Der Traum der Geisha Version: v1.0
Prolog Das Winseln um Gnade und die Schreie der Kreaturen durchschnitten die helle ...
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Der Traum der Geisha Version: v1.0
Prolog Das Winseln um Gnade und die Schreie der Kreaturen durchschnitten die helle Wüstennacht. Dünne Zelthäute brannten lichterloh, und der flackernde Schein beleuchtete ein bizarres Szenario: Gnomenhafte Ungeheuer beugten sich über in Ketten geschlagene Mischwesen, halb Mensch, halb Wolf, und verrichteten ein grausiges Werk. Monster quälte Monster. Und inmitten der grausamen Verhöre stand das schlimmste der Ungeheuer: eine wunderschöne, amazonenhaft gekleidete Frau …
Was bisher geschah Landru hat die Jagd um den Lilienkelch – vorerst – verloren. Der Kelch ist wieder in Felidaes Besitz, die sich damit zurückgezogen hat, um ihn zu reinigen. Zuvor hat sie Beth von den Auswirkungen eines Pestkeims, der monatelang die Gefühlswelt der Journalistin auf den Kopf stellte, endgültig geheilt. Auch Landrus Rache an Lilith und Beth wird vereitelt – von einem geheimnisvollen Hünen. Er bringt die beiden Frauen nach England, wo eine Legende auf sie wartet: Robert Craven, der Hexer, 137 Jahre alt und an der Schwelle des Todes. Auf seine Bitte hin befreit Lilith die Vampirin Fee, deren Biß Leben verlängern kann, aus der Gewalt rumänischer Blutsauger. Doch Fee hat in der Gefangenschaft den Verstand verloren. Craven verspricht, sich um sie zu kümmern. Vor ihrer Abreise nach Japan, wo sie und Beth eine neue Existenz beginnen wollen, zieht es Lilith zum Geburtshaus ihres Vaters in Schottland. Dort hat sich ein Dämon eingenistet, der sich durch die Körper seiner Opfer in unserer Welt halten kann. Auch Lilith wird zu einer seiner »Marionetten« – bis die Geister ihrer Großeltern das Blut ihres Sohnes in ihr erkennen und dem Dämon die Existenzgrundlage entziehen … In Tokio beginnt für Lilith und Beth ein neuer Lebensabschnitt. Sie beziehen ein von Craven gemietetes Penthouse im Schinrei-Building. Beth bemüht sich um Arbeit als freie Journalistin, wird aber wegen mangelnder Sprachkenntnisse abgewiesen. Lilith trifft in der U-Bahn auf einen Werwolf, verhindert, daß er über die Fahrgäste herfällt, und beschwört damit ungewollt einen Krieg zwischen den Vampiren und Wölfen der Stadt herauf, die bislang unsicheren Frieden hielten. Einen der Tokioter Wölfe verschlägt es in das Sanktuarium des Gurus Chiyoda, bei dem auch Landrus Freundin, die Werwölfin Nona, Zuflucht gesucht hat. So erfährt sie von den Vorgängen in Tokio – könnte, der Beschreibung nach, nicht Lilith Eden dahinterstecken? Nona macht sich auf den Weg, nicht ahnend, daß ein Feind auf ihrer Fährte ist: El Nabhal, der Magier, den Nona tötete, lebt in einem seiner magischen Tücher weiter und benutzt die Körper Unschuldiger, um Nona zu suchen und Rache an ihr zu nehmen.
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und der Vampirin Creanna. Für 98 Jahre lag sie schlafend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist vor der Zeit erwacht. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Bastard sehen, bis sie sich ihrer wahren Bestimmung bewußt wird. Der Symbiont – ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, obwohl es fast jede Form annehmen kann. Der Symbiont ernährt sich von Vampirblut und verläßt seine Wirtin bis zu deren Tod nie mehr. Landru – Mächtigster der alten Vampire. Seit 268 Jahren jagt er dem Lilienkelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, der ihm damals von Felidae gestohlen wurde. Felidae – Vampirin im Auftrag einer geheimnisvollen Macht, die Liliths Geburt in die Wege leitete und damit einen Plan verfolgt, der die Welt der Menschen und Vampire verändern wird. Beth MacKinsey – Gleichgeschlechtlich veranlagt, hat sich die Journalistin in Lilith verliebt und ist zur Zeit deren einzige Gefährtin im Kampf gegen die Vampire. Nona – Werwölfin und eine alte Freundin Landrus – und damit auch Liliths Feindin. Die Vampire – Noch kennt niemand ihre wahre Herkunft, doch sie leben seit Urzeiten neben den Menschen in Sippen zusammen. Der einzige Weg, einen neuen Vampir zu schaffen, besteht darin, ein Menschenkind schwarzes Blut aus dem Lilienkelch trinken zu lassen. Der Kodex verbietet Vampiren, sich gegenseitig umzubringen. Lilith verstößt dagegen und wird gnadenlos gejagt. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser kein vollwertiger Blutsauger, sondern eine Kreatur, die dem Vampir bedingungslos gehorcht. Ihrerseits kann eine Dienerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben, benötigt aber Blut zum (ewigen) Leben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zunehmendem Alter immer lichtempfindlicher.
Als der Morgen über der Wüste dämmerte, war kein Werwolf mehr am Leben. Sämtliche Feuer waren erloschen. Der Haß nicht. El Nabhal, der tote Magier, blickte aus geliehenen Augen auf sein Zerstörungswerk. Mörder! wisperte das unterdrückte Bewußtsein, dessen Körper er so vollkommen kontrollierte. Dabei war er selbst eingekerkert in einen Fetzen Stoff, der um die Hüften der atemberaubend schönen jungen Frau flatterte. Es war ihm gleichgültig, was Debra Wingrove über ihn dachte. Sie war nur das Medium. Das Vehikel seiner Rache. »Eure Befehle, Herr«, geiferte einer der Gnome aus dem Sumpf, in den El Nabhal seine Oase verwandelt hatte. Die meisten Gnome rekrutierten sich aus Plünderern, die zur aufgegebenen Oasenstadt gekommen waren, weil sie hofften, leichte Beute zu machen. Dabei waren sie die Beute des Magiers geworden. Er hatte sie umgeformt, und ihr Äußeres war seither erdig düster wie die Rinde eines uralten Baumes. Ihre Hirne dachten nicht mehr in menschlichen Kategorien, sondern verdorben wie das ihres Schöpfers. Daß dieser bereits den Gefallen an ihnen verloren hatte, ahnten sie nicht. El Nabhal wurde es selbst erst in diesem Moment bewußt, als einer der Gnome ihn ansprach. Fast beiläufig entzog er ihnen den Atem, der sie nährte. Verzweifelt rissen sie die Arme mit den übergroßen, gefährlich aussehenden Händen in die Höhe. Es schien, als erdrosselte sich mancher von ihnen eigenhändig, aber das Sterben hatte schon vorher begonnen. »Herr …«, röchelten die Gnome. Im weiten Umkreis sanken sie zu Boden.
Die sanften blauen Augen der jungen Frau weilten mitleidlos auf den Sterbenden, die im zunehmenden Licht des Morgens auch in ihrem sinnlosen Bemühen um Gnade aufgaben. Ihre Leiber wurden wie von Hitze ausgedörrt. Krumig brachen sie auseinander; Dunkelheit gähnte in den Schalen, die aussahen, als hätten sie nie Leben beherbergt. El Nabhal ignorierte die tauben Hüllen, die vom Wind aufgegriffen, zerbrochen und Korn um Korn mit der Wüste vermählt wurden. Er hatte erfahren, was er wollte. Nun lenkte er den geliehenen Körper zurück zu dem Jeep, in dem sich alles befand, was er benötigte, um eine weite Reise in ein fernes Land anzutreten. Und er zögerte nicht, dies zu tun.
* Drei Tage später Mandschurei, China Das zwölfjährige Mädchen tanzte barfuß im Schnee. Es hatte den Kopf weit in den Nacken gebogen und fing die Flocken, die vom Himmel herabfielen, mit ausgestreckter Zunge auf. Dabei lachte es hemmungslos fröhlich. Selbstvergessen. Daß das Kleid und die Pagenfrisur durchnäßt waren, schien es nicht zu stören. Einzelne Haare spannten sich wie die Maschen eines Netzes über ihren Augen.
Mei-Li tanzte in einer schöneren, von ihr selbst erschaffenen Welt, als sie brutal in die Wirklichkeit zurückgeschleudert wurde. Mit den fürchterlichen Schreien, die an ihr Gehör drangen, spürte sie plötzlich auch die Kälte, die ihr bis dahin nichts ausgemacht hatte. Wie gelähmt blickte sie auf die Gebäudeansammlung, von der sie sich entfernt hatte. Der Schnee hatte die Nebel aufgelöst, die üblicherweise im Tal schwebten. Fast über Nacht hatte sich die Landschaft in einen dicken weißen Mantel gehüllt, der die Schreie dämpfte, aber nichts von ihrem Grauen nahm. Es kam immer wieder vor, daß solche, die hierher fanden, um vom Fluch geheilt zu werden, versagten. Aber es gab Vorkehrungen, um zu verhindern, daß andere dabei Schaden nahmen. Während der heikelsten Nächte wurden Neulinge regelrecht eingekerkert – wenn der wölfische Trieb trotz der empfangenen Lektionen mit ihnen durchging, konnten sie in der Isolation nur sich selbst zerfleischen. Selten stellte sich ein einmal Gescheiterter der Herausforderung erneut. Aber diese Schreie hörten sich anders an als das schon gewohnte, qualvolle Gieren nach einem Opfer. Ganz anders. Außerdem war Neumond. Mei-Li löste sich aus ihrer Erstarrung. Ihr Gesicht, die Hände und Füße schimmerten bläulich vor Kälte, als sie langsam zurücklief. Der Lärm kam aus einem der Quartiere, dessen Tür plötzlich aufgerissen wurde. Ein blutüberströmter Mann taumelte ins Freie. Ihm gelangen noch zwei, drei tapsige Schritte, dann kippte der nur noch von ein wenig Haut gehaltene Kopf vom Rumpf und stürzte mit dem bartlosen Gesicht nach unten in den Schnee. Nach einem weiteren Schritt sank auch der heftig blutende restliche Körper zu Boden,
wo er das Weiß dunkel färbte. Mei-Li mußte unwillkürlich an einen geschlachteten Hahn denken. Sie hatte oft zugesehen, wenn ein solches Tier, bereits kopflos, vom Hauklotz flatterte und noch eine gute Strecke zurücklegte, ehe es aufgab. Diese verzweifelten, längst entschiedenen Fluchtversuche hatten sie immer fasziniert. Hier nicht. Hier war das Opfer kein simpler Braten. Mei-Li schrie erstickt auf. Erstickt deshalb, weil ihr noch während der Lautbildung die Gefahr bewußt wurde, in die sie sich damit brachte. Schnell warf sie sich hinter den nächsten zugeschneiten Busch und spähte durch die untersten Äste zum Haus. Ihr Herz flatterte wie ein kleiner Vogel, und ihr Verstand setzte vor Angst fast aus. Die Quartiere waren niedrige, strohbedeckte Steinbauten. Den Kern der kleinen Siedlung bildete das Sanktuarium mit dem Reliquienschrein. Die umliegenden Gebäude boten genügend Raum zum täglichen Leben. Ein bescheidenes Leben, aber Mei-Li hatte nie etwas vermißt. Sie liebte ihre Mutter und ihren Vater und hatte früh gelernt, ihre Phantasie zu gebrauchen, um sich hier in der Zuflucht eigene Zufluchten zu schaffen. Sie hatte unsichtbare Freunde. Aber als sie jetzt nach ihnen rief, zeigte sich keiner von ihnen. Plötzlich verstummten die Schreie, und eine lähmende Stille senkte sich über die Siedlung. Wieder entstand Bewegung in der offenen Tür. Die Gestalt, die nun dort erschien, war Mei-Li fremd: eine blonde Frau in einem weiten Mantel, keine Asiatin. Sie stand eine Weile still in der Tür, ehe sie genau in jene Richtung schaute, wo Mei-Li sich verbarg. Dennoch hatte das Mädchen das
Gefühl, den Augen einer Blinden zu begegnen. Es war ganz sonderbar. Mei-Li fühlte sich entdeckt – aber nicht von den blinden Augen, sondern von etwas anderem, das nicht zu deuten war. Um den Hals der Unheimlichen wehte ein auffälliges Tuch, vielleicht ein Schal. Dieses Tuch fesselte viele Sekunden lang Mei-Lis Blick, und als sie sich endlich davon löste, begriff sie, daß die unheimliche Frau bereits unterwegs zu ihr war. Und sie fast schon erreicht hatte. Als das Schwert unter dem weiten Mantel zum Vorschein kam, sprang Mei-Li auf, schüttelte den Schnee ab und floh schreiend in Richtung ihres Elternhauses. Die Lähmung war von ihr gewichen. Sie brüllte sich die Lunge aus dem Leib. Als sie zurückblickte, sah sie, daß die blonde Frau mit dem bizarren Blick ihr folgte. Langsam, aber unwiderstehlich. Weiße Atemfahnen lösten sich mit jedem Hilferuf von Mei-Lis Lippen. Ihre Glieder waren fast blau, trotzdem ungeheuer heftig durchblutet. Es kribbelte überall unter dem naß anliegenden Kleid. Sie riß die Tür auf und rannte in die Küche. »Mutter …!« Ihre Mutter lag vor dem Herd, der Kopf mit dem immer noch sorgfältig zusammengesteckten Haar einen guten Schritt vom Rumpf entfernt. Ein regelrechter Blutsee hatte sich unter beidem ausgebreitet. Das Gesicht war gnädig zur Wand gedreht, so daß Mei-Li der konservierte Ausdruck darin erspart blieb. Dennoch reichten die Umstände, fast ihr Herz anzuhalten. »Vater …«, rann es über ihre Lippen. Sie wirbelte herum und hastete zum Sanktuarium. Von dort kam ihr aber bereits die unheimliche Frau entgegen. Mit
blutverschmiertem Schwert und blind scheinenden Augen. Mei-Li blieb stehen, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen. Ihr wurde schwarz vor Augen, und in diesem Moment sah sie einen ihrer unsichtbaren Freunde in einem anderen Quartier verschwinden. Sofort hetzte sie ihm nach. Die Schüler würden ihr beistehen. Sie mußten es tun … (Mutter ist tot!) Der Gedanke perlte von ihr ab. Ihr Verstand schien hinter eine Wachsschicht zu kriechen. Sie versuchte, eine bessere Realität aufzubauen und der bestehenden den Rücken zu kehren. Vieles ließ sich ungeschehen machen. (Aber nicht der Tod!) Sie hastete die Stufen zu jenem Quartier hinauf, wo ihr unsichtbarer Freund verschwunden war. Dieser war bereits Bestandteil einer anderen Wirklichkeit. Sie mußte ihn nur einholen und … Die Tür stand sperrangelweit offen. »Hilfe!« keuchte Mei-Li atemlos. »Helft –« Der unsichtbare Freund kauerte traurig zwischen Toten. Es tut mir leid, sagte seine bedauernde Geste. Ich wußte es auch nicht. Sonst hätte ich dich nicht … Noch bevor Mei-Li erneut herumfuhr, begriff sie zweierlei: Die Fremde stand bereits hinter ihr, und das Morden mußte schon wesentlich früher begonnen haben, als sie zunächst annahm. Sie hatte es in der Abgeschiedenheit ihrer selbstgeschaffenen Welt nur nicht früher gemerkt. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich ihr unsichtbarer Freund auflöste und verschwand. Sie hatte nicht genügend Kraft und Konzentration, ihn aufzuhalten. Vielleicht hatte es ihn auch nie gegeben. Vielleicht hatte es ihr be-
hütetes Elternhaus nie gegeben … Wo – bin – ich? stammelte das sich ausweitende Entsetzen. Waren alle tot? War sie die letzte Überlebende? Nein, dachte sie. Das kann nicht – Die Unheimliche füllte die Türöffnung aus. Ihr Mund sagte: »Hör auf, wegzulaufen. Du entkommst mir nicht. Niemand vermag das. Ich weiß längst, was ich herausfinden wollte, doch ich darf keine Gnade walten lassen. Jeder Überlebende könnte die Schuldige warnen. Das wäre schlecht. Es würde viel Freude zunichte machen.« Die Frau sprach englisch, und Mei-Li verstand es, denn sie hatte diese Sprache neben anderen schon in zartem Alter erlernt. »Hast – hast du meine Mutter … hast du sie alle …?« Das Mädchen stockte und wunderte sich zugleich, überhaupt einen Ton herausgebracht zu haben. »Ich tötete viele. Ob deine Mutter darunter war, weiß ich nicht.« Mei-Li schwankte stärker. (Weg. Ich will weg!) Die mitleidlose Gestalt kam näher. Sie hob die Klinge. Mei-Li wich zurück, bis eine Wand ihre Flucht aufhielt, überall lagen entleibte Tote. »Ich habe nie verstanden, welcher Mythos um Kinder gewoben wird«, sagte die Blinde mit geschlossenen Augen. Gleichzeitig schien das seltsame Tuch um ihren Hals mit tausend Augen auf Mei-Li zu starren. »Auch Kinder werden erwachsen, und es ist besser, die Zahl seiner Feinde beizeiten einzugrenzen …« Die Unheimliche redete wie mit sich selbst. Dann holte sie aus.
* NEIN! NICHT! TÖTE SIE NICHT! El Nabhal ignorierte die Einwände des unterdrückten WingroveBewußtseins. Die erpreßte Hand, das Schwert und er waren sich einig. Er holte aus, um das Mädchen aus dem Weg zu schaffen. Niemand durfte geschont werden. Er hatte mit wesentlich mehr Gegenwehr gerechnet. Aber zwischen den Monden waren Werwölfe läppische Schwächlinge – insbesondere solche, die, von Selbstzweifeln geplagt, hierher in die Abgeschiedenheit geflüchtet waren. Keiner hatte widerstanden. Nur ihren Anführer, der in den Köpfen aller herumspukte, hatte El Nabhal noch nicht aufgespürt. Dafür hatte er die Fortsetzung von Nonas Fährte in den Gedanken seiner Opfer gefunden. Er hatte nur das Tuch über sie breiten müssen, um ihre sterbenden Gehirne zu durchkämmen … Die Gesuchte war bis vor ein paar Tagen hier gewesen. Was die Ehemaligen ihres Rudels unter Folter verraten hatten, entsprach der Wahrheit. Dann aber war sie unverrichteter Dinge weiter nach Japan, genauer: nach Tokio, gereist, ohne den genauen Grund dafür zu hinterlassen. Es schien mit Problemen der dort ansässigen Werwölfe und der herrschenden Vampirsippe zusammenzuhängen.* Vielleicht wußte Chiyoda mehr. Ihn hatte sich El Nabhal bis zuletzt aufgespart. Den Betrüger, der all dies hier initiierte. Der behauptete, der Trieb eines Werwolfs ließe sich allein mit Mitteln des Geistes und der Meditation dauerhaft unterdrücken …!
*siehe VAMPIRA 32: »Das Tuch des Magiers«
Vielleicht glaubte dieser Verrückte selbst daran und verkroch sich jetzt irgendwo, während die Anhänger seiner Lehre niedergemetzelt wurden. El Nabhal würde ihn finden. Aber zuerst … In diesem Moment verschwand das Mädchen vor ihm in der Wand des Quartiers. Die Klinge traf nur noch nackten Stein! Im ersten Moment suchte El Nabhal die Ursache des Fehlschlags im Wingrove-Körper. Die Augen der Frau, in deren Körper er aus Mauretanien bis hierher gereist war, mußten sich irren. Werwölfe besaßen keine Magie. Und dieses Mädchen war kein Gespenst gewesen … Trotzdem blieb es verschwunden. Debra Wingroves untersuchten die stabile Steinwand und fanden keinen Hinweis auf den Verbleib des Kindes. In diesem Augenblick fragte eine reife Stimme: »Was hast du getan?« El Nabhal richtete die Sinne der geknechteten Frau auf den Eingang. »Du mußt Chiyoda sein«, sagte ihr Mund, ohne sich Überraschung anmerken zu lassen. Der Mann, der dort stand und die Toten nur mit kurzem Blick streifte, sah genauso aus, wie El Nabhal sich einen Durchgeistigten vorgestellt hatte. Er entsprach so sehr jedem diesbezüglichen Klischee, daß die letzten Zweifel schwanden, es mit einem Schwindler zu tun zu haben. Der weißbärtige, in eine helle Kutte gekleidete Alte mit dem schütteren Haar erwiderte nichts, als warte er immer noch auf die Ant-
wort zu seiner Frage. El Nabhal gab einen knappen Befehl, und der Wingrove-Körper trug ihn Chiyoda entgegen. Das Schwert mit der Silberklinge blieb offen sichtbar. Es machte keinen Sinn mehr, es zu verbergen. »Vielleicht kannst du mir erklären, wohin sie verschwunden ist«, sagten herausfordernd geschürzte Lippen. »Wer?« »Das Mädchen.« Chiyoda schien kurz zu erzittern. Sein faltiges Gesicht aber blieb unbewegt. »Ich weiß nicht, von wem du sprichst. Ich sah niemanden.« El Nabhal beschrieb das Mädchen sparsam. Dabei faßte er den Alten schärfer ins Auge. »Ich kenne niemanden dergleichen.« »Du lügst!« »Was macht das für einen Unterschied? Du hast gemordet. Warum? Wolltest du andere Mörder richten?« El Nabhal schüttelte verächtlich den Kopf seiner Sklavin. »Es interessiert mich nicht, daß dies alles Bestien waren. Ich bin wegen einer einzigen gekommen, die aber nicht mehr hier weilt … Ah, täusche nicht länger dieses Desinteresse vor, Alter! Vielleicht verschone ich dich, wenn du dich nur ein wenig entgegenkommender zeigst!« Einen Moment lang hatte El Nabhal das verstörende Gefühl, sein Gegenüber völlig zu unterschätzen. Aber er ging diesem Gedanken nicht nach. »Wen suchtest du hier?« »Nona.« »Nona?« »Willst du behaupten, auch sie nicht zu kennen?« fauchte der ge-
liehene Mund. »Ich kenne sie sehr gut.« »Na also. Ich weiß bereits, daß sie nach Tokio weitergereist ist. Nur würde ich gern mehr über den Grund erfahren, bevor ich mich auch dorthin aufmache.« »Du hast auch Nihombashi getötet. Hat er es dir nicht verraten?« »Wer ist Nihombashi?« »Der Grund für Nonas Abreise.« »Einer der Verrückten, die sich von dir blenden ließen?« El Nabhal begann zu ahnen, daß er nicht jedes seiner Opfer genügend befragt hatte. Jetzt war es zu spät, das Versäumnis nachzuholen. »… und von dir töten?« Chiyoda schüttelte den Kopf. »Ich blende niemanden. Ich versuche zu helfen.« »Wie ich!« höhnte der versklavte Mund. »Ich will Nona helfen.« »Wobei?« »Ihre Schuld zu sühnen!« »Welche Schuld? Wer bist du? Sie erwähnte nie eine Frau wie –« »Weil ich keine Frau bin!« fiel El Nabhal ihm ins Wort. Chiyoda lächelte, und auf eine fast niederschmetternde Weise fühlte der Magier sich dabei bis ins geheimste durchschaut. Dieses Gefühl verursachte dem Frauenkörper, den er lenkte, eine Gänsehaut. »Ich weiß …« Der alte Asiate nickte. »Nona ist meine Schülerin. Ich verrate niemanden, der mir vertraut.« »Schade, Alterchen. Obwohl – ich hatte eigentlich nicht wirklich vor, dich zu schonen.« »Ich weiß.« Ein unglaubliches Gefühl von Enge überkam El Nabhal in seinem
Tuch. Panik biß sich in sein Bewußtsein. Zum erstenmal, seit er aus seinem zerfallenden Leichnam auferstanden war, machte er sich klar, was er tatsächlich noch darstellte – auf was er reduziert war: auf puren, haßerfüllten Geist, eingewoben in ein Tuch, das Nona ihm im Sterben in den Mund gestopft hatte. Ein »Glückstuch«, das ihm kurze Zeit fast etwas wie Freude am Tod vorgegaukelt hatte. Aber der Tod hatte nichts Erfreuliches. El Nabhal wollte sich bitter für die damit gemachte Erfahrung rächen. Auch er hatte Nona vertraut – halbwegs. Ihre nie gebilligten Kontakte zu Landru jedoch hatten dieses Verhältnis getrübt. Und mit den wachsenden Eifersüchteleien hatte er schließlich seinen Untergang heraufbeschworen. Nona hatte zwischen ihm und Landru gewählt. Und sich für den Vampir entschieden. Spätestens, wenn sie dies gebüßt hatte, wollte der Magier sich auch seinem Rivalen zuwenden. Vielleicht würde er ihm Nonas Haupt schenken … Obwohl, ein Ohr oder die Nase taten es auch. »Ich werde auch gegen deinen Willen erfahren, was dir über die Gründe ihrer Weiterreise bekannt ist«, sagte Debra Wingrove. »Das bezweifele ich.« Wieder sprach der alte Mann mit einer Festigkeit, die El Nabhal in seinem Tuch das Gefühl gab, nicht Jäger, sondern Opfer zu sein. Absurd. Wie konnte er sich von einem solchen Bluffer beeindrucken lassen? Er lenkte den schlanken, wohlgeformten Körper bis auf zwei Schritte an den »Lehrmeister« heran. »Wären wir uns Jahre früher begegnet, hätte ich mir den Unsinn deiner Lehre erklären lassen.
Nun ist dafür keine Zeit.« »Das macht nichts«, entgegnete Chiyoda. »Du hättest sie auch Jahre früher nicht verstanden.« Sein Ton war gelassen, obwohl die Frau vor ihm jenes blutbefleckte Schwert hob, dem schon seine Schüler zum Opfer gefallen waren. »Wenn du auch nur annähernd so stark wärst, wie du vortäuschst, hättest du nicht zugelassen, daß ich alle töte«, zischte der Frauenmund. »Wäre ich hier gewesen, wäre es nicht passiert«, nickte Chiyoda. Es klang sehr überzeugt. Und sehr mysteriös. »Du warst hier. Was redest du –« El Nabhals Schwert fuhr auf Chiyoda, der einen Kopf kleiner als Debra Wingrove war, herab. Im nächsten Moment sollte er noch einen Kopf kleiner sein – aber das Schwert berührte ihn nicht einmal. Das Schwert verschwand, als hätte es die silbrig funkelnde Klinge nie gegeben! El Nabhals Geisel öffnete stumm den Mund. Ihr Gesicht entglitt zur Grimasse. Unmöglich, dachte der Magier. Er ist kein Hexer. Der Fluch der Wölfe lastet auf ihm, aber er besitzt keinerlei Magie. Ich würde es spüren! »Wie hast du das gemacht?« fragte er endlich. »Was meinst du?« erwiderte der Alte leutselig. El Nabhal peitschte den Wingrove-Körper nach vorn und zwang ihn, die Hände um den dürren Hals des Asiaten zu schließen. Ein Schwert fiel klirrend auf steinernen Boden. Ein Schwert? El Nabhal wußte nicht, wie er betrogen wurde. Aber es passierte. Sein Zorn auf den Alten explodierte. Gleichzeitig hatte er das weiter irritierende Empfinden, gar niemanden zu würgen, sondern ledig-
lich die eigenen, V-förmig gespreizten Hände gegeneinander zu pressen … Diesmal kämpfte er das irreale Gefühl nieder. Chiyoda blickte nachsichtig und gütig zugleich auf das Tuch, das um den Frauenhals geschlungen war. Er ignorierte die Präsenz des weiblichen Körpers. Er stöberte El Nabhal dort auf, wo er tatsächlich wurzelte! In der nächsten Sekunde strauchelte Debra Wingrove! Ihr mentaler Schrei drang bis in das Bewußtsein ihres Knechters. BITTE – NICHT … ICH BIN NICHT SCHULD. LASS MICH … Die Gedanken erstickten. Stille und eine Leere, die El Nabhal an die Zeit erinnerte, als er tot in der Oasenstadt auf erste Opfer gewartet hatte, waren alles, was er noch in dem gegeißelten Körper orten konnte. Das Bewußtsein der Frau war verschwunden. Ihre Hände ließen den einzigen überlebenden des Massakers los. (Falsch. Du vergißt das Mädchen!) El Nabhal hatte es nicht vergessen. Aber von ihr ging – im Gegensatz zu Chiyoda – keine Bedrohung aus. Der Magier sammelte seine Kräfte und stieß in die Leere, die das Wingrove-Bewußtsein hinterlassen hatte. Der Körper gehorchte zögernd, als wüßte er um seine verlorene Komponente. Mit besorgniserregender Mühe brachte El Nabhal ihn unter seine Kontrolle. Schwerfällig taumelte er auf das am Boden liegende Schwert zu und wollte sich danach bücken. Es verwandelte sich in eine Schlange, die sich ihm sofort entgegenbäumte. Ihre gebogenen Giftzähne wirkten mehr als echt. Der Frauenkörper zuckte zurück. Hinter ihm lachte Chiyoda nach Art eines Mannes, der seinen Humor am Grab eines Freundes abge-
geben hatte. »Du hast nicht nur sämtliche meiner Schüler getötet«, sagte der alte Mann, »auch mein Weib, das frei vom Fluche war, mußte sich deinem Haß beugen. Du wirst verstehen, wenn ich dir deshalb keine leichte Sühne zubillige …« »Verfllluchter Chund!« keuchte El Nabhal. Die Zunge mahlte wie lose im Mund der Besessenen. Die Schlange wand sich ihm entgegen. Aber er besann sich der Kräfte, über die er als Lebender verfügt hatte und auch jetzt noch gebot. Die Schlange verpuffte in einer Flamme. Glühend lag das Schwert am Boden. El Nabhal bückte sich. Er zwang den seelenlosen Wingrove-Körper, es aufzuheben. Es sengte sich durch Haut und Fleisch. Es spielte keine Rolle. Der Schmerz erreichte El Nabhal in seinem Tuch nicht mit voller Wucht. Irgendwo zwischen ihm und dem leeren Körper gab es einen »Puffer«, der alles filterte. Der Magier begriff plötzlich, wie sehr er das Bewußtsein der versklavten Frau brauchte, um ihren Körper wie bisher zu beherrschen und zu gebrauchen. Hölzern richtete er sich auf und drehte sich nach Chiyoda um. Der alte Lehrer floh nicht. Er schien keinen Anlaß zu sehen. Und El Nabhal glaubte in diesem Moment zu erkennen, daß Chiyoda wußte, was er ihm gerade angetan hatte. Wie war das möglich? »Wer – bist du – wirklich?« brachte er über die schwere Zunge. »Was ist wirklich?« erwiderte Chiyoda gelassen. »Der Tod – vielleicht. Auch ich habe noch keinen Weg gefunden, die Toten zurückzuholen. Man kann die Realität nicht derart beeinflussen, ohne alles zu zerbrechen. Du scheinst nicht zu ahnen, wie verletzlich das, was
du Wirklichkeit nennst, ist.« El Nabhal starrte mit den Debra Wingroves Augen auf das Schwert in deren Faust. Es hatte sich in Papier verwandelt. WAS GING HIER VOR? Er hatte eine Sekte erwartet, die sich von einem besonders gewieften Scharlatan an der Nase herumführen ließ. Aber Chiyoda war mehr. Welches Geheimnis verbarg er? Und nicht er allein … »Wer – war das – Mädchen, das vor meinen Augen verschwand?« fragte El Nabhal. »Du – kennst es. Leugne es – nicht länger!« Er hob den Arm und versuchte, daran zu glauben, ein richtiges Schwert und keines aus Papier in der Hand zu halten. Chiyoda lachte nur geringschätzig. El Nabhal holte aus und schlug zu, doch noch während des Schwungs verschwand der alte Mann, als hätte es ihn nie gegeben. Der Wingrove-Körper stürzte, als der Hieb ins Leere ging, zu Boden. Klirrend schlug auch das Schwert auf. Ein Schwert aus Stahl, nicht aus Papier …
* »Mei-Li?« Stille. Die Sonne stand hoch im Zenit. Es war heiß. Sommer.
Von irgendwo hörte Chiyoda die Stimmen der Schüler. Das Quartier, aus dem er ins Freie trat, war verlassen. Als sich Schritte näherten, wich er hinter eine Wand in Deckung. Sinnlos, dachte er. Die Mei-Li, die hier war, war nicht identisch mit der Mei-Li, die er suchte. Es gab zu viele Möglichkeiten. Er hörte ihr Lachen, aber wäre es die Gesuchte gewesen, hätte sie nicht gelacht. Dafür gab es nach dem Geschehenen keinen Anlaß. Als seine eigene sonore Stimme von fern an sein Ohr drang, wußte er, daß es Zeit wurde zu gehen, wollte er hier nicht für Verwirrung sorgen. Der Weg zurück war mühelos. Es mußte einige Zeit vergangen sein. Nur die Toten waren noch da – ihr Mörder nicht. »Mei-Li?« Keine Antwort. Vielleicht war es besser, wenn sie mit ihrer Rückkehr noch wartete. Anderswo war sie jetzt besser aufgehoben. Chiyoda ging, nahm Abschied von seiner Frau, hinterließ eine Nachricht für seine Tochter und folgte der Spur im Schnee …
* Tokio Sie wußte nicht, daß sie bereits selbst eine Gejagte war, als sie von Tomakai nach alter Sitte begrüßt wurde. Der Alpha-Wolf wußte, daß er es mit einer Gleichrangigen zu tun
hatte. Er wußte mehr von ihr, als ihr lieb war – und sie von ihm. Nona durchbohrte mit dem spitz zugefeilten Nagel ihres Zeigefingers die Innenfläche ihrer Hand, bis ein Tropfen Blut herausquoll, den sie Tomakai darbot. Er leckte ihn mit rauher Zunge und revanchierte sich auf gleiche Weise. Nona zeigte so wenig wie er, was sie dabei empfand. Hinter Tomakai standen zwei Angehörige seines Rudels wie Leibwächter. Sie trugen maßgeschneiderte Anzüge. Nichts an ihnen verriet, was sich unter der dünnen Schale Zivilisation verbarg. Erst in einigen Tagen würde es wieder zum Vorschein kommen. Bis dahin waren sie Menschen mit Kenntnissen, die menschliches Wissen weit überragten. Auch Nona war momentan kaum stärker oder schwächer, als es ihr äußeres verriet. Sie war das dritte Mal in ihrem Leben in Tokio. Nirgends sonst auf der Welt gab es eine solche Ballung von Leben. In keiner anderen Stadt der Erde gab es so viele Rudel wie hier, angeführt jeweils von einem Ranghöchsten. Außer den üblichen Demonstrationen der Stärke gab es keine Streitigkeiten. Reviergrenzen wurden respektiert. Jedes Rudel umfaßte zwanzig bis dreißig Werwölfe, die sich – soweit Nona unterrichtet war – größtenteils aus Yakuza-Mitgliedern rekrutierten. Die besten der Bruderschaften und Straßengangs erlangten irgendwann Zutritt zu diesem geheimbündlerischen Zirkel. Langlebigkeit war der Lohn für die Aufnahme. Nona erinnerte sich selten daran, wie alt sie inzwischen war. Ein Werwolf erreichte eine solche Zahl von Jahren eigentlich nie, und wäre sie damals nicht Landru begegnet … »Kamst du zufällig oder aus besonderem Grund?« fragte Tomakai lauernd. Das schlechte Gewissen stand ihm auf die fliehende Stirn
geschrieben. Er war kein schöner Mann. Groß und stark, ja, aber zugleich von dumpfer Selbstverliebtheit, die jeder objektiven Grundlage entbehrte. Sein Gesicht hatte mongolische Merkmale. Woher er stammte, hatte er nie verraten, aber Nona kannte Gerüchte, wonach er das Produkt vieler Generationen von Inzucht sein sollte, ehe ihn der Überfall eines Werwolfs mit unerwarteter Gunst ausgestattet hatte. Unerwartet deshalb, weil er den Verwandelten besiegt, sich aber zugleich mit seinem Fluch infiziert hatte. Was daran wahr und was Erfindung war, konnte und wollte Nona nicht unterscheiden. Dies war kein Freundschaftsbesuch. »Ich kam zuerst zu dir, weil es aussieht, als trügest du Schuld an dem, was mir zu Ohren kam.« »Wovon redest du?« fragte er barsch. Das weißt du gut, scheinheiliges Ungeheuer! dachte sie. »Ich sprach mit Nihombashi. Der Name sagt dir etwas?« »Er war mir unterstellt«, nickte Tomakai zögernd. »Aber er ist es nicht mehr«, sagte sie. »Nein.« »Du entbandest ihn von seinem Schwur, als er zu zweifeln begann.« »Du weißt es – warum fragst du also?« »Ich erwähne es, weil es mir zeigt, daß du dich trotz allem an die Regeln hältst.« Nona schwieg kurz, ehe sie fortfuhr: »Um so unbegreiflicher ist es, was Nihombashi berichtete.« Tomakai stieß verächtlich fauchend den Atem aus. »Wie könnte es anders sein! Du kamst, um Partei für sie zu ergreifen! Jeder weiß, daß du die Dirne eines der ihren bist!« Nona spannte jeden Muskel ihres Körpers an. Doch dann ent-
schied sie, die Provokation nicht anzunehmen. »Stimmt es, daß du dabei bist, einen Krieg gegen die Vampire anzuzetteln?« fragte sie beherrscht. Tomakai schüttelte den Kopf. »Du hast mit dem Falschen gesprochen«, sagte er herablassend. »Nihombashi war nicht wert, unserem Zirkel anzugehören. Sein Platz ist neu besetzt. Hör dir an, was Katsushika Hukosai dazu zu sagen hat!« »Ist das der angeblich Überfallene?« Tomakai bog die Mundwinkel nach unten. »Angeblich? Er entkam mit knapper Not … Wir hielten uns immer an den Pakt, obwohl mancher von uns ihn für ein Zeichen der Schwäche hielt. Gebrochen wurde er von ihnen. Und dagegen müssen wir uns wehren!« »Es würde den Untergang der Rudel bedeuten«, sagte Nona hart. »Ich glaube nicht, daß andere Alpha-Wölfe bereit sind, dir in dieses Abenteuer zu folgen!« »Sie werden – und sie tun es bereits.« »Was soll das heißen?« »Nichts weiter, als daß wir uns im Krieg befinden. Es kam keine Entschuldigung für den Vorfall in der Marunouchi-Linie. Man wollte uns die Friedensbrecherin nicht ausliefern, obwohl wir sie beschreiben konnten!« »Kannte die Vampir-Sippe sie überhaupt?« »Angeblich nein.« »Fällt dir sonst nichts ein?« »Du strapazierst die Gastfreundschaft«, sagte Tomakai. »Wenn du gekommen wärst, uns in unserem gerechten Kampf zu unterstützen …« »Narr!« Die beiden Männer hinter ihm rückten mit Drohgebärde einen
Schritt auf Nona zu. Sie sah ein, daß sie so auch nicht weiterkam. »Was sagt Keyno zu den Vorwürfen?« »Ich sagte es bereits: Er leugnet und läßt sich verleugnen.« »Wann kann ich mit dem Opfer des Angriffs reden?« »Ich müßte ihn verständigen – oder du suchst ihn direkt auf.« »Wenn du mir sagst, wo ich ihn finde?« Wenig später war Nona unterwegs zum Imperial-Hotel am Hibiya-Park. Katsushika Hukosai empfing ihn in seiner Privat-Suite. Nona wies sich aus, wie Tomakai es ihr empfohlen hatte. Hukosai kannte ihren Status nicht; er gehörte erst seit kurzer Zeit zur Riege der Werwölfe. »Was willst du?« fragte Hukosai und musterte sie unverschämt. Zugleich erweckte er den Eindruck, auf ihren Besuch vorbereitet worden zu sein. Sicherlich hatte Tomakai ihm telefonische Instruktionen gegeben, wie er sich zu verhalten hatte. Hukosai senkte erst den Blick, als Nona ihn auf sein Erlebnis in der Tokioter U-Bahn ansprach und sich eine absolut zuverlässige Beschreibung der Vampirin erbat, welche ihn attackiert hatte. In fast beleidigtem Ton wiederholte er die Angaben, die er bereits Tomakai gemacht hatte. Nona begriff sofort, daß sich diese Angaben nicht wesentlich von dem unterschieden, was sie bereits aus Nihombashis Mund gehört hatte, dem Werwolf, der Zuflucht bei Chiyoda gesucht hatte. Es konnte sich um Lilith Eden handeln – aber ebenso gut um eine andere Vampirin mit einer gewissen Ähnlichkeit. Hukosai faselte etwas von »fremdländischem« Flair. Aber sie hatte perfektes Japanisch gesprochen, akzentfrei. Nona war nicht viel schlauer als vorher. Da sie längere Zeit keinen Kontakt mehr mit Landru gehabt hatte, wußte sie auch nichts über
den weiteren Werdegang seiner Erzfeindin. Handelte es sich wirklich um sie, würde Nona ihrem Geliebten gewiß einen Freundschaftsdienst leisten können, wenn sie ihm die Spur zu ihr wies – oder sie eigenhändig unschädlich machte. Letzteres allerdings war gefährlich, möglicherweise tödlich. »Kam es seither noch einmal zu einem Zwischenfall mit dieser Frau?« fragte sie den Werwolf im Deckmäntelchen eines erfolgreichen Yakuza-Bosses. »Nein«, antwortete Hukosai noch beleidigter. Ihre Zweifel an seiner Aussage waren ihm nicht entgangen. »Wer bist du, daß du dir ein solches Auftreten anmaßt …?« Er kniff die Lippen zusammen wie jemand, der sich erinnert, dieselben Worte vor nicht langer Zeit selbst gehört zu haben. »Laß dich von Tomakai an der Hand nehmen. Er wird es dir gern erklären«, verabschiedete sie sich verächtlich. Ihre eigene Rasse schien ihr plötzlich fremder als die Vampire, die diese Stadt und diesen Planeten unter ihrer Knute hielten. Nur entsetzlich dumme Geschöpfe konnten glauben, es mit einer solchen Macht aufnehmen zu können. Sie kehrte zu Tomakai an den Ort der Werwolf-Zusammenkünfte zurück, um sich ihm und den anderen Alpha-Wölfen als Unterhändlerin anzubieten. Bei einem Krieg zwischen traditionell Verbundenen konnte es nur Verlierer geben …
* Das Restaurant hieß Daikokuya und lag in der Altstadt nahe dem Asakusa-Tempel. Ein bohrender Hunger nach anstrengendem Stu-
dium trieb Beth MacKinsay dorthin. Daniela Thompson, ihre Begleiterin, besuchte dieselbe Klasse an der Abendschule und paukte, wie sie, Umgangs- und Schriftsprache des Landes. Kenntnisse in beidem benötigte vor allem die arbeitslose Beth dringend. Sie hatte noch nicht bei allen hier niedergelassenen Zeitungen vorgesprochen, aber der Tenor bei ihrer Jobsuche war bislang überall derselbe gewesen: Niemand hatte Verwendung für eine ausschließlich englisch sprechende Mitarbeiterin. Das Englische hätte ihr Vorteile bringen können – aber nur in Verbindung mit der Landessprache. Und die war schwer. Das Japanische hatte viele Eigenarten, es unterschied weder Artikel noch Geschlecht. Allgemeinplätze, die man beim Einkaufen oder anderen Erledigungen anbringen konnte, waren zwar relativ schnell erlernt, aber das war nur ein dürftiger Grundstock. Für die von Beth angestrebten Story-Recherchen benötigte man tiefe Kenntnisse der sozialen und psychologischen Sprachnuancen, und diese waren außerordentlich vielschichtig. Je nach Status der Gesprächspartner wurden unterschiedliche Vokabeln und grammatikalische Spitzfindigkeiten verwendet. Was das anging, stand sie noch ziemlich am Anfang – trotz Liliths hypnotischer Unterstützung, die ihren Geist für die schwierige Materie geöffnet hatte. Daniela war eine sympathische Bekanntschaft. Mit ihr hatte sich Beth gleich am ersten Abend angefreundet. Sie war mit einem amerikanischen Top-Manager verheiratet, der hier eine Konzernfiliale auf Vordermann bringen sollte. Japanisch war für sie jedoch weit mehr als ein Zeitvertreib zur Überbrückung der Langeweile. Im Gegensatz zu Beth schien sie die
Sprache zu lieben. Entsprechenden Vorsprung hatte sie bereits, auch was das »Außersprachliche« anging: die Sitten und Gebräuche. Ehe sie selbst bestellen konnten, wurden sie Zeugen eines kargen Dialogs am Nebentisch. Zwei sichtlich verunsicherte Touristen suchten, wie zu entnehmen war, in der schwer enträtselbaren Speisekarte offenbar vergeblich nach einer Übersetzung der aufgeführten Gerichte. Als die überaus freundlich lächelnde Bedienung mit Bestellblock und Stift zu ihnen trat, baten sie um entsprechende Hilfestellung. Die Antwort lautete: »Sorry, no english.« Man gab nicht auf. Aber die Antwort blieb stets dieselbe: Die immer noch sehr, sehr freundliche Bedienung wiederholte den einzigen Spruch, den sie zu beherrschen schien. Beth konnte es nicht mehr mit ansehen. Sie wollte helfend eingreifen. Aber Danielas Hand hielt sie zurück. »Nicht!« flüsterte sie. Verdutzt schaute Beth ins Gesicht ihrer Begleiterin. »Warum nicht?« »Es gibt Orte, insbesondere Lokale, in denen Japaner lieber unter sich bleiben – zumindest aber Respekt erfahren wollen. Dies scheint mir ein solcher Ort zu sein.« »Du meinst«, fragte Beth in Flüsterton zurück, »respektlos ist bereits, wenn man seine eigene Muttersprache gebraucht?« »Korrekt.« Daniela Thompson lächelte beifällig. »D mo«, sagte Beth. Das Ritual in ihrer Nähe hatte inzwischen seinen Abschluß gefunden. Das Touristenpaar verließ Tisch und Lokal. Die Bedienung wandte sich lächelnd ihnen zu. In ihren Augen glaubte Beth zu lesen, daß sie offenbar eine Wiederholung des gera-
de bewältigten Aktes erwartete. Sie wurde enttäuscht. Vielleicht war sie auch erfreut – aber ein Lächeln, das keine Nuancen kannte, gab darüber wenig Aufschluß. Daniela bestellte Sushi und Sake, Beth einen Blattsalat mit der Betonung »ohne rohen Fisch«. Auch ein Fauxpas – vielleicht. Aber geduldet. »Ich hasse dieses nur in Essig marinierte Zeug«, erläuterte sie, als sie wieder unter sich waren. »Hast du es jemals gekostet?« »Nein. Mir genügt die bloße Vorstellung, was es ist.« »Du kannst von meinem probieren; du wirst überrascht sein.« »Zweifellos. Nein, danke.« »Sonst noch traumatische Vorurteile?« »Nur Erlebnisse.« »Welcher Art?« »Ich war kürzlich in einem anderen Restaurant und wurde Zeugin schlimmster Tierquälerei. Sagt dir Sashimi etwas?« Danielas Augen blitzten. Sie nickte. »Scholle, lebendig.« »Anfangs«, bestätigte Beth. »Als das an einem Nebentisch serviert wurde, traute ich meinen Augen nicht. Sie kam bereits vollständig filetiert auf den Teller, aber ohne ein einziges lebenswichtiges Organ zu verletzen!« »In Shiso-Blättern gepackt und mit Rettichsenf überstrichen – ich weiß«, nickte Daniela. »Der Fisch konnte quasi in seinen letzten Atemzügen zusehen, wie er verspeist wurde.« »Abscheulich.« »Nein, hiesige Lebensart.«
»Es kommt selten vor, daß ich Aggressionen auf ›Mitesser‹ entwickele – aber dort stand ich kurz davor, hinzugehen und dieses Arschloch zu filetieren!« »Er hätte es nicht verstanden.« Beth lachte. »Vermutlich nicht.« Daniela stimmte in das Gelächter ein und sagte schließlich: »Ich bin froh, dich kennengelernt zu haben. Die anderen im Kurs sind mir alle zu brav.« »Brav? Und ich?« »Du bist frech, eindeutig.« »Na, na.« »Doch, du hast so etwas Aufmüpfiges, und das gefällt mir.« Ihr Essen kam. Beth konnte eine letzte abfällige Bemerkungen über Danielas Gericht nicht unterdrücken. »Es soll hier populäre Fernsehküche geben«, sagte sie, »die sich öffentlich darüber streiten, ob jedes Reiskorn eines Sushi in derselben Richtung zu liegen habe … Aber wie du schon sagtest: Hiesige Lebensart.« Daniela wollte etwas erwidern, als dort, wo die zentrale »Logistik« des Restaurants untergebracht war, Unruhe entstand. Vor dem Zugang zur Küche tauchten neben der Theke zwei äußerst auffällig unauffällig gekleidete Herren auf. Sie sahen nicht sehr anziehend aus, und so schien auch der Besitzer des Restaurants zu empfinden, obwohl er geschäftig heraneilte und sie wort- und gestenreich durch die Pendeltür aus dem Blickfeld seiner Gäste dirigierte. Daniela war Beth’ Blicken gefolgt und sagte ernst: »Die Krake ist überall. Nicht nur in Amerika und Italien.« »Krake?« echote Beth, obwohl sie bereits ahnte, worauf Daniela anspielte.
»Yakuza«, sagte die braunhaarige, hübsche Frau, die vielleicht ein, zwei Jahre jünger als Beth war. »Die hiesige Mafia – und genauso ›ehrenwert‹ wie sonstwo auf der Welt.« »Hast du Erfahrungen mit ihnen gemacht?« »Gottseidank nicht persönlich. Aber mein Mann hat mir erzählt, daß noch vor Jahren kaum ein Geschäft ohne das Wohlwollen des organisierten Verbrechens möglich war.« »Heute ist das anders?« »Vieles ist anders. Die Yakuza hat nicht mehr die Lobby, die sie jahrzehntelang gewohnt war. Der Staat schlägt zurück. Und dann gibt es noch die Konkurrenz im kriminellen Lager. Ausländische Organisationen dringen in die Märkte …« »Du bist gut unterrichtet. Vielleicht komme ich irgendwann einmal für Recherchen auf dich zurück.« Daniela lächelte. »Gern. Wobei ich immer noch nicht begreife, wie eine Reporterin ohne Sprachkenntnisse und ohne Arbeit nach Tokio ziehen kann. Du mußt sehr reich sein.« Beth schüttelte den Kopf. »Ich bin arm wie eine Kirchenmaus.« »Und sehr auskunftsfreudig über dein Leben bist du auch nicht. Ich weiß nicht einmal, wo du wohnst. Wir treffen uns immer nur zu den Kursen. Schade eigentlich.« Beth’ Miene verdüsterte sich. Das war die Crux, die sie anfangs sogar zögern ließ, sich auf Freundschaften einzulassen. Es würde schwer sein, irgend jemanden zu sich nach Hause einzuladen. Ein Zuhause, das sie mit einer Halbvampirin teilte. »Es tut mir leid.« »Das muß es nicht. Du wirst deine Gründe haben. Ich sage nur, daß es schade ist.«
»Ich glaube, ich muß jetzt gehen.« Beth blickte auf ihre Uhr. »Die letzte U-Bahn fährt um Mitternacht.« »Du hast deinen Salat noch nicht angerührt.« »Kein Hunger.« Daniela wiegte skeptisch den Kopf. »Ich wollte nicht indiskret werden – und ich bringe dich gern mit meinem Wagen nach Hause.« Nach Hause … Beth blickte in das klare, offene Gesicht dieser fast gleichaltrigen Frau – und plötzlich war sie sicher, daß sie schon immer darauf gewartet hatte, eine »normale« Beziehung zum gleichen Geschlecht aufzubauen. Sie hatte nur nie das passende Exemplar getroffen. »Okay«, sagte sie. »Wenn es dir nichts ausmacht, bring mich zum Schinrei-Building. Dann können wir noch in Ruhe weiterplaudern.« »Schinrei-Building?« Daniela Thompson schüttelte grinsend den Kopf. »Arm wie eine Kirchenmaus … Verstehe. Sieht aus, als wärst du noch für manche Überraschung gut.« Hoffentlich nicht, dachte Beth.
* Zur gleichen Zeit Kyonosuke Okutani sah sich noch einmal nach beiden Seiten des Korridors um, bevor er die Tür seines Apartments aufschloß und sich hinein begab. Auch als er die Tür hinter sich wieder schloß, wurde er das Gefühl nicht los, verfolgt zu werden.
Müde strich er sich über die Augen. Er war überarbeitet. Ein 16-Stunden-Tag war die Regel, seit er als Jahrgangsbester begonnen hatte, Stufe um Stufe die Karriereleiter zu erklimmen. Auch heute war es wieder spät geworden. Ein leises Klatschen der Hände aktivierte die dezente Beleuchtung. Nachdem er aus den Schuhen und in bereitstehende Lederpantoffel geschlüpft war, führte sein erster Weg ins Bad, wo er heißes Wasser in die Wanne laufen ließ. Anschließend kleidete er sich komplett aus und streifte einen hauchdünnen Hausmantel über den schmächtigen Körper. Der tägliche Streß hatte ihn gezeichnet. Manchmal hatte er Herzrasen, und immer öfter griff er zu Tabletten, um die Belastungen zu überstehen. Mit 32 Jahren gehörte er zu den »jungen Erfolgreichen« in einer Branche, in der man mit Vierzig schon zum alten Eisen gehören konnte – es sei denn, man hatte sich bis dahin auf einen ruhigeren Posten gerettet. Schweigend stellte Okutani sich vor den Spiegel und wusch sich das Make-up vom Gesicht. Es gehörte seit einem guten Jahr ebenso wie die Tabletten zu seinem Rüstzeug, um sich über die Runden zu retten. Niemand sollte diese dunklen Ringe unter seinen Augen bemerken. Nach Feierabend klappte er manchmal regelrecht zusammen, und er wußte nicht, wie lange er diesen Raubbau der Kräfte noch betreiben konnte. Letzte Woche hatten sie einen zwei Jahre jüngeren Kollegen bestattet … Die Wanne war zu zwei Dritteln gefüllt. Er drehte den Hahn zu und kippte ein paar entspannende Essenzen ins dampfende Wasser.
Die ätherischen Öle drangen sofort in seine Atemwege. Er legte den Mantel ab und stieg ins Wasser, die Tabletten in Reichweite. Als er sich gerade ausgestreckt hatte, hörte er das Klirren von Glas. Es kam aus dem Wohnzimmer. Okutani verkrampfte. Sofort geriet sein Puls außer Kontrolle. Er kam sich jämmerlich vor, wie er aus Furcht vor einem Einbrecher plötzlich zu keinem vernünftigen Gedanken mehr fähig war. Er besaß eine Waffe, aber nicht … Die Tür ging auf. Okutani starrte erleichtert und erschüttert zugleich auf die attraktive Frau, nach deren Lächeln er wie nach einem Strohhalm griff. »Wer –?« »Psst …« Sie kam näher. Geschmeidig. Sie hatte langes schwarzes Haar, und in ihrem Gesicht vereinigten sich auf sonderbare Weise die Merkmale vieler Nationalitäten. Möglicherweise war sie hier geboren. Vieles, wie die leicht schräg gestellten Augen, die hohen Wangenknochen und der bleiche Teint, sprach dafür. Anderes weckte Zweifel. Ihre Kleidung beschränkte sich auf ein hauteng anliegendes graues Etwas, das vom Hals bis zu den Füßen reichte. Es wirkte wie weiches Leder und verriet in allen Details, was sich darunter verbarg. Selbst die Kerbe in ihrem Schritt war deutlich erkennbar. Okutani hatte plötzlich den übermächtigen Wunsch, diese Fremde zu besitzen. Alle Müdigkeit war wie weggeblasen. Selbst sein Puls beruhigte sich unter dem besänftigenden Blick dieser Frau.
(Dieser Einbrecherin!) Okutani rief sich ungern in Erinnerung, daß er vermutlich in großer Gefahr schwebte, auch wenn er bislang keine Waffe an der Fremden entdeckte. »Was wollen Sie?« fragte er beherrscht. Ungläubig registrierte er, daß sie neben der Wanne auf den Boden kniete und die Hände auf den Rand legte. Ihr Gesicht kam dem seinen sehr nahe. »Wir müssen reden«, sagte sie. Wie sie es sagte, klang es nicht halb so absurd, wie es hätte klingen müssen. »Worüber?« fragte er mit trockener Kehle und dem kaum noch bezähmbaren Verlangen, sie anzufassen, um herauszufinden, ob sie aus Fleisch und Blut oder lediglich ein Ergebnis seines Medikamentenmißbrauchs war. In diesem Moment streckte sie selbst die Hand aus und tauchte ins warme Wasser, um seinen Bauch zu streicheln. Sehr zärtlich, fast gedankenverloren. »Du bist doch Chef«, sagte sie. Sie sprach akzentfrei und doch mit außergewöhnlicher Wahl der Begriffe. Okutani nickte zögernd. »Dann bitte ich dich um einen Gefallen und ein paar Auskünfte.« Okutani lag immer noch bis zum Hals im Wasser. Die Hand auf seinem Bauch bewirkte etwas kaum für möglich Gehaltenes: Er bekam eine Erektion, die jedoch nur ihn selbst zu beschäftigen schien. Die Hand blieb auf seinem Bauch. »Wie sind Sie hereingekommen?« fragte er mit rauher Stimme. Die Unbekannte zuckte die Achseln. Er hatte das Gefühl, in ihren
grünen Augen zu versinken. »Es ist nicht wichtig – oder? Eine Scheibe läßt sich reparieren, und ich werde nicht ohne Wiedergutmachung gehen.« Etwas in Okutani krümmte sich. Alles, was aus dem Wasser herausragte, fühlte sich plötzlich sehr kalt an. Er schämte sich, daß er nicht einfach aufstand und diese Frau für die Demütigung bezahlen ließ. Denn es war eine Demütigung. Sie behandelte ihn wie … Die Hand wanderte höher. Okutani bedauerte die eingeschlagene Richtung. Sehnsüchtig löste er den Blick aus den Augen der Frau und blickte an sich herab. Gleichzeitig erreichten die schlanken Finger seine Lippen. Der Zeigefinger drang dazwischen und streichelte seine Zunge wie zuvor den Bauch. Er glaubte ohnmächtig zu werden. Zitternd hörte er sich an, was sie von ihm wollte. Sie ist wahnsinnig, dachte er und hörte sich dennoch sagen: »Das dürfte kein Problem sein. Ich werde sie mir ansehen.« »Ansehen genügt nicht.« »Ich weiß«, krächzte er heiser. »Wofür sind diese Pillen?« Ich weiß es nicht mehr. »Zur Entspannung. Ich habe auch welche, die das Gegenteil bewirken.« »Ich glaube nicht, daß das gut für dich ist. Ab heute wirst du darauf verzichten. Ich zeige dir, wie du auch ohne dies entspannen kannst – oder auch das Gegenteil davon.« Sie zog sich, was den Finger anging, aus seinem Mund zurück. Seine Lenden glühten wie von flüssigem Feuer durchströmt. Seine Au-
gen bettelten: Lösche mich … Sie kannte alle seine Wünsche und glitt zu ihm in die Wanne. Endlich.
* Zur selben Zeit … Über dem öffentlichen Ziergarten stand ein Mond, der – noch unvollkommen – seinen Zauber über Mensch, Tier und Vegetation ausschüttete. Die dürren, überwiegend blattlosen Äste der Bäume ragten fast flehend zu ihm empor, als könnte er ihnen das verlorene Laubkleid zurückgeben. Doch falls er es konnte, erhörte er sie nicht. Jemand frohlockte dennoch im Bad seines Lichts – obwohl der Tod nahe war. Doch Schlafes Bruder würde nur einen Körper antreffen, dessen Seele schon lange gestorben war und der nur noch vom Willen eines rachsüchtigen alten Magiers aufrecht gehalten wurde. Die Zähne eines Vampirs näherten sich Debra Wingroves Hals. Um den verführerischen Quell zu erschließen, der dort pulsierte, mußte ein Tuch, das die Frau umwehte, berührt und beiseite geschoben werden … El Nabhal gestattete dem Blutsauger nur einen kurzen Genuß – dann breitete er sich erstickend über das Bewußtsein des Jägers, den er zum Opfer degradierte. Es wurde ein Akt der Befreiung. Für den Magier.
Die Konfrontation mit Chiyoda hatte das Wingrove-Bewußtsein ausgelöscht. Von diesem Moment an war es ungleich schwieriger – und zum Ende hin fast unmöglich – geworden, ihren versklavten Körper zu halten. Das Bewußtsein des Gastkörpers hatte sich als unverzichtbare Voraussetzung entpuppt, um das Opfer mit geringstem Kraftaufwand zu knechten. Im Grunde steuerte dieses Bewußtsein seinen Körper weiterhin selbst – nur nicht mehr nach seiner, sondern nach El Nabhals Vorstellung. Ein Wechsel des »Wirts« war unverzichtbar geworden, wollte der Magier seine vollen Möglichkeiten ausspielen. Bei der ersehnten Konfrontation mit Nona würde jede Form von Schwäche bestraft werden … Einen x-beliebigen Vampir (keine Dienerkreatur) aufzuspüren und anzulocken, war El Nabhal nicht schwergefallen. Er hatte Debra als attraktiven Köder angeboten. Mit Erfolg. Ein Vampir war auf das scheinbar leichte Opfer aufmerksam geworden und der Lockung erlegen – im wahrsten Sinne des Wortes. Was El Nabhal nun jedoch beim Wildern in den fremden Gedanken erfuhr, machte ihm Nonas Beweggründe, nach Tokio zu reisen, um vieles klarer – und bewog ihn zugleich, noch einmal umzudisponieren. Der Körper des Blutsaugers, so stark er auch sein mochte, war nicht der richtige für seine neuen Pläne. Magisch erschuf er sich ein geeignetes Werkzeug, der veränderten Zielsetzung angepaßt. Debra war bereits etwas unterkühlt, als er in sie zurückkehrte und für wenige Augenblicke zwei Körper kontrollierte. Der Vampir wehrte sich vergeblich gegen seine Pfählung. Die Frau, die längst nicht mehr existierte, verließ danach eilig den
Ort des Geschehens.
* Jedes Mitglied der Tokioter Vampir-Sippe, egal wo es sich gerade befand, empfing den Todesimpuls. Ihr Oberhaupt Keyno eilte selbst zum Ort der Tat. Er fand nur noch Asche auf gefrorenem Boden – und einen verhängnisvollen Holzpflock, in den die verräterische Zahl eingeritzt war: 893. Ya-ku-za. »Sie machen ernst«, staunte das Oberhaupt und befahl, während die Reste geborgen wurden: »Versucht, der Spur des Pfählers zu folgen!« Die ihn begleitet hatten, schwärmten aus, fanden aber nichts, was einer verfolgbaren Fährte gleichkam.
* »Du hattest Besuch?« Während Lilith auf Beth zuging, schloß sich hinter ihr der Penthouse-Lift mit einem leise saugenden Geräusch. Die Beleuchtung war dezent gedimmt. Auf dem Lacktischchen im Wohnsalon standen zwei Teegedecke. Beth hockte sich vor einem von ihnen hin und nippte an der kunstvoll bemalten Tasse, die sie mit beiden Händen umschloß. »Wie
kommst du darauf?« fragte sie. Lilith setzte sich ihr gegenüber in gleicher Manier auf ein Kissen, und einen Moment glaubte sie der Wärme nachspüren zu können, die ein anderer Mensch hinterlassen hatte. Sie konnte sich irren. »Ich mache mir nichts aus Tee, ganz einfach«, sagte sie. Sie beugte sich leicht vor und sah, daß die Tasse noch randvoll war. »Warum also das zweite Gedeck?« »Wunschdenken«, erwiderte Beth melancholisch. Sie schien durch Lilith hindurch zu blicken und setzte die eigene Tasse nicht ab. Lilith rutschte kurzentschlossen um den kleinen Tisch herum neben Beth. Nur noch das kleine Stützpolster für den Ellbogen war zwischen ihnen, als sie den Arm um sie legte. »Was ist? Rede darüber! Hast du eine Krise?« Beth starrte immer noch vor sich hin. »Was ist passiert? Gefrustet vom Schulstreß? Hast du es dir leichter vorgestellt?« Beth schüttelte den Kopf. »Es geht voran.« »Trotzdem fällt dir die Decke auf den Kopf …« »Nein!« »Was dann?« Beth drehte ihr das Gesicht zu und fauchte: »Willst du es wirklich wissen?« »Ich denke, ich hätte sonst nicht gefragt.« Ihre Freundin biß die Zähne zusammen. Ihre Augen funkelten. Aber der Zorn darin wußte bereits, daß er es sich zu leicht machte. »Ich war nach dem Kurs noch mit jemandem essen«, sagte sie gepreßt. »Daran kann ich nichts Problematisches erkennen.«
»Sie hat mich mit ihrem Wagen hierher gefahren …. und ich hätte sie gern noch mit hochgenommen.« »Hast du nicht?« »Nein!« »Warum nicht?« Lilith hielt inne, las tiefer in den Gefühlen, die Beth zeigte, und lächelte schließlich. »Wenn du befürchtest, ich könnte etwas gegen …« »Du verstehst nichts«, fauchte Beth. »Sie ist nur eine Bekannte. Wir verstehen uns gut. Ich mag sie – rein platonisch. Aber das Gedeck steht nur hier, weil ich mir vorgestellt habe, wie es wäre, wenn wir uns hier noch hätten weiter unterhalten können.« »Warum hast du darauf verzichtet? Wegen mir?« »Wegen der Situation.« Beth stellte die Tasse ab und drehte sich Lilith weiter zu. »Heute abend ist mir zum erstenmal klargeworden, wie sehr ich darunter leide.« »Daß wir uns verstecken müssen?« Lilith strich über Beth’ Rücken. »Daß ich Angst um jeden habe, den ich durch eine Freundschaft hineinziehen würde in die Gefahr, an die ich mich selbst schon fast gewöhnt habe.« »Du bedauerst, dich mit mir eingelassen zu haben«, sagte Lilith, »und ich kann es dir nicht verdenken. Aber ich kann auch nicht ungeschehen machen, daß es dazu kam …« »Hör auf!« Beth erhob sich. Liliths Hand fiel von ihr ab. »Es ist einfach so, wie es ist. Ich werde mich schon damit arrangieren … Gute Nacht!« In diesem Moment läutete das Telefon. Beth hielt wie festgefroren inne. Ihr Blick irrte zu Lilith. Es war fast halb zwei in der Frühe. Die freigeschaltete Leitung diente bislang lediglich ihrer vergeblichen Arbeitssuche. Noch stan-
den sie in keinem Telefonbuch. »Soll ich drangehen?« fragte Lilith. »Nein …« Beth stand näher beim Apparat und hob mit gefurchter Stirn ab. In der Folge entwickelte sich ein – zumindest von ihrer Seite – recht einsilbig gehaltenes Gespräch. Ihrem Gesicht war nicht zu entnehmen, worum es ging, und als sie aufgelegt hatte, stand sie noch eine Weile starr da. »Was ist? Wer war das? Deine … Bekannte?« Beth drehte sich kopfschüttelnd um. Sie schien keinen Gedanken mehr an den Frust vor dem Telefonat zu verschwenden. »Wenn ich es richtig verstanden habe«, sagte sie zunehmend fassungsloser, »habe ich gerade einen Job erhalten …«
* Kiko Kaori legte letzte Hand an ihr gespenstisch weißes Puppengesicht. Mit knallroter Schminke stilisierte sie den Mund zu einer Aufmerksamkeit heischenden Rundung. Als das Telefon läutete, glomm es in ihren Mandelaugen. Manchmal riefen Leute bei ihr an und beschimpften sie unflätig. »Teufels-Geisha« war noch eine der harmloseren Titulierungen, mit denen sie bedacht wurde, seit bekannt geworden war, daß sie »Gesellschaftsdienste« außerhalb eines der renommierten Geisha-Häuser anbot – auf eigene Rechnung sozusagen, und zu Dumping-Preisen. Sie hob ab und kiekste ihre einstudierte Begrüßungsformel. Tatsächlich drohte eine zitternde Männerstimme: »Y jo! Schlampe! Du entehrst deinen Berufsstand! Wir werden nicht länger dulden, daß du unsere Geschäfte schädigst. Ich –«
»Wie heißt du?« fragte Kiko schmeichelnd und ohne Anzeichen von Einschüchterung. Stille. »Aya«, kam es endlich nach langem Überlegen. »Du klingst sehr sexy, Aya. Wo finde ich dich?« Wieder ließ die Antwort auf sich warten. Doch Kiko war geduldig und wurde belohnt. »Bist du groß und stark, Aya, oder auch nur klein und fett und komplexbeladen wie die anderen, die mich wie eine gemeine Dirne beschimpfen?« fragte sie als nächstes. »Ich bin nichts davon.« »Sondern?« »Ich – weiß nicht …« Sie genoß seine Hilflosigkeit, gab ein paar letzte Anweisungen und legte auf. Dann schlüpfte sie in die stelzenhaft klobigen Holzpantoffel. Ihr teurer Kimono mit den langen Schleppärmeln umfloß farbenprächtig den schlanken Körper. Der nach hinten gelockerte Kragen dekolletierte Nacken und Haaransatz. Mit kleinen, schnellen Schritten verließ sie die Wohnung und winkte sich das erstbeste Taxi herbei. Als sie sich vorn neben den Fahrer setzte, hob dieser zunächst zu einem Einwand an. Aber dann sparte er sich den Versuch, sie nach hinten zu beordern. Personen der Künste, wie Kiko, wurden selbst in den Hana-machi, den »Blumenvierteln«, immer rarer. Es fanden sich nicht mehr viele, für die es einen Ansporn bedeutete, Männer untertänigst verzaubern zu dürfen. Ein echtes Gespräch zwischen Kiko und ihrem Chauffeur kam nicht auf, und dies lag zweifellos an der Geisha, die Schirm und Fächer festhielt.
Sie nannte eine Adresse im Roppongi-Bezirk, wo das Herz des Tokioter Nachtlebens am heftigsten pulsierte und die Touristenrate am höchsten war. Gaijins, dachte Kiko abfällig. Sie bevorzugte einheimische Kunden. Das Taxi entließ sie im Hinterhof eines hohen Gebäudes, das nur von vorn besehen Prunk versprühte, über eine Außentreppe gelangte sie in den dritten Stock zu einer Reihe von Apartments. Namensschilder gab es nicht, nur Nummern. Sie klopfte an eine der Türen. Aya hatte sich an ihre Anweisungen gehalten. Er war nackt bis auf eine Metallbrille, die sein Gesicht mit einem Hauch von Intellekt schönte, und eine goldene Uhr. Mit der rechten Hand hielt er ihr ein langstieliges Likörglas entgegen. Kiko nahm es mit leichter Verbeugung an und trank daraus, noch bevor sie die Schwelle übertrat. Es schmeckte vielversprechend. Sie trippelte an Aya vorbei in die hochmodern ausgestattete Wohnung. Er schloß die Tür und stellte das Glas auf den Boden. Sein linkes Handgelenk war mit einem nässenden Verband umwickelt. Kiko fühlte sich davon fast mehr angezogen als von seiner Blöße. Neugierig durchschritt sie das in zwei Räume unterschiedlicher Größe und ein Bad unterteilte Apartment. Eine Küche gab es nicht, nur eine winzige Nische mit einem Kühlschrank und einer Kochstelle. Wahrscheinlich kam es nicht von ungefähr, daß der Futon im größten Zimmer stand. Leise Popmusik drang aus verborgenen Lautsprechern. Es war wärmer, als Kiko es zum Wohlfühlen brauchte. Deshalb regelte sie zuerst die Klimaanlage herunter, schaltete dann auch die Stereoanlage aus und wandte sich wieder Aya zu. »Wer hat dir aufgetragen, mich zu beschimpfen?« fragte sie, frei
von Vorwurf. Er war überraschend gutgewachsen und etwas größer als sie. Nur um die Taille zeigten sich ein paar Pölsterchen, Tribut seines bescheidenen Wohlstands, den Kiko ihm nicht neidete. »Die Okasan«, sagte er. »Du bist ihr Lakai? Wie lautet ihr Name?« Okasan war kein Name, sondern ein Titel. So nannte man die »Übermütter«, die die regulären Geisha-Häuser in den Hana-machi führten und dort auch ausbildeten. Eine echte Geisha begann ihre Lehre schon mit zwölf oder dreizehn Jahren. Die sechsjährige, harte Ausbildung erstreckte sich über sämtliche musische Gebiete. Eine Geisha war nicht mit einer Prostituierten gleichzusetzen. Sexuell verwöhnten sie in der Regel nur den Gönner, der auch ihre Ausstattung sponserte. Kiko Kaori hatte weder einen Mäzen noch eine Okasan. »Seji Seibu«, sagte Aya. »Ich tue, was sie befiehlt.« Kiko hatte von ihr gehört. »Heute«, sagte sie, »tust du nur, was ich befehle … Liebst du mich?« Er sank auf die Knie. Sein Gesicht wirkte ein klein wenig schmerzverzerrt, als er schmachtend beteuerte: »Ja! O ja …!« »Ich liebe dich auch. Und zum Lieben gehört Verzeihen. Steh also auf. Ich werde dich unterhalten. Du wirst zufrieden sein.« Ihren Worten fügte sie ein entzückendes Kichern hinzu. Sie steigerte sich tatsächlich in ein Gefühl von Zuneigung, bat ihn aber zunächst, seine Uhr auszuziehen. Das Ticken störte sie. Zeit … Er gehorchte und machte es sich anschließend auf dem Futon bequem. Von Kissen unterstützt, hockte er aufrecht und ließ keinen Blick mehr von ihr.
Kiko genoß den stummen Beifall, mit dem er zu ergründen versuchte, was sich unter dem Kimonostoff verbarg. Sie erzählte zwei, drei lockernde Witze. Dann breitete sie den Fächer aus und schenkte ihm eine Darbietung in erlesenem Tanz. Sie brauchte keine musikalische Untermalung. Die Melodien waren sämtlich in ihrem Kopf. Es dauerte nicht lange, bis Aya auf seinem Lager hin und her rutschte. Sein Mund stand offen. Er begann, an seinem Verband herumzuspielen, was wiederum Kiko unruhig machte. Sie hörte auf zu tanzen und stimmte statt dessen einen herbschönen Gesang an, dessen Traurigkeit Aya und sie wieder etwas entspannte. Die kurzen, provozierenden Blicke, die sie unablässig auf den Bereich seiner Hüften warf, schürten jedoch bald wieder Ayas Eifer. Die Erektion richtete sein Glied steil auf. Es zitterte, wie von einem Beben erfaßt. Kiko ließ ihn zappeln. Ihre Verliebtheit wuchs, weil sie es so wollte. Und Aya schmachtete zusehends nach mehr als Tanz oder Gesang. Da Kiko sich keiner Tradition endgültig verpflichtet fühlte, fand sie es in Ordnung. Etwas anderes wäre es gewesen, hätte Aya ihr nicht auch gefallen. In gespielter Scheu ließ sie sich neben ihm nieder und fächelte seinem Glied kühlenden Wind zu. Dabei berührte sie immer wieder wie unabsichtlich die samtene Spitze. Ayas ganzer Körper wurde jedesmal wie von einer Erschütterung durchlaufen. Aus seinem Mund drang leises Stöhnen. Kiko legte den Fächer beiseite und löste das Brusttuch. Danach war es leicht für Aya, den Kimono zu teilen und an ihre – von ihm offenbar unerwartet – großen Brüste zu gelangen, deren Spitzen hart hervortraten.
Als er sie berührte, schrie Kiko leise auf. Schließlich entrollte sie lächelnd ein Mitbringsel über seiner heftigst durchbluteten Stelle. Es duftete nach Kirschblüten. »Ich will, daß du mich liebst, so lange ich bei dir bin. Auch ich liebe alle, die ich auf diese Weise beglücke. Sind wir also vorsichtig, daß dem kein Balg entspringt …«, erklärte sie. Aya glaubte zu verstehen – aber er ahnte nicht einmal einen Bruchteil der Wahrheit, die diesem Ritual für Kiko anhaftete. Bei jeder Begegnung steigerte sie sich so sehr in künstliche Verliebtheit, daß sie tatsächlich fürchtete, das Undenkbare könnte eines Tages geschehen. Sie hätte es nicht überlebt. Weder die Schande noch die Geburt … Genug. Sie konzentrierte sich wieder auf Aya und überließ sich ihm die Weile, die er brauchte, um sie vor sich auf den Rücken zu legen, ihre Beine über seine Schultern zu lagern und dann mit großem Ungestüm in sie einzudringen. Sie trug immer noch ihren Kimono, aber er klaffte weit auseinander, so daß Aya, während sie rücklings unter ihm ruhte, seine Hände problemlos beschäftigen konnte. Gleichzeitig entführten seine begierigen Stöße Kiko für kurze Zeit aus dem Alltag. Der Verband seines Handgelenks streifte sie immer häufiger und bewirkte ein übriges. Sie konnte kaum erwarten, bis Aya über ihr aufschrie und die Bewegungen erlahmten. Schon vorher begann sie, mit ihren Zähnen an der Binde herumzuknabbern und sie Naht für Naht aufzutrennen. Der Geschmack machte sie wie toll. Aya bezog es ausschließlich auf sein Können als Liebhaber – sollte er.
Sie schleuderte den Verband beiseite und leckte die Wunde, die er zu ihrem Willkommen geöffnet hatte. Dann saugte sie daran. Langsam und lustvoll. Aya ergoß sich. Nicht in sie, sondern in die getroffene Vorsichtsmaßnahme. Zitternd sank er über ihr zusammen. Kiko warf ihn auf den Rücken und setzte sich auf seine Schenkel wie in einen Sattel. Ihr puppenhaftes Gesicht begann zu zerfließen, während sie seinen Arm packte und die Wunde mit den Zähnen erweiterte. Dann besann sie sich und richtete sich ruckartig auf. Aya starrte zu ihr hoch. Seine Brillengläser waren beschlagen. Dahinter nistete das Wissen um seinen Untergang. Dennoch rührte er keinen Finger, als Kiko sich vollständig aus ihrem kostbaren Gewand schälte und es mit den anderen Symbolen ihres Standes abseits deponierte, wo nichts es besudeln konnte. Nackt leitete sie die endgültige Metamorphose ein und streifte ganz zuletzt ihre »Liebe« wie eine zu eng gewordene Haut ab. Ayas Mund blieb versiegelt bei allem, was sie ihm in den kommenden Minuten antat. Gesättigt unterzog sie sich danach einer ausführlichen Reinigungsprozedur und enthauptete ihr Opfer. Das Taxi wartete noch auf sie. Die Uhr war angehalten. Zeit … Kiko stand außerhalb der Zeit, und dennoch fühlte sie sich von ihr bedroht, weshalb sie jede Form von Uhren verabscheute. Aber daran verschwendete sie jetzt keinen Gedanken mehr. Sie war befriedigt, und so ließ sie sich von ihrem wortkargen Chauffeur nach Hause fahren.
Heute würde sie keinen anderen Termin mehr wahrnehmen – die ungeplanten Begegnungen waren die besten. Zu ihrer Verblüffung fand sie die Tür zu ihrer Wohnung nur angelehnt. Obwohl keinerlei Spuren eines Einbruchs zu sehen waren, war Kiko überzeugt, die Tür bei ihrem Weggang abgeschlossen zu haben. Lautlos trat sie ein. Ein seltsames Geräusch lockte sie in das eigene Schlafzimmer – wo sie von einer seltsamen Szene erwartet wurde. Eine blonde Frau lag zuckend auf dem Futon. Das Gebrabbel einer Schwachsinnigen drang aus ihrem Mund. Mit Fäusten und Fersen schlug und trat sie unablässig gegen die feste Matratze. Den Kopf warf sie hin und her. Ihr Hals wies die noch frischen Bißmale eines Vampirs auf. Ihre Augen standen offen. Kikos Eintreten schien sie jedoch nicht zu bemerken, und sonst befand sich niemand im Raum, obwohl die Vampirin ein beklemmend gegenteiliges Gefühl hatte. Sie sprach die Unbekannte an, erzielte aber nicht einmal Wirkung, als sie Hypnose einsetzte. Es war, als stieße sie in vollkommene Leere. Die auf den ersten Blick wie eine Europäerin wirkende Frau gab ihre Identität nicht preis. Kiko beschloß, die gesamte Wohnung unter die Lupe zu nehmen. Von ihr stammten die Bißmale nicht, und sie konnte sich nicht vorstellen, daß diese Frau nur auf sich gestellt Einlaß gefunden hatte. Auf dem Boden vor dem Futon lag ein zerknülltes Tuch, das der Fremden gehören mußte. Kiko hob es auf – hob es auf – hob es …
* Beth war gegangen, und Lilith nutzte das Alleinsein, um sich mit etwas zu beschäftigen, das über kurz oder lang ein Problem werden konnte. Ihr Tattoo. Sie stand vor der Fensterfront, die ihr einen Panoramablick über die Bucht gestattete, an deren Ufer die Metropole landeinwärts zu wuchern schien. Es war Tag, der Himmel grau verhangen und die Fernsicht nicht allzu gut. Bei klarem Wetter mußte es atemberaubend sein, Hafengegend und Meer auf sich wirken zu lassen. Aus 350 Meter Höhe … Lilith beendete die Gedanken, die sich mit ihrem phantastischen neuen Domizil befaßten. In ihrer Hand befand sich etwas auf seine Art nicht weniger Atemberaubendes, dessen genaue Bedeutung ihr aber immer noch rätselhaft war. Felidae hatte sich keine Mühe gemacht, ihr eine »Gebrauchsanweisung« für das Tattoo zu geben. Angeblich hatte die Kelchdiebin es für Lilith verwalten sollen, bis sie nach 100jährigem Schlaf vollkommen gereift ihre Bestimmung angetreten hätte. Sie war zwei Jahre zu früh erwacht – und alles andere als vollkommen. Das hatte auch Felidae immer wieder betont. Ihr Versuch, Liliths fehlende Erkenntnis durch ein Ritual des Lilienkelchs zu ergänzen, war von Landru verhindert worden. Der Kelch befand sich inzwischen wieder in Felidaes Gewahrsam, doch angeblich hatten Landrus Versuche ihn beschmutzt. Felidae wollte sich erst wieder damit bei Lilith melden, wenn er »gereinigt« war – was immer sie darunter verstand.
Lilith wußte die Kelchdiebin inzwischen besser einzuschätzen. Wesentlich mysteriöser war und blieb die Macht, die offenbar auch Felidaes Schicksal bestimmte. Lilith kannte sie nur als Lichterscheinung, die mit ihr selbst noch nie Kontakt aufgenommen hatte, wohl aber mit ihrer Mutter und Felidae. Ob LICHT in diesem Fall mit GUT gleichzusetzen war, durfte getrost angezweifelt werden, nahm man die Mittel zum Maßstab, derer sich die Handlanger dieser ominösen Kraft bedienten. Das Ziel, die Menschen von der Knechtschaft der Vampire zu befreien, wäre ihr gewesen. Aber war es das Ziel? Konnte nicht etwas völlig anderes hinter den immer undurchschaubarer werdenden Machenschaften stecken, in die Liliths Existenz verknüpft war? Lilith strich über die unfühlbare Tätowierung in ihrer linken Hand. Eine Fledermaus, die flugbereit mit gespreizten Schwingen dargestellt war und mit der Lilith zwei drastische Erlebnisse verband. Das eine hatte sich bei der »Übergabe« des Tattoos ereignet, als Lilith Zeugin geworden war, wie auf unerklärliche Weise Wissen über Landrus Fluchtweg mit dem wiedererrungenen Lilienkelch auf sie »übergeflossen« war.* Das zweite Mal war das Tattoo während der Gefangenschaft im »Haus der Marionetten« in Erscheinung getreten – sehr viel dramatischer, obwohl Lilith im nachhinein verunsichert war, ob es sich dort tatsächlich aus ihrer Hand gelöst und versucht hatte, die Zimmerdecke zu durchdringen, hinter der das dämonische Wesen die
*siehe VAMPIRA 27: »Landrus Sohn«
Geschicke seiner Opfer gelenkt hatte.* Dort, in Schottland, hatte sie das Gefühl gehabt, auf zwei Ebenen gleichzeitig sehen zu können. Von verschiedener Warte aus – und nicht nur mit ihren Augen. Absurd? Seit sie in Tokio angekommen waren, schob sie den Wunsch vor sich her, die Bewandtnis des von Felidae erhaltenen »Geschenks« zu entschlüsseln. Aber auch als sie es jetzt wieder prüfend in Augenschein nahm, wußte sie sich keinen Rat, wie dies zu erreichen war. Es war da, und es schwieg. Von Anfang an hatte es sie an Feyns mörderische Tätowierung erinnert. Glücklicherweise hatte es sich nie von dieser Seite gezeigt. Lilith hätte sich in einem solchem Fall sogar gegen die betroffene Hand entschieden. Eine Amputation konnte nicht schlimmer sein als ein Leben mit dem Tod … Aber konnte es nicht sein, daß der schreckliche Effekt erst eintrat, wenn sie gelernt hatte, mit dem Tattoo umzugehen? Diese Konsequenz hatte immer wieder dafür gesorgt, sich mit halbherzigen Untersuchungen zufrieden zu geben. Allmählich konnte sie es nicht mehr. Die Ungewißheit war schwerer zu ertragen als mögliches Unheil. Dennoch hatte sie gewartet, bis Beth aufgebrochen war, um ein konkretes Einstellungsgespräch mit dem Mann zu führen, der sich letzte Nacht gemeldet hatte. Lilith verdrängte auch die Erinnerung daran, was schwerfiel, da es mit Zwiespalt verbunden war. Aber sie hatte etwas unternehmen müssen, bevor Beth’ Selbstbewußtsein völlig unter die Räder gekommen wäre. Nun hoffte sie, daß ihre Freundin nie erfahren wür-
*siehe VAMPIRA 31: »Der Blutschädel«
de, wem sie diesen Job zu verdanken hatte. Sie verdrängte die Gedanken und hob die Nadel, die sie seit Minuten zwischen Daumen und Zeigefinger gepreßt hielt. Ihre Spitze war in Weihwasser getaucht, das Beth unter einigen Mühen und spürbar beunruhigt besorgt hatte, zumal sie keine zufriedenstellende Antwort erhalten hatte, welche Absicht Lilith damit verfolgte. Nun bohrte sich der dünne, feuchte Stahl in Liliths offene Hand – mitten hinein in die Fledermaus-Tätowierung. Es blieb nicht ohne Folgen …
* Beth war angenehm überrascht, als sie ins Büro des leitenden Redakteurs der Tokyo Sun geführt wurde. Drei Tage zuvor hatte sie schon einmal mit Kyonosuke Okutani über eine eventuelle Anstellung gesprochen, war aber so vertröstet worden, daß sie mit keiner Zusage mehr gerechnet hatte. Dann der nächtliche Anruf … Okutani sah besser aus als beim letzten Mal. Und sein Blick ruhte irgendwie bewußter auf Beth. »Ich kann ihnen keine feste Stellung anbieten«, sagte er nach freundlicher Begrüßung, »aber eine regelmäßige freie Mitarbeit – was überdies den Vorzug für Sie selbst hat, daß Sie Ihre Dienste auch weiter anderen Blättern anbieten können. Wenn Sie einverstanden sind, können Sie sofort loslegen.« Er sprach Englisch mit einer Lockerheit, die sie beim ersten Besuch vermißt hatte. »Keine Vorbehalte mehr wegen mangelnder Sprachkenntnisse?« wunderte sich Beth.
»Sie sagten doch, Sie arbeiten daran …?« »Das ist richtig. Aber ich kann nicht –« »Ich bin sicher, Sie können«, unterbrach Okutani. »Wäre ich es nicht, gäbe ich Ihnen diese Chance kaum.« Beth nickte nachdenklich. Irgendwie hatte sie immer noch das Gefühl, zu träumen. Nach all den Tagen vergeblichen Klinkenputzens schien ihr dieses Angebot einfach zu leicht in den Schoß zu fallen. »Gibt es Themen«, fragte sie, »die augenblicklich von besonderem Interesse sind?« »Nicht nur momentan. Es gibt einen traurigen ›Klassiker‹ in dieser wie in jeder anderen Großstadt. Aber ich weiß nicht, ob Sie gleich mit dem schwersten beginnen sollten …« Er lächelte. Damit hatte er sie. Als sie eine Stunde später freudestrahlend und glücklich zum Schinrei-Building zurückkehrte, um Lilith die Einzelheiten ihrer Abmachung mit Okutani zu berichten, erwartete sie zunächst heißer Schrecken. Erst glaubte sie, Lilith sei nicht zu Hause, weil niemand auf ihre Rufe reagierte. Aber dann fand sie die Gesuchte im Wohnzimmer vor dem geschlossenen Fenster. Sie stand reglos da und starrte auf ihre Hand, in der etwas steckte und über die ein dünnes Rinnsal dunkles Blut lief. »Was tust du da? Warum gibst du keine Antwort?« Beth trat neben Lilith. Ihr Blick fiel auf das kleine Fläschchen mit Weihwasser, das auf der Fensterbank stand. Es war offen. Der Inhalt war zu gering, um Lilith ernsthaft zu gefährden, wenn sie ihn nicht gerade trank. Beth rüttelte sie an den Schultern – vorsichtig, weil sie nicht woll-
te, daß die von Lilith festgehaltene Nadel noch mehr anrichtete. »Würdest du mir erklären …« Sie verstummte, weil sie sehr spät erkannte, daß ihre Freundin sie nicht hörte. Liliths Augen waren geschlossen. Ihr Atem ging flach. Als sie auch auf weitere Ansprechversuche nicht reagierte, bekam Beth es mit der Angst zu tun. Um so mehr, als sie plötzlich begriff:, wo hinein Lilith die Nadel gestoßen hatte. Beth kannte das Tattoo, das Felidae ihr vermacht hatte. Es war Anlaß einiger letztlich fruchtloser Diskussionen gewesen. Und nun war es fort.
* Sie hatte das Gefühl, auf die Gräber zuzustürzen. Überall waren Kreuze und kunstvoll gehauener Marmor in den winterharten Boden gerammt. Reif glitzerte darauf. Aber Lilith spürte weder die Kälte noch die zersetzende Ausstrahlung dieser sonst so gefährlichen Symbole. Sie raste darauf zu – und kam erst dicht über der Erde zum Stillstand. Fast hatte sie das Gefühl, auf einem der Grabmale zu sitzen. Sie versuchte sich zu entfernen – auf dieselbe Weise, wie sie gekommen war, aber es ging nicht. Es – ging – nicht … Sie öffnete die Augen. Ihre Lider waren schwer, als hingen Bleigewichte daran. Beth stand neben ihr. Der Friedhof war kaum besucht. Der Friedhof? »… hörst du mich?« fragte Beth. Sie hielt das Fläschchen in der
Hand und stellte es jetzt wieder vor dem Fenster ab. Lilith starrte auf ihre Hand (auf die Gräber). Sie war wie paralysiert. »Sag etwas!« drängte Beth. Der Dorn brannte in Liliths Hand und ähnelte der Miniatur eines jener Obelisken, die aus der Friedhofserde ragten. Hilf mir, dachte Lilith. Ihre Augen flehten, doch ihr Mund blieb stumm. Es schneite ein wenig. Aber der Schnee schien Beth nicht zu berühren … er ging durch sie hindurch wie durch einen Schemen! Ein Hauch von Ewigkeit streifte Lilith. Ein Hauch von Unfrieden. Ein Name tauchte aus den Abgründen ihres Bewußtseins – oder von sonstwoher. Salena … »Salena?« wiederholte Beth. Lilith begriff, daß sie es laut ausgesprochen hatte. »Hilf – mir!« bat sie heiser. »Wie?« »Die – Nadel …« »Soll ich sie herausziehen?« »Ja … Ja! Schnell!« Wie in Zeitlupe schien Beth nach den Fingern zu fassen, die den dünnen Stahl immer noch festhielten, aber außerstande waren, selbst zu tun, was Lilith Beth aufgetragen hatte. Dann kam der erlösende Ruck. Das Brennen verschwand aus Liliths Hand, die Lähmung fiel von ihr ab. Wankend hielt sie sich an Beth’ Arm fest.
»Verdammt, vielleicht erklärst du mir –« Lilith krallte sich heftiger in den Ärmel ihrer Jacke. Sie ließ den Friedhof unter sich zurück, stieg in immer schwindelndere Höhen. Über die meisten Wolkenkratzer hinaus. Und weiter. Schneller … »Lilith!« Ihr Blut zog eine dunkle Spur über Beth’ Kleidung. Ihre Beine gaben nach. Sie verlor vollständig die Orientierung. Das Penthouse … der Friedhof … die Stadt … Beth versuchte sie festzuhalten, aber Lilith machte sich extrem schwer. Sie sank zu Boden. Dann riß sie die Arme in die Höhe. Etwas durchschlug das Fenster, ohne auch nur einen Kratzer zu hinterlassen. Etwas schlug in Liliths blutige Hand – »Es ist wieder da«, sagte Beth. Im selben Moment normalisierte sich Liliths Wahrnehmungsweise. Sie atmete tief und begierig durch. Das Tattoo störte sich nicht am Blut. Die Wunde heilte bereits, wie Lilith es von weit schwereren Verletzungen gewohnt war. »Alles okay«, signalisierte sie Beth. »Bist du noch ganz bei Trost?« Ihre Freundin nahm das Weihwasserfläschchen und verschwand damit im Bad. Kurz darauf hörte Lilith die Wasserspülung. Beth kehrte mit leeren Händen zurück. »Das nächste Mal sagst du mir, wenn du dich aus Langeweile umbringen willst!« »Ich glaube nicht, daß es Langeweile war …« Lilith saß immer noch auf dem mattenüberzogenen Boden. »Dann nenn es Verrücktheit!«
»Tut mir leid. Aber ich mußte es irgendwie zwingen, mich zu verlassen.« Sie lächelte schal. »Unerwarteterweise hat es sogar funktioniert.« Kopfschüttelnd kam Beth näher. »Und was hast du herausgefunden?« Lilith versuchte, ihre Eindrücke in Worte zu fassen. Im Grunde ähnelten sie dem, was sie bereits in Schottland erlebt hatte – nur hatte das dortige Erlebnis viel kürzer gedauert. »Du glaubtest, zeitweise an zwei Orten gleichzeitig zu sein?« wiederholte Beth. »Meinst du, daß dieser andere Ort wahrhaftig existiert, oder könnte er auch nur ein Produkt deiner Einbildung sein?« »Frombork existiert«, erwiderte Lilith, immer noch unter dem Eindruck des Erlebten. »Was hat das hier mit Frombork zu tun?« »Man muß alles im Zusammenhang sehen.« Liliths Lächeln vertiefte sich. Sie versuchte, Zuversicht zu verströmen. »Ich werde weiter daran arbeiten und dich auf dem laufenden halten.« »Du bist unverbesserlich!« »Dann wäre ich vollkommen – und zumindest Felidae ist, was das angeht, anderer Ansicht. Aber ich arbeite auch an der Beseitigung letzter Makel …« Sie schwieg kurz und sagte dann: »Ich frage mich allerdings, wer Salena ist.«
* Als Tomakai ihr übermittelte, daß sie sich umgehend bei ihm einfinden solle, war Nona gerade dabei, ein Treffen aller Rudelführer zu organisieren, um einer weiteren Eskalation der Gewalt entgegenzuwirken.
Nebenbei bemühte sie sich, Kontakt zu Keyno, dem Oberhaupt der Tokioter Vampirsippe, herzustellen. Bislang allerdings erfolglos, obwohl sie sich auf ihre Freundschaft zu Landru berief. Tomakais Alleingang machte sie von Stunde zu Stunde zorniger. Als sie ihm nun in seiner protzigen Residenz im Chuo-ku-Bezirk gegenübertrat, war sie entschlossen, ihm notfalls die Krallen zu zeigen, um ihn zur Vernunft zu bringen. Diese neuerliche Begegnung aber zeigte ihr, daß sie sich immer noch ein falsches Bild von ihm machte. Tomakai schien von dem seltsamen Ehrgeiz zerfressen, den Rudeln nach Jahrhunderten eine neue Rolle im Mächte-Spiel dieser Stadt zu eröffnen. Er schien völlig den Blick für die Realitäten verloren zu haben. Noch ehe sie ihn mit entsprechenden Vorwürfen überhäufen konnte, fragte er: »Glaubst du immer noch, daß wir zu weit gehen und den alten Waffenstillstand brechen?« »Ich glaube an ein Mißverständnis, das auszuräumen ist.« Tomakais Augensekret, in dem die schwarzen Pupillen schwammen, schien zu gerinnen. »Sollen wir widerstandslos zusehen, wie einer nach dem anderen aus unseren Reihen für unser Zaudern zahlt?« »Natürlich nicht. Deshalb bemühe ich mich ja um eine klärende Aussprache, wofür ich allerdings weder Verständnis noch Unterstützung ernte.« »Es gibt eine Zeit zum Reden und eine Zeit zum Kämpfen.« »Das mag sein, aber mit dem Reden sollte begonnen werden. Erst wenn dies nicht fruchtet –« »Dieser Punkt wurde übersprungen – nicht von uns, sondern von ihnen.« »Was heißt das?«
Tomakai klatschte in die Hände. Eine Tür wurde geöffnet und eine schmucklose Bahre hereingerollt. »Wer ist das?« fragte Nona belegt, als sie den Toten darauf erblickte. Er war nackt und übel zugerichtet. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, Leichenkosmetik zu betreiben. Es lag nicht in Tomakais Interesse, etwas zu beschönigen, was ihm in seiner Ursprünglichkeit viel besser ins Konzept paßte. »Einer meines Rudels. Sein Kopf liegt, wie du sehen kannst, zwischen seinen Beinen. Er war abgetrennt.« »Ein Unfall?« fragte Nona, obwohl sie genau wußte, daß Tomakai kein solches Aufhebens gemacht hätte, gäbe es eine natürliche Ursache. Statt einer Antwort trat er vor den Torso und zeigte auf den noch vorhandenen Halsansatz. Nona folgte der Geste und bemerkte die Vampirmale. Es waren nicht die ersten, die sie sah, deshalb erkannte sie sofort die Echtheit. Nach kurzem, schwerem Seufzer meinte sie jedoch einschränkend: »Kein Vampir bei klarem Verstand würde wissentlich das Blut eines der unsrigen trinken. Die Gefahr …« »Wir diskutieren hier nicht über Verstand«, schnitt Tomakai ihr das Wort ab. »Es ist geschehen. Der Angriff auf Hukosai mag gescheitert sein – aber dieser hier ›glückte‹. Und damit dürftest selbst du einsehen, daß wir uns Respekt verschaffen müssen, bevor Keynos Bande mit ihren Hinrichtungen fortfährt! Die Vampire nutzen unsere Schwäche zwischen den Monden schamlos aus. Aber ich habe Vorkehrungen getroffen. Wir alle wissen, wie den Blutsaugern beizukommen ist. Ich –« »Gibt es Zeugen der Hinrichtung?« unterbrach Nona. Zu ihrem Erstaunen bejahte Tomakai. »Wen?«
»Einen anderen Angehörigen meines Rudels. Sie waren zusammen, als die Geisha sie überfiel. Er entkam schwerverletzt.« »Die Geisha?« stutzte Nona. »Die Vampirin trat im Kostüm einer solchen auf.« Nona versuchte, ihre Irritation zu verbergen. »Ist dieser Zeuge ansprechbar?« Aus Tomakais Brust rollte ein Ton, der seinen nur noch geringen Vorrat an Geduld verriet. »Du hast auch mit Hukosai gesprochen und ihm nicht geglaubt!« Nona sagte ansprechbar?«
nichts
dazu,
sondern
wiederholte:
»Ist
er
»Ja!« Er führte sie in einen anderen Trakt seines zimmerreichen Hauses mit den papierdünnen Wänden und mit den Bediensteten, von denen er meinte, sich auf sie verlassen zu können. Anders als Vampire konnten Werwölfe weder Dienerkreaturen noch willenlose Hypnoseopfer erschaffen. Sie mußten um so viel gewiefter zu Werke gehen, um sich in der heutigen, aufgeklärten Welt zu behaupten … Der Verletzte lag schlafend oder bewußtlos auf einem Futon. Seine Wunden waren versorgt und verbunden. Eine junge Frau wachte neben ihm. Als Tomakai in Nonas Begleitung eintrat, huschte sie wortlos hinaus. Kurz danach schlug der Mann die Augen auf. Er hieß Takashiro, und seine Augen wirkten fiebrig. Nicht zum erstenmal wurde Nona die weitgehende Ohnmacht ihrer Art bewußt. »Beschreibe mir die Geisha genau«, verlangte sie. Takashiro blickte zu Tomakai, welcher nickte. Seine darauf folgenden Angaben blieben jedoch ähnlich vage wie der Steckbrief, den
der in der U-Bahn Überfallene geliefert hatte. Enttäuscht versuchte daraufhin Nona ausfindig zu machen, ob es sich um keine reinblütige Vampirin, sondern um das von ihr vermutete Zwitterwesen handeln konnte. Um Lilith Eden. Aber das einzige, worin sich Takashiros Aussage von der Hukosais unterschied, war, daß er völlig sicher schien, einer Asiatin begegnet zu sein – was wiederum bedeutete, daß es sich nicht um Landrus Erzfeindin handeln konnte. Andererseits bot die Verkleidung als Geisha genügend Möglichkeiten, die wahre Herkunft unter Makeup zu verbergen. Aber Lilith war längst zur Nebensache geworden. Nona fühlte sich einfach der Minderheit verpflichtet, der sie selbst angehörte. Sie wollte nicht mitansehen, wie die Werwölfe weiter dezimiert wurden! Als sie wieder mit Tomakai allein war, fragte sie: »Was sind das für Vorkehrungen gegen Keynos Sippe, von denen du gesprochen hast?« »Ich nehme Gefangene«, erklärte Tomakai nach kurzem Zögern. »Gefangene?« »Geiseln …«
* Es erforderte Durchhaltevermögen, bis Beth einen der Treffpunkte, auf die es ihr ankam, herausgefunden hatte. Während dieser Zeit war sie kaum noch eine Nacht zu Hause anzutreffen. Lilith mochte sich darüber wundern – wahrscheinlicher war jedoch, daß Lilith mit sich selbst beschäftigt war. Offenbar machte sie bei der Erforschung
des Tattoos Fortschritte. Näheres behielt sie aber für sich, und wenn Beth heimkam, war sie meist zu müde, sich etwas davon anzuhören. Sie kannte diesen Zustand von früher, wenn sie sich in eine Recherche verbissen hatte. Bei solchen Gelegenheiten war ihr Spitzname »Macbeth« entstanden. Wenn es der Sache diente, wuchsen ihr Haare auf den Zähnen. Ganz ohne Metamorphose. »Noch ein Mizu-wari?« fragte der Mann hinter der Theke der Neon-Kneipe. Beth nickte geistesabwesend, obwohl sie den hier servierten, mit Wasser verdünnten Whisky schon beim ersten Schluck als Billigfusel entlarvt hatte. Plötzlich übertönte dumpfes Baßbrummen selbst die nicht eben leise Musik aus den Deckenlautsprechern. Es hielt ein, zwei Minuten an, ehe es langsam verebbte. Ein Blick zum Kellner zeigte, daß dieser dabei war, hastig zwei mit Gläsern vollgestellte Tabletts aus Flaschen zu befüllen, die bedeutend bessere Etiketten trugen als die, aus denen Beth bedient wurde. Dabei waren nicht einmal eine Handvoll Gäste im Raum. Das änderte sich, als die Eingangstür aufschwang. Eine ganze Horde junger Leute, die aussahen, als hätten sie zu viele amerikanische 50er-Jahre-Filme gesehen, strömte unter Gejohle herein und besetzte augenblicklich jeden freien Flecken um die Theke. Die abseits stehenden freien Tische schienen niemanden zu interessieren. Beth beglückwünschte sich, nicht vorzeitig das Handtuch geworfen zu haben. Über ihr Glas hinweg besah sie sich den Haufen näher. Die meisten – ganz gleich ob Männlein oder Weiblein – sahen
nicht einmal übel aus. Nur vollkommen overdressed mit ihrem extremen Leder-Outfit und den Plastik-Rock’n’Roll-Frisuren, bei denen sich King Elvis vermutlich noch im Grab gekrümmt hätte. Einen Einzigen aus dieser Meute konnte nicht einmal das verschandeln, sondern verlieh ihm sogar eine interessante Note. Hätte Beth sich etwas aus Männern gemacht, er wäre interessant geworden – so wurde er es aus rein beruflichen Erwägungen. Denn er war der Anführer. Ohne etwas dafür tun zu müssen, wurde ihr sogar sein Name geliefert, da ihm ständig jemand zuprostete. Beth wollte keine Ausnahme bilden, zumal man ihr mächtig auf den Pelz rückte. Sie hob ihr Glas – und bekam den Inhalt nach einem scheinbar unabsichtlichen Stoß einer jungen Dame, die keine war, ins Dekollete ihres gewagten Kleids geschüttet. Spätestens das schadenfrohe Prusten der Umstehenden verriet, daß man sie schon vorher aufs Korn genommen hatte. Im nächsten Moment verstummte das Gelächter wie abgeschnitten, und jemand bahnte sich einen Weg durch die sich teilende Menge. Beth brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, um wen es sich dabei handelte. »Ich bin Akira«, sagte das lachende Gesicht in der Rockerkluft. »Und du?« Er redete Englisch. Beth, deren Herkunft auch mit einem Topf von Schminke nicht zu vertuschen gewesen wäre, antwortete: »Konbanva. Ich heiße Beth.« »Elisabeth?« »Beth genügt völlig.« »Mir nicht. Einer schönen Frau gebührt der Name, der zu ihr paßt,
Elisabeth.« Beth behielt die Enttäuschung darüber, daß Akiras Charme sich auf sein blendendes Aussehen beschränkte und nicht auf die Originalität der Flirtversuche abfärbte, für sich. Eigentlich war sie erleichtert. »Darf ich Sie zu einem neuen Glas einladen, Elisabeth?« Mit einem Fingerschnippen forderte er vom Kellner ein Handtuch, das ihm sofort zugebilligt wurde. Er tupfte damit Beth’ kompletten Solar Plexus trocken. Den Rest erledigte sie selbst. »Danke, aber ich wollte gerade gehen.« »Das kann nicht Ihr Ernst sein!« »Doch.« Sie wußte, wie man sich als Frau noch interessanter machte. Die eifersüchtigen Blicke anderer Frauen aus der Clique spornten sie zusätzlich an. Sie rutschte vom Hocker. »Setzen Sie sich«, bot sie Akira an. »Das Polster ist noch warm.« »Duftet es auch nach Ihnen?« enthüllte er sein wahres Interesse. In diesem Augenblick summte etwas in seiner Jacke. Er griff hinein und förderte ein Handy zu Tage, kaum größer als eine Zigarettenschachtel. Hör- und Sprechmuschel klappten nach einem Knopfdruck heraus. Akira sprach Worte, die Beth nicht verstand, weil er sich vorher wie in einem Diskretionsreflex von ihr weggedreht hatte. Sie nutzte die Gelegenheit. Erst als sie schon in der offenen Tür stand, eilte er ihr hinterher und holte sie ein. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Ich will nicht, daß Sie glauben, ein Telefonat sei mir wichtiger als die Vertiefung unserer jungen Bekanntschaft.« »Ich glaube nicht, daß ich mir darüber Gedanken gemacht habe«,
sagte sie. »Sind Sie tatsächlich so kühl, wie sie vorgeben?« »Sind Sie tatsächlich so hitzköpfig?« »Mein Temperament hat auch Vorteile.« »Welche sollten das sein?« »Finden Sie es heraus!« »Heute bestimmt nicht mehr. Ich muß morgen früh ‘raus.« »Morgen ist der Tag der ›göttlichen Reichsgründung‹ – Feiertag …«, warf Akira zweifelnd ein. »Für mich nicht.« »Darf ich Sie dann wenigstens nach Hause bringen?« »Womit?« Beth zeigte auf die Phalanx abgestellter Motorräder. »Ich glaube nicht, daß ich dafür richtig gekleidet bin. Ich will mir keine Erfrierungen einhandeln …« »Schade. Ich hätte Sie risikofreudiger eingeschätzt.« Akira grinste jungenhaft, und das war er auch: Ein großer Junge, sicher nicht wesentlich über Zwanzig. Schwarzhaarig, mit einem viel zu großen Ballast an Goldkettchen behängt, Ringträger an jedem verfügbaren Fingerglied und einem kokettierenden, bleistiftschmalen Oberlippenbart. »Bei diesem einen Irrtum sollten wir es dann belassen«, sagte Beth. »Nein!« Er schüttelte den Kopf, als hinge sein Leben von einem Wiedersehen ab. Große Gesten … »Geben Sie mir wenigstens Ihre Telefonnummer!« Er tätschelte sein Handy, das ein eigenes Futteral unter der Achselhöhle zu besitzen schien. »Ich rufe Sie jeden Tag und jede Nacht an!« »Grund genug, Ihnen die Nummer nicht zu geben«, erwiderte Beth. »Aber vielleicht bin ich morgen abend wieder hier, um einen
Drink zu nehmen.« »Passend gekleidet?« Sie zuckte die Achseln. »Wann, Elisabeth?« »Halb elf?«
* Der Vampir hockte auf dem Stuhl, als harre er seiner längst beschlossenen Hinrichtung. Apathisch war der Blick seiner Augen. Der weitgehend entblößte Körper war mit Elektroden gespickt und wurde von Metallklammern aufrecht gehalten, die um Hand- und Fußgelenke liefen und mit dem Sitz verbunden waren. Um die Stirn lag ein Band, aus dem gleich mehrere Drähte in angeschlossene Geräte führten. Nona wandte sich von der offenen Sichtluke der Tür ab. »Du hast keine Sorge, er könnte sein Morphing oder seine Magie einsetzen? Fesseln können ihn nicht halten, wenn er –« »Er steht unter Medikamenten«, erwiderte Tomakai selbstgefällig. »Wir wissen, mit wem wir es zu tun haben.« »Was ist das für eine Apparatur?« »Ein Lügendetektor.« »Was hast du ihm entlockt?« »Nichts«, gab Tomakai zu. »Normalerweise nutzen wir diese Anlage nur bei Menschen. Aber ich war neugierig, es auch einmal an einem Vampir auszuprobieren.« »Ist er der einzige?« »Bisher. Aber meine Leute sind unterwegs auf der Suche nach wei-
teren.« »Geiseln.« Nonas Stimme klang verächtlich. »Du kannst sie auch Faustpfänder nennen, wenn dir dabei wohler ist.« Tomakais Miene wurde noch verschlossener. »Allerdings solltest du dich bald entscheiden, auf wessen Seite du bei diesem Konflikt stehst. Ich glaube nicht, daß man dir in ein paar Tagen noch eine Neutralität zubilligt. Zumal ich persönlich überzeugt bin, daß du nie neutral warst.« »Was willst du damit sagen?« »Man nennt dich nicht zufällig das Vampirliebchen. Eigentlich müßtest du diese Neigung selbst als abartig empfinden …« Es war unverkennbar, daß Tomakai es darauf anlegte, sie zu beleidigen. »Abartig sind deine Gelüste, Tomakai. Du kommst mir vor wie ein untergangssüchtiger Lemming. Du steuerst dein und die anderen Tokioter Rudel wissentlich in den Tod – aber das werde ich nicht zulassen! Du wirst bald mit deinem Krieg allein dastehen. Bei den Angriffen war von einer Vampirin die Rede. Vieles deutet darauf hin, daß es beide Male dieselbe war. Du kannst nicht die ganze Alte Rasse für das Fehlverhalten einer Einzelnen verantwortlich machen!« »So reden Schwächlinge, die immer schwach bleiben werden!« fauchte Tomakai. »Wenn es eine Einzeltäterin gibt, finde sie! Schleife sie vor unser Tribunal und überzeuge uns! Aber dir bleibt nicht mehr viel Zeit …« »Was heißt das?« »Übermorgen beginnt die Vollmondphase, übermorgen entfalten wir unsere volle Stärke. Und ich persönlich werde dafür sorgen, daß dann der wahre Krieg entbrennt! Wir werden uns in dieser Stadt Respekt verschaffen – für alle Zeiten!«
Nona schwieg. Sie hatte endgültig begriffen, daß Tomakai Argumenten der Vernunft unzugänglich war. Und noch etwas wurde ihr klar: Was dieser Kretin soeben heraufbeschworen hatte, durfte nie eintreten – unter keinen Umständen …!
* Kiko träumte, wach zu sein. Und im Traum tat sie Dinge, die sie nicht beeinflussen konnte, als hätte sich ihr Geist von ihrem Körper getrennt und sie zu einer unbeteiligten Beobachterin degradiert. In ihrem Traum drang sie in das Haus eines unbekannten Mannes ein. Sie brauchte dazu keine Verwandlung und kein Werkzeug. Die Tür, die eigentlich verschlossen hätte sein müssen, ließ sich mühelos durch Handauflegen öffnen. Sie ging einen kurzen Flur entlang und schob eine mit Ideogrammen verzierte Papierwand zur Seite, um zu dem Mann zu gelangen, der bei hellem Tag schlief. Er lag auf dem Bauch, bis zu den Schulterblättern zugedeckt, und hatte den Kopf zur Seite gedreht. Seine Augen wurde von einer Stoffblende gegen das Licht geschützt, das vielleicht die dünnen Häute seiner Lider durchdrungen hätte. Er schnarchte leise. Dieses Schnarchen war das einzige Geräusch überhaupt, denn Kiko bewegte sich völlig lautlos, wie schwebend – immerhin war es ihr Traum. Ein wenig wunderte sie sich über die Detailfülle, mit der diese Phantasie aufwartete. Und noch ein anderer Gedanke beunruhigte sie fast unmerklich: Hatte sie überhaupt jemals geträumt? Sie konnte sich nicht erinnern, je von dieser menschlichen Eigenart
berührt worden zu sein (kein Vampir träumte, oder?). Trotzdem wollte sie vor allen Dingen wissen, wie es weiterging … Sie glitt neben dem Futon in die Hocke. Das Schnarchen des Mannes war zugleich Indiz für die Tiefe seines Schlafs. Vorsichtig zog sie ihm die Decke vom Körper, bis er entblößt vor ihr lag. Er trug nur ein paar Shorts. Im Traum explodierte plötzlich die Gier nach Blut in ihr. Ihr Körper verfiel der Metamorphose. Ein schneller Streich ihrer messerscharfen Klaue peitschte über den Rücken den Schläfers, der sich schreiend aufbäumte, aber nicht verhindern konnte, daß ihre zu urweltlichen Waffen verformten Finger das Fleisch durchdrangen und sich durch das Mark seines Rückens bohrten, wo geringer Einsatz genügte, das Opfer zum Verstummen zu bringen. Matt sank der Mann zurück auf die Matratze. Seine Augen unter dem Stoff blieben unsichtbar, aber sein Mund war schreckgeweitet, als Kiko ihn packte und blitzschnell auf den Rücken wälzte. Sie fetzte ihm das Band vom Kopf. Sie wollte, daß er sah, wie ihm geschah. Seine Gliedmaßen waren schlaff; nur vom Hals aufwärts schien er noch Gefühl für den ertaubten Körper zu besitzen. »Wenn du noch einmal schreist«, drohte Kiko im Traum mit tadelnd erhobener Klaue, »reiße ich deine Zunge in kleine blutige Streifen!« »Wer – bist du? Was – willst du – von mir?« »Dein Blut, was sonst?« »Du? Weißt du nicht – wer ich – bin?« »Gerade deshalb!« höhnte sie. Dann mußte sie ihre Drohung wahrmachen, denn er fing an zu schreien.
Erst danach widmete sie sich genüßlich seinem Inhalt. Im Traum empfing sie dafür Lob. Von – wem?
* Die nächste Nacht Ein weiterer Werwolf war, mit Bißmalen am Hals, verstümmelt aufgefunden worden. Diesmal in einem anderen Stadtbezirk und damit einem der anderen Rudel zugehörig. Tomakai nutzte es für seine Kampagne und goß Öl ins Feuer der Emotionen. Nona war den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen, die anderen Alphas zu einem Gesprächsgipfel mit Keyno zu bewegen. Aber auch das Oberhaupt der Tokioter Vampirsippe signalisierte keinerlei Bereitschaft, Nona auch nur zu empfangen. Die Fronten schienen verhärtet, und es war anzunehmen, daß bereits weit mehr geschehen war, als die jeweilige Seite aus ihrer eingeengten Sichtweite heraus überblicken konnte. Hätte sich Nonas Anfangsverdacht, daß Lilith Eden dahinter steckte, bestätigt, wäre zumindest das Motiv der Morde klarer geworden. Es hätte im Interesse von Landrus Erzfeindin gelegen, einen Krieg zwischen Vampir und Werwolf auszulösen … Nona verwarf graue Theorie und Spekulation. Sie hatte sich zu einem Schlachtplan zum Wohle – fast – aller Tokioter Werwölfe durchgerungen. »Was willst du?« fragte der Vampir teilnahmslos, als sie durch die offene Tür zu ihm ins Zwielicht trat. Er hing schlaff auf dem Sitz, der mehr denn je einer Exekutionsvorrichtung ähnelte.
Nona warf ihm einen langen Blick zu, dann löste schweigend seine Fesseln, ohne daß dadurch das Mißtrauen auch nur einen Moment aus seinen Augen gewichen wäre. Sie wußte nicht, was Tomakai ihm alles angetan hatte, und sie fragte auch nicht danach. »Traust du dir zu, allein den Weg zu Keyno zu finden?« wollte sie wissen, als sie ihn auf die Beine zog. Er roch nach Moschus, und seine unruhigen Blicke vermittelten den Eindruck, als versuchte er vergeblich, eine Explosion seiner Kräfte herbeizuführen, um sich für seine Leiden »erkenntlich« zu zeigen. Es gelang ihm nicht, und Nona konnte nicht sagen, daß sie darüber unglücklich war. Mit ihrem Handeln nahm sie auch so schon genug Risiken in kauf. »Ich – weiß es nicht.« »Kannst du alleine gehen, wenn ich dich bis hinaus begleite?« »Ich müßte es – versuchen.« »Dann los!« Er klammerte sich an ihren Arm. »Warum tust du das?« Sie erklärte es ihm – und auch, was sie als Gegenleistung erwartete. Wieder versuchte sich gekränkter Stolz über den von Medikamenten betäubten Körper zu erheben. Nona wußte, wozu Wesen wie dieses im Vollbesitz ihrer Macht fähig waren. Sie fröstelte, aber zugleich festigte die Nähe des Vampirs ihre Überzeugung, etwas unternehmen zu müssen. Sie half ihm, sich anzuziehen. Seine Kleidung lag unweit des Stuhls einfach in einer Ecke. Dann führte sie ihn denselben Weg hinaus, den sie gekommen war. Niemand behelligte sie. Nona hatte die Sicherheitsanlage bei
ihrem Besuch am Vortag studiert und problemlos ausgetrickst. Tomakais Fehler war, sich überwiegend auf moderne Technik zu verlassen. Das riesige Haus war fast entvölkert. Vermutlich waren die meisten Angehörigen seines Rudels unterwegs, um nach weiteren »Geiseln« zu fahnden – als Fundament für den Wahn ihres Herrn. Draußen redete Nona noch einmal auf den Entkräfteten ein: »Hundert Meter von hier wartet ein Taxi. Der Fahrer wurde von mir mit viel Geld unterwiesen, dich zu jeder gewünschten Adresse zu bringen. – Ich hoffe, du hältst dich an unsere Abmachung.« »Ich erinnere mich an keine – Abmachung.« Nona nickte wortlos. Alles hing jetzt davon ab, welche Ansprüche auch der befreite Gefangene an die Zukunft stellte. Wenn er nur an seine persönliche Rache dachte, war alles umsonst gewesen. »Geh jetzt!« Nona blickte ihm nicht lange nach. Sie drehte sich um und kehrte in das dunkle Haus zurück. Zu einem, der seine letzte Stunde vermutlich wach zubrachte.
* »Du …?« »Du freust dich nicht, mich zu sehen?« Tomakai schnaubte. »Niemand hat dich eingeladen.« Nona hörte nur eine Stimme – aber sie schien aus dem Mund Dutzender zu kommen Das Zimmer, in dem sie Tomakai schließlich gefunden hatte, ähnelte dem Spiegelkabinett eines Jahrmarkts. Nur daß es keine grimassenschneidenden Verzerrungen gebar, sondern ausnahmslos geschliffen scharfe Ebenbilder des Werwolf-Führers.
Tomakai hatte seine Kleidung abgelegt. Ein verborgener Projektor warf das Abbild eines Vollmonds an die Decke, gleichfalls täuschend echt. »Was tust du hier?« fragte Nona. Ihr Puls beschleunigte sich. Sie trat auf Tomakai zu, der in der Mitte des Raumes stand. Jede verspiegelte Wandseite war in viele Facetten unterteilt, von denen eine jede imstande war, die Gestalt im Zentrum vollständig wiederzugeben. Nona fand sich selbst nirgends abgebildet, und als Tomakai nun einen Schritt auf sie zu machte, verschwand er ebenfalls aus den Spiegeln. »Was ist das für ein Effekt?« fragte sie, nachdem ihre erste Frage unerwidert geblieben war. Tomakai war auch ohne Wolfskleid von imposanter Statur. »Es funktioniert nur, wenn man exakt in den Brennpunkt aller Spiegel steht«, sagte er. »Was willst du? Hast du dich entschieden? Weißt du nun, auf welcher Seite du stehen willst?« »Wozu betrachtest du dich in solcher Vielfalt?« wich sie aus. »Es hat doch nichts mit Eitelkeit zu tun, oder?« Schmeichelnd setzte sie hinzu: »Du weißt, daß du ein gutaussehender Mann bist.« »Schweig, Vampirliebchen! Mich wirst du nicht becircen! Ich habe dir eine klare Frage gestellt.« Nona nickte und begann, sich ebenfalls auszuziehen. Tomakai starrte sie ungläubig an. »Du glaubst, du könntest …?« »Idiot!« höhnte sie, und ihre veränderte Stimmlage gab wieder, was sie in diesem Moment fühlte. »Ich würde mich nie einem größenwahnsinnigen Narr wie dir schenken. Ich fordere dich heraus! Zum Rangkampf!« Tomakai stand sekundenlang wie vom Donner gerührt. Höhnisch zog er schließlich die Lippen von den vorderen Zähnen.
»Du bist verrückt! Dies ist kaum die Zeit, interne Kämpfe auszutragen, zumal es an der elementarsten Voraussetzung fehlt. Das weißt du!« »Bist du nur bei Vollmond ein Mann?« Was Häme anging, stand sie ihm in nichts nach. »Du bist nicht mein Typ, sonst hätte ich dir meine Manneskraft längst bewiesen!« »So …?« Nona maß ihn nicht mehr nur hämisch, sondern geringschätzig. »Auch gegen meinen Willen?« »Du bist mir physisch unterlegen!« Tomakais einfache Denkweise kannte keine Unterscheidungen von Recht oder Unrecht. Er lebte nach dem Gesetz des Stärkeren – aber dasselbe Prinzip nahm auch Nona in Anspruch. »Beweise es!« fauchte sie. Sie häufte die abgelegte Kleidung zu einem sorgfältigen Bündel zusammen – nicht wie jemand, der daran zweifelte, sie noch einmal zu benötigen. Tomakais Blick schien sich beinahe weigern zu wollen, die zierliche Gestalt, die ihm entgegentrat, als Gegnerin anzuerkennen. Doch dann schlug Nona ihm ansatzlos mit geballter Faust auf den Kehlkopf, und die normalerweise tödliche Gewalt dieses Treffers wurde nur von Tomakais beinahe ebenso schneller Reaktion gemildert. Er zuckte nach hinten. »Niederträchtige …« Irgendwie erreichte er im Rückwärtstaumeln genau den zentralen Punkt, der nötig war, seine Ebenbilder in den Spiegeln zu zeigen. Im nächsten Moment glaubte die nachsetzende Nona ihren Augen nicht zu trauen. Wölfisches schmiegten sich um Tomakais Züge. Häßliches Knur-
ren löste das atemringende Geröchel ab. Nona stoppte, wie gegen eine Wand geprallt. Ein Trick, dachte sie. Vor morgen können wir nicht – Es war kein Trick. Tomakai packte sie zähnefletschend.
* Beth MacKinsay begriff nicht, was mit ihr – und wie ihr – geschah. Akira Otomo war nach Hinweisen, die sie vom Chefredakteur der Tokyo Sun erhalten hatte, Boß einer der zahllosen, über Tokios Bezirke verstreuten Jugendbanden. Seine nannte sich Niku (Fleisch), und ihre Aktivitäten beschränkten sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf die drei Maximen »Sex, Drugs & Rock’n’Roll«. Beth hatte sich, nachdem der erste Kontakt geknüpft war, wieder mit dem »King« der Clique getroffen, um weitere Recherchen über das hiesige Jugendbandenwesen zu betreiben. Was sie allerdings irritierte, war, daß es Akira gelang, immer mehr Sympathie für sich zu wecken. Er gefiel ihr zunehmend, obwohl Männer sie eigentlich hätten kalt lassen müssen. Mit dieser Erkenntnis kehrte die Angst zurück, ihre Heilung durch Felidae könnte nicht dauerhaft gewesen sein – und alle Gefühlverirrung und -verwirrung könnte wieder von neuem beginnen. Beruhigend war lediglich, daß sich ihre Haltung Landru und Lilith gegenüber nicht schon wieder geändert hatte. Akiras Charme fesselte sie ungemein, ohne daß sie zu sagen vermochte, was genau ihn eigentlich so anziehend machte. »Hättest du Lust auf einen Zug durch die Stadt?« fragte er an ih-
rem zweiten Abend. Natürlich war sie wiedergekommen. Und beinahe ebenso natürlich hatte er sich kurz darauf neben sie gesetzt. Allein. Seine Niku-Freunde waren – vermutlich zum Leidwesen des Barbesitzers – diesmal nicht wie die Heuschrecken eingefallen. Beth hatte bei einem Mizu-wari gesessen, der heute erheblich besser als am Vortag schmeckte. Offenbar waren Akiras Freunde auch automatisch Freunde des Hauses und erfuhren eine entsprechende Bevorzugung. »Nur wir beide?« Sein Lächeln war Antwort genug. »Ich rede nicht gern um den heißen Brei«, sagte er. »Du bist wiedergekommen, weil ich auf dich wahrscheinlich ebenso exotisch wirke wie du als Ausländerin auf mich. Hättest du keinerlei Interesse an mir, hätten wir uns nie wiedergesehen … Aber reden wir nicht ständig von der Vergangenheit. Ich lebe am liebsten in der Gegenwart.« »Aber nicht ohne Zukunft?« fragte Beth spöttisch. »Ich hoffe nicht. – Was ist? Hast du Lust?« »Das weiß ich noch nicht. Lernen wir uns erst einmal besser kennen. Mit der Lust ist es wie mit der Zukunft: Sie kommt, wenn die Voraussetzungen stimmen, von ganz allein …« »Ich finde deine Philosophie äußerst beeindruckend.« Akira half ihr grinsend vom Hocker und führte sie nach draußen. Da er selbst keinen Helm trug, hatte er auch keinen für Beth dabei. Ihre Kleidung war dem bevorstehenden Abenteuer jedoch angepaßt. »Hast du schon einmal auf einer schweren Maschine gesessen?« »Natürlich.« Es lag durchaus in ihrer Absicht, daß er ihr diese Behauptung
nicht abnahm. Akira war ein ausgewachsener Macho, der solche indirekten Selbstbestätigungen am laufenden Band zu brauchen schien. »Wohin fahren wir?« »Bevorzugst du Action oder Romantik?« »Vielleicht ließe sich beides miteinander vereinbaren?« Sie sagte es, um nicht irgendwo zu landen, wo sie mit ihm allein war – obwohl auch jetzt jedes wirklich mulmige Gefühl ausblieb. Er nickte. In rasender Fahrt ging es durch die kalte, aber von manchem Spektakel erhellte Nacht. Wie von Akira am Vortag angedeutet, feierte man die göttliche Reichsgründung vor über 2600 Jahren. Beth klammerte sich an Akiras Jacke fest. Sie merkte spät, daß sie zielsicher an jedem Fest vorbeifuhren.
* Nona handelte ohne zu denken. Nur tief unter der Oberfläche ihres Bewußtsein erkannte sie das verbindende Element zwischen zweien, die sich ansonsten absolut unähnlich waren: Tomakai und Chiyoda. Ihr Mentor kämpfte seit langer Zeit erfolgreich gegen den Ausbruch der Triebe an und verwendete dazu die Kraft seines Geistes. Er jonglierte mit seinem Glauben. In vielen Anläufen hatte er Nona in die Kunst einzuweihen versucht, die Realität (oder das, was sie als solche empfand) zu manipulieren. Wie er es mit jedem seiner »Schüler« tat. Aber die Stufe, die tatsächlich Einfluß auf die Wirklichkeit nahm, hatte sie nie erreicht. Tomakai schien – auf sehr viel bescheidenere Weise, aber ebenfalls mit Mitteln von Geist und Vorstellungskraft – das genaue Gegenteil
von Chiyoda anzustreben: Offenbar wollte er lernen, die in ihm schlummernde Bestie öfter und früher – nicht nur zu Vollmond – zu erwecken! Wie es aussah, hatte er bereits Erfolge erzielt, jedoch sehr viel geringere, als Nona im ersten Moment befürchtete. Die Transformation beschränkte sich auf Tomakais Physiognomie. Das Gebiß erreichte dabei aber längst nicht die bestienhafte Gefährlichkeit, wie er sie offenbar anstrebte. Tomakai ähnelte einem kastrierten Werwolf, und Nona fühlte sich, nachdem die erste Verblüffung überwunden war, dadurch nicht sonderlich benachteiligt. »Wen willst du damit beeindrucken?« fauchte sie, obwohl seine Hände sich wie eiserne Klammern um ihre Oberarme geschlossen hatten. Nona stieß den Kopf vor und traf das Kinn des Mannes. Danach taumelte sie selbst etwas benommen, aber Tomakai hatte es härter getroffen. Seine Pranken ließen los. Desorientiert fuchtelte er durch die Luft. Nona duckte sich. Ihre Blöße störte sie nicht. Was die Beweglichkeit anging, war es sogar von Vorteil. Sie wartete nicht, bis sie selbst oder Tomakai sich wieder vollständig erholt hatten, sondern warf sich gegen ihn und schleuderte ihn mit voller Wucht gegen eines der Spiegelelemente an den Wänden. Es krachte so furchtbar, daß sie darauf wartete, das Glas zersplittern zu sehen. Doch es hielt stand, und auch Tomakai bewies Nehmerqualitäten. Zudem schien er endgültig jede hinderliche Arroganz abzustreifen. Das machte ihn zu einem wirklich ernstzunehmenden Gegner. Aber Nona hatte nie erwartet, daß es leicht werden würde. Einfacher hätte sie es bei Anwendung irgendwelcher schmutziger Tricks
gehabt. Aber damit wäre über Tomakais Tod hinaus nichts zu gewinnen gewesen – und zum »Märtyrer« wollte sie ihn nun wirklich nicht hochstilisieren. Es hätte alles nur schlimmer gemacht. In diesem Moment wurde die Tür des Zimmers aufgerissen. Einer von Tomakais Leuten stürmte herein und rief, ehe er die Situation auch nur überblicken konnte: »Der Gefangene ist fort! Es sieht aus, als hätte ihn jemand befreit!« Tomakai brauchte keine Sekunde, um das Komplott zu durchschauen. »Verräterin!« bellte er. »Ich wußte immer, daß du einen Pakt mit den Blutsaugern geschlossen hast! Unsere Art kann aufatmen, wenn ich zur nächsten Zusammenkunft deinen Kopf mitbringe – wir werden ihn als Kriegserklärung an Keyno entsenden!« »Narr!« zischte Nona. Der Überbringer der Nachricht stand langsam begreifend da. »Soll ich …?« begann er zaudernd. »Nein! Ich erledige das! Sie hat mich herausgefordert! Verschwinde!« Das Mitglied seines Rudels verschwand halb so stürmisch wie er gekommen war. »Zufrieden?« wandte Tomakai sich zurück an Nona. Sie tänzelte vor ihm und geriet unversehens in den Brennpunkt der Anlage, in der Tomakai offenbar sein Verwandlungstraining betrieb. Plötzlich war Nonas Bild in jedem Spiegel. Es war ihr egal. »Erst wenn ich deinen Kopf in Händen halte«, erwiderte sie. »Er dürfte, setzt man den Inhalt voraus, kein sonderliches Gewicht besitzen …« Mit einem haßerfüllten Schrei warf er sich ihr entgegen. Sie erwartete ruhig den mit ausgestreckten Armen heranfliegenden Körper, packte einen dieser Arme, verdoppelte den vorhande-
nen Schwung – und wirbelte ihn fast in gleicher Linie gegen die hinter ihr liegende Wand. Diesmal widerstand der getroffene Spiegel nicht. Es regnete Scherben. Nona setzte nach. Tomakais Stöhnen spornte sie noch mehr an. Bevor er sich überhaupt wieder aufrichten konnte, hatte sie eine der keilförmigen, handspannen-großen Scherben umfaßt und störte sich auch nicht daran, daß sie die eigene Hand damit aufschnitt. Der Schmerz zählte nichts gegen das, was zu gewinnen war. Tomakai bäumte sich ihr abwehrend entgegen – und die Spitze der Scherbe fand fast ohne Nonas Zutun ihren Weg in seine Brust und dort in Tomakais wichtigsten Muskel. Seine Kiefer spannten sich so weit, daß die Gelenke knirschend brachen. In grotesker Weise blieb diese Stellung erhalten, als Nona eine weitere Scherbe faßte und dem Wolfsführer zur Sicherheit auch noch die Kehle durchtrennte. Angelockt von der plötzlichen Stille, erschien kurz darauf wieder Tomakais Lakai. Nona überzeugte ihn von dem Vorteil, die Nerven zu bewahren.
* »Erwähntest du nicht etwas von ›Action‹?« fragte Beth unwohl. Akira Otomo lächelte, antwortete aber erst, nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. »Du wolltest Romantik – das andere ergibt sich, oder?« Lächelnd deutete er in den fensterlosen Raum, der aussah wie ein zum Wohnzimmer umfunktionierter Bunker. Er verströmte auch exakt dessen
kargen Charme. »Hier lebst du?« Beth hielt das Gespräch in Gang, obwohl sie am liebsten heulend kehrtgemacht hätte. Plötzlich verstand sie überhaupt nicht mehr, daß sie mit dem Boß der Niku-Bande gegangen war. Keine Recherche der Welt war es wert, dafür … »Ein Drink?« Sie schüttelte den Kopf. »Mir ist nicht gut. Ich glaube, ich gehe besser nach Hause und lege mich ins Bett. Die ›wilde Romantik‹ verschieben wir – okay?« Akira drehte ihr den Rücken zu, da er sich – ohne ihre Antwort abzuwarten oder zu berücksichtigen – an einem mit Flaschen gefüllten Regal zu schaffen gemacht hatte. »Ins Bett legen«, sagte er, »kannst du dich auch hier. Ich kümmere mich gern um dich.« Beth begann innerlich zu frieren. Dennoch verlieh sie ihrer Stimme den Ton, der die ganze Zeit zwischen ihr und Akira vorgeherrscht hatte. »Ich fürchte nur, du hättest eine andere Auffassung von ›kümmern‹ als ich …?« »Wäre das so schlimm? Bist du nicht deshalb mitgekommen?« Nein! »Vielleicht. Aber du hättest nichts davon, glaub’ mir. Wir verschieben unser näheres Kennenlernen auf einen der nächsten Tage.« Er drehte sich zu ihr und reichte ihr ein randvolles Whiskyglas. »Trink das. Danach geht es dir besser, das verspreche ich. Ein altes Hausmittel. Wenn du dann immer noch gehen willst …« Er zuckte die Achseln. »In Ordnung.« Beth sah ihm in die Augen, die kein Wässerchen trübten. »Wirklich?« Er hob die freie Hand zum Schwur.
Zögernd nahm sie das Glas und nippte daran. Sofort durchströmte es sie warm. Sie setzte es wieder ab. »Alles!« sagte Akira. Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß es mir hilft!« »Aber mir!« Sie verstand ihn nicht. Sie verstand auch nicht, daß er sie mit der Linken im Genick und mit der Rechten ihre Hand faßte, die das Glas hielt. Alles ging blitzschnell. Er bog sie nach hinten. Ein Reflex, vom Schmerz in ihrem Genick ausgelöst, zwang sie, den Mund aufzureißen. Der Inhalt des Glases ergoß sich in ihre Kehle, und die Schluckbewegungen kamen fast automatisch … Als Akira sie wieder losließ, krümmte Beth sich hustend. Sie versuchte zu erbrechen, was ihr gerade eingeflößt worden war. Doch im selben Moment überkam sie eine große Gleichgültigkeit. Sie setzte sich einfach auf den Boden. Akira stand lächelnd vor ihr. »Soll ich dir helfen, dich auszuziehen?« fragte er und streifte selbst bereits die Jacke ab. »Ausziehen?« »Mach schon!« kam es in ungewohnter Schärfe. Beth versuchte, die Impulse, die in ihr frei wurden, zu deuten. Alles drehte sich ein wenig um sie, aber es war mehr als ein einfacher Schwips. Sie sehnte sich plötzlich selbst nach Nähe. Ihr Herz klopfte heftig. Ungeschickt löste sie sich aus der Jacke. »Fein. Endlich hast du begriffen …« Nicht einmal sein zynisches Lächeln schreckte sie mehr ab. Ihr Verstand hatte genug damit zu tun, die Finger die einzelnen Knöpfe ihrer Bluse finden zu lassen. Zwischen ihren Schenkeln kribbelte es. Sie kicherte. (Bin ich das?)
Irgendwo in ihr prallte Entsetzen mit kaum noch zu zähmender Ungeduld zusammen. Die daraus entstehende Mischung verursachte einen regelrechten Blackout. Die letzte kritische Stimme in Beth verstummte. »Mißverstehe das nicht«, sagte Akira, bereits mit nacktem Oberkörper. Auf seinem linken Schulterblatt prangte eine Drachentätowierung. »Ich mag dich wirklich. Vielleicht mehr als alle, die ich bisher traf. Aber ich hasse diese Rituale, die nichts anderes als Hinhaltetaktiken sind. Wir versuchen es jetzt miteinander. Wenn es auch im Bett mit uns stimmt, mache –« Seine Augen stierten auf Beth’ gerade freigelegte kleine Brüste. Sie paßten zu ihrer insgesamt eher zarten Erotik. Daß Akira mitten im Satz zu sprechen aufhörte, hatte jedoch einen viel banaleren Grund. Sein Handy summte. Und offenbar war es ihm heiliger als alles andere. Er fluchte zwar, bückte sich aber auch und fischte es aus seiner hingeworfenen Jacke. Beth machte indes weiter und bekam kaum etwas von Akiras Äußerungen mit. Das Telefonat dauerte nur eine Minute. Dann klaubte der NikuBoß wieder seine sämtlichen Kleider zusammen und streifte sie über. Nur langsam dämmerte Beth, was er tat. Sie hielt inne, trug aber bereits nur noch ihren Slip. »Ich muß noch einmal weg!« schnarrte Akira, ohne daß der wahre Umfang seines Bedauerns klar wurde. »Etwas Unaufschiebbares, glaub’ mir das, Baby! Es sieht aus, als wäre mein Boß gerade in die ewigen Jagdgründe eingegangen …«
* Als Beth fast einen Tag verschwunden war, wußte Lilith sich nicht mehr anders zu helfen, als Kontakt zu Mr. Okutani von der Tokyo Sun aufzunehmen. Es war früher Abend, und er war noch nicht privat zu erreichen, weshalb sie ihn in seinem Büro aufsuchte. Es machte keinerlei Probleme, zu ihm vorzudringen. Seine Sekretärin war freundlich. Okutani war es auch, obwohl bei ihrem Erscheinen eine überaus intensive, jedoch blockierte Erinnerung in ihm aufzuflackern versuchte. Lilith dämmte sie nochmals behutsam ein und verlangte dann ausführliche Auskünfte über die Art von Arbeit, die Okutani an Beth vergeben hatte. Seine Antworten kamen bereitwillig. Das flaue Gefühl in Liliths Bauch wurde immer stärker. »Bandenwesen?« echote sie. »Etwas Harmloseres fiel Ihnen für den Anfang nicht ein?« Er blickte hilflos, aber sie wußte längst, daß nicht er, sondern sie Schuld an dieser Entwicklung trug. Ganz offenbar hatte sie ihm ihre Vorstellungen, wie er Beth einsetzen sollte, nicht detailliert genug vorgeschrieben. Jetzt war es zu spät. »Ist der Bandenboß, dieser Akira, gefährlich?« »Alle diese Jungkriminellen sind gefährlich, über ihre Verflechtungen mit der Yakuza ist im allgemeinen wenig bekannt. Mehr darüber herauszufinden, war der Auftrag meiner neuen –« »Wo finde ich diesen Akira?«
Okutani zuckte die Schultern. »Ich müßte es erst herausfinden …« »Tun Sie das – schnell!« »Ich werde …« »Sofort!« Lilith wartete, während Okutani gehorsam den internen Apparat ins Laufen brachte. Akiras Adresse zu ermitteln erwies sich als nicht allzu schwierig. Fraglich blieb jedoch, ob Beth sich dort überhaupt aufhielt. Sie konnte überall sein. An der Wand von Okutanis Büro hing ein riesiger Stadtplan. Das Redaktionshaus war gesondert markiert, und auch das SchinreiBuilding als Orientierungspunkt zu finden, fiel nicht schwer. »Schließen Sie Ihr Büro ab«, drängte Lilith, die keine Minute mehr verlieren wollte. Akira Otomos Adresse lag in einem ganz anderen Bezirk. Okutani gehorchte widerspruchslos. »Und jetzt zeigen Sie mir auf der Karte, wo Otomos Wohnung liegt!« Okutani brauchte nur Sekunden. Die Kuppe seines Fingers diente als Pfeil. »Bleiben Sie so – egal, was passiert!« Lilith stellte sich neben ihn. Sie stellte die direkte Verbindung per Luftlinie zwischen dem Gebäude der Tokyo Sun und der Wohnung des Bandenbosses her. Dann öffnete sie die linke Hand und konzentrierte sich mit aller Macht. Ihre Augen ruhten weiter auf der Wandkarte und Okutanis Finger, während sich das Fledermaus-Tattoo gespenstisch von ihrer Haut löste – und die Wand des Büros durchdrang. Sie hatte Fortschritte gemacht, von denen Beth noch nichts ahnte.
Und möglicherweise würde sie es auch nie mehr erfahren …
* Als sie erwachte, dröhnte ihr Schädel wie eine in Schwingungen versetzte Bronzeglocke, und ihre Finger waren mit geronnenem Blut überkrustet. Beth setzte sich auf und meinte, ihr Kopf müßte zerspringen. Die Kontaktlinsen rieben wie stachelige Kastanien auf ihren Augen, und ihr war speiübel. Es dauerte minutenlang, bis das Schwebegefühl aufhörte und die Erinnerung zurückkehrte. Eine sehr verschwommene Erinnerung. Dies war Akira Otomos Wohnung. Nachdem er gegangen war, hatte sie wie im Delirium ebenfalls versucht zu verschwinden. Es war ihr nicht gelungen. Akira hatte sie eingesperrt, und sie hatte sich die Nägel an der unüberwindlichen Tür blutig gekratzt, bis sie die Besinnung verloren hatte … Die war ihr aber zweifellos schon viel früher abhanden gekommen! Sie ballte die Fäuste. Immer noch war sie bis auf den Slip entkleidet. Scham und ohnmächtige Wut überrollten sie. Jetzt, da sie wieder klar denken konnte, war sie überzeugt, daß er sie nicht nur unter Alkohol, sondern unter eine Droge gesetzt hatte. »Verdammtes Schwein …!« Ihre Stimme hörte sich so übel an, wie sie sich fühlte. Wenn sie den Kopf bewegte, meinte sie, die Wände auf sich zustürzen zu sehen.
Ihr war sterbenselend. Als ihr Blick auf eine Uhr fiel, wollte sie nicht glauben, daß fast ein halber Tag vergangen war, seit Akira sie hierher gebracht hatte. Verschleppt. Aber die Schuld trug allein sie selbst. Ihre Naivität war himmelschreiend, auch wenn sie im nachhinein glaubte, daß ihr schon in der Kneipe etwas in ihr Getränk gemixt worden war. Es war keine Entschuldigung. »Strafmildernd« war allein der Umstand, daß sie sich wie ein Kind auf ihren ersten Job seit langem gefreut – und dabei den Blick für das Machbare verloren hatte … Akira kehrte zurück. Sie hörte, wie die Tür ihres Gefängnisses aufgeschlossen wurde. Kurz darauf trat er ein, und er vergaß nicht, sofort wieder hinter sich zuzusperren. Beth haßte ihn plötzlich. »Du bist wach, wie schön«, sagte er, als wäre nichts geschehen. Ihr verkniffenes Schweigen entlockte ihm nur geringe Beachtung. »Komm her«, sagte er. »Es dürfte an der Zeit sein, deine Depressionen zu verscheuchen.« Er deutete zur Bar. »Trink etwas, dann vergeht der Kater schnell, und wir können –« »Wir können …?« schrie sie ihn an. Sie glaubte, das Splittern ihres Schädelknochens zu hören und zu fühlen. Stöhnend preßte sie die Handballen gegen die Schläfen. Er lachte. »Immer noch böse, weil ich etwas überstürzt weg mußte? Es war wichtig. Du weißt nicht, was in dieser Stadt los ist. Du ahnst es nicht einmal. Und offenbar hast du auch keinen Schimmer, welche Ehre es ist, daß ich ausgerechnet dich ausgewählt habe.« »Ausgewählt?« rann es aus ihrem Mund, obwohl sie ihm liebend
gern jede seiner höhnischen Äußerungen in den Rachen zurückgestopft hätte. »Natürlich. Im Grunde trifft es sich gut, daß wir erst heute zusammenfinden. Wenn ich mich beeile, kannst du mich vielleicht schon auf dieser Jagd begleiten …« Er redete wirr. So völlig irre, daß Beth sich fragte, auf welchem Trip er sich eigentlich befand. »Du bist wunderschön!« Sein Blick heftete sich an ihren Busen. »Du hast mir vom ersten Augenblick an gefallen.« Sie bekam eines Gänsehaut und bedeckte die Blöße mit beiden Händen. In ihrem Kopf rumorte der Schmerz, als wollte er nie wieder aufhören. Akira begann sich auszuziehen, unbeeindruckt von ihrem offensichtlichen Ekel. »Das Treffen im Shin-Edogawa-Park findet auch ohne mich statt. Ich bin kein Alpha – noch nicht. Im Grunde ist mir auch völlig egal, ob der Friede zustande kommt oder scheitert. Ich stand auf Tomakais Seite. Doch wäre es unklug, dies laut auszusprechen …« Beth hatte keine Ahnung, wovon er redete. Verzweifelt hielt sie Ausschau nach etwas, das sich als Waffe gebrauchen ließ. Die verdeckte Recherche war ihr längst so egal wie dieser »Friede«, von dem Akira faselte. Sie war entschlossen, ihn unter keinen Umständen an sich heranzulassen. In diesem Moment legte er die letzte Wäsche ab. »Es ist schon dunkel«, sagte er. »Mir bleibt nicht mehr viel Beherrschung – aber die brauche ich, wenn der Trieb nicht völlig mit mir durchgehen soll. Es wäre dein Tod – und das will ich nicht. Hör also auf, dich zu sträuben. Je länger es dauert, desto weniger kann ich garantieren …«
»Dreckskerl!« schleuderte ihm Beth entgegen. »Und was heißt hier dunkel? Es ist gerade acht Uhr!« Sie wies auf das Zifferblatt. »Abends«, machte Akira sie auf einen weiteren Irrtum aufmerksam, »ist es immer dunkel.« Sie hatte nicht nur einen halben, sondern fast einen ganzen Tag verschlafen? »Verdammt!« fluchte sie ungeniert. Akira kam auf sie zu. Beth wußte sich nicht anders zu helfen, als eine Flasche zu greifen und sie an der Regalkante zu zerschlagen. Den Flaschenhals umklammert, fuchtelte sie damit durch die Luft und versuchte, Akira auf Distanz zu halten. »Den Schlüssel!« verlangte sie mit überkippender Stimme. »Sperr auf und laß mich raus, oder …!« »Oder?« Akiras Miene verlor alles, was ihn einmal sympathisch gemacht hatte. Sein Haar sproß. Nicht nur auf seinem Kopf – überall am Körper. Der Schmerz in Beth’ Kopf rückte völlig in den Hintergrund. Sie hatte selbst noch keinem solchen Geschöpf gegenübergestanden, kannte es nur aus Liliths Berichten … Ein Werwolf! Die Realität war überwältigend in ihrem Grauen. Sie setzte jede Schranke in Beth’ Hirn außer Kraft. Entschlossen stieß sie Akira den scharfkantigen Flaschenrest entgegen. Er wich knurrend aus. Sie traf dennoch seine rechte Brustseite und fügte ihm einen häßlich tiefen Schnitt zu. »Hör – auf!« quetschte er hervor.
»Wenn du dich – länger wehrst, muß ich – dich töten!« Sie begriff immer noch nicht, was er tatsächlich von ihr wollte. Wieder stieß die provisorische Waffe zu. Ein brutaler Tritt gegen ihren Arm beraubte sie im nächsten Moment jeder Verteidigung. Akira setzte sofort nach. Er blutete kaum. Die Wunde in seiner Brust schien bereits wieder geschlossen. Wie bei Lilith, dachte Beth. »Ich vermähle dein und mein – Blut«, keuchte Akira. Er umklammerte ihre Arme. Daß sie nach ihm trat und ihn zu schlagen versuchte, störte ihn nicht. Grob schleuderte er sie zu Boden und legte sich sofort daneben. Menschlichkeit wurde ihm immer fremder. Seine Züge verformten sich. Mit den Pranken riß er ihr den Slip vom Leib. Beth war kaum noch imstande, irgend etwas zu tun. Niemand konnte ihr mehr helfen. Dieses Gefängnis war nach beiden Seiten undurchdringlich. Akira seufzte schwer, als er sich über sie wälzte. Der Ekel wütete wie eine Explosion in Beth. Sie war dabei, den Verstand zu verlieren. Die Gier in Akiras Augen erstickte jede Gegenwehr. Mühelos stemmte er ihre Beine auseinander und fuhr mit seinen behaarten Pranken über ihre Scham. Beth schloß die Augen. Sie wollte sterben. Nein! Auf-hö-ren! Lilith … Niemand konnte ihr helfen. Akira grunzte. Er –
– sprang von ihr herunter. Beth spürte noch den Druck seiner Klauen, mit denen er sich von ihrer Brust abgestoßen hatte. Sie riß die Augen auf und glaubte zunächst nicht, was sie sah. Sie war vielmehr überzeugt, tatsächlich den Verstand verloren zu haben. Sie konnte sich doch nur einbilden, daß Akira von einer schemenhaften Fledermaus attackiert wurde. Komm zu dir! Der eigene Selbsterhaltungstrieb mahnte sie dazu, und sie verschwendete keine Zeit mehr darauf, dem seltsamen Schauspiel zu folgen. So schnell sie konnte, robbte sie zu Akiras Kleiderbündel. Sie fand den Schlüssel und hastete damit zur Tür. Jeder Schmerz verlor seine Bedeutung. Sie riß die Tür auf und wollte hinausstolpern. Statt dessen kam etwas herein. Und damit war Akiras Schicksal besiegelt.
* Zur gleichen Zeit Shin-Edogawa-Park Die Pagode war im privaten Besitz der Rudel. Es war der Ort der Zusammenkunft. Doch in dieser Vollmondnacht trafen sich hier nicht nur die sechs von sieben Alpha-Wölfen, denen die größten Bezirke Tokios unterstanden – sondern auch das Oberhaupt der Tokioter Vampirsippe.
Keyno war ohne sichtbare Begleitung gekommen, aber niemand bezweifelte, daß es Begleiter gab. Irgendwo im Umkreis der Pagode. Nona dankte Keyno noch einmal für sein Erscheinen und entschuldigte sich gleichzeitig – nicht nur zur Überraschung des Vampirs. »Du willst gehen?« »Ich habe den Weg für diese Konferenz im Rahmen unserer Regeln freigemacht«, erwiderte sie. »Aber ich habe keine Ambitionen, Alpha des führerlosen Rudels zu werden. Tomakai mußte weichen für Hoffnung auf eine weitere Ko-Existenz mit euch. Sein Rudel wird sich dem Beschluß der anderen fügen. Nun liegt es an euch, die Mißverständnisse auszuräumen. Ich hatte nie Zweifel, daß jemand absichtlich versucht, den Zwist zwischen uns zu schüren. Und deshalb bin ich auch sicher, daß dieser oder diese Unbekannte alles in ihrer Kraft Stehende unternehmen wird, diese Zusammenkunft zu sabotieren. Ich sehe lieber draußen nach dem Rechten.« Ihre Worte waren auch von den Rudelführern gehört worden. Proteste klangen auf. »Du hast uns zu diesem Treffen buchstäblich genötigt – nun nimm auch daran teil!« Aber Nona ließ sich nicht überreden. Sie verließ die Pagode mit eiligen Schritten. Gleichzeitig unterdrückte sie das aufkeimende Verlangen, sich zu dem zu verwandeln, was der Fluch von ihr forderte. Der Mond schüttete seine verhängnisvolle Pracht nicht nur über diesen Park, sondern über die ganze Stadt. Eine Nacht des Schreckens. Die Rudel würden, falls sie von ihren Führern nicht aufgehalten wurden, bereits irgendwo auf der Jagd nach Opfern sein. Ihr Beutezug würde in diesem Großstadt-Moloch kaum für nachhaltiges Aufsehen sorgen. Nona bewegte sich mit raubtierhafter Geschmeidigkeit durch das
Dunkel. Der Sieg vom Vortag gegen Tomakai hatte ihrem Selbstbewußtsein neuen Auftrieb verliehen – als dann noch Keynos Zusage zur Konferenz eingegangen war, hatte sie erstmals geglaubt, den drohenden Krieg wieder eindämmen zu können. Möglicherweise würde sich in dieser Nacht auch die Identität des Aufrührers klären … Minutenlang durchstreifte sie den Park, ohne die Anwesenheit anderer zu bemerken. Wo immer Keyno seine Sippschaft postiert haben mochte – sie tarnte sich entweder perfekt, oder er hielt sich für stark genug, sich tatsächlich allein unter »Wölfe« zu wagen. Bei jedem Schritt hielt Nona sich bereit, dem wachsenden Drang nachzugeben, der sie knechtete, so lange sie denken konnte. Trotz ihrer geschulten Instinkte bemerkte sie die Gestalt erst, als sie ihr bereits den Weg verstellte. Nona blieb ruckartig stehen. Das Kostüm ihres Gegenübers ließ keinen Zweifel, um wen es sich handelte. Nur das Schwert wirkte deplaziert an der Hüfte der Frau. »Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte die Geisha. Das Puppengesicht wurde von den Worten, die den Mund verließen, kaum bewegt. Unter dieser Maske konnte sich jedes Antlitz verbergen. Und die Worte schienen Nonas Verdacht zu bestätigen. Sie hatte sofort gespürt, daß sie es mit einer Vampirin zu tun hatte. »Also doch«, erwiderte Nona mit erzwungener Gelassenheit. »Lilith Eden. Ich dachte mir, daß du kommen würdest.« »Ich dachte mir, daß du hier sein würdest«, erwiderte die Geisha. »Aber ich muß dich enttäuschen – Lilith Eden bin ich nicht.« Nona war einen Moment irritiert. Die Stimme hatte ehrlich geklungen – und aus welchem Grund sollte die Halbvampirin sich jetzt noch verstellen? Aber wer …
»Wer also bist du?« Eine kurze Distanz trennte sie nur noch voneinander. Es gab keinen Zweifel mehr, daß eine völlig Unbekannte versuchte, Gewalt unter Sippe und Rudeln zu schüren. Als keine Antwort kam, sagte Nona: »Du gehörst nicht zur Tokioter Sippe. Warum –« »Doch«, unterbrach die Geisha sie und säte den bösen Verdacht, daß Keyno möglicherweise ein ganz falsches Spiel mit den Werwölfen trieb. War dies am Ende eine gigantische Falle, bei der sämtliche Rudel ihrer Führer beraubt werden sollten? Dann wäre ich die Schuldige, dachte Nona, um Fassung ringend. »Was du siehst, unterstand Keyno«, ergänzte die Geisha mysteriös. »Was bezweckst du mit dem Tod der Werwölfe? Warum haßt du uns?« Die Geisha schüttelte den Kopf und zog das Schwert, das eine Klinge aus Silber besaß. »Ich hasse nur dich.« Immer noch bezähmte Nona ihr Verlangen, dem Druck des Mondes nachzugeben. »Warum? Was habe ich dir getan?« »Mir? Nichts. Aber ihm …« Die Geisha kam mit gezogenem Schwert näher. Nona suchte in den matten Augen nach einem Motiv, das die Taten der Vampirin gerechtfertigt hätte – aus dem Gerede war sie nicht klüger geworden. Ihr blieb keine Zeit. Die Klinge wischte auf sie zu. Nona unterlief sie gedankenschnell und gab gleichzeitig dem übermächtig werdenden Trieb nach. Sie verwandelte sich in der Bewegung. Ein neuer Schwerthieb – wieder duckte sie sich und ergriff gleich-
zeitig selbst die Initiative. Sie gab sich dem Rausch hin, der ihr Unbesiegbarkeit einflüsterte. Der Stoff ihrer Kleidung war nicht imstande, die Veränderung zum Wolf mitzumachen, und barst an etlichen Stellen. Schnell streifte sie die Fetzen ab. Rotbraunes Fell kaschierte ihre Nacktheit. Dann bekam Nona beide waffenführenden Arme der VampirGeisha zu fassen – und handelte. Sie wußte, daß ihr vielleicht nur diese eine Chance blieb. Die Armknochen der Fremden brachen. Das Schwert fiel zu Boden. Abscheu und Haß verflochten sich zu einem tödlichen Knoten in Nonas Gesinnung. Sie verzichtete auf die Demonstration ihrer veränderten Physis, packte statt dessen selbst das Schwert, dessen unheilvolle Aura überwindlich schien, holte aus und durchbohrte die Brust der Vampirin. Die sackte sofort zusammen. Die Leichtigkeit, mit der sie sich bezwingen ließ, verblüffte Nona. Wie bei Tomakai ging sie auch hier auf Nummer Sicher, zog die Klinge zurück und schlug den Kopf der Geisha ab. Im nächsten Moment begann der Körper unter der Kleidung zu zerfallen. Seltsame, magische Entladungen umzüngelten die verdorrende Hülle. Aber gleichzeitig sah Nona das, was um den Hals der Vampirin geschlungen war. Ein Tuch. Aber kein gewöhnlicher Schal. Sie hatte lange Umgang mit El Nabhals Zaubertüchern gehabt, und eines davon hier zu finden, überraschte sie so sehr, daß sekundenlang ihre Vorsicht schwand.
Sie bückte sich, befühlte es – und realisierte zu spät, daß sie einen tödlichen Fehler begangen hatte.
* Er pokerte hoch – und gewann. Erkennst du jetzt, wer ich bin? fragte El Nabhal, während sich der Absinth über Nonas Geist senkte. Er spürte, daß es so war. Er weidete sich an ihrem Entsetzen. Ich könnte dich als neuen Wirt wählen – es wäre gewiß nicht unkomisch, vermittelte er ihr weitere Schmach. Aber ich will dich aus meinem Gedächtnis tilgen. Ich will selbst meinen Frieden finden, und das geht nur, WENN DU NICHT MEHR BIST! Sie wimmerte um Vergebung – oder mißdeutete er es? Es spielte keine Rolle mehr. Heb mich auf! befahl er. Sie löste das Tuch aus dem Bündel der Kimonoteile. Flechte es um deinen Hals! Sie tat, wie ihr geheißen. Sie hatte keine Chance, sich zu sträuben. El Nabhal zwang sie, mit aller Kraft zuziehen und noch einen unlösbaren Knoten zu flechten, ehe Nona die Kräfte verließen. Geduldig wartete er dann auf ihr Ende. Mit dem Erlöschen ihrer Sinne fehlten auch ihm die Mittel zu erkennen, was in unmittelbarer Umgebung geschah. Mit dem, was geschah, konnte er nicht rechnen. Niemand konnte das.
Auch Nona nicht.
* Die Wirklichkeit flackerte und entließ eine Gestalt aus den Nebeln der Zeit. Mit gemessenen Bewegungen strebte sie auf den am Boden liegenden Körper zu. Chiyoda hielt eine Fackel gegen Nonas Hals. Das verderbte Tuch verpuffte in einer regelrechten Entladung und zog weite Partien des Fells in Mitleidenschaft. Ein zerfasernder Schrei – oder die Illusion eines solchen – schien kurze Zeit wie ein fernes Echo über dem winterlichen Park zu schweben. Wenig später setzte Nonas Rückverwandlung ein. Chiyoda beugte sich zu ihr hinab. Ihr Herz schlug. Daraufhin hob er sie vorsichtig auf und verschwand. Auf die gleiche Weise, auf die er gekommen war …
* Lilith erzitterte kurz als das Tattoo zu ihr zurückkehrte. Zum erstenmal vermittelte ihr die Wohnung auf der Spitze des Schinrei-Buildings wirkliche Behaglichkeit. Sie hatte Beth auf direktem Weg hierher gebracht – und war dann noch einmal allein aufgebrochen, um der Spur zu folgen, die Beth ihr aus Akiras Äußerungen gewiesen hatte. Sie hatte das Penthouse nicht verlassen, sondern lediglich ihren
»Scout« zum Shin-Edogawa-Park entsandt. Dabei war sie Zeugin des Kampfes zwischen Nona und einer Vampirin geworden. Die Vampirin war getötet worden, aber dann hatte Nona selbst Hand an sich gelegt und versucht, sich mit einem Tuch zu erdrosseln. Nur das Einschreiten einer seltsamen, guruähnlichen Gestalt hatte dies verhindert. Und dann waren beide in einer Weise verschwunden, die Lilith auch im nachhinein unverständlich blieb … Schade, dachte sie. Nonas Tod wäre ihr gelegen gekommen. Aber sie schien einen Schutzengel zu besitzen. Es erschien ihr auch nicht ratsam, jetzt noch einmal den Park aufzusuchen, um die Gründe des Treffens, von dem Akira gesprochen hatte, herauszufinden. Durch das Fenster blickte sie auf den Vollmond. Es war die Nacht der Wölfe. Und sie war müde. Die Aktionen des Tattoos, das Qualitäten nicht nur als Späher, sondern auch als Waffe bewiesen hatte, hatten sie erschöpft. Leise kehrte sie zu Beth zurück. Noch leiser legte sie sich zu ihr und nahm sie in den Arm. Fast augenblicklich schlief sie ein.
* Epilog
Auf dieser Seite der Wirklichkeit herrschte ewiger Sommer. »Wo bin ich?« fragte Nona. Ihre Stimme hing zerbrechlich im Raum. »In Sicherheit«, sagte Chiyoda. »Was ist –?« »Still.« Er legte den Finger auf ihre Lippen. »Du mußt ausruhen. Du wärest fast gestorben, und ich kann dich hier nur halten, wenn du aufhörst, dir Gedanken zu machen.« »Aber ich muß –« »Du wirst schlafen. Geist und Körper brauchen eine Pause. Ich verspreche dir, dich zu wecken, sobald die Verhältnisse es zulassen.« »Die – Verhältnisse?« Als ihre Umrisse unscharf zu werden drohten, legte Chiyoda die Hand auf ihre Stirn. Seufzend schloß Nona die Augen. Sofort stabilisierte sich ihr materielles Erscheinungsbild. »Wird sie wieder gesund?« fragte Mei-Li. Chiyoda nickte. Gemeinsam mit seiner Tochter verließ er den Raum. »Ich habe Mutter gefunden«, sagte sie. ENDE
666 von K. U. Burgdorf Es beginnt mit einer Katze. Auf ihrer nächtlichen Jagd nach Blut beobachtet Lilith eine junge Frau, die das streunende Tier einfängt. Neugierig geworden, folgt sie ihr. Was so harmlos beginnt, endet in einem blutigen Desaster. Die junge Frau gehört einer Satanssekte an. In ihrer Wohnung findet Lilith eine Flugkarte nach Wien – eine von 666 Einladungen zu einem Satanistentreffen. Neugierig geworden, nimmt die Halbvampirin den Platz der Frau ein – und rührt an Dinge, die besser unangetastet geblieben wären. An ein Geheimnis, das vor über 50 Jahren seinen Anfang nahm und sich nun schrecklich offenbaren soll …