ Striese versuchte eine Lüge. Er schüttelte den Kopf. „Herr Kommissar“, begann er, aber Reinhardt schnitt ihm das Wort ab. „Das ist Frau Feuerhardt“, sagte er und tippte auf die elegante Dame, die neben Striese auf der Tribüne stand. „Die Gattin ihres früheren Chefs, mit dem Sie sich bis in alle Ewigkeit verzankt und verkracht hatten, nicht wahr?“ Reinhardt steckte das Foto wieder ein. „Sie haben allen hier im Betrieb ein wunderschönes Theater vorgespielt. — Ja, Herr Tews, hören Sie ruhig zu!“ Reinhardt winkte dem Nachtwächter, winkte Schwarzer und Nowak heran, die plötzlich wieder in der Halle standen. „Es durfte doch kein Mensch auf die Idee kommen, daß Herr Striese die Interessen Feuerhardts vertritt. Deshalb der Krach, deshalb sogar einige Tätlichkeiten, nicht wahr! Dabei verstanden Sie sich ausgezeichnet. Und die Exportlage des Betriebes wurde mit Frau Feuerhardt in Karlshorst besprochen.“ „Man hat mir und meiner Familie goldene Berge versprochen“, sagte Striese und senkte den Blick. „Ich sehe ein, daß ich schändlich gehandelt habe, aber …“ Er wollte eine Entschuldigung vorbringen, spürte aber, daß es sinnlos war. Es gab keine Entschuldigung für das, was er getan hatte. „Gestatten Sie mir nur eine Frage“, wandte er sich an Kommissar Rein-
hardt. „Wie sind Sie dahintergekommen?“ „Herrn Tews‛ Erinnerungen an alte Zeiten“, sagte Reinhardt lächelnd. „Er hat soviel davon aufbewahrt, daß ihm der Verlust eines Fotos der Familie Feuerhardt nicht auffiel. Ich habe die vornehme Frau sofort wiedererkannt, Herr Striese — wenn es Sie tröstet: Sie sitzt bereits in Untersuchungshaft. Vorläufig wird sie nicht nach Elberfeld zurückkehren.“ Der Nachtwächter Tews blickte verständnislos von einem zum anderen, aber ehe jemand ein Wort sagen konnte, wurden sie abgelenkt. „Harri, wo ist Harri“, rief Elvira. Sie rannte durch die Halle auf die Gruppe der Männer zu, entdeckte ihren Harri und stürzte sich, als ob sie ihn beschützen müßte, in seine Arme. „Davongeschlichen hat er sich“, erklärte sie ihrem Vater, „als ich eingeschlafen bin! Tausend Ängste habe ich ausgestanden — und vorher hat er mir noch versprochen, daß er keine Dummheiten mehr machen will!“ Meister Schwarzer legte vorsichtig den Arm um seine Tochter. Die rußgeschwärzten Hände hielt er weit abgespreizt. „Harri macht keine Dummheiten mehr — verlaß dich drauf“, sagte er. Um seine Verlegenheit zu überspielen, fauchte er den verblüfften Harri an: „Nun nimm sie mir endlich ab! Du siehst doch, daß ich dasteh wie der Schwarze Peter!“ Also das war auch geklärt. Die jungen Leute hatten den väterlichen Segen. Reinhardt lächelte dem Meister zu, und dann gab er Kalle und Beck einen Wink, damit man Striese hinausführe. Nachdem das Geständnis protokolliert und unterzeichnet war und die drei von der K allein zusammensaßen, fragte Seppel Beck den Chef: „Warum, das möchten wir doch mal wissen, hast du uns so lange im unklaren gelassen? Als du nach Berlin gefahren bist, war dir doch schon klar, wie alles läuft!“ „So ziemlich“, sagte Reinhardt schmunzelnd.
Heft 318 Jemzew / Parnow Kongomato Ich weiß nicht mehr genau, wann und wo ich zum erstenmal vom Kongomato hörte. Ich glaube, ich lebte etwa zwei Jahre hier im Sudan. Ein Beamter erzählte mir, er halte sich in den heißen Sümpfen an der Grenze zwischen dem Sudan und Kenia auf … Alle Afrikaner behaupteten, der Kongomato sei blutrot. Und deshalb nannten sie ihn den Roten. Keiner wollte seinen Namen nennen …, alle hatten panische Angst vor ihm … Da beschloß ich, in die Sümpfe zu gehen. Ich war bereit, beliebige Entbehrungen zu erdulden, um ihn mit eigenen Augen zu sehen.