Jan J.Moreno
Der Tod kommt vor dem Morgengrauen „ Wir haben den Sturm verflucht, doch die Flaute ist schlimmer. Sie ni...
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Jan J.Moreno
Der Tod kommt vor dem Morgengrauen „ Wir haben den Sturm verflucht, doch die Flaute ist schlimmer. Sie nimmt uns die Hoffnung. Ich fürchte den Tag, an dem selbst der Frömmste unter uns wegen der letzten Kante Zwieback zum reißenden Tier wird. Noch beten die Pilger. Aber ich habe ihre Gesichter gesehen, hart und verbittert, von den Strapazen gezeichnet. Und keine Hoffnung, daß der Wind auffrischt. Nahezu unbewegt liegt die See. Nebel hat die anderen Schiffe verschluckt. Das Warten wird zur Qual. Ein unseliger Fluch scheint unserer kleinen Flotte zu folgen, seit wir London verließen. Ich beginne mich zu fragen, auf was wir warten. Vielleicht auf den Tod?" Aus dem Logbuch der „Pilgrim", Aufzeichnung des Kapitäns James Drinkwater vom S. Juli 1598, sechs Glasen der Morgenwache.
Die Hauptpersonen des Romans: Jeremiah Henford - seine Frau und sein kleiner Sohn sind krank und halb verhungert, da bricht er in die Kombüse ein. James Bucknan - der junge Mann soll hängen, weil er einen Decksmann der „Pilgrim" erstochen hat. James Drinkwater- der Kapitän der „Pilgrim" wird mit neuen Schrecken konfrontiert und versucht, menschlich zu reagieren. William Anderley - der wüste Kapitän der Rabauken-Karavelle entschließt sich zum Angriff, weil seinen Kerlen die Mägen knurren. Philip Hasard Killigrew - im richtigen Moment spielt der Seewolf das leibhaftige Donnerwetter.
1. Die Luft unter Deck war stickig und schwül. Jeremiah Henford schlief schlecht, eigentlich döste er nur mit offenen Augen. Dabei war es weniger der schale Mief, der ihm so zusetzte, als die erdrückende Nähe der anderen Passagiere. Der Untergang der „Discoverer" hatte alles nur noch schlimmer werden lassen. Seit Tagen schreckte Henford immer wieder schweißgebadet hoch. Dann glaubte er das Tosen der entfesselten See zu hören, das Splittern und Bersten, als der Kaventsmann, eine Riesenwelle, die „Discoverer" von einem Augenblick zum anderen entmastet hatte, und die verzweifelten Schreie der Männer, Frauen und Kinder, denen die See zum nassen Grab geworden war. „Der Herr ließ einen großen Wind aufs Meer kommen, ein schreckliches Unwetter, daß man meinte, das Schiff würde zerbrechen. Die Schiffsleute fürchteten sich und schrien, ein jeder zu seinem G o t t . . . Und sie n a h men Jona und warfen ihn ins Meer. Da wurde das Meer s t i l l . . . " Ein kurzer, spitzer Aufschrei ließ Jeremiah Henfords verhaltenes Murmeln verstummen. Die Frau, die ne-
ben ihm auf den nackten Planken lag, nur in eine Decke eingerollt, k r ü m m t e sich vor Schmerzen. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. „Elizabeth!" Sie reagierte nicht auf seine Stimme, auch nicht darauf, daß er ihr den Schweiß von der Stirn wischte. Ihre Wangen waren eingefallen, spitz traten die Knochen unter der spröden Haut hervor. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Um sie herum hatten sich dunkle, blutunterlaufene Ringe gebildet. Jeremiah Henford mußte alle Kraft aufbieten, um seine Frau auf den Planken festzuhalten. Wenn sie es vor Schmerzen nicht mehr aushielt, k r ü m m t e sie sich wie ein Aal. Seit T a gen mehrten sich ihre Anfälle. J e r e miah sehnte den Tag herbei, an dem endlich Land an der Kimm auftauchte. Aber bislang war alles Beten vergebens. Wie die meisten Pilger hatte er sich die Überfahrt in die Neue Welt völlig anders vorgestellt. Elizabeth begann zu hecheln wie ein junger Hund, als stünde ihre Niederkunft bevor. Vorsichtig tastete Henford über ihren Leib. Sechs Monate mußten noch ins Land ziehen, bis er seinen Sohn in die Arme schlie-
5 ßen konnte. D a ß es ein Sohn würde, dessen war er sicher. Elizabeth war schön wie am ersten Tag ihrer Ehe. Trotz ihres schmerzverzerrten Gesichts und des schlohweißen Haaransatzes. Der Sturm hatte sie über Nacht grau werden lassen. „Wir schaffen es", murmelte J e r e miah. „Du m u ß t nur fest d a r a n glauben, dann wird alles gut." Endlich schlug sie die Augen auf. Aber ihr Blick ging durch ihn hindurch und verlor sich in unendlicher Ferne. Jeremiah küßte sie auf die Stirn. Von irgendwoher zauberte er ein Stück Zwieback. Das schob er seiner Frau zwischen die Lippen. Doch Elizabeth biß die Zähne zusammen, „Das ist deins", brachte sie undeutlich hervor. „Ich brauche es nicht." „Aber ich will, daß du das ißt", beh a r r t e der Mann. „Nein." „Dann tu es für unser Kind." „Jeder empfängt seine Ration", wehrte Elizabeth ab. „Ich k a n n dir nichts wegnehmen, Jeremiah. Du m u ß t stark bleiben - was täten wir ohne dich?" „Denkst du nicht an das neue Leben, das entsteht?" Unvermittelt packte Elizabeth Henford zu, brach das ohnehin kleine Stück Schiffszwieback mittendurch und reichte ihrem Mann die eine Hälfte. „Der Herr läßt uns nicht zuschanden werden", murmelte sie. Ihre Zuversicht wirkte nicht echt, und ihr Lächeln gefror auf den blutleeren, aufgeplatzten Lippen. Zwei Bissen Zwieback waren es für jeden. Sie kauten lange auf den harten K r ü meln, weil ihnen der Speichel fehlte. Auch das Wasser war rationiert. Eine Weile saß Jeremiah Henford reglos da, das Gesicht in die Handflächen vergraben und die Ellenbpgen
auf den Beinen abgestützt. Er lauschte dem Ächzen der Bordwände und dem dumpfen Gurgeln von außerbords. Die „Pilgrim" lief kaum Fahrt über Grund. Elizabeth war eingeschlafen, als der Mann endlich wieder aufsah. Ihre Züge hatten sich ein wenig gelöst. Vielleicht träumte sie von der Neuen Welt und den fruchtbaren Weiten, von denen in England soviel geredet wurde. Jeremiah hielt es nicht mehr aus unter Deck. An einem Binnenspant stemmte er sich hoch und stieg über die Schlafenden neben sich hinweg. Zu zehnt waren sie in den Laderaum über der Bilge gepfercht, zusammen mit dem aus Sandsäcken bestehenden Ballast, der sich nun neben dem Schott türmte, und mit allerlei Ungeziefer. Tief atmete Henford durch, als er den Niedergang zur Kuhl erreichte. Augenblicke später stand er an Deck und hielt sich an einem Tau fest. Die kühle Seeluft stach in seine Lungen und ließ seine Knie weich werden. Die eigene Schwäche erschreckte ihn. Eine klamme, bedrückende Feuchtigkeit herrschte. Hinter dem Schanzkleid wogte der Nebel in dichten Schwaden, achteraus war die aufgehende Sonne lediglich als trüber Fleck inmitten der Düsternis zu erahnen. Schlaff hing das Tuch von den Rahen. Jeremiah Henford hatte wenig Ahnung von Seemannschaft, aber daß die Galeone selbst unter Vollzeug wie ein bleierner Fisch im Wasser lag, erschreckte ihn. Konnte die Einsamkeit schlimmer sein als das Gefühl, in der Nebelbank von Raum und Zeit abgeschnitten zu sein? Wo befanden sich die anderen Schiffe? Der Nebel ließ das Deck glitschig werden. Vorsichtig enterte Henford zur Back auf. Seine Tochter Ireen hatte sich vor dem Morgengrauen
6 hierher zurückgezogen. Mit dem dreijährigen Jonas, der unter Deck fast ständig weinte. Jetzt schlief der Junge, Hunger und Erschöpfung hatten also doch ihr Recht gefordert. Auch Ireen döste vor sich hin. Sie bemerkte ihren Vater erst, als er neben der Nagelbank in die Hocke ging. „Es ist alles in Ordnung", flüsterte Jeremiah beruhigend. „Und Mam?" fragte Ireen schlaftrunken. „Ihr Zustand hat sich nicht verändert." „Mein Gott, was soll nur werden?" Ireen hatte geweint. In ihren Augen, die stets voll Fröhlichkeit gewesen waren, lag ein feuchter Schimmer. „Sieh voraus", mahnte ihr Vater. „Die Neue Welt wird uns für alles entschädigen. Wichtig ist nur, daß wir nicht den Glauben verlieren." „Und die, die auf der ,Discoverer' ertrunken sind, hat ihnen ihr Glaube geholfen?" Wie das Mädchen, eigentlich schon eine junge Frau, das sagte, klang es überaus verbittert. „Ireen!" fuhr Henford sie an. „Versündige dich nicht! Sei dankbar dafür, daß wir am Leben bleiben durften." „Und wie lange noch? Drei Tage, vielleicht sogar vier? Und d a n n ? " „Die Flaute geht vorüber. Du wirst sehen..." „Woher nimmst du deine Sicherheit, Dad? Alles ist so anders, als wir uns erträumten. Wir sind nicht mehr als Schafe, die man zusammengetrieben hat und die vor dem Wolf zittern. Zum Leben haben wir zuwenig, aber zum Sterben ist es noch zuviel, was uns der Kapitän vorsetzen läßt." „Unser Herr, als der Satan ihn in Versuchung führte, besaß noch weniger." „Trug er, wie Mutter, ein Kind unter dem Herzen?" „Ireen!" Jeremiah Henford war stolz darauf, seine Tochter nie hart
oder gar ungerecht behandelt zu h a ben. Aber jetzt lagen eine Schärfe und Zurechtweisung in seiner Stimme, die Ireen erschrocken zusammenfahren ließen. Sogar der kleine Jonas schreckte auf. Sein heiseres Schluchzen vermischte sich mit dem Weinen anderer Kinder, das durch die Grätings nach oben drang. Henfords Miene wirkte wie versteinert, als er sich abrupt umwandte. „Dad, was hast du vor?" Falls er die Frage hörte, bereitete er sich zumindest nicht die Mühe, seiner Tochter zu antworten, Ireen sah nicht, daß er die Hände zu Fäusten geballt hatte.
Jeremiah Henford schluckte schwer, als stecke ihm eine Gräte im Hals. Doch in Wirklichkeit war es die Sorge um die Seinen, die ihn quälte. Und nicht viel weniger der Hunger, der zunehmend stärker in den Eingeweiden wühlte. Seit drei Tagen, als Elizabeth zum erstenmal die Anzeichen von Fieber erkennen ließ, teilte er seine ohnehin kärglichen Essensrationen mit ihr. Sie war jetzt in einem Zustand, in dem sie mehr brauchte als nur wenige karge Bissen. Aber was die Sorgen und Nöte der Passagiere betraf, hatte jeder Offizier an Bord zwei taube Ohren. Angewidert spie Henford aus. „Schinderpack", stieß er gepreßt hervor. „Bestimmt leidet ihr selbst noch keinen Mangel." Unwillkürlich lenkte er seine Schritte zur Kombüse. Das wurde ihm allerdings erst klar, als er vor dem betreffenden Schott stand. Einen Herzschlag lang zögerte er. Aber was hatte er schon zu verlieren? Entschlossen ging er weiter. Unter dem großen Kessel brannte zu dieser frühen Stunde ein spärliches Feuer. Der Rauch kräuselte sich durch den Abzug zur Back hoch. Es
7 roch nach Harz und ganz leicht nach Speck. Vom kochenden Inhalt des Kessels geradezu magisch angezogen, griff Henford nach einer herumliegenden Kelle. Nur einmal kosten, dachte er. Nur das Aroma des zerfallenden Specks und des aufgeweichten Zwiebacks auf der Zunge spüren. Der Herr wird wohl beide Augen zudrücken. Doch Henford hatte den Koch vergessen. Und der war leider ganz und gar nicht gewillt, eine einzelne Ration auszuteilen. „Du, Kerl, laß deine schmutzigen Finger da weg!" erklang es wütend. „Lausiges Diebsgesindel schätze ich gar nicht." Jeremiah Henford, die Kelle schon nach der dünnen Suppe ausgestreckt, wandte zögernd den Kopf. Er schwankte zwischen dem drängender werdenden Hungergefühl und der Erkenntnis, sich selbst einen verdammt schlechten Dienst zu erweisen. Der Koch stand neben dem Vorratsschapp und funkelte den ungebetenen Eindringling herausfordernd an. Wer die Kombüse betrat, konnte ihn nicht auf Anhieb sehen. In der Linken hielt er ein Messer, das einem Schiffshauer an Größe kaum nachstand. Sein aufgedunsenes Gesicht war gerötet, die stechenden Schweinsäuglein lagen tief in den Höhlen. „Dich sollte man kielholen", fauchte er, und die Klinge zeigte geradewegs auf Henfords Bauch. „Nur eine halbe Muck voll von der Brühe", bat Jeremiah. „Meine Frau ist schwach." „Verschwinde! Oder ich nagle dich an den nächsten Mast." „Sie erwartet ein Kind." „Und wennschon", erklang es wenig gefühlvoll. „Allen geht es drekkig." „Sir, ich bitte Sie. Das Fieber und die Schwäche bringen Elizabeth um." Die Haltung des Kochs ließ keinen
Zweifel daran, daß er Henford ans Leder gehen würde. „Wo kämen wir hin, wenn jeder seinen eigenen Kurs läuft?" sagte er wütend. Mit hängenden Schultern, um eine Hoffnung ärmer, zog sich Jeremiah zurück. Vor der Kombüse atmete er erst einmal tief durch. Er war bereit Elizabeth und der Kinder wegen auf alles zu verzichten. Aber wie lange konnte er das durchhalten? Zwei Tage noch, vielleicht sogar drei, doch dann würde die Schwäche unweigerlich ihren Tribut fordern. Der Klang der Schiffsglocke hallte über die Decks. Acht Glasen. Allmählich wurde es an Bord lebendig. Aber es gab wenig zu tun, solange der Wind nicht auffrischte. Die Mannschaft verbrachte die Tage mit Ausbesserungsarbeiten. Schon wieder breitete sich der Geruch von erhitztem Pech aus, mit dem die Nähte zwischen den Plankengängen kalfatert wurden. Von irgendwoher erklang das monotone Geräusch einer Lenzpumpe. Eine innere Unruhe trieb Henford zu seiner Frau zurück. Er begegnete einigen Seeleuten, doch beschränkte sich der Kontakt auf ein knappes Kopfnicken. Wie so meist. Die Kluft zwischen den Pilgern und der Mannschaft, die von Anfang an bestanden hatte, wurde zunehmend deutlicher. Vermutlich gaben die Seeleute den Auswanderern aus der alten Heimat die Schuld an den Zuständen an Bord. Henford sah das ein wenig anders. Wenn Kapitäne wie Robert Granville von der „Discoverer" um des Profits willen mehr Passagiere an Bord n a h men als zuträglich und dafür womöglich Proviant an Land zurückließen, dann war das einzig und allein ihre Verantwortung. Der Herr mochte ein Einsehen h a ben und nicht die Pilger dafür strafen. Blutopfer waren genug gezollt worden. Die Cholera an Bord der
8 „Explorer" und erst recht der Untergang der „Discoverer" hatten viele Menschenleben gekostet. Zwei Tranfunzeln tauchten den Pferch, wie Henford den halb ausgeräumten Laderaum bei sich nannte, in ein spärliches Halbdunkel. Der Mief hier unten, obwohl er durch Grätings abziehen konnte, war fürchterlich. Elizabeth lag zitternd auf ihrem L a ger. Jemand hatte ihr eine zweite Decke untergelegt, um sie wenigstens vor der von unten aufsteigenden klammen Nässe zu schützen. J e r e miah erschrak, als er ihre Augen sah. Sie wirkten glasig, und ihr Blick war unstet und flatterhaft. Sanft fuhr er seiner Frau über die Stirn. Elizabeth schwitzte nicht mehr, hatte aber noch immer Fieber. Sie hielt die Hände auf den Leib gepreßt. Blässe überzog ihr Gesicht. „Das Kind?" Henford erschrak. Schwerfällig schüttelte die Frau den Kopf. „Dann ist es der Hunger", m u r melte Jeremiah. „Du m u ß t mehr zu essen kriegen." „Ich - will keinen - Ärger", brachte sie abgehackt hervor, griff nach seinem Arm und zog ihn näher zu sich heran. „Bitte", raunte sie, „wage nicht zuviel." Unvermittelt legte sich eine schwere Hand auf Henfords Schulter. Zwei Pilger standen hinter ihm. Den einen, Brian O'Selly, kannte er, denn der war ebenfalls als Passagier für den Frachtraum eingeteilt worden. Der andere war ein Hüne von Gestalt, breitschultrig, muskulös und gut einen Kopf größer als der keineswegs kleine Brian. „Das ist Bartholomew Roberts", stellte O'Selly vor. „Ich denke, gemeinsam können wir unser Problem lösen." „Für die Flaute ist niemand verantwortlich." Henford richtete sich zögernd auf.
„Aber für den Hunger an Bord." O'Selly warf einen schnellen Blick in die Runde. Keiner beachtete sie. Die meisten waren mit sich selbst b e schäftigt oder starrten blicklos ins Leere. Das Warten, ohne daß etwas geschah, zehrte an den Nerven. „Bartholomew hat einiges herausgefunden, was noch keiner von uns wußte", fuhr O'Selly in verschwörerischem Tonfall fort. Erklärend fügte er hinzu: „Wir sind alte Freunde." „Was hat das mit mir zu t u n ? " fragte Henford zögernd. „Du willst deiner Frau helfen?" „Natürlich." „Eben. Und Bartholomew und ich können zwei kräftige Fäuste b r a u chen." „Habt ihr vor, die Kombüse zu plündern?" „Unsinn." Für einen Moment blitzte es in O'Sellys Augen erheitert auf. Doch wurde er schlagartig wieder ernst. „Bartholomew hat h e r a u s gekriegt, daß es über der Bilge einen verschlossenen Raum gibt, in dem Zwieback, Pökelfleisch und Süßwasser aufbewahrt werden. Es soll sich um die Notration der Mannschaft handeln." Henford blickte die beiden entgeistert an. Wenn das wahr war, h a n delte es sich um eine riesige Schweinerei. Die Pilger darbten, und die Mannen um den Kapitän hatten w o möglich mehr als genug, um satt zu werden. „Du bist also dabei", sagte Brian O'Selly leise. „Ich sehe es dir an." Noch zögerte Henford. „Das siebte Gebot", mahnte er, „du sollst nicht stehlen. Habt ihr das vergessen?" „Und der Kapitän und die Mannschaft?" Bartholomew Roberts schnaubte erzürnt. „Verhalten die sich, wie es sich für gläubige Christen geziemt? Jeder von uns hat für die Überfahrt bezahlt, viele sogar mit i h rem ganzen Vermögen."
9 Stöhnend wälzte sich Elizabeth auf ihrem Lager. Schweiß perlte auf ihrer Stirn. Für Jeremiah gab das den Ausschlag. „Ich bin dabei", sagte er. „Wann holen wir die Sachen?" „Eine Stunde ist so gut wie die andere", erklärte Roberts. „Aber je eher wir etwas unternehmen, desto eher kriegen wir etwas Vernünftiges zwischen die Zähne."
Die Aussicht, wenigstens einen Teil der Gerechtigkeit wiederherzustellen, ließ Henford alle Bedenken über Bord werfen. Fest umklammerte er den unter dem Hemd versteckten Belegnagel. Wohl niemand würde das Verschwinden dreier Hölzer entdekken, die sich hervorragend als Waffe einsetzen ließen. Und Jeremiah war entschlossen, diese Waffe zu gebrauchen. Das war er schon Elizabeth und den Kindern schuldig - hatte doch er seine Frau überredet, in der Neuen Welt einen zweiten, besseren Anfang zu wagen. Wenn sie starb, war das auch seine Schuld, denn ohne sein Drängen säße Elizabeth noch heute in der alten Kate gut ein Dutzend Meilen westlich von London. Aber was war das für ein Leben gewesen, Tag für Tag Ziegenmilch und frischen Käse auf den Märkten der Umgebung feilzubieten! In der Neuen Welt, so hatte Jeremiah gehört, sollte alles besser, schöner und viel größer sein. Daß die See tödlich sein konnte und die Kapitäne der Pilgerschiffe gerissene Beutelschneider waren, davon hatte niemand gesprochen. Jeremiah Henford zerbiß eine Verwünschung zwischen den Zähnen. Er warf einen letzten Blick in die Runde, bevor er sich anschickte, Brian und Bartholomew wieder unter Deck zu folgen. Der Nebel hatte sich ein wenig
gelichtet und schien allmählich in die Höhe zu steigen. Gleichwohl war die Sicht noch immer auf wenige Kabellängen beschränkt, und von den anderen Schiffen nicht eine Spiere zu sehen. „Eine weiße Bö!" Der laute Ausruf ließ Henford innehalten. Zuerst wußte er nicht, was gemeint war, dann entdeckte er den hellen Schaumstreifen auf dem Wasser, der sich von Steuerbord her nur wenig achterlicher als dwars näherte. Augenblicke später spürte er die kühle frische Brise, die eine Schneise von wenigen hundert Yards Breite in den Nebel riß. Die Segel begannen zu killen, blähten sich - es war fast wie ein Wunder. Die Brise wurde steifer, das Schiff krängte nach Backbord und lief plötzlich wieder Fahrt. Befehle hallten über Deck. Die Segel wurden getrimmt. Von irgendwo erklangen Jubelrufe. Ächzend schien die Galeone die Lethargie abzuschütteln, die sie während der letzten Tage umfangen hatte. Dann war die Flaute wieder da. Übergangslos lag die See erneut so spiegelglatt wie zuvor, hingen die Segel wieder schlaff von den Rahen. Die Bö war Weitergezogen. Wie zum Spott hatte sich der Wind flüchtig erhoben, um den verzweifelten Menschen an Bord die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage noch deutlicher vor Augen zu führen. Jeremiah Henford schickte ein Stoßgebet dahin, wo er die Sonne hinter dem Dunst nur erahnte. Aber der Wind frischte nicht von neuem auf. Henford hatte das Gefühl, als lege sich eine eiserne Zwinge um seinen Leib. Das Atmen fiel ihm schwer, alles in ihm verkrampfte sich in einem stummen Aufbäumen. Welche Schuld hatten die Pilger auf sich geladen, daß der Herr die Augen vor ihrer Not verschloß? Mein Gott, warum? schoß es ihm durch den Sinn. Ist es recht, wenn du
10 Frauen und Kinder quälst? Was sollen wir tun? Daß er die letzten Worte unwillkürlich laut ausgesprochen hatte, wurde ihm erst bewußt, als ihn O'Selly aus seinen Gedanken wachrüttelte. „Du weißt, was wir tun müssen", raunte Brian und zerrte ihn mit sich. Henford war zum Laufen gezwungen. „Wir hatten Wind", sagte er. „Satan spielt mit der ,Pilgrim' ", erklärte Bartholomew Roberts. „Bedarf es eines besseren Beweises?" Dann mußten sie vorsichtig sein. Roberts gab den Gefährten zu verstehen, daß sie hinter der nächsten Biegung auf die Wache stoßen würden. Niemand hielt sich in diesem Teil des Schiffes auf, in dem lediglich Segeltuch, Farben und Hölzer gelagert wurden. Henford wußte, welches Risiko sie eingingen. Die Wache durfte keinen von ihnen erkennen, wollten sie nicht an der Rah baumeln oder gar gekielholt werden. Nachdem sich Roberts und O'Selly die provisorischen Kapuzen mit den Sehschlitzen übergezogen hatten, verfiel Henford in einen taumelnden Gang. Einem jähen Hustenanfall folgte ein krampfhaftes Würgen, bevor er zusammenbrach. Seine Finger schlossen sich um den Belegnagel. Er hatte noch nie einen Menschen niedergeschlagen, aber wenn es sein mußte, würde er den richtigen P u n k t zu treffen wissen. Die Wache war aufmerksam geworden. Schlurfende Schritte näherten sich. Zwei nackte Füße gerieten in Henfords Blickfeld. Sich wie unter krampfartigen Schmerzen k r ü m mend, blinzelte er vorsichtig nach oben. Der Mann trug knielange, ausgefranste Hosen, in seinem Gürtel steckte ein Dolch. Er war überaus muskulös, ein Kerl, mit dem sich Hen-
ford unter anderen Umständen gewiß nicht angelegt hätte. „He, du!" erklang es grollend. „Was ist los?" Henford brachte etwas Unverständliches hervor. In dem Moment, in dem er sich bückte, bemerkte der Kerl die beiden vermummten Gestalten. Seine Rechte zuckte zum Dolch, trotzdem reagierte er zu langsam. Bartholomew Roberts schleuderte den Belegnagel mit aller Kraft. Das Holz traf den Seemann haargenau vor der Brust und ließ ihn wanken. Die kurze Zeitspanne genügte Henford, um hochzuschnellen und zuzustoßen. Brian O'Selly war ebenfalls mit wenigen Sätzen heran und schmetterte seine Waffe auf den Schädel des Angegriffenen. Lautlos brach der Kerl zusammen. Das Schott war verschlossen. Während Roberts den bewußtlosen Seemann fachgerecht verschnürte und ihn mit einem Stück Werg knebelte, versuchte O'Selly, die Verriegelung aufzubrechen. Als Hebel setzte er einen Belegnagel an und nahm dann den Dolch zu Hilfe. Doch das Schott erwies sich widerstandsfähiger als erwartet. Henford sicherte inzwischen am Niedergang nach oben. Endlich kapitulierte die Verriegelung vor den zornigen Rammstößen. Muffige, abgestandene Luft schlug den drei Auswanderern entgegen. Das bißchen Helligkeit, das in den Raum fiel, reichte gerade aus, um die Umrisse von Kisten und Fässern erkennen zu lassen. Triumphierend schlug O'Selly Henford auf die Schulter. „Haben wir zuviel versprochen?" fragte er. „Das dürfte ausreichen, um noch eine ganze Woche Flaute zu überstehen." Jeremiah blieb stumm. Der Geruch, modriger als anderswo an Bord, gefiel ihm nicht.
11 In Brusthöhe neben dem Schott hing eine Tranlampe. Roberts steckte den Docht an. Der flackernde Schein verbreitete neue Zuversicht. Sie schleppten den Seemann in den Raum und schlossen das Schott hinter sich. Eine fette Ratte turnte über die Kisten. Sie floh quietschend, als O'Selly das Messer nach ihr warf. Zwölf Fässer Wasser, zehn Kisten Zwieback und acht Fässer Pökelfleich - angesichts dieser Menge achtete keiner darauf, daß die Planken durchnäßt und großflächig von dichtem grünen Schimmel überzogen waren. Der Raum maß nur wenige Schritte, dem Schott gegenüber stand brackiges Wasser mehr als knöcheltief. An den Modergeruch gewöhnte m a n sich rasch. Doch er wurde intensiver, als O'Selly eine der Kisten öffnete. Irgend jemand hatte die Nägel bereits entfernt, der Deckel lag nur lose auf. O'Selly prallte entsetzt zurück. Eine inbrünstige Verwünschung folgte. In der Kiste war Zwieback gewesen. Indes hatte dieser längst Wasser gezogen und sich in eine übelriechende Masse verwandelt. Eine dicke Schicht Schimmel, in die tote Maden eingesponnen waren, bedeckte die Oberfläche des Breies. Hastig öffneten die Männer die anderen Kisten. Der gesamte Zwieback war ungenießbar geworden. Das P ö kelfleisch war wohl vor Tagen in Verwesung übergegangen. Hier begann sich der Schimmel zwar erst auszubreiten, doch dafür wimmelte eine Heerschar bleicher Fadenwürmer durcheinander. „Das ist - Wahnsinn." Bartholomew. Roberts schluckte krampfhaft. „Die Würmer müssen schon in London dringewesen sein." „Jemand hat ein verdammt dreckiges Geschäft betrieben", bestätigte
O'Selly. „Diesem Halunken ist es egal, ob wir alle draufgehen." „Ohne die Schiffbrüchigen, die wir aufgenommen haben, und ohne die Flaute wäre alles vielleicht halb so schlimm." „Willst du den Mistkerl in Schutz nehmen, Bartholomew?" schnaubte Brian O'Selly aufgebracht. „Unsinn." Roberts vollführte die Bewegung des Halsabschneidens. „Die Kisten waren geöffnet", gab Henford zu bedenken. „Also wissen der Kapitän und zumindest seine Offiziere Bescheid. Ich frage mich, warum unter diesen Umständen eine Wache aufgestellt wurde." ,,Um uns Auswanderer zu täuschen", sagte O'Selly erbittert. „Wir sollen glauben, daß es mit den Rationen, die wir empfangen, noch wochenlang weitergehen kann." Auch das Süßwasser war verdorben, obwohl es nicht so schlimm stank wie die anderen Nahrungsmittel. Ein Verdurstender hätte es wohl bedenkenlos getrunken, denn schließlich war egal, woran er starb, aber die drei Mannen brachten es nicht fertig, auch nur ein Ösfaß voll von der schillernden Brühe mitzunehmen. Um den gefesselten Seemann, der langsam das Bewußtsein zurückerlangte, kümmerten sie sich nicht. Falls er sich nicht selbst befreien konnte, würde er spätestens nach dem Wachwechsel vermißt werden. 2. Die See lag so spiegelglatt, daß sich selbst erfahrene Seeleute kaum erinnern konnten, in diesen Breiten jemals eine so lange währende Flaute erlebt zu haben. Es war, als hätte sich alles gegen die Pilger verschworen, als sollten sie nie die Neue Welt erreichen, die manche von ihnen schon für das Gelobte Land hielten. Gegen Mittag, als die Sonne ihren
12 höchsten Stand erreichte, geisterten vereinzelte Lichtfinger vorab durch den Dunst und ließen die See in goldenem Schein erstrahlen. Delphine tauchten an Steuerbord auf. Sie schwammen nahe an das Schiff heran, doch als ein erster Musketenschuß krachte, tauchten sie jäh weg. Nur der Schatten des getroffenen Tieres verharrte dicht unter der Oberfläche. Um ihn herum färbte sich die See. „Timothy, du verdammter Idiot!" brüllte der Bootsmann. „Mußt du das Unheil herausfordern?" „Ich habe Hunger", erwiderte der Rudergänger, der geschossen hatte, gereizt. „Etwas anderes interessiert mich nicht, schon gar nicht ein dämlicher Aberglaube." In fliegender Hast lud er die Muskete nach. Ein Decksmann rannte mit einem Bogen heran und knotete eine dünne Leine um den gefiederten Schaft des Pfeiles. Der Delphin ließ einen kläglichen Pfeifton vernehmen, als die Muskete erneut auf ihn abgefeuert wurde. Er sackte einfach weg. Gleichzeitig bohrte sich der Pfeil neben seiner Rückenflosse in die glänzende Haut. „Wir haben ihn!" Timothy lachte, als wolle er den anderen beweisen, daß ihm nichts geschehen könnte. Das Tier bedeutete eine beachtliche Abwechslung auf dem kargen Speiseplan, bei dem Schmalhans K o m b ü senmeister war. Zwei oder drei Mannen bekreuzigten sich. Für sie blieb es Frevel, Delphine zu jagen, mochten die U m stände noch so widrig sein. Die Leine rauschte ab, bis der Bogenschütze zupackte und sie mit mehreren Schlägen an einer Klampe b e legte. Die ersten Gaffer, von den Schüssen aus ihrer Lethargie aufgeschreckte Pilger, versammelten sich auf dem Backsdeck. Alle sahen, daß der Delphin gegen den Pfeil in sei-
nem Rücken ankämpfte, aber die eisernen Widerhaken ließen ihm keine Chance. Seine Bewegungen wurden schwächer, er blutete stark und schien nicht mehr die Kraft zum A b tauchen zu haben. Zwei Kerle brachten Bootshaken. Doch bevor sie das verwundete Tier näher heranziehen konnten, schnappte einer der anderen Delphine keckernd nach der Leine. Sie faserte auf und riß. Kapitän James Drinkwater hatte schweigend das Geschehen verfolgt. Auch ihm war nicht wohl in seiner Haut, aber angesichts der davonziehenden Beute übernahm er das Kommando. Ein Beiboot wurde abgefiert. Sechs Mannen enterten ab und pullten, als gelte es ihr Leben. Vom Backsdeck aus wurden weitere Musketenschüsse abgefeuert, um die Delphine auseinanderzutreiben, die das verwundete Tier schützend eingekreist hatten. Die Jolle holte auf und folgte der dünnen, aber deutlich zu erkennenden Blutspur. Breitbeinig richtete sich Timothy im Bug auf, stützte seine Muskete auf den Gabelstock und legte abermals auf das verwundete Tier an. Bevor er feuern konnte, huschte ein mächtiger Schatten auf die Jolle zu, stieg unmittelbar neben ihm hoch und schmetterte die Schwanzflosse gegen das Dollbord. Eine Unmenge Wasser kam über, während der Delphin bäuchlings aufschlug und pfeilschnell hinter dem Boot in die Tiefe glitt. Timothy verlor den Halt und flog zusammen mit seiner Waffe außenbords. Vergeblich suchte er nach einem Halt. Sein Aufschrei erstickte, als ihm ein weiteres Tier aus dem Schwarm die Schnauze in den Leib stieß. Jeder Seemann kannte die Geschichte von Delphinen, die Schiffbrüchige an Land geschleppt oder sie zumindest so lange über Wasser gehalten hatten,
13 bis Rettung nahte. Aber hier hatten die Tiere begriffen, daß die Menschen auf dem Schiff Feinde waren, und sie verteidigten sich auf ihre Weise. Wieder wurde die Jolle schwer erschüttert. Zwei Riemen splitterten unter der Wucht des Aufpralls. Die Rudergasten waren zum Ösen gezwungen, wollten sie nicht bei der nächsten Attacke absaufen. Völlig unerwartet erklang der mehrstimmige Aufschrei von Bord der Galeone: „Haie!" Zwei Dreiecksflossen waren aus dem Nebel aufgetaucht und näherten sich. Die Meeresräuber hatten wohl das Blut gerochen oder waren von den ungewöhnlichen Geräuschen angelockt worden. Noch hielt die Nähe der Delphine sie vor einem Angriff zurück, aber wie auf ein geheimes Kommando hin zog der Schwarm davon. Weitere Schüsse fielen von der Back aus. Die schweren Kugeln rissen kleine Fontänen aus der See hoch, doch den Haien konnten sie nicht gefährlich werden. Trotz seiner Benommenheit, die ihm nahezu die Orientierung raubte, begriff Timothy die Gefahr, in der er schwebte. Der Delphin hatte ihn e m p findlich getroffen, und vor seinen Augen verschwamm die Jolle immer wieder hinter blutigen Schleiern. Etwas streifte seine Schulter und klatschte ins Wasser. Instinktiv griff er zu, kriegte die Leine tatsächlich zu fassen und spürte, daß er eingeholt wurde. Eine Salve von Schüssen dröhnte auf und vermischte sich mit gellenden Schreien. Schon im nächsten Moment wurde ihm die Luft knapp, eine unwiderstehliche Last drückte ihn unter die Oberfläche. In seinem Kopf dröhnte das Blut. Die Leine fest u m klammert, begann er um sich zu schlagen, nur von dem Wunsch beseelt, wieder aufzutauchen.
Ein jäher, stechender Schmerz zuckte durch seine Beine. Nicht so schlimm, daß er davon das Bewußtsein verloren hätte - doch einen Herzschlag später stellte er fest, daß ihm beide Beine nicht mehr gehorchten. Sie waren schlicht und einfach nicht mehr vorhanden. Von Entsetzen erfüllt, sah er einen mächtigen, grauen Schemen auf sich zuschießen. Die Rudergasten bemerkten die Unheil verheißende dreieckige Rükkenflosse, unmittelbar bevor sie a b tauchte. Als säße ihnen der Satan selbst im Nacken, holten sie die Leine ein. Von der Back aus wurde fast ununterbrochen geschossen. Die winzigen Wasserfontänen lagen nur mehr wenige Handbreiten hinter der Jolle. Zwei Mannen konnten die Hand des Ertrinkenden fassen, sie brauchten ihn nur noch übers Dollbord zu hieven, doch in dem jäh aufschäumenden Wasser wurde er ihnen mit ungestümer Gewalt entrissen. Ein riesiger Schatten, gut fünf Yards messend, zog unter dem Boot hindurch. Ein Schwall von Luftblasen kennzeichnete seinen Weg. Dann färbte sich die See rot. „Pullt, Kerls! Pullt, daß die Riemen brechen!" Der Befehl des Kapitäns war überflüssig. Die fünf Mannen wußten auch so, was ihnen bevorstand. Eine halbe Kabellänge trennte sie von der „Pilgrim". Sie legten sich ins Zeug, daß ihnen die Adern schwollen und die Riemen in den Rundsein krachten. Doch viel schneller als die Galeone glitten die beiden Haie näher. Die Räuber hatten Blut geschmeckt. Eins der Ungetüme schoß neben der Jolle hoch. Sein messerscharfes Gebiß zerhackte ein Riemenblatt. Nur der ausgefranste Schaft blieb ü b rig. Auf der Back der Galeone herrschte Wuhling. Unablässig feuerten drei
14 Offiziere auf die angreifenden Haie, während die Mannschaften alle Hände voll zu tun hatten, die Musketen neu zu laden. Es blieb nicht aus, daß einige Kugeln die Planken der Jolle durchlöcherten. Das Boot r a m m t e mit Wucht die Steuerbordseite der „Pilgrim". Drei weitere Riemen splitterten. Aber d a r auf achtete niemand. Peekhaken hielten die Jolle fest. Lange Leinen wurden über das Schanzkleid geworfen und vertäut. Zitternd vor Furcht, das Entsetzen im Nacken, enterten die Rudergasten nacheinander auf. Die Haie näherten sich dem großen Schiff nicht weiter als bis auf fünf oder sechs Yards. Womöglich hatten sie Respekt vor den Musketenkugeln. Bis sie endlich abzogen, verging noch eine geraume Weile. Kanonendonner rollte heran, als die Musketen endlich verstummten. Zwei weitere Schüsse folgten in k ü r zeren Abständen. „Das ist die ,Explorer' ", meinte K a pitän James Drinkwater. „Wenn der Nebel den Klang nicht ablenkt, liegt sie achteraus." Er gab den Befehl, das Signal zu beantworten, ließ zwei Drehbassen laden und abfeuern. Kurz darauf dröhnte ein einzelner Schuß durch den Nebel. Anschließend trat wieder Stille ein. Wenigstens wußte man jetzt, daß die „Explorer" nur wenige Seemeilen entfernt auf ein Auffrischen des Windes wartete. Solange die miserablen Wetterverhältnisse andauerten, bedeuteten aber schon tausend Yards eine schier unüberwindbare Distanz. Das Beiboot wurde wieder an Bord gehievt. Um die Schäden zu beheben, war genügend Zeit.
Den Tod des Rudergasten mitansehen zu müssen, hatte Ireen Henfords Vermögen, Entbehrungen und Leid
zu ertragen, weit überstiegen. Sie wollte schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Fest preßte sie den kleinen Jonas an sich und stürmte wie von Furien gehetzt davon, blindlings irgendwohin, wo sie allein sein konnte mit sich selbst und ihrem Entsetzen, wo nur Jonas sah, daß ihre Tränen nicht mehr versiegten. Aber einen solchen Ort gab es auf dem Schiff wohl nicht. Ireen entsann sich später nur noch, daß sie lief, bis es kein Weiterkommen mehr gab. An einem Decksbalkenträger sank sie in die Knie. Zaghaft zupfte Jonas sie am Rockzipfel. „Ist dir nicht gut?" Stumm schüttelte sie den Kopf und lauschte dem Dröhnen in ihren Schläfen. Vergeblich bemühte sie sich, r u higer zu atmen. „Ist die Neue Welt böse?" fragte J o nas. Seine Kulleraugen blickten dabei so treuherzig, daß Ireen einfach lächeln mußte. Nur fürchtete sie, daß lediglich eine Grimasse daraus wurde. „Amerika", sagte sie, „die Deutschen haben das Land so genannt, und mir gefällt der Name. Es gibt dort saftige Weiden, die von einem Horizont zum anderen reichen . . . " „Und Ziegen?" „Natürlich auch Ziegen. Aber wir werden Kühe haben, Jonas. So viele, wie du dir nicht vorstellen kannst." „Zehn?" erklang es staunend in kindlicher Einfachheit. „Mehr", versicherte Ireen. „Viel, viel mehr." Die beiden kuschelten sich aneinander. Für eine Weile konnte Ireen sogar vergessen, bis Jonas abermals drauflosplapperte: „Warum hat der liebe Gott den Wind aus den Segeln genommen? Will er nicht, daß wir Amerika erreichen?" „Doch, Jonas, wir schaffen es." „Aber ohne Wind . . . " Schritte näherten sich. Ein stämmiger, bärtiger Kerl baute sich vor
15 Ireen auf und starrte sie ungeniert an. Sein Äußeres wirkte wenig vertrauenerweckend. Die verfärbte Narbe quer über seiner rechten Wange, die vermutlich von einem Degenhieb stammte, entstellte sein Gesicht. „Warum bist du davongelaufen, Mädchen?" Er grinste dreckig und ging vor Ireen in die Hocke. Sein Atem roch nach Rum. Ireen sah die Begierde in seinen Augen. "Vergeblich zwängte sie sich enger an den Decksbalkenträger, denn schon grapschten zwei kräftige, von Schwielen übersäte Fäuste nach ihr. „Nicht, Sir - bitte . . . " Der Kerl lachte spöttisch und k ü m merte sich einen Dreck um ihren Widerstand. Mit einem heftigen Ruck riß er ihre aus grobem Leinen gewebte Bluse auf. Was er sah, entlockte ihm ein zufriedenes Grunzen. „Sir, n e i n . . . ! " Ireens gequälter Aufschrei erstickte unter seinen Lippen, die sich auf ihren Mund preßten. Sich ihrer Schwäche durchaus bewußt, begann sie, mit den Fäusten auf seine Schulter zu trommeln. Aber der Kerl lachte nur und drückte sie an das Schott, bis sie zu keiner Bewegung mehr fähig war. Nur hatte er nicht mit dem kleinen Jonas gerechnet. „Hör auf, du Mistkerl!" schrie der Junge und schlug seinerseits auf den Narbengesichtigen ein. „Du tust Ireen weh." Ein zorniger Hieb wischte ihn zur Seite. Er schlug schwer auf die P l a n ken und blieb reglos liegen. Im nächsten Moment herrschte Wuhling. Ein Schatten flog auf den Seemann zu, zwei Fäuste krachten zwischen seine Schulterblätter, er aber zuckte nur kurz und fuhr grunzend herum. Für den Angreifer, einen jungen Rotschopf, erfolgte die Gegenattacke zu überraschend. Er hatte Mühe, die kräftigen Fausthiebe mit
den Unterarmen abzublocken. Ein Tritt vors Schienbein ließ ihn straucheln, der nächste Hieb riß ihn von den Beinen. „James", brachte Ireen überrascht hervor. Dann begann sie zu kreischen, bis sie, puterrot im Gesicht, nach Atem ringen mußte. Auf dem höhergelegenen Deck wurde es lebendig. Schwere Stiefel polterten den Niedergang hinunter. „Cane!" donnerte die befehlsgewohnte Stimme eines Offiziers. „Hören Sie auf!" Der Narbengesichtige war drauf und dran, dem jungen Rotschopf das Gesicht zu demolieren. Als er nicht sofort innehielt, zuckte der Degen des Offiziers hoch und ritzte seinen Oberarm. Das half mehr als Worte. Die linke Hand auf die Wunde gepreßt, kam der Kerl auf die Knie. Er deutete auf den jungen Mann, der sich stöhnend am Schott aufrichtete. „Der Bursche hat angefangen, Sir." „Natürlich." Mit dem Handrücken schlug der Offizier zu. Er brauchte nur auf die blanken Brüste des Mädchens zu sehen, um die Wahrheit zu wissen. „Zwei Peitschenhiebe für den Übergriff, drei für die Lüge, Cane." Sir ich . . . " ''Das heißt: Danke, Sir! Kapiert?" Dem Übeltäter war anzusehen, daß er sich nur mühsam beherrschte. „Danke - Sssir", stieß er zwischen den Zähnen hervor. Sein Blick verhieß dabei für Ireen nichts Gutes. Sie würde sich hüten müssen, noch einmal seinen Kurs zu kreuzen. „Seien Sie unbesorgt, Miß", versprach der Offizier. Der Rotschopf k ü m m e r t e sich inzwischen um Jonas, der sich Gott sei Dank nichts gebrochen hatte. Sanfte Schläge auf die Wangen brachten ihn wieder zu sich. Er schluchzte leise vor sich hin. „Danke, James", sagte Ireen Hen-
16 ford, nachdem der Offizier den Seem a n n abgeführt hatte. „Schon gut." J a m e s Bucknan k ü ß t e sie sanft auf die Stirn. „Es war Zufall, d a ß ich dich hier fand." Die beiden hatten vor, zu heiraten, sobald sie ein Stück Land in der Neuen Welt ihr eigen nannten. Es brauchte nicht einmal groß sein. Ireen träumte von einem wunderschönen weiß gestrichenen Haus mit Blick auf die Berge und möglichst einem Wasserlauf in der Nähe. Sie wurde jäh aus ihren Betrachtungen aufgeschreckt. Jonas würgte. Bevor sie reagieren konnte, erbrach er fast blanke Galle. Mehr hatte er nicht im Magen. Schließlich lag es schon Stunden zurück, daß er zwei Scheiben Zwieback gegessen hatte. Ireen schickte J a m e s nach einer Pütz und Tuchresten, um die Planken zu säubern. Noch ehe er zurückkehrte, sorgte Jonas für die nächste Überraschung. Diesmal ging alles in die Hose. Der Dreijährige wand sich unter starken Leibschmerzen. Trotzdem weinte er nur verhalten. Wenn Ireen daran dachte, wie laut er früher schreien konnte, lief ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Jonas war krank, und zwar schlimmer, als es den Anschein hatte. Den Jungen auf den Armen, eilte Ireen Henford zur Kampanje. Wenn James mit der Pütz erschien, würde er wohl sehen, d a ß sie nicht mehr da war. So unsympathisch ihr der Feldscher an Bord der „Pilgrim" auch war, sie mußte Jonas zu ihm bringen. Der Mann sah sich den Dreijährigen nur flüchtig an. Auf Ireens D r ä n gen ließ er sich sogar noch dazu h e r ab, Jonas' Leib abzutasten. „Mach dir halb so viele Sorgen, riet er dem Mädchen. „Dein Bruder hat Blähungen, das ist alles." „Aber der D u r c h f a l l . . . " Eine geringschätzige Handbewegung schnitt ihr das Wort ab.
„Gib ihm einen Tag lang nichts zu essen, d a n n wird er wieder." Der Mann war ein Kurpfuscher im wahrsten Sinne des Wortes. Ireen stand seinem Zynismus hilflos gegenüber. „Auf der ,Explorer' ist die Cholera ausgebrochen", versuchte sie zu erinnern. „Wenn du mir nicht vertraust, w a r um kommst du dann zu m i r ? " brauste der Feldscher auf. „Weil ich dachte, Sie könnten Jonas helfen, Sir." „Ich habe dir gesagt, was zu tun ist. Laß ihn hungern, das dürfte nicht schwerfallen. Und jetzt verschwinde." Ireen verließ den unmittelbar n e ben der Kapitänskammer liegenden Raum ohne einen weiteren Versuch zu unternehmen, ihre Sorgen an den Mann zu bringen. Jonas krümmte sich schon wieder. Diesmal war der Schleim nicht mehr wäßrig, sondern wirkte gelblich verfärbt. Ein Decksmann sah das Problem, mit dem das Mädchen zu kämpfen hatte. Ohne lange zu fragen, schwang er ein Ösfaß an einem langen Tampen außenbords und füllte eine Pütz mit Seewasser. Ireen nickte ihm dankbar zu. Die Erkenntnis, daß es unter den Seeleuten auch solche mit Charakter gab, die nicht nur auf ein schnelles Geschäft aus waren, erleichterten es ihr etwas, die Unbilden der Überfahrt zu ertragen.
,,Die Flaute dauert schon viel zu lange. Nicht, daß ich einen neuerlichen Sturm herbeiwünschte, aber die Männer brauchen endlich wieder eine Beschäftigung, die sie auslastet. Kalfatern und Lenzen ist das einzige, sie momentan auf Trab zu bringen. Willard Cane hat fünf Peitschenhiebe erhalten. Wegen ungebührli-
17 chen Verhaltens. Bald werden sich ähnliche Übergriffe häufen. Die Kerls sind Weiberröcke an Bord nicht gewohnt. Gott, schicke uns einen kräftigen Wind. Ich will nicht gezwungen sein, Übeltäter an die Rah zu hängen. So etwas gibt böses Blut in der Mannschaft. Das Schiff leckt stärker. Niemand weiß, wo das Wasser eindringt, das sich bald kniehoch in der Bilge sammelt. Meine Absicht war es, Lecksegel festzurren zu lassen. Aber der Zwischenfall mit dem Hai zwingt mich vorerst, auf den Einsatz von Tauchern zu verzichten, solange wenigstens, wie die Pumpen in der Lage sind, das eindringende Wasser durch die Speigatten abfließen zu lassen." Aus dem Logbuch der „Pilgrim", 5. Juli 1598.
Ein verhaltenes Murren erhob sich, als zwei Offiziere den Laderaum betraten. Der Unwille der Pilger galt dabei weniger dem polternden Auftreten der Mannen als vielmehr den Musketen, die sie feuerbereit hielten. „Aufstehen! Wird's bald?" Der Befehl duldete keinen Widerspruch. Dennoch befolgte ihn kaum jemand. „Was soll das", brummte Brian O'Selly, „sollen wir Verpflegung fassen, oder . . . ? " Er verstummte, als er den Mann erkannte, der hinter den Offizieren erschien. Mit einem flüchtigen Seitenblick streifte er Jeremiah Henford, dessen Miene sich ebenfalls schlagartig verhärtete. „Gegenüberstellung!" sagte Graham Lilley, der Erste Offizier an Bord, scharf. „Was ist los?" ertönte es mürrisch aus dem Halbdunkel. O'Harra, ein Schotte, der bis vor wenigen J a h r e n selbst zur See gefahren war, zeigte sich seit dem Auslaufen von London griesgrämig. Das lag wohl an den
zwangsläufig aufbrechenden Erinnerungen, denn eine spanische Kanonenkugel hatte einst sein linkes Bein zerfetzt. „Aufstehen!" befahl der Erste noch einmal. „Du zuerst!" Der Lauf seiner Muskete ruckte herum und zeigte auf einen jungen Mann, der zusammengerollt auf einer Flechtmatte lag. Aufreizend langsam richtete der Auswanderer sich auf. Beide Hände hielt er in den Hosentaschen vergraben. „Der ist es nicht", murmelte der Seemann. Henford verstand zwar nicht, was der Kerl sagte, doch er las ihm den Sinn von den Lippen ab. Während Lilley unverwandt neben dem Schott verharrte, schritt der andere Offizier zwischen den Pilgern hindurch und verteilte aufmunternde Tritte. Erste Beschimpfungen fielen. Die beiden, die zur Aufklärung hätten beitragen können, schwiegen wohlweislich. Aufgebracht schlug Henford den Musketenlauf zur Seite, als der Mann ausgerechnet Elizabeth traktieren wollte. Der Offizier setzte seinerseits gereizt nach und hatte, während er selbst ins Leere traf, das Pech, daß Henford ihm blitzschnell das Standbein unter dem Leib wegzog. Recht unsanft schloß sein Achtersteven mit den Planken Bekanntschaft. Einige der Auswanderer lachten spöttisch. „Ruhe!" brüllte der Erste. Er deutete auf Henford. „Du da, du hältst dich wohl für besonders schlau, wie? Komm her!" Etwas in seiner Stimme verriet J e remiah, daß es besser war, sich seinen Unwillen nicht noch mehr zuzuziehen. Schulterzuckend folgte er dem Befehl. Der Seemann musterte ihn lange und durchdringend. „Er könnte einer von dem Lumpenpack sein", sagte er schließlich. Henford entschloß sich in dem Mo-
18 ment, die Flucht nach vorn anzutreten. „Von was redet der Kerl?" wandte er sich an den Ersten. „Was hast du heute gemacht?" lautete die Gegenfrage. Henford grinste spöttisch. „Mir den Bauch vollgeschlagen, was sonst! Ist doch eine schöne Beschäftigung." Lilley blickte den Seemann fragend an, der wiederum vollführte eine Geste der Unsicherheit. „Also gut", sagte der Erste sichtlich widerwillig. „Ich k a n n leider nichts beweisen. Aber ich sage eines: Wer erneut versucht, die Vorräte zu plündern, wird als Dieb und Marodeur bestraft. Ohne Ansehen der Person." Lange und nachdenklich starrte Henford auf das Schott, durch das die drei verschwanden, bevor er sich wieder Elizabeth zuwandte. Die Erschöpfung hatte ihr Recht gefordert und seine Frau in einen unruhigen Schlaf fallen lassen. Ihr Gesicht war bleich wie eine frisch gekalkte Wand, als stünde der Sensenmann schon hinter ihr. Unwillkürlich fuhr Henford herum. Doch er sah nur die Rumpfbeplankung, auf der sich die Feuchtigkeit in winzigen Tropfen niederschlug. 3. „Hol's der Teufel!" Mit einer u n mißverständlichen Bewegung - er fuhr sich mit der Handkante an der Kehle entlang - heischte Old Donegal Daniel O'Flynn um Ruhe. Den Kopf schräg gelegt, wie es selbst der Bordpapagei Sir John nicht besser konnte, lauschte er in den Nebel hinaus. Sein ohnehin runzliges Gesicht wirkte dabei noch faltiger. „Old Donegal hört Gespenster." Um Zustimmung heischend, blickte Big Old Shane, der Riese mit dem mächtigen grauen Bartgestrüpp in die Runde. Aber niemand schien m o -
mentan Lust zu verspüren, sich auf Sticheleien einzulassen. Ferris Tucker lehnte am Schanzkleid und starrte nach Steuerbord voraus. Er wedelte mit den Armen, als könne er auf diese Weise den aufsteigenden Dunst vertreiben. Gary Andrews stand neben ihm, allerdings mit dem Rücken zur Verschanzung. In seiner Miene hielten sich Verwunderung und Zuversicht die Waage. Auch er lauschte. „Klingt wie ein fernes Gewitter", sagte er zögernd. „Wenn's wo donnert, dann wohl bei dir", grollte Big Old Shane. „Ich höre jedenfalls nichts." „Du m u ß t das Maul halten", begehrte Tucker auf. „Und d a n n ? " „Dann hörst du vielleicht die Sirenen singen, falls da draußen welche auf uns warten. Du weißt schon: so wunderschöne Mädchen mit verführerischen Augen, großen . . . " Seine Handbewegung war eindeutig. „Und Fischschwanz", vollendete Shane. „Das wolltest du doch sagen, oder?" „Nicht so ganz. I c h . . . " „ . . . halte aber nichts von nassen, schuppigen Weibern, die bei der geringsten Unaufmerksamkeit davonflutschen wie ein zappelnder Fisch." „Ruhe, verdammt!" brüllte Old O'Flynn. „Oder ich trete euch Rabauken in den Hintern, daß euch Hören und Sehen vergeht!" Das wirkte. Wenigstens vorübergehend. Die Stille, die plötzlich an Bord der Schebecke herrschte, hatte fast etwas Unheimliches. Old Donegal beachtete die feixenden Gesichter nicht, als er scharf nach voraus starrte. Den Fockmast benutzte er als Peilhilfe. Zwei Strich an Backbord - er wäre jede Wette eingegangen, daß aus dieser Richtung die Geräusche erklungen waren. Offenbar war nur er selbst sensibel genug, sie zu hören.
19 „Hört auf zu grinsen!" sagte er, ohne sich umzudrehen. Ein mehrfaches Schlucken erklang. Aber nur Ferris Tucker ließ sich zu einem verblüfften „Hä?" herab. „Ihr fragt euch wohl, woher ich weiß, daß eure Mundwinkel bald die Ohren liebkosen?" fuhr Old Donegal Daniel O'Flynn fort. „Nö", erklärte Big Old Shane. „Nicht im geringsten." „Ihr solltet euch das aber fragen." Old O'Flynn wirbelte erstaunlich schnell herum. Sein Holzbein kratzte über die Planken. „Ich habe das zweite Gesicht. Nicht immer, aber doch recht häufig. Das wißt ihr und wollt es trotzdem nicht wahrhaben. Aus Neid. Wie war es denn am Berg A r a r a t ? Wer, wenn nicht ich, h a t das Stück vom Kielschwein der Arche Noah gefunden?" Das Feixen der anderen wurde noch breiter. Old Donegal deutete es natürlich falsch. „Auf Anhieb könnte ich euch ein Dutzend Gelegenheiten aufzählen, bei denen mein Zweites Gesicht . . . " „Hört!" platzte Shane beschwörend heraus. Sogar O'Flynn verstummte. Die Stille kehrte zurück. „Ich höre nichts", bermerkte Old Donegal nach einer Weile, nachdem er erst einmal kräftig durchgeschnauft hatte. Den Atem anzuhalten, war auf Dauer der Gesundheit abträglich. „Eben." Ferris Tucker grinste u n verhohlen. „Was heißt d a s ? " „Daß es nichts zu hören gibt. Dein Zweites Gesicht hat sich getäuscht." Gleichzeitig prusteten sie los: Big Old Shane, Tucker, Gary Andrews und der Profos. Ihr Heiterkeitsausbruch, fand Old O'Flynn, war bezeichnend für B a n a u sen, die ihre Klüsen vor der Wirklichkeit verschlossen. Sie lachten, w ä h rend wenige Seemeilen entfernt w o -
möglich ein wüstes Gefecht tobte. Er vergaß, daß weder Schnapphähne noch Spanier ohne Wind in den Segeln angreifen konnten. Aber dann war es wieder zu vernehmen - und lauter als zuvor. Die Kerle beruhigten sich schnell. „Das sind Schüsse", erklärte nun auch der Profos. „Na also", triumphierte Old Donegal. „Ich will mein Holzbein auffressen, wenn ich nicht recht behalte. Wo Schüsse fallen, da sind Spanier." „Jedenfalls meistens", schränkte Edwin Carberry ein. „Klarschiff zum Gefecht", sagte Old O'Flynn. „Ich k a n n die Spanier sogar riechen." „Gegen den Wind?" erkundigte sich Tucker scheinheilig. „Was heißt gegen den Wind?" b r a u ste der Alte erwartungsgemäß auf. „Wir haben seit Tagen Flaute, wir . . . " Erst jetzt begriff er, was er in seinem Eifer prompt übersehen hatte. Aber das war noch lange kein Grund, um klein beizugeben. Geringschätzig winkte er ab. „Die Spanier pullen ihre Nußschale eben über den Teich. Wir sollten endlich ebenfalls die Riemen einsetzen." Keiner tat dergleichen. Aber wenigstens lauschten sie jetzt. Nur mehr vereinzelte Schüsse waren zu vernehmen. „Das kommt von einem der Passagierschiffe", sagte Ferris Tucker. „Meuterei?" „Auf jeden Fall keine Spanier", sagte der Profos. „Und warum nicht?" begehrte Old O'Flynn auf. „Weil du nicht die Spanier riechst, sondern das, was der Kutscher und Mac Pellew in der Kombüse zusammenschmoren", erklärte Carberry. „Es gibt demnächst verbrannten Speck, gerösteten Tee und schwarzen Zwieback." Er hatte in der Tat außer
20 vor Toten vor nichts Respekt, nicht einmal vor den beiden Köchen.
Der Nebel dämpfte das Geräusch der Schüsse, die für eine Weile zum Stakkato anschwollen und dann fast abrupt endeten. Philip Hasard Killigrew war inzwischen an Deck erschienen und mit ihm weitere Arwenacks. Aber auch sie hatten keine Erklärung bereit. Nur Batuti, der Gambiamann, zeigte sein makelloses Gebiß. „Vielleicht macht ein Kapitän Regenzauber", sagte er. „ Oder Sturmzauber. In Afrika veranstalten viele Stämme großes Tamtam mit viel Lärm, wenn die Trockenzeit nicht weichen will." Erklärend fügte er hinzu: „Die K a p i täne der Galeonen sind alle nicht ganz..." Kanonendonner rollte heran. Drei Geschütze wurden hintereinander a b gefeuert. „Steuerbord voraus!" Old O'Flynn strahlte. „Wehe dem, der behauptet, unsere Landsleute auf der ,Pilgrim' oder der ,Explorer' würden mit K a n o nen auf Fische schießen." Wie nahe er mit seiner Behauptung bei der Wahrheit lag, ahnte er selbst nicht. Aus der Richtung, aus der auch die Musketen zu hören gewesen waren, erklang zweimaliges Geschützgrollen. Ein einzelner Schuß folgte. Danach war nichts mehr. AI Conroy, der Stückmeister der Arwenacks, hatte sich auf einer der Culverinen abgestützt. Er grübelte, und als er endlich aufsah, suchte er den Blick des Seewolfs. „Es waren durchweg schwache Ladungen", sagte er. „Der Nebel tat ein übriges, um den Hall zu verzerren. Dennoch glaube ich, daß das eine Schiff Steuerbord k n a p p zwei Seemeilen voraus steht und das andere etwa auf doppelter Distanz."
„Wir kümmern uns darum", entschied Hasard. Bislang hatte er keine Veranlassung gesehen, die Mannen an die Riemen zu schicken. Blindlings durch den Nebel zu pullen, hatte wenig Sinn, denn zuerst war der Nebel aufgezogen, und d a n n erst war der Wind eingeschlafen. Niemand konnte unter diesen Umständen sagen, in welcher Position die Schiffe zueinander standen. Jetzt war das anders. Die Schebecke, ein schlankes und schnelles Schiff, lief selbst dann noch ansehnliche Fahrt, wenn auf Rahseglern längst jeder Fetzen Tuch gesetzt worden war, um überhaupt voranzukommen. Zwei, drei oder gar mehr Seemeilen weit ließ sie sich ohne weiteres durch Pullen voranbringen. „Ihr habt es gehört, Kerls", setzte Old O'Flynn nach Hasards Befehlen noch einen drauf, „stürmt erst die Kombüse und tobt dann eure Kräfte an den Riemen aus." Niemand nahm seine Worte für bare Münze. Zum Glück. Denn Mac Pellew und der Kutscher hätten auf einen solchen Überfall wohl stinksauer reagiert und die Kombüse bis auf weiteres abgeschottet. Philip Hasard Killigrew ließ den Mannen ihren Spaß. Sie hatten sich trotz der Flaute verdammt gut gehalten. Wie es an Bord der Galeone aussehen mochte, darüber dachte er lieber nicht nach. Wie selbstverständlich übernahm Old Donegal die Rolle des Antreibers. Seine Kommandos erfolgten knapp und präzise. Im Gleichtakt tauchten die Blätter ein. Die See gurgelte, als wolle sie das Schiff unnachgiebig festhalten. Old Donegal stampfte mit seinem Holzbein auf, in einem Takt, der um mindestens einen Schlag schneller war, als die Arwenacks pullten. „Vorwärts, ihr Lahmärsche!" schimpfte er. „Niemand hat gesagt, daß ihr schlafen sollt."
21 „Schinder..." „Sklaventreiber..." „Fehlt nicht viel und Old Donegal läßt uns in Ketten legen. Nur damit wir schneller pullen." „Er will's halt stilecht." Die Mannen prusteten los. Old O'Flynn ließ den Heiterkeitsausbruch mit der stoischen Ruhe eines alten Maultieres über sich ergehen. Er war schließlich mindestens genauso störrisch. „Voraus sind vielleicht Spanier", maulte er. „Aber auch nur vielleicht", widersprach Smoky. Trotzdem tauchte er seinen Riemen wieder ein - im Gleichklang mit den anderen. Es ging also auch ohne Old Donegals Taktschlag. „Natürlich sind da Spanier!" rief der Profos. „Ein wenig weiter entfernt zwar, als daß wir sie riechen könnten, aber immerhin, sie sind voraus." „Wie weit?" wollte Roger Brighton wissen. „Na ja, so genau läßt sich das nicht sagen,'' Edwin Carberry drückte sich in gespielter Unsicherheit um die Antwort. Er wußte genau, d a ß Old O'Flynn weiterbohren würde. Und tatsächlich. „Heraus mit der Sprache, Mister Profos!" heischte der Alte. „Deine Andeutungen sind zu vage, um die Mannschaft in den richtigen Siegestaumel zu versetzen. Eine lohnende Prise hatten wir schon lange nicht mehr vor den Rohren. Also, wo, glaubst du, stehen die verdammten Dons?" „So genau . . . " „Dann eben ungenau." Eintauchen - Durchziehen - mit stoischer Gleichmäßigkeit. Die Schebecke nahm Fahrt auf. „Ich vermute", sagte Edwin Carberry gedehnt, „daß wir spätestens vor Hispaniola die ersten Spanier sehen."
Brüllendes Gelächter brandete auf. Mehrere Schläge vergingen, bis sich Old Donegal wieder äußern konnte. Der Scherz war zwar auf seine K o sten gegangen, doch seine Miene verriet, daß er dem Profos deshalb nicht gram war. Warum sollte er auch. Die Erfahrung hatte längst gelehrt, daß die Arwenacks eine verschworene Gemeinschaft waren, die wie Pech und Schwefel zusammenhielt. Und das war gut so. „Dann weißt du mehr als ich", sagte Old O'Flynn. Der Profos stutzte. Keineswegs entging ihm das listige Flackern in den Augen des Alten. „Mag sein", erwiderte er vorsichtig. Old Donegal seufzte schwer. „Wenn ich d a r a n denke, d a ß ich jahrelang Kapitän der stolzen ,Empress of Sea' w a r . . . Aber die Küste von Cornwall ist eben nicht mit der Neuen Welt zu vergleichen." „He, auf was willst du hinaus?" riefen P a d d y Rogers und Jack Finnegan wie aus einem Mund. Old O'Flynn ließ die Schultern h ä n gen. „Ich h ä t t e Virginia, das Ziel unseres Törns, einige Breitengrade weiter nördlich angelaufen", sagte er bedrückt. „Und nun m u ß ich erfahren, daß es in der Karibik liegt." Die Heiterkeit war diesmal auf seiner Seite. Er registrierte es mit Genugtuung. Schließlich griff er ebenfalls nach einem Riemen.
Der Seewolf, Don J u a n de Alcazar und Dan O'Flynn, der Sohn Old Donegals, hatten auf der Back Position bezogen und spähten aufmerksam in die wogenden Nebelschwaden. Nur allzu leicht war in dieser Suppe eine wunderschöne Ramming möglich. Dan legte die Hände trichterförmig vor den Mund und rief laut: , „Pilgrim', h o ! ,Explorer', h o ! "
22 Aber niemand antwortete. Der Nebel verschluckte die Stimme, wie er auch alle anderen Geräusche dämpfte. Vielleicht hatte sich Al Conroy in der Entfernung getäuscht - oder in der Richtung. Pete Ballie, der Rudergänger, gab der Schebecke jedenfalls keine Gelegenheit, aus dem Kurs zu laufen. „Seht ihr was?" rief er hin und wieder von seinem Standort achtern des Besan. „Gerade die Hand vor Augen", gab Dan O'Flynn zurück. „Es ist wie verhext." Wohl niemand wäre entsetzt gewesen, hätten sich jäh die Umrisse eines auf Rammkurs liegenden Geisterschiffs aus dem Dunst heraus verdichtet. Eines jener sagenumwobenen Schiffe, die ruhelos die sieben Weltmeere überquerten, mit zerfetzten Segeln und von Seegras Verfilztem stehenden Gut. Insgeheim hatte sich der eine oder andere wohl längst auf einen solchen Anblick vorbereitet. Ein langgezogener, dumpfer Ton hallte über die See. In unmittelbarer Nähe erklang zudem eine Schiffsglocke. Philip Hasard Killigrew hob den rechten Arm - zum Zeichen für den Rudergänger. Ein Strich Steuerbord. Zuerst war da nur ein winziger, verwaschener Fleck Helligkeit, der von einer Laterne stammte. Dann tauchte das Heck einer Galeone aus dem Nebel auf. Das Schiff wirkte verlassen. „Es ist die , E x p l o r e r " ' , sagte Don Juan. „Hallo, Freunde!" rief Hasard. Pete Ballie nahm die Schebecke härter aus dem Kurs. Die Kerls holten die Riemen ein. Mit auslaufender Fahrt ging die Schebecke an Steuerbord längsseits der „Explorer". Endlich wurde es drüben an Deck lebendig.
„Wir fürchteten schon, die Cholera hätte euch alle dahingerafft!" rief Hasard. „Wo steckt Kapitän Toolan?" „Er schläft", lautete die lapidare Antwort. „Dann purrt ihn hoch!" Zum erstenmal an diesem Tag ließen sich die drei Passagiere der Schebecke auf der Kuhl blicken. Natürlich hatten sie sich zurückgehalten als es darum ging, das Schiff mit Muskelkraft voranzubringen. Jetzt riskierten sie große Worte. „Das ist die ,Explorer', Kapitän", protestierte Alec Morris, der junge Schnösel mit dem besonderen Hang zur Überheblichkeit. Hasard mochte ihn nicht. Aber das war ein Schicksal, das Morris mit seinen Begleitern, Sir William Godfrey und Frank Davenport, teilte. Alle drei kümmerten sich jedoch herzlich wenig darum. „Ich weiß, welches Schiff neben uns liegt", erwiderte der Seewolf ruhig. „Dann ist Ihnen auch bekannt, daß Toolan die Cholera an Bord hat." „Für Sie immer noch Kapitän Toolan, Morris." „Betreiben Sie keine unnötige Haarspalterei, Sir Hasard", sagte William Godfrey, der schon ältere, grauhaarige Adlige, dessen rötliche Säufernase während der letzten Tage an Farbe gewonnen hatte. Selbst jetzt wehte ihm ein Hauch von Rum voran. „Die Cholera kann jederzeit auf die Schebecke übergreifen", erklärte Frank Davenport. „Haben Sie Angst vor der Krankheit?" „Ich habe nur etwas dagegen, in ein Segeltuch eingenäht den Haien vorgeworfen zu werden." „Vergessen Sie Ihre Furcht vor Ansteckung, Mister Davenport", sagte der Kutscher, „dann kann Ihnen auch die schlimmste Krankheit nichts anhaben." „Das ist doch Spinnerei", entgegnete Alec Morris verächtlich. Der Kutscher rieb sich die Knöchel
23 an den Fäusten. „Ich könnte dem Vergessen ein wenig nachhelfen. Eine bessere Medizin gibt es nicht." Keiner der Arwenacks war auf die drei „Durchlauchten" gut zu sprechen. Spätestens seit dem Vorfall mit der „Discoverer" empfingen sie den Wind von vorn und kriegten das auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu spüren. „Ich verlange, daß wir uns sofort von der ,Explorer' zurückziehen!" Sir William Godfrey kehrte seinen befehlsgewohnten Ton heraus. Aber die Arwenacks waren keine Lakeien, mit denen er nach Belieben umspringen konnte. Sie kehrten ihm demonstrativ den Rücken zu, was ihm die Zornesröte ins Gesicht und den Schweiß auf die Stirn trieb. Kapitän Amos Toolan, ein dicklicher, frömmelnder Gemütsmensch, wankte drüben ans Schanzkleid. Er stierte sich die Augen aus, bis er endlich begriff, daß es die Schebecke war, die längsseits lag. „Ah, der Seewolf", sagte er heiser. „Seit wann haben wir wieder genügend Wind?" Er riskierte eine schwungvolle, halbe Drehung, um zu den Rahen seines Schiffes hinaufzustarren. Die Erkenntnis, daß nicht ein Quadratmeter Tuch gesetzt war, wollte ihm offensichtlich nicht so recht einleuchten. „Schlafen Sie Ihren Suff aus, K a p i tän", riet Hasard. „Ich spreche inzwischen mit Ihrem Ersten." Arnos Toolan schüttelte den Kopf. „Das - geht nicht", erklärte er frei heraus. „Der Kerl ist stockbesoffen." Einige Arwenacks lachten. Kapitän Toolan vollführte eine hastige Bewegung und wäre dabei um ein Haar außenbords gegangen. Nur mit Mühe konnte er sich an der Verschanzung festhalten. Zu seiner Ehrenrettung erklärte er, wenn auch mit schwerer Zunge: „Ich habe vorgestern drei Viertel unseres Rumvorrats austeilen lassen. Seit-
dem wurde keine neue Erkrankung mehr gemeldet." Er rülpste schallend. „Ich denke, wir haben die Cholera besiegt." „Und Ihre Gebete K a p i t ä n ? " „Natürlich haben auch die dazu beigetragen. Nun brauchen wir nur noch eine steife Brise . . . " „Wie sieht es mit Verpflegung aus?" wollte der Seewolf wissen. „Wir rationieren, so gut wir können", erwiderte Toolan. Hasard nickte, denn er hatte keine andere Antwort erwartet. „Dem können wir vorübergehend abhelfen!" rief er zur Explorer hinüber. „Purren Sie die Kerls, die noch nicht zu besoffen sind, und dann klar bei Übernahme." „Aye, Sir", bestätigte der Kapitän. „Und - danke Sir." Nicht mehr ganz so unsicheren Schrittes wie zuvor, verschwand er in der Kampanje. Augenblicke später ertönten Befehle. „Sie wollen denen da drüben von unseren Vorräten abgeben, Sir Hasard?" fragte Frank Davenport empört. „Das ist unsere Christenpflicht", erwiderte der Seewolf kurz angebunden. „Und was wird aus uns? Denken Sie auch d a r a n ? " „Wir haben mehr als die Galeonen. Außerdem haben Sie sich nicht in meine Belange einzumischen." Das klang bereits drohend. Doch Davenport achtete nicht auf den Tonfall. Wenn es d a r u m ging, den eigenen Vorteil zu wahren, vergaß er alles andere. „Wir können nicht eine Hundertschaft zusätzlich verpflegen", protestierte er. „Genau das habe ich vor, Mister Davenport." „Und wenn die Flaute anhält?" „Dann kauen wir eben auf den Fingernägeln", erklärte Ben Brighton, der Erste Offizier der Arwenacks. „Jeder von uns ist daran ge-
24 wöhnt, hin und wieder Kohldampf zu schieben." „Wir gehören nicht zu Ihrer Mannschaft, und wir haben ein Recht d a r auf . . . " „Zum Glück", unterbrach der P r o fos. Ohne daß die drei „Durchlauchten", wie sie spöttisch genannt wurden, es bemerkten, bezogen die Mannen Front gegen sie. „Wir haben ein Recht auf . . . " Sir William Godfrey brachte den Satz wieder nicht zu Ende, weil der Profos sich erneut lautstark äußerte. „Zum Glück gehören Sie nicht zu unserer Mannschaft. Spätestens nach vier Stunden wäre jeder von Ihnen aus den Pantoffeln gekippt." „Ich werde mich über Ihr ungebührliches Verhalten beschweren, Kapitän", fauchte Sir Godfrey. „Tun Sie das, wenn Ihnen danach wohler ist", riet der Seewolf. „Und jetzt sehen Sie zu, d a ß Sie unter Deck verschwinden. Hier werden Fäuste gebraucht, keine Großmäuler." „Wir sprechen uns noch, Kapitän." „Natürlich." Hasard gab seinen Mannen einen flüchtigen Wink. Ehe die drei Durchlauchten es sich versahen, wurden sie von Carberry, Tukker und Big Old Shane am Kragen gepackt und mit sanfter, aber nachdrücklicher Gewalt in ihre Kammer befördert. „Oberdeck aufgeklart, Sir." Carberry grinste, als er gleich darauf wieder auf der Kuhl erschien. Dann schleppte die Mannschaft K i sten und Fässer aus den Laderäumen herauf. Taue flogen zur „Explorer" hinüber, wurden wahrgenommen und belegt. Die Rahrute des Hauptmastes diente dazu, die Ladung an Deck der „Explorer" zu hieven. Das Knarren des Racks, das Singen der Taue, die schnell durch Blöcke und Taljen glitten, klang wie Musik in den Ohren der Arwenacks.
„Verwechselt die Fässer nicht!" rief Big Old Shane plötzlich, als gut die Hälfte der für die Galeone vorgesehene Verpflegung schon übernommen war. „Der Rum bleibt hier, die da drüben kriegen nur das Wasser." Freudiges Gejohle begleitete seine Worte. Wer von den Arwenacks hätte freiwillig auch nur ein kleines F ä ß chen Rum abgegeben? Die anderen würden ihn schlichtweg für verrückt erklären. „Gott beschütze euch!" rief Arnos Toolan, als er schließlich vor den Kisten mit Zwieback, Stockfisch und sogar Käse stand, die sich vor einem Niedergang stapelten. In dem Zwieback waren zwar einzelne Maden zu finden, doch die ließen sich herausklopfen. „Mehr können wir leider nicht entbehren", sagte Hasard. „Nicht, bevor wir die Zustände an Bord der ,Pilgrim' kennen." „Was Sie getan haben, ist mehr, als wir unter den gegebenen Umständen erwarten durften, Sir." Kapitän Toolans Rausch war nahezu verflogen. Hasard fragte sich, wie das so schnell möglich sein konnte. Toolan erweckte nicht gerade den Eindruck einer besonders trinkfesten Natur. Leider war ihm nicht vergönnt, des Rätsels Lösung zu ergründen, denn auf einmal wurden alle Fragen nebensächlich. Hasard verspürte einen leisen, frischen Zug, der ihm die Nebelfeuchte ins Gesicht trieb. Die eben noch spiegelglatte See kräuselte sich. Schuppenförmige Wellen ohne Schaumköpfe entstanden. „Wind!" schrie jemand mit sich überschlagender Stimme. „Wir haben wieder Wind!" Zum erstenmal seit Tagen riß der Nebel auf und gab den Blick auf die Sonne frei, die schon tief im Westen stand und sich anschickte, hinter der Kimm zu versinken. Blutrot spiegelte sich ihr Schein auf dem Wasser.
25 Innerhalb kürzester Zeit wurde aus dem leisen Zug eine leichte Brise, die die See kräuselte und kleine, aber noch kurze Wellen mit ausgeprägteren glasigen K ä m m e n vor sich her trieb. Der Wind wehte von Westen. Die Taue wurden losgeworfen und an Bord der Schebecke aufgeschossen. Pete Ballie legte Ruder, d a ß die Galeone und die Schebecke auseinanderdrifteten. Die leichte Brise steigerte sich zur schwachen Brise und zur schwach bewegten See. Die Wellenkämme begannen zu brechen, vereinzelt erschienen kleine weiße Schaumköpfe. Der Bann schien damit endgültig gebrochen zu sein. „Das Wetter hält an", behauptete Hasard. „Wenn wir Glück haben, liegt das Schlimmste hinter uns." Der Nebel riß nun immer deutlicher auf, doch die Kimm blieb nach wie vor hinter treibenden Dunstschleiern verborgen. Achteraus zog bereits die Abenddämmerung auf. „Heißt das Großsegel!" befahl Hasard. „Wir bleiben h a r t am Wind." Über Steuerbordbug segelnd, gewann die Schebecke rasch an Fahrt. Ihre besonderen Eigenschaften erlaubten es, weitaus höher an den Wind zu gehen als die Galeone. Die „Explorer" fiel deshalb rasch zurück. Schäumend rauschte die Bugwelle. Vereinzelt zeigte sich Gischt auf den Wellen - ein gutes Zeichen dafür, daß die Windstärke weiter zunahm. Aber die Nacht zog unerbittlich herauf. Hasard brauchte sich keinen Hoffnungen mehr hinzugeben, die „Pilgrim" an diesem Tag noch aufzuspüren. Viel zu schnell brach die Dunkelheit herein. 4. ,,Endlich gibt es wieder Zuversicht. Der Wind frischt auf. Nach Tagen ab-
soluter Stille erscheint schon die kleinste Brise wie ein Fingerzeig des Schicksals. Unter Vollzeug läuft die ,Pilgrim' über Backbordbug am Wind. Trotzdem kommt kein Jubel auf. Vor allem die Pilger scheinen wenig Vertrauen in die Zukunft aufzubringen. Die Suche nach den Schuldigen, von denen die Wache niedergeschlagen wurde, blieb erfolglos. Wer sind die Kerle, die mit ihrem Wissen Zustand auslösen könnten? Ich hoffe nur, sie schweigen auch weiterhin. Bislang tun sie es jedenfalls. Niemandem wäre geholfen, würden die tatsächlichen Reserven an Lebensmitteln bekannt. Wir sind gezwungen, so schnell wie möglich anzulaufen. Aus diesem Grund kann ich nicht auf die anderen Schiffe warten, die wohl einige Seemeilen hinter uns liegen." Logbuch der „Pilgrim".
Die Fahrtgeräusche waren unter Deck, in dem Laderaum, der unter der Wasserlinie lag, nicht zu überhören. Die Mehrzahl der hier untergebrachten Pilger lauschte kurz, und in manchem Blick flammte neuer Lebenswille auf, aber danach hielt die Gleichgültigkeit wieder Einzug. „Ob der Wind a n h ä l t ? " murmelte jemand. Andere begannen zu beten. J e r e miah Henford achtete nicht darauf. Für ihn verschwamm das Drumherum in diffusen Wahrnehmungen, die mehr oder weniger bedeutungslos blieben. Zum wievielten Mal er das ausgelaugte Stück Tuch in die Pütz mit Seewasser tauchte und damit Elizabeths Stirn abtupfte, vermochte er nicht zu sagen. Das Fieber war wieder stärker geworden, nachdem es eine Weile so ausgesehen hatte, als ginge es zurück. Seine Frau sprach im
26 Tran, sie phantasierte. Offenbar weilte sie in Gedanken längst in der Neuen Welt. Aus den wenigen Bruchstücken, die Jeremiah verstand, glaubte er das jedenfalls herauszuhören. „Es ist gut, wenn sie schwitzt", sagte Brian O'Selly. „Dann kommt alles K r a n k e aus ihr heraus." Jeremiah nickte stumm. In seinen Eingeweiden wühlte der Hunger, nachdem er Elizabeth seine gesamte Abendration - ohnehin nur zwei Stück Zwieback, eine Scheibe fetten Speck und einen Becher trübes Wasser - überlassen hatte. Heißhungrig hatte sie alles in sich hineingeschlungen, ohne überhaupt noch zu begreifen, woher es stammte. Im Laderaum herrschte eine Luft zum Schneiden. Die Hälfte der hier untergebrachten Auswanderer litt inzwischen an Übelkeit und Durchfall, und von ihnen konnte niemand erwarten, daß sie sich zur Verrichtung der quälenden Notdurft auf die Galion wagten. Jeremiah Henford selbst verspürte noch keine Anzeichen einer beginnenden Erkrankung, sofern er von der Schwäche absah, die eine ganz normale Mangelerscheinung war. Wie schön mußte es sein, sich einmal den Bauch richtig vollschlagen zu können! Wenn der Wind weiter auffrischte und anhielt, würden die Schiffe Virginia wohl in ungefähr zwei Wochen erreichen. Elizabeth war wieder eingeschlafen. Aber selbst jetzt wirkten ihre Züge verkrampft. Jeremiah erinnerte sich nicht, seine Frau je in einem so erbärmlichen Zustand gesehen zu h a ben. Der Feldscher hatte den Kranken ein Pulver ausgeteilt, das mit etwas Wasser einzunehmen war. Das Mittel hatte unangenehm gerochen und noch scheußlicher geschmeckt, u n d Elizabeth hatte sofort alles wieder erbrochen.
Auch Jonas hatte es zu sich genommen. Der Junge war allerdings nur mehr Haut und Knochen, und was hätte er noch von sich geben sollen? In den Armen seiner Schwester döste er unruhig vor sich hin. Die runzlig gewordene Haut, die sich über den Wangenknochen schon straff spannte, verlieh ihm das Aussehen eines alten Mannes. Ireen selbst fand keine Ruhe, denn Jonas wand sich auf ihrem Schoß. Jeremiah bedachte sie mit einem dankbaren Blick. „Das Wenige, was ich für ihn tun kann, tue ich", murmelte Ireen. „Wir sollten beten, daß bald alles besser wird." Henford zog die Familienbibel aus der spärlichen Habe hervor und reichte sie seiner Tochter. „Lies", sagte er. „Das wird helfen, deine Gedanken zu beruhigen." Von dem sperrigen Buch hatte er sich nicht trennen können. Es war in Schweinsleder gebunden und auch inseitig kostbar gearbeitet. Ireen legte es neben sich und schlug es mit einer Hand auf. Sie begann, halblaut zu lesen. „Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen? Wenn die Übeltäter an mich wollen, um mich zu verschlingen, meine Widersacher und . . . Vater, wohin willst d u ? " unterbrach sie sich. Jeremiah Henford, schon halb u n ter dem Schott, gab ihr zu verstehen, daß er lediglich an Deck wolle. Ireen nickte stumm, dann widmete sie sich wieder der Bibel. Während Henford die Niedergänge aufenterte, vernahm er von verschiedenen Seiten halblaut gesprochene Gebete, aber auch Stöhnen und Wimmern Kranker. Fast bereute er seinen spontan gefaßten Entschluß. Es gab viele, die nicht besser d r a n waren als er. Hatten nicht auch sie ein Recht
27 auf ausreichende Verpflegung? Was er vorhatte, war Diebstahl an der Gemeinschaft. Noch vor wenigen Stunden hätten seine Skrupel gesiegt, doch n u n lief die „Pilgrim" unter Vollzeug, und wem konnte er noch schaden, wenn er eine oder zwei zusätzliche Rationen beschaffte? Er tat es schließlich nicht für sich. Die frische Seeluft klärte seinen Kopf. Tief atmete Henford durch, um den Mief der unteren Decks loszuwerden. Das Schiff krängte nach Backbord. Die Wellen trugen weiße Schaumköpfe, und gelegentlich wehte Gischt der Bugwelle über Deck. Die Hecklaterne brannte. Henford suchte die Kimm ab, doch in der beginnenden Nacht konnte er nirgendwo ein zweites Licht entdecken. Die „Pilgrim" war allein. Die Deckswachen achteten nicht auf ihn. Zudem war Henford nicht der einzige Auswanderer, der sich den Wind um die Ohren wehen ließ. Den Sturm hatten sie verwünscht und die Flaute gehaßt, aber nur allzu bald konnte eines von beiden wiederkehren. Der Mond blieb hinter treibenden Wolken verborgen. Gelegentlich war ein Saum von Helligkeit zu erkennen, aber die Sterne fehlten völlig. Die P o sition zu bestimmen, war wohl unmöglich. Irgendwo mitten im Atlantik, westlich der Azoren. Der Klang der Schiffsglocke schreckte Henford auf. Ihm wurde klar, daß er inzwischen über eine Stunde an der Verschanzung stand und sinnlos ins Wasser starrte, während Elizabeth vielleicht wieder m ü h sam ihre Schmerzen unterdrückte. Henford ballte die Hände zu Fäusten, bis die Nägel ins Fleisch einschnitten. Er durfte nicht länger zögern. Die Kombüse war um diese Zeit verlassen. Nach dem Abendessen kümmerte sich der Koch nicht mehr
um die Belange der Mannschaft, geschweige denn der Passagiere. Henford schwang sich wieder unter Deck. Die festgezurrten Kanonen beachtete er kaum. In seinen Augen waren sie nichts weiter als Mordinstrumente. Er ging hinter dem Verholspill in trügerische Deckung, als sich Schritte näherten. Selbst die Kombüse war also durch eine Wache gesichert - vermutlich als Antwort auf die vorangegangenen Probleme. Der Kerl schlurfte vorbei, ohne Henford zu bemerken. Vor den Steuerbordkanonen kehrte er um. Entschlossen griff der Pilger nach einer Spillspake. Das Holz wog schwer in seinen Händen. Die Wache war k a u m abermals an ihm vorbei, als er mit aller Kraft ausholte und die Spake niedersausen ließ. Irgend etwas w a r n t e den Kerl vielleicht ein Geräusch, das Henford verursachte. Jedenfalls wirbelte er blitzschnell herum, seine Rechte zuckte zu der Pistole im Gürtel, und die Linke riß er instinktiv abwehrend hoch. Die Spake fegte ihn von den Beinen. Aber er war offenbar nicht so leicht unterzukriegen. Sich nach hinten abrollend, gelangte er schwankend wieder auf die Beine. Sein Gesicht verzerrte sich zur Grimasse, als er seinerseits zum Angriff überging. Instinktiv riß Henford die Spake hoch und rammte deren verdicktes Ende dem Kerl in die Seite. Ein dumpfes Ächzen beantwortete die Attacke. Der Mann rang nach Luft, und der nächste Hieb ließ ihn endgültig a b nippeln. Jeremiah Henford warf die Spillspake zurück. Flüchtig untersuchte er den Kerl. Der würde das Bewußtsein nicht so schnell zurückerlangen. Er nahm dessen Pistole an sich. Von jetzt an mußte er weiter auf sein Glück vertrauen. Niemand schien den kurzen Kampf bemerkt zu haben.
28 Viel Zeit, um sich darüber zu wundern, daß er Sieger geblieben war, hatte Henford nicht. Lautlos öffnete er das Kombüsenschott und schlüpfte hindurch. D u n kelheit umfing ihn. Das fahle Streulicht, das durch den Rauchabzug von der Back nach unten fiel, reichte gerade aus, um die Hand vor Augen erkennen zu lassen. Henford ertastete eine von der Decke herabhängende Tranfunzel und gleich darauf Flintsteine und Feuerstahl. Es fiel ihm nicht schwer, Funken zu schlagen, von denen einer den Lampendocht aufglühen ließ. Sein Magen meldete sich mit einem drohenden Knurren. Henford überging den eigenen Heißhunger. Er mußte sich beeilen, denn jeden Moment konnte jemand den niedergeschlagenen Posten entdecken, obwohl er eine der Planen, die zum Schutz der Kanonen vorgesehen waren, über den Kerl ausgebreitet hatte. Die Kochkessel waren leer. Ein halbvolles Wasserfaß stand in einer Ecke, die Wasseroberfläche wirkte ölig. Henford schöpfte mit der hohlen Hand, spie aber sofort angewidert aus, kaum daß er den ekelerregenden Geschmack im Mund verspürte. Kein Wunder, daß viele Pilger mit Magengrimmen darniederlagen. Jeremiah hätte seine letzte Habe darauf verwettet, daß das Wasser in dem Faß mit Krankheitserregern verseucht war. Er durchwühlte das Schapp. Harter Zwieback und Knoblauchzehen waren alles, was er fand. Mit der flachen Hand klopfte Henford die Maden aus dem Zwieback. Er hatte sich mehr erhofft, aber er mußte mit allem zufrieden sein. Den Knoblauch ließ er liegen, denn dessen Ausdünstungen hätten den Dieb sofort verraten. Er war gerade im Begriff, ein kleines Leinensäckchen zu füllen, als er Stimmen vernahm. J e m a n d redete vor dem Schott.
Die nachfolgende Stille vermochte Henford nicht zu beruhigen. Er barg das Säckchen mit dem Zwieback unter seinem Hemd und griff nach der Pistole. Sie hatte ein fortschrittliches Steinschloß. Aufgeregt löschte er die Tranfunzel. Im selben Moment wurde das Schott aufgestoßen. Henford drängte sich eng ans Schapp. Da war die i r r sinnige Hoffnung, doch noch unentdeckt zu bleiben. Der Kerl, den er mit der Spillspake niedergeschlagen hatte, betrat die Kombüse. Einige Atemzüge lang mußte er sich an die Düsternis gewöhnen. Aber dann wandte er sich dem Schapp zu - und erstarrte, als er den Pistolenlauf funkeln sah. Henford versuchte ein überlegenes Grinsen, was ihm allerdings gründlich mißlang. Er hatte schon Mühe, die Waffenhand ruhig zu halten, geschweige denn den Mut, auf einen Menschen zu schießen. Aber das wußte sein Gegenüber nicht. „Da hinüber!" befahl Henford. Der Mann folgte dem Befehl augenblicklich. „Um zu entwischen, m ü ß test du schon über Bord springen", sagte er. „Das gibt ein Fest für die Haie." Henford biß die Zähne zusammen. Der Kerl hatte verdammt recht. Aber das einzige, was er wollte, war, Elizabeth und dem kleinen Jonas den Zwieback zu bringen. Wenn sie wieder Kräfte sammelten, war ihm nicht mehr bange vor dem was mit ihm geschehen würde. In den Augen des Mannes blitzte es flüchtig auf. In dem Moment entsann sich Henford, daß die Kerle zu zweit sein mußten. Sein Gegenüber hatte es verstanden, ihn so zu dirigieren, daß er mit dem Rücken zum Schott stand. Jeremiah Henford wollte noch a u s weichen, aber er gelangte nicht über den Ansatz der Bewegung hinaus. Ein kräftiger Hieb verfehlte seinen
29 Schädel und traf den Nacken u n d die linke Schulter. Henford schrie auf. Seine Beine waren plötzlich wie gelähmt. Er stürzte, und im Fallen zog er durch. Krachend entlud sich die Pistole. Das Blei v e r fehlte den Mann um mehr als n u r einen Yard und plattete sich auf den Planken auf. Ätzend stach der Pulverdampf in Henfords Lunge. Er war unfähig, den Fausthieb abzublocken, mit dem sich der Mann für den Schlag mit der Spillspake revanchierte. Alles um ihn herum war jäh in einem rasenden Wirbel begriffen. Ein unerträgliches Summen ließ seinen Kopf schier zerplatzen. Dann war da nur noch eine ungeheure Leere, in der alle Wahrnehmungen erloschen.
Die Kälte war nahezu unerträglich. Und auch die Nässe, die ihn in kurzen Abständen schwallartig überschwemmte. Mit den wiedererwachenden Lebensgeistern breitete sich ein unsagbares Gefühl der Verlorenheit aus. Wieder stieg ein nicht enden wollender Schwall salzigen Wassers hoch. Prustend, spuckend und h u stend rang Jeremiah Henford nach Atem, und schlagartig, als hätte es nur einer derartigen Anstrengung bedurft, kehrte die Erinnerung zurück. Henford wollte seinen schmerzenden Nacken massieren - er konnte es nicht. Seine Hände waren hinter dem Rücken festgebunden. Mit dünnem Kabelgarn, das bei jeder unbedachten Bewegung ins Fleisch einschnitt. Die nächste Woge stieg durch die Grätings hoch. Hart klatschte sie gegen seinen Leib und flutete schäumend zurück. Henford fror e r b ä r m lich. Seine triefendnasse Kleidung und der schneidende Wind setzten ihm mehr zu, als er je für möglich ge-
halten hätte. Wie oft war er schon bei Sturm und strömendem Regen mit dem Fuhrwerk unterwegs gewesen, ohne dabei diese schreckliche Beklemmung zu verspüren, die ihm langsam den Lebenswillen raubte. Er ahnte, d a ß der Zeitpunkt eintreten würde, an dem er sich nach der Erlösung sehnte. An den Fesseln zu reißen, hatte wenig Sinn. Sie waren in vielen Windungen um den Bugspriet geschlungen und wohl nur mit einer scharfen Klinge zu lösen. Wieder tauchte die Galeone in ein Wellental ein. Henford spürte die Bewegung überdeutlich und hielt instinktiv die Luft an. Im nächsten Moment überschwemmte die Bugwelle schäumend das Galionsdeck. Für einige bange Augenblicke hing Henfords ganzes Gewicht nur an seinen Handgelenken, bis er wieder Holz unter den Füßen spürte und das Wasser rauschend abfloß. Der Wind frischte weiter auf. und drehte zugleich. Die „Pilgrim" segelte über Steuerbordbug, sie pflügte durch die Wellen. Für einen auf der Galion festgebundenen Delinquenten bedeutete das weiß Gott kein Vergnügen. Die bleierne Schwärze der Nacht tat ein übriges dazu. Henford zu quälen. Tief im Unterbewußtsein registrierte er den Schlag der Schiffsglocke. Nie zuvor war ihm so deutlich b e wußt geworden, wie unendlich lang eine Stunde sein konnte. „Elizabeth", murmelte Henford halblaut. „ J o n a s . . . " Der Wind riß ihm die Worte von den Lippen. Die Nacht wurde zur schrecklichsten seines Lebens. Mehrmals sprang der Wind um, und als endlich der Morgen graute, lag Henford halb besinnungslos auf der Gräting. Der Erste erschien und musterte ihn spöttisch.
30 „Gut geschlafen?" erkundigte er sich zynisch. Henford schwieg. „Du willst nicht reden?" fragte Lilley ungehalten. „Bist wohl zu stolz dazu? Aber du warst nicht zu stolz, Proviant zu klauen." Schwerfällig hob Jeremiah Henford den Kopf. Jede Faser seines Körpers schmerzte. „Ich habe es nicht für mich getan", brachte er stockend hervor. „Natürlich nicht", spottete der Offizier. „Du hast keinen Hunger." Er packte Henford am Kragen und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen. „Weißt du, Kerl, was dich erwartet?" „Der Herr wird mich nicht zuschanden werden lassen", erwiderte Henford leise. „Ich vertraue auf ihn." „Er wird dir die Peitschenhiebe nicht abnehmen. Aber du könntest dich freikaufen." Henfords Schweigen deutete Lilley offenbar als Zustimmung, denn wesentlich eifriger als zuvor fuhr er fort: „Die meisten von euch Pilgern tragen Gold und Silber am Leib, nicht wahr? Deshalb sauft ihr auch ab wie die Ratten, wenn ihr ins Wasser fallt." Er schien sich vor Lachen ausschütten zu wollen über seinen eigenen Witz. Als er die Verachtung in Henfords Blick bemerkte, wurde er jedoch schlagartig wieder ernst. „Was hast du verkauft? Ein Haus, zwanzig Stück Vieh?" „Fünf Ziegen und zehn Acres Akkerland. Reichtümer besitze ich keine." „Dann bist du ein Narr." „Meine Frau und meine Kinder sind mir mehr wert als ein Säckchen voll Silber. Für sie wollte ich den Zwieback..." Der Erste winkte ungehalten ab. „Mir ist egal, warum du stiehlst. Wenn du kein Geld hast, gib mir deine Tochter - für einen Tag und eine Nacht."
„Dann bin ich frei?" fragte Henford ungläubig. „Niemand wird Anklage gegen dich erheben, wenn ich es nicht tue." Lilley baute sich dicht vor seinem Gefangenen auf und funkelte ihn herausfordernd an. Aber schon im nächsten Moment prallte er entsetzt zurück, als Henford nämlich ausspie und der Speichel ihn mitten ins Gesicht traf. Mit dem Ärmel säuberte er sein Gesicht. „Dafür büßt du!" fauchte er. „Deine Haut ist naß und empfindlich, das Salzwasser hat sie ausgelaugt, Hiermit verurteile ich dich zu fünfzehn Peitschenhieben - einen für jede Scheibe Zwieback, die du stehlen wolltest. Außerdem fünf Hiebe wegen tätlichen Angriffs auf einen Offizier dieses Schiffes. Die Strafe wird sofort vollstreckt." Mit dem Degen durchtrennte er das Kabelgarn, das Jeremiah am Gräting und am Bugspriet festhielt. Henford stieß einen wilden Aufschrei aus und wollte sich auf ihn stürzen, doch er überschätzte seine Kräfte. Als zöge ihm jemand die Beine unter dem Leib weg, schlug er der Länge nach hin. Seine Finger verkrampften sich in der Gräting. „Weitere fünf Hiebe", kommentierte der Erste. Dann packte er zu und zerrte Henford hinter sich her. Ein Decksmann half ihm schließlich. Gemeinsam schleppten sie den Pilger zum Großmast und banden ihn, mit dem Gesicht zum Mast, daran fest. „Ich nehme selbst die Züchtigung vor." Lilley schickte den Decksmann nach dem benötigten Handwerkszeug. Ein rascher Blick in die Runde überzeugte ihn davon, daß sich inzwischen zwar etliche Kerle von der Mannschaft und auch einige Pilger auf der Kuhl eingefunden hatten, aber keiner war so nahe, daß er die rasch hingeworfenen Worte verstehen konnte. „Noch kannst du es dir überlegen",
31 raunte Lilley, während er den Halt der Fesseln überprüfte. „Schlag mich", zischte Henford, „aber wage nicht, meine Tochter anzurühren!" Im Gesicht des Ersten zuckte kein Muskel, als er sich umwandte und vom Decksmann die Peitsche mit den geflochtenen Lederriemen entgegennahm. Mittlerweile hatten sich an die vierzig Mannen, davon gut die Hälfte Auswanderer, zusammengefunden. Vor allem an der Balustrade des Achterdecks drängten sie sich, um ja nichts von dem zu erwartenden Schauspiel zu versäumen. Dem Ersten entging beileibe nicht, daß mancher Pilger in ohnmächtigem Grimm die Hände ballte. Er würde sie Mores lehren, bis sie w u ß ten, aus welcher Ecke der Wind wehte. Kapitän Drinkwater war nach Ansicht seiner Offiziere ohnehin zu lasch im Umgang mit den Passagieren. Sie wollten ein neues Leben beginnen - verdammt, dann sollten sie auch dafür bezahlen. Er schlug zu. Nicht mit seiner ganzen Kraft, sondern eher nur aus dem Handgelenk heraus. Die Peitschenschnüre zerfetzten dennoch Henfords Hemd und rissen blutige Striemen in seine Haut. Jeremiah zuckte heftig zusammen. Man sah, daß er die Zähne zusammenbiß, um nicht aufzuschreien. Lange würde er sich wohl nicht beherrschen können. Lilley holte zum zweiten Hieb aus. „Heißt es nicht: Du sollst nicht stehlen?" rief er in die Runde. „Dieser Mann aber hat sich an dem Proviant vergangen, der uns allen gehört!" Wieder klatschten die Lederriemen auf Henfords Rücken. Das Hemd färbte sich blutig. Jeremiah begann zu wimmern, als der Erste nun kräftiger zuschlug. Vergeblich wand er sich in den Fesseln, ihm war klar, daß er alle fünfundzwanzig Hiebe wohl nicht überstehen
würde. Schon jetzt wurden das Tosen der See, der Wind und das verhaltene Raunen der Umstehenden von einem dumpfen Summen in seinem Kopf verdrängt. Mit verkrampften Muskeln erwartete Henford den nächsten Schlag. In dem Moment erklang eine laute, befehlsgewohnte Stimme. „Hören Sie auf, Lilley! Sofort!" Zögernd ließ der Erste die Peitsche sinken. Unwille zeichnete sich um seine Mundwinkel ab. Als er sich zum Achterdeck umwandte, wo Kapitän Drinkwater am Backbordniedergang erschienen war, hatte er sich schon wieder unter Kontrolle. „Wer hat die Bestrafung angeordnet?" „Ich, Sir", sagte Lilley. James Drinkwater enterte auf die Kuhl ab. Kopfnickend deutete er auf den Delinquenten, der am Großmast auf die Knie gesunken war. „Proviantdiebstahl, Sir", erklärte der Erste. „Meinen Sie nicht, Lilley, daß der Mann bereits genug hat? Wir alle hungern, aber das ist kein Grund, ihn halb totzuschlagen." Tief atmete der Erste durch. „Darf ich Sie darauf hinweisen, Sir, daß a b schreckende Maßnahmen angebracht sind. Gesindel vermehrt sich schnell." „Henford ist kein Dieb!" erklang ein aufgeregter Ruf von der K a m panje her. „Wenn er von dem lausigen F r a ß gestohlen hat, dann nur, um seiner kranken Frau zu helfen! Es erwischt doch immer n u r die, die sich nicht wehren können." Auf dem Achterdeck entstand vorübergehend Wuhling. Zwei Mannen versuchten, den unverschämten Zwischenrufer zu greifen, doch andere Pilger verstellten ihnen den Weg. Es fehlte nicht viel, und die Situation wäre ausgeartet. Drinkwater bemerkte wohl, daß nur ein einziger Funke genügte, um
32 das Pulverfaß zur Explosion zu bringen. Unter den Auswanderern waren bestimmt auch Kerle, die zuzupacken verstanden. „Binden Sie den Mann los, Lilley!" „Sir, ich . . . " „Haben Sie nicht verstanden? U n terlassen Sie ab sofort Ihre Eigenmächtigkeiten, oder Sie finden sich in der Vorpiek wieder." Halb ohnmächtig blieb Henford am Mastfuß hängen, als der Erste endlich die Fesseln kappte. Kein Laut drang über seine Lippen, als zwei Mannen ihn hochwuchteten und in die Kapitänskammer schleppten. Aber d a n n schwanden ihm die Sinne. Er bemerkte nicht, daß der Feldscher seine Wunden versorgte und der K a pitän ungeduldig danebenstand. Erst ein ihm mühsam eingeflößter Becher Rum weckte seine Lebensgeister. Er wollte aufspringen, doch Drinkwater drückte ihn auf die Koje zurück. „Wir sollten uns unterhalten, Mister Henford. In mehrfacher Hinsicht." Jeremiah starrte den schlanken, hochgewachsenen Mann ungläubig an, in dessen grauen Augen Bedauern zu lesen stand. Für eine Weile schwiegen beide, und es waren wohl ähnliche Gedanken, die jeden von ihnen bewegten. „Ich bin ertappt worden", sagte der Pilger schließlich. Seine Worte klangen trotzig. „Was geschehen ist, kann ich leider nicht ändern. Oder können Sie verdorbenen Proviant ergänzen und jedem an Bord eine vernünftige Mahlzeit versprechen?" Der Kapitän zog die Brauen hoch. Er begann eine unruhige Wanderung, neben der Koje auf und ab. „Wer noch?" fragte er. Die Andeutung mit dem verdorbenen Proviant war nicht mißzuverstehen gewesen. „Nur drei Mann", gestand Henford. „Niemand außer uns weiß bislang, wie schlimm es wirklich steht." Mühsam stemmte er sich hoch. „Es wird
auch niemand erfahren." Irgendwie fühlte er, daß er dem Kapitän vertrauen konnte, der weitaus mehr Einfühlungsvermögen zu haben schien als seine Offiziere. „Warum?" fragte James Drinkwater nur. „Meine Frau ist sehr krank", sagte Henford, „und mein dreijähriger Junge ist fast noch schlechter dran. Durchfall und Fieber haben ihn geschwächt." „Ähnliche Symptome zeigen inzwischen fast ein Drittel aller P a s s a giere", sagte der Kapitän. „Ich will ehrlich zu Ihnen sein: wir haben nicht genügend Medikamente, um dagegen anzukämpfen." „Ist es die Cholera wie auf der Discoverer'?" Der Kapitän füllte den Becher, der ihm hingehalten wurde, noch einmal mit Rum und nahm selbst ebenfalls einen tiefen Schluck. Danach erging es ihm wie Henford - auch er fühlte sich ein klein wenig wohler. „Wenn wir Glück haben, nur die Ruhr. Aber selbst dagegen sind wir bald machtlos." James Drinkwater öffnete ein Schapp, entnahm diesem ein kleines, in ölgetränktes Segeltuch eingewikkeltes Bündel und warf es Henford zu. „Mehr kann ich nicht für Sie tun", sagte er mit einem Unterton des Bedauerns in der Stimme. „Sie sollen nicht glauben, daß auch die ,Pilgrim' nur von Halsabschneidern befehligt wird. Ich hoffe, daß es Ihrer Frau und Ihrem Sohn bald wieder gutgeht." „Danke, Sir." Obwohl Henford noch so vieles sagen wollte, brachte er doch nichts mehr heraus. Schwankend, weil die Rückenschmerzen durch die Bewegung wieder schlimmer wurden, verließ er die Kapitänskammer. Unter Deck, als er sich unbeobachtet fühlte, öffnete er das Bündel. Es enthielt ein Stück spröden, ausge-
Den folgenden Brief schrieb uns M M ,K 10,2050 Hamburg 80: Liebe Seewölfe-Redaktion, liebe SeewölfeAutoren! Vor einigen Tagen kramte ich die Zeichnungen der „Isabella IX." aus den Heften Nr. 314-317 heraus. Der Anblick erzeugte ein Gefühl in meiner Magengrube, das dem bei kabbeliger See auf einer kleinen Hubkielyacht nach reichlichem Genuß etwas zweifelhaften Eiersalats entspricht. Ich möchte gar nicht auf Details eingehen aber insgesamt ähnelt das Schiff auf diesen Zeichnungen eher einer Attrappe in einem schlechten Piratenfilm als einer technisch fortschrittlichen Galeone um 1600. Die Seitenansicht weist z.B. weder Sprung noch Fall (der Masten) auf. (Na, will mal nicht so sein. Damals, als ich die Zeichnungen zum ersten Male sah, fiel mir nichts Besonderes auf - ohne die ,,Seewölfe" hätte ich mich wahrscheinlich nicht für den historischen Schiffbau interessiert und könnte heute nicht die etwas mißratenen Zeichnungen kritisieren.) Den Plan erstelle ich lieber nach den Angaben im Text und nach Plänen historischer Galeonen. Noch etwas zum Thema „gute alte Zeit'': In den Geschichtsbüchern über das späte 16. Jahrhundert vermisse ich kaum etwas von dem, was mir bei den Morgennachrichten den Appetit verdirbt. Terrorakte und Geiselnahmen, Staatsbankrotte, Verfolgung Andersdenkender und Andersgläubiger, Völkermorde, Entwaldung (vor allem in Spanien, das sich bis heute nicht davon erholt hat), Korruption und Amtsmißbrauch (von den elisabethanischen Politikern können selbst unsere ,,Staatsmänner" noch einige schmutzige Tricks lernen), Handelskriege, Seuchen und Hungersnöte, von den zahlreichen erklärten und unerklärten Kriegen ganz zu schweigen. Eigentlich vermisse ich nur die Atomwaffen und die globale Umweltverschmutzung, sonst ist die Zeit der Seewölfe genauso „interessant' wie die Ge-
genwart. (Apropos Umweltverschmutzung: auch sie resultiert meines Erachtens daraus, daß wir heute noch so handeln wie damals: Abfälle werden verbuddelt oder über Bord geworfen.) Was soll's! Eine Abenteuerserie kann kaum in einem ruhigen Geschichtsabschnitt spielen. Die ,,Seewölfe" sind solide spannend, leicht augenzwinkernd geschrieben und enthalten alles in allem weniger historische ,,Schnitzer" als z.B. die meisten Western. Haltet also weiterhin Kurs. Mit herzlichem Gruß-M M Herzlichen Dank für Ihren kritischen Brief, lieber Herr M , und natürlich eine Entschuldigung dafür, daß Ihnen die „Isabella"-Zeichnungen offenbar ein Magengrimmen bescherten, wobei uns der Vergleich mit der kabbeligen See, der Hubkielyacht und dem genossenen verdorbenen Eiersalat allerdings ein stilles Grinsen entlockte. Das Unwohlsein erinnerte Davis J. Harbord an einen Seetörn, den er als Zwölfjähriger mit seinem Vater auf einer schiffigen Yawl unternahm - in der Ostsee, wo's a u c h kabbelig war und am Abend Räucheraal gab. Da fiel dem kleinen Davis das Essen aus dem Gesieht- u n d der Vater grinste still. Aber Spaß beiseite. Unseres Wissens nach - bei aller Kritik über die Zeichnungen - hatten die Masten der damaligen Zeit, jedenfalls die der Galeonen, keinen Fall, das heißt, eine leichte Neigung nach achtern. Und die Bedeutung des „Sprungs" (Deckslinienverlauf) dürfte den damaligen Schiffbauern wohl auch unbekannt gewesen sein. Oder? Was das Thema der „guten alten Zeit" betrifft, da glauben wir doch, daß sie ihren Namen verdient hat, denn: so weltumgreifend oder global wie heute ging's „damals" noch nicht zu. Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren
In den Seemannskisten der SW-Nummern 608 und 611 stellten wir unseren Lesern die Stagsegel samt Rigg eines Vollschiffes sowie ein Vollschiff vor Topp und Takel ankernd vor. Auf den beiden vorigen Seiten präsentieren wir in Ergänzung ein Vollschiff mit seinen Segeln und einem Teil des laufenden Guts. Halten wir hier noch fest, was man unter dem Begriff „Vollschiff" versteht, nämlich einen Segler mit drei Masten, die alle vollgetakelt, das heißt, mit Rahsegeln versehen sind. Hatte ein Schiff vier oder fünf vollgetakelte Masten, so nannte man es dementsprechend Viermast- bzw. Fünfmastvollschiff. Von der Bark unterscheidet sich das Vollschiff dadurch, daß auch der achtere Mast Rahsegel führt - er heißt beim Vollschiff Kreuzmast, bei der Bark Besanmast. Die Nummern und Buchstaben bedeuten: 1 Außenklüver, 2 Klüver, 3 Binnenklüver, 4 Vor-Stengestagsegel, 5 Vor-Unterleesegel (Leesegel dienen bei günstigen durchstehenden Winden zur Verbreiterung der Rahsegel, schaffen also mehr Segelfläche zur Ausnutzung der Winde), 6 Vor-Oberleesegel, 7 Vor-Bramleesegel, 8 Vor- Royalleesegel, 9 Fock, 10 Vor-Untermarssegel, 11 Vor-Obermarssegel, 12 Vor-Unterbramsegel, 13 Vor-Oberbramsegel, 14 Vor-Royalsegel, 15 Vor-Skysegel, 16 Großsegel, 17 Groß-Untermarssegel, 18 Groß-Obermarssegel, 19 Groß-Unterbramsegel, 20 Groß-Oberbramsegel, 21 Groß-Royalsegel, 22 Groß-Skysegel, 23 Mondsegel (dieses Segel wurde selten gesetzt und ist nur bei einigen amerikanischen Klippern des 19. Jahrhunderts bekannt; unter anderem wurde es Mondgucker, Mondkieker, moon raker, moon sail oder skyscraper - Himmelskratzer - genannt), 24 Bagien, 25 Kreuz-Untermarssegel, 26 Kreuz-Obermarssegel, 27 Kreuz-Unterbramsegel, 28 Kreuz-Oberbramsegel, 29 Kreuz-Royalsegel, 30 Kreuz-Skysegel, 31 Besan, 32 Außen-Klüverschot, 33 Klüverschot, 34 Binnen-Klüverschot, 35 Fockschot, 36 Großschot, 37 Bagienschot, 38 Besanschot, 39 Großhals, 40 Bagienhals, 41 Fock-Bauchgordinge, 42 Fock-Nockgording, 43 Groß-Bauchgordinge, 44 GroßNockgording, 45 Bagien-Bauchgordinge, 46 Vor-Marsbauchgordinge, 47 Groß-Marsbauchgordinge, 48 Kreuz-Marsbauchgordinge. A VorOberleesegelspiere, B Vor-Bramleesegelspiere, C Vor-Royalleesegelspiere.
37 trockneten Käse, acht Scheiben Zwieback und einen halben Stockfisch. Nur mühsam widerstand Henford dem Verlangen, erst den Käse, dann den Fisch und zum Schluß auch noch den Zwieback in sich hineinzustopfen. So schnell er konnte, wickelte er alles wieder zusammen und stolperte den nächsten Niedergang in den Bauch der Galeone hinunter. Ruckartig wandten sich ihm alle Gesichter zu, als er den Laderaum b e trat. Irgend jemand schluchzte h e m mungslos. Jeremiah Henford war viel zu erregt, um die beklemmende A t m o sphäre wahrzunehmen. Aber dann, als sei er gegen ein u n sichtbares Schott geprallt, blieb er abrupt stehen. Im flackernden Widerschein der Tranfunzeln sah er Elizabeth und Ireen aneinandergekauert. Elizabeth hielt den kleinen Jonas im Arm. Aber wie sie ihn h i e l t . . . „Nein!" schrie Henford gequält auf. „Das darf nicht sein!" Ireen bemerkte ihren Vater erst jetzt. In ihrem Blick lag unendlich viel Traurigkeit verborgen, als sie ihn ansah. „Jonas hat alles überstanden", murmelte sie tonlos. 5. Hoch am Wind segelte die K a r a velle mit ihrer Lateinertakelung schneller als die Galeonen, denen sie seit London folgte. Nur zeigte sich, seit der Nebel sich gelichtet h a t t e , kein anderes Segel. Dabei konnten weder die Galeonen noch die Schebecke des Seewolfs während der Flaute davongelaufen sein. Vielleicht hatten besondere Strömungsverhältnisse die Karavelle abgetrieben. Aber keinesfalls so weit, d a ß nicht über kurz oder lang die Ver-
folgten an der K i m m auftauchen mußten. „Freiwillig wird kein Kapitän von seinen Vorräten abgeben." Tim Robinson suchte nun schon eine geschlagene halbe Stunde mit dem Spektiv nach einem verräterischen hellen Fleck, der sich vor dem Blaugrau des Ozeans u n d des fast mit den Wogen verschmelzenden Himmels abzeichnete. „Das glaubt sowieso keiner", antwortete Kapitän Anderley. Mit beiden Händen fuhr er durch sein dichtes schwarzes Bartgestrüpp, das ihm verfilzt bis fast auf die Brust hing und ihm ein verwegenes Aussehen verlieh. „Was wir nicht freiwillig erhalten, das holen wir uns, und ich möchte verdammt sein, wenn uns einer dieser gestriegelten Affen daran hindert." Wie um zu unterstreichen, daß er es bitterernst meinte, ließ er ein dröhnendes Gelächter folgen. Die Halsabschneider, Schnapphähne und das andere Lumpenpack, die seine Worte vernommen hatten, stimmten herzhaft ein. Dabei hatten sie wenig zu lachen, denn einige der Rabauken waren schon n a h e daran gewesen, sich gegenseitig an die Kehle zu gehen. Mit Entersäbeln, schweren Schiffshauern und sogar Pistolen. Die Aussicht auf reiche Beute hatte sie zusammengebracht, und nur sie hielt die Kerle auch zusammen. Eine richtige Mannschaft, von Stürmen und Entbehrungen zusammengeschweißt, würden sie nie werden. Ihnen galt das Recht des Stärkeren mehr als Rücksichtnahme und Gemeinsamkeit. „Was wir kriegen können, das nehmen wir uns", hatte William Anderley noch zu Beginn der Fahrt erklärt. Doch bislang hatten sie nur leere Hände aufzuweisen und seit gestern auch noch leere Bäuche, deren grimmiges Knurren unüberhörbar war. Der S t u r m hatte die Karavelle arg
38 gebeutelt. Viel zu spät waren die Segel gerefft worden, als die Fock nur noch in Fetzen von der Rahrute hing. Zwei geöffnete Geschützpforten h a t ten zu größeren Wassereinbrüchen geführt und beinahe eine Katastrophe heraufbeschworen. Der für die Sicherung der Geschütze Verantwortliche lebte nicht mehr. Anderley selbst hatte ihm in höchster Erregung mit dem Degen eins übergezogen und dann das Manntau gekappt, an dem der Kerl Halt gesucht hatte. Für einen Mann über Bord gab es bei einem solchen Sturm keine Aussicht auf Rettung. Nur der anschließenden Flaute verdankten es die Halunken auf der Karavelle, daß sie nicht ebenfalls abgesoffen waren. Sie hatten zwei Tage gebraucht, um das eingedrungene Wasser zu lenzen und mehrere Lecks abzudichten und noch einmal so lange, um die abgerissenen Stückpfortendeckel zu erneuern, die Segel zu flicken und zerschlagene Teile des Schanzkleides wenigstens notdürftig auszubessern. Der eingelagerte Proviant war durch das Salzwasser verdorben und das Wenige, das noch genießbar gewesen war, inzwischen durch die Mägen der Kerls gewandert. Das Wort Rationierung auch nur in den Mund zu nehmen, hatte keiner für nötig befunden. Immerhin wußten sie mehrere Seemeilen im Umkreis zwei wunderschöne Schiffe, an deren Vorräten sie sich schadhaft halten würden. Abrupt hörte Anderley auf zu lachen. Er tätschelte eins der Geschütze, die mit dem Auffrischen des Windes klariert worden waren. Die Karavelle führte ein Dutzend dieser Sechspfünder mit, außerdem vier Drehbassen auf dem Achterdeck. „Die Kanonen sind unser bestes Argument", erklärte er. „Ich möchte den sehen, der davon nicht überzeugt ist." Er hatte noch mehr sagen wollen,
wurde aber durch den freudigen Ausruf des Bootsmanns unterbrochen. „Segel Steuerbord voraus!" „Laß sehen!" Der Kapitän riß R o binson das Spektiv aus der Hand. Er brauchte einige Augenblicke, um den fernen hellen Fleck zwischen den schaumgekrönten Wellenbergen zu erkennen. Ein gottserbärmlicher Fluch folgte. „Das muß die Schebecke sein, dieser verdammte Seewolf." Anderley spie in hohem Bogen leewärts aus. „Ich kann noch ganz gut zwischen Latainertakelung und Rahsegeln u n terscheiden." Er warf Robinson den Kieker wieder zu. „Bleib dran. Ich will wissen, was Killigrew vorhat." „Und wir?" Der Kapitän verzog das Gesicht zu einem niederträchtigen Grinsen und offenbarte dabei seine beiden Zahnlücken im Unterkiefer, die ihn noch häßlicher aussehen ließen. „Wir laufen ihm hinterher. Jede Wette, daß wir bald eine der Galeonen zu sehen kriegen. Und ich will verdammt sein, wenn wir nicht in vierundzwanzig Stunden mehr Proviant und Weiber haben, als wir b r a u chen. Zuerst werden wir uns die Bäuche vollschlagen . . . " Der Jubel der Mannschaft ging im Killen der Segel unter. Der Wind hatte urplötzlich gedreht und wehte nun aus Nordnordost. „Vorwärts, ihr Lahmärsche!" brüllte Anderley. „Auf was wartet ihr? Holt sie rum!" Tim Robinson stierte wieder durch den Kieker. Die Schebecke schickte sich soeben an, hinter der Kimm zu verschwinden. „Killigrew hat den Kurs geändert", meldete der Bootsmann. „Er segelt mit halbem Wind auf Westnordwest." „Hart Steuerbord!" befahl Anderley. Ächzend holte die Karavelle weiter über. Die Leewanten bekamen Lose,
39 d a n n wurden die Rahruten weiter herumgeholt und Halsen und Brassen neu getrimmt. Während der nächsten drei Stunden folgte die Karavelle der Schebecke gerade noch auf Sichtweite. Man durfte annehmen, daß der Seewolf zwar längst auf die Verfolger aufmerksam geworden war, aber ebenso wahrscheinlich erschien es, daß er sich einen Dreck darum k ü m merte. „Was glaubt der eigentlich, wer er ist?" schnaubte Anderley. „Nur weil die Königin ein besonderes Auge auf ihn hat, denkt er, uns am ausgestreckten Arm halten zu können." Endlich tauchten weitere Segel auf. Abermals wurde der Kurs geändert. Alle drei Schiffe nahmen den Wind achterlich, der inzwischen konstant aus Nordost blies. „Das ist der Fisch, an dem wir d r a n bleiben", sagte Anderley. „In der Nacht werfen wir unsere Netze aus."
Dan O'Flynn, der scharfäugige Sohn Old Donegals und seines Zeichens Navigator in der Crew der A r wenacks, wies Hasard schon zu einem frühen Zeitpunkt auf die Lateinersegel hin. Das Schiff konnte eben erst an der Kimm aufgetaucht sein. Der Seewolf ließ sich Dans Kieker geben und blickte hindurch. Die winzigen hellen Dreiecke in Ostsüdost waren die einzigen, die sich innerhalb des Sichtbereichs abzeichneten. „Sieht so aus, als hätten wir die R a baukenkaravelle wieder hinter uns", sagte Dan bedächtig. Hasard nickte. „Die Kerle sind schlimmer als ein Schwarm Haie", sagte er, während er das Spektiv zusammenschob und Dan zurückgab. „Ich fürchte, wir müssen auf unangenehme Überraschungen gefaßt sein." Im Laufe der nächsten Stunden stellte sich heraus, daß die Karavelle
nicht weiter aufschloß, sondern ihren Kurs dem der Schebecke anglich. Die wüsten Kerle dort drüben warteten offensichtlich auf etwas, über das man nur Mutmaßungen anstellen konnte. Kurz vor dem Mittag wurden endlich Rahsegel gesichtet. Das Schiff lief unter Vollzeug mit achterlichem Wind. Es konnte sich n u r um die „Pilgrim" handeln. Langsam, aber stetig holte die Schebecke auf. Die Sonne stand bereits im Nachmittag, als weit achteraus endlich auch die „Explorer" gesichtet wurde. Die Mannen unter Kapitän Arnos Toolan hatten den letzten Fetzen Tuch gesetzt, um aufzuschließen. „Dann sind wir also wieder glücklich vereint", spottete Gary Andrews. „Nicht, solange diese Affenärsche auf demselben Kurs segeln", grollte Carberry und deutete anklagend in Richtung der Karavelle. „Ich hätte gut Lust, denen eins vor den Bug zu knallen, d a ß ihnen Hören und Sehen vergeht." „Noch haben sie niemandem etwas getan", erinnerte Hasard. „Und segeln können sie, wohin sie wollen, wie sie schon selbst bemerkt haben. Der Ozean gehört jedem." „Ich habe trotzdem ein ungutes Gefühl." Nachdenklich kratzte der P r o fos sein gewaltiges Kinn. „Vielleicht sollten wir die Burschen mal so richtig aufmischen." Das wäre eine A b wechslung nach seinem Geschmack gewesen. Die Flaute - und damit die Zeit des Nichtstun - h a t t e ihm viel zulange gedauert. Mittlerweile lag die Schebecke gerade noch eine halbe Seemeile hinter der „Pilgrim". Dan O'Flynns Ausruf von der Back erfolgte für alle überraschend: „Dort drüben herrscht Zustand an Deck. Sieht ganz so aus, als lägen sich Mannschaft und Passagiere in den Haaren."
40 Allzuviel erkennen konnte niemand, die Segel und die Aufbauten der Galeone behinderten die Sicht. Trotzdem schien es, als sei die schönste Prügelei im Gange. Den Arwenacks juckte es natürlich gehörig in den Fingern, da mitzumischen. „Was meint i h r ? " herrschte Carberry die Mannen an. „Sieht das nach Meuterei aus?" Natürlich erhielt er von allen Seiten Zustimmung. „Was ist unsere Pflicht in einem solchen Fall?" drängte der Profos weiter. „Die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen", erklang es mehrstimmig. Philip Hasard Killigrew grinste breit. Seine Kerle waren wieder einmal einhellig einer Meinung. „Al!" rief er dem Stückmeister zu. „Was hältst du von einer vollen Breitseite? Wenn die Idioten auf der ,Pilgrim' nicht taub sind, sollten sie sich besinnen." Die Entfernung betrug gut das Dreifache der Schußweite bei normaler Pulvermenge. Al Conroy brauchte die Geschütze also nicht auszurichten, sondern konnte blindlings feuern. Die Ladungen waren schnell gesetzt. Al Conroy wählte normale Eisenkugeln, denn jede andere Munition wäre ihm wie Verschwendung erschienen. Mit Hilfe der Taljen rannten die Zwillinge hinter ihm die Rohre aus. Al Conroy brauchte schließlich nur m e h r mit dem glimmenden Luntenstock durchzugehen. Sechsmal in gleichen zeitlichen A b ständen brüllten die Culverinen auf. K n a p p zwei Kabellängen von der Schebecke entfernt stiegen schäumende Fontänen aus der See hoch. Auf der „Pilgrim" mußte man jetzt aufmerksam werden. Nach wie vor beobachtete Dan durchs Spektiv. „Nichts", meldete er schließlich. „Die kloppen munter weiter."
Edwin Carberry und einige andere rieben sich erwartungsvoll die Hände. Erst recht, als auf der Galeone die Großrah runterrauschte, weil jemand im Übereifer die Fallen gekappt hatte. Die „Pilgrim" lief sofort weniger Fahrt. Kurz darauf krachte die Vormarsr a h nach unten. Die Schebecke holte nun schnell auf, und als Al Conroy die nächste Breitseite abfeuerte, lagen die Einschläge so dicht, d a ß die aufsteigenden Fontänen die Kuhl ü b e r schwemmten. Die Abkühlung der hitzigen Gemüter wirkte Wunder. Bis die Schebecke längsseits ging und die ersten Enterhaken geworfen wurden, prügelten sich nur noch die Unverbesserlichen.
Jeremiah Henford fühlte sich so leer wie nie zuvor in seinem Leben. Selbst seine Tränen waren versiegt. Er stand nur da, starrte blicklos vor sich hin und schluckte schwer. Dann, die Hände vors Gesicht geschlagen, sank er schluchzend auf die Knie. Ireen redete auf ihn ein, aber er n a h m nicht wahr, was sie sagte. „Jonas hat zuletzt Blut erbrochen. Ihm blieben viele Qualen erspart." Woher Ireen die Kraft nahm, so zu r e den, wußte sie selbst nicht. Zitternd legte ihr Vater das Bündel aus Segeltuch neben sich und drückte Jonas' Leichnam fest an seine Brust. Es war still in dem Laderaum, n u r das Knacken der Bordwände und das Gurgeln des vorbeirauschenden W a s sers bildeten die Kulisse. Endlich begann jemand zu beten. Zaghaft zuerst und mit verhaltener Stimme, doch dann fielen andere ein. Schließlich wurden die Stimmen kräftiger. Auch Elizabeth bewegte die L i p pen. Und sogar Jeremiah stimmte in die Fürbitten mit ein.
41 „ . . . laß uns nicht zuschanden werden, Herr. Gib den Seeleuten die Kraft, unser Schicksal zu verstehen und das wenige, was sie noch haben, gerecht zu teilen . . . " Jeremiah Henford öffnete das B ü n del mit dem Proviant. Er schob eine Scheibe Zwieback zwischen die schon steifen Finger seines Sohnes. „Nimm das mit, Jonas, es ist das letzte, was ich dir geben kann." Er drückte den Jungen an sich, als wolle er ihn für immer festhalten. Brian O'Selly brachte ein Stück Segeltuch, Lieknadeln und ein Knäuel Schiemannsgarn. „Wir müssen euren Jungen der See übergeben", sagte er. „Je eher, desto besser. Nur so können wir verhindern, daß eine Seuche ausbricht." Er erhielt keine Antwort. Erst als er sich wiederholte, nickte Henford schwer. „Das muß ich selbst besorgen, Brian." Jeremiah breitete das Segeltuch auf den Planken aus, legte den abgemagerten Leichnam hinein und schlug die Kanten ein. Mit zaghaften Stichen begann er zu nähen. Eine halbe Stunde verging. Als er den letzten Stich getan hatte, warf Henford Nadel und Faden angewidert von sich. „In der Hölle sollen sie schmoren, die meinen Sohn getötet haben. Ja, getötet." Er wurde zunehmend lauter. „Diese Kapitäne mit ihrer Gier nach Geld und Gut, und ihre Kerle, die selbst Ratten für W u cherpreise feilbieten, an ihrem eigenen F r a ß sollen sie verrecken!" Endlich brachen die Tränen aus ihm heraus. Jeremiah Henford schluchzte haltlos, bis alle Pilger, die in dem Laderaum hausten, vor ihm standen. O'Selly nickte ihm auffordernd zu. „Bringen wir es hinter uns." „Ja", Henford nickte, „du hast recht. Es ist wohl besser so." Er half Elizabeth auf die Beine. Seine F r a u
war bereits schwächer, als er befürchtet hatte. Mit zitternden Fingern riß er das Bündel weiter auf, das er vom Kapitän erhalten hatte. „Hier, iß das." Mit der Rechten hielt er Elizabeth den Käse und mit der linken Hand den Speck hin. Aber sie schüttelte nur den Kopf. Auch die anderen Pilger wollten nichts, obwohl manch gieriger Blick den spärlichen Vorrat streifte. O'Selly trug den kleinen Jonas auf seinen Armen. Hinter i h m verließen Jeremiah und Elizabeth den Laderaum. D a n n folgten Ireen und die anderen Auswanderer. Kerle aus der Mannschaft wichen bereitwillig zur Seite, Pilger neigten andächtig die Häupter. Auf dem zum Achterdeck führenden Niedergang passierte es. Elizabeth Henford ließ einen abgehackten Seufzer vernehmen und sackte in den Armen ihres Mannes zusammen. So plötzlich, d a ß Jeremiah zu spät reagierte. Elizabeth rutschte zwei, drei Tritte weit nach unten und blieb verkrümmt liegen. „Mutter!" schrie Ireen gellend auf. Elizabeth wirkte unsagbar müde, als sie vergeblich versuchte, sich aufzurichten. Schweiß perlte auf ihrer Stirn. Sie schien etwas sagen zu wollen, aber nun ein leises Murmeln drang über ihre Lippen. Dennoch hatte sie die Kraft, ihr helfend entgegengestreckte Arme zur Seite zu schieben. Sie spürte wohl, das ihr Ende nahte. „Mein Gott, warum tut denn keiner was?" Ireen rang m ü h s a m um ihre Fassung. „Holt doch endlich den Feldscher." Jeremiah kniete neben seiner Frau nieder. Die Andeutung eines Lächelns huschte über ihr Gesicht, als beider Hände sich berührten. Sie wollte etwas sagen. Ganz nahe brachte Jeremiah sein Ohr an ihren Mund.
42 „Du wirst nun ohne mich eine neue Heimat suchen", flüsterte Elizabeth. „Es - es tut mir leid, daß ich dich nicht begleiten kann." „Alles wird gut werden", log J e r e miah. „Ich habe dir eine F a r m u n d Kühe versprochen, und du wirst beides bekommen." „Baue das Haus für Ireen. Ich brauche - es nicht mehr." Elizabeth verstummte. Ein letztes Zittern durchlief ihren ausgemergelten Körper, dann sackte sie zur Seite. Der Feldscher erschien zu spät, aber er hätte ohnehin nicht helfen können. „Übergebt die Toten rasch der See", befahl er. „Wir müssen alles tun, um die Gesunden vor einer Ansteckung zu schützen." Henford fügte sich. Noch auf dem Zwischendeck wurde seine Frau in Segeltuch eingenäht. Ihm blieb kaum Zeit, von ihr Abschied zu nehmen. Zum erstenmal verfluchte er die Neue Welt, deren Verlockungen Tod und Unglück brachten. Wie viele F a milien waren schon auseinandergerissen worden, wie vielen stand ein ähnliches Schicksal noch bevor? Er schloß Ireen in die Arme. Auch sie würde ihn irgendwann verlassen. James Bucknan und sie wollten die Ehe eingehen, sobald sie sich eine erste kleine Existenz aufgebaut h a t ten. Mittlerweile hatte sich unter den Auswanderen die Todesnachricht herumgesprochen. Viele nahmen teil, um Jonas und Elizabeth das letzte Geleit zu geben. Schweigend zogen sie zum Achterdeck und von dort aus auf die Kuhl. Der Tod war allgegenwärtig in diesen Tagen. Niemand wußte, wer der nächste sein würde, den der Schnitter dahinraffte. Vielleicht gerade deshalb wurde das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Pilgern mit jedem Tag größer. Wie selbstverständlich übernahm einer aus der Mitte der Auswanderer
das Amt des Pfarrers. Zwar suchte er vergeblich nach trostspendenden Worten, doch ließ er seine Bemühungen immerhin in einem Gebet enden. Sogar zwei Kerle von der Mannschaft hielten flüchtig in ihrem Tun inne. Die Sonne brach aus den Wolken hervor. Ihre Strahlenfinger huschten über die aufgewühlte See. Weit im Westen entstand ein fahler Regenbogen. „Das ist das Zeichen, das der Herr für Noah gesetzt hat." Jemand deutete erregt zu dem schon wieder v e r blassenden Farbenspiel. „Wir werden bald Land erreichen." Die beiden Kerle blickten sich an und schüttelten den Kopf. Solange keine Möwen in der Luft waren, würde die „Pilgrim" auch nicht unter Land gehen. In stummer Andacht, die Augen geschlossen, verharrte Henford am Schanzkleid. Tiefe Falten der Verbitterung hatten sich in seine Mundwinkel gekerbt. „Jeremiah", raunte O'Selly, als sich bereits eine spürbare Unruhe der Wartenden bemächtigte. Zögernd öffnete Henford die Augen. „Noch einen Augenblick", bat er. „Du machst sie nicht wieder lebendig." Henford blickte seine Tochter an, doch die schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie brachte es nicht fertig, die Mutter und den Bruder der See zu übergeben. James Bucknan half, die Toten über das Schanzkleid zu heben. Der junge Rotschopf hatte sich bislang zurückgehalten, aber nun nahm er Ireens Stelle ein. Auch er war von den ungeahnten Strapazen der Überfahrt gezeichnet. „Komm", sagte Jeremiah nur. Beide enterten zur Kampanje auf, von wo aus sie lange ins Kielwasser starrten, bis nichts mehr zu sehen war. „Daß dies einmal geschehen
43 könnte, daran habe ich nie gedacht", murmelte Henford. „In der Neuen Welt wollten wir unser Glück finden." „Wo ist Ireen geblieben?" u n t e r brach Bucknan. Henford wußte es nicht. „Wahrscheinlich unter Deck", sagte er. „Der Tod ihres Bruders ging ihr schon sehr nahe, und nun auch noch ihre Mutter." Abrupt wandte er sich ab, weil J a m e s nicht sehen sollte, wie es um ihn stand. „Ich suche sie", versprach der Rotschopf.
Ireen hatte sich bis zur Achterpiek zurückgezogen. James Bucknan konnte verstehen, saß sie allein sein wollte. Den Tod Fremder zu erleben oder mit dem Sensenmann in der eigenen Familie konfrontiert zu werden, das waren zwei grundverschiedene Dinge. Bevor James Ireen sah, hörte er sie stöhnen, und für einen Augenblick war er wie benommen. Das Mädchen setzte sich offenbar gegen jemanden zur Wehr. Mit geballten Händen lief J a m e s weiter. „Cane, du Mistkerl!" Blindlings sprang er den Seemann an, der es wagte, seiner Ireen abermals Gewalt antun zu wollen. Diesmal hatte Cane sein Ziel beinahe erreicht, das Mädchen war nur noch ein Häufchen Elend, das furchtsam jammerte. Die Hände ineinander verschränkt, schlug Bucknan zu. Aber Cane duckte sich und rammte ihm von unten her den Schädel in die Magengrube. J a m e s r a n g nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Seine Fäuste k r a c h ten zwar noch gegen die Schulter des Kerls, aber da h a t t e der ihn bereits hochgestemmt. Für einen kurzen Moment hing der Rotschopf nahezu h o r i zontal in der Luft, bevor er schwer auf den Rücken krachte.
Instinktiv wälzte er sich herum. Hinter ihm droschen die Pranken Canes ins Leere. James begann zu begreifen, wie verschwindend gering seine Chance gegen den Kerl war. Er m u ß t e sich auf seine Geschmeidigkeit besinnen, nur dann konnte er den mit roher Kraft angreifenden Cane vielleicht auf Distanz halten. Vergeblich blickte er um sich. Da war nichts, was sich irgendwie als Waffe gebrauchen ließ. „Wenn ich diesmal mit dir fertig bin, Bürschchen, p a ß t du querkant durch die Speigatten", grollte Cane. Ungestüm prellte er vor und deckte James mit einem Hagel wuchtiger Hiebe ein, die dieser k a u m abblocken konnte. „Und d a n n nehme ich mir die J u n g fer vor." Im ersten Moment glaubte James, der Tritt eines Ochsen habe ihn erwischt, als er achteraus gegen einen Balken gerammt wurde. Er sah rot, aber nicht nur, weil eine Augenbraue aufgerissen war und das Blut warm über seine Augen sickerte. Unter dem nächsten Hieb tauchte er weg. Sein Schädel dröhnte wie eine zu heftig angeschlagene Schiffsglocke. Trotzdem war er noch schnell genug, um an Cane vorbeizugleiten. Zwei, drei nicht sonderlich kräftige Hiebe setzte er in die Nierengegend des Gegners. Der Kerl grunzte nur widerwillig, dann prasselten seine Schläge auf James nieder, der benommen strauchelte und stürzte. Canes überlegenes Grinsen verhieß nichts Gutes. Die Rechte am Griff seines Dolches, baute er sich vor Bucknan auf. Aber schon im nächsten Moment verzerrte sich seine vernarbte Fratze. J a m e s hatte blitzschnell die Beine angezogen und zugetreten, und er hatte so ziemlich den wirkungsvollsten P u n k t erwischt, den er treffen konnte. Cane brachte nur noch ein Gurgeln hervor u n d stürzte sich auf Bucknan.
44 Ineinander verkrallt wälzten sich beide über den Boden. Blindlings t a stend suchten zwei schwielige P r a n ken nach J a m e s ' Kehle und drückten erbarmungslos zu. James spürte, wie ihm die Sinne schwanden, aber plötzlich fühlte er auch den kühlen Knauf des Dolches an Canes Gürtel. Mit einer verzweifelten Anstrengung riß er die Waffe an sich und stach zu. Der Griff an seinem Hals lockerte sich, Cane begann zu röcheln. Noch einmal stieß James zu, dann war er frei und sprang auf. „Wir müssen weg von hier!" Ireen starrte ihn an, als hätte sie Mühe, zu begreifen. „Ist - ist er tot?" brachte sie stokkend hervor. „Weiß nicht." James zuckte mit den Schultern, ergriff Ireens Hände und zog sie mit sich. Willard Cane lag jetzt ruhig auf den Planken. Aber er schien noch zu atmen. Als sie die Nähe der Achterpiek verließen, begann Ireen hemmungslos zu schluchzen. Bucknan unternahm gar nicht erst den Versuch, sie zu besänftigen. Die Tränen würden ihr helfen, schneller zu vergessen. 6. Henford, der schon eine Ewigkeit ins Wasser starrte und sich mit Selbstvorwürfen quälte, nahm überhaupt nicht wahr, d a ß jemand hinter ihn trat. Als er angesprochen wurde, zuckte er zwar zusammen, wandte sich aber dennoch nicht um. „Ich will allein sein, Bartholomew", sagte er, hatte den Sprecher also doch erkannt. „Ist das so schwer zu verstehen?" „Auf diese Weise hilfst du niemanden, am allerwenigsten dir selbst." Roberts trat neben ihn an die Verschanzung. „Viele von uns sind inzwischen erkrankt, und einige werden
wohl sterben, wenn kein Wunder geschieht." „Warum sagst du mir das?" „Weil ich dir vertraue." „Laß mich in Frieden", erklang es ärgerlich. Aber Roberts gab sich so schnell nicht geschlagen. „Deine Ireen könnte die nächste sein, die es erwischt. Jeremiah, verkriech dich nicht in ein Schneckenhaus. Du solltest den Mut aufbringen, den Tatsachen ins Auge zu sehen." „Mut?" Henford spie aus. „Sieh dir meinen Rücken an, dann weißt du, was es bedeutet, Mut zu haben. Jede schnelle Bewegung läßt den Grind wieder aufbrechen, von den Schmerzen ganz zu schweigen." „Du bist also nicht dabei, wenn wir es den Kerlen heimzahlen?" Roberts verfiel in einen geradezu verschwörerischen Tonfall. Endlich wandte Henford sich ihm zu. Überraschung war aus seinem Blick zu lesen, aber auch Resignation. „Meuterei?" fragte er tonlos. „Ein hartes Wort", erwiderte sein Gegenüber erschrocken. „Es geht nicht darum, den Kapitän und seine Offiziere abzulösen, wir wollen nur, was uns zusteht." „Wir...?" „Fünfzehn Mannen - bis jetzt. Alle sind bereit, es selbst mit dem Teufel aufzunehmen. Wir werden die Verpflegung gerechter aufteilen, als das bisher geschieht." „Wo nichts i s t . . . " , begann H e n ford, wurde aber schroff unterbrochen. „Du glaubst den Unsinn? W a h r scheinlich hat dir dieser Schinder Lilley den Schneid abgekauft. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, das ist es, wonach wir uns an Bord richten m ü s sen, nicht nach irgendwelchem süß klingenden Gelaber." „Verschwinde!" Jeremiah Henford starrte wieder auf die See hinaus.
46 „Ich will damit nichts zu tun haben. Gewalt ruft nur immer neue Gewalt hervor."
Die Pistole feuerbereit in der Rechten, stürmte Graham Lilley in den Laderaum. Hinter ihm folgten drei Kerle, die zwar keine Waffe trugen, mit denen man sich aber besser nicht anlegte, wollte man nicht den kürzeren ziehen. „Alle Männer mitkommen auf die Kuhl!" brüllte der Erste Offizier. „Die Frauen und Kinder bleiben u n ter Deck. Was los ist, erfahrt ihr früh genug. Also vorwärts, beeilt euch gefälligst." Es gab keinen Widerstand. Wo doch Unwille aufflammte, sorgten die Kerle nachdrücklich dafür, daß dem Befehl Folge geleistet wurde. Aus allen Räumen des Schiffes enterten die Auswanderer, die noch halbwegs von der Krankheit verschont geblieben waren, zum Mitteldeck auf. Auf der Back und hinter der Balustrade des Achterdecks standen Mannen mit Musketen im Anschlag. Kein sehr beruhigender Anblick für die Pilger. Ein bedrohlicher werdendes Murren und Murmeln hob an, denn im Schutz der Menge glaubten einige Hitzköpfe, ungestraft aufmukken zu können. Die Kuhl reichte nicht aus, um alle zu fassen. Lilley gab den Bewaffneten Zeichen, daß sie auch auf dem Achterdeck Platz schaffen sollten. Bis auf Tuchfühlung kamen sich so Auswanderer und Seeleute nahe. Musketen und Pistolen schufen nicht gerade eine Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens. „Wir wollen endlich wissen, was los ist!" erklangen lauter werdende Rufe. Graham Lilley schwang sich auf die Achterducht der mittschiffs liegenden Jolle. Beschwörend hob er die Arme.
„Ein Decksmann wurde erdolcht! Von einem von euch! Ich will den T ä ter!" Unvermittelt ebbte alles Murmeln ab. Nur der Wind war noch zu hören, der die Segel blähte. „Ihr werdet hier stehen, bis ihr Wurzeln schlagt", verkündete Lilley, „oder soll ich einfach einen von euch an die Rah hängen? Dich vielleicht?" Er deutete auf einen höchstens sechzehnjährigen Jungen, ein rechtes Milchgesicht, wenn der Schein nicht trog. „Teddy hat nichts damit zu tun", ereiferte sich der Mann an dessen Seite. „Das kann ich beschwören." „Und d u ? " faßte Lilley nach. „Bist du bereit, dich zu opfern?" Manch abschätzender Blick ging in die Runde. Zwar standen nur fünf Musketenschützen gegen sechzig Pilger - ein ungutes Verhältnis für die Mannschaft -, trotzdem wagte keiner der Auswanderer, den ersten Schritt zu tun. „Ich warte", sagte Lilley scharf. Neue Unruhe griff um sich, als der Kapitän vor den Besanmast trat. James Drinkwater las eine Menge Namen von einem Blatt ab: „Brian O'Selly, Phil Maynard, Jeff Conners, Bartholomew Roberts. James Bucknan, Jeremiah Henford . . . " Insgesamt waren es mehr als fünfzehn. Er forderte die Genannten auf, sich vor dem Großmast zu versammeln. Aber nur die Hälfte von ihnen gehorchte. „Was wirft man uns vor?" rief Roberts. „Außer dem Mord an Willard Cane Verschwörung und Anstiftung zur Meuterei." „Das ist nicht wahr." „Dafür gibt es Beweise." Unmutsäußerungen ertönten aus der Menge. Erst als der Kapitän eine Muskete über die Köpfe der Auswanderer hinweg abfeuern ließ, verstummten sie wieder.
47 „Jemand hat die Namen genannt", sagte James Drinkwater spöttisch. „Im Austausch gegen Speck und Zwieback." Die Musketenläufe richteten sich gegen die acht Kerle am Großmast. „Der Strick soll Canes Mörder vom Leben zum Tode befördern!" rief Lilley. „Solange er sich nicht zu erkennen gibt, wird zu jeder vollen Stunde einer von euch hingerichtet. Ihr a n d e ren geht in eure Räume." Er bewegte die Hand, als wolle er eine Schar H ü h ner verscheuchen. Aber niemand b e folgte seinen Befehl. Lilley färbte sich puterrot im Gesicht. „Ich kann auch anders!" brüllte er. „Fordert mich nicht heraus!" Der eine oder andere Pilger löste sich aus der Menge und verschwand unter Deck. Aber weitaus die Mehrzahl blieb. Unvermittelt t r a t James Bucknan vor. „Ich habe den Kerl erstochen", sagte er. „Bist du verrückt, Junge?" rief Henford erschrocken. „Ich war es", wiederholte Bucknan. „Mit seinem eigenen Messer. Cane hätte sonst mich g e t ö t e t . . . " Er v e r stummte betreten. Wenigstens Lilley war zufrieden. „Die Meuterer werden bis zur A n kunft in Virginia in die Vorpiek gesperrt", befahl er. „Der Junge . . . " „Ich habe Cane umgebracht." J e r e miah Henford sagte es laut und ü b e r deutlich. „James will mich schützen, aber sein Opfer k a n n ich nicht annehmen." Lilley hakte die Daumen in den Gürtel und starrte Henford ungläubig an. „Ich war es." Auch Bartholomew Roberts trat vor. Augenblicke später folgte ihm Brian O'Selly. Und schließlich Jeff Conners, Phil Maynard, Henry Rooms...
„Dann eben ihr alle", entschied der Erste Offizier. Er hätte das besser nicht gesagt, denn für die an Deck verbliebenen Pilger gab es kein Halten mehr. Johlend und brüllend, um sich selbst anzufeuern, stürmten sie los. Ein Musketenschuß krachte und ging in dem Lärm fast unter. Nur wenige sahen Jeff Conners getroffen zusammenbrechen. Zwei weitere Kugeln löcherten die Takelage, dann wurden die Feuerwaffen n u r mehr als Prügel eingesetzt. Aber auch damit war die Meute nicht mehr zurückzuhalten. Graham Lilley legte seine Pistole auf Bucknan an, doch ein gut gezielter Belegnagel wirbelte ihm die Waffe aus der Hand. Kräftige Fäuste griffen nach seinen Beinen und zerrten ihn trotz seiner Gegenwehr von der Jolle. Es ging h a r t her, die von den Seeleuten stets mit einer gewissen Herablassung behandelten Pilger erwiesen sich als standfeste Kämpfer. Lediglich Henford hielt sich zurück. Nach den ersten paar Hieben die er ausgeteilt hatte, brannte sein Rücken wieder wie Feuer. Er zerrte einen Riemen aus dem Beiboot und schwang ihn wie einen Dreschflegel. An Deck herrschte ein schier unüberschaubares Getümmel. Hin und wieder fielen an einem der Niedergänge Schüsse, aber die Kerls von der Mannschaft, die da nachdrängten, waren entweder miserable Schützen, oder die Pilger reagierten schneller. Auch in den Wanten w u r d e geprügelt. Henford vernahm einen gellenden Schrei über sich. Noch bevor er sich klarwerden konnte, wer den Schrei ausgestoßen hatte, stürzte ein wild um sich schlagender Schemen an ihm vorbei und klatschte in die See. Egal ob Freund oder Feind, niemand war da, der die nach wie vor unter Vollzeug laufende Galeone beidrehen oder die Jolle abfieren konnte.
48 Henford zögerte keinen Moment, dem Unglückseligen beizustehen. Sauber ausgeschossenes Tauwerk gab es zur Genüge, er griff nach einem Tau und warf es außenbords. Der über Bord Gegangene hatte Glück, er kriegte das Tauende zu fassen, bevor die „Pilgrim" davonlief. Rasch enterte er über die Berghölzer auf. Henford umklammerte den Riemen fester, als der Kerl sich über das Schanzkleid schwang. „Danke", schnaufte der Seemann, ziemlich außer Atem. Mit einem ebenso überzeugenden „Gern gescheh'n" schlug Henford zu. Der Kerl, dem er eben das Leben gerettet hatte, kippte auf die Planken und streckte alle viere von sich. Völlig überraschend schlug das Wetter um. Es begann zu donnern. Henford schickte einen prüfenden Blick zum Himmel hinauf, doch die wenigen Wolken im Zenit verhießen schönes Wetter. Der Donner wiederholte sich. Dumpf und grollend. Kanonendonner. Die wenigsten schienen darauf zu achten. Achteraus entdeckte Henford ein in Pulverdampf gehülltes Schiff. Offensichtlich die Schebecke des Seewolfs. War m a n drüben auf den Zustand an Bord der „Pilgrim" aufmerksam geworden? Eine andere Erklärung für die Breitseite hatte Henford nicht. Die Prügelei ringsum hielt unvermindert an. Eigentlich war es erstaunlich, welche Kräfte die ausgemergelten Kerle entwickelten. Henfords Aufmerksamkeit, was das Geschehen auf der Kuhl betraf, rächte sich. Gleich von zwei Seiten her wurde er attackiert. Verbissen riß er den Riemen hoch, rammte dem einen Kerl das Rundholz in die Magengrube und hieb dem anderen das Blatt um die Ohren, bis es nach dem
dritten Hieb splitterte. Beide Angreifer taumelten benommen zurück ins Getümmel. Die Schebecke holte nur langsam auf. Bis der Seewolf endlich längsseits gehen konnte, war es vielleicht zu spät. Henfords Blick wanderte, über die Segel, und plötzlich wußte er, was zu tun war. Einem Niedergeschlagenen n a h m er den Dolch ab und ging das nächstbeste Fall an. Die Unterrahen wurden mit schweren Tauen geheißt, deren Durchmesser k a u m geringer war als der der Großwanten. Die Taue liefen über Scheiben in den Mastwangen und endeten in Strecktaljen, die hinter dem Mast in einfache Ringbolzen eingehakt waren. Mit wachsendem Eifer begann Henford, das erste Tau zu kappen. Ein halbes Kardeel ließ er stehen, bevor er sich das zweite Fall vornahm. Augenblicke später krachte die Großrah nach unten. Getroffen wurde niemand, das Großsegel begrub lediglich etliche der Kämpfenden unter sich. Durch den Erfolg ermutigt, enterte Henford zur Back auf. Doch unvermittelt stellten sich ihm zwei Kerle entgegen, denen er nicht gewachsen war. Selbst der Dolch in seiner Hand beeindruckte sie nicht. Henford fintete und hetzte los. Aber die beiden waren schneller. Er lief geradewegs in einen kräftigen Fausthieb, der ihm die Luft aus den Lungen trieb. Das Wasser schoß ihm in die Augen, er klappte vornüber und verlor dabei die Waffe. Doch der zweite Schlag blieb aus. Schwerfällig wälzte sich Henford herum. Er hatte unerwartet Beistand erhalten. Bartholomew Roberts und vier kräftige Pilger zahlten den Kerls mit gleicher Münze heim. „Los!" rief Roberts. „Hol die anderen Segel runter!" Auch er hoffte also auf ein Eingreifen des Seewolfs. Ein Fußtritt hatte den Dolch zur
49 Bordwand befördert. Auf allen vieren holte Henford ihn sich zurück. Seine Wunden waren wieder aufgeplatzt, er fühlte, wie es ihm w a r m über den Rücken lief, aber er biß die Zähne zusammen und schwang sich in die Wanten. An den Mast gelangte er im Moment nicht heran. Es war eine eigenartige, neue E r fahrung für ihn, zwischen Himmel und Wasser zu hängen. Mit beiden Händen mußte er sich festhalten, da die Webeleinen sich unter seinem Z u griff wanden, als führten sie ein u n b e greifliches Eigenleben. Den Dolch n a h m Henford zwischen die Zähne. Irgendwie hatte er das Gefühl, u n endlich lange zu brauchen, bis er sich über den Marsrand hinwegziehen konnte. Schwer atmend stützte er sich an der Stenge ab. Niemand war ihm gefolgt. Aus luftiger Höhe sah er die Schebecke schon weitaus näher als zuvor. Flüchtig spielte Henford mit dem Gedanken, die Vorstenge zu kappen, doch er hatte keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Also hackte er blindlings auf die Taue ein, die sich in seiner Reichweite befanden. Irgendwie schaffte er es sogar, die Fallen zu erwischen, denn mit ziemlichem G e töse rauschte die Vormarsrah ab. Es dauerte nicht m e h r lange, bis die Schebecke auf Schußweite heran war. Henford reagierte entsetzt, als abermals eine volle Breitseite abgefeuert wurde. Diesmal lagen die Einschläge so dicht bei der „Pilgrim", daß es fast wie ein Wunder anmutete, daß keine Treffer erfolgten. Erst als Henford die Reaktion an Deck der Galeone sah, verstand er die Absicht des Seewolfs. Die Arwenacks hatten einen hervorragenden Stückmeister. Anstatt die Wuhling zu beenden, hätte er die Galeone nämlich genausogut in Grund u n d Boden schießen können. Als die ersten Enterhaken an der Verschanzung und im stehenden Gut
der „Pilgrim" griffen, w u r d e kaum noch gekämpft. Einige Arwenacks wechselten von der Schebecke über. Henford erkannte Edwin Carberry, den Profos, und den Schiffszimmermann Tucker, aber auch Big Old Shane. Der schwarzhäutige Riese mußte Batuti sein, von dem er schon in London hatte reden hören. Lediglich den schlanken, blonden Kerl, der seinem Äußerlichen nach zu schließen schwedischer Abstammung war, kannte er nicht. Die Arwenacks machten nicht sonderlich viel Federlesens. Wo ihre Fäuste hinlangten, da wuchs vorerst kein Gras mehr.
Dann enterte Philip Hasard Killigrew an Bord. Der hochgewachsene, breitschultrige Mann mit den eisblauen Augen war Henford von Anfang an sympathisch gewesen. Er schien stets genau zu wissen, was er wollte. „Ich n e h m e an, jeder h a t seinen Spaß gehabt", sagte er so laut, daß alle ihn verstehen konnten. „Aber das ist nun vorbei. Ich habe versprochen, euch nach Virginia zu bringen, und das werde ich weiß Gott auch tun." Er blickte suchend über das Achterdeck. „Wo ist Kapitän Drinkwater?" Niemand schien es zu wissen. „Gut." Hasard vollführte eine Handbewegung, die ausdrücken sollte, d a ß er den Kapitän für entbehrlich hielt. Einen Mann, der auf seinem Schiff nicht für Ordnung sorgen konnte, schätzte er nicht sonderlich. Gleiches galt für die Offiziere. „Wenn jemand Beschwerden vorzubringen hat, soll er es jetzt tun", verkündete Hasard. „Andernfalls ziehe ich meine eigenen Schlüsse aus den Zuständen." Herausfordernd stemmte er die Fäuste in die Hüfte. „Wir haben Hunger, Sir", ertönte es von den Pilgern.
50 „Wer sich prügeln kann, dem geht es noch nicht schlecht", erwiderte Hasard. Ein Ruf hallte durch die Grätings herauf: „Kapitän Drinkwater liegt unter Deck, Sir. Er hat eins über den Schädel bekommen." „Ich werde dafür sorgen, daß die Rädelsführer ihre Strafe erhalten." Graham Lilley, der Erste, bahnte sich mit Fäusten und Ellenbogen einen Weg durch die Menge, um zu Hasard zu gelangen. Solange Drinkwater ausfiel, lag das Kommando in seinen Händen. „Wollen Sie immer noch jede Stunde einen von uns an die Rah h ä n gen?" erklang es aufgebracht. Ein lauter werdendes Murmeln kommentierte den Zwischenruf. „Ruhe!" befahl Hasard. „Solange ich an Bord bin, wird niemand hingerichtet. Du da", er deutete auf einen der Pilger, die ihm an nähesten standen, „was ist vorgefallen?" Der schon ältere Mann berichtete mit knappen, abgehackten Sätzen. Niemand unterbrach ihn. So erhielten der Seewolf und seine Mannen einen einigermaßen hinreichenden Überblick über die Vorfälle während der letzten Tage. Nur als erklärt wurde, daß der Kapitän und die Offiziere der „Pilgrim" vermutlich P r o viant auf die Seite geschafft hätten, protestierte Lilley lautstark. „Jeder kommt zu Wort", unterbrach der Seewolf. „Also lassen Sie den Mann gefälligst ausreden." Graham Lilley kuschte, obwohl ihm anzusehen war, daß er liebend gern die Klinge mit Hasard gekreuzt hätte. Allerdings stand er ziemlich allein. Er hätte seinen Mannen schon befehlen müssen, sich mit den Arwenacks anzulegen. Ziemlich rasch stellte sich heraus, daß die Pilger Unrecht hatten. J e r e miah Henfords Vermutungen erwiesen sich als zutreffend. Die Schiffsführung war lediglich nicht mit der
vollen Wahrheit herausgerückt. Die war nämlich, daß die Vorräte durch die mittlerweile arg dezimierten Ratten, durch Fäulnis und infolge von Wassereinbrüchen zum größten Teil verdorben waren und selbst bei strengster Rationierung höchstens noch für eine Woche reichten. Kapitän Drinkwater, inzwischen wieder bei Bewußtsein, mußte zwar eingestehen, daß er Henford und auch der Frau, die ihm die Namen der angeblichen Verschwörer verraten hatte, zusätzlichen Proviant zugeschoben hatte, doch waren das Reserven gewesen, die er sich schon vor dem Sturm vom Mund abgespart hatte - angeblich in Erwartung dessen, was dann auch eingetreten war. Das Gegenteil konnte Hasard ihm nicht beweisen. „Niemand wird auf diesem Schiff an die Rah gehängt", sagte der Seewolf. „Ein Toter mit dem Strick um den Hals genügt." Er spielte auf den Vorfall vor etlichen Tagen an. Beim Ausräuchern der Ratten hatte die Galeone Feuer gefangen, und in der a u s brechenden Panik waren Passagiere über Bord gesprungen und einige von ihnen ertrunken. Der angebliche Verursacher des Feuers hatte morgens an der Rah gehangen. „Für einen Mörder ist es die gerechte Strafe", brauste Lilley auf. „Selbst Sie müssen das einsehen, Sir. Oder wollen Sie behaupten, daß ein Decksmann mit fünf Inches Stahl im Bauch Hungers gestorben ist?" Auf der Back entstand Bewegung. Ein junger Rotschopf, schätzungsweise knapp über zwanzig, drängte nach vorn. Andere versuchten, ihn zurückzuhalten, doch er riß sich wieder los. „Ich habe Cane erstochen!" rief er. „Der Mistkerl hat es nicht besser verdient. Aber ich will nicht, daß andere deshalb zu leiden haben." Hasard sagte nur ein Wort: „Warum?"
51 „Weil er Ireen Gewalt antun wollte." Die Erregung war dem J u n gen anzumerken. „Ich wollte ihr beistehen, aber der Kerl hätte mich beinahe erwürgt. Ich konnte gerade noch das Messer aus seinem Gürtel ziehen und..." „Ich nehme an, diese Ireen wird deine Aussage bestätigen", sagte der Seewolf. „Das ist unnötig", ertönte es von völlig unerwarteter Seite. „Cane h a t wegen eines ähnlichen Vergehens b e reits fünf Peitschenhiebe erhalten." Kapitän Drinkwater wandte sich an James Bucknan. „Du hättest schon früher sagen sollen, was wirklich geschehen ist." Bucknan nickte stumm. Trotz der Erleichterung, die er empfand, blieb seine Miene verschlossen. „Es gibt also weder Anlaß zur Meuterei noch Grund für Repressalien gegen die Auswanderer", sagte der Seewolf. „Kapitän?" „Das ist richtig", bestätigte Drinkwater. „Und Sie, Mister Lilley?" wollte Hasard vom Ersten wissen. „Alles klar?" „Aye, aye, Sir." „Dann sollten wir mit doppelten Anstrengungen versuchen, so schnell wie möglich Land zu erreichen." Hasard sah die angespannten, erwartungsvollen Gesichter der Pilger. Mancher glaubte wohl nicht mehr daran, daß man es schaffen würde. Was wußten Landratten wie sie schon von der See, die heißblütiger als eine Hafendirne sein konnte? Aber auch sanftmütiger. Wer ihr einmal verfallen war, für den gab es keine Umkehr mehr. „Für wie viele von uns wird der Proviant reichen?" erklang endlich die von Hasard lange erwartete Frage aus den Reihen der Auswanderer. „Und wer wählt die aus, die zu essen erhalten? Wer entscheidet über Leben und Tod?"
„Niemand", sagte der Seewolf betont. „Weil Zwieback und Käse fürs erste reichen werden. Jedenfalls dann, wenn jeder sich besinnt", fügte er hinzu. „Käse!" Jemand lachte abgehackt. „Den hatten wir schon vor dem Sturm nicht mehr." „Ihr könnt von uns Käse empfangen, Zwieback, Speck und Wasser", versprach Hasard. „Zwar nicht sehr viel, aber für einige Tage wird es reichen." Im losbrechenden Jubel verstand er sein eigenes Wort nicht mehr. Viele der Auswanderer hatten plötzlich Tränen in den Augen. Wer außer ihnen konnte ermessen, was Hunger wirklich bedeutete? Als alle sich wieder halbwegs beruhigt hatten, fragte Kapitän Drinkwater: „Woher wollen Sie den Proviant nehmen, Sir? Ihre Schebecke ist ebenso lange auf See wie die ,Pilgrim'." „Wir haben vorgesorgt", erwiderte Hasard leichthin. „Was wir entbehren können, erhalten Sie." „Sie haben bewußt lange gewartet?" Hasard nickte nur. Die Mannschaften begannen mit der Übernahme der Ladung. Es waren, wie zuvor bei der „Explorer", nicht eben viele Kisten und Fässer, aber besser als gar nichts. Die ersten blutroten Strahlen der Abendsonne huschten über die Kimm, als Pete Ballie auf der Schebecke wieder Ruder legte und die beiden Schiffe auseinanderdrifteten. Der Himmel überzog sich mit den Farben eines glühenden Sonnenuntergangs. Weit voraus erstrahlte das Meer in goldenem Glanz. Vereinzelt zeigten sich erste Sterne, aber mit beginnender Dunkelheit verschwanden sie hinter aufziehenden Wolkenbänken. Auch der Mond blieb verborgen. Die Schebecke lag zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere K a -
52 beilängen achterlich der „Pilgrim". Hasard hatte Befehl gegeben, auf die zweite Galeone zu warten. Wie ein winziges Irrlicht tanzte bald nur noch der verwaschene Lichtschimmer einer Hecklaterne Backbord voraus über den Wellen. 7. Kapitän William Anderley setzte den Kieker ab und schnaubte verächtlich. „Seht euch diese Narren an!" rief er und deutete aufgebracht zur westlichen Kimm, wo die Segel der Schebecke und der „Pilgrim" mit bloßem Auge zu erkennen waren. „Die Seewölfe hieven Proviant auf die Galeone." „Um so besser." Tim Robinson lachte. „Killigrew würde uns v e r m u t lich nicht ein einziges Faß abtreten. Aber von der ,Pilgrim' holen wir es uns mit Leichtigkeit." Anderley stimmte ein dröhnendes Gelächter an. „Sage ich doch", schnaufte er schließlich. „Killigrew ist ein Narr. Was hat er bloß davon, daß er sich so rührend um die Auswanderer k ü m mert?" „Frage lieber, was wir davon h a ben." Wieder brandete Gelächter auf. Fast die gesamte Mannschaft der K a ravelle hatte sich an Deck versammelt. Die Nacht brach herein. Selbst mit dem Kieker waren die beiden Schiffe an der westlichen Kimm nur noch als fahle Schatten zu erkennen, die mehr und mehr mit ihrer Umgebung verschmolzen. Achteraus zog eine schwere, bleierne Schwärze herauf. „Den Docht aus, du Idiot!" brüllte Anderley, als einer seiner Mannen b e gann, die Laternen anzustecken. „Willst du, daß uns jeder schon auf zehn Kabellängen Distanz sieht?"
Der Kerl murmelte eine Entschuldigung, die ungehört verhallte. Der Kapitän beachtete ihn bereits nicht mehr. Die Karavelle hielt Kurs auf die „Pilgrim". Anderley registrierte mit Genugtuung, daß die Schebecke des Seewolfs weiter nach Steuerbord a b fiel. Er fürchtete die Arwenacks nicht, doch sie hatten sein Vorhaben unnötig komplizieren können. Und hungrige und enttäuschte Schnapphähne und Beutelschneider waren weiß Gott keine Mannschaft, wie ein Kapitän sie sich wünschte. William Anderley wußte nur zu gut, daß in einem solchen Fall seine Stunden gezählt sein würden. Es war gut, vorzusorgen. Selbst seine engsten Vertrauten hatten nicht bemerkt, daß in der Kapitänskammer der Karavelle mittlerweile gut ein Dutzend Musketen und Arkebusen lagen, etliche Fäßchen Pulver und Bleikugeln in Menge. Die achtere Drehbasse konnte ein einzelner h e r umwuchten und gegen das Schott richten. Aber das n u r für den Fall, daß Anderley unvorhergesehene Schwierigkeiten erwuchsen. Die Nacht vom 6. auf den 7. Juli blieb wolkenverhangen und sternenlos. Ein steter Nordost blähte die Segel. Der Seegang war gering. Das Ächzen der Spieren und das Singen der Wanten vermischten sich mit dem monotonen Stampfen des Schiffes. Lediglich die helle Gischt der Bugwelle konnte die Karavelle verraten. Wenn es soweit war, würde Anderley die Segel teilweise aufgeien lassen und den Kurs um zwei bis drei Strich ändern. Er überließ nichts dem Zufall. Seit dem Einbruch der Dunkelheit waren seine Mannen damit beschäftigt, die Segel zu schwärzen. Mit Ruß vermischte Farbe t r ä n k t e das grobe Tuch. Nur Regen durfte nicht fallen. Die Beute auf der „Pilgrim" würde
54 groß sein. Natürlich trugen viele Auswanderer gefüllte Geldkatzen am Leib. Ihre Besitztümer in der Heimat hatten sie verkauft, um über dem Atlantik ein neues Leben anzufangen. Und was war leichter mitzunehmen als Gold, Silber und Perlen? Gierig rieb sich Anderley die Hände. Die „Pilgrim" würde zwangsläufig absaufen, aber er und seine Mannen holten sich zuvor den Fang ihres Lebens. Und anschließend Kurs England, um dem Seewolf davonzulaufen. Die Hecklaterne der „Pilgrim" wurde unmerklich größer. Mitternacht näherte sich mit Riesenschritten. Mit Beginn der ersten Morgenstunden segelte die Karavelle höchstens noch eine halbe Seemeile hinter dem Pilgerschiff. Geglast wurde nicht mehr. Anderley hatte seine Mannen aufgefordert, unnötigen Lärm zu vermeiden. Die Kerls w u ß ten nur zu gut, was ein Verstoß dagegen bedeutete. Noch drei Kabellängen. Die Karavelle nahm den Wind mehr achterlich, was zur Folge hatte, daß die Bugwelle kleiner wurde. Der Kapitän beobachtete durchs Spektiv. Hinter der Verschanzung der „Pilgrim" brannten Laternen. Ihr flackernder Lichtschein erhellte die Seitenlieken der unteren Segel. Bewegung suchte Anderley vergeblich, auf dem Schiff schien alles zu schlafen. „Keine Wache?" fragte Robinson. „Vermutlich auf der Kuhl. Der Kerl darf keine Gelegenheit erhalten, Alarm zu schlagen." Der Abstand zwischen beiden Schiffen verringerte sich weiter. Auf der Karavelle konnte man gerade noch die Hand vor Augen erkennen. „Refft Besan und Großsegel!" Flüsternd wurde der Befehl weitergegeben. Die Racks knarrten, als die R a h ruten herumschwangen, und die Mannen verbrachten eine wahre Mei-
sterleistung. Die Geldgier spornte sie an. Die Karavelle war immer noch schnell genug. Kaum mehr als fünfzig Yards voraus wuchs das Heckkastell der „Pilgrim" auf. Das Streulicht der Laterne reichte nicht einmal bis auf die Wasseroberfläche. „Klar zum Entern!" Verbissen starrte Anderley voraus. In seinem Gürtel steckten zwei geladene Radschloßpistolen. Lautloser ging es jedoch mit Entersäbel oder Dolch, und das waren Waffen, die jeder an Bord der Karavelle zu benutzen verstand. Unaufhaltsam verkürzte sich die Distanz. Der Kapitän der Rabauken stand im Bug und schwang einen Enterhaken. Nur ein dumpfes, knakkendes Geräusch war zu hören, als sich der Haken in der Heckgalerie der „Pilgrim" verfing. Ein prüfender Ruck bewies, daß er ausreichenden Halt gefunden hatte. Anderley schwang sich als erster hinüber. Für einen kurzen Augenblick tauchte er in eine Welle ein und zog sich dann Hand über Hand in die Höhe, bis er die Schnitzereien der Balustrade greifen und sich auf die Galerie schwingen konnte. Mit höchstens fünf Yards Distanz segelte die Karavelle. Anderley holte die Leine ein, an deren Ende ein Tau hing. Er löste den Schotstek und belegte das Tau an der Balustrade. Noch immer war niemand aufmerksam geworden. Tim Robinson enterte als zweiter hinüber. Nach ihm folgten Dan Murran und Alec McGin, die nur darauf brannten, endlich Beute zu reißen. Zu lange warteten sie schon auf die günstige Gelegenheit. Erneut schleuderte Anderley den Enterhaken in die Höhe. Nur um eine Handbreite verfehlte er die Besanwanten. Beim nächsten Versuch verfing sich das Eisen in den Webeleinen. Kurz darauf stand der Anführer und
55 Kapitän der Rabauken auf dem erhöhten Achterdeck. Mit der Geschmeidigkeit eines Raubtieres huschte er weiter zum Backbordniedergang zur Kuhl. Eine Wache lehnte am Großmast, schläfrig, wie es schien, und starrte in die Nacht hinaus. Bis jetzt war der Kerl nicht aufmerksam geworden, doch als Anderley abenterte, wandte er sich um. Offenbar hatte er das leise K n a r r e n der Tritte vernommen. Ein Ausdruck ungläubiger Überraschung zeichnete sich in seinem Gesicht ab. Viel zu langsam reagierte er, um Alarm zu geben, denn da schnellte sich der Angreifer bereits auf ihn, und die blitzende Klinge fand mit tödlicher Sicherheit ihr Ziel. Röchelnd sank die Wache zu Boden. Anderley zerrte den Kerl wieder hoch und setzte ihn so an den Mast, als sei er lediglich eingeschlafen. In der spärlichen Helligkeit mußte j e mand schon nahe herantreten, um die Wahrheit zu erkennen. Seine Begleiter hatten inzwischen die Grätings auf dem Achterdeck a b gehoben. Robinson stieg zu den achteren Laderäumen hinunter. Gleich darauf gab Dan Murran Zeichen, d a ß der Proviant für die Mannschaft der Karavelle ausreichend sei. Weitere Mannen enterten über die Heckgalerie auf. Es waren verwegene Gestalten, Halunken, die selbst ihre Großmutter an den Teufel verkaufen würden, wenn sie sich davon einen Vorteil versprachen. Die Karavelle blieb noch auf Distanz. Auf diese Weise wurden jene verräterischen Geräusche vermieden, die entstanden, wenn die Puttings bei zu großer Annäherung über die Berghölzer des anderen Schiffes schrammten. Lautlos verteilten sich die Kerle an Deck. Anderley wunderte sich noch darüber, daß es lediglich eine Deckswache gab, da erschien eine schemenhafte Gestalt auf der Back. Wieder war das Überraschungsmoment auf
Seiten der Angreifer. Ein Wurfmesser erstickte den Aufschrei des Seemanns. Allerdings konnte niemand verhindern, daß der Sterbende über die Balustrade auf die Kuhl stürzte. Das Geräusch des fallenden Körpers war nicht zu überhören. Den Entersäbel blankgezogen, stürmte Anderley als erster in die Unterdecks. Auf dem Batteriedeck schlafende Mannen waren noch zu benommen, um sich zur Wehr zu setzen. Anderley drosch blindlings drauflos. Erst hinter ihm erwuchs seinen Mannen ernsthafterer Widerstand, prallten Degenklingen heftig aufeinander. Mit seinem verfilzten schwarzen Bartgestrüpp, dem wirr abstehenden Haupthaar und dem geröteten Gesicht mußte Anderley den schlaftrunkenen Überfallenen wie der Leibhaftige erscheinen. Mancher suchte sein Heil in der Flucht. Auf dem Oberdeck fielen Schüsse. Spätestens jetzt würden alle an Bord der „Pilgrim" aufschrecken. Im Grunde war es inzwischen auch egal. Fünfundzwanzig von Anderleys Mannen befanden sich auf der Galeone, die anderen hatten auf der Karavelle die Kanonen bemannt und ausgerichtet. Kapitän James Drinkwater und seine Offiziere würden angesichts einer solchen Bedrohung k a u m so verrückt sein, ein Blutbad zu riskieren, ganz zu schweigen davon, daß eine Breitseite auf die geringe Distanz geradezu verheerende Wirkung haben würde. Anderley durchmaß das Batteriedeck im Laufschritt. Beim Spill für den Heckanker trat ihm ein Offizier entgegen, eine mehrschüssige Pistole in der Linken und die rechte Hand am Degengriff. Instinktiv warf sich der Rabaukenkapitän zur Seite. Zugleich krachte der erste Schuß. Das Blei pfiff an seinem Schädel vorbei und schlug irgendwo in die Planken. Keinen Au-
56 genblick zu spät ging Anderley hinter einer Lafette in Deckung, denn die zweite Kugel klatschte über ihm gegen das Geschützrohr. „Mein Schiff wird die ,Pilgrim' versenken, wenn der Widerstand anhält!" rief er. „Werfen Sie die Pistole und den Degen weg!" „Mit Piraten verhandeln wir nicht!" brüllte der Offizier. „Wir werfen sie den Haien vor!" Aus der Deckung heraus feuerte Anderley. Ein wüster Fluch bewies ihm, daß er getroffen hatte, doch war der Offizier wohl nur leicht verletzt. „Geben Sie auf, dann bleiben Sie am Leben." Anderley erhielt keine Antwort. Sein Gegner kauerte hinter dem Ankerspill und wartete. Er murmelte eine Verwünschung, raffte sich auf, schoß noch einmal im Laufen und forderte den Offizier zum Duell mit dem Degen. Hart prallten die Klingen aufeinander. Anderley sah, daß sein Gegner am linken Oberarm blutete. Die P i stolenkugel hatte eine tiefe Fleischwunde hinterlassen. Der Kerl ließ sich weder durch Finten einschüchtern noch in die Enge treiben. Anderley mußte einsehen, daß er einen ebenbürtigen Gegner gefunden hatte. Dabei hatte er bislang viel auf seine Künste im Umgang mit dem Degen gegeben. Ihr Zweikampf zog sich in die Länge und wurde stellvertretend für alle anderen ausgetragen, denn Kerls, die eben noch gegeneinander standen, fanden sich plötzlich als Zuschauer ein. Und nicht nur die Halunken von der Karavelle konnten hinterhältig sein. Einer aus der Mannschaft der „Pilgrim" brachte seine P i stole in Anschlag. Anderley bemerkte die glimmende Lunte aus den Augenwinkeln heraus. „Nicht schießen!" brüllte der Offizier. Die kurze Unaufmerksamkeit brachte ihm die nächste Blessur ein.
Anderleys Klinge ritzte seine Uniform und die Haut quer über die Brust. Der Anführer prellte vor. Mit u n nachgiebiger Härte. Schritt für Schritt mußte der Offizier zurückweichen, Schweiß perlte auf seiner Stirn und r a n n ihm in die Augen. Immer öfter blinzelte er, aber er brachte den linken A r m nicht hoch, um sich den Schweiß abzuwischen. Anstrengung und Schmerz verzerrten sein Gesicht. Wenn der Kerl erst mit dem Rücken zur Bordwand stand, gab es für ihn kein Ausweichen mehr. Doch der Offizier brachte abermals das Ankerspill zwischen sich und den Piratenkapitän. „Stell dich wie ein Mann!" stieß Anderley hervor. Sein Gegner dachte nicht daran, das Spill verschaffte ihm immerhin eine kurze Atempause. Unvermittelt schnellte er vor. Anderley, ebenfalls Rechtshänder, stand so nahe am Spill, daß er mit dem Degen nicht schnell genug parieren konnte. Er mußte zurückweichen und konnte nicht verhindern, daß sich plötzlich eine blutende Wunde über seinen Nasenrücken und die rechte Wangenseite zog. Der Offizier glaubte, nun leichtes Spiel zu haben. Aber er irrte, Anderleys Klinge zuckte von unten herauf, als er selbst wenig auf Deckung bedacht war. Für die Dauer mehrerer Atemzüge herrschte absolute Stille. Dann klirrten Waffen zu Boden. Die Mannen der „Pilgrim" ergaben sich. Wenig später stand Anderley dem Kapitän und dem Ersten Offizier gegenüber. „Wenn Sie Ihr Schiff behalten wollen, Drinkwater, rate ich Ihnen, fügsam zu sein." „Bleibt uns eine andere Wahl?" fragte der Kapitän. „Wir könnten kämpfen", sagte Lilley. „Mit diesem Pack werden wir allemal fertig."
57 Anderley schlug ihm die flache Hand ins Gesicht. „Du nimmst das Maul zu voll", fuhr er ihn an. „Wie viele Auswanderer sind an Bord? Hundertzwanzig oder gar mehr? Sie würden sich bestimmt nicht freuen, wie die Ratten abzusaufen." Lilley war nahe daran, dem b ä r t i gen Kerl an die Kehle zu gehen. Nur die Tatsache, daß die Pistolenmündungen seiner K u m p a n e auf Drinkwater und ihn gerichtet waren, ließ ihn zögern. Wahrscheinlich wäre er keine zwei Schritte weit gelangt. „Das ist sehr vernünftig", lobte A n derley. „Ich sehe, d a ß zumindest Sie, Kapitän, kompromißbereit sind." Er gab seinen Mannen einen Wink. Der Erste Offizier brachte zwar noch die Arme hoch, aber den Pistolenlauf, der gegen seine Schläfe krachte, konnte er nicht mehr abwehren. Er ging zu Boden. „Was wollen Sie?" stieß Drinkwater wütend hervor. „Können Sie sich das nicht denken, K a p i t ä n ? " Anderleys Stimme n a h m einen spöttischen Unterton an. „Killigrew war so freundlich, die ,Pilgrim' mit Proviant zu versorgen." „Nehmen Sie die Kisten, und d a n n verschwinden Sie." „Essen und Trinken ist nicht alles, Drinkwater. Oder sind Sie da anderer Meinung?" Anderleys Geste drückte nur zu deutlich aus, daß er die K a p i täne der Galeonen für seinesgleichen hielt. Oder eben schlichtweg für L u m penpack. „Ich verstehe nicht ganz", sagte Drinkwater. Anderley lachte schallend auf. „Das ist der beste Witz, den ich heute gehört habe!" rief er. „Versuchen Sie nicht, mir zu erzählen, Ihre Pilger seien arm wie die Kirchenmäuse." Er drehte sich auf dem Absatz um und stapfte davon. Seine Mannen
packten den Kapitän recht unsanft und stießen ihn hinterdrein. Verstörte Pilger huschten in ihre Räume zurück, als sie der Rabauken ansichtig wurden. Die Kunde, daß der von der Schebecke übernommene Proviant aus dem Laderaum aufs Achterdeck gehievt wurde, hatte sich zwar wie ein Lauffeuer verbreitet, doch niemand war willens, deswegen sein Leben zu riskieren. Die Mannen, die zum Kämpfen bereit gewesen wären, hatten sich bei der Auseinandersetzung mit der Mannschaft mehr oder weniger ernsthafte Blessuren geholt und waren kaum noch ernst zu nehmende Gegner. Im übrigen hofften die meisten, daß die Arwenacks wieder helfen würden. Wie - darüber dachte niemand nach. Anderley trat das erstbeste Schott auf. Etwa zwei Dutzend Pilger hausten hier auf engem Raum zusammen. Der Mief war erbärmlich und schien aus den Pützen zu dringen, die notdürftig mit Brettern abgedeckt waren. Anderley richtete seine Pistole der Reihe nach auf jeden der Auswanderer. Die Furcht in ihren verschiedensten Abstufungen in den Gesichtern zu sehen, verschaffte ihm endgültig ein Gefühl der Überlegenheit und Genugtuung. Es hatte sich also doch gelohnt, den Galeonen solange zu folgen. Er winkte flüchtig mit zwei Fingern. Darauf stießen seine Kumpane den Kapitän in den Raum. „Sagen Sie Ihren Passagieren, was ich von ihnen will!" Erst ein aufmunternder Rippenstoß bewegte Drinkwater dazu, die Forderung zu befolgen. „Diese ehrenwerten Gentlemen wollen Geld", brachte er schwerfällig hervor. „Gold und Silber natürlich auch." Das unüberhörbare Knacken, als An-
58 derley den Hahn seiner Pistole spannte, unterstrich das Verlangen. Seine Mannen machten sich daran, Säckchen und Geldkatzen einzusammeln. Gierig entrissen sie den Pilgern, was diese nur zögernd herzugeben bereit waren. Ein Messer blitze auf. Der Mann, der einen der Rabauken niederstechen wollte, wirkte zwar feist und b e häbig, doch seine Attacke war alles andere als langsam. Anderley schoß sofort. Wie nicht anders anzunehmen, trug der Tote eine beachtliche Barschaft am Körper verborgen. Mit der Linken fing der Anführer den prall gefüllten Gürtel auf, der ihm zugeworfen wurde. Er wog ihn abschätzend in der Hand. Das war zweifellos mehr, als seine Halunken bei den anderen Pilgern eingesammelt hatten. „Ihr haltet euch wohl für besonders schlau?" Ein zynischer, verachtender Zug umspielte seine Mundwinkel. „Ausziehen!" Zwei junge Burschen, die sich weigerten, schoß er kurzerhand nieder. Er hatte immer schon erhalten, was er haben wollte. Aufgeregte Rufe erklangen vom Oberdeck. Anderley verstand nicht, aber dann hallten die Stimmen durchs Schiff. „Die Schebecke - der Seewolf segelt heran!" Das bedeutete Kampf. Es war klar, daß Killigrew nicht lange fackeln würde, sobald er erkannt hatte, was passiert war. Aber sollte er angreifen — sie würden ihm einen heißen Kampf bereiten. „Alle Mann an Deck!" brüllte Anderley. Der Befehl wurde weitergegeben. Er war selbst überrascht, wie nahe die Schebecke schon stand. Der Proviant war noch nicht verladen. Die erste Kiste wurde soeben auf die Karavelle abgefiert. „Laßt jetzt den Unfug!" herrschte
Anderley seine Kerle an. „Wir müssen ablegen, um manövrierfähig zu bleiben. Das Zeug holen wir später. Ted, Jack und Jim, ihr klariert die Geschütze auf dem Achterdeck der ,Pilgrim' ", befahl er drei Kerlen, die gerade abentern wollten. Sie gehorchten ohne Widerspruch. „Der Seewolf wird nicht darauf gefaßt sein, daß er von der Galeone aus beschossen wird." Er selbst kehrte als letzter auf die Karavelle zurück, die drei Rabauken ausgenommen, die mit Ladeschaufel, Setzer und Richtspake hantierten, als säße ihnen der Teufel im Nacken. Sie bemerkten nicht einmal, daß die K a ravelle abfiel. Die Schebecke rauschte mit schäumender Bugwelle heran. Sie lag eindeutig auf Rammkurs. Jack, der weit mehr von Geschützen aller Art verstand als seine beiden Kumpane, visierte über die Geschützläufe hinweg das sich schnell nähernde Schiff an. Es lag genau in der Schußlinie. Aber noch betrug die Entfernung knapp zwei Kabellängen. Dann wurden auf der Schebecke die Segel herumgeholt und Ruder gelegt. Der Dreimaster würde der „Pilgrim" statt der Breitseite nur noch den Bug zeigen. Entschlossen führte Jack die glimmende Lunte ans Zündloch. Mit demselben Geschütz würde er nicht noch einmal feuern können, da weder eine mit Wasser gefüllte Pütz zum Reinigen und Abkühlen des Rohres noch der erforderliche Wischer zur Verfügung standen. Um die Utensilien sowie weitere Kartuschen aus der Pulverkammer heraufzuholen, war keine Zeit mehr. Ohne die Wirkung des ersten Schusses abzuwarten, lief Jack zur nächsten Lafette. Nur die Vierpfünder mit ihren fünfeinhalb Fuß langen Rohren waren von drei Mannen zu bedienen, die schwereren Kaliber auf
59 dem Geschützdeck brauchten eine größere Mannschaft. Für die Achtzehnpfünder wären bereits neun Kerle nötig gewesen. Der erste Donner war noch nicht verhallt, als die zweite Explosion das Geschütz in die Brooktaue warf. Die Schebecke schwenkte erstaunlich schnell herum. Jack heulte auf, als er erkannte, daß der Geschoßeinschlag querab lag. Die Arwenacks wurden nicht einmal naß. Das dritte und letzte Geschütz - in aller Eile lockerten die Rabauken den Richtkeil. Das Rohr senkte sich dadurch um fast eine Handbreite. Dann legten sie sich in die Takel, um den Vierpfünder seitlich auszurichten. Jack visierte mit verbissener Miene, bis er sicher war, dem Gegner bei nur ein wenig Glück den Vormast umzulegen. Ein dumpfes Krachen erklang. Wie von einer unsichtbaren Faust wurde Jim an die Verschanzung gedrückt und sackte langsam in sich zusammen. Mitten auf seiner Brust erschien ein häßlicher roter Fleck. Statt den Luntenstock auf das Zündloch zu senken, fuhr Jack herum. Er sah etliche Musketenmündungen auf sich gerichtet. Fast gleichzeitig verspürte er die Einschläge. Er wollte schreien, aber er konnte es nicht. Ein Tosen hob an wie von einem Orkan, und dann brach die Schwärze herein. Jack lebte schon nicht mehr, als er auf den Planken aufschlug. Ted, der sein Heil in der Flucht suchte, wurde von einer Kugel erwischt, als er sich über das Schanzkleid schwang. Die See verschluckte ihn. 8. Dan O'Flynn hatte die Hundewache übernommen. In monotoner Gleichmäßigkeit schritt er auf dem
Oberdeck der Schebecke auf und ab. Der Himmel blieb wolkenverhangen, so daß eine Positionsbestimmung mit Hilfe des Astrolabiums nicht möglich war. Der Wind, der schon seit Stunden nicht mehr gedreht hatte, wehte mit anhaltender Stärke. Segelmanöver waren nicht erforderlich, solange die See nicht kabbeliger wurde als es, hervorgerufen durch irgendwelche Strömungen, derzeit schon der Fall war. Backbord voraus tanzte der Schein der Hecklaterne der „Pilgrim". Dan hoffte, d a ß der Wind weiterhin gut blieb, um den Auswanderern noch schlimmere Entbehrungen zu ersparen. Aufmerksam blickte er zur Galeone hinüber, deren Untersegel einen Hauch von Helligkeit erahnen ließ. Plötzlich blinzelte er, rieb sich die Augen und schaute wieder hin. Für einen kurzen Moment war ihm gewesen, als sei die Hecklaterne der „Pilgrim" erloschen. Doch dann brannte sie wieder so hell wie zuvor. Dan nahm den Kieker zu Hilfe - gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie die Laterne abermals für einen flüchtigen Augenblick verdunkelt wurde. Irgend etwas war hinter der Galeone vorbeigezogen. Ein anderes Schiff? Doch da war keine zweite Laterne. Wieder setzte Dan das Spektiv an. Mit ausreichender Vorstellungskraft konnte er sogar die oberen Heckaufbauten erkennen. Sonst herrschte finsterste Nacht. Ihm ging die flüchtige Beobachtung nicht aus dem Sinn. Falls wirklich ein zweites Schiff der „Pilgrim" folgte, konnte es sich nur um die Karavelle handeln, denn die Rabauken waren den ganzen Tag über im Kielwasser gesegelt. Das allerdings bedeutete wenig Erfreuliches. Es gehörte nicht gerade eine blühende Vorstellungskraft
60 dazu, die Absicht der Burschen zu durchschauen. Mit seinen Überlegungen bei diesem Punkt angelangt, schlug D a n O'Flynn Alarm. Er tat es mit der Genugtuung eines Wachgängers, der sich selbst die halbe Nacht um die Ohren schlug, während alle anderen in ihren Kojen lagen und womöglich von den Gefilden der Südsee t r ä u m ten. Hintereinander stürmten sie an Deck: Philip Hasard Killigrew, seine beiden Söhne Hasard und Philip, Don Juan, der Profos, Ferris Tucker, Ben Brighton, Mac Pellew, Shane. Selbst die Wolfshündin Plymmie war unter den ersten, die sich einfanden. Und Old Donegal legte trotz seiner Beinprothese ein beachtliches Tempo vor. Er war es auch, der als erster seinem Unmut Luft verschaffte, nachdem er sich schier den Hals verrenkt hatte, um herauszufinden, warum, in Himmels Namen, sein eigen Fleisch und Blut zu nächtlicher Zeit h e r u m krakeelte. „Was soll das Geschrei, K e r l ? " Er drehte sich einmal um sich selbst und war so schlau wie zuvor. „Ich sehe weder Spanier noch ein fettes Prisenschiff." Wortlos deutete Dan nach Backbord. Old O'Flynn peilte über den ausgestreckten A r m seines Sohnes hinweg die nächtliche Kimm an. „Da segelt die ,Pilgrim'", sagte er gereizt. „Na u n d ? " „Die ,Pilgrim' ist nicht allein." „Natürlich nicht." Old O'Flynn blickte seinen Sohn so durchdringend an, als beginne er an dessen klarem Verstand zu zweifeln. „Da sind wir und die , E x p l o r e r ' . . . " „ . . . und die Karavelle", sagte Dan. Old Donegal riß ihm das Spektiv aus der Hand und spähte hindurch. „Ich weiß nicht, was du hast", erklärte er schließlich. „Die ,Pilgrim' liegt ruhig auf K u r s . "
„Du hast die Karavelle gesehen?" wollte Hasard von Dan wissen. Der schüttelte den Kopf. „Die Hecklaterne der ,Pilgrim' wurde zweimal verdeckt, als etwas dicht hinter ihr vorbeizog. Es muß ein Schiff gewesen sein, das ohne Licht segelte." „Sehen wir uns die Sache aus der Nähe an", schlug Don J u a n vor. „Recht hat er", polterte Carberry los. „Wie sollten wir der königlichen Lissy den Verlust eines zweiten Schiffes erklären?" Der Holländer Piet Straaten übernahm das Ruder. Unter vollem P r e ß lief der Mittelmeerdreimaster einen Kurs, der an Steuerbord der Galeone vorbeiführen würde. Auch ohne den ausdrücklichen Befehl des Seewolfs begann Al Conroy zusammen mit den Zwillingen, Stenmark, Bob Grey und Luke Morgan die Geschütze zu klarieren. Um für alle Fälle gewappnet zu sein, wählte er unterschiedliche Ladungen. Die Schebecke holte rasch auf. Unermüdlich harrte Dan auf der Back aus und beobachtete. Aber nichts geschah. „Spürst du eine nahe Gefahr?" wollte Old Donegal wissen. „Dann sage ich dir, du hast das Zweite Gesicht von deinem Vater geerbt." „Ich spüre gar nichts", erwiderte Dan. „Dann hast du dich getäuscht. Gib es ruhig zu." „Nein", beharrte Dan. Old O'Flynn grinste über das ganze faltenreiche Gesicht. „Wenigstens den Dickschädel hast du von mir. Das ist doch auch schon was." Die Entfernung zur „Pilgrim" b e trug noch knappe vier Kabellängen, als Dan durchs Spektiv endlich mehr erkennen konnte. Im fahlen Widerschein und gegen eine hellere Wolkenbank zeichneten sich die Spieren eines kleineren Schiffes unmittelbar neben der Galeone ab.
61 ,Sir!" rief Dan. Hasard warf nur einen kurzen Blick durch den Kieker, bevor er ihn an Don Juan und Ben Brighton weitergab. „Das ist die Karavelle", sagte er. „Hoffentlich ist es für ein Eingreifen noch nicht zu spät." An Deck der Galeone blieb scheinb a r alles ruhig. Möglicher Kampflärm wäre gegen den Wind ohnehin noch nicht zu vernehmen gewesen. Hasard gab seine Kommandos. Die Schebecke schwang herum, um n u n mehr achteraus den Kurs der „Pilgrim" zu kreuzen und die an Backbord liegende Karavelle anzulaufen. Obwohl die Umstände dagegen sprachen, bestand immer noch ein wenig Hoffnung, daß die Rabauken keine böse Absicht verfolgten. Das Aufbrüllen eines Geschützes auf dem Achterdeck der Galeone schuf klare Fronten. Zehn Yards davor stieg eine Fontäne aus der See hoch. „Was soll der Unsinn?" schimpfte Carberry. Der zweite Schuß lag schon deutlich näher am Bug der Schebecke und entlockte dem Profos eine Verwünschung. „Soll ich den Angriff erwidern?" fragte Al Conroy. Hasard schüttelte den Kopf. Er war überzeugt, daß keiner von der „Pilgrim" auf die Schebecke feuerte. Vermutlich hatten die Halunken bereits die Kontrolle über das Schiff e r r u n gen, zumindest über die oberen Decks. Das Krachen von Musketen war gegen den Wind gerade noch wahrzunehmen. „Mann über Bord", meldete Dan O'Flynn. Gleich darauf wurde drüben eine Laterne geschwenkt. Das Zeichen war eindeutig. „Die Mannen der ,Pilgrim' haben
aufgeklart." Big Old Shane grinste breit. „Übernehmen wir den Rest?" Auf der Karavelle wurden die Segel dichter geholt. Statt zu fliehen, gingen die Rabauken h a r t an den Wind. Hasard fand nicht die Zeit, sich über diesen Akt der Tollkühnheit zu wundern, denn aus den geöffneten Stückpforten schlug der Schebecke eine volle Breitseite entgegen. Eine Stangenkugel fraß sich krachend durch die Steuerbordverschanzung, richtete aber sonst keinen Schaden an. „Ruder hart Backbord!" „Denen puste ich die Masten weg, daß es nur so raucht", sagte Al Conroy grinsend. „Genau das wirst du nicht tun." „Waaas?" Der Stückmeister glaubte, sich verhört zu haben. „Schuß um Schuß", bestimmte Hasard. „Und zwar so dicht, daß die Kerls gezwungen sind, weiter von der ,Pilgrim' abzufallen." Conroy verstand und war zugleich zufriedengestellt. Danebenzuschießen, aber so, daß es niemandem auffiel, stellte noch größere Anforderungen an sein Können, als einfach draufzuhalten. Hasard befürchtete, daß die Rabauken auf die Idee verfallen könnten, die Galeone zu versen-
62 ken. Hoffentlich war Kapitän Drinkwater klug genug, sich aus dem Gefecht herauszuhalten. Al Conroy zielte lange, ehe er die glimmende Lunte auf das Zündloch der ersten Culverine an Steuerbord senkte. Die Karavelle der Rabauken stand mitten im Wendemanöver, um die Arwenacks anschließend mit der anderen Breitseite einzudecken. Dank des gewählten steilen A b schußwinkels fegte Als erstes Geschoß drüben zwischen Vor- und Hauptmast übers Deck und schlug höchstens zehn Yards weiter in die See. Die beiden nächsten Schüsse lagen haarscharf vor dem Bug der K a r a velle, deren Geschützbedienungen übernervös reagierten. Jedenfalls war das Feuer, das den Seewölfen entgegenschlug, nicht das Pulver wert, das dafür vergeudet wurde. Al Conroy gab noch einen drauf. Eine aus zwei Gliedern bestehende Stangenkugel rasierte den K r a n b a l ken ab, eine zweite zerspellte das Schanzkleid im Bugbereich. Das genügte, um die Rabauken endgültig davon zu überzeugen, daß es besser sei, ihr Heil in einer schnellen Flucht zu suchen. „Laßt sie genügend Vorsprung h e r aussegeln!" rief Hasard. „Aber d a n n zeigen wir es ihnen!" Im Osten zog die Morgendämmerung herauf. Erste Sonnenstrahlen färbten die Kimm. Der Stückmeister war bereits wieder dabei, neue Ladungen zu setzen, nachdem die Zwillinge die noch heißen Rohre abgekühlt und gereinigt hatten. Sie legten ein Tempo vor, wie es selbst bestens eingespielte M a n n schaften nicht überbieten konnten. K n a p p außerhalb der Geschützreichweite segelten die Rabauken mit raumem Wind über Backbordbug. Es wurde rasch heller. Bis die Distanz auf zwei Kabellängen geschrumpft war, schob sich die Morgensonne be-
reits als feuriger Glutball über die Kimm. Die Geschütze im Achterkastell der Karavelle spuckten Feuer. Allerdings schien es sich um kleine Kaliber mit geringer Reichweite zu handeln, denn die Geschosse lagen weit vor der Schebecke. ,,Wir nehmen ihnen den Wind aus den Segeln", entschied Hasard. Er war viel zu lange großmütig gewesen und hatte die Halunken gewähren lassen. Doch nun war das Maß voll. Die Proteste der drei „Durchlauchten", die angeblich ihr Leben und ihre Gesundheit gefährdet sahen, überhörte er geflissentlich. Als Sir William Godfrey glaubte, auf jeden Anstand verzichten zu können, brauchte Hasard nur kurz zu winken. Carberry und Big Old Shane bereiteten sich ein Vergnügen d a r aus, die adligen Schnösel zu „versorgen". Für einige Zeit würde nun wohl Ruhe herrschen. Die Karavelle hüllte sich erneut in Feuer und Rauch. Anderley und seine Mannen forderten geradezu heraus, daß Al Conroy die Culverinen sprechen ließ. Ein mächtiges Donnerwetter brach über die Rabauken herein. Der erste Schuß kappte den P a p a geienstock und ließ das Besansegel fliegen, weil die Schot gebrochen war. Ein Hagelgeschoß mit gehacktem Blei zerfetzte das Großsegel, eine Kettenkugel brachte gleich darauf den Mast zu Fall. Das Feuer der Karavelle wurde unregelmäßig. Offenbar herrschte bereits jetzt Zustand. Der Stückmeister der Arwenacks hielt nun auf die Wasserlinie der Karavelle. Ein Schuß lag ein wenig zu hoch, obwohl die Kettenkugel ein mächtiges ausgezacktes Loch in die Bordwand riß. Der andere saß jedoch da, wo Al Conroy ihn haben wollte. Gurgelnd ergoß sich die See ins Leck. Die Gegner hatten genug. Zu allem Überfluß war auf dem Achterkastell
63 Feuer ausgebrochen, das rasch um sich griff. Alle Versuche, mit hastig ausgeworfenen Pützen den Brand zu löschen, schlugen fehl. „Wir gehen längsseits", entschied Hasard. Keinesfalls konnte er die Halunken absaufen lassen, solange er in der Lage war, Hilfe zu leisten. Die Schebecke war höchstens noch hundert Yards entfernt, als auf der Karavelle Pulverfässer in die Luft flogen. Die Explosion war verheerend, sie ließ vom Heckkastell nur qualmende Trümmer zurück. Selbst die Arwenacks empfingen einen Teil des Feuerregens. Doch die aufflammenden Brandnester konnten mit dem Wasser aus den bereitstehenden Pützen sofort gelöscht werden. „Sie bringen sich gegenseitig u m ! " rief Don Juan. Tatsächlich waren drei Kerle damit beschäftigt, die Jolle abzufieren. Drei
weitere schössen mit Musketen und Pistolen auf die Kumpane, die sich von dem Boot ebenfalls tlettung erhofften. Dann verhüllte dichter werdender Qualm das Geschehen. Die Karavelle sank. Achteraus wurde die Jolle kräftig aus dem Bereich des entstehenden Strudels gepullt. Nur vier Kerle hatten auf den Duchten Platz gefunden, die beiden anderen waren vermutlich tot. Hasard gab Befehl zum Halsen. Trichterförmig legte er die Hände vor den Mund. „Wir nehmen euch an Bord!" rief er so laut, daß die vier ihn verstehen mußten. Die Antwort war unmißverständlich. Von der Achterducht aus legte einer der Burschen mit der Muskete auf Hasard an. Das Blei klatschte irgendwo unter ihm gegen die Planken.
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„Sie wollen nicht gerettet werden", sagte Don Juan de Alcazar. Kräftig legten sich die Kerle in die Riemen, fort von der Schebecke. „Sie haben über ihr Schicksal selbst entschieden", murmelte der
Seewolf. Für eine Weile starrte er stumm über die See. Als er sich umwandte, war ihm keine Regung mehr anzumerken. „Kurs hart am Wind!" befahl er. „Wir segeln zurück zur ,Pilgrim' . . . "
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 629
Die Schiffe der Verzweifelten von Sean Beaufort Lautlos und ungesehen beobachtete Der-den-Bären-jagt die fremden Jäger. Sie waren hellhäutig und größer oder kleiner als er selbst. Sie hielten lange und kurze Rohre aus schwarzem Metall in den Händen, zielten damit auf Hirsche oder Rehe und bewegten die Finger. Aus dem vorderen Ende des Rohrs fuhr ein Blitz. Ein fürchterlicher Knall folgte wie ein Donner, dann brodelte eine Rauchwolke auf. Wie von einem unsichtbaren, gewaltigen Hieb getroffen, brach das Wild zusammen. Aber da waren auch zwei Männer, die mit großen Bogen und langen Pfeilen besser schossen als er. - Neid packte ihn, als er sah, wie der bärtige Riese und ein ebenso großer Fremder mit schwarzer Haut ihre Waffen handhabten. Und sie hatten ein riesenhaftes Kanu mit drei Bäumen drauf. Es lag in der Bucht. Dorthin brachten sie das Wild in einem kleinen Kanu mit großen Paddeln.
ex libris
KAPTAIN STELZBEIN 2010
Printed in Germany. April 1988