Gay D. Carson, Ernst Vlcek, Neal Davenport & Earl Warren
Der Teufelseid Dorian Hunter Klassiker Band 10
ZAUBERMOND VE...
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Gay D. Carson, Ernst Vlcek, Neal Davenport & Earl Warren
Der Teufelseid Dorian Hunter Klassiker Band 10
ZAUBERMOND VERLAG
DAS BUCH Dorian Hunter ist es nach langen Wochen endlich gelungen, Trevor Sullivan, den ehemaligen Leiter der Inquisitionsabteilung, aus den Klauen der Dämonen zu befreien. Doch Hunter kann seinen Triumph nicht genießen, denn im Zuge der Ereignisse hat seine Gefährtin Coco Zamis eine verhängnisvolle Entscheidung getroffen und sich dem Fürsten der Finsternis angeschlossen. Ist Cocos dunkle Seite, ihr dämonisches Erbe, endgültig in ihr durchgebrochen? Dorian möchte zu gern glauben, dass sie ihre Entscheidung nicht freiwillig traf. Aber Cocos Aktion in London, wo sie in skrupelloser Weise einen Satanskult ins Leben ruft, um der Inquisitionsabteilung zu schaden, spricht eine andere Sprache. Zerrissen von Zweifeln reist Dorian nach Griechenland, wo Coco dem Fürsten Olivaro auf einer Schwarzen Messe den Teufelseid schwören soll. Hunter fiebert dem Augenblick der Wahrheit entgegen … ohne zu ahnen, dass die bitterste Stunde seines Lebens auf ihn wartet.
Was bisher geschah … Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor. Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen. Unterstützung in seinem Kampf erhält er durch den englischen Secret Service, den er von der Wichtigkeit seiner Mission überzeugen konnte. Der Service gründete die Inquisitionsabteilung, deren Leiter Trevor Sullivan seitdem auch Dorians Vorgesetzter im Kampf gegen die Dämonen ist. Ihr Hauptquartier ist die Jugendstilvilla in der Londoner Baring Road, die durch Dämonenbanner gegen einen Angriff der Schwarzen Familie gesichert ist. Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloß er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Teufel, der ihm daraufhin die Unsterblichkeit gewährte. Um seine Sünden zu büßen, verfaßte de Conde den »Hexenhammer« – jenes Buch, das im 16. Jahrhundert zur Grundlage für die Hexenverfolgung wurde. Doch der Inquisition fielen meist Unschuldige zum Opfer; die Dämonen, auf die de Conde es abgesehen hatte, blieben ungeschoren. Der Pakt galt, und als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, ging seine Seele in den nächsten Körper über. So ging es fort bis in die Gegenwart. Dorian Hunter begreift, daß er die Wiedergeburt de Condes ist. Es ist seine Aufgabe, den Dämonen nachzustellen und sie zu vernichten. Vielleicht ist dieser angeborene Dämonenhaß der Grund dafür, daß er sich nicht an die Vorgaben des Secret Service hält. Er jagt die Dämonen auf eigene Faust, und als die Erfolge ausbleiben, gerät der »Observator Inquisitor« Trevor Sullivan unter Druck. Die Abteilung wird aufgelöst.
Hunters engste Gefährten lassen sich durch die Rückschläge nicht schocken: Da wäre zunächst die junge Hexe Coco Zamis, die früher selbst ein Mitglied der Schwarzen Familie war, bis sie wegen ihrer Liebe zu Dorian den Großteil ihrer magischen Fähigkeiten verlor. Weiterhin der Hermaphrodit Phillip, der weder Mann noch Frau, weder Mensch noch Dämon ist und dessen hellseherische Fähigkeiten ihn zu einem lebenden Orakel machen – sowie der Puppenmann Don Chapman, der als Agent für den Service arbeitete, bis er von einem dämonischen Puppenmacher auf Zwergengröße geschrumpft wurde. Hunter gelingt es, seine dämonischen Brüder zu töten und Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, zu vernichten. Doch mit Olivaro steht schon ein Nachfolger bereit. Zwar ist seine Position innerhalb der Familie nicht unumstritten, aber das läßt ihn im Kampf gegen Dorian nur um so gewissenloser agieren. Er hat keine Skrupel, mit Hunter zusammenzuarbeiten, wenn es seinen Interessen dient – so zuletzt beim Kampf gegen die Dämonen-Drillinge, die Hunter mit Hilfe des Hermaphroditen Phillip vernichtete. Der neuste Schachzug Olivaros bringt Dorian Hunter an den Rand der endgültigen Niederlage. Der Dämonenkiller wird gezwungen, eine schwarzmagische Beschwörung durchzuführen, die ihn Leben und Seelenheil kosten kann. Dorian ahnt nicht, dass diese Beschwörung überflüssig ist, da Coco Zamis längst einen Pakt mit Olivaro geschlossen hat, um Dorian und seinen Gefährten das Leben zu retten. Im Gegenteil, Hunter muss annehmen, dass Coco ihn aus freien Stücken verlassen und sich Olivaro angeschlossen hat. Von Rachsucht und Selbstzweifeln getrieben, stellt er Coco eine tödliche Falle …
Vorwort Das erste Jubiläum kommt schneller, als man denkt … Sie halten gerade den zehnten DORIAN HUNTER-Band in Händen – einen Meilenstein des Erfolgs, den wir ausschließlich Ihnen, unseren Lesern, verdanken. Natürlich hoffen wir, dass sie der Serie auch in Zukunft die Treue halten und auf diese Weise noch für viele weitere Hunter-Bände sorgen. Manch einer wird an dieser Stelle eine nostalgische Rückschau erwarten, aber ich habe mich entschlossen, den Blick nach vorn zu richten, wo uns noch jede Menge Abenteuer erwarten. Dorian Hunter hat gerade erst damit begonnen, seine eigene Vergangenheit zu erforschen, sich seiner vielen Leben zu erinnern. Und auch seine Gegenspieler – allen voran Olivaro, der im vorliegenden Band seine Stellung als Fürst der Finsternis endgültig festigen will – haben noch jede Menge Überraschungen zu bieten. Zunächst einmal scheint es, als sei es Olivaro gelungen, Dorians Gefährtin Coco auf seine Seite zu ziehen. Sie agiert mit einer Konsequenz und Grausamkeit, die ihr bisher nicht zu eigen war. Hat Dorian seine stärkste Verbündete im Kampf gegen die Dämonen für immer verloren? Um diese Frage zu beantworten, muss man möglicherweise mehr über Coco Zamis wissen, ihr Leben vor der Bekanntschaft mit Dorian Hunter, als Hexe und Mitglied der Schwarzen Familie im Kreise ihres Clans. Wer mehr über diese Zeit wissen möchte – über Cocos Lehrjahre auf dem Schloss des Grafen von Behemoth bis zu ihrer Odyssee in den dämonischen Mittelpunkt der Erde und den Kampf ihrer Sippe gegen einen scheinbar übermächtigen Fürsten der Finsternis, Asmodi II. – der erfährt dies in der COCO ZAMIS-Serie, die zeitgleich zu DORIAN HUNTER erscheint. Ernst Vlcek und Neal Davenport haben darin die Rufe ihrer Leser erhört und Cocos Charakter den Raum und die Tiefe gegeben, die einer Figur wie ihr gebühren. Wie es übrigens das Schicksal so will, erscheint dieser Tage ausgerechnet der fünfte Coco-Zamis-Band, »Des Teufels Günstling«. Als wäre es mit dem einen, größeren Jubiläum wirklich noch nicht genug … Dario Vandis
Erstes Buch
Der Satanskult von Gay D. Carson
Albert Einstein machte Schwierigkeiten wie immer. Der Schöpfer der Relativitätstheorie verhedderte sich diesmal mit seinen Beinen und wollte um keinen Preis aus dem großen Schließkoffer. Erst nach einem energischen Ruck gab er seinen Widerstand auf und nahm oben auf der Kante des hochgeklappten Kofferdeckels Platz. Jerry Lewis grinste und schielte wie gewöhnlich, als er auf dem Deckel abgesetzt wurde. Churchill verlor seine Zigarre, Charlie Chaplins Melone landete auf der Erde, Maria Stuart flirtete gekonnt mit Napoleon, während Heinrich VIII. sehr ungeniert in den tiefen Ausschnitt von Liz Taylor schaute. Monty Cooke übersah diese Feinheiten. Er hatte täglich mit diesen Personen der Zeitgeschichte zu tun. Sie waren seine Geschöpfe, die ihre Existenz seinem Können und seiner Geschicklichkeit verdankten. Er allein hatte sie geschaffen und gekleidet. Er verteilte sie auf dem Deckel des großen Schließkoffers und kontrollierte sie wie immer vor seinem Auftritt. Es handelte sich um Handpuppen, die etwas über einen Meter groß waren. Sie konnten die Augen bewegen und den Mund öffnen, sie vermochten Grimassen zu schneiden und waren in der Lage, mit ihrem Schöpfer zu reden. Doch das schafften sie nur, wenn Monty Cooke es wollte. Er war nämlich Bauchredner und in seinem Fach absolute Spitzenklasse. Monty Cooke war siebenundzwanzig Jahre alt, etwa ein Meter siebzig groß, hatte rotes Haar und eine prägnante Nase. Sein Gesicht erinnerte an das einer Marionette aus kantigem Holz. Nachdenklich und ein wenig verträumt war der Blick der dunklen Augen. Monty Cooke war an diesem späten Nachmittag ein wenig nervös. In wenigen Stunden sollte die Premiere hier in London stattfinden. Er wusste, dass er es mit einem äußerst verwöhnten und kritischen Publikum zu tun hatte. Er musste perfekt sein, wenn er bestehen wollte. Monty Cooke hatte bisher nur in den Staaten gearbeitet und war dort auch im Fernsehen aufgetreten; doch das alles war nichts gegen diese Premiere hier im Piccadilly. Er setzte sich vor den Schminkspiegel und versuchte sich zu entspannen. Das Licht in der halbdunklen Garderobe schaltete er bewusst nicht ein. Cooke griff nach der Reisetasche, die neben dem
Garderobentisch auf dem Boden stand, öffnete sie und holte eine flache Taschenflasche hervor. Er schraubte den Verschluss auf und trank einen Schluck von dem einfachen, billigen Brandy, den er bevorzugte. Der Alkohol wärmte seinen Magen, schuf ein wohliges Gefühl, konnte die Nervosität allerdings nicht betäuben. Nun, im Grunde kannte er diesen Zustand. Vor jedem Auftritt schüttelte ihn das Lampenfieber; erst auf der Bühne war die Angst schlagartig verschwunden. Dann brillierte er und riss sein Publikum zu Stürmen der Begeisterung hin. Wenn seine großen Handpuppen auf seine Fragen reagierten und antworteten, dann fühlte er sich in seinem Element. In diesen Augenblicken wurde er zu Churchill oder Napoleon, zu Heinrich VIII oder zu Liz Taylor. In solchen Augenblicken überschritt er die Grenzen seiner eigenen Identität. Er schlüpfte in seine Puppen hinein, war dann wie selbstverständlich in der Lage, selbst den Tonfall seiner Geschöpfe perfekt zu variieren. Nein, das Lampenfieber blieb. Und hinzu kam jetzt noch eine Angst, für die er keine Erklärung fand. Sie hatte nichts mit einem möglichen Versagen zu tun. Es war die Angst vor einer unheimlichen Bedrohung. Sie nistete in den dunklen Winkeln des Raumes, war nicht fassbar. Monty Cooke setzte die Taschenflasche noch einmal an die Lippen. Als er den Kopf leicht nach hinten bog, sah er unwillkürlich in den etwas fleckigen Spiegel über dem Schminktisch. Und plötzlich hatte er das Gefühl, dass seine Handpuppen ihn belauerten. Ihre eben noch toten Augen schienen voller Leben zu sein. Sie fixierten ihn, wirkten aggressiv. Sie funkelten spöttisch und wissend. Monty Cooke sprang auf und wandte sich hastig zu seinen Geschöpfen um. Nein, er hatte sich nicht getäuscht. Die Puppenaugen folgten seinen Bewegungen, voll Hohn und Spott. Monty Cooke reagierte automatisch. Er nahm die Flasche hoch und warf sie auf die Puppen. Er konnte das Ziel an sich nicht verfehlen; dazu war die Distanz viel zu gering. Und dennoch! Die Taschenflasche traf nicht eine Puppe. Die Geschöpfe des Bauchredners rückten fast lässig zur Seite. Wenigstens glaubte Monty, das gesehen zu haben.
Panik erfasste ihn. Er lief zur Tür, riss sie auf. Flucht! war sein einziger Gedanke. Er glaubte zu wissen, dass seine Puppen im nächsten Augenblick vom Koffer herabsteigen würden, um ihn anzugreifen. Der Türknauf zum Wandschrank bewegte sich. Langsam schwenkte die Tür auf, bewegt wie von einer unsichtbaren Hand. Cooke wollte weglaufen, doch er konnte es nicht. Wie festgeschmiedet blieb er stehen, starrte auf die Tür, wartete, dass sie grauenhafte Dinge preisgab. Nichts tat sich. Sie hatte sich nun vollends geöffnet und gab den Blick frei auf seine Bühnengarderobe. Da hingen der Frack, sein Schminkmantel, sein Straßenmantel und das Bajazzokostüm für die Kindervorstellungen. Normaler konnten keine Dinge sein. Cooke aber wusste, dass die Schranktür sich unmöglich von allein geöffnet haben konnte. Hatte er nicht das Drehen des Türknaufs gesehen? Der Frack bewegte sich jetzt; nur ein wenig zwar, aber deutlich genug. Er begann ganz leicht zu schaukeln. Und dann hob sich langsam der leere Ärmel, straffte sich und deutete warnend und zugleich anklagend auf ihn. Diesem Anblick war Monty nicht mehr gewachsen. Er stöhnte auf, konnte sich plötzlich wieder bewegen, drehte sich um und stürzte aus seiner Garderobe, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Er stieß mit einem großen, kompakten Mann zusammen, dessen fleischiges Gesicht gekünsteltes Wohlwollen ausstrahlte. »Was ist denn los, Monty?«, fragte der Mann, während er den Bauchredner an den Schultern festhielt und schnupperte. »Lampenfieber?« »Da – in der Garderobe«, stammelte Monty Cooke und wagte nicht, sich umzudrehen. »Da – in der Garderobe!« »Schön. Und was ist in der Garderobe?« David Hyde, der Mann mit dem fleischigen Gesicht, übte sich in Geduld, obwohl es ihm sichtlich schwer fiel. »Die Puppen! Und dann die Tür, David!« »Komm, sei ein braver Junge!«, bat Hyde. »Ich werde mal nachsehen, was los ist. Bleib hier!«
Monty Cooke lehnte sich gegen die Wand des Korridorganges und sah zur Seite. Er hasste diesen Hyde, der sein Manager war und von dem er nicht loskam; er hasste ihn und brauchte ihn gleichzeitig. Hyde, der jetzt die Garderobe betrat, war der Mann, der ihm die Steine des Alltags aus dem Weg räumte. »Alles in bester Ordnung, Monty«, rief Hyde aus der Garderobe. »Du kannst reinkommen.« Monty überwand seine Angst. David war ja nun da. Er drückte sich mit dem Rücken von der Korridorwand ab und ging sehr zögernd in die Garderobe zurück. Monty glich jetzt einem ängstlichen Kind. Zuerst sah er zu seinen Handpuppen hinüber. Aufgereiht saßen sie nebeneinander auf dem geöffneten Kofferdeckel, wirkten normal wie sonst. Und die Tür war geschlossen. »Hast du sie zugemacht?«, fragte er Hyde und deutete auf die Tür des Wandschranks. »Warum sollte ich?«, fragte Hyde erstaunt. »Sie war ja zu.«
Die Stimmung im Haus war gereizt. Marvin Cohen benahm sich besonders unausstehlich. Er hielt ein Glas in der Hand, stand am Kamin und musterte Phillip, der bereits unruhig geworden war. Der Hermaphrodit blätterte in einem dicken Bildband, war aber nicht ganz bei der Sache. Er schien zu ahnen, dass er wieder einmal herhalten musste, wie es in den vergangenen Tagen bereits mehrfach der Fall gewesen war. »Kapierst du überhaupt, was du da liest?« Marvin Cohen baute sich vor ihm auf und riss ihm den dicken Bildband aus der Hand. Er sah einen kurzen Moment hinein, blätterte darin herum und verzog dann spöttisch das Gesicht. »Machst wieder mal auf Bildung, Kleiner?« Cohen war eine einzige Provokation, doch Phillip ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er lächelte milde, wie geistesabwesend, und sah durch Cohen hindurch, der den Bildband verächtlich auf einen Beistelltisch warf.
Phillip erinnerte an einen grazilen Botticelli-Engel. Er war groß und schlank und zerbrechlich, was durch seine blasse Haut noch unterstrichen wurde. Beherrschend in dem fein und aristokratisch geschnittenen Gesicht waren die Augen, die einen überirdischen, golden schimmernden Glanz hatten. »Ich werde dir ein paar Comics mitbringen«, stichelte Marvin Cohen weiter. »Die wirst du wenigstens geistig verdauen.« »Cohen, bitte!« Trevor Sullivan räusperte sich warnend. Der ehemalige Observator Inquisitor saß weit entfernt in einer Zimmerecke und beobachtete die Szene. Cohen war ihm noch nie sonderlich sympathisch gewesen. Aber wie Dorian Hunter wusste er, dass auf Cohen in den entscheidenden Situationen Verlass war. »Halten Sie sich da raus, O.I.!«, schnauzte Cohen zurück. Er betonte ironisch die beiden Buchstaben O und I; er wollte Trevor Sullivan bewusst daran erinnern, dass er eben nicht mehr der Observator Inquisitor war, seit diese Dienststelle aufgelöst worden war. »Dein Benehmen ist wieder einmal vorbildlich«, schaltete sich Donald Chapman ein. Der Puppenmann saß neben dem Kamin auf einer kleinen Fußbank. Der Körper des einst großen und stattlichen Mannes war durch den Zauber übermächtiger Dämonen geschrumpft. Donald sah aber nicht grotesk aus wie ein Zwerg oder Liliputaner. Die Proportionen stimmten nach wie vor. Und Chapman hatte sich inzwischen mit seiner Größe längst abgefunden. Marvin Cohen beugte sich vor und dann hinunter, maß den Puppenmann mit bösen Blicken, verkniff sich erstaunlicherweise aber eine Antwort, die ihm offensichtlich auf der Zunge lag. »Deine Ruhe möchte ich haben, Donald«, sagte er endlich. »Wir hocken hier in der Villa herum, drehen Däumchen und warten höflichst auf die Rückkehr unseres Herrn und Meisters.« »Ist er dein Herr und Meister?«, fragte der Puppenmann interessiert zurück. »Natürlich nicht«, brauste Marvin Cohen auf. »Komm mir bloß nicht mit deinen Fangfragen! Aber warum treibt Dorian sich in der Welt herum, während seine Frau ihn braucht?« »Er sucht eben die Herausforderung.«
»Natürlich, Donald. Natürlich.« Cohen nickte abwesend. »Ich kann mir sogar verdammt genau vorstellen, wie die aussieht.« »Kommen Sie doch nicht schon wieder mit diesen Unterstellungen, Cohen!«, schaltete Trevor Sullivan sich missmutig ein. »Diese Platte kennen wir inzwischen in- und auswendig.« »Du kümmerst dich doch um Dorians Frau, Donald«, stellte der Puppenmann fest. Seine volltönende, männliche Stimme war überraschend. Sie passte im Grunde nicht zu diesem kleinen Körper. »Was willst du damit sagen?« Cohen bekam einen roten Kopf. »Ich stelle nur eine Tatsache fest«, antwortete Chapman gelassen. »Einer muss sich ja schließlich um Lilian kümmern«, meinte Cohen eifrig. »Es besteht immerhin eine echte Chance, dass sie wieder gesund wird.« »Wirklich?«, fragte Trevor Sullivan, Skepsis in der Stimme. »Ja, wirklich!« Marvin Cohen, leidenschaftlich im Ausdruck, nickte nachdrücklich. »Dann kümmern Sie sich doch weiter um sie!«, schlug Sullivan vor. »Dorian wird Ihnen dankbar sein.« »Er hat eine Frau wie Lilian doch überhaupt nicht verdient«, sagte Cohen aufbegehrend, verließ mit schnellen Schritten den großen Wohnraum und warf die Tür hinter sich ins Schloss. »Was war denn das?«, wunderte sich der ehemalige O.I. »Armer Marvin«, murmelte der Puppenmann leise und wissend. »Wieso armer Marvin?« »Ihn scheint's gepackt zu haben. Erstaunlich, dass dieser grobe Klotz plötzlich Gefühle zeigt.« »Das höre ich aber gar nicht gern. So etwas führt immer zu Komplikationen.« »Die wir uns im Moment leisten können. Eine Idylle ist ja noch direkt aufregend gegen unser tägliches Einerlei.« Trevor Sullivan hörte nur halb zu. Er sah zu Phillip hinüber und alarmierte den Puppenmann durch ein schnelles Handzeichen. Der Hermaphrodit wirkte plötzlich noch ätherischer als sonst. Er hatte seine Augen geschlossen und wiegte den Oberkörper kaum merklich hin und her. Eine unsichtbare Ausstrahlung schien ihn ge-
troffen zu haben. Er murmelte unverständliche Worte und befand sich offenbar in einem somnambulen Zustand. Trevor Sullivan stand vorsichtig auf, ging zu ihm hinüber und beugte sich vor, um besser hören zu können. »Puppen«, flüsterte Phillip jetzt. »Marionetten in der Hand des Satans. Marionetten überall. Kirchen und Glocken. Und Marionetten. Wasser und Nebel. Wasser.« Phillips Worte wurden zu einem unverständlichen Murmeln. Er fiel plötzlich in sich zusammen, öffnete übergangslos die Augen, sah sich verwirrt um, lächelte abwesend und griff nach dem Bildband, als sei nichts geschehen.
Monty Cooke wohnte ganz in der Nähe des Piccadilly in einer kleinen Künstlerpension. Sein Manager Hyde hatte ihn dorthin geschickt und ihm geraten, bis zur Vorstellung noch ein wenig zu ruhen. Der Puppenspieler war allerdings nur zum Schein auf diesen Vorschlag eingegangen. Seine Unruhe hatte sich noch gesteigert. Sie war nicht mit dem üblichen Lampenfieber zu vergleichen. Monty lief durch die Straßen von London. Er wusste längst nicht mehr, wo er sich eigentlich befand; immer wieder musste er an seine Puppen denken. Er wusste genau, dass er nicht betrunken gewesen war. Er fühlte, dass sich etwas Seltsames und Grauenhaftes über seinem Kopf zusammenbraute. Warum er dann wieder vor dem großen Variete stand, konnte er sich überhaupt nicht erklären; er wunderte sich allerdings auch nicht. Auf geheimnisvolle Art wurde er noch einmal zurück in die Garderobe gedrängt. Irgendetwas trieb ihn an, war stärker als die Angst. Der Pförtner am Bühneneingang nickte ihm zu, um sich dann wieder hinter seiner Zeitung zu verstecken. Monty betrat zögernd den langen, halbdunklen Korridorgang, stieg über die schmale Eisentreppe nach oben, blieb stehen, orientierte sich. Eine unwirkliche Stille umgab ihn. Das Bühnenpersonal und die Artisten mussten fast ausnahmslos das große Haus verlassen haben.
Er schien allein in dieser Schattenwelt zu sein. Monty spürte die Trockenheit in seinem Mund. Er hätte sich am liebsten auf dem Absatz umgedreht. Stattdessen betrat er jedoch den zweiten langen und noch düsteren Gang, der zu den Garderoben führte. Zielsicher fand er seine Garderobentür. Er wollte sie bereits öffnen, als er zu seiner Überraschung Stimmen hörte. Doch war er wirklich überrascht? Er legte ein Ohr gegen die Türfüllung und vernahm die Stimme seines Begleiters und Managers Hyde. Sie klang überraschend demütig und unterwürfig, hatte einen Unterton, der eigentlich nicht zu Hyde gehörte. Monty Cooke drehte den Türknauf, schob die Tür einen Spalt auf – und sah sich einer Szene gegenüber, die aus einem wirren Traum stammen musste. Sieben schwarze Kerzen standen auf der geschlossenen Puppenkiste. Sie verbreiteten einen magischen Schein. Inmitten dieser halbkreisförmig angeordneten Kerzen saß eine Puppe, die kaum einen Meter groß war. Sie trug einen schwarzen Umhang, auf dem seltsame Zeichen eingestickt waren, die im Schein der Kerzen blutrot leuchteten. Das Gesicht dieser Puppe, die Monty völlig fremd war, hatte einen hochmütigen Ausdruck. Es wirkte arrogant und herausfordernd. Die Augen sahen auf David Hyde herab, der auf den Knien lag und seinen Kopf tief neigte, bis die Stirn fast den Boden berührte. Die Puppe redete! Die Stimme klang näselnd, wirkte ein wenig mechanisch, sprach aber eindringlich und beschwörend. »… und baut mir Thelema, Sterbliche, die Abtei für den wahren und einzigen Fürsten der Finsternis! Schließt euch zusammen und schafft ein Haus des Schattens und des wahren Lebens!« David Hyde richtete langsam den Oberkörper auf, breitete die Arme aus und neigte sich wieder demutsvoll und ergeben. »To Mega Therion«, murmelte er inbrünstig. »To Mega Therion, dein Geschöpf bin ich bis an das Ende aller Zeiten. Mein Leib gehört dir. Weise mir den Weg zu Satan! Lass mich ihm opfern und dienen! Mein Blut für dich!«
Beschwörend murmelte Hyde diese Worte, wiederholte sie mit Inbrunst und Hingabe, richtete sich abwechselnd auf und verneigte sich wieder bis in den Staub und ließ seinen Oberkörper dann leicht pendeln. Die schreckliche Puppe redete erneut. »Feiert den Hexensabbat, Sterbliche! Reißt euch den irdischen Tand von den Leibern! Versinkt in fleischlicher Lust! Denn nur so dient ihr mir wirklich. Verschmelzt miteinander! Zeugt die Kinder der Begierde und Maßlosigkeit, feiert die Auferstehung der Sinnlichkeit und der Sünde! Kommt zu mir, die ihr das wirkliche Leben und die Erfüllung sucht! Satan wartet auf euch, wird euch aufnehmen in seinen Dunstkreis der höllischen Liebe.« »Bis an das Ende aller Zeiten, To Mega Therion«, murmelte David Hyde. »Dein Diener bin ich und dein Haus werde ich mitbauen. Bis an das Ende deiner Schatten, bis zum Anfang deiner Herrschaft allüberall auf Erden.« Monty Cooke stierte auf die Szene, hörte die unglaublichen Beschwörungen. Er wurde sich bewusst, dass ihn die Magie der Worte einkreiste. Eine fremde Macht schien Besitz von ihm zu ergreifen. Unsichtbare Fäden spannten ihn ein. Er schloss die Augen, hörte das Murmeln seines Managers, die demütige Stimme des Mannes, den er im Grunde seines Herzens hasste. Dieser Hass war es, der ihn wieder zur Vernunft kommen ließ. Hyde, der ihn wie eine Marionette behandelte und lenkte, lag dort im Staub der Garderobe und war nur noch eine armselige Kreatur. Diesen Triumph musste er einfach auskosten. Hart stieß Monty die Tür auf. »Was ist denn hier los?«, rief er betont forsch. »Was soll denn dieser Unsinn bedeuten?« Hyde fuhr herum wie eine gereizte Schlange und starrte Monty an. Seine Augen glühten vor Wut und Enttäuschung. Er zitterte am ganzen Leib, erhob sich von den Knien. »Was willst du hier?«, schrie er Monty an. »Geh! Verschwinde!« »Du komischer Diener«, antwortete Monty Cooke gehässig, seinen Triumph auskostend. »Du nimmst den Mund ziemlich voll, findest du nicht auch?«
Hyde hob eine Hand. Er schien Monty schlagen zu wollen. Doch Cooke zeigte jetzt keine Schwäche. Er lächelte mokant, spürte ein Glücksgefühl in sich, wie er es nicht kannte, maß seinen Manager mit verächtlichen Blicken. »Verschwinde!«, sagte Monty ruhig und selbstsicher. »Du ekelst mich an.« Da duckte sich Hyde, ließ den erhobenen Arm sinken, senkte die Lider, drückte sich an Monty vorbei und rannte aus der Garderobe. Er glich einem geprügelten Hund, der Angst vor der Peitsche hat. Seine schnellen Schritte verhallten im langen Korridor. Monty drehte sich wieder zu den Kerzen um, die seltsam flackerten, unheimliche Schatten schufen. Ein kalter Luftzug schien durch die Garderobe zu ziehen. Monty fröstelte. Jetzt, allein in der Garderobe, belauert von dem Licht der sieben schwarzen Kerzen, jetzt hätte er sich am liebsten umgedreht und wäre davongelaufen. Doch da war die Puppe, die irgendwie herausfordernd auf der Kiste saß. Sie war nicht sein Geschöpf. Er hatte sie noch nie gesehen. Ihre Arroganz reizte ihn, überdeckte seine momentane Angst. Zumal die Puppe ihn noch geringschätzig und herablassend anstarrte. Sie füllte die gesamte Garderobe, schien sich jetzt sogar noch aufzublähen, größer zu werden. Monty war mit wenigen und schnellen Schritten vor der Kiste, griff nach ihr und schleuderte sie wütend zu Boden. Aber trotz der Wucht, mit der er sie zu Boden warf, landete sie nicht krachend auf den Dielen. Ihr Fall wurde gebremst und abgefangen. Unsichtbare Hände schienen sie zu tragen – wenigstens bildete Monty sich das ein. Sie schwebte zu Boden, und der lange, schwarze Umhang blähte sich wie ein Segel auf. Die Augen ließen nicht ab von ihm, blickten nach wie vor wissend drein. Monty holte mit dem rechten Fuß aus. Er wollte die Puppe treten, wollte seinen Absatz in ihr Gesicht bohren; er hatte nur den einen Wunsch, diese Augen zu vernichten. Eine unerklärliche Gewalt schien seinen Fuß jedoch festzuhalten. Monty hatte Mühe, ihn langsam auf den Boden zurückzustellen. Er zuckte zusammen, als die Puppe redete.
»Baut ein Haus der Sünde und Sinnlichkeit!«, verkündete sie nasal und blechern zugleich. »Kommt in den Tempel des Satans! Feiert den Sabbat zu Ehren des Fürsten der Finsternis! Vereinigt euch im Bund der Wissenden, Sterbliche!« Jetzt trat Monty zu. Seine Schuhspitze traf einen harten, kompakten Gegenstand, der aus dem schwarzen, weiten Umhang hervorschoss und scheppernd an der Wand neben dem Schminkspiegel zerbrach. Monty hielt den Atem an. Seine eigene Kühnheit machte ihm nachträglich Angst. Zögernd näherte er sich der Wand, bückte sich vorsichtig und lachte auf, als er ein kleines, zerbrochenes Transistorradio identifizierte. Er nahm es in die Hand, ging zurück und stieg über die Puppe hinweg. Dabei verfing sich sein linker Fuß in den Falten des Umhangs. Er stolperte und verlor das kleine Radio. Es kullerte über den Boden und blieb in der geöffneten Tür liegen. Monty wollte aufstehen, aber es gelang ihm nicht. Die Puppe hielt ihn fest! Er spürte deutlich Finger, die seinen Knöchel umklammerten, Finger, die wie Feuer brannten. Oder bildete er sich das alles nur ein? War er das Opfer dieser magischen und unheimlichen Szenerie? Er wollte die Puppe abschütteln und stöhnte vor Grauen. Das war doch unmöglich! Diese Puppe konnte doch kein Eigenleben haben! Er sah ängstlich und verstohlen nach seinem Fuß, der in dem schwarzen, weiten Umhang verschwunden war. Endlich bekam er ihn frei. Er raffte sich auf und lief zur Tür. »Dient mir, Sterbliche!«, hörte er in diesem Augenblick wieder die näselnde Stimme. »Grenzenlos ist die Macht des Satans bis an das Ende aller …« Die Stimme krächzte, wurde undeutlich, erstarb in einem schrillen Pfeifton. Stille folgte. Eine Stille, die schon fast schmerzte. Monty Cooke holte tief Luft und rannte in die Dunkelheit des Korridors, wie von Furien gehetzt, die Angst im Nacken.
Die O'Hara-Stiftung befand sich in einem altehrwürdigen Schloss in der Nähe des Richmond-Parks. Hohe Sandsteinmauern friedeten einen großen Park ein, in dem ein kleiner See lag. Marvin Cohen hatte die strenge Torkontrolle passiert. Er fuhr mit dem Wagen über den schmalen Kiesweg auf das Schloss zu, parkte und klingelte an der Hauptpforte. Hier erfolgte die nächste Kontrolle, die er erstaunlich gelassen über sich ergehen ließ. Von seiner Gereiztheit und Ungeduld war nichts mehr zu spüren. Er machte fast einen ausgeglichenen Eindruck. Der kleine Blumenstrauß in seiner Hand wirkte ein wenig deplatziert; er passte nicht zu einem Mann wie Cohen, der immer ein wenig gewalttätig aussah. Stiftung war die diskrete Umschreibung für eine Heilanstalt, die auf privater Basis geführt wurde. Entsprechend zugänglich und höflich war auch der Oberarzt, bei dem Cohen sich hatte melden lassen. Er traf ihn im Wintergarten, durch dessen Fenster man einen wundervollen Blick auf die hintere Parkseite hatte. »Wie es Mrs. Hunter geht?«, wiederholte der Mediziner Cohens Frage und lächelte milde. »Wunder dürfen wir natürlich nicht erwarten, Mr. Cohen, aber ich bin nach wie vor sicher, dass wir Erfolg haben werden.« »Klingt ziemlich allgemein, Doktor«, stellte Cohen fest, wobei er sich noch höflich vorkam. »Nun, ein verwirrter Geist ist nur sehr schwer zu aktivieren. Ich habe allerdings den Eindruck, dass Mrs. Hunter von Tag zu Tag immer mehr Interesse an ihrer Umwelt gewinnt. Mir scheint auch, dass sich ihr Erinnerungsvermögen – zumindest bruchstückhaft – regeneriert.« »Mrs. Hunter hat heute Ausgang«, erinnerte ihn Cohen. »Ich bin froh, dass Sie hier sind. Sie als Freund der Familie können den Genesungsprozess noch zusätzlich unterstützen. Mr. Hunter ist wohl noch immer nicht abkömmlich, oder?« »Noch immer nicht«, gab Cohen zurück und hatte Mühe, eine Spitze zu unterdrücken. »Dort unten ist Mrs. Hunter!«, sagte der Arzt und winkte Marvin Cohen ans Fenster.
Cohen sah Lilian Hunter und schluckte vor Aufregung. Sie sah zauberhaft aus in ihrem dezenten Chanel-Kostüm und bewegte sich mit Schritten, die ein wenig zögernd und unsicher waren. Sie befand sich in Begleitung einer handfest und derb aussehenden Krankenschwester, die eine Umhängetasche trug. »Eine bemerkenswerte Frau«, hörte Cohen den Arzt sagen. Ihm lag eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, aber er bremste sich im letzten Moment. Er spürte so etwas wie Eifersucht in sich aufsteigen, beneidete den Arzt, dass er Lilian Hunter so nahe sein durfte! »Bis später!«, sagte er mit rauer Stimme, drehte sich um und verließ den Wintergarten. Es dauerte nur wenige Minuten, bis er vor Lilian auftauchte. Sie erkannte ihn, lächelte scheu. »Für Sie, Lilian!« Er reichte ihr den kleinen Blumenstrauß. Sie nickte dankbar und roch an den Blumen. Cohen schluckte erneut. Rührung erfasste ihn, Zuneigung und vielleicht auch etwas, was er Liebe genannt hätte. Wieder dachte er an Dorian Hunter, den Dämonenkiller. Er begriff einfach nicht, warum er sich nicht meldete, warum er nicht hier bei seiner jungen Frau war. »Haben Sie einen besonderen Wunsch, Lilian?« Er schob die derbe Krankenschwester ungeniert zur Seite. »Marvin, nicht wahr? Marvin Cohen?« Sie erinnerte sich seines Namens, lächelte nun befreit und glücklich. Er nickte gerührt. »Wir haben viel Zeit für uns, Lilian.« Sie hakte sich wie selbstverständlich bei ihm ein, während die Krankenschwester zurückblieb. Ihr Gang wurde freier und unternehmungslustiger. Sie deutete auf den kleinen Teich und das kleine Wäldchen weit hinten im Park. Cohen war es völlig gleichgültig, wohin sie gehen wollte, Hauptsache, er befand sich in ihrer Nähe. Der grobschlächtige Mann spürte in sich eine Zärtlichkeit und Zuneigung, die ihm sonst fremd war. »Hinter dem Wäldchen ist eine Seitenpforte, die wir benutzen können«, sagte die Krankenschwester. »Ich habe einen Schlüssel dazu.« »Und was ist hinter der Mauer?«, fragte Cohen.
»Weite Felder, Parks und ein kleiner Ort, Sir.« Sie wollte noch mehr sagen, doch eine Handbewegung Cohens ließ sie schweigen. Er merkte, dass Lilian zielsicher auf das kleine Waldstück, das mit dichtem Unterholz bewachsen war, zustrebte. Sie schien in letzter Zeit häufiger im Park der O'Hara-Stiftung gewesen zu sein und die Seitenpforte zu kennen. Als sie das kleine Wäldchen erreicht hatten, blieb Lilian Hunter plötzlich stehen und fasste nach ihrer Stirn. Sie schien angestrengt nachzudenken. Cohen, der keinen Weg erkennen konnte, der durch das Wäldchen führte, drehte sich nach der Krankenschwester um und wollte sie nach dem Weg fragen. Zuerst wusste er nicht so recht, was er von dieser grobschlächtigen Frau halten sollte. Sie hatte die Augen halb geschlossen und horchte offensichtlich in sich hinein. Auf ihrem derben Gesicht lag ein Ausdruck der Verzückung, der Hingabe. Die Gegenwart Lilians und Cohens musste sie vergessen haben. Dann sah Marvin mehr. Aus ihrer Schultertasche schlängelte sich ein dünnes, schwarzes Kabel, das zum linken Ohr hinaufführte. Im Ohr der Frau entdeckte Cohen einen Ohrklips. Die Krankenschwester hörte sich verstohlen irgendeine Musiksendung an. Das Radio musste sich in der Umhängetasche befinden. Sie reagierte nicht, war wie in Trance. Ihr Mund öffnete sich. Sie zeigte schadhafte Zähne, atmete stoßweise und erregt. »Wo geht's weiter?«, wiederholte Cohen seine Frage. Doch auch jetzt reagierte sie nicht. »Nun komm schon, Mädchen!« Cohen konnte nicht anders. Er fiel zurück in seine aggressive Art, griff blitzschnell nach dem dünnen Kabel und riss ihr damit den Klips aus dem Ohr. Ein schwacher Ton war zu hören. »… in das Schattenreich der Freude und Lust, Sterbliche«, näselte eine Stimme. »Der Thelema-Orden erwartet euch als Dienerinnen und Diener Satans. Dies ist die Stimme eures schwarzen Ordens. Dies ist …« Mehr bekam Cohen nicht zu hören. Die Krankenschwester hatte die Augen geöffnet und funkelte Marvin wütend an. Speichelbläs-
chen bildeten sich in ihren Mundwinkeln. »Du Dreckstück!«, fauchte sie und spreizte die Finger. »Du billiger Gigolo, lass deine schmierigen Hände von der Botschaft!« Marvin Cohen zuckte unwillkürlich zurück, und dann durchfuhr es ihn siedend heiß. Er begriff, wusste plötzlich, dass diese Frau unter einem fremden Willen stand. Wut und Zorn stiegen in ihm hoch. Er holte aus und wollte sie schlagen, wollte sie wieder zur Vernunft bringen, denn er wusste sehr wohl, was diese Botschaft bedeutete. Die Krankenschwester sackte förmlich in sich zusammen, wurde verlegen und unsicher, stammelte Worte der Entschuldigung und nahm eine Demutshaltung ihm gegenüber ein, die seine Hand bremste. »Was haben Sie denn da gerade gehört?« Cohen sah zu Lilian hinüber, die ein paar Schritte weitergegangen war und von der Szene nichts mitbekommen hatte. »Ich – ich weiß es nicht«, antwortete die Krankenschwester. »Plötzlich war die Musik nicht mehr da. Ich hörte eine Stimme – hörte irgendetwas. Ich weiß es nicht.« Sie drehte sich abrupt um und wollte gehen. Cohen hielt sie an der Schulter fest. »Geben Sie mir den Schlüssel zur Pforte?« Sie nickte geistesabwesend, zog einen großen Schlüssel aus der Umhängetasche und reichte ihn Cohen. Danach wandte sie sich um und verschwand im dichten Unterholz. Am liebsten wäre er ihr nachgegangen, hätte ihr noch ein paar gezielte Fragen gestellt, doch da war Lilian, die er nicht allein zurücklassen wollte. Er ging zu ihr, lächelte sie an, fasste nach ihrem Arm und deutete auf den schmalen Weg, der hinter einem dichten Strauch zu sehen war. Er dachte über das nach, was er gehört hatte. Als ehemaliger Exekutor wusste er die Worte aus dem Radio sehr gut zu deuten. Die Dämonen gingen wieder um, verfügten hier in London erstaunlicherweise sogar über einen eigenen Sender, schienen einen neuen Orden des Satans gegründet zu haben. Marvin Cohen legte einen Arm um Lilians Schultern und erreichte
mit ihr die Pforte. Als er sie aufschließen wollte, schien sie sich von allein zu öffnen. Der Schlüssel im Schloss drehte sich fast von selbst. Cohen blinzelte. War er ein Opfer seiner Einbildung geworden? Stand er noch unter dem Eindruck dessen, was er eben gehört hatte? Er zog die schwere Pforte auf und verließ mit Lilian den Park. Weite, sattgrüne Wiesen waren zu sehen, Hecken und Büsche. Über den Baumkronen eines kleinen Wäldchens ragte der gedrungene Turm einer Dorfkirche empor. »Dort!«, sagte Lilian zu Marvins Überraschung. »Dort, Marvin! Es ruft mich. Wir müssen gehen.« »Wer ruft?«, fragte Cohen unruhig. »So kommen Sie doch, Marvin! Schnell! Ich freue mich so.« Marvin schaute in ihr schmales Gesicht. Es hatte sich gerötet und verriet Interesse. Ihre Augen leuchteten wie die eines beschenkten Kindes. Marvin nickte und ging mit ihr weiter. Doch er war jetzt wachsam, spürte, dass Gefahr und Unheil drohten. Die kleine ehemalige Dorfkirche war sehr alt. Sie stand inmitten eines Totenackers, dessen Grabsteine windschief und deren verwitterte Inschriften kaum noch zu lesen waren. Ein Steinwall umgab diesen kleinen Friedhof, der einen verlassenen und ungepflegten Eindruck machte. Der gedrungene Kirchturm aus unregelmäßigen Feldsteinen war mit Efeu bedeckt, die bleiverglasten Fenster im Kirchenschiff wirkten düster und abweisend. Im Sonnenlicht mochte diese kleine Kirche noch freundlich aussehen, doch jetzt, als Wolken vor die Sonne zogen, scheute Cohen unwillkürlich zurück, während Lilian Hunter auf den Seiteneingang zuschritt. »Hören Sie doch, Marvin!« Sie schob den Kopf etwas vor. »Hören Sie?« »Nicht direkt«, antwortete Cohen vorsichtig. Er wollte sie nicht verletzen. Natürlich wusste er, dass ihr Geist sich verwirrt hatte. Die Gründe hierfür lagen in der Vergangenheit, über die selbst Dorian, der Dämonenkiller, nicht gern redete. Kurz nach der Hochzeit war Lilian in die Gewalt dunkler Mächte und Dämonen geraten und hatte darüber den Verstand verloren. Sie hatte sich jetzt längst von Cohen gelöst. Lilian ließ ihn zurück,
ging immer schneller auf den Seiteneingang zu. Ihre Bewegungen waren koordiniert und sicher. Sie war sich ihres Körpers voll bewusst. Marvin sah ihr bewundernd nach. Lilian hatte die schwere Holztür mit den alten Eisenbeschlägen bereits aufgedrückt, scheinbar mühelos. Sie richtete sich auf, wurde zu einer jungen, selbstsicheren Frau, ging über die ausgetretenen Steinplatten und blieb vor dem Mittelgang stehen. Marvin verharrte neben dem alten Gitter aus Schmiedeeisen. Hier war er unbeobachtet und konnte sie mit seinen Blicken verschlingen. Es waren Blicke, die mit brutalem Sex nichts zu tun hatten; in ihnen spiegelte sich Zärtlichkeit. »Sehen Sie die Braut, Marvin?« Sie redete ihn an, ohne ihren Kopf nach ihm umzuwenden, sprach leise, aber deutlich. »Sehen Sie doch die Braut!« Sie betrat zögernd den Mittelgang und näherte sich dem Altar. »Wie schön sie ist! Unsagbar schön!« »Erkennen Sie das Gesicht, Lilian?« »Ich sehe nur das Kleid, kein Gesicht. Und ich sehe auch den Bräutigam. Er wendet mir den Rücken zu. Warum dreht er sich nicht um? Ich weiß, dass ich ihn kennen werde. Ich spüre, dass wir uns kennen. Warum dreht er sich nicht um?« Ihre Stimme wurde klagend. »Wer ist die Braut?«, fragte Cohen eindringlich, ohne sich aber vom Gitter zu lösen. Er ahnte, ja, er wusste, dass dies die Kirche sein musste, in der Lilian und Dorian geheiratet hatten. Eifersucht keimte in ihm auf. Er wünschte sich fast, dass die Bilder der Erinnerung für Lilian nicht zu deutlich wurden. Sie sollte sich nicht an Dorian erinnern. Sie war zu gut für ihn. »Nein!«, stieß sie jetzt hervor, nahm die Hände vor die Brust und sank auf die Knie. Ihre schmalen, zerbrechlichen Schultern bebten. Sie weinte. »Wer ist die Braut?«, fragte Cohen gegen seinen Willen. Er hatte das Gefühl, ihre seelische Blockade jetzt durchbrechen zu können. Für Dorian tat er es gewiss nicht. Es ging ihm nur um diese Frau, die er verehrte. »Ich bin die Braut«, antwortete sie leise. »Ich bin die Braut und
werde heiraten. Ich erkenne mich ganz deutlich. Ich höre die Orgel und den Chor. Oh, wie wunderschön diese Musik ist! Und die vielen Blumen auf dem Altar – die Menschen … Aber wer ist mein Bräutigam? Wer ist es?« Marvin Cohen presste die Lippen zusammen. Er hätte jetzt den Namen Dorians nennen müssen, doch er wollte es nicht. Sie hatte sich an ihre Trauung hier in der kleinen Dorfkirche erinnert. Wenn sie sich auch noch an Dorian erinnerte, dann war sie für ihn verloren. »Wer ist mein Bräutigam?« Qual, Sehnsucht und Verzweiflung schwangen in ihrer Stimme mit. Er sah krampfhaft zu Boden. Er schämte sich, wusste, dass er sich wie ein Schuft benahm, doch er kam gegen seine aufgewühlten Gefühle nicht an. Sein Blick irrte von ihrer schlanken Gestalt ab und suchte einen Punkt an der Längswand des Kirchenschiffes. In diesem Moment sah er die Gestalt, die hinter einer der dicken, gedrungenen Säulen hervortrat. Sie trug einen weiten, schwarzen Umhang und eine Halbmaske, bleckte die Zähne, grinste und machte eine obszöne Geste, wie man sie sich gemeiner und eindeutiger einfach nicht vorstellen konnte. Es erschien eine zweite Gestalt, dann eine dritte, eine vierte. Von allen Seiten tauchten die Vermummten, die sich nur in der Art ihrer Gesichtsmasken unterschieden, auf. Noch waren sie stumm, doch ihre Absicht war unverkennbar. Sie wurden vom Altar magisch angezogen, pirschten sich an ihn heran, schienen die Anwesenheit von Lilian und Cohen zu übersehen. Lilian! Sie hatte noch nichts von den Vermummten bemerkt, saß nun in einer Kirchenbank und war in Gedanken versunken. Marvin drehte sich um und entdeckte zwischen den Säulen der anderen Seite ebenfalls Vermummte, die sich langsam dem Altar näherten. Sie erinnerten an Gewürm, das sich ringelt und schlängelt, windet und krümmt. Woher sie kamen, wusste er nicht. Wahrscheinlich waren sie bereits in der Kirche gewesen, als er und Lilian sie betreten hatten.
Wie auf ein geheimes Kommando hin schwenkten sie nach links und rechts ein, schlichen durch die Reihen der Kirchenbänke und näherten sich halbkreisförmig Lilian, die jetzt hochschaute und gellend schrie. Dunkle Schreckensbilder mussten in ihr hochgestiegen sein. Abwehrend streckte sie beide Arme aus, sah sich wie ein gehetztes Tier um, wollte durch den Mittelgang zurück zu Cohen laufen, prallte jedoch gegen die unheimlichen Wesen. Marvin Cohen war wie elektrisiert. Lilian brauchte seine Hilfe. Er schob sich um das Eisengitter herum und rannte auf die Gruppe der Vermummten zu. Da brachen die Schreckensgestalten ihr Schweigen. Schrill und wahnwitzig heulten sie auf, bis ihre Stimmen einen ganz bestimmten Rhythmus fanden und die Worte To Mega Therion skandierten. Der Chor wurde immer schriller, zerrte und riss an den Nerven, schuf Angst und Grauen. Ob Lilian noch schrie, vermochte Marvin nicht zu hören. Er hatte jetzt die Vermummten erreicht und griff sie erbarmungslos an. Cohen befand sich in seinem Element. Seine Handkanten wurden zu lebensgefährlichen Waffen. Er schlug hart und gnadenlos zu. Die Vermummten wurden von seinen Schlägen überrascht. Sie purzelten durcheinander, schrien gellend auf, fuhren herum, wehrten sich, schlugen zurück. Marvin hatte es mit einer Übermacht zu tun, doch er setzte einige Gegner schnell außer Gefecht, obwohl auch er einstecken musste. Fausthiebe trafen ihn, dann Stöcke und Peitschenstränge. Wo war Lilian? Er rief ihren Namen, glaubte ihre verzweifelte Stimme zu hören und sah sie dann endlich. Sie hatten ihr das Chanel-Kostüm fast vom Körper gerissen. Drei Vermummte schleiften sie zum Altar. Gierige Hände griffen nach ihr, tasteten ihren Körper ab. »Lilian!« Seine Stimme war wie ein Peitschenhieb. Er sah rot und wurde zu einer Kampfmaschine, die nur noch automatisch reagierte. Er bahnte sich eine schmale Gasse durch die Leiber der Vermummten, bis er Lilian erreicht hatte.
Die drei Schreckensgestalten, die Lilian wegschleppten, hatten die Gefahr inzwischen bemerkt. Sie ließen ihr Opfer fallen und bauten sich auf, lange Schlagstöcke in den Händen, die sie drohend erhoben. Cohen unterlief sie, wurde dennoch hart getroffen, stöhnte, wurde von Schmerzwellen überflutet, ging darin aber nicht unter. Er schlug zurück, härter noch als zuvor, schüttelte einen Vermummten ab, der ihm auf den Rücken gesprungen war, trat um sich und zeigte seine Qualitäten, auf die der Dämonenkiller in seinem Kampf gegen den Beherrscher der Finsternis zu Recht nicht verzichten wollte. Lilian kroch über den Boden aus der Gefahrenzone und erreichte die ersten Stufen, die hinauf zum Altar führten. Plötzlich sah sie sich zwei anderen Vermummten gegenüber, die nach ihr griffen, sie hochrissen und zum Altar drängten. Sie fetzten ihr den Rest der Kleidung vom Leib, drückten sie auf das Tuch, das den Altar bedeckte, spreizten ihre Arme und langten gierig nach ihren langen, schlanken Beinen. Marvin war die Rettung. Mit einem Fußtritt beförderte er einen der Vermummten durch die Luft. Die Gestalt landete krachend im Kirchengestühl und wimmerte. Die beiden anderen handelten sich von ihm knochenharte Hiebe mit der Hand ein. Sie purzelten zur Seite, heulten, stießen gellende Schreie aus. »Kommen Sie, Lilian!« Er warf sie sich über die linke Schulter, lief mit ihr hinüber in die nahe Sakristei, schob die Tür auf und ließ Lilian auf einen Holzsessel gleiten. Dann rannte er zur Tür zurück, blickte in die Kirche hinein, zog aber hastig den Kopf aus dem Spalt. Schweinsblasen, mit Blut und Innereien frisch geschlachteter Opfertiere gefüllt, zischten auf ihn zu, zerplatzten links und rechts von der Tür, besudelten den heiligen Altarraum. Marvin sah einige Vermummte, die die heiligen Reliquien an sich rafften und sie unter ihren kuttenähnlichen Umhängen verschwinden ließen. Als er die Tür schloss und verriegelte, war der Ruf To Mega Therion zu vernehmen, der sich zu einem wütenden, rasenden Gebrüll steigerte. Sekunden später prallten die ersten Leiber wütend gegen die schmale, aber solide Tür, die unter der Wucht der Körper erzit-
terte. »Wir müssen weg, Lilian. Werden Sie es schaffen?« Sie sah ihn an und nickte. Marvin bemerkte zu seiner Überraschung, dass ihre Augen erstaunlich klar waren. An einem Haken neben einem alten Schrank entdeckte er eine Art Umhang. Er riss ihn an sich, legte ihn über die nackten Schultern der Frau, hob sie auf die Arme und trug sie zur Tür, die hinaus zum Todesacker führte. Das alte Kastenschloss hing zerfetzt im Holz – ein sicheres Zeichen dafür, dass die Anhänger Satans die Sakristei aufgebrochen hatten. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis sie auch die andere Tür aus den Angeln hoben. Es kam auf jede Sekunde an. Er schob die Tür mit seinem linken Fuß auf, schaute sich kurz um, rannte dann mit seiner Last hinüber zu den Grabdenkmälern und wartete einen Moment, ehe er seine Deckung verließ. Vorsichtig ließ er Lilian schließlich auf die andere Seite des Steinwalls gleiten, sprang nach und sah seine Begleiterin prüfend an. Sie erwiderte seinen Blick, lächelte verträumt und – ging wieder wie in Trance auf das kleine Wäldchen zu. Marvin zögerte ihr zu folgen. Er horchte zu der kleinen Kirche hinüber. Es herrschte Stille. Als er sich umwandte und Lilian folgte, fiel sein Blick auf eine nackte Kinderpuppe, die unter einem Strauch lag. Sie bestand nur noch aus dem Rumpf, dem Kopf und einem zersplitterten Bein. Die Augen waren eingedrückt, aber noch zu sehen. Schaudernd wandte Marvin sich ab. Diese Puppe erinnerte ihn nur zu deutlich an die Hilflosigkeit Lilians, ließ ihn ahnen, welches Schicksal sie erwartete, wenn er nicht aufpasste.
Es war dunkel geworden. Monty Cooke stand auf der anderen Straßenseite und beobachtete seine Artistenkollegen, die nacheinander, einzeln oder in Gruppen, vor dem Bühneneingang erschienen und dann in dem großen, grauen Haus verschwanden. Monty traute sich nicht in seine Garderobe zurück. Voller Schauder dachte er an die unheimliche fremde Puppe, an seinen Manager Hyde und dessen
Beschwörung und Anbetung des Bösen. Endlich erschien David Hyde. Monty überquerte die Fahrbahn und baute sich vor ihm auf. Hyde sah ihn unsicher mit flackerndem Blick an. Er machte einen abgespannten und erschöpften Eindruck. Von seiner lärmenden Selbstsicherheit war nichts mehr zu bemerken. »Ich muss mit dir reden, Monty. Ich habe versucht, dich in der Pension zu erreichen.« »Ich bin ausgegangen und habe nachgedacht.« »Kann ich mir vorstellen, Monty. Hör zu, Junge, ich muss dir da einiges erklären, dann wirst du mich verstehen.« »Fang an, David!« »Gehen wir rauf in deine Garderobe.« »Ist die inzwischen wieder in Ordnung?« »Natürlich. Ich bin noch einmal zurückgekommen. Du hast nichts zu befürchten.« Monty nickte und folgte seinem Manager. Sie verschwanden im Bühneneingang, stiegen über die Eisentreppe hinauf ins Obergeschoss und erreichten die Garderobe. Hyde öffnete die Tür weit und ließ Monty hineinblicken. Cooke atmete erleichtert auf, als er alles an seinem gewohnten Platz vorfand. Zögernd folgte er Hyde in die Garderobe; er blieb auf der Hut, rechnete mit Überraschungen. Erleichtert registrierte er, dass die schwarzen Kerzen nicht mehr zu sehen waren. Auch die fremde Puppe war verschwunden. Die Garderobe sah aus wie jede andere. Monty ließ sich im Sessel vor dem Schminktisch nieder und sah erwartungsvoll seinen Manager an. David Hyde schloss die Tür, zündete sich mit mühsam beherrschten Bewegungen eine Zigarre an, lehnte sich gegen die nackte Ziegelwand und schien nach Worten zu suchen. »Mach's nicht so spannend!«, sagte Monty, der seinem Manager gegenüber an innerer Sicherheit gewonnen hatte. »Hast du schon mal was von Aleister Crowley gehört?«, begann Hyde zögernd und sah Monty prüfend an. »Wer ist das? Ein Kollege von mir?«
»Mann, hast du eine Ahnung!« Hyde schüttelte den Kopf und lachte sichtlich gezwungen. »Aleister Crowley ist der Gründer des Ordens Ordo Argentinum Astrum.« »Damit kann ich nichts anfangen. Was soll das bedeuten?« David Hyde reckte sich, schien sich jetzt sicherer zu fühlen. Eine innere Begeisterung erfasste ihn, wie Monty sofort bemerkte. »Handelt es sich um einen Geheimorden?« »Jetzt kommst du der Sache schon bedeutend näher, Monty. Crowley ist der Herrscher des Thelema-Ordens. Nein, lass mich jetzt erzählen! Fragen kannst du später immer noch stellen. Aleister Crowley wird auch To Mega Therion genannt. Die Bezeichnung stammt aus der Apokalypse und bedeutet soviel wie Das große Tier. Er war zuerst im hermetischen Orden Golden Dawn, bis er seinen eigenen Orden gründete.« »To Mega Therion?«, wiederholte Monty nachdenklich und erinnerte sich der Szene in seiner Garderobe. »War das nicht der Name, den du vor ein paar Stunden hier genannt hast?« »To Mega Therion«, wiederholte David Hyde mit verhaltenem Pathos. »Das große Tier – der Meister der schwarzen Magie, der Herrscher über die Schatten und Dämonen, der Wegbereiter Satans.« »Was soll dieser Unsinn, David?« Monty war gegen seinen Willen nun doch beeindruckt. »Er weist den Weg zum wahren und wirklichen Leben«, sagte Hyde beschwörend, fast inbrünstig. »Er ist das wahre Leben.« »Und du betest dieses große Tier an?« »Ich unterwerfe mich ihm in Demut, diene ihm, Monty. Er hat mir den Zugang zu einem Leben gezeigt, wo es keine Sünden mehr gibt, da wir die Sünde, wie man sie der Menschheit seit fast zweitausend Jahren eingehämmert hat, bejahen.« »Das – das ist Gotteslästerung, David.« Monty schüttelte abwehrend den Kopf. »Satan ist unser Gott, nur Satan allein. Er befreit uns Sterbliche von den Zwängen falscher Rituale. Er macht uns wieder frei wie vor dem angeblichen Sündenfall.« »Und wo wohnt dieses große Tier?«
»Er ist überall, Monty. Er ist in jedem von uns und dadurch vielfältig.« »Aber er muss doch irgendwo wohnen?« »Wir hören nur seine Stimme und seine Befehle.« »Befehle, die befreien, David? Das ist ein Widerspruch in sich.« »Du hast es erfasst«, gab David Hyde ekstatisch zurück. »Freiheit durch den Zwang und die Fürsorge Satans. Unterwirf dich seinem Willen, Monty, und du wirst ein neuer Mensch ohne Zwänge sein! Lass dich von Satan neu erschaffen, dann weißt du erst, was Mensch sein heißt.« Monty Cooke war verwirrt, wusste nicht, was er zu diesen Wust von Worten und Widersprüchen sagen sollte. Er fühlte nur, dass sein Manager ganz im Banne dieses großen Tieres stand, dass Hyde sich aber offensichtlich wohl in seiner Haut fühlte. »Und warum hast du ausgerechnet hier in meiner Garderobe auf den Knien gelegen?« »Es war die Stunde der geheimen und wahren Botschaft«, antwortete Hyde wie selbstverständlich. »Sie kommt über Radio und erreicht jeden, der sie hören will.« »Dazu gehört aber ein Sender.« Monty hoffte, Davids wiedergewonnene Selbstsicherheit erschüttern zu können. »Es gibt diesen Sender«, sagte Hyde fast nebenbei, als lohnte es sich nicht, über eine solche Selbstverständlichkeit zu reden. »Und wo steht der?« »Im Reich der Dämonen«, antwortete Hyde gelassen und vage zugleich. »Wie groß ist dieser Orden, David? Es kann sich doch nur um wenige Eingeweihte handeln.« »Unsere Zahl ist bereits Legion, und sie steigt ständig von Tag zu Tag. Was scheren uns Verfolgungen und Nachstellungen, der wahre Glaube wird siegen.« »Du willst mir deinen Orden schmackhaft machen, wie?« Monty hörte sehr wohl, dass sein Manager Worte und Sätze formte, die im Grunde nicht zu seinem normalen Wortschatz gehörten. Er redete in einer unnatürlichen und angelernten Diktion und mit schwülstigem
Pathos. »Ich will dich befreien. Folge uns auf dem Weg zum wahren Leben! To Mega Therion wartet auf dich.« Bevor Monty Cooke antworten konnte, schrillte die Klingel über seiner Tür. Es handelte sich um die erste Vorwarnung für die Abendvorstellung. Bis zum Auftritt hatte er jetzt noch eine halbe Stunde Zeit. David Hyde sah Monty eindringlich an und verließ die Garderobe. In der halbgeöffneten Tür blieb er noch einmal stehen. »Denke nicht an Verrat!«, sagte er warnend. »Die Strafe der Dämonen würde grässlich sein, Monty. Ganz abgesehen davon, dass ich alles abstreiten würde.« Langsam schloss sich die Tür hinter ihm. Monty wandte den Kopf und betrachtete sich im Spiegel. Er war verwirrt und wusste nicht, was er von den beschwörenden Worten seines Managers halten sollte.
»Hat es Ärger gegeben?«, fragte Trevor Sullivan und sah Marvin prüfend an, der langsam in den großen Wohnraum kam. »Dämonen«, gab Cohen lakonisch zurück, »oder besser gesagt, Satansanhänger.« »Und Mrs. Hunter?« Echte Sorge klang aus Sullivans Stimme. »Befindet sich in Sicherheit«, antwortete Cohen nervös. »Vorerst. Ob das aber auf die Dauer gut gehen wird, weiß ich nicht.« »Erzählen Sie doch endlich, Cohen! Wo haben Sie die Satansanhänger gesehen?« Marvin Cohen ließ sich Zeit, ging hinüber zum kleinen Wandtisch und mixte sich einen Drink, den er gierig in sich hineingoss. Dann holte er tief Luft, lehnte sich an den Kamin und berichtete – zuerst stockend, dann flüssiger – von seinen Erlebnissen. »To Mega Therion?«, fragte Sullivan verblüfft, als Cohen seine Geschichte beendet hatte. »Thelema-Orden? Das klingt nach Aleister Crowley, Cohen.« »Natürlich tut es das«, meinte Marvin gereizt. »Ich habe mir dar-
über natürlich auch Gedanken gemacht. Was dachten Sie denn?« »Aleister Crowley ist seit 1947 tot.« »Ich weiß«, entgegnete Marvin nachdenklich. »Sieht so aus, als sei er auferstanden.« »Ausgeschlossen. Ich selbst habe in Dorians Auftrag Crowleys Grab gegen alle schwarze Magie abgesichert.« »Vielleicht ist Ihnen dabei ein Fehler unterlaufen«, spöttelte Cohen. »Irgendeine Macht bedient sich Crowleys Namen.« »Es sind die Dämonen«, sagte Marvin, wieder sachlich werdend. »Sie sind aktiver denn je.« »Weil Dorian nicht da ist«, klagte Sullivan. »Die Ratten trauen sich aus ihren Schlupfwinkeln hervor. Cohen, ich fürchte, wir alle haben geschlafen. Wir hätten uns mehr mit der Außenwelt beschäftigen müssen.« »Das wird jetzt geschehen, Sullivan. Ich habe diese Satansanhänger erlebt – und zwar aus nächster Nähe. Sie müssen sich bereits organisiert haben.« »Wir brauchen Informationen. Ich werde sofort die entsprechenden Kanäle anzapfen. In ein paar Stunden wissen wir mehr.« Trevor Sullivans Lethargie war verflogen. Eine Aufgabe wartete auf ihn. Er nickte Cohen zu und verschwand dann in der Bibliothek des Hauses, um ein paar Telefonate zu erledigen. Cohen zündete sich eine Zigarette an und dachte an Lilian Hunter. Es passte ihm überhaupt nicht, dass er sie in der O'Hara-Stiftung hatte zurücklassen müssen. Er dachte an die stämmige Krankenschwester, die eine Radiosendung des Thelema-Ordens abgehört hatte. War diese Frau bereits eine Anhängerin dieses Ordens? War sie vielleicht sogar auf Lilian angesetzt worden? Cohen fragte sich, wer wohl hinter dieser Radiodurchsage stecken mochte. Wer gab sich als To Mega Therion aus? Es musste sich um einen Eingeweihten handeln, der die Riten und die Sprache der Satansanhänger bis ins Detail kannte. Was bezweckte diese Person mit der Neubelebung des Ordens? Handelte sie im Auftrag echter Dämonen?
Fragen über Fragen, auf die Marvin keine Antwort fand. Er ging noch einmal zum Wandtisch hinüber und mixte sich einen zweiten Drink. Durch die geschlossene Tür zur Bibliothek hörte er die schneidende Stimme Sullivans, der jetzt in seinem Element war. Cohen verzog das Gesicht. Sullivan ging ihm auf die Nerven. Er brauchte jetzt eine Ablenkung; und er wusste auch, wo er sie finden konnte. Er verließ das Haus, ohne sich bei Sullivan abzumelden. Leise schlug er die Tür hinter sich zu, setzte sich in seinen Wagen und fuhr los. Sein Ziel war Soho, das große Vergnügungsviertel Londons. In der Nähe von Soho Square ließ er seinen Wagen stehen und ging zu Fuß weiter in die Greek Street. Hier betrat er eines der vielen Vergnügungslokale, in denen Stripperinnen arbeiteten. Cohen war bekannt in dem Schuppen. Er nickte der alten Frau hinter der Garderobentheke lässig zu, schlug den Vorhang aus Perlenschnüren zur Seite und blieb an der Bar stehen. Die Nachtbar war kaum größer als zwei normale Wohnräume. Rötliches Licht sickerte aus versteckt angebrachten Lampen und ließ die Konturen der Besucher kaum erkennen. Cohen bestellte sich einen Drink, sah auf seine Uhr und vergewisserte sich, dass Rose in wenigen Minuten ihren Auftritt haben würde. Er brauchte nicht lange zu warten. Sie erschien ohne jede Vorankündigung auf der handtuchschmalen Bühne und wurde von einem Lichtkegel aus dem rötlichen Dämmerlicht herausgestanzt. Die Musik wurde lauter und begleitete die lasziven Bewegungen der großen und schlanken Frau, deren rotes Haar wie ein Kupferhelm wirkte. Sie trug das übliche geschlitzte Abendkleid, lange Handschuhe und hochhackige Schuhe. Durch den Schlitz konnte man ihre Strumpfbänder sehen. Sie bot nicht viel, war billiger, ordinärer Durchschnitt, ohne einen Hauch von Erotik. Fast gelangweilt und lustlos entkleidete sie sich, ließ das Abendkleid fallen und tänzelte dann ein wenig in ihrer mehr als knappen Unterwäsche herum. Sie hatte es sehr eilig, ihre Strip-Nummer hinter sich zu bringen und von der kleinen Bühne zu verschwinden. Der Beifall war mehr als gering.
Marvin Cohen hatte sie genau beobachtet und sofort bemerkt, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Er kannte Rose Jamin besser, wusste aus Erfahrung, was sie sonst zu bieten hatte. Er klappte das Thekenbrett der Garderobe hoch und öffnete die schmale Brettertür, die ins Souterrain führte. Dort befanden sich die winzigen Garderoben der Stripperinnen. Neil Hatters, der Besitzer des Nachtklubs, ein kleiner, glatzköpfiger Mann mit dem Aussehen eines höheren Bankangestellten, stand in dem kleinen Viereck, in das die eiserne Wendeltreppe von der Bühne führte. Er stand vor Rose Jamin, doch er schien friedlich zu sein. »Schon gut, Kindchen, schon gut«, sagte er beruhigend. »Immer kann man nicht in Form sein. Machen Sie Schluss für heute! Gestern war's anstrengend genug.« »Hallo, Hatters!« Marvin schob sich in das Viereck und nickte dem kleinen Mann beiläufig zu. »Was war gestern so anstrengend?« »Marvin!«, stieß Rose Jamin überrascht hervor und setzte ein mechanisches Lächeln auf. »Warum hast du nicht angerufen?« »Was war gestern so besonders anstrengend?«, wiederholte Cohen. »Wir waren in einen Privatklub eingeladen. Was dagegen?« Jetzt strahlte sie das aus, was sie oben auf der Bühne hatte vermissen lassen: Sinnlichkeit. »Was sollte ich schon dagegen haben?«, fragte Cohen. »Eben. Noch kann ich tun und lassen, was ich will.« »Schon gut, Rose«, versuchte er sie zu beruhigen, denn er kannte ihr ungezügeltes Temperament. »War nur eine Frage am Rande.« Neil Hatters verschwand schnell hinter einer Tür. Rose wandte sich ab und schritt mit herausfordernd wiegenden Hüften auf eine schmale Tür zu, hinter der sich ihre Garderobe befand. Marvin folgte ihr und kleidete sie mit seinen Blicken aus, wozu allerdings nicht viel gehörte. Sie trug nur einen zerknitterten Schminkmantel, der gerade bis zu ihren Oberschenkeln reichte. Ihre Körperlinien zeichneten sich deutlich ab, wirkten aufreizend und gleichzeitig vulgär. Sie war seine geheime Leidenschaft, von der er keinem Menschen je erzählt hatte. Er liebte diesen Körper, der schon durch sehr viele
Hände gegangen war. Er liebte ihre ordinäre Sprache. Er ließ sich nur zu gern von ihr beherrschen. In ihrer Gegenwart brauchte er nicht den starken Mann zu spielen, den nichts zu erschüttern vermochte. War er bei ihr, konnte er sich ungeniert gehen lassen. »Bist du nicht in Form?«, fragte sie überrascht, als er nicht wie üblich auf sie reagierte. Sie hatte sich den leichten Schminkmantel abgestreift und präsentierte sich ihm in ihrer ganzen aufreizenden Nacktheit. Rose war gewohnt, dass er in solchen Augenblicken hilflos war, nur noch ein Sklave ihres Willens und Verlangens. Marvin Cohen lächelte verlegen, fast gequält. Er musterte ihren Körper mit prüfenden Blicken, doch das Verlangen, sie zu besitzen, blieb aus. Cohen dachte unwillkürlich an Lilian Hunter. Was für ein Unterschied! Hier die ordinäre Frau, dort eine zerbrechliche Dame. Hier nichts als Lust, dort eine Hilflosigkeit, die mit Sex überhaupt nichts zu tun hatte. Rose Jamin beging einen Fehler. Sie wollte Cohen animieren, schlängelte sich an ihn heran, legte ihre Arme um seinen Hals und presste ihren Körper an ihn. Normalerweise genügte das, um Marvin herauszufordern, doch an diesem Abend reagierte er anders. »Hau ab!«, herrschte er sie an und schob sie abrupt von sich. »Musst du immer nur daran denken?« »Immer«, gab sie lächelnd zurück. »Lass mich!« Er griff nach ihren Handgelenken, umspannte sie und schleuderte Rose auf die schmale, durchgelegene Couch, die an der Längswand der Garderobe stand. Sie richtete sich auf, sah ihn verblüfft an. »So ist das also«, sagte sie langsam. »Ich habe kapiert, du Strolch. Ich bin dir also nicht mehr gut genug. In Ordnung, aber dann verschwinde und lass dich nie wieder sehen! Typen von deiner Sorte bekomme ich jeden Tag. Hau ab und geh! Du widerst mich an.« Sie lachte jetzt spöttisch, legte sich zurück und schien seine Gegenwart bereits vergessen zu haben. Berechnung war in ihrer Haltung. Sie wusste genau, wie man diesen grobschlächtigen Mann zu behandeln hatte. »Hör zu, Rose«, entschuldigte sich Cohen. Er hatte Lilian vergessen, sah nur noch diesen nackten Körper. »Leg doch nicht alles auf
die Goldwaage!« »Verschwinde!«, fuhr sie ihn gereizt an. »Du gehst mir schon lange auf die Nerven.« Sie schwang ihre Beine herum, setzte sich auf und griff nach ihren Strümpfen, die über einem Hocker lagen, und streifte sie sich aufreizend über. »Rose!« Er beugte sich über sie, roch den starken Moschusduft, den ihre Haut ausströmte, wollte ihre Schultern küssen. Rose wusste, dass sie ihn wieder im Griff hatte, lachte girrend, schob ihn zurück, widersetzte sich gespielt seiner Umarmung und ließ sich dann küssen. Während er die Augen schloss, sah sie ihn abschätzend an. Dann löste sie sich von seinem Mund und griff nach ihrem Schminkmantel. »Du machst mich verrückt«, sagte er und atmete schwer. »Du bist auch nicht ohne, Marvin.« »Komm, lass uns schnell abhauen!«, bat er ungeduldig. »Sag mal, Marvin, du kennst dich doch mit 'ner Menge Sachen aus, wie?« Wieder dieser schnelle, prüfende und abschätzende Blick. »Was meinst du speziell?«, fragte er anzüglich. »Ich hab da heute im Radio was aufgeschnappt, Marvin. Irgendwas von einer schwarzen Messe und einem Geheimorden.« »Thelema-Orden, nicht wahr?« »Genau. So was möchte ich mal mitmachen.« »Bist du verrückt?«, fragte er auflachend und schüttelte dann den Kopf. »Lass bloß die Finger davon! Du sitzt schneller in der Tinte, als du glaubst.« »Bring mich zu solch einer schwarzen Messe!«, forderte sie und drängte sich wieder an ihn. »Dann kannst du von mir verlangen, was immer du willst. Alles.« Während sie redete, trat ein eigenartiges Glänzen in ihre Augen, das er bisher noch nie an ihr beobachtet hatte. Sollte sie sich etwa schon im Bann der Radiobeschwörung befinden? Aber kam es darauf an? Sie bot ihm alles, was immer er von ihr verlangte. Warum sollte er nicht auf ihren Vorschlag eingehen, zumal er sich ja ohnehin mit dem Thelema-Orden befassen wollte? »Einverstanden«, sagte er und drängte sie zur Couch hinüber.
»Einverstanden, Rose.« Sie knickte vor der Couchkante in den Knien ein und legte sich zurück. Er übersah das triumphierende Funkeln in ihren Augen.
Monty Cooke war allein auf der großen Bühne und befand sich in einer Art Rausch. Er hatte die Bestie Publikum gebändigt. Sie fraß ihm aus der Hand. Vom Lampenfieber war nichts mehr zu spüren. Souverän beherrschte er das Geschehen und löste mit seinen Darbietungen immer wieder Beifallsstürme aus. Im Schnittpunkt einiger gleißender Scheinwerfer saß er auf einem Studiohocker und führte seine Dialoge mit den Puppen, die durch seinen Mund antworteten. Die Täuschung war perfekt. Wenn die Puppen redeten, dann war Montys Mund geschlossen. Seine Technik war vollkommen. Er konnte rauchen oder trinken, und dennoch produzierte er Satzkaskaden. Monty war eine Sensation, denn über die normalen Tricks hinaus konnte er auch noch jede beliebige Stimme imitieren, Stimmen von bekannten Politikern, Show-Stars und Schauspielern. Er hatte gerade seine Nummer mit Jerry Lewis gebracht, die umwerfend komisch war. Das quäkende Näseln des Komikers kam seiner Technik besonders entgegen. Als der Beifall ertönte, rutschte Monty vom Studiohocker und verbeugte sich. Er verschwand für Sekunden in der Dunkelheit neben den Lichtkegeln, griff nach Liz Taylor und erschien wieder im Licht. Jetzt war die Sexnummer an der Reihe, wie er sie privat nannte, ein pikanter Dialog zwischen ihm und Liz, dessen Wirkung in einem offensichtlichen Missverständnis bestand. Die Nummer war zwar uralt, doch sie verfehlte ihre Wirkung nie. Der Dialog schien schlüpfrig und sehr anzüglich zu sein, bis das Publikum endlich merkte, dass die Puppe Liz bei ihm nur einen Kater kaufen wollte und ihn für einen Tierzüchter hielt. Monty stieg auf den Hocker, wollte die ersten Worte der Handpuppe formen, als sie zu reden begann. Sie redete, ohne dass er etwas dazu tat.
Bestürzt wandte er den Kopf und betrachtete Liz. Doch sie war es nicht. Er hielt eine fremde Puppe in der rechten Hand. Und sie redete! »Lass den Quatsch, Monty!«, sagte sie herausfordernd. »Hör endlich auf mit dieser blöden Show! Es gibt wichtigere Dinge.« Monty brach der kalte Schweiß aus. Er wusste nicht, woher diese Stimme kam, doch er sah ganz deutlich, dass sich die Kinnlade der Handpuppe bewegte, ohne dass er den Mechanismus betätigte. Monty improvisierte. Kein Mensch hier in dem großen Variete durfte ahnen, dass die Show außer Kontrolle geraten war. Er sah jetzt auch, dass das Gesicht dieser Handpuppe etwas irritierend Menschliches hatte. Es war ein hässliches Gesicht mit Hakennase, hohen Brauen und betonten Wangen. Der Mund war breit und zynisch, die Augen glühten wie glimmende Kohlen. »Es gibt wichtigere Dinge?«, wiederholte Monty mit heiserer Stimme. »Du kennst doch das große Tier, nicht wahr?« »To Mega Therion«, bestätigte Monty. »Der Herrscher des ThelemaOrdens.« »Na, endlich sind wir beim Thema!« Monty fühlte, wie seine Hand in der Puppe bewegt wurde. »Was hast du uns zu sagen?« Er hatte diese Frage gar nicht stellen wollen, doch sie kam wie selbstverständlich über seine Lippen. In dem großen Haus war es totenstill geworden. Wussten die Zuschauer, dass dort oben auf der Bühne nicht mehr gespielt wurde? »Crowley ist zurückgekommen!«, rief die Puppe, deren Stimme sich jetzt fast überschlug. »Das große Tier wartet auf euch, ihr Dummköpfe. Beugt euch dem Willen Satans! Werdet frei! Feiert seine schwarzen Messen und dient ihm mit Lust!« »To Mega Therion!«, riefen einige Stimmen aus dem Zuschauerraum. Irgendwo lachte eine Frau hysterisch und animiert auf. Ein zögernder Buhruf wurde niedergezischt. »Worauf wartet ihr noch, Kinder des Satans?«, rief die Puppe in den Zuschauerraum. »Kommt herauf und zeigt ihm euren Gehorsam! Das große Tier sieht euch und wird bei euch sein.«
Nein, Monty konnte nichts dagegen tun. Die Puppe deutete obszöne Bewegungen an, die an Eindeutigkeit nicht zu übertreffen waren. Einige Frauen und Männer erhoben sich zögernd von ihren Sitzen, schoben sich in den breiten Mittelgang, kamen auf die Bühne zu. »Die Lust wird euch zu neuen und wahren Menschen machen«, verkündete die Puppe in Montys Hand. Er hatte sie längst wegwerfen wollen, doch sie war wie festgeschmiedet. Und plötzlich war da Musik. Sie stammte nicht vom Orchester, das unterhalb der Bühne im Orchestergraben saß. Die Musiker waren aufgestanden, hatten ihre Instrumente aus der Hand gelegt und verrenkten sich die Hälse, um den Vorgang auf der Bühne besser beobachten zu können. Die Musik kam von überall, war schwül und sinnlich, erinnerte an schweres, betäubendes Parfüm. Dann wechselte der Rhythmus; er wurde schneller und peitschender. Schrille Dissonanzen klangen auf, verstärkten sich, wurden zu einer wilden Kakophonie, die die Nerven der Zuschauer vibrieren ließ. Monty kniff die Augen zusammen, als die ersten Zuschauer über die Seitentreppe herauf auf die Bühne kamen. Eine junge Frau riss und zerrte sich ihre Kleider vom Körper, begann zu tanzen. Sie passte sich der schrillen Musik an, näherte sich Monty und der Puppe, fiel vor ihr auf die Knie und hob beschwörend die Arme. Ein älterer Mann riss sie hoch und zurück, schlang seine Arme um ihren fast nackten Oberkörper, tanzte täppisch mit ihr und grölte wild. Mehr und mehr Zuschauer waren auf der Bühne. Im Zuschauerraum wurden Rufe nach dem großen Tier laut. Die Stimmen vereinigten sich schließlich und priesen im Chor den Namen Satans. Eine Frau von etwa vierzig Jahren wälzte sich in wilden, schamlosen Zuckungen auf dem Boden der Bühne. Sie schien besessen zu sein, fetzte sich ihr teures Abendkleid vom Körper und schnellte sich mit dem Unterleib immer wieder hoch. »Nimm mich, großes Tier!«, schrie sie ekstatisch. »Nimm mich! Dein Geschöpf will ich sein!« Die Handpuppe beugte sich vor, lachte hämisch und meckernd. Ein stechender Schmerz fuhr durch Montys Handgelenk, die Bewegung der Puppe war zu plötzlich gekommen. Es war dieser
Schmerz, der ihn aus dem lähmenden Bann befreite. Monty Cooke rutschte vom Studiohocker herunter, griff mit der linken Hand nach dem Kopf der fremden Puppe und – zerrte ihn wütend vom schwarzen Umhang. Da schrie die Puppe. Es war ein greller, gellender Schrei des Zorns. Der bewegliche Unterkiefer schnappte nach seiner Hand wie ein gefährliches Tier. Monty ließ sich nicht beeindrucken. Er schmetterte den hässlichen Kopf der Puppe zu Boden und trat mit seiner rechten Schuhspitze mit aller Kraft dagegen. Ein aberwitziger Schrei gellte durch den Saal. Während der Kopf durch die Luft flog, schrie der Mund, der dann jäh verstummte, als der Kopf zwischen den Stuhlreihen landete und auseinander barst. Die Menschen auf der Bühne waren erstarrt. Die Musik brach jäh und misstönend ab. Zuerst folgte eine unheimliche Stille, die dann vom Aufschrei der Satansanhänger zerschnitten wurde. Wie von Sinnen stürzten sich die Frauen und Männer auf Monty. Sie sahen wüst aus in ihren zerfetzten Kleidern. Hass und Wut speichelte aus ihren Mundwinkeln. Arme wurden ausgestreckt, Hände wollten Monty fassen. Er spürte instinktiv, dass es um sein Leben ging, und rannte nach vorn zur Rampe, verfolgt von den Anhängern des Satanskults. Er stolperte, verlor das Gleichgewicht und stürzte in den Orchestergraben, spürte aber überhaupt keinen Schmerz. Er raffte sich auf und rannte weiter. Als er die Tür zum Orchestergraben erreicht hatte, hörte er die Signalpfeife eines Polizisten. Monty wusste nicht, wie er den Weg in den unteren Korridor schaffte. Er boxte sich einen Weg durch die neugierige Menge am Bühneneingang und erreichte endlich die Straße. Eine Traube aus Frauen und Männern hatte sich vor dem Variete versammelt, begehrte Einlass, drückte die Türen ein und stürmte in die Vorhalle. Von weit her waren die Sirenen von Polizeifahrzeugen zu hören. Monty wandte sich hastig ab und rannte wie gehetzt die schmale Straße hinunter. Er keuchte vor Angst und Grauen.
»Das passt genau ins Bild«, sagte Trevor Sullivan und schaltete den Radioapparat aus, der eben die Abendmeldungen gebracht hatte. Er wandte sich zu Donald Chapman um, der in dem großen Raum keineswegs verloren wirkte. Obwohl Chapman nur dreißig Zentimeter groß war, stellte er eine Persönlichkeit dar, die man nicht übersehen konnte. Er saß auf einer Fußbank und lehnte mit dem Rücken an der Sitzkante eines Sessels. »Der Vorfall im Piccadilly erinnert mich an Phillips Worte«, sagte Chapman nachdenklich. »Können Sie sich erinnern? Er sprach außerdem von Wasser und Nebel.« »Wir müssen an diesen Bauchredner herankommen. Vielleicht kann er uns ungewollt weiterhelfen.« »Was sagen Ihre Gewährsmänner? Sie haben doch stundenlang herumtelefoniert.« »Dieser Satanskult ist wie eine Epidemie. Die Behörden kommen kaum noch nach. Wenn sie gerade einen Kultklub ausgehoben haben, schießen andere ins Kraut. Die Menschen benehmen sich wie verrückt. Sie haben sogar schon einige Kirchen ausgeplündert. Man ist sicher, dass sich der Kult noch weiter ausbreiten wird.« »Obwohl Aleister Crowley längst tot ist.« Chapman schüttelte ratlos den Kopf. »Wir wissen es, aber nicht die Anhänger des Satanskults, Chapman. Und dann ist da noch dieser verdammte Piratensender, der fast ununterbrochen seine Anweisungen ausstrahlt. In eingeweihten Kreisen weiß man längst, welche Frequenzen man einzustellen hat, um den Sender zu empfangen.« »Sender sind anzupeilen«, warf Donald Chapman ein. »Das hat sich als unmöglich herausgestellt.« »Unterstellen wir einmal, dass Phillip die richtige Eingebung hatte, dann würde das bedeuten, dass der Sender sich auf einem Schiff befindet. Sind Sie mit dieser Hypothese einverstanden?« »Worauf wollen Sie hinaus?« »Denken Sie doch mal an ein Unterseeboot! Es sendet und taucht wieder unter, wechselt die Position, taucht auf, sendet und ist schon
wieder verschwunden. Ein U-Boot könnte des Rätsels Lösung sein.« »Nicht schlecht. Hoffentlich haben die Behörden auch an solch eine Möglichkeit gedacht. Ich werde schleunigst nachfragen.« »Bleiben wir bei dem Sender. Er muss bedient und gewartet werden. Wer steckt hinter diesem neuen Satanskult? Wer ist in die Rolle dieses Crowley geschlüpft? Es muss jemand sein, der sich im Dämonenkult besonders gut auskennt.« »Die Dämonen selbst werden den Sender bedienen. Oder ihre Kreaturen.« »Mir kommt da ein verrückter Gedanke. Könnten alle diese Vorgänge nicht mit Lilian Hunter zu tun haben? War es wirklich nur ein Zufall, dass sie ausgerechnet in der Kirche, in der sie damals Dorian heiratete, von den Satansanhängern überfallen wurde?« »Ich sehe da keinen Zusammenhang.« »Mir geht Coco nicht aus dem Kopf. Keiner von uns weiß, wo sie steckt. Sie hat sich nicht gemeldet, obwohl sie bestimmt die Macht dazu hätte.« Sullivan musste zugeben, dass auch er Cocos Entscheidung, das Team zu verlassen, nicht nachvollziehen konnte. Aber er glaubte nicht, dass sie etwas mit den Vorgängen zu tun hatte. »Wir sollten aufhören zu spekulieren. Ich werde mal 'raus zu der kleinen Kirche fahren und mich dort umsehen.« »Ich würde gern mitkommen«, sagte Chapman. »Sie sollten die Stellung halten und Cohen nicht aus den Augen lassen. Der Mann befindet sich in einer Art Krise, finden Sie nicht auch?« »Er ist verliebt in Lilian«, sagte Chapman lakonisch. »Dazu braucht man kein Hellseher zu sein.« »Hoffentlich stellt er keine Dummheiten an. Verliebte verlieren leicht die Übersicht.«
Er erinnerte an eine fette Kreuzspinne. Die langen, dürren Arme und Beine standen in keinem Verhältnis zu seinem fast kugelrunden Körper, auf dem ein gleichfalls kugelrunder Kopf saß. Der Hals fehl-
te. Die schwarzen, ein wenig schräg geschnittenen Augen schienen unergründlich zu sein. Diese menschliche Kreuzspinne hieß Wilbur Smart, war altersmäßig nicht zu bestimmen und der Anführer der Londoner Freaks. Er lag fett und träge auf einer Matratze, über die ein weißes Fell gespannt war. Die Ausgeburt an Hässlichkeit sah zur Tür des großen Raumes hinüber, die soeben geöffnet wurde. Marvin Cohen trat ein, begleitet von zwei menschlichen Spottgeburten. Einer seiner Begleiter war zwar normal gebaut, besaß jedoch kein Gesicht. Dort, wo der Mund sein musste, war nur eine kreisrunde Sauföffnung zu sehen. Eine Nase war nicht vorhanden. Sie wurde ersetzt durch eine Art Knospe, die rosarot aussah. Der zweite Mann trug ungemein schwer an der Last seines riesigen Kopfes, unter dem der schmale, winzige Körper fast verschwand. Große Ohren, die an Segel erinnerten, rundeten das Bild ab. »Marvin Cohen«, sagte Wilbur Smart ohne jede Überraschung, »ich sage von vornherein nein.« »Du weißt ja noch gar nicht, was ich will.« »Es kann nichts Gutes sein, Cohen.« »Du siehst mich völlig falsch.« Cohen sah sich in dem Raum um, der ihn an einen bequemen Partykeller erinnerte. Es gab in einer Ecke eine Bar, in einer anderen eine Sitzgruppe, und außerdem lagen viele einladende Matratzen und Lederkissen herum. Der Boden war mit einem dicken Spannteppich ausgelegt. Es roch ein wenig süßlich. Die Mehrzahl der Freaks konnte sich bei Tageslicht nicht auf den Straßen sehen lassen. Die Menschen wären schreiend vor diesen Ausgeburten der Hölle davongerannt. Die Freaks wussten um ihr Aussehen und bewohnten die zahlreichen Kellerräume eines großen Hauses in der Nähe der East India Docks. Es handelte sich um ehemalige Dämonen, die gegen die Gesetze der Schwarzen Familie verstoßen hatten. Sie waren mit Schimpf und Schande ausgestoßen worden, hatten alle Rechte verloren und waren zusätzlich durch ihr Aussehen bestraft. Die höllische Fantasie der Dämonen hatte mit ihnen ein grausames Spiel getrieben.
In den Räumen über dem Souterrain wohnten Freaks, die sich wenigstens im Schutz der Dunkelheit hinaustrauen durften. Sie versorgten das Haus und ihre Leidensgenossen, traten nach außen hin als die alleinigen Hausbewohner auf. Materiell waren die Freaks abgesichert, denn das letzte Band zur Schwarzen Familie war natürlich nicht abgeschnitten worden. Sie wussten von dunklen Geheimnissen, durften nach Schätzen graben und entwickelten dabei ein unheimliches Gespür für Gold. Nein, materielle Not litten sie nicht, aber die Dämonen hatten dafür gesorgt, dass sie nur noch eine Art Zwischenexistenz führen konnten. Eine schrecklichere und teuflischere Strafe hätte die Schwarze Familie sich gar nicht ausdenken können. Natürlich hassten die Freaks die Schwarze Familie, ein Umstand, den der Dämonenkiller Dorian Hunter hin und wieder für seine Arbeit nutzte. Die Freaks hatten ihm in der Vergangenheit schon manchen Hinweis geliefert. Sie vertrauten ihm, wussten, dass Dorian Hunter Diskretion bewahrte. Marvin Cohen war ein abgebrühter Mensch, doch der Anblick der Freaks verursachte ihm immer wieder Übelkeit. Er versuchte seine Gefühle zu verbergen, doch das gelang ihm nur sehr unvollständig. »Ich bitte dich nur um einen kleinen Gefallen, Smart.« »Auch das klingt schon nicht gut.« »Was ist mit dem Satanskult hier in London los? Ich weiß, dass du im Bilde bist.« »Satanskult?« Smart rückte seinen dicken Spinnenleib schwerfällig zurecht. »Tu nicht so ahnungslos! Was wird hier gespielt? Wer steckt hinter dem Sender des Thelema-Ordens? Wer gibt sich als Crowley aus?« »Ich weiß nicht, wovon du redest.« »Ich brauche nur einen Tipp.« »Nimm doch einfach an, dass die Schwarze Familie dahintersteckt. Reicht dir das?« »Überhaupt nicht.« »Aber mir und uns«, stellte der Anführer der Freaks fest. »Wenn es um die Schwarze Familie geht, halten wir uns raus. Das hier« – er
deutete auf sich – »ist nicht alles, was die Familie mit uns anstellen kann.« »Nicht nur die Schwarze Familie!« Marvin Cohen handelte blitzschnell. Er zerrte den überraschten Freak von der Matratze, schmetterte ihn zu Boden und hatte auch schon die magische Kreide in der Hand. Bevor die beiden anderen Freaks sich einschalten konnten, hatte Cohen einen magischen Kreis um sich und Smart gezogen. Gewiss, die Freaks besaßen nicht mehr die Macht der Dämonen, doch sie kannten immer noch eine Menge Kniffe und Tricks, die sehr unangenehm werden konnten. Die beiden Freaks wollten ihrem Anführer zu Hilfe kommen, doch sie prallten von der unsichtbaren Wand des magischen Kreises ab. Sie heulten qualvoll auf, fuhren zurück, kratzten an der Sperre, umschlichen sie, suchten nach einem Einlass. »Gebt euch keine Mühe!«, sagte Cohen lässig. »Das hier hab ich von Dorian Hunter. Gelernt ist gelernt.« »Was soll das alles?«, fragte Smart, der auf dem Boden lag und zu Cohen hochschaute. Hier im magischen Kreis traute er sich nicht, Cohen anzugreifen. Er fürchtete einerseits dessen Kraft und Brutalität, zum anderen aber auch die lähmende Wirkung der magischen Kräfte in diesem Zirkel. »Hör jetzt genau zu!«, sagte Cohen. »Ich werde ohnehin herausbekommen, was ich erfahren will. Ich weiß, dass ihr Freaks verdammt empfindlich seid, wenn man die richtigen Saiten anschlägt.« Wilbur Smart sah zu Boden, keuchte, zog sich zusammen, senkte den Kopf. »Du wirst gleich vor Schmerz schreien«, drohte Cohen weiter. »Ich – ich kann und darf nicht reden. Die Schwarze Familie würde uns vernichten.« »Was hältst du davon, wenn ich dich raus auf die Straße schleppe, Smart?«, erkundigte sich Cohen, der den wunden Punkt des Freak genau kannte. »Ich könnte dich zum Beispiel am Piccadilly Circus aussetzen.« »Nein, nein! Ich darf nicht reden!« »Stell dir mal die verrückte Treibjagd vor, Smart, die anhebt, wenn
man dich sieht. Sie werden dich durch die Stadt hetzen wie ein wildes Tier, sie werden dich steinigen oder zertreten. Entscheide dich! Ich verliere langsam die Geduld.« »Lass die Finger vom Satanskult!«, beschwor Smart seinen Widersacher. »Du kommst gegen die Dämonen nicht an, Cohen. Das schafft nur Dorian.« »Ich glaube, wir sollten jetzt rauf auf die Straße gehen.« »Also gut. Dann bring dich um!«, stöhnte der Anführer der Freaks. »Ich habe dich gewarnt, Cohen. Mach mir später keine Vorwürfe!« »Rede endlich!« »Die Schwarze Familie hat den Satanskult neu angeheizt«, gestand Smart leise. »Die Zeit ist reif für die Übernahme der Macht durch die Dämonen.« »Wo steht der Sender des Thelema-Ordens?« »Auf einem Schiff, nicht weit von hier in den Docks. Es ankert unter Wasser. Mehr weiß ich wirklich nicht.« »Was ist das für ein Kahn?« »Er wurde im Krieg versenkt. Ein ehemaliges Küstenschiff für die Luftwarnung. Daher auch der starke Sender an Bord. Um Mitternacht steigt es auf und fährt die Themse hinunter bis in den Kanal. Von dort aus wird gesendet.« »Klingt nach einer müden Schauergeschichte. Hoffentlich hast du mir nichts vorgelogen. Wohin du dich auch immer verdrückst, ich werde dich finden. Und was dann passiert, brauche ich dir ja nicht groß zu erklären, oder?« »Ich habe die Wahrheit gesagt, Cohen. Die ganze Wahrheit.« »Dann werde ich mir diese Wahrheit mal aus der Nähe ansehen«, antwortete Cohen. »Such einen netten Begleiter, vor dem die Leute auf der Straße nicht sofort davonrennen, für mich aus! Bis Mitternacht ist es nicht mehr lange. Der alte Kahn müsste demnach ja bald auftauchen.«
Sie hatte sich ein wenig Mut angetrunken. Jean Neil, achtundzwanzig Jahre alt, mittelgroß und schlank, spielte immer wieder mit dem
Gedanken, diese Verabredung abzusagen. Was sie am Vortag noch wie selbstverständlich zugesichert hatte, kam ihr an diesem Abend wahnwitzig und verrückt vor. Jean war eine sogenannte grüne Witwe, die sich seit einigen Monaten langweilte. Ihr Mann, ein leitender Angestellter in der Ölbranche, befand sich in Schottland und managte dort die Errichtung großer Öltanks, die das Nordseeöl aufnehmen sollten. Peter kam nur alle vierzehn Tage nach London und hatte dann nie mehr als drei Tage frei. Jean hatte sich damit abgefunden, denn materiell ging es ihnen ausgezeichnet. Wenn nur nicht diese schreckliche Langeweile wäre! Und genau hier hatte ihre Freundin Betsy eingehakt, zuerst vorsichtig, dann immer deutlicher und lockender werdend. Sie redete von einem privaten Klub zur intensiveren Gestaltung des Lebens, sprach von der Schaffung einer neuen Persönlichkeit und hatte vor wenigen Tagen endlich den Begriff schwarze Messe verwendet. Jetzt sollte sie solch eine schwarze Messe besuchen dürfen. Betsy hatte sich für ihre Diskretion verbürgt und ihr die mündliche Einladung des Klubs überbracht. Jetzt, da ihr Zweifel kamen, war es zu spät. Vor dem Reihenhaus erschien der Mini-Cooper. Betsy stieg aus dem Wagen und kam mit schnellen Schritten auf das Haus zu. Sie war eine Frau von dreißig Jahren, wirkte ein wenig füllig und sinnlich. Jetzt trug sie einen einfachen Trenchcoat und ein Kopftuch. Betsy klingelte stürmisch und anhaltend, wie es ihre Art war. »Wie, noch nicht angezogen?«, fragte sie, als Jean öffnete. »Ich brauche mir nur noch den Mantel überzuwerfen«, antwortete Jean, »aber weißt du, Betsy, ich … Also, ich würde wohl doch lieber …« »Willst du aussteigen, Schätzchen?« »Ich weiß nicht recht, Betsy.« »In ein paar Stunden denkst du anders darüber. Dann weißt du überhaupt nicht mehr, was Angst ist.« »Geht da auch wirklich alles sauber zu?« »Mein Wort darauf, Liebes«, versicherte Betsy. »Aber beeil dich
jetzt, sonst werden wir nicht mehr eingelassen.« Um weitere Fragen abzuschneiden, langte Betsy nach Jeans Mantel und legte ihn über die Schultern ihrer Freundin. Mit sanfter Gewalt drängte sie Jean nach Draußen. Nach etwa einer Viertelstunde erreichten sie ein Backsteinhaus in einer Durchgangsstraße. Als die beiden Frauen ausstiegen, sah Jean sich vergeblich nach einem Hinweisschild auf den Klub um. Betsy übernahm die Führung. Sie ging durch einen schmalen Torbogen in den Hinterhof, drückte eine Seitentür auf und folgte dem trüben Licht einiger Glühlampen. Jean schloss dicht zu Betsy auf. Sie hatte Angst. Diese Angst war es, die sie daran hinderte, sich umzudrehen und zurück zur Straße zu laufen. Eine weitere Tür, dann eine Steintreppe, die in den Keller führte. Auch hier nur sehr wenig Licht. Dann eine Tür, vor der Betsy stehen blieb. Sie klopfte in einem bestimmten Rhythmus. Die Tür öffnete sich, und Betsy zeigte eine Art Jeton aus schwarzem Kunststoff vor. Sie wurden eingelassen. Jean fühlte sich gar nicht wohl in ihrer Haut, als sie von dem Mann an der Tür prüfend gemustert wurde. Seine Augen gefielen ihr nicht. Sie blickten aufdringlich und frech. Der Mann trug einen weiten, schwarzen Umhang in der Art einer Mönchskutte. Auf dem Stoff entdeckte Jean Symbole, mit denen sie nichts anzufangen wusste. »Nun komm schon!« Betsy betrat einen kleinen Raum, der als eine Art Garderobe hergerichtet war. Sie kümmerte sich nicht weiter um ihre Freundin und entkleidete sich mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass es Jean die Sprache verschlug. Aus einem Wandschrank holte Betsy eine schwarze Kutte hervor, die an den Seiten weit geschlitzt war und ihre Oberschenkel zeigte. »Worauf wartest du denn noch?« Betsy hatte sich umgedreht und sah Jean gereizt an. »Nun hab dich nicht so! Das ist eben unsere Klubkleidung. Nun mach doch endlich!« »Ich soll mich ausziehen?« Sie war gewiss nicht prüde, aber das hier ging ihr doch zu weit.
»Ja, natürlich. Und dann rein in die Kutte. Du wirst dich wunderbar fühlen.« »Da mache ich nicht mit.« »Ich werde so lange wegsehen.« »Darum geht es doch gar nicht.« »Hörst du? Sie fangen schon an!« Betsy wirkte sehr aufgeregt, als der Klang eines dunklen Gongs zu hören war. Nervös zerrte sie am Trenchcoat ihrer Freundin, knöpfte ihn auf. Sie riss ihn von Jeans Schultern, nestelte am Rockverschluss herum und machte den Reißverschluss auf. Sie achtete überhaupt nicht auf Jeans abwehrende Hände. Die Tür öffnete sich. Eine andere Frau erschien. Sie war groß und stattlich, nickte Betsy und Jean zu und beeilte sich mit dem Auskleiden. Die Frau war schon sehr aus der Form geraten, wie Jean mit einem schnellen Seitenblick feststellte. »Neu hier, nicht wahr?« Sie baute sich vor Jean auf und lächelte ihr beruhigend zu. »Nur keine Angst! Es wird Ihnen bestimmt gefallen. Ich komme zu jedem Klubabend. Warten Sie! Ich werde helfen.« Jean war wie betäubt, während sie aus ihren Kleidern geschält wurde. Bevor sie Scham empfinden konnte, stülpte Betsy ihr schon die schwarze, weite Kutte über den nackten Körper. »Warte, bis der Stoff warm wird!«, sagte Betsy glucksend und jetzt zufrieden wirkend. »Dann hast du das Gefühl, als ob tausend Hände dich streicheln würden.«
Der Untote neben ihm sah wie ein gewöhnlicher Sterblicher aus. Nur ein Eingeweihter hätte von dem bleichen und blassen Gesicht ablesen können, dass Cohens Begleiter aus dem ruhelosen Zwischenreich kam. Er saß neben Cohen im Wagen und machte einen apathischen und abwesenden Eindruck. Cohen hielt vor einer Telefonzelle, stieg aus und wählte die Nummer der Villa. Schon nach wenigen Sekunden meldete sich der Puppenmann. »Marvin hier. Ich bin da einer tollen Sache auf der Spur, Donald.
Es dreht sich um den Piratensender Crowleys, du weißt schon. Ich habe eben rausbekommen, wo der Kahn zu finden ist.« »Marvin, lass die Finger davon!«, warnte Chapman eindringlich. »Das kann dich den Kopf kosten.« »Keine Sorge! Den behalte ich auf meinem Hals. Du meinst wohl, so was könnte nur Dorian schaffen, wie?« »Warte wenigstens, bis Sullivan zurückkommt!« »Wie soll der alte Geier mir schon helfen? Der würde nur stören.« »Von wem hast du die Informationen, Marvin?« »Von den Freaks. Sie waren so freundlich.« »Du hast sie doch nicht unter Druck gesetzt, oder?« »Ich war höflich wie selten. So, und jetzt sehe ich mir den alten Kahn mal aus der Nähe an. Er liegt irgendwo auf dem Grund des East India Docks. Das nur zur Information.« »Ich könnte in spätestens einer halben Stunde draußen bei dir sein, Marvin.« »Lass mal! Halte du dort die Stellung! Ende.« Cohen verließ die Telefonzelle und zündete sich eine Zigarette an. Ihm kam eine Idee. Er wusste schließlich, wo er sich mit magischen Waffen versorgen konnte. Sie befanden sich in Dorian Hunters Reihenhaus, im Kabinett der Magie. Warum sollte er sich nicht ein paar dieser Dinge ausleihen? Er schaute auf seine Armbanduhr. Bis Mitternacht hatte er noch gut fünfzig Minuten Zeit. Das musste reichen. Er setzte sich ans Steuer und preschte los. Die Tür zum Reihenhaus war kein Problem für ihn. Er schaffte sie auch ohne Schlüssel; dazu brauchte er nur die Klinge seines Messers. Vorsichtig drückte er die Tür auf und stahl sich ins Haus. Es roch nach abgestandener Luft, nach Geheimnis und rätselhafter Verlockung. Cohen ging unwillkürlich auf Zehenspitzen durch den großen Wohnraum im Erdgeschoss und erreichte die Tür, hinter der sich Dorians Horrorsammlung befand. Fundstücke der Geschichte, die mit einem Fluch beladen waren. Nur ein Dorian Hunter konnte es sich leisten, solche magischen Dinge zu sammeln, mit ihnen zu leben. Er hatte sie aus allen Ecken der Welt zusammengetragen und
kannte die Geschichte eines jeden Stückes. Sie alle standen in enger Beziehung zu Dämonen und zur Schwarzen Familie, hatten über Leben und Tod, Fluch und Verdammnis entschieden. Cohen fand schnell, wonach er suchte. Das Henkersschwert befand sich in einem mit blutrotem Samt ausgeschlagenen Kasten. Langsam öffnete er ihn, um sich zu vergewissern. Die leicht gekrümmte, zweischneidige Klinge von der Breite einer Männerhand glühte förmlich im Licht der Taschenlampe, die Cohen mit in die Wohnung genommen hatte. Hastig schloss er den Kasten und sah sich nach einer Waffe für den Untoten um. Eine wirkungsvolle Unterstützung im Kampf gegen die Dämonen konnte auf keinen Fall schaden. Cohen entschied sich für ein breites, kurzes und beilähnliches Schwert, das aus Spanien stammen musste. Es mochte zu Zeiten der Inquisition benutzt worden sein. Er nahm sich nicht die Zeit, das dazugehörige Dokument zu lesen. Dieses Schwert war kaum länger als das im Kasten, ließ sich also auch recht gut verbergen. Cohen blieb nur ganz kurz in dem Reihenhaus, das seit Dorians Verschwinden verwaist war. Er schloss geschickt die Tür hinter sich und ging zurück zum Wagen. Der Untote war nicht mehr ganz so lethargisch. Seine Augen glühten jetzt, sein Mund war leicht geöffnet. Es ging auf Mitternacht zu. Der unheimliche Begleiter näherte sich dem Zeitpunkt, der ihm so etwas wie einen Abklatsch des Lebens gestattete. »Das ist für dich«, sagte Cohen und drückte dem Untoten das beilähnliche Schwert in die Hand. »Damit schaffst du jeden Dämon, mein Junge.« »Jeden Dämon«, wiederholte der Untote mit einer Stimme, die an die eines kleinen Kindes erinnerte. Er drehte langsam den Kopf und musterte Cohen, als würde er ihn erst jetzt zur Kenntnis nehmen. »Komm bloß nicht auf falsche Gedanken!«, sagte Cohen und schlug sicherheitshalber das magische Kreuz. »Bei mir ist nichts zu holen.« »Mich bindet das Versprechen«, antwortete der Untote und wandte den Blick ab.
»Das möchte ich aber auch sehr hoffen.« Cohen sah den Untoten misstrauisch an und startete dann den Motor. Während der Fahrt fühlte er sich immer wieder von seinem unheimlichen Begleiter gemustert. Marvin fragte sich, ob Wilbur Smart ihn nicht doch hereingelegt hatte. Der Untote neben ihm war ihm mehr als unheimlich.
Es waren tausend Finger, die ihre Haut kosten und streichelten. Jean Neil hockte neben ihrer Freundin Betsy auf einem Sitzkissen auf dem Boden und starrte neugierig und erwartungsvoll auf den Vorhang aus rotem Samt, der jetzt zu dröhnenden Gongschlägen zur Seite gezogen wurde. Magisches rotes Licht ergoss sich über eine Art Altar, der auf einer erhöhten Empore stand. Hinter diesem Altar formten sich aus dicken, weißen Nebelschwaden die Umrisse einer seltsamen Figur, die Jean zuerst für einen Buddha hielt. Da waren der feiste und nackte Bauch, die gekreuzten Beine und die massigen Schenkel; das Gesicht war nicht genau zu erkennen. Jean glühte. Ihr Körper strahlte eine ihr bisher unbekannte Hitze aus. Sie empfand dieses Gefühl als äußerst angenehm. »Warum sieht man nicht das Gesicht?«, flüsterte sie Betsy zu. »Still. Vielleicht darfst du es sehen. Vielleicht.« Jean rutschte unruhig auf dem Sitzkissen umher, bewegt von der Hitze in ihrem Körper, die fast unerträglich wurde. Schweiß bildete sich auf ihrer Haut. Monotones Murmeln war zu hören. Worte, die Jean nicht verstand; wenigstens zuerst nicht. Doch wenig später, als ihre Ohren sich an das Gemurmel ein wenig gewöhnt hatten, entsetzte sie sich. Die Mitglieder des Klubs – es mochten insgesamt vielleicht zwanzig Personen sein – leierten eine Art Gebet herunter, in dem sie die Begriffe und Worte eines heiligen Gebetes absichtlich in den Schmutz zogen. Am liebsten wäre sie jetzt aufgesprungen und hätte diesen Tempel Satans verlassen. Doch die Neugierde überwog. Dazu kam das prickelnde Gefühl auf ihrer Haut. Sie beschloss, einfach nicht mehr hinzuhören, aber das vermochte sie auch nicht. Die Anwesenden baten
Satan um den rechten Weg zur Lust und Freiheit der Sünde. Die Stimmen vereinigten sich zu einem Chor, der immer beschwörender betete. Betsy Argent schien die Formeln in- und auswendig zu kennen. Inbrünstig und sich immer wieder rhythmisch nach vorn neigend, beteiligte sie sich an diesem Anti-Gebet, geriet wie die anderen im Raum in Ekstase und riss sich plötzlich, als der Gong wieder ertönte, die schwarze Kutte über der Brust weit auf, sprang hoch und drängte nach vorn zum Altar. Von dem Gesicht der Statue, die vielleicht anderthalb Meter groß war, konnte Jean zwar noch immer nichts sehen, doch in dem weißen, wallenden Nebel glühten zwei Augen auf, die sich ausschließlich auf sie zu konzentrieren schienen. Jean glaubte zu verbrennen. Auch sie riss die Kutte jetzt auf, merkte gar nicht, dass die Kutte entsprechend geschickt geschnitten war. Jean entblößte ihre Brust und drängte ebenfalls nach vorn, angetrieben von einer Lust und einem Verlangen, das sie vorher noch nie gekannt hatte. In ihr brannte ein Feuer, das sie fast wahnsinnig machte. Ein Priester erschien vor dem Altar und segnete die Geschöpfe Satans mit einer unglaublich gemeinen und abstoßenden Geste. Er trug eine weite, tiefrote Kutte, die bei dieser Bewegung über seinem nackten Körper auseinander fiel. Jean starrte auf den Mann, von dessen schwarzen und gierigen Augen sie sich hypnotisiert fühlte. Sie ging weiter auf den Altar zu, merkte kaum, dass die Anwesenden zur Seite wichen und eine Art Gasse bildeten. Sie fiel vor dem Priester auf die Knie, keuchte vor Lust und Verlangen. Er beugte sich zu ihr hinunter, griff nach ihren Schultern und richtete sie auf, zog sie an den Altar, präsentierte sie den Frauen und Männern, die längst wieder auf ihren Knien lagen und Beschwörungen und höllische Bitten stammelten. Jean ließ sich widerstandslos über den Altar drängen, leistete längst keinen Widerstand mehr, war nur noch verlangendes Fleisch. Sie nahm nicht wahr, dass sie aus der Kutte geschält wurde, hob die
Arme und streckte sie sehnsüchtig dem Priester Satans entgegen.
Es dauerte etwa zehn Minuten, bis sie die Stelle erreicht hatten, an der das seinerzeit versenkte Küstenschiff auftauchen sollte. Nach Cohens Uhr fehlten bis Mitternacht nur noch knapp zehn Minuten. Er selbst hatte gerudert, weil er dem Untoten nicht die notwendige Kraft für die beiden Riemen zutraute. Sie lagen jetzt unterhalb einer immer noch zerstörten Kaimauer, auf der sich die Ruinen einer alten Fabrik befanden. Die Szenerie war gespenstisch. Cohen wusste, dass es hier in den alten Docks Ruinen aus der Kriegszeit gab. Aufgebaut konnten die Lagerhallen oder Fabriken nicht werden, weil die Eigentümer dieser Bauten und Grundstücke auf bessere Zeiten hofften, um noch günstiger verkaufen zu können. Die Stadtverwaltung hatte deshalb darauf verzichtet, die alten Kais neu herzurichten. Mit ein paar geschickten Ruderschlägen brachte Marvin Cohen den Kahn, den er sich am Hauptdock einfach sozusagen ausgeliehen hatte, in den Schatten einer verrosteten Verladebrücke. Er durfte sicher sein, dass sie hier nicht entdeckt wurden. Mitternacht! Die Glockenschläge einer Kirchturmuhr irgendwo in Hafennähe hallten über die Docks. Cohen starrte auf das schmutzige Wasser, wartete darauf, dass sich etwas tat. Er hatte das Gefühl, von dem Freak Wilbur Smart hereingelegt worden zu sein. Ja, er wollte schon aufgeben und packte nach den Riemen, als der Untote sich plötzlich aufsetzte und dann mit einer fast schüchternen, ängstlichen Handbewegung auf das Wasser deutete. Das Unglaubliche geschah. Nicht weit von der Verladebrücke entfernt kochte plötzlich das Wasser, sprudelte, warf dicke Blasen, rauschte. Dann tauchten zwei abgeknickte Maststümpfe auf, danach die Aufbauten eines Ruderhauses und schließlich die Reling des großen Küstenkutters. Das Wasser lief erstaunlich leise ab. Der Kutter machte einen morschen und verrotteten Eindruck. Cohen entdeckte über der Wasserlinie ein ausgezacktes, großes Leck. Nebel kam auf, kroch von allen Seiten auf den Kutter zu. Die Ne-
belschwaden verdichteten sich und hüllten ihn ein. Sie wallten über das Wasser und schufen eine Zone der Unwirklichkeit. Durch diesen Nebel entdeckte Cohen Licht. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Es musste aus dem Ruderhaus kommen. Der pestilenzartige Gestank wurde noch intensiver. Cohen zögerte, das kleine Ruderboot in die Nebelschwaden zu bugsieren. Er fühlte die Augen des Untoten auf sich ruhen, der das Schwert schlagbereit in den Händen hielt – wohl nur auf den Augenblick wartend, sich auf Cohen werfen zu können. Die angespannte Haltung seines Begleiters gab den Ausschlag. Cohen griff nach den Riemen und brachte das Boot in Fahrt und auf Kurs. Es dauerte nur wenige Minuten, bis der Rumpf des Küstenkutters vor ihm auftauchte. Cohen nahm das Henkersschwert aus dem Kasten und stieg entschlossen an Bord des Geisterschiffes. Der Untote folgte ihm mit seltsam eckigen Bewegungen. Cohen orientierte sich kurz. Auf Schiffen kannte er sich aus. Wenn es an Bord dieses Kutters wirklich einen Sender gab, dann musste er sich unten in der Kabine neben der Kapitänskajüte befinden. Er steuerte auf die Lichtquelle im Ruderhaus zu und blieb überrascht stehen. Vor ihm war plötzlich eine Gestalt, wie man sie sich grauenvoller nicht vorstellen konnte. Faules Fleisch, Ölreste und Tang hingen an bleichen Knochen. Und die Gestalt lebte! Glühende Augen ruhten auf Cohen, musterten ihn gierig. Dann streckte die Schreckensgestalt die knochigen Arme aus. Cohen sprang zurück und schlug mit dem Henkersschwert zu. Der scharfe Stahl, der in finsterer Vergangenheit Hexen und Dämonen enthauptet hatte, tat auch hier seine Wirkung. Der Kopf der gespenstischen Erscheinung kullerte über das Deck und landete lautlos im Wasser. Cohen war nicht mehr zu halten. Er pirschte sich an das Ruderhaus heran und schaute durch die zerbrochene Fensterscheibe ins Innere, sah aber nichts. Die Treppe hinunter zu den Kabinen war nass und schlüpfrig, schlammbedeckt und morsch. Cohen setzte einen Fuß auf die erste
Stufe und belastete das Bein vorsichtig. Langsam brachte er Stufe um Stufe hinter sich und erreichte den schmalen Gang, von dem die Kabinen abzweigten. Stimmen! Eine Tür war nur angelehnt. Cohen drückte sie vorsichtig auf und schnappte nach Luft, als wieder pestilenzartiger Gestank seine Nase hochstieg. Zwei Untote saßen vor einem Sende- und Empfangsgerät und hantierten an Schaltern und Drehknöpfen. Sie glichen dem Monstrum, das er an Deck außer Gefecht gesetzt hatte. Einer von ihnen wandte sich halb um, blickte in eine Ecke der Funkkabine, in die Cohen nicht sehen konnte, und nickte auffordernd. Die näselnde, blecherne Stimme hatte er schon einmal gehört, als er der derben Krankenschwester von der O'Hara-Stiftung den Clip aus dem Ohr genommen hatte. Jetzt hörte er sie im Original. Sie begann mit einer Durchsage für alle Dienerinnen und Diener des großen Tieres. Cohen trat die Tür mit großer Wucht auf, und noch bevor die Untoten reagieren konnten, trennte er ihnen mit einem Schlag die Köpfe vom Rumpf. Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. In der Ecke, die er vom Eingang nicht hatte übersehen können, stand – Coco Zamis! Sie hielt ein Mikrofon in der Hand und drehte sich jetzt betont langsam zu ihm um. Sie sah hinreißend wie immer aus, schlank und exotisch, mit dem schwarzen Haar und den dunkelgrünen Augen. Immer schon hatte Cohen diese Frau begehrt, die die Freundin und Geliebte Dorians gewesen war, bis sie vor kurzem auf geheimnisvolle Art und Weise verschwunden war. Sie lächelte mokant, beendete ihre Durchsage und schien sich nicht weiter um ihn kümmern zu wollen. Marvin Cohen sah rot. Diese Missachtung reizte ihn bis aufs Blut. Sie war es also, die den Satanskult in der Stadt anheizte! Sie war zurück zu den Dämonen gegangen, zu denen sie einstmals gehört hatte. Sie hatte sie alle verraten, Dorian, Sullivan, Phillip, Chapman und vor allen Dingen ihn. Aus dem bisherigen Verlangen wurde der Wunsch zu töten. Marvin Cohen hob das magische Schwert und holte aus, um Coco zu vernich-
ten. Sie zuckte nicht zurück, streckte nur leicht ihre linke Hand aus und ließ die Zeit vorspringen. Sie verfügte über die Mittel, die Zeit in ihrer direkten Umgebung nach ihrem Belieben ablaufen zu lassen. Alles um sie herum, auch Marvin Cohen, erstarrte in Bruchteilen von Sekunden fast zur Regungslosigkeit. Mit einer selbstverständlichen Geste nahm sie ihm das magische Schwert ab und legte es auf den Tisch. Auch der Untote hinter Cohen war zu einer bewegungslosen Säule geworden. Das von seinem Leib heruntertropfende Wasser schien zu Eis erstarrt. Tropfen blieben in der Luft stehen, schienen an unsichtbaren Fäden zu hängen. Jetzt bezog Coco Marvin Cohen in den rascheren Zeitablauf ein. Er wollte sich sofort auf sie stürzen, besann sich aber eines Besseren. »Warum tust du das?«, fragte er sie und deutete auf das Mikrofon, das sie auf den morschen Tisch stellte. »Da fragst du noch?«, gab sie zurück. »Hast du Dorian vergessen?« »Was hat das alles mit Dorian zu tun?«, fuhr er sie wütend an. »Du hast uns alle verraten. Du bist zurück zu den Dämonen gegangen.« »Ich will Dorian helfen«, sagte sie klar und nüchtern. »Hör mir einen Moment zu! Vielleicht begreifst du dann, Marvin.« »Ich glaube dir kein Wort.« »Es geht einzig und allein um Dorian«, wiederholte sie fast geduldig, »und um Lilian.« »Daher pfeift also der Wind!« Cohen nickte grimmig und dachte an die zarte, zerbrechliche Frau, die er in der Stiftung hatte zurücklassen müssen. »Lilian ist sein Untergang.« »Das behauptest du! Wieso soll sie ihm plötzlich schaden?« »Besteht nicht die Aussicht, dass sie wieder gesund wird?« »Woher willst du denn das wissen?«, fragte er verblüfft. »Ich weiß es eben«, antwortete sie leichthin. »Sie muss in der Stiftung bleiben. Eine nur halbwegs gesunde Lilian würde Dorian lähmen.«
»Warum bringst du sie nicht um? Dann ist dieses Problem für dich gelöst.« »Du hast deine Lektionen schlecht gelernt, aber das passt zu dir. Geisteskranke sind für Dämonen tabu. Solltest du das vergessen haben? Sie stehen außerhalb unserer Gewalt.« »Unserer Gewalt? Du bist also in die Schwarze Familie zurückgekehrt. In Gnaden aufgenommen, wie?« Cohen lachte angewidert. »Sie darf die Stiftung nicht verlassen«, wiederholte Coco, ohne auf Marvins Frage einzugehen. »Ist sie erst wieder gesund, ist Dorian der Schwarzen Familie hilflos ausgeliefert. Dann ist er gerade Lilians wegen verwundbar.« Cohen dachte an die Szene in der kleinen Dorfkirche. »Jetzt geht mir ein Licht auf. Du hast Lilian in die kleine Kirche gelockt.« »Die Kirche, in der sie Dorian heiratete.« Coco nickte. »Dort wird sie den Schock erhalten, den sie braucht.« »Hast du Dorian damals nicht geraten, Lilian in die O'Hara-Stiftung zu geben? Diese Klinik musste dir sehr gut passen, Coco. Ganz in der Nähe der Trauungskirche. Du hast dich rückversichert.« Sie ging nicht auf seine Frage ein, lächelte nur rätselhaft. »Diese Irre darf nicht zurück ins Leben«, sagte sie hart. Wollte sie Cohen herausfordern? Dann hatte sie ihr Ziel erreicht. Der Ausdruck Irre ließ seine Wut hoch kochen. Er griff nach dem Henkersschwert und wollte zuschlagen. Aber da, wo Coco noch eben gestanden hatte, durchschlug das Schwert nichts als Leere und Luft. Die junge Hexe hatte ihn, ohne dass er es gemerkt hatte, aus dem Zeitfeld ausgeschlossen und war verschwunden. Der Untote hinter ihm bewegte sich. Das Wasser rann wieder über die Wände der Funkkabine. Marvin fühlte sich hilflos. Was sollte er jetzt machen? Wie konnte er diese Funkstation des Satans endgültig vernichten? Noch einmal würde sich ihm solch eine Möglichkeit bestimmt nicht bieten. Er sah ein Radio, das Coco zurückgelassen hatte, und da kam ihm eine verwegene Idee. Er erinnerte sich an Dorians Worte. Danach war sakrale Musik ein Medium, Dämonen und Besessene empfindlich zu treffen. Laut Dorian wirkte solche Musik wie Sprengstoff auf
die Unwesen. Er versuchte sein Glück, hatte allerdings wenig Hoffnung, solch eine Musik zu finden. Er schaltete das kleine Gerät ein, suchte verzweifelt und war ganz auf sein Gefühl angewiesen, da er mit ernster Musik nichts anzufangen wusste. Plötzlich hörte er ein feines Reißen und Knirschen im Schiffsrumpf, das er sich zuerst nicht erklären konnte. Es war nicht mehr zu hören, als er weiterdrehte, und es war wieder da, als er den Suchknopf zurückdrehte. In diesem Augenblick begriff Cohen. Er hatte die richtige Musik gefunden. Rasch korrigierte er die Einstellung. Er hörte so etwas wie einen Chor, dessen Stimmen laut aufjubelten. War das sakrale Musik? Das Knirschen im Schiffsrumpf verstärkte sich. Wasser sprudelte durch die rissigen Planken der Kabine. Und dann dröhnte eine Orgel aus dem Radio. Er schaltete das Mikrofon ein und drehte die Kirchenmusik noch lauter. Bruchteile von Sekunden später brach der Schiffsrumpf knirschend auseinander. Armdicke Wasserstrahlen schossen in die Kabine. Cohen stieß einen Schrei aus, rannte zur Tür und durch den schmalen Gang hinüber zur Treppe. Die Stufen brachen unter ihm einfach ab, lösten sich auf. Marvin wusste später nicht zu sagen, wie er an Deck gelangt war. Er sprang über die Reling und hechtete ins rettende Wasser. Als er auftauchte, hörte er in der dichten Nebelbank ein schmatzendes und saugendes Geräusch. Luftblasen platzten, Wasser gurgelte. Dann verdichtete sich der Nebel immer stärker und wurde zu einer meterdicken Säule, die ebenfalls blitzschnell im Wasser versank. Der Küstenkutter war verschwunden. Nicht der kleinste Holzrest trieb auf dem vollkommen ruhigen Wasser. Die Kirchenmusik hatte ihre Wirkung getan. Der Kutter war zerborsten und mit ihm der Sender des Satans vernichtet. Von seinem Begleiter konnte Cohen nichts entdecken, so sehr er auch die Wasseroberfläche nach ihm absuchte. Der Untote war zusammen mit dem Kutter untergegangen, war wohl ebenfalls endgül-
tig in das Reich der Toten zurückgekehrt. Langsam schwamm Marvin Cohen zum Kai hinüber und fand dort das kleine Ruderboot. Als er sich hineinschwang, wunderte er sich, dass das Henkersschwert in seinem Gürtel steckte. Wann er es an sich gerissen hatte, konnte er nicht mehr rekonstruieren, aber das war auch nicht so wichtig. Hauptsache, der Sender Satans war vernichtet. Damit musste auch der Satanskult in sich zusammenbrechen. Cohen war stolz auf sich. Nicht nur ein Dorian Hunter wusste mit Dämonen umzugehen. Nur ein kleiner Schönheitsfehler blieb zurück: Coco Zamis war entkommen. Sie würde alles daransetzen, Lilian Hunter seelisch für immer zu zerstören. Cohen legte sich in die Riemen und ruderte an Land. Es galt, Lilian vor dieser wilden Dämonin zu schützen.
Trevor Sullivan befand sich seit fast einer Stunde in der kleinen Dorfkirche. Er hatte hinter dem Altarbild Posten bezogen und rührte sich nicht von der Stelle. Der ehemalige Observator Inquisitor mit dem Geiergesicht hatte viel Geduld, denn er wusste, dass sich noch etwas ereignen würde. Seine rechte Gesichtshälfte glühte – ein sicheres Zeichen dafür, dass Dämonen in der Nähe waren. Nach seinem grässlichen Unfall, der auf das Konto der Dämonen ging, war diese Gesichtshälfte sensibilisiert worden. Er nannte sie scherzhaft sein Dämonenradar. Während der Fahrt hierher hatte sich Sullivan immer wieder mit Chapmans Hypothese beschäftigt. Er wusste, dass der Puppenmann nicht einfach so daherredete. Ging es bei diesem ganzen Satanskult wirklich nur um die Person von Lilian Hunter? Stand Coco Zamis hinter diesem Piratensender des Satans? War dieser neue Kult vielleicht nur inszeniert worden, weil Coco eifersüchtig auf Lilian war? Trevor Sullivan schüttelte all diese Gedanken sofort ab, als er vor dem Eingang zur kleinen Kirche eine seltsame, irrwitzige Musik hörte, die anschwoll und peinigend laut wurde. Und da flog auch schon die Tür auf, schwang zurück, fiel fast aus den Angeln. Eine
unheimliche Prozession tanzte und wirbelte herein, angeführt von einem Mann, der eine große Handpuppe auf dem Arm hatte. Diese Puppe, wüst geschminkt, abstoßend hässlich, einer Teufelsmaske ähnlich, besaß Eigenleben. Sie schrie schrill nach dem großen Tier und pries To Mega Therion. Sullivan fiel es wie Schuppen von den Augen. Er erinnerte sich der Radiodurchsage, die seinen Ausflug hierher ausgelöst hatte. Der Mann, der die Puppe trug, musste der Bauchredner aus dem Piccadilly sein, der seine Zuschauer zur Feier der schwarzen Messe auf die Bühne eingeladen hatte. Im Gefolge dieses Mannes, der direkt auf den Altar zustrebte, befanden sich etwa zwei Dutzend Anhänger des Satanskults. Wie sie unbemerkt durch die Stadt hierher gekommen waren, vermochte Sullivan sich nicht zu erklären; aber darauf kam es auch gar nicht an. Sie waren hier, schändeten die Kirche und wollten die Messe des Satans feiern. Die wüsten Gestalten tanzten durch die Bankreihen, stießen Verwünschungen aus, beleidigten den sakralen Raum. Sie versammelten sich vor den Stufen des Altars und huldigten dem Bauchredner und der Puppe auf seinem Arm. Mit schriller, zynischer Stimme zelebrierte diese Puppe den Beginn der schwarzen Messe. Sie hob die Arme in einer segnenden Geste, pries den Fürsten der Finsternis, lieferte die perfekte Parodie einer heiligen Messe und beleidigte sie zusätzlich durch Obszönitäten. Die Anhänger Satans, die vor der Puppe knieten – sie waren durchweg vermummt, so dass man ihre Gesichter nicht erkennen konnte – intonierten einen Gesang, der einem Choral gleichkam. Doch der Text war eine einzige Verhöhnung der Kirche, war durchsetzt mit Gemeinheiten. Die Vermummten begleiteten sich dazu auf improvisierten Lärminstrumenten, die aus leeren Konservendosen, Eimern und Holzknüppeln bestanden. Sie schlugen den Takt zu ihrem Gesang, formierten sich wieder zu einer Prozession und hüpften und sprangen wie besessen vor dem Altar umher. Trevor Sullivan hatte sich etwas zu weit vorgewagt. Ein gellender
Warnschrei machte auf ihn aufmerksam. Der Bauchredner fuhr herum, sah ihn, belegte ihn mit unflätigen Flüchen und schien dann, von der Puppe gelenkt und gesteuert, auf ihn eindringen zu wollen. »Tötet diesen Ungläubigen!«, schrie er. »Tötet diesen Feind Satans! Vernichtet ihn! Reißt ihn in Stücke!« Die Vermummten folgten dem Befehl, stürmten zum Altar und drangen auf Sullivan ein, der zurückwich und sich verzweifelt nach einem Fluchtweg umsah. Um Zeit zu gewinnen, hob er das Kruzifix, das er vorsichtshalber vom Altar genommen hatte, und hielt es den Satansanhängern entgegen. Sie zeigten sich unbeeindruckt, und sie reagierten auch nicht auf das Weihwasser, mit dem er sie aus einer Hostienschale bespritzte. Normalerweise hätten sie entsetzt zurückweichen müssen. Da begriff Trevor Sullivan. Sie mussten schon einmal vor ihm hier in der kleinen Dorfkirche gewesen sein. Sie hatten die sakralen Gegenstände und das Weihwasser ganz bewusst gegen Imitationen ausgetauscht; sie hatten sich auf geradezu teuflische Art und Weise abgesichert. Jetzt waren sie still, unheimlich still, schoben sich an Sullivan heran, angeführt von dem Mann, den er für den Bauchredner aus dem Piccadilly hielt. Die Puppe auf seinem Arm hatte sich weit vorgebeugt, glühte Sullivan aus bösen Augen an, in denen sich Spott und Hohn spiegelten. Ja, sie wollten ihn töten. Sullivan zweifelte keine Sekunde mehr daran. Sein Tod sollte zum Höhepunkt dieser makabren Messe werden. Er schüttelte die Lähmung ab. Der alte Kampfgeist wurde in dem kleinen, mageren Mann geweckt. Er ging zum Angriff über und riss das kleine Halskreuz von der Kette. Chapman hatte ihm geraten, diese Reliquie auf jeden Fall als Waffe mitzunehmen. Es handelte sich um ein geweihtes Kreuz, das Dorian ihm einstmals mitgebracht hatte. Die Wirkung war ungeheuer. Kreischend wichen die Vermummten zurück, hoben in panischem Entsetzen abwehrend die Arme,
heulten auf wie Tiere, zuckten wie unter unsichtbaren Schlägen zusammen. Die Puppe zappelte in konvulsivischen Zuckungen auf der Hand des Bauchredners, der starr stehen geblieben war und Sullivan anstierte. Sullivan begnügte sich nicht mit diesem ersten Erfolg. Wie ein Geier sprang er auf den Bauchredner zu, griff nach der Puppe und riss ihr mit einem schnellen Ruck den Kopf ab. Dann drückte er das geweihte Kreuz in das Gesicht der Teufelsfratze. Die Wirkung war frappierend. Es zischte, und kleine Feuerzungen leckten hoch. Es roch nach verbranntem Fleisch. Im magischen Feuer verkohlte der Kopf der Puppe, ohne dass der Bauchredner sich rührte. Er blieb nach wie vor starr stehen, schien wie versteinert zu sein. Und dann gellte ein Schrei durch die Kirche, ein Schrei, der zu einem tierischen Geheul wurde. Bevor die Teufelsfratze der Puppe restlos verglühte, bäumte sie sich noch einmal verzweifelt auf. Sie fiel aus der Hand des Bauchredners und landete auf dem Steinboden. Das langgezogene Geheul konnte aus keiner menschlichen Kehle stammen. Ein Dämon schien aus der Puppe gefahren zu sein. Das Heulen zog eine Art akustischer Spur durch die Kirche, bewegte sich hinauf zur Empore, auf der die Orgel stand und zertrümmerte ein Fenster. Glas splitterte, Scherben regneten auf die Betbänke herunter. Das Geheul verhallte. Die Satansanhänger wandten sich zur Flucht. Panisch drängten sie sich durch die Tür. Auch der Bauchredner rannte los, doch er hatte nicht mit Sullivan gerechnet. Dieser schnitt ihm den Weg ab und hielt ihm das geweihte Kreuz entgegen. Der Mann stöhnte auf, fasste nach seinem Kopf, fiel auf die Knie und rollte dann ohnmächtig auf die Seite. Sullivan schleifte den Bauchredner keuchend zurück zum Altar und beobachtete die Vermummten, die weiterhin hinaus ins Freie drängten. Er war mit seinem Fang zufrieden und sah hinüber zu der am Boden liegenden Puppe, deren Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verkohlt war. Sullivan wurde den Eindruck nicht los, dass die ver-
brannte Fratze ihn selbst jetzt noch höhnisch anstarrte.
Marvin Cohen hatte seinen Bericht beendet und zündete sich jetzt zufrieden eine Zigarette an. Es schmeichelte ihm, wie sehr Sullivan und Chapman beeindruckt waren. »Sie hatten also Recht, Donald«, sagte Sullivan, sich an den Puppenmann wendend. »Was soll das heißen?«, schaltete Cohen sich misstrauisch ein. Er fürchtete, seine Gesprächspartner doch nicht hinreichend genug überrascht zu haben. »Chapman hatte die Möglichkeit aufgeworfen, dass zwischen Coco und dem Satanskult eine Verbindung besteht. Vielleicht hatte sie sogar die Absicht, Lilian zu schaden.« »Und ob sie diese Absicht hat!«, versicherte Cohen noch einmal nachdrücklich. »Sie selbst hat es mir ja gesagt.« »Sie haben erstklassige Arbeit geliefert, Cohen«, lobte Sullivan den grobschlächtigen Mann. »Die Satanswelle dürfte damit für immer verstummt sein.« »Was nicht viel zu besagen hat«, warf der Puppenmann nachdenklich ein. »Der Sender ist hin«, versicherte Cohen gereizt. »Daran zweifelt doch keiner«, versicherte Chapman geduldig. »Aber mit der Vernichtung dieses Teufelssenders ist der Satanskult nicht erloschen.« »Was wollen die Verrückten denn ohne Sender anfangen?« »Sie wissen inzwischen, wie sie sich zu verhalten haben. Der Beweis dafür sind die Vorgänge in der Dorfkirche, die Sullivan miterlebt hat.« »Stimmt«, pflichtete Sullivan bei. »Der Sender existierte schon nicht mehr, als die Satansanbeter in der Kirche erschienen.« »Dieser Kult ist wie ein Flächenbrand«, meinte Donald Chapman. »So etwas ist nur sehr schwer einzudämmen.« »Und wie löschen wir diesen Brand?« Cohen hatte sich wieder beruhigt.
»Ich weiß es noch nicht«, sagte Sullivan. »Bleiben wir vorerst bei Lilian. Wir wissen von Ihnen, Cohen, dass Coco sie vernichten will.« »Darauf können Sie sich verlassen. Deutlicher hätte Coco sich überhaupt nicht ausdrücken können.« »Dann müssen wir sie noch im Laufe dieses Tages aus der Stiftung schaffen. Sie liegt zu nahe an der bewussten Dorfkirche. Dort scheint für mich der Dreh- und Angelpunkt dieser höllischen Inszenierungen zu liegen.« »Und wohin sollen wir sie bringen?« »Vielleicht hierher in die Villa«, schlug Chapman vor. »Gute Idee«, pflichtete Cohen dem Puppenmann bei. Seine Zustimmung kam eine Spur zu schnell. »Wir sind keine Ärzte«, widersprach Sullivan. »Und ärztliche Betreuung braucht Lilian nun mal. Machen wir uns darüber später Gedanken.« »Sie muss raus aus der Stiftung«, wiederholte Cohen nachdrücklich. »Ich habe Coco gesehen und gehört. Ich kenne den Hass, den sie auf Lilian hat.« »Sicherer wäre es natürlich für Lilian, Coco zu neutralisieren«, warf der Puppenmann besonnen ein. »Sie umbringen?« Cohen befreundete sich sofort mit diesem Gedanken. »Neutralisieren«, wiederholte Chapman, »nicht töten. Was später mit ihr geschehen soll, liegt einzig und allein bei Dorian.« »Aber wie wollen Sie an Coco herankommen?«, wollte Sullivan wissen. »Sie wird sich leicht vorstellen können, woran wir denken, und wird sich hüten, unseren Weg zu kreuzen.« »Sie wird ihn kreuzen müssen, denn sie will Lilian zurück in die totale geistige Verwirrung stoßen. Sie will laut Cohen Lilian schocken. Und wo? In der kleinen Dorfkirche.« »Sollen wir Lilian etwa als Köder benutzen?«, brauste Cohen auf. »Unsinn!«, fuhr Sullivan ihn an. »Lilian bleibt aus dem Spiel. Das dürfte doch wohl selbstverständlich sein.« »Wann wird Coco zu ihrem Schlag ausholen?«, fragte der Puppenmann nachdenklich. »In der kommenden Nacht?«
»Ich weiß, wie wir das aus erster Quelle erfahren können«, meinte Cohen spontan. »So reden Sie doch endlich!«, forderte Sullivan ihn auf. »Ich habe da eine Bekannte, die Satansanhängerin ist«, sagte Cohen ausweichend. »Und wie steht es mit diesem Bauchredner, Sullivan, den Sie mit zu uns ins Haus geschleppt haben?« »Monty Cooke meinen Sie? Der Mann selbst ist wieder vollkommen in Ordnung, aber vielleicht können seine Puppen reden. Die Dämonen benutzen sie, um ihre Botschaften auch ohne Sender zu verbreiten.« »Dann schaffen wir ihm doch die Puppen heran«, schlug Chapman vor. Er sah Cohen fragend an. »Das werde ich übernehmen«, entschied Marvin und nickte. »Ich muss sowieso noch mal zu meiner Bekannten. Doppelt genäht hält besser.« Er hatte es plötzlich sehr eilig. Echte Sorge um Lilian trieb ihn an, aber das brauchten seine Partner ja nicht zu wissen. Als Cohen den großen Wohnraum des Hauses verließ, kam der Hermaphrodit die Treppe hinunter. Er glich einem überirdischen Wesen. Phillip sah durch Cohen hindurch und hatte ein rätselhaftes Lächeln auf den Lippen. Er ging an Cohen vorüber, der ihm gereizt und fasziniert zugleich nachsah. Er wusste mit diesem Menschen einfach nichts anzufangen, spürte jedoch die seltsame Ausstrahlung des Hermaphroditen, der auch jetzt wieder in Trance zu sein schien. Phillip ging zum Kamin hinüber, bückte sich und holte ein Stückchen Holzkohle aus der Feuerstelle. Zögernd, als würde seine Hand von einer unsichtbaren Kraft gelenkt, strichelte Phillip dann scheinbar wahllos auf einer Zeitung herum, die er aus dem Fach eines Beistelltischchens hervorgeholt hatte. Nach einer Weile ließ er die Zeitung achtlos zu Boden sinken, warf das Stückchen Kohle in die Feuerstelle zurück und ließ sich in seinem Sessel nieder. Sullivan stand leise auf, griff nach der Zeitung und studierte das Gestrichel. Er beugte sich so weit hinunter, dass auch der Puppenmann die Zeichnung sehen konnte. Cohen kam von der Tür zurück und baute sich hinter Chapman auf. »Was soll denn das bedeuten?«, fragte er leise.
»Ich kann nichts erkennen«, bedauerte Sullivan und kniff die Augen zusammen. »Aber seht doch!«, rief der Puppenmann da leise aus. »Dort der Turm! Und hier das Seitenschiff! Das ist eine Kirche. Ich erkenne sie ganz genau.« »Tatsächlich!«, sagte Cohen überrascht. »Jetzt sehe ich sie auch.« »Dieser Hinweis dürfte deutlich genug sein«, meinte Sullivan. »Phillip macht auf die Dorfkirche aufmerksam. Das ist der letzte Beweis für unsere Vermutung. Coco wird versuchen, genau dort Lilian zu vernichten. Jetzt wissen wir, was wir zu tun haben.«
Jean Neil lag im Bett und versuchte Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Sie fühlte sich zerschlagen und hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Nur bruchstückhaft konnte sie sich an die Vorgänge während der schwarzen Messe erinnern, doch diese wenigen Erinnerungsfetzen reichten aus, ihr das Blut ins Gesicht zu treiben. Sie war in der vergangenen Nacht zur Braut des Satanspriesters erkoren worden. An das, was sich danach auf und vor dem Altar abgespielt hatte, konnte sie sich leider noch recht gut entsinnen. Wie sie dann später zurück hierher ins Haus gekommen war, wusste sie nicht mehr. Ihre Freundin Betsy musste das besorgt haben. Zögernd schlug Jean die Bettdecke zurück und studierte ihren nackten Körper, der immer noch wie Feuer brannte. Spuren der Nacht konnte sie allerdings auf ihrer Haut nicht entdecken, was sie sichtlich beruhigte. Dennoch kam sie sich beschmutzt vor. Sie brauchte jetzt unbedingt eine Dusche. Als sie sich den Bademantel überwarf, klingelte es an der Tür. Sie lief zum Fenster hinüber, schaute nach unten und sah am Straßenrand den Mini ihrer Freundin. »Gut siehst du aus, Schätzchen«, sagte Betsy, nachdem Jean endlich geöffnet hatte. »Ich musste einfach vorbeischauen und nach dir sehen.« »Ich fühle mich wie zerschlagen.« »Kein Wunder.« Betsy lachte anzüglich auf. »Wie du's aber auch
getrieben hast, Jean! Du warst ja völlig aus dem Häuschen.« »Bitte, Betsy!« Sie hielt sich vor Scham die Ohren zu. »Warum willst du das nicht hören, Kleines? Ist doch überhaupt nichts dabei. Du warst wunderbar, wie alle gesagt haben. Und es muss dir auch gefallen haben.« »Ich werde nie wieder dorthin gehen, Betsy.« »Bist du sicher? Gut, ich kann verstehen, dass das alles noch neu für dich ist, aber du wirst dich sehr schnell daran gewöhnen. Doch weshalb ich vorbeikomme, Schätzchen: Du hast ja deine Marke vergessen.« »Ich brauche sie nicht. Bitte, sprich nicht mehr von dieser Nacht!« »So einfach ist das nicht, Jean.« Betsy wurde ernst. »Was meinst du?« »Du kannst nicht so tun, als sei überhaupt nichts passiert. Du gehörst jetzt zu uns. Für immer.« »Niemals, Betsy!« »Du bist eine Dienerin Satans geworden, Kleines. Hast du das vergessen? Er wird dich nie wieder freigeben.« »Das ist doch Unsinn. Wir leben doch nicht im Mittelalter.« »Möchtest du den Dämonen ausgeliefert werden, Kleines?« »Was soll denn das? Dämonen! Dass ich nicht lache!« »Schön, lache, wenn du kannst! Schau in den Spiegel! Ich glaube, dann weißt du, was ich meine.« Jean wurde blass, drehte sich zögernd um und trat vor den Spiegel – und fuhr entsetzt zurück. Eine hässliche Hexenfratze schielte sie an, ein Gesicht, das mit schwarzen, großen Warzen bedeckt war. Durch die geöffneten Lippen sah sie dunkle Zahnstummel. »Eine kleine Warnung«, hörte sie hinter sich die Stimme ihrer Freundin. »Eine Warnung für diejenigen, die nicht an die Macht der Finsternis glauben wollen.« Die Hexenfratze im Spiegel löste sich auf. Die Konturen dieses fremden Gesichtes formten sich neu; sie sah wieder ihr normales Gesicht. Jean schluchzte, wandte sich zu Betsy um. »Hast du jetzt begriffen? Möchtest du, dass dein Mann dich so sieht?«
»Um Himmels willen, nein!« Entsetzt stieß sie diese Worte hervor und krümmte sich dann vor Schmerz, stöhnte auf, fiel auf die Knie und wimmerte unter unsichtbaren Geißelhieben. »Im Namen des Teufels«, hörte sie Betsys Stimme, »sag das andere Wort nie wieder, Schätzchen! Sag es nie wieder! Es würde dich sonst zerfleischen.« Betsy half ihr aufzustehen. Sie öffnete Jeans Bademantel, streifte ihn über ihre Schultern, drehte sie zurück zum Spiegel. »Nein, nein!«, gurgelte Jean entsetzt. Ihre Haut war mit blutigen Striemen bedeckt, die langsam verblassten. »Du gehörst für immer ihm«, sagte Betsy andächtig. »Er ruft dich zur schwarzen Messe. In der kommenden Nacht erwartet dich der Fürst der Finsternis. Ich werde dich abholen, Jean. Sei bereit!« Das war nicht mehr Betsy, die redete. Eine fremde Zunge schien Besitz von ihr ergriffen zu haben. Jean spürte das ganz deutlich, fühlte die Drohung und die Macht dieser Aufforderung. Sie konnte einfach nicht anders. Sie fiel auf die Knie und beugte sich tief herab, bis ihre Stirn den Boden berührte. »Ich werde kommen als gehorsame Tochter Satans«, hörte sie sich sagen. »Ich werde kommen und bereit sein.«
Sie befand sich auf dem schmalen Grat zwischen Erinnerung und Wirklichkeit. Lilian Hunter hielt sich in ihrem komfortabel eingerichteten Zimmer auf und stand am Fenster. Unruhe hatte sie seit vielen Stunden erfasst. Sie sah hinaus in den weiten Park und hinüber zu dem kleinen Wäldchen, hinter dem die Kirche sein musste. Das schemenhafte Bild einer Hochzeit war haften geblieben. Immer wieder sah sie sich als glückliche Braut vor einem festlich geschmückten Altar. Sie bemühte sich angestrengt, dieses Bild zu ergänzen, forschte in ihrer Erinnerung nach dem Gesicht ihres Bräutigams, doch so sehr sie sich auch bemühte, das Gesicht blieb verschwommen. Lilian hatte Kopfschmerzen. Sie presste ihre Fingerspitzen gegen
die hämmernden Schläfen und bemerkte nicht, dass ihre Krankenschwester eintrat. Die derbe, resolut aussehende Frau musterte Lilian mit einem abschätzenden Blick. »Wie fühlen Sie sich?«, erkundigte sie sich sanft. »Die Hochzeit«, antwortete Lilian. »Es ist die Hochzeit. Und ich muss den Bräutigam sehen. Ich muss!« »Sie werden ihn sehen, Mrs. Hunter.« »Wann?« Lilian sah die Krankenschwester überrascht an. »Wenn Sie wieder vor dem Altar stehen.« »Ja, das ist es.« Lilian Hunter nickte und wunderte sich, dass alles plötzlich so einfach war. Natürlich musste sie zurück in die kleine Kirche. Natürlich musste sie wieder vor den Altar. Stand sie erst einmal vor dem Allerheiligsten, dann erkannte sie auch das Gesicht ihres Bräutigams. »Es ist alles vorbereitet«, redete die Krankenschwester eindringlich weiter. »Alles wartet nur noch auf die Braut. Achten Sie auf das Zeichen!« Lilian sah die Krankenschwester aus flackernden Augen an. Unruhe und Misstrauen keimten in ihr auf. Sie fühlte plötzlich die Bedrohung, die von dieser Frau ausging, hatte Angst, wich zurück. »Gehen Sie!«, sagte sie hastig. »Sie sollten sich hinlegen und Kraft schöpfen«, riet ihr die Schwester eindringlich. »Ich werde Ihnen eine Beruhigungstablette bringen.« »Gehen Sie doch endlich! Ich mag Sie nicht.« »Ich werde Sie zur Hochzeit abholen«, versprach die derbe Frau, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Der Bräutigam wartet bereits.« Lilian wandte sich ab und ignorierte die Anwesenheit der Krankenschwester, die jetzt böse lächelte und zur Tür ging. »Ich habe für das Hochzeitskleid gesorgt«, hörte Lilian sie sagen. »Die Braut muss geschmückt sein, wenn sie zum Bräutigam geht.« Lilian fuhr herum, wollte Fragen stellen, doch sie sah nur noch, wie die Tür sich schloss. Sie lief zur Tür, wollte sie öffnen, doch ihre Hand griff ins Leere. Lilian, die das Fehlen des Türknaufs bisher
überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hatte, begriff dunkel, was das zu bedeuten hatte. Wo war sie hier? Bisher hatte sie niemals Interesse an ihrer Umgebung gezeigt, doch plötzlich war diese alles beherrschende Frage in ihrem Kopf. Sie presste ihre Fingerkuppen erneut gegen die pochenden Schläfen und ahnte die fürchterliche Wahrheit. Sie musste sich in einer Heilanstalt für Geisteskranke befinden. Ja, so war es! Lilian stöhnte auf. Mosaiksteinchen ihrer Vergangenheit fügten sich zu einem ersten halbwegs vollständigen Bild zusammen. Seit wann mochte sie sich in dieser Anstalt befinden? Tage, Wochen, Monate oder gar vielleicht Jahre? Verzweifelt suchte sie sich an weitere Einzelheiten zu erinnern, lief mit ihren Gedanken jedoch gegen eine unsichtbare Wand. Lilian Hunter suchte nach einem Spiegel, für den sie sich bisher ebenfalls nie interessiert hatte. Aufatmend entdeckte sie den Spiegel über dem Waschbecken. Sie baute sich davor auf, betrachtete sich, sah das Gesicht einer blondhaarigen, blassen und zarten Frau, deren blassblaue Augen einen träumerischen Glanz besaßen. War sie das? Lilian zog mit ihren Fingerkuppen die Linien ihres Gesichtes nach, entdeckte sich neu und weinte dann plötzlich. Es waren Tränen der Erleichterung, der Freude. Sie erhielt ihre verlorene Identität zurück. Doch dann war da plötzlich wieder der peinigende Druck in ihrem Kopf, der Schmerz, der sie apathisch gemacht hatte und jetzt erneut in die Schatten zurückstieß. Verwirrt wandte sie sich ab, wusste mit dem wieder fremden Gesicht im Spiegel nichts anzufangen, schwankte zurück zum Fenster und hatte dann erneut das Bild der kleinen Kirche vor Augen. Sie sah sich vor dem Altar stehen und neben sich ihren Bräutigam, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte. Lilian taumelte zum Bett zurück, legte sich erschöpft nieder und reagierte kaum, als die Tür sich leise öffnete. Die Krankenschwester erschien und hielt eine weiße Porzellanschale in der Hand. Sie sah forschend auf Lilian Hunter herunter. Leise löste sie zwei Tabletten in einem gefüllten Wasserglas auf, hob Lilians Kopf an und flößte
ihr den Trank ein. Willig schluckte Lilian und ließ sich dann müde zurücksinken. »Die Hochzeit wird vorbereitet«, hörte sie die Stimme der Krankenschwester wie durch dichte Watte. »Der Bräutigam wartet auf seine Braut.« »Der Bräutigam wartet«, murmelte Lilian schwach, »der Bräutigam wartet.«
»In dieser Nacht ist es soweit«, sagte Cohen und warf die Puppen, die er aus Cooks Garderobe geholt hatte, achtlos in einen Sessel. Es war früher Nachmittag. Cohen wirkte sehr unternehmungslustig. »Haben Sie Einzelheiten für uns?« Sullivan sah Cohen wie immer etwas verkniffen an. »Meine Bekannte wird zu einer großen schwarzen Messe gehen«, sagte Cohen und verschwieg bewusst die Einzelheiten seiner Bekanntschaft mit der Stripperin Rose Jamin. »Wann und wo das über die Bühne geht, weiß sie noch nicht, aber ich werde auf jeden Fall dabei sein.« »Die kleine Dorfkirche«, sagte der Puppenmann. »Wahrscheinlich«, antwortete Cohen. »Aber bald werden wir's genau wissen. Ich bleibe auf jeden Fall am Ball.« »Könnten Sie uns nicht irgendwie verständigen?«, fragte Trevor Sullivan. »Ich werde ein kleines Funksprechgerät mitnehmen. Gibt es Neuigkeiten von Lilian Hunter?« »Ich habe eben erst in der Stiftung angerufen«, erwiderte Sullivan. »Mrs. Hunter geht es gut. Sie schläft.« »Vergessen wir nur nicht diese Krankenschwester. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie eine Anhängerin des Satanskults ist.« »Marvin hat Recht«, schaltete sich der Puppenmann ein. »Wir sollten Mrs. Hunter noch vor Einbruch der Dunkelheit aus der Stiftung holen.« »Warum nicht sofort?«, fragte Cohen. »Einverstanden«, sagte Sullivan. »Schalten wir besser jedes Risiko
aus. Coco ist in ihrem jetzigen Zustand unberechenbar.« »Das kann man wohl sagen«, meinte Cohen und dachte an seine Begegnung mit ihr auf dem Schiff der Untoten. »Ihr Hass auf Lilian ist grenzenlos.« Das Telefon läutete. Sullivan nahm den Hörer ab und meldete sich. Sein Geiergesicht wirkte plötzlich grau und eingefallen. Er hörte schweigend zu, sagte kein Wort und legte schließlich auf. »Coco ist uns zuvorgekommen. Lilian Hunter ist spurlos verschwunden.« Cohen wurde rot vor Zorn. »Das hat sie über diese Krankenschwester geschafft. Aber die soll jetzt was erleben!« »Was haben Sie vor, Cohen?«, fragte Sullivan laut, als Marvin zur Tür stürzte. »Ich werde mir diese Frau kaufen. Wetten, dass ich im Handumdrehen erfahre, wo Lilian ist?« »Warten Sie! Mit Gewalt erreichen wir überhaupt nichts. Die Krankenschwester weiß bestimmt nicht, wo Lilian steckt. Das wird Coco ihr sicher niemals gesagt haben. Uns interessieren keine Helfershelfer, Cohen. Wir müssen Coco finden, dann finden wir auch Lilian.« »Vollkommen richtig«, ließ der Puppenmann sich vernehmen. »Blinder Eifer schadet nur.« »Komm mir jetzt bloß nicht mit klugen Sprüchen!«, brauste Cohen gereizt auf, während er zum Kamin zurückkehrte. »Entschuldige, Marvin!«, sagte Chapman. »Ich kann dich ja verstehen. Am liebsten würde auch ich losrennen und irgendetwas tun, aber das bringt uns nicht weiter.« »Gehen wir doch logisch vor«, meinte Sullivan und zwang sich zur Ruhe. »Fragen wir uns, was Coco will.« »Sie will Lilian zurück in die totale geistige Verwirrung stürzen«, antwortete Cohen. »Und dazu will sie eine schwarze Messe zelebrieren«, dozierte Sullivan weiter. »Wo sie stattfindet, dürfte klar sein – nämlich in der alten Dorfkirche. Dorthin wird sie Lilian bringen, denn nur dort kann Coco für den Schock sorgen, den sie sich vorstellt.« »Also nichts wie hin zur Dorfkirche«, entschied Cohen hastig und
ballte die Fäuste. »Ohne jede Vorbereitung?«, fragte der Puppenmann. »Wissen wir, ob wir es nur mit Coco zu tun haben?« »Die uns zudem mit ihrem Zeittrick kommen kann«, gab Sullivan zu bedenken. »Nein, Cohen. Für diese Begegnung müssen wir bestens gerüstet sein.« »Und was stellen Sie sich vor, Sullivan?« »Wir haben Monty Cooke«, antwortete Sullivan trocken. »Der Bauchredner ist für uns jetzt Gold wert.«
Sie kamen über Kew Gardens, Richmond und Wimbledon, drangen unauffällig vor, harmlos aussehend wie normale Bewohner der Stadt. Sie kamen einzeln oder in kleinen Gruppen, benutzten durchweg Autos und konzentrierten sich auf den kleinen Vorort. Noch hatten sie Zeit. Sie verbrachten sie in Gasthäusern, mit Spaziergängen oder in den vielen Pubs. Alle waren sie Anhänger des Satans, doch eben das sah man ihnen nicht an. Es waren völlig normal aussehende Menschen, denen man sofort Vertrauen geschenkt hätte. Unter ihnen befanden sich auch Jean und Betsy. Sie waren im Mini gekommen, hatten den kleinen Wagen verlassen und schlenderten jetzt über die großen Wiesenflächen von Wimbledon. Betsy machte einen aufgeregten Eindruck, Jean wirkte betroffen und ruhig. »Hast du denn noch immer Angst?«, fragte Betsy. »Was ist, wenn mein Mann dahinter kommt?« »Aber das ist doch überhaupt kein Problem«, meinte Betsy lächelnd. »Sorge dafür, dass er irgendwann mit zu einer schwarzen Messe kommt.« »Ausgeschlossen! So etwas würde er niemals mitmachen. Du weißt doch, wie sachlich er ist. Ihm kann man nur mit Logik kommen.« »Schätzchen, hast du eine Ahnung, wie viele angebliche Logiker bei uns sind? Gerade weil unser Orden mit Logik überhaupt nichts zu tun hat, gerade deshalb sind doch so schrecklich viele Leute bei uns, die man normalerweise für Intelligenzbestien hält.«
»Das begreife ich nicht. Der Verstand weigert sich doch im Grunde, das alles zu akzeptieren.« »Der Verstand macht den Menschen unglücklich«, behauptete Betsy. »Der Mensch braucht auch was fürs Herz, braucht Gefühle, verstehst du? Stell dir mal deinen Mann vor, Kleines. Der schuftet doch wie irre, oder? Für ihn gibt es doch nur seinen Beruf. Darüber vergisst er sogar dich. Und nun macht man solch einem Menschen ein echtes Angebot. Er hat endlich mal die Möglichkeit, auf den ganzen Stress zu pfeifen, kann sich geben, wie er will. Das, was man uns für Sünde verkauft hat, existiert plötzlich nicht mehr. Wir leben in Freiheit, die unser Orden und Satan garantieren.« »Da ist etwas dran«, fand Jean. »Unsere Grenzen sind doch verflixt eng abgesteckt«, sprach Betsy begeistert weiter. »Überall Verbote und Barrieren. Unser Orden aber macht uns wieder frei. Wir stoßen in völlig neue Bereiche vor, von denen unser Unterbewusstsein gerade noch zu träumen wagte. Sünde macht frei – bewusst begangene Sünde, Schätzchen. Das ist die Lösung für unser Dilemma.« »Du kennst dich aus, Betsy«, antwortete Jean vorsichtig. »Dir wird es bald auch so gehen, Jean. Du fängst ja gerade erst an.« »Seit wann gehörst du zum Orden?« »Seit einem Vierteljahr. Ich bin durch eine Bibliothekarin auf den Orden gekommen. Sie weckte bei mir das Interesse für entsprechende Bücher.« »Bist du glücklich?« »Wahnsinnig«, sagte Betsy und wurde sich der Doppelbedeutung dieses Wortes wohl gar nicht bewusst.
Monty Cooke kam aus der Bibliothek der Villa und nickte Sullivan zu. Er machte einen etwas erschöpften Eindruck, lächelte aber, als er sich in einen Sessel fallen ließ. »Hat es geklappt?«, erkundigte sich der Puppenmann. »Ich liege drauf«, gab Cooke zurück. »Haargenau. Ich kenne jetzt
jede Nuance.« »Und Sie werden sie jederzeit reproduzieren können?«, wollte Sullivan wissen. »Jederzeit. Dafür verbürge ich mich.« »Dann ist das Problem gelöst«, meinte Sullivan aufatmend. »Fairerweise wiederhole ich noch einmal, Cooke, dass wir uns in Lebensgefahr begeben werden. Noch können Sie den Rückzug antreten.« »Ausgeschlossen«, antwortete Cooke wie selbstverständlich. »Ich habe am eigenen Leibe erlebt, was aus einem Menschen wird, wenn er sich diesem Kult ausliefert. Ich werde mithelfen, ihn hochgehen zu lassen.« »Jetzt dürfte ich an der Reihe sein«, schaltete sich der Puppenmann ein. »Befassen Sie sich jetzt mal mit mir, Cooke!« Monty lächelte. Er hatte den Puppenmann sofort in sein Herz geschlossen, denn mit Puppen und Marionetten wusste er umzugehen. Er stand auf, holte eine der Puppen, die Cohen aus der Varietegarderobe besorgt hatte, und stülpte sie über Chapman. Der frühere Service-Agent verschwand unter dem Umhang der Puppe, von der Cooke den Kopf entfernt hatte. Die Illusion war perfekt. Chapman war zu einer echten Puppe geworden, wie Monty Cooke sie für seine Bühnennummer verwendete. »Bin ich zu schwer?«, erkundigte sich Chapman. »Überhaupt nicht«, sagte Monty Cooke, der ihn in die Hand genommen hatte. »Ihr Gesicht müsste man natürlich noch entsprechend zurechtmachen«, sagte Sullivan, der ihm prüfend musterte. »Aber sonst … sagenhaft gut!« »Phillip kann das übernehmen«, bat Chapman und bewegte seinen Unterkiefer betont wie eine echte Puppe. Dazu machte er etwas eckige Bewegungen. »Perfekt!« Sullivan freute sich. »Verteilen wir unsere Rollen«, sagte Chapman, nachdem Monty ihn vorsichtig zurück in einen Sessel hatte gleiten lassen. »Marvin
Cohen ist bereits mit seiner Bekannten unterwegs. Ich werde mit Cooke in die Kirche gehen, aber was ist mit Ihnen, Sullivan? Wollen Sie sich als Satansdiener verkleiden?« »Ich werde Coco ablenken, also unverkleidet erscheinen«, erklärte Sullivan. »Ich rechne damit, dass Coco sich auf mich konzentriert. Dadurch bekommen Sie größeren Spielraum.« Während die drei Männer weitere Einzelheiten besprachen, piepste das kleine Funksprechgerät in Sullivans Brusttasche. Sullivan fragte vorsichtig zurück und hörte von Marvin Cohen das ersehnte Stichwort, das letzte Klarheit brachte. »Die Dorfkirche«, sagte er zu Monty Cooke und Chapman. »Seine Bekannte hat eben das Ziel genannt. Die schwarze Messe wird in der Dorfkirche stattfinden. Zeit für uns, meine Herren.«
Marvin Cohen stand neben seiner Freundin Rose Jamin und sah sich neugierig in der Kirche um, die er ja bereits kannte. Von der schlichten und ergreifenden Einrichtung war nichts mehr übriggeblieben. Pompöser und aufdringlicher Schwulst beherrschte die Szene. Es roch nach beißenden, schwelenden Kräutern, nach billigem, schwülem Parfüm und nach Schweiß. Die kleine Dorfkirche war überfüllt. Überall zwischen den absichtlich umgestürzten Bänken hockten die Dienerinnen und Diener Satans, in weiten, schwarzen Umhängen, die mit fremdartigen Ornamenten und Symbolen bestickt waren. Auch Rose Jamin trug über ihrem nackten Körper solch einen Umhang. Marvin Cohen hatte sich eine einfache Kutte übergestreift, die er sich in einem Kostümverleih besorgt hatte. Der Altar war umgewandelt worden. Er glich einem üppig gepolsterten Lotterbett, war mit weichen, langhaarigen Fellen bedeckt. Schwarze, riesig große Kerzen säumten diesen Teufelsaltar. Eine Unzahl kleinerer Kerzen, die auf Totenschädeln standen, vereinigten sich zu einer geometrischen Figur, deren Bedeutung Cohen nicht kannte. Weiße Lilien, die man durch blutrote Farbspritzer verfremdet hatte, füllten vasenähnliche Gebilde aus Gebeinen. In flachen
Schalen flackerten Feuer, die erstaunlicherweise rotgrün schillerten. »Woher kommen all diese Menschen?«, flüsterte er Rose zu. »Das ist nur der Kreis der Wissenden.« Sie schien sehr gut Bescheid zu wissen. Ihm ging erst jetzt auf, dass sie längst zu den Dienerinnen des Satans gehörte. Sie hatte ihm ihr Interesse für den Satanskult nur vorgespielt. Vielleicht war es ihre Absicht gewesen, ihn von Dorian und dessen Freunden abzuziehen. Ja, vielleicht hatte sie dabei sogar auf höheren Befehl gehandelt? Er wollte weitere Fragen stellen, doch sie schüttelte nur den Kopf und deutete zur Seitentür. Lilian Hunter! Marvin musste sich zusammenreißen, um nicht vorzuspringen. Sie sah rührend aus in ihrer Hilflosigkeit. Sie trug ein zerrissenes Hochzeitskleid, das mit Blut beschmiert war, und hatte einen Blumenkranz im blonden Haar, der strähnig tief in ihre Stirn hing. Sie wurde von einer Frau geführt, deren Derbheit man trotz ihrer Kutte erkennen konnte. Das musste die Krankenschwester sein. Die Anhänger Satans waren aufgestanden, bildeten eine Gasse, schienen informiert zu sein, schufen einen freien Durchgang für die zarte Frau, die ihre nackten Füße nur zögernd bewegte. Marvin Cohen sah den glücklichen und gelösten Ausdruck in ihren blauen Augen. Lilian Hunter, die Frau, die er verehrte, befand sich wieder in ihrer Schein- und Traumwelt. Sie war die Braut und trat vor einen wirklichen Altar, um die Hochzeit zu feiern. Cohen begriff die ganze Bosheit von Coco Zamis. Sie gaukelte dieser unglücklichen Frau ein unermessliches Glück vor, um sie dann später um so tiefer in den Abgrund ihrer geistigen Verwirrung stürzen zu lassen. Cohen war klar, dass Lilian solch einen Schock niemals verkraften würde. Ihre totale psychische Vernichtung schien unabwendbar. Die Gasse schloss sich hinter ihr. Cohen sah, dass sie unter dem Brautkleid nackt war. Sie hatte jetzt die Stufen erreicht, die hinauf zum Altar führten, und blieb kurz stehen, um dann auf die Knie zu sinken.
Cohen, der vorn neben den Stufen stand, konnte genau in ihr Gesicht sehen. Es spiegelte Glück und Erwartung wider. Ein dröhnender Gong ertönte. Die Flammen in den Schalen züngelten hoch, Nebelschwaden kamen aus dem Boden, hüllten den Altar ein. Und dann war der Priester zu sehen. Eine herrische Erscheinung, groß und stark wie ein Stier, mit dem Gesicht eines höhnisch lächelnden Zynikers. Die dunklen Augen in diesem Gesicht glühten, und der Blick glitt über die Menge. Dieser Blick war wie eine riesige Zange, die alle einschloss. Neben ihm erschien jetzt eine Priesterin in einer Kutte. Die Brustpartie der Kutte fehlte fast vollständig und gab den Blick auf den Busen der Frau frei. Hass stieg in Cohen auf, als er in der Priesterin Coco Zamis erkannte. Er glaubte deutlich zu erkennen, wie sie Lilian verächtlich musterte. Wo waren Sullivan, dieser Bauchredner und Chapman, der Puppenmann? Hatten sie es überhaupt geschafft, in die Kirche zu gelangen? Er zuckte zusammen, als der herrische Priester Lilian mit dem Fuß anstieß. Sie blickte verwirrt auf. Er bedeutete ihr mit einer Geste aufzustehen. Lilian gehorchte, starrte ihn an und griff sich an die Stirn. Cohen vibrierte vor Spannung. Er war auf dem Sprung, sich für Lilian einzusetzen. Ihr durfte auf keinen Fall etwas passieren, und wenn er dabei umkommen sollte. Fünf in Kapuzenmäntel gehüllte Gestalten waren plötzlich neben Lilian, hoben sie hoch und trugen sie über die Stufen hinauf zum Altar. Sie fetzten ihr das groteske Hochzeitskleid vom Körper und zerrten sie über eine Art Opferstein, der links vom Altar stand. Ein Aufschrei der Inbrunst und Ekstase hallte durch die Kirche. Dienerinnen und Diener des Bösen schrien wie besessen durcheinander, scharten sich im Halbkreis um den Altar, schufen einen Wall aus Leibern, den Marvin Cohen nicht durchbrechen konnte. Er hatte Rose längst allein gelassen und boxte sich seinen Weg durch die schreiende Menge. Endlich hatte er es geschafft und konnte Lilian sehen. Sie trug jetzt ein durchsichtiges hemdartiges Kleid.
Die fünf Kapuzenträger machten einen Buckel vor dem Satanspriester und Coco. »Aufhören!«, schrie Cohen mit gellender Stimme. »Aufhören, ihr Schweine!« Schlagartig trat Ruhe ein. Eine herrische Geste des Priesters hatte allen Schweigen geboten. Alles wandte sich Cohen zu, der hinauf zum Opferstein lief und stolperte. Er schlug der Länge nach hin und hörte über sich ein amüsiertes Lachen, das von dem Priester stammen musste. Cohen schoss das Blut ins Gesicht. Er verlor den Rest seiner Selbstbeherrschung, sprang auf und wollte dem Priester Satans an die Gurgel. Ihm war jetzt alles gleichgültig. Er wollte seine Finger nur um den Hals dieses Dämons legen und ihn töten. Cohen schaffte es nicht. Er stieß gegen eine unsichtbare, glühende Wand, brüllte vor Schmerz auf, fiel zurück und landete wieder auf dem Boden. »Du kleiner Wurm«, sagte der höllische Priester, ohne seine Stimme anzuheben. »Weißt du nicht, wer vor dir steht?« »Lass die Frau frei!«, brüllte Cohen. »Ich bin Olivaro, der Herrscher über die Dämonen und der Finsternis. Soll ich dich zwischen meinen Fingern zerquetschen?« Bevor Cohen antworten konnte, war plötzlich ein spitzer, gellender Aufschrei zu hören. Lilian Hunter! Sie hatte sich aufgerichtet, glitt vom Opferstein, schaute sich verwirrt um, schlug die Hände vors Gesicht und schrie gellend weiter.
»Los, Cooke, jetzt sind Sie dran!« Sullivan stand neben dem Bauchredner, der die bisherigen Vorgänge in einer Mischung aus Entsetzen und Neugierde betrachtet hatte. Monty Cooke hatte den größten Auftritt seines Lebens. Er hob den Puppenmann hoch, dessen Gesicht in eine Teufelsfratze verwandelt worden war. Langsam schob er sich vor Sullivan, holte tief Luft und
sprach dann mit tragender Stimme in das Schweigen hinein, das inzwischen herrschte. Er blickte dabei auf die junge blonde Frau, die vor dem Altar zusammengebrochen war. »Lilian!«, rief Cooke. »Lilian, hörst du mich? Hier spricht Dorian, dein Mann. Du brauchst keine Angst zu haben. Dieser billige Spuk ist bald vorüber.« Sullivan sah, dass Lilian sich ruckartig aufrichtete, und begriff, dass sie Dorian Hunter erkannt hatte. Lilian zog sich am Altar hoch und sah zu Monty Cooke hinüber. Die Täuschung war perfekt. Monty Cooke hatte nicht umsonst einige Tonbänder mit Dorians Stimme abgehört und genau studiert. »Lilian, komm her zu mir!«, rief er mit der Stimme Dorians. »In ein paar Minuten ist der ganze Spuk vorüber, komm her!« Lilian hatte den Kopf lauschend vorgeschoben, horchte in sich hinein, verglich ihre vage Erinnerung mit der Gegenwart und stöhnte auf. »Verlass diesen Ort der bösen Träume, Lilian!«, rief Cooke weiter. »Geh jetzt! Keiner wird dir etwas antun.« »Dorian!« Sullivan, der neben Cooke stand, atmete scharf ein. Natürlich war ihm klar, was die Nennung dieses Namens bedeute. Lilian war aus dem Reich ihrer Träume zurückgekehrt in die Realität. Ihre seelische Blockade war damit endgültig durchbrochen.
Olivaro, der Fürst der Finsternis aus eigenen Gnaden, war erstarrt, als er Hunters Stimme hörte. Er wich zurück, stieß gegen eine der großen schwarzen Kerzen, durchbohrte mit seinen Blicken das Halbdunkel und suchte nach Dorian Hunter. »Wieso ist er hier?«, fragte er Coco zischend. Unsicherheit sprach aus seinem Blick. »Dorian!«, flüsterte Coco und schluckte. »Dorian!« Olivaro hätte Coco am liebsten zu Boden geschmettert, doch die Unruhe seiner Jünger lenkte ihn ab. Jetzt galt es, die Macht der Finsternis unter Beweis zu stellen. Auch ein Dorian Hunter konnte ge-
gen ihn niemals ankommen. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, hörte Olivaro sich selbst. Ruckartig drehte er den Kopf. Die Stimme kam aus dem Mund einer Handpuppe, die auf dem Arm eines Mannes saß. Das Gesicht dieser Puppe war eine unheimliche Teufelsfratze, die jetzt vor Wut geiferte. »Sei verflucht, Dorian Hunter!«, schrie die Puppe in die Menge der Teufelsanbeter hinein. »Dieses Mal hast du gesiegt, aber der Kampf ist damit noch nicht entschieden. Wir weichen und überlassen dir das Feld, aber die Rache wird mein sein.« Olivaro erstarrte. Die Stimme, die nicht die seine war, zeitigte bereits Erfolge. Die ersten Teufelsanbeter zogen sich verwirrt vom Altar zurück, strudelten durcheinander, verzogen sich zögernd in Richtung Seiteneingang. »Ich habe meine Macht über eure Seelen verloren«, heulte Olivaros Stimme aus dem Mund der Puppe. »Ich gebe euch frei für alle Zeiten. Das Licht hat über die Finsternis gesiegt und die Gebete werden uns schlagen.« Das Chaos brach ohne jeden Übergang aus. Schreiend und heulend rannten die Teufelsanbeter zur Tür und kümmerten sich nicht weiter um ihren Fürsten der Finsternis, der plötzlich einsam und verloren vor dem Altar stand. Coco, die fragend zu Olivaro hochsah, bemerkte das Zucken in den Mundwinkeln des Höllenfürsten, wusste zuerst nicht, was sie davon halten sollte, dann jedoch atmete sie erleichtert auf. Der Höllenfürst grinste zynisch. Natürlich hatte er längst erkannt, dass man ihn mit einem Trick reingelegt hatte. Verächtlich sah er seinen Dienerinnen und Dienern nach, die sich in panischer Angst durch die Kirchentür zwängten. Es war unter seiner Würde, sie auf ihren Irrtum aufmerksam zu machen. Hinzu kam das Gefühl, sich lächerlich gemacht zu haben. Inzwischen wusste er natürlich, wem er das alles zu verdanken hatte. Er sah hinüber zu Sullivan, der seinem Blick begegnete; und er sah den Bauchredner mit der sprechenden Puppe auf dem Arm. »Ich bin der Fürst der Finsternis«, dröhnte ihm die Puppe entge-
gen. »Oder bin ich's nicht? Bist du es? Oder täuschen wir uns beide?« Das war blanker Hohn. Und Olivaro wusste, wie er darauf reagieren würde. Das Team um den Dämonenkiller hatte noch nicht gewonnen. Er schnippte mit den Fingern und verschwand in aufsteigenden Nebelschwaden. Coco blieb allein zurück.
Sie stand plötzlich vor ihm, sah ihn fast flehend an. »Worauf wartest du noch?«, herrschte Cohen sie an. »Lass deinen Herrn und Meister nicht unnötig warten.« »Ich habe nicht viel Zeit«, stieß Coco hastig hervor. »Ich muss ihm wirklich folgen. Stell keine Fragen, warum das so ist.« »Ich will's auch gar nicht wissen«, sagte Marvin Cohen und wollte gehen. Da erst merkte er, dass Coco sie beide in den rascheren Zeitablauf versetzt hatte. »Du sollst wissen, dass ich alles nur für Dorian getan habe«, sagte sie eindringlich. »Nur für ihn allein. Später wirst du mich vielleicht begreifen.« »Du wolltest Lilian zerstören, Coco, aber du hast genau das Gegenteil erreicht.« Triumph war in Cohens Stimme. »Und dafür wird Dorian zahlen müssen«, verhieß sie ihm dunkel und rätselvoll. »Geh jetzt! Ich kenne Olivaro. Sein Sinn für Humor ist nicht sehr ausgeprägt.« Sie war plötzlich nicht mehr vorhanden. Marvin Cohen sah die letzten Teufelsanbeter durch die Tür verschwinden und lief zu Sullivan und Monty Cooke hinüber. »Nichts wie weg!«, stieß er warnend hervor. »Olivaro hat bestimmt noch eine kleine Überraschung parat.« »Wo ist Lilian?«, fragte Sullivan. »Sie muss draußen sein«, rief Cohen und drängte Sullivan und Cooke zur Seitentür. Sie hatten sie gerade passiert, als ein hässliches Reißen zu hören war. Mauern zerbröckelten, Steine fielen aus den Seitenwänden, Kirchenfenster barsten auseinander.
Innerhalb weniger Sekunden war die kleine Dorfkirche in einer dichten Wolke aus Staub und Nebel verschwunden. Und als die Wolke sich auflöste, war die Kirche windschief und zerfallen. Von irgendwoher aus der Luft war das schwache Echo eines teuflischen Gelächters zu hören. Den Eindruck hatte wenigstens Monty Cooke, der völlig verblüfft auf die Kirche schaute. Nach Lilian Hunter brauchten sie nicht lange zu suchen. Sie stand zwischen den Grabsteinen, wickelte gerade eine der weggeworfenen Kutten um ihren nackten Körper und sah Sullivan, Cooke und Cohen gelassen entgegen; lächelte, als der Puppenmann auf Cookes Art sich durch das geschminkte Gesicht fuhr, lachte amüsiert auf. »Ich bin Sullivan, ein Freund Dorians«, stellte der ehemalige Observator Inquisitor sich vor. »Das sind Chapman, Cooke und Cohen. Wir werden Ihnen helfen, Mrs. Hunter.« »Ich weiß«, gab sie zurück, als hätte sie überhaupt kein Misstrauen oder Zweifel. »Ich möchte Sie erst einmal in Sicherheit bringen«, schlug Sullivan vor. »Mein Wagen steht dort unten in den Wiesen.« »Und ich komme mit«, sagte die Puppe auf Cookes Arm. Donald Chapman zwinkerte Lilian zu und verbeugte sich dann gravitätisch, um danach Monty Cooke auffordernd anzustoßen. Lilian nickte und folgte Sullivan. Sie drehte sich nicht einmal zu der halb zerstörten Kirche um. Für sie war dieses Kapitel abgeschlossen. »Alles in Ordnung?«, fragte Jean ihre Freundin Betsy, die auf dem Beifahrersitz des Mini-Cooper saß. Jean steuerte den kleinen Wagen, denn sie hatte schnell erkannt, dass Betsy dazu nicht in der Lage war. »Ich – ich schäme mich in Grund und Boden«, stieß Betsy hervor. »Ernüchtert?«, erkundigte sich Jean. »Hör bloß auf damit!«, gab Betsy – wütend über sich selbst – zurück. »Ich muss völlig verrückt gewesen sein.« »Nicht nur du, Betsy. Aber eines haben wir beide immerhin geschafft.« »Das wäre?«
»Wir haben unser Bewusstsein erweitert. Wir haben neue Erkenntnisse gewonnen. Wir sind frei durch Sünde geworden. Oder etwa nicht?« »Ob man sich das alles je abwaschen kann?« »Wir werden viel Wasser und harte Bürsten brauchen«, erwiderte Jean, die Betsy sofort verstanden hatte. »Und sehr viel Zeit«, fügte Betsy hinzu. »Nur die Erinnerung daran werden wir auch mit den härtesten Bürsten nicht tilgen, Jean.« Schweigend fuhren die beiden ehemaligen Teufelsanbeterinnen zurück in die Stadt, wo sie sich trennten. Sie wussten, dass sie sich nie wiedersehen würden.
»Du hast dich ja für die Blonde ziemlich ins Zeug gelegt«, stellte Rose Jamin anzüglich fest. Sie saß neben Marvin Cohen im Wagen und fuhr mit ihm zurück nach London. »Du hast dich kaum weniger angestrengt, als es um deinen Höllenfürsten ging, Rose.« »Halt den Mund, Marvin! Darüber möchte ich nie wieder etwas von dir hören.« »Bedient?« »Restlos. Aber was war mit dieser Frau, Marvin? Seit wann kennst du sie? Wer ist sie?« »Die Frau eines meiner Freunde«, gab er ausweichend zurück und schluckte. »Uninteressant.« Natürlich log er. Ihm war klar, dass er Lilian aus seiner Sicht gesehen für immer verloren hatte. Eine gesunde Lilian Hunter konnte sich unmöglich für einen Mann wie ihn interessieren. »Warst du scharf auf sie?« Marvin genoss plötzlich Rose' ordinären Slang, der ihm ungewollt über den Verlust hinweghalf. »Wer kann dich schon ersetzen?«, gab er anzüglich zurück. »Trag bloß nicht so dick auf!«, sagte sie genüsslich. »Eigentlich schade, dass diese Satansanbeterei vorüber ist. War ziemlich aufregend.«
»Du scheinst auf deine Kosten gekommen zu sein.« »Ich habe eine Menge gelernt.« »Ich lass mich überraschen«, sagte Marvin Cohen. Er gab sich gespielt ruppig und bemühte sich, Lilian Hunter zu vergessen.
Albert Einstein machte Schwierigkeiten wie immer. Er blieb diesmal mit seinem linken Arm hängen und wollte nicht zurück in die große Transportkiste. Jerry Lewis grinste, ließ sich gelassen neben Einstein nieder und nickte Churchill zu, dessen Zigarre abgebrochen war. Maria Stuart kam Arm in Arm mit Charlie Chaplin nach unten, während Napoleon diesmal den Reizen Liz Taylors erlag und ungeniert in ihren Ausschnitt langte. Napoleon aber machte ansonsten einen vergrämten Eindruck. Seine Haartolle über der Stirn war zu einem Ponyschnitt geworden; damit schien er nicht ganz einverstanden zu sein. Monty schloss die Transportkiste und zündete sich eine Zigarette an. Die Abendvorstellung war vorüber. Er kostete den Triumph aus. Es klopfte an der Tür. Sein Manager Hyde trat ein. Er war nicht lärmend und überheblich wie sonst, erinnerte mehr an einen geprügelten Hund. »Kann ich irgendwas für dich tun?«, erkundigte er sich mit ungewohnter Höflichkeit. Cooke schüttelte den Kopf. »Und du willst wirklich die Theaterarbeit aufgeben?« »Ich weiß es noch nicht.« »Die Leute überschlagen sich förmlich, Monty. Ich kann abschließen, wann und wo du willst. Die Gagen werden erstklassig sein.« »Gagen interessieren mich nicht.« Cooke dachte an seine Galavorstellung in der Dorfkirche. Er war, wie er zu seiner eigenen Überraschung festgestellt hatte, auf den Geschmack gekommen. Eine weitere Auseinandersetzung mit den Dämonen stellte er sich aufregend und reizvoll vor. Trevor Sullivan hatte ihm in dieser Richtung interessante Vorschläge gemacht und ihn um seine weitere Mitarbeit und Hilfe gebeten.
»Überleg dir alles sehr genau, Monty!«, bat David Hyde, der seine private Ernüchterung hinter sich hatte. »Das werde ich tun. Verlass dich drauf«, sagte Monty Cooke und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus.
Zweites Buch
Die Schweinemenschen von Rio von Earl Warren
In ein Opfernetz verschnürt, die Hände auf dem Rücken zusammengenagelt, versank der Körper der Inka-Prinzessin in den Fluten. Zum Orinoco trieb sie, den Fluss hinunter. Sie war nicht tot, wenn sie auch den Silbernagel nicht spürte, der ihre Hände zusammenhielt, und nichts von ihrer Umgebung wahrnahm, von den Schrecken und Gefahren des Flusses. Die Stromschnellen, Piranhas und Kaimane konnten ihr nichts anhaben. In einer magischen Sphäre glitt Machu Picchu dahin, trieb hinaus ins offene Meer. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, denn sie träumte von einem Glück an der Seite Dorian Hunters. Die Küste entlang trieb Machu Picchu gen Süden, mit dem Brasilstrom ums sturmumtoste Kap Hoorn, in den Pazifik und in die Südsee. Sie schlief und träumte vom Leben und vom Glück. Denn der Traum war Leben, das Leben ein Traum.
Vicente Neiva stöhnte schmerzvoll auf. Das Spiegelbild verschwamm vor seinen Augen. Das Brummen des elektrischen Rasierapparats erschien ihm plötzlich wie ein Dröhnen, in das sich höhnisch lästernde Stimmen mischten. »Rosenkreuzer! Okkultistischer Freimaurer! Erkenne die Macht der Macumba und beuge dich! Auf die Knie, Vicente Neiva! Neiva, du reiches Schwein! Schwein, Schwein, SCHWEIN! Bald kommt die Macumba dich holen, Neiva-Schwein!« Mit einem Aufschrei drosch der schlanke, grauhaarige Mann die Faust in den Badezimmerspiegel, dass er klirrend zerbarst. Kalter Schweiß bedeckte seinen Körper. Er zitterte. Da war es wieder, dieses Gefühl des Unbehagens und der Übelkeit, schlimmer als je zuvor. Etwas ging mit ihm vor, etwas Unheimliches, Schreckliches, das spürte Vicente Neiva mit allen Fasern seines Körpers. Die unheimlichen Stimmen waren verhallt, doch die Angst blieb. Neiva wusste, dass er zu seinem Nachfolger musste. Ihm musste er das Geheimnis der Loge der okkultistischen Freimaurer von Rio de Janeiro anvertrauen in der Zeit, die ihm noch blieb.
Schon hörte er die unheimlichen Stimmen wieder. »Beeil dich, Schwein! Lauf, damit du noch zurechtkommst, Schwein Vicente Neiva!« Er wankte aus dem Badezimmer. Den ganzen Tag hatte er im Bett gelegen, er, der sonst so aktive und vitale Mann; er war unfähig, etwas zu unternehmen oder sich um seine Geschäfte zu kümmern. Seine dreißig Jahre jüngere Frau Luisa schaute ihm besorgt entgegen. »Vicente, was ist mit dir? Wie siehst du aus? Deine Augen sind ganz blutunterlaufen, dein Gesicht verzerrt. Was quält dich, Lieber?« »SCHWEIN!« Die Stimme war wie ein Fanfarenstoß. Neiva zitterte. Mit flackerndem Blick wandte er sich an seine Frau. »Hast du das gehört? Jemand hat mich beschimpft, mich ein Schwein genannt.« Unsicher schaute sie ihn an. »Mir käme nie in den Sinn, etwas Derartiges zu dir zu sagen. Soll ich Dr. Tomas anrufen?« »Dr. Tomas, Dr. Tomas, Dr. Tomas! Wie kann mir dieser alte Quacksalber, dem die Haare aus der Nase wachsen, helfen?« Vicente Neiva erkannte seine Stimme kaum wieder, rau und heiser klang sie, ganz anders als sonst. »Ich – muss weg. Wo ist Rodolfo – dieser faule Taugenichts von Fahrer?« »Ich habe ihn weggeschickt. Du selber hast gesagt, du hättest heute keine Verwendung mehr für ihn. Er wird sich in der Firma nützlich machen.« Neiva griff zum Telefon. Das Grauen schnürte ihm die Kehle zu. Er spürte, dass etwas auf ihn zukam, ein entsetzliches Schicksal. Er befand sich in der Penthousewohnung seines eigenen Hochhauses an der Ecke Avenida Atlantica – Rua Hilario de Gouveia. Durch die großen Panoramafenster flutete Licht herein. Man hatte einen herrlichen Ausblick auf den Strand von Copacabana mit seinen Hotelpalästen und auf den Atlantik. Neiva hatte jetzt keinen Sinn für die Schönheit dieses Bildes. Er telefonierte mit seinem Fahrer und sagte ihm, er sollte den Buick Riviera aus der Tiefgarage holen.
Luisa redete auf Neiva ein, aber er hörte nur ihre Stimme, verstand sie nicht. Er raffte im Schlafzimmer seine Kleidungsstücke zusammen, legte den Hausmantel ab und zog sich an. Der Fahrer klingelte. Er erkannte seinen Chef kaum wieder. Neivas Gesicht war eigenartig verzerrt. »Wir fahren zu Joao Pinzon nach Jacarecagua«, stieß Neiva hervor. Jedes Wort fiel ihm schwer. Er folgte dem Fahrer zum Fahrstuhl, ohne auf die Vorhaltungen seiner Frau zu hören. Er musste zu Pinzon. Der Gedanke hatte sich in sein Gehirn gebrannt. Der Lift glitt nach unten und hielt im Erdgeschoss. Als sie durch die Halle eilten, wurde Neiva respektvoll gegrüßt, denn er war ein Mann von Ansehen und Bedeutung in Rio. Ihm gehörten mehrere Apartmenthäuser, zwei Hotels, eine gut gehende Maklerfirma. Im 19. und 20. Stock dieses Hauses war seine Firma untergebracht. Auf dem Parkstreifen der sechsspurigen Avenida Atlantica wartete der chromblitzende Buick. Es herrschte das übliche Nachmittagsgewimmel. Neiva stieg ein. Der Fahrer schloss den Wagenschlag, setzte sich hinters Lenkrad und fuhr los. Schweißtropfen glänzten auf Neivas Stirn, als er sich im Sitz zurücksinken ließ. Er schloss die Augen. Es war ihm, als lachte ihn jemand höhnisch aus, als hörte er fernen, dumpfen Trommelklang und dazwischen immer wieder ein Wort: Macumba. Neiva war der Großmeister der okkultistischen Freimaurer in Rio, ein Mann von dreiundfünfzig Jahren, bis vor wenigen Tagen noch selbstsicher, erfolgsgewohnt und davon überzeugt, dass er mit allem fertig werden könnte, was auf ihn zukam. Jetzt verspürte er eine ganz erbärmliche Angst. Begonnen hatte es damit, dass sich die Loge der okkultistischen Freimaurer gegen die Macumba gewandt hatte, jene Geheimsekte, die in der letzten Zeit immer mehr unheilvollen Einfluss gewann. Auf der letzten Sitzung, die ein paar Tage zurücklag, hatten Neiva und die ganze Loge die Kampfansage der Macumba erhalten: Einen geköpften Hahn mit zusammengebundenen, gekreuzten Beinen. Es
war eine tödliche Drohung. Kampf bis aufs Messer und Vernichtung verhieß sie. Neiva hatte gelacht, die Bedenken der Logenbrüder zerstreut. Zur Loge gehörten einflussreiche und angesehene Männer. Sie hatten überallhin Verbindungen. Was wollten ihnen diese ungewaschenen, barfüßigen Halsabschneider aus den Armenvierteln mit ihrem Mummenschanz schon anhaben können? Inzwischen dachte Neiva anders. Die grausige Gewissheit keimte in ihm auf, dass sich die Macumba-Anhänger schwarzer Magie bedienten. Der Fahrer sagte etwas zu ihm. Neiva sah auf. Ein Verkehrsstau in der Rua Real Grandeza. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Elend, wie er sich fühlte, war ihm jede Minute zuviel, die er unterwegs sein musste. Zum ersten Mal bedauerte er es, dass Pinzon so weit außerhalb wohnte, dass Jacarecagua so umständlich zu erreichen war. Fast durch die ganze Fünf-Millionen-Stadt musste man. Neiva schien es schon Ewigkeiten zu dauern, bis sie endlich das Elendsviertel Grajau erreichten. Zerlumpte Kinder spielten auf der Straße. Der Fahrer hupte, und missmutig wichen sie aus. Ein Straßenjunge warf einen Dreckbatzen gegen den Luxuswagen. Der Fahrer wollte halten und aussteigen, aber Neiva bedeutete ihm keuchend weiterzufahren. Auf der ausgebauten Estrada Jacarecagua kamen sie schneller vorwärts. Vicente Neiva spürte plötzlich einen brennenden Durst. Er wollte seinem Fahrer sagen, er solle bei dem kleinen Gasthof neben der Straße anhalten, aber nur ein tierisches Grunzen kam über seine Lippen. Er konnte kein verständliches Wort mehr hervorbringen. Das Gelächter, das er fortwährend vernahm, schwoll zu einem gellenden Crescendo an. Neiva grunzte wieder. Der Fahrer wandte den Kopf. Er stieß einen entsetzten Schrei aus und stoppte den Wagen mit quietschenden Bremsen. »Señor Neiva, um der Heiligen Jungfrau willen, was ist mit Ihnen?« Neiva spürte das Reißen und Ziehen im Gesicht. Sein Kopf
schmerzte, als die Knochen sich verformten. Er stöhnte auf, wollte den Fahrer an den Schultern packen, ihn um Hilfe anflehen, konnte aber nur das tierische Grunzen hervorbringen. Der Fahrer riss die Wagentür auf und floh schreiend. Neiva krümmte sich auf dem Rücksitz. Er wusste nicht, wie lange seine Qualen andauerten. Es war so schlimm, dass er sich wünschte zu sterben, nur um endlich erlöst zu sein. Als er sich schließlich aufsetzen konnte, war es schon dunkel. Viele Wagen waren vorbeigefahren, doch wer hätte sich schon um den ordentlich am Straßenrand stehenden Buick kümmern sollen? Neiva warf einen Blick in den Rückspiegel. Er erkannte undeutlich eine Fratze, aber es war, als befände sich eine Schicht über dem Spiegel oder seinen Augen, die ihn daran hinderte, die genauen Konturen wahrzunehmen. Es fiel ihm wieder ein, dass er zu Joao Pinzon wollte, seinem Nachfolger in der Freimaurerloge. Er stieg aus, setzte sich vorn hinters Lenkrad und fuhr los zu dem abgelegenen Stadtteil. Noch einmal wurde ihm übel, bekam er scheußliche Schmerzen. Er wollte schreien, doch nicht einmal das konnte er. Er hörte jemanden grotesk und erstickt grunzen, hörte ein leises Quieken und Fiepen und erkannte erst nach einiger Zeit, dass er selbst es war, der diese Töne hervorbrachte. Mein Gott, was geht mit mir vor? Die Stimmen in seinem Kopf waren jetzt verklungen. Er sah auf die Uhr am Armaturenbrett. Es ging schon auf Mitternacht zu. Endlich erreichte er die Rua Retiro dos Artistas und das stattliche Haus Joao Pinzons. Als er ausstieg, sah er, dass das Haus im Dunkeln lag. Im großen Garten hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Ein Feuer brannte, Trommelklang war zu hören. Auf der Straße war niemand zu sehen. Die Bewohner der großen Villenhäuser mit den prunkvollen weißen Fassaden verkrochen sich. Vicente Neiva schlich sich an die Menschenmenge heran. Es waren Macumba-Anhänger, Männer und Frauen, Farbige und Weiße, Reiche und Arme. Einige waren halbnackt und hatten die Oberkörper mit weißen Streifen bemalt, andere trugen modische Kleidung. Al-
len gemeinsam war der verzückte, entrückte Gesichtsausdruck. Sie klatschten in die Hände und wiegten sich zu den Rhythmen hin und her. Am hochlodernden Feuer stand eine bizarre Gestalt, grotesk und unheimlich anzusehen. Der Mann – ein hochgewachsener Farbiger – trug einen zerlumpten dunklen Anzug und hatte einen zerschlissenen Zylinderhut auf dem Kopf. Auf seiner linken Schulter saß ein weißer Papagei. Er stützte sich auf einen Stab mit einem faustgroßen, weißen Totenkopf am oberen Ende. Um den Hals trug er eine Kette mit Tierzähnen, Federn und magischen Symbolen, die Neiva nicht genau erkennen konnte. Es war ein Priester der Macumba, die viele ihrer Riten und Gebräuche beim Voodoo-Kult entlehnt hatten. Obwohl er wie eine Vogelscheuche gekleidet war, strahlte der Macumba-Priester eine böse, unheimliche Aura aus, die Neiva körperlich spüren konnte. Die Stimmen der Macumba-Anhänger wurden nun lauter. Begeisterte Schreie waren zu hören. Einige Macumba mussten ins Haus eingedrungen sein, denn sie schleppten jetzt einen Mann heran. Inmitten der Menschenmenge vor dem Feuer wurde er losgelassen. Er lief um sein Leben, aber es umgab ihn ein Wall von Menschenleibern. Er wurde zurückgestoßen, mit Tierblut und stinkenden Flüssigkeiten bespritzt, gekniffen, an den Haaren gezerrt und geschlagen. Die Macumba bespuckten ihn, brüllten ihm mit zu Fratzen verzerrten Gesichtern ihren Hass ins Gesicht. Es war ein Höllenspektakel. Dem Unglücklichen wurden Tierkadaver, krähende Hähne und magische Symbole entgegengehalten. Der Mob spielte mit ihm, ohne ihm vorerst ernsthaft weh zu tun. In seiner Verzweiflung rannte er auf den Macumba-Priester los, doch der hielt ihm seinen Totenkopfstock entgegen. Der gehetzte Mann taumelte zurück, als der Totenkopf den Rachen aufriss und ihm heiße Asche ins Gesicht blies. Neiva hatte den Mann noch nicht richtig gesehen. Immer versperrte ihm die Menge den Blick. Er war aber überzeugt, dass es Joao Pinzon war, sein Nachfolger. Neiva fiel auf, dass er keinen Schrei des Gehetzten über den allgemeinen Lärm, das Rasseln, Pfeifen und Trommeln hinweg hörte. Er
duckte sich in die Schatten eines hohen Busches. Dann wurde es im Garten von Joao Pinzons Villa ruhig, bedrohlich ruhig. Die Menschenmenge wich auseinander. Vor dem flackernden Feuer stand der Mann. Im Hintergrund wurde etwas herbeigeschleppt. Vicente Neiva wollte sehen, was es war. Er stieg auf die Mauerbrüstung, in die die Stangen des Zaunes eingelassen waren. Jetzt konnte er über die Köpfe der Menge blicken. Der Kleidung und der Gestalt nach schien ihm der Mann am Feuer unzweifelhaft Joao Pinzon zu sein. Einige Schritte von ihm entfernt stand der Macumba-Priester und murmelte unverständliche Worte. Die Macumba-Anhänger hatten einen bösen, lüsternen Ausdruck, als erwarteten sie gleich ein Schauspiel, das ihre Gelüste vollauf befriedigen würde. Ein großer Kasten wurde von vier Macumba herangeschleppt. Sie öffneten ihn. Eine zehn Meter lange Boa constrictor glitt heraus. Sie wollte vor dem Feuerschein und der Menge fliehen, aber der Macumba-Priester rief ein paar beschwörende Worte. Die Boa richtete sich auf. Der fußballgroße Kopf pendelte hin und her. Ein so großes Exemplar einer Boa constrictor hatte Vicente Neiva noch nie gesehen. Der Mann, den er für Joao Pinzon hielt, wollte fliehen. Jetzt erst wandte er Vicente Neiva das Gesicht zu. Es war gut, dass Neiva nicht mehr schreien konnte, sonst hätte er sich unweigerlich verraten. Der Mann in Pinzons Kleidern und mit seiner Figur hatte das Gesicht eines Schweins. In der Schweineschnauze wurden spitze Zähne sichtbar, kleine Äuglein starrten voller Panik um sich und spitze Ohrlappen fielen an der Seite des Gesichts herunter. Der Schweinemann konnte nicht entkommen. Ein angstvolles Quieken kam aus seiner Schnauze. Hinter ihm glitt die Schlange heran. Er drehte sich um. Die Boa constrictor richtete sich vor ihm auf, und der Blick ihrer starren Augen bannte ihn. Die Boa umschlang den Schweinemann. In der Stille, die nur vom Prasseln des Feuers und einer fernen Dreiklang-Autohupe unterbrochen wurde, hörte Neiva die Knochen krachen. Ein letztes Quieken, ein Grunzen und Schnaufen, dann war der Schweinemann tot.
Die Macumba begannen wieder mit ihrem Spektakel; sie hüpften und tanzten um das Feuer. Der Priester rief schaurige Gottheiten an. Vicente Neiva bebte und zitterte. Wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, glitt seine eine Hand tastend über sein Gesicht, vor dem sein Fahrer so erschrocken war. Neiva spürte eine Schnauze, Nüstern und kleine Äuglein in einem fetten Schwartengesicht. Er quiekte wie ein Schwein. Einige Macumba wurden aufmerksam und wandten sich ihm zu. Neiva hatte gesehen, was ihm blühte. Von Grauen erfüllt rannte er in die Nacht.
Wir flogen mit einer DC 8 der Cruzeiro do Sul, der größten brasilianischen Fluglinie, von Manaus am Amazonas nach Rio de Janeiro. Mein Freund Jeff Parker hatte mich dazu überredet. Er meinte, ich müsste in Rio unbedingt einen sehr wichtigen Mann kennen lernen. Jeff tat mächtig geheimnisvoll. Ich wusste nur, dass dieser Mann Vicente Neiva hieß. Was für eine Stellung er bekleidete und welche Bewandtnis es mit ihm hatte, damit rückte Jeff Parker nicht heraus. Machu Picchu, die Inka-Prinzessin, hatte anfangs nicht ins Flugzeug steigen wollen. Aber dann staunte sie sehr darüber, wie die Welt von oben aussah. Erst lag die grüne Fläche des Amazonas-Regenwaldes, die von einigen silbernen Flussbändern durchzogen wurde, unter ihnen, dann das bewaldete brasilianische Bergland mit den herausragenden Massiven. Immer wieder wusste sie mich auf etwas aufmerksam zu machen, und sie hielt meine Hand so fest, als wäre sie ihr letzter Rettungsanker in einer ihr unbekannten Welt. In gewissem Sinn war sie das auch, denn solche Bande wie mit mir verknüpften Machu Picchu mit keinem anderen Menschen auf dieser Erde. Die Inka-Prinzessin, die im Dschungel über vierhundert Jahre geschlafen und geträumt hatte, war um 1510 geboren. Sie hatte Atahualpa gekannt und dem Konquistador Fancisco Pizarro Auge in Auge gegenübergestanden; und sie hatte mich als Georg Rudolf Speyer gekannt. Das Leben hatte uns in der Gegenwart wieder zusammengeführt.
Ich wusste, dass an meiner Seite die Traumgestalt Machu Picchus saß, der Fleisch gewordene Traum der im Orinocofluss oder auch schon im Ozean treibenden echten Inka-Prinzessin. Ich hatte ein tiefes Gefühl der Zuneigung zu Machu Picchu entwickelt und wollte ihr ein angenehmes Leben verschaffen – solange ihr Traum und damit ihr Leben andauerte. Jeff Parker hatte sich nicht unterkriegen lassen, weil sich seine Expedition zur sagenhaften Inkastadt El Dorado letzten Endes als Fehlanzeige erwiesen hatte. Während die überlebenden Mitglieder seiner Playboy- und Wissenschaftlerclique längst wieder in die Zivilisation zurückgekehrt waren, strebte Jeff schon wieder neuen Taten und Abenteuern entgegen. Sacheen, seine neunzehnjährige Freundin, ein bildhübsches Indianerblut, saß an seiner Seite. Nach dreieinhalbstündigem Flug sahen wir die Küste und Rio de Janeiro vor uns auftauchen. Die DC 8 ging tiefer und schwebte auf die Landebahn zu. Ich drückte meine Zigarette aus und schnallte Machu Picchu und mich an. Sie erschrak, als die Stimme des Piloten aus dem Bordlautsprecher dröhnte. »Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten landen wir auf dem Flughafen Santos Dumont in Rio de Janeiro. Bitte schnallen Sie sich an und stellen Sie das Rauchen ein! Die Besatzung verabschiedet sich von Ihnen und wünscht Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Rio.« »Das Flugzeug spricht«, sagte Machu Picchu angstvoll. Sie hatte die portugiesischen Worte nicht verstanden. Ich übersetzte ihr, worum es ging. »Das habe ich dir doch schon erklärt, Machu«, beruhigte ich sie. »Nicht das Flugzeug spricht, sondern der Pilot. Er bedient sich eines Lautsprechers.« Sie nickte ernsthaft. Ich hatte ihr auf dem Flughafen in Manaus erklärt, was ein Lautsprecher war. Immer wieder musste ich ihr erklären, wie ein Automotor oder ein Telefon funktionierte, weshalb die Glühbirne leuchtete, wenn man auf den Schalter drückte, und dass im Radio keine
kleinen Männchen eingesperrt waren. Aber aus jeder Erklärung ergaben sich tausend neue Fragen. Jeff Parker und Sacheen bemühten sich, mir beizustehen. Ich glaube, Machu Picchu sah unsere ganze Welt als eine Traumwelt voller Wunder. In meine Liebe zu ihr mischte sich ein wenig Mitleid und das Gefühl, sie beschützen zu müssen. Wir landeten auf dem Aeroporto Samos Dumont, der auf drei Seiten vom Atlantik umgeben war. Es war Nachmittag, fünfzehn Uhr fünfunddreißig. Machu Picchu war immer noch ganz hingerissen von der Luftansicht Rios mit seinen Hochhäusern, modernen Stadtautobahnen und Geschäftsstraßen. Wir sahen den Zuckerhut, die Flamengo- und Botafogobucht, den alles überragenden Corcovado mit seinen vom tropischen Wald überwucherten Flanken. Der zweiunddreißig Meter hohe Betonchristus mit seinen segnenden Statuenarmen auf dem Gipfel des Corcovado schien im Dunst zu schweben. Ein Flughafenbus brachte uns zum Terminal. Die Zollkontrolle entfiel, da es sich um einen Inlandflug handelte. Im Flughafenrestaurant sollte Vicente Neiva auf uns warten. Das Gewimmel und hektische Treiben, die vielen Schalter, die Lautsprecherdurchsagen und die Anzeigentafeln irritierten Machu Picchu und ängstigten sie ein wenig. Mit Manaus war dieser Flughafen von Rio nicht zu vergleichen. Die Sonne flutete durch die Glasfront herein. Es war heiß, ich wollte einen Drink und eine Dusche. Im Flughafenrestaurant hielten wir Ausschau nach Neiva, den Jeff Parker telefonisch über unser Eintreffen informiert hatte. Er sollte eine rote Nelke im Knopfloch tragen und eine Nummer des US-Magazins Newsweek lesen. Machu Picchu staunte die Espressomaschine an. Wir anderen hielten Ausschau. Ich entdeckte den Mann mit Nelke und Newsweek in der Nähe des chromblitzenden Tresen. Wir traten zu ihm. »Señor Neiva?«, fragte Jeff Parker höflich. Unser Gegenüber schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich bedauere. Vicente Neiva ist verhindert. Mein Name ist Do-
mingo Marcial. Er hat mich gebeten, ihn zu vertreten.« Er sprach Englisch, damit auch Jeff Parker und Sacheen ihn verstehen konnten. »Was ist denn mit Vicente Neiva?«, fragte Jeff. »Ich weiß es nicht. Er rief mich gestern an und sagte, ich sollte Sie hier abholen und mich um alles kümmern. Da er ein guter Freund von mir ist, wollte ich ihm den Gefallen gern tun.« »Wann werden wir Vicente Neiva sehen?« »Bedaure, auch das weiß ich nicht. Ich habe zwei Doppelzimmer im Hotel Excelsior an der Avenida Atlantica für Sie bestellt, mit Blick auf den Strand von Copacabana und den Ozean. Auf Kosten von Señor Neiva.« Jeff Parkers Stirn umwölkte sich. »Weshalb soll ich ins Hotel? Ich habe bei Vicente Neiva eine Penthousewohnung in der Nähe der Copacabana gekauft. Das Geld ist ihm überwiesen worden. Was ist mit dieser Wohnung? Ist sie etwa noch nicht fertig?« »Doch, die Wohnung ist fertig, aber sie ist im Augenblick – äh, für andere Zwecke bestimmt.« »Für andere Zwecke bestimmt? Mein Penthouse? Das wollen wir doch einmal sehen. Ich will in mein Penthouse und in kein Hotel. Die Anschrift habe ich hier, und wenn Sie uns nicht hinbringen wollen oder können, Mr. Marcial, fahren wir eben mit dem Taxi.« Domingo Marcial versuchte, Parker von seinem Vorhaben abzubringen, aber Jeff hatte auf stur geschaltet. Jeff war nicht nur ein millionenschwerer Playboy, sondern auch ein gerissener Geschäftsmann. Er ließ sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen. »Ich werde Sie zum Penthouse bringen, wenn Sie darauf bestehen«, gab Marcial schließlich nach. »Gut«, sagte Jeff. »Aber vorher hätte ich gern unter vier Augen mit Ihnen über verschiedene Dinge gesprochen, Mr. Marcial.« Sie gingen zu einem freien Ecktisch. Wir andern setzten uns, und ich bestellte dreimal Eiskaffee. Machu Picchu schlürfte das kalte Getränk mit Genuss. Ich sah zu dem Tisch hinüber, an dem Jeff Parker und Domingo Marcial miteinander redeten. Gute Neuigkeiten schienen es nicht zu sein, die Jeff hörte. Seine Miene wurde immer finste-
rer. Ich sah mir Domingo Marcial genau an. Er war ein schwarzhaariger, mittelgroßer, schlanker Mann Mitte der Dreißig; er trug einen maßgeschneiderten, hellen Anzug und sah gepflegt und wohlhabend aus, ein gutsituierter Geschäftsmann, schätzte ich. Jeff Parker und Marcial beendeten ihr Gespräch. Wir nahmen unser Handgepäck, in dem wir auch ein paar Pistolen und Revolver mitführten, und verließen das Flughafengebäude. Domingo Marcial fuhr einen chromblitzenden Chrysler Imperial des letzten Baujahrs. Er chauffierte selbst – im südamerikanischen Stil; das heißt, er fegte auf die Avenida Beira-Mar und fuhr die mehrspurig ausgebaute Prachtpromenade am Strand entlang. Auf der andern Seite der Bucht sah ich den Zuckerhut. Zur Copacabana ging es durchs Hügelgebiet von Morro da Babilonia und Morro de Sao Joao. In den Hügeln wurde uns bewusst, dass Rio nicht nur eine wunderschöne Stadt ist, in der das ganze Jahr die Sonne scheint, mit beeindruckenden modernen und schönen alten Häusern; hier leben auch die Ärmsten der Armen in Wellblechhütten und Baracken. In Copacabana, Rios Renommierviertel mit den Hotelpalästen am Strand, den modernen Geschäftsbauten und breiten Straßen, sah es wieder ganz anders aus. Marcial brachte uns zu einem neu errichteten zwanzigstöckigen Hochhaus in der Barao de Ipenema. Die Straße stieg hier schon etwas an. Vom Penthouse aus musste einem ganz Copacabana zu Füßen liegen. Bevor wir ausstiegen, warf Jeff Parker mir einen bedeutungsvollen Blick zu. »Was machen die Macumba?«, fragte er Marcial. »Sie werden immer dreister. Jede Nacht halten sie auf den Hügeln ihre geheimnisvollen Riten ab. Und nicht nur die Armen gehören zu ihnen. Es wird gemunkelt, dass die Macumba Anhänger in den höchsten Kreisen haben. Viele Morde werden ihnen zur Last gelegt.« Mein Interesse wurde sofort geweckt. Hatte Jeff Parker mich deshalb nach Rio geholt?
»Weiß man, wer der Führer dieses Kults ist?«, fragte ich. »Eine Hexe«, antwortete Marcial. »Sie nennt sich Viviana und belegt alle ihre Gegner mit einem furchtbaren Fluch.« Jeff Parker gab ihm ein Zeichen, nicht weiter zu reden. Er notierte sich noch die Telefonnummer, unter der er Marcial erreichen konnte, dann stiegen wir aus. Marcial raste davon. Es sah aus, als hätte er es sehr eilig, von hier wegzukommen. Von außen sah das Hochhaus tadellos aus, aber innen war es in einem sehr üblen Zustand. Zuerst fiel mir auf, dass sämtliche Geschäfte im Erdgeschoss geschlossen waren. In der Halle mit den vier Lifts und dem Treppenhaus schlichen ein unrasierter, triefäugiger Portier und zwei Pagen herum. Der Portier starrte missbilligend auf meinen über die Mundwinkel herabgezogenen Oberlippenbart. Die Pagen – die dunkelhäutig oder indianischer Abstammung waren – zogen Sacheen und Machu Picchu mit ihren Blicken aus. »Mein Name ist Jeff Parker«, verkündete Parker mit Stentorstimme. »Mir gehört das Penthouse.« Er sah sich wütend und missbilligend in der Halle um. Hier war im letzten halben Jahr keine Putzfrau mehr gewesen. Alles sah verdreckt und verwahrlost aus. Auf dem roten Läufer lag Schmutz, zwei Topfpalmen waren verdorrt. Es stank. Der Portier hob nur die Schultern und sagte etwas auf portugiesisch. »Was sagt der Stoppelbart?«, fragte Jeff. Er sprach nur Englisch, sonst nichts. Jeff gehörte zu jenen typischen Amerikanern, die der Meinung waren, die Ausländer sollten gefälligst ihre Sprache lernen. Ich übersetzte. Nachdem der Portier Jeff Parkers Ausweis gesehen und in einem fleckigen, eselsohrigen Buch nachgesehen hatte, bequemte er sich dazu, die Penthouseschlüssel herauszurücken. »Die Lifts sind alle defekt«, sagte er grinsend. »Sie müssen zu Fuß die Treppe hochsteigen.« Ich glaubte nicht recht zu hören. »Es sind zwanzig Stockwerke!«
»Wenn es Ihnen nicht passt, können Sie ja wieder gehen.« Als ich es Parker übersetzte, bekam er einen Kopf wie eine Atombombe kurz vor der Kernexplosion. Er sagte, ich sollte den Portier nach Vicente Neiva fragen. Der Portier hob nur wieder die Schultern. »War seit der Einweihung des Hauses nicht mehr hier, der Señor.« »Die Sache wird ein Nachspiel haben!«, verkündete Jeff Parker. Er hieb mit der Faust auf das Pult der Rezeption, doch das konnte den Schmerbauch dahinter nicht beeindrucken. Aus einer Tür im Hintergrund tauchte nun ein Mann in einem fleckigen Overall auf, eine Zigarette im Mundwinkel. Er machte eine dreckige Bemerkung über Machu Picchu, und ich hätte gute Lust gehabt, ihm die Faust ins Gesicht zu setzen. Aber ich sagte mir, dass das zu nichts führen würde, und wandte mich mit den anderen der Treppe zu. Ab dem zehnten Stock keuchte Parker wie ein defekter Dampfkessel, und auch Sacheen atmete schwer. Einzig Machu Picchu zeigte keine Anzeichen der Erschöpfung. Im zwanzigsten Stockwerk war ich in einer Laune, dass ich diesen Vicente Neiva am liebsten vom Dach geworfen hätte. Ich konnte mir eine sarkastische Bemerkung gegenüber Jeff Parker nicht verkneifen. »Ein Playboydomizil an der Copacabana habe ich mir eigentlich anders vorgestellt. Ich weiß nicht, was du für das Penthouse bezahlt hast, Jeff, aber dieser Neiva hat dich mächtig übers Ohr gehauen.« Zu meiner Überraschung schüttelte Jeff den Kopf. »Neiva hat mich nicht betrogen. Das darf er nicht. Da müssen andere Dinge im Spiel sein.« Ich überlegte, was hier eigentlich vorging; aber ich fragte Jeff nicht, denn er redete ohnehin nur, wenn er wollte. Er konnte stundenlang das verrückteste Zeug schwatzen, doch wenn er etwas für sich behalten wollte, war er verschlossen wie ein Grab. »In dem Bau stinkt es ganz abscheulich«, sagte Sacheen. »Und wie schmutzig es überall ist! Sieh nur die dreckigen Handabdrücke an den Wänden im Treppenhaus, Jeff! Ob hier Leute wohnen?« »Keine Leute, Schweine«, knurrte Jeff Parker. Er fügte noch ein paar kernige Flüche hinzu, hatte aber keine Ah-
nung, wie nahe er mit seiner Bemerkung der Wahrheit kam. Getroffen hatten wir im Hochhaus niemanden. Geregt hatte sich auch nichts. Wir verschnauften. Jeff Parker schloss die Tür auf, die zum Penthouseaufgang führte. Wir stiegen die letzten Treppenstufen hoch und gelangten ins Penthouse. Die Aussicht wäre sicher herrlich gewesen – nur waren die Thermophane-Scheiben so dreckig, dass man nicht mehr viel erkennen konnte. Ich hatte schon viele Wohnungen gesehen; einige davon hatten sich in einem üblen Zustand befunden; aber dieses Penthouse schlug alles. Es sah aus wie in einem Schweinestall. Kot lag auf dem Boden, Möbel waren umgestürzt und bekleckert, die Tapeten waren dreckig und zum Teil heruntergerissen. Auf dem Teppich im Wohnzimmer, das kaum noch als solches zu bezeichnen war, entdeckte ich eine Schlammpfütze; als hätten sich Säue darin gesuhlt. Parker bekam einen Tobsuchtsanfall und warf ein paar der noch heil gebliebenen Möbelstücke an die Wand. Endlich beruhigte er sich so weit, dass er imstande war, ein Telefongespräch zu führen. Ich riss alle Fenster auf, damit der Gestank entweichen konnte. Im Badezimmer war es so unbeschreiblich dreckig, dass ich rückwärts wieder hinausging. Sacheen und Machu Picchu standen in der geräumigen Diele. Machu Picchus Gesicht war ein einziges Fragezeichen. »Warum ist diese Wohnung so schmutzig?«, fragte sie. Ich konnte nur die Schultern heben. Jeff hatte inzwischen Vicente Neivas Firma angerufen und war von dort an die Privatwohnung verwiesen worden. Er hielt mir den Hörer entgegen. »Vicente Neivas Frau. Sie spricht kaum Englisch. Rede du mit ihr!« Ich begrüßte Luisa Neiva, die der Stimme nach noch ziemlich jung zu sein schien, und sagte ihr, wer wir waren und dass Jeff Parker ihren Mann in Rio treffen wollte. »Vicente ist seit gestern Abend spurlos verschwunden«, antwortete sie. »Ich war schon bei der Polizei. Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen. Er war gestern den ganzen Tag in schlechter Verfassung.« Ich berichtete Jeff von ihrer Sorge.
»Gib ihr unsere Telefonnummer!«, sagte Jeff. »Wenn Neiva zurückkommt, soll er mich sofort anrufen! Wenn Sie etwas von ihm erfährt, soll sie Nachricht geben! Sag ihr, es ginge um Angelegenheiten der Loge!« Ich teilte es Luisa Neiva mit und gab ihr Telefonnummer und Adresse. Als ich auflegte, sah ich Jeff Parker nachdenklich an. Es sah aus, als wollte er mir etwas mitteilen, aber dann drehte er sich abrupt um. Ich wollte nicht in ihn dringen. Er musste Gründe für sein Schweigen und seine Geheimnistuerei haben. Während ich mit den beiden Frauen die schlimmste Unordnung und den ärgsten Dreck beseitigte, rief Jeff Parker Domingo Marcial an. Ich hörte ihn bis ins Wohnzimmer schreien. Marcial ließ sich anscheinend nicht von Jeffs Getobe beeindrucken. Mit düsterem Gesicht kam Jeff zu uns. »Marcial meint, wir würden Vicente Neiva in Kürze sehen. Erklärungen für dessen Verschwinden und den Zustand der Wohnung wollte er nicht abgeben.« »Wir sollten hier ausziehen, Jeff«, meinte Sacheen. »Im Hotel Excelsior am Copacabanastrand wären wir sicher besser aufgehoben.« »Kommt nicht in Frage. Das ist mein Penthouse, und hier bleibe ich. Ich will wissen, was hier los ist.« Die am schlimmsten zugerichteten Stücke der Wohnungseinrichtung, den Teppich, der nur noch ein Drecklumpen war, das scheußlich stinkende, besudelte Bettzeug sowie einige unbrauchbar gewordene Möbel schafften wir aufs Dach hinaus. Vom Dach aus war die Aussicht herrlich. Man hatte einen Ausblick über Copacabana, ganz Rio und den Atlantik. Die Stadt und der Ozean badeten im Licht der Tropensonne, die bald schon den Horizont berühren würde. Die Autos in den Straßen und die Schiffe im Hafen Richtung Norden an der Einfahrt der Bucht von Guanabara wirkten wie Spielzeuge. Flugzeuge starteten und landeten von den Flughäfen Santos Dumont und Galeao. Machu Picchu war begeistert. Entzückt schlug sie die Hände zusammen, warf sich stürmisch an meinen Hals und küsste mich. »Deine Welt ist schön, Dorian.«
Ich lächelte über Machu Picchus Gewohnheit, die Welt der Gegenwart als meine Welt zu bezeichnen. Was wusste sie von Weltkriegen, heimtückischen Krankheiten wie Krebs, von Luft- und Umweltverschmutzung, der Überbevölkerung und von Massenvernichtungswaffen? Hinzu kamen die Dämonen, die um so gefährlicher waren, weil die überwiegende Mehrheit der Menschen ihre Existenz nicht wahrhaben wollte. Diese Welt war gewiss nicht nur schön, wie Machu Picchu annahm, die im Moment von der Aussicht und den technischen Errungenschaften begeistert war; ich wollte mich jedoch bemühen, die Schattenseiten der Zivilisation so gut wie möglich von ihr fernzuhalten.
Machu Picchu schaute den Kasten mit der grauen, konkaven Glasscheibe an. Dorian Hunter war im Bad, das einigermaßen gereinigt worden war. Jeff Parker und Sacheen hielten sich im Obergeschoss auf. Mit sechs Zimmern und hundertachtzig Quadratmetern war die Penthousewohnung sehr geräumig. Machu Picchu drehte neugierig an den Knöpfen. In Manaus, im Aufenthaltsraum des Hotels, hatte sie einen ähnlichen Kasten gesehen. Er hatte sprechen können und Bilder gezeigt. Plötzlich krachte ein Schuss, Machu Picchu sprang mit einem Schrei zurück. Die graue Scheibe war jetzt farbig. Sie zeigte ein unrasiertes, brutales Gesicht. Ein böse blickender Mann sagte etwas. Dann wechselte das Bild und derselbe Mann bedrohte mit einer Schusswaffe ein junges Mädchen. Zu seinen Füßen lag ein Toter. Das Mädchen warf sich vor ihm auf die Knie und flehte ihn an, sie zu verschonen. »Dorian!«, schrie Machu Picchu. »Dorian, schnell!« Sie sah sich um, nahm einen Aschenbecher und wollte ihn gerade in den Bildschirm werfen, als Dorian Hunter hereingestürmt kam, tropfnass, ein Handtuch um die Hüften, eine großkalibrige Pistole in der Faust. »Da, Dorian!«
Es war eins der in Lateinamerika so beliebten Eifersuchtsdramen, wie Dorian gleich erkannte. Er drehte den Ton ab. »Das ist doch nur ein Fernsehapparat«, sagte er zu Machu Picchu. »Was da stattfindet, ist ein Spiel – wie ein Theaterstück.« »Ja, ja, ich weiß, aber ich bin so erschrocken, als er plötzlich sprach und die Bilder erschienen.« Der gehörnte Ehemann auf dem Bildschirm erschoss nun die junge Frau und sich selber. Machu Picchu schaute fasziniert zu. »Warum macht er das?« »Das gehört zum Spiel. Es ist nur zur Unterhaltung gedacht und hat nichts zu bedeuten. Setz dich jetzt hin, blättere in einem Magazin und warte, bis ich fertig bin! Dann machen wir einen Einkaufsbummel, und ich zeige dir Rio.« »Ich will das Spiel im Fernsehen anschauen. Ob wohl noch mehr Leute umgebracht werden?« Sie ist also auch schon von der Seuche des Fernsehens infiziert, dachte Dorian. Der Spielfilm war zu Ende. Anschließend kam Werbung. Dorian suchte auf den anderen Fernsehkanälen; in einem wurde gerade ein Halb-Stunden-Krimi gesendet. Dorian hoffte, dass Machu Picchu dabei auf ihre Kosten kam und entschwand wieder ins Bad. Der Krimi war schlecht gemacht. Lange Dialoge schleppten sich vor uninteressanten Szenenbildern hin. Machu Picchu begann bald zu gähnen. Sie stöberte im Zimmer herum. Eine Zeitlang bestaunte sie das Schauspiel der hinter den Häusern im Meer versinkenden Sonne; dann ging sie in die gut eingerichtete Küche. Sie war schmutzig, aber das fiel Machu Picchu nicht besonders auf. Interessiert betrachtete sie die Sichtscheibe des Elektroherds. Vielleicht wurde hier etwas Interessanteres gezeigt? Sie drehte an ein paar Knöpfen. Ein paar bunte Lichtchen flammten auf, aber das war auch schon alles; kein Bild erschien. Machu Picchu wandte sich enttäuscht ab, öffnete den Kühlschrank und schaute hinein. Er war leer. Dorian und die andern hatten die verdorbenen Lebensmittel weggeworfen. Machu Picchu hielt die Hand hinein und wunderte sich, weshalb es da drinnen so kalt war. Sie hielt dieses Phänomen schließlich für ein weite-
res Wunder dieser ihr unbekannten Welt und öffnete das Tiefkühlfach. Drei Packungen Tiefkühlspinat lagen darin. Damit wusste sie auch nichts anzufangen. Die Inka-Prinzessin wandte ihre Aufmerksamkeit nun der Geschirrspülmaschine zu. Sacheen hatte Geschirr hineingestellt. Machu Picchu öffnete die Maschine und spielte an den Knöpfen. Heißes Wasser, mit einem Reinigungsmittel versetzt, sprühte ihr ins Gesicht. Sie wich zurück. In der Geschirrspülmaschine klirrte und schepperte es; ein paar Gläser und Tassen zerbrachen. Entschlossen trat Machu Picchu an die Geschirrspülmaschine wieder heran und begann erneut an den Knöpfen zu drehen. So viel wusste sie, dass man auch wieder abschalten konnte, was man angeschaltet hatte. Nach ein paar vergeblichen Versuchen hatte sie sie wieder abgeschaltet. Sie besah sich die Scherben. Als Sacheen hereinkam, machte sie ein unglückliches Gesicht. Aber Sacheen lachte nur und klopfte Machu Picchu auf die Schulter. Reden konnte sie mit ihr nicht, da die Inka-Prinzessin nur das Ketschua der alten Inkas und Alt-Spanisch sprach. Sacheen führte Machu Picchu zum Bad, wo Dorian Hunter inzwischen seine Toilette beendet hatte. Er kam heraus, rasiert, geduscht und umgezogen, und Sacheen verschwand mit Machu Picchu im Bad. Allein würde die Inka-Prinzessin nicht mit Heiß- und Kaltwasser, Dusche, Fön und all den anderen Dingen zurechtkommen.
Es war schon zwanzig Uhr dreißig, als wir das Penthouse verließen und uns daranmachten, die zwanzig Treppen hinabzusteigen. Im Haus begegneten wir niemandem, was bei einem Apartmenthochhaus dieser Größe erstaunlich war. Hinter den Türen der Wohnungen hörten wir seltsame Geräusche, Scharren und Schaben, auch Quieken und einmal ein Grunzen. Ich klingelte an der Tür, hinter der das Grunzen zu hören gewesen war, aber niemand öffnete. Ich pochte mit der Faust an die Tür. Keine Antwort. Die Bewohner versteckten sich vor uns. Aus welchem
Grund? Und was hatten diese seltsamen Geräusche zu bedeuten? Ich überlegte mir, ob ich mit Gewalt in eine Wohnung eindringen sollte, entschied mich aber dagegen. Als wir unten in die Halle kamen, war vom Portier und den beiden Pagen nichts zu sehen. Wir gingen zur Tür. Da hörte ich hinter mir ein Rascheln und wirbelte herum. Ein magerer zerlumpter Junge kam hinter einer der vertrockneten Topfpalmen hervor, ein Messer in der Faust. »Was habt ihr mit meinem Bruder gemacht?«, schrie er uns an. »Gebt ihn frei! Ich werde nicht zulassen, dass er geschlachtet wird.« Er sprach einen Slumdialekt, den selbst ich kaum verstehen konnte. »Leg das Messer weg und erklär in Ruhe, was du willst!«, sagte ich zu ihm. »Wir kennen deinen Bruder nicht und wollen ihm bestimmt nichts Übles.« Es war nicht vernünftig mit ihm zu reden. Er war zu aufgeregt und ängstlich. »Ihr wollt meinen Bruder schlachten, ihr Macumbamörder!«, schrie er und ging wie ein Amokläufer auf mich los. Ich wich seinem Messerstich aus, packte seinen Arm und drehte ihn ihm auf den Rücken. Das Messer klirrte zu Boden. Wehrlos zappelte der Junge in meinem Griff. Tränen traten ihm in die Augen. »Ihr Bestien, ihr Mörder! Gott vernichte die Macumba!« Jeff Parker und die beiden Frauen sahen zu. Sie verstanden nicht, worum es ging. »Jetzt rede vernünftig!«, forderte ich. »Wir sind erst heute in Rio angekommen, vor einigen Stunden. Wir haben mit der MacumbaSekte nichts zu tun.« »Weshalb seid ihr dann hier in diesem Hochhaus? Jeder weiß, dass die Macumba hier ihre Opfer zusammentreiben und gefangen halten, bis sie geschlachtet werden. Mein Bruder Castelo hat die Hexe Viviana beleidigt und ist deshalb von ihr verflucht worden.« Ich ließ ihn los. Zum zweiten Mal hörte ich jetzt von der Hexe Viviana und ihrem Fluch. Hastig übersetzte ich Jeff Parker, was der Junge gesagt hatte.
»In dem Hochhaus stimmt zwar manches nicht«, sagte Jeff, »aber das kann ich mir doch nicht vorstellen. Ein ganzes Hochhaus mit Gefangenen, die geschlachtet werden sollen? Das müssten ja Hunderte sein! Nein, nein. Der Junge übertreibt.« Ich sprach beruhigend auf den Jungen ein und sagte ihm, dass er allein seinen Bruder in dem großen Hochhaus nicht finden könnte – falls er überhaupt hier war – und dass er als Einzelner gegen die Macumba ohnehin nichts ausrichten könnte. Er wurde ruhiger, als er merkte, dass wir ihm nichts Böses wollten, und senkte den Kopf. »Ich weiß, dass es Wahnsinn ist, allein ins Hochhaus der Macumba einzudringen, aber was soll ich tun? Abwarten, bis mein Bruder geschlachtet wird, ohne einen Finger zu rühren?« Wir verließen das Haus. Draußen fiel mir jetzt, da ich darauf achtete, auf, dass das Hochhaus gemieden wurde. Passanten gingen auf die andere Straßenseite. Kein Wagen parkte vor dem Haus. Die Zufahrt zur Tiefgarage war gesperrt. In vielen Fenstern brannte jetzt aber Licht. Es musste also jemand in den Wohnungen sein. Die Sache wurde immer rätselhafter. Wir gingen auf der Straße ein Stück weiter und stürzten uns ins lärmende Leben von Copacabana. In einer Einfahrt unterhielt ich mich weiter mit dem Jungen. Er hieß Romero Marechal und stammte aus den Armenvierteln auf dem Hügel von Morro dos Cabritos. Viel konnte er mir über die Macumba nicht erzählen. Kein Uneingeweihter kannte ihre scheußlichen Riten und Bräuche genau und wusste, was der Kult anstrebte. Die tollsten Gerüchte waren im Umlauf, aber es waren eben nur Gerüchte. Die im Hochhaus zusammengepferchten Opfer der Macumba, die geschlachtet werden sollten, hielt ich für ein solches Gerücht. »Ich will versuchen, dir und deinem Bruder zu helfen, Romero, wenn du mich zu einem Ritual der Macumba führst. Ich muss mehr über den Kult wissen, damit ich etwas gegen ihn unternehmen kann. Mein Freund hier ist ein einflussreicher Mann, und ich habe ebenfalls viele Beziehungen und Kenntnisse.« Das traf zwar für die Verhältnisse hier in Brasilien nur bedingt zu
– schließlich war ich zum ersten Mal in Rio –, aber wenn Romero mich zu den Macumba-Anhängern bringen sollte, was nicht ungefährlich war, musste ich ihm etwas bieten. Wir verabredeten, dass wir uns eine halbe Stunde vor Mitternacht bei einem Zeitungsstand in der Barao de Ipanema treffen wollten, in der Nähe des Hochhauses. Romero verschwand in der Menge. Wir begannen unseren Bummel durch das abendliche Rio.
»Die Macumba waren früher eine eher harmlose Sekte«, erzählte Jeff Parker im Restaurant des Hotels Castro Alves, Avenida N.S. Copacabana 552. Das Restaurant befand sich im 18. Stock. Wir hatten einen Fensterplatz bekommen. Die lichtfunkelnde Avenida Copacabana mit ihren vielen Geschäften, Restaurants, Kinos, Nightclubs, Neonreklamen und hellerleuchteten Schaufensterfronten lag unter uns, durch die großen Panoramafenster gut zu überblicken. Das Nachtleben von Copacabana hatte begonnen. »Einfache Menschen fanden sich zu Voodoo-Riten zusammen«, fuhr Jeff fort, »aber sie traten nie besonders in Erscheinung. Das begann sich vor einigen Monaten zu ändern. Als ich das letzte Mal mit Vicente Neiva telefonierte, sagte er mir, dass die Macumba sich zu einer unheimlichen Macht und einer ernsten Bedrohung entwickelt hätten.« Ich nippte an meinem Cafe con lecke, einem starken Kaffee mit einem Schuss Likör. Brasilien ist nicht nur der Welt größter Kaffeeproduzent, sondern auch einer der größten Verbraucher. Wir hatten einige Kleidungsstücke und Wäsche für Machu Picchu und Sacheen eingekauft. An Kleidungsstücken hatten wir nur das mitgebracht, was wir auf dem Leib trugen, denn in Manaus war die Auswahl nicht groß gewesen. Wie fast alle Frauen war Machu Picchu vom Einkaufen begeistert. Sie trug jetzt ein weißes Kostümkleid mit großem viereckigem Ausschnitt. Es bildete einen Kontrast zu ihrer braunen Haut und stand ihr gut. Mit ihrer hübschen, zierlichen Figur zog sie darin alle Män-
nerblicke auf sich. Sacheen, fast einen Kopf größer als die ein Meter achtundfünfzig große Machu Picchu, trug einen Hosenanzug aus einem mit glänzenden Fäden durchzogenen Stoff. Sie hatte ihr schwarzes Haar zu einer Hochfrisur aufgesteckt und wirkte nicht minder schön. Ich glaube, Jeff und ich waren die meistbeneideten Männer im Restaurant. Wir beendeten die Mahlzeit und beschlossen, einem Nightclub eine Visite abzustatten. Das Stop war auf der Avenida Copacabana. Wir ließen unser Gepäck an der Restaurantgarderobe, gaben ein Trinkgeld und sagten, dass wir es später abholen wollten. Dann bummelten wir über die Avenida Copacabana. Machu Picchu und Sacheen waren von den Schaufenstern nicht wegzubringen. Vor einem Juweliergeschäft winkte Machu Picchu mich aufgeregt herbei. Eine prachtvolle Diamantenhalskette hatte es ihr angetan. »Kannst du mir das da kaufen?«, fragte sie. Ich schluckte hart, denn »das da« kostete die Kleinigkeit von vierhunderttausend neuen Cruzeiros, was etwa neunzigtausend USDollar entsprach. Machu Picchu strahlte mich an. »Es ist zu teuer«, sagte ich. »Das kann ich mir nicht leisten. Für so viel Geld kann man ein ganzes Haus kaufen.« Ich glaube, in diesem Moment begriff sie zum ersten Mal, dass mir auf dieser Welt Grenzen gesetzt waren. »Bist du nicht reich?«, fragte sie. »Nein«, sagte ich, »ich bin nicht reich. Ich habe auch nie danach getrachtet, es zu werden.« »Ist Jeff reich?« »Das kann man wohl sagen.« Sie überlegte, sah mich an, dann Jeff. »Du bist mir trotzdem lieber«, sagte sie, »auch wenn ich die Halskette nicht bekomme.« Es war eine Liebeserklärung, die ihrem unverfälschten Naturell entsprach. Wir betraten den Nightclub. Ein zwei Meter großer Schwarzer in
betresster Fantasieuniform begleitete uns bis zur Kasse und sorgte dafür, dass wir Plätze direkt vorn bei der Bühne bekamen. Der Nightclub war kein Dämmerschuppen, sondern ein großer, prachtvoll illuminierter Raum. Es gab eine Bühne, zwei Tanzflächen, von denen eine sich drehte, und eine ausgezeichnete Band. Alle zwei Stunden fand eine halbe Stunde Show statt. Gerade hatte sie wieder begonnen. Zuerst trat eine Sängerin auf, dann ein Conferencier, dessen Stimme aus den Augäpfeln zu kommen schien und dessen Witze einem das Wasser aus denselben treiben konnten – allerdings nicht vor Erheiterung. Nur ein paar unbedarfte Gemüter lachten. Und dann kam sie: Rumba Vanessa! Ihr Name wurde in Leuchtschrift groß an der Wand hinter der Bühne angekündigt. Sie war eine gelenkige, schlanke Schwarze mit blitzenden Augen und einem sinnlichen Mund, und sie trug ein knappes Kostüm. Fünf Trommler bauten sich auf der Bühne auf. Alle Lichter erloschen, bis auf einen Scheinwerfer, der die schwarze Schönheit anleuchtete. Sie tanzte. Und wie sie tanzte! Ihre Gelenke schienen aus Gummi zu sein. Sie hatte Rhythmus im Blut, und Lebensfreude strahlte von ihr aus. Rumba Vanessa riss den ganzen Saal zu Beifallsstürmen hin. Selbst Jeff Parker, in Sachen Frauen nur noch sehr schwer zu beeindrucken, sprang auf und klatschte wie toll. Auch ich erhob mich und klatschte, als Vanessas erste Vorführung beendet war. Für einige Augenblicke ging das Licht an. Sie verbeugte sich. Die fünf Trommler grinsten. Dann begann die nächste Nummer. Diesmal legte Vanessa beim Tanz Stück für Stück ihres Kostüms ab. Sie schüttelte ihre üppigen Brüste im Rumbatakt. Im Hintergrund entstand ein Tumult. Ärgerliche Rufe wurden laut. Bis auf den Scheinwerfer war es dunkel. Ich konnte nicht erkennen, was da vorging. Jemand hetzte zur Bühne, und ein Vermummter tauchte bei Vanessa auf, die in ihrem Tanz innegehalten hatte. Er packte sie und setzte ihr eine Pistole an die Schläfe. Ein Aufschrei ging durchs Pu-
blikum. Einer der schwarzen Trommler kam auf Vanessa zu, zögernd; er wollte ihr offensichtlich beistehen, wusste aber nicht, wie. Der Vermummte – er trug einen hellen Anzug und eine schwarze Kapuze, von Gestalt war er mittelgroß und kräftig – gab einen unartikulierten Laut von sich, der wie das Grunzen eines Schweins klang, und bedeutete dem Mann mit einem Wink zurückzuweichen. Die Lichter gingen an. Die Leute an den Tischen sprangen auf, redeten erregt durcheinander. Der Manager des Nightclubs drängte sich zur Bühne vor. Er hob beschwichtigend die Arme. »Meine Damen und Herren, bewahren Sie Ruhe! Ihnen droht keine Gefahr.« Er wandte sich an den Maskierten auf der Bühne. »Was hat das zu bedeuten? Werfen Sie die Waffe weg! Die Polizei wird gleich hier sein.« Das war natürlich eine dumme Aufforderung. Der Vermummte beachtete sie gar nicht. Er zerrte die Tänzerin zum Bühnenausgang. Während ich noch überlegte, wie ich eingreifen sollte, hörte ich vom Eingang des Nightclubs her schrille, disharmonische Flötentöne. Sie gingen einem durch Mark und Bein. Der Maskierte auf den Bühne quiekte ängstlich. Eine unheimliche Prozession zog durch den Club. Vorneweg ging ein hochgewachsener Schwarzer in zerschlissenem Anzug und Zylinderhut. In der Rechten hielt er einen Stab mit einem faustgroßen Totenkopf, in der Linken eine zwei Meter lange, zischende Buschmeisterschlange, eine der gefährlichsten Giftschlangen, die es gibt. »Macumba«, raunte man im Saal, und ich bemerkte die unverhohlene Angst der Besucher. Hinter dem Macumba-Priester kamen ein Dutzend seiner Anhänger. Es waren acht Weiße, vier Mischlinge und Schwarze. Drei von ihnen – zwei Männer und ein Mädchen – waren nackt und mit weißen Streifen grotesk bemalt, die andern sehr modisch, normal oder ärmlich gekleidet. Zwei von ihnen hielten Hähne, die sie hin und her schwenkten, drei bliesen auf Querflöten, einer klopfte auf eine kleine Trommel. Die anderen rasselten und klapperten mit allerlei
Instrumenten, bliesen auf Trillerpfeifen und vollführten einen Höllenspektakel, schrien und lachten unmotiviert. Es war ein Karneval des Grauens. Die groteske Prozession rückte zur Bühne vor und stieg hinauf. Die schwarzen Rumbatrommler flohen schreiend. Der Vermummte quiekte hinter der Bühne. Nun ließ der Macumba-Priester die Schlange frei und deutete mit dem Totenkopfstab auf den Bühnenausgang. Schnell und zielstrebig glitt die Buschmeisterschlange davon. Dann waren nur noch die Stimmen der aufgeregten und verängstigten Zuschauer zu vernehmen. Hinter der Bühne quiekte etwas entsetzlich, wie ein Schwein, das geschlachtet werden soll. Schließlich brach das Quieken ab, und einige Sekunden herrschte Stille. Dann kam die schwarze Tänzerin hinter der Bühne hervorgestürzt, das Gesicht zu einer hysterischen Maske verzerrt, immer wieder schreiend. Wie von Furien gehetzt, die Hände seitlich an den Kopf gepresst, stürzte sie aus dem Club. Zwei Macumba-Anhänger zogen lange Messer und eilten hinter die Bühne. Ich hielt es nicht mehr länger aus und drängte ebenfalls zur Bühne vor. Der Macumba-Priester starrte mich böse an und deutete mit seinem Totenkopfstock herrisch ins Publikum – zum Zeichen, dass ich verschwinden sollte. »Du kannst mich mal«, sagte ich und eilte hinter die Bühne. Die beiden Macumba-Anhänger standen in einer großen Blutlache. Einer steckte die Buschmeisterschlange in einen Sack, der andere hielt etwas in beiden Händen, das er ebenfalls in den Sack warf. Die Beleuchtung war so diffus; ich konnte nicht genau erkennen, was es war; aber es schien ein Schweinekopf zu sein, der gerade abgeschnitten worden war, denn es tropfte noch das Blut aus dem Stumpf. Am Boden aber lag ein kopfloser Körper. Die beiden Macumba drückten sich eilig an mir vorbei. Ich beugte mich über den Körper des Toten und untersuchte ihn. Der Körper war absolut menschlich. Ich öffnete die Kleider, um mich zu vergewissern. Es war der Körper eines Mannes, der auf die
Bühne geflüchtet war und die Sängerin als Geisel genommen hatte. Aber konnte er einen Schweinekopf gehabt haben? Ich eilte hinaus und wollte hinter den Macumba her. Sie verschwanden gerade durch die Tür. Im Club brach alles fluchtartig auf. Man hätte einen Panzerwagen gebraucht, um durch das Gedränge hindurchzukommen. Der Manager stand bei der Bühne, das Gesicht eine Grimasse der ohnmächtigen Wut und Verzweiflung, die Fäuste geballt. »Was war das?«, fragte ich ihn. »Ich habe nichts gesehen«, zischte er mich an, »überhaupt nichts! Ich weiß von nichts, lassen Sie mich in Ruhe!« Er hatte Angst vor den Macumba, und nach dem, was ich eben erlebt hatte, konnte ich es ihm nicht verdenken. Jeff Parker zog mich am Ärmel. »Komm, Dorian. Raus hier! Mit der Polizei zu sprechen, hat keinen Zweck. Sie ignoriert das Treiben der Macumba aus Angst oder weil einflussreiche Männer es ihr befehlen. Ich weiß es von Vicente Neiva. Wir bekommen nur Ärger, wenn wir uns an sie wenden.« Wir fanden einen Seitenausgang. Dann standen wir wieder auf der Avenida Copacabana und sahen die aus dem Stop drängende Menge, die sich rasch zerstreute. Ich wusste jetzt, dass ich nicht umsonst nach Rio gekommen war und dass mir noch allerhand bevorstand.
Wir holten unsere Sachen aus dem Hotelrestaurant und fuhren zum Hochhaus zurück. Nach dem Zwischenfall im Nightclub halten Jeff Parker und die beiden Mädchen keine Lust, weiter über den Boulevard zu flanieren. Sie blieben im Hochhaus, während ich zu dem Treffpunkt mit dem jungen Romero Marechal ging. Im Hochhaus hatten wir hinter den Wohnungstüren wieder das seltsame Grunzen und andere tierische Geräusche gehört, aber Jeff weigerte sich entschieden auszuziehen. Er hatte drei Schusswaffen und war ein Mann, der sich seiner Haut wehren konnte. So ließ ich ihn mit Machu Picchu und Sacheen zurück. Ich kam eine Viertelstunde zu spät, aber Romero hatte gewartet.
Er führte mich die Barao de Ipanema und die Rua Emilia Berta hinauf, in der alte heruntergekommene Häuser standen, ins Hügelgebiet. Hier standen die Hütten und Baracken der Armen. Hunde jaulten in der Dunkelheit, Kleinkinder plärrten. Aus den Fenstern der elenden Behausungen fielen Lichtbahnen. Mond- und Sternenlicht erhellten zudem die Nacht, so dass man gut sehen konnte. Mir entging nicht, dass wir beobachtet wurden. Gestalten drückten sich in die dunklen Schatten der Hütten, lugten hinter Bäumen und Büschen hervor. In der Ferne sah ich Feuerschein, hörte Trommelklang und Stimmengemurmel. Plötzlich traten uns Gestalten entgegen, MacumbaAnhänger und -Sympathisanten, Männer, Frauen, auch ganz junge Burschen und Mädchen. Fäuste wurden drohend geschüttelt. Romero blieb zitternd stehen, aber mich konnte man so leicht nicht beeindrucken. Ich packte seinen Arm und zog ihn weiter. »Vorwärts!«, sagte ich. »Wir gehen einfach zwischen ihnen hindurch. Entkommen können wir ihnen ohnehin nicht, wenn sie es auf uns abgesehen haben.« Sie wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Offenbar hatten sie keine Anweisungen. Wieder sah ich einige nackte und halbnackte Gestalten, mit weißen Streifen bemalt, weiblich und männlich. Sie murmelten Verwünschungen. Einen Macumba-Priester oder gar die Hexe Viviana sah ich nicht. In der Ferne wurde das Trommeln lauter. Es kam Bewegung in die Menge, die uns angaffte, aber nicht aufhielt. Männer und Frauen tanzten uns in den Weg, schrien uns mit verzerrten Fratzen ihren Hass ins Gesicht. Ein wahrer Herkules biss vor meinen Augen einem Huhn den Kopf ab, spie ihn mir vor die Füße und besudelte mich mit dem aus dem kopflosen, mit den Flügeln zuckenden Körper hervorspritzenden Blut. Ich traf ihn mit der Linken am Solarplexus und mit der Handkante am Hals. Er verdrehte die Augen und kippte um, steif wie ein Brett. Ich nahm das kopflose Huhn und schleuderte es in die Nacht. Das nahm ihnen den Mut zu weiteren Übergriffen.
Ein Mädchen tanzte uns entgegen, die Zunge weit hervorgestreckt, die Augen so verdreht, dass man nur das Weiße sehen konnte. Rundum zwischen den Hütten wurde getrommelt, gepfiffen, gerasselt und geklappert. Die Macumba heulten und zischten, geiferten und beschimpften uns. Das Mädchen beugte sich nach hinten und verbog die Wirbelsäule so, wie es kein Mensch normalerweise konnte. Ich zog das kleine Kreuz, das ich aus dem Penthouse mitgebracht hatte, aus der Jackentasche und hielt es der in Trance Befindlichen entgegen. Sie versteifte sich und begann dann wie bei einem epileptischen Anfall zu zucken und stürzte zu Boden. Schaum trat vor ihren Mund. Ihre Beine schlugen schnell wie Trommelschlegel auf den Boden. Jetzt war ich sicher, dass dämonische Mächte am Werk waren. Als ich das Kreuz hochhob, ging ein Aufschrei durch die Menge. Die Macumba-Anhänger wandten sich ab, als könnten sie den Anblick nicht ertragen. Sie wichen zurück, belauerten uns aus den Schatten der Hütten und Baracken, hielten aber einigen Abstand. Nur noch gemurmelte Flüche und Verwünschungen waren zu hören. Romero Marechal, mein junger Führer, zitterte am ganzen Körper. Endlich erreichten wir die Hütte, in der seine Familie lebte. Romero klopfte in einem bestimmten Rhythmus an die Tür. Sie wurde einen Spaltbreit geöffnet. »Ich bin es, Romero«, raunte er. »Bei mir ist ein Mann, der uns helfen will.« Wir konnten eintreten. Im größten Raum der schäbigen Hütte hatte sich die Familie Marechal versammelt. Der Vater, ein Krüppel mit nur einem Arm, die verhärmte, früh gealterte Mutter und fünf jüngere Geschwister von Romero. Der Schein einer Öllampe beleuchtete ihre Gesichter. Die Familie lebte hier ohne elektrisches Licht, ohne fließendes Wasser und all die anderen Dinge, die für den Normalverbraucher selbstverständlich waren. Sicher waren sie unverschuldet ins Elend geraten, weil Romeros Vater mit einem Arm nicht mehr voll arbeiten und genug für die große Familie verdienen konn-
te. Einmal im Elendsviertel, war es schwer, wieder herauszukommen. Romeros Vater musterte mich. Er hatte das verbitterte Gesicht eines Mannes, der größtenteils auf der Schattenseite gelebt und die Hoffnung aufgegeben hatte. »Was will dieser Mann, Romero?« »Er will mir helfen, Castelo aus den Klauen der Macumba zu befreien«, sprudelte der Junge hervor. »Ihr hättet sehen sollen, wie er mit den Macumba-Leuten hier im Viertel umgesprungen ist. Er hat ihnen die Zähne gezeigt.« Ich sah, dass Romeros Vater und seine Mutter von meinem Kommen keineswegs begeistert waren. Sie mussten hier leben; sie wollten keine Schwierigkeiten; und sie dachten ganz anders als ihr Sohn. Die Kinder, darunter ein schon recht gut entwickeltes, etwa vierzehnjähriges Mädchen, musterten mich neugierig. »Castelo hat den großen Fehler gemacht, sich die Feindschaft der Macumba zuzuziehen«, sagte der Alte bedächtig. »Ich fürchte, wir können ihm nicht helfen.« »Vater, wie kannst du so etwas sagen!«, schrie Romero auf. »Gestern Abend noch hast du ganz anders geredet. Zum Bürgermeister von Rio wolltest du gehen, zum Gouverneur des Staates Guanabara.« »Gestern hatte dein Vater eine halbe Flasche Zuckerrohrschnaps getrunken, um seinen Kummer zu betäuben«, sagte die Mutter. »Wer sind wir? Was können wir gegen die Macumba ausrichten? Zum Bürgermeister und zum Gouverneur gehen? Das sind alles Hirngespinste. Wir bringen die Macumba nur noch mehr auf und machen uns zum Gespött der Leute hier. Ich trauere sehr um Castelo, aber ich muss auch an meine anderen Kinder und an mich und Agosto denken.« Ein Gefühl der Bitterkeit stieg in mir auf. Das Leben hatte diese beiden Menschen, Romeros Eltern, zerbrochen. »Ich will Señor Hunter zu einem Macumba-Ritual führen«, sagte Romero, nun schon wesentlich kleinlauter. »Das kommt nicht in Frage«, entschied der Alte. »Du tust heute
Nacht keinen Schritt mehr aus der Hütte. Willst du uns alle ins Elend stürzen?« Er wandte sich an mich. »Sie gehen jetzt besser, Señor! Den Rückweg finden Sie sicher allein.« Was sollte ich sagen? Ihnen Vorhaltungen machen? An ihren Stolz appellieren oder an ihr Verantwortungsgefühl? Ihnen sagen, dass man den Macumba entgegentreten musste? Das hatte alles keinen Zweck. »Ich gehe. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen.« Romero brachte mich zur Tür; und trotz des Verbotes seines Vaters begleitete er mich noch ein kurzes Stück. »Ich schäme mich für meine Eltern. Ich werde fortgehen von hier – bald schon. Ich hatte es schon lange vor.« »Du musst deine Eltern verstehen. Nicht jeder ist eine Kämpfernatur. Manche werden nach unten gedrückt und kommen nicht mehr hoch. Urteile nicht zu hart über sie! Aber weggehen solltest du von hier. Hier, nimm das, und heb es auf für den Tag, an dem du fort gehst!« Ich gab ihm fünfzig US-Dollar, was für ihn ein kleines Vermögen war. Im Allgemeinen bin ich nicht sonderlich weichherzig, aber für diesen Jungen konnte das Geld viel bedeuten, mir hingegen würde es nicht fehlen. Seinen Dank abschneidend, ging ich durch das Armenviertel davon. Als ich den Hügelpfad hinunterging und schon den Rand des Elendsviertels erreicht hatte, traten plötzlich hinter den Hütten und aus allerlei Verstecken weißbemalte Gestalten hervor. Ich war umringt. Unter den Macumba sah ich den zerlumpten, grotesk gekleideten Priester, der den Auftritt im Stop angeführt hatte. Er schwenkte seinen Totenkopfstab. Sein schwarzes Gesicht grinste mich mit bleckenden Zähnen an. Diesmal konnte ich die Macumba-Anhänger nicht so leicht einschüchtern und einfach davongehen, das war mir klar. In der Hosentasche trug ich einen 38er Smith & Wesson Revolver, aber er hatte nur sechs Schuss, und zwei Dutzend Männer und Frauen umringten mich. Zudem spürte ich fast körperlich den Einfluss des Dämo-
nischen, dem ich mit Kugeln allein nicht beikommen konnte.
Vor zwanzig Minuten hatte Jeff Parker einen Anruf von Domingo Marcial erhalten, der ihn dringend zu sprechen wünschte, und das Penthouse verlassen. Sacheen und Machu Picchu blieben zurück. Das Fernsehprogramm war bereits beendet, sie saßen im Salon im Untergeschoss und versuchten sich zu verständigen. Es war nicht einfach. Sacheen sprach nur Englisch und Machu Picchu nur AltSpanisch und Ketschua. Die Inka-Prinzessin versuchte aber, etwas Englisch zu lernen. Sacheen nannte ihr die Namen der Gegenstände im Zimmer und versuchte mit Zeichensprache, Begriffe zu erläutern. Da hörten die beiden draußen vor der Tür Grunzen und Scharren. Sie gaben ihre Sprachübungen auf und lauschten angespannt. Kein Zweifel, da war jemand an der Tür. Jetzt pochte es. Sacheen holte ihre sechs Meter lange Bullpeitsche, mit der sie meisterhaft umgehen konnte – sie hatte einmal bei einem WesternZirkus gearbeitet – und eine 41-er Remington-Pistole aus dem Gepäck. Jeff Parker hatte die Waffe bereits gespannt; man brauchte sie nur zu entsichern und abzudrücken. Machu Picchu hatte eine große Scheu vor Schusswaffen. Sie nahm ein Fleischmesser aus der Schublade. Dann schlichen die beiden zur Tür. Im Flur war es dunkel. Gestank drang zu ihnen herein. Jemand rieb sich an der Tür, grunzte und quiekte. Dann wurde an der Klinke gerüttelt. Jeff Parker hatte von außen abgeschlossen. »Wer ist da?«, fragte Sacheen entschlossen auf Englisch. »Was hat das zu bedeuten?« Niemand antwortete. Ein schwerer Körper warf sich gegen die Mahagonitür, die unter dem Anprall erzitterte. »Wir müssen ins Obergeschoss«, sagte Sacheen zu Machu Picchu und deutete nach oben. Die Inka-Prinzessin begriff. Als sie zur Treppe eilten, hörten sie ein Geräusch im Wohnzimmer. Siedendheiß fiel Sacheen ein, dass sie
vor Jeff Parkers Weggang auf dem Dach herumspaziert waren und die Tür nicht versperrt hatten. Die Unheimlichen mussten eingedrungen sein. Sacheen nahm ihren ganzen Mut zusammen. Sie riss die Tür zum Wohnzimmer auf. Das Licht drinnen war gelöscht worden, aber aus dem Flur fiel eine Lichtbahn in den noch immer schmutzigen großen Raum. Zwei dunkle Gestalten bewegten sich auf sie zu. »Hinaus!«, rief Sacheen und deutete mit der Peitsche auf die Tür. Ein Grunzen war wieder zu hören. Eine der beiden Gestalten näherte sich der Tür. Als sie in die Lichtbahn trat, sah Sacheen, dass der Mann einen Schweinekopf hatte. Kleine Äuglein starrten sie an. Zähne bleckten in der Schweineschnauze. Die Pistole entfiel Sacheens bebender Hand. Sie war vor Schreck gelähmt. Die zweite Gestalt, eine Frau mit einem unglaublich verschmutzten Abendkleid und einem Schweinekopf, unter dem sie groteskerweise eine sündhaft teure Brillantenhalskette trug, trat neben den Mann. Sacheen vermochte kein Glied zu rühren. Da sprang die Inka-Prinzessin wie eine Wildkatze vor. Machu Picchu zog dem Schweinemann das Fleischmesser quer durchs Gesicht, dass er aufquiekte und zurücktaumelte. Dann stach sie auf die Frau ein. Auch diese quiekte schrill und wich zurück. Jetzt erst fiel die Starre von Sacheen ab. Sie hob die Pistole auf und schoss blindlings. Ihre Kugeln schlugen in die Wand ein und sausten durch das Fenster, trafen aber niemanden. Das Krachen der Schüsse vertrieb die beiden Monster. Sie flohen auf das Dach hinaus. Sacheen eilte ihnen nach und schloss die Tür. Das Penthouse hatte Leichtmetall-Rollläden, um Einbrüche zu erschweren. Sacheen ließ die Rollläden herunter. Zitternd lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Tür. Draußen grunzten die beiden, hämmerten gegen die Läden und machten einen Höllenspektakel. Machu Picchu fasste nach Sacheens Arm und zog sie zur Treppe, hinauf ins Obergeschoss. Das Hämmern an der Eingangstür wurde lauter.
Die beiden Mädchen warteten oben an der Treppe. Sacheen fiel nun ein, dass nur noch zwei oder drei Schüsse im Magazin der Pistole waren, aber um nichts in der Welt wäre sie wieder hinuntergestiegen, um Munition aus dem Gepäck zu holen. Diese Ungeheuer würden Machu Picchu und sie töten, davon war sie überzeugt. Dann traf sie ein neuer Schock. Wenn Dorian oder Jeff ins Hochhaus kamen, würden sie den Monstern direkt in die Arme laufen.
»Komm mit uns zu Viviana!«, sagte der Macumba-Priester zu mir. »Sie will dich sehen.« Ich ging mit ihnen, denn ich war neugierig auf die Hexe; außerdem hätte ich im Moment ohnehin nicht entkommen können. Wir marschierten schweigend unter den hellen Sternen durch die Nacht, über die Hügel und durch den Rand des Stadtviertels Botafogo hinüber zum Corcovado, dem höchsten Hügel Rios. Der Marsch dauerte über eine Stunde. Im Wald, am unteren Hang des Corcovado, brannte ein Feuer. Getrommel hallte in die Nacht hinaus. MacumbaAnhänger tanzten, weiß bemalt und mit Tierblut bespritzt; alle waren halb oder ganz nackt. Am Rand des Feuerscheins wälzten sich Paare. Das Ritual endete in einer allgemeinen Orgie. Die Herrin dieses Treibens lag auf einem breiten Diwan hingestreckt und beobachtete mit schläfrigem Blick ihre Anhänger. Sie war eine Frau um die Fünfundzwanzig, üppig gebaut, mit rotbraunem Haar, und sie trug nur einen knappen Tanga aus Silberlame; sie schien die Nachtkühle nicht zu spüren. »Viviana«, sagte der Macumba-Priester zu ihr, »das ist der Mann, den du sehen wolltest.« Von der Gruppe abgesehen, die mich hergeleitet hatte, kümmerte sich niemand um mich. Viviana winkte mir, näher zu treten. Sie war ein bildschönes, rassiges Vollblutweib, aber der fanatische Glanz in ihren Augen warnte mich. Ihr Aufzug passte so gar nicht zu dem ihrer Anhänger. Sicher hatte sie ihn nur gewählt, um mich zu umgarnen. »Setz dich zu mir! Du gefällst mir. Wie heißt du?«
»Dorian Hunter.« »Du hast dich sicher gefragt, was all das zu bedeuten hat, Dorian. Nun, ich will dir sagen, was die Ziele der Macumba sind. In Brasilien wird die arme Mehrheit von der reichen Minderheit unterdrückt. Die Großgrundbesitzer üben mehr Macht aus als der Mann, der dem Namen nach Präsident ist. Freischärler führen im Untergrund einen blutigen Kampf, aber sie werden die Verhältnisse keinesfalls ändern. Sie werden höchstens neue Unterdrücker anstelle der alten werden. Der Umsturz muss von einer anderen Gruppe kommen.« »Von den Macumba etwa?« Ihr fanatischer Blick schien mich zu durchdringen. »Wir kämpfen für die unterdrückte Mehrheit der Armen und Minderbemittelten. Es wird nicht mehr lange dauern, dann ist die Macumba stark genug, sich gegen die Unterdrücker zu erheben. Einige einflussreiche Persönlichkeiten stehen auf unserer Seite.« »Was haben sie zu gewinnen? Ihr müsstet doch gegen sie sein?« »Eine Elite wird es immer geben, Dorian, auch wenn die Güter gerechter verteilt sind. Wer für uns ist, der soll belohnt werden. Viele Arme in den Elendsvierteln müssen hungern, aber das wird bald vorbei sein. Die Reichen werden ihnen ihr Fleisch geben.« »Welches Fleisch? Meinst du Lebensmittel?« Sie lachte auf eine Weise, die mir einen Schauer über den Rücken jagte. »Ich meine das Fleisch, das jeder Mensch hat – das Fleisch der reichen Schweine.« Ich nahm auf ihrem Diwan Platz. Es war eine malerische Nacht. Das Treiben der Macumba-Anhänger rundum hatte etwas Unwirkliches. Die schöne junge Frau legte ihre Hand auf meine Schulter. Ein elektrischer Strom floss durch meinen Körper. »Du bist doch auch für Gerechtigkeit und Chancengleichheit?« Diese Schlagworte irritierten mich. Hatte Viviana politische Ziele und wollte sie den Armen helfen? Oder war sie eine böse Hexe, die eine Herrschaft dämonischen Terrors verwirklichen wollte? Sie winkte einem ihrer Anhänger. Er brachte zwei silberne Becher mit einem glasklaren Trank. Viviana hob einen Becher und reichte mir den anderen. »Auf das
Ziel und die Erfüllung!« Sie stürzte den Becher hinunter und sah mich auffordernd an. Ich schnupperte. Das Getränk roch gut, etwas nach Honig. Vorsichtshalber zog ich aber mein Kreuz aus der Tasche und hielt es in die helle Flüssigkeit. Sie wurde trübe und dunkel und begann zu zischen, zu brodeln und zu stinken wie Kot. Ich schüttete das Gebräu ins Feuer. Es zischte. Beißender, stinkender Qualm stieg auf. Vivianas Gesicht verzerrte sich, als sie das Kreuz sah. Sie rutschte ein Stück auf dem weichen Lager zurück und streckte abwehrend eine Hand aus. »Geh weg mit dem Ding!«, kreischte sie. »Los, Macumba, packt ihn und flößt ihm den Trank mit Gewalt ein!« Es war höchste Zeit für mich zu verschwinden. Die schöne sinnliche Viviana schaute mich nicht mehr verführerisch an. Ihre Anhänger rückten näher. Ich sprang auf, über das hochlodernde Feuer hinweg, und durchbrach den Ring der Anhänger. Sie waren zu benommen von dem Ritual, von dem Getanze und Getrommel und den sinnenbetörenden Dämpfen. Ich traf sie mit Fäusten und Füßen, kämpfte mir den Weg frei und tauchte in einer Buschgruppe unter. Hinter mir hörte ich wütendes Gebrüll. Die Macumba jagten mich, aber so leicht konnten sie mich auf dem zerklüfteten, mit Büschen und niederen Bäumen bewachsenen Berghang nicht entdecken und einholen. Einmal kam ich auf meiner Flucht an einem kleinen Talkessel vorbei, der von einem Gatterzaun umgeben war. Was sich unten in dem tiefen Tal befand, konnte ich nicht erkennen, aber es stank abscheulich wie im Schweinestall, und Grunzen und Quieken tönte zu mir herauf. Links von mir krachte eine Schrotflinte, doch die Ladung verfehlte mich. Hinter einer Felsgruppe kamen fünf Männer hervor. Einer von ihnen hatte seinen nackten Oberkörper weiß bemalt. Ohne jeden Zweifel gehörte er zu den Macumba. Die fünf waren die Wächter des Schweinekobens. Ich rannte schneller und konnte die Macumba abhängen, aber ich musste einen weiten Bogen schlagen, um wieder in die Stadt zu gelangen. Um halb vier Uhr morgens gelangte ich in den Stadtteil Rio Com-
prido, todmüde und übel gelaunt. Nach dem Flug, den turbulenten Ereignissen des Abends und der Flucht vor den Macumba fühlte ich mich wie zerschlagen. Es dauerte eine Weile, bis ich ein Taxi fand. Der Fahrer brachte mich nach Copacabana hinüber, in die Barao de Ipanema zum Hochhaus. Er fuhr ein Stück weiter, sah mich ängstlich an und hatte es sichtlich eilig, mich loszuwerden. Wahrscheinlich hatte er die Gerüchte über dieses Hochhaus gehört. Er bekreuzigte sich, als ich ausstieg. Ich begab mich zum Eingang und fluchte bereits im voraus über die zwanzig Stockwerke. Der Nachtportier hing schläfrig hinter der Rezeption. Als ich hereinkam, riss er die Augen auf. Ich nickte ihm kurz zu und ging zur Treppe. Auf dem ersten Absatz blieb ich stehen und schlich leise zurück. Er telefonierte, wie ich es erwartet hatte. Was er sagte, konnte ich nicht verstehen. Als er den Hörer auflegte, ging ich zu ihm und packte ihn am Kragen. »Mit wem hast du gesprochen?« »Mit meiner Frau, Señor.« »So, mit deiner Frau? Heißt sie etwa Macumba, eh? Ich will jetzt wissen, was hier vorgeht. Aber schnell! Sonst bekommst du eine Tracht Prügel, an die du noch lange denken wirst.« Ihm traten vor Angst die Augen aus den Höhlen. »Señor, ich schwöre, ich weiß von nichts. Ich bin nur ein kleiner Mann und tue, was mir gesagt wird. Was hier im Hochhaus vorgeht, weiß ich nicht, und ich will es auch gar nicht wissen. Am liebsten würde ich überhaupt nicht mehr hierher kommen.« Ich schüttelte ihn ein paar Mal durch. »Wem hast du mitgeteilt, dass ich gerade zurückgekommen bin? Los, antworte!« »I-ich kenne nur die Telefonnummer. 446.513. Wenn ich nicht tue, was die Macumba wollen, bin ich verloren – und meine Familie auch.« Er flennte fast. Ich ließ ihn los, denn ich hatte ohnehin nie die Absicht gehabt, ihn zu schlagen. Ohne mich weiter um ihn zu kümmern, stieg ich die Treppe hoch. Der Gestank im Hochhaus war noch übler geworden. Hinter den
Türen herrschte ein unheimliches nächtliches Treiben. Auf ein paar Etagen war die Beleuchtung ausgefallen. Dreimal glaubte ich huschende Schatten in der Dunkelheit zu sehen. Ich blieb stehen, das Kreuz in der einen, den Revolver in der anderen Hand. Als nichts geschah, ging ich weiter. Die Lifts waren schon seit vierzehn Tagen kaputt, hatte der triefäugige Portier mir gesagt. Die Aufzugsfirma weigerte sich, Monteure herzuschicken; die Leute hatten Angst. Im Aufgang zum Penthouse und im Flur lag frischer Kot. Ich klingelte und klopfte. »Wer ist da?«, fragte Jeff Parker. »Dorian.« Die Tür wurde geöffnet. Jeff sah mich über einen Pistolenlauf hinweg an und entfernte die Sicherheitskette. »Dorian, ein Glück, dass du da bist! Hör dir an, was Sacheen und Machu Picchu erlebt haben, während ich fort war.« Im Wohnzimmer erfuhr ich, dass Jeff zu einem dringenden Gespräch mit Domingo Marcial abberufen worden war und Schweinemonster die beiden Mädchen angegriffen hatten. Kurz vor Jeffs Rückkehr waren sie wie auf ein geheimes Signal verschwunden. Machu Picchu flüchtete in meine Arme. »Ich denke daran, den Traum meines Lebens zu beenden«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Diese Welt hat zu viele Schrecken für mich.« Ich zog sie an mich. »Ich bin bei dir, Machu. Und ich werde dich jetzt nicht mehr allein lassen. Den Dämon in der Inkastadt habe ich getötet, den Bann des tödlichen Albtraums gebrochen, ich werde dir auch hier in Rio beistehen. Sei dessen gewiss!« So sicher war ich meiner Sache allerdings nicht. »Kommt! Wir werden in eine der Wohnungen hier im Hochhaus eindringen und uns die Bewohner einmal näher ansehen.« Wir zogen los, allesamt bewaffnet. Ich klopfte an die erstbeste Tür. Nichts regte sich dahinter. Daraufhin rannte ich ein paar Mal mit der Schulter gegen die Tür, bis sie aufflog. In der Wohnung herrschte ein übler Gestank. Sie sah nicht besser aus, als wir das Penthouse vorgefunden hatten, aber sie war leer;
von den Bewohnern war keine Spur zu entdecken. Auch einen Stock tiefer, wo wir noch einmal in eine Wohnung eindrangen, fanden wir niemanden. Es scherte mich wenig, dass wir uns mit Gewalt Zutritt zu den Wohnungen verschafften. Nachdem wir die zweite Wohnung durchsucht hatten, kehrten wir ins Penthouse zurück. Jeff Parker war hundemüde, und ich hatte keine Lust mehr; außerdem schmerzte meine Schulter. Im Penthouse verrammelten wir alle Türen. Von dem abgeschnittenen Schweinekopf, den ich im Stop hinter der Bühne gesehen hatte, und meinem Abenteuer mit der Hexe Viviana und ihren Anhängern hatte ich den anderen nichts Genaues erzählt. Jeff Parker benahm sich mir gegenüber so geheimnisvoll, dass ich keinen Grund sah, offen zu sein. Im Penthouse nahm ich ihn zur Seite. »Wir sollten hier ausziehen. Die Räume sehen wie ein Schweinestall aus, und im Haus geht es nicht mit rechten Dingen zu.« »Ich muss unbedingt hier bleiben, Dorian. Es geht nicht anders. Es tut mir Leid, dass ich dir den Grund nicht sagen kann. Ich muss um dein Verständnis und dein Vertrauen bitten.« »Ich dachte, wir sind Freunde, Jeff.« »Nicht einmal meinen besten Freund darf ich einweihen, wenn er ein Außenstehender ist.« Ich ließ Jeff ohne ein weiteres Wort stehen und ging zu Machu Picchu ins Obergeschoss. Mit zwei Couchs, die noch recht passabel aussahen, hatten wir ein Lager für die Inka-Prinzessin und mich bereitet. Im Schlafzimmer, im Untergeschoss, stank es mir zu sehr. Erbittert über Jeffs Geheimnistuerei und die Aussicht, noch weitere Zeit in diesen dreckigen, stinkenden und verwahrlosten Räumen verbringen zu müssen, kleidete ich mich aus. Als ich gerade das Licht löschen wollte, schlug Machu Picchu die Decken zurück. Sie war nackt und streckte die Arme nach mir aus. Ich legte mich zu ihr, und die Leidenschaft ließ uns Dämonen und Gefahren vergessen. Als ich endlich todmüde einschlief, dachte ich noch, was für ein seltsames Paar wir waren – der Dämonenkiller und die Traumprinzessin.
Machu Picchus Körper trieb durch das Meer, umspielt von bunten Fischen der Südsee. Sie war schön wie eine schlafende Göttin, und die magische Aura vertrieb die Räuber der See. Nur die bunten schönen Fische durften sie begleiten. Die träumende Prinzessin näherte sich einem farbenprächtigen Korallenriff. Sie glitt durch eine schmale Rinne in die bunte Wunderwelt des Atolls. Algen, Tang und Unterwasserfelsen wuchsen auf den Korallenstöcken und dem Meeresboden. Klar und unbewegt war das Wasser, durchflutet von der südlichen Sonne. Seesterne und Muscheln, Seeanemonen und Austern gab es, Schnecken, Garnelen und Hummer, violettrot, grün, orange und schwarz. Kleine Garnelen schillerten in allen Regenbogenfarben. Polypen gab es, Korallen- und Papageienfische, Röhrenwürmer mit pfauenaugenartigen Kiemen. Der mörderische Barrakuda floh, als er die Schlafende sah. In dieser Wunderwelt kam sie zur Ruhe und träumte ihren Lebenstraum an der Seite des Dämonenkillers in Rio. Bunte Fische umkosten ihr lächelndes Gesicht. Da näherte sich ein Boot. Ein schwarzhaariges Mädchen ruderte durch die Lagune zu Machu Picchu. Sie entkleidete sich bis auf einen knappen Bikini, tauchte hinab zu der Schlafenden und legte ein Tau um ihr Fußgelenk. Dann stieg sie wieder hoch ins Boot, ruderte auf den weißen, von Palmen gesäumten Strand der Atollinsel zu, summte ein Lied und genoss die Sonne, die herbe Salzwasserluft und die leichte Brise auf der nackten Haut. Die Träumende, emporgestiegen im Wasser, folgte dem Boot und lächelte sanft im Schlaf.
Ich schlief bis zum frühen Nachmittag, denn ich war erschöpft. Als ich erwachte, hatte Sacheen den Kaffee fertig. Machu Picchu hatte ihr dabei nicht helfen können; für sie war eine Kaffeemaschine ein unbegreifliches Wunderwerk. Jeff Parker saß unrasiert am Tisch. Er machte ein sorgenvolles Gesicht. Nachdem ich die erste Tasse Kaffee getrunken hatte, sagte ich ihm, was ich mir überlegt hatte.
»Wir müssen von hier verschwinden, Jeff. Es ist zu gefährlich. Wir wissen ja nicht einmal, was in diesem Haus vor sich geht.« Er weigerte sich entschieden. Seine Sturheit machte mich wütend. Wir bekamen einen handfesten Streit – den ersten, seit wir uns kannten. »Du musst total übergeschnappt sein, in diesem Hochhaus zu bleiben!«, schrie ich. »Es gehört den Macumba. Ist dir das nicht klar? Was willst du hier eigentlich? Dein Vicente Neiva, auf den du so große Stücke hältst, war seit der Einweihung des Hauses nicht mehr hier.« Jeff schüttelte den Kopf. »Du bist falsch informiert. Dieses Haus gehört nicht den Macumba, wenn sie es auch im Augenblick kontrollieren. Und Vicente Neiva war sehr oft hier, wenn uns der Portier auch etwas anderes vorgelogen hat. Es ist dringend erforderlich, dass ich hier bleibe. Wenn ihr ausziehen wollt – bitte. Ich halte euch nicht zurück. Am Copacabana-Strand gibt es sehr schöne Hotels.« Aufgebracht würgte ich ein paar Bissen Brot hinunter. Im Stich lassen würde ich Jeff nicht, das wusste ich, und wenn das ganze Hochhaus von Dämonen bevölkert war. Er wusste das auch, und das brachte mich noch mehr auf. Ich stürzte den Kaffee hinunter und steckte mir eine Zigarette an. »Sag mir wenigstens, was hier vorgeht und weshalb du unbedingt in diesem Dreckstall ausharren willst!« »Bedauere, aber das darf ich nicht. Bald wirst du alles erfahren, aber solange muss ich dich um Geduld bitten.« »Nun gut.« Ich stand auf. »Du wirst hoffentlich nichts dagegen haben, dass ich mit Sacheen und Machu Picchu zur Copacabana fahre. Nach den Schrecken dieser Nacht haben wir uns eine Erholung verdient. Bis heute Abend sind wir wieder zurück.« »Das ist mir sogar sehr Recht. Ich wünsche euch viel Vergnügen.« Nerven hatte er! Ich sagte Sacheen und Machu Picchu Bescheid. Wir packten ein paar Sachen zusammen und zogen los. Jeff blieb allein zurück. Ich war mächtig sauer auf ihn. Vielleicht hätte ich ihn nicht allein lassen sollen, aber dann hätte er mir schon ein wenig entgegenkommen
müssen.
Als Dorian Hunter und die beiden Mädchen gegangen waren, holte Jeff Parker das Ding aus seiner Reisetasche, das er in der vergangenen Nacht von Domingo Marcial erhalten hatte. Es war ein Spezialdietrich, mit dem man Sicherheitsschlösser öffnen konnte. Jeff steckte eine Pistole ein, ein silbernes Kreuz, eine gnostische Gemme und verließ das Penthouse. Er hätte Dorian jetzt gern an seiner Seite gehabt, aber er hatte ein Gelübde abgelegt und durfte ihn nicht einweihen. Jeff wusste, dass sich in dem Hochhaus der Logentempel der okkultistischen Freimaurer von Rio de Janeiro befand, mehr noch, dass dieses Hochhaus den Freimaurern gehörte. Was war mit ihnen geschehen? Denn offensichtlich wurde das Hochhaus jetzt von der Macumba kontrolliert. Und vor allem, was war Vicente Neiva passiert, dem Großmeister der Loge? Jeff suchte die Beantwortung all dieser Fragen im Hochhaus. Zunächst stieg er die Stufen der zwanzig Stockwerke hinunter und wandte sich an den Portier in der Halle. Das portugiesische Wort für Freimaurer kannte er. Der Portier hob nur die Schultern und tat, als verstünde er nichts. Jeff sah, dass er so nicht weiterkommen würde. Er begann die Suche auf eigene Faust. Im zweiten Stock öffnete er mit dem Dietrich eine Wohnungstür. In der Wohnung sah es recht manierlich aus, aber er fand keine lebende Seele. Er versuchte es daraufhin im dritten und im vierten Stock. Die Wohnung im vierten Stock war verwahrlost und schmutzig; einige Wände waren niedergerissen. Man konnte in andere Wohnungen gelangen. Überall stank es scheußlich. Jeff hörte Schritte und Rascheln. Als er in die Wohnung gelangte, aus der er die Geräusche gehört hatte, sah er eine Gestalt um die Ecke verschwinden. Jeff eilte hinterher, doch der Mann war verschwunden. Schon wollte er die nächste Etage aufsuchen, da hörte er aus einer Wohnung gellende Schreie. Er rannte hin und fingerte
mit dem Dietrich am Sicherheitsschloss der Wohnungstür herum. Endlich knackte es im Schloss. Er rannte ins Schlafzimmer, aus dem er einen weiteren Schrei hörte. Er riss die Tür auf und sah einen Mann mit einer schwarzen Seidenkapuze. Er schüttelte wütend eine junge Frau an den Schultern und schlug ihr ins Gesicht. Der Mann war so in Rage, dass er Jeff nicht bemerkte. Der sah sich um und riss im Flur ein Bein von einem Rauchtischchen mit Glasplatte und schlug es dem Maskierten über den Kopf. Der Mann mit der Kapuze brach zusammen. Mit entsetzten Augen starrte die junge Frau Jeff an. »Mein Mann«, stammelte sie. »Hoffentlich … haben Sie ihn … nicht erschlagen.« Sie sprach Englisch. »Das ist Ihr Mann? Weshalb läuft er dann maskiert hier herum? Und weshalb schlägt er Sie?« »Ich habe die Kapuze von seinem Gesicht gezogen, als er schlief. Oh, es war schrecklich! Den Anblick werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Mein armer Jack!« Jeff bückte sich und wollte dem Bewusstlosen die Kapuze vom Gesicht ziehen, da hörte er hinter sich ein Geräusch. Als er sich umdrehte, stürzten sich vier Kapuzenträger auf ihn. Einer schlug Jeff die Pistole aus der Hand. Er wehrte sich aus Leibeskräften, aber die vier Männer waren stärker. Obwohl er wild um sich schlug und trat, vermieden sie es, ihm weh zu tun. Sie rangen ihn nieder; zwei pressten ihn auf den Boden und drehten seine Arme nach hinten, so dass er auf dem Bauch lag, die anderen beiden brachten den Vermummten fort, den Jeff niedergeschlagen hatte. Sie kamen noch einmal wieder und führten die Frau weg, die willenlos mitging; dann ließen die beiden Maskierten Jeff los und liefen davon. Jeffs Pistole nahmen sie mit. Jeff Parker erhob sich; ihm war nichts geschehen. Kopfschüttelnd schaute er hinaus auf den Flur, aber er sah niemanden mehr. In einem der oberen Stockwerke hörte er ein schrilles Quieken, das gleich darauf abbrach. Da er seinen Erkundungsgang nicht ohne Waffe fortsetzen wollte, sah Jeff sich in der Küche um. Er fand ein langes, scharfes Fleischer-
messer und schob es in den Gürtel. Er war verwirrt und erbost. Er verstand einfach nicht, was in dem Hochhaus vorging. Als er zum nächsten Stock hinaufstieg, kam ihm einer der Pagen entgegen, die zum Personal des Apartmenthauses gehörten. Er hatte eine Zigarettenkippe im Mund und schaute Jeff frech an. Als er grinsend an Jeff vorbeiging, grunzte er wie ein Schwein. Da war es mit Jeffs Selbstbeherrschung vorbei. Er packte den Pagen, stieß ihn gegen die Wand und setzte ihm das Messer an die Kehle. Der Mann wurde blass unter der sonnengebräunten Haut. »Francmachn?«, fragte Jeff. Freimaurer? »Decimo«, antwortete der Page. Die zehnte Etage also. Jeff gab dem Pagen einen Stoß, dass er davon taumelte, und eilte hinauf. Hier verschnaufte er erst einmal, denn wenn er sich auch mit allerlei Sportarten fit hielt und einen drahtigen Körper hatte, so war er doch schon an die vierzig; er sah mit seinem jungenhaften Gesicht allerdings einige Jahre jünger aus. Als er sich im Hauptkorridor und den drei Nebenkorridoren umsehen wollte, traten ihm vier Vermummte in den Weg. Sie fuchtelten mit den Händen herum und bedeuteten ihm umzukehren. Aber nachdem er schon so weit vorgedrungen war, ließ er sich nicht mehr ins Bockshorn jagen. Ein Maskierter fasste ihn am Arm. Jeff schüttelte seine Hand ab. Er fragte sich, was sich wohl unter den schwarzen Seidenkapuzen verbarg. Die Maskierten wollten ihn packen. Jeff riss sein langes Messer aus dem Gürtel und zeigte es ihnen drohend. »Verschwindet, ihr Kapuzenknilche!«, rief er auf Englisch. »Sonst werde ich euch Beine machen!« Zu seiner Überraschung antwortete einer der Maskierten mit seltsam grunzender, kaum noch verständlicher Stimme: »Gehen Sie nicht weiter! Wir meinen es gut mit Ihnen.« »Dann zeigt mir eure Gesichter!« »Nein, gehen Sie! Es ist besser für Sie.«
»Dann geht zum Teufel! Ich will zur Loge der okkultistischen Freimaurer. Ich will Vicente Neiva sprechen, den Großmeister. Er erwartet mich.« Die Maskierten schwiegen. Jeff wich etwas zurück und stürzte dann plötzlich auf sie los, das blanke Messer vorgestreckt. Er verzerrte das Gesicht zu einer wütenden Grimasse, und drei Vermummte wichen erschrocken zurück. Der Vierte aber gab grunzende Laute von sich, zuckte, schüttelte den Kopf und stürzte sich wie von Sinnen auf Jeff Parker. Er versetzte dem Playboy einen Faustschlag, der ihn zu Boden streckte, und dann war er über ihm. Jeff wollte seinen Kopf zurückdrücken und spürte, dass sich unter der Seidenkapuze kein menschliches Gesicht verbarg, sondern eine Schnauze. Wieder grunzte der Vermummte. Jeff konnte gerade noch die Hand wegziehen. Es gelang ihm, den Gegner abzuschütteln. Die anderen drei Maskierten sahen zu, ohne einzugreifen. Als der Vermummte wieder auf ihn losstürzte, wild grunzend, die Hände wie Klauen vorgestreckt, rammte Jeff ihm das Messer in die Brust. Der Vermummte mit der Figur und der Kleidung eines etwas beleibten Mannes und dem unmenschlichen Schädel unter der Seidenkapuze blieb stehen, als sei er gegen eine Mauer gerannt. Er brach zusammen und rührte sich nicht mehr. Jeff hatte ihn genau ins Herz getroffen. Er zog das Messer aus der Wunde und wandte sich den anderen zu. »Kommt mir ja nicht zu nahe!« Die Vermummten eilten davon, als Jeff zwei Schritte auf sie zumachte. Er beugte sich herab und zog dem Mann, den er erstochen hatte, die Kapuze vom Gesicht. Er fuhr zurück, denn er sah den Kopf eines Schweins vor sich. Die Schnauze mit den aufgeworfenen Nüstern stand im Tod halb offen, die raue Zunge hing heraus. Waren alle Vermummten solche Geschöpfe? Jeff wusste jetzt, was die Frau gesehen hatte, in deren Wohnung er einige Minuten zuvor eingedrungen war. Was Sacheen ihm in der Nacht von dem Mann und der Frau mit den Schweinegesichtern erzählt hatte, hatte Jeff skeptisch beurteilt; zwar hatte er nicht geglaubt, dass sie sich die Geschichte aus den
Fingern gesogen hatte, aber er kannte das Wirken der Schwarzen Familie und der Dämonen und wusste, wie leicht man einem Menschen etwas vorgaukeln konnte. Man brauchte kein großer Dämon oder Magier zu sein, um jemandem mit dem Kopf eines Schweins, Esels oder sonst eines Tieres zu erscheinen; das waren billige Anfängertricks. Hier aber hatte Jeff es mit keinem Trick zu tun. Der Schweineschädel vor ihm war echt; und er saß auf den Schultern eines Menschen. Jeff ging weiter. An den Türen in der zehnten Etage waren die Namensschilder entfernt worden. Nach dem ersten Seitenkorridor trennte eine undurchsichtige Glaswand den Hauptkorridor ab. An der Tür hatte einmal ein Schild gehangen. Auf der Schwelle eingemeißelt sah Jeff das Emblem aus Hammer, Kelle und Winkelmaß – das Zeichen der Freimaurer. Mit dem Dietrich öffnete er die Tür. Dieser Teil des zehnten Stockwerks war räumlich anders aufgeteilt. Vor den Fenstern waren die schweren Stores zugezogen. Es war düster. Langsam pirschte Jeff sich durch die Vorhalle – die Halle der verlorenen Schritte, wie sie genannt wurde. Als er sich einer der sieben Türen im Hintergrund näherte, redete ihn eine grunzende Stimme an. »Keinen Schritt weiter, Jeff Parker! Lies zuerst das und erfahre, was mit den Brüdern von der Loge der okkultistischen Freimaurer in Rio geschehen ist!« Ein Arm kam aus dem Türspalt und warf Jeff ein eng beschriebenes Blatt Papier vor die Füße. Die Tür blieb etwas offen, doch wer immer sich dahinter befand, er zeigte sich nicht. Jeff nahm das Blatt Papier, warf einen flüchtigen Blick darauf, doch er konnte die Schrift in der Dunkelheit nicht lesen; sie kam ihm aber bekannt vor. Er ging zurück, zu einem der großen Fenster, und zog den Vorhang auf. Strahlendes Sonnenlicht flutete herein. Jeff sah sich in der Vorhalle um. Zu seiner Linken befand sich eine verlassene Empfangsloge. An der Wand der Loge hing ein Gemälde von Christianus Rosencreutz, ein Idealbild dieses Mannes, der von 1378 bis 1484 gelebt und die
Bruderschaft der Rosenkreuzer gegründet hatte, aus denen Jahrhunderte später die okkultistischen Freimaurer hervorgegangen waren. Die Wände der Vorhalle, ganz in Holz getäfelt, waren mit Schnitzereien verziert, die abwechselnd streng geometrische Figuren und Szenen der einzelnen Weihen der Freimaurer darstellten. Jeff Parker las, was auf dem Blatt Papier stand. Es war Vicente Neivas Schrift. Zuerst staunte er, dann verwandelte sich seine Überraschung in Fassungslosigkeit.
Vicente Neiva war nach der Flucht aus der Villa des Mannes, der sein Nachfolger in der Freimaurerloge hatte werden sollen, ziellos durch die Nacht geirrt. Er war verzweifelt; wenn er eine Waffe gehabt hätte, vielleicht hätte er sich in diesen schwarzen Stunden erschossen. Er hatte es nicht glauben wollen, hatte die Nachrichten als Gerüchte abgetan, und jetzt erfuhr er am eigenen Leib die schreckliche Wahrheit: Er verwandelte sich in ein Schwein. Während sein restlicher Körper bis zum bitteren Ende menschlich bleiben würde, wenn die Nachrichten stimmten, war sein Kopf zu dem eines Schweins geworden. Er, der elegante Vicente Neiva, den immer alle wegen seiner blendenden Erscheinung bewundert hatten, trug den Kopf eines Schweins. Neiva wusste nicht, was er tun sollte. Nach Hause zu seiner Frau wollte er nicht, denn so sollte sie ihn nicht sehen. Bei der Loge der Freimaurer mochte er auch keine Zuflucht suchen, denn die Freimaurer waren entschiedene und erbitterte Gegner der Macumba. Ihn, der vom Fluch der Macumba befallen war, würden sie vielleicht sogar töten, wenn er in die Räume der Loge einzudringen versuchte. Natürlich war den Freimaurern aufgefallen, dass das Hochhaus, in dem ihre Loge untergebracht war, mehr und mehr verkam. Aber die Hausverwaltung und die Angestellten hatten tausend Ausreden. Eine Gesellschaft hatte von den Freimaurern die Instandsetzung des Hauses und die laufenden Arbeiten übertragen bekommen; doch es besserte sich nichts. Neiva und seinen Logenbrüdern war klar, dass die Macumba dahintersteckten. Die Sekte wollte die Freimaurer ver-
höhnen und provozieren. Was in den Wohnungen im Hochhaus vorging, wusste Neiva nicht, aber öfter waren im Haus Schweinemonster gesehen worden, wie sie in letzter Zeit Rio unsicher machten. Von der Presse wurden sie auf Geheiß der Regierung totgeschwiegen. Als die Loge bei der letzten Versammlung energische und einschneidende Maßnahmen beschloss, war es zu spät. Am nächsten Tag begann die grässliche Verwandlung Vicente Neivas, die ihn innerhalb von drei Tagen zu einem Schweinemonster gemacht hatte. Neiva wanderte über die Hügel nach Encantado. Er schlich durch die Vorstadt, wich dem Licht der Straßenlampen aus. Auf einmal überkam ihn ein Jucken am ganzen Körper. Er suchte sich einen Baum, stellte sich mit dem Rücken dagegen und rieb sich wohlig grunzend wie ein Schwein. Dann wurde ihm bewusst, was er tat und er eilte beschämt weiter. Er überquerte die Bahnlinie, erreichte das Postamt und das Fabrikgelände an der Avenida Amaro Cavalcante, eilte über die Straße, die um diese Zeit – gegen drei Uhr morgens – wie ausgestorben war, von wenigen Autos abgesehen, und tauchte im Fabrikgelände unter. Neiva atmete auf. Als er an der Mauer eines Fabrikgrundstückes entlang schlich, hörte er ein Scheppern und grunzende Geräusche. Vorsichtig schlich er weiter. Und dann sah er es. Eine Reihe von Mülltonnen stand hier und wartete auf die Müllabfuhr. In den Mülltonnen wühlten Schweinemänner und -frauen, Monster gleich ihm. Sie fraßen Abfall und steckten die Schnauzen in die Mülltonnen. Obwohl Neiva sich ruhig verhalten hatte, wurde er entdeckt. Vielleicht witterten die Schweinemonster ihren Artgenossen. Zwei kamen auf Neiva zu, stießen ihn mit den Händen an und beschnüffelten ihn. Sie grunzten etwas. »Du bist ein Neuer«, brachte ein Schweinemann mit kaum verständlicher, grunzender Stimme hervor. »Wie lange hast du es schon?« Neiva bemühte sich aus Leibeskräften, konnte aber nur grunzen. Der Schweinemann patschte ihm auf die Schulter. »Friss mit uns!« Doch Neiva konnte sich nicht überwinden. Er sah den andern zu.
Würde auch er einmal so weit sinken? In einer dunklen Ecke wälzte sich ein Schweinemann grunzend auf eine Schweinefrau. Sie kümmerten sich nicht um andere; sie benahmen sich wie Tiere. Andere folgten ihrem Beispiel. Und wieder andere suhlten sich in einer Pfütze. Neiva überlief es glühendheiß. Nackte Männer und Frauen mit Schweineköpfen wälzten sich im Dreck, suhlten sich wohlig grunzend. Am schlimmsten aber war, dass Neiva ebenfalls ein Verlangen nach einem solchen Suhlbad überkam. Er musste sich beherrschen, um sich nicht auch in die Pfütze zu werfen. Mit einem Quieken drehte er sich um und flüchtete in die Nacht. Hinter sich hörte er das Grunzen seiner Artgenossen. Er irrte durch den Stadtteil Meier mit seinen engen Straßen und winkligen Gassen. Ein paar Mal schlugen Hunde an, als er vorüberkam. Dann hörte er vor sich gellende Hilfeschreie. Er blieb im Dunkeln einer Einfahrt stehen und schaute, was sich da auf dem kleinen Platz abspielte. Bei einem Brunnen waren zwei dunkle Gestalten über ein Pärchen hergefallen. Mochte der Teufel wissen, was sie jetzt noch auf der Straße zu suchen hatten. Zwischen den Hilferufen vernahm er Grunzen und Quieken. Als die junge Frau in den Lichtschein einer Straßenlampe flüchtete, sah er einen Schweinemann, der sie verfolgte, packte und ihr in die Schulter biss, als sei er von Sinnen oder tollwütig. Lichter gingen nun an. Leute schauten aus den Häusern. Als beherzte Männer auf die Straße kamen, floh der Schweinemann. Die andere dunkle Gestalt, sicher ebenfalls ein Schweinemonster, folgte ihm. Sie rannten in eine enge Gasse und verschwanden. Eine erregte Menschengruppe versammelte sich auf der Straße. »Wieder ein Angriff dieser Ungeheuer«, hörte Neiva eine aufgeregte Stimme. »Wir müssen die Macumba holen. Nur sie werden mit den Schweinebiestern fertig.« »Ich habe gehört, in Ramos drüben haben sie ein Kind zerrissen.« Die tollsten Gerüchte waren im Umlauf. Gerüchte, wie sie auch Neiva gehört hatte, ohne ihnen Glauben zu schenken. Gerüchte von Leuten, die Schweineköpfe hatten und sich wie Tiere oder sogar wie
reißende Bestien benahmen. Sie tauchten nur bei Nacht auf. Die Polizei und das Militär sollten schon etliche erlegt haben. Wo sie herkamen, wusste niemand. Neiva hörte die Sirene eines Streifenwagens. Der Streifenwagen bog um die Ecke, hielt an. Zwei Polizisten mit gezogenen Waffen stiegen aus. »Was ist hier los?«, fragte der eine. Die Anwohner berichteten von dem Angriff der Schweinemänner. Das verletzte und geschockte Pärchen erzählte, die beiden hätten sie plötzlich angefallen. Der Mann und das junge Mädchen hatten Bisswunden abbekommen. »Sie müssen in eine Spezialklinik«, sagte der eine Polizist. »Eine Impfung mit einem Serum ist erforderlich. Ich werde gleich über Funk einen Krankenwagen anfordern.« Während er ins Funkmikrophon sprach, sah sein Kollege sich misstrauisch um und kontrollierte die Umgebung. Im Osten verkündete dämmerndes Licht den neuen Tag. Der Polizist sah Vicente Neivas Gestalt undeutlich im Torbogen der Einfahrt. »Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!« »Ich habe nichts getan«, brachte Neiva mit grunzender Stimme hervor. Der Schreck und die Angst ließen ihn teilweise die Gewalt über seine Stimmbänder wiedererlangen. »Da ist eins von den Schweineungeheuern!«, schrie ein Mann unter den Zuschauern. Der Polizist schoss sofort. Neiva hörte das Krachen der Schüsse. Kugeln zischten scharf an ihm vorbei. Er floh. Der Polizist schoss hinter ihm her, aber er traf Neiva nicht. Der stieg über ein paar Mauern und Zäune, flüchtete durch Hinterhöfe und Gartengrundstücke. Die über Funk verständigten Streifenwagen konnten ihn nicht aufstöbern. Keuchend blieb Neiva schließlich stehen. Er war völlig fertig. Ihm fiel ein, dass einer seiner Logenbrüder in der Nähe wohnte. Bei ihm wollte er Zuflucht suchen. Der okkultistische Freimaurer wohnte in
der Nähe des Fabrikgeländes in einem Apartmenthaus. Es dämmerte bereits. Neiva musste sich beeilen, das Ziel vor Tagesanbruch zu erreichen. An einer Bushaltestelle sah er eine alte Zeitung auf der Wartebank liegen. Er hielt sie sich vor das Gesicht und erreichte das Apartmenthaus noch in der Dämmerung. Ein Gefühl des Unbehagens und der Übelkeit überkam ihn, wurde immer stärker. Er merkte, dass es mit dem anbrechenden Tag zusammenhing. Neiva klingelte Sturm, bis die Frau seines Logenbruders sich meldete. Jetzt erst fiel ihm ein, dass er ja kaum sprechen konnte, aber er konnte nicht länger umherirren. »Wer ist da?«, fragte eine verschlafene Stimme. »Neiva. Ich muss Rodrigo Alvez sprechen. Es ist sehr dringend.« »Was sagen Sie? Ich verstehe Sie nicht.« »Ein Fehler an der Sprechanlage. Hier ist Neiva! Ich muss dringend zu Rodrigo.« »Ah, Señor Neiva! Gut. Kommen Sie herauf!« Der elektrische Türöffner summte. Neiva trat ins Haus. Er fuhr mit dem Lift hoch in den achten Stock und klingelte bei Alvez. Alvez' Frau und sein ältester Sohn öffneten ihm. Neiva hielt die Zeitung vors Gesicht. »Wo ist Rodrigo?« . »Er hat sich seit gestern in seinem Zimmer eingeschlossen«, sagte der Sohn misstrauisch. »Was ist los mit Ihnen, Señor Neiva? Weshalb kommen Sie um diese Zeit?« Der junge Mann und die Frau trugen Schlafanzüge und Hausmäntel. Es war ihnen anzusehen, dass Neiva sie aus dem Schlaf geklingelt hatte. »Bin krank. Muss Rodrigo etwas sehr Wichtiges mitteilen. Es geht um die Loge.« Der Sohn verschwand in einem der Zimmer. Die Frau deutete auf eine Tür. »Mein Mann ist in diesem Zimmer.« Neiva ging hin und klopfte. »Rodrigo!« »Lasst mich in Ruhe!«, antwortete eine Stimme von drinnen. Sie klang ebenso grunzend wie die Neivas.
»Mach auf, Rodrigo! Hier ist Vicente Neiva, dein Großmeister!« Jetzt wurde aufgeschlossen. In dem Zimmer, dem Schlafzimmer des Ehepaares Alvez, brannte nur eine Nachttischlampe. Alvez hatte ein Tuch über seinen Kopf gehängt, in das zwei Schlitze geschnitten waren. Er zog Neiva ins Zimmer, nahm das Tuch ab und schloss die Tür zu. Als er sich umdrehte, sah Neiva, dass Alvez genauso wie er einen Schweinekopf hatte. »Cruzco und Pedreck haben mich gestern angerufen«, sagte Alvez. »Sie spürten es auch. Ich bin sicher, sie haben sich ebenfalls in Schweine verwandelt.« »Die Macumba«, brachte Neiva hervor. »Vielleicht haben sie alle unsere Logenbrüder mit ihrem Fluch infiziert. Wir müssen zum Logentempel im Hochhaus in Copacabana, um uns Gewissheit zu verschaffen.« Was Neiva erfahren hatte, änderte seine Meinung, sich von der Freimaurerloge fernhalten zu müssen. Ein schwerer Körper rannte krachend gegen die Tür. Sie flog auf. Rodrigo Alvez' Sohn hatte sie eingerannt. Er stand auf der Schwelle, eine Pistole in der Faust. »Ich will wissen, was hier los ist!«, schrie er. »Was ist das für ein Gegrunze? Und was soll die Geheimnistuerei?« Neiva und Alvez hatten die Gesichter abgewandt, jetzt wandten sie sich dem zwanzigjährigen Sohn Rodrigo Alvez' zu. Er stieß einen Schreckenslaut aus. Alvez' Frau begann gellend und hysterisch zu schreien, als sie die Wahrheit begriff. »Ihr gehört also zu den Schweinemonstern, von denen überall in Rio gemunkelt wird!«, brüllte der junge Pablo Alvez. »Ihr Ungeheuer! Ihr Scheusale!« »Mein Sohn«, grunzte Alvez und trat auf ihn zu. »Rühr mich nicht an!« »Pablo, lass dir erklären …« Er machte einen weiteren Schritt auf seinen Sohn zu. Die Nullacht in dessen Hand krachte – einmal, zweimal, dreimal. Rodrigo Alvez brach mit einem grunzenden Schrei zusammen. Sein Sohn starrte
mit schlotternden Knien den daliegenden Körper an. Neiva schlug ihm die Pistole aus der Hand, und während Alvez' Frau noch lauter und schriller schrie, als sei sie wahnsinnig geworden, stürzte er aus der Wohnung. Das Dämmerlicht bereitete Neiva Schmerzen und Unbehagen. Er wusste, dass er den Tag über ein dunkles Versteck finden musste. Am Abend wollte er versuchen, das Hochhaus der okkultistischen Freimaurer zu erreichen. Er dachte flüchtig daran, dass am Nachmittag dieses Tages Jeff Parker mit diesem Dorian Hunter in Rio eintreffen wollte, aber es war Neiva unmöglich, Parker und Hunter am Flughafen abzuholen; er hatte jetzt ganz andere Sorgen.
Wir lagen am Strand der Copacabana und ließen uns in der Sonne braten, dick mit Sonnenöl eingeschmiert. Die heißeste Jahreszeit – Januar und Februar – war zwar vorbei, aber jetzt, Anfang Mai, war es auch nicht gerade kalt. Eine halbe Stunde genügte für einen ordentlichen Sonnenbrand, wenn man sich nicht schützte. Früher einmal sollte eine Viertelstunde für einen Sonnenbrand ausgereicht haben, aber inzwischen hatte sich auch über der Märchenstadt Rio de Janeiro eine Abgasglocke gebildet, die die Sonnenstrahlen filterte. Vor uns toste die Brandung, hinter uns, auf der achtspurigen Avenida Atlantica, brauste der Großstadtverkehr. Rios Strände mochten einmal makellos weiß gewesen sein, jetzt hatte man mit hartnäckigen Teer- und Ölflecken an den Füßen zu rechnen, wenn man barfuss ging. An Schwimmen war auch nicht mehr zu denken, denn seit die Avenidas verbreitert und die Strände künstlich aufgeschüttet waren, brandeten die haushohen Wellen bis unmittelbar an den Strand heran. Wer sich hinauswagte, musste seine Knochen nummerieren. Überall passten Rettungsschwimmer auf und ließen die Trillerpfeifen erklingen, wenn allzu Wagemutige mehr wollten, als sich von den Wellen benetzen lassen. Um uns herum plärrten Radios. Badeschönheiten trugen ihre Tangas spazieren, jene knappen vier Stoffdreiecke, die den Namen Badeanzug eigentlich gar nicht verdienten. Auch die Inkaprinzessin
und Sacheen hatten sich Tangas zugelegt, und sie wären keine Frauen gewesen, wenn sie nicht am Strand entlangflaniert wären und die bewundernden Blicke und Pfiffe der Männer genossen hätten. Ich ließ ihnen das Vergnügen und flirtete mit einer Schwedin mit beachtlichem Sonnenbrand zwei Liegestühle weiter. Ein Pfeifkonzert zeigte mir an, dass Sacheen und Machu Picchu zurückkehrten. Da eines der typischen Nachmittagsgewitter heranzog, packten wir unsere Sachen zusammen, spülten an einer Dusche das Öl ab und zogen uns an. Wegen des Gewitters fuhren wir nicht hinauf durch den Nationalpark Pico de Tijuca zum Gipfel des Corcovado, von dem aus man Rios Gesamtpanorama mit allen Stränden, der künstlichen Lagune Rodrigo de Freitas, den Botafogo, den größten botanischen Garten der Welt, den Zuckerhut, die beiden Flughäfen und die neuen und alten Stadtviertel sehen konnte. Stattdessen schaukelten wir mit einem Sightseeing-Schiff der Use Turismo ein Stück hinaus auf den Atlantik. An Bord gab es die üblichen Sambatrommeln und Rumbarasseln, heiße südamerikanische Rhythmen und Zuckerrohrschnaps an der Schiffsbar. Der Gag dabei war, dass wir bis knapp über die Drei-Meilen-Grenze hinausfuhren und Schnaps und Zigaretten dann unverzollt kaufen konnten. Deshalb war ich aber nicht mitgefahren. Als das Gewitter sich verzogen hatte, bot sich uns ein herrlicher Ausblick auf Rio. Wir sahen die dunklen Kuppen des Zuckerhuts und der zahlreichen anderen Hügel, die Serpentinen der Küstenstraßen und die weißen Häuser an den Hängen. Im Westen gleißte die Spätnachmittagssonne über den modernen Hochhäusern. Die Silhouette von Manhattan mag von der See her imponierender aussehen, aber die von Rio ist unvergleichlich schöner. Zum ersten Mal, seit wir nach Rio gekommen waren, spürte auch ich den Zauber dieser Stadt. Ich kaufte mein Quantum an zollfreien Zigaretten, dann ging es wieder zurück zur Anlegestelle. Der schöne Nachmittag war vorbei; der Ernst des Kampfes gegen die Dämonen begann wieder. Ich fragte mich, was Jeff Parker während unserer Abwesenheit ge-
tan hatte. Hoffentlich hatte er sich nicht in Gefahr begeben. Als wir von Bord gingen, küsste mich Machu Picchu am Kai. In ihren Augen und in ihrem Lächeln las ich den Dank für das, was ich ihr an diesem schönen Nachmittag geboten hatte. Ein sehr ernster Jeff Parker erwartete uns im Penthouse. Er hörte kaum auf das, was Sacheen ihm fröhlich plappernd berichtete. »Morgen werden wir Vicente Neiva treffen«, sagte er zu mir. »Dann wirst du alles erfahren. Es ist etwas Schreckliches geschehen.« Ich drang nicht weiter in ihn. Er würde nicht mehr sagen, als er wollte. Nur wegen des Kampfes gegen die Macumba fragte ich ihn. »Neiva und eine einflussreiche Organisation wollen uns beistehen«, sagte er. »Aber wir sollen erst einmal bis morgen abwarten.« Warten gefiel mir nun gar nicht. Ich war ein Mann der Tat, kein Zauderer. Obwohl Jeff sehr angegriffen wirkte und eine sehr schlimme Erfahrung gemacht haben musste, wie ich seiner niedergedrückten Stimmung entnahm, wollte er Sacheen und Machu Picchu die Freude eines Abendbummels nicht nehmen. Wir zogen uns um und verließen das Penthouse. Jeff, Sacheen und ich hatten uns sicherheitshalber bewaffnet. In der Halle stand wieder der triefäugige Portier, der anscheinend bis Mitternacht Dienst tat. »Stets zu Diensten, die Herrschaften«, buckelte er vor uns. »Soll ich ein Taxi herbeirufen? Was wünschen Sie? Eine gediegene Unterhaltung oder mehr etwas Vulgäres, Derbes? Vielleicht darf es sogar etwas Schweinisches sein? Schweine stehen in Rio in letzter Zeit hoch im Kurs.« Er wollte sich ausschütten vor Lachen. Chancho, Schwein, hatte Jeff verstanden. Er legte die Hand auf den Pistolengriff. Sacheen musterte den Portier eiskalt. »Sag ihm, dass ich ihn über den Haufen schieße, wenn er nicht sofort verschwindet, Dorian!« So kannte ich Jeff gar nicht, den unverwüstlichen Playboy, der sein Lächeln zu einer Lebensanschauung gemacht hatte.
Der Portier verstand, obwohl er kein Englisch konnte, und zog sich hastig zurück. Wir aßen Hummer in einem Spezialitätenrestaurant, sahen uns die Copacabana bei Nacht an und besuchten zwei Kellerlokale, in denen Folklore geboten werden sollte. Die Vorstellung war so echt wie eine Woolworth-Perlenkette für anderthalb Dollar. Im Plaza Club, an der Avenida Princesa Isabel, herrschte große Stimmung. Es wurde heiße Musik gespielt, und die Getränkepreise waren erträglich. Hier gefiel es uns. Wir blieben eine Weile, bis es Zeit wurde zur Mitternachts-Modenschau im Copacabana Palace an der Avenida Atlantica. Jeff hatte bereits um die Mittagszeit, bevor ich aufgestanden war, bei American Express in der Rua Mexico angerufen, Erkundigungen fürs Abendprogramm eingeholt und vier Plätze bei der Modenschau reservieren lassen. Wir kamen etwas zu spät. Die Modenschau hatte schon angefangen. Sie fand in einem sehr großen, glänzend illuminierten Saal statt. Ich war so ziemlich der einzige, der keinen Smoking trug. Sogar Jeff hatte sich in seinen Weinroten gequält, den er in Rio erstanden hatte. »Ich werde euch beiden ein hübsches Kleid kaufen, Mädchen«, sagte er in Spendierlaune. Wir hatten gute Plätze vorn am Laufsteg. Die Models flanierten vorbei und führten die Kreationen brasilianischer Modeschöpfer vor. Sacheen geriet in Verzückung über ein togaähnliches Kleid, das ein Mannequin mit hungrigem Gesichtsausdruck trug. »Himmlisch!«, seufzte sie. »Wenn ich es nur so tragen könnte wie sie. Diese hungrige Sinnlichkeit würde mir gut stehen, findest du nicht, Dorian?« »Ach was! Das Mädchen da oben hat zwanzig Kilo zu wenig auf den Rippen und denkt gerade an eine fette Schweinshaxe.« »Du bist ein Banause, Dorian. Mit dir kann man über solche Sachen nicht reden.« Jeff winkte eine Direktrice herbei und kaufte das Kleid für Sacheen. Sacheen und Machu Picchu verstanden sich auch ohne Worte –
jetzt, da es um Kleider ging – ganz ausgezeichnet. Mit Blicken und Gesten erzählten sie sich bei jedem Modell ganze Bände. Mich langweilte die Modenschau ziemlich. Die Mannequins waren für meinen Geschmack allesamt zu mager, ob sie nun weiß, schwarz oder rot waren, blond oder dunkelhaarig. Wehmütig dachte ich an Coco Zamis und ihre Kurven. Die Modelle kamen mir überkandidelt oder sogar lächerlich vor, und ich zweifelte wieder einmal an der Vernunft des weiblichen Geschlechts, das für so etwas viel Geld bezahlte. Gelangweilt sah ich mich um und betrachtete die Zuschauer. Und da sah ich sie auf der Rangloge im Hintergrund. Sie trug eine smaragdgrüne Abendrobe von jener Einfachheit, die meist sehr teuer ist, und eine funkelnde Rubinhalskette, Rubinohrringe und ein Diamantendiadem mit einem aus Smaragden gefertigten Schlangenemblem in der Mitte. Sie sah ganz anders aus, als ich sie zuletzt gesehen hatte, aber ich war sicher, dass sie es war. Viviana, die Macumba-Hexe. Lächelnd schaute sie zum Laufsteg. An ihrer Seite saß ein Modegeck mit blondem, onduliertem Haar, dessen Gesicht ich mir nicht merkte. Ich fragte mich, was Viviana hier wollte. Sie hatte mir gesagt, dass sie die Reichen bitter hasste und bekämpfte, und jetzt saß sie mitten unter ihnen. Das nächste Modell wurde angekündigt. Der Conferencier sagte etwas von Reve de noir, aber da ertönten Rumbatrommeln und -rasseln, und eine dumpfe Stimme rief hinter der Bühne: »Macumba!« Um den Conferencier herum, wo auch der Hotelmanager und einige Leute aus den Modesalons standen, wurde es unruhig. Dann trat ein Mannequin auf den Laufsteg. Ich war sicher, dass da etwas nicht so lief, wie es geplant war. Dieses Modell gehörte nicht zur Kollektion. Ich sah Vivianas Augen starr werden und schaute zum Laufsteg. Das Mannequin bewegte sich nicht grazil, sondern seltsam schleppend und stolpernd. Es trug ein nachtblaues Kostümkleid mit tiefem Ausschnitt, eine Silbernerzstola und wertvolle Brillantklips als Ohr-
ringe. Das Gesicht war maskenhaft starr. Die Zuschauer begannen zu murmeln. In der Mitte des Laufstegs blieb das Mannequin stehen, riss den Mund auf und griff mit den Händen in die Luft. Ich sah die gequälte Grimasse des Mädchens und hörte Vivianas gezischten Befehl von der Rangloge. Es war eine Beschwörung der schwarzen Magie; den Wortlaut verstand ich nicht. Plötzlich veränderte sich das aparte Gesicht des Mannequins und verformte sich zu einer Schweineschnauze. Kleine, stechende Äuglein erschienen und spitze Ohrlappen. Das Mannequin mit dem schlanken Frauenkörper und der Galarobe trug auf einmal einen Schweinekopf auf den Schultern. Das Getrommel und Gerassel wurde lauter. Aus dem Hintergrund der Bühne schrie eine Stimme: »So werdet ihr alle enden, ihr reichen Schweine! Die Macumba wird sich eure Schweineköpfe holen und euer Fleisch den Armen geben!« Ich spürte die Aura des Dämonischen nun ganz deutlich. Die Zuschauer saßen still auf ihren Plätzen, was ohne Zweifel auf einen magischen Bann zurückzuführen war. Jener schwarze Macumba-Priester mit der grotesken zerlumpten Kleidung, den ich schon zwei Mal gesehen hatte, erschien auf der Bühne und betrat den Laufsteg. Ein halbes Dutzend Macumba-Leute folgte ihm, angezogen oder halbnackt und mit weißen Streifen bemalt. Der Priester hielt eine zischende Giftschlange in der Rechten, seinen Totenkopfstab in der Linken. Jemand drängte sich von hinten durch die Menge zum Laufsteg: Viviana, die Hexe! Sie hatte mich nicht bemerkt und beobachtete nun aus nächster Nähe, wie ihre Anhänger sich dem vor Schreck gelähmten und mit dem magischen Bann belegten Mannequin mit dem Schweinekopf näherten. Ein Quieken kam aus der Schnauze, als der Macumba-Priester blitzschnell die Hand mit der Schlange vorstieß. Die Giftschlange biss zu. Sekunden später schon begann das Mannequin zu zucken und sich zu winden. Die Silbernerzstola fiel zu Boden. Das Mädchen
mit dem Schweinekopf stürzte nieder und starb. »Holt euch ihren Schweinekopf!«, schrie Viviana. Zwei ihrer Anhänger zückten lange Messer. Ich schloss die Augen, kämpfte mit aller Kraft gegen den magischen Bann an. Es musste ein sehr starker Dämon sein, der hier seine Macht ausübte. War es Viviana? Ich murmelte Beschwörungsformeln der weißen Magie, und endlich konnte ich meine Rechte bewegen und an das Kreuz in der Jackentasche führen. Jetzt war ich frei, konnte mich bewegen, wie ich wollte. Bevor wir das Penthouse verließen, hatte ich ein Silberkreuz, die gnostische Gemme und einfache Malkreide eingesteckt. Zum Revolver, den ich in einer von Jeff Parker besorgten Schulterhalfter trug, griff ich erst gar nicht, denn mit irdischen Waffen konnte ich gegen Dämonenkräfte nichts ausrichten. Ich erreichte Viviana, bevor sie mich bemerkte. Triumphierend verfolgte sie, wie ihre Anhänger der toten Schweinefrau den Kopf abschnitten. Dann stand ich neben ihr und hielt ihr das Kreuz vors Gesicht »Steh, Hexe, und erkenne deinen Herrn!«, rief ich auf Lateinisch, jener Sprache, die bei Beschwörungen am häufigsten verwendet wurde. »Hexenwerk ist eitler Tand, wird vom Kreuz hinweggebrannt! Es hält dich des Abraxas' Kreis, und dein Blut erstarrt zu Eis!« Sie begann zu zittern, als ich den Abraxas herausholte, jenes flache ovale Bronzeplättchen mit der eingravierten Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, und dem unentzifferbaren Beschwörungsspruch in der Mitte. Der Abraxas gehörte zu meinen Utensilien. Ich hatte ihn einmal in Istanbul gekauft, als ich die Archonten des Srasham bekämpft hatte, und ihn später mit nach London genommen. Ich legte die Gemme auf den Boden und zog mit Kreide einen doppelten Kreis um Viviana. Zwischen die beiden Kreise zeichnete ich hastig ein paar magische Schnörkel, die mir gerade einfielen, um die Wirkung der Gemme zu verstärken. Viviana zitterte und stöhnte. Ihr Gesicht verzerrte sich. Als sei der dämonische Bann plötzlich gebrochen, sprangen die Zuschauer auf
und flüchteten zu den Ausgängen. Frauen kreischten, rissen sich achtlos wertvollen Schmuck vom Hals, und Männer fluchten. Eine Menschentraube bildete sich an den Ausgängen; jeder wollte zuerst hinaus. Der Macumba-Priester kam mit seinem Totenkopfstab auf mich zu, aber ich hielt ihm das Kreuz entgegen. Er schrie gellend auf, im gleichen Augenblick, in dem auch der Totenkopf einen Schrei ausstieß. Die Macumba-Anhänger wollten mich angreifen, und ich wollte schon den Revolver herausholen, weil sie wahrscheinlich verletzbar waren wie jeder andere Mensch, da blieben sie stehen. Mit vor Schreck geweiteten Augen starrten sie mich an. Ich begriff nicht, bis Machu Picchu auf Ketschua schrie: »Dorian, dein Gesicht!« Mein Stigma war wieder erschienen, jene Teufelsfratze des Dämons Srasham, die seine Archonten mir in Istanbul ins Gesicht tätowiert hatten. Srasham war vernichtet, durch die Kraft des Demiurgen der Manichäer, und jene Tätowierung auf meinem Gesicht war mit seinem Dahinscheiden unsichtbar geworden. Nur manchmal tauchte sie in Stresssituationen wieder auf – unregelmäßig, nach Gesetzen, die ich nicht kannte; aber wenn sie einmal da war, leistete sie mir gute Dienste. Das leuchtende Stigma trieb die Macumba zurück. Aufschreiend flüchteten sie, verschwanden im allgemeinen Getümmel und Durcheinander. Ich ließ sie laufen. Mich interessierte nur Viviana. Als ich gerade einige Formeln der weißen Magie zu murmeln begann und mit dem Kreuz kabbalistische Symbole in die Luft malte, um sie zum Reden zu bringen, rief jemand meinen Namen. Ärgerlich wandte ich mich um, denn ich war sicher, dass ich Vivianas Willen hätte brechen können. Niemals zuvor hatte ich im Gesicht einer Hexe ein solches Grauen gelesen. Das Bewusstsein ihrer Niederlage war ihr ins Gesicht geschrieben. Bei Jeff Parker, Sacheen und Machu Picchu stand Domingo Marcial. Er wurde bleich, als er das Stigma sah, zuckte zusammen und konnte sich vor Schreck kaum auf den Beinen halten. Aber das war schließlich keine ungewöhnliche Reaktion. Ich wusste, dass ich furchtbar aussah.
»Sie flieht!«, riefen Sacheen und Jeff Parker gleichzeitig. Ich wirbelte herum. Der magische Kreis war ausgelöscht. Viviana eilte dem Notausgang zu. Ich lief hinter ihr her, das Kreuz erhoben, aber während sie mit magischen Kräften die Menge teilte, wie ein Fisch das Wasser, hatte ich schwer zu kämpfen. Sie entkam. Ich musste einsehen, dass ich sie nie einholen würde, und kehrte zu den anderen zurück. »Was war das in deinem Gesicht, Dorian?«, fragte Sacheen. Ich wusste, dass das Stigma wieder verschwunden war, und ging nicht auf ihre Frage ein; nach langen Erklärungen stand mir jetzt nicht der Sinn. »Zum Teufel, was machen Sie hier, Marcial?« »Vicente Neiva will Jeff Parker und Sie sofort sehen. Er hat es sich anders überlegt und erwartet Sie mit den Logenmitgliedern in den Räumen der Loge.« Ich wusste immer noch nicht, von welcher Loge die Rede war. Aber das war Jeff Parkers Sache; er hatte alles arrangiert. Parker musterte ihn misstrauisch. »Woher wussten Sie, dass wir hier zu finden sind, Señor Marcial?« Der schwarzhaarige, schlanke und elegante Mann hob die Schultern. »Verbindungen«, sagte er knapp. »Wir sollten hier verschwinden, bevor die Polizei eintrifft, sonst bekommen wir eine Menge Unannehmlichkeiten.« Ich hatte auch kein Verlangen nach endlosen Verhören. Wir verdrückten uns durch einen Notausgang und verließen das Copacabana Palace durch den Dienstbotenausgang. Domingo Marcial war im Taxi gekommen, wie er sagte. Wir gingen über den Parkplatz, gelangten über eine niedrige Mauer auf das Gelände eines anderen Hotels und spazierten von dort auf die Avenida Atlantica, als seien wir nie im Copacabana Palace gewesen. Vor dem Copacabana Palace standen Streifenwagen. Ein Riesenaufruhr herrschte. Ich hörte Befehle von Polizeioffizieren herübergellen. Wir entfernten uns in der anderen Richtung. Niemand hielt uns auf.
Vicente Neiva hatte den Tag nach seiner ersten Nacht als Schweinemann in der leerstehenden Halle einer Pleite gegangenen Maschinenfabrik verbracht. Er hockte im düsteren, muffigen, unterirdischen Umkleideraum, schlief eine Weile auf einem alten Holzgitter auf dem Boden und hatte Hunger; seit dem Nachmittag des Vortages hatte er nur ein paar Bissen zu sich genommen. Er wartete, bis die Sonne sank. In der Dämmerung verließ er die Fabrikhalle. Aus einem alten Sack, der dort herumgelegen hatte, hatte er sich eine Kapuze gemacht. Neiva marschierte durch den Stadtteil Sao Christovao und erreichte den mehrere Quadratkilometer großen Park Quinta da Boa Vista. Erleichtert atmete er auf, denn in Sao Christovao hatte er sich ständig verbergen und auf der Hut sein müssen. Auf den Parkwegen standen einige Wagen mit Liebespaaren; die Bänke waren in der Mainacht von Pärchen besetzt; aber auch allerlei Gesindel trieb sich hier herum. Plötzlich hörte Neiva eine grunzende Stimme. Er flüchtete zwischen die Bäume und pirschte sich an die Stelle heran, wo er das Grunzen gehört hatte. Ein Mann und ein junges Mädchen saßen auf einer Parkbank, von dem Mann konnte Neiva nur den Rücken sehen. »Ubaldino«, sagte das Mädchen gerade, »was auch geschieht, ich werde immer zu dir halten. Geh zur Polizei und stell dich! Du wirst in ein Krankenhaus kommen. Vielleicht gibt es eine Heilung für dich.« »Das glaubst du doch selbst nicht«, sagte die grunzende Stimme. »Sie hassen und jagen uns, wo sie uns nur finden. Du weißt nicht, was mit denen geschieht, die von dem Fluch befallen sind. Sie verwandeln sich mehr und mehr, sind zum Schluss nicht besser als die Schweine, deren Köpfe sie tragen. Mir wird es nicht anders ergehen.« »Ubaldino, so darfst du nicht reden!« »Ich sage nur, was wahr ist. Geh, Bella! Für mich gibt es keine Rettung mehr. Ich spüre, wie dumpf die tierischen Triebe in mir bro-
deln, wie sie gegen den Damm meiner Vernunft und Selbstbeherrschung anbranden. Bald werde auch ich zum Tier werden. Geh, Bella! Geh!« Der Mann wandte den Kopf, und Neiva sah jetzt, dass er einen Schweineschädel auf den Schultern trug. Das Mädchen klammerte sich an ihn. Neiva begann schon etwas Hoffnung zu schöpfen, denn offenbar waren nicht alle Menschen in Rio den Schweinemonstern, die nichts für ihr Schicksal konnten, feindlich gesinnt. Es gab also auch welche, die ihren Abscheu überwinden konnten. Da grunzte der Schweinemann böse und quiekte. Er bleckte die Zähne und packte das Mädchen, das ihn trotz seines abstoßenden Äußeren liebte, an den Schultern. Die Zähne näherten sich ihrem Hals. Ubaldino war zum Tier geworden. Seine Geliebte brachte vor Schreck kein Wort hervor. Schon wollte Ubaldino zubeißen, da stürzte Neiva aus den Büschen hervor, packte ihn und riss ihn zurück. Er versetzte dem andern Schweinemann einen krachenden Schlag unter die Schnauze. »Flieh!«, rief er dem Mädchen zu. Bella taumelte davon und schrie jetzt gellend um Hilfe. Neiva hörte Männerstimmen, während er mit dem andern Schweinemann rang. »Dort sind zwei scheußliche Ungeheuer!«, schluchzte Bella ein Stück entfernt, offenbar von einer Gruppe von Helfern umringt. »Schlagt sie tot!« Auch die Liebe konnte also den schlimmen Fluch nicht aufheben, der auf den Schweinemännern lastete. Neiva konnte seinem Gegner ein paar harte Schläge versetzen und ihn abschütteln. Er flüchtete in die Büsche, der andere blieb benommen bei der Bank sitzen. Ein Motor heulte auf. Ein Sportwagen raste heran. Das Licht der Scheinwerfer riss den Schweinemann aus der Finsternis. Er versuchte zu flüchten, wurde aber vom Wagen erfasst und durch die Luft geschleudert. Als er liegen blieb, sprangen drei junge Männer heraus. Einer nahm den Wagenheber und schlug dem fiependen Schweinemann den Schädel ein.
»Es ist noch einer in der Nähe, hat die Kleine gesagt.« Er sah sich um. »Bis heute habe ich die Sache mit den Schweinemännern für ein Gerücht gehalten. Zu Unrecht. Seht euch dieses scheußliche Biest nur an! Diese Ungeheuer müssen umgebracht werden, wo man sie findet.« Vicente Neiva schlich davon. Er musste so schnell wie möglich zur Freimaurerloge. Aber wie? Er beschloss, einen Wagen zu stehlen. Er suchte sich einen Knüppel und machte sich auf zu einem Parkplatz in Rio Comprido, in dessen Nähe sich einige Lokale und Bars befanden. Dort legte er sich auf die Lauer. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, denn eine Weile kam niemand, dann eine ausgelassene Gesellschaft, an die er sich nicht heranwagen konnte, und schließlich erschienen zwei baumlange Männer, die er auch lieber in Ruhe ließ. Als sie alle weggefahren waren, torkelte endlich ein einzelner Mann über den Parkplatz. Er hatte reichlich getrunken, denn er hatte Schwierigkeiten, seinen Wagen zu finden. Nach langem Suchen entdeckte er seinen VW und versuchte den Schlüssel ins Schlüsselloch zu stecken. Neiva schlich sich von hinten an ihn heran und schlug dem Betrunkenen den Knüppel über den Kopf. Er schleifte ihn an den Rand des Parkplatzes und legte ihn hinter einen Sandhaufen. Dann fesselte und knebelte er ihn mit Streifen, die er aus seinem Hemd riss, und eilte zu dem VW. Die Wagenschlüssel hatte er bereits eingesteckt. Er fuhr los und hoffte, dass der Betrunkene nicht durch einen dummen Zufall gefunden wurde, solange er mit seinem Wagen unterwegs war. An jeder Ampel, an der Neiva halten musste, zog er den Schweinekopf tief zwischen die Schultern. Er stellte die Jackenaufschläge hoch und hoffte, dass niemand in den Wagen sah. Er erreichte Copacabana ohne Zwischenfälle. Den Wagen stellte er zweihundert Meter vom Hochhaus entfernt ab und ging dann zu einem Seiteneingang. Er hatte Glück, die Hintertür im Hof war offen. Neiva hatte schon damit gerechnet, einbrechen zu müssen. Er eilte hinauf in den zehnten Stock, zu den Räumen der Freimaurerloge. Es war nach dreiundzwanzig Uhr. Auf verschiedenen Etagen hörte er
in den Wohnungen Grunzen, Scharren und andere animalische Geräusche. Im zehnten Stock klingelte er an der Tür, seine Sackleinenkapuze über dem Kopf. »Wer begehrt Einlass bei der Loge der okkultistischen Freimaurer?«, fragte eine Stimme über die Sprechanlage. Neiva grunzte seinen Namen. Es wurde aufgeschlossen. Er konnte eintreten und sah Horacio da Rocha vor sich, einen Logenbruder niederen Grades. Ehe er noch etwas erklären konnte, sah Horacio ihn erschüttert an und sagte: »Sie also auch, Großmeister. Jetzt ist alles verloren.« Grunzend fragte Neiva, was das zu bedeuten habe. Statt einer Antwort führte ihn Horacio da Rocha in den Tempelraum der Loge. An einem hufeisenförmigen Tisch saßen dreiundzwanzig Männer mit schwarzen Seidenkapuzen, wie sie bei den Befragungen von Neulingen, die in die Loge aufgenommen werden wollten, getragen wurden. Die Neulinge durften die Gesichter der Logenmitglieder nicht sehen, damit sie keine Namen nennen konnten, falls sie abgelehnt wurden. »Ich habe euch eine schlimme Mitteilung zu machen, Brüder«, grunzte Neiva. »Ich bin es, Vicente Neiva, euer Großmeister.« Er nahm die Sackleinenkapuze ab, aber der erwartete Aufschrei blieb aus. Stattdessen zogen die Logenbrüder ihre schwarzen Seidenkapuzen von den Köpfen.
Domingo Marcial brachte uns bis zum Hochhaus. Dort wollte er sich verabschieden. »Ich habe noch sehr wichtige Dinge zu erledigen, die keinen Aufschub dulden. Die Freimaurerloge befindet sich im zehnten Stock.« »Einen Augenblick!«, sagte Jeff Parker mit fester Stimme. »Sie werden mitkommen, Señor Marcial! Ich will jetzt endlich und endgültig Aufklärung über die Dinge, die hier vorgehen, und ich muss gestehen, dass mir Ihre Rolle nicht ganz klar ist.« »Das wird Ihnen alles Vicente Neiva sagen.«
»Nur wenn Sie mitkommen. Andernfalls werde ich nämlich nicht zu den Freimaurern gehen. Weshalb sträuben Sie sich, Señor Marcial? Sie wollen uns doch nicht etwa in eine Falle locken?« Marcial lachte gezwungen. »Was reden Sie da, Señor Parker? Ich mich sträuben? So ein Unsinn. Also gut, ich werde mit Ihnen kommen, wenn Sie darauf bestehen, nur muss ich mich bald wieder empfehlen.« »Das wird Ihr Großmeister Vicente Neiva bestimmen.« Ich spürte, dass hier etwas vorging, mehr noch aber war ich von der Erwähnung der Freimaurer überrascht. Der Playboy Jeff Parker und die Freimaurer – das waren zwei Dinge, die mir nicht unter einen Hut zu passen schienen. Nun, jetzt würde ich die Zusammenhänge ja endlich erfahren. Wir betraten das Hochhaus und stiegen die Treppe hinauf. Es entging mir nicht, dass Marcial sich in seiner Haut nicht wohl zu fühlen schien. Die gnostische Gemme hatte ich wieder eingesteckt, nachdem die Macumba-Hexe Viviana entkommen war; das Kreuz trug ich ebenfalls bei mir. Da ich auch noch einen Revolver für alle Fälle dabei hatte, war ich für die Dinge, die auf uns zukamen, gut gewappnet. Im zehnten Stock klingelten wir an einer Tür, auf deren Schwelle Hammer, Kelle und Winkelmaß eingemeißelt waren. »Wer begehrt Einlass bei den okkultistischen Freimaurern?«, fragte eine Stimme über die Sprechanlage. Jeff Parker atmete tief ein. »Jeff Parker von der Loge der Bruderschaft in San Francisco. Ich möchte den Großmeister sprechen. Er erwartet mich.« Die Tür wurde geöffnet. Ein kräftiger Mann schaute uns an, eine schwere Pistole in der Hand. Erstaunt musterte er Domingo Marcial. »Sie hier? Was hat das zu bedeuten?« »Das wird alles bei der Versammlung Aufklärung finden«, antwortete Marcial mit spöttischem Lächeln. »Unter euch befindet sich einer, der nicht in eure Mitte gehört. Ich bin gekommen, ihn zu entlarven.« »Ich werde mit dem Großmeister reden«, sagte der Mann befrem-
det. »Die beiden Frauen können allerdings auf keinen Fall in den Logentempel der Freimaurer. Sie müssen außerhalb warten. So bestimmt es die Regel.« Er schloss die Tür. Jeff fluchte unterdrückt. »Was machen wir jetzt mit Machu und Sacheen? Daran hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht, dass Frauen in die Räume der Freimaurer keinen Zutritt haben.« »Wir können sie ins Penthouse bringen«, schlug ich vor. Jeff stimmte zu. Wir stiegen zum 20. Stock hinauf. Jeff bestand darauf, dass Domingo Marcial uns begleitete; er bedrängte ihn förmlich. Marcial stimmte murrend zu, schließlich war es kein Vergnügen, zehn Stockwerke hinauf- und wieder herunterzusteigen. Im Penthouse legte Sacheen ihre Pistole griffbereit. Ich holte ein Kreuz und zwei Gemmen aus meinem Handgepäck und gab sie ihnen. Marcial wartete in der Diele. Als ich mit dem Kreuz an ihm vorbeiging, suchte er die Toilette auf. »Ich habe Angst allein im Penthouse«, sagte Sacheen. Machu Picchu schaute mich vorwurfsvoll an. »Du hast versprochen, mich nicht mehr allein zu lassen, Dorian.« »Hier im Penthouse sind die Mädchen sicherer als bei den Freimaurern. Wir werden in der Loge mit dämonischem Spuk oder gar mit einem Dämon selbst zu kämpfen haben.« Er zeigte mir einen Flakon, den er in die Tasche gesteckt hatte. »Weihwasser«, raunte er. Ich kannte Jeff Parker schon eine Weile. Er wusste über die Schwarze Familie und die Dämonen Bescheid, auch über die Mittel, mit denen man sie bekämpfen konnte; wir hatten schon zusammen ein paar gefährliche Abenteuer bestanden. Ich küsste Machu Picchu. »Sei ruhig, Machu! Wir werden bald zurück sein. Solltet ihr bis in zwei Stunden keine Nachricht von uns haben, dann verlasst das Hochhaus und sucht die amerikanische Botschaft auf!« Ich sagte das in Altspanisch, jenem Dialekt, den ich aus meinem dritten Leben als Georg Rudolf Speyer in Erinnerung hatte. Jeff instruierte Sacheen. In der Toilette rauschte die Wasserspülung. Domingo Marcial kam hervor, und wir verließen das Penthouse. Sacheen versperrte die Tür hinter uns.
Im zehnten Stock erwartete uns ungeduldig jener Mann, mit dem wir gesprochen hatten. »Ich dachte schon, Sie seien weggegangen. Vicente Neiva und die Logenmitglieder warten.« Er führte uns durch die Vorhalle in den Tempel. An einem hufeisenförmigen Tisch saßen zwanzig Männer mit schwarzen Seidenkapuzen. Sie trugen weiße stilisierte Schürzen über den zivilen Kleidern, wie es bei vielen Freimaurerlogen Brauch war. Vor jedem stand eine Kerze auf dem Tisch. Eine indirekte künstliche Beleuchtung erhellte den Raum. Vor die Fenster waren schwere, dunkle Samtstores gezogen. Der Tempel war ein großer Versammlungsraum mit einer Bühne im Hintergrund, deren Vorhang zugezogen war. Vor der Bühne stand der hufeisenförmige Tisch; davor waren Bänke und Sitzreihen aufgestellt. In dem Raum konnten zweihundert bis zweihundertfünfzig Personen unterkommen. Ich überlegte mir, was ich über die Freimaurer wusste. In meinen früheren Leben hatte ich von verschiedenen Logen gehört und auch mit Logenmitgliedern zu tun gehabt. Die Loge der Freimaurer war im siebzehnten Jahrhundert entstanden, wobei damals von einer geschlossenen Organisation keine Rede sein konnte; es war vielmehr eine bestimmte Richtung, der verschiedene größere und kleinere Gruppen folgten. Die einzelnen Logen unterschieden sich ganz erheblich voneinander. Es gab auch Kämpfe und Zwistigkeiten zwischen ihnen, die allerdings nie mit Waffengewalt ausgetragen wurden. Die Freimaurer verteidigten fortschrittliche Ideale. Friedrich der Große hatte zu einer der drei preußischen Großlogen gehört und nach ihm fast alle Hohenzollern. Immer hatten sich hohe geistliche und weltliche Würdenträger zu den Freimaurern bekannt; sie waren allerdings auch Verfolgungen ausgesetzt gewesen und zu manchen Zeiten verfemt worden. Ein Geheimbund waren die Freimaurer nicht, aber durch ihre Geheimhaltung der eigentlichen Lehren hatten sie sich manchen Missdeutungen ausgesetzt. Im Großen und Ganzen aber hatten die Freimaurer Positives angestrebt und bewirkt. In der Gegenwart zählten die Mitglieder der einzelnen Logen auf der ganzen Welt etwa sechs-
einhalb Millionen, wovon allein auf die USA über vier Millionen entfielen. Viele Logen waren im Weltfreimaurerbund zusammengefasst, aber beileibe nicht alle. Die okkultistischen Freimaurer, mit denen ich hier zu tun hatte, schienen mir von mystischem Einschlag geprägt zu sein. Die Wände des großen Saales, mit dunklen Stoffen ausgeschlagen, waren mit kabbalistischen Zeichen verziert. An der Decke prangte übergroß das Emblem der Rosenkreuzer, aus denen die okkultistischen Freimaurer hervorgegangen waren. Dieses Emblem war ein Kreuz mit einer fünfblättrigen Rose in der Mitte, deren Zentrum wiederum ein fünfzackiger Stern mit einem Kreis darin bildete. Wir traten vor die zwanzig Kapuzenmänner hin. »Weshalb kommst du schon jetzt, Jeff Parker?«, fragte der Vermummte, der den Vorsitz führte, mit grunzender Stimme. »Konntest du dich nicht bis morgen gedulden?« »Habt ihr mich nicht rufen lassen, Großmeister Neiva?« Neiva schüttelte den vermummten Kopf. »Gleichviel. Die Beratung mit meinen Logenbrüdern ist ohnehin auf einem toten Punkt angelangt. Vielleicht kannst du uns einen Rat geben oder uns weiterhelfen, Bruder Jeff Parker.« »Sicher kann ich das«, antwortete Jeff mit einem Ernst und einer Feierlichkeit, die gar nicht zu seiner sonstigen Art passte. »Zuerst will ich euch, verehrte Brüder der Loge von Rio de Janeiro, meinen Freund Dorian Hunter vorstellen. Man nennt ihn den Dämonenkiller, und das völlig zu Recht. Jawohl, ihr habt richtig gehört, Dorian Hunter bekämpft die Dämonen und die schwarze Magie. Er hat bereits etliche Geschöpfe der Finsternis vernichten können. Wenn einer euch helfen und die Macht der Macumba brechen kann, dann ist er es.« Eine Bewegung ging durch die Reihen der Freimaurer. Sie stießen sich an, neigten die Köpfe zueinander. Statt normalen Worten oder Geflüster hörte ich Grunzen und mit Grunztönen hervorgestoßene Satzfetzen. »Ich bin Dorian einige Erklärungen schuldig«, fuhr Jeff Parker fort. »Gestattet daher, dass ich ihn jetzt über einige Dinge unterrichte
und dann in eurer Sache fortfahre. Dorian hat sich als wahrer Freund erwiesen. Er ist mir hierher gefolgt, hat mir beigestanden und sein Leben riskiert, alles im Vertrauen zu mir und ohne auf eine Erklärung zu drängen.« Gedrängt hatte ich zwar, aber nicht nachhaltig. Vicente Neiva gab Jeff Parker einen Wink zu tun, was ihm beliebe. Domingo Marcial stand abseits, die Arme verschränkt. Ungeheuer selbstsicher und hochmütig sah er aus. »Seit du mich auf Haiti über die Schwarze Familie und die Dämonen informiert hast, seit ich bei dem gefährlichen Abenteuer mit dem Moloch und der Vernichtung Asmodis auf Haiti ihr Wirken am eigenen Leib erlebte, stand mein Entschluss fest, sie zu bekämpfen. Aber ich wollte das Ganze in großem Rahmen aufziehen und mich der Hilfe einer mächtigen Organisation versichern. So habe ich Verbindung mit den Freimaurern aufgenommen. Was eigentlich nur logisch war. Hatte diese Bruderschaft doch von altersher ein besonderes Verhältnis zum Mystischen und Okkulten.« Jeff machte eine Pause, sah mich an. »Die Freimaurer zeigten mir jedoch die kalte Schulter. Sie wollten mit Geistern und Okkultem nichts zu tun haben. Ich gab nicht auf, suchte weiter, und da stieß ich einige Zeit später auf die okkultistischen Freimaurer, die im 18. Jahrhundert eine Blüte erlebt hatten und aus den Rosenkreuzern hervorgegangen waren. Sie konnte ich für die Bekämpfung der dämonischen Mächte gewinnen. Ich wurde in die Loge von San Francisco aufgenommen, musste aber über meine Zugehörigkeit allen Außenstehenden gegenüber Stillschweigen bewahren. Deshalb habe ich auch zu dir über diese Zusammenhänge bis heute geschwiegen. In Brasilien setzte ich mich mit Vicente Neiva in Verbindung und erhielt die Erlaubnis, dich bei den Freimaurern einzuführen.« »Soll ich etwa in die Loge eintreten?« »Das ist einzig und allein deine Sache. Die Freimaurer drängen keinen, sich ihnen anzuschließen. Im Gegenteil, man muss Prüfungen und Weihen bestehen, bevor man in die Loge aufgenommen wird. Du solltest mit den Freimaurern sprechen, sie über deine Ziele informieren und in noch stärkerem Maße für die Dämonenbekämp-
fung gewinnen. Dann kannst du von den Freimaurern jetzt und in Zukunft Hilfe und Unterstützung erwarten.« Alle Probleme würden die Freimaurer mir gewiss nicht abnehmen, aber in manchen Dingen mochten sie mir nützlich sein. Ich sagte daher zu Jeff Parker, dass ich die Ideen der Freimaurer für eine gute Sache hielte, was ja auch im Großen und Ganzen stimmte, und dass ich erfreut sei, sie als Bundesgenossen zu gewinnen. Jeff nickte befriedigt. »In Rio ist jetzt etwas passiert, was die hiesigen Freimaurer mehr von der Dringlichkeit der Dämonenbekämpfung überzeugt hat, als du es je vermocht hättest. Die okkultistischen Freimaurer sind dem Fluch der Macumba anheim gefallen. Und damit kommen wir zur Sache.« Wir traten zum Tisch, zu den vermummten Freimaurern und zu Domingo Marcial. »Ich war heute Nachmittag schon einmal hier«, sagte Jeff Parker, »und erhielt ein Schriftstück von Vicente Neiva, sprach auch mit ihm. Der Fluch der Macumba besteht in einer Metamorphose, die Menschen in Schweine verwandelt. Die Köpfe werden zu Schweineköpfen, die Bedürfnisse des Menschen zu denen eines Schweins. Der Betroffene wird schließlich tollwütig und verendet unter Qualen, wenn er nicht zuvor umgebracht worden ist oder sich in Raserei selbst zerfleischt hat. Die Verwandlung geht langsam vor sich. Es beginnt mit Unbehagen und Mattigkeit, dann bekommt man Schmerzen und hat Halluzinationen, man hört Stimmen – und schließlich setzt die Verwandlung ein. Eine Weile kann der Betroffene nicht mehr sprechen, dann vermag er sich eine Zeitlang grunzend zu verständigen, bis er die Fähigkeit zu sprechen mit dem Rest der verbliebenen Intelligenz ganz verliert. Es folgt das Endstadium, von dem ich bereits sprach. Der auslösende Faktor für die Metamorphose zum Schweinemonster ist ein Zaubertrank der Macumba-Hexe Viviana oder der Biss eines Schweineungeheuers, der das Blut mit Giftstoffen verseucht.« Jetzt endlich wusste ich über die Hintergründe Bescheid. Jeff gab den Vermummten ein Zeichen, die Kapuzen abzunehmen. Langsam taten sie es. Ihr Anblick versetzte mir einen Schock. Ich
hatte es mit lauter Schweinemonstern zu tun. »Bei unserem letzten Treffen muss jemand etwas in unseren Trank gegeben haben«, grunzte Vicente Neiva. »Vorher schon hatte die Macumba Einfluss auf die Gesellschaft genommen, die dieses Hochhaus zu verwalten und instand zu halten hat. Sie hat Schweinemenschen hier eingeschleust und einquartiert. Wir unterschätzten die Gefahr, beschränkten uns darauf, den Schweinemonstern den Zutritt zu unseren Räumen in der zehnten Etage zu verwehren und sie zu vertreiben, wenn wir auf sie stießen. Wir haben zu lange beraten und überlegt. Die Macumba hat unterdessen gehandelt. Als ich nach mancherlei Gefahren in die Loge kam, nachdem die Verwandlung bei mir abgeschlossen war, fand ich meine Logenbrüder bereits hier. Einige von ihnen hatten einen Rettungsdienst organisiert, und unserem Bruder Horacio da Rocha ist es zu verdanken, dass wir heute hier sind.« Da Rocha, jener Mann, der uns die Tür geöffnet hatte, verneigte sich. Er hatte damals bei dem Treffen der Freimaurer gefehlt und den verhexten Trank nicht zu sich genommen, wie ich später erfuhr. »Jeder von uns wusste ein wenig«, grunzte Neiva, nun immer heiserer und kaum noch verständlich, »und wir können uns jetzt ein Gesamtbild machen. Zu spät für uns, denn unsere Verwandlung ist nicht mehr rückgängig zu machen. Aber vielleicht können wir die Macumba mit uns in die Nacht des Todes reißen, bevor der letzte Funke Vernunft uns verlässt.« »In der Loge muss es einen Verräter geben!«, rief Jeff Parker mit erhobener Stimme. Das Gespräch hatte in Englisch stattgefunden. Ein Logenbruder übersetzte es für die, die diese Sprache nicht verstanden. »Er ist es!«, schrie Parker nun Domingo Marcial an. Marcial winkte ab. »Ich darf als Logenbruder der okkultistischen Freimaurer nichts mit schwarzer Magie zu tun haben. Ihr alle wisst, dass ich ein ehrenwerter Mann bin, der sich noch nie etwas hat zuschulden kommen lassen und der Magie und Zauberei verabscheut.« »Domingo Marcial ist ein solcher Mann«, antwortete Jeff Parker,
»aber du bist nicht Domingo Marcial.« Marcial lachte laut auf. »Wer soll ich denn sonst sein? Ihr seht doch alle, dass ich es bin!« Einer der Schweinemänner am Tisch erhob sich. »Dieser ist Domingo Marcial«, rief Jeff Parker und deutete auf ihn. »Du hast lediglich seine Gestalt angenommen.« Er zog den Weihwasserflakon aus der Tasche, öffnete ihn schnell und bespritzte den falschen Domingo Marcial mit geweihtem Wasser. Schmerzvoll heulte der auf. »Gib dich mir zu erkennen! Nenne deinen Namen, Kreatur der Finsternis!« Ich dachte daran, dass der Bannkreis um die Macumba-Hexe Viviana plötzlich aufgehoben gewesen war, als der falsche Marcial hinzukam, und wie er im Penthouse eilig verschwunden war, bevor ich ihm mit meinem Kreuz zu nahe kommen konnte. Ich zog Kreuz und Gemme aus der Tasche. »Deinen Namen!«, schrie Jeff Parker wieder und verspritzte Weihwasser. »Astaroth bin ich!«, heulte jener, der die Gestalt Marcials angenommen hatte. »Astaroth, der Neffe von Magus VII. dem Fürsten der Finsternis, dem Herrscher der Schwarzen Familie.« Es durchzuckte mich wie ein Blitzschlag. Magus VII. – das war kein anderer als Olivaro, jener verräterische Dämon, mein Erzfeind, der mir meine Geliebte Coco Zamis gestohlen hatte. »Meine Aufgabe war es, die okkultistischen Freimaurer in Rio zu zerschlagen, damit das Böse sich ungehindert ausbreiten kann«, brüllte der Dämon. »Und das Böse hat gesiegt, daran könnt ihr Würmer nichts mehr ändern.« »Das werden wir sehen!«, rief ich, gab Jeff Parker einen Wink, und mit Weihwasser, Kreuz und gnostischer Gemme rückten wir dem Dämon zu Leibe. Plötzlich hörte ich hinter mir ein wütendes Quieken. Einer der Schweinemänner setzte über den Tisch hinweg und stürzte auf uns zu. Bei ihm hatte die Tollwut eingesetzt. Bevor ich oder Jeff noch handeln konnten, hatte Vicente Neiva
schon eine schwere Coltpistole unter dem Tisch hervorgezogen und geschossen. Zwei 45-er Kugeln trafen den Schweinemann in den Rücken. Er machte noch einen Satz vorwärts und brach tot zusammen. Eine Blutlache bildete sich um ihn. »Dieses Schicksal wird uns früher oder später alle treffen«, grunzte Vicente Neiva. »Tollwut und Tod. Die meisten Schweinemenschen geben ihren tierischen Trieben gleich nach, aber wir Freimaurer finden Kraft durch unsere Ideale und unsere Gemeinschaft. Wir müssen den Dämon und die Anführer der Macumba töten, dann ist unser Ende nicht umsonst gewesen. Mit uns soll jene dämonische Brut von der Welt verschwinden, die …« Seine Stimme, bei den letzten Worten immer undeutlicher geworden, wurde vollends zu einem Grunzen. Astaroth lachte gellend, brüllte seinen Hohn und seinen Triumph heraus. Ich erkannte, was sein letzter Trumpf war. Er konnte die Verwandlung willkürlich beschleunigen, das Endstadium herbeiführen. Vor unseren Augen wurden die Schweinemonster allesamt tollwütig, wurden von Männern, die trotz ihrer Verwandlung immer noch okkultistische Freimaurer gewesen waren, zu blutrünstigen Scheusalen. Astaroth lachte gellend. Während er lachte, wurde seine Gestalt größer, dicker und stämmiger, sein Kopf zu dem eines Ebers mit mächtigen Hauern und schwarzen Borsten am Kopf. Seine Hände wurden schwarze Pranken, sein modischer Anzug ein schwarzes Borstenfell. Er stand auf den Hinterläufen, spie Feuer und lachte, dass die Decke erzitterte. Ich rannte zu ihm und hielt ihm das Kreuz vors Gesicht. Mit der Linken malte ich ein magisches Symbol der weißen Magie in die Luft, sah dem Dämon in die glühenden Augen und rief eine Bannformel. Vernichten konnte ich ihn nicht, dazu war er zu stark, aber für eine Zeitlang seiner Kräfte berauben und in meinen Bann schlagen. Die Feuerzunge, die meine Schnurrbartenden versengt hatte, erlosch. Astaroth erzitterte, bebte, wollte sich zur Flucht wenden,
konnte sich aber nicht rühren. »Steh, Dämon, und gehorche meinem Willen!«, schrie ich dreimal auf lateinisch. Astaroth knirschte mit den Zähnen und hob die Pranken, aber ich wankte und wich nicht. Da hörte ich hinter mir Schüsse. Die tollwütigen Schweinemonster überfielen Jeff Parker und mich. Jeff feuerte mit seiner Pistole. »Folge mir, Astaroth!«, schrie ich, und Jeff rief ich zu: »Los! Weg von hier! Zum Penthouse!« Wir rannten aus dem Saal, der in meinem Bann befindliche Dämon Astaroth hinter uns her. Er schleuderte ein paar Schweinemonster wie Gummibälle zur Seite. Ich hatte das Kreuz zu der Gemme in die Tasche gesteckt und den Revolver gezogen. Ein Schweinemann holte mich ein und packte mich an der Schulter. Ich wirbelte herum und versetzte ihm einen Tritt, dass er sich krümmte. Den nächsten schoss ich nieder, die anderen stoppten für ein paar Sekunden, und ich konnte einen geringen Vorsprung gewinnen. Jeff Parker und Astaroth waren schon voraus. Aus dem Saal hörte ich den Todesschrei des unglücklichen Horacio da Rocha, der von den Schweinemonstern zerfleischt wurde. Ihm konnten wir nicht mehr helfen, wir mussten an die eigene Haut denken. Treppauf ging die wilde Jagd, die Schweinemonster hinter uns her. Alle paar Absätze blieben Jeff und ich stehen, feuerten ein paar Schüsse ab, schlugen und traten die Angreifer zurück. Sie behinderten sich gegenseitig, und das war unser Glück, sonst hätten sie uns längst zerrissen. Von den unteren Stockwerken her hörten wir ein ohrenbetäubendes Grunzen und Quieken. Es schienen ganze Heerscharen von Schweineungeheuern im Hochhaus zu sein. Zum Glück stellte sich uns in den oberen Etagen niemand in den Weg, und so erreichten wir das Penthouse. Jeff Parker trommelte gegen die Tür, während ich mit Pistole und Revolver auf die nachdrängenden Schweinemänner feuerte. Wir hatten unsere Waffen während des Laufens nachgeladen.
Astaroth fletschte sein mörderisches Gebiss mit den fingerlangen Hauern. »Ihr seid verloren«, schnaubte er. »Abwarten«, sagte ich und warf die leergeschossenen Waffen den Schweineungeheuern auf der Treppe entgegen. Sie fielen über ihre toten und verwundeten Artgenossen her. »Aufmachen!«, schrie Jeff Parker. »Aufmachen! Wir sind es! Jeff und Dorian!« Endlich öffnete Sacheen, und wir flüchteten ins Penthouse. Sie schloss die Tür ab, aber schon erbebte und erzitterte sie unter dem Ansturm der Verfolger. Ich riss Jeff Parker den Weihwasserflakon aus der Tasche und stellte mich vor Astaroth. »Halte diese Schweinemonster von unserer Schwelle fern!«, schrie ich. »Oder ich schütte dir das Weihwasser über den Kopf.« Es gab Dämonen, die sich mit Beschwörungen und kraft ihrer Magie gegen das Weihwasser zu schützen vermochten, aber Astaroth konnte das nicht, da ich ihn gebannt hatte. Er stieß ein so fürchterliches Gebrüll aus, dass uns fast die Trommelfelle zerplatzten und der Kalk von der Decke rieselte. Furchtbar sah der Dämon aus. Die Schweineungeheuer draußen flohen vor dem Gebrüll in die unteren Stockwerke zurück. Als Astaroth nach einer vollen Minute verstummte, war draußen nichts mehr zu hören. Ich gab Jeff das Weihwasser und wies ihn an, den Dämon zu bedrohen. Dann nahm ich Sacheens Pistole und öffnete die Tür zum Dach, um mich davon zu überzeugen, dass sich draußen keine Schweinemänner mehr herumtrieben. Einem Dämon traute ich alles zu. Auf dem Dach war nichts, aber von der Straße unten hörte ich Stimmen und Lärm, Getrommel, Pfiffe und Schreie. Ich riskierte es, lief zum Dachrand und schaute nach unten. Weißbemalte Macumba-Anhänger trieben Schweinemenschen ins Hochhaus. Von allen Seiten kamen sie, hetzten die Ungeheuer mit den Schweineköpfen mit Trommeln, Rasseln, Pfeifen, Hörnern und Trompeten herbei, jagten sie mit zischenden Giftschlangen, die sie hinter den Köpfen gepackt hielten oder wie Peitschen schwangen. Ich sah auch Viviana. Ihre Stimme gellte bis zu mir hoch. Sympa-
thisanten der Macumba leuchteten mit brennenden Fackeln. Natürlich war auch der Mob vertreten, und ich hörte das jämmerliche Quieken einiger Schweinemenschen, die ihm zum Opfer fielen, erschlagen und gesteinigt wurden. In Rio regierte in dieser Nacht der Terror. Ich konnte nicht länger Beobachter spielen; ich musste wieder zurück ins Penthouse und mich um Astaroth kümmern und für unsere Flucht Sorge tragen. Astaroth stand noch an der gleichen Stelle, von Jeff Parker mit dem Weihwasser bedroht. Sacheen und Machu Picchu hatten sich in eine Ecke zurückgezogen und beobachteten ihn entsetzt. »Dieser Dämon wird uns alle vernichten, Dorian«, rief Machu Picchu mir zu. Ich nahm Jeff Parker das Weihwasser aus der Hand. »Hilf uns, von hier zu entkommen«, sagte ich zu Astaroth, »sonst bist du dran!« Astaroth nickte mit seinem Eberkopf. »Dazu bedarf es einer besonderen Beschwörung«, sagte er mit tiefer, grunzender Stimme. »Also gut. Aber keine Tricks! Sonst bekommst du das Weihwasser zu spüren.« Der Dämon sprach die Beschwörung in einer Sprache, die ich nicht verstehen konnte. Es waren Laute, die nicht von dieser Welt stammten, zuletzt aber schrie Astaroth etwas, was mich zusammenzucken ließ. »Oheim Olivaro, mächtiger Magus VII. Fürst der Finsternis!« Er hatte uns also doch hereingelegt. Ich wollte ihm das Weihwasser über den Eberkopf schütten, da krachte ein Donnerschlag. Ein Blitz fuhr zwischen mich und Astaroth und ließ mich zurücktaumeln. Magus VII. den ich unter dem Namen Olivaro kennen gelernt und der mich übel hereingelegt hatte, war ein mittelgroßer Mann von durchschnittlichem Aussehen. Während seine Kleidung früher nicht besonders hervorgestochen hatte – er bevorzugte Anzüge im konservativen Stil – hatte er sich diesmal einen aufsehenerregenderen Aufzug ausgesucht. Er trug einen Umhang, der außen schwarz und innen scharlachrot war. Olivaros Ohren waren spitz. Statt Fingernägel hatte er lange
Krallen, und auf seinem Kopf wuchsen kleine Hörner. Auch sein Gesicht wirkte diabolischer als sonst, und er verbreitete einen starken Geruch nach Pech und Schwefel. Kurz, er hatte sein Aussehen der Rolle des Fürsten der Finsternis angeglichen und sich zu einem theatralischen Aufzug verholfen. Jeff Parker und die beiden Mädchen wichen zurück. Sie waren von nun an Randfiguren. Es ging um Olivaro und mich. Selbst Astaroth spielte nur noch eine Chargenrolle. Gegen Olivaro half mein Bann nichts mehr. Ihn konnte ich mit Weihwasser nicht beeindrucken und mit dem Kreuz und der magischen Gemme bestenfalls irritieren. »Bei meiner schwarzen Seele, es bereitet mir eine höllische Freude, deine hässliche schnurrbärtige Fratze wiederzusehen, Dorian Hunter. Mich hättest du hier nicht erwartet, was?« »Du siehst aus und benimmst dich wie ein Schmierenkomödiant, Olivaro. Du kannst dich kleiden und gebärden wie du willst, mehr als Falschheit und Betrug bringst du doch nicht zustande. Ein bisschen wenig für einen, der Herrscher der Schwarzen Familie sein will.« Ich konnte Jeff Parker und die beiden Mädchen plötzlich nicht mehr wahrnehmen. Zwischen mir und ihnen war eine Wand erschienen. Sie hörten auch nicht, was ich mit Olivaro redete. Der Fürst der Finsternis und sein Neffe Astaroth grinsten mich höhnisch an. »Reiß dein Maul ruhig noch ein wenig auf! Bald wird es ohnehin vorbei sein mit dir. Ich habe alles eingefädelt. Hier in Rio hat der Endkampf begonnen. Mein Sieg ist nicht mehr aufzuhalten.« Er sprach sehr selbstsicher. Ich begann die Lawine von Ereignissen zu ahnen, die Olivaro in Gang gebracht hatte, um die Freimaurerloge von Rio de Janeiro und mich zu vernichten. Aber selbst wenn ich sterben musste oder das Schicksal eines Untoten oder noch Schlimmeres mich erwartete, Schwäche würde ich ihm gegenüber nie und nimmer zeigen. »Du hast schon mehr eingefädelt, Olivaro«, sagte ich geringschätzig, um ihn zu reizen, »und meist bist du dabei auf den Bauch gefallen.« »So siehst du es also«, antwortete er gelassen. »Ich sehe es anders.
Und ich bin der Herrscher der Schwarzen Familie und habe Coco Zamis errungen, die einmal deine Geliebte gewesen war. Deine Coco hat ihre Qualitäten, Dämonenkiller. Sie ist eine richtige Hexe und ein Weib, das es wert ist, eine Fürstin der Finsternis zu sein. Was hat einer wie du ihr schon bieten können?« »Ich war vielleicht nicht viel, an Macht und Geld gerechnet, aber wenigstens nicht feige und heimtückisch.« »Lass mich ihn zerreißen, Oheim!«, schnaubte Astaroth. Olivaro winkte ab. »Schweig.« Ich sah eine gute Chance und warf den Weihwasserflakon. Olivaro machte eine schnelle Handbewegung. Der Flakon änderte in der Luft die Richtung. Astaroth hatte zwei Schritte auf mich zugemacht, Olivaro wohl die Handbewegung in der Schnelligkeit nicht genau abgezirkelt. Der Flakon traf Astaroth und zerschellte. Das Weihwasser ätzte ihn, ehe er etwas dagegen tun konnte. Der Dämon mit dem ungefügen Körper und dem Eberkopf brüllte schauerlich, krümmte sich und schlug auf die Körperstellen, die mit dem Weihwasser in Berührung gekommen waren. Große weiße Blasen erschienen auf seiner Haut. Olivaro murmelte etwas. Astaroths Gebrüll verstummte. Ich sah nichts mehr von ihm. Olivaro hatte auch ihn bei unserem Gespräch ausgeklammert. »Er soll sehen, wie er damit fertig wird. Mein Neffe ist recht brauchbar, nur noch zu ungeschliffen, hitzköpfig und ungeschickt. Aber das wird sich geben.« Er wandte sich wieder an mich. »Meine Macht in der Schwarzen Familie ist gefestigt. Die anfänglichen Schwierigkeiten sind überwunden. Viele Dämonenfamilien haben sich mit mir verbündet. Unter meiner Führung wird die Schwarze Familie den Siegeszug über die Erde antreten. Ich werde als Magus der Große in die Dämonengeschichte eingehen. Die Vorfälle von Rio und London, wo ich Teufelsmessen und einen Satanskult inszenierte, waren nur ein bescheidener Anfang. Jetzt kommen große Dinge. Sie werfen schon ihre Schatten voraus.« Ich tastete nach dem Kreuz in der Jackentasche, um Olivaro wenigstens etwas entgegensetzen zu können.
»Das Kreuz hilft dir auch nichts mehr, Dorian Hunter. Ich habe meine Netze zu fein gesponnen, zu fein und unzerreißbar. Deine frühere Gefährtin Coco Zamis lässt dich übrigens grüßen. Sie denkt noch manchmal an dich und fragt sich, was sie jemals an dir gefunden hat. Stirb wohl, Dämonenkiller!« Die Barrieren, die mich von Jeff Parker, Sacheen und Machu Picchu und dem Dämon Astaroth trennten, verschwanden. Hohnlachend entschwand Magus VII. mit seinem dämonischen Neffen Astaroth. Schwefelgestank blieb zurück. Olivaro überließ uns einem schrecklichen Ende.
»Was hat das zu bedeuten, Dorian?«, fragte Machu Picchu. Sacheen bestürmte mich mit Fragen, einzig Jeff Parker, der eine Menge wusste und sich den Rest zusammenreimen konnte, schwieg. Ich war verstört und deprimiert, denn mit der Erwähnung Cocos hatte Olivaro eine noch ziemlich frische Wunde grausam wieder aufgerissen. Aber so war er, der Fürst der Finsternis, falsch und grausam, ein echter Dämon. Man hämmerte wieder an die Penthousetür. Grunzen und Quieken war zu hören. Die Schweinemonster griffen an. Die Gefahr wirkte wie ein Stimulans auf mich. Trübsal blasen konnte ich später, jetzt galt es erst einmal, mein Leben und das meiner Freunde zu retten. Ich ließ mir Sacheens Pistole geben und montierte von einem Tisch das stählerne Bein ab, um damit zuschlagen zu können. Jeff Parker bewaffnete sich gleichfalls mit einem Tischbein und einem langen Messer aus der Küche. Für Machu Picchu blieb nur ein Besenstiel übrig, für Sacheen der schwere Deckel eines Schnellkochtopfes. Krachend fiel die Tür auf, und wir wichen auf die Treppe zum Obergeschoss zurück. Dieser Zugang ließ sich leichter verteidigen. Ein unbeschreiblicher Lärm hallte durchs Penthouse. Schweinemonster stürmten auf uns los. Ich erkannte Vicente Neiva an seinem Anzug. Eine Kapuze trug er jetzt nicht mehr. Ich zögerte einen Augenblick, und schon stand er
vor mir. Das war nicht mehr der Großmeister der Loge der okkultistischen Freimaurer, der edel und fortschrittlich denkende Mann, das war ein blutrünstiges Ungeheuer mit fletschenden Zähnen. Die Pistole in meiner Hand krachte, zu Tode getroffen fiel Neiva in die nachdrängende Meute der Schweinemonster. Ich schoss gezielt, denn wir hatten nur noch drei Magazine für die .39er Automatik. Obwohl die Monstren sich gegenseitig bekämpften und ihre sterbenden Artgenossen zerfleischten, rückten sie weiter gegen uns vor. Unbeschreibliche Szenen spielten sich ab. Ich hatte in meinen verschiedenen Leben schon allerhand gesehen, aber das viehische, blutige Geschehen im Penthouse war unübertroffen. Die Schweinemonster drängten die Treppe hoch. Jeff und ich schlugen mit den Tischbeinen zu. Die Angreifer ließen sich von den fürchterlichen Hieben nicht abhalten. Sacheen und Machu Picchu waren auf den Treppenabsatz zurückgewichen. Sacheen lief nun los und holte zwei Haarspraydosen. Sie warf mir eine zu. Ich begriff. Das Haarspray war leicht entzündlich. Mit etwas Glück mochte es gelingen. Aber einer der Schweinemänner hatte mir die Jacke zerfetzt. Mein Feuerzeug und die beiden gnostischen Gemmen waren fort. Jeff fing die zweite Haarspraydose auf. Die Schweinemonster, die uns eine Verschnaufpause gegönnt hatten, stürmten nun um so wütender wieder auf uns zu. Jeff drückte den Sprayknopf und hielt das Feuerzeug an die aus dem Zerstäuber zischende Flüssigkeit. Eine fast vierzig Zentimeter lange Flammenzunge loderte hoch. Ich drückte den Knopf meiner Spraydose. Jeff hielt seinen Flammenstrahl an die herauszischende Flüssigkeit. Als die Schweinemonster uns zu Leibe rückten, versengten wir sie. Aufquiekend taumelten sie zurück. Sie versuchten es wieder und wurden von uns abermals mit den Miniaturflammenwerfern zurückgetrieben. Die Ungeheuer fürchteten das Feuer. Sie flohen zwar nicht davor,
aber es machte sie ängstlich und nervös. Sie quiekten auf, wenn die fauchenden Flammen sie berührten. Wir trieben sie von der Treppe und rannten die Stufen hinauf. Fürs Erste blieben die Schweinemenschen unten, bekämpften und zerfleischten sich gegenseitig. Ich sah einen bulligen Schweinemann einem Schweinemädchen mit ausgezeichneter Figur im Kampf die Kleider vom Leib reißen. Aber er hatte keinerlei sexuelle Absichten; er wollte nur ihr Blut und ihr Fleisch. »Wir müssen raus aus dem Penthouse!«, schrie Jeff Parker. »Es sind Hunderte von Schweinemonster im Haus. Die Macumba treiben immer mehr herein, und alle werden auf uns gehetzt. Die Macumba werden sich auch noch andere Sachen einfallen lassen, um uns zu erledigen.« Er hatte Recht, denn hinter der Macumba-Hexe Viviana, ihrem Priester und ihren Anhängern, selbst hinter dem Dämon Astaroth, der sich kurz zuvor noch in frechem Selbstvertrauen bis in die Loge der okkultistischen Freimaurer vorgewagt hatte, stand Olivaro, mein Todfeind. »Seht nach, ob man von einem der Fenster im Obergeschoss den Blitzableiter erreichen kann!«, schrie ich den beiden Mädchen zu. »So können wir vielleicht aufs Dach gelangen, wo die Bestien nicht an uns heran können.« Sacheen eilte davon und zog Machu Picchu mit sich. Machu Picchu hatte nichts verstanden, doch sicher konnte Sacheen ihr zeigen, worauf es ankam. Die Monstren tobten immer toller, und immer mehr drängten ins Penthouse. Ich schnupperte, denn ich hatte einen neuen Geruch wahrgenommen. »Riechst du es auch, Jeff? Das ist Rauch. Vielleicht haben die Macumba das Hochhaus in Brand gesteckt, um uns mitsamt den Bestien in dem Feuer umkommen zu lassen.« Unsere Flammenwerfer hatten wir längst außer Betrieb gesetzt. Ich warf beide Haarspraydosen auf die Treppe und schoss mit der Pistole darauf. Ich traf mit drei Kugeln zweimal, aber die Dinger taten mir nicht den Gefallen zu explodieren. Die Schweineungeheuer drängten nun wieder die Treppe empor.
Jeff und ich hatte alle Hände voll damit zu tun, sie zurückzuschlagen. Gewiss, sie waren unglückliche Opfer dämonischer Magie, aber darauf konnten wir jetzt keine Rücksicht nehmen. Es waren Tiere, die uns tollwütig angriffen, keine Menschen mehr, und wenn wir ihnen nicht unbarmherzig die Schädel einschlugen oder sie übel zurichteten, würden sie uns zerfleischen. Einige Momente hielten die Angreifer inne. Wir konnten Luft holen. Mein Arm schmerzte vom Zuschlagen. Am Bein hatte ich eine stark blutende Schramme. Ich konnte nur hoffen, dass das Blut die Giftkeime vom Biss des Schweinemannes aus der Wunde schwemmte. Dann musste ich daran denken, dass die Macumba-Hexe auch mir einen Becher mit einem Getränk angeboten hatte. Hätte ich getrunken, wäre sicher auch ich zum Schweinemann geworden. »Wir haben den Blitzableiter entdeckt!«, rief Sacheen. »Es ist eine halsbrecherische Partie, aber man kann aufs Penthousedach gelangen.« »Aus welchem Raum?«, fragte Jeff. »Aus dem großen Aufenthaltsraum hinten links.« »Los! Nichts wie hin!« Die Monstren griffen wieder an. Jeff und ich rannten die Treppe weiter hoch und durch den kurzen Flur zum Aufenthaltsraum. Das Penthouse lag an der Südostfront des Hochhauses. Durch die Panoramafenster des Aufenthaltsraumes hatte man einen herrlichen Ausblick über Rio de Janeiro; aber danach stand uns jetzt nicht der Sinn. Ich warf die Tür hinter mir zu und schloss ab. Die katzengewandte Machu Picchu hing bereits am Blitzableiter und hangelte sich aufs Dach hoch. Der Blitzableiter befand sich an der Rückseite des Penthouses. Schon hämmerten die Bestien gegen die Tür. Sacheen sollte als nächste aufs Dach klettern, aber nach einem Blick in die Tiefe hatte sie Angst. »Ich … kann nicht«, stöhnte sie kreidebleich. »Ich bin nicht schwindelfrei.« »Verdammt noch mal! Dann steig du zuerst hoch, Jeff!«
Jeff kletterte aus dem kleinen Fenster neben dem großen Panoramafenster, das über Eck verlief. Ich sah seine Knie schlottern, als der Höhenwind ihm durchs dünne Jackett pfiff. Aber er schaffte es, wenn er auch bestimmt tropfnass geschwitzt war, als er siebzig Sekunden später obenauf dem Dach lag. »Jetzt du!«, sagte ich zu Sacheen. »Jeff hält dir von oben die Hand entgegen, du brauchst nur auf das Fensterbrett zu steigen und dich am Blitzableiter festzuhalten.« »Das kann ich nicht. Ich werde abstürzen.« »Den Teufel wirst du! Du musst! Oder willst du hier bleiben und dich von den Ungeheuern zerfleischen lassen?« Schon erzitterte die Tür unter den Schlägen der Verfolger. Ich feuerte ein Magazin durch das Holz. Die Bestien fielen über die Getroffenen her. Wir hatten eine Galgenfrist gewonnen. Ich schob Sacheen zum Fenster. Kühle Nachtluft wehte herein. Das Lichtermeer von Rio lag malerisch unter uns. Von der Straße hallte Lärm herauf. Sacheen setzte sich aufs Fensterbrett. Ihre Glieder zitterten unkontrolliert. Sie litt an Höhenangst. Bebend zog sie sich am Blitzableiter hoch. Jeff Parker streckte ihr die Rechte entgegen. Sacheens Hand löste sich zitternd wie ein flatternder Vogel vom Blitzableiter. Wider Willen musste sie hinabblicken in die gähnende Tiefe, wo Fackeln und Lichter die Straße erleuchteten. Jeff Parker konnte gerade noch ihre Hand packen. Sie klammerte sich wie eine Ertrinkende an ihn. Machu Picchu half ihm, Sacheen aufs Dach zu ziehen. Sacheen übergab sich und rollte zur Seite. In den nächsten Minuten war sie völlig unfähig, etwas zu unternehmen. Ich stieg aus dem Fenster. Es war auch höchste Zeit, denn die Tür flog auf. Die Ungeheuer drängten ins Zimmer. Mir wurde mulmig, als ich an den Abgrund unter mir dachte. Zwanzig Stockwerke und das Penthouse, das waren gut siebzig Meter. Wenn ich abstürzte, blieb kein Knochen von mir heil. Ich zog mich am Blitzableiter hoch und wollte gerade nach der Dachkante fassen, da streckten zwei Monstren die Köpfe aus dem
Fenster und packten mich an den Beinen. Meine Lage war verzweifelt. Die Schweinemänner zogen und zerrten an mir. Ich strampelte mit den Beinen und konnte das rechte losreißen und damit dem Kerl, der es gehalten hatte, unter die Schnauze treten. Er taumelte zurück. Der andere Mann schlug seine Zähne in meinen Schuh. Ich riss den linken Fuß aus dem Schuh, und zog mich ruckhaft hoch. Gerade noch konnte ich aufs Dach gelangen, dann stand schon das erste Monstrum auf dem Fensterbrett. Jeff Parker ließ ihn am Blitzableiter hochklettern. Er wartete, bis das Ungeheuer mit den Händen die Dachkante packte, dann nahm er das Messer, das er bei der Kletterpartie im Gürtel getragen hatte, und stach zu. Blut spritzte. Der Schweinemann ließ los und stürzte in die Tiefe. Seine quiekenden Schreie hallten furchtbar durch die Nacht, bis sie nach dem Aufprall jäh abbrachen. Rufe gellten herauf. Offenbar hatte man unten gemerkt, dass hier auf dem Dach etwas vorging. Wir hatten uns vor den Monstren in Sicherheit bringen können, aber das half uns nicht viel, denn das gesamte Hochhaus brannte.
Die Macumba hatten Hunderte von Schweinemenschen ins Hochhaus getrieben, Benzinkanister ausgeleert und die drei unteren Stockwerke in Brand gesteckt, nachdem sie sack- und körbeweise Giftschlangen ausgesetzt hatten. Die Giftschlangen flohen vor dem Feuer, das rasch um sich griff und sich auf immer neue Stockwerke ausbreitete, nach oben. Es war ein höllisches Inferno. Der Mob auf der Straße brüllte. Die Macumba trommelten und tanzten, Feuerschein rötete den Himmel. Unerkannt, da in unauffälliger menschlicher Gestalt, tauchten Olivaro und Astaroth in der Menge auf und genossen mit dämonischer Freude ihr Werk. Vivianas Stimme erklang wie eine Fanfare. »Heute ist die Nacht der Vergeltung, Brüder und Schwestern. Das Fleisch der reichen Schweine brät in dem brennenden Hochhaus. Seht das flammende
Fanal des Umsturzes!« Das Feuer erreichte den zehnten, zwölften und fünfzehnten Stock. Vom Ozean aus war der Brand aus hundert Kilometern Entfernung zu sehen. Aus den Vorstädten kamen Neugierige angefahren. Bald waren die Straßen völlig verstopft. Die Feuerwehr kam nicht mehr durch. Die wildesten Gerüchte schwirrten umher. Die drei Feuerwehreinheiten, die bis zum Hochhaus gelangt waren, wurden von Macumba-Anhängern und vom Mob mit Gewalt und Morddrohungen daran gehindert, mit den Löscharbeiten zu beginnen. Sie hätten ohnehin nicht viel tun können. Aus den Fenstern des Hochhauses schlug die rote Lohe. Dicke Stahlträger verbogen sich in der mörderischen Hitze, und zentnerschwere Betonbrocken platzten vom Stahl- und Eisenskelett des Hochhauses. Wer glaubte, ein Hochhaus bestünde größtenteils aus Eisen und Beton und könnte kaum brennen, sah sich getäuscht. Es gab genug Dielen, Möbel, Balken und sonstiges brennbares Material, um das Hochhaus völlig ausräuchern zu lassen. Auch die Polizei kam nicht durch. Einsatzkommandos prügelten sich mit Knüppeln und setzten Tränengas ein, resignierten aber bald angesichts der tobenden, sie beschimpfenden und mit Steinen bewerfenden Menge. Erst als herabstürzende Brocken ein paar Menschen erschlagen hatten, wurde der Ring um das brennende Hochhaus weiter. Das Feuer erreichte nun die obersten Stockwerke. Furchtbare Schreie und Quieklaute gellten durch die Nacht und wurden von den Macumba-Leuten und dem Mob mit Beifall quittiert. Entwurzelte, die es in jeder Großstadt gab, und die an Katastrophen eine böse Freude hatten, tanzten auf der Straße und entzündeten kleine Feuerchen. Sie sangen im Kehrreim: »Freimaurerhaus ist abgebrannt, Freimaurerloge ausgebrannt, Freimaurer gleich mitverbrannt.« Dann folgte ein dumpfer Aufschrei: »Macumba, Macumba, Macumba!« Hubschrauber kreisten plötzlich über dem Kampfschauplatz. Vom nächsten Militärflugplatz waren ein Dutzend Hubschrauber ange-
fordert worden, mit schweren Maschinengewehren, Luft-Luft- und Luft-Boden-Raketen bestückt. Die gepanzerten Sikorsky-Kampfhubschrauber sollten auf Geheiß der Regierung Ordnung schaffen und die Ursache des Aufruhrs beseitigen.
Als die Hubschrauber herandröhnten, begann wir wieder zu hoffen. Schon war die Hitze auf dem Penthousedach fast unerträglich geworden. Der Rauch benebelte unsere Sinne. Auf dem Dach des Hochhauses, wenige Meter tiefer, spielten sich unbeschreibliche Szenen ab. Schweinemonster bekämpften sich gegenseitig, und zwischen ihnen wimmelte es von zischenden Giftschlangen. Dutzende der Ungeheuer mit den Schweineköpfen stürzten in die Tiefe. Es war, als seien wir in die Hölle selbst versetzt worden. Nur Dämonen hatten sich so etwas ausdenken können. Wir winkten den Hubschraubern zu, glaubten, sie würden uns retten. Da eröffnete der erste das Feuer auf die auf dem Hochhausdach zusammengedrängten Schweinemonster. Die schweren MGs mähten eine ganze Reihe von Schweinemenschen um. Ich riss Machu Picchu von den Füßen. Jeff Parker und Sacheen lagen schon flach auf dem Boden. Leuchtspurmunition fetzte über uns hinweg. Flammenschein beleuchtete das grauenhafte Bild. Rauchschwaden trieben vorüber. Die Kampfhubschrauber näherten sich langsam. Ihr Dröhnen wurde immer lauter, und dann raste ein Feuersturm über das Hochhausdach, jagten Raketen ins brennende Hochhaus hinein. Mir flogen Dreck- und Betonsplitter um die Ohren. Das Rattern der Maschinengewehre, das Fauchen der Raketen und das dumpfe Krachen der Explosionen war ohrenbetäubend. Ich schloss mit dem Leben ab. Ich gestehe es frei, ich hatte Angst in diesen endlos langen Sekunden, entsetzliche, furchtbare Angst. Das Dröhnen wurde immer lauter und dann allmählich wieder leiser. Ich merkte, dass ich noch lebte, und wagte den Kopf zu heben. »Jeff? Sacheen, Machu Picchu?«
Sie hoben die Köpfe, schauten mich an, und in Jeffs und Sacheens Augen las ich das Erstaunen darüber, dass sie noch am Leben waren. Einzig Machu Picchu wirkte heiter und gelassen. »Sind das auch Dämonen?«, fragte sie und deutete auf die Hubschrauber, die gerade begannen, sich zu einem neuen Anflug zu formieren. »Nein«, sagte ich und spuckte Betonstaub aus. Eine Reihe von Einschlägen führte gerade eine Handbreit an mir vorbei, und ich zitterte noch einmal nachträglich. »Das sind Hubschrauber. Ich habe dir einmal in einer Illustrierten ein Bild von so einem Hubschrauber gezeigt, Machu. Sie werden von Piloten gesteuert und sind mit Bordwaffen ausgerüstet.« »Beim nächsten Anflug werden sie uns den Garaus machen«, sagte Jeff Parker düster. »Weshalb schießen sie hier alles zusammen? Ob da die Dämonen die Hände im Spiel haben?« »Vielleicht haben die Regierung und die Militärs auch von den Ungeheuern hier im Hochhaus gehört und wollen die Sache aus der Welt schaffen. Nach bewährter südamerikanischer Manier. Sie glauben wahrscheinlich, alle Lebewesen hier im Haus sind entartete Bestien. Oder sie wollen keine Zeugen haben, die zu viel wissen.« »Es ist nun egal«, sagte Jeff, als die Kampfhubschrauber wieder anflogen, »weshalb wir erschossen werden. Der Endeffekt ist der gleiche.« Auf dem Hochhausdach hatten die Bordwaffen der Hubschrauber klaffende Lücken unter den Schweinemonstern gerissen, aber sie wurden schnell geschlossen, denn immer neue Ungeheuer quollen aufs Dach. Wir sahen den dröhnenden Hubschraubern entgegen. Wir konnten nichts tun, gar nichts. Nur auf den Tod warten. »Sind Menschen in diesen Flugmaschinen?«, fragte Machu Picchu. Sie schien den Ernst der Lage nicht zu erfassen. »Ja«, sagte ich und erhob mich, denn ich wollte im Stehen sterben, auf den Füßen und aufrecht, wie ich gelebt hatte. Jeff Parker und Sacheen, die leise vor sich hinschluchzte, folgten meinem Beispiel. Das Dröhnen schwoll an, übertönte nun schon fast das Schreien der Monster auf dem Dach und das Prasseln des Feu-
ers. Mir war schwindlig vom Rauch. Die Hubschrauber eröffneten wieder das Feuer, aber zu meinem Erstaunen zielten sie viel zu hoch und fetzten die MG-Garben und Bordraketen in den Nachthimmel. Sie korrigierten die Feuereinstellung nicht, sie schossen aus allen Rohren zentnerweise Munition in die Luft. Und dann scherte einer der Kampfhubschrauber aus der Formation aus, näherte sich uns und machte Anstalten, auf dem Dach des Penthouse zu landen. Schon spürten wir den Luftzug der kreischenden Rotorenblätter. Machu Picchu stand mit ausgebreiteten Armen da und schaute zu dem Hubschrauberpiloten in der Sichtkanzel auf. Jetzt begriff ich. Die Traumprinzessin täuschte die Hubschrauberflottille auf magische Weise. Sie hatte sogar den Piloten eines Helikopters in ihren Bann geschlagen, um uns zu retten. Als gerade Hoffnung in mir aufloderte, ratterte die MG-Garbe. Ich wusste nicht, ob der Pilot sich für einen Augenblick aus Machu Picchus Bann hatte lösen können. Jedenfalls raste eine ganze Garbe 15mm-Munition in Machu Picchus zarten Körper. Die Geschosse flogen durch sie hindurch wie durch einen Nebelstreif, hinterließen keine Wunde und keine Spur an ihr. Machu Picchu war eine Traumprinzessin, die realistische Traumfigur der dem Fluss und dem Meer überantworteten Machu Picchu. Einen Traum aber kann man mit Waffen nicht töten. Und so endete der Traum ihres Lebens diesmal noch nicht. Der Hubschrauberpilot setzte auf dem Dach auf. Wir konnten in die Kabine einsteigen, und der Copilot kam aus dem Cockpit und fragte uns wie selbstverständlich, wohin wir wollten. Nach kurzer Beratung mit Jeff Parker entschied ich mich für einen beliebigen Landeplatz vor Niteroi, der Nachbarstadt Rios auf der anderen Seite der Guanabarabucht. Unbehelligt flogen wir davon. Das Inferno blieb hinter uns zurück. Machu Picchu hatte uns gerettet. Trotzdem war ich niedergeschlagen, denn es war mir klar, dass diese Rettung nur Machu Picchu und einem großen, unverdienten Glück zu verdanken war, keinesfalls aber meiner Tüchtigkeit und
Umsicht. Wir hatten eine furchtbare Niederlage erlitten, denn in Rio triumphierten die Macumba und die Dämonen. Die okkultistischen Freimaurer waren vernichtet. Um ein Haar hätten Olivaro und Astaroth ihr Ziel voll und ganz erreicht und auch mich erledigt. Nur Machu Picchus geheimnisvolle Kräfte hatten uns gerettet. »In Brasilien haben wir nichts mehr verloren«, sagte Jeff Parker. »Hier gibt es für uns vorerst nichts zu gewinnen. Hier, dieses Telegramm, Dorian, habe ich dir unterschlagen. Ich erhielt es schon in Manaus.« Er zog ein zerknittertes Telegramm aus seiner Brusttasche. Ich las. Er hatte es mir nicht vorher gegeben, weil ich sonst sofort nach England zurückgekehrt wäre. – coco und olivaro satansmesse abgehalten – lilian wurde dafür missbraucht – lilian hat rückfall erlitten – london erlebt boom des satanskults – schnelle rückkehr erforderlich – marvin cohen –
Es war ein Schlag, dass es für mich jetzt keinen Zweifel mehr gab, dass Coco mich verraten hatte. Dass ich sie verloren hatte, damit hätte ich mich abfinden können. Unser Verhältnis war nie eitel Sonnenschein gewesen. Aber dass sie sich gegen mich wandte, sich der schwarzen Magie verschrieb und Olivaros Ziele förderte, das traf mich wie ein Hammer. »Coco Zamis«, sagte ich bitter, »unsere Liebe ist tot. Von nun an gibt es nur noch Feindschaft und Hass zwischen uns. Das sollst du nicht umsonst getan haben.« Zu meinem Erstaunen verteidigte Machu Picchu Coco. »Du irrst, Dorian. Coco liebt dich nach wie vor, und wenn du sie auch liebst, musst du an sie glauben. Vertraue mir! Coco spricht durch mich zu dir.« Während ich sie anstarrte und nun völlig verwirrt war, sagte Jeff Parker: »Was in Rio auch geschehen ist, auf jeden Fall wirst du in Zukunft auf die Unterstützung der okkultistischen Freimaurer rechnen können, Dorian. Vicente Neiva hat mir das Geheimnis der Frei-
maurerloge von Rio und der okkultistischen Freimaurer überhaupt anvertraut, als ich am Nachmittag bei ihm war. Wir sprachen miteinander, nachdem ich seine Aufzeichnungen gelesen hatte. Worum es sich bei diesem Geheimnis handelt, kann und darf ich dir als Außenstehendem nicht verraten, aber es kann dir fortan von großem Nutzen sein.« Ich fragte nichts und schwieg, brütend in Gedanken versunken. Als der Hubschrauber zur Landung ansetzte, schaute ich durch die seitliche Sichtluke noch einmal über die Guanabarabucht hinüber nach Rio. Ich sah das brennende Hochhaus, das jetzt einer lodernden Fackel glich. Von den Schweinemenschen konnte keiner mehr am Leben sein. Wenig später landeten wir und machten uns auf den Weg zur Stadt. Ohne Schwierigkeiten erreichten wir sie. Ich rechnete auch beim Abflug nach London nicht mit Komplikationen, wenn wir es einigermaßen geschickt anstellten. Ohne Barmittel waren wir nicht. Jeff Parker hatte seine Brieftasche mit Scheckheft und Papieren gerettet. Ich hatte eine Schlappe erlitten, aber der Kampf ging weiter – bis aufs Messer.
Drittes Buch
Die Mordkrallen von Neal Davenport
Coco Zamis hörte die lauten Stimmen und blieb stehen. Ihr Gesicht war leer. Der Blick der grünen Augen schien nach innen gerichtet zu sein. In letzter Zeit hatte sie viel gegrübelt, nach einem Ausweg aus ihrer Situation gesucht, viele Möglichkeiten durchdacht und alle wieder verworfen. Im Augenblick blieb ihr keine andere Wahl: Sie musste ihren Weg an Olivaros Seite weitergehen. Alles deutete darauf hin, dass es zu einem Kampf innerhalb der Schwarzen Familie kommen würde, zu einer Auseinandersetzung, die das Gefüge der Familie zerstören konnte. Sie wusste, dass Olivaro nicht bereit war nachzugeben; er wollte handeln. Sie öffnete die Tür, die in den prunkvoll ausgestatteten Raum führte. Coco war sich durchaus ihrer Wirkung auf Männer bewusst – und Dämonen machten dabei kaum eine Ausnahme. Das pechschwarze Haar hatte sie im Nacken aufgesteckt; es betonte die außergewöhnliche Anziehungskraft ihres schmalen Gesichts mit den hohen Wangenknochen. Ihr Körper wurde von einem weißen, fließenden, hauchdünnen Kleid umhüllt, das ihre Figur einen Augenblick verhüllte und im nächsten Moment aufregende Einblicke bot. Sie achtete nicht auf die Blicke der Führer der sieben mächtigen Dämonenfamilien, die sich hier um Olivaro versammelt hatten. Die meisten der Anwesenden kannte sie schon seit einiger Zeit, doch zwei Gesichter waren ihr unbekannt. Sie setzte sich neben Olivaro, der sie rasch musterte. Er ließ sich von Cocos Auftauchen nicht aus dem Konzept bringen. Seine Stimme klang kühl und gelassen, als er weitersprach. »Der erste Teil meines Plans ist aufgegangen. Ich werde der ganzen Familie zeigen, wie mächtig ich bin. Die ganze Welt werde ich in einen wahren Satansrausch stürzen und so meine Macht festigen.« Coco hörte gelangweilt zu. Sie kannte Olivaros Pläne; oft genug hatte er in den vergangenen Tagen darüber gesprochen. Die anwesenden Familienoberhäupter hatten sich bedingungslos auf Olivaros Seite gestellt und akzeptierten ihn als neuen Führer der Schwarzen Familie, aber nicht alle Sippen dachten so. Einige verhielten sich neutral, und es gab auch Clans, die sich offen gegen Olivaro gestellt hatten.
Coco hörte erst genauer zu, als sich Domingo Marcial, dessen Dämonenname Astaroth war, vorbeugte. »Und was ist mit Hunter?« Olivaro lächelte. »Eine gute Frage. Aber für Hunter habe ich schon gesorgt. Er wird keine Gefahr mehr für uns sein.« »Und wie wollen Sie das anstellen?«, fragte ein hohlwangiger alter Mann. »Darüber will ich im Augenblick nicht sprechen«, sagte Olivaro abweisend. »Aber Sie können mir glauben, der Plan ist so simpel und einfach, dass er Erfolg haben wird. Ich werde Ihnen in einigen Tagen mehr davon erzählen.« Er hob die Versammlung auf, und die Dämonen verließen den Raum. Als Coco nur noch mit Olivaro im Zimmer war, wandte sie sich an ihn. »Was hast du mit Dorian vor?« »Wenn ich ehrlich sein soll, dann muss ich sagen, dass der Plan zur Ausschaltung Hunters nicht von mir stammt. Ich habe eine von Asmodis Ideen aufgegriffen.« »Du hast mir versprochen, dass Dorian kein Haar gekrümmt wird«, sagte Coco scharf. Olivaro grinste. »Ich halte mein Versprechen.« »Erzähle von deinem Plan!«, bat sie. Olivaro schüttelte den Kopf. »Ich kann dir nur so viel sagen, dass Hunter dabei nichts geschehen wird, und doch wird er nicht in der Lage sein, etwas gegen mich zu unternehmen.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Coco schwach. Olivaro musterte sie spöttisch. »Lassen wir das Thema Dorian Hunter beiseite«, meinte er und stand langsam auf. »Du widersetzt dich noch immer dem Initiationsritus, der zu deiner Aufnahme in die Schwarze Familie nötig ist.« »Es ist noch zu früh. Hunter ist noch immer eine Gefahr. Ich trete erst wieder der Schwarzen Familie bei, wenn er ausgeschaltet ist.« »Manchmal habe ich den Eindruck, dass du mir ausweichst«, sagte Olivaro nachdenklich. »Hunter wird bald neutralisiert sein. Er hat keine Chance. Der Plan ist perfekt.«
Coco sprang auf. Sie versuchte sich nichts von ihrer Erregung anmerken zu lassen. »Sag mir, was du mit Dorian vorhast! Traust du mir nicht?« Olivaro gab keine Antwort. »Ich muss mich um meine Gäste kümmern.« Er verließ das Zimmer. Coco sah ihm nach. Sie hatte immer noch keinen Anhaltspunkt, was für eine Teufelei er ausgeheckt hatte. Langsam schlenderte sie aus dem Zimmer und verließ das Haus. Nach wenigen Schritten hatte sie den Strand erreicht. Es war ein windstiller Tag. Der Himmel war strahlendblau, und die weißen Schaumkronen rollten über den Strand. Ihre Gedanken beschäftigten sich noch immer mit Dorian. Sie konnte ihm nur helfen, wenn es ihr gelang, Olivaro den Plan zu entlocken. Aber das selbsternannte Oberhaupt der Schwarzen Familie war misstrauisch. In der versteckten Lagune des Atolls blieb sie stehen. Hier schwamm Machu Picchus Körper, der Leib der Inka-Prinzessin, die ihre einzige Verbindung zu Dorian darstellte.
Dorian Hunter legte seinen rechten Arm beruhigend um Machu Picchus Schultern. Die junge Frau mit dem pechschwarzen Haar und der zierlichen Figur drängte sich ängstlich an ihn. Ihre dunklen Augen wirkten gehetzt – wie die eines Tiers, das in eine Falle geraten war. »In einer halben Stunde sind wir in London«, sagte Hunter. Er musterte die Inka-Prinzessin. Nur zu gut konnte er verstehen, was in ihr vorging. Er hatte sie vor mehr als vierhundert Jahren kennen gelernt. Damals war sein Name Georg Rudolf Speyer gewesen. Er war zusammen mit Pizarro und seinen Männern im Inka-Reich gewesen und hatte miterlebt, wie Atahualpa, der Inka-König, durch ein fadenscheiniges Kriegsgericht zum Tode verurteilt wurde; und er hatte auch gesehen, wie des Nachts Atahualpas Leute den Leichnam raubten. Später hatte er dann die geheimnisvolle Stadt Manoa entdeckt und Atahualpas schreckliche Auferstehung von den Toten
erlebt. Ihm war die Flucht gelungen, als einzigem der Eroberer. Von seinen Erlebnissen in der Vergangenheit hatte er Jeff Parker berichtet, der daraufhin die verschollene Stadt suchen ging. Parkers Expedition war nicht vom Glück begünstigt. Er selbst war von einem Pygmäenstamm gefangengenommen worden. Doch dem Dämonenkiller war es gelungen, Parker und seine Männer zu befreien. Sie hatten auch die Stadt Manoa wiedergefunden. Der wiedererweckte Atahualpa war getötet worden und Machu Picchu zum Leben erwacht. Ihr richtiger Körper schwamm irgendwo in Südamerika einen Fluss hinunter. Die Machu Picchu, die so real und echt wirkte, war nur ein Traum, ein Traum ihres richtigen Körpers, ein Gebilde, das aus warmem Fleisch bestand, denken konnte und Angst hatte, Angst vor der Zivilisation, die sie nicht verstand. Für sie war alles ein Wunder – die Flugzeuge, das Fernsehen, das Radio, die Autos. Es war einfach zu viel für das Mädchen; sie konnte es nicht verkraften. Dorian war sicher, dass sie sich äußerst unbehaglich fühlte und sich mit jeder Faser ihres Geistes nach den alten Zeiten zurücksehnte, wo alles für sie klar und verständlich gewesen war. Jeff Parker, der vor Dorian saß, wandte den Kopf und grinste. »An unser Abenteuer in Rio werde ich noch lange denken. Mit dir schlittert man in die unglaublichsten Dinge.« Der Dämonenkiller antwortete nicht. Er ärgerte sich noch immer darüber, dass Jeff das Telegramm aus der Jugendstilvilla unterschlagen hatte. Er konnte es kaum erwarten, bis die Maschine endlich landete. Zu viel ging in seinem Kopf herum. Coco hatte er wohl endgültig verloren. Aber was war mit Lilian? Er machte sich Vorwürfe, dass er sich in letzter Zeit so gar nicht um sie gekümmert hatte. Aber nicht genug damit – nun hatte er auch noch Machu Picchu am Hals. Er seufzte leise und schnallte sich an, als das Flugzeug zur Landung ansetzte. Auf ihn warteten einige Probleme, das stand fest, lauter Dinge, mit denen er sich nur äußerst ungern befasste. Die Maschine landete, und sie stiegen aus. Jeff Parker und Sacheen, seine Freundin, gingen voraus. Sacheen war ein außergewöhnlich gutaussehender Mischling, die das Haar meist in zwei na-
bellangen Zöpfen trug. Machu Picchu blieb stehen und sah sich mit großen Augen um. »Gehen wir weiter«, sagte Dorian sanft und nahm ihre rechte Hand in die seine. Sie betraten die Abfertigungshalle. Die herumhastenden Menschen verwirrten Machu Picchu noch mehr. Die Zollabfertigung dauerte nur wenige Minuten. Jeff Parker brüllte nach einem Gepäckträger. Ein Menschenstrom bewegte sich an ihnen vorbei, und plötzlich war Dorian von seinen Gefährten abgedrängt. Irgendetwas stimmt da nicht, dachte er und wandte den Kopf herum. Sein Blick fiel auf die Toiletten. »Ich bin sofort wieder da!«, brüllte er Jeff zu. Es war ihm, als würde ihn etwas dazu treiben, die Tür zu öffnen. Einen Augenblick zögerte er, dann drückte er sie mit dem rechten Fuß auf und trat ein. Kein Mensch war zu sehen. Vor einem der Waschbecken blieb er stehen. Es war unnatürlich ruhig. Er drehte sich langsam um, als er ein knarrendes Geräusch hörte. Eine der Toilettentüren schwang auf. Ein unendlich langer Arm kam hervor. Der Dämonenkiller duckte sich und griff in die Jackentasche. Die Gestalt sprang hervor, und Dorian hielt den Atem an. »Hewitt!«, schrie der Dämonenkiller überrascht. »Du hast mich nicht vergessen«, sagte die grauenhafte Gestalt, die neben der Tür stehen geblieben war. Jerome Hewitt war einer von Hunters Brüdern, der letzte, der noch am Leben war. Früher war er ein stattlicher Mann gewesen, doch inzwischen hatte er sich in ein abstoßendes Monster verwandelt. Asmodi hatte ihn aus der Schwarzen Familie ausgestoßen und in einen Freak verwandelt. Hewitts Körper war zusammengeschrumpft. Er war kaum größer als ein Schuljunge. Der linke Arm war winzig klein; unter der Jacke sah er wie eine Geschwulst aus. Der andere Arm war fast zwei Meter lang und dünn wie ein Tentakel. Die Beine waren unterschiedlich lang, was er durch verschieden hohe Schuhe auszugleichen ver-
suchte. Sein Gesicht war stark geschminkt, doch auch die Schminke konnte nur notdürftig die Geschwüre und eitrigen Beulen verdecken. Dorian hatte auf Brunai einen von Hewitt organisierten Hexensabbat zerstört, worauf Hewitt fürchterlich bestraft worden war. »Ich lebe noch immer«, sagte Hewitt mit schriller Stimme, »da du dich geweigert hast, mich zu töten. Aber vergessen wir das.« Er kam einen Schritt näher. »Wenn du erwartest, dass ich dich jetzt töte«, sagte der Dämonenkiller kalt, »dann hast du dich gewaltig getäuscht.« Das Scheusal schüttelte den Kopf. »Ich will dir auch nichts antun. Ganz im Gegenteil. Ich will dir ein Geschäft vorschlagen, das dich sicherlich interessieren wird.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass …« »Hör mir zu!«, unterbrach ihn Hewitt heftig. »Wir alle wissen, dass dir Olivaro Coco weggeschnappt hat.« »So würde ich das nicht formulieren.« »Das ist ja auch gleichgültig«, knurrte Hewitt. »Coco ist fort. Sie ist bei Olivaro. Und du hast doch jedes Interesse daran, dem selbsternannten Herrn der Schwarzen Familie eins auszuwischen.« »Sprich weiter!« »Es gibt einige Dämonenfamilien, die sich mit einer Herrschaft Olivaros nicht abfinden wollen. Sie haben die Absicht, dir in deinem Kampf beistehen. Du könntest dich mit ihnen verbünden. Gemeinsam könnt ihr Olivaro töten.« »Ich glaube dir nicht«, sagte Dorian und wandte sich ab. »Du musst mir glauben!«, brüllte das Scheusal. »Und warum erzählst du mir das?« »Das kannst du dir doch denken«, sagte das Monster leise. »Ich muss unglaubliche Qualen erdulden. Mein Körper ist in glühendes Feuer getaucht. Jede Bewegung bereitet mir Schmerzen. Ich will sterben. Ich helfe dir. Ich bringe dich mit den Dämonenfamilien zusammen, die gegen Olivaro sind. Und ich verlange nicht viel von dir, nur den Tod.« Der Dämonenkiller ging zur Tür.
»Wirst du mich von meinen Qualen erlösen?« Doch der Dämonenkiller antwortete nicht. Er hatte nur Verachtung für seinen Bruder übrig. »Ich werde mich wieder mit dir in Verbindung setzen«, winselte Hewitt. Dorian öffnete die Tür. »Du solltest vorsichtig sein. Auf dem Weg in die Jugendstilvilla lauern Fallen. Du solltest lieber eine andere Strecke nehmen.« Dorian verließ den Waschraum, und die Tür fiel hinter ihm zu. Vielleicht hätte er sich Hewitts Vorschläge anhören sollen, sinnierte er. Aber er traute niemandem mehr. Sicherlich wollte ihn Hewitt in eine Falle locken. Er hob den Kopf und sein Blick fiel auf Trevor Sullivan, der sich forschend umsah. Neben ihm stand Marvin Cohen. Sullivan sah noch immer wenig erholt aus, während der brutale Marvin Cohen sanfter wirkte. »Hallo, Dorian!«, sagte Sullivan, und sein Gesicht verzog sich zu einem freudigen Lächeln. Er eilte auf Hunter zu und schüttelte ihm überschwänglich die Hand. »Fein, dass Sie zurück sind!« Der Dämonenkiller nickte ihm knapp zu und sah Marvin Cohen an, der ihn mit zusammengekniffenen Augen betrachtete. Cohen kam ihm verändert vor. Seine harten Gesichtszüge waren weicher geworden, und er hatte den bitteren Zug um die Lippen verloren. Dorian drückte schweigend Cohens Hand. Jeff Parker, Sacheen und Machu Picchu waren langsam näher gekommen, und der Dämonenkiller stellte sie Sullivan und Cohen vor. Dabei fiel ihm auf, dass Cohen die beiden Mädchen nur flüchtig musterte und sich jeder spöttischen Bemerkung enthielt. Das passte so gar nicht zu Cohen, den er als einen ungemein penetranten Menschen kennen gelernt hatte. »Wir haben eine Menge zu besprechen«, sagte Sullivan. »Ich würde vorschlagen, dass Parker mit Sacheen und Machu Picchu in die Jugendstilvilla fährt, während wir …« Er brach ab. »Und wo sollen wir hinfahren?«, fragte der Dämonenkiller. »Das erzähle ich Ihnen unterwegs.«
»Ich will bei dir bleiben, Dorian«, sagte Machu Picchu. Der Dämonenkiller wandte sich Sullivan zu. »Ist es wirklich notwendig, dass ich sofort mit Ihnen mitkomme?« »Ja«, sagte Sullivan entschieden. »Ich habe Ihnen einige Dinge zu berichten, die nicht für andere Ohren bestimmt sind.« »Vor Jeff habe ich keine Geheimnisse«, sagte Dorian verärgert. »Trotzdem, es ist besser so.« Der Dämonenkiller überlegte kurz. »Gut. Nimm dir ein Taxi, Jeff! Und pass mir auf Machu Picchu auf!« Die Inka-Prinzessin wollte sich nicht von Dorian trennen. Er hatte einige Mühe, ihr begreiflich zu machen, dass es nicht anders ging. Er versprach ihr, dass sie sich bald wiedersehen würden. Dorian wartete, bis sie zusammen mit Sacheen und Jeff Parker in ein Taxi gestiegen waren. Er winkte ihnen nach. Machu Picchu hatte den Kopf umgewandt; der Blick ihrer dunklen Augen verfolgte ihn noch lange. »Nun können Sie mir wohl endlich sagen, wohin Sie mich bringen wollen, Trevor«, brummte der Dämonenkiller missmutig. »In Ihrem Haus in der Abraham Road erwartet Sie eine Überraschung.« »Hoffentlich eine angenehme«, brummte Dorian. Der ehemalige O. I. lächelte. »Wir können uns während der Fahrt unterhalten.« Sie gingen zum Parkplatz. Cohen sperrte den Rover auf und glitt hinters Lenkrad, während Sullivan und Hunter im Fond des Wagens Platz nahmen. Marvin Cohen startete den Wagen und reihte sich in den Verkehr ein. »Wer ist diese Machu Picchu?«, fragte Sullivan. »Das ist eine lange Geschichte. Erst einmal will ich wissen, was das Telegramm zu bedeuten hat.« Sullivan berichtete, was in Dorians Abwesenheit geschehen war. »Und wissen Sie, wer hinter dem Piratensender steckte, der für die Verbreitung des Satanskultes sorgte? Es war Coco.« Der Dämonenkiller presste die Lippen zusammen. »Sie behauptete Cohen gegenüber, dass sie es aber trotz allem gut
mit Ihnen meine.« »Ich verstehe noch immer nicht.« »Werden Sie nicht ungeduldig«, bat Trevor. »Jetzt muss ich Ihnen noch etwas Wichtiges sagen. Cohen kümmerte sich um Ihre Frau, Dorian.« Der Dämonenkiller warf Cohen einen überraschten Blick zu, der mit verkniffenem Gesicht hinterm Steuer saß. »Erzählen Sie, was Coco Ihnen gegenüber gesagt hat, Cohen.« Der Ex-Agent räusperte sich. »Es war äußerst seltsam. Es war auf der schwarzen Messe. Alles war zur Bewegungslosigkeit erstarrt, da sah ich Coco. Sie sprach zu mir, sagte, sie wolle dir wirklich helfen. Lilian könnte dein Untergang sein, wenn sie je geheilt würde. Dann verschwand sie.« »Ich verstehe das alles nicht«, sagte der Dämonenkiller. »Was bezweckt Olivaro damit? Und wie steht Coco nun wirklich zu uns?« »Darauf kann ich Ihnen auch keine Antwort geben«, sagte Sullivan leise. Der Dämonenkiller schwieg einige Sekunden. »Und was ist mit Lilian?« Sullivan brummte. »Während der schwarzen Messe gewann sie ihr Gedächtnis zurück. Sie erinnerte sich wieder an Sie, Dorian. Wir fürchteten erst, dass ihr die unheimlichen Ereignisse geschadet haben könnten, doch das Gegenteil ist der Fall. Dr. Lannon, der sie in letzter Zeit behandelte, war ziemlich überrascht, als er Lilian wiedersah.« »Was wollen Sie damit sagen? Ist Lilian etwa …« »Sie ist wieder gesund«, bestätigte Sullivan. Der Dämonenkiller schloss die Augen. Mit allem hatte er gerechnet, doch damit nicht. Bei seinem letzten Besuch hatte ihm Dr. Lannon erklärt, dass es sich bei Lilian um einen hoffnungslosen Fall handelte. Er müsse sich damit abfinden, dass sie nicht geheilt werden könne. Und er hatte sich damit abgefunden. Für ihn war Lilian eine Erinnerung an lang vergangene Zeiten, als er noch keine Ahnung von der Schwarzen Familie gehabt hatte. »Sie scheinen sich nicht besonders über diese Nachricht zu
freuen«, stellte Sullivan fest. »Das kommt alles ein wenig zu plötzlich.« Cohen stoppte den Wagen vor dem Reihenhaus, stellte den Motor ab und zog die Handbremse an. Während er ausstieg, warf er Dorian einen seltsamen Blick zu und blieb neben dem Wagen stehen. Der Dämonenkiller steckte sich eine Zigarette an und inhalierte den Rauch tief. »Ich kann mir gut vorstellen, was in Ihnen vorgeht«, sagte Sullivan leise. »Ihr Herz gehört schon lange nicht mehr Lilian. Es schlägt nur für Coco. Und die hat Sie verlassen.« Dorian antwortete nicht. Er stieg aus, warf die Zigarette zu Boden und starrte zum Haus hinüber. Seine Rückkehr nach London hatte er sich anders vorgestellt. Er ging an Cohen vorbei, der sich ihm anschloss. Auf dem Weg zur Haustür überlegte sich Dorian, wie er sich Lilian gegenüber verhalten sollte. Bei seinen Besuchen in der O'Hara-Stiftung hatte sie ihn nie erkannt; sie hatte sogar Angst vor ihm gehabt, während sie Coco ins Herz geschlossen hatte. Irgendwann gab er die Besuche auf, da ihn der Anblick seiner wahnsinnigen Frau zu sehr aufwühlte. Zu deutlich waren ihm die Ereignisse auf dem Schloss der Gräfin Anastasia bewusst geworden. Und jetzt war Lilian gesund. Gesund geworden zum ungünstigsten Augenblick, den man sich nur vorstellen konnte. Vor der Haustür blieb er stehen, und seine Kiefer arbeiteten. Zögernd drückte er die Klinke nieder. Die Tür schwang auf, und er trat in die Diele. Der muffige Geruch, der bei seinem letzten Besuch in der Luft gehangen hatte, war weg. Auf der Kleiderablage hing eine Melone. Seine Schritte wurden immer langsamer, je näher er dem Wohnzimmer kam. Am liebsten wäre er umgekehrt. Er blieb stehen und drehte sich nach Cohen und Sullivan um. »Ist Lilian allein?« »Nein«, sagte Cohen heiser. »Dr. Lannon ist bei ihr.« »Lasst mich allein mit ihr!« Cohen kam rasch näher. »Behandle sie sanft, Hunter. Sie ist eine zarte Frau.« Dorian schluckte die zynische Bemerkung hinunter, die ihm auf
der Zunge lag, öffnete die Wohnzimmertür und trat ein. Das Zimmer war neu tapeziert worden, und die Einrichtung war ebenfalls erneuert. Bei seinem Eintritt standen Lilian und Dr. Lannon auf. Der Doktor ging an Dorian vorbei und schloss leise die Tür hinter sich. Der Dämonenkiller musterte seine Frau. Sie wirkte noch immer so zerbrechlich wie eine Puppe. Der blasse Teint und das goldfarbene Haar unterstrichen diesen Eindruck. Ihre blassblauen Augen waren weit aufgerissen. Dorian hatte sich in seinem Leben in einigen schwierigen Situationen befunden, und er war nicht auf den Mund gefallen; doch jetzt kam er sich wie ein kleiner dummer Bub vor, der nicht wusste, was er sagen sollte. »Wir haben uns lange nicht gesehen«, meinte er schließlich und wusste genau, wie lahm das klang. Lilians Lippen bebten. Er ging langsam auf sie zu. Sie kam ihm wie eine Fremde vor, eine Frau, mit der ihn nichts mehr verband. Er blieb vor ihr stehen, neigte den Kopf herab, scheute sich aber, einen Kuss auf ihre blass geschminkten Lippen zu drücken. Stattdessen berührte er flüchtig ihre Stirn, trat einen Schritt zurück und quälte sich ein Lächeln ab. »Du siehst gut aus«, sagte er und versuchte, seine Stimme fröhlich klingen zu lassen. »Rian«, sagte sie sanft, »es wird alles so wie früher?« Er nickte schwach. »Ja«, sagte er gepresst und wandte den Blick ab. »Hast du das Zimmer eingerichtet?« »Ja. Gefällt es dir?« »Sehr hübsch«, sagte er, obwohl er noch nie viel für Seidentapeten und plump wirkende Möbel übrig gehabt hatte. »Ich kann es noch immer nicht glauben, dass ich gesund bin. Dr. Lannon und Marvin Cohen haben sich um mich gekümmert.« »Setzen wir uns«, sagte Dorian. Er wartete, bis Lilian Platz genommen hatte, dann setzte er sich ihr gegenüber. Sie war eine hübsche Frau, die einfache Bluse und der Wickelrock brachten ihre Figur gut zur Geltung, doch Dorian fragte sich, was ihn je dazu bewogen hatte, sie zu heiraten. Sie passte so gar nicht zu
ihm, mit ihrer Ängstlichkeit und ihrem hysterischen Gehabe. Ich muss verrückt gewesen sein, dachte er. Oder haben mich die Erlebnisse der vergangenen Monate geformt? Vielleicht das Zusammensein mit Coco, die so ganz anders ist als Lilian? Es klopfte leise an der Tür. »Herein!«, sagte Dorian, der für jede Unterbrechung dankbar war. Dr. Lannon trat ins Zimmer. Er war ein breitschultriger Mann, Ende der Vierzig, mit einem aufgedunsenen breitflächigen Gesicht. Lannon sah nicht wie ein Psychiater aus, mit seinen plumpen Fingern und der gedrungenen Gestalt, den abstehenden Ohren und dem borstigen rötlichen Schnurrbart. »Ich möchte gern mit Ihnen sprechen, Mr. Hunter. In der Zwischenzeit werden Sullivan und Cohen so freundlich sein und sich um Ihre Frau kümmern.« Dorian stand auf und lächelte Lilian zu. Dann ging er mit Lannon aus dem Zimmer und führte ihn in die Bibliothek. Mit Mühe unterdrückte er einen Fluch, als er die Veränderung bemerkte. Alle seine wertvollen Gegenstände, die er jahrelang gesammelt hatte, waren verschwunden – die Folterwerkzeuge und die kostbaren Bücher. »Wir dachten, dass es besser sei, wenn wir Ihre Sammlung fortschaffen lassen«, sagte Dr. Lannon. »Sie könnte Ihre Frau erschrecken.« Dorian nickte grimmig. »Wohin wurden die Sachen gebracht, Doktor?« »In die Jugendstilvilla.« »Setzen Sie sich bitte, Dr. Lannon. Wollen Sie etwas trinken?« »Nein danke.« »Sie haben nichts dagegen, wenn ich mir einen Schluck genehmige?« Der Psychiater schüttelte den Kopf. Dorian ging zum Bücherschrank und öffnete die geschickt getarnte Hausbar. Wütend presste er die Lippen zusammen. Nicht eine einzige Flasche befand sich darin. »Verdammt noch mal!«, fluchte er ungehalten. »Ich soll doch nicht Abstinenzler werden, oder?«
»Das ist wegen Ihrer Frau«, sagte Lannon rasch. »Sie ist ein labiler Typ, und es ist besser, wenn sie keinen Alkohol trinkt.« »Lilian hat nie getrunken!«, fauchte er. »Aber es besteht die Gefahr, dass sie …« »Unsinn!«, zischte Dorian wütend. »Ihre Frau braucht viel Ruhe«, sagte Lannon rasch. »Keine Aufregungen. Sie müssen sie ganz sanft und zartfühlend behandeln. Ich habe da meine Bedenken, Mr. Hunter. Sie sind ein ziemlich aufbrausender, unbeherrschter Mann. Sie dürfen Ihre Frau auf keinen Fall anschreien oder unfreundlich behandeln. Das könnte einen Schock auslösen, und sie würde rückfällig werden. Das wollen Sie doch nicht?« »Nein!«, zischte der Dämonenkiller. »Das will ich nicht. Und ich werde so sanft wie ein Lamm sein und mir jedes Wort, das ich sage, fünfmal vorher überlegen. Ich werde meine Frau auf Händen tragen und …« »Werden Sie nicht ätzend, Mr. Hunter.« Der Dämonenkiller winkte ungeduldig ab. »Wahrscheinlich wäre es das Beste für Ihre Frau, wenn Sie mit ihr einige Wochen verreisen würden.« »Wohin?« »Sie wissen, dass Ihre Frau in Darkpool geboren wurde und dort auch aufwuchs. Ich stamme ebenfalls von dort. Ich habe mich oft mit Lilian über unseren Geburtsort unterhalten. Das war auch einer der Gründe, weshalb sie bald Vertrauen zu mir gefunden hat. Ich habe ein Wochenendhaus in Darkpool. Ich würde es Ihnen zur Verfügung stellen. Der vertraute Ort, die Menschen, die gesunde Luft, das alles könnte Lilian helfen.« Dorian war über diesen Vorschlag so verblüfft, dass er einige Sekunden schwieg. Er hatte nicht die Absicht, London zu verlassen. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Doktor, aber ich möchte das vorerst einmal mit Lilian besprechen.« »Das kann ich verstehen.« Lannon stand auf. »Ich habe sie bereits informiert – und sie war begeistert von dem Vorschlag. Wie gesagt, mein Haus steht Ihnen jederzeit zur Verfügung.«
»Herzlichen Dank für alles«, sagte Dorian und drückte Lannon die Hand. Der Arzt nickte ihm schweigend zu, dann ging er zu Lilian, um sich zu verabschieden. »Wir gehen auch«, sagte Sullivan. Dorian brachte Sullivan und Cohen zur Haustür. »Ich komme so bald wie möglich in die Jugendstilvilla«, sagte Dorian. »Parker soll Ihnen erzählen, was wir in Südamerika erlebt haben. Er soll sich auch um Machu Picchu kümmern.« »Ich werde es ihm sagen«, versprach Sullivan und trat aus dem Haus. »Lilian erzählte mir, dass du dich um sie gekümmert hast, Marvin«, sagte der Dämonenkiller. »Besten Dank dafür!« »Gern geschehen«, sagte Cohen abweisend. »Und lass dir nicht einfallen, Lilian schlecht zu behandeln, sonst bekommst du es mit mir zu tun. Verstanden?« Dorian antwortete nicht. Er kniff die Augen zusammen. Irgendetwas stimmte nicht mit Cohen. Dorian wartete, bis der Wagen mit Sullivan und Cohen verschwunden war, dann ging er zurück ins Haus, zurück zu seiner Frau, die ihm völlig fremd war. Es würde lange dauern, bis er sich an Lilian gewöhnt hatte – falls es überhaupt möglich war.
Dorian versuchte sich als braver Ehemann. Er sprach sanft und geduldig mit Lilian, behandelte sie so, als wäre sie noch immer nicht ganz richtig im Kopf. Doch mit den Gedanken war er weit fort. Er dachte lange an Olivaro und versuchte zu erraten, was der selbst erwählte Herr der Schwarzen Familie gegen ihn vorhatte. Lilians Geplapper ging ihm schon nach einer Stunde auf die Nerven. Alles in ihm gierte danach, in die Jugendstilvilla zu fahren, doch das durfte er nicht; er musste diesen Abend bei Lilian bleiben. Sie hatte sich als Köchin versucht – ihre Spezialität waren typische britische Gerichte, die Dorian noch nie hatte ausstehen können.
Die Zusammenstellung des Abendessens übertraf seine ärgsten Befürchtungen. Sie servierte schottische Graupensuppe, die Dorian mit einer wahren Todesverachtung hinunterlöffelte. Danach gab es Lammkeule mit Mintsauce, bei deren Anblick sich ihm der Magen umdrehte. Dazu trank er Mineralwasser. Und zum Schluss musste er einen Sirupauflauf hinunterwürgen. Er fühlte sich unendlich erleichtert, als das Essen vorbei war. Sie blieben noch einige Zeit im Wohnzimmer sitzen und plauderten über unverbindliche Dinge. Lilian gähnte immer wieder. Als er ihr vorschlug, dass sie schlafen gehen sollte, war sie sofort damit einverstanden. Er wartete, bis sie sich gewaschen hatte und im Bett lag, dann kehrte er ins Wohnzimmer zurück. Mit geballten Fäusten schritt er wie ein gereizter Stier auf und ab. Er gierte nach einem Drink. In der Küche fand er keinen Tropfen Alkohol, nicht mal eine Flasche Rum. Er griff nach den Schlüsseln, trat aus dem Haus, sperrte die Tür ab und lief über die Straße. Drei Häuser weiter befand sich in einer kleinen Gasse ein Pub. An der Theke kippte er rasch ein Bier und aß zwei Hühnersandwichs. Bourbon bekam er keinen; doch er kaufte eine Flasche Black Label. Dann trank er noch ein Bier und hörte den erregten Diskussionen rings um sich zu. Einige der Besucher des Pubs kannte er von früher her, als er noch mit Lilian zusammengewohnt hatte. Damals war er oft hierher gekommen und hatte sich mit den einfachen Leuten über Fußball und Pferde unterhalten. Doch das war schon lange her. Aber wenn es so weiterging, dann würde er hier bald wieder Stammgast sein. Er klemmte sich die Flasche unter den rechten Arm und schlenderte langsam zu seinem Haus zurück. Im Wohnzimmer drehte er das Radio auf, setzte sich und öffnete die Whiskyflasche. Er genehmigte sich einen großen Schluck und streckte die Beine weit von sich. Dorian verfiel in ein dumpfes Brüten, aus dem ihn ein lautes Knarren riss. Er stellte das Glas ab und stand blitzschnell auf.
Das knarrende Geräusch wurde lauter. Der Dämonenkiller riss die Tür zur Diele auf. Hewitt stand vor ihm. Das Gesicht wirkte im Halbdunkel der Diele besonders abstoßend. Die Augen des Dämonenkillers blitzten wütend. »Hinaus mit dir!«, zischte er leise. »Wenn dich meine Frau sieht, dann …« »Ich muss mit dir sprechen«, sagte Hewitt. »Sinnlos«, sagte Dorian und ging auf Hewitt zu. »Verschwinde aus meinem Haus und …« Hewitts grauenhaftes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Zuerst spreche ich mit dir, Dorian«, sagte er. »Wenn du mich nicht anhören willst, dann fange ich zu brüllen an, und deine Frau wird alles andere …« »Komm ins Wohnzimmer!«, sagte der Dämonenkiller ungehalten. Er wollte nicht, dass Hewitt seine Drohung wahr machen konnte. Lilian hätte sicherlich bei seinem Anblick einen Schock erlitten. Hewitt setzte sich ungeniert nieder, und Dorian schloss die Tür, verschränkte die Hände über der Brust und musterte den Freak. »Hewitt«, sagte der Dämonenkiller ruhig, »ich habe dir bereits am Flughafen gesagt, dass ich nichts von deinen Vorschlägen halte. Ich will nichts mit dir zu tun haben. Verstehst du das endlich?« Das Monster schüttelte entschieden den Kopf. »Du musst Vernunft annehmen, Dorian! Ich meine es gut mit dir. Hör dir doch einmal in Ruhe die Vorschläge an, die dir die Olivaro feindlich gesinnten Dämonenfamilien unterbreiten wollen.« Dorian kniff die Augen zusammen. »Ich gehe keinen Pakt mit Dämonen ein«, sagte er heftig. »Ich kann ihnen nicht trauen.« Das Scheusal seufzte. »Du stehst allein in deinem Kampf gegen Olivaro da, Hunter. Ganz allein.« »Ich habe meine Gefährten.« »Pah!«, meinte Hewitt verächtlich. »Mit Marvin Cohen kannst du nicht rechnen, der ist … Lassen wir das! Du wirst es schon selbst bemerken. Trevor Sullivan ist ein alter Mann, gebrochen und eher hilf-
los. Phillip? Dieses wandelnde Orakel hilft dir auch nicht weiter. Dein Freund Jeff Parker? Der richtet mehr Schaden an, als dass er dir helfen kann. Miss Pickford wirst du doch wohl nicht als Hilfe betrachten, oder? Und Machu Picchu, die geheimnisvolle Inka-Prinzessin? Sie ist nur eine Last für dich, so wie deine Frau Lilian.« »Du weißt recht gut Bescheid.« »Wir wissen mehr, als du ahnst, Dorian«, sagte das Monster. »Für dich gibt es nur eine Chance. Schließe dich den Dämonenfamilien an! Nur so kannst du den Kampf gegen Olivaro aufnehmen. Vergiss nicht, Coco ist auf Olivaros Seite. Sie kennt dich genau. Alle deine Schwächen und Fehler. Sie kann das ausnützen. Olivaro kann jeden Augenblick zuschlagen – und du bist ihm machtlos ausgeliefert.« »Genug davon«, sagte Dorian ungehalten. »Ich habe mir dein Geschwätz lange genug angehört. Richte den Dämonenfamilien aus, dass ich nicht daran denke, mich mit ihnen gegen Olivaro zu verbünden!« Hewitt stand langsam auf. »Ich flehe dich an, Dorian«, winselte er, »triff dich mit ihnen!« »Nein«, sagte der Dämonenkiller. »Verschwinde!« »So versteh doch endlich!«, zischte Hewitt. »Du schwebst in Gefahr. Olivaro wird alles daransetzen, um dich endlich unschädlich zu machen. Das muss dir doch schon klargeworden sein. Er kann es einfach nicht mehr zulassen, dass du weiterlebst. Nimm Vernunft an!« »Hinaus!«, sagte Dorian hart. Er drehte sich zur Seite und öffnete die Tür. Hewitt blieb vor ihm stehen. »Hast du dich schon entschieden, ob du Dr. Lannons Vorschlag annimmst und nach Darkpool fährst?« »Woher weißt du davon?« »Ich sagte dir, dass wir mehr wissen, als du vermutest«, sagte das Scheusal. »Egal, wie du dich entscheidest, du wirst auf unsere Hilfe zurückkommen. Ich melde mich wieder.« »Lass dir nicht mehr einfallen, mir einen Besuch abzustatten!«, sagte Dorian. »Sonst werde ich …« »Was?«, unterbrach ihn Hewitt spöttisch. »Was wirst du dann tun?
Mich töten? Nur zu! Das will ich ja gerade.« Das Scheusal ging am Dämonenkiller vorbei, trat in die Diele hinaus, wandte den Kopf noch einmal um und kicherte. »Denk an deine Frau, Dorian! Ich könnte sie gelegentlich besuchen kommen.« Er kicherte wieder. Dorian stürzte in die Diele und wollte Hewitt packen, doch dieser wich geschickt aus und war plötzlich verschwunden. Er hatte sich einfach aufgelöst. Des Dämonenkiller blieb einige Sekunden mit geballten Fäusten stehen, dann ging er mit gesenktem Kopf ins Wohnzimmer zurück. Hewitt hatte Recht. Er konnte sich gegen seine Besuche nicht wehren.
Lilian hatte lange nicht einschlafen können. Das Zusammentreffen mit Dorian hatte sie doch mehr aufgeregt, als sie geglaubt hatte. Immer wieder irrten die Gedanken zurück zu der Zeit, als sie ihren Mann kennen gelernt hatte. Einzelheiten fielen ihr ein, doch dann kehrten ihre Gedanken in die Gegenwart zurück. Sie fragte sich, wie alles weitergehen sollte. War ein Zusammenleben mit Dorian überhaupt noch möglich? Ihre Gedanken wanderten weiter. Sie dachte an Marvin Cohen, der so ganz anders als Dorian war. Endlich schlief sie ein. Doch es war ein unruhiger Schlaf. Immer wieder schreckte sie hoch, wälzte sich auf den Rücken und lag mit hämmerndem Puls da. Sie hatte Angst allein im dunklen Zimmer, doch sie wollte nicht nach Dorian rufen. Lilian rollte sich zusammen und zog die Decke über den Kopf. Doch auch das half nichts. Das Gefühl einer drohenden Gefahr verstärkte sich immer mehr. Es war ihr, als würde sie Stimmen hören; leise Stimmen, die sie verspotteten. Sie hörte nur einzelne Worte, keine ganzen Sätze. Dann vernahm sie das Kichern. Es schien aus einer Ecke des
Schlafzimmers zu kommen und wurde immer lauter. Jetzt war es rechts neben dem Bett. Sie kroch tiefer unter die Decke. Ihr Körper war in Schweiß gebadet. Jemand zerrte an der Decke, irgendetwas versuchte nach ihr zu greifen, und plötzlich berührte das Etwas ihr rechtes Bein. Es fühlte sich schleimig und eiskalt an. Mit einem gewaltigen Ruck wurde die Decke heruntergerissen. Sie richtete sich auf, und ihre Augen wurden groß. Ihr Mund öffnete sich, und sie hielt sich die rechte Hand vor den Mund. Sie wollte schreien, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Vor ihr hockte ein Monster, streckte die Krallen nach ihr aus, und der Mund war weit aufgerissen und entblößte spitze Zähne. Ein fauliger Geruch hing im Zimmer. Die Umrisse der monströsen Gestalt waren nur undeutlich zu erkennen. Eine Pranke raste auf sie zu, und Lilian ließ sich zurückfallen. Sie atmete schwer. Wieder schlug das Biest nach ihr. Es leuchtete senffarben. Die Fratze kam näher, und die Zähne schlugen aufeinander. Lilian stieß einen lauten Schrei aus, warf sich zur Seite und vergrub den Kopf im Polster. Laute Schritte waren zu hören, dann wurde die Tür aufgerissen und das Licht flammte auf. »Lilian?«, hörte sie Dorians Stimme. Sie krallte sich fester in das Polster. »Lilian«, sagte der Dämonenkiller sanft. Seine Hand berührte ihre Schulter, und sie zuckte zusammen. »Ist das Monster fort?«, fragte sie leise. »Hier ist kein Monster«, sagte Dorian. Die junge Frau ließ das Polster los und hob den Kopf. Ihr Mann stand neben dem Bett und sah sie forschend an. »Ein Ungeheuer war im Zimmer«, sagte Lilian und setzte sich auf. »Es bedrohte mich.« »Du hast einen Albtraum gehabt, Liebling«, sagte Dorian sanft. »Nein«, sagte Lilian bestimmt. Sie zitterte noch immer vor Aufregung. »Das war kein Traum. Es berührte mich und riss die Decke herunter. Sieh selbst! Sie liegt auf dem Boden.«
»Trotzdem, Lilian«, sagte der Dämonenkiller ruhig und setzte sich neben seine Frau. »Es war ein Albtraum. Ich hörte dich schreien und lief herauf in dein Zimmer. Es war kein Monster hier. Ich hätte es sehen müssen.« »Es war aber so real«, sagte Lilian kläglich. Ihr Gesicht war ungewöhnlich blass. »Ich hole dir ein Schlafmittel. Dann wirst du ruhig schlafen.« Dorian gab ihr drei Schlaftabletten und redete beruhigend auf sie ein. Er vermied es, über das Ungeheuer zu sprechen, das seine Frau gesehen haben wollte, doch nur zu deutlich waren ihm Hewitts Worte im Bewusstsein. Vielleicht hatte der Freak seine Warnung wahr gemacht und seiner Frau einen Besuch abgestattet. Wenn Hewitt das noch einmal macht, dachte Dorian, dann werde ich ihn doch töten müssen, so ungern ich das auch tun würde. Er nahm die rechte Hand seiner Frau und streichelte sie. Lilian schloss die Augen. »Ich bin so müde«, sagte sie und gähnte. »Du wirst jetzt gut schlafen«, sagte Dorian. Es war ihm, als würde er zu einem kleinen Kind sprechen. Einige Minuten später hob und senkte sich die Brust seiner Frau regelmäßig. Die Schlaftabletten wirkten überraschend schnell. Er ließ ihre Hand los und sah die Schlafende an. Dann seufzte er, löschte das Licht und ging leise aus dem Zimmer. Für Dorian gab es keinen Zweifel: Lilian hatte nicht geträumt, Hewitt hatte sie besucht. Er hatte kaum das Wohnzimmer betreten, als der Türgong erklang. Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach Mitternacht; nicht unbedingt der Zeitpunkt, wo man mit Gästen rechnen konnte. Er griff nach seiner Pistole, entsicherte sie und steckte sie in die Tasche. Dann ging er in die Diele und riss die Eingangstür auf. »Phillip!«, rief er überrascht, als er den Hermaphroditen sah. Phillips goldene Augen waren starr auf den Dämonenkiller gerichtet. Sein blasses Gesicht wurde von schulterlangen blonden Locken umrahmt, die ihm das Aussehen eines Engels gaben. Er war nicht allein gekommen. Schräg hinter ihm stand Machu Picchu. Ihre dunklen Augen flehten den Dämonenkiller an. Das lan-
ge Haar hatte sie kunstvoll aufgesteckt. Es betonte ihr schmales hübsches Gesicht. In der enganliegenden, flammend-roten Seidenbluse und den Jeans wirkte sie völlig verändert. »Kommt herein!«, sagte Dorian gepresst. Phillip ging langsam, fast gemächlich, Machu Picchu bewegte sich geschmeidig wie eine Raubkatze. Dorian hatte kaum die Tür geschlossen, als sich das junge Mädchen wie eine Ertrinkende an ihn klammerte. »Ich musste zu dir kommen«, sagte sie. Sie sprach Quechua, die alte Sprache der Inkas. Dorian strich ihr sanft über die Wangen. Sie drückte ihren Kopf gegen seine Brust, und der Druck ihrer Hände verstärkte sich. »Du bist der einzige Lichtblick in dieser fremden Welt«, sagte Machu Picchu. »Ohne dich bin ich verloren.« Dorian antwortete nicht. Er löste sich aus ihrer Umklammerung, legte einen Arm um ihre Schultern und führte sie ins Wohnzimmer. Phillip folgte ihnen. Der Hermaphrodit hatte sich in seine eigene Gedankenwelt zurückgezogen. Sein Gesicht war entspannt, und die Augen schienen ins Nichts zu starren. Machu Picchu drängte sich ungestüm an Dorian, als er sich auf die Couch setzte. »Darf ich bei dir bleiben?«, fragte die Inka-Prinzessin und ließ Dorian nicht aus den Augen. »Das ist leider nicht möglich«, sagte der Dämonenkiller. Der Ausdruck von Machu Picchus Augen änderte sich. Die Hoffnung schwand daraus und machte einer unendlichen Traurigkeit Platz. Dorian konnte sich nicht erinnern, je zuvor so einen traurigen Ausdruck gesehen zu haben. »Du musst mich verstehen, Machu Picchu«, sagte er rasch. »Meine Frau war lange krank. Sie ist jetzt wieder gesund, doch sie verträgt keine Aufregung. Verstehst du das?« Das Indianermädchen nickte langsam. »Ich verstehe«, sagte sie fast unhörbar. »Aber warum darf ich nicht bei dir bleiben?« Dorian lächelte schwach. »Das würde meiner Frau nicht gefallen.« »Ist sie wichtig für dich?«
Das war eine Frage, auf die Dorian keine Antwort geben konnte, da er sie selbst nicht wusste. »Sie braucht mich«, sagte er ausweichend. »Ich brauche dich auch«, sagte Machu Picchu einfach. Dorian unterdrückte ein Seufzen, er hatte Mitleid mit Machu Picchu und wollte ihr helfen, andererseits war es seine Pflicht, Lilian beizustehen. Und er konnte sich gut die Reaktion seiner Frau vorstellen, wenn sie erfuhr, dass er sich entschlossen hatte, die InkaPrinzessin bei sich im Haus aufzunehmen. Das konnte er nicht; das würde nicht gut gehen, es war einfach unmöglich, Lilian würde wahrscheinlich einen Rückfall erleiden. »Ich weiß, dass du mich brauchst, Machu Picchu«, sagte er schließlich. »Wir werden morgen darüber weitersprechen.« »Ich darf also bei dir bleiben?« Das Gesicht des Dämonenkillers nahm einen gequälten Ausdruck an. »Das ist leider nicht möglich.« Das Mädchen schloss die Augen. »Diese Welt ist zu schrecklich, zu unverständlich für mich. Ich träume, aber ich will nicht mehr träumen. Ich kann nicht mehr den Traum meines Lebens träumen. Alles ist mir unverständlich, unheimlich. Du bist alles, was ich habe, Dorian. Mein Herz schlägt nur für dich, und ich lebe nur für dich.« Er zog das Mädchen an sich. Sie öffnete die Augen. »Deine Frau ist wie eine Fessel für dich, Dorian«, flüsterte sie und küsste ihn zärtlich auf die Wange. »Verlass sie!« »Wie kannst du das sagen, Machu Picchu? Du kennst meine Frau nicht.« Das Mädchen lächelte geheimnisvoll. »Ich kenne sie nicht«, sagte sie fast unhörbar, »aber ich spüre deine Gefühle. Deine Frau bedeutet dir nicht viel.« »Das kannst du nicht sagen«, meinte Dorian lahm. »Du darfst mich nicht verstoßen. Ich kann dir helfen. Du darfst dich nicht entmutigen lassen. Ich stehe auf deiner Seite und bin Cocos verlängerter Arm.« »Das hast du schon in einmal behauptet, Machu Picchu, aber es
mir nicht erklärt. Was willst du damit sagen?« »Das darf ich dir nicht verraten. Noch nicht. Verstoße mich nicht. Komm zu mir! Vergiss deine Frau! In meinen Armen wirst du sie rasch vergessen.« Dorians Gedanken irrten ab. Machu Picchu hatte behauptet, dass Coco Zamis treu zu ihm halten würde. Er hatte sich damals schon gewundert, wie die Inka-Prinzessin so etwas behaupten konnte, sie wusste über die Verhältnisse überhaupt nicht Bescheid. Aber irgendetwas Wahres musste daran sein. »Was weißt du von Coco?« Die Inka-Prinzessin antwortete nicht. Sie stand langsam auf. »Du willst mich nicht hier haben«, sagte sie, »deshalb werde ich jetzt gehen.« »Warte!«, sagte Dorian rasch. »Ich rufe Marvin Cohen an. Er soll dich abholen.« »Ich mag diesen Cohen nicht«, sagte Machu Picchu. »Phillip wird mich führen.« Der Dämonenkiller sah den Hermaphroditen an. Er wunderte sich, dass sich Phillip mit der Inka-Prinzessin verständigen konnte. Aber die beiden waren seltsame Geschöpfe, die wahrscheinlich Kraft ihrer Gedanken miteinander kommunizierten. »Phillip!«, sagte Dorian, doch der Hermaphrodit ignorierte ihn einfach. Die Inka-Prinzessin berührte Phillip sanft, der sich daraufhin umwandte und aus dem Wohnzimmer ging. Die Inka-Prinzessin folgte ihm langsam. »Wir sprechen morgen weiter«, versprach Dorian. »Ich begleite euch in die Jugendstilvilla.« »Das ist nicht notwendig«, sagte Machu Picchu. »Uns kann nichts geschehen.« Sie öffnete die Eingangstür und trat ins Freie. In diesem Augenblick hielt ein Wagen vor dem Haus und Jeff Parker sprang heraus. »Hallo, Dorian!«, sagte der Millionär. »Meine Vermutung war richtig. Ich erwartete, Machu Picchu und Phillip bei dir zu treffen. Die beiden waren plötzlich verschwunden. Sullivan wollte dich an-
rufen, doch ich war dagegen. Ich nehme die beiden mit. Und morgen müssen wir uns eingehend unterhalten.« Dorian wartete, bis das Mädchen und Phillip in den Wagen gestiegen waren. »Was wirst du mit der Kleinen machen?«, fragte Parker und wies mit dem Kinn zum Wagen. Der Dämonenkiller hob die Schultern. »Wenn ich das wüsste, dann wäre mir leichter.« »Kopf hoch, alter Junge!«, sagte Parker. »Ich kann mir nur zu gut vorstellen, was in dir vorgeht. Zuerst verlierst du Coco, dann verknallt sich Machu Picchu in dich. Übrigens gar kein schlechter Ersatz für Coco, wenn ich ehrlich sein soll.« Parker grinste. »Und dann kommst du nach Hause und findest deine Frau vor, mit der du überhaupt nicht mehr gerechnet hast. Schlaf mal eine Nacht darüber! Morgen sieht alles anders aus.« Er klopfte dem Dämonenkiller auf eine Schulter und stieg ein. Dorian sah ihnen lange nach. Machu Picchu hatte den Kopf umgewandt, und ihre dunklen Augen verfolgten ihn noch, als der Wagen schon lange verschwunden war.
Lilian drehte sich verschlafen um. Trotz der herabgezogenen Jalousien und der schweren Vorhänge war es hell im Schlafzimmer. Sie rieb sich mit beiden Händen die geschlossenen Augen und gähnte geräuschlos. Langsam wandte sie den Kopf um. Es dauerte einige Sekunden, bis ihr bewusst wurde, dass sie sich nicht mehr in ihrem kleinen Zimmer in der O'Hara-Stiftung befand. Sie war zu Hause – zu Hause bei ihrem Mann, der gestern zurückgekommen war. Dorian lag auf dem Bauch. Eine Hand hatte er unter das Kissen geschoben, die andere hing aus dem Bett und berührte den Boden. Er schlief noch immer. Sein dunkles Haar war zerrauft, das braungebrannte Gesicht mit einer dünnen Schweißschicht bedeckt. Der Mund stand halb offen. Er atmete schwer, und deutlich waren die Augäpfel unter den geschlossenen Lidern zu erkennen, die sich wild bewegten.
Lilian schlug die Decke zurück und setzte sich langsam auf. Dabei bemühte sie sich, kein Geräusch zu verursachen. Sie wollte ihren Mann nicht wecken. Dorian bewegte sich unruhig im Schlaf. Er warf den Kopf hin und her und keuchte. Sie stand langsam auf, und dann fiel ihr das Ungeheuer ein, das sie während der Nacht gesehen hatte. Unwillkürlich schauderte sie. Sie griff nach dem Morgenrock und schüttelte leicht den Kopf. Dann lächelte sie. Es war nur ein Albtraum gewesen. Nichts weiter. Sie schlüpfte in die Pantoffeln und huschte geräuschlos durchs Zimmer, öffnete die Tür und schloss sie leise hinter sich. Lilian ging ins Badezimmer und öffnete das Fenster, das in den kleinen Garten führte. Sie summte vergnügt vor sich hin, stellte sich vor den Spiegel und strich sich durchs Haar. Unsicher beugte sie sich vor und zuckte erschrocken zurück. Ihr Gesicht hatte sich verändert. Überall waren Flecken zu sehen, die immer größer wurden und sich zu eitrigen Geschwüren ausbildeten. Ihre Augen veränderten sich ebenfalls. Sie wurden kleiner und waren nicht mehr blassblau – sondern glühend rot. Ihre Nase verformte sich, stellte sich auf und ringelte sich wie der Schwanz eines Schweins. Lilian hielt sich mit beiden Händen am Waschbecken fest und schloss entsetzt die Augen. Nach einigen Sekunden wagte sie es endlich, die Lider wieder zu öffnen. Ihr normales Gesicht sah ihr aus dem Spiegel entgegen. Sie schüttelte den Kopf und strich sich über die Wangen; sie waren völlig glatt; keine Beulen waren zu spüren. Ich habe Halluzinationen, dachte sie. Mit zusammengebissenen Zähnen drehte sie das Wasser an, schob sich das Haar aus der Stirn, wusch sich Gesicht und Hände, griff nach dem Handtuch – und ließ es entsetzt fallen. Ihre Hände hatten sich verwandelt. Sie waren mit einer gelben Hornhaut bedeckt, und die Fingernägel waren zu Klauen geworden. Vor ihren Augen wurde es schwarz. Sie kämpfte gegen die drohende Ohnmacht an. Zitternd lehnte sie sich gegen die Wand und keuchte.
Ich werde verrückt, dachte sie entsetzt. Ich muss dagegen ankämpfen. Ich will nicht zurück in die Heilanstalt. Ich will bei meinem Mann bleiben. Ich muss mich zusammenreißen. Das ist alles nur Einbildung. Endlich öffnete sie die Augen. Zögernd starrte sie ihre Finger an. Sie waren völlig normal. Sie hatte grazile Hände mit schön geformten Fingern, die Nägel blassrotlackiert. Ich darf Dorian davon nichts sagen, dachte sie. Er würde sich Sorgen machen und Dr. Lannon anrufen. Ich bin normal, sagte sie sich. Ich bin völlig normal. Sie schlüpfte aus dem Morgenrock, warf ihn über einen Stuhl und zog das hauchdünne Nachthemd aus. Aus einem Schrank holte sie eine Badehaube, stülpte sie über ihren Kopf und stellte sich unter die Brause. Das Wasser war zu heiß. Sie kontrollierte die Temperatur und ließ das lauwarme Wasser über ihren Rücken rinnen. Nach einigen Sekunden entspannte sie sich. Die Wasserstrahlen prasselten auf ihre Schultern, dann auf ihre festen Brüste und den Bauch. Von einer Sekunde zur anderen veränderte sich das Wasser. Grünlicher Schleim, der ihre Haut zu verbrennen schien, spritzte über ihren Körper. Sie ließ die Handbrause fallen und krümmte sich zusammen. Dampf stieg auf und hüllte sie ein. Es roch nach Schwefel, und sie hustete gequält und japste nach Luft. Immer mehr Schleim quoll aus der Brause, tropfte über ihre Schenkel und klatschte gegen ihren Bauch. »Dorian!«, brüllte sie. Der Schlauch der Brause krümmte sich wie eine Schlange, stieg hoch und bewegte sich seltsam. Sie fiel auf die Knie, und der Schlauch schmiegte sich um ihren Körper und wanderte höher. Er kroch zwischen ihre Brüste und verwandelte sich in den schuppigen Leib einer armdicken Schlange, die sich um ihren Hals ringelte und ihr die Kehle zuschnürte. »Dorian!«, keuchte sie. Der Dämonenkiller wälzte sich hin und her. »Dorian!«
Er schreckte hoch und setzte sich auf. Das Bett neben ihm war leer. »Dorian!« Es war die gurgelnde Stimme seiner Frau. Er sprang aus dem Bett und riss die Tür zum Korridor auf. »Wo bist du, Lilian?« Sie antwortete nicht, doch er hörte das Rauschen der Brause. Mit zwei Sprüngen hatte er das Badezimmer erreicht, riss die Tür auf, raste hinein und blieb stehen. Verwundert sah er seine Frau an. Sie hockte nackt in der Badewanne. Die Handbrause lag vor ihr, und das Wasser spritzte gegen ihren Bauch. »Du hast mich gerufen?«, fragte er und kam langsam näher. Lilians Gesicht war angstvoll verzerrt. Die Augen hatte sie weit aufgerissen. »Ja«, keuchte Lilian. »Ich rief dich.« Sie schüttelte verwundert den Kopf. Dorian blieb misstrauisch neben der Badewanne stehen. Der Gesichtsausdruck seiner Frau wollte ihm gar nicht gefallen. »Ist etwas geschehen, Lilian?« »Nein«, erwiderte sie schwach. »Ich fühlte mich plötzlich etwas benommen. Ich hatte einen Schwindelanfall. Alles drehte sich vor meinen Augen. Aber jetzt bin ich wieder in Ordnung.« Dorian kniff die Augen zusammen. Irgendetwas stimmte da nicht. Lilians Stimme klang fremdartig. Etwas war geschehen, da war er sicher. Aber was? »Wäschst du mir bitte den Rücken?«, fragte Lilian, die beschlossen hatte, nichts von den seltsamen Erscheinungen zu sagen. Dorian nickte, setzte sich auf den Rand der Badewanne und griff nach dem Schwamm und der Seife. Er seifte den Rücken seiner Frau ein. Dabei hatte er genügend Gelegenheit, den nackten Körper zu betrachten, den er nüchtern wie ein Künstler sein Modell begutachtete. Zu seinem Bedauern stellte er fest, dass er für seine Frau keinerlei sexuelles Interesse aufbringen konnte. Dabei hatte sie einen wohlproportionierten Körper. Sie war schlank und mit den notwendigen Rundungen versehen. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist, Lilian?« Sie nickte eifrig und quälte sich ein Lächeln ab.
Dorian schwemmte den Seifenschaum von ihrem Rücken, reichte ihr dann die Handbrause und wandte sich ab. Er trat an den Spiegel heran, wusch sich und putzte sich die Zähne. Dann rasierte er sich, während sich Lilian abtrocknete und in ihren Morgenmantel schlüpfte. »Willst du etwas Besonderes zum Frühstück, Rian?«, fragte sie. »Nein«, sagte Dorian. Lilian huschte an ihm vorbei, und er setzte für einen Augenblick den Rasierapparat ab. Das Verhalten seiner Frau wollte ihm gar nicht gefallen. Sie wirkte nervös und verkrampft. Lilian schalt sich eine dumme Närrin. Sie hatte sich alles nur eingebildet. Der Schlauch hatte sich gar nicht in eine Schlange verwandelt, und kein grüner, ätzender Schleim war aus der Handbrause gespritzt, sondern klares, lauwarmes Wasser. Sie setzte sich vor den Schminktisch, zog die Brauen nach, griff nach dem Lippenstift, schraubte ihn auf, strich sich über die Lippen und stieß einen leisen Schrei aus. Der Lippenstift schien ihren Mund zu verbrennen. Deutlich sah sie es im Spiegel. Ihre Lippen schwollen an, wurden immer größer, bis sie wie ein gewaltiger Luftballon vor ihrem Gesicht hingen. Sie sprang auf, und der Stuhl fiel krachend zu Boden. Dorian stürzte ins Schlafzimmer. In der Tür blieb er stehen. »Was ist jetzt schon wieder los?«, fragte er etwas gereizt. »Ich strich mir …«, sagte Lilian mit zittriger Stimme, dann brach sie ab. Sie sah sich im Spiegel an. Ihre Lippen waren völlig normal. »Ich strich mir die Lippen an und stand dann auf«, erklärte sie. »Dabei fiel der Stuhl um.« »Hm«, sagte der Dämonenkiller und ging aus dem Zimmer. Lilian unterdrückte mit Mühe ein Schluchzen. Ich werde wieder verrückt, dachte sie angstvoll. Sie öffnete den Kleiderschrank, holte Unterwäsche heraus, schlüpfte in einen winzigen Slip und griff nach dem Büstenhalter, der plötzlich durch die Luft schwebte und dessen Träger sich um ihre Handgelenke legten und sie förmlich fesselten. Verzweifelt versuchte sie sich zu befreien. Das Kleidungsstück schnürte ihr das Blut
ab. Ihre Hände wurden weiß. Lilian presste die Lippen zusammen – sie riss mit aller Kraft an den Trägern, doch sie bekam den Büstenhalter nicht herunter. Sie sprang auf und lief zur Tür. Mit dem rechten Ellbogen drückte sie die Klinke herunter, rannte über den Korridor und stieß die Tür ins Badezimmer auf. Dorian rieb sich gerade das Kinn mit Rasierwasser ein. Er wandte den Kopf herum, und in diesem Augenblick löste sich die Fessel. Der Büstenhalter hing locker zu Boden. »Was gibt es jetzt wieder?« Seine Stimme klang ziemlich ungehalten. Langsam hatte er den Eindruck, seine Frau würde jede sich nur bietende Gelegenheit nützen, um sich ihm nackt – oder halbnackt – zu nähern. Lilian schluckte. »Ich bekomme den BH nicht zu«, sagte sie matt. Sie schlüpfte hinein, verstaute ihre Brüste in den Körbchen und hielt Dorian ihren Rücken hin, der mühelos den Verschluss einhaken konnte. »Danke«, sagte Lilian. Als sie aus dem Badezimmer gehen wollte, griff Dorian nach ihrer Schulter und drehte sie zu sich um. »Was ist mit dir los?«, fragte er. »Wollen wir nicht mit offenen Karten spielen? Was hat das alles zu bedeuten?« Ihre Augen waren weit aufgerissen. »Ich verstehe dich nicht«, sagte sie leise, riss sich los und lief zurück ins Schlafzimmer. In ihrem Gesicht arbeitete es. Sie hatte Angst, nach einem Kleid zu greifen, fürchtete, dass wieder etwas Unerklärliches geschehen würde. Endlich überwand sie ihre Scheu und griff nach einem einfachen blauen Leinenkleid. Nichts geschah. Sie schlüpfte in das enganliegende Kleid, zog es gerade und sah in den Spiegel. Sie fand sich sehr hübsch. Nichts Abnormales war zu bemerken. Zwanzig Minuten später hatte Lilian das Frühstück fertig. Dorian war ziemlich überrascht, dass er mit gutem Appetit aß. Der Speck war genau richtig gebraten, der Toast perfekt und das Spiegelei ge-
nau so, wie er es wollte. Der Tee war stark und dunkel. Er schob sich eine Scheibe gebratenen Speck in den Mund, und Lilian sah ihm dabei zu. Plötzlich weiteten sich ihre Augen. Sie keuchte und wandte den Kopf ab. Dorian legte das Besteck zur Seite. »Was ist denn nun los?« Nur mühsam konnte er seinen Unwillen verbergen. Lilian schüttelte den Kopf. Das Frühstück war für sie zu einem einzigen Albtraum geworden. Bei der Zubereitung hatte es keine Schwierigkeiten gegeben, doch als Dorian zu essen begonnen hatte, war alles wieder unwirklich geworden. Der Tee sah wie Jauche aus – und er roch auch so. Die Toastschnitten bildeten seltsame Muster – Totenschädel, die von zersplitterten Knochen umgeben waren. Der Speck erinnerte an zusammengedrückte Regenwürmer, und der Dotter des Spiegeleis war giftgrün. »Jetzt will ich endlich wissen, was mit dir los ist«, sagte Dorian wütend. »Sag mir die Wahrheit!« »Ich kann nicht.« Lilian barg ihren Kopf zwischen den Händen. »Ich kann es dir nicht sagen.« »Ich muss es wissen«, sagte er wütend. »Du siehst ja aus, als hättest du etwas ganz Scheußliches gesehen. Was war es?« Sie warf dem Tisch aus den Augenwinkeln einen Blick zu. Alles schien wieder normal zu sein. Sie legte die Hände in den Schoss und versuchte ein Lächeln, das ihr misslang. Der Dämonenkiller bezähmte seinen Ärger. »Hat es etwas mit deinem Albtraum zu tun?« Lilian zuckte leicht zusammen. Dorian schob seinen Teller zur Seite und musterte seine Frau. »Du benimmst dich schon die ganze Zeit seltsam«, sagte er freundlich. Lilians Lippen bebten. »Du würdest mich für verrückt halten, Rian«, sagte sie tonlos. »Ich kann dir nur helfen, wenn ich weiß, was du hast.« Lilian presste die Lippen zusammen. »Ich will nicht in die Klinik«, flüsterte sie. Ihr Gesicht verzerrte
sich, und Tränen rannen über ihre Wangen. Der Dämonenkiller setzte sich neben seine Frau, und sie drückte sich an ihn und schluchzte. Ihre Tränen tropften auf sein Kinn. »Weine nicht, Liebling«, sagte er leise und streichelte sie beruhigend. »Sag mir, bitte, was du hast!« »Es ist alles so schrecklich«, seufzte Lilian. »Ich sehe Dinge, die es nicht gibt.« Endlich war der Bann gebrochen, und Lilian erzählte ihm alles. Und je mehr ihm Lilian berichtete, um so härter wurden Dorians Züge. Es war schwarze Magie im Spiel, da gab es keinen Zweifel. Irgendjemand versuchte seine Frau in den Wahnsinn zu treiben. Aber wer steckte da dahinter? Olivaro? Oder Hewitt und die Dämonenfamilien, die sich gegen Olivaro verbündet hatten? »Ich bin doch nicht verrückt, Rian?«, fragte Lilian angstvoll. »Nein, ganz sicher nicht«, sagte Dorian sanft. »Ich muss nicht zurück in die Klinik?« »Nein, du bleibst hier«, sagte Dorian. »Ich werde mich um dich kümmern, Lilian. Deine Fantasie spielt dir einen Streich: Du siehst Dinge, die nicht existieren. Aber das wird vorbeigehen, das verspreche ich dir.« Er sprach besänftigend auf sie ein und trocknete ihre Tränen. Nach einigen Minuten hatte sie sich wieder beruhigt. Dorian war der Appetit vergangen. Zusammen mit Lilian brachte er das Geschirr in die Küche. Er wollte unbedingt in die Jugendstilvilla. Er musste mit Jeff Parker und Machu Picchu sprechen, doch er hatte Angst, Lilian allein zu lassen. Bis nach dem Mittagessen, das sie in einem Restaurant in der Nähe einnahmen, brachte er nicht die Sprache darauf, dass er zur Jugendstilvilla fahren wollte. Als er es dann endlich sagte, fing Lilian zu schluchzen an. Sie wollte nicht allein gelassen werden; sie hatte Angst, sie wollte nicht, dass er sie verließ. »Ich muss in die Jugendstilvilla, Lilian«, sagte Dorian, als sie in das Reihenhaus in der Abraham Road zurückgekehrt waren. »Ich komme mit«, sagte Lilian rasch. Doch das wollte der Dämonenkiller nicht.
»Ich mache dir einen Vorschlag, Lilian«, sagte er. »Ich rufe Marvin Cohen an. Er soll so lange bei dir bleiben, bis ich zurück bin. Einverstanden?« Lilian überlegte kurz, dann nickte sie. Dorian war erleichtert. Er rief in der Jugendstilvilla an, und eine Stunde später traf Marvin Cohen ein. »Kümmere dich bitte um meine Frau, Marvin!«, bat Dorian. »Sie ist nervös und ziemlich zerfahren.« »Wann wirst du zurückkommen, Dorian?« Der Dämonenkiller hob die Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Sollte es später werden, dann rufe ich an. Geh mit Lilian irgendwohin! In ein Kino oder in eine Bar. Versuche sie abzulenken!« »Das werde ich tun«, sagte Marvin Cohen knapp.
Dorian fuhr mit einem Taxi in die Jugendstilvilla. Von Miss Pickford wurde er ziemlich reserviert empfangen, während die Begrüßung von Don Chapman überaus herzlich war. Er unterhielt sich kurz mit Trevor Sullivan und Sacheen, sah nach Phillip, der ihn überhaupt nicht beachtete und ging dann zu Machu Picchu, die in einem Zimmer im ersten Stock saß und aus dem Fenster blickte. Sie reagierte nur sehr flüchtig auf seinen Gruß; mit ihr wollte sich Dorian später beschäftigen. Er zog sich mit Jeff Parker in sein Arbeitszimmer zurück. »Was ist mit Machu Picchu los?«, fragte er. Jeff Parker seufzte. »Sie spricht kein Wort«, berichtete er. »Sie ist völlig geistesabwesend, sitzt schon den ganzen Tag in ihrem Zimmer und starrt in den Garten. Was hast du mit ihr vor?« »Wenn ich das nur wüsste, Jeff«, sagte Dorian. »Ich kann sie nicht zu mir nehmen. Da würde Lilian völlig durchdrehen.« »Was meinst du damit?« Dorian winkte ungeduldig ab. »Sie braucht mich«, sagte er. »Sie ist völlig verwirrt. Sie hat Hallu-
zinationen. Ich muss hier bleiben, Jeff.« »Wir wollten doch nach Frankfurt«, sagte Jeff vorwurfsvoll. »Die dortige Loge der okkultistischen Freimaurer ist ziemlich mächtig.« »Ich kann im Augenblick nicht fort. Verstehst du das denn nicht?« Jeff brummte. »Nein«, sagte er grimmig. »Ich verstehe es nicht. Bis jetzt ist Lilian ganz gut ohne deine Hilfe ausgekommen. Wir bleiben ja nur wenige Tage fort.« »Trotzdem«, sagte der Dämonenkiller entschieden. »Ich muss bei ihr bleiben. Ich werde wahrscheinlich einige Tage mit ihr verreisen.« »Du kannst sie ja nach Frankfurt mitnehmen«, sagte Jeff. »Dagegen würde Dr. Lannon sicherlich protestieren«, meinte Dorian. »Und Lilian würde nicht mitfahren wollen. Sie will nach Darkpool.« Jeff schüttelte den Kopf. »Du entwickelt dich zu einem ordentlichen Pantoffelhelden.« »Blödsinn!«, sagte Dorian. »Es ist einfach meine Pflicht, dass ich mich um Lilian kümmere. Geht das nicht in deinen Schädel?« Jeff antwortete nicht. »Du kannst ja in der Zwischenzeit nach Frankfurt fliegen«, meinte Dorian. »Im Augenblick kann ich dir ohnedies nicht helfen. Und die Verbindung mit den Freimaurern kannst du auch allein aufnehmen.« »Das stimmt«, antwortete Jeff und stand auf. »Ich fliege nach Frankfurt. Lieber wäre es mir zwar, wenn du … Na ja, vielleicht hast du Recht, und es ist besser, wenn du einige Zeit bei deiner Frau bleibst. Das ist aber auch keine Dauerlösung, Dorian.« »Wie meinst du das?«, fragte der Dämonenkiller misstrauisch. »Lilian ist nichts für dich«, sagte Parker brutal. »Sie ist ein schwaches Geschöpf, hilflos, allein auf sich gestellt kaum lebensfähig. Versteh doch endlich! Sie ist ein Hemmschuh für dich. Sie passt einfach nicht zu dir. Lass mich ausreden! Ich spreche als Freund zu dir. Du kannst die Entscheidung hinauszögern, Dorian, aber nicht für immer.« »Es ist meine Pflicht, dass ich mich um Lilian kümmere«, sagte Dorian stur.
»Pflicht?«, fragte Jeff verächtlich. »Ihr habt nie zusammengepasst. Und jetzt noch weniger als früher. Lieber ein Ende mit Schrecken, als Schrecken ohne Ende.« Bevor Dorian noch etwas antworten konnte, verließ Jeff das Arbeitszimmer und schlug wütend die Tür zu. Insgeheim wusste Dorian, dass Jeff Recht hatte. Wenn er sich auch noch um Lilian kümmern musste, dann blieb ihm zu anderen Dingen kaum noch Zeit. Wie es im Augenblick aussah, konnte er seinen Kampf gegen die Dämonen nicht mehr weiterführen. Er schob die trüben Gedanken zur Seite, stand langsam auf und ging in Machu Picchus Zimmer. Die Inka-Prinzessin saß am Fenster und blickte in den Garten hinaus. »Machu Picchu«, sagte er leise. Sie wandte langsam den Kopf herum und blickte ihn an. In ihren dunklen Augen spiegelte sich noch immer die unendliche Traurigkeit. »Du brauchst nichts zu sagen, Dorian«, sagte Machu Picchu leise. »Du hast dich gegen mich entschieden. Ich spüre es.« »Das ist nicht wahr«, sagte der Dämonenkiller und setzte sich neben sie. Sie wandte den Kopf ab. Dorian griff nach ihrer Hand. »Ich habe viel nachgedacht«, sagte Machu Picchu. »Einiges ist mit verständlich geworden, aber nicht alles. Ich versuche dich zu verstehen, doch es gelingt mir nur teilweise. Du fährst mit deiner Frau fort. Und mich wirst du bald vergessen haben, wie so viele andere Frauen zuvor.« »Das stimmt alles nicht, Machu Picchu«, sagte Dorian heftig. »Ich werde eine Lösung finden, die …« »Da wird es zu spät sein«, sagte die Inka-Prinzessin. »Aber ich werde dir helfen. Ich werde dich aus deinem Dilemma befreien.« »Und wie willst du das tun?« »Das wirst du merken, Dorian«, sagte sie und lächelte seltsam. »Du sprichst in letzter Zeit nur in Rätseln, Machu Picchu.« »Ich darf dir die Wahrheit nicht sagen, Dorian. Ich könnte dir dann nicht helfen.«
»Kannst du dich nicht etwas deutlicher ausdrücken?« »Nein«, sagte sie einfach. Eine Barriere war zwischen ihnen, die er nicht überwinden konnte. Machu Picchu hatte sich wie eine Schnecke in ihr Haus zurückgezogen. »Ich bleibe nicht lange fort«, sagte er nach einiger Zeit. »Wenn ich zurück bin, dann …« »Was dann?«, unterbrach sie ihn fragend und sah ihn aufmerksam an. »Nichts wird sich ändern. Du wagst es nicht, eine Entscheidung herbeizuführen. Du hast Angst davor, deiner Frau oder mir weh zu tun. Und das passt so gar nicht zu dir. Du hast deiner Frau gegenüber Schuldgefühle, die du mit einem sogenannten Pflichtgefühl übertünchen willst. Es ist sinnlos, mit dir zu sprechen, Dorian. Du läufst mit offenen Augen in dein Unglück. Ich werde mich bemühen, es von dir abzuwenden. Hoffentlich gelingt es mir.« Der Dämonenkiller unterdrückte den aufsteigenden Ärger. So kam er nicht weiter. Das Gespräch war sinnlos geworden. Sie redeten um den heißen Brei herum. Die Entscheidung war gefallen. Er hatte sich für Lilian entschieden, nicht weil er sie liebte oder brauchte, sondern weil sie in Gefahr war. Irgendjemand wollte sie in den Wahnsinn treiben, und das würde er verhindern. Er musste ganz einfach bei Lilian bleiben und sie schützen. Dr. Lannons Vorschlag, nach Darkpool zu fahren, kam ihm immer vernünftiger vor. »Lass mich allein!«, bat Machu Picchu. »Ich komme später wieder«, sagte Dorian. Jeff Parker und Sacheen waren reisefertig, als er ins Wohnzimmer trat. Er begleitete die beiden zum wartenden Taxi. Irgendwie fühlte er sich erleichtert, als Parker mit seiner Freundin abgereist war. Dorian unterhielt sich lange mit Trevor Sullivan und Don Chapman und teilte ihnen seine Entscheidung mit, dass er zusammen mit Lilian nach Darkpool fahren wollte. Beide waren sichtlich nicht begeistert davon, doch sie konnten nichts dagegen vorbringen; die Argumente des Dämonenkillers waren zu stichhaltig. Es war dunkel geworden, als Dorian zu Machu Picchu ging, um
von ihr Abschied zu nehmen.
Anfangs war Lilian verkrampft gewesen, doch Marvin Cohen verstand es überraschend gut, sie aufzuheitern. In ihrer Gegenwart verwandelte er sich in einen anderen Menschen. Nichts war von seiner sonstigen Brutalität zu merken. Sogar seine Stimme änderte sich; sie wurde weich und einschmeichelnd. Er dachte flüchtig an seine Freundin Rose Jamin und verglich sie mit Lilian, dabei verdüsterte sich sein Gesicht für einen Augenblick, doch sofort lächelte er wieder und hörte Lilians Geplapper zu. Sie fühlte sich in Marvin Cohens Gegenwart recht wohl. Sie hatte es nicht vergessen, dass er sich während der Abwesenheit von Dorian um sie gekümmert hatte. Anfangs war er ihr grobschlächtig vorgekommen, doch jetzt wusste sie es besser. Cohen kaschierte sein weiches Inneres mit einem polternden, ungestümen Benehmen, das er jedoch in ihrer Gegenwart ablegte. Sie redete belangloses Zeug; sie wagte es nicht, Cohen von ihren Halluzinationen zu berichten, die jetzt aufgehört hatten. Als Cohen ihr vorschlug, in den Hyde Park zu fahren, war sie sofort einverstanden. Er parkte den Wagen in der Nähe von Marble Arch. Sie überquerten die Oxford Street. Bei einem der fahrenden Obsthändler kaufte Cohen ein Säckchen Kirschen. Sie gingen an Speaker's Corner vorbei, betraten den riesigen Park, fanden zwei freie Liegestühle und setzten sich eng nebeneinander. Es war ein freundlicher Frühlingstag. Der Himmel war wolkenlos, und es war völlig windstill. Lilian spürte, wie alles von ihr abfiel. Sie aß die Kirschen, lehnte sich zurück, schloss die Augen und genoss die Sonnenstrahlen. Der Verkehrslärm von der Park Lane drang nur gedämpft zu ihnen. Sie befanden sich in einer Oase der Friedlichkeit. Als es dunkel wurde, führte Cohen sie in ein kleines italienisches Restaurant in der Wigmore Street. Er telefonierte kurz mit Dorian, der ihm sagte, dass er wahrscheinlich erst später nach Hause kom-
men würde. Lilian genoss das Abendessen. Alle ihre trüben Gedanken waren wie fortgeblasen. Nach dem Essen besuchten sie einen Jazzkeller, blieben dort eine Stunde, hörten der Musik zu, und Lilian hatte nichts dagegen, dass Cohen einen Arm um ihre Schultern legte. »Es war ein herrlicher Tag!«, sagte Lilian verträumt, als sie vor dem Haus in der Abraham Road stehen blieben. Sie sah Marvin Cohen lächelnd an. Dann beugte sie sich rasch zu ihm hinüber und küsste ihn leicht auf die Wange. »Danke für alles.« Marvin Cohen war sichtlich verlegen. »Ich bringe Sie ins Haus, Lilian«, sagte er und öffnete die Wagentür. »Das ist nicht notwendig.« Sie stieg aus, und plötzlich war wieder die Angst da. Sie war froh, dass Marvin dennoch mitging. Mit jedem Schritt, dem sie sich dem Haus näherten, wuchs das Gefühl einer drohenden Gefahr. Ihr wurde kalt, und ihre Hände zitterten leicht. Cohen legte beruhigend einen Arm um ihre Schultern, und sie drängte sich gegen ihn. Seine Nähe vertrieb ihre Angst. In seiner Gegenwart fühlte sie sich sicher. »Schade, dass wir uns nicht früher kennen gelernt haben«, sagte sie leise. Cohen blieb überrascht stehen. »Wie meinen Sie das?« Lilian schüttelte nur den Kopf, öffnete ihre Handtasche, holte die Schlüssel heraus und sperrte die Haustür auf. Im Haus war es dunkel. Dorian war noch nicht zurückgekommen. Sie knipste das Licht an. »Auf Wiedersehen!«, sagte Cohen leise. »Kommen Sie bitte noch herein, Marvin«, flüsterte sie. »Ich habe Angst, allein zu bleiben.« Cohen nickte. Lilian stellte ihre Tasche ab, öffnete die Tür ins Wohnzimmer und tastete nach dem Lichtschalter. Als das Licht aufflammte, trat sie ein und wandte den Kopf nach links. Für einen Augenblick war ihr Gesicht eine Maske, dann riss sie die Augen auf und hob langsam die
rechte Hand. Auf der Couch saß eine furchtbare Gestalt – zwergenhaft klein, das Gesicht mit eitrigen Beulen und Geschwüren bedeckt. »Marvin!«, brüllte Lilian und krallte sich am Türstock fest. Der Freak sprang von der Couch, und da sah Lilian den fast zwei Meter langen Arm, der nach ihr zu greifen schien. Sie schloss die Augen, und alles drehte sich vor ihr. Cohen schob Lilian zur Seite und sprang ins Wohnzimmer. Er riss seine Pistole heraus und zielte auf den Freak. Er kannte einige Londoner Freaks, doch diesen nicht. »Wer bist du?«, fragte Cohen heiser und kam zwei Schritte näher. »Hewitt«, sagte der Freak. »Ich warte auf Hunter.« »Hinaus mit dir!«, brüllte Cohen wutschnaubend. »Es ist wichtig«, winselte der Freak. »Ich muss mit Hunter sprechen.« Lilian öffnete die Augen. Sie hatte geglaubt, dass sie wieder eine ihrer Halluzinationen hatte, doch nachdem auch Marvin Cohen das Scheusal sah, spielten ihr diesmal ihre Sinne keinen Streich. Das Ungeheuer war real. Lilian wandte sich angeekelt ab. Nie zuvor hatte sie ein abstoßenderes Gesicht gesehen. Jetzt erwachte die brutale Ader in Cohen. Er packte den Freak am langen Arm und riss ihn hoch. Hewitt versuchte sich aus dem eisernen Griff zu befreien, doch es gelang ihm nicht. Cohen trug den Zwerg aus dem Wohnzimmer und durch die Diele, riss die Haustür auf und warf ihn einfach in den Garten. »Lass dich hier nicht mehr blicken!«, zischte er. »Sonst ziehe ich andere Saiten auf!« »Ich muss aber mit Hunter sprechen«, kreischte der Freak. »Ein anderes Mal«, sagte Cohen. »Dein Anblick hat bei Lilian einen Schock hervorgerufen. Scher dich zum Teufel!« Er schloss die Tür und sperrte ab. Lilian lehnte noch immer am Türstock. Sie schluchzte. »Wer war das?«, fragte sie fast unhörbar. »Eine Missgeburt«, sagte Cohen. Er hatte keinerlei Lust, Lilian zu
erklären, was ein Freak war. »Ich habe ihn hinausgeworfen. Jetzt kann Ihnen nichts mehr geschehen.« Lilian nickte schwach, drehte sich um und warf sich in Cohens Arme, der sie zu beruhigen versuchte. »Ich brauche meine Tabletten«, sagte sie. »Ich hole sie Ihnen«, sagte Cohen. »Nein«, flüsterte Lilian. »Ich hole sie selbst.« Sie löste sich von Cohen und stieg die Stufen in den ersten Stock hoch. Er zögerte einen Augenblick, dann folgte er ihr. Auf dem Absatz blieb er stehen. Lilian trat ins Badezimmer. Cohen massierte sich das Kinn. Mit Hunter würde er ein ernstes Wort reden. Es war einfach unverantwortlich von ihm, sich einen Freak ins Haus zu bestellen. »Marvin!« Der Schrei hallte schaurig durch das Haus. Cohen raste ins Badezimmer. Lilian stand leichenblass neben der Badewanne. Sie wankte wie eine Betrunkene hin und her. Die Badewanne war mit Blut gefüllt, das Blasen warf, die glucksend aufstiegen und zerplatzten. Am Wannenrand war der Abdruck einer klauenartigen Hand zu sehen, und blutige Fußspuren führten von der Badewanne fort. Die Spuren sahen seltsam aus, wie die eines riesigen Vogels. »Gehen Sie auf den Korridor, Lilian!« Sie lehnte jetzt mit geschlossenen Augen und wogendem Busen an der Wand, die Hände vorm Gesicht. Sie kämpfte gegen ein Schwindelgefühl an. Ihre Knie wurden schwach, sie sackte ein, und Cohen konnte sie gerade noch auffangen. Er hob sie hoch und trat in den Korridor. Die Fußspuren führten vom Badezimmer zum Schlafzimmer hinüber. Vorsichtig legte er Lilian, die noch immer bewusstlos war, auf den Boden. Die Schlafzimmertür war nur angelehnt und er stieß sie mit dem Fuß auf. Cohens Gesicht verkrampfte sich, der Blick seiner Augen wurde trübe: Flüche und obszöne Zeichnungen, alle mit Blut geschrieben, verunstalteten das Zimmer. Auf dem Teppich zeichneten sich deutlich blutige Fußspuren ab.
Das Bett war zerwühlt, und über eine Bettdecke war mit Blut geschrieben: Lilian – wir holen dich zu uns ins Grab. Cohen blickte die Verwüstung einige Augenblicke an. Er musste verhindern, dass Lilian das sah. Er ging in den Korridor zurück, hob die junge Frau auf und trug sie ins Wohnzimmer, wo er sie auf die Couch legte. Der Türgong schlug an. Cohen sprang auf, zog seine Pistole und sah durch den Türspion. Dorian Hunter stand vor der Tür, und Cohen sperrte auf. »Guten Abend«, sagte der Dämonenkiller. Cohen blickte ihn böse an. »Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Dorian. »Das kann man wohl sagen«, knurrte Cohen. »Als ich Lilian ins Haus brachte, erwartete uns ein Besucher. Kannst du dir denken, wer es war?« Dorian strich sich über die Lippen. »Nach deiner Erregung zu schließen, wird es Hewitt gewesen sein.« »Genau«, sagte Cohen wütend. »Deine Frau bekam einen Schock. Aber es kommt noch besser. Sie ging ins Badezimmer … Doch was soll ich viel erzählen. Schau es dir selbst an! Und sieh auch in den anderen Zimmern nach! Vielleicht entdeckst du noch ein paar Überraschungen.« Der Dämonenkiller ging wortlos an Cohen vorbei und lief in den ersten Stock. Er ballte wütend die Fäuste, als er die Sauerei im Schlafzimmer sah. Anschließend durchsuchte er die anderen Zimmer, fand aber keine Verwüstungen – außer im Badezimmer. »Hat Lilian das Schlafzimmer gesehen?«, fragte Dorian, als er ins Wohnzimmer trat. »Nein«, antwortete Cohen. »Nur das Badezimmer.« Der Dämonenkiller beugte sich über seine bewusstlose Frau und fühlte ihren Puls. »Wir sollten einen Arzt verständigen«, sagte Cohen. »Das ist nicht notwendig«, erwiderte Dorian. »Ich bin sicher, dass sie in wenigen Minuten aufwachen wird. Ich gebe ihr ein paar Schlaftabletten und bringe dann das Bad und das Schlafzimmer in Ordnung.«
Der Dämonenkiller hatte Recht. Lilian schlug nach zwei Minuten die Augen auf. Ihr Blick war glasig. Sie sah zuerst Dorian an, dann drehte sie den Kopf zur Seite und musterte Marvin Cohen. »Wie geht es Ihnen, Mrs. Hunter?«, fragte Cohen förmlich. Lilian nickte schwach. »Ich fühle mich so eigenartig. Ich möchte schlafen.« Dorian reichte ihr ein Glas Wasser, und widerstrebend schluckte sie zwei Tabletten und schloss die Augen. »Irgendein scheußliches Geschöpf war hier«, sagte sie leise. »Es sah so grauenvoll aus. Ich hatte entsetzliche Angst, Marvin warf es aus dem Haus. Und dann war da das Blut. So viel Blut! Die ganze Wanne war voll damit.« »Jemand hat sich einen üblen Scherz erlaubt«, sagte Dorian und setzte sich neben Lilian. »War es wirklich nur ein Scherz, Rian?« »Ja. Und ich werde den Kerl erwischen, der dafür verantwortlich ist.« Lilian antwortete nicht. Dorian griff nach ihrer rechten Hand, doch sie entzog sie ihm. »Du musst jetzt schlafen, Lil«, sagte Dorian sanft. »Denk nicht mehr daran!« Lilians Lippen bewegten sich, und sie öffnete die Augen. »Ich bin so froh, dass Marvin da war. Ohne ihn wäre ich wahrscheinlich vor Angst verrückt geworden. Danke, Marvin.« Cohen nickte ihr mit verkniffenem Gesicht zu. Nach einigen Minuten war Lilian eingeschlafen. »Ich muss mit dir reden, Dorian«, sagte Cohen. »Später«, sagte der Dämonenkiller. »Bleib bei Lilian! Ich mache erst einmal Ordnung.« Der Dämonenkiller ließ das Blut aus der Wanne und wischte die Fußspuren weg. Die obszönen Schmierereien ließen sich leicht von der Tapete im Schlafzimmer abwischen. Dann bezog er das Bett neu und warf das Bettzeug in einen Abfallkübel. Sie trugen Lilian ins Schlafzimmer, und Dorian kleidete sie aus. Er blieb einige Minuten neben ihr sitzen. Sie schlief ruhig. Er ließ die
Schlafzimmertür offen, zündete sich eine Zigarette an, ging zu Cohen ins Wohnzimmer, holte zwei Gläser heraus und schenkte ein. »Wer ist dieser Hewitt?«, fragte Cohen. »Und was will er von dir, Dorian?« »Hewitt ist der letzte meiner Brüder«, erklärte der Dämonenkiller. »Er setzte sich gestern mit mir in Verbindung und schlug mir vor, dass ich mich mit einigen Dämonenfamilien verbünden soll, die Olivaro feindlich gegenüberstehen. Ich warf ihn hinaus und sagte ihm, dass er sich nicht mehr blicken lassen sollte.« »Er ließ sich davon aber wohl nicht sehr beeindrucken«, sagte Cohen spöttisch, »sonst wäre er wohl kaum heute aufgetaucht.« »Stimmt«, gab Dorian zu. »Er kann nur von meiner Hand sterben. Das hat Asmodi so verfügt. Und er unternimmt alles, damit ich ihn töte.« »Du glaubst also, dass er für die Verwüstung im Schlafzimmer zuständig ist?« Dorian nickte. »Da ich seinen Vorschlag zu einer Zusammenarbeit abgelehnt habe, will er nur noch eines: den Tod. Und da ich mich weigerte, ihn zu töten, will er mich durch solche Aktionen reizen. Er weiß, dass Lilian mein schwacher Punkt ist. Und das nützt er weidlich aus.« »Dann töte ihn doch!«, fauchte Cohen. »Du bist doch sonst nicht so zartbesaitet.« »Mir wird wohl nichts anderes übrigbleiben, sonst treibt er noch Lilian in den Wahnsinn. Ich verlasse morgen London, Marvin. Ich nahm Dr. Lannons Angebot an. Wir fahren in sein Haus nach Darkpool.« »Das finde ich vernünftig«, sagte Cohen. »Parker flog mit seiner Freundin nach Frankfurt«, berichtete Dorian. »Und was ist mit Machu Picchu?« »Das ist das Problem. Sie will unbedingt bei mir bleiben. Doch das ist unmöglich. Sie wird in der Jugendstilvilla wohnen, bis ich aus Darkpool zurück bin. Kümmere dich ein wenig um sie! Sie versteht sich mit Phillip recht gut, aber sie ist so hilflos. Sie passt einfach
nicht in unsere Zeit.« »Für einen Wissenschaftler wäre sie aber recht interessant«, sagte Cohen. »Das will ich ihr nicht antun«, sagte Dorian. »Sie hätte keinen Augenblick mehr Ruhe.« Cohen stand auf. »Pass gut auf Lilian auf!«, sagte er. Dorian trank noch einen Schluck. Er hatte sich lange mit Machu Picchu unterhalten, ihr aber nicht zu sagen gewagt, dass es für sie beide zusammen keine Zukunft geben konnte. Dann wanderten seine Gedanken weiter zu Hewitt. Er war sicher, dass der Freak hinter den Verwüstungen steckte.
Dorian und Lilian befanden sich nun schon seit fünf Tagen in Darkpool, einem kleinen alten Ort in der Nähe von Greenock. Nach Glasgow waren es nur etwas mehr als dreißig Kilometer. Das Dorf war mehr als dreihundert Jahre alt, und die Häuser sahen auch so aus; sie waren alt und klein, die meisten dunkel gestrichen. Die Dorfbewohner waren hauptsächlich alte Leute; die jungen wohnten lieber in Greenock. Hier schien die Zeit stillzustehen. Man sah kaum Autos, und das Leben der Dorfbewohner verlief monoton. Dr. Lannons Haus unterschied sich in nichts von den anderen Häusern. Es lag am Ende des Dorfes, etwas abseits. Lilian war in den Tagen, seit sie sich in Darkpool aufhielten, förmlich aufgeblüht. Ihr Gesicht hatte Farbe bekommen, und sie war vergnügt und überhaupt nicht mehr ängstlich. Die meisten der Dorfbewohner kannte sie noch von ihrer Kindheit her. Anfangs war sie im Ort zur Schule gegangen und später dann in ein Internat in Glasgow. Ihre Eltern waren vor einigen Jahren bei einem Feuer umgekommen, bei dem ihr Haus bis auf die Grundmauern abgebrannt war. Lilian ließ es sich nicht nehmen, täglich das Grab ihrer Eltern zu besuchen. Der Dorffriedhof war nur wenige hundert Meter entfernt. Dorian versuchte sich an seine Frau zu gewöhnen, doch es wollte
ihm nicht gelingen. Er langweilte sich unendlich an ihrer Seite. Manchmal kam sie ihm wie ein kleines Mädchen vor, das ausgelassen herumtollte, über die dümmsten Dinge zu kichern begann und stundenlang vor sich hin träumen konnte. Sie blieb eine Fremde für ihn. Als er einmal zärtlich wurde, hatte sie ihn zurückgestoßen. Sie kam ihm wie eine spröde Jungfrau vor, die ängstlich jeder seiner Berührungen auswich. Schließlich hatte Dorian resigniert; er machte nun keinerlei Anstalten mehr, sich Lilian zu nähern. Er hatte Zeit, unendlich viel Zeit. Meist dachte er nach. Und seine Gedanken waren voller Bitterkeit. Er wunderte sich, dass in den fünf Tagen nichts Seltsames geschehen war. Lilian hatte keine Albträume und sah keine furchteinflößenden Gestalten mehr. Alles war ruhig, zu ruhig für Dorians Geschmack. Die Dorfbewohner grüßten ihn freundlich, vermieden aber jedes Gespräch mit ihm. Zweimal war er abends auf ein Bier ins Pub gegangen, doch bei seinem Eintritt waren die Gespräche verstummt. Alle hatten sich peinlich berührt abgewandt und dann nur noch flüsternd unterhalten. Der Dämonenkiller saß vor dem Haus. Die Beine hatte er auf einen Tisch gelegt. Er rauchte eine Zigarette, sah den Schwalben nach und wandte den Kopf herum, als er das Knarren des Gartentors hörte. Lilian trat fröhlich pfeifend in den kleinen Vorgarten. »Hier sind die Zeitungen!«, rief sie und warf Dorian einen missbilligenden Blick zu. Er nahm die Beine vom Tisch und griff nach den Zeitungen. Lilian stellte ihre Einkaufstasche ab und setzte sich ihm gegenüber. »Könnten wir nicht einen Ausflug machen, Lil?«, fragte Dorian. »Vielleicht nach Ayr?« »Nein. Ich will nicht fort. Hier gefällt es mir viel besser. Wir können spazieren gehen.« Dorian seufzte. »Um ganz ehrlich zu sein, Lil, ich langweile mich tödlich.« »Ich langweile mich aber nicht«, erwiderte sie trotzig. Sie stand auf, packte die Tasche und verschwand ins Haus. Dorian
hörte sie fröhlich singen, und sein Gesicht verdüsterte sich. Er knüllte die leere Zigarettenschachtel zusammen und blätterte die Zeitungen flüchtig durch. Dann sprang er auf, griff nach seiner Jacke, hing sie sich über die Schultern, trat aus dem Garten und schlenderte langsam ins Dorf. Er grüßte einige Leute, die seinen Gruß nur knapp erwiderten. Im Tabakladen kaufte er sich eine Schachtel Players, dann ging er ins Pub. Die Eingangstür stand halb offen. Dorian blieb davor stehen, riss das Zigarettenpäckchen auf und schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen. »Ich sage euch«, hörte er aus dem Inneren des Pubs eine brummige Männerstimme, »daran ist nur der Fremde schuld.« Dorian horchte interessiert. »Quatsch!«, sagte eine andere Stimme. »Aber ich habe den Geist selbst gesehen!«, schrie ein Dritter. »Gestern – kurz nach Einbruch der Dunkelheit.« »Das ist doch Kindergeschwätz.« »Willst du vielleicht behaupten, dass ich mich geirrt habe?« »Nein, Fred, das nicht. Aber …« »Ich habe den Dämon gesehen. Er schwebte über dem Friedhof. Als ich näher kam, verschwand er.« »Der Dämon ist seit vielen Jahren nicht mehr gesehen worden, Fred. Und seit einigen Tagen behaupten vier Leute, dass sie ihn gesehen haben.« »Daran ist dieser Hunter schuld. Durch sein Erscheinen hat er den Herrn der Toten aufgeweckt.« Dorian stieß die Tür auf und trat ins Pub. »Guten Tag!«, sagte er laut und ging zum Tresen, hinter dem der Pubbesitzer stand. Er war ein schmächtiges Männchen. Sein hagerer Kopf war völlig kahl. An einem Tisch saßen drei Männer, die betreten in ihre Gläser starrten. »Ein Lager!«, verlangte Dorian. Er drehte sich um und musterte die Drei. Als er das Bier bekam, trank er das Glas mit einem Zug halbleer. »Zahlen, Jim!«, sagte einer der Männer. »Einen Augenblick!«, bat der Dämonenkiller. Er stieß sich vom
Tresen ab und baute sich vor den Männern auf. »Ich hörte einen Teil Ihres Gespräches. Sie erwähnten etwas von einem Herrn der Toten. Und dann wurde gesagt, dass ich am Auftauchen dieses Dämons schuld sei.« Im Pub war es still. Nur einige Fliegen summten durch die Gaststube. »Nun, was ist? Habt Ihr die Sprache verloren?« Die Drei sagten kein Wort. »Wer von Ihnen ist Fred?« Ein rotgesichtiger Mann hob den Kopf. Sein rotblondes Haar stand wie eine Bürste hoch. Das Gesicht war aufgedunsen, und unter den Augen zeichneten sich dicke Tränensäcke ab. »Ich bin Fred«, sagte der Mann. »Erzählen Sie mir etwas über diesen Dämon!«, forderte Dorian scharf. »Das hat Sie nicht zu interessieren, Mr. Hunter«, sagte Fred. »Da irren Sie sich aber gewaltig«, stellte Dorian fest. »Sie stellen Behauptungen auf, und wenn ich Sie dann zur Rede stelle, wollen Sie nichts mehr davon wissen. Kommen Sie, erzählen Sie mir etwas über den Dämon!« Fred schob den Stuhl zurück, warf eine Münze auf den Tisch und verschwand grußlos aus dem Pub. »Sie dürfen nichts auf sein Gerede geben, Mr. Hunter«, sagte ein alter Mann. »Dann erzählen Sie mir etwas über den Dämon!« »Das ist doch alles nur Aberglauben. Angeblich soll seit vielen Jahren auf dem Friedhof ein Dämon hausen. Aber solche Geschichten darf man nicht ernst nehmen. Das wird von fast jedem Friedhof in Schottland behauptet, so wie es in jedem zweiten Haus spuken soll. Weibergeschwätz.« »Dieser Fred hat aber behauptet, dass er einen Geist gesehen habe.« »Er trinkt gern.« Der Alte grinste. »Und da sieht er allerhand.« Der Dämonenkiller war überzeugt, dass der Alte nicht die Wahrheit sprach, doch er war genauso sicher, dass er keine weiteren In-
formationen erhalten würde. Er kehrte an den Tresen zurück, trank sein Bier aus, zahlte und ging. Er hätte Lilian fragen können, ob sie jemals zuvor etwas von einem Dämon gehört hatte, der sich auf dem Friedhof aufhielt, aber er wagte es nicht, da er befürchtete, dass sie einen Rückfall erleiden könnte. Wie jeden Tag gingen sie nach dem Mittagessen gemeinsam auf den Friedhof. Lilian pflückte unterwegs einige Blumen, und nach wenigen Minuten hatten sie den kleinen Friedhof erreicht. Kein Mensch war zu sehen. Sie gingen durch die Grabreihen und blieben schließlich vor dem Grab der McCoys stehen. Der Grabhügel sah verwüstet aus. Überall klafften Löcher im Rasen. Dorian bückte sich und sah sich die Löcher genau an. Sie waren nicht tief und hatten eine seltsame gelbe Farbe. Er glaubte, den Abdruck einer Hand zu erkennen. »Maulwürfe.« Er wusste jedoch ganz genau, dass die Löcher nicht von Maulwürfen verursacht worden waren. »Ich weiß«, sagte Lilian gleichgültig. Sie legte die Blumen auf den Grabhügel, trat einen Schritt zurück, faltete die Hände, schloss die Augen, und ihre Lippen bewegten sich leicht. Dorian studierte die anderen Grabhügel; auf denen sah er keines der seltsamen Löcher. Er runzelte die Stirn. Die Abdrücke wollten ihm gar nicht gefallen. Er dachte an das Gespräch, das er im Pub mit angehört hatte. Sollte es hier tatsächlich einen Dämon geben? Dieser Fred hatte aber behauptet, dass der Geist erst nach Dorians Erscheinen wieder aufgetaucht sei. Er erinnerte sich an die seltsamen Ereignisse in London. Es kann nichts schaden, dachte der Dämonenkiller, wenn ich heute Nacht zum Friedhof gehe. Mal sehen, ob es da tatsächlich einen Dämon gibt. Dorian war ziemlich einsilbig, als sie zum Haus zurückkehrten.
Lilian unterhielt sich mit einer alten Frau, und Dorian ging einstweilen in den Garten. Nach einigen Schritten blieb er überrascht stehen. Vom Gartentor zum Haustor zog sich ein schmaler Sandpfad, und im Sand waren deutlich Fußspuren zu sehen. Dorian bückte sich und studierte die Fußspuren. Diese Spuren hatte er schon einmal gesehen. Damals waren sie blutig gewesen. Sie hatten aus dem Badezimmer zum Schlafzimmer geführt. Diesmal schimmerten sie gelb – so wie die Löcher im Grabhügel. Dorian hob den Kopf. Seine Frau unterhielt sich noch immer mit der Alten. Rasch verwischte er mit dem rechten Fuß die gelben Abdrücke und lief ins Haus. Er durchsuchte alle Zimmer, fand aber keine Fußspuren und auch sonst nichts Verdächtiges. Lilian gegenüber machte er keine Erwähnung von seiner Entdeckung. Er wollte alles Erschreckende von ihr fernhalten. Im Fernsehen sah er sich die Galopprennen in Newmarket an, drehte aber nach dem dritten Rennen ab. Was haben diese Fußspuren zu bedeuten? fragte er sich immer wieder. Und vor allem, wer steckte dahinter? Hewitt? Der Freak wusste, dass er nach Darkpool gefahren war. Oder hatte Olivaro seine Hände im Spiel? Er ging ruhelos im Zimmer auf und ab, während Lilian ihren Nachmittagsschlaf hielt. Der Abend war so langweilig verlaufen wie die Abende zuvor. Nach dem Abendessen hatten sie sich einen Western mit Gary Cooper im Fernsehen angeschaut. Danach waren sie ins Bett gegangen: Lilian las noch eine halbe Stunde, dann drehte sie das Licht aus. Dorian wartete noch etwas; er wollte sicher sein, dass Lilian tief schlief; denn er beabsichtigte, dem Friedhof einen Besuch abzustatten. Ein leichter Wind war aufgekommen, der von Minute zu Minute stärker wurde. Er rüttelte an den Fensterläden. In das Heulen des Windes mischte sich schließlich das Prasseln des Regens. Irgendwann nickte Dorian ein. Plötzlich schreckte er hoch. Der Wind hatte sich gelegt. Auch das Trommeln des Regens gegen die
Fensterläden war nicht mehr zu hören. Er drehte sich vorsichtig auf den Rücken und hielt den Atem an. Im Zimmer war es völlig still. Er erinnerte sich, dass er auf den Friedhof wollte. Vorsichtig streckte er die rechte Hand aus und tastete sich langsam vor. Das Laken war zurückgeschlagen. Lilian lag nicht im Bett. Dorian setzte sich auf und drehte das Licht an. Lilians Kleider hingen über dem Stuhl. Sie konnte also nicht weit sein. Er blickte auf die Uhr. Es war zehn Minuten nach Mitternacht. Rasch sprang er aus dem Bett. Er trat aus dem Schlafzimmer. Im Haus war es dunkel. »Lilian?« Keine Antwort. Er lief in die Diele. Die Haustür stand weit offen. Dorian kehrte ins Schlafzimmer zurück, kleidete sich rasch an, riss einen Schrank auf und holte einen Koffer hervor, in dem sich ein Teil seiner Ausrüstung befand. Er hing sich ein Amulett um den Hals und steckte die Spezialpistole ein. Er klappte den Koffer zu, überlegte eine Sekunde und entschied sich, dass er den Koffer für alle Fälle mitnehmen würde. Er lief aus dem Haus und knipste die Stablampe an. Deutlich zeichneten sich Fußspuren ab, die vom Haus zum Gartentor führten. Es waren die Abdrücke kleiner nackter Füße. Der Dämonenkiller lief durch den Garten. Auf der Straße blieb er stehen. Auch hier waren die Fußspuren zu sehen. Sie führten nach links – in Richtung Friedhof. Der Himmel war mit dunklen Wolken bedeckt, die den Mond verbargen. Es war so dunkel, dass man nur wenige Meter weit sehen konnte. Dorian rannte los. Immer wieder ließ er die Stablampe aufblitzen. Nach fünfzig Metern hörten die Fußspuren auf. Ein schmaler Pfad zog sich zum Friedhof hin. Die dunklen Wolken rissen auf und der Mond kam hervor. Sein bleicher Schein tauchte die Landschaft in geisterhaftes, unwirkliches Licht. Der Dämonenkiller betrat den kleinen Dorffriedhof und blieb stehen. Ein seltsames Geräusch war zu hören – knarrend und durchdringend. Jemand kicherte neben ihm. Er ließ die Stablampe aufblitzen, doch niemand war zu sehen. Dann hörte er das Flötenspiel. Es
schien aus dein Nichts zu kommen. Es waren schrille, disharmonische Laute, die immer schauriger klangen. Eine schemenhafte Figur tanzte auf ihn zu. Als er die Lampe wieder anknipste, erstarb das Flötenspiel und die Gestalt war nicht mehr zu sehen. Er löschte die Lampe … das Flötenspiel setzte wieder ein, und die Gestalt umtanzte ihn. Langsam konnte er Einzelheiten erkennen. Das Wesen ähnelte den Darstellungen des Gottes Pan. Eine kalte Hand legte sich in seinen Nacken. Er drehte sich rasch um. Nichts war zu sehen. Genug des Unsinns!, dachte der Dämonenkiller. Mit der Taschenlampe leuchtete er den Boden ab. Nach kurzem Suchen fand er die Fußabdrücke, die zwischen den Grabreihen genau auf das Grab der McCoys zuführten. Ein schabendes Geräusch war zu hören. Sand prasselte gegen den Grabstein. »Lilian!«, brüllte Dorian so laut er konnte. »Lilian!«, hallte es ihm von allen Richtungen entgegen, so als würde sich eine gewaltige Echoanlage auf dem Friedhof befinden, die seinen Ruf verstärkt hatte und ihn hundertfach zurückwarf. Hinter sich hörte Dorian Schritte. Er wandte den Kopf um, doch niemand war zu sehen. Die Schritte kamen näher. Ein eisiger Hauch trieb auf ihn zu. Dann verhallten die Schritte. Im Grabhügel vor ihm klaffte plötzlich ein Loch, das rasch größer wurde. Eine Skeletthand kam hervor. Der Dämonenkiller stellte seinen Koffer ab, öffnete ihn und löste die Schlaufen, die ein armlanges Krummschwert hielten. Er nahm das Schwert in die rechte Hand und schlug mit voller Wucht auf die Knochenhand, die zersplitterte. Ein Teil des Grabhügels senkte sich. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück, als zwei Skelette aus der Öffnung hervorkrochen. Sie sprangen ihn augenblicklich an. Er schlug mit dem Krummschwert zu und durchtrennte den Lendenwirbel des einen. Das zweite Skelett griff mit beiden Händen nach ihm. Dorian legte alle Kraft in seinen Schlag. Diesmal traf er besser. Die scharfe Schneide durchtrennte den Halswirbel; der Totenschädel flog davon. Das Skelett brach zusammen. Das Zweite
kroch auf ihn zu, und auch diesem schlug er den Schädel ab. Der Dämonenkiller lief an den beiden Knochenhaufen vorbei zum Grab der Eltern seiner Frau. Vor dem Grab blieb er stehen. Lilian saß mit geschlossenen Augen auf dem Grabhügel. Sie war nur mit einem dünnen Nachthemd bekleidet. »Lil«, sagte Dorian und legte das Schwert auf den Boden. Er griff nach den Schultern seiner Frau, doch sie reagierte nicht. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Er rüttelte sie. »Hörst du mich, Lil?« »Ich musste herkommen«, flüsterte seine Frau. »Ich musste einfach kommen. Die Toten rufen mich. Hörst du sie? Sie sprechen zu mir. Ich soll zu ihnen kommen. Sie sind ohne mich so einsam. Ich muss zu ihnen.« »Du kommst mit«, sagte der Dämonenkiller und riss sie hoch. »Ich will hier bleiben«, hauchte sie. Dorian zerrte seine Frau vom Grab fort. Nach einigen Schritten blieb sie verwundert stehen. »Wie komme ich hierher?«, fragte sie überrascht. »Das frage ich mich auch«, meinte Dorian sarkastisch. »Nicht unbedingt der richtige Zeitpunkt, um das Grab deiner Eltern zu besuchen.« »Ich kann mich nicht genau erinnern«, sagte sie nachdenklich. »Ich wachte auf und hörte eine Stimme. Irgendetwas trieb mich hierher.« Dorian sagte nichts. Er hängte seiner Frau seine Jacke um die Schultern, griff nach dem Schwert und legte es in den Koffer zurück. Dann nahm er ihren rechten Arm und führte sie durch die Grabreihen. Von den beiden Skeletten, die ihn angegriffen hatten, sah er nichts. Der Grabhügel, aus dem sie gekrochen waren, war wieder zugeschüttet. Lilian ging wie in Trance. Als sie zu Hause waren, legte sie sich wortlos ins Bett und schlief augenblicklich ein. Dorian sah lange Zeit seine schlafende Frau an. Irgendetwas hatte sie auf den Friedhof gelockt, und er fragte sich, was wohl geschehen wäre, wenn er sich nicht auf die Suche nach Lilian gemacht hätte. Dorian stellte den Koffer in den Schrank zurück. An Schlaf war im Augenblick nicht zu denken; dazu spukte zuviel in seinem Kopf
herum. Weshalb wurde Lilian auf den Friedhof gelockt? Die Toten riefen sie – das waren ihre Worte gewesen. Irgendjemand war brennend daran interessiert, seine Frau in den Wahnsinn zu treiben oder sie zu töten. Dorian holte sich eine Flasche Bier und ging im Zimmer auf und ab. Alles hatte mit Hewitts Auftauchen begonnen. In der ersten Nacht, die Dorian in der Abraham Road verbracht hatte, war seiner Frau ein Monster erschienen; und am nächsten Tag hatte sie die seltsamen Erscheinungen gesehen, die ihm verborgen geblieben waren; erst die Verwüstung im Schlafzimmer hatte er mit eigenen Augen sehen können. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, da er vor dem Haus laute Geräusche hörte. Irgendetwas krachte zu Boden, und ein unterdrückter Schrei war zu hören. Der Dämonenkiller stellte die Bierflasche ab und rannte aus dem Haus. Die dunklen Wolken hatten sich verzogen. Der tiefstehende Mond spendete genügend Licht, um die schaurige Szene zu erhellen. Ein Monster hockte vor dem Gartenzaun. Bis auf einen Lendenschurz war es nackt. Der Schädel war nur undeutlich zu erkennen, Dorian fielen die hoch angesetzten Spitzohren auf. Kopf und Schultern waren mit dichtem, langem Haar bedeckt. Die Augen des Monsters schimmerten glutrot, das Maul stand weit offen und entblößte ein Raubtiergebiss mit spitzen Fangzähnen. Die Finger und Zehen waren gekrümmte gelbe Krallen. Das Ungeheuer hielt eine kleine Gestalt in den Armen, und das geifernde Maul schnappte nach der Kehle des Unglücklichen. »Hewitt!«, rief Dorian und rannte los. Das Monster verbiss sich in Hewitts Kehle, und die spitzen Krallen zerfetzten seine Jacke, rissen blutige Striemen auf seinem Rücken. Hewitt heulte gepeinigt auf. Dorian holte sein Amulett heraus und hielt es dem Monster entge-
gen, das darauf überhaupt nicht reagierte. Das Amulett funkelte im Mond. »Hilf mir, Dorian!«, krächzte der Freak. Der Dämonenkiller kam vorsichtig näher. Er zog seine Spezialpistole, zielte auf den hässlichen senffarbenen Schädel des Monsters und drückte ab. Ein fingerdicker Bolzen bohrte sich tief in die Stirn des Ungeheuers. Für einen Augenblick wurde die geduckte Gestalt des Scheusals durchscheinend, dann löste es sich einfach in der Luft auf und ließ einen ziemlich ramponierten Hewitt zurück, der auf dem Boden hockte und den Dämonenkiller ansah. »Das Biest hätte mich nicht töten können«, sagte Hewitt und stand langsam auf. »Niemand außer dir kann mich töten. Trotzdem herzlichen Dank für deine Hilfe.« Der Dämonenkiller richtete die Pistole auf Hewitt. »Ich hätte gute Lust, dir einen Bolzen ins Herz zu schießen«, sagte er grimmig. »Tu es doch!«, drängte Hewitt. Der Dämonenkiller senkte langsam die Waffe und bückte sich. Er untersuchte die Fußspuren, die das Ungeheuer hinterlassen hatte. Es gab keinen Zweifel – es waren die gleichen, die er nachmittags gesehen hatte; und das Ungeheuer hatte mit Hewitt gekämpft. Ein Beweis dafür, dass das Monster nichts mit Hewitt zu tun hatte. »Wer ist das Monster?«, fragte Hunter und richtete sich auf. »Da bin ich überfragt«, sagte Hewitt. Die Wunden, die ihm das Ungeheuer zugefügt hatte, schlossen sich innerhalb von wenigen Sekunden. »Ich wollte dich besuchen und betrat den Garten. Da tauchte das Scheusal plötzlich auf. Es schien aus dem Nichts zu kommen. Ohne Warnung sprang es mich an und wollte mich töten. Ich habe es nie zuvor gesehen.« »Weshalb wolltest du mich besuchen, Hewitt?« »Eine Abordnung der Dämonenfamilien, die sich gegen Olivaro verbündet haben, trifft sich morgen im Hinterzimmer des Pubs hier im Ort. Sie wollen mit dir sprechen.« »Kein Interesse«, sagte Dorian abweisend. »Nun zu dir, Hewitt. Irgendjemand versuchte meine Frau zu töten – und ich vermute stark,
dass du und deine Dämonenfreunde dahinterstecken. Ich warne dich und deine Freunde! Wenn noch einmal ein Anschlag auf Lilian verübt wird, dann rotte ich die ganze Sippe aus.« »Du irrst dich, Dorian«, sagte Hewitt. »Niemand von uns unternahm etwas gegen Lilian oder dich. Das kannst du mir glauben. Mir tut es Leid, dass ich damals bei dir im Haus von Lilian gesehen wurde, aber mit den anderen Dingen haben ich und meine Freunde nichts zu tun. Das kann ich dir garantieren. Die Dämonenfamilien wollen dich doch als Verbündeten. Weshalb sollten sie dann etwas gegen Lilian unternehmen?« Das hatte etwas für sich, musste Dorian widerstrebend zugeben. »Wer steckt dann hinter diesen Anschlägen? Olivaro?« Hewitt hob die Schultern. »Das glaube ich nicht«, meinte er. »Er hat doch keinerlei Interesse daran, dass Lilian getötet wird. Das muss dir doch klar sein.« »Das ist mir eigentlich nicht klar«, sagte Dorian. »Dann denk einmal darüber nach! Kommst du in den Pub, um dich mit den Abgesandten der Familien zu treffen?« »Ich werde es mir noch überlegen.« Hewitt nickte ihm flüchtig zu, öffnete das Gartentor und verschwand in der Dunkelheit. Dorian starrte lange den Mond an. Wenn hinter dem Anschlag auf Lilian tatsächlich nicht Hewitt und seine Dämonenfreunde steckten, wer dann? Die Anschläge hatten sich nie gegen ihn gewandt, außer heute, wo die beiden Skelette auf ihn losgegangen waren; aber es war wahrscheinlicher, dass die Skelette sich an Lilian hätten vergreifen sollen. Plötzlich fiel ihm sein Gespräch mit Sullivan ein. Coco hatte von Cohen verlangt, er sollte nichts unternehmen, um Lilian zu helfen. Sie wollte nicht, dass Lilian geheilt wurde. Aber was bezweckte Coco damit? Weshalb wollte sie, dass Lilian nicht gesund wurde? Der Dämonenkiller zermarterte sich das Gehirn, suchte nach einer Antwort, fand aber keine, die ihn befriedigte. Unwillig ging er ins Haus zurück, sperrte ab und trank die Flasche Bier leer.
Lilian konnte sich an die Ereignisse der vergangenen Nacht nur undeutlich erinnern. Sie war auch nicht interessiert, darüber zu sprechen. Dorian fühlte sich müde und war gereizt. Er hatte unruhig geschlafen, war immer wieder hochgeschreckt und von Albträumen verfolgt worden, in denen er gegen fürchterliche Ungeheuer gekämpft hatte. Seit Tagen hatte er nichts mehr von Sullivan gehört. Da es im Haus kein Telefon gab, wollte er nachmittags vom Postamt aus London anrufen. Er wollte wissen, wie es Machu Picchu und den anderen ging. Aber wahrscheinlich war nichts Ungewöhnliches geschehen; sonst hätte sich Sullivan sicherlich mit ihm in Verbindung gesetzt. Lilian bestand auf einen ausgiebigen Spaziergang, und Dorian stimmte schließlich zu. Sie gingen kurz auf den Friedhof. Die Löcher im Grab von Lilians Eltern waren verschwunden; auch sonst waren keine Spuren von den nächtlichen Vorfällen zu bemerken. Sie wanderten durch einen kleinen Wald und erreichten eine Wiese, die zu einem bizarr geformten Hügel führte. Lilian setzte sich auf einen Stein, riss einen Grashalm ab und kaute darauf herum. »Ich sehe mich mal kurz in der Gegend um, Lil«, sagte er nach einer Weile, und seine Frau nickte gleichgültig. Er stieg langsam den Hügel hoch, und plötzlich stutzte er. Deutlich waren die gelben Krallenabdrücke im Sand zu sehen. Das Monster trieb sich also in der Gegend herum. Dorian warf seiner Frau einen Blick zu. Sie saß noch immer auf dem Stein und summte zufrieden vor sich hin. Er folgte den Krallenabdrücken. Sie führten den Hügel hinauf. Nach fünfzig Schritten hörten sie plötzlich auf. Der Dämonenkiller suchte weiter, und nach einiger Zeit entdeckte er die Fußabdrücke wieder. Sie führten zu einer Höhle. Vor der Höhle blieb der Dämonenkiller unschlüssig stehen. Hatte er zufällig das Versteck des Monsters entdeckt? Er hatte seine Pistole bei sich, eine Bleistifttaschenlampe und sein Amulett. Das Amulett hatte aber gestern keinerlei Wirkung hervor-
gerufen. Er überlegte, ob er das Wagnis auf sich nehmen und in die Höhle gehen sollte. Nach kurzem Nachdenken entschied er sich dafür. Er betrat die Höhle. In der linken Hand hielt er die Lampe, in der rechten die Pistole. Die Wände waren dunkel und feucht. Die Decke war ziemlich niedrig. Nach einigen Schritten verbreiterte sich der Gang. Dorian sah eine Bewegung vor sich und knipste die Lampe aus. Vorsichtig ging er weiter, bemüht, kein Geräusch zu verursachen. Nach einem Dutzend Schritten drückte er sich gegen die Wand. Irgendjemand näherte sich langsam. Dorian hob die Lampe und knipste sie wieder an. Der schmale Lichtstreif fiel auf eine breitschultrige Gestalt. »Cohen!«, rief der Dämonenkiller überrascht aus, als er seinen Gefährten erkannte. »Was machst du hier?« Marvin Cohen kam rasch näher. »Wenn ich ehrlich sein soll, dann bin ich nicht sehr erfreut, dass du mich entdeckt hast, Dorian.« »Und weshalb?« »Sullivan und ich hielten es für besser, wenn ich nach Darkpool fahre. Ich sollte auf dich und Lilian aufpassen.« »Seit wann bist du hier?« »Seit heute«, sagte Cohen. »Wir hörten Gerüchte, dass im Dorf ein Monster hausen soll. Die Dorfbewohner nennen es den Herrn der Toten. Ich sah mich ein wenig in der Umgebung um und da entdeckte ich seltsame Krallenabdrücke. Ich folgte ihnen und gelangte schließlich zu dieser Höhle, durchsuchte sie, fand aber keine Spuren von dem Monster.« »Dann brauche ich die Höhle nicht zu durchsuchen«, meinte Dorian. »Was gibt es Neues in London? Hat sich Parker schon gemeldet?« »Alles in Ordnung«, sagte Cohen. »Parker hat sich nicht gerührt.« Dorian zögerte mit seiner nächsten Frage. »Was ist mit Machu Picchu?« »Sie spricht mit keinem Menschen«, sagte Cohen. »Sie sitzt den ganzen Tag vor dem Fenster, sieht in den Garten und kümmert sich
um nichts. Es kommt mir so vor, als hätte sie mit dem Leben abgeschlossen und wäre nur zu ängstlich, um Selbstmord zu begehen.« Sie traten aus der Höhle und blieben stehen. »Wie geht es deiner Frau?«, fragte Cohen zögernd. »Gut«, sagte Dorian. »Es ist vielleicht vorteilhaft, dass du gekommen bist, Marvin. Gestern geschahen einige seltsame Dinge.« Er berichtete ihm von den Vorfällen. »Dieses Monster existiert also tatsächlich«, sagte Cohen nachdenklich. »Und es lockte Lilian auf den Friedhof. Aber es kann doch nicht hinter den Ereignissen in London stecken, oder?« »Das ist eben die Frage. Es kann uns von London gefolgt sein.« »Das wäre eine Möglichkeit«, stimmte Cohen zu. »Aber irgendjemand muss für die Entstehung der Bestie verantwortlich sein. Hewitt und seine Freunde scheiden mehr oder minder aus. Und Olivaro hat damit auch nichts zu tun.« »Wie kannst du da so sicher sein?« »Wir bekamen eine Botschaft von Olivaro«, sagte Cohen. »Er wird so lange nichts gegen dich unternehmen, solange du brav und friedlich bleibst und dich nicht wieder zum Dämonenkiller entwickelst. Im Augenblick stellst du für ihn keine Gefahr dar. Aber die Situation würde sich grundlegend ändern, wenn du dich mit den Dämonenfamilien, die gegen Olivaro opponieren, verbündest.« »Das scheidet aus«, sagte Dorian. »Ich habe nicht die Absicht, mich den Dämonen anzuschließen.« Er leckte sich über die Lippen. Olivaro hatte völlig Recht. Im Augenblick stellte er keine Gefahr dar. Er war zu einem Spießbürger geworden, der sich um seine Frau kümmern musste. Lilian war ein Hemmschuh für ihn. An ihrer Seite konnte er den Kampf gegen die Dämonen auf keinen Fall weiterführen. Sie gingen langsam den Hügel hinunter. Als sie Lilian sahen, blieben sie stehen. Sie wandte ihnen den Rücken zu. »Ich will nicht, dass Lilian weiß, dass ich hier bin«, sagte Cohen rasch. »Rede keinen Unsinn!«, sagte Dorian. »Du kannst bei uns im Haus wohnen.«
»Ich habe mir ein Zimmer bei einer alten Frau gemietet. Ich will nicht bei euch wohnen.« Lilian wandte den Kopf um. Sie erblickte Dorian und Marvin, stand auf, winkte ihnen zu und kam ihnen entgegen. Sie strahlte Cohen an, der ihr reserviert die Hand drückte und sich leicht verbeugte. Lilian und Dorian versuchten Cohen dazu zu bringen, dass er bei ihnen wohnte, doch er wollte nicht; er blieb stur. Er ließ sich aber dazu überreden, das Mittagessen mit ihnen gemeinsam einzunehmen. Nach dem Essen unterhielten sich Dorian und Cohen einige Zeit. Cohen wollte auf eigene Faust das Monster jagen. Dorian war noch immer zu keiner Entscheidung gelangt, ob er dem Zusammentreffen der Dämonen beiwohnen sollte. Cohen meinte, dass es auf keinen Fall schaden konnte. Nach dem Abendessen hoffte Dorian, dass Marvin kam, da er sich entschlossen hatte, in den Pub zu gehen und mit den Dämonen zu sprechen. Doch Cohen tauchte nicht auf, und allein wollte er nicht gehen, da er Angst hatte, dass in der Zwischenzeit etwas mit Lilian geschehen könnte. Und er wusste ganz genau, dass sie sich weigern würde, mit in den Pub zu kommen. Er musste sich etwas einfallen lassen. »Wo steckt nur Cohen?«, fragte Dorian schließlich. »Er hätte schon längst da sein sollen. Wahrscheinlich sitzt er in der Kneipe und trinkt sich einen an.« »Das würde Marvin sicherlich nicht tun«, sagte Lilian. »Da kennst du ihn aber schlecht«, sagte der Dämonenkiller. Lilian blickte ihn böse an. »Du kannst Marvin nicht besonders leiden?« »So würde ich das nicht ausdrücken«, wich Dorian aus. »Was hast du gegen ihn?« »Nichts, Lil«, sagte Dorian ungeduldig. Es hatte nur wenig Sinn, seiner Frau etwas über Cohen zu erzählen. Sie wäre entsetzt gewesen, wenn er ihr von Cohens brutalen Handlungen erzählen würde, aber wahrscheinlich hätte sie ihm kein
Wort geglaubt. »Ihr versteht euch nicht besonders«, sagte Lilian anklagend. »Dabei ist Marvin so ein netter Bursche. Er hat sich um mich gekümmert, als du nicht in London warst. Er ist freundlich und entgegenkommend.« So war er vielleicht Lilian gegenüber, dachte Dorian, aber sonst war Cohen einer der hartgesottensten Männer, die er je in seinem Leben kennen gelernt hatte. »Vielleicht hast du Recht«, sagte Dorian und stand auf. »Ich gehe ihn suchen.« »Lass mich nicht allein!«, bat Lilian. »Dann komm mit!« »Er wird schon kommen«, sagte Lilian. »Ich habe keine Lust, ewig zu warten«, brummte Dorian. »Entweder du kommst mit oder …« »Ich komme mit«, sagte Lilian rasch. Sie schlüpfte in eine Jacke und folgte dem Dämonenkiller, der aus dem Haus trat und die Haustür absperrte. »Gehen wir zuerst zu Mrs. Clarke, wo Marvin ein Zimmer gemietet hat?« Dorian schüttelte den Kopf. »Zuerst sehen wir mal im Pub nach, dann gehen wir zu Mrs. Clarke.« »Ich bin ganz sicher, dass Marvin nicht im Pub ist, Dorian. Er ist nicht so wie du. Er macht sich nichts aus solchen Lokalen.« Gott erhalte dir deinen Kinderglauben! dachte Dorian. Er kannte Cohen besser. Nach wenigen Minuten hatten sie den Pub erreicht. Dorian blieb stehen. Im Lokal war es überraschend ruhig. Er war dort einmal abends gewesen, und da war es recht lautstark zugegangen. Er öffnete die Tür, hielt sie auf, und Lilian trat ein. Zu Dorians Überraschung war die Schankstube bis auf den Besitzer leer. »N'Abend«, sagte der Dämonenkiller. »Ich sagte dir doch, dass Marvin nicht hier ist«, stellte Lilian triumphierend fest. »Wir können gleich zu Mrs. Clarke weitergehen.« Dorian hörte nicht auf sie. Er trat an den Tresen und sah den
Pubbesitzer an. Seine Augen wirkten glasig, und seine Bewegungen waren fahrig. »Was ist denn heute bei Ihnen los?« Der Mann reagierte nicht. Dorian wandten den Kopf um. Hinter einer geschlossenen Tür war Stimmengewirr und Gelächter zu hören. »Sie haben wohl eine Feier?« »So kann man es auch nennen«, meinte der Kneipenbesitzer. »Ich will gehen, Rian«, sagte Lilian. »Wir trinken einen Schluck und dann gehen wir«, sagte Dorian ungeduldig. »Lass uns gehen!«, bat Lilian nochmals. »Hier gefällt es mir nicht.« Dorian warf der geschlossenen Tür wieder einen Blick zu. Er spürte deutlich die Ausstrahlung von Dämonen. »Einen Tee für meine Frau«, sagte Dorian, »und für mich einen doppelten Whisky mit viel Eis!« Lilian setzte sich unwillig nieder, verschränkte die Hände auf der Tischplatte und sah an ihrem Mann vorbei. Dorian wartete, dass der Kneipenbesitzer die Getränke servierte. Er kippte seinen Whisky hinunter und stand auf. »Ich muss mal«, sagte er zu Lilian und lächelte ihr zu. Sie rührte missmutig im Tee herum und würdigte ihn keines Blickes. Der Dämonenkiller ging zu den Toiletten. Er wusste, dass das Extrazimmer noch einen zweiten Eingang hatte, der vom schmalen Korridor zu den Toiletten führte. Einen Augenblick blieb er stehen. Er hatte einige Vorbereitungen getroffen, damit ihm die Dämonen nichts anhaben konnten. Seine Taschen waren voll mit Dämonenbannern, und um seinen Hals hing das magische Amulett – eine gnostische Gemme, die neben einem Abraxas auch eine Schlange zeigte, die sich selbst in den Schwanz biss. Die Tür zum Extrazimmer wurde geöffnet, und Hewitt trat heraus. »Gut, dass du gekommen bist«, sagte er zufrieden. »Die Abgesandten sind schon etwas ungeduldig.« »Ich sagte ja nicht sicher zu«, erwiderte Dorian.
Er trat an Hewitt vorbei in den großen Raum und blieb neben der Tür stehen. Die Ausstrahlung der Dämonen war körperlich zu spüren. Dorian brach der Schweiß aus. Mit der rechten Hand griff er nach der Gemme an seinem Hals, und die bösartige Ausstrahlung wurde schwächer. »Guten Abend!«, sagte er mit lauter Stimme, und die Unterhaltung verstummte. Es war dunkel im Zimmer. Nur zwei dicke Kerzen verbreiteten einen flackernden Lichtschein, der gespenstische Schatten an die Wände warf. Um einen rechteckigen Tisch saß ein halbes Dutzend schemenhafter Gestalten, die gesichtslos waren. Die Dämonen wollten ihre Identität nicht verraten, aber damit hatte der Dämonenkiller gerechnet. Weit hinter dem Tisch war eine Bewegung zu erkennen. Einige Gestalten bewegten sich, doch er konnte keine Einzelheiten ausmachen. Leises Stöhnen war zu hören, das in Gurren überging. Dorian ging weiter und blieb zwei Meter vor dem Tisch stehen. Er blickte die gesichtlosen Gestalten der Reihe nach an und konzentrierte sich dann auf die Vorgänge im Hintergrund, die er jetzt besser erkannte. Es war ihm, als würden dort drei riesige Fledermäuse herumflattern. Außerdem sah er drei junge Mädchen, die auf einer Bank saßen und die Augen geschlossen hatten. Eines der Mädchen wand sich mit verzücktem Gesichtsausdruck hin und her, während vor ihr eine durchscheinende Gestalt stand, die sich über sie beugte und den Mund auf ihren Hals gepresst hatte. »Setzen Sie sich, Hunter!«, sagte einer der gesichtlosen Männer mit durchdringender Stimme. Aus dem Nichts erschien ein Stuhl, und Dorian setzte sich. Er hielt noch immer die Gemme umklammert. »Ihre Ausstrahlung gefällt uns gar nicht, Hunter«, sagte der Dämon. »Lassen Sie endlich Ihr verfluchtes Amulett in Ruhe! Ich garantiere Ihnen, dass wir nichts Böses mit Ihnen vorhaben, und dass Sie – wie auch die Entscheidung ausfallen wird – unbehindert das
Zimmer verlassen können.« »Ich traue Ihnen nicht«, sagte der Dämonenkiller. »Zeigen Sie mir Ihr Gesicht!« Im Hintergrund war wieder lautes Stöhnen zu hören. Ein Dämon saugte einem weiteren Mädchen das Blut aus der Halsschlagader. »Können Sie nicht während unserer Unterhaltung diese Belustigungen unterlassen?«, fragte Dorian scharf und zeigte auf das Mädchen. Sein Gesprächspartner reagierte darauf nicht. »Nennen Sie mich Smith!«, sagte er dröhnend. »Einfach Smith – oder Miller. Wie Sie wollen.« »Gut, Smith-Miller«, brummte Dorian wütend. »Hewitt sagte mir, dass Sie mir einige Vorschläge zu unterbreiten haben. Heraus damit!« Der Dämon beugte sich vor. Sein Gesicht war ein weißer, konturenloser Fleck. »Wir sind gegen Olivaro«, sagte er. »So wie Sie. Wir akzeptieren Olivaro nicht als neuen Herrn der Finsternis. Sie sind ein Feind der Schwarzen Familie, Hunter, doch darauf kommt es im Augenblick nicht an. Wir könnten einen Waffenstillstand schließen, bis Olivaro ausgeschaltet ist.« »Und weshalb brauchen Sie mich im Kampf gegen Olivaro?«, fragte Dorian höhnisch. »Da kann es wohl nicht sehr weit mit Ihren Fähigkeiten her sein, wenn Sie auf mich zurückgreifen müssen.« Sekundenlang herrschte Schweigen: »Sie überschätzen sich gewaltig, Hunter«, stellte der Dämon fest. »Sie sind für uns nur als auslösender Faktor maßgebend. Wir können Olivaros Hass auf Sie lenken und im Hintergrund arbeiten, Sie unterstützen und so Olivaro in eine Falle locken, aus der er nicht entkommen kann. Und wenn er tot ist, dann ist der Weg zu Coco für Sie wieder frei.« »Wer sagt Ihnen, dass ich noch an Coco interessiert bin?« Der Dämon lachte höhnisch. »Das wissen wir, Hunter. Sie hängen noch immer an Coco Zamis, auch wenn Sie es nicht zugeben wollen. Sie belügen sich selbst, stecken den Kopf in den Sand und wollen
die Wahrheit nicht sehen. Doch ich werde Ihnen die Augen öffnen. Ich werde Ihnen zeigen, was mit Ihnen los ist.« Der Dämonenkiller stand langsam auf. »Ich bin an Ihren Betrachtungen über meine Person in keiner Weise interessiert. Ich warne Sie aber! Irgendjemand versucht meine Frau zu töten. Und ich vermute, dass Sie dahinterstecken.« »Reden Sie keinen Unsinn, Hunter!«, schaltete sich ein anderer Dämon ein. »Unsere Interessen gehen in eine ganz andere Richtung. Wir haben keine Veranlassung, Ihrer Frau etwas anzutun. Das muss Ihnen doch schon längst klargeworden sein.« »Und wer steckt dann hinter den Anschlägen?« »Wahrscheinlich Olivaro«, sagte ein dritter Dämon. »Sie haben keine Chance gegen ihn. Früher oder später wird er Sie töten. Nur mit unserer Hilfe können Sie das verhindern.« »Olivaro unternimmt im Augenblick nichts gegen mich.« »Wieso können Sie da so sicher sein?« »Er ließ mir bestellen, dass er mich in Ruhe lassen würde, solange ich nichts gegen ihn unternehme.« »Sie können Olivaro nicht trauen«, sagte einer der Dämonen. »Und Ihnen kann ich trauen?«, fragte Dorian spöttisch. Schweigen war die Antwort. »Hören Sie mir gut zu«, brummte der Dämonenkiller. »Ich glaube noch immer, dass Sie hinter den mysteriösen Vorfällen in London steckten. Und auf Ihr Konto gehen auch die Anschläge gegen meine Frau.« »Ich sagte doch schon, dass wir Sie als Verbündeten haben wollen«, sagte einer der Dämonen. »Lassen Sie mich aussprechen!«, schrie Dorian wütend. »Sie wissen ganz genau, dass Olivaro nichts gegen mich unternimmt. Und das passt Ihnen nicht. Es ist doch sehr verdächtig, dass sich all diese Angriffe nicht gegen mich, sondern gegen meine Frau richten. Finden Sie nicht? Wer also könnte ein Interesse daran haben, meine Frau zu töten und den Eindruck zu erwecken, als wäre Olivaro der Täter? Nur Sie. Sollte meine Frau sterben, dann würde ich ihren Tod rächen wollen und den Kampf gegen Olivaro sofort aufnehmen und
mich Ihnen anschließen. Aber Ihr Plan geht nicht auf.« »Ihre Argumente haben etwas für sich, Hunter«, sagte Smith-Miller. »Aber sie stimmen nicht. Sie sahen doch selbst vergangene Nacht, wie Hewitt mit dem Monster kämpfte. Hätten wir …« »Sie wissen so gut wie ich, dass Hewitt nur durch meine Hand sterben kann«, knurrte Dorian. »Er ging keinerlei Risiko ein.« »Unsere Unterhaltung hat wenig Sinn«, sagte Smith-Miller. »Sie stehen stur auf Ihren Standpunkt. Sie verrennen sich da in etwas, Hunter. Ich weiß, dass Sie nicht viel auf das Wort eines Mitglieds der Schwarzen Familie geben, doch ich versichere Ihnen, dass weder Hewitt noch ein anderes Mitglied unserer Sippen etwas mit den Vorfällen zu tun haben. Sie sollten mir glauben.« »Gut«, sagte Dorian. »Ich will Ihnen mal glauben. Sie scheiden demnach aus. Olivaro ebenfalls. Wer bleibt dann noch?« »Dachten Sie schon mal an Coco?«, fragte einer der Dämonen lauernd. »Ja«, gab der Dämonenkiller zu. »An sie dachte ich auch schon. Aber die Version kommt mir nicht sehr wahrscheinlich vor.« »Sie sollten aber mal die Vorfälle unter diesem Gesichtspunkt betrachten.« »Das sind alles nur Vermutungen«, zischte Dorian grimmig. »Sie haben keine Beweise dafür.« »Sie haben auch keinen Beweis, dass wir hinter den Vorfällen stecken. Aber Sie beschuldigen uns.« Der Dämonenkiller knabberte an seinen Lippen. »Beweisen Sie mir, dass Sie nichts mit den Vorfällen zu tun haben! Schalten Sie das Monster aus!« »Das ist nicht unsere Angelegenheit«, sagte Smith-Miller. »Es ist tatsächlich besser, wir brechen unser Gespräch ab«, sagte Dorian und wandte sich ab. »Wir werden uns wieder melden, Hunter«, versprach Smith-Miller. »Das können Sie sich sparen«, sagte Dorian und ging aus dem Raum. Hewitt war ihm gefolgt, doch Dorian schüttelte seine Hand ab und
trat in die Schankstube. »Wo ist meine Frau?«, fragte er den Wirt. »Keine Ahnung«, erwiderte dieser. Der Tee war unberührt. Vielleicht ist sie auf die Toilette gegangen, dachte Dorian und setzte sich. Er steckte sich eine Zigarette an und blickte zur Tür, hinter der noch immer die Dämonen versammelt waren. Deutlich hörte er das Stimmengewirr und lautes Lachen, in das sich heisere Schreie mischten. Dann war es plötzlich still. Die Tür wurde geöffnet, und drei Mädchen traten heraus. Ihre Gesichter waren bleich, die Wangen eingefallen, und dunkle Ringe zeichneten sich unter ihren Augen ab. Die Bissspuren an ihren Hälsen waren deutlich zu sehen. Sie waren die Opfer eines Vampirs geworden und hatten sich in Schattengeschöpfe verwandelt. Dorian merkte sich ihre Gesichter. Es würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als die drei Mädchen zu pfählen. Schweigend gingen sie an ihm vorbei und traten auf die Straße. Dorian trommelte ungeduldig mit der rechten Hand auf die Tischplatte. Schließlich stand er auf, warf einen Blick in den Nebenraum, der leer war, und ging dann zu den Toiletten. »Lilian!«, rief er, doch seine Frau meldete sich nicht. Er trat in die Damentoilette. Sie war auch leer. Der Dämonenkiller kehrte in die Schankstube zurück, zahlte und lief auf die Straße. Einen Augenblick blieb er stehen. Das Dorf war dunkel. Weit vor sich sah er eine Gestalt. Sie war zu weit entfernt, als dass er Einzelheiten hätte ausmachen können. In einem der gegenüberliegenden Häuser ging ein Licht an, und ein breiter Lichtstrahl fiel über die Straße. Und da sah er wieder die gelben Fußspuren, die vom Pub auf die Straße führten. Es waren nur drei Abdrücke. Das Monster war unterwegs. Er hatte Angst um seine Frau. Wahrscheinlich war sie vom Monster aus dem Pub gelockt worden. So rasch er konnte, lief er zu Dr. Lannons Haus, doch es war dunkel und das Haustor versperrt.
Vielleicht ist sie zu Cohen gegangen, dachte der Dämonenkiller. Nach fünf Minuten hatte er das kleine Haus von Mrs. Clarke erreicht, in dem sich Cohen ein Zimmer gemietet hatte. Er drückte auf die Klingel, hörte die Glocke bimmeln, und nach einigen Sekunden näherten sich schwere Schritte. Die Tür wurde geöffnet, und eine alle Frau blinzelte ihn kurzsichtig an. »N'Abend, Mrs. Clarke!«, sagte Dorian rasch. »Ist Mr. Cohen zu Hause?« Die Alte schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie mit schriller Stimme. »Er ging vor einigen Minuten.« »Sagte er Ihnen, wohin er wollte?« »Nein. Ich sah ihm aber nach. Er traf sich mit einer Frau, aber ich konnte nicht erkennen, wer sie war.« »In welcher Richtung ging er?« »Dort!«, sagte die Alte. Sie zeigte die Straße nach Süden, in Richtung Friedhof. »Danke«, sagte Dorian und lief los. Der Mond spendete genügend Licht. Nach hundert Metern sah er wieder die Krallenabdrücke im Sand. Sie führten auf den Friedhof zu. Von Lilian und Cohen war nichts zu sehen. Er betrat den Friedhof und blieb stehen. Alles wirkte verlassen, jedoch war wieder die seltsame Flötenmusik zu hören. Er folgte den gelben Fußspuren, die zum Grab der McCoys führten. Vor dem Grab hörten sie auf. Dorian blickte sich um. Nichts regte sich, als würde die Welt den Atem anhalten. Nur die Flötenmusik wurde immer lauter. Alles nur Trug, dachte Dorian. Zufällig fiel sein Blick auf den Grabstein, und er zuckte zurück. Unter den Namen von Lilians Eltern war ein weiterer eingeprägt. Lilian Hunter. Darunter stand das heutige Datum als Todestag. Der Dämonenkiller blickte den Grabstein lange an, doch die Schrift blieb. Die Flötenmusik brach ab, und eine Wolke schob sich vor den Mond. Wo steckten nur Lilian und Cohen? Er war sicher gewesen, dass er
Lilian auf dem Friedhof finden würde, doch er hatte sich getäuscht. Mrs. Clarke hatte behauptet, dass sich Cohen mit einer Frau getroffen hatte, und Dorian hatte automatisch angenommen, dass die Frau nur Lilian gewesen sein konnte. Aber vielleicht war das ein Irrtum. Sein Aufenthalt auf dem Friedhof war im Augenblick völlig sinnlos. Er musste seine Frau suchen. Aber wo sollte er mit der Suche beginnen? Er entschloss sich, zu Dr. Lannons Haus zu gehen und sich seine Ausrüstung zu holen. Kein Mensch kam ihm entgegen. Das Dorf schien zu schlafen; dabei war es noch nicht einmal einundzwanzig Uhr. Im Haus brannte Licht. Das Haustor stand offen. Er trat ein. »Lilian?« »Ich bin in der Küche!«, rief sie. Er atmete erleichtert auf, als ihm Lilian entgegenkam. »Wo bist du gewesen?«, fragte er sie. »Im Pub gefiel es mir nicht«, sagte sie. »Ich sagte dem Wirt, dass ich nach Hause gehen würde. Hat er es dir nicht gesagt?« Dorian musterte seine Frau misstrauisch. »Du warst nicht hier«, sagte er. »Wo warst du?« Lilian lachte. »Ich sagte es dir doch. Ich ging direkt vom Pub nach Hause.« »Hast du Cohen gesehen?« »Nein«, sagte sie. »Er ist nicht in seiner Pension«, sagte Dorian. »Wahrscheinlich macht er einen Spaziergang«, sagte Lilian. »Ich habe Tee aufgebrüht. Willst du eine Tasse?« Dorian nickte und setzte sich im Wohnzimmer nieder. Mit seiner Frau stimmte einiges nicht. Sie war mehr als eine halbe Stunde verschwunden gewesen. Und wo steckte Cohen? Er hätte sich doch schon längst bei ihm melden sollen. Lilian kam mit einem Tablett ins Zimmer, auf dem zwei Tassen standen, und stellte sie auf den Tisch. Dorian griff nach einer Tasse, warf zwei Stück Zucker hinein und rührte um. Dann trank er in kleinen Schlucken.
Lilian nippte an ihrem Tee. Sie lächelte und wirkte sehr vergnügt. Ihre Wangen waren gerötet. »Soll ich dir etwas zum Essen machen, Rian?« »Nein, danke.« »Spielen wir eine Partie Rommee?« »Meinetwegen.« Lilian holte die Karten, mischte sie und kicherte, als ihr einige dabei auf den Boden fielen. Sie hob sie auf und mischte weiter. Dorian fühlte sich müde. Das Denken fiel ihm schwer. Er wusste, dass er etwas vorgehabt hatte, doch er konnte sich nicht erinnern, was es gewesen war. Lilian teilte die Karten aus, und er hob sie hoch. Die Karten verschwammen vor seinen Augen. Er hob den Blick. Lilians Gesicht schien riesengroß zu sein. Dorian versuchte sich auf die Karten in seiner Hand zu konzentrieren, doch es wollte ihm nicht gelingen. Seine Lider wurden schwer. Er kämpfte gegen die Müdigkeit an, riss die Augen auf, schloss sie aber nach wenigen Augenblicken wieder. Die Karten entfielen seiner Hand, und er lehnte sich zurück. Im Nu war er eingeschlafen. Er träumte von einer kleinen Insel, über der sich ein tiefblauer Himmel spannte, von einer Lagune, die dunkel und unergründlich tief war. Er sah Gestalten, die langsam auf die Lagune zugingen, hörte Stimmengemurmel. Dann verschwand das Bild. Jetzt sah er dunkles Wasser, in dem eine Gestalt schwamm. Es war Machu Picchu. Ihr Körper wurde zur Seite gedreht, und ihr hübsches Gesicht wurde riesengroß. Sie hatte die Augen geschlossen. Er hörte ihre Stimme, leise und einschmeichelnd. »Kümmere dich nicht um Lilian!«, sagte Machu Picchu. »Löse dich von ihr! Du darfst nicht bei ihr bleiben, Dorian. Das wäre dein Untergang. Lilian liebt dich nicht mehr. Ihr Herz schlägt für einen anderen. Du zerstörst dein Leben, Dorian. Du hast eine Aufgabe zu erfüllen. Wenn du weiterhin bei Lilian bleibst, dann hilfst du damit nur Olivaro. Es wäre sein größter Triumph.« Das Bild verblasste, löste sich langsam auf.
Rote Schleier wogten vor Dorian, die immer dichter wurden und langsam die Farbe änderten. Dann sah er wieder Machu Picchu. Diesmal hatte sie die Augen geöffnet. »Ich verlange es nicht meinetwegen, Dorian, dass du dich von deiner Frau trennen sollst. Coco liebt dich noch immer, Dorian. Du musst mir glauben.« Machu Picchus Gesicht verschwand. Der Dämonenkiller bewegte sich unruhig. Irgendjemand zerrte an seinem rechten Arm. Er versuchte die Hand abzuschütteln. »Wach auf, Dorian!« Die Stimme war nahe neben seinem rechten Ohr. Der Dämonenkiller brummte unwillig im Schlaf. »Aufwachen, verdammt noch mal!«, schrie die Stimme. Dorian wälzte sich zur Seite. Er wollte nicht aufwachen; er wollte weiterschlafen. Irgendetwas tropfte auf sein Gesicht. Es war feucht und kalt. Er drehte den Kopf zur Seite, doch das eiskalte Wasser rann über seine Stirn und die geschlossenen Augen. »So wach doch endlich auf!« Der Dämonenkiller schlug langsam die Augen auf. Über sich sah er Hewitt, der in der Hand einen Wasserkrug hielt. »Na endlich! Ich glaubte schon, du wolltest überhaupt nicht aufwachen.« »Was willst du von mir?«, fragte Dorian mit schwerer Zunge. »Ich will dir helfen. Deine Frau hat dir ein Schlafmittel untergejubelt.« Dorian war noch immer benommen. Mühsam richtete er sich auf. »Wie war das?«, fragte er. »Lilian hat dir ein Schlafmittel in den Tee getan«, wiederholte Hewitt. »Du sollst endlich die Wahrheit erfahren.« »Ich glaube nicht, dass Lilian so etwas fertig bringt«, sagte Dorian stockend. Und wenn, dachte er, ist es mir auch egal. Er wollte nur schlafen, nichts als schlafen. Er schloss wieder die Augen. »Schlaf nicht wieder ein!«, sagte Hewitt. »Ich weiß jetzt, wer hinter
den Anschlägen gegen Lilian steckt. Hör mir zu!« Wieder traf Dorian ein Wasserschwall. Er richtete sich prustend auf und schüttelte den Kopf. »Trink das!«, sagte Hewitt und reichte Dorian eine Tasse Kaffee. Der Dämonenkiller war noch immer ganz groggy. Er trank den Kaffee und rieb sich mit einem feuchten Tuch das Gesicht. Die Benommenheit wollte sich nicht vertreiben lassen. Er hatte von Machu Picchu geträumt, daran erinnerte er sich. Oder war das gar kein Traum gewesen? Verzweifelt riss er die Augen auf und kämpfte gegen die Schläfrigkeit an. Hewitt hatte behauptet, dass ihm Lilian ein Schlafmittel untergeschoben hatte. Weshalb hätte sie das tun sollen? »Wo ist Lilian?«, fragte Dorian. »Du wirst sie finden. Ich wollte dich nur aufwecken. Alles Weitere liegt bei dir. Du wirst die Wahrheit erfahren.« Hewitt stand auf und ging zur Tür. »Warte!«, sagte der Dämonenkiller rasch. »Ich habe einige Fragen an dich.« Hewitt wandte den hässlichen Kopf um. »Tut mir Leid, Hunter«, sagte er, »die Wahrheit musst du selber suchen.« Er öffnete die Tür und verschwand. Dorian stand mühsam auf. Im Zimmer kam es ihm unerträglich stickig vor. Er wankte zum Fenster, zog die Vorhänge zurück, öffnete das Fenster, steckte den Kopf hinaus und wunderte sich, dass der Garten im Nebel lag. Er konnte kaum bis zum Gartenzaun sehen. Die kühle Nachtluft tat ihm jedoch gut. Er blieb einige Minuten vor dem Fenster stehen, und langsam ging es ihm besser. Der Dämonenkiller warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach dreiundzwanzig Uhr. Erst wollte er sich mal überzeugen, dass Lilian tatsächlich das Haus verlassen hatte. Er durchsuchte alle Räume, fand seine Frau aber nicht. Schließlich trat er ins Badezimmer, hielt den Kopf einige Minuten unter den Wasserhahn und ließ das eiskalte Wasser über seine Schläfen laufen.
Dann trocknete er sich ab. Danach fühlte er sich wieder halbwegs frisch. Es fielen ihm die Worte ein, die er im Traum gehört hatte. Machu Picchus Traumgestalt hatte behauptet, dass ihn Lilian nicht mehr lieben würde, Coco aber noch immer. Die Erinnerung an Coco ließ ihn rascher atmen. Und dann fügte sich alles zusammen. Er hatte die Lösung gefunden und wunderte sich, dass er erst so spät darauf gestoßen war. Er würde sich überzeugen, ob seine Vermutung stimmte. Dorian wusste, wo er Lilian finden würde; und er ahnte auch, wer sich hinter dem Monster verbarg.
Marvin Cohen war seit Dorians und Lilians Abreise aus London gereizt gewesen. Er dachte immer wieder an Lilian und versuchte sich über seine Gefühle ihr gegenüber klar zu werden. Er fühlte sich von Lilian unwahrscheinlich angezogen und hatte Angst um sie, fürchtete, dass ihr etwas geschehen könnte. Sullivan versuchte seine Bedenken zu zerstreuen, doch Cohen wurde immer nervöser. Täglich besuchte er seine Freundin Rose Jamin, ließ seine Ungeduld und Wut an ihr aus, verachtete sich für das, was er ihr antat und winselte danach und ließ sich von ihr demütigen. Ihn ekelte vor Rose Jamin, dieser billigen Stripperin, doch er kam nicht von ihr los. Immer hatte er die falschen Mädchen als Freundinnen gehabt. Doch welche normale Frau ließ sich schon mit so einem brutalen Kerl, wie er einer war, ein? Er kannte seine Fehler und seine Schwächen genau. Alles war ihm in den vergangenen Tagen nur noch deutlicher zu Bewusstsein gekommen. Er musste seinem Leben einen Sinn geben; er musste eine Frau wie Lilian finden. Warum soll es nicht Lilian sein? fragte er sich nach einiger Zeit. Er erinnerte sich an ihre Gespräche und wollte sich Gewissheit verschaffen. Er vermutete, dass Lilian nichts mehr für den Dämonenkiller empfand, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Doch er musste es genau wissen. Es war für ihn unendlich wichtig, ob sie es ehrlich meinte oder nur mit ihm – wie so viele anderen Frauen zuvor – spie-
len wollte. Rose Jamin konnte er einfach nicht mehr sehen. Er sprach mit Sullivan, der schließlich nichts dagegen hatte, dass er nach Darkpool fuhr. Cohen hatte Angst vor der Begegnung mit Lilian gehabt. Sein Herz hatte wie verrückt geschlagen, als er sie gesehen hatte. Und als sie ihm entgegenkam, ihn anstrahlte und seine Hand drückte, da hatte er all seinen Willen aufbringen müssen, um nicht seine wahren Gefühle zu verraten. Es war ihm unendlich schwergefallen, sich reserviert und kühl zu verhalten. Das Mittagessen war eine einzige Qual für ihn gewesen. Immer wieder war sein Blick zu Lilian geirrt, und aus all ihren Gesten und Worten hatte er geschlossen, dass ihr etwas an ihm lag. Er hatte Hunter genau beobachtet, und es war ihm bewusst geworden, dass der Dämonenkiller nicht mehr sehr viel für seine Frau empfand; es schien vielmehr, als wäre ihm Lilian lästig. Nachdenklich war er in sein Zimmer in Mrs. Clarkes Haus zurückgekehrt, hatte sich aufs Bett gelegt und nachgedacht. Seine Gefühle zu Lilian mussten warten. Die vordringlichste Aufgabe war es, das Ungeheuer zu finden, das sie töten wollte. Er hatte den Friedhof nach Spuren untersucht, aber keine gefunden. Als es dunkel geworden war, hatte er bei Mrs. Clarke gegessen. Er schob seinen Besuch bei Lilian und Dorian immer wieder hinaus. Irgendetwas hielt ihn zurück, zu ihnen zu gehen. Erst kurz nach halb neun Uhr hatte er Mrs. Clarkes Haus verlassen, doch er war nicht zu Lilian und Dorian gegangen. Er war in Richtung Friedhof spaziert. Einmal hatte er sich kurz umgedreht und Mrs. Clarke gesehen, die ihm neugierig nachsah; doch das hatte ihn nicht gestört. Und dann hatte er sie gesehen – Lilian. Sie wartete an einer Straßenecke auf ihn. »Ich wusste, dass Sie kommen würden, Marvin«, sagte Lilian und lächelte. Im Mondlicht kam sie Cohen noch schöner vor. Sie war zerbrechlich wie eine Porzellanfigur. »Wo ist Dorian?«, fragte Cohen rasch. »Er ist im Pub«, erwiderte Lilian. »Kommen Sie! Gehen wir! Die
Alte beobachtet uns.« Sie griff nach seiner rechten Hand, und sie gingen nach links in eine schmale Gasse. Einige Minuten sprachen sie nicht, dann blieb Lilian stehen und musterte Cohen. »Dorian darf nicht wissen, dass wir uns getroffen haben«, sagte Lilian. »Ich muss mit Ihnen sprechen, Marvin. Es geht um meine Zukunft. Aber wir haben jetzt keine Zeit. Dorian wird mich sicherlich schon suchen. Ich warte, bis er schläft, dann können wir uns treffen.« »Ist das nicht zu …« »Es ist wichtig, Marvin«, sagte Lilian. »Ich tue ihm Schlafpulver in den Tee, dann kann ich fort.« »Wo sollen wir uns treffen?« »Auf dem Friedhof.« Cohen strich sich über die Lippen. »Weshalb gerade auf dem Friedhof?« »Dort wird uns niemand sehen«, flüsterte Lilian und schmiegte sich an Cohen. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn zärtlich auf die Lippen. Dann trat sie einen Schritt zurück und lächelte. »Sie kommen doch?« »Ich komme«, sagte Cohen heiser. »Jetzt muss ich aber nach Hause. Sonst wird Dorian vielleicht misstrauisch.« »Ich begleite Sie.« »Das ist nicht notwendig«, meinte Lilian. »Bis später!« Sie lief davon, doch Cohen folgte ihr. Er versteckte sich immer wieder hinter Bäumen und ließ sie nicht aus den Augen, verfolgte, wie sie ins Haus trat und das Licht aufflammte. Cohen versteckte sich in einer Seitengasse und beobachtete das Haus. Zehn Minuten später sah er den Dämonenkiller die Straße herunterlaufen und drückte sich noch tiefer in den Schatten. Er wartete, bis Hunter im Haus verschwunden war, dann schlich er sich geräuschlos davon. Er wollte nicht zu Mrs. Clarke. Jetzt brauche ich unbedingt einen Schluck, dachte er. Seine Vermutung war richtig gewesen. Lilian
liebte ihn. Er konnte es noch immer nicht glauben. Zu seiner Verwunderung stellte er fest, dass der Pub geschlossen war. In keinem der alten Häuser brannte Licht. Das Dorf war wie ausgestorben. Bleibt mir doch nichts anderes übrig, als zu Mrs. Clarke zu gehen, dachte er. Doch dann entschloss er sich anders. Er wollte lieber Dr. Lannons Haus beobachten. Er würde warten, bis Lilian herauskam und ihr dann folgen. Er griff in seine Tasche. Die Spezialpistole mit den geweihten Holzbolzen hatte er neben anderen Abwehrmitteln gegen Dämonen bei sich. Er schlenderte langsam durch die dunklen Gassen. Es wurde nebelig. Ein leichter Wind war aufgekommen, der dichte Nebelschwaden vor sich hertrieb, die langsam die Häuser einhüllten. Cohen blieb stehen. Es war unwirklich still. Plötzlich hörte er das Krachen eines zersplitternden Astes und drückte sich gegen eine Hauswand. Der Nebel verzerrte die Geräusche, doch es gab keinen Zweifel – Schritte näherten sich. Eine Gestalt tauchte auf. Es war ein Mädchen. Das Haar fiel über ihre schmalen Schultern. Für einen Augenblick sah er das Gesicht. Es war unnatürlich weiß. Die Augen waren rot unterlaufen, und der Mund war weit geöffnet. Spitze lange Zähne waren zu sehen. Cohen zog die Spezialpistole hervor. Ein Vampiropfer näherte sich ihm. Zu oft hatte er diese scheußlichen Gestalten schon gesehen. »Hier habe ich einen!«, sagte das Mädchen und sprang mit weit ausgebreiteten Armen auf Cohen zu. Cohen riss die Pistole hoch und drückte ab: Der fingerlange Bolzen schoss hervor und bohrte sich in die Brust des Schattenwesens. Es brach in die Knie und wälzte sich auf die Seite. Cohen hatte gut getroffen. Der Bolzen war tief in die linke Brust des Mädchens eingedrungen. Das Schattenwesen umklammerte mit beiden Händen den Bolzen und gab einen gurgelnden Laut von sich. Sekunden später löste sich der Körper auf, zerfiel zu Staub; nur die Kleider blieben
übrig. Der Wind trieb die Überreste des Vampirgeschöpfes davon. Nach den Worten des Mädchens zu schließen, war sie nicht allein gewesen. Aus dem Nebel tauchten auch schon zwei weitere Gestalten auf, die auf Cohen zuliefen. Er schoss augenblicklich. Eines der Vampirmädchen krümmte sich auf dem Boden. Der Eichenbolzen war in ihren Bauch gefahren. Das Schattengeschöpf riss sich den Bolzen heraus und sprang wieder auf. Das dritte Mädchen beugte sich über Cohen. Ihre Hände verkrallten sich in seinen Schultern. Er drückte wieder ab. Der Bolzen fuhr in die linke Schulter des Vampirmädchens. Sie zuckte zurück und versuchte den Bolzen herauszureißen. Cohen versetzte ihr einen Fußtritt. Sie fiel auf den Rücken. Cohen hatte kein Mitleid mit dem Vampir; er musste ihn töten; es gab keine andere Wahl. Das Mädchen war kein Mensch mehr, sondern ein blutrünstiges Geschöpf. Diesmal zielte er gut. Das Mädchen zuckte noch einmal, die Finger krallten sich am Boden fest, dann zerfiel es zu Staub. Das überlebende Mädchen wollte flüchten, doch Cohen setzte ihm nach. Er packte es am langen Haar und riss es an sich. Die junge Frau versuchte ihn abzuschütteln, doch Cohen war zu kräftig. Er ließ ihr Haar los, packte dafür ihre Hände, schleuderte sie zu Boden, warf sich über den Vampir, presste die Pistole gegen die linke Brust des Schattenwesens und drückte ab. Ein Zittern durchlief den Körper der jungen Frau. Sie öffnete den Mund zu einem Schrei, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Noch einmal bäumte sie sich auf, dann schien sich der Kopf aufzulösen, und sie zerfiel zu Staub. Cohen stand langsam auf. Er warf die Kleidungsstücke der Mädchen auf einen Haufen, wickelte alle in ein Kleid ein, verschnürte es mit einer Strumpfhose und nahm das Bündel mit. Er stopfte es in einen Abfallbehälter und legte einige Zeitungen darüber, die er in einem Garten gefunden hatte. Dann ging er langsam zu Dr. Lannons Haus. Der Nebel wurde immer dichter. Cohen konnte kaum mehr als fünf Meter weit sehen.
Endlich sah er, wie sich das Haustor öffnete und Lilian heraustrat. Er folgte ihr. Sie wandte sich in Richtung Friedhof. Einen Augenblick lang verlor er sie aus den Augen. Er ging rascher, bis er sie wieder sah.
Dorian holte das Krummschwert aus dem Koffer und nahm es in die rechte Hand. Er ahnte, dass er es brauchen würde. Die Spezialpistole steckte er griffbereit in die linke Rocktasche und trat aus dem Haus. Der Nebel war dünner geworden. Er konnte jetzt mehr als zehn Meter weit sehen. Das Dorf war in ein unwirkliches Licht gehüllt. Der Dämonenkiller ging rascher. Er wusste, dass sich Lilian in höchster Gefahr befand. Leichter Nieselregen klatschte gegen sein Gesicht. Das unwirkliche Licht wurde schwächer, je näher er dem Friedhof kam. Die Bäume schienen sich in unheimliche Monster zu verwandeln, deren lange Arme nach ihm griffen. Vor der Friedhofsmauer blieb er stehen. Das schmiedeeiserne Tor stand weit offen. Nebelschwaden zogen sich zwischen den Gräbern hindurch, und die Grabkreuze schienen zu leuchten. Schemenhafte Gestalten geisterten durch den Nebel, und die unheimliche Flötenmusik hing in der Luft. Ein normaler Mann wäre voller Grauen davongelaufen, doch der Dämonenkiller war schlimmere Dinge gewöhnt. Er betrat den Friedhof, und eine schaurige Gestalt sprang ihn an. Das Gesicht war giftgrün, die Wangen von Würmern zerfressen und die Augenhöhlen waren leer. Sie war mit Lumpen bekleidet und streckte verlangend die Arme nach Dorian aus. Der Dämonenkiller wich dem Untoten aus, drehte sich zur Seite und hob das Krummschwert. Mit einem Hieb köpfte er das grausige Geschöpf, das sich in Luft auflöste. Alles Trug, dachte Dorian und ging weiter. Das waren alles keine realen Monster, sondern Gestalten, die von einem mächtigen Geist geschaffen worden waren. Sie sollten ihn aufhalten, ihn zurücktreiben.
Immer mehr der grauenhaften Gestalten näherten sich ihm. Ein fauliger Geruch hing in der Luft, der ihm den Atem raubte. Gräber brachen auf und halbverweste Scheusale sprangen hervor. Plötzlich war er von einem Dutzend der schaurigen Monster umringt, die mit langen knochigen Händen nach ihm griffen. Dorian ging unbeirrt weiter. Die Untoten wichen langsam zurück, als er mit dem Krummschwert ausholte. Dann sammelten sie sich wieder und gingen geschlossen auf ihn los. Sie wollten ihn zurücktreiben. Der Dämonenkiller presste die Lippen zusammen und schlug wild um sich. Die Flötenmusik wurde immer lauter und schriller. Die Untoten stießen klagende Schreie aus. Und dann sah er das Monster, das er gestern mit Hewitt hatte kämpfen sehen. Es hockte in wenigen Metern Entfernung auf einem Grabhügel und spielte auf einer Flöte, die aus Knochen bestand. Die Untoten ließen Dorian in Ruhe, und das Monster stand langsam auf und setzte die Flöte ab. Nebel hüllte die grauenvolle Gestalt ein. »Lilian muss sterben«, zischte das Monster. »Und du wirst mich nicht davon abhalten, sie zu töten.« Das Monster ließ die Flöte fallen und sprang Dorian an. Dorian wich einen Schritt zurück und stieß mit dem Schwert zu. Er riss den Bauch des Ungeheuers auf, zog das Schwert zurück und hob es zum Schlag. Die Wunde, die er dem Biest zugefügt hatte, schloss sich augenblicklich. »Du kannst mich nicht töten«, knurrte das Monster. »Das werden wir sehen«, keuchte Dorian und ging wieder zum Angriff über. Sein Schlag traf ins Leere. Das Ungeheuer verfügte über ein unglaubliches Reaktionsvermögen. Es umsprang ihn, und Dorian kam immer mehr in Wut. Jeder seiner Schläge und Stöße verfehlte das Biest, das höhnisch zu kichern begann. Die krallenbewehrten Hände schlugen spielerisch nach dem Krummschwert. Das geifernde Raubtiermaul öffnete und schloss sich ununterbrochen. Eine Gestankwolke trieb auf Dorian zu, der zu husten begann. Der Nebel hüllte ihn
jetzt wie Watte ein, und das Monster war kaum noch zu sehen. Dann war es verschwunden. Plötzlich spürte Dorian eine Hand auf seiner rechten Schulter. Blitzschnell drehte er sich um, und das Monster wich kichernd zurück. »Ich bin dir überlegen«, höhnte es mit einer durchdringenden schrillen Stimme. »Du kannst mich nur töten, wenn ich es will.« Dorian schlug wieder zu, traf aber nicht. »Trenn dich von Lilian!«, schrie das Monster. »Dann lasse ich sie leben.« »Ich denke nicht daran, mich von Lilian zu trennen«, sagte Dorian und blieb ruhig stehen. »Dann muss Lilian sterben«, stellte das Monster fest. Der Dämonenkiller senkte das Schwert und lachte. »Du wirst Lilian nicht töten«, sagte er. »Du kannst mich nicht aufhalten«, brummte das Scheusal. »Nein, ich kann dich nicht aufhalten«, stellte Dorian fest und ging an dem Monster vorbei. Krallen griffen nach seinen Schultern, doch Dorian achtete nicht darauf. Er hatte keine Angst. Er wusste, dass ihm das Monster nichts tun würde; es war nur an Lilian interessiert. Für einen Augenblick dachte er, dass es gar keine so schlechte Lösung wäre, wenn seine Frau starb, doch sie hatte den Tod nicht verdient. Sie war ein naives, hilfloses Geschöpf. Er liebte seine Frau nicht, aber er würde alles daransetzen, ihren Tod zu verhindern. Das Monster verkrallte sich stärker in seinen Schultern. Dorian blieb stehen und sah das unheimliche Geschöpf an. »Ich weiß, wer dich geschaffen hat.« Das Monster zuckte zurück und kreuzte die langen Arme über der Brust. »Ich habe keine Angst vor dir«, sprach Dorian weiter. »Dein Plan geht nicht auf.« »Du versuchst mich zu täuschen«, sagte das langohrige Ungeheuer. »Ich werde dich zu Lilian führen. Und du wirst es mit eigenen Augen sehen. Sie ist böse. Sie ist dabei, das Grab ihrer Eltern zu entweihen. Sie verdient den Tod.«
Der Nebel lichtete sich plötzlich. Dorian sah das Grab der McCoys. Zwei Gestalten saßen auf dem Grabhügel. Der Dämonenkiller war noch etwa hundert Meter vom Grab entfernt. Er hörte die Stimmen der Gestalten nur undeutlich. Plötzlich wurde das Bild größer. Es kam Dorian so vor, als würde er alles durch ein Vergrößerungsglas sehen. Er erkannte die beiden Gestalten. Es waren Lilian und Cohen, die eng aneinandergeschmiegt auf dem Grabhügel saßen. Lilian hatte ihre Arme um Cohens Hals geschlungen. Und jetzt hörte Dorian auch deutlich die Stimmen der beiden. »Ich bin so glücklich, dass du bei mir bist, Marvin«, sagte Lilian und küsste Cohen zärtlich auf die Lippen. »Was ist mit Dorian?«, fragte Cohen. Lilian lächelte. »Er schläft«, sagte sie leise. »Ich gab ihm ein paar Tabletten in den Tee. Er wird einige Stunden ruhig schlafen. Er kann uns nicht überraschen.« Sie küsste Cohen wieder. »Vom ersten Tag an wusste ich, dass es keinen anderen Mann als dich für mich gibt. Ich will nur dich. Komm, lass uns auf dein Zimmer gehen. Ich will in deinen Armen liegen und dich spüren. Ich will dich immer bei mir haben.« »Und was ist mit Dorian?«, fragte Cohen wieder. »Ich lasse mich scheiden«, sagte Lilian und legte ihren Kopf an seine Schulter. »Ich empfinde nichts mehr für Dorian. Ich will nur für dich da sein.« Cohen hob ihren Kopf und küsste sie verlangend auf die Lippen, während seine Hände über ihren Körper glitten und sie unter seiner Berührung wohlig erschauerte. Das Bild wurde kleiner, und die Stimmen waren nicht mehr zu hören. Dorian strich sich über die Augen. Er blickte weiter zum Grab, doch er konnte keine Einzelheiten mehr erkennen. »Was sagst du nun?«, fragte das Monster mit schriller Stimme. »Deine Frau will dich verlassen.« Dorian schüttelte den Kopf. »Alles Trug«, sagte er leise. »Alles Täuschung und Manipulation.«
»Du hast die Wahrheit gesehen«, behauptete das Monster. Dorian lachte. »Ich glaube es nicht, denn ich weiß, wer du bist. Du kannst mich nicht täuschen. Es dauerte lange, bis ich wusste, wer meine Frau in den Wahnsinn treiben will, und als das nicht klappte, sich einen anderen Plan ausdachte.« Dorian wandte den Kopf um und blickte das Monster an, das zwei Meter von ihm entfernt wie eine Statue dastand. »Ich hatte eine bessere Meinung von dir, Machu Picchu!« Das Scheusal sprang einen Schritt zurück und fauchte wütend. Dorian lachte. »Es war für dich leicht, alles zu inszenieren, Machu Picchu. Du wolltest mich für dich haben und wusstest ganz genau, dass ich mich nicht von Lilian trennen würde. Du verfügst über ungewöhnliche Fähigkeiten, die es dir ermöglichten, allerlei böse Scherze zu veranstalten. Anfangs versuchtest du, meine Frau zu erschrecken – Lilian sollte in den Wahnsinn getrieben werden. Wäre das gelungen, wäre der Weg zu mir frei gewesen.« »Du irrst dich, Dorian«, sagte das Traumgeschöpf. »Ich handelte aus ganz anderen Motiven.« Der Dämonenkiller schüttelte den Kopf. »Du bist einsam, Machu Picchu. Die Welt ist dir fremd. Ich war alles, was du hattest. Und ich musste dich wegen meiner Frau verlassen. Aber dein Plan ging nicht auf. Lilian wurde nicht wahnsinnig. Sie überstand die Schrecken überraschend gut. Daraufhin ändertest du deinen Plan. Sie sollte sterben: Ich ahnte nicht, dass du so bösartig und eigensinnig sein kannst. Geh hin und töte meine Frau! Ich kann dich nicht aufhalten. Ich kann dich nicht vernichten. Das kannst nur du selbst.« »Es ist ganz anders, als du denkst, Dorian«, sagte die von Machu Picchu geschaffene Albtraumgestalt. »Ich handelte aus ganz anderen Motiven. Du musst mir glauben.« »Ich glaube dir nicht«, sagte Dorian und setzte sich langsam in Bewegung. Er ging zum Grab von Lilians Eltern. »Hör mir zu!«, sagte das Monster. »Ich bin an deinen Erklärungen nicht interessiert, Machu Picchu.« »Ich tat das alles für Coco.«
Dorian ging stur weiter. Die beiden Gestalten auf dem Grabhügel trennten sich, standen auf und kamen Dorian langsam entgegen. Der Nebel hatte sich ganz verzogen – wahrscheinlich war er von Machu Picchu geschaffen worden. Die Gräber waren geschlossen und keine Untoten waren mehr zu sehen. »Ich wollte Coco helfen«, sagte Machu Picchu. »Ich stehe mit ihr in Verbindung. Ich tat es nur für sie. Ich weiß, sie liebt dich noch immer und will dir helfen, doch ihr sind im Augenblick die Hände gebunden. Sie muss bei Olivaro bleiben. Verstehst du mich jetzt?« Dorian blieb stehen und blickte das Monster nachdenklich an. »Wie ist es möglich, dass du mit Coco in Verbindung stehst?« »Sie bewacht meinen echten Körper«, sagte das Monster. »Von Coco erfuhr ich alles. Ich weiß, was Olivaro plant, um dich auszuschalten. Und das wollte ich verhindern. Ich wollte den Plan vereiteln.« »Was hat Olivaro für einen Plan?« »Das darf ich nicht sagen, Dorian. Du musst mir glauben. Coco will nur dein Bestes. Sie hält noch immer zu dir und versucht alles, um dir zu helfen. Sie will zu dir zurück. Und sie bewahrt ein Geheimnis, das nur sie und ich kennen.« »Das ist doch alles Unsinn«, sagte Dorian schwach. »Ich wollte dich von deiner Frau befreien«, sagte Machu Picchu. »Sie ist dir nur hinderlich. Aber ich erreichte mein Ziel nicht. Es stimmt, ich wollte sie in den Wahnsinn treiben, aber nicht, damit du zu mir zurückkommst, sondern dass du Lilian los bist und wieder frei handeln kannst. Ich wollte sie nicht töten.« »Das glaube ich nicht.« »Es ist aber so. Ich will nicht mehr in dieser Welt leben, Dorian. Dein Platz ist an der Seite Cocos. Ihr gehört zusammen. Euch verbindet etwas, das stärker als mein Gefühl zu dir ist. Du wirst bald die ganze Wahrheit wissen.« Cohen und Lilian kamen betreten näher. Marvin Cohen blieb stehen und riss seine Pistole aus der Tasche. »Das ist das Monster!«, brüllte er und hob die Waffe. »Nicht schießen!«, schrie Dorian, doch Cohen hörte nicht auf ihn.
Er duckte sich, zielte und drückte ab. Der Bolzen raste auf das Albtraumgeschöpf zu und bohrte sich in seine Brust. Die Gestalt des Monsters wurde durchscheinend und begann zu flackern. Langsam veränderte sie die Konturen. Undeutlich zeichnete sich die Figur eines Mädchens ab. Für einen Augenblick verschmolz, der Leib des Monsters mit dem Mädchen, dann war das Mädchen deutlich zu sehen. »Machu Picchu!«, rief Cohen überrascht. Sie schien über dem Boden zu schweben. Das Mondlicht überschüttete ihren nackten Körper mit einem silbrigen Schimmer. Das pechschwarze Haar fiel über ihre kleinen Brüste, hüllte sie wie ein Gewand ein. Das schmale Gesicht blickte Dorian ernst an. In ihren dunklen Augen war noch immer die grenzenlose Traurigkeit. »Ich will nicht mehr leben«, spürte Dorian Machu Picchus Gedanken. »Diese Welt ist mir fremd. Ich gehe in das Reich meiner Ahnen.« Die Mädchengestalt wurde undeutlicher. »Du warst mein einziger Trost, Dorian«, spürte der Dämonenkiller Machu Picchus Gedanken. »Ich danke dir dafür. Ich wünsche dir alles Gute für dein weiteres Leben! Ich hoffe, dass …« Dann verstummte der Gedankenstrom, und Machu Picchus Bild löste sich auf. »Was war das?«, fragte Cohen und blieb vor Dorian stehen. Der Dämonenkiller schloss die Augen. Er wusste, dass er Machu Picchu niemals wiedersehen würde. Sie hatte Selbstmord begangen. Sie wollte den Traum ihres Lebens nicht mehr weiterträumen. Er fragte sich, was wohl an ihren Worten wahr gewesen war. Stimmte es tatsächlich, dass sie mit Coco in Verbindung gestanden hatte? Und hatte sie tatsächlich alles aus uneigennützigen Motiven getan? Fragen, auf die er keine Antwort fand. Dorian wandte sich ab. »Willst du mir nicht endlich sagen, was das zu bedeuten hatte?«, fragte Cohen. »Das Monster verwandelte sich plötzlich in Machu Picchu.« Dorian antwortete nicht. Er fühlte sich leer. Hatte ihm Machu Pic-
chu ein Trugbild vorgegaukelt, als er Lilian und Marvin in inniger Umarmung gesehen hatte, oder war es tatsächlich so? »Ich werde dir später alles erzählen, Marvin«, sagte der Dämonenkiller. Er warf Cohen einen flüchtigen Blick zu, dann musterte er Lilian aufmerksam. Ihr Gesicht war verschlossen. Die Lippen hatte sie zusammengepresst und die Augen abgewandt. Marvin und Lilian verstehen sich gut miteinander, dachte er. Wenn schon. Ich bin auch kein Heiliger. Ich werde trotzdem vorerst bei Lilian bleiben. Alles Weitere wird die Zukunft bringen. Der Dämonenkiller ging voraus, und seine Gedanken irrten ab. Er dachte an Coco und fragte sich, ob er sie jemals wiedersehen würde.
Olivaro beugte sich vor und griff nach Cocos rechter Hand. »Du bist in letzter Zeit so schweigsam, Coco. Bedrückt dich etwas?« Coco blickte Olivaro kopfschüttelnd an. »Ich kenne dich doch«, stellte er lächelnd fest. »Du denkst an Hunter. Und du fragst dich, was ich mit ihm vorhabe. Du rätselst herum, was ich für einen Plan habe, nicht wahr?« Coco antwortete nicht. »Du kannst mich nicht täuschen«, sprach er weiter. »Und ich unterschätze dich auch nicht. Ich vermute, dass du meinen Plan schon seit einigen Tagen erraten hast. Stimmt das?« »Ja«, sagte Coco unwillig. Olivaro lachte und stand zufrieden auf. »Wie zähmt man einen Dämonenkiller? Das versuchte schon Asmodi. Es war seine Idee, Dorian Hunter ein hemmendes Weib an die Seite zu stellen. Lilian eignete sich vorzüglich dafür. Doch der Plan ging nicht auf. Sie wurde verrückt, und Hunter war frei. Er konnte seinen Killerinstinkten nachgehen. Und er hatte dich an seiner Seite. Es war ein einmaliger Glücksfall, dass Lilian gesund wurde.« Olivaro kicherte, trat an die Bar, öffnete sie und schenkte zwei Gläser voll. Eines reichte er Coco. Er trank das Glas leer und schenkte nach.
»Ich brauche nichts zu tun.« Olivaro grinste. »Es ist einfach rührend, wie sich Hunter um seine Frau kümmert. Er weicht ihr nicht von der Seite. Seltsamerweise passierten aber einige unerklärlichen Vorfälle. Jemand versuchte Lilian in den Wahnsinn zu treiben, hatte aber keinen Erfolg damit. Ich frage mich, wer wohl hinter diesen Anschlägen stecken mag.« Olivaro drehte ruckartig den Kopf herum und starrte Coco an. Sie erwiderte seinen Blick ruhig. »Lassen wir das«, sagte er leise. »Ich könnte aber sehr ungemütlich werden, wenn sich diese Versuche in nächster Zeit wiederholen sollten.« »Soll das eine Drohung sein?«, fragte Coco und stand auf. »Das kannst du auffassen, wie du willst«, sagte Olivaro spöttisch. »Ich bin sicher, dass du nichts unternehmen wirst, um Lilian in den Wahnsinn zu treiben.« Coco stellte das Glas ab. »Solange Lilian an Hunters Seite lebt, ist er ungefährlich«, sagte Olivaro. »Er hat keine Zeit, den Kampf gegen die Schwarze Familie fortzuführen. Er ist an Lilian gefesselt, die ihn bald zu einem normalen Durchschnittsbürger verwandelt haben wird. Der Dämonenkiller ein biederer Ehemann – diese Vorstellung hat etwas Erheiterndes an sich. Wahrscheinlich wird Lilian darauf drängen, dass er sich einen gutbürgerlichen Beruf sucht, dass er brav jeden Abend nach Hause kommt.« Olivaro lachte höhnisch. »Hunter ist ausgeschaltet. Und da komme ich zu einem Thema, über das wir schon seit einiger Zeit gesprochen haben.« »Ich weiß«, sagte Coco leise. »Du sagtest mir, dass du der Schwarzen Familie wieder beitreten wirst, sobald Dorian Hunter keine Gefahr mehr darstellt. Er ist ungefährlich geworden, und ich habe mein Versprechen gehalten. Ich schaltete ihn aus, ohne ihm ein Haar zu krümmen. Jetzt ist es an der Zeit, dein Versprechen einzulösen.« Coco nickte langsam. »Du kannst alles zum Initiationsritus vorbereiten lassen«, sagte Coco tonlos. »Ich trete wieder in die Schwarze Familie ein.«
Olivaro zog Coco an sich. Er war sehr zufrieden. Alles war nach Plan verlaufen. Jetzt hatte er Coco ganz für sich gewonnen. Nach einigen Minuten löste sich das Mädchen aus seinen Armen. Olivaro sah ihr lächelnd nach, als sie aus dem Haus trat und zum Strand ging. Coco ging zur versteckten Lagune. Hier schwamm Machu Picchus realer Körper. Er war mit einer Schnur festgebunden. Das schwarzhaarige Mädchen blieb stehen und starrte den leblosen Körper der Inka-Prinzessin an. Sie war tot; sie war freiwillig auf dem Leben geschieden. Machu Picchu war Cocos einzige Verbindung zu Dorian gewesen. Coco setzte sich und schloss die Augen. Nach einigen Minuten stand sie auf, löste die Schnur und sah zu, wie Machu Picchus Körper von den Fluten verschlungen wurde. Als der Körper nicht mehr zu sehen war, drehte sie sich um und ging langsam zu Olivaro zurück.
Viertes Buch
Der Teufelseid von Ernst Vlcek
Sie waren ganz in schwarze Lederkombinationen gekleidet, die sie mit Totenköpfen und anderen Horrormotiven bemalt hatten. Mit ihren Sturzhelmen, deren Sichtscheiben dunkel getönt waren, glichen sie Raumfahrern aus einem Science-Fiction-Film. Kitty fühlte sich von den sieben motorisierten Rockern verfolgt. Kaum hatte sie die City von London verlassen, als sie hinter ihr aufgetaucht waren. Von da an waren sie ständig hinter dem weißen Mini geblieben. Kitty fielen plötzlich wieder die seltsamen Anrufe ein, die sie in den vergangenen Tagen erhalten hatte. Sie hatte sie nicht besonders ernst genommen, weil sie dachte, dass sich Harrys Freunde nur einen üblen Scherz mit ihr erlauben wollten. Vor einer Woche hatte sich die hohlklingende Stimme zum ersten Mal gemeldet und ihr vorgeworfen, dass sie Harry betrüge. Beim nächsten Anruf hatte man ihr gesagt, dass Harry es sich nicht gefallen lassen würde, wenn sich sein Mädchen mit anderen einließ. Aber Harry war doch seit mehr als drei Monaten tot! Es war nicht ihre Schuld, dass er sich mit seiner Maschine bei Tempo 150 überschlagen und sich das Genick gebrochen hatte. Sie hatte ihm natürlich nicht den Tod gewünscht, aber sie war doch froh gewesen, als dieses Verhältnis zu Ende gewesen war. Sie sah im Rückspiegel, wie einer der vermummten Motorradfahrer aus der Gruppe ausscherte. Er brauste mit Vollgas heran. Kitty sah ihn im Außenspiegel schnell größer werden. Und dann war er auf gleicher Höhe mit dem Mini. Es krachte, und Kitty sah wie der Außenspiegel barst. Der Rocker hatte ihn im Vorbeifahren abrasiert. Sie wusste, dass jetzt der Terror begann. Sie trat das Gaspedal durch, bog in eine Seitenstraße ein. Abraham Road, las sie auf einem Straßenschild. Links und rechts standen Reihenhäuser, die sich glichen wie ein Ei dem anderen. Da brauste der nächste Rocker heran. Er schwang etwas in der Rechten. Es sah aus wie die mit Eisendornen gespickte Kugel eines Morgensterns. Das schwere Ding an der Eisenkette krachte gegen die Windschutzscheibe. Kitty trat unwillkürlich auf die Bremse und schloss
die Augen. Die Windschutzscheibe zersprang in tausend Trümmer. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie durch das Seitenfenster den nächsten Motorradfahrer heranbrausen. Er raste gegen die Fahrertür, rammte sie mit solcher Wucht, dass der Mini ein Stück zur Seite geschleudert wurde. Kitty hatte sich von der Erschütterung noch nicht erholt, als von der anderen Seite mit einer schweren Brechstange gegen das Dach ihres Wagens getrommelt wurde. Schnell legte sie den ersten Gang ein und fuhr mit heulendem Motor an. Sie musste das Steuer herumreißen, als einer der Rocker mit seiner Maschine kehrt machte und sie schneiden wollte. Hinter den Fenstern einiger Reihenhäuser waren Lichter angegangen. Aber Kitty wusste, dass sie von den Bewohnern keine Hilfe erwarten konnte. Diese Spießbürger würden keinen Finger rühren. Vielleicht würden sie morgen in der Zeitung lesen, dass auf der Straße ein Mädchen vergewaltigt und durch Messerstiche übel zugerichtet worden war. Und dann konnten sie ihren Bekannten gegenüber sensationslüstern behaupten: »Ich hab's gesehen!« Kitty musste wieder einem Motorradfahrer ausweichen. Er warf etwas nach ihr, das wie eine Orange aussah. Das Ding klatschte ihr ins Gesicht und platzte – eine warme, süßlich schmeckende Flüssigkeit rann ihr übers Gesicht. Blut! Links und rechts von ihr heulten die Motoren der schweren Maschinen. Die Rocker nahmen sie in die Zange. Sie fuhren einhändig und hieben mit allen möglichen Werkzeugen auf ihren Kleinwagen ein. Eine Brechstange knallte auf die Motorhaube, die aufsprang und Kitty die Sicht nahm. Aber sie fuhr blind weiter. Nur nicht stehen bleiben, sonst war sie verloren! Der Morgenstern zertrümmerte das Seitenfenster. Die Splitter des Sicherheitsglases lagen wie Tautropfen auf Kittys Haar. »Kitty!« Unwillkürlich drehte sie sich nach dem Rocker um, der neben ihr her fuhr. Die Stimme war ihr irgendwie bekannt vorgekommen, ob-
wohl sie verzerrt klang. Der Rocker nahm im Fahren seinen Sturzhelm ab. Als Kitty sein Gesicht sah, entrang sich ihrer Kehle ein Schrei des Entsetzens. Der Rocker hatte Harrys Gesicht. Sie erkannte es, obwohl es schrecklich zugerichtet war. Das Gesicht, von den Narben des Motorradunfalls entstellt, war ein grinsender Totenschädel. Die Augen darin wirkten tot, starr, blicklos. Jetzt zückte der Rocker mit Harrys Schädel ein Messer, beugte sich im Fahren hinunter und schlitzte den Vorderreifen von Kittys Mini auf. Sie spürte, wie der Wagen vorn einknickte, noch bevor sie den Knall des platzenden Reifens hörte. Das Auto zog plötzlich nach links; krachte über die Kante des Bürgersteigs und raste gegen den niedrigen Holzzaun eines Reihenhauses. Kitty war mit der Brust gegen das Lenkrad geprallt. Ihr blieb die Luft weg. Sie glaubte ersticken zu müssen. Vor ihren Augen verschwamm alles. Die Fahrertür war aus den Angeln gerissen worden und lag einige Meter entfernt. Kitty fühlte sich so schwach, dass sie am liebsten hier sitzen geblieben wäre. Egal was mit ihr passierte – ob sie verbrannte, oder ob sie den Rockern in die Hände fiel. Aber dann hörte sie das Aufheulen der schweren Maschinen, sah die vermummten Gestalten heranrasen – und das weckte ihre Lebensgeister. Sie befreite sich aus den Trümmern des Wracks, stolperte auf das Haus zu und hämmerte schluchzend gegen die Eingangstür. Aber niemand öffnete. Kitty rannte weiter. Sie umrundete das Haus, gelangte in einen kleinen Garten auf der Rückseite. Sie ließ sich gegen die Hintertür fallen, schlug mit den Fäusten verzweifelt dagegen. Gerade als hinter der Tür das Licht anging, heulte in unmittelbarer Nähe der Motor einer Maschine auf. Eine Hand griff ihr ins Haar und riss sie mit sich. Erst nach einigen Metern ließ ihr Peiniger sie los. Sie hatte sich noch nicht von dieser ersten Attacke erholt, als der nächste Rocker heranbrauste und mit seiner knochigen Hand nach ihr griff.
Dorian schreckte im Bett hoch. Sein erster Gedanke beim Erwachen galt Lilian. Er griff besorgt nach ihr, spürte ihr Haar zwischen den Fingern und sah, dass sie mit dem Rücken zu ihm lag. Von der Straße her drang das Dröhnen hochgezüchteter Motoren durch das offene Fenster. Es war eine laue Juninacht. Dorian hatte das Fenster erst geöffnet, nachdem Lilian eingeschlafen war, denn sie hatte sich über die Zugluft beschwert. Wieder heulten Motorräder auf, und dann war ein Krachen zu hören, als ob jemand mit einem schweren Gegenstand auf die Karosserie eines Wagens einhieb. Es war bisher noch nie vorgekommen, dass Rowdys in diese stille Gegend kamen und hier randalierten. Dorian hoffte, dass sie den Spaß daran, harmlose Bürger aus dem Schlaf zu trommeln, bald verlieren und wieder abziehen würden. Er schwang sich aus dem Bett, um das Fenster zu schließen. Lilian brauchte ihren Schlaf, und er musste alle Aufregungen von ihr fernhalten, damit sie nicht wieder krank würde. Als er zum Fenster kam und auf die Straße blickte, erkannte er sofort, dass es sich nicht um harmlose Randalierer handelte. Sieben vermummte Gestalten auf Motorrädern verfolgten einen Kleinwagen, in dem Dorian ein junges Mädchen zu sehen glaubte. Die Windschutzscheibe war eingeschlagen worden, und die Karosserie war voller Beulen. Dorian schloss schnell das Fenster, während er die Geschehnisse auf der Straße beobachtete. Als einer der Rocker auf die Motorhaube des Kleinwagens einhieb, sprang diese auf. Das Mädchen hinter dem Steuer fuhr jedoch weiter. Plötzlich beugte sich der Rocker, der seinen Helm abgenommen hatte, im Fahren zum Vorderreifen hinunter. Dorian sah ein Messer in seiner Hand blitzen. Im nächsten Augenblick schlingerte der Wagen. Der Mini rumpelte über den Bürgersteig und durchstieß den Zaun seines Reihenhauses. »Rian?«, hörte er hinter sich Lilians verschlafene Stimme. »Was hat der Krach zu bedeuten?«
»Nichts, Schatz. Schlaf nur weiter.« Er ging zu ihr. Ihr blasses Gesicht, von blondem Haar umrahmt, versank in dem weichen Daunenkissen. Sie kam ihm in diesem Augenblick wie ein Engel vor – und genauso unnahbar. Als er ihr einen Kuss geben wollte, wandte sie das Gesicht ab. Er musste Geduld mit ihr haben. Von unten kam wieder das Aufheulen der überzüchteten Motoren. »Was ist denn los?«, fragte Lilian missmutig im Halbschlaf. »Kein Grund zur Aufregung«, beschwichtigte er sie. »Es handelt sich nur um ein paar Rowdys, die unsere Straße für eine Rennbahn halten. Sie werden schon wieder verschwinden, wenn sie sehen, dass wir uns nicht provozieren lassen.« Dorian schlüpfte in seinen Morgenmantel. »Warum ziehst du dich an?«, fragte Lilian. »Du willst doch nicht auf die Straße?« »Nein«, log Dorian. »Ich hol' mir nur was zum Trinken aus dem Kühlschrank.« »Bleib' nicht lange …« Er war froh, dass die Vorgänge auf der Straße Lilian nicht erschreckten. Er ging leise aus dem Schlafzimmer, schloss die Tür hinter sich und wandte sich zu der Treppe, die in das Erdgeschoss führte. Ihm war, als käme der Motorenlärm jetzt von der Rückseite des Hauses, als wären die Rowdys auf sein Grundstück gefahren und vollführten dort ein Moto-Cross. Dorian hastete die Treppe hinunter und lief zur Hintertür. Jemand trommelte wie wild dagegen und rief verzweifelt um Hilfe. War es das Mädchen aus dem Mini? Dorian zögerte keine Sekunde, denn er wusste, dass dort draußen jemand in höchster Not war. Er drehte das Licht an, fand in der Eile keine andere Waffe als einen eisernen Feuerhaken. Als er die Tür aufschloss, vermischte sich der Schrei eines Mädchens mit dem neuerlichen Aufheulen der Motoren. Dorian riss die Tür auf und stürzte ins Freie. Er sah, wie das Mädchen von einem Rocker auf einem Motorrad an den Haaren durch
den Garten geschleift wurde. Kaum hatte dieser sie losgelassen, als von der anderen Seite ein Zweiter herangefahren kam und dem Mädchen mit einem schnellen Griff die Bluse vom Körper riss. Dorian hörte eine Maschine aufheulen, brachte sich mit einem Sprung hinter einen Baumstamm in Sicherheit und schlug mit dem Feuerhaken nach dem behelmten Kopf des Rockers. Er traf sein Ziel. Der Motorradfahrer wankte im Sattel, bekam die Maschine aber sofort wieder unter Kontrolle. Dorian wunderte sich, dass der Getroffene keinen Laut von sich gab. Aber er zerbrach sich nicht weiter den Kopf darüber, sondern kümmerte sich um die junge Frau. Sie hing hilflos zwischen zwei Motorrädern, deren Fahrer sie an den Armen hochgehoben hatten und nun mit ihr durch den Garten kurvten. Dorian schnitt ihnen den Weg ab und hieb dem ersten den Schürhaken mit aller Wucht gegen die Brust. Der Rocker kippte vornüber, ohne einen Laut von sich zu geben. Er ließ das Mädchen los, die Maschine fiel um und er stürzte zu Boden. Dabei verlor er seinen Helm, und Dorian sah den Totenschädel. Er starrte Dorian aus seinen leeren Augen an und stieß unartikulierte Laute aus, während er versuchte, sich von dem Gewicht des Motorrades zu befreien. Dorian lief zu dem Mädchen, das stöhnend und mit zerfetzten Kleidern im Gras kauerte. »Schnell, zum Haus«, rief Dorian ihr zu. »Ich halte Ihnen solange diese Bande vom Leib.« Er packte sie am Arm, wollte sie hochheben, aber sie schrie und schlug um sich, als halte sie ihn für einen der Rocker. »Ich will Ihnen doch nur helfen«, rief er ihr zu. Sie verstummte, dann weiteten sich ihre Augen. »Nicht, Harry. Nein!« Dorian sah einen der Motorradfahrer auf sich zukommen, der seinen Helm verloren hatte. In den starren Augen seines Totenschädels loderte unbändiger Hass. Dorian gab dem Mädchen einen Stoß, um es aus der Gefahrenzone zu bringen.
»Versuchen Sie, ins Haus zu gelangen«, rief er dabei. »Dort sind Sie in Sicherheit.« Er selbst hatte keine Gelegenheit mehr, sich vor dem heranbrausenden Motorrad zu retten. Er rechnete bereits damit, über den Haufen gefahren zu werden, als der Rocker im letzten Moment die Maschine herumriss und sich entfernte. Dorian wandte sich dem Haus zu. Er kam nicht weit. Schon kreuzte einer der Rocker seinen Weg, so dass er einen Haken schlagen musste, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Da kam von der anderen Seite die nächste Maschine. Erde und Grasbüschel wurden vom Vorderrad hochgeschleudert, als der Fahrer knapp vor Dorian abschwang. Dorian stieß mit dem Feuerhaken nach und erwischte das Hinterrad. Der Haken geriet in die Speichen und diese brachen. Durch das plötzliche Blockieren des Hinterrades blieb das Motorrad stehen, als sei es gegen eine unsichtbare Wand geprallt. Der Fahrer wurde aus dem Sitz gehoben und in hohem Bogen nach vorne geschleudert. Dorian, der den Schürhaken zu spät losgelassen hatte, wurde nach vorn gerissen, stolperte und kam zu Fall. Er wollte sich schnell wieder aufrappeln. Aber da kam der nächste Rocker auf seiner Maschine herangeschossen. Dorian blieb wie hypnotisiert liegen. Er sah, dass der Fahrer zum Unterschied zu den anderen keinen Helm trug, sondern nur eine dunkel getönte Motorradbrille und eine eng am Kopf anliegende Lederhaube. Einen halben Meter vor Dorian bremste er so abrupt, dass sich die Maschine vorn aufbäumte wie ein scheuendes Reitpferd. Der Rocker ließ den Motor noch einmal aufheulen, dann stellte er ihn ab und senkte das Vorderrad langsam zu Boden. Jetzt konnte Dorian ihn genauer betrachten. Viel war nicht von ihm zu sehen, weil er ganz in Leder gehüllt war. Das knochige Gesicht, das halb unter der großen Motorradbrille verschwand, war jedoch viel zu ausdrucksstark, als dass es einem Untoten gehören konnte.
Der schmale, lippenlose Mund verzog sich zu einem spöttischen Grinsen, als er sagte: »Es macht überhaupt keinen Spaß, einen Dämonenkiller zu jagen, der kein Mark mehr in den Knochen hat. Sie nehmen es mir und meinen Jungs doch nicht übel, dass wir uns mit Ihnen einen kleinen Scherz erlaubt haben, Hunter?« Dorian erhob sich, rückte seinen Morgenmantel zurecht und klopfte sich ab. »Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite«, sagte er und betrachtete sein Gegenüber. »Ich frage mich nur, was das soll. Und wer sind Sie eigentlich?« »Demur Alkahest«, stellte er sich vor. »Sicher haben Ihnen Ihre geschärften Sinne bereits verraten, welch besonderer Abstammung ich bin. Oder sind Ihre Instinkte durch das spießbürgerliche Leben an der Seite Lilians bereits so sehr verkümmert, dass Sie mein schwarzes Blut nicht wittern?« »Da Sie so gut über mich Bescheid wissen, Demur Alkahest«, erwiderte Dorian, »werden Sie klug daran tun, schnellstens wieder von hier zu verschwinden. Und zwar ohne das Mädchen.« Der Dämonen-Rocker machte eine wegwerfende Handbewegung. »Kitty können Sie meinetwegen als Bettwärmer behalten. Aber Vorsicht! Ihr von den Toten auferstandener Freund Harry ist rasend vor Eifersucht. Aber mir ist nichts an ihr gelegen.« »Was wollen Sie dann?«, fragte Dorian. Er war längst nicht so sicher, wie er sich gab. Er trug keinen Dämonenbanner bei sich, und auch im Haus waren keine Waffen, die er gegen diesen halbstarken Dämonenspross hätte einsetzen können. Seit Lilian wieder das Reihenhaus bewohnte, hatte sie seine gesamte Ausrüstung in die Jugendstilvilla schaffen lassen. »Von Ihnen, Hunter, will ich was«, antwortete Demur Alkahest. »Keine Angst, ich will nicht Ihren Kopf, obwohl er sich auf meinem Feuerstuhl recht gut ausmachen würde. Ich komme sozusagen als Unterhändler zu Ihnen. Man hat mich geschickt, weil Sie auf Hewitts Appell bisher überhaupt noch nicht reagiert haben. Sie haben doch den armseligen Freak, der in einem ständigen Fegefeuer von
Schmerzen schmort, noch nicht vergessen, Hunter? Immerhin ist er Ihr Bruder. Wollen Sie ihn nicht von seinen Qualen erlösen?« Demnach gehörte Demur Alkahest einer jener Dämonenfamilien an, die sich zu einer Gemeinschaft zusammengeschlossen hatten, um den Fürsten der Finsternis, Olivaro, zu stürzen. Aber Dorian wollte davon nichts wissen – er war jetzt weniger denn je an der Zusammenarbeit mit irgendwelchen Dämonen interessiert. Er wollte seine Ruhe haben, alle Schrecken von Lilian fernhalten. Das war seine Pflicht, denn er fühlte sich mitschuldig daran, dass sie lange Zeit in einem Sanatorium hatte zubringen müssen. »Sie hätten sich den Weg sparen können, Alkahest«, antwortete Dorian. »Ich habe meine Lebensgewohnheiten von Grund auf geändert. Ein Olivaro existiert für mich nicht mehr.« »Na, na«, machte der Dämonenrocker. »Spucken Sie nicht gleich so große Töne. Sie wissen ganz genau, dass Ihre Idylle hier nur eine vorübergehende Illusion sein kann. Ich könnte Ihnen ohne lange nachzudenken ein Dutzend Namen von Leuten aus der Schwarzen Familie nennen, die es nach Ihrem Blut gelüstet, Hunter. Wir könnten Ihnen das Leben zur Hölle machen, Ihr bescheidenes Glück an Lilians Seite mit einem Handstreich zerstören. Aber stattdessen bieten wir Ihnen unsere Zusammenarbeit an. Wenn Sie uns helfen, Olivaro auszuschalten, dann garantieren wir Ihnen die ersehnte Ruhe bis ins hohe Lebensalter. Warum nehmen Sie also nicht Vernunft an, Hunter?« »Weil ich mich nie und unter keinen Umständen auf einen Pakt mit der Schwarzen Familie einlassen werde«, erwiderte Dorian mit fester Stimme. »Was sind Sie doch für ein kleiner, mieser Spießer geworden«, schrie Alkahest ihn plötzlich an. »Ja, Sie könnten sogar Recht haben, dass Sie Ihre Ruhe haben werden. Denn ich kenne keinen, der sich an einem so erbärmlichen Häufchen Mensch vergreifen würde. Sie sind schon so spießig geworden, dass Sie nicht einmal wahrhaben wollen, wie es Ihre Alte hinter Ihrem Rücken mit Marvin Cohen treibt.« Dorian spürte, wie ihm die Worte des Dämons einen Stich versetz-
ten. Er ballte die Fäuste vor unterdrückter Wut und musste an sich halten, um sich nicht auf ihn zu stürzen. Er besann sich gerade noch rechtzeitig, dass Alkahest ihn reizen wollte. »Verschwinden Sie«, sagte Dorian und wandte sich dem Haus zu. Er hatte aber noch keine drei Schritte getan, als Alkahests Maschine aufheulte. Der Dämon fuhr ruckartig an und blieb so vor Dorian stehen, dass er ihm den Weg zum Haus verstellte. »So einfach lass ich Sie nicht gehen«, entgegnete er. »Sie haben mit Olivaro nichts mehr zu schaffen, sagen Sie? Und die Hexe Coco bedeutet Ihnen auch nichts mehr? Dann stört es Sie wohl auch nicht zu erfahren, was die beiden miteinander treiben? Na, dann sieh es dir einmal an, Hunter!« Dorians Blick musste Alkahests Handbewegung unwillkürlich folgen, als dieser mit dem Zeigefinger auf den Tachometer seines Motorrades wies. Die Tachometernadel begann sich plötzlich wie rasend zu drehen. Dorian wurde von einem Schwindel erfasst. Die Zahlen begannen durcheinander zu purzeln, verschwammen vor seinen Augen, zerflossen und wurden zu neuen Gebilden, die sich in menschliche Gestalten verwandelten. Dorian erkannte Olivaro und Coco – ihr Gesicht war ekstatisch verzerrt, aus ihrem zuckenden Mund kamen obszöne Laute. Die beiden Körper verschmolzen in einer leidenschaftlichen Umarmung, und die Luft war erfüllt vom Stöhnen und Keuchen des Liebespaares. Dorian hätte nicht geglaubt, dass ihn ein solcher Anblick dermaßen aufwühlen würde. Er war sich sicher gewesen, dass das Kapitel Coco Zamis für ihn endgültig vorbei war. Doch jetzt ertappte er sich dabei, wie er sich der Hoffnung hingab, dass die eben erlebte Szene nicht ein Abbild der Wirklichkeit war, sondern nur eine Täuschung. Kalter Schweiß brach ihm aus, und er zitterte am ganzen Körper, als die Projektion wieder zerfloss. Das Aufheulen der Motorräder rief ihn in die Wirklichkeit zurück. Als Dorian wieder die vertraute Umgebung seines Gartens sah, merkte er plötzlich, dass sich die Horror-Rocker zurückzogen. Sie flohen in wilder Panik, ja, es war eine Flucht Hals über Kopf.
Dorian hörte aus der Ferne die rasch näherkommende Polizeisirene, konnte aber nicht glauben, dass dies der Grund für den Rückzug von Demur Alkahest und seiner Dämonengang war. Es musste einen anderen Grund geben. Dorian kehrte ins Haus zurück. Immer wieder tauchte das Bild vor ihm auf, wie sich Coco leidenschaftlich an Olivaro geklammert hatte. Erst Lilians Anblick brachte ihn auf andere Gedanken. Er sah ihr sofort an, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie stand im Neglige in der Tür zur Treppendiele. Ihr leicht verklärter Blick war ins Leere gerichtet. In ihren kraftlos herabbaumelnden Händen hielt sie etwas, das der rechteckigen Form und dem Material nach eine Ansichtskarte sein mochte. Die junge Frau, der von Alkahest und seiner Bande so übel mitgespielt worden war, saß zusammengekauert in einem der ledernen Ohrensessel der Bibliothek. Lilian hatte ihr eines ihrer Hauskleider gegeben. Aber die junge Frau schien das nicht bemerkt zu haben, denn das Kleid lag über ihrem Schoss. Sie hatte die Arme um ihren Körper geschlungen, wahrscheinlich nicht, um ihre Blößen zu verdecken, sondern weil sie fror. Als sie Dorian hereinkommen sah, hefteten sich ihre Augen ängstlich auf ihn. Er lächelte ihr beruhigend zu. »Sind sie weg?«, erkundigte sie sich mit schwacher Stimme. »Ja, sie sind fort«, sagte Dorian. »Und die Polizei wird gleich eintreffen.« »Polizei?« Das Mädchen fröstelte. »Warum Polizei?« »Na, bei dem Radau, den die Rocker gemacht haben«, meinte Dorian. »Ich will nichts mit der Polizei zu schaffen haben«, sagte das Mädchen schnell. »Ich … ich möchte da nicht hineingezogen werden. Könnten Sie mich nicht verstecken, Mister …« »Hunter!« »Ich heiße Kitty …« Sie brach abrupt ab, als hätte sie sich entschlossen, ihren Nachnamen nicht zu nennen. »Sie vergessen Ihren Wagen«, erinnerte Dorian sie. »Wie soll ich
der Polizei erklären, was mit meinem Gartenzaun passiert ist?« »Den Schaden werde ich Ihnen ersetzen«, versicherte die junge Frau. Dorian winkte ab. »Darum geht es gar nicht. Aber wollen Sie denn keine Anzeige erstatten?« Sie schüttelte den Kopf. Dorian fiel erst jetzt auf, dass sie sehr hübsch war, obwohl sie mit dem zerzausten Haar, den Schrammen und dem vielen Blut im Gesicht und den in Fetzen von ihrem Körper hängenden Kleidern nicht gerade vorteilhaft aussah. Sie konnte nicht viel älter als zwanzig sein. Draußen auf der Straße heulte die Polizeisirene noch einmal auf, dann erstarb sie. Dorian ging zur Bar. »Einen Drink?«, fragte er. Sie nickte. »Dasselbe wie Sie!« Dorian schenkte zwei doppelte Bourbon ein. »Du hast mir versprochen, dass du nichts mehr trinken willst«, sagte Lilian. Und als Dorian sich eine Players ansteckte, fügte sie tadelnd hinzu: »Und du wolltest auch nicht mehr rauchen, zumindest hier im Haus nicht.« »Einmal ist keinmal«, sagte Dorian und ärgerte sich darüber, dass er sich wie ein Pantoffelheld entschuldigte. Er brachte dem Mädchen den Drink und steckte ihr die angezündete Zigarette zwischen die geschwollenen Lippen. »Was war denn hier im Haus eigentlich los?«, erkundigte er sich dann. Lilian stand immer noch gegen den Türstock gelehnt da. Sie reagierte überhaupt nicht auf seine Frage. »Nichts«, antwortete die junge Frau. »Von Harrys Bande ist niemand hier eingedrungen, wenn Sie das meinen.« »Harry?«, fragte Dorian. Sie biss sich auf die Lippe und schwieg. Dorian ging zu Lilian und nahm ihr den Hochglanzkarton aus den steifen Fingern. Sie ließ es widerstandslos geschehen. Es war ein Foto. Dorian sah, dass es eine Frau mit grellrot gefärbtem, verfilztem Haar darstellte, die einige Pfund zuviel Schminke im
Gesicht hatte. Ihre Haltung war herausfordernd, und ihre ganze Erscheinung so ordinär wie die eines Straßenmädchens. Und das war sie wahrscheinlich auch. »Wie kommst du zu diesem Foto?«, fragte Dorian sie. »Er hat es verloren«, sagte Lilian tonlos. »Wer?«, wollte Dorian wissen. Da läutete es an der Tür. Er fluchte leise vor sich hin und öffnete. Draußen stand ein uniformierter Polizist. »Ich störe doch hoffentlich nicht Ihre wohlverdiente Ruhe, Mr. Hunter«, sagte er spöttisch. Den Namen sprach er erst nach einem Seitenblick zum Türschild aus. »Keineswegs, das hat schon eine Bande vor Ihnen besorgt«, erwiderte Dorian gereizt. »Kommen Sie nur herein. Die Fahrerin des weißen Mini sitzt in meiner Bibliothek.« Dem ersten Polizisten folgten zwei weitere. Kaum in der Bibliothek, begannen sie sofort das Mädchen auszufragen. Dorian wich ihren hilfesuchenden Blicken aus und erklärte den Polizisten, dass er seine Frau, die einen leichten Schock erlitten habe, auf ihr Zimmer bringen wolle. Sie gestatteten es ihm, verlangten aber von ihm, dass er sich danach zum Zeugenverhör zur Verfügung stelle. Dorian war kaum im Schlafzimmer, als das Telefon schrillte. Er hob ab und hörte gerade den Polizisten sagen, der sich des Zweitapparates in der Bibliothek bediente: »Bei Familie Hunter …« »Hier Sullivan. Was …?« »Scheren Sie sich aus der Leitung!«, schimpfte Dorian. Der Polizist schnappte nach Luft, dann zeigte ein Klicken an, dass er eingehängt hatte. »Damit waren natürlich nicht Sie gemeint, Sullivan«, entschuldigte sich Dorian, »sondern einer der Bullen, die sich in meinem Haus breitgemacht haben.« »Ist etwas passiert?«, fragte Sullivan besorgt. »Nichts von Bedeutung. Nur ein Autounfall – gerade vor meinem Haus.« »Ach so.« Sullivan wirkte erleichtert. »Ich dachte schon …«
»Warum rufen Sie eigentlich an?« Eine Weile herrschte Schweigen, dann sagte Sullivan: »Phillip ist verschwunden. Miss Pickford hat ihn um sieben zuletzt gesehen. Als sie ihn zum Abendbrot holen wollte, war er nicht auf seinem Zimmer und auch sonst nirgends zu finden. Inzwischen haben wir das ganze Haus und das Grundstück durchsucht. Aber von dem Hermaphroditen fehlt jede Spur.« Dorian warf einen Blick auf Lilian, die noch immer wie in Trance wirkte und völlig apathisch auf dem Bettrand saß. Und er dachte an den Dämonen-Rocker Demur Alkahest, dem er jede Gemeinheit zutraute, um an sein Ziel zu kommen. Aber bei Phillip würde er sich wahrscheinlich die Finger verbrennen. Dämonen fürchteten den Hermaphroditen wie die Pest. »Vielleicht wollte Phillip nur mal frische Luft schnappen«, sagte Dorian lahm. »Na klar, weil Phillip so oft Spaziergänge macht«, meinte Sullivan sarkastisch. »Im Ernst, Hunter, wir sorgen uns um ihn. Er war den ganzen Abend – und eigentlich auch schon in den vergangenen Tagen recht eigenartig. Er hat immer wieder von seiner Mutter fantasiert. Sie rufe ihn, behauptete er, und er wollte unbedingt zu ihr.« »Aber seine Mutter ist tot«, erklärte Dorian. »Ich selbst habe sie …« Er unterbrach sich, als er Lilian hinter sich sagen hörte: »Er sucht seine Mutter. Und er war so traurig, so mitleiderregend traurig, weil ich ihm nicht sagen konnte, wo sie ist.« »Ich rufe später zurück, Sullivan«, sagte Dorian schnell und warf den Hörer auf die Gabel. An Lilian gewandt, fragte er: »Was hast du eben gesagt?« »Ich habe von dem jungen Mann gesprochen, der hier war und das Foto verloren hat«, antwortete sie. Als sie seinen verständnislosen Gesichtsausdruck sah, sagte sie tadelnd: »Aber, Rian. Ich habe dir doch von ihm erzählt. Erinnerst du dich nicht? Du selbst hast mich gefragt, woher ich das Foto hätte.« »Ja, ja, Lilian, ich weiß. Aber kannst du mir genau sagen, was passierte? Wie sah der junge Mann aus? Sagte er, wie er heißt? Hast du
ihn ins Haus gelassen?« Lilian warf ihm einen seltsamen Blick zu, als würde sie an seinem Verstand zweifeln und sah wieder ins Leere. Plötzlich begann sie mit entrückter Stimme zu erzählen: »Er war auf einmal in der Diele. Ich kam die Treppe herunter, um nach der Ursache des Lärms zu sehen. Zuerst erschrak ich, als er wie ein Geist vor mir auftauchte, aber dann erkannte ich, dass er harmlos, hilflos und schutzbedürftig war. So etwas sieht eine Frau sofort, Rian. Ich habe gar nicht daran gedacht, ihn zu fragen, wie er ins Haus gekommen sei, sondern wollte wissen, ob ich ihm helfen könne. Ja, sagte er, ich möchte meine Mutter finden. Er zeigte mir das Foto und fragte, ob ich sie kenne. Bevor ich das Foto an mich nehmen konnte, entfiel es seinen Fingern. Ich habe noch nie solche Hände gesehen. Sie waren schmal, grazil und so makellos schön wie die eines begnadeten Künstlers. Und dann sah ich ihm ins Gesicht. Dorian, er hatte ein Engelsgesicht! Ja, ich könnte schwören, dass er ein Engel war. Sein Gesicht strahlte überirdisch schön, seine Augen schimmerten golden, und sein goldenes Haar glänzte wie ein Heiligenschein. Aber er war ein trauriger Engel. Ich ließ ihn nur einen Augenblick aus den Augen, um das Foto aufzuheben. Als ich wieder aufblickte, war er verschwunden. An seiner Stelle fand ich das Mädchen in der Bibliothek. Und dann kamst auch schon du.« Für Dorian gab es keinen Zweifel mehr, dass Phillip hier gewesen war. Das erklärte auch, warum Alkahest und seine Horror-Gang Hals über Kopf getürmt waren: die unheimliche Ausstrahlung des Hermaphroditen hatte sie in die Flucht gejagt. Aber was hatte es zu bedeuten, dass Phillip nach seiner Mutter suchte? Sie war schon längst tot. Dorian hatte mit eigenen Augen gesehen, wie sie als Vampiropfer im Garten der Jugendstilvilla ihren Sarg verlassen wollte und im Sonnenlicht zu Staub zerfallen war. Es gab nur eine Erklärung: Jemand hatte Phillip die fixe Idee eingegeben, dass seine Mutter noch lebte, und ihn mit diesem Köder in eine Falle gelockt. Zwei Tage später hatten sie von Phillip immer noch keine Spur gefunden.
Es waren zwei Tage voller fieberhafter Suche nach dem Hermaphroditen gewesen; sie hatten alle Hebel in Bewegung gesetzt, Dorian war kaum nach Hause zu Lilian gekommen, hatte kein Auge zugetan. Aber Phillip blieb verschwunden. Sie fanden nicht einmal eine zufriedenstellende Erklärung dafür, von wem er entführt worden sein konnte. Der einzige Anhaltspunkt war das Foto, das er verloren hatte. Trevor Sullivan, der ehemalige Secret-Service-Mann, hatte immer noch recht gute Verbindungen zur Exekutive. Deshalb riet er, eine Vermisstenanzeige aufzugeben und Phillip offiziell suchen zu lassen. Die auf dem Foto abgebildete Frau wurde zur Fahndung ausgeschrieben. Das erbrachte jedoch keinen Erfolg, sondern führte nur zu einigen Komplikationen. Zunächst stellte es sich heraus, dass diese Frau nicht in der Verbrecherkartei registriert war. Aber damit hatte Dorian ohnehin nicht gerechnet. Als man dann das Foto vervielfältigen wollte, mussten die Beamten erkennen, dass dies nicht möglich war. Sie konnten es sich nicht erklären. Dorian und seine Gefährten dagegen schon: Hier war schwarze Magie im Spiel. Also hatte man es mit Dämonen zu tun. Die Beamten wollten das Foto natürlich sofort im Labor untersuchen lassen, doch Dorian gab es nicht aus der Hand. Während Trevor Sullivan von der Jugendstilvilla aus seine Fäden zog und seine Verbindungen spielen ließ, nahm Marvin Cohen Kontakt mit den Freaks von London auf. Da Cohen jedoch dazu neigte, in seiner nicht gerade zimperlichen Art weit übers Ziel hinauszuschießen, musste er den Puppenmann Donald Chapman als Begleiter mitnehmen, der sein Temperament zügeln sollte. Miss Martha Pickford war zu nichts zu gebrauchen. Sie weinte Tag und Nacht vor sich hin. Von Jeff Parker traf aus Frankfurt ein Telegramm ein. Er hatte vom Verschwinden Phillips gehört und bot an, seine Verhandlungen mit den Okkultistischen Freimaurern sofort abzubrechen und auf dem schnellsten Wege nach London zu kommen. Doch Dorian telegrafierte ihm, dass das nicht nötig sei.
Er verfolgte eine Spur, die seiner Meinung nach erfolgversprechend war. Demur Alkahest und seine Bande steckten vielleicht hinter der Entführung des Hermaphroditen. Dass Dämonen den Hermaphroditen fürchteten, schloss die Möglichkeit, dass sie ihre Hände trotzdem im Spiel hatten, nicht gänzlich aus. Schon einmal hatten sich Dämonen ganz normaler Gangster bedient, um die Jugendstilvilla zu stürmen und alle Bewohner, Dorian Hunter eingeschlossen, zu entführen. Auch diesmal konnten die Mittelsmänner der Dämonen konventionelle Gangster sein. Dorian hatte diese Möglichkeit von Anfang an in Betracht gezogen und deshalb den Kontakt zu der jungen Frau, die von Demur Alkahests Rockern gejagt worden war, aufrechterhalten. Er ließ sie in jener Nacht in seinem Haus nächtigen und durchsuchte, während sie schlief, ihre Handtasche. Er erfuhr aber nicht mehr als ihren Namen und ihre Adresse aus den Papieren. Sie hieß Kitty Miller und wohnte nur einige Straßenzüge von seinem Reihenhaus entfernt. Hatte sie nicht gesagt, dass sie einen Harry kenne, der offenbar zu Alkahests Gang gehörte? Alkahest hatte zugegeben, dass seine Bande das Mädchen nur auf Dorians Grundstück gejagt hatte, um mit dem Dämonenkiller zu verhandeln. Vielleicht aber wollte der Dämonen-Rocker durch diesen Zwischenfall nur von einem anderen Ereignis ablenken – nämlich von der Entführung des Hermaphroditen. Dorian war überzeugt, dass Kitty Miller nichts von diesem Komplott wusste. Aber vielleicht führte über sie der Weg zu den Hintermännern. Er informierte sich über ihre Lebensgewohnheiten. Er erfuhr, dass sie bei einer Schallplattenfirma arbeitete, dass sie einen großen Bekanntenkreis besaß, aber im Augenblick keinen festen Freund hatte. Vor etwa drei Monaten war ihr ständiger Begleiter bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen. Seitdem führte sie ein ausschweifendes Leben und ging von Hand zu Hand. Das erfuhr Dorian von einem Detektiv, den er engagiert hatte. Am Abend des zweiten Ta-
ges rief der Detektiv in der Jugendstilvilla an und berichtete Dorian, dass Kitty zu einem Friedhof gegangen sei. Dorian fuhr sofort hin. Der Detektiv erwartete ihn bereit am Tor und führte ihn zu Kitty. Dorian schickte ihn nach Hause. Die junge Frau hockte an einem Grab mit einem neuen Stein. Sie hörte es gar nicht, als Dorian hinter sie trat. Er las die Inschrift des Grabsteins, und ein furchtbarer Verdacht stieg in ihm auf. Harald Rampling stand darauf. Gestorben vor drei Monaten. »Warum haben Sie das Grab Ihres Freundes aufgesucht?«, erkundigte sich Dorian. Sie zuckte zusammen und fuhr herum. Einen Augenblick lang sah es aus, als wolle sie schreien. Doch dann sagte sie gefasst: »Haben Sie mich erschreckt! Was geht es Sie an, dass ich das Grab meines Freundes besuche?« »Es wundert mich nur. Schließlich haben Sie keinen Grund, ihm nachzutrauern. Er war ein übler Bursche und hat Ihnen oft arg mitgespielt. Und nun fürchten Sie, dass er Sie über den Tod hinaus quält.« »Was für ein Unsinn«, sagte sie. »Ich weiß, dass in der letzten Nacht das Licht in Ihrem Zimmer nicht ausgegangen ist. Sie haben kein Auge zugetan. Warum nicht?« »Was geht Sie das an!« Sie kehrte dem Grab den Rücken und wollte davoneilen. Dorian hielt sie zurück. »Ich kenne die Antwort«, sagte er. »Sie zweifeln daran, dass Harry wirklich tot ist. Glaubten Sie nicht, ihn unter den Rockern zu erblicken? Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen Gewissheit über ihn verschaffen.« »Wie?« Ihr Blick fiel auf den Grabhügel. »Sie wollen doch nicht …« »Doch. Ob es Ihnen nun Recht ist oder nicht. Ich werde nachschauen, wer wirklich in diesem Sarg liegt.« Zwei Stunden später wussten sie es. Dorian hatte Marvin Cohen mit Schaufel und Pickel zum Friedhof beordert, und gemeinsam hatten sie das Grab ausgehoben. Dorian war nicht besonders überrascht, als er den Sargdeckel abhob und
darunter sieben zerstückelte Katzen fand. Kitty, die darauf bestanden hatte, bei dieser Exhumierung dabei zu sein, wurde beim Anblick der Katzenkadaver bewusstlos. Die Erkenntnis, dass ihr verstorbener Freund nicht in seinem Grab war, musste sie zutiefst getroffen haben. Dorian brachte die junge Frau in sein Haus. Lilian wollte ihn schon beschimpfen, verstummte aber sofort, als sie Marvin Cohen erblickte. Dorian hatte schon bei früheren Gelegenheiten bemerkt, dass sie immer Eindruck schinden wollte und sich von ihrer besten Seite zeigte, wenn Cohen dabei war. Sie wurde in seiner Anwesenheit ein ganz anderer Mensch. Als Kitty zu sich kam, bot Dorian ihr an, für einige Zeit in seinem Haus zu bleiben. Sie nahm dankbar an. Dorian tat dies nicht nur aus Nächstenliebe, obwohl er Mitleid mit ihr hatte. Er hoffte insgeheim, dass sich ihr untoter Freund blicken lassen würde und er ihn sich vornehmen konnte. Cohen verabschiedete sich. Kitty hatte sich ins Gästezimmer zurückgezogen. Kaum war Dorian mit Lilian allein, begann sie damit, ihm Vorhaltungen zu machen. Er liebe sie nicht mehr. Sie sei doch nicht dumm und wisse, was er während ihres Sanatoriumsaufenthalts getrieben habe. Sie wisse auch, dass er immer noch an die andere denke, an diese Coco, die ihn verhext habe. »Was ist aus deinen guten Vorsätzen geworden?«, hielt sie ihm weiter vor. Er öffnete seufzend die Bar, griff nach der Whiskyflasche. »Du säufst schon wieder wie ein Loch, qualmst wie ein Schlot. Die Vorhänge in der Bibliothek sind schon ganz gelb und stinken nach kaltem Rauch. Und dann bringst du noch dieses junge Flittchen ins Haus.« »Es ist ja nur vorübergehend.« Dorian ärgerte sich, dass er Kitty nicht in der Jugendstilvilla untergebracht hatte. Aber dort hätten sich die Dämonen nicht an sie herangewagt. »Meinetwegen«, keifte Lilian weiter. »Das wäre nicht einmal das Schlimmste. Aber du bist nächtelang weg, rufst mich nicht einmal
an. Und dann bringst du diese schrecklichen Dinger ins Haus, die mir Albträume verursachen.« Sie deutete auf den Handkoffer, der geöffnet auf dem Tisch der Bibliothek stand und in dem die Dämonenbanner zu sehen waren. »Diese Gegenstände sollen dir keine Albträume verursachen, sondern dich davon befreien«, sagte Dorian. Aber sie hörte ihm nicht zu. »Du hast mir versprochen, eine geregelte Arbeit zu suchen. Du könntest dir als Journalist dein Brot verdienen, du warst nämlich ein guter Journalist. Ach, Rian, was ist nur aus dir geworden?« »Es ist ja nur vorübergehend«, redete er ihr zu. Warum brachte sie denn nur so wenig Verständnis für ihn auf? »Phillip ist verschwunden, und als Vormund des Jungen fühle ich mich verpflichtet, nach ihm zu suchen. Das musst du doch verstehen.« »Und was aus mir wird, kümmert dich dabei nicht!« Sie schluchzte auf, rannte aus dem Zimmer und über die Treppe nach oben. Dorian hieb wütend mit der Faust auf den Tisch. Er war in ein Dilemma geraten. Lilian hatte schon Recht, er war nicht mehr er selbst, wenn er es auch ganz anders meinte als sie. Und plötzlich wurde ihm deutlicher denn je bewusst, dass Lilian ein Hemmschuh für ihn war. Ohne sie wäre er nie auf das Niveau der Mittelmäßigkeit gesunken. Verdammt, er musste sich um Phillip kümmern. Lilian musste einfach zurückstehen, und wenn sie das nicht einsah, war ihr nicht zu helfen. Vielleicht war der Hermaphrodit die letzte Chance der Menschheit gegen die überhandnehmende Eskalation des Bösen durch die Dämonen. Warum hatte Lilian Phillip eigentlich nicht erkannt, als er hier im Haus auftauchte? Dorian versuchte sich zu erinnern, ob die beiden einander schon früher einmal begegnet waren. Er zuckte zusammen, als das Telefon schrillte, griff schnell nach dem Hörer und meldete sich. »Ah, Hunter«, sagte eine krächzende Frauenstimme, dann war ein tiefes Atemholen wie von einer Asthmaleidenden zu hören. »Ich nehme an, dass Sie die Suche nach Phillip noch nicht aufgegeben ha-
ben. Das ist dumm.« Dorian hatte das Foto hervorgeholt und betrachtete es. Die Stimme aus dem Telefon passte haargenau zu dieser Frau: rau, ordinär – eine andere Stimme war für diese Erscheinung überhaupt nicht denkbar. Dorian vergaß vor Erregung die Zigarette zwischen seinen Lippen. Erst als er die Hitze der Glut spürte und sich fast verbrannte, spuckte er sie aus. Er konnte kaum einen zusammenhängenden Gedanken fassen, wusste nur, dass er die Unbekannte solange wie möglich hinhalten musste. »Hallo, sind Sie noch da?«, fragte er mit belegter Stimme. »Aber gewiss Rian-Boy.« Sie kicherte abstoßend. »Es würde Sie wohl brennend interessieren, wo ich bin, was?« »Wer sind Sie denn eigentlich? Was wissen Sie von Phillip?« Es fielen ihm in diesem Augenblick keine anderen Fragen ein. »Sie dürfen mich Aphrodite nennen, Hunter«, antwortete die krächzende Stimme zwischen zwei keuchenden Atemzügen. »Aphrodite – denn die bin ich. Was ich von Phillip weiß, wird Sie beruhigen. Es geht ihm gut und es gefällt ihm ganz ausgezeichnet bei mir.« »Wo ist Phillip? Was haben Sie mit ihm vor?« »Er ist gut aufgehoben. Seien Sie vernünftig, Hunter, und geben Sie die Suche nach ihm auf. Sie werden ihn nicht finden. Und, im Vertrauen, er hat auch gar keine Sehnsucht nach Ihnen. Sie sind für ihn so wenig attraktiv wie der Auswurf einer Kröte. Bleiben Sie bei Ihrer Lilian, und werden Sie mit ihr alt. Vergessen Sie Phillip! Das wollte ich Ihnen nur sagen.« »Halt! Hängen Sie nicht ein.« Dorian verschluckte sich. »Sagen Sie mir, was Sie wollen. Wir werden uns bestimmt einigen. Nennen Sie Ihre Bedingungen.« Die Unbekannte lachte schallend. Dorian verzog angewidert das Gesicht. »Meine Bedingungen wollen Sie hören? Na schön. Lassen Sie die Finger von Phillip. Sie können den Preis nicht zahlen, den er mir wert ist. Ich will ihn für mich!«
»Aber …« »Luft anhalten, Hunter! Vielleicht setze ich mich nochmals mit Ihnen in Verbindung. Vielleicht, habe ich gesagt. Bedingung ist aber, dass Sie mir nicht nachschnüffeln. Verstanden?« Dorian öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen. Aber da war die Leitung schon tot. Er blickte auf das Foto. Wer war diese Frau? Er versuchte, sich an das Gesicht zu erinnern. Hatte er es irgendwann schon einmal gesehen? Vielleicht in einem seiner früheren Leben? War sie eine Dämonin, der er einst hart zugesetzt hatte und die sich nun auf diese Weise an ihm rächen wollte? Er zerbrach sich den Kopf, konnte sich jedoch nicht erinnern, dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Und doch – bildete er es sich etwa nur ein? – kam ihm diese Frau irgendwie bekannt vor. Waren es die Haare, das Gesicht oder die Haltung, die unbestimmte Assoziationen in ihm weckten? Was hatte diese Frau Vertrautes an sich? Warum wollte sie Aphrodite genannt werden? Sie sah wahrlich nicht so aus, als ob sie bei einem Schönheitswettbewerb den Sieg davontragen könnte. Ein grausamer Scherz also, oder steckte mehr dahinter? Das Läuten des Telefons riss Dorian aus seinen Gedanken. Er hoffte, wieder die krächzende Stimme der Unbekannten zu hören. Aber es war Sullivan. »Ich habe erreicht, dass man Ihr Telefon anzapft, Hunter«, berichtete er. »Leider war es mir noch nicht möglich, Sie davon zu unterrichten.« »Wenn schon.« Dorian konnte ihm diese kleine Unterlassungssünde leicht verzeihen. »Dann wissen Sie, woher der letzte Anruf kam?« »Ja, aber viel lässt sich nicht damit anfangen. Er kam von einer öffentlichen Telefonzelle aus einer Bar in Soho. Ich habe Cohen bereits hingeschickt. Er und die Freaks sollen sich in dieser Gegend ein wenig umhören. Sonst gibt es leider keine Neuigkeiten. Was ist mit dem Mädchen? Hat sie Sie auf eine Spur geführt?« »Ich glaube, ich habe mich da in eine Sackgasse verrannt«, gab Dorian zu. »Falls Alkahest überhaupt etwas mit Phillips Verschwinden
zu tun hat, wird Kitty uns kaum weiterhelfen können.« Sie unterhielten sich noch eine Weile, doch neue Aspekte kamen bei dem Gespräch nicht heraus. »Dorian!« Das war Lilian. Dorian beendete die Unterhaltung mit Sullivan und legte auf. »Dorian, geh' bitte nicht aus dem Haus!« »Nein, Lil«, rief er über die Treppe hinauf. »Ich bleibe bei dir.« »Was treibst du denn noch zu so später Stunde?« »Ich erwarte einen Anruf«, log er. In Wirklichkeit wollte er nur noch nicht zu Bett gehen. Was sollte er bei Lilian? Sie war für ihn zu einer Fremden geworden. Sie bekam bei jeder seiner Berührungen eine Gänsehaut. Er konnte genauso gut auf der Couch im Wohnzimmer übernachten. Zuvor wollte er aber noch überall im Haus die Dämonenbanner anbringen, um sicher zu sein, dass sie nicht von Alkahests Untoten behelligt wurden. Er dachte dabei in erster Linie an Kitty, die im Gästezimmer schlief. Dorian hängte in die Fenster des Erdgeschosses Kännchen mit Weihwasser und legte getrocknete Kräuter und Knoblauchzehen hinein. Dann bemalte er die Wände mit Kreuzen, Drudenfüßen, Abraxen und Symbolen aus der Kabbala. Auf der Eingangstür und der Hintertür bildete er aus silbernen Reißzwecken ebenfalls Drudenfüße und schrieb darunter Bannsprüche. Nachdem er auch die Kellerfenster abgesichert hatte, suchte er das Gästezimmer im Obergeschoss auf, in dem Kitty untergebracht war. Sie schlief. Leise, um sie nicht zu wecken, schlich er sich auf Zehenspitzen zu ihr und drückte ihr ein geweihtes Kruzifix in die Hand. In diesem Augenblick bemerkte er am Fenster eine Bewegung und sah den mit verwesendem Fleisch überzogenen Totenschädel eines Untoten. Dorian zweifelte nicht daran, dass es sich um Harry Rampling handelte, der gekommen war, um seine frühere Freundin zu sich zu holen, beim Anblick des geweihten Kreuzes jedoch flüchtete. Dorian verließ das Gästezimmer so lautlos, wie er gekommen war
und stürzte dann über die Treppe ins Erdgeschoss. Er rannte durch die Bibliothek, holte aus seinem Handkoffer einen malaysischen Dolch, der angeblich von einem Amokläufer stammte, und lief ins Freie. Gerade als er auf die Straße kam, heulte ein Motorrad auf. Dorian sprang über die Bresche, die Kittys Mini in seinen Gartenzaun geschlagen hatte, und erreichte den Untoten, als dieser seine Maschine anfahren wollte. Ohne zu überlegen schwang sich Dorian auf den Rücksitz, klammerte sich am verfilzten Haar des Rockers fest und presste ihm den Dolch an die Kehle, während das Motorrad wie eine Rakete davon schoss. Dorian musste seine ganze Kraft und Geschicklichkeit aufwenden, um nicht abgeworfen zu werden. »Halte sofort an!«, schrie Dorian gegen den Fahrtwind. Der Untote beachtete ihn nicht. Entweder war sein Gehirn bereits so stark zersetzt, dass er nur noch die Intelligenz eines Tieres besaß und nicht mehr klar denken konnte, oder aber er war klug genug, um zu erkennen, dass Dorian ihm ausgeliefert war. Wahrscheinlich traf eher die zweite Möglichkeit zu. Der Untote wusste, dass, wenn der Dämonenkiller ihn köpfte, die Maschine außer Kontrolle geriet und mit ihm in den Tod raste. Dorian war ihm ausgeliefert. Seine einzige Chance bestand darin, sich festzuhalten und sich nicht abwerfen zu lassen. Er musste sogar die Hand mit dem Dolch von der Kehle des Untoten nehmen, um sich mit beiden Händen festhalten zu können. Der Untote gab unartikulierte Laute von sich, die seinen Triumph ausdrücken mochten, brachte die Maschine im untersten Gang auf Höchsttouren und vollführte noch waghalsigere Manöver. Das Motorrad legte sich tief in eine Kurve, und dann fuhr der Rocker im Zick-Zack eine schmale Einbahnstraße entlang. Als sie in die nächste Querstraße einbogen, neigte sich der Untote erst im letzten Augenblick mit der Maschine in die Kurve, so dass Dorian beinahe durch die Fliehkraft davon geschleudert worden wäre. Die Fahrt endete ebenso schnell, wie sie begonnen hatte. Völlig unerwartet bremste der Untote ab und ließ die Maschine unter sich ge-
gen den Bordstein schlittern. Dorian konnte gerade noch abspringen und rollte sich ab, um den Aufprall zu mildern. Als er wieder auf die Beine kam, verschwand der Untote auf einem verwilderten Grundstück. Dorian holte den Malayendolch hervor und nahm sofort die Verfolgung auf. Er kämpfte sich durch Büsche und mannshohes Unkraut, bis er zu einer verfallenen Villa kam. Er schritt die Vorderfront in sicherer Entfernung ab und versuchte, die Dunkelheit hinter den rahmenlosen Fenstern mit den Blicken zu durchdringen. Da sah er eine Bewegung. Im nächsten Augenblick schnellte ein gestreckter, sehniger Körper durch die Luft. »Nicht, Harry!«, schrie eine gespenstische Stimme, die Dorian durch Mark und Bein ging. Dorian tauchte unter dem heranfliegenden Körper hinweg, spürte schmerzhaft, wie Klauen über seinen Rücken strichen, und sein Sakko wurde wie von einer rasiermesserscharfen Klinge zerfetzt. Er hörte hinter sich den Aufprall eines schweren Körpers auf dem Boden, wirbelte herum, den Dolch zum entscheidenden Streich bereit. Der Untote krümmte sich auf dem Boden und stieß Geräusche aus, die aus Wut und Hass geboren waren. Dorian griff ihm ins Haar und zog seinen Kopf mit einem Ruck zurück. »Wenn du ihn köpfst, dann bekommst du von mir keine Informationen, Dorian«, rief die schaurige Stimme von der Ruine her. Dorian erkannte sie als die von Jerome Hewitt. Als Dorian zögerte, dem Untoten den Rest zu geben, fuhr die Stimme fort: »Harry hatte von mir den Auftrag, dich herzubringen, Dorian. Lass ihn laufen, dann bekommst du von mir den Hinweis, der entscheidend für die Auffindung Phillips sein könnte. Du willst doch deinen Schützling wiederhaben, oder nicht?« Dorian ließ den Untoten los, hielt ihm aber, als dieser sofort zum Angriff übergehen wollte, die gnostische Gemme entgegen, die er an einer Kette um den Hals trug. Der Untote zog sich fauchend und winselnd auf allen vieren zurück. Der Dämonenkiller wandte sich der verfallenen Villa zu. Von Jero-
me Hewitt war nichts zu sehen. »Wo bist du?« »Komm' nur, Dorian, ich erwarte dich. Ich habe alles vorbereitet«, hallte es schaurig aus dem Gemäuer. Zwischendurch war ein Keuchen und Stöhnen zu hören und ein Geräusch, als würde jemand einen schlaffen Körper hinter sich herziehen. »Keine Angst …« Ein qualvoller Aufschrei. Dann: »Du hast von mir nichts zu befürchten, Dorian. Ich bin auf deine Hilfe angewiesen. Und diesmal wirst du mir helfen müssen, wenn du die wichtigen Informationen willst.« Dorian kletterte durch ein ebenerdiges Fenster, stolperte über Steine und Gerümpel eine Schutthalde hinauf, bis er zu einem Loch in der Wand kam. Dort blieb er angewidert stehen. Die Wolkendecke war aufgebrochen und Mondschein fiel durch ein Loch im Dach in einen verfallenen Raum. Im hintersten Winkel sah Dorian undeutlich eine Gestalt kauern. Jerome Hewitt! Auch im Halbdunkel erkannte er ihn deutlich: sein Körper war zusammengeschrumpft und verwachsen, der linke Arm stand verkrüppelt von seiner Schulter ab, während die Rechte fast zwei Meter lang und so dünn war, dass sie nur aus Haut und Knochen bestand. Die Beine ragten wie kümmerliche Stümpfe aus dem Körper, waren nach innen verdreht und unterschiedlich lang. Dorian selbst hatte es so eingerichtet, dass der damalige Fürst der Finsternis, Asmodi, in seiner Wut Hewitt zu einem Freak machte, zu einem Ausgestoßenen aus der Schwarzen Familie. Seitdem litt Hewitt unsägliche Qualen – die eitrigen Geschwüre und Beulen, die seinen ganzen Körper überwucherten und ihm ständige Schmerzen verursachten, wurden immer ärger. Dorian hatte es bis jetzt nicht über sich gebracht, seinen Bruder zu töten. Hewitt war kein Dämon mehr, nicht mehr sein Feind, konnte keinem Menschen mehr etwas antun. Deshalb schaffte er es nicht, ihn zu richten. Es wäre ihm wie Mord vorgekommen. Und nun war Hewitt in London aufgetaucht – der Teufel mochte wissen, wie er hergekommen war – und verfolgte ihn seit Tagen,
winselte unter Qualen nach der Erlösung. »Diesmal musst du mir den Gnadenstoß geben«, flehte Hewitt ihn an. Dorian war froh, dass er im schwachen Mondlicht keine Einzelheiten erkennen konnte. »Um deine Schandtaten abzubüßen, müsstest du bis in alle Ewigkeit schmoren, Hewitt. Du hättest es dir sparen können, mich hierher zu locken.« »O nein, Dämonenkiller. Diesmal kannst du dich nicht drücken. Du würdest mir sogar die eitrigen Fußsohlen küssen, wenn ich es verlangte. Denn ich weiß etwas, dass dir jedes Opfer wert ist. Ich weiß, was mit dem Hermaphroditen geschehen soll.« Wusste der Freak wirklich etwas? Oder bluffte er nur, um zu erreichen, dass Dorian ihn von seinen Qualen erlöste? »Was weißt du über Phillip?« Dorian versuchte, die aufkommende Hoffnung und Erregung nicht in seiner Stimme mitschwingen zu lassen. »Wirst du mich töten, wenn ich dir mein Wissen verrate?«, kam die lauernde Gegenfrage. »Das kommt darauf an, ob mir deine Informationen helfen, Phillip zu finden.« »Was ich zu sagen habe, wird dich auf jeden Fall interessieren. Du musst mir aber zuvor dein Ehrenwort geben, dass du mir hilfst. Du brauchst nur ein Streichholz anzuzünden. Ein Funke genügt, und ich brenne lichterloh. Ich habe mich mit Benzin übergossen.« Was musste dieser Freak für Schmerzen ertragen, um selbst eine so schreckliche Todesart wie den Flammentod als Erlösung zu betrachten! »Warum zündest du das Streichholz nicht selbst an?« »Idiotische Frage.« Hewitt stöhnte wieder und wälzte sich zuckend am Boden. »Was habe ich nicht schon alles versucht. Es nützt alles nichts. Ich muss durch deine Hand sterben, Dorian. So hat es Asmodi verfügt. Hilf mir doch!« »Sage mir zuerst, was du weißt!«, erwiderte Dorian ungerührt. »Was nützt es mir, wenn du dein Geheimnis mit in den Tod
nimmst?« Hewitt gab lange Zeit keine Antwort. Dorian musste wegblicken, weil der Freak Bewegungen machte, als würde er sich die Geschwüre seines Körpers mit den Fingernägeln aufreißen. »Also gut«, keuchte Hewitt schließlich. »In Dämonenkreisen geht das Gerücht, dass Cocos Initiationsritus zur Wiederaufnahme in die Schwarze Familie stattfinden soll. Was sagst du dazu, Dämonenkiller?« »Es kümmert mich nicht«, erwiderte Dorian. »Ich sehe da keinen Zusammenhang mit Phillips Verschwinden.« »Nein?« Ein Gurgeln kam aus Hewitts Richtung und dann ein Geräusch, als klatschte etwas Dickflüssiges mit großem Druck gegen die Wand. »Dann höre zu. Du kannst dir ungefähr ausmalen, wie es bei einem solchen Initiationsritus zugeht. Da muss ausgiebig geopfert werden. Und die Opfer müssen etwas Besonderes sein. Was wäre also besser geeignet als ein Hermaphrodit? Wahrlich ein würdiges Opfer für diesen Anlass – Phillip, der Schrecken aller Dämonen!« »Das ist absurd«, sagte Dorian heftiger als er wollte. Coco sollte Phillip entführt haben, um ihn zu opfern? Nein. Er traute ihr vieles zu, das aber nicht. »Nein«, sagte Dorian fest. »Wie kommst du überhaupt auf diese Idee? Hast du Beweise?« »Ich habe mir nur einiges zusammengereimt«, erwiderte Hewitt. »Hast du dir schon überlegt, wie Phillip entführt wurde? Du weißt, dass in ihm übernatürliche Fähigkeiten schlummern. Er muss seinen Entführer also gekannt, ihm vertraut haben, dass er sich nicht zur Wehr setzte, von seinen Fähigkeiten keinen Gebrauch machte. Und glaube nur ja nicht, Coco Zamis hätte irgendwelche Gewissensbisse …« »Genug davon«, herrschte Dorian den Freak an. »Wenn du mir nicht mehr als diese Hirngespinste anzubieten hast, dann kannst du bis zum Jüngsten Tag schmoren.« Damit wandte sich Dorian ab. Das Klagen und Wimmern des gequälten Freaks hallte noch lange
in seinen Ohren. Als Dorian in sein Reihenhaus zurückkam, graute bereits der Morgen. Er setzte sich an den Lesetisch in der Bibliothek, schaltete die Stehlampe ein und betrachtete in ihrem Schein das Foto. Jetzt wusste er, an wen ihn die Unbekannte erinnert hatte. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Coco war da. Dorian schloss die Augen und lehnte sich zitternd zurück. Nein, das konnte sie ihm nicht antun. Aber was wusste er schon darüber, was in einer Hexe vorging? Zu welchen Abscheulichkeiten sie unter dem Druck Olivaros fähig war?
Dorian hatte wirre Träume. Als er sich später an sie zu erinnern versuchte, erschienen sie ihm noch verworrener, als sie in Wirklichkeit gewesen sein mochten. Es war ein unerklärliches Gemisch aus seinen Erlebnissen, Wunschgedanken und Ausgeburten seiner strapazierten Fantasie. Zumindest bis zu dem Augenblick, als die Unbekannte mit den roten Haaren auftauchte. Zuerst errichtete er einen großen Scheiterhaufen, den er Olymp nannte, und legte Coco darauf. Dann entzündete er den Scheiterhaufen. Jerome Hewitt stimmte ein Freudengeheul an. Doch sein eitriger Ausfluss löschte die Flammen. Hewitt schwang sich unter qualvollem Geschrei zu einem Untoten aufs Motorrad und fuhr mit ihm in Richtung Olivaro davon, der gerade in leidenschaftlicher Umarmung mit Coco, die er vor dem Scheiterhaufen gerettet hatte, vorbeischwebte. Der Hermaphrodit Phillip war nur ein nebeliges Gebilde in der Ferne, entschwand immer mehr. Lilian und Marvin Cohen kamen Hand in Hand heran. Cohen pflückte für sie Blumen und Lilian schrie Dorian an, dass er endlich die Whiskyflasche fortstellen solle. Aber Dorian trank weiter, bis er bis zum Hals in einem Fass mit Bourbon stand. Jedes Mal wenn er sich bückte, um die bernsteinfarbene Flüssigkeit zu schlürfen, versickerte sie, und wenn er sich aufrichtete, stieg ihm der Whisky wieder bis zum Hals. Und dann sah er sich auf einem unübersichtlichen Lagerplatz der
Unbekannten gegenüber. Sie war aber nicht deutlich zu sehen, sondern flimmerte, als sei sie nur eine Luftspiegelung, eine Fata Morgana. Er musste sich abwenden, weil ihm bei ihrem Anblick die Augen schmerzten. Und so konzentrierte er sich auf seine Umgebung. Er wusste nach dem Erwachen nicht, wieso er in seinem Traum nie das Bedürfnis empfunden hatte, mit Phillips Entführerin zu sprechen, Verhandlungen über die Bedingungen für seine Freilassung zu führen. Die Umgebung war ihm viel wichtiger. Er wollte sich jede Einzelheit einprägen, um wieder hierher zu finden. Er war ja jetzt nicht wirklich hier, sondern träumte nur. Er träumte, es sei zehn Uhr – und das bedeutete, dass er um zehn Uhr des nächsten Abends herkommen müsse. Und zwar allein, denn er war auch in seinem Traum ohne Begleitung. Er sah sich also um. Nein, das war kein Lagerplatz, sondern ein Autofriedhof. Rund um ihn türmten sich Berge ausrangierter Wracks. Er merkte sich die Stelle, an der er stand, prägte sie sich genau ein, um wieder herzufinden. Er kannte diesen Autofriedhof, war schon öfters daran vorbeigefahren. Er lag außerhalb des Stadtgebiets, nur fünf Meilen von seinem Reihenhaus entfernt. Er würde herkommen. Um zehn. Allein. Dorian wachte schweißgebadet auf. Im Schlafzimmer herrschte Dunkelheit, obwohl die Vorhänge nicht vorgezogen waren. Durch das Fenster fiel das Licht der Straßenbeleuchtung. Lilians Bett war unberührt. Wo war sie? Wie spät war es? Dorian erinnerte sich plötzlich, dass er schlafen gegangen war, als der Morgen bereits dämmerte. Er schwang sich aus dem Bett, schlüpfte in seinen Morgenmantel und hastete die Treppe hinunter. »Guten Morgen«, sagte Marvin Cohen spöttisch. »Du hast den ganzen Tag über gepennt, und wir haben dich überall in London gesucht.« »Wieso?«, fragte Dorian verdutzt. »Ein Anruf hätte genügt, und Lilian …«
»… hat dich verleugnet«, ergänzte seine Frau. »Für mich erschien es wichtiger als alles andere, dass du in deinem wohlverdienten Schlaf nicht gestört wirst. Ich hoffe doch sehr, dass Mr. Cohen dafür Verständnis haben wird.« Und dabei lächelte sie ihm kokett zu. »Aber ja, selbstverständlich, Lilian, äh, Mrs. Hunter«, versicherte Cohen. »Es war ja alles nicht so wichtig. Wir haben sowieso keine neue Spur von Phillip gefunden. Wir haben uns nur Sorgen um Dorian gemacht. Aber nun hat sich ja alles in Wohlgefallen aufgelöst.« »Wie spät ist es?«, unterbrach Dorian ihn ungeduldig. »Acht Uhr vorbei. Viertel nach acht, um genau zu sein«, antwortete Cohen. »Wieso? Hast du eine Verabredung?« Dorian tippte ihm auf die Brust. »Erraten. Um zehn. Phillips Entführerin hat sich gemeldet.« Dorian runzelte die Stirn und fügte hinzu: »Zumindest hoffe ich das. Jedenfalls kann es nicht schaden, wenn ich mich an dem bezeichneten Ort einfinde. Bist du mit dem Wagen hier, Marvin?« »Ja, der Rover steht vor deiner Tür«, antwortete Cohen verständnislos. »Aber willst du mir nicht erklären, wovon du sprichst?« Dorian bat Lilian, ihm etwas zu Essen zu machen und antwortete erst danach auf Cohens Frage. »Ich hatte einen Traum.« »Und du glaubst, dass er eine Botschaft enthielt?« »Bist ein kluger Junge, Marvin.« »Dann erzähle endlich und lass dir die Würmer nicht einzeln aus der Nase ziehen.« Dorian machte eine Geste des Bedauerns. »Tut mir Leid, aber es ist Bedingung, dass ich allein komme. Das heißt, ich werde mich nicht genau an die Bedingungen halten. Aber Mitwisser kann ich dennoch keine gebrauchen. Denn ich möchte verhindern, dass ihr, Sullivan und du, etwas hinter meinem Rücken unternehmt.« »Na schön, du großer Geheimniskrämer. Dann lass wenigstens hören, was du dir ausgedacht hast«, sagte Cohen ärgerlich. Statt eine Antwort zu geben, holte Dorian Kitty, die sich diskret in
ihr Zimmer zurückgezogen hatte. »Würden Sie mich zu einem Treffen begleiten, zu dem vielleicht auch Ihr von den Toten wiederauferstandener Freund Harry kommt?«, fragte er geradeheraus. Als er ihre entsetzte Miene sah, beruhigte er sie schnell. »Von dem Untoten haben Sie nichts zu befürchten. Ich bin sicher, dass er zu dem Treffen nur kommt, wenn auch Sie dabei sind. Aber vor ihm sind Sie eigentlich nirgends sicher. Ich will Ihnen nicht verschweigen, dass ich Sie als Lockvogel brauche – aber Risiko bedeutet das für Sie keines.« Während er sprach, starrte sie ihn mit großen Augen an, und ihre Lippen zitterten. Sie war unfähig, den Schock zu überwinden, dass ein Toter aus seinem Grab kam und sie verfolgte. Dorian wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie sich geweigert hätte, ihn zu begleiten. Aber stattdessen sagte sie: »Ich vertraue Ihnen, Mr. Hunter. Ich … ich komme mit!« In diesem Moment kam Lilian mit einem Tablett herein. Sie hatte Kittys letzte Worte gehört, und als sie das Tablett mit der Teekanne und den Brötchen abstellte, sagte sie spöttisch: »Dorian flößt allen jungen Dingern Vertrauen ein. Das liegt wahrscheinlich daran, dass er so sexy ist.« Ihre Bemerkung war sogar Cohen peinlich. Sie merkte es und zog sich sofort wieder zurück. Dorian erklärte seinen Plan: »Ich bin inzwischen von der Theorie abgekommen, dass Alkahests Bande Phillip entführt hat. Über meinen neuen Verdacht, in wessen Auftrag die Rote handelt, möchte ich noch nicht sprechen. Aber es würde mich interessieren, was passiert, wenn sie sich plötzlich mit Alkahest und seinen Untoten konfrontiert sieht. Vielleicht kommt die Bande auch gar nicht. Aber ich nehme Kitty auf jeden Fall zu der Verabredung mit. Und du bringst uns mit dem Wagen hin, Marvin.« Cohen schnitt eine Grimasse, die seine Skepsis ausdrücken sollte. »Und was, wenn dein Traum überhaupt nichts zu bedeuten hatte?« Dorian sah ihn an und widmete sich schweigend seinem verspäteten Frühstück.
Cohen hatte die Scheinwerfer ausgeschaltet und bog von der Hauptstraße auf den Weg ein, der zu dem Autofriedhof führte. Der Wagen rollte im zweiten Gang fast lautlos dahin. Vor dem Maschendrahtzaun, hinter dem sich haushohe Halden von Autowracks türmten, hielt der Rover an. Dorian drehte sich auf dem Beifahrersitz um und wandte sich an Kitty, die im Fond saß. Sie versuchte ein tapferes Lächeln, das ihr aber misslang. »Sie können es sich immer noch anders überlegen«, sagte er leise. Sie biss sich auf die Lippen und schüttelte entschlossen den Kopf. Dabei blickte sie immer wieder aus den Augenwinkeln nach draußen und horchte, ob nicht das Aufheulen eines schweren Motorrades zu hören war. »Wäre es nicht klug, wenigstens Sullivan anzurufen und ihn davon zu unterrichten, wo wir sind?«, fragte Cohen. »Du kannst ihn anrufen und mit ihm in Verbindung bleiben«, antwortete Dorian. »Du bleibst ohnehin im Wagen zurück. Wenn sich irgendetwas Unvorhergesehenes ereignet, gibst du Alarm.« Cohen legte die Spezialpistole auf die Ablage unter dem Armaturenbrett und seufzte. Er blickte Dorian und Kitty nach, die aus dem Wagen stiegen und den Maschendrahtzaun entlang gingen. Dorian hatte eine Kombizange mitgenommen. Mit ein paar schnellen Bewegungen hatte er den Draht halbbogenförmig durchgezwickt, so dass eine Öffnung entstand, durch die ein Erwachsener schlüpfen konnte. Er bedeutete Kitty mit einer Handbewegung, durch die Öffnung zu klettern. Sie tat es geschmeidig wie eine Katze, und Dorian folgte ihr. Als sie auf der anderen Seite zwischen den Autowracks verschwanden, flüsterte Kitty: »Das erinnert mich daran, wie ich Harrt mal bei einem Einbruch auf den Lagerplatz einer Kabelfirma begleitet habe. Er hat sich nicht so professionell wie Sie benommen.« »Ich tue in meinem ganzen Leben auch nichts anderes als Drahtzäune zu knacken.« Sie lachte verhalten, was aber wohl mehr Ausdruck ihrer Nervosi-
tät war. Sie ergriff seinen Arm und hielt ihn fest. »Der Autofriedhof scheint verlassen zu sein«, flüsterte sie. »Glauben Sie wirklich, dass die Rocker uns gefolgt sind?« »Wenn nicht, macht es auch nichts«, erwiderte er ebenso leise. Dorian trug keine Dämonenbanner außer der gnostischen Gemme bei sich – und die nur zum Selbstschutz. Der Dämon – denn ein solcher war die unbekannte Rote zweifellos – sollte nicht glauben, dass er ihn zur Strecke bringen wollte. Dorian wollte nichts tun, was Phillip gefährden konnte. Und wenn er nicht mehr lebte? Aus welchem Grund hatte der Dämon den Hermaphroditen entführt – oder entführen lassen – wenn nicht, um ihn zu beseitigen? Wenn er aber als Opfer für Cocos Initiationsritus auserwählt war, dann bestand noch eine Chance. »Da war jemand«, sagte Kitty und deutete nach vorn. Dorian versuchte, die dunklen Schatten der Autohalden mit den Augen zu durchdringen. Aber er konnte nirgends eine Bewegung feststellen. Als er anhielt und lauschte, herrschte Stille. Nur das Geräusch eines auf der weit entfernten Hauptstraße vorbeifahrenden Autos war zu hören. Plötzlich gab es jedoch einen Krach, als ein Haufen übereinander gestapelter Kotflügel in sich zusammenstürzte. Kitty schrie auf und warf sich an Dorians Brust. Dorian war darauf gefasst, dass nun einer von Alkahests Untoten auftauchte, doch er sah nur einen dunklen Schatten über den Boden huschen. Als das Getöse verklungen war, wirkte die Stille noch unheimlicher und unnatürlicher als zuvor. »Das war nur eine Ratte«, flüsterte Dorian dem Mädchen ins Ohr. Sie gingen weiter. Die Wolkendecke war etwas aufgebrochen, und der Mondschein erhellte die vorüberziehenden Wolken. Sie mussten einen ausrangierten Autobus umrunden, kletterten über einen anderen, der auf dem Dach lag, die radlosen verrosteten Achsen anklagend in die Luft gereckt. Immer wieder stießen sie gegen Hindernisse und traten auf Blechteile, die unter ihrem Gewicht nachgaben.
»Wo müssen wir denn eigentlich hin?«, fragte Kitty. »Keine Ahnung«, gab Dorian zu. »Ich hoffe aber, dass unsere Kontaktperson zum gegebenen Zeitpunkt auf uns aufmerksam wird.« Sie überwanden gerade eine Halde deformierter PKW-Karosserien, die ihnen den Weg verstellte. Da ergriff Dorian Kitty plötzlich an der Schulter. Sie versteifte sich sofort. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Ihre Augen wanderten suchend umher. Dann sah sie die Gestalt, die eine große freie Fläche zwischen den Autowracks überquerte. Sie lief mit trippelnden Schritten, der helle Regenmantel wehte wie ein Fähnchen hinter ihr her. Kitty stach sofort der rote Wuschelkopf zwischen ihren angehobenen Schultern ins Auge. Das musste die Kidnapperin sein, die Dorian Hunter hier zu treffen hoffte. Bevor die Unbekannte jedoch den Schutz der Autowracks erreicht hatte, gingen plötzlich überall Scheinwerfer an und hüllten sie in gleißendes Licht. Gleichzeitig röhrten die Motoren schwerer, hochgezüchteter Maschinen. Die Rothaarige hob schützend die Arme und taumelte wie eine Betrunkene. Die Scheinwerfer schienen sie zu irritieren, ihren Orientierungssinn zu lähmen. Sie verschwand nicht zwischen den in Reichweite befindlichen Autowracks, sondern lief wieder den Weg zurück, den sie gekommen war. Da brausten von zwei Seiten die Motorräder heran. »Das habe ich nicht gewollt«, sagte Dorian mit belegter Stimme. Er stieß sich von Kitty ab und sprang vom Dach eines Wracks zu Boden. Die Rocker schossen wie Hummeln im Tiefflug auf ihr Opfer zu, das scheinbar auf den grellen Lichtstrahlen der Motorradscheinwerfer tanzte. Die Unbekannte zog den Kopf tiefer ein, machte mit den Armen rudernde, hilflos anmutende Bewegungen. Dabei gab sie keinen Laut von sich. Nur das Heulen der Motorräder war zu hören. Und da – ein Schrei! Der erste Rocker hatte das Opfer erreicht. Doch plötzlich geschah etwas, mit dem nicht einmal Dorian gerechnet hat-
te. Der Rocker verlor plötzlich die Herrschaft über seine Maschine. Der wild gewordene Feuerstuhl schlängelte sich unter ihm, als hätte er ein eigenständiges Leben entwickelt, bäumte sich mit dem Vorderrad auf und raste gegen einen Berg aus Autowracks. Dem Aufprall folgte eine Explosion. Flammen schossen in den Himmel und wurden wie von einer unsichtbaren Faust wieder heruntergedrückt. Der Untote zerfloss in den Flammen wie eine Wachspuppe. Die anderen Untoten unternahmen keinen Versuch, ihr Opfer zu erreichen. Sie drehten auf ihren Maschinen ab und waren bald in der Nacht verschwunden. Die Unbekannte aber tauchte zwischen den Wracks unter. Dorian hätte bedenkenlos die Verfolgung aufgenommen, aber er erinnerte sich noch rechtzeitig an Kitty, die an dem umgekippten Führerhaus eines Lastwagens lehnte. »Kommen Sie schon!«, forderte Dorian sie ungeduldig auf. Im flackernden Schein des Feuers, das noch immer an dem Motorrad des verunglückten Rockers züngelte, sah er, dass ihr Gesicht leichenblass war. »Harry«, stammelte sie. »Das war Harry … Ich habe ihn genau erkannt … Er trug keinen Helm. Ich sah es ganz deutlich, wie er verbrannte.« »Harry starb schon vor drei Monaten«, erklärte ihr Dorian. »Was Sie sahen, war nur seine magisch belebte Hülle. Seine Seele war längst schon aus seinem Körper entwichen.« Er erkannte nun, dass es doch gar keine so gute Idee gewesen war, Kitty mitzunehmen. Alkahests Horror-Gang war ihr zwar tatsächlich gefolgt, wie Dorian es erwartete. Aber eingebracht hatte es ihm nichts – außer, dass die Untoten vielleicht Phillips Entführerin verscheucht hatten. Und zudem musste er sich nun um das verstörte Mädchen kümmern, so dass er zusätzlich gehandikapt war und die Verfolgung nicht aufnehmen konnte. Er hatte sich wieder einmal für zu klug gehalten. »Jetzt sind Sie wütend auf mich«, hörte er Kitty an seiner Seite sagen, während sie über den ölgetränkten Boden gingen. Er tätschelte ihre Hand, denn sie konnte ja wirklich nichts dafür.
Bevor er noch beruhigende Worte für sie fand, sah er rechts von sich ein Licht aufflammen. Er wirbelte herum. Hinter dem Steuer eines verbeulten Oldsmobil saß die Rothaarige und zündete sich gerade eine Zigarette an. Ihre Wangen wurden hohl, als sie den Rauch tief einsog, und sie blinzelte Dorian belustigt zu. Und wieder verblüffte ihn ihre Ähnlichkeit mit Coco. Jetzt wusste er, was sie mit Coco gemeinsam hatte. Es war die Augenpartie, die grünen, unergründlichen Augen! Dorian wandte sich Kitty zu. Aber er brauchte ihr nichts zu sagen. Mit gesenktem Kopf zog sie sich zurück. »Eines muss man Ihnen lassen, Hunter«, sagte die Rothaarige mit ihrer wahrscheinlich vom übermäßigen Zigaretten- und Alkoholgenuss rauen Stimme. »Einen knusperigen Betthasen finden Sie allemal.« »Kommen wir zur Sache«, meinte Dorian. Obwohl er die Unbekannte nicht aus den Augen ließ, fiel ihm auf, dass das Oldsmobil, in dem sie saß, auf der Kühlerhaube mit griechischen Buchstaben beschriftet war. Ein griechisches Firmenauto, das in London verschrottet worden war? Als Dorian näher kam, entdeckte er noch etwas. Die Rothaarige hatte vor sich eine Zigarettenschachtel liegen. Sie steckte sie zwar schnell weg, als sein Blick darauf fiel, aber er glaubte, auch auf der Zigarettenschachtel eine Aufschrift in griechischen Buchstaben gesehen zu haben. Die Frau sagte: »In meinem Beruf versteht man unter ›zur Sache kommen‹ etwas ganz Bestimmtes. Aber ich nehme an, dass Sie von Phillip sprechen.« Ihre Gesichtszüge wurden plötzlich hart. »Ich kann Ihnen nur nochmals raten, die Finger von ihm zu lassen, Hunter. Phillip gehört mir. Er ist mein Sohn.« »Das können Sie mir nicht weismachen«, erwiderte Dorian. »Ich weiß nicht, was Sie mit dieser Behauptung bezwecken. Aber ich habe Phillips Eltern gekannt. Und nach ihrem Tode habe ich seine Vormundschaft übernommen.« »Was wissen Sie denn schon über den Hermaphroditen«, sagte sie abfällig. »Kennen Sie sich in der griechischen Mythologie aus?
Wenn nicht, gebe ich Ihnen gerne Nachhilfeunterricht. Ursprünglich war Hermaphroditos ein Sohn des Hermes und der Aphrodite, aber als er die Liebe der Quellnymphe Salmakis nicht erwiderte, bat sie die Götter, ihre beiden Körper für immer zu verschmelzen. So entstand der göttliche Zwitter.« »Was hat die griechische Mythologie mit Phillip zu tun?«, fragte Dorian verärgert. »Alles. Ich bin Aphrodite und hole mir mein Kind zurück.« »Und wer sind Sie wirklich?« »Nennen Sie mich Aphrodite.« Das Reden um den heißen Brei machte Dorian nur noch wütender. »Warum sagen Sie nicht klipp und klar, was Sie mit Phillips Entführung bezwecken? Oder meinen Sie im Ernst, ich würde glauben, dass Sie seine Mutter sind? Aphrodite, pah!« »Wer soll ich denn sonst sein?« Dorian holte tief Atem. Für einen Moment war er versucht, einen Bluff zu versuchen und sie mit Coco anzusprechen. Aber selbst wenn sie Coco war, würde sie sich soweit in der Gewalt haben, um sich nicht durch einen billigen Trick aus der Reserve locken zu lassen. »Ich glaube«, sagte Dorian gedehnt, »sie sind nichts weiter als eine billige Erpresserin. Sie wollen mich unter Druck setzen und mich zu einer Gegenleistung zwingen. Warum sonst haben Sie Kontakt zu mir aufgenommen?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe mich nur mit Ihnen in Verbindung gesetzt, um Sie vor einer Dummheit zu bewahren. Versuchen Sie nicht, mir Phillip abzujagen. Das könnte nämlich Ihr Tod sein oder noch Schlimmeres. Ich kenne Ihre Hartnäckigkeit, deshalb wollte ich Sie warnen. Phillip braucht Sie nicht mehr. Und er vertraut mir. Er weiß, dass ich ihn geboren habe. Ich, Aphrodite, bin seine Mutter!« Die letzten Worte schrie sie und schnippte die Zigarettenkippe fort, so dass sie Dorians Gesicht fast streifte. »Ich will Ihnen ein kleines Geheimnis verraten, Sie Besserwisser«, fuhr sie fort. »Die Haywards waren gar nicht Phillips wirkliche El-
tern. Sie haben ihn nur adoptiert. Das kann ich beweisen. Aber ich will es nicht – und schon gar nicht Ihnen. Es genügt, wenn Sie wissen, dass ich Phillip mit mir nehme. Er wird freiwillig mit mir gehen, weil er weiß, dass er mich braucht. Und jeden, der sich mir in den Weg stellt, lasse ich über die Klippe springen.« Dorian schwindelte. War das wirklich Coco? Die Ähnlichkeit war unverkennbar – oder nur eingebildet? Aber wer sonst sollte ein Interesse an Phillips Entführung haben. Und vor allem, wer außer Coco sollte sich daran vergnügen, ihn zu quälen, indem er ihn über die Einzelheiten informierte und gleichzeitig bewusst anlog? Und wem, außer Coco, würde sich Phillip blindlings ausliefern, sein Vertrauen schenken und ahnungslos mit ihm ins Verderben gehen? »Coco …« Jetzt war ihm ihr Name doch über die Lippen gekommen. Die Rothaarige runzelte die Stirn. »Was für eine Tour versuchen Sie denn jetzt wieder?«, fragte sie. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, als wolle sie sich mit dem, was Dorian sagte, nicht weiter belasten. »Egal, ich habe die Fronten jedenfalls abgesteckt. Jetzt liegt es an Ihnen, ob Sie Ihren klaren Verstand gebrauchen wollen. Sie haben sicherlich genügend Selbsterhaltungstrieb, um sich meine Warnung durch den Kopf gehen zu lassen. Jetzt muss ich zu Phillip – ihn säugen.« Sie lachte plötzlich schallend, als hätte sie einen guten Witz gemacht. »Phillip säugen!«, wiederholte sie glucksend und lachte mit zurückgelegtem Kopf, wobei ihr üppiger Busen im Dekolleté wogte. Sie schwang ihre netzbestrumpften Beine durch den türlosen Ausstieg und rief ausgelassen: »Dabei könnte Phillip sich selbst säugen. Armer, göttlicher, hilfloser Hermaphrodit!« Sie stakte auf ihren hohen Absätzen davon und hielt den dünnen Regenmantel mit überkreuzten Händen an den Schultern. Sie drehte sich noch einmal nach dem Dämonenkiller um, der die Fäuste in hilfloser Wut ballte. Als sie den Mund öffnete, um noch etwas zu sagen, erscholl eine Stimme aus einem Lautsprecher. »Achtung! Achtung! Hier spricht die Polizei. Wir haben das gesamte Areal umstellt. Jeder Widerstand ist zwecklos. Kommen Sie
mit erhobenen Armen …« Die Stimme ging im schallenden Gelächter der Rothaarigen unter. Aber Dorian hörte nichts mehr. Sein Kopf dröhnte und in seinen Ohren rauschte das Blut wie ein Wasserfall. Da diese Narren ohnehin alles zerstört hatten, brauchte auch er keine Rücksicht mehr zu nehmen. Er machte sich an die Verfolgung der Rothaarigen, die hinter den Aufbauten eines Kranes verschwunden war. Als er an die Stelle kam, wo er sie zuletzt gesehen hatte, stieß er mit Marvin Cohen zusammen. Dorian sah auf einmal rot und hieb ihm die Faust mit voller Wucht ins Gesicht. Dorian kam erst zur Besinnung, als er Cohen am Boden liegen sah. »Du Idiot!«, schrie Dorian ihn an. »Wenn Phillip jetzt etwas zustößt, ist das deine Schuld. Warum hast du die Bullen verständigt?« »Na, ich hörte die Explosion und dachte mir, du seist in der Klemme«, rechtfertigte sich Cohen, während er aufstand. »Ich habe Sullivan verständigt und … Wie konnte ich wissen, dass er gleich eine solche Show aufzieht. Aber es besteht kein Grund zur Aufregung. Die Freaks haben in Soho eine Spur von Phillips Entführerin gefunden. Die Beschreibung der Frau auf dem Foto passt haargenau auf ein Straßenmädchen, das Wilbur Smarts Leute aufgetrieben haben. Der Anruf erreichte mich über Autotelefon, als ich mich gerade mit Sullivan in Verbindung setzte.« »Weiß Sullivan was davon?«, fragte Dorian. Cohen schüttelte den Kopf. »Dann ist es vielleicht doch noch nicht zu spät. Los, Marvin, wir fahren sofort nach Soho. Aber zu niemanden ein Wort darüber!« Zsa-Zsa, deren wirklicher Name Agathe war und die sich deshalb diesen ›Künstlernamen‹ zugelegt hatte, würde sich nie wieder aus Mitleid mit einem Krüppel einlassen. Der hässliche Kerl mit dem Wolfsrachen, der keine Arme hatte und dem die Hände aus der Schulter wuchsen, war gerade auf sie zugekommen, obwohl noch viele ihrer Kolleginnen die Straße entlang Parade standen. »Dich will ich und keine andere«, sagte er und bot einhundert
Pfund nur fürs Anschauen. Er versprach sogar, sich ins Bad zurückzuziehen, damit sie keine Scham zu haben brauchte, und sich durchs Schlüsselloch an ihrem Anblick zu weiden. Das war doch wirklich ein faires Angebot, dachte sie und schleppte den Kerl mit aufs Zimmer. Kaum war sie mit ihm drinnen, als fünf weitere Krüppel hereinstürmten, einer hässlicher als der andere, und mit ihr fast unbeschreibliche Dinge anstellten. Sie wusste nicht mehr, was sie alles mit ihr taten. Das kostet einen Aufpreis, hatte sie, geschäftstüchtig wie sie war, verlangt, während sie mit seltsamen stinkenden Salben eingerieben wurde. Dann streifte man ihr klobige Holzzwingen über die Füße und band ihr die Hände mit den eigenen Haaren am Rücken zusammen. Als sie wieder den Mund aufmachte, steckte ihr jemand einen mit einer übelriechenden Flüssigkeit getränkten Holzpflock, der mit eigenartigen Schnitzereien verziert war, zwischen die Zähne. Nun saß sie an einen Stuhl gefesselt. Nach einer Weile ging die Tür auf, und drei Männer kamen herein. Einer von ihnen war ein Krüppel mit langen dünnen Beinen, extrem kurzen Armen und eurem kurzen verwachsenen Rumpf. Zsa-Zsa war erleichtert, als sie die beiden normal gewachsenen Männer erblickte, auch wenn sie nicht gerade vertrauenerweckend aussahen. Die beiden hatten dunkles Haar. Das des kleineren mit dem brutalen Gesicht und der muskulösen Figur war tiefschwarz. Der größere hatte einen so stechenden Blick, dass sie unwillkürlich an Mephisto dachte. Sein Schnauzbart bewegte sich kaum, als er sagte: »So, Aphrodite, jetzt sitzt du in der Falle. Du glaubtest dich wohl sehr sicher, als du mir vormachtest, du seiest auf dem Autofriedhof, in Wirklichkeit aber nur eine Illusion vor mir erstehen ließest. Wie ich sehe, haben dich die Freaks meisterlich verschnürt. Ja, ja, sie verstehen sich auf magische Fesselung.« Lieber Himmel, dachte Zsa-Zsa. Nie wieder gehe ich auf den Strich, wenn ich diesen Wahnsinnigen entkommen sollte. »Machen wir nicht so viele Worte«, sagte der kleinere der beiden
Männer. »Freiwillig wird sie uns wohl kaum verraten, wo sie Phillip versteckt hat. Wilbur …«, er deutete auf den Verwachsenen, der einen Backenbart hatte, »soll ihr ein magisches Feuer unter dem Hintern anzünden. Dann wird sie bald singen.« »Moment! Warum gleich ein magisches Feuer?«, sagte einer der normalen Männer. Es war der mit dem Schnauzbart und den unheimlichen Augen. Er trat auf Zsa-Zsa zu und musterte sie, als wolle er in ihre Seele eindringen. Sie versuchte, seinem Blick auszuweichen, aber sie war von seinen grünen Augen wie gebannt. Endlich trat er zurück und sagte wütend: »Ihr habt die Falsche.« Zsa-Zsa wollte aufatmen, aber da trat der Verwachsene mit den Backenbart heran. Sein Kinn machte mahlende Bewegungen, als er sagte: »Wir haben uns an die Beschreibung gehalten. Rotes Haar, ordinäre, kreischende Stimme – und ein Straßenmädchen ist sie auch.« »Mein Haar ist gefärbt«, nuschelte Zsa-Zsa durch den Holzpflock hindurch. »Sie ist keine Hexe«, sagte der Schnauzbart. »Das hättet ihr selbst merken müssen.« Zsa-Zsa nickte eifrig. Wenn sie alles war, aber eine Hexe war sie nicht. »Das hat nichts zu sagen«, erwiderte Wilbur. »Auch Hexen können sich verstellen. Wir könnten ja die Hexenprobe machen.« Der Schnauzbart winkte ab. Er wirkte deprimiert. »Hast du das Foto bei dir, Dorian?«, fragte sein Begleiter. Dorian holte es wortlos hervor. Er wusste, dass diese Frau nicht mit jener identisch war, die Phillip entführt hatte. Ein Blick in ihre Augen hatte genügt. Sie waren ausdruckslos, vom vielen Alkohol getrübt. Dorian sah klar. Phillips Entführerin hatte nur das Aussehen dieses Straßenmädchens angenommen, um sie in die Irre zu führen. Es hatte ihn gleich stutzig gemacht, als auf der Fahrt hierher die Nachricht übers Autotelefon gekommen war, dass die Freaks Phillips Entführerin gefasst haben wollten, noch bevor sie Dorian auf dem Autofriedhof getroffen hatte.
»Wirst du dich ruhig verhalten, wenn ich dir den Knebel abnehme?«, fragte er. Sie nickte. Als er den Holzpflock entfernt hatte, war ihr Kiefer gefühllos, und sie glaubte, ihn nie wieder bewegen zu können. Dorian hielt der Gefangenen das Foto hin. »Bist du das?« Zsa-Zsas Augen weiteten sich, denn die Frau auf dem Foto sah ihr zum Verwechseln ähnlich, wenn man von den Augen absah und von den Kleidern, die sie nie in ihrem Leben getragen hatte. »Das muss eine Doppelgängerin von mir sein«, behauptete sie. »Ich habe solche Fetzen noch nie getragen und war auch noch nie im Gebiet der ›Schwarzen Orchidee‹. Das hier ist mein Bezirk.« »Wieso kommst du auf die Schwarze Orchidee?«, fragte Dorian argwöhnisch. »Ist das ein Lokal?« Zsa-Zsa nickte. »Wenn ich da die Nase rein stecke, schneiden sie mir die Jungs dort ab.« »Wieso weißt du, dass das Foto in der ›Schwarzen Orchidee‹ gemacht wurde?«, wollte Dorian wissen, der es immer noch so hielt, dass Zsa-Zsa es sehen konnte. »Es wurde dort geschossen«, erklärte Zsa-Zsa. »Ich war vor einem Jahr mal drinnen und erinnere mich noch gut an die Einrichtung.« Dorian drehte das Foto herum, so dass er die Vorderseite betrachten konnte. Es zeigte immer noch die Rothaarige, die Zsa-Zsa zum Verwechseln ähnlich sah. Aber nun entdeckte er zum ersten Mal den Hintergrund. Warum war er ihm früher noch nie aufgefallen? Hinter der Frau in der aufreizenden Pose war die kitschige und billige Einrichtung eines Lokals zu sehen. War sie vorher noch nicht zu sehen gewesen? Warum hatte dem Hintergrund noch niemand Beachtung geschenkt? »Weißt du, wo dieses Lokal liegt, Marvin?« Cohen nickte. Rose Jamin, seine Freundin, schleppte ihn öfter in solch zweifelhafte Lokale. Laut sagte er: »Ich bin mal vorbeigegangen.« »Dann nichts wie hin!« Beim Hinausgehen wandte sich Dorian an die Freaks und befahl: »Haltet sie solange fest, bis feststeht, ob sie
uns die Wahrheit gesagt hat.« Es war nicht viel Betrieb in dem Lokal, als Dorian und Cohen eintraten. An der Theke lümmelten zwei Zuhälter, an einem Tisch spielten vier ihrer Schützlinge Karten. Auf der Bühne strippte eine Eurasierin für ein Dutzend Männer, die sich auf die Tische der vordersten Reihe verteilten. Der Keeper hinter der Bar war ein stämmiger Farbiger, der gelangweilt Gläser polierte. Marvin winkte ihn mit einem Geldschein heran. Aber er folgte der Aufforderung erst, als Cohen einen Fächer aus 5-Pfund-Noten geformt hatte. Dorian legte vor dem Barkeeper das Foto auf die Theke. »Wir suchen dieses Mädchen«, sagte er. Die beiden Zuhälter sahen Dorian über die Schulter und schüttelten die Köpfe in Richtung des Barkeepers, der sie erwartungsvoll anblickte. Wahrscheinlich gaben sie ihm damit zu verstehen, dass sie nicht an der Frau interessiert waren. Der Farbige tat, als müsse er überlegen. »Es könnte sein, dass ich sie kenne, aber …« »Wir sind nicht da, um zu feilschen. Wir haben es eilig«, unterbrach ihn Dorian. »Wenn du die Puppe kennst, dann bekommst du einen Hunderter. Erfahren wir von dir, wo wir sie finden, dann winkt dir das Doppelte. Aber wie gesagt, es muss dir schnell einfallen.« »Sie war mal da«, sagte der Keeper. »Nur kurz, auf'n Sprung. Sie erkundigte sich nach einem Zimmer.« »Und?« »Ich hab's ihr vermittelt«, sagte der Keeper mit Unschuldsmiene. Dorian legte den versprochenen Betrag auf die Theke und sagte: »Die Adresse!« Der Farbige deutete mit dem Daumen nach oben. »Hier im Haus. Dritter Stock, rechts. Die letzte Tür im Gang.« »Danke.« Dorian rutschte vom Barhocker. Dann fragte er noch: »Hatte sie einen blonden, hochgewachsenen Jüngling bei sich?« »Ich hab' ihn jedenfalls nicht gesehen«, behauptete der Keeper. »Aber meiner Meinung hielt sie nichts von blassen Jünglingen, son-
dern war mehr auf Peitschenknaller scharf.« Dorian erfuhr noch, dass man auch durch eine Hintertür des Lokals ins Stiegenhaus gelangen konnte, und er wählte mit Cohen diesen Weg. »Sollten wir nicht doch lieber Verstärkung anfordern?«, meinte Cohen, als sie die schmale, dunkle Treppe hinaufstiegen. Es stank nach Schweiß und Rauch, und hinter den Türen, an denen sie vorbeikamen, waren eindeutige Geräusche zu hören. Ein ganz mieses Stundenhotel. »Nein«, sagte Dorian nur. Und dann: »Kein Wort mehr.« Er war bemüht, kein Geräusch zu verursachen. Er stieg voran die abgewetzten Steinstufen hinauf. Cohen hielt sich zwei Meter hinter ihm, die Spezialpistole im Anschlag, bereit, sofort davon Gebrauch zu machen. Dorian stolperte im Dunkeln plötzlich über etwas Weiches. Er ertastete einen reglosen Körper, von dem ein starker Fuselgeruch ausging. Seine Finger strichen über ein stoppeliges Kinn. Irgendein Penner, der hier seinen Rausch ausschlief. Sie stiegen ins nächste Stockwerk hinauf. Dorian zuckte zusammen, als hinter einer Tür plötzlich eine Frau schrill zu schreien begann. Gleich darauf setzte ein Gepolter ein, als würde in dem Raum eine Schlacht stattfinden. Und zu den Schreien der Frau gesellte sich eine tiefe Männerstimme. Dorian und Cohen schlichen weiter. Einmal stieß Dorian gegen eine leere Konservendose, die daraufhin die ganze Länge der Treppe hinunterrollte. Ihr blechernes Scheppern ging aber in dem Lärm aus dem zweiten Stock unter. Sie erreichten die dritte Etage, und wandten sich nach rechts. Hier herrschte Stille, nur die Geräusche aus den unteren Stockwerken waren zu hören. Von ganz unten war das Zuknallen einer Tür zu hören, eine lallende Stimme sang ein zotiges Lied. Das Haus war plötzlich in Schweigen gehüllt, als hielten alle den Atem an und warteten auf ein bestimmtes Ereignis. Dorian tastete im Halbdunkel nach Cohens Hand und drückte sie nieder. Dorian spürte seinen Widerstand, so als wolle Cohen nicht
einsehen, warum er von seiner Waffe keinen Gebrauch machen solle. Aber der Dämonenkiller blieb hartnäckig, und Cohen gab nach. Dorian hatte sich überlegt, dass er nun vielleicht in wenigen Minuten Coco gegenüberstehen würde. Er wollte nicht, dass Cohen sie anschoss. Er wollte Cohen überhaupt nicht dabeihaben. Deshalb gab er ihm durch einen Druck gegen seine Schulter zu verstehen, dass er hier zurückbleiben solle. Cohen stieß hörbar die Luft aus. Aber er fügte sich. Schließlich war es Dorians Begräbnis und nicht das seinige. Dorian hatte gehofft, dass sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen würden. Aber dem war nicht so. Der Gang vor ihm lag in tiefem Dunkel. Unter keiner Tür war ein Lichtstrahl zu sehen. Er wusste nicht einmal, wie lang der Gang war. Langsam und vorsichtig bewegte er sich voran. Er verursachte kein Geräusch. Wenn da vorn ein Dämon lauerte, würde er ihn längst schon entdeckt haben. Wozu eigentlich diese übertriebene Vorsicht? Es war sträflicher Leichtsinn, die Höhle des Löwen schutzlos aufzusuchen. Aber Dorian rechnete mit dem Überraschungseffekt. Aphrodite fühlte sich sicher, zu sicher vielleicht. Dorians ausgestreckte Hand stieß gegen ein Hindernis. Eine Tür, die nachgab und leise quietschte. Dorians Hand tastete sich über die Türfüllung zu dem Spalt. Die Tür war nur angelehnt, darum hatte sie nachgegeben. Er griff in das Zimmer hinein und suchte nach dem Lichtschalter. Schloss die Augen, presste sie fest zusammen, um vom Licht nicht geblendet zu werden, wenn er den Schalter herumdrehte. Es war ein Kippschalter. Er drückte ihn nach unten, öffnete die Augen, stieß blitzschnell die Tür auf und duckte sich. Ob ihm diese Vorsichtsmaßnahme etwas genützt hätte, wenn ein Dämon im Zimmer gewesen wäre? Eine müßige Überlegung, denn es war leer. Es herrschte eine Unordnung wie nach einem überstürzten Aufbruch. Die Schranktüren standen offen, das Bett war zerwühlt. Das Waschbecken war mit rotgefärbtem Wasser gefüllt, und der Wasser-
hahn begann zu tropfen. Hatte sich Phillips Entführerin die rote Farbe aus den Haaren gewaschen? Oder stammte das Rot von Blut? Phillips Blut? »Du kannst kommen, Marvin«, rief Dorian in den Gang hinaus. »Die Aufregung war umsonst.« Cohen kam mit schnellen Schritten heran und erfasste das Zimmer mit einem einzigen Blick. Er machte seiner Enttäuschung und seinem Ärger in einem einzigen Wort Luft. »Scheiße!« Dorian war zum Schrank gegangen. Er fand darin ein hüftlanges Hemd im Mao-Look, ausgefranste Jeans, abgetragene Mokassins, Socken aus Schafwolle und ein vergilbtes, schmutziges Kuvert. »Wenn uns der Typ angeschmiert hat, dann kann er was erleben!«, schimpfte Cohen. »Ich wette, der hat uns absichtlich auf ein leeres Zimmer geschickt.« »Nein«, sagte Dorian. »Hier sind Phillips Kleider. Er hat sie zuletzt getragen, als er in der Abraham Road auftauchte. Er wurde bis vor kurzem hier festgehalten.« Dorian öffnete das Kuvert und holte ein Foto daraus hervor. Er betrachtete es, ohne zunächst zu erkennen, was darauf abgebildet war. Ihn schwindelte, er musste sich auf die Lehne des einzigen Stuhles stützen. »Was ist denn los?«, erkundigte sich Cohen, dem Dorians Zustand nicht entgangen war. Dorian verbarg das Foto vor ihm und steckte es schnell in die Tasche. »Was versteckst du denn da?« Dorian schluckte. »Nichts. Wirklich, Marvin. Nichts von Bedeutung.« Marvin sah ihn kopfschüttelnd an. »Na, du musst es ja wissen. Wahrscheinlich hat es gar keinen Sinn, wenn wir die Bude durchsuchen. Was du finden wolltest, hast du ja schon in der Tasche.« »Wir können gehen«, sagte Dorian, und verließ das Zimmer wie ein Traumwandler. Als sie unter der Leuchtreklame des Hotels und der ›Schwarzen
Orchidee‹ ins Freie traten, stürzte ihnen einer von Wilbur Smarts Freaks entgegen. »Neueste Nachricht von der Front«, rief der Zwerg mit den bis zum Boden reichenden Armen aufgeregt. »Bei Durchsicht der Passagierlisten hat sich herausgestellt, dass eine Mrs. Hayward und ein Phillip Hayward einen Nachtflug nach Griechenland gebucht haben. Die Maschine ist vor zwei Stunden gestartet. Aber obwohl alle abfliegenden Passagiere peinlichst kontrolliert werden, ist die Rothaarige niemanden aufgefallen. Ebenso wenig wie Phillip. Sullivan vermutet, dass es sich nur um ein Täuschungsmanöver handelt und die Entführerin wahrscheinlich gar nicht das Land verlassen will.« »Sullivan ist ein Idiot. Er soll lieber die Behörden in Griechenland verständigen«, sagte Dorian, obwohl er wusste, dass auch diese Maßnahme nicht zum Erfolg führen würde. Ihr Gegenspieler war ein Dämon mit ausgeprägten übernatürlichen Fähigkeiten, dem es keine Mühe machte, alle konventionellen Kontrollen zu überlisten. Und er kannte den Dämon, hatte bisher zumindest geglaubt, ihn zu kennen wie sich selbst. Auf dem Weg zu ihrem Wagen packte Cohen Dorian plötzlich am Arm und sagte, ihm fest in die Augen blickend: »Willst du mir nicht doch verraten, was du in dem Zimmer gefunden hast?« »Nur ein Foto«, antwortete Dorian. Als sie dann im Wagen saßen, Cohen hinter dem Steuer, holte Dorian seinen Fund hervor und überreichte ihn dem Gefährten. Cohen sah das Foto an. Es zeigte Dorian und Coco vor einem malerischen Hintergrund: eine Steilküste mit schäumenden Wogen zu ihren Füßen, und hoch oben im Fels, wie ein Adlerhorst hingeklebt, ein Gebäude, das wahrhaft wie eine Burg schien und doch mehr den Charakter eines Klosters hatte. »Hast du dieses Foto Phillip gegeben?«, erkundigte sich Cohen. »Nein.« »Das besagt immer noch nichts«, meinte Cohen. »Er kann es dir geklaut haben.«
Dorian schüttelte den Kopf. »Ich sehe es selbst zum ersten Mal. Und ich weiß, dass ich noch nie zusammen mit Coco in einer Gegend wie dieser war.« »Na ja …« Cohen wusste offensichtlich nicht, was er darauf sagen sollte. »Das ist aber immer noch kein Grund, dass du auf einmal so verschlossen bist.« Dorian holte das andere Foto hervor, dass die Rothaarige zeigte. Er händigte es Cohen mit den Worten aus: »Noch vor einer halben Stunde zeigte der Hintergrund dieses Bildes das Innere der ›Schwarzen Orchidee‹. Sieh ihn dir jetzt an.« Es zeigte nun den gleichen Hintergrund – die Steilküste mit dem abenteuerlich anmutenden Bauwerk darin – wie das Foto mit Dorian und Coco, dessen Zustandekommen Dorian rätselhaft war. »Fahr mich in die Jugendstilvilla!«, verlangte Dorian.
Dorian war zum Schlafen viel zu aufgeregt. Nicht einmal das monotone Vibrieren des über den Wolken dahingleitenden Flugzeugs konnte ihn einschläfern. Seine Gedanken hielten ihn wach. Er erinnerte sich, dass ihn jemand darauf aufmerksam gemacht hatte, dass man in Griechenland osteuropäische Zeit habe, und er stellte seine Armbanduhr um zwei Stunden vor. »Und wenn diese angeblichen Beweise Ihnen nur zugespielt wurden, um Sie vom Ort des Geschehens fortzulocken, Hunter?«, hatte Sullivan ihn aufmerksam gemacht. »Sie werden mich vertreten, Sullivan«, hatte Dorians Antwort gelautet. Natürlich konnte Sullivan Recht haben. Dorian hatte sich diese Möglichkeit selbst schon überlegt. Er hatte die ganze vergangene Nacht Zeit zum Nachdenken gehabt. Und er hatte nachgedacht. Er war in der Jugendstilvilla geblieben, hatte Lilian nicht einmal angerufen, sondern Cohen damit beauftragt. »Marvin, ich hoffe, dass du nichts Eigenmächtiges unternimmst«, sagte Dorian zu seinem Gefährten während der Fahrt zum Flugha-
fen. Die Maschine sollte um 11 Uhr 10 starten. Es war schon fast zu spät. Cohen fuhr wie ein Wilder. Der Puppenmann Donald Chapman flog auf Dorians Schoß wie eine Marionette hin und her. »Lasse dir ja nicht einfallen, mir zu folgen! Lilian braucht dich dringender als ich.« Das hatte ihm einen verschreckten Blick Cohens eingebracht. Armer Marvin … Dorian wollte ihn nicht quälen und fügte deshalb hinzu: »Ich möchte dich bitten, dass du während meiner Abwesenheit auf Lilian aufpasst. Du flößt ihr Vertrauen ein.« »Hat in deinem Koffer nicht noch ein Maskottchen von meiner Größe Platz?«, bot sich Chapman an. »Ich muss allein damit fertig werden.« »Womit? Warum engagierst du dich denn in diesem Maße? Nur für Phillip?« Die Wolken türmten sich unter Dorian wie gigantische Wattebausche. Nein, sein persönliches Engagement hatte mit Philipp eigentlich am wenigsten zu tun. Ginge es nur um den Hermaphroditen, hätte er schwerere Geschütze aufgefahren. Aber darüber sprach er mit den anderen nicht. Er musste ganz allein damit fertig werden. Wenn es nötig war, Coco zu töten, dann wollte er keine Zeugen dabei haben. Man begeht ja auch nicht Selbstmord vor Publikum. Und es wäre eine Art Selbstmord, wenn er Coco richten müsste. Er würde mit ihr ein Stück seines Ichs töten. Er hatte keine großen Vorbereitungen getroffen und außer seiner gnostischen Gemme nur ein Foto von Coco und einige handliche Dämonenbanner, die man immer brauchen konnte, mitgenommen. Aber nicht das Foto, das ihn mit ihr vor einem griechischen Kloster zeigte. Das konnte eine Fälschung sein – es musste eine Fälschung sein, denn er war mit Coco noch nie in Griechenland gewesen. Um sie töten zu können, brauchte er eine Original-Abbildung. Er konnte sie eines scheußlichen Todes sterben lassen … Die Stewardess kam – ein niedliches Ding, aber farblos und synthetisch wirkend mit ihrem Keepsmiling. Er sah durch sie hindurch. In einer Stunde würden sie landen.
Dorian hatte sich die ganze Nacht hindurch den Kopf zerbrochen. Warum spielte ihm Coco diese Fotos in die Hand? Um ihn auf eine falsche Spur zu locken, wie Sullivan andeutete? Das war nicht ihre Art. Wenn sie in die Schwarze Familie zurück wollte und Phillip entführte, um ihn beim Initiationsritus zu opfern, dann war sie auch teuflisch genug, ihn zu diesem Satansfest einzuladen. Von dieser Voraussetzung war Dorian ausgegangen. Deshalb verfolgte er alle anderen Theorien nicht weiter. »Bringen Sie Phillip heil zurück!«, hatte ihn Miss Pickford angefleht. Er hatte es versprochen. Aber vor sich selbst musste er nun eingestehen, dass er eigentlich nicht auszog, um Phillip zurückzubringen, sondern um seinen Entführer zur Strecke zu bringen. Landung in Saloniki. Nach Saloniki war auch eine Mrs. Hayward mit einem Phillip Hayward geflogen. Sullivan war der Sache nachgegangen, und er hatte immerhin einen gewissen Erfolg buchen können. Eine der Stewardessen dieses Fluges war abgelöst worden und blieb für einige Tage in dieser Stadt. Sie war Griechin. Sullivan hatte vor dem Abflug versprochen, sie in Dorians Hotel zu schicken. Natürlich war für ihn ein Zimmer vorbestellt worden. Dorian hatte nicht einmal gefragt, wie das Hotel hieß. Er hatte Wichtigeres zu tun, als sich mit solchen Nebensächlichkeiten zu beschäftigen. Deshalb war er im ersten Moment verblüfft, als er aus dem Taxi stieg und feststellte, dass das Hotel den Namen »Aphrodite« trug. Zufall? Ein alberner Scherz von Sullivan? Oder Manipulation durch schwarze Magie? Wie auch immer, es ließ sich nicht mehr ändern. Die Hitze betäubte Dorian. Er hatte sich schon im Taxi des Sakkos entledigt, aber das machte die Sache nicht besser. In der Hotelhalle war es dagegen angenehm kühl. Der Page war eingeschnappt, weil er Dorians Koffer nicht tragen durfte. Um Dorian herum summte es wie in einem Bienenschwarm, der von verschiedenen Völkern bewohnt wurde. Die fleißigen Immen
schnatterten in den verschiedensten Sprachen. Er schnappte Brocken aus vielen Sprachen auf, und das hörte sich so an: »… Galerius-Bogen aus der Römerzeit … Ansichtskarten … einen genehmigen … und das Wlatadonkloster … mit diesem unmöglichen Hut! … in der Hochzeitsnacht nicht …« Dorian bedauerte es, dass er sich keine Watte in die Ohren gestopft hatte. Aber dann gelang es ihm, sich dem Stimmengewirr zu entziehen. Der schwarzgelockte Adonis hinter der Rezeption hatte ihn ohnehin schon so komisch angesehen, und sein Lächeln war nun bereits mehr starr als freundlich. »Dorian Hunter«, brummte Dorian unter seinem Schnurrbart hervor. Das genügte. »Ah, ja, Mr. Hunter. Für Sie wurde ein Zimmer ausdrücklich mit Airconditioning bestellt. Dabei haben alle unsere Zimmer eine Klimaanlage. Und selbstverständlich …« Er zählte auf, was sein Hotel alles an Annehmlichkeiten zu bieten hätte, während er einen Zimmerschlüssel vom Haken nahm. »Bourbon auch?«, unterbrach Dorian ihn. »Eine Flasche auf mein Zimmer. Mit einem Kübel Eis.« »Sehr wohl, Mr. Hunter.« Der Adonis übergab den Zimmerschlüssel dem Pagen, der nun doch noch was zum Tragen bekam, und hielt dann einen Zettel hoch. »Da ist eine Nachricht für Sie, Mr. Hunter. Sie werden in der Bar erwartet. Und zwar …« Das musste die Stewardess sein. »Soll auf mein Zimmer kommen«, sagte Dorian. An dem leicht empörten Gesichtsausdruck des Adonis erkannte Dorian, dass es sich ganz sicher um die Stewardess handeln musste oder zumindest um irgendeine weibliche Person. Er hörte hinter sich noch den Ansatz zu einem Protest, aber er ging bereits in Richtung der Aufzüge davon. Der Page kam ihm nachgerannt. Sie fuhren ins fünfte Stockwerk und gingen zum Zimmer 503. Dorian war von dem Zimmer beeindruckt. Die Einrichtung bestand aus der richtigen Mischung zwischen Antik und Modern, es hatte Telefon – eines mit Fernwahl –, Radio, Fernsehen und einen
Kühlschrank mit einem großen, aber lückenhaften Sortiment von Getränken: Bourbon fehlte. Dorian gab dem Boy ein geradezu fürstliches Trinkgeld, um ihn dafür zu entschädigen, dass er den Koffer nicht hatte tragen dürfen. Als er allein war, entkleidete er sich sofort und ließ Wasser in die Wanne laufen. Als die Wanne halb voll war, läutete es. Der Zimmerkellner kam mit dem Whisky. Dorian war in seinen Bademantel geschlüpft und behielt ihn an. Nach dem ersten Bourbon fühlte er sich besser. Es läutete wieder. Diesmal war es nicht der Zimmerkellner. Ein Mädchen stand draußen, das Dorians Vorstellungen von einer Stewardess nur in einem Punkt entsprach: Sie war ein überdurchschnittlich hübsches Geschöpf. Der Kleidung nach sah sie eher wie ein weiblicher Tramp aus, der mit Schlafsack und Spirituskocher auf dem Rücken durch die Welt vagabundierte. Aber einen Rucksack hatte sie nicht dabei. Sie trug einen fleckiggebleichten Jeans-Anzug, unter der Jacke eine Folklore-Bluse und unter der Bluse nichts. Das erkannte Dorian sofort mit Kennerblick, weil das wippte, womit die Natur sie großzügig ausgestattet hatte. Sie betrachtete ihn leicht amüsiert. »So sieht also der Mann aus, der Dorian Hunter heißt und fremde Frauen auf sein Zimmer bestellt«, sagte sie in akzentfreiem Englisch. Erklärend fügte sie hinzu: »Ich heiße Aphrodite Marangos und bin Stewardess bei Olympic Airways.« Dorian war über ihren ausgefallenen Vornamen gar nicht so überrascht – er würde ihm sicherlich noch öfters begegnen – und bat sie mit einer Handbewegung ins Zimmer, während er sagte: »Ich bin sicher, dass Sie Paris nicht mit Helena bestechen müssten, um von ihm als die Schönste gewählt zu werden.« Ihr automatisches, geschmeicheltes Lächeln zeigte Dorian, dass sie dieses Kompliment in dieser oder jener Weise schon öfters gehört haben musste. Mit dem Vorsatz, künftig origineller zu sein, schloss Dorian hinter ihr die Tür. Ihm fiel auch sofort etwas Originelles ein. »Machen Sie uns schon zwei Drinks«, bot er ihr an. »Sie können
dann meine Fragen beantworten, während ich bade.« Er verschwand im Badezimmer und tauchte im dampfenden Nass der bis zum Rand gefüllten Badewanne unter, nachdem er sich des Bademantels entledigt hatte. Aphrodite erschien wenig später mit zwei Whiskygläsern in der Tür. Mit dem Knie schob sie ein Rolltischchen zur Badewanne und stellte die beiden halbgefüllten Gläser darauf ab. Dann setzte sie sich mit angezogenen Knien auf den Fliesenboden. Sie prosteten einander zu. »Sie hatten also auf der Nachtflugmaschine Dienst, die gestern in London startete«, begann Dorian geschäftsmäßig. »Erinnern Sie sich an eine rothaarige, ordinär wirkende Frau, in deren Begleitung sich ein blasser Jüngling befand? Mrs. Hayward und ihr Sohn Phillip.« »Ich erinnere mich an eine solche Frau«, antwortete Aphrodite. »Aber sie flog allein. Der Platz neben ihr war leer.« Dorian war zuerst überrascht. Aber dann sagte er sich, dass kein Grund zur Panik bestünde. »Es waren doch zwei Passagen gebucht«, meinte er. »Ich sagte schon, der Platz neben Mrs. Hayward war leer.« »Aber Sie wussten, dass sie in Begleitung sein musste. Hat es Sie nicht verwundert, dass Sie den Begleiter nicht zu Gesicht bekamen? Oder hat Mrs. Hayward eine Erklärung dafür abgegeben, warum der Platz leer war?« Aphrodite Marangos krauste die Stirn, was ihr gut stand. »Eigentlich habe ich überhaupt nichts dabei gefunden. Jetzt erscheint es mir seltsam, dass ich darauf nicht eingegangen bin. Aber im Flugzeug … da war alles so selbstverständlich. Ich hatte keinen Grund, mich zu wundern.« Aha, dachte Dorian, Hypnose. Es war ein ganz klarer Fall von Suggestion. Niemand fand etwas dabei, dass ein Platz in der Maschine frei blieb, obwohl der Flug ausgebucht war. Und niemand verlangte eine Erklärung dafür. »Ich selbst habe die Passagierliste kontrolliert«, meinte die Stewardess nachdenklich. »Und ich habe nicht bemerkt, dass ein Passagier fehlte. Ist das nicht wirklich seltsam?«
»Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber«, sagte Dorian. »Greifen Sie in die rechte Tasche meines Bademantels. Dort ist ein Foto, auf dem die Frau abgebildet ist, die ich meine. Sehen Sie es sich an und sagen Sie mir, ob Sie die Frau wiedererkennen.« Aphrodite tat, wie ihr geheißen und nahm beide Fotos aus der Tasche, auch das, auf dem Dorian mit Coco zu sehen war. Sie betrachtete zuerst dieses, dann das andere. »Das ist die Frau«, sagte sie bestimmt. Dorian hatte nichts anderes erwartet. »Was fällt Ihnen am Hintergrund auf?« Aphrodite starrte intensiv darauf, ihr Gesicht bekam einen ungläubigen Ausdruckte länger sie darauf starrte. »Kennen Sie sich mit griechischen Klöstern aus?«, bohrte Dorian weiter. »Ich gehe doch nicht fehl in der Annahme, dass es sich bei dem abgebildeten Bauwerk um ein griechisches Kloster handelt, oder? Erkennen Sie es zufällig, oder können Sie mir jemand nennen, der mir verraten könnte, wie dieses Kloster heißt und wo es liegt?« »Das Kloster heißt Simonos Petra«, sagte Aphrodite wie zu sich selbst und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht.« »Was irritiert Sie denn?« »Dieses Foto – eigentlich beide. Es muss sich um Fälschungen handeln.« »Davon bin ich auch überzeugt. Aber wieso wissen Sie das?« »Nun«, Aphrodites Gesicht war immer noch der personifizierte Unglauben. »Simonos Petra ist ein Athoskloster. Athos ist eine autarke Mönchsrepublik, und Frauen und Kinder haben dort keinen Zutritt. Deshalb weiß ich, dass beide Bilder Fälschungen sein müssen. Fotomontagen.« »Das ist allerdings interessant«, stimmte Dorian zu. Die Mönchsrepublik auf der Halbinsel Athos war ihm natürlich als der landschaftlich schönste Teil Griechenlands und als Schatzkammer byzantinischer Kunst bekannt. Er hatte in der letzten Nacht, als er soviel Zeit zum Nachdenken gehabt hatte, einen dicken Wälzer über griechische Klöster gelesen und war dabei auch auf die Athosklöster gestoßen. Er erinnerte sich sogar noch dunkel an den Namen Simonos Pe-
tra. Aber er hatte keine Abbildung gefunden, die mit dem Hintergrund eines der beiden Fotos übereinstimmte. Wahrscheinlich lag das an der Perspektive. Die Athosklöster sahen einander auf den winzigen Bildern auch zum Verwechseln ähnlich. »Sie scheinen aber gut über Athos Bescheid zu wissen«, meinte Dorian. »Ja«, sagte Aphrodite und kippte ihren Drink auf einen Zug. »Sie müssen wissen, dass sich mein Vater gleich nach meiner Geburt als Eremit dorthin zurückzog. Das war vor fünfundzwanzig Jahren. Er tat es aus Gram darüber, dass meine Mutter bei meiner Geburt starb. Schon vor Jahren versuchte ich, mit ihm in Kontakt zu treten. Ich hätte ihn auch gerne in seiner Einsiedelei aufgesucht. Er wohnt in einer Höhle des Athos-Gebirges, nahe von Simonos Petra. Aber ich bekam keine Einreisebewilligung, eben weil Frauen nicht in die Mönchsrepublik dürfen. Ich habe Freunde zu meinem Vater geschickt, um ihn zur Rückkehr zu bewegen – vergebens. Darum weiß ich so gut über Athos Bescheid.« »Würde ich als Fremder die Einreisebewilligung erhalten?« »Innerhalb eines Tages vermutlich, spätestens in zwei Tagen«, antwortete sie. »Aber was wollen Sie dort? Etwa eine dieser beiden Frauen suchen? Das können Sie sich ersparen, denn …« »Ich weiß, die Athosmönche sind Frauenfeinde«, unterbrach Dorian sie. »Aber ich muss hin. Ich könnte mir vorstellen, dass auf Athos die Lösung meiner Probleme liegt.« »Was wollen Sie dort?« Ihre Stimme wurde auf einmal so schneidend, dass Dorian zusammenzuckte. Er starrte sie erschrocken an. Ihr Gesicht hatte einen harten Zug bekommen. Die Rechte, die das Glas hielt, verkrampfte sich, als wolle sie es zerquetschen. »Ich habe Sie etwas gefragt, Mr. Hunter. Was wollen Sie auf Athos?« Er rückte etwas von ihr ab, stützte sich mit den Armen auf den Badewannenrand, um notfalls sofort auf die Beine zu kommen. »Sie wollen zerstören, was?«, schrie sie. Ihr Gesicht hatte plötzlich alle Anziehungskraft verloren, die Schönheit war aus ihm gewichen,
als sei sie nur eine Maske gewesen, die sie nun abgenommen hatte. Es war das vom Hass entstellte Antlitz einer Furie. »Sie wollen die letzten Wahrheiten erfahren, ohne sich zu überlegen, welches Leid Sie damit anrichten könnten. Das kümmert Sie nicht. Sie denken nur an sich. Auch wenn Sie Tod und Verderben säen, Ihnen ist nur die Erreichung Ihres Zieles wichtig. Ihre Rache! Und Sie wollen töten, töten … Töten!« Dorian wollte aufspringen, als sie plötzlich nach vorn schnellte. Er rutschte mit einer Hand am Rand der Badewanne ab. Und da legten sich bereits ihre Hände um seinen Hals. Ihr Griff war der von Schraubstöcken. Er schnappte nach Luft, schlug die geballte Faust nach ihr, spürte, wie sich ihre klassische Nase unter seinen Knöcheln zur Seite bog – und dann spritzte ein Schwall Blut heraus, färbte das Wasser rot. Aber sie ließ ihn nicht los. Sie drückte immer fester zu. Und sie tauchte ihn unter Wasser. Sie entwickelte dabei die Kraft eines Ringkämpfers. Dorian hatte keine Chance gegen sie. Jetzt ließ eine ihrer Hände seinen Hals los. Aber es nützte ihm nichts, denn er konnte nicht einatmen, weil er unter Wasser war. Und schon drückte ihre freie Hand seinen Kopf tiefer unter Wasser, lastete wie ein zentnerschweres Gewicht auf ihm. Dorian war ihr an Kraft unterlegen. Er wusste, welche übermenschliche Kräfte Besessene entwickeln konnten. Und sie war eine Besessene, zweifellos von der Rothaarigen auf ihn angesetzt. Er sollte ertränkt werden. Dorian sah in diesem Augenblick, da ihm bereits die Sinne zu schwinden drohten, keinen anderen Ausweg, als einen Rettungsversuch mit der gnostischen Gemme, die er an einer Kette um den Hals trug, zu unternehmen. Er tat, als gäbe er jeden Widerstand auf, als habe er das Bewusstsein verloren. Und tatsächlich ließ der Druck nach, ja, er fühlte sich plötzlich von kräftigen Armen aus der Badewanne gehoben. Er schnappte nach Luft, griff gleichzeitig nach seiner Gemme und hielt sie dem blutverschmierten Furiengesicht über sich entgegen. Aphrodite taumelte mit einem Entsetzensschrei zurück und prallte
mit Wucht gegen die Wand. Mit einem Satz sprang Dorian aus der Badewanne, riss sich die Gemme vom Hals und schob sie der Besessenen zwischen die Zähne. Sie schlug verzweifelt um sich, riss ihm mit ihren lackierten Nägeln Wunden auf den Armen und auf der Brust. Aber er ließ sich nicht abschütteln. Er band die Kette hinten zusammen, damit sie die Gemme nicht verschlucken konnte. Dann zog er sie an den Armen ins Wohnzimmer. Sie wand sich dabei wie eine Schlange, schnellte sich fast einen Meter hoch in die Luft und fiel wie ein voller Sack krachend zu Boden. Statt Blut rann ihr nun ein grauer Schleim aus der Nase, aus ihren Ohren dampfte ein grünlicher Nebel. Dorian warf sie aufs Bett, holte aus seinem Koffer zwei Gebetsschnüre und fesselte ihr damit Arme und Beine. Wo die Gebetsschnüre ihre Haut berührten, bildeten sich augenblicklich blutende Wunden. Dann drückte er ihr ein Kruzifix zwischen die verkrampften Finger, und ihre Knöchel beulten sich geschwulstartig aus. Das Kreuz schoss plötzlich wie eine Rakete in die Höhe, bohrte sich in die Decke und verformte sich. Dabei schrie die Besessene wie am Spieß. Dorian ließ sich aber nicht beirren. Er holte einen silbernen Flakon hervor, in dem Weihwasser war. Aphrodite schien schon von weitem am Geruch zu erkennen, was sich in dem Silberfläschchen befand. Sie gebärdete sich noch wilder, die Gebetschnüre schnitten tiefer in ihr Fleisch ein. Der Dämonenkiller hatte Mitleid mit ihr. Aber er konnte ihr nur helfen, wenn er sie zuerst mit den sakralen Reliquien peinigte. Ein Dämon ließ sich nicht ohne Schmerzen austreiben. Er musste sie quälen, um sie zu retten. Es sah fast so aus, als würden ihr die Augen aus den Höhlen treten, als er sich die Finger mit Weihwasser benetzte. Ihre Augen verdrehten sich, so dass nur noch das Weiße zu sehen war. Dann erbrach sie grünen Schleim, als er mit dem Weihwasser ein
Kreuz auf ihrer Stirn beschrieb. Er zeichnete auch auf ihren Körper einige Kreuze. Überall, wo das Weihwasser mit ihrer Haut in Berührung kam, brachen hässliche Wunden auf. Aber dann sackte sie in sich zusammen, bewegte sich nicht mehr, gab keinen Laut von sich. Ihre Lider schlossen sich. Dorian befreite sie von den Fußfesseln. Sie rührte sich nicht. Dann löste er ihre Handfesseln und faltete ihr die Hände wie zum Gebet über der Brust. Sie wehrte sich nicht. Nur einmal lief ein Schauer über ihren Körper, dann lag sie still. Es klopfte an der Zimmertür. Zuerst diskret, dann fordernder. Dorian machte sich schnell etwas zurecht, dann schlüpfte er in den Bademantel und öffnete die Tür. Draußen stand der Adonis von der Rezeption und machte ein besorgtes Gesicht. Der Krach in Dorians Zimmer musste das ganze Hotel aufgescheucht haben. Bevor der andere jedoch seine Beschwerden vorbringen konnte, legte Dorian los. »Ein Wunder ist geschehen«, sprudelte er hervor. »Ich hatte gerade eine Erscheinung. Ich war auf einmal nicht mehr ich selbst, sondern das Werkzeug einer höheren Macht. Die Erscheinung rief mich nach Athos, wo sich das Wunder fortsetzen soll. Sie müssen sofort alle Formalitäten für mich erledigen, damit ich so schnell wie möglich nach Athos gelange. Vielleicht werde ich dort bleiben und komme nicht mehr zurück. Deshalb werde ich die Rechnung für vierzehn Tage im Voraus bezahlen. Verschaffen Sie mir bitte die Einreisebewilligung nach Athos und die Aufenthaltsgenehmigung.« »Sehr wohl, mein Herr.« Dorian schlug ihm die Tür vor der Nase zu, ohne ihm einen Blick ins Zimmer gegönnt zu haben. Aphrodite lag schlafend im Bett. Er reinigte sie mit lauwarmem, reinem Wasser und betupfte ihre kreuzförmigen Wunden mit. Bourbon. Er war sicher, dass die Besessenheit von ihr gewichen war.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, hatte Dorian seine Sachen bereits gepackt. Sie sah ihn zuerst verständnislos an, wie einen Fremden, den sie zum ersten Mal sah. Und sie hob auch züchtig die Bettdecke über ihre Blöße. Dorian gab sich, als seien sie uralte Bekannte, um ihr die Befangenheit zu nehmen. Und da er sie in keiner Weise an ihre Besessenheit erinnern wollte, log er ihr etwas vor, indem er ihr durch verschiedene Andeutungen zu verstehen gab, dass sie eine stürmische Liebesnacht hinter sich hatten. Davon konnte zu Dorians Bedauern natürlich keine Rede sein. »Los, raus aus den Federn, Mädchen«, rief er ihr fröhlich zu und zog ihr die Bettdecke weg. »In einer Stunde geht mein Schiff nach Dafni. Und ich möchte es nicht verpassen.« »Ich fühle mich wie tot«, sagte sie benommen. »Was war denn nur mit mir los? Ich kann mich an nichts erinnern.« »Na, bei solchen Begleiterscheinungen solltest du den Sex lieber bleiben lassen.« Sie nickte schwach, stand auf und ging wie eine Schlafwandlerin ins Bad. Sekunden später steckte sie den Kopf wieder heraus. »Willst du wirklich nach Athos?«, fragte sie. »Natürlich. Deshalb muss ich das Boot um neun unbedingt erwischen. Wenn du dich zu zerschlagen fühlst, um mich zum Hafen zu begleiten, dann musst du es nicht tun.« »Ich komme mit«, sagte sie. »In fünf Minuten bin ich soweit.« Eine Viertelstunde später bestiegen sie vor dem Hotel ein Taxi. Eine Weile fuhren sie schweigend durch die Straßen von Saloniki, dann ergriff Aphrodite endlich das Wort. »Einige meiner Gedächtnislücken haben sich inzwischen gefüllt«, sagte sie. »Aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern, dass ich mit dir … Sag, hast du irgendwas mit mir gemacht?« »Du meinst, ich hätte dir was in den Whisky geschüttet?«, fragte er zurück. »Ich weiß, es ist dumm …« Sie hakte sich bei ihm unter und presste sich an ihn. »Sprechen wir nicht mehr davon. Wirst du bei deiner
Rückreise von Athos bei mir vorbeischauen? Wenn du wieder bei mir bist, möchte ich wenigstens etwas davon haben und mich daran erinnern können.« »Mal sehen …« Als Dorian merkte, dass sie sich an nichts mehr erinnerte, atmete er auf. Er konnte sich wieder mit seinen eigenen Problemen beschäftigen. In wessen Auftrag hatte Aphrodite gehandelt, als sie ihn zu ermorden versuchte? Aber eigentlich war es gar kein richtiger Mordanschlag gewesen. Denn als Aphrodite glaubte, dass er das Bewusstsein verloren hatte, zog sie ihn aus der Badewanne. Was also dann? Wollte man ihm nur einen Denkzettel geben? Die Rothaarige konnte es sich erlauben, mit ihm zu spielen. Sie schien über jeden seiner Schritte unterrichtet zu sein. Während er selbst noch immer im Dunkeln tappte. Aber vielleicht fand er auf Athos des Rätsels Lösung. Warum eigentlich ausgerechnet bei den asketisch lebenden Mönchen? »Ich erinnere mich, dass du mir ein Foto gezeigt hast«, drang Aphrodites Stimme in seine Gedanken. »Dürfte ich es noch einmal sehen?« Er gab ihr beide Fotos, aber das mit der Rothaarigen schob sie zurück. Dann starrte sie auf das andere, das Dorian zusammen mit Coco vor dem Kloster Simonos Petra zeigte. »Ist das deine Frau?«, fragte sie nach einer Weile. »Ich war mal mit ihr gut befreundet.« »Ich könnte schwören, dass ich sie gesehen habe.« »Wo? Wann?« »Gestern. In der Bar deines Hotels.« Das traf Dorian wie ein Blitz. »Warum hast du mir das nicht früher gesagt?« »Ich weiß nicht«, sagte sie hilflos. »Ich erinnere mich nicht mehr.« »Schon gut.« Coco in Griechenland? In Saloniki? Konnte das Zufall sein? Jedenfalls war er jetzt ziemlich sicher, dass Coco die Stewardess verhext hatte. Und Coco hatte es nicht einmal der Mühe wert gefunden, in
ihrer Verkleidung als Unbekannte aufzutreten. »Dorian?« »Ja?« »Würdest du mir einen Gefallen tun?« »Wenn es in meiner Macht steht.« »Es kostet dich nicht viel. Nur einen kleinen Umweg. Würdest du, wenn du auf Athos bist, meinen Vater besuchen? Du findest seine Eremitage bestimmt ganz leicht. Du brauchst nur nach dem Einsiedler Christophoros zu fragen. Sage ihm, dass ich dich geschickt habe, und er wird dich freundlich aufnehmen. Von Simonos Petra ist es nur ein zweistündiger Marsch. Und da du sowieso zum Regierungssitz in der Stadt Karyäs musst, um die Aufenthaltsbewilligung zu bekommen, könntest du auf dem Rückweg …« »Das kann ich dir mit ruhigem Gewissen versprechen.« Dorian wusste noch nicht, wie lange er auf Athos bleiben würde. Aber bestimmt fand er Zeit, den Einsiedler irgendwann aufzusuchen. Sie kamen in den Hafen. Aphrodite bat den Taxifahrer, auf sie zu warten. Sie schrieb Dorian ihre Adresse auf und sagte, dass sie dort in den nächsten sieben Tagen anzutreffen sei oder dann wieder nach vierzehn Tagen. Wenn er keine Zeit für einen Besuch haben würde, ergab es sich vielleicht, dass sie sich auf einem der Flüge zwischen Saloniki und London treffen würden. Sie küsste ihn scheu zum Abschied. Als das Motorboot abfuhr, stand Dorian noch lange an der Reling und blickte zum Hafen, wo das winkende Mädchen im Jeans-Anzug immer kleiner wurde.
Noch im Jahre 1946 lebten in den zwanzig Klöstern Athos' fünftausend Mönche. Heute sind es nur noch etwa 1700. Es fehlt an geeignetem Nachwuchs, so dass man nun in der Mehrzahl Mönche vorfindet, denen es an Bildung fehlt, und die wenigen, die höheres Wissen und auch Interesse an ihrer Berufung besitzen, sind meist biblischen Alters. Neben den zwanzig großen Klöstern, die wie wehrhafte Burgen
und trutzige Festungen über das Athos-Gebirge verteilt sind, gibt es noch einige Skiten, Mönchssiedlungen mit lose um eine Kirche verstreuten Gehöften, und die Kellien, wobei es sich um selbständige Einzelgehöfte handelt, die von kaum mehr als einem halben Dutzend Mönche bewohnt werden. Diese ›Kellioten‹ leben von den Früchten ihrer Felder und Gärten und halten sich viel ernsthafter als die mehr und mehr der Trägheit verfallenen Klostermönche an die Regel vom »Beten und Arbeiten«. Während der Überfahrt erfuhr Dorian auch, dass die Kellioten Fremde viel freundlicher aufnahmen als die Mönche der von Touristen oft geradezu überrannten Klöster. Neben den isoliert lebenden Kellioten gibt es noch eine unbekannte Anzahl von Einsiedlern, Asketen und Anachoreten, die in Häusern, Hütten und Höhlen leben. Manche von ihnen sollen so scheu sein, dass sie sich keinem anderen menschlichen Wesen zeigen und die von den Kellioten für sie bereitgestellten Almosen nur nachts abholen, wenn die Klöster verdunkelt und verschlossen sind, so dass niemand sie sieht. Am Nachmittag legte das Motorboot am Kai von Dafni an. Mit Dorian waren noch vier amerikanische Studenten, die kein Wort Griechisch verstanden, zwei Mönche und sechs Männer einer französischen Reisegruppe an Bord. Sie suchten gemeinsam die Polizeistation auf, wo sie ihre Pässe hinterlegen mussten, die ihnen erst wieder bei der Abreise zurückgegeben würden. Einer der Mönche, die mit ihnen auf dem Motorboot gewesen waren, bot ihnen an, sie nach Karyäs zu begleiten, wo sie die Aufenthaltsbewilligung erhielten, die für die Dauer von 21 Tagen galt. Dieses Dokument berechtigte zum kostenlosen Aufenthalt in allen Klöstern. Die sechs Franzosen hatten sich mit Rucksäcken voll Proviant eingedeckt, wozu man ihnen geraten hatte, weil durch die vielen Fastenzeiten der Mönche die Bewirtung oftmals sehr bescheiden ausfiel. Der Fußmarsch nach Karyäs dauerte drei Stunden.
Dorian konnte genügend Griechisch, um sich mit dem Mönch, der sie begleitete, unterhalten zu können. Er hieß Pater Gregorius, stammte nicht aus Athos, sondern pilgerte alle Jahre hierher, um die Heiligenreliquien der Klöster zu verehren. Er kannte sich hier aber besser aus, als viele der eingesessenen Mönche. Es stellte sich bald heraus, dass er ein überzeugter Wundergläubiger war. Er wusste von unzähligen Wundern zu berichten, die er angeblich selbst erlebt hatte – hier auf Athos und sonst irgendwo. Er erzählte seinen staunenden Begleitern die Geschichte der drei Stifter, die das Kloster Zographou gründeten, sich aber nicht einigen konnten, welchem Heiligen es geweiht werden sollte. Also stellten sie eine unbemalte Tafel in die Kirche, und am nächsten Morgen trug sie das Bild des hl. Georg. Pater Gregorius glaubte auch diese Geschichte. Von ihm erfuhr Dorian aber auch etwas, das interessant für ihn war. Pater Gregorius wollte zum Kloster Simonos Petra, das auch Dorian zum Ziel erkoren hatte. »Aber«, fügte der Pater hinzu, »heute werden wir es nicht mehr bis dahin schaffen. Denn es ist ein Fußmarsch von vier Stunden. Vor Einbruch der Dunkelheit kommen wir nicht mehr hin. Bei Sonnenuntergang werden die Klöster geschlossen und erst wieder am nächsten Morgen geöffnet.« »Wo werden Sie dann übernachten, Pater Gregorius?« »Wahrscheinlich in Agios Panteleimon, wenn ich mich nicht mit meinem Freund Christophoros zerstritten hätte.« »Sie kennen den Einsiedler?«, erfuhr es Dorian überrascht. »Ich besuchte ihn früher jedes Jahr. Aber, wie ich schon sagte, eines Tages waren wir nicht einer Meinung. Jedenfalls haben wir uns seit damals nicht mehr gesehen.« »Aber Sie könnten mir den Weg zu seiner Höhle zeigen?« »Nun … Christophoros ist ein, mit Verlaub gesagt, recht eigentümliches Gotteslamm, ein exzentrischer Charakter, würden Sie sagen.« »Würden Sie mir den Weg zu seiner Eremitage dennoch zeigen?« »Wenn Ihnen soviel daran liegt, meinetwegen. Aber ich habe Sie
vor diesem Eigenbrötler gewarnt.« Die Sonne stand schon ziemlich tief, als Dorian mit der Aufenthaltsbewilligung ›Diamonitirion‹ in der Tasche und in Begleitung Pater Gregorius' Karyäs auf dem Rücken eines Maulesels verließ. Dorian gegenüber hatte man zwar behauptet, dass kein Reittier verfügbar sei, doch der Priester hatte seinen Einfluss geltend machen und ein Wunder wirken können. Sogar zwei Maultiere wurden zur Verfügung gestellt. Karyäs versank bald unter ihnen, und sie waren in die Stille des dichten Waldes gehüllt, schienen selbst ein Teil dieser erhabenen Schöpfungspracht zu werden, ritten auf dem schmalen Pfad dahin, der fast vom Dickicht überwuchert wurde, versanken in Wäldern aus Heidekraut, ritten durch Lorbeerhaine. Pater Gregorius ritt voran. Dorian sah von ihm oft nur das Kalimaphion, jene Kopfbedeckung, die einem abgeschnittenen und oben verschlossenen Ofenrohr ähnelte und ebenso schwarz war. Es schien über den Kronen der Büsche zu tanzen wie auf den Wellen des Meeres. Sie sprachen kein Wort, und Dorian war dankbar dafür. Nicht etwa, weil er seinen Gedanken nachgehen wollte, nein, sondern um Muße zu haben, einmal an überhaupt nichts zu denken. Das gelang ihm hier zum ersten Mal, seit Phillip verschwunden war. Er konnte plötzlich verstehen, warum Menschen der Welt den Rücken kehrten und sich in diese Einsamkeit zurückzogen. Auch er vermeinte, in diesen Augenblicken die göttliche Erhabenheit dieser grandiosen Landschaft zu spüren. Als er durch das Meer aus Kräutern und duftenden Sträuchern ritt, atmete er tief die würzige, aromatische Luft ein, die ihn berauschte. Er verstand nicht, weshalb die alten Griechen ihre Götter auf dem Olymp wohnen ließen und nicht auf dem Berg Athos. Sie kamen aus dem Wald heraus, und plötzlich sah man keine Bäume mehr, nur noch vereinzelte Sträucher zwischen den Felsen, die sich im Osten hundert Meter hoch türmten, oben ein Plateau mit einer grünen Pflanzenkappe, im Westen abfallend zum Meer, das im Orange der untergehenden Sonne leuchtete.
Pater Gregorius deutete zu einem ineinander verschachtelten Bauwerk nahe der Felsküste. »Dort ist Agios Panteleimon, und ich werde mich beeilen müssen, um vor Torschluss hinzukommen«, sagte er und wies dann auf ein dunkles Loch in der Felswand, das zwanzig Meter über ihren Köpfen lag. »Und dort oben werden Sie Christophoros finden. Wenn Sie wollen, komme ich morgen hier vorbei, dann können wir gemeinsam nach Simonos Petra weiterziehen.« Dorian war einverstanden. Er stieg vom Esel und führte ihn am Zügel, der aus einem zerfransten Strick bestand, einen schmalen Pfad die Felswand hinauf. Auf halbem Wege dachte Dorian, dass es nicht mehr weitergehen würde, doch dann entdeckte er den Pfad wieder, der so schmal war, dass er seitlich gehen musste. Ein Blick hinunter zeigte ihm, dass sich dreihundert Meter tiefer die Brandung an den Klippen zu meterhoher Gischt barst. Den Esel beeindruckte das in keiner Weise. Er folgte Dorian mit stoischer Ruhe selbst über schmale Felsvorsprünge. Endlich hatte er die Höhle erreicht. Sie war am Eingang keine drei Meter breit, weitete sich dahinter aber zu einem imposanten Gewölbe aus, das sich in der Dunkelheit verlor. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages fielen genau in die Höhle und woben faszinierende Muster an die Wände und die Decke. Im Licht der Sonne hockte im Schneidersitz ein Mann, dessen schwarze Kutte seine Füße verdeckte. Als Kopfbedeckung trug er ein Gebilde aus Bast. Es war mit einem schwarzen Tuch verflochten, das ihm weit über die Schulter fiel. »Sind Sie Pater Christophoros?«, erkundigte sich Dorian unsicher, weil er nicht wusste, wie er den Mann ansprechen sollte. »Wären Sie zwei Tage früher gekommen, dann wäre meine Bußzeit noch nicht abgelaufen gewesen und ich hätte schweigen müssen«, lautete die Antwort. »Im Übrigen bin ich weder ein Pope noch ein Pater, noch sonst ein Geistlicher. Aber man hat mir erlaubt, den Namen Christophoros zu tragen. Ich habe Sie zusammen mit Pater Gregorius gesehen. Hat er Sie etwa geschickt, damit Sie eine Versöhnung vermitteln? Wenn es so ist, können Sie sofort wieder gehen
und meinetwegen unter einem Lorbeerstrauch schlafen. Essen werden Sie ja in Ihrem Koffer haben. Sagen Sie Gregorius ruhig, dass ich an eine Versöhnung überhaupt nicht denke.« Dorian war von dem Redefluss des Einsiedlers überwältigt. Aber, so sagte er sich, nach der abgelaufenen Schweigepflicht hatte er wohl einiges nachzuholen. »Pater Gregorius hat mir nur den Weg zu Ihnen gezeigt«, erwiderte Dorian. »Aber er hat nichts davon gesagt, dass er sich mit Ihnen zu versöhnen wünscht.« »So, also nicht?« Der Eremit sah Dorian an und schüttelte den Kopf. »Na, er war schon immer stur. Ein Dickschädel. Ja, das ist er. Dann soll er es eben bleiben lassen. Und Sie? Setzen Sie sich zu mir und genießen wir gemeinsam die letzten Strahlen der Sonne. Sind Sie Engländer? Habe ich es doch gewusst. Ich bin ein guter Menschenkenner, auch wenn ich in der Einsamkeit lebe. Sie wollten zu mir? Was ist der Grund?« »Ihre Tochter hat mich gebeten …« »Ich habe keine Tochter!« »Aphrodite Marangos. Sie sagte, Sie seien ihr Vater.« »Marangos, wie? Das soll meine Tochter sein? Dann müsste ich doch auch so heißen, nicht wahr? Ich habe keine Tochter. Und Schluss damit. Hat Ihnen Gregorius erzählt, warum wir zerstritten sind?« »Nein.« »Aber er hat Ihnen gesagt, dass wir uns zerstritten haben. Das sieht ihm ähnlich. Sicher wird er Sie wieder treffen und Sie aushorchen wollen. Sie können ihm alles erzählen. Aber dann sollen Sie auch wissen, was der Grund dafür ist, dass er nicht mehr mit mir redet.« Dorian war aufgefallen, dass der Eremit ständig nach seinem Koffer schielte, und er dachte sich, dass er sich von seinem Inhalt irgendetwas erwarte. Deshalb öffnete er ihn und holte eine der beiden Whiskyflaschen heraus, mit denen er sich versorgt hatte. Christophoros hatte sofort zwei verbeulte Blechschalen zur Hand, und er hielt die seine Dorian solange hin, bis sie randvoll war. Dann
leerte er sie auf einen Zug. »Nicht so gut wie Mastichs«, urteilte er, »aber besser als nichts.« Dorian stellte die Flasche vor ihn hin, damit der Eremit sich bedienen konnte. »Haben Sie wirklich keine Tochter zurückgelassen, als Sie die Zivilisation verließen?«, wagte Dorian zu fragen. »Alles was hinter mir liegt, ist gestorben«, erwiderte der Einsiedler. »Aphrodite, sagten Sie? So sollte meine Tochter heißen, aber sie muss mit meiner Frau bei der Geburt gestorben sein. Es ist so lange her.« Dorian argwöhnte, dass er nur vorgab, diese Gedächtnislücke zu haben. Und dann begann Christophoros ohne Übergang zu erzählen. »Es war vor dreiundzwanzig Jahren. Ich war knapp zwei Jahre auf Athos und lebte in einer Hütte, die zuvor ein Asket bewohnt hatte. Auf einer meiner Wanderungen entdeckte ich durch Zufall diese Höhle. Mir war, als hörte ich darin das Schreien eines Kindes. Wie erstaunt war ich, als ich tatsächlich ein nacktes Neugeborenes fand. Ein Mädchen! Woher mochte die Kleine gekommen sein? Ich weiß es bis heute nicht. Und ich weiß auch nicht, was aus dem Findelkind geworden ist. Was also tun? Das war die Frage, die sich mir stellte. Ich meldete meinen Fund dem Jerontas des Klosters Simonos Petra, und der Alte versprach, Gottes Antwort einzuholen. Schon am nächsten Tag wusste er, was zu tun sei, und er bat mich, das Findelkind zu ihm zu bringen. Das tat ich, und er wollte, dass ich die Angelegenheit vergesse. Ich bewahrte dieses Geheimnis bis vor einigen Jahren für mich. Damals glaubte ich, mich Pater Gregorius anvertrauen zu können. Er hörte mir schweigend zu, stand dann auf und verließ meine Höhle, um mir fortan auszuweichen. Jetzt wissen Sie, was der Grund unserer Feindschaft ist.« Dorian hätte lügen müssen, hätte er behauptet, die Hintergründe zu verstehen. Mied Pater Gregorius den Einsiedler fortan, weil er die Existenz eines Kindes auf Athos als Sakrileg empfand und in Christophoros einen Befleckten, wenn nicht gar den Vater des Kin-
des sah – eines Mädchens? Oder was sonst? Gregorius sprach kein Wort mehr mit Dorian, und dieser brach von sich aus das Schweigen nicht. Der Einsiedler richtete ihm ein Lager aus Reisig, gab ihn eine aus Kräutern und unbekanntem Gemüse zubereitete Suppe zu essen, die nicht einmal schlecht schmeckte, und dann legten sie sich zum Schlafen nieder. Dorian schlief wie ein Toter. Er konnte sich nicht erinnern, seit langer Zeit so gut geschlafen zu haben. Am nächsten Morgen erwiderte Christophoros seinen Gruß nicht und überreichte ihm wortlos türkischen Kaffee in der Blechtasse, aus der sie letzte Nacht den Whisky getrunken hatten. Dorian wartete mit seinem Maultier am Eingang der Höhle, bis unten Pater Gregorius auftauchte. Er wandte sich noch ein letztes Mal nach dem Einsiedler um, doch der war in der Tiefe der Höhle verschwunden. Als er später hinter Pater Gregorius in Richtung Simonos Petra durch den dichten Wald ritt, sagte er: »Ich habe das Gefühl, dass Christophoros sich mit Ihnen zu versöhnen wünscht.« »Mit einem Lügner wie ihm will ich nichts zu tun haben«, antwortete der Pater, ohne sich umzudrehen. »Sie glauben ihm also nicht, dass er das Kind gefunden hat?«, fragte Dorian. Als nicht sofort Antwort kam, fügte er hinzu: »Sie könnten ja den Jerontas von Simonos Petra fragen, ob der Einsiedler ihm ein Kind übergeben hat.« »So, meinen Sie, dass man einen Toten noch befragen kann?« Jetzt hielt Pater Gregorius sein Maultier an und wartete, bis Dorian mit ihm auf gleicher Höhe war. »Christophoros hat bewusst so lange mit seiner Geschichte gewartet, bis der Alte starb, damit ich sie nicht nachprüfen kann. Er hat dieses Geschichte erfunden, nur weil er eifersüchtig war und alle Wunder, die ich erlebte, übertreffen will. Aber ich kann Lügen von Wundern unterscheiden.« »Es wäre doch möglich, dass jemand wirklich ein neugeborenes Mädchen in der Höhle aussetzte«, gab Dorian zu bedenken. »Ja, Mädchen oder Junge, das ist die Frage«, sagte Pater Gregorius sarkastisch. »Als Christophoros das Kind fand, war es ein Mädchen.
Und als er es dem Jerontas übergab, da war es – oh Wunder über Wunder! – auf einmal ein Junge. Er ist ein Lügner!« Dorian nickte nachdenklich. Sie wurden in Simonos Petra überaus herzlich empfangen. Zu Ehren der Schutzpatronin des Landes, Panajia, mussten sie vor dem Tor des Klosters von ihren Maultieren steigen. Dorian, im Reiten nicht gerade geübt, konnte kaum mehr gehen. Im Allgemeinen wurden Besucher in den Empfangsraum des Fremdentraktes, Archandarikion genannt, gebeten. Pater Gregorius war jedoch für Dorian so etwas wie ein Sesam-öffne-dich zum Wohnbereich der Mönche. Nach den langwierigen Begrüßungsformeln wurden sie bewirtet. Auf einem Tablett brachte ein junger Mönch für jeden einen Teelöffel mit Gliko, einer Süßspeise, ein Glas frisches Wasser und ein Glas mit Anisschnaps. Danach wurde in einem Dialekt gesprochen, von dem Dorian kaum ein Wort verstand, und schließlich wurde der türkische Kaffee serviert. Nach weiteren ausgedehnten Gesprächen wurden ihnen kalte Bohnen in Olivenöl vorgesetzt. Dorian wurde gefragt, ob er im Kloster übernachten wolle, und er bejahte. Er hatte Glück, denn er bekam im Archandarikion ein eigenes Zimmer zugewiesen. Auf dem Weg dorthin erkundigte sich Dorian bei dem Mönch, der ihn führte, wie viele Fremde im Augenblick noch hier wohnten. »Einige«, war die Antwort, die Dorian keineswegs befriedigte. Der Mönch ließ ihn auf seinem Zimmer allein. Aber Dorian blieb nicht lange, sondern machte sich sofort auf den Weg, das Kloster zu erkunden. Ihn interessierte brennend, wer außer ihm noch zu Gast im Kloster war. Deshalb lauschte er, als er sich unbeobachtet sah, an den Türen des Fremdentraktes. Aber das brachte nichts ein. Hinter den ersten vier Türen war es still. Als er zur fünften Tür kam, tauchte plötzlich ein Mönch auf, der von da an nicht mehr von Dorians Seite wich und ihm das Betreten gewisser Räumlichkeiten und einiger Trakte nicht gestattete.
Er erkundigte sich nach Pater Gregorius, doch als man ihm sagte, dass dieser sich zurückgezogen habe und nicht gestört werden wolle, beschloss Dorian, sich die Umgebung des Klosters anzusehen. Vor allem wollte er die Stelle aufsuchen, von der aus die Fotos geschossen worden waren. Es mussten Fälschungen sein, das war ihm klar, Fotomontagen mittels schwarzer Magie, aber vielleicht hatte die Perspektive, die sie zeigten, eine besondere Bedeutung. Um besser klettern zu können, trug Dorian nichts bei sich außer der gnostischen Gemme. Er glaubte, sich in der Mönchsrepublik sicherer als in der Jugendstilvilla fühlen zu können. Er begann rasch abzusteigen, musste jedoch in Meeresnähe einige Male eine Pause einlegen. Als er wieder einmal rastete, sah er hinter einem Felsvorsprung das Gemäuer eines weiteren Klosters. Es lag nun schon näher als Simonos Petra. Obwohl er sich den Plan der Halbinsel Athos genau eingeprägt hatte, konnte er sich nicht an den Namen dieses Klosters erinnern. Er blickte zu Simonos Petra hinauf, formte mit Zeigefinger und Daumen ein O und blickte hindurch wie durch den Sucher eines Fotoapparates. Ein Vergleich mit einem der Fotos zeigte ihm, dass die Aufnahme nicht von hier aus gemacht worden war. Der Standort des Fotografen lag näher bei dem namenlosen Kloster. Vielleicht waren die Fotos aus einem der Fenster des anderen Klosters gemacht worden. Im Vertrauen auf sein Diamonitirion, das ihm die Tore aller Klöster öffnen sollte, setzte Dorian seinen Weg fort. Er hätte es sich natürlich leichter machen können, indem er den Eselspfad benutzte, aber das hatte er vorher nicht gewusst. Er war keine zweihundert Meter mehr von dem anderen Kloster entfernt, als plötzlich hinter einigen Felsen dunkle, geflügelte Schemen auftauchten und lautlos in die Luft stießen. Zuerst dachte er, er hätte Vögel aufgescheucht, die hier nisteten. Doch dann erkannte er, dass es sich um Fledermäuse handelte. Fledermäuse am Tag! Und noch dazu Exemplare von der Größe eines Adlers. Dorian wunderte sich nicht lange über die Existenz dieser Tiere,
sondern machte sich sofort an den Rückzug. Während er die Felsen hinaufsprang, holte er seine gnostische Gemme hervor und ergriff einen Felsbrocken. Als er über sich das Rascheln von Flughäuten vernahm, schwang er die gnostische Gemme an der Schnur über dem Kopf und drehte sich dabei halb herum. Der Schädel der Fledermaus war so groß wie der eines Hundes. Sie riss gerade das Maul auf, und Dorian konnte genau sehen, wie ihr der Geifer von den Vampirzähnen tropfte. Er schleuderte den Felsbrocken auf das Maul und verspürte tiefe Befriedigung, als er den dumpfen Aufprall vernahm und gleich darauf den fliegenden Vampir abtrudeln sah. Aber schon schoss das nächste Ungeheuer auf ihn zu. Seine Krallen stießen auf ihn herab. Er duckte sich, suchte mit der freien Hand den Boden nach einem weiteren Wurfgeschoss ab, während er dem Vampir die Gemme entgegenschleuderte. Das Tier schrie schrill auf, als der Talisman einen der Flügel durchtrennte, als sei er aus Papier, und zog sich wild flatternd zurück. Dorian hatte sich eine Atempause verschafft. Er wandte sich wieder zur Flucht, hob im Laufen einen Felsbrocken auf, wobei er auf das typische Geräusch der Flughäute horchte. Aber es waren keine solche Geräusche zu hören. Es war plötzlich unheimlich still. Nur die Brandung war zu hören. Dorian drehte sich um. Die Vampirfledermäuse waren verschwunden. Waren sie etwa nur aufgetaucht, weil er dem namenlosen Kloster zu nahe gekommen war? Und zogen sie sich zurück, als auch er sich entfernte? Dorian blickte zu dem Kloster hinüber. Es wirkte verlassen, mehr noch: tot, wie ausgestorben. Eine unnatürliche Kälte ging von dem Bauwerk aus. Simonos Petra besaß eine ganz andere Ausstrahlung. Er hielt unwillkürlich den Atem an, als er die Felswand hinaufstarrte und in einem der Fenster von Simonos Petra, das zum Fremdentrakt gehören musste, plötzlich einen rötlichen Fleck entdeckte. Es konnte der Kopf eines Menschen mit rotem Haar sein, der so-
fort wieder verschwand. Er dachte an die Rothaarige, die Phillip entführt hatte. Alles nur Einbildung. Sie konnte nicht auf Athos sein, denn Frauen fanden keinen Zutritt. Andererseits … er hatte auch geglaubt, dass Dämonen dieses heilige Halbinsel scheuen würden wie die Pest. Und doch war er soeben von Vampirfledermäusen attackiert worden. Wieder zurück in Simonos Petra, trat er auf einen Holzbalkon hinaus, der sich über dem Abgrund reckte und einen herrlichen Ausblick auf die Ägäis erlaubte. Als ein Mönch auftauchte, deutete er zu dem anderen Kloster hinüber und fragte: »Wie heißt dieses Kloster, Pater? Ich habe seinen Namen vergessen.« »Dieses Kloster hat keinen Namen«, wurde ihm kurz geantwortet. Dorian hielt den Mönch zurück, als sich dieser sofort wieder zurückziehen wollte. »Wollen Sie mir nicht sagen, was es mit diesem Kloster auf sich hat? Warum hat es keinen Namen?« »Weil es keinem Schutzpatron geweiht ist«, antwortete der Mönch. Als er sah, dass Dorian offenbar immer noch nicht zufrieden war, fügte er hinzu: »Es gibt viel zu wenige Mönche auf Athos. Und wir werden immer weniger. Wir in Simonos Petra sind etwas glücklicher dran. Aber es gibt Klöster, die fast leer stehen und in denen oft nur wenige Mönche wohnen. Dieses Kloster dort musste vorübergehend aufgegeben werden. Es wird solange leer stehen, bis sich ein Abt findet, der es leitet und es wieder einweihen kann. Inzwischen aber hat es keinen Namen.« Jetzt wurde Dorian vieles klar. An Orten, die nicht geweiht waren, dort konnte das Böse Einzug halten! Dorian schlich sich wie ein Dieb zum Fremdentrakt. Er hatte darüber nachgedacht, zu welchem Zimmer das Fenster gehören musste, in dem er den Rotschopf gesehen hatte. Es war das Zimmer neben dem seinen! Gerade als er die Tür entschlossen öffnen wollte, stürzte schreiend ein Mönch heran und klammerte sich verzweifelt an Dorian. Er zerr-
te wie von Sinnen an ihm und schrie hysterisch. Das lockte einen weiteren Mönch heran. Dann tauchte auch Pater Gregorius auf. »Ich habe mich in der Tür geirrt«, entschuldigte sich Dorian. Pater Gregorius konnte den hysterisch gestikulierenden Mönch beruhigen, dann wandte er sich an Dorian. »Wollen Sie mit mir das Abendbrot einnehmen? Ich möchte Ihnen etwas anvertrauen. Ich wende mich an Sie, weil ich Sie als einen Vertrauten betrachte.« Sie nahmen die Mahlzeit gemeinsam mit einigen Mönchen ein. Dorian war mit dem Essen noch nicht fertig, als bereits das Dankgebet gesprochen war, und er musste zusehen, wie ihm der halbvolle Teller weggenommen wurde. Die Klosterinsassen zogen sich zum Nachtgottesdienst zurück. Pater Gregorius und Dorian blieben allein bei Tisch zurück. Als Dorian eine Frage stellen wollte, gebot ihm der Pater durch eine Handbewegung Schweigen. Sie mochten etwa eine halbe Stunde in Schweigen versunken dagesessen haben, als der Mönch auftauchte, der Dorian von der Tür des Fremdenzimmers weggezerrt hatte. Er wartete am Ausgang, bis der Pater und Dorian sich erhoben hatten, und ging ihnen voran. Sie folgten ihm durch einen langen Korridor mit Steinboden, und ihre Schritte hallten laut. Die Nacht war hereingebrochen. Am Ende des Gangs blieb der Mönch stehen und entzündete eine Kerze. Dann ging es weiter, kreuz und quer durch Gänge, treppauf, treppab. Dorian verlor die Orientierung. Endlich blieben sie vor einer schweren Holztür stehen. Der Mönch gab Pater Gregorius die Kerze und holte einen Schlüsselbund hervor. Das Rasseln der Schlüssel war lange das einzige Geräusch. Dann öffnete sich die Tür quietschend. Vor ihnen lag die Klosterbibliothek. Dorian wusste, welche Ehre ihm zuteil wurde, dass er sie zu dieser späten Stunde betreten durfte. Der Mönch sperrte hinter ihnen wieder ab und blieb an der Tür stehen.
Pater Gregorius geleitete Dorian mit der Kerze zu einem Lesepult, wo ein in Leder gebundenes Buch lag. Es war aufgeschlagen und mit einer kunstvollen Ikone versehen, damit sich die Seiten nicht umblättern ließen. Das Papier war mit gestochen scharfer Handschrift und mit griechischen Buchstaben beschrieben. Nun sprach Pater Gregorius zum ersten Mal, und er tat es sehr feierlich. »Ich weihe Sie in ein streng gehütetes Geheimnis ein, Mr. Hunter, weil ich hoffe, mit Ihrer Hilfe das Unrecht gutzumachen, das ich Christophoros antat. Der Eremit ist kein Lügner, das habe ich aus diesen handschriftlichen Aufzeichnungen des verstorbenen Jerantas erfahren. Der Jerontas hat sich selbst nur einem Mönch anvertraut.« Und er deutete zu dem Mönch an der Tür. »Er ließ mich in dieses Buch Einblick nehmen, als ich ihn fragte, ob persönliche Aufzeichnungen des Verstorbenen vorhanden seien. Wollen Sie selbst lesen, oder soll ich Ihnen sagen, was hier steht?« »Sagen Sie es mir«, bat Dorian. »Vor dreiundzwanzig Jahren fand Christophoros ein Mädchen in jener Höhle, die er danach zu seiner Klause erwählte. Zu dieser Zeit hatte sich ein Lord Hayward für einige Zeit nach Simonos Petra zurückgezogen, um seinen Kummer darüber zu vergessen, dass seine Frau eine Fehlgeburt hatte. Nun kam Christophoros zum Jerontas und erzählte ihm von dem Findelkind. Der Vorsteher teilte dies dem englischen Lord mit, und dieser war sofort bereit, das Kind aufzunehmen und es für das seine auszugeben. Er sagte, bei seinen Beziehungen sei es nicht weiter schwer, die Fehlgeburt zu verschweigen. Er sah es als Wunder an, dass ihm auf diese Weise ein Kind beschert werden sollte. Christophoros überbrachte das Findelkind am nächsten Tag. Da war es noch ein Mädchen. Doch am Abend, als der Lord es bei einem feierlichen Gottesdienst zu sehen bekam, war es ein Junge. Und der Jerontas gelobte, solange er lebte, über dieses einmalige Wunder zu schweigen. In seiner letzten Eintragung vor seinem Tod schrieb er noch, dass er es bedauere, dass er es nun nicht mehr erleben könne, dass der Junge erwachsen werde und ihn besuchen kom-
me.« »Steht in diesem Buch auch, dass der Junge auf den Namen Phillip getauft worden war?«, fragte Dorian. Dem Pater fiel vor Überraschung die Kerze aus der Hand. Dorian hob sie auf, sie war nicht erloschen. Bevor sich der Pater von seiner Überraschung erholen kannte, sagte Dorian: »Pater Gregorius, Sie glauben an Wunder. Sie glauben an das Gute und an die Macht Gottes. Wenn Sie davon überzeugt sind, dass es Wunder auf dieser Welt gibt, dass das Gute existiert, dann müssen Sie auch an die Existenz des Teufels und an die Macht des Bösen glauben.« Der Pater bekreuzigte sich. »Natürlich tue ich das. Ohne das Böse würde es das Gute nicht geben.« »Und Ihnen ist klar, dass das Böse überall dort Einzug halten kann, von wo das Gute vertrieben wurde. Mit Ihren Worten ausgedrückt, würde ich sagen: Entweihte Orte sind ein guter Nährboden für den Teufel und seine Dämonen.« Der Pater nickte, während er sich wieder bekreuzigte. »Zurück zu den Wundern«, fuhr Dorian fort. »Glauben Sie nicht, dass auch Satan imstande ist, Wunder zu wirken. Wunder negativer Art, versteht sich, Wunder, die den Menschen schaden können?« »Wollen Sie mich in Versuchung bringen?«, sagte der Pater gefasst. »Worauf wollen Sie denn hinaus?« »Ich musste einige vorbereitende Worte wählen, damit Sie auf das Schreckliche gefasst sind!« Dorian erzählte ihm, was er herausgefunden hatte, was sich ergeben hatte, nachdem er nach und nach die einzelnen Teile wie bei einem Puzzle zusammengefügt hatte. Er brachte nicht alles vor, was er über die Dämonen im Allgemeinen und über den Fürst der Finsternis im Besonderen wusste. Er zählte nur die in diesem Fall wichtigen Fakten auf. Er sagte, dass der Fürst der Finsternis eine neue Gefährtin gewählt hatte und diese erst durch einen dämonischen Initiationsritus Aufnahme in die Schwarze Familie finden könne. Bei diesem Ritual sei
ein Opfer notwendig, ein besonders teuflisches Opfer. Und das sehe so aus: Die neue Gefährtin Olivaros, oder Magus VII. habe das Findelkind, das Christophoros damals nach Simonos Petra gebrach hatte, entführt und in das namenlose Kloster verschleppt, das entweiht worden war. So konnte auch die dämonische Horde dort einziehen – oder sie würde es noch. Und bei dem folgenden Ritual sollte Phillip, der die Versinnbildlichung des Guten war, vernichtet, dem Satan geopfert werden. Danach würde das Böse überall auf der Welt Einzug halten, über die Menschheit triumphieren. Dorian gebrauchte absichtlich diese Formulierung, damit ihn der Pater verstehen konnte. »Das ist ja schrecklich, entsetzlich … grauenhaft.« Pater Gregorius war blass wie ein Leichentuch. »Wann wurde Phillip, das Mädchen, das zu einem Jungen wurde, gefunden? An welchem Tag genau?« »In den Aufzeichnungen ist das Datum festgehalten«, antwortete der Pater. »Es war der 2. Juni.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Dorian verwirrt. »Ich war überzeugt, dass die Opferung am gleichen Tag, also am 2. Juni, stattfinden würde. Doch wir haben bereits den fünfzehnten.« Dann ist Phillip schon seit dreizehn Tagen tot, dachte er. Aber das war nicht möglich, denn am 2. Juni hatte er sich noch in der Jugendstilvilla befunden und sich bester Gesundheit erfreut. Dorian schwindelte. Plötzlich passte überhaupt nichts mehr zusammen. Da meldete sich der Mönch an der Tür: »Sie müssen beachten, dass wir auf Athos uns nicht an den Gregorianischen Kalender halten, sondern zu den Altkalendariern gehören. Unser Kalender ist dem Ihren um dreizehn Tage zurück. Wir schreiben heute den 2. Juni.« »Dann wird das Ritual heute Nacht stattfinden«, sagte Dorian. »Ich muss einen Weg finden, um es zu verhindern. Wie komme ich unbemerkt in das namenlose Kloster?«
»Unbemerkt überhaupt nicht, wenn es von Dämonen besetzt ist«, antwortete Pater Gregorius. »Sie könnten höchstens den Aufstieg über die Mauer an der Meerseite versuchen. Aber da müssten Sie ein guter Kletterer sein.« »Ich muss es versuchen!«
Dorian fragte sich, warum er diesmal nicht von dämonischen Ungeheuern attackiert wurde. Er hatte den Fels, von dem die Klostermauer hoch aufragte, unbehelligt erreicht. Vielleicht durfte er diesmal passieren, weil die Vorbereitungen abgeschlossen waren und man ihn sogar als Gast erwartete? Hatte Coco ihn nicht in der Verkleidung der Rothaarigen hierher gelockt? So musste es sein. Sie wollte ihn bei ihrem Teufelswerk als Zaungast haben. Er überwand die dreißig Meter hohe Felswand bis zur Grundmauer des Klosters mühelos. Nun wusste er aber nicht sofort, wie es weitergehen sollte. Der Mönch hatte ihm geraten, es bei einer Mauervertiefung zu versuchen, die sich wie ein Kamin bis zu dem Holzgebälk hochzog, das die weit vorspringenden Erker stützte. Er wollte sich aber nicht mit der Suche nach diesem Kamin aufhalten, deshalb wählte er eine Stelle aus, an der sich zwischen dem Steingemäuern breite Rillen befanden und einige Steine ausgebrochen waren. Er dankte den Mönchen im Stillen, die dieses Kloster verwahrlosen ließen. Das kam ihm bei seiner Klettertour zugute. Obwohl er immer wieder irgendwo Halt für Hände und Füße fand, schien es eine Ewigkeit zu dauern, bis er den ersten Holzbalken erreichte. Er schwang sich rittlings hinauf und legte eine kurze Verschnaufpause ein. Dann kletterte er weiter. Jetzt kam er viel schneller voran, denn die Holzbalken boten ihm einen besseren Halt als die Steinmauer. Er kletterte beinahe wie auf einem Gerüst hinauf. Schwierig wurde es nur, als er das Ende des Gebälks erreichte und
sich auf einen Mauervorsprung hochziehen musste, auf eine Art steinernes Sims, das den Erker in dieser Höhe umlief und auf dem die Stützbalken des nächsthöheren Erkers standen. Einen Atemzug lang hing er an den Händen frei in der Luft. Aber unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihm, ein Bein weit genug zu heben, um sich damit am schräg aufwärtsstrebenden Balken hochzuziehen. Bevor er es riskieren wollte, noch höher zu klettern, balancierte er zum Ende des Gebälks. Er hatte von unten ein kleines Fenster gesehen, durch das er vielleicht ins Innere des Klosters gelangen konnte. Er erreichte das Fenster und stellte erleichtert fest, dass es fünfzig Zentimeter im Quadrat maß und er nur die Hand auszustrecken brauchte, um sich am Rahmen festhalten zu können. Nachdem er lange auf Geräusche von drinnen gelauscht hatte, jedoch nichts hörte, fühlte er sich sicher genug, um es zu wagen, in das Gebäude einzudringen. Noch einmal schwebte er, sein Gewicht nur mit den Armen tragend, über dem Abgrund. Dann ließ er sich durch das Fenster fallen und fing den Aufprall mit den Händen ab. Er tastete sich durch den finsteren Raum bis zu einer Tür vor, öffnete sie fast geräuschlos und kam auf einen schmalen, langen Korridor hinaus, an dessen Ende eine Fackel brannte. Von weitem hörte er seltsame Geräusche, die ihm jedoch nicht unbekannt waren, denn er hatte schon früher Sabbate und schwarze Messen erlebt. Und doch konnte er sich an die Vorgänge dabei und an die von den Dämonen verursachten Geräusche nicht gewöhnen. Ein Sabbat würde für ihn immer etwas Fremdartiges, Unverständliches, Unheimliches bleiben. Er ging den Gang bis zu einer Treppe entlang, schlich diese hinunter. Plötzlich war ihm, als sei er nicht mehr allein. Jemand war in der Nähe oder näherte sich ihm, obwohl er keine Schritte oder andere verräterische Geräusche hörte. Sein ausgeprägter Instinkt sagte ihm, dass noch jemand da war. Er machte sich auf alles gefasst. Er war gewappnet. Er hatte längst
schon die Spezialpistole, die mit Silberkugeln geladen war, gezogen. Mit Silber war zwar nicht jeder Dämon zu töten, aber zumindest solange zu bannen, bis der Dämonenkiller Gelegenheit gefunden hätte, eines seiner anderen Instrumente einzusetzen, die er bei sich trug. Er hatte improvisieren müssen, weil er keine vollständige Ausrüstung nach Athos mitgenommen hatte. Wer konnte auch mit einem Sabbat in der Klosterrepublik rechnen? Aber einige Holzpfähle und einen Dolch hatte er sich besorgen können. Und er hatte auch seine Dämonenbanner und das Foto von Coco aus besseren Tagen. Wenn er es verbrannte, würde auch sie in einem magischen Feuer vergehen. Da war jemand! Jetzt war er sich ganz sicher. Er wusste nur nicht, aus welcher Richtung der Dämon kam, weil er sich weder an einem Schatten, noch an Geräuschen orientieren konnte. Plötzlich tauchte eine Gestalt im Korridor auf. Lautlos, als schwebte sie über den Boden, schritt sie leichtfüßig einher. Den Kopf stolz erhoben, das Gesicht ausdruckslos, das schwarze Haar weit über die Schultern fallend. Die grünen Augen aber blickten stumpf. Sie trug ein rotes Zeremoniengewand. Coco! Jetzt entdeckte sie ihn. »Dorian!«, rief sie. »Hat mein Rufen Phillip also doch erreicht! Halte aus, Dorian. Schreite nicht ein. Ich muss weiter, bevor Olivaro Verdacht schöpft.« Er stand noch immer da, zu keiner Bewegung fähig, als sie längst schon verschwunden war. Sie war so nahe gewesen. Es hätte ihn keine Mühe gekostet, sie zu töten. Stattdessen stand er wie eine Statue da. Sie hatte ihn einfach überrumpelt. Er war überrascht darüber, dass sie tat, als hätte sie mit seinem Kommen gerechnet. Aber nein, dass sie ihn erwartete, hatte er ja vermutet. Verblüffend für ihn war nur gewesen, dass sie vorgab, von ihm Rettung zu erwarten.
Sie war teuflischer, als er geglaubt hatte. Aber es war noch nicht zu spät, ihr die verdiente Strafe zukommen zu lassen. Beim Höhepunkt des Sabbats würde er es tun. Coco, geleite mich sicher an den Ort des Schreckens! Lass mich Zeuge sein bei deinem abscheulichen Tun! Dorian dachte diese Gedanken intensiv, in der Hoffnung, dass die dämonischen Mächte ihm somit nichts in den Weg legen würden und er seinen Weg fortsetzen konnte. Dass Coco ihm diesen Wunsch erfüllen würde, weil sie glaubte, dies sei der Wunsch zu Selbstzerfleischung und sie sich an seiner Qual weiden könnte! Nur einen Gedanken verdrängte er ängstlich, behütete ihn wie einen Zauber, das Wissen über das Endgültige: Lass mich schauen, Coco, auf dass es mir leichter fällt, dich zu töten! Jetzt kam er zu einem kleinen Torbogen, dessen Tür schief in den Angeln hing. Eine Ikone war auf das Holz genagelt, und die darauf abgebildete Muttergottes hatte einen Schnurrbart, das Jesuskind war ohne Kopf. Dorian trat hindurch, gelangte auf die Empore der Kapelle, in der früher die Mönche ihre Gottesdienste abgehalten hatten. Jetzt hatten die Dämonen sie erobert, die Einrichtung bis zur Unkenntlichkeit verformt, die Heiligenreliquien geschändet. Mauern waren durchbrochen worden, und die Öffnungen, durch die schattenhafte Wesen tanzten, sahen aus wie die Mäuler von Ungeheuern. Dorian sank auf die Knie. Er war fast dankbar, dass die Kapelle in Dunkelheit getaucht war und er so nicht alle Einzelheiten sehen konnte. Und doch, das Ahnen war schlimmer als das Sehen. Überall standen seltsam geformte Kerzen, und Dorian fand kein anderes Wort für den Schein, den sie verbreiteten, als die Bezeichnung ›Schwarzes Licht‹. Der Schein der schwarzen Kerzen war nicht so warm und weich wie das natürliche Kerzenlicht und auch nicht flackernd, sondern kalt, hart und beständig wie das von Neonröhren, doch nicht so hell, sondern dunkel, drohend. Die huschenden Gestalten wirkten verzerrt, ihre Bewegungen mal steif wie die von Marionetten, dann wieder geschmeidig, fast grazil.
Bald schienen sie zu rasen, bald sich so langsam zu bewegen, als schwömmen sie. Dorian sah, wie vom Altarbild die Farbe abblätterte, als hätte jemand Säure darüber geschüttet. Die Farbe floss in dicken Tropfen herab, wurde von einem Becken aufgefangen. Die Dämonen tauchten dort ihre Gesichter ein, und danach flammten sie wie Fanale, fluoreszierten wie Irrlichter. Dorians Tätowierung begann unter der Gesichtshaut zu brennen. Er wäre froh gewesen, sie jetzt aktivieren zu können. Aber er wusste, dass er sein Stigma nicht bewusst beeinflussen konnte. So sank er auf die Knie, legte Cocos Bild vor sich auf die Balustrade und spießte es mit dem Dolch an einer Ecke auf. Daneben legte er das Foto, das ihn und Coco vor dem Kloster Simonos Petra zeigte, und das mit der Rothaarigen. Dorian stellte fest, dass sich das Aussehen der Rothaarigen verändert hatte. Bedeutete das die Demaskierung? Würde in wenigen Minuten aus der Rothaarigen Coco werden? Wo war sie? Und wo war Olivaro? Die Dämonen entlockten bekannten Instrumenten schaurige Töne. Einer spielte eine Fidel – und es hörte sich an wie das qualvolle Schreien von Kindern. Ein anderer blies eine Flöte, und man hörte Stöhnen, Keuchen und Wimmern. Die Dämonen sprangen über Schutthalden und die Trümmer der Bänke. Holzspäne hatten sich eingerollt wie Stahlwolle. Metallene Gegenstände waren zerflossen wie Wachs. Die Glasmalereien zeigten grauenvolle Fratzen, die von Lepra zerfressen waren. Als lebten diese Malereien, sah Dorian, wie Teile aus den Lepragesichtern ausbrachen und herabfielen. Die Dämonen fingen sie mit den Mäulern auf und verschlangen sie. Einige Gestalten rieben ihre Gesäße gegeneinander, besudelten Ikonen. »Sabbat! Sabbat!«, gellte es von überall her. »Sabbat! Sabbat!«, keuchend, heiser. »Sabbat! Sabbat!«, schrill, ekstatisch. Dorian war auf die Knie gesunken. Wenn er jetzt Pater Gregorius
bei sich gehabt hätte, würde er mit ihm beten. »Vater unser … vertilge dieses Ungeziefer!« Und dann sah Dorian eine Gestalt, die er zuerst für den Hermaphroditen Phillip hielt. Es war ein nacktes, geschlechtsloses Wesen, besaß weder männliche noch weibliche Geschlechtsmerkmale, war nicht einmal ein Zwitter. Aber dieses Wesen war bärtig … So hatte de Lancre in seinem 1612 erschienen Werk Tableau de 1'Inconstance die berüchtigte Hexe Necato beschrieben. Und wie bei de Lancre hockte auch hier diese menschliche Karikatur, die von der Natur ihres Geschlechts beraubt worden war, vor einem Kessel, in dem sie eine Flüssigkeit umrührte, wenn sie nicht gerade Kröten und Schlangen enthäutete oder ihnen die Köpfe abschlug und alles in die Brühe warf. Da sprang sie auf, ihr Bart sträubte sich. Sie rief: »Ha, Phillip, wenn ich dich hätte, würde ich dir ebenfalls den Kopf abhacken, wie diesen Kröten und Schlangen!« Auch diese Worte standen bei Lancre. Und die geschlechtslose, bärtige Hexe wiederholte sie. Dorian schauderte. Er müsste sich eigentlich unter die Dämonen mischen, sich an dem abscheulichen Treiben beteiligen, um im entscheidenden Augenblick eingreifen zu können und Phillip aus der Gewalt dieser Scheusale befreien. Und Coco töten! Aber wo waren sie alle? Der Sabbat ging weiter. Spottgebete wurden angestimmt, Choräle. Die Tänzer verrenkten sich immer mehr. Drei Dämonen begannen gleichzeitig mit der Elevation der Hostie. Doch diese war nicht rund, sondern dreieckig und schwarz, und die Dämonen schlangen sie schmatzend hinunter und rülpsten, als hätten sie Blähungen. Der Altar! Die Dämonen zogen sich vor ihm zurück, denn jetzt erschien dort eine finstere Gestalt: Olivaro. Das schwarze Licht verhinderte, dass Dorian Einzelheiten an ihm erkennen konnte, doch er spürte Olivaros Ausstrahlung unter vielen heraus. Vielleicht wusste Olivaro sogar, dass er dort oben auf der Empore kniete und wollte sich ihm zu erkennen geben. Oder der Fürst der Finsternis war von den unzähli-
gen Eindrücken seiner Dämonen geblendet, dass er den armseligen Sterblichen dort oben überhaupt nicht beachtete. Dorian hätte aufspringen mögen, um Olivaro herauszufordern. Doch das wäre nicht klug gewesen. Er musste warten, bis seine Zeit kam, bis Coco erschien. »Wo ist die Königin des Sabbats?«, gellte es. Dorian erinnerte sich unwillkürlich eines Verses, den de Lancre geschrieben hatte: … Zu feiern mit unreinem und schmutzigem Pomp Die weltlichen Gastmahle und die ruchlosen Hochzeiten … Ein Freak ohne Hände, mit dem Rücken gegen eine Wand gelehnt, rieb sich daran und ließ zwischen seinen raubtierartigen Zähnen einen Feuerstein rollen, bis Funken sprühten und er einen Flammenstrahl spie. Olivaro hob die Linke, wie um seinen Dämonen einen Segen zu erteilen, und sprach mit gebrochener und grollender Stimme: »In nomine Necato, Coco, Daimon Magus VII. Agora, Agora, Equidac ipordian pot.« Mit dieser blasphemischen Verspottung des christlichen Segens strebte der Sabbat seinem Höhepunkt zu. Olivaro mischte sich unter die Dämonen, und Dorian wandte sich ab, um das grausige Schauspiel nicht sehen zu müssen. Er schenkte den Vorgängen erst wieder seine Aufmerksamkeit, als Coco auf die Szene trat. Ihr Gesicht leuchtete als einziges in hellerem Licht, so dass Dorian es deutlich sehen konnte. Es war ausdruckslos, aber ihm schien, als sei dies nur eine Maske, und dass unter dieser Maske Trauer und Hoffnung zugleich wohnte. Er konnte ihre seltsame Melancholie nicht deuten. Welche Gefühle empfand sie wirklich? Für ihn wäre alles leichter gewesen, wenn sie als kreischende Furie zum Sabbat gekommen wäre. Aber so sah sie aus wie eine unglückliche Braut, die man zur Vermählung zwang. Maske, alles Maske! redete er sich ein. Olivaro kam zu ihr, nahm auf dem flammenden Stuhl hinter dem Spottaltar Platz, holte Coco an seine Seite. Die magischen Flammen
des Stuhles schienen auf Olivaro überzuschlagen, denn die Schwärze seines Körpers machte einem roten Glühen Platz, und sein Gesicht zeigte sich tiefrot, gequält, und er schien von innen her in einem Feuer zu stehen, wie es aus einem Ofen herausschlägt. Die Dämonen verstummten, schienen in ihren Bewegungen zu erstarren. Auch Dorian hielt den Atem an, konnte den Blick nicht von Olivaro losreißen. Es war, als wolle der Fürst der Finsternis der Welt ein Geheimnis offenbaren, und er zwang die Welt, ihm seine Aufmerksamkeit zu schenken. Dorian starrte auf Olivaros rot leuchtendes Gesicht, dass wie in masochistischer Qual verzerrt war. Langsam drehte Magus VII. den Kopf nach links, zuerst um neunzig Grad, und so verharrte er eine Weile. Dann machte der Kopf einen Ruck und drehte sich weiter nach hinten. Dorian glaubte, dass die Zeit stillstehe. Es herrschte absolutes Schweigen. Die Luft wirkte hart und gläsern, wie gefroren. Und Olivaros Kopf drehte sich weiter, genau um 180 Grad, bis sein Gesicht auf dem Rücken war und sein Haar vorn. Dorian wartete gespannt, was nun kommen mochte, und die Dämonen warteten mit ihm. Olivaros Haar teilte sich – und zum Vorschein kam ein zweites Gesicht! Das also war Olivaros Geheimnis. Er besaß einen Januskopf mit zwei Gesichtern. Das eine Gesicht, das er zeigte, war eine Larve. Sein wahres Gesicht, die Inkarnation des Bösen, trug er unter dem Haar versteckt. Und in dieses Gesicht blickte Dorian jetzt. Es war grünlich und knochig, aber nicht wie ein Totenschädel, sondern eher wie die Idealisierung eines solchen. Es war auch nicht furchterregend, nur streng und majestätisch und hatte etwas Erhabenes an sich. Aber es besaß keine Persönlichkeit, nichts, was man mit Grübeln erfassen konnte. Es war kalt. Kalt und von einer grausamen Strenge. Die Augenhöhlen waren leer. Nein, nicht eigentlich leer, sondern in ihnen wohnte nur eine unergründliche Schwärze. Und darüber wölbte sich eine hohe Stirn mit einem knöchernen V-Zeichen. Ein V aus Knochen, wie es auf den Abbildungen immer der Mund des
Teufels bildete. Aber Olivaro hatte nichts von einem Teufel an sich, sondern mehr von einem antiken Gott. Ein strenger Rachegott! Die hohe Stirn wurde von einer Art lila Heiligenschein begrenzt, über den das nun schlohweiße Haar hinausragte. Dies war also der echte Olivaro. In seinem wahren Gesicht spiegelte sich auch seine Macht. Mit seinen zwei Gesichtern war er der Dämon des Zwiespalts, der vorn Wohlwollen vortäuschen konnte, während sein hinteres, verdecktes Gesicht das Böse personifizierte. Der Dämon des Anfangs und des Endes. Ein würdiger Fürst der Finsternis – nur fehlte ihm das Charisma des Führers. Ihn mochten selbst Dämonen fürchten, und wollten sich ihm aus diesem Grund nicht ausliefern. Macht allein machte noch keinen Fürsten der Finsternis. »Im Namen des Bösen – lasst mich nun meine Gefährtin krönen.« Olivaros Stimme hatte nichts Kränkliches mehr an sich. Sie war voll und stark. Das Kloster erbebte in seinen Grundfesten. Magus VII fuhr fort, indem er besitzergreifend Coco an sich zog: »Hier ist eine Hexe von echtem schwarzem Geblüt. Sie kam einst vom Wege ab, aber sie ist reumütig zu uns zurückgekehrt, und nun wollen wir sie mit allen Ehren in unserer Schwarzen Familie wieder aufnehmen. Nach diesem Ritual wird sie von dem Schmutz der Sterblichen gereinigt sein. Ich werde ihr den Eid abnehmen, den Eid, mit dem sie der Liebe und dem Glauben an das Gute abschwört, den Eid, der sie stark machen wird für den Hass und das Böse. Den Eid, durch den sie all dem abschwört, an das sie bis jetzt geglaubt hat.« Dorian war bereit. Er wollte Cocos Foto verbrennen, wenn Olivaro glaubte, nun endgültig von ihr Besitz ergriffen zu haben. Wenn der Fürst der Finsternis die Hand nach ihrer Seele ausstreckte, um sie zwischen seinen Krallen zu ersticken – dann würde er das Foto anzünden und sich an dem Anblick weiden, den ihm die brennende Hexe bot. Der Dämonenkiller ließ sich nicht von dem Heulen und Spuken über seinem Kopf beirren. In diesem Augenblick konnte ihm nichts
Angst einjagen. Seine Zeit war gekommen. Er merkte, wie aller Dämonen Augen auf Coco gerichtet waren. Noch immer war nichts von der Diabolik, von der obszönen Ekstase an ihr zu merken, die für diesen Moment angebracht gewesen wäre und die die Dämonen von ihr erwarteten. Sie trug Trauer zur Schau und ließ die Schultern sinken. Der Aufputz an ihrem Gewand wirkte plötzlich so fehl am Platz wie ein Faschingskostüm bei einem Begräbnis. Die Dämonen wurden unruhig, doch Olivaro wartete gelassen ab. Sein Januskopf zuckte nur leicht, als könne er sich nicht entschließen, welches Gesicht er zur Schau stellen solle. Er hielt sich gut in der Gewalt, aber nun machte sich auch bei ihm leichte Ungeduld bemerkbar. »Phillip, Phillip, deinen Kopf!«, kreischte die geschlechtslose Hexe. Das schien den Bann von Coco zu nehmen. »Ich kann nicht«, sagte sie. »Nicht hier und jetzt. Nicht zu dieser Stunde und an diesem Tag!« Dorian zögerte, das Foto anzuzünden, diese Hexe brennen zu lassen. Die Dämonen äußerten ihren Tumult, bissen wütend in verzerrte Kreuze, ließen die Farben der verunstalteten Ikonen erblassen. »Ich kann den Eid nicht ablegen, weil ich unrein bin«, sagte Coco. Olivaro stampfte auf, dass der Kessel der geschlechtslosen Hexe barst und sein Inhalt, zuckende Kröten und Schlangenköpfe in einer stinkenden Brühe, sich in die entweihte Kapelle ergoss. »Durch den Eid wirst du rein werden!«, kreischte Olivaro. »Auch wenn ich das Kind des Dämonenkillers unter dem Herzen trage?«, fragte Coco. Plötzlich war die Hölle los. Ein Inferno von Rauch und Feuer, Galle und Gestank brach über den Ort des Sabbats herein. Dorian saß bewegungslos da, starrte stumpf vor sich hin, merkte nichts von den Schrecken, die rings um ihn Wirklichkeit wurden. Er sah nur Coco, und er sah in ihr die zukünftige Mutter seines Kindes. »Fünf Monate lebt dieses Wesen nun schon in meinem Körper!«
Als Coco dies sagte, glaubte Dorian, dass sie ihn dabei anblickte. Aus ihren Augen sprach Glück und Hoffnung, dass sie dieses Kind behalten dürfe. Dieses Kind, das sie gezeugt hatten, nachdem Dorian die Vermählung mit dem Dämon Cyrano von Behemoth verhindert hatte und sie sich vor Glück in die Arme gesunken waren. Dorian hatte Cocos Wunsch, den sie in der folgenden Liebesnacht aussprach, nicht ernst genommen. »Ich will ein Kind von dir. Wir werden es bekommen! Ich ersehne nichts mehr als dies.« Und nun war es so gekommen. Dorian sah auf einmal alles mit anderen Augen. Er wusste, warum Coco die Verbindung mit Olivaro zum Schein eingegangen war. Sie wollte ihr Kind nicht verlieren. Sie musste Olivaro hinhalten, und erst als sie keinen anderen Ausweg mehr sah, musste sie die Wahrheit sagen. Das war ihr Triumph. Und wenn Olivaro sie noch so begehrte – mit dem Kind eines Sterblichen unter dem Herzen konnte er sie nicht zu seiner Gefährtin machen. Noch dazu, wo der Vater des Kindes der Dämonenkiller war. Dorian sah Coco in die Augen und er wusste, dass sie um dieses Kind kämpfen würde wie um ihr Leben, selbst wenn Olivaro sie wieder mit sich nehmen würde. Dorian konnte es nicht verhindern. Gegen die Menge der Dämonen war er ohnmächtig. Aber er würde um Coco kämpfen. Er barg den Kopf in den Armen. Um ihn herum ertönte das Getöse der Dämonen, die mit Gestank aus diesem Ort ausfuhren, der Zeuge der Verhöhnung und des Spotts der gesamten Schwarzen Familie war. Dorian merkte kaum etwas davon. Als er den Kopf wieder hob, waren Olivaro und Coco verschwunden. Dorian war allein zurückgeblieben. Natürliche Finsternis hatte sich über die Kapelle gesenkt, und durch die Finsternis huschten noch um vieles schwärzere Schatten. Was würde Olivaro nun unternehmen? Coco bestrafen? Sie ver-
bannen? Vielleicht konnte Coco ihn weiterhin hinhalten. Und wenn Olivaro sie so sehr begehrte wie es schien, dann würde er Coco nicht verstoßen, sondern dafür sorgen, dass dem Kind etwas Schreckliches zustieß. Dorian ballte die Fäuste. Aus dem stillen, bürgerlichen Leben an Lilians Seite würde nun nichts mehr werden. Wie hatte er sich nur einreden können, dass so etwas gut gehen konnte? Er hatte viele Wiedergeburten erfahren und war immer wieder geboren worden, um die Dämonen zu bekämpfen. Das war seine Bestimmung. Er würde nicht aufhören, Dämonenkiller zu sein. Dorian zündete sein Feuerzeug an und stellte es vor sich auf die Balustrade. In die Gemäuer des Klosters war Stille zurückgekehrt. Vor ihm lagen immer noch die drei Fotos, die beiden magischen Fälschungen und das von Coco. Er starrte auf das Foto, das ihn und Coco zeigte. Der Hintergrund hatte sich verändert. Und auch er und Coco nahmen nicht mehr die gleiche Pose ein. Sie saß auf einem Bett, etwas im Arm haltend, das in eine Spitzendecke gewickelt war. Ein gutes Omen? Dorian wusste, dass das Foto kein Abbild der zukünftigen Wirklichkeit war, nur eine Art Wahrscheinlichkeitsprojektion. Aber er würde mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln kämpfen, dass diese Szene Realität wurde. Er blickte auf das Foto, das die Rothaarige darstellte. Sie hatte sich noch nicht verändert. Dorian wurde schlagartig bewusst, dass Phillip bei dem Sabbat überhaupt nicht in Erscheinung getreten war. Wer hatte Phillip denn entführt, wenn nicht Coco? Was war aus ihm geworden? Wo war er? Während Dorian noch auf das Foto blickte, verwandelte sich die unbekannte Rothaarige in eine andere Person. »Hat mein Rufen Phillip also doch erreicht!«, hatte Coco bei ihrer Begegnung auf der Treppe zu Dorian gesagt. Dorian wusste, dass es Coco schon mehrere Male gelungen war, mit Phillip in Gedankenkontakt zu treten. Und ihr Ausspruch deute-
te darauf hin, dass sie ihn diesmal auf diese Weise um Hilfe angefleht hatte. Jetzt war die Metamorphose des Fotos abgeschlossen. Es zeigte nun den Hermaphroditen Phillip. Nun passte alles zusammen.
Ohne eine einzige Rast eingelegt zu haben, erreichte Dorian das Kloster Simonos Petra. Zu seiner Überraschung war es nicht verschlossen. Pater Gregorius erwartete ihn am Tor. »Ich habe für Sie gebetet, Mr. Hunter. Ich wusste, dass ein Wunder geschehen und ich Sie wiedersehen würde.« »Wo ist der Mönch, der die Aufzeichnungen des verstorbenen Jerontas in Verwahrung genommen hatte?« »Er ist im Archandarikion, auf dem Zimmer seines Schützlings.« »Sie wussten …« Der Pater nickte. »Er hat mir verraten, dass das von Hayward adoptierte Findelkind nach dreiundzwanzig Jahren den Weg zurückgefunden hat. Vergeben Sie uns, Mr. Hunter, dass wir Sie nicht eingeweiht haben. Aber Phillip wollte es nicht.« »Wie geht es ihm?« »Gehen Sie selbst zu ihm.« Während Dorian langsam in Richtung des Fremdentrakts schritt und den Weg mit einer Kerze beleuchtete, tauchten die Geschehnisse der vergangenen Tage wie Momentaufnahmen vor seinem Geist auf. Die angebliche Entführung, die versteckten Hinweise, das alles war nicht arrangiert worden, um ihn in eine Falle zu locken, sondern um ihm den Weg zu jenem Ort zu zeigen, wo Cocos Initiationsritus stattfinden sollte – und wo sie bekannt geben würde, dass sie ein Kind von ihm erwartete. Phillip hatte das alles inszeniert. Er hatte Cocos Hilferuf vernommen und die Sache auf seine eigenwillige, unnachahmliche Art in die Hand genommen. Er, das mystische Zwitterwesen, nicht Mensch
noch Dämon, konnte nichts anderes als Orakel sein. Und so führte er Dorian auch auf verschlungenen Pfaden nach Athos. Dorian erreichte den Eingang zu dem Fremdenzimmer, an dessen Fenster er den Rotschopf gesehen hatte. Er hatte sich nicht geirrt: Phillip war dieser Jemand mit den roten Haaren am Fenster gewesen. Und jetzt lag er auf dem einfachen Bett, den Mönch als Wache und Pfleger an seinem Bett, und machte die Metamorphose rückwirkend durch. Sein Haar hatte immer noch einen rötlichen Stich. Seine Brüste waren aber bereits auf Faustgröße zusammengeschrumpft. Um seinen Mund lag noch etwas von dem ordinären Zug der Rothaarigen. Wie war er ausgerechnet darauf gekommen, das Aussehen eines Straßenmädchens anzunehmen? »Ist alles in Ordnung, Phillip?«, erkundigte sich Dorian. Und der Hermaphrodit antwortete mit der krächzenden Stimme der Rothaarigen: »Nennen Sie mich Aphrodite, Hunter!« Dorian lächelte. Manchmal entwickelte Phillip einen geradezu skurrilen Humor. »Du hast mich ganz schön an der Nase herumgeführt, Phillip«, meinte Dorian. »Mir ist nur eines nicht klar. Es hat den Anschein, dass du mir auch die Stewardess über den Weg geschickt hast. Ohne sie wäre ich nämlich nie mit dem Eremiten zusammengekommen. Warum hast du sie auf mich einen Mordanschlag verüben lassen?« Phillip gab keine Antwort. Dorian blieb nur die Vermutung, dass Phillip gehofft hatte, Dorian würde durch den Anschlag der Stewardess vorsichtiger bei seinen weiteren Aktionen sein. Eine recht unkonventionelle Methode, jemandem, dem man wohlgesinnt ist, eine Warnung zukommen zu lassen. Aber es war typisch Phillip, eines Orakels würdig. Der harte Zug um Phillips Mund verschwand, und ein zufriedenes Lächeln zeigte sich. Dorian sagte sich, dass er eigentlich schon längst hätte erkennen können, dass die Rothaarige und Phillip ein und dieselbe Person waren. Sie traten nie gemeinsam auf, und was Dorian für schwarze
Magie gehalten hatte, war darin begründet, dass Phillip nur einen Körper hatte. Dorian hätte schon damals auf dem Autofriedhof stutzig werden müssen, als einer der untoten Rocker in die Nähe der Rothaarigen gekommen war und von deren Ausstrahlung so irritiert wurde, dass er die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor und gegen die Wracks raste. Eine solche Wirkung konnte kein anderer als Phillip auf Dämonendiener ausüben. Aber im Nachhinein war leicht reden. Dorian hatte das Schlimmste annehmen müssen. Aber er verzieh sich nicht, dass er Coco einer so niederträchtigen Handlungsweise wie der Opferung des Hermaphroditen verdächtigte. Er hatte viel an ihr gutzumachen.
Fünftes Buch
Mörder der Lüfte von Ernst Vlcek
Der Dämon schwebte für einen kurzen Augenblick körperlos im Nichts. Er war nur Geist, bestand aus reinen metaphysischen Schwingungen. Ein Gefühl der Leere befiel ihn, Angst, hier für immer von der Unendlichkeit gefangen gehalten zu werden, stieg in ihm auf. Doch nur für den Bruchteil eines Gedankens, nicht lange genug, um die Angst in Panik zu verwandeln, denn die Körperlosigkeit war nur ein Übergangsstadium. Es war jene Phase, die immer eintrat, wenn er seinen Körper verließ und in den anderen überwechselte, seine schwache menschliche Hülle abstreifte und sie hinter sich ließ wie ein nutzlos gewordenes Gewand. Die Dunkelheit um ihn wich, dann war das Tageslicht um ihn, und er konnte sehen. Er sah die Welt mit den Augen des Adlers. Er lebte im Körper des weißen Adlers und spürte die geballte Kraft dieses majestätischen Körpers, die tödliche Macht des gekrümmten Schnabels und der messerscharfen Krallen. Er genoss das Gefühl, Herr der Lüfte zu sein, Beherrscher der mittleren Sierra Madre, König der Berge und des Himmels. Mit dem Gefühl seiner eigenen Macht und Stärke kam das Bedauern, das er für seine Brüder und Schwestern aus der Schwarzen Familie empfand, die in den Körpern von Menschen dahinvegetieren mussten. Ja, es war nicht viel mehr als ein Dahinvegetieren. Selbst wenn sie die Fähigkeit besaßen, sich in Wölfe oder andere Tiere zu verwandeln, konnte keiner sich mit ihm vergleichen, der den Körper des weißen Adlers beherrschte. Wenn er sich in diesem majestätischen gefiederten Wesen manifestierte, hätte er nicht einmal mit dem Fürst der Finsternis tauschen wollen. Denn sein Reich konnte ihm nicht einmal vom Oberhaupt der Schwarzen Familie streitig gemacht werden. Er reckte den Adlerkopf und stellte die Nackenfedern leicht auf. Sein Kopf ruckte hin und her, als er den scharfen Blick seiner Augen über den Canyon gleiten ließ. Den Adleraugen entging nichts, was sich in den schroffen Felsen tat, die sich Hunderte von Metern senkrecht rund um das Tal erho-
ben. Die unzähligen Raubvögel, die dort nisteten, schienen den stechenden Blick ihres Herrn und Meisters zu spüren. Sie erstarrten in ihren Bewegungen, duckten sich, verstummten. Die Zeit schien stehen zu bleiben, als der weiße Adler seine mächtigen Schwingen ausbreitete. Sein Hakenschnabel öffnete sich, die Zunge stand steif heraus. Er gab kein Geräusch von sich. Seinen Körper durchlief ein schwaches Zittern, bevor er sich von der Klippe abstieß und durch die Luft segelte. Er ließ sich nicht lange treiben, sondern teilte bald die Luft mit trägen, spielerisch anmutenden Bewegungen. Immer rascher stieg er höher, ohne sich jedoch zu verausgaben. Er besaß noch immer große Kraftreserven, die er kaum je einzusetzen brauchte. Der weiße Adler hatte keinen ebenbürtigen Gegner. Er glitt über die höchsten Felserhebungen hinweg und kreiste einige Male über dem Canyon. Die Raubvögel in den Steilwänden waren seine Geschöpfe, aber keines konnte sich mit ihm vergleichen. Von hier oben wirkten selbst die Viertausender der Sierra Madre klein. Die tiefstehende Sonne des frühen Morgens warf scharfe Schatten in die schroffen, von den urweltlichen Gewalten vergangener Jahrmillionen in den Fels gegrabenen Schluchten. Diese Berge muteten wie eine tote Landschaft an, wie eine Welt, die noch nicht den Lebensfunken empfangen hatte. Doch das scharfe Auge des Adlers konnte nicht getäuscht werden. Hier gab es überall Leben, das sich in Löchern und Ritzen verbarg. Der Adler erspähte das ängstlich verborgene Kleintier, aber er stürzte sich nicht darauf. Das war eine zu leichte Beute für den Herrn der Lüfte. Er suchte sich seine Opfer anderswo. Mit schneller werdenden Flügelschlägen ließ er das Tal hinter sich, schoss wie ein Pfeil gen Westen, wo die Berge flacher und zugänglicher wurden. Dorthin verirrten sich nicht selten Menschen. Manche waren Jäger, manche Schatzsucher oder andere Abenteurer. Früher hatte es hier auch größere Städte gegeben, als Reichtümer
geschürft worden waren. Aber viele waren längst verlassen, und nur noch die in den Fels gesprengten Trassen mit Eisenbahnschienen zeugten davon, dass einst sogar bis hierher die Wege der Zivilisation geführt hatten. Dichte Nebelberge sammelten sich darin wie die Wasser eines Staudammes, stiegen in Schwaden höher und wurden wie Schnee von der Sonne fortgeschmolzen. Eine dieser Grubenstädte war Real de Contrabandista. Dort lebten noch etwa fünfzig Männer und Frauen, die litten, liebten und hofften … und von Zeit zu Zeit neues Leben in die Welt setzten. Diese Siedlung war das Ziel des weißen Adlers.
Real de Contrabandista hätte nach Jimenez Ortuga benannt sein können, denn er war ein Schmuggler. Zumindest war er es bis vor drei Jahren gewesen. Doch dann war ihm der Boden an der Küste zu heiß geworden. Da es ihm nicht mehr möglich gewesen war, sich in die Staaten abzusetzen, hatte er sich in die Berge zurückgezogen. Auf der Flucht vor der Polizei und seinen früheren Kumpanen, die sich von ihm geprellt fühlten, war er in Real de Contrabandista gelandet. Er hatte sofort gemerkt, dass dies der richtige Ort für ihn war, um unterzutauchen. Niemand fragte ihn, woher er kam und was er früher getan hatte, denn die Bewohner dieser aufgelassenen Grubenstadt waren froh, selbst nicht Auskunft über ihre dunkle Vergangenheit geben zu müssen. Sie hatten, wie Jimenez, zwangsläufig einen Schlussstrich unter ihr früheres Leben gezogen und sich hier eine neue Existenz geschaffen. Doch von einer ›Existenz‹ zu sprechen, war eine maßlose Übertreibung. Aber irgendwie waren alle mit ihrem Leben zufrieden, das zwar primitiv war, aber ruhig verlief. Es war das Ende der Welt, bis hierher reichte der Arm des Gesetzes nicht. Man brauchte nicht zu befürchten, sein Konterfei auf einem Steckbrief zu erblicken und zuckte auch nicht zusammen, wenn sich einem eine schwere Hand auf die Schulter legte. Denn sie ge-
hörte bestimmt keinem Gesetzeshüter, sondern einem Gleichgesinnten. Jimenez Ortuga war mit seinem Los zufrieden. Wenn er darüber nachdachte, gelangte er sogar zu der Ansicht, dass er es nicht besser hätte treffen können. Er hatte in Contrabandista ein bescheidenes Glück gefunden, das er nicht gegen sein luxuriöses Schmugglerleben tauschen würde. Er besaß ein Haus und die schönste unter den verwelkenden Blumen der Siedlung – Rosita. Er wusste so wenig über ihr Vorleben wie sie über das seine, und als sie ihm einmal in einer schwachen Stunde davon erzählen wollte, hatte er ihren Mund mit einem Kuss geschlossen. Das war nicht ohne Folgen geblieben. Rosita erwartete das Kind, das beide sich wünschten. Dieses Kind war alles, was ihnen zu ihrem Glück gefehlt hatte. Aber Jimenez fühlte auch, dass das Kind ihr bisheriges Leben ändern würde. Schon an dem Tag, als feststand, dass Rosita schwanger war, hatten sie begonnen, Pläne zu schmieden. Das Kind musste in einer anderen Umgebung aufwachsen. Es sollte alles vom Leben erwarten dürfen, worauf seine Eltern verzichten mussten. Vielleicht war über die Schmuggelaffäre längst schon Gras gewachsen, und kein Hahn krähte mehr nach Jimenez Ortuga. Der Kleine – Jimenez war sicher, dass es ein Junge sein würde – sollte eine gute Ausbildung bekommen, Geld scheffeln, sich die Welt kaufen und seine Frau unter den schönsten Mädchen der Welt aussuchen können. Jimenez schreckte aus seinen Gedanken hoch, als er durch die Wände das Stöhnen seiner Frau hörte. Er krümmte sich auf dem Bett zusammen, verbiss sich in die Decke, als verspüre er selbst den Schmerz der aufkommenden Wehen. Wie lange dauerte es noch? Schon die halbe Nacht lag er hier wach und litt mit seiner Frau. Wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, die Schmerzen der Geburt ganz auf sich zu übertragen, er hätte es getan. Aber so konnte er Rosita nur beistehen, indem er mit ihr litt, sich vorstellte, wie es war, wenn das neue Leben mit elementarer Kraft auszubrechen versuchte, den Schutz des umhüllenden Kör-
pers verlassen und die Bande zum Mutterleib durchtrennen wollte. Er spürte, wie das Kind sich aus Rositas Körper drängte. Er schrie mit ihr, wenn sie in den Knebel biss, den helfende Hände ihr hinhielten, und er war am Rande einer Ohnmacht, wenn die Kräfte sie zu verlassen drohten. Rosita wusste das, und es würde beide für immer verbinden. Jimenez glaubte fest daran, dass sein Kind stets die Kraft fühlen würde, die sie in diesen schweren Stunden miteinander verband. Jimenez starrte mit fiebrigen Blicken zu dem verdunkelten Fenster. Draußen schien die Sonne. Hier drinnen war es Nacht, heiß und schwül. Schweiß und Tränen sättigten die Luft. Wässrige Schleier zogen über seine Augen. Er versuchte, sich den Augenblick der Geburt vorzustellen. Es musste jeden Augenblick soweit sein. Es gab so etwas wie Telepathie – daran glaubte er voller Überzeugung, und er hörte die Gedanken seiner Frau und die Gedanken des Kindes. Jetzt? Eine Wolke schien schnell über den Himmel zu ziehen, denn das verhangene Fensterviereck verdunkelte sich für einen Augenblick noch mehr. Schon war der Schatten vorbei. Ein Geräusch. Etwas barst. Was? Das Rauschen in seinen Ohren übertönte es. Er hörte alles wie aus weiter Ferne. Einen Schrei, langgezogen und in tiefsten Tönen. Er stimmte darin ein. Jetzt gebar Rosita, und er teilte ihren Schmerz. Etwas schlug von der anderen Seite gegen die Trennwand. Es hörte sich an, als ob ein Kampf stattfinden würde. Warum war es Rosita nicht gegönnt, eine leichte Geburt zu haben? Warum konnte er ihr die Schmerzen nicht abnehmen? Viele Stimmen schrien durcheinander. Die Verbindungstür wurde aufgestoßen. Eine der Frauen, die als Geburtshelferinnen bei Rosita geblieben waren, tauchte im Türstock auf. Über ihre Stirn floss Blut. Sie brach wimmernd zusammen. Durch die offene Tür war ein Gepolter zu hören, ein Flattern wie von kräftigen Flügelschlägen. Und wieder der Schrei, der Schrei einer Mutter. Und der Schrei eines Kindes. Stimmen, die nicht Erlö-
sung von den Schmerzen ausdrückten, sondern von grenzenlosem Leid erfüllt waren. Sie verkündeten nicht die Erschaffung neuen Lebens. Nein, sie kündigten den Tod an. Und das Schlagen der Schwingen klang für Jimenez wie eine mit scharfer Klinge die Luft durchschneidende Sense. Er brauchte nicht lange zu warten, um zu merken, dass hier etwas nicht stimmte. Benommen kletterte er von seinem Lager, taumelte zur Tür und stolperte über die am Boden kauernde Geburtshelferin. Als er ins andere Zimmer blickte, sah er zuerst nur seltsam tanzende Schatten. Sie schienen zu wimmern wie Klageweiber. Aber dann blendete ihn die Helligkeit, die durch das offene Fenster fiel. Der Vorhang hing in Fetzen vor den zerbrochenen Fensterscheiben. Und etwas entfleuchte durch dieses Fenster, wie es gekommen sein musste. Ein Adler. Ein schneeweißer Adler, dessen Gefieder von Blut getränkt war. Vom Blut getränkt war auch das Wochenbett. Rosita lag auf dem Boden, die zuckenden Beine noch halb auf der Lagerstatt, die Hände in Richtung Fenster gestreckt, so als wolle sie zurückholen, was ihr der Raubvogel soeben geraubt hatte. Jimenez stieg über sie hinweg. Alles um ihn erstarrte zu einer unwirklichen Kulisse. Er sah nur den majestätischen Adler, der steil in den Himmel Mexikos hinaufstieg und in seinen Krallen Jimenez' Lebensinhalt davontrug. Jimenez starrte dem Raubvogel nach, bis er hinter den Bergen als winziger Punkt verschwunden war. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so hilflos und so verzweifelt gefühlt. Eine ganze Welt stürzte für ihn zusammen. Aber er resignierte nicht. Er war schon immer ein Kämpfer gewesen. Und er schwor in diesem Augenblick dem weißen Adler Rache. Er wollte nur noch dafür leben.
Die Hütte stand zwischen Schutthalden vor dem Stahlbetonskelett eines im Bau befindlichen Hochhauses. Von außen sah sie aus wie jede andere Bauhütte. Die Wände aus Holzplanken waren etwas aus
dem Winkel geraten, das mit Teerpappe bedeckte Dach hing auf der einen Seite etwas tiefer herunter, wie der lahme Flügel eines Vogels. Aus dem einzigen Fenster ragte ein Ofenrohr. Aus dem Ofenrohr kräuselten sich schwache Rauchschwaden. Das machte Dorian Hunter etwas misstrauisch, und die Warnungen seines Freundes, nicht zu dem Treffen mit den Dämonen zu gehen, kamen ihm wieder in den Sinn. Eine geheizte Bauhütte mitten im Juni? Und eine so primitive Hütte auf dem Bauplatz eines Hochhauses! Dorian hatte sich erkundigt. Das Hochhaus würde wohl nicht so schnell fertig gestellt werden. Der Bauherr hatte vor Jahren Pleite gemacht, und seit damals stand das Skelett aus Stahlbeton unberührt. Wollten die Dämonen nicht, dass der Bau voranging? Eigentlich eine müßige Frage, denn sie hatte mit seinem Problem nichts zu tun. Entschlossen öffnete er die Tür der Hütte und trat ein. Plötzlich wusste er sofort, dass ihn sein Gefühl nicht getrogen hatte. Mit dieser Bauhütte stimmte irgendetwas nicht. Von außen hatte sie nur eine Länge von fünf Metern. Als er jetzt in ihrem Innern war – die Tür fiel hinter ihm wie von Geisterhand bewegt zu, und Finsternis umgab ihn –, hatte er das Gefühl, sich in einem grenzenlosen Raum zu befinden. Die Falle war hinter ihm zugeschnappt. Er stand im Banne eines magischen Zaubers. Er versuchte, die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen. Tatsächlich war ihm nach einer Weile, als könne er umherhuschende Schatten erkennen, die finsterer waren als die ihn umgebende Dunkelheit. Als sich sein Gehör an die tiefe Stille gewöhnt hatte, war ihm, als vernehme er raunende Stimmen, geheimnisvolles Wispern, unverständlich, von nirgendwo und doch von überall her. »Ist hier jemand?«, rief er, wobei er sich bemühte, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. Die Dämonen sollten nicht glauben, dass sie ihm Angst einjagen konnten. »Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt«, fuhr er fort. Seine Stimme klang in der Dunkelheit verloren, obwohl er laut sprach. »Ich bin allein und unbewaffnet gekommen. Also gebt euch zu er-
kennen.« War da nicht ein Lachen? Ein diabolisches, hämisches Lachen? Oder bildete er es sich nur ein? Als er die Nachricht bekommen hatte, sich hier einzufinden, da vertraute er sich Trevor Sullivan an. Er wollte allein zu dem Treffen gehen, aber er wollte auch, dass zumindest einer seiner Freunde wusste, wohin er sich begeben hatte. Und Sullivan hatte ihn beschworen, von diesem Treffen abzusehen, weil es sonst leicht geschehen konnte, dass er sich in die Abhängigkeit der Dämonen begab und ihnen seine Seele verschrieb. Dorian hatte diese Warnung in den Wind geschlagen. Er wollte jedes Risiko eingehen, um an sein Ziel zu kommen. Ihm war kein Preis dafür zu hoch, Olivaro zur Strecke zu bringen und Coco vor ihm zu retten. Coco, die ein Kind von ihm, den man den Dämonenkiller nannte, erwartete. Der Dämonenkiller auf dem Wege, einen Part mit den Dämonen zu schließen? Er sah keinen Grund, den Oppositions-Dämonen zu misstrauen. Er musste nur vermeiden, in ihre Abhängigkeit zu geraten, ihr willenloses Werkzeug zu werden. Er musste sehr auf der Hut sein, wollte er nicht seine Seele verlieren. »Komm, komm, komm …«, raunte es geheimnisvoll. Dorian setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Plötzlich hielt er alarmiert inne. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass vor ihm ein bodenloser Abgrund war. Sehen konnte er nichts, denn die Dunkelheit war undurchdringlich. Aber sein geschulter Instinkt warnte ihn. Er ging in die Knie und tastete den Boden um sich ab. Seine tastenden Finger hatten einen schmalen Steg aus Beton erfasst, der nicht breiter als etwa dreißig Zentimeter war. Und darauf balancierte er über dem Abgrund. Er nahm an, dass er sich auf einem der Träger des Hochhauses befand. Vielleicht in zwanzig Meter Höhe, vielleicht in vierzig. Die Frage, wie er hierher gekommen war, beschäftigte ihn nicht besonders. Mit schwarzer Magie konnte man viel erreichen, was ein
wissenschaftlich geschulter Verstand nicht begreifen konnte. Stattdessen drängte sich ihm die Frage auf, warum ihn die Dämonen hier herauf, in schwindelnde Höhe, gebracht hatten. Um ihm ihre Macht zu zeigen? Um ihm Angst einzujagen, ihn flehen und bitten zu hören um sein Leben? Oder um ihn unter Druck zu setzen? Vielleicht befand er sich aber auch gar nicht auf dem Gerüst, sondern alles war nur Illusion. Dorian machte die Probe aufs Exempel, vollführte eine Drehung um neunzig Grad und setzte einen Fuß ins Leere. Eine unsichtbare Kraft erfasste sein Bein und zwang es auf den Betonträger zurück. »Nicht, nicht, Hunter, du könntest fallen!«, wisperte es. »Hier geht's lang, hier geht's lang!« Die unsichtbare Kraft lenkte ihn in die ursprüngliche Richtung. »Warum zeigt ihr euch nicht?«, fragte Dorian, der seine Selbstsicherheit wieder zurückgewonnen hatte. Er glaubte nun, sicher sein zu können, dass er um sein Leben nicht zu fürchten brauchte, höchstens um sein Seelenheil. Aber dagegen war er gewappnet. Etwas wie Spinnweben strich ihm übers Gesicht. »Ah, ein ansehnliches Bürschchen«, hörte er eine krächzende Stimme dicht bei sich sagen. Die Stimme schien die einer Frau zu sein. Aber sicher war er nicht. »Fasst ihn nicht zu hart an, sonst bleibt ihm sein schwaches Herz stehen!«, ertönte eine andere Stimme. »Er ist ja nur ein armseliger Sterblicher, seit Asmodi ihm die Unsterblichkeit nahm. Er kann leicht eines natürlichen Todes sterben. Also Vorsicht!« Dorian spürte einen Luftzug, und einem starken Druck gegen seinen Unterleib folgte ein obszönes Kichern. Sie wollen mir nur Angst einjagen!, sagte er sich. Aber selbst das Wissen um die Motive der Dämonen konnte nicht verhindern, dass ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief. Aus der Tiefe drang ihm ein abscheulicher Gestank entgegen, der ihm fast den Magen umdrehte. Glitschige Arme griffen nach ihm, betasteten seinen Körper.
Etwas klatschte ihm ins Gesicht, und dann troff ihm eine kalte Flüssigkeit von der Stirn, drang ihm brennend in die Augen. Er rieb sie, aber es brannte nur noch mehr. Er bis die Zähne zusammen, gab keinen Schmerzenslaut von sich. »Ein tapferes Bürschchen! Er hätte sich einen Biss von mir verdient.« »Unterstehe dich. Er ist unser Verbündeter!« »Der Dämonenkiller unser Verbündeter?« »Nein!«, rief Dorian. »Ich bin mein eigener Herr und gedenke, es zu bleiben.« »Du riskierst eine große Lippe, Hunter«, keifte es ihm von vorne entgegen, dass er unwillkürlich zurückzuckte. »Ein Hauch von mir, und du stürzt ab und brichst dir das Genick.« Dorian blieb entschlossen stehen. »Unter diesen Bedingungen breche ich den Kontakt ab«, sagte er fest. »Ich bin nicht hergekommen, damit ihr mit mir euer schändliches Spiel treiben könnt. Ihr braucht meine Hilfe. Also zeigt euch, damit wir über die Bedingungen unserer Zusammenarbeit reden können. Oder lasst es bleiben!« Ein wütendes Geheul erscholl. »Ich könnte ihm das Herz aus dem Leibe reißen!« »Seine Seele! Ich will seine Seele!« Dorian stand breitbeinig da, soweit es ihm der schmale Grat erlaubte. Ein Sturm kam auf und zerrte an ihm. Aber er trotzte ihm, verbiss den Schmerz, den ihm die unzähligen Nadelstiche aus der Dunkelheit überall am Körper bereiteten. »Haltet ein!«, ertönte da eine mächtige, befehlsgewohnte Stimme. Und der Spuk hörte auf. »Du wirst verstehen, dass wir uns unter diesen Umständen nicht zu erkennen geben können«, fuhr die Stimme fort. »Wenn du nicht bereit bist, einer von uns zu werden, Hunter, uns nicht deine Seele als Pfand gibst, dann müssen wir unsere Anonymität wahren. Denn selbst wenn wir zusammenarbeiten, wird das nur ein Pakt auf Zeit. Falls wir ein Abkommen treffen, dann ist es nur von Dauer, solange
wir dieselben Interessen verfolgen. Danach werden wir wieder Feinde sein. Ist das in deinem Sinne, Hunter?« »So soll es sein«, antwortete Dorian. »Ich ändere auch jetzt nicht meine Meinung über die Dämonen. Ihr seid Parasiten der Menschheit! Und ich werde nicht ruhen, euch, die ihr die Inkarnation des Bösen seid, zu bekämpfen.« »Warum töten wir dieses Großmaul nicht einfach!«, rief einer der Dämonen wütend aus der Ferne. »Ja, weiden wir uns daran, wie dieser Angeber tausend Tode stirbt!« Dorian ging sofort in Abwehrstellung. Aber nichts geschah. Einen Augenblick lang hatte er befürchtet, dass er zu weit gegangen war. Aber er hatte keine andere Wahl, als seinen Standpunkt deutlich klarzulegen, wenn er sich den Dämonen nicht ausliefern wollte. Er rechnete damit, dass die Dämonen ihn brauchten, um den als Fürst der Finsternis unerwünschten Olivaro vom Thron zu stürzen. Wenn er nicht dieser Ansicht gewesen wäre, hätte er sich nicht auf dieses Unternehmen eingelassen. »Ja, Hunter«, sagte der Dämon mit der befehlsgewohnten Stimme, der ihm der Anführer der Oppositionsdämonen zu sein schien. »Wir akzeptieren deinen Standpunkt. Aber wisse, von der Sekunde an, da unser Pakt nicht mehr gilt, bist du für uns alle wieder vogelfrei. Und wir werden dich von da an wieder bekämpfen, gnadenloser und kompromissloser als je zuvor. Du erweist uns einen Dienst, indem du Olivaro ausschaltest. Und wir geben dir dafür deine Coco zurück. Aber sei nicht sicher, dass du dich danach des Lebens an ihrer Seite erfreuen kannst.« »Warum glaubt ihr, dass ausgerechnet ich Olivaro bezwingen könnte?«, fragte Dorian. Darauf wollte er schon lange eine Antwort haben. »Wenn ihr Dämonen, die ihr mit der Macht eurer schwarzen Magie so gerne prahlt, nicht in der Lage seid, mit euresgleichen fertig zu werden, wie könnt ihr dann erwarten, dass ich Sterblicher das schaffe?« »Bist du wirklich so naiv, Hunter, oder stellst du dich nur dumm?«, fragte der Sprecher der Dämonen, die gegen Olivaro intri-
gierten. Er fuhr fort: »Du kennst unsere ungeschriebenen Gesetze gut genug, um zu wissen, dass jede Handlung, oder jeder Zauber, wenn du willst, ein bestimmtes Ritual erfordert. Sowie die Wissenschaften der Menschen ohne gewisse Hilfsmittel nichts erreichen können, so hat auch die schwarze Magie ihre bestimmten Formeln und Regeln, an die sich der Hexer halten muss. Olivaro kann nicht einfach getötet werden. Es bedarf dafür langer Vorbereitungen, und gewisse Voraussetzungen müssen vorhanden sein.« Dies war für Dorian nicht neu. Er wusste sehr wohl, dass die schwarze Magie in gewisser Weise viel komplizierter war als alle Wissenschaften. Nicht einmal dem mächtigsten Dämon war es ohne Weiteres möglich, durch ein einfaches Fingerschnippen magische Wirkung zu erzielen. Die Blutopfer, Beschwörungen, schwarzen Messen und Sabbate waren nicht nur Show und Ausdruck der Bösartigkeit der Dämonen, sondern ein unerlässlicher Bestandteil der schwarzen Magie, wenn man sie mit Erfolg anwenden wollte. Wenn ein Mathematiker komplizierte Berechnungen vornimmt, so muss er sich der dafür bestimmten Formeln bedienen. Ähnlich war es mit der schwarzen Magie der Dämonen und der weißen Magie der Dämonenaustreiber. Sicherlich hinkte dieser Vergleich ein wenig, aber in gewisser Weise war auch die schwarze Magie eine Wissenschaft, wenn auch eine blutige. Selbst so etwas Einfaches wie das Hypnotisieren, das keine Domäne der schwarzen Magie war, sondern auch ein Bestandteil der menschlichen Wissenschaften, erforderte ein gewisses Ritual: die Versuchsperson musste ihre Aufmerksamkeit voll und ganz dem Hypnotiseur oder seinen Hilfsmitteln schenken, um für eine Suggestion zugänglich zu sein. Das alles war Dorian nicht neu. Er verstand nur noch nicht, warum er so wichtig für die Bekämpfung Olivaros war. »Ich habe fast den Verdacht, dass ich der Köder in einer Falle sein soll«, meinte Dorian. »Aber ich werde mich mit allen Mitteln dagegen wehren, ein Schlachtopfer abzugeben.« »Das ist dein gutes Recht, Hunter.«
»Und warum habt ihr gerade mich als Olivaros Gegenspieler auserkoren?« »Darauf gibt es eine einfache Antwort. Du und Olivaro, ihr steht in einer recht günstigen Konstellation zueinander. Wenn es auch keiner von euch beiden wahrhaben möchte, so seid ihr doch durch magische Bande miteinander verbunden. Es wäre zu kompliziert, dir die Zusammenhänge erklären zu wollen, und du würdest sie auch nicht verstehen. Aber es hängt damit zusammen, dass du und Olivaro euch gegenseitig das Leben gerettet habt, dass ihr in ferner Vergangenheit bereits miteinander zu tun hattet und dass eure Gegenwart von der gleichen Hexe beeinflusst wird. Nämlich von Coco Zamis. Dies alles und noch viel mehr bildet in seiner Gesamtheit eine Konstellation, die dich als Gegenspieler für Olivaro prädestiniert.« Dorian glaubte den Worten des Dämonen. Wenn er und seine Verbündeten eine andere Möglichkeit gesehen hätten, den mächtigen Olivaro vom Thron zu stürzen, dann wären sie wohl kaum das Risiko eingegangen, ihn um seine Unterstützung zu bitten. Und er, Dorian, würde nichts von diesem Pakt, der eigentlich nur eine Farce war, wissen wollen, hätte er eine Möglichkeit gesehen, Coco auf eigene Faust zu retten. »Ich sehe die Notwendigkeit unserer Zusammenarbeit ein«, erklärte Dorian. »Nur habe ich noch keine Ahnung, in welcher Weise sie zu realisieren ist. Ich nehme an, ihr habt euch bereits einen Plan zurechtgelegt. Wie soll es also weitergehen?« Eine Weile herrschte Schweigen. Dann wurde heftiges Atmen aus vielen Kehlen laut, das immer keuchender wurde. Es schien Dorian fast so, als steigerten sich die ihn umlauernden Dämonen künstlich in Erregung. Er wurde sofort wieder misstrauisch. »Wir haben vorhin davon gesprochen, dass man magische Wirkungen nur durch entsprechende Rituale erzielen kann«, meldete sich schließlich der Anführer aus der Finsternis. »Nun, eine solche rituelle Handlung ist in diesem Augenblick erforderlich. Und du musst sie ausführen, Hunter!« Um Dorian erglühte eine leuchtende Sphäre, so dass er seine nächste Umgebung erkennen konnte. Er befand sich tatsächlich auf
dem Betonskelett des Hochhauses. Plötzlich war wie hingezaubert ein ausgezacktes Schwert in seiner Hand, das dem Flammenschwert eines Engels glich, bis auf die magischen Symbole, die in die Klinge eingraviert waren. Und keine zehn Schritte vor sich sah Dorian eine verwachsene Gestalt kauern. Er hätte vor Ekel und Wut das Opferschwert am liebsten von sich geschleudert. Aber das gelang ihm nicht, denn es klebte in seiner Hand, als sei es ein Bestandteil von ihm. Dorian wusste, was die Dämonen von ihm erwarteten. »Los, Dämonenkiller«, stammelte er. »Komm' deiner Bestimmung nach, und bringen wir es schnell hinter uns. Schnell!« Er hielt sich mit seinem rechten Arm an einer Traverse über seinem Kopf fest, während seine aus der Schulter herausragende Linke unaufhörlich zuckte. Endlich war es soweit. Endlich, endlich, würde er von seinen Leiden erlöst werden. Er wusste kaum mehr, wie lange er schon in dieser Hölle von Schmerzen zu leben hatte. Ihm schien es wie eine Ewigkeit. Die Schmerzen erlaubten es ihm nicht mehr, einen klaren Gedanken zu fassen. Ständig explodierte etwas in seinem Körper, dann war ihm wieder, als würde er von unzähligen Lanzen durchbohrt. Die Oberfläche seiner Arme und Beine veränderte sich ständig. Geschwüre wuchsen, Missbildungen formten sich überall an seinem Körper. Wenn er genau hinsah, konnte er erkennen, wie giftige, übelriechende Dämpfe aus seinen Poren stiegen. In seinen Eingeweiden brannte ein unlöschbares Feuer, das ständig an seinem Körper zehrte, ihn aber nie ganz verbrennen konnte, denn sein Zellgewebe regenerierte sich immer wieder. Er, Jerome Hewitt, war ein Wunderwerk. Er besaß einen fantastischen Metabolismus. Er war einfach nicht umzubringen. Was er auch anstellte, um seinem Leben und Leiden ein Ende zu bereiten, er hatte immer wieder versagt. Denn Asmodi hatte bestimmt, dass nur der Mann ihn von seinen Qualen erlösen konnte, der ihn in diesen Zustand versetzt hatte. Dorian Hunter.
Das war die schlimmste Bestrafung, die er sich ausmalen konnte. Er konnte Gnade und Erlösung nur von jenem Mann erwarten, den er am meisten hasste. Aber nun würde der ersehnte Augenblick bald kommen. Nun durfte er hoffen, schon nach wenigen Augenblicken ewige Ruhe zu finden. »Komm, Hunter, komm!«, verlangte Hewitt. »Vollbringe das Werk!« Sie waren allein in schwindelnder Höhe. Die Dämonen hatten sich zurückgezogen. Er, Hewitt, kauerte mit dem Rücken gegen einen senkrechten Betonpfeiler. Dorian Hunter stand zehn Schritte von ihm entfernt mit dem Opferschwert. »Diesmal kannst du mir die Gnade des Todes nicht verweigern«, gurgelte Hewitt und spuckte etwas aus, das in ihm abgestorben war. Dorian Hunter wich zurück. Sein Gesicht drückte Widerwillen aus. »Bleib' stehen!«, schrie Hewitt und rückte nach. »Du musst es tun. Du hast keine andere Wahl. Dein Weg in die Arme der Hexe Coco führt nur über meine Leiche. Es gibt kein Zurück für dich. Ohne dieses Ritual wirst du für immer verdammt sein.« Das Schwert in Hunters Hand blitzte verlockend auf. Hewitt glaubte schon, dass er es zum entscheidenden Schlag heben würde. Nur den Bruchteil einer Sekunde fühlte er überhaupt keine Schmerzen. Was für ein Gefühl! Was für ein köstlicher Augenblick, einmal nicht alle Qualen der Hölle leiden zu müssen. Wie würde es erst sein, wenn er die Folterkammer seines Körpers für immer verlassen durfte! Aber noch immer zögerte der Dämonenkiller. Er schien mit sich um einen Entschluss zu ringen. Und Hewitt litt weiter. Ihm verursachte jeder Atemzug Übelkeit, alles krampfte sich in ihm zusammen. Er erlebte bei jeder noch so kleinen Bewegung eine Kettenreaktion von Schmerzen. Selbst der geringste Luftzug, eine schwache Brise, die über ihn hinwegstrich, brannte auf seiner wunden Haut wie Feuer und manchmal wie Eis. »Wie kannst du dulden, dass ich solche Qualen leide, wo du doch
angeblich für das Gute kämpfst, Dorian!«, schrie Hewitt. »Was gibt es da zu überlegen? Es ist die beste Tat deines Lebens, mich zu töten. Hast du denn kein Mitleid?« »Doch«, erwiderte Dorian Hunter. »So sehr ich dich früher auch gehasst habe, als du noch ein Dämon warst, Jerome, jetzt gehört dir mein Mitgefühl. Ich würde alles tun, um dir zu helfen.« »Dann tue es. Du hast die Macht!« Hewitt streckte sich auf die Betonstrebe vor ihm aus und wartete auf den tödlichen Streich. Doch dieser blieb aus. Der Dämonenkiller sagte: »Alles will ich für dich tun, Jerome, damit dein Leiden ein Ende hat. Aber töten … nein, das bringe ich nicht über mich. Es wäre Mord. Und ich bin kein Mörder.« Mit diesen Worten schleuderte er das Opferschwert von sich. Hewitt sah es mit tränenden Augen in die Tiefe fallen, wo es in einer magischen Flamme verpuffte, als es den Boden berührte. Hunter hatte sich des Opferschwertes entledigt! Er hatte es einfach fortgeworfen. Alle Hoffnung zerrann. Die pochenden Schmerzen in seinem Körper trieben ihn zur Raserei. Mit einem tierischen Aufschrei wollte er sich auf den Dämonenkiller werfen. Doch dieser wich aus, und Hewitt stürzte ins Leere. Er schlug gegen einen Pfeiler, prallte ab, landete auf einer Querverbindung, prallte auch von ihr ab und stürzte tiefer. Dabei dachte er, dass die Dämonen, die ihm Erlösung versprochen hatten, Dorian Hunter besser gesonnen waren als ihm, denn sonst hätten sie auf diesem Ritual bestanden. Hewitt spürte es kaum, als der Aufprall auf dem Boden kam. Er schwamm in einem Meer von Schmerzen, für die es keine Steigerung mehr gab. Er lag nur zuckend da, unfähig zu sterben, verdammt zum Leiden. Er konnte sich nicht bewegen. Als er über die Schmerzwogen in seinem Körper hinweg Schritte vernahm, versuchte er sich aufzurichten. Aber seine Knochen waren bei dem Sturz gesplittert und noch nicht wieder zusammengewachsen. Trotzdem konnte er aus den Augenwinkeln Dorian Hunter erken-
nen, der gerade vom Gerüst geklettert kam. »Dämonenkiller …«, rief Hewitt. Hunter blickte mitleidig auf ihn herunter und sagte: »Ich werde für dich beten, Jerome.« Er wandte sich ab und ging davon. »Beten?«, sagte Hewitt ungläubig. »Beten! Beten!« Er rief es immer wieder. Die Schreie verfolgten Dorian noch lange, und Hewitts Schicksal gemahnte ihn daran, dass es auch für den, der Gutes tun wollte, nicht immer leicht war, es auch zu tun.
Lilian Hunter schreckte im Bett hoch. Ihr erster Eindruck war, dass es draußen bereits hell war. Sie hatte also doch noch einige Stunden Schlaf gefunden. Aber so konnte es nicht weitergehen. Das Bett neben ihr war unberührt. Selbstverständlich! Dorian schlief auf ihren Wunsch schon seit Tagen im Gästezimmer. Sie hatte ihm Migräne vorgetäuscht, hatte von seelischen Spannungen gesprochen und erreicht, dass er sie allein ließ. Dabei belog sie ihn nicht einmal. Ihr war klar, dass sie sich auseinandergelebt hatten. Die Zeit ihres Aufenthalts im Sanatorium war zu lang gewesen. Es konnte nicht mehr wie früher werden. Sie waren sich fremd geworden. Aber wie sollte sie das Dorian beibringen? Er war fürsorglich um sie bemüht, obwohl ihr nicht entging, dass er nur Mitleid für sie empfand. Von Liebe keine Spur. Er empfand es einfach als seine Pflicht, bei ihr zu bleiben. Das war keine Treue, nein, nur reine Pflichterfüllung. Warum fand er nicht den Mut, sich mit ihr auszusprechen? Und sie? Sie würde mit ihm sprechen. Das nahm sie sich in diesem Augenblick fest vor. So ging es nicht weiter. Sie schlüpfte in ihren Morgenrock, verließ das Zimmer und ging über den Korridor zum Gästezimmer. Sie zögerte kurz, bevor sie anklopfte. Nichts rührte sich. Nachdem sie auch auf ihr zweites Klopfen keine Antwort hörte, öffnete sie die Tür.
Dorians Bett war leer. Er hatte sich wieder einmal die ganze Nacht herumgetrieben. Das geschah in letzter Zeit oft. Er war nächtelang unterwegs. Einmal, erst vor wenigen Tagen, war Dorian nach Griechenland abgereist. Den wahren Grund für diese Reise hatte sie nie in Erfahrung gebracht. Sie wusste nur, dass Dorian die Athosklöster aufgesucht hatte. Aber warum, das verriet er ihr nicht. Sie hatte den Grund seiner Reise nicht einmal von Marvin Cohen erfahren, obwohl dieser ihn zu kennen schien. Marvin Cohen … Für diesen so grobschlächtig wirkenden Mann, der unter seiner rauen Schale voller Zärtlichkeit war, empfand sie viel mehr als für ihren eigenen Mann. Dorian war ein Einzelgänger, der auch ohne den Beistand eines Partners auskam – oder hatte ihn diese Hexe Coco verzaubert? Marvin dagegen brauchte sie. Er war ein Verlorener, der seine innere Unsicherheit unter oberflächlicher Brutalität verbarg. Sie hatte Marvin durchschaut, und er wusste, dass sie ihn verstand. Aber war es Recht, dass …? Sie ging ins Erdgeschoss hinunter. Das Haus erschien ihr so leer, als sei es unbewohnt. Es war ohne jegliche Atmosphäre. Dieses Haus machte auf sie den Eindruck eines Mausoleums. Sie war darin lebendig begraben. Sie musste ausreißen, fort, weit, weit weg von hier. Sie bereitete sich ein Frühstück, doch sie brachte kaum einen Bissen herunter. Sie träumte, und plötzlich fröstelte sie, als sie sich ihrer Einsamkeit wieder bewusst wurde. Diese Leere rührte nicht daher, dass Dorian abwesend war. Sie fühlte sich auch einsam und verlassen, wenn er fürsorglich um sie bemüht war. Sie stand auf, ging zum Telefon und griff nach dem Hörer. Ihre Hand zuckte aber sofort wieder zurück, als hätte sie sich die Finger verbrannt. Närrin! Warum hebst du nicht ab, wählst die Nummer der Jugendstilvilla und erkundigst dich nach Dorian? Ruf dort an und erkundige dich bei Dorians seltsamen Freunden, wo er die ganze Nacht über gewesen ist.
Und dann wählte sie die Nummer. Es war ihr gar nicht so wichtig zu erfahren, wo Dorian sich aufhielt. Sie hoffte vielmehr, Marvins Stimme zu hören. Aber Miss Pickford meldete sich. Nein, sagte sie, Dorian habe schon seit achtundvierzig Stunden nichts von sich hören lassen. Phillip, sein Patenkind, sei deswegen außer Rand und Band. Lilian presste die Lippen zusammen. Phillip … als er vor ungefähr zwei Wochen in ihr Haus gekommen war, hatte sie sein Anblick fasziniert. Als sie dann aber erfuhr, dass Dorian über dieses zweigeschlechtliche Geschöpf die Vormundschaft übernommen hatte, war er ihr auf einmal unheimlich, stieß sie ab. Dadurch wuchs ihre Abneigung gegen Dorian nur noch mehr. Warum musste er ausgerechnet solch ein unheimliches Wesen adoptieren? Warum konnte es nicht ein ganz normaler Junge sein? Miss Pickford gab den Telefonhörer an Trevor Sullivan weiter. Dieser sagte, es stimme nicht, dass Dorian schon achtundvierzig Stunden nichts von sich habe hören lassen. Er habe ihn, Sullivan, erst gestern Abend angerufen und gesagt, dass er eine dringende Verabredung habe. Sullivan sagte, dass sich Dorian sofort bei ihm melden müsse, wenn er zurück war. Seine Stimme klang besorgt. Lilian hörte ihm kaum zu. Sie erwachte erst aus ihrer Apathie, als Sullivan ihr mitteilte, dass Cohen sie sprechen wolle. Sie errötete, als sie Marvins Stimme vernahm. »Ist bei Ihnen alles in Ordnung, Mrs. Hunter?« »Ich fühle mich so allein, Marvin«, sagte sie. Sie vernahm aus dem Hörer ein Räuspern. Wahrscheinlich befürchtete Marvin, dass jemand hören konnte, wie sie ihn mit seinem Vornamen anredete. »Sie brauchen keine Angst zu haben, Lilian, äh, Mrs. Hunter«, sagte Cohen. »Dorian wird sicher bald zurück sein.« »Dorian! Dorian!«, rief sie verächtlich aus. »Ich brauche dich, Marvin. Besuche mich, ich …«
»Stimmt bei Ihnen irgendetwas nicht, Lilian? Vielleicht habe ich Zeit, heute irgendwann auf einen Sprung vorbeizukommen, um nach dem Rechten zu sehen.« »Beeile dich, Marvin …« Sie hatte kaum ausgesprochen, als es in der Leitung klickte. Zuerst dachte sie, dass Marvin eingehängt hatte. Doch dann sah sie die behandschuhte Hand, die die Telefongabel niederdrückte. Dorian!, schoss es ihr durch den Kopf. Er hat gehört, wie vertraut ich mit Marvin sprach. Egal, früher oder später musste ich ihm sowieso reinen Wein einschenken. Bringen wir es also sofort hinter uns. Aber es war nicht Dorian. Sie wandte langsam den Kopf, ließ ihre Blicke weiter den Arm hinaufwandern, erblickte eine in eng anliegendes Leder vermummte Gestalt. Sie sah ein knöchernes Gesicht, das von einer Staubbrille halb verdeckt war. Sie erkannte sofort den unheimlichen Rocker, der schon einmal in ihr Grundstück eingedrungen war und sie terrorisiert hatte. »Demur Alkahest«, stellte er sich spöttisch vor. »Sie erinnern sich noch an mich, Madam?« Hinter ihm waren weitere in Leder gehüllte Gestalten aufgetaucht. Sie trugen große Motorradhelme, die ihre verzerrten Gesichter verhüllten. Lilian öffnete den Mund zu einem Schrei. Aber noch bevor ein Laut über ihre Lippen kam, legte sich die behandschuhte Hand darauf. »Nicht schreien«, sagte Demur Alkahest dicht an ihrem Ohr. Sie konnte seinen kalten Atem spüren. »Sie brauchen vor mir und meinen Jungs keine Angst zu haben. Wir sind nicht Ihretwegen gekommen, Madam, sondern wegen Dorian. Und während wir gemeinsam auf ihn warten, werden wir uns ein wenig die Zeit vertreiben.«
Dorian war es nicht entgangen, dass der Fahrer des Taxis ständig durch den Innenspiegel nach ihm schielte. Der verschmutzte Fahrgast mit der verlotterten Kleidung bereitete ihm vermutlich Unbeha-
gen, und er war froh, als Dorian vor dem Reihenhaus in der Abraham Road anhalten ließ. Kaum war Dorian ausgestiegen und hatte den Fahrer bezahlt, als dieser auch schon Gas gab und mit quietschenden Reifen davon schoss. Dorian klopfte sich den Staub von den Kleidern und näherte sich seinem Haus. Wenn Lilian ihn in diesem Zustand sah, würde sie wieder nörgeln und keifen. Wie verhasst ihm diese Szenen waren! »Wo warst du denn schon wieder, dass du nach Kloake und Hölle stinkst!«, war einer ihrer Lieblingsaussprüche. Er sperrte die Eingangstür auf und blieb wie angewurzelt stehen, als die Tür nach innen aufschwang. Im Flur saß eine vermummte Gestalt auf einem Motorrad. Dorian wusste sofort, was das zu bedeuten hatte. Der Motor der schweren Maschine heulte auf. Dorian konnte gerade noch zur Seite springen, als der Rocker herangerast kam, über die Eingangsstufe hinaus in den Garten rumpelte und von dort auf die Straße fuhr. Dorian kümmerte sich nicht um ihn. Denn jetzt ertönte aus dem Wohnzimmer, aus der Bibliothek und aus der Küche das Dröhnen weiterer Maschinen. Er sprang durch die Tür ins Wohnzimmer, als ein weiterer Motorradfahrer an ihm vorbeipreschte, hinter ihm abbremste, die schwere Maschine in dem engen Korridor senkrecht hochriss, um wenden zu können. »Hallo, Hunter!«, sagte eine ihm vertraute Stimme aus dem Wohnzimmer. »Sie sind viel zu früh zurückgekommen. Der Spaß mit Ihrer Alten sollte gerade erst beginnen.« Demur Alkahest lehnte am Fenster. Hinter der Sitzbank saß einer seiner Rocker auf seiner Maschine und gab immer wieder Gas, so dass die Fensterscheiben klirrten. Vor dem bauchigen Tank des Motorrades lag Lilian bewusstlos ausgestreckt. Dorian sah rot. Er hieb die geballte Faust gegen die Sichtscheibe des Rockers, dass sie mit einem Knall barst. Der Rocker wurde aus dem Sattel gehoben und gegen die Wand geschleudert. Er gab keinen Laut von sich, kein
Wunder, denn es war ein Untoter. Langsam kam der Untote wieder auf die Beine. Als er sah, wie Dorian seine bewusstlose Frau hochhob und sie auf die Sitzbank betten wollte, kam er drohend auf ihn zu. Aber ein kurzer Wink von Demur Alkahest brachte ihn zum Stillstand. »Ich verstehe Ihre Aufregung nicht, Hunter«, meinte der dämonische Anführer der Horror-Rocker. »Ihre Alte ist Ihnen doch schon seit langem lästig. Warum gönnen Sie uns nicht ein wenig Spaß mit ihr?« Dorian legte Lilian auf die Sitzbank, dann wirbelte er unvermittelt herum und stürzte sich auf Alkahest. Er packte ihn an den Aufschlägen seiner Lederjacke und drückte ihn gegen die Wand. Während sein Gesicht hassverzerrt war, verzog Alkahest keine Miene. »Ich werde dir einmal etwas sagen, du bleichgesichtiger Dämonenspross«, sagte Dorian außer sich vor Zorn. »Vielleicht kannst du ängstliche Witwen und harmlose Bürger einschüchtern, aber bei mir bist du an der falschen Adresse. Wenn du noch einmal versuchst, mich zu terrorisieren, dann verpasse ich dir einen Denkzettel, dass du Jerome Hewitt um sein Schicksal beneidest. Und jetzt raus hier!« Er schleuderte den Dämonenrocker von sich, dass er stolperte und zu Boden fiel. Dort blieb er ganz ruhig liegen. Nur sein knochiges Gesicht veränderte sich. Es wurde zu einer Fratze, von unbändiger Wut verzerrt. Diese Behandlung war er nicht gewohnt, und er war nicht gewillt, sie hinzunehmen. Alkahest gab einen seltsamen Zischlaut von sich. Zweifellos handelte es sich um einen Befehl an seine Untoten. Und diese handelten sofort. Dorian hörte das Aufheulen der schweren Maschinen. Die Tür zur Bibliothek wurde von einem Anprall erschüttert und aus den Angeln gehoben. Ein Rocker war durch die geschlossene Tür gefahren. Jetzt riss er das Vorderrad hoch und balancierte auf dem Hinterrad, während er auf Dorian losfuhr. Der andere Rocker, der im Wohnzimmer gewesen war und sich abwartend verhalten hatte, fuhr einen Sessel um und versuchte, sich
Dorian auf seiner Maschine von der anderen Seite zu nähern. Dorian wurde fast taub vom Röhren der schweren Maschinen. Und nun fand auch noch Lilian ins Bewusstsein zurück. Sie fuhr hoch, schrie markerschütternd auf und presste die Hände gegen den Kopf. Dorian konnte sich nicht um sie kümmern. Er stürzte sich auf Alkahest, der ihn mit einem verzerrten Grinsen erwartete. Der Dämonenspross fühlte sich wohl sehr stark. Doch er unterschätzte Dorian. Der Dämonenkiller war schon mit ganz anderen Gegnern fertig geworden. Deshalb fiel es ihm nicht sonderlich schwer, diesen halbstarken Dämon zur Räson zu bringen. Alkahest wartete ab, bis Dorian auf ihm landete, und versuchte, seinen Gegner in den Würgegriff zu bekommen. Dorian verspürte keinen Druck gegen die Kehle, als ihn die Hände umfassten. Aber von ihnen ging eine Kälte aus, die ihn zu lähmen drohte. Er musste all seinen Willen aufbringen, um die Lähmung abzuwerfen. Er fasste mit Daumen und Zeigefinger nach Alkahests Nase und drückte sie zusammen. Gleichzeitig legte er den Zeigefinger der anderen Hand darüber, so dass ein Kreuzsymbol entstand. Alkahest rang plötzlich nach Luft. Er ließ Dorian aus seinem Würgegriff los und schlug wild mit den Armen um sich. »Nicht …«, würgte er hervor. »Ich … ersticke.« Sein Knochengesicht verfärbte sich bläulich. Dorian ließ nicht locker. Er überkreuzte noch immer den Daumen und den Zeigefinger, mit denen er die Nase des Dämonenrockers zudrückte. »Wenn du willst, dass ich dich loslasse, dann musst du versprechen, augenblicklich mit deiner Bande zu verschwinden«, verlangte Dorian und drückte einen Moment lang noch fester zu. Der Rocker bäumte sich auf, versuchte, Dorian abzuwerfen, aber durch das Kreuzsymbol war er gelähmt. »Ich dachte, wir seien Verbündete«, keuchte er atemlos. »Wenn du mit allen deinen Verbündeten so umgehst, dann bedanke ich mich.« Alkahest zuckte wie unter epileptischen Anfällen. »Ich … hatte den Auftrag, Ihnen eine Nachricht zu überbringen, Hunter.«
»So?« Dorian glaubte, dem Dämonen-Rocker genug zugesetzt zu haben, und ließ ihn los. »Und welche?« Demur Alkahest richtete sich schwer atmend auf. Bevor er noch auf die Idee kommen konnte, sich bei Dorian zu revanchieren, holte der Dämonenkiller seine gnostische Gemme hervor, die er an einer Kette um den Hals trug, und spielte damit. Alkahest wich zurück. »Das zahle ich dir heim, Hunter«, sagte er grimmig. Dorian lächelte verächtlich. »Bei unserem letzten Zusammentreffen hast du dich darüber beschwert, dass ich zu bieder geworden sei. Jetzt weißt du endlich, dass ich auch anders kann.« »Meine Zeit kommt noch.« »Genug davon!« Dorian machte eine ungeduldige Geste. »Sag', was du zu sagen hast, und dann verschwinde.« Demur Alkahest schwang sich auf sein Motorrad, das er neben der Tür abgestellt hatte, und startete den Motor. Als er sich auf dem Sitz halb zu Dorian umdrehte, war sein Gesicht wieder völlig ausdruckslos. Langsam, fast bedächtig, zog er den Reißverschluss seiner Lederjacke auf. Dorian sah darunter eine Bewegung. Doch noch bevor er erfassen konnte, was darunter zum Vorschein kam, schoss das Ding schon heraus. Es stieß kreischend hoch und prallte gegen die Decke. Blut spritzte. Alkahest lachte wild und gab Gas. Lilian schrie wieder. In der Diele entstand ein Tumult. Motorräder heulten auf, und dann krachten Schüsse. Dorian sah zwischen den ledergekleideten Untoten Marvin Cohen auftauchen. In seiner Rechten blitzte ein Mündungsfeuer. Die Projektile schlugen in die Lederjacken der Untoten, erschütterten sie, konnten sie jedoch nicht aufhalten. Im Wohnzimmer erscholl ein ohrenbetäubendes Gekreische. Dorian schenkte seine Aufmerksamkeit wieder dem Ding, das Alkahests Lederjacke entfleucht war. Und jetzt erkannte er, dass es sich um einen riesigen Raubvogel handelte, der aus dem Raum zu entkommen versuchte.
Lilian drückte sich fest gegen die Sitzbank und verbarg ihren Kopf in den Händen. Einmal verfing sich der Raubvogel auf seinem Irrflug durch das Zimmer in ihrem Haar und riss ihr ein ganzes Büschel aus. Dorian ergriff ein Bein des Sessels, den einer der Rocker in Trümmer gefahren hatte, und schlug damit nach dem Vogel. Es war eine Harpyie, das erkannte er jetzt ganz genau, obwohl der Vogel keine Sekunde zur Ruhe kam. Die Harpyie prallte immer wieder gegen die Wände und verursachte dort blutige Spuren. Bei einem Aufprall riss sie ein Bild von der Wand, und beim nächsten Anflug hinterließ sie auf dem helleren Mauerviereck seltsam verschnörkelte Blutspritzer. »Mein Gott!«, rief Cohen aus, als er ins Wohnzimmer kam. Er musste sich unter dem heranschießenden Raubvogel ducken, der wie blind gegen den Türstock raste. Seine Krallen und sein Schnabel gruben tiefe Furchen in das Holz. Cohen erholte sich rasch von seinem Schreck. Als der Raubvogel wieder auf der anderen Seite des Zimmers war, hob er seine Pistole und drückte ab. Der donnernden Detonation folgte ein letzter Schrei des Vogels. Dorian sah, wie sein Körper platzte, als wäre er von einem Dumdum-Geschoss getroffen worden. Federn stoben nach allen Seiten auseinander, segelten durch die Luft, blieben an den blutbesudelten Wänden kleben. Hunderte von Fragmenten der explodierten Harpyie hatten sich im Wohnzimmer verloren. Der Vogel war nicht mehr. Und plötzlich herrschte eine unheimliche Stille. Da erklang Cohens besorgte Stimme: »Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Lilian?« Sie nickte schwach. Ihr Gesicht war blasser als sonst, ihr Haar zerzaust. Von der Stelle, wo ihr die Harpyie ein Haarbüschel ausgerissen hatte, zog sich ein schmales Rinnsal aus Blut über ihr Gesicht. »Was hat denn das nun wieder zu bedeuten?«, erkundigte sich Cohen besorgt. Dorian war betroffen, als er sah, wie sich Lilian schutzsuchend an
Cohen lehnte. Er war nicht blind, er ahnte, was gespielt wurde. Nicht, dass er eifersüchtig war, aber es schmerzte ihn, dass es zwischen ihm und Lilian so enden sollte. Er blickte auf die seltsamen Muster, die das Blut und die Federn des Raubvogels an den Wänden hinterlassen hatten. Der zerfetzte Kadaver hing am Schnabel im Vorhang. »Bring' bitte Lilian hinauf«, sagte Dorian zu Cohen. »Und gib ihr ein Beruhigungsmittel.« Cohen fand nichts dabei, dass er sich um Lilian kümmern sollte. Er wusste ja nur zu gut, dass sie sich in seinen Armen wohler fühlte als in Dorians. Nachdem er sie auf ihr Zimmer gebracht und den Arzt verständigt hatte, stieg er wieder ins Erdgeschoss hinunter. Er fand Dorian gerade dabei, wie er die Spuren untersuchte, die der Vogel überall an den Wänden hinterlassen hatte. »Was tust du da?«, erkundigte sich Cohen vorwurfsvoll. Er fand, dass Dorian sich um Lilian kümmern sollte statt um den toten Raubvogel. Ohne in seiner Tätigkeit innezuhalten, sagte Dorian: »Alkahest kam, um mir eine Botschaft zu überbringen. Jetzt weiß ich, dass die Harpyie mit ihrem Blut diese Botschaft geschrieben hat. Ich muss die Zeichen nur noch entziffern.« »Du hast es also getan«, sagte Cohen mit zusammengekniffenen Lippen. »Was?« Dorian drehte sich um. »Dich mit den Dämonen verbündet.« »Es ist ein sehr lockeres Bündnis ohne gegenseitige Verpflichtungen. Es geht dabei nur um Olivaros Kopf.« »Aber du hast es getan. Du schreckst wohl vor nichts zurück.« Dorian ging darauf nicht ein. Er sah keinen Grund, sich Cohen gegenüber zu rechtfertigen. Dorian untersuchte die Blutspritzer auf dem hellen Wandviereck, wo vorher das Bild gehangen hatte. Sie stellten Schriftzeichen dar. Plötzlich kristallisierte sich, während das Blut gerann, ein Wort heraus.
Zacatecas. Das war eine Stadt in Mexiko. Dorian wischte schnell mit der Hand darüber, bevor Cohen die Symbole entziffern konnte, und die Schrift verschwand. Er ging zum Türstock. Auch hier hatte die Harpyie mit den Krallen und dem Schnabel tiefe Rillen hinterlassen. Diese scheinbar willkürlich verursachten Kratzer gehörten zu der Botschaft. Es waren Symbole, die bei einer bestimmten Aneinanderreihung einen Sinn ergaben. »Ich werde verreisen«, erklärte Dorian. »Wohin?« »Nach Mexiko.« »Mexiko ist groß.« »Da von mir verlangt wird, dass ich alleine komme, darf ich dir mein genaues Ziel nicht nennen.« »Verstehe«, sagte Cohen leicht verächtlich. »Und du tust das alles nur wegen Coco, während deine Frau …« »Ich bitte dich, auf Lilian während meiner Abwesenheit Acht zu geben, Marvin«, entgegnete Dorian. »Du hast dich in dieser Beziehung schon bei anderen Gelegenheiten bewährt. Ich wüsste keinen Besseren für diese Aufgabe.« »Dorian, wenn du mir mit Anzüglichkeiten kommen willst, dann gehe ich«, sagte Cohen. »Wir sollten dieses Problem einmal offen besprechen. Ich finde, das wäre an der Zeit.« Dorian wollte davon jetzt nichts wissen. Er hoffte, dass sich alles von selbst regelte. »Ich werde die Harpyie konservieren lassen«, meinte er, während er auf den Kadaver des Raubvogels blickte. »Wozu?«, wollte Cohen wissen. Weil ich sie als Erkennungszeichen mitnehmen muss, dachte Dorian, der die Botschaft nun entziffert hatte und ihre Spuren sogleich verwischte. Sie lautete sinngemäß: Dorian Hunter soll sich in vier Tagen in Zacatecas einfinden. Ein Mittelsmann, der ihn daran erkennen würde, dass er die tote Harpyie mitbrachte, war beauftragt, ihm weitere In-
struktionen zu geben. Die Botschaft enthielt noch den Hinweis, dass es um Coco Zamis und Olivaro ging. Aber von all dem sagte Dorian nichts zu Cohen. Er hatte auch nicht vor, sich Trevor Sullivan oder jemand anderem anzuvertrauen. Diese Sache ging nur ihn etwas an. Er musste sie allein durchstehen. »Ich bitte dich auch, der Polizei Rede und Antwort zu stehen«, sagte Dorian abschließend. »Du weißt ja, wie du dich den Behörden gegenüber zu verhalten hast. Ich ziehe mich in die Jugendstilvilla zurück, um meine Reisevorbereitungen zu treffen.«
Coco erwachte schweißgebadet. Eine Warnglocke erklang in ihrem Unterbewusstsein, eine Glocke, die sie zum Aufwachen zwang, bevor sie von Dorian und dem Kind träumen konnte, das sie von ihm erwartete. Sie wusste, wie gefährlich es war, von diesen Dingen zu träumen, deshalb hatte sie sich Schranken auferlegt. Sie verdrängte diese Träume und Gedanken in die Tiefe ihres Unterbewusstseins, wenn sie sich ankündigten. Sie musste befürchten, dass Olivaro ihren Geist überwachte, und deshalb durfte sie nicht einmal an Dorian und ihr Kind denken. Zumindest durfte sie keine freundlichen Gedanken daran verlieren. Und deshalb hatte sie diese Sperre errichtet. Immer, wenn ihre Träume sich mit den Dingen beschäftigten, die ihr lieb waren, wurde ein kreatürliches Angstgefühl in ihr übermächtig. Sie wurde aus dem Schlaf gerissen. So war ihr erster Gedanke auch: Hoffentlich habe ich mich durch meine Träume nicht verraten! Erst als sie sich etwas beruhigt hatte, die bebenden Hände gegen ihren gewölbten Leib gepresst, widmete sie sich ihrer Umgebung. Und wieder befiel sie diese Angst. Wo war sie? Der Raum, in dem sie sich befand, war ihr unbekannt. Sie war si-
cher, dass er zu keiner der Hütten auf dem Atoll gehörte, auf dem sie zusammen mit Olivaro lebte. Der Raum war zehn mal sieben Meter groß. Drei Wände bestanden aus unbehauenen Steinen, die mit rötlichem Mörtel verbunden waren. Die vierte Seite des Raumes war nackter Fels. Also handelte es sich um eine Hütte, die an eine Felswand gebaut war. Sie musste sich irgendwo in einem Gebirge oder in einem gebirgigen Hochland befinden. Nein, dies war nicht Olivaros Atoll. Es gab links und rechts von ihr je ein Fenster, das mit einem Bastrollo verhangen war, und auch die Tür war mit einem solchen Vorhang verschlossen, der leicht im Wind schaukelte. Außer dem schwachen Säuseln des Windes vernahm sie aus der Ferne vielstimmiges Vogelgeschrei. Möwen? War sie in der Nähe einer Steilküste? Aber nein, die Vogelstimmen waren keine Hintergrundmusik – und Brandung war auch keine zu hören –, sondern sie dominierten. Die Vögel waren die Beherrscher dieses Landes. Das war aus ihrem Gekreische herauszuhören: Dies war ihr Reich. Coco trug nur eine leichte Bluse und buntbestickte, ausgestellte Hosen. Die Kleidungsstücke stammten nicht aus ihrer Garderobe. Über einem rohgezimmerten Stuhl lag ein breiter, bunter Wollschal, den sie vorher noch nie gesehen hatte und der sie an einen Rebozo der mexikanischen Indios erinnerte. Da sie fröstelte, legte sie sich den Rebozo über die Schulter. Ihre Neugierde hatte inzwischen die Oberhand über ihre Angst gewonnen, und sie ging zur Tür, schob den Vorhang zur Seite und trat ins Freie. Beim Anblick des eindrucksvollen Panoramas stockte ihr der Atem. Die Luft war dünn und frisch, das war ihr schon nach dem Erwachen aufgefallen. Sie musste sich in einer Höhe von drei- bis viertausend Metern befinden. Vor ihr breitete sich ein zerklüftetes Felsland bis zum Horizont aus, an dem sich Wolkengebirge wie ein in seiner Bewegung erstarrtes, wildschäumendes weißes Meer türmten.
Die tiefstehende Sonne färbte die zerklüfteten Felsen rötlich, warf scharfe, tiefschwarze Schatten. Die Canyons streckten sich unergründlich und geheimnisvoll vor ihr aus. Sie trat weiter auf die Felsplattform hinaus, bis an den Abgrund, und von hier blickte sie eine senkrechte Felswand hinab in ein tiefes Tal. Die schroffen Felswände schienen ein eigenes Leben zu besitzen. Doch dieser Schein trog und war darauf zurückzuführen, dass überall in Spalten, auf Vorsprüngen und in Mulden, in Kaminen und unter überhängenden Felsen unzählige Vögel nisteten. Aber nicht irgendwelche Vögel, sondern ausschließlich Raubvögel. Zumindest konnte Coco von ihrem Standplatz keine andere Vogelarten sehen. Sie entdeckte Falken, Bussarde, Geier, Kondore und verschiedenste Arten von Adlern. Raubvögel, die oft Tausende von Meilen voneinander entfernt in verschiedenen Gebieten lebten, waren hier auf einen Ort zusammengedrängt. Ein Raubvogelparadies? Oder die Raubvogelzucht eines Dämons? Die alten Ängste beschlichen sie wieder, und die Frage nagte in ihr, wie sie hierher gekommen war. Und wozu? In der Luft herrschte ein Gewimmel von gefiederten Räubern. Sie kamen und flogen davon. Es herrschte ein heilloses Durcheinander. Aber alle Vögel folgten einer bestimmten Ordnung, denn es kam zu keinen Zusammenstößen oder Positionskämpfen. Alle diese Lufträuber lebten in friedlicher Koexistenz. Nachdem sie lange das eindrucksvolle Panorama betrachtet hatte und das Gefühl des Unheimlichen sie immer mehr beschlich, wandte sie sich nach rechts. Die Hütte, in der sie aufgewacht war, klebte tatsächlich wie ein Adlerhorst am Fels. Es führte nur ein schmaler Pfad von ihr zu zwei anderen Häusern. Diese waren zwar etwas größer, aber ebenso primitiv. Dennoch erschienen sie Coco viel verlockender als diese Hütte, weil sie nicht so knapp an den schwindelnden Abgrund gebaut waren, sondern sich inmitten eines großflächigen Plateaus erhoben und trutziger, widerstandsfähiger wirkten.
Während sie über den schmalen Pfad balancierte, vermied sie es, in den bodenlosen Abgrund zu blicken und sah sich vergeblich nach anderen Menschen oder nach Dämonen um. Die beiden Häuser auf der langgestreckten Felsplattform, zu der sie hinunterstieg, schienen unbewohnt oder im Augenblick verlassen zu sein. Sie war nur einen kurzen Augenblick unaufmerksam, hatte sich nicht auf den Weg konzentriert, sondern die beiden Häuser im Auge behalten – und schon geschah es. Ihr Fuß rutschte an einem Fels aus und glitt in die Tiefe. Sie spürte den rauen Fels schmerzhaft an ihrer Wade und versuchte, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, indem sie sich auf die andere Seite warf. Doch dafür war es zu spät. Sie hatte bereits das Übergewicht bekommen. Der Abgrund kam näher, ihre Hände glitten am rauen Fels ab, Geröll löste sich, eilte ihr auf dem Weg in die Tiefe voraus … Ein langgezogener Schrei löste sich aus ihrer Kehle, als sie sich langsam, wie in Zeitlupe, über den Grat hinausneigte und mit dem Kopf voran in die Tiefe stürzte. Jetzt war es schon zu spät, ihre Fähigkeit, sich in einen rascheren Zeitablauf zu versetzen, anzuwenden und wieder festen Boden unter den Füßen zu gewinnen. Sie fiel – unendlich langsam, wie es ihr schien. Aber da war plötzlich ein Flattern über ihr. Ein mächtiger Schatten stieß auf sie hinab. Etwas packte sie um die Mitte. Sie drehte den Kopf so herum, dass sie über sich den Schädel eines Raubvogels erkennen konnte, aus dem ein langer, stark nach unten gebogener Schnabel ragte – ein grässliches Mordinstrument. Krallen wie Enterhaken hielten sie sicher fest. Wenn sie zudrückten, würde sie in der Mitte durchtrennt werden, und ihr Kind … Aber der riesige Adler, dessen weißes Gefieder so rein und fleckenlos war, wie sie es noch nie gesehen hatte, hielt sie sicher, fest zwar, aber ohne ihr unnötige Schmerzen zuzufügen. Der riesige Raubvogel stieg mit ihr so leicht und majestätisch in
die Luft, als spüre er ihr Gewicht gar nicht. Er flog mit ihr zu der Felsplattform hinauf und lud sie sanft vor einem der Häuser ab. Dann flog er zu seinem Horst zurück, der sich in der Felswand über ihrer Hütte befand. »Nun hast du bereits Bekanntschaft mit dem weißen Adler gemacht«, sagte Olivaro, der gerade aus dem Haus trat. Er hatte wieder das Aussehen eines gewöhnlichen Menschen angenommen. Man sah ihm seine ungeheuren magischen Fähigkeiten in dieser Maske nicht an. Wie hätte man auch ahnen sollen, dass dies nicht sein wahres Gesicht war, dass er einen Januskopf besaß, das andere Gesicht, das dem schrecklichen Dämon Olivaro gehörte, auf dem Hinterkopf und unter seinem Haar verborgen. Coco hatte vor vier Tagen zum ersten Mal erkannt, wie mächtig dieser Dämon sein musste. Bei dieser Gelegenheit hatte sie Olivaro gestanden, dass sie ein Kind von Dorian Hunter erwartete. Nun war nichts mehr von seiner Wut und Enttäuschung zu merken. Olivaro hatte sich wieder voll in der Gewalt. Aber was ging in ihm, hinter seiner Maske eines Biedermannes, vor? Welche teuflischen Pläne hatte er inzwischen geschmiedet? Coco hatte mit ihm noch nicht die Probleme besprochen, die sich durch ihre Schwangerschaft ergaben. Sie hoffte nur, dass es ihr gelingen würde, Olivaro weiterhin zu täuschen und hinzuhalten. Denn sie wollte Dorians Kind behalten. Doch das durfte der Fürst der Finsternis nicht einmal ahnen. Seine Rache wäre furchtbar gewesen. »Wie komme ich hierher?«, fragte Coco. Olivaros Gesicht war ausdruckslos. »Ist das denn wichtig, Coco? Du weißt, dass es viele Möglichkeiten gibt, Zeit und Raum zu überbrücken. Von Bedeutung ist nur das Warum. Du befindest dich hier in Mexiko. In der mittleren Sierra Madre, in der Obhut eines guten Freundes.« Coco zuckte zusammen. »Soll das heißen, dass ich hier bleiben soll? Unter all diesen schrecklichen Raubvögeln?«
»Hat dir einer dieser Raubvögel nicht gerade das Leben gerettet?«, fragte Olivaro. Ohne ihre Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Es gibt gewichtige Gründe, warum ich dich hierher gebracht habe, Coco. Ich kenne keinen Ort, wo du besser aufgehoben wärst. Der gute Freund, von dem ich gesprochen habe, ist mit seiner Vogelschar der unumschränkte Herr dieses wilden Landes. Die Vögel werden deine Wächter sein, Coco. Sie werden verhindern, dass Eindringlinge zu dir kommen und dir etwas antun.« Sie verstand. Aber dennoch war sie sich nicht sicher, ob Olivaros Worte nicht vielleicht eine tiefere Bedeutung hatten. Misstraute er ihr etwa, und sollten die Vögel sie vor Dorians Zugriff bewahren? »Bist du jetzt traurig, kleine Coco?« »Nein, nachdenklich. Ich frage mich, ob ich hier wirklich sicherer bin als auf deinem Atoll und was du damit bezweckst, mich hierher gebracht zu haben.« Olivaro antwortete nicht sofort. Er wandte sich von ihr ab und blickte über das Hochland hinweg in die Ferne. »Auch ich bin nachdenklich geworden seit den Vorfällen in dem entweihten Athoskloster«, sagte er schließlich. »Ich beginne, intensiv über dich nachzudenken, Coco. Aber ich werde mir nicht schlüssig über dich. Warum hast du nicht schon vor dem Initiationsritus gestanden, dass du von Hunter ein Kind erwartest? Wir hätten dann in aller Stille dieses Problem lösen können. Jetzt bin ich vor der ganzen Schwarzen Familie der Geschmähte, und ich muss mich von diesem Makel reinigen. Rechtfertige dich nicht! Ich will selbst dahinterkommen, warum du mir das angetan hast. Ich kann deine Handlungsweise vorerst nur damit entschuldigen, dass du eine ganz außergewöhnliche Hexe bist und ein viel komplizierteres Wesen, als ich je annahm. Das reizt mich sogar an dir, und wenn es sich so verhält, wie ich hoffe, dann bist du meiner erst recht würdig. Aber du hast durch dein unverständliches Verhalten alles nur kompliziert. Und jetzt musst du die Konsequenzen tragen.« »Welche Konsequenzen?« »Du sollst bis zur Geburt deines Kindes hier bleiben.« »Und dann …?«
Olivaro sah sie durchdringend an. »Willst du mein sein, Coco?« »Ja.« »Willst du mit mir diese Welt regieren? Und willst du ehrlich allen menschlichen Schwächen wie Liebe und Treue entsagen?« »Ja«, sagte Coco und dachte: Wie lange muss ich noch auf diese Weise sündigen und mich in Lügen verstricken? Aber sie würde noch viel mehr erdulden, um ihr Kind zu retten. Olivaro nahm sie an der Schulter. »Wenn es dir mit alledem ernst ist, Coco, dann musst auch du Opfer erbringen.« Seine Worte versetzten sie in Panik, und beinahe hätte sie ihre Hände schützend vor ihren Leib gelegt, als sein stechender Blick darauf fiel. Was Olivaro nun sagte, war für Coco wie ein Todesurteil: »Du wirst dieses Kind unter dem Schutz der Vögel austragen. Und wenn es geboren ist, wirst du es mir zum Geschenk machen.« Coco fühlte, wie sie die Kräfte zu verlassen drohten. Ihr schwindelte. Aber sie biss die Zähne zusammen und hoffte, dass Olivaro ihr die Schwäche nicht anmerkte. »Jetzt will ich dich meinem Freund vorstellen«, hörte sie Olivaro wie aus weiter Ferne sagen. »Vergiss nicht, dich bei ihm zu bedanken! Denn er war es, der dich vor dem Sturz in den Abgrund bewahrte. Er lenkte zu diesem Zeitpunkt mit seinem Geist den Weißen Adler. Wenn du Enrique Castuto erst kennen gelernt hast, wirst du mir bestimmt beipflichten, dass er ein außergewöhnlicher Dämon ist.«
Coco betrat das Haus. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an das Dämmerlicht, und sie war irgendwie erleichtert. Sie konnte nicht sagen, was sie erwartet hatte. Vielleicht irgendein gefiedertes Monstrum, halb Mensch, halb Vogel. Und wenn der Dämon, der sie erwartete auch keinen alltäglichen Eindruck machte – erschreckend wirkte er nicht auf sie. Er ließ ihr Zeit, sich an seinen Anblick zu gewöhnen. Er stand eine
ganze Weile da, damit sie ihn eingehend betrachten konnte. Bevor sie jedoch in der Lage war, seine Erscheinung zu taxieren und sich ein Gesamtbild zu verschaffen, wurde sie von seinen Augen gebannt, von jener Stelle, wo andere menschliche Wesen Augen haben. Enrique Castuto besaß keine. Nicht einmal seine Augenhöhlen waren zu sehen. Eine weiße, durchscheinende und bläulich geäderte Haut spannte sich darüber. Er hatte keine Augen. Das war das einzig Anomale an ihm. Seine übrige Erscheinung war durchaus menschlich. Er hatte das Gesicht eines Mestizen, die Haut war großporig und wettergegerbt, die Lippen voll, das dichte Haupthaar kräuselte sich an der Stirn vorbei bis tief über die Ohren hinunter. Er war etwas größer als sie, ging leicht gebückt und hatte – das merkte sie, als er sich plötzlich in Bewegung setzte und mit einigen Schritten zu ihr kam – einen schleppenden Gang. Es gab noch etwas Außergewöhnliches an ihm, aber das war nicht ein Körpermerkmal: Auf seiner linken Schulter saß ein Falke. Und dieser blickte Coco unverwandt an, so dass sie das Gefühl hatte, Castillo betrachtete sie durch dessen Augen. »Sie sind wirklich unglaublich schön, Coco«, sagte er mit leiser und doch deutlicher Stimme. Und wieder ruhte der Blick des Falken auf ihr. Nun gab es für Coco keinen Zweifel mehr, dass Castillo durch die Augen des Raubvogels sah. »Wahrscheinlich haben Sie von Magus VII. einiges über mich erfahren«, fuhr er fort, »so dass es sich erübrigt, mich vorzustellen. Ich halte nichts von solchen Floskeln. Das ist was für die dekadenten Menschen.« Er seufzte. »Aber leider hat sich auch innerhalb der Schwarzen Familie eine gewisse Dekadenz breitgemacht.« »Olivaro sagte, Sie seien ein Freund von ihm«, sagte Coco. Sie wusste nicht recht, ob sie den Falken ansehen sollte oder ob sie ihren Blick auf die Stelle richten sollte, an der Castillos Augenhöhlen von der blassen, geäderten Haut überzogen waren. Sie würde sich daran gewöhnen, wenn sie erst länger hier war, aber jetzt irrten ihre Blicke zwischen dem Falken und Castillo hin und her.
»Ja, ja, ein guter Freund von mir«, bestätigte Castillo. »Er hat nicht genug davon, in dieser schweren Zeit, in der viele sich in der Schwarzen Familie für den Posten eines Fürsten der Finsternis berufen fühlen. Aber für mich gibt es keinen besseren als Olivaro. Und deshalb heißt der Fürst der Finsternis für mich Magus VII. Sie wissen, warum er Sie zu mir gebracht hat?« »Ja, ich glaube schon«, sagte Coco zögernd. »Olivaro hat mich in Ihre Obhut gegeben, weil er der Meinung ist, dass ich vor meinen Feinden nirgends sicherer sein kann als hier.« Der Mund des Mestizen verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. In den Augen des Falken blitzte es auf. »Diese Erklärung ist so gut wie jede andere«, meinte Enrique Castillo. »Begnügen wir uns damit.« Coco hob die Hand, zog sie aber sofort wieder zurück, als der Falke auf der Schulter des Blinden sich anschickte, mit dem Schnabel nach ihr zu hacken. »Welche andere Erklärung könnte es denn noch geben?«, erkundigte sie sich. »Lassen wir das«, entgegnete Castillo. »Ich möchte Ihnen mein Reich zeigen. Es kommt so selten jemand zu mir auf Besuch, dass ich jede Gelegenheit wahrnehme, um mit meinen Tierchen zu prahlen.« Er ging an ihr vorbei zur Tür. Dabei drehte der Falke auf seiner Schulter den Kopf und ließ Coco nicht aus den Augen. Es war ein unheimliches Gefühl zu wissen, dass man von jemandem beobachtet wurde, auch wenn dieser einem den Rücken zudrehte. »Ist es wahr, dass Sie all die vielen tausend Raubvögel, die in diesem Canyon wohnen, abgerichtet haben?«, erkundigte sich Coco, als sie ihm ins Freie folgte. Der Falke wandte sich wie empört von ihr ab, während Castillo vor sich hinkicherte. »Abgerichtet ist gut«, sagte er dabei. »Meine Liebe, all diese Vögel gehorchen mir aufs Wort! Jeder von ihnen und alle gleichzeitig, wenn es sein muss.« »Heißt das, Sie können mit ihnen sprechen?«
Sie hatten das Ende der Plattform erreicht, und Castillo gebot ihr mit einer Handbewegung zu schweigen. Er gab einige seltsam klingende Zirplaute von sich, und auf einmal schwiegen die vielen Tausende von Vögeln im Canyon wie auf Befehl. Die Stille war unheimlich, und Coco überkam ein Gefühl, als sei sie mit Taubheit geschlagen. Aber da war noch der Wind, der über die zerklüftete Bergwelt pfiff. Castillo gab wieder einige Vogellaute von sich und deutete auf die gegenüberliegende Schlucht, die etwa einen Kilometer entfernt war. Während alle übrigen Vögel wie zur Bewegungslosigkeit erstarrt innehielten, bewegte sich auf der gegenüberliegenden Felswand ein kleiner Punkt, kam rasch und mit hastig schlagenden Schwingen näher und entpuppte sich als mächtige Harpyie. »Wenn die Adler die Könige der Lüfte sind, dann sind die Harpyien die Grazien der Luft«, erklärte Castillo schwärmerisch. »Und dabei sind sie nicht ungefährlicher als Adler. Diese Harpyie hier, die Ihnen den Willkommensflug darbringen soll, Coco, kann es mit jedem normalen Adler aufnehmen. Ich habe sie schon Dutzende Male in den Luftkampf geschickt, und immer ist sie als Sieger hervorgegangen.« »Sie lassen Ihre Vögel auf Leben und Tod miteinander kämpfen?«, fragte Coco. Castillo nickte. »Es ist immer wieder ein erregendes Schauspiel. Das werden Sie sicherlich auch finden, Coco, wenn Sie erst einmal zuschauen durften. Aber ich lasse sie nicht allein deshalb miteinander kämpfen, um mich an dem Schauspiel zu ergötzen, sondern vor allem deshalb, um eine Auslese zu treffen. Nur die Besten dürfen überleben. Die Schwachen geben das Futter für die Starken ab. Aber sie sind fast alle stark. Es ist kein Zufall, dass sich die meisten meiner Tierchen von Menschenfleisch ernähren.« Die Harpyie war hundert Meter vor ihnen steil in die Höhe gestiegen und schoss nun im Sturzflug auf Coco zu. Sie sah dem Raubvogel fasziniert entgegen, der geradewegs auf sie zusteuerte. Ein Zusammenstoß schien ihr unvermeidlich, und dennoch rührte sie sich
nicht vom Fleck, zuckte mit keiner Wimper, auch nicht, als der Vogel schon zum Greifen nahe war und erst im letzten Augenblick knapp über ihr hinwegstrich. Sie spürte, wie seine nach hinten gestreckten Fänge ihre Haare streiften. Der Falke auf Castillos Schulter hatte sie die ganze Zeit über beobachtet. Jetzt sagte Castillo: »Sie haben tatsächlich Mut, Coco. In diesem Punkt hat Magus VII. nicht übertrieben. Es gehört mehr als bloße Kaltblütigkeit dazu, diesem Mördervogel so gefasst ins Auge zu blicken.« »Ich vertraue Ihren Fähigkeiten im Umgang mit diesen gefiederten Mördern blindlings«, erwiderte sie und hoffte, ihm mit diesem Kompliment zu schmeicheln. »Das können Sie auch«, meinte er. »Aber tun Sie es nur, solange ich zugegen bin. Diese Tierchen sind unberechenbar. Und lässt man sie einmal aus den Augen …« Er unterbrach sich, wandte sich von Coco ab und richtete sein augenloses Gesicht gen Himmel, wo die Harpyie kreiste. »Komm, schöne Lufttänzerin, biete unserem hohen Gast deinen Willkommensgruß dar«, rief er dem Raubvogel zu. »Zeige, was du kannst. Tanze, mein Vogel, tanze!« Zwischendurch stieß er immer wieder Zirplaute aus, die leicht nachzuahmen gewesen wären. Doch Coco war sicher, dass es einen Trick dabei gab, und sie vermutete, dass die eigentlichen Befehlstöne im Ultraschallbereich lagen und für das menschliche Ohr unhörbar waren. Aber sie verfolgte diese Gedanken nicht weiter. Denn nun tanzte die Harpyie tatsächlich. Sie breitete die Schwingen im Segelflug aus, zog sie eng an den Körper, während sie einen Looping drehte, um dann wieder in den Segelflug überzugehen und anschließend die Flügel wie ein Schwimmer, der vom Grund des Meeres auftauchen möchte, kräftig nach hinten stieß und aufstieg. Dann wieder das Schwingen-an-den-Körper-Legen, ein seitliches Abtrudeln und das Abfangen des Falles mit ausgebreiteten Schwingen. Es war ein faszinierendes Schauspiel. Die Harpyie war tatsächlich
eine Primaballerina der Lüfte. Und doch konnte man bei aller Grazie nie vergessen, dass ein Schnabelhieb dieses Vogels einem die Kehle aufreißen konnte, dass in diesen Fängen die Kraft wohnte, einem Menschen das Genick mit einem Schlag zu brechen. Was für eine schöne, mörderische Primaballerina der Lüfte! »Genug!« Castillo sagte es schwer atmend, als sei er nicht nur Choreograph dieses Tanzes gewesen, sondern auch Ausführender. »Genug getanzt, Lufttänzerin. Fliege heim in deinen Horst. Ich bin sicher, dass du Coco mit deiner Darbietung beeindruckt hast.« »O ja«, versicherte Coco und ertappte sich dabei, wie sie beinahe in die Hände geklatscht hätte. »Ich habe noch nie ein so vollkommenes Ballett gesehen – und schon gar nicht in dieser Form.« »Wenn Sie erst etwas länger hier sind, dann werde ich Ihnen auch die anderen Vorzüge meiner Tierchen zeigen«, versicherte Castillo, und Coco wusste, was er meinte. Sie wusste es so genau, dass es ihr unwillkürlich kalt über den Rücken lief. »Aber lassen wir es fürs Erste genug sein. Oder haben Sie noch irgendwelche Fragen?« Coco richtete den Blick unwillkürlich zu dem Haus in der Felswand, in dem sie erwacht war. »Dort werden Sie wohnen …«, hörte sie Castillo sagen. Ihre Augen wanderten von der Hütte weiter die Felswand hinauf, bis zu dem Horst, in dem der mächtige weiße Adler thronte. Ja, er hockte dort wie ein König, den Kopf gereckt, als gelte es, seine Untertanen im Auge zu behalten. Seine Haltung drückte aus, dass er sich seines Herrscherstatus durchaus bewusst war – Herr über Leben und Tod und über alles, was in diesem Canyon kreuchte und fleuchte. »Ich habe noch nie vorher ein solches Tier gesehen«, sagte Coco. »Dieser weiße Adler hat mir vorhin das Leben gerettet, als ich vom Felspfad abrutschte und in die Tiefe zu stürzen drohte. Olivaro sagte, dass ich mich bei Ihnen bedanken müsste, weil eigentlich Sie den Adler gelenkt hatten. Stimmt das?« »Es ist wahr«, bestätigte Castillo gedankenverloren. »Der weiße Adler ist mein zweiter Körper. Sehen Sie mich an. In diesem ver-
krüppelten Körper bin ich nur ein halber Dämon. Nein, widersprechen Sie mir nicht, Coco. Was wissen Sie schon? Sie müssten einmal im Körper des weißen Adlers gewesen sein, um zu wissen, was es heißt, frei zu sein, der Schwerkraft zu trotzen, denen auch wir Schwarzblütige unterworfen sind. Sie müssten dies erst einmal erlebt haben, um mich verstehen zu können.« »Ich glaube, das kann ich auch so«, meinte Coco. Sie konnte den Blick nicht von dem weißen Adler lassen. Und je mehr sie ihn betrachtete, desto größer wurde ihre Hochachtung vor ihm, aber auch ihre Angst. Sie fühlte plötzlich, dass dieser weiße Adler ihr Gegner war. Vielleicht war er eifersüchtig auf sie, bangte um die Gunst seines Meisters, fürchtete, dass sie ihm den Rang ablaufen könnte. Aber wie dem auch sein mochte, sie wusste, dass ihr von diesem weißen Adler eine große Gefahr drohte. Als wolle er ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigen, sagte Castillo: »Hüten Sie sich vor ihm. Tun Sie nichts, was ihn provozieren könnte. Versuchen Sie vor seinem scharfen Blick zu verbergen, dass Sie ein Kind erwarten!« Coco zuckte bei diesen Worten zusammen, als wäre ein Blitz in sie gefahren. Ihr Kind! Sie wusste plötzlich, dass die eigentliche Drohung sich gegen ihr Ungeborenes richtete. Die Knie begannen ihr zu zittern, ihre Beine wurden auf einmal so kraftlos, dass sie wankte. Hätte Castillo sie nicht gestützt, wäre sie zusammengebrochen. »Im Grunde genommen haben Sie nichts zu befürchten, wenn Sie alle meine Anweisungen befolgen, Coco«, redete ihr der Herr über die gefiederten Mörder zu. »Schließlich brachte Magus VII. Sie zu mir, damit Ihnen nichts zustößt. Und dafür verbürge ich mich. Es tut mir Leid, wenn ich Sie erschreckt habe.« Coco glaubte das nicht. Sie war sicher, dass Castillo absichtlich auf ihr Kind angespielt hatte. Wollte er nur ihre Reaktion beobachten, wenn sie hörte, was ihrem Ungeborenen zustoßen könnte? Sie musste sich in Zukunft besser in der Gewalt haben, sagte sie sich. Sonst würde sie ihre wahren Gefühle verraten. »Sie können sich im ganzen Canyon frei bewegen«, fuhr Castillo fort. »Sie haben überall Zutritt, können zu den Adlerhorsten hinauf-
klettern und im Fluss am Grund des Canyon baden, wenn er gerade Wasser führt, was im Augenblick leider nicht der Fall ist. Wenn Sie das Bedürfnis haben, können Sie auch tagelange Wanderungen durch die Wildnis unternehmen. Ich werde Sie nicht daran hindern. Meine Vögel werden Sie schon im Auge behalten und es mir anzeigen, falls Sie sich verlaufen.« Damit wollte er ihr zu verstehen geben, dass jeder Fluchtversuch sinnlos war, dessen war sie sicher. »Es gibt überhaupt nur eine Einschränkung für Sie, Coco«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Sie betrifft mein Haus. Sie dürfen es zwar jederzeit betreten, doch gehen Sie nicht über den Raum hinaus, in dem ich Sie empfangen habe. Übertreten Sie nie die Schwelle zu den dahinterliegenden Gewölben. Wenn Sie dieses Verbot übertreten, dann kann ich für nichts garantieren. Haben Sie mich verstanden?« »Ja«, sagte Coco. »Ich werde mich daran halten.« Sie musste sich abwenden, weil sie dem stechenden Blick des Falken auf Castillos Schulter nicht standhalten konnte. »Gut«, meinte Castillo zufrieden. »Nachdem das geklärt ist, können wir uns erfreulicheren Dingen widmen. Ich bin in der glücklichen Lage, Ihnen ein grandioses Schauspiel vorzuführen. Bevor Magus VII. mit Ihnen eintraf, habe ich mit dem weißen Adler einen Erkundungsflug nach Süden unternommen und dabei zwei Indios erspäht. Sie schürfen in einem verlassenen Canyon nach Silber und sind nur mit Macheten bewaffnet. Eine leichte Beute für meine Tierchen. Es wird Sie sicherlich ergötzen, bei der Vogelfütterung zusehen zu dürfen.« Coco schluckte. »Ein andermal bestimmt«, sagte sie mit belegter Stimme. »Aber heute fühle ich mich nicht in der richtigen Stimmung. Ich bin müde, und all die vielen neuen Eindrücke haben mich verwirrt. Ich glaube, es ist besser, wenn ich mich in meine Hütte zurückziehe. Ich möchte im Augenblick nichts als meine Ruhe.« »Dafür habe ich Verständnis«, sagte Castillo. »Entspannen Sie sich, Coco – und träumen Sie süß. Denken Sie daran, dass meine Vögel über Sie wachen. Aber vergessen Sie eines nicht: Hüten Sie sich davor, den weißen Adler zu provozieren!«
Die letzten Worte klangen ihr nicht wie ein gutgemeinter Ratschlag, sondern mehr wie eine Drohung.
Dorian Hunter packte seine Winchester fester, als der Pilot hinter ihm irgendetwas rief. Aber es war wegen des Motorenlärms der offenen Sportmaschine nicht zu verstehen. Dorian drehte sich um. »Was?« »Wir haben die Grenze zum Reich des weißen Adlers überflogen!«, schrie Esperno Cortez, so dass ihn Dorian verstehen konnte. Dorian nickte. Seine Augen hinter der Staubbrille suchten das zerklüftete Bergland nordöstlich von Zacatecas ab. Es war Mittag. Der Fahrtwind peitschte sein Gesicht. Tief unten zog sich einige hundert Meter lang das silberne Band eines Flusses durch einen Canyon und verschwand dann wieder hinter einer Biegung. Dieses Land schien tot. Seitdem sie das Gebiet der Sierra Madre erreicht hatten, hatte Dorian kein einziges Lebewesen mehr gesehen. Der Himmel wurde von hochauftürmenden Wolken am Horizont beherrscht – und von der Sonne. Das Land bestand aus rot-gelbem, zernarbtem Fels. Zuerst hatten sie unter sich noch vereinzelt Zwergkiefern, Kakteen und Sträucher erblickt. Dann waren sie in ein Gebiet gekommen, das von Agaven förmlich überwuchert war. Tlachiqueros zapften diese wuchtigen Rosettenpflanzen mit den weit ausladenden stachelbewehrten Blättern an, um ihren Saft aufzufangen. Einige hatten aufgeblickt, als der Schatten des kleinen Flugzeuges auf sie gefallen war – sie betrachteten das als willkommene Unterbrechung ihrer Arbeit und winkten mit ihren Sombreros. »Geben Sie ihnen einen Salut, Hunter!«, hatte Cortez verlangt. Doch Dorian bereitete es keinen Spaß, die Leute dort unten durch Schüsse zu erschrecken. Sie waren danach nach Westen abgeschwenkt und über ein riesiges Feld geflogen, auf dem Campesinos in der Sonnenglut Sisalfa-
sern zum Trocknen ausgebreitet hatten. Das war das letzte Anzeichen von Leben gewesen, und dann war es in steilem Flug hinauf in die Berge gegangen. Das monotone Motorengeräusch machte Dorian müde und schläfrig, und hätte er diese wildromantische, unberührte Landschaft nicht mit der Faszination des Großstädters gesehen, der die kurzen Augenblicke der Zivilisationsflucht genoss, die Augen wären ihm zugefallen. Die Winchester in seiner Hand erschien ihm nutzlos. Nur als Cortez eben wieder den weißen Adler erwähnte, hoffte er, dass diese Waffe ihre Nützlichkeit doch noch unter Beweis stellen würde. Aber wenn alles stimmte, was Dorian von Cortez über diesen Raubvogel erfahren hatte, dann würde ihm mit herkömmlichen Projektilen wohl nicht so leicht beizukommen sein. Cortez hatte seit dem Start nur wenige Worte mit ihm gewechselt. Die beiden so grundverschiedenen Männer, die durch eine seltsame Schicksalsfügung zusammengekommen waren, hatten sich kaum etwas zu sagen. Alles war bereits in Zacatecas besprochen worden. »Haben Sie die Harpyie, Hunter?«, hatte Cortez gleich nach dem Start wissen wollen. Dorian hatte die Frage bejaht. Jetzt blickte er, das Kinn auf die Brust gedrückt, auf seine Füße hinunter. Dort lag, was von der Harpyie übriggeblieben war: der Raubvogelkopf, von dem die beiden gebrochenen Schwingen herunterhingen. Und wieder erinnerte er sich der Bedeutung dieses Vogels. Er hatte seinen Weg von London nach Mexico City bestimmt. Auf dem Flugplatz der mexikanischen Hauptstadt hatte es unter den Zöllnern einige Aufregung gegeben, als sie in Dorians Gepäck die verstümmelte Harpyie gefunden hatten. Aber nach einigem Hin und Her mussten sie einsehen, dass es keine Bestimmung gegen die Einfuhr eines toten Raubvogels gab, zumal er ja auch präpariert oder zumindest soweit konserviert war, dass er weder stank noch Schmeißfliegen anzog.
Von Mexico City war Dorian mit einer Chartermaschine nach Zacatecas geflogen. Auf dem dortigen Flugplatz hatte er wieder Aufregung verursacht, als er, den Blicken aller Vorbeigehenden ausgesetzt, mit dem Vogelkadaver in der Hand auf den Mittelsmann gewartet hatte. Als dann der kleine, krummbeinige Mischling mit dem stoppelbärtigen Gesicht und dem im Nacken baumelnden Sombrero erschien, wusste Dorian sofort, dass er sein Mann war. »Esperno Cortez«, stellte er sich vor und betrachtete grinsend die Überreste der Harpyie, die in Dorians Hand baumelte. »Sie warten doch noch nicht lange, Mr. Hunter? Kommen Sie, gehen wir zu mir. Bei einem Glas Tequila werden wir alles Nötige besprechen.« Er deutete, immer noch grinsend, auf die Harpyie. »Da wird Castillo aber Augen machen, wenn wir ihm dieses Geschenk überbringen. Es war einer seiner Lieblingsvögel.« Zu diesem Zeitpunkt hatte Dorian überhaupt noch nicht verstanden, worauf Cortez anspielte. Jetzt wusste er Bescheid. Esperno Cortez bewohnte eine Wellblechbude am Rande des Flugplatzes neben dem Hangar, in dem seine recht klapprig wirkende Piper Super Cub abgestellt war. Selbst der grellrote Anstrich konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Maschine ihre besten Tage schon längst hinter sich hatte. Als sie die Wellblechhütte betraten, schlug in Dorian sofort eine Warnglocke an. In dem einzigen Raum stank es erbärmlich. Die beiden Fenster waren mit Fetzen verdunkelt. Auf der einen Breitseite der Wand hing ein Bild, das den Teufel in einer obszönen Szene darstellte. Darunter, auf dem Satansaltar, lag ein abgehäutetes, verwesendes Kaninchen, über dem Schwärme von Fliegen summten. Überall auf den Wänden standen Spottsprüche wider den christlichen Glauben, entstellte Bibelzitate und Lobhuldigungen an den Fürsten der Finsternis. Dorian riss die Verdunkelung von den Fenstern, warf den stinkenden Kaninchenkadaver hinaus und streckte dem Teufelsbildnis ein
Kruzifix entgegen, bis es verblasste und nur noch die weiße Leinwand im Rahmen übrig blieb. Esperno Cortez gebärdete sich wie ein Besessener, versuchte Dorian von seinem Tun abzuhalten, indem er sich auf ihn stürzte. Aber Dorian hatte keine Mühe, den kleinen, krummbeinigen Mann abzuwehren und ihn mittels seiner gnostischen Gemme, die er an einer Kette um den Hals trug, in den Bann zu schlagen und ihn zu hypnotisieren. Das zeigte ihm, dass Cortez, wenn er überhaupt zur Schwarzen Familie gehörte, kein mächtiger Dämon war, sondern eher ein Sterblicher, der seine Seele einem Dämon verkauft hatte. Nachdem Dorian den Raum gesäubert und durch Symbole der weißen Magie die dämonischen Einflüsse ausgeschaltet hatte, wandte er sich wieder Esperno Cortez zu und befreite ihn von dem hypnotischen Zwang. Cortez begann zu jammern, gebärdete sich wie ein Tollwütiger, Schaum trat ihm vor den Mund. Dorian flößte ihm solange Bacardi ein – etwa eine halbe Flasche – bis sich der Mestize beruhigte. Plötzlich lachte er glucksend. »Ich bin ein Fumigador, Señor«, sagte er lallend. »Einer, der die Felder besprüht und davon bescheiden lebt. Eines Tages kam ein wohlhabend scheinender Herr zu mir und verlangte, dass ich meine Tanks mit einem von ihm zubereiteten Mittel füllte. Er bot mir dafür tausend amerikanische Dollar. Ich nahm das Angebot an und besprühte damit ein angeblich unbewohntes Gebiet in der Sierra Madre. Später erfuhr ich, dass ich Tausende von Raubvögeln getötet hatte, die in diesem Gebiet nisteten.« So lernte Dorian seinen Mittelsmann kennen. Esperno Cortez war im Grunde genommen kein so übler Bursche. Dorian verdankte es jedoch nur seiner Weitsicht und dem Umstand, dass er die Wellblechbude von allen dämonischen Einflüssen gesäubert hatte, dass er sein wahres Ich kennen lernte. Cortez war der Sklave eines Dämons, einer von jenen unzähligen namenlosen Menschen, die in die Abhängigkeit der Schwarzen Familie geraten waren und danach selbst zu Teufeln in Menschengestalt wurden.
Jetzt war Cortez – für den Augenblick zumindest – wieder normal. Er begann zu heulen und sein Schicksal zu beklagen. Dorian wartete, bis er sich beruhigt hatte. Dann unterhielt er sich mit ihm. »Die Tausende von Raubvögeln, die ich damals vor drei Jahren durch das Sprühmittel getötet hatte, gehörten Enrique Castillo, Mister Hunter«, erklärte Cortez. »Sagt Ihnen der Name etwas? Nein? Das überrascht mich, denn ich war der Meinung, dass Sie über die Dämonen ziemlich gut Bescheid wissen. Zumindest sagte man mir das.« »Wer hat Ihnen das gesagt, Esperno?«, wollte Dorian wissen. Aber so sehr er in den Mestizen drang, er erfuhr von ihm nicht den Namen des Dämons, dessen Diener er war. Dorian beließ es dabei und fragte stattdessen: »Was soll ich hier in Mexiko? Und warum ist gerade der Kadaver der Harpyie mein Erkennungszeichen?« »Das wissen Sie auch nicht?«, wunderte sich Cortez. »Nun, dann fürchte ich, Mr. Hunter, dass ich Ihre Neugierde auch nicht vollauf befriedigen kann. Man hat mir nur aufgetragen, Sie in Castillos Reich zu bringen und Sie im Kampf gegen ihn zu unterstützen.« »Und welche Veranlassung sollte ich haben, mich mit diesem Castillo anzulegen?« »Wir sitzen im selben Boot, Mr. Hunter«, erklärte Cortez. Und Dorian erfuhr seinen Leidensweg. Castillo sei ein mächtiger Dämon, sagte er, der mit Vögeln sprechen könne und es verstehe, sie sich Untertan zu machen. Er lebe in der mittleren Sierra Madre und beherrsche mit seinen Tausenden von Raubvögeln ein riesiges Gebiet. Wer in sein Reich eindrang, musste dies mit dem Leben bezahlen und wurde den Raubvögeln zum Fraß vorgeworfen. Cortez wurde von den mit Castillo verfeindeten Dämonen ohne sein Wissen gegen den Beherrscher der Vögel ausgespielt, als er Tausende dieser Tiere mit dem Sprühmittel aus der Luft tötete. Castillo hatte Cortez Rache geschworen, und so hatte Cortez keine andere Wahl, als sich in die Abhängigkeit der Dämonen zu begeben, um sein Leben zu schützen.
»Sie haben mich überlistet«, sagte Cortez bitter. »Ich hatte keine andere Wahl, als mich ihnen auszuliefern oder mich von Castillos Raubvögeln in Stücke reißen zu lassen. Aber jetzt weiß ich, dass ein rascher Tod besser gewesen wäre als dieses Leben.« Er schüttelte den Kopf und betrachtete Dorian. »Warum sage ich Ihnen, ausgerechnet Ihnen, das alles? Sie sind ja auch einer von denen. Und selbst wenn Sie jetzt noch glauben, Ihr eigener Herr zu sein, der Tag wird kommen, an dem Sie sich den Dämonen ausliefern.« »Diese Gefahr besteht«, gab Dorian zu. »Aber ich habe meine Vorkehrungen getroffen. Ich weiß mich zu schützen. Sie haben mir aber noch nicht gesagt, warum Sie glauben, wir säßen im selben Boot.« »Dass wir Sklaven, oder meinetwegen Verbündete, wenn Ihnen das besser gefällt, Mr. Hunter, ein und derselben Dämonenclique sind, ist ein Grund«, erklärte Esperno Cortez. »Der andere Grund ist, dass Castillo unser beider Todfeind ist. Ich muss ihn vernichten, damit ich endlich nicht mehr seine Rache zu fürchten brauche. Sie müssen sich mit ihm anlegen, weil er Ihre Geliebte bewacht.« »Was?« Auf diese Weise erfuhr Dorian, dass Coco vermutlich die Gefangene des Vogelbeherrschers Enrique Castillo war. Dorian konnte natürlich nicht sicher sein, ob diese Angaben der Wahrheit entsprachen, oder ob ihn die Oppositions-Dämonen nur unter diesem Vorwand herlockten und ihn für ihre eigenen Zwecke einspannen wollten. Aber wie dem auch sei, er musste jede noch so geringe Chance ergreifen, um Coco zu befreien. Sie war die Mutter seines ungeborenen Kindes. Er wusste jetzt, dass er ihr unrecht getan hatte. Ihre Liebe zu ihm war echt. Am nächsten Tag starteten sie mit Cortez' Sportmaschine in die Sierra Madre, um den Kampf gegen Enrique Castillo und sein Raubvogelheer aufzunehmen. Sie beluden die Maschine mit Tequila, weißem Rum und Lebensmitteln, um die in den Bergen lebenden Indios damit bestechen zu
können. Sie führten ein Waffenarsenal mit sich, und die Sprühtanks waren mit dem magischen Vogelgift gefüllt. »Da!« Cortez' Hand erschien über Dorians Schulter und deutete zum Horizont. »Ich habe gewusst, dass uns der weiße Adler seine Aufmerksamkeit schenken würde!«, rief der Mestize triumphierend über den Motorenlärm hinweg. »Jetzt können Sie zeigen, Mr. Hunter, dass die Winchester in Ihren Händen nicht nur eine Attrappe ist.« Cortez musste einen Adlerblick besitzen, denn er hatte den Vogel lange vor Dorian entdeckt. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Dorian den rasch größer werdenden Punkt als Adler identifizieren konnte. Er kam von vorn auf sie zugeflogen, so dass Dorian keine Möglichkeit hatte, ihn aufs Korn zu nehmen, wollte er nicht riskieren, den Propeller des Flugzeugs zu treffen. Als Cortez erkannte, dass sich der Raubvogel im toten Winkel befand, schwenkte er die Maschine ab. Aber der weiße Adler war klug. Er durchschaute die Absicht des Piloten und tauchte im Zick-Zack-Flug unter der Maschine hinweg. Als Dorian die Winchester herumgerissen und wieder in Anschlag gebracht hatte, war der Raubvogel schon längst außer Schussweite und zwischen den zerklüfteten Felsen verschwunden. »Der weiße Adler wird sich hüten, mir nochmals vor den Lauf zu kommen.« »Ha!«, machte Cortez. »Der weiße Adler fürchtet nichts. Weder dieses Flugzeug noch Ihre Winchester. Wir stellen für ihn eine Herausforderung dar. Wenn wir hartnäckig auf Kurs bleiben und nicht umkehren, wird er sich früher oder später wieder zeigen.« Cortez hatte noch nicht ausgesprochen, als der weiße Adler wieder auftauchte. Dorian sah ihn aus einem Canyon hervorstoßen. Als die Sonnenstrahlen auf sein schneeweißes Gefieder fielen, schien es ihm, als sei er von einer leuchtenden Sphäre umgeben. Der Anblick bannte ihn, und als er seine Fassung wiedergefunden hatte und das Gewehr in
Anschlag brachte, drehte der Adler schon wieder ab, stieg in die Höhe und flog über ihren Köpfen dahin. Dorian riss die Winchester blitzschnell hoch und riskierte einen Schuss, ohne lange zu zielen. Er verfehlte den weißen Adler um einige Meter. Cortez steuerte die Maschine nach links und beschrieb eine weite Kurve, als der Adler nach rechts auswich. So verhalf er Dorian wieder zu einem günstigeren Schusswinkel, aber die Entfernung zwischen ihnen und dem Raubvogel wurde größer. Dorian feuerte auf gut Glück das ganze Magazin leer. Doch er traf nicht. Der weiße Adler breitete sogar – wie um den Schützen zu verhöhnen – seine Schwingen weit aus und stand sekundenlang senkrecht in der Luft. Dorian lud die Winchester in fiebernder Hast nach. Als er sie wieder anlegte, war der weiße Adler längst hinter einem Felsen verschwunden. »Haben Sie gesehen, wo er sich versteckt hat, Cortez?«, brüllte Dorian. Und ohne eine Antwort abzuwarten, fügte er hinzu: »Dann fliegen Sie hin. Vielleicht können wir ihn in seinem Versteck überraschen. Wenn er sich dann von den Felsen erhebt, um zu flüchten, knalle ich ihn ab.« »Das ist zu riskant, Mr. Hunter«, rief Cortez zurück. »Nicht wir haben ihn in der Falle, sondern er will uns in eine locken.« »Tun Sie, was ich sage!« Esperno Cortez gehorchte. Er schwenkte die Maschine herum und flog den Felsen an, hinter dem der weiße Adler verschwunden war. Dorian blickte über die Zieleinrichtung der Winchester zu den Felsen hinüber, bereit, beim Auftauchen des Raubvogels sofort zu schießen. In der Luft war der viel wendigere Adler dem Flugzeug überlegen, doch wenn er sich am Boden befand, dann war er ziemlich hilflos. Sie näherten sich der Felserhebung, und Cortez riss die Maschine steil in die Höhe, um eine Kollision zu vermeiden. Als die Schnauze des Flugzeuges sich hob, erblickte Dorian den Raubvogel. Wie ein weißer Schatten, mit ausgebreiteten Schwingen, hob er
von einer Plattform ab. Er hielt irgendetwas in den Fängen. Dorian wurde durch das Aufbäumen der Maschine in den Rücksitz gedrückt, verlor den weißen Adler aus dem Visier und musste das Gewehr herumschwenken, um ihn von der anderen Seite wieder aufs Korn nehmen zu können. »Achtung!«, schrie Cortez. Dorian wusste nicht, worauf er sich vorbereiten sollte, als der weiße Adler plötzlich vor ihnen auftauchte. »Nicht schießen, Mr. Hunter. Der Propeller!« Dorian knirschte in ohnmächtiger Wut mit den Zähnen, als er den Adler so nahe vor sich hatte und nicht schießen konnte, weil er den Propeller getroffen hätte. Cortez versuchte, die Maschine so rasch wie möglich herumzureißen. Doch es ging nicht rasch genug, um Dorian zum Schuss kommen zu lassen. Der weiße Adler kam im toten Winkel unheimlich schnell heran. Da erkannte Dorian, dass er einen schweren Felsbrocken in den Fängen hielt. Dorian wusste sofort, was er damit beabsichtigte. »Schwenken Sie ab! Verdammt, Cortez, wir müssen fort, bevor der Adler den Felsbrocken als Geschoss einsetzen kann.« Cortez schrie und fluchte, aber er konnte nicht mehr aus dem Flugzeug herausholen als drin war. Und an Wendigkeit übertraf der weiße Adler die Piper Super Cub bei weitem. Der Adler erschien nun über ihnen. Riesengroß. Dorian glaubte sogar zu erkennen, dass sich die Fänge einen Augenblick lang entspannten, dann öffneten sich die Krallen und der Felsbrocken fiel wie vom Katapult geschleudert schräg auf sie zu. Es gab einen furchtbaren Krach, als der Fels den Propeller streifte und gleich darauf gegen die Schnauze des Flugzeugs prallte. Dorian wurde wie bei einem Erdbeben erschüttert. Wäre Cortez nicht ein so ausgezeichneter Pilot gewesen und hätte er es nicht geschafft, die Maschine im entscheidenden Moment steil in die Tiefe zu ziehen, der Propeller wäre zweifellos voll getroffen worden und zerbrochen.
Es gab noch einmal eine gefährliche Situation, als sie beinahe mit den Rädern die unter ihnen auftauchende Felswand streiften. Aber Cortez beherrschte seine Maschine ausgezeichnet. Er brachte sie noch rechtzeitig in die Höhe und rettete die Situation. Aber es schien, dass es doch nicht so gut gegangen war, wie Dorian zuerst geglaubt hatte. Das Flugzeug gab ein seltsames Geräusch von sich, und Dorian schien es, als ob sich der Propeller nicht mehr so regelmäßig drehte wie bisher. »Die Maschine scheint beschädigt zu sein!«, rief er über die Schulter. Er drehte sich so weit zurück, dass er in Cortez' verkniffenes Gesicht blicken konnte. Der Pilot nickte. »Wir müssen notlanden«, erklärte er. »Ich kenne ganz in der Nähe eine verlassene Grubenstadt, die noch von lichtscheuem Gesindel bewohnt wird. Dort gibt es ein Plateau, auf dem wir niedergehen und den Schaden wieder in Ordnung bringen können.« »Werden wir es schaffen?« Cortez lachte nur. Aber so sicher, wie er sich gab, war er wohl kaum, denn er vollführte keinerlei Kunststücke mehr, sondern flog die Maschine in gerader Linie und auf gleicher Höhe. Er wich den aufragenden Felsen schon von weitem in großem Bogen aus. Wenigstens ließ sich die Maschine noch navigieren, dachte Dorian. Links von ihnen tauchte wieder der weiße Adler in der Ferne auf. Er konnte sich als Sieger des Zweikampfes mit dem viel größeren Vogel betrachten. Dorian war sicher, dass er trotz der Entfernung jede Einzelheit im Flugzeug erkennen konnte. Wahrscheinlich entgingen ihm auch nicht ihre verzweifelten, verschwitzten Gesichter. Da erinnerte sich Dorian ihres Vorhabens, den Kadaver der Harpyie abzuwerfen. Ursprünglich war geplant gewesen, die Harpyie über jenem Canyon abzuwerfen, in dem Castillo mit seinen Vögeln lebte. Es sollte eine Herausforderung an ihn sein. Aber bis zu dem Canyon würden sie es wohl kaum mehr schaffen. Warum also den toten Vogel nicht schon hier abwerfen? Den schar-
fen Augen des Adlers würde er sicherlich nicht entgehen. Und vielleicht bot sich Dorian noch die Chance … Er bückte sich, nahm die Harpyie an einem Flügel und warf sie in weitem Bogen aus dem Flugzeug. »Versuchen Sie, eine Schleife zu drehen, Cortez!«, befahl Dorian, ohne den weißen Adler aus den Augen zu lassen. Der Raubvogel stand plötzlich mitten in der Luft still, dann schoss er mit kräftigen Flügelschlägen schräg in die Tiefe und ließ sich dann wie ein Stein fallen. Dorian legte die Winchester an. Er bekam den weißen Adler ins Ziel, weil dieser beim Anblick des Vogelkadavers alle Vorsicht vergaß und mit gleichbleibender Geschwindigkeit dahinschoss, ohne die Richtung zu ändern. Er konnte sich Extravaganzen auch nicht leisten, weil er sonst die fallende Harpyie nicht mehr erreicht hätte. Dorian musste sich fast den Hals verrenken, um den weißen Adler im Visier zu behalten. Aber es lohnte sich. Gerade als der weiße Adler die Fänge nach der toten Harpyie ausstreckte, drückte der Dämonenkiller ab. Er schoss das Magazin leer. »Getroffen!«, schrie Cortez. Dorian sah über den Lauf der Winchester hinweg, wie das Geschoss dem Adler einen der ausgebreiteten Flügel fortriss. Federn stoben auseinander und färbten sich dunkel. Dorian lud schnell nach, doch der weiße Adler war trotz seiner Verwundung längst in den Schatten zwischen den Felsen untergetaucht. »Getroffen!«, jubilierte Cortez dennoch. »Sie haben Castillos Lieblingstier einen gehörigen Denkzettel verpasst. Dafür könnte ich Sie küssen.« Im nächsten Augenblick wurde Dorian umarmt. Das Flugzeug begann beängstigend zu wackeln, als sich Cortez aufstellte, weit nach vorn beugte und Dorian seine trockenen Lippen schmatzend auf die Schläfe drückte. »Passen Sie lieber auf, dass wir nicht dort unten zerschellen«, ermahnte Dorian ihn ärgerlich. Aber Cortez lachte nur und bekam die Maschine sofort wieder in
seine Gewalt. Coco zuckte zusammen, als aus dem Canyon ein Geschrei aus Tausenden von Vogelkehlen ertönte. Es war ein unheimlicher Chor, den die Vögel anstimmten, und doch empfand sie ihn als Ausdruck von Trauer und Schmerz. Sie war nun schon über eine Woche hier, hatte jedoch den Fuß in dieser Zeit kaum vor ihrer Hütte zu setzen gewagt – aus Angst vor dem weißen Adler. Selbst wenn Castillo sie in sein Haus einlud oder ihr anbot, einem Kampfspiel auf Leben oder Tod seiner Vögel beizuwohnen, hatte sie versucht, durch Vortäuschen von Unpässlichkeit diese Einladungen auszuschlagen. Freilich war das nicht immer möglich gewesen, so dass sie einige Male dem grausigen Schauspiel zusehen musste, wie sich die Raubvögel – »Nur um eine Auslese zu schaffen, meine Liebe, nur deshalb!« – gegenseitig zerfleischten. Aber schlimmer waren noch die Augenblicke gewesen, wenn Castillo sie zum Essen lud. Er machte nicht nur versteckte Anspielungen darüber, woraus die Speisen, die er ihr servierte, bestanden, sondern sparte auch nicht mit versteckten Drohungen und Prophezeiungen über das Schicksal ihres Kindes. Enrique Castillo weidete sich an ihrer Angst und ihrem Entsetzen. Deshalb zog sie es die meiste Zeit vor, ihre Hütte unter dem Horst des weißen Adlers nicht zu verlassen. Doch jetzt wurde sie neugierig. Es musste schon etwas Ungewöhnliches vorgefallen sein, wenn die Vögel ein so schauriges Klagelied anstimmten. Sie trat vor die Hütte. Der Himmel verdunkelte sich vor Vogelleibern. Sie schwirrten wie verrückt durch die Lüfte, hackten mit den Schnäbeln aufeinander ein, während sie qualvolles Krächzen von sich gaben. Coco blickte zu der Plattform mit den beiden Gebäuden hinüber, und der Atem stockte ihr. Dort hockte der weiße Adler. Einer seiner Flügel stand in einem seltsamen Winkel vom Körper ab und war an einer Stelle dunkel ge-
färbt. Enrique Castillo kniete vor ihm und betastete ihn mit zitternden Fingern. Der Falke auf seiner Schulter kreischte und schlenkerte den Kopf hin und her. Da Coco nun nichts von dem weißen Adler zu befürchten hatte, betrat sie den schmalen Pfad und ging zur Plattform hinunter. Als sie sich Castillo näherte, sah sie, wie er unter den Klauen des weißen Adlers einen Vogel hervorholte. Bei näherem Hinsehen sah Coco, dass er nur noch aus Kopf und Schwingen bestand. Castillo heulte auf und drückte den Vogelkadaver gegen sein augenloses Gesicht. Der Falke auf seiner Schulter kreischte wieder. Coco stand eine Weile still und überließ den Dämon seinem Schmerz. Endlich wagte sie es zu fragen: »Was ist passiert?« Beim Klang ihrer Stimme wurde der weiße Adler unruhig. Er wirbelte herum und kam mit ausgebreiteten Schwingen auf sie zu. Coco schrie auf und presste die Hände gegen den geschwollenen Leib. Castillo gab einen seiner Vogellaute von sich. Der weiße Adler hielt an. Jetzt sah Coco, dass die dunkle Stelle in seinem Gefieder Blut war. »Sie haben auf ihn geschossen«, sagte Castillo dumpf. »Sie saßen in einem Flugzeug und haben auf ihn geschossen.« »Das tut mir Leid«, log Coco und konnte nicht umhin zu sagen: »Ich habe immer geglaubt, der weiße Adler sei unbesiegbar.« »Sie haben ihn nicht besiegt!«, schrie Castillo, und der Falke auf seiner Schulter hackte mit seinem Schnabel wütend in Cocos Richtung. »Nein, es war kein Sieg«, fuhr Castillo fort und presste die verstümmelte Harpyie wieder gegen das Gesicht. »Sie haben es gegen den weißen Adler mit Hinterlist und Tücke versucht. Aber viel haben sie nicht erreicht. Bis morgen ist die Wunde verheilt, und nicht einmal mehr eine Schramme wird davon zurückgeblieben sein. Er wird wieder so schön sein wie zuvor. Oh, sie werden mir dafür büßen!« »Wer?«, erkundigte sich Coco interessiert. »Von wem sprechen Sie?«
Castillo heulte wieder auf und hielt ihr in den ausgestreckten Händen den Kadaver der Harpyie hin. »Sie war einer meiner Lieblingsvögel«, erklärte der Dämon mit gepresster Stimme. »Vor drei Wochen verschwand sie spurlos. Ich habe geahnt, dass sie von den Feinden des Magus VII. geraubt worden war. Jetzt haben sie mir ihren Kadaver geschickt. Das ist eine Herausforderung, Coco. Und ich nehme sie an.« Coco verstand nun die Hintergründe etwas besser. Olivaro hatte ihr gegenüber angedeutet, dass gewisse Kreise innerhalb der Schwarzen Familie ihn stürzen wollten. Eigentlich hatte Olivaro schon von Anbeginn seiner Herrschaft, als er sich zum Fürsten der Finsternis ausgerufen hatte, mit Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt. Es gab nicht viele Dämonen, die ihn als Fürst der Finsternis akzeptierten. Doch jetzt schien es, dass jene, die im Geheimen gegen ihn opponiert und intrigiert hatten, ihm den offenen Kampf ansagten. Zumindest schritten sie gegen seine Verbündeten ein. Coco war das eigentlich Recht. Vielleicht konnte sie den Kampf der rivalisierenden Dämonengruppen für sich ausnützen und von hier fliehen. »Ich hätte den weißen Adler nicht allein fliegen lassen sollen«, machte sich Castillo Vorwürfe. »Ohne meine Führung erbringt er nur die Hälfte seiner Wirkung. Aber ich weiß, wo ich jene finden kann, die auf ihn geschossen haben. Und ich werde noch heute zum Gegenschlag ausholen.« »Wollen Sie den weißen Adler in diesem Zustand kämpfen lassen?«, fragte Coco. »Auch wenn er durch die Verletzung behindert ist, kann er es noch immer mit den anderen aufnehmen, wenn ich ihn leite«, antwortete Castillo. »Ich werde mit ihm fliegen. Und meine Rache wird furchtbar sein.« Coco hatte noch nicht feststellen können, wie es Castillo möglich war, mit seinem Geist in den Körper des weißen Adlers zu schlüpfen und ihn zu übernehmen. Ihr war aber aufgefallen, dass Castillos Körper immer verschwun-
den blieb, solange sein Geist mit dem Raubvögel ausflog. Was passierte dann mit seinem Körper? War Castillo in der Lage, in zwei Körpern gleichzeitig zu sein? Das schien ihr unwahrscheinlich. Aber sie musste sich darüber Gewissheit verschaffen, denn es war für sie von großer Bedeutung. »Ziehen Sie sich in Ihre Hütte zurück, Coco«, befahl ihr Castillo. »Und lassen Sie sich während meiner Abwesenheit nicht im Freien blicken! Ich werde meinen Tieren Anweisung geben, darüber zu wachen.« »Ich dachte, ich könnte mich überall im Canyon frei bewegen, Castillo«, sagte Coco ärgerlich. »Zu jeder Zeit«, bestätigte der Dämon, schränkte aber sofort ein: »Dies ist jedoch eine Ausnahmesituation. Es geht mir auch um Ihre Sicherheit, wenn ich verlange, dass Sie sich an meine Befehle halten.« Er blieb vor seinem Haus stehen und sah ihr nach. Erst als sie den schmalen Pfad hinter sich gelassen hatte und in ihrer Hütte verschwand, ging auch er ins Haus. Durch das Fenster sah Coco den weißen Adler in seinen Horst über ihrer Hütte fliegen. Sie brauchte nicht lange darauf zu warten, bis sich der Vogel wieder erhob und gen Osten davonflog. Jetzt war der weiße Adler nicht mehr bloß ein Raubvogel, sondern er wurde von dem dämonischen Geist Castillos beseelt. Und was war inzwischen mit Castillos Körper? Dieser Gedanke ließ Coco nicht los. Warum bestand er so ängstlich darauf, dass sie den hinteren Gewölben seines Hauses fernblieb? Fürchtete er, dass sie sein Geheimnis entdecken könnte? Früher oder später würde Coco der Sache nachgehen, das stand für sie fest.
Von der Hochebene, auf der die Piper ausgerollt war, hatten sie einen guten Überblick auf den Pass, über den einst die Eisenbahn geführt hatte, und auf die Grubenstadt Real de Contrabandista. Cortez hatte den Schaden am Propeller überprüft und erklärte,
dass es einige Zeit dauern würde, ihn zu beheben. »Freilich«, fügte er hinzu und warf dem Dämonenkiller einen lauernden Blick zu, »mit Hilfe der schwarzen Magie wäre es in wenigen Minuten möglich, wieder zu starten.« »Nichts da«, lehnte Dorian ab. Als Cortez einen neuerlichen Versuch unternehmen wollte, ihn zu überreden, die Hilfe des ihm wohlgesinnten Dämons in Anspruch zu nehmen, sagte Dorian: »Okay, wie Sie meinen, Esperno. Wenn Sie wollen, dass die Dämonen Ihre Seele zum Nachtisch verspeisen, dann machen Sie Ihre Beschwörung. Aber ich will dann nichts mehr mit Ihnen zu tun haben.« »Schön, schön, vergessen wir es«, gab Cortez nach. »Es war ja nur so ein Gedanke. Mir ist eben nicht wohl bei der Vorstellung, den Galgenbrüdern aus der Grubenstadt hilflos ausgeliefert zu sein.« »Das ist immer noch besser als einem Dämon zu gehören«, entgegnete Dorian. Dabei war er sich natürlich nicht sicher, dass Cortez nicht mehr von dem Dämon abhängig war. Sein bescheidener Exorzismus mochte nur einen Teilerfolg erbracht haben. Sie hatten abgemacht, dass sie die Hilfe der Dämonen nicht mehr in Anspruch nehmen würden und zu versuchen, Komplikationen mit ihren eigenen Fähigkeiten zu meistern. Cortez schien kein großes Vertrauen in sich zu haben, aber immerhin hatte er Dorian sein Versprechen gegeben. Manchmal war er jedoch versucht, den leichteren Weg zu gehen. Dorian hatte seinen Sombrero aus dem Cockpit geholt und warf sich den Sarapo um. Mit seinem dunklen Teint und dem üppigen Schnurrbart sah er fast wie ein Einheimischer aus, aber nur fast. Er trug diese Tracht nicht, um zu verbergen, dass er ein ›Gringo‹ war. Er wäre sich aber in seinem Anzug komisch vorgekommen. Außerdem schützte der Sombrero vor der stechenden Sonne. »Da kommen sie«, stellte Cortez fest. ›Sie‹, das war eine Gruppe zerlumpter, verwildert aussehender Gestalten, die hinter den Felsen auftauchten und gemächlich näher kamen. Sie waren alle bewaffnet. Jeder trug eine Machete, über der Brust hatten sie Patronengurte gekreuzt, in denen aber keine Munition steckte. Nur der Mann an der Spitze – ein hellhäutiger Mexika-
ner, mit einem weit nach unten hängenden, dünnen Oberlippenbart – trug in seinen Armen ein langläufiges Gewehr wie ein Baby. Es war eine veraltete Waffe mit Bajonett, die noch aus der Zeit der Revolution stammen musste. Er wirkte auch alt genug, um noch an Pancho Villas' Seite gekämpft haben zu können. Dorian öffnete eine Flasche Bacardi und trank einen Schluck des weißen Rums. »Buenas tardes, Muchachos«, begrüßte er die Männer, die einige Schritte vor ihnen im Halbkreis stehen geblieben waren. Auf Englisch fuhr er fort: »Es tut mir Leid, dass wir die Ruhe eures friedlichen Ortes stören. Aber wir mussten mit unserem Flugzeug notlanden, nachdem wir mit einem weißen Adler kollidierten.« Zufrieden stellte er fest, dass der Anführer bei Nennung des weißen Adlers zusammenzuckte. Er wandte sich einem seiner Begleiter zu, flüsterte etwas auf Spanisch, woraufhin dieser sich umwandte und den Weg zurückrannte, den sie gekommen waren. »Buenas tardes, Gringo«, sagte der hellhäutige Mexikaner abfällig zu Dorian. »Ihr seid Amerikaner?« »Engländer«, berichtigte Dorian und deutete über seine Schulter. »Mein Begleiter, Esperno Cortez ist ein Landsmann von euch. Mein Name ist Dorian Hunter. Und ich bin tatsächlich Jäger.« »Ein Jäger welcher Art?« Dorian zuckte die Achseln. »Ich jage immer nur das Wild, das sich gerade anbietet. Im Moment habe ich es auf weiße Adler abgesehen.« Die Mexikaner, die zweifellos genug Englisch beherrschten, um den Sinn seiner Worte verstehen zu können, begannen zu lachen. Als ihr Anführer darin einstimmte, schüttelten sie sich vor Heiterkeit. »Da hast du dir aber ein hohes Ziel gesteckt, Gringo«, meinte der Anführer. »Vielleicht hat dich das erste Zusammentreffen mit dem weißen Adler aber bereits von deinem Vorhaben abgebracht. Daran, wie er dein Flugzeug beschädigt hat, kannst du ermessen, was er mit dir anstellen wird, wenn er dich in die Fänge bekommt.« Die anderen Mexikaner bekreuzigten sich verstohlen, als wieder
der Name des weißen Adlers fiel. Dorian grinste. Er glaubte, dass er sich keine Blöße geben durfte, um vor diesen hartgesottenen Burschen bestehen zu können, und es besser war, sich überheblich zu geben. »Ich weiß nur, dass der weiße Adler Respekt vor mir hat«, sagte er diesmal auf Spanisch und nahm wieder einen Schluck aus der Flasche. Es entging ihm nicht, dass den Mexikanern, die kaum jemals etwas anderes zum Trinken bekamen als Pulque, bei diesem Anblick das Wasser im Munde zusammenlief. Dorian schmatzte genüsslich und fügte hinzu: »Meine Winchester hat ihm diesen Respekt beigebracht. Und wenn ihr glaubt, der weiße Adler sei unverwundbar, dann lasst euch von mir eines Besseren belehren. Gegen Kugeln ist auch er nicht gefeit.« »Du hast den weißen Adler getroffen?«, erkundigte sich der Anführer unter dem Raunen seiner Begleiter. Dorian setzte zu einer Antwort an. Doch da ertönte von unten, aus der Siedlung, wildes Geschrei. Die Männer rannten zum Rand der Hochebene. Dorian griff nach seinem Gewehr und folgte ihnen. Er sah, dass am Rande der Siedlung einige Leute zusammengelaufen waren. Hysterische Frauenstimmen übertönten alles. Zwei Frauen, die wild gestikulierten, wurden von den Männern, die aus allen Richtungen herbeiliefen, bedrängt. »Sie haben den weißen Adler gesehen«, stellte der Anführer der kleinen Gruppe fest. Und er fixierte mit seinen dunklen, stechenden Augen Dorian. »Die Frauen sagen, dass er auf einem Flügel einen dunklen Fleck, wie von einer Wunde, hat.« Dorian klopfte grinsend auf den Schaft seiner Winchester. Der hellhäutige Mexikaner schüttelte den Kopf. »Das ist kein gutes Zeichen. Es ist ein böses Omen.« Als er Dorians verständnislosen Gesichtsausdruck sah, erklärte er ihm: »Der weiße Adler kommt, um furchtbare Rache zu nehmen. Und das haben wir dir zu verdanken, Gringo.« Dorian reagierte blitzschnell. Er konnte sich denken, dass der Mann keine leere Drohung gegen ihn aussprechen würde. Und tat-
sächlich ging bei seinen Worten eine Unruhe durch seine Männer. Bevor sie jedoch noch irgendetwas unternehmen konnten, hatte Dorian die Winchester in Anschlag gebracht. Und neben ihm tauchte Esperno Cortez mit schussbereiten Colts in den Händen auf. »Keine Dummheiten«, warnte Dorian. »Was für erbärmliche Feiglinge ihr doch seid. Wir dachten, dass ihr es uns danken würdet, wenn wir euch von der Tyrannei des weißen Adlers befreiten. Doch stattdessen habt ihr die Hosen dermaßen voll, dass ihr uns ihm opfern wollt. Aber daraus wird nichts.« Die Mexikaner standen unschlüssig da. Dorian entgingen ihre Ängste nicht. Aber sie schienen weniger die Schusswaffen, die auf sie gerichtet waren, zu fürchten, als vor dem weißen Adler zu zittern. Das ging auch aus den Worten des Anführers hervor, als er sagte: »Lass uns gehen, Gringo, damit wir in unseren Häusern vor dem weißen Adler Schutz suchen können.« »Haut ab!« Dorian sah ihnen nach, wie sie, als sei der Leibhaftige hinter ihnen her, den Maultierpfad zu ihrer Siedlung hinunterrannten. »Holen Sie sich auch ein Gewehr, Esperno«, trug Dorian dem Piloten auf. »Vielleicht haben wir Glück, und der weiße Adler lässt sich tatsächlich blicken.« »Da ist er!«, rief Cortez und deutete zu den verfallenden Gebäuden der Grubenstadt. Dorian erblickte den weißen Schatten, der majestätisch zwischen den Gebäuden dahinglitt, und rannte ohne zu zögern los. Er achtete dabei nicht auf den Weg, sondern hatte nur Augen für den Adler. Als dieser Mörder der Lüfte plötzlich in eine Gasse zwischen den Gebäuden hinabstieß, ertönte gleich darauf ein langgezogener Schrei. Dorian kniete hinter einem Felsen nieder und zielte. Wenn der Adler wieder auftauchte, würde er ihn erwischen. Es dauerte auch nicht lange, bis der Raubvogel über dem Dach erschien. Sein Flug wirkte jetzt behäbiger, und Dorian erkannte auch, warum das so war: Er hielt eine blutige Last in den Fängen.
Sein Zeigefinger krümmte sich um den Abzug. Es war ganz einfach, viel zu einfach für seinen Geschmack. Er hätte nicht gedacht, dass es so leicht sein würde, den weißen Adler zu erlegen. Er konnte ihn auf diese Distanz gar nicht verfehlen; er bot ein zu sicheres Ziel. Dorian drückte ab. Da traf etwas den Lauf seiner Winchester, stieß ihn zur Seite. Der Schuss ging los, traf einen Felsen, und das Projektil surrte als Querschläger davon. Dorian sah den Schatten eines Mannes über sich, dessen Hände den Lauf festhielten. Er stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen und drückte Dorian zu Boden. Über ihm war ein zerfurchtes, wettergegerbtes Gesicht. Es war von den Anstrengungen, die es kostete, mit Dorian um die Schusswaffe zu ringen, gezeichnet. Plötzlich entspannte sich der Mann jedoch. Cortez war neben ihm aufgetaucht und drückte ihm den Lauf eines Colts an die Schläfe. Der Mann ließ Dorians Winchester los. Er war nicht davon beeindruckt, dass Cortez ihm die Waffe an die Schläfe setzte. Er beachtete ihn nicht einmal, sondern blickte auf Dorian hinunter. »Es soll gut sein, Señor«, sagte er keuchend. »Ich habe erreicht, was ich wollte. Damit bin ich zufrieden. Nur noch eines. Lassen Sie sich nicht noch einmal einfallen, auf den weißen Adler zu schießen. Denn das würde ich Ihnen nie verzeihen.« Der Mann wollte sich abwenden, als sei der auf ihn gerichtete Colt überhaupt keine Bedrohung. Dorians Hand schnellte vor und packte ihn an der Schulter. »Sind Sie etwa Enrique Castillo, dass Sie sich als Schutzpatron des weißen Adlers aufspielen?«, fragte er. In dem wettergegerbten und verhärmt wirkenden Gesicht des anderen zuckte es. »Ich heiße Jimenez Ortuga«, sagte er nur und ging in Richtung Real de Contrabandista davon.
»Auf ein Wort, Señor Ortuga«, rief Dorian ihm nach. »Wenn wir uns nicht wieder in die Quere kommen sollen, dann kann in Sachen weißer Adler noch nicht das letzte Wort gesprochen sein.« Der Mann interessierte den Dämonenkiller. Jimenez Ortuga drehte sich noch einmal kurz um. Er zeigte Dorian ein Gesicht, das kein Lächeln zu kennen schien. »Mañana«, sagte er nur und ging endgültig. Mañana, im Wörterbuch mit ›morgen‹ übersetzt, für die Mexikaner ein sehr dehnbarer Begriff, bedeutete ›irgendwann in der Zukunft‹, und es war damit im günstigsten Fall der nächste Tag gemeint. Aber damit wollte sich Dorian nicht zufrieden geben. Er konnte seine Probleme nicht, der mexikanischen Mentalität angepasst, auf die lange Bank schieben. Deshalb folgte er Jimenez Ortuga zur Grubenstadt hinunter, während er Cortez zum Flugzeug zurückschickte, damit er alle ihre beweglichen Güter entweder im Flugzeug einschloss oder in einen Rucksack packte und mitnahm.
In nüchternem Zustand war Rodrigo gar kein so übler Bursche. Aber nun hatte er ordentlich geladen, und da brach alles aus ihm hervor, was sich an den nüchternen Tagen in ihm angestaut hatte. Es war kurz vor Mitternacht, als er nach Hause zu seiner Irasema torkelte. Im Stillen schimpfte er über den Gringo, diesen Dorian Hunter, weil er sich nicht ausreichend mit Tequila und Rum eingedeckt hatte, als er hierher nach Contrabandista flog. Nicht, dass der Gringo knauserig gewesen wäre. Er hatte einige Flaschen auf den Tisch gezaubert und alle feilgehalten, die nichts gegen einen guten Schluck hatten. Und dabei waren sie ins Reden gekommen. Rodrigo bemerkte sehr wohl die warnenden Blicke der anderen – aber warum sollte er zu dem Gringo nicht über das sprechen, was sie in diesem verdammten Nest durchzumachen hatten? Sie lebten in ständiger Angst vor dem weißen Adler, und jeder hatte schon mit dem Gedanken gespielt, von hier fortzuziehen. Aber
wohin sollten sie? Alle waren schon mit dem Gesetz in Konflikt gekommen und durften sich in keiner der Städte blicken lassen. Er, Rodrigo, hatte einmal … Aber so indiskret war er wieder nicht, über seine Verfehlung zu plaudern. Doch welchen Grund gab es, über ihre Situation in Real de Contrabandista zu schweigen? Der weiße Adler hatte schon viele von ihnen geholt, so wie heute. Es war eine schon fast natürliche Art zu sterben, wenn einen der weite Adler holte. Blicke dich um, Gringo, wer trauert schon um den Alten, der dem Weißen zum Opfer gefallen ist? Jeder ist froh, dass es nicht ihn selbst erwischt hat. Nur wenn sich der Adler mal eines der Kinder holte, kannte das Wehklagen kein Ende. Deshalb durften die Kinder auch nie ohne Begleitung hinaus. Die Kinder waren so etwas wie Heilige in Contrabandista, si Señor. Verdammt, schmeckte der Bacardi gut! Ganz anders als der ordinäre Pulque, der schon beim Abzapfen von der Maguey zu gären begann. Was nicht lange reifen konnte, wurde auch nie was Richtiges. Ganz anders der weiße Rum des Gringos Hunter! Rodrigo bekam auf dem Heimweg einen Schluckauf, und das störte ihn beim Denken. Hatte er wirklich zuviel ausgeplaudert? Nun, zugegeben, der Gringo hatte ihm tatsächlich Löcher in den Bauch gefragt. Vor allem wollte er ihn über Jimenez aushorchen. Aber was wusste Rodrigo schon über Jimenez? Praktisch nichts. Nur das, worüber alle redeten, und das war ja kein Geheimnis. Dass Jimenez vor drei Jahren Frau und Kind durch den weißen Adler verloren hatte und sich danach schwor, nur noch für seine Rache zu leben. Jimenez heckte irgendetwas aus. Aber darüber konnte Rodrigo diesem Hunter nichts sagen. Er wusste nicht, was Jimenez trieb. Er lebte außerhalb der Grubenstadt irgendwo in einer Höhle. Wo diese Höhle lag? Das wusste niemand außer Jimenez und Pedro. Pedro, das war der dreizehnjährige Bengel, der vor einem Jahr zusehen musste, wie der weiße Adler zuerst seine Mutter und dann
seinen Vater, der Jagd auf ihn machte, verschleppt hatte. Seitdem waren Jimenez und der Bengel ein Herz und eine Seele, hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Rodrigo kreidete Jimenez nur an, dass er Pedro oft ohne Aufsicht ließ. Ob Jimenez den Jungen als Köder für den weißen Adler missbrauchte, wollte der Gringo wissen. Auf diese Idee war Rodrigo noch nicht gekommen. Aber sicher war nur, dass Jimenez es nicht zulassen würde, dass jemand anderer als er den weißen Adler zur Strecke brachte. Aha, sagte dieser Gringo Hunter, deshalb hat er mich nicht zum Schuss kommen lassen. In Rodrigos Kopf drehte sich alles. Er brauchte was Scharfes, damit er wieder klarer denken konnte. Dieser verdammte Gringo hatte sich geweigert, als Rodrigo nichts mehr zu berichten wusste, noch eine Flasche zu köpfen. Rodrigo hatte gute Lust, sein Flugzeug anzuzünden und ihm den Schädel einzuschlagen. Aber davon wollten die anderen nichts wissen. Rodrigo blieb nichts anderes übrig, als nach Hause zu gehen. Er wohnte zusammen mit Irasema in dem Gebäude, das vor der Revolution das Gefängnis gewesen war. Aber jetzt gab es darin keine Eisenstäbe, keine Fensterrahmen und Türen mehr. Das Eisen war verhökert und das Holz als Wärmespender verbrannt worden. Die Nächte in der Sierra Madre waren kalt. Bitter kalt. Aber diese Nacht würde ihn Irasema nicht wärmen können. Eine Flasche Pulque würde es tun. Er torkelte ins Gebäude und zu der Lagerstatt, auf der sich Irasema schlaftrunken rekelte. »Raus, du Schlampe!«, herrschte er sie an. »Wo hast du den Agavenschnaps versteckt?« »Es ist nichts mehr im Haus«, beteuerte Irasema. »Dann beschaffe welchen!« »Aber woher?« Er grinste. »Du weißt, wo die Agaven stehen. Also mach, dass du hinkommst und sie anzapfst. Ich habe Durst.«
»Das ist nicht dein Ernst!« »Und wenn ich durstig bin!« »Du willst mich doch nicht allein in der Nacht …« »Du hast doch nicht etwa Angst?« »Wer kann mir das verdenken! Der weiße Adler hat erst …« »Blödsinn. Der weiße Adler hat noch nie jemanden in der Nacht geholt. Du wärst ihm außerdem zu fett.« »Aber …« »Gehst du jetzt endlich! Oder soll ich dich zu den Agaven prügeln!« Irasema ging. Sie dachte zwar nicht daran, eine Stunde beschwerlichen Marsches auf sich zunehmen, nur weil sich Rodrigo einbildete, Agavensaft trinken zu müssen. Sie würde bei ihrer Freundin übernachten und zu Rodrigo zurückkehren, wenn er seinen Rausch ausgeschlafen hatte. Sie zog ihren Rebozo fester um die Schultern und eilte über die Straße zum Haus ihrer Freundin, die drei Straßen weiter wohnte. Der Mond schien hell. Die Siedlung lag still und friedlich da. Irasema schalt sich eine Närrin, dass sie so ängstlich war. Tatsächlich hatte der weiße Adler seine Opfer noch nie des Nachts geholt. Sie blickte hoch, als sie über sich ein Geräusch hörte. Da schob sich ein mächtiger Schatten mit ausgebreiteten Schwingen vor den Mond. Der weiße Adler. Er zog die Flügel an den Körper und stürzte sich in die Tiefe. Irasema schrie. Rodrigo bereute es fast, dass er Irasema fortgeschickt hatte. Aber so stark waren seine Gewissensbisse nicht, dass sie ihm die Nachtruhe rauben würden. Er wollte sich gerade auf dem Lager ausstrecken, als er den Schrei hörte. Es war der Schrei eines Menschen in höchster Not. Der Schrei einer Frau. Irasema. Er war sofort nüchtern, sprang aus dem Bett und griff im Laufen nach einem schweren Prügel, der immer neben dem Bett stand, falls es galt, einen Skorpion oder eine Schlange zu erschlagen. Rodrigo sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt, als er ins
Freie kam. Irasema rang mit dem weißen Adler. Ihre im Mondlicht blass wirkende Haut wies überall dunkle Flecken auf. Der Rebozo hing ihr in Fetzen vom Körper. Rodrigo schrie auf und stürzte sich auf den Adler. Er traf ihn einmal, und es bereitete ihm tiefe Befriedigung, diesem mörderischen Raubvogel etwas von dem Schmerz heimzuzahlen, den er seiner Irasema bereitet hatte. Er holte zu einem zweiten Schlag aus, aber da trafen ihn die messerscharfen Krallen an der Kehle. Ihm wurde warm. Und dann plötzlich fröstelte ihn so sehr, dass sein Körper unaufhörlich zuckte. Er spürte, wie die Wärme aus seinem Körper wich …
Dorian wachte zweimal in der Nacht auf. Einmal, als Cortez mit dem Besenstiel eine Tarantel erschlug. Das zweite Mal, als sich der weiße Adler zwei neue Opfer holte. Dorian lag noch eine Weile wach. Eigentlich waren die Bewohner dieser Grubenstadt nicht solche Galgenvögel, wie er zuerst hatte annehmen müssen. Sie waren zwar Gesetzlose, aber hier in der Wildnis waren sie irgendwie in ein normales Leben integriert worden. Dorian war sich natürlich klar, dass es ihm nur deshalb einige Sympathien eingebracht hatte, weil er die Schnapsflaschen kreisen ließ und auch mit Tabak und Konservendosen nicht geizte. Aber die Gunst des ›Alcalde‹ – ja, auch so etwas wie einen Bürgermeister gab es in Contrabandista – hatte er sich nicht auf diese Weise zu erkaufen brauchen. Emiliano Lopez, das war jener Revolutionsveteran, der sie nach der Landung auf dem Hochplateau empfangen hatte, wies ihnen sogar im Cabildo, dem Gemeindehaus, ein Zimmer für die Nacht zu. Und er sagte, dass er es tat, weil Jimenez Ortuga ihn darum gebeten hatte. Schon wieder dieser Jimenez! Aber diesmal verstand Dorian seine Handlungsweise sofort, durchschaute seine Absicht. Wenn Dorian im Hause des Alcalde schlief, stand er unter Beobachtung und konnte nichts auf eigene Faust unternehmen. Am nächsten Morgen versuchte Dorian von Emiliano Lopez zu er-
fahren, wo Jimenez' Versteck lag. Doch der Alcalde behauptete, es nicht zu wissen. Er gab aber Dorian den Rat, so schnell wie möglich aus Contrabandista zu verschwinden, weil er sonst für nichts garantieren könne. Dorian legte sich nicht fest. Als er mit Cortez das Cabildo verließ, spürte er sofort die Feindseligkeit der Bewohner. Einige jüngere Männer hatten sich auf dem Platz zusammengerottet, hielten Steine in den Händen und beschimpften sie. Sie machten sie dafür verantwortlich, dass der weiße Adler sie mit neu entfachter Wut terrorisierte. Die aufgebrachte Meute zerstreute sich erst, nachdem Lopez ihnen die Todesstrafe angedroht hatte, falls Dorian oder Cortez etwas zustieß. Danach wurden sie nicht weiter belästigt. Dorian schickte Cortez zum Flugzeug, damit er den Schaden am Propeller behob. Er selbst schlenderte scheinbar ziellos durch die Straßen der alten Grubenstadt. Eine Indiofrau mit ihrem Kleinkind auf dem Rücken kam an ihm vorbei, und er rief entzückt: »Que nino bonito!« Alle Mütter Mexikos schmelzen förmlich dahin, wenn man ihre Kinder reizend findet. Doch diesmal wirkte die Zauberformel nicht. Die Frau floh erschrocken vor ihm. Dorian ging weiter. Wenig später kam er zu einem dunklen Hausflur. Plötzlich wurde eine knochige Hand herausgestreckt und eine dünne Stimme bettelte: »Un peso, soy pobre!« Dorian erblickte einen etwa zehnjährigen Jungen, der seinen Blick neugierig erwiderte. Er griff in die Tasche und holte etwas Kleingeld hervor. Auf Spanisch sagte er: »Wenn du mich zu Pedro führst, der mit Jimenez befreundet ist, dann gehört das ganze Geld dir.« Dem Jungen gingen die Augen über. Mit dem Geld konnte man sich in Contrabandista zwar nichts kaufen, aber gelegentlich machten einige Männer Expeditionen in einen der kleineren Orte. »Muchas gracias«, sagte der Junge und reckte seine Hand fordernd aus.
Dorian schüttelte den Kopf. »Zuerst führ' mich zu Pedro.« Der Junge konnte der Versuchung nicht widerstehen. Er nagte nervös an seinen Lippen, aber dann wischte die Aussicht, bald reich zu sein, alle seine Bedenken hinweg. Er gab Dorian mit einer Geste zu verstehen, ihm zu folgen, und ging voran. Dorian merkte, dass der Junge immer nahe einer Hauswand blieb, den Himmel ständig beobachtete und freie Plätze laufend überquerte. Diese Kinder wurden mit der Angst vor dem weißen Adler groß. Dorian wollte nichts anderes, als sie von dieser Geißel erlösen, aber anstatt ihm zu danken, verfluchten sie ihn. Irgendwie war das verständlich. »Das ist Pedro!«, rief der Junge und deutete nach vorn. Sie hatten die letzten Häuser der Stadt erreicht. Links stand eine Ruine. In einer der Mauern waren noch die Einschüsse der Maschinengewehrsalven aus der Revolution zu sehen. Ganz oben saß ein Junge, der dem Alter nach Pedro sein konnte. Er trug zerschlissene Blue Jeans, die ihm viel zu groß waren, und ein geflicktes Baumwollhemd. In seinem schwarzen Haar steckte eine weiße Adlerfeder. Dorian schüttete das versprochene Kleingeld in die kleinen Hände seines Führers. Er kam aber nicht mehr dazu, sich zu bedanken, denn der Junge rief Pedro plötzlich eine Warnung zu und gab gleichzeitig Fersengeld. Pedro sprang von der Mauer herunter und verschwand. Mit einem unterdrückten Fluch nahm Dorian die Verfolgung auf. Als er an der Ruine vorbeikam und vor sich den Jungen zwischen den Felsbrocken auftauchen sah, verflog auch sein Ärger. Er musste nur aufpassen, Pedro nicht aus den Augen zu verlieren, dann würde dieser ihn vielleicht sogar zu Jimenez führen. Und etwas anderes bezweckte Dorian gar nicht.
Jimenez war plötzlich hellwach. Er schlüpfte in Hose und Hemd und verließ das unter den Felsvorsprung gemauerte Haus. Er hatte es mit Felsbrocken gut getarnt, so dass ein Außenstehender es erst
sehen konnte, wenn er sich bis auf wenige Schritte genähert hatte, was bis jetzt noch nicht vorgekommen war. Er ging zu der kleinen Quelle hinüber – die einzige, die er im Umkreis von hundert Kilometern kannte – wusch sich und trank ausgiebig. Wasser war sein Abführmittel. Danach, noch vor dem Frühstück, ging er zu einer Höhle, in der ein Adler lebte. Er saß reglos auf der Stange, die mörderischen Fänge um das Rundholz gekrümmt. Er sah Jimenez aus seinen seelenlosen Augen an. Jimenez packte ihn mit zwei Fingern an dem mächtigen gekrümmten Schnabel; so begrüßte er ihn jeden Morgen. Der Adler breitete seine Zweieinhalb-Meter-Schwingen aus, ruckte mit dem Kopf, ohne sich aber ernstlich aus Jimenez' Griff befreien zu wollen. Noch vor drei Monaten hätte es sich Jimenez noch nicht erlauben können, ihm den Schnabel zuzuhalten. Denn zu diesem Zeitpunkt wäre er von ihm vermutlich in Stücke gerissen worden. Der Adler war ein gnadenloser Mörder. Aber Jimenez hatte es geschafft, seine Instinkte in die von ihm gewünschten Bahnen zu lenken. Ein Zufall war ihm dabei behilflich gewesen. Er hatte auf seinen Streifzügen durch die Canyons einige Federn des weißen Adlers gefunden, die dieser bei einem Kampf mit einem Menschen verloren hatte. Jimenez hatte sie an sich genommen und behütet wie einen kostbaren Schatz. Jedes Mal, wenn er den Adler fütterte, steckte er eine der weißen Federn in den Brocken Fleisch. Danach war er einen Schritt weitergegangen. Er band um den Hals eines Kaninchens eine weiße Feder, ließ es frei und hetzte den Adler darauf. Es war müßig zu erwähnen, dass sich der Adler das Kaninchen geholt hatte. Wichtig dabei war nur, dass er beim Schlagen seines Opfers wieder mit einer weißen Feder konfrontiert wurde. Er sollte sich merken, dass weiße Federn gleichbedeutend mit Töten und Fressen waren. Jimenez ließ von Pedro auch einen Drachen in die Luft steigen, der
mit zwei Federn des weißen Adlers behangen war. Jimenez' Adler riss den Drachen in der Luft in Stücke. Als er zu seiner Hand zurückflog, wurde er mit Coyotenfleisch belohnt. Da sah Jimenez den Zeitpunkt für gekommen, das nächste Experiment zu starten. Normalerweise greift ein Adler einen Artgenossen in der Luft nicht an. Jimenez wollte das ändern. Er besaß damals noch einen zweiten Adler. Diesem steckte er alle Federn des weißen Adlers, die er noch besaß, in den Rücken und ließ ihn frei. Dann schickte er seinen Racheadler nach. Beim ersten Mal missglückte das Experiment. Der Racheadler zeigte keinerlei Lust, über seinen Artgenossen herzufallen, obwohl er weiße Federn im Rücken hatte. Deshalb bestrafte Jimenez ihn, indem er ihn eine Zeitlang nicht fütterte. Der Adler geriet darüber so außer sich, dass er beinahe ihn, Jimenez, anfiel. Nur der gepanzerte Handschuh bewahrte ihn vor einem Armbruch oder Schlimmerem. Jimenez begann aufs Neue und richtete den Raubvogel mit toten Ködern ab, die mit weißen Federn gekennzeichnet waren. Der Racheadler reagierte. Wenige Tage später wiederholte Jimenez das Experiment mit dem mit weißen Federn gekennzeichneten anderen Adler. Diesmal war das Experiment ein voller Erfolg. Der Racheadler hatte gelernt, dass er hungern musste, wenn er seinen Artgenossen nicht schlug. Er gewann den Luftkampf und bekam zur Belohnung den Kadaver des besiegten Adlers. Jimenez hatte ihn fast schon dort, wo er ihn haben wollte. Nun konnte er ihn bald auf den weißen Adler loslassen. Aber er wollte kein Risiko eingehen und richtete den Racheadler weiterhin auf weiße Federn ab. Er sollte diese weißen Adlerfedern hassen lernen. Er, Jimenez selbst, lebte nur noch dafür, dem weißen Adler, der seine Frau und sein Kind, noch bevor er es gesehen hatte, umbrachte, den Garaus zu machen. Und der Racheadler musste dasselbe wollen. Jimenez fand in Pedro einen wichtigen Verbündeten. Den Jungen hielt der gleiche Hass gegen den weißen Adler aufrecht. Und gemeinsam schafften sie es, den Racheadler dahin zu bringen, wo sie
ihn haben wollten. Jimenez streifte den gepanzerten Handschuh über. Der Adler wechselte unruhig von einem Bein auf das andere, als Jimenez ihn verkappte und von der Fangschlinge löste. Der Racheadler lastete schwer auf seinem Unterarm, als er mit ihm ins Freie ging. Er stieg eine Felserhebung hinauf und ließ sich dort nieder. Pedro musste bald kommen. Jimenez hatte manchmal Gewissensbisse wegen des Jungen. Es war sicherlich nicht recht, ihn als Köder für den weißen Adler zu benützen. Doch Jimenez sah keine andere Möglichkeit, den weißen Adler heranzulocken. Und Pedro war klug – Jimenez hatte ihm geduldig eingehämmert, was er zu tun hatte, wenn der weiße Mörder der Lüfte auftauchte. Er musste sich nur flach in eine Bodenvertiefung werfen oder in eine Felsspalte, je nach Bodenbeschaffenheit, damit der Adler ihn nicht im Flug greifen konnte. Sie hatten alles hundertmal geprobt. Es konnte praktisch nichts schief gehen. Aber einen Unsicherheitsfaktor gab es immer. Man konnte nicht alle Eventualitäten voraussehen. Deshalb hatte Jimenez Gewissensbisse. Der Racheadler wurde auf Jimenez' Handschuh unruhig. So lange hatte er bisher noch nie auf seinen Einsatz warten müssen. Wo blieb denn nur Pedro? Jimenez erhob sich. Und da sah er ihn. Das heißt, er sah zuerst die weiße Feder in seinem Haar. Diese verhasste weiße Feder! »Jetzt zeige, was du kannst, Racheadler!«, murmelte Jimenez. Er hob die Hand, um ihm die Kappe abzunehmen. Zögerte. Eine unbestimmte Vorahnung riet ihm, dieses eine Mal den Racheadler nicht auf die weiße Feder zu hetzen. Er hatte das Gefühl, dass etwas schief gehen konnte. Dann schob er seine Bedenken beiseite. Er entkappte den Raubvogel und warf ihn mit einer Handbewegung in die Luft. Der Racheadler erhob sich mit einigen Flügelschlägen, kreiste über seinem Kopf und schraubte sich in einer Spirale in die Höhe.
Jimenez sah ihm nicht nach, sondern holte das Fernrohr aus seinem Gürtel und blickte zu Pedro hinüber. Durch das Fernrohr erkannte er, dass der Junge einen gehetzten Gesichtsausdruck hatte. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er lief, als sei er vor etwas auf der Flucht. Die weiße Adlerfeder steckte in seinem Haar. »Nimm sie in die Hand, Junge, damit du sie wegwerfen kannst, wenn der Adler sich auf dich stürzt!«, sagte Jimenez eindringlich, als könnte er durch seine Worte Pedro dazu veranlassen, das Richtige zu tun. Aber der Junge tat nichts und hielt sich nicht an die Anweisungen, die Jimenez ihm eingetrichtert hatte. Bleibe immer im unebenen Gelände! Lass den Himmel nicht aus den Augen! Trage die Adlerfeder nur in der Hand! Lass sie niemals im Haar stecken, wenn du zu mir kommst – sonst ist der Kopf ab! Pedro floh. Ja, er war auf der Flucht. Vor wem? Jimenez konnte in weitem Umkreis keinen Vogel sehen, nur den Racheadler, der hoch oben mitten in der Bewegung anzuhalten schien. Hatte er die verhasste weiße Adlerfeder bemerkt? Jimenez blickte durch das Fernrohr wieder zu Pedro hinüber. Jetzt entdeckte er seinen Verfolger. Es war der Gringo, der mit dem Flugzeug oberhalb von Contrabandista gelandet war. Dorian Hunter! Jimenez ballte die freie Hand zur Faust. Dieser verdammte Gringo hatte Pedro so durcheinandergebracht, dass er alle Vorsichtsmaßnahmen vergaß – der Junge würde den Gringo auch noch zu ihrem Versteck führen. Da stieß der Adler herab. Er sauste wie ein Stein vom Himmel. »Pedro! Weg mit der Feder!« Alle Geheimhaltung vergessend, sprang Jimenez auf dem Felsen hin und her und winkte mit den Armen. Dann legte er die Hände wie ein Trichter an den Mund: »Die Feder! Wirf sie fort.« Der Gringo war Pedro schon nahe auf den Leib gedrückt. Jetzt blieb dieser Hunter stehen, blickte in den Himmel und sah den Racheadler. Er hob die Winchester.
»Nein!« Jimenez traten Tränen der Wut in die Augen. Der Gringo durfte seinen Adler nicht abschießen. Er war sein ganzer Lebensinhalt. Er konnte nicht noch einmal von vorne beginnen. Hunter folgte mit dem Gewehrlauf dem Raubvogel, der immer noch im Sturzflug herabkam. Pedro merkte nichts davon. Und darüber war Jimenez irgendwie froh. Wie die Sache auch ausging, der Junge sollte nichts merken. Er sollte nicht darauf vorbereitet sein, wenn die mörderischen Fänge des Racheadlers das Leben aus seinem Leib schlugen – und er sollte nicht mit ansehen müssen, wie der verdammte Gringo den Adler abschoss. Jimenez hielt den Atem an. Jetzt bremste der Adler seinen Sturzflug, ging in die Schräge, schoss auf die Gestalt mit der weißen Feder im Haar zu. Jetzt! Ein Schuss krachte. Jimenez sah fassungslos, wie der Adler plötzlich abgebremst wurde, als sei er gegen eine unsichtbare Barriere gestoßen. Es schleuderte ihn förmlich zur Seite, die Schwingen weit ausgebreitet. Pedro stolperte, die weiße Feder wurde ihm aus dem Haar gerissen, wirbelte davon, und der Racheadler änderte seine Richtung, stürzte sich auf die Feder und fing sie mit den Krallen ein. Endlich wagte Jimenez zu atmen. Er meinte zu träumen. Der Gringo hatte nicht auf den Adler gezielt, sondern auf die weiße Feder – und sie Pedro vom Kopf geschossen. »Heilige Mutter!«, entfuhr es Jimenez erleichtert. Er schloss die Augen. Er zitterte am ganzen Körper. »Heilige Mutter!«
»Ein schönes Tier«, sagte Dorian anerkennend, während er den Adler betrachtete, der auf einen Ruf hin auf Jimenez' Arm zurückgekehrt war. Die weiße Feder ließ er aber erst los, als er verkappt war und Jimenez ihm einen Fleischbrocken gab.
Er hatte sich seinen Fraß verdient. Und mehr als das! Er brachte das unbezahlbare Tier in die Höhle zurück. Dorian erwartete ihn im Freien, zündete sich eine Players an und bot Jimenez die Packung an. Der Mestize nahm zwei Zigaretten und schob Pedro eine zwischen die bebenden Lippen. Der Junge schien erst jetzt zu erfassen, in welcher Gefahr er geschwebt hatte. »Das also ist Ihr Geheimnis, Señor Ortuga«, stellte Dorian fest. »Sie wollen den weißen Adler mit einem anderen Adler bekämpfen. Etwas Ähnliches habe ich mir fast gedacht. Aber ob das funktioniert?« »Der Racheadler wird den weißen Mörder besiegen«, sagte Jimenez überzeugt. »Ja, Sie haben ihn hervorragend auf den Zweikampf vorbereitet«, gab Dorian zu. »Aber hinter dem weißen Adler steht ein Mann mit mehr Erfahrung, mit noch mehr Hass, als Sie ihn jemals hervorbringen können. Und das wird vielleicht den Ausschlag geben.« »Das ist nicht Ihre Sache, Señor!« »O doch«, widersprach Dorian. Eine Weile herrschte Stille, dann sagte Jimenez: »Das war ein guter Schuss, Señor Hunter«, sagte er dann. »Ich habe Ihnen zu danken.« »Wie wollen Sie mir denn danken?« »Ich weiß es nicht.« »Aber ich. Auch ich möchte den weißen Adler zur Strecke bringen. Wir haben die gleichen Interessen. Wenn Sie sich dankbar erweisen wollen, dann arbeiten Sie mit mir zusammen.« »Der weiße Adler gehört mir!«, rief Jimenez heftig. »Und wenn Sie mir in die Quere kämen, würde ich Sie trotz allem töten, Señor Hunter.« »Dazu kommt es bestimmt nicht«, beruhigte ihn Dorian. »Die Rache überlasse ich gerne Ihnen. Sie können den weißen Adler töten. Ich möchte nur den Kopf des Mannes, der dahintersteckt. Er hält eine Frau gefangen, die für mich alles bedeutet. Mir geht es nur um sie.« Jimenez sah ihn mit einem mitleidigen Blick an, der bedeuten mochte, dass wenig Hoffnung bestand, dass diese Gefangene noch
lebte und es viel wahrscheinlicher war, dass Castillo sie den Raubvögeln vorgeworfen hatte. Aber daran glaubte Dorian nicht. Er kannte die Hintergründe gut genug, um Hoffnung zu hegen, dass Coco noch am Leben war. »Wie haben Sie sich den Kampf vorgestellt, Señor Hunter?«, wollte Jimenez wissen. »Erstens einmal bestehe ich darauf«, antwortete Dorian, »den Jungen nicht als Köder einzusetzen. Wir haben einen viel besseren Köder. Das Flugzeug.« »Damit kommen Sie dem weißen Adler nicht bei«, behauptete Jimenez. »Ich sagte auch, dass das Flugzeug nur der Köder für den weißen Adler sein soll«, erklärte Dorian. »Das Flugzeug wird ihn aus seinem Versteck locken. Es stellt eine Herausforderung an ihn dar. Und wenn er sich auf den Köder stürzt, lassen Sie Ihren Racheadler los.« »Das hört sich nicht schlecht an«, meinte Jimenez nachdenklich. »Und was wird aus mir?«, wollte Pedro wissen. Jimenez legte ihm die Hand auf die Schulter. »Señor Hunter hat Recht. Es war ein unverantwortlicher Leichtsinn von mir, dich dieser Gefahr auszusetzen. Du wirst bei mir bleiben und gemeinsam mit mir den Kampf der beiden gefiederten Giganten beobachten. Wir wollen Beobachter sein und in Gedanken mit dem Racheadler kämpfen. Und wir werden bei seinem Sieg mit ihm triumphieren. Das wird der schönste Tag unseres Lebens werden, Pedro.« Dorian blickte weg, als er sah, wie dem verbitterten, abgehärteten Mann die Augen bei seinen eigenen Worten vor Rührung feucht wurden. »Bis wann werden Sie Ihren Adler soweit haben, dass er den Kampf aufnehmen kann?«, erkundigte sich Dorian. »Er ist bereit.« »Dann könnten wir morgen zum entscheidenden Schlag ausholen.« »Warum nicht heute?« Dorian machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Selbst wenn wir heute noch das Flugzeug startbereit kriegen,
müssen wir zuerst einmal einen Erkundungsflug machen. Wenn es dabei keine Komplikationen gibt, können wir morgen zuschlagen. Einverstanden?« »Einverstanden.« Sie besiegelten die Abmachung durch Handschlag. Aber Jimenez gab Dorians Hand nicht sofort frei. »Der weiße Adler gehört mir!«, betonte er. »Das verspreche ich Ihnen«, entgegnete Hunter.
Coco musste Castillos Einladung nachkommen, wenn sie ihn nicht verärgern wollte. Sie musste wieder ihre Hütte verlassen, den schmalen Pfad unter dem Adlerhorst entlang balancieren und sich den mörderischen Blicken der unzähligen Raubvögel aussetzen. Sie hatte jedes Mal das Gefühl, dass diese Blicke sie durchbohrten, in ihren Leib hineinblickten und das Kind darin betrachteten. Aber als sie diesmal ihre Hütte verließ, hatte sie einen Poncho übergestreift, der ihren Körper vor den Blicken der gefiederten Mörder schützen sollte. Als sie vor Castillos Hütte ankam, stürzte dieser plötzlich mit einem Wutgeheul heraus. »Runter mit dem Fetzen!«, schrie er. Zerrte an ihrem Poncho, und der Falke auf seiner Schulter riss daran, bis der Stoff in Streifen hing. Als Coco ohne Poncho dastand, beruhigte sich Castillo sofort. Er war wieder der höfliche und zuvorkommende Gastgeber. »Tut mir Leid, Coco, dass ich mich so gehen ließ«, entschuldigte er sich. »Aber ich kann nicht zulassen, dass ein so herrlicher, makelloser Körper den Blicken meiner Tierchen verborgen bleiben soll. Ich muss nachdrücklich darauf bestehen, dass Sie sich ihnen in Ihrer ganzen Schönheit zeigen. Allerdings muss ich mich berichtigen. Einen kleinen Makel haben Sie schon …« Und sein Schulterfalke starrte auf die Wölbung ihres Leibes, dass es ihr kalt über den Rücken lief. »Aber das ist nichts, was sich nicht leicht beseitigen ließe. Doch nun kommen Sie in mein Haus. Ich habe Ihnen viel zu erzählen.«
Er hatte wieder eine verlockend anzusehende und duftende Mahlzeit zubereitet. Aber als sich Cocos Gedanken damit zu befassen begannen, woraus die Speisen bestehen könnten, brachte sie keinen Bissen hinunter. Castillo tat ein Übriges mit seinen im Plauderton wiedergegebenen Erzählungen, ihr den Appetit zu verderben. Er schilderte ihr in allen Einzelheiten, wie er im Körper des weißen Adlers die Grubenstadt Real de Contrabandista heimgesucht und fürchterliche Rache genommen hatte. Sie sah vor sich, wie der weiße Adler sich in einer Gasse einen wehrlosen alten Mann griff. Wie er des Nachts auf dem Turm der entweihten Kirche lauerte und auf seine Chance wartete, die auch nicht lange auf sich warten ließ. Gegen Mitternacht bekam er einen Mann und eine Frau in die Fänge. Castillo erzählte auch von dem Flugzeug, das verlassen dagestanden hatte. Es wäre nicht schwer für den weißen Adler gewesen, es am Boden zu zerstören, flugunfähig zu machen. Doch er wollte damit warten, bis es sich in die Luft erhob. Das Flugzeug! Castillo hatte es schon einmal erwähnt. Coco wurde hellhörig. Was hatte ein Flugzeug in dieser im wahrsten Sinne des Wortes gottverlassenen Gegend zu suchen? Gab es eine berechtigte Hoffnung, dass Dorian …? Aber nein, das war zu unwahrscheinlich. Wie hätte er den Weg in die Sierra Madre finden sollen? Wie hätte er erfahren können, dass sie hier gefangen war? Und doch klammerte sie sich an die Hoffnung, dass dieses Flugzeug ihr eine Chance zur Flucht bieten könnte. Sie bildete sich sogar schon ein, die Motorengeräusche des Flugzeuges zu hören. Castillo versteifte sich auf seinem Sessel. Er gab einen kaum hörbaren Laut von sich. Der Falke erhob sich von seiner Schulter und flog ins Freie. Castillo, dessen Auge er war, hatte ihn zu einem Erkundungsflug ausgeschickt. Coco war nun sicher, dass sie sich den Motorenlärm nicht nur einbildete.
»Was ist das für ein Geräusch?«, erkundigte sie sich. Jetzt war es nicht mehr zu hören, denn das Gekreische der vielen tausend Vögel im Canyon hob an und schluckte alle anderen Geräusche. Die Vögel waren unruhig. Irgendetwas musste vorgefallen sein, dass sie auf einmal so aus dem Häuschen waren. »Sie kommen, diese Narren«, flüsterte Castillo. »Sie wollen Vergeltung, ha, ha, ha!« Coco erhob sich, ging zur Tür. Die Sonne tauchte gerade dem Horizont entgegen – ein glutroter flammender Ball. Aus dem Canyon stiegen Scharen von Vögeln hoch. Und hoch über der Schlucht zog ein rötlicher Punkt langsam seine geradlinige Bahn. Hinter ihr heulte Castillo wieder auf. Es war selten genug, dass er einen Wutanfall bekam oder irgendwelche Regungen zeigte. Sie hatte ihn überhaupt nur zweimal aus der Rolle fallen sehen. Das erste Mal, als der weiße Adler den Kadaver der Harpyie brachte, das zweite Mal, als er sich über ihren Poncho erboste. Und jetzt. Er heulte förmlich vor Wut, schleuderte Gegenstände um sich, dass es polterte. Aber Coco drehte sich nicht nach ihm um. Sie blickte zu dem winzigen roten Punkt hinaus, der ein Flugzeug war. Es zog eine Spur grünlichen Nebels hinter sich nach. Der Nebel breitete sich im Luftraum des Canyons aus, sank in Schwaden herunter. Und wo die Vögel mit ihm in Berührung kamen, spielten sie plötzlich verrückt, flatterten seltsam mit ihren Flügeln, erstarrten dann mitten in der Luft zur Bewegungslosigkeit und fielen leblos in die Tiefe. Der grünliche Nebel tötete sie blitzartig zu Hunderten, ja zu Tausenden! Castillo tobte. Coco wandte sich endlich ihm zu. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie mit gespieltem Schrecken. Aber Castillo war nicht in der Lage, ihr Antwort zu geben. Der Schmerz über den Verlust seiner Raubvögel machte ihn wahnsinnig. Es schien, als erlebe er selbst den Tod eines jeden Einzelnen. Die ge-
äderte Haut, die seine Augenhöhlen überspannte, verfärbte sich dunkelrot. In seinem Gesicht zuckte es, als hätte sich jeder Nerv selbständig gemacht. So hatte ihn Coco noch nie gesehen. »Ich muss hinauf«, sagte Castillo mit krächzender Stimme. »Ich muss hinauf und meinen Tieren beistehen. Rühren Sie sich nicht von der Stelle, Coco. Ich bin bald wieder zurück. Und dann bringe ich Ihnen den Kopf des Piloten.« Er verschwand hinter dem Vorhang, der den hinteren Teil des Gebäudes vom Vordertrakt trennte. Coco sah ihm nach. Wenn sie ihm nun folgte, würde sie das Leben des Piloten retten können? Sie kehrte wieder zum Ausgang zurück. Das hochfliegende Flugzeug hatte längst abgedreht und verschwand in Richtung Osten. Noch immer fielen aus dem grünlichen Nebel tote Raubvögel in die Tiefe. Aber einigen Schwärmen war es gelungen, der tödlichen Wolke zu entgehen, sie zu umfliegen. Sie schickten sich an, die Verfolgung des Flugzeuges aufzunehmen. Aber dann sah Coco, wie sich aus dem Horst über ihrer Hütte der weiße Adler erhob, und die anderen Vogelschwärme machten wie auf Kommando kehrt. Das war ein sicheres Zeichen dafür, dass Castillos Geist in den Körper des weißen Adlers geschlüpft war. Sie blickte nachdenklich zu dem Vorhang, hinter dem Castillo verschwunden war. Irgendwo dort lag sein nun herrenloser Körper versteckt! Der Gedanke, diesen Körper zu vernichten, damit Castillo für ewig im weißen Adler gefangen war, stellte eine große Versuchung für sie dar. Langsam setzte sie sich in Richtung des Vorhanges in Bewegung.
Sie schob ihn beiseite und blickte in eine langgestreckte gewundene Höhle. Die Wände glitzerten wie von einem Meer von Edelsteinen und tauchten die Höhle in ein angenehmes Licht. Bevor Coco einen Schritt über die verbotene Schwelle trat, entsann sie sich, dass sie mit bloßen Händen nichts ausrichten konnte. Und sie war entschlossen, Castillos Körper zu töten. So eine günstige Ge-
legenheit würde sich ihr nicht wieder bieten. Sie kehrte in den Wohnraum zurück und fand eine Machete, die sie an sich nahm. So bewaffnet, kehrte sie in die Höhle zurück. Sie konnte nicht hoffen, dass Castillo seinen Körper unbewacht zurückließ. Aber sie fürchtete die unbekannten Gefahren nicht. Jetzt war eine Flucht lange nicht mehr so sinnlos wie anfangs. Sie wusste, dass sie sich nur nach Osten zu wenden brauchte. Irgendwann würde sie auf Menschen stoßen, und vielleicht könnte sie sogar die Männer in dem Flugzeug auf sich aufmerksam machen. Vorsichtig drang sie tiefer in die Höhle hinein. Als sie um eine Biegung kam, wurden die leuchtenden Edelsteine seltener, bis diese Lichtspender gänzlich verschwanden. Vor ihr lag undurchdringliche Dunkelheit. Doch davon ließ sie sich nicht abhalten. Sie ging unbeirrbar weiter, auch als sie nichts mehr sehen konnte. Sie tastete sich mit den Händen an der Höhlenwand entlang. Plötzlich stießen ihre Finger gegen etwas, das sich bewegte. Flughäute raschelten, scharfe Zähne bohrten sich in ihre Finger. Etwas fiepte … Sie zerdrückte die Fledermaus zwischen ihren Fingern. Aber auf einmal kam das Rascheln der Flughäute von allen Seiten. Krallen verfingen sich in ihrem Haar, zogen schmerzhafte Bahnen über ihr Gesicht und bohrten sich in die bloße Haut ihrer Arme. Coco schrie unwillkürlich vor Schmerz auf, als sie spürte, wie sich blutgierige Mäuler an ihrem Busen fest sogen. Sie schlug mit der Machete blindlings um sich, hörte, wie die Klinge dumpf in nachgiebige Körper einschlug und klirrend von Fels und Gestein abprallte. Mit der freien Hand versuchte sie, sich die Tiere vom Leibe zu halten, sie abzustreifen, bevor sie sich zu sehr in sie verbissen. Den Schmerz, den ihr die scharfen Zähne und die Krallen verursachten, spürte sie kaum noch. Sie wollte nur weiter. Für eine Rückkehr war es ohnehin bereits zu spät. Hinter ihr war ein undurchdringlicher Wall von flatternden Leibern. Und sie konnte durch die Vampirfledermäuse ebenso sterben, wie durch die Raubvögel. Welchen Unterschied machte das schon aus? Castillo würde es ihr bestimmt nicht verzeihen, dass sie ihm nach-
geschnüffelt hatte, und er würde sicher auch die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Entschlossen kämpfte sie sich durch den Schwarm von Fledermäusen weiter. Mit einem Fuß stieß sie gegen etwas Weiches. Sie stolperte und fiel darauf. Ihre Hände erfassten die Umrisse eines menschlichen Körpers. Er war steif und kalt – wie leblos. Coco ertastete das Gesicht. Ihre Finger suchten die Augen. Aber links und rechts der Nase waren keine Augen, nicht einmal Augenhöhlen. Wo sie bei anderen Menschen waren, spannte sich eine glatte, nachgiebige Haut. Endlich hatte sie Castillos Körper gefunden. Sie achtete nicht mehr auf die Angriffe der Vampirfledermäuse, sondern holte mit der Machete aus. Und schlug zu. Und wieder holte sie aus, schlug zu. Immer wieder. Ohne Unterbrechung. Bis alle Kraft aus ihr gewichen und sie nicht mehr in der Lage war, die Machete auch nur noch ein einziges Mal zu heben. Ermattet sank sie neben Castillos verstümmeltem Leichnam nieder. Die Fledermäuse waren wie vom Erdboden verschwunden. Coco war sich über die Konsequenzen ihrer Tat noch nicht klar. Aber sie fühlte sich erleichtert, wie von einer schweren Bürde befreit. »Bin ich also doch noch rechtzeitig zurückgekommen«, ertönte da Enrique Castillos Stimme hinter ihr. Sie wirbelte herum. Und da stand er. Umschwirrt von Tausenden von Leuchtpunkten, die ihm den Weg durch die Finsternis leuchteten. Sie sprang gehetzt auf, starrte auf das Ding, dass sie in dem Glauben, Castillos herrenlosen Körper vor sich zu haben, verstümmelt hatte. Es war eine unbeseelte Attrappe. »Der Warnruf meiner geflügelten Wächter erreichte mich gerade in dem Augenblick, als ich den weißen Adler das Flugzeug zerstören lassen wollte«, sprach Castillo weiter. Seine Stimme klang unnatürlich sanft. »Sie haben zwar dem Piloten und seinem Begleiter das Leben gerettet, aber dafür Ihr eigenes Todesurteil gesprochen, Coco.
Ich habe Ihnen nie getraut und gewusst, dass Sie sich irgendwann demaskieren würden. Magus VII. wird es mir sicherlich verzeihen, wenn ich Sie der gerechten Strafe zuführe.« Coco sprang blitzschnell auf und rannte den Weg zurück, den sie gekommen war. Ohne von den Fledermäusen angegriffen zu werden, kam sie aus der Höhle, durcheilte den Wohnraum und gelangte unbehelligt ins Freie. Dort jedoch erwarteten sie die Raubvögel. Sie drängten sie bis zu einer Felswand neben dem Abgrund und hielten sie in Schach, bis Castillo eingetroffen war. Coco hörte Ketten klirren, musste es mit sich geschehen lassen, dass Castillo sie an Armen und Beinen an den Fels schmiedete. In ihrer Verzweiflung versuchte sie einige Male, ihre Fähigkeiten einzusetzen. Aber es gelang ihr nicht, die Zeit anzuhalten, damit alles zur Bewegungslosigkeit erstarrte und sie fliehen konnte. Castillo musste ihr irgendetwas eingegeben haben, entweder mit den Speisen oder mit Dämpfen, die ihren Geist lähmten. Als sie an den Fels geschmiedet war, zogen sich die Vögel zurück. Nur der weiße Adler kreiste über ihr. Und sie wusste, dass er ihr Schicksal war. »Keine Angst, Coco«, sagte Castillo. »Sie brauchen nicht so schnell zu sterben. Sie werden lange leben und leiden. Kennen Sie die Sage von Prometheus? Bestimmt. Ihnen wird es so ergehen wie ihm. Jeden Tag nach Sonnenaufgang werde ich Sie im weißen Adler aufsuchen und mir einen Teil von Ihnen holen. Und dieses Stück wird bis zum nächsten Sonnenaufgang wieder nachwachsen. Und der weiße Adler wird es sich wieder holen.« Coco spuckte ihm ins Gesicht. Aber das berührte Castillo überhaupt nicht. »Übrigens, bevor ich es zu sagen vergesse: In dem roten Flugzeug saß auch Dorian Hunter … Ihr geliebter Dämonenkiller. Wenn er sich wieder blicken lässt und Sie an den Fels geschmiedet sieht, dann wird er mir in die Falle gehen. Sie haben ihm nur eine kurze Gnadenfrist verschafft, Coco.«
Dorians letzte und einsamste Nacht ging ihrem Ende zu. Es dämmerte bereits. Der Dämonenkiller verließ seinen Unterschlupf und machte sich zu Fuß auf den Weg ins Tal der Raubvögel. Er hatte im letzten Augenblick seinen ursprünglichen Plan umgestoßen. Als er mit Cortez im Flugzeug über das Tal geflogen war, hatte er erkannt, dass er auf dem Luftweg nicht an sein Ziel kommen konnte. Ihm ging es in erster Linie ja nicht darum, Castillo und seine Raubvögel zur Strecke zu bringen, sondern Coco zu sich zurückzuholen. Und an sie kam er nicht heran, wenn er im Flugzeug saß. Ganz im Gegenteil, wenn Enrique Castillo ihn erkannt hatte, dann konnte er sich leicht denken, aus welchem Grund er gekommen war, und würde seine Wut an Coco auslassen. Dorian war zuversichtlich. Er hatte erlebt, welche Wirkung Cortez' Sprühmittel auf die Vögel hatte. Kaum von der Giftwolke eingehüllt, starben sie wie die Fliegen. Zu Tausenden. Castillo musste wegen dieser ersten Schlappe außer sich vor Wut sein, und das brachte Coco in noch größere Gefahr. Obwohl es ihnen gelungen war, Tausende von Vögeln mit dem Giftstoff zu töten, hatten sie mit dem Flugzeug die Flucht ergreifen müssen. Nur der weiße Adler hatte die Verfolgung aufgenommen, war aber plötzlich umgekehrt. Dorian hatte Cortez daraufhin gebeten, ihn auf einem Plateau in der Nähe des Vogelcanyons abzusetzen. Den Ausschlag für diesen Entschluss hatte die Tatsache gegeben, dass Dorian nun sicher war, dass sich Coco im Canyon aufhielt. Er hatte sie durch das von Jimenez geliehene Fernrohr in der Tür eines der Gebäude stehen sehen. Und der Wunsch, sie endlich wieder zu sich zurückzuholen, war in ihm übermächtig geworden. Gut und schön, er war noch mit Lilian verheiratet. Aber er war auch sicher, dass sie einer Scheidung zustimmen würde. Man konnte Lilian vorwerfen, was man wollte, aber dumm war sie nicht. Sie hatte erkannt, dass sie sich auseinandergelebt hatten. Ei-
gentlich hatte sie sich ihm entfremdet und sich an Marvin Cohen geklammert. Er dachte nicht lange über dieses Problem nach. Cortez hatte ihn wenige Kilometer vom Canyon entfernt abgesetzt. Der Abschied war kurz gewesen. »Sollten wir uns nicht mehr wiedersehen, Mr. Hunter, so behalten Sie mich als freien Mann in Erinnerung. Sie haben mir gezeigt, dass man sich mit Willenskraft von der Abhängigkeit der Dämonen lösen kann.« Das muss ich mir merken, dachte Dorian, wenn die Zeit kommt, da der Pakt mit den Oppositionsdämonen seinen Sinn verlieren wird. »Sie werden es schon schaffen, Esperno«, erwiderte Dorian. Er schüttelte die Melancholie ab, die ihn bei diesem Abschied zu befallen drohte, und sagte ernst: »Sie haben nun noch einen Platz im Flugzeug frei. Bieten Sie Jimenez an, Sie zu begleiten. Für ihn bedeutet es bestimmt sehr viel, seinen Racheadler im Kampf mit dem Weißen beobachten zu können.« »Daran habe ich selbst schon gedacht.« Dies war ein neuer Tag, der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Heute würde sich viel entscheiden. Dorian suchte sich einen Weg entlang der Felswände, war darauf bedacht, immer Deckung zu haben, um aus der Luft nicht sofort gesehen werden zu können. Wenn Castillo seine geflügelten Kundschafter ausschickte, konnte er einer vorzeitigen Entdeckung nicht entgehen, denn den scharfen Blicken der Raubvögel würde er sich nicht entziehen können. Aber Dorian wusste, dass Cortez bald mit dem Flugzeug auftauchen würde und mit ihm Jimenez' Racheadler. Das würde Castillos Aufmerksamkeit ablenken. Die Stille der mexikanischen Bergwelt wurde bald von fernem Vogelgeschrei unterbrochen. Das zeigte Dorian an, dass er dem Canyon schon ganz nahe war. Er lauschte auf das Motorengeräusch eines Flugzeugs, konnte aber nichts hören. Der Dämonenkiller beschleunigte seine Schritte, folgte dem Gekreische der Vögel. Wie viele dieser dämonischen Lufträuber moch-
ten noch leben? Dorian vermutete, dass gut die Hälfte von ihnen durch Cortez' Sprühmittel ins Jenseits befördert worden war. Das musste Castillo in Zorn versetzt haben. Und sein blinder Hass würde ihn hoffentlich dazu verleiten, Fehler zu begehen, die tödlich sein konnten. Denn der Dämonenkiller war auf dem Weg zu ihm. Castillo rechnete wohl kaum damit, dass ihm von dieser Seite Gefahr drohen konnte. Er glaubte an eine Bedrohung aus der Luft, und der Herr der Lüfte war immer noch er. Dorian wollte einen Felsen umrunden und prallte zurück. Vor ihm lag der Canyon. Die ersten Sonnenstrahlen griffen über das Hochland, bedeckten die ihnen zugewandten Felsen mit ihrem Glanz, die Dämmerung löste sich auf, teilte sich in Licht und Schatten. Der Canyon lag noch im Schatten. Aber schon senkten sich die Sonnenstrahlen die Felswände hinab, hoben den Horst des weißen Adlers aus dem Dunkel. Was für ein majestätisches Tier! Bei seinem Anblick, wie er einem König gleich hochaufgerichtet auf der Felszacke hockte, konnte man seine Gefährlichkeit vor lauter Bewunderung vergessen. Jetzt breitete er seine Schwingen aus, schwang sie gemächlich in die Lüfte, sank mit den Sonnenstrahlen tiefer, als schwimme er auf ihnen. Zentimeter um Zentimeter wurden die Schatten verdrängt. Ein Schrei aus menschlicher Kehle. Da erblickte Dorian seine Geliebte. Die Sonnenstrahlen enthüllten zuerst ihr Gesicht, wanderten an ihrem Körper tiefer, gaben ihn frei, wie der Vorhang die Bühne für ein grausiges Schauspiel. Dorian stockte der Atem. Cocos nackter Körper war nun schon bis zu den Knien hinab in gleißendes Licht gebadet. Sie war mit Ketten an Armen und Beinen an den Fels geschmiedet. Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, um zu ahnen, was das zu bedeuten hatte. Der Adler war im Begriff, sich auf sein Opfer zu stürzen. Von Castillo war nichts zu sehen. War sein Geist im Körper des weißen Adlers aufgegangen? Und sein Körper? Dorian rannte los. Er vergaß alle Vorsicht. Die Winchester in seiner Hand war auf diese Distanz nutzlos. Der erste Schuss musste sitzen!
Wenn er nicht traf, war auch er selbst verloren. Er musste näher heran, bevor der weiße Adler … Dorians Gedanken jagten einander. Er würde zu spät kommen. Er musste zu spät kommen! Denn jetzt stoppte der Adler seinen Höhenflug, kehrte um und schoss wie vom Katapult geschleudert auf Coco zu. Wo blieb denn nur Cortez mit der Maschine! Dorian riss die Winchester im Laufen an die Schulter und feuerte das Magazin leer. Die Chancen, dass er den weißen Adler traf, standen 1 zu 1000. Aber was hätte er tun sollen? Als die Detonation der Schüsse verhallt war, lag eine unheimliche Stille über dem Canyon. Kein Vogellaut war zu hören. Doch ein anderes Geräusch erklang. Motorenlärm. Und dann sah Dorian sie, die Piper Super Cub. Er hätte einen Freudensprung tun können. Denn der weiße Adler schwenkte knapp vor Coco ab und stieg in die Höhe, wandte sich dem mechanischen Gegner zu, der da so unvermittelt auftauchte. Aus den Felswänden erhoben sich Scharen von Raubvögeln, stürmten mit Todesverachtung gen Himmel, zu dem verhassten roten Ding hinauf, aus dem sich wieder die giftige grüne Wolke löste. Dorians Blicke wandten sich dem Boden zu. Dort war Coco an den Fels geschmiedet. Jetzt sah sie in seine Richtung. Ihr Gesicht drückte grenzenlose Erleichterung aus. Dann wieder plötzlich Schrecken. Sie rief ihm irgendetwas zu. Er konnte es nicht hören, denn die Schwärme der Raubvögel stimmten ein ohrenbetäubendes Gekreische an. Dorian achtete nicht auf das, was über seinem Kopf geschah. Er konzentrierte sich auf Coco, die sich verzweifelt in den Ketten wand. Schon war er bei ihr, zerrte mit aller Kraft an den Fesseln. »Du musst zuerst Castillo erledigen«, rief Coco ihm zu. »Sein Körper liegt in einer Höhle hinter dem Haus. Er hat auch den Schlüssel für die Ketten bei sich. Beeile dich, Dorian! Töte seinen Körper, dann ist er im weißen Adler gefangen! Vernichte seinen Körper, bevor er ihn wieder beseelt!« Dorian hatte nicht einmal Gelegenheit gefunden, Coco mit einem Wort zu begrüßen. Nur einmal brachte er ihren Namen über die Lippen, dann entfernte er sich schon wieder von ihr, lief zu dem
Haus, auf das ihre aus der eisernen Schelle ragende Hand wies. »Nimm dich vor den Vampirfledermäusen …«, hörte er sie ihm nachrufen. Der Rest ging unter in dem Lärm, der vom Himmel herunterkam. Er warf nur einen Blick hinauf, bevor er in das Gebäude drang. Es regnete tote Raubvögel aus der Giftwolke. Die anderen, die die tödliche Barriere durchbrochen hatten, stießen auf das Flugzeug hinab, aus dessen Kanzel pausenlos Mündungsfeuer blitzten. Aber die dämonischen Vögel ließen sich nicht abhalten. Einige durchbrachen das Sperrfeuer und rammten das Flugzeug. Dorian kam in den Wohnraum und orientierte sich kurz. Es gab nur eine einzige Tür in der Rückseite der Wand. Sie war verhangen. Er sah die achtlos in eine Ecke geworfene Fackel. Feuer war immer wirkungsvoll im Kampf gegen die Dämonen. Er nahm die Fackel an sich und zündete sie mit seinem Feuerzeug an. Dann stürmte er durch den Vorhang in die Höhle. Er ließ die Zone mit den leuchtenden Edelsteinen schnell hinter sich, drang in das Reich der Vampirfledermäuse vor. Er schwang die Fackel vor seinem Gesicht, hörte Knistern und Fauchen, als die trockenen Leiber der Blutsauger in Flammen aufgingen. Dorian lief durch die Reihen der geflügelten Wächter hindurch, entfachte ein Inferno aus lebenden Fackeln, und dann war er an seinem Ziel. Zu seinen Füßen lag der starre Körper eines Mannes, der keine Augen hatte. Seine Augenhöhlen waren mit einer blassen, bläulich geäderten Haut überzogen. Noch war dieser Körper herrenlos, der Geist, der ihn beseelte, war im Körper des weißen Adlers. Ohne lange zu überlegen, legte Dorian Feuer an den Körper des Dämons. Eine Stichflamme zuckte hoch, und er brannte wie Zunder. Die Rechte öffnete sich unter der Hitzeeinwirkung. Darin lag der Schlüssel zu Cocos Fesseln. Dorian nahm ihn an sich und machte sich auf den Rückweg. Als er ins Freie kam, wurde er Zeuge eines schrecklichen Dramas. Obwohl die Raubvögel unzählige Verluste erlitten hatten, gingen sie aus der Schlacht gegen das Flugzeug als Sieger hervor. Einige Vo-
gelkörper schlugen gegen den Propeller, es gab ein unheimliches, weithin hörbares krachendes Geräusch. Das Flugzeug neigte sich zur Seite und sackte vornüber ab, fiel wie ein Stein in die Tiefe. Ein Körper stürzte aus der Kanzel, schlenkerte mit Armen und Beinen, bis eine Wolke aus dunklen Vogelkörpern ihn einhüllte. Dorian senkte den Kopf, wandte sich Coco zu, die immer noch an den Fels gekettet war.
Castillo meinte, durch den auf ihn einstürmenden Schmerz den Verstand verlieren zu müssen. Als sich der Schmerz wieder zu legen begann, erkannte er in maßlosem Entsetzen, was er zu bedeuten hatte. Sein Körper war gestorben. Nun war er im weißen Adler gefangen, auf ewig verdammt, in diesem Körper zu leben. Mit einem langgezogenen Schrei aus der Kehle des Adlers mobilisierte er alle seine Vögel zum letzten Angriff gegen das Flugzeug, mit dem sie bisher nur gespielt hatten, und kurz darauf konnte er den Anblick der abtrudelnden Maschine genießen. Aber dieser Anblick machte nicht den Schmerz über den Verlust seines menschlichen Körpers wett. Seine Adleraugen erfassten in der Ferne den Mann, der ihm das angetan hatte. Der Dämonenkiller rannte über die Plattform zu jener Frau, die Prometheus' Schicksal hatte erleiden sollen. Es würde ihm eine Genugtuung sein, Dorian Hunter ein ähnliches Schicksal zuzufügen wie seiner geliebten Coco. Nun, er war bereit, das Beste aus seiner Situation zu machen. Hatte er nicht immer die anderen Dämonen bedauert, dass sie in den Körpern von Menschen dahinvegetieren mussten? Er würde leben, frei sein im Körper des weißen Adlers. Er brauchte nur noch einen einzigen Gegner zu beseitigen, der ihm gefährlich werden konnte. Als er sich mit kräftigen Flügelschlägen dem Dämonenkiller nähern wollte, fiel von oben ein Schatten auf ihn. Der Schatten eines anderen Adlers. Es war ein prächtiges Exemplar, groß, kräftig wie der weiße Adler.
Aber es war ein fremder Vogel. Er gehörte nicht in diesen Canyon. Es war ein Feind! Castillo, im Körper des Weißen, erkannte das in dem Augenblick, in dem der Racheadler sich mit gespreizten Fängen auf ihn herabsenkte. Im nächsten Augenblick spürte er einen glühend heißen Wirbelwind durch sein Gefieder fahren. Dann war der Racheadler auch schon über ihn hinweggeflogen. Der brennende Schmerz auf dem Adlerrücken brachte Castillo zur Raserei. Aber er konnte sich diesem neuen Gegner nicht zuwenden, denn nun erkannten seine Adleraugen, dass es Dorian Hunter gelungen war, Coco aus ihren Ketten zu befreien. Der andere Adler konnte warten. Das war ohnehin kein ernsthafter Gegner für ihn. Viel schlimmer war es, wenn er zuließ, dass der Dämonenkiller dieses Mädchen entführte. Wenn er das nicht verhinderte, dann würde Magus VII. ihn für alle Zeiten in die Verdammnis schicken. Und das war schlimmer als der Tod. So begnügte sich der weiße Adler mit einer Scheinattacke gegen den anderen, erreichte, dass er sich in die Sicherheit größerer Höhen zurückzog und wandte sich dann den beiden Menschen zu, die über die Plattform flüchteten. »Dorian! Achtung!« Das war das Letzte, was der Dämonenkiller von Coco hörte. Er blickte sich um, sah den weißen Adler mit ausgebreiteten Fängen heranschießen, die Krallen zum Greifen gekrümmt, ein furchterregendes Monstrum. Dorian stieß Coco zur Seite und stellte sich dem Adler zum Kampf. Er riss die Winchester hoch. Doch als er abdrückte, gab es nur ein Klicken. Er hatte vergessen nachzuladen! Dorian schloss mit dem Leben ab. Er drehte die Winchester herum, packte sie am Lauf und erwartete den Mördervogel. Doch zu spät erkannte er, dass der weiße Adler es nicht auf ihn abgesehen hatte, sondern auf Coco. Als Dorian ihn herumschwenken sah, sich auf Coco stürzen, sie mit den Fängen unter der Achsel packen, war es zu spät, irgendetwas für ihre Rettung zu tun. Mit ihr in den Klauen, hob der Adler vom Boden ab, flog in den
Canyon hinaus. Dorian musste hilflos zusehen, wie Coco entschwand. Er konnte nichts unternehmen, musste den Adler mit seiner Beute ziehen lassen, wenn er Cocos Leben nicht gefährden wollte. Während Dorian dem weißen Adler nachblickte, sah er einen anderen Adler aus großer Höhe herabstoßen. Es war der Racheadler Jimenez'. »Nein!«, entfuhr es Dorian. »Nur das nicht!« Aber der lautlose Tod in Gestalt des Racheadlers stieß unbeirrbar auf seine Beute zu. Da der weiße Adler durch Cocos Gewicht behindert war, hatte der Racheadler alle Chancen, gegen den Dämonenvogel zu siegen. Damit war Coco verloren. Sie würde mit dem weißen Adler zum Grund des Canyons hinunterstürzen. Dorian lud mit fiebernden Fingern die Winchester. Doch kaum hatte er gezielt, da war der Racheadler über seinem Opfer. Ein furchtbarer Hieb mit den Fängen, der Kopf des weißen Adlers wurde herumgeschleudert. Der weiße Adler war auf der Stelle tot. Dorian konnte nicht hinsehen. Er musste die Augen schließen. Als er sie wieder öffnete, sah er den toten Körper des weißen Adlers fallen. Aber er traute seinen Augen nicht. Coco war nicht mehr bei ihm. Sie war verschwunden. Bedeutete das, dass sie im letzten Augenblick durch schwarze Magie vor dem Absturz gerettet worden war? Vielleicht hatte Castillo im Angesicht des Todes Olivaro angerufen, und der Fürst der Finsternis hatte Coco gerettet, da er für den sterbenden Dämon im Körper des weißen Adlers nichts mehr tun konnte. Dorian wusste es nicht. Aber er durfte hoffen, dass Coco noch am Leben war. In den Canyon war Stille zurückgekehrt. Die Raubvögel flogen in alle Himmelsrichtungen davon. Hoch über ihnen kreiste ein einsamer Adler. Dorian musste sich nun auf den langen und beschwerlichen Marsch nach Real de Contrabanista machen. Irgendwie würde er von dort in die Zivilisation zurückkommen.
Aber sein Weg führte über diese Grubenstadt. Es war seine Pflicht, den Bewohnern zu sagen, dass sie keine Angst mehr vor dem weißen Adler zu haben brauchten. Und dort war auch ein Junge, dem er von Jimenez' Heldentod erzählen musste. Und dass der Racheadler, den sie zusammen abgerichtet hatten, den weißen Adler getötet hatte. Obwohl es Dorian nicht gelungen war, Coco zu sich zurückzuholen, empfand er es doch nicht als Niederlage. Es war kein persönlicher Sieg für ihn gewesen. Aber ein Sieg des Guten über das Böse. ENDE
Vorschau Das Kind der Hexe von Ernst Vlcek, Neal Davenport u. a.
Dorian hat endlich Gewissheit erhalten. Coco befindet sich nicht aus freien Stücken bei Olivaro – im Gegenteil, sie erwartet ein Kind des Dämonenkillers, das sie mit allen Mitteln vor der Schwarzen Familie schützen will. Was plant der selbsternannte Fürst der Finsternis, und wie lange wird Coco vor ihm in Sicherheit sein? In seiner Verzweiflung lässt Dorian sich auf ein geradezu wahnsinniges Experiment ein. Ein magischer Körpertausch gibt ihm die Möglichkeit, sich Olivaro unerkannt in der Gestalt eines anderen Mannes zu nähern. Aber damit hat er noch nichts gewonnen. Der Körper, den er wählte, gehört einem Werwolf, der zum Sterben verurteilt ist …