Steve McMillan
Der Totenacker Ronco Band Nr. 240/29
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967...
15 downloads
458 Views
645KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Steve McMillan
Der Totenacker Ronco Band Nr. 240/29
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine
eigene Geschichte.
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – Futtert sich bei den Unionstruppen durch, wohnt einer Exekution bei und gerät in eine Sondertruppe von Todeskandidaten. George Weller – Wird von seinem Vater an die Armee verkauft und will nicht sterben. Hank Weller – Bruder von George, verprügelt seinen Vater und sucht nach seinem Bruder. Pete Seeger – Sergeant, hat von der Armee die Schnauze voll, aber als Fahnenflüchtiger hat er auch keine Chance.
Der Totenacker 1.Juli 1880 Vor einer Stunde habe ich mein Haus verlassen. Ich habe mein Gewehr und meinen Revolver genommen und Wildcat, meinen Hengst gesattelt. Seit einer Stunde bin ich unterwegs. Es wird Abend. Der Himmel ist bewölkt, die Schatten sind lang. Von Westen weht Wind, und die Luft riecht nach Regen. Das liebliche Tal mit meiner Farm, wo ich glücklich werden wollte, liegt hinter mir. Ich habe sie zurückgelassen. Ich weiß nicht, ob ich je Saat in die Furchen meiner Felder legen, ob ich je ernten und jemals Vieh auf meinen Weiden sehen werde. Ich weiß gar nichts mehr. Nur, daß ich Rache will. Rache – das ist etwas, was ich früher immer verabscheut habe. Ich habe selten Haß empfunden. Jetzt empfinde ich ihn. Ich bin innerlich aufgewühlt. Es fällt mir schwer, ruhig zu denken. Es wird mir klar, daß alles, was ich mir von einem Leben in Frieden, von einem neuen Anfang nach Jahren der Verfolgung, von einer guten Zukunft vorgestellt habe, nur ein Traum war. Ein Traum,, der wie eine buntschillernde Seifenblase zerplatzt ist. Als ich meine Rehabilitierung in der Tasche hatte und annahm, daß ich nicht mehr gejagt werden würde, war ich zufrieden und glücklich. Endlich hatte ich eine Zukunft vor mir. Ich hatte eine Frau, die mich liebte, und ich hatte einen kleinen Sohn, Jellico. Das gehört alles der Vergangenheit an. Meine Feinde sind noch nicht besiegt. Die Männer, die mich jahrelang gejagt haben, die selbst das Halcon-Canyon-Massaker verursacht haben und ihre Schuld auf meinem Rücken abgeladen hatten, sind nicht untergegangen, als meine Unschuld bewiesen war und ihre Schuld ersichtlich wurde. Sie waren reich genug, sie besaßen genug Einfluß, um ihre Köpfe zu retten. Zumindest die ganz großen unter ihnen. Wie Andrew Hilton, der mit seinen Schergen nach Mexiko geflohen ist. Dort ist er sicher. Dort ist er frei und besitzt wieder Macht, und von dort aus verfolgt er mich noch immer. Ich habe es
nicht wahrhaben wollen. Es ist so. Seine Männer haben herausgefunden, wo ich versuchen wollte, mich niederzulassen und die bösen Jahre zu vergessen. Sie haben mich entdeckt, und sie haben zugeschlagen. Immerhin war Linda, die Frau, mit der ich gelebt habe, seine Tochter. Eine gute Frau, die sich von ihrem Vater abgewandt hatte, als sie erfuhr, was für ein Mensch er wirklich war, eine Frau, die zu mir gehalten hat, immer, in jeder Situation, die für mich durch tausend Feuer gegangen ist. Eine solche Frau ist ein Gottesgeschenk. Sie war in den Jahren des Unrechts der einzige Lichtblick für mich, sie war mein Mut, meine Hoffnung. Mit ihr zusammen wollte ich eine neue Welt aufbauen, nur für uns und für unseren Sohn Jellico, Andrew Hiltons Enkel. Hilton hat es mir nicht gegönnt. Er wollte mich weiterjagen. Er wollte sich an mir rächen, weil ich ihm etwas von seiner Macht genommen habe. Er wollte es im Namen all jener tun, die nach meiner Rehabilitierung ihre Ämter verlassen mußten. Obwohl es nicht viele waren und nur die kleinen und unbedeutenden erwischt hat, die wirklichen Gauner aber verschont blieben. Und Hilton wollte den Triumph, mich doch noch besiegt zu haben. Er will seiner Tochter seinen Willen aufzwingen. Einen Mißerfolg hat er zumindest wieder gehabt. Er hat mich nicht töten können. Und das wird er noch merken. Ich lebe, und diese Tatsache wird er bald verfluchen. Er hat mir Linda geraubt. Er hat sie entführen lassen. Zusammen mit unserem Sohn Jellico. Ein bezahlter Killer ist mit beiden unterwegs nach Mexiko. Ich weiß nicht, ob ich ihn einholen und die beiden zurückholen kann. Ich weiß nicht, ob ich das alles überlebe. Aber eines weiß ich: Ich werde keine Rücksicht mehr üben. Ich werde nicht noch einmal das Risiko eingehen, mich dem Größenwahn und den Privatfeldzügen eines Mannes wie Hilton aussetzen. Ich werde Andrew Hilton töten. Und wenn es das letzte ist, was ich tun werde. Ich werde ihn töten, und wenn es Jahre dauert, bis ich ihn finde. Ich schreibe weiter an meinem Tagebuch, damit die Nachwelt oder diejenigen, die es einmal lesen werden, erfahren, daß ich kein
Mörder war, daß ich getrieben worden bin, das zu tun, was ich jetzt tun muß. Als ich begann, diese Hefte vollzuschreiben, war es das Tagebuch eines gejagten Mannes. Das ist es nicht mehr. Jetzt ist es das Tagebuch eines Jägers. Ich werde nicht aufgeben. Nie!
1. Wir waren alle drei müde. Auf jeden Fall sahen wir so aus. Mein Brauner trottete schwerfällig, mit gesenktem Kopf. Eingetrockneter Schaum klebte auf seiner Brust und den Flanken. Eine Schönheitskonkurrenz hätte er in diesem Zustand sicher nicht gewonnen. Shita auch nicht. Der Hund hatte es nicht leicht gehabt, auf diesem unwegsamen Gelände mit dem Braunen schrittzuhalten. Sein Fell war verfilzt, die Läufe mit eingetrocknetem Schlamm verkrustet. Nur seine Augen verrieten, daß er noch lange nicht am Ende seiner Kräfte war. Entgegen allen Behauptungen war ich sicher, daß Hunde denken können. Shita besonders. Er hatte, mehr im Kopf als alle Schoßhunde New Yorks und Washingtons zusammen. Schon oft hatte er mich in scheinbar aussichtslosen Situationen gerettet, und ich konnte mich wirklich auf ihn verlassen. Seine verblüffende Menschenkenntnis hatte manchen Schwindler nicht nur zum Schwitzen, sondern auch ins Jail gebracht. Ja, wir waren schon ein feines Trio, ein häßlicher Brauner, der an Ausdauer kaum übertroffen werden konnte, ein pfeilschneller Hund mit struppigem, graubraunen Fell und spitzen Ohren und ich, ein blonder, etwas wild aussehender Junge mit einem alten Navy-Colt und schlaksigen Bewegungen. Ich wirkte älter, als ich wirklich war, und wenn ich durch eine Stadt ritt, drehten sich schon manchmal Mädchen nach mir um. Es ging gegen Mittag. Die Sonne hatte sich zwar hinter einigen Wolken versteckt, aber die Hitze reichte trotzdem aus, Moskitoschwaden über den Sümpfen tanzen zu lassen. Mein Magen meldete sich wieder und gab mir zu verstehen, daß ich mich gefälligst nach einem guten Stück Fleisch umsehen sollte. Das war gar nicht so einfach. In dieser Gegend wimmelte es von Unionsoldaten, Rebellentruppen und Guerillas. Ein Schuß, und ich
hätte sie am Hals gehabt. Gerade wollte ich dies meinem Magen erklären, als Shita wie angewurzelt stehenblieb. Eine Vorderpfote hing regungslos in der Luft, mitten in der Bewegung erstarrt. Seine Schnauze zuckte seltsam. Natürlich lag der Navy-Colt schon in meiner Hand. Im Bürgerkrieg war diese Bewegung so automatisch wie der Pulsschlag, wollte man überleben. Der Braune blieb ebenfalls stehen, seine Nüstern bebten. Aber ich kannte seine Sprache, es hieß nicht Gefahr oder Hinterhalt. Was sonst gab es hier, mitten im Blutbad des Krieges? Ich sah mir Shita genauer an. Er grinste. Das konnte er. Seine Lefzen hoben sich in einem bestimmten Winkel und ein ganz bestimmter Ausdruck trat in seine Augen. Bevor ich ihn noch fragen konnte, was, zum Teufel, eigentlich los sei, merkte ich es selbst. Ein himmlischer Geruch stieg in meine Nase. Es war lange her, daß ich ihn gerochen hatte, und ich kratzte mich ungläubig hinter dem rechten Ohr. Fleisch. Gebratenes Fleisch, wunderbares, wohlriechendes, gebratenes Fleisch. Ich konnte es nicht fassen. Hier, mitten in dieser vermeintlichen Einöde. Seit dem frühen Morgen hatte ich keinen Weg mehr gekreuzt und keinen Soldaten mehr gesehen. Shita war schon im hüfthohen Gras verschwunden. Von seiner Erschöpfung war reichlich wenig übriggeblieben. Nur mein Brauner, der sich für anderes Futter als Fleisch interessierte, rührte sich nicht. Ich hielt ein kurzes Zwiegespräch mit meinem Magen. Er drängte mich, dem Geruch zu folgen, meine Vorsicht wollte mich davon abhalten. Aber – man konnte ja erkunden, was da vorn los war. Schließlich, so sagte ich mir, würde es niemand sein, der das Tageslicht scheute. Also erwartete mich kaum Gefahr. Rauch sah ich nicht. Aber eine knappe Meile entfernt war eine Gruppe hochgewachsener Posteichen. Dort würde ich wahrscheinlich auf das Feuer stoßen. Also trieb ich den Braunen an und lenkte ihn langsam auf die Bäume zu. Vor mir im Gras raschelte es, und Shita erschien. Er musterte mich erwartungsvoll und ungeduldig und
drehte wieder um. Ich folgte ihm. Nach fünfhundert Yards stieß ich auf einen Weg. Spuren zeigten mir, daß er in letzter Zeit von mindestens zehn Reitern benutzt worden war. Auch die Spuren zwei schwerer Schoner und eines leichten Einspänners hatten sich in den Boden gegraben. Soldaten? Ein Munitionstransport war es nicht, denn die Reiter waren nicht in den für das Militär üblichen Zweierreihen geritten. Also entweder Zivilisten oder Rebellen. Da aber Rebellen kaum mitten im Feindesland Feste feiern, blieben nur die Zivilisten. Ich war ein guter Spurenleser, besser als mancher, der sich damit sein Brot bei der Armee verdiente. Die Zeit bei den Apachen hatte mich die Sprache der Natur gelehrt. Eine Kenntnis, die mir mein ganzes Leben lang helfen sollte. Ich folgte dem Weg. Ein leichter Wind blies mir gegen das Gesicht und brachte Bratengeruch und Sprachfetzen mit sich. Ich konnte nicht mehr weit entfernt sein. In der Gegend kannte ich mich kaum aus. Ich wußte nur, daß ich nicht weit von Chapel Hill entfernt sein mußte. Die Stellungen und Reibereien des Bürgerkrieges hatten mich bisher weitgehend verschont. Aber das, was ich inzwischen erlebt hatte, genügte, um mich vorsichtig werden zu lassen. Das Land blutete, und niemand konnte von sich behaupten, daß er eine reine Weste hatte, weder Unionssoldaten noch Rebellen, von den Zivilisten ganz zu schweigen. Jeder versuchte, mit dem Strom zu schwimmen und sich vielleicht eine Scheibe von dem Kuchen abschneiden zu können. Jeder verriet jeden, und war es nur wegen einer harten Kante Brot. Kurz, ich war gar nicht wild darauf, in den Krieg noch mehr verstrickt zu werden. Aber es war schwer, noch viel schwerer, als ich es mir vorgestellt hatte. Der Weg beschrieb eine leichte Kurve und führte nun genau auf die Baumgruppe zu. Jetzt sah ich auch eine dünne Rauchwolke einige Yards aufsteigen, bevor sie vom Wind zerstreut wurde. Die Posteichen standen in einer kleinen Senke, die etwa zweihundert Yards breit und doppelt so lang war. Eine kleine Quelle lag neben dem Weg. Daneben waren lange Balken aufgestellt worden. Man
hatte Pferde daran angebunden, ich zählte mindestens hundert, alle mit dem Brandzeichen der Unionsstreitkräfte. Also doch Militär, dachte ich. Links des Weges standen drei Reihen Zelte. Sie waren aus groben Segeltuchplanen und an beiden Seiten offen. In der mittleren Reihe waren drei Zelte ausgespart und ließen Platz für das große, elegante Offizierszelt. Nur wenige Soldaten befanden sich dort, wahrscheinlich waren sie als Wachen eingeteilt. Dafür war die Senke rechts des Weges bevölkert. Blauröcke saßen auf roh gezimmerten Brettern und hielten ihre Eßnäpfe. Es war eine ganze Menge, und sie kümmerten sich nicht um mich, als ich langsam die Senke hinunterritt. Etwas abseits saßen drei Offiziere an einem Tisch, auf dem neben einer Decke noch einige Flaschen Portwein und mehrere Schüsseln standen. Sie unterhielten sich angeregt und ließen den Offiziersburschen nicht zur Ruhe kommen. Er mußte ihnen Feuer für die Zigarren reichen, das Dessert auftragen, nachholen, Teller abräumen und flitzte mit gerötetem Gesicht hin und her. Zwei große Feuer brannten zwischen dem Tisch der Offiziere und den Soldaten. Vier Feldköche waren damit beschäftigt, zwei riesige Ochsen am Spieß mit Fett zu übergießen, auf rußgeschwärzten Grills standen Pfannen, die das herabtropfende Fett auffingen. Die Köche schöpften es mit langen Löffeln aus den Pfannen und gossen es wieder über die Fleischkolosse. Ein Anblick, der mir das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Ein Ochse war schon stark dezimiert und schmeckte auch gut, was ich den Gesichtern der kauenden Soldaten ablesen konnte. Je Ochse waren vier Soldaten damit beschäftigt, die enorme Eisenkurbel zu drehen. Im Hintergrund kochten noch drei Töpfe mit Bohnen. Aber nicht nur Soldaten hatten sich hier versammelt. Ich sah, daß hinter den Pferden auch drei Planwagen abgestellt waren, die dazugehörigen Pferde am Hitchrail angebunden. Zwölf Zivilisten saßen vor dem Feuer mit dem schon fast aufgegessenem Ochsen und kauten mit vollen Backen. Sie unterhielten sich kaum, sondern knabberten verzückt an den großen Fleischstücken. Ich konnte es
ihnen nicht verdenken. Wer hatte schon in diesen Zeiten das Glück, einen Ochsen vom Spieß zwischen die Zähne zu kriegen? Ich stieg ab und führte den Braunen langsam zum Hitchrail. Wenn ich nun schon hier war, warum sollte ich nicht auch mitessen, sagte ich mir. Ich schlenderte am Offizierstisch vorbei. Die drei hohen Herren waren mir nicht unbedingt sympathisch. Ihre Gesichter waren fettverschmiert, und ich sah, daß sie von ihren Fleischstücken nur jeweils das allerbeste nahmen und den Rest hinter sich ins Gras warfen. Das Tischtuch war aus Damast, die Bestecke aus Silber. Die Gläser, aus denen sie den teuren Port in sich hineinschütteten, waren aus schwerem Kristall. Mit dreckigen, fettglänzenden Fingern kratzten sie sich am Kopf oder schlugen sich lachend auf die Schultern. »Smith! Mein Glas ist leer! Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, daß ich Ihre Schlamperei nicht mehr dulde«, sagte gerade einer von ihnen. Und während der arme Smith mit zitternden Fingern Port nachfüllte, erzählten sie sich dreckige Witze. »Komm«, sagte ich leise zu Shita. Der brave Hund hatte schon drohend die Lefzen hochgezogen und knurrte in Richtung auf den Tisch. Ich band meinen Braunen an und ging zurück zum Feuer. Einer der Zivilisten drehte sich um. »Kommen Sie, junger Mann«, rief er einladend. »Das Militär lädt Sie ein. Essen Sie sich voll, alles auf Kosten der Union.« Er grinste und beugte sich vor. Einer der Köche säbelte ein riesiges Stück Fleisch mit knisternder Kruste von der Ochsenschulter ab und reichte es ihm. Der Mann drückte es mir in die Hand. Ich setzte mich. »Der Hund ist auch hungrig«, sagte der Mann dem Koch und erhielt auch prompt einen Mordsknochen, noch mit ziemlichen Fleischstücken daran. Er ließ sich wieder nieder und gab Shita den Knochen. Der ließ sich nicht zweimal bitten. Er drehte sich mehrmals um seine eigene Achse, den Knochen in den Fängen. Als er endlich seine Position gefunden hatte, war er nicht mehr zu bremsen. Es knirschte und knackte, daß die Splitter nur so flogen. Der Mann sah mit aufgerissenen Augen zu. »Ein prächtiger
Hund«, sagte er kurz darauf. Ich mußte grinsen. »Er hat immer noch bessere Tischsitten, als die drei Offiziere da hinten zusammen.« Ich deutete zu dem Tisch, kaum fünfzehn Yards entfernt. »Seien Sie bloß ruhig«, meinte der Mann leise. »Essen Sie Ihr Fleisch und verschwinden Sie wieder. Das tue ich nämlich auch. Diese Militärs sind überall die gleichen. Erst laden sie einen großartig ein – aus geraubten Beständen, versteht sich –, dann wollen sie einen verpflichten.« Ich horchte auf. Zum ersten Mal sah ich den Mann näher an. Er war mittelgroß, mit einem langen schwarzen Bart. Kein Angebertyp. Jemand, der wußte, von was er sprach. »Sie müssen ihnen Zucker in den Hintern blasen«, sagte er leise. »Möglichst sogar Puderzucker. Und dann nehmen Sie die Beine in die Hand und hauen ab. Denn die Kerle pfeifen auf einen guten Ruf. Deshalb laden die niemanden ein. Das Ganze dient nur dazu, neue Männer zu verpflichten.« Er warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Nach dem Essen wird ein Werbe-Kerl herumgehen und Ihnen den Himmel auf Erden versprechen. Das ist der Zeitpunkt, in dem Sie so schnell wie möglich abhauen sollten.« Wir schwiegen eine Weile. Ich kaute nachdenklich auf dem Fleisch herum. Es schmeckte mir plötzlich nicht mehr so gut. »Da, sehen Sie!« der Mann deutete zu den Pferden. Ein Ordonnanzoffizier gab einigen Soldaten Befehle. Daraufhin wurden die Zivilistenpferde mit Futter versorgt. »Jetzt wird uns gezeigt, wie gut wir es haben könnten. Keine Sorge um das tägliche Brot und noch eine Menge von diesem Quatsch. Wir sollen nur unterschreiben. Von da an brauchen wir uns um nichts mehr zu kümmern. Ich könnte Ihnen die ganze Rede auswendig sagen, die nachher der Werbe-Offizier hält.« Ich musterte den Mann. »Sie kennen sich ganz gut aus.« Er strich sich grinsend über den Bauch. »Ich lebe gut damit. Schon seit über zwei Monaten ernähre ich mich von der ›Mutter‹ Armee. Ich ziehe von Camp zu Camp, lasse mir Fleisch und Bohnen geben und sage dann, ich könne leider nicht eintreten, da ich Rückenschmerzen hätte oder so.«
Ich hatte verstanden. Man mußte sich in diesen Tagen etwas einfallen lassen, um nicht unter die Räder zu geraten. Dieser Mann hatte sich sogar etwas sehr Gutes einfallen lassen. Er aß sich voll, ohne eine Hand dafür zu rühren. Man konnte es ihm nicht einmal vorwerfen. Ich erhob mich und trat zu einem der Köche. Er gab mir eine Blechschüssel Bohnen mit Speckwürfeln und ein weiteres Stück Fleisch. Als ich zurückging, sah ich, wie einer der Offiziere am Tisch aufstand und sich mit der Damastserviette das Fett abwischte. Sofort waren zwei Ordonnanzen da und bliesen Staubkörnchen von seinen uniformierten Schultern. Ich kümmerte mich nicht weiter um diese Hampelmänner. Das Essen in meinen Händen, das war es, was mir wichtig war. Ich ging zurück und setzte mich neben den Mann. »Hungrig, wie?« stellte er fest. Er hatte ein angenehmes Lächeln. Er erwartete keine Antwort, also gab ich Shita den Knochen von meinem Fleischstück und aß dann weiter. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Offizier die Straße überquerte und in seinem Zelt verschwand. Inzwischen gingen die Zivilisten einzeln zum Feuer und ließen sich Fleisch und Bohnen nachgeben. Einige der Männer sahen aus, als hätten sie schon viel durchgemacht, mit abgehärmten, ausdruckslosen Mienen und harten Augen. Sie alle genossen sichtlich die großzügige Bewirtung. Von den Hintergedanken der Soldaten schienen sie nichts zu wissen. Ich fragte mich insgeheim, wie viele von ihnen auf den Trick hereinfallen würden. Mich nicht dazugerechnet, waren es zwölf Zivilisten, darunter keine einzige Frau. Vielleicht hatten viele von ihnen ihre Familie verloren und waren ganz froh, diese Chance zu erhalten. Ich wurde in meinen Gedanken unterbrochen. Vor dem Offizierszelt ertönte plötzlich lauter Trommelwirbel. Die Soldaten hörten auf zu essen, während sich die Zivilisten neugierig umdrehten. Die drei Offiziere marschierten zwischen den Zelten heran. Hinter ihnen schritt eine Gruppe von sechs Soldaten, dahinter zwei
Blauröcke, die zwei gefesselte Kameraden führten. Die Gesichter der beiden waren grau. »Was soll das?« fragte ich leise. Mein Nachbar aß ruhig weiter. »Abwarten«, sagte er mit vollen Backen. Dann widmete er sich wieder seinem Braten. Ich sah der seltsamen Prozession zu. Die Offiziere wirkten entspannt, plauderten angeregt miteinander und pafften dicke Rauchwolken aus ihren Zigarren. Sie kümmerten sich nicht um die Soldaten, die mit Gewehren und aufgepflanzten Bajonetten in Zweierreihen folgten. Deren Mienen waren unbewegt. Der Trommelwirbel hielt an. Ich sah den Soldaten mit der Trommel hinter der Gruppe hergehen. Er schritt langsam, feierlich, fast wie bei einem Begräbnis. Die Offiziere hielten bei einer kleinen Strauchinsel an. Sie drehten sich um und sahen den Soldaten entgegen, die auf einen Befehl hin stehenblieben. Ein weiterer, kurzer Befehl, und die Gewehre wanderten in einer eingeübten Bewegung in die andere Hand. Der Trommler stellte sich etwas seitlich auf, die Offiziere nicht aus dem Auge lassend. Ein Sergeant trat einen Schritt vor. Der Trommelwirbel brach sofort ab. Der Sergeant zog ein Papier aus seiner Brusttasche und faltete es auseinander. Er räusperte sich. Ich sah mich um. Mein Nachbar war der einzige, der noch mit vollen Backen kaute. Alle anderen starrten gespannt auf die Szene. »Jim Buckmaster!« schnarrte der Sergeant. Er musterte die beiden gefesselten Männer. Einer von ihnen trat einen Schritt vor. Sein Kopf war stolz erhoben. Er sah dem Sergeant genau in die Augen. »Hier«, sagte er. Seine Stimme bebte leicht. »Gemäß Urteil des Kriegsgerichtes der Unionsstreitkräfte, gefällt am 4. März 1864, sind Sie der Desertion und der Feigheit vor dem Feind beschuldigt. Daß diese Verbrechen nur mit dem Tod bestraft werden, muß ich wohl nicht mehr erwähnen. Sie sind einstimmig für schuldig erklärt worden. Das Urteil wird an Ort und Stelle vollstreckt. Haben Sie noch einen Wunsch? Eine Zigarette?« Der Sergeant hatte dies alles sehr schnell und ohne Betonung
heruntergelesen. Genausogut hätte er sich auch über das Wetter unterhalten können. Er zeigte weder Mitgefühl noch Verständnis. Ich spürte, wie Wut in mir hochstieg. Auch wenn der arme Kerl vor dem Feind abgehauen war, er hatte es nicht verdient, wie ein räudiger Hund zu sterben. »Ich habe keinen Wunsch«, sagte der Verurteilte. Er schaffte es sogar, dem Sergeant ins Gesicht zu lächeln. Dessen Miene verfinsterte sich. Auf eine Handbewegung hin wurde der Mann zu einem Baumstamm geführt und dort festgebunden. Als man ihm eine Augenbinde anlegen wollte, lehnte er sie ab. »Ich will meinen Mördern ins Auge sehen!« sagte er mit fester Stimme. Bevor er noch mehr sagen konnte, ließ der Sergeant wieder den Trommler Wirbel schlagen. Die sechs Soldaten stellten sich in Position. Die Sonne, die gerade zwischen zwei Wolken hindurchbrach, spiegelte sich auf den blankgeputzten Schneiden der Bajonette. Sie legten an. »Feuer!« schrie der Sergeant, nachdem er den Trommler mit einer Handbewegung zur Ruhe gebracht hatte. Mit ohrenbetäubendem Krachen entluden sich die Gewehre. Pulverdampf breitete sich beizend über der Senke aus. In die plötzliche Stille hinein knurrte Shita. Ich brachte ihn mühsam zum Schweigen. Ihm paßte das alles genausowenig wie mir. Der Verurteilte hing zusammengesunken in den Fesseln. Er wurde abgebunden und von zwei Männern außer Sichtweite gebracht. Man würde ihn irgendwo verscharren. Wenn er Glück hatte, erhielt er noch ein dürftiges Holzkreuz mit seinem Namen. Der andere Deserteur hatte bei weitem nicht die Beherrschung seines Vorgängers. Er sträubte sich, trat mit den Füssen um sich und schrie dazu wie am Spieß. Es war kein schöner Anblick, wie die Soldaten den weinenden Mann an den Baum banden. Der Sergeant unterhielt sich gelassen mit den Offizieren. Mit angewidertem Blick sah er zu, wie der Mann mit gierigen Zügen seine letzte Zigarette rauchte. Dabei liefen dem Verurteilten die Tränen über das Gesicht. Er zitterte am ganzen Körper. Speichel rann aus seinen Mundwinkeln
und tropfte auf seine Uniform. »Genug. Er hat seine Zigarette gehabt!« rief der Sergeant unwillig. Er sah zu, wie man dem Verurteilten die Kippe aus dem Mund nahm und austrat. Trommelwirbel. Der Sergeant rasselte seine Befehle. Wieder krachten die Schüsse. Das Krachen war noch nicht verhallt, da beugten sich die Soldaten beim Feuer schon wieder über ihre Eßgeschirre. Sie waren das Schauspiel gewöhnt. Sie lebten nun seit Wochen mit dem Tod im Auge, was bedeutete ihnen da schon die Exekution eines Deserteurs? Man konnte ihnen ihre Gleichgültigkeit nicht einmal vorwerfen. Es war ein harter Menschenschlag. Wer mit schwachen Nerven in die Armee eintrat, verlor sie sehr schnell, oder er starb. Außerdem hatten sich die meisten Soldaten ihren Beruf selbst ausgesucht. Entweder für ein Handgeld oder für das Vaterland. In meinen Augen war zwar weder das eine noch das andere ein ausreichender Grund, aber es gab anscheinend genug Männer, denen dies genügte. »Ein schlechter Einstand«, murmelte mein Nachbar grinsend. »Damit haben Sie sich einige Aspiranten auf die Uniform vergrault.« Ich sah mich um. Die Zivilisten sahen zum größten Teil ziemlich blaß aus. Einige von ihnen hatten offensichtlich den Hunger verloren. Shita knackte wieder an seinem Knochen. Was soll's, schien er mir zuzuzwinkern, die Männer werden nicht mehr lebendig, ob ich nun esse oder nicht. Dieser Meinung war ich auch. Ich hatte den Tod öfters vor Augen gehabt und kannte schlimmere Tode als den durch das Exekutionskommando. Das Militär hatte sich seine eigene, streng eingeteilte Welt mit eigenen Gesetzen geschaffen. Wer sich in eine Uniformjacke zwängte, mußte sich den Gesetzen beugen, oder er war selbst schuld. Dachte ich. Ich sollte sehr schnell eines Besseren belehrt werden.
2. »Es geht los«, sagte mein Nachbar kurz darauf. Er erhob sich ziemlich brüsk.
Ich sah fragend zu ihm hoch. Er grinste mich an. »Ich verschwinde, junger Mann. Das empfehle ich Ihnen wärmstens.« Ich erwiderte sein Grinsen. »Was soll denn schon passieren?« fragte ich. Er antwortete nicht mehr, sondern ging mit schnellen Schritten an einem Sergeant vorbei auf die Stange zu, an die die Pferde angebunden waren. Der Sergeant, einer der drei Ordonnanzen, sah ihm neugierig nach, sagte aber nichts. Keine halbe Minute später sah ich meinen Nachbarn auf sein Pferd steigen. Er drehte sich im Sattel um und hob grüßend die Hand. Ich erwiderte seinen Gruß, aber er hatte seinem Pferd schon die Sporen gegeben. Er preschte die Senke hinauf und verschwand hinter der Kuppe. Die Hufschläge gingen im allgemeinen Stimmengewirr unter. Ich steckte das letzte Stück Fleisch in den Mund. Kauend sah ich dem Sergeant zu, der sich neben einen Zivilisten kauerte und gestenreich auf ihn einredete. Ich saß nahe genug, um einiges zu verstehen. Der Werbe-Sergeant war während der Exekution nicht in Aktion getreten, ich hatte ihn noch nicht gesehen. Er war mittelgroß, hatte karottenrotes Haar und ein schmales, spitzes Gesicht, Seine Stimme klang weich, und in ihr schwang ein brüderlicher Ton, verständnisvoll, gleichzeitig einschmeichelnd und begeisternd. Er sprach nur andeutungsweise von den hohen Idealen der Soldaten. »Du empfängst Handgeld, wenn du dich verpflichtest«, sagte er gerade und legte dem jungen Mann eine Hand auf die Schulter. »Je, nach deiner körperlichen Konstitution.« »Je nach was?« fragte der Junge. Der Sergeant lächelte warm. Er konnte es wirklich überzeugend, das mußte ich zugeben. »Steh auf«, sagte er sanft. »Warum?« »Ich muß sehen, wie groß du bist und ob du Kraft hast.« Der Junge erhob sich. Er war weder groß noch besonders kräftig, aber der Sergeant lächelte weiter. »Hm. Nicht schlecht. Du erhältst achtzehn Dollar, wenn du unterschreibst.« »Achtzehn Dollar!« Für den Jungen war diese Summe sicherlich
mehr, als er jemals in den Händen gehabt hatte. »Überlege es dir gut, mein Junge. So eine Chance kriegst du nie wieder!« Der Werbe-Sergeant hatte schon ein Blatt Papier und einen Bleistift gezückt und hielt beides dem Jungen hin. »Hier. Du brauchst nur zu unterschreiben. Mehr nicht. Alles andere erledigen wir.« Es war das erste wahre Wort, das ich von ihm hörte. Alles andere würde die Armee erledigen. Man drückte den unerfahrenen Kerlen Gewehre in die Hand und ließ sie immer vorwärtsrennen, bis sie von einer Kugel gestoppt wurden. Das Begräbnis wurde auch von der Armee gestellt. Kostenlos. Am liebsten hätte ich dem Sergeant sein gespieltes Lächeln in das Maul gestopft. Aber ich wollte nicht in Ärger verwickelt werden. Also sah ich zu, wie der Junge unterschrieb und vom Sergeant zu einem Zelt geschickt wurde. Das nächste Opfer war ein Mann, sicher schon Mitte Dreißig, lichtes Haar, mit dunklen Augen. Er ließ den Sergeant glatt abblitzen, sagte die ganze Zeit über kein einziges Wort und hob am Schluß nur seinen linken Arm. Er hatte eine Holzhand. Der Sergeant verlor einen Augenblick die Fassung. Das liebenswürdige Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, und er starrte den Mann wütend an. Aber er hatte sich schnell wieder in der Gewalt. Er verstand sein Geschäft. Wahrscheinlich hatte er Menschenkenntnis, denn beim nächsten Aspiranten redete er kaum vom Geld, das bei der Verpflichtung heraussprang, sondern von den großen Idealen der Union. Als er bei der Freiheit und dem Vaterland angelangt war, glänzten die Augen des Umschwärmten, und als der Sergeant von den gottverdammten Rebellen sprach, die all diese mühsam errungenen Privilegien zerstören wollten, da unterschrieb der Mann sofort. Er fragte nicht einmal, wieviel er dafür bekommen sollte. Mit zwanzig Dollar wurde er zum Zelt geschickt. Der Sergeant ging nun zu einer Gruppe von drei Männern, die mir gegenüber am Feuer saßen. Ich konnte nicht mehr verstehen, was er ihnen erzählte, aber an den Mienen der Männer erkannte ich, daß zwei von ihnen bald entschlossen waren, sich im Kampf um
Vaterland und Ehre zu bewähren. Aber dann unterschrieb nur einer von ihnen. Der andere hatte anscheinend mehr Geld verlangt. Aus Wortfetzen entnahm ich, daß der frischgebackene Soldat fünfundzwanzig Dollar erhalten hatte. Beim nächsten Versuch gab es Ärger. Es handelte sich um einen älteren Mann mit seinem Sohn. Beide saßen nicht weit von mir, der Sohn blaß, schmächtig, mit dunklen Ringen unter den Augen, der Vater bullig, mit breiten Schultern und gerötetem Gesicht. Er war ein Farmer, das sah man an seiner Kleidung und seinen Händen. Aus der Tasche seines Mantels ragte ein Flaschenhals. Schon vorher hatte ich beobachtet, daß er sich redlich bemühte, noch während des Essens den Flaschenboden zu erreichen. Als ich angekommen war, hatte er mit dem Daumen gerade den Korken in den Hals gedrückt. Jetzt war die Flasche so gut wie leer und der Mann etwas röter im Gesicht. Es war ein unangenehmer Mann, der Typ eines nie erwachsen gewordenen Raufboldes ohne Manieren. Ein Menschenschlag, mit dem ich gar nichts anfangen konnte oder wollte. Sein Sohn hatte die ganze Zeit über kaum ein Wort gesagt, sondern nur neben seinem Vater gesessen und vor sich auf den Boden gestarrt. Als der Sergeant zu ihnen trat, sah er auf, musterte den Sergeant scheu und blickte wieder zu Boden. »Na, junger Mann, wie ist's mit Ihnen?« fragte der Sergeant mit verständnisvoller Stimme. Dabei nickte er grüßend zum Vater hin. Der grunzte etwas Unverständliches und grub seine Zähne in ein Stück Fleisch. Der Junge war höchstens sechzehn Jahre alt, mehr auf keinen Fall. Und meiner Meinung nach ist das ein bißchen zu wenig für den Eintritt in die Armee. Außerdem sah er nicht so aus, als würde er einen Windstoß mittlerer Stärke heil überstehen. »Bitte?« Der Junge sah unsicher zu dem Sergeant auf, der keinen Schritt vor ihm in die Höhe wuchs. Daraufhin kniete sich dieser neben ihn. Wie schon gesagt, er verstand sein Handwerk und wollte den scheuen Jungen nicht noch mehr verängstigen. Der Sergeant erzählte von den Vorzügen der Armee, den Idealen und Freiheiten der Union, als ihn der Vater unterbrach.
»Was soll der Mist? Freiheit, Ideale, Patroi … Patru …« »Patriotismus«, berichtigte ihn der Sergant mild. »Genau, Patriodingsda!« Der Vater schlug seinem Sohn die mächtige Pranke auf die Schulter. Der Kleine flog beinahe ins Feuer. »Stärke, Kraft, Mannestum!« grölte der Vater. »Das ist es, was er braucht.« Der Sergeant erkannte seine Chance. »Das ist auch einer der wichtigsten Aspekte bei …« »Asp … was?« fragte der Vater. Mit Kartoffeln kannte er sich wahrscheinlich besser aus als mit Fremdwörtern. Falls nicht, war ihm wirklich nicht zu helfen. Der Sergeant lächelte verständnisvoll. »Ich sagte, daß die Armee in erster Linie dazu dient, aus jungen Burschen stahlharte Männer zu formen, die selbst vor dem Teufel nicht zurückschrecken.« »Genau das Richtige!« rief der Vater und knallte seinem Sohn einen weiteren Prankenhieb auf die Schulter. »Das lobe ich mir!« »Außerdem gibt es Handgeld«, fuhr der Sergeant fort. »Handgeld?« In den Augen des Vaters blitzte es plötzlich auf. »Wieviel?« »Das kommt darauf an. Es …« »Wieviel?« fragte der Vater wieder. Geld schien für ihn mehr Bedeutung als alles andere auf der Welt zu haben. Auch als sein Sohn. »Je nach Körperbau zwischen zehn und fünfzig Dollar.« »Für ihn?« Der Vater stieß einen dicken Daumen in Richtung auf den total verschüchterten George. »Zehn Dollar«, sagte der Sergeant. »Zehn Dollar. Hm.« Der Vater leckte sich nachdenklich über die Lippen. Wahrscheinlich rechnete er sich gerade aus, wie viele Schnapsflaschen er für die zehn Dollar erhielt. Er brauchte ziemlich lange dazu. Die ganze Zeit über sagte der Sergeant kein Wort. »Willst du dich nicht verpflichten?« fragte der Vater schließlich. Sein Sohn reagierte nicht. Er sah verbissen vor sich auf den Boden. »He, ich habe dich was gefragt! Willst du nicht in die Armee eintreten? Dann wirst du endlich ein Mann!«
George sah auf. Seine Augen schimmerten feucht. Er schüttelte den Kopf, erst langsam und zögernd, dann immer schneller und trotzig wie ein kleines Kind. Dem Vater platzte der Kragen. »Ich will, daß du dich verpflichtest, zum Donner!« »Du brauchst nur zu unterschreiben.« Der Sergeant hielt ihm schon das Papier und den Bleistift entgegen. »Ich will nicht!« stieß George hervor. Er rückte von dem Sergeanten weg, der ihm mit dem Papier vor der Nase herumfuchtelte, immer noch ein Lächeln im Gesicht. »Ich bin dein Vater!« schrie der Mann und packte seinen Sohn am Hemd. »Du tust, was ich dir befehle, hast du verstanden?« Mir juckte es gehörig in den Fingern. Liebend gern hätte ich dem alten Säufer gesagt, was ich von ihm als Vater hielt. Aber es hatte keinen Zweck. Früher hätte ich mich vielleicht eingemischt, aber inzwischen hatte ich mir so oft die Finger verbrannt, daß ich es lieber sein ließ. »Ich will nicht, Vater, bitte!« Der Junge weinte jetzt. Tränen rannen über sein Gesicht. Er versuchte erst gar nicht, sie wegzuwischen. Die Angst saß ihm in den Gliedern. »Hier!« Der Sergeant ließ nicht locker. Mit einem Schrei riß sich der Junge los. In der Faust des Vaters blieb nur ein Fetzen Stoff. Wieselflink rannte er los, aber der Sergeant stellte ihm ein Bein. In hohem Bogen flog George in den Dreck. Schon war sein Vater auf den Beinen, zog ihn hoch und schlug ihm den Handrücken dreimal über das Gesicht. Dazu schüttelte er seinen Sohn wie einein Sack Kartoffeln. George, wurde zurückgeschleift. »Unterschreibe!« herrschte ihn sein Vater an. George unterschrieb nicht. Todesangst steckte in ihm. Er brachte kein Wort mehr über die zitternden Lippen. Wieder schlug ihn der Vater. Doch er erreichte damit nichts. Die Angst, die in dem Jungen steckte, war übermächtig. Als er sich wieder weigerte, nahm der Vater dem Sergeant Papier und Bleistift aus der Hand und unterschrieb.
»George Weller«, buchstabierte er nachher ungeschickt. »Das ist der Name meines Sohnes.« Der Sergeant nahm ihm den Zettel aus der Hand und steckte ihn schnell ein. Dann rief er drei Soldaten. Sie schleppten den weinenden George hinunter zum Zelt, in dem anscheinend die weitere Rekrutierung vorgenommen wurde. »Wieviel kriege ich jetzt?« fragte der Vater. »Zehn Dollar«, sagte der Sergeant. »Nur zehn Dollar?« Der Werbe-Sergeant lächelte ihm zu. »Weil Sie ein so beharrlicher Patriot sind, Mr. Weller, gebe ich Ihnen fünfzehn Dollar. Ist das ein Wort?« Der Vater hielt ihm schon die geöffnete Hand entgegen. Er zählte die Scheine dreimal, bevor er sie einsteckte und seine Decke vom Boden nahm. Er hatte es auf einmal ziemlich eilig. Fast alle Zivilisten sahen ihm mit düsterer Miene nach, wie er zu seinem Einspänner ging, auf den Bock kletterte und hinter der Kuppe verschwand.
3. In Ordnung, sagte ich mir, jetzt hast du die Nase voll von diesem Camp. Den Blechnapf, immer noch halbvoll mit Bohnen, stellte ich neben mich auf den Boden. Hunger hatte ich keinen mehr, teils, weil ich vorher schon kräftig reingehauen hatte, teils, weil mir die Szene mit dem brutalen Vater gründlich die Magennerven gestrafft hatte. Ich erhob mich. Die Soldaten hatten unterdessen auch schon den zweiten Ochsen zu einem jämmerlichen Rest zusammenschrumpfen lassen. Die Herren Offiziere saßen wieder an ihrem Tisch und aßen mit silbernen Messerchen Pfirsiche. Der Sergeant, der die Exekution geleitet hatte, spielte mit den Ordonnanzen Karten. Ich schnallte meinen Gurt etwas weiter. Trotz allem, das Fleisch hatte geschmeckt, Jetzt hielt mich hier nichts mehr zurück. »Einen Moment, junger Mann.« Natürlich, ich hatte dieses Stinktier von Sergeant ganz vergessen. »Zisch ab«, sagte ich hart. Ich hatte nicht die geringste Lust, mich
mit dem Kerl in ein Gespräch einzulassen. Er blieb stehen. Sein Gesicht hatte er unter Kontrolle. »Warte doch«, sagte er, »du hast mein Angebot noch nicht gehört!« »Ich brauche kein Angebot und kann ein Schwein von einem redlichen Mann unterscheiden.« Wenn er ein redlicher Mann gewesen wäre, hätte er jetzt reagieren müssen. Aber er war kein redlicher Mann, er wußte, daß ich dies auch schon erkannt hatte, also lächelte er nur. »Du kriegst fünfzig Dollar, wenn du dich verpflichtest.« Er dehnte jedes Wort einzeln, so als wären seine fünfzig Dollar das Wichtigste auf der Welt. »Und wieviel kriegst du, wenn du mich angelst?« fragte ich. Er stockte leicht. »Das steht nicht zur Diskussion«, sagte er schnell. Er hatte nicht erwartet, daß ich über diesen Punkt sprechen würde. Ich wandte mich zum Gehen. Dieser Kerl mit den roten Haaren und dem falschen Lächeln ging mir gehörig gegen den Strich. »Hör zu, Soldat: Ich werde mir die verdammte Uniform nicht anziehen, für fünfzig Dollar nicht und auch für keine andere Summe, die man mir bietet. Klar?« »Du hast eine völlig falsche Vorstellung vom Militär, Freund. Es …« »Ich habe dir bei deiner Drecksarbeit zugesehen, Soldat«, sagte ich leise, »und wenn du es wagst, mir jetzt was von Idealen und solchem Dreck vorzufaseln, dann verprügle ich dich auf offener Szene und steck dich in den Topf mit heißen Bohnen. Und das ist keine leere Warnung!« Ich glaube, er hatte mich verstanden. Ich war drauf und dran, ihm wirklich die versprochene Vorstellung zu liefern. Er stand still da und musterte mich. »Das wirst du noch bereuen«, sagte er leise und drehte sich auf dem Absatz um. Meiner Meinung nach hatte er sowieso keine Chance mehr, einen der Zivilisten noch zum Militärdienst zu bewegen. Die Zivilisten, mit denen er noch nicht gesprochen hatte, waren im Laufe unserer Unterhaltung näher getreten und hatten mir zugehört.
»Söhnchen, du hast dir eine Menge Ärger eingehandelt«, sagte einer von ihnen, ein älterer Mann mit weißen Haaren. »Du verschwindest jetzt besser.« Als ich nicht antwortete, fuhr er fort: »Es hat keinen Zweck, mit dem Militär Ärger anzufangen. Sie sind immer stärker als du.« Ich sah ihm in die hellblauen Augen, das einzige, das noch jung war in den vielen Falten seines Gesichts. Er sah aus wie ein Mann, der in seinen langen Jahren schon viel erlebt hat. Ich glaubte seiner Warnung. »Danke, Väterchen«, sagte ich und ging an ihm vorbei zwischen den Feuerstellen hindurch in Richtung der Pferde. Shita folgte mir. Ich spürte die Blicke der Zivilisten in meinem Rücken. Sie sind selber schuld, sagte ich mir, als ich an die Kerle dachte, die sich verpflichtet hatten. Nur der arme Junge, der von seinem Vater für fünfzehn Dollar verkauft worden war, tat mir leid. Die zwei Wachen am Anfang der langen Haltestange sahen mich merkwürdig an. Shita knurrte. Ich schritt langsam die Stange ab. Einige der Armeepferde waren von seltener Schönheit und hatten ein frischeres Brandzeichen. Es war während des Bürgerkriegs immer mehr Mode geworden, fremdes Eigentum einzuziehen. Auch die Union war da keine Ausnahme, Ich konnte nur ahnen, was sich in den Kleinstädten abspielen mußte, die ständig geplündert wurden. Ich verscheuchte die trüben Gedanken. Das beste war, ich schwang mich in den Sattel und ritt soweit nach Westen, bis der Horizont nicht mehr von Kanonendonner und Blitzen erfüllt war. Shita knurrte. Ich blieb stehen. Links neben mir standen die Pferde in Reih und Glied. Das Geräusch der scharrenden Hufe und der sich bewegenden Pferdeleiber war alles, das ich hören konnte. Dennoch, ich war beunruhigt und nervös. Aber was sollte mir hier schon geschehen? Ich war Zivilist, und als solcher hatte kein Soldat der Welt über mich zu verfügen. Ich ging weiter. Shita verstärkte sein Knurren. Nach wenigen Yards trat plötzlich der Sergeant zwischen den Pferden hervor. In der Hand hielt er einen Colt. Ich konnte genau in die Mündung sehen. »Laß den Colt stecken«, sagte er schnell. »Hinter dir stehen zwei
Männer mit dem Finger am Abzug. Ein Wort von mir, und du bist tot.« Ich drehte mich um. Da standen sie, die zwei Wachen, an denen ich eben vorbeigegangen war. Sie grinsten beide über das ganze Gesicht. Shita schritt ein. Ein dunkler Schatten huschte an mir vorbei, und der Sergeant prallte dumpf auf den Rücken. Shita hatte seine Fänge in die Revolverhand gegraben, und ich konnte mir vorstellen, daß er nicht gerade zimperlich mit dem Rotschopf umging. Ein weiterer Soldat tauchte auf, bevor ich mich noch um die zwei Wachen kümmern konnte. Auch er hielt die Waffe in der Hand. »Knall ihn ab, verdammt!« japste der Sergeant in panischer Angst. »Keine Bewegung!« rief einer der Wachen und rammte mir die Mündung seines Colts in die Rippen. »Hau ab, Shita!« schrie ich. Sie wollten meinen Hund töten, das war alles, an was ich im Moment denken konnte. Shita gehorchte sofort. Er sprang so heftig auf, daß dem Soldaten, der ihn gerade mit einem Tritt bedenken wollte, der Revolverarm zur Seite geschlagen wurde. Keine Sekunde später war Shita zwischen den Beinen der nervös tänzelnden Pferde verschwunden. Weder der Sergeant, der sich nun langsam aufrappelte, noch einer der Soldaten hatten Zeit gehabt, den Revolver auf Shita anzulegen. Das war der positive Aspekt. Daß ich für meinen Teil keine Chance gehabt hatte, meinen Revolver sprechen zu lassen, gefiel mir weitaus weniger. Ich saß in der Klemme. »Was soll das Theater?« fragte ich wütend. Der Rotschopf baute sich vor mir auf. »Du bist des Diebstahls überführt. Zwei meiner Männer haben dich wiedererkannt.« Das verschlug mir zunächst die Sprache. Es dauerte eine Weile, bevor mir die volle Tragweite dieser Beschuldigung bewußt wurde. Sie hatten mich in der Zange. Es war so einfach. Der Sergeant hatte den zwei Wachen und dem anderen Soldaten einige Dollar in die Hand gedrückt, und schon war ich eines nie begangenen Verbrechens beschuldigt, verhaftet und überführt. »Du mußt wirklich eine schöne Stange Geld für jeden Rekruten
kassieren, den du einstellst«, sagte ich erbittert. »Wieviel ist es denn?« »Fesselt ihn!« Der Karottenkopf wollte nicht über dieses Thema reden. »Fünfzehn Dollar? Zwanzig?« Ich stocherte beharrlich weiter. Inzwischen zog mir ein Soldat den Navy-Colt aus dem Halfter, das Messer aus dem Stiefel und fand auch das winzige Klappmesserchen im anderen Stiefelschaft. Damit waren meine Chancen zur Flucht so ziemlich alle zerschlagen. Ich ließ mir meine Wut nicht anmerken. Darauf hatte Karottenkopf sicher gehofft, denn er musterte mich mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen. Ich war überzeugt, daß er mich nicht nur wegen des Rekrutierungsgeldes haben wollte. Anscheinend hatte ich ihn am Feuer mit meinen abfälligen Bemerkungen gekränkt und beleidigt. »Wie nennt sich das Scherzchen, das ihr mit mir treibt?« fragte ich. »Zwangsrekrutierung, mein Kleiner«, sagte er stolz. »Aber du kannst deine Lage sehr verbessern, wenn du dich noch zu einem normalen Eintritt in die Armee entschließt.« Ich lachte ihm ins Gesicht und empfing dafür einen mittelstarken Tritt gegen das Schienbein. Er betrachtete mich kopfschüttelnd. »Mit etwas gutem Willen wärst du schnell Sergeant geworden, Söhnchen. Aber da du nicht willst …« Er beendete den Satz nicht, sondern gab den drei Soldaten den Befehl, mich abzuführen. Die drei Offiziere am Tisch waren so sehr in ihre dreckigen Witze vertieft, daß sie mich nicht beachteten, dafür aber die noch neben dem Feuer sitzenden Zivilisten. Aber sie kümmerten sich nur um ihre eigene Haut und sahen schnell weg. Ich konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Erhobenen Hauptes ging ich hinter Karottenkopf her zu einem Zelt, das als einziges alle vier Seitenwände aus dem groben Segeltuchplanen hatte. Im Innern war es dunkel und feuchtkalt. Einer der Soldaten fesselte noch meine Beine, dann war ich allein. Hinter mir hörte ich, wie das Segeltuch zugeschnürt wurde. Von außen.
4. In den folgenden Stunden erfuhr ich, daß jede Stunde sechzig Minuten hatte, jede Minute genausoviele Sekunden. Ich zog und zerrte an meinen Fesseln, wand mich wie eine betrunkene Schlange über den Boden und tastete mit dem Gesicht nach etwaigen Gegenständen. Das dicke Segeltuch ließ keinen Lichtstrahl ins Innere gelangen. Ich konnte die Zeit nur ahnen, die ich so verbrachte. Mit den Füßen versuchte ich, die Zeltplane am unteren Rand etwas zu heben, damit Licht in mein Gefängnis kam. Vergeblich. Entweder war sie an allen Seiten mit Erde beschwert, oder man hatte dicke Holzpflöcke in den Boden gerammt, Laschen am Segeltuch angenäht und mit den Pflöcken verbunden. Es war so dunkel wie im Ohr eines Negers in einer mondlosen Nacht. Vielleicht noch etwas dunkler. Die ganze Zeit über hörte ich leises Stimmengewirr, gedämpft durch die Segeltuchplanen. Ich wartete auf Geräusche, die eine bestimmte Handlung verrieten, wie zum Beispiel Geschirrklappern, das mir die Essenszeit verraten hätte. Aber ich mußte feststellen, daß es in einem Soldatenlager den ganzen Tag über gleich tönte. Immer die Stimmen, das Knarren von Lederschuhen, das entfernte Schnauben der Pferde. Sonst nichts. Es erschien auch niemand und kümmerte sich um mich. Nachdem ich mir so ziemlich jeden Zoll Haut an meinen Handund Fußgelenken abgeschabt und eingeschnitten hatte, gab ich es auf. Ohne fremde Hilfe gab es für mich keinen Weg aus diesem stickigen Zelt. Eine bittere Erkenntnis. Wenigstens hatte ich vorher noch gegessen, und mein Brauner war versorgt worden. Also hatte ich reichlich Zeit zum Nachdenken. War mir der Karottenkopf schon vorher nicht sympathisch gewesen, so sank er nun noch tiefer in meinem Ansehen. Vor meinem geistigen Auge sah ich ihn schon gerädert, geviertelt und in handliche Stücke geschnitten. Und ich schwor mir, daß ich dem Kerl noch eine Lektion erteilen würde, selbst wenn ich mich dabei in Lebensgefahr begeben müßte. Ich hatte mit ihm nicht nur ein, sondern eine ganze Kompanie
Hühner zu rupfen. Ich ließ mich nicht so einfach übertölpeln und in ein dreckiges Zelt sperren, nur weil es einem lausigen Sergeanten der Union nicht paßte, daß ich nicht zum Militär wollte. Das sollte er noch erfahren, so wahr ich Ronco hieß. Ich hatte keine Ahnung, was sie jetzt mit mir anstellen wollten. Natürlich würde ich diesen Wisch nie unterschreiben, das hatte der Sergeant sicher auch schon bemerkt. Aber wie wollten sie mich ohne meinen Willen und ohne meine Unterschrift in die Uniform zwängen? Zwangsrekrutierung. Das hatte der Sergeant erwähnt. Es war sicher wieder irgendeiner dieser Hintertreppenparagraphen, von denen es in den Armeebestimmungen so viele gab. Ich war erfahren genug, um zu wissen, daß die Kerle mich mit einem dieser Paragraphen verpflichten konnten. Und war ich erst einmal in der Armee, konnte ich mir meine Chancen an einer Hand abzählen. Darin wäre Flucht keine Flucht mehr, sondern Desertion, eine logische Überlegung keine logische Überlegung mehr, sondern in den Augen des Vorgesetzten Befehlsverweigerung. So weit durfte es nicht kommen. In jedem verlassenen Vorposten der Armee, selbst im hintersten Winkel der Staaten, würde dann ein Steckbrief hängen, der mich als Deserteur bezeichnete. In Anbetracht dieser düsteren Zukunft begann ich zu schwitzen. Es sah gar nicht gut aus, um ehrlich zu sein: hundsmiserabel. Wieder vergingen Stunden, eine Ewigkeit für mich. Von dem Karottenkopf keine Spur. Er versuchte es mit der Zermürbetaktik. Meine Handgelenke schmerzten. Die Luft im Zelt wurde immer stickiger. Plötzlich merkte ich, daß die Geräusche draußen leiser wurden. Das konstante Stimmengemurmel verebbte allmählich, ich hörte Schritte am Zelt, Gelächter, dann senkte sich Stille über das Camp. Es war Nacht. Eine andere Erklärung gab es nicht. Wenig später hörte ich entferntes Schnarchen. Ich überlegte, ob ich es mit Schreien versuchen sollte. Aber ich verwarf diesen Gedanken. Das hätte mir auch nicht viel geholfen. Schlafen konnte ich nicht. Dafür sorgten die Fesseln. Ich versuchte wieder, meine Handgelenke zu befreien. Zwar hatte ich danach etwas mehr Spiel zwischen beiden Händen, aber frei war ich noch lange
nicht. Ich spürte, wie mein Blut über meine Hände rann. Viel viel später, ich mußte trotz der Schmerzen etwas eingeschlafen sein, wurde ich durch ein Kratzen an der Zeltplane geweckt. Sofort war ich hellwach. Erschien der Karottenkopf, um mich zur Unterschrift zu zwingen? »Hallo?« fragte ich leise und versuchte, mich in der Dunkelheit zu orientieren. Nichts, Stille. Schon wollte ich mich wieder in eine etwas angenehmere Lage schlängeln, da ertönte wieder das Geräusch. Diesmal beim Eingang. Ich setzte mich so gut wie möglich auf. Das Geräusch verstärkte sich. Etwas zog und zerrte an der Plane, dort wo der Karottenkopf von außen zugeschnürt hatte. Ich wartete. Das Zupfen verstummte, dafür erklang nun ein anderen Geräusch, das ich mir nicht erklären konnte, bis ich ein leichtes Schnauben vernahm. Es klang, als ob sich jemand leise schneuze. Da wußte ich, wer da draußen grub. Shita! Mein Hund, der brav gewartet hatte, bis die Nacht ihn den Blicken der Wachen entzog, und der nun versuchte, in das Zelt zu gelangen. Er wühlte und scharrte wie besessen. Das Zelt war zu fest verschnürt, also grub er einen Gang unter der Plane hindurch. Ich wagte kaum, Luft zu holen. Schaffte er es? Klar. Ich hatte allen Grund, auf Shita stolz zu sein. Nach einigen Minuten sah ich einen Lichtschimmer, eine kleine Öffnung zwischen Plane und Boden. Ich schob mich näher heran. Während er die Öffnung erweiterte, versprach ich ihm alle Knochen dieser Erde, einen Fensterplatz im Hundeparadies und sonstige Sachen, die einen Hund erfreuen konnten. Er verstand mich, denn kurz darauf schob er sich zu mir ins Zelt. Mit ihm drang ein Hauch frischer Luft ein. Die ersten fünf Minuten mußte ich mir wohl oder übel gefallen lassen. Er schleckte mich tüchtig ab und stieß in den Pausen kleine Jauchzer aus. Er freute sich beinahe mehr als ich und war völlig aus dem Häuschen. Nach dem Vollbad mußten wir beide erst einmal tief Luft
schöpfen. »Shita, jetzt hör mir gut zu«, sagte ich mit ruhiger Stimme. Das leise Hecheln neben meinem Ohr verstummte. Nun wußte ich, daß er mir wirklich zuhörte. »Ich bin gefesselt«, sagte ich, »an den Händen. Hast du verstanden?« Zur Bekräftigung rüttelte ich an den Stricken. Sofort spürte ich Shitas feuchte Schnauze an meinem Handgelenk. »Brav«, meinte, ich. »Du mußt beißen, Shita, verstehst du? Du mußt die Stricke zerbeißen wie einen Knochen!« Das war das Stichwort. Er legte los. Anfangs fürchtete ich um meine Hände, merkte aber bald, daß ich nicht in Gefahr war. Shita berührte mich nicht ein einziges Mal mit seinen messerscharfen Schneidezähnen. Es war ein hartes Stück Arbeit für uns beide. Für mich, weil ich mich in einer schmerzhaften Position halten mußte, damit Shita an die Fesseln kam, für Shita, weil er die dünnen Stricke nur schwerlich genau zwischen die Zähne kriegte. Er nagte wie ein Besessener. In regelmäßigen Abständen versuchte ich, die Stricke zu zerreißen. Beim dritten Versuch klappte es. Mit einem reißenden Geräusch gaben die Fesseln nach. Ich hatte die Hände frei. Shita grunzte entzückt, als ich ihn an mich drückte. Er war ganz schön stolz auf sich und hatte auch allen Grund dazu. Schnell befreite ich mich von den restlichen Stricken um meine Handgelenke und massierte sie gründlich. Mein Kreislauf hatte ziemlich gelitten. Dann löste ich meine Fußfesseln. Es war ein feines Gefühl, sich endlich wieder bewegen zu können. Jetzt kümmerte ich mich um das Zelt. Ich steckte meinen Arm durch Shitas Gang und tastete die Eingangsplane ab, bis ich die an der Außenseite angebrachten Laschen fand. Ich löste sie der Reihe nach und schlug dann vorsichtig die Plane zurück. Ich hätte nie gedacht, daß frische Luft so schön sein kann. Es war eine sternenklare Nacht. Myriaden glitzernder Punkte standen am Firmament. Ein leichter Wind ließ mich frösteln. Das Zelt mit seiner stickigen Luft war um viele Grad Fahrenheit wärmer gewesen. Ich pumpte die Luft tief in meine Lungen.
Shita drückte seine Schnauze gegen meine Hand. Ich strich ihm gedankenversunken übers Fell. Wahrscheinlich wollte er, daß wir diesen Ort so schnell wie möglich hinter uns ließen. Jeder andere hätte dies auch getan. Nicht ich, Ronco. Nicht, ohne zunächst meine Waffe und meine Sachen zurückgeholt zu haben. Ich hatte noch vom Mittag her einen ungefähren Eindruck vom Camp und den Zelten. Auch hatte ich den Karottenkopf in einem von ihnen verschwinden sehen. Dorthin zog es mich nun. Die Stellungen der Wachposten hatte ich schnell herausgefunden. Die Kerle rauchten ungeniert. Ich sah die glühenden Punkte ihrer Zigarettenspitzen. Langsam schlich ich zwischen den Zeltreihen hindurch. Der Mond war noch nicht aufgegangen, deshalb brauchte ich mich kaum um Deckung zu kümmern. Shita trottete hinter mir her. Er war offensichtlich nicht einverstanden, daß ich mich noch länger hier im Camp aufhielt. Aber ich wollte meinen Navy-Colt und mein Messer wiederhaben. Ich wartete eine ganze Weile vor dem Zelt. Als sich nichts rührte, schlug ich vorsichtig die Plane zurück. Ich hörte regelmäßige Atemzüge. Nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte ich grobe Umrisse – ein Feldbett, ein niedriges Tischchen, zwei Stühle und einen Wassereimer, mehr nicht. Ich kroch ganz in das Zelt. Shita blieb beim Eingang. Ich stand langsam auf. Das Zelt war ziemlich groß, wahrscheinlich für zwei Personen gedacht. Im faden Licht beugte ich mich über den Tisch. Mein Revolvergurt hing an der Stuhllehne. Der Navy-Colt lag auf dem Tisch, zusammen mit den verschiedenen Kleinigkeiten, die man mir vorher abgenommen hatte. Ich schnallte mir den Gürtel um und steckte den Colt ein. Dann stopfte ich den Rest meiner Sachen in die Hosentaschen. Der Karottenkopf hatte einen gesunden Schlaf. Er lag auf dem Rücken und hatte den Mund leicht geöffnet. Ich fand ein Streichholz in der Tischschublade und zündete die kleine Windlaterne an, die an einer Zeltstange hing. Gleichzeitig schlug ich die Plane wieder zurück, damit die Posten das Licht sehen konnten.
Der Werbe-Sergeant schlief immer noch. Erst jetzt bemerkte ich, daß er einen Armee-Colt in der rechten Hand hielt. Er schien nicht nur unter den Zivilisten Feinde zu haben, denn ein normaler Soldat schläft nicht mit der Waffe in der Hand. Aber das war nicht mein Problem. Ich nahm ihm den Colt ab und entleerte die Kammern. Dann legte ich den Colt auf den Tisch. Er bewegte sich unruhig im Schlaf, wachte aber nicht auf. Also half ich ein bißchen nach und rüttelte ihn an der Schulter. Gleichzeitig steckte ich ihm die Mündung des Navy-Colts in das linke Nasenloch. Er schlug die Augen auf und sah mich an. Zunächst begriff er gar nichts. Wahrscheinlich dachte er, das sei alles nur ein Traum. »Sergeant«, flüsterte ich mit honigsüßer Stimme, »aufwachen!« Er wollte sich ruckartig aufsetzen. Dabei stieß ihm mein Revolverlauf recht unsanft in die Nase. Er blutete leicht. »Was …?« Spätestens jetzt hatte er begriffen, daß er nicht träumte. Seine Augen weiteten sich in nacktem Entsetzen. Er hatte Angst. Meine Wut war noch lange nicht verraucht. Der Kerl hatte mir in die Suppe gespuckt. Und das war etwas, das ich auf den Tod nicht leiden konnte. Ich nahm meinen Colt zurück. »Setz dich auf!« befahl ich hart. Als er meinen Befehl nicht sofort befolgte, riß ich ihn am Hemdausschnitt hoch. Dabei prallte er mit dem Kopf gegen eine der eisernen Zeltstangen. Ein unterdrückter Schmerzensschrei drang aus seiner Kehle. Er hatte sicher nicht erwartet, daß ich so kräftig war, einen ausgewachsenen Mann hochzuziehen. »Ich – ich …« jammerte er. In der spärlichen Beleuchtung hatte sein Gesicht die Farbe eines jungen Ziegenkäses. »Du schweigst!« sagte ich scharf, aber gerade leise genug, daß man meine Stimme nicht weit hören konnte. »Wo ist mein Geld?« fragte ich. Die Tasche in meinem Gürtel war leer. Ich hatte etwa acht Dollar gehabt. Er nestelte an einer Schnur, die um seinen Hals hing. Eine flache Ledertasche erschien. Er trug sie unter dem dreckigen Unterhemd. Mit fliegenden Fingern öffnete er die Tasche. Ich sah, daß ein ansehnliches Bündel Geldscheine darin steckte.
Der Karottenkopf lebte nicht schlecht mit seiner Bauernfängerei. »Wieviel hast du für mich kassiert?« fragte ich. Seine Finger zitterten so stark, daß er die Tasche fallenließ. »Nichts …« Er kam nicht weiter, denn ich hatte ihm meine Faust auf die Nase geklopft. Wieder schlug sein Hinterkopf unsanft gegen die Zeltstange. »Wieviel?« »Fünf Dollar«, sagte er, während er nach der Tasche fischte. Ich gab ihm noch mal eins auf die Nase. »Wieviel?« Einen Moment wich die Angst in seinen Augen einem wütenden Blick. Aber als sein Hinterkopf zum wiederholten Mal gegen die Zeltstange prallte, sagte er: »Fünfzehn Dollar.« Resignation schwang in seiner Stimme. Er hatte eingesehen, daß er mich nicht noch einmal auf den Arm nehmen konnte. Ich trat versehentlich auf seine Finger, die immer noch auf dem Boden nach der Tasche fischten. Er quiekte wie ein Schwein. Ich hob die Tasche auf und blätterte die Scheine auf den Tisch. Eine wunderbare Idee hatte sich in meinem Kopf geformt. »Kopfgeld, wie?« fragte ich lächelnd. Er antwortete nicht. Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepreßt. Ich nahm meine dreiundzwanzig Dollar. Schließlich war es das Geld, das mir zustand. Ich steckte es grinsend in meinen Gürtel. Ohne ihn anzusehen, wußte ich, daß er nach seinem Colt schielte, der auf der Tischplatte lag, gar nicht weit von ihm entfernt. Ich tat, als kümmerte ich mich nicht um ihn. Die Geldscheine vor mir kotzten mich an. Es war dreckiges Geld, verdient mit Schwindel und Brutalität. Mittags hatte ich ja gesehen, auf welche Art er es verdiente. »Hast du Feuer?« fragte ich ihn. Sofort gab er mir seinen kleinen weißen Lederbeutel mit den Zündhölzern. Ich nahm ihn, zog ein Zündholz heraus und riß es auf der Tischplatte an. Ich sah nicht auf den Sergeant, als ich die Flamme an den ersten Geldschein hielt. Aber den gepreßten Atemzug hörte ich.
»Nein!« sagte er tonlos. Sein Mund blieb offen. Unterdessen hatte ich schon den dritten Schein angezündet. Es knisterte leise, als sich die Flammen durch das grüne Papier fraßen. Er griff nach seiner Waffe. Darauf hatte ich gewartet. Ich drehte mich um. Er grinste plötzlich. »Leg die Scheine hin!« befahl er. Ich legte sie hin. Genau auf die Flammen der anderen. Er drückte ab. Es klickte. Seine Augen flackerten. Sein Mund verzerrte sich zu einer häßlichen Fratze. Wieder drückte er ab. Und noch einmal. Bis er einsah, daß die Kammern leer waren. Ich nahm ihm den Colt aus der Hand. »So, jetzt zu dir, Karottenkopf.« Er antwortete nicht, sondern sah auf die Reste seines Geldes. Die Scheine waren zu unscheinbaren schwarzen Häufchen verbrannt, die sich in der letzten Glut knisternd zusammenzogen. Mit diesem Geld würde er nie wieder etwas anfangen können. »Das – das wirst du mir büßen!« keuchte er, immer noch die Scheine ansehend. Ich trat vor ihn, den Colt in der Faust. »Nichts werde ich büßen«, sagte ich. Jetzt erst erwachte er aus seiner Trance. Bis jetzt hatte die Wut über den Verlust des Geldes seine Angst noch überwogen. Er sah genau in die Mündung meiner Waffe. Plötzlich erschien ein Schweißtropfen an seinem Haaransatz und rann langsam über die Nasenwurzel hinunter an sein Kinn. Weitere Tropfen folgten. Sie hinterließen feuchte Bahnen auf seinem Gesicht, die im Licht der Lampe glänzten. Eine ganze Weile sagte ich nichts, betrachtete ihn nur über die Revolvermündung weg. Seine Augen, die vorher von dem Colt zu mir und zum Colt zurückgewandert waren, konnten sich nicht mehr von meinem Blick lösen. Er hatte Angst. Todesangst. Das erkannte ich mit Befriedigung. Er versuchte zu sprechen, aber nur ein trockenes Krächzen drang über seine Lippen. »Sprich dich aus, mein Freund«, sagte ich leise. »Es ist das letzte Mal, daß du mit jemandem redest.«
Unendlich langsam spannte ich meinen Colt. Der Hammer rastete ein. In der Stille tönte es fast so laut wie ein Schuß. Er war ein Hasenfuß. Das wunderte mich nicht. In der Welt gab es zwei Sorten von Menschen: Hasenfüße und Kämpfer. Der Sergeant war kein Kämpfer. Die Angst erschütterte ihn bis in die letzte Faser seines Körpers und lähmte ihn. Ein Kämpfer hätte seine Chance gesucht, er blieb nur still sitzen und wartete, daß sich mein Finger krümmte. Sein dreckiges Unterhemd färbte sich um die Schultern herum dunkel. Er schwitzte nun wie in einem türkischen Bad. Mein Zeigefinger wurde um die Knöchel weiß. Er sah es. Ich war nicht mehr weit vom Druckpunkt. Er begann zu weinen. Erst rollte eine verstohlene Träne über seine Wange, dann eine zweite, bis er schließlich leise heulte, tränenüberstörmt, schulterzuckend. Ich drehte den Revolver um und hieb ihm den Griff gegen den Schädel. Er tauchte sofort weg. Unter dem Bett lag ein Stück Schnur. Ich band dem Sergeanten die Hände auf dem Rücken zusammen. Schön fest. So, wie er mich im Zelt hatte liegenlassen. Meine schmerzenden Handgelenke erinnerten mich daran. Shita knurrte leise. Ich drehte sofort die Lampe kleiner und stopfte dem Sergeant ein dreckiges Taschentuch in den Mund. Schnell band ich es fest, trat zum Tisch und löschte die Lampe. Eine ganze Weile blieb ich stehen und lauschte. Einmal glaubte ich, ein Geräusch gehört zu haben, aber danach lag wieder Stille über dem Camp. Ich schlug die Plane zurück und trat ins Freie. Ein heller Fleck am Horizont sagte mir, daß der Mond bald auftauchen würde. Ich mußte mich beeilen. Die Aufgabe, die nun vor mir lag, war schwerer als alle anderen bisher. Ich brauchte mein Pferd und den Sattel. Ohne Pferd konnte und wollte ich nicht weiter. Ich hatte nicht vor, etwas von meinem Eigentum der Armee zu schenken. Die Zeltplane verschnürte ich mit unzähligen Knoten. Sollte der Karottenkopf ruhig noch in seinem eigenen Saft schmoren. Er war
für mich gestorben. Vorsichtig bewegte ich mich in Richtung auf die Pferde zu. Entweder schliefen die Wachen nun, oder sie rauchten nicht mehr. Auf jeden Fall sah ich keine glühenden Zigarettenspitzen. Shita tigerte vor mir her. Er hatte mit seiner Nase den Vorteil, Feinde schon von weitem zu wittern. Als er jetzt stehenblieb, witterte er jemanden. Ich war noch weit von den Stellungen der Posten entfernt. Wen sollte er also wittern? Wir hörten die Schritte gleichzeitig. Sie rückten genau auf uns zu.
5. Zwei Schatten wuschen aus der Dunkelheit. Im schwachen Dämmerlicht sah ich, daß sie Waffen trugen. Es war zu spät zur Flucht. Sie waren schon auf vier Yards heran, als ich sie entdeckte. Ich verschluckte einen Fluch. Nun hieß es, die Ruhe zu wahren. Die zwei Männer trugen Uniform. Im schwachen Licht schimmerten ihre gewichsten Koppel. Sie blieben stehen. Ich hielt die Hand mit dem Colt hinter meinem Rücken versteckt, damit sie meine Waffe nicht sehen konnten. »Wo ist dein Colt, Brian?« fragte mich einer der Männer mit unterdrückter Stimme. Ich schaltete sofort. Dies waren keine Wachen, die einen Rundgang abschritten. Es waren Deserteure. Ich zeigte sofort den Colt und lachte leise. »Hier«, flüsterte ich. »Sehr gut«, flüsterte der eine Deserteur zurück. »Wir kümmern uns um die Wachen am Ostrand. Falls etwas Unvorhergesehenes eintritt, schießt du sofort, Klar?« »Klar«, sagte ich undeutlich. Ich hatte Angst, daß sie an meiner Stimme die Verwechslung erkennen würden. Sie verschwanden grußlos in Richtung Osten. Ich sah ihnen aufatmend nach. Ein weiterer Schatten tauchte auf. Hinter mir. »Wo ist Jeff?« fragte eine Stimme, ebenfalls sehr leise. »Brian?« fragte ich zurück.
»Ja.« Bevor er noch mehr sagen konnte, klopfte ich ihm mit dem Revolverlauf gegen die Schläfe und fing ihn auf, bevor er zu Boden fiel. »Schlafe sanft, Brian«, flüsterte ich und legte ihn in die völlige Dunkelheit neben ein Zelt. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, daß Brian doch auf die anderen beiden traf und die Verwechslung ans Tageslicht trat. Shita schnupperte an Brian herum, hob ein Bein und bewässerte die Füße des Ohnmächtigen. Wahrscheinlich war er ihm nicht sympathisch. Ich schlich mich vorsichtig zu den Pferden. Vor mir erhoben sich plötzlich drei dunkle Gestalten aus dem Gras und stürmten auf den vordersten Posten zu. Der Mann wurde schnell außer Gefecht gesetzt. Er lag kurz darauf verschnürt und geknebelt im Gras. Langsam folgte ich der kämpfenden Truppe. Es war ganz angenehm, endlich einmal andere die dreckige Arbeit erledigen zu lassen und dabei zusehen zu können. Der zweite Posten stand ungefähr in der Mitte der Pferdereihe. Er wollte erschreckt sein Gewehr abfeuern, wurde aber vorher ins Land der Träume befördert. Mein Brauner stand ganz am hinteren Ende. Keine drei Yards neben dem dritten und letzten Posten. Und der war auf der Hut. »Hilfe!« gellte sein Schrei über das schlafende Camp. Dann ein dumpfer Schlag, noch einer, und plötzlich zerriß ein Mündungsblitz die Dämmerung. Zwei Revolver antworteten, und auch dieser Posten war erledigt, sogar gründlicher als die beiden Vorgänger. Aber jetzt war die Hölle los. Wo vorher noch leises Schnarchen hörbar gewesen war, rannte und schrie nun alles durcheinander. Soldaten in Uniform, ohne Uniform und in langen Unterhosen, ein halbnackter Captain mit gezücktem Säbel, die drei Feldköche, der Sanitäter und Angehörige des 4. Musikkorps der Union, alle brüllten, fluchten und stürzten durcheinander. Ein Zelt fiel in sich zusammen, als die vier Soldaten in Innern versuchten, gleichzeitig in ihre Uniformen zu gelangen. Jemand schoß in die Luft und durchlöcherte das Banner der Union, das bisher
still im leichten Wind hin und hergeschaukelt hatte. Der Captain mit dem Säbel rannte in einen Infantristen und verletzte ihn am Oberschenkel, während der Trompeter des Musikkorps einem vorbeirennenden Soldaten sein Instrument auf den Kopf hieb. Ich hatte es verdammt eilig. Aber solch ein heilloses Durcheinander hatte ich noch nie erlebt. Es schüttelte mich vor Lachen. Ich blieb sogar stehen, um dieses Drama beobachten zu können. Aber als die Kugeln, die bisher ziellos in die Luft gefeuert worden waren, plötzlich in meine Richtung flogen, lief ich doch weiter. Langsam kam Ordnung in das Durcheinander beim Lager. Mein Brauner drehte den Kopf, als er mich hörte. Er kannte meinen Schritt. Ich sah, daß mein Sattel über den Hitchrail geworfen war. Der Schwung, mit dem ich den Sattel auf den Rücken meines Braunen warf, geschah automatisch. Ich zog den Sattelgurt an und hob mich in den Sattel. Der Braune tänzelte rückwärts vom Hitchrail weg, bis ich ihn seitwärts lenkte. Er griff tüchtig aus. Von den Deserteuren sah ich nichts mehr. Es war verständlich, daß sie so schnell wie nur möglich abgehauen waren. Bei der Strafe, die auf Fahnenflucht stand, wäre ich auch wie ein Blitz abgezischt. Hinter mir ebbte das Geschrei im Lager langsam ab. Ich ritt nördlich, schwenkte dann nach einer halben Meile nach Osten und ritt weiter. Sollten die Soldaten doch meinen Spuren folgen, dachte ich. Mir kann nichts vorgeworfen werden. Dachte ich …
6. Es ging gegen Mittag. Die Sonne kletterte zielstrebig dem Zenit entgegen. Die Wolken, die noch vor wenigen Stunden den Himmel bedeckt hatten, waren verschwunden. Statt der angenehmen Kühle herrschte nun drückende Hitze. Ich konnte mein Schweißtuch auswringen wie einen Schwamm. Die Nacht über hatte ich neben einem kleinen Wäldchen geschlafen. Wahrscheinlich zu lange, und deshalb war ich ziemlich
nervös. Ich konnte mir gut vorstellen, was im Camp passiert war, nachdem ich weggeritten war. Man hatte Suchtrupps ausgeschickt, die den Spuren der Deserteure folgten. Und deshalb war es nicht klug von mir gewesen, die Nacht über zu schlafen, statt Meilen zwischen mich und die Soldaten zu bringen. Andererseits, was sollten sie mir anhaben. Ich war noch nicht in Uniform, also kein Deserteur. Ich war ein freier Mann. Dennoch war mir nicht wohl in meiner Haut. Ein festes Ziel hatte ich nicht. Doch: Ich wollte mit dem Krieg nichts mehr zu tun haben. Auf keinen Fall. Gestern hatte ich mir um ein Haar die Finger gehörig verbrannt, und ich nahm mir vor, diese Lehre nicht zu vergessen. Vielleicht gab es hier in der Gegend irgendwo eine Ranch, auf der ich Arbeit fand. Nicht um Geld zu verdienen, sondern um dem Krieg zu entgehen. Es mußte doch einen Platz in den Staaten geben, wo noch Ruhe und Ordnung herrschten. Ich war zufrieden, wenn ich abends heimkehrte und einen Teller mit heißem Essen erhielt. Zum Schlafen genügte mir ein trockener Strohsack und ein festes Dach über dem Kopf. Mehr brauchte ich nicht. Aber ich sollte noch erfahren, daß man nie genug gelernt und erlebt hat. Zu viele Sachen spielten einem einen Streich, Sachen, von denen ich zwar viel, aber noch lange nicht alles wußte. Vor mir dehnte sich ein Waldgebiet aus. Ich suchte einige Zeit nach einer Möglichkeit, es zu umgehen, aber der Wald erstreckte sich weit nach Osten. Kurz entschlossen folgte ich der ersten Lichtung, die wie ein Schnitt die Reihe der dichtgewachsenen Bäume teilte. Irgendwann mußte ich so oder so durch den Wald, also ritt ich los. Shita folgte mir. Er war nervös, schien aber den Grund selbst nicht zu wissen. Nach drei Meilen sah ich das Ende, der Lichtung. Dort würde ich absteigen und den Braunen hinter mir herziehen müssen. In diesem Moment warf dieser den Kopf zurück und schnaubte erregt. Ich hatte den Navy-Colt sofort in der Hand. Aus einiger Entfernung hörte ich ein anderes Pferd antworten. Ich glitt aus dem Sattel, die Zügel in der einen, den Colt in der anderen Hand. Schnell führte ich den Braunen nach links zu den
Bäumen hin. Früher hätte ich nicht so reagiert. Aber jetzt war Krieg, und man durfte nicht das kleinste Risiko eingehen. Wer auch dort im Wald steckte, es war zunächst einmal ein Feind. Nur noch wenige Yards trennten mich von den Bäumen, als dort ein Mann auftauchte. In der Hand hielt er, ziemlich unmißverständlich, einen Colt. Ich sah genau in das kleine schwarze Mündungsloch. Und er in meins. »Wenn du abdrückst, Freund, bist du auch dran«, sagte ich überflüssigerweise. Er hatte Angst. Das sah ich ihm auf den ersten Blick an. Aber nicht nur vor mir, logischerweise. Es war nämlich ein Soldat, besser: ein ehemaliger Soldat, heute ein Deserteur. Einer der Männer, die nachts aus dem Camp abgehauen waren. »Du auch«, sagte er und versuchte ein klägliches Grinsen. »Wenn's drauf ankommt, bin ich schneller«, sagte ich. Er war leicht einzuschüchtern. »Das ist möglich. Schneller als ich schon, aber nicht schneller als die Männer hinter dir.« »Das ist ein dummer Trick«, sagte ich. Er grinste immer noch. »Freund, diesmal ist es kein Trick.« Vorsichtig, damit ich den Knaben nicht aus dem Blick verlor, drehte ich mich etwas um. Und da standen sie, die Deserteure. In Reih und Glied, wie man es ihnen bei der verdammten Armee beigebracht hatte. »Leg den Colt hin!« sagte mein Gegenüber. »Wir haben sowieso kaum Munition.« »Wenn du meinst, du kriegst meinen Colt, dann hast du dich getäuscht«, sagte ich. »Wer bist du?« Ich drehte mich um. Einer der Männer war hinter mich getreten und musterte mich nun von Kopf bis Fuß. »Kein Soldat«, erklärte ich. »Glaub ihm nicht«, sagte einer der Männer, »ich habe ihn gestern mit dem Sergeant sprechen sehen. Er ist ein Kopfgeldjäger.« »Du verwechselst mich mit dem Karottenkopf«, sagte ich
kopfschüttelnd. »Der Schweinehund wollte mich zwangsrekrutieren lassen.« Die Männer schwiegen und betrachteten mich neugierig. Sie hatten wahrscheinlich Angst, daß ich ein Scout oder Kopfgeldjäger der Union war, der sie nun aufgespürt hatte. »Wie hast du uns gefunden?« brach schließlich mein Gegenüber das Schweigen. Auf seiner Uniformjacke waren noch die drei roten Winkel eines Ordonnanz-Soldaten. Ich erinnerte mich jetzt, daß er den drei Offizieren das Feuer für die Zigarren gereicht hatte. Ich drehte mich um. Dabei beschrieb die Mündung meines Colts einen Bogen. Die Männer zuckten zusammen und spannten ihre Waffen. »Da hinten gibt es nur Wald, nichts als Wald. Diese Lichtung ist die einzige Schneise, die ich gefunden habe.« »Wirf die Waffe zu Boden!« befahl der Ordonnanz-Sergeant wieder. Ich tat ihm den Gefallen. Während man mich schweigend und finster betrachtete, sah ich noch ein bekanntes Gesicht unter den Deserteuren. George Weller, den jungen Burschen, der von seinem Vater für fünfzehn Dollar verkauft worden war. »Schon die Nase voll von der Armee?« fragte ich lächelnd. Er antwortete nicht. Aber es genügte, ihn neben den Männern stehen zu sehen, klein und schmächtig, noch eine halbe Portion. Klar, bei der ersten Gelegenheit war er geflohen. »Ihr wißt, was euch blüht, falls man euch findet?« fragte ich. »Sie finden uns nicht«, sagte der Ordonnanz-Sergeant heftig. »Wahrscheinlich suchen sie gar nicht nach uns.« Ich hob fragend eine Augenbraue. »Meint ihr, daß sie nicht nach euch suchen? Die müssen euch sogar suchen. Die Union verliert ja ihr Gesicht, wenn herauskommt, daß die halbe Truppe desertiert ist. Keine Sorge, die sind schon kräftig auf der Suche.« Düsteres Schweigen. Ich sah den Männern an, daß sie sich plötzlich sehr unwohl in ihrer Haut fühlten. »Du hast also mit der Sache nichts zu tun?« fragte mich ein schwarzhaariger, gedrungener Mann.
Ich schüttelte den Kopf. »Kann ich jetzt weiterreiten?« Der Ordonnanz-Sergeant zuckte mit den Schultern. »Wir können dich nicht daran hindern.« Es klang mutlos. »Was habt ihr vor?« fragte ich. »Wir müssen warten, bis sich unsere Pferde erholt haben. Gestern sind wir zu schnell geritten und haben sie überanstrengt.« »Wartet nicht zu lange«, sagte ich, hob meinen Colt wieder auf und wandte mich zum Gehen. »Einen Moment.« Es war der Schwarzhaarige. »Du siehst aus, als hättest du eine ganze Menge hinter dir. Könntest du nicht …?« »Das ist euer Bier«, sagte ich schnell. »Ihr müßt die Konsequenzen selbst tragen. Ich kann und will euch nicht führen.« Das war alles. Sie fragten nichts mehr, sondern sahen mir nach, als ich auf meinen Braunen stieg und in Richtung Norden davonritt. Irgendwie taten mir die Männer leid. Sie hatten ihre Flucht nicht ausreichend geplant. Jetzt saßen sie in der Klemme. Ich ritt um eine Biegung. Der schmale Einschnitt im Wald, der mich immerhin einige Meilen nach Norden geführt hatte, verengte sich merklich. Bald würden Bäume meinen Weg versperren. Plötzlich sah ich eine Bewegung in den Büschen am Waldrand, kaum fünfhundert Yards entfernt. Sofort hielt ich an. Shita knurrte wütend. Da kamen sie auch schon zwischen den Bäumen hervor. Drei, vier, dann immer mehr Blauröcke. Schließlich preschten über zwanzig Reiter auf mich zu. An der Spitze ritt ein Sergeant. Die drei Winkel glitzerten in der Sonne. Sein feuerroter Haarschopf leuchtete grell. »Haltet den Deserteur!« brüllte er, sein Gewehr wie eine Streitaxt schwingend. Der Karottenkopf! Der hat mir gerade noch gefehlt. Er führte die Truppe an. Ich konnte mir gut vorstellen, was er alles mit mir anstellen würde, war ich erst einmal gefangen. Ich hatte eigentlich vorgehabt, nicht zu fliehen. Denn außer dem Karottenkopf und seinen drei Kameraden hatte mich noch niemand im Lager gesehen. Aber er führte den Suchtrupp und hatte folglich alle Trümpfe in der Hand.
Ich riß meinen Braunen herum und galoppierte die Lichtung hinunter, in die Richtung aus der ich gerade gekommen war. Hinter mir hörte ich das Donnern der Hufe. Meine Verfolger rückten zwar nicht näher, aber ich konnte auch keinen Vorsprung herausreiten. Ich preschte um die Biegung. Die Deserteure standen noch so da, wie ich sie zurückgelassen hatte. Ich brauchte ihnen gar nichts zu erzählen. Knapp hinter mir kam auch schon der Karottenkopf in Sicht und wenig später der Rest der Abteilung. Die Deserteure hatten gar keine Chance. Ich sah, wie sich ihre Gesichter vor Angst verzerrten. Keiner von ihnen wagte es, gegen die ehemaligen Kameraden zur Waffe zu greifen. Vielleicht hofften sie doch noch auf Gnade ihrer Vorgesetzten. Eine Hoffnung, die ich nicht teilen konnte. Ich ritt in vollem Galopp an ihnen vorbei. Keiner von ihnen sprang auf sein Pferd. Es war zu spät. Die Verfolger waren viel zu nahe. Ich hatte noch eine Chance. Mein Brauner war ausgeruht und konnte notfalls lange Meilen in gestrecktem Galopp aushalten. Aber ich durfte den Karottenkopf nicht unterschätzen, meine Wut kannte bestimmt keine Grenzen mehr. Hinter mir wurden Befehle gebrüllt. Ein schneller Blick zeigte mir, daß die Deserteure umzingelt und entwaffnet wurden und die Hände in die Luft streckten. Aber ich hätte besser auf mich selbst achten sollen. Während ich mich umblickte, raste mein Brauner unter einem Baum durch. Einer der tiefhängenden Äste schnellte gegen meinen Oberkörper. Es erübrigt sich, zu erwähnen, daß ich wie ein Trapezkünstler durch die Luft flog. Nur die Landung ließ etwas an Eleganz vermissen. Ich prallte auf den Rücken, und es verschlug mir ziemlich den Atem. Als sich die tanzenden Sternchen vor meinen Augen verzogen, sah ich ein Gesicht vor mir. Und ein kleines schwarzes Loch. Das Loch gehörte zu einem Colt, es war die Mündung. Das Gesicht gehörte einem grinsenden Karottenkopf. »O nein!« stöhnte ich und schloß wieder die Augen. Aber statt einer Antwort erfolgte ein plötzlicher Aufprall, und
dann ächzte jemand. Schnell richtete ich mich auf. Shita stand neben mir. Seine starken Fangzähne waren in den Hals von Karottenkopf gegraben. Dieser röchelte und winselte, kam aber nicht aus dem Griff Shitas frei. Sein Colt lag für ihn unerreichbar im Gras. »Knallt den Köter ab!« keuchte er. Drei Soldaten sprangen auf mich zu. Sie hielten ihre Colts schußbereit. »Shita, weg«, brüllte ich, so laut ich nur konnte. Gleichzeitig sprang ich ungestüm auf die Beine und trat zwischen die Soldaten und Shita. Sie versuchten, den fliehenden Hund zu treffen, aber ich stieß und schob sie wild hin und her. Bis sie Zeit zum Zielen gefunden hatten, war Shita auf und davon. Der Karottenkopf erhob sich. Sein Gesicht war totenbleich und wutverzerrt. An seinem Hals waren mehrere kleine Wunden, aus denen Blut rann. Shita hatte ihn ordentlich gebeutelt. »Sei froh, daß ich ihm nicht befohlen habe, zuzubeißen«, sagte ich. Er reagierte nicht auf diesen Witz. Verständlicherweise. An seinen Handgelenken waren blutige Striemen, genauso wie an meinen auch. »Fesselt ihn!« befahl er. Langsam wich seine Blässe wieder einer gesunden Hautfarbe. Dennoch zitterten seine Hände. Shita war ihm sprichwörtlich ziemlich unter die Haut gefahren. Ich wehrte mich nicht, damit ich ihm nicht noch mehr zu Rohheiten Anlaß gab. Er würde mir das nächtliche Abenteuer auch so zurückzahlen, dessen war ich mir sicher. Schönen Zeiten ging ich nicht entgegen. Man führte mich ab. Unterdessen war mein Brauner zurückgekehrt. Ein Soldat versuchte vergeblich, ihn einzufangen. Der Braune wich ihm geschickt aus, bis ich ihm pfiff. Sofort blieb er stehen und war zahm wie ein Schoßhund. Kurz darauf war ich bei der Gruppe der Deserteure. Sie sahen nicht gerade glücklich aus. Die Angst stand ihnen ins Gesicht geschrieben. George Weller weinte. Sah er schon vorher aus, als würde er jede
Sekunde zusammenbrechen, so hatte er nun jeglichen Halt verloren. Keiner der anderen kümmerte sich um den Jungen. Ich trat zu ihm. »Kopf hoch«, sagte ich mit belegter Stimme. Etwas Besseres fiel mir nicht ein. Er sah mich mit tränenverschleierten Augen an. »Ich will nicht sterben«, flüsterte er schluchzend. Bevor ich ihm noch Mut zusprechen konnte, brüllte der Sergeant Befehle. Wir wurden auseinandergerissen. Die Deserteure band man auf ihre Pferde. Ich sah, daß der Sergeant mich mit einem hämischen Blick anstarrte. Was hatte er sich jetzt wieder ausgedacht? Ich mußte laufen. Man fesselte mich mit einem Lasso, und der Sergeant band mich hinter sein Pferd. Dann ließ er aufsitzen. Es war die Hölle. Meile um Meile stolperte ich mit brennenden Füßen hinter dem Sergeant her. Die Sonne knallte mir auf Kopf und Schultern, mein Mund war ausgetrocknet und meine Zunge geschwollen. Erst nach drei Stunden durfte ich aufsitzen. Aber ich kroch nicht vor dem Sergeant. Ich würdigte ihn keines Blickes und sprang in den Sattel, als sei ich noch frisch und ausgeruht. Eins wußte ich: Falls ich das jemals lebend überstand, würde der Karottenkopf schweren Zeiten entgegensehen. Dann kam er nicht mehr mit einem blauen Auge davon.
7. Hamp Weller hatte starke Schlagseite. Er saß auf dem schmalen Kutschbock des Einspänners und schwankte wie ein Strohhalm im Wind. Aber erstens wehte kein Wind, und zweitens hätte es schon ein mittlerer Tornado sein müssen, der Hamp Weller ins Schwanken brachte. Mit zweihundertfünfzig Pfund brachte er ein beachtliches Gewicht auf die Waage. Nun, man hätte die Schuld seines Schwankens auch dem Einspänner zuschreiben können. Schließlich war es ein leichtes und nicht besonders gut gefedertes Gefährt.
Nicht in diesem Fall. Der Einspänner stand nämlich so still wie der Sohn eines Messerwerfers bei der Vorführung. Trotzdem verlor der bullige Farmer auf dem Kutschbock sein Gleichgewicht. Er fiel so, wie man es bei seinem Gewicht erwarten konnte: schwer und mit der Eleganz eines Kartoffelsacks. Dem dumpfen Aufprall folgten augenblicklich ein Splittern und dann ein Fluch. Eine ganze Weile geschah nichts mehr. Die Vögel, die bei der plötzlichen Ruhestörung in ängstliches Schweigen verfallen waren, zwitscherten wieder. Das Pferd vor dem Einspänner blähte leicht die Nüstern. Einige Schmeißfliegen verschwanden schleunigst. Es stank plötzlich wie in der Schnapsbrennerei eines schottischen Whiskyfabrikanten. Man konnte förmlich die Alkoholschwaden sehen, die von Hamp Weller aufstiegen. Nun erklärte sich auch das rätselhafte Splittern. »Sch – sch – scheiße«, murmelte Weller wieder. Langsam kam der Himmel über ihm zum Stillstand. Der Sturz hatte zur Folge gehabt, daß er seinen ohnehin schon lädierten Orientierungssinn verloren hatte. Immerhin wußte er nun mit Bestimmtheit, daß er auf dem Rücken lag. Aber es war noch ein weiter Weg bis auf den Kutschbock. Weit für jemanden, der über einen Liter hochprozentigen Schnaps gekippt hat. Es dauerte auch über eine halbe Stunde, bis er endlich stand. Auf dem Bock war er noch nicht, aber wenigstens stand er. Während er dies befriedigt feststellte, fiel er wieder hin. Diesmal aufs Gesicht. Es splitterte nicht mehr. Die Scherben in seiner Manteltasche knirschten nur noch leise. Übergehen wir die nächsten neunzig Minuten. So lange benötigte er, um auf den Bock zu klettern, und es war ein hartes Stück Arbeit. Von weitem hätte man ihn für einen Neger halten können. Die rötliche Gesichtsfarbe war völlig unter einer Maske dunkelbraunen Drecks verschwunden. Der ausgeflossene Schnaps hatte den Boden aufgeweicht. Genau auf diese Stelle hatte ihn sein zweiter Fall geführt. Mit dem Gesicht nach unten. Einige Splitter hatten seine Wangen verletzt, aber Weller stand dauerhaft unter Betäubung.
Schmerzen kannte er nicht. Nicht nach zwei Flaschen Schnaps. Er griff in die Werkzeugkiste auf dem Einspänner und holte eine Zigarette heraus. Er zündete sie an und sog den Rauch tief in die Lungen. Aber statt ihm zu helfen, verstärkte das Nikotin nur die Schaukelbewegungen des Horizonts. »Bin ich auf einem Schiff?« sagte er, unterbrochen von mittelstarken Rülpsern. Dann mußte er sich übergeben. Danach ging es besser. Er hatte sich, o Wunder, sogar auf dem Kutschbock halten können. Er bot ein Bild des Schreckens. Über und über mit Dreck, Schlamm, Lehm, Alkohol, Blut und Schweiß bedeckt, hätte er allein einer ganzen Kompanie das Fürchten beibringen können. Er dachte an Krieg, zwar nicht an den Bürgerkrieg, so doch an seine Frau. Das war für ihn noch viel schlimmer. Da gab es keine Schützengräben, schützende Wälder, Finten und Scheinangriffe. Alles wickelte sich bei seiner Frau im Frontalangriff ab. Schon der erste Blick nach dem Aufwachen war wie ein Hieb ins Gesicht. Und so ging es weiter, den ganzen lieben Tag lang. Unterdessen zog langsam die Dämmerung über den Horizont. Er hatte für zwanzig Meilen einen halben Tag gebraucht. Seine Frau! Er konnte sie nicht mehr aus seinen Gedanken verscheuchen. Jedesmal, wenn er angeheitert zurückkehrte, gab es ein Donnerwetter. Nun war er nicht nur angeheitert, sondern voll wie ein Dutzend Matrosen beim ersten Landgang nach einem Jahr Seefahrt. Er runzelte seine niedrige Stirn – da war doch noch etwas. Verzweifelt versuchte er, sich daran zu erinnern. Dann hatte er es: George. Je länger er über die ganze Sache nachdachte, desto nüchterner wurde er. Und das war ein sicheres Zeichen, daß er den Ernst der Situation erkannte. Nur seinen Fehler wollte er sich nicht eingestehen. Es war ihm peinlich, ohne George seiner Frau entgegenzutreten, mehr nicht. Nach wie vor war er der Meinung, daß die Armee für George gut sei. Endlich würde der schmächtige Bursche ein Mann werden. Weiter kam er nicht. Sein strapaziertes Gehirn half nicht, dieses
Problem zu lösen. Er trieb das Pferd an. Ruckend setzte sich der Einspänner in Bewegung. Weller flog beinahe vom Bock. Nach dreißig Minuten sah er die Lichter seiner Farm vor sich in der Dämmerung schimmern. Das Pferd fand auch allein heim. Es war die einsamen Sauforgien des Farmers gewöhnt. Jenny trat vor die Tür. Das helle Rechteck des erleuchteten Zimmers rahmte ihre Silhouette ein. Jenny war seine Frau – seit einem Vierteljahrhundert. Jedes Jahr hatte seine Spuren an ihr hinterlassen. Sie war in die Breite gegangen, ihre markanten Gesichtszüge waren noch härter, ihre schwarzen Haare weiß geworden. »Jenny, ich …« Er hatte plötzlich das Bedürfnis, sich ihr mitzuteilen. Aber der Rest seiner Rede ging in einem Blubbern unter. Er lag der Länge nach im Schlamm vor dem Haus. Seine Beine waren noch lange nicht so nüchtern, wie sein Kopf es vergütet hatte. »Wo ist George?« Ihre Stimme war leise, aber dennoch schneidend kalt. Er rappelte sich mühsam auf. Als er endlich sein schwankendes Gleichgewicht wiedergefunden hatte, trat er auf die Steinplatte vor der Tür und wollte wortlos an ihr vorbei. »Du stinkst meilenweit nach Fusel.« Es klang nicht wie eine Anschuldigung, eher war es eine Feststellung. Er verharrte, wollte etwas entgegnen, sagte dann aber nichts. Bevor er ins Zimmer treten konnte, trat ihm ein Mann entgegen. Im blakenden Schein der Petroleumlampe schimmerten seine blonden Haare. Er war etwas größer als Hamp, nicht so bullig und stiernackig, dafür breiter in den Schultern und schmaler in den Hüften. »Was ist mit George?« fragte der Mann. Er war Mitte Zwanzig, trug verwaschene blaue Leinenhosen und ein frisches, rotkariertes Hemd. »Laß mich rein, Hank«, brummte Hamp Weller. Aber der kräftige Arm seines Sohnes hielt ihn zurück. »Antworte!« sagte Hank Weller. Er zog den Vater an den
dreckigen Aufschlägen des Staubmantels zu sich heran. Hamp Weller verlegte sich aufs Schweigen. Er wollte ein anständiges Essen und ein Bett und keine Gespräche, die doch nichts einbrachten. »Mein Gott! George ist etwas passiert!« stieß Jenny Weller hervor und schlug die Hände vor den Mund. »Sprich endlich, du Schweinehund!« donnerte Hank. Er schüttelte den Vater durch und stieß ihn dann von sich. Hamp fiel wieder in den Schlamm. Er war noch viel zu voll, als daß er sich hätte wehren können. In seiner Manteltasche knirschte es wieder. »Woher hast du das Geld, dir Schnaps zu kaufen?« fragte Hank. Er spuckte die Zigarette, die bisher an seiner Unterlippe geklebt hatte, auf den Boden. Hamp Weller fluchte unterdrückt. So einen Empfang hatte er nicht erwartet. Aber es kam noch schlimmer für ihn. Sein Sohn kniete sich auf seine väterliche Brust und gab ihm ein gutes Dutzend Ohrfeigen. Es klatschte, und Hamp Wellers Kopf flog im Rhythmus hin und her. »Wo ist George!« Wieder prasselten Schläge gegen seinen Kopf. Diesmal öffnete Hank seine Hand dabei nicht mehr. Hamp Weller rülpste und verdrehte die Augen. Er verlor das Bewußtsein. Hank schleifte seinen Vater bis zum Brunnen. Dort hob er ihn mit Hilfe Jennys hoch und warf den schweren Körper in das eiskalte Wasser. Jetzt wachte Hamp Weller wirklich auf. Prustend und um sich schlagend strampelte er im Trog herum. Als er fast ertrunken war, zog Hank den Kopf seines Vaters an den Haaren wieder heraus. »Wo?« »Ich – ich dachte …« Hank tauchte seinen Vater wieder unter. Es gurgelte verdächtig, und Luftblasen stiegen an die Oberfläche. Wieder zog er ihn heraus. Hamp japste nach Luft wie ein junger Hund.
»Wo?« »Bei der Armee«, röchelte er schließlich. Vor lauter Schreck ließ Hank ihn wieder untertauchen. »Was war das eben?« fragte er danach mit ungläubiger Stimme. Und nun berichtete Hamp die Wahrheit: »Ich – ich habe ihn Soldat werden lassen. Für fünfzehn Dollar. Das war viel Geld, und ich dachte, wir hätten es nötig.« »Wo ist das Geld?« fragte Jenny argwöhnisch. Ihr Mann im Brunnentrog tat ihr überhaupt nicht leid. »Das – hm …« »Hast du damit den Fusel gekauft?« fragte Hank hart. Hamp Weller antwortete nicht. Mit einem heiseren Schrei stürzte sich Jenny auf ihren Mann. Sie kratzte, biß und boxte wild auf ihn ein. Wasser spritzte, Hamp brüllte plötzlich wie am Spieß. Der Trog kippte um. Hank zog seine tobende Mutter von Hamp weg. Obwohl er kein Schwächling war, mußte er doch alle Kräfte aufbieten, um die kleine Frau halten zu können. »Ich bringe ihn um!« keuchte Jenny. Rote Flecken waren in ihrem Gesicht erschienen. »Der Schweinehund hat meinen Sohn verkauft. Für fünfzehn Dollar! Meinen Sohn! Der arme kleine George. Er ist doch noch viel zu jung für die Armee!« Sie schluchzte. »Und für – für das Geld hat er sich – Schnaps gekauft, dieser Dreckskerl!« Ohnmächtig sackte sie in Hanks Armen zusammen. Schnell trug ihr Sohn sie ins Haus. Er legte sie auf das Bett, dann trat er zur Wand. Dort hing ein alter, abgegriffener Colt, Modell-54. Hank band sich den Gürtel um und überprüfte den Colt kurz. Dann ließ er ihn ins Halfter gleiten und ging aus dem Haus. Hamp Weller krabbelte auf allen vieren vom Brunnen weg. Dabei spuckte er Wasser und Erbrochenes. Sein Gesicht war böse zugerichtet. Jennys Fingernägel hatten ganze Arbeit geleistet. Hank trat seinem Vater in den Weg. »Wo ist das Lager?« »Welches Lager?« fragte Hamp undeutlich. Seine blutunterlaufenen Augen blickten glasig auf das Gesicht seines Sohnes. »Der Union!« Hank gab seinem Vater einen Tritt.
»Vier Meilen westlich von Warrensburgh.« Er versuchte vergeblich, auf die Beine zu kommen. Hank bückte sich und zog seinen Vater brutal an den Haaren hoch. »Jetzt hör mir genau zu. Ich reite dorthin und versuche, George wieder freizubekommen. Und«, er schüttelte Hamp an den Haaren hin und her, »wenn ihm auch nur ein einziges Haar gekrümmt ist, lege ich dich um. Hast du das verstanden?« Hamp stierte ungläubig auf seinen Sohn. Er wollte etwas erwidern, aber bevor er noch den Mund geöffnet hatte, traf ihn ein Schlag genau gegen die Schläfe. Wie vom Blitz getroffen, fiel er um. Hank blieb stehen, seine Brust hob und senkte sich unter den schnellen Atemzügen. Er sah hinunter auf den Vater, der über und über verdreckt, stinkend, mit dem Gesicht im Schlamm lag. Einen Moment fiel seine Rechte schwer auf den abgegriffenen Griff des Colts. Aber er entschied sich anders. Mit schnellen, bestimmten Schritten durchmaß er den Hof und verschwand im Stall. Kurz darauf erschien er wieder. Er zog ein Pferd hinter sich her. Nachdem er den Sattelgurt festgezurrt hatte, trat er zu seiner Mutter ins Zimmer. »Wohin reitest du, Hank?« fragte sie. Er sah hinunter auf seine Mutter. Die Frau lächelte ihn schwach an. Sie wußte auch ohne seine Antwort, daß er seinen Bruder suchen würde. »Du bist ein guter Kerl«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Brauchst du Geld?« Er sah sie erstaunt an. »Hast du denn welches?« Sie erhob sich. Hank stützte seine Mutter. Sie ging zu der Seitenwand und schob ihre Hand unter ein lose befestigtes Brett. »Hier. Das ist alles, was ich habe. Dreißig Dollar, für den Notfall.« Sie sahen sich in die Augen. »Hast du Angst, mit ihm alleinzubleiben?« fragte Hank. Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann ihn mir vom Leib halten.« »Wenn George etwas zugestoßen ist, bringe ich ihn um«, sagte Hank. Sie antwortete nicht. Er ging mit steifen Bewegungen zur Tür. Seine breiten Schultern stießen beinahe an die Türfüllung.
Jenny hörte, wie er zu dem wartenden Pferd ging. Dann verhallten Hufschläge in der Nacht.
8. Es war kein Zuckerschlecken. Für keinen von uns. Ich zählte mich unterdessen auch schon zu den Deserteuren. Nach reiflicher Überlegung war ich zu der Ansicht gelangt, daß ich ganz schön im Schlamassel saß. Der rotschöpfige Sergeant traktierte mich nach Strich und Faden. Er ließ keine Gelegenheit verstreichen, mir zu erzählen, daß ich bald vor dem Kriegsgericht stehen und verurteilt werden würde. Ich solle meine letzten Stunden ruhig genießen. Ich antwortete gar nicht auf solchen Quatsch. Erschießen konnten sie mich nicht. Dafür gab es auch nicht den geringsten Grund. Vielleicht einsperren, weil ich nachts in das Zelt des Sergeants eingebrochen war, mehr nicht. Soviel Vertrauen besaß ich schon noch in die Gesetzgebung. Klar, auch Richter waren bestechlich, aber nicht in diesem Maße. Etwa drei Stunden später erreichten wir das Lager. Der Sergeant ritt an der Spitze. Mit stolzgeschwellter Brust saß er im Sattel. Dahinter folgten die Deserteure, dann ich. Sofort stürzten die drei Offiziere aus ihren Zelten. Ihre besorgten Mienen glätteten sich, als sie die Deserteure erkannten. Der Karottenkopf meldete sich pflichtgemäß beim dienstältesten Offizier, einem wohlbeleibten Captain. Die beiden tuschelten angeregt miteinander, wobei der Sergeant wiederholt auf mich zeigte. Ich schenkte ihm jedesmal ein nettes Lächeln, was den Captain sehr zu erstaunen schien. Aber dann wurde es ernst. Man trieb uns zu einer kleinen Gruppe von Bänken, etwas abseits der Zelte. Je sechs Soldaten bewachten die Seiten des von Bänken geformten Rechtecks. Unsere Pferde wurden unterdessen wieder an ihren alten Platz gebracht. So unauffällig wie möglich sah ich mich um. Aber weder am Waldrand, den ich über den Rand der Senke gerade noch sehen konnte, noch in näherer Entfernung war eine Spur Shitas zu entdecken. Der Captain tauchte wieder auf. Der Karottenkopf setzte sich
neben ihn und fixierte mich die ganze Zeit über. Ich fragte mich, was nun geschehen sollte. Das hohe Kriegsgericht tagte. Das Kriegsgericht bestand aus dem dicken Captain und dem Sergeant. Die anderen Offiziere waren nicht da. Mein Mut sank merklich. »George Weller!« Der Junge wurde zuerst aufgerufen. Er stand schüchtern auf. »Ja, Sir?« »Sie sind der Desertion beschuldigt. Haben Sie etwas dagegen einzuwenden?« Der dicke Captain kaute auf dem Bleistiftende herum. »Nein«, sagte George Weller leise. »Dann …« begann der Captain, aber ich unterbrach ihn. »Dieser Junge hat niemals zum Militär ge …« »Halten Sie Ihren Mund, bis ich Sie aufrufe, Mister«, sagte der Captain wütend und warf dem Sergeant einen vielsagenden Blick zu. »Aber …!« Ich war aufgesprungen, doch ein metallisches Knacken ließ mich zusammenfahren. Der Sergeant hatte seinen Colt gezogen. »George Weller, hiermit verurteile ich Sie wegen versuchter und begangener Desertion zum Tode.« Der Captain rief sofort den nächsten Mann auf. Um George Weller kümmerte er sich nicht mehr. Der Junge saß völlig verstört auf der Bank und stierte mit blinden, feuchten Augen vor sich auf den Boden. Ich hätte ihm gern etwas Nettes gesagt, aber der Colt, der auf mich gerichtet war, hinderte mich daran. »… zum Tode«, hörte ich gerade noch den Captain sagen. Er war unterdessen schon beim dritten Todesurteil. Und so ging es weiter. Einer nach dem anderen wurde aufgerufen und zum Tode verurteilt. Keiner wagte, dem dicken Offizier zu widersprechen. Alle saßen mit bleichen Gesichtern da und hörten zu, wie ein feister und arroganter Captain mit nichtsagender Stimme sich als ihr Richter aufspielte. Ich fragte mich, was der Captain mir wohl vorwerfen würde. Die Antwort erhielt ich schnell. »Ronco!« Er musterte mich über die Ränder seiner Nickelbrille hinweg.
»Nachname?« »Habe keinen.« »Aha«, sagte er befriedigt, als hätte sich damit schon alles entschieden. Er überlegte wieder. Stille senkte sich über die kleine Menschengruppe. Nach einer Schweigeminute raunte der Karottenkopf dem Captain etwas ins Ohr. Daraufhin rückte dieser seine Brille zurecht und hüstelte. »Sie werden beschuldigt, diesen Deserteuren geholfen zu haben. Das ist Landesverrat. Haben Sie dazu etwas zu sagen?« »Ja. Ich bin Zivilist und verlange, vor ein Zivilgericht gestellt zu werden. Sie haben über mich keine Gesetzesgewalt,« Der Karottenkopf grinste höhnisch. Also hatte er mit dieser Ausrede gerechnet. »Das Land hier steht unter Kriegsrecht«, schnarrte der Captain. »Demzufolge kann ich über jeden Zivilisten verfügen, selbst über den Papst persönlich.« Ich glaube, in diesem Moment sah ich nicht gerade sehr glücklich aus. An das verdammte Kriegsgericht hatte ich nicht gedacht. »Sie werden vom hohen Gericht als Deserteur betrachtet. Damit gilt für Sie das gleiche Urteil wie für alle anderen: Tod durch Erschießen.« »Wann wird das Urteil vollstreckt?« fragte ich. »Heute abend«, erwiderte der Captain. »Nach dem Essen tritt das Exekutionskommando zusammen.« Ein Kloß versperrte plötzlich den Hals. Undeutlich sah ich, wie der Sergeant grinste und dem Captain untertänigst zunickte. Dann standen beide auf und entfernten sich. Zum Glück beschäftigte sich kaum jemand mit mir. Die meisten Deserteure hatten genug mit sich selbst zu tun. Aber nach wenigen Sekunden verflog meine Angst. Ich sagte mir, daß ich ja doch irgendwann sterben mußte. Und der Tod durch Erschießen war noch besser und gnädiger als viele andere Todesarten. Natürlich beruhigten mich diese Überlegungen keineswegs. Aber dennoch, ich hielt mich besser als alle anderen. Ich sah mich um.
Einige Männer weinten. Es sah sogar beinahe lustig aus – eine Gruppe erwachsener Männer, alle mit rotgeweinten Augen und zuckenden Schultern. Aber mein Sinn für Humor hatte unter dem Urteil leicht gelitten. Das Grinsen fiel mir doch schwer. Ich sah im Geist schon in die Mündungen der Gewehre. Es war kein schönes Gefühl, zu wissen, daß man nur noch wenige Stunden zu leben hat. Ich dachte an den Karottenkopf. Ob es sich nicht lohnte, ihn mit in die ewigen Jagdgründe zu nehmen? Es juckte mich ganz gehörig in den Fingern. Keine schlechte Idee. Bevor einer der Wachen noch das Gewehr gehoben hätte, würde ich dem verlogenen, heimtückischem Sergeant schon an der Gurgel hängen. Außerdem hatte ich noch mein Messer im Stiefelschaft. Aber ich verwarf diese Idee. Was hatte es für einen Sinn, mir jetzt noch die Finger zu beschmutzen. Wenn man wenigstens den Wanderpriestern und Missionaren hätte Glauben schenken können, die immer behaupteten, es gäbe ein Paradies und eine Hölle. Dann hätte der Karottenkopf sicher bis zum Letzten Gericht in der Hölle geschmort. Aber ich traute der Sache nicht über den Weg. Also ließ ich es bleiben. Wir saßen schon eine ganze Weile herum und bliesen Trübsal, als ich den dicken Captain kommen sah. Der Sergeant folgte ihm. Ein Stöhnen der Deserteure erklang. Wahrscheinlich dachten sie, daß es nun soweit sei. Ich lächelte dem Captain entgegen. Sollte er wenigstens wissen, daß ich mir vor Angst nicht in die Hosen machte. Den Gefallen tat ich ihm nicht. Er setzte sich an seinen alten Platz. Dann faltete er seine dicken, fleischigen Finger und sah uns alle der Reihe nach an. »Angst?« fragte er mit gestelltem Verständnis in der Stimme. »Schicken Sie doch die Wachen weg. Dann wollen wir mal sehen, wer hier Angst hat.« Ich grinste ihn frech an. Trotz ihrer Angst mußten einige Deserteure lachen. Der Captain zog sich mit einem Ruck die Brille von der Nase. »Sie sind nicht gefragt. Also schweigen Sie!« »Wenn Sie hier eine Predigt schwingen wollen, dann schicken Sie gefälligst den zuständigen Priester her. Gott gehört nicht in Ihren
Bereich. Oder gilt der Kriegszustand auch im Himmel?« fragte ich. Nun erwachte auch der letzte Deserteur aus seiner Lethargie. Sie grinsten und tuschelten miteinander. Ich glaube, für eine Gruppe von Todgeweihten waren wir ziemlich lustig. »Halten Sie Ihren Mund oder ich …« Der Captain starrte mich wütend an. »Oder was?« fragte ich. »Was können Sie einem zum Tode verurteilten Mann noch androhen? Daß Sie ihm später keine Blümchen aufs Grab stellen?« »Halten Sie die Schnauze, oder ich lasse Sie alle augenblicklich erschießen!« brüllte der Captain. Sofort verstummte das Gelächter um mich herum. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich wieder in der Gewalt hatte. Er setzte sich seine Brille auf. »Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu unterbreiten.« Keiner von uns sagte ein Wort. Was sollte das nun wieder bedeuten? »Sie können Ihren Hals retten.« Er musterte uns, als wolle er die Wirkung seiner Worte beobachten. »Wie?« fragte der ehemalige Ordonnanz-Sergeant. Ich bemerkte, daß man ihm die drei Winkel und den fünfzackigen Stern noch nicht abgenommen hatte. »Die Todesstrafe wird Ihnen erlassen, falls Sie sich bereit erklären, in einer Strafkompanie zu dienen.« Er grinste. »Viel bessere Chancen haben Sie dabei nicht, aber Sie leben auf jeden Fall länger. Alles, was ich von Ihnen brauche, ist Ihre Unterschrift.« »Was geschieht in einer Strafkompanie?« fragte der OrdonnanzSergeant. »Das werden Sie noch früh genug erfahren«, erwiderte der Captain. »Wer unterschreiben will, tritt bei der Aufrufung seines Namens zu mir an den Tisch. Ich lasse Ihnen noch eine Minute Bedenkzeit. Dann müssen Sie sich entschieden haben.« Ich schätze, wir alle dachten in dieser Minute an die Erschießung vom Vortag. Auch mir saß noch ein leichtes Gruseln im Nacken. Der Captain rief uns der Reihe nach auf. Und alle von uns unterschrieben.
Der Captain faltete den Zettel mit den Unterschriften zufrieden zusammen und erhob sich. »Sie werden bald genauere Befehle entgegennehmen«, sagte er und entfernte sich mit dem Sergeant. Natürlich erhob sich nun eine angeregte Diskussion. Die alten Hasen unter den Deserteuren gaben sich keinen Hoffnungen hin. »Das bedeutet nur, daß wir zu irgendeinem Himmelsfahrtkommando eingesetzt werden«, sagte einer von ihnen. »Kanonenfutter. Wir hätten uns ebensogut auch jetzt erschießen lassen können«, erklärte ein anderer. »Vielleicht haben wir noch eine Chance, das Lager zu überleben?« überlegte der Ordonnanz-Sergeant. »Das Lager schon, dort werden wir nur ausgebildet«, sagte der erste Sprecher. »Sterben werden wir. Früher oder später.« Schöne Aussichten, dachte ich. Aber jetzt war ich sicher, daß ich lebend diese Sache überstehen würde. Ich hatte den Deserteuren gegenüber einen großen Vorteil: Mein ganzes Leben lang hatte ich nie Befehle entgegengenommen, sondern war auf mich selbst gestellt gewesen. Dennoch gab ich mich keinen Illusionen hin. Bis zur Freiheit war es noch ein langer Weg. Ich sollte mich nicht täuschen.
9. Es war später Nachmittag. Die Sonne brannte heiß auf die feuchte Erde. Mückenschwärme tanzten über den ausgepumpten Männern und Pferden. Kein Lüftchen wehte. Die Blätter der Trauerweiden und zernarbten Posteichen bewegten sich nicht. Drückende Schwüle ließ jede Bewegung zur Qual werden. Schweißgeruch lockte Schmeißfliegen und Bremsen an. Der Boden schluckte fast jedes Geräusch. Zwischen den Gräsern schimmerte es feucht, bei jedem Schritt oder Huftritt schmatzte es leise, und Brackwasser trat in den hinterbleibenden Abdruck in der Erde.
Sumpfzypressen säumten bald den Weg ein. Zwischen den dicken, verfilzten Stämmen wuchsen Mangroven, die ihre matt glänzenden Blätter teilweise mehrere Yards in die Höhe streckten. Alles war mit Greisenbart überwuchert. Einige von uns waren grün im Gesicht. Der breite, grobgezimmerte Wagen, auf dem wir nun seit vierzehn Stunden saßen, hatte nicht die geringste Federung. Er schaukelte und schüttelte uns durcheinander, vollführte unvorhersehbare Sätze und Sprünge, begleitet von lautem Quietschen, und drohte jede Sekunde auseinanderzubrechen. Das schlimmste war, daß man uns aneinandergefesselt hatte. Eine dicke Eisenkette führte an jeder Bank vorbei. Um jedes Handgelenk hatte man uns ein eisernes Armband gelegt, das an der Kette befestigt war. Deshalb konnten wir uns kaum bewegen und wurden gegeneinander gestoßen, ohne uns festhalten zu können. Vierzehn Stunden war es nun her, daß man uns unsanft aus dem Schlaf gerissen und auf den Wagen geschafft hatte. Seit vierzehn Stunden hatten wir nur zweimal eine kurze Rast eingelegt, um die Pferde vor dem Wagen auszuwechseln. Aber dies hatte jeweils kaum zehn Minuten in Anspruch genommen. Eine positive Überraschung hatte ich mit Freuden bemerkt: Man hatte meinen Braunen mitgenommen. Beim zweiten Pferdewechsel wurde er vorgespannt. Mit einigen Schwierigkeiten, versteht sich. Schließlich war mein Pferd nicht gewöhnt, wie ein normales Zugtier eingesetzt zu werden. Die beiden Soldaten hatten alle Hände voll zu tun, um ihn einzuschirren. Ich sah ihnen mit Vergnügen zu. Aber nun, einige Stunden später, ließ mein Vergnügen merklich nach. Der Landschaft nach zu urteilen, mußten wir uns dem Missouri nähern. Und immer schwerer wurde es, den Weg zu finden. Die Sumpfzypressen verhinderten jegliche Orientierung. Immer öfter passierten wir Sümpfe und Moraste, in denen ein Ortskundiger sich zwar noch auskennen mochte, ein Fremder hingegen unweigerlich umkommen mußte. Ich dachte an Flucht. Sollte ich es schaffen, aus diesem Lager zu entwischen, war ich noch lange nicht in Freiheit. Zunächst mußte ich mir einen Weg durch die Sümpfe bahnen, und ich hatte darin keine
große Erfahrung. Aber ich schob diese Gedanken beiseite. Noch war es nicht soweit. Zunächst wollte ich mich genauer in diesem Lager umsehen. »Kennst du das Lager?« fragte ich den Ordonnanz-Sergeant. Er saß rechts neben mir. »Keine Spur. Noch nie davon gehört. Aber der Lage nach zu urteilen, liegt es am Arsch der Welt.« Das entsprach allerdings der Wahrheit. Ich hatte selten eine so bedrückende Landschaft gesehen. Selbst die Badlands waren ein Vergnügungspark dagegen. Wir schwiegen wieder. Jeder von uns sah dem Ausbildungslager nicht gerade fröhlich entgegen. Wir sollten auch nicht enttäuscht werden. Keine halbe Stunde später erreichten wir das Lager. Eigentlich war es ein kleines Fort, versteckt zwischen riesigen Zypressen und Eschen, mit hohen Palisaden, über die drei Kanonenrohre herausschauten. Es waren schwere 32-Pfünder. Später erfuhr ich, daß sie zur Verteidigung des Missouriausläufers dienten. Hinter den Palisaden sah ich einige Männer stehen. Ein Befehl wurde gerufen, dann öffnete sich das Tor. Wir fuhren hinein. Ich kam mir ziemlich blöd vor, mitten unter den anderen Deserteuren auf einem Wagen, gefesselt und ohne meinen Colt. Die Besatzung des Forts trug nicht die übliche Uniform. Die meisten Männer hatten normale, zivile Kleidung. Nur von den Unteroffizieren an aufwärts trugen sie Uniformen. Die Männer wirkten rauh und hart, zweifellos waren wir nicht die ersten, die hier geschlaucht wurden. Sie betrachteten uns grinsend. Ich sah, wie einer der Wachmannschaft einen dicken Strahl Tabaksaft ausspuckte und seinen Nebenmann in die Rippen stieß. »Die kriegen wir schnell klein«, hörte ich ihn sagen. Rauhes Gelächter folgte seinen Worten. Diese Bemerkung sagte mir so ziemlich alles über die Sitten hier im Fort. Außerdem entdeckte ich gerade eine Gruppe von sechs Männern, die quer über den Exerzierplatz hetzten. Alle drei Schritte hielten sie plötzlich inne und warfen sich flach auf den Bauch. Dann
folgten Purzelbäume, Rollen und auf einen Befehl hin sprangen alle wieder auf und liefen weiter, bis sie sich wieder hinwerfen mußten. An der Ostseite des Exerzierplatzes stand ein Sergeant, den schwarzen Filzhut tief ins Gesicht gezogen, die Arme auf dem Rücken verschränkt. Neben ihm vier Soldaten, in verschlissenen Leinenhosen, rittlings auf Holzstühlen. Sie spielten Karten. Auf einem Faß lagen ihre Revolver. Der Sergeant brüllte die Befehle, die sechs Männer hasteten über den Platz, wälzten sich im Staub, kletterten über hölzerne Barrikaden. Einer von ihnen blieb an den spitzen Pfählen hängen. Sofort nahm einer der Soldaten seinen Colt und jagte drei Kugeln knapp unter die Füße des Zurückgebliebenen. In Todesangst riß sich dieser los und taumelte hinter den anderen fünf Männern her. Der Soldat legte seinen Colt wieder auf das Faß und nahm seine Karten auf. Aber ich sah noch mehr. Zum Beispiel, daß es sehr schwer sein mußte, von hier zu fliehen. Hinter den Barrikaden patrouillierten schwerbewaffnete Soldaten. Zudem gab es nur zwei Treppen, die auf den breiten Rundgang führten. Und beide waren bewacht. Die Westseite war wahrscheinlich die einzige Chance, von hier abzuhauen. Dort waren die Palisaden niedriger, schlechter bewacht und vielleicht gab es eine Möglichkeit, ohne Treppe auf den Rundgang zu gelangen. Ein Captain trat aus der Kommandatur, verschwand in der Offiziersmesse und kam mit einem Major wieder heraus. Sie gingen auf uns zu. Unser Lieutenant begegnete ihnen auf halbem Weg. Die drei Männer sprachen kurz miteinander, dann löste sich der Captain aus der Gruppe und ging zum Regimentsadjutant. Kurz darauf wurden frische Pferde aus dem Stall geholt, die alten abgeschirrt und weggebracht. Offensichtlich hatte unsere Begleitmannschaft keine Lust, länger als notwendig hier im Fort zu bleiben. Ich konnte es verstehen. Und so war es auch. Keine zehn Minuten später schwang das Tor auf, und die zehn Soldaten sowie der Lieutenant verschwanden mit dem leeren Wagen.
Von allen Seiten tauchten nun Soldaten auf. Alle trugen die U.S. Rifle Musket, ein neues und wirkungsvolles Gewehr, das noch kein Jahr auf dem Markt war. Ich wunderte mich, daß die Soldaten hier so gut ausgerüstet waren. Aber es war ein harter, wilder Haufen. Der Major mußte Schwierigkeiten haben, sie alle unter Kontrolle zu halten. Hier in der Wildnis galten nicht mehr die gleichen Gesetze wie in den Forts der etwas zivilisierteren Gebiete. Der Major selbst stand seinen Männern an Wildheit in nichts nach. Er war groß, mit breiten Schultern und einem vernarbten Gesicht, in dem ein blonder Schnurrbart wucherte, die Enden sorgfältig gezwirbelt. Er trug hellbraune Kordhosen, über deren hohem Bund ein breiter Gürtel mit Silberschnalle geschnallt war. Hohe, breitschaftige Stiefel aus grauem Leder, eine graue Jacke mit gelben Aufschlägen und darunter eine Weste vervollständigten das Bild. Er stellte sich vor uns hin und sah uns der Reihe nach an. »Männer«, begann er mit tiefer Stimme, »ich habe die Ehre, Sie im Fort zu begrüßen. Auch, wenn die Freude Ihnen nicht gerade ins Gesicht geschrieben steht.« Er lächelte hart. »Ich möchte Ihnen nun einige wichtige Regeln bekanntgeben, die Sie auf jeden Fall zu befolgen haben: Zunächst gilt, daß Sie jedem Soldaten hier, auch dem rangniedrigsten, absolut zu gehorchen haben. Ihre ehemaligen Ränge gelten hier nichts. Zweitens sollen Sie wissen, daß Sie hier nicht zu Ihrem Vergnügen sind. Sie haben die einmalige Chance erhalten, Ihr Vergehen zu büßen. Daß es kein Zuckerschlecken wird, ist Ihnen sicher klar. Sie werden hier bei uns eine besondere Ausbildung erhalten. Wenn Sie das Fort wieder verlassen, sind Sie eine Art Elitetruppe, speziell darauf trainiert, bei Sturmangriffen in vorderster Front zu kämpfen. Und als dritten Punkt erwähne ich noch, daß jeder, der während der Ausbildung schlappmacht oder einen Fluchtversuch unternimmt, ohne Anruf erschossen wird. Also versuchen Sie es erst gar nicht. Es wäre Ihr Todesurteil!« Er tippte an die Hutkrempe und verschwand wieder in der Offiziersmesse. Wir mußten noch einige Minuten stillstehen, bis man uns in einer Baracke unterbrachte. Wenigstens wurden wir dort nicht angekettet. Das war der einzig positive Punkt in diesem ganzen Fort.
»In vorderster Front. Chance. Daß ich nicht lache!« Der ehemalige Ordonnanz-Sergeant lag auf dem Nachbarbett und starrte an die Decke. Ich antwortete nicht. Es war mir so klar wie allen anderen hier im Raum, daß wir unseren Tod nur um einige Tage verzögert hatten. Daß niemand, der bei einem Sturmangriff in der ersten Reihe lief, mit dem Leben davonkam, wußten wir alle. Ich stand auf und trat an das Fenster hinter meinem Bett. Es war klein und vergittert. Alle anderen auch. Trotzdem fing ich schon an, den Exerzierplatz zu beobachten. Ich wollte feststellen, wann die Wachwechsel stattfinden, ob Inspektionsgänge erfolgten, wie viele Posten den Rundgang bewachten. Es war schwer, von meinem Standpunkt aus alles sehen zu können. Ich bemühte mich, dabei nicht aufzufallen. Nach einer halben Stunde legte ich mich auf mein Bett. Meine Laune hatte sich merklich verschlechtert. Eins stand fest: Wer lebend diese Geschichte überstand, hatte einen Schutzengel. Und zwar einen überlebensgroßen Schutzengel. Meine Chancen standen tausend zu eins.
10. Hank Weller sah in einiger Entfernung Rauch aufsteigen. Seltsam, dachte er, daß ich es vorher nicht gesehen habe. Er saß nun schon seit einer halben Stunde auf einem morschen Baumstrunk und ruhte sich aus. Er hatte keinen Tabak mehr, seine letzte Zigarette war längst geraucht. Er versuchte die Entfernung zu schätzen. Eine Meile, zwei höchstens. Also konnte er in einer halben Stunde da sein. Hoffentlich war es das Camp. Er stand auf und wischte sich mit dem Halstuch den Schweiß aus dem Gesicht. Dann bückte er sich und hob seinen Sattel auf. Schwungvoll warf er ihn über die Schulter, griff nach seinem Gewehr und ging los. Seit dem frühen Morgen war er nun unterwegs. Sein Pferd hatte sich in einem Kaninchenbau den Knöchel gebrochen, knapp vier
Meilen hinter der Ranch seines Vaters. Er hatte es erschießen müssen. Und nun lief er sich die Hacken schief. In der drückenden Hitze war jede Bewegung eine Qual. Er schwitzte unter seinem Sattel und hätte ihn am liebsten weggeworfen. Aber ein Sattel war in diesen Tagen viel wert, fast ebensoviel wie ein Pferd. Also schleppte er ihn mit. Der Gedanke an seinen Bruder George trieb ihn vorwärts. Hank Weller hatte sich geschworen, nicht eher aufzugeben, bis er seinen Bruder wieder aus den Klauen der Union gerissen hatte. Und wenn es Waffengewalt erforderte. Wie er errechnet hatte, erreichte er nach einer guten halben Stunde das Camp. Gerade waren dort einige Soldaten damit beschäftigt, die leeren Eßgeschirre zu spülen. Aus der Asche zwei verglühender Feuer stiegen noch kleine Rauchwölkchen auf. Ein Trupp Soldaten unter Führung eines Lieutenants ritt an ihm vorbei. Staub wirbelte auf, und er wäre beinahe unter die Hufe eines der Pferde geraten. Gerade noch konnte er sich durch einen schnellen Sprung retten. Als die Reiter verschwunden waren, ging Hank Weller hinunter in die Senke. Er ließ sich auf eine der Holzbänke fallen und legte seinen Sattel neben sich. Dabei suchte er Georges Gesicht unter den Soldaten, die in Gruppen vorbeiliefen. Als er sich einigermaßen ausgeruht hatte, stand er auf. Mit einer fahrigen Bewegung strich er sich die Haare aus der Stirn und ging auf die Zelte zu. Er erkannte das Offizierszelt und schlug die Plane zurück. Ein dicklicher Captain lag auf einem Feldbett und rauchte eine Zigarette. Er hatte Hemd und Hose offen. »Was wollen Sie?« fragte er ärgerlich. »Können Sie nicht anklopfen?« »Das ist bei einem Zelt etwas schwierig«, erwiderte Hank grinsend. Dann aber wurde er schnell ernst. »Ich suche meinen Bruder. Er muß hier vor zwei Tagen rekrutiert worden sein.« »Was wollen Sie von ihm?« Der Captain setzte sich auf und knöpfte seine Hose zu. Dabei klemmte er seine Zigarre zwischen die Zähne.
»Ich will ihn freikaufen.« Hank Weller sah das plötzliche Stirnrunzeln des Captains und beeilte sich zu sagen: »Er ist nicht freiwillig zu Ihnen gekommen. Wissen Sie, mein Vater aß mit ihm hier, und als dann ein Werbe-Sergeant erschien, so nehme ich es jedenfalls an, da hat mein betrunkener Vater einfach im Namen meines Bruders unterschrieben. Mit dem Geld hat er sich Schnaps gekauft.« »Und warum sollte Ihr Bruder nicht in der Armee bleiben?« fragte der Captain. »Er ist viel zu schwach für die Aufgaben eines Soldaten. Er war lange krank und kippt bei der geringsten Beanspruchung um. Ein solcher Mann ist doch keine Bereicherung für die Armee!« Der Captain grinste still vor sich hin. Er ging zum Eingang und trat hinaus in die Sonne. Hank folgte ihm. »Wie heißt denn Ihr Bruder?« »George Weller.« Wenn der Captain überrascht war, so zeigte er es nicht. Er tat, als habe er den Namen noch nie gehört. »Sehen wir doch einfach in den Listen nach«, schlug er vor. Sie gingen zusammen zu einem Zelt. Der Captain schlug die Plane zurück. Ein Mann saß hinter einem Schreibtisch. Er sah auf. »Gib mir die Stammrolle des Soldaten George Weller«, befahl der Captain. Hank Weller sah zu, wie der Mann am Schreibtisch in einem dicken, aus einzelnen Blättern bestehenden Buch blätterte. »Hier Sir.« Der Soldat reichte dem Captain einen Zettel. Hank Weller wollte sich vorbeugen, aber der Captain drehte ihm den Rücken zu. »Gibt es eine Möglichkeit, ihn zurückzuholen?«, fragte Hank Weller, als der Captain das Papier gelesen hatte. »Nein.« Der dicke Captain nahm seine Zigarette aus dem Mund. Sie war fast bis zur Hälfte aufgeweicht. »Was heißt das?« fragte Hank. »Es ist also völlig unmöglich? Kann man denn nicht Milde walten lassen? George ist noch so jung. Er wird nächsten Monat erst siebzehn Jahre alt und …« »Ihr Bruder wird nie das siebzehnte Altersjahr erreichen. Er ist
tot«, sagte der Captain. »Es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen.« Hank starrte ihn ungläubig an. Bevor er noch Worte finden konnte, sagte der Captain: »In den nächsten Tagen wäre auch Ihre Familie benachrichtigt worden. George Weller ist bei einem Angriff gefallen. Wo man seine Leiche begraben hat, weiß ich leider nicht.« Der Captain hatte mit völlig gleichgültiger Stimme gesprochen, er hätte sich genausogut über Radieschen unterhalten können. Langsam begriff Hank die Bedeutung dieser Nachricht. Er war völlig vor den Kopf geschlagen. Der Captain steckte die Zigarre wieder in den Mund und wollte an ihm vorbei. »Ich habe zu tun«, murmelte er leise. »Entschuldigen Sie bitte.« »Einen Moment!« Hank hielt den dicken Mann am Arm fest. »Was gibt es noch?« »Hören Sie mir mal zu, Captain: Mein Bruder ist seit knapp zwei Tagen in diesem Lager. Er weiß nicht mal, wie man ein Gewehr in die Hand nimmt, geschweige denn, wie man damit schießt. Er war ein Rekrut, kein Soldat, der bei Angriffen kämpfen muß. Wie kommt es also, daß er gefallen ist?« »Jeder Mann, der in einer Uniform steckt, muß bei einem Angriff zu den Waffen. Wie es sich bei Ihrem Bruder zugetragen hat, weiß ich nicht. Würden Sie mich bitte entschuldigen!« Er blitzte Hank mit wütenden Augen an und wollte sich losreißen. Doch Hank ließ nicht locker. »Er war doch gar nicht lange genug bei euch. Da stimmt doch etwas nicht!« Er brüllte nun fast. Der Captain spuckte wütend seinen Zigarrenstummel aus. »Ich muß gehen. Wenn Sie mir nicht glauben, dann suchen Sie doch nach seinem Grab. Aber lassen Sie mich endlich in Ruhe!« Damit verschwand er eilig zwischen den Zelten. Hank sah ihm mit zusammengekniffenen Augen nach. Irgend etwas stimmte hier nicht. Er wandte sich an den Mann hinter dem Schreibtisch. »Kann ich die Stammrolle sehen?« »Es ist leider nicht erlaubt, Zivilpersonen Einblick in militärische Dokumente zu gewähren«, schnarrte dieser. »Stehaufmännchen!« sagte Hank wütend und ging wieder hinaus.
Was sollte er jetzt unternehmen. Sollte er den Worten des Captains Glauben schenken oder nicht? Eine Stimme sagte ihm, daß George noch nicht tot sein konnte. Und der Captain hatte auch ziemlich nervös gewirkt. Was wurde hier gespielt? Hank Weller hatte keine große Erfahrung mit der Armee. Alles was er wußte, stammte aus den Erzählungen der Farmer, in deren Augen die Armee natürlich reichlich schlecht abschnitt. Sollten sie vielleicht recht haben? Er ging zurück zu der Holzbank, auf der sein Sattel lag. Er setzte sich hin und suchte nach Tabak. Als ihm einfiel, daß er keinen mehr hatte, beugte er sich hinüber zu einer Gruppe von drei Soldaten, die gerade Karten spielten. »Könnt ihr mir vielleicht eine Zigarette geben?« Ohne den Blick von seinen Karten zu nehmen, griff einer der Männer in sein Käppi, das auf der Bank lag. Er warf Hank eine Zigarette zu. »Danke.« Hank zündete sie an und sog genüßlich den Rauch ein. Er wartete geduldig, bis die Männer ihre Partie gespielt hatten, dann rückte er näher. »Könnt ihr mir helfen?« fragte er. Als die Soldaten ihn fragend ansahen, sagte er: »Ich suche meinen Bruder. Er ist vor zwei Tagen hier in das Camp gekommen und rekrutiert worden. Er heißt George Weller.« Die Männer überlegten und schüttelten dann die Köpfe. »Nie gehört«, sagte einer. »Wie sah er denn aus?« fragte der Soldat, der Hank die Zigarette gegeben hatte. »Etwas über fünf Fuß groß, sehr mager, blaß, mit dunkelblonden, mittellangen Haaren. Nervös, ängstlich und wahrscheinlich auch bedrückt.« »Warum fragst du nicht den Captain? Der kennt jeden Neuen!« Hank zwinkerte mit dem Auge. »Der Kerl war so geladen, daß ich lieber wieder abgehauen bin.« Die Soldaten dachten nach. Zwei von ihnen schüttelten verneinend den Kopf, der dritte musterte Hank durch den Rauch seiner Zigarette. »Vielleicht weiß ich, wo dein Bruderherz ist. Aber ich bin mir
nicht sicher.« »Sprich. Ich bin für jeden Hinweis dankbar.« »Gestern nacht ist ein Wagen mit einer Handvoll Männer losgefahren. Es war sehr spät, und ich war gerade auf dem Weg zur Latrine. Einer der Burschen könnte dein Bruder gewesen sein.« »Weißt du, wohin der Wagen fuhr?« »Tut mir leid. Mehr kann ich nicht für dich tun.« Hank bedankte sich und schritt hinüber zu den Pferden. Als er sich einmal umdrehte, sah er den Captain zwischen den Zelten stehen und ihm nachsehen. Als er sich ertappt fühlte, drehte er sich schnell um und verschwand. Hank sprach mit einem Sergeant und erhielt eins der Pferde für neun Dollar. Es war nicht mehr das beste, aber er konnte nicht mehr Geld springen lassen. Seine Gedanken kreisten um den Wagen, den der Soldat hatte abfahren sehen. Was hatte sein Bruder dort zu suchen? Konnte er heute schon tot und begraben sein, wenn er noch in der Nacht auf einem Wagen saß und irgendwohin gefahren wurde? Wie war es möglich, daß die Todesmeldung so schnell in die Stammrolle eingetragen werden konnte? So schnell funktionierte der Schriftverkehr bei der Armee doch bestimmt nicht! Alles Fragen, auf die er im Moment keine Antwort, wußte. Seine letzte und einzige Hoffnung hing nun an diesem Wagen. Er mußte ihn finden. »Was meinen Sie?« fragte plötzlich eine Stimme vor ihm. Er erwachte aus seinen Gedanken. Der Sergeant sah ihn neugierig an. »Nichts. Ich habe nur laut gedacht«, entschuldigte er sich. Der Sergeant sah dem großgewachsenen Mann nach, der sich auf das Pferd gezogen hatte und langsam in Richtung Norden aus der Senke ritt.
11. Der erste Tag war noch ein Vergnügen gegen das, was uns am nächsten Morgen erwartete. Schlimm war, daß hier im Fort nicht die strenge militärische Reglementierung eingehalten wurde. Es konnte
passieren, daß wir eine halbe Stunde von einem Lieutenant geschliffen wurden, dieser dann in der Offiziersmesse verschwand und als Ersatz einen einfachen Soldaten schickte. Und meistens die waren es, die uns bis zum Umfallen herum jagten. Gerade jetzt war dieser Fall wieder eingetreten. Ein Soldat hatte den Platz des Lieutenants eingenommen. Es war ein alter Haudegen, aber nicht von der gemütlichen Sorte. Knallhart wurden wir herumgeschlaucht. Der Soldat stand auf sein Gewehr gestützt, den Colt lässig in der Rechten. Jeder von uns, der ihm zu langsam lief, erhielt eine Kugel hinter die Fersen. Deshalb bemühte sich auch jeder, immer mitten in der Gruppe zu bleiben. Die Drohung, jeden, der unterwegs liegenblieb, erschießen zu lassen, dröhnte uns in den Ohren. Ich hatte keine Schwierigkeiten. Jahrelang hatte ich eine indianische Erziehung genossen. Und ich mußte den roten Brüdern eingestehen, daß diese Erziehung der idiotischen Schleiferei der Weißen haushoch überlegen war. Während ich noch frisch und ausgeruht über den Exerzierplatz trabte, hatten die meisten Männer bereits Schwierigkeiten. Allen voran Georg Weller. Er atmete falsch und fand nie den energiesparenden Rhythmus. Bald fiel er zurück, von den Kugeln des Soldaten wieder aufgescheucht. Ich half ihm. Es war nicht einfach, da der Soldat es nicht sehen durfte. Also faßte ich George unter dem Arm und blieb immer hinter der Deckung einiger anderer. Ich brachte es fertig, ihn fast dreißig Runden lang zu unterstützen. Der Soldat sah es nicht, da er sich mit den Zurückbleibenden beschäftigte. Der Ordonnanz-Sergeant lief mit hochrotem Gesicht immer neben mir. Er keuchte wie eine Dampfmaschine mit Überdruck. Als Ordonnanzler hatte er nie rennen müssen. Seine Arbeit hatte darin bestanden, den Offizieren ein angenehmes Leben zu bereiten. Er hielt die Arme angewinkelt und fluchte atemlos vor sich hin. Nach wenigen Runden ging ihm die Luft aus, also begnügte er sich damit, jede Runde einmal »Scheiße!« zu murmeln. Die letzten drei Runden sagte er nur noch »Mist!« Dazu brauchte er weniger Luft. »Stillstehen!« rief der Soldat. Wahrscheinlich war ihm schon ganz
schwindlig, uns immer im Kreis herumrennen zu sehen. Luftschnappend stellten wir uns in die angegebene Position. »Jetzt gibt's Essen!« sagte ein dicklicher Mann neben mir mit freudestrahlendem Gesicht. Er war schweißgebadet und offensichtlich froh, die Schwerarbeit hinter sich zu haben. »Ruhe!« brüllte der Soldat, griff neben sich auf einen kleinen Tisch und biß ein Stück Kautabak ab. Der Dicke verstummte. »Seht ihr die Holzmauer da hinten?« rief der Soldat und zeigte auf eine mannshohe Holzwand. »O nein!« stieß der Dicke leise aus. »Hundert Mal!« sagte der Soldat grinsend. »In Reihe aufstellen! Hopp, auf geht's!« Schnell kamen wir seinem Befehl nach. »Los! Hopp! Los! Hopp!« Er rief den Takt und wir rannten los, in Abständen von knapp vier Yards. Ich mogelte mich hinter George. Als er an der Mauer hängenblieb, stemmte ich mich gegen seinen Hintern und warf ihn hinüber. Dann zog ich mich selbst auf die andere Seite. Der Soldat hatte es zum Glück nicht gesehen. Aber ich wußte, daß George nach höchstens drei Runden auf der Strecke blieb. Eine Idee schoß durch meinen Kopf. Als wir zum zweitenmal die Mauer erklommen, sagte ich leise: »Bleib dahinter stehen!« Dann stieß ich ihn hinüber. George blieb in der Deckung hinter der Holzwand. Der Soldat konnte ihn nicht sehen. Wir liefen weiter. Nach neunundachtzig Runden erschien George wieder. Ich sah voller Angst, daß der Soldat ihn verwundert anstarrte. Aber George sah auch ohne diese Übung so geschafft aus, daß es durchaus glaubhaft wirkte. »Stillstehen!« Ich warf einen Blick auf, die Sonne. Es dürfte Mittag sein, Zeit zum Essen. Mein Magen knurrte. »Zehn Runden. Los, in Dreierreihen aufstellen!« Ich verkniff mir einen Fluch, der sogar diesen alten Haudegen hätte erblassen lassen und stellte mich sofort neben George. Aber
diesmal ging es besser. Er war nicht mehr am Ende seiner Kräfte. Dann endlich gab es Essen. Unterdessen war der Soldat von jedem von uns in Gedanken hundertmal ermordet worden. Er kümmerte sich nicht um unsere giftigen Blicke. Wir trabten zur Truppenkantine. Sie lag genau neben der Offiziersmesse. Auf der Veranda saß der Lieutenant, der uns nach zehn Minuten im Stich gelassen hatte. Er spielte Karten mit einem Captain und einem Ordonnanzler. Vor ihnen standen Getränke in gekühlten Behältern. Sie rauchten Zigarren und wischten sich den Schweiß mit Spitzentaschentüchern vom Gesicht. Ein Stöhnen entrang sich der Kehle des ehemaligen OrdonnanzSergeants. »So schön könnte ich es auch haben, wenn …« »Ruhe! Vorwärts!« Der Soldat ließ uns keine Ruhe. Wir trabten in die Kantine, ein flaches, quadratisches Holzgebäude mit kleinen Fenstern, durch die trübe das Licht fiel. Der Boden bestand aus festgetretenem Lehm, die Möbel waren aus blankgescheuertem Holz. In der Luft hing noch der Geruch von kaltem Essen und abgestandenem Rauch. Wir wurden an zwei Bänke neben den Eingang getrieben. Aber der Soldat ging noch nicht weg. Er sah uns erst noch einmal genau an, bevor er sich umdrehte und verschwand. Sofort schwirrten Stimmen durch den Saal. Jeder wollte dem anderen erzählen, was für eine Wut er auf den Soldaten hätte. Ich hörte nicht zu. Jemand legte mir eine Hand auf die Schulter. Es war George. »Danke, Ronco«, sagte er warm. »Schon gut.« Ich winkte ab. Aus einer Tür traten zwei Männer. Sie trugen vier Schüsseln, aus denen Dampf aufstieg. Ich hatte Hunger. Aber als ich die Suppe sah, verging mir beinahe der Appetit. Es war ein durchsichtiges Wässerchen, in dem drei winzige Fleischfasern schwammen. Ein einziges Fettauge deutete auf die Qualität dieser Suppe hin. Ich schnappte mir sofort den Löffel und angelte das Fettauge. Aber als ich an George dachte, gab ich ihm schnell meinen Teller. Er konnte es besser gebrauchen. Nachdem wir die Maden aus dem nachfolgenden Brot geklopft
hatten, knackten und knirschten wir im Chor. Mit einer Scheibe dieses Brotes konnte man jemandem den Kopf einschlagen, so hart war es. Aber wir hatten keine Zeit, uns über das miese Essen zu erregen. Erstens waren wir nach der Hetzjagd über den Exerzierplatz hungrig wie die Wölfe, und zweitens tauchte ein wohlbekanntes Gesicht in der Tür auf. Der Soldat. »O nein!« stöhnte der ehemalige Ordonnanz-Sergeant. »Los, auf! Hopp, hopp!« Wie sehr kannten wir diese Stimme schon! Ich begann, einen ziemlichen Haß auf den Kerl zu entwickeln. Aber ich hielt mich zurück. Wenn ich jemals aus diesem Fort verschwinden wollte, durfte ich nicht auffallen, auf gar keinen Fall. Wir wurden unter Gebrüll auf den Platz getrieben. Der Soldat stellte sich in seine alte Stellung, biß einen Riegel Kautabak ab und begann zu kauen. Dabei traktierte er uns mit Befehlen. Zunächst mußten wir über den Platz robben. Mit einem Tornister auf dem Rücken. Ich fragte mich, wozu das gut sein sollte. In dem Tornister befanden sich Steine. Mindestens fünfzehn Kilo. Und diese fünfzehn Kilo schleppten wir kreuz und quer über den Platz. Ich schaffte es, Georges Tornister zu öffnen und ihm drei Steine herauszunehmen. Als wir an der Holzmauer vorbeitrabten, schob ich sie dahinter, außer Sicht des Soldaten. Wenigstens für George war gesorgt. Aber ich hatte selbst genug zu tragen. Nach zwölf Überquerungen blieben wir liegen. Der Soldat tobte etwas herum und drohte mit Erschießung. Aber er konnte uns ja nicht alle erschießen lassen. Dann hätte die erste Sturmreihe beim nächsten Himmelfahrtskommando gefehlt. Aber wir konnten nur wenige Minuten ausruhen. Schon strömten Soldaten herbei, bis schließlich auf jeden von uns ein Mann kam. Wir wurden auf die Beine gezogen und weitergehetzt. Das nächste Kapitel hieß Kampftraining. Jeder von uns mußte mit dem Tornister auf dem Rücken gegen einen Soldaten antreten und versuchen, ihn auf den Rücken zu werfen. Vorher durfte man nicht aufhören. George schaffte es auf Anhieb. Der Soldat, der gegen ihn antrat,
hatte ihn unterschätzt. Auch hatte er nicht ahnen können, daß ich ihm ein Bein stellte. Er fiel um und George auf ihn drauf Glücklicherweise knallte dem Besiegten gleich auch noch der schwere und harte Tornister gegen den Schädel. So konnte er keinen Einspruch mehr erheben. Er verlor das Bewußtsein. »Sehr gut«, murmelte unser Sklavenführer, während George sich erhob. »Ich …«, begann er. »Du warst nicht schlecht«, unterbrach ich ihn sofort, bevor er noch den Sachverhalt klären konnte. Ich war als nächster dran. Ein großer, stämmiger Soldat mit einem langen Bart rieb sich grinsend die Hände. Er dachte, leichtes Spiel mit mir zu haben. Er zog sich seine Blaue Jacke aus und stand nun in einem rosa Unterhemd vor mir. Dabei ließ er seine Muskeln spielen. »Gib's dem Milchgesicht!« rief ein anderer Soldat. »Ich hau ihn in die Pfanne. Der merkt erst gar nicht, wie ihm geschieht!« prahlte mein Gegner. Er schlenkerte seine mächtigen Arme und ging gebückt auf mich zu. Ich ließ mich von dem schallenden Gelächter und den Spötteleien der Soldaten nicht stören. Er wollte mich mit einem einzigen Schlag in den Staub schicken. Aber da er so groß geprahlt hatte, wollte ich hingegen etwas länger kämpfen. Ich blieb stehen und sah ihm in die Augen. Er hielt erstaunt inne. »Kämpfe doch!« brüllte er. »Komm schon«, sagte ich kalt. Er versuchte es mit Geraden. Ich bewegte jedesmal nur den Kopf um wenige Zoll, und er schlug daneben. Kein einziger Schlag traf mich. Nach einer Weile sah er ein, daß er so nicht an mich herankam. Also wollte er Körpertreffer landen. Bevor er den ersten Schlag landen konnte, empfing er von mir zwei harte Ohrfeigen. Die erste mit der Innenhand, die zweite auf dem Rückweg mit der Außenhand. Es klatschte ganz schön, und auf seinen Wangen zeichneten sich meine Unterschriften ab. Mit einem Schrei stürzte er auf mich zu. Diese Blamage konnte er
nicht auf sich sitzen lassen. Aber er war viel zu langsam für mich. Ich trat zur Seite und ließ meinen Fuß stehen. Er raste an mir vorbei wie eine Lokomotive und landete unsanft im Staub. Jetzt hatte ich die Lacher auf meiner Seite. Aber nicht lange. Plötzlich blinzelte das Sonnenlicht auf einer Messerklinge. Er hatte es im Stiefelschaft gehabt. Während er sich aufrappelte, überlegte ich mir, ob ich auch mein Messer ziehen sollte. Bei meiner Gefangennahme hatte man es nicht entdeckt. Aber es war besser, ich ließ es stecken. Bei einem Ausbruch konnte es mir von Nutzen sein. Er stand jetzt vor mir. Das Gesicht war zorngerötet, er atmete laut und schnell. »Ich schlitze dich auf, Milchgesicht!« zischte er wütend. Er sah nur auf mein Gesicht. Das gab mir die Möglichkeit, unbemerkt einen Arm unter dem einen Tragriemen des Tornisters hervorzuziehen. Jetzt hing er nur noch an dem rechten Riemen. Der Soldat sprang los. Seine Klinge zuckte vor. In diesem Moment konnte man wirklich eine Stecknadel fallen hören, so still war es geworden. Ich wirbelte herum. Statt mich zur Seite zu werfen, blieb ich stehen, schwenkte aber die Schulter vor und der schwere Tornister prallte genau gegen das Messer und die Hand des Soldaten. Klirrend brach die Klinge ab, und der Soldat zog sich einen Schritt zurück. Ich warf den Tornister auf den Boden, grinste ihn an und spuckte in die Hände. »Fangen wir an«, sagte ich fröhlich. Ich wußte, daß er durch solche Bemerkungen unsicher wurde. Außerdem hatte er nun nur noch ein halbes Messer. Jetzt ging ich zum Angriff über. Zunächst schnellte meine Stiefelspitze gegen seine Messerhand. Die Klinge wirbelte durch die Luft. Er hatte keine Waffe mehr. Den ersten Schlag erhielt er auf die Nase. Als Reaktion stürmte er blind vorwärts und rannte in einen Haken, der ihn beinah aus den Stiefeln hob. Dann schlug ich mit beiden Handkanten gleichzeitig zu, eine rechts, die andere links gegen den Hals.
Er ging in die Knie und hielt sich an meinem rechten Bein fest. Ich schlug hart zu. Er hielt es genau fünf Sekunden aus. Dann lockerte sich sein Griff, und er kippte nach vorn aufs Gesicht. Die Soldaten standen betroffen herum, während den Deserteuren die Freude ins Gesicht geschrieben stand. Der Ordonnanzler schlug mir auf die Schultern. »Fabelhaft, Ronco, ganz große Klasse. Ich …« »Du da! Vortreten!« Der Soldat ließ ihn als nächsten kämpfen. »O nein!« stöhnte der Ordonnanzler. Während meine Mitgefangenen noch kämpften, rappelte sich der von mir verprügelte Soldat auf. Er hielt sich den schmerzenden Kopf. »Das wirst du noch büßen«, sagte er wütend und verzog sich. Ich wußte, daß ich mir einen Feind geschaffen hatte. Man mußte aufpassen. Ich hatte da schon einige böse Geschichten gehört. Aber wir hatten keine Ruhe an diesem Tag. Nach einer halben Stunde waren die Einzelkämpfe beendet. Dafür wurde wieder gelaufen, gerobbt und nochmals gelaufen. Später wurde es noch härter. Wir mußten unter aufgespannten Stacheldraht hindurch – mit dem Tornister. Der Stacheldraht war so niedrig, daß man nur sehr knapp darunter hindurchkam. Oft blieb man hängen oder verhedderte sich. Das wäre ja alles noch gegangen. Schlimm war, daß ein paar Soldaten mit einer Agar-Gun, auch unter dem Namen Kaffeemühle bekannt, dabei knapp über den Stacheldraht feuerten. Falls einer von uns seinen Kopf hob, wurde er unweigerlich getroffen. Und die meisten von uns hatten noch nie ein Maschinengewehr gesehen. Ich sah überall nur schweißüberströmte Gesichter und ängstlich aufgerissene Augen. Die nächste und letzte Übung bereitete mir sogar Spaß. Wir mußten reiten. Mit Sattel, ohne Sattel, über Hindernisse springen und uns auf den Boden fallen lassen. Natürlich stand unser Sklaventreiber plötzlich mit offenem Mund da und sah mir zu. Auch andere Soldaten traten an den Rand des Exerzierplatzes und bestaunten mich. Ich mußte sogar noch eine Art Ehrenrunde zulegen. Leider widersprach dies meinem Willen, unauffällig zu bleiben.
Nun hatte ich die Aufmerksamkeit ziemlich aller Soldaten im Fort geweckt. Andererseits durfte ich nach wenigen Runden meinen eigenen Braunen aus dem Stall holen. So erfuhr ich, wo der Stall lag, wie viele Wachen es gab und wie man am besten hineinkam, ohne gesehen zu werden. Langsam rückte die Dämmerung in diesen beinahe tropischen Urwald. Wir waren alle ziemlich geschafft und freuten uns auf unser Lager. Nach einem kargen Abendessen wollten wir uns schon erheben, als plötzlich die Tür aufgestoßen wurde und zwei Ordonnanzler auftauchten. Sie standen stramm, und dann erschien der Major, diesmal in Dunkelblau gekleidet. Er stellte sich vor unseren Bänken in Positur, reckte die Brust heraus und sagte: »Männer! Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, paß Sie schon bald zum Einsatz kommen.« Erstauntes Raunen im Saal. »Sie werden bereits nächste Woche kämpfen. In vorderster Front gegen die Rebellenfestung Sedalia.« Er ließ seinen stechenden Blick auf jedem von uns ruhen, drehte sich um und ging wieder hinaus. Die Ordonnanzler verschwanden hinter ihm und schlossen die Tür. Wir blieben allein zurück. Ein paar von uns vergruben die Köpfe in den Händen, andere brüllten sich erregt an, und ich saß still da und überlegte. Sedalia. Ich hatte schon von dieser Rebellenfestung gehört. Sie war so gut wie uneinnehmbar – oder nur mit Verlusten zu nehmen. Die Rebellen waren bestens ausgerüstet, hatten moderne Waffen aller Art und waren den Truppen der Nordstaaten schon lange ein Dorn im Auge. Das war alles schön und gut. Sollten sie die Festung stürmen, sich gegenseitig umlegen und die Köpfe einschlagen, aber ohne mich. Die Rebellenfestung ließ mich so kalt wie der Bauchnabel des Kaisers von China. Später lag ich in der Dunkelheit auf meinem Lager, hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und überlegte. »Ronco?« flüsterte eine leise Stimme neben mir. Es war der Ordonnanzler.
»Was gibt's?« Eine dunkle Gestalt wuchs neben mir auf, dann noch eine. Ich setzte mich auf. »Das ist Jeff. Ich heiße Pete. Wir möchten mit dir sprechen!« »Ich höre.« Pete, der Ordonnanzler, redete einige Minuten auf mich ein. Er flüsterte, damit keiner der anderen aufwachte. Mit beschwörenden Worten erzählte er mir das, was ich schon im Speisesaal überlegt hatte. »… wir wollen abhauen. Heute noch«, endete er. »Habt ihr Waffen?« Pete kicherte. »Eine Gabel. Das ist alles.« Ich sagte noch nichts von meinem Messer. Es war besser, ich traute keinem hier. Vielleicht waren die beiden bezahlt worden, für den Major zu spionieren. Obwohl ich es mir bei Pete nicht vorstellen konnte. »Was schlägst du vor?« fragte Jeff. Es war das erste, das ich von ihm hörte. »Wir warten noch mindestens drei Stunden. Aber nicht länger. Denn sonst erreicht uns die Dämmerung zu früh. Die Soldaten hier sehen mir so aus, als würden sie die Sümpfe wie ihre Westentaschen kennen.« »In Ordnung!« Sie verschwanden wieder und ließen mich allein. Ich nahm meine alte Stellung wieder ein und überlegte. Shita fiel mir ein. Was war wohl aus ihm geworden? Hatte er meine Spur bis zum Fort verfolgen können? Je länger ich nachdachte, desto bewußter wurde mir, daß ich nichts mehr zu verlieren hatte. Alles, was ich besaß, war in den Händen der Union oder in alle Winde verstreut. Sogar meine Kleidung hatte ich nicht mehr. Nur das lächerliche Zeug, das mir hier gegeben worden war, außer meinen Stiefeln und meinem Messer. Und das würde ich benutzen. Wenn sich mir jemand in den Weg stellte, würde es um ihn geschehen sein. Ich hatte nur eine Chance. Entweder ich überlebte, oder ich wurde erschossen. Also konnten die Wachen nicht mit Milde rechnen. Sie waren es, die die Regeln aufstellten. Also mußten sie sich ihnen
fügen. Ich wartete.
12. Nach zwei Stunden war ich soweit. Ich war am Maximum meiner Konzentrationsfähigkeit angelangt – auch eine Fähigkeit, die ich bei den Indianern gelernt hatte. Lautlos huschte ich hinüber zu Pete, dem Ordonnanzler. Er schlief nicht. »Bist, du soweit?« fragte ich leise. »Ja.« Er verschwand, um Jeff zu holen. Unterdessen schlich ich mich zu George Weller. Er schlief tief. Ich rüttelte ihn wach und hielt gleichzeitig meine Hand über seinen Mund. »Sprich nur ganz leise!« befahl ich. Dann nahm ich die Hand weg. »Was ist los?« fragte er verstört. »Ich haue ab. Jetzt. Kommst du mit?« »Wie?« Er richtete sich kerzengerade auf. Ich ließ ihm Zeit, über meine Worte nachzudenken. »Also?« fragte ich. »Nein!« stieß er ängstlich hervor. »Wenn die uns schnappen, ist es aus!« »Sie schnappen uns nicht«, versprach ich. »Nein, Ronco. Ich – ich habe entsetzliche Angst!« »Willst du sterben? In einer Woche ist es soweit, Mann!« Ich rüttelte ihn unsanft. »Denk doch nach!« »Nein!« Ich spürte mehr, als daß ich es sah, daß er den Kopf schüttelte. »Also dann, viel Glück für die Reise ins Jenseits!« Ich wollte gehen. Er hielt mich zurück. »Was gibt's noch?« »Danke, daß du mich gefragt hast. Du – du bist ein feiner Kerl.« Ich hörte, daß er weinte. Nun, ich konnte ihm auch nicht mehr helfen. Er hatte die Hosen gestrichen voll, und ich konnte es ihm nicht verdenken. Ich gab ihm einen Klaps gegen die Wange und verschwand, geräuschlos wie eine Wildkatze. »Wo warst du?« Es war Pete, der mir nervös entgegenkam.
»Nichts. Los geht's.« Ich stieß ihn vor mir her zur Tür. Jeff folgte. Wir öffneten die Tür ganz langsam, damit die Scharniere nicht quietschten. Aufatmend schloß ich sie hinter mir. Wir lehnten uns gegen die Wand des Schlafsaals, bis sich unsere Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Genau gegenüber waren die Mannschaftsbaracken. Ihnen durften wir nicht zu nahe kommen. Es gab immer ein paar Soldaten, die keinen festen Schlaf hatten oder gerade auf die Latrine schlurften. Rechts lagen die Kommandatur, ein Wachraum, der Stall und der Südaufgang zum Rundgang. Alle Gebäude waren rund um die Uhr bewacht. Nichts für uns. Links spiegelten sich die Sterne in den Fenstern der Wäscherei. Dahinter lagen die Familienquartiere, die unbewohnt waren, wie ich am Mittag festgestellt hatte. Einzig das kleine Lagerhaus hatte eine Wache. Munition und Gewehre wurden dort gelagert. Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, den Posten zu überwältigen und uns mit Waffen zu versehen, aber dann verwarf ich diese Idee. Der Posten brauchte nur einen leisen Ruf auszustoßen, und wir wären entdeckt und erschossen worden. »Los!« flüsterte ich und huschte hinüber zur Wäscherei. Dort angelangt, preßte ich mich gegen das Holz und sah zu, wie Pete und Jeff mir folgten. Wir warteten. Nichts rührte sich. Pete beobachtete den Rundgang der Ostseite, kaum dreißig Yards zu unserer Linken. Zigarettenspitzen glühten in der schwarzen Nacht. Der Rundgang lag völlig im Finstern, da die Zweige der Zypressen jeden Lichtstrahl auffingen. Ich zählte drei Zigaretten, also waren mindestens doppelt so viele Männer auf dieser Seite des Rundganges. Wir beeilten uns, die Familienquartiere zu erreichen. Geduckt hasteten wir auf der dem Rundgang abgewandten Seite der Wäscherei vorbei und stoppten an deren Ende. Zwanzig Yards trennten uns von der in der Dunkelheit undeutlich sichtbaren Fassade der Familienquartiere – zwanzig Yards, die wir ohne Deckung zurücklegen mußten. Die Posten auf den Rundgängen konnten uns dabei beobachten. Es war ein ziemliches Wagnis.
Jeff robbte zuerst los. Er lag flach auf dem Bauch und zog sich nur langsam mit den Händen vorwärts. Ich sah gespannt zu. Jeff war ein dunkler Gegenstand, der sich deutlich von dem helleren Boden abhob. Die Posten brauchten nur einen Blick zu werfen, dann … Ich dachte diesen Gedanken lieber nicht zu Ende. Jeff verschwand im tiefschwarzen Schatten hinter der Holzwand. Jetzt war Pete an der Reihe. Er war mitten zwischen den beiden Häusern, als vom Rundgang her Stimmen zu hören waren. Pete erstarrte. Ich erstarrte. Kalter Schweiß perlte auf meiner Stirn. Aber dann folgte Gelächter. »Sauhund!« rief eine rauhe Stimme, dann wieder schallendes Gelächter. Ich atmete aus. Die Wachen hatten nur untereinander dumme Scherze getrieben. Pete war drüben. Nun folgte ich. Nichts passierte. Bald standen wir auf der hinteren Seite der Familienquartiere und sahen hinüber zum Lagerhaus. Hinter den Fenstern flackerte Licht, ich sah drei Schatten. Wahrscheinlich spielten sie Karten, um die lange Nacht totzuschlagen. Also war auch dieses Problem gelöst. Wir hasteten hinüber und stellten uns hinter das kleine Gebäude, dort, wo keine Fenster Lichtbahnen in den Staub zeichneten. Dumpfe Stimmen klangen an unser Ohr. »Das schaffen wir nie!« Es war Pete, der diese Worte kopfschüttelnd flüsterte. Es sah auch nicht so aus. Vor uns ragte der Rundgang auf, übermannshoch, gut bewacht. Aber hier war er immer noch niedriger als auf den anderen Seiten. Wahrscheinlich weil auf dieser, der Nordseite, der Fluß bis auf wenige Yards an die Palisaden stieß. Ich sah undeutlich zwei große dunkle Schatten. Es waren die 32Pfünder, Küstenverteidigungswaffen mit großer Reichweite und Durchschlagskraft. Und ich sah auch die schräge Holzleiter, die auf den Rundgang führte, der sich nach wenigen Yards zu zwei Plattformen erweiterte, auf denen die Kanonen standen. Die Plattformen waren vier- und fünffach verstärkt, gebündelte Stämme waren tief in den Boden
versenkt. Und genau diese gebündelten Stämme waren meine Hoffnung. Über die Leiter auf den Rundgang zu steigen, wäre Selbstmord gewesen. Mindestens drei Mann saßen dort oben und warteten nur auf einen Dummen, der es versuchen würde. Vorsichtig, damit kein Geräusch ertönte, schlich ich zu einer der Säulen unter dem Rundgang. Pete und Jeff folgten mir. »Was willst du denn hier!« hauchte Pete. »Die Leiter ist doch da!« Er zeigte entrüstet nach rechts. Ich antwortete nicht, sondern tastete die Stämme ab, die hier in die Höhe führten. Es waren mindestens vier dicke Holzsäulen, mit Hanfstricken und Eisenspangen miteinander verbunden. Und darauf hatte ich spekuliert. »Suchst du Pilze?« fragte mich Pete, der immer nervöser wurde. »Wir haben keine Zeit mehr zu …« »Pst!« Ich fand eine passende Eisenstange, griff schnell in den Stiefelschaft und klemmte mein Messer zwischen die Zähne. Dann zog ich mich in die Höhe und setzte den Fuß auf eine weitere Spange. Es war zwar dunkel, aber ich schwöre, daß Jeff und Pete der Mund so weit offenstand wie ein Scheunentor. Es dauerte keine halbe Minute, da befand ich mich genau unter der rechten Plattform. Sehr vorsichtig streckte ich meinen Kopf über die Brüstung. Ich sah meine Hand, die ich um die Plattformecke gelegt hatte, um mich festzuhalten. Und keinen Zoll vor der Hand sah ich einen Stiefel. Knapp daneben einen anderen. Langsam hob ich den Kopf. Mein Blick streifte über Hosen, einen Gürtel, ein Hemd und blieb schließlich an einer glühenden Zigarettenspitze hängen. Ich ließ vor Schreck beinahe los. Der Kerl stand so nahe, daß er nicht einmal den Kopf zu senken brauchte, um mich zu entdecken. Eine Ewigkeit verstrich. Ich spürte die leichte Vibration, als Pete und Jeff mir folgten. Wenn die Kerle jetzt flüsterten, waren wir im Eimer. Ich strampelte vorsichtig mit dem Fuß, stieß gegen etwas und
drückte ziemlich fest dagegen. Ich war in Sekundenschnelle tropfnaß. Pete unter mir hatte meinen Knöchel gefaßt. Ich strampelte immer noch mit dem Bein. Wenn er doch nur ruhig blieb! Ich hatte sogar zu sehr Angst, meinen Kopf wieder unter das Plattformniveau zu senken. Jede Bewegung mußte dem Mann auffallen. Er konnte gar nicht anders, er stand so nahe, verdammt! Endlich beruhigte sich Pete unter mir wieder. Die leichten Vibrationen hörten auf. Inzwischen senkte ich ganz langsam meinen Kopf. Die Hand allerdings konnte ich nicht wegnehmen. Ich hing mit meinen Füßen frei in der Luft. Es war ein wahnsinniger Kraftaufwand, ein Klimmzug von mehreren Minuten Dauer. Der Mann spuckte seine Kippe aus. Sie zerstob genau vor meinen Augen auf dem Holz und rollte langsam hinunter. Dann trat der Mann zurück und ging langsam nach rechts zur anderen Kanone. Blitzschnell zog ich mich hinauf, das Messer immer noch zwischen den Zähnen. »Kommt!« flüsterte ich und war schon hinter der Kanone verschwunden. Pete schaffte es schnell. »Was war denn los?« fragte er mich, als er sich neben mich hinter die Kanone kauerte. »Später!« Gerade zog sich Jeff hinauf und krabbelte auf allen vieren zu uns. Wir waren auf dem Rundgang! Ich konnte es kaum glauben. Noch vor einer Minute sah es aus, als würden wir alle hier sterben. Schritte ertönten. Zwei Männer gingen an uns vorbei. Sie sahen uns nicht, da wir an die Palisaden gepreßt standen, im Schatten des gewaltigen 32-Pfünders. »Und jetzt?« fragte Jeff. Ich wußte es selbst noch nicht. Meine ganzen Pläne hatten nur dem Zutritt zum Rundgang gegolten. Jetzt mußte ich feststellen, daß wir noch lange nicht frei waren. Ich spähte hinunter auf das Wasser. Dunkle, bleifarbene Wirbel unterbrachen die eintönigen Wellenbewegungen. Die Palisaden führten kerzengerade hinunter in den sumpfigen Morastboden, der nach vier Yards dem Wasser wich. Ich hatte keine Ahnung, wie tief das Wasser hier war. Konnte man
einen Sprung von dieser Höhe wagen, oder blieb man nach wenigen Zoll im Schlamm hängen und ertrank? Gab es Schlingpflanzen? Kaimane? »Wie kommen wir hier weg?« fragte nun auch Pete. Er sah neben mir auf das Wasser hinunter. Ich zuckte mit den Schultern, eine Bewegung, die man bei der Dunkelheit nicht sehen konnte. »Weiß nicht.« »Macht doch schnell«, flüsterte Jeff. »Wir verlieren wertvolle Zeit!« »Kletter über die Palisaden. Ich lasse dich mit den Armen so weit wie möglich hinunter.« Es war die einzige Lösung. Pete begann. Ich hielt ihn fest und ließ ihn die Palisaden hinunter. Als er sich fallenließ, waren seine Beine immer noch ziemlich weit vom Boden entfernt. Es tönte wie Shita, wenn er sich die Nase leckte. Schmatzend gruben sich Petes Füße in den Morastboden. Es war kein lautes Geräusch, dennoch klang es in unseren Ohren wie Donnergrollen. Ich bedeutete Pete, im Wasser zu verschwinden. Dann ließ ich Jeff hinunter. Auch er kam gut unten an. Währenddessen sah ich, daß Pete schon keinen Boden mehr unter den Füßen hatte. Also war das Flußbett tiefer, als ich gedacht hatte. »He!« sagte eine Stimme hinter mir. Ich wirbelte herum. »Was ist los?« fragte ich und nahm das Messer in die Rechte, die Schneide nach oben. »Das möchte ich dich fragen«, sagte der Mann ziemlich laut. »War da nicht gerade ein Geräusch!« Er wollte den Colt ziehen. Ich schnellte vor. Mein Messer bohrte sich zwischen seine Rippen, nicht weit vom Herzen entfernt. Er sackte zusammen, und ich fing ihn gerade noch auf, bevor er krachend auf die Bretter schlug. Ich steckte mein Messer wieder in den Stiefelschaft. Dann kletterte ich über die angespitzten Palisadenstämme, ließ mich baumeln und sprang dann. Ich rollte über die Schulter ab und vermied damit jedes Geräusch. Sofort war ich im Wasser. »Wo warst du denn?« fragte mich Pete zum zweitenmal in einer
halben Stunde. »Wichtige Geschäfte«, sagte ich und schwamm voraus. Mit wuchtigen Stößen kam ich vom Ufer frei und schwamm halbrechts auf ein Gestrüpp von überhängendem Greisenbart zu. Waren wir erst dort, würden wir nie mehr geschnappt werden. Denn die Wachen konnten nicht wissen, welche Richtung wir eingeschlagen hatten. Beinahe die Hälfte hatten wir hinter uns. Hinter mir folgte in einigem Abstand Pete, dann Jeff. Ich wollte mich schon wieder umdrehen, als ich eine Gestalt sah, die auf dem Rundgang bei der Kanone auftauchte. Ich wollte meine beiden Begleiter warnen, da donnerten schon drei Schüsse auf, blind in die Luft geschossen. »Alarm!« brüllte eine heisere Stimme. Die Mündungsflamme beleuchtete das Gesicht des Soldaten. Wir beeilten uns. Ich war schneller als meine beiden Begleiter und brachte Yard um Yard hinter mich. Im Fort erwachte augenblicklich Leben. Licht flammte auf, Lampen wurden angezündet, Befehle und Stimmen schallten durcheinander. Die ersten weitstrahlenden Lampen wurden auf uns gerichtet, bald waren wir in gleißendes Licht getaucht. Schüsse krachten. Neben mir gischtete das Wasser in kleinen Fontänen auf. Die Kugeln prallten flach auf die Oberfläche und pfiffen als gefährliche Querschläger flach über das Wasser. Ich tauchte weg. Die Luft war mir zu bleihaltig geworden. Mit kräftigen Zügen schwamm ich unter Wasser weiter. Es war schwierig, die richtige Höhe zu halten, mehrmals streifte ich über den lehmigen Untergrund oder geriet an die Oberfläche. Jedes Tauchen brachte mich um mindestens zehn Yards vorwärts, dem rettenden Greisengeflecht entgegen. Aber ich ließ mich nicht zu großen Illusionen verleiten. Hinter dem Geflecht war ich zwar unsichtbar, aber noch lange nicht kugelsicher. Meine größte Angst war die Kanone. Wenn die Kerle eine 32Pfund-Granate in meine Richtung donnerten, konnte ich mich abschreiben. Und zwar für immer. Mit einem schnellen Blick vergewisserte ich mich, daß mir diese
Gefahr nicht drohte. Die Kanone war in der Höhenregulierung nicht auf nahe und tiefe Entfernungen eingestellt. Eine Kugel strich glühendheiß an meiner Wange vorbei. Ich blutete ziemlich. Das war gerade noch gutgegangen. Schnell tauchte ich unter. Mit diesem Anlauf schaffte ich es bis unter das Geflecht. Als ich auftauchte, sah ich, wie Pete und Jeff in meine Richtung tauchten. Jeff kam zuerst hoch und erhielt eine Kugel in den Kopf. Vor meinen Augen sah ich, wie er unterging. Ihm konnte nicht mehr geholfen werden. Pete verdoppelte seine Bemühungen. Ich sah, wie knapp neben ihm die Kugeln aufschlugen. Er tauchte weg. Als er wieder hochkam, war er außer Sichtweite der Soldaten. »Puhh. Das war knapp!« stöhnte er. »Los, wir müssen weiter«, drängte ich. Die Kerle ballerten wild in das Dickicht. Mehrere Kugeln pfiffen bedenklich nahe an uns vorbei. Wir blieben immer hinter dem Greisenbart. Etwa hundert Yards weiter nördlich mußte ein Seitenarm des Missouri nach links abzweigen. Dorthin wollte ich, und zwar so schnell wie möglich. Es war mir nämlich klar, daß die Soldaten nicht im Fort bleiben würden. In spätestens drei, vier Minuten würde hier eine schwerbewaffnete Patrouille auftauchen und Katz und Maus mit uns spielen. Wir waren die Mäuse, versteht sich. Schnell schwammen wir weiter. An dieser Stelle kamen wir nicht aus dem Wasser heraus. Das Ufer war zu glitschig. Nach knapp drei Minuten hörte ich hinter mir Knacken und Bersten im Gebüsch. Die Häscher waren auf der Spur. Pete war kein großartiger Schwimmer. Als er sah, daß nun auch schon drei flache Boote in unsere Richtung hielten, drehte er beinahe durch. Ich konnte keine Zeit mehr für ihn aufbringen. Selbst, wenn ich mich ungeheuer beeilte, würde ich es kaum schaffen. Pete fiel zusehends zurück. Als er einsah, daß die Boote ihm den Weg abschneiden würden, versuchte er, an Land zu kommen. Die Todesangst beflügelte ihn. Im letzten Moment kletterte er die Böschung hinauf und verschwand im Wald. Ich selbst schwamm weiter. Das Boot hinter mir holte immer mehr
auf. Die Kugeln rückten mir immer näher. In letzter Sekunde bog ich in den Seitenarm ab und war für kurze Zeit außer Sichtweite. Ich blieb nahe am Ufer und pumpte Luft in meine Lungen. Plötzlich zerrissen weitere Schüsse die Dunkelheit. Sie galten nicht mir. Ein Schrei ertönte, wuchs zu einem tierischen Brüllen an und riß dann ab. »Wir haben einen von ihnen!« brüllte ein Soldat. Der arme Pete. Sie hatten ihn niedergeknallt wie einen räudigen Hund. Aber ich hatte keine Zeit, mich mit solchen Gedanken zu beschäftigen. Gerade bog das Boot um die Ecke. Ich sah zwei Männer mit Gewehren aufrecht darin stehen. Sie hielten nach mir Ausschau. Ich tauchte weg. Aber statt vom Boot wegzuschwimmen, näherte ich mich ihm unter Wasser. Ich hatte eingesehen, daß ich vor dem Boot nie hätte fliehen können. Also griff ich es an. Als ich mit der Hand den Bootboden berührte, stellte ich schnell die Füße auf den Lehmboden und stieß mich dann mit aller Kraft ab. Das Boot wurde halb aus dem Wasser gehoben und kippte um. Ich schwamm darunter weg, tauchte auf und griff mir mein Messer. Ein Soldat schoß aus dem Wasser hoch, das Gewehr noch in der Hand. Er schwamm auf mich zu und hob das Gewehr, um mit dem Kolben zuzuschlagen. Ich tauchte wieder weg und schwamm in einem Bogen um ihn herum. Als ich hochkam, drehte er mir den Rücken zu, das Gewehr in der Hand. Offensichtlich konnte er hier stehen. Ich gab ihm mein Messer zu spüren. Nur in die Schulter, denn ich wollte ihn nicht töten. Er schrie wie am Spieß und strampelte im Wasser herum. Das Gewehr verlor er. Die anderen Männer im Boot lagen entweder darunter oder hatten mit sich selbst genug zu tun. Ich schwamm weiter den Seitenarm hinauf. Wie lange ich schwamm, weiß ich nicht mehr. Irgendwann gehorchten mir meine Muskeln nicht mehr, und ich zog mich mit letzter Kraft aufs Ufer. Dort schlief ich ein, völlig ausgepumpt, durchnäßt und verrenkt. Dunkelheit umgab mich.
13. Hank Weller war diesen Morgen wieder früh auf den Beinen. Wie schon am Vortag ritt er immer weiter nordwärts, ohne festes Ziel und Richtung. Er hoffte immer noch auf ein Wunder, eine Spur, ein Zeichen seines Bruders. Aber er wußte natürlich, daß solche Wunder nicht an der Tagesordnung waren. Seine Hoffnung zerbröckelte mit jedem Huftritt. Was war aus seinem Bruder geworden? Lebte er wirklich nicht mehr? Hatte ihn der Soldat angelogen? Während er noch laut auf seinen Vater fluchte, sah er vor sich eine kleine Lichtung. Er hielt das Pferd an, wrang sein durchgeschwitztes Halstuch aus und knüpfte es wieder um. Dann stieg er ab und führte sein Pferd hinter sich her zur Lichtung. Es war ein Soldatenfriedhof. Schlichte Holzkreuze, aus zwei senkrecht zusammengebundenen Balken bestehend, standen säuberlich in Reih und Glied. Sie waren noch neu, denn das Gras wuchs nur sehr spärlich an den umgegrabenen Stellen. »Auf so einem Friedhof sollst du sein, George«, sagte er leise vor sich hin. »Das kann doch nicht sein.« Er setzte sich mit dem Rücken an eins der Kreuze und sah hinauf auf die mächtigen, alten Bäume, die ihren zitternden Schatten auf die Gräber warfen. Plötzlich fühlte er sich traurig und wünschte, sein Bruder möge bei ihm sein. George war zwar ein Schwächling, aber ein guter Kerl, der nie jemand ein Haar gekrümmt hatte. Und nun steckte er in einer dämlichen blauen Uniform und sollte andere Menschen töten? Das war unmöglich. Er erhob sich und ging zu seinem Pferd. Einem plötzlichen Impuls folgend, drehte er sich um und sah auf das Holzkreuz, an das er sich gelehnt hatte. Seine Augen weiteten sich. Was stand da auf dem Kreuz eingebrannt? Das war doch unmöglich! George Weller. Die Buchstaben waren unregelmäßig und frisch eingebrannt. Hank stand fast eine Stunde vor dem Kreuz und starrte auf den
Namen seines Bruders. Dann riß er sich los und ging zu seinem Pferd. Mit einem Satz war er im Sattel und ritt weiter nach Norden. Er wollte mehr wissen. Und wenn es Jahre dauerte.
14. Feucht fuhr mir ein weicher Gegenstand über das Gesicht. Ich brauchte eine ganze Weile, bis ich mich aus den Tiefen meines Schlafs gerissen und die Augen geöffnet hatte. Ich sah einen rosaroten Fleck, mehr nicht. Und dieser Fleck strich über mein Gesicht, meine Augen, meine Nase, alles. Er war feucht. Endlich begann ich zu begreifen. Blitzschnell war ich auf den Beinen. »Shita!« rief ich. Da stand er, der wunderbarste Hund, den es jemals gegeben hat. Er hatte mich so lange abgeleckt, bis ich erwacht war. Shita freute sich fast noch mehr als ich. Er sprang wie verrückt herum, stieß mich mit der Schnauze, schlug aus wie ein junges Fohlen und kläffte dabei vor Begeisterung. Das Wiedersehen genossen wir beide ausgiebig. Wir vergaßen eine Weile alles um uns herum, den Sumpf, die Verfolger, die Not der letzten Tage. Aber als wir uns beruhigt hatten, wurden wir uns wieder der mißlichen Lage bewußt. Ich wußte weder, wo ich mich befand, noch wo die nächste Ansiedlung lag, ob es hier in der Nähe Trinkwasser gab, oder ob ich ohne Wasser verloren war. Trotzdem, mit Warten gelangte ich nicht weiter. Also ließ ich nur meine Sachen in der Sonne trocknen und marschierte dann los. Es war ein beschwerlicher Weg. Oft mußten wir weite Strecken zurückgehen, weil wir uns auf einer Halbinsel im Sumpf befanden und es keinen Ausweg gab. So verloren wir viele Stunden und viel Kraft. Eilig hatte ich es nicht, aber mein Hunger nahm stetig zu, während der Durst schon beinahe störend wirkte. Ich war bereits sechs Stunden unterwegs, als ich auf eine kleinere Lichtung inmitten von Sumpfzypressen stieß. Dort legte ich mich ins
Gras und ruhte aus. Ich mußte wohl eingeschlafen sein, denn Shitas Knurren riß mich aus dem Schlaf. Sofort war ich auf den Beinen, mein Messer in der Hand. Wieviel hätte ich für meinen alten Navy-Colt gegeben! Aber ich konnte froh sein, daß ich überhaupt hoch ein Messer und Kleider auf dem Leib hatte. Wir hatten Besuch erhalten. Es war ein einzelner Reiter, der mich vom Pferd aus neugierig betrachtete. Er trug ein Stirnband, das die leicht gewellten Haare von seinen Augen fernhielt. Er war hochgewachsen und breit in den Schultern. Außerdem hielt er ein Gewehr in der Armbeuge. Kopfgeldjäger! durchzuckte es mich. Es war zu spät zur Flucht. Shita stand einige Yards vor dem Reiter und fletschte die Zähne. Ich trug immer noch militärische Kleidung. Jeder, der mich in der Uniform durch den Sumpf laufen sah, wußte, daß ich ein Deserteur war. Und vielleicht hatten die Soldaten im Fort Kopfgeldjäger auf mich gehetzt. Man wußte nie. »Hallo«, sagte der Mann. Ich entkrampfte mich etwas. Ein Kopfgeldjäger meldete sich nicht mit »Hallo« an. »Ich bin unbewaffnet«, sagte ich und deutete auf sein Gewehr. »Also nehmen Sie gefälligst Ihren Blasebalg weg.« Er grinste und steckte das Gewehr in den Sattelschuh. Dann stieg er ab. Er war so groß wie ich, aber breiter in den Schultern. »Abgehauen, wie?« Er deutete auf meine Uniform und blieb ein paar Schritte vor mir stehen. Als ich nicht antwortete, sagte er: »Glückwunsch.« »Wozu?« »Daß du es geschafft hast. Nur wenige kommen durch.« »Du scheinst dich auszukennen«, sagte ich und versuchte es mit einem Grinsen. »Ich persönlich nicht, aber mein Bruder.« Ich setzte mich hin. Von ihm hatte ich keine Gefahr zu befürchten. »Ist dein Bruder auch getürmt?«
»Ich weiß es nicht. Man hat ihm auf jeden Fall böse mitgespielt.« »Das ist das Los jedes Soldaten«, sagte ich achselzuckend. »Sie haben ihn rekrutiert, ohne daß er es wollte.« Er schüttelte düster den Kopf. »Mein Vater hat das Geld eingestrichen und ist abgehauen.« »Lange her?« fragte ich. Bei mir läutete es plötzlich irgendwo im Kopf. »Keine vier Tage. Weiter südlich ist ein Camp. Dort haben sie ihn kassiert, den Kleinen.« Ich mußte laut lachen. Er musterte mich böse. »Was ist da so lustig?« »Nichts. Ich hätte nie geglaubt, dem Bruder von George zu begegnen.« »George Weller!« Er sprang auf. »Ja, George Weller. Er war mit mir im Lager und auch im Fort.« »Im Fort? Ist er dort gestorben?« »Gestorben? George lebt noch, wenn auch müde und abgearbeitet.« Er packte mich erregt an den Aufschlägen und zog mich in die Höhe. »Ist das wahr? Lebt George noch?« »Heute nacht hat er sich an meiner Schulter ausgeweint. Tote weinen nicht, also lebt er. Was soll das komische Getue?« Ich verstand seine seltsame Fragerei nicht. »Komm mit. Ich muß dir etwas zeigen.« Er zog mich zu seinem Pferd. Er gab mir einen Streifen Trockenfleisch und einen kräftigen Zug aus der Wasserflasche. Dann saß ich hinter ihm auf. Sooft ich ihn auch fragte, er verriet mit Beharrlichkeit nicht, wohin er mich brachte. Ich sah die Kreuze. »Was soll das?« fragte ich, als er das Pferd zügelte und absprang. »Wie heißt du?« fragte er. »Ronco.« Er ging eilig an den Holzkreuzen entlang. »Hier, sieh doch!« rief er und deutete auf ein Kreuz. Ich trat zu ihm. Und was sah ich? Meinen Namen, eingebrannt in
ein Holzkreuz. Ich staunte nicht schlecht. »Soll das ein Scherz sein?« sagte ich kopfschüttelnd. »Hier ist das Grab Georges«, sagte er. Ich fand noch mehr bekannte Namen. Jim Buckmaster, das war einer der beiden Deserteure, die im Lager erschossen worden waren. Pete Seeger, Jeff Brighton und andere. Alle Namen der Männer, mit denen ich im Fort gewesen war. Wir setzten uns hin und überlegten. Ich fand nur eine Erklärung: Die Holzkreuze waren schon im voraus aufgestellt worden, da wir beim Angriff auf die Rebellenfestung doch alle gestorben wären. Wahrscheinlich, weil man die Toten der ersten Sturmreihen nach der Schlacht kaum noch identifizieren konnte. Also wurden alle, die wie wir zur Spezialausbildung kamen, sofort aus den Akten gestrichen und totgemeldet. Dann richtete man einen stillen Friedhof her und benachrichtigte die Angehörigen, daß die Männer den Heldentod gestorben seien. Das war nur eine Vermutung. Ich sollte den wahren Grund nie erfahren. Aber es war klar, daß die Kreuze nächste Woche ihre Berechtigung erhielten, wenn Sedalia gestürmt wurde. »Was nun?« fragte ich. »Was nun? Wir holen meinen Bruder aus dem Fort heraus!« sagte Hank aufgeregt. Er vergaß sogar, mich zu fragen, ob ich überhaupt mitwollte. »In Ordnung«, sagte ich. George tat mir leid, und irgendwie würden wir ihn schon herausholen. »Kennst du dich im Fort aus?« Ich nickte. »Es wird zwar ein harter Job, aber wir werden es schaffen.« Vor Begeisterung schlug er mir so fest auf die Schulter, daß Shita ihn böse anknurrte.
15. »Ich kann nicht mehr!« Er lag auf dem Bauch, eine Zentnerlast drückte ihn in den Staub, alles war voll Staub, seine Kleider, sein Mund, seine Nase, seine Lungen.
»Steh auf!« »Ich …« »Auf die Beine, du Hundesohn!« Ein Fußtritt begleitete den Befehl. Er wurde knallhart in die Höhe gerissen. Die Schlaufen des Tornisters mit den Steinen rissen. Er strauchelte, aber Fäuste hielten ihn fest und stießen ihn vorwärts. »Rüber mit dir!« Ein vorgestreckter Zeigefinger deutete auf die Holzwand, die verhaßte, verfluchte Holzwand mit den von vielen Füßen getretenen Balken. Er wurde auf die Wand zugetrieben und knallte mit der Schläfe und der Schulter dagegen. Wieder hielt man ihn fest. »Du hast uns schon genug Ärger bereitet!« schrie der Mann, der ihn festhielt. Er versuchte es. Seine Finger krallten sich um die Oberkante der Holzwand. Splitter rissen seine Haut auf. Seine Füße suchten Halt, fanden keinen, glitten ab. Die Hände lockerten ihren Griff, er prallte auf den Boden. Ein Tritt ließ ihn stöhnen. Er war am Ende. Lange Zeit hatte er durchgehalten und gehofft, sie würden Geduld mit ihm haben, jetzt konnte er nicht mehr. Seine Kräfte hatten ihn verlassen, das schlechte Essen zermürbt, die schlaflosen Nächte geschlaucht. Seine letzte Chance war vorbei, dahin. Sedalia hätte er vielleicht noch überleben können. Eine schwere Verwundung hätte ihn vorzeitig aus dem Gefahrenbereich gebracht. Dies gab es beim Exekutionskommando nicht. Zwei Männer schleiften ihn in ein Gebäude. Die Tritte hatten ihm die Haut von den Rippen gefetzt, er blutete stark. »Cop, einer für die Leichenhalle«, sagte ein Wächter zu dem Corporal, der Buch führte. »Weshalb?« »Zusammengebrochen. Völlig wertlos. Kann nicht mehr eingesetzt werden.« »Okay. Schließt ihn in der Leichenhalle ein. Morgen lasse ich das Exekutionskommando antreten.« Die zwei Wachen schleppten ihn in das enge, niedrige
Kämmerchen, das von allen Soldaten nur die Leichenhalle genannt wurde. Sie legten zwei große Riegel vor, grinsten sich an und gingen zurück. Der Corporal sah auf, als die zwei rauhen Wachen den Gang entlang auf ihn zukamen. »Wie heißt der Bastard?« fragte er. Einer der Männer zuckte mit den Schultern. Der andere drehte sich an der Tür noch einmal um. »George Weller.«
16. Shita war uns eine große Hilfe. Er zeigte uns durch seine schärferen Instinkte Gefahren, von denen wir nichts ahnten. Wir kamen gut voran. Nach wenigen Stunden erreichten wir eine Stelle, die ich schon beim Weg zum Fort gesehen hatte. Von hier aus war es nur noch ein Katzensprung. Das Fort tauchte in der Dunkelheit vor uns auf. Hank zügelte das Pferd. Wir stiegen ab. »Und nun?« fragte Hank. »Gib mir deinen Colt. Den Rest überlasse ruhig mir.« Ich nahm seine Waffe. »Wenn es donnert, preschst du mitten ins Fort. Ich warte dann mit George beim Eingang.« Lautlos schlich ich mich an die Palisaden. Diesmal von der Südseite. Wenn einer der Wachen die Umgebung des Forts beobachtete, dann nur bei der Nordpalisade. Dort war der Fluß, den sie mit ihren Kanonen in Schach halten mußten. Aber von Süden erwarteten sie niemand. Ich kletterte auf eine Zypresse. Von ihren Zweigen aus konnte ich bequem auf den Rundgang springen. Schon stand ich auf den Holzplanken, den Colt in der Hand. Nun mußte ich mir den Weg zu den Kanonen erkämpfen. Aber es klappte nicht. Plötzlich standen drei Männer vor mir. Ohne zu zögern drückte ich ab und streckte sie nieder. Sekunden später hatte ich drei Colts hinter meinen Gürtel gesteckt und hastete
weiter, der Treppe entgegen. Die Schüsse hatten alle geweckt. Wieder hallten Schreie, Befehle und Stimmen durcheinander. Ich jagte einem anderen Mann zwei Kugeln in die Brust und zerschoß drei Lampen, die auf dem Rundgang angezündet worden waren. Dann sprang ich hinunter auf den Hof. Ich landete neben einem Posten, der gerade das Haupttor verteidigen wollte, knallte ihm den Revolverlauf gegen den Schädel und riß das Tor auf. Es herrschte völlige Verwirrung. Die Posten glaubten an einen Überfall. Auf der mir abgewandten Seite des Rundganges begann jemand zu schießen. Nicht auf mich. Die Kerle drehten regelrecht durch. Das Tor stand sperrangelweit offen. Ich schoß auf einen Schatten. Er fiel, und ich rannte weiter auf die Baracke zu, in der ich George wußte. »Rebellen!« brüllte ich, so laut ich konnte. »Überfall!« Alle glaubten jetzt, daß Rebellentruppen das Fort stürmten. Auf dem Rundgang wurden die Kanonen geladen, obwohl kein Schiff in Sicht war. Im Tor war Hank erschienen. Er jagte Kugel um Kugel in die Luft und verdoppelte die Verwirrung noch. Aus der Baracke stürzten die ersten Gefangenen. Ich erkannte einen von ihnen. »Wo ist George?« schrie ich. »Im Jail, in der Leichenhalle!« rief der Mann und war schon verschwunden. Ich lief hinüber zum Jail. Ein Corporal sah mir mit offenem Mund entgegen, als ich die Tür aufriß. So starb er auch, mit offenem Mund. Zwei Griffe und die Tür war offen. George blickte mich fassungslos an. »Los!« Ich packte ihn an der Hand. Wir rannten hinaus auf den Hof. Während wir den Exerzierplatz überquerten, galoppierten plötzlich die Pferde aus den Ställen. Sofort pfiff ich gellend. Ein Pferd löste sich aus der Gruppe und
schnaubte. Es war mein Brauner. »George!« Hank Weller hatte sein Tier neben uns getrieben. Mit einem Griff saß George hinter ihm im Sattel. Oben auf dem Rundgang lieferten sich die Wachen gegenseitig Gefechte. Jedes Licht wurde entweder gelöscht oder der Träger erschossen. Ich warf mich auf meinen Braunen. Aber statt zum Tor trieb ich ihn zurück zum Stall. Ich fand meinen Sattel. Sogar mein Sharpskarabiner steckte noch im Scabbard. Über dem Sattelhorn hing mein Waffengurt mit dem Navy-Colt. Blitzschnell warf ich den Sattel meinem Braunen über und zerrte den Gurt fest. Dann jagte ich hinter Hank und George her auf das Tor zu. Gerade wollte ein Posten das Tor schließen, da holte Hank ihn vom Sattel aus von den Beinen. Auch die anderen Gefangenen schnappten sich Pferde und jagten aus dem Tor. Nach zehn Minuten waren wir schon weit entfernt. Hank zügelte sein Pferd. Er reichte mir die Hand. »Danke, Ronco. Du bist ein toller Kerl.« Ich klopfte beiden auf die Schulter. »Zerstört bitte mein Kreuz auf dem Friedhof«, sagte ich. »Ich reite jetzt weiter.« Ein entsetzliches Donnern übertönte meine letzten Worte. Hank Weller zuckte zusammen. »Was war das?« »Die Kanone«, sagte ich und grinste. »Die Kerle schießen noch in zwei Stunden aufeinander und glauben an einen Überfall der Rebellen.« Damit verabschiedete ich mich. * So war es auch. Später las ich von dem Überfall der Konföderierten. Die Kerle wollten nicht eingestehen, daß ein einzelner Junge ihr ganzes Fort in Aufruhr versetzt hatte. Aber in derselben Zeitung stand auch, daß bei dem erfolgreichen Sturm auf Sedalia die vordersten Kompanien der Nordarmee samt
und sonders vernichtet worden seien. Jetzt hatten einige der Kreuze auf dem Totenacker ihre Berechtigung – bestimmt aber nicht die beiden mit den Namen »George Weller« und »Ronco«. Ich war dem Teufel gerade noch mal von der Schippe gesprungen. Shita und mein Brauner waren bei mir, ich hatte meine Waffen und war frei. Endlich …
ENDE
Vorschau Bruce Luman saß am Fenster der Hütte und blickte hinaus. Von Zeit zu Zeit warf er einen besorgten Blick auf Linda. Ihr Fieber war zwar gesunken, aber sie war kaum transportfähig. Er verfluchte seine Aufgabe, sie und Jellico zu Andrew Hilton zu bringen. Plötzlich erstarrte er. Draußen huschten zwei Gestalten heran. Einer von ihnen hatte blonde Haare und sah ihm genau entgegen. Ronco! Luman riß seinen Colt heraus und schlug die Fensterscheibe ein. Ronco hechtete in Deckung. Eine Kugel sirrte irgendwo über ihm vorbei. Luman schoß wie verrückt, aber dann griff Lobo ein. Seine Winchester hämmerte los und stanzte Splitter aus dem Fensterrahmen. Einer verletzte Luman an der Schläfe. »Haut ab, alle beide!« brüllte er nach draußen. »Sonst erschieße ich Linda und das Kind!« Stille senkte sich über den Kampfplatz. Minutenlang regte sich nichts. Es war, als halte die Welt den Atem an … Die Jagd auf Ronco geht weiter. Lesen Sie nächste Woche Band 241 dieser großen deutschen Western-Serie:
Die Insel der Gezeichneten