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DIE-Reihe Kriminalromane Jerzy Edigey Der Tod wartet vor dem Fenster
Kriminalroman
Wenn ein Major die Leitung ...
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DIE-Reihe Kriminalromane Jerzy Edigey Der Tod wartet vor dem Fenster
Kriminalroman
Wenn ein Major die Leitung der Milizwache in einem kleinen Warschauer Vorort übernimmt, so müssen dafür außergewöhnliche Gründe vorliegen. Sie liegen vor: Der frühere Kommandant ist ermordet worden, und die Untersuchungskommission unter der Leitung des jungen Hauptmanns Lewandowski fahndet vergeblich nach dem Täter, zumal sich kein auch nur einigermaßen plausibles Tatmotiv finden läßt. Der Chef der zuständigen Wojewodschaftskommandantur beauftragt schließlich Major Niewarowny, unabhängig von Lewandowski den Fall zu untersuchen. Die beiden sind in gewissem Sinne Rivalen: Der Hauptmann schwört auf die modernen wissenschaftlichen Fahndungsmethoden und war damit erfolgreicher als der Major; Niewarowny ist ein Verfechter der alten, ‚individualistischen‘ Schule, für ihn sind Intuition und Einfühlungsvermögen das wichtigste. Als Nachfolger des Ermordeten macht er sich eingehend mit dem örtlichen Milieu vertraut und stößt dabei auf eine Spur, die ihm anfangs selbst unwahrscheinlich vorkommt. Dennoch ist am Ende zwar der Fall eindeutig gelöst, nicht aber die Frage: Wissenschaft oder Intuition?
Jerzy Edigey
Der Tod wartet vor dem Fenster
Verlag Das Neue Berlin
Titel der Originalausgabe: Śmierć czeka przed oknem Aus dem Polnischen von Roswitha Buschmann
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1975 (deutschsprachige Ausgabe) Lizenz-Nr.: 409-160/87/75 • LSV 7224 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622 268 8 EVP 2,- Mark
1. Im November
Gegen Morgen regnete es nicht mehr. Aber schwere, bleierne Wolken, mit Regen, vielleicht sogar mit Schnee vollgesogen, zogen tief am Himmel entlang, dicht, so schien es, ganz dicht über die Pappeln hinter der Friedhofsmauer hinweg. Der Sarg wurde schon vom Hause an von den Kollegen und Freunden des Toten getragen, und auch von Einwohnern des Ortes, die Władysław Kwaskowiak, Hauptwachtmeister der Miliz, gekannt und gewiß so manches Mal seine Hilfe und seinen Schutz in Anspruch genommen hatten. Alle fünfzig Meter wechselten sich die Männer ab, und es fehlte nicht an Freiwilligen für diesen traurigen letzten Dienst, den man heute dem Leiter der Milizwache in dem Warschauer Vorort Podleśna erwies. Hinter dem Sarg gingen drei kleine Kinder – die beiden Söhne und die Tochter des Verstorbenen. Dessen Frau, in einen großen schwarzen Schleier gehüllt, hielt der Kreiskommandant der Miliz aus Ruszków untergefaßt. Der blonde junge Mann zur Linken der Witwe, der ein Bein leicht nachzog, war Janusz Kwaskowiak, der 8
Bruder des Verstorbenen. Eine lokale Fußballgröße. Er hinkte, weil er sich vor zwei Wochen bei einem Spiel gegen ‚Orkan Wołomin‘ eine Zerrung zugezogen hatte. Mindestens dreihundert Personen gingen in dem Trauerzug mit. Für Podleśna sehr viel. Jeder zehnte Einwohner des Ortes war auf dem Friedhof, obwohl die Zeremonie am Vormittag eines normalen Arbeitstages stattfand. Władysław Kwaskowiak war aber auch bekannt und beliebt gewesen. Zudem ist die Beerdigung eines Mordopfers stets eine Sensation und lockt die Neugierigen in Scharen an, was erst, wenn der Kommandant der Milizwache das Opfer ist. Der Sarg hatte das Friedhofstor passiert. Noch ein paar Dutzend Meter, und der Trauerzug machte vor dem frisch geschaufelten Grab halt. Das übliche Ritual nahm seinen Lauf. Der Stellvertretende Kommandant der Wojewodschaftsmiliz, Oberst Niegolewski, nahm im Namen seiner Kollegen von dem Toten Abschied. Er sprach von den Verdiensten des Verstorbenen, von dessen Kampf gegen die Kriminalität, einem Kampf, den der Hauptwachtmeister mit dem Leben bezahlt habe. Der Oberst deutete an, auch dieses Verbrechen werde nicht ungesühnt bleiben. Man werde den Verbrecher fassen, und ihm würde die gerechte Strafe zuteil. Als nächste sprachen: im Namen des Gemeinderates Adam Rembowski, der Vorsitzende, und im Namen des ‚Podleśnaer Freundeskreises‘ Doktor Zygmunt Workucki. Darauf trat Schweigen ein. Nur der dumpfe Aufprall der Erdbrocken, die auf den Sarg hinabgeworfen wurden, war zu hören. Das übrige besorgten die Totengräber, die einen neuen Grabhügel aus gelbem Sand formten, der bald unter Kränzen und Blumengebinden verschwand. Bekannte und Unbekannte traten zu der Witwe. Sie murmelten konventionelle Worte des Beileids, küßten ihr die Hand und verließen einzeln oder in Grüppchen den Friedhof. 9
Etwas abseits, durch Kreuze und Grabmäler verdeckt, stand ein Mann in dunkelgrauem Mantel. Groß, das Haar graumeliert, das Gesicht von Falten überzogen. Auf den ersten Blick mochte er fünfundsechzig oder älter sein. Dabei hatte er vor vier Jahren erst die Fünfzig überschritten. Erst als der Unbekannte ein paar Schritte machte, um die Leute besser zu sehen, die im Halbkreis den auf einem Sandhäuflein abgestellten Sarg umgaben, hätte man die geschmeidigen, energischen Bewegungen bemerken können, die für kräftige, gut durchtrainierte Leute charakteristisch sind. Fast keiner von den auf dem Friedhof Versammelten, ein paar Mitarbeiter der Miliz ausgenommen, kannte diesen Mann, der da an der Trauerzeremonie teilnahm. Er allein näherte sich der offenen Grube nicht und warf nicht die symbolische Handvoll Erde auf den Sarg. Dafür beobachtete er interessiert die Anwesenden. Er musterte jedes Gesicht, als wollte er es sich genau einprägen. Da, beim Echo des Sandes, der auf den Sargdeckel aufschlug, verzog der Unbekannte das Gesicht zu einem merkwürdigen Lächeln und sagte, halb zu sich selbst, halb an den jungen Mann neben ihm gewandt: „Vielleicht ist der Mörder auf dem Friedhof und hat auch eine Handvoll Erde ins Grab seines Opfers geworfen?“ „Werfen würde er vermutlich, aber einen Stein“, erwiderte der junge Mann. „Einen Stein? Wieso?“ „Das wissen Sie nicht?“ wunderte sich der Befragte. „Die Sage stammt aus dem Mittelalter: Die Freunde des Toten und ihm wohlgesinnte Menschen werfen Erde auf den Sarg, seine Feinde aber legen Steine auf sein Grab.“ „Wahrhaftig“, bestätigte einigermaßen zerstreut der Unbekannte. Der junge Mann wartete ein Weilchen, und als er merkte, daß sein Gesprächspartner die Unterhaltung nicht fortzusetzen gedachte, trat auch er an das offene 10
Grab und warf eine Handvoll Sand hinab. Dann lenkte er, wie die anderen, seine Schritte in Richtung Friedhofstor. Allmählich zerstreute sich die Menge. Schließlich strebten selbst die Familie und die engsten Kollegen des Toten dem Ausgang zu. Auf dem Friedhof blieben nur das Grab und der Unbekannte. Bedächtig ging der hochgewachsene Mann zu dem blumenbedeckten Hügel hinüber und starrte lange auf das Grab, als erwartete er, daß der Tote ihm ein Zeichen geben oder alle Fragen beantworten würde, die sich ihm auf die Lippen drängten. Aber auf dem Friedhof war es still. Der Tote befand sich bereits außerhalb des menschlichen Machtbereiches. Major Bronisław Niewarowny, seit heute neuer Kommandant der Milizwache in Podleśna, wußte, daß niemand ihm seine Fragen beantworten würde. Er selbst mußte das Rätsel lösen. Würde er dazu imstande sein? Die Zeit des Ruhms und der Herrlichkeit von Major Niewarowny, jene Zeit, da er der Schrecken der Verbrecher gewesen war und man ihm die schwierigsten Fälle übertragen hatte, war schon vor gut zehn Jahren zu Ende gegangen. Einer, ein zweiter, ein dritter Fehler … Vielleicht nicht Fehler, sondern gewöhnliches Pech? Ein nicht aufgeklärter Fall und ein zweiter, den später ein anderer löste … Durchaus nicht, weil Niewarowny bei der Ermittlung etwas vernachlässigt hätte. Er hatte einfach über zuwenig Angaben verfügt, um das Problem lösen zu können. Seinem Nachfolger waren nicht nur die Arbeit seines Vorgängers zugute gekommen, sondern auch neue Umstände, die zufällig aufgedeckt worden waren. Natürlich hatte man das ganze Verdienst ihm zugeschrieben. Überdies hatten sich die Arbeitsbedingungen und die Methoden des Ermittlungsdienstes geändert. Als man 11
Bronisław Niewarowny 1945 geradewegs von den Partisanen zum soeben in Radomsk entstandenen Milizrevier abkommandierte, hatte man noch anders gearbeitet. Niemand hatte schon von Infrarotstrahlen und sonstigen Mitteln gehört, noch von den ‚klugen‘ Apparaten und Maschinen des Instituts für Kriminalistik. Die eigene Intuition, Beobachtungsgabe und vor allem der eigene Mut, der mitunter an Verwegenheit grenzte, mußte für all das einstehen. Die Zeiten hatten sich geändert, die Epoche des ‚Heldentums‘ war unwiederbringlich vorbei. Den Platz des möglicherweise sogar ‚genialen‘ Detektivs hatte der niemals irrende Apparat oder Computer eingenommen. Im Kampf gegen die Kriminalität wurden die individuellen Heldentaten durch die kollegiale Zusammenarbeit einer spezialisierten Gruppe von Sachverständigen ersetzt, von Leuten mit Hochschulabschluß, nicht selten mit einem akademischen Grad. Bronisław Niewarowny konnte und wollte das nicht verstehen. Wenn er eine Ermittlung leitete, vertraute er mehr auf seinen untrüglichen Instinkt und sein Glück als auf diese ‚neumodischen Erfindungen, die keinen Pfifferling wert sind‘. Niemand bestritt Niewarownys Verdienste und schmälerte seine einstigen Erfolge. Aber mit der Zeit zog man ihn zu komplizierteren Fällen nicht mehr hinzu und übertrug ihm irgendwelche Verwaltungsarbeiten. Das fiel mit schwerwiegenden Ereignissen innerhalb seiner Familie und mit einer langwierigen Krankheit zusammen. Sie war die Folge seines zweijährigen Partisanendaseins im Wald und einer schweren Lähmung, die ihm eine Kugel aus der Pistole eines Verbrechers beibrachte, als sie buchstäblich am Kopf des Milizoffiziers abprallte. Einen anderen hätte man schon längst auf Rente gesetzt oder zu einer Arbeit außerhalb des Apparates abgeschoben. Mit Niewarowny aber war die Sache wesentlich 12
komplizierter. Von Rente wollte er nichts hören. Und eine Beschäftigung in einem anderen Beruf für ihn zu finden? Für einen Mann, der 1938, gleich nach dem Abitur, die Uniform angezogen und sie über dreißig Jahre nicht mehr ausgezogen hatte? Zuerst aktiver Dienst, später der Krieg und die Flucht aus dem Lager, danach Partisan in den Wäldern bei Radomsk, die folgenden Jahre bei der Miliz. Nein, nicht der Wojewodschaftskommandant, übrigens ein Schulkamerad von Niewarowny und sein Freund aus jenen Jahren, und auch nicht ‚die oben‘ vom Präsidium der Miliz hatten jemals einen derartigen Vorschlag gemacht. Sie wußten sehr gut, daß Niewarowny nirgendwo sonst arbeiten konnte und daß die Pensionierung sein Ende gewesen wäre. Sowohl im moralischen als auch im physischen Sinne. Es galt, einen anderen Ausweg zu finden. Und man fand ihn. In der Kommandantur bestand eine Arbeitsgruppe Statistik. Eine gewisse Frau Leutnant leitet sie, der zwei Mitarbeiterinnen und ein Wachtmeister zur Seite standen. Aus dieser Arbeitsgruppe wurde ein ‚selbständiges Referat‘ zur Untersuchung des Rowdytums in der Wojewodschaft gebildet. Selbständig deshalb, weil der Major ja dienstlich nicht der Frau Leutnant unterstehen konnte. Man stellte noch einen Schreibtisch ins Zimmer und nagelte ein zusätzliches Schildchen an die Tür. Niewarowny war der Meinung, dieses Scheinreferat sei eigens geschaffen worden, um ihn auf ein Nebengleis abzuschieben. Folglich wurde er noch mürrischer, war noch gereizter und seinen Kollegen und Freunden gegenüber noch weniger höflich. Morgens kam er in die Kommandantur, hängte wortlos seinen Mantel in der Garderobe auf und setzte sich, nachdem er eine Art Gruß gemurmelt hatte, an seinen Schreibtisch. Den ganzen Tag über faltete und entfaltete er die verschiedens13
ten Papierchen, die ihm aus den verschiedensten Abteilungen zugingen. Er wußte sehr wohl, daß seine Arbeit von einem Milizangestellten ohne einen einzigen Streifen auf der Schulter hätte verrichtet werden können. Bei Dienstende schloß der Major seine Schublade ab, nahm seinen Mantel und verließ, ohne sich zu verabschieden, wortlos das Gebäude der Kommandantur. Seit Jahren hatte ihn keiner mehr auf einer Festveranstaltung oder im Kasino gesehen, obwohl er früher ein fideler Bursche und kein übler Gesellschafter gewesen war. Er ging geradewegs in seine Junggesellenwohnung in der Raszyńskastraße und braute sich dort etwas zum Essen zusammen. Danach unternahm er einen einsamen Spaziergang. Mitunter versuchten ihm die alten Freunde klarzumachen, daß er ein Sonderling geworden und es höchste Zeit sei, seinen Lebensstil und auch die Art zu ändern, in der er mit den Leuten verkehrte. Die Energischeren versuchten ihn anläßlich irgendwelcher Feiertage oder Namenstage gewaltsam mitzuschleifen. Sie bereuten es hinterher bitter. Durch seine finstere Miene und sein Schweigen hatte der Major sehr bald erreicht, daß selbst die ausgelassenste Gesellschaft erstarrte. So war es bis gestern gewesen. Bis zu dem Moment, da das Telefon klingelte und der Major im Hörer die Stimme von Fräulein Krysia, der Sekretärin des Wojewodschaftskommandanten, erkannte. „Der Oberst bittet Sie, Genosse Major, in einer sehr wichtigen und dringenden Angelegenheit zu ihm zu kommen.“
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2. Weshalb starb dieser Mann?
Bronisław Niewarowny hörte sich die Bitte des Wojewodschaftskommandanten an, die ihm die Sekretärin da übermittelte, legte den Hörer auf und sagte, während er vom Schreibtisch aufstand, zu seiner Abteilungsleiterin im Range eines Leutnants: „Ich muß zum Alten. Ich weiß nicht, wann ich zurück bin.“ Das Mädchen nahm diese Worte ungläubig auf. Sie war gewohnt, daß ihr Nachbar den ganzen Tag lang stumm an seinem Tisch saß, niemand ihn anrief und er keinerlei Kontakte unterhielt. Er hatte über drei Jahre in diesem Zimmer zugebracht, und keiner seiner Vorgesetzten hatte jemals für seine Arbeit oder seine Person Interesse gezeigt. Und nun plötzlich wurde er persönlich zum Oberst gerufen! Fräulein Krysia empfing den Major mit einem Lächeln, das ausschließlich für Leute bestimmt war, die ihr gefielen oder die sich gut mit ihrem Chef standen, und sagte: „Der Oberst erwartet Sie.“ Niewarowny ging auf die Tür zu, die mit braunem, schalldichtem Kunstleder bespannt war; die Sekretärin konnte ihn gerade noch rechtzeitig warnen: „Der Kommandant ist heute nicht sonderlich gut gelaunt.“ Der Oberst jedoch begrüßte seinen Untergebenen ausnehmend herzlich. „Bitte sehr, nehmen Sie Platz, Major. Zigarette gefällig?“ „Danke, ich rauche nicht“, antwortete Niewarowny und setzte sich in den Sessel, den der Oberst ihm zuwies. „Sehr gut, sehr gut. Ich möchte es mir auch schon lange abgewöhnen. Was macht die Gesundheit, Major?“ „Danke für die Nachfrage. Bis zur Rente werd’ ich’s schon schaffen.“ 15
„Wir haben uns lange nicht gesehen“, fuhr der Oberst fort. „Sie haben sich derart in Ihre Studien über das Rowdytum vergraben, Major, daß man Sie nirgends mehr trifft.“ „Ich habe mich nicht vergraben. Ich bin vergraben worden.“ Der Major hatte keinen allzu großen Respekt vor seinem Vorgesetzten. „Sie wissen am besten, wie es war, Oberst.“ Der Alte wechselte das Thema. „Kennen Sie Podleśna, Major?“ „Ich bin zwei-, dreimal in meinem Leben da gewesen. Das letztemal vor zehn Jahren.“ „Ein schöner Ort. Nicht weit von Warschau. Glänzende Verbindung mit der elektrischen Vorortbahn und mit dem Zug, von Rzęsów, das ganz in der Nähe liegt.“ „Ein gewöhnliches Vorstadtnest. Ein paar Häuser und, wie es so schön heißt, Wald und Heide ringsherum.“ „Sie waren schon lange nicht mehr dort, wie man sieht. In letzter Zeit ist in Podleśna viel gebaut worden. Eine Menge hübscher Villen. Da wohnen viele interessante Leute. Maler, Schriftsteller, Ärzte …“ „Und die verschiedensten Spekulanten, die durch wer weiß was für Geschäfte zu ihrem Geld gekommen sind.“ „Die gibt es auch“, pflichtete der Oberst bei. „Wie überall.“ „In Podleśna gibt es davon wahrscheinlich mehr als anderswo.“ „Kein Wunder. Eine hübsche und gesunde Umgebung. Und der Ort still, trotzdem dicht bei Warschau gelegen. Mit der Bahn eine halbe Stunde, mit dem Auto knapp zwanzig Minuten Weg von der Hauptstadt entfernt. Wer Geld hat, setzt sich dort ein Haus hin. Unter anderem auch verschiedene Spekulanten. Aber die meisten Einwohner haben sich ihr Häuschen bestimmt durch ehrliche Arbeit verdient. Ich persönlich mag Podleśna sehr.“ 16
Der Major ließ sich nicht weiter zu diesem Thema aus, und der Kommandant fuhr, keineswegs gekränkt, fort: „Ich denke, eine Versetzung nach Podleśna würde Ihnen guttun.“ „Danke, aber ich habe kein Geld, mir eine Villa zu bauen. Außerdem sehe ich keine Notwendigkeit, mich von Warschau zu trennen. In der Raszyńska wohnt sich’s bequem.“ „Ich spreche nicht von einer ständigen Trennung. Ich dachte einfach daran, daß das Klima von Podleśna Heilwirkung hat, und Sie waren doch krank, und zwar schwer.“ „Ich weiß, ich war krank. Ich weiß sogar, daß ich mich damals ganz in der Nähe von Podleśna aufgehalten habe. Der Ort heißt Tworki oder hieß wenigstens früher so. Wollten Sie darauf hinaus, Oberst?“ „Hör auf, Bronek, du bist wirklich überempfindlich, was deine Person betrifft.“ Der Kommandant war von dem offiziellen Sie abgegangen und redete den alten Freund, den er noch aus den Jahren der Okkupation kannte, nun mit dem Vornamen an. „Weil ihr mich alle zum Verrückten stempelt.“ „Wieder die alte Leier. Ich komme dir ehrlich entgegen, und du willst mich nicht mal bis zum Schluß anhören.“ „Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Genosse Kommandant.“ Der Oberst zuckte die Achseln. „Du hockst über deinen statistischen Erhebungen wie der Dachs im Bau, und ich habe beschlossen, dich da herauszuholen. Ich war überzeugt, Podleśna würde dir in den Kram passen.“ „Wieso Podleśna?“ „Tja … Ich hätte dich zum Kommandanten der Milizwache dort ernannt, natürlich nur vorübergehend.“ „Da gibt es für diesen Posten also schon keine Wachtmeister und Milizmeister mehr?“ 17
„Die gibt es ganz bestimmt. Ich bin aber der Meinung, daß du dich in der gegebenen Situation am besten für den Posten eignen würdest.“ „Ich eigne mich für gar nichts mehr. ‚Major Überflüssig‘, wie sie mich im Hause nennen.“ Niewarownys Stimme bebte leicht. „Ihr habt mich sogar in der Statistik satt. Vielen Dank, daß ihr mich wenigstens im Rang eines Wachtmeisters in Podleśna seht und nicht als Nachtwächter in einem Erholungsheim. Im ‚Masurischen Hof ‘ zum Beispiel, bei Ełk.“ „Ich gebe dir die seriöseste Arbeit, die wir im Präsidium haben, und du beschimpfst mich auch noch.“ „Unerhört seriös! Vier Leute auf der Wache und einmal die Woche, am Sonnabend, aufpassen, daß auf dem Bahnhof niemand Remmidemmi macht.“ „Du, Bronek, hast du denn nichts gehört? Liest du keine Zeitung?“ „Was soll ich denn gehört haben?“ „Daß der Kommandant von Podleśna vorgestern von unbekannten Tätern ermordet worden ist. Morgen wird der Mann begraben. In der ganzen Kommandantur wird doch von nichts anderem gesprochen.“ „Die Mädchen im Zimmer haben über so was getratscht. Sie redeten davon, daß ein gewisser Krakowiak ermordet worden wäre. Aber es ist nicht meine Art, fremde Gespräche zu belauschen.“ „Nicht Krakowiak, sondern Kwaskowiak. So hieß der Ärmste. Er wurde vorgestern morgen im Wald aufgefunden, da, wo die Rosenstraße zu Ende ist. Er ist durch einen Schlag auf den Kopf getötet worden. Höchstwahrscheinlich mit einer Axt oder einem Stemmeisen.“ „Was hat die Ermittlung ergeben?“ „Nicht viel. Eigentlich nur die Zeit, zu der das Verbrechen begangen wurde. Der Arzt hat festgestellt, daß Kwaskowiak zwischen vier Uhr dreißig und fünf Uhr dreißig gestorben sein muß. Das bestätigen übrigens 18
auch die Fakten. Der Leichnam wurde um sechs gefunden, und die Frau hat angegeben, daß ihr Mann nach vier das Haus verlassen hat!“ „So früh ist er aufs Revier?“ „Wohl nicht. Wenn er keinen Dienst hatte und nicht in einer anderen Angelegenheit unterwegs war, erschien er gegen sieben auf der Wache. Für gewöhnlich ging er vorher noch zur Station der Vorortbahn, kaufte sich dort eine Zeitung und sah nach dem Rechten. Der Bahnhof ist in Podleśna ein zentraler Punkt. Ein Treffpunkt für alle. Dort kommt es auch zu den meisten Zwischenfällen und Diebstählen. Die Miliz behält diesen Punkt natürlich immer im Auge, besonders in den Morgenstunden und nachmittags, wenn die Leute zur Arbeit fahren und wieder nach Hause kommen.“ „Wozu hat er das Haus aber im Morgengrauen verlassen?“ „Genau das können wir uns nicht erklären. Die Frau des Ermordeten behauptet, er sei in letzter Zeit häufig gegen vier Uhr früh aus dem Haus gegangen und etwa nach einer Stunde zurück gewesen. Was er aber gemacht hat, das hat er niemandem anvertraut.“ „Hat man ihm die Waffe weggenommen?“ „Nein. Er hatte sie nicht bei sich. Er hat das Haus im Trainingsanzug verlassen.“ „Hat er Sport getrieben? Vielleicht Laufen trainiert?“ „Bestimmt nicht. Er war fünfunddreißig und eigentlich recht beleibt.“ „Wozu dann der Trainingsanzug?“ „Fragen, die wir nicht beantworten können, gibt es viele bei diesem Fall“, sagte der Oberst. „Wir wissen, daß der ehemalige Milizkommandant von Podleśna immer morgens im Trainingsanzug das Haus verließ. Wenn es regnete, zog er einen Nylonmantel über den Anzug. Erst wenn er zurückkam, wusch und rasierte er sich, frühstückte, legte die Uniform an und ging zur Arbeit.“ 19
„Hat man ihn weit von seinem Haus gefunden?“ „In Podleśna ist es nirgendwo weit. Die Rosenstraße ist die dritte Parallelstraße zur Resedastraße, in der Kwaskowiak wohnte. Wir sind uns übrigens nicht sicher, ob der Mord in der Rosenstraße passiert ist. Gewisse Spuren deuten darauf hin, daß die Leiche erst dorthin gebracht wurde, das Verbrechen aber woanders verübt worden ist.“ „Spuren von einem Kampf?“ „Nichts dergleichen. Wahrscheinlich ist er überrascht worden.“ „Er muß den Mörder also gekannt und nicht erwartet haben, daß er von diesem Menschen angegriffen wird.“ Der Oberst bemerkte lächelnd: „Du warst so wütend, als ich dir Podleśna anbot, Bronek, und jetzt fängst du an, die Ermittlung zu führen. Du hast recht. Podleśna ist keine Großstadt, dort kennt jeder jeden. Kwaskowiak war über acht Jahre in Podleśna. Dort ist er zum Hauptwachtmeister befördert worden, und dort ist er Kommandant der Miliz geworden. Sein Vorgänger wurde zur Schulung nach Iwiczna geschickt und danach in den Verkehrsdienst unserer Kommandantur versetzt. In diesen acht Jahren hat Kwaskowiak ganz sicher Zeit gehabt, alle Einwohner des Ortes kennenzulernen.“ „Ich nehme doch an, er hätte sich, wenn er jemand Verdächtigem begegnet wäre, nicht überrumpeln lassen; von einem ortsbekannten Rowdy zum Beispiel.“ „Ja und nein“, erwiderte der Oberst. „Er könnte auch in einen Hinterhalt gelockt worden sein. Es hat sich einer versteckt, sagen wir hinter einem dicken Kiefernstamm, und Kwaskowiak, als er vorbeikam, von hinten überfallen.“ „Das ist nicht ausgeschlossen. Ein Racheakt. Der Kommandant so einer Milizwache hat bestimmt eine Menge Feinde.“ 20
„In der Richtung führt Hauptmann Lewandowski ja auch die Ermittlung. Du kennst ihn doch?“ Niewarowny verzog die Miene. „Ein überheblicher Rotzjunge. Bildet sich ein, weil er die Schule in Szczytno geschafft hat und Magister der Rechtswissenschaften ist, hätte er schon die Weisheit mit Löffeln gefressen.“ „Du beurteilst ihn zu streng. Man kann Lewandowski kriminalistisches Talent nicht absprechen. Er hat beachtliche Erfolge in seiner Arbeit aufzuweisen. Aber um auf Kwaskowiak zurückzukommen: Er war in seinem Revier bekannt und ziemlich beliebt. Die Leute waren ihm dankbar, daß er die Gegend von allerlei Abschaum gesäubert hat.“ „Und dieser Abschaum hat ihn kaltgemacht?“ „Das waren wohl eher Leute, die zu Gastspielen aus Warschau oder dem nahen Rzęsów oder aus Ruszków, das etwas weiter entfernt liegt, angereist kamen. Dort haben wir mit dem Rowdytum nämlich unsere liebe Not. In Podleśna gibt es da bedeutend weniger davon. Du darfst nicht vergessen, daß im Ort vorwiegend Intelligenz wohnt, und zwar die von der vermögenden Sorte.“ „Dafür viel ‚goldene Jugend‘ und Sonntagskinder.“ „Ohne Zweifel“, stimmte der Oberst zu. „Die gibt es auch, aber Kwaskowiak verstand sie im Zaum zu halten. Er fackelte nicht lange mit ihnen und ließ sich auch nicht von ihren einflußreichen Papas einschüchtern. Er schaffte es, daß Podleśna eine Art ruhige Oase unter allen Warschauer Vororten wurde.“ „Deshalb hatte er viele Feinde, und deshalb wurde er ermordet.“ „Wenn dieser Mord vor vier, fünf Jahren passiert wäre, hättest du zweifellos recht. Wir wollen diese These nicht verwerfen, Hauptmann Lewandowski hält sie für den Ausgangspunkt seiner Ermittlungen, aber ich fürchte, die Sache ist nicht ganz so einfach.“ Niewarowny wurde nachdenklich. 21
„Ja“, gab er zu, „die Morgenspaziergänge des Kommandanten, noch dazu nur im Trainingsanzug, die geben wirklich allerhand zu denken. Wenn er jemanden gefürchtet hätte, würde er das Haus nicht ohne Waffe verlassen haben. Es war doch eine Kleinigkeit für ihn, die Pistole in die Trainingsanzugstasche zu stecken.“ „Es deutet alles darauf hin, daß sich Kwaskowiak nicht bedroht fühlte. Die Zeit, zu der er zu seinen merkwürdigen Ausflügen aufbrach, ist für einen Verbrecher äußerst günstig. Dunkel, kalt, die Leute gehen noch nicht zur Arbeit. Um die Zeit begegnet man in ganz Podleśna schwerlich einem Menschen.“ „Und trotzdem spaziert der Milizkommandant gerade zu so einer Zeit täglich durch die Straßen des Orts. Seit wann hatte er diese Gewohnheit denn angenommen?“ „Seine Frau behauptet, das wäre schon über drei Monate so gegangen. Vier-, fünfmal in der Woche stellte ihr Mann den Wecker auf vier Uhr morgens, sprang aus dem Bett, zog den Trainingsanzug über und ging aus dem Haus. Manchmal kam er nach zehn Minuten wieder, manchmal dauerte der Spaziergang eine gute Stunde.“ „Interessant. Und er hat seine Frau nie eingeweiht?“ „Dienstliche Angelegenheiten hat er ihr nicht anvertraut, und sie hat ihn nicht danach gefragt.“ „Ein vernünftiger Grundsatz für die Frau eines Milizionärs, aber diesmal erschwert er die Ermittlung.“ „Ich bin der Meinung“, bemerkte der Oberst, „Kwaskowiak hat nicht nur des Morgenspazierganges wegen das Haus verlassen oder um vor der Arbeit frische Luft zu schnappen. Der Mann hat ganz sicher etwas oder jemanden beobachtet.“ „Er hätte eine Aktennotiz anfertigen müssen.“ „Hat er aber nicht. Wir haben die ganze Wache auf den Kopf gestellt und eine gründliche Haussuchung vorgenommen. Wir suchten irgendeine Aufzeichnung über 22
seine Morgenpromenaden im Trainingsanzug. Gefunden haben wir nichts.“ „Und Zeugen?“ „Auch das ist charakteristisch. Wir haben beinahe alle Anwohner der Rosenstraße und auch viele Leute aus der Nachbarschaft verhört. Keiner hat den Hauptwachtmeister jemals bei seinen Spaziergängen gesehen.“ „Der, der ihn umgebracht hat, bestimmt.“ „Falls wir zufällig auch den Mörder verhört haben sollten, dann war er jedenfalls vorsichtig genug, eine Begegnung mit Kwaskowiak nicht zuzugeben.“ „In den zwei Tagen habt ihr eine Riesenarbeit geleistet“, stellte Niewarowny fest. „Aber ohne jedes Ergebnis. Die ganze Kreiskommandantur Ruszków hat an den einleitenden Ermittlungen teilgenommen, von unseren Trupps ganz abgesehen. Die Akten des Falls umfassen schon ein paar hundert Seiten, und man kann sie ausquetschen noch und noch. Sie geben nichts her.“ „Ich habe das Gefühl, Hauptmann Lewandowski wird da eine harte Nuß zu knacken haben.“ Niewarowny lächelte einigermaßen befriedigt. Gerade Lewandowski hatte nämlich früher einmal einen gewissen Fall von dem Major übernommen und ihn mit einem Blitzerfolg abgeschlossen. Nicht, weil der Major etwas versäumt gehabt hätte, man war später einfach auf neue Fakten gestoßen. Immerhin, ein gewisser Groll war geblieben, und jetzt dachte Niewarowny ohne Bedauern, daß sich sein jüngerer Kollege nun würde selbst überzeugen müssen, was es hieß, eine Untersuchung zu leiten, bei der man vergeblich nach einer Spur sucht. „Ja, der Fall ist sehr schwierig“, pflichtete ihm der Oberst bei. „Deshalb rechne ich stark auf deine Hilfe.“ „Auf meine Hilfe? Ich verstehe nicht ganz …“ „Ich möchte, daß Sie, Major“ – der Oberst sprach wieder im offiziellen Ton als der Vorgesetzte zu seinem 23
Untergebenen –, „vorübergehend die Leitung der Wache in Podleśna übernehmen und die Ermittlung führen.“ „Das tut doch bereits Hauptmann Lewandowski. Sie haben eben selbst davon gesprochen, Oberst.“ „Lewandowski leitet den Fall in Warschau, und Sie werden ihn an Ort und Stelle untersuchen, in Podleśna.“ „Ich verstehe nicht, wozu dieser Dualismus? Außerdem … Es wäre mir angenehmer, nicht mit Hauptmann Lewandowski zusammenarbeiten zu müssen … Es würde sofort endlose Kompetenzstreitigkeiten geben.“ „Es wird gar keine Streitigkeiten geben.“ „Ich fürchte aber …“ „Einfach deshalb nicht“, fuhr der Oberst fort, „weil sich jeder allein mit dem Fall befassen wird, unabhängig vom anderen. Lewandowski ist der richtige Mann, um die Ermittlung mit einem Stab von Leuten zu führen. Sie, Major, sind Individualist, und in Podleśna haben Sie Gelegenheit nachzuweisen, daß Ihre Methoden den neuen in nichts nachstehen.“ „Aber auf die Art wird jeder von uns eine Menge unnötiger Dinge tun, die der andere schon vorher gelöst hat. Die Vernehmungen beispielsweise.“ „Sämtliche Vernehmungen sind im Prinzip abgeschlossen. Die haben uns nichts eingebracht, Sie brauchen sich die Blätter mit den Zeugenaussagen gar nicht erst anzusehen. Es geht mir aber darum, daß sich so ein Fuchs wie Sie die Einwohner von Podleśna mal an Ort und Stelle anguckt. Herumhorcht, was sie so über den Mord reden, wie und wovon sie leben. Man muß das lokale Klima mitbekommen. Das kriegt Lewandowski nicht fertig, selbst wenn er dreimal soviel Mitarbeiter hätte, als ich ihm im Moment geben kann. Dafür wird es Ihnen als dem Kommandanten der Milizwache in dieser Vorstadtsiedlung bedeutend leichter fallen, sich umzutun und allerlei Bekanntschaften zu schließen. Für mich besteht kein Zweifel, das Hauptwachtmeister 24
Kwaskowiak von einem Einwohner des Ortes ermordet wurde.“ „Ein Zusammenhang zwischen dem Mord und den geheimnisvollen Spaziergängen erscheint mir sehr wahrscheinlich“, pflichtete ihm Niewarowny bei. „Ich sehe meine Möglichkeiten in Podleśna allerdings ein wenig anders. Wenn ein Offizier im Range eines Majors zum Kommandanten einer kleinen Milizwache ernannt wird, während sein Vorgänger auf diesem Posten lediglich Hauptwachtmeister war, so ist das für den Verbrecher sofort ein Signal, auf der Hut zu sein.“ „Derjenige, der Kwaskowiak umgebracht hat, ist sich bestens darüber im klaren, daß nach der Ermordung eines Milizionärs sowieso der gesamte Apparat aufgeboten wird. Es ist sogar gut, wenn er Sie für den einzigen hält, der die Untersuchung führt. Auf die Weise bleibt Lewandowski im Schatten. Nicht lange, glaube ich übrigens. Der Hauptmann führt seine Ermittlungen immer mit Schwung. Massenaktionen, häufige Zeugenvernehmungen im Kommandanturgebäude. Nach einer gewissen Zeit am Anfang, wo sich der Verbrecher vor allem vor Ihnen in acht nimmt, wird er finden, daß Sie, Major, weniger gefährlich sind als die aus Warschau. Vielleicht begeht er eine Ungeschicklichkeit?“ „Ich schätze nicht.“ Niewarowny war keineswegs von der Strategie seines Vorgesetzten entzückt. „Was kann man hier schon für Fehler machen? Es genügt, wenn er nichts unternimmt, sich still verhält, dann gelingt es uns auch nicht, ihn zu überführen.“ „Einverstanden, aber ich bin gleichzeitig sicher, daß der Mörder diese Taktik nicht akzeptieren wird, weil er sie nicht akzeptieren kann. Er hatte sicher wichtige Gründe, Kwaskowiak aus dem Weg zu räumen. Schließlich ermorden die Leute ja nicht ohne jeden Grund ihre Mitmenschen, noch dazu einen Milizionär.“ „Es kann ein ganz gewöhnlicher Banditenstreich eines 25
Kerls gewesen sein, der bei einer Schlägerei an den Hauptwachtmeister geriet.“ „Theoretisch schon. Aber ich bezweifle es. Es hat ziemlich lange keine Schlägerei mehr in Podleśna gegeben. Und schon gar nicht in jener Nacht, in der Kwaskowiak ums Leben kam. Das war eher Meuchelmord. Solche Verbrechen begehen Rowdys in der Regel nicht. Und außerdem die Mordzeit: zwischen vier und fünf Uhr morgens. Nicht typisch für Rowdys. Die einzige Kneipe in Podleśna macht um zehn abends dicht. An diesem Abend ging es darin völlig ruhig zu. Das haben wir mühelos festgestellt.“ „Sicher gibt es noch irgendwelche getarnte Schnapshöhlen.“ „Der Hauptmann versucht, das zu klären. Ihre Vorbehalte decken sich mit der Konzeption, die Lewandowski als Leitfaden für die Ermittlung aufgestellt hat. Aber vorläufig ist er noch weit von jedem Erfolg entfernt. Vermutlich ist er auf einer falschen Fährte.“ Niewarowny setzte sich im Sessel zurecht, räusperte sich, als wollte er etwas sagen, aber offenbar verzichtete er sogleich darauf, denn er ließ den Oberst weitersprechen. „Ich glaube, Kwaskowiak war einem ernst zu nehmenden Verbrechen auf der Spur. Er war ein gründlicher Beobachter. Wenn er das Abitur gehabt hätte, dann hätte ich ihn zur Offiziersschule delegiert. Ich habe ihn mehrmals ermuntert, sich auf den Hosenboden zu setzen. Er kam mit Ausreden. Frau, drei Kinder, schon zu alt … Zugleich war Kwaskowiak aber als unerhört dienstbeflissen bekannt. Man darf also annehmen, sein Verdacht war noch nicht präzise genug. Deshalb hat er auch keinerlei Aufzeichnungen hinterlassen und keine Aktennotiz angelegt. Aber für den Verbrecher oder wohl eher die Verbrecherbande war er schon eine Gefahr. Deshalb räumte man ihn aus dem Wege. Jetzt liegen 26
diese Leute auf der Lauer und verhalten sich mucksmäuschenstill. Die Stille und Ruhe sind jedoch nicht von langer Dauer. Eben darum ist es so wichtig, daß wir in Podleśna einen fähigen und rührigen Beobachter haben. So einen wie dich.“ „Danke für das Lob. Es gab in den letzten Jahren viele Beweise der Anerkennung für mich.“ „Du weißt sehr wohl, daß du selber schuld daran bist. Ich kenne deinen Dickschädel zur Genüge und weiß, daß es nicht leicht ist, mit dir auszukommen. Nun also? Fährst du nach Podleśna?“ „Ist das ein Befehl, Genosse Oberst?“ „Nein.“ Der Kommandant wurde allmählich nervös. „Das ist lediglich das Angebot eines Freundes. Wenn du deine Statistik vorziehst, ich zwinge dich nicht. Du kannst da hocken bis …“ „Bis man mich aus dem Dienst schmeißt“, half ihm Niewarowny ein. „Schon wieder deine Leier! Da kann ja einem Heiligen der Geduldsfaden reißen.“ „Mir ist er schon lange gerissen.“ „Überleg doch mal, Bronek! Ich gebe dir einen Bombenfall. Wie für dich gemacht. Praktisch gesehen: unbegrenzte Handlungsfreiheit. Ein anderer würde sich freuen, und du ziehst hier dein ganzes Repertoire von Beschwerden vor mir ab und spielst die gekränkte Leberwurst.“ „Die ganze Kommandantur wird sich darüber amüsieren, daß Niewarowny Kommandant einer Dorfwache geworden ist.“ „Du könntest dir wenigstens ein klügeres Argument einfallen lassen. Hat dir bisher vielleicht so schrecklich viel daran gelegen, was man über dich redet? Im übrigen, damit du das Gesicht wahrst, ich kann Befehl geben, dich zur Durchführung der Ermittlung nach Podleśna abzukommandieren.“ 27
„Dann werden sie sagen, ich unterstünde Lewandowski.“ „Also was ist? Soll ich Podleśna etwa zur Kreisstadt machen und dich zum Kommandanten einer Kreiskommandantur? Das einzige, was ich kann und für richtig halte, das ist, dir ein paar tüchtige Leute zu geben, weil du die dort bestimmt brauchen kannst.“ „Soll ich mich für lange in diesem Nest vergraben?“ „Mein Wort darauf, du darfst jederzeit nach Warschau zurück.“ „Und die Wohnungsfrage?“ „Werd nicht hysterisch. Wenn Tausende aus dieser Gegend in die Hauptstadt kommen, dann kann ein gewisser Major ja wohl mal in umgekehrter Richtung fahren. Die Wache in Podleśna hat einen ziemlich großen Raum. In ein Zimmer kannst du dir eine Couch stellen und es in ein provisorisches pied-à-terre verwandeln, wenn du es für nötig halten solltest, am Ort zu übernachten. Von den Leuten, die auf der Wache dort arbeiten, empfehle ich dir besonders Bogdan Michalak. Ein junger Bursche, ist voriges Jahr Oberwachtmeister geworden. Ich trage mich ernsthaft mit dem Gedanken, ihn in zwei, drei Jahren zur Offiziersschule zu delegieren. Er stammt aus Rzęsów und ist bestens mit den Lokalverhältnissen vertraut. Ein außerordentlich intelligenter Junge. Du kannst dich unter allen Umständen auf ihn verlassen. Ich bin überzeugt, daß es dieser Oberwachtmeister noch weit bringen wird.“ „Sie reden, als sei die Sache schon beschlossen, Oberst.“ „Hast du dich denn immer noch nicht entschieden? Unter uns gesagt, es ist die letzte Chance für dich, Bronek, wieder ein vollwertiges Mitglied unseres Apparates zu werden. Schwamm über alles, was gewesen ist. Mir liegt vor allem daran, den Mörder oder die Mörder von Kwaskowiak so schnell wie möglich zu fassen, aber ich 28
wäre wirklich froh, wenn du es tätest und nicht Lewandowski. Nicht, daß ich ihn nicht mag, daß ich die Fähigkeiten des Hauptmanns nicht bemerkte oder nicht schätzte, aber ich möchte endlich den Beweis in Händen haben, daß ich mich in der Beurteilung deiner Person nicht getäuscht habe. Nun also?“ „Wenn das so ist, dann muß ich mich ja geschlagen geben. Wann soll ich den neuen Posten antreten?“ „Morgen ist die Beerdigung. Auf dem Friedhof in Podleśna. Zur gleichen Zeit habe ich eine Sitzung im Präsidium, kann also nicht am Begräbnis teilnehmen. Mich vertritt Oberst Niegolewski. Es wäre gut, wenn du auf den Friedhof gehen könntest. Und übermorgen früh übernimmst du die Wache. Viel Glück!“ „Nach allem, was Sie mir berichtet haben, Oberst, erwarte ich keine leichte Aufgabe.“ „Zuerst mußt du herausbekommen, warum der Hauptwachtmeister so früh das Haus verließ. Die ominösen Spaziergänge sind der Schlüssel zur Lösung des Rätsels.“
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3. Auf neuem Posten
Am Tage nach dem Begräbnis des Hauptwachtmeisters Władysław Kwaskowiak fuhr Major Bronisław Niewarowny mit der elektrischen Vorortbahn nach Podleśna und begab sich auf die Milizwache. Sie lag höchstens vierhundert Meter von der Bahnstation entfernt und war in einem noch aus der Vorkriegszeit stammenden Einfamilienhaus untergebracht, das man später eigens zu dem Zweck eingerichtet hatte, dem es heute noch diente. Die Villa selbst war etwa zehn Meter von der Straßenfront zurückgesetzt und von einem niedrigen grüngestrichenen Holzzaun umgeben. Vom Gartentor bis zum Gebäude führte ein betonierter Fußweg. Zur Rechten und zur Linken des Plattenweges waren zwei runde, mit roten Ziegeln eingefaßte Rabatten angelegt. In der Mitte der einen ragte ein ziemlich hoher weißgestrichener Mast mit einem über Blöcke führenden Metallseil zur Befestigung einer Fahne auf. Die weißrote Flagge, mit einem schwarzen Band umwunden, hing auf Halbmast. Mit diesem Trauerflor nahmen Kwaskowiaks Kollegen Abschied von ihrem ehemaligen Kommandanten. Der Major öffnete das Gartentor, schritt den Plattenweg entlang und betrat das Gebäude. Ein Gang teilte die Villa in zwei gleiche Teile. Eine Treppe nach unten, durch ein stabiles Metallgitter verschlossen, führte vermutlich zur Arrestzelle. An der Tür linker Hand hing eine kleine Tafel: ‚Milizwache Podleśna‘. Niewarowny drückte die Klinke herunter und befand sich in einem geräumigen Zimmer, durch das eine etwa ein Meter zwanzig hohe Holzbarriere lief. Auf der einen Seite standen eine breite Bank und mehrere Stühle. Auf der anderen zwei Tische, darauf ein Telefon und ein paar Bücher. An der Wand hing das Staatswappen. 30
Der Platz hinter dem einen Tisch war leer. An dem anderen saß ein junger, gutaussehender Oberwachtmeister und las Zeitung. „Guten Tag“, sagte der Major. „Ehm“, brummte der Oberwachtmeister zurück, ohne seine Lektüre zu unterbrechen. Niewarowny ließ sich auf der Bank nieder und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Es waren ungefähr drei Minuten vergangen. Der Milizbeamte hatte die Kriminalspalte in der ‚Trybuna Mazowiecka‘ zu Ende gelesen und legte zögernd die Zeitung zusammen. „Was führt Sie zu uns, Bürger?“ „Ich komme aus Warschau. Mein Name ist Niewarowny. Major Bronisław Niewarowny.“ „Himmel, was für ein Reinfall!“ Der junge Mann sprang so ruckartig von seinem Stuhl hoch, daß die Zeitung, die er noch in der Hand behalten hatte, auf dem Fußboden landete. „Oberwachtmeister Michalak, wenn ich nicht irre?“ fragte der Offizier. „Oberwachtmeister Michalak, ich melde: Besatzung der Wache fünf Mann. Ein Diensthabender, ein Toter, drei auf Patrouille.“ Michalak rasselte die Meldung in Stillgestanden-Haltung herunter. Er bemerkte jedoch, daß er einen Bock geschossen hatte, und korrigierte sich rasch: „Sie haben mich so überrumpelt, Genosse Major, daß ich selbst nicht mehr weiß, was ich rede. Wir sind vier hier. Ich habe Dienst, die zwei anderen sind auf Patrouille. Der vierte hat frei, weil er mit Nachtdienst dran ist.“ „Schon gut, schon gut.“ Der Major konnte sich nur mit Mühe das Lachen verbeißen. Der Junge gefiel ihm, und nur der Ordnung halber wies er ihn zurecht: „Das nächste Mal hören Sie gleich auf zu lesen, wenn jemand hereinkommt.“ „Jawohl, Genosse Major.“ 31
„Hatten Sie einen Anruf von der Wojewodschaftskommandantur?“ Niewarowny machte das Türchen auf, ging in die andere Zimmerhälfte hinüber und setzte sich, ohne den Mantel auszuziehen, auf den freien Stuhl, dem immer noch stehenden Oberwachtmeister gegenüber. „Setzen Sie sich doch, Michalak.“ „Anruf hatten wir keinen. Aber schon gestern hat uns der Kreiskommandant aus Ruszków von Ihnen erzählt, Genosse Major. Ich dachte, die würden aus Warschau anrufen und vorher Bescheid geben. Dann hätten wir Sie an der Bahnstation erwartet.“ „Wozu denn das? Sie sehen ja, ich habe auch ohne Hilfe hergefunden.“ „Ich habe Sie gestern auf dem Begräbnis gesehen. Sie standen weiter hinten, nicht wahr?“ „Ja, ich war auf dem Friedhof.“ „Sie werden die Ermittlungen über die Ermordung unseres Kommandanten führen?“ Es war sinnlos, es abzustreiten, der Major nickte also. „Wenn ich diesen Strolch erwische, den würde ich kaltmachen!“ „Erzählen Sie, wie es gewesen ist.“ „Das war am Dienstag. Ich hatte gerade Nachtwache. Noch vor sechs kam Jan Rakowski hier an und rief schon an der Tür, Kwaskowiak läge tot in der Rosenstraße. Ich war allein hier, ich schloß das Haus ab und ging mit Rakowski mit. Die Rosenstraße endet, wie übrigens die meisten Straßen in Podleśna, in einem Kiefernwald. Der Ort ist mal auf Waldparzellen gebaut worden, und so ist es dann auch geblieben. Ein paar Meter hinter dem letzten Zaun lag unter einem Baum ein Mensch. Es war noch stockdunkel. Klar, sechs Uhr morgens, im November … Ich trete näher, leuchte mit der Taschenlampe. Kwaskowiak liegt auf dem Rücken, die Arme weit von sich gestreckt. Bei seinem Kopf ein roter Fleck. Ich hab’ ihn nicht mal angefaßt. Schon auf den 32
ersten Blick war zu sehen, daß der Kommandant nicht mehr lebte. Ich sage zu Rakowski: ‚Bleiben Sie hier, und passen Sie auf, daß mir ja keiner die Leiche anrührt. Ich renne zur Wache zurück und rufe in Ruszków an, die Kreiskommandantur.‘ Unterwegs machte ich einen Abstecher in die Wohnung von Wachtmeister Marian Nierobis. Er schlief nicht mehr. Er zog sich gerade an. Ich befahl ihm, zur Rosenstraße zu laufen und bei Kwaskowiak zu bleiben. Ich selbst rannte zur Wache zurück und machte Meldung nach Ruszków. Eine halbe Stunde später waren sie mit einem Warszawa da.“ „Wer ist denn dieser Rakowski?“ „Ein Ingenieur. Arbeitet im Kraftwerk Ruszków. Er hat ein eigenes Häuschen in der Rosenstraße. Fast am Ende der Straße. Er fuhr mit seinem Syrena aus der Toreinfahrt und bemerkte im Scheinwerferlicht, daß da jemand unter dem Baum lag. Er dachte, es wäre ein Betrunkener, aber er stieg aus, um nachzusehen, ob er nicht vielleicht Hilfe benötige. Er kannte Kwaskowiak gut und erkannte ihn auf Anhieb. Später erklärte Rakowski, diese Entdeckung hätte ihn so geschockt, daß er seinen Wagen völlig vergaß und zu Fuß zur Wache lief.“ „Das wundert mich gar nicht“, warf Niewarowny ein. „Das schlimmste war, daß ich die Frau des Kommandanten benachrichtigen mußte. So eine Mission möchte ich nicht noch einmal im Leben übernehmen. Frau Kwaskowiak ist eine tapfere Frau, und ich habe sie bewundert, wie beherrscht sie war. Die Ärmste, sie steht jetzt mit drei Kindern allein da. Der Älteste ist erst zwölf.“ „Und was redet man so in Podleśna über das alles?“ „Die Leute schwatzen allerlei Unsinn. Rowdys hätten den Kommandanten um die Ecke gebracht oder Schwarzbrenner oder auch die Hochzeitsgäste von Augustyniak.“ „Ich verstehe nicht ganz“, gestand der Major. 33
„Unser Kommandant hatte es mächtig auf die Schnapsbrenner abgesehen. Allein im Oktober haben wir sieben Schwarzbrennereien ausgehoben. An drei Stellen haben wir die ‚Fabrikanten‘ selber geschnappt. Das wird sie einiges kosten. An vier anderen Stellen trafen wir keinen an, aber wir vernichteten die ganze Maische und nahmen die Apparaturen mit. Sie liegen immer noch im Keller neben der Arrestzelle. Wir werden sie wohl zertrümmern und auf den Müll bringen müssen.“ „Und was hat diese Hochzeit damit zu tun?“ „Unser Revier erstreckt sich nicht nur auf Podleśna, sondern auch auf die umliegenden Dörfer. ‚Buschschnaps‘ brennen nicht die Leute hier im Ort, sondern die Bauern in der Umgebung. Im Wald, der uns von drei Seiten umgibt und an diese Dörfer angrenzt. Der meiste Schnaps geht für Hochzeiten drauf. Kwaskowiak fischte sich ziemlich schlau diese Konkurrenten des staatlichen Spirituosenhandels heraus. Wenn in einem Dorf eine Hochzeit ausgerichtet wurde, dann fuhren wir am Tag davor dorthin und sagten zu den Brauteltern: ‚Zeigt uns mal den Schnaps.‘ Wenn uns der Bauer in ausreichender Menge staatlichen zeigte, wünschten wir ihm: ‚Wohl bekomm’s ‘. Sollen sich die Gäste amüsieren, Hauptsache, es gibt keine Schlägereien. Aber wenn er keinen hatte oder nur ein paar Liter, um uns Sand in die Augen zu streuen, dann fingen wir an, nach Schwarzgebranntem zu suchen. Es kam auch vor, daß wir ‚ganz zufällig‘ direkt auf der Hochzeit erschienen.“ „Und wenn Sie Schwarzgebrannten fanden?“ „Dann winselte der Bauer, wir sollten ihn nicht ins Verderben stürzen. Kwaskowiak ließ sie meist die Flaschen zerschlagen und den Schnaps auskippen. Und damit hatten sie die Sache ausgestanden. Vielleicht war das sogar ein bißchen ungesetzlich, aber wirksam. Denn bei der nächsten Hochzeit hatte der Nachbar Angst, ‚Buschschnaps‘ zu kaufen.“ 34
„Und was war mit diesem Augustyniak?“ „Die Hochzeit fand am Sonntag statt. Am Sonnabendnachmittag standen wir plötzlich vor seiner Tür. Wir schnappten an die sechzig Liter. Augustyniak ist ein reicher Bauer, und er hat seine Tochter gut verheiratet, da wollte er sich halt nicht lumpen lassen. Es floß alles in die Jauche. Augustyniak mußte bis zum Mittag aus dem Delikateßladen in Warschau Schnaps ranschaffen. Das ganze Dorf machte sich über ihn lustig, und die Hochzeitsgäste haben dem Kommandanten angeblich schrecklich gedroht.“ „Haben Sie darüber ausgesagt?“ „Nein.“ „Warum nicht? Das könnte für die Ermittlung doch sehr wesentlich sein.“ „Es war mir völlig entfallen. Kein Gedanke daran. Wir waren alle ganz benommen, als hätten wir auch eins mit dem Knüppel über den Schädel gekriegt. Erst jetzt, während ich mich hier mit Ihnen unterhalte, fällt mir die Geschichte wieder ein.“ „Machen Sie eine Aktennotiz, und schicken Sie sie an die Wojewodschaftskommandantur. An Genossen Hauptmann Lewandowski.“ Niewarowny nahm nicht an, Ursache des Verbrechens könnten ein paar Dutzend Liter ausgekippter Schnaps sein, und er beabsichtigte nicht, die Ermittlung in dieser Richtung zu führen; trotzdem hielt er es für seine Pflicht, Hauptmann Lewandowski davon loyal zu unterrichten. Der verfügte über Leute aus der Wojewodschaftskommandantur und aus dem Kreis und hatte mehr Möglichkeiten, dieser Spur nachzugehen. „Jawohl, Genosse Major.“ „Und was redet man über die Rowdys?“ „Es heißt, der Schwarze Romek mit seinen Kumpels wäre es gewesen. Aber ich glaube nicht daran.“ „Was für ein Schwarzer Romek?“ 35
„Es gibt hier so ein Bürschchen. Seine Mutter handelt mit Gemüse. Er hilft ihr angeblich ein bißchen dabei, aber in Wirklichkeit steht er meist vor der Bierbude. Mit noch ein paar solchen wie er. Sie haben schon oft auf dem Bahnhof randaliert. Er hat einen Einwohner von Podleśna zusammengeschlagen, dafür bekam er ein halbes Jahr im Eilverfahren. Vor zwei Monaten ist er rausgekommen. Und vor einer Woche hat er wieder Rabatz gemacht. Das endete in unserem Arrest, und die Sache kam vor die Kommission. Darüber habe ich Hauptmann Lewandowski Meldung gemacht, als er mit dem Ermittlungsstab hier war“, setzte Michalak rasch hinzu. „Und was halten Sie von alledem?“ „Ich weiß nicht, Genosse Major, aber ich habe das Gefühl, der Kommandant wurde nicht auf der Rosenstraße ermordet, jedenfalls nicht an der Stelle, wo ihn Rakowski gefunden hat.“ „Und warum nicht?“ „Hätte er da vielleicht so auf dem Rücken gelegen, die Arme weit von sich gestreckt? Und was hätte er denn dort, am Ende der Straße, zu tun gehabt?“ „Kwaskowiak trug einen Trainingsanzug. Möglicherweise stand er morgens in aller Frühe auf und machte einen Waldlauf.“ Michalak lachte. „Der Kommandant lief sich schon tagsüber die Hacken ab. Sie werden sich noch selbst davon überzeugen, wieviel es auf so einer Wache mit nur vier Leuten zu tun gibt. Wir haben nicht mal ein Dienstmotorrad. Wenn wir mal über Land fahren müssen, müssen wir immer jemand bitten, uns mitzunehmen oder uns sein Fahrzeug zu borgen.“ „Warum ist Kwaskowiak dann morgens im Trainingsanzug aus dem Haus?“ „Ich weiß es nicht. In der letzten Zeit benahm sich der Kommandant sehr rätselhaft. Von diesen Ausflügen ha36
be ich durch Hauptmann Lewandowski erfahren, der Frau Kwaskowiak verhört hat.“ „Und er hat nie was davon erwähnt?“ Michalak wurde nachdenklich. „Es war an meinem Namenstag. Am einunddreißigsten August. Ich bin Junggeselle, da hab’ ich halt einen Liter Schnaps mitgebracht und ein bißchen was dazu. Wir haben einen getrunken, aber erst gegen Abend, als wir Wachablösung hatten, nur einer sollte Nachtdienst haben“, verwahrte sich der Oberwachtmeister. „Im übrigen, was ist das schon, ein Liter auf fünf Mann?“ Niewarowny glaubte zwar nicht, daß es an diesem Namenstag bei einem Literchen geblieben war, aber er nickte verständnisvoll, und der Oberwachtmeister berichtete weiter: „Als wir alle schon ein bißchen in Fahrt gekommen waren, sagte Kwaskowiak mit einemmal: ‚Ich sage dir, Michalak, du wirst bald zum Hauptwachtmeister befördert. Alle werden wir befördert, ganz Polen wird von uns reden. Der Kommandant des Präsidiums wird uns höchstpersönlich danken und uns eine Auszeichnung geben. Vielleicht auch einen Orden.‘ “ „Hat er noch etwas gesagt?“ „Wir nahmen das nicht ernst, man sah ja, daß der Kommandant einen Schwips hatte; er versicherte uns: ‚Ihr glaubt es nicht? Ihr werdet euch noch an meine Worte erinnern. Kwaskowiak gebraucht seinen Kopf zum Denken, und er hat Augen im Kopf.‘ Einer von uns sagte lachend, es würde nur der Kommandant befördert werden, da rief er empört: ‚Keine Angst, Jungs, ihr kommt um die Arbeit nicht drum ’rum, aber auch nicht um die Belohnung.‘ Später hat er die Geschichte mit keiner Silbe mehr erwähnt, hat uns nicht erklärt, was er damals meinte. Ich glaube, er hatte bloß etwas zuviel getrunken. Er vertrug nicht sonderlich viel. Deshalb trank er auch nicht.“ 37
„Sie sagten, Kwaskowiak sei nicht im Wald bei der Rosenstraße ermordet worden, dort, wo man ihn fand.“ Der Oberwachtmeister machte sein Schubfach auf und entnahm ihm eine große Karte von Podleśna. Er breitete sie auf dem Tisch aus und begann zu erläutern. „Das hier ist die Rosenstraße. An dieser Stelle lag der Kommandant. Das Haus gehört dem Ingenieur Rakowski. Parallel zur Rosenstraße verläuft die Akazienstraße, die nächste ist die Resedastraße. Bei uns sind fast alle Straßen nach Blumen benannt. An der Stelle steht das Haus, in dem der Kommandant wohnte. Diese drei Straßen werden von drei rechtwinklig verlaufenden Straßen gekreuzt, die auf die Gleise der Vorortbahn ausmünden. Die Bahnschienen entlang, zu beiden Seiten, führt ein Weg. Außerdem gibt es hier auch unbebaute Grundstücke, da haben die Leute Durchgangspfade von einer Straße zur anderen getrampelt. Hier hindurch kommt man zum Beispiel von der Akazienstraße zur Rosenstraße, und hier von der Resedastraße zur Akazienstraße.“ „Ja, und?“ „Frau Kwaskowiak sagte, ihr Mann hätte das Haus verlassen und wäre manchmal schon wenige Minuten später zurück gewesen. Mitunter aber auch erst nach einer Stunde. Offenbar hat er etwas oder jemand beobachtet. Ich vermute doch wohl richtig.“ „Gerade die Stelle im Wald, am Ausgang der Straße, ist ein ausgezeichneter Beobachtungspunkt. Man kann sich sicher hinter einem Baum verstecken.“ „Einverstanden“, pflichtete Michalak bei, „aber von da bis zu Kwaskowiaks Haus ist es fast ein Kilometer. Selbst wenn man Abkürzungen benutzt. Das heißt, für den Hinweg zehn Minuten, wenn man schnell geht. Und genausoviel für den Rückweg. Der Kommandant hätte also nicht nach ein paar Minuten wieder zu Hause sein können.“ 38
„Manchmal kehrte er auch erst nach einer Stunde zurück.“ „Das stimmt“, bestätigte der Oberwachtmeister. „Kwaskowiak verließ das Haus und prüfte etwas nach. Dieses ‚Etwas‘ muß sich bedeutend näher befunden haben, nicht erst am Ende der Rosenstraße. Vielleicht beobachtete er eine Villa oder einen bestimmten Menschen, der in der Nähe wohnte. Wenn er sah, daß nichts passierte, kehrte er gleich wieder nach Hause zurück. Wenn ihn etwas interessierte, dehnte er seine Beobachtungen aus, und dann kam er später.“ „Was kann denn um fünf Uhr morgens schon passieren?“ „Wenn man um sechs zur Arbeit in Warschau sein will, muß man gegen vier aufstehen, wenn zum Beispiel jemand in Żerań oder in Grochów arbeitet. In Podleśna gibt es solche Leute. Sie müssen spätestens halb fünf aus dem Haus. Die Bahn fährt zwanzig vor fünf.“ „Angenommen, Ihre Schlußfolgerung ist richtig, und Kwaskowiak beobachtete einen von diesen Frühaufstehern, dann wäre er regelmäßig nach einer bestimmten Zeit wieder zu Hause gewesen, weil jemand, der zum Zug muß, immer ungefähr um dieselbe Zeit das Haus verläßt.“ „Die Leute kommen manches Mal zu spät, und die Bahn fährt ihnen vor der Nase weg.“ „Dann hätte seine Rückkehr eben von der Abfahrtszeit des nächsten Zuges abgehangen. Kennen Sie den Fahrplan? Was sagt der?“ „Zehn nach fünf.“ „Infolgedessen wäre Kwaskowiak fast immer nach zehn Minuten zurückgewesen, und manchmal, allerdings ziemlich selten, nach vierzig Minuten. Wir wissen aber, daß es nicht so war. Es gab keine Regelmäßigkeit, er kam zu ganz unterschiedlichen Zeiten nach Hause.“ „Ja“, gab der Oberwachtmeister zu, „irgendwas haut da nicht hin.“ 39
„Wer wohnt in diesem Straßenbereich?“ „Das ist das wohlhabendste Viertel von Podleśna und zugleich auch das älteste. Große Villen, überwiegend von Industriellen, reichen Kaufleuten und Direktoren gebaut. Die Mehrzahl der Leute oder ihre Erben wohnen bis heute hier. Manch einem geht es nicht schlechter als vor dem Krieg. So eine Villa zu unterhalten: Kohle, Licht, Gas und Telefon, das macht doch, bescheiden gerechnet, tausend Złoty im Monat. Und da kommen noch die Instandsetzungsarbeiten hinzu …“ „Ich habe gesehen, daß viele Gebäude ungepflegt sind.“ „Nicht in diesem Viertel. Hier ist das eine Seltenheit. Doktor Workucki zum Beispiel hat seine Villa voriges Jahr nicht nur gründlich renovieren lassen, sondern er hat auch noch eine große Orangerie hinterm Haus gebaut. Wenn ihn das alles in allem nicht an die siebenhunderttausend Złoty gekostet hat, dann versteh’ ich nichts vom Rechnen.“ „Workucki? Ist das der, der auf dem Friedhof die Ansprache gehalten hat?“ „Ja. Ein reicher Arzt. Fachmann für Krampfaderentfernung. Er arbeitet in Warschau, hält aber auch hier Sprechstunden ab. Sein Wartezimmer ist immer proppenvoll. Er ist Vorsitzender des ‚Podleśnaer Freundeskreises‘. Oder diese Frau Rozmarowicz. Sie hat einen Laden für Damenmäntel in der Marchlewskastraße. In diesen neuen Flachbauten in Warschau. Sie wohnt nicht weit von meinen Eltern. Die einzelnen Stücke überm Arm, so hat sie angefangen, und dann hat sie sich ein hübsches Grundstück in der Akazienstraße gekauft und das schönste Häuschen in der ganzen Straße hingesetzt. Schöner noch als das von Ingenieur Bełkowski. Der hat auch vor vier Jahren gebaut. Vorher hatte er zwei Zimmer bei den Sawickis gemietet. Jetzt fährt er im eigenen Wartburg nach Warschau. Er hat ein Labor für medizi40
nische Analysen in der Hauptstadt. Seinem Sohn hat er einen BMW gekauft.“ „Pharmazeut?“ „Nein, Chemiker. Das Labor führt er zusammen mit einem Magister. In dem Teil von Podleśna wohnt auch Krawecki. Vor dem Krieg hatte er ein großes Baugeschäft. Während der Besatzung ist es dem nicht schlecht gegangen, weil er für die Deutsche Reichsbahn baute. Damals hat er auch die Villa gekauft. Heute ist er schon ein älterer Herr, aber sein Sohn hat nach wie vor mit dem Bauwesen zu tun. Der hat der Rozmarowicz und dem Bełkowski auch die Häuser hingesetzt Und in der Resedastraße wohnt Doktor Lis. Er war sechs Jahre im Kongo, und als er zurückkam, kaufte er von Malinowski eine alte Bude und zauberte eine Villa daraus. Die freien Grundstücke, die ich Ihnen auf der Karte gezeigt habe, die sind nicht bebaut, weil entweder der Besitzer nicht verkaufen will oder weil sie herrenlos sind. Darüber hinaus gibt es noch eine ganze Menge Leute in Podleśna, über die sich nichts Genaues sagen läßt. Sie arbeiten angeblich, haben irgendeinen kleinen Posten, aber eine Villa wie einen Palast. Möbel wie im Museum. Woher? Wofür? Auf solche Fragen gibt Ihnen keiner von denen eine Antwort. Ich sage das nicht, weil da überall krumme Touren dahinterstecken müßten, sondern um Ihnen vor Augen zu führen, daß wir in Podleśna genug reiche Leute haben, Genosse Major.“ „Und wo wohnen die Ärmeren?“ „Auf der anderen Seite der Gleise, dichter nach Warschau zu. Und dort haben Sie auch allerhand kleine Lauben und im Eigenbau aufgestellte Häuschen gesehen. Oft sogar hingesetzt ohne Wissen und Einverständnis der Baubehörden.“ „Vielleicht ist Kwaskowiak in diese Richtung gegangen?“ „Nein. Das ist zu weit. Mir scheint, er hatte entweder 41
in der Resedastraße oder in der Akazienstraße etwas bemerkt. Es kann auch in einer der beiden Querstraßen, der Birkenstraße oder der Straße des fünfzehnten Dezember, gewesen sein, aber weiter nicht. Wenn der Kommandant manchmal binnen fünfzehn Minuten von seinem Spaziergang zurückkam, dann muß der Weg in die eine Richtung höchstens die Hälfte der Zeit in Anspruch genommen haben.“ „Wie kam dann aber die Leiche ans Ende der Rosenstraße?“ „Die Mörder wollten nicht, daß man den Kommandanten vor ihrem Haus fand, und deshalb haben sie den Toten an den Waldrand getragen.“ „Vielmehr gefahren. Wenn sie einen Mord planten, hatten sie Angst, einen Menschen zu tragen. Selbst in der Nacht. Es hätte sie jemand bemerken können. Aber das steht im Widerspruch zu den Aussagen von Rakowski. Der behauptet steif und fest, er sei morgens vor fünf aufgestanden und würde gehört haben, wenn an seinem Haus in der Rosenstraße ein Auto vorbeigefahren wäre. Angeblich herrschte absolute Stille.“ „Das beweist noch gar nichts. Sie brauchen ja nicht die Rosenstraße entlanggefahren zu sein. Sowohl die Resedastraße als auch die Akazienstraße münden in denselben Wald. Wenn sie den Kommandanten in der Resedastraße umgebracht haben, in der Nähe seines Hauses, können sie mit dem Auto bis an den Waldrand gefahren sein und die Leiche von dort aus die hundert Meter bis zu der Stelle getragen haben, wo sie sie unter den Baum legten.“ „Ihre Theorie läßt sich nicht von der Hand weisen“, stimmte Major Niewarowny zu. „Man muß nachprüfen, ob jemand von den Anwohnern der Reseda- oder der Akazienstraße morgens Motorgeräusche gehört oder gar ein Auto gesehen hat.“ „Der Stab von Hauptmann Lewandowski hat sich bereits danach erkundigt“, erklärte der Oberwachtmeister. 42
„Ohne Erfolg?“ „Ohne den geringsten. Keiner hat was gesehen, keiner was gehört.“ „Wie stehen die Leute hier zur Miliz? Und was das wichtigste ist: Wie standen sie zu Hauptwachtmeister Kwaskowiak?“ Michalak überlegte einen Augenblick. „Tja“, sagte er dann, „die Leute lieben die Miliz im allgemeinen nicht sonderlich. Das ist eine Tatsache, über die wir uns nichts vorzumachen brauchen. Es gibt ja nicht einen Bürger, der sich nicht schon mal im Widerspruch zu den Gesetzen befunden hätte. Und wir haben darüber zu wachen, daß die Gesetze befolgt werden. Die Einwohner von Podleśna müssen die Anstrengungen der Miliz wohl trotzdem zu schätzen gewußt haben: Sicherheit zog im Ort ein, das Rowdytum wurde eingedämmt. Heute ist Podleśna wahrscheinlich der ruhigste Ort im ganzen Umkreis von Warschau. Dabei erinnere ich mich genau, daß man hier vor sechs, sieben Jahren noch allerhand erleben konnte. Außerdem war Kwaskowiak, was den Leuten auch gefällt, kein Amtsschimmel, der sich streng an die Vorschriften hielt. Es war ihm vor allem um Ruhe und Ordnung zu tun. Um das zu erreichen, wandte er die verschiedensten Methoden an. Man kann sich streiten, ob sie immer genau den Vorschriften entsprachen, aber sie waren wirksam und brachten den gewünschten Erfolg. Er hat das nicht so ohne weiteres geschafft. Hier wohnen eine Menge reiche Leute und welche, die Beziehungen haben. Der Kommandant ist trotzdem mit ihnen fertig geworden. Wenn es nötig war, konnte er rücksichtslos sein.“ „Hatte er viele Feinde?“ „Manchmal drohte ihm so ein Rowdy, oder ein ‚Buschschnaps‘-Fabrikant wetterte lauthals gegen ihn. Am Anfang, vor Jahren, als Kwaskowiak die hiesige Wache übernahm, kam es auch mal vor, daß man ihm in 43
seiner Wohnung die Scheiben einschlug. Aber mehr auch nicht. Ich kann mich nicht erinnern, daß bei uns jemand mal einen Milizionär überfallen oder gar verprügelt hätte. Es passiert natürlich, wenn so eine Sauferei im Arrest endet, daß dann einer randaliert, mit Beschimpfungen um sich wirft oder versucht, eine Schlägerei anzuzetteln. Aber wenn er sich auf seiner Pritsche ordentlich ausgeschlafen hat, flennt er fast immer, damit wir die Sache ja nicht an die Konfliktkommission weitergeben und die Arbeitsstelle benachrichtigen.“ „Und was hat Kwaskowiak in solchen Fällen getan?“ „Meist pfiff er drauf, und statt die Sache an die Kommission weiterzuleiten, hat er dem Burschen einen Besen in die Hand gedrückt und ihn ein paar Stunden lang die Straße fegen lassen. So eine Strafe wirkte besser als eine hohe Geldstrafe. Davor haben die eine panische Angst.“ „Kann ich mir gut vorstellen“, bemerkte Niewarowny, „bestimmt hat sich der ganze Ort über so einen Zwangsstraßenkehrer scheckig gelacht. Und die Bemerkungen, die so einer über sich ergehen lassen muß.“ „Als wären Sie selber dabeigewesen, Major. Kwaskowiak prüfte persönlich nach, ob die Arbeit ordentlich ausgeführt worden war. Trotz allem kann ich mir nicht vorstellen, daß einer von diesen Leuten die Hand gegen den Kommandanten erhoben haben soll. Wenn er in der Kneipe oder auf dem Bahnhof umgebracht worden wäre, dann wüßten wir ja, daß einem im Suff die Rache zu Kopf gestiegen sein muß. Aber so ein Mord, in der Nacht verübt, aus dem Hinterhalt, das will mir nicht in den Kopf. Hier muß was anderes auf dem Spiel gestanden haben.“ Bronisław Niewarowny lauschte aufmerksam den Worten des Oberwachtmeisters. Der Alte hatte gut daran getan, ihm den Jungen besonders zu empfehlen. Er war wirklich gescheit und helle. Er folgerte richtig, und, was noch weit wichtiger war, er kannte sich bestens hier aus. 44
„Mal angenommen, was Sie da sagen, stimmt“, meinte der Offizier, „dann geht daraus hervor, daß Kwaskowiak im Umkreis von ungefähr vierhundert, höchstens fünfhundert Metern von seinem eigenen Haus ermordet worden ist. Denn nur diese Entfernung gestattet, die Wohnung binnen zehn Minuten zu verlassen und wieder zurückzukommen. Und nach dem Verbrechen wurde die Leiche an den Waldrand geschafft.“ „Es scheint ganz so.“ „Daher der Schluß, daß alle Einwohner von Podleśna, die im Umkreis von fünfhundert Metern von Kwaskowiaks Haus entfernt wohnen, dieses Mordes verdächtig sein können. Ich möchte, daß Sie mir eine Aufstellung über die in diesem Bezirk gelegenen Immobilien anfertigen sowie eine genaue Liste der dort gemeldeten Personen – Kinder und Frauen natürlich ausgenommen. Die Wunde, die dem Hauptwachtmeister beigebracht wurde, deutet darauf hin, daß der Verbrecher ein Mann ist, obendrein ein starker Mann.“ „Bis wann soll die Liste fertig sein, Herr Major?“ „So schnell es geht. Am besten bis gestern.“ „In einer Stunde haben Sie sie“, versprach Michalak. „Es sind nicht viele Namen. Höchstens dreißig.“ „Mehr als genug, um darunter denjenigen zu finden, den wir suchen. Den Mörder! Außerdem möchte ich möglichst viele Einwohner von Podleśna persönlich kennenlernen, damit ich mir über sie eine eigene Meinung bilden kann.“ „Nichts einfacher als das. Sie brauchen nur ein paarmal in die ‚Marysieńka‘ zu gehen, und Sie kennen alle, und alle kennen Sie. Die ‚Marysieńka‘ ist unser einziges Café und gleichzeitig das Lokal des ‚Podleśnaer Freundeskreises‘.“ „Ist das weit von hier?“ „Hier ist es überallhin nahe. In der Nebenstraße.“ „Ein Privatlokal?“ „Ja und nein. Offiziell in Pacht. Aber in Wirklichkeit 45
Eigentum von Frau Maria Kowalska. Eine gewitzte Person. Industriellenwitwe. Sie hatten eine große, einstöckige Villa. Das waren reiche Leute vor dem Krieg. Wahrscheinlich die wohlhabendsten in ganz Podleśna. Nach dem Krieg hatte Frau Kowalska Angst, daß man ihr Mieter hineinsetzen könnte, sie ließ das Haus umbauen, oben richtete sie sich eine Dreizimmerwohnung ein, und den ganzen unteren Teil hat sie dem ‚Freundeskreis‘ abgetreten. Der hat sich, weil er einen Fond für seine Arbeit haben wollte, um die Zulassung für ein Café bemüht, das Frau Maria in Pacht übernommen hat. Daher der Name des Lokals: ‚Marysieńka‘.“ „Ich dachte, das käme von Marysieńka Sobieska, der Frau König Jans.“ „Nein. König Jan soll zwar durch ganz Polen gereist sein und überall seine Eichen und Linden gepflanzt haben, aber nach Podleśna hat es ihn nicht verschlagen. Das Café ist sehr beliebt bei den Einwohnern unseres Orts. Im übrigen ist hier außer der ‚Marysieńka‘ und der BHGGaststätte nichts, wo man hingehen könnte. Und so gibt es niemand, der nicht wenigstens einmal die Woche bei Frau Kowalska hereinschaut. Wenn nicht auf einen kleinen Kaffee, dann zumindest, um ein paar Stück Kuchen zu kaufen. Und sonnabends ist dort sogar Tanz. Da kriegt man auch Ortsfremde zu Gesicht. Mitunter stehen vor dem Lokal an die fünfzehn Autos aus Warschau.“ „Was machen Sie heute abend, Oberwachtmeister?“ „Nichts Besonderes. Ich wollte nach Warschau fahren, aber es ist nicht so wichtig.“ „Ausgezeichnet. Legen Sie Zivil an, und dann gehen wir beide in die ‚Marysieńka‘.“ „Am besten kurz vor sechs, später ist es nicht leicht, einen Tisch zu bekommen.“ „Wunderbar. Und jetzt möchte ich mir unser Wachgebäude anschauen, mich ein bißchen in der Gegend umsehen und Ihre Kollegen kennenlernen.“ 46
4. Im Café „Marysieńka“
Es war in der Tat eine wunderschöne Villa. Man sah, daß sie von jemandem gebaut worden war, der nicht auf den Pfennig zu sehen brauchte, der obendrein noch Geschmack besaß und seine Vorstellungen dem richtigen Architekten anvertraut hatte. Wie die anderen Gebäude, so war auch die „Marysieńka“ gut zehn Meter von der Straßenfront zurückgesetzt. Eine breite Treppe führte in die Vorhalle. Ihre zweiflügelige Tür schien ins Innere der weitläufigen Halle einzuladen. Den einen Teil der Halle hatte man in eine Garderobe umgewandelt, den anderen in einen kleinen Warteraum für Interessenten, die ins Büro des ‚Podleśnaer Freundeskreises‘ wollten. Ein Messingtäfelchen mit dieser Aufschrift hing nämlich an der einen Tür. Die andere hingegen, eine sehr breite, offenstehende Schiebetür, lud in einen großen Raum ein. Einst war das wohl der Salon des reichen Industriellen gewesen. Heute waren von der einstigen Pracht nur noch ein Marmorkamin und ein arg abgetretener Teppich übrig. Die Mehrzahl der Tische war trotz der frühen Stunde bereits besetzt. Ein sehr attraktives Mädchen trug graziös Täßchen mit Kaffee sowie hausgebackene Kuchen- und Tortenstücke auf einem kleinen Tablett aus. Zwischen diesem und dem angrenzenden Raum hatte man ein großes Stück Wand niedergerissen. Auf die Weise waren die beiden Räume miteinander verbunden. Im Hintergrund befand sich ein großes Büfett voller Schüsseln, die die verschiedensten Delikatessen enthielten. Dahinter eine Kollektion Weine, Kognaks und Liköre. Am Büfett waltete in der ganzen üppigen Pracht einer Mittfünfzigerin Frau Marysieńka Kowalska. 47
Niewarowny wählte einen Tisch an der Wand, fast in der Saalecke. Von hier aus konnte er ungehindert die Gäste beobachten. Oberwachtmeister Bogdan Michalak hatte sich aus dem feierlichen Anlaß, hier einen Besuch in Begleitung eines höheren Milizoffiziers abstatten zu können, in Schale geworfen – eine silbergraue Krawatte zierte das weiße Nylonhemd. Der Major trug wie gewöhnlich einen etwas zerknitterten und ziemlich abgetragenen Anzug. Im übrigen hätte er beim besten Willen nicht anders hier erscheinen können, die Zeit hatte ja nicht ausgereicht, nach Warschau zurückzufahren und sich umzuziehen. Den Tag hatte der neue Kommandant damit zugebracht, sein neues Arbeitsgebiet kennenzulernen. „Guten Tag, Herr Oberwachtmeister. Was darf es für die Herren sein?“ Die schöne Serviererin schenkte den Ankömmlingen ein charmantes Lächeln. „Für mich einen kleinen Kaffee“, entschied der Major. „Für mich auch.“ „Und zwei Stück Käsetorte?“ Das Mädchen lächelte noch verführerischer. „Wenn Sie so freundlich sind, Fräulein Ela“, willigte Michalak ein. Das Mädchen ging nicht, es entschwebte, von einem schwärmerischen Blick des Oberwachtmeisters begleitet. „Ein hübsches Kind“, stellte der Major fest. „Wenn ich sie sehe, habe ich immer gleich eine Couch vor Augen“, gestand der Oberwachtmeister. „Na, dann nichts wie ’ran.“ Den Major amüsierte die Begeisterung des jungen Kollegen. „Die Konkurrenz ist zu groß und meine Tasche zu leer. Die Schwelle ist zu hoch für den Fuß eines Oberwachtmeisters.“ „Oho, sind Sie vielleicht schlechter als andere? Sind Sie nicht ein junger, gutaussehender Bursche?“ 48
„Dieses Mädchen kann rechnen. Es ist für niemand hier ein Geheimnis, daß sie sich mit Bełkowski zusammengetan hat.“ „Der Ingenieur, der die medizinischen Analysen macht?“ „Ja. Er sitzt im anderen Zimmer. An dem Tischchen am Fenster. Mit der mageren Dame. Seiner Frau.“ Bronisław Niewarowny blickte interessiert in die besagte Richtung. Ein korpulenter Herr an die Sechzig, mit stark gelichtetem graumeliertem Haar. Die Frau in seiner Begleitung war das glatte Gegenteil von ihm. Die Bezeichnung ‚Haut und Knochen‘ paßte am besten zu ihr. „Er ist häßlicher und wesentlich älter als Sie, Michalak. Ganz davon zu schweigen, daß er nicht nur der Vater, sondern sogar der Großvater dieses Mädchens sein könnte.“ „Den Mangel gleicht das Geld wieder aus. Und das hat der wie Heu.“ Wenig später tauchte die Kellnerin erneut auf und stellte zwei Kaffee und zwei mächtige Stück Käsetorte mit goldfarbener Rinde vor sie hin. „Wir freuen uns sehr über Ihren Besuch, Herr Major“, sagte sie. „Wir heißen unseren neuen Kommandanten herzlich willkommen und hoffen, daß Sie Stammgast bei uns werden.“ Es blieb ihm nichts anderes übrig: Der Major erhob sich, stellte sich vor und drückte einen Kuß auf die Hand, die ihm da gereicht wurde. Frau Maria Kowalska, die diese Szene vom Büfett aus beobachtete, trat jetzt auch mit einem Tablett zu ihnen, auf dem mehrere Glas Rotwein standen. „Sie gestatten, Herr Major“ – Frau Marysieńka war jetzt das Lächeln in Person –, „daß auch ich Sie willkommen heiße in unserem schönen Podleśna und im Namen aller Einwohner meiner Freude Ausdruck ver49
leihe, daß wir einen so energischen und erfahrenen Milizkommandanten bekommen. Ich bin glücklich, daß uns die Ehre zuteil wurde, Sie als erste in unserem Ort begrüßen zu dürfen. Nicht wahr, Herr Adaś?“ In ‚Herrn Adaś‘ erkannte der Major jenen Mann wieder, der am Vortag an Kwaskowiaks Grab auf dem Friedhof die Rede gehalten und im Namen des Gemeinderates von ihm Abschied genommen hatte – den Ratsvorsitzenden Adam Rembowski. „Gewiß, gewiß!“ Viele Stimmen riefen es in diesem Saal und im angrenzenden Raum. Der Major mußte abermals aufstehen, der Besitzerin des Cafés die Hand küssen und sodann die Hände drücken, die ihm von allen Seiten entgegengestreckt wurden. Der Tisch war mittlerweile von einer Menschenschar umringt. „Trinken wir auf die Gesundheit des Herrn Majors und darauf, daß seine Arbeit erfolgreich sein möge“, schlug die Kowalska vor. „Daß er so schnell wie möglich den Mörder des armen Kwaskowiak faßt.“ Der Wein, den Frau Maria gebracht hatte, reichte gerade für diejenigen, die als erste an den Tisch des Offiziers herangetreten waren. Die Serviererin lief deshalb zum Büfett und kehrte mit einem vollen Tablett zurück. Niewarowny stieß unzählige Male mit Leuten an, die er überhaupt nicht kannte. Er konnte nicht klagen. Sein Wunsch, möglichst viele Einwohner von Podleśna kennenzulernen, hatte sich im Handumdrehen erfüllt. Natürlich war es mit diesem einen Toast und dieser einen Runde Wein nicht getan. Alle bemühten sich, dem neuen Kommandanten gegenüber besonders freundlich und zuvorkommend zu sein, und erklärten sich bereit, ihm bei der Suche nach dem Mörder unter die Arme zu greifen. Es ging nicht an, daß Niewarowny weiter mit Oberwachtmeister Michalak an seinem Tisch sitzenblieb. Jemand machte den Vorschlag, zwei Tische zusammen50
zurücken, später wurden noch andere dazugeschoben, und bald nahm die Tafel, an deren Ehrenplatz der Major gesetzt wurde, die ganze Länge des Saales ein. Der improvisierte Toast der Frau Kowalska wuchs sich zu einem regelrechten Bankett zu Ehren des neuen Ordnungshüters von Podleśna aus. Niewarowny hatte seit Jahren nicht mehr an solch einer großen Geselligkeit teilgenommen, und er mußte obendrein noch so tun, als hätte er seinen Spaß daran. Der Major zweifelte nicht, daß es unter den Leuten, die ihm da wohlwollend zulächelten, viele gab, denen es lieber gewesen wäre, wenn die Miliz nicht die Nase in ihre großen und kleinen Geschäfte gesteckt hätte. Oberwachtmeister Michalak hingegen amüsierte sich glänzend. Fräulein Ela hatte sich neben ihn gesetzt und flirtete ganz offensichtlich. Der junge Mann flüsterte ihr etwas ins Ohr, und das attraktive Mädchen ließ beim Lachen eine ganze Kollektion ebenmäßiger schneeweißer Zähne blitzen. Niewarowny hielt nach Bełkowski Ausschau. Der Chemiker, der gleichfalls an den Tisch des Majors herangetreten war und sich vorgestellt hatte, beteiligte sich nicht an dem improvisierten Empfang. Er war an seinen Tisch zurückgekehrt, und jetzt schickten er und seine Frau sich zum Gehen an. „Sie verlassen uns schon, Herr Ingenieur?“ Die CaféBesitzerin versuchte, das Ehepaar zurückzuhalten. „So zeitig?“ „Leider, wir haben gleich morgen früh viel zu tun.“ Bełkowski machte eine Verbeugung zu den Anwesenden hin und ging. „Warum ist er heute nur so schlecht aufgelegt?“ fragte Doktor Workucki leise die Kowalska. „Unser Ingenieur fängt in letzter Zeit an, komisch zu werden.“ „Das ist ja wohl klar.“ Die Café-Inhaberin blickte vielsagend in jene Richtung, wo ihre Angestellte und der gutaussehende Milizionär saßen. 51
Workucki lächelte. „Wir können uns in Podleśna auf ein zweites Verbrechen gefaßt machen.“ „Ganz so schlimm wird’s schon nicht werden.“ Niewarowny tat, als hörte er diese Unterhaltung nicht, aber er hielt im stillen fest, daß auch ein solches Tatmotiv nicht ausgeschlossen sei. Jemandes Eifersucht. Es war wenig wahrscheinlich, aber vielleicht hatte Kwaskowiak eine Liebschaft gehabt, und eine eifersüchtige Hand hatte ihn niedergestreckt? „Ich sehe, Sie amüsieren sich nicht gerade.“ Eine Frau, die in Niewarownys Nähe saß, lächelte ihn über den Tisch hinweg an. Es war eine attraktive Frau von etwa fünfunddreißig Jahren, mit großen hellblauen Augen und dunklem Haar, das sie glatt nach hinten gekämmt trug. Der Major erinnerte sich, sie vorher am Tisch des Ratsvorsitzenden Adam Rembowski gesehen zu haben. „Wieso denn? Ganz im Gegenteil!“ Niewarowny bemühte sich, höflich zu sein. „Ich bin nur ein bißchen müde. Außerdem muß ich ja noch zurück nach Warschau.“ In dem Moment wurde Frau Kowalska, die bisherige Tischnachbarin des Offiziers, zum Büfett gerufen. Der Stuhl blieb frei. „Eine einmalige Gelegenheit, mich neben den Helden des Abends zu setzen“, sagte die Blauäugige und wechselte den Platz. Der Major war wütend. Diese Frau hatte ihm auf den ersten Blick nicht gefallen. Er gab zu, sie war hübsch und gut angezogen, dennoch empfand er eine merkwürdige, durch nichts begründete Antipathie. Vielleicht machten das die hellblauen, wachsamen Augen? Und nun setzte sich dieses entsetzliche Weibsbild zu allem Überfluß auch noch mit der deutlichen Absicht neben ihn, einen Flirt anzufangen. Da bist du aber an den Falschen geraten, Schwester, dachte Niewarowny, dir werd’ ich eins flirten, daß dir Hören und Sehen vergeht. 52
Unterdessen holte sich die elegante Nachbarin ihren Kuchenteller und ihr Weinglas heran und bemerkte, nachdem sie den Major mit einem aufmerksamen Blick gemustert hatte: „Nun sind Sie wohl zufrieden?“ „Womit?“ Der Offizier machte sich nicht einmal die Mühe, einen höflichen Ton anzuschlagen. „I wo, nicht weil ich mich neben Sie gesetzt habe“, sagte sie lachend. „Im Gegenteil. Das entzückt Sie ganz und gar nicht. Ich kann es an Ihrer Miene ablesen. Aber weil Sie mit einem Schlag Ihr Ziel erreicht haben. Sie haben beinahe alle kennengelernt, die in Podleśna etwas darstellen. Ich bin gespannt, ob auch er darunter ist?“ „Wer ‚er‘?“ „Der Mörder!“ „Warum nicht ‚sie‘?“ „Der Kommandant wurde doch mit einem Schlag auf den Kopf getötet. Mit einem Hammer, Stemmeisen oder der Stumpfseite einer Axt. Von diesem Hieb auf den Hinterkopf sind die Schädelknochen zertrümmert.“ „Sie wissen ja bestens Bescheid.“ „Sie werden sich daran gewöhnen müssen, daß es in Podleśna keine Geheimnisse gibt, Major. Sie ahnen ja gar nicht, wieviel wir über Sie wissen und wie man sich dafür interessiert, besonders unter den schönen Damen in unserem Kreis.“ „Zuviel der Güte“, erwiderte Niewarowny, und gleichzeitig fügte er im Geiste hinzu: So ein verdammtes Weibsstück. „Aber um auf den Mord zurückzukommen“, griff die Unbekannte das Thema wieder auf, „wenn die Wunde an Kwaskowiaks Kopf darauf hinweist, daß der Mörder ein Mann war, welcher von denen hier ist es dann gewesen?“ Die Frau ließ ihre Blicke über die Gäste im Café schweifen. „Weshalb soll es eigentlich nicht eine kräftige, gut durchtrainierte Frau gewesen sein?“ Er musterte sie unverfroren. 53
„Das scheidet aus.“ „Sind Sie so sicher?“ „Ich wohne ganz einfach zu weit vom Schuß.“ „Ich verstehe nicht.“ „Ich gehöre nicht der hiesigen Aristokratie an. Ich bin lediglich eine geschiedene Frau, die man ‚in Gesellschaft‘ duldet. Ich habe eine fünfzehnjährige Tochter – Magda. Ich wohne in Podleśna-Ost, mindestens zwei Kilometer von der Resedastraße entfernt. Damit komme ich wohl für Ihre Verdächtigenliste nicht in Frage?“ Der Major konnte nur mit Mühe sein Erstaunen und seinen Ärger unterdrücken. Seine These, ein Mann sei der Mörder, war in ganz Podleśna bekannt. Der Tischnachbarin des Milizoffiziers machte es offenbar unerhörten Spaß, den neuen Kommandanten zu überraschen. „Sobald Sie länger in Podleśna sind“, setzte sie hinzu, „werden Sie viele Dinge verstehen. Ja, ja, Major, wir wissen hier alles.“ „Sogar, wer der Mörder ist?“ „Manche wissen das sicher auch. Vor allem diejenigen, die den Hauptwachtmeister ermordet haben.“ „Gleich in der Mehrzahl?“ „Wenn sich jemand ganz kaltblütig dazu entschließt, einen Milizionär umzubringen, dann geht er fast nie allein vor, das ist Ihnen doch auch klar, Major. Es mordet eine Bande, um unbequeme Leute aus dem Weg zu räumen, die zuviel wissen. Kwaskowiak wußte noch nicht zuviel, aber er war auf dem besten Wege dazu.“ „Und Sie, meine Dame?“ „Ich ziehe es vor, nichts zu wissen. Das ist manchmal bequemer und sicherer. Ich hoffe, daß mich niemand eines schönen Tages mit zerschmettertem Schädel im Wald findet. Und was Sie betrifft, Major“ – die Blauäugige blickte sich nach allen Seiten um, rückte mit ihrem dunklen Kopf dichter an den Milizoffizier heran und senkte die 54
Stimme –, „Ihnen würde ich raten, sich unsere ‚Goldkinder‘ mal näher anzusehen.“ „ ‚Goldkinder‘?“ Noch ein Blick in die Runde. „Zum Beispiel das Töchterchen von Doktor Workucki. Oder das Söhnchen von Bełkowski. Oder auch die beiden Sprößlinge unserer charmanten Gastgeberin. Es gibt noch andere. Michalak wird Ihnen mehr über sie sagen können als ich. Im übrigen kann ich mich auch täuschen.“ „Wie woll ich das verstehen?“ „Ich habe Ihnen ohnehin schon zuviel verraten.“ Der Major schielte auf die Uhr. Es war zehn durch. „Bedaure, für mich ist es an der Zeit“, bemerkte er. Seine attraktive Nachbarin lächelte boshaft. „Schade, daß Sie schon gehen müssen. Es hat sich so nett geplaudert. Ich hoffe doch, daß wir uns bald wiedersehen und unser interessantes Gespräch beenden können.“ „Sie verlassen uns, Herr Major?“ Marysieńka Kowalska erschien am Tisch. „Du hast unseren lieben Gast offenbar schlecht unterhalten, Hanka.“ „Ich habe mich redlich bemüht, aber ich habe nicht die geringsten Chancen beim Major.“ „Mach keine Witze!“ Frau Kowalska zeigte eine verzweifelte Miene. „Wollen Sie wirklich schon gehen?“ „Ich muß noch nach Warschau zurück, meine Dame.“ „Das ist kein Problem. Sie können bei uns übernachten“, erklärte da Doktor Workucki. „Im Raum unseres ‚Freundeskreises‘. Das abgeschlossene Zimmer da nebenan, wir haben eine Doppelcouch dort und einmal Bettwäsche zum Wechseln. Es passiert öfter, daß jemand nach Podleśna kommt und hier übernachten muß, wir sind auf solche Eventualitäten eingerichtet. Und überhaupt hoffe ich, daß Sie zu uns nach Podleśna ziehen?“ „In Zukunft werde ich mir schon eine Übernachtungsmöglichkeit im Milizgebäude schaffen, denke ich. 55
Heute bin ich nur hier, um mich an meinem neuen Arbeitsplatz ein wenig umzusehen.“ „Wenn Sie wollen“, warf Frau Rozmarowicz ein, „wir haben in unserer Villa ein bequemes Gästezimmer. Mit separatem Eingang, aus dem Garten über die Terrasse. Ich stelle es Ihnen als unserem Beschützer und Verteidiger gern zur Verfügung.“ „Besten Dank“, schlug der Offizier das Angebot aus, „aber ich muß heute unbedingt noch nach Warschau zurück, und morgen früh bin ich in der Wojewodschaftskommandantur verabredet.“ „Wir hoffen, Sie bald wieder hier zu sehen.“ Frau Kowalska verzichtete schließlich darauf, den Major zurückzuhalten, und streckte ihm ihr molliges Händchen entgegen. „Natürlich, natürlich.“ Niewarowny küßte mit der größten Galanterie die hingehaltene Hand. Oberwachtmeister Michalak erhob sich sichtlich zögernd von seinem Platz neben der schönen Kellnerin. Man sah ihm an, daß er gern länger hiergeblieben wäre, es jedoch für seine Pflicht hielt, zusammen mit dem Vorgesetzten zu gehen. „Wenn Sie wollen, Kollege, dann bleiben Sie doch noch. Lassen Sie sich durch mich nicht stören.“ Niewarowny tat der junge Mann plötzlich leid. „Aber nein“, sagte der Oberwachtmeister mit leisem Protest. „Ich begleite Sie zum Bahnhof.“ „Ich finde schon allein hin.“ „Aber …“ „Um mich brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Sie haben doch gesagt“, wehrte der Major lachend ab, „Podleśna wäre der sicherste Ort in der ganzen Wojewodschaft, und jetzt wollen Sie mich unbedingt zum Bahnhof begleiten?“ „Man kennt Sie hier noch nicht. Womöglich kommt Ihnen einer dumm.“ 56
„Dann wird er mich kennenlernen und es bereuen. Eine Waffe trage ich immer bei mir.“ Der Major schlug bedeutsam auf die Tasche, wo er Zigaretten und Streichhölzer hatte. Michalak, zufrieden über diese Wendung, setzte sich an seinen Tisch zurück. Der Major deutete eine Verbeugung vor den Leuten an und lenkte seine Schritte zur Garderobe, ihm folgten seine Tischnachbarin und Frau Kowalska, die es für ihre Pflicht hielt, den Gast zum Ausgang zu geleiten. In der Garderobe traf er auch Adam Rembowski. „Von mir wollten Sie sich nicht verabschieden“, bemerkte Frau Hanka boshaft. „Zur Strafe gehe ich jetzt mit Ihnen.“ „Nichts angenehmer als das.“ Niewarowny sagte es im Tone eines Menschen, der soeben entsetzliche Zahnschmerzen hat. „Ich gehe ebenfalls“, erklärte Adam Rembowski, „dann gehen wir also zusammen.“ „Sie müssen doch wohl in eine andere Richtung, Herr Vorsitzender? Zur Akazienstraße?“ „Sie sind erst einen Tag in Podleśna und wissen schon so gut, wo wer wohnt“, erwiderte Rembowski lachend. „Wir werden unsere wahre Freude an Ihnen haben, Major. Und was die Richtung betrifft, ich gehe gern bis zum Bahnhof mit und wieder zurück nach Hause. Mir tut ein bißchen der Kopf weh. Wahrscheinlich von dem Rotwein.“ „Und ich fahre eine Station mit der Bahn“, fügte ihre Weggenossin hinzu. „Wenn Sie gestatten, bringe ich Sie nach Hause“, bot ihr der Ratsvorsitzende ritterlich an. „Damit man gleich über Sie die Zungen wetzt und mich zu Ihrer Freundin stempelt? Nein, danke. Mein Ruf kann nicht noch schlechter werden, als er schon ist, aber unsere beiden Namen haben die Klatschmäuler 57
noch nicht miteinander in Verbindung gebracht, und ich darf Sie dieser Gefahr nicht aussetzen. Eigentlich merkwürdig, ich soll mit allen Männern in Podleśna geschlafen haben, nur mit dem Vorsitzenden nicht“, sagte Frau Hanka lachend. „Aber im Ernst, ich wohne ja gleich am Bahnhof und finde glänzend allein nach Hause. Trotzdem, wenn wir den Zug noch erreichen wollen, müssen wir das Lokal endlich verlassen.“ „Ich habe mit Doktor Workucki gesprochen“, begann Rembowski, als sie auf die Straße hinaustraten. „Man müßte etwas unternehmen, um dieser armen Frau Kwaskowiak zu helfen. Der Rat hat einen Fond für derlei Zwecke, aber der Doktor hat versprochen, daß der ‚Podleśnaer Freundeskreis‘ eine Unterstützungssumme für die Witwe aussetzt und eventuell eine diskrete Sammelaktion unter den vermögendsten Mitgliedern veranstaltet. Schlechter ist es schon mit einer Arbeit am Ort bestellt. In Podleśna ist es ziemlich schwierig, eine Arbeit zu finden, besonders für Frauen. Ich werde mich noch mit Frau Kowalska verständigen. Vielleicht würde sie Frau Kwaskowiak in ihrem Café anstellen?“ „Ich wünsche niemandem eine Chefin wie Marysia. Sie ist nur nach außen so zuckersüß und freundlich. In Wirklichkeit ist das eine rücksichtslose Person, der das Geld über alles geht. Nicht umsonst wechseln die Angestellten des Cafés beinahe jeden Monat.“ „So schlimm ist es ja wohl auch wieder nicht, Frau Hanka“, protestierte Rembowski. „Fräulein Ela arbeitet schon über zwei Jahre dort. Sie wirkt durchaus nicht so, als ob sie unzufrieden wäre.“ „Ich weiß genau, was ich sage. Elka hat hauptsächlich so lange durchgehalten, weil sie gut verdient. Ihr Augenblitzen lohnt sich. Jeder von euch läßt ihr doch mindestens zwei Złoty. Und außerdem ist Marysia Kowalska zu gerissen, um sich mit Bełkowski anzulegen und sieht über Elkas Benehmen hinweg. Welcher anderen Servie58
rerin würde sie denn erlauben, so mit den Gästen am Tisch zu sitzen wie heute? Sie beißt sich bestimmt manchmal auf die Zunge, bevor sie Ela was sagt. Aber bei ihren anderen Angestellten stirbt sie durchaus nicht an Herzdrücken. Als ob die sich nicht oft genug bei mir über ihre Chefin beschwert hätten!“ „Mit Frau Kwaskowiak habe ich noch picht sprechen können“, erklärte der Major. „Aber wir kümmern uns in der Regel um die Witwen unserer Mitarbeiter. Für die drei Kinder bekommt sie eine Waisenrente. Außerdem ist ihr eine Unterstützung und eine Entschädigungssumme von der Staatlichen Versicherung ausgezahlt worden. Was eine Arbeit anbelangt, so werden wir uns bemühen, auch diese Angelegenheit für die Familie des Toten so günstig wie möglich zu lösen. Die Kinder sind im schulpflichtigen Alter?“ „Außer dem Jüngsten, dem Mietek. Der ist erst sechs“, antwortete Rembowski, „und Podleśna hat keinen Kindergarten. Der nächste ist in Ruszków, er ist im übrigen zu klein und zu eng, sogar für den Bedarf der Stadt selber. Dort ein Kind aus Podleśna unterzubringen ist so gut wie aussichtslos.“ „Ich setze mich in den nächsten Tagen mit Frau Kwaskowiak in Verbindung und erkundige mich bei ihr über ihre Pläne für die Zukunft. Immerhin, vielen Dank, daß Sie sich dieser Sache angenommen haben.“ Der Zug fuhr ein. Frau Hanka und der Major stiegen in den um diese Zeit fast leeren Wagen. Rembowski winkte ihnen zum Abschied und machte sich auf den Heimweg. „Soll ich Sie nicht vielleicht doch begleiten?“ „Nein, danke, wirklich nicht. Hier krümmt mir keiner ein Härchen. Die kennen mich gut. Ich bin ja eine Hiesige. Ein waschechter Dieb stiehlt nicht in der eigenen Straße. Das gleiche trifft in gewissem Maße auch auf die ortsansässigen Halbstarken zu. Ich weiß Ihr Opfer aber 59
durchaus zu schätzen, ich habe schließlich gespürt, daß Ihnen meine Gesellschaft ganz und gar nicht angenehm ist, stimmt’s?“ „Aber wie kommen Sie denn darauf?“ Der Tonfall des Majors kaschierte nur recht und schlecht die galante Lüge. Der Zug fuhr langsamer und näherte sich der Station Podleśna-Ost. Frau Hanka streckte die Hand aus. „Entschuldigen Sie alle Bosheiten, die ich Ihnen heute aufgetischt habe. Seien Sie mir bitte nicht böse. Ich bin eine Art Schiffbrüchige im Leben. Es ist nicht leicht, in meiner Lage in Podleśna zu leben und zu wohnen. Wenn die nicht Angst vor mir hätten und mich nicht brauchen würden, ich würde es nicht lange hier aushalten. Auf Wiedersehen.“ Sie gab dem Major nicht die Gelegenheit, ihr die Hand zu küssen, verabschiedete sich mit einem festen Händedruck und sprang geschickt aus dem Wagen. Der Zug fuhr wieder an.
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5. Der dunkelgrüne Fiat
Major Bronisław Niewarowny meldete sich am nächsten Tag beim Alten in der Wojewodschaftskommandantur, Er erstattete in allen Einzelheiten Bericht über seine ersten Schritte und Beobachtungen in Podleśna und gab die Informationen weiter, die von Oberwachtmeister Michalak und der Einwohnerin des Ortes stammten, deren Bekanntschaft er im Café ‚Marysieńka‘ gemacht hatte. Der Oberst hörte sich den langen Bericht geduldig an, dann bemerkte er: „Sie gestatten, Major, daß ich Hauptmann Lewandowski hinzuziehe und wir gemeinsam eine kleine Arbeitsberatung abhalten. Zwar führen Sie die Ermittlungen eigentlich unabhängig voneinander, trotzdem sollte wohl jeder wissen, wassern Nebenbuhler so treibt.“ Niewarowny schmeckte dieser Vorschlag nicht, er konnte jedoch nicht widersprechen. Nicht, weil er gefunden hätte, man habe seinem Vorgesetzten stets in allem nachzugeben. Es war nur schwer ein Argument dagegen zu finden, daß ein anderer Ermittlungsoffizier eingeweiht wurde in alles, was dazu beitragen konnte, den Mord an dem Hauptwachtmeister aufzuklären, den Verbrecher so schnell wie möglich dingfest zu machen. „Ich fürchte, Sie dämonisieren die Geschichte zu sehr“, sagte Hauptmann Lewandowski, nachdem er von den bisherigen Ergebnissen seines älteren Kollegen erfahren hatte, mit deutlich spürbarem Sarkasmus. „Für mich ist die Sache sonnenklar. Ein Bandit hat den Milizionär ermordet. Vielleicht glaubte er, auf die Weise in den Besitz einer Waffe zu gelangen, vielleicht hatte er aber auch eine alte Rechnung mit dem Hauptwachtmeister zu begleichen? Die geheimnisvollen Spaziergänge? Denen würde ich nicht allzuviel Bedeutung beimes61
sen. Vielleicht ging Kwaskowiak aus gesundheitlichen Gründen morgens gern spazieren? Vielleicht sah er auch nach, ob in seinem allernächsten Revier alles in Ordnung war? Wir wissen ja, daß der Kommandant auch danach, das heißt, nachdem er sich angezogen und gefrühstückt hatte, für gewöhnlich zur Bahnstation marschierte, eben um eine derartige Besichtigung vorzunehmen.“ Niewarowny wollte soeben scharf antworten, doch der Oberst kam ihm zuvor: „Aber wir dürfen nicht darüber hinweggehen.“ „Natürlich nicht.“ Der Hauptmann pflichtete seinem Vorgesetzten eilfertig bei. „Deshalb finde ich Ihre Idee, Herr Oberst, daß wir beide unabhängig voneinander die Ermittlung führen sollen, auch ausgezeichnet. Jeder folgt der Spur, die er für die wichtigere hält. Das kann für die Sache selbst nur von Nutzen sein. Ich bin dem Major sehr dankbar für die Information über den schwarzgebrannten Schnaps, über Augustyniak und seine Zechkumpane auf der Hochzeit. Der Bauer kann nachtragend und rachsüchtig sein. Ich werde mir diese Gesellschaft mal vorknöpfen. Im übrigen, mir scheint, ich weiß bereits, wer der Mörder ist.“ „Wer?“ „Ein ortsansässiger Rowdy oder vielmehr ein Diebsanwärter, Roman Wiatkowski, der Schwarze Romek genannt. Er und seine Bande. In letzter Zeit hatte Kwaskowiak ihn erneut wegen Randalierens oder einer Schlägerei vor die Konfliktkommission gebracht. Dem Schwarzen Romek blühten mindestens ein paar Monate Gefängnis, und dabei hatte er noch Bammel, daß er als Rückfälliger vor Gericht gestellt würde. Es gibt Zeugen, die gehört haben wollen, wie er drohte: ‚Ich gehe in den Knast, aber Kwaskowiak geht zum Teufel!‘ Seit der Ermordung des Hauptwachtmeisters hat in Podleśna keiner mehr Wiatkowski oder seine Kumpane zu Gesicht 62
bekommen. Als hätten sie sich in Luft aufgelöst oder wären mit ’nem Sputnik zum Mond gestartet. Schon seit drei Tagen suchen meine Leute in der ganzen Wojewodschaft nach ihnen, und die Stadtkommandantur grast vergeblich alle Unterschlupfe in der Hauptstadt ab. Wenn sie nicht was auf dem Kerbholz hätten, wären sie nicht untergetaucht. Und noch am Vortag des Verbrechens hat die ganze Truppe in einer Kneipe in Ruszków ordentlich einen draufgemacht. Und dieser Bursche hat Kwaskowiak gedroht.“ Der Major wollte wieder etwas einwerfen, aber der Alte war auch diesmal schneller. „Es freut mich“, sagte er, „daß Sie sich so reibungslos über die Ermittlungsmethoden geeinigt haben, meine Herren. Hiermit nehme ich zur Kenntnis, daß Sie, Hauptmann, sich den Abschaum vorknöpfen, Major Niewarowny sich dagegen ganz auf die dortige Creme der Gesellschaft konzentriert. Ich will Sie nicht länger aufhalten, Hauptmann. Du, Bronek, bleib bitte noch einen Moment da.“ „Ich kann diesen neunmalklugen Fatzken nicht sehen, viel weniger mit anhören, was er da von sich gibt“, bemerkte Niewarowny, sobald sich die Tür hinter Lewandowski geschlossen hatte. Der Oberst brach in Gelächter aus. „Ich gehe jede Wette ein, daß der Hauptmann jetzt das gleiche über dich sagt. Das nennt man ‚Liebe auf den ersten Blick‘! Aber vergiß nicht, er ist einer unserer besten Ermittlungsoffiziere. Seine Schlußfolgerungen mögen nicht nach deinem Geschmack sein, weil er entgegengesetzter Auffassung ist, aber ganz unparteiisch gesagt, ich weiß wirklich nicht, wer von euch beiden recht hat.“ „Ich bestimmt!“ „Ich habe deine Bescheidenheit immer bewundert, lieber Bronek … Aber um auf die Sache zurückzukom63
men: Wenn du schon unter den feinen Herrschaften des Ortes verkehren sollst, wäre es zu empfehlen, daß du wenigstens mal dein Anzügelchen da aufbügeln läßt. Bedeutend besser wäre es allerdings, du zögst überhaupt was Ordentlicheres an. Du hast doch wohl was?“ „Muß ich unbedingt einen Lackaffen aus mir machen?“ „Du darfst nicht im negativen Sinn abstechen. Vergiß nicht, du mußt als ‚einer der ihren‘ in diesen Kreis aufgenommen werden. Du wirst natürlich nicht so schnell ihr Vertrauen gewinnen, aber vielleicht verrät sich einer von diesen Leuten aus Versehen. Ich überlege, ob man dir nicht einen anständigen Wagen zur Verfügung stellen sollte? Es ist gerade ein konfiszierter Mercedes da. Wir haben Geheimfächer zum Schmuggel von Gold und Dollars darin entdeckt. Der Ausländer hat lieber die fünfzigtausend Kronen Kaution bezahlt und ist nicht zur Verhandlung erschienen, deshalb hat das Gericht verfügt, den Wagen zu beschlagnahmen. Ein scharfer Schlitten ist in so einer Gesellschaft die beste Visitenkarte. Alle Wagenpapiere werden auf deinen Namen ausgestellt.“ „Wenn ich schon den Snob spielen und den Autofan mimen soll, dann hätte ich lieber was Bescheideneres. Vielleicht einen Syrena.“ „Kommt gar nicht in Frage. Je teurer der Wagen, desto größer die Hochachtung, die sie dir entgegenbringen. Womöglich erleben wir noch, wie du mit dem Mercedes irgendwelche Miezen aufgabelst.“ „Aber woher will ein gewöhnlicher Major der Miliz so eine teure Kutsche haben?“ „Keine Bange. Wir setzen das Gerücht im Umlauf, du hättest einen Bruder in Amerika, der Millionär ist. Wenn du willst, kannst du auch ein anderes Land nehmen, mir ist das schnuppe. Deine Schwester könnte zum Beispiel einen steinreichen arabischen Scheich geheiratet haben.“ 64
„Laß es gut sein. Ich habe keine Schwester. Dann schon lieber der Bruder in den USA. Aber den Mercedes nehme ich nicht. Diejenigen, die das interessiert, kennen meinen Lebenslauf bestimmt besser als ich. Das würde mir den Start in Podleśna keineswegs erleichtern. Ganz im Gegenteil.“ „Und was ist mit dem Wohnen? Vielleicht wäre es ganz gut, die Einladung dieser, wie heißt sie noch mal, dieser Frau Rozmarowicz anzunehmen? Dann wärst du gleich mittendrin in diesen Kreisen.“ „Nein. Das hat zwar seine Vorzüge, aber auch Nachteile. Dort zu wohnen wäre ein bißchen hinderlich. Und außerdem möchte ich vermeiden, daß mir allzusehr nachgeschnüffelt wird. Ich richte mir ein bequemes Zimmer im Milizgebäude ein.“ „Wie du willst.“ Der Oberst war einverstanden. „Ich hoffe, du kannst mir in ein paar Tagen schon konkretere Nachrichten liefern.“ Noch am gleichen Nachmittag erkundigte sich der neue Milizkommandant von Podleśna bei Oberwachtmeister Michalak nach dem Sohn des Ingenieurs Bełkowski. „Da gäbe es eine Menge zu sagen. Andrzej ist jetzt dreiundzwanzig Jahre alt. Was lernen wollte er nicht. Abitur hat er nicht gemacht. Nicht vorbestraft und bei uns nicht vorgemerkt, aber seinen Eltern hat er schon allerhand Kopfzerbrechen bereitet. Wenn er Geld brauchte, schleppte er von zu Hause die verschiedensten Dinge weg und versetzte sie zu einem Schleuderpreis. Selbst mir hat er mal einen Anzugsstoff angeboten, den sein Alter aus dem Ausland mitgebracht hatte. Aber der Ingenieur hat nie eine Klage über seinen Sohn eingereicht. Es hat auch Prügeleien gegeben, zwar nicht in Podleśna, aber in Warschau. Bełkowski kennt allerlei Leute, die Sache wurde irgendwie vertuscht, oder es ging mit einer Geldstrafe ab, die der Vater bezahlte. Im Mo65
ment ist Andrzej leidenschaftlicher Autofahrer. Er will Rallyefahrer werden. Einen Wagen hat er schon in Klump gefahren. Jetzt will ihm der Papa einen BMW kaufen.“ „Hatte der junge Bełkowski irgendwelche Händel mit Kwaskowiak?“ „Hin und wieder. Kwaskowiak war ein Mann, der sich vor nichts und niemandem fürchtete. Und vor den angeblichen Beziehungen des alten Bełkowski gleich gar nicht. Es kam schon vor, daß Andrzej in unserer Arrestzelle übernachtete und dann mustergültig die Akazienstraße fegte.“ „Ist das lange her?“ „Ungefähr zwei Jahre. Danach, als der Rasereifimmel in den jungen Bełkowski gefahren war, randalierte er seltener. Und Geschwindigkeitsübertretungen außerhalb von Podleśna sind nicht mehr unsere Sache. Im übrigen hat der Alte seinem Sohn eine Junggesellenwohnung in Warschau gekauft, so daß wir ihn glücklicherweise nicht allzu oft hier zu Gesicht bekommen.“ „Hat er den Wagen in einer Garage in Podleśna stehen?“ „Nein. Ingenieur Bełkowski fährt einen Wartburg, der schon ziemlich alt und ramponiert ist. Auf diesem Wagen hat Andrzej für seine künftige Rolle als Eroberer der Straße trainiert.“ „War der junge Bełkowski am Vorabend vor der Ermordung von Kwaskowiak in Podleśna?“ „Das müßte nachgeprüft werden. Ich habe ihn nicht gesehen. Und seinen blauen Wagen auch nicht.“ „Hat Doktor Workucki eine Tochter?“ „Zwei Kinder. Der Sohn studiert in Warschau. Janka, die Jüngere, geht in die letzte Oberschulklasse. Sie macht in diesem Jahr das Abitur. Zum erstenmal. Aber dafür hat sie die zehnte und elfte Klasse zweimal gemacht. Ich bezweifle stark, daß sie es schafft. Der steht 66
der Sinn nicht nach Lernen. Die Jungs, das Café, Tanzen, bloß nicht die Schulbücher. Doktor Workucki, der anderen gegenüber so streng ist, läßt seiner Tochter halt alles durchgehen.“ „Hat sich das Mädchen mal mit Kwaskowiak angelegt?“ „Ich weiß nicht. Aber ganz bestimmt hatte sie mehr Bammel vor ihm als vor ihrem Vater. Irgendwann machte die ganze Truppe, angeführt von Janka, Rabatz in der Bahn und hinterher noch auf dem Bahnhof. Sie randalierten und ließen die Leute nicht schlafen. Sie stellten absichtlich ihre Kofferradios auf volle Pulle. Das ist zwar nicht weiter tragisch, na, wie sich junge Leute eben so aufspielen. Wachtmeister Nierobis, der hatte da gerade Dienst, wurde nicht mit ihnen fertig. Er verständigte den Kommandanten. Ich war dabei. Kwaskowiak ging zu ihnen hin und sagte ganz ruhig: ‚Fräulein Janka, marsch, nach Hause, aber sofort!‘ Ob Sie es glauben oder nicht, Major, die war schneller weg, als wir gucken konnten. Sie grüßte sogar noch im Gehen und murmelte eine Entschuldigung. Einer von ihren Kumpels wollte noch aufmucken, aber sie brachte ihn rasch zum Schweigen. Der Kommandant wußte offenbar etwas über das Mädchen, weil die Sache so glatt ging. Denn sogar die Lehrer in der Schule beschwerten sich darüber, daß sie ungeheuer aufsässig sei und einen schrecklich großen Rand habe. Wenn sie nicht das Doktorentöchterlein wäre, hätte man sie wahrscheinlich schon längst von der Schule geschmissen.“ „Und die Söhne von Maria Kowalska?“ „Wie ich sehe, sind Sie über alle unsere ‚Goldkinder‘ bestens unterrichtet, Genosse Major. Das sind noch grüne Jungs. Vierzehn und sechzehn Jahre alt. Aber auch unerhört verwöhnt. Als ihnen Herr Orzechowski, ein Angestellter des Binnenhandelsministeriums, der in Podleśna wohnt, einmal in der Bahn vorhielt, daß sie sich so flegelhaft benahmen und ordinäre Schimpfreden 67
führten, schlugen sie ihm am nächsten Tag mit Steinen drei Scheiben ein. Was hat sich Frau Kowalska nicht bei ihm entschuldigt und gebettelt, er solle nicht Anzeige bei uns erstatten! Da wären die Jungs nämlich ganz schön in Schwulitäten geraten. Am Ende ließ Herr Edward alles auf sich beruhen. Frau Kowalska mußte tausend Złoty zu Wohltätigkeitszwecken lockermachen und ihm die Kosten für die neuen Scheiben zurückerstatten.“ „Und Sie, was haben Sie gemacht? Dabei ruhig zugesehen?“ „Bei uns lag keine Anzeige vor, und wir wußten gar nichts von der Geschichte. Das wurde erst später in Podleśna publik.“ „Hat diese Lektion gewirkt?“ „Nicht sonderlich. Ende Mai, als wir im Wald nach ‚Buschschnaps‘ suchten, überraschten wir die beiden Söhnchen der Café-Besitzerin und ihre Kumpels dort beim Schuleschwänzen. Sie hatten sich so mit Wein vollaufen lassen, den sie bestimmt ihrer Mutter geklaut hatten, daß sie sich nicht auf den Beinen halten konnten. Der Hauptwachtmeister erledigte die Sache kurz und auf seine Weise. Er sagte: ‚Ihr habt die Wahl: Entweder ich stecke euch in Arrest und benachrichtige die Schule und eure Eltern, oder ihr legt euch hier der Reihe nach über den Baumstamm. Und wehe, ich treffe euch noch ein einziges Mal hier.‘ Ganz klar“ – der Oberwachtmeister lachte bei dieser Erinnerung –, „die zogen natürlich den Baumstamm vor. Der Kommandant schnallte den Riemen ab und zog ganz väterlich jedem zehn Hiebe über, an der richtigen Stelle. Und er hatte eine kräftige Hand. Die Jungs konnten ein paar Tage lang nicht gerade sitzen. Aber Kwaskowiak erwähnte die Geschichte mit keinem Mucks vor irgend jemand. Und Sie sind der erste Mensch, dem ich sie erzähle, Genosse Major.“ „Nebenbei gesagt“, bemerkte Niewarowny lächelnd, „euer Kommandant hatte recht originelle Methoden.“ 68
„Die einzig wirksamen. Was hätten wir davon gehabt, wenn wir die Bengels alle in den Arrest gesteckt und sie dann der Konfliktkommission gemeldet hätten? Die Kommission hätte eine geringe Geldbuße verhängt. Die Eltern hätten sie bezahlt, und die Söhnchen hätten weiter verrückt gespielt. Nach der Operation auf dem Baumstamm hatten die jungen Kowalskis so einen Respekt vor dem Kommandanten, daß sie ihn schon aus zehn Meter Entfernung grüßten. Und danach hat keiner von ihnen mehr im Zug geflucht oder die Fahrgäste gerempelt.“ „Geht der ältere Kowalski in die hiesige Oberschule?“ „Nein. Die Mutter mußte ihn vor zwei Jahren herausnehmen. Er geht jetzt in Warschau zur Schule.“ Niewarowny fertigte über sein Gespräch mit Oberwachtmeister Michalak eine Aktennotiz an, um sie anderntags an den Oberst weiterleiten zu können. Vielleicht würde Hauptmann Lewandowski Lust verspüren, dieser Spur nachzugehen? Der Major selbst betrachtete die Informationen, die er da erhalten hatte, ziemlich skeptisch. Zwei jugendliche Flegel, die von Kwaskowiak mal eine Tracht Prügel bezogen hatten, ein vorlautes junges Dämchen oder selbst ein angehender Rallyefahrer, der vor ein paar Jahren einmal gezwungen gewesen war, die Straße zu fegen – das waren auf keinen Fall potentielle Mörder, die mit kalter Berechnung ein Verbrechen planten. Wie die Statistiken belegen, ist allem Anschein zum Trotz Rache sehr selten ein Mordmotiv. Nein, die Informationen, die er von Frau Hanka im Café erhalten hatte, waren eine falsche Spur. Sie hatte sich geirrt. Vielleicht hatte sie die Ermittlung aber auch absichtlich in diese Richtung lenken wollen? Der Major fürchtete, er werde es noch mit vielen solcher Fehlinformationen und verworrenen, ins Nichts führenden Spuren zu tun bekommen. Ungeachtet dessen, wer der Mörder war – die kleine Welt der Honora69
tioren ließ es nicht zu, daß sich jemand in ihre Angelegenheiten einmischte. Das Gebäude der Milizwache in Podleśna bestand aus fünf Zimmern. Eigentlich aus vier und der ehemaligen Küche, die zum Lager und Archiv umgebaut worden war. Im größten Raum hatte ständig ein Milizionär Dienst, und dort wurden auch die Besucher abgefertigt. An diesen Raum schloß sich ein kleinerer an, in dem sich das Arbeitszimmer des Kommandanten befand. Auf der gegenüberliegenden Seite des Gangs gab es noch drei Zimmer. Eines war das bereits erwähnte Lager, das zweite der Aufenthaltsraum für die Milizionäre. Hier konnten sie ihre Berichte und Meldungen schreiben und sich in den Pausen zwischen dem Außendienst ausruhen. Das letzte, fünfte Stübchen, das kleinste von allen, hatte keine besondere Bestimmung. Es diente einfach als eine Art Rumpelkammer. Dieses Zimmerchen beschloß der Major zu seiner Junggesellenbude zu machen. Weil zur Zimmereinrichtung auch ein Waschbecken gehörte, durfte man annehmen, früher, bevor das Gebäude in eine Dienststelle umgebaut worden war, sei hier das Bad gewesen. Jetzt trug man der Reinigungskraft auf, das überflüssige Gerümpel wegzuschaffen und den Raum so herzurichten, daß er benutzt werden konnte. An Möbeln fehlte es nicht. Es fanden sich ein kleiner Tisch, zwei Stühle und ein schmales, aber noch gut erhaltenes Sofa an, ja sogar ein alter, klappriger Schrank, den Wachtmeister Nierobis, der sich aufs Tischlern verstand, sehr bald wieder in Ordnung zu bringen versprach. Als die Wohnungsfrage geklärt war, durfte sich der Major endlich auch um seine Verpflegung kümmern. Die einzige Gaststätte am Ort konnte sich keiner guten Küche rühmen. Die Existenzgrundlage besagten Lokals waren drei ‚Gerichte‘: Wodka, saure Gurken und Rollmops. Wer etwas anderes verlangte, wurde betrachtet, 70
als käme er vom Mond. Im nahe gelegenen Ruszków gab es zwar eine Konsum-Betriebsküche, aber dort zu essen hielt Niewarowny für Zeitverschwendung. Er beschloß, sich wie in Warschau einmal am Tag selbst eine warme Mahlzeit zu bereiten. Zum Frühstück hatten Milch und ein Stück Brot zu genügen, und die Abende beabsichtigte er im Café ‚Marysieńka‘ zu verbringen. Gleich bei der Bahnstation stand ein hübscher und recht ansehnlicher Flachbau. Die ‚Kaufhalle‘, wie ihn die Einwohner von Podleśna mit einiger Übertreibung nannten. Es war der größte Laden im Ort und lag außerdem ganz in der Nähe des Milizgebäudes. Der Major ging also dorthin, um das Notwendigste für sein Mittagessen einzukaufen. Den Abend über wollte er noch in Warschau bleiben. Er hatte einiges für seinen privaten Bedarf von zu Hause zu holen. Der erste Mensch, den der Major im Laden erblickte, war Frau Hanka Nielisecka, die im weißen Kittel an der Kasse saß. Sie begrüßte den Offizier mit einem strahlenden Lächeln. „Wie nett von Ihnen, Major, daß ich nach der ‚Marysieńka‘ an zweiter Stelle auf Ihrer Besuchsliste stehe. Ich würde mich echt geehrt fühlen, wenn ich nicht den leisen Verdacht hätte, daß Ihr Spaziergang nicht meiner bescheidenen Person gilt, sondern prosaischere Gründe hat. Trotzdem, ich heiße Sie herzlich willkommen. Womit kann ich Ihnen dienen?“ „Ich wußte gar nicht, daß Sie hier arbeiten“, gestand Niewarowny ganz offen. „Ich bin überzeugt, wenn Sie es nur geahnt hätten, wären Sie einen Kilometer weiter zum nächsten Laden gelaufen. Bitte nehmen Sie einen Korb, ich führe Sie durch mein Reich und helfe Ihnen bei Ihren Einkäufen.“ Die Nielisecka wandte sich an eine Verkäuferin: „Jadzia, bitte vertritt mich mal an der Kasse.“ Der Major nahm gehorsam einen Korb und folgte ihr. 71
Frau Hanka sagte: „Sie brauchen bestimmt etwas zum Mittag, denn in die hiesige Kneipe zu gehen rate ich Ihnen nicht. Weißwurst kann ich Ihnen heute besonders empfehlen. Einen Topf und einen elektrischen Kocher wird es im Milizgebäude ja geben, nicht wahr? Ja, und dann noch Brot, Zucker und ein Päckchen Tee. Sie als bedeutende Person bekommen ein Päckchen ‚Yunan‘, das gibt’s normalerweise nur unter dem Ladentisch. Zum Tee schlage ich diese Kekse hier vor. Die sind wirklich vorzüglich und werden nicht schlecht, was in Ihrer Junggesellenwirtschaft ziemlich wichtig ist. Und hier noch ein Achtel Butter.“ Die Verkaufsstellenleiterin fragte den Major nicht einmal, ob er auch einverstanden sei, sondern legte ihm die Lebensmittel einfach in den Korb. „Sie fahren heute nach Warschau zurück? Folglich essen Sie heute abend und morgen früh zu Hause. Aber übermorgen … Was brauchen Sie zum Frühstück?“ „Etwas Milch und ein Stück Brot.“ „Dann müssen wir Sie auf die Milchbestelliste setzen, Major. Einen Liter oder einen halben?“ „Schreiben Sie ruhig einen Liter.“ „Recht so. Da bleibt immer was für saure Milch. Die ist nämlich sehr gesund, besonders wenn man aus dem Café ‚Marysieńka‘ nach Hause kommt, wo Sie sicherlich Stammgast werden. Jetzt kommen Sie bitte mit zur Kasse, Sie bezahlen, und danach lade ich Sie zu mir nach hinten ein. Da unterhalten wir uns bei einem guten Kaffee.“ Der Major gehorchte ohne Widerrede den Anweisungen der energischen Dame. Er bezahlte ganz mechanisch, steckte den langen, schmalen Kassenbon in die Brieftasche, aber er war mit den Gedanken woanders. Endlich, als sie bereits in dem kleinen Büro im hinteren Teil der Verkaufsstelle saßen, erkundigte sich der Offizier: „Liefern Sie die Milch auch nach Hause?“ 72
„Seit ungefähr zwei Jahren. Vorher brachten sie die Frauen aus den Dörfern. Eine Milch, von der man nicht wußte, woher sie stammte, und Gefäße, die auch nicht gerade sauber waren. Ich habe lange kämpfen müssen, damit der Privatverkauf abgeschafft wurde. Die größte Schwierigkeit war, jemand zu finden, der die Milch austrägt, denn das ist ein weit schlimmeres Amt als in Warschau. Da muß man mit einem Handwagen durch den ganzen Ort kutschieren, von Villa zu Villa. Aber schließlich habe ich dann doch einen Freiwilligen aufgegabelt. Der Mann ist kein Zusteller, sondern einfach eine Perle. Pünktlich, fleißig. Der hat mich noch nie versetzt. Wenn er nicht selber kommt, schickt er einen, der ihm aushilft. Tagtäglich erscheint er morgens Punkt vier Uhr vor dem Laden. Manchmal muß er sogar noch auf das Molkereiauto warten. Wirklich eine Hundearbeit. Tag für Tag, egal, bei was für Wetter. Er verdient dabei zwar ziemlich gut, aber so viel nun auch wieder nicht. Ich nehme an, er kriegt von den Kunden noch was zusätzlich zugesteckt, sonst hätte er wahrscheinlich nicht so lange durchgehalten.“ Diese Worte bestätigten Niewarownys Vermutungen. Es gab also jemand, der täglich im Morgengrauen mit seinem Handwagen durch die Straßen des Ortes zog. Vielleicht war dem etwas aufgefallen, was ein Licht auf den Mordfall Kwaskowiak werfen konnte. Bei seiner Großaktion, gleich nachdem das Verbrechen entdeckt worden war, hatte Hauptmann Lewandowski Dutzende von Personen vernommen. Der Milchzusteller war ihm entgangen. Zum zweitenmal verspürte Niewarowny eine gewisse Genugtuung, daß er auf eine Unterlassung seines jüngeren Kollegen gestoßen war. „Ich möchte mit diesem Milchzusteller sprechen. Was ist das für ein Mann?“ „Stefan Zborkowski. Er wohnt hier in der Nähe, hinter 73
den Bahngleisen.“ Die Verkaufsstellenleiterin sah auf die Uhr. „Sie brauchen nicht lange nach ihm zu suchen. Es ist gleich zwei. Stefanek, so nennen ihn hier alle, kommt für gewöhnlich um diese Zeit in den Laden, um festzulegen, welche Milchmenge er am nächsten Tag ausfährt.“ „Das steht doch wohl von vornherein fest, wer und wieviel jemand bestellt hat?“ „In Warschau schon. Bei uns geht es familiärer zu. Manchmal möchte jemand einen oder zwei Liter mehr haben, oder er verzichtet an einem Tag überhaupt auf die Milch. Außerdem bestellt das Café täglich eine andere Menge, je nachdem, welcher Betrieb zu erwarten ist. Diese Abweichungen liegen übrigens im Interesse des Zustellers, denn Zborkowski erfüllt derlei Sonderwünsche bestimmt nicht nur aus purer Freundlichkeit. Warten Sie einen Moment, ich sage im Laden Bescheid, daß wir Stefanek hier brauchen.“ Als Frau Hanka zurück war, nahm der Major einen Schluck von dem kräftigen Kaffee und fragte: „Woher wissen Sie, daß ich heute nicht in Podleśna übernachte?“ „Ganz einfach. Man braucht nur an der Kasse zu sitzen und zuzuhören, was die Leute so erzählen. Es gibt praktisch niemanden, der in Podleśna wohnt und nicht alle paar Tage mal zu mir in die Genossenschaft einkaufen käme. Hier kennt jeder jeden, und jeder interessiert sich für jedes. Gegen zwölf kam die Reinemachfrau in den Laden. Sie erzählte, sie hätte viel zu tun. Sie müßte nämlich das kleine Zimmer im Milizgebäude saubermachen und scheuern. Der neue Kommandant wolle dort wohnen, aber er müsse noch sein Bettzeug aus Warschau holen. Alles andere ist nur die logische Schlußfolgerung, die ich daraus gezogen habe.“ „Aus Kwaskowiaks Ermordung haben Sie allerdings falsche Schlüsse gezogen.“ „Wieso?“ „Kinder haben den Hauptwachtmeister nicht umge74
bracht. Nicht mal so zügellose wie der junge Bełkowski, Janka Workucka oder die Sprößlinge von Marysieńka Kowalska.“ „Jeder einzelne von ihnen hat aber gedroht, es dem Kommandanten ein für allemal heimzuzahlen.“ „Schon möglich, aber von solchen unreifen Drohungen bis zu einem Verbrechen ist ein weiter Weg.“ „Andrzej Bełkowski ist kein Kind mehr. Er ist vierundzwanzig Jahre alt, und er war am Vorabend des Mordes in Podleśna.“ „Das alles wird noch sehr genau nachgeprüft, das verspreche ich Ihnen. Wir werden nachforschen was dieser Goldjunge so treibt. Aber zwischen dem Straßenfegen vor zwei Jahren und dem Stemmeisenschlag auf Kwaskowiaks Hinterkopf liegt eine gehörige Entfernung. Sowohl zeitlich gesehen als auch was die Bedeutung dieser beiden Taten anbelangt. Außerdem wohnt der junge Bełkowski nicht ständig in Podleśna, folglich kann der Kommandant auf seinen Morgenspaziergängen nicht ihn beobachtet haben …“ Der Major verstummte, denn die Tür ging auf, und auf der Schwelle stand ein Mann von mittlerem Wuchs in einem dunkelblauen, schon ziemlich abgetragenen, aber sauberen Arbeitsanzug. Der Ankömmling hatte ein rundes, glattrasiertes Gesicht und dunkelblondes Haar. Insgesamt machte er einen äußerst sympathischen Eindruck und wirkte auf den ersten Blick vertrauenerweckend. Die grauen Augen blickten vergnügt. Beim Anblick eines Unbekannten im Zimmer von Frau Hanka grüßte der Mann und wollte sich zurückziehen, aber Frau Hanka protestierte: „Oh, Herr Stefanek! Bitte kommen Sie herein. Hier ist jemand, der Sie sprechen möchte. Trinken Sie einen Kaffee mit?“ „Nein, danke.“ Zborkowski sah den Milizoffizier fragend an. „Die Herren kennen sich nicht? Major Niewarowny, der neue Kommandant unserer Wache und von 75
morgen an auch Ihr Kunde, und das ist Herr Stefan Zborkowski.“ Der Major stand auf und ergriff die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde. „Sie leiten wohl die Ermittlung in der Mordsache Kwaskowiak, Herr Major?“ „Ja und nein“, erwiderte Niewarowny. „Die Ermittlungen führt eigentlich die Wojewodschaftskommandantur in Warschau. Und ich leite einstweilen die hiesige Wache.“ „Ich verstehe, Sie wollen sich an Ort und Stelle über die Situation Überblick verschaffen.“ „So kann man es auch nennen. Und eben deshalb möchte ich mit Ihnen sprechen.“ „Ich muß an die Kasse zurück.“ Die Nielisecka verließ taktvoll das kleine Büro. „Sie fahren die Milch aus?“ „Ja. Das Auto kommt morgens gegen vier aus der Molkerei. Da fang’ ich mit der Arbeit an. Ein großes und weit auseinandergezogenes Gebiet. Wenn ich fertig bin, ist es immer schon nach sieben.“ „Sie kommen mit Ihrem Wagen von hier, vom Laden der Genossenschaft?“ „Ja. Ich komme morgens hierher und prüfe die Kästen nach, die mir geliefert wurden. Wenn die Milch aber nur an einer Stelle stände, würde ich es mit dem Ausfahren nicht schaffen. Deshalb lädt das Auto hier nur einen Teil von den Kästen mit den Flaschen ab, den Rest an zwei anderen Punkten, in der Rosenstraße und an der Kreuzung Reseda- und Birkenstraße.“ „Und wo beginnen Sie mit Ihrer Arbeit?“ „Ich nehme von hier ein paar Kästen auf den Wagen und fahre zur Resedastraße. Unterwegs stelle ich die vollen Flaschen vor die Haustüren und komme dann, nur noch mit leeren Flaschen auf dem Wagen, bis zur Birkenstraße, wo wieder Kästen auf mich warten. Ich 76
beliefere die Resedastraße, biege in die Birkenstraße ein, danach kommt die Akazienstraße dran, bis zum Wald, und dann fahre ich zurück. Dann hole ich wieder Kästen vom Laden, fahre durch die ganze Straße des fünfzehnten Dezember und nehme den Rest von den Flaschen in der Rosenstraße mit. Zuallerletzt kommt die Himbeerstraße dran, das ist die hier, in der wir uns jetzt befinden. Wenn es jemand nämlich sehr eilig hat, kann er die paar Schritte auch zu Fuß gehen und sich seine Flasche selber aus dem Kasten nehmen, der vorm Laden steht.“ „Treffen Sie morgens viele Leute?“ „Wenn ich mit der Arbeit anfange, fast niemanden. Aber wenn ich zum Ende komme, rennen die Leute gerade zur Bahnstation.“ „Haben Sie den Milizkommandanten manchmal getroffen?“ „Das kam schon vor. Der war auch mein Kunde. Der Kommandant stand gern früh auf. Meist nahm er sich die Milch selber aus dem Kasten an der Kreuzung Reseda- und Birkenstraße.“ „Wenn Sie Kwaskowiak trafen, in welche Richtung ging er dann?“ Stefanek überlegte. „Ich habe ihn nicht oft getroffen. Aber ich glaube, er war dann immer auf dem Nachhauseweg.“ „Und woher kam er?“ „Vermutlich von der Birkenstraße. Aus der Richtung der Bahngleise. Vielleicht auch von der anderen Seite. Ich kann mich nicht erinnern.“ „Was hatte er an?“ „Ich glaube, einen Trainingsanzug? Ja, ganz bestimmt, er hatte einen dunkelblauen Trainingsanzug an. Jetzt erinnere ich mich genau, ich fragte ihn einmal, ob er für die Spartakiade von Gwardia trainieren würde. Er lachte und sagte, dazu wäre er schon zu alt. Aber es sei 77
halt gesund, einen Spaziergang zu machen und ein bißchen frische Luft zu schnappen vor der Arbeit.“ „An dem Tag, als man ihn später tot auffand, hatten Sie Kwaskowiak da gesehen?“ „Nein. Dann hätte ich mich ja bei der Miliz gemeldet. Da hatte er die Milch nicht geholt. Vor seiner Tür stand die leere Flasche, und ich tauschte sie gegen eine volle aus.“ „Wissen Sie noch, wann das etwa war?“ „Ich habe nicht auf die Uhr gesehen, aber ich schätze, vor fünf.“ „Haben Sie kein Auto vorbeifahren sehen oder hören?“ „Ein Auto?“ Zborkowski dachte nach. „Ja. Auto fuhr eins. Aber nicht durch die Resedastraße, sondern durch die Akazienstraße. Ich wollte gerade die Kästen mit den Flaschen auf meinen Wagen stellen und die Birkenstraße entlang zur Akazienstraße fahren, da fuhr durch diese Straße ein Auto.“ „In welcher Richtung?“ „Ich glaube zum Wald zu, aber ich könnte es nicht beschwören.“ „Von der Stelle, wo sich die Resedastraße und die Birkenstraße kreuzen, bis zur Akazienstraße sind es allenfalls hundert Meter. Haben Sie sich das Auto gemerkt?“ „Sie wollen wissen, wessen Wagen das war? Nein, das weiß ich nicht.“ „Es geht mir nicht darum, wem er gehört. Aber um die Marke oder die Farbe.“ „Es war ein Polski Fiat, dunkelgrün. Ich habe es deutlich gesehen, es war zwar noch dunkel, aber an der Kreuzung zwischen Birken- und Akazienstraße brennt ja eine Laterne. Aber halt doch! Ich erinnere mich, daß ich, als ich die Milch in der Resedastraße austrug, auch ein Auto hörte, das zur Akazienstraße fuhr, aber ich habe es nicht gesehen.“ 78
„War viel Zeit zwischen diesem ersten Autogeräusch und dem Fiat vergangen?“ „Nein. Höchstens zehn Minuten. Ich fuhr mit meinem Wagen schon zur Birkenstraße, da hörte ich ganz in der Nähe ein Auto vorbeifahren.“ „Und dann haben Sie nichts mehr bemerkt?“ „Nein. Ich fuhr ganz normal meine Milch in der Akazienstraße aus. Dort habe ich niemanden gesehen. Erst danach, als ich zur Genossenschaft zurückkam, war es in den Straßen lebhafter geworden. Die Leute hasteten zur Bahn, und jemand, den ich in der Rosenstraße traf, sagte mir, der Kommandant Kwaskowiak sei tot im Wald gefunden worden. Dann sah ich Oberwachtmeister Michalak und Wachtmeister Nierobis. Es standen ein paar Leute um sie herum, aber ich ging nicht dichter heran. Ich hätte ja sowieso nicht helfen können, und ich mußte doch mit dem Milchausfahren fertig werden.“ „Um noch mal auf diese morgendlichen Begegnungen mit Kwaskowiak zurückzukommen: Ist es nicht mal passiert, daß Sie den Kommandanten sahen, als er gerade das Haus verließ?“ „Nein. Ich habe ihn ja nur ein paarmal getroffen, da war er immer auf dem Nachhauseweg.“ „Dann kam er von der Birkenstraße her?“ „Ja. Einmal habe ich ihn in der Birkenstraße gesehen. Er kam von den Bahngleisen. Und ein anderes Mal bemerkte ich, wie er in die Birkenstraße einbog, als käme er aus der Akazienstraße. Der Kommandant war sehr für Ordnung, und er sah selber nach, ob im Ort alles so war, wie sich’s gehört.“ „Wer kann ihn ermordet haben, was meinen Sie?“ „Ich weiß nicht. Kwaskowiak verlangte eine ganze Menge. Er hat sich bei manchem unbeliebt gemacht. Aber ihm deshalb gleich eins über den Schädel zu hauen?“ „Haben Sie den Hauptwachtmeister auch manchmal in Uniform gesehen?“ 79
„Nicht morgens. Da ging er immer im Trainingsanzug. Einmal sagte er mir, er würde zu diesen frühen Spaziergängen den Trainingsanzug anziehen und erst später frühstücken. Er lachte und sagte, nach so einem Spaziergang hätte man doch erst richtigen Appetit. So gegen sieben sah ich den Kommandanten manchmal, wenn er vom Bahnhof zur Wache ging. Er ging immer zuerst auf den Bahnhof, wenn die Morgenzüge ankamen, und sah nach, ob die Halbstarken keinen Rabatz dort machten. Überhaupt paßt die Miliz bei uns in Podleśna am meisten auf die Bahnstation auf, und das ist ganz richtig so, denn da kommt es am ehesten zu Schlägereien.“ „Ich danke Ihnen für Ihre Auskünfte. Vielleicht erweisen sie sich als sehr wichtig für die Ermittlung. Wenn Sie morgen mit dem Milchausfahren fertig sind, kommen Sie bitte auf die Wache. Ich muß ein offizielles Vernehmungsprotokoll anfertigen. Und vielleicht fallen Ihnen bis morgen noch ein paar Einzelheiten ein?“ „Wohl kaum, Herr Major. Was ich wußte, habe ich gesagt. Ich melde mich morgen, aber erst nach acht.“ „Wie es Ihnen am besten paßt. Vor acht bin ich vermutlich selber noch nicht aus Warschau zurück.“ Zborkowski machte eine Verbeugung und verließ den Raum; die Verkaufsstellenleiterin kehrte zu ihrem Gast zurück. „Noch ein bißchen Kaffee, Major?“ sagte sie einladend. „Nein, danke. Er war vorzüglich, aber eine Tasse genügt.“ „Na, was war mit Stefanek? Haben Sie etwas Interessantes erfahren?“ „Das wird sich erst noch herausstellen“, erwiderte der Major vorsichtig. „Sie tun sehr geheimnisvoll.“ „Soweit ich die Verhältnisse in Podleśna kenne, erfahren Sie sowieso alles. Vielen Dank für Ihre Hilfe beim Einkaufen und für den Kaffee. Für mich ist es Zeit.“ 80
Der Major verabschiedete sich von Frau Nielisecka und ging auf die Wache zurück. „Hören Sie, Michalak“, sagte er. „Wer hat in Podleśna einen grünen Fiat?“ „Nur Doktor Workucki“, erwiderte der Oberwachtmeister. „Er hat ihn voriges Jahr gekauft.“
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6. Die Miliz tappt im dunkeln
Ein paar Tage waren vergangen. Niewarowny hatte eine ganze Menge Dinge erledigt, die für das reibungslose Funktionieren einer Milizwache unerläßlich waren. Täglich stattete er dem Café ‚Marysieńka‘ seinen Besuch ab, und er war dort mittlerweile keine Sehenswürdigkeit mehr. Man betrachtete ihn als Stammgast. Der Offizier erklärte übrigens mit Vorliebe, er sei alleinstehend, und nun habe ihn das Schicksal zu allem Überfluß auch noch nach Podleśna verschlagen, wo er keinen einzigen Bekannten habe. Die Café-Besitzerin Maria Kowalska begrüßte ihren neuen Gast mit einem freundlichen Lächeln und setzte sich mitunter zu ihm an den Tisch. Die anderen Stammgäste des Cafés beschränkten sich zumeist darauf, den Major zu grüßen oder ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Man konnte sagen, die ‚bessere Gesellschaft‘ habe den neuen Kommandanten noch nicht akzeptiert, doch sie tolerierte bereits seine Anwesenheit. Niemand kam jedoch auf den Mord an Hauptwachtmeister Kwaskowiak zu sprechen. Einmal nur teilte Doktor Workucki dem Milizoffizier mit, der ‚Freundeskreis von Podleśna‘ habe beschlossen, für das Grab des Milizionärs eine Granitgedenktafel zu stiften. Anfangs hatte es den Anschein, so deutete der Vorsitzende des. ‚Freundeskreises‘ an, als sei dies die einzige Art, wie man der Witwe des Ermordeten gewissermaßen unter die Arme greifen könne. Die private Sammelaktion für diesen Zweck, die unter den Mitgliedern des ‚Freundeskreises‘ vorgenommen worden war, habe hingegen ein unerwartetes Ergebnis erbracht, erklärte der Arzt. Niewarowny war nicht wenig erstaunt, als Doktor Workucki die Summe nannte. Da der Major wußte, daß Frau Kwasko82
wiak eine gutbezahlte Arbeit in Ruszków bekommen hatte, durfte er, was den Unterhalt der Familie des Ermordeten betraf, ganz beruhigt sein. Hin und wieder bat jemand den Major, ihm eine kleine Gefälligkeit zu erweisen oder auch einmal einzuschreiten, um irgendeine Sache zu beschleunigen. Es hatte meist etwas mit den Villen zu tun, mit deren Renovierung und der Baustoffzuteilung. Niewarowny schlug es niemandem ab, obwohl der Leiter einer Milizwache für derlei Dinge keineswegs zuständig war. Er glaubte ganz einfach, auf die Weise würde er am besten und raschesten zu der hiesigen abgeschlossenen Welt Zugang finden. Diese Leute, daran zweifelte der Major nicht im mindesten, beobachteten ihn, den Neuankömmling, höchst aufmerksam. Je mehr Niewarowny über den Mord an dem Hauptwachtmeister nachdachte, desto stärker gewann er die Überzeugung, das Verbrechen stehe mit der High Society von Podleśna im Zusammenhang. Und selbst wenn im Ort viele Leute nicht wußten, wer der Mörder war, manche hätten immerhin Hinweise geben können, wo der Täter zu suchen sei und welche Tatmotive in Frage kämen. Hauptmann Lewandowski teilte nicht die Ansicht seines älteren Kollegen. Der junge Milizoffizier suchte den Mörder mit unerhörter Ausdauer unter den ortsansässigen Rowdys und in jenen Kreisen, mit denen Kwaskowiak in dieser oder jener Form zusammengestoßen war. Lewandowskis Leute starteten regelrechte Blitzüberfälle auf die Nachbardörfer. Die ‚Buschschnapsfabrikanten‘ machten schwere Zeiten durch. Jeder einzelne hatte sich zu verantworten und ein Alibi nachzuweisen: was er in der betreffenden Nacht gemacht habe, in der Kwaskowiak umgekommen war. Die Akten des Falls wuchsen zusehends und füllten fast schon einen Schrank, und täglich kamen wieder neue Protokolle und Hefter hinzu. 83
Die Suche nach Roman Wiatkowski, Schwarzer Romek genannt, erstreckte sich beinahe über das ganze Land. Allerdings ohne den erhofften Erfolg. Er und seine Kumpane blieben spurlos verschwunden. Lewandowski vertrat nach wie vor hartnäckig die Auffassung, wenn dieser Rowdy gefaßt würde, werde das ein Wendepunkt in der Ermittlung sein. Niewarowny stattete unterdessen Zofia Kwaskowiak einen Besuch ab. Er war bemüht, irgend etwas über die unerklärlichen Morgenspaziergänge des Kommandanten in Erfahrung zu bringen. „Ich weiß nichts, ich weiß gar nichts“, wiederholte die Witwe ratlos in einem fort. „Das kam alles so plötzlich, es war so schrecklich, daß ich immer noch keinen klaren Gedanken fassen kann.“ „Machte Ihr Mann schon lange diese Spaziergänge?“ „Seit etwa vier Monaten.“ „Und immer so früh?“ „Ja, immer. Er stellte sich den Wecker auf halb fünf.“ „Und auf dem Rückweg brachte er die Milch mit?“ „Meist stand die Milch schon vor der Tür, wenn Władek das Haus verließ, aber es kam auch vor, daß er die Flasche mitbrachte.“ „Haben Sie sich nie für diese Ausflüge Ihres Mannes interessiert?“ „Neugierig war ich schon. Ich hab’ ihn manchmal gefragt, wo er denn da hin wolle. Er gab mir zur Antwort, das wären Dienstangelegenheiten, und ich solle mich da nicht einmischen. Władek sprach nicht gern von der Arbeit. Über das, was auf der Wache passierte, erfuhr ich eher mal was von meiner Nachbarin, der Frau von Wachtmeister Nierobis, als von meinem eigenen Mann. Zu einer anderen Jahreszeit hätte ich gedacht, Władek würde zu einer anderen Frau gehen.“ „Haben Sie nie versucht, herauszubekommen, welche Richtung Ihr Mann einschlug?“ 84
„Ich hab’ ihm nachgeschaut. Meist ging er die Resedastraße entlang zum Wald zu. Manchmal bog er auch in die Birkenstraße ein.“ „Auf die Bahngleise zu?“ „Nein. Das habe ich nicht bemerkt. Eher auf die Akazienstraße zu.“ „Und in entgegengesetzter Richtung? Zum Bahnhof?“ „Das kam auch vor, daß Władek in diese Richtung ging, aber dann nur bis zur Straße des fünfzehnten Dezember, in die er rechts einbog.“ „Und wenn er nach Hause kam, aus welcher Richtung kam er da?“ „Entweder aus der Birkenstraße oder aus der Straße des fünfzehnten Dezember.“ „Dauerten die Spaziergänge lange?“ „Meist war nicht mal eine Viertelstunde vergangen, und Władek war schon wieder zurück. Aber mitunter kam er auch erst nach einer oder anderthalb Stunden wieder.“ „Wirklich erst nach so langer Zeit?“ „Das war zwei-, dreimal so. Diese langen Spaziergänge waren eine Ausnahme.“ „Verließ Ihr Mann jeden Tag morgens das Haus? Wie fing die Geschichte denn an?“ „Mein Mann war sehr für Ordnung, und von Zeit zu Zeit prüfte er nach, ob in Podleśna Ruhe herrschte und ob seine Leute auch an ihrem Platz waren. Zu so einer Inspektion machte er sich für gewöhnlich frühmorgens zeitig auf, so an die dreimal im Monat. Aber irgendwie im Juni oder Juli fing er dann an, öfter aus dem Haus zu gehen. Zuerst alle paar Tage, später dann fast täglich.“ „Diese längeren Spaziergänge, fanden die in den letzten Tagen vor seinem Tod statt?“ „Nein. So ungefähr drei Wochen davor, danach kam Władek wieder innerhalb einer Viertelstunde zurück. 85
Und manchmal trat er auch nur vor die Tür und war fünf Minuten später wieder im Haus.“ „Ging er immer los, egal, was für Wetter herrschte?“ „Ob Regen oder nicht, in der letzten Zeit zog er immer den Trainingsanzug an, und schon war er verschwunden. Einmal ärgerte ich mich sogar, weil ich den Tag zuvor gerade gebohnert hatte, und er kam pitschnaß und dreckbeschmiert nach Hause. Da antwortete er mir: ‚Ärgere dich nicht, der Fußboden ist für uns da und nicht wir für den Fußboden. Noch ein Weilchen, und die ganze Geschichte ist ausgestanden, weil ich dann alles weiß.‘ Das weiß er ja nun wirklich.“ Die diskreten Nachforschungen, die der Major um Doktor Workuckis Person anstellte, erbrachten nichts Verdächtiges. Ein begehrter Arzt, arbeitet in einer Klinik in Warschau, daneben eine große Privatpraxis. Bei der Entfernung von Krampfadern, denn darauf hatte er sich spezialisiert, ging ihm eine qualifizierte Schwester zur Hand, die aus Warschau kam. Workucki hatte tatsächlich einen grünen Fiat, übrigens den einzigen dieser Farbe im ganzen Ort. Niemand hatte allerdings diesen Wagen oder ein anderes Auto an dem Tag und zu der Stunde, als der Mord verübt worden war, in den Straßen von Podleśna gesehen. Der angehende Eroberer der Straßen, der junge Andrzej Bełkowski, war am Vortag des Verbrechens in Podleśna gewesen. Er hatte seinen schönen neuen BMW in Klump gefahren und war aufgekreuzt, um den Papa, wenn schon nicht zum Kauf eines neuen, so wenigstens zu einer Generalüberholung des alten, zertrümmerten Wagens zu überreden. ‚Bei der Gelegenheit‘ wollte er sich auch gleich den Wartburg des Vaters unter den Nagel reißen. Angeblich hatte es zu Hause großes Theater gegeben. Andrzej hatte kein Geld bekommen und war am späten Abend mit der Bahn zurück nach Warschau gefahren. Das bestätigte die Frau am Fahrkartenschal86
ter, die sich genau daran erinnerte, daß sie dem jungen Bełkowski kurz vor Abfahrt des letzten Zuges und vor Kassenschluß eine Fahrkarte verkauft hatte. Die Miliz hatte in Podleśna also ausschließlich gesellschaftliche Erfolge im Café ‚Marysieńka‘ zu verzeichnen, denn auch Oberwachtmeister Bogdan Michalak schaute immer öfter herein. Die schöne Serviererin empfing ihn mit freundlichen Blicken, und bisweilen setzte sie sich zu ihm an den Tisch. Einmal sah der Major die beiden in Richtung Bahnhof gehen. Sie hielten einander an der Hand. Dafür kehrte Ingenieur Bełkowski immer seltener bei Frau Kowalska ein, und man konnte ihm deutlich ansehen, daß er nicht eben guter Dinge war. Die Damen des Orts, die zu ihren ‚Abmagerungskuren‘ ins Café kamen, um eine Portion Käsekuchen mit Schlagsahne zu vertilgen, hatten neuen Gesprächsstoff. Die Leiterin der Genossenschaftsverkaufsstelle, Hanka Nielisecka, war häufiger Gast im Café. Niewarownys Anblick reizte sie immer wieder zu der Feststellung: „Oh, der Herr Major ist wie immer auf seinem Posten.“ Sie beteuerte dem neuen Kommandanten ferner, sie glaube daran, daß der Verbrecher sehr bald gefaßt werden würde, trotz der anfänglichen Mißerfolge der Miliz. Sie brachte auch noch andere Sticheleien und Bosheiten an den Mann. Niewarowny schonte die ‚Direktorin der Kaufhalle‘ gleichfalls nicht und hätte viel darum gegeben, es diesem vorwitzigen ‚Weibsbild‘ mal nicht nur in Worten heimzahlen zu können. Aber danach sah es vorerst nicht aus. Die Nielisecka führte ihren Laden vorschriftsmäßig, und man konnte ihr nichts nachweisen. Wie Niewarowny zum Possen, war der Bürgersteig sauber gefegt, keine Abfälle und kein Laub, und auf dem Hof herrschte eine mustergültige Ordnung. Kein Gedanke daran, ihr eine Geldstrafe verpassen zu können. Eines Tages traf der Major im Besucherraum der Mi87
liz einen jungen Mann an. Beim Anblick des Offiziers erhob er sich sofort. „Genosse Major“, meldete Wachtmeister Nierobis, „Bürger Roman Wiatkowski ist eingetroffen.“ „Gut, er soll warten.“ Niewarowny ging in sein Arbeitszimmer. Wachtmeister Nierobis folgte ihm auf den Fersen. „Genosse Major, das ist dieser Herumtreiber, den die Wojewodschaftskommandantur schon seit Kwaskowiaks Ermordung sucht.“ „Ja. Das wußte ich sofort, als Sie den Namen nannten.“ „Nehmen Sie sich vor dem in acht! Am besten, Sie haben die Waffe gleich schußbereit.“ „Wozu?“ „Hauptmann Lewandowski ist absolut sicher, daß Wiatkowski den Kommandanten umgebracht hat, und er hat vor dem Schwarzen Romek gewarnt.“ „Selbst wenn er der Täter ist“, sagte Niewarowny lächelnd, „dann ist schwer anzunehmen, daß der Mann jetzt herkommt, um nun mich kaltzumachen. Hat er sich selbst gemeldet?“ „Ja. Ich saß mit Michalak da, auf einmal geht die Tür auf, und er kommt herein. Im ersten Moment waren wir wie vor den Kopf geschlagen. Und der, der will nur mit Ihnen persönlich sprechen. Von uns hat er gar nicht Notiz genommen.“ „Na schön, dann schicken Sie ihn her.“ „Soll ich in Ruszków anrufen, bei der Kommandantur, daß sie uns einen Streifenwagen herschicken?“ „Dazu ist immer noch Zeit. Erst mal hör’ ich mir an, was er mir zu sagen hat.“ „Gut, Genosse Major. Ich stelle mich für alle Fälle hinter die Tür. Wenn was ist, schreien Sie.“ Roman Wiatkowski betrat das Arbeitszimmer des Majors und setzte sich auf den Stuhl, den Niewarowny ihm 88
anbot. Er sagte keinen Ton, und Niewarowny schwieg gleichfalls. Schließlich hielt es der Schwarze Romek nicht länger aus. „Sie fragen mich gar nichts, Kommandant?“ „Sie haben mir doch was zu sagen und nicht ich Ihnen. Reden Sie, wenn Sie wollen. Wenn nicht, bitte sehr, Sie haben freien Abzug, die Tür steht offen.“ „Die Ansprache können Sie sich sparen! Ich weiß schon, wie weit ich kommen würde. Die Polypen sind ja nicht umsonst in ganz Podleśna, in Ruszków und Warschau hinter mir her. Die wollen mich doch bloß einlochen.“ „Ich bin ganz bestimmt nicht hinter Ihnen her.“ „Sie nicht, Kommandant, aber die anderen Bullen. Ich weiß genau, daß ich nur mit Armbändern wieder hier rauskomme.“ „Weshalb sind Sie dann hier?“ Allmählich belustigte den Major diese Unterhaltung mit dem Rowdy. „Weshalb? Ich hab’ schon meinen Grund. Früher oder später hätten die mich doch sowieso geschnappt. Da muß einer schon sehr viel Mäuse haben, wenn er sich lange dünnemachen will. Wer arm ist, hat nichts zu lachen.“ „Nun machen Sie’s mal halblang, Wiatkowski. Sie sind Autoschlosser. Haben einen anständigen Beruf. Aber die Arbeit schmeckt Ihnen nicht. Ihnen ist mehr nach Schlägereien vorm Bierkiosk oder auf der Bahnstation zumute. Wenn Sie nicht was ausgefressen hätten, würde Sie niemand suchen.“ „Ich hab’ schon mal gesagt, Ihre Rede können Sie sich sparen, Kommandant. Ich merke doch längst, woher der Wind weht. Ich weiß genau, daß Sie mir den Mord an diesem Kwaskowiak in die Schuhe schieben wollen.“ „Dann haben Sie ihn also nicht ermordet?“ „So wahr ich Wiatkowski heiße, den hab’ ich nicht mal angetippt! Obwohl der mich oft genug da unten eingelocht hat. Das schwör’ ich Ihnen.“ 89
„Warum haben Sie sich dann versteckt?“ „Das war nämlich so, Kommandant … Sie wissen ja, Kwaskowiak hat mich damals vom Bierkiosk weggeholt, wo einer diesen Malinowski aus Podleśna-West verprügelt hat. Angeblich haben sie ihm die Brille zerschlagen.“ „Eine schöne Brille! Zwei Rippen gebrochen, am Kopf an drei Stellen Schnittwunden. Herr Malinowski lag zwei Wochen im Krankenhaus.“ „Nicht wegen mir. Ich hab’ ihn nicht geschlagen. Aber Kwaskowiak kam und hat mich einfach angesackt. Ich kriegte ein Eilverfahren, vier Monate haben die mir aufgebrummt und fünftausend Złoty für diesen Dingsda, diesen Malinowski. Als moralischer Schadenersatz, so haben die das genannt. Ich war unschuldig. Die andern haben geschlagen, ich stand abseits und hab’ nur zugeguckt, wie die Schose wohl ausgeht. Und weil ich schon einmal unschuldig gesessen hatte, haben die mich von der Kommission aus gleich in den Knast verfrachtet. Vier volle Monate hab’ ich abgeschrubbt. Als ich rauskam, haben meine Kumpels vor dem Tor auf mich gewartet. Das mußte doch begossen werden, oder?“ „Sie wurden fast drei Wochen vor der Ermordung des Hauptwachtmeisters entlassen.“ „Stimmt“, bestätigte der Schwarze Romek seelenruhig. „Ich sage doch, die Rückkehr in die Freiheit mußte begossen werden.“ „Hat das Begießen nicht ein bißchen lange gedauert?“ „Meine Jungs wissen, was sich gehört. Einmal hielt ich sie frei, dann wieder sie mich, immer der Reihe nach. Dann wollte ich ihnen auch wieder nichts schuldig bleiben. Und so sind die paar Tage halt vergangen.“ „Und in der Zwischenzeit haben Sie beim Saufen gedroht: ‚Ich geh’ in den Knast, aber Kwaskowiak geht zum Teufel!‘ So war das doch? Diesen Satz haben Sie in Podleśna gesagt und am Abend vor dem Mord in einer 90
Gaststätte in Ruszków. Daran werden Sie sich doch wohl noch erinnern?“ „Vielleicht hab’ ich’s gesagt. Wenn Sie behaupten, Major, daß es so gewesen ist, dann hab’ ich es eben gesagt. Sowie ich mal ’n bißchen was trinke, gehen mir die Nerven durch, Herr Kommandant. Vielleicht hab’ ich wirklich so was gesagt, im Suff. Aber dem Kwaskowiak so einfach den Schädel, vielmehr den Kopf einschlagen, das hätte ich mir nie im Traume einfallen lassen. Wer einen Bullen kaltmacht, der wird doch glatt einen Kopf kürzer gemacht. Da hilft einem nicht mal mehr der liebe Gott!“ „Weshalb haben Sie sich dann versteckt?“ „Als ich am andern Tag mittags erfuhr, was dem Herrn Kwaskowiak passiert war, dachte ich: Du hast deinen großen Rand zu weit aufgerissen, das hast du nun davon. Ich hatte keinen Grund, noch länger zu warten. Mittags um zwölf hab’ ich mich verdünnisiert, und um zwei waren sie schon bei mir zu Hause, um mich abzuholen. Jetzt vergeht kein Tag, wo nicht so ein Polyp in meiner Wohnung oder auf der Arbeit schnüffelt, ob ich nicht inzwischen aufgetaucht bin. Ich weiß Bescheid. Zuerst buchten sie mich ein, und … und dann nehmen sie mich in die Mangel, daß ich gestehen soll. Als wenn das bei mir das erstemal wäre!“ „Sagen Sie, Wiatkowski“ – den Major ärgerte, was der Schwarze Romek da erzählte –, „hat Sie schon mal jemand beim Verhör geschlagen?“ „Nein!“ „Was reden Sie dann für Blödsinn, von wegen in die Mangel nehmen?“ „Ich habe nicht gesagt, sie verprügeln mich, sondern sie verhören mich und reden stundenlang auf mich ein, ich soll gestehen.“ „Wenn Sie unschuldig sind, wie Sie behaupten, was sollen Sie dann gestehen?“ 91
„Aber die buchten mich ein“, wiederholte Wiatkowski hartnäckig. „Vielleicht lochen sie Sie wirklich ein, vielleicht aber auch nicht. Selbst wenn man Sie einlocht, dann nur, bis sich die ganze Geschichte aufgeklärt hat. Nicht länger. Unschuldige werden nicht im Gefängnis festgehalten.“ „Aber ich hab’ das tatsächlich gesagt, mit diesem Kwaskowiak, daß der zum Teufel geht.“ „Das weiß ich bereits. Und was weiter?“ „Wir ließen uns richtig vollaufen. Als wir aus der Kneipe auf die Straße torkelten, war es weit nach elf. Ich erinnere mich, daß uns die Bedienung an der Bar mit der Miliz drohte, wenn wir nicht das Lokal verließen. Wir nahmen also einen Liter mit auf den Weg und gingen zum Grauen Edek, denn nach Podleśna kamen wir nicht mehr zurück. Vielleicht fuhr auch noch eine Bahn, aber der Schaffner hätte mich nicht reingelassen, und es hätte gleich wieder Stunk gegeben.“ „Und wer ist der Graue Edek?“ „Edward Drzewik. Wohnt in Ruszków, Smolnastraße fünfzehn.“ Niewarowny notierte die Adresse auf einem Zettel, der auf dem Schreibtisch lag. „Reden Sie weiter.“ „Bei Edek kippten wir noch das Literchen. Es ging ein bißchen laut zu. Irgendso ein Heini hetzte uns die Streife auf den Hals, weil die Leute angeblich nicht schlafen könnten. Die Staatsgewalt rückte an und wollte uns im Streifenwagen mitnehmen. Zuletzt schrieben sie doch bloß unsere Namen auf und drohten uns, wenn wir uns nicht ruhig verhielten, dann würden sie andere Seiten aufziehen, und wir würden uns ganz schön umgucken. Weil kein Schnaps mehr da war, legten wir uns zum Pennen hin. Als ich aufwachte, taten mir alle Knochen weh, weil ich auf den blanken Dielen geschlafen hatte. Mir zersprang fast der Schädel. Da bin ich zum Bierkiosk. Sie wissen ja, dem in der Kirchstraße.“ 92
„Um wieviel Uhr war das?“ „Wenn ich das noch wüßte! Jedenfalls früh, denn der Mann hatte gerade aufgemacht.“ „Sie sagten etwas über eine Arbeitsstelle? Wo arbeiten Sie?“ „In Wola gibt’s so ’nen Privatfritzen. Der hat eine Autowerkstatt. Er heißt Adam Godlewski. Gleich an der Wolskastraße. Bei dem arbeiten drei Leute. Wenn’s mir mal zu dreckig geht, dann kann ich mir dort immer ein paar Groschen verdienen. Gute Werkstatt. Dort geben fast alle aus Podleśna, die ein eigenes Auto haben, ihren Wagen hin.“ „Sie sagten, Sie hätten Kwaskowiak nicht ermordet. Wir werden alles nachprüfen. Aber wer hat ihn dann ermordet?“ „Keiner von uns. Der Kommandant war ein harter Bursche, kann man nicht anders sagen; wenn der einen bei was erwischte, der ließ nichts durchgehen. Nicht, daß er einen gleich vor die Kommission zerrte. Viel schlimmer. Der ließ einen die Straße fegen, und dann lachte ganz Podleśna. Und wehe, man machte sich mal an ’ne Frau ’ran, sofort sagte die: ‚Können Sie mir nicht den Fußboden fegen, Herr Romek? Sie haben solche Übung, da guckt man direkt gern zu‘. Viele schimpften auf den. Eigentlich bloß alberner Kleinkram. Der brachte es fertig und holte einen Kerl aus der Kneipe ’raus, und keiner erhob die Hand gegen den. Dafür lass’ ich mir den Kopf abhacken, Kommandant, das war keiner von uns.“ „Und warum haben Sie sich so lange versteckt gehalten? Damit haben Sie Ihre Situation nur selber verschlimmert. Sie haben doch einen Zeugen für die betreffende Nacht – diesen Grauen Edek.“ „Das ist ein alter Dieb, Major. Wer würde dem schon glauben? Und seine Frau ist auch nicht besser. Die hat nicht nur einmal im Knast gesessen, weil sie lange Fin93
ger gemacht hat. Die hätten mich eingelocht, das steht mal felsenfest. Und jetzt wäre ich auch nicht gekommen, aber ich hab’ schon seit zwei Tagen keinen Bissen mehr im Mund gehabt. Meine Kumpels wollen mir nicht helfen, weil sie alle die Hosen voll haben.“ „Warten Sie, Wiatkowski.“ Der Major ging aus dem Zimmer. Als er wiederkam, hielt er einen Teller mit Broten in der Hand, die dick mit Butter beschmiert waren. Den schob er seinem Besucher hin. „Da, essen Sie. Und ich schreibe inzwischen das Protokoll über Ihre Aussage.“ Das ließ sich Wiatkowski nicht zweimal sagen. Nach fünf Minuten war von dem Pfund Brot kein Krümel mehr übrig. Der Offizier schrieb unterdessen fleißig die umfangreichen Aussagen des Schwarzen Romek nieder, Seite für Seite. Als er fertig war, verlas er den Text und fragte: „Stimmt das so? Haben Sie das ausgesagt?“ „Stimmt.“ „Dann unterschreiben Sie.“ Wiatkowski unterschrieb, sogar ohne vorher belehrt worden zu sein, auf jeder Seite und setzte sein etwas windschiefes Autogramm schließlich auch noch an den Schluß des Protokolls. „Und jetzt?“ fragte er. „Wer liefert mich in Warschau ab, Nierobis oder Michalak?“ Niewarowny machte seine Brieftasche auf und nahm einen 100-Złoty-Schein heraus. „Jetzt gehen Sie erst mal nach Hause und morgen früh zur Arbeit. Sie dürfen sich nicht von Ihrem Wohnort entfernen, ohne der Miliz Ihre neue Adresse anzugeben. Hier haben Sie eine Anleihe von mir. Hundert Złoty. Die geben Sie mir von Ihrem ersten Gehalt zurück. Aber merken Sie sich, wenn Sie wieder auf den Putz hauen, ich habe eine wesentlich härtere Hand als Kwaskowiak.“ „Lassen Sie mich wirklich laufen, Major?“ Wiatkowski traute seinen Ohren nicht. 94
„Machen Sie schon, daß Sie wegkommen, sonst überleg ich mir’s noch anders.“ Als der Schwarze Romek gegangen war, fuhr Niewarowny in die Kreiskommandantur der Miliz nach Ruszków. Dort stellte man Nachforschungen an. Wiatkowskis Aussagen wurden bestätigt. In jener Nacht war tatsächlich eine Milizstreife alarmiert worden, um randalierende Betrunkene in der Wohnung des Grauen Edek zur Ordnung zu rufen. Edward Drzewik, den man auf die Wache holte, gab zu, Wiatkowski habe bei ihm übernachtet. Auch der Mann vom Bierkiosk erinnerte sich an den ersten Kunden an jenem Tag. Es war ein Rowdy aus Podleśna gewesen, in Ruszków bekannt wie ein bunter Hund. Nach Aussage des Mannes war Wiatkowski noch am Morgen stockbetrunken gewesen. Über die ganze Geschichte fertigte Niewarowny einen ausführlichen Bericht für die Wojewodschaftskommandantur an. Diesem Bericht fügte er die Vernehmungsprotokolle bei, und in der gleichen Meldung hob er hervor, Roman Wiatkowski habe sich freiwillig bei der Miliz gemeldet. Der Major war der Auffassung – und zu diesem Schluß war er nach gründlicher Durchsicht der Dokumente gekommen –, Roman sei des ihm zur Last gelegten Mordes nicht schuldig. Deshalb habe er auch entschieden, Wiatkowski nicht festzuhalten, sondern ihm nur untersagt, den Wohnort zu wechseln, und ihn darauf hingewiesen, daß er verpflichtet sei, sich bei Aufforderung sofort zu melden. Für sein Vorgehen gab der Kommandant von Podleśna folgende Begründung an: „Im Unterschied zu manchen jungen Offizieren, die einen Verdächtigen zunächst verhaften, und erst danach den Schuldigen suchen, bin ich der Meinung, daß man über äußerst triftige Beweise verfügen muß, um einen Menschen seiner Freiheit berauben zu dürfen. Selbst wenn es sich um einen Menschen handelt, der schon einmal straffällig geworden ist.“ 95
Zwar hatte Niewarowny keinen Namen genannt, er hoffte jedoch im stillen, der Empfänger des Berichts, Hauptmann Lewandowski, werde sehr wohl verstehen, wer damit gemeint war. Und so wartete Niewarowny denn bei bester Laune, was nun weiter geschehen würde. Er hatte sich nicht getäuscht. Zwei Tage später erhielt er einen Anruf aus Warschau: Er sollte sich am nächsten Tag beim Alten einfinden. Der Oberst trug eine finstere Miene zur Schau und begrüßte den Freund ohne ein Lächeln. Er eröffnete die Beratung, zu der neben Niewarowny und Lewandowski noch einige andere Offiziere und ein Oberstleutnant von der Hauptkommandantur der Miliz geladen waren, und ordnete lakonisch an: „Bitte berichten Sie über die Mordsache Kwaskowiak. Zunächst Hauptmann Lewandowski, nach ihm Major Niewarowny.“ Der Hauptmann referierte ziemlich lange, wobei er die Aktivität der Miliz besonders hervorhob. Er nannte die Anzahl der Personen, die vernommen worden waren. Einen Teil davon hatte man festgehalten, später jedoch wieder freigelassen, weil die Indizien nicht ausreichend gewesen waren und der Staatsanwalt keine weiteren Sanktionen für die Verlängerung des Arrests über die üblichen achtundvierzig Stunden hinaus erteilt hatte. Gleichzeitig wurde die Ermittlung auch auf anderen Gebieten fortgesetzt. Der Trainingsanzug, den der Ermordete zum Zeitpunkt des Verbrechens angehabt hatte, war ins Institut für Kriminalistik eingeschickt worden. Der Hauptmann hoffte auf dem Stoff Fingerabdrücke des Mörders oder Spuren zu finden. Die Untersuchungen nähmen allerdings einige Zeit in Anspruch … „Kurz gesagt“, unterbrach ihn der Oberst, „Sie sind in Ihrer Ermittlung noch keinen Schritt weitergekommen.“ Hauptmann Lewandowski versuchte nicht, sich zu rechtfertigen. „Und wie steht es bei Ihnen, Major?“ 96
„Was mich betrifft, so habe ich nur ein einziges Verdienst aufzuweisen“, erwiderte Niewarowny. „Ich bin stolz, daß durch mein Vorgehen wenigstens einem Unschuldigen der Anblick der Arrestzelle in der Kommandantur erspart geblieben ist. Ich meine Roman Wiatkowski, den seine Freunde den Schwarzen Romek nennen. Aber das nur nebenbei. Meine Ermittlungen bestärken mich in der Überzeugung, daß Hauptwachtmeister Kwaskowiak einem schwerwiegenden Verbrechen auf der Spur war. Er hatte jedoch noch keinerlei Beweise in der Hand. Er suchte noch danach. Der oder die Verbrecher wohnen in der Nähe von Kwaskowiaks Haus. Höchstens einen halben Kilometer davon entfernt. Hier habe ich ein vollständiges Einwohnerverzeichnis von Podleśna. Einer auf dieser Liste ist der Mörder.“ „Wenn diese Story von Agatha Christie stammte, wäre sie interessant. In der Version aber ist sie inakzeptabel“, knurrte Lewandowski so laut, daß es alle hören konnten. „Genossen“, ließ sich der Vertreter der Hauptkommandantur vernehmen, „ich verstehe Ihre Schwierigkeiten, und ich will hier keine Kritik üben, aber Sie sind sich doch darüber im klaren, wie wichtig die Aufgabe ist. Der Kommandant einer Milizwache ist ermordet worden, und das knapp zwanzig Kilometer vor den Toren der Hauptstadt. Inzwischen sind mehrere Wochen vergangen, und die Öffentlichkeit konnte noch immer nicht von der Ergreifung des Täters unterrichtet werden. Wie ich hier höre, befindet sich die Ermittlung nach wie vor an einem toten Punkt. Was die Sicherheit in den Warschauer Vororten angeht, sieht die Situation ganz und gar nicht rosig aus. Daß wir die Mörder von Kwaskowiak noch nicht gefaßt haben, hat gewissen zwielichtigen Elementen noch mehr Auftrieb gegeben. Die Leute schimpfen sowieso schon über die Untätigkeit der Miliz. Es geht also darum, daß der Mörder der verdienten Strafe zugeführt wird, aber es geht ebenso um unser Ansehen!“ 97
„Man sollte die Ermittlung auch noch anderen Ressorts übertragen“, bemerkte jemand. „Bitte sehr“, brauste Lewandowski auf, „ich trete Ihnen gern die Akten des Falls ab. Mit allem, was dazu gehört.“ „Danke, ich bestehe nicht darauf“, verwahrte sich eiligst der Offizier, von dem der Vorschlag gekommen war. „Ich für mein Teil trete den Fall jetzt an niemand mehr ab“, schaltete sich Niewarowny ein, „es sei denn, ich würde dazu gezwungen! Dann reiche ich meine Entlassung ein.“ „Genossen!“ fuhr der Oberst lebhaft dazwischen. „Wir haben uns nicht hier versammelt, um uns zu streiten, sondern um in diesem verdammten, festgefahrenen Fall weiterzukommen. Ich bin der Ansicht, Hauptmann Lewandowski und Major Niewarowny sollten ihre Ermittlungen fortsetzen, jeder mit seinen eigenen Methoden, wenngleich sie, da wollen wir uns nichts vormachen, vorerst noch nicht viel erreicht haben. So schließen wir unsere Beratung mit einem nicht eben erfreulichen Ergebnis. Anfangs sah es so aus, als würden wir das Rätsel sehr bald lösen, und nun sind wir gleich am Anfang steckengeblieben.“
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7. Der Boxkampf
Zu seinem größten Erstaunen erblickte der Major drei Tage später Roman Wiatkowski abermals im Milizgebäude. Auch diesmal war der Schwarze Romek in Gegenwart der anderen Milizionäre nicht zum Reden aufgelegt. Erst im Arbeitszimmer des Majors zog er einen nagelneuen 100-Złoty-Schein aus der Tasche. „Vielen Dank. Sie sind wirklich ein Kumpel. Ein anderer hätte mich ein paar Wochen lang in den Knast geschickt.“ „Die Miliz verhaftet keine Unschuldigen.“ „Sie können mir viel erzählen!“ beharrte Wiatkowski. „Arbeiten Sie?“ „Ich geh’ manchmal hin“, erwiderte der Schwarze Romek widerwillig. „Na, dann passen Sie bloß auf, daß wir uns nicht allzu oft begegnen.“ Niewarowny hielt die Geschichte für erledigt. Der Besucher hingegen hatte es gar nicht eilig, das Zimmer zu verlassen. „Herr Kommandant“, begann er zögernd, „ich würde Sie bitten, heute abend zu mir zu kommen, so gegen sieben.“ „Wozu?“ „Es heißt zwar, der Wiatkowski, das ist ein Strolch, ein Säufer und Radaubruder. Aber ich hab’ auch eine Ehre im Leib. Sie haben mich damals laufenlassen, bloß so, aufs Wort. Sie sind wirklich anständig, Major. Ich weiß was über den Kwaskowiak. Das heißt nicht ich, sondern einer von meinen Kumpels. Der ist heute gerade bei mir, und der wird Ihnen alles selber sagen, Kommandant. Die Wahrheit – wie bei der Beichte. Dafür sorg’ ich schon. Vielleicht hilft Ihnen das was, damit Sie 99
diesen Dreckskerl, eh, den Mörder erwischen“, sagte der Schwarze Romek. „Wäre es nicht besser, wenn Ihr Kumpel zu mir käme? Mit Ihnen?“ „Ach, wissen Sie, der ist keiner von denen, der freiwillig das Haus hier betritt. Aber der sagt Ihnen alles, Kommandant.“ Niewarowny mußte wohl oder übel in diese merkwürdige Zusammenkunft einwilligen. Roman Wiatkowski wohnte auf der anderen Seite der Bahngleise, am Anfang von Podleśna-Ost, in einer Siedlung, die aus armseligen Häuschen, eigentlich aus Lauben, bestand. Wachtmeister Nierobis, dem Niewarowny von Wiatkowskis Einladung erzählt hatte, bot sich an, den Major als ‚Schatten‘ zu begleiten. Und als der Major von diesem Angebot nicht Gebrauch machen wollte, versuchte er ihn zu überreden, eine Waffe mitzunehmen. „Das kann ein Hinterhalt sein“, warnte der Wachtmeister. „Ich weiß genau, wo Wiatkowski wohnt. Dort geht es mal die Straße entlang, mal durch den Wald. Es braucht Ihnen bloß jemand hinter einem Baum aufzulauern und …“ „… haut mir genauso eins über den Schädel wie Kwaskowiak? Aber wozu? Um jemanden zu ermorden, muß man einen schwerwiegenden Grund haben. Wiatkowski und seine Bande haben den doch wohl nicht.“ „Das kann man bei denen nie wissen. Ich würde ihm nicht glauben. Ich rate Ihnen noch einmal, nehmen Sie die Pistole mit, Genosse Major. Und Oberwachtmeister Michalak und ich gehen vorher den Weg ab, als wären wir auf Streife.“ „Das nützt mir nichts. Dann rücken Wiatkowski und seine Kumpels gar nicht erst mit der Sprache heraus. Er hatte keine Angst hierherzukommen. Da kann ich unmöglich nachstehen. Und im Falle eines Falles wäre die Pistole nur ein Hindernis.“ „Wie Sie meinen, Genosse 100
Major, ich habe Sie gewarnt.“ Der brave Wachtmeister fühlte sich ein wenig auf den Schlips getreten, weil seine Sorge um den Vorgesetzten so wenig ernst genommen wurde. Punkt sieben erschien Niewarowny in Wiatkowskis Wohnung. Nierobis hatte nicht übertrieben: Hierher zu finden war wirklich schwierig gewesen, das Häuschen nahm sich von außen wie die letzte Bruchbude aus. Desto angenehmer überraschte den Major der Anblick, den die kleine Wohnung bot. Sie bestand aus Küche und Stube. Hier sah es einfach, aber sauber aus, was zweifellos das Verdienst der alten Wiatkowska war, denn der Schwarze Romek wohnte ‚bei der Mama‘. „Bitte sehr, bitte sehr, treten Sie ein, Herr Kommandant.“ Wiatkowski eilte herbei, um den Offizier zu begrüßen. Am Tisch saßen vier junge Männer. Mit Visagen, die allein schon ausreichten, um ihnen, wie man so sagt, fünf Jahre aufzubrummen. Zwei Literflaschen mit Schnaps, die eine schon zu drei Vierteln geleert, und sechs Senfgläser. Auf einem Teller ein Imbiß. „Ich hab’ ja gesagt, der kommt“, rief Wiatkowski triumphierend. „Ich wußte es. Der Kommandant ist ein Kumpel.“ Der ‚Kumpel‘ drückte unterdessen vier Strolchen die Hand. „Auf Ihr Wohl, Kommandant!“ Einer der Anwesenden hob sein mit Schnaps gefülltes Senfglas. Fünf Augenpaare ruhten auf dem Milizoffizier. „Auf euer Wohl, Jungs. Und daß wir uns nie anderweitig begegnen.“ Niewarowny leerte das Glas auf einen Zug. Er verzog keine Miene, obwohl der Schnaps widerlich schmeckte. Er hatte schon lange nicht mehr ein so ekelhaftes Gesöff geschluckt, das letztemal bei den Partisanen, aber da hatte es tausendmal besser geschmeckt. Er stellte zackig das Glas weg und steckte sich beschei101
den ein Stück saure Gurke in den Mund. Die fünf folgten seinem Beispiel. „Hab’ ich’s nicht gesagt“, wiederholte der Schwarze Romek und freute sich wie ein Kind, „der Mann ist in Ordnung.“ „Und jetzt die nächste Breitseite.“ Einer der fünf füllte wieder die Gläser. „Nein, meine Herren“, protestierte Niewarowny. „Diesmal nippe ich nur. Vergessen Sie nicht, ich bin im Dienst, und es wäre nicht gut, wenn die Leute den Milizkommandanten die Straße entlangtorkeln sähen.“ Keiner widersprach, und die ganze Truppe nahm wie der Major nur einen kleinen Schluck ‚Feuerwasser‘. „Meine Herren“, plusterte sich Wiatkowski auf, „ich gehe jede Wette ein, daß der Kommandant keine Kanone bei sich hat.“ Noch ehe der Major Einspruch erheben konnte, hatten die beiden ‚Kumpels‘ neben ihm flink und geschickt seinen Anzug abgetastet. „So wahr ich hier sitze, der hat keine Kanone bei sich!“ bestätigte einer der beiden. Niewarowny lachte. „Ihr seid vielleicht naiv. Wenn ich die Pistole am Gurt unter der Achsel tragen würde, so wie man sie zur Besatzungszeit getragen hat, dann hättet ihr gar nichts gefunden, und ich hätte sie schon in der Hand und könnte mit euch machen, was ich wollte.“ Der Major knöpfte sein Jackett auf, um zu zeigen, daß er auch dort keine Waffe trug. „Auf das Wohl des Kommandanten! Er lebe hoch!“ Die Burschen, die zuerst steif dagesessen und den Offizier nicht aus den Augen gelassen hatten, tauten allmählich auf. „Auf das Wohl des Gastgebers!“ erwiderte Niewarowny höflich, obwohl er auch diesmal wieder nur an dem Glas nippte. Die anderen stellten ihre Senfgläser allerdings erst wieder hin, als sie leer waren. 102
„Na, Kater“, sagte Wiatkowski einleitend, „dann schieß mal los. Aber daß mir auch ja alles stimmt.“ „Wo ich doch gar nichts weiß“, stammelte der kleinste der Anwesenden, ein junger Mann mit schütterem blondem Haar, einem spitzen Rattengesicht und farblosen, unsteten Augen. „Raus damit! Das, was du uns über Kwaskowiak erzählt hast. Und wenn du nur ein Wörtchen ausläßt, kriegst du eins in die Fresse.“ Wiatkowski wollte sich offensichtlich vor dem Major mit seiner Führerautorität brüsten. „Markier hier bloß nicht den starken Mann“, gab ihm Kater sofort zur Antwort, aber er begann gehorsam zu erzählen: „Das muß im Juni, nein, irgendwann Anfang Juli gewesen sein. Es war schon ziemlich hell draußen, aber die Leute gingen noch nicht zur Arbeit. Vielleicht vier Uhr, vielleicht auch kurz nach vier. Ich ging die Straße des fünfzehnten Dezember entlang und bog in die Akazienstraße ein.“ „Was machten Sie so früh auf der Straße?“ „Ich?“ fragte Kater verstört und wußte nicht, was er antworten sollte. „Das kann ich Ihnen verraten, Kommandant“, sagte Wiatkowski lachend. „Der wollte bestimmt irgendwo was abstauben. Im Juli stehen die Fenster im Parterre meist offen.“ „Quatsch du nur, du mußt’s ja wissen.“ Kater hatte die Sprache wiedererlangt. „Ich kam gerade von meiner Freundin.“ „Der und eine Freundin?“ „Aber dir rennen sie scharenweise hinterher!“ „Meine Herren“, griff der Major ein, „das ist unwichtig. Reden Sie weiter.“ „Ich biege also in die Akazienstraße ein und sehe, aus dem Wald kommt ein Mann. Ich erkannte ihn schon von weitem, es war Kwaskowiak. Ich wollte ihm nicht über 103
den Weg laufen, der hätte nämlich gleich angefangen, mich auszufragen, wo ich hingehe und wozu und so weiter. Hinter der Straße des fünfzehnten Dezember ist, das werden Sie ja wissen, ein schmales, freies Grundstück. Ich mache kehrt, stelle mich hinter den Bretterzaun und warte, was jetzt weiter passiert. Wo der Kwaskowiak hin will – und ob er mich gesehen hat.“ „Wie war er angezogen?“ „Er hatte die Trainingshose an und ein weißes Turnhemd. Es war warm, obwohl es so früh am Morgen war. Ich war auch ohne Jackett.“ „Mach weiter“, spornte ihn Wiatkowski an. „Ich linse hinter dem Zaun hervor. Der Kommandant kommt genau die Akazienstraße lang. Ich wollte schon verduften, denn über dieses Grundstück kommt man auch zur Rosenstraße ’rüber, aber Kwaskowiak ging an der Birkenstraße vorbei und bog dort ab, wo die großen Kiefern wachsen. Er versteckte sich hinter einer Kiefer und blieb dort stehen. Zur Straße zu war er von dem Stamm verdeckt, aber ich sah ganz deutlich sein weißes Turnhemd hinterm Baum. Da dachte ich so: Du willst rauskriegen, wo ich hingehe, aber dich lass’ ich zappeln. Und da standen wir eben, ich an meinem Fleck hinter dem Zaun, er zweihundert Meter weiter hinter der Kiefer. Es waren ungefähr zehn Minuten vergangen, und der Kommandant lauerte immer noch hinter seinem Baumstamm. Da kapierte ich, daß er nicht hinter mir her war. Der hätte sich inzwischen doch längst denken können, daß ich ihn reingelegt hatte. Ich wollte schon abhauen, aber die Neugier hielt mich an meinem Platz fest …“ „War es Leer auf der Straße?“ fragte Niewarowny. „Keine Menschenseele. Wir standen ungefähr eine Stunde so. Es wurde langsam belebter. Die Frauen liefen in den Laden nach Brot, andere rannten zur Bahn. Ein paar Autos fuhren vorbei …“ 104
„Erinnern Sie sich, wer vorbeikam oder -fuhr?“ „Frau Kowalska mit ihrer Wirtschafterin. Die arbeitet als Köchin im Café. Sie wollten bestimmt frische Brötchen im Laden holen, denn das Café ist von morgens sieben an geöffnet. Adamczyk ging zur Bahnstation, Ingenieur Bełkowski fuhr mit dem Wagen nach Warschau. Frau Rozmarowicz wusch ihr Auto vorm Haus. Zu Ingenieur Krawecki kamen ein paar Arbeiter. Er nahm sie alle in seinem Shuk mit. Die hatten eine halbe Tonne Zement dort drin. Damals hat Krawecki gerade für jemand in Podleśna-West ein Haus gebaut. Es kamen noch zwei Frauen vorbei, aber an die kann ich mich nicht mehr erinnern.“ „Und der Hauptwachtmeister?“ „Der stand immer noch hinter seinem Baum, dann trat er ganz plötzlich auf die Straße und ging nach Hause.“ „Sind Sie da ganz sicher?“ „Ich hab’s genau gesehen. Er lief die Akazienstraße entlang, in Richtung Fünfzehnter Dezember, und bog links ab. Zu dem freien Grundstück, wo ich stand, guckte er nicht mal ’rüber. Später bemerkte ich auch, daß er wieder in die Resedastraße einbog. Und dort steht das Haus, in dem er wohnt. Wo hätte er also sonst hingehen sollen?“ „Erklären Sie mir noch einmal“ – Niewarowny kannte sich nicht so genau in der Gegend aus –, „wo diese großen Kiefern wachsen?“ „Das ist dort, Major“, griff Wiatkowski ein, „wo früher das jüdische Haus gestanden hat, das die Nazis fünfundvierzig abgebrannt haben. Es sind nur die Grundmauern übriggeblieben und ein Stück Wand mit dem Kamin. An der Straße sind noch Überreste von dem alten Drahtzaun zu sehen. Gleich dahinter wachsen vier Kiefern. Wahrscheinlich die größten in ganz Podleśna.“ „Stehen da Häuser gegenüber oder daneben?“ 105
„Links, das nächste ist die neue Villa von Frau Rozmarowicz. Die hat einen Laden in den Flachbauten in der Marchlewskistraße in Warschau. Geld wie Heu, aber ein entsetzliches Ekel. An dem Mann seiner Stelle würde ich es nicht mal bei dem Heu aushalten. Und auf der anderen Seite des Grundstücks das Haus von Ingenieur Krawecki. Gegenüber hat dann der Doktor Workucki seine Villa. Ein Stück weiter, näher zur Straße des fünfzehnten Dezember zu, steht das Haus der Sawickis, dann das von Ingenieur Bełkowski. Das nächste gehört den Adamkiewiczs und dann das freie Grundstück, wo Kater stand. Hinter Doktor Workucki, zur Birkenstraße zu, sind noch zwei Villen: die vom Apotheker Chruścicki und die von Maria Kowalska. Dann kommt schon die Birkenstraße. Frau Kowalskas Garten grenzt sogar an drei Straßen an: die Birkenstraße, die Akazienstraße und die Rosenstraße, und obwohl man das Café von der Rosenstraße aus betritt, gibt es auch ein Gartentor, das auf die Akazienstraße hinausführt.“ Wiatkowski sagte das alles aus dem Kopf her, als hätte er eine Ortskarte vor sich. „Weiter haben Sie nichts bemerkt?“ wandte sich der Major wieder an Kater. „Es passierte gar nichts. Wen Kwaskowiak damals entdeckt hat, weiß ich nicht. Der stand halt da, und plötzlich ging er seiner Wege, keine Ahnung warum.“ „Das sind wertvolle Informationen. Ich bin Ihnen für diese Auskünfte und für den netten Abend sehr dankbar. Aber für mich ist es Zeit. Noch einmal: auf Ihr Wohl.“ Der Milizoffizier leerte diesmal sein Glas bis auf den Grund. „Und vergeßt nicht, Jungs, dieses gesellige Beisammensein ist die eine Sache, aber wenn ich es dienstlich mit euch zu tun kriege, als Milizoffizier, ist das was anderes. Rechnet nicht auf unsere Bekanntschaft und meine Nachgiebigkeit. Gesetz ist Gesetz, und Ordnung muß sein.“ 106
„Ein prima Kumpel! Er hätte mich einbuchten können! Das ist ein Kommandant!“ Die drei Gläser Schnaps waren Wiatkowski zu Kopfe gestiegen. Er stammelte immer mehr. „Auf Wiedersehen.“ Niewarowny drückte allen die Hand und wandte sich zur Tür. „Ich bringe Sie bis zum Bahnhof!“ Der Schwarze Romek sprang vom Stuhl hoch. „Damit Ihnen um Gottes willen nichts passiert.“ „Um mich machen Sie sich mal keine Sorgen.“ „Wieso nicht! Sie sind doch mein Gast, Kommandant.“ Niewarowny widersetzte sich nicht. Sie gingen schweigend, denn bei der Finsternis mußte man aufpassen, um nicht im Schlamm zu versinken oder zu stolpern. Erst in der Nähe der Bahnstation kamen sie auf eine Straße mit Bürgersteig und Beleuchtung. „Ich danke Ihnen. Jetzt finde ich schon allein weiter.“ „Ich danke Ihnen auch. Sie hätten mich einlochen können“, wiederholte Wiatkowski mit der Hartnäckigkeit eines Betrunkenen. „Wenn irgendwas ist, auf den Schwarzen Romek können Sie sich verlassen, Major. Auf den Schwarzen Romek und seine Jungs. Ein Wink genügt.“ Trotzdem waren Niewarownys gute Ratschläge und Ermahnungen für die Katz. Zwei Tage später, gegen vier Uhr nachmittags, stürzte eine Frau ins Milizgebäude und schrie, am Kiosk würden Rowdys die Leute anpöbeln und schlagen. Der Major hatte gerade drei Milizionäre zur Verfügung. Zu viert eilten sie den Leuten zu Hilfe. Die Gummiknüppel traten in Aktion, und binnen fünf Minuten war die Ordnung wiederhergestellt. Wenig später befanden sich sechs hitzige junge Männer auf der Wache. Niewarowny wunderte sich nicht im mindesten, als er darunter drei von denen erkannte, die jüngst an der Zusammenkunft bei Wiatkowski teilgenommen hatten. Es fehlten nur der Schwarze Romek und Kater. 107
„Ich habe euch gewarnt!“ sagte der Major. „Uns können Sie überhaupt nichts vorwerfen“, muckte einer der Rowdys auf. „Wir haben uns bloß ein bißchen geschubst. Und dafür können wir doch nichts, daß die Leute gleich wegrennen. Außerdem: Ein bißchen Sport kann niemand was schaden. Wenn die sich im Rennen üben, fährt ihnen die Bahn wenigstens nicht vor der Nase weg.“ „Das war also nur Sport?“ „Jawohl, Herr Kommandant.“ „Gut, euern Sport könnt ihr haben!“ Der Major hatte sich blitzartig entschlossen, in die Fußtapfen seines Vorgängers zu treten und die Methoden Hauptwachtmeister Kwaskowiaks anzuwenden. Zuerst ließ er sich telefonisch mit der Kreiskommandantur in Ruszków verbinden und forderte einen Nysa an, und dann rief er den Sportklub ‚Znicz‘ an, der dafür berühmt war, die beste Boxstaffel in der ganzen Wojewodschaft zu haben. Es war noch keine Stunde vergangen, als die Milizionäre die sechs Rowdys aus dem Wagen luden und sie bis zur Sporthalle von ‚Znicz‘ eskortierten. „Kollege Trainer“, sagte der Major, „ich habe hier sechs starke Jungs, die sind so sportbegeistert, daß sie sogar mit den Leuten auf der Straße zu boxen anfangen. Aber da bringe ich sie lieber zu Ihnen. Sie sollten sich Handschuhe anziehen und gegen Ihre Jungs im Ring antreten. Sie haben selbst ausgesagt, es sei keine Prügelei gewesen, sondern ein sportlich fairer Kampf. Falls sie natürlich ihre Meinung ändern sollten, bringen wir die Sache gar nicht erst vor die Konfliktkommission, sondern gleich vor Gericht. Sie sind ja schon einmal straffällig geworden, und das wäre dann jetzt ein Rückfall. Aber solange sie dabei bleiben, es wäre nur ein sportlicher Fight gewesen … Na, meine Herren, wie wär’s mit einem kleinen Schlagabtausch? ‚Znicz‘ kontra Auswahl Podleśna?“ 108
Keiner der Halbstarken sagte ein Wort. Der Boxtrainer und die Sportler von ‚Znicz‘ warteten gespannt, wie die Geschichte weitergehen würde. Es versprach ein lustiger Abend zu werden. „Der Kampf wird nach den Regeln des Polnischen Boxverbandes ausgetragen“, erklärte der Trainer. „Für jeden Schützling des Majors nominieren wir einen Ringpartner in der entsprechenden Gewichtsklasse. Ein Kampf geht über drei Runden. Für alle Fälle mit Kopfschutz.“ Drei Stunden später wankten die sechs Rowdys aus der Halle von ‚Znicz‘. Sie waren von den Amateurboxern so in die Mangel genommen worden, daß sie sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten konnten. Aber es war alles mit rechten Dingen zugegangen. Streng nach den Kampfregeln des Polnischen Boxverbandes. „Vielleicht wollen Sie eine Revanche vereinbaren?“ schlug der Trainer höflich vor, aber er wartete vergeblich auf Antwort. Niewarowny machte dem Oberst Meldung über die Zusammenkunft in Wiatkowskis Wohnung und über den improvisierten Boxkampf. Der Alte konnte sich das Lachen nicht verbeißen, aber er wurde schnell wieder ernst. „Oh, Bronek, Bronek! Dich sticht schon wieder der Hafer. Wenn, nun einer von diesen Burschen die Sache vor den Staatsanwalt gebracht hätte, da hättest du aber zu tun gehabt, um dich rauszureden.“ „Wieso? Sie haben doch selbst ausgesagt, sie hätten die Straßenpassanten nicht angepöbelt und verprügelt, das sei nur ein kleiner Boxkampf gewesen. Außerdem fanden sie sich absolut freiwillig bereit, ihre Kräfte zu messen. Ein ganz gewöhnliches Sparring also.“ „Schon gut, schon gut. Ich hoffe, es zeigt dich keiner an.“ 109
„In Zukunft werden die es sich jedenfalls gründlich überlegen, ob sie noch mal jemanden anpöbeln. Was macht denen schon die Konfliktkommission, eine Geldstrafe oder selbst ein paar Monate Knast aus? Aber an die Hiebe denken sie noch lange zurück.“ „Wichtiger ist, was dieser Kater gesagt hat. Wer ist das eigentlich?“ „Ein Dieb, mehrfach straffällig geworden. Tadeusz Grepański mit Namen. Seine Spezialität ist, nachts in Wohnungen einzusteigen und die Leute zu bestehlen.“ „Wieso Kater?“ „Einmal hat er Pech gehabt. Er kroch durch ein offenes Fenster und trat in der Dunkelheit einem schlafenden Kater auf den Schwanz. Das Vieh machte so einen Mordsspektakel, daß das ganze Haus zusammenlief. Grepański stand völlig fassungslos da und kam nicht mal auf die Idee, sich aus dem Staube zu machen.“ „Glaubst du dem Mann?“ „Was er sagte, klingt ziemlich wahrscheinlich. Übrigens hat Zofia Kwaskowiak es indirekt bestätigt. Die erinnert sich nämlich, daß ihr Mann tatsächlich in den ersten Julitagen erst nach einer reichlichen Stunde von seinem Morgenspaziergang zurückkam.“ „Aus dem, was dieser Kater ausgesagt hat, könnte man schließen, daß der Hauptwachtmeister ein Grundstück beobachtet haben muß. Vermutlich die Villa von Doktor Workucki, denn er stand ihr gegenüber.“ „Ich habe mir schon überlegt“, erklärte Niewarowny, „ob Kwaskowiak nicht genau an der Stelle ermordet worden ist. Unter einer dieser Kiefern. Ich habe versucht, irgendwelche Spuren zu finden, leider ohne Erfolg. Seit dem Mord sind drei Wochen vergangen, und im November hat es öfters geregnet.“ „Das würde sich auch mit der Aussage des Milchmanns decken, der einen grünen Fiat gesehen haben will, der früh am Morgen durch die Akazienstraße fuhr. 110
Und es belastet abermals Workucki. Erstens hat er so ein Auto, und falls er den Hauptwachtmeister auf seinem oder auf diesem verlassenen Grundstück ermordet haben sollte, wäre es für ihn die bequemste Art gewesen, sich der Leiche zu entledigen; indem er sie nämlich mit dem Wagen in den Wald brachte.“ „Ja, das würde hinhauen“, sagte Niewarowny. „Aber der Grund! Was für ein Tatmotiv kann er gehabt haben? Ein gutverdienender Arzt. Völlig legale Einkünfte. Keine Spur von irgendwelchen Steuerhinterziehungen. Hauptmann Lewandowski hat, obwohl ihr euch so wenig mögt, deinen Bericht sehr ernst genommen und alles gründlich nachgeprüft, alles, was Workuckis Person betrifft. Wir sind auf nichts Verdächtiges gestoßen.“ „Ich habe auch eifrig Klatschgeschichten über Workucki gesammelt. Seine ‚Freunde‘ meinen, er sei hinterm Geld her. Aber das allein ist noch kein Verbrechen. Dagegen hat ihm nie jemand einen Kunstfehler in seinem Beruf nachweisen können. Bei seinen Eingriffen pfuscht der Doktor nicht. Im übrigen sind es ja nur Krampfadern. Etwas anderes macht er gar nicht. Geordnete Familienverhältnisse, die Tochter allerdings zu verwöhnt. Alles in allem ein ganz normales Leben.“ „Vielleicht wollte jemand zu Workucki? Ein Verbrecher, dem Kwaskowiak aufgelauert hat? – Wir können hier die verschiedensten Vermutungen anstellen. Ich fürchte nur, daß uns das nicht viel weiterbringt. Jedenfalls müssen wir den Arzt im Auge behalten. Die Geschichte zieht sich immer mehr in die Länge, aber ich sehe keinen anderen Ausweg. Bleiben Sie am Ball, Major. Wir werden ja sehen, was dabei herauskommt. Und was diese Sportskanonen angeht, so wäre es mir doch lieber, wenn in Zukunft alles nach dem Strafgesetzbuch und nicht nach dem Reglement des Polnischen Boxverbandes abläuft. Einverstanden?“ 111
„Jawohl, Genosse Oberst!“ Niewarowny sprang von seinem Platz auf und knallte die Absätze zusammen. Die Offiziere brachen in Gelächter aus. „Mach’s gut, Bronek, aber paß auf dich auf. Du arbeitest in letzter Zeit zuviel.“
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8. Ein Unfall in der Schule
Als Major Bronisław Niewarowny Frau Hanka Nielisecka in der Tür des Cafés erblickte, war er fest davon überzeugt, daß sie sich gleich zu ihm setzen und ihm etwas Unangenehmes mitteilen würde. Und sein Vorgefühl trog nicht. Kaum hatte Frau Hanka die Besitzerin des Lokals begrüßt, steuerte sie auch schon auf Niewarownys Tisch zu. „Sie sehnen sich bestimmt schon danach, daß ich Ihnen Gesellschaft leiste? Darf ich mich setzen?“ „Bitte sehr“, gab der Major zur Antwort. Was hätte der Ärmste auch erwidern sollen? „Milizoffiziere sollten ihre Gefühle besser verbergen können. Ihr Gesicht strahlt dermaßen vor Freude, daß einem … Aber keine Sorge, ich bleibe nur einen Moment.“ „Ich habe im Leben schon schlimmere Momente erlebt, das kann ich Ihnen versichern.“ „Aber Sie haben leider nichts im Leben dazugelernt, wie ich sehe.“ „Und wieso nicht?“ „Sie sitzen bei Ihrem Kaffee und versuchen, aus dem Satz zu lesen, wer diesen armen Kwaskowiak ermordet hat. Oder Sie verlassen sich darauf, daß die von allein zu Ihnen kommen und Ihnen ihre Sorgen oder Vermutungen anvertrauen. Aber das ist ein Trugschluß. Die lächeln Ihnen zu, schütteln Ihnen die Hand, laden Sie vielleicht auch zu einer Partie Bridge oder einem Schnäpschen ein, aber das ist auch schon alles. Im Grunde genommen sind Sie für diese Leute, wenn nicht ein Feind, so zumindest ein Fremder, der da ist, um ihnen nachzuspionieren. Die werden Sie nie als dazugehörig betrachten. Jedenfalls müßten noch hübsch ein paar Jährchen 113
ins Land gehen. Da wird an allen Ecken gemunkelt, und Sie und Ihre Miliz sind völlig ahnungslos. So ein Sherlock Holmes sind Sie!“ „Was ist denn passiert?“ „Lassen Sie sich das ruhig von Ihren Freunden erzählen. Ach, da ist ja Ingenieur Bełkowski, ich muß mit ihm reden. Auf Wiedersehen. Es hat sich sehr nett mit Ihnen geplaudert.“ Die Nielisecka stand mit zufriedener Miene vom Tisch auf. Das Weib blufft, dachte der Major bei sich und begann eine Unterhaltung mit Magister Chruścicki, dem Leiter der Apotheke von Podleśna, der soeben das Lokal betrat. Chruścicki war ein redseliger Mann, wovon sich der Major schon mehrmals hatte überzeugen können, und als Leiter der Apotheke kannte er immer den neuesten Klatsch. Wirklich, der Mund des Apothekers stand auch jetzt wieder nicht eine Sekunde still. Er senkte die Stimme zum Flüsterton und teilte dem Major mit, daß es zwischen der hübschen Serviererin und Ingenieur Bełkowski zum endgültigen Bruch gekommen sei. Ursache sei Oberwachtmeister Michalak. Der hätte der schönen Ela derart den Kopf verdreht, daß die Geschichte wohl noch auf dem Standesamt enden werde. Das habe allenthalben Verwunderung erregt, denn was sei es schon für eine Aussicht für ein junges Mädchen, die Frau eines Oberwachtmeisters zu werden. Bełkowski sei doch ein steinreicher Mann. Bełkowski habe Ela Dorecka eingekleidet, ganz abgesehen davon, daß er ihr eine hübsche Junggesellenwohnung in der Eigentumsgenossenschaft gekauft habe. Allerdings, er, Chruścicki, verdamme das Mädchen nicht. Er habe selber vor siebenundzwanzig Jahren ein hübsches, aber unvermögendes Mädchen geheiratet und es nie bereut. Vielleicht habe diese Ela also gut daran getan, den reichen, aber alten Chemiker sausen zu lassen und dafür einen gutaussehenden jungen Mann in der Milizuniform zu nehmen. 114
„Wie das Leben eben so spielt“, äußerte der Major, um überhaupt etwas zu erwidern. „Es hat halt jeder so seine Sorgen.“ „Ganz recht, das haben Sie sehr gut gesagt, liebster Major. Diese Maria Kowalska zum Beispiel. Von außen hat es den Anschein, als müßte ihr Glück vollkommen sein. Eine schöne Villa, Geld wie Heu. Sie ist zwar Witwe, aber an Attraktionen fehlt es ihr ja nicht …“, bemerkte der Apotheker mit einem vielsagenden Lächeln. „Und trotzdem, so ein Theater mit den Söhnen …“ „Nach wem kommen die bloß?“ Niewarowny versuchte, das Gespräch in Gang zu halten. „Das hab’ ich mir auch schon überlegt. Der alte Kowalski, Gott hab ihn selig, war ein hochanständiger Mann, und die Söhne – zwei Strolche. Vor kurzem hat der jüngere seiner Mutter zweitausend Złoty aus der Handtasche gestohlen und das ganze Geld für Schallplatten ausgegeben. Der ältere fliegt schon wieder von der Schule. Das ist jetzt schon das dritte- oder viertemal.“ Auf die Art hechelte der ehrenwerte Pillendreher jeden durch, der hier im Café saß. Es waren jedoch alles Gerüchte, die der Major bestens kannte. Nichts Sensationelles. Und doch mußte in Podleśna etwas geschehen sein. Das Café war wesentlich stärker besucht als sonst an einem Wochentag. An den Tischen wurde getuschelt. Die Nielisecka hatte bestimmt nicht nur ins Blaue hinein geredet. Als sie ein Weilchen allein an ihrem Tisch saß, fragte deshalb der Major nun seinerseits: „Darf man sich zu Ihnen setzen?“ „Ich kann ja nicht nein sagen. Es gucken zu viele Leute her.“ „Sie haben mich echt neugierig gemacht.“ „Wissen Sie wirklich nichts?“ „Ehrenwort.“ 115
„Dann erfahren Sie auch nichts.“ Die Nielisecka lächelte boshaft. „Es ist überhaupt nichts passiert. Ich habe Sie nur einfach auf den Arm nehmen wollen.“ „Dann bitte ich vielmals um Entschuldigung.“ Der Major stand auf. „Wo haben Sie denn Ihren Humor gelassen? Zahlen Sie, und warten Sie auf der Bahnstation auf mich. Wir treffen uns dort, in ungefähr zehn Minuten. Ich würde mich schön in die Nesseln setzen, wenn ich mich jetzt auf eine Unterhaltung mit Ihnen einließe. Die sehen sowieso schon alle zu uns.“ Niewarowny kehrte an seinen Platz zurück. Tatsächlich, er bemerkte sofort, daß alle hier seinen kurzen Wortwechsel mit der Verkaufsstellenleiterin verfolgt hatten. Nach etwa zehn Minuten schaute der Offizier demonstrativ auf die Uhr und bat die Serviererin um die Rechnung. „Ich muß heute noch nach Warschau“, entschuldigte er sein frühes Gehen. Eine Viertelstunde später erschien Frau Hanka. „Wollen Sie nach Warschau?“ fragte sie laut. „Ja, ich muß.“ Der Zug fuhr ein. Sie stiegen zusammen in einen Wagen. Hier war niemand Bekanntes mehr. „Sie bringen mich nach Hause“, entschied die Nielisecka, „und unterwegs erzähle ich Ihnen, was ich weiß. Ich sage Ihnen gleich, viel ist es nicht.“ Wenige Minuten später hielt die Bahn in PodleśnaOst. Sie stiegen zusammen aus. Hanka schob ihren Arm in den des Mannes. „Wenn uns jetzt einer sieht“, sagte sie lächelnd, „wird er weiterverbreiten, die Nielisecka hätte sich einen neuen Liebhaber geangelt.“ Sie bogen in ein Gäßchen ein. „Es ist irgendeine entsetzliche Geschichte passiert. In der Schule in Podleśna“, begann die Frau ihren Bericht. 116
„Ich habe eine Töchter, Magda. Sie ist jetzt fünfzehn. Ich versuche, unser Verhältnis auf gegenseitiger Aufrichtigkeit und Freundschaft aufzubauen. Ich will für sie nicht die Mutter, sondern eine ältere Freundin sein. Magda verheimlicht mir nie etwas, aber diesmal weiß sie selber nichts Genaues. Sie hat mir nur erzählt, in der elften Klasse sei eine Schülerin an der Tafel ohnmächtig geworden. Es gelang nicht, sie wieder zu Bewußtsein zu bringen. Man mußte das Rettungsamt benachrichtigen, weil das Mädchen angeblich einen Anfall bekommen hat. Der Arzt konstatierte eine Überdosis Rauschgift und lieferte die Kranke in die Nervenklinik ein. Sie soll dort auf der Süchtigenstation liegen.“ „Rauschgift?“ Der Milizoffizier war ehrlich erstaunt. „Wundert Sie das? Schon letztes Jahr wurden drei Jugendliche von hier zur Entziehungskur weggeholt. Sie hatten allerdings schon das Abitur. Sie schnupften Rauschmittel. Es gab einen kleinen Skandal in Podleśna, aber irgendwie gelang es dann, die Sache zu vertuschen. Jetzt versuchen auch alle, die Geschichte geheimzuhalten, damit nichts davon an die Öffentlichkeit dringt.“ „Denen löse ich schon die Zunge.“ „Das glauben Sie! Sie unterschätzen das Zusammengehörigkeitsgefühl bestimmter Kreise. Bestenfalls wird man Ihnen sagen, das Mädchen habe sich aus Versehen vergiftet, weil sie zuviel von irgendeiner Arznei eingenommen habe. Und das ist auch schon alles. In Wirklichkeit wird jeder schweigen wie ein Grab, weil er Angst hat, einen Skandal heraufzubeschwören, seinen Posten zu verlieren oder womöglich seine Unbescholtenheit einzubüßen. Er wird sich erst mit Ihnen unterhalten, wenn Sie Trümpfe gegen ihn in der Hand haben.“ „Was raten Sie mir also?“ „Zuerst mit den Jugendlichen zu reden. Nicht mit denen, die Rauschmittel nehmen, sondern mit den jungen Leuten, die gegen so etwas sind. Soweit ich es übersehe, 117
lachen die meisten Schulkameraden über diese ‚Blumenkinder‘ und bekämpfen sie. Das hat zweierlei zur Folge. Einerseits wird dadurch verhindert, daß die Sucht weiter um sich greift, andererseits verstärkt das den Zusammenhalt der jungen Rauschgiftsüchtigen und drängt das Grüppchen noch weiter an den Rand, was dann wieder die Heilung und die Wiedereingliederung der Außenseiter erschwert. Sie sind leicht zu erkennen. Sie haben ein kleines schwarzes Metallkreuz an einem Band oder an einer Kette um den Hals. Das ist ihr Zeichen. Jedes Kreuzchen kann sich auf den Beistand der anderen verlassen. Selbst wenn sie sich untereinander gar nicht kennen.“ Niewarowny fiel ein, daß er in Warschau und auch in Podleśna mitunter Mädchen und Jungs gesehen hatte, die so ein Kreuzchen trugen. Er hatte sich immer gewundert, daß die Religiosität unter der langhaarigen Jugend plötzlich wieder so zugenommen hatte. Nun stellte sich heraus, daß das schwarze Kreuz nichts mit Religion zu tun hatte, sondern das Zeichen der Hippies war. „Ob ich wohl von Ihrer Tochter noch einiges erfahren könnte?“ „Von Magda? Da müßten Sie aber sehr geschickt vorgehen.“ „Ich hoffe, sie trägt das schwarze Kreuzchen nicht?“ „Zum Glück nicht. Im übrigen ist sie noch zu jung dafür. Süchtig sind in Podleśna ein Teil der Schüler aus den oberen Klassen und ein paar Jugendliche, die die Oberschule schon hinter sich haben. Magda macht sich entschieden über sie lustig.“ „Das wäre ein Grund mehr, mir etwas über diese Gruppe zu erzählen.“ „Die Sache ist etwas kompliziert. Vergessen Sie nicht, daß die Schüler untereinander zusammenhalten. ‚Und müßtest du selbst in der Hölle braten – was in der Schule los ist, darfst du nicht verraten.‘ “ 118
„Trotzdem möchte ich mit Ihrer Tochter sprechen.“ „Na schön“, sagte Frau Hanka. „Ich werde versuchen, Ihnen den Kontakt zu erleichtern, obwohl ich fürchte, daß ich mir damit nur Scherereien auflade.“ „Ich bitte Sie herzlich darum.“ Niewarowny führte die Hand seiner Begleiterin an den Mund. „Wenn Ihnen sehr an etwas liegt, können Sie sogar nett sein, wie ich sehe. Magda hat in letzter Zeit einen neuen Spleen. Sie hat beschlossen, mich zu verheiraten. Wenn ich ihr erzähle, wie Sie mich heute im Café umworben haben, daß Sie mich nach Hause gebracht und Ihren Besuch für morgen abend angekündigt haben, wird das Kind alles tun, um den Heiratskandidaten ihrer Mutter nicht zu verscheuchen. Vielleicht ist sie sogar einverstanden, mit Ihnen zu reden. Nur müssen Sie Ihre Rolle spielen. Wenn Sie die glückliche Miene aufsetzen, mit der Sie mich immer im Café begrüßen, wird nichts daraus.“ „Ich werde mir Mühe geben. Ich werde strahlen vor eitel Freude.“ „Hier wohne ich.“ Frau Hanka zeigte auf die Villa ganz in der Nähe. „Ich sehe, meine Tochter guckt aus dem Fenster. Hier sage ich Ihnen auf Wiedersehen. Ich danke Ihnen, daß Sie mich bis vor die Haustür gebracht haben. Von mir droht Ihnen keine Gefahr. Die Erfahrungen, die ich in einer Ehe gemacht habe, reichen mir. Ich habe nicht vor, noch mal auf den Unsinn hereinzufallen.“ „Genau wie ich.“ „Ja, dann also auf Wiedersehen. Bis morgen abend, gegen sieben.“ Am nächsten Tag fuhr Niewarowny nach Warschau, und nach einem kurzen Gespräch mit dem Oberst begab er sich in die Hauptkommandantur der Miliz, wo es ein eigens für die Rauschmittelbekämpfung eingerichtetes Dezernat gab. Dort hörte man sich seinen Bericht an, 119
ohne besonders verwundert zu sein. Ja, man kannte solche Vorfälle vom vorigen Jahr. Man war sogar überrascht, daß der neue Milizkommandant in Podleśna nichts davon wußte. „Seit etwa zwei Jahren“, klärte ihn der Oberst auf, der diese Fragen bearbeitete, „hat die Rauschgiftsucht, besonders unter der Jugend, zugenommen. Es ist noch keine Epidemie, wie zum Beispiel in den Vereinigten Staaten oder in Westeuropa, aber immerhin schon eine bedrohliche Gefahr. Es kommen Todesfälle bei uns vor. Wir brauchen eine Neufassung des Arzneimittelgesetzes, eine verschärfte Kontrolle im Arzneimittelverkauf, außerdem müssen diese Mittel in den Apotheken strenger unter Verschluß gehalten werden. Die zwangsweise Heilbehandlung von Rauschgiftsüchtigen muß eingeführt werden, und auf Schmuggel, Verkauf und Verbreitung von Rauschgiften müssen hohe Strafen stehen. Wir müssen warnen, die Jugendlichen aufklären, die Eltern und die Lehrer. Die Pädagogen sind die ersten, die Suchtsymptome feststellen können. Wenn normale Jungs und Mädchen plötzlich in ihren schulischen Leistungen nachlassen, gewissermaßen ‚auf niedrigen Touren laufen‘, seltener am öffentlichen Leben teilnehmen und sich in einem kleinen Freundeskreis zurückziehen, dann ist das ein Alarmsignal. Außerdem muß endlich mit der allgemein vorherrschenden Tendenz Schluß gemacht werden, daß man das Problem schamhaft verschweigt.“ „Also?“ fragte der Major. „Ja, wir danken Ihnen, daß Sie uns diesen neuen Fall gemeldet haben, Major. Wir werden ihm nachgehen. Außerdem bitten wir Sie, Ihre Ermittlungen in diesem Fall parallel zu uns fortzusetzen. Sie decken sich ja im übrigen mit Ihrer Hauptaufgabe: der Ergreifung des Mörders von Hauptwachtmeister Kwaskowiak. Wer weiß, womöglich ist das sogar das Tatmotiv? Ein Süchti120
ger, der keinen Stoff mehr hat, ist zu allem fähig. Vergessen Sie nicht, für so einen Menschen ist ein Mord kein moralisches Problem, weil er gar keine Moral hat. Wir sind Ihnen in jeder Hinsicht behilflich, das versprechen wir Ihnen. Wir werden wohl auch Aussprachen für die Jugendlichen und ihre Eltern organisieren müssen. Vielleicht kann ein persönliches Gespräch mit den jugendlichen Süchtigen sie von der schiefen Bahn wieder herunterbringen, auf die sie durch eigene Dummheit, Abenteuerlust oder Snobismus geraten sind? Vielleicht ist es noch nicht zu spät zur Umkehr? Natürlich werden wir keine Panik machen und keine ‚Hexenjagd‘ veranstalten. Es geht uns einzig und allein darum, die Jugendlichen zu retten.“ Der Major fuhr nach Podleśna zurück, wo ihn sofort neue dienstliche Aufgaben in Anspruch nahmen. Aber gegen Abend zog er seinen besten Anzug an und klingelte, mit drei Nelken bewaffnet, Punkt sieben Uhr an der Wohnungstür von Hanka Nielisecka. Sie öffnete ihm, gleichfalls festlich gekleidet; in der Zimmertür stand die Tochter und musterte ihn gespannt. Magda sah ihrer Mutter sehr ähnlich. Vielleicht war sie nicht ganz so gut gebaut – aber das ist nun mal das Schicksal aller fünfzehnjährigen Mädchen –, dafür aber ein ganzes Stück größer. „Was für schöne Blumen! Vielen Dank. Und das hier ist meine Tochter.“ Der Major küßte der Gastgeberin die Hand und hielt sie etwas länger in der seinen fest. Er machte es so, daß das Mädchen, die den Ankömmling genau beobachtete, die Geste bemerkte. Später, als sie ins Zimmer gegangen und am Tisch Platz genommen hatten, gab er sich alle Mühe, möglichst günstig abzuschneiden. Vor Jahren, bevor die Mißerfolge im Dienst so unerwartet über ihn hereingebrochen waren, bevor er krank geworden war und seine Frau ihn verlassen hatte, war er ein geselliger 121
Mensch gewesen, überall beliebt, es war viel Lebensfreude von ihm ausgegangen. Er hatte Erfolg gehabt, sich gern amüsiert und konnte eine ganze Gesellschaft in Stimmung bringen. Befriedigt hatte er oft festgestellt, daß, wenn er einmal erzählte, die anderen vor Staunen runde Augen bekamen. Das Abendessen war nichts Ausgefallenes, aber schmackhaft und appetitlich zubereitet. Die Hausfrau spielte ihre Rolle gleichfalls glänzend: die Rolle einer Frau, die noch nicht verliebt ist, sich aber immerhin für den Bewerber interessiert und der seine Gunstbezeigungen schmeicheln. Magda war sowohl von dem Gast als auch von der offensichtlichen Veränderung im Verhalten ihrer Mutter entzückt. Und so vergaß, als der Major nach dem Abendessen die Unterhaltung geschickt auf Rauschmittel lenkte und davon sprach, daß diese ‚Mode‘ immer mehr unter Jugendlichen um sich greife, das Mädchen denn auch ihren Grundsatz, Fremde nicht in schulische Angelegenheiten einzuweihen. Stolz platzte sie heraus: „Wir haben auch solche in unserer Schule!“ „Das ist bestimmt übertrieben!“ – Niewarowny hatte Frau Hankas Tochter die ganze Zeit als Erwachsene behandelt. – „Vielleicht hat mal einer an dem Dreckszeug geschnuppert, weil er ausprobieren wollte, wie so etwas ist, um dann später vor seinen Mitschülern angeben zu können. Die Jungs und Mädchen aus den oberen Klassen markieren häufig auf die Weise die Reifen und Erwachsenen.“ „Aber nein!“ widersprach Magda heftig. „Bei uns gibt es wirklich mehrere, die Rauschmittel schnupfen. Meist Jungs, weil die Mädchen Angst haben, daß sie davon einen gelben Teint kriegen. Alle aus der elften Klasse. Aber auch in der zehnten gibt es drei. Über die ganze Gruppe wird gespottet. Sogar wir aus den unteren Klassen lassen keine Gelegenheit aus.“ 122
„Wieso?“ „Weil die solchen Quatsch erzählen! Sie sagen, sie sind Kinder Gottes und würden so komische Bilder sehen. In meine Klasse geht ein Mädchen, deren älterer Bruder gehört zu der Truppe. Der jammert immer, wenn er so ein Mittel schnupft, daß da angeblich eine riesige Schlange auftaucht, die ihn überallhin verfolgt und vor der man nicht weglaufen kann.“ „Geht der Junge in die Schule?“ „Das sind alles ‚Springer‘. Mal kommen sie, und dann treibt einer von ihnen das Zeug auf, und da läßt sich drei Tage lang keiner von denen blicken.“ „Und das Abitur?“ „Die Eltern versuchen, das durch Beziehungen und durch Nachhilfestunden auszugleichen. Hauptsache, sie bringen sie irgendwie durch die Prüfung.“ „Ob sich die Eltern wirklich nicht denken können, was der Grund dafür ist, daß sich ihre Kinder so merkwürdig benehmen?“ „Vermutlich nicht“, antwortete jetzt Magdas Mutter. „Auf den ersten Blick machen sie einen recht guten Eindruck. Meist sind sie ordentlich angezogen, höflich und still. Wenn sie in ihren Leistungen nachlassen, führen das die Eltern auf Übermüdung zurück, auf Blutarmut, auf den zu umfangreichen Lehrplan, schlimmstenfalls auf den schlechten Einfluß ungeeigneter Freunde. Diese jungen Rauschgiftsüchtigen, das ist ein geschlossener Kreis. Neue Mitglieder werden nur unter der Bedingung aufgenommen, daß sie das Geheimnis streng hüten.“ „Aber die Mitschüler wissen es doch. Fräulein Magda weiß so viel über sie. Das ist ja wohl der beste Beweis.“ „In der Schule, in einer Klasse, ist es schwerer, etwas geheimzuhalten, als im Elternhaus.“ „Wo kriegen sie dieses Zeug her?“ fragte der Major. „Das verrät Ihnen keiner von denen. Selbst wenn sie 123
sich damit brüsten, daß sie schnupfen, verraten sie noch lange nicht, wer der Lieferant ist.“ „In eurer Schule hat sich eben erst ein Mädchen so vergiftet, daß sie ins Krankenhaus eingeliefert werden mußte.“ Der Major sagte es in einem Ton, als kenne er den Fall in allen Einzelheiten. „Sie hat eine Überdosis Pulver geschluckt. Manche nennen es Pulver, andere Heroin.“ Der Major wußte zwar nicht allzuviel über Rauschgifte, das eine aber wußte er: daß Heroin von allen Mitteln das stärkste und in seinen Folgen schrecklichste war. Wenn die jungen Illusionssucher schon beim Heroin angelangt sein sollten, dann wäre die Gefahr weitaus größer geworden. Der Offizier beschloß, Alarm zu schlagen. Hier mußte das zuständige Dezernat eingeschaltet werden. Fürs erste wechselte Niewarowny geschickt das Thema. Er befürchtete, das Mädchen könne merken, daß er sie eigentlich vernommen und daß sie zuviel gesagt habe. Sie könnte sich das sicher nicht verzeihen, und ihre Mitschüler würden ihr die ‚Petzerei‘ schwer verübeln. So unterhielt der Major die Damen also wieder mit diversen Schmugglerstorys aus jener Zeit, als er zu den Grenztruppen abkommandiert worden war und an der polnisch-tschechoslowakischen Grenze Dienst getan hatte. Gegen zehn verabschiedete er sich. „Ich danke Ihnen vielmals. Ich habe schon lange keinen so netten Abend mehr verbracht.“ „Wirklich?“ „Wirklich“, sagte der Major absolut aufrichtig. „Das freut mich sehr.“ „Wann kommen Sie uns wieder besuchen, Herr Major?“ erkundigte sich Magda. „Sicherlich sehr bald.“ „Vielleicht übermorgen?“ schlug das Mädchen vor. „Vergessen Sie uns nicht.“ Mit diesen Worten verabschiedete die Nielisecka ihren Gast. 124
Auf dem Nachhauseweg grübelte Niewarowny über all das nach, was er von dem Mädchen gehört hatte. Besonders das Heroin ließ ihm keine Ruhe. Wenn die jugendlichen Rauschgiftsüchtigen von Podleśna die Möglichkeit hatten, sich Stoff zu beschaffen, mußte die Bezugsquelle sich entweder an Ort und Stelle oder in Warschau befinden. Das war kein Spaß mehr. War Hauptwachtmeister Kwaskowiak etwa einer Schmugglerbande auf der Spur gewesen? Und hatte das mit dem Leben bezahlt?
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9. Das Geheimnis des weißen Pulvers
Dennoch konnte Major Niewarowny am nächsten Tag gar nicht daran denken, Podleśna zu verlassen und sich mit dem Rauschmittelspezialisten in der Hauptkommandantur der Miliz in Verbindung zu setzen. Gleich am frühen Morgen wurde die Miliz alarmiert, weil im Genossenschaftsladen in einem der Nachbardörfer eingebrochen worden war. Der Major mußte sofort hinfahren, um die Spuren zu sichern. Später assistierte er dann dem Ermittlungstrupp bei seiner Arbeit. Der herbeigeholte Milizhund Hagel aus Ruszków ging frisch ans Werk. Anfangs strich er eine Weile durch das Dorf, bis er schließlich Witterung aufgenommen hatte und unter heftigem Schwanzwedeln und Gebell in Richtung Wald lossauste. Der Führer, der die Leine ganz ausgelassen hatte, mußte dem Tier wohl oder übel folgen. Ihm hinterdrein stolperten alle übrigen Milizionäre, darunter der Major, immer über den lehmigen Boden, was die Beine hergaben. Einen Milizhund darf man nicht zu stark bremsen, weil er sonst die Witterung verliert und womöglich von der Spur abkommt. Danach erwartete sie ein Waldlauf. Endlich verschwand Hagel laut bellend in einem ehemaligen deutschen Bunker. Dort hatten die Einbrecher den größten Teil ihrer Beute versteckt. Säcke voll Kaffee, Schokolade und Flaschen mit Wein. Doch der gewissenhafte Hund gönnte den Männern keine Verschnaufpause. In großem Bogen jagte er über Wiesen und Felder, lief unermüdlich weiter, bis Führer und Milizionäre schließlich nach etwa sechs Kilometern vor einem Haus am Rand von Podleśna anlangten, wo Hagel ohne zu zögern gegen die Tür der im Parterre gelegenen Wohnung anrannte und mit grimmigem Knur126
ren über einen von den Männern herfiel, die im Zimmer saßen. Die Haussuchung brachte den Rest Diebesguts und Bargeld zum Vorschein, das aus der Ladenkasse der Genossenschaft stammte. Die ganze Bande wanderte in den Arrest der Kreiskommandantur. Niewarowny war nach dem langen Geländemarsch so todmüde, daß er, nach Podleśna zurückgekehrt, nicht die mindeste Lust verspürte, sich das Mittagessen selbst zu machen. So tigerte er denn ins Café ‚Marysieńka‘ hinüber. Er sehnte sich nach einem großen, starken Kaffee. Im Café herrschte wenig Betrieb. Nur ein paar Tische waren mit eingefleischten Stammgästen besetzt. Der Major erkannte Doktor Workucki und Ingenieur Bełkowski darunter, die zusammen an einem Tisch saßen. Als sie den Offizier erblickten, lud der Arzt ihn mit einer Geste ein, sich zu ihnen zu setzen. „Sie sehen heute gar nicht gut aus, Major“, bemerkte er. „Wenn Sie zehn Kilometer über Stock und Stein gerannt wären wie ich, würden Sie auch nicht besser aussehen.“ Und der Major erzählte, was ihm zugestoßen war. „Da wundert mich Ihre Erschöpfung nicht“, sagte der Ingenieur und nickte verständnisvoll. „Überhaupt, ich bin heilfroh, daß ich nicht Offizier bei der Miliz bin. Ein schwerer Dienst. Da zieh’ ich mir mein Labor schon vor. Und Sie, Doktor, wohl Ihr Sprechzimmer, nicht wahr?“ „Fräulein Irena, einen großen Kaffee für mich“, trug Niewarowny der Serviererin auf, als sie an den Tisch kam, um die Bestellung entgegenzunehmen. Irena Barska, Ela Doreckas Schichtablösung, war ebenfalls hübsch anzusehen, aber nicht so attraktiv wie ihre Kollegin. „Essen Sie lieber etwas vorher“, riet ihm Doktor Workucki. „Zum Beispiel Spiegelei mit Schinken. Von vier Eiern.“ „Jetzt merke ich erst, wie hungrig ich bin“, erwiderte 127
der Major lachend. „Wenn Sie nichts gesagt hätten, ich hätte bestimmt bis zum Abend nichts gegessen.“ Bevor die Kellnerin das Essen servierte, konnte Niewarowny noch ein paar Einzelheiten über den Ladeneinbruch anbringen und erwähnte auch, daß die Täter dank des Milizhundes bereits gefaßt seien. „Wie nimmt so ein Hund eigentlich Witterung auf?“ erkundigte sich der Ingenieur. „Das steht noch gar nicht genau fest. Es gibt verschiedene Theorien darüber, mit denen sich aber nicht alles erklären läßt. Man hat sehr interessante Versuche gemacht. Sie haben erwiesen, daß es nicht nur eine Frage des Geruchssinns ist, sondern daß da auch noch ein nicht näher erforschter Instinkt mitspielt.“ „Einfach phantastisch.“ Workucki wußte sich vor Bewunderung für Hagels Leistung gar nicht zu lassen. Als Niewarowny seinen Hunger gestillt hatte, nahm er einen ordentlichen Schluck Kaffee und sagte: „Weil wir gerade so nett beisammensitzen, möchte ich die Gelegenheit nutzen und Sie etwas fragen. Kann mir einer der Herren verraten, was eigentlich Heroin ist?“ Beim Klang dieses Wortes zuckte der Arzt sichtlich zusammen, aber er bekam sich sofort wieder in die Gewalt und antwortete: „Ein sehr starkes Narkotikum. Früher wurde es in der Medizin verwendet. Unter anderem zur Herstellung bestimmter Medikamente. Das ist alles, was ich noch aus den Vorlesungen in meiner Studienzeit über Heroin weiß.“ „Und zur Narkose bei Operationen oder zur Schmerzlinderung wird Heroin nicht verwendet?“ „Bestimmt nicht“, erwiderte der Arzt. „Heute gebraucht man sogar Morphium nur in Ausnahmefällen. Ich verschreibe meinen Patienten ja häufig verschiedene schmerzlindernde Mittel, und vor meinen Eingriffen gebe ich auch Betäubungsspritzen, aber das sind nie Morphiumspritzen.“ 128
„Es besteht der Verdacht“, warf Niewarowny behutsam ein, „daß Heroin nach Polen eingeschmuggelt wird. Man hat angeblich festgestellt, daß unsere Drogensüchtigen auf dieses Mittel umgestiegen sind.“ Der Ingenieur lachte. „Ausgeschlossen.“ „Wir haben dennoch gewisse Anhaltspunkte dafür, daß die Rauschgiftsucht auch in unserem Land zum Problem wird.“ „Schon möglich“, stimmte Bełkowski zu, „aber Heroin ist daran nicht schuld. Ein Kilogramm dieses Narkotikums kostet über vierhunderttausend Dollar, im Einzelhandel und in entsprechend für den Süchtigen präparierten Dosen sogar das Doppelte. So reich ist niemand in Polen, daß er sich diesen Luxus leisten könnte.“ „Das stimmt“, bestätigte der Arzt. „Ich habe nie davon gehört, daß bei uns Heroin benutzt würde. Es kommen allenfalls Morphinisten vor. Und da muß ich zu meinem Leidwesen gestehen, meist unter Ärzten und Pharmazeuten. Nur sie haben praktisch die Möglichkeit, sich das Mittel auf halblegalem Wege zu beschaffen: auf Rezept in der Apotheke. Selbst aus ungesetzlichen Quellen bezogenes Morphium wäre schon enorm teuer. Habe ich recht, Herr Bełkowski?“ „Ohne Zweifel. Im übrigen ist das eine sehr simple Rechnung. Wenn ein Kilo Heroin, nehmen wir den niedrigsten Preis an, vierhunderttausend Dollar kostet, dann ist Morphium um das Zehnfache billiger, kostet also vierzigtausend Dollar pro Kilo. Selbst wenn man den schwankenden Valutakurs in Amerika berücksichtigt, das ist zuviel für polnische Portemonnaies.“ „Sie haben mich überzeugt, meine Herren.“ Der Major hatte beschlossen, das Thema zu wechseln. Er bückte sich und rieb sich die Wade, wobei er ein wenig das Gesicht verzog. „Ich habe schon so viel über Sie als dem hervorragenden Krampfadernspezialisten gehört, Doktor, daß ich mich wohl auch mal als Patient bei Ihnen 129
vorstellen muß. Nach diesem ‚Spaziergang‘ heute ist mir ganz danach.“ „Machen Ihnen die Beine öfter zu schaffen?“ „Eigentlich nicht. Aber ich habe an einer Stelle an der Wade eine dunkle Ader. Vom Durchmesser einer Fünfzig-Groszy-Münze.“ „Haben Sie das schon lange?“ „Seit mindestens zwanzig Jahren.“ „Machen Sie sich nichts draus. Falls die Stelle größer wird oder Sie irgendwelche Schmerzen im Bein haben sollten, dann melden Sie sich bei mir.“ Der Major kam nicht wieder auf die Rauschgiftfrage zurück, und auch seine Tischgefährten griffen das Thema nicht noch einmal auf. Niemand erwähnte den jüngsten Fall in der Schule. Dabei mußte, wenn überhaupt jemand, doch der Doktor darüber Bescheid wissen. Wenn nicht als Arzt, so immerhin als Vater, dessen Tochter die gleiche Klasse besuchte, in die auch das süchtige Mädchen ging. In der Wojewodschaftskommandantur ordnete der Alte an, Major Niewarowny habe sich in der Rauschgiftfrage direkt mit dem entsprechenden Dezernat in der Hauptkommandantur zu verständigen, seinen Vorgesetzten aber bei Gelegenheit über die Ermittlungsergebnisse auf diesem Gebiet zu unterrichten. Den Oberstleutnant, mit dem der Major schon einmal über Suchtfälle bei Jugendlichen in Podleśna gesprochen hatte, brachten die neuesten Nachrichten in Fahrt. „Wir wissen bereits, womit sich dieses Mädchen in der Schule in Podleśna vergiftet hat“, eröffnete ihm der Oberstleutnant. „Da bin ich aber gespannt.“ „In diesem Tütchen hier wurden Reste weißlichen Pulvers gefunden. Wir haben das Zeug analysieren lassen. Es stellte sich heraus, daß es ein Gemisch aus verschiedenen Medikamenten ist.“ 130
„Ich weiß in diesen Dingen sehr wenig Bescheid.“ „Weil Sie aber unbeabsichtigterweise damit in Berührung gekommen sind, werde ich Sie in die Wirkung von Rauschmitteln und ähnlichen Stoffen einweihen.“ „Ich bin ganz Ohr.“ „Um auf unsere süchtigen Jugendlichen zurückzukommen“, sagte der Oberstleutnant am Ende seiner ‚Vorlesung‘, „wir werden uns ihrer annehmen. Aber behalten Sie unabhängig davon die Truppe auch weiterhin im Auge. Der Kontakt mit dem jungen Mädchen, das Sie erwähnten, ist wichtig. Er muß auf jeden Fall aufrechterhalten werden. So offen und ehrlich wird kein Schüler mit uns sprechen. Und das ist für uns von ungeheurer Bedeutung. Denn wir müssen erst noch Methoden erarbeiten, um diese Jugendlichen richtig anzufassen und geschickt mit ihnen zu reden, damit wir sie auch überzeugen und nicht als Reaktion auf unser Vorhaben womöglich noch das Gegenteil erreichen.“ „Um zu erfahren, von wem sie dieses Dreckszeug beziehen? Denn das Heroin läßt mir trotz alledem keine Ruhe. Ich habe sehr gewichtige Gründe anzunehmen, daß es nicht nur ein Märchen ist.“ „Ausgeschlossen! Geschmuggeltes Heroin wäre selbst für die reichsten Leute zu teuer. Und legal an Heroin heranzukommen ist in Polen unmöglich. Dieses Narkotikum finden Sie nicht einmal in den wichtigsten Spezialapotheken. Die Einfuhr ist generell verboten. Nur Wissenschaftler verfügen über geringfügige Mengen für bestimmte Versuche. Und auch da herrscht strengste Kontrolle.“ Nach Hause zurückgekehrt, dachte Major Niewarowny noch lange über all das nach, was er in der Hauptkommandantur gehört hatte. Er konnte auch das plötzliche Zucken auf Doktor Workuckis Gesicht nicht vergessen, als bei der Unterhaltung im Café das Wort Heroin gefallen war. Das konnte kein Zufall gewesen sein. Der Arzt wußte etwas, aber was? 131
Diese jugendlichen Rauschgiftsüchtigen hatten den Milizkommandanten von Podleśna nur am Rande zu interessieren. Seine Aufgabe war es, den Mörder des Hauptwachtmeisters zu finden. Hatte Kwaskowiak von ihnen gewußt? Niewarowny nahm es an. Sein Vorgänger hatte sein Amt reichlich acht Jahre ausgeübt. Er hatte ständig mit seiner Familie hier gewohnt. Seine Kinder gingen in die gleiche Schule. Es mußte ihm etwas zu Ohren gekommen sein. Aber hatte er deshalb sterben müssen? Der Major bezweifelte es. Rauschgiftsüchtige schreckten zwar mitunter nicht vor einer Straftat oder gar einem Verbrechen zurück, um in den Besitz von Stoff zu gelangen, aber diese Jugendlichen hatten doch wohl einen solchen psychischen Zustand noch nicht erreicht? Gleichzeitig hatte der Hauptwachtmeister bei den Jugendlichen großes Ansehen genossen. Warum? Nur, weil er unübliche Mittel anwandte, wie jene Tracht Prügel, die er den jungen Kowalskis verabreicht hatte? Auch Workuckis Tochter hatte es nicht gewagt, gegen Kwaskowiak aufzumucken, als er ihr befahl, sich augenblicklich nach Hause zu scheren. Andererseits, wo nahmen die Jugendlichen so große Mengen von verschiedenen Medikamenten her, die nicht nur ausreichten, sich zu betäuben, sondern sogar zu schweren Vergiftungen führten? Vielleicht … Da kam dem Major ein Idee. Er beschloß, ihr sofort auf den Grund zu gehen. Er zog sich schnell an, verließ das Milizgebäude und eilte hinüber in den Genossenschaftsladen. Frau Nielisecka war nicht an der Kasse, aber Niewarowny fand sie in ihrem Zimmer im hinteren Teil des Flachbaus. Sie begrüßte ihn mit unverhohlenem Staunen. Sie war gerade dabei, irgendwelche Listen aufzustellen. „Entschuldigen Sie, ich weiß, ich bin ein bißchen aufdringlich, aber Fräulein Magda war so nett, mich für 132
heute abend zu Ihnen einzuladen. Dürfte ich die Einladung annehmen?“ „Tja, bitte sehr …“ Frau Hanka lächelte blaß. „Ich danke Ihnen. Ich muß wirklich noch einmal mit Magda reden. Es ist sehr wichtig.“ „Ich arbeite heute aber bis Ladenschluß, das will ich Ihnen lieber gleich sagen. Ich kann hier frühestens Viertel nach sieben weg. Warten Sie also nicht auf mich. Wir treffen uns auf dem Bahnhof oder erst in Podleśna-Ost.“ „Einverstanden“, sagte der Major. „Ich warte so lange, bis Sie kommen.“ Magda war überzeugt, daß Niewarowny die Einladung nicht vergessen würde. Als der Offizier zusammen mit Frau Hanka die kleine Wohnung der Nieliseckis betrat, war der Abendbrottisch schon für drei gedeckt. Der Major überreichte dem Mädchen einen großen Kasten Pralinen, was weniger von der Tochter als vielmehr von der Mutter mit Befriedigung aufgenommen wurde. Wieder hagelte es Anekdoten über diverse kriminalistische Abenteuer des Kommandanten. Und auch diesmal lauschten beide Damen den Geschichten mit ungeschmälertem Interesse. Später dann kam der Major auf ein anderes Thema zu sprechen. Er erzählte ausführlich, was er auf der Hauptkommandantur über Rauschmittel erfahren hatte, denn er war der Ansicht, so eine kleine Privatvorlesung über die Gefahren des Genusses sei mitunter wirksamer als ein offizieller Vortrag, den ein Vertreter der Schulbehörde vom Katheder aus hielt. Ganz plötzlich stellte er die Frage: „Wie ich hörte, soll die Tochter von Doktor Workucki auch zu euren Süchtigen gehören. Stimmt das?“ „Janka war voriges Jahr mit denen zusammen. Später, als die drei zur Entziehungskur weg mußten, hat sie, glaube ich, mit der ganzen Truppe Schluß gemacht. Und jetzt – ich weiß nicht. Ich hab’ sie manchmal mit dem 133
Mädchen gesehen, das ins Krankenhaus eingeliefert wurde.“ „Wenn Ihnen so viel daran liegt, Major, dann könnte Magda ja in Erfahrung bringen …“ „Nein, danke. Ich habe aus purer Neugier gefragt“, sagte Niewarowny und redete schon von etwas anderem. Als er Frau Nieliseckas gastliches Haus verließ, baten ihn Mutter und Tochter, sie doch nicht zu vergessen. Und diesmal schien es die Mutter ganz ehrlich zu meinen.
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10. Ein fragwürdiger Erfolg
„Sie wollen zu mir?“ Die Direktorin der Oberschule hob die Augenbrauen, um auf diese Weise ihr Erstaunen zum Ausdruck zu bringen, daß der Kommandant der Milizwache es wage, den normalen Tagesablauf zu stören. „Ich habe wenig Zeit. In fünf Minuten beginnt die Stunde. Ich leite zwar die Schule, aber daneben unterrichte ich noch in der letzten Klasse.“ „Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muß der Berg zum Propheten kommen“, sagte der Major, das bekannte Sprichwort ein wenig abwandelnd. „Ich erwarte Sie seit mehreren Tagen, und ich gestehe, ich bin einigermaßen enttäuscht, daß ich vergeblich gewartet habe.“ Niewarowny setzte sich bequemer im Sessel zurecht und brannte sich, ohne um Erlaubnis zu fragen, eine Zigarette an. Er hatte beschlossen, demonstrativ unhöflich und scharf zu sein, denn er war der Ansicht, anders könne man sich in dieser Situation nicht unterhalten. „Und weshalb hätte ich zur Miliz kommen sollen?“ „In der Schule fallen schlimme Dinge vor, und Sie wundern sich noch, daß sich die Miliz dafür interessiert?“ „Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“ „Sie, als Direktorin, wissen nicht, was vor einigen Tagen hier vorgefallen ist?“ „Ach, Sie meinen diese Kleine, die während des Unterrichts krank geworden ist?“ „Das haben Sie sehr elegant umschrieben.“ Niewarowny betonte das letzte Wort noch einmal besonders: „Ja, krank geworden.“ „Das Mädchen gehört nicht zu den besten Schülerinnen. Es besteht sogar die Gefahr, daß sie nicht zum Abitur zugelassen wird. Die Ärmste hatte solche Angst vor einer Mathematikarbeit, die für ihre Zensur in diesem 135
Fach entscheidend gewesen wäre, daß sie zuviel von irgendeinem Beruhigungsmittel geschluckt hat. Das ist der ganze Vorfall.“ „Da haben Sie sich ja sehr geschickt aus der Affäre gezogen.“ „Sie werfen mir vor, daß ich lüge?“ Die Direktorin stand von ihrem Platz auf. „Ich habe keine Zeit. Ich denke nicht daran, noch länger mit Ihnen zu diskutieren.“ „Sie dürfen sich trotzdem wieder setzen. Besser, Sie unterhalten sich hier mit mir als auf der Wache oder im Zimmer des Staatsanwalts, das kann ich Ihnen versichern.“ „Sie wagen es, mich anzuklagen? Wessen?“ „Zumindest dessen, daß Sie eine Straftat wie illegalen Rauschgifthandel vertuscht haben und daß Sie in Ihrer Schule eine Gruppe von Rauschgiftsüchtigen dulden. Schon voriges Jahr sind hier drei schwerwiegende Fälle von Rauschgiftsucht vorgekommen. Es mußte eine Entziehungskur durchgeführt werden.“ „Das waren keine Schüler aus meiner Schule.“ „Ganz recht. Als sie sich vergifteten, nicht mehr. Seit ein paar Wochen nicht mehr. Aber vorher?“ Langsam überkam den Major eine ungeheure Wut. „Mir ist bekannt, daß die Mitschüler, und nicht nur die Mitschüler, bei diesem Mädchen gewesen sind. Sie haben sie überredet, zu schweigen und dieselbe Geschichte zu erzählen, die ich soeben von Ihnen gehört habe. Was für ein merkwürdiger Zufall. Und das soll ich glauben?“ Die Direktorin wurde blaß. Nur ihre Ohrläppchen glühten. „Das Mädchen steht vor dem Abitur. Genauso wie ihre Mitschüler. Wir wollten ihnen nicht ihr Leben verpfuschen.“ „Aber Sie haben seelenruhig zugesehen, wie sie selber ihre Gesundheit ruinierten und sich ihr junges Leben verpfuschten.“ 136
„Ich … Ich …“ Die Direktorin fing an zu stottern. „Ich habe nicht angenommen, daß das so gefährlich ist. Jugendliche machen oft unvernünftige Sachen. Es heißt ja nicht umsonst, der Verstand kommt mit den Jahren. Manchmal ist es besser, über solchen Unfug einfach hinwegzusehen. Dann legt es sich um so schneller wieder. Schneller, als wenn man erst zu Verhaltensmaßregeln und Strafen greift. Aber wenn Sie meinen, die Geschichte hätte sich schon so ungünstig entwickelt, Herr Major, dann wird sich natürlich der ganze Lehrkörper geschlossen dafür einsetzen, dem abzuhelfen.“ „Ich fürchte, Frau Direktor, dazu ist die Sache bereits zu weit fortgeschritten, als daß der Lehrkörper noch etwas ausrichten kann.“ „Was bleibt uns demnach zu tun?“ „Vor allem hätten Sie zu mir kommen und mir alles ehrlich erzählen müssen. Damit die Miliz nicht als letzte erfährt, was selbst der Milchmann weiß.“ „Nun ja, ich gebe zu, ich habe mich schuldig gemacht.“ Jetzt erwähnte die Direktorin kein Wort mehr vom Unterricht, zu dem sie es so eilig gehabt hatte. „Das ist nicht der erste Fall in Ihrer Schule, und ich fürchte, leider auch nicht der letzte. Stecken wir nicht den Kopf in den Sand, sondern sehen wir lieber der Wahrheit ins Gesicht.“ „Sie haben recht. Daran habe ich nicht gedacht.“ Als nächstes mußte die Miliz alle Apotheken im Umkreis aufsuchen und die belieferten Rezepte nachprüfen, zumindest die der letzten zwei Monate. Dem Alten paßte es anfangs gar nicht, daß ihm Niewarowny so viele Männer für eine Sache abzog, die mit dem Hauptziel, der Ergreifung des Mörders von Kwaskowiak, nichts zu tun hatte. Schließlich aber ließ sich der Oberst überzeugen, daß diese Spur mit dem Mord an dem ehemaligen Kommandanten im Zusammenhang stehen konnte. 137
„Wir sitzen die ganze Zeit wie auf Kohlen“, bemerkte Hauptmann Lewandowski auf einer Beratung, die einberufen worden war, um die besagte Aktion vorzubereiten. „Aber Sie scheinen es nicht gerade eilig zu haben, Major.“ „Eile, Herr Kollege, ist nur beim Flöhefangen geboten“, erwiderte Niewarowny bitter. „Sie hatten es sehr eilig, Herr Hauptmann. Sie haben unsere Arrestzellen schnell gefüllt, und was ist dabei herausgekommen?“ „Genug, Genossen.“ In der Stimme des Alten schwang ein scharfer Ton mit. „Also einverstanden, die Inspektion in den Apotheken ist genehmigt. Und was soll danach passieren?“ „Wir werden ja sehen, ob die Inspektion uns etwas einbringt. Wenn wir Belastungsmaterial in die Finger bekommen, dann muß eine Revision durchgeführt und der Schuldige festgenommen werden.“ „Wäre es nicht besser, seine Kontakte zu überwachen?“ wandte Lewandowski ein. „In solchen Fällen ist die Überrumpelung ebenso wichtig“, verteidigte der Major seine These. „Aber Genossen!“ Der Alte wollte es nicht wieder zu einem Wortwechsel zwischen den Offizieren kommen lassen. „Als erstes untersuchen wir, ob der Verdacht gerechtfertigt ist, und wenn er sich bestätigen sollte, legen wir den weiteren Aktionsplan fest.“ Niewarowny hatte sich nicht getäuscht. Die Inspektion der Apotheken brachte eine reiche Ernte. Über achtzig Rezepte mußten beanstandet werden. Die Spezialisten, die sie prüften, teilten das gesamte Material in drei Gruppen. Der eine Teil der Belege war ohne Zweifel vom Arzt selbst ausgestellt worden. Das waren jedoch verhältnismäßig wenig. Auf anderen Rezepten hatte jemand versucht, noch zusätzlich vom Arzt nicht verordnete Medikamente aufzuschreiben, oder er hatte die Zahlen abgeändert und auf die Weise die Menge der Packungen 138
von eins auf drei erhöht. Bei wieder anderen deuteten Inhalt wie Unterschrift darauf hin, daß sie überhaupt gefälscht waren. Es waren bei weitem die meisten, und zwar über vierzig. Die drei Offiziere fanden sich abermals im Zimmer des Obersts zusammen. „Sie hatten den richtigen Riecher, Major“, stellte der Alte fest. „Allerdings nicht ganz. Sie haben höher gezielt und jemand anderen getroffen. Aber das macht nichts. Das wichtigste ist, daß Ihren Süchtigen eine wichtige ‚Pulverbezugsquelle‘ genommen wird. Was haben Sie nun vor?“ „Ich glaube, jetzt sollte sich die Miliz offiziell einschalten. Ich führe eine Durchsuchung durch, beschlagnahme die Stoffvorräte, falls ich welche finde, vernehme die Verdachtsperson. Wir setzen ein Protokoll auf. Vielleicht nehme ich den Schuldigen fest?“ „Das wird schrecklich viel Aufsehen erregen“, sagte der Oberst lächelnd. „Ich kann mir dieses Einschreiten schon vorstellen. Aber vergessen Sie nicht, daß wir es mit Schülern zu tun haben, Major, die noch dazu kurz vor dem Abitur stehen. Wird sie das auch nicht zu sehr reinreißen?“ „Ich bin mir über sämtliche Schwierigkeiten im klaren, aber ich glaube, es ist endlich an der Zeit, daß die Miliz in Podleśna Entschlossenheit an den Tag legt. Ich bin ganz entschieden dafür, daß der Schuldige festgenommen wird. Und sei es für achtundvierzig Stunden.“ „Ich bin auch der Meinung.“ Hauptmann Lewandowski vertrat wohl zum erstenmal den gleichen Standpunkt wie der Major. „Und wenn uns der Staatsanwalt nicht wegen Rauschmittelverbreitung die Festnahme genehmigt, dann muß er sie uns wegen Rezeptfälschung genehmigen. Das Vergehen ist eindeutig erwiesen. Es steht außer Zweifel. Wir haben es schwarz auf weiß.“ „Sie reden so, weil Sie selbst keine Kinder in dem Al139
ter haben.“ Der Oberst hatte da mehr Verständnis für jugendliche Dummheiten. „Theoretisch gesehen, haben Sie recht, aber …“ „Ich will niemandem das Leben verpfuschen noch irgendwem das Abitur erschweren, Oberst. Mein Vorgänger schnallte in solchen Fällen den Gürtel von der Hose und sorgte an Ort und Stelle für Gerechtigkeit. Wir können lange darüber streiten, ob das richtig war, aber es hatte eine gewisse Wirkung. Ich gehe nicht so vor, aber diesen einheimischen Rauschgiftsüchtigen und der ganzen übrigen goldenen Jugend muß mal ein gehöriger Denkzettel verpaßt werden. Wir werden ja sehen, wie sich der Schuldige verhält. Davon mache ich alle weiteren Schritte abhängig. Ich schrecke jedenfalls nicht vor einer Festnahme zurück.“ „Und dann setzen Sie den Betreffenden auf Bitten der Eltern wieder auf freien Fuß“, warf der Alte rasch ein, „das ist sogar ganz erfolgversprechend. Die anderen Eltern werden sich mehr für die Lebensweise ihrer Goldkinder interessieren. Einfach weil sie Angst haben, daß es ihnen womöglich genauso ergeht. Und damit ist dann der große Skandal fertig, der den ganzen Ort erfaßt. Tja, tu, was du für richtig hältst. Aber falls du zu der Ansicht kommst, daß man sich trotzdem an die Staatsanwaltschaft wenden sollte, um die Untersuchungshaft zu verlängern, handele bitte nicht ohne mein Einverständnis.“ Gegen vier Uhr nachmittags klingelte Major Niewarowny in Begleitung von Oberwachtmeister Michalak an Doktor Workuckis Tür. Es öffnete ihnen eine Sprechstundenhilfe, die fragte, ob sie angemeldet seien. „Nein, das sind wir nicht. Wir sind dienstlich hier. Ich wollte mit dem Doktor sprechen.“ „Ich sage ihm gleich Bescheid.“ Der Arzt betrat das Wartezimmer. „Guten Tag, Major. Sie wollen zu mir?“ fragte er erstaunt. 140
„Leider, und zwar in einer dienstlichen Angelegenheit.“ Ein leiser Schatten der Besorgnis huschte über das Gesicht des Arztes, aber er sagte höflich: „Bitte kommen Sie hier herein“ und führte sie nicht ins Sprechzimmer, sondern in sein Privatkabinett. „Womit kann ich Ihnen dienen?“ Der Major holte ein Rezept aus seiner Brieftasche. „Haben Sie das ausgestellt?“ fragte er. „Ja, ich erinnere mich. Eine Freundin meiner Tochter klagte über einen üblen Husten.“ „Gleich drei Packungen von diesem Medikament? Weshalb so viel?“ „Die Kleine sagte, bei ihr zu Hause würden alle husten. Aber worauf wollen Sie hinaus, Major?“ „Ich bin sicher, daß Sie sehr genau wissen, worum es hier geht, Doktor. Ich brauche Sie nur an das jüngste Ereignis in der Schule zu erinnern.“ „Und was habe ich damit zu tun?“ „Das rauschgiftsüchtige Mädchen hat sich mit Medikamenten vergiftet.“ Bei diesen Worten zog der Offizier ein zweites Rezept aus der Tasche. „Auf diesem Rezept hier sind verschiedene Medikamente aufgeschrieben. Und zwar auch je drei Packungen. Bitte, sehen Sie sich das an.“ Dem Arzt zitterte leicht die Hand, als er dem Major den Zettel abnahm. Er betrachtete eingehend das Rezept und reichte es Niewarowny zurück. „Ich entsinne mich nicht“, sagte er. „Übrigens ist es durchaus möglich, daß mich einer von meinen Patienten um dieses Medikament gebeten hat. Du lieber Gott, drei Packungen, so viel ist das ja nun auch wieder nicht. Wozu sollte der Patient nach zwei Wochen noch mal herkommen, um sich ein neues Rezept zu holen?“ „Mit dieser Begründung bin ich einverstanden. Aber bitte, sehen Sie sich das nächste an. Das ist fast schon Großhandel. Alles in Höchstmengen.“ 141
„Das habe ich nicht ausgestellt“, sagte Workucki bestimmt. „Sie brauchen nur diese drei Rezepte miteinander zu vergleichen. Das ist nicht meine Schrift und auch nicht mein Namenszug. Das ist gefälscht.“ „Eine äußerst wichtige Erklärung, Herr Doktor. Können Sie mir das schriftlich geben?“ „Selbstverständlich.“ „Ich würde sehr darum bitten.“ Der Arzt zuckte die Schultern, aber er erfüllte die Bitte des Majors. Der Milizoffizier las das Schreiben aufmerksam, faltete es sorgfältig zusammen und steckte es ein. „Ich bin wahrscheinlich mal kurz aus dem Sprechzimmer gegangen. Der Rezeptblock lag vermutlich auf dem Tisch, und irgendein Patient hat mir einen Blankoschein entwendet. So muß es gewesen sein. In Zukunft werde ich darauf achten, daß die Scheine nicht mehr offen daliegen.“ „Darum würde ich Sie sehr bitten, Herr Doktor. Für uns ist das um so wichtiger, weil wir allein in einigen wenigen Apotheken über vierzig solcher Rezepte gefunden haben. Jetzt wundert Sie unser Besuch bestimmt nicht mehr.“ „Über vierzig?“ wiederholte Workucki. „Das ist ja unmöglich.“ „Ich nehme an, wenn wir länger und in einem größeren Umkreis suchen würden, fänden wir noch weit mehr solcher gefälschter Rezepte.“ „Das kann ich einfach nicht glauben.“ „Es ist aber eine Tatsache. Ich habe alle diese Rezepte hier, in meiner Aktentasche.“ „Unvorstellbar! Da muß mir ja jemand einen ganzen Block gestohlen haben. Einen schon gestempelten. Und zwar so geschickt gestohlen, daß ich es nicht einmal gemerkt habe. Ich bin mir im klaren, daß das ein schwerwiegendes Verschulden meinerseits ist. Wollen Sie mich zur Verantwortung ziehen, Herr Major?“ 142
„Nein, Sie nicht. Ich hoffe, diese Lehre genügt Ihnen.“ „Ich verspreche Ihnen, daß so etwas nie wieder vorkommt. Ich werde die Rezepte überhaupt nicht mehr blockweise abstempeln und sie unter Verschluß halten. Ich danke Ihnen, Major.“ „Leider ist die Geschichte damit noch nicht erledigt“, erwiderte Niewarowny. „Ich muß auch mit Ihrer Tochter reden.“ „Mit Janka? Worum geht es denn?“ „Darum, daß sie Rauschmittel auf dem Schulgelände verteilt hat.“ „Janka? Das ist doch Unsinn!“ „Ich habe auch einen Haussuchungsbefehl, der vom Staatsanwalt unterschrieben ist. Natürlich mache ich von diesen weitreichenden Vollmachten nicht Gebrauch. Mir genügt es, wenn ich mir das Zimmer von Fräulein Janka mal ansehen kann.“ Der Milizoffizier schob dem Arzt die entsprechende Bescheinigung hin. „Aber das ist ja nicht zu fassen!“ „Es tut mir leid, Doktor, aber ich muß meiner Pflicht nachkommen.“ „Darf ich dabeisein?“ „Ich wollte Sie sogar darum bitten. Ich betone noch einmal, es ist mir sehr unangenehm. Aber leider, Dienst ist Dienst. Bitte nehmen Sie noch jemanden als Zeugen mit, meinetwegen Ihre Sprechstundenhilfe.“ „Ein Mißverständnis, das sich sofort aufklären wird! Bitte folgen Sie mir, meine Herren.“ Der Arzt trat in die Halle, von dort führte eine Wendeltreppe in den ersten Stock hinauf. Hier klopfte er an eine Zimmertür. Als ein lautes „Herein!“ erscholl, betraten die drei Männer den Raum. Janka Workucka lag auf der Couch und blätterte in einer Zeitschrift. „Janka, mein Liebes“, begann der Arzt. „Die Herren hier sind von der Miliz. Sie haben einen Haussuchungsbefehl und möchten mit dir reden.“ 143
„Mit mir? Na, so eine Überraschung“, sagte das Mädchen, ohne auch nur im mindesten die Stellung zu ändern. Niewarowny schaute sich im Zimmer um. Auf dem Toilettentisch lag eine Damenhandtasche. Er ging zum Tisch und nahm sie an sich. Erst das brachte Janka auf die Beine. „Dazu haben Sie kein Recht!“ Das Mädchen sprang von der Couch auf, lief zu dem Offizier und wollte ihm die Tasche entreißen. „Beruhigen Sie sich.“ Die Stimme des Majors war jetzt nicht mehr höflich wie während der Unterhaltung mit dem Arzt, sie wurde scharf. „Sonst hält Sie Oberwachtmeister Michalak hier fest oder legt Ihnen Handschellen an. Ich habe einen Haussuchungsbefehl und führe meinen Auftrag aus. Sie werden mich nicht daran hindern. Verstanden?“ „Guckt euch den an, wie wichtig der tut. Dabei haben sie ihn in Warschau abgeschoben!“ Der Major reagierte nicht auf diese Beleidigung, er trat an den Tisch und schüttete den Tascheninhalt auf die Tischdecke. Ein Taschentuch, ein Geldtäschchen, Lippenstifte, Parfümfläschchen, ein Notizbuch, ein paar Bleistifte und – ein Rezeptblock. Schon gestempelt. Mehrere Rezepte bereits ausgestellt. „Sehen Sie, Doktor“, sagte Niewarowny, „wie rasch sich der Rezeptblockdiebstahl aufgeklärt hat? Das Institut für Kriminalistik in Warschau hat eine Schriftanalyse gemacht. Die Schrift, in der die gefälschten Rezepte ausgeschrieben sind, wurde mit der Schrift Ihrer Tochter verglichen. Die Schriftproben haben wir uns in der Schule beschafft. Beide Schriften sind identisch.“ „Na und?“ Das Mädchen saß noch immer auf dem hohen Roß. „Wenn ein Delikt von einem Familienmitglied begangen wird, gibt es Strafverfolgung nur auf Antrag des Geschädigten. Sie können mir gar nichts anhaben.“ 144
Doktor Workucki schwieg, doch auf seiner Stirn perlte der Schweiß. Er wischte ihn mit dem Taschentuch ab. „Geben Sie bitte alle Medikamente heraus. Sowohl die noch verpackten als auch die pulverisierten und gemixten, aus denen Sie das herstellen, was Sie ‚Heroin‘ nennen. Oder sollen wir eine gründliche Haussuchung durchführen?“ „Sie haben kein Recht, hier irgend etwas anzurühren und sich einzumischen. Ich darf Medikamente haben, soviel ich will. Und soviel einnehmen, wie ich Lust habe.“ „In solchen Mengen werden sie zu Rauschmitteln.“ „Na und? In Podleśna wissen sowieso alle, wer Rauschmittel nimmt und was für welche. Weder ihr von der Miliz noch eure Staatsanwälte können uns was anhaben. Aus euch mach’ ich mir einen Dreck! Und mit eurer Zwangsentwöhnung könnt ihr uns auch keine Angst einjagen. Warum nicht? Da sind wir wenigstens unter uns. Ohne langweilige Eltern, blöde Mitschüler und noch blödere Pauker!“ „Tja, tut mir leid, Sie wollen uns die Sachen also nicht freiwillig herausgeben, dann werde ich sie eben selbst suchen.“ Der Milizoffizier ging in aller Seelenruhe durchs Zimmer und machte ein raffiniertes Versteck nach dem anderen ausfindig. Auf dem Tisch türmte sich allmählich ein Stapel verschiedenfarbiger Verpackungen. In- und ausländische Medikamente. Leicht erhältliche und andere, die schwer zu beschaffen waren. „So manche Apotheke würde Ihre Tochter um diese Kollektion beneiden, Doktor.“ „Janka, großer Gott, was hast du denn damit gemacht?“ „Das kann ich Ihnen sagen. Sie hat die Tabletten im Mörser zerstampft oder auch in der Kaffeemühle ge145
mahlen. Dann hat sie daraus ein Gemisch bereitet. Die genaue chemische Zusammensetzung ist uns bekannt, weil wir bei dem vergifteten Mädchen auf dem Grund eines Tütchens Reste von diesem Dreckszeug gefunden haben. Die Mischung wurde dann abgepackt und in der Schule als Heroin verkauft.“ „Jetzt verstehe ich auch“ – der Arzt sagte es nicht, er ächzte es förmlich –, „jetzt verstehe ich auch, weshalb mich Janka vor ein paar Tagen nach der Wirkung von Heroin gefragt hat. Sie war erstaunt, daß ich es ihr nicht sagen konnte, ohne vorher ins Buch zu gucken. Dieses Mädchen hat sich also mit Medikamenten vergiftet, die ihr meine Tochter beschafft hat? Janka, ist das wahr?“ „Sie war halt zu blöd. Die ist doch selber schuld. Ich habe ihr genau erklärt, wie sie das Zeug schlucken soll. Und die schluckt gleich die ganze Tüte auf einmal, noch dazu in der Stunde. Und außerdem habe ich nicht gehandelt damit. Ich hab’ nur denen von unserer Truppe was beschafft, die auf Pulver umsteigen wollten. Ich habe nicht verdient daran.“ „Das werden wir noch nachprüfen.“ „Dann prüft es doch nach, meinetwegen bis zur Verdünnung. Euer Gequatsche ödet mich an.“ Fräulein Workucka streckte sich wieder auf der Couch aus. „Laß mich endlich in Ruhe, Vater! Es ist besser, du hältst deine Moralpredigten unten.“ Niewarowny, den eine Mordswut auf das unverschämte Ding packte, tat, als beachte er sie gar nicht. Er setzte sich seelenruhig an den Tisch, holte einen Vordruck für ein Durchsuchungsprotokoll aus der Aktentasche und füllte gemächlich den Zettel aus. Das dauerte eine Weile, weil sämtliche beschlagnahmten Medikamente sowie die Rezepte einzeln aufgeführt werden mußten. Schließlich war das Protokoll fertiggestellt. Der Milizoffizier verlas es laut und wandte sich an den Arzt: „Stimmt das so? Wenn ja, dann unterschreiben Sie bitte!“ 146
Workucki zückte wortlos seinen Kugelschreiber und setzte seine Unterschrift aufs Papier. „Und jetzt Sie, mein Fräulein. Sie dürfen im Protokoll auch bestimmte Erklärungen abgeben.“ „Keine Lust.“ „Na schön. Dann machen wir eine entsprechende Anmerkung, daß nämlich die verdächtige Janina Workucka die Unterschrift verweigerte. Bis der Fall geklärt ist, sind Sie festgenommen. Sie dürfen ein Handtuch, Seife und etwas zum Essen mitnehmen.“ „Herr Major …“, begann der Arzt in flehentlichem Ton. „Ich rühre mich nicht von hier weg, und Sie können mir überhaupt nichts …“ „Zwingen Sie uns nicht, Gewalt anzuwenden.“ „Sieh mal einer an, jetzt wird er auch noch gefährlich, unser kleiner Major.“ Nun hatte Niewarowny die Nase endgültig voll. „Michalak, schließen Sie sie an Ihre Handschelle an, und auf geht’s“, befahl er dem Oberwachtmeister, der bislang starr dagestanden hatte wie die sprichwörtliche Salzsäule. „Komm ja nicht näher, du Schwein, sonst kratze ich dir die Augen aus.“ Der Oberwachtmeister sah den Major fragend an. Niewarowny packte das Mädchen mit einer blitzartigen Bewegung und hielt ihr die Arme fest. „Leg an!“ befahl er dem Oberwachtmeister. Die Handschellen klickten. Die andere Hand des Mädchens hielt der Offizier wie im Schraubstock. Er zwang die Workucka, von der Couch aufzustehen. „Tut mir leid, Doktor“, sagte er, „bedaure, aber wir hatten keine andere Wahl. Sie haben ja selbst gesehen und gehört.“ „Was bist du bloß für ein Vater? Was bist du für ein Mann? Du läßt es zu, daß diese Schweine …“ 147
„O Gott, o mein Gott!“ Workucki sank in einen Sessel und schlug die Hände vors Gesicht. „Sie ist im Rausch“, stellte Niewarowny fest. „Wir halten sie fürs erste mal achtundvierzig Stunden fest, weil ihr zur Last gelegt wird, Rauschmittel verbreitet und Rezepte gestohlen und gefälscht zu haben.“ „Ich als Vater werde nicht gegen sie Anklage erheben“, sagte Workucki. „Wenn sie Ihnen tausend Złoty oder meinetwegen sogar mehr aus der Brieftasche gestohlen hätte, würde die Strafverfolgung nur auf Antrag des geschädigten Familienmitgliedes erfolgen. Hier handelt es sich aber nicht ausschließlich um Diebstahl, sondern auch um Rezeptfälschung. Vom Widerstand gegen die Staatsgewalt und Beamtenbeleidigung ganz abgesehen. Das kann ich Ihrer Tochter persönlich noch verzeihen. Aber auch nur das.“ „Wie schrecklich! Janka, meine Tochter, verhaftet!“ „Vorerst nur festgenommen. Bitte schicken Sie ihr Waschzeug und Verpflegung nach. Auf geht’s.“ Nun wandte sich Janina Workucka widerstandslos zur Tür. Nach den aufregenden Erlebnissen des Tages überkam den Major plötzlich Müdigkeit. Er begab sich jedoch nicht ins Café ‚Marysieńka‘, um einen Kaffe zu trinken. Er wußte sehr wohl, daß viele Stammgäste des Cafés frohlocken würden, daß ‚diesem hochnäsigen Workucki‘ mal eins ausgewischt worden war. Aber er wußte auch, daß er ein gewisses Tabu gebrochen hatte. Bestimmte Kreise von Podleśna würden niemals einem Manne Vertrauen entgegenbringen, der so einen Handstreich gewagt hatte, statt die Sache in aller Stille zu erledigen. Deshalb konnte der Milizoffizier sich zwar freuen, daß er den jugendlichen Süchtigen den Zugang zu ihrem Stoff genommen hatte, aber trotzdem hielt er dieses Ergebnis eher für einen recht fragwürdigen Erfolg. 148
11. Wer mag Milch?
Vom frühen Morgen an herrschte auf der Milizwache in Podleśna reger Betrieb. Unter den verschiedensten Vorwänden kamen die verschiedensten Leute. Und jeder senkte die Stimme zum Flüsterton und stellte den Milizionären die gleiche Frage: „Ist es wahr, daß die Tochter von Doktor Workucki sitzt? Weswegen denn?“ Die Miliz lehnte es ab, irgendwelche Auskünfte zu erteilen. Es kam auch ein Telefonanruf aus der Schule. Die Direktorin versuchte, sich für ihre Schülerin einzusetzen. Sie bat, Janka Workucka freizulassen, die Schule ihrerseits werde schon die nötigen Konsequenzen ziehen. Der Major wies das Ansinnen höflich, aber bestimmt zurück und erklärte trocken, hier handele es sich nicht um einen dummen Schülerstreich, und der Fall gehöre ganz entschieden nicht in den Kompetenzbereich der Schule. Am Nachmittag tauchte in Podleśna der bekannte Warschauer Rechtsanwalt Mieczysław Ruszyński auf, der ein alter Freund von Workucki war. „Ich komme wegen dieser Göre“, sagte Ruszyński, als er sich schließlich im Arbeitszimmer des Kommandanten befand. „Hier habe ich eine Vollmacht von ihrem Vater. Ich weiß nicht, ob mir Workucki alles genau erzählt hat. Was ist das für eine Geschichte? Können Sie die Anschuldigungen präzisieren, die gegen sie erhoben werden, Herr Major?“ Der Major berichtete dem Rechtsanwalt von der Gruppe jugendlicher Rauschgiftsüchtiger und über den Verlauf der Haussuchung bei Doktor Workucki. Er zeigte ihm auch das Protokoll. „Das ist ja eine ganze Apotheke!“ Der Rechtsanwalt griff sich an den Kopf. „Ich kenne das Mädchen schon 149
lange und wußte, daß sie ziemlich verdreht ist. Die einzige Tochter, da hat man ihr von Kind auf alles durchgehen lassen. Aber ich habe nicht angenommen, daß es noch mal so weit kommen würde. Mal ganz privat gesprochen, ich finde es gut, daß endlich mal jemand Janka einen Denkzettel verpaßt. Aber offiziell, als Beauftragter der Familie der Festgenommenen, bin ich hier, um gegen Ihre Maßnahme zu intervenieren. Das Mädchen steht kurz vor dem Abitur …“ „Wir haben auch nicht vor, diesen jungen Leuten das Leben zu verpfuschen. Im Gegenteil, wir bemühen uns, daß alle die Schule abschließen und vernünftige Menschen werden. Eben deshalb mußten wir die Workucka in Gewahrsam nehmen und die weitere Rauschmittelzufuhr unterbinden.“ „Ich versichere Ihnen im Namen der Familie, daß sich Janka nie wieder in einer Apotheke blicken läßt, Herr Major. Sobald das Mädchen auf freiem Fuß ist, wird ein Spezialist sie untersuchen, und falls es sich als notwendig erweist, wird sie zu einer Kur geschickt.“ „Sie wissen selbst, Herr Rechtsanwalt, daß nicht ich allein über den Fall zu entscheiden habe. Janka Workucka hat zwei schwerwiegende Straftaten begangen: Sie hat Rezepte gefälscht und Rauschmittel weitergegeben. Selbst wenn sie das nicht aus Bereicherungsabsichten getan hat, die Tatsache ist nicht zu bestreiten.“ „Da bin ich nicht ganz Ihrer Meinung. Es waren keine Rauschmittel, es waren Medikamente.“ „Ich bin mir bestens darüber im klaren, wie unzureichend unsere Gesetze zur Rauschmittelbekämpfung sind. Möglicherweise wird das Gericht auf Grund des formalen Gesetzes oder vielmehr dessen Nichtvorhandensein diese Anschuldigung für null und nichtig erklären. Ein kriminelles Delikt bleibt unbestreitbar die Fälschung von Rezepten. Außerdem, Herr Rechtsanwalt, ist Ihr Einspruch übereilt. Gestern befand sich 150
das Mädchen in einem durch Rauschmittel hervorgerufenen euphorischen Zustand und war vernehmungsunfähig. Sie wissen ja wohl, wie sie sich zu Hause der Miliz und dem eigenen Vater gegenüber aufgeführt hat. Heute vernehme ich Fräulein Workucka und leite die Akten des Falls weiter. Und dort fällt auch die Entscheidung über das weitere Schicksal der Festgenommenen.“ „An die Milizkommandantur und an die Kreisstaatsanwaltschaft in Ruszków?“ „Nein. Mich hat die Wojewodschaftskommandantur Warschau im Zusammenhang mit dem Verbrechen, das unlängst in Podleśna verübt wurde und von dem Sie bestimmt gehört haben, nach hier abkommandiert, und ihr unterstehe ich unmittelbar. Der Fall wird also dort bearbeitet.“ „Ich verstehe. Deshalb leitet ein Offizier mit so hohem Rang die hiesige Milizwache. Ihre Hauptaufgabe ist es, die Mörder von Kwaskowiak zu finden. Ich habe mich einmal mit Workucki darüber unterhalten. Die Ermittlung ist noch nicht sonderlich erfolgreich gewesen, will mir scheinen.“ „Dafür haben wir bei dieser Gelegenheit andere Straftaten aufgedeckt.“ „Ich habe mich über diesen Mord mit Doktor Workucki unterhalten“, sagte der Rechtsanwalt noch einmal. „Der Mann weiß bestens über alles Bescheid, was in Podleśna so vor sich geht. Seiner Ansicht nach sind die Täter nicht unter den zwielichtigen Elementen und den Rowdys zu suchen, sondern eher unter den wohlhabenden Leuten mit makellos reiner Weste. Mein Freund ist nur in allem, was seine Tochter betrifft, so mit Blindheit geschlagen. Andere Dinge und andere Menschen beurteilt er nüchtern. Sie genießen seine Achtung. In dem Gespräch mit mir betonte er, daß Sie im Protokoll nichts von Widerstand gegen die Staatsgewalt und Beamtenbe151
leidigung geschrieben haben. Das wäre doch noch ein schwerwiegender Vorwurf.“ „Herr Workucki hat ja nur miterlebt, wie sich seine Tochter zu Hause aufgeführt hat. Auf der Straße hat sie noch eine viel bessere Schau abgezogen. Die letzten zweihundert Meter mußte Oberwachtmeister Michalak sie buchstäblich tragen, und ich hielt ihr den anderen Arm fest, damit sie ihm nicht an die Gurgel ging. Und wie sie geflucht hat! So manche alte Säuferin würde sie um das Repertoire beneiden! Dann hat sie noch versucht, die Zelle zu demolieren.“ „Und jetzt?“ „Die Euphorie ist abgeklungen. Sie verhält sich still, aber sie verweigert das Essen. Sie haben ihr von zu Hause so viel Verpflegung hergebracht, daß es für zehn reichen würde. Sie will nicht, bitte sehr. Ein bißchen Hunger hat noch niemandem geschadet.“ „Wie ich sehe, steht es ziemlich ernst um die Sache, und von einer sofortigen Freilassung kann nicht die Rede sein. Um ganz offen zu sein, ich habe es übrigens auch nicht erwartet, und ich bin nur meinem alten Freund zuliebe zu Ihnen gekommen.“ „Wenn Sie ganz ehrlich sind, nach alledem, was sie ausgefressen hat, hätten Sie an meiner Stelle das Mädchen freigelassen?“ „Nein“, antwortete Ruszyński, ohne zu zögern. „Sie muß eine anständige Lehre erteilt kriegen. Was soll denn mal aus ihr werden?“ „Ich bin weder überstreng noch nachtragend, aber ich gebe zu, das Dämchen hat mir ganz schön die Galle ins Blut getrieben. Eines steht fest: Die nächste Nacht bringt sie noch hier zu. Wie es weitergeht, werden wir uns noch überlegen, ich und meine Vorgesetzten. Ich werde ganz bestimmt nicht darauf dringen, daß sie bis zur Verhandlung in Haft bleibt.“ „Auch dafür danke ich Ihnen. Ich hoffe, Sie haben 152
nichts dagegen, wenn ich mit dem Staatsanwalt und vielleicht mit Ihrem Vorgesetzten in der Wojewodschaftskommandantur rede. Der Oberst ist ein guter alter Bekannter von mir, wir kennen uns seit vielen Jahren. Ich achte und schätze ihn sehr.“ „Sie sind Janina Workuckas Verteidiger, und das gehört zu Ihren Pflichten.“ „Es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Major.“ Der Rechtsanwalt verabschiedete sich freundlich von Niewarowny, obwohl seine Mission nicht erfolgreich gewesen war. Auf der Beratung in der Wojewodschaftskommandantur ging es diesmal recht stürmisch zu. Hauptmann Lewandowski und der zu der Sitzung geladene Oberstleutnant der Hauptkommandantur vertraten die Ansicht, bei einem so eindeutigen Rechtsverstoß käme Haftverschonung bei der Verdächtigen gar nicht in Frage. Beide Offiziere begründeten ihren Standpunkt anders. Der Oberstleutnant stellte fest, Rezeptfälschungen wüchsen sich allmählich zu einem allgemein üblichen Vergehen aus, und man müsse scharf durchgreifen, ein abschreckendes Beispiel schaffen. Lewandowski hingegen führte aus, wenn man die Tochter eines so bekannten und einflußreichen Mannes wie Doktor Workucki auf freien Fuß setze, würde das in ganz Podleśna und auch in gewissen Warschauer Kreisen böses Blut machen. Erneut würde dann davon geredet werden, daß die Justiz mit zweierlei Maß messe. Mit dem einen die Kleinen, mit dem anderen die Mächtigen. Zweifellos hatten die Argumente beider Offiziere allerhand für sich. Major Niewarowny hingegen war der Meinung, mit Güte und Überredung könne man manchmal mehr erreichen. „Mir liegt nichts daran, daß Janka Workucka nicht das Abitur ablegt. Wahrscheinlich würde sie es, auch wenn sie auf freiem Fuß wäre, nicht schaffen. Es geht 153
mir aber darum, an die übrigen ‚Rauschgiftsüchtigen‘ heranzukommen. Damit sie wenigstens ein bißchen Vertrauen zu uns haben. Damit sie uns glauben, daß wir nur ihr Bestes wollen. Andernfalls wird nicht mal eine Zwangseinweisung zu einer Entziehungskur etwas ausrichten. Wir haben ihnen bereits vorgeführt, daß die Miliz alles weiß und daß sie rücksichtslos vorgehen kann. Nachdem wir unsere Stärke demonstriert haben, müssen wir nun Verständnis zeigen.“ „Wir können das Verfahren nicht einstellen, wenn ein so klares Delikt vorliegt.“ „Das will ich ja auch gar nicht!“ protestierte Niewarowny. „Ich werde einfach nur sehr lange ermitteln. Die Verdächtige wird unter Aufsicht gestellt. Ich bin persönlich bereit, die Rolle des gesellschaftlichen Bürgen zu übernehmen. Wenn in dieser Zeit das Mädchen ihren Lebensstil ändert, ihr Laster aufgibt und das Abitur besteht, dann wird sie zwar vor Gericht gestellt, aber wir werden selber um ein mildes Strafmaß bitten, eine Strafe auf Bewährung. Wenn ich jedoch keinerlei Besserung feststelle, nehme ich die Workucka wieder fest und übergebe die Akten dem Staatsanwalt. Je besser ich das Terrain kennenlerne, auf dem ich jetzt arbeite, desto mehr festigt sich die Überzeugung in mir, daß Hauptwachtmeister Kwaskowiak ein kluger Mann war. Er hatte recht, wenn er keine herkömmlichen Methoden anwandte.“ „Das ist ja fast eine Erpressung“, bemerkte Lewandowski. „Ich scheue mich nicht, mit Erpressung zu arbeiten, wenn sie zum Ziel hat, jemandes Schicksal zu retten. Natürlich lasse ich das Mädchen nicht heute, sondern erst morgen frei. Soll sie ruhig noch eine Nacht auf der Holzpritsche zubringen.“ „Also?“ fragte der Alte. „Der Major hat sich so heiß für das Mädchen einge154
setzt, daß ich mich geschlagen gebe“, meinte der Oberstleutnant. „Ich muß mich Ihnen fügen“, sagte Lewandowski. „Wir lassen Niewarowny also freie Hand“, entschied der Chef. „Nun, Bronek?“ Der Alte lächelte, als sie allein waren. „Möchtest du nicht lieber wieder in deine Statistik zurück? Wenn du willst, dein alter Schreibtisch wartet auf dich.“ „Hör auf. Mach dich nicht lustig über mich.“ „Du hast so viel vom Vorbeugen geredet, aber du hast nicht gemerkt, daß ich auch ein Anhänger dieser Methode bin und dafür, daß sie soweit wie möglich angewandt wird. Auch gewissen komischen Käuzen von Offizieren gegenüber.“ „Ich danke dir.“ Niewarowny meinte diese Worte ehrlich. „Ich sehe, du bist regelrecht aufgelebt, und das freut mich. Wenn diese unglückselige Geschichte doch nur mal vom Fleck käme!“ „Keine Angst, sie wird! Vielleicht müssen wir noch ein, zwei Monate warten. Wer weiß, vielleicht auch noch länger. Aber sie wird vom Fleck kommen. Es gibt kein perfektes Verbrechen.“ „Du führst doch schon etwas im Schilde. Bist du auf eine neue Spur gestoßen?“ „Sie ist so klein und so unbedeutend, daß du, wenn ich es dir sagen würde, wieder einen Grund zum Spotten hättest. Ich habe aber das Gefühl, daß ich auf dem richtigen Weg bin.“ „Kannst du dir denken, wer Kwaskowiak ermordet hat?“ „Nein, das kann ich nicht. Ich habe keinerlei Anhaltspunkte für einen Verdacht. Ich kenne auch noch nicht das Motiv, obwohl es ein schwerwiegendes Motiv gewesen sein muß. Das alles auszuknobeln wird mich viel 155
Zeit kosten. Aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß ich die richtige Richtung eingeschlagen habe.“ „Denk daran, Bronek, nur keine Mätzchen.“ „Wenn ich mit zertrümmertem Schädel gefunden werde, wirst du wissen, wer das getan hat und warum, das verspreche ich dir. In dieser Hinsicht werde ich vorsichtiger sein als Kwaskowiak. Ich hinterlasse umfangreiche Aufzeichnungen in meinem Schreibtisch.“ „Wäre es nicht doch besser, wenn du es mir gleich sagst?“ „Nein. Ich habe ungeheures Vertrauen zu dir, Alter. Größeres als zu mir selber. Aber wenn ich mich dir heute anvertrauen wollte, dann würdest du das gleiche über mich denken wie dieser überhebliche junge Schnösel.“ Niewarowny nannte keinen Namen, aber der Oberst wußte sehr wohl, wen sein Freund da meinte. „Daß ich es nicht vergesse“, warf der Alte zum Schluß noch ein, „Rechtsanwalt Ruszyński war bei mir. Ich habe ihm nichts Verbindliches gesagt. Außer ihm hat niemand interveniert, obwohl dieser Workucki doch allerhand Beziehungen hat.“ „Das zeugt nur gut von ihm und bestärkt mich noch mehr in meinem Entschluß, Janka auf freien Fuß zu setzen.“ „Tu, was du für richtig hältst.“ Am nächsten Tag befahl Major Niewarowny Wachtmeister Nierobis erst gegen drei Uhr nachmittags, das Mädchen aus der Arrestzelle zu holen. Als Janina Workucka in der Tür zum Arbeitszimmer des Kommandanten erschien, erinnerte sie in nichts mehr an das unverschämte Dämchen vor zwei Tagen. Ihr Gesicht war ein wenig blasser, das Kleid trug Spuren der Übernachtung auf der Pritsche. „Bitte sehr, setzen Sie sich.“ Der Major wies ihr einen 156
Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch an und begann mit der Vernehmung. Diesmal leistete das Mädchen keinen Widerstand mehr. Sie beantwortete mit leiser Stimme die Fragen. Sie gab zu, ihrem Vater die Rezepte aus dem Schreibtisch entwendet zu haben, und ferner, daß die auf diese Weise beschafften Medikamente einer ganzen Schülergruppe ihrer Schule als Rauschmittel gedient hatten. Das einzige, was sie bestritt, war, die Medikamente zu höheren Preisen weiterverkauft zu haben, als sie selbst dafür bezahlt hatte. „Wer hat in eurer Schule Rauschmittel geschnupft, und wer hat andere Narkotika benutzt? Bitte nennen Sie Namen.“ „Werden sie dafür zur Verantwortung gezogen?“ „Nein, weder von den Schulorganen noch vom Gericht. Wir wollen ihnen lediglich behilflich sein, mit dem Zeug Schluß zu machen.“ Das Mädchen nannte elf Namen. „Und die übrigen?“ „Die nehmen ständig was, seit über einem Jahr. Die anderen haben es aus Angabe nur hin und wieder probiert. So wie ich.“ „Ich will Ihnen hier keine Predigt halten oder Ihnen erzählen, daß Sie sich damit Ihre Gesundheit ruinieren. Sie hatten wohl selbst genügend Zeit, darüber nachzudenken, was Sie getan haben und was Ihnen blüht.“ „Ich weiß. Ich komme vor Gericht. Mir stehen ein paar Jahre Gefängnis bevor. Es tut mir leid, daß ich mich zu Hause und später auf der Straße so benommen habe. Ich begreife nicht, wie ich mich so aufführen konnte. Ich war irgendwie fuchsteufelswild. Ich wußte nicht, was ich tat.“ Janina Workucka verstummte. Schließlich sagte sie still: „Bitte, entschuldigen Sie, Herr Major.“ „Mir liegt nicht sonderlich an dem Satz, den Sie da 157
eben gesagt haben. Zu dem Sie sich vielmehr gezwungen haben. Darum geht es nicht. Ich möchte, daß Sie Ihre Handlungsweise wirklich bereuen. Daß Sie verstehen, was Sie sich selbst, Ihren Freunden und Ihren Eltern angetan haben.“ Das Mädchen senkte den Kopf. „Eine Straftat, die einmal begangen ist, kann man nicht mehr rückgängig machen. Das Gericht wird Sie dafür zur Verantwortung ziehen, und Sie werden die Strafe bekommen, die das Gericht eben verhängt. Aber jeder Mensch kann sein Unrecht wiedergutmachen. Ich möchte Ihnen eine Chance dazu geben.“ „Was kann ich denn tun?“ „Lassen Sie uns doch eine Art Vertrag miteinander schließen. Ich setze Sie heute noch auf freien Fuß. Bei Meldepflicht. Einmal in der Woche müssen Sie herkommen und sich in eine Liste eintragen. Und mir auch Ihre Hefte und Zensuren zeigen. Außerdem machen Sie mit den Narkotika Schluß, in welcher Form auch immer. Wenn Sie gut lernen und das Abitur schaffen, versuche ich, den Staatsanwalt zu überzeugen, daß er nicht unbedingt auf Haft plädiert, sondern das Gericht bittet, eine Strafe mit Bewährung auszusetzen. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß Sie sich an meine Vorschläge halten?“ „Sie behandeln mich wie ein Kind.“ „Nein“, widersprach der Major, „wie ein ungezogenes Kind, das für seine Vergehen bestraft werden muß.“ „In der Schule werden sie über mich lachen.“ „Und bisher, haben sie etwa nicht über die ‚Süchtigen‘ gelacht? Sogar die Schüler der unteren Klassen?“ „Ich fürchte, ich werde die Vereinbarung schwer einhalten können.“ „Wir helfen Ihnen dabei. Ich und auch Ihre Eltern. Also, wie ist es?“ „Ich werd’s versuchen.“ 158
Der Major streckte ihr die Hand hin. „Top?“ „Top!“ Das Mädchen lächelte und reichte dem Milizoffizier die Hand. Niewarowny griff zum Telefonhörer und wählte. „Herrn Doktor Workucki bitte. Die Milizwache.“ Als sich der Arzt meldete, sagte Niewarowny: „Hier Major Niewarowny. Wären Sie vielleicht so freundlich, und könnten Ihre Tochter bei uns abholen? – Ja. Wir lassen sie frei. Wir haben mit Ihrer Tochter eine Art Abmachung getroffen. Was für eine? Vielleicht sagt sie es Ihnen selber … Ich glaube aber, es wäre trotzdem gut, wenn sie mit Ihnen zusammen nach Hause ginge. Wir erwarten Sie, Doktor.“ „Es wäre mir lieber, wenn mein Vater nicht herkäme“, bemerkte Fräulein Workucka. „Zum erstenmal im Leben kann ich meinem Vater nicht in die Augen sehen. Ich schäme mich für mein Benehmen.“ „Sie haben wenigstens selbst gesehen, wozu Rauschmittel führen können.“ „Was soll ich ihm sagen, wenn er kommt?“ „Es gibt Worte, zu denen man sich nur schwer durchringen kann, die aber gesagt werden müssen.“ Wenige Tage später erschien Zofia Kwaskowiak auf der Wache. Der Major empfing die Witwe des Hauptwachtmeisters überaus herzlich. Er erkundigte sich nach ihrer Arbeit, nach den Kindern. Er fragte sie, ob er ihr irgendwie helfen könne. Schließlich sagte er: „Haben Sie ein ganz bestimmtes Anliegen an mich, oder haben Sie einfach so aus Freundschaft mal hier hereingeschaut? Ich muß Ihnen nämlich gleich beichten, wir tun zwar, was in unserer Macht steht, aber wir sind noch nicht viel weitergekommen. Der Mörder Ihres Mannes läuft immer noch frei herum, und wir wissen nicht, wer es ist.“ „Mir ist noch etwas eingefallen, und das wollte ich 159
Ihnen sagen, Major. Vielleicht ist es nicht wichtig, aber vielleicht doch …“ „Etwas, was mit den Morgenspaziergängen Ihres Mannes zu tun hat?“ „Ich nehme an, aber ich bin mir nicht sicher.“ „Erzählen Sie.“ „Das muß im August gewesen sein oder noch Ende Juli. Eines Tages kam Władek von seinem Morgenspaziergang zurück, wie Sie es nennen, und beim Frühstück fragte er mich: ‚Sag mal, Zofia, wozu brauchen zwei alleinstehende Leute drei Liter Milch?‘ “ „Drei Liter Milch, fragte er? Wieso?“ „Ich weiß nicht. Er hat es mir nicht erklärt.“ Frau Kwaskowiak schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich gab ihm zur Antwort, vielleicht würden diese Leute ein Schwein oder ein Kälbchen aufziehen. Oder vielleicht wollten sie einfach bloß Käse oder Quark machen. Oder sie würden eben viel saure Milch trinken, es sei ja Sommer.“ „Und was erwiderte Ihr Mann darauf?“ „Er murmelte, diese Leute fütterten kein Schwein. Und Käse würden sie bei einer Bauersfrau kaufen, die brächte ihnen die Sahne, Eier und selbstgemachten Käse ins Haus.“ „Sagte er noch etwas?“ „Nichts weiter. Er aß sein Frühstück, wischte sich den Mund und ging zur Arbeit.“ „Hat er später noch mal etwas von der Milch erwähnt?“ „Nein. Nie wieder. Deshalb hatte ich auch völlig vergessen, es zu erzählen, als mich Hauptmann Lewandowski vernahm. Und auch, als ich mit Ihnen sprach. Erst, als mein Sohn heute erzählte, im Kindergarten wären drei Flaschen Milch kaputtgegangen, fielen mir Władeks Worte sofort wieder ein. Und deshalb komme ich zu Ihnen, Herr Kommandant.“ 160
„Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Mitteilung. Hat Ihr Mann ganz bestimmt die Worte ‚zwei alleinstehende Leute‘ gebraucht?“ „Ja, daran erinnere ich mich genau. Glauben Sie, daß das wichtig sein könnte?“ „Ich weiß es nicht“, erwiderte der Milizoffizier ehrlich. „Ich bin wie einer, dem eine Vase heruntergefallen und in viele kleine Scherben zersprungen ist. Er sammelt diese Splitter auf und versucht sie zusammenzusetzen und zu kitten, um die Vase wieder zusammenzukriegen. Vielleicht ist das solch ein Splitter?“ „Władek macht niemand wieder lebendig. Diese Vase läßt sich nicht mehr kitten.“ „Leider. Aber wir können und müssen den Mörder fassen.“ „Warum er das wohl getan hat? Władek hat hart durchgegriffen, aber er war ein guter Mensch. Er hat die Leute nicht gern eingesperrt oder vor Gericht gebracht, und er half ihnen oft. Sie haben ihn doch nicht wegen dieser Milch umgebracht.“ „Ich weiß es nicht, Frau Kwaskowiak. Ich taste mich im dunkeln vorwärts, prüfe jeden kleinsten Umstand. Jetzt werde ich dieser Sache nachgehen, die Sie mir da gesagt haben. Falls Ihnen wieder etwas einfällt, geben Sie mir bitte sofort Bescheid. Und dieses Gespräch bleibt unter uns, einverstanden? Oder haben Sie schon jemandem von diesen drei Flaschen Milch erzählt? Einer Nachbarin oder einem von meinen Leuten?“ „Nein. Noch niemandem. Der Kleine hatte kaum den Mund aufgetan und von der verschütteten Milch angefangen, da sah ich auf einmal ganz deutlich Władek vor mir und bin sofort zu Ihnen gelaufen, Herr Major.“ „Ausgezeichnet. Sagen Sie es niemandem weiter. Es kann eine wichtige Spur sein, aber wenn es sich herumspricht, Sie wissen ja, dann würde es auch dem Mörder zu Ohren kommen, und der ist sehr gewieft.“ 161
„Ich sage niemandem ein Sterbenswörtchen davon“, versprach Zofia Kwaskowiak und verabschiedete sich von Niewarowny. „Nicht mal dem Pfarrer bei der Beichte.“ Die Frau war gegangen, und Major Niewarowny versank in Nachdenken. Das, was er da gehört hatte, paßte zu seinen noch nicht restlos bestätigten Vermutungen. Es stimmte auch mit Katers Bericht überein. Zwar war jener, den der Major in letzter Zeit verdächtigte, nicht alleinstehend, genauer gesagt, es handelte sich nicht um alleinstehende Leute, aber seit einiger Zeit bewohnten sie tatsächlich zu zweit eine große, komfortable Villa. Weshalb hatten sie einen Mord begangen? Der Major glaubte nun, nach seinen eigenen Beobachtungen und all den Informationen, die er in der Hauptkommandantur der Miliz erhalten hatte, auch darauf eine Antwort geben zu können. Kwaskowiak war auf irgendeine Weise, wahrscheinlich durch Zufall oder dank seinem Scharfsinn auf eine Spur gestoßen. Vielleicht noch nicht mal auf eine Spur, er hatte sich einfach für die Bewohner der schönen Villa zu interessieren begonnen und herauszufinden versucht, was hinter diesen Mauern vor sich ging. Der Hauptwachtmeister hatte es durch theoretische Überlegungen nicht ergründen können. Deshalb nahm er sich vor, das verdächtige Objekt genau im Auge zu behalten. Er ging jeden Morgen in aller Frühe dorthin und stellte seine Beobachtungen an. Manchmal mußte er über eine Stunde daransetzen. Ein andermal wieder genügte ihm ein einziger Blick, und er kehrte nach Hause zurück. Aber wozu brauchte der Betreffende gleich drei Liter Milch? Niewarowny wußte keine Antwort darauf. Seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse reichten nicht aus. Er beschloß, sich in der Hauptkommandantur Klarheit zu 162
verschaffen. Anfangs war Zygmunt Workucki am meisten verdächtig gewesen. Eine Zeitlang hatte der Major geglaubt, wenn der Arzt auch nicht selbst der Mörder sei, so sei er doch irgendwie an dem Mord beteiligt. Gegen den Doktor hatten folgende Tatsachen gesprochen: 1. Er war der Besitzer des grünen Fiat. So einen Wagen hatte der Milchmann Stefan Zborkowski an dem Tag gesehen, an dem Kwaskowiak ermordet worden war. 2. Bei dem Wort Heroin, das der Major einmal äußerte, war Workucki merklich zusammengezuckt. 3. Tadeusz Grepański alias Kater hatte ausgesagt, Kwaskowiak habe sich genau gegenüber der Villa des Arztes hinter einer Kiefer versteckt, als lauere er jemandem auf. Einem Rauschmittellieferanten? Die Ermittlung hatte ergeben, daß nicht Workucki, sondern seine Tochter ihre ‚Truppe‘ mit narkotisierenden Medikamenten versorgt hatte. Der neue Umstand sprach wiederum für Zygmunt Workuckis Unschuld. Kwaskowiak hatte vor seiner Frau ‚zwei alleinstehende Leute‘ erwähnt. In der Villa des Arztes wohnten hingegen fünf Personen: der Doktor, seine Frau, der studierende Sohn, die Tochter Janina sowie die verwitwete Mutter der Frau. Alles in allem eine Personenzahl, die einen Milchverbrauch von drei Litern täglich durchaus rechtfertigte. Der Hauptwachtmeister hatte sein Revier bestens gekannt und konnte sich nicht derart geirrt haben. Im übrigen sah Niewarowny mittlerweile schon jemand ganz anderen in der Rolle des Verdächtigen Nummer eins. Aber vom bloßen Verdacht bis zur Überführung des Verbrechers war es ein sehr weiter Weg. Der Milizoffizier wußte, wie schwer er zurückzulegen sein würde. Vielleicht folgte er auch einer falschen Spur? Dem Major fiel der jüngste Einbruch in der Genos163
senschaft wieder ein. Der Schäferhund Hagel hatte damals lange Zeit ratlos im Dorf herumgeschnüffelt. Einmal hatte er sich sogar aufgesetzt und seinem Herrn durch seinen Blick zu verstehen gegeben, er sei außerstande, etwas zu tun. Der Führer hatte den Hund gestreichelt und beruhigend auf ihn eingesprochen. Dann hatte Hagel wieder begonnen, die Spur zu suchen. Es war ihm nicht leichtgefallen, aber endlich hatte er Witterung aufgenommen. Da war er, ohne zu verschnaufen, losgerannt, so schnell ihn die kräftigen Pfoten trugen, stracks auf das Haus zu, in dem sich die Einbrecher versteckt hielten. Niewarowny konnte und konnte die richtige Spur nicht ausmachen. Deshalb beneidete er aufrichtigen Herzens den schönen Hund um seinen Erfolg.
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12. Der Major geht spazieren
„Guten Tag, Herr Major!“ Der Offizier drehte sich um. Magda Nielisecka kam die Straße herauf und rief ihn schon von weitem. Er blieb stehen und begrüßte das Mädchen. „Aus der Schule?“ „Ja, ich will zu Mama, in den Laden. Sie arbeitet heute nur bis vier. Wir gehen zusammen nach Hause.“ „Was gibt’s denn so in der Schule?“ „Wie immer. Ödes Einerlei.“ „Ist man auf mich sehr böse?“ „Was für ein Gerede das war! Wissen Sie, eine ganze Ärztekommission ist zu uns gekommen, aus Warschau. Sie haben alle Schüler der letzten beiden Klassen untersucht. Manche müssen täglich zum Arzt und in seinem Beisein irgendwelches Zeug schlucken.“ „Hat man nicht über sie gelacht?“ „Am Anfang schon. Aber dann war eine Frau da, mit dem Rang eines Hauptmanns. Sehr sympathisch und einwandfrei. Kennen Sie die?“ „Nein. Man kann nicht gleich alle Leute kennen, die bei der Miliz arbeiten. Sie war bestimmt von der Hauptkommandantur.“ „Sie hat in jeder Klasse gesprochen. Sogar bei uns in der neunten. Dias hat sie auch gezeigt. Über Rauschgifte hat sie uns was erzählt. Ungefähr dasselbe wie Sie. Sehr interessant. Von der Schulbehörde war ein Professor da. Und noch so ein Doktor. Für die Eltern sind Vorträge gehalten worden. Aber ich weiß, daß manche von den ‚Süchtigen‘ weiter Rauschmittel kaufen. Stasiek Nagórski hat es mir gesagt, er hat bei seiner Schwester so’n Zeug gesehen.“ „Ist Janka Workucka sehr ausgelacht worden?“ 165
„Ich glaube nicht. Die läßt sich nicht die Butter vom Brot stehlen. Sie ist ja die Älteste in der Klasse, hat schon die vorige zweimal gemacht. Und davor ist sie auch sitzengeblieben. Vergangenes Jahr, als sie wieder sitzenblieb, wollte sie lieber die Abendschule in Warschau besuchen, aber der Doktor hat ihr’s nicht erlaubt.“ In dieser Unterhaltung begriffen, waren sie bis kurz vor den Genossenschaftsladen gekommen. „Hier muß ich mich von Ihnen verabschieden“, sagte der Major. „Nennen Sie mich doch Magda.“ „Na schön. Bei Gelegenheit trinken wir Brüderschaft. Auf Wiedersehen, Magda.“ „Sie sind schon so lange nicht mehr bei uns gewesen. Wann kommen Sie wieder mal? Vielleicht heute? Ja?“ „Ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen.“ „Das tun Sie ja gar nicht. Mama mag Sie sehr. Ich auch. Mama ist ganz prima. Nicht wahr, sie ist hübsch?“ „Sehr.“ Niewarowny belustigte dieses Gespräch. In jeder Frau steckt ein Stück Heiratsvermittlerin. Selbst wenn sie erst in die neunte Klasse geht. „Also, dann erwarten wir Sie heute.“ „Aber …“ „Kein Aber!“ widersprach das Mädchen energisch. „Ich sage Mama gleich, daß ich Sie eingeladen habe und daß Sie einverstanden waren und kommen wollen. Wie immer, um sieben.“ Das Mädchen betrat den Laden, und der Major kehrte, durch die Begegnung erheitert, auf die Milizwache zurück. Im übrigen war Niewarowny der Gedanke an einen Besuch in der kleinen Wohnung durchaus nicht unangenehm. Frau Nielisecka konnte, wenn sie wollte, eine sehr nette Gastgeberin sein. Und für das Mädchen hatte der Major schon bei der ersten Begegnung Sympathie empfunden. Überdies waren die Abende in Podleśna eintönig. Er wußte nicht, was er mit sich anfangen 166
sollte nach Dienstschluß. Zweimal in der Woche konnte er zwar ins Kino gehen, zweimal nach Warschau fahren, wo er auch in seinen vier Wänden hockte; allerdings war sein Zimmer dort besser eingerichtet, und er hatte interessante Bücher. Aber so ein Leben genügte Niewarowny nicht mehr. Vorbei war die Zeit, da er ein ‚komischer Kauz‘ gewesen war, wie der Oberst es nannte. Ins Café zog es ihn seit dem denkwürdigen Zwischenfall mit Janka Workucka nicht. Er fürchtete, er könnte dort eisig empfangen oder gar zu einem Skandal provoziert werden. So blieb ihm nichts weiter übrig, als sich die langen Herbstabende in dem kleinen Zimmer im Milizgebäude zu vertreiben. Ein Wiedersehen mit Frau Nielisecka kam den Plänen des Majors sogar entgegen. Er mußte ihr ein paar Fragen stellen, deren Beantwortung, wie er meinte, für die weitere Untersuchung sehr wichtig war. Er hatte es jedoch vorgezogen, sich zu diesem Zweck besser nicht im Laden blicken zu lassen. Denn er war inzwischen überzeugt, daß in Podleśna die Wände nicht nur Ohren, sondern auch Augen hatten und mindestens über eine drahtlose Nachrichtenübermittlung verfügten. Hier sah man alles, wußte man alles und kommentierte man alles dementsprechend. Eine Zusammenkunft und ein Gespräch zu Hause, in Podleśna-Ost, waren eine bessere Garantie dafür, daß nichts an die Öffentlichkeit gelangte. Für alle Fälle rief Niewarowny zuvor die Verkaufsstellenleiterin noch einmal an. „Ich weiß, ich weiß“, sagte die Nielisecka lachend. „Magda hat Sie für heute eingeladen. Sie hat von mir einen Rüffel gekriegt, daß sie Sie so in Verlegenheit bringt.“ „Im Gegenteil, ich wollte mich Ihnen nicht aufdrängen.“ „Aber wo denken Sie hin! Es wird mir ein Vergnügen sein.“ 167
„Wirklich?“ „Reden Sie keinen Unsinn. Kommen Sie pünktlich um sieben.“ „Zu Befehl!“ „Also dann, bis bald.“ „Frau Hanka, ich habe eine große Bitte“, sagte wenige Stunden später Niewarowny. „Sie haben doch im Laden bestimmt noch die Durchschläge der Milchlisten. Könnten Sie dort mal nachsehen, wer in der Akazienstraße drei Liter bestellt?“ „Das muß ich gar nicht erst.“ „Und warum nicht?“ „Weil ich es schon getan habe. Im Juni dieses Jahres hat mich Hauptwachtmeister Kwaskowiak darum gebeten.“ „Wie? Und Sie haben uns nichts davon gesagt?“ „Das war schließlich vier Monate vor dem Mord an dem Kommandanten. Ich gebe zu, es war mir völlig entfallen. Erst jetzt, als Sie mir diese Frage stellten, wurde mir mit einem Schlag klar, daß sie mir schon mal jemand gestellt hat.“ „Hat Kwaskowiak Ihnen gesagt, wozu er diese Angaben brauchte?“ „Nein. Er hat mich nur gebeten, nachzusehen, wer drei Liter auf einmal bestellt und wann.“ „Und Sie haben nachgesehen?“ „Natürlich. Mit der Miliz darf man sich’s nicht verderben, besonders wenn man einen Laden leitet. Da kann man immer mal ein Strafmandat aufgebrummt kriegen. Der neue Kommandant hat auch nach einem Anlaß gesucht, mir eins zu verpassen. Aber irgendwie ist es ihm nicht geglückt, trotz allergrößter Anstrengung nicht.“ „Woher wissen Sie?“ Niewarowny lief rot an. „Podleśna ist ein Ort, wo es keine Geheimnisse gibt.“ „Mir liegt aber sehr viel daran, daß meine Frage ein Geheimnis bleibt.“ 168
„Ist das denn wirklich so wichtig?“ „Ich weiß es nicht“, gestand der Major ehrlich. „Aber Sie haben mir meine Frage ja noch gar nicht beantwortet. Wer kauft denn nun drei Liter?“ „Niemand.“ „Wieso niemand? Das ist unmöglich.“ „In der ganzen Akazienstraße, so lang sie ist, haben wir keinen einzigen solchen Kunden. Außer dem Café natürlich, das kauft auch mehr. Aber ansonsten, meist ein Liter. Manchmal zwei.“ „Aber ich weiß ganz bestimmt, daß jemand auch schon drei Liter genommen hat.“ „Nicht ständig. Wenn jemand mal mehr Milch braucht, steckt er einen Zettel in die leere Flasche, und am nächsten Tag bringt dann Zborkowski eine zusätzliche Portion. Abgerechnet wird auf die gleiche Weise. Das Geld liegt unter der Flasche. Außerdem genügt es, bei uns anzurufen und eine Zusatzbestellung aufzugeben. Wir sind hier nicht in Warschau. Wir halten uns an den Grundsatz: Der Kunde ist unser Herr und Gebieter.“ „Werden diese Zusatzbestellungen nicht notiert?“ „Wozu? Ich berechne Zborkowski täglich eine bestimmte Milchmenge. Am Monatsende rechnen wir ab, und er bezahlt mir die Differenz zwischen der von den Bestellern eingezahlten Summe und dem, was er in dieser Zeit an Milch wirklich ausgeliefert hat. Zborkowski ist ein grundehrlicher Mann. Ich komme wunderbar mit ihm zurecht. Ich habe ihm schon vorgeschlagen, auch noch Brot und Semmeln auszufahren. Das wäre doch eine große Erleichterung für die Einwohner unseres Orts. Leider hat Stefanek abgelehnt. Er meinte, das würde zu lange dauern, Milch und Brot auszufahren, es wäre für ihn zu schwer. Vielleicht hat er recht. Es ist sowieso ein Wunder, daß ich ihn gefunden habe. Podleśna ist wahrscheinlich der einzige Warschauer Vorort, wo die Milch ins Haus gebracht wird.“ 169
„Demnach gibt es keinerlei Möglichkeit, zu kontrollieren, wer wieviel Milch bezieht?“ „Nein, keine.“ „Meist nehmen Sie doch die Telefonanrufe entgegen. Erinnern Sie sich vielleicht, wer hin und wieder zusätzlich Milch bestellt, so daß es insgesamt drei Liter ausmacht?“ „Im Sommer oftmals Workucki. Der bezieht normalerweise zwei Liter, aber besonders sonnabends bestellt er mindestens noch einen Liter zusätzlich. Manchmal auch zwei. Am Sonntag hat der Doktor fast immer Besuch aus Warschau.“ „Und die Sawickis, Bełkowski, Frau Rozmarowicz oder Chruścicki oder die Familie Adamkiewicz?“ „Verlangen Sie nicht ein bißchen viel von mir, Herr Major?“ sagte die Verkaufsstellenleiterin lachend. „Ich bin doch kein Untersuchungsoffizier! Die Sawickis nehmen manchmal noch was dazu, Bełkowski nicht, wozu auch? Die sind ja nur zu zweit. Genauso ist es bei Magister Chruścicki. Die Adamkiewiczs beziehen ihre Milch überhaupt nicht bei uns. Wir haben doch nicht das Alleinverkaufsrecht. Die Bauersfrauen aus den umliegenden Dörfern bringen Sahne, Milch, Eier und Käse in die Häuser. Ja sogar Kalbfleisch. Das beeinträchtigt den Umsatz unserer Läden erheblich. Am besten, Sie fragen Zborkowski nach alledem.“ „Lieber nicht. Stefanek macht zwar einen sehr ordentlichen Eindruck, aber ich muß diese Sache streng geheimhalten. Ich weiß, daß ich mich auf Sie, meine Damen, verlassen kann.“ „Auf mich ganz bestimmt“, antwortete Magda todernst. „Ich kann ja nicht hinter meiner eigenen Tochter zurückstehen.“ „Bei dem Milchmann wäre ich mir da nicht ganz so sicher.“ 170
Wieder zu Hause, versuchte Major Niewarowny sich über die Ergebnisse seines Besuchs bei den beiden Damen klarzuwerden, und er mußte zugeben, daß es, was die gesellige Seite betraf, ein gelungener Abend gewesen war. Die Informationen hingegen, die er bekommen hatte, besaßen nur sehr geringen Wert für die Untersuchung. Er hatte schon geglaubt, er sei auf dem richtigen Wege, und nun wieder dieser Mißerfolg. Oberwachtmeister Michalak dagegen konnte über mangelnden Erfolg nicht klagen. Eines Tages brachte er abends eine Flasche ‚Soplica‘ und einen Imbiß an. Er bestand darauf, daß Niewarowny und Wachtmeister Nierobis einmal mit ihm anstießen. Der Major war noch nie Abstinenzler gewesen, obwohl ihn auch noch nie jemand betrunken gesehen hatte, und so wollte er jetzt dem sympathischen jungen Mann keinen Korb geben. Er schickte nur voraus, solange er, Niewarowny, Kommandant dieser Wache sei, so lange würde in diesen Räumen kein Tropfen Alkohol getrunken werden. In einer Privatwohnung sei es etwas anderes. Die drei gingen also in das kleine Zimmer hinüber, das der Major hier bewohnte. Nun füllte Michalak die Gläser und brachte in sehr offiziellem Tone einen Toast auf den Kommandanten aus. Der Offizier wollte sich eben mit einem Toast auf den edlen Spender revanchieren, aber der Oberwachtmeister war schneller: „Auf das Wohl meiner Verlobten!“ Nierobis schien nicht verwundert zu sein, den Major aber überraschte diese Erklärung doch ein wenig. Der Oberwachtmeister berichtete verklärt: „Wenn Sie nicht gewesen wären, Herr Major, ich hätte von Ela nicht mal zu träumen gewagt. Aber Sie haben mich angefeuert, als wir das erstemal zusammen ins ‚Marysieńka‘ gingen. Ich werde bis an mein Lebensende nicht vergessen, wie Sie sagten: ‚Sind Sie vielleicht schlechter als andere? Sind Sie nicht ein junger und gutaussehender Bursche?‘ Da 171
hab’ ich’s halt gewagt. Und nach Ostern ist die Hochzeit.“ „Warum erst nach Ostern und nicht schon zu Weihnachten?“ erkundigte sich Nierobis. „So lange würde ich nicht warten. Bis dahin spannt dir womöglich noch jemand das Mädchen aus.“ „Keine Angst. Auf meine Ela kann ich mich verlassen, besser als auf mich selber.“ „Auf das Wohl des Brautpaars!“ warf der Major ein, um den Streit zu beenden. Es sah ja fast so aus, als wollten seine beiden Untergebenen aufeinander losgehen. Eine große Freude für den Major war der plötzliche Besuch von Doktor Zygmunt Workucki. Der Arzt erschien eines Tages auf der Wache. „Ich habe die ganzen Tage im ‚Marysieńka‘ auf Sie gewartet, Herr Major, aber Sie haben mit diesem Lokal wohl nicht viel im Sinn. Ich komme, um Ihnen für meine Tochter zu danken.“ „Keine Ursache. Und danken Sie nicht mir, sondern meinen Vorgesetzten.“ „Nur nicht so bescheiden, Major! Ich weiß von Rechtsanwalt Ruszyński sehr genau, daß, wenn Sie nicht gewesen wären, das Mädchen bis heute in der Zelle säße. Und das hätte ihr überhaupt nichts geholfen, es hätte sie nur noch mehr hereingerissen. Ich habe zwei Kinder. Mit meinem Sohn hatte ich nie die geringsten Sorgen. Janka war von klein auf ein leibhaftiger Teufel. Ich gestehe, ich hatte sogar Angst, mich zu erkundigen, wie sie sich beträgt. Ich habe es bewußt nicht getan. Von diesen Rezepten habe ich nichts gewußt, mein Ehrenwort. Alles andere habe ich so ungefähr geahnt. Heute ist sie nicht wiederzuerkennen. Sie hat sich bei mir für alles entschuldigt, für alles, was gewesen ist! Sie geht zur Schule, macht ihre Schularbeiten. Und das verdanke ich nur Ihnen, Herr Major.“ 172
Workucki stellte ein wenig verwirrt eine Flasche ausländischen Kognak auf den Tisch. „Das schlagen Sie mir doch nicht ab, Major?“ „Liebster Doktor, wenn ich das annähme, würde man sich in Podleśna gleich erzählen, Niewarowny nimmt Bestechungsgeschenke. Ich kann wirklich nicht.“ „Es kommt aber doch von Herzen.“ „Packen Sie die Flasche bitte wieder ein, und heben Sie sie gut auf, Doktor. Falls ich einmal das Vergnügen habe, Sie zu besuchen, dann trinken wir zusammen ein Gläschen.“ „Einverstanden. Aber ich nehme Sie beim Wort.“ Der Arzt steckte zögernd die Flasche weg. Niewarowny mußte feststellen, daß er auf seinem neuen Posten einige Erfolge errungen habe, die ihn besonders freuten. Das Hauptproblem aber war leider noch immer ungelöst. Ihm blieb nichts anderes übrig, als es mit der gleichen Methode zu versuchen, nach der Hauptwachtmeister Kwaskowiak vorgegangen war, was er mit dem Leben bezahlt hatte. Niewarowny war kein Feigling. Es hatte eine Zeit gegeben, da er im Untergrund, zuerst in der Stadt, dann bei den Partisanen, einem zahlenmäßig um ein Vielfaches stärkeren und weit besser bewaffneten Feind unerschrocken die Stirn geboten hatte. Aber Mut und Draufgängertum sind nicht gleichzusetzen. Der Major wagte das, was seinen Vorgänger das Leben gekostet hatte, aber er beschloß immerhin, sich nicht auf ein Risiko einzulassen. Er besorgte sich in Warschau eine dicke Pelzjacke und eine warme, wattierte Sportmütze. Diesen Aufzug modelte er für seine Zwecke selbst noch etwas um. Von nun an klingelte jeden Morgen um vier Uhr an Niewarownys Bett der Wecker. Der Offizier stand auf, zog sich rasch an und verließ in aller Stille, damit der aufsichthabende Milizionär auf der anderen Seite des 173
Gangs nichts bemerkte, das Haus. Den ‚Fahrplan‘ des Milchmanns kannte er bestens. Deshalb ging er die Himbeerstraße entlang bis zur Rosenstraße, dann die ganze Rosenstraße hinauf bis zum Wald und dort wartete er. Er hörte deutlich den Milchwagen quietschen, sobald dieser die Akazienstraße abfuhr. Wenn er sah, daß Zborkowski bereits in die Birkenstraße einbog, um den nächsten Bezirk und dann die Kunden in der Rosenstraße zu beliefern, schritt der Major die ganze Akazienstraße ab, ohne besonders darauf zu achten, nicht gesehen zu werden, und ohne stehenzubleiben. Wenn ihm jemand zu dieser frühen Stunde hier begegnet wäre, hätte es so ausgesehen, als nähme der Offizier sein Revier in Augenschein. Es war auch eine Besichtigung, aber von besonderer Art. Hätte jemand den Kommandanten aufmerksam beobachtet, so würde er bemerkt haben, daß er, wenn er an den Gartentoren vorüberkam, ausspähte, was vor den Haustüren der ein Stück von der Straße zurückgesetzten Villen stand. Zwar war es um diese Stunde im Dezember noch dunkel, aber eine weiße Milchflasche sieht man sogar nachts. Der ganze Weg vom Wald bis ans Ende der Akazienstraße nahm nicht mehr als zehn Minuten in Anspruch. Niewarownys Morgenspaziergang dauerte, die Verschnaufpause im Wald gerechnet, höchstens eine halbe Stunde. Es gab für den Major keinen Zweifel, daß Hauptwachtmeister Kwaskowiak etwa die gleiche Strecke zurückgelegt hatte, allerdings in wesentlich kürzerer Zeit, weil er näher wohnte und wußte, vor wessen Haustür er die ominösen drei Flaschen zu suchen hatte. Es verging indes ein Tag nach dem anderen, und nichts deutete darauf hin, daß Niewarowny auf der richtigen Fährte war. Niewarowny wußte schon auswendig, wieviel Flaschen vor jedem Hause standen, an dem er vorüberkam. Nie veränderte sich etwas. Offenbar führ174
ten die Bewohner dieser Villen im Winter ein geregelteres Leben und benötigten über das normale Maß hinaus nicht zusätzlich noch Milch. Ein Angler behält stundenlang den Schwimmer im Auge. Ein Jäger, der Schwarz- und Rotwild jagt, wartet mitunter viele Nächte im Hinterhalt auf eine Schußmöglichkeit. Wie oft überhaupt vergebens. Ein Milizionär, der einem Verbrecher auf der Spur ist, gleicht in gewissem Sinne dem Jäger. Er muß auch dessen Ausdauer besitzen. Niewarowny nahm sich seine Mißerfolge nicht allzusehr zu Herzen. Täglich klingelte zur bestimmten Stunde in seinem Zimmer der Wecker. Mittlerweile kannte der Major die morgendlichen Gewohnheiten von Podleśna. Er wußte, daß Stefanek zehn vor fünf die Akazienstraße erreichte. Für die Belieferung der ganzen Straße brauchte er etwa zwanzig Minuten. Dann verschwand der Wagen des Milchmanns in der Birkenstraße, wo an der Kreuzung Rosenstraße eine neue Portion Flaschen auf ihn wartete, die der große Lastwagen aus der Molkerei hier absetzte. Ein Viertel nach fünf konnte der Milizoffizier mit der Besichtigung der Akazienstraße beginnen. Er sprang also nicht mehr um vier aus den Federn, er wurde noch allemal mit dem Anziehen fertig, wenn er den Wecker auf eine dreiviertel Stunde später stellte. Die Akazienstraße war um diese Zeit für gewöhnlich leer. In den knapp zwei Wochen, die der Major morgens hier herumspaziert war, hatte er nie eine Menschenseele getroffen. In den Fenstern der Villen brannte noch kein Licht. Ein Zeichen dafür, daß kein Bewohner dieses Teils von Podleśna um sechs Uhr in Warschau oder Ruszków zur Arbeit sein mußte. Aber … in einem Raum ging stets das Licht an, sobald der Wagen des Milchmanns die Straße passiert hatte. Es war im ersten Stock der Villa von Doktor Zygmunt Workucki. 175
Niewarowny wußte, wem das Zimmer gehörte. Von dort nämlich hatten er und Oberwachtmeister Michalak die wild um sich schlagende Janka Workucka abgeführt. Es war inzwischen Mitte Dezember, und der Major konnte trotz seines täglichen Rundgangs nicht den geringsten Erfolg für sich verbuchen. Sollten die drei Liter Milch, von denen Hauptwachtmeister Kwaskowiak mit seiner Frau gesprochen und nach denen sich der Major auch in der Genossenschaft erkundigt hatte, nur eine Legende sein? Vielleicht aber mußte er sie in einer anderen Straße suchen? Zwar hatte Kater den ehemaligen Kommandanten hinter einer Kiefer lauern sehen, die Workuckis Villa genau gegenüberstand, aber Zborkowski, der Milchmann, hatte Kwaskowiak ja immer aus einer ganz anderen Richtung nach Hause kommen sehen. Der Major hielt auch das nicht für ausgeschlossen. Von Zeit zu Zeit dehnte er seine Spaziergänge auf die benachbarten Straßen aus. Eines stand fest: Wenn die drei Flaschen der Grund für Kwaskowiaks morgendliche Touren gewesen waren, dann hatten sie vor einem Hause stehen müssen, das höchstens zehn Minuten Fußweg von der Wohnung des Hauptwachtmeisters entfernt lag. Dieses Revier müßte er auch im Auge behalten. Da gewahrte der Major endlich eines Tages, als er raschen Schrittes die Akazienstraße durchmaß, auf der Türschwelle einer Villa drei weiße Flecke. Er hielt inne und ging, nachdem er sich unauffällig vergewissert hatte, ob auch ja niemand auf der Straße sei, direkt bis ans Gartentor heran, durch das man das Grundstück betrat. Nein, er hatte sich nicht getäuscht! Es waren die lange ersehnten drei Flaschen! An diesem Tage herrschte ausnehmend schlechtes Wetter. Ein schneidender Wind trug Schauer von Schneeregen heran. Die ganze Akazienstraße war von tiefen Pfützen bedeckt, Niewarowny aber überlief es warm. Endlich hatte 176
er den Beweis erhalten, daß seine Ermittlung auf dem richtigen Wege war, wenngleich er sehr wohl wußte, daß, würde er jetzt die Wojewodschaftskommandantur von seinem großartigen Erfolg benachrichtigen, Hauptmann Lewandowski, ohne auf den höheren Rang seines Kollegen und auf die Gegenwart des Chefs Rücksicht zu nehmen, wahrscheinlich laut losprusten würde. Selbst der Oberst, der ihm wohlgesinnt war, sein alter Freund aus der Jugendzeit, da man noch himmelstürmende und hochfliegende Pläne gehabt hatte, würde entweder erklären: „Bronek, es steht schlecht um dich“ oder aber vielsagend den Kopf schütteln. Trotz alledem hielt Niewarowny diesen Augenblick für seinen größten Erfolg. Wenn nicht im Leben, so jedenfalls innerhalb der letzten fünf Jahre. Noch einmal hatte ihn sein ‚Riecher‘ nicht im Stich gelassen. Noch einmal würde er beweisen können, daß die großen kriminalistischen Laboratorien mit all ihrem aus der ganzen Welt importierten Gerät sich nicht mit der Intuition messen konnten, die die Grundeigenschaft jedes Ermittlungsoffiziers sein mußte. Ja, die drei Milchflaschen standen vor der Tür. Niewarowny war fest überzeugt: Wenn Kwaskowiaks Worte überhaupt einen verborgenen Sinn gehabt hatten, dann waren nur hier und nirgends anders die drei Flaschen zu entdecken gewesen. Er hatte jeden Tag von neuem auf sie gehofft, wenn er seinen – was eigentlich? – Nachtoder Morgenspaziergang absolvierte. Aber jetzt durfte er vor der Tür der bewußten Villa weder zur Salzsäule erstarren noch den freudigen Augenblick allzusehr in die Länge ziehen. Es galt, den zweiten Teil des Plans in die Tat umzusetzen, den er sich zurechtgelegt hatte. Niewarowny ging, ohne zu zögern, rasch bis zur Birkenstraße und bog dort in Richtung der Bahngleise ab. Danach bog er in die Resedastraße ein. Dann ging er über das freie Grundstück bis zu jener Be177
sitzung, wo die Überreste des durch die Nazis niedergebrannten Hauses standen. Es hatte einst einem reichen jüdischen Unternehmer gehört. Während der Besatzung hatten die Faschisten die ganze Familie umgebracht, und in dem herrlichen Haus hatte sich ein Gestapobonze eingenistet. Davor hatte stets eine Wache gestanden, das Zeichen des Totenkopfes an der Mütze. Bevor der Bonze im Januar 1945 mit dem Auto die Flucht ergriff, hatte er eigenhändig sämtliche Zimmer mit Benzin übergossen und, als er die Villa zum letzten Male verließ, ein brennendes Streichholz hinter sich geworfen. Von der herrlichen Residenz waren lediglich zwei etwa drei Meter hohe Wände übriggeblieben. Der Major überlegte: Kwaskowiak war umgekommen, weil er sich vom Gegner aus dem Hinterhalt hatte überraschen lassen. Wahrscheinlich hatte er hinter der gleichen Kiefer gestanden, wo ihn Kater gesehen hatte. Der Angreifer war von hinten an ihn herangetreten und hatte ihm den tödlichen Schlag versetzt. Deshalb mußte er, während er beobachtete, was mit den drei Flaschen weiter geschah, im Rücken gedeckt sein: Er mußte in der Mauerecke des zerstörten Hauses stehen. Zwar war die Sicht von diesem Platz aus schlechter als hinter der Kiefer, doch auch da gab es einen Ausweg. Der Major zog ein kleines, aber scharfes Fernglas aus der Tasche seines Pelzes. Nun sah er trotz der Dunkelheit genau die weißen Flaschen vor der Eingangstür der Villa. Niewarowny wartete sehr lange. Es war fast sieben und begann schon zu dämmern, die Milch aber stand noch immer an ihrem Fleck. Schließlich bemerkte er, daß in einigen Fenstern der Villa das Licht anging und wieder erlosch. Ein Zeichen, daß die Bewohner aufgewacht waren. In der Straße tauchten die ersten Passanten auf. Kater hatte nicht gelogen. Maria Kowalska eilte mit einer Hilfe in den Laden, um die täglichen Einkäufe für das Café zu erledigen. Bei den Workuckis herrschte 178
schon längst reges Leben. Der junge Workucki, Student an der Technischen Hochschule, verließ gegen drei Viertel sieben das Haus und eilte in Richtung Bahn. Er fuhr zu seinen Vorlesungen. Endlich ging die Tür der bewußten Villa auf, die der Major beobachtete. Eine Frauenhand erschien im Türschlitz und nahm die Milchflaschen herein. Wieder verging viel Zeit. Nach etwa dreißig Minuten strebte Fräulein Janka mit der Aktentasche in der Hand der Schule zu. Inzwischen war es ganz hell. Der Milizoffizier begann allen Ernstes zu fürchten, es könne ihn jemand bemerken, wie er hier in den Ruinen lauerte. Das hätte ihm noch gefehlt! Sofort wäre ganz Podleśna auf den Beinen gewesen. Zum Glück war es kalt, das Wetter naß und windig, und niemand schaute sich erst lange in der Gegend um. Jeder guckte vor seine Füße, um nicht im Schlamm zu versinken. Denn wenigstens davon gab es hier im Herbst jede Menge. Niewarowny wußte nicht, ob er noch weiter warten oder sich unbemerkt von seinem Beobachtungspunkt zurückziehen sollte. Endlich fand er, nun habe er schon drei Stunden verloren, da könne er auch noch eine weitere Stunde warten. Er sollte recht behalten. Die Villa besaß unter der Terrasse eine Garage. Offenbar gab es im Innern des Hauses eine Verbindungstür dorthin, denn eben jetzt wurde das Tor weit geöffnet, und aus der Garage schob sich langsam ein Wagen. Er hielt vor der Ausfahrt. Der Besitzer des Hauses stieg aus. Er schloß die Garagentür, ohne sie erst von innen zu verriegeln, machte das zweiflügelige Gartentor auf, setzte sich wieder ins Auto, fuhr damit auf die Akazienstraße hinaus, hielt wieder an, um das Gartentor zu schließen. Jetzt fuhr das Auto die Straße hinunter und entschwand aus Niewarownys Blickfeld. Er hatte jedoch gesehen, daß außer dem Besitzer niemand im Wagen saß. 179
Eigentlich war altes ganz normal und in der richtigen Reihenfolge abgelaufen. Die Hausfrau hatte die Milch hereingeholt. Wahrscheinlich hatte das Ehepaar zusammen gefrühstückt, und dann fuhr der Mann im eigenen Wagen zur Arbeit, nach Warschau. Und dennoch fand Niewarowny, er habe eine große Entdeckung gemacht. Die drei Flaschen Milch mußten bei der ganzen Angelegenheit eine enorm wichtige Rolle spielen. Der Hauptwachtmeister hatte zweifellos ebendieses Haus beobachtet. Daß Kwaskowiaks Verdacht begründet gewesen war – der beste, wenngleich tragische Beweis dafür war sein Tod. Wenn ein Soldat fällt, tritt ein anderer an seine Stelle und führt den Kampf weiter. Major Niewarowny wußte, daß er in diesem Moment den Posten besetzt hatte, der durch Kwaskowiaks Tod frei geworden war. Mit dem Ziel, den von Kwaskowiak begonnenen Kampf gegen die unbekannten Verbrecher zu Ende zu führen. Niewarowny wußte auch, daß die Zeit der Apathie, in der er die letzten Jahre dahingelebt hatte, endgültig vorbei war. Der Mann, der von der Akazienstraße ins Milizgebäude zurückkehrte, war ein anderer geworden.
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13. Ein unverhoffter Verbündeter
„Ich muß Sie leider enttäuschen, Major. Ich habe die ganze Bibliothek durchwühlt. Wir haben uns mit Fachleuten von der Fakultät für Pharmazie der Medizinischen Akademie und von der Chemischen Fakultät der Warschauer Universität konsultiert. Sie sind alle der gleichen Ansicht. Es gibt kein Rauschmittel, zu dessen Herstellung Milch verwendet würde. Aus Milch lassen sich, abgesehen von Käse und Sahne, alles in allem noch Kasein, verschiedene Eiweißleime oder Kunstfasern herstellen. Natürlich wären dazu riesige Milchmengen erforderlich, nicht nur drei Liter. Da kann ich Ihnen nicht helfen.“ Der Oberstleutnant von der Hauptkommandantur der Miliz breitete ratlos die Arme aus. „Ich fürchte, diesmal sind Sie auf falscher Fährte.“ „Trotzdem“, beharrte Niewarowny. „Ich bin sicher, daß Hauptwachtmeister Kwaskowiak täglich dorthin gegangen ist und nachgesehen hat, wieviel Milchflaschen vor der Haustür stehen. Und deshalb wurde er auch ermordet.“ „Möglich, daß Sie recht haben. Aber warum bringen Sie seinen Tod und die drei Flaschen Milch mit Rauschmitteln in Verbindung? Was haben Sie für Anhaltspunkte dafür, Major?“ „So dürftige, daß, wenn ich Sie Ihnen nennen wollte, Sie mich bestimmt auslachen würden. Aber meine Intuition sagt mir, daß ich mich nicht irre.“ „Wir haben in Podleśna schon ein gutes Stück Arbeit geleistet, das verdanken wir Ihnen. Natürlich mache ich mir nichts vor und glaube etwa, alle jugendlichen Rauschgiftsüchtigen hätten schon mit dem verderblichen Laster gebrochen. Trotzdem, wenn es ein paar tun und andere sich davor hüten, den ‚Stoff ‘ erst auszupro181
bieren, können wir schon froh sein. Deshalb weiß ich Ihre Intuition zu schätzen, Major, aber ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.“ Sich seinem Vorgesetzten anzuvertrauen – das ließ Niewarowny von vornherein bleiben. Er wußte, der Alte würde das alles als Hirngespinste bezeichnen. Der Oberst wurde ohnehin schon zusehends nervöser, weil die Ermittlung so lange dauerte und noch nichts dabei herausgekommen war. Der Major wunderte sich nicht über seinen Chef. Bestimmt heizten ‚die oben‘ ihm auch tüchtig ein, daß in der Mordsache Kwaskowiak so gar nichts geschah. Jeder verlangte von seinen Untergebenen, daß sie gute und schnelle Arbeit leisteten, ohne auf die Schwierigkeiten Rücksicht zu nehmen, die auftauchen konnten, wenn man seinen Auftrag erfüllen wollte. Wenn ich sage: das und das ist zu tun, dann hast du es auch zu tun. Wie du es anstellst, das interessiert mich nicht. Im übrigen war der Kommandant von Podleśna durchaus kein besserer Vorgesetzter. Hin und wieder verlangte er von seinen Leuten zuviel. Der Major gestand es sich im stillen selber ein, aber zugleich rechtfertigte er sein Verhalten damit, daß er sich selbst ja auch nicht schonte. „Bei der Bekämpfung des Rauschgiftschmuggels spielt Interpol eine nützliche Rolle“, fuhr der Oberstleutnant fort. „Sie gibt umfangreiche Mitteilungen heraus. Wir sind zwar nicht Mitglied der Interpol, aber Rauschgiftschmuggel und -verbreitung wurde als internationales Delikt anerkannt, und deshalb bekommen wir aus Paris, wo der Sitz dieser Organisation ist, Informationsmaterial.“ Der Oberstleutnant legte eine kleine Pause ein, um sich eine Zigarette anzubrennen. „Die traditionellen Schmuggelstraßen für Opium und Haschisch führen über die Türkei nach Frankreich. Dort 182
existierte eine ganze Untergrundindustrie, die Opium zu Morphium und Heroin verarbeitete. Ein Teil des Stoffs wurde in dieser Form in Europa abgesetzt, hauptsächlich in der Bundesrepublik und in Skandinavien, wo die Rauschgiftsucht in letzter Zeit stark zugenommen hat. Der Löwenanteil der Produktion wurde in die Vereinigten Staaten geschmuggelt.“ „In den Geheimfächern von Autos, ja sogar in Flugzeugen“, ergänzte der Major. „Was das betrifft, sind die internationalen Schmugglerbanden unerhört einfallsreich. Unlängst meldete Interpol, Rauschgiftschmuggler hätten aus gepreßtem Heroin Heiligenfiguren hergestellt. Diese angeblichen Gipsfiguren wurden aus Frankreich in die USA exportiert. Aber in jüngster Zeit geht es den Schmugglern wesentlich schlechter. In allen Ländern ist die Rauschmittelbekämpfung verschärft worden. Die Polizei hat Unmengen Opium und andere gebrauchsfertige Narkotika im Werte von zehn Millionen Dollar beschlagnahmt. Auch die geheime Opiumverarbeitungsindustrie wurde zerschlagen. Die großen Banden machen diese Verluste allerdings bald wieder wett. Besonders, weil die Organisation, die mit Rauschgift handelt, wohl die bestgetarnte der Welt ist. Es ist wahrscheinlich noch nie geglückt, an den Kopf heranzukommen. Meistens schnappt die Polizei die Kuriere, die die heiße Ware weiterleiten, und andere kleine Fische, Leute, die das Zeug bei den Einzelhändlern an den Mann bringen. Trotzdem befinden sich die Schmuggler zur Zeit in Schwierigkeiten, sie versuchen laut Interpol, neue Transportwege von Osten nach dem Westen zu erschließen, und suchen nach neuen Plätzen zur Opiumveredlung.“ „Und der Weg führt unter anderem über Polen?“ „Vielleicht. Die Mitteilungen von Interpol sind schon reichlich durch Fakten belegt. Vor kurzem hat man in Jugoslawien eine Riesenmenge Morphium beschlag183
nahmt, und die bulgarischen Zollbehörden haben vor wenigen Monaten im Autoanhänger von ‚Urlaubern‘, die in die Bundesrepublik wollten, eine geradezu gigantische Ladung Haschisch, und zwar über eine halbe Tonne, entdeckt. Der Wert des Fundes wurde auf über elf Millionen Dollar geschätzt.“ „Wenn man die Villa dieses Herrn auf den Kopf stellen könnte! Ob das nicht so eine geheime Rauschmittelfabrik ist.“ „Das ist wohl ein bißchen Ihr Steckenpferd“, sagte der Oberstleutnant mit leisem Lächeln. „Eine Haussuchung könnten wir schon durchführen, ich fürchte nur, daß nichts dabei herauskommen würde. Selbst wenn wir eine chemische Apparatur finden sollten, ja und? So was darf jeder haben, besonders Ihr Verdächtiger. Wir müßten genau den Zeitpunkt erwischen, zu dem im Labor produziert wird. Aus den Erfahrungen der französischen Polizei wissen wir, daß das kein Kinderspiel ist. Die ganze Apparatur ist so konstruiert, daß man bei Alarm nur einen Hahn aufzudrehen braucht, und es fließt alles mit dem Wasser in den Ausguß.“ Niewarowny notierte sich etwas, als hätten ihn die Worte des Oberstleutnants auf eine Idee gebracht. „Die Rauschmittel, die diese Labors herstellen, werden sofort in kleinen Portionen wieder weggebracht, damit die Fabrik immer ‚sauber‘ ist. Bisher deutet aber nichts darauf hin, daß es bei uns eine derartige ‚Werkstatt‘ gibt.“ „Ist das eine sehr komplizierte Apparatur?“ „Nein, nicht besonders. Wenn man es unbedingt darauf anlegt, kann man, sofern man Opium zur Verfügung hat, auch in einer gut ausgestatteten Apotheke Morphium oder Heroin herstellen. Das wäre allerdings eine ziemlich kostspielige Angelegenheit. Opium enthält ungefähr zehn Prozent Morphium. Mit weniger präzisen Apparaturen würde man höchstens zwei Drittel des Al184
kaloids gewinnen. Mit einer Spezialapparatur dagegen sind die Verluste minimal.“ „Kann jeder bei uns an so eine Apparatur herankommen?“ „Ich glaube nicht. Wir machen so was, natürlich, aber ausschließlich für den Bedarf unserer wissenschaftlichen Institute und Industrielaboratorien, und dort werden keine Rauschgifte hergestellt.“ „Ich glaube aber nach wie vor, daß ich endlich auf dem richtigen Weg bin und das Geheimnis der drei Milchflaschen lüften werde“, beharrte Niewarowny. Doch anderntags stand auf der Türschwelle der Villa eine einsame weiße Flasche. Eine einzige – wie täglich. Der Major ließ sich nicht abschrecken. Morgen für Morgen riß ihn der Wecker aus dem Schlaf. Ob Regen, Schnee oder Frost, Niewarowny trat seinen Spaziergang an. Eines Tages, als er sich leise aus dem Milizgebäude stahl, lief er dem Oberwachtmeister in die Hände. Der Offizier glaubte, sein Untergebener, der Nachtdienst gehabt hatte, schlummere friedlich im Nebenzimmer. Michalak war jedoch fix und fertig angezogen. „Genosse Major“, sagte er, „ich begleite Sie. Das ist sehr gefährlich. Diese Spaziergänge hat Kwaskowiak doch mit dem Leben bezahlt.“ „Und Sie glauben, die schlagen mir auch gleich den Schädel ein, wenn ich frühmorgens in Podleśna mal nach dem Rechten sehe? Sie haben vielleicht Ideen, Michalak. Gehen Sie ans Telefon zurück. Wir würden uns schön in die Nesseln setzen, wenn jetzt aus Ruszków oder aus Warschau ein Anruf käme und auf der Wache wäre keine Menschenseele.“ „Sie bringen sich unnötig in Gefahr, Genosse Major. Man könnte den Dienst ja so organisieren, daß Sie immer jemand begleitet. Zweien tut keiner was. Wir wissen nur zu gut, wie die Geschichte mit dem Hauptwachtmeister ausgegangen ist.“ 185
„Mir passiert schon nichts. Und Sie, Sie gehen an Ihre Arbeit zurück.“ Ob er wollte oder nicht, Michalak mußte auf der Wache bleiben, und der Major begab sich auf seine tägliche Besichtigungstour. Auch diesmal ohne Erfolg. Die einzelne Flasche stand an ihrem Platz. Erst zehn Tage später bemerkte Niewarowny, als er wie immer die Akazienstraße entlangging, drei weiße Flecke. Abermals ein Umgehungsmanöver, und erneut besetzte er seinen Beobachtungspunkt im Gemäuer des ausgebrannten Hauses. Er machte sich darauf gefaßt, wieder lange warten zu müssen. Er hatte recht, denn mindestens anderthalb Stunden dachte gar niemand daran, die drei Flaschen von der Türschwelle zu nehmen. Endlich holte, ähnlich wie beim vorigen Mal, eine Frauenhand sie herein. Auch danach spielte sich alles in der gleichen Weise ab. Die Garage, wurde geöffnet und wieder geschlossen, das Tor zur Straße ebenfalls. Schließlich rollte der alte Wagen in Richtung Hauptstadt. Niewarowny kehrte auf die Wache zurück und begab sich, nachdem er die anfallende Arbeit erledigt hatte, in den Genossenschaftsladen. Er hatte noch gar nicht den Mund aufgemacht, da kam die Verkaufsstellenleiterin schon seiner Frage zuvor. „Falls sich unser berühmter Detektiv noch immer mit der Milchbestellung befassen sollte, so habe ich eine Neuigkeit für ihn. Gestern habe ich persönlich einen Anruf entgegengenommen. Jemand von der Akazienstraße bestellte zusätzlich zwei Liter. Und da er normalerweise nur einen nimmt, ergibt das zusammen drei.“ „Ich weiß genau, wem die Milch geliefert wurde. Es geht mir nur darum, wer angerufen hat, ein Mann oder eine Frau?“ „Eine Frau.“ „Haben Sie sie an der Stimme erkannt?“ 186
„Nein. Ich habe bisher überhaupt kaum mit ihr gesprochen. Telefonisch wahrscheinlich noch nie.“ „Jedenfalls bin ich Ihnen für Ihre Mitteilung sehr verbunden. Jetzt begreife ich etwas, was unerhört wichtig ist.“ „Geheimnisse, die nicht für Frauenohren bestimmt sind?“ „Vorläufig sind sie für niemandes Ohren bestimmt.“ „Sie haben viel von einem Sherlock Holmes an sich. Offenbar haben Sie sich allerhand von ihm abgeguckt.“ „Conan Doyle ist ja auch mein Lieblingsschriftsteller. Sein Held wird uns wohl noch lange als Vorbild dienen. Ich schäme mich nicht, das zuzugeben. Einige überhebliche junge Leute könnten auch noch eine Menge lernen, wenn sie sich die Zeit zu dieser Lektüre nähmen.“ „Und wann stattet uns Sherlock Holmes einen Besuch ab? Magda fragt dauernd nach Ihnen. Heute hab’ ich zu tun, aber morgen sind Sie ein gern gesehener Gast.“ „Gern gesehen von wem? Von Magda oder von Ihnen?“ „Nicht mal die genialsten Detektive sind allwissend“, sagte Frau Hanka lachend. Niewarowny kehrte auf die Wache zurück, schloß sich in seinem Arbeitszimmer ein und dachte lange über die Situation nach. Jetzt wußte er, daß die drei Flaschen Milch nur ein vereinbartes Zeichen waren. Jeder konnte im Genossenschaftsladen anrufen und für den Besitzer des alten Wagens zwei Flaschen Milch zusätzlich bestellen. Der Laden nahm den Auftrag entgegen, und am andern Morgen stellte der Milchmann drei Flaschen auf die Türschwelle. Aber was löste dieses Signal aus? Der Major wußte auch: Das Problem war nicht zu lösen, indem man die Villa beobachtete. Der Besitzer mußte beschattet werden. Wohin fuhr er in seinem Auto? Aber wie sollte man das bewerkstelligen, wenn die 187
Milizwache in Podleśna nicht einmal über ein Dienstmotorrad verfügte? Richtig! Niewarowny tippte sich an die Stirn. Als er den Posten hier übernahm, hatte ihm der Oberst in einer Anwandlung von Großmut einen herrlichen Mercedes für den Dienstgebrauch angeboten. Damals hatte er das Angebot ausgeschlagen, weil er zu Recht annahm, der Leiter einer Ortskommandantur werde mit einem Luxuswagen nicht nur eine lächerliche Figur abgeben, sondern wäre geradezu eine Karikatur. Wie gut könnte er den Wagen heute gebrauchen! Der Major beschloß, seinen Chef an sein Versprechen zu erinnern, sollte er wenigstens einen alten Syrena herausrücken … Außerdem wurde es zusehends schwieriger, diese merkwürdige Ermittlung ohne jede Hilfe fortzusetzen. Alles allein zu machen. Wenn er noch zwei gute Leute von der K hätte … Einen Wagen würde ihm der Oberst vielleicht noch spendieren, aber er würde ihm keinen einzigen Mann mehr zuteilen, ohne zu wissen, zu welchem Zweck er ihn benötigte. Nein, daran war nicht zu denken, Niewarowny indessen verfügte, seine Intuition ausgenommen, über keinerlei Indizien, die für einen Gehilfen sprachen. Das, was er bisher hatte herausfinden können, würde der Oberst als Phantastereien bezeichnen. Der Major seufzte. Er mußte auch weiter allein vorgehen. Am gleichen Tage erschien Janka Workucka auf der Milizwache. Noch ehe sie den Mund auftat, erkannte Niewarowny an ihren geweiteten Pupillen und ihren übertrieben selbstsicheren Bewegungen, daß etwas mit dem Mädchen nicht stimmte. Janke schmiß dem Major lässig die Schulmappe über den Schreibtisch. „Wühlen Sie gefälligst selbst in den Heften, falls es Sie interessiert.“ 188
Der Major beobachtete das Mädchen gelassen und wartete, was weiter geschehen würde. „Ich war zwei Tage nicht in der Schule.“ Niewarowny schwieg. „Ich sage Ihnen noch einmal: Ich war zwei Tage nicht in der Schule und weiß nicht, ob ich überhaupt noch mal hingehe. Ich hab’ das satt. Und Sie auch, Sie mit Ihrer ganzen Patenschaft.“ „Sie haben wieder Rauschmittel genommen“, stellte Niewarowny fest. „Na klar. Ein bißchen Pulver hab’ ich geschluckt, na, was machen Sie nun? Und ich schlucke so lange, wie ich Lust dazu habe. Ihr könnt mich alle mal. Wenn es Ihnen nicht paßt, können Sie mich ja einsperren.“ Die eigenen Worte brachten das Mädchen immer mehr in Rage. Sie wartete offensichtlich auf eine Abfuhr, um in einen hysterischen Anfall ausbrechen zu können. Der Major ließ sich jedoch nicht provozieren. Er stand auf, öffnete die Tür zum Nebenraum, wo die Milizionäre saßen, und sagte: „Wachtmeister Nierobis, ich muß mal für eine Stunde weg. Falls ein Anruf für mich kommt, sagen Sie bitte, sie sollen es später noch mal versuchen. Fräulein Workucka fühlt sich nicht ganz wohl. Wenn sie Hilfe braucht, bringen Sie sie nach Hause. Sie kommt morgen wieder her.“ Der Offizier verließ rasch das Gebäude, und das Mädchen blieb allein zurück. Am nächsten Tag erschien die junge Süchtige wieder. Sie war still, gefaßt und merkwürdig niedergeschlagen. „Ich kann nicht mehr“, klagte sie. „Ich fühle mich so miserabel.“ „Das hängt mit der Entziehung zusammen und geht vorüber. Sie hätten es längst ausgestanden, wenn Sie nicht wieder rückfällig geworden wären. Dabei hatten Sie mir versprochen, nie wieder so ein Dreckszeug zu kaufen.“ 189
„Ich habe ja auch Wort gehalten. Ich hab’ es nirgends gekauft und von niemand bekommen. Sie haben nur nicht richtig nachgesehen in meinem Zimmer. Als ich neulich aufräumte, fand ich noch ein Tütchen von meinem ‚Heroin‘. Am Anfang hab’ ich es nicht angerührt. Im ersten Moment wollte ich es sogar in den Müll werfen. Dann hat es mich immer mehr gelockt, ich wollte wenigstens ein bißchen kosten. Am Ende hab’ ich die ganze Portion auf einmal geschluckt. Wenn ich es nicht gemacht hätte, ich wäre bestimmt durchgedreht.“ „Nun bleiben Sie mal hübsch auf dem Teppich.“ „Ganz ehrlich. In der Schule fühle ich mich nicht wohl. Ich bin die Älteste von allen. Die sind alle noch so naiv. Und die Lehrer? Die behandeln uns wie die Babys. Ich leide an Schlaflosigkeit. Abends schlafe ich zwei, drei Stunden, und dann wache ich wieder auf und kann bis zum Morgen kein Auge mehr zutun.“ „Ich bin mal bei Ihnen vorbeigekommen, als ich nachprüfte, ob die Straßen auch vom Schnee geräumt sind, da habe ich in Ihrem Fenster Licht brennen sehen. Es war noch nicht mal sechs.“ „Ich stehe immer vor sechs auf. Von Kind an. Egal, wann ich schlafen gegangen bin. Aber jetzt ist das ganz was anderes. Ich werde um zwei wach, spätestens um drei.“ „Und außerdem langweilen Sie sich. Zu Hause und in der Schule. Das verstärkt Ihren Appetit auf Rauschmittel noch mehr.“ „Woher wissen Sie das? Wenn ich mein ‚Pulver‘ oder meinen ‚Leim‘ nahm, tat ich das, um über die Langeweile hinwegzukommen. Wenigstens einen Augenblick glücklich sein! Und danach war mir wieder traurig zumute, und ich griff nach der nächsten Tüte. Ich möchte gern Wort halten, aber ich quäle mich sehr. Denen von unserer Truppe, die mit den Rauschmitteln Schluß ma190
chen wollen, geht’s noch viel dreckiger. Wahrscheinlich, weil sie öfter geschluckt haben als ich.“ „Und was bedeutet dieses frühe Aufstehen, vor sechs? Bringen Sie das denn fertig?“ „Da können Sie meine Eltern fragen. Sogar jetzt, wo es um die Zeit noch stockfinster ist, stehe ich auf und mache entweder Schularbeiten, oder ich lese was. Als ich klein war, habe ich Kämpfe ausgefochten, damit ich die Erlaubnis bekam, so früh aufzustehen. Schließlich hat sich meine Mutter mit meinem Lebensstil abgefunden.“ Niewarownys Entschluß stand fest. Eigentlich durfte er „Laien“ nicht mit einer Überwachung betrauen, aber ihm blieb keine andere Wahl. Vielleicht kam das Mädchen auf die Art auch schneller von ihrem Laster los? „Wenn Sie Lust hätten, mir zu helfen“, begann er vorsichtig, „ich hätte da eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe für Sie. Aber es ist eine streng dienstliche Angelegenheit, und Sie müßten es selbst vor Ihren Eltern geheimhalten.“ Das Mädchen lächelte spöttisch. Dieser Milizionär nahm doch tatsächlich an, sie würde ihren Eltern Geheimnisse beichten? Sie beteuerte eifrig: „Auf mich können Sie sich verlassen, Major. Ich sage niemand ein Sterbenswörtchen.“ „Besonders, weil die kleinste Indiskretion für Sie sehr gefährlich werden könnte“, warnte der Offizier. „Sie machen mich immer neugieriger. Worum dreht es sich denn?“ „Von Ihrem Fenster aus kann man die Nachbarvillen sehen, nicht wahr?“ „Nicht ganz. Eigentlich nur die Vorderfront.“ „Haben Sie ein Fernglas?“ „Vater hat irgendwo eins. Ein großes in einer Lederhülle. Ich müßte es suchen.“ „Lieber nicht. Ich gebe Ihnen eins. Ein winziges, das man leicht wegstecken kann.“ 191
„Und mit diesem Fernglas soll ich die Bewohner der Nachbarvilla beobachten?“ Dem Mädchen gefiel die Idee. „Nein, das wäre wohl schlecht zu machen“, erklärte der Major. „Sie sollen ganz einfach, wenn Sie so gegen sechs aufwachen, das Fernglas zur Hand nehmen und nachsehen, ob vor den Villen, die Sie von Ihrem Fenster aus sehen können, Milchflaschen vor der Tür stehen. Es müßten jeweils ein oder auch zwei Liter dastehen. Falls Sie bemerken, daß vor einem Haus drei Flaschen stehen, dann rufen Sie bitte sofort hier auf der Wache an und lassen mich an den Apparat rufen. Egal, um welche Zeit das ist. Ich bin auch ein Frühaufsteher.“ „Sie erlauben sich einen Scherz mit mir.“ „Ich versichere Ihnen, die Sache ist unerhört wichtig für mich.“ „Wieso ist es so wichtig, wer wieviel Milch täglich kauft?“ „In diesem Fall hat das grundsätzliche Bedeutung. Leider kann ich Ihnen im Augenblick nicht mehr sagen. Ich füge nur noch eins hinzu: Seit geraumer Zeit marschiere ich täglich die Akazienstraße entlang und prüfe die Anzahl der Milchflaschen vor den Haustüren nach. Wie Sie sehen, habe ich mehr Vertrauen zu Ihnen als zu meinen Leuten, denen ich diese Aufgabe schließlich auch übertragen könnte. Ich gestehe, bei meinen Besichtigungen habe ich mir manchmal überlegt, warum in Ihrem Haus so zeitig Licht brennt, und zwar in einem Fenster im ersten Stock.“ „Und Sie machen sich wirklich nicht über mich lustig?“ „Mir ist es noch nie so ernst gewesen, Ehrenwort. Ich hoffe sehr auf Ihre Mitarbeit. Aber diese Unterhaltung muß unter uns bleiben.“ „Wenn es sein muß, sehe ich gern nach.“ Niewarowny machte seinen Schreibtisch auf und gab dem Mädchen ein kleines Fernglas. 192
„Ein Theaterglas?“ fragte Janka Workucka. „Schauen Sie mal damit zum Fenster hinaus.“ „Phantastisch! Ich kann ganz genau erkennen, wer dort am anderen Ende die Resedastraße entlanggeht, gleich am Wald.“ Das Mädchen war von dem Schmuckstück entzückt. „Ja, ein Spezialglas. So was kriegen Sie nicht im Laden.“ „Und das darf ich auch niemandem zeigen?“ „Natürlich nicht! Alles, was mit Ihrer Aufgabe zusammenhängt, ist streng geheim. Nun also, kann ich mich auf Sie verlassen?“ „Sie überraschen mich. Trotz des Theaters gestern …“ „Ich möchte Ihnen eben vertrauen, und ich hoffe, daß Sie mich nicht enttäuschen. Es steckt ein guter Kern in Ihnen. Sie sind besser, als Sie glauben.“ „Wann soll ich mit der Arbeit anfangen?“ „Morgen. Wenn Sie nirgendwo die drei Flaschen sehen, dann rufen Sie mich an und sagen nur: ‚Alles in Ordnung.‘ “ „Und wenn ich welche sehe?“ „Dann rufen Sie an und sagen: ‚Ich komme nach dem Unterricht.‘ “ „Soll das eine Parole sein?“ „Ja. Es könnte ja jemand aus Ihrem Haus zufällig unser Gespräch hören. Es darf keinen Verdacht erregen oder irgendwie neugierig machen.“ „Ich verstehe. Ich nehme an, die drei Milchflaschen sind auch irgendeine Parole. Nicht wahr?“ „Ich vermute es, und ich hoffe, es gelingt mir mit Ihrer Hilfe, das Rätsel vollständig zu lösen.“ „Hat die Geschichte mit Kwaskowiaks Ermordung zu tun?“ Das Mädchen, dessen Neugier nun geweckt war, hätte gern etwas mehr erfahren. „Es ist nicht ausgeschlossen.“ Der Major formulierte seine Antwort sehr vorsichtig. „Eben deshalb habe ich 193
Sie gewarnt, daß jede Indiskretion für sie gefährlich werden könnte.“ „Ich habe den Hauptwachtmeister im Sommer mehrmals in unserer Straße gesehen.“ „Um welche Zeit?“ „Sehr früh. Kurz nach fünf. Er lief in Richtung Birkenstraße.“ „In ein paar Tagen beginnen in den Schulen die Weihnachtsferien. Verreisen Sie?“ „Nein.“ „Und Sie werden auch weiterhin vor sechs aufstehen?“ „Ganz bestimmt.“ „Also dann, ab morgen gehen wir an die Arbeit.“ „Zu Befehl, Chef!“ Am nächsten Morgen beobachtete Niewarowny wie gewöhnlich kurz nach fünf die bewußte Villa. Er war kaum in sein Zimmer zurückgekehrt, als der diensthabende Milizionär eintrat. „Ein Anruf für Sie, Genosse Major.“ Der Offizier hob den Hörer ab und vernahm die Stimme des Mädchens: „Alles in Ordnung.“
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14. Ein alter Wartburg
„Wonach steht Ihnen der Sinn, liebster Major? Nach einem Auto? Als ob irgendeine Milizwache in unserer Wojewodschaft einen eigenen Wagen hätte! Allerhöchstens ein Dienstmotorrad! Wenn ich Ihnen einen gebe, habe ich morgen sämtliche Kommandanten auf dem Hals, die mich in Stücke reißen. Jeder wird das gleiche sagen wie Sie, daß er ohne Wagen auf seinem Posten nicht zu Rande kommt. Wenn ich wenigstens wüßte, wozu Sie diesen Syrena brauchen. Im übrigen, wo soll ich ihn überhaupt auftreiben?“ „Vor zwei Monaten haben Sie mir persönlich einen Wagen angeboten. Und nicht einen lumpigen Syrena, sondern einen Mercedes.“ „Allerdings habe ich das. Ja und? Sie hätten eben zugreifen müssen, als ich Ihnen einen geben wollte. Jetzt hab’ ich keinen. Wie steht es übrigens mit der Ermittlung im Fall Kwaskowiak?“ Der Alte wechselte diplomatisch das Thema und ging zum Angriff über. „Ich denke, ich kann schon bald einen detaillierten Bericht mit konkreten Ergebnissen vorlegen.“ „Das höre ich schon seit Monaten.“ „Sie haben mir allseitige Unterstützung bei den Ermittlungsarbeiten zugesagt, Oberst. Dabei kann ich nicht mal ein Auto kriegen. Ich könnte auch drei gute Ermittlungsleute brauchen.“ „Ich finde, der Major sollte einen Wagen bekommen“, warf Hauptmann Lewandowski ein. Niewarowny schaute verwundert zu seinem jüngeren Kollegen. Von dieser Seite hatte er keine Hilfe erwartet. Aber der Hauptmann hatte ein undurchdringliches Gesicht. 195
„Sie setzen sich für Niewarowny ein, weil Sie selber nicht vom Fleck kommen, ich kenne Sie schon.“ Lewandowski erwiderte nichts auf diesen Seitenhieb, sondern erklärte lediglich: „Der Major soll die Ermittlung in Podleśna führen. Ohne das bescheidenste Verkehrsmittel, das ein Auto im Vorstadtverkehr nun mal ist, wird uns die Arbeit sehr erschwert. Zum Beispiel eine Beschattung.“ „Mit euch hab’ ich mir ja was aufgeladen!“ Man wußte nicht, war der Oberst wirklich wütend, oder tat er nur so, weil er bedauerte, den ohnehin nicht allzu üppig ausgestatteten Fuhrpark der Kommandantur noch zusätzlich schmälern zu müssen. „Schön, Niewarowny, du kriegst deinen Wagen. Aber keinen Syrena, so was haben wir nämlich gar nicht. Es kann ein Warszawa sein, aber kein neuer.“ „Hauptsache, er fährt und er hat keine Miliznummer.“ „Gut, du kriegst ihn. Brauchst du nicht noch einen Stern vom Himmel?“ „Nein. Nur zwei gute Ermittlungsleute, die in der Gegend unbekannt sind.“ „Kommt nicht in die Tüte!“ schnitt ihm der Oberst kurz das Wort ab. „Du mußt schon allein fertig werden.“ Der Major bestand nicht darauf. Er fand, er hätte ohnehin Glück gehabt. Eigentlich hatte er nicht mit einem Wagen gerechnet und war entschlossen gewesen, sich irgendwoher ein Motorrad zu borgen. Im Winter wäre das nicht sonderlich schwer gewesen. Wenn es sich gar nicht anders hätte machen lassen, hätte er sogar das Motorrad von Wachtmeister Nierobis genommen. Dabei wurde ihm jetzt ein Warszawa zur Verfügung gestellt. Aber hatte ihn dieser Lewandowski nicht unterstützt, um später beweisen zu können, daß er, Niewarowny, nicht ohne Hilfe der Kommandantur in seiner Ermittlung vorankam? Das tat jetzt nichts zur Sache. Das wichtigste war, daß er ein Auto haben wür196
de. Diesmal hatte sich der Hauptmann in den Finger geschnitten. An dem Tag kehrte der Major mit dem Wagen nach Podleśna zurück. Der Wagen kam den Milizionären bei ihrer Arbeit wirklich zustatten. Man konnte jetzt rasch und häufig ein weites Gelände inspizieren. Niewarowny verlangte aber das eine: Der Warszawa mußte noch vor Anbruch des Abends so gründlich nachgesehen sein, daß er jeden Augenblick startbereit war. Nierobis, der ein Faible für Motoren hatte, brachte die alte, ramponierte Kiste bald wieder so auf Vordermann, daß sie gut und gern mit einem fabrikneuen Wagen mithalten konnte. Tage vergingen. Der Major überwachte anfangs noch seine Gehilfin, doch er kam sehr schnell zu dem Schluß, das sei ganz und gar überflüssig. Täglich klingelte vor sechs in seinem Zimmerchen das Telefon, denn er hatte sich dort zusätzlich einen Apparat anbringen lassen. Sobald Niewarowny den Hörer abhob, sagte das Mädchen: „Alles in Ordnung“ und legte sofort wieder auf. Weihnachten und Neujahr waren vorüber. Erst am vierten Januar hörte Niewarowny Janka Workucka mit höchst erregter Stimme sagen: „Ich komme nach dem Unterricht.“ Das Mädchen konnte nicht an sich halten und fügte hinzu: „Und ich dachte schon, Sie hätten mich ganz gemein reingelegt.“ „Ich verstehe. Vielen Dank. Bitte kommen Sie gegen vier zu mir auf die Wache.“ „Gut, ich komme bestimmt.“ Der Major zog schnell den Pelz über und setzte die unvermeidliche Sportmütze auf. Der Warszawa stand fahrbereit. Er lenkte ihn aus dem Hof und fuhr damit in Richtung Warschau. Niewarowny hatte keine Eile. Er wußte von seinen bisherigen Beobachtungen, daß er viel Zeit hatte. Mindestens eine Stunde. Trotzdem mußte 197
man unverhoffte Dinge einkalkulieren, deshalb wollte er lieber früher an seinem Beobachtungspunkt erscheinen. Der Wagen fuhr durch den Ort und befand sich bald auf der Chaussee nach Warschau. In Izbów bog der Major in eine Seitenstraße ein und stellte den Wagen so ab, daß er alle Fahrzeuge sehen konnte, die aus Podleśna kamen. Jetzt blieb nichts weiter zu tun, als abzuwarten, wie sich die Dinge weiter entwickeln würden. Fast zwei Stunden waren vergangen. Endlich hatte der Major den betreffenden Wagen vorbeihuschen sehen. Er ließ den Motor an und fuhr dem Wartburg hinterher, der der Hauptstadt entgegenrollte. Der Fahrer schöpfte keinen Verdacht, der Wartburg fuhr langsam und machte keinerlei Anstalten, den Warszawa abzuhängen. Auf die Weise erreichten beide Wagen die Stadtgrenze. Erst in der Wolskastraße bog der vordere Wagen links ab. Der Major folgte seinem Beispiel. Aber der Wartburg fuhr nach zweihundert Metern in eine weitgeöffnete Toreinfahrt, wo sich eine Reparaturwerkstatt befand. Niewarowny fuhr weiter und parkte in einiger Entfernung. Es waren noch keine zehn Minuten vergangen, da erschien der Autobesitzer auf der Straße. Er ging die Wolskastraße hinunter. Niewarowny folgte ihm dicht auf den Fersen. Er sah den Mann in die Straßenbahn steigen. Nun fuhr das Auto des Majors neben der Straßenbahn her bis zur Kreuzung der Aleje Jerozolimskie und der Kruczastraße. Hier bog Niewarowny rechts ab und hielt nach reichlich zweihundert Metern. Er hatte sich in seinen Vermutungen nicht getäuscht. Der Mann ging geradewegs zur Arbeit. Als er im Haustor verschwand, kehrte der Milizwagen zu der Autoreparaturwerkstatt zurück. Der Major stieg aus und sah sich vorsichtig in der Gegend um. Durch das offene Hoftor war eine nicht allzu große, aus Ziegeln gemauerte Halle zu erkennen, in der 198
ein paar Motorräder und Wagen zur Reparatur standen. Andere Autos standen noch auf dem Hof. Darunter auch der alte Wartburg. In der Werkstatt und auf dem Hof liefen Mechaniker umher. Der Major las ein Schild: Kraftfahrzeugservice – Ingenieur Adam Godlewski. Niewarowny überlegte kurz. Woher kannte er diesen Namen? War er diesem Ingenieur Godlewski früher schon mal begegnet? Vielleicht war er auch ein ‚Kunde‘ aus den zahlreichen Ermittlungsverfahren der Miliz? Nein, dieser Name war ihm erst unlängst zu Ohren gekommen. Hatte ihn nicht Roman Wiatkowski erwähnt, als er sich brüstete, wie erfolgreich er für eine gewisse Autowerkstatt geworben hatte? Der Major sah sich um. Ein Junge kam die Straße entlang. Er mochte an die zwölf Jahre alt sein. Als er heran war, sprach Niewarowny ihn an: „Hör mal, Junge, ich habe eine Bitte. Geh doch mal in die Werkstatt ’rüber und richte aus, Herr Wiatkowski soll auf die Straße rauskommen, ein Bekannter wartet auf ihn.“ Der Junge erfüllte ihm anstandslos die Bitte. Und als er zurückkam, sagte er: „Der Herr läßt bestellen, er kommt gleich. Sie sollen warten.“ „Danke.“ Der Junge zierte sich ein wenig, dann nahm er aber doch das 10-Złoty-Stück. „Fürs Kino.“ Noch etwa zehn Minuten spazierte Niewarowny auf und ab, von der Ecke Wolskastraße bis zum Tor der Werkstatt, bevor der Schwarze Romek auf die Straße trat. Der war blaß erstaunt, den Milizoffizier hier zu sehen. Er hatte einen von seinen Kumpels vermutet. „Sie wollen zu mir, Herr Major?“ „Ganz recht. Ich habe ein Anliegen an Sie.“ „Für Sie tu’ ich alles, Kommandant.“ „Kennen Sie den alten Wartburg, den Sie vor einer Stunde zur Reparatur hereinbekommen haben?“ 199
„Das möchte wohl sein, daß ich den kenne.“ „Was ist zu machen an ihm?“ „Nicht die Bohne. Der Typ zuckelt mit dieser alten Karre durch die Gegend, dabei könnte der sich nicht nur einen neuen Wagen leisten. Der hat doch Zaster. Ich weiß genau, was ich sage. Für seilte Millionen würde der auch was anderes kriegen. Aber er fährt mit so einer Kiste. Bloß für die Reparaturen hat er schon mehr geblecht, als ihn ein neuer kosten würde. Alle zwei, drei Wochen bringt er uns das Auto zur Durchsicht. Meist total überflüssig. Heute hat er gesagt, wir sollen die Bremsanlage kontrollieren, er behauptet, da haut was nicht hin. Ich hab’s probiert, alles in Butter. Aber den Chef kostet das natürlich ein Lächeln, so für nichts ein paar Hunderter einzustecken, kennt man ja. Und damit der Kunde zufrieden ist, fummelt Prochoń noch ein bißchen am Wagen ’rum und sprüht ihn ab.“ „Was für ein Prochoń?“ „Wojciech Prochoń, Autoschlosser. Versteht seine Sache, das muß man ihm lassen, aber an der Karre gibt es wirklich nichts zu tun.“ „Ist das immer so?“ „’ne alte Kiste, da geht halt mal was kaputt. Den Wartburg übernimmt immer Prochoń, der Typ ist nämlich der Meinung, von Autos versteht bloß Wojtek was. Wojtek hat genauso einen, aber fast neu. Da, der hellgraue, der neben der alten Kiste steht.“ Wiatkowski zeigte auf einen gepflegten Wagen neben dem alten Wartburg. „Wann will der Kunde seinen Wagen abholen?“ „Der bringt ihn uns immer morgens, und wenn er von der Arbeit kommt, nimmt er ihn wieder mit und fährt nach Podleśna. Da ist ja nicht mal für eine halbe Stunde was dran zu tun.“ „Hören Sie, Wiatkowski, mir liegt sehr daran, genau zu erfahren, was heute an dem Wagen gemacht wird. Können Sie mir da helfen?“ 200
Der Schwarze Romek lächelte. „Die Miliz hat wohl keine Bullen mehr?“ „Doch, aber Sie machen das besser und genauer. Hinterm Zaun sieht man schlechter.“ „Und warum soll ich’s machen?“ „Weil ich Sie darum bitte.“ Der Major legte die Betonung auf das Wort ‚bitte‘. „Als Sie mich noch ein Stück brachten, damals, als ich bei Ihnen war, da haben Sie mir versichert, daß ich mich auf Sie verlassen könnte, wenn es drauf ankäme. Deshalb wende ich mich heute an Sie. Wie an einen Bekannten.“ „Für einen andern würde ich keinen Finger rühren, oder ich würde ihn absichtlich in die Pfanne hauen. Aber für Sie, Kommandant, geht das in Ordnung. Aber unter uns. Zu niemand ein Sterbenswörtchen.“ „Daran liegt mir auch sehr viel.“ „Hat der Kerl etwa mit seiner Kiste jemand über den Haufen gefahren und ist dann verduftet?“ Wiatkowski konnte seine Neugier nicht zügeln. „Soll ich das für Sie machen, ohne daß ich weiß, was Sache ist?“ „Ich bin auch nicht viel klüger als Sie. Sie haben ja selbst gesagt, der Mann wäre steinreich. Woher hat er das viele Geld? Es stammt doch wohl nicht aus dem kleinen Geschäft, das er betreibt?“ Hier erschrak der Major ein bißchen – womöglich hatte er schon zuviel gesagt. Aber der Schwarze Romek griff den Gedanken gleich auf. „Ich verstehe. Das Finanzamt interessiert sich für die Kohle. Die wollen dem eine Steuer aufbrummen, daß er nicht mehr aus den Augen gucken kann. Und ihr von der Miliz sollt alles ausbaldowern. Da sind die wohl beim Richtigen gelandet. Ich hab’ auch schon manchmal gedacht, woher der bloß das Heu hat. Dabei ist der Typ geizig, das geht auf keine Kuhhaut. Ich hab’ den mal um zwei Hunderter angehauen und gesagt, ich würde es ab201
arbeiten. Ich würde mal zu ihm in die Garage kommen und ihm zu Hause den Schrotthaufen wieder flottmachen. Denken Sie, der hätte mir das Geld gepumpt?“ „Wann treffen wir uns?“ „Der Kerl kommt gegen drei den Wagen abholen. Um vier?“ „Aber wo?“ „Hier gleich in der Wolska ist so eine Stampe. Lassen Sie einen springen?“ „Einverstanden. Ein Viertelliter steht“, versprach der Offizier. „Na, dann will ich mal wieder. Wir sind grade an einem Opel Rekord dran. Aus Österreich. Der sieht übel aus, und morgen muß der Mann nach Hause zurück. Da wird wohl die Nacht draufgehen dabei. Er hat versprochen, wenn wir ihm den Wagen so weit fertigmachen, daß er wenigstens bis Wien kommt, springt für jeden von uns ein halber Riese ’raus. Und Godlewski hat gesagt, er zahlt uns noch was drauf. Wir bringen dem die Kutsche so wieder auf Vordermann, daß sie besser ist als vorher.“ Als Niewarowny Punkt vier die Schwelle des Lokals betrat, saß Wiatkowski bereits am Tisch. Vor ihm standen ein halber Liter Wodka und zwei große Portionen Hering in Sahne. Und zwei Gläser. „Ich hab’ gleich ’ne halbe Granate bestellt, damit der Kellner nicht zweimal kommen muß“, erklärte der Schwarze Romek. „Auf einen Werktätigen muß man Rücksicht nehmen. Auf Ihr Wohl, Kommandant.“ „Zum Wohl. Aber wenn es geht, ein bißchen leiser. Es müssen ja nicht alle gleich wissen, mit wem Sie hier trinken.“ „Das ist ein Kopf! Auf die Idee wäre ich gar nicht gekommen.“ Wiatkowski hatte wohl vorher schon einen gehoben. „Na, wie ist die Lage?“ fragte der Major nach dem zweiten Glas. 202
„Ich hab’ in dem Wartburg rumgeschnüffelt wie ein Hund. Immer wenn Prochoń rankam, hab’ ich sofort eine Fliege gemacht. Der Wagen war total in Ordnung, wie gesagt. Wojtek hat die Bremse ein bißchen reguliert, und bei der Gelegenheit hat er gleich die Kopfstützen von dem Typ kassiert.“ „Wie ist denn das möglich?“ „Na, so dunkelrote. Die waren fast neu.“ „Der Besitzer hat doch aber gemerkt, daß die Kopfstützen weg waren.“ „I wo, blinder Alarm, gar nichts gemerkt hat der. Er ist mit neuen gekommen und mit schlechteren wieder abgefahren. Es war zwar die gleiche Farbe, aber die von Wojtek hatten Schmierölflecke.“ „Und keine Spuren von einem Zusammenstoß an dem Wagen?“ „Ich hab’ ihn ja nicht gemacht, aber so, von außen, war nichts zu sehen; ’ne Menge Roststellen. Überhaupt, der Schrotthaufen fällt in sich zusammen, wenn man ihn bloß scharf anguckt.“ „Dieser Opel Rekord, den ihr da macht, hat der auch rote Kopfstützen?“ „Nein. Welche aus dem Werk, passend zum Bezug.“ „Repariert Godlewski viele ausländische Wagen?“ „Er hat allerlei so Kundschaft. Das ist ein guter Fachmann, der macht gute Arbeit. Aber wenn ihm so ein Greenhorn unterkommt, wie der Typ aus Podleśna, dann wär’ er ja schön blöd, wenn er den nicht um ein paar Hunderter erleichtern würde. Die Ausländer lassen Reparaturen oder ’ne technische Durchsicht lieber in Polen machen, das kommt die billiger. Wir haben da so ’nen Franzosen. Der ist fast jeden Monat mal in Warschau. Und bevor er wieder zurück nach Frankreich fährt, meldet er sich immer erst in unserer Werkstatt. Zu ’ner Durchsicht. So wie in. Warschau macht ihm keiner seinen Wagen, sagt der.“ „Was für einen fährt er denn?“ 203
„Der wechselt häufig. Neulich fuhr er einen dunkelblauen Volvo.“ „So einen habe ich, glaube ich, in Warschau gesehen. Vor ein paar Tagen. Mit einer französischen Nummer.“ „Das haut hin. Der war vorgestern bei Godlewski. Mit dem hat er ausgemacht, daß er uns morgen seinen Schlitten zur Durchsicht und zum Ölwechsel bringt.“ „Machen Sie den Volvo?“ „Wohl kaum. Ich hab’ die ganze Nacht an diesem Österreicher zu tun. Und wenn der Kerl wirklich einen halben Riesen extra springen läßt, wozu soll ich mich dann schinden? Sechsunddreißig Stunden hintereinander? Ich arbeite doch nicht ständig. Ich gehe bloß mal jobben, ab und an. Diesen Franzosen macht Prochoń selber. Das letztemal hat er ihn auch abgefertigt.“ Der Flasche war bald der Garaus gemacht, ohne daß der Major viel dabei geholfen hätte. Der Schwarze Romek ließ nicht durchblicken, daß er mehr wolle. Im Gegenteil, er sagte als erster: „Für mich wird’s Zeit. Der Opel ist elend zugerichtet. Das reinste Wunder, daß der Mann bei dem Unfall nicht hops gegangen ist. Wenn der keinen Sicherheitsgurt umgehabt hätte, den hätten sie stückchenweise von der Straße aufklauben müssen. Danke für die Spende, Kommandant. Wenn noch was sein sollte, auf Wiatkowski ist Verlaß.“ Der Major zahlte und verließ ebenfalls die Kneipe. In letzter Zeit hatte er Glück, wenngleich die Sache sich als wesentlich simpler entpuppte, als er vermutet hatte. Man wechselte einfach die Kopfstützen aus! Niewarowny zweifelte nicht daran, daß der Volvo, der morgen in Godlewskis Werkstatt aufkreuzen würde, ebenfalls zwei rote Kopfstützen hatte. Der Mechaniker Wojciech Prochoń würde sie abnehmen und die beiden anderen aus seinem Wagen dafür anbringen. Eine technisch sehr einfache Manipulation. Aber je unkomplizierter die Idee, desto schwerer kam man dahinter. 204
Was war das für eine Ware, die da geschmuggelt wurde? Niewarowny konnte es nur vermuten. Das beste wäre wohl, den Franzosen an der Grenze festzuhalten und seinen Wagen gründlich zu durchsuchen. Doch dann würde der Miliz nur ein Kurier, nur ein kleiner, unbedeutender Fisch einer internationalen Bande in die Hände fallen. Seine Verhaftung würde die anderen, großen Verbrecher warnen. Der Major erinnerte sich an die Worte des Oberstleutnants von der Hauptkommandantur, der gesagt hatte, es genüge, einen Hahn aufzudrehen, und schon könne man niemandem mehr etwas beweisen. Es war besser, den Ausländer vorerst ungeschoren zu lassen und nur die Polizei seines Landes zu verständigen, sie möge seine Schritte überwachen. Das wichtigste war jetzt, den ganzen Ring aufzuspüren und ihn gezielt zu zerschlagen, um die Verbrecher auf frischer Tat zu ertappen. Außerdem hatten diese Leute noch erheblich mehr auf dem Gewissen. Sie hatten einen Menschen ermordet, einen Milizionär im Dienst. Auch dieses Verbrechen galt es zu beweisen. Ein vorzeitiges Eingreifen des Untersuchungsapparates würde, so glaubte Niewarowny, die Haupttäter aufstören. Deshalb faßte der Major den Entschluß, niemanden aus der Dienststelle einzuweihen und auch weiter allein zu arbeiten. Er hatte deutlich das Gefühl, die letzte Runde des Spiels sei nahe. Es handelte sich nur noch um Tage, allerhöchstens um ein paar Wochen. Der Milizoffizier war sich bewußt, daß sein Vorgehen nicht unbedingt den Gesetzen und der Dienstvorschrift entsprach. Aber Niewarowny hatte schon so viele Enttäuschungen hinnehmen müssen, so oft waren andere Nutznießer seiner mühseligen Arbeit gewesen, hatten ihren Erfolg und ihre weitere berufliche Karriere darauf gegründet, daß er jetzt alles auf eine Karte setzte. Entweder er würde allein den Sieg davontragen, oder es sollte geschehen, was da wolle – nach ihm die Sintflut. 205
15. Was sah der Milchmann?
Die Tage vergingen. Es ereignete sich nichts Neues. Tag für Tag und unverändert lauteten Janka Workuckas Worte im Telefon: „Alles in Ordnung.“ Dann und wann ließ sich der Major im Café ‚Marysieńka‘ blicken. Man begrüßte ihn höflich, aber reservierter als sonst. Nur der Doktor machte für das pädagogische Talent des Offiziers Reklame und erinnerte ihn ständig an die Flasche Kognak, die bei ihm warte. Wenn er die Sache nüchtern betrachtete, mußte sich Niewarowny selbst eingestehen, daß er, was die von der Bande begangenen Vergehen betraf, über keinerlei Informationen verfügte. Was wurde in diesen Kopfstützen geschmuggelt? Waren es Rauschmittel oder einfach Dollarnoten in die eine Richtung und Goldbarren oder -münzen in die andere? Denn auch diese Art von Schmuggel war in Polen ziemlich verbreitet. Eigentlich stand nur eines außer Zweifel: daß sich in Podleśna die Umschlagstation irgendeiner Schmugglerbande befand. Der Beruf des Villenbesitzers in der Akazienstraße ließ darauf schließen, daß es sich um chemische Erzeugnisse oder um Rauschmittel handelte. Niewarowny nahm unauffällig das ganze Grundstück in Augenschein. Die Villa war nicht allzu groß. Sie hatte höchstens vier Zimmer und Küche. Groß war hingegen die Terrasse, unter der die Garage lag. Dort konnten wohl mühelos zwei Wagen abgestellt werden. Das ganze Haus war unterkellert. Was den oberen Teil des Hauses anging, so hatte sich Niewarowny mit Hilfe seines Fernglases überzeugt, daß sich dort die üblichen Wohnräume befanden. Was aber verbarg sich hinter den kleinen Fenstern im Souterrain? 206
Eines Morgens klopfte es bei Niewarowny. „Herein“, antwortete der Major, sicher, es sei jemand von seinen Leuten. In der Tür stand Stefan Zborkowski, eine Milchflasche in der Hand. „Es ist so ein Sauwetter“, sagte er, „da wollte ich Ihnen die Milch lieber ins Haus bringen, Herr Major. Wozu sollen Sie sich die Mühe machen.“ „Vielen Dank.“ Niewarowny nahm die Flasche und stellte sie auf den Tisch. Zborkowski sah sich um, als wollte er sich vergewissern, ob auf dem Gang auch kein anderer Milizionär mehr sei, dann trat er ein und schloß leise die Tür hinter sich. „Herr Major …“, flüsterte er. „Ja, bitte?“ Niewarowny schien über Stefaneks Gebaren verwundert. „Ich möchte Ihnen was sagen. Etwas sehr Wichtiges. Aber ich habe Angst. Wenn es irgendwer erfährt, verliere ich womöglich meine Arbeit.“ „Diskretion gehört nicht nur zu den Pflichten eines Milizionärs, sondern sie ist ihm angeboren. Reden Sie getrost. Und vor allem, nehmen Sie doch Platz. Möchten Sie eine Zigarette?“ „Nein, danke. Ich bin nur auf einen Sprung da.“ Der Milchmann setzte sich jedoch auf einen Stuhl. „Nun, was haben Sie mir Interessantes zu erzählen?“ „Ich bin ganz zufällig einem großen Verbrechen auf die Spur gekommen, Herr Kommandant.“ „Was für einem denn?“ In Niewarownys Stimme schwang berufliches Interesse mit. „Ich glaube, einem sehr großen …“ „Wo? Wer?“ „Das war nämlich gestern morgen. Ich fuhr wie immer die Milch in der Akazienstraße aus. Als ich die Flaschen bei Ingenieur Bełkowski auf die Treppe stellte, 207
kam es mir so vor, als würde in der Garage Licht brennen. Ich dachte, sie hätten sicher vergessen, es auszumachen. Ich wollte schon weiterfahren, aber irgendwie fiel mir ein, dort hätte sich vielleicht ein Dieb eingeschlichen. Für alle Fälle wollte ich nachsehen. Ich wußte noch, daß an der Hinterfront ein kleines rundes Fenster ist. Ich ging um die Terrasse herum … Sehe, daß ich mich nicht geirrt hatte. In der Garage brannte Licht. Ich gehe näher ’ran, bücke mich, das Fenster ist nämlich ein bißchen tiefer, Herr Kommandant, und wie ich da reingucke, da war ich sprachlos.“ „Ein Dieb?“ „Hundertmal schlimmer. Die haben da ein ganzes Chemielabor, Herr Major. Eine kleine Fabrik. Diffusionsapparat, Kolben, Retorten, eine Rektifikationssäule. Ingenieur Bełkowski und seine Frau, beide im weißen Kittel, arbeiteten was an diesen Apparaten. Ich habe es genau gesehen, das Fenster ist zwar mit schwarzem Papier zugeklebt, aber an einer Stelle ist ein zwei Finger breiter Spalt.“ „Ob sie Schnaps brennen?“ Der Major tat, als nehme er die Mitteilung nicht so wichtig. „Ganz bestimmt nicht. Ich komme vom Lande und weiß, wie man ‚Buschschnaps‘ brennt. Die machen was Schlimmeres.“ „Was kann es denn so Schlimmes geben? Ingenieur Bełkowski betreibt ein chemisches Labor in Warschau, für medizinische Analysen. Vielleicht hatte er zuviel zu tun und stellt einen Teil der Analysen zu Hause fertig?“ „Mit so großen Apparaten? Ausgeschlossen!“ „Ich weiß nicht. Ich verstehe nichts von Medizin.“ „Ich sage Ihnen, Herr Major, an der Geschichte ist was nicht koscher. In Podleśna wird schon lange allerlei getuschelt über Herrn Bełkowski. Niemand weiß, woher er das viele Geld hat. Seinem Söhnchen hat er einen schönen BMW gekauft, und als Andrzej den Wa208
gen nach ein paar Monaten zuschanden fuhr, so daß nichts mehr zu retten war, hatte er drei Wochen später schon wieder einen neuen NSU. Das letzte Modell, mit Wankelmotor.“ „Offenbar ist dieses Labor ziemlich einträglich. Schade, daß ich kein Chemiker bin.“ „Glauben Sie mir nicht, Herr Kommandant?“ „Aber natürlich glaube ich Ihnen, Herr Stefanek. Ich danke Ihnen für die Mitteilung. Bei nächster Gelegenheit frage ich Ingenieur Bełkowski, was er denn da in seiner Garage herstellt.“ „Um Gottes willen!“ rief der Milchmann entsetzt. „Und wieso nicht?“ „Der Bełkowski hat die Augen und Ohren überall. Der würde gleich dahinterkommen, daß nur ich ihn verdächtigen konnte.“ „Vielleicht haben Sie recht. Aber der Ingenieur tut bestimmt nichts Verbotenes. Schließlich und endlich kann jeder sich so eine chemische Anlage kaufen und sich die Zeit mit wissenschaftlichen Experimenten vertreiben. Auf die Art machen oftmals Laien große Erfindungen. Und Bełkowski ist ja nicht mal Laie, er ist Chemiker von Beruf. Wer weiß, vielleicht versucht er in seiner Garage irgendein wichtiges wissenschaftliches Problem zu lösen?“ „Eine Apparatur, wie der sie dort hat, kriegt er in ganz Polen nicht zu kaufen. Das weiß ich genau, ein Verwandter von mir arbeitet nämlich als Pförtner im Labor von ‚Lechia‘ in Warschau. Einmal sonntags hat er mir das Werk gezeigt. Die Maschinen dort sind gar nichts gegen die Apparate in der Garage.“ „Sie machen mich immer neugieriger, Stefanek. Und heute haben sie auch gearbeitet?“ „Ich glaub’ schon, ich habe jedenfalls in dem Spalt unter der Tür einen Lichtschein gesehen.“ „Und durch das Fenster haben Sie nicht geschaut?“ 209
„Nein. Ich hatte Angst. Ich hab sowieso schon Spuren im Schnee hinterlassen gestern. Gut, daß es dann geregnet hat. Vielleicht hat Bełkowski nichts gemerkt.“ „Schade, daß Sie sich nicht ein zweites Mal vergewissert haben. Vielleicht wären Sie daraufgekommen, was sie dort treiben.“ „Wie sollte ich einfacher Mann so was herauskriegen? Wenn wir zusammen hingingen, das war was anderes …“ „Na schön, dann lassen Sie uns gehen.“ „Nein, nicht heute, Herr Major.“ „Und warum nicht?“ „Es ist schon hell. Ist ja inzwischen sieben durch. Jetzt sieht man nichts mehr. Dafür würden die uns entdecken. Aber morgen wäre ein geeigneter Tag.“ „Meinen Sie?“ „Draußen ist’s warm wie im Frühling. Überall taut es mächtig. Jeden Augenblick kann es anfangen zu regnen. Ich hab’ schon lange nicht mehr so einen Januar erlebt. Wenn es einen ganzen Tag ordentlich regnet, ist das bißchen Schnee weg. Es wird eine dunkle Nacht geben, da bemerkt uns keiner. Spuren hinterlassen wir auch nicht. Und die drehen da ein großes Ding, Herr Kommandant. Ich hab’ eine Nase für so was. Sie können sich ja selbst überzeugen, und dann sind Sie mir bestimmt dankbar. Vielleicht springt sogar eine Belohnung für mich heraus, wer weiß? Ich bin sicher, daß Sie den Zborkowski nicht vergessen, wenn es zur Sache kommt.“ „Ich vergesse Sie auf gar keinen Fall. Wenn es nur wirklich was ist, wofür wir eine Belohnung einstecken können. Die käme uns ganz zustatten, Ihnen und mir auch.“ „Zu zweit macht sich so was immer besser. Mit Ihnen, Major, hätte ich keine Angst. Sie gucken durchs Fenster, was die da treiben, und ich stehe Schmiere.“ „Eine glänzende Idee“, pflichtete Niewarowny bei. 210
„Nicht wahr? Wir gehen noch vor fünf hin“, schlug der Milchmann vor. „Weshalb denn so früh?“ „Das ist die beste Zeit für solche Spaziergänge wie zu Bełkowski, Herr Major. Nacht, dunkel, niemand auf der Straße. Die fühlen sich in ihrem Laboratorium absolut sicher. Und wir beobachten sie. Wenn Sie sich überzeugt haben, was die da machen, könnten wir sie ja in der nächsten Nacht auf frischer Tat ertappen. Dann wäre mir alles egal, sogar wenn die Leute erfahren, daß ich als erster die Miliz benachrichtigt habe.“ „Ein guter Plan. Ich bin einverstanden. Ja, dann um fünf?“ „Jawohl, Herr Major. Ich komme mit meinem Wagen aus der Birkenstraße. Wir treffen uns an der Kreuzung Birken- und Akazienstraße.“ „Und wird uns auch keiner sehen dort?“ „Wer soll uns schon sehen? Um die Zeit ist ja noch niemand auf der Straße. Und wenn, dann ist doch alles klar: Ich fahre die Milch aus, und Sie, Herr Major, sind gerade auf Streife und schauen nach dem Rechten. Da wird sich niemand dran stören. Was anderes ist es, wenn uns einer auf einem fremden Grundstück sieht. An der Straße des fünfzehnten Dezember, gleich an der Ecke, ist ein freies Grundstück. Wenn Sie in der Akazienstraße sind, warten Sie am besten dort. Wenn ich dann die Birkenstraße verlasse, brauchen Sie nur an ein paar Häusern vorbei, um mich zu treffen. Rein zufällig zu treffen.“ „Das haben Sie schlau ausgetüftelt“, lobte Niewarowny den Milchmann. „Seit zwei Tagen grübele ich darüber nach, was ich machen soll, Herr Kommandant. Ich hab’ es schon mächtig bereut, daß ich überhaupt in diese Garage geguckt habe. Immer bist du so blöd und steckst deine Nase in anderer Leute Angelegenheiten, sagte ich mir. 211
Jetzt hattest du wohl auch wieder nichts Besseres zu tun! Aber schließlich habe ich mich dazu durchgerungen und finde, daß es meine Pflicht war, die Miliz zu verständigen, wenn es auch nicht schön ist, jemanden anzuzeigen.“ „Sie haben absolut recht“, beschwichtigte der Major Zborkowskis Zweifel. „Sie haben ganz recht daran getan, zu mir zu kommen.“ „Aber, Herr Kommandant, ich bitte Sie noch einmal, halten Sie es geheim. Auch vor Ihren eigenen Leuten. Was Michalak weiß, das weiß auch gleich Fräulein Ela aus dem ‚Marysieńka‘. Und nach ihr ganz Podleśna. Das würde uns die Tour vermasseln. Und wir würden nicht das kleinste Reagenzgläschen finden bei Bełkowski. Binnen einer halben Stunde hätte der die ganze Fabrik aufgelöst.“ „Glauben Sie wirklich?“ „Na, es ist doch eine Kleinigkeit, einen Hahn aufzudrehen und alles in den Ausguß laufen zu lassen! Die Apparate abzubauen und sie fortzuschaffen oder in einem Winkel zu verstecken. Selbst wenn die Miliz die später finden würde, die könnten dem Mann gar nichts anhaben. Sie haben ja selber gesagt, jeder darf chemische Apparate haben. Den muß man bei der Arbeit überraschen. Sonst können Sie diesem Herrn Ingenieur nichts beweisen. Der ist ein Fuchs.“ „Was meinen Sie, was stellt er dort wohl her?“ „Ich habe keine Ahnung.“ „Vielleicht Rauschgift?“ suggerierte der Offizier. „Wir hatten geglaubt, wir hätten den jungen Süchtigen sämtliche Quellen abgeschnitten, wo sie sich mit ‚Stoff ‘ versorgen konnten, und jetzt erfahre ich, daß manche noch weiter verschiedenes Zeug schlucken. Womöglich kaufen sie es bei Bełkowski, wer weiß?“ Der Milchmann sah auf die Uhr. Es war schon nach sieben. 212
„Morgen um diese Zeit werden Sie alles wissen. Vielleicht ist es Rauschgift? Ich bin zu dumm dafür. Aber für mich wird es Zeit. Ich muß noch die restliche Milch ausfahren. Ich bin sowieso schon spät dran heute.“ „Haben Sie nochmals vielen Dank. Also dann, morgen um fünf?“ „Um fünf“, bestätigte Stefanek, „aber pssst!“ Der Milchmann klinkte vorsichtig die Tür auf, schaute hinaus und verließ, nachdem er sich überzeugt hatte, daß niemand auf dem Gang war, leise das Milizgebäude. Der Besuch des sympathischen Mannes versetzte den Major in eine glänzende Stimmung. Er hatte bewiesen, daß Niewarowny in seiner Annahme nicht fehlgegangen war. Die Zeit der letzten Auseinandersetzung mit der Bande und der Augenblick, wo er Kwaskowiaks Mörder festnehmen würde, war gekommen, der Kreis geschlossen. Niewarowny kannte das letzte Kettenglied. Er wußte auch, wie die Ereignisse des nächsten Tages ablaufen würden. Mutig, aber ohne unnötiges Risiko bereitete er sich darauf vor. Er war sich bewußt, daß die schwierigste Rolle bei dieser Operation niemand anders als ihm zufallen werde. Er durfte auf Hilfe rechnen, aber sie würde darauf beschränkt sein, daß seine Befehle befolgt wurden. Das Kommando über den Ablauf mußte in seiner Hand bleiben. So schritt Niewarowny denn noch einmal bei Tageslicht das ganze Gelände um die Akazienstraße ab. Dann reinigte er lange seine Pistole. Dieses Stück Metall lag seit sechs Jahren unbenutzt. Und die Waffe unter der Achsel hervorzuziehen hatte er seit seiner Untergrundarbeit im Krieg nicht mehr praktiziert. Auch das galt es, jetzt zu trainieren, damit die Hand die einstige Sicherheit wiedergewann. Um zehn Uhr abends meldeten sich zwei Milizionäre beim Major: Wachtmeister Nierobis und Wachtmeister Andrzej Sadowski. Der Kommandant überprüfte persön213
lich den Zustand ihrer Waffen. Dann gingen sie alle drei auf Streife. Sie schritten die Himbeer- und die Rosenstraße ab und kehrten durch die Akazienstraße wieder zur Wache zurück. Unterwegs gab der Major seinen Leuten genaue Anweisungen für den nächsten Tag. Man mußte mit Überraschungen rechnen. Selbst mit den schlimmsten. Bis in die späte Nacht hinein schrieb Niewarowny an seinem Bericht für den Oberst. Darin legte er im einzelnen die bisherigen Ergebnisse der Ermittlung dar. Das Dokument wurde mit der Aufschrift ‚geheim‘ versiegelt und der Umschlag mit dem Hinweis versehen: Im Falle meines Todes oder Verschwindens zu Händen des Wojewodschaftskommandanten persönlich. Dann legte der Major den Brief ins Postbuch für Mitteilungen an die Wojewodschaftskommandantur. Der diensthabende Milizionär mußte es am andern Morgen finden und an die angegebene Adresse weiterleiten.
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16. Ein Schlag, der nicht traf
Es war eine stockfinstere Nacht. Stefan Zborkowski hatte recht gehabt mit seiner Behauptung, der Regen werde die letzten Schneereste wegspülen. Jetzt, in der Frühe, gegen fünf, hatte es aufgehört zu regnen, aber bis zum Morgengrauen war es noch lange hin. Offenbar hatten die Bewohner von Podleśna den Milchmann darauf aufmerksam gemacht, daß sein Wagen entsetzlich quietschte und die Leute aus dem Schlaf riß, denn diesmal waren die Räder frisch geölt und rollten lautlos. Als der Milchmann aus der Birkenstraße kam und am Gartentor vor der ersten Villa in der Akazienstraße anhielt, löste sich plötzlich vom Bretterzaun an dem leeren Grundstück ein Schatten, und Niewarowny war, mit dem unzertrennlichen Pelz und der Mütze angetan, in wenigen Schritten am Wagen. „Guten Morgen“, grüßte er, „da bin ich, wie verabredet.“ „Guten Morgen“, antwortete Zborkowski leise, „eine gute Zeit. Dunkel, man sieht die Hand nicht vor Augen. Bestimmt sind sie schon bei der Arbeit. Spazieren Sie ein bißchen die Birkenstraße entlang, Kommandant. Ich fahre weiter die Milch aus, und wenn ich bei Bełkowskis Haus angelangt bin, sehe ich nach, ob alles in Ordnung ist, und hole Sie.“ „Ausgezeichnet“, willigte der Offizier ein. Fünf Minuten später war Zborkowski zurück. „Alles in Ordnung“, erklärte er. „In der Garage brennt Licht.“ „Haben Sie durchs Fenster geschaut, arbeiten sie?“ „Nein, ich bin gar nicht erst rangegangen. Ich habe die Flasche vor die Haustür gestellt. Aber in dem Spalt unter der Garagentür ist ganz deutlich ein Lichtstreif zu sehen.“ 215
Lautlos erreichten sie Bełkowskis Grundstück. Das Gartentor, das hineinführte, stand offen. Der umsichtige und gewitzte Stefanek hatte es offenbar absichtlich nicht zugemacht. „Ich sehe nichts“, sagte der Major. „Leiser“, sagte der Milchmann aufgeregt. „Verzeihung“, flüsterte der Offizier. „Gucken Sie nach unten, unten an der Garagentür“, antwortete gleichfalls flüsternd Zborkowski. „Es brennt!“ Niewarowny bemerkte einen hellen Streifen dicht am Beton der Garageneinfahrt. Einen sehr schwachen, aber trotz der kompakten Tür deutlich erkennbaren Schein. „Ich gehe vor“, bot sich Zborkowski an, „und Sie kommen hinterher. Aber seien Sie vorsichtig!“ Wie zwei Geister glitten sie in den Garten. Zborkowski schlich mit tastenden Schritten, um nicht irgendwo anzustoßen, auf die Terrassenwand zu. Niewarowny folgte ihm dicht auf den Fersen. Sie blieben stehen, im Schutze der über zwei Meter hohen Terrassenwand. Genau darunter befand sich die geräumige Garage mit dem geheimnisvollen Laboratorium. „Wir müssen sie umgehen. Das Fenster liegt auf der Gartenseite“, erklärte der Milchmann flüsternd. Sie horchten einen Augenblick. Es war still, als läge das Haus ausgestorben. „Gehen wir.“ Zborkowski hakte den Major unter, und sie schoben sich sehr langsam an der Wand entlang. So kamen sie an der Hausecke an. Der Milchmann streckte vorsichtig den Kopf vor. Er erkundete das Gelände. Aber überall war es still. Wieder schoben sie sich ein paar Schritte vorwärts. Ein Meter über der Erde lag ein ziemlich großes ovales Fenster. Es war tatsächlich von innen mit schwarzem Papier verklebt. An einer Stelle war die Verdunkelung zerrissen. In dem Spalt leuchtete helles Licht. 216
Zborkowski bückte sich zu dem Fenster hinunter und beobachtete lange den Raum. Schließlich richtete er sich auf, kam dicht an Niewarownys Ohr heran und sagte: „Sie sind da. Sehen Sie selbst.“ Niewarowny beugte sich hinab. Im selben Moment hörte er einen unterdrückten Schrei und das dumpfe Aufschlagen stürzender Körper. Er richtete sich blitzschnell auf und drehte sich um, die Pistole in der Hand. Am Boden wälzten sich im verzweifelten Kampf zwei zuckende Leiber. Von einem Baum in der Nähe löste sich ein Schatten und sprang in Riesenschritten zur Villa. Der Major wußte, das war Wachtmeister Nierobis, der tat, was er ihm aufgetragen hatte. Aber wer war der Mann, der ihm so unverhofft zu Hilfe geeilt war und bewirkt hatte, daß es zu dem Schlag, der ihn treffen sollte, überhaupt nicht kam? Hinter der Terrassenmauer sprangen noch zwei Männer hervor und griffen in den Kampf am Boden ein. Der Verbrecher war ein starker, gut durchtrainierter Mann. Die Regeln des Ringkampfes waren ihm nicht unbekannt. Aber gegen diese vier Männer und einen fünften, der den Pistolenlauf schußbereit auf ihn gerichtet hielt, hatte er keine Chance. Die Handschellen klickten. Stefan Zborkowski stand jetzt mit gefesselten Händen an der Garagenwand. In dem Mann aber, der sich als erster auf den Verbrecher gestürzt hatte, erkannte der Major zu seinem größten Erstaunen Hauptmann Lewandowski. Er war in Begleitung zweier Kriminalisten von der Wojewodschaftskommandantur. „Sie hier, Hauptmann?“ Niewarowny konnte sich diese Frage nicht verkneifen. „Ein Glück, daß ich noch rechtzeitig da war. Eine Sekunde später, und Sie hätten das Schicksal von Hauptwachtmeister Kwaskowiak geteilt. Das war unerhört leichtsinnig von Ihnen, Major. Da, sehen Sie sich an, womit Ihnen der Schädel eingeschlagen worden wäre.“ 217
Lewandowski hob einen schweren Mutternschlüssel von der Erde auf. Der Major lachte. „Bitte sehr, Hauptmann, schlagen Sie zu“, sagte er, drehte sich um und bückte sich ein wenig. „Was soll dieser Scherz?“ „Bitte schlagen Sie zu! Ich scherze nicht. Aus voller Kraft.“ Lewandowski schlug dem älteren Kollegen leicht auf die Sportmütze. Es klirrte metallisch. „Ich habe überhaupt nichts riskiert“, sagte Niewarowny abermals lachend. „Ich trage einen Stahlhelm unter der Mütze. So einen, wie ihn unsere Mädchen hatten, als wir vor ein paar Jahren Jagd auf den Frauenmörder machten, der in der Gegend von Otwock und Świder sein Unwesen trieb. Und außerdem … Da, dort ist mein Schutzengel.“ Erst jetzt gewahrte Hauptmann Lewandowski in der Dunkelheit eine dritte Gestalt. Hinter dem nächsten Baum stand Wachtmeister Nierobis auf Posten. „Sie haben das also alles mit Vorbedacht gemacht, Major?“ In Lewandowskis Stimme schwang Bewunderung mit. „Ich weiß nicht, ob ich mich zu so einem Schritt hätte entschließen können, das gebe ich zu.“ Niewarowny sah auf die Uhr. „Es fehlt noch eine Person in dieser Gesellschaft“, bemerkte er. „Die wird nicht mehr kommen“, erklärte der Hauptmann. „Meine Leute haben sie festgenommen, als sie das Haus verließ. Sie hatte eine Pistole in der Handtasche. Jetzt wird gerade ihre Wohnung durchsucht.“ „Elżbieta Dorecka?“ Nun war der Major auch verblüfft. „Jedenfalls hat sie sich als die ausgegeben. So wie er sich als Stefan Zborkowski ausgegeben hat. Wir haben auch Zeit verloren, Major. Höchste Eisenbahn, nachzusehen, was unser Herr Bełkowski treibt.“ 218
„Einen Augenblick“, widersprach der Major. „Zuerst muß ich Wachtmeister Andrzej Sadowski erlösen. Wozu soll er noch länger hinter der Kiefer auf der anderen Straßenseite frieren? Er sollte die Dorecka nämlich unschädlich machen. Ich wußte, daß sie herkommen würde, um dem Milchmann zu helfen, meine Leiche auf seinem Wägelchen in den Wald zu fahren. Wahrscheinlich hätten sie mich an der gleichen Stelle hingelegt wie Kwaskowiak. Nicht wahr, Herr Stefanek?“ Zborkowski gab keine Antwort. Er stand mit gesenktem Kopf zwischen den beiden Milizionären. „Ich habe einen Haussuchungsbefehl vom Staatsanwalt für Bełkowskis Wohnung“, sagte Lewandowski. „Genau wie ich“, erwiderte der Major lächelnd. „Unterschrieben vom Staatsanwalt in Ruszków.“ Die Miliz klingelte lange an Bełkowskis Villa, ehe sich der Ingenieur entschloß, die Tür zu öffnen. Im Hause war es stockdunkel, aber der Ingenieur war vollständig angezogen. „Haussuchung“, erklärte Lewandowski kurz. „Wo ist die Apparatur zur Heroinherstellung?“ fragte der Major. „Ich weiß nicht, wovon Sie reden, meine Herren.“ „Wissen Sie auch nicht, warum Sie um halb fünf in die Garage gingen und das Licht anknipsten? Wachtmeister Nierobis hat die ganze Nacht in Ihrem Garten Wache gehalten und die Uhrzeit genau notiert. Sie sind ein fleißiger Frühaufsteher.“ Bełkowski erbleichte. Er sank schwer auf den nächsten Stuhl. Die Milizionäre durchsuchten mittlerweile das Haus. In den oberen Zimmern war das nur eine Formalität. Major Niewarowny und Hauptmann Lewandowski wußten, daß sie hier nichts finden würden. Dafür suchten sie den unteren Teil des Gebäudes Meter für Meter ab. Sogar der Koks wurde durchwühlt und an einem anderem 219
Platz gelagert. Erst genaue Messungen der Kellerräume ergaben, daß sich innerhalb des Gebäudes ein Geheimraum befinden mußte. Niewarowny, der sich die Wände vornahm, erinnerte sich noch an die raffinierten Verstecke, die in Warschau für die Geheimarchive der Heimat- und der Volksarmee gebaut worden waren. Deshalb interessierte ihn ein schmaler Spalt zwischen zwei Ziegeln besonders. Als er mit dem Messer dazwischenfuhr, gab die Mauer nach, und vor ihnen tat sich ein kleines, aber bestens eingerichtetes Laboratorium auf. Hier standen die Apparate, die Zborkowski gestern vor dem Major erwähnt hatte. „Das muß alles sofort ins Institut für Kriminalistik“, sagte Niewarowny. „Es müssen sich noch Heroin- oder Opiumspuren daran befinden. Die können sie nicht gründlich genug entfernt haben, ich habe nämlich gestern abend das Wasser abdrehen lassen. Ich kann mir vorstellen, wie die Anwohner der Akazienstraße fluchen, wenn sie vergeblich den Hahn aufdrehen. Leider mußte ich für alle Häuser hier und teilweise noch in der Birkenstraße das Wasser sperren, um keinen Verdacht zu erregen. Nierobis, rufen Sie gleich mal von hier aus an, sie sollen die Ventile wieder aufdrehen.“ „Zu Befehl, Genosse Major.“ „Vielleicht versiegeln wir das Laboratorium und die ganze Villa lieber“, schlug Lewandowski vor. „Sollen sich die Fachleute die ‚Küche‘ an Ort und Stelle ansehen und die Apparaturen selbst abbauen. Wir beschädigen womöglich was. Sind Sie einverstanden, Major?“ „Natürlich. Aber was machen wir mit der Frau?“ „Wir nehmen sie beide fest. Erst im Untersuchungsverfahren wird sich herausstellen, ob und in welchem Maße die Bełkowska an den Vergehen ihres Mannes mitschuldig ist. Dann hebt eventuell der Staatsanwalt unsere Entscheidung wieder auf. Bis dahin werden die Fachleute das Laboratorium untersucht und aus Podleśna 220
abgeholt haben. Diese Apparate sind ein wahres Wunderwerk. Ich weiß nicht, ob eins von unseren Instituten so etwas besitzt.“ „Sicherlich das Beste, was in ganz Europa aufzutreiben war. Heroin ist ein zu teurer Stoff, als daß man es mit Heimwerkermethoden herstellen könnte.“ „Mir ist gemeldet worden, daß bei den Haussuchungen in den Wohnungen der Dorecka, in ihrem Untermietezimmer in Podleśna und in ihrer Junggesellenwohnung in Warschau, erhebliche Mengen Opium gefunden wurden“, sagte der Hauptmann. „Aber wo kann das Heroin aus der laufenden Produktion versteckt sein? Vielleicht durchsuchen wir noch einmal die Villa. Wir kommen mit einer Spezialistengruppe mit entsprechenden Apparaten her. Man hat nicht immer so ein Glück wie Sie heute, Genosse Major.“ „Dieses Glück verläßt mich bis ans Ende nicht mehr“, erwiderte Niewarowny lächelnd. „Schicken Sie einen von Ihren Männern in die Garage, und lassen Sie sie von dem alten Wagen, der dort steht, beide Kopfstützen abnehmen. Darin befindet sich Heroin. In diesem Versteck haben ungefähr zwei Kilo von dem weißen Gift Platz. Nicht wahr, Herr Bełkowski?“ Der Hausherr, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte, hob den Kopf. „Weshalb fragen Sie, wenn Sie so gut Bescheid wissen?“ „In Autokopfstützen hatten die das Heroin versteckt?“ wunderte sich Lewandowski. „Ja, der Ring arbeitete mit mehreren gleich aussehenden roten Kopfstützen, mit einem Dutzend vielleicht. Das Heroin wurde im Metallgestänge versteckt. Das war ein guter psychologischer Trick, denn selbst wenn der Zoll Verdacht geschöpft hätte, würde er erst mal die Polster aufgeschlitzt haben. Dabei brauchte man nur einen Bügel der Kopfstütze in einen Schraub221
stock zu spannen und ein bißchen daran zu drehen. Dann ging das Rohr so weit auf, daß man das weiße Pulver hinein- oder herausschütten konnte.“ „Jetzt begreife ich die ganze Operation“, erwiderte der Hauptmann. „Die Hersteller füllten täglich die Rohre, und dann genügte es, die Kopfstützen auszuwechseln, und zwar in einem Wagen, der ins Ausland fuhr.“ „Damit befaßte sich ein anderes Mitglied des Rings. Ein gewisser Wojciech Prochoń.“ „Wir müssen ihn verhaften!“ rief Lewandowski besorgt. „Seine Adresse und seine Arbeitsstelle? Kennen Sie die, Major? Ich rufe sofort bei der Kommandantur an, damit sie ihn holen.“ „Zu spät, Hauptmann, zu spät!“ Lewandowski sah den Major an, als hätte der den Verstand verloren. Worüber freute er sich so? Daß ihnen der Verbrecher entwischt war? Aber er fragte: „Wieso?“ „Auf Antrag der Milizwache Podleśna hat eine Stadtbezirkskommandantur in Warschau Prochoń heute morgen um fünf Uhr festgenommen.“ Der Hauptmann stieß einen Pfiff aus. Unterdessen brachte ein Milizionär zwei rote Kopfstützen aus der Garage. „Da rasselt was drin“, bemerkte er, als er eine davon schüttelte. „Weil sie noch nicht voll ist. Das Pulver rutscht noch frei darin herum. In der anderen bewegt sich nichts, weil sie entweder fertig oder noch leer ist und eben an die Reihe kommen sollte.“ Die Haussuchung war abgeschlossen. Die Miliz führte die Hausbesitzer ab. Sie wurden mit einem Bewachungstrupp zur Wojewodschaftskommandantur nach Warschau gebracht. Stefan Zborkowski und Elżbieta Dorecka waren schon vorher dorthin überstellt worden. Hauptmann Lewandowski und die Milizionäre aus Warschau waren im Begriff, in einem zweiten Funkwagen zurückzufahren. 222
„Vielen Dank, Hauptmann.“ Niewarowny streckte seinem Kollegen, den er so lange hatte nicht ausstehen können, die Hand hin. „Sie haben den wirklichen Sachverhalt nicht gekannt, und trotzdem haben Sie, ohne lange zu überlegen, Ihr Leben für mich riskiert.“ „Sie hätten bestimmt das gleiche getan, Genosse Major. Wenn ich die ganze Wahrheit gewußt hätte, wäre ich Ihnen heute nicht in die Quere gekommen.“ „Macht nichts. Ihre Hilfe war sehr wertvoll. Ohne Sie und Ihre Leute wäre ich nicht so schnell mit den vieren fertig geworden.“ „Jedenfalls gratuliere ich Ihnen, Major. Ich weiß nicht, wie Sie das angefangen haben, aber Sie haben erstklassige Arbeit geleistet. Ohne diese List, die Sie da angewandt haben, hätte man Stefan Zborkowski den Mord an Kwaskowiak nicht so leicht beweisen können.“ „Ich habe vielleicht gestaunt, als ich sah, daß da nicht mein Nierobis mit dem Verbrecher ringt, sondern Sie, Hauptmann“, gestand der Major. „Wie kommt es, daß Sie gerade in diesem kritischen Moment hier aufgekreuzt sind?“ Hauptmann Lewandowski antwortete verschmitzt: „Wir haben wohl beide unsere kleinen Geheimnisse.“ Die Offiziere drückten einander die Hand. Wie es schien, aufrichtig. Lewandowski fuhr nach Warschau zurück. Major Niewarowny ging zurück zur Wache. Er hatte noch viel zu tun. Ein genauer Bericht über den Verlauf der Ereignisse mußte angefertigt werden, außerdem stand ihm noch eine unangenehme Unterhaltung mit Oberwachtmeister Michalak bevor. Der erste Mensch, der Niewarowny auf der Wache begegnete, war der junge Milizionär. „Es ist also wahr …?“ fragte Michalak. Er sprach nicht zu Ende. Er wußte, daß der Major auch so verstand, was er meinte. 223
„Ja, es ist wahr. Elżbieta Dorecka war die rechte Hand des Bandenchefs Stefan Zborkowski. Gemeinsam haben sie Kwaskowiak ermordet, und heute hatten sie mir das gleiche Schicksal zugedacht. Sie hätten mich auf Zborkowskis Wagen weggeschafft und meine Leiche in den Wald geworfen.“ „Das ist ja grauenhaft! Und ich habe ihr so vertraut … Sie sagte, sie liebt mich. Sie hat es mir geschworen. In zwei Monaten sollte die Hochzeit sein.“ „Sie waren eine Schachfigur in der Hand einer gerissenen Verbrecherin, Oberwachtmeister. Sie brauchte Ihre Liebe, um zu erfahren, was auf der Milizwache vorgeht. Sie hat Sie um den Finger gewickelt. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich würde durch Ihre Schwatzhaftigkeit mit eingeschlagenem Schädel im Wald liegen, dort, wo ihr im November Kwaskowiak gefunden habt.“ „Durch meine Schwatzhaftigkeit?“ brauste Michalak auf. „Haben Sie der Dorecka vielleicht nicht gesagt, daß ich, genau wie Kwaskowiak, jeden Morgen heimlich Spaziergänge unternehme? Weil ich fürchtete, einer von Ihnen könnte sich verplappern, habe ich versucht, so leise wie möglich aus dem Haus zu schlüpfen. Sie haben mir trotzdem aufgelauert und hatten nichts Besseres zu tun, als das Ihrer Ela zu berichten.“ Michalak wurde puterrot und senkte den Kopf, aber Niewarowny schonte den jungen Milizionär nicht. „Das war für die Bande das Signal, daß ich gefährlich wurde. Entweder ich war ihnen schon auf die Schliche gekommen, oder ich war nahe daran. Da verhängten sie das Todesurteil über mich. Man wartete nur auf eine passende Gelegenheit, auf eine mondlose Nacht ohne Schnee. Zum Glück hatte ich von Anfang an vorausgesehen, daß sich die Situation so entwickeln würde, und mich genügend gesichert. Als ich die heu224
tige Aktion vorbereitete, war meine größte Sorge, daß Oberwachtmeister Michalak nichts davon erfuhr.“ „Was wird jetzt mit mir?“ „Ich weiß es nicht“, gestand der Major ehrlich. „Sie haben sich eines schweren dienstlichen Verstoßes schuldig gemacht. Sie haben ein Ermittlungsgeheimnis vor dritten Personen preisgegeben. Ich verurteile Sie nicht restlos, ich war schließlich auch mal jung und weiß, was es heißt, sich in seinen Gefühlen betrogen zu sehen. Nicht ich entscheide, was mit Ihnen geschieht, sondern der Wojewodschaftskommandant.“ „Soll ich die Waffe abliefern?“ Michalak war völlig gebrochen. „Dazu ist schon noch Zeit. Heute, Oberwachtmeister, steht Ihnen jedenfalls eine Nachtwache bevor. Lassen Sie sich das gesagt sein.“
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17. Wissenschaft oder Intuition?
An diesem Tag herrschte auf der Sitzung beim Oberst ein solcher Andrang, daß man in den Konferenzsaal hinübergehen mußte, weil im Arbeitszimmer des Alten längst nicht alle Zuhörer unterzubringen gewesen wären. Die Kunde davon, daß der Mörder des Milizionärs aus Podleśna endlich gefaßt sei, war wie ein Lauffeuer durch die Dienststelle gegangen. Als alle ihre Plätze eingenommen hatten, sagte der Chef: „Bevor wir Major Niewarowny für seinen Erfolg danken, Kwaskowiaks Mörder gefaßt und eine gefährliche Bande unschädlich gemacht zu haben, mag er uns selbst erzählen, wie er das geschafft hat.“ Der Major, der sich auf diese Rede vorbereitet hatte, schickte einen triumphierenden Blick über die Anwesenden hin und begann: „Das wichtigste bei einem Milizoffizier ist die Intuition, die Fähigkeit, bestimmte Tatbestände miteinander in Verbindung zu bringen und aus scheinbar nichtigen Einzelheiten eigene Schlußfolgerungen ziehen zu können. Ich gebe zu, Institute für Kriminalistik und ähnliches erfüllen eine sehr nützliche Funktion, aber theoretische Überlegungen sind nicht in der Lage, die ‚Nase‘ des Kriminalisten zu ersetzen. Als ich nach Podleśna kam, verfügte ich über keinerlei Anhaltspunkte. Aber meine Nase sagte mir deutlich, daß dieses Verbrechen nicht irgendwelche kleinen Gauner oder Rowdys aus dem Ort verübt hätten, sondern daß das ein Mord sei, an dem jemand aus der High Society des Ortes beteiligt sein mußte. Ich wußte nur nicht, warum die Täter hatten morden müssen, um weiterhin sicher zu sein.“ Niewarowny setzte sich bequemer in seinem Sessel zurecht, griff mechanisch nach einer Zigarette, zog aber schnell die Hand wieder zurück. 226
„Hauptwachtmeister Kwaskowiaks rätselhafte Spaziergänge legten den Gedanken nahe, daß er einem ernsthaften Verbrechen auf der Spur gewesen war und die Täter keine andere Wahl gehabt hatten, als ihm den Mund zu verschließen“, fuhr der Major fort. „Ich rechnete mir aus, wie lange diese Spaziergänge gedauert haben konnten. Es stellte sich heraus, daß der oder auch die Täter in einem Umkreis von höchstens fünfhundert Metern von Kwaskowiaks Haus entfernt wohnten. Da begann ich Nachforschungen über die Leute anzustellen.“ „Der reinste Sherlock Holmes“, warf einer der Offiziere lächelnd ein. „Ich bin stolz auf diesen Vergleich“, gab der Major zurück. „Wo ich ging und stand, sammelte ich Informationen. Von einem kleinen Dieb namens Kater erfuhr ich, Kwaskowiak habe gegenüber der Villa eines gewissen Doktor Workucki jemandem aufgelauert. Durch einen merkwürdigen Zufall belastete auch Stefan Zborkowski, der Mann, der die Milch ausfuhr, den Arzt, indem er behauptete, etwa zur Tatzeit Doktor Workuckis Wagen in der Akazienstraße gesehen zu haben. Weil von Anfang an niemand bezweifelte, daß Kwaskowiaks Leiche nach verübtem Verbrechen in den Wald gebracht worden war, belastete diese Aussage den Vorsitzenden des ‚Podleśnaer Freundeskreises‘ besonders. Zu der Zeit glaubte ich Zborkowski hoch vorbehaltlos und verdächtigte Workucki ebenfalls. Die Affäre mit den jugendlichen Tablettensüchtigen belastete wieder den Arzt. Doch diese Affäre trug auch dazu bei, daß ich meinen Irrtum erkannte. Sie nannten ihre Rauschmittel ‚Heroin‘. Als ich mich einmal im Gespräch mit Workucki und Bełkowski danach erkundigte, was Heroin eigentlich sei, gab mir der Arzt eine ziemlich verschwommene Auskunft über die Wirkung dieses Rauschgifts, wohingegen der Chemiker wesentlich besser darüber Bescheid wußte. Das war das erste Signal, daß ich auf diesen Mann, der ein Labor für 227
chemische Analysen besaß, ein Auge haben mußte. Danach befragte ich einige mir bekannte Chemiker nach der chemischen Zusammensetzung von Heroin. Keiner, nicht einmal der Rauschgiftspezialist von der Hauptkommandantur, wußte, wie die Nomenklaturbezeichnung dieses Rauschmittels lautet. Bełkowski hingegen kannte sie auswendig.“ „Der hat sich ja ganz schön verquatscht“, murmelte einer der Anwesenden. „Jeder Verbrecher begeht früher oder später einen Fehler, und wenn er noch so klein ist. Die Miliz ist dazu da, diesen Fehler zu bemerken und ihre Schlüsse daraus zu ziehen. Als sich Kwaskowiaks Witwe erinnerte, daß ihr Mann sie einmal gefragt habe, wozu zwei alleinstehende Leute drei Flaschen Milch brauchten, ahnte ich, daß diese Milch vor der Tür des Chemikers stehen würde. Anfangs dachte ich, die weiße Flüssigkeit würde zur Rauschgiftherstellung benötigt. Ich fiel aus allen Wolken, als mich der Oberstleutnant von der Hauptkommandantur eines Besseren belehrte: Zur Heroinherstellung wird keine Milch verwandt.“ „Wie kamen Sie darauf, daß es sich um Rauschgift handelte?“ „Ganz einfach, Intuition. Ich beobachtete die Villa und deren Bewohner und mußte schließlich annehmen, daß, wenn dort etwas hergestellt würde, es nur etwas Kostbares und dabei sehr Kleines sein konnte. Es mußte so wichtig sein, daß man, um das Geheimnis zu wahren, nicht davor zurückgeschreckt war, einen Milizionär zu ermorden. Wenn die Verbrecher etwas anderes, weniger wertvolles hergestellt hätten, würden sie eher die Fabrik aufgelöst oder ausgelagert haben. Zur gleichen Zeit aber besagten die Bulletins von Interpol, die internationalen Rauschgiftringe suchten nach Möglichkeiten, die Produktion von Frankreich in ein anderes Land zu verlagern, und nach neuen Schmuggelwegen für Opium aus 228
dem Osten. Diese beiden Fakten miteinander in Verbindung zu bringen war ein Kinderspiel. Natürlich war ich mir fast bis zuletzt nicht sicher. Die internationalen Rauschgiftbanden sind nach dem Prinzip strengster Geheimhaltung aufgebaut. Jedes Mitglied einer solchen Organisation kennt nur zwei Leute. Denjenigen, von dem er die Ware bekommt, und einen anderen, der das Rauschgift von ihm in Empfang nimmt. Es kennt niemals den Chef. Der arbeitet ausschließlich über einen Verbindungsmann. Deshalb ist die Bekämpfung dieser Banden ja auch so unerhört schwierig. Man kommt nicht an den ‚Kopf ‘ heran. Ins Netz gehen nur die kleinen Fische.“ „Diesmal haben wir auch den Kopf erwischt“, bemerkte einer der Offiziere. „Von so einem Erfolg sind wir weit entfernt. Erwischt haben wir nur den Chef für Polen.“ „Fahren Sie fort, Major.“ „Ich kam sehr schnell dahinter, daß die drei Flaschen Milch, die in sporadischen Abständen vor Bełkowskis Tür auftauchten, ganz einfach ein Zeichen waren, das die ganze Bande in Aktion setzte. Ich beobachtete die Villa des Chemikers ständig und stellte fest, daß der Ingenieur an dem Tag, an dem die Flaschen dastanden, mit seinem Wagen nach Warschau fuhr. Ich fuhr ihm hinterher. Bełkowski fuhr nach Wola, wo er seinen Wagen in einer Autowerkstatt zur Reparatur einstellte.“ „Haben Sie die ganze Ermittlung allein geführt?“ fragte einer von den Nichteingeweihten. „Allein hätte ich es nicht geschafft. Es gelang mir, einen Wagen von der Wojewodschaftskommandantur zu ergattern, aber auch nur einen Wagen. Die Milizangestellten in Podleśna konnte ich für meine Zwecke nicht einsetzen. Warum, darauf komme ich später noch zurück. Ich spannte also ‚gesellschaftliche‘ Helfer ein: die Leiterin des Genossenschaftsladens, ihre fünfzehnjähri229
ge Tochter und Janina Workucka, die Tochter des Arztes, die in Bełkowskis Nähe wohnte und täglich nachsah, wieviel Milchflaschen vor seiner Tür standen. Auch zwei Rowdys aus dem Ort halfen mir, der bereits erwähnte Kater und sein Freund, der Schwarze Romek genannt. Letzterer stellte fest, daß ein Angestellter aus der Autowerkstatt die beiden Kopfstützen aus Bełkowskis Wagen genommen und dafür zwei andere aus seinem Wagen angebracht hatte. Das war eigentlich der erste konkrete Beweis, daß wir es mit einer internationalen Schmugglerbande zu tun hatten.“ „Und wie sind Sie auf den Milchmann gekommen, Major?“ Die Neugier der Versammelten wuchs. „Ich suchte einfach den Chef der Bande. Denjenigen, der Hauptwachtmeister Kwaskowiak ermordet haben konnte. Ich glaubte nicht, daß sich Bełkowski zu so einem verzweifelten Akt des Mutes hätte aufraffen können. Er als Chemiker hätte wohl eher Gift verwendet, nicht ein Stemmeisen. Deshalb erschienen mir, als ich bereits wußte, daß Bełkowski der Bande angehörte, und vermutete, daß er Heroin herstellte, Zborkowskis Worte höchst sonderbar. Er belastete Workucki in einem fort. Da machte mir die Verkaufsstellenleiterin eine interessante Mitteilung. Keiner von den Bełkowskis hatte angerufen und zusätzlich um Milch gebeten. Ich wußte also, daß die drei Flaschen ein Zeichen waren. Aber wer gab das Zeichen? Bełkowski an sich selbst? Wenn niemand aus der Villa die drei Flaschen Milch anforderte, dann stellte Zborkowski, der die Milch austrug, sie dem Chemiker eben aus eigenem Antrieb vor die Tür. Die Leute wunderten sich auch, daß ein reicher Mann wie Bełkowski einen alten, schon mächtig mitgenommenen Wartburg fuhr. Er hätte sich doch mindestens einen Mercedes leisten können. Dabei war das so einfach. Daß die alte Kiste ständig in die Werkstatt gebracht werden 230
mußte, machte niemanden stutzig. Nicht einmal den Werkstattbesitzer, der zwar wußte, daß dem Auto eigentlich nichts fehlte, aber dachte, dieser Kunde zittere halt übertrieben um seinen Wagen.“ „Und Elżbieta Dorecka, die Serviererin aus dem Café ‚Marysieńka‘? Wie sind Sie der auf die Schliche gekommen?“ „Das war nicht schwer. Mich wunderte eines: Ganz Podleśna wußte, daß das schöne Mädchen mit dem Ingenieur liiert war. Er hatte ihr eine Eigentumswohnung gekauft, für sie in Podleśna ein Zimmer gemietet. Das stimmte möglicherweise, doch warum hängten beide das so an die große Glocke? Und dann kommt plötzlich ein neuer Kommandant nach Podleśna. Keiner macht sich was vor: Er soll vor allem den Mörder seines Vorgängers finden. In dieser Situation muß die Bande eine gute Abwehr mitten in der Milizzentrale organisieren, um zu erkunden, was der Neue anfängt und ob er nicht vielleicht schon auf die richtige Spur gestoßen ist. Die Serviererin kennt Oberwachtmeister Michalak seit mindestens zwei Jahren. Sie hat ihn nie beachtet. Und da erringt der junge Mann auf einmal, gleich am ersten Tag, wo sich der neue Kommandant im Ort aufhält, die Gunst des Mädchens. Ein Gerücht geht um, das besagt, das Mädchen habe auf dramatische Weise mit Bełkowski Schluß gemacht, und Michalak brüstet sich, zu Ostern sei die Hochzeit. Was die Rolle der Dorecka betrifft, da hatte ich von Anfang an keine Zweifel. Und als sie nach dem ominösen Bruch mit dem Chemiker weiterhin munter sein Haus besuchte und ihm irgendwelche Päckchen mitbrachte, sah ich völlig klar.“ Niewarowny legte eine Pause ein und griff jetzt doch nach einer Zigarette. Er konnte sich nicht beherrschen. Beinahe alle Anwesenden rauchten. Im Raum war es dunkel vor Qualm. Jemand stand auf und öffnete das Fenster einen Spalt breit, um ein bißchen frische Luft 231
hereinzulassen. Dann fuhr der Offizier fort: „Vom dem Moment an, als ich von den drei Milchflaschen erfuhr, verließ ich jeden Morgen in aller Frühe das Haus und ging auf Terrainbesichtigung. Obwohl ich die Flaschen vor einer ganz bestimmten Villa erwartete, sah ich vor jedem Haus gründlich nach. Ich bemühte mich, das Wachgebäude so leise wie möglich und unbemerkt zu verlassen. Aber eines Tages überraschte mich Oberwachtmeister Michalak dabei. Vielleicht hatte die Dorecka den verliebten jungen Mann auf diese Idee gebracht. Möglicherweise hatte sie ihm erklärt, man habe Niewarowny nachts in den Straße von Podleśna gesehen, und das sei nicht ungefährlich, er solle den Kommandanten doch begleiten. Sie wollte herausbekommen, inwieweit ich über die Bande schon Bescheid wußte. Vielleicht hat mich Michalak übrigens auch zufällig bemerkt und sich dann vor dem Mädchen verplappert. Wie dem auch sei, meine Morgenspaziergänge waren kein Geheimnis mehr, und ich wußte, daß mein Schicksal besiegelt war. Ich sollte das Los von Kwaskowiak teilen. Ich wartete also, wann das eintreten würde und auf welche Weise. Ich hatte nicht vor, mich auf ein Risiko einzulassen. Deshalb rüstete ich mich dementsprechend. Meine Sportmütze wattierte ich aus und zog sie über einen Stahlhelm. In meinen Pelz nahte ich eine Art Panzerhemd ein, das ich mir selbst zurechtgebastelt hatte. Ich war fast sicher, daß ich von hinten angefallen und eins mit dem Stemmeisen über den Schädel bekommen würde, aber ein Messerstich zwischen die Rippen war auch nicht ausgeschlossen.“ „Das war trotz allem unerhört riskant“, bemerkte Hauptmann Lewandowski. „Die Bande konnte ich jederzeit unschädlich machen, aber es gab keine andere Möglichkeit, die Mörder von Kwaskowiak zu überführen und ihnen die Tat zu beweisen. Ich hieb, um meine Mütze auszuprobieren, ein 232
paarmal kräftig mit dem Hammer darauf. Auf dem Helm war nicht die kleinste Spur zu erkennen. Ich hoffte, daß der Helm und mein Kopf mich auch im kritischen Moment nicht im Stich lassen würden.“ „Es ist immerhin gut, daß es gar nicht dazu gekommen ist“, konstatierte der Oberst. „Als Zborkowski, der Mann, der die Milch ausfuhr, mit seinen Sensationsmeldungen zu mir kam, wußte ich, daß die entscheidende Auseinandersetzung nahe war. Ich glaubte nicht eine Sekunde an das Laboratorium in der Garage. Diesen Raum hatte ich bereits gründlich erkundet, sowohl mit meinem Fernglas als auch von der Gartenseite aus durch das Fenster. Außerdem verriet der Milchmann sich selbst, indem er Fachausdrücke wie Retorten, Rektifikationssäule, Diffusionsapparat und so weiter gebrauchte. Ein einfacher Mann, für den Zborkowski gehalten werden wollte, konnte derlei Fachtermini nicht kennen.“ „Der Verbrecher hat sich selbst hereingelegt.“ „Sie haben recht, Kollege. Aber auch wenn er das nicht gesagt hätte, ich wußte bereits, was für eine Rolle er spielte. Er hätte mich nicht überrumpelt. Das dürfen Sie mir glauben, meine Herren. Ich konnte jedoch nicht zulassen, daß Oberwachtmeister Michalak von der Aktion, die ich vorbereitet hatte, etwas erfuhr, weil der Mann in seiner bodenlosen Naivität sich sofort vor seiner Verlobten verplappert hätte. Ich konnte mich ausschließlich auf zwei Leute verlassen: auf Wachtmeister Nierobis und auf Wachtmeister Sadowski. Mehr baute ich auf Nierobis. Ihm vertraute ich auch die schwierigste Aufgabe an. Er sollte, im Garten versteckt, den Milchmann sofort angreifen, sobald der mir den Schlag versetzt hatte. Sadowski stand außerhalb des Grundstücks und sollte Elżbieta Dorecka festnehmen. Ich wußte, sie würde kommen, um Zborkowski zu helfen und gemeinsam mit ihm meine Leiche in den Wald zu fahren.“ 233
„Sie erzählen das ja alles sehr gelassen“, warf der Oberst ein. „Weil ich sicher war, daß mein Plan gelingen mußte. Gleich nach dem Schlag sollte ich zu Boden fallen, so hatte ich es mit dem Wachtmeister vereinbart. Ich rechnete damit, daß sich der Mörder über mich beugen würde, um nachzusehen, ob ich auch wirklich tot war. Genau zu diesem Zeitpunkt sollte Nierobis ihn angreifen. Ich wäre ihm zu Hilfe gekommen. Bereits seit Mitternacht standen meine Leute in der Nähe von Bełkowskis Villa auf ihrem Posten. Einer im Garten, der andere gab auf die Straße acht. Diese Maßnahme mußten wir unbedingt treffen. Denn erst so konnten wir beweisen, daß auch Bełkowski unmittelbar in den Mord verwickelt war. Der Ingenieur stand früh auf und knipste um halb fünf in der Garage das Licht an. Das sollte den Anschein erwecken, als liefe das Laboratorium auf vollen Touren. Das Licht sollte mich dazu verleiten, das Gelände zu betreten und mich zu dem Fenster hinunterzubeugen, also eine Körperhaltung einzunehmen, die am besten dafür geeignet ist, jemand einen Schlag auf den Hinterkopf zu versetzen.“ „Brrr!“ fuhr Major Kowalski auf. „Woran hast du in dem Moment gedacht, gib es zu!“ „Ich fürchtete nur eins, daß sich in diesem Schurken im letzten Moment womöglich doch noch das Gewissen regte und er nicht zuschlug. Ich wartete lange auf diesen Schlag. Und ich wartete vergeblich. Ich hörte einen gedämpften Schrei und Geräusche, die mir sagten, daß da gekämpft wurde. Als ich die Pistole zückte und mich umdrehte, war ich überzeugt, Nierobis hätte es nicht länger mit ansehen können und wäre mir zu früh zu Hilfe geeilt. Sie können sich nicht vorstellen, meine Herren, wie verblüfft ich war, als ich in dem Mann, der da mit Zborkowski rang, Hauptmann Lewandowski erkannte. Ich begreife noch immer nicht, wie er dorthin gekommen ist.“ 234
„Das wird uns Lewandowski gleich selbst berichten. Ich muß jedoch unterstreichen, daß Major Niewarowny selbständig und ohne jede Hilfe nicht nur seine Aufgabe erfüllt, sondern eine ganze Verbrecherbande entlarvt hat“, sagte der Oberst. „Diese Leistung verdient höchstes Lob.“ „Bravo, Major Niewarowny!“ rief einer von den jüngeren Teilnehmern der Sitzung. Er hatte sogar Lust zu klatschen, aber er hielt sich im letzten Moment zurück, unsicher, wie seine seriösen Vorgesetzten diese Geste der Anerkennung für den Major aufnehmen würden. Es ging ohne Applaus ab, aber alle erhoben sich von ihren Plätzen, Niewarowny hatte viele Hände zu schütteln. „Nun, Hauptmann“, wandte sich der Oberst darauf an Lewandowski, „jetzt sind Sie an der Reihe. Erzählen Sie, wie es dazu kam, daß Sie sich zur bewußten Zeit in Bełkowskis Garten befanden.“ „Anfangs glaubte ich, die Geschichte wäre sehr einfach. Ein Racheakt irgendwelcher zwielichtiger Elemente, die der energische Hauptwachtmeister nicht recht hatte zum Zuge kommen lassen. Ich gebe zu, ich ging in die vollen, aber auf Deibel komm ’raus. Die Folge davon war, daß ich alle Festgenommenen wieder auf freien Fuß setzen mußte. Ich hatte also erst mal, wie man so schön sagt, das Nachsehen. Da begriff ich eine grundlegende Wahrheit, daß sich nämlich ein Ermittlungsoffizier nie von seinen eigenen Eindrücken oder seiner Intuition leiten lassen darf, denn das führt zu nichts. Moderne Ermittlung – das ist ausschließlich Wissenschaft und Kollektivarbeit. Allein erreicht man gar nichts. Die Zeit der genialen Detektive, der berühmten Pinkertons oder dieses alten Herrn aus dem Roman, Sherlock Holmes, ist unwiederbringlich vorbei.“ Niewarowny hatte schon den Mund aufgemacht, um eine bissige Bemerkung zu machen, aber er besann sich eines Besseren. 235
„Die Erkundungen an Ort und Stelle erbrachten nichts Konkretes“, führte Lewandowski weiter aus. „Lediglich ein bißchen nicht überprüften Klatsch. Im Gegensatz zu Niewarowny, dem Kommandanten der dortigen Milizwache, konnte ich dem nicht nachgehen, weil ich ja in Warschau saß. Den Trainingsanzug, in dem der Ermordete aufgefunden worden war, gaben wir zu einer eingehenden Untersuchung. Dank neuester Methoden entdeckte das Institut für Kriminalistik an Kwaskowiaks Anzug mikroskopisch feine Spuren von Milch. Besonders am Rücken. Immerhin war bekannt, daß Kwaskowiak nie im Trainingsanzug gefrühstückt hatte. Er hatte sich vorher umgezogen. Außerdem trank er keine Milch, sondern Milchkaffee. Und Kaffeespuren stellte man nicht fest. Wir wußten auch, daß die Leiche des Ermordeten in den Wald gebracht und dort unter einen Baum gelegt worden war. Wir versuchten herauszufinden, mit welchem Transportmittel das geschehen war. Vielleicht mit dem Handwagen des Mannes, der die Milch ausfuhr, und daher die Spuren dieser Flüssigkeit im Rücken des Trainingsanzugs?“ „Sehr schlau“, knurrte Niewarowny. „Auf diese Weise kamen wir auf Stefan Zborkowski. Uns interessierte auch der Umstand, daß Podleśna als einziger Warschauer Vorort es fertiggebracht hatte, die Milch ins Haus zu liefern. Sogar Warschau schlägt sich ja mit diesem Problem herum. Wir sahen uns diese Perle näher an. Jeder Schritt des Mannes wurde von da an überwacht. Verhältnismäßig rasch kamen wir hinter sein Doppelleben. Der arme Milchmann, der ein armseliges Zimmerchen in Podleśna bewohnt, und der gutsituierte Herr, natürlich mit ganz anderem Namen und geschickt verändertem Äußeren, der Besitzer einer schönen Wohnung in der Hauptstadt. Weshalb spielte er den Milchmann? Als wir Zborkowski beobachteten, stießen wir auch auf Elżbieta Dorecka. Wir stellten fest, daß die 236
beiden irgendwelche Geschäftsinteressen miteinander verbanden. Vielleicht nicht nur Geschäftsinteressen. Aber das tut nichts zur Sache. Als wir nun auch die Dorecka beschatteten, machten wir eine interessante Beobachtung. Das Mädchen hatte Kontakte zu Ausländern. Immer zu welchen, die über Polen fuhren und aus dem Süden kamen – aus der Türkei, Griechenland oder Bulgarien. Nie zu anderen. Außerdem dröhnte ja ganz Podleśna davon, daß das Mädchen die Geliebte von Ingenieur Janusz Bełkowski sei. Ein merkwürdiges Paar. Bełkowski besuchte seine Herzensdame nie, obwohl angeblich er ihr die bequeme ‚Bude‘ im Zentrum von Warschau gekauft hatte. In dieser Junggesellenwohnung war der Milchmann jedoch Stammgast. Meine Mitarbeiter stellten fest, daß die Dorecka ziemlich oft Bełkowskis Villa aufsuchte, stets mit irgendwelchen Päckchen. Wir fanden des weiteren heraus, daß das Fräulein auch eine Berufsausbildung besaß, nämlich Chemielaborantin war. Und da auch wir die Bulletins von Interpol über die Bekämpfung der Rauschgiftsucht lasen, was Wunder, daß es in meinem Zimmer nach Heroin zu riechen begann.“ „Und der kritische Moment dort im Garten?“ fragte jemand. „Ganz einfach. Wir beobachteten sowohl die Villa des Chemikers als auch den Milchmann Tag und Nacht. Ich gebe eine Unterlassungssünde zu, meine Leute achteten nicht darauf, wieviel Flaschen Zborkowski vor Bełkowskis Tür stellte, im übrigen brauchten wir das nicht. Meine Leute berichteten mir hingegen sofort, Major Niewarowny verdächtige gleichfalls den Milchmann und beschatte den Ingenieur. Das war für mich äußerst bequem, denn dadurch waren meine Leute gewissermaßen gedeckt. Gleichzeitig konnte ich mich nicht genug über den Leichtsinn des Kommandanten wundern, und ich bangte zunehmend mehr um sein Leben.“ 237
„Es war durchaus kein Leichtsinn meinerseits“, berichtigte der Major. „Sie haben sich getäuscht.“ „Jetzt weiß ich, daß es ein Irrtum war“, gab Lewandowski loyal zu. „Aber damals wußte ich nichts von dem Stahlhelm unter Ihrer Sportmütze und Ihrem Panzerhemdpelz. Als einer meiner Männer mir meldete, der Milchmann habe ein vertrauliches Gespräch mit dem Major geführt, begriff ich sofort, daß Zborkowski den Kommandanten in einen Hinterhalt lockte, um ihn genauso zu beseitigen wie dessen Vorgänger. Ich rang lange mit dem Gedanken, ob ich den Major nicht warnen sollte. Da ich jedoch seine Reizbarkeit kannte und angesichts unserer persönlichen Beziehungen, die bis dahin nicht die besten gewesen waren, beschloß ich, die Sache anders anzufangen. Zborkowski stellt Niewarowny eine Falle, und ich stelle Zborkowski eine Falle. List gegen List. Weil ich wußte, welche Gefahr Major Niewarowny drohte, beschloß ich, im kritischen Moment persönlich einzugreifen. Erst dann sollten mir meine Mitarbeiter zu Hilfe kommen. Ich nahm zwei von den besten und körperlich leistungsfähigsten mit. Der Funkwagen stand in einer Nebenstraße. Die ganze Zeit über hielten wir Funkverbindung zu ihnen. Von dort erhielten wir die Nachricht, der Milchmann und der Milizoffizier hätten sich an der Kreuzung Birken- und Akazienstraße getroffen. Wir lagen in der Zwischenzeit hinter der Hecke von Bełkowskis Villa.“ „Lange?“ „Nein. Wir nahmen unseren Posten vor fünf ein. Genau zum richtigen Zeitpunkt, um von niemand bemerkt zu werden. Ich lag auf der Erde, etwa drei Meter vom Gartentor entfernt, durch das Zborkowski den Major hereinführte. Als sie an die Garagenwand traten, sprang ich sofort auf und folgte ihnen. Solange der Milchmann vorging, wußte ich, drohte Niewarowny keine Gefahr.“ „Das wußte ich auch“, stimmte der Major zu. „Ich 238
wußte sogar, daß Zborkowski als erster durch das Fenster sehen würde, damit ich keinen Verdacht schöpfte.“ „Eben. Als sich der Milchmann bückte, stand ich schon direkt an der Garagenecke. Zwei Meter von euch entfernt. Ich sah, wie ihr die Plätze tauschtet. Da trat ich aus meinem Versteck. Ich war sicher, der Mörder dachte nur an den Mord und sah nichts und niemanden außer seinem Opfer. Wie der Auerhahn auf der Balz …“ „Auerhähne bringen sich nicht gegenseitig um, das ist nur bei den Menschen ‚Sitte‘ …“ „Ich bemerkte“, fuhr Lewandowski in seiner Erzählung fort, „wie Zborkowski in die Tasche griff und einen schweren Mutternschlüssel herauszog. Er hob ihn. Da sprang ich hinzu … Ein Schlag mit der Hand aufs Handgelenk des Verbrechers, der Schlüssel lag auf der Erde. Ich wollte den Mörder außer Gefecht setzen, da traf mich selbst ein Schlag. Wir stürzten zusammen zu Boden. Dann überwältigten Wachtmeister Nierobis und meine Männer Kwaskowiaks Mörder. Sicherlich ist der Hauptwachtmeister auf die gleiche Weise und an der gleichen Stelle gestorben.“ „Und was ist mit der Dorecka?“ „Wir überzeugten uns davon, daß das Mädchen in Podleśna übernachtete. Von halb fünf Uhr an warteten zwei Milizionäre vor ihrer Wohnung auf sie. Als sie aus der Tür trat, entriß ihr der eine die Handtasche, der andere packte sie so geschickt, daß die schöne Ela nicht mal schreien konnte. Noch ehe der Milchmann und der Major die Villa Bełkowskis erreichten, hatte ich schon Nachricht, man habe bei der Dorecka eine Waffe gefunden und die Person sitze gefesselt im Funkwagen.“ „Bravo!“ Diesmal gratulierte Niewarowny dem einstigen Rivalen. „Ich weiß nicht, und ich nehme auch nicht an, daß wir es jemals erfahren werden, auf wessen Initiative hin mit der Heroinherstellung in Polen begonnen wurde. Ob 239
Stefan Zborkowski während seines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten selbst auf diesen Einfall gekommen ist oder ob einer der internationalen Schmugglerringe von sich aus mit ihm Kontakt aufgenommen hat? Tatsache bleibt, daß man sehr schnell übereinkam, der sympathische ‚Stefanek‘ Vertreter für Polen wurde und den Auftrag erhielt, hier ein Schmuggelnetz zu organisieren und Mittel und Wege zu finden, das hergestellte Rauschgift sicher wieder auszuführen.“ „Zborkowski hat diese Aufgabe glänzend gelöst, das muß man ihm lassen“, warf einer von den Offizieren ein. „Die Idee, die Produktion nach Podleśna zu verlegen und das Heroin im Gestänge von Autokopf stützen zu speichern, war nicht dumm“, pflichtete ihm der Hauptmann bei. „Darüber hinaus ist der ganze Ring genauso aufgebaut, wie das bei anderen Banden praktiziert wird. Jedes Bandenmitglied kennt nur seinen Vorgänger, niemals seinen Nachfolger. Es weiß nur, wo es die Ware abzuliefern hat, aber es weiß nicht, wer der Empfänger ist. Eben darum ist die Bekämpfung von Schmugglerbanden jeder Art so schwierig. Es ist wohl bisher weder Interpol noch der Polizei in den westlichen Ländern je gelungen, bis an den ‚Kopf ‘ einer Bande heranzukommen. Es werden nur immer einzelne Leute geschnappt.“ „Desto größer ist der Erfolg von Major Niewarowny und der Ihre, Hauptmann“, bemerkte der Oberst. „Machen wir uns da nichts vor.“ Der Hauptmann war kein Optimist. „Wir haben den Ring in unserem Land zwar zerschlagen und einen Weg versperrt, auf dem Rauschgift von Ost nach West wanderte, aber auch diesmal sind es nur zwei Mann: Zborkowski und der Franzose, der das Heroin aus Polen ausführte. Der Kopf der Bande wird nicht entlarvt werden, und trotz der empfindlichen Verluste, die die Bande erlitten hat, wird sie ihre verbrecherische Tätigkeit ganz bestimmt nicht einstellen. Sie wird nach neuen Schmuggelwegen suchen, 240
neue Produktionsstätten schaffen. Ich hoffe immerhin, daß sie für lange Zeit auf den Transit durch Polen verzichtet. Wenn ich das gewußt hätte“, sagte Hauptmann Lewandowski zum Abschluß seines Berichts bescheiden, „daß Major Niewarowny die ganze Bande durchschaut und dem Milchmann auch eine Falle gestellt hatte, wäre ich ihm niemals in die Quere gekommen. Für mich war es im übrigen leichter zu ermitteln, weil ich den gesamten Apparat der Kommandantur hinter mir hatte. Er war allein. Zudem arbeitete er auf unbekanntem Terrain.“ „Sie hatten beide eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, und Sie haben sie beide gut erfüllt. Jeder ist auf einem anderen Weg zu seinem Ziel gelangt, doch das ist unwichtig. Ich danke Ihnen beiden und schließe die heutige Sitzung.“ „Und was wird aus Major Niewarowny?“ fragte der Oberstleutnant von der Hauptkommandantur der Miliz. „Ich nehme an, er will bis zum Ende des Schuljahres in Podleśna bleiben“, erwiderte der Alte. „Erstens, um aus seinen ‚Rauschgiftsüchtigen‘ wieder Menschen zu machen. Wenigstens aus einigen. In dieser Situation muß ich ihm recht geben. Und außerdem“, sagte der Alte mit leisem Lächeln, „sind mir Gerüchte zu Ohren gekommen, daß der Major noch gewisse Familienangelegenheiten in Podleśna zu regeln hat. Danach kann er in der Hauptkommandantur, in eurem Dezernat für Rauschgiftbekämpfung, anfangen, ich habe nichts dagegen. Vielleicht müssen wir auch in unserer Kommandantur noch so eine Abteilung ins Leben rufen?“ „Ich? Familienangelegenheiten?“ brauste Major Niewarowny auf. Aber nach kurzer Besinnung fügte er leiser hinzu: „Vielleicht hast du sogar recht. Aber woher weißt du das bloß alles?“
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Hans Schneider Der letzte Fall Kriminalroman aus der DIE-Reihe 160 Seiten, Taschenbuch, 2 Mark Erscheint im Verlag Das Neue Berlin
Leseprobe Oberstleutnant Burmeister, Leiter der Abteilung Kriminalpolizei der Bezirksbehörde Möllenburg, hat seit Schönfelders Anruf aus der Chirurgischen Klinik zwischen Wachsein und Halbschlaf über Martin Waldner nachgedacht. Sie sind gute Kameraden, die ein Stück Lebensweg miteinander gegangen sind und sich danach gegenseitig im Auge behalten haben. Schon deshalb ist seine erste Frage an den Hauptmann: „Wird er durchkommen?“ Schönfelder zuckt die Schultern. „Die Verletzungen sind schwer. Treten keine Komplikationen auf, hat er eine reale Überlebenschance, sagen die Ärzte.“ „Noch ohne Bewußtsein?“ „Leider. Ich habe einen Kriminalisten in seinem Zimmer postiert, der jedes Wort aufnimmt, das der Verletzte äußert. Aber es besteht wenig Hoffnung, auf diese Weise einen Anhaltspunkt für die weiteren Ermittlungen zu bekommen. Wir müssen ohne seine Mithilfe arbeiten.“ „Er hat es in seinem Leben wahrhaftig nicht leicht gehabt. Und jetzt noch das! – Aber kommen Sie.“ Burmeister führt den Hauptmann ins Wohnzimmer. Dort ist Burmeisters Frau eben dabei, einen Teller mit Schnitten, ein Kännchen mit Kaffee und eine Tasse auf den Tisch zu stellen. Der Hauptmann ist dankbar für diese Aufmerksamkeit, denn Burmeister fordert ihn auf, zu essen und zu trinken. Das schafft eine Pause, ehe er 242
das dienstliche Gespräch beginnen muß. Während Schönfelder den Kaffee genießt, mustert er verstohlen den Vorgesetzten, der im Schlafanzug und Bademantel vor ihm sitzt. Der Oberstleutnant ist fünfundfünfzig Jahre alt. Der kahle Kopf und die vielen Falten im Gesicht lassen ihn älter erscheinen. Doch wer ihn in ‚Aktion‘ gesehen hat, wenn er Vorträge hält, debattiert oder sich mit Freunden und Genossen unterhält, der hat den erstaunlichen Gegensatz zwischen Erscheinung und Wesensart erlebt, denn da wirkt Burmeister jung, ist voller Temperament. Jetzt wartet er geduldig, bis der Hauptmann gegessen und getrunken hat und sich nach einer Weile tief aufatmend im Sessel zurücklehnt. „Und Petra Waldner?“ fragt Burmeister. „Ich konnte ihr nicht mehr Hoffnung machen, als ich selber habe. Es hat sie ziemlich mitgenommen, klar; aber sie war wunderbar beherrscht. Wahrhaftig, sie ist …“ Schönfelder empfindet, daß das schon nicht mehr zum Dienst gehört, und bricht mitten im Satz ab, als er bemerkt, wie der Oberstleutnant ihn fixiert. Die leichte Verlegenheit lassen die folgenden Worte des Hauptmanns etwas unsicher klingen: „Ich halte es für günstig, ihren Wunsch zu erfüllen und sie in der Einsatzgruppe der MUK mitarbeiten zu lassen, bis der Fall geklärt ist. Solange Martin Waldner bewußtlos und vernehmungsunfähig bleibt, ist sie überdies unsere wichtigste Informantin zu Fragen seines Lebens und seiner Tätigkeit.“ „Das wäre sie auch, wenn sie nicht zufällig Kriminalistin wäre“, versetzt Burmeister trocken. Es amüsiert ihn, daß der sonst so sachliche Hauptmann in seinem Eifer für das Mädchen einen ganz normalen Umstand für besonders wichtig hält, so daß ihn Burmeisters Einwand zunächst überrascht. Doch Schönfelder fängt sich schnell. Nach einem tie243
fen Atemzug zuckt er die Schultern und erwidert etwas zu nüchtern, wie es Burmeister nun scheint: „Der Zufall hat es diesmal so gefügt. Warum sollen wir uns die Arbeit unnütz erschweren, wenn es auch einfacher geht? Ich erspare mir dadurch zumindest langwierige Zeugenprotokolle, Rückfragen …“ Der Oberstleutnant winkt ab. „Schon gut. Nichts dagegen einzuwenden; oder sagen wir vorsichtshalber: grundsätzlich nicht.“ „Aber?“ fragt Schönfelder in die Atempause, doch Burmeister läßt sich nicht zu einer schnellen Antwort herausfordern. Er schaut den Hauptmann ruhig, ein wenig verschmitzt an, ehe er bedächtig meint: „Ich habe den Eindruck, daß Ihre Fürsprache mehr der Frau als der Kriminalistin gilt.“ Der Oberstleutnant kennt Schönfelder fast ein Jahrzehnt lang, doch er hat ihn nie so perplex gesehen wie in diesem Moment, und er genießt die Überraschung. Schönfelder sitzt auf dem trockenen. Der Alte ist verrückt, denkt er. Hat wohl nicht richtig ausgeschlafen. Da fällt Schönfelder der vor wenigen Minuten abgebrochene Satz ein. Der war ihm einfach zu schwärmerisch erschienen, deshalb … Der Alte hat das gleich mitgekriegt. Das Mädchen hat ihm gefallen, klar. Na und? „Ob Sie es glauben oder nicht, Genosse Oberstleutnant, ich habe Petra Waldner vor ungefähr anderthalb Stunden zum ersten Mal gesehen“, erklärt er mit aufgesetzter Amtsmiene. „Vorher hatte ich nicht einmal von ihr gehört.“ „Das ist meistens so. Irgendwann fängt jede Sache einmal an. Da Sie Mitte Dreißig sind und seit vielen, vielleicht schon allzu vielen Jahren wieder allein leben, wäre es ja nicht absonderlich …“ Burmeister läßt den Rest unausgesprochen. Statt dessen fährt er fort: „Oftmals merkt ein Außenstehender eher als die Betroffenen selber, daß da etwas mitschwingt. Und 244
ich kann mir schwer vorstellen, daß ich mich hier so irren sollte. – Na gut, ich vertraue darauf, daß es sich bei Petra Waldners Arbeit in der Einsatzgruppe der MUK um eine sehr kurzfristige Abkommandierung handelt.“ Das ‚kurzfristig‘ behagt Schönfelder nicht. Aber er versteht sein Aufbegehren glaubhaft zu begründen. „Sie wollen mich gewissermaßen unter Erfolgszwang stellen? Wie die Dinge gegenwärtig liegen, sieht es nicht so aus, als könnten wir das Verbrechen binnen weniger Tage aufklären.“ „Ach, ich habe zuweilen etwas mehr Vertrauen zu Ihren Fähigkeiten, als Sie an Selbstvertrauen aufbringen – obwohl es Ihnen daran eigentlich nicht mangelt.“ „Das ist beinahe eine Erpressung!“ Burmeister lacht. „Und wenn, Hauptsache, Sie nehmen bald den Täter fest. Werden Sie ihn im Kreise der von Waldner betreuten Jugendlichen suchen?“ „Das auch. Ich habe den Untersuchungsplan noch nicht auf dem Papier.“ „Aber im Kopf!“ „Das ist mir nicht exakt genug. Weshalb aber denken Sie zuerst an die Jugendlichen und nicht an eventuelle Bekannte aus Waldners VP-Zeit, zum Beispiel ehemalige Straffällige, die durch Waldner oder dank seines Mitwirkens bestraft worden sind? Motiv: Rachsucht. Oder eine andere Variante, eine Kombination: Ein Mensch aus dieser Verdächtigengruppe hat mit Straftaten zu tun, in die einer von Waldners derzeitigen Schützlingen verwickelt ist. Er hat Waldner wiedererkannt und ihn aus Angst vor erneuter Verhaftung und Strafe niedergeschlagen.“ „Diese zweite Variante wäre denkbar, doch das andere, Rache?“ Burmeister ist skeptisch. „Überlegen Sie: Im Herbst neunzehnhundertsechsundfünfzig wurde der damalige Leutnant Martin Waldner schwer verletzt und schied nach langer Krankheit, invalid, aus der VP aus. 245
Beinahe zwanzig Jahre sind seitdem vergangen. Es gibt wenige Straftatbestände, die inzwischen nicht verjährt wären. Deswegen scheint mir diese Variante ziemlich an den Haaren herbeigezogen zu sein. Außerdem war Waldner als ABV und Leutnant der Schutzpolizei nicht unmittelbar an Ermittlungen schwerer Verbrechen beteiligt. Wäre das dennoch in einem Ausnahmefall geschehen, spräche ein weiteres Argument dagegen: Rache als Motiv führt meistens auch zu unverzüglicher Tat. Aber unser Strafvollzug stellt das Erziehungselement in den Vordergrund. Wie viele Verbrecher haben sich vorgenommen – gewöhnlich nach der Urteilsverkündung –, es dem Kriminalisten, Staatsanwalt oder Richter später heimzuzahlen. Ich kenne ungezählte Kriminalfälle, kann mich aber nur an zwei erinnern, in denen ein entlassener Strafgefangener versucht hat, diesen alten Vorsatz wahrzumachen. Es gibt noch ein anderes Moment, das dagegenspricht: die höchste zeitlich begrenzte Freiheitsstrafe beträgt fünfzehn Jahre. Ein Täter aus dem Jahre neunzehnhundertsechsundfünfzig wäre also – vorausgesetzt, er hätte seine Strafe voll verbüßen müssen – vor etwa vier Jahren entlassen worden. Vier Jahre hätten demnach seine Rachepläne auf Eis gelegen. Dabei wäre sicherlich das letzte Restchen Wut abgekühlt. Bliebe eins: ein Lebenslänglicher, der begnadigt worden ist. Das wäre leicht festzustellen, ein Anruf beim Bezirksstaatsanwalt genügt. Das erübrigt sich wiederum, weil wir in einem solchen Falle von dort aus informiert worden wären.“ „Sie halten also Ermittlungen in dieser Richtung für überflüssig?“ Burmeister schaut den Hauptmann verwundert an. „Ich habe Ihnen nur meine Bedenken genannt. Der Leiter der MUK sind Sie. Daß Sie diese Grundregel vergessen haben, liegt wohl an einer gewissen Müdigkeit, die mit zunehmendem Alter die nervliche Spannkraft …“ 246
„Sie können hänseln, wie Sie wollen – aus der Ruhe bringen Sie mich dadurch nicht. Ihre Bedenken haben nämlich einen Haken! Wie oft sind am Schluß langwieriger Ermittlungen Angehörige der Schutzpolizei diejenigen, die dem Täter die Handschelle anlegen oder ihn mit der Waffe zwingen, sich zu ergeben. Damit werden sie für den Verbrecher mehr zu personifizierten Staatsgewalt als Staatsanwalt und Richter.“ „Allerdings“ – Burmeister freut sich, durch seinen Widerspruch den Hauptmann etwas aufgemuntert zu haben, so daß der trotz verständlicher Müdigkeit wieder unternehmungslustig argumentiert –, „doch dieses Langzeitproblem bleibt.“ „Trotzdem muß ich mir ein Bild von dem ehemaligen Volkspolizisten Martin Waldner machen. Sie haben ihn gut gekannt, sind wohl beinahe Freunde gewesen, und Sie haben mit ihm zusammen in den ersten Nachkriegstagen den Polizeidienst angetreten.“ Schönfelder nimmt seine Brille ab, bläst ein Stäubchen vom Glas und setzt sie wieder auf. Ein ganz kleines bißchen Siegerstolz ist in seinem Lächeln, als er nun dem Oberstleutnant erklärt: „Somit sind Sie im Augenblick für mich nicht mehr mein Vorgesetzter, sondern ein Bürger, den ich zu einigen Fakten befragen muß.“
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