Nr. 322
Traum der Valjaren Auf der Flucht vor der großen Flut von Horst Hoffmann
Sicherheitsvorkehrungen haben verhin...
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Nr. 322
Traum der Valjaren Auf der Flucht vor der großen Flut von Horst Hoffmann
Sicherheitsvorkehrungen haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Doch die Gefahr ist durch die energetische Schutzschirmglocke nur eingedämmt worden, denn der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederaufgetauchtes Stück des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan und Razamon, der verbannte Berserker, haben als einzige den »Wölbmantel« unbeschadet durchdringen können, mit dem sich die geheimnisvollen Herren von Pthor ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Die Männer sind auf einer Welt der Wunder und der Schrecken gelandet. Das Ziel der beiden ist, die Herren der FESTUNG, die Beherrscher von Pthor, aufzuspüren und schachmatt zu setzen, auf daß der Menschheit durch die Invasion kein Schaden erwachse. Nach vielen gefahrvollen Abenteuern, die am Berg der Magier ihren Anfang nahmen, haben Atlan und Razamon, zu denen sich inzwischen der Fenriswolf gesellt hat, durch die Zerstörung des Kartaperators der irdischen Menschheit bereits einen wichtigen Dienst geleistet. Jetzt, nach der Zerstörung der Eiszitadelle und dem daraufhin eintretenden Wärmeeffekt, sind die Kampfgefährten bereits zu fünft. Zusammen mit Koy, dem Trommler, und Gloophy, dem Antimateriewesen, flüchten sie vor den Fluten des Schmelzwassers. Dabei erfahren sie vom TRAUM DER VALJAREN …
Traum der Valjaren
3
Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide auf dem Weg zur Dunklen Region. Razamon, Fenrir, Koy und Gloophy - Atlans alte und neue Gefährten. Telmten - Ein Valjare, der einen besonderen Traum träumt. Bördo - Sigurds Sohn.
PROLOG Es konnte kein Zweifel an der Korrektheit der Nachricht bestehen, die das Wache Auge übermittelt hatte – so unglaublich sie auch klingen mochte. An der Eisküste fanden gewaltige Abschmelzungen statt, ein Ergebnis des plötzlichen unerklärlichen Wärmeeinbruchs, der bereits vorher registriert worden war. Die FESTUNG befand sich in hellem Aufruhr. Es war nicht nur die klimatische Veränderung als solche, die die Herren Pthors alarmierte. Im Zentrum der Abschmelzungen, in der Eiszitadelle, ruhte ein Antimateriewesen, das Pthor auf seiner Wanderung durch die Dimensionen »eingefangen« hatte. Um die Gefahr einer Katastrophe zu bannen, hatten die Herren der FESTUNG das Wesen mit einem Gravitationsmantel umgeben und in der alten Burg der Zyklopen von der Außenwelt isoliert. Erst durch die Manipulationen der Gravitationsverhältnisse war eine regionale Eiszeit über die Nordküste hereingebrochen. Der Wärmeeinbruch schien seinen Ursprung in der Eiszitadelle zu haben, wo die Gravitationsfelder sich konzentrierten. Das aber bedeutete, daß eine unermeßliche Gefahr für ganz Pthor bestand, solange es keine Klarheit über die Ursachen der Veränderungen gab. Die Herren der FESTUNG schickten einen Zugor mit zwei Dellos zur Eisküste, um sich an Ort und Stelle ein Bild zu verschaffen. Sie mußten wissen, was bei der ehemaligen Burg der Zyklopen vor sich ging.
1.
»Du hast schon wieder diesen Schimmer in den Augen. Bleibe mir vom Leib, Gloophy! Ich bin nicht zum Schmusen aufgelegt – und mit dir schon gar nicht!« Atlan wich ein paar Schritte zur Seite, um einen »sicheren« Abstand zwischen sich und den Bera zu bringen. Gloophy schien darin jedoch eine Aufforderung zu sehen, dem Arkoniden zu folgen. Er gab einige schrille Laute von sich und breitete die riesigen Arme aus. Atlan sah sich hilfesuchend nach den Freunden um, aber Razamon, Koy und selbst Fenrir betrachteten Gloophys neuerlichen Gefühlsausbruch offensichtlich als willkommenen Anlaß, eine kurze Verschnaufpause auf ihrem Marsch einzulegen. Razamon, der seit der ersten Begegnung mit dem Antimateriewesen selbst oft genug dessen »Zärtlichkeiten« erduldet hatte, stand grinsend neben Fenrir und kraulte den riesigen Wolf im Nacken. Koy, der Trommler, blieb etwas abseits. Er litt unter Fenrirs Ablehnung. »Was steht ihr da herum?« rief Atlan, der sich ein zweites Mal mit ein paar schnellen Sätzen vor Gloophys Zugriff in Sicherheit gebracht hatte. »Lenkt ihn doch ab, oder soll er mich zerquetschen?« »Er hat dich eben gern«, lachte Razamon. »Du hast einen wahren Freund gefunden!« Atlan murmelte etwas vor sich hin, und das klang nicht sehr freundlich. Razamon amüsierte sich königlich. Gloophy schien zu glauben, daß es eine Art Spiel sei, das der Arkonide mit ihm trieb, und gab einen vergnügten Quietschlaut von sich. »Gloophy, nun ist es genug!« schrie Atlan und sah sich vorsorglich nach einer Deckung um. Sie hatten die eigentliche Eisküste hinter sich und näherten sich dem Quellgebiet
4 des Flusses Xamyhr. Zwar war die Landschaft immer noch von kniehohem Schnee bedeckt, aber überall ragten kleine und große Felsstücke aus der weißen Decke. Außerdem waren vor einigen Kilometern die ersten, eichenartigen Bäume aufgetaucht, die wie dunkle Masten aus dem Schnee ragten. Atlans Worte erreichten wiederum genau das Gegenteil. Das fast zweieinhalb Meter hohe Antimateriewesen, das durch seinen Velst-Schleier befähigt war, in einer »normalen« Umgebung zu leben, machte einen Satz auf ihn zu. Atlan ließ vor Schreck die Pekto fallen und lief auf den nächsten Felsblock zu. Dabei stolperte er und fiel nur wenige Meter vor Gloophy in den Schnee. Der Arkonide sah das grünschimmernde Ungeheuer mit vor Freude strahlenden Augen auf sich zukommen und schlug beide Hände vor das Gesicht. »Gloophy! So nimm doch Vernunft an!« »Er versteht dich nicht«, rief Razamon. »Du mußt schon warten, bis er Pthora gelernt hat.« Atlan sah nicht hin, als er die schweren Füße neben sich im Schnee knirschen hörte. Jeden Augenblick mußte Gloophy mit seinen »Liebkosungen« beginnen. »Schöne Freunde habe ich«, brummte Atlan. Doch als Gloophy sich über den Arkoniden beugte, hatte Razamon ein Einsehen. Er ging lachend auf die beiden zu und gab dem Riesen mit aller Wucht einen Klaps auf das verlängerte Rückgrat. Ein Mann von mittlerer Statur wäre einige Meter weit weg geschleudert worden, aber Gloophy zuckte nicht einmal zusammen. »Es ist ja gut. Siehst du nicht, wie er schon zittert? Vor lauter Freude, Gloophy! Er wird bestimmt mit dir schmusen, wenn wir mehr Zeit haben als jetzt.« Atlan starrte den Atlanter an wie ein Wesen aus einem fremden Universum. Auch Gloophy drehte den Kopf, der immer wieder an einen lachenden Frosch erinnerte. Ein noch wärmerer Schimmer trat in seinen Blick.
Horst Hoffmann Razamon fuhr zurück. »Nein, Gloophy – so war das nicht gemeint. Ich …« Gloophy ließ von Atlan ab und stampfte mit ausgebreiteten Armen auf den Atlanter zu. »Gloophy, du verstehst mich falsch!« Aber alle Beteuerungen halfen ihm jetzt nicht mehr. Razamon fuhr auf dem Stiefelabsatz herum und rannte wild gestikulierend davon. Gloophy gluckste vor Vergnügen und nahm die Verfolgung auf. Atlan schmunzelte und richtete sich vorsichtig auf. Der Gefühlsausbruch des Beras würde bald vorüber sein, und Razamon konnte einiges einstecken. Er achtete nicht weiter auf die beiden, sondern war mit den Gedanken bereits wieder bei dem, was vor ihnen lag. Obwohl sie das Gebiet der gefährlichen Eisverschiebungen hinter sich hatten, drängte alles in Atlan darauf, so schnell wie möglich zumindest das Quellgebiet des Xamyhr zu erreichen. Dort würden sie aller Voraussicht nach Eingeborene finden, bei denen sie ihre Vorräte auffrischen konnten. Außerdem schien im Gebiet der Eisküste irgend etwas vorzugehen, das sie noch nicht übersehen konnten. Etwas, das noch gefährlicher war als die Eisverschiebungen. Fenrirs Verhalten bestätigte Atlans Ahnungen. Der Wolf war während ihres Fußmarsches immer öfter stehengeblieben und hatte sich umgedreht, als ob er etwas wittern wollte. Einige Male hatte sich sein Nackenfell gesträubt, und Fenrir hatte leise geknurrt. Der Ausfall der Gravitationsfelder, meldete sich der Extrasinn. Er muß eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes heraufbeschworen haben. Eine exakte Aussage ist nicht möglich, da auf Pthor andere Naturgesetze herrschen als auf der Erde! Wir sind auf der Erde, dachte Atlan bitter. Er mußte sich dies in letzter Zeit tatsächlich immer öfter ins Gedächtnis zurückrufen. Manchmal glaubte er, im Lauf der Zeit jede Beziehung zur »Außenwelt« zu verlieren.
Traum der Valjaren Diese Anwandlungen dauerten nie länger als wenige Minuten. Atlan war hier, um dafür zu sorgen, daß die Erde nicht noch einmal ein Opfer dieses Gebildes und seiner mysteriösen Herren wurde. Dieser Wille war auch nach den vielen Enttäuschungen, die sie bisher auf der Suche nach den Herren Pthors erlebt hatten, ungebrochen. Atlan fühlte, daß es nicht mehr allzu lange dauern würde, bis sie endlich die geheimnisvolle FESTUNG erreichten. Er hatte Freunde gefunden, die an seiner Seite kämpften. Dennoch machte er sich keine Illusionen. Sie standen einer Macht gegenüber, über deren wahres Ausmaß sie allenfalls Spekulationen anstellen konnten. Atlan wurde aus den Gedanken gerissen, als er Fenrirs Knurren hörte. Zuerst glaubte er, daß Koy dafür verantwortlich wäre. Der Trommler brauchte sich Fenrir nur bis auf wenige Meter zu nähern, und schon fletschte das Tier die Zähne. Atlan hatte sich lange den Kopf über diese ihm unverständliche Reaktion des Fenriswolfs zerbrochen. Vielleicht witterte Fenrir unbewußt Koys PSI-Fähigkeit? All das war jetzt zweitrangig. Fenrir und Koy starrten beide in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Aus den Augenwinkeln bemerkte Atlan, daß auch Razamon und Gloophy stehengeblieben waren. Und dann hörte er das Rauschen, in das sich ferner Donner zu mischen schien. Der Arkonide hielt den Atem an. Irgend etwas Ungeheuerliches kam von der Eisküste her auf sie zu. Fenrir begann zu winseln und lief unruhig im Kreis herum, während die ungleichen Gefährten versuchten, am Horizont etwas auszumachen. Dann und wann glaubte Atlan, eine vage Bewegung wahrzunehmen, die sich über die ganze Horizontlinie erstreckte. Das Donnern wurde lauter. Fenrir blieb erneut stehen und starrte in die Ferne. Dann sprang er den Arkoniden an. Er biß in den Ärmel der schwarzen Pelz-
5 jacke und versuchte ihn wegzuziehen, von dem Rauschen fort. Es war nicht mehr nötig, denn in diesem Augenblick erkannte Atlan als erster, was da auf sie zugeschossen kam. »Eine Flutwelle!« rief er den Freunden zu. »Eine riesige Flutwelle.« »Wir müssen hier weg!« Es waren Koys erste Worte seit vielen Stunden. Sein Blick verriet Ratlosigkeit. Atlan sah sich schnell um. Etwa einhundert Meter entfernt standen drei große Bäume mit starken Ästen, die den Eindruck machten, daß sie ihnen Halt geben könnten. Sie waren ihre einzige Chance. »Dorthin!« rief Atlan. Razamon und Gloophy waren bereits unterwegs. Nur Koy schien seinen Schrecken noch nicht überwunden zu haben. Atlan packte ihn am Arm und zog ihn mit sich. Am Horizont türmte sich die anrollende Flutwelle auf.
* Es war immer wieder der gleiche Traum: Telmten befand sich auf einem großen Floß und fuhr den Fluß hinab, bis er das Gebiet der Dunklen Region erreicht hatte. Er stieg an Land und verankerte das Floß. Vor ihm ragte die schwarze Wand der Dunklen Region auf. In jedem Traum fand Telmten eine andere Landschaft vor. Einmal kämpfte er sich durch einen Dschungel, dann wieder bewegte er sich durch ein finsteres Schattenreich. So unterschiedlich diese Bilder auch waren – immer hatte er gegen furchtbare Gefahren zu kämpfen, und immer blieb er am Ende der Sieger. Auch das Ende des Traumes war immer das gleiche: Telmten stand vor dem Goldenen Vlies! Unendlich langsam streckte er seine Hand aus, um danach zu greifen … Und dann war der Traum zu Ende. Telmten glaubte sich bei jedem Aufwachen zwar noch vage daran zu erinnern, von einem goldenen Licht überflutet und eingefangen zu
6 werden, aber sosehr er sich auch bemühte, diese verschwommenen Bilder wurden nicht klarer. Die Minuten nach dem Erwachen waren die schlimmsten des ganzen Tages. Nicht nur Telmten träumte den Traum von der Dunklen Region und dem Goldenen Vlies – alle Valjaren in Florgst waren von dem Gedanken besessen, einmal in ihrem Leben eine Expedition dorthin zu unternehmen. Telmten war eine Ausnahme. Die meisten seiner Mitbürger hatten sich damit abgefunden, ihren Traum nie verwirklichen zu können. Sie gingen ihrem Tagwerk nach und bestellten die Felder mit den von den Technos aus Zbahn und Zbohr gelieferten Geräten, um nachts von dem Goldenen Vlies träumen zu können. Telmten war anders. Lag es in der Natur der Valjaren, den größten Teil des Tages über mißmutig und wortkarg zu sein, so war Telmten ein wahres Ekel. Er taute nur auf, wenn man über das Goldene Vlies sprach. Während der Arbeit auf den Feldern aber redete er nicht. Er brachte sein Pensum so schnell wie möglich hinter sich und lag dann stundenlang am Ufer des Flusses, um zu träumen. So auch an diesem Abend. Telmten hockte im Gras des Ufers und betrachtete das Spiel der kleinen Wellen. Die Alten beachteten ihn kaum, als sie von den Feldern kamen. Einige lachten lediglich und machten Witze über ihn, aber das störte Telmten schon lange nicht mehr. Er war mit etwas viel Wichtigerem beschäftigt – mit etwas, das er nicht verstand. Zum erstenmal seit seiner frühesten Kindheit hatte er in der letzten Nacht nicht geträumt. Telmten suchte alle möglichen Deutungen, aber keine erschien ihm einleuchtend. Als er eine gute Stunde im Gras gesessen hatte, sah er eine Gestalt auf sich zukommen. Die Frauen der Valjaren unterschieden sich auf den ersten Blick kaum von den Männern. Sie waren ebenso untersetzt und plump in ihren Bewegungen. Kaum ein Val-
Horst Hoffmann jare in Florgst wurde größer als anderthalb Meter. Der rundliche Kopf mit den winzigen, zwischen zahlreichen Speckfalten liegenden Augen saß fast übergangslos auf den Schultern. Die äußere Erscheinung der Valjaren stand in krassem Widerspruch zu ihrem groben Charakter. Mellnel setzte sich ohne Begründung zu Telmten und tat so, als starrte sie gedankenversunken in den Fluß. Telmten fühlte, wie der Ärger wieder in ihm aufstieg. Er wußte ganz genau, was Mellnel zu ihm trieb. Der Valjare war noch jung und im Gegensatz zu seinen Altersgenossen noch ohne einen weiblichen Partner. Seine Eltern hatten oft genug versucht, Telmten mit einem der Mädchen des Dorfes zu verbinden, aber er hatte sich mit Händen und Füßen gewehrt. Mochte das Goldene Vlies für alle anderen nur ein Traum sein – für Telmten war es der Lebensinhalt. Er begnügte sich nicht mit dem Traum. Eines Tages, das hatte er sich geschworen, würde er aufbrechen, und niemand würde ihn daran hindern können. Auch Mellnel nicht. Sie war eine der drei jungen Valjarenfrauen, die ebenfalls noch ohne Partner waren. »Woran denkst du, Telmten?« fragte sie dann auch. Der Valjare war nicht zu endlosen Gesprächen aufgelegt, deren Resultat doch immer nur das gleiche war. Mellnel verstand es, der Unterhaltung jedesmal jene Wendung zu geben, an deren Ende der Vorschlag stand, sich miteinander zu verbinden. Dementsprechend fiel Telmtens Antwort aus. »An dich ganz bestimmt nicht, Mellnel!« Die Valjaren verzog beleidigt das Gesicht. Sie musterte ihr Gegenüber eine Weile lang. Selbst ihr fiel auf, daß er heute noch verschlossener war als sonst. »Du hast doch etwas, oder?« »Ich habe diese Nacht nicht geträumt.« Mellnel wirkte betroffen. Wie alle Valjaren, konnte auch sie sich der Faszination ihres gemeinsamen Traumes nicht entziehen. Deshalb war eine Nacht ohne den Traum
Traum der Valjaren auch für Mellnel unvorstellbar. »Was hat das zu bedeuten, Telmten?« Der junge Valjare sah auf. Mellnels Stimme verriet wirkliches Interesse. Dennoch winkte er lässig ab. »Laß mich in Ruhe, Mellnel, ich habe nachzudenken. Um dir gleich die Antwort auf die Fragen zu geben, die du gleich stellen wirst: sie lautet ›Nein!‹« Aber Mellnel ließ sich nicht so leicht abspeisen. »Im Ernst, Telmten – glaubst du nicht, daß es langsam Zeit für dich wird, die Träume Träume sein zu lassen und endlich …« »… daran zu denken, mir ein Weib zu nehmen?« Mellnel erstrahlte über das ganze Gesicht. »Und wenn schon eine, dann meinst du sicher, daß du die richtige wärst.« Nun konnte Mellnel nicht mehr an sich halten. »Auf diesen Tag habe ich lange warten müssen, Telmten! Endlich begreifst du! Ich hätte es nicht mehr für möglich gehalten, wenn ich ganz ehrlich bin.« »Ich auch nicht«, brummte Telmten und stand auf. Er warf Mellnel einige deftige Ausdrücke an den Kopf und erklärte ihr, was er von ihr, vom Dorf und von den alten Valjaren hielt. Mellnel hatte einen hochroten Kopf bekommen. Als sie Telmten eine Reihe saftiger Flüche hinterherrief, war jeglicher Liebreiz aus ihrer Stimme gewichen. Telmten kümmerte sich nicht mehr um sie und zog sich in die Hütte seiner Familie zurück. Erst als er auf seinem dunklen Lager lag, kehrten die bohrenden Gedanken zurück. Was hatte die traumlose Nacht zu bedeuten? Wieder legte der junge Valjare sich alle möglichen Deutungen zurecht. Er verwarf sie alle – außer einer. Irgend etwas stand bevor und kündigte sich auf diese Weise an! Und in Telmtens Gedanken war nur Platz für eines. Plötzlich wußte er genau, daß er schon in
7 den nächsten Tagen, vielleicht sogar bereits morgen, aufbrechen würde, um zur Dunklen Region zu gelangen. Der Gedanke brachte ihn fast um den Verstand. Bunte Bilder begannen vor seinen Augen zu kreisen. Im Lichtschein einer Talgkerze entstand eine imaginäre Welt … Telmten merkte erst, daß er eingeschlafen war, als ein alter Valjare an seinem Arm rüttelte. »Aufwachen, Telmten! Der Fluß …« Der Jüngling hörte die Worte seines Vaters kaum. Er hatte geträumt, aber nicht den Traum vom Goldenen Vlies. Telmten hatte von Fremden geträumt, Wesen, wie sie kein Valjare jemals gesehen hatte. Einer von ihnen mußte ein sogenannter Göttersohn sein, denn sein Aussehen entsprach genau den Beschreibungen, die in den Legenden von ihnen gegeben wurden. Telmten fühlte einen unbändigen Drang in seiner Brust. Er spürte, daß ihn nichts in Florgst hielt, auf den Äckern und am Fluß … Was war mit dem Fluß? Telmten erhob sich und sah seinen Vater verärgert an. »Was ist?« fragte er unwirsch. Der Alte schenkte ihm einen ebenso wütenden Blick und zeigte auf den Ausgang der Lehmhütte. »Während du träumst, ist draußen die Hölle los. Der Fluß tritt über die Ufer!« Telmten war sofort auf den Beinen. Es geht los! durchfuhr es ihn. Irgend etwas wird geschehen, und das ist der Anfang! Der Valjare trat aus der Hütte. Er konnte nicht lange geschlafen haben, denn es war noch nicht dunkel. Die Dämmerung hatte gerade eingesetzt.
* Gloophy und Razamon waren als erste bei den Bäumen. Der zweieinhalb Meter große und fünf Zentner schwere Bera warf sich auf den nächstbesten der drei Bäume, der etwa
8 einen Meter über dem Schnee gegabelt war und so zwei Stämme besaß. Gloophy sprang und klammerte sich fest. Sekunden später lag er wieder im Schnee – mit dem Stamm, der mindestens dreißig Zentimeter dick war. Razamon, der sich ebenfalls bereits im Ansprung befunden hatte, hielt an. Er konnte sich nicht um Gloophy kümmern, denn die Flutwelle brauste mit ungeahnter Schnelligkeit heran. Es blieben nur Sekunden, um sich in Sicherheit zu bringen, höchstenfalls eine Minute. Die kleine Gruppe handelte, als hätte sie das alles sorgfältig einstudiert. Koy und Atlan kletterten auf den nächsten Baum, bis sie in einer Astgabel in etwa drei Meter Höhe saßen. Razamon ignorierte die Flutwelle und packte Fenrir. Mit seinen Bärenkräften erkletterte er den dritten Baum, ohne den Wolf loszulassen. Atlan und Koy hatten sich bereits mit Stricken festgebunden. Razamon folgte ihrem Beispiel. Er fesselte Fenrir so an einen mächtigen, fast waagrechten Ast, daß der Wolf sich selbst durch heftiges Strampeln nicht losreißen konnte. Erst dann band der Atlanter sich selbst fest. Die Flutwelle war nur noch wenige hundert Meter entfernt. Das Donnern hallte in den Ohren der Gefährten. Es schien, als würde überall dort, wo die Wassermassen das Land unter sich begruben, das Erdreich mitgerissen. Die Wasserwand wurde höher und kam mit atemberaubender Geschwindigkeit näher. Noch einhundert Meter … Atlan fiel erst jetzt auf, daß der Bera nicht bei ihnen war. Er sah hinüber zu Razamon, aber der Atlanter stemmte sich mit dem Rücken gegen einen starken Ast und hatte Fenrirs Nacken umklammert. Fünfzig Meter! »Gloophy!« schrie Atlan. Der Arkonide war ebenfalls so fest an den Baum gebunden, daß er den Kopf nicht ganz drehen konnte. Doch aus den Augenwinkeln heraus glaubte er für einen Moment, schräg
Horst Hoffmann hinter sich am Boden etwas Grünes zu erkennen. Als Atlan den Kopf zurückdrehte, drohte ihm das Herz in der Brust stehenzubleiben. Wilde Panik überkam ihn, und er konnte gerade noch einen tiefen Atemzug machen. Die Wasserwand türmte sich mindestens fünf Meter hoch vor ihnen auf und traf sie mit unglaublicher Wucht. Atlan bekam einen Schlag und wurde gegen den Stamm gepreßt. Einen Moment lang sah er Koys verzerrtes Gesicht, dann schloß er instinktiv die Augen. Er glaubte, sämtliche Kleider vom Leib gerissen zu bekommen. Die Luft anhalten! mahnte der Extrasinn, als der Arkonide die Kontrolle über seinen Körper zu verlieren drohte. Die aufgepeitschten Wassermassen dröhnten wie Orkane entfesselter Energien in den Ohren. Atlan schluckte ein paarmal, um den Druck auszugleichen. Etwas Hartes schlug gegen sein linkes Bein. Der Schmerz lähmte alle anderen Wahrnehmungen. Nicht schreien! Die Luft anhalten! Der Arkonide glaubte, daß seine Lungen jeden Augenblick platzen mußten. Glühende Hitze breitete sich in seinem Kopf aus, und er schaffte es nur mit übermenschlicher Beherrschung, den Drang zu unterdrücken, nach Luft zu schnappen. Immer noch brachen die Wassermassen über sie herein. Die Flut schien kein Ende zu nehmen. Sie wird vorübergehen! Halte durch! Atlan hatte bunte Punkte vor den Augen. Dann kam der Schwindel, und immer noch preßte er die Lippen aufeinander. Das Rauschen nahm ab. Alles versank in einem Meer der Schwärze und der unendlichen Leere. Atlan spürte seinen Körper nicht mehr. Von irgendwoher kam ein vertrauter Laut. Die Stimme klang, als käme sie aus einer anderen Welt. Jemand rief seinen Namen. Nicht atmen! Du mußt durchhalten! Wieso sollte er nicht atmen? Was mußte er durchhalten? »Atlan!« Jetzt war die Stimme ganz nah. Der Arko-
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nide erkannte sie. Gleichzeitig kehrte der Schmerz zurück. Atlan zwang sich dazu, die Augen zu öffnen. Die Luft fuhr mit ungestümer Gewalt aus seinen Lungen. Gierig sog er neue ein. Als erstes sah er Wasser – nichts als Wasser, überall um sie herum. »Atlan! Komm endlich zu dir!« Razamon! Der Kopf des Arkoniden fuhr herum, bis die Riemen im Nacken schmerzten. Der Atlanter hatte sich von seinen Fesseln befreit und gestikulierte heftig. Das Wasser reichte fast bis zu ihren Füßen und rauschte immer noch so laut, daß es Atlan schwerfiel, Razamons geschriene Worte zu verstehen. »Koy!« hörte er dann. »Du mußt dich um Koy kümmern – er rührt sich nicht!« Erst jetzt begriff der Arkonide. Der Trommler hing wenige Meter neben ihm im Baum.
* Wäre Koy ein Terraner oder ein Arkonide gewesen, hätte die Flut ihn umgebracht. Atlan selbst verdankte sein Überleben nur dem Umstand, daß sein Körper und sein Geist durchtrainiert und durch zahlreiche Abenteuer in Extremsituationen abgehärtet worden waren. Aber Koy war kein Mensch, sondern der Sohn des Androidenpärchens Kergho und Dagrissa. Sein Metabolismus war nicht mit dem Atlans vergleichbar. Razamon und Fenrir waren ebenfalls wohlauf. Sie hatten die erste Flutwelle heil überstanden. Nur Gloophy war verschwunden. »Hast du etwas von ihm gesehen?« fragte Atlan zu Razamon hinüber. Sie saßen immer noch in den Baumkronen fest. Razamon und Fenrir befanden sich etwa zwanzig Meter weit entfernt. »Er kroch an eurem Baumstamm herum, als die Flut kam«, rief der Atlanter zurück. Im gleichen Augenblick tauchte eine grüne Pranke aus dem schmutzigen Wasser auf.
Kurz darauf schob sich Gloophys Kopf an die Oberfläche. Der Bera stand fest auf Grund und ragte mit den Schulterblättern aus dem Wasser. »Unkraut vergeht nicht, wie eine mir bekannte Barbarenrasse zu sagen pflegt«, meinte der Arkonide. »Es wird dunkel. Wir sollten zusehen, daß wir eine bequemere Bleibe finden. Außerdem ist eine zweite Flutwelle nicht ausgeschlossen.« Razamon nickte grimmig. Dann zeigte er ein Stück in die Richtung, in der der Fluß liegen mußte. Etwa achtzig Meter entfernt ragte die Kuppe eines kleinen Hügels aus dem Wasser. »Wenn wir dorthin gelangen könnten …« »Das reicht nicht«, sagte Atlan. »Wir müssen weiter nach Südosten, zum Gebiet des Flusses. Dort finden wir mit Sicherheit Dörfer, die von der Überschwemmung verschont geblieben sind.« »Wir müßten ein Floß bauen«, überlegte Razamon. Atlan sah aus zusammengekniffenen Augen zu der kleinen Insel hinüber. Langsam wurde es dunkel. Wenn sie vor dem Einbruch der Nacht noch etwas erreichen wollten, hatten sie keine Zeit zu verlieren. Plötzlich begann der Arkonide zu grinsen. »Bist du verrückt geworden?« wollte Razamon wissen. »Das nicht, aber ich habe eine Idee. Gloophy wird uns helfen.« »Gloophy? Dem steht das Wasser bis zum Hals!« »Eben! Und es scheint ihm nicht viel auszumachen.« Er beugte sich vor und tätschelte den Kopf des Antimateriewesens. »Nicht wahr, mein Lieber?« »Nih wah?« echote der Bera. Atlan und Razamon sahen sich erstaunt an. Auch Koy stieß laut die Luft aus. »Er beginnt zu lernen! In ein paar Wochen spricht er Pthora!« »Dann kann er uns vielleicht auch verraten, wie wir mit unseren Pelzen und in dem Eiswasser zu dem Hügel kommen«, bemerkte Razamon sarkastisch.
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Atlan sah ihn verständnislos an. »Ich dachte, das wäre längst klar – wir lassen uns von ihm tragen …« »Agen!« kam es von Gloophy. Atlan nickte. »Siehst du, er ist einverstanden.«
* Es gelang dem Arkoniden überraschend schnell, Gloophy seine Absicht klarzumachen. Der Bera trug zuerst ihn, dann Koy und schließlich Razamon durch das Eiswasser. Die Männer hatten einige starke Äste aus den Baumkronen geschlagen, indem sie die Spitzen ihrer Pektos als Beile verwendeten. Jeder schleppte soviel Holz mit hinüber, wie er gerade noch tragen konnte. Selbst Koy nahm, auf Gloophys Schultern sitzend, zwei dicke, knapp drei Meter lange Äste mit. Sie erreichten wohlbehalten die kleine Insel. Fenrir war neben dem Bera her geschwommen, als Razamon mit einer ganzen Ladung kleiner Stämme als letzter den Baum verließ. Trotzdem hätten sie noch einige Male hin und her pendeln müssen, wäre ihnen nicht das Glück zu Hilfe gekommen. Das Wasser hatte massenweise Trümmer mitgeführt und auf der Kuppe des kleinen Hügels angeschwemmt. Nach einer kleinen Ruhepause machte sich die Gruppe an die Arbeit. Es schien fast unmöglich, aus dem vorhandenen Material in kürzester Zeit ein Floß zu bauen, das auch in der Lage war, Gloophy zu tragen, aber nach knapp vier Stunden Arbeit hatten sie es geschafft. Es war längst dunkel, nur der Mond stand hell am Himmel und spendete gerade noch ausreichend Licht. Normalerweise hätten sie bis zum Morgen gewartet, aber die Angst vor einer zweiten, noch katastrophaleren Flutwelle trieb sie immer wieder an. Koy war noch damit beschäftigt, die einzelnen Teile des Floßes mit zusätzlichen Seilen wieder und wieder aneinander zu befestigen, und Gloophy sah ihm interessiert
zu, als Razamon sich zu dem Arkoniden setzte. Atlan hatte die Pelzkapuze und die Handschuhe abgelegt. »Ins Schwitzen gekommen?« fragte der Atlanter grinsend. Atlan sah auf und musterte den Freund eine Zeitlang. Seitdem Razamon nicht mehr unter seinen Anfällen litt, war er zugänglicher geworden. »Es war ein hartes Stück Arbeit«, entgegnete er. »Aber deshalb habe ich die Sachen nicht ausgezogen. Hast du nicht auch das Gefühl, daß es wärmer wird?« »Das wollte ich hören«, sagte Razamon. Atlan nickte. »An der Eisküste müssen unvorstellbare Verhältnisse herrschen. Ich bin jetzt sicher, daß der Ausfall der Gravitationsmanipulierung im Bereich der Eiszitadelle die Ursache radikaler klimatischer Umkehrungen ist. Es gibt keine andere Erklärung.« »Dann wird es bald großen Ärger geben. Die Herren der FESTUNG werden sich davon überzeugen wollen, wer für das Ganze verantwortlich ist. Und wenn sie entdecken, daß unser liebesbedürftiger Freund verschwunden ist, wird Atlantis zu einem Tollhaus werden.« »Gloophy«, überlegte Atlan. »Manchmal werde ich nicht schlau aus ihm. Er versteht unsere Sprache nicht, dennoch begriff er sofort, was wir vorhatten, als wir hilflos in den Bäumen hockten. Wenn man ihn so sieht, könnte man den Eindruck haben, es mit einem verspielten Giganten zu tun zu haben.« Atlan redete bereits von »seiner Sprache« und meinte damit das Pthora – die Sprache der Wesen von Atlantis. Razamon zuckte die Schultern. »Vielleicht werden wir ihn nie begreifen. Gloophy ist derart fremdartig, daß das, was wir als Verspieltheit ansehen, möglicherweise Ausdruck einer ungeheuer komplizierten Psyche ist. Wir müssen ihn nehmen, wie er ist. Aber was wirklich in ihm vorgeht, werden wir frühestens erfahren, wenn er gelernt hat, sich unserer Sprache zu bedienen.«
Traum der Valjaren Atlan wechselte das Thema. »Glaubst du im Ernst, daß das Floß Gloophy tragen wird?« »Ich bin sicher.« »Dann sollten wir aufbrechen. Ich nehme an, daß die Wassermassen sich in die Ebene des Xamyhr wälzen werden. Wenn wir Glück haben, sind wir im Morgengrauen auf dem Fluß, vielleicht sogar in der Nähe einer Ansiedlung. Hast du eine Ahnung, mit wem wir es dort zu tun haben werden?« »Leider nicht, Atlan. Ich weiß nur eines.« »Und?« »Wir nähern uns mit jedem Kilometer, den wir zurücklegen, der FESTUNG.« »Wir sollten uns keine falschen Vorstellungen machen«, warnte der Arkonide. »Vielleicht ist das, was uns dort erwartet, noch viel fremdartiger als alles, was wir bisher kennenlernten. Je unbefangener wir dann sind, desto besser stehen unsere Chancen.« »Es fällt mir schwer, an eine echte Chance zu glauben«, murmelte der Atlanter. Er sah auf. »Aber wenn sie noch so klein wäre, Atlan, ich schwöre dir, ich werde alles daransetzen, diese Verbrecher zu bestrafen. Es ist meine Welt, die sie in eine Hölle verwandelt haben. Sie haben Wesen zu Bestien gemacht, die niemals wirklich bösartig waren, denke nur an Muur-Arthos, Thalias zweiköpfigen Diener. Der Kleine hätte wahrscheinlich keiner Maus auch nur ein Haar krümmen können, wenn er nicht durch das aufgeladene Wasser des Dämmersees vergiftet worden wäre.« Atlan sah eine Weile sehr nachdenklich aus. Dann stand er abrupt auf und winkte ab. »Das hat uns im Augenblick nicht zu kümmern. Wir müssen hier weg!« Eine halbe Stunde später befanden die fünf sich auf dem Floß und trieben im fahlen Licht des Mondes auf das Quellgebiet des Xamyhr zu. Der Mond der Erde! dachte Atlan bitter. Luna! Wie viele solcher Himmel mochte Atlantis während seiner Reise durch die Dimensionen bereits gesehen haben? Wie vie-
11 len Welten hatte es das Unheil gebracht?
* Telmten hatte sich im Lauf der Jahre daran gewöhnt, als Außenseiter behandelt zu werden. Er hatte sich sogar daran gewöhnt, daß er von seinen Altersgenossen mit offener Feindschaft betrachtet wurde. Sie haßten ihn, weil er anders war. Telmten jedoch glaubte, daß sie in erster Linie neidisch auf ihn waren, weil er dem Sinn allen Seins näherstand als sie. Eigentlich war Mellnel die einzige, die überhaupt von sich aus kam, um mit ihm zu reden. In seiner Verblendung glaubte der junge Valjare jedoch, daß die anderen sie schickten, um ihn zu einem der Ihren zu machen, was für Telmten mit der totalen Verdummung gleichkam. Er würde sich nie damit begnügen können, nur zu träumen. Als der Fluß über die Ufer trat und alle Valjaren damit beschäftigt waren, ihr Hab und Gut in Sicherheit zu bringen oder Dämme zu bauen, blieb Telmten in der Lehmziegelhütte seiner Familie und suchte sich seine Ausrüstung zusammen. Er wollte bereit sein, wenn die Fremden kamen. Telmten war sicher, daß es kein normaler Traum gewesen war, der ihm den Göttersohn und seine merkwürdigen Begleiter gezeigt hatte. Telmten trug gefütterte Lederbekleidung und hochschäftige Stiefel. Um seine Hüfte baumelten einige Beutel mit Lebensmitteln und kleinen Wertgegenständen, die ihm in der Dunklen Region vielleicht von Nutzen sein würden. Außerdem trug er einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen über den Schultern. Kurz vor Mitternacht erschien ein junger Valjare in der Hütte und forderte Telmten auf, bei den Dammbauarbeiten zu helfen. Die Dorfalten hatten eine Flutwelle vorausgesagt. Das plötzliche Hochwasser konnte nur von spontanen Schmelzprozessen an der Eisküste herrühren. Dann aber stand ihnen
12 das Schlimmste noch bevor. Telmten gab dem Abgesandten zu verstehen, daß er mit derartigen Banalitäten nicht belästigt werden wollte. Er verkündete, daß er sich zum Aufbruch in die Dunkle Region vorbereite. Nur von den Fremden, die er im Traum gesehen hatte, schwieg er. Zehn Minuten später war der Valjare zurück, diesmal nicht allein. Zwei stämmige Männer befanden sich bei ihm und bauten sich vor Telmten auf. Einer von ihnen, der Wortführer, war Holret, Mellnels Bruder. Er und Telmten waren Intimfeinde – und das nicht nur, weil Telmten Mellnel verschmähte. Holret hatte in der Vergangenheit oft gefordert, Telmten aus dem Dorf zu verbannen, weil er in seinen Augen ein Faulenzer war. Jetzt sah er offensichtlich die Chance gekommen, Telmten eine längst überfällige »Belehrung« zu verpassen. Aber Telmten schwebte bereits viel zu sehr in seinen Träumen, um die Situation richtig einzuschätzen. Vielleicht hätte er das Unheil sonst verhindern können. »Du weigerst dich, uns bei der Arbeit zu helfen«, stellte der Stämmige fest. »Du willst in die Dunkle Region aufbrechen, um das Goldene Vlies zu holen, Träumer?« »Das geht dich nichts an!« preßte Telmten hervor. Aus den Augenwinkeln beobachtete er die beiden anderen, die sich von Holret gelöst hatten und ihn einzukreisen begannen. Sie würden ihn nicht aufhalten! Jetzt nicht mehr! Holret entblößte eine Reihe gelber Zähne. »Es gibt eine Menge Dinge, über die wir uns einmal unterhalten sollten, Träumer. Zum Beispiel die Arbeit am Damm – oder Mellnel …« Telmten wich ein paar Schritte zurück, um die beiden anderen nicht hinter sich gelangen zu lassen. Er blieb erst stehen, als er die Wand der Hütte im Rücken spürte. In normalem Zustand hätte er gemerkt, daß Holret lediglich auf eine Rauferei aus war. Das war in den Dörfern der Valjaren nichts Ungewöhnliches. Jetzt aber geriet
Horst Hoffmann Telmten in eine Art leichte Panik. Es ging plötzlich um so vieles! Holret und seine Begleiter waren gekommen, um ihn an seinem heiligen Auftrag zu hindern! Er mußte Zeit gewinnen … »Mellnel ist selbst schuld«, sagte er, ohne einen der drei aus den Augen zu lassen. »Sie sollte mich in Ruhe lassen, außerdem hat sie einen großen Fehler.« Holret trat einen Schritt vor. »Und der wäre?« »Ihr Bruder!« Das Grinsen auf Holrets Gesicht verschwand und machte einem anderen Ausdruck Platz. Telmten hatte ihn oft genug gesehen, bevor er Prügel von Holret und seinen Kumpanen bezogen hatte. Jetzt aber glich die Grimasse des Stämmigen einer Todesdrohung. »Bleibt zurück!« rief Telmten. »Ich warne euch – kommt nicht näher!« Holret grinste wieder. »Ich glaube, er hat vor uns Angst«, sagte er zu seinen Freunden. Es war der natürliche Umgangston zwischen den Valjaren, aber Telmten glaubte plötzlich, die Stimmen von bösen Dämonen zu hören, die gekommen waren, um ihn aufzuhalten. Holrets Begleiter begannen zu lachen! Es dröhnte in Telmtens Ohren wie Marter aus der tiefsten aller Höllen. »Zurück!« schrie er wieder und riß sich den Bogen von der Schulter. Bevor einer der Eindringlinge reagieren konnte, hatte er einen Pfeil eingelegt und zielte auf Holret. Der Stämmige blieb stehen und blickte Telmten fassungslos an. »Er zittert ja, unser Träumer! Er wird doch nicht gleich …« »Ich werde dich töten, wenn du näher kommst, Holret, das schwöre ich!« »Er meint es ernst!« sagte der Valjare, der rechts von Telmten stand. Holret schien einen Augenblick lang unsicher. Dann besann er sich darauf, daß er einen Ruf zu verlieren hatte. Holret war der gefürchtetste unter den Raufbolden von
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Florgst. Er war gekommen, um Telmten eine Tracht Prügel zu verabreichen, und nichts würde ihn davon abhalten können. »Leg das Ding weg, Telmten. Laß uns die Sache wie Männer austragen!« »Einen Schritt, Holret, einen einzigen!« Der Stämmige streckte beide Arme als Zeichen der Friedfertigkeit von sich. Seine Kumpane wurden zusehends unruhig. Sie ahnten, daß Telmten nicht spaßte. Vielleicht wäre das Unglück verhindert worden, wenn nicht plötzlich Telmtens Vater im Eingang der Lehmhütte erschienen wäre. »Die Flut!« brüllte der Alte aus voller Lunge. »Rettet euch auf den Hügel oder auf die Dächer!« Telmten ließ sich einen Augenblick ablenken. Das genügte Holret, um seinen Begleitern ein Zeichen zu geben. Es war sein eigenes Todesurteil. Telmten sah zwei Schemen auf sich zukommen und ließ die Sehne los. Der Pfeil traf Holret mitten in die Brust. Was dann geschah, erlebte er nur hinter einem dichten Schleier mit, der sich über sein Bewußtsein gelegt hatte. Zwei kräftige Arme packten ihn und schleppten ihn aus der Hütte. In der Ferne rollte dumpfer Donner über das Land, ein mächtiges Rauschen … Telmten wurde vorwärts gestoßen. Sie trieben ihn einen Hügel hinauf, zu einer alten, verfallenen Hütte. Und dann kam die Flut und verschlang das Dorf …
* Was Atlan gehofft hatte, erfüllte sich. Im Morgengrauen des neuen Tages erreichte das Floß mit den fünf Flüchtlingen den Fluß Xamyhr. Das Schmelzwasser aus dem Norden strömte in die Flußebene, in Richtung der im Südosten liegenden Deltamündung. Das Flußbett lag im Mündungsgebiet zwischen zwei flachen Hügelketten, die jetzt wie Landrippen rechts und links aus dem Wasser ragten. Die natürlichen Ufer waren
überflutet. Atlans Gruppe mußte sich so lange an den beiden Landbänken orientieren, bis sie die ersten unter Wasser stehenden Dörfer vor sich sahen. Es war schwer abzuschätzen, wie weit sie bereits den eigentlichen Flußlauf herabgetrieben waren. Die ersten Dörfer waren verlassen. Die Lehmziegelhütten standen bis zur Hälfte unter Wasser. Es wurde Tag, und die ersten Siedlungen lagen hinter den Flüchtlingen, als Razamon die Hand ausstreckte und auf die rechts von ihnen aus dem Wasser ragende Landrippe zeigte. »Eingeborene«, stellte er fest. »Sie müssen die Flut geahnt und sich auf die Hügel in Sicherheit gebracht haben.« »Wir bleiben auf dem Fluß«, entschied Atlan. »Früher oder später wird der Wasserspiegel sinken, wenn sich das Gelände zu den Seiten hin öffnet. Ich bin sicher, daß wir bald ein Dorf finden, das noch nicht aufgegeben wurde.« »Die Flutwelle kam überraschend«, überlegte der Atlanter. »Wie konnten sie sie früh genug erahnen, um die Dörfer zu verlassen?« »Für uns kam sie unerwartet. Aber ich bin sicher, daß das erste Schmelzwasser in einigen tiefer liegenden Gegenden schon vorher in den Fluß gelangte und ein Hochwasser auslöste. Es war kaum schwer für sie, den richtigen Schluß zu ziehen.« Sie trieben zwischen zwei ausgedehnten Baumgruppen hindurch, die den Fluß umsäumten. Ab und zu tauchte ein Teil des Ufers auf und erleichterte ihnen die Orientierung. Atlans Beinwunde schmerzte wieder. Ein vorbeitreibendes Trümmerstück hatte ihm die Lederhose am Oberschenkel aufgerissen, als er an den Baumstamm gefesselt war. Der Arkonide konnte von Glück reden, daß er nur eine Fleischwunde davongetragen hatte. Sie war so gut wie möglich verbunden. In der Ferne tauchten die Umrisse eines
14 weiteren, größeren Dorfes auf. Atlan hatte den Eindruck, daß das Wasser bereits nicht mehr so hoch über der Landschaft stand, die nun zusehends in eine Art Tundra überging. »Weißt du etwas über dieses Gebiet und seine Bewohner?« fragte er Koy. Der Trommler hatte während der ganzen Fahrt kein Wort gesprochen. Auch jetzt wanderte sein Blick hinüber zu Fenrir, der am Rand des Floßes hockte und ihn nicht aus den Augen ließ. Koy schien zu befürchten, daß schon die geringste Bewegung oder der Klang seiner Stimme eine Provokation für den Fenriswolf darstellen würde. »Nicht viel, Atlan«, flüsterte er. Als Fenrir ruhig blieb, fuhr er ebenso leise fort: »Die Eingeborenen betreiben Landwirtschaft. Sie bauen alle möglichen Grundnahrungsmittel an und nennen sich, soviel ich gehört habe, Valjaren.« Das Floß trieb wieder auf eine Baumgruppe zu. Plötzlich streckte Razamon den Arm aus. »Dort hockt etwas in einer Astgabel.« »Vielleicht ein anderer Überlebender der Flut«, vermutete Atlan. »Wir müssen daran vorbei – sehen wir uns den Burschen an.« Der »Bursche« entpuppte sich bei näherem Hinsehen als ein vogelähnliches Wesen mit langem Hals, auf dem ein etwa faustgroßer Kopf mit zwei klugen Augen saß, und ungeheuer kräftigen Beinen. Es glich einem jungen Strauß. Nur die Flügel fehlten – an ihrer Stelle ragten zwei zurückgebildete Stummel aus dem »Oberkörper«. Es war offensichtlich, daß das Tier nicht fliegen konnte und hilflos in dem Baum festhing. Wenn das Hochwasser lange anhielt, würde es jämmerlich zugrunde gehen. »Wie ist es, Atlan? Nehmen wir noch Gäste auf?« Das Wesen beantwortete Razamons Frage auf seine Weise, indem es sich, als das Floß nur fünf Meter entfernt vorbeitrieb, mit den kräftigen Läufen abstieß und zwischen den Gefährten landete. Aus den großen runden Augen sah es einen nach dem anderen an. Dann gab es ein
Horst Hoffmann paar gackernde Laute von sich und schmiegte sich an Razamons Beine. Aufgerichtet erreichte es eine Höhe von einem knappen Meter. »Das fehlte noch!« stöhnte der Atlanter. »Noch eine liebestolle Kreatur!« Atlan schien einen Augenblick ratlos. Er befürchtete, daß der neue Passagier nur Unruhe stiften würde. Andererseits konnten sie ihn nicht einfach über Bord werfen … Das Wesen sah ihn erwartungsvoll an, als ob es erkannt hätte, daß der Arkonide der eigentliche Anführer der Flüchtlinge war. Plötzlich geschah etwas, mit dem er am wenigsten gerechnet hatte. Gloophy, der sich bisher still verhalten hatte, stand auf und legte seine riesige Hand auf den Rücken des Vogelähnlichen. Einen Augenblick lang befürchtete Atlan, daß er ihn einfach zerquetschen würde. Aber Gloophy hatte nichts dergleichen im Sinn. Der Bera verzog das Gesicht, bis der große Mund von einem Ohr zum anderen reichte. Mittlerweile kannten die anderen das Antimateriewesen gut genug, um zu wissen, daß diese Miene Zärtlichkeit ausdrückte. Gloophy hob das Wesen auf und zog es an seine Brust. Das Floß begann heftig zu schlingern, als er mit seinem neuen Freund über die Balken stampfte und sich setzte. »Ich werde verrückt!« stieß Razamon hervor. »Da haben sich die Richtigen gefunden …« Hätte er gewußt, was tatsächlich das Ergebnis von Gloophys Schmuserei sein würde, er wäre vom Floß gefallen. »Wir nähern uns dem Dorf«, sagte Atlan und beendete damit das Zwischenspiel. »Wir haben scheinbar Glück, dort sind Leute auf den Dächern.« »Abwarten«, sagte Razamon skeptisch. Die Befürchtungen des Atlanters bewahrheiteten sich schneller, als sie sich hätten träumen lassen. Das Floß trieb langsam auf die Siedlung zu. Fast auf jedem Dach standen untersetzte Gestalten und beobachteten die Ankömmlin-
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ge. Sie verhielten sich vollkommen ruhig, bis das Floß nur noch etwa fünfzig Meter von den ersten Hütten entfernt war. Atlan wollte ihnen eine Begrüßung zurufen, als sie sich wie auf ein Kommando aufrichteten und ihre bisher verborgenen Bögen zum Vorschein brachten. Im nächsten Moment ging ein Pfeilregen auf das Floß nieder. Razamon und Koy schrien gleichzeitig auf.
2. »Mellnel!« Telmten war verzweifelt. In einem kurzen Anfall von Tobsucht hämmerte er mit den Fäusten gegen die stabile Wand seines Gefängnisses. Schlimme Ahnungen waren in ihm aufgestiegen, als die Männer den Hügel verlassen und sich wild gestikulierend in die kleinen Boote begeben hatten. Er wußte, daß etwas Unvorhergesehenes geschehen war. Aber er hatte ihre Worte im allgemeinen Durcheinander nicht verstehen können. Telmten war allein in der kleinen Hütte. Die Tür war von außen verriegelt, so daß keine Wachen benötigt wurden. Sobald das Hochwasser vorüber war, würde man ihm die Strafe zukommen lassen, die auf Tötung eines Stammesmitglieds stand. Wenn die Technos das nächste Mal mit ihren Zugors kamen, um Geräte und Düngemittel zu bringen, würden sie ihn diesen Kerlen aus Zbohr und Zbahn ausliefern, und man würde nie mehr wieder von ihm hören. Telmten wußte nicht, was mit den Gesetzesbrechern geschah, die von den Technos weggebracht wurden, aber unter den Valjaren zweifelte niemand daran, daß es einem Todesurteil gleichkam. Doch daran dachte Telmten nicht. Sein Leben bedeutete ihm nichts mehr, wenn das zutraf, was er befürchtete. Er mußte wissen, was auf dem Fluß geschah! Wieder stellte der junge Valjare sich auf den kleinen Schemel und steckte den Kopf
aus dem schmalen Fenster. Der Hügel, etwa achtzig Meter vom nächsten Haus entfernt, war verlassen – bis auf eine Person. »Mellnel!« rief Telmten wieder. »Mellnel, was ist dort unten los? Was bedeutet die plötzliche Stille?« Die Valjarin hockte auf einem Stein und starrte konzentriert auf das Dorf hinab, das sich Telmtens Blicken entzog. Von seinem winzigen Fenster aus konnte er nur einige abseits gelegene Hütten sehen, die bis unter die Dächer von Wasser umgeben waren. Überall schwammen Trümmerstücke und Einrichtungsgegenstände, die die verheerende Flutwelle aus den Hütten gespült hatte. Nur kurz dachte Telmten daran, daß er jetzt wahrscheinlich tot wäre, wenn er im Dorf auf die Fremden gewartet hätte. Aber das war im Augenblick zweitrangig. Noch immer hörte er keinen Laut. Wenn sein Verdacht zutraf … »Mellnel, so höre doch!« Endlich drehte die Valjarin sich um. Telmten zuckte unwillkürlich zusammen, als er in ihr Gesicht sah. In ihrem Blick fehlte jedes Gefühl. »Halte den Mund, Telmten! Gib dir keine Mühe, wir haben nichts mehr miteinander zu schaffen!« »Mellnel – bitte!« Für einen Moment wurde Mellnel unsicher. »Du hast meinen Bruder getötet, Telmten. Du bist es nicht wert, den Illinx zum Fraß vorgeworfen zu werden.« »Es war Notwehr, Mellnel! Ich … ich wollte es nicht!« Sie drehte sich wieder um und sah hinab ins Dorf. Irgend etwas geschah dort, und die Ungewißheit raubte Telmten fast den Verstand. »Mellnel, bitte komm her!« Die Valjarin reagierte nicht. »Bitte, Mellnel!« Als sie aufstand und auf die Hütte zuschritt, standen ihr Tränen in den Augen. Sie mußte unter furchtbaren Qualen leiden. Telmten wartete ungeduldig, bis sie dicht
16 vor ihm stand. »Was geschieht auf dem Fluß, Mellnel? Wieso höre ich die Männer und die Frauen nicht? Es ist alles so still geworden …« Sie sah ihn lange an, als ob sie mit sich kämpfte. Aber das stumme Flehen in Telmtens Blick brach den Bann. Sie wurde zusehends unsicherer. »Es sind Fremde auf dem Fluß …« Telmten spürte, wie seine Hände zu zittern begannen. Ein plötzlicher Schwindel ergriff ihn, und nur mit Mühe konnte er sich aufrecht halten. Die Fremden! Der Traum! Telmten gelang es, die Kontrolle über sich wiederzuerlangen. »Sie kommen … auf einem Floß, Mellnel? Sind es große Wesen?« Die Valjarin starrte ihn an wie einen Geist. Es war offensichtlich, daß Telmten ihr unheimlich wurde. »Ja, aber … woher …?« »Was machen unsere Leute?« »Sie lassen die Plünderer so weit herankommen, daß sie sie mit den Pfeilen erreichen können. Mirrarn, unser Ältester, ist selbst bei den Männern.« Telmten schnappte nach Luft. »Plünderer? Sie wollen sie töten?« Mellnel nickte nur. Sie brachte kein Wort heraus. »Das dürfen sie nicht, Mellnel! Du mußt sie davon abhalten. Einer von ihnen ist ein Göttersohn!« Endlich fand Mellnel ihre Sprache wieder. Sie war instinktiv zwei Schritte vom Fenster der Hütte zurückgetreten. »Woher … woher wußtest du, daß Fremde zu uns kommen würden?« »Das spielt jetzt keine Rolle. Du mußt sie warnen! Du mußt …« »Es ist unmöglich, Telmten«, unterbrach die Valjarin die flehenden Worte des Gefangenen. »Ich habe kein Boot. Außerdem …« Sie trat noch weiter zurück und sah angestrengt zum Dorf hinab. Plötzlich zuckte sie zusammen. »Was ist, Mellnel?« »Es ist zu spät, sie …«
Horst Hoffmann Mellnel brauchte nicht auszusprechen. Das Singen der Pfeile durchbrach die Stille. Und dann ertönten zwei langgezogene Schmerzensschreie. Das waren nicht die Stimmen von Valjaren! Für Telmten brach eine Welt zusammen. Er sank an der Wand herab und kippte vom Schemel auf den harten Boden. Sie waren gekommen, um ihn zu holen, davon war er felsenfest überzeugt. Seine früheren Stammesgenossen hatten sie getötet. Telmten hatte nur noch den Wunsch zu sterben.
* Etwa zehn Kilometer flußabwärts von Florgst befand sich eine weitere Siedlung der Valjaren. Die Einwohner hatten ihr Dorf verlassen, als die Flut kam. Etwas abseits befand sich auf einer Anhöhe eine kleine Hütte, deren Bewohner geblieben waren. Die Tür war verschlossen, und durch die beiden kleinen Fenster drang nur spärliches Licht. Auf einer Liege wälzte sich ein alter Mann im Fieber. Ein etwa achtjähriger Junge saß an seinem Lager und kühlte ihm mit einem feuchten Tuch die Stirn. Nach einigen Minuten kam der Greis zur Ruhe. Er schlug die Augen auf und sah den Jungen lange an. »Willst du es mir nicht sagen?« flüsterte der Alte. Der Junge schien aus einer tiefen Trance aufzuwachen. Er starrte den Greis unsicher an. »Woher weißt du …?« »Ich sehe seit langem, daß dich etwas beschäftigt, Bördo. Sage mir, was es ist.« Der Junge schwieg einige Minuten lang. Schließlich sagte er: »Es kommt jetzt immer öfter vor …« »Was, Bördo?« Der Junge stand vom Lager des Alten auf. Sein Blick war in die Ferne gerichtet.
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»Mir ist, als hörte ich die Stimme meines Vaters …«
* Mirrarn hob beschwörend beide Hände. »Hört auf zu schießen!« Der Dorfälteste erntete verwunderte und mißmutige Blicke. Die Männer hatten bereits den zweiten Pfeil aus den Köchern gezogen und erneut auf die vermeintlichen Plünderer angelegt. »Was ist in dich gefahren, Mirrarn?« fragte ein in schwarzes Leder gekleideter junger Valjare. Er war einer der beiden, die mit Holret in Telmtens Hütte eingedrungen waren, und ebenfalls als Heißsporn bekannt. Seit Holrets Tod war er wie besessen. Er reagierte seine Aggressionen an allem ab, das ihm in den Weg kam. Einen Mann, der Telmten verteidigt hatte, hatte er so lange verprügelt, bis es schließlich drei anderen gelungen war, ihn zu bändigen. »Ich sagte, ihr sollt aufhören – das muß genügen. Dieser blonde Mann auf dem Floß …« »Er wird genauso unter unseren Pfeilen sterben wie die beiden anderen! Sieh dir ihre Kleidung und die riesige Kreatur an. Es sind Plünderer aus dem Norden. Wenn wir sie zu nahe herankommen lassen, werden sie uns und unsere Frauen töten!« Der Älteste ballte die Hand zur Faust und schlug sie dem Schwarzgekleideten auf den Schädel. Das wirkte, die beiden Valjaren, die außer ihnen auf dem Dach der Lehmziegelhütte standen, senkten die Bögen. Auch die Männer auf den anderen Dächern zögerten. »Der hellhaarige Fremde muß einer der Göttersöhne sein!« rief Mirrarn seinen Stammesgenossen zu. Die Valjaren starrten ungläubig zu dem Floß hinüber, das jetzt kaum noch zwanzig Meter vom ersten Dach entfernt war. Mirrarn hatte recht! Der Hellhaarige gehörte zu keinem der bekannten Stämme, und auch die Plünderer, die dann und wann aus
dem Norden oder aus der Wüste Fylln kamen, sahen anders aus. Aber dann hatten sie sich versündigt! Zwei seiner Begleiter lagen, vom Gift der Pfeile gelähmt, auf dem Floß. Mirrarn und die anderen Valjaren warteten, bis sie heran waren. Der Hellhaarige warf ein Seil herüber, Mirrarn fing es auf und gab den Männern ein Zeichen. Sie wickelten das Tau um den Kamin der Hütte und zurrten es fest. Der vermeintliche Göttersohn sprang mit einem gewaltigen Satz vom Floß, als es an das Dach stieß. Er beachtete die anderen Valjaren überhaupt nicht, sondern kam direkt auf Mirrarn zu. Der Älteste begann zu zittern, als er in die Augen des Fremden blickte. Er fühlte sich von zwei kräftigen Armen an der Brust gepackt und in die Höhe gerissen. »Wenn meine Freunde sterben«, flüsterte der Hellhaarige, »dann werdet ihr es bereuen.«
* Atlan strahlte nur nach außen hin Ruhe aus, innerlich machte er sich große Vorwürfe. Sie waren leichtsinnig gewesen, gerade er hätte wissen müssen, daß sie sich nicht so ohne weiteres dem Dorf nähern durften. Es kam jetzt in erster Linie darauf an, die Gruppe zusammenzuhalten. Der Alte, der sich Mirrarn nannte, hatte sie zu einem der abseits gelegenen Hügel dirigiert, wo die Frauen und Kinder der Dorfbewohner in Sicherheit gebracht worden waren. Sie beobachteten jede Bewegung der Ankömmlinge mit großer Scheu. Kein Wunder, dachte der Arkonide, wir bieten wirklich keinen alltäglichen Anblick. Mirrarn hatte ihnen eine leerstehende Lehmziegelhütte zur Verfügung gestellt. Razamon und Koy lagen auf zwei weichen Lagern. Beide hatten das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt. Mit Mühe hatte Mirrarn einige Valjarenfrauen dazu bewegen können, sich um die
18 Wunden zu kümmern. Gloophy saß in einer Ecke der Hütte und verhielt sich schweigend, während Fenrir neben Razamon lag und leise winselte. Mirrarn betrat die Hütte. Atlan hatte beschlossen, seine Rolle als Göttersohn zu akzeptieren. Der Alte unterhielt sich kurz mit den Frauen, dann setzte er sich zu dem Arkoniden. »Es wird ihnen bald besser gehen«, sagte Mirrarn. »Sie sind nur vorübergehend gelähmt. Wir verwenden das Gift der Pfeile zur Jagd und bei besonderen Anlässen.« Atlan runzelte die Stirn. »Was verstehst du unter ›besonderen Anlässen‹, Mirrarn?« »Nun, etwa bei unseren Festen, wenn die Spiele der jungen Männer stattfinden …« »Willst du mir erzählen, daß ihr euch gegenseitig mit vergifteten Pfeilen beschießt?« Mirrarn schien sich über die Frage zu wundern. »Selbstverständlich ist das Gift harmlos. Es lähmt den Getroffenen ein paar Stunden lang, und wir verhindern auf diese Weise, daß eine der beiden Parteien falsch spielt. Wenn nur noch Angehörige von einer Gruppe …« »Schon gut!« wehrte der Arkonide ab. »Aber ihr wolltet uns nicht lähmen, Mirrarn! Hätten wir weniger Glück gehabt, dann wären meine Gefährten tot! Ein paar besser gezielte Pfeile …« Mirrarn senkte schuldbewußt den Kopf. »Versuche, uns zu verstehen. Wir hielten euch für gefährliche Plünderer, die sich die Flut zunutze machen wollten.« Atlan fühlte Mitleid für den Alten in sich aufsteigen. Diese Eingeborenen hatten es nicht leicht. Sie schufteten hart auf ihren Feldern, um die Früchte ihrer Arbeit schließlich an die FESTUNG abzugeben. Auf Pthor gab es nur wenige Glückliche, die nicht in die umfassende Arbeitsteilung des Dimensionsfahrstuhls eingegliedert waren und so etwas wie Freiheit besaßen. »Erzähle mir von deinem Volk«, forderte Atlan den Alten auf.
Horst Hoffmann »Wir leben und arbeiten am Fluß«, berichtete Mirrarn bereitwillig. »Es gibt viele Dörfer. Die ganze Flußebene ist mit Feldern übersät, die nun überschwemmt sind. Jedes Dorf ist auf ein bestimmtes landwirtschaftliches Gut spezialisiert. In regelmäßigen Abständen erscheinen die Technos mit ihren Zugors und liefern uns alles, was wir zur Verrichtung unserer Arbeit benötigen. Zur Erntezeit kommen sie mit großen Lasttransportern und holen den größten Teil der Ernte ab.« Atlan nickte, als er seine Vermutungen bestätigt hörte. »Wie weit ist es bis zur Mündung des Flusses?« »Etwa achtzig Kilometer.« »Ich fürchte, daß bald eine zweite Flutwelle kommen wird. Es wäre ratsam, weitere Dämme zu bauen, damit die Hütten auf den Hügeln geschützt sind.« »Du hast recht, ich werde den Männern Bescheid sagen«, meinte Mirrarn. Er wollte sich erheben, zögerte dann aber. Atlan sah, daß der Valjare etwas auf dem Herzen hatte, aber offenbar nicht den Mut fand, eine Frage zu stellen. »Was möchtest du wissen, Mirrarn?« Der Alte gab sich einen Ruck. In seinen Augen stand ein heller Schimmer, als er fragte: »Wenn du einer der Göttersöhne bist, mußt du viel mehr über unsere Welt wissen als wir. Ist es wahr, daß in der Dunklen Region das Goldene Vlies darauf wartet, von einem der unseren geholt zu werden?« Nur mit Mühe verbarg Atlan seine Überraschung und zwang sich dazu, ruhig zu bleiben. Das Goldene Vlies! Wieder wurde ein Begriff aus den Sagen der alten Völker der Erde auf unerwartete Weise lebendig. Der Arkonide erinnerte sich schlagartig an die Argonautensage. Das Goldene Vlies stand symbolisch für »Sonne« – wie war das damit zu vereinbaren, daß Mirrarn von einer Dunklen Region sprach?
Traum der Valjaren In seiner Überraschung machte der Arkonide einen Fehler. »Was wißt ihr vom Goldenen Vlies, Mirrarn? Und wo befindet sich die Dunkle Region?« Der Gesichtsausdruck des Alten änderte sich. An die Stelle von unbändiger Erwartung trat der Zweifel. Mirrarn wirkte plötzlich verschlossen. »Wir müssen Dämme bauen«, sagte er knapp und verließ die Hütte. Atlan wußte sofort, daß er etwas falsch gemacht hatte, aber was? Sicher hatte Mirrarn von einem »Göttersohn« erwartet, daß er über jeden Flecken Pthors Bescheid wußte. Atlans Frage hatte ihn schockiert. Der Arkonide machte sich in diesem Augenblick keine Gedanken darüber, was geschehen würde, wenn Mirrarn und seine Leute erkennen würden, daß er nicht der Göttersohn war, für den sie ihn hielten. Das Goldene Vlies! In der Argonautensage bezeichnete der Ausdruck das Fell eines Widders, den Hermes Nephele, der Gattin des böotischen Königs Athamas, geschenkt hatte, um ihre beiden Kinder Phrixos und Helle vor den Nachstellungen und Intrigen der grausamen Stiefmutter Ino in Sicherheit zu bringen. Das Fell des Widders, der die beiden Kinder durch die Lüfte über das Meer trug, war aus purem Gold. Nachdem Phrixos die rettende Küste des Schwarzen Meeres erreicht hatte, opferte er den Widder aus Dankbarkeit Zeus, der ihn auf seiner Flucht beschützt hatte, während seine Schwester Helle ins Meer gestürzt war und den Tod gefunden hatte. Phrixos machte das goldene Fell des Widders dem König Aietes, der ihn wie einen Sohn aufgenommen hatte, zum Geschenk. Dieser befestigte es in einem geheiligten Hain an einem Baum und ließ es von einem riesigen Drachen bewachen. Bald sprach sich die Kunde vom Goldenen Vlies in der ganzen Welt herum, und viele Helden und Fürsten trachteten nach seinem Besitz. Aber nur Jason und seinen Argonauten gelang es schließlich mit Hilfe von Medea, der Toch-
19 ter des grausamen Königs, das Vlies zu rauben und auf ihrem Schiff, der Argo, zu entführen. Was aber verbarg sich auf Atlantis hinter diesem Begriff? Was war die »Dunkle Region«? Atlan ahnte, daß Mirrarn ihm keine Auskunft mehr geben würde. Der Alte war mißtrauisch geworden. Die Flüchtlinge konnten von Glück reden, wenn sie unbehelligt das Dorf verlassen konnten. Trotzdem ließ der Gedanke an das Goldene Vlies den Arkoniden nicht mehr los. Plötzlich hörte er ein Stöhnen. Er fuhr herum und sah, daß Razamon sich halb aufgerichtet hatte. Erst jetzt bemerkte Atlan, daß mit Mirrarn auch die drei Valjarinnen verschwunden waren. Der Arkonide hockte sich neben Razamons Lager und zwang sich zu einem Lächeln. »Alles in Ordnung?« Razamon beugte sich noch weiter nach vorne und betastete sein linkes Bein. »Die Schmerzen sind furchtbar«, preßte der Atlanter hervor. »Aber wir leben, und nur das zählt. Was ist mit Koy?« »Er ist noch bewußtlos«, antwortete Atlan, während er verwundert beobachtete, wie Razamon mit der Hand über das Bein strich. Der Pfeil hatte ihn an der rechten Schulter getroffen! Der Atlanter bemerkte Atlans Blick. »Es ist nicht die Pfeilwunde, die spüre ich gar nicht, es ist der Zeitklumpen …«
* Den ganzen Tag über halfen Atlan, Razamon und Gloophy den Valjaren beim Bau der neuen Dämme. Mit leichten Booten pendelten sie zwischen den Hügeln und den überfluteten Hütten hin und her, um Material zu besorgen. Atlan hatte das Floß vorsichtshalber zu ihrer Unterkunft bringen lassen, wo Koy immer noch ohne Bewußtsein lag. Der Arkonide machte sich große Sorgen
20 um den Trommler. War es möglich, daß das an sich harmlose Gift auf Koys Metabolismus eine andere, gefährlichere Wirkung hatte als auf Razamon? Der Atlanter wuchs während der Arbeiten über sich selbst hinaus. Die plötzlich aufgetauchten Schmerzen an seinem unsichtbaren Zeitklumpen mußten unvorstellbar sein. Razamon redete kein Wort. Dann und wann zog er sich für ein paar Minuten zurück, und einmal hatte Atlan ihn hinter einem der neuen Dämme stöhnen gehört. Die Frauen und Kinder der Valjaren hatten sich auf zwei flachen Hügeln in Sicherheit gebracht. Am späten Nachmittag waren die Dämme soweit befestigt, daß sie einer weiteren Flutwelle standhalten würden. Die Valjaren hatten die Hilfe akzeptiert – mehr nicht. Sie wirkten wieder verschlossen, und Mirrarn bemühte sich, dem Arkoniden aus dem Weg zu gehen. Gloophy hatte sich vorwiegend an Atlans Seite gehalten. Er sah bei der Arbeit zu und ahmte alles nach, was die anderen taten. Immer wieder war er getaucht und mit großen Steinbrocken zum Vorschein gekommen. Außerdem begann er jetzt eifrig, immer kompliziertere Sprachbrocken nachzusprechen. Manchmal hatte Atlan den Eindruck, daß er bereits versuchte, irgendwelchen Dingen oder Tätigkeiten die richtigen Begriffe zuzuordnen, um sich mit den anderen zu verständigen. Das vogelähnliche Wesen war den ganzen Tag über nicht von Gloophys Seite gewichen. Die Valjaren schien der Anblick sehr zu erheitern, wenn sie sich unbeobachtet fühlten. Aber sobald Atlan oder Razamon sich nach ihnen umdrehten, verschwand das Grinsen aus ihren Gesichtern, und sie nahmen ihre abweisende Haltung ein. Der Arkonide hatte den Eindruck, daß sie Schadenfreude empfanden, wenn sie sich verstohlen nach Gloophy und seinem ständigen Begleiter umsahen. Wußten sie etwas über das Tier? Als die Dämmerung einsetzte, zogen die Freunde sich zu ihrer Hütte zurück. Koy lag
Horst Hoffmann schweißgebadet auf seinem Lager. Die Decken waren zerwühlt. »Er muß zu sich gekommen sein«, stellte Razamon fest. »Wir müssen abwarten«, sagte Atlan, als er den Gefährten untersuchte. Vorläufig waren sie völlig hilflos. Koy war kein Mensch, den sie mit hergebrachten Mitteln behandeln konnten. »Wo ist übrigens Fenrir?« Razamon zuckte die Schultern. »Er wird sich etwas zum Fressen suchen oder die Hütte bewachen. Für ihn scheint es nur eines zu geben: Koy oder ihn.« Atlan winkte ab. Es gab etwas Wichtigeres. Der Arkonide berichtete Razamon von seiner kurzen Unterhaltung mit Mirrarn. Auch Razamon war das Goldene Vlies ein Begriff. »Es läßt dir keine Ruhe, Arkonide, ich sehe es dir an.« Atlan schüttelte verzweifelt den Kopf. »Von ihnen werden wir nichts erfahren. Ich könnte mich ohrfeigen. Ich hätte wissen müssen, daß die Göttersöhne in der Sicht der Valjaren überaus mächtige Wesen sind.« »Wir wissen es besser«, meinte Razamon. »Wenn wir uns da nur nicht täuschen. Einzeln mögen sie nur noch Relikte einer einstigen Macht sein, die sich hinter der uralten Fassade aus vergangenem Ruhm verbirgt, aber wer kann schon voraussagen, was geschehen würde, wenn sie sich eines Tages vereinigten? Ich habe mich oft gefragt, welcher Status zwischen ihnen und den Herren der FESTUNG besteht. Sie scheinen fast ein Tabu für die Herrscher darzustellen.« »Vielleicht weiß man in der FESTUNG, daß Odins Söhne und seine Tochter nie eine wirkliche Gegenmacht zur FESTUNG darstellen können.« Atlan schwieg, aber es war ihm anzusehen, daß er Razamons Auffassung nicht unbedingt teilte. Die Göttersöhne stellten eines der vielen ungelösten Rätsel von Atlantis dar. Von Koys Lager erklang ein unterdrücktes Stöhnen.
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Sofort waren die beiden Männer bei ihm. Der Trommler wälzte sich hin und her. Das Gesicht war verzerrt, als ob er unter furchtbaren Qualen litt. »Das verdammte Gift!« fluchte der Atlanter. »Wenn wir nur wüßten, wie wir ihm helfen können.« »Wir können nichts tun, vielmehr könnte jede Maßnahme das Gegenteil von dem bewirken, was wir wünschen.« Koys Körper begann zu zittern. »Er kämpft mit dem Gift«, murmelte Razamon. Atlan dachte bereits weiter. »Ich fürchte, daß einer von uns ständig bei ihm bleiben muß, um ein Unglück zu verhindern. Wenn er unbewußt beginnt, seine Broins gegeneinander zu schlagen …« Er brauchte nicht auszusprechen. Die beiden fühlerartigen Broins, die aus Koys Stirn ragten, stellten eine furchtbare Vernichtungswaffe dar. Wenn sie außer Kontrolle gerieten, waren die Folgen nicht absehbar. Plötzlich war von draußen ein drohendes Knurren zu hören. »Fenrir!« flüsterte Atlan. Mit ein paar schnellen Schritten gelangte er ins Freie. Im ersten Moment sah er nur die Silhouette des Wolfes in der Dämmerung. Fenrir hörte ihn kommen und wedelte mit dem Schwanz. Dann sah der Arkonide das kleine Boot, in dem eine einzige Gestalt hockte.
3. Mellnel wußte nicht, ob sie richtig handelte. Sie wurde zwischen ihren widersprüchlichen Gefühlen hin und her gerissen. Die Valjarin war nicht gerade das, was man normalerweise mit dem Begriff »zartbesaitet« bezeichnete, im Gegenteil. Die Frauen der Valjaren waren ebenso grob wie die Männer, und nicht selten kam es vor, daß ihre Partner morgens mit blauen Flecken zur Feldarbeit erschienen. Das Prinzip ihres Zusammenlebens war denkbar einfach: Die Männer bestellten die Felder und verteidigten ihr Dorf gegen äußere Feinde, während
die Frauen sich um den Nachwuchs kümmerten. Jede normale Valjarin arbeitete ebenso hart wie ein Mann, wenn es ihre Zeit zuließ, und mancher Eindringling, der geglaubt hatte, mit ihnen leichtes Spiel zu haben, war schnell eines Besseren belehrt worden. Dennoch befand sich unter Mellnels rauher Schale ein weicher Kern. Sosehr sie auch versuchte, Telmten für das, was er getan hatte, zu hassen – sie ertrug es nicht, ihn leiden zu sehen. Und Telmten machte furchtbare Qualen durch. Mellnel hatte zu zweifeln begonnen, ob er wirklich nur der Träumer war, für den ihn alle hielten. Irgend etwas an ihm faszinierte die Valjarin, aber gleichzeitig machte es ihr Angst. Woher hatte Telmten von der Ankunft der merkwürdigen Fremden wissen können? Die Männer, die am Abend mit den Booten gekommen waren, um Mellnel und Telmten Nahrung zu bringen, hatten bestätigt, daß sich ein Göttersohn unter ihnen befand. Vielleicht war da schon der Entschluß in Mellnel herangereift, die Fremden aufzusuchen, als sie die Männer bat, ihr ein Boot zurückzulassen. Darüber hinaus überredete sie sie, ihr allein die Überwachung des Gefangenen zu überlassen. Da Telmten ihren Bruder getötet hatte, schöpften sie keinen Verdacht und erfüllten ihre Bitte. Mellnel ahnte, daß sie das, was sie jetzt tat, einmal bereuen würde. Aber irgend etwas zwang sie dazu, die Hütte der Fremden aufzusuchen und mit ihnen zu reden. Sie tat es nicht für Telmten als Mann; Mellnel hatte längst alle Hoffnungen auf ihn abgeschrieben, obwohl sie ihn wirklich liebte. Es war etwas anderes, das sie sich nicht erklären konnte. Es hing mit dem Traum zusammen. Sollte Telmten tatsächlich auserkoren sein, das Goldene Vlies zu finden und zu erobern? Mellnel sah sich immer wieder um. Sie kam sich wie eine Verräterin vor. Kein anderes Boot war in Sicht, und die Hügel, auf denen sich die Frauen und Kinder in Sicher-
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Horst Hoffmann
heit gebracht hatten, lagen weit hinter ihr. Die Hütte der Fremden tauchte im Dämmerlicht vor ihr auf und wurde größer. Mellnel legte das Paddel aus der Hand und ließ das Boot auf den Hügel zutreiben. Als sie nur noch wenige Meter entfernt war, sah sie das Tier. Sie hatte von den Männern gehört, daß sich außer dem grünschimmernden Riesen und dem Wesen mit den beiden Fühlern am Kopf ein Tier bei den Ankömmlingen befand, das eine entfernte Ähnlichkeit mit den Vlorghts hatte, die im Gebiet der Flußmündung lebten und dann und wann die Dörfer der Valjaren heimsuchten. Das Knurren jagte Mellnel einen Schauer über den Rücken. Nur mit Mühe unterdrückte sie den Drang, das Boot zu wenden und zurück zu Telmten zu rudern. Plötzlich erschien eine Gestalt im Eingang der Hütte. Mellnel konnte sie in der Dämmerung nicht genau erkennen, aber irgend etwas sagte ihr, daß sie den Göttersohn vor sich hatte. Zwei Minuten später stand sie dem Fremden gegenüber. Ein leichter Wind war aufgekommen, und sie sah die hellen Haare um seinen Kopf flattern. Mellnel hatte Angst. Wenn der Fremde ein Göttersohn war, mußte er über unheimliche Macht verfügen. Die Valjaren hatten seine Gefährten mit ihren Pfeilen getroffen. Hieß das nicht, daß sie alle die Rache des Göttersohns zu fürchten hatten? Mellnel dachte an Telmten. Mehr denn je war sie plötzlich davon überzeugt, daß er ein Auserwählter war. Er gehörte nicht mehr zu den Männern von Florgst – Telmtens Platz war an der Seite dieser Fremden. »Ich bin Mellnel«, begann sie. »Ich muß mit euch reden.« Der Göttersohn musterte sie mit einem durchdringenden Blick, bevor er sie mit einer Geste dazu aufforderte, in die Hütte zu treten.
*
Atlan und Razamon hatten Mellnel schweigend zugehört. Der Arkonide war äußerlich ruhig geblieben, aber in ihm arbeitete es. Das Goldene Vlies ließ ihn nicht mehr los. Es hatte einen hohen Stellenwert in der terranischen Mythologie. In den Monaten auf Atlantis hatte Atlan gelernt, daß die Sagengestalten der alten Völker der Erde eine gravierende und nicht zu unterschätzende Rolle auf Pthor spielten. Viele hatten hier ihren Ursprung. »Und ihr alle träumt diesen Traum?« fragte er die junge Valjarin. »Jede Nacht – jeder von uns. Aber wir haben gelernt, damit zu leben. Manche unserer Vorfahren sind zur Dunklen Region aufgebrochen, aber sie sind niemals zurückgekehrt.« »Und dieser Telmten – er ahnte unsere Ankunft?« »Er träumte sie.« »Weiß er mehr über das Vlies als die anderen Valjaren?« »Ich weiß es nicht. Es gibt nur einen Valjaren, der angeblich das Goldene Vlies gesehen hat und zurückkehrte, aber er lebt nicht in Florgst.« Atlan und Razamon wechselten einen Blick. »Wer ist es, Mellnel? Du mußt es uns sagen!« Die Valjarin wirkte plötzlich verschlossen. Schon befürchtete Atlan, daß sie ähnlich reagieren würde wie Mirrarn. »Versprecht ihr mir, Telmten mit euch zu nehmen?« Razamon antwortete an Atlans Stelle. »Wir versprechen es, Mellnel.« »Dann wird er euch führen.« »Aber du sagtest, daß sie ihn eingesperrt hätten, um ihn seiner Strafe zuzuführen«, warf Atlan ein. Mellnel nickte. »Sie würden ihn niemals ziehen lassen, nicht einmal mit einem Göttersohn.« »Ich glaube, es gibt Arbeit für uns«, sagte Razamon trocken.
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Atlan drehte sich um und sah hinüber zu Koys Lager. Der Trommler war wieder ohne Bewußtsein. Die Miene des Arkoniden verfinsterte sich. »Es bleibt uns nichts anderes übrig, Razamon. Du mußt mich zu Telmten führen, Mellnel.«
Razamon. Er mußte wieder an die verstohlenen Blicke der Valjaren und an ihre schadenfreudigen Gesichter denken. Irgend etwas stimmte mit dem Tier nicht, aber was? Razamon wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er die Schritte hörte. Im Eingang der Hütte stand Mirrarn. »Wo ist der Göttersohn?« fragte der Alte.
* Razamon blieb bei Koy und hielt Wache an seinem Lager. Die Schmerzen am linken Bein hatten zwar nachgelassen, doch da noch niemand wußte, ob Telmtens Befreiung ohne Komplikationen verlaufen würde, war dies die beste Lösung. Der Zeitklumpen hätte den Atlanter nur gehandikapt. Razamon grübelte darüber nach, woher die plötzlichen Schmerzen kamen. Er hielt sie für ein schlechtes Zeichen. Hatte durch die Geschehnisse in der Eiszitadelle eine Entwicklung eingesetzt, die sich nicht mehr kontrollieren ließ? Stand vielleicht sogar die entscheidende Phase im Kampf gegen den unbekannten Gegner unmittelbar bevor? Was hatte sein Zeitklumpen damit zu tun? Razamon stand auf und trat ins Freie. Koy schlief jetzt tief und fest. Atlan und die Valjarin mußten inzwischen ihr Ziel erreicht haben. Aus der Hütte drang ein schriller Laut. Razamon fuhr herum und befürchtete, daß Koy aufgewacht sei. Als er Gloophy mit dem Vogelwesen »schmusen« sah, entspannten sich die harten Gesichtszüge des Atlanters. Er sah schmunzelnd zu, wie das kleine Wesen seine Schultern an Gloophys Velst-Schleier rieb, der den Bera wie ein Mantel aus gebrochenem Glas umschloß. Dann und wann begann das Tier zu gackern, was offensichtlich seine Art war, seine Sympathie für jemanden zu bekunden. Gloophy seinerseits streichelte es liebevoll und stieß die bekannten, schrillen Laute aus. »Wenn das nur gutgeht …« murmelte
* Sie befestigten das Boot an einem Baumstumpf und überzeugten sich nochmals davon, daß ihnen niemand gefolgt war. »Mirrarn scheint zwar nicht besonders gut auf uns zu sprechen zu sein, aber glaubst du nicht, daß er die Bitte eines Göttersohnes, Telmten an ihn auszuliefern, erfüllen würde?« Atlan vermied es, Mellnel die ganze Wahrheit zu sagen. Wenn sie jetzt erfuhr, daß Mirrarn zu zweifeln begonnen hatte, würde sie möglicherweise ihren Entschluß, Telmten zu befreien, ändern. Auch Telmten war ihnen nur so lange eine Hilfe, wie er daran glaubte, es mit einem Göttersohn zu tun zu haben. Atlan fragte sich, was für ein Mann das war, der ihre Ankunft angeblich im Traum vorausgesehen hatte. Es war ein einfaches Geschäft: Telmten würde sie zu diesem Valjaren führen, der das Vlies gesehen haben wollte, und sie würden ihn in Richtung Dunkle Region mitnehmen. Der Arkonide spürte ein gewisses Unbehagen bei dem Gedanken, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig. Die Valjaren waren abweisend – von ihnen würden sie nichts erfahren. Wenn Telmtens Entführung entdeckt wurde, mußten sie bereits aus der Nähe des Dorfes verschwunden sein. Atlan zweifelte nicht daran, daß die Valjaren andernfalls auch einen Göttersohn nicht verschonen würden – falls sie ihn überhaupt noch dafür hielten. Die Hütte tauchte vor ihnen auf. Mellnel trat an ein kleines Fenster. »Telmten!«
24 Sie erhielt keine Antwort. Nur ein leises Wimmern drang aus der Hütte. Mellnel hatte Tränen in den Augen, als sie sich zu Atlan umdrehte. »Er leidet furchtbar …« Atlan trat ans Fenster und rief nach Telmten. Das Wimmern brach abrupt ab. Sekunden später erschien ein rundlicher Kopf im Halbdunkel des Rahmens. Das Gesicht war von den inneren Qualen des Valjaren gezeichnet. Doch als Telmten den vermeintlichen Göttersohn erkannte, änderte sich seine Miene schlagartig. Telmten riß die Augen auf und atmete tief durch. Plötzlich trat ein wildes Feuer in seinen Blick. Atlan mußte unwillkürlich schlucken. Dieser Mann besaß eine Ausstrahlung, die den Arkoniden sofort in ihren Bann zog. »Wir sind hier, um dich zu holen, Telmten. Wir nehmen dich mit uns, wenn du uns zu dem Valjaren führst, der das Goldene Vlies gesehen haben will.« »Kruden hat es gesehen, Göttersohn!« »Um so besser, bist du bereit? Wir haben nicht viel Zeit.« Plötzlich fiel Telmten etwas ein. »Sie haben auf euch geschossen – wieso seid ihr nicht tot?« »Das erkläre ich dir später, jetzt müssen wir zusehen, daß wir von hier verschwinden.« »Du brauchst mir nichts zu sagen«, flüsterte Telmten. »Göttersöhne sind unsterblich, wie konnte ich daran zweifeln?« Atlan stöhnte unterdrückt. »Natürlich, Telmten, natürlich.« Der Arkonide drehte sich zu Mellnel um, die offenbar nicht wußte, was sie von dem Dialog zu halten hatte. »Kannst du das Schloß öffnen?« Die Valjarin nickte und holte einen primitiven Schlüssel aus einer Seitentasche ihres Gewands. »Dann beeile dich. Wenn Telmten draußen ist, schließt du wieder ab und bleibst hier. So können wir die Befreiung eine Zeitlang verbergen. Wenn sie es doch ent-
Horst Hoffmann decken, kannst du sagen, jemand von uns hätte dich überwältigt, dann kann dir niemand einen Vorwurf machen.« »Macht euch keine Sorgen um mich«, sagte Mellnel und machte sich am Schloß der Tür zu schaffen. Eine Minute später war Telmten frei. Atlan war bereits im Boot, als der Valjare noch einmal stehenblieb. Telmten nahm Mellnels Hände. Einen Augenblick lang sahen die beiden jungen Valjaren sich wortlos an. Dann drückte Telmten sie fest an sich. Ohne ein Abschiedswort löste er sich von Mellnel und stieg in das bereitstehende Boot. Atlan stieß es mit einem langen Ruder vom Ufer ab. Noch war kein anderes Valjarenboot in Sicht. Es schien, daß sie Glück hatten. »Du liebst sie, oder?« fragte der Arkonide. Telmten winkte ab. »Das bildet sie sich ein. Sie hat mir geholfen, das ist alles.« Atlan bedachte den Valjaren mit einem merkwürdigen Blick. »Erzähle mir von diesem Kruden, Telmten. Wo lebt er? Was ist er für ein Mann?« »Kruden lebt auf einer Anhöhe in der Nähe eines Dorfes namens Skarlotto, etwa zehn Kilometer flußabwärts. Er ist ein Greis und hat sich vollkommen von den anderen Valjaren zurückgezogen seit seiner Expedition …« Atlan hatte erwartet, daß Telmten der Frage ausweichen würde, um seine Position zu sichern. Aber das Gegenteil schien der Fall zu sein. Telmten hatte offensichtlich keinen Zweifel daran, daß sie ihn mitnehmen würden. Der Valjare zeigte keine Spur von Mißtrauen. Nach wenigen Minuten war Atlan überzeugt davon, daß Telmten sich für einen Auserwählten hielt. Das Unbehagen des Arkoniden wuchs. Er ahnte, daß sie mit Telmten Schwierigkeiten bekommen würden. Vor ihnen tauchte der Hügel mit ihrer Hütte auf.
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»Es sind immer noch keine Boote zu sehen«, flüsterte Atlan, der nur dann die Ruder ins Wasser tauchte, wenn es unbedingt nötig war. »Sie haben nichts bemerkt.« Atlan konnte nicht ahnen, wie sehr er sich täuschte.
* »Ich habe es gewußt«, preßte Mirrarn hervor. »Du bist kein Göttersohn.« Atlan und Telmten standen im Eingang der Hütte. Sie hatten den alten Valjaren erst gesehen, als es bereits zu spät war. Razamon machte eine Geste der Hilflosigkeit. Bevor Atlan antworten konnte, trat Telmten dicht vor den Ältesten und starrte ihn wild an. »Nimm das zurück, Mirrarn! Habt ihr nicht schon genug gefrevelt? Nimm es zurück, sonst …« Der Alte wehrte Telmtens Hände ab, die sich auf seine Arme legen wollten. »Was sonst? Wirst du mich ebenso ermorden wie Holret?« »Es war Notwehr!« Mirrarn hob eine Faust und schlug sie Telmten auf den Schädel. Der Jüngling stand einen Augenblick fassungslos vor dem Ältesten, als begriffe er nicht, was geschehen war. Dann sprang er ein paar Schritte zurück und riß ein Messer unter der Lederjacke hervor. »Halt!« rief Atlan, bevor er noch größeres Unheil anrichten konnte. Er traute Telmten durchaus zu, in seiner Verblendung auf Mirrarn loszugehen. Telmten warf Atlan einen flammenden Blick zu, aber er gehorchte der Aufforderung des Arkoniden. »Komm mit mir hinaus, Mirrarn«, sagte Atlan. »Ich habe mir dir zu reden – allein.« Er gab Razamon hinter Telmtens Rücken ein Zeichen. Der Atlanter verstand sofort. Unauffällig postierte er sich wenige Meter neben dem Valjaren.
Nur widerstrebend folgte Mirrarn dem Arkoniden, bis sie außer Hörweite der Hütte waren. Atlan war eine Idee gekommen, wie er Mirrarn vielleicht doch noch dazu bewegen könnte, sie in Frieden ziehen zu lassen. Es war eine plumpe und dumme Ausrede, aber vielleicht war gerade dies dazu geeignet, den Argwohn des Ältesten zu verscheuchen. »Ich will ganz offen mit dir reden, Mirrarn«, begann Atlan. Er hatte eine konspirative Miene aufgesetzt und sah sich nach allen Seiten um, als ob er Angst hätte, belauscht zu werden. Mirrarn sah in ungeduldig und ablehnend an. »Es ist ein Geheimnis, das ich nur dir mitteile, und gnade euch der Himmel über Pthor, wenn ich erfahre, daß du nicht den Mund gehalten hast!« Mirrarn blickte immer noch ablehnend drein. Dennoch glaubte der Arkonide jetzt eine gewisse Neugier im Gesicht des Ältesten zu erkennen. Nach einer bedeutungsvollen Pause, die die Wirkung der folgenden »Eröffnung« steigern sollte, setzte Atlan wieder die Verschwörermiene auf und legte Mirrarn eine Hand auf die Schulter. Der Arkonide ging in die Knie, um seinem Gegenüber direkt in die Augen sehen zu können. »Was ich dir jetzt sage, Mirrarn, weiß außer uns und meinen Freunden kein Wesen auf Pthor. Ich bin kein Göttersohn!« »Das weiß ich!« fuhr Mirrarn ihn an. »Ein Göttersohn würde keine Fragen nach der Dunklen Region stellen und nicht heimlich Mörder befreien, um sie ihrer gerechten Strafe zu entziehen!« Atlan atmete tief durch. Mirrarn war ein schwererer Brocken, als er angenommen hatte. »Siehst du, Mirrarn«, begann er erneut und tat wieder so, als sähe er sich nach verborgenen Mithörern um. »Auf unserer ganzen Reise haben wir viele Stämme besucht, aber wir haben niemanden getroffen, der uns wie du sofort durchschaut hat. Darum werde ich dich in das Geheimnis einweihen und dir
26 von unserer Mission berichten.« Jetzt war die Neugier des Alten nicht mehr zu übersehen. »Welche Mission? Arme Eingeborene zu überfallen, indem ihr euch als Göttersohn und seine Gefolgschaft ausgebt?« Atlan stöhnte. »Ich hätte dich für einen klügeren Mann gehalten, Mirrarn, aber ich muß mich getäuscht haben. Du bist vor lauter Mißtrauen nicht mehr fähig, ein gerechtes Urteil abzugeben.« Er machte eine Pause und tat so, als ob er mit sich im Kampf läge. »Nein, Mirrarn«, sagte er dann, »ich glaube wirklich, ich habe mich in dir getäuscht. Du bist nicht der Mann, dem ich unser Geheimnis verraten dürfte …« Das wirkte. Mirrarn stieß einen Fluch aus und breitete die Arme resigniert aus. »Versetze dich in meine Lage! Ich muß doch annehmen …« »Und das ist gut so«, versetzte Atlan. »Es gehört zu unserer Mission.« Mirrarn fieberte jetzt förmlich der Antwort auf all die Fragen entgegen, die Atlan in ihm geweckt hatte. Innerlich amüsierte der Arkonide sich köstlich. »Also schön, Mirrarn, ich vertraue dir.« »Das kannst du!« beeilte sich der Valjare zu sagen. Auch er hatte nun eine finstere Verschwörermiene aufgesetzt. »Was ist das für eine Mission? Hat Telmten etwas damit zu tun?« Atlan machte eine abwehrende Geste. »Eines nach dem anderen. Meine Freunde und ich …« Atlan sah sich noch einmal nach allen Seiten um, als ob hinter jedem Felsbrocken, hinter jedem dünnen Bäumchen im fahlen Mondlicht ein Spion stecken könnte, dann fuhr er flüsternd fort: »… wir sind ein Spezialistenteam mit einem Geheimauftrag von der FESTUNG …« »Von der FESTUNG?« rief Mirrarn erstaunt aus. Atlan fuhr mit den Händen durch die Luft und bedeutete ihm zu schweigen. »Leise! Bist du verrückt geworden?« Mirrarn blickte sich ängstlich um. Als er wieder in Atlans Gesicht sah, war ihm deut-
Horst Hoffmann lich die Erregung anzusehen. »Von der FESTUNG?« flüsterte Mirrarn. »Genau! Wir sind ausgeschickt worden, um im Norden eine Gruppe von gefährlichen Saboteuren zu finden und unschädlich zu machen.« »Saboteure?« fragte Mirrarn so leise, daß Atlan die Worte fast nicht verstanden hätte. Ebenso leise antwortete der Arkonide: »Ganz gefährliche Burschen! Sie sind für die verheerende Flut verantwortlich. Und ihre Spur führte nach Florgst, direkt zu euch. Habt ihr in den letzten Tagen Fremde in eurer Nähe bemerkt?« Mirrarn schien angestrengt zu überlegen. Dann fuhr sein Kopf in die Höhe. »Ja, da waren drei Valjaren aus einem anderen Dorf, die mit einem Boot kamen, um uns – die Männer des Dorfes – zu einem Wettkampf mit ihrem Stamm aufzufordern.« »Wie sahen sie aus?« Atlan hatte nicht das geringste Interesse an einer Beschreibung der Valjaren. Er nutzte Mirrarns Erklärungen, um sich den Rest seiner haarsträubenden Geschichte zurechtzulegen. »Das waren sie!« sagte er dann im Brustton der Überzeugung. »Das ist typisch für sie, sich als Valjaren zu verkleiden. Von wo kamen sie?« »Vom Süden …« »Siehst du jetzt, wie raffiniert sie sind? Sie umgingen euer Dorf und kamen vom Süden her, damit auch niemand Verdacht schöpfte. Ich nehme an, daß sie sich bei euch mit Nahrungsmitteln eingedeckt haben, als sie ein paar Augenblicke unbeobachtet waren.« Mirrarn murmelte etwas vor sich hin. Er war ergriffen von Atlans Eröffnungen. Sämtliche Zweifel waren aus seinem Gesicht verschwunden. »Um uns unsere Aufgabe zu erleichtern«, fuhr Atlan fort, »gebe ich mich als Göttersohn aus, verstehst du? Nur deshalb!« »Ein sehr kluger Einfall«, sagte Mirrarn beeindruckt. »Und die drei sind wieder nach Süden ge-
Traum der Valjaren fahren?« Mirrarn nickte. »Wir müssen sofort hinter ihnen her, sonst entwischen sie uns noch. Die Saboteure stellen eine furchtbare Gefahr für ganz Pthor dar. Ihr habt noch Glück gehabt, Mirrarn. Weißt du, was sie normalerweise mit den Leuten machen, die ihnen in die Finger geraten?« »Sage es mir!« Atlan neigte den Kopf und flüsterte dem Alten etwas ins Ohr. »Nein!« stieß Mirrarn ungläubig aus. »Psst! Leise, oder willst du, daß jemand …« »Entschuldige, Herr.« Der Arkonide wußte, daß er gewonnen hatte. Mirrarn nahm ihm seine Geschichte ab. Nun fehlte nur noch eines. »Durch dich haben wir viel Zeit verloren, Mirrarn. Ich fürchte, daß man in der FESTUNG sehr böse auf euch sein wird, wenn wir die Kerle nicht zur Strecke bringen.« Der Älteste fuhr erschrocken zusammen. »Es gibt nur eine Möglichkeit, ihren Zorn zu besänftigen. Wir müssen Telmten mitnehmen. Wenn wir beweisen können, daß wir durch ihn aufgehalten wurden, richtet sich der Zorn gegen Telmten, nicht gegen euch. Und ich verspreche dir, daß ich mich für ihn einsetzen werde – in der FESTUNG!« Bei diesen Worten stieg Mirrarns Respekt vor Atlan ins Grenzenlose. »Also, Mirrarn – bist du einverstanden?« Es dauerte eine Weile, bis der Alte seine Sprache wiedergefunden hatte. »Selbstverständlich, Herr, und ich werde niemandem etwas sagen, das schwöre ich.« »Ich habe nichts anderes von dir erwartet«, sagte Atlan mit der Situation gebührendem Ernst. »Es wäre allerdings gut, wenn ihr uns ein paar Vorräte mit auf den Weg geben könntet. Du weißt, wir haben Zeit verloren.« »Das werden wir tun, Herr!« Auf ein Zeichen des Arkoniden gingen sie wieder zur Hütte. Mirrarn konnte sich nicht
27 beruhigen. »Wenn diese Saboteure mir noch einmal in die Hände fallen würden …« brummte er und machte eine vielsagende Bewegung.
* Eine knappe Stunde später befanden sie sich wieder auf dem Fluß. Ihr Ziel war das Dorf Skarlotto, wo sie den alten Valjaren Kruden zu finden und mehr über das Goldene Vlies zu erfahren hofften. Als die letzten Häuser von Florgst weit genug hinter ihnen lagen, berichtete Atlan Razamon darüber, wie er Mirrarn eingewickelt hatte. Sie redeten Englisch, so daß Telmten nichts verstehen konnte. Atlan und Razamon standen die Lachtränen in den Augen, als der Arkonide seine Schilderung beendet hatte. »Hat man dir schon einmal gesagt, daß du ein Fuchs bist, Atlan?« »Tausendmal«, sagte dieser. »Das war noch einer der vornehmsten Ausdrücke, die auf den Schiffen und in den Zentralen der USO und der Solaren Flotte für mich verwendet wurden.« Das waren die Ausdrücke! Wieder ertappte der Arkonide sich dabei, daß er an die Erde schon wie an eine andere Welt dachte. Wie lange waren sie nun auf Atlantis und von der Außenwelt abgeriegelt? Wieviel Zeit mochte für Perry Rhodan und die Menschheit mittlerweile vergangen sein? »Hast du eigentlich keine Gewissensbisse, diese armen Kerle so hinters Licht zu führen?« »Arme Kerle? Ich möchte nicht wissen, was sie mit uns angestellt hätten, wenn es mir nicht gelungen wäre, ihren Dorfältesten so nachhaltig zu überzeugen.« Atlan mußte bei dem Gedanken daran, daß Mirrarn ihm bis zur Abfahrt einige Dutzend Male versichert hatte, daß er nichts von ihrem großen Geheimnis verraten würde, schmunzeln. Neben dem Floß trieb ein kleines Boot, das die Valjaren ihnen mitgegeben hatten. In
28 weiche Decken eingehüllt lag Koy darin und schlief. Im hinteren Teil des Bootes befanden sich die Lebensmittel, die sie von den Valjaren erhalten hatten. Nur Gloophy und sein ständiger Begleiter, Razamon, Atlan, Telmten und Fenrir befanden sich auf dem Floß. »Es war vielleicht falsch, sich als Abgesandte der FESTUNG auszugeben. Wir sollten diese Verbrecher nicht auch noch glorifizieren«, meinte Razamon. »Wahrscheinlich hast du recht. Aber was hätten wir sonst tun können? Es wäre zu einem Blutvergießen gekommen. Mirrarn hätte uns niemals mit Telmten ziehen lassen.« »Trotzdem …« Wieder glaubte Atlan, den alten Razamon vor sich zu haben. Seitdem er nicht mehr unter seinem Berserkertum litt, war der Atlanter in vieler Hinsicht aufgeschlossener und umgänglicher geworden. Nur wenn das Gespräch auf die FESTUNG und ihre Herren kam, trat wieder der harte Ausdruck in sein hageres Gesicht. Telmten saß am Rand des Floßes und starrte versonnen in die Wellen. Atlan setzte sich zu ihm. »Wann werden wir Skarlotto erreichen?« »Es dauert nicht mehr lange, vielleicht eine Stunde. Wir sollten bis zum Morgen warten, möglichst bevor wir Skarlotto erreichen. Vielleicht haben die Bewohner das Dorf verlassen, andernfalls müssen wir mit Schwierigkeiten rechnen. Sie sehen es nicht gern, wenn sich jemand zu Kruden begibt.« »Das wird das beste sein«, stimmte der Arkonide zu. Razamon klagte wieder über Schmerzen am Zeitklumpen, nachdem ihm sein Bein in den letzten Stunden Ruhe gelassen hatte. Gloophy hatte die Lust am Schmusen offensichtlich verloren und begann wieder einzelne Worte vor sich her zu reden. Die Begriffe wurden immer komplizierter, aber noch konnte er sie nicht richtig den Dingen zuordnen. Atlan sorgte sich um Koy. Wie lange würde der Trommler noch so vor sich hindäm-
Horst Hoffmann mern? Gab es wirklich keine Hilfe für ihn? Irgend etwas ließ den Arkoniden hoffen, daß dieser schon fast legendäre Kruden ein Mittel wußte, obwohl es keinen logischen Grund zu dieser Annahme gab. Auf Atlantis herrschte nicht die Logik. Atlan setzte sich und beobachtete Telmten. Der Valjare hatte kurz vor ihrer Abfahrt aus Florgst einen neuen Bogen und Pfeile an sich genommen. Er war in Gedanken versunken. Atlan war sicher, daß er an die Dunkle Region und ans Goldene Vlies dachte. Der Arkonide machte sich den Vorwurf, den Glauben dieses jungen Valjaren für seine Zwecke auszunutzen. Telmten war für die Außenwelt ein Fanatiker, aber er glaubte an seine Aufgabe und kam gar nicht erst auf die Idee, daß er dadurch zu Handlungen gezwungen sein könnte, die objektiv falsch und verurteilenswürdig waren. Wie würde Telmten sich verhalten, wenn er die Wahrheit über die Flüchtlinge erfuhr? Mit Sicherheit würde er kämpfen, um sein heißersehntes Ziel zu erreichen. Aber darüber konnte er sich Gedanken machen, wenn es soweit war. Vorläufig zählte nur, daß sie zu Kruden gelangten. Im Licht des Mondes tauchte vor ihnen Skarlotto auf. »Der Baum dort vorne«, sagte Telmten. »Wir sollten das Floß mit dem Boot dort festbinden und die Nacht hier verbringen.« Atlan nickte. Sie steuerten das Floß auf den mit der oberen Hälfte aus dem Wasser ragenden Stamm zu und befestigten es mit ein paar Stricken. Bevor Telmten einschlafen konnte, setzte Atlan sich noch einmal zu dem Valjaren. Er hatte bemerkt, daß auch Telmten Gloophy und dem Vogelwesen immer wieder merkwürdige Blicke zugeworfen hatte. Außerdem hatte Telmten jede Berührung mit dem Tier vermieden. »Was ist mit ihm los? Was weißt du über den Vogel?« Telmten sah ihn verwundert an. Schon befürchtete der Arkonide, wieder einen Fehler
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gemacht zu haben. »Wir sprechen nicht darüber«, flüsterte Telmten. »Es bedeutet großes Glück, einen Stelzer zu finden – wenn man klug ist und sich von ihm fernhält. Es gibt nicht mehr viele von ihnen, in allen anderen Gegenden Pthors gelten sie als ausgestorben, wenn man den Berichten glauben darf, die uns gelegentliche Besucher geben.« Atlan kniff die Brauen zusammen. Was war ein Stelzer? Und wieso sollte man sich von ihm fernhalten? Aber Telmten wich allen weiteren Fragen aus. »Ich kann nicht darüber reden, Göttersohn, glaube mir. Aber es wäre besser, wenn dein … dein Freund sich von ihm trennen würde. Am besten werft ihr den Stelzer über Bord.« Das Tier wurde immer rätselhafter. Es war ganz offensichtlich, daß es für die Valjaren ein Tabu darstellte. Aber wieso hatten die Männer und Frauen in Florgst Gloophys Spiel mit dem Vogelwesen so schadenfroh beobachtet? Atlan versuchte sich vorzustellen, wie Gloophy reagieren würde, wenn man ihm sein »Spielzeug« wegnähme. Und eigentlich war er ganz froh darüber, daß Razamon und er vorläufig von den Gefühlsausbrüchen des Beras verschont blieben.
* Telmten träumte: Die Dunkle Region türmte sich wie eine schwarze Wand vor ihm auf. Er war allein, nur mit seinem Bogen und dem Messer bewaffnet. Wie bei jedem Mal packte ihn die Angst und drohte ihn zu übermannen und umkehren zu lassen, und wie bei jedem Mal überwand Telmten sie. Er gab sich einen Ruck und ging auf die schwarze Wand zu. Aus der dunklen Masse schälten sich die Grimassen von Dämonen heraus, die ihn hämisch anstarrten und ihren teuflischen Bann auf ihn zu legen versuchten. Aber Telmten schritt entschlossen aus und
erreichte die Wand. Die beschwörenden Stimmen der Dämonen hallten in seinen Ohren und drohten ihm den Verstand zu rauben. Telmten ging weiter, nur das Goldene Vlies vor Augen, das ihn für all seine Qualen belohnen würde. Noch einmal überschütteten die Dämonen den jungen Valjaren mit einer Flut höllischer Impulse, aber der Zauber prallte wirkungslos an Telmten ab. Die schwarze Wand schloß sich um ihn, und die Grimassen verschwanden. Telmten drang in ein Schattenreich ein. Zu beiden Seiten seines Weges türmten sich gewaltige Stämme auf. Die Bäume ragten so weit in den Himmel, daß er ihre Kronen nicht erkennen konnte. Dunkle Schemen sanken auf ihn herab und griffen ihn an. Der Valjare zückte sein Messer und wehrte sie ab. Nichts konnte Telmten auf seinem Weg aufhalten. In jedem Traum mußte er eine andere visionäre Landschaft durchstreifen, um zu seinem heißersehnten Ziel zu gelangen. Und in jedem Traum stand er nach einer ganz bestimmten Strecke vor dem in goldenes Licht getauchten Vlies. Diesmal war es anders. Dort, wo sich das Goldene Vlies befinden mußte, war jetzt nur Schwärze und grenzenlose Leere. Die Welt schien sich in sich selbst aufgelöst zu haben. Telmten begann zu taumeln und fiel schreiend auf die Knie. Er trommelte mit den Fäusten auf den Boden und wand sich in schrecklichen Krämpfen. Und dann drangen die Dämonen von allen Seiten auf ihn ein. Telmten hatte nicht mehr die Kraft, sie abzuwehren …
* Der Valjare erwachte schweißgebadet. Irgend etwas hielt ihn fest, wollte ihn erdrücken, wollte ihn … Erst nach Minuten kam er zu sich. Er sah das Gesicht des Arkoniden über sich. »Du hast wie ein Verrückter um dich ge-
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schlagen, Telmten«, hörte er den Hellhaarigen sagen. »Du hast geschrien, als ob tausend Teufel hinter dir her wären. War es der Traum, Telmten?« Der Valjare richtete sich auf und preßte die Hände gegen die Schläfen. »Es ist wieder gut«, flüsterte er. »Es … es war nichts.«
4. Kurz nach Sonnenaufgang näherten sie sich Skarlotto. Das Dorf war bedeutend kleiner als Florgst und offensichtlich verlassen. Telmten dirigierte das Floß in weitem Bogen um Skarlotto herum, bis sie die Anhöhe vor sich sahen. Eine relativ große Landmasse ragte aus dem Wasser, das auch Skarlotto überschwemmt hatte. Atlan konnte eine einzige, kleine Hütte erkennen, aus deren Kamin Rauch stieg. Es war wärmer geworden. Die Männer hatten ihre Pelzkleidung zum großen Teil abgelegt. Außerdem schien das Wasser nun nicht mehr so hoch über dem Land zu stehen. Es hatte sich über die ganze Flußebene bis zum Delta ergossen und würde innerhalb einiger Tage abfließen. Dennoch bestand die Gefahr einer zweiten Flutwelle nach wie vor. Das Floß und das mitgeführte Boot näherten sich langsam der Anhöhe. Koy war immer noch nicht zu sich gekommen, aber seine Körperfunktionen schienen in Ordnung zu sein. Größere Sorgen bereitete dem Arkoniden im Augenblick der Valjare. Telmten grübelte mit finsterer Miene vor sich hin. Er stand unter der Wirkung eines furchtbaren Schocks, aber er schien nicht darüber sprechen zu wollen. Sie erreichten das Land. Razamon verankerte das Floß. Das Boot mit Koy und ihren Vorräten war fest mit dem Floß verbunden und konnte nicht abgetrieben werden. Gloophy blieb mit Fenrir und dem Vogelwesen zurück. Der Wolf war die beste Wache, die sie sich wünschen konnten.
Nur Atlan, Razamon und Telmten machten sich auf den Weg zur Hütte. Als sie nur noch wenige Meter entfernt waren, wurde die Holztür von innen geöffnet. Zu ihrer Überraschung trat ein Knabe aus dem Halbdunkel. Atlan sah auf den ersten Blick, daß er es nicht mit einem »normalen« Valjarenjungen zu tun hatte. Der Knabe war schätzungsweise acht Jahre alt und machte einen intelligenten, aufgeweckten Eindruck. Er musterte die Ankömmlinge aus hellen, wachen Augen. Auch in der Statur unterschied er sich von den Valjaren, die die Gruppe bisher zu Gesicht bekommen hatten. Er war schlank, groß für sein Alter, und fast das genaue Gegenteil von den plumpen Bewohnern des Dorfes Florgst. Telmten war beim Anblick des Jungen stehengeblieben. Atlan achtete nicht weiter auf ihn. Irgend etwas an dem Knaben weckte das Gefühl einer verschwommenen Erinnerung in ihm. Aber was war es? Der Arkonide nahm sich zusammen. Sie waren hier, um mit Kruden zu reden. Atlan wollte dem Jungen eine Begrüßung zurufen, dann fiel ihm ein, daß Telmten ihn immer noch für einen Göttersohn hielt. Und Atlan hatte das sichere Gefühl, daß der Knabe ihm diese Rolle nicht abnehmen würde. Außerdem hatte er die Nase von dem Theaterspiel voll. Er wollte Razamon auf Englisch vorschlagen, mit dem Valjaren zum Floß zurückzugehen, als der Junge ihm die Entscheidung abnahm. »Einer von euch darf hereinkommen«, sagte er in Pthora. Die Stimme jagte Atlan einen Schauer über den Rücken. Sie paßte ebensowenig zu einem Valjaren wie alles andere an ihm. Razamon gab dem Arkoniden ein Zeichen. Atlan wußte, daß er sich auf den Gefährten verlassen konnte. Er trat in die Hütte. »Ich bin Bördo«, erklärte der Junge, »Krudens Enkel.«
Traum der Valjaren Bördo schloß die Tür hinter Atlan. Die Hütte war noch kleiner, als sie auf den ersten Blick gewirkt hatte. Sie bestand nur aus einem etwa vier mal sechs Meter großen Raum. Atlan mußte sich bücken, um nicht an die knapp zwei Meter hohe Decke zu stoßen. Mitten im Raum war ein Lager ausgebreitet, auf dem ein alter Mann lag. Atlan wußte sofort, daß er Kruden vor sich hatte. »Er ist sehr krank«, sagte Bördo. In seiner Stimme war nicht die winzigste Spur von Mißtrauen oder Ablehnung, aber auch keine direkte Freundlichkeit. Bördo redete wie jemand, der über den Dingen stand. Neben Krudens Lager befand sich ein kleineres, das offensichtlich dem Jungen gehörte. Atlan entdeckte einige Töpfe und Lappen. »Was hat er?« fragte der Arkonide flüsternd. Er konnte sich nicht gegen ein merkwürdiges Gefühl der Beklemmung wehren, seitdem er eingetreten war. Fast hatte er den Eindruck, in eine Welt eingedrungen zu sein, die nur Bördo und seinem Großvater gehörte. Was faszinierte ihn so an dem Jungen? An wen erinnerte er ihn? »Er hat hohes Fieber und ißt nicht mehr, wir haben keine Erklärung dafür.« Erst jetzt registrierte Atlan, daß Bördo ihn nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatte. Er trat näher an das Lager des Kranken heran. Kruden war offenbar ohne Bewußtsein. Das alte Gesicht war eingefallen und der Körper ausgezehrt. »Er wird sterben«, sagte Bördo. Obwohl er ruhig und fast etwas überakzentuiert sprach, glaubte Atlan, Wärme und Besorgtheit aus seiner Stimme herauszuhören. Er sah auf und musterte den Jungen nochmals. Bördo trug ein wollenes Wams und eine ärmellose Lederjacke darüber, dazu lange Lederhosen und feste Lederstiefel. Er war mit etwa 1,40 Meter schon jetzt fast so groß wie die meisten Valjaren, denen Atlan begegnet war. Welche Beziehung be-
31 stand zwischen ihm und Kruden? Der Greis war ein normaler Valjare, wenn man davon absah, daß er ungewöhnlich groß war. Noch während der Arkonide ihn ansah, machte Bördo ein paar schnelle Schritte auf das Lager des Alten zu und kniete neben Kruden nieder. Der Greis hatte die Augen aufgeschlagen und Bördos Hand genommen. Sein Blick wanderte von dem Jungen zu Atlan. »Wer ist er?« fragte Kruden mit leiser Stimme. »Er kam mit Freunden auf einem Floß, Großvater.« Kruden musterte den Arkoniden aus fieberglänzenden Augen. Das Resultat schien ihn zufriedenzustellen. Genau wie Bördo kam er offensichtlich gar nicht erst auf den Gedanken, es mit Plünderern zu tun zu haben. »Was führt dich zu uns?« brachte Kruden mit Mühe hervor. Atlan zögerte einen Augenblick, dann entschloß er sich, mit offenen Karten zu spielen, obwohl er insgeheim befürchtete, mit seiner Frage auf die gleiche Reaktion zu stoßen wie in Florgst. »Wir hörten, daß du in der Dunklen Region warst und das Goldene Vlies gesehen hast.« Atlan hatte das Gefühl, als ob Bördo plötzlich verschlossen würde und ihn mit einer Spur von Mißtrauen betrachtete. Kruden aber reagierte völlig unerwartet. Auf einmal schien die Schwäche von seinem ausgezehrten Körper abzufallen. In seine Augen trat ein lebendiges Feuer. »Das Goldene Vlies«, flüsterte Kruden. »Ja, ich habe es gesehen …« Wieder überlegte der Arkonide sehr lange, bevor er die nächste Frage stellte. Wie konnte er Kruden erklären, weshalb er sich für das Vlies interessierte? Durfte er ihm sagen, wer und was er war und was seine Ziele waren? Wußte er denn überhaupt selbst, was er sich von dem Goldenen Vlies versprach? Atlan spürte die Faszination, die sich hinter
32 diesem Begriff verbarg, aber was erwartete er im Zusammenhang mit seinem Ziel, die Macht der FESTUNG zu brechen und Atlantis von der Erde zu verbannen? »Wirst du mir darüber berichten, Kruden?« Der alte Valjare dachte gar nicht daran, Fragen zu stellen. Er war förmlich aufgelebt, als Atlan das Goldene Vlies erwähnte. Welche Macht verbarg sich hinter diesem Schatz? Kruden drehte sich zu Bördo um, dessen Miene nicht mehr so aufgeschlossen war wie noch vor Minuten. Es war keine Spur von Feindseligkeit im Blick des Jungen, wenn er Atlan ansah, aber es war offensichtlich, daß ihm die Wendung, die das Gespräch nahm, nicht gefiel. »Bördo«, sagte Kruden und richtete sich auf die Ellbogen auf, »hole das Pergament.« Ein wilder Funke glomm für einen kurzen Moment in den Augen des Jungen. Dann stand er wortlos auf und ging in eine Ecke der Hütte, in der einige Truhen und allerlei Gerümpel herumstanden. »Du kommst nicht aus dieser Gegend«, sagte Kruden gedehnt. Atlan wollte zu einer Antwort ansetzen, aber der Greis winkte ab. Während Bördo noch nach dem geheimnisvollen Pergament suchte, fiel dem Arkoniden ein, daß Koy noch immer bewußtlos im Boot lag. Er stellte spontan eine Frage. »Das Pfeilgift der Valjaren?« wunderte Kruden sich. »Es ist unschädlich und dient nur dazu, den Gegner zu betäuben oder Nutztiere einzufangen. Es wird nach einigen Stunden vom Körper abgebaut und hat keine negativen Folgen.« »Das mag für euch Valjaren gelten. Mein Freund ist kein Valjare, sein Körper scheint mit dem Gift nicht fertig zu werden.« Kruden nickte, sagte aber nichts. Bördo kehrte mit einer speckigen Pergamentkarte zurück, die ihrem Aussehen nach uralt sein mußte. Der Knabe zögerte. »Was ist los mit dir, Bördo? Du hast dich verändert, seit …«
Horst Hoffmann »Hier!« sagte Bördo energisch, bevor Kruden weiterreden konnte. Atlan spürte wieder, daß der Junge vom Hauch eines Geheimnisses umgeben war. Weshalb hatte er Kruden nicht ausreden lassen? Was hatte er zu verbergen? Kruden nahm das Pergament entgegen und begann damit, die Karte aufzurollen. Atlan sah, wie ein feines Lächeln auf das alte Gesicht trat. Kruden schien für einen Augenblick in Erinnerungen zu schwelgen. »Ja, ich habe das Goldene Vlies gesehen«, flüsterte er dann. »Ich war in der Dunklen Region.« »Was ist das – die ›Dunkle Region‹, Kruden? Ich kann dir jetzt keine Erklärungen geben, aber es ist ungeheuer wichtig für mich und meine Begleiter, den Weg dorthin zu finden.« »Ich werde dir erzählen, wie ich vor langer Zeit …« Kruden riß die Augen auf und starrte auf einen Punkt hinter Atlan. Der Arkonide fuhr herum. Für ein paar Augenblicke hatte er nicht auf Bördo geachtet. Der Junge stand hinter ihm und hielt ein brennendes Scheit in der Hand, das er aus dem offenen Kaminfeuer gerissen hatte. Ehe Atlan ihn hindern konnte, war Bördo über Krudens Lager und schwenkte das Scheit über dem Greis. Kruden schrie gequält auf und verlor das Bewußtsein. »Er wird mein Erbe nicht verraten«, preßte Bördo hervor, und das Feuer warf gespenstische Schatten über sein Knabengesicht. Die hellen Augen waren weit in die Ferne gerichtet. »Nur ich werde das Goldene Vlies erobern und eines Tages zu den Göttersöhnen gehören!« In diesem Augenblick wußte Atlan, an wen ihn der Junge erinnert hatte. Bördo glich den Odinssöhnen Honir, hinter dem sich in Wirklichkeit Thalia verbarg, und Balduur.
*
Traum der Valjaren Ehe Atlan sich fassen konnte, hatte Bördo das Pergament aus Krudens Händen gerissen und mit der Fackel angesteckt. »Ich kenne die Karte auswendig!« sagte er, während sie auf dem Lehmboden verbrannte. Atlan starrte den Knaben immer noch ungläubig an. Konnte es sein, daß Bördo der Sproß eines der Göttersöhne war? Hatte sich einer eine Valjarin zur Frau genommen und mit ihr den Jungen gezeugt? Als Atlan an die Erlebnisse in Florgst und die doch recht plumpen Valjarinnen zurückdachte, kamen ihm große Zweifel. Aber vielleicht glichen sich nicht alle Valjarenstämme? Auch auf der Erde gab es Pygmäen. Und im Lauf der kosmischen Expansion der Menschheit hatten sich die Zwerge von Siga und die Riesen von Ertrus entwickelt. Atlan wußte, daß er falsche Vergleiche heranzog. Trotzdem ließ ihn der Gedanke nicht los, Bördo könnte der Sohn eines der drei männlichen Sprößlinge Odins sein. In Bördos Augen glomm wieder jenes seltsame Feuer. Manchmal schien sich etwas wie Schuldbewußtsein hineinzumischen. Atlan war nicht einmal böse auf ihn, weil er die Karte vernichtet hatte. Der kurze Moment, in dem er einen Blick darauf geworfen hatte, hatte genügt, um sich die Karte in sein photographisches Gedächtnis einzuprägen. Atlan würde sie jederzeit »abrufen« können. Dennoch fühlte der Arkonide Zorn gegen den Knaben in sich aufsteigen, weil Bördo ohne Rücksicht auf den kranken Kruden gehandelt hatte. Vielleicht würde der Greis den Schock nicht überleben. Ehe Atlan den Knaben zur Rede stellen konnte, hörte er vor der Hütte ein Rauschen. Er fuhr herum und sah, wie die Tür aufgestoßen wurde. Das starke Schloß flog aus der Verankerung. Eine ganz in Schwarz gekleidete Gestalt stand im Eingang. Das Gesicht des Fremden war unter einer weiten Kapuze verborgen. Atlan erkannte ein Flugaggregat auf dem Rücken des Eindringlings.
33 Ohne auf den Arkoniden zu achten, trat die Gestalt ein und blieb vor Bördo stehen. Der Junge sah ihr mit glänzenden Augen entgegen. »Dein Vater schickt mich, um dich zu holen. Uralte Prophezeiungen beginnen sich jetzt zu erfüllen. Du sollst in Sicherheit gebracht werden, Bördo!« Atlan war nicht fähig zu reagieren. Ein unerklärlicher Bann hatte sich über ihn gelegt und lähmte den Arkoniden. Bördo ergriff die ausgestreckte Hand des Schwarzgekleideten. Er sah Atlan in die Augen. »Der Ruf meines Vaters geht über alles«, verkündete der Knabe. Im nächsten Augenblick trat er mit dem Fremden aus der Hütte. Atlan schüttelte den Bann ab und rannte hinterher, aber es war zu spät. Der Schwarze hatte Bördo umklammert und vom Boden abgehoben. Sie flogen in Richtung Süden davon. Aus den Augenwinkeln bemerkte der Arkonide eine weitere Bewegung. »Telmten!« schrie er. »Bleib hier!« Aber der Valjare hörte nicht auf ihn. Er hatte den Bogen von der Schulter gerissen und rannte hinter den beiden her.
* Dies war Telmtens Stunde. Telmten wußte es in dem Augenblick, als er den schwarzen Schatten vom Himmel herabsinken und vor der Hütte aufsetzen sah. Er wußte, daß dies der Schatten war, der das Goldene Vlies in seinem letzten Traum verdunkelt hatte. Telmten spürte keine Furcht. Während der letzten Stunden hatte er alle nur denkbaren Qualen erlitten. Der Valjare glaubte, daß die anderen auf dem Floß nichts von dem gemerkt hatten, was in ihm vorging. Es war der Traum, der ihn nicht mehr losließ. Telmten fühlte tief im Innern, daß er am Ende seines gerade erst begonnenen Weges stand. Und seltsamerweise schreckte ihn die Aussicht, das Goldene Vlies niemals
34 erobern zu können, nicht mehr. Telmten hatte den Gedanken daran verloren, als er den Jungen sah. Immer wieder war sein Blick fassungslos zwischen dem Knaben und dem Göttersohn hin und her gewandert. Aber nicht allein die Ähnlichkeit mit dem Göttersohn faszinierte ihn. Es war etwas, das Telmten sich nicht erklären konnte. Eine Woge von wilden Gefühlen hatte ihn überflutet, als er den Jungen zum erstenmal sah. Für einen kurzen Augenblick war das Gesicht des Knaben von einem anderen strahlenden Bild verdrängt worden. Telmten war fest davon überzeugt, das Goldene Vlies gesehen zu haben. Die Minuten des Wartens wurden unerträglich. Telmten sah sich immer wieder nach dem großen, hageren Mann um. Er war ihm auf unerklärliche Weise unheimlich, wie auch die übrigen Begleiter des Göttersohns. Er fühlte Mitleid mit dem riesigen Wesen, das dem Stelzer zum Opfer gefallen war. Ebenso machte er sich Vorwürfe für das, was seine Stammesgenossen mit ihren Pfeilen angerichtet hatten. Das Wesen mit den seltsamen Hörnern am Kopf schien zu sterben. Plötzlich hatte der riesige Wolf zu knurren begonnen. Ein Rauschen erfüllte die Luft. Razamon, wie sich der Begleiter des Göttersohns nannte, fuhr auf und starrte in den Himmel. Der Wolf verstummte. Nur ein leises Winseln war noch zu hören. Die schwarze Gestalt schien direkt aus dem Himmel auf sie herabzustürzen. Dann stand sie vor dem verschlossenen Eingang der Hütte. Telmten spürte den Impuls, der durch seinen Körper strömte. Für weniger als eine Sekunde tauchte der Traum wieder auf. Binnen weniger Augenblicke wußte der Valjare, was er zu tun hatte. Er spannte die Muskeln, um loszurennen, aber Razamon hielt ihn mit eisernem Griff fest. Telmtens Gedanken überschlugen sich.
Horst Hoffmann Der Schwarze rief in ihm das Gefühl einer ungeheuren Gefahr hervor. Telmten war nicht mehr bei Sinnen. Seine Gedanken bewegten sich in Bahnen, die ihm logisch erschienen. Aber der Valjare war ein Gefangener seiner Mikrowelt, in die er sich in den letzten Tagen und Stunden hineingesteigert hatte. Er hielt den Atem an, als die Gestalt, ohne auf Razamon, ihn und das Floß zu achten, zu einer so schnellen Bewegung ausholte, daß es unmöglich war, zu sagen, wie er die Tür aus den Angeln riß. Im nächsten Moment war er in der Hütte verschwunden. »Bitte!« flehte Telmten und riß an Razamons Umklammerung. »Laß mich los! Ich muß …« Aber der Hagere umklammerte seinen Arm noch fester. Telmten war plötzlich der Mittelpunkt des Universums. Er war nun sicher, daß seine Berufung nicht der Dunklen Region und dem Goldenen Vlies gegolten hatte, sondern daß er hier und jetzt seine Aufgabe zu erfüllen hatte. Und dann trat der Schwarze mit dem Knaben aus der Hütte. Er umschlang den Jungen und stieß sich vom Boden ab. Wieder erklang das Rauschen. Razamon war einen winzigen Augenblick unaufmerksam, wahrscheinlich schockierte ihn das Gesehene ebenso wie Telmten. Dieser kurze Moment genügte dem Valjaren. Telmten riß sich los und stürmte auf den Schwarzen los. Im Laufen riß er sich den Bogen von der Schulter und nahm einen Pfeil aus dem Köcher. Die Gestalt war bereits einige Meter hoch in der Luft. Sie umklammerte den Jungen wie ein riesiger Raubvogel seine Beute. Telmtens Sinne waren vernebelt. Er rannte hinter ihnen her, bis er mit den Füßen im Wasser stand. Dann hob er den Bogen. Es kam ihm gar nicht erst in den Sinn, daß er den Knaben treffen könnte. Telmten ließ die Sehne los. Der Pfeil schwirrte durch die Luft und traf. Der Schwarze begann zu schlingern und unkon-
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trolliert in der Luft zu kreisen, aber er flog weiter. Telmten ließ die Arme sinken. Er achtete nicht auf die Flüche Razamons. Plötzlich war nur noch die unendliche, schwarze Leere in seinem Bewußtsein, die er im Traum an der Stelle des Goldenen Vlieses gefunden hatte. Der Valjare wußte jetzt, was sein letzter Traum zu bedeuten hatte und was die Leere symbolisierte. Telmten zog langsam das Messer aus seinem Gürtel. Dann ging er los, immer weiter, bis er bis zur Brust im Wasser stand. »Komm zurück!« hörte er die Stimme Atlans hinter sich. Irgend jemand lief hinter ihm ins Wasser, um ihn zu holen. Aber Razamon kam zu spät. Als der Körper des Valjaren sich langsam vornüber senkte, färbte das Wasser sich rot. Telmten starb in der Überzeugung, nicht umsonst gelebt zu haben.
5. Atlan und Razamon standen erschüttert im Wasser und sahen dem toten Körper nach, der schnell abgetrieben wurde. »Ich wußte es«, murmelte der Arkonide. »Ich wußte, daß er uns Schwierigkeiten bereiten würde. Und das Schlimme ist, daß ich ihm keinen Vorwurf machen kann, Razamon.« Der Atlanter schüttelte den Kopf. »Ein verdammter Narr, der sich selbst umbringt!« »Er war ein Gefangener seines Traumes. Ich rechnete damit, daß er früher oder später die Kontrolle über sich verlieren würde, aber ich dachte nur an seinen Wahn, das Goldene Vlies zu finden. Trotzdem – ich hätte mißtrauisch werden müssen, als er Bördo sah und wie versteinert stehenblieb. Der Junge hat irgend etwas in ihm bewirkt.« Atlan suchte den Himmel ab, aber die schwarze Gestalt war mit Bördo verschwunden. Der Fremde war nicht abgestürzt, als ihn der Pfeil traf, aber er hatte ganz offensichtlich Schwierigkeiten mit dem Flug ge-
habt. »Telmten schnappte in dem Moment über, als er den Schwarzen sah«, erklärte Razamon. »Wir werden ihn wohl nie verstehen«, meinte Atlan. »Dieser Traum der Valjaren – wenn es stimmt, daß sie alle ihn träumen, dann müssen sie auf eine uns unbegreifliche Art und Weise mit dem Vlies verbunden sein. Ich hatte aber den Eindruck, daß Telmten das Goldene Vlies vergaß, als er Bördo sah.« Die beiden Männer kehrten auf die Anhöhe zurück und gingen auf das Floß zu. Atlan berichtete in knappen Sätzen über das, was sich in der Hütte ereignet hatte. »Also besteht eine Verbindung zwischen Bördo und dem Goldenen Vlies«, vermutete der Atlanter. »Telmten muß es irgendwie gespürt haben.« »Das mag sein. Ich möchte wetten, daß Sigurd oder Heimdall Bördos Vater ist.« »Wieso nicht Balduur?« Atlan warf Razamon einen ironischen Blick zu. »Balduur würde nie eine andere Frau als Opal angerührt haben, jedenfalls nicht, seitdem er sie aus der Galaxis Zuklaan mitgebracht und konserviert hatte. Und Bördo ist höchstens acht Jahre alt.« »Balduur war ein Wrack«, stimmte Razamon zu. »Ich würde gern wissen, was aus dem armen Burschen geworden ist. Aber was ist mit Thalia? Sie ist eine Frau! Ich könnte mir denken, daß auch sie sich ziemlich einsam fühlt, und MuurArthos war ganz bestimmt nicht der Mann, der ihre Wünsche erfüllen könnte …« Atlan mußte nun unwillkürlich schmunzeln, als er an den Kleinen dachte. All das lag jetzt schon so weit hinter ihnen, als ob seit dem Aufenthalt auf Thalias Schloß bereits Jahre vergangen wären. »Thalia hat viel zuviel Angst davor, ihre wahre Identität preiszugeben.« »Bleiben also Sigurd und Heimdall. Nach dem, was Koy von seinem Zusammentreffen mit Heimdall berichtete, scheint mir der An-
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Horst Hoffmann
tiquitätensammler auch nicht in Betracht zu kommen. Also Sigurd?« »Ich möchte zu gern wissen, was für ein Mann er ist«, sagte der Arkonide. »Der Legende nach war er Odins Lieblingssohn.« »Ein seltsames Völkchen, unsere Göttersöhne …« Atlan hatte eine Entgegnung auf der Zunge, schwieg aber. Eigentlich wußten sie überhaupt nichts von den Fremden. Sie hatten Honir und Balduur kennengelernt; Koy hatte berichtet, daß Heimdall ein ähnlich eigensinniger Charakter war. Aber was würde geschehen, wenn die vier Göttersöhne eines Tages vereint wären? Noch lebten sie in strenger Isolation voneinander. Aber wie lange noch? Was bedeuteten die Worte des Schwarzen, daß sich uralte Prophezeiungen zu erfüllen begannen? Plötzlich fiel dem Arkoniden etwas ein. »Wieso schlug Fenrir nicht Alarm, als der Unbekannte auftauchte? Ich habe nicht gehört, daß er …« »Er begann zu knurren, aber dann wand er sich winselnd auf dem Floß«, erklärte Razamon. Die Angelegenheit wurde immer undurchsichtiger. Immer mehr Fragen türmten sich vor den Freunden auf. Uralte Prophezeiungen beginnen sich zu erfüllen! Irgend etwas war auf Atlantis in Gang gekommen. Hatte es etwas mit Atlans und Razamons Wirken auf Pthor zu tun?
* Atlan und Razamon standen vor dem Krankenlager des Alten. Kruden war wieder bei Besinnung und sah die beiden Männer abwechselnd an. »Bördo ist nicht mehr hier«, flüsterte Kruden. Er hatte Mühe, die Worte hervorzubringen. »Ich wußte seit langem, daß er gehen würde.« Atlan berichtete, was während Krudens Ohnmacht vorgefallen war. Der Greis hörte
schweigend zu und nickte immer wieder. »Er hat ihn zu sich geholt …« Bevor der Arkonide eine Frage stellen konnte, verkrampfte sich Krudens Gesicht. Er hatte Schmerzen. »Das Goldene Vlies«, hauchte er dann, »die Dunkle Region … Ja, ich war dort, und ich habe …« Wieder verstummte der Alte und bäumte sich unter Schmerzen auf. Atlan sah ein feuchtes Tuch neben dem Lager liegen und drückte es Kruden auf die Stirn. Der Greis schenkte ihm einen dankbaren Blick. Plötzlich fuhr Razamons Kopf in die Höhe. Atlan versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, aber die Miene des Atlanters war verschlossen. Er ging zur Tür und spähte hinaus. Dann hörte auch Atlan das Rauschen. »Die Flutwelle!« rief Razamon. »Die zweite Flut kommt!« Atlan war sofort auf den Beinen. »Lauf zum Floß und hole die anderen. Vor allem Koy muß in Sicherheit gebracht werden!« Razamon war schon unterwegs. Der Arkonide ging wieder zu Kruden. »Ich weiß, daß es zu Ende geht«, flüsterte der Alte. »Ich muß dir etwas sagen, aber die Erinnerung … es ist alles so dunkel. Ich sehe dich nicht mehr …« Atlan begriff, daß das Fieber und die Aufregung immer stärker an Kruden zehrten. Bördos Verschwinden mußte ihm einen schwereren Schock versetzt haben, als er nach außen hin zeigte. »Die Dunkle Region, Kruden! Versuche, dich zu erinnern!« Das Rauschen wurde stärker. Atlan hörte, wie Razamon Gloophy lautstark zum Verlassen des Floßes zu bewegen versuchte. Fenrir tauchte in der Tür auf und kam schweifwedelnd an Atlans Seite. »Bitte, Kruden, versuche es …« Aber der Geist des Alten vernebelte sich immer mehr. »Bördo«, flüsterte er. »Er muß aufpassen, sein Weg ist voller Gefahren …«
Traum der Valjaren »Das Goldene Vlies, Kruden!« Atlan litt darunter, dem alten Valjaren nicht helfen zu können. Statt dessen quälte er ihn womöglich noch mit seinen Fragen. Aber er spürte, daß nicht mehr viel Zeit blieb. Kruden richtete sich auf. Wieder trat jener lebendige Schimmer in seine Augen. Kruden begann wie in Trance zu reden. »Ich war allein. Meine Begleiter starben während der Reise an einer furchtbaren Seuche. Nur ich blieb am Leben. Ich verließ das Boot an der anderen Seite des Flusses und marschierte so lange, bis ich die schwarze Wand vor mir aufragen sah.« Kruden begann heftig zu zittern. Atlan betupfte mit dem feuchten Tuch die Stirn des Valjaren. Der Alte bewegte die Lippen, aber erst nach einiger Zeit fand er die Sprache wieder. Mittlerweile waren auch Gloophy und das Vogelwesen in der Hütte. Kruden zitterte heftiger. Er drehte den Kopf und sah Atlan aus aufgerissenen Augen an. »Ihr müßt euch vorsehen … Der Weg durch die Dunkle Region ist voller …« In diesem Augenblick schwoll das Rauschen so schlagartig an, daß der Arkonide die weiteren Worte des Alten nicht mehr verstand. Razamon tauchte in der Tür auf. Er trug Koy auf den Armen. »Es geht los, Atlan! Die Flut kommt!« Der Arkonide sprang auf und rannte zur Tür. Was er sah, ließ ihn verzweifeln. Die Flutwelle hatte Skarlotto erreicht und fegte die Lehmziegelhütten wie Spielzeughäuser weg. Sie war so hoch, daß selbst die Anhöhe nicht verschont bleiben würde. »Haltet euch fest!« rief Atlan seinen Freunden zu. Er rannte auf Kruden zu und versuchte, den Alten aus seinem Lager zu zerren. Aber Kruden klammerte sich fest. Er starrte gebannt auf die Tür, als wüßte er genau, was auf sie zukam. Noch einmal bäumte er sich auf und bewegte die gesprungenen Lippen. »Die rote Truhe«, hörte Atlan. »Es ist in der Truhe …«
37 Das Rauschen und der Donner der Flut übertönten alles andere. Die Wassermassen brachen mit ungestümer Gewalt in die Hütte.
* Nach drei Minuten war alles vorbei. Atlan hatte sich in seinem langen Leben oft genug in Situationen befunden, in denen er glaubte, am Ende seines Weges angelangt zu sein, und in denen eine unvorhergesehene Verkettung der Umstände letzten Endes doch noch zur nicht mehr erwarteten Rettung geführt hatte. Der Arkonide hatte sich jedoch immer dagegen gewehrt, den Begriff »Glück« zu akzeptieren. Jedenfalls dann, wenn er eine Situation im Nachhinein durchdachte und zu analysieren versuchte. Jetzt aber waren seine ersten Worte: »Da haben wir noch einmal Glück gehabt. Es fehlte nicht viel …« Die ganze hintere Wand der Hütte war durch die eindringenden Wassermassen herausgerissen und weggespült worden. Wie durch ein Wunder hatten die dicken Stützbalken, an denen sich die Freunde festgeklammert hatten, der Flut getrotzt. Das schäumende Wasser war nur wenige Zentimeter unter den Gefährten durch die Hütte gebraust. Nur einige bange Sekunden lang hatte es die ganze Hütte ausgefüllt und fast gesprengt, bis die Rückwand auseinanderbarst. Gloophy hatte sich einfach auf dem Boden ausgestreckt und tauchte wohlbehalten wieder auf, als das Wasser langsam abfloß. Razamon hatte Koy unter den Arm genommen und über einen Querbalken gelegt, und Fenrir konnte sich mit einem Riesensatz auf ein kleines Podest unter dem Hüttendach in Sicherheit bringen. Als das Wasser abgeflossen war, stiegen sie herab. Kruden war nicht mehr in der Hütte. Das Wasser hatte den todkranken Greis mitsamt dem Lager weggespült. Atlan ballte die Hände zu Fäusten und
38 starrte erschüttert auf die leere Stelle am Boden. Welch grausames Schicksal hatte bestimmt, daß Atlans Weg durch Atlantis von mannigfachem Leid, von Tod und Verderben umsäumt wurde? Wann endlich hatte das alles ein Ende? Wie würde Atlantis aussehen, wenn die Macht der FESTUNG gebrochen wäre und die Versklavung der Völker ein Ende hätte? Würde ein friedliches und sinnvolles Zusammenleben der Stämme und Rassen möglich sein? Die Schwarze Galaxis! Welche Beziehung bestand zwischen der mysteriösen FESTUNG und den wirklichen Drahtziehern? Würde es wirklich genügen, die Macht der FESTUNG zu brechen? Atlan ertappte sich wieder dabei, daß er sich Gedanken machte, die nicht unmittelbar mit dem einzig drängenden Ziel zu tun hatten: die Gefahr, die Pthor darstellte, von der Erde abzuwenden. »Jetzt werden wir nie erfahren, was es mit dem Goldenen Vlies auf sich hat«, sagte Razamon mit finsterer Miene. »Wir werden es erfahren, Razamon«, widersprach der Arkonide. »Wir werden der Dunklen Region einen Besuch abstatten. Ich habe die Karte nur kurz gesehen, aber das genügte, um mir die wesentlichen Punkte des Weges einzuprägen.« Der Pthorer schien nicht gerade sehr erbaut von der Aussicht zu sein, ihren Weg wiederum zu unterbrechen. Atlan trat an den Eingang der Hütte. Auch hier waren Teile der Wand aus der Verankerung gerissen worden. Von Skarlotto war nicht mehr viel zu erkennen. Die Flut hatte das Dorf dem Erdboden gleichgemacht. Allerdings war der Wasserspiegel kaum gestiegen. In wenigen Tagen würde das Hochwasser in dieser Region vorbei sein. Wie durch ein Wunder war das Floß einigermaßen heil geblieben. Es war auf die Anhöhe getrieben worden, aber das Seil, mit dem es an dem Baumstamm verankert war,
Horst Hoffmann hatte gehalten. Nur von dem Boot fehlte jede Spur. Außerdem waren die Pektos vom Wasser weggeschwemmt worden. »Hier hält uns nichts mehr«, meinte Razamon. »Brechen wir also auf, wenn du es unbedingt dem guten Jason nachmachen willst …« »Rede keinen Unsinn«, wehrte Atlan verärgert ab. Sein Blick fiel auf Koy. »Die rote Truhe! Krudens letzte Worte waren, daß irgend etwas in einer roten Truhe sei. Vielleicht etwas Wichtiges.« Der Arkonide dachte daran, daß er den Valjaren nach einer Möglichkeit gefragt hatte, dem Trommler zu helfen. »Wir müssen nach einer roten Truhe suchen, Razamon!« »Wenn sie nicht weggespült worden ist …« »Truhen haben im allgemeinen die Eigenschaft, ziemlich schwer zu sein«, erwiderte der Arkonide. Nach kurzem Suchen fand Razamon die Truhe. Er öffnete das Schloß mit einem Messer, das er am Boden gefunden hatte. Neben verschiedenen Kleidungsstücken, Werkzeugen und einigen Ziergegenständen, die gar nicht zur spartanischen Ausstattung der Hütte passen wollten, fand Atlan schließlich einen durchsichtigen, etwa zehn Zentimeter langen Schlauch, der an beiden Enden mit einer feinen Schnur verschlossen war. In dem Schlauch befand sich eine grünlich schimmernde Flüssigkeit. Der Arkonide berichtete jetzt über jenen Teil seiner Unterhaltung mit Kruden, in dem die Sprache auf Koy gekommen war. »Es könnte ein Serum sein. Kruden hätte nicht von der Truhe gesprochen, wenn wir darin nicht etwas ungeheuer Wichtiges finden sollten. Und da wir keinen Hinweis auf das Goldene Vlies entdeckten, bleibt nur unser zweites Problem – Koy.« Razamon sah Atlan aus zusammengekniffenen Augen an. »Du hast doch nicht etwa die Absicht, ihm dieses Zeug zu verabreichen?« »Wir haben keine Wahl, Razamon! Wir
Traum der Valjaren müssen das Risiko eingehen, sieh ihn dir an! Koy ist mehr tot als lebendig …« »Und wenn es ein Gift ist? Wir kennen seinen Metabolismus nicht, Atlan.« »Eben, und auch Kruden wird das gewußt oder zumindest geahnt haben. Der Körper eines Wesens mit einem Stoffwechsel, der dem unseren vergleichbar ist, baut das Pfeilgift innerhalb weniger Stunden ab, wie du an dir selbst feststellen konntest. Bei Koy ist das ganz offenbar nicht der Fall. Kruden hätte keinen Grund, uns Gift zu geben. Vielleicht neutralisiert die Flüssigkeit das Pfeilgift und bewirkt so das, was unser Körper von selbst macht.« »Wir müssen es riskieren, wie?« »Willst du zusehen, wie er stirbt?« fragte der Arkonide. Razamon biß sich auf die schmalen Lippen. »Also gut.« Gemeinsam flößten sie Koy die grüne Flüssigkeit ein. Fenrir hatte leise zu knurren begonnen, als die beiden Männer sich über den Trommler beugten, und war aus der Hütte ins Freie gelaufen. Selbst jetzt, wo das Tier spüren mußte, wie es um Koy stand, konnte der riesige Wolf seine Abneigung nicht vergessen. »Jetzt können wir nur warten«, flüsterte Atlan, nachdem sie Koys Kopf wieder auf eine weiche Leinenrolle gelegt hatten. »Faß an, wir bringen ihn zum Floß.« Sie trugen den Bewußtlosen aus der Hütte und bereiteten ihm ein Lager auf dem Floß. Razamon band ihn mit ein paar Stricken fest. »Wo ist eigentlich Gloophy?« fragte Atlan plötzlich. In den letzten Minuten hatten sie nicht auf den Bera geachtet. »Noch in der Hütte«, vermutete Razamon. Atlan marschierte noch einmal zurück, um das Antimateriewesen zu holen. Gloophy saß einsam und allein in einer Ecke und gab Töne von sich, wie der Arkonide sie noch nie von ihm gehört hatte. So unterschiedlich die beiden waren, glaubte Atlan doch, so etwas wie Trauer heraushö-
39 ren zu können. Auch Gloophys Augen waren nicht mehr so lebendig wie sonst. Der Bera sah Atlan eintreten und hob den Kopf. Dann breitete er die Arme aus und machte eine Geste, die Atlan im ersten Augenblick nicht viel sagte. »Nih meh da«, brachte das große Wesen mit Mühe hervor. »Weh …« Jetzt endlich begriff der Arkonide. Gloophys seltsamer Begleiter war verschwunden. Wahrscheinlich war das Vogelwesen von der Flut ebenso weggespült worden wie der alte Kruden. Atlan empfand Mitleid mit dem Riesen. Es war kaum anzunehmen, daß Gloophy den Sinn seiner Geste verstand, aber Atlan trat auf ihn zu und klopfte ihm sanft auf die Schulter. »Dein Freund ist weg«, stellte Atlan mitfühlend fest. »Du wirst etwas anderes finden, aber nun komm, wir müssen weiter.« Der Bera gab einen klagenden Laut von sich. »Fre … Freund weh«, verstand Atlan. »Freund nih meh hie …« Nur mit Mühe gelang es Atlan, den Bera zum Aufstehen zu bewegen. Gloophy machte einen so niedergeschlagenen Eindruck, daß Atlan sich nicht einmal darüber freuen konnte, daß das Wesen zum erstenmal ein paar zusammenhängende, sinnvolle Worte in Pthora gesprochen hatte. Sie stiegen auf das Floß. Einige Minuten später stießen sie sich von der Anhöhe ab und nahmen wieder Kurs auf den Fluß. Koy rührte sich immer noch nicht. Irgendwo vor ihnen, jenseits des Flusses, lag ein Gebiet, das die Valjaren die »Dunkle Region« nannten. Dort lag ihr Ziel. Vielleicht erhielten sie dort die Antwort auf viele brennende Fragen …
* Zwischenspiel Der Bericht der beiden Dellos, die aufgebrochen waren, um sich an Ort und Stelle ein Bild von den Vorgängen an der Eisküste
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zu machen, brachte neue alarmierende Nachrichten für die FESTUNG. Die Herren von Pthor waren längst durch das Wache Auge über die verheerende Flutkatastrophe informiert. Auch das, was die Dellos über das Abschmelzen der Eismassen berichteten, bestätigte lediglich frühere Beobachtungen und Folgerungen. Was die FESTUNG in Unruhe versetzte, war das Verschwinden der Gravitationsfelder um die ehemalige Burg der Zyklopen. Außerdem meldeten die Beobachter, daß das in der Eiszitadelle gefangengehaltene Antimateriewesen spurlos verschwunden war. Dies bedeutete eine Gefahr unvorstellbaren Ausmaßes für Atlantis. Die Herren der FESTUNG beschlossen, unverzüglich geeignete Maßnahmen zu treffen, um diese Gefahr zu bannen. Außerdem begann man sich Gedanken darüber zu machen, wer oder was für das Verschwinden des Antimateriewesens verantwortlich war …
6. Bördo sah das Land tief unter sich vorüberziehen. Sie hatten das überschwemmte Flußgebiet längst hinter sich gelassen und flogen weiter in Richtung Süden. Bördo sah fruchtbare Felder und kleine Ansiedlungen, Wälder und ihm unverständliche technische Komplexe. Der schwarze Unbekannte hatte ihn fest umklammert. Nur manchmal zuckte er zusammen. Dann wurde der Flug unregelmäßig, und Bördo verspürte Schwindel und Übelkeit. Der Pfeil hatte den Boten seines Vaters knapp über der rechten Hüfte getroffen und machte ihm offenbar mehr zu schaffen, als es zuerst den Anschein gehabt hatte. Immer öfter verlor der Schwarze die Kontrolle über den Flug. Und dann geschah das Unglück. Wieder bäumte der große Körper sich auf. Einen schrecklichen Augenblick lockerte sich der Griff, und Bördo glaubte, den Halt
zu verlieren und in die Tiefe stürzen zu müssen. Bördo wurde herumgerissen, als der Unbekannte sich um die eigene Achse drehte und wild mit den Beinen zu schlagen begann. Er hörte ein furchtbares Stöhnen. Der Schwarze mußte unter unbeschreiblichen Schmerzen leiden. Nach knapp einer Minute hatte er sich wieder unter Kontrolle und begann, den Flug zu stabilisieren, aber da war es bereits zu spät. Ein Schatten tauchte vor ihnen auf. Dann schälten sich einzelne Punkte heraus. Es war keine Zeit mehr, um auszuweichen. Der Unbekannte raste mit Bördo genau in den Vogelschwarm hinein. Bördo hielt sich die Hände vors Gesicht, um sich vor den wild schlagenden Flügeln zu schützen. Er spürte ein Ziehen im Magen. Der Schwarze hielt ihn fest umklammert, aber er hatte die Kontrolle über den Flug vollends verloren. Der Knabe sah den Boden schnell auf sich zukommen. Sie stürzten ab! Sie flogen über einer weiten, grasbewachsenen Landschaft. Kurz über dem Boden gelang es dem Schwarzen noch einmal, den Sturz abzufangen. Schon wuchs in Bördo eine neue Hoffnung heran, aber bereits Sekunden später setzte das Geräusch der Flugmaschine auf dem Rücken des Unbekannten aus. Sie sackten ab und fielen vom Himmel. Bördo schrie auf, als der Aufprall erfolgte. Der Schwarze hatte sich im letzten Augenblick herumgeworfen und Bördo mit seinem Körper abgeschirmt. Nach kurzer Benommenheit kam der Knabe auf die Beine. Der Schwarze lag schwer atmend vor Bördo. Bördo beugte sich über ihn, um die Kapuze zurückzuschlagen, aber bevor er dazu kam, ergriff der Sterbende seine Hände und hinderte ihn daran. »Niemand darf den Schatten Sigurds sehen«, drang es leise unter der Kapuze hervor. »Versprich mir, mich nicht zu untersuchen, Bördo …«
Traum der Valjaren »Ich verspreche es, wenn es der Wunsch meines Vaters ist«, sagte der Knabe. »Es ist sein Wunsch, Bördo. Eines Tages wirst du verstehen …« Der Schwarze, der sich selbst »Sigurds Schatten« nannte, drehte sich auf die Seite und blieb so schwer atmend liegen. Bördo hielt drei Stunden lang neben ihm Wache. Dann waren die Qualen zu Ende. Bördo stand einige Minuten lang unschlüssig vor dem Fremden. Er kämpfte gegen die Versuchung an, die Kapuze anzuheben und ins Gesicht des Toten zu sehen. Aber der Respekt vor seinem letzten Wunsch gewann schließlich die Oberhand. Bördo betrachtete das Fluggerät auf dem Rücken des Schwarzen. Es war mit Lederriemen am Oberkörper befestigt. Der Knabe sah sich um. Er konnte in dieser verlassenen Landschaft keine schnelle Hilfe erwarten. Außerdem war es fraglich, ob eventuell des Weges kommende Fremde freundliche Absichten hatten. Kruden hatte oft davon gesprochen, daß Bördo eines Tages die Hütte bei Skarlotto verlassen und seinen Weg antreten müßte, und er hatte ihn vor den Gefahren gewarnt, die er »draußen« vorfinden würde. Aus eigener Kraft aber konnte Bördo hier nicht fort, es sei denn, daß er den Flugapparat nahm und lernte, mit ihm umzugehen … Er wußte nicht, wo er sich befand. Irgendwo im Süden von Skarlotto, jenseits des Flusses – aber wo genau? Der Schwarze hatte ihn zu seinem Vater bringen wollen, also mußte Bördo weiter nach Süden fliegen. Er kannte diesen Teil Pthors nicht. Krudens alte Pergamentkarte hatte nur den Weg zur Dunklen Region gezeigt – östlich und auf der anderen Seite des Flusses Xamyhr. Die Sonne stand fast genau senkrecht über der Graslandschaft am Himmel dieser Welt. Bördo spürte mit seinem kindlichen Instinkt, daß sie schon viel zu lange unter dieser Sonne weilten. Normalerweise wechselten die Himmel und die Sterne der Nacht in schnellerer Folge. Aber Bördo machte sich keine Gedanken
41 darüber, weshalb das so war. Er untersuchte vorsichtig die Flugmaschine auf dem Rücken des Schwarzen. Dann löste er die Schnallen der Lederriemen und nahm das Gerät vom Körper des Toten. Es war leichter, als er gedacht hatte. Die Riemen ließen sich in der Länge regulieren, so daß Bördo sich das Gerät fest auf seinen Rücken schnallen konnte. Der Knabe stand neben dem Toten und sah zum Himmel auf, bis ihn die Sonne blendete. Er atmete tief durch und verscheuchte die Furcht. Trotzdem schlug sein Herz heftig und ließ das Blut in den Schläfen pochen. Langsam fuhr Bördos rechte Hand zu dem einzigen Knopf, den er auf dem zylinderförmigen Gerät hatte entdecken können. Direkt neben ihm befand sich eine Art Taste, die sich an beiden Enden in den Zylinder drücken ließ. Bördo erinnerte sich daran, daß der Bote seines Vaters während des Fluges einige Male mit der freien Hand auf den Rücken gegriffen hatte. Die Bewegung konnte nur der Taste gegolten haben, denn jedesmal hatte sich der Flug etwas verlangsamt oder beschleunigt. Bördo drückte auf den Knopf. Sofort heulte das Gerät auf und begann zu vibrieren. Bördo bekam einen Schrecken, aber er stand noch immer mit den Füßen auf der Erde. Seine Hand legte sich auf die Taste. Vorsichtig drückte er sie an einem der beiden versenkbaren Enden in den Zylinder. Im nächsten Moment fühlte er sich an den Schultern, wo die Riemen saßen, in die Höhe gerissen. Bördo schrie und schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, war er bereits zehn Meter über dem Boden. Als er immer höher stieg, wurde er von einer plötzlichen Panik erfaßt. Bördo drückte das andere Ende der Taste, und sofort wurde er in der Luft herumgewirbelt, drehte sich um seine Körperachse und sah den Boden schnell auf sich zukommen. Wie wild fingerte er an der Regulierungstaste herum, bis er wieder an Höhe gewann. Bördo war
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furchtbar elend zumute. Nach einigen Minuten unkontrollierten Auf und Abfliegens erkannte der Junge so etwas wie ein System in den durch die Taste ausgelösten Bewegungen. Und nach weiteren bangen Minuten konnte er seinen Flug leidlich steuern. Bördo stieg bis auf eine Höhe von etwa einhundert Meter und flog über die Ebene hinweg. Allerdings hatte er nun jegliche Orientierung verloren. Da die Sonne im Zenit stand, gab auch sie ihm keine Möglichkeit, die Flugrichtung zu bestimmen. So war es kein Wunder, daß ihn sein Taumelflug genau dorthin führte, wo er gerade nicht hin wollte …
* Ebenfalls gegen Mittag erreichte Atlans kleine Gruppe das östliche Ufer des Xamyhr. Sie hatten einige weitere verlassene Valjarendörfer hinter sich gelassen. Atlan schätzte, daß sie mittlerweile etwa einhundertzehn Kilometer von der Flußmündung entfernt waren. Das Ostufer ragte relativ steil auf, während die Landschaft zur Rechten eben war. Dort hatte das Hochwasser große Teile der Flußebene überflutet. Atlan und Razamon trugen wieder ihre bunte Leinenkleidung. Sie hatten die Pelzjacken und stiefel ausgezogen, als es unerträglich warm zu werden begann. Die Temperatur war während des Vormittags sprunghaft angestiegen. Koy lag immer noch bewußtlos auf seinem provisorisch hergerichteten Lager. Allmählich begann Atlan an der Wirksamkeit des vermeintlichen Serums zu zweifeln. Gloophy verhielt sich weiterhin still, nur manchmal stieß er seltsame Laute aus. Atlan hatte den Eindruck, daß ihn etwas beschäftigte, aber es war nicht mehr nur die Trauer um den verlorenen Spielgefährten. Der Arkonide mußte an Telmtens Warnungen denken. »Aufgewacht, Atlan«, rief Razamon. Sie hatten eine Stelle am Ufer erreicht, die flach
genug war, um bequem anzulegen. Razamon sprang an Land und fing das Seil auf. Dann band er es an einem dicken Baumstamm fest. Atlan wollte ihm folgen, als Fenrir ein drohendes Knurren von sich gab. Der Arkonide und Razamon fuhren herum und erkannten augenblicklich die Ursache. »Fenrir!« rief Razamon und winkte. Der Wolf machte einen Satz und lief schweifwedelnd auf den Pthorer zu. Atlan atmete auf und beugte sich über Koy, der die Augen aufgeschlagen und sich benommen aufgerichtet hatte. Die Erleichterung war unbeschreiblich. Koy sah sich verstört um. »Was ist passiert, Atlan? Wo sind wir hier?« »Ganz ruhig bleiben, Koy, du bist noch schwach.« Der Trommler bewegte seine Glieder und schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht – ich fühle mich wie nach einem langen, erfrischenden Schlaf. Was ist geschehen? Ich weiß noch, daß wir auf das Dorf zutrieben und ich plötzlich einen Schmerz im Bein spürte. Aber dann …« Atlan erklärte ihm in wenigen Worten, was sie seit der Ankunft in Florgst erlebt hatten. Er verschwieg auch nicht, daß sie die Hoffnung schon fast aufgegeben hätten. »Ich kann mich also nicht einmal mehr bei diesem Kruden bedanken«, bedauerte Koy. Atlan wollte ihn zurückhalten, aber der Trommler schlug die Decken zurück und war mit einem Satz auf den Beinen. Vom Ufer aus war Fenrirs Knurren zu hören. Koy machte ein unglückliches Gesicht. »Wenn ich nur wüßte, wie ich seine Freundschaft gewinnen könnte …« Der Arkonide legte eine Hand auf Koys Schulter und winkte ab. »Das wird schon werden, vielleicht braucht er nur Zeit. Wir sollten aufbrechen, wenn du dich kräftig genug fühlst.« »Vollkommen, Atlan. Ich spüre keine
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Nachwirkungen der Vergiftung, es kann losgehen!« Koy sprang ans Ufer und entledigte sich der warmen Kleidung. Er trug nun wieder seine Kunststoffkombination mit dem Januskopf auf der Brust. Endlich war die Gruppe versammelt und marschbereit. Das Floß lag verankert am Ufer. Nur mit großer Mühe und aller Überredungskunst war es Atlan gelungen, Gloophy zum Aussteigen zu bewegen. Ihm fiel auf, daß der Bera sich immer wieder über den linken Oberarm tastete. Ihre einzige Bewaffnung bestand nach dem Verlust der Pektos in dem Messer, das Razamon in Krudens Hütte gefunden hatte. Es war Mittag, als sich die kleine Gruppe von so unterschiedlichen Wesen nach Osten hin in Bewegung setzte.
* Nach einer guten halben Stunde erkannte Bördo zu seinem Ärger, daß er genau in die falsche Richtung geflogen war. Unter ihm breitete sich wieder die Flußlandschaft des Xamyhr aus. Zu allem Überfluß reagierte das Fluggerät plötzlich nicht mehr auf die Steuerungsimpulse. Im Gegenteil begann es, in immer häufiger werdenden Intervallen für Sekunden auszusetzen. Bördo fiel jedesmal wie ein Stein in die Tiefe, bis der Antrieb wieder einsetzte und ihn mit einem schmerzhaften Ruck in die Höhe riß. Bördo flog über dem Fluß und versuchte, dem Flug die gewünschte Richtung zu geben, als der Zylinder endgültig den Geist aufgab. Bördo stürzte ab. Wenige Meter über dem steil aufragenden Ufer wurde der Knabe ein letztes Mal hochgerissen und entging nur knapp dem Aufprall. Dann kam der Boden immer schneller näher. Bördo riß instinktiv die Arme vor das Gesicht und rollte sich seitlich ab. Er stürzte in ein hinter den Uferfelsen liegendes Getreidefeld und blieb einige Minu-
ten lang benommen liegen. Langsam und vorsichtig bewegte Bördo jedes einzelne Glied, um festzustellen, ob er sich etwas gebrochen hatte. Aber wieder schien ein unbekanntes Schicksal seine schützende Hand über ihn gehalten zu haben. Bördo war unverletzt. Der Knabe stand auf und schnallte den Zylinder ab. Er schleuderte das unbrauchbar gewordene Gerät achtlos zur Seite. Vor allem mußte er in Erfahrung bringen, wo er sich befand. Vielleicht fand er eine Valjarensiedlung oder ein paar Flüchtlinge. Bördo bahnte sich seinen Weg durch das Korn, das ihm fast bis zu den Schultern reichte, bis er einen Pfad fand. Er schätzte, daß er etwa fünfhundert Meter vom Ufer entfernt war und schlug die Richtung zum Fluß ein. Er war noch nicht lange gegangen, als er die Fremden sah. Bördo machte einen Satz zurück ins Kornfeld und wartete ab, bis sie heran waren. Er hätte sie eigentlich schon beim ersten Blick erkennen müssen. Plötzlich war der Knabe ungeheuer erleichtert darüber, »Alte Bekannte« wiederzusehen. Sie würden wissen, wohin er sich zu wenden hatte. Dennoch schrak Bördo heftig zusammen, als ein riesiger Schatten das Getreide teilte und auf ihn zusprang.
* »Komm zurück, Fenrir!« »Es ist Bördo!« stieß Atlan fassungslos hervor, als der Fenriswolf die kleine Gestalt aus dem Feld zerrte. Der Junge versuchte sich loszureißen, aber Fenrir zog ihn bis zu den anderen hin. Razamon klopfte dem Wolf beruhigend gegen die Flanken. »Nichts für ungut, Bördo«, sagte Atlan. Der Knabe hatte den Schrecken schon überwunden. Er warf Fenrir einige undefinierbare Blicke zu und bemühte sich, immer einige Meter Abstand zwischen sich und dem Tier zu haben.
44 Bördo berichtete von seinem Unglück und dem Tod des Schwarzen. »Du kannst uns begleiten«, erklärte Atlan. »Wir sind auf dem Weg in die Dunkle Region.« Bördo starrte ihn ungläubig an. »Du kennst die Karte nicht, ich habe sie vernichtet, bevor …« Atlan begann zu grinsen und tippte sich vielsagend mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Ich habe sie nur kurz gesehen, aber lange genug, um sie im Kopf zu haben – wie du.« Zum erstenmal stellte Bördo die Frage: »Wer seid ihr?« Der Arkonide winkte ab. »Später, Bördo.« »Ich werde mit euch gehen. Aber ich möchte euch warnen …« »Er warnt uns!« rief Razamon grinsend. »Oha!« Atlan warf dem Gefährten einen strafenden Blick zu. Er spürte, daß Bördo nicht spaßte. »Sollten wir tatsächlich das Goldene Vlies finden, so gehört es mir. Es ist mein Erbe. Wer mich hindern will, es anzutreten, wird den Zorn meines Vaters spüren!« »Den Zorn deines Vaters Sigurd?« fragte Atlan gedehnt. Bördo fuhr zusammen. »Woher wißt ihr …?« »Es war nicht schwer zu erraten, Bördo. Keine Angst, wir werden dein Geheimnis niemandem verraten, und wir haben nur informatives Interesse am Goldenen Vlies. Niemand von uns denkt daran, dir dein Erbe streitig zu machen.« Bördo sah ihn lange an. Dann nickte der Knabe. »Ich glaube dir. Vielleicht ist es gut, euch wiedergetroffen zu haben. Auch ihr habt ein Geheimnis. Ich glaube, ihr stammt nicht von Pthor.« Atlan und Razamon wechselten einen schnellen Blick. Auch Koy war aufmerksam geworden. »Es wäre schön«, sagte der Arkonide,
Horst Hoffmann »wenn wir beide und meine Freunde die Geheimniskrämerei aufgeben und voller Vertrauen zueinander sprechen könnten, aber noch ist es nicht soweit, Bördo. Es ist auch in deinem Interesse.« Bördo nickte erneut, und er wirkte nicht wie ein Kind, als er fragte: »Ihr glaubt also auch an die neue Zeit?«
* Der Mann hockte in einem mit wertvollen Pelzen geschmückten Sessel und wartete. Er wartete darauf, daß sein Schatten zurückkehrte und ihm seinen Sohn Bördo brachte. Nach vielen Stunden wußte er, daß etwas Unvorhergesehenes geschehen war. Er begann unruhig im LICHTHAUS auf und ab zu gehen. Nach langem Ringen mit sich selbst war sein Entschluß gefallen. Schweren Herzens traf er die Vorbereitungen, um die anderen drei zu sich zu rufen. Sehr lange Zeit hatte es keinerlei Verbindung zwischen ihnen gegeben, doch nun schien die Zeit dazu gekommen. Sigurd schickte die beiden Raben Hugin und Munin los, um Honir, Balduur und Heimdall zu sich zu bitten. Die Entwicklung spitzte sich nun schnell zu. Die uralten Prophezeiungen begannen sich zu erfüllen. Alles deutete nun darauf hin, daß Ragnarök kurz bevorstand, die Götterdämmerung …
7. Es war früher Nachmittag, als sie beschlossen, eine längere Ruhepause einzulegen. Bördo zeigte nun doch deutliche Anzeichen von Erschöpfung, und auch Koy hatte eine Rast bitter nötig. Fenrir nutzte den Aufenthalt, um sich in einen nahegelegenen Wald zu schlagen und auf Jagd zu gehen. Die Gruppe befand sich inzwischen in einem unübersichtlichen Gebiet, in dem sich vereinzelte Felder und
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Waldgebiete abwechselten. Sie folgte immer noch dem Pfad, der in östlicher Richtung vom Flußgebiet weg führte. Atlan hatte einige Male versucht, von Bördo mehr über dessen Vater Sigurd zu erfahren, aber der Junge schwieg beharrlich. Der Arkonide fand sich schließlich damit ab. Größere Sorgen bereitete ihm der Bera. Gloophy war wieder aufgeschlossener geworden. Razamon beäugte ihn bereits wieder mit einer gewissen Vorsicht, als befürchtete er jeden Moment einen neuen Gefühlsausbruch des Antimateriewesens. Was Atlan jedoch nachdenklich machte, war, daß Gloophy damit begonnen hatte, den linken Oberarm mit seiner rechten Hand zu bedecken, als ob er dort etwas an sich hätte, das kein anderer sehen durfte. Atlan erinnerte sich daran, daß dies eine der Stellen war, an die sich das Vogelwesen mit Vorliebe gekuschelt hatte. Noch wußten sie eigentlich kaum etwas über den Bera. Gewisse Reaktionen zeigten allerdings, daß sie es mit einem überaus hochentwickelten Intelligenzwesen zu tun hatten. Sie würden die Wahrheit über den Bera erst erfahren, wenn Gloophy das Pthora endgültig beherrschte. Bördo verschwand für kurze Zeit hinter einer Dornenhecke und kehrte mit einer Handvoll dunkelroter Beeren zurück. Atlan und Razamon probierten davon und pflückten sich selbst einige, bis sie einigermaßen gesättigt waren. Als Fenrir zurückkehrte, brachen sie erneut auf. Vor ihnen lag ein kleiner Hügel. Erst als sie die Kuppe erreicht hatten, sahen sie die Valjaren.
* Es waren mindestens dreißig Männer. Sie kamen ihnen auf dem Pfad entgegen. Schon auf den ersten Blick sah Atlan, daß sie im Vergleich zu den Einwohnern Florgsts wahre Hünen waren. Kaum einer von ihnen war kleiner als einen Meter achtzig. Atlan sah seine Vermutungen bestätigt, daß es gravie-
rende Unterschiede zwischen den einzelnen Valjarenstämmen gab. Vielleicht waren diese Unterschiede sogar künstlich herbeigeführt worden, je nach dem Schwierigkeitsgrad der für die FESTUNG zu erledigenden Arbeiten. Für Atlan stand fest, daß Bördo aus der Verbindung zwischen Sigurd und einer Valjarin – vermutlich aus Skarlotto – hervorgegangen war. Anders war Krudens Rolle als Großvater nicht zu deuten. Die hochgewachsene Gestalt des Jungen hatte ihn von Anfang an daran zweifeln lassen, daß seine Mutter zu den kleinwüchsigen Valjaren gehörte, die man in Florgst kennengelernt hatte. Die Valjaren waren stehengeblieben. Sie hatten sie ebenfalls gesehen, und für ein Ausweichen war es zu spät. »Ich kenne sie«, sagte Bördo. »Einige von ihnen kommen aus Skarlotto. Ihr werdet Schwierigkeiten mit ihnen bekommen. Sie sind gefährlich.« »Wir werden mit ihnen fertig«, murmelte der Arkonide. Razamon trat an seine Seite. »Wir haben nur das Messer, Atlan. Sieh sie dir an. Jeder von ihnen hat eine Keule oder sonst etwas in der Hand, das sich als Waffe eignet. Wieso glaubst du, daß sie Schwierigkeiten machen werden, Bördo?« »Sie kennen mich, und sie kennen Kruden. Sie betrachten uns als ihr Eigentum.« »Ihr Eigentum?« fragte Atlan. »Sie glauben, durch uns eines Tages den Weg zum Goldenen Vlies zu finden.« »Sie träumen also auch diesen Traum?« »Jeder Valjare träumt ihn.« Razamon stieß laut die Luft aus. »Also dann …« Sie stiegen den Hügel hinab, wo die Valjaren auf sie warteten. Die Männer gestikulierten eifrig untereinander. Sie schienen sich noch unschlüssig darüber zu sein, was sie von den Fremden zu halten hatten. Als sie nur noch etwa zwanzig Meter entfernt waren, trat einer der Valjaren vor. Er schrie so laut, daß Atlan und seine Freunde
46 jedes Wort verstanden. »Das ist Bördo!« brüllte der Valjare. »Krudens Enkel! Sie haben ihn entführt, während wir weg waren! Sie wollen ihn zwingen, ihn zum Goldenen Vlies zu führen!« »Schwachsinn!« stöhnte Razamon. »Vorsicht!« warnte Bördo. »Sie sind Valjaren aus Skarlotto und den benachbarten Dörfern. Sie sind mit ihren Familien vor der Flut geflohen und kehren nun, da die größte Gefahr vorüber ist, zurück. Ihr habt nur die Valjaren in Florgst kennengelernt, dumme, einfältige Burschen. Diese hier sind nicht so harmlos. Sie werden kämpfen, um mich behalten zu können.« »Du meinst, sie betrachten dich tatsächlich als etwas, über das nur sie verfügen können? Als eine Art Schlüssel zum Goldenen Vlies?« »Ich sagte es euch bereits.« »Ich fürchte, du wirst ihnen nicht die Geschichte von unserer geheimen Mission erzählen können«, sagte Razamon zu Atlan. »Es sieht ganz nach einer Rauferei aus.« Atlan nickte grimmig. Einen Augenblick lang wünschte er, Razamon würde noch einmal einen seiner Anfälle bekommen. Er würde eine ganze Armee ersetzen. Die Valjaren setzten sich nun ebenfalls in Bewegung, so daß die beiden Gruppen auf halbem Wege aufeinandertrafen. »Ihr habt ihn geraubt!« rief ihnen ein stämmiger, untersetzter Mann, der offenbar der Führer der Eingeborenen war, entgegen. »Ihr seid Plünderer und glaubtet, durch die Flut ein leichtes Spiel mit uns zu haben, aber ihr habt euch verrechnet.« Atlan machte eine beschwichtigende Geste. »Nicht doch, Freunde, ihr seid im Irrtum.« »Hört nicht auf ihn!« rief ein anderer Valjare aus dem Hintergrund. »Bördo hätte seinen Großvater niemals freiwillig verlassen!« »Erzählt ihnen nicht, daß Kruden tot ist«, flüsterte Bördo Atlan schnell zu, »sonst bringen sie euch um!«
Horst Hoffmann »Kannst du sie beruhigen, Bördo?« »Sie sind furchtbar erregt. Die Flut hat fast alle ihre Felder auf der anderen Flußseite zerstört, vom Dorf ganz abgesehen. Sie müssen den Zorn der FESTUNG fürchten.« »Versuche es, Bördo, sonst fliegen hier gleich die Späne!« Der Knabe warf Atlan einen fragenden Blick zu. Er verstand die Redewendung nicht, begriff aber offenbar, was der Arkonide ausdrücken wollte. Bördo trat vor und stellte sich zwischen die beiden sich belauernden Gruppen. Die Valjaren standen dicht beieinander in Angriffsstellung, die Knüppel in der Hand. Atlan machte sich keine allzugroßen Hoffnungen auf den Ausgang des unvermeidbar scheinenden Kampfes. »Fenrir ist verschwunden«, hörte er Razamon leise flüstern. Jetzt hob Bördo beide Hände und sah die Valjaren beschwörend an. »Diese Fremden sind weder Plünderer, noch haben sie mich entführt, um zum Goldenen Vlies zu gelangen. Wenn ihr mir nicht glauben wollt, so geht und fragt Kruden, meinen Großvater. Er wird euch alles bestätigen.« Einen Moment lang herrschte Schweigen in der Valjarengruppe. Die Männer starrten den Knaben ungläubig an, und Atlan schöpfte bereits Hoffnung auf eine friedliche Einigung. Er hatte keine Angst vor einem Kampf, aber er wollte um jeden Preis Blutvergießen verhindern. Es war schon genug Unheil über diese Wesen gekommen. Auch Bördo hatte dies begriffen. Atlan konnte sich vorstellen, daß es dem Jungen nicht leichtfiel, seinen toten Großvater zu derartigen Ausreden zu mißbrauchen. Bördo hielt sich tapfer und versuchte das beste aus ihrer Situation zu machen. Aber die Reaktion der Valjaren fiel anders aus als erwartet. »Sie haben dich gezwungen zu lügen!« fuhr der Anführer der Valjaren Bördo an. »Wir haben Kruden gefunden. Sein Leichnam wurde wenige Kilometer flußabwärts an Land gespült. Nun wissen wir, wer seine
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Mörder sind!« »Die sind doch verrückt!« entfuhr es Razamon. Ehe Atlan den Gefährten zurückhalten konnte, war der Atlanter vorgesprungen und hatte den erstbesten Valjaren an seinem Wams gepackt. Es war das Signal zum Kampf. Die Horde der Eingeborenen begann laut zu grölen und stürmte auf die Gefährten zu. Im gleichen Augenblick ertönte hinter den Valjaren ein langgezogenes Heulen. Atlan, Razamon und Koy waren ohne Chance gegen die drückende Übermacht, die noch dazu bewaffnet war. Bördo wurde von drei Valjaren zur Seite gezerrt, aber der Arkonide konnte nicht auf ihn achten. Er mußte ein halbes Dutzend Fäuste abwehren, die auf ihn und Razamon niedergingen. Es schien ein aussichtsloser Kampf zu sein, zumal Gloophy sich vollkommen zurückhielt und Koy bereits am Boden lag. Er hatte nicht einmal mehr Zeit gehabt, seine Broins einzusetzen.
* Fenrir schoß wie ein Blitz auf die Valjaren zu und warf ein halbes Dutzend Männer auf einmal zu Boden. Er wütete furchtbar unter den Eingeborenen, die gegen ihn nicht den Hauch einer Chance hatten. Atlan stieß einen verzweifelten Fluch aus. »Nicht töten, Fenrir!« rief er dem riesigen Wolf zu. Fenrir spitzte die Ohren und lauschte einen Augenblick. Atlan rief ihm noch einmal zu, daß er die Valjaren schonen sollte. Der Fenriswolf schien ihn zu verstehen, denn er begnügte sich nun damit, die Männer durch Anspringen zu Boden zu werfen oder zu verjagen. Aber die Valjaren waren zäh. Atlan und Razamon wehrten sich mit Händen und Füßen gegen die Fäuste und Knüppel. Der Arkonide war sich der Zwickmühle, in der sie steckten, bewußt. Einerseits wäre der Kampf schnell für sie entschieden, wenn Fenrir aufs Ganze ging. Das aber bedeutete den Tod
vieler Eingeborener, die letztlich aus reiner Verzweiflung und im Glauben, Plünderer vor sich zu haben, angriffen. Andererseits aber würden Razamon und der Arkonide allein niemals mit der Übermacht fertig werden. Der Atlanter wütete zwar unter den Männern, aber es war nur eine Frage der Zeit, wann sie ihn überwältigt hatten. Spätestens dann würde Atlan den Fenrir gegebenen Befehl zurücknehmen müssen. Die Rauflust der Valjaren kannte keine Grenzen. Sie schienen durch die Prügelei erst richtig auf den Geschmack gekommen zu sein. Und das war für Atlan der Ausweg aus seinem Gewissenskonflikt und für viele Eingeborene die Rettung. Aus dem Haufen der Kämpfenden kam plötzlich eine dunkle, heisere Stimme: »Ich sehe den Knaben nicht mehr, wo habt ihr ihn hingebracht?« »Es waren drei von Mürrtelns Leuten! Sie wollen ihn für sich!« »Redet kein dummes Zeug«, grollte eine andere Stimme. »Wir müssen zuerst mit den Plünderern fertig werden, dann können wir uns streiten.« Atlan war einen Moment lang verwirrt. Das genügte einem Valjaren, um ihn mit einem wohlgezielten Faustschlag ans Kinn zu Boden zu strecken. Atlan sah, daß Razamon hinzusprang und ihn abschirmte, so gut es ging. Wie aus weiter Ferne hörte er die Schreie der Eingeborenen. »Das könnte euch Burschen aus Kraltessa so passen! Während wir uns hier aufhalten, verschleppen eure Kumpane den Jungen und rauben das Goldene Vlies!« »Sag das noch einmal!« brüllte ein anderer. Und dann war die Prügelei unter den Valjaren bereits in vollem Gang. Bald waren sie so miteinander beschäftigt, daß sie die »Plünderer« völlig vergaßen. »Komm«, flüsterte Razamon und reichte Atlan die Hand. Der Arkonide griff zu und ließ sich hochziehen. »Wir verschwinden, bevor sie ihre Mei-
48 nungsverschiedenheiten beigelegt haben. Eigentlich komme ich mir ziemlich feige vor …« »Und wenn schon«, murmelte Atlan noch ein wenig benommen. »Lieber ein ehrenvoller Rückzug als ein halbes Dutzend zerfleischte Valjaren.« Etwa fünfundzwanzig Meter zu ihrer Linken begann ein kleiner Wald. Die Gefährten schlichen sich leise über das Feld, bis sie die ersten Bäume erreicht hatten. Fenrir blieb bis zuletzt im Knäuel der Kämpfenden, ohne großen Schaden anzurichten. Die Beschimpfungen der Eingeborenen waren bis in den Wald hinein zu hören. Ganz offensichtlich hatten sich zwei Gruppen gebildet, eine, die sich aus den Bewohnern des Dorfes Skarlotto zusammensetzte, und eine andere, deren Mitglieder ihre eigenen Ansprüche auf Bördo geltend machten. Aber von dem Jungen war weit und breit nichts zu sehen. »Wir sollten Fenrir loschicken, um nach Bördo zu suchen«, meinte Razamon. »Du hast recht«, stimmte Atlan dem Vorschlag zu. Sie umgingen die kämpfenden Valjaren in weitem Bogen. Fenrir verschwand im Dickicht und kam in einigen hundert Metern vor ihnen hinter den Eingeborenen wieder zum Vorschein, überquerte in gewaltigen Sätzen das Feld und den Pfad und verschwand hinter dichtem Gebüsch in Richtung Flußufer. »Diese Burschen sind tatsächlich reizend«, brummte Razamon, als sie sich weiter durch den Wald schlichen, immer darauf bedacht, in sicherer Deckung zu bleiben, bis sie weit genug von den Kämpfenden entfernt waren. Koy blieb dicht hinter Atlan. Nur Gloophy bereitete der Weg durch das teilweise sehr dichte Unterholz einige Schwierigkeiten. Aber er begriff, worauf es ankam. Atlan mußte unwillkürlich schmunzeln, als er sich einmal nach dem Bera umsah. Gloophys Bewegungen wirkten grotesk, wenn er versuchte, durch Ducken und Niederlassen auf alle viere zufälligen Blicken der Valjaren zu entgehen.
Horst Hoffmann Die Valjaren waren tatsächlich immer noch so mit sich beschäftigt, daß sie vor lauter Ehrgeiz, dem jeweiligen Gegner auf ihre ganz spezielle Art und Weise ihren Standpunkt klarzumachen, Atlan und seine Begleiter vollkommen vergessen zu haben schienen. Erst als die kleine Gruppe eine Anhöhe überquert und auf der anderen Seite des Waldes einen zweiten Weg gefunden hatte, der in die gleiche Richtung führte, hörten sie die zornigen Rufe der Eingeborenen, aber ihr Vorsprung war jetzt groß genug, und die Valjaren würden lange suchen müssen, um ihre Spur zu finden. »Machen wir, daß wir hier wegkommen«, sagte Atlan. »Fenrir wird uns schon finden.« Es war Razamon anzusehen, daß er gerne noch ein wenig im Knäuel der Kämpfenden »mitgemischt« hätte, aber der Atlanter folgte ohne Widerspruch.
* Es dauerte zwei Stunden, bis der Fenriswolf zurückkehrte. Er war der Spur der Gruppe gefolgt. Mittlerweile hatten die Freunde etwa fünfzehn Kilometer zwischen sich und den Schauplatz des Kampfes gebracht. Atlan schätzte, daß sie spätestens in einer weiteren Stunde die Dunkle Region erreichen würden. Fenrir lief schweifwedelnd um Atlan und Razamon herum, als ob er versuchte, ihnen etwas mitzuteilen. »Wenn er nur reden könnte«, brummte Razamon. »Jetzt wissen wir nur, daß er Bördo nicht mehr hat zurückbringen können, aber wir haben keine Ahnung, was mit dem Jungen passiert ist.« »Fenrir hätte ihn uns gebracht, wenn er noch für ihn erreichbar gewesen wäre, das heißt: an Land. Ich nehme an, daß die drei Valjaren ihn zu einem ihrer Boote am Ufer geschleppt und über den Fluß in Sicherheit gebracht haben.« »Eine schöne Sicherheit«, brummte der Pthorer mürrisch. »Sie werden ihn ausquet-
Traum der Valjaren schen, bis er ihnen den Weg zum Goldenen Vlies zeigt.« Atlan wirkte nachdenklich. »Ich möchte wissen, welche tiefere Bedeutung hinter dem Traum der Valjaren steckt. Ein ganzes Volk träumt Nacht für Nacht den gleichen Traum, immer wieder, das ist unvorstellbar.« »Ist es nicht möglich, daß es das Goldene Vlies nur in ihrer Phantasie, eben in ihren Träumen gibt?« fragte Razamon. »Und die Mythologien der Menschheit? Die Valjaren sind rauhe Burschen, aber sie machen mir nicht den Eindruck, daß sie bei den Einfällen von Pthor mit den Horden der Nacht auf die Kontinente der besuchten Welten strömen und dort Tod und Vernichtung säen würden. Es ist unwahrscheinlich, daß Menschen der Erde beim letzten Besuch Pthors auf unserer Welt Kontakt mit Valjaren hatten, die ihnen von ihrem Traum erzählten. Nein, Razamon, ich bin fest davon überzeugt, daß es dieses Goldene Vlies gibt, auch wenn sich etwas ganz anderes dahinter verbergen mag, als wir aufgrund unserer Kenntnisse von den alten Legenden her annehmen.« »Ob es etwas mit den uralten Prophezeiungen zu tun hat, die sich angeblich zu erfüllen beginnen?« Atlan zuckte die Schultern. »Das werden wir erst wissen, wenn wir das Vlies gefunden haben.« Damit war das Gespräch zunächst beendet. Atlan sah sich nach Koy um. »Wie geht es dir jetzt?« fragte er den Trommler. »Spürst du wirklich keine Nachwirkungen der Vergiftung?« »Immer noch nicht«, versicherte Koy. »Ich habe diese Angelegenheit längst vergessen. Aber jemand anders scheint Schwierigkeiten zu haben …« Koy warf Gloophy, der schweigend neben ihm hertrottete, einen bezeichnenden Blick zu. Der Bera hielt sich wieder eine ganz bestimmte Stelle am linken Oberarm zu. »Ich habe vor einigen Minuten, als er einen Augenblick unachtsam war, einen
49 Blick darauf werfen können«, flüsterte Koy dem Arkoniden zu, so daß Gloophy ihn nicht verstehen konnte. Der Bera brachte mittlerweile, wenn er einmal sein Schweigen unterbrach, immer mehr zusammenhängende Sprachbrocken hervor. Äußerlich machte er den Eindruck, als marschierte er ohne viel Anteilnahme hinter den anderen her, aber seine Reaktionen und Worte ließen immer wieder durchblicken, daß er die Gefährten in Wirklichkeit genauestens beobachtete. Er registrierte jedes ihrer Worte, und es war anzunehmen, daß er vieles von dem, was sie sagten, verstand. »Und?« fragte Atlan ebenso leise zurück. »Es war nicht genau zu erkennen, aber es sah so aus, als ob sein Velst-Schleier an dieser Stelle von einem weißlichen Gespinst bedeckt wäre …« Atlan musterte Koy nun genauer. Das Gesicht des Trommler drückte unverkennbar Unbehagen aus. »Du weißt etwas«, sagte der Arkonide ohne Umschweife. »Hat es mit dem Vogel zu tun?« Koy schrak heftig zusammen und lief fast gelblich an – was wohl das Pendant von einem menschlichen Erröten war. »Ich hätte es wissen müssen, als wir den Stelzer an Bord des Floßes nahmen. Das Tier kam mir gleich irgendwie bekannt vor, aber erst jetzt fiel mir ein, woher ich …« Koy blickte den Arkoniden unglücklich an, als ob er ihn bitten wollte, ihn mit weiteren Fragen zu verschonen. Atlan tat ihm den Gefallen. Scheinbar stellten diese »Stelzer« nicht nur für Valjaren ein Tabu dar, über das man nach Möglichkeit nicht redete. »Also schön, Koy. Nur eines: ist Gloophy in Gefahr? Ich meine, ist das, was an seinem Arm wuchert, vielleicht sogar lebensgefährlich? Du weißt, was geschieht, wenn der Velst-Schleier gesprengt würde …« Koy wand sich hin und her, bis er sich zu einer Antwort entschlossen hatte. »Ich kann dir nichts sagen, so gern ich euch helfen würde. Auch ich weiß nur, was
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man sich dann und wann über diese Tiere erzählte. Nein, unser Freund befindet sich nicht direkt in Gefahr, aber …« Langsam riß Atlan die Geduld. »Was bedeutet das ›aber‹?« »Ich befürchte, Gloophy ist … schwanger …«
* Atlan benötigte einige Minuten, um diese Auskunft zu verdauen. »Bist du sicher, daß du die Vergiftung auch wirklich gut überstanden hast? Es handelte sich immerhin um ein Nervengift, und vielleicht …« »Ich bin völlig gesund«, sagte Koy etwas zu heftig, denn sofort blieb Fenrir, der neben Razamon voranging, stehen und begann wütend zu knurren. Koy blieb augenblicklich einige Schritte zurück. Atlan klopfte ihm beruhigend auf die Schulter und vermied es, das Thema nochmals anzuschneiden. Um so mehr beschäftigte es seine Gedanken. Schwanger? Wie konnte ein Wesen, das von einem undurchdringlichen Schleier umgeben war, durch die Berührung mit einem anderen Wesen »schwanger« werden? Nach einigem Nachdenken gelangte der Arkonide zu dem Schluß, daß Koy mit dem Begriff »schwanger« etwas anderes gemeint hatte. Aber irgend etwas ging mit Gloophy vor sich. Er kam nicht mehr dazu, weitere Überlegungen anzustellen, denn plötzlich hob Razamon die Hand und deutete nach vorne. Der Pthorer brauchte nichts zu sagen. Am Horizont schien eine schwarze Wand aufzuragen – die Dunkle Region. Atlan dachte an Bördo. Er vermißte den Jungen, und das nicht nur, weil er ihnen wahrscheinlich viele Mühen auf dem Weg zum Goldenen Vlies erspart hätte. Der Arkonide mußte an Krudens Warnung denken. In den wenigen Stunden des Zusammenseins hatte er den Knaben liebgewonnen.
Als er daran dachte, was die Valjaren nun, nach Krudens Tod, mit ihm anstellen würden, überkam ihn eine ohnmächtige Wut. Wie würde Bördos Vater Sigurd auf das Ausbleiben seines Sohnes reagieren? Viele Fragen beschäftigten den Arkoniden, und vielleicht würde die Dunkle Region ihnen einige Antworten geben. Atlan spürte nicht nur, er war sicher, daß bald etwas Entscheidendes geschehen würde, denn Razamon klagte wieder über heftige Schmerzen in seinem unsichtbaren Zeitklumpen. Der Atlanter erklärte wieder, daß er dies für ein besonderes Zeichen hielt. Sie marschierten auf die schwarze Wand zu – ins Ungewisse.
EPILOG Heimdall Der erste, dem die beiden Raben Sigurds Nachricht überbrachten, war Heimdall, Odins ältester Sohn. Heimdall zögerte keine Sekunde, dem Ruf Sigurds zu folgen. Er begann damit, seinen Bunker zu versiegeln, und legte seine Ausrüstung an. Mit finsterem Blick durchstreifte er noch einmal die Gänge und Räume des Lettro und betrachtete seine Schätze. Vor dem Gestell mit den Parraxynth-Bruchstücken blieb Heimdall eine Weile stehen und dachte über die Botschaft Sigurds nach. Nach vielen langen Jahren des Wartens schien die neue Epoche zu beginnen, die das Göttergeschlecht zu neuem Glanz führen sollte. Heimdall nahm die Khylda an sich und verabschiedete sich von Kröbel, dem »skullmanenten Magier« und einzigen Wesen, das Heimdall in seinem Bunker duldete. Dann bestieg er ein kleines Kettenfahrzeug und machte sich auf den Weg. Honir Als zweiter empfing Honir die Botschaft. Auch Honir, in Wahrheit Odins Tochter Thalia, die sich hinter einer gewaltigen Rü-
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stung und männlichem Auftreten verbarg, zögerte nicht, dem Ruf des Bruders zu folgen. Honir legte die schwere Rüstung an und sorgte dafür, daß während seiner Abwesenheit niemand in das Schloß Komyr eindringen konnte. Dann trat er in den Schloßhof und bestieg die Windrose, jene radähnliche Konstruktion, mit der er seine Kontrollfahrten über seinen Abschnitt der Straße der Mächtigen zwischen Zbahn und Orxeya unternahm. Honir dachte nur kurz daran, daß die Straße der Mächtigen nun für unbestimmte Zeit ohne Schutz war. Wenn Sigurd ihn zu sich rufen ließ, mußte es sich um eine Angelegenheit von äußerster Wichtigkeit handeln. Und das, so wußte auch Honir, konnte nur die langersehnte Götterdämmerung sein … Balduur Als letzten der Göttersöhne suchten Hugin und Munin Balduur in seinem Heim an der Straße der Mächtigen zwischen Wolterhaven und Orxeya auf. Balduur vernahm die Botschaft schweigend und ohne besondere Reaktion. Immer noch litt er unter dem Verlust seiner geliebten Opal, obwohl er seit ihrem Tod endlich seine alte Kraft und Gesundheit zurückerlangt hatte. Balduur konnte nun auch tagsüber sein Heim verlassen, da seine Lebensenergie nicht mehr ange-
zapft wurde. Aber er war nicht glücklich. Noch größere Qualen als Opals Tod bereitete ihm das Verschwinden des Fenriswolfs, der ihm seit undenkbaren Zeiten ein treuer und unersetzlicher Freund und Gefährte gewesen war. Balduur mußte annehmen, den Wolf getötet zu haben. Aber all dies trat weit zurück, als die Raben die Botschaft seines Bruders Sigurd brachten. Balduur legte seine Rüstung an und versiegelte sein Heim. Dann bestieg er ein Yassel und machte sich auf den langen Weg. Auch Balduur hatte seine volle Kampfausrüstung angelegt. Er wußte nicht mehr über Sigurds Beweggründe, nach langer Zeit Verbindung zu den anderen Göttersöhnen aufzunehmen, als ihm die beiden Raben mitgeteilt hatten. Und das war nicht viel. Balduur wußte nur eines, und auch hier ging es ihm wie Honir und Heimdall, die, unabhängig voneinander, Sigurds LICHTHAUS zustrebten. Sie würden all ihre Kraft brauchen, wenn die Zeichen sich zu erfüllen begannen. Wenn Ragnarök kam, mußten sie zusammen sein, um mit vereinter Kraft den Mächtigen der Finsternis trotzen zu können …
ENDE
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