Das nette Abenteuer 551
Ulrich Waidner
Der tödliche
Schuß
Ulrich Waidner
Der tödliche Schuß Aus der Serie „Die dre...
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Das nette Abenteuer 551
Ulrich Waidner
Der tödliche
Schuß
Ulrich Waidner
Der tödliche Schuß Aus der Serie „Die drei von der K"
Verlag Neues Leben Berlin
©Verlag Neues Leben, Berlin 1976 Lizenz Nr. 303(305/59/76) LSV 7503 Umschlag und Illustrationen: K arl Fischer Typografie: Christel Ruppin Schrift: 8p Excelsior Gesam therstellung: D ruckerei Neues Deutschland, (140) Berlin Bestell-Nr. 642257 5 EVP 0,25 M ark
D
ie Jagd w urde abgeblasen. Das Hornsignal flog über die kahlen Felder und w urde vom rotstäm m igen K iefernhochw ald zurückgeworfen. Flin tengeknall und Hundegebell verstum m ten, die Jäg er entluden ihre Gewehre, schulterten sie und zogen gem einsam m it den T reibern, die hechelnden H unde bei Fuß, la u t schwatzend, einander Scherzworte zurufend, den Feldrain entlang zum Frühstücksplatz. Ingrid A nders hatte den frischen K ahlschlag am D achsberg zur Raststelle bestim m t. Von d ort h a tte m an den schönsten Blick ü b er F elder und Wälder, ü b er das D orf m it seiner alten B acksteinkirche und der am Ortseingang gelegenen LPG bis hin nach M ukran, d er ehem aligen Fischersiedlung, die sich so rom antisch am See hinduckte, daß sie zu einem P aradies der U rlau ber geworden war. A uf der Lichtung brannte seit Stunden das Lagerfeuer, brodelte der G ulasch im K upferkessel. Ein würziger, verlockender D uft wehte den Jägern entgegen. Sie w aren durchgefroren und hungrig, freuten sich auf die heiße Suppe, auf Eier, B rot und Schinken und auch auf den Schluck Wodka, der dazugehörte. Als Paul A nders m it seiner F ra u Ingrid u nd M anfred Holler an den Kessel traten, rief d er Jagdleiter, der bereits die ersten Portionen ausgeteilt hatte: „Platz, Männer! Platz fü r unsere Ingrid!“ E r schwenkte die Suppenkelle wie ein Zerem onienm eister, deutete einen K ratzfuß und eine Verbeugung an. Die M änner am Feuer versprachen sich einen zünftigen Spaß, schrien „Hallo!“, „Jawollja!“, „Platz fü r Ingrid!“ und bildeten Spalier. Rainer Glogowski hatte das Gewehr m it d er K am era vertauscht, e r quirlte herum und suchte den rechten Blickwinkel, um die Szene zu filmen. Ingrid A nders w urde vom Jagdleiter wie eine Königin bedient — sie war ja auch Königin u n te r den Schützen: sechs H asen, einen Fuchs und einen K eiler konnte sie auf ihrem Konto verbuchen. Lachend nahm sie den Beifall, die feinen u nd w eniger feinen Kom plim ente der rauhbeinigen Jä g er entge gen. ' Glogowski filmte. „Und jetzt einen Kuß vom Jagdleiter“, kom m andierte er. „Los, G erhard, m it der Suppenkelle in der H and!“ G erhard M arquard, ein großer, knochiger Mittvierziger m it kühn vorspringender Nase, w ischte sich den S chn u rrb art, einmal und noch einmal, er leckte sich die Lippen, verdrehte feinschm eckerisch die Augen, und dann 3
— nachdem alle einen A usbruch der Leidenschaft von ihm erw arteten —gab er der zierlichen, schw arzhaarigen Ingrid einen harm losen Kleine-JungenK naller auf die Wange, was ihm P fiffe und lautstark geäußerte Zweifel an seiner M ännlichkeit eintrug. Da w ar M anfred Holler, der blonde Kfz-Meister der LPG, aus anderem Holz geschnitzt. E r ließ sich nicht lange mahnen, als der A m ateurfilm er eine Szene vor d er inzwischen aufgereihten Strecke arrangierte, legte den Arm um Ingrids Schulter, zog sie an sich, spielte locker und leicht den verliebten Jäger: „Alle Hasen, Diana, alle Wildschweine und Füchse dir zu Füßen!“ Er sank aufs Knie, deutete an, daß er selbst auch zur Strecke gehörte, legte die Linke aufs Herz und wies mit w eitausholender Bewegung des rechten Arms auf das erlegte Wild. „G roßartig!“ schrie Rainer Glogowski und ließ die K am era surren. Jäger und Treiber lachten, klatschten Beifall. Holler w ar der zweitbeste Schütze des Vormittags, er hatte ein R echt d arauf, m it Ingrid Anders gefilmt zu w erden, und wie er da barhäuptig im vergilbten G ras vor ihr kniete, das w ar schon ein Bild, und daß ihn Ingrid sanft emporzog und sich wie eine Stum m film braut um arm en und küssen ließ, w ar so recht nach dem Herzen der Zuschauer, die in G ruppen herum standen, übers Lachen das Essen vergaßen und nicht m it Regieanweisungen sparten. D er einzige, der sich von der allgemeinen Fröhlichkeit nicht anstecken ließ, w ar Paul Anders, Ingrids Mann. E r hockte abseits am Feuer, stochertein der Glut und sah nachdenklich der Film erei zu. „Wat is m it dir los, Paulchen?“ Der alte knorrige Gustav rief ihn an. Gustav stam m te aus dem ehemaligen O stpreußen und konnte seinen Dialekt nicht verleugnen. „Manche, du bist doch woll nich eifersichtich! Guckt da, wie er sitzt“, m achte er die K am eraden aufm erksam , „dat is ’n Bildchen det Jam m ers!“ Paul A nders lachte schon wieder und bewies, daß er nicht eifersüchtig war. Warum auch? M anfred Holler w ar sein bester Freund, er ging ein und aus bei ihm zu Haus, alle w ußten das. Paul bewies nicht nur, daß er nicht eifersüchtig w ar, er w urde sogar einer der Lustigsten im Kreise, obwohl er nicht einen H asen erlegt hatte und die Spöttereien hageldick auf ihn herunterprasselten: „Was, Gulasch willst du fassen? Nee, Paul, du m ußt erst ein Zielwasser trinken!“ „Wenn ich erst loslege, bleibt fü r die N achzucht nichts übrig!“ konterte Paul schlagfertig und tran k den Doppelten. „Wartet n u r ab!“ rief Ingrid und um faßte ihren Suppe löffelnden Mann liebevoll, „sein neuer Drilling schießt so rasant und genau, da d a rf er keinen Millimeter Vorhalten — der Hase m ag noch so schnell laufen! Das ist anders ,als bei unseren ausgeleierten Flinten!“ P aul fütterte sie, d ankbar dafür, daß sie ihm zu Hilfe kam , m it Gulasch suppe. M anfred Holler w ar zur Stelle und hielt sie, wie m an ein Baby bei der F ütterung hält. Die K am era des A m ateurfilm ers fing all die Späße ein: nah und halbnah, Ingrid en face, Paul und Holler im Profil — Schwenk, und in der H albtotalen die kauenden, lachenden, rotgesichtigen Jäger. Rainer Glogowski, der flinke Feldbaubrigadier, verstand etwas von der Filmerei, aber w eder er noch die anderen Mitglieder de.s Jagdkollektivs 4
bem erkten, daß P aul A nders eine aufgesetzte Fröhlichkeit zur Schau stellte. Eine Stunde später zogen Jäger, T reiber und Hunde in langer Reihe nacheinander zu d er nach dem Früh stü ck angesetzten D rückjagd aus. Der Hochnebel, den die Sonne nicht zu durchdringen vermochte, strahlte in m ilchigem Weiß; in diesen leuchtenden, dunstigen Himmel ragten die Baum wipfel schw arz und gezackt wie Scherenschnitte. Es herrschte eine eigenar tige Stim m ung, keiner sprach ein Wort. Als sie die langgestreckte, breite L ichtung erreicht hatten, sammelte G erhard M arquar d Jä g e r u nd Treiber im H albkreis um sich und belehrte sie, wie es der V orschrift entsprach: „Ihr w ißt Bescheid: Keiner h at seinen Stand o rt zu verlassen! D er zugewiesene Schußsektor ist einzuhalten! Nicht aus dem Treiben herau s und nicht am Treiben entlangschießen! E rst beim A uftauchen des Wildes die Waffe entsichern! D as Wild vor dem Schuß ansprechen!“ Sie w aren erfahrene Jäger, die Belehrung w ar wirklich eine reine Routinesache. M arquard wies die Schützen ein, er führte jeden zu seinem Platz am W aldrand und zeigte ihm sein Schußfeld. M anfred Holler stand als d ritter in d er Schützenkette neben einer alten, hochragenden Kiefer; vierzig M eter w eiter links von ihm, hinter einem 5
flam m endgelben Eichbusch, w ar Paul A nders postiert, wieder vierzig Meter w eiter Ingrid A nders. Holler schaute nach rechts: D ort standen, auch im Vierzigm eterabstand, R ückert und Scheibler, und ganz außen, an der Waldspitze, kletterte Rainer Glogowski auf den Hochsitz und schraubte das Teleobjektiv an seine Kamera. Holler sah sich nach Ingrid um, sie blickte durch ihr Fernglas zu ihm herüber und winkte ihm zu. Er setzte gleichfalls sein Glas an die Augen, w inkte und gab ihr ü b er die Achtzig-Meter-Distanz, fü r sie aber deutlich sichtbar, m it gespitzten Lippen einen Kuß. P aul A nders, der zwischen den beiden stand, tat, als bem erkte er dieses G etändel per Fernglas nicht. Er tra t an seinem Platz das G ras nieder, w arf kleine Äste zur Seite—nichts durfte knistern! —und lud seinen Drilling: zwei Schrotpatronen in die Flintenläufe, ein Mantelgeschoß in den Büchsenlauf. D abei beobachtete er aus den Augenwinkeln, wie sich seine F rau und M anfred Holler über seinen Kopf hinweg K ußhändchen zuwarfen. Sein G esicht nahm einen finsteren, entschlossenen A usdruck an. Die Jagd w urde angeblasen. In die verhallenden Töne des Horns mischten sich bereits das Gebell d er stöbernden Hunde, das „Hu-Hatz!“, „Hu-faß!“ der Treiber, das G eklapper der an die Stäm m e geschlagenen Knüppel. Dann flitzten die ersten aus dem Wald herausgedrückten Hasen durch die Schüt zenkette auf die Lichtung. Schüsse fielen. Paul Anders entsicherte den Drilling und blickte zu seiner Frau. Ingrid hatte angebackt, schoß auf einen H asen und traf. Rechts knallte es m ehrere Male. Ein Reh brach durch, setzte in langen Sprüngen auf die Wiese, schw enkte nach links, lief schräg über die freie Fläche auf den jenseitigen W aldrand zu. Paul A nders riß das Gewehr an die Schultern. In ganz kurzen A bständen, nur durch Sekundenbruchteile getrennt, fielen drei Schüsse. Das Reh brach im Feuer zusammen. Gleichzei tig ertönte ein Schrei — der Schrei eines zu Tode getroffenen Menschen. Im Dorf hatte m an O berleutnant Beck und L eutnant Kaluweit, die m it der Klärung des Falles beauftragt w aren, einen Lotsen gestellt. E r dirigierte die beiden Einsatzfahrzeuge auf dem kürzesten Wege zum Unfallort. Ein düsteres Bild bot sich ihnen, als sie entlang der von T raktoren zerwühlten Schneise auf die Lichtung zuholperten. D irekt vor ihnen, wo die von altem Fichtenbestand gesäum te Schneise ins Freie m ündete, stieg Rauch in den grauen Himmel. Um das glosende Feuer herum standen stum m und steif wie frierende K rähen M änner in Lodenm änteln. Alle blickten mit m askenhaft w irkenden Gesichtern den Fahrzeugen entgegen. „Und ich habe im m er gedacht, so eine Jagd w äre eine fröhliche Angelegen heit“, sagte Kalle noch zu Seppel Beck, als sie vor-der Lichtung neben zwei ihnen entgegentretenden M ännern hielten. „VP-Meister Sim on“, stellte sich ihnen der ABV, ein älterer, seine Uniform prall ausfüllender Genosse vor, „das ist Genosse M arquard, LPG-Vorsitzen der und Jagdleiter.“ Seppel sah gleich, daß die beiden sehr betroffen waren. Sie standen da, als trauerten sie bereits um einen guten Freund. Der buschige W alroßbart des Jagdleiters zuckte einige Male nervös. „Ist der. V erletzte...?“, Seppel sprach nicht aus, was er verm utete. D er VP-Meister nickte. „Paul A nders ist auf dem T ransport ins K rankenhaus gestorben“, sagte er, „wir haben eben 6
die Meldung bekommen. Seine F ra u weiß es schon.“ E r blickte zu den J ä gern, die an dem heruntergebrannten, rauchenden F euer standen. Seppel und Kalle sahen jetzt, daß sich u n ter den M ännern eine schlanke, schwarz haarige F ra u in Jägerkleidung befand. O ffensichtlich hatte sie jeden Bei stand abgelehnt — sie stand allein, isoliert von den anderen, ihr Blick w ar ausdruckslos. D er Jagdleiter räu sp erte sich. „Lassen w ir ihr Zeit“, sagte er, „sie ist im A ugenblick noch nicht ansprechbar.“ „Wie ist es p assiert“, fragte Seppel Beck. D er ABV sah den Jagdleiter an. Der hob hilflos die Schulterii. „Es ist uns allen ein Rätsel“, sagte er. „Es m uß ein U nfall gewesen sein — aber wie es passiert ist?“ E r hob nochm als die Schultern. „Alles erfahrene Jäger, ich habe sie belehrt, habe sie eingewiesen, und wenn Sie sich die Standorte der Schützen ansehen wollen: Es ist einfach undenkbar, daß jem and so weit rum halten k a n n .. .. aber H err A nders w urde getroffen?“ „Ja, ein Brustschuß. Brenneckegeschoß — wissen Sie, was das für eine Wirkung hat?“ Seppel Beck blickte Kalle an. Jagdexperten w aren sie nicht, aber sie wußten, daß ein Brenneckegeschoß aus Blei bestand, zylindrisch geform t w ar und aus glatten, norm alerw eise nur fü r S chrot bestim m ten Flintenläu fen verschossen w urde. Das Hohlgeschoß riß auf kurze E ntfernungen dem Schwarz- und Rotwild verheerende Wunden. „Ja, wir kennen uns au s“, sagte Seppel Beck, rückte an seiner nicht ganz exakt sitzenden neuen m etallgefaßten Brille und schlug den K ragen seines kam elhaarfarbenen M antels hoch. Sie gingen zu dem Platz, an dem Paul A nders die Kugel traf. Kalle fror. Er hatte in der Eile des A ufbruchs seine gefütterte Allw etterkutte vergessen und lief im braunen, sportlich geschnittenen, aber ziemlich dünnen K ordanzug nebenher. D er Einsatz, zu dem sie gerufen w orden w aren, hatte, vom K rim inalisti schen gesehen, w eder ihn noch Seppel sonderlich unter Spannung gesetzt. Ob Jagd- oder Betriebsunfall, fü r gewöhnlich stand schnell fest, w er auf welche Weise gegen die Sicherheitsvorschriften verstoßen hatte. Die MUK hatte zu überprüfen und zu untersuchen — m it aller Sorgfalt selbstverständ lich — u nd ihren B ericht zu schreiben. Doch diesm al schien es nicht ganz so einfach zu sein. Wenn schon der hagere, hakennasige LPG-Vorsitzende und Jagdleiter, der den Eindruck eines zuverlässigen, sicheren Mannes m achte, von einem rätselhaften Fall s p ra c h ... „Der Genosse M arquard h a t sehr um sichtig gehandelt“, erklärte VP-Meister Simon, w ährend sie am W aldrand entlanggingen, „er hat sofort die Jagd abblasen lassen, h at einen M otorradfahrer losgeschickt, der mich und das R ettungsam t mobilisierte. Er h at die Jagdw affen eingesammelt und sicher gestellt, h at Posten aufgestellt, die d arau f achten, daß nichts verändert w ird.“ Sie kam en zum ersten dieser Posten, dem alten, grimmig dreinschauenden Feldbaubrigadier Gustav. „Auf Posten nichts Neues“, m eldete er in Erinne
rung an frü h ere M ilitärzeiten und kaute dabei aufgeregt und unm ilitärisch auf seinem Priem. „Hier w ar es!“ G erhard M arquard zeigte auf die Standorte der Schützen. „Hier, neben dieses Eichengestrüpp hatte ich Paul A nders hingestellt, rechts von ihm M anfred Holler, seinen besten Freund, links von ihm seine Frau. Ja, und dann brach das Reh durch — rechts von Holler. R ückert und Scheibler haben geschossen — sie sind nicht die Besten! —, sie haben nicht getroffen. Das Reh, eine überzählige Ricke, also abschußreif, lief dann nach links, sehen Sie, dort liegt es! Wir haben es liegengelassen, außer m ir ist keiner dran gewesen. Ja , das Reh h at einen B lattschuß, es ist im Feuer zusam m engebro chen. Und nun schauen Sie sich an, wie die Schützen gestanden haben: R ückert und Scheibler, die beiden auf dem rechten Flügel, scheiden aus. Sie h ätten niem als spitz von hinten einen Blattschuß anbringen können. Holler sagt, er hätte nicht auf die Ricke geschossen. Paul Anders — na ja, an dessen Platz stehen w ir ja, Paul hätte auch treffen können, aber er hat keinen Schuß abgegeben. Typisch fü r ihn.“ „Wie sollen w ir das verstehen?“ fragte Seppel. „Ach, wissen Sie, m anchm al konnte m an glauben, daß Paul absichtlich danebenschoß oder den Finger lang ließ, ihm taten die Tiere leid.“ „Ist das nicht etw as m erkw ürdig?“ Seppel Beck rückte wieder an seiner Brille, nahm sie ab und blinzelte M arquard an. „Wenn ihm die Tiere leid taten, w arum ist er dann unter die Jäg er gegangen?“ „Ingrid, seine Frau, ist eine leidenschaftliche Jäg erin “, sagte G erhard M arquard, und der ABV nickte dazu. — „Ich hatte abgedrückt, das Reh fiel, gleichzeitig hörte ich den Schrei, blickte nach rechts und sah meinen Mann nicht m ehr an seinem Platz. Das heißt, ich sah ihn nicht m ehr stehen, er lag im Gras vor dem Buschwerk.“ F rau A nders hatte d arau f bestanden auszusagen, sie sah sehr blaß aus und zwang sich zu einer sachlichen Darstellung. „Im ersten Augenblick dachte ich, das ist nicht möglich, das ist eine Sinnestäuschung, aber ich sah ihn j a liegen, und er rü h rte sich nicht. Da bin ich losgerannt, habe mich über ihn gebeugt — 'e r lag auf der Seite und hatte die Augen geschlossen, es sah aus, als ob er schläft. Ich habe ihn auf den Rücken gedreht, und dann sah ich den Einschuß auf der rechten Brustseite, nicht m al sehr groß. A ber als ich seinen Mantel auf gerissen hatte und mit der H a n d ...“ Sie stockte. Die E rinnerung an diesen Moment schien ihr entsetzlich zu sein. L eutnant Kaluw eit legte vorsorglich den Arm um sie. „Es geht schon.“ Sie lehnte seine Hilfe ab, bewies eine bew undernsw erte Willensstärke. „Ich hatte mein V erbandspäckchen aufgerissen und auf die Wunde gedrückt — aber das viele Blut, diese W unde... er atmete, noch“ , sagte sie, „aber ich hatte gleich keine Hoffnung m ehr.“ „Können Sie sich erinnern, wieviel Schüsse vorher gefallen w aren?“ fragte Seppel behutsam . „Nein!“ Sie blickte wie geistesabwesend über die Lichtung. „Nein“, sagte sie noch einm al und sah den O berleutnant voll an. „Ich habe m ehrere Schüsse gehört, schnell hintereinander, aber w ieviel...? Ich weiß nur, daß M anfred Holler plötzlich neben m ir stand. E r sah kurz auf Paul und auf mich und rannte dann auf die Lichtung. .Unfall!“rief e r,,Unfall!1—und dann hörte
ich das Jagdhorn. Kein Schuß fiel mehr, kein Hund kläffte, es w ar ganz ruhig.“ „Und was verm uten Sie, F ra u Anders? H aben Sie eine E rklärung, wie es zu diesem U nfall gekom m en sein kann?“ „Ich weiß es nicht“, antw ortete sie resigniert. „Als ich vor dem Schuß noch einm al an der Schützenkette entlangblickte, sah ich, daß mein Mann und Holler angebackt hatten. R ückert und Scheibler, was die beiden taten? Ich k ann es nicht sagen. Ich sah sie auf ihren Plätzen, ja, aber ob im Anschlag oder nicht? Es w ar ein ganz flüchtiger Blick, den ich nach rechts geworfen h a tte ...“ „Ich verstehe.“ O berleutnant Beck bedankte sich bei ihr und veranlaßte, daß m an sie mit dem Wagen nach H ause fuhr. „Laßt sie nach Möglichkeit nicht allein“, em pfahl er dem Jagdleiter, „am besten zu einer Freundin oder einer N achbarin, bei der sie sich am geborgensten fühlt.“ Die Besichtigung des T atorts ünd die ersten Zeugenbefragungen ließen bereits Zweifel aufkom m en, ob es sich tatsächlich um einen U nfall handelte. „An diesem W aldrand ist alles k lar ü b ersch au b ar“, sagte Kalle und kroch fröstelnd in sich zusam m en. „Neben dem Eichbusch h a t Paul Anders gestanden, d o rt h at ihn die Kugel getroffen. Woher, verdam m t noch mal, soll sie gekom m en sein? Ein Flintenlauf geschoß kannst du höchstens auf sechzig M eter zielsicher verschießen, auf hundert k a n n ’s auch noch tödlich wirken — aber nicht m ehr von j. w. d.! Die Schützen Scheibler und Rückert standen viel zu w eit entfernt, selbst dann, wenn sie A nders in direktem Schuß 9
getroffen hätten. A ber das ist ja W ahnsinn!“ -Er m achte eine verzweifelte H andbewegung. „Schau dir das doch an: N ur ein U nzurechnungsfähiger kann sich um fünfundvierzig G rad verhauen, das Gewehr vom Ziel weg, sozusagen in die eigenen Reihen halten.“ „Und w oher, m einst du, hätte die Kugel kom m en können?“ „Von jem and, der dem A nders näher stand“, sagte Kalle, „und da gibt es n u r zwei: vierzig M eter w eiter links von ihm w ar seine F ra u postiert, vierzig M eter rechts von ihm M anfred Holler — sein bester Freund, wie uns der LPG-Vorsitzende s a g te .. „Und das bezweifelst du?“ „Ich habe m ir die F ra u angeschaut“, sagte Kalle, „weiß der Teufel, sie ha t Augen, blau und tiefgründig wie der M ummelsee aus dem M ärchen, dazu das schwarze H aar und die F ig u r—ich k an n m ir vorstellen, daß sich um ein Weib wie dieses frü h er ganze Völker Stämme gerissen hätten — eines der ältesten Motive! Jedenfalls scheint es mir nicht ausgeschlossen, daß dieser Unfall ein nicht m al geschickt inszenierter U nfall ist.“ Seppel hatte Bedenken. Ein M ord aus Eifersucht? A uf so prim itive Weise verübt? Nun gut, m an sollte die Möglichkeit nicht ausklam m ern, w ahr scheinlich schien ihm jedoch, daß Anders durch einen A bpraller, durch eine verirrte Kugel getroffen w orden war. Noch eine dritte V ariante w ar denkbar, nämlich daß jem and vom gegenüberliegenden W aldrand quer über die Lichtung auf A nders geschossen hatte. A ber gleichgültig, ob es sich um Mord oder Unfall handelte, eins stand fest: Ohne die Hilfe der Trassologen und Schußsachverständigen, ohne ein G utachten der Gerichtsm ediziner w ürden sie in diesem Fall n u r schwer vorankom m en. Wenn sie ganz großes Glück hatten, stellten die Ballistiker fest, aus welcher Waffe das Tatgeschoß abgefeuert w orden w ar. D ann w ar natürlich alles klar, dann brauchten sie sich fü r den Schützen nur noch einen Haftbefehl ausstellen zu lassen. Doch w ann h at m an schon einmal soviel Glück? Sie m ußten Spuren sichern. Und das w ar hier draußen nicht einfach. Das Gras w ar nieder getreten, alles w ar zigmal überlaufen; ein einziger Regenguß w ürde das wenige V erw ertbare vollends vernichten. Es galt also schnell und konzentriert, nach einem klaren, vorgefaßten Plan zu arbeiten. T atortfotografien w urden selbstverständlich angefertigt, wichtig w ar noch eine m aßstabgerechte Übersichtsskizze mit A ngaben über die Positio nen der Schützen, in w elcher E ntfernung und in w elchem Winkel sie zueinander gestanden hatten. D ann der Platz, an dem Paul A nders getroffen wurde. Sie m ußten versuchen festzustellen, wie A nders gestanden hatte, als ihn der Schuß traf. Auf die Aussagen seiner F ra u und M anfred Hollers durften sie sich nicht verlassen. Vielleicht hatte d er Schm alfilm am ateur etw as B rauchbares im Kasten, das blieb abzuw arten. Genaue U ntersuchungen jedenfalls der Stelle^ an der A nders stand. Auch m ußte festgestellt werden, ob er so gelegen hatte, wie seine F ra u vorgab, ihn gefunden zu haben. Sie und M anfred Holler w aren ja die ersten bei ihm. Der Kfz-Meister Holler sah keineswegs so aus, als ob er fähig wäre, aus Eifersucht seinen Freund zu erschießen: E r w ar ein richtiger Kerl, derb und 10
unkom pliziert, einer, der m it dem Leben fertig w urde, sicher gern lachte, laut sprach und Witze riß. O berleutnant Beck u nd L eutnant Kaluweit, die m it ihm zu der einzelnstehenden hohen Kiefer gingen, dam it er dort noch einm al schilderte, wie er den V organg beobachtet hatte, w aren zunächst einmal überrascht. Sie blickten sich verstohlen an, u nd Kalle w ußte, daß Seppel etw a das gleiche dachte wie er. Dieser H oller tra u e rte echt um seinen Freund, das w ar keine Heuchelei. „Entschuldigen Sie!“ Holler w andte sich ab und schneuzte sich, geräusch voll. E r schäm te sich seiner Schwäche. „Tut m ir leid“, sagte er, um Haltung bem üht, „aber ich k ann es einfach nicht fassen. Paul, w enn Sie ihn gekannt hätten, alle m ochten ihn! Beim Frühstück haben w ir noch so gelacht, soviel Blödsinn verzapft, und d an n dieser Schlag aus heiterem Himmel!“ „Ja, ich verstehe Sie, das ist schrecklich. Und n u n kom m en w ir und sind gezwungen, Fragen zu stellen.“ O berleutnant Beck blickte ihn m itfühlend an. Holler nickte. Sie standen ein p a a r M eter von d er Kiefer en tfern t auf dem festgetretenen Waldweg. „Wir m üssen alle Spuren sichern, auch Ih re“, sagte Seppel, „also zeigen Sie uns von hier aus bitte genau: Wo haben Sie gestanden, H err H oller?“ „Wo das G ras zertram pelt ist.“ Holler wies au f einen Fleck unm ittelbar vor der Kiefer. „Ich habe Paul nicht sehen können, er stand hinter dem Eichengestrüpp, ab er ich wußte ja, daß er d o rt war, sehen Sie: A uf gleicher Höhe m it m ir h at P au l gestanden“, er zeigte m it ausgestrecktem A rm nach links, „und d o rt“, d er A rm w anderte in die neue Richtung, „vierzig Meter weiter, wo die Fähnchen stecken, d o rt stand Ingrid.“ Beck und K aluweit nickten. „Als das Reh durchgebrochen w ar“, fuhr Holler fort, „hatte ich in beiden Läufen Schrot. Ich sah, wie das Reh nach links schwenkte, sah gleichzeitig einen Hasen, viel zu w eit entfernt, trotzdem schoß ich auf ihn, um einen L auf für die Kugel frei zu bekommen. Die Hülse flog raus, sie m uß ja noch irgendwo liegen“, e r zeigte auf den zertram pelten Grasflecken, „es w ar mein vierter Schuß in diesem Treiben. D er L auf w ar frei — die Brennecke rein u nd angebackt. Doch bevor ich abdrücken konnte, knallten einige Schüsse, das Reh brach zusam m en, und in derselben Sekunde hörte ich den Schrei.“ „Sie kam en also gar nicht zum Schuß?“ fragte Seppel. „Nein. Die B rennecke steckt noch im Lauf. D er Jagdleiter hat die Waffen sicher gestellt.“ Seppel wollte es genau wissen. „Sie hab en n u r Schrot geschossen? Aus beiden L äufen?“ fragte er. „Ja. Und deshalb“, Holler zögerte, blickte nach rechts, „es bleiben eigentlich n u r R ückert oder Scheibler.“ Es w ar ihm unangenehm , diesen V erdacht auszusprechen, er nahm ihn auch sofort w ieder zurück. „ ... was m ir w iederum unm öglich scheint“, sagte er. „Selbst wenn m an im Jagdeifer zu weit rum halten sollte — aber so weit? Das ist nicht drin! Sie hätten ja parallel zum Weg, zur Schützenkette schießen müssen.“ E r führte vor, wie w eit sich die beiden herum gedreht, welchen Schußwinkel sie gehabt h aben m üßten, sah die K rim inalisten an und schüttelte den Kopf. „Das einzige w äre ein A bpraller.“ Kalle, der m it klam m en Fingern seine Ü bersichtsskizze hielt, blickte auf. r
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„Moment“ , fragte er, „meinen Sie einen A bpraller von R ückert oder Scheibler?“ Holler beantw ortete die Frage auf seine Weise, er wies auf den Standort von Ingrid A nders und sagte: „F rau A nders kann es auf keinen Fall gewesen sein.“ D ann nahm er die entsprechende Schlußstellung ein, und sprach weiter: „So stand sie, und Paul stand gleichfalls so! Ingrid hätte ihn niemals, selbst w enn sie einen A bpraller fabriziert haben sollte, von vorn treffen können. Die Kugel tra f ihn aber vorn.“ „Haben Sie denn gesehen, daß Paul A nders in die gleiche Richtung wie seine F ra u gezielt h a t“, fragte Seppel und gab sich, als sei er recht erstaunt. D er Kfz-Meister zeigte nicht die geringsten Anzeichen von Unsicherheit. „Sehen konnte ich das nicht“, sagte er, „da w ar der Eichbusch davor, aber w ir haben alle auf das Reh gehalten, wohin hätte Paul halten sollen?“ „Schon gut, das w ar n u r eine Frage, es muß alles seine Richtigkeit haben.“ Seppel w ar zuvorkommend. „Und Sie w aren dann als erster bei ihm ?“ „Ja, nein, das heißt, Ingrid w ar schon da.“ „Und wie erklären Sie das, H err Holler?“ Seppel schien sich wirklich nicht wohl zu fühlen in der Rolle des Fragestellers. „Sie w aren beide gleich w eit von A nders entfernt, Sie haben zur gleichen Zeit den Schrei gehört, entschul digen Sie, aber ich versetze mich in die Situation. Eigentlich hätten Sie doch vor F rau A nders am U nfallort sein m üssen, und wenn nicht vor ihr, dann gleichzeitig m it i h r .. Holler schüttelte den Kopf, er übte N achsicht m it diesem offenbar etwas engstirnigen O berleutnant. „Das sind Dinge, die m an schw er erklären kann“, sagte er. „Sie hören einen Schrei, sehen aber nichts. Da vergehen ein paar Sekunden, bis es h ier oben däm m ert.“ E r schlug sich an die Stirn. „So ist das. Ingrid A nders w ar sicher genauso erschrocken wie ich, aber sie h a t sofort gesehen, was los w a r ...“ „Ich verstehe“, sagte Seppel und nickte zufrieden,' „... der Eichbusch! F ür F rau A nders w ar er keine Sichtblende! Schon klar, H err Holler, danke schön! — Und nun habe ich noch eine letzte Bitte: Wir gehen jetzt zum Unfallort, und Sie zeigen uns, wie Paul A nders gelegen hat, als Sie dort ankam en.“ Das Dienstzimmer w ar bullig w arm , die Heizer der Spätschicht hatten es für diesen N ovem bertag zu gut gemeint. Kalle öffnete das Fenster. Feucht kalte N achtluft dräng herein. „Es wird schneien, öderes w ird ein Klackregen fallen“, sagte er und beugte sich schnüffelnd aus dem Fenster. Er drehte sich zu Seppel um, der im halbdunklen, nur von der Schreibtisch lam pe erhellten Zim mer auf u nd ab m arschierte. „Alles in allem genom m en“, sagte er, „sind w ir genauso schlau wie zuvor. R ückert und Scheibler behaupten, sie hätten nicht ü b er den vorgeschriebenen Sektor rausgehalten, Holler behauptet, er w äre gar nicht zum Schuß gekommen m it der Kugel; F rau A nders h at auf das Reh gefeuert, w ahrscheinlich auch getroffen—zum Teufel noch mal, w enn das alles stimmt, was sie sagen, dürfte A nders nicht tot sein.“ Seppel u n terbrach seine W anderung und setzte K affeew asser auf. „Von dem G edanken, daß es sich um einen inszenierten U nf all handeln könnte, bist du anscheinend abgekom m en?“ fragte er. 12
„Ich weiß nicht.“ Kalle m achte ein bedenkliches Gesicht, strich sich über die S tirn und sagte d an n plötzlich: „Wir haben einen ziemlich blöden Beruf, findest du nicht auch?“ Seppel m ußte lachen. „Naja, ist doch so “, fu h r Kalle fort, „wir freuen uns, wenn wir glauben, einen T äter ganz schnell am Dings zu hab en — u n d noch m ehr freuen wir uns, w enn’s ’ne Fehlanzeige war. Das Dilemma ist, daß w ir in menschlichen Kategorien denken, d aß w ir nie frei von G efühlen sind. Rein theoretisch schien dieser Holler doch prädestiniert, den tödlichen Schuß abgegeben zu haben — und dann sprichst d u m it ihm, beobachtest sein V erhalten und sagst dir schließlich: Dieser nette Mensch? Das ist doch unmöglich! Man sollte C om puter fü r uns einsetzen.“ „Denen fehlt gerade das, von dem du m einst, daß wir es überflüssigerweise haben“ , sagte Seppel schmunzelnd. E r breitete zwei Servietten auf dem Schreibtisch aus, stellte Tassen, Zuckerdose und Milchbüchse ordentlich hin und m achte aus dem K affeetrinken wie üblich eine kleine Zeremonie. Zum Schluß w ird’s doch n u r Türkischer, dachte Kalle. „Das Dilemma, von dem du sprichst, ist im G runde genommen ein großer Vorzug“, begann Seppel w ährend des H antierens zu erklären. „Die Men schen handeln näm lich durchaus nicht im m er nach einem vorgefaßten Plan. In echten Entscheidungssituationen richten sich die meisten nach dem, was 13
ihnen ihr U nterbew ußtsein eingibt — eine Erkenntnis der Wissenschaft! Ja, und was es ihnen eingibt,' entspricht nicht im m er den Gesetzen der Logik. Com puter können aber n u r logisch ,denken“ — m it anderen Worten: Das U nkalkulierbare im Menschen k an n kein A utom at berechnen, aber wir w issen’s, w enn wir’ gut sind, eventuell aufzuspüren. Und dam it sind wir wieder beim Them a beziehungsweise unserem Fall: Wir haben etwa ein Dutzend Zeugen befragt — h ast du nicht bem erkt, wie sie alle, wenn wir auf das V erhältnis P au l A nders — M anfred Holler zu sprechen kam en, über schwenglich deren F reundschaft hervorhoben?“ „Ich bin nicht blind u n d taub“, sagte Kalle. D er Kaffee w ar so gut, daß m an vom Schnuppern H erzklopfen bekam. Kalle tra n k ihn m it Zucker, das pulverte noch m ehr auf und w ar gleichzeitig, wie er meinte, ein gutes Vorbeugungsm ittel gegendie Grippe. „Wenn ich dich recht verstanden habe“, sagte er, „hältst du die Version H oller...“ „... wir brauchen die G utachtender Ballistiker und der G erichtsm ediziner“, fiel ihm Seppel ins Wort, „und w ir m üssen Erkundigungen einziehen — im D orf, auf der LPG. Stell d ir vor, w ir hätten keine Technik, keine Wissen schaft! Wie haben w ir das frü h er geschafft?“ Kalle verzog das Gesicht. „Jaja, frü h er“, sagte er, „da haben wir auch was geschafft: m it Geduld und S charfsinn und ewig langen Vernehmungen. Die B earbeitungsfristen sind uns davongelaufen, noch ’ne Verlängerung und noch eine! Ich meine, wenn du unter nostalgischen Gefühlen leidest, Seppel, dann kauf d ir ’ne Petroleum lam pe, m ir ist die Technik lieber.“ „Du bist ein B anause!“ Seppel gab ihm einen freundschaftlichen Rip penstoß. Sie begannen die Erm ittlungsergebnisse des ersten Tages unter dem G esichtspunkt der Einengung des Täterkreises auszuwerten. R ückert und Scheibler kam en nicht in Frage. Sie standen zu weit entfernt, und — wie die m aßstabgerechte, w inkelgetreue Skizze auswies — sie hätten sogar m it einem gezielten Schuß nicht Paul Anders, sondern eher M anfred Holler treffen müssen. Man brauchte n u r eine Verbindungslinie zu ziehen, um festzustellen, daß Holler als D eckungsschild vor A nders gestanden hatte. Die beiden m ußten sie also ausnehm en. Auch die Variante drei, den Frem dschützen vom gegenüberliegenden W aldrand, konnte m an ad acta legen: Zw eihundert Meter w aren zu weit fü r ein Brenneckegeschoß! Hinzu kam noch, daß alle B efragten einhellig versicherten, keinen Schuß von jenseits der Lichtung gehört zu haben. Etw as so Ungewöhnliches hätten ihre wachen Jägersinne bestim m t w ahrgenom m en. Und die Treiber, die das Wild auf die am W aldrand postierten Schützen zutrieben? N icht einer von ihnen tru g eine Waffe. A ußerdem befanden sie sich ständig in Sicht- beziehungsweise Ruf verbindung. Nein, auf die Treiber fiel auch nicht d er leiseste Verdacht. Übrig blieben einzig und allein F rau A nders und M anfred Holler, sie standen Anders am nächsten, sie w aren die ersten bei ihm, m erkw ürdigerw eise F ra u Anders eher als Holler. Mord aus Eifersucht? H atten Holler und F rau Anders nach gem einsam er A bsprache gehandelt? — D er V erdacht drängte sich auf, gleichzeitig aber wuchs bei den Krim inalisten ein Gefühl des Unbehagens: H atten es zwei intelligente, tüchtige Menschen u n ter unseren Verhältnissen nötig, auf eine solche Weise ihr Glück zu erreichen? 14
O berleutnant Beck betrachtete im m er w ieder die Skizze und die noch laborfrischen Tatortfotografien, schüttelte den Kopf, meinte, daß Holler letztendlich durch die äußeren Um stände, d u rch die am T atort Vorgefunde nen Bedingungen entlastet werde. „Er hätte d urch das Eichengestrüpp schießen m üssen!“ Kalle nickte. Zusam m en m it dem K rim inaltechniker Bredow hatten sie diese Möglichkeit an O rt und Stelle überprüft. S ehr gründlich. Und sie hatten nichts gefunden: kein angeschossenes Blatt, keinen gestreiften Zweig. Das trockene braune L aub hing so dicht an den Zweigen, bot n u r so wenige Lücken, daß es an ein W under hätte grenzen m üssen, w enn es Holler gelungen w äre, eine dieser winzigen L ücken zu erspähen und die Kugel gew isserm aßen ohne B lattberührung Paul A nders in die B rust zu schießen. „Vielleicht h a t es sich ganz anders abgespielt“, sagte Seppel nach einigem Überlegen. E r nahm die Fotos, auf denen die Lage, des Schwerverletzten durch K reide und in den W aldboden gesteckte T äfelchen m arkiert war. Alle Zeugen h atten bestätigt, daß A nders so gelegen hatte, Zeugenaussa gen und Spurensicherung stim men überein: A nders m ußte auf das Reh gezielt, also seiner F ra u den R ücken zugedreht haben, als ihn der Schuß traf — und d er tra f ihn von vorn! Niemals, das schien sonnenklar, h ätte F rau A nders den tödlichen Schuß abgeben können — von hinten durch die Brust? —, nein, unmöglich! „Aber d enkbar w äre doch“, sagte Seppel, „denkbar w äre doch, daß A nders gar nicht auf das Reh gezielt, sondern sich zu seiner Frau um gedreht hat, als au f das Reh geschossen w urde.“ Kalle blickte ihn verblüfft an. „Du m einst, daß sie ih n ...? “ , „Nur eine Version“, räum te Seppel ein, „aber es spricht was dafür: Sie w ar zuerst bei ihm, und, u m den V erdacht von sich abzulenken, kann sie den Schw erverw undeten in die entsprechende Lage gebracht haben, so d,aß es aussah, als hätte ihn d er Schuß beim Zielen auf das Reh getroffen.“ Wenn sie sich die B em erkung des LPG-Vorsitzenden in E rinnerung riefen, daß A nders näm lich ungern auf Tiere schoß und daß er n u r seiner F rau zuliebe dem Jagdkollektiv beigetreten w a r, dann ließ sich das ungewöhnliche Verhalten A nders’ erklären. Als passionierter Jä g e r h ätte er sich im ent scheidenden Augenblick gewiß nicht in die verkehrte Richtung gedreht! So gewann Seppels V erm utung an W ahrscheinlichkeit. Sie versprachen sich nicht allzuviel vom Ergebnis der Obduktion, die noch in der gleichen N acht stattfand, aber Ü berraschungen gab es im m er einmal. Das Bleigeschoß w ürde sicher deform iert sein, es kam darau f an, wie stark. Wenn die Schußsachverständigen S chartenspuren des Flintenlaufs entdekken und zu Vergleichszwecken nutzen könnten, d an n w ären alle F ragen m it einem Schlag geklärt,. Es roch nach Lysoform u nd K arbol in d er Pathologie, außerdem w ar da noch — nicht zu überlagern — der typische süßliche Geruch, der Gelegen heitsbesuchern wie Seppel und Kalle arg auf den M agen schlug. Ü ber dem weißabgedeckten Tisch b ran n te die OP-Lampe. Dr. Winter, ein stäm m iger M ittdreißiger, schlug das Tuch zurück und begann zu diktieren. Zunächst die äußeren Merkmale: K örperbau, Größe, scheinbares A lter des Toten, Zustand des K örpers, A rt und Lage der Verwundung. E r m achte seine Angaben schnell und fließend, dann griff er zu den Instrum enten. 15
M inuten später hielt er ein Stück Blei in der Zange, betrachtete es von allen Seiten u n d diktierte dann: „Brenneckegeschoß, stark verform t, in Längs richtung gestaucht. Eingesprengte K n ochensplitter...“ Er w andte sich an Beck u nd Kaluweit, und es klang, als wollte er ihnen sein Bedauern aussprechen, als er sagte: „An dem Ding kann kein Ballistiker m ehr feststellen, aus w elcher Waffe es verschossen w urde.“ Das w ar zu erw arten, enttäuscht w aren sie aber dennoch. „Jedenfalls hat er den Schuß direkt von vorn bekommen, der W undkanal verläuft fast w aagerecht“, sagte Dr. Winter tröstlich, „ich meine, diese Gewißheit ist ja auch was w ert.“ „Und die E ntfernung?“ fragte Seppel. „Schwer zu bestim m en bei diesen Projektilen, es spielen viele Faktoren mit. Ein N ahschuß w ar’s nicht, und m it letzter K raft h a t ihn die Kugel auch nicht m ehr erw ischt — ich w ürde sagen: zwischen dreißig und sechzig M etern.“ Am nächsten Tag w ar die V orführung des Rainer-Glokowski-Films ange setzt. D er A m ateurfilm er rutschte erw artungsvoll auf seinem hölzernen K lappstuhl hin u nd her. „Hoffentlich ist es was geworden“, m urm elte er einige Male vor sich hin, es hörte sich wie eine Beschwörungsform el an. „Es w ar höllisch kom pliziert“, erk lärte er O berleutnant Beck, der sich neben ihn an einen Schreibtisch setzte, „die verschiedenen Einstellungen und im m er w ieder Rißschwenk — hoffentlich ist es was geworden.“ „Im L abor sagte m an m ir, w ir könnten zufrieden sein“, beruhigte ihn Seppel. In W irklichkeit w aren er und Kalle genauso gespannt wie der kleine, quirlige Glogowski, d er bis zur letzten Sekunde, bis das Reh im Feuer lag, gefilmt hatte. Vielleicht hatte e r dabei den T äter aufs Zelluloid gebannt, vielleicht auch n u r ein p a a r Details, die Rückschlüsse zuließen. Kalle hatte den Film eingelegt, das Licht verlöschte, der P rojektor begann zu surren. Die Bilder auf d er Leinw and hatten fü r O berleutnant Beck und L eutnant K aluweit etwas Gespenstisches. D er gleiche Paul A nders, den sie gestern nacht steif und leblos auf dem Obduktionstisch gesehen hatten und dessen w ächsernes Gesicht, ihnen im m er noch vor Augen stand, bewegte sich im Kreise seiner K am eraden locker u nd gelöst, m an sah ihn lachen, einen Schnaps trinken, sah überh au p t nur vergnügte Gesichter. D er Film w ar brauchbar, n u r wenige unscharfe und überbelichtete Bilder flim m erten dazwischen. Glogowskis Blicke hingen wie gebannt an dem von ihm eingefangenen b unten Treiben rings um die Feuerstelle. E r gab knappe K omm entare, nannte m anchm al n u r die N am en der Akteure: „M arquard! — Ingrid! — Gustav! — Sehen Sie, ist das ein U nikum ?“ Nach der Kußszene zwischen Ingrid und M anfred Holler verstum m te er plötzlich. Seine K am era hatte etwas festgehalten, was ihm bei der Aufregung des D rehens in seiner B edeutung offenbar nicht recht bew ußt geworden war: Paul A nders saß ganz alleine am Feuer und blickte zu seiner F rau und M anfred Holler, zu der G ruppe hinüber, die m an soeben lachend, kauend, dem Jägerliebespaar vor der Strecke Beifall spendend gesehen hatte. „Stopp!“ sagte O berleutnant Beck. „Diese Einstellung noch mal!“ Der Film lief zurück bis zum entsprechenden Schwenk und zur T ransfocatorfahrt auf Anders. „Durch den alten G ustav w urde ich aufm erksam “, erklärte Glogow.16
ski, als die Einstellung zum zweiten Mal abrollte, „er h atte in die Richtung gezeigt und gerufen: ,Paulchen, bist du eifersichtich!1“ „Stopp!“ befahl der O berleutnant. U nbestechlich hatte die K am era den verbitterten, ja bösartigen Gesichts ausdruck P au l A nders’ festgehalten. „Sie meinen, daß er nicht eifersüchtig w ar?“ fragte O berleutnant Beck. „Aber nein!“ beteuerte der A m ateurfilm er m it einem Eifer, der sein E rschrecken vorhin vergessen m achen sollte. „Er w ird sich geärgert haben, nicht einen einzigen H asen h a t er geschossen! Und dabei hatte er sich einen neuen D rilling gekauft, eine herrliche Waffe, Sie sehen ja! A ber er w ar eben kein guter Schütze. Auf die Scheibe — komischerweise! —, ja, da tra f er im m er ins Schwarze, aber ein stehendes Ziel ist was anderes als ein bew egliches...“ O berleutnant Beck fan d diese B em erkung sehr interessant, überhaupt h atte sich das A nschauen des Film s jetzt schon gelohnt, doch er hob sich seine F ragen auf u nd ließ den Film w eiterlaufen. Was d an n folgte, w ar ein exakter film dokum entarischer Beleg vieler Zeugenaussagen: Ü bersichtsaufnahm en vom Hochsitz aus gemacht: die Schützenkette, Scheibler neben dem Hochsitz, dann R ückert, dann Holler an seiner Kiefer, A nders durch das Eichengestrüpp halb verdeckt, Ingrid A nders an d er W egkrüm m ung w ieder deutlich zu erkennen — Transfocato rfah rt —, die ersten Schüsse auf die Hasen, verrissene Schwenks, und plötzlich blickt die K am era zurück in den lichten Hochwald hinein: das Reh! Rißschw enk auf Scheibler, der das Wild erk an n t hat, der T ransf ocator zieht ru ck artig näher, Scheibler läd t einen L auf seiner Flinte m it einem Brenneckegeschoß — Rißschw enk —•, das Reh springt auf die Lichtung hinaus — Rißschw enk auf Scheibler —, er schießt und fehlt, das Reh läuft w eiter — Rißschw enk auf R ückert —, er legt an, d rückt ab u nd fehlt — das Reh läuft weiter. Glogowski, der fasziniert, m it offenem M und die Bilder verfolgt und kein W ort gesagt hat, rief plötzlich: „Jetzt! P assen Sie auf!“ Das Reh setzte in w eiten Fluchten über die Lichtung, m itten im Sprung bäum te es auf und b rach zusam m en. „Jetzt!“ rief Glogowski und schlug wie ein Zeitnehm er den A rm nach vorn. „In diesem Augenblick hörte ich den Schrei!“ D er Film w ar zu Ende, Kalle schaltete das L icht ein. „Ich habe sofort abgesetzt.“ D er kleine A m ateurfüm er w andte sich an die Kriminalisten, er w ar aufgeregt, die Worte sprudelten ihm n u r so hervor: „So w ar’s! Genauso! Ich wollte gerade vom Reh w eg auf die Schützenlinie schwenken, vielleicht erw ischst d u noch den glücklichen Schützen, dachte ich — Ingrid Anders, P au l A nders oder M anfred Holler, es kam kein anderer in Frage —, doch dieser Schrei, ich höre ihn jetzt noch! M itten im Schw enk setzte ich ab, Sie haben ’s ja im Film gesehen, u n d dann bin ich die Leiter ru n ter vom Hochsitz und hingelaufen. Ich w ußte erst nicht, w er es w ar, ob Paul oder H oller...“ „Augenblick, das verstehe ich nicht“, u n terb rach ihn der O berleutnant, „Sie hatten von da oben einen guten Ü berblick, haben Sie sich nicht vorher vergew issert, w er getroffen sein könnte?“ D er kleine Feldbaubrigadier w ar beleidigt. „Wenn Not am Mann ist, guckt 17
m an nicht erst lange durch die Gegend“, sagte er vorwurfsvoll. „Als vor drei Ja h re n der K uhstall gebrannt hat, der alte, m it dem Heuboden drüber, da habe ich auch nicht gefragt u nd geguckt, ob der D achstuhl zusam m enkracht. In solchen Situationen gibt’s nur eins: Retten, was zu retten ist! Und wenn erst ein Mensch in Not is t...“ „ ...ja ja , schon gut“, beschwichtigte ihn Seppel, „Sie können also nicht sagen, wo sich H err Holler und F ra u Anders befanden, als Sie den Hochsitz verließen?“ „Sie w erden zur Unglücksstelle gelaufen sein.“ Glogowski drehte nervös am m ittleren Knopf seiner L ederjacke herum. „Sicher sind sie hingelaufen — ich bilde m ir ein, Holler gesehen zu h a b e n .. „Aber Sie können es nicht m it Gewißheit sagen?“ „Nein. Aber falls Sie verm uten, daß H o lle r...“, er blickte von Beck zu Kaluweit und w andte sich an beide, „falls Sie ihn verdächtigen, wegen der Szene vorhin, Eifersucht und so: Ich sage Ihnen, er w ar’s nicht! Ich bin ja auch nicht ganz dumm, ich k ann m ir denken, was Sie eventuell denken. A ber Holler und Ingrid, ich kenne beide wie meine W estentasche, wir arbeiten zusammen, u nd wenn da was w äre — so was bleibt einem nicht verborgen.“ „Wenn da nichts w ar, brauchen Sie sich doch nicht so ins Zeug zu legen“, sagte Seppel m it einem Lächeln und erreichte dam it, daß Glogowski noch eifriger w urde. „Es gibt Leute, die im m er was zu tratschen haben“ erklärte er und drehte an seinem Knopf, „das ist auf dem D orf noch schlimmer als in der Stadt. Sie w issen ja, was so gequatscht w ird :,Warum h a t sie bloß den A nders geheiratet, w enn sie doch m it Holler zusammmensteckt! Einer reicht ihr eben n ic h t.. .‘ und so weiter, und so fort. Normaierweise brauchte m an kein Wort darü b er zu verlieren, aber jetzt, seit P aul tot ist, und u n ter diesen U m ständen. ..“ E r hatte den K nopf endlich abgedreht und betrachtete ihn verlegen, steckte ihn ein und blickte den O berleutnant wie um Entschuldigung bittend an. „Ich habe was gegen diese L ästerm äuler“, fuhr er ruhiger fort. „Das haben Paul und Ingrid u nd M anfred nicht verdient. Die drei haben sich prim a verstan den. Daß sich vor drei Jah ren zwischen Holler und Ingrid w as anzubahnen schien — mein Gott!“ E r w ischte diese Angelegenheit m it einer H andbew egung von der Schreibtischplatte. „Also w ar doch w as?“ hakte Seppel ein. „Ja, aber Holler nahm das nicht ernst, der nahm so was überhaupt nie richtig ernst, sonst w äre er nicht Junggeselle geblieben. D am als ging er dann zur Meisterschule, und die Ingrid h at eben Paul A nders geheiratet, den H ochfrequenzingenieür aus Kleestädt. E r hatte hier ein H äuschen hei uns, w irklich ein feiner Kerl, und die beiden paßten auch zusammen, die verstan den sich prächtig.“ „Und m it Holler verstanden sie sich auch prächtig“, w arf Seppel ein, „ist das nicht ein bißchen ungewöhnlich? O der w ußte Paul A nders nichts von deren ehemaligen Beziehungen?“ „Klar w ußte er das!“ D er A m ateurfilm er schien enttäuscht, daß ein K rim i nalist in so engen M oralbegriffen dachte. „Sie hatten sich j a zur gleichen Zeit um Ingrid beworben, und sie w aren nicht die einzigen, das M ädchen hatte 18
einen H aufen V erehrer, ich zählte auch dazu! Es gab welche, die reisten von weit her — M ühlm ann aus dem Bezirk Suhl etwa, ein Rinderzüchter, offiziell suchte er den E rfahrungsaustausch. H ätte sich P au l m it dem ganzen Verein der E nttäuschten Überwerfen sollen? Seine Ehe stimmte, er w ar glücklich. A ußerdem w ar er viel zu vornehm dazu, ja, er w ar ein vornehm er Mensch, ich meine, was Großzügigkeit und Edelm ut an b etrifft — solche Wörter gebraucht m an heute kaum noch —, aber er w ar wirklich ein edler Mensch, feinsinnig und s o .. „Und Holler? W ar d er auch so feinsinnig?“ „Ach was! Gegensätze ziehen sich an “, erk lärte Glogowski leicht verärgert. „Holler hatte das, w as Paul fehlte, gerade deshalb w urden sie gute F reunde.“ E r lehnte sich zurück und grübelte über etw as nach, und m iteinem m al hellte sich sein Gesicht auf. „H err O berleutnant“, rief er, „Holler kann es ja gar nicht gewesen sein. Gleich n ach d em Unfall h at er uns gesagt, daß er auf diese verfluchte überzählige Ricke zwar angelegt, aber nicht D am pf gem acht hat. Das ist doch ein Fakt, den Sie leicht ü b erprüfen können. Die W affen w urden eingesam m elt — seine Kugel m uß noch im L auf stecken.“ R ainer Glogowski w ar sichtlich froh, d aß ihm dieses wichtige, wie der m einte, jeden V erdacht ausschließende A rg u m en t eingefallen war. Seppel nickte ihm beruhigend zu.'„Sie steckt im L auf“, sagte er. „Alles in Ordnung, H err Glogowski, w ir danken Ihnen fü r Ihre Inform ationen und 19
dafür, daß Sie uns Ihren Film zur V erfügung gestellt haben. Sie haben uns dam it wirklich geholfen, H err Glogowski.“ Nachdem der A m ateur das Protokoll unterschrieben und sich verabschie det hatte, sahen sich O berleutnant B eck und L eutnant K aluweit Szene fü r Szene des Streifens noch einm al an. Den T äter hatte ihnen Glogowski nicht frei Haus geliefert, auch keine Details, die Rückschlüsse zuließen, dafür jedoch etw as anderes, sehr Wichtiges, ein mögliches Motiv! A nders w ar eifersüchtig! Wie er dort allein am Feuer saß und m it bösartigem A usdruck im Gesicht die K üsserei zwischen Holler und seiner F ra u beobachtete, das sagte genug, das widerlegte das Gerede des A m ateurfilm ers von angeblicher F reundschaft un d bestem Einvernehm en zwischen den dreien. „IcH h a b ’s ja geahnt“, stöhnte Kalle, der sich heute besonders w arm angezogen hatte. E r lüftete den dicken Rollkragenpullover, ließ die Ver dunklungsrollos hoch und riß die F enster auf. Ein Schwall feuchtkalter L uft drang in den stickigen V orführraum ein. Kalle m achte ein p a a r Kniebeugen und reckte, tief ein- und ausatm end, die Arme. „Du brauchst dir diese F rau doch bloß anzusehen...“ „G estern abend hast du ganz anders geredet“, bem erkte Seppel trocken, „da w arst du der Meinung, daß so ein gerader ehrlicher Kerl wie Holler unmöglich ein M örder sein k ö n n te ...“ „Tja“, sagte Kalle und hob die Schultern, „noch steht’s ja nicht fest. V erm uten können w ir ’ne ganze Menge, aber bew eisen...? Solangew irkeine Expertise von den Ballistikern haben, kom m en wir nicht weiter. Holler und F ra u A nders brauchen n u r schlicht bei ihren A ussagen zu bleiben.“ Seppel bog an seiner Brille herum , setzte sie wieder auf und schien endlich m it ihrem Sitz zufrieden. „Ich schlage vor, wir sehen m al nach, wie weit sie in der Ballistik sind“, sagte er. Der Schußsachverständige H auptm ann Siewert, weißbekittelt, hager und gelassen, empfing sie auf seine übliche, trockene Art. „N ur zwei M ann?“ Er zählte mit dem Finger ab, „wo bleiben die anderen? Ich denke, es kom m t eine Delegation?“ Seppel gab ihm einen freundlichen Rippenstoß. „Quatsch nicht, Rudi, wo sind die Ergebnisse?“ D er hagere Rudi verzog keine Miene. „Wenn ihr euch bem ühen w ollt...“ Er führte sie zum V ergleichsm ikroskop und schaltete die Beleuchtung ein. O berleutnant Beck setzte sich als erster auf den Drehschem el und preßte die Augen ans Okular. E r sah zwei Brenneckegeschosse im Lichtkreis: links ein deform iertes, rechts ein norm ales. Beide aber w iesen die gleichen S chartenspuren a.uf, die n u r u n ter dem M ikroskop sichtbaren Riefen und Rillen, die eindeutig bewiesen, daß beide Geschosse aus ein und demselben L auf abgeschossen w orden waren. „Das deform ierte haben w ir aus dem erlegten Reh geschnitten, das rechte daneben haben w ir aus dem rechten L auf der Frau-A nders-Flinte im W asserbeschußkasten abgefeuert“, erläuterte Rudi Siewert. Der W asserbeschußkasten w ar eine Eigenentwicklung der KI-Ballistiker. Sie w aren stolz darauf. Man konnte eine beliebige H andfeuerw affe einspan nen, autom atisch abfeuern, die Hülse auf fangen und das Geschoß schließlich 20
unversehrt, mit den typischen, unverw echselbaren S chartenspuren des jeweiligen L aufs gezeichnet, aus dem W asserkasten fischen. Seppel Beck ließ Kalle ans Okular. „Einw andfrei“, sagte Kalle, als er aufstand. Ingrid Anders hatte das Reh zur Strecke gebracht, d ara n gab es nichts zu deuteln. Ihre Kugel hatte getroffen. Das zu wissen w ar viel wert: Wenn sie das Reh erlegt hatte, konnte sie nicht auf ihren M ann geschossen haben. Es sei denn, sie hätte in beiden L äufen B rennecke gehabt oder unw ahrschein lich schnell nachgeladen. D er Schußsachverständige sagte m it Bestim m t heit: „Aus dem linken L auf h at sie n u r Schrot geschossen, sie hat die B rennecke aus dem rechten abgedonnert. Selbstverständlich hätte sie eine zweite im rechten L auf nachladen und auf ihren M ann schießen können, aber in Sekundenbruchteilen, m ehr standen ihr ja nicht zur Verfügung, schafft das der geübteste Schütze nicht.“ „Und Hollers Waffe? H abt ih r die a u c h ...“, fragte Kalle. H auptm ann Siewert nahm aus dem G ew ehrständer eine Doppelflinte, an d er ein beschriftetes P ap p k ärtch en hing. „D er M ann, der behauptet hat, nur Schrot verschossen zu hab en — das h at er doch?“ fragte er. „Mehrmals, und m it N achdruck“, bestätigte Seppel. „E r h a t gelogen! D er letzte Schuß aus dem rechten L auf w ar kein Schrot, sondern ein Brenneckegeschoß!“ „Wie bitte?“ Kalle glaubte, sich v erhört zu haben. „ Ja “, sagte H auptm ann Siewert, „bei einer ersten visuellen U ntersuchung 21
der beiden L äufe habe ich im rechten etwas entdeckt, das wie Spuren vom K unststoffstabilisator eines Flintenlaufgeschosses aussah. Ich habe in der Physik um eine gaschrom atische Analyse dieser Spuren gebeten.“ E r reichte ihnen das w issenschaftliche G utachten, und das w ar der endgültige, unum stößliche Beweis dafür, daß Holler eine falsche Aussage gem acht hatte: Nicht eine L adung Schrot, sondern eine Brennecke w ar beim letzten Schie ßen aus dem L auf geflogen. W ahrscheinlich hatte er nicht dam it gerechnet, daß ihm das nachgewiesen w erden konnte, und er hatte geglaubt, daß das zweite Brenneckegeschoß, das er schnell nachgeladen h atte und in der Waffe beließ, ein Beleg seiner U nschuld sei. „Junge, w as w ären w ir ohne euch!“ Seppel klopfte dem hageren Rudi auf die linke, Kalle klopfte ihm auf die rechte Schulter. Beide strahlten sie vor Zufriedenheit. Der Schußsachverständige w ar nicht em pfindungslos, wenn er auch bem üht w ar, G efühlsregungen nicht sichtbar w erden zu lassen, er gestattete sich ein kleines Grinsen. „Das Beste“, sagte er, „hebe ich m ir im m er bis zum Schluß auf.“ Im Dorf begegneten sie als erstem dem ABV. In seinem stram m sitzenden U niform m antel stand er an d er H auptstraße, gleich hinter dem Ortseingangsschild — es sah aus, als wollte er eine Verkehrskontrolle durchführen, denn er w inkte sie rechts ran. „D er ist verrückt! Ich bin genau fünfzig gefahren“, ereiferte sich Kalle. Seine B efürchtungen w aren jedoch unbe gründet, der VP-Meister Simon tra t sichtlich erfreu t an den Wagen. „Seit einer V iertelstunde w arte ich hier“, begrüßte er sie, „ich habe telefoniert und erfahren, daß Sie auf dem Weg zu uns sind. Es h at sich hier ’ne Menge getan inzwischen, leider nichts V ernünftiges.“ E r bewohnte ein altes, frisch verputztes B auernhaus gegenüber der roten Backsteinkirche. Fünfzig M eter w eiter befand sich das W irtshaus, ein historischer Fachw erkbau m it einem gewaltigen, steil aufragenden Schilf dach, in dem einst Gustav Adolf von Schweden übernachtet haben sollte. Seine Fenster w aren erleuchtet, obwohl es erst wenig über Mittag war. Vor der T ü r standen G ruppen diskutierender M änner in derbem Arbeitszeug. „Bei uns ist der Hund los“, sagte der ABV, als sie in seinem Arbeitszim m er saßen und die H ausfrau den G ästen Kaffee serviert hatte. „G estern abend fing’s an: Holler hätte Paul A nders erschossen! Irgend jem and h a t’s aufge bracht, u nd dann hat es sich rum gesprochen, zuerst hinter vorgehaltener H and, aber eine Stunde vor M itternacht w ar die schönste Prügelei im Gange. Ich rü b er und O rdnung geschafft: Die einen w aren fü r Holler, die anderen gegen Holler. ,Wir sind nicht im w ilden Westen1, hab ich gesagt, ,der Unfall w ird von der Kriminalpolizei untersucht, und wehe dem, der hier Gerüchte in Umlauf bringt, den pack ich am Arsch, der hat sich wegen böswilliger V erleum dung zu verantw orten, Wenn einer was Konkretes zu sagen hat, kann er jederzeit zu m ir kom m en“, habe ich gesagt, ,aber in der Kneipe sitzen, Schnaps saufen u n d einen anständigen Kerl, einen Aktivisten, einen, auf den ih r stolz w art, m it U nflat zu besehm eißen, das ist etwas, w ofür ihr euch bis in den A rsch hinein schäm en solltet!“ 1 D er VP-Meister Simon sprach eine derbe Sprache, Seppel und Kalle glaubten ihm, daß er dam it bei den G enossenschaftsbauern Erfolg hatte, daß sich die L ästerm äuler und G erüchteverbreiter tatsächlich beschäm t aus der 22
W irtsstube trollten. D och w as half das, w e n n —wie Simon versicherte — das Gerede zu Hause u nd auf den A rbeitsplätzen weiterging. Er konnte nicht hinter jedem als A ufpasser stehen, er konnte nicht verhindern, daß diese — um es kraß auszusprechen — M ordverdächtigungen Holler zu O hren kam en. „E r w ar d er einzige, der bei m ir antanzte“, sagte er und blies in seine K affeetasse. „Den M ann h ätten sie sehen sollen, d er w ar fertig! Käseweiß u nd zitternd vor Em pörung, vor ohnm ächtiger Wut! Was sollte er denn m achen? Sich auf den K irchplatz stellen oder vor die Kneipe und schreien: ,Ich w a r’s nicht!“ Und was konnte ich fü r ihn in dieser Situation tun?“ „Sie haben schon ’ne Menge für ihn getan“, sagte Seppel Beck und rückte an seiner Brille, doch das w ar nun nicht m ehr nötig, sie saß ja, er Matte sie hingebogen, „Sie haben w irklich ’ne Menge für ihn getan“, wiederholte er. Ih re G edanken überstürzten sich. Sie w aren gekommen, um Holler zur V ernehm ung zu holen, sie h atten Beweise gegen ihn in H änden, aber keine endgültigen Beweise. Es w ar doch anzunehmen, d aß Holler, wenn m an ihm vorhielt, zuletzt nicht Schrot, sondern B rennecke verschossen zu haben, sich m it einer neuen A usrede aus der Schlinge zog. Er brauchte bloß zu sagen: Ja , so w ar’s! A ber ich hatte Angst, ich fürchtete, daß m ir U nannehm lichkei ten entstehen w ü rd e n ... Nachzuweisen w ar ihm, daß er eine Brennecke abgefeuert-hatte. Nicht nachzuw eisen w ar ihm, daß dieses Brenneckegeschoß P aul A nders getötet hatte. Das w ar der Stand der Dinge! Holler w ußte nichts davon, was die K rim inalisten w ußten, aber w enn er stur blieb u n d sich geschickt verteidigte, w ar ihm d er M ord nicht nachzuweisen. O berleutnant Beck überlegte weiter: Solange nichts bewiesen w ar, hatte jedes Gerede, jede V erdächtigung zu unterbleiben. Im D orf aber und auf der A rbeitsstelle verdächtigte m an Holler offen des Mordes! Was w ar zu tun? Dem ABV die V erantw ortung überlassen fü r das, was im Dorf geschieht? Nein, Seppel tra f seine Entscheidung: Im Augenblick w ar es trotz des H aftbefehls, den sie in d er Tasche hatten, wichtiger, sich schützend vor Holler zu stellen, als belastendes M aterial gegen ihn zu sammeln. A uf dem B ürgerm eisteram t forderte er vom schnell zusam m engerufenen G em einderat und LPG-Vorstand, sich in diesem Sinne einzusetzen. E r hielt in dem m it Jagdtrophäen geschm ückten Sitzungssaal einen V ortrag über eines der w ichtigsten Prinzipien d er sozialistischen Strafrechtspflege: über die P räsum tion der Unschuld. Ein Prinzip, das besagt, daß jeder in einem T atverdacht stehende Bürger so lange fü r unschuldig anzusehen ist, bis seine Schuld im gerichtlichen V erfahren bewiesen und ein rechtskräftiges U rteil gegen ihn ergangen ist. Zweifel, die sich im L aufe d er U ntersuchung ergeben, sind nach dem G rundsatz „in dubio pro reo “ — „im Zweifelsfalle für den A ngeklagten“ — zu entscheiden. „M acht das m al euren L euten klar und sagt ihnen, daß nicht nur in Fernsehkrim is, sondern auch in der krim inalistischen Praxis oft genug ein Unschuldiger durch die V erkettung bestim m ter U m stände oder unglückli cher Zufälle in V erdacht g erät — alles spricht gegen ihn! Im Flim m erkrim i weiß m an m ehr oder weniger schnell: D er ist es nicht, der kann es gar nicht 23
sein! Und dann w arten die Zuschauer gespannt und oft auch voller Mitgefühl d arauf, wie dieser schw er B elastete entlastet und der Fall schließlich geklärt wird. D arauf w arten sie im Krim i — im Leben aber, fü r einen Kollegen aus ih rer Mitte, bringen gewisse Leute weder Verständnis noch Mitgefühl auf.“ Seppel blickte in die ihm zugew andten Gesichter. D er LPG-Vorsitzende G erhard M arquard zupfte nervös an seinem Seehundsbart, er fühlte sich anscheinend unm ittelbar angesprochen: N ur einer aus seinem Jagdkollektiv konnte ja das Gerede gegen Holler in U m lauf gebracht h a b e n ... „Wir leben nicht m ehr im M ittelalter und führen keine Hexenprozesse“, sagte Seppel und sah voller Genugtuung, daß er sie m it seinen Worten erreicht hatte. Der alte Gustav m eldete sich zu Wort. „Dat is allens k la r“, sagte er beifällig nickend, „doch was is, w ann sich herausstellen tut, daß es der Holler doch jewesen w ar? D ann zeigen sie uns alle ein Vögelchen!“ E r legt seinen Priem in den kippengefüllten A schbecher und ließ die lautstarken Vorwürfe, die auf ihn einprasselten, ruhig über sich ergehen. „Moment!“ Seppel hob die H and, es tra t Ruhe ein. „Haben Sie Kinder, haben Sie einen Sohn?“ fragte er. „Jawoll!“ antw ortete der Alte stolz. „Ich habe vier Söhne jehabt, zweie sind jefallen, aber von den anderen beiden habe ich neun Enkelchens!“ „G ratuliere“, sagte Seppel lächelnd, rückte doch noch m al an seiner Brille und w urde w ieder ernst. „Stellen Sie sich vor, einer Ih re r Söhne hätte an Hollers Platz gestanden — w ürden Sie ihn verdächtigen und für einen M örder halten? Ganz bestim m t nicht! Sehen Sie, und Hollers Vater, wenn er hier wäre? Was m einen Sie, was der täte, wenn jem and im Dorf erzählte, sein Sohn hätte P au l A nders erschossen und sei ein M örder?“ G ustav hatte plötzlich begriffen, was es m it der P räsum tion der Unschuld auf sich hatte. A ber O berleutnant Beck w ar nicht recht froh über seinen Erfolg. Als sie durch die trüben D orfstraßen zu Hollers Wohnung gingen, kam er noch einmal auf den alten Feldbaubrigadier zu sprechen. „Ich kann ihn ja verstehen“, sagte er, „und die anderen denken sicher genauso wie er: E rst verteidigen w ir Holler und ziehen einen Wirbel auf, und zum Schluß — riehme ich jedenfalls an — entlarven wir ihn doch als T äter.“ „Wenn du wüßtest, wie gut du w arst“, sagte Kalle anerkennend, „morgen weiß jeder im Dorf, was Präsum tion der Unschuld ist, und überm orgen weiß m an’s im ganzen Kreis und darü b er hinaus — ob wir Holler entlarven oder nicht, spielt nicht m ehr die Rolle. Wenn ja, um so besser: D ann haben w ir am extrem en F all bewiesen, wie ernst es uns dam it ist.“ Der Kfz-Meister tra t bei seiner V ernehm ung recht selbstbew ußt auf. Er w ar empört, daß m an ausgerechnet ihn noch einmal holte, w ährend es doch — seiner unm aßgeblichen Meinung nach — für die K rim inalisten bestim m t Wichtigeres zu tun gäbe. Kalle, der am Nebentisch protokollierte, w ar m it dieser E röffnung ganz zufrieden. Je höher das Roß, auf das sich einer setzt, um so tiefer der Fall. M ancher kom m t überh au p t nicht m ehr auf die Beine, w enn m an ihn unsanft herunterholt — das w ar eine alte E rfahrung, und Seppel, der die V erneh m ung führte, hielt sich daran. Bescheiden und zurückhaltend, wie es seinem 24
Aussehen und seinem Wesen entsprach, fragte er, ob Hollers Beziehungen zu F ra u A nders in letzter Zeit nicht etwas intim er geworden sein könnten? Ein vernichtender Blick tra f ihn. Holler setzte sich gerade hin, als hätte er einen Stock verschluckt ^und ließ erkennen, daß er fü r den bebrillten O berleutnant und seine beleidigenden Fragen n u r G eringschätzung em p fand. „Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich m it F ra u A nders vor ihrer Ehe kurzzeitig zusam m en w ar“ — die Art, wie er sprach, deutete an, daß ihm nichts an einem vertraulichen G espräch gelegen w ar — „seitdem ist Schluß, habe ich Ihnen erklärt, seitdem verband m ich eine echte Freunschaft mit Paul und Ingrid A nders. B edarf es noch w eiterer W orte?“ E r saß sehr selbstbew ußt auf seinem hohen Roß. „Es ist ja nur wegen des möglichen Motivs“, gestand Seppel leicht verlegen. „Was soll das heißen“, b rauste Holler auf, er w urde rot im Gesicht, die H alsadern schwollen ihm an. „Motiv? W ofür ein Motiv?“ O berleutnant Beck ging nicht d arau f ein. „H err Holler, wie w ar das, als das Reh aus dem Wald b rach und links und rechts die Schüsse fielen—was haben Sie getan?“ fragte er. „Das habe ich bereits zu Protokoll gegeben. Wollen Sie mich noch öfter danach fragen?“ „Wenn’s sein m uß“, sagte Seppel sanft und lächelte freundlich. Widerwillig zählte Holler die Fakten auf: „Ich feuerte auf den Hasen, hatte einen L auf frei, schob die B rennecke rein, backte an, und dann knallten S c h ü sse ...“ „Und Sie“, fragte Seppel, „hatten Sie den Finger krum m gem acht?“ „Nein, verdam m t noch m al!“ em pörte sich sein G egenüber. „Die Brennecke steckte noch im Lauf, meine Waffe w urde erst vom J agdleiter und später vom ABV sichergestellt. Wenn Sie sich die Mühe gem acht hätten, sie zu untersu chen, brau ch ten Sie nicht zu fragen!“ Seppel schlug auf den Tisch und sprang auf. „Jetzt habe ich genug“, brüllte er den ü b er diesen plötzlichen Um schw ung erschrockenen, ihn entgeistert anstarren d en Holler an. „Sie haben gelogen, von A nfang an haben Sie gelogen!“ E r ließ dem völlig V erw irrten keine Zeit, sich zu fangen. „Der letzte Schuß, den Sie abgegeben haben, w ar kein Schrotschuß, Sie haben eine B rennecke aus dem L auf gejagt!“ „Das ist nicht wahr! Das behaupten Sie!“ Holler w ar angeschlagen, er rang nach L uft u nd Worten. „Das ist n icht w ah r“, w iederholte er schließlich. O berleutnant Beck nahm das G utachten vom Schreibtisch, ging um den Tisch herum und hielt es Holler auf geklappt vor die Nase. „Bitte, überzeugen Sie sich“, sagte er, „das ist eine Expertise, die von unseren Ballistikern und Physikern angefertigt wurde. Als intelligentem M enschen m uß ich Ihnen doch nicht erklären, daß dieses G utachten vor G ericht B ew eiskraft besitzt? “ Hölfer sah hinein — Stem pel und U nterschriften, die Sätze, die er überflog, sagten ihm genug; E r reichte das Schriftstück zurück, senkte den Kopf und schwieg. Es w ar soweit. Kalle u nd Seppel verständigten sich durch einen kurzen Blick. Eine letzte F rag e noch, die A ufforderung, sein Gewissen zu erleich tern, alles zu gestehen — u n d H oller w ürde reden, so schnell sich alles von der Seele reden, daß m an M ühe hatte zu protokollieren. Ein k larer Fall! 25
Zur größten Ü berraschung der K rim inalisten jedoch gab sich Holler nicht geschlagen. E r w arf den Kopf auf und blickte dem O berleutnant fest in die Augen. „Ich habe nicht auf Paul geschossen“, behauptete er. „Ich habe einen Fehler gem acht, indem ich etw as verschwiegen habe, das gebe ich zu. Ich habe auf das Reh geschossen, viel zu hastig, ich m uß es gefehlt haben. D ann hörte ich den Schrei. Paul, dachte ich, es kann n u r Paul sein.“ E r m achte eine wirkungsvolle Pause und w artete wohl auf Zustimmung. Doch Seppels Blick sagte nichts, er setzte sich w ieder hinter seinen Schreib tisch. „Ja, so w ar es“, bekräftigte Holler. „Ich habe nicht auf Paul gehalten, ich hatte das Reh im Visier. A ber dieser Schrei, versuchen Sie mich zu verstehen, Genosse O berleutnant: Ich schieße auf das R e h , und in der gleichen Sekunde ein Schrei, links neben m ir Paul! Vierzig Meter entfernt!“ Er steigerte sich, sprach schneller und eindringlicher: „Sie w erden sagen, das ist kein G rund durchzudrehen, aber ich drehte durch! Entschuldigen Sie, ich hatte ihn nicht getroffen, ich konnte ihn nicht getroffen haben, und doch hatte er geschrien! Heller Wahnsinn, was ich getan habe, aber es w ar wie’n rasendes Karussell! Ich m ußte springen, schnell raus, egal wie! Und so’n Sprung — verstehen Sie? —, das ist wie was Endgültiges, den kann m an nicht rückgängig m achen. Als ich gesagt hatte: ,Ich habe nicht auf das Reh geschossen“, da w ar’s eben passiert, und ich m ußte dabei bleiben. Bei dieser Aussage bleiben, verstehen Sie?“ „Wir haben die Hülsen von vier Schrotpatronen gefunden, das deckt sich m it Ihren A ngaben“, sagte O berleutnant Beck. Es w ar eine nüchterne, sachliche Feststellung. „Wo ist denn nun die Hülse von dem Brenneckegeschoß?“ fragte er w eiterhin ruhig. Holler hob die Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht habe ich sie weggeworfen.“ „Na, dann überlegen Sie mal, vielleicht fällt Ihnen das w ieder ein. Vielleicht fällt Ihnen auch eine neue Story ein, eine andere als die vom Karussell. Sie haben jetzt genügend Zeit, in aller Ruhe nachzudenken.“ Holler schrak zusammen, er duckte sich wie unter einem Schlag. „Soll das heißen“, stieß er hervor, „soll das heißen, daß ich hierbleiben m uß?“ „ Ja “, sagte O berleutnant Beck und legte ihm das Protokoll zur U nterschrift vor. „Sie stehen in dringendem Tatverdacht, Paul A nders erschossen zu haben.“ Holler bekam einen Tobsuchtsanfall. Er sprang auf, rollte wild m it den Augen, schlug um sich und brüllte: „Ich habe ihn nicht erschossen! Ih r habt kein Recht, mich hierzubehalten. Ih r seid ...“ Es w aren unfeine A usdrücke, die er gebrauchte. Leutnant Kaluweit packte ihn mit einem Judogriff, die H andschellen schnappten zu. Holler tobte schlim mer als zuvor, w arf sich hin und her, stieß m it den Füßen, m it dem Kopf und brüllte. „Uff“, sagte Kalle, „der Mann ist krank, aber w ir m üssen w arten, bis der A rzt kommt.“ Der Arzt kam. Holler, den sie im m er noch festhielten, wollte erneut renitent werden, aber er erhielt eine Beruhigungsspritze und w urde abtransportiert. „Sagen Sie, Doktor, was ist m it dem Holler los? D er Mann w ar völlig 26
nüchtern, h at keinen Tropfen Alkohol getrunken und gebärdet sich wie rasen d — ist das norm al?“ D er Polizeiarzt ließ sich berichten, wie es zu diesem Zwischenfall kam, dan n w iegte er den Kopf und sagte: „Ja, w enn es so ist? Wenn Sie ihm eröffnet haben, daß er unter M ordverdacht steht. A usgesprochene K raftnaturen vertragen’s nicht, daß ihnen krasses U nrecht geschieht oder — was im Endeffekt aufs selbe rau släu ft — d aß ihnen begangenes U nrecht nachgewie sen wird. D ann k ann m anch einer, der sich sonst sehr beherrscht gibt, zur rasenden Wildsau w erden, um in d er Jägersprache zu bleiben. Es kann nicht sein, was nicht sein d a rf — nach diesem Motto etwa, will sagen, der Mann m uß nicht k ran k sein. A ndererseits“, m it einem Lächeln nahm e r seine eben gem achten Ä ußerungen w ieder zurück, „andererseits kann e r natürlich auch ganz schön durcheinander sein, ab er das m üssen die Psychiater entscheiden.“ Das psychiatrische G utachten, das nach zwei Tagen vorlag, bestätigte dem Kfz-Meister M anfred H oller volle körperliche und geistige Gesundheit, sein A nfall von Raserei w ar lau t G utachten ein d urch seelische Belastungen bedingter stark er Affekt. D am it schien eigentlich schon d as Urteil über Holler gesprochen. E r w ar fü r seine H andlungen voll verantw ortlich. Falls er versucht hatte, gelegentli che geistige U nzurechnungsfähigkeit als strafm ildernde Gründe ins Treffen zu führen, w ar ihm das gründlich m ißlungen. Ob er noch hartnäckig leugnete oder nicht, w ar für das V erfahren von untergeordnter Bedeutung: Oberleut27
n an t Beck und L eutnant K aluweit h atten inzwischen eine Aussage der F rau Ingrid A nders zu Protokoll genommen. Die junge Witwe w ar in einem schlichten schwarzen Kostüm erschienen. Eine bildschöne junge Witwe, zart und zerbrechlich und schutzbedürftig. E rn st und gesam m elt nahm sie Platz, schlug die Beine nicht übereinander; O berleutnant Beck aber sah auch so — bei der Kürze ihres Rockes —, daß sie hervorragend geform te Beine hatte. Er ignorierte die Beine, das hübsche Gesicht, ließ sich auch nicht durch den Zug stillen Leids, der dieses Gesicht nahezu m adonnenhaft v erklärt erscheinen ließ, erweichen. U nbeeindruckt wie ein Gerichtsvollzieher teilte e r der T rauernden mit, daß der Freund des Hauses, H err M anfred Holler, höchstw ahrscheinlich der M örder ihres M annes sei. Sie hielt sich tapfer und brach erst zusammen, als sie die G utachten der Ballistiker und Physiker gelesen hatte, die auswiesen, daß Holler entgegen seiner Behauptung ein B renneckegeschoß abgefeuert hatte. Sie heulte nicht, ihr Z usam m enbruch w ar anderer Art. Sie wandte den Kopf zum F enster u nd blickte hinaus. Einige Male atm ete sie schwer. Und so — aus dem Fenster blickend — begann sie tränenlos, dann und w ann einm al stockend, ih r G eständnis abzulegen. Holler w ar ihre große Liebe. D en H ochfrequenzingenieur Paul Anders hatte sie n u r geheiratet, weil sie sich von Holler im Stich gelassen fühlte. N ur aus Trotz. Aber sie schätzte Paul Anders wegen seiner menschlichen Q ualitäten, und weil er sie bedingungslos liebte; deshalb konnte sie sich nicht entschließen, die Scheidung einzureichen. Ihre Beziehungen zu M anfred Holler hatte sie kurz nach der Hochzeit wieder aufgenommen. M anfred Holler h atte sie gedrängt. E r verlangte, daß sie sich von A nders trenne, klare V erhältnisse forderte er: Schluß m it der Lüge, der Verstellung, dem Betrug! Paul A nders w ar nicht sein Freund, nein. E r haßte, oder richtiger, er verachtete ihn; nicht zuletzt deshalb, weil Paul A nders seit langem wußte, daß er hintergangen w urde und nichts unter nahm , weil er schwieg und sich dam it begnügte, daß Ingrid bei ihm blieb. W arum sie einer Entscheidung ausgewichen sei? F ra u Anders sah den O berleutnant fragend an. V erstand er sie nicht? Sie h atte sich doch k lar entschieden? Wenn ihr M ann die Scheidung gewünscht hätte, dann hätte sie eingewilligt. D a er sie aber nicht wünschte, blieb sie bei ihm. Das hatte sie M anfred Holler unm ißverständlich zu verstehen gegeben. Nicht im entfern testen hatte sie dabei an einen so schrecklichen Ausgang gedacht, unfaßbar auch jetzt noch für sie, daß Holler ein Mörder sein sollte, aber d aran gab es ja angesichts des vorliegenden Bew eismaterials nichts m ehr zu zweifeln. „G ratuliere“, sagte Walter R einhardt anerkennend, als sie ihn über den Stand d er Erm ittlungen inform iert hatten. „Ihr habt alles zusammen: Sachverständigengutachten, Hollers Teilgeständnisse und nun auch noch ein klares Motiv. Wie h at er denn die Aussage d er F rau A nders aufgenom m en?“ „Bem erkensw ert ruhig“, sagte Seppel Beck und rieb sich das Kinn. „Viel zu ruhig. Vor ein p a a r Tagen spielte er verrückt, heute tu t er völlig abgeklärt. Du w irst aus dem M ann nicht schlau. Wir haben ihm klargem acht, daß er 28
auch ohne Geständnis verurteilt w erden kann. D arauf hat er m it den Schultern gezuckt u nd gesagt, daß er sich dam it beinahe schon abgefunden habe, aber er könne nicht etwas eingestehen, w as er nicht begangen habe. Punktum ! E r hätte ein V erhältnis mit der A nders gehabt, er hätte auch wiederholt gedroht, k la r Schiff zu m achen, w enn sie zu feige oder aus ihm unverständlichen G ründen zu inkonsequent dazu w äre, aber Paul A nders zu erschießen, das w äre ihm nie in den Sinn gekommen. E r könne nur wiederholen, daß er auf das Reh gezielt und auf das Reh geschossen habe.“ „Und was nun?“ fragte Walter. „Wollt ihr den Schlußbericht schreiben, oder habt ihr doch noch irgendwelche Zweifel?“ O berleutnant Beck nickte L eutnant K aluweit zu, und Kalle gestand nicht ohne Verlegenheit, daß er noch Zweifel habe. B egründen könne er sie nicht. „Es ist — ich weiß auch nicht —. Es ist reine G efühlssache“, sagte er. „Uns fehlt die fünfte P atronenhülse zum Beispiel, die vom Brenneckegeschoß. Wir haben sie weder im Wald noch in Hollers Taschen oder seiner Wohnung gefunden, das hat vielleicht nichts zu bedeuten, aber irgendwo m uß sie ja sein. Ich w erde eben, verdam m t noch mal, das Gefühl nicht los, daß uns Holler noch was verschw eigt.“ „Na, dann m üßt ih r w eiterm achen“, sagte Walter. „Wenn du schon m al Gefühle hast, d arfst d u sie nicht unterdrücken.“ E r lächelte ironisch und strich sich übers kurzgeschnittene graue H aar. „Und w enn ihr noch mal in den Wald zieht, d ann fordert ein M inensuchgerät an — ich bitte darum !“ L eutnant Kaluweit hatte im stillen gehofft, daß die Patronenhülse auf eine überraschende Weise die Wende in diesem Fall bringen kö n n te—eine Wende zugunsten Hollers. Als die Spezialisten m it ihren hochem pfindlichen Suchgeräten endlich die H ülse gefunden hatten, schien der Fall tatsächlich endgültig geklärt. Eine Wende, wie sie L eutnant K aluweit erhofft hatte, w ar allerdings nicht eingetreten, im Gegenteil: Wenn noch etwas gefehlt hatte, den Kfz-Meister Holler des M ordes zu überführen, dann w ar diese Hülse der letzte, schlagende Beweis. Zwanzig M eter im W aldinnern, in einem dichten, sperrigen B rom beerge strüpp, lag die Patronenhülse. N icht w eit davon entdeckte O berleutnant Beck am Rande einer Wildschweinsuhle Schuhabdrücke, die m it großer W ahrscheinlichkeit von Holler stam m ten. „Hier h a t er gestanden, von hier aus hat er die Hülse ins B rom beergestrüpp geworfen, anders ist es undenk bar“ , sagte Seppel. „Und n u n schau m al zur L ichtung“, forderte er Kalle auf. Kalle ta t es, er w ar verblüfft: D urch keinen Baum stam m , kein Gebüsch verdeckt sah er den gelbflam m enden Eichbusch, neben dem Paul A nders gestanden hatte! „Das ist — das ist unglaublich!“ sagte er und wandte sich Seppel zu. D er nickte. „Jetzt wissen wir, w arum er sich partout nicht erinnern konnte, wo die Hülse vom Brenneckegeschoß geblieben ist. Ganz so dilettan tisch, wie w ir m anchm al dachten, h at er die Sache nicht inszeniert.“ Es bedurfte keiner langen E rörterungen m ehr, der Tatvorgang lag — so sah es jedenfalls a u s—k lar auf der Hand: Holler hatte den ihm zugewiesenen Platz am W aldrand verlassen und w ar in den Wald hineingelaufen, bis er freie Sicht auf A nders hatte. D ann hatte er geschossen, als guter Schütze auch getroffen, hatte die Hülse ins G estrüpp gew orfen und w ar zurückgerannt, um sich ü b er sein O pfer zu beugen und lauthals auf der Lichtung „Unfall!“ 29
zu rufen. „W ahrscheinlich h a t er das Reh, das aus dem Wald herausgedrückt wurde, als erster bem erkt,“ sagte Seppel zusam m enfassend. „Als erfahrener Jäg er w ußte er, daß in den nächsten Sekunden die A ufm erksam keit aller Schützen n u r dem Reh galt — und die Rechnung ging ja auch auf, wie wir wissen: N icht m al Glogowski, der A m ateurfilm er, konnte uns sagen, ob Hol ler — als die Schüsse fielen — auf seinem Platz stand oder nicht.“ L eutnant Kaluweit lüftete den K ragen seines dicken grauen Pullovers. „Entschuldige, m ir wird ganz heiß“ , sagte er, dabei w aren es n u r zwei G rad über Null, und die Luft w ar feucht und diesig, „das kann nicht die Lösung sein! Ich w ar der erste, der von Hollers Schuld überzeugt w ar, zugegeben, Seppel, zugegeben! Und w enn du mich für einen Spinner hälst: Jetzt bin ich’s nicht mehr!“ „Und w arum nicht m ehr?“ fragte Seppel, leicht die Stirn runzelnd. „Weil ich’s m ir nicht vorstellen kann!“ Kalle m aß im m er wieder m it seinen Blicken die E ntfernung zum Eichengestrüpp. „Dieser Holler ist ein Kerl, dem m an alles Zutrauen kann: E r hält ein durchgehendes Pferd auf, er verdrischt seine F rau, wenn er eine h a t — ich weiß nicht, w as er alles m achen könnte! N ur eins bringt er meiner Ansicht nach nicht fertig: Dieses Hin und Her, um einen M enschen heim tückisch zu erschießen, das p a ß t nicht zu ihm, verstehst du mich?“ Seppel hatte ihm nicht m ehr zugehört — so schien es —, auch er hatte, wie Kalle zuvor, im m er w ieder durch die Stäm m e zur Lichtung geblickt, aller dings in einem anderen Winkel. N un lächelte er plötzlich. „Mach m al P ause“, sagte er, schlug Kalle auf die Schulter und schickte einen der K rim inaltech niker auf die Lichtung. „Pflanzen Sie sich dort auf, wo das Reh gelegen h a t“, wies er ihn ein, „ die M arkierungstafel steckt noch im Boden — stellen Sie sich genau davor!“ „Siehst d u “, sagte Seppel, als sich der K rim inaltechniker auf der Lichtung postiert hatte, „Holler hätte auch auf das Reh halten können.“ Das w ar die zweite große Ü berraschung: Von der Wildschweinsuhle, an der sie standen, h ätte Holler nicht n u r freies Schußfeld auf P aul A nders, sondern auch auf das Reh gehabt. „Nehmen w ir an, e r h at auf das Reh geschossen“, sagte Seppel, „Nehmen wir das a n ...“ „ ... dann k an n die Kugel einen Zweig gestreift haben und abgelenkt w orden sein“, ergänzte Kalle. Genauso w ar es! Sie fanden auf der direkten Linie von ihrem S tandpunkt zur Stelle, an der das Reh zusam m engebrochen w ar, einen geknickten Birkenzweig. D er Zweig gehört einer jungen, vom Rotwild verbissenen Birke; kahl und blattlos, wuchs er aus dem niedrigen Unterholz schräg in die Höhe. „Wenn die Kugel diesen Zweig gestreift hat, Genosse O berleutnant“, sagte der K rim inaltechniker Bredow m it seiner üblichen Seelenruhe, „dann hat sie auch Spuren von Blei d arau f zurückgelassen — und die holen wir m it dem L aserstrahl h erunter.“ Eigenartigerweise sah M anfred Holler gar nicht sehr glücklich aus, als er mit den drei Genossen von der K in H auptm ann R einhardts Zimmer am runden Besuchertisch saß. E r hätte doch allen G rund gehabt, froh zu sein: 30
Die Physiker des KI hatten nachgewiesen, daß d er Birkenzweig von einer Bleikugel gestreift w orden war, es w ar erw iesen, daß dieser halbfingerstarke Zweig die Kugel um dreißig G rad abgelenkt hatte, so unglücklich abgelenkt, daß sie Paul A nders voll in die B rust traf. D er Kfz-Meister M anfred Holler der große, breitschultrige, kernige Mann, hörte wie geistesabwesend zu, er verzog das Gesicht, als ob er jeden Moment losheulen wollte. Sicher, es w aren die Nerven, d arau f m ußte m an R ücksicht nehm en, H auptm ann R einhardt hielt es aber dennoch fü r angebracht, dem von Selbstvorw ürfen schwer Geplagten noch einm al ernsth aft ins Gewissen zu reden. „Sie hatten kein V ertrauen zu uns“, sagte er, „w arum h aben Sie uns nicht gleich gesagt, daß Sie die Jagdordnung verletzt h atten und von dem Ihnen zugewiesenen S tandort ein Stück in den Wald hineingegangen sind und auch von dort geschossen haben?“ Holler schüttelte ein paarm al den Kopf, als verstände er sich selbst nicht mehr. „Das hätte m ir keiner geglaubt“, sagte er, „Sie nicht, ich selber hätte es nicht geglaubt, w enn m ir ein Jäger hätte weism achen wollen, daß er ausgerechnet zu Beginn der Jagd, daß ihn dann ein B edürfnis nach hinten in die Büsche treibt. Das ist, das ist zu prim itiv, so was gibt’s gar n ic h t...“ „Ja, ich w eiß“, sagte Walter R einhardt, und konnte sich eines Schmunzelns nicht erwehren, „wir wissen, daß Sie vor lauter A ufregung gar nicht dazu kam en. A ber w arum haben Sie uns das nicht gleich gesagt? Sie hätten sich, Sie hätten uns allen vieles erspart, H err Holler.“ D er Kfz-Meister nickte stum m . Als er sich verabschiedete, drückte er den K rim inalisten fest die Hand. „Ich habe Ihnen viel zu danken“, sagte er stockend, „ich habe über vieles nachzudenken — u n d ...“ Er brach ab, w andte sich schnell um u nd ging zur Tür. G erhard M arquard, der LPG-Vorsitzende, w ar gekommen, ihn abzuholen und m it dem Auto nach H ause zu fahren.
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Fnt2 Gottschalk
Blutiges Gold Alabjew ist in d er N acht geflohen. Endlich sind die Tungusen überzeugt, daß er und nicht Boris schuldig ist. Eine tagelange Verfolgung setzt ein, aber der M örder findet seine Strafe nicht.
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793 Lothar Barz Kalter Punsch fü r Axel A us A n gst und aus A b enteuerlust m öchte Axel zu Hottas „S m ilin g B o y s " gehören. Jedoch gerät er bald m it seinem G erechtigkeitsgefühl in Konflikt.
794 Viktor Astafjew Schäfer und Schäferin Die Handlung des Romans spielt im zweiten W eltkrieg. In kürzester Zeit v o lle n d e t sich die tragische Liebe zw ischen dem blutjungen Leutnant Boris und der liebensw erten Lussja.
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