Deutsche Erstveröffentlichung
Der Tunnel durchs All
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Deutsche Erstveröffentlichung
Der Tunnel durchs All
von Kurt Mahr 1. Roger Staff beobachtete von einem bequemen Sitz der Schiffsbar, wie die Natomas Star sich unter dem sanften, behutsamen Griff des Kontrollfeldes auf die weite Landefläche der Raumstation Erde IV niederließ. Nachdem das Fahrzeug mit kaum merkbarem Ruck gelandet war, ließ er sich Zeit, sein Glas zu leeren. Dann glitt er zur Mittelschleuse und stieg aus. Unweit des Landeplatzes schimmerte der Leuchtbogen eines Transportfeldeingangs. Roger schritt darauf zu. Er warf einen kurzen, uninteressierten Blick auf die flache Gruppe von Gebäuden, die sich am Horizont unter die gläserne Wand der Energiekuppel zu ducken schienen, und trat durch den Leuchtbogen. Noch im selben Augenblick wußte er, daß er in eine Falle gegangen war. Das Gefühl des freien Falls, das bei der Benutzung eines Transportfeldes typischerweise für den Bruchteil einer Sekunde auftrat, war nicht zu spüren. Statt dessen empfand Roger stechenden Schmerz, der ihm von oben nach unten durch den Körper drang, als triebe jemand eine glühende Nadel quer durch ihn hindurch. Er schrie auf und machte inmitten der Finsternis, die ihn umgab, wütende, unkontrollierte Abwehrbewegungen. Aber der Schmerz blieb. Roger ging die Luft aus. Mit dem Rest von Logik, über den er noch verfügte, machte er sich klar, daß jeglicher Widerstand vorerst unnütz war. Er gab auf, gegen das Unsichtbare zu kämpfen, und überließ sich stoisch der bodenlosen Finsternis. Nach einer Zeitspanne, die er auf zehn bis zwölf Sekunden schätzte, tauchte ein Licht vor ihm auf. Nach der Art, wie es heller wurde, bestimmte Roger, daß er sich mit beachtlicher Geschwindigkeit auf die Lichtquelle zubewegte. Der Prozeß der Bewegung aber war im Innern eines Transportfeldes normalerweise unbeobachtbar. Jemand hatte das Feld angezapft und ihm daraus eine Falle gebaut. Er glitt in einen kleinen, hellerleuchteten Raum. Der Schmerz wich, und Oben und Unten waren plötzlich wieder zwei leicht voneinander unterscheidbare Richtungen. Der Raum war leer. Es gab keine Tür, und als Roger sich nach zwei Sekunden der ersten Verwirrung umwandte, sah er, daß auch die Öffnung verschwunden war, durch die das verborgene Transportfeld ihn hereingeschafft hatte. Eine dumpfe Stimme klang auf.
„Roger Staff! Höre mir zu…“ Roger wich zurück an die Wand, bis er deren glattes, kühles Material unter den Fingerspitzen fühlte. Die Stimme fuhr fort zu sprechen. Roger zwang sich dazu, sie nicht anzuhören. Er war weit genug im Raum herumgekommen, um zu wissen, was der Unbekannte mit ihm vorhatte. Der kleine Raum, die dumpfe, vibrierende Stimme, die gleichmäßige, gelbliche Beleuchtung – all das waren die unverkennbaren Charakteristiken eines hypnotischen Experiments. Er steckte die Finger in die Ohren und trieb sie so weit, daß sie gegen das Trommelfell preßten und wilden Schmerz hervorriefen. Aber das dröhnende Vibrieren der Stimme erfüllte jeden Kubikzentimeter seines Körpers, und die Worte drangen ihm ins Bewußtsein, wie sehr er sich auch durch selbsterzeugten Schmerz davon abzulenken versuchte. „Du wirst den Orlog‐Auftrag nicht annehmen, Roger Staff…“ „Du wirst vergessen, Roger Staff…“ „Du wirst Erde IV sofort verlassen, Roger Staff…“ Roger wußte nicht, wie lange die ständig wiederholten Befehle auf ihn eingeprasselt waren, als sein Verstand den heroisch aufrechterhaltenen Widerstand aufgab und ihm das Bewußtsein schwand. * Er trat aus dem Leuchtbogen und wandte sich der Natomas Star zu. Die Anzeigetafel, die sich am Rand des Landefeldes aus dem glatten, grauen Kunststoffboden erhob, zeigte mehrere Reihen grüner Kontrollichter als Zeichen dafür, daß die nach jeder Landung vorgeschriebenen Überprüfungen des Fahrzeugs durchgeführt worden waren. Roger öffnete das Außenluk der Mittelschleuse und empfand, als er sich vor Betreten des Schiffes ein letztesmal umsah, ein leises Gefühl der Verwirrung. Er hatte nur eine nebelhafte Vorstellung davon, warum er nach Erde IV gekommen war, und die Gründe, die er sich für seine eilige Abreise zurechtgelegt hatte, erschienen ihm verdreht und an den Haaren herbeigezogen. „Kommt dir nicht ganz geheuer vor, wie?“ sagte eine meckernde Stimme ganz in seiner Nähe. Er fuhr herum. Um die Rundung des Schiffskörpers schob sich die kleine, verwachsene Gestalt eines Mannes, der auf sein Äußeres schon seit Jahren keinen Wert mehr gelegt zu haben schien; denn seine Kleidung war schäbig, das strähnige, schwarzgraue Haar hing ihm wirr vom Kopf, und einer der Strumpfstiefel hatte an der Spitze ein Loch, durch das ein paar ungewaschene Zehen hervorschauten. „Kalix’…?“ „Genau der. Und bevor wir die Unterhaltung fortsetzen…“ Er trat einige Schritte zurück und hob die Arme, als wolle er Roger seinen Segen erteilen. In dieser Haltung sprach er feierlich die Worte: „Kleopatra empfing Marcus Antonius in ihrem Palast am Nil…“ Ein seltsames Gefühl überkam Roger. Er empfand einen Drang, auf Kalix’ seltsame Äußerung zu antworten. Wie hieß die Antwort? Sie war immer dieselbe. Die Worte
drängten sich ihm auf die Zunge. „… und verführte ihn innerhalb der ersten Stunde!“ Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, da gab es in seinem Schädel einen Ruck. Ein Lichtstrahl wie von der grellsten aller Sonnen fuhr in sein Bewußtsein und tauchte die Erinnerungszentren, die der hypnotische Bann in Schlaf versetzt hatte, in schmerzhafte Helligkeit. Roger erinnerte sich. Er sah sich durch den leuchtenden Bogen das Transportfeld betreten. Er fühlte den stechenden Schmerz, der ihn durchfuhr, und er hörte von neuem die dröhnende Stimme, die auf ihn eingeredet hatte, bis er sich nicht mehr daran erinnern konnte, weshalb er nach Erde IV gekommen war, und ihm nichts Besseres mehr einfiel, als so schnell wie möglich wieder zu starten und die Raumstation hinter sich zu lassen. Kalix’ beobachtete ihn mit gespanntem fast lauerndem Gesichtsausdruck. „Hat gewirkt, wie?“ erkundigte er sich. Roger nickte. Sein Bewußtsein war auf den Kodesatz trainiert. Hypnotische Blöcke ließen sich durch das eigenartige Frage‐ und Antwortspiel, das er soeben mit Kalix’ zelebriert hatte, mühelos entfernen. Es war nicht das erstemal, daß Kalix’ seinem Herrn auf diese Weise aus der Klemme geholfen hatte. „Eines ist mir immer noch unklar“, gestand Roger. „Du riefst mich nach Erde Vier. Warum?“ Kalix’ schmunzelte. „Ein paar gewichtige Leute möchten mit dir reden. Es handelt sich um einen bedeutsamen Auftrag.“ „Orlog?“ Kalix’ riß die Augen auf. „Woher weißt du…?“ „Der hypnotische Befehl hieß: Du wirst den Orlog‐Auftrag nicht annehmen.“ Kalix’ schüttelte den Kopf. „Sie haben irgendwo einen Spion. So wahr wie ich hier stehe, sie haben einen Spion.“ „Wer ,sie’?“ Anstatt zu antworten, fragte Kalix’: „Du weißt, wer Orlog ist, nicht wahr?“ „Eines der bedeutendsten interstellaren Handelsunternehmen.“ „Richtig. Und was macht sie so bedeutend?“ „Alao, habe ich gehört.“ „Das ist richtig. Seit vierzig Jahren handeln sie mit Alao, und im Augenblick macht der Alao‐Handel rund neunzig Prozent ihres Gesamtumsatzes aus. Deswegen sind sie so gut wie bankrott.“ Roger lachte. „Ich nehme keine Aufträge von bankrotten Firmen an. Außerdem…“ „Du wirst diesen annehmen“, unterbrach ihn Kalix’. „Selbst fünf Minuten vor dem Konkurs hat Orlog noch mehr Geld, als deine habgierige Seele sich je träumen ließ.“ „Mag sein. Aber…“ „Bitte zu entschuldigen, daß ich dir andauernd ins Wort falle“, sagte Kalix’, „aber Nadelman wartet schon seit geraumer Zeit. Er ist übrigens der einzige, der dir auf
alle Fragen Auskunft erteilen kann.“ „Nadelman?“ „Aufsichtsratsvorsitzender von Orlog“, bestätigte Kalix’. * Die Büroräume der Orlog‐Gesellschaft befanden sich im dritten Stockwerk des Hauptverwaltungsgebäudes von Erde IV. Sy Nadelmans Arbeitsraum – oder doch wenigstens das Büro, das für ihn hergerichtet wurde, wann immer er auf Erde IV auftauchte – war ein verhältnismäßig kleiner Raum, der nichts von der Machtvollkommenheit seines Benutzers ahnen ließ und vom Summen elektronischer Störgeräte so erfüllt war, daß selbst die Luft zu zittern schien. Orlog hatte auf diese älteste und zugleich sicherste Methode zurückgegriffen, um unbefugten Augen und Ohren das vorzuenthalten, was in Sy Nadelmans Allerheiligstem vor sich ging. Die Rückwand des Raumes, vor der Nadelmans bescheidener Schreibtisch stand, wurde von einem großen Fernsehschirm eingenommen. Hätte sich anstelle des Schirms ein Fenster befunden, so wäre dem Betrachter derselbe Anblick geboten worden, nur verlangten die Sicherheitsvorschriften von Orlog, daß der Raum, in dem der Aufsichtsratvorsitzende geschäftliche Dinge besprach, an allen sechs Oberflächen aus undurchdringlichem Dichtstahl bestehen müsse. Das Bild, das Roger sah, als er mit Kalix’ den summenden Raum betrat, war die blaue, von weißen Wolkenflächen überzogene Scheibe der Erde, um die die Raumstation Erde IV sich im Verein mit ihren acht Schwestern in einem Abstand von knapp einhunderttausend Kilometern drehte. Sy Nadelman war ein älterer Mann von mittlerer Größe und gepflegtem Äußeren. Er erhob sich nicht, als Roger und Kalix’ eintraten, sondern wies ernst auf zwei Sessel, die vor seinem Schreibtisch standen. „Ich bedaure, daß Sie mich so lange warten lassen mußten“, eröffnete er die Unterhaltung. Roger zuckte mit den Schultern. „Manchmal“, antwortete er, „ist der Mensch nicht Herr seiner Zeit.“ „Hatten Sie Schwierigkeiten?“ „Ja. Jemand schnappte mich, bevor ich hierherkommen konnte.“ „Auf dieser Station?“ „Auf dieser Station.“ Falls diese Nachricht Nadelmann beunruhigte, so ließ er sich nichts anmerken. „Um so wichtiger, daß wir miteinander ins Geschäft kommen“, bemerkte er gelassen. „Sie kennen die Geschichte meiner Firma?“ „In Umrissen“, antwortete Roger. „Orlog handelt fast ausschließlich mit Alao.“ „Das ist richtig“, bestätigte Nadelman. „Außerdem ist Orlog so gut wie pleite“, fuhr Roger ungerührt fort. Nadelman biß sich auf die Lippe. „Auch das ist richtig“, gab er zu. „Ich wünschte nur, Sie wollten sich etwas gewählter ausdrücken. Es ist nicht unsere Schuld, daß Orlog am Rande des Bankrotts steht.
Wissen Sie, was Alao ist?“ „Ein Mineral, das auf einer der Welten des Parathion‐Systems gefunden wird und so vorzügliche Eigenschaften hat, daß man es zu einer Million verschiedener Zwecke verwenden kann und dafür Preise bezahlt, die um ein Tausendfaches höher liegen als Gold‐ und Diamantenpreise im Altertum der Menschheit.“ „Genau. Ist das alles, was Sie wissen?“ „Alao ist ein Mineral, das nicht synthetisch hergestellt werden kann. Im Grunde genommen ein Aluminiumoxyd, erhält es seine fabelhaften Eigenschaften durch den Einfluß solarer Stürme, die auf dem Zentralgestirn des Parathion‐Systems in regelmäßigen Abständen ausbrechen. Der solare Sturm, ein Strom hochenergetischer Korpuskularstrahlung, verwandelt die Kernstruktur der Aluminiumatome und den kristallinen Aufbau der Alao‐Substanz, so daß jenes hochbegehrte Mineral entsteht, das Orlog und andere Gesellschaften mit solchem Eifer auf‐ und wieder verkaufen.“ „Nach Ihrer Schilderung“, bemerkte Nadelman in der Art eines Schulmeisters, „müßte der Markt längst mit Alao gesättigt sein.“ „Das liegt daran“, gab Roger zurück, „daß ich noch nicht fertig bin. Der Einfluß, den der solare Sturm auf die Kern‐ und Kristallstruktur des Alao ausübt, verfliegt ziemlich schnell. Die Relaxationszeit beträgt rund einhundert Standardtage. Das heißt, nach einhundert Tagen sind von dem ursprünglichen Effekt nur noch knapp siebenunddreißig Prozent übrig. Der Zerfall kann jedoch gestoppt werden. Durch geeignete Behandlung ist es möglich, die dem Alao durch den solaren Sturm verliehenen Wundereigenschaften sozusagen einzufrieren und für immer zu bewahren. Die Behandlung ist kompliziert und erfordert Anlagen, die bislang nur auf der Erde oder in Erdnähe zur Verfügung stehen.“ „Das heißt also“, fiel Nadelman ein, der sich für das Thema zu begeistern begann, „daß derjenige den größten Gewinn erzielt, der Alao am schnellsten von Parathion zur Erde bringt. Denn je schneller dieser Transport vor sich geht, um so mehr von den ursprünglich durch den solaren Sturm erzeugten Eigenschaften sind noch in der Substanz vorhanden. Parathion ist zwölftausend Lichtjahre von hier entfernt. Mit den schnellsten heute erhältlichen Fahrzeugen läßt sich diese Strecke in achtzig Tagen zurücklegen. Ein Kilogramm Alao, nach der Mindestflugdauer von achtzig Tagen auf einer der Raumstationen verkauft, erzielt einen Preis von knapp zweihunderttausend Soldar. Was, glauben Sie, könnte jemand verlangen, der das Mineral in fünfzig oder gar vierzig Tagen heranschaffen kann?“ Roger horchte auf. Er hatte vor einiger Zeit Gerüchte gehört, nach denen es einem geheimnisvollen Unbekannten gelungen war, die Mindestflugzeit von Parathion zur Erde um mehr als dreißig Tage zu unterbieten und auf diese Weise für seine Ladung Alao einen Prämienpreis zu erzielen. Aber die Geschichte war ihm zu unwahrscheinlich vorgekommen, und er hatte sich nicht weiter darum gekümmert. „Wenigstens das Zehnfache“, antwortete er auf Nadelmans Frage. Sy Nadelman schüttelte traurig den Kopf. „Nicht einmal annähernd“, sagte er. „Etwa drei‐ bis vierhunderttausend Soldar, also nicht einmal das Doppelte. Für ein Material, das wesentlich wertvoller ist als das nach achtzig Tagen angelieferte. Sein Gewinn ist also nicht so überragend, wie man
erwarten sollte. Aber die Sache wirkt sich in anderer Weise aus. Nachdem der Vierzig‐Tage‐Lieferant seine Ware abgesetzt hat, können Sie sich vorstellen, wieviel der, dessen Fahrzeuge achtzig Tage von Parathion bis nach hier brauchen, noch erzielt?“ „Wahrscheinlich wesentlich weniger als sonst.“ „Fast nichts!“ brach es aus Nadelman hervor. „Einen Trostpfennig. Dreißig‐ bis vierzigtausend Soldar das Kilogramm. Dabei betragen seine Unkosten wenigstens achtzigtausend!“ „Klingt plausibel. Bis auf einen Punkt.“ „Welcher ist das?“ „Es ist unmöglich, die Strecke Parathion – Erde in weniger als achtzig Tagen zu bewältigen.“ „Jemand hat es aber getan.“ „Wer?“ „Interstellar I & E.“ Roger durchsuchte sein Gedächtnis, brachte aber nichts zutage. Die Fruchtlosigkeit des Unterfangens mußte ihm am Gesicht abzulesen sein. Kalix’ sagte: „Bis vor kurzem ein Unternehmen mit wenigen Millionen Jahresumsatz. Ein Zweigroschengeschäft. Jetzt fingen sie jedoch an, ihre Flotte auszubauen und aufzustocken.“ Nadelman nickte. „I und E sind diejenigen, die Alao dreißig bis vierzig Tage vor dem frühest möglichen Zeitpunkt hier auf Erde IV zum Verkauf angeboten haben. Sie sättigten den Markt. Als unsere Schiffe eintrafen, wollte niemand mehr Alao kaufen.“ „Wann war das?“ „Vierzig bis fünfzig Tage nach dem letzten Sonnenfleckenwechsel auf Parathion, also vor rund sieben Wochen.“ „Zum erstenmal?“ „Nicht ganz. Parathion‐Transporte wiederholen sich im Sechsmonatsrhythmus, dem Fahrplan der solaren Stürme im Parathion‐System folgend. Bei der vorletzten Anlieferung trafen etwa zehn I – und – E‐Schiffe viereinhalb bis fünf Wochen vorzeitig hier ein. Ihre Ladung war zu gering, um den Markt in größerem Maßstab zu beeinflussen, aber selbst damals schon erlitt Orlog empfindliche Verluste.“ „Orlog hatte also sechs Monate Zeit, sich auf die nächste Überraschung vorzubereiten. Was wurde getan?“ „Das Übliche“, antwortete Nadelman müde. „Sie kennen die Prozeduren der Firmenspionage ebensogut wie ich. Wir nahmen Kontakt mit Angestellten der I und E auf, kidnappten ein paar, verhörten sie… alles umsonst. Niemand weiß etwas, oder wenn sie etwas wissen, dann kennen sie Methoden, um ihr Wissen vor uns zu verbergen.“ Sy Nadelman machte den Eindruck eines Mannes, der alle Hoffnung aufgegeben hatte. „Was erwarten Sie unter diesen Umständen von mir?“ erkundigte sich Roger. „Ich persönlich – gar nichts. Aber der Aufsichtsrat hat mir aufgetragen, mich mit
Ihnen in Verbindung zu setzen. Der Auftrag, den ich Ihnen zu erteilen habe, lautet, die Methode, mit der I und E ihre Schiffe innerhalb von vierzig anstatt achtzig Tagen von Parathion nach Erde IV bringen kann, zu enträtseln, so daß Orlog sich desselben Mittels bedienen kann, oder den Weg, den I und E benutzt, so nachhaltig zu verstopfen, daß ihre Schiffe wieder die alte Route benützen müssen und ebenso wie unsere achtzig Tage brauchen.“ Roger Staff schmunzelte. „Das ist nicht gerade, was ich ein bescheidenes Unterfangen nennen möchte.“ Nadelman zuckte mit den Schultern. „Ich bin hier, um Ihnen den Entschluß des Aufsichtsrates zu übermitteln. Von mir aus können Sie tun und lassen, was Sie wollen.“ „Sie sind überzeugt, daß I und E nicht geschlagen werden kann?“ „So etwa.“ „Ich muß Sie enttäuschen. Ich nehme den Auftrag an.“ Nadelman zeigte seine Überraschung, indem er die fast haarlosen Brauen um einen halben Zentimeter in die Höhe zog. „Tatsächlich?“ Roger und Kalix’ erhoben sich gleichzeitig. „Er hat alle Ingredienzen, die ich schätze“, antwortete Roger. „Originalität, Aufregung, Gefahr… und Geld.“ „Wieviel rechnen Sie?“ Roger ging nicht auf die Frage ein. „Eines möchte ich Ihnen allerdings empfehlen“, sagte er. „Sehen Sie sich jedes einzelne Mitglied Ihres Aufsichtsrates unter dem Mikroskop an. Jemand wußte von Ihrem Auftrag, noch bevor ich erfuhr, warum Kalix’ mich hierhergerufen hatte.“ Zum erstenmal, seitdem Roger ihn kennengelernt hatte, zeigte Sy Nadelman unverhohlene, unbeherrschte Überraschung. Der Mund stand ihm offen. „Man wußte…?“ Roger nickte. „Man wußte. Wenn Kalix’ hier nicht auf der Hut gewesen wäre, hätte ich die Erde vier wieder verlassen, ohne Sie jemals zu Gesicht zu bekommen.“ Er gab Nadelman eine kurze Schilderung der Ereignisse, die sich kurz nach seiner Landung auf der Raumstation abgespielt hatten. Nadelman war bestürzt und ratlos. Es war ihm unerklärlich, auf welche Weise der Orlog‐Plan hatte verraten werden können. „Die Mitglieder des Aufsichtsrates, die über jeden Verdacht erhaben sind, und Ihr Mann Kalix’ waren die einzigen, die von dem Unternehmen wußten“, beteuerte er. „Vielleicht“, spottete Roger, „ist es mit der Erhabenheit nicht ganz so weit her, wie Sie glauben. Ich an Ihrer Stelle würde mich vergewissern.“ Er wandte sich ab und schritt neben Kalix’ her auf die Tür zu. Nadelman sprang auf. „Einen Augenblick noch!“ rief er. „Wir haben uns über die Bedingungen des Auftrags noch nicht unterhalten.“ Roger grinste herablassend. „Ich bin sicher, daß Sie über meine Bedingungen informiert waren, noch bevor Sie
sich entschlossen, mit mir in Verbindung zu treten. Fünf Millionen Soldar für den ausgeführten Auftrag, plus Unkosten. Dafür erhalten Sie täglich einen Bericht über den Stand der Dinge. Die Sache kostet Sie nur meine Unkosten, falls ich nicht in der Lage bin, den Auftrag auszuführen. Diese Entscheidung werde ich innerhalb von fünfmal vierundzwanzig Stunden treffen.“ „Das ist Räuberei“, knirschte Nadelman. „Ihre Engherzigkeit dauert mich“, erwiderte Roger gelassen. „Aber der Aufsichtsrat mußte darauf gefaßt sein“, fuhr Nadelman fort. „Sehr richtig“, bestätigte Roger. „Es gibt nur einen Roger Staff, und dessen Wahlspruch ist: Integrität und Geld!“ * Der Auskunftsrobot in der Empfangshalle des Hauptverwaltungsgebäudes war hilfsbereit, aber die Information, die Roger Staff von ihm verlangte, stand ihm offenbar nicht zur Verfügung. „Interstellar I & E“, verkündete die Leuchtschrift auf Rogers letzte Frage, „hat auf Erde IV keine Räumlichkeiten gemietet.“ Roger nahm das Mikrophon zur Hand. „In diesem Fall wünsche ich den Aufsichtshabenden zu sprechen“, erklärte er. Wenige Minuten später stand er mit Kalix’ im Arbeitsraum des Bürovorstands. Er schilderte mit knappen Worten die Ereignisse, deren Opfer er kurz nach seiner Ankunft auf Erde IV geworden war. Der Vorstand zeigte sich ungläubig. „Sämtliche Räumlichkeiten auf Erde Vier sind entweder vermietet oder verpachtet. Und Interstellar I und E zeichnet weder als Mieter noch als Pächter. Ich bitte Sie, wie könnte dann…“ „Die Plattform, auf dem diese Gebäude stehen“, unterbrach ihn Roger schroff, „besteht aus fünfhundert Metern Plastometall. Da ist Platz genug für hunderttausend Räume von der Größe, die ich Ihnen beschrieben habe. Wann wurde die letzte Vibrationssuche nach nichtregistrierten Hohlräumen vorgenommen?“ Der Bürovorstand bedachte ihn mit einem betroffenen Blick. „Vor knapp zwei Jahren, warum?“ „Ich möchte, daß sofort eine Suche durchgeführt wird. Ich habe Veranlassung zu glauben, daß sich auf Erde Vier einige nichtzahlende Mieter eingenistet haben.“ Der Vorstand gewann seine Überlegenheit wieder. Mit väterlichem Lächeln erklärte er: „Eine Vibrationssuche kostet Geld, junger Mann, viel Geld. Sie wird in Dreijahresabständen vorgenommen – nicht, um nach blinden Passagieren zu forschen, wie Sie in Ihrer abenteuerlichen Phantasie zu glauben scheinen, sondern um Brüche, Risse und dergleichen aufzuspüren, die sich im Laufe der Zeit in der Plattform bilden können und die Stabilität der Station gefährden. Ihr Anliegen ist daher völlig…“ „Wieviel?“ fuhr Roger ihn an. „Wieviel was?“ fragte der Vorstand verblüfft.
„Wieviel kostet eine Vibrationssuche?“ Die Frage schien den Vorstand zu amüsieren. „Material und Arbeit, zusammen rund einundzwanzigtausend Soldar nach dem letzten Tarif.“ Roger wandte sich an Kalix’. „Suche den nächsten Komputer und laß von meinem Konto zweiundzwanzigtausend Soldar an diesen Mann hier überweisen. Einundzwanzigtausend für die Kosten der Vibrationssuche und eintausend für zusätzliche Verwaltungskosten.“ Kalix’ eilte davon. „Kann ich jetzt meine Suche haben?“ fragte Roger. Der Bürovorstand bejahte, mit rotem Gesicht und schlecht verborgenem Grimm. Wenige Minuten später befand sich die von Kalix’ abgerufene Summe in den Händen des zuständigen Kontoführers, und zwei Stunden danach lagen Roger die Ergebnisse der Vibrationssuche vor. Es gab unterhalb des Hauptverwaltungsgebäudes einen Hohlraum von rund eintausend Kubikmetern und erstaunlich regelmäßiger Form, der bei der letzten Suche noch nicht festgestellt worden war und von dem niemand wußte, wie er sich dort hatte breitmachen können. Von einer Stelle der Plattformoberfläche, die unmittelbar vor dem Verwaltungsgebäude lag, wurde ein schmaler Schacht in Richtung der unidentifizierten Höhlung vorgetrieben. Roger Staff und Kalix’ gehörten zu den ersten, die durch den Schacht in den Hohlraum vordrangen. Roger fand seine Vermutung bestätigt. Der Raum, durch dessen Decke der Schacht brach, war eben der, in dem er hypnotisiert worden war. Eine dünne Wand trennte ihn von einem größeren, der eine Sammlung komplizierter, teurer Geräte enthielt. Es gab da eine Gruppe von Instrumenten, die zur Erzeugung einer hypnosefördernden Atmosphäre dienten, und eine Lautsprecheranlage, die eine menschliche Stimme so zu verarbeiten vermochte, daß sie den wirksamsten hypnotischen Effekt erzielte. Außerdem wurde ein Transportfeldgenerator gefunden, dessen Funktion es war, den Zugang zu diesem sonst völlig von der Umwelt isolierten Raum zu ermöglichen. Der Generator war außer Betrieb. Die Männer des Suchtrupps hatten keine Möglichkeit, herauszufinden, auf welches Ziel er eingestellt gewesen war. Der Leiter des Trupps gab über Kurzsprech eine knappe Schilderung der beiden Räume und ihrer Einrichtung. Dann erhielt er von seinem Vorgesetzten den Befehl, wieder an die Oberfläche zurückzukehren. Roger wandte sich an Kalix’. „Ich hätte ungern“, sagte er leise, „daß I und E bei diesem Abenteuer völlig verlustfrei ausgeht.“ Kalix’ nickte verständnisvoll, und seine Augen leuchteten. Durch den Schacht kehrten sie an die Oberfläche zurück. Sie standen kaum auf dem schimmernden Boden der Plattform, da brach aus der Schachtmündung eine Wolke schwarzen, stinkenden Qualms. Die Verwirrung dauerte nur wenige Minuten. Der Führer des Suchtrupps gewann die Überzeugung, daß, wer auch immer die beiden Räume angelegt hatte,
gleichzeitig auch eine Selbstvernichtungsschaltung angebracht haben müsse, die durch das Eindringen Unbefugter ausgelöst worden war. Kalix’, der es besser wußte, grinste vor sich hin. 2. Die Natomas Star war unterwegs. Von den Bildschirmen blinkte das matte, formlose Grau des Überraums. Roger Staffs Fahrzeug verfügte über das stärkste Triebwerkssystem, das auf den Werften der Erde dieser Tage gebaut wurde. Die Natomas Star würde von Erde IV bis zum Parathion‐System nicht mehr als neunundsiebzig Tage und viereinhalb Stunden brauchen. Roger hatte kurz nach dem Abflug von Erde IV einen Kurzsprech erhalten, der ihn beunruhigte. Sy Nadelman hatte ihn angerufen. Die Unterhaltung verlief etwa so: „Für den Fall, daß Sie sich des Auftrages nicht in gewünschter Weise entledigen können“, hatte Nadelman gesagt, „habe ich einen anderen Schritt unternommen.“ „Und der wäre?“ hatte Roger wissen wollen. „Ich habe die Interstellare Handelskommission ersucht, den Verkauf von Alao auf den Raumstationen der Erde nur zu gewissen Zeiten zuzulassen.“ „Diese Zeiträume“, war Rogers sarkastische Antwort, „beginnen jeweils achtzig Tage nach der Alao‐Ernte im Parathion‐System.“ „Sehr richtig.“ „Sie haben Glück, daß sich unter meinem Wertpapierbesitz kein nennenswerter Anteil von Orlog‐Aktion befindet.“ „Warum?“ „Weil ich sonst darauf drängte, daß Sie von Ihrem Posten entlassen und zum Teufel gejagt würden.“ „Ich bitte…“ „Sehen Sie denn nicht, was Sie anrichten? Glauben Sie wirklich, daß Sie I und E durch einen einfachen Kommissionserlaß daran hindern können, Alao zu verkaufen, wann immer es ihnen auch beliebt? Und was wird aus den Käufern? Wie will die Kommission einen Erlaß rechtfertigen, der den Käufer dazu zwingt, auf hochwertige Ware zu verzichten und sich mit Ihrem minderwertigen Alao zufriedenzugeben?“ „Die Handelskommission hat Polizeigewalt auf allen handelsoffenen Raumstationen“, erwiderte Nadelman kühl. „Wenn sie einen Erlaß herausgibt, dann sorgt sie dafür, daß er eingehalten wird.“ „Mit Gewalt. Denn darauf läuft es hinaus – darüber sind Sie sich im klaren.“ „Mit Gewalt, wenn es sein muß.“ Roger lachte bitter. „Wieviel haben Sie dem Kommissionsrat für diesen idiotischen Erlaß bezahlt, Nadelman?“ „Ich spreche wieder mit Ihnen, wenn Sie sich einen zivileren Ton angewöhnt haben, Mister Staff“ antwortete Nadelman eisig und unterbrach die Verbindung. Das war vor knapp zehn Stunden gewesen. Seitdem war die Natomas Star in den
Überraum eingetaucht und auf volle Fahrt gegangen. Roger Staff zerbrach sich den Kopf darüber, ob der Auftrag, den er von Orlog erhalten hatte, ihm lag oder nicht. Von seiner Warte aus ließ das Problem Züge der Unlösbarkeit erkennen. Die gegenwärtig verfügbaren Raumschiffstriebwerke stellten den Endpunkt einer langen Entwicklung dar. Das Prinzip war ausgeschöpft. Es konnten keine Triebwerkssysteme gebaut werden, die schneller waren als die schnellsten augenblicklich verfügbaren – zum Beispiel das der Natomas Star. Es sei denn, es entdeckte jemand ein neues Prinzip. Aber die Schiffe der I & E waren mit konventionellen Triebwerken ausgerüstet, daran bestand kein Zweifel. Infolgedessen war es ihnen unmöglich, die Strecke vom Parathion‐System bis zur Erde in wesentlich weniger als achtzig Standardtagen zurückzulegen. Wo war der Trick? Einen Augenblick lang zog Roger in Erwägung, daß I & E auf dem Alao‐ Fundplaneten selbst Aufbereitungsanlagen errichtet haben könne, die es ermöglichten, das Rohmaterial unmittelbar nach dem Solarsturm zu behandeln und die Wundereigenschaften des Minerals zu einem Zeitpunkt einzufrieren, da der unmittelbar nach dem Sturm einsetzende Zerfall noch keine Spuren hatte hinterlassen können. Es gab eine ganze Reihe von Gründen, die gegen eine solche Annahme sprachen. Erstens hätte I & E in diesem Falle gänzlich frisches, nicht aber vierzig Tage altes Alao nach Erde IV gebracht, zweitens war die Welt, auf der Alao gefunden wurde, ein verhältnismäßig kleiner, atmosphäreloser Planet, auf dessen Oberfläche es von Alao‐Gruben und Grubenpersonal wimmelte, so daß eine Aufbereitungsanlage längst entdeckt worden wäre. Und drittens hatte I & E nicht genug Geld, um den Transport einer Anlage zum Parathion‐System zu finanzieren. Nach der Schilderung Sy Nadelmans, der auf diesem Gebiet als Fachmann zu gelten hatte, besaß der Komplex, in dem die Aufbereitung des Alao‐Minerals durchgeführt wurde, etwa die Größe einer mittleren Stadt. Der Anflug der dazu erforderlichen Materialien, zu einer Frachtrate von zehn‐ bis zwanzigtausend Soldar je Kilogramm, überstieg die Mittel nicht nur der noch verhältnismäßig kleinen Firma I & E, sondern sogar die aller am Alao‐Handel beteiligten Unternehmen zusammen. Der verhältnismäßig geringe Frachtraum, der den Alao‐Flotten zur Verfügung stand, wurde auf dem Flugabschnittt Erde ‐ Parathion von Nachschubgütern eingenommen, die für die Erhaltung der Gruben und des Grubenpersonals auf dem Alao‐Planeter Ainu erforderlich waren. Es gab also keine Aufbereitungsanlage auf Ainu. Weder dort, noch sonst irgendwo im Bereich oder in der Nähe des Parathion‐Systems. Und dennoch brachte I & E es fertig, Alao sechs bis sieben Wochen nach der Alao‐ Ernte auf den handelsoffenen Raumstationen der Erde anzuliefern. Roger, die Nutzlosigkeit aller weiteren Gedankenakrobatik erkennend, wies Kalix’ an, ein Rahmenprogramm für den Bordkomputer zu entwerfen. Die Rechenmaschine war nicht in der Lage, das Problem zu lösen; aber sie war besser als ein menschliches Gehirn dazu befähigt, Wege und Methoden aufzuzeigen, die voraussichtlich schneller zur Lösung führten als andere.
Roger machte inzwischen Bestandsaufnahme. Er erkannte nüchtern, daß zu Beginn dieses Unternehmens auf der Haben‐Seite seines Aktionskontos nur zwei Posten standen: Seine jahrelange Erfahrung im Entschlüsseln selbst der kompliziertesten Rätsel, und Kalix’. Kalix’ war ein in jeder Hinsicht eigenartiges Geschöpf. Roger Staff war ihm zum erstenmal vor rund zwölf Jahren begegnet, als er auf KLYSTRA im Sigma‐Orionis‐ System die Stätte einer nuklearen Explosion in Augenschein nahm, deren Opfer, unter zahllosen anderen, Kalix’ geworden war. Kalix’, Abkömmling einer langen Reihe von Sigma‐Siedlern, war, als Roger ihn zu sehen bekam, mehr tot als lebendig. Mit Verbrennungen am ganzen Körper und einem eingedroschenen Schädel hatten die Ärzte wenig mehr mit ihm vor, als seine Schmerzen zu lindern und ihm ein ungestörtes Ableben zu vermitteln. Roger hatte sich seiner angenommen. Warum sich seine Aufmerksamkeit auf Kalix’ konzentriert hatte und nicht auf ein anderes der zahlreichen Opfer, von denen manche sich in weit aussichtsreicherem Zustand befanden, wußte er nicht. Auch warum er überhaupt Anteil genommen hatte, blieb ihm bis zum heutigen Tag unklar. Auf jeden Fall erhielt Kalix’ eine neue Haut und ein künstliches Blutsystem, das die brauchbaren Reste des natürlichen Systems ergänzte. Als er auf diese Weise physisch wieder zum Leben erweckt worden war, stellte sich heraus, daß der größere Teil seines Gehirns infolge des komplizierten Schädelbruchs nicht mehr in der Lage war, seine Funktionen wahrzunehmen. Roger, der sich niemals mit halben Sachen abgab, sprang von neuem ein und sorgte dafür, daß Kalix’ einen biologisch‐elektronischen Mikrokomplex anstelle der abgestorbenen Gehirnhälfte eingesetzt bekam. Das Wesen Kalix’, das knapp ein halbes Standardjahr nach der Explosion schließlich aus der Obhut der Ärzte entlassen wurde, war nach dem Aufbau seines Körpers mehr Roboter als Mensch und verband die Charakteristiken beider Wesensarten in einer so unwahrscheinlich günstigen Kombination, daß Roger Staff aus dem für ihn höchst kostspieligen Unterfangen doch noch mehr Vorteil erwuchs als alleine das erbauende Gefühl erfolgreich praktizierter Nächstenliebe. Er nahm Kalix’ in seinen Dienst. Kalix’, der über Rogers Rolle in seinem Kampf ums Überleben informiert war, war mit seiner neuen Berufung mehr als einverstanden. Von nun an mieteten die Firmen und Personen, die Roger Staff, der Privatdetektiv, zu seinen Kunden zählte, anstelle eines Mannes ein Zweimannteam. Kalix’, mit seinen erstaunlichen Fähigkeiten, war inzwischen für Roger unentbehrlich geworden. Roger konnte, ohne sein Erinnerungsvermögen anzustrengen, wenigstens fünf Fälle aufzählen, in denen er ohne Kalix’ Hilfe entweder gar nicht oder doch nur mit viel mehr Mühe zum Ziel gekommen wäre. Dies also, seine Erfahrung und Kalix’, waren seine einzigen Aktivposten. Demgegenüber hatte der Gegner, mit dem Roger versuchsweise Interstellar I & E identifizierte, alle Trümpfe in der Hand. Nicht nur wußte er, daß Roger Staff den Auftrag erhalten hatte, das Alao‐Rätsel aufzuklären, es war ihm obendrein noch gelungen, auch die geringste Spur, die zum Kernpunkt des Problems führte, nachhaltig zu verwischen. Der Bordkomputer, den Kalix’ schließlich mit dem Rahmenprogramm fütterte, so
daß Roger mit dem Fragenstellen beginnen konnte, zeigte sich in gleichem Maße pessimistisch. Der einzige Fingerzeig, mit dem er aufwarten konnte, besagte: Da der Gegner beunruhigt genug gewesen sei, um Roger bei der Landung auf Erde IV aufzulauern und ihn durch hypnotische Beeinflussung von der Annahme des Orlog‐ Auftrages abzuhalten, werde er sich vermutlich ein zweitesmal mit Roger in Verbindung setzen – diesmal, um seinen Willen mit drastischeren Mitteln durchzusetzen. Kontakt werde erst nach Eintreffen der Natomas Star im Parathion‐System erfolgen. Dabei bestand für Roger Staff die Möglichkeit, den Spieß umzukehren und seinerseits vom Gegner Informationen zu erlangen. Oder auch, falls er sich nicht vorsah, den Heldentod zu sterben. * Nach einem Rekordflug von neunundsiebzig Tagen, vier Stunden und dreizehn Minuten Dauer landete die Natomas Star auf dem Raumhafen Paraport, Atiho, im Parathion‐System. Atiho war die Hauptwelt des Einundzwanzigplanetensystems, und Roger Staff beabsichtigte, hier vorerst sein Hauptquartier aufzuschlagen. Roger vergewisserte sich, daß seinem Fahrzeug die angemessene Sorgfalt angedieh, dann mietete er für die vorläufig unbestimmte Dauer seines Aufenthalts auf Atiho einen Gleitwagen und begab sich mit Kalix’ und seinem Gepäck zu dem dem Raumhafen unmittelbar vorgelagerten Hotelviertel der Stadt Paraport. Paraport hatte eine ständige Einwohnerzahl von knapp einhunderttausend. Dabei handelte es sich zumeist um die Angestellten der großen Handelskontore und deren Familien. Was der Stadt den Eindruck eines Millionenzentrums verlieh, waren die Hunderttausende von Durchreisenden, Agenten, Vertretern, Spionen, Bevollmächtigten, Prospektoren und auch schlichten Touristen, die dafür gesorgt hatten, daß der Hotel‐ und Vergnügungssektor der Stadt alle anderen Stadtteile um Größe mehrmals übertraf. Der Bordkomputer hatte ein Hotel der oberen Preisklasse empfohlen, in dem von Kalix’ noch vor der Landung eine Suite von drei Zimmern reserviert worden war. Im Hotel angelangt, hatte Roger Staff das Mißvergnügen zu erfahren, daß sein Ruf ihm bis nach Parathion vorausgeeilt war, obgleich er bislang noch niemals auch nur in die Nähe des Systems gekommen war. Einer der wenigen nichtrobotischen Angestellten des Hotels überfiel ihn im Foyer und bat um einen Gegenstand, den Roger längere Zeit bei sich getragen hatte. Roger entsprach dem Wunsch mit einem Plastikröhrchen, das einst schmerzlindernde Tabletten enthalten hatte. Roger und Kalix’ brauchten nur wenige Minuten, um sich in ihrer neuen Bleibe einzurichten. Über einem Glas eines örtlichen Mixgetränkes, das Roger der Barautomatik entlockt hatte, erkundigte sich Kalix’: „Was gedenkst du zu tun?“ „Darüber zerbreche ich mir schon seit achtzig Tagen den Kopf, und gerade vor zwei Sekunden kam mir eine Idee.“ Er drehte den Kopf hin und her, als suche er etwas. Kalix’ verstand.
„Der Platz ist sicher. Sprich dich ruhig aus!“ „Eine Methode, die einerseits plump ist, aber dennoch Erfolg haben könnte, und andererseits den Gegner überzeugt, daß wir sie nur als Ablenkungsmanöver verwenden, erscheint mir am angemessensten.“ „Zum Beispiel…?“ „Eine zwei‐ oder dreiminütige Annonce im örtlichen Fernsehen. Text etwa: Wer mir darüber Aufklärung verschafft, wie I und E sechs bis sieben Wochen altes Alao zur Erde bringt, dem zahle ich eine Million Soldar.“ Kalix’ lachte. „Damit ihm seine Angehörigen einen anständigen Grabstein kaufen können.“ Roger klatschte sich mit der Hand aufs Knie. „Schön. Ich bin nicht kleinlich. Ich verspreche ihm obendrein Sicherheit.“ „Hm“, machte Kalix’ und versank für einige Sekunden in tiefes Nachdenken. „Weißt du, die Idee ist nicht so übel. Ich wette…“ Er wurde unterbrochen. Der Kurzsprech summte. Roger griff nach der Fernbedienung und nahm das Gespräch an. Auf der Mattscheibe erschien das Bild einer attraktiven jungen Frau, die so aussah, als könnte ihr die Stimme gehören, die in Wirklichkeit aus einem mechanisch‐elektronischen Sprechgerät kam: „Mister Sanaka möchte Sie sprechen. Nehmen Sie das Gespräch an?“ „Wer ist Sanaka?“ fragte Roger. „Public Relations, Interstellar I und E.“ Roger verbarg seine Überraschung. „Verbinden Sie mich mit Mister Sanaka.“ Das lächelnde Frauenantlitz verschwand. Dafür erschien der breite, dicht behaarte Schädel eines Mannes, dessen Ahnen ohne Zweifel schon vor Jahrtausenden die Erde verlassen hatten, um sich auf einer neuen Welt niederzulassen, die ihnen im Lauf der Generationen genetische Änderungen aufzwang. „Willkommen auf Atiho“, begann er mit breitem Grinsen. „Ich bin Merin Sanaka, Chef der Public‐Relations‐Abteilung im hiesigen Kontor der Interstellar I und E. Wir hörten von Ihrer Ankunft und hielten es für angemessen, Ihnen unseren Gruß zu entbieten.“ Roger empfand instinktive Abneigung gegen den Mann, der ihn mit wirren Haaren, hervorquellenden Augen und dicken, wulstigen Lippen von der Mattscheibe her anglotzte. „Worum geht’s?“ erkundigte er sich knapp. Sanaka war sichtlich pikiert ob der unfreundlichen Kürze. „Es bestehen einige Meinungsverschiedenheiten zwischen I und E und Ihnen. Uns liegt daran, sie zu beseitigen. I und E ist nicht daran interessiert, mit dem berühmten Roger Staff längere Zeit über Kreuz zu sein.“ „Mich stört es nicht sonderlich“, hielt Roger ihn hin. „Aber uns. Besonders Public Relations. Dürfen wir Sie und Ihren Begleiter zu einer informellen Aussprache einladen?“ Roger schüttelte energisch den Kopf. „Danke. Das letztemal, als I und E mich einlud, geschah es mittels eines angezapften Transportfeldes, und ich habe heute noch Muskelkater davon. Wenn Sie sich mit mir
unterhalten wollen, kommen Sie hierher.“ Sanaka nahm den Schlag hin, ohne zu reagieren. „Wie Sie wünschen. Welcher Ort, welche Zeit sind Ihnen genehm?“ „Ort – hier“, antwortete Roger. „Zeit – in einhundert Standardminuten.“ Sanaka blickte auf eine Uhr, die sich außerhalb des Sichtfeldes befand. „Um neunzehn Uhr Ortszeit also. Sie erheben keinen Einwand dagegen, daß ich einen Begleiter mitbringe?“ „Keinen.“ * Es war klar, daß I & E über Rogers Annahme des Orlog‐Auftrags nach wie vor Besorgnis empfand. Weniger klar war, was Sanaka sich von dieser Unterredung versprach. Roger befahl Kalix’, auf der Hut zu sein. Der Mann, den Sanaka mit sich brachte, als er pünktlich um neunzehn Uhr eintraf, war so hochgewachsen, daß er sich bücken mußte, um unter der reichlich bemessenen Tür hindurchzukommen, und dabei so hager, daß Roger unwillkürlich um die Stabilität seines Körpers bangte. Sanaka machte eine altmodische, elegante Verbeugung und stellte sich abermals vor. Auf seinen Begleiter weisend, erklärte er: „Heeno Ayron, unser Fachmann für interstellares Recht und Vertragswesen.“ „Der jedoch nicht in seiner eigentlichen Funktion an dieser Unterhaltung teilnimmt“, warf Roger ein. Sanaka zog die Brauen in die Höhe. „Wir werden darauf zu sprechen kommen“, antwortete er undurchsichtig. Kalix’ übernahm es, die Besucher mit Getränken zu versorgen. Sanaka begann die Unterhaltung mit höflichen Floskeln, jedoch fiel ihm Roger bald in die Parade. „Ich bin sicher, daß wir von allen Anwesenden voraussetzen dürfen, daß sie gutes Benehmen kennen. Weswegen, Sanaka, sind Sie hier?“ Sanaka war offensichtlich irritiert. Roger nahm mit einiger Beruhigung zur Kenntnis, daß er kein erstklassiger Agent war. Ein Mann seines Faches sollte die Fähigkeit besitzen, seine Gemütsregungen zu verbergen. Vielleicht hatte I und E es nicht für nötig gehalten, auf Atiho Spitzenleute einzusetzen. „Wie gesagt“, sammelte sich Sanaka, „es handelt sich um diese Meinungsverschiedenheit…“ „Ich arbeite für Orlog, Sie arbeiten für I und E, richtig.“ „Das ist nicht der einzige Unterschied. Ich arbeite legal, während Sie auf Spionage aus sind. Deswegen habe ich unseren Experten mitgebracht, der Ihnen auf Wunsch gerne auseinandersetzen wird, wie sich die Rechtslage bezüglich Industriespionage verhält.“ „Danke, ich habe keinen Bedarf“, wies Roger das Anerbieten zurück. „Ich bin keineswegs auf Spionage aus.“ „Worauf denn?“ fragte Sanaka naiv und erkannte einen Atemzug später die Nutzlosigkeit der Frage. „Außer Ihrem Gesetzesexperten haben Sie mir sicherlich noch ein Angebot
mitgebracht“, klopfte Roger auf den Busch. „Ein Angebot? Ich wüßte nicht…“ „Wieviel bietet I und E, wenn ich den Orlog‐Auftrag als nicht ausführbar zurückweise?“ Sanaka stellte sich überrascht, aber er war ein schlechter Schauspieler. „Wenn Sie keine derartige Vollmacht haben, betrachten Sie unsere Konferenz als beendet“, drängte Roger. „Ich trete nicht von meinem jetzigen Auftrag zurück, ohne daß etwas für mich dabei herausspringt.“ Sanaka senkte den Blick und saß eine Zeitlang völlig ruhig. Roger war sicher, daß er in diesen Augenblicken durch einen Empfänger, der irgendwo an seiner Person angebracht war, Weisungen hörte, die er von irgendwoher, vielleicht von Heeno Ayron, empfing. Roger wandte sich ostentativ an Kalix’. „Alles in Ordnung?“ wollte er wissen. Kalix’ nickte. „Zwei elektronische Geräte. Eines ein Ultrakurzsprech zwischen diesen beiden Herren, das andere vermutlich ein Bandgerät, um die Unterhaltung aufzuzeichnen.“ Sanaka sah verblüfft auf. „Wie haben Sie… wie können Sie…“ Roger winkte ab. „Wir haben unsere eigenen Tricks. Wie steht’s mit dem Angebot?“ Sanaka schien von neuer Zuversicht beseelt, als wisse er nun ganz genau, in welche Richtung er zu steuern hatte. „Darüber läßt sich reden. Ich bin sicher, daß ich den Vorstand zu einem bedeutenden finanziellen Opfer veranlassen kann, wenn es dafür gelingt, Sie von der Ausführung des Orlog‐Auftrages abzuhalten.“ „Wieviel?“ Sanaka spreizte die Hände. Roger lachte ihm ins Gesicht. „Vorläufig bewegen Sie sich noch weit unterhalb des Niveaus, auf dem ich zu verhandeln pflege.“ In miserabel gespieltem Entsetzen riß Sanaka die Brauen in die Höhe. „Drei Millionen… zuwenig?“ Er versank abermals in Schweigen. Da Kalix’ den Kurzspruch ohnehin herausgespürt hatte, gab er sich keine Mühe, darüber hinwegzutäuschen, daß er Rat einholte. „Fünf Millionen“, sagte er mit einem Ruck. „Unser letztes Angebot!“ Roger machte eine abwehrende Handbewegung. „Abgelehnt. Ich werde nicht für Kuchen vertragsbrüchig.“ Sanaka und Ayron erhoben sich. Sanaka machte ein betrübtes Gesicht. „Ich bedaure, Ihnen kein besseres Angebot machen zu können. Ich bedaure noch mehr, daß Sie fünf Millionen Soldar für indiskutabel halten. Es wäre meiner Firma sehr daran gelegen gewesen, die Angelegenheit gütlich zu bereinigen. Jetzt jedoch sind wir gezwungen, mit stärkeren Geschützen aufzufahren.“ Er verneigte sich abermals. „Es passiert einem nicht alle Tage“ versicherte er mit hinterhältigem Lächeln, „einen Mann zu sehen, der mit einer einzigen Handbewegung auf ein
Vermögen und einen geruhsamen Lebensabend verzichtet.“ „Ihre Phantasie geht mit Ihnen durch“, spottete Roger. Unter der Tür, nachdem Ayron den Raum schon verlassen hatte, drehte Sanaka sich noch einmal um. „Beinahe hätte ich vergessen… Es war nicht sehr nett von Ihnen, unser kleines Versteck auf Erde Vier zu ruinieren. Glücklicherweise wurde es ohnehin nicht mehr gebraucht, und der Verlust ließ sich verschmerzen.“ „Irrtum, mein Lieber“, grinste Roger. „Wenn ich davongeflogen wäre, ohne mit Orlog zu sprechen, hätte Nadelman sich einen anderen Agenten geangelt, und I und E hätte diesen in die Mache nehmen müssen… und so weiter. Ich bin überzeugt, daß ich ein verdienstvolles Werk tat, als ich Ihre kleine Räuberhöhle ausräucherte.“ Sanaka zog wütend die Oberlippe in die Höhe und zeigte eine Reihe blütenweißer, breiter Zähne. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und schritt in den Gang hinaus. * „Machen wir uns nichts vor“, sagte Roger. „Sie wußten von vornherein, daß ich ihre fünf Millionen nicht annehmen würde. Warum waren sie also hier?“ „Um zu spionieren.“ „Auf welche Art spionierten sie? Du sagst selbst, sie trugen keinerlei Geräte bei sich außer dem Kurzsprech und dem Rekorder.“ Kalix’ zuckte mit den Schultern. „Ich bin ziemlich schlau“, antwortete er jammernd. „Aber auf manche Fragen weiß selbst ich keine Antwort.“ Roger stand auf und machte sich ausgehfertig. „Ich weiß nicht, wie’s mit deiner Schlauheit bestellt ist, Einbildung hast du auf jeden Fall genug.“ Kalix’ ging nicht darauf ein. „Wohin geht die Reise?“ wollte er wissen. „Ein persönlicher Besuch bei den drei lokalen Fernsehstationen. Ich will meine Anzeige unterbringen.“ „Ich gehe nicht mit?“ „Du bleibst hier und vertrittst mich.“ Kalix’ Aufgabe erwies sich als leicht. Während der vier Stunden, die Roger Staff unterwegs war, wurde er kein einzigesmal gestört. Er nahm die Gelegenheit wahr, seine biologisch‐elektronischen Sinne frei spielen zu lassen und sie an die neue Umwelt zu gewöhnen. Gegen vierundzwanzig Uhr, kurz vor Sonnenuntergang, kehrte Roger zurück. Kalix’ spürte auf den ersten Blick, daß sich etwas Ungewöhnliches ereignet hatte. „Glück gehabt?“ fragte er. „Glück… einen Dreck!“ polterte Roger. „I und E hat zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr alle drei Fernsehstationen aufgekauft, und keine ist bereit, meinen Auftrag anzunehmen.“
* „Also haben sie doch spioniert“, brummte Kalix’ nach einer Minute scharfen Nachdenkens. „Ja, aber wie? Du versicherst mir, daß es hier keine Abhörgeräte gibt.“ „Es gibt keine“, wiederholte Kalix’. „Ein neues Prinzip?“ Kalix’ schüttelte den Kopf. „Es gibt auch kein neues Prinzip. Und selbst wenn es eines gäbe, müßte es doch irgendeine Art von Energie verbrauchen und Streustrahlung erzeugen, die ich wahrnehmen könnte.“ Das Rätsel blieb vorläufig ungelöst. Roger prägte sich ein, daß er von nun an mit der beunruhigenden Tatsache zu rechnen hatte, daß der Gegner sich selbst zu den allerprivatesten Informationen Zugang zu verschaffen wußte. „Was nun?“ fragte Kalix’. „Jetzt fangen wir an, unser Geld zu verdienen“, antwortete Roger beinahe schroff. „Du hängst dich an den Kurzsprech und findest alles über die hiesige I – und – E‐ Niederlassung heraus, was es auf dem Markt zu haben gibt. Du kennst die Methoden und Techniken. Spare nicht an ein paar Soldar.“ „Verstanden. Und du?“ „Es muß in Paraport noch ein paar altmodische Anzeigenagenturen geben. Ich werde zusehen, daß die Welt von meinem Anliegen erfährt – auch wenn alle Fernsehstationen I und E gehören.“ Er verließ Kalix’ ein zweitesmal. Der Gleitwagen, dessen Steuerautomatik er sein Anliegen vortrug, brachte ihn der Reihe nach zu fünf Anzeigenagenturen, die jedoch alle ausschließlich mit Fernsehannoncen arbeiteten und Rogers Auftrag daher nicht annehmen konnten. Das sechste Unternehmen versprach mehr. Es war in einem alten, zehnstöckigen Bürohaus abseits der Hauptverkehrsadern untergebracht. Das Gebäude sah aus, als hätte es schon hier gestanden, als der erste Mensch den Fuß auf diese Welt setzte. Roger benutzte einen antiken, von Ketten gehaltenen Aufzug, der ihn ratternd und rumpelnd zur dritten Etage brachte, auf der die Agentur ihre Büroräume hatte. Roger betrat durch eine nichtautomatische Tür, deren Klinke er mit eigener Hand bewegen mußte, einen engen, düsteren Warteraum, der durch eine Theke in zwei Hälften geteilt war. Roger war der einzige Kunde. Hinter der Theke erhob sich ein jüngerer Mensch von unscheinbarem, ungewaschenem Aussehen. Grinsend erkundigte er sich nach Rogers Anliegen. „Ich habe da etwas, womit sich die Fernsehstationen nicht die Finger verbrennen möchten“, begann Roger und hatte angesichts des Eindrucks, den die Agentur auf ihn machte, nicht das Gefühl, er gehe undiplomatisch vor. „Welche Medien benutzen Sie?“ „Alle“, grinste der Junge. „Wir sind phantasiereich. Wenn Fernsehen nicht in Frage kommt, dann vielleicht Himmelsschreiber, Zeitungsannoncen, Plakate,
Leuchtschriftprojektionen – wonach Ihr Herz begehrt.“ „Es gibt Zeitungen in Paraport?“ „Zwei. Eine ist für Sie nicht von Interesse. Wenn TV Ihre Anzeige nicht angenommen hat, dann nimmt sie der Atiho Beobachter auch nicht. Der Kurier ist dagegen eine andere Sache.“ Roger war zufrieden. „Wieviel verlangen Sie für eine eintägige Kampagne in allen zugänglichen Medien?“ „Das“, antwortete der Junge, „kommt ganz darauf an.“ „Worauf?“ „Was Sie den Leuten eintrichtern wollen. Kauft Grossmanns Würstchen, zum Beispiel, kommt Sie auf fünfzehn‐ bis zwanzigtausend Soldar. Schafft die Polizei ab, kostet mindestens zehnmal soviel.“ Roger zog ein Stück Schreibfolie aus der Tasche. Nachdem er eilig ein paar Worte darauf gekritzelt hatte, schob er es dem Jungen hin. „Das ist der Text.“ Der Anzeigenexperte las laut: „Schlüssige Informationen über die Vierzig‐Tage‐Flüge von I & E zur Erde gesucht. Der Informant erhält einhunderttausend Soldar.“ Er pfiff zwischen den Zähnen hindurch und sah Roger durchdringend an. „Das ist teuer. Industriespionage, wie?“ Die Reihe zu grinsen war an Roger. „Man könnte es so nennen. Wieviel?“ „Soviel, wie Sie Belohnung ausgesetzt haben.“ Roger griff nach dem Stück Papier und schob es in die Tasche. „Für den Preis klebe ich meine Plakate selber an.“ Er wandte sich zum Gehen. „Einen Augenblick noch“, rief der Junge ihm nach. „Geben Sie uns den Auftrag oder lassen Sie es bleiben, ich möchte auf jeden Fall, daß Sie verstehen, wie wir unsere Preise errechnen.“ Roger hielt an. „Hört sich vernünftig an. Wie?“ „Für eine Anzeige wie diese“, antwortete der Junge und deutete auf Rogers Tasche, „kriegen wir die Polizei auf den Hals. I und E wird in Paraport ganz groß geschrieben. Die Polizei hängt uns eine Anzeige für Vorschubleistung an und schließt unseren Laden für drei Monate Lokalzeit. In den drei Monaten müssen wir zusehen, wo wir bleiben. Trotzdem leisten wir für den Kunden ganze Arbeit.“ Roger begann Sympathie für den jungen Mann zu empfinden. Er glaubte zu verstehen, wie die Agentur arbeitete. Ein Laden dieses Aussehens lockte sicherlich nicht viele reguläre Kunden an. Vermutlich hatten die meisten, die hierherkamen, irgendeine gesetzeswidrige Nachricht zu verbreiten. Die Agentur nahm den Auftrag an und führte ihn zu einem angemessenen Preis aus. Angemessen war in diesem Fall, was die Unkosten und drei Monate Verdienstausfall deckte und obendrein noch einen kleinen Gewinn abwarf. Roger zog den Zettel wieder aus der Tasche.
„Ich gebe achtzigtausend“, erklärte er. Der Junge nickte grinsend. „Einverstanden.“ „Aber wenn morgen früh nicht die ganze Stadt von Plakaten glänzt und der Himmel nicht von einem Ende bis zum andern mit meinem Text vollbeschrieben ist, dann komme ich zurück und nehme die Bude auseinander.“ „Sie können sich auf uns verlassen.“ Roger erledigte die Formalitäten und gab eine bedingte Vollmacht, die die Agentur nach Ausführung des Auftrags dazu berechtigte, achtzigtausend Soldar von seinem Konto abzuheben. Dann wandte er sich ein zweitesmal zum Gehen, und zum zweitenmal rief ihn der Junge zurück. „Uns kriegt man wegen Vorschubleistung“, warnte er ernst. „Sie sind derjenige, dessen ungesetzlichem Unterfangen wir Vorschub leisten. Nach Ihnen wird man zuerst suchen. Wenn Sie jemals die Chance erhalten wollen, Ihre hunderttausend Soldar Belohnung auszuzahlen, dann halten Sie sich am besten ein wenig im Hintergrund.“ 3. Zu Beginn des sechsten nachchristlichen Jahrtausends war das der Erde nächstliegende Fünftel der Milchstraße allgemein bekannt. Menschen hatten seit dem Jahre zweitausendsechshundert die Erde in stetigem Strom verlassen, um sich auf neuen Welten anzusiedeln. Im Laufe der Jahrtausende hatte ihnen die neue Umgebung Erbmerkmale aufgeprägt, die sie mehr oder weniger deutlich von ihren Vorfahren unterschieden. Neue Rassen waren entstanden. Der uralte Traum der Menschheit, in der Weite des Raumes auf eine intelligente Bruderart zu stoßen, war niemals in Erfüllung gegangen. Das All war leer, und die alten Philosophen schienen recht zu behalten, die niemals daran gezweifelt hatten, daß die Erde der einzige Planet sei, der jemals intelligentes Leben hervorgebracht habe. Zu Anfang der Ausbreitung der irdischen Menschheit hatte es von Seiten der Erde, weniger jedoch von Seiten der Siedler Bestrebungen gegeben, alle von Menschen besiedelten Welten in einer politischen Organisation zu vereinigen. Die Organisation, gegen Ende des dritten Jahrtausends gegründet, existierte heute noch, aber sie war machtlos, und ihre Beamten beschränkten sich darauf, die Tradition der Irdischen Föderation durch farbenprächtige Uniformen zu demonstrieren. Die Menschheit, zu Beginn der großen Auswanderung nach jahrhundertelangem Mühen schließlich vereinigt, hatte sich seitdem wieder in Dutzende von großen und kleinen Sternenreichen, Machtgruppen, Interessenverbänden und politischen Blöcken gespalten. Der eigentliche Machtbereich der Heimatwelt Erde umfaßte außer dem Sonnensystem vierzehn der Erde benachbarte Systeme und hatte eine maximale Ausdehnung von nicht mehr als dreihundert Lichtjahren, während der bekannte Teil
der Milchstraße annähernd fünfundzwanzigtausend Lichtjahre durchmaß. Trotzdem war das Terranische Kondominium der mächtigste aller politischen Blöcke. Andere Siedlerwelten hatten sich zu kleineren oder größeren Formationen zusammengeschlossen, je nach dem, wie es am nützlichsten war, und viele hatten sich überhaupt nicht affiliiert. Pessimisten hatten zu Beginn des vierten Jahrtausends, als die kurze Blütezeit der Irdischen Föderation endete und die Organisation zur Bedeutungslosigkeit absank, vor langwierigen, blutigen Kriegen gewarnt, die die Sternenreiche untereinander ausfechten würden; aber die Zeit hatte bewiesen, daß ihre Schwarzmalerei unbegründet war. Nicht daß der interstellaren Menschheit nicht dieselben manchmal verantwortungslosen und blutdürstigen Züge ihrer planetengebundenen Vorfahren innegewohnt hätten – aber wer sich ausrechnet, daß er für den Transport eines einzigen Soldaten mittleren Gewichtes von der Garnison bis zum zweitausend Lichtjahre entfernten Schlachtfeld einhundertfünfzigtausend Soldar bezahlen muß, der überlegt sich bald, ob das Objekt des Streites derart astronomische Kosten wert ist, und er wird fast immer zu dem Schluß kommen, daß er besser daran tue, sein Geld und seine Soldaten zu behalten und seinen Ehrgeiz zu vergessen. Die Menschheit blieb also vor interstellaren Kriegen verschont. Überhaupt zeigte die Entwicklung eine Tendenz, ganz automatisch nach immer stabileren Verhältnissen zu streben, und die Murmeln des interstellaren Spieles rollten sozusagen von selber an ihre Plätze. Die politische und gesellschaftliche Struktur der zahllosen Sternenreiche und Einzelwelten war weit davon entfernt, vollkommen zu sein – so, wie auch während der erdgebundenen Epoche der Menschheitsgeschichte die soziopolitischen Strukturen der irdischen Machtbereiche niemals vollkommen gewesen waren, aber es gab eine derartige Vielfalt von ihnen, daß niemand gezwungen war, in einer Gesellschaft zu leben, die ihm nicht behagte. Das Parathion‐System, dessen Besiedlung gegen das Jahr 4600 begonnen und sich zunächst auf den einzigen erdähnlichen Planeten Atiho beschränkt hatte, war von Anfang an seinen eigenen Weg gegangen. In einer sternenarmen Gegend gelegen, hatten sich Anknüpfungspunkte an andere Siedlerwelten nicht wie in anderen Fällen von selbst angeboten, und auf der anderen Seite erwiesen sich die Parathion‐Siedler schon während des ersten Jahrhunderts als so tatkräftig und selbständig, daß sie Hilfe von außen niemals brauchten. Atiho war noch vor wenigen Jahren als eine Welt bekannt gewesen, deren Bürger sich morgens mit dem ersten Hahnenschrei erhoben, den Tag mit harter Arbeit verbrachten, ausschweifenden Vergnügungen und Festlichkeiten abhold waren und das Gesetz achteten. Seit der Entdeckung der wunderbaren Eigenschaften des Alao‐Minerals hatte sich die Lage jedoch zu wandeln begonnen. Die großen Handelsgesellschaften hatten auf Atiho und später auch auf anderen Welten des Systems Zweigniederlassungen errichtet. Geld begann zu rollen, und wer Geld rollen ließ, war darauf bedacht, seine Interessen zu schützen. Die geruhsamen Bürger von Atiho, die ihre Gesetzgeber bisher danach gewählt hatten, wie gut sie die Kandidaten persönlich kannten und
von wem sie sich das meiste versprachen, sahen sich plötzlich marktschreierischen Wahlkampagnen ausgesetzt, die sie verwirrten. Männer zogen in die Legislatur ein, die erst mit den großen Gesellschaften nach Atiho gekommen waren. Ein Mann wurde Präsident, den zwei Jahre zuvor noch niemand im Parathion‐System gekannt hatte. Zu spät wurde ein obendrein schwacher Versuch unternommen, die Erlangung der atihoschen Staatszugehörigkeit von einer zehnjährigen Residenz auf Atiho oder einer anderen Welt abhängig zu machen. Das Parlament, dem dieser Gesetzesvorschlag zugeleitet wurde, bestand schon mehr als zur Hälfte aus Leuten, die nach Annahme des Gesetzes ihren Posten sofort hätten aufgeben müssen. Paraport, die Hauptstadt des Planeten, spiegelte die großmaßstäblichen, planetenweiten Verhältnisse im kleinen wider. Es bestand kaum ein Zweifel daran, daß das Stadtoberhaupt, der Stadtrat und die Polizei mit den großen Firmen zusammenarbeiteten. Sie konnten sich darauf berufen, daß ihre Verhaltensweise Paraport nur Nutzen gebracht habe; denn in den kurzen Jahren ihres Wirkens war die Stadt auf das Dreifache ihrer früheren Größe angeschwollen, und noch war kein Ende des Wachstums abzusehen. Dieser Situation sah Roger Staff sich gegenüber, als er sich dazu entschloß, den entscheidenden Schritt zu tun, der I und E endgültig aus der Reserve herauslocken sollte. Sein Gegner war eines der jüngsten und fortschrittlichsten Unternehmen, das sicherlich nicht versäumt hatte, sich des Beistandes der lokalen Autorität nachhaltigst zu versichern. Er selbst dagegen war auf sich allein gestellt. Zwar gab es eine Orlog‐ Niederlassung auf Atiho mit einem Büro in Paraport; aber erstens war Orlog eine alte, traditionsbewußte Firma, deren Prinzipien es nur in der allergrößten Not erlaubten, die Neigung der Behörden durch Bestechung zu gewinnen, und zweitens war sein Verhältnis zu dem Orlog‐Chef Sy Nadelman nicht dergestalt, als daß er vom hiesigen Orlog‐Büro allzuviel Entgegenkommen hätte erwarten dürfen. Er war trotzdem gewillt, den Orlog‐Auftrag auszuführen. Noch etwas anderes beschäftigte ihn in diesen frühen Morgenstunden, in denen er mit seinem Leihwagen mehr oder weniger ziellos kreuz und quer durch die Stadt glitt, um die neue Umgebung auf sich einwirken zu lassen und mit ihr vertraut zu werden. Er hatte seit seinem erfolglosen Besuch bei den drei örtlichen Fernsehstationen nicht aufgehört, darüber nachzugrübeln, auf welche Weise der Gegner von seiner Absicht erfahren haben könne – und jetzt endlich, fast einen halben Tag später, kam ihm ein Gedanke, der ihn der Lösung des Rätsels um ein ganzes Stück näher zu bringen schien. Es war eine verrückte Idee, grotesk und beunruhigend zugleich. Aber je länger er sich mit ihr befaßte, desto deutlicher wurde ihm, daß er aus seiner Entdeckung, wenn sie richtig war, auch Vorteile ziehen konnte, und als er fünf Stunden vor Sonnenaufgang schließlich ins Hotel zurückkehrte, um sich vor den Anstrengungen des kommenden Tages noch einige Stunden Ruhe zu gönnen, war er sogar sicher, daß die Vor‐ die Nachteile bei weitem überwogen. *
Kalix’ weckte ihn gegen acht Uhr Ortszeit. „Deine Leute sind tüchtig“, sagte er anstatt eines Morgengrußes. „Kaum kann man den Himmel sehen, da haben sie ihn schon von einem Ende bis zum andern vollgeschrieben.“ Roger trat zum Fenster. Sein Blickfeld war begrenzt, aber gegen das dunkle Blau des Himmels, das in der Frühe des Morgens noch einen rötlichen Schimmer trug, sah er das Textbruchstück „‐Tage‐Flüge zur Erde ge…“. Er brummte zufrieden vor sich hin. „Du machst am besten Beine“, riet Kalix’. „Lange wird I & E sich das nicht gefallen lassen.“ Nach einem Bad und einem knapp bemessenen Frühstück war Roger reisefertig. „Du verläßt das Hotel auf keinen Fall“, befahl er Kalix’, „es sei denn, man zwingt dich dazu. Trage dein Kurzsprechgerät an eine Stelle, wo die Polizisten nicht allzuviel Mühe haben, es zu finden. Sie werden es dir abnehmen. Alle weitere Verständigung erfolgt über dein Mikrogerät. Ich muß ständig wissen, was vorgeht. Ich kann in Lagen kommen, in denen ich für längere Zeit am Senden gehindert bin. Halte mich trotzdem auf dem laufenden. Gib mir Informationen, auch wenn ich nicht darum bitte. Im übrigen erteilst du der Polizei keine Auskunft. Du weißt von nichts. Von dem Werbefeldzug hast du erst erfahren, als du die Schrift am Himmel sahst. Und noch etwas! Sollte ich mich lange Zeit nicht melden, oder solltest du an meinem Benehmen etwas Merkwürdiges erkennen, dann wende den alten Zauberspruch an. Klar?“ Kalix’ nickte und sprach mit feierlicher Betonung: „Kleopatra empfing Marcus Antonius in ihrem Palast am Nil…“ „… und verführte ihn“, echote Roger, „innerhalb der ersten Stunde.“ Dann machte er sich auf den Weg. Er ließ den Leihwagen diesmal zurück, begab sich mit einem der öffentlichen Gleitbusse ins Stadtzentrum und lieh sich dort ein anderes Fahrzeug. Nicht daß er der Polizei dadurch bei seiner Verfolgung ernsthafte Schwierigkeiten bereitete, aber er gewann auf diese Weise etwa eine halbe Stunde, die die Polizisten damit verbringen würden, den Lizenzkode seines neuen Leihwagens ausfindig zu machen. Es gehörte mit zu dem Spiel, in das er sich eingelassen hatte. Er war sicher, daß I & E nicht wirklich daran lag, ihn von der Polizei einkassieren zu lassen. Das war zu umständlich und brachte außerdem keine Lösung des Problems, das Roger Staff für den Gegner bedeutete. Die Polizei kam nur hinzu, um den Anschein zu wahren. Roger glaubte im Gegenteil, daß er die Hüter des Gesetzes in Verlegenheit bringen würde, wenn er ihnen die Möglichkeit gab, ihn festzunehmen. Sein Schachzug bot I & E die ideale Gelegenheit, ihm eine Falle zu stellen. Natürlich war der Feind darauf gefaßt, daß Roger eine Falle witterte; aber es gab Mittel und Wege, einen Köder so zu verkleiden, daß ihn selbst der Mißtrauischste für echt halten mußte. Diese Gelegenheit würde I & E sich auf keinen Fall entgehen lassen. Roger rechnete damit, daß er noch vor Mittag Kontakt mit einem gegnerischen Agenten aufnehmen würde, der die gewünschte Information zu besitzen behauptete und sie für die angebotene Entlohnung zu verkaufen bereit war. Er brauchte sich also
vor der Polizei nicht zu fürchten. I & E lag nichts daran, ihn hinter Gittern zu sehen. Sie wollten ihn ausschalten – ein für allemal. Mit seinem Wagen, einem älteren, recht unscheinbaren Modell, fuhr er zunächst zum nördlichen Außenbezirk der Stadt, wo sich auf mehreren großen und kleinen Flughäfen ein Teil des innerkontinentalen Flugverkehrs abwickelte. Er fand ein nicht allzu anspruchsvoll wirkendes Restaurant, in dem er sein Frühstück vervollständigte. Wenn er zum Fenster hinaussah, konnte er seine eigene Botschaft lesen, die unermüdliche Himmelsschreiber immer von neuem mit riesigen Lettern an den wolkenlosen Himmel malten. Roger hielt sich nicht lange auf. Er kehrte in die Stadtmitte zurück und nahm unterwegs Verbindung mit Kalix’ auf. „Vorläufig rührt sich noch nichts“, sagte Kalix’. „Die Polizei in dieser Stadt ist nicht auf dem Posten.“ „Sie werden schon noch kommen“, vertröstete ihn Roger, dann unterbrach er die Verbindung. Der Empfänger, aus dem er Kalix’ Worte hörte, war ein Instrument von mikroskopischen Dimensionen, das er unter der Schädelhaut in unmittelbarer Nähe des rechten Gehörnervs trug. Er war ebenso wie Kalix’ mit zwei Kurzsprechsendern ausgerüstet. Der eine war ein konventionelles Instrument von der Größe eines Spielwürfels, das er gewöhnlich in der Hosentasche trug. Das zweite war wiederum ein Mikrogerät, das subkutan in der Nähe des Kehlkopfs angebracht war. Für diesen zweiten Sender gab es einen Verstärker, ebenfalls unmittelbar in Rogers Körper eingebaut, der das Instrument in ein Langsprechgerät verwandelte. In der Stadtmitte suchte Roger eine Auskunftei auf, deren Roboter in der Lage waren, gegen ein entsprechendes Entgelt alle möglichen Fragen zu beantworten. Durch geschickte Manipulation gelang es ihm, einen der Auskunftrobots so zu verwirren, daß die Maschine nach dem diensthabenden Programmierer rief. Roger kam mit dem Mann ins Gespräch, gewann sein Interesse durch geschickt zur Schau gestellte Kenntnisse der Kybernetik und verließ die Auskunftei schließlich in der Gewißheit, daß durch den Programmierer notfalls Informationen bezogen werden könnten, die den Robotern nicht zur Verfügung standen. In diesem Augenblick meldete sich Kalix’. „Wir kriegen Besuch!“ „Wie erwartet. Sind sie schon bei dir?“ „Auf dem Weg nach oben. Vier Mann hoch, formell angemeldet, höflich, und so weiter. Fragten nach dir. Ich sagte, ich wüßte nicht, wo du bist. Sie wollten trotzdem mit mir sprechen.“ „Halte dich tapfer, Junge“, ermahnte Roger. „Sie sind jetzt an der Tür.“ „Mach ihnen auf. Ich warte, bis du dich wieder meldest.“ Minuten vergingen. Roger bestieg inzwischen sein Fahrzeug und glitt in den Verkehrsstrom. Plötzlich war Kalix’ Stimme wieder da. Sie klang jetzt anders. Die Polizisten hatten ihm den konventionellen Kurzsprechtransmitter abgenommen. „Sie sind hier“, murmelte es aus Rogers Empfänger. „Weiß nicht, ob sie mir glauben.
Wahrscheinlich nicht. Sie haben mir den Kurzsprech abgenommen. Ich darf auch das Hotelgerät nicht von mir aus benützen, nur Gespräche annehmen. Dann werden sie mithören. Sie wollen hierbleiben, bis du zurückkommst.“ „Viel Vergnügen“, spottete Roger. „Was hast du vor?“ „Ich warte auf den ersten Kontakt. Sobald ich ihn habe, wird sich entscheiden, was ich als nächstes unternehme.“ „Nimm dich in acht.“ „Weiß schon. Ich sehe mich vor.“ Sie beendeten das Gespräch. Roger fuhr ziellos in nordöstlicher Richtung, fuhr dann eine weite Schleife und hielt wieder südwärts. Er wollte sich nicht weit von der Stadtmitte entfernen. Er dachte an Kalix’ und ob es ihm wohl gelingen werde, den wachen Verstand des Halbroboters zu täuschen. Das war ein wichtiger Zug in seinem Spiel – praktisch der einzige Trumpf, den er überhaupt besaß. Nur indem er ihn zum richtigen Zeitpunkt ausspielte, konnte er sich eine Aussicht auf erfolgreiche Beendigung dieses Unternehmens verschaffen. Es stand für ihn fest, daß Kalix’ derjenige war, der dem Gegner zweimal wichtige Informationen zugeleitet hatte. Nicht etwa wissentlich, sondern unabsichtlich und vermittels eines Mechanismus, der in seinem Doppelwesen begründet lag. Vorläufig war all dies nur Hypothese; aber Roger war sicher, daß er seine Vermutung bestätigt finden würde, wenn er die nötigen Versuche anstellte. Kalix’ hybrides Gehirn hatte einen elektronischen Mikrospeicher. Kalix’, dessen organisches Erinnerungsvermögen zerstört worden war, hob Informationen in diesem Speicher auf. Der Speicher verbrauchte Energie und erzeugte ein Streufeld, dessen Struktur sich mit der Speicherbelegung änderte. Das Prinzip, den Inhalt eines elektronischen Speichers aus der Struktur seines Streufeldes zu lesen, war seit langem bekannt und gehörte zum alltäglichen Handwerkszeug theoretischer Elektroniker. Roger hatte sich mit diesem Problem niemals befaßt, weil Kalix’ Doppelgestalt ausschließlich sein und Kalix’ Geheimnis war. Außerdem bedurfte es für die sogenannte Speichertastung umfangreicher Geräte, die in unmittelbarer Nähe des Speichers aufgebaut werden mußten, um von der Streustrahlung mit nachweisbarer Intensität getroffen zu werden. I & E hatte es offenbar verstanden, diese beiden Probleme zu lösen. Sie hatten in Erfahrung gebracht, daß Kalix’ ein Halbroboter war, und es war ihnen gelungen, Geräte zur Speichertastung zu entwickeln, die klein genug waren, so daß ein Mann sie unauffällig bei sich tragen konnte. Roger erinnerte sich an das Tonbandgerät, das Heeno Ayron nach Kalix’ Ansicht mit sich geführt hatte. Kalix’ täuschte sich nicht oft, aber in diesem Fall, schien Roger, hatte er einen kapitalen Bock geschossen. I & E hatte sich also auf Erde IV an den Halbroboter herangemacht, nachdem er auf so auffällige Weise zu Nadelman zitiert worden war, und dabei von dem bevorstehenden Orlog‐Auftrag erfahren. Man hatte versucht, Roger von der Annahme des Auftrags abzuhalten, aber das war mißlungen. Daraufhin hatte man sich ihrer auf Atiho angenommen. Der einzige Zweck, den Sanaka und Ayron mit
ihrem Besuch im Hotel verfolgten, war, Kalix’ Informationsspeicher abzutasten und auf diese Weise Rogers Pläne auszuspionieren. Sie hatten folgerichtig gehandelt und durch den Ankauf der drei Fernsehstationen Roger das hauptsächlichste Reklamemedium versperrt. Die Himmelsschreiberei und die Plakate, dachte Roger amüsiert, mußten ein böser Schock für sie gewesen sein; aber sie hatten bestimmt nicht lange gebraucht, um die Möglichkeit zu erkennen, die sich ihnen bot. Roger rechnete keine Sekunde lang damit, mit seinem Aufruf eine verwertbare Reaktion zu erzeugen. Der Schritt war von Anfang an nur dazu geplant, I & E aufzuscheuchen und womöglich zu einer Unvorsichtigkeit zu veranlassen. Die Aussichten standen eine Million zu eins dafür, daß der erste Mann, der sich mit Roger in Verbindung zu setzen versuchte, in Wirklichkeit ein gegnerischer Agent war, dem man es zur Aufgabe gemacht hatte, den unangenehmen Neugierigen unschädlich zu machen und zu beseitigen. Am Südrand der Innenstadt kehrte Roger wieder um. Es hatte keinen Zweck, sich in die gefährliche Nähe des Hotels zu begeben. Er war noch mit dem Wendemanöver beschäftigt, da hörte er von neuem Kalix’ murmelnde Stimme, in der unverkennbar ein Ton der Aufregung mitschwang. „Soeben ersten Kontakt erzielt“, meldete er. „Wie?“ „Ein Mann rief hier an. Ich nahm das Gespräch an. Er wollte mit dir sprechen. Ich konnte ihm gerade noch dein Kodesignal geben, dann rissen sie mir das Mikrophon aus der Hand.“ * Die Folgen wurden sofort spürbar. Es knackste in Rogers Empfänger, und eine befehlsgewohnte Stimme sagte: „Mister Staff, hier spricht die Polizei. Wir haben Ihren Kurzsprech‐Kode. Sie stehen im Verdacht, zur Industriespionage aufgehetzt zu haben. Es ist unerläßlich, daß Sie sich zum Zwecke einer Befragung ins Polizeihauptquartier begeben. Leisten Sie dieser Aufforderung unverzüglich Folge. Eine Weigerung Ihrerseits müßte zu unangenehmen Konsequenzen führen.“ Roger grinste vor sich hin. Der Mann wußte genausogut wie er, daß er in den Wind sprach. Er kannte Bogers Kode, das war alles. Mit dem Kode konnte er Roger anrufen, aber er konnte Roger nicht zum Antworten zwingen. Der Kode ermöglichte ihm auf keinen Fall, den Standort des Empfängers zu bestimmen. Roger zog es vor, zu schweigen. Er hatte der Polizei nichts zu sagen. Der Aufruf wurde zweimal wiederholt, dann war es in dem Empfänger eine Zeitlang still. Roger parkte das Gleitfahrzeug auf einem Abstellstreifen und wartete. Nach sechs Minuten hörte er das dünne, piepsende Rufzeichen, mit dem öffentliche Kurzsprechgeräte ein Gespräch anmeldeten. Er schaltete ein. „Roger Staff hier.“ „Mister Staff…?“
„Ja.“ „Ich glaube, ich habe die Information, die Sie suchen.“ „Sie glauben?“ „Ja. Ich weiß nicht genau, was Sie haben wollen. Aber einiges von dem Zeug, was ich habe, können Sie bestimmt brauchen.“ „Wer sind Sie?“ „Kallo Rounen, früher Ingenieur bei I und E.“ Roger notierte den Namen. „Gut, Mister Rounen, wo können Sie mich treffen?“ „Das ist nicht so einfach. Ich wette, daß I – und – E‐Spitzel schon seit Stunden nach mir suchen. Werde ich erkannt, so ist es um mich geschehen. Kennen Sie das Lagerhallengelände an der Nordwestecke des Raumhafens?“ „Nein, aber ich kann es finden.“ „Gut. Die Hallen sind numeriert und gleichmäßig gebaut. Jede Halle hat jeweils einen Haupteingang an beiden Stirnseiten und insgesamt sechs Nebeneingänge an den Längsseiten. Treffen Sie mich am mittleren Nebeneingang, Ostseite, Halle C‐eins. Verstanden?“ „Wann?“ fragte Roger. „Es ist jetzt elf Uhr zwanzig. Paßt Ihnen dreizehn Uhr?“ „Abgemacht. Mittlerer Nebeneingang, Ostseite, Halle C‐eins.“ „Klar.“ Rounen unterbrach die Verbindung. Roger setzte sein Fahrzeug in Bewegung, schleuste sich in den Verkehrsstrom ein und nahm Kurs auf die Auskunftei. Er hatte Glück, den diensthabenden Programmierer im Vorraum zu treffen. Der Mann freute sich, ihn zu sehen. „Ich brauche dringend eine Auskunft“, erklärte Roger. „Dafür sind wir hier.“ „Sie ist wahrscheinlich vertraulich.“ Der Programmierer hörte auf zu lächeln. „Ernst, wie?“ „Sehr ernst“, bestätigte Roger. „Man könnte sagen, es gehe um Leben oder Tod.“ Der Programmierer, an ein geruhsames Leben gewohnt, war beeindruckt. „So schlimm“, murmelte er. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen kann…“ „Ein Mann namens Kallo Rounen. Behauptet, bis vor kurzem bei I und E als Ingenieur angestellt gewesen zu sein. Ich will wissen, ob das stimmt und unter welchen Umständen er I und E verließ.“ Der Programmierer schien unschlüssig. „Das ist allervertraulichste Information. Ich kann Ihre Fragen wahrscheinlich gar nicht beantworten.“ „Ich zahle“, drängte Roger. Des Programmierers Widerstand begann zu wanken. „Fünfhundert Soldar“, bot Roger. Der Programmierer machte eine entschlossene Handbewegung in Richtung seines Büros.
„Kommen Sie. Ich glaube, wir haben, was Sie suchen.“ In seinem Büro bediente er sich eines elektronischen Registriergerätes, um die Kennzahl der Akte zu finden, die den Lebenslauf des Ingenieurs Kallo Rounen enthielt. „Sie haben Glück“ sagte er zu Roger. „Wir haben tatsächlich einige Unterlagen. Das heißt, daß der Mann ein vergleichsweise bewegtes Leben geführt haben muß, sonst hätten wir ihn nicht hier.“ Roger nickte nur. Der Programmierer drückte eine Taste, und auf der Mattscheibe des an den Komputer gekoppelten Lesegerätes erschien die Titelseite einer Akte mit der Aufschrift KALLO HIJN ROUNEN, MAKKAINÄÄ, OLAPHS STERN, 23‐10‐ 5089. Der Programmierer ließ die Akte ablaufen. Als er die betreffende Stelle erreichte, las er laut vor: „Verließ I und E wegen Unstimmigkeiten mit dem Management. Kam seiner fristlosen Entlassung durch eigene Kündigung um einen Tag zuvor. Anmerkung des Aufzeichnenden: Ernsthafte Schwierigkeiten mit Merin Sanaka. Rounen war der Mann, der die hiesige Niederlassung nach Abberufung des früheren Vorstands eigentlich hätte übernehmen sollen. Statt dessen wurde ihm Sanaka vor die Nase gesetzt. Kurz vor seiner Kündigung schlug Rounen einige Verbesserungen vor, die nach seiner Ansicht zum reibungsloseren Ablauf des Geschäfts hätten führen müssen. Sanaka lehnte die Vorschläge ab. Es kam zu einer Debatte, in deren Verlauf beide Männer handgreiflich wurden.“ Roger zog einen Kontobelastungsschein aus der Tasche und notierte in der dafür vorgesehenen Spalte den Betrag von fünfhundert Soldar. Den Schein schob er dem Programmierer zu. „Sie haben mir aus einer ernstlichen Verlegenheit geholfen“, sagte er. Wenige Augenblicke später saß er wieder in seinem Gleiter und hielt Kurs auf den Raumhafen. Bis jetzt ließen sich die Dinge genauso an, wie er es sich vorgestellt hatte. I und E hatte sich einige Mühe gegeben, ihm einen Mann zu schicken, dem man aufs erste Wort glauben konnte, daß er die vielbegehrten Informationen um jeden Preis hergeben würde, wenn es ihm dadurch nur gelänge, seinem früheren Arbeitgeber zu schaden. Viele Unternehmen arbeiteten auf diese Weise. Ihr Agentencorps bestand aus Männern, die früher regulär bei der Firma beschäftigt waren, sie später jedoch wegen irgendwelcher Unstimmigkeiten verließen. Alles war so geschickt arrangiert, daß der Außenseiter unter normalen Umständen nicht herausfinden konnte, was wirklich vor sich gegangen war. Immer noch war Roger nicht geneigt, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, sein Kontaktmann sei echt. Bei allem, was er von jetzt an unternahm, mußte er von der Voraussetzung ausgehen, daß Kallo Rounen ein I & E‐Agent war. Er erreichte das Raumhafengelände ohne Schwierigkeiten. Auf dem Stadtplansektor, der auf der Mattscheibe der Display‐Konsole seines Fahrzeugs gezeigt wurde, erkannte er, daß das Gelände der Lagerhallen im Schachbrettmuster angelegt war, wobei Straßen die Begrenzung der einzelnen Felder bildeten. Jedes Feld enthielt vier der nach einem Standardmuster gebauten Hallen. Die Steuerautomatik antwortete
auf eine entsprechende Frage, daß zu jeder Zeit mindestens zwanzig Hallen leer und zu vermieten seien. Roger nahm an, daß Kallo Rounen sich ein solches Gebäude ausgesucht habe. Halle C l lag am Südende der C‐Straße in der Südostecke ihres Feldes. Durch einen Zwischenraum von nicht mehr als dreißig Metern von ihr getrennt, erhob sich rechter Hand Halle D 2. Roger nahm den Gleiter in manuelle Schaltung, hob ihn von der Zufahrtsstraße ab und bugsierte ihn auf den schmalen Grasstreifen zwischen den beiden Hallen. Es war fünf Minuten bis dreizehn Uhr, und Kallo Rounen wartete auf ihn. Sein Gleiter, ein altes, kleines Fahrzeug, stand unmittelbar neben dem Seiteneingang im Schatten der Halle. Der Eingang war geschlossen. Bevor Roger ausstieg, vergewisserte er sich, daß der kleine Desintegrator, den er stets bei sich trug, betriebsbereit war. Kallo Rounen war ein mittelgroßer, breitschultriger Mann mit dem Aussehen und Gehabe eines Berufsringers. Ungepflegtes, strohfarbenes Haar hing ihm wirr in die Stirn. Er hatte die Augen zusammengekniffen, als könnte er die Helligkeit nicht vertragen. Er schien unbewaffnet. Roger trat auf ihn zu. „Haben Sie die Unterlagen mitgebracht?“ Rounen grinste verlegen. „Nein. Ich habe sie nicht dabei.“ Roger hatte es nicht anders erwartet, aber er zeigte sich ungehalten. „Wozu haben Sie mich dann hierherbestellt? Ich zahle nur, wenn ich die Sachen in die Hand bekomme.“ „Und wer garantiert mir, daß Sie zahlen?“ fragte Rounen. Roger maß die breitschultrige Gestalt mit einem bezeichnenden Blick und bemerkte: „Sie sehen nicht so aus, als ließen Sie Ihre Schuldner mit dem Geld durchbrennen.“ „Das kann man nie so genau wissen“, erwiderte Rounen. „Gegen einen Hochleistungsdesintegrator kann selbst das stärkste Paar Fäuste nichts ausrichten. Aber ich weiß, wo die Informationen zu erhalten sind.“ „Wo?“ „Ich bringe Sie hin.“ Roger winkte ab. „Das ist mir zu unsicher. Sie sagen mir entweder, wo ich die Auskunft erhalten kann, oder unser Handel ist beendet.“ Rounen zögerte eine Weile. „Die Polizei ist hinter mir her“, drängte Roger. „Jede Sekunde ist verschwendete Zeit.“ „Fred Hakkalyne auf Lynd“, sagte Rounen. „Mein Geschäftspartner. Er hat die Unterlagen und beansprucht die Hälfte der Belohnung, die Sie ausgesetzt haben.“ „Wo ist Lynd?“ fragte Roger. „Ein Kleinplanet im Asteroidengürtel dieses Systems. Trägt einen Handelsposten mit vielleicht dreihundert Mann Besatzung. Kaum zwei Astronomische Einheiten von Ainu entfernt. Fred hat dort seinen eigenen Laden.“
„Wie kommt man dorthin?“ „Mit der Fähre nach Persh, dem letzten großen Planeten vor dem Gürtel, und von dort aus mit Privatcharter. Ich dachte, Sie hätten Ihr eigenes Schiff?“ „Habe ich“, nickte Roger. „Aber ich bin nicht sicher, ob ich es für diese Fahrt benützen soll.“ „Wie Sie wollen. Viel ist ohnehin nicht verloren. Die Fähre nach Persh geht alle zwei Stunden, und Charterflüge finden sich dort billig und schnell.“ „Ich habe es eilig“, bemerkte Roger schließlich. „Sie kommen mit?“ „Selbstverständlich.“ „Ist es Ihnen recht, wenn wir die nächste Fähre nehmen?“ „Völlig.“ „Gut. Dann…“ Roger unterbrach sich mitten im Satz. Um das Nordende der Halle schoß mit fauchendem Triebwerk ein grellgelber Polizeigleiter. Noch bevor das Fahrzeug zum Stehen gekommen war, flogen die Verschlage auf, und eine Gruppe von bewaffneten Polizisten drang daraus hervor. Ein Lautsprecher dröhnte auf: „Roger Staff, Sie sind gestellt! Ergeben Sie sich ohne Widerstand!“ Für den Bruchteil einer Sekunde war Roger verwirrt. Mit dieser Entwicklung hatte er nicht gerechnet. Bevor er noch reagieren konnte, handelte Kallo Rounen. Mit einem mächtigen Satz setzte er sich in Richtung seines Gleiters in Bewegung. Er hatte nur neun oder zehn Schritte zu laufen, aber die Polizisten waren auf der Hut. Ein halbes Dutzend Disintegratoren begannen zu zischen. Bläulichweiße Strahlen blitzten auf, spielten eine halbe Sekunde lang unschlüssig und vereinigten sich dann auf Rounen. Roger sah, wie der Oberkörper des Mannes sich auflöste. Die augenblickliche Verwirrung gab Roger die Chance, die er brauchte. Die eigene Waffe schwingend, der grelle Strahl seines Desintegrators nach allen Richtungen hin zuckend, brach er aus der Eingangsnische und stürmte auf sein Fahrzeug zu. Einen Augenblick später hatte er seinen Wagen erreicht. Ohne den Verschlag zu schließen, riß er den Gleiter im Schnellstart in die Höhe. Anstatt sich nach Süden zu wenden, wo er den Polizisten noch für einige Minuten ein vorzügliches Ziel abgegeben hätte, zog er eine steile Schleife und brauste in wenigen Metern Höhe über das Polizeifahrzeug hinweg. In blinder Panik warfen sich die Uniformierten zu Boden, und als sie wieder aufzusehen wagten, war Roger um die Ecke der Halle herum verschwunden. Er hielt sich in Richtung Raumhafen. Wenn er Glück hatte, schaffte er die nächste Persh‐Fähre, bevor die Polizei ihn fand. Er setzte sich mit Kalix’ in Verbindung. „Der Mann war echt“, lautete seine erste Feststellung. „War?“ erkundigte sich Kalix’. „War. Er lief der Polizei vor den Lauf. Ich bin auf dem Weg nach Lynd.“ „Lynd? Kleinplanet im Asteroidengürtel?“ „Derselbe. Dort wohnt ein Mann namens Fred Hakkalyne. Er hat die Informationen, die ich brauche. Arbeitete mit Rounen zusammen.“ „Gut. Was tue ich?“ „Du bleibst, wo du bist. Sind die Polizisten noch da?“
„Vollzählig. Es gefällt ihnen hier.“ „Gut. Rühre dich nicht, bevor ich mich wieder melde. Mach’s gut, alter Freund.“ Eine Minute später hatte er seinen Gleiter auf einem der öffentlichen Abstellplätze geparkt. Er hatte Glück. Die nächste Fähre startete um vierzehn Uhr. Er hatte genau zwanzig Minuten Zeit, um ein Billet zu kaufen und sich an der Abflugsperre zu melden. Die Fähre flog pünktlich ab. Um vierzehn Uhr dreizehn, Ortszeit Paraport, ging das plumpe Raumschiff von der Umlaufbahn auf Persh‐Kurs. 4. Das Abenteuer war damit in eine neue Phase getreten. Roger Staff war sicher, daß sich unter den Polizisten in seiner Hotelsuite zumindest einer befand, der mit dem I & E‐Speichertastungsgerät ausgerüstet war und den Inhalt von Kalix’ elektronischer Erinnerung lesen konnte. Dort war verzeichnet, daß Roger Staff den Mann Rounen für einen echten Zuträger hielt, auf dessen Angaben er sich verlassen konnte. Der Gegner konnte folglich einen Pluspunkt für sich verbuchen. Es war ihm gelungen, Roger Staff hinters Licht zu führen. Das war der Trumpf, den Roger zu geeigneter Zeit auszuspielen gedachte. Er bedauerte Rounens Schicksal, aber es verleitete ihn nicht dazu, Kallo Rounen für echt zu halten. Er war das Opfer industrieller Intrige geworden wie schon so viele Agenten vor ihm. Das Erscheinen der Polizei hatte wahrscheinlich von vornherein mit zu dem Schauspiel gehört, in dem Rounen als Hauptdarsteller fungierte. Es war ihm aufgetragen worden, sich beim Auftauchen der Polizisten den Anschein zu geben, als wolle er vor ihnen flüchten. Ohne Zweifel hatte man ihm versprochen, daß die Polizei, wenn sie auf ihn schoß, sich Mühe geben würde, ihn nicht zu treffen. Er hatte dem Versprechen geglaubt und war in sein Verderben gegangen. Er mochte für I & E ein brauchbarer Agent gewesen sein, aber noch brauchbarer war für den Gegner im Augenblick ein Roger Staff, der daran glaubte, daß Rounen ihm die Wahrheit gesagt hatte. Kurz vor der Landung auf Persh schaltete Roger sein Funkgerät auf Langsprech und rief Kalix’ an. Die Verbindung erfolgte jetzt über Hyperfunk. Kalix’ meldete sich sofort. „Die Polizisten noch da?“ wollte Roger wissen. „Nein. Sie verschwanden vor zwei Stunden. Behaupten, du wärst am Südrand der Stadt festgenommen worden.“ „Um ein Haar – nicht ganz. Du hast volle Bewegungsfreiheit?“ „Ja.“ „Gut. Ich möchte, daß du folgendes tust, höre mir gut zu: Du fährst zur Orlog‐ Niederlassung in Paraport und beschwerst dich dort, daß man mich festgenommen hat. Du dringst darauf, daß Orlog sofort meine Freilassung durchsetzt. Orlog wird sich erkundigen und feststellen, daß ich nicht gefangen bin. Daraufhin schlägst du
Lärm, behauptest, ich sei spurlos verschwunden, verdächtigst I und E, die Regierung und die Polizei und verlangst, daß Orlog auf keinen Fall darauf eingehen kann. Nachdem sie dich abgewiesen haben, läßt du laut und deutlich vernehmen, daß du dich zum nächsten Stützpunkt der Raumpatrouille begibst, um dir dort zu deinem Recht zu verhelfen. Der nächste Raumpatrouillenhafen liegt im Epithon‐System, rund zweitausend Lichtjahre von Parathion entfernt. Du begibst dich dann zum Raumhafen und fertigst für die Natomas Star Flugpapiere aus, die Epithon als Flugziel angeben. Nach Starterlaubnis hebst du ab und gehst, sobald du die kritische Distanz überschritten hast, in den Überraum. Ist das klar?“ „Klar“, bestätigte Kalix’. „Aber ich soll nicht nach Epithon fliegen, ist das richtig?“ „Ich wußte schon immer, daß dich keiner hinters Licht führen kann“, spottete Kalix’. „Darum dreht’s sich nicht. Ich gehe zum Schein in den Überraum. Das kostet mehr als vierhunderttausend Soldar an Energie – und das alles nur für einen billigen Trick?“ „Läßt sich nicht vermeiden. Übrigens bezahlt Orlog Prämie und Unkosten. Die vierhunderttausend sind Unkosten.“ „Gut, solange du Orlog davon überzeugen kannst. Was dann?“ „Du kommst nach zwei oder drei Lichtminuten wieder aus dem Überraum hervor, kehrst um und hältst Kurs auf Lynd.“ „Aha. Du bist doch nicht so vertrauensselig, wie du mich glauben machen wolltest.“ „Das hat seinen Grund. Wir sprechen später darüber. Ich werde auf Persh ein bißchen Zeit vertrödeln. Du hast Zeit genug, um vor mir auf Lynd zu sein. Laß die Star irgendwo zwischen den Planetoiden und lande mit einem Beiboot. Ich will dich unmittelbar in der Nähe haben, wenn ich mit Hakkalyne zusammentreffe.“ „Wird gemacht“, antwortete Kalix’. „Du hältst Hakkalyne also für eine Falle.“ „Unbedingt. Ich nehme an, er wird mir einen hypnotischen Block aufsetzen wollen, damit er mich dorthin bringen kann, wo mir endgültig der Garaus gemacht werden soll. Halte also dein kleines Sprüchlein bereit.“ „Stets zu Diensten. Ist das alles?“ „Alles“, bestätigte Roger. „Mach dich auf die Beine und vergiß nicht, die Hotelrechnung zu bezahlen.“ Dreißig Minuten später landete die Fähre auf dem einzigen Raumhafen des Planeten Persh. Persh war eine kleine, kalte Welt mit dünner Sauerstoffatmosphäre. Die Schwerkraft betrug nur ein Fünftel derer, an die der Mensch gewöhnt war, denn die Bedeutung des Planeten reichte nicht aus, um den Einbau einer planetarischen Schwerkraftanlage zu rechtfertigen. Persh lebte in der Hauptsache vom Durchgangsverkehr zwischen Atiho und dem Planetoidengürtel. Der Planet gehörte administrativ zu Atiho, genoß jedoch Sonderrechte, deren Umfang selbst eingeborenen Bürgern schwer verständlich war. So gab es zum Beispiel ein Gesetz, wonach während der mehrhunderttägigen Periode, während der Persh und der Zentrale Asteroidensektor, zu dem auch Lynd und Ainu gehörten, von Atiho aus gesehen in Konjunktion standen, keine direkten Flüge von Atiho nach dem Planetoidengürtel durchgeführt werden durften. Alle Flüge mußten auf Persh enden,
und wer weiterwollte, war gezwungen, sich ein privates Fahrzeug zu chartern. Die Fahrzeugbesitzer auf Persh verdienten Unsummen, und jeder, der gezwungen war, auf diesem Weg zu reisen, beschwerte sich lautstark und nachhaltig bei den Behörden in Paraport, aber es war niemals auch nur ein Versuch unternommen worden, das Arrangement zu ändern. Roger begab sich unmittelbar nach der Landung zum Ostende des Raumhafens, das den Privatfahrzeugen vorbehalten war. Das Chartern eines Privatraumschiffes vollzog sich nach denselben Regeln wie ein Börsenhandel. In einem saalartigen Raum im Erdgeschoß des Verwaltungsgebäudes, das sich am Rand des privaten Raumhafensektors erhob, trafen Angebot und Nachfrage aufeinander. Der Reisende gab seinen Auftrag mit mehr oder weniger festem Preisgebot an einen Makler, der sich sodann in das Gedränge im Saal mischte und einen anderen Makler zu finden versuchte, dem sein Preis genehm war. Nach Abschluß eines Handels kassierten beide Makler gemeinsam eine Kommission von zehn bis vierzehn Prozent des vereinbarten Fahrpreises. Die Kommission war von dem Reisenden zu tragen. Die Prozedur war weniger umständlich, als sich ihre Beschreibung anhörte. Die Makler waren Fachleute. Ihnen lag es ebenso wie den Fahrzeugbesitzern daran, ihr Geld so rasch wie möglich zu verdienen. Gewöhnlich waren fünfzig Minuten nach Ankunft der Fähre alle Reisenden untergebracht, und nur hier und da blieb einer übrig, der genug Zeit hatte und warten konnte, bis die Baisse nach dem Start der Charterboote und vor der Landung der nächsten Fähre niedrigere Preise brachte. So verfuhr Roger Staff. Er gab einem Makler den Auftrag, für ihn einen Flug auf einem nicht mehr als zehnsitzigen Schiff für nicht mehr als dreitausend Soldar zu buchen. Der Makler lachte ihn aus, aber nach den geltenden Regeln mußte er den Auftrag annehmen. Der gängige Preis für Passagen dieser Art war fünfeinhalbtausend Soldar. Unbeteiligt beobachtete Roger vom Zuschauerbalkon aus das Treiben unten im Saal. Das zu Beginn hektische Durcheinander entwirrte und beruhigte sich, je mehr Reisende eine annehmbare Passage fanden. Die Makler begaben sich in Scharen zu den Erfrischungsständen an der Peripherie des Raumes, um sich von der Anstrengung zu erholen und sich auf den nächsten Ansturm vorzubereiten. Nur hier und dort standen noch einige Gruppen zusammen, und zwischen ihnen bewegte sich Rogers Makler, dem es noch immer nicht gelungen war, einen Abnehmer für sein Angebot zu finden. Roger sah, wie er mit einem hochgewachsenen, jungen Mann längere Zeit diskutierte. Der Große amüsierte sich zunächst – das war, schloß Roger, als der andere ihm dreitausend Soldar anbot –, wurde jedoch bald darauf ernst. Rogers Makler machte eine weitausholende Geste, die den mittlerweile ruhig gewordenen Saal umfaßte, woraufhin der andere zu stutzen schien. Eine kurze, heftige Verhandlung folgte, dann kehrte Rogers Makler mit siegesbewußter Miene zum Ausgang des Saales zurück. Roger kam ihm entgegen. „Ich habe einen Narren gefunden, der Ihr Angebot annimmt“, sagte der Makler.
„Unter einer Bedingung.“ „Und die wäre?“ „Daß Sie sich wenigstens zwanzig Standardtage lang auf Lynd aufhalten und während dieser Zeit im Vegas Sands wohnen.“ „Was ist das?“ „Eine Art Hotel.“ „Gut?“ „Ich nehme an. Teuer genug auf jeden Fall.“ „Warum diese Bedingung?“ Der Makler zog die Brauen in die Höhe. „Mein Mann ist Geschäftspartner im Vegas Sands.“ „Das ist unethisch“, beschwerte sich Roger. Da riß dem Makler die Geduld. „Zum Teufel mit Ihnen!“ schrie er Roger an. „Ich will Ihnen was sagen – Sie können sich Ihre dreitausend Soldar in den…“ „Schon gut, schon gut!“ lachte Roger. „Ich nehme an. Hier ist Ihre Gebühr. Wo finde ich das Fahrzeug?“ Der Makler betrachtete den Kontobelastungsstreifen, fand ihn zufriedenstellend und steckte ihn ein. „Bett acht‐zwo‐drei“, sagte er im Weggehen. „Die Ramada.“ Die Ramada erwies sich als ein schmuckes, kleines Schiff. Aus irgendeinem Grund schien der Besitzer beim Aushandeln der letzten Passagen zu kurz gekommen zu sein. Roger war der einzige Passagier. Das Schiff startete wenige Minuten, nachdem er an Bord gekommen war. Er machte es sich so bequem wie möglich und entschloß sich, die Zeit mit der Betrachtung eines psi‐aktiven Spielfilmes zu vertreiben. Er schaltete die Apparatur so, daß er sich mit Handlungsweise und Gefühlsregungen des männlichen Hauptdarstellers identifizieren würde, und entspannte sich, um den aus dem Projektionsgerät auf ihn eindringenden Stimuli freien Bewegungsraum zu geben. Als der erste Impuls in sein Bewußtsein drang, ging ihm auf, daß er den Aktionsplan des Gegners falsch berechnet hatte. Er würde nicht in den Genuß des psi‐aktiven Films kommen – weil I & E mit dem nächsten Schlag nicht zu warten gedachte, bis er sich bei Fred Hakkalyne gemeldet hatte. Er ärgerte sich über seine eigene Kurzsichtigkeit. Welch bessere Möglichkeit gab es, dem Bewußtsein eines Menschen einen hypnotischen Block aufzusetzen, als die Stimulantien eines psi‐aktiven Films, denen sich der Ahnungslose freiwillig aussetzte. Roger spürte, wie sein freier Wille schrumpfte und schwand. Er machte keinen Versuch, den hypnotischen Bann abzuwehren. Wenn jemand die Reaktion seines Bewußtseins mit Hilfe von Meßgeräten überprüfte, mußte er zu dem Schluß kommen, daß der Schock zu groß für Roger Staff gewesen sei, als daß er noch Kraft gefunden hätte, sich zu wehren. Der letzte bewußte Gedanke, an den Roger sich später erinnerte, war: Kalix’, sei auf der Hut!
* Auf Lynd mietete der Pilot der Ramada ihm einen Gleitwagen. Roger war ein wenig verwirrt ob des Anlasses, der ihn nach Lynd gebracht hatte. Alles, woran er sich erinnern konnte, war, daß er das Hotel Vegas Sands aufsuchen solle, wo ihm weitere Anweisungen erteilt werden würden. Aber er kam nicht dazu, über den Mangel an Erinnerung nachzudenken. Lynd war eine Welt, die seine Aufmerksamkeit sofort und in vollem Umfang in Anspruch nahm. Es gab nur eine einzige Siedlung auf dem atmosphärelosen, öden Asteroiden. Sie hieß sinnvollerweise Lynd‐Stadt und lag unter einer mächtigen Energiekuppel, durch die die Schwärze des Alls, besät mit unzähligen Lichtflecken nahestehender Planetoiden, Kleinstplaneten und Felstrümmern, ungehindert hereinschaute. Das Landefeld selbst lag außerhalb der Kuppel, aber ankommende Reisende betraten vom Schiff her durch klimatisierte Schlauchgänge unmittelbar ein unterirdisches Straßensystem, das an den Umweltgenerator der Kuppel angeschlossen war. Dort herrschte normale Schwerkraft, Temperatur und Luftfeuchtigkeit waren auf den verträglichsten Wert einreguliert. Roger bestieg seinen Gleiter am Rand eines quadratischen Platzes, dessen gegenüberliegende Seite sanft anstieg und durch einen etwa dreißig Meter hohen Spalt, durch den Roger das Schwarz des freien Weltraums sehen konnte, in den eigentlichen Kuppelraum mündete. Das Fahrzeug war mit einer automatischen Zielsuche ausgerüstet, was angesichts der geringen Anzahl verfügbarer Ziele auf Lynd keine besondere Leistung darstellte. Roger wählte das Vegas Sands und ließ sich in das Polster zurücksinken, um den Eindruck der merkwürdigen Umgebung ungestört auf sich einwirken zu lassen. Lynd‐Stadt war ein bunt zusammengewürfeltes Gemenge von Gebäuden aller Größen und Stilarten. Von Planung war nirgendwo die Rede. Die Straßen schlängelten sich zwischen den Häusern hindurch, waren jedoch breit und mit einem vorzüglichen Radarlenksystem versehen. Überhaupt machte die ganze Stadt trotz der Unordentlichkeit einen gediegenen, reichen Eindruck. Dieser wiederum kam nicht von ungefähr. Noch bis vor wenigen Jahren war Lynd eine unbekannte, winzige Welt gewesen, auf der nur eine Handvoll Prospektoren und Händler lebten – Verrückte in den Augen ihrer auf größeren, bequemeren Planeten lebenden Mitmenschen. Dann jedoch kam der erste Alao‐Fund auf Ainu, das nach dem Maßstab der interstellaren Raumfahrt nur einen Katzensprung weit entfernt war. Bergbautrupps stürzten sich auf den bis dahin namenlosen Asteroiden. Anstatt sich um den Güternachschub selbst zu kümmern, überließen sie diese Aufgabe den Händlern auf Lynd. Die Lynd‐Leute verstanden ihr Geschäft und sie verdienten Geld wie noch nie zuvor. Die Händler schlossen sich zu einer Gilde zusammen, deren Aufgabe in erster Linie war, andere Interessierte am Zuzug nach Lynd zu hindern. Es lag ihnen nicht daran, den so plötzlich angeschwollenen Fluß des Reichtums in mehr Kanäle zu leiten, als unbedingt notwendig war. Aber die Gilde erfüllte auch einen anderen Zweck. Sie gab ihren Mitgliedern ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das den alten Lyndern bisher fremd gewesen war. Sie ließ sie
die Notwendigkeit empfinden, dieser so unerwartet gewonnenen Zusammengehörigkeit Ausdruck zu verleihen, und fand dazu keinen besseren Weg, als eine Stadt zu bauen, in der sie alle wohnten, anstatt, wie bisher, über die zerklüftete Oberfläche des kleinen Planetoiden verteilt, und die Stadt gegen die Unbilden des freien Weltalls zu schützen. Geld zur Errichtung der modernsten und zuverlässigsten Anlagen war in Fülle vorhanden. So entstand Lynd‐Stadt – eine Siedlung von Männern, die zur richtigen Zeit am richtigen Platz gewesen waren und ihren Vorteil zu nutzen verstanden. Die Straße, auf der nur mäßiger Verkehr herrschte, wand sich über die Kuppe eines Hügels, von der aus Roger durch die Energiekuppel hindurch das Raumlandefeld außerhalb der Stadt überblicken konnte. Er schätzte die Zahl der dort abgestellten Raumschiffe auf wenigstens zweihundert. Im Tal vor ihm sah er, etwa einen halben Kilometer von der Straße zurückgesetzt, einen Komplex weitläufiger, einstöckiger Gebäude. Über dem ganzen schwebte eine Leuchtschrift mit den Lettern VEGAS SANDS. Er war am Ziel. Das Vegas Sands war eine der wichtigsten Etappen in diesem Unternehmen. Er war begierig zu erfahren, welche Informationen er dort erhalten werde. Sein Auftrag lautete, einigen Sabotageanschlägen auf die Spur zu kommen, die innerhalb der vergangenen einhundert Standardtage auf die I & E‐Alaominen auf Ainu verübt worden waren. Er war zu diesem Zweck auf dem geradesten Weg von der Erde nach Atiho gekommen und hatte sich dort mit den Männern der I & E‐ Niederlassung in Paraport verständigt. Seitdem kannte er die Vorgänge, die I & E beunruhigten, in großen Umrissen. Die Details, die er zur Ausführung seines Auftrages benötigte, würde er in Lynd‐Stadt erhalten. All das war ihm klar. Was ihn beunruhigte, war, daß seine Erinnerung an die Vorgänge der letzten Tage dieselbe Konsistenz hatte, als hätte er über sie in einem Buch gelesen, anstatt sie selbst zu erleben. Es kam ihm ein paarmal der Verdacht, daß I & E ihm einen leisen hypnotischen Block aufgesetzt habe, der ihn daran hinderte, sich an mehr als das Notwendigste zu erinnern. Solche Dinge waren üblich, wenn es der Auftraggeber mit einem unzuverlässigen oder nur mittelmäßig befähigten Agenten zu tun hatte. Ein Mann vom Range eines Roger Staff verbat sich derartige Behandlung, und genau das würde er den verantwortlichen I‐&‐E‐Leuten klarmachen, sobald er sie wieder zu sehen bekam. Der Gleiter verließ die Straße und kam an der Auffahrt des vordersten Hotelgebäudes zum Stehen. Der Verschlag öffnete sich. Roger stieg aus. Der Haupteingang des Hauses glitt auf, und ein hochgewachsener, starkknochiger Mann mit wildem Haarwuchs und einem struppigen Bart kam mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. „Mister Staff – Gott sei Dank, daß Sie hier sind!“ Roger stand unschlüssig. Der Große legte ihm die Hände auf die Schultern und drückte ihn brüderlich an sich. „Ich vergesse“, entschuldigte er sich. „Sie kennen mich nicht. Ich bin Fred Hakkalyne, Besitzer dieses Hotels. Sie wurden von Paraport an mich gewiesen.“ Roger nickte. „Inzwischen hat sich einiges ereignet“, sagte Hakkalyne, nahm Roger beim Arm und
zog ihn auf das Gebäude zu. „Aber erst wollen wir Sie unterbringen. Sie brauchen Ruhe und Entspannung. Genießen Sie beides in vollen Zügen, denn Ihre baldige Abreise nach Ainu ist unbedingt erforderlich.“ „Bald?“ fragte Roger. „Wie bald?“ „Wie lange brauchen Sie, um völlig fit zu sein?“ Roger zuckte mit den Schultern. „Drei, vier Stunden.“ „Gut. In drei Stunden steht mein Kreuzer bereit, um Sie nach Ainu zu bringen.“ Roger lachte. „Und in der Zwischenzeit haben Sie mir eine Menge zu erzählen, wie? Wann soll ich mich ausruhen?“ „Alles, was Sie wissen müssen, ist auf Memoband festgehalten“, beruhigte ihn Hakkalyne. „Zum Abhören des Bandes brauchen Sie nicht mehr als fünfzehn Minuten. Die übrige Zeit steht zu Ihrer freien Verfügung.“ Roger erhielt eine von der Straße abgelegene, ruhige Suite, die wenigstens ebenso komfortabel war wie die Hotelunterkunft in Paraport, an die er sich erinnerte. Nach so vielen Stunden unterwegs genoß er die Vorzüge einer zivilisierten Umgebung, wie Fred Hakkalyne ihm geraten hatte, in vollen Zügen. Er badete ausgiebig, nahm ein umfangreiches Mahl zu sich und erfrischte sich an der kleinen Bar, deren Automatik etwa zweihundert verschiedene Cocktails herzustellen vermochte. Dann rief er Hakkalyne an und bat ihn, das Memoband zu bringen. „Jetzt schon?“ echote der Bärtige verwundert. „Ich dachte, Sie wollten sich erst mal ausschlafen.“ „Später“, sagte Roger. „Ich höre mir das Band jetzt und noch einmal kurz vor dem Abflug an.“ „Gut. Ich lasse Ihnen das Gerät bringen.“ Minuten später erhielt Roger ein Memobandgerät. Das Band, das er abhören sollte, war schon montiert. Er nahm die nötigen Anschlüsse vor und schaltete auf Wiedergabe. Der Inhalt des Bandes war knapp und präzise gefaßt und psi‐aktiv orientiert und mit Musik untermalt, so daß es das Gehirn ein Minimum an Mühe kostete, das Gehörte zu speichern und zu verankern. Der Abhörvorgang dauerte vierzehn Minuten. Danach wußte Roger, daß vor wenigen Stunden eine Alao‐Mine der I & E auf Ainu durch einen Sabotagetrupp zerstört worden war. Der Gegner hatte Spuren hinterlassen, die ihn unzweideutig mit der auf Ainu stationierten Orlog‐Gruppe in Verbindung brachte. Der Leiter der I‐&‐E‐Mine, Lesz Mannich, bat dringend um Hilfe, da er weitere Übergriffe fürchtete. Roger überdachte das Gehörte. Er war enttäuscht. Er hatte gehofft, wenigstens hier auf Lynd Dinge zu erfahren, die ihn ein wenig mehr mit seinem Auftrag vertraut machten – die ihm das Gefühl verliehen, er sei tatsächlich an einem Unternehmen beteiligt und nicht ein Zuschauer, der aus der Entfernung einen verwirrenden Ablauf von Vorgängen betrachtete. Statt dessen hatte man ihn nur eine Station weitergewiesen. Er befand sich noch in dieser grüblerischen Stimmung, als eine murmelnde Stimme
in sein Bewußtsein drang. „Roger? Wie steht’s? Hier ist Kalix’!“ * Der Name wirkte auf ihn wie ein elektrischer Schlag. Kalix’! Wie hatte er Kalix’ vergessen können? Wo war Kalix’? Warum kam es ihm so vor, als hätte Kalix’ mit diesem Auftrag nichts zu tun, als befände er sich weit von hier entfernt auf einer fremden Welt? Kalix’, der kaum jemals von seiner Seite wich? „Wo steckst du?“ fragte er vorsichtig. „Ganz in der Nähe.“ „Was suchst du hier? Ich dachte, du solltest…“ Er zögerte. Er wußte nicht, was Kalix’ in diesem Augenblick hätte tun sollen. „Ich sollte was?“ forschte Kalix’. „Keine Ahnung.“ Kalix’ kicherte. „Mann, dich haben sie ganz schön in die Mache genommen. Kennst du Kleopatra?“ „Was meinst du, kenne ich Kleopatra. Natürlich…“ „Schon gut“, wehrte Kalix’ ab. „Konzentriere dich. Höre gut zu!“ „Ich höre“, antwortete Roger verwundert. „Kleopatra empfing Marcus Antonius in ihrem Palast am Nil…“ Es klickte im Hintergrund seines Bewußtseins. Zwei Zahnrädchen, die bisher haltlos aneinander vorbeigerutscht waren, versenkten ihre Zähne ineinander und drehten sich wieder im Gleichtakt, wie es sich gehörte. Ein schwerer Nebel löste sich von seinem Erinnerungsvermögen, stieg in die Höhe und stob davon. Er empfand einen unwiderstehlichen Drang, Kalix’ unvollständigen Satz zu beenden. Die Worte formten sich wie von selbst und drängten sich ihm auf die Zunge: „…und verführte ihn innerhalb der ersten Stunde.“ Da wurde es vollends Licht. Plötzlich wich das Gefühl dumpfer Verwirrung. Von einem Atemzug zum andern lagen die Dinge, die er während der vergangenen Tage erlebt hatte, wieder klar und deutlich vor ihm. Die Erkenntnis, daß sein Plan erfolgreich gewesen war, erfüllte ihn mit wilder Begeisterung. Er nahm sich zusammen. Sein Zimmer wurde wahrscheinlich beobachtet. Das Gespräch mit Kalix’ hatte er, dem Instinkt folgend, nur mit den Stimmbändern bestritten; man hatte ihn also nicht hören können. Aber er mußte sich in acht nehmen. Niemand durfte eine Veränderung an ihm bemerken. Niemand durfte ahnen, daß er in der scheinbaren Abgeschlossenheit seiner Unterkunft endlich den Trumpf ausgespielt hatte, der ihm schon seit langem zwischen den Fingern brannte. Er wußte jetzt, wie der Feind das Spiel zu vollenden gedachte. 5.
Es bedurfte einiger Vorbereitungen, um einen Mann wie Roger Staff aus dem Weg zu schaffen, ohne daß dabei erhebliches Aufsehen entstand. Man konnte ihn nicht einfach verschwinden lassen, dazu war er zu gut bekannt. Man mußte geschickt vorgehen und alle Spuren, die Staffs Schicksal mit den Drahtziehern des Unternehmens in Verbindung zu bringen vermochten, sorgfältig verwischen. Ein Attentat auf Atiho war so gut wie ausgeschlossen. Persh kam ebenfalls nicht in Frage, und selbst Lynd war noch eine viel zu zivilisierte Umgebung für ein derartiges Unterfangen. Eine der öden Asteroidenwelten, womöglich Ainu selbst, war der geeignete Ort. Alle Welt würde bezeugen können, daß Roger Staff sich freiwillig dorthin begeben hatte. Die Details des Planes, der zur Liquidierung des unangenehmen Agenten Roger Staff führen sollte, ließen sich allerdings vorläufig noch nicht erraten. Nur soviel war klar: Der Gegner glaubte – mit Recht, nach seiner Ansicht – , mit Roger von nun an leichtes Spiel zu haben. Er trug einen hypnotischen Block mit sich herum, der ihn daran hinderte, die wahren Zusammenhänge zu erkennen, und ihn selbst sinnlosen Anweisungen zugänglich machte. Das einzige Hindernis, Rogers treuer Genosse Kalix’, war aus dem Wege geräumt. Kalix’ war Tausende von Lichtjahren entfernt, um bei der Raumpatrouille eine Beschwerde anzubringen, auf die jede Reaktion zu spät kommen mußte, um Roger Staff noch von Nutzen zu sein. Unter diesen Voraussetzungen, fand Roger, stiegen seine Erfolgsaussichten auf über 50 Prozent. Er besprach mit Kalix’ die Einzelheiten ihres weiteren Vorgehens. Kalix’ war in einem Beiboot der Natomas Star, das er als Privatjacht ausgab, auf Lynd gelandet. Das Schiff selbst hatte er auf einem unbewohnten Felsbrocken versteckt. Von jetzt an war wichtig, daß er ständig in Verbindung mit Roger blieb und einen Warteposten bezog, von dem aus er sowohl mit dem Beiboot, als auch mit der Natomas Star selbst Roger im Notfall auf dem kürzesten Weg zu Hilfe eilen konnte. Roger drängte darauf, daß er Lynd so rasch wie möglich wieder verließ. Seine Gestalt war auch in Verkleidung zu auffallend, als daß er sich dem Risiko, gesehen zu werden, länger als unbedingt nötig aussetzen durfte. Zudem mochte jemand am Raumhafen neugierig werden und herauszufinden versuchen, wem die eigenartige Privatjacht gehörte. Kalix’ nahm darauf seinen Abschied und meldete sich nach dreißig Minuten wieder, um Roger zu informieren, daß er unerkannt zum Raumhafen zurückgekehrt sei und sich mit dem Beiboot inzwischen um fast eine halbe Astronomische Einheit von Lynd entfernt habe. Daraufhin begab sich Roger einstweilen zur Ruhe. Er nahm einen genau bemessenen Betrag eines Schlafmittels und erwachte nach einer Stunde ausgeruht und entspannt. Von den drei Stunden, die Hakkalyne ihm zugestanden hatte, waren noch fünfzig Minuten übrig. Roger bereitete sich auf die Abreise vor und hörte, bevor er seine Unterkunft endgültig verließ, das Band noch einmal ab. Hakkalyne gegenüber gab er sich zugänglich und zugleich geistesabwesend, wie ein Mann, der über vieles nachzudenken hat. Mit größter Sorgfalt spielte er die Rolle, in der der Bärtige ihn zu sehen erwartete. Er war weit davon entfernt, sich sicher zu fühlen. Es gab Mittel und Wege, um festzustellen, ob ein Mann unter hypnotischem Einfluß stand oder nicht. Hakkalyne brauchte nur Verdacht zu schöpfen, und das
Spiel war aus. Nichts dergleichen geschah jedoch. In liebenswürdigster Manier, als verabschiede er einen alten Freund, brachte Hakkalyne ihn bis zu dem Gleiter, der ihn zum Raumhafen bringen sollte, und wies ihn an, sich mit allen Fragen an den Piloten des Schiffes zu wenden, mit dem er nach Ainu flog. Fred Hakkalynes Privatjacht war ein kleines, jedoch modernes Fahrzeug, das für interstellare Fahrten geeignet war. Jemand an Bord des Schiffes mußte auf Rogers Ankunft gewartet haben, denn als er die Rampe emporglitt, die aus dem unterirdischen Fußgängertunnel zu dem mit der Schleuse verbundenen Schlauch emporführte, öffnete sich das Schleusenschott. Das Innere des Fahrzeugs war hell erleuchtet. Die auserlesene Gediegenheit der Einrichtung war beeindruckend. Ein kurzer, weiter Gang mündete in einen Aufenthaltsraum, der mit Sesseln, Serviertischen, Lesegeräten und einer kleinen Bar ausgestattet war. Die dem Eingang gegenüberliegende Tür war offen und erlaubte einen Blick in den Pilotenraum. Ein nicht allzu hochgewachsener Mann mittleren Alters, der sich eben noch über eine Konsole mit Meßinstrumenten gebeugt hatte, richtete sich auf, als Roger durch das Schott trat. „Ich bin Folan Hardy“, sagte er formlos und nur mit halbem Interesse. „Machen Sie es sich gemütlich. Ihre Kabine ist Nummer vier. Wir starten, sobald ich alle Kontrollen abgelesen habe.“ Roger hielt es für überflüssig, sich vorzustellen. Der Mann wußte offenbar, wer er war. „Ziel Ainu?“ erkundigte er sich. „Ziel Ainu“, nickte Hardy. Dann wandte er sich seinen Instrumenten zu und gab dadurch zu erkennen, daß er an einer weiteren Unterhaltung vorläufig nicht interessiert sei. Roger kehrte in den Aufenthaltsraum zurück. Zuvor waren ihm Ziffern aufgefallen, die in unregelmäßigen Abständen über die Wand des Raumes verteilt waren. Sie gingen von eins bis sechs. Er schritt auf die Vier zu und beobachtete, wie sich die bisher völlig fugenlose Wand vor ihm teilte, als er bis auf zwei Schritte herangekommen war. Hinter der Öffnung lag eine kleine, aber behaglich eingerichtete Kabine. Die rechte Wand wurde von einer Koje eingenommen. In der linken gab es eine Tür, die vermutlich zu den sanitären Anlagen führte. Roger zog es vor, den Start im Aufenthaltsraum zu erwarten. Er ließ sich an der Bar nieder und wählte ein Getränk. Dabei starrte er auf einen der entlang der Wand wie Fenster angebrachten Fernsehempfänger, der das Bild der Außenwelt ins Innere des Raumfahrzeuges übertrug. Die Energiekuppel schimmerte im Glanz der fernen Sonne, und die Bewegungen der Fahrzeuge unter der Kuppel erschienen aus der Ferne verlangsamt. Das Bild hauchte einen Atem der Friedlichkeit aus, der einschläfernd wirkte. Roger erwischte sich dabei, wie sich seine Gedanken auflösten und haltlos in allen Richtungen davonflatterten. Er sah auf die Uhr. Seit seinem kurzen Gespräch mit Hardy war fast eine halbe Stunde vergangen. Er stand auf und betrat den Kontrollraum zum zweitenmal.
Hardy saß vor dem Pilotenpult und hatte die Beine weit von sich gestreckt. „Wann starten wir?“ fragte Roger. Hardy machte eine Ungewisse Handbewegung. „Kommt ganz darauf an.“ Roger hielt es für angebracht, sich selbst in angeblich hypnotisiertem Zustand eine derart erniedrigende Behandlung nicht gefallen zu lassen. „Hören Sie gut zu, Hardy“, sagte er ruhig, aber mit scharfer Stimme. „Ich bin der Agent, der für die I & E ein Problem zu lösen hat. Sie sind weiter nichts als der Chauffeur. Entweder Sie verhalten sich, wie es sich gehört, oder ich steige aus und halte Hakkalyne einen Vortrag über die Unverschämtheit seines Personals. Also noch einmal: Wann starten wir?“ Die Methode verfing. Hardy richtete sich aus seiner allzu bequemen Stellung auf und antwortete ohne Zögern: „Es gab im letzten Augenblick noch eine Änderung im Fahrplan. Ich muß auf einen weiteren Passagier warten. Er wird jeden Augenblick hier sein.“ Ein unsichtbarer Sensor in Rogers Bewußtsein schlug Alarm. Warum war der Plan im letzten Augenblick geändert worden? Verdächtigte man ihn? „Wer ist das?“ fragte er. „Ich weiß es leider nicht“, antwortete Hardy nun fast unterwürfig. Er wollte noch mehr sagen, aber ein Summer klang auf, und einer der Bildschirme über dem Pilotensitz wurde hell. Er zeigte die Rampe, die aus dem Gang unter dem Schiff zur Schleuse heraufführte. In der Schlauchmündung wurde ein Mann sichtbar. Roger erkannte ihn auf den ersten Blick. Es war Merin Sanaka. * „Freut mich, Sie wiederzusehen“, rief Sanaka überschwenglich und reichte Roger die Hand. Roger, nach anfänglicher Unsicherheit, hatte sich erinnert, daß er selbst unter dem hypnotischen Block von seiner Begegnung mit Sanaka wußte, wenn auch die äußeren Umstände hypnotisch umgefärbt worden waren, und erwiderte die Begrüßung so herzlich wie angemessen. „Sie wollen auch nach Ainu?“ erkundigte er sich. „Nur um Ihretwillen“, sagte Sanaka strahlend. „Die Minenleute sind eigentümliche Geschöpfe. Sie kennen nur ihr Geschäft und kümmern sich um nichts, was draußen in der Welt vor sich geht. Es könnte zu Schwierigkeiten kommen, wenn Sie Anweisungen erteilen müssen und niemand auf Sie hören will. Um Ihren Befehlen den nötigen Nachdruck zu verleihen – deswegen komme ich mit.“ Roger wies auf Hardy. „Dann befehle ich diesem Mann, auf dem schnellsten Wege zu starten, und Sie sehen zu, daß ich meinen Willen bekomme.“ Sanaka lachte, aber noch bevor er etwas sagen konnte, erklärte Hardy: „Das ist nicht nötig. Wir haben soeben abgehoben.“
Der Flug verlief ereignislos. Fred Hakkalynes Jacht verfügte über einen erstklassigen Degrav, der ihr astronomische Beschleunigungen ermöglichte, ohne daß im Innern des Fahrzeugs die Schwerkraft auch nur um ein Prozent vom gewohnten Wert abwich. Sanaka und Roger verfügten sich an die Bar, wo sich Hardy ihnen anschloß, nachdem er auf Autopilot geschaltet hatte. Rogers Verstand beschäftigte sich ohne Unterbrechung mit der Frage, warum Sanaka in letzter Sekunde noch den Entschluß gefaßt hatte, mit ihm nach Ainu zu fliegen. Bisher hatte er keinen Versuch unternommen, ihn auszufragen, noch strengte er sich an, Roger so dicht auf den Leib zu rücken, wie es notwendig war, um mit Meßgeräten Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines hypnotischen Blocks nachzuweisen. Roger kam schließlich zu der Überzeugung, daß Sanaka einfach deswegen mitgekommen war, weil er bei einem so wichtigen Ereignis wie der Liquidierung des Stardetektivs Roger Staff zugegen sein wollte, um sich zu vergewissern, daß alles nach Plan verlief. Von da an entspannte er sich ein wenig. Er gestattete sich sogar einen Drink mehr, als er unter normalen Umständen zu sich genommen hätte, und spürte, wie ihm mit dem Alkohol wohlige, zuversichtliche Wärme durch die Adern rann. Er brachte es fertig, während er sich mit Sanaka und Hardy unterhielt, Kalix’ anzurufen. Das war nicht allzu gefährlich. Es bedurfte nur weniger Worte, um Kalix’ zur Abgabe eines ausführlichen Lageberichtes zu veranlassen. Der Abflug der Jacht war ihm nicht entgangen. Er folgte dem Fahrzeug außerhalb des Bereichs konventioneller Ortungsgeräte und hatte die Absicht, sein Beiboot auf einem der winzigen Felsbrocken zu landen, die sich Ainu als Satelliten zugesellt hatten. Auf diese Weise würde er, solange Roger sich auf Ainu aufhielt, nie weiter als ein paar hundert Kilometer von ihm entfernt sein. Der Flug nach Ainu dauerte insgesamt neunzig Minuten. Aus der Nähe sah der Steroid wie ein Stück Stein aus, das aus Versehen in eine Seifenlauge gefallen war. Energiekuppeln, die im Widerschein der Sonne weiß leuchteten, wuchsen überall und in allen Größen aus der Oberfläche hervor wie Seifenblasen. Die Jacht senkte sich auf einen Ort zu, der nur wenige Kilometer von der Tag‐Nacht‐Grenzlinie entfernt war. Roger sah eine kraterähnliche Höhlung im Felsboden und die weißleuchtenden Fragmente von Gebäuden oder großen Maschinen, die wirr um den Kraterrand herum verstreut waren. „Das da hat Orlog angerichtet“, bemerkte Sanaka mit theatralischem Tonfall. Roger war erstaunt. I & E hatte sich wirklich Mühe gegeben, ihn hinters Licht zu führen. Er war sicher, daß an dieser Stelle niemals eine Energiekuppel gestanden hatte; aber der Ort sah genauso aus, als ob dort vor kurzer Zeit eine Kuppel mitsamt Inhalt explodiert sei. Das kleine Raumschiff landete sanft. Sanaka blickte auf die Uhr. „In zehn Minuten haben wir Nacht“, stellte er fest. „Es hat keinen Zweck, vor Sonnenaufgang etwas zu unternehmen. Wir bleiben am besten an Bord. Morgen früh rufe ich den Minenführer herbei, damit er Ihnen in allen Einzelheiten schildern kann, wie der Anschlag auf diese Kuppel vor sich ging.“ Das war eine höchst fadenscheinige Ausrede. Mit den technischen Hilfsmitteln, die
den Alao‐Minen zur Verfügung standen, war es ein leichtes, die Nacht zum Tage zu machen. Außerdem konnte der Minenführer an Bord der Jacht kommen und seinen Bericht sofort erstatten, anstatt erst die achtstündige Nacht verstreichen zu lassen. Hardy und Sanaka hatten vor dem Abflug von Lynd gewußt, welche Tageszeit es in der Umgebung der angeblich sabotierten Mine bei Ankunft der Jacht sein, würde. Warum hatten sie nicht einfach auf Lynd gewartet, wo ihnen soviel mehr Bequemlichkeit zur Verfügung stand. Roger fand, daß man ihm selbst als Hypnotisiertem ein Übermaß an Leichtgläubigkeit zumutete. Es mochte sogar sein, daß Sanakas Ausflucht in Wirklichkeit ein Test war, dem er unterworfen wurde. „Das ist unangenehm“, sagte er und warf einen nachdenklichen Blick auf den großen Panoramabildschirm im Pilotenraum. „Es gibt keine Möglichkeit, den Minenführer schon jetzt hierherzubringen? Wir sparen uns dadurch ein paar Stunden, die wir morgen früh wahrscheinlich nutzbringender anwenden können.“ Sanaka lächelte. „Ich weiß Ihren Eifer zu schätzen“, antwortete er, väterliche Güte ausstrahlend. „Hardy, was meinen Sie? Wird Ruddar…“ „Ausgeschlossen“, winkte Hardy ab. „Der Mann ist seit dreißig Stunden ununterbrochen auf den Beinen. Er bringt wahrscheinlich keine zwei zusammenhängenden Worte mehr zustande.“ Sanaka zuckte mit den Schultern und spreizte die Hände zu einer hilflosen Geste. „Was soll man da machen? Hardy kennt die Leute hier so gut wie sich selbst. Ich gebe zu, wir haben den Zeitpunkt des Abfluges etwas ungünstig gewählt; aber schließlich gibt es hier an Bord allen Komfort, den Sie sich nur wünschen können.“ Roger nickte. „Ich beschwere mich nicht. Ich dachte nur an den Vorteil Ihrer Firma.“ „Das wird Ihnen anerkannt“, antwortete Sanaka. Roger war nun sicher, daß, was auch immer der Gegner geplant hatte, in der kommenden Nacht ausgeführt werden sollte. Allein diesem Zweck diente die Verzögerung. Wenn es nach I & E ging, würde Roger Staff den nächsten Morgen auf Ainu nicht mehr erleben, zumindest nicht in einer Verfassung, in der er weiterhin Schwierigkeiten verursachen konnte. Nach einem kleinen Imbiß, den Hardy der vollautomatischen Küche entlockte, begaben sich die drei Insassen der Raumjacht zur Ruhe. Roger vergewisserte sich, so gut er konnte, daß es keine Möglichkeit gab, das Schott seiner Kabine gegen seinen Willen zu verriegeln, bevor er sein Gemach aufsuchte. Er empfand plötzlich bleierne, lähmende Müdigkeit. Vermutlich hatte Hardy seinem Essen ein Medikament beigemengt. Hätte er noch unter dem Einfluß des hypnotischen Blocks gestanden, so wäre er wahrscheinlich, ohne sich zu wundern, in seine Koje gestiegen und sofort eingeschlafen, um zehn oder fünfzehn Stunden später weiß der Himmel wo, wenn überhaupt, zu erwachen. Er verabreichte sich ein Gegenmittel, das die einschläfernde Wirkung der Droge innerhalb weniger Minuten verscheuchte. Dann absolvierte er die Routine, der sich jeder Zubettgehende normalerweise unterzieht, legte sich nieder und löschte das
Licht. Die Wahrscheinlichkeit war sehr groß, daß seine Kabine beobachtet und abgehört wurde, und in diesem Falle bot selbst das Löschen der Lampe keine Sicherheit, da es Dutzende von Mitteln gab, die Dunkelheit zu durchdringen. Er bewegte keine Lippe und gab keinen hörbaren Laut von sich, als er sich mit Kalix’ in Verbindung setzte. Der Hybride meldete sich sofort. „Wo steckst du?“ wollte Roger wissen. „Wie abgemacht – auf einem Felsklotz etwa zweihundert Kilometer über der Landestelle deiner Jacht. Der Klotz befindet sich in annähernd synchronem Umlauf. Ich kann es hier zwanzig Stunden aushalten, ohne euch aus der Sicht zu verlieren.“ „Ging alles glatt?“ „Ungefähr zehn Taster machten mich aus. Ich wurde angerufen, gab aber keine Antwort. Das Boot ist vorzüglich versteckt, außerdem liege ich unter Streufeldschirm, so daß sie mich nicht anmessen können. Wenn sie wirklich nach mir suchen, werden sie wohl zu der Überzeugung kommen, daß ich ein Meteor gewesen sein muß.“ „Vorzüglich. Wir brauchen nicht mehr lange zu warten. Der Anschlag ist für heute nacht geplant.“ Er gab Kalix’ einen kurzen Überblick über die Ereignisse, seit er Lynd verlassen hatte. „Sobald ich nach dir rufe“, schloß er, „kommst du auf dem schnellsten Wege. Es werden dich wenigstens fünfzig Taster anpeilen; aber wenn wir rasch genug sind, machen wir uns aus dem Staub, bevor sie jemand hinter uns herschicken können.“ Er unterbrach die Verbindung und verbrachte etwa eine Stunde mit der nervenaufreibenden Beschäftigung, die Geräusche eines Schlafenden zu erzeugen. Plötzlich hörte er Kalix’ murmelnde Stimme von neuem. „Wichtige Beobachtung! Ich habe die Jacht genau im Blickfeld, und ein kleines Gleitfahrzeug ist soeben von Bord gegangen.“ „Von Bord?“ „Ja. Ich konnte nicht erkennen, ob es einen oder zwei Insassen hat.“ Roger überlegte eine Sekunde lang. „Zwei“, entschied er. „Ich kann mir vorstellen, was sie vorhaben. Bleibe in Verbindung!“ Er verließ die Kabine und prüfte nacheinander die Schotte von Nummer zwei und drei, wo Hardy und Sanaka Quartier bezogen hatten. Er fand weder Sanaka, noch Hardy. Sein Verdacht wurde zur Gewißheit. Die Jacht war auf Autopilot programmiert und würde irgendwann im Verlauf der nächsten Stunden – oder Minuten – von selbst starten und mit ihm davonfliegen. Für ihn wäre es das sicherste gewesen, wenn er sofort von Bord gegangen wäre und sich von Kalix’ hätte abholen lassen. Aber es widerstrebte ihm, den einfachsten Ausweg zu wählen, wenn es noch andere gab, die zwar riskanter waren, andererseits aber die Möglichkeit boten, mehr über des Gegners wahre Pläne zu erfahren. Wohin zum Beispiel sollte Hakkalynes Jacht ihn bringen? Er trat in den Pilotenraum. Das Hauptschaltpult war völlig leblos. Niemand, der zufälligerweise hierherkam, hatte auch nur den geringsten Anlaß zu vermuten, daß
das kleine Raumschiff sich elektronisch auf einen baldigen Start vorbereitete. Roger betätigte den Hauptschalter, aber keine einzige Kontrollampe leuchtete auf. Das Schaltpult war aus dem Kontrollkreis herausgenommen worden, so daß niemand die Einstellung des Autopiloten verändern oder völlig übergehen konnte. Roger mußte die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß der Gegner auch jetzt noch jede seiner Bewegungen beobachtete; aber er durfte sich davon nicht beeinflussen lassen. Es ging jetzt ums Ganze. Im Notfall war Kalix’ zur Hand, der ihn in Minutenschnelle von hier wegholen konnte. Er benutzte den Desintegrator, um die Deckplatte der Hauptschaltkonsole zu entfernen. Er war mit der komplizierten Elektronik astronautischer Steuer‐ und Kontrollgeräte vertraut und wußte, wo er nachsehen mußte, um zu erfahren, was er wissen wollte. Er fand einen winzigen Pulsgenerator, der in Abständen von je einer Sekunde digitale Pulse von sich gab und wahrscheinlich die Funktion einer Uhr versah. Er entdeckte auch das an den Generator gekoppelte Zählwerk und las an seiner Einstellung ab, daß der Start der Jacht in knapp dreitausend Sekunden erfolgen solle. Das gab ihm weniger als fünfzig Minuten Zeit, seine Neugierde zu befriedigen. Er versuchte das Bandwiedergabegerät, um die in den Autopiloten programmierten Flugdaten zu erfahren. Aber das Band blieb stumm. Daraufhin öffnete er den Kontrollrechner. Er brauchte eine Viertelstunde, um den Mechanismus zu finden, der die Eingabe/Ausgabe‐Einheit des Gerätes mit der Display‐Konsole verband. Von da an war es nicht schwierig, eine Serie von Stromkreisen zu aktivieren, die die in der Einheit gespeicherten Zahlenwerte auf dem Bildgerät seitlich des Pilotensitzes erscheinen ließen. Roger kopierte sie, so schnell er konnte. Die erste Serie von Ziffern gab die galaktischen Koordinaten von zwei Punkten an, an denen die Jacht in den Überraum eintreten, beziehungsweise wieder aus ihm zum Vorschein kommen würde. Von der nächsten Serie war die erste Ziffernfolge nur um ein weniges von der zuletzt gelesenen verschieden, was darauf hinwies, daß das Fahrzeug kurz nach dem Auftauchen wieder in den Überraum eintreten sollte. Das war ein merkwürdiges Manöver, jedoch nicht halb so verwunderlich wie die zweite Zahlenfolge, die nach Rogers Schätzung einen Punkt kennzeichnete, der um wenigstens zehn Millionen Lichtjahre von der Milchstraße entfernt war. Er wußte nicht, was er davon halten sollte. Selbst besonders für Langstreckenflüge konstruierte Fahrzeuge hatten noch niemals Fahrten von mehr als knapp einhunderttausend Lichtjahren Distanz unternommen, um wieviel weniger mochte also Fred Hakkalynes kleine Jacht dazu geeignet sein, den Abgrund von zehn Millionen Lichtjahren zu überbrücken. Aber er kopierte die Werte trotzdem. Vielleicht gelang es ihm eines Tages, ihren Sinn zu enträtseln. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, daß er noch acht Minuten Zeit hatte, von Bord zu gehen. Das war knapp bemessen. Bei dem Gedanken, Sanaka und Hardy könnten vorsichtshalber alle Raumanzüge, mit denen die Jacht normalerweise ausgerüstet sein mußte, unbrauchbar gemacht haben, sträubten sich ihm die Haare. Die Befürchtung erwies sich jedoch als grundlos. In dem dafür vorgesehenen Lagerraum
fand er mehr als zehn Anzüge und beeilte sich, einen davon anzulegen. Währenddessen sprach er mit Kalix’ und weihte ihn in seine Entdeckungen ein. Als er schließlich durch die Schleuse ins Freie trat, fehlte bis zum Start der Jacht nur noch eine knappe Minute. Mit einem kräftigen Sprung, der ihn infolge der geringen Gravitation Hunderte von Metern weit in hohem Bogen über die zerklüftete Oberfläche des Asteroiden trug, entfernte er sich aus der gefährlichen Nähe des Raumschiffes. Er hatte den Boden noch nicht wieder berührt, da sprühte aus den Triebwerksöffnungen der Jacht das vernichtende, bläuliche Feuer des Feldantriebs. Wie von der Sehne geschnellt, schoß das kleine Fahrzeug steil in die Höhe und entfernte sich mit solch atemberaubender Geschwindigkeit, daß selbst der grelle Schein des Triebwerks innerhalb weniger Sekunden erlosch. Roger war sicher, daß er, würde er jetzt noch in seiner Koje gelegen haben, trotzdem nicht die geringste Schwerkraftänderung gespürt und den vehementen Start mit Gewißheit verschlafen hätte. „Prachtvoll!“ ließ Kalix’ sich anerkennend vernehmen. „Ein tüchtiges kleines Fahrzeug.“ „Zugestanden“, gab Roger widerwillig zu. „Du kannst mich jetzt abholen. Wir haben eine lange Reise vor uns.“ 6. Das Boot wurde von etwa zwanzig Ortern nahezu gleichzeitig erkannt. Die Interessengemeinschaft der Firmen, die auf Ainu Alao abbauten, hatte schon frühzeitig die Notwendigkeit eines möglich engen Orternetzes erkannt. Seine Aufgabe war, anfliegende Objekte frühzeitig zu erfassen und die Flugdaten mit denen angemeldeter, ordnungsgemäßer Flüge zu vergleichen. Nur so ließ sich verhindern, daß sich ein Schwarm von Alao‐Piraten auf den Asteroiden stürzte und die Vorräte des unschätzbar wertvollen Minerals im Raubbau erschöpfte. Es hatte zu Beginn des ordentlichen Alao‐Bergbaus in der Tat zahlreiche solche Versuche gegeben. Sie waren ohne Ausnahme zurückgewiesen worden, und von manchen der Piraten hatte man niemals wieder gehört. Die Interessengemeinschaft machte ihre eigenen Gesetze, und solange keine allzu drastischen Übergriffe vorkamen, drückte die Raumpatrouille, die ohnehin nicht überall sein konnte, ein Auge zu. Kalix’ antwortete auf keinen der warnenden Anrufe. Wie ein Stein stürzte das Boot auf die Oberfläche des Planetoiden zu, um erst im letzten Augenblick durch ein halsbrecherisches Bremsmanöver die Geschwindigkeit drastisch zu verringern. Kalix’ landete kaum einhundert Meter von der Stelle, an der Roger auf ihn wartete. Roger ging an Bord, und zehn Sekunden später schnellte das Boot wieder in die Höhe. Auf dem Tasterschirm erschienen die bunten Reflexe einiger Fahrzeuge, die von allen Richtungen her auf den vermutlichen Landeplatz des unidentifizierten Objektes zuglitten. Als sie bemerkten, daß der Unbekannte sich nur eine halbe Minute lang auf dem Asteroiden aufgehalten hatte, kam Verwirrung über sie. Es war
offensichtlich, daß sich niemand den Sinn des Manövers erklären konnte. Das Boot vergrößerte seinen Vorsprung rasch, und wenige Minuten später schien es, als sei die Verfolgung vollends aufgegeben worden. Ungefährdet erreichte das Boot den kosmischen Felsbrocken, auf dem Kalix’ weisungsgemäß die Natomas Star versteckt hatte. Roger hatte die Dauer des Fluges dazu benützt, den Hybriden in Umrissen über das bisher Geschehene aufzuklären. An Bord des Schiffes unterzogen sie gemeinsam die Flugdaten, die Roger aus dem elektronischen Speicher der Jacht abgelesen hatte, einer rechnerischen Analyse, und Roger wurde die zweifelhafte Genugtuung zuteil, sein Mißtrauen gegenüber dem vierten Datensatz gerechtfertigt zu sehen. Der Rechner ermittelte anhand der Daten einen Punkt, der rund achtzehn Millionen Lichtjahre außerhalb der Milchstraße lag. „Natürlich besteht die Möglichkeit“, bemerkte Kalix’, „daß es sich gar nicht um einen Koordinatensatz handelt. Die Gedächtniszellen eines elektronischen Rechners enthalten, wenn sie nicht benutzt werden, oftmals den größten Unsinn – meistens entweder Nullen oder abnormal große Zahlen.“ „Daran habe ich schon gedacht“, antwortete Roger. „Aber sieh dir an, was das bedeutete. Die Jacht ginge an dem ersten Punkt in den Überraum, beim zweiten tauchte sie wieder auf, am dritten Punkt träte sie von neuem in den Überraum ein, und was dann…?“ Kalix’ grinste schief. „Das war womöglich die Idee. Vergiß nicht, daß du ausgeschaltet werden solltest. Welch bessere Möglichkeit, als dich in den Überraum zu schicken und dafür zu sorgen, daß du niemals wieder auftauchen kannst!“ Roger schüttelte den Kopf. „Klingt plausibel. Wenn es nur einen Übergangspunkt gäbe, hättest du sicherlich recht. Aber wozu das Auf‐ und Wiedereintauchen?“ „Ich erkläre mich überfragt“, seufzte Kalix’. „Ich denke nur logisch, und derart unlogische Vorgänge verwirren mich.“ „Ich denke, wir sollten uns die Gegend um den zweiten und dritten Sprungpunkt herum ansehen. Wo liegt sie?“ Kalix’ tippte die Frage in den Rechner. „Siebenhundertunddrei Lichtjahre von hier“, antwortete er, die Anzeige des Rechners ablesend, „auf einer Linie, die mit der geradesten Verbindung zwischen Erde und Parathion einen Winkel von nicht mehr als drei Bogensekunden bildet.“ Roger sollte später Anlaß haben, sich an diese Daten zu erinnern. Vorerst besagten sie ihm wenig, und während er sich mit Kalix’ darum bemühte, die Natomas Star reisefertig zu machen, entschwanden sie ihm vorläufig aus dem Gedächtnis. Es gab wichtigere Dinge, mit denen er sich beschäftigte. Die Vorbereitungen zum Start, eine oft geübte Routine, die nur einen Bruchteil seiner Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, ließ ihm Zeit zum Nachdenken. Es waren zwei Dinge, die ihn beunruhigten. Erstens: Es war zu einfach gewesen, der Falle, die der Gegner ihm gestellt hatte, zu entkommen. Und zweitens: Er hatte das gesteckte Ziel nicht erreicht. Er wußte über die Methode, wie I & E Alao in sechs bis sieben anstatt in elf bis zwölf Wochen zur Erde brachte, noch ebensowenig wie zu Beginn des
Unternehmens. Wenn er im Geist die Ereignisse durchging, die sich seit dem Rendezvous mit Kallo Rounen im Lagerhallengelände am Raumhafen von Paraport abgespielt hatten, so fand er nichts, was dazu angetan gewesen wäre, seinen Verdacht zu erwecken. Alles war natürlich vor sich gegangen, nirgendwo gab es auch nur die Spur eines Hinweises, daß der Gegner sich nicht so verhalten hatte, wie es nach Rogers Ansicht seinem Plan entsprach. Und dennoch kam er sich vor wie jemand, der all seine Kräfte angespannt hatte, um etwas zu erreichen, was ihm der Feind ohnehin hatte zugestehen wollen. Warum waren Hardy und Sanaka schon so früh von Bord gegangen? Warum hatten sie nicht bis zum letzten Augenblick gewartet, um sicher zu sein, daß alles nach Plan verlief? Oder, falls das Innere der Jacht wirklich aus der Ferne beobachtet worden war – warum hatte man nichts unternommen, als feststand, daß der Gefangene nicht mehr unter dem Einfluß des Schlafmittels stand, sondern sich vielmehr höchst lebendig bewegte und schließlich der Falle entging. Der Hinweis, daß der Gegner alle sonst üblichen Vorsichten vernachlässigt habe, weil er sein Opfer unter dem Bann eines hypnotischen Blocks wußte, erschien Roger desto weniger plausibel, je länger er darüber nachdachte. Und selbst wenn alles mit rechten Dingen zugegangen war – selbst wenn Sanaka und Hardy in diesem Augenblick fest davon überzeugt waren, sie hätten Roger Staff ein für allemal beseitigt, welchen Gewinn hatte er aus dem Unternehmen gezogen? Er war willig in die Falle gegangen, weil er hoffte, dadurch in eine Lage zu kommen, in der er I & E’s sorgfältig gehütetes Geheimnis ausspionieren konnte. Was war daraus geworden? Nichts. Hatte er zu früh aufgegeben? Hätte er an Bord der Jacht bleiben sollen? Er verneinte beide Fragen. Es gab nichts, was er hätte anders machen können. Er mußte jetzt eine neue Taktik ausarbeiten. Ein paar Minuten lang zerbrach er sich den Kopf darüber, ob es unter diesen Umständen angebracht sei, den Flug zu den zwei mysteriösen Übergangspunkten der Jacht zu unternehmen; aber schließlich sagte er sich, daß er nie wieder Ruhe finden würde, wenn er sich nicht an Ort und Stelle davon überzeugte, daß es dort nichts weiter gab als ein Stück leeres, finsteres All. Die Natomas Star brauchte viereinhalb Tage, um die Stelle zu erreichen, an der Fred Hakkalynes Jacht zum erstenmal aus dem Überraum hervortreten sollte. Sie rematerialisierte in einem finsteren, sternenarmen Stück Weltall. Der nächste Himmelskörper, ein rötlichgelber G7‐Stern, war nach Angabe der Karten etwa achtzehn Lichtjahre entfernt. Der zweitnächste Nachbar befand sich in einem Abstand von mehr als vierzig Lichtjahren. Kalix’ führte einige Messungen durch und fand die Angaben der Karte bestätigt. Der Raumsektor, in dem sich die Natomas Star befand, lag abseits der vielbefahrenen Raumschiffsrouten und war daher unvermessen. Die Daten der Karte waren auf der Grundlage errechnet, daß das vierdimensionale Kontinuum innerhalb des Sektors keine Verzerrungen aufweise. „Was jetzt?“ wollte der Hybride wissen, nachdem er die letzte Ziffernserie abgelesen hatte. „Hier ist nicht viel los.“
„Wie weit bis zu dem zweiten Sprungpunkt?“ fragte Roger. „Einen Katzensprung. Knapp sechzehn Astronomische Einheiten.“ „Wir haben schon viereinhalb Tage verschwendet. Unser Schaden wird nicht viel größer, wenn wir uns den anderen Punkt auch noch ansehen.“ Die Natomas Star nahm von neuem Fahrt auf. Sie brauchte knapp eine Stunde Bordzeit, um die Entfernung von knapp zweieinhalb Milliarden Kilometern hinter sich zu bringen. Die Umgebung des zweiten Sprungpunktes erwies sich auf den ersten Blick als ebenso unsensationell wie die des Auftauchpunktes. „Zufrieden?“ erkundigte sich Kalix’ mit spöttischem Unterton. „Nicht ganz. Erst wenn du mir deine Meßergebnisse vorliest.“ Brummend machte sich Kalix’ an die Arbeit. Er fütterte Daten in den Rechner, ließ die Maschine sie verarbeiten und las die Ergebnisse ab. Er wiederholte die Prozedur mit einer zweiten Datenserie, die er von einer Anzahl Meßinstrumente ablas, und verglich die Resultate. Dann sagte er: „Da stimmt was nicht!“ Roger fuhr in die Höhe. „Was stimmt nicht?“ „Die Entfernung zu dem G‐sieben.“ „Wieviel Abweichung?“ „Nicht viel, ungefähr ein Hunderttausendstel Prozent, aber immerhin noch innerhalb der Meßgenauigkeit der Instrumente.“ Rogers Stimme zitterte vor Spannung, als er fragte: „Sind wir weiter entfernt als zuvor oder näher dran?“ „Weiter weg“, antwortete Kalix’. Roger erinnerte sich an das Resultat der Rechnung, die Kalix’ angestellt hatte, als die Natomas Star auf dem Felsbrocken des Parathion‐Asteroidengürtels im Versteck lag. Der gerade Kurs von Parathion zum Sprungpunkt der Jacht bildete mit der Linie Parathion – Erde einen Winkel weniger als drei Bogensekunden. Oder anders ausgedrückt, der Sprungpunkt lag von Parathion aus in nahezu derselben Richtung wie die Erde. Es war ihm schon damals vorgekommen, als hätte er damit einen wichtigen Fingerzeig erhalten; nur hatte er nicht sehen können, wie die Information ihm weiterhelfen würde. Jetzt wußte er es. Oder vielmehr – er hatte eine Hypothese. Er glaubte zu wissen, wie I & E Alao schneller zur Erde schaffen konnte als sonst jemand. Sie hatten eine Abkürzung gefunden. Und es schien auch plausibel, daß sie einen unbequemen Neugierigen mit Hilfe eines vorprogrammierten Raumschiffes eben in dieselbe Richtung schicken würden, die sonst ihre mit Alao beladenen Fahrzeuge nahmen. Denn zwischen hier und der Erde gab es ein Stück Raum, aus dem er den Rückweg niemals finden würde. Roger wandte sich an Kalix’. „Alles vorbereiten zum Sprung!“ befahl er mit harter, trockener Stimme.
* Sie waren nicht lange im Überraum. Als sie auftauchten, fingen die Alarmklingeln an zu schrillen. Noch bevor das menschliche Auge den ersten Blick auf die Bildschirme warf, hatten die Meßinstrumente erkannt, daß das Schiff sich in einer völlig unbekannten, auf keiner Karte verzeichneten Umgebung befand. „Das also ist es!“ stöhnte Kalix’. Roger ließ den Blick über den Panoramaschirm wandern. Es bedurfte keiner eingehenden Kenntnis der galaktischen Konstellationen, um zu erkennen, daß die Natomas Star in eine Gegend geraten war, die noch kein Erdenmensch zuvor gesehen hatte. Nirgendwo in der bekannten Milchstraße gab es eine Gegend, die auch nur annähernd so arm an Sternen war wie diese. Roger zählte insgesamt acht Lichtpunkte in der Bughälfte des Lichtschirms. Einer davon war den anderen an Helligkeit weit überlegen. Er mußte unweit des Schiffes stehen, wahrscheinlich nicht weiter als ein paar Astronomische Einheiten entfernt. „Ein fremdes Universum!“ stieß Kalix’ hervor. „Wir sind in einen fremden Raum eingedrungen.“ „Richtig. An der Stelle, die der zweite Sprungpunkt kennzeichnete, existiert eine Verzerrung des Kontinuums. Wahrscheinlich handelt es sich um einen unsichtbaren Überstern, um den herum sich die Raumkrümmung geschlossen hat.“ Die Kosmologie behauptete, es gebe Hunderttausende solcher Übersterne allein im bekannten Bereich der Galaxis. Allerdings waren erst fünf von ihnen gefunden worden, und wenn Rogers Hypothese sich als richtig erwies, dann hatten er und Kalix’ den sechsten entdeckt. Übersterne existierten in einem Kosmos für sich selbst, aber ihre Anwesenheit wurde durch eine Kontinuumsverzerrung im angrenzenden Universum angezeigt. Die elektromagnetische Strahlung, mit deren Hilfe Kalix’ die Entfernung des rötlichgelben G7‐Sternes gemessen hatte, bewegte sich um die Raumkrümmung herum und zeigte deswegen in unmittelbarer Nähe des Übersterns eine größere Distanz an, als nach den Daten auf der Karte zu vermuten gewesen war. Anders jedoch ein Schiff, das sich unter dem Einfluß seines Überraumtriebwerks bewegte. Das Prinzip des Überraumfluges bestand gerade darin, daß die Krümmung des vierdimensionalen Raumes mehr oder weniger geradlinig geschnitten wurde. Nur so ließen sich Geschwindigkeiten erzielen, die, in die Werte des vierdimensionalen Kontinuums übertragen, um ein Zehntausendfaches höher waren als die des Lichtes. Für ein Raumschiff, das sich durch den Überraum bewegte, bot sich der Überstern nicht als die Quelle einer abnormalen Verzerrung der Raumlinien, sondern als ein Loch im Raum, als ein Austrittspunkt aus dem Universum. Das Schicksal, das einem solchen Fahrzeug widerfuhr, sobald es aus dem Überraum auftauchte, war bislang das Objekt bunter Spekulationen gewesen. Es waren schon viele Raumschiffe verschwunden – einst sogar eine ganze Siedlerflotte – , aber niemals war auch nur eines der Fahrzeuge in den heimatlichen Kosmos zurückgekehrt, so daß seine Besatzung von ihren Erlebnissen hätte berichten können. Selbst Roger Staff fühlte Beklommenheit angesichts der Konsequenzen, die seine
letzte Entscheidung ihm eingetragen hatte. Gesetzt den Fall, daß auch nur die Hälfte der seit Beginn der interstellaren Raumfahrt verschwundenen Raumschiffe durch ein ähnliches „Loch im All“ in ein fremdes Universum verschlagen worden war, dann hatte er vor sich das Beispiel von nicht weniger als fünftausend Fahrzeugen, die denselben Schritt getan hatten wie er und denen der Rückweg niemals geglückt war. Wer war er, daß er glauben könnte, er sei unter fünftausend der einzige, dem das Schicksal eine andere Rolle als die der ewigen Verlorenheit zugedacht hatte? Trotzdem war er sicher, daß seine Aussichten besser waren als die all der anderen, die vor ihm den gleichen Schritt getan hatten. Er wußte mit Bestimmtheit, daß es aus diesem Kosmos einen Ausweg gab. Nicht nur irgendeinen, sondern einen Ausgang, der um wenigstens vierzig Überraum‐Reisetage näher in Richtung Erde lag als der Eintrittspunkt, durch den die Natomas Star gekommen war. Wie sonst hätte I & E es fertiggebracht, ihre Alao‐Ladungen so schnell zur Erde zu bringen? Wer die Wirkungsweise des Überraumfluges zu verstehen suchte, dem wurde zunächst folgendes Beispiel auseinandergesetzt: Welches ist der kürzeste Weg von London nach Melbourne? Nun, eben der Großkreis, der London und Melbourne miteinander verbindet. Dieser Großkreis führt aber auf der Erdoberfläche entlang und folgt deren Krümmung. Ein noch kürzerer Weg wäre ein Tunnel durchs Erdinnere, der die beiden Städte auf wahrhaft gerader Linie verbindet. Einen ähnlichen Tunnel gräbt der Überraumflug durch die Krümmung des vierdimensionalen Kontinuums. Was das vereinfachende Beispiel zu erwähnen unterließ, war, daß selbst die modernsten Raumschiffstriebwerke keine annähernd geradlinige Flugbahn zu erzeugen vermochten. Sie schnitten die Krümmung des vierdimensionalen Kontinuums nur zum Teil ab, indem sie das Fahrzeug selbst entlang einer Kurve bewegten, deren Krümmungsradius allerdings größer war als der der Oberfläche des Kontinuums. Es war theoretisch möglich, gerade Kurslinien durch den Überraum zu erzielen, nur war dazu ein Energieaufwand erforderlich, der die Kapazität aller derzeit verfügbaren Generatoren um ein Vielfaches überstieg. Es gab nur eine einzige Methode, die für den Überraumflug zwischen zwei Punkten erforderliche Zeitspanne wesentlich abzukürzen, und das war die, die I & E wohl nur durch einen unwahrscheinlichen abenteuerlichen Zufall entdeckt hatte. Gesetzt den Fall, es fand jemand ein fremdes Universum mit einem Ein‐ und einem Austrittspunkt. Es war denkbar, daß die beiden Punkte im bekannten Kosmos gerade so weit auseinander lagen, daß ein Raumschiff einhundert Tage brauchte, um die Entfernung zu überbrücken. Im fremden Universum lagen die Punkte jedoch nur fünfzig Tage Reisedauer auseinander. Ein Fahrzeug, das die Flugroute durch das fremde Universum benützte, wäre dann dem, das sich im Überraumflug durch den bekannten Kosmos bewegte, um fünfzig Tage voraus. So ähnlich mußten die Dinge liegen, entschied Roger. I & E hatte für das fremde Universum ein eigenes Koordinatensystem entwickelt. Daher war der vierte Datensatz, den er aus dem elektronischen Speicher von Hakkalynes Jacht abgelesen hatte, so unverständlich gewesen. Die Jacht war dazu programmiert, ihn in das
fremde All zu tragen und dort sich selbst zu überlassen. Das war die ideale Falle. Wie sollte es ihm jemals gelingen, den Rückweg zu finden? Er wäre für alle Zeiten ausgeschaltet gewesen. Die Frage erhob sich allerdings, um wieviel besser er jetzt daran war, da er sich aus eigenem Entschluß dorthin begeben hatte, wohin der Anschlag des Gegners ihn hatte bringen sollen. Würde es ihm an Bord seines eigenen Schiffes leichter fallen, den Ausgang aus dem fremden Universum zu finden, als wenn er an Bord der Jacht geblieben wäre? Welchen Vorteil hatte er gewonnen? Fürs erste befand er sich auf einem Fahrzeug, das er kannte. Zweitens hatte er einen Helfer bei sich, auf den er sich verlassen konnte. Und drittens war er mit offenen Augen und im Bewußtsein der Tragweite seines Entschlusses in dieses fremde Universum eingetreten – was nicht der Fall gewesen wäre, wenn er sich von Hakkalynes Jacht hätte hierherfliegen lassen. Er war weit davon entfernt, die Hoffnungslosigkeit des Unternehmens einzugestehen. Im Gegenteil, das Problem, das er zu lösen hatte, war für ihn eine Herausforderung, die er nicht unbeantwortet zu lassen gedachte. Er wies Kalix’ an, in Richtung der Raumverzerrung, durch die sie den fremden Kosmos betreten hatten, Messungen anzustellen. Der Hybride verbrachte damit fast eine Stunde und setzte die empfindlichsten Geräte ein. Das Resultat war negativ. Das Tor, durch das die Natomas Star hereingekommen war, war einbahnig. Dort, wo sich in ihrem eigenen Universum der Überstern befand, der die für den Übertritt von einem zum anderen Kosmos nötigen Bedingungen schuf, gab es in dieser Welt nur freien, unverzerrten Raum. Über die Lage des Austrittsortes Vermutungen anzustellen, war im Augenblick fruchtlos, wie auch der Bordrechner bereitwillig bestätigte. Zuerst mußten Informationen gesammelt werden. Angesichts der geringen Sternendichte der fremden Welt schien dies keine unlösbare, wenn auch eine zeitraubende Aufgabe zu sein. Als logischer Anfangspunkt der Suche bot sich der gelbe Stern, der der Natornas Star am nächsten stand, geradezu an. Das Schiff nahm Fahrt auf, nachdem Kalix’ die Gesamtdistanz zu neun Astronomischen Einheiten oder 1,35 Milliarden Kilometern bestimmt hatte. Als die Entfernung auf die Hälfte geschrumpft war, wurde klar, daß wenigstens zwei Planeten den fremden Himmelskörper umliefen. Der Stern selbst war Klasse G2. Ein Planet folgte einer Umlaufbahn von knapp einhundert Millionen Kilometern Halbmesser. Wenn das Schicksal seiner Entwicklung nur einigermaßen gnädig gesonnen gewesen war, mußte er erdähnliche Züge aufweisen. Die Natomas Star hielt darauf zu. Sie hatte sich bis auf drei Mondbahndurchmesser an den unbekannten Planeten herangearbeitet, als die Alarmglocken von neuem schrillten. Kalix’ wandte sich den bislang vernachlässigten Tastergeräten zu. „Ortung!“ schrie er. „Unbekanntes Fahrzeug vierzehn bei minus drei Grad vorab!“ Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da meldete sich der Langsprech. Der Bildschirm leuchtete auf. Das bunte Zickzackmuster des Einschaltvorgangs klärte sich auf. Ein feistes Gesicht mit hervorquellenden Augen und wulstigen Lippen erschien auf der Mattscheibe. „Erfreut, Sie zu sehen“, sagte Merin Sanaka. „Wir warten schon seit
einiger Zeit auf Sie!“ * Niemand antwortete ihm – am wenigsten Roger Staff, der endlich sah, worauf der Plan des Gegners zielte, und sich einen Narren hieß, weil er nicht früher darauf gekommen war. „Ich sehe Sie verblüfft“, fuhr Sanaka fort, Hohn in der Stimme. „Das enttäuscht mich. Von einem Mann wie Roger Staff hätte ich erwartet, daß er diese Situation auf sich zukommen sah.“ Als er auch darauf keine Antwort erhielt, sprach er weiter: „Wir wußten, daß der Star‐Detektiv Staff sich durch eine einfache Finte nicht in die Falle locken lassen würde. Er würde die Finte vielmehr benützen, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Wir konnten nur gewinnen, wenn es uns gelang, seine Reaktion vorwegzunehmen und sozusagen einen Trick in den anderen zu kapseln. Natürlich wußten Sie, daß Kallo Rounen unser Mann war. Ebenso natürlich aber waren Sie neugierig, seinen sogenannten Verbindungsmann Hakkalyne kennenzulernen – um so mehr, als Sie sicher waren, daß wir Sie eben zu Hakkalyne locken wollten. Um uns in Sicherheit zu wiegen, erzählten Sie Ihrem Mann Kalix’, Sie hielten Rounen für echt. Kalix’ hatte seine Zweifel darüber, unser Polizist registrierte das, aber im großen und ganzen war er bereit, sich nach Ihrer Entscheidung zu richten. Sie fuhren nach Lynd, und Kalix’ folgte Ihnen auf dem Fuße, nachdem er sich viel Mühe gegeben hatte, uns mit seiner geplanten Reise zur Raumpatrouille in Verwirrung zu führen. Hakkalyne schaffte Sie nach Ainu. Ich kam im letzten Augenblick an Bord der Jacht, damit Sie Grund hatten zu glauben, ich sei nervös geworden und wollte mich vom erfolgreichen Verlauf des Unternehmens persönlich überzeugen. Als Hardy und ich die Jacht verließen, ziemlich sicher, daß Sie gegen das Schlafmittel längst eine Abwehr gefunden hätten, machten Sie sich erwartungsgemäß an die Arbeit, die im Kontrollrechner gespeicherten Daten abzulesen. Sie waren so sicher, daß die Jacht dazu hergerichtet war, Sie an irgendeinen weit entfernten Ort zu bringen, daß Sie sich nicht die Mühe machten, den Speicher vollends zu lesen. Wir beobachteten Sie aus der Ferne. Daher wissen wir, was Sie taten. Sie lasen die ersten beiden Datenpaare – das war für Sie genug. Hätten Sie weitergelesen, dann wüßten Sie, daß die Jacht gar nicht dazu programmiert war, in dieses Universum vorzustoßen. Hakkalyne ist viel zu geizig, als daß er sein Fahrzeug zu einem derart kostspieligen Unternehmen hergeliehen hätte. Der Rechner hatte den Befehl, den zweiten Datensatz unbeachtet zu lassen und statt dessen den dritten zu verwenden, den Sie sich nicht die Mühe machten zu lesen. So sicher waren wir, daß Sie nach unserem Plan handeln würden. Sie gingen von Bord und riefen Ihren Helfer. Fiel Ihnen niemals auf, wie leicht Ihnen das Entkommen von Ainu gemacht wurde? Wir konnten uns auf Ihre Neugierde verlassen. Sie würden nichts Eiligeres zu tun haben, als die Koordinaten, die Sie aus dem Rechner gelesen hatten, anzufliegen. In der Umgebung des zweiten Sprungpunktes würden Sie ohne Zweifel die abnormale Raumverzerrung bemerken
und daraus schließen, daß Sie die Hälfte unseres Geheimnisses schon enträtselt hatten. Sie würden den Sprung wagen, daran zweifelten wir keine Sekunde lang. Sie würden hierherkommen, wo wir auf Sie zu warten gedachten. Wie Sie sehen, sind wir nicht enttäuscht worden. Sie sind hier. Unsere Finte in der Finte war erfolgreich.“ Er schwieg erwartungsvoll. Roger musterte ihn mit kühlem Blick. „Der kleine Mann singt sein eigenes Loblied“, sagte er spöttisch. „Ich weiß, daß Sie sich ungeheuer schlau vorkommen. Übrigens von hypnotischen Blöcken halten Sie wohl gar nichts mehr?“ „Nicht, soweit Sie betroffen sind“, antwortete Sanaka bereitwillig. „Die Art und Weise, wie Sie unserer Falle auf Erde Vier entgingen, machte uns stutzig. Und wenn wir schon dabei waren, das eigenartige Gehirn Ihres Begleiters nach nützlichen Informationen zu durchstöbern, dann konnten wir uns mit wenig zusätzlicher Mühe auch gleich Aufklärung über diese Frage verschaffen, finden Sie nicht auch? In Mister Kalix’ Gedächtnis war verankert, daß Roger Staff, der Superdetektiv, sich zu Beginn seiner Laufbahn von einem Psychophysiker behandeln ließ, der ihm einen Hypnogenerator ins Hirn pflanzte. Das Gerät, aus organischer Materie bestehend; wird durch zwei Hälften eines Kodesatzes aktiviert. Die erste Hälfte, von einem Außenstehenden zu sprechen, heißt: Kleopatra empfing Marcus Antonius in ihrem Palast am Nil. Der Generator, dadurch in seinen peripheren Kreisen eingeschaltet, nimmt Einfluß auf das Bewußtsein seines Trägers und zwingt ihn, die zweite Hälfte des Satzes selbst auszusprechen: Und verführte ihn innerhalb der ersten Stunde. Das Prinzip ist einfach. Die motorische Kraft des sexuellen Stimulus wird verwendet, um das Bewußtsein des Generatorträgers von allen fremden Einflüssen, zum Beispiel hypnotischen Blöcken, augenblicklich zu befreien.“ Roger nickte beipflichtend. „Das haben Sie nicht schlecht gemacht“, erkannte er an. „Der Psychophysiker selbst konnte mir den Mechanismus nicht besser erklären. Was haben Sie mit uns vor?“ Sanaka spielte den Überraschten. „Das fragen Sie noch? Sie haben uns mit Ihrer Neugierde erheblichen Schaden zugefügt. Es liegt uns daran, daß dies in Zukunft nicht wieder geschieht. Wir sind gezwungen, Ihr Fahrzeug unbrauchbar zu machen.“ „Das ist Piraterie!“ Sanaka lächelte herablassend. „Jedes Universum hat seine eigenen Gesetze. Dieser Kosmos ist nur uns bekannt. Wir sind die einzigen, die hier Gesetze machen können. Die Vorschrift, die auf Sie anzuwenden ist, lautet: Der Unruhestifter ist schnellstmöglich zu liquidieren. Und sobald wir das getan haben, werden wir eine Gruppe von fünfzig Schiffen nach Erde Vier und den anderen handelsoffenen Raumstationen senden, um der Interstellaren Handelskommission unseren Standpunkt klarzumachen. Die Kommission hat kein Recht, den Handel in frühzeitig angeliefertem Alao‐Mineral zu untersagen. Diese Autorität hat sie sich, wahrscheinlich durch Bestechungsgelder von Ihrem Freund Nadelman angeregt, widerrechtlich angemaßt. Geht die Kommission nicht auf unsere Vorschläge ein, so reichen unsere fünfzig Fahrzeuge aus, die handelsoffenen Stationen zu übernehmen – mit oder ohne Gewalt, je nachdem, wie die Besatzungen
sich anstellen. Auf jeden Fall bringen wir unser Alao an den Mann. Käufer sind genug da, darauf können Sie sich verlassen.“ Roger schenkte ihm einen verächtlichen Blick. „Sie hören sich an wie der Mann, der den Untergang von Interstellar I und E angekündigt.“ „Im Gegenteil!“ schrie Sanaka triumphierend. „Den Aufstieg zu Ruhm und Macht!“ Und völlig unzusammenhängend und für Roger unerwartet, fügte er hinzu: „Feuer!“ * Noch im selben Augenblick bäumte die Natomas Star sich auf, als hätte eine gigantische Sturmbö sie erfaßt. Über den Panoramaschirm lief flackerndes, bläuliches Leuchten. Aus der Tiefe des Schiffes dröhnte der Donner einer Explosion. Roger verlor den Halt und stürzte. Er schlug hart auf und brauchte ein paar Sekunden, um sich von dem Schock zu erholen. Die mechanische Stimme des Bordrechners blökte: „Treffer im Triebwerksraum! Treffer im Triebwerksraum…“ Kalix’ war auf den Beinen und hantierte mit atemberaubender Geschwindigkeit an den Triebwerkskontrollen. Roger wankte auf ihn zu. Die Natomas Star erhielt einen zweiten Treffer. Roger wurde nach vorn geschleudert und landete auf Kalix’ Schulter. „Wir müssen weg!“ keuchte der Hybride. Von irgendwoher kam Qualm. Er drang durch ein Schott, das schief in der Halterung hing, und füllte den kleinen Kommandoraum mit beißendem Gestank. Noch schienen die Servomechanismen zu funktionieren, die jedes Leck sofort mit einem Schirmfeld verschlossen und die kostbare Atemluft am Ausströmen hinderten. Roger und Kalix’ arbeiteten wie besessen an den Flugkontrollen. Schwerfällig bewegte sich das Schiff aus dem Einflußbereich der feindlichen Geschütze. Ein dritter Treffer erfolgte und legte das Triebwerk fast völlig lahm. Die Natomas Star fing an zu torkeln und bewegte sich in grotesken Drehungen auf den fremden, erdähnlichen Planeten zu. Der Gegner schien von der Verfolgung abzulassen, als er bemerkte, daß das Schiff ausreichend beschädigt war. Roger sah den Reflex des feindlichen Fahrzeugs auf dem einzigen noch intakten Orterschirm allmählich verblassen. Er kochte vor Wut. Die Natomas Star war unbewaffnet. Sanakas heimtückischer Angriff war ebenso feige und gemein, wie er unnötig war; denn ohne Hilfe von außen wäre es Roger und Kalix’ niemals gelungen, den Rückweg aus diesem Universum zu finden. Kalix’ stellte einige vergleichende Messungen an. „Wir treiben auf eine Bruchlandung zu“, stellte er ungerührt fest. „Die Triebwerke halten, wenn wir Glück haben, die Einschleusung in die Atmosphäre gerade noch aus. Aber dann ist Feierabend.“ „Beiboote?“ „Ein Hangar ist beschädigt und wahrscheinlich außer Betrieb. Der andere ist in Ordnung.“ „Mach das Boot zum Ausschleusen fertig. Dann komm her und übernimm die
Navigation.“ Kalix’ gehorchte. Knapp drei Minuten später meldete er das Beiboot ausschleusbereit. Roger überließ ihm den Platz am Pilotenpult. „Ich sehe mich nach einem geeigneten Landeplatz um“, erklärte er. „Sieh zu, was du aus der Steuerung noch herausholen kannst. Wir brauchen zum Landen eine ganz bestimmte Art von Gelände.“ Es gab nur noch eine einzige, winzige Chance, dem fremden Kosmos trotz der verzweifelten Lage, in der sie sich befanden, zu guter Letzt doch noch zu entkommen. Es war ein wahnwitziger, so gut wie unrealisierbarer Plan, an den Roger seine Hoffnungen klammerte. Die geringste Unvorsichtigkeit, der kleinste Fehler bei der Beurteilung von Sanakas Reaktion – und alles war vorbei. Er konnte es sich nicht leisten, seine Aufmerksamkeit auch nur den Bruchteil einer Sekunde von der Aufgabe zu wenden, die er sich gestellt hatte. Durch das Teleskop überblickte er etwa ein Viertel der Oberfläche der fremden Welt. Sie war ohne Zweifel erdähnlich. Weite Wolkenflächen verdeckten die Aussicht zum Teil, aber dort, wo sich dem Blick kein Hindernis bot, ließen sich die blauen Flächen von Meeren und das grünliche Braun von Landmassen leicht unterscheiden. Roger faßte einen Landstrich ins Auge, der etwa zweihundert Kilometer landeinwärts von einer in dieser Gegend nahezu geradlinig verlaufenden Küste lag. Die Bodenfärbung deutete auf das Vorhandensein von Bergen hin. Er fütterte die Daten der Teleskopeinstellung in den Rechner und erhielt eine Serie von Kurskoordinaten. „Richte dich danach“, befahl er Kalix’, ohne aufzusehen. Das Bild schwenkte, als die Natomas Star sich schwerfällig und zögernd auf den neuen Kurs begab. „Ich erwarte Kontakt mit der Atmosphäre in einhundert Sekunden“, meldete Kalix’. „Bremsung!“ Ein Triebwerk begann zu röhren. Der Degrav setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus, und der jäh aufspringende Andruck versetzte Roger einen Schlag. Die graubraune Bergkette lag jetzt im Zentrum des Blickfeldes. Das Schiff war genau auf Kurs. „Geschwindigkeit etwa zwanzig Prozent zu hoch“, sagte Kalix’ so unbeteiligt, als sei alles nur ein Manöver. „Hüllentemperatur steigt über fünfhundert Grad.“ Achtzehnhundert war der Schwellenwert, bei dem die mechanische Widerstandskraft der Schiffshülle drastisch abzufallen begann. „Sag mir Bescheid, wenn wir bei fünfzehnhundert sind“, brummte Roger. Die Natomas Star befand sich jetzt noch etwa vierhundert Kilometer über der Oberfläche der fremden Welt. Auf seiner Suche nach verwendbaren Oberflächendetails machte Roger eine Entdeckung, die ihn unter normalen Umständen in einen Taumel der Begeisterung versetzt hätte. Jetzt jedoch ließ sie ihn kalt. Am seeseitigen Fuß der Gebirgskette breitete sich ein hellgrauer Fleck aus, auf den von der Ebene her dünne, weiße Fäden zuliefen. Aus größerer Höhe war Roger seiner Sache nicht sicher gewesen, aber jetzt wußte er, daß es sich um eine Stadt handelte und bei den weißen Fäden um Straßen. War es möglich, daß der Mensch
der Erde in ein fremdes Universum vorstoßen mußte, um eine intelligente Bruderart zu finden? „Vierzehnhundert Grad Hüllentemperatur“, meldete Kalix’. „Bei der gegenwärtigen Zuwachsrate schaffen wir fünfzehnhundert in knapp dreißig Sekunden.“ „Genaue Höhe?“ „Drei‐vier‐acht.“ Die Natomas Star sackte wie ein Stein ab. Die Triebwerke hatten ihren Dienst aufgegeben. Der letzte Bremsstoß hatte die Geschwindigkeit des Schiffes ausreichend verringert, so daß es in der zunehmend dichten Atmosphäre nicht verglühen würde. Aber eine sanfte Landung war völlig ausgeschlossen. Roger stellte mit Befriedigung fest, daß der Kurs genau auf die Stelle zeigte, an der die bergige Einöde am zerklüftetsten war. „Fünfzehnhundert!“ rief Kalix’. „Ins Boot!“ befahl ihm Roger. „Nimm das Steuer. Ich bin sofort dort.“ Der Hybride hastete davon. Roger ließ sich noch ein paar Sekunden Zeit. Er hatte in der Aufregung nicht bemerkt, wie die Bordtemperatur ständig zunahm. Erst als ihm der Schweiß in die Augen lief, wurde er aufmerksam. Er hatte jetzt die Gewißheit, daß die Natomas Star dort aufschlagen würde, wo die Berge am unzugänglichsten waren. Die erste Phase seines Planes war erfolgreich ausgeführt. Das Schiff stürzte jetzt so schnell, daß kein atmosphärischer Vorgang normaler Intensität es mehr aus seiner Bahn werfen konnte. Roger schaltete das Teleskop ab. Dann warf er einen letzten Blick ringsum und nahm Abschied von der vertrauten Umgebung, die ihm seit Jahren zu einem zweiten Heim geworden war. Er nahm sich vor, alles zu tun, was notwendig war, um I & E und Merin Sanaka ihre Hinterlist heimzuzahlen. Dann stürmte er zum Beiboothangar. Das Luk des Bootes war offen. Kalix’ saß am Steuer. Ungehindert verließ das Boot das wunde Schiff und strebte in weniger steilem Flug auf die Oberfläche des Planeten zu. Das Wrack der Natomas Star verschwand zwischen den Gipfeln der Berge. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte fahler Feuerschein auf, dann war es still. Die Natomas Star existierte nicht mehr. 7. Das Boot landete mitten in der Bergwildnis, kaum zwanzig Kilometer vom Aufschlagort des Schiffes entfernt. Kalix’ sicherte die Steuer‐ und Triebwerkskontrollen, dann wandte er sich an Roger. „Es wäre weise, wenn du mich wissen ließest, was du im Sinn hast. Weiß der Himmel, vielleicht könnte ich dir sogar helfen.“ Roger überhörte den Spott. „Ich möchte, daß du ein Gerät zusammenbastelst, das die Streufelder eines anlaufenden Raumschiffstriebwerkes erzeugt.“
Kalix’ verstand sofort. Ein wissendes Grinsen huschte über sein häßliches Gesicht. „Ziemlich Ungewisse Sache, auf die du dich da einläßt.“ „Die einzige, auf die wir uns einlassen können. Also mach dich an die Arbeit.“ „Nicht so einfach. Ich werde mich selbst als Resonanzboden einbauen müssen.“ „Tu das“, sagte Roger lächelnd. „Der Dank des Vaterlandes ist dir gewiß.“ Eine rasche Analyse der Außenwelt ergab, daß sie keine gefährlichen Züge aufwies. Die Luft war atembar. Die Temperatur lag in hellem Sonnenschein bei einundzwanzig Grad, und der Luftdruck betrug etwa 0,8 Atmosphären. Das Boot lag in einer engen, von steil ansteigenden Bergwänden eingeschlossenen Talmulde. Die Vegetation war spärlich. Über der Mulde wölbte sich ein wolkenloser Himmel, dessen Blau um einen Ton dunkler war als das Himmelsblau der Erde. Roger stieg aus. Er baute auf Sanakas Pflichtbewußtsein und Neugierde. Sanakas Schiff war der Natomas Star nicht gefolgt, nachdem drei Volltreffer das Fahrzeug in ein Wrack verwandelt hatten. Die Natomas Star ihrerseits war auf der Oberfläche des unbekannten Planeten ohne spektakuläre Effekte zerschellt, noch dazu in einer Gegend, die der Beobachtung weder mit optischen noch mit tastenden Geräten einfach zugänglich war. Sanaka war in diesem Augenblick also über das Schicksal des so heimtückisch überfallenen Raumschiffes im unklaren. Seine Absicht war vermutlich, den Planeten in enger Umlaufbahn einigemal zu umfliegen und den Anschlag für geglückt zu halten, solange er keine Aktivität von seiten der zweiköpfigen Besatzung der Natomas Star wahrnehmen konnte. An dieser Stelle griff Rogers Plan ins Spiel ein. Sobald Sanakas Orter Streufelder wahrnahmen, die von einem anlaufenden Raumschiffstriebwerk zu kommen schienen, mußte er annehmen, daß die Natomas Star nicht so schwer beschädigt worden war, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte. Er war daraufhin gezwungen, Schritte zu unternehmen, die die endgültige Liquidierung des Gegners gewährleisteten. Er würde entweder ein Beiboot losschicken oder mit dem Schiff selbst landen. Das war, worauf Roger hoffte. Hatte er Sanaka erst einmal vor sich auf dem Boden dieser Welt, dann würde sich der Rest schon von selbst ergeben. Natürlich war Kalix’ mit seiner halb menschlichen, halb robotischen Konstitution der geeignetste Helfer in diesem Unternehmen. Elektronik war seine zweite Natur. Und wenn er davon sprach, sich selbst als Resonanzboden für die zu erzeugenden Störgeräusche zu verwenden, so war es ihm damit wahrscheinlich völlig ernst. Roger hatte ihn schon mehr als einmal die Rolle eines Verstärkers, Gleichrichters oder Transformators übernehmen sehen, wenn die erforderlichen Geräte anderweitig nicht zu haben waren. Roger hatte sich auf seinem nachdenklichen Spaziergang etwa einhundert Meter von dem Boot entfernt und näherte sich einer der Felswände, die die Mulde einschlossen, da hörte er seitwärts ein raschelndes Geräusch und fuhr wie elektrisiert herum. Der Anblick, der sich ihm bot, verschlug ihm ein paar Augenblicke lang die Sprache. Seitwärts eines der wenigen Büsche, die in dieser Felswüste Fuß gefaßt hatten, stand eine junge Frau – oder ein Mädchen –, die über seine Anwesenheit ebenso überrascht zu sein schien wie er über die ihre. Er erinnerte sich an die Stadt, die er aus der Höhe
gesehen hatte. Das Mädchen war von mittlerer Größe und hatte deutliche asiatische Züge, war jedoch völlig humanoid. Ihr langes, schwarzes Haar war im Nacken zu einem Knoten geschlungen. Gekleidet war sie in eine Art Mantel, der ihr bis zu den Knien reichte. Sie bot eine anziehende Erscheinung. Roger lächelte, um ihren Schreck zu mildern. „Tsching‐wen, ni‐sh’ schei?“ fragte sie zögernd. Die Worte klangen anders, als er sie gelernt hatte, aber sie gehörten ohne Zweifel einer Abart der chinesischen Sprache an. Erst jetzt begann ihm das Ungeheuerliche, Unglaubliche dieser Begegnung zu dämmern. Auf einer fremden Welt, in einem unbekannten Kosmos traf er auf ein Mädchen, das Chinesisch sprach und deren Ahnen ohne Zweifel von der Erde stammten. Er beantwortete ihre Frage, seine Kenntnisse der fremden Sprache mühselig zusammenraffend. „Ich bin Roger Staff, von der Erde. Und du?“ „Ich heiße Mei‐Mao, meine Eltern und ich wohnen in Ba‐Schui.“ „Ist das weit von hier?“ Sie deutete auf eine der Felswände. „Eine Stunde zu Fuß in dieser Richtung.“ Sie lächelte verschmitzt. „Du bist nicht von der Erde, nicht wahr? Die Erde ist ein Märchen.“ „Die Bewohner meiner Welt nennen sie Erde“, zog er sich zwar nicht elegant, aber doch unangefochten aus dem Dilemma, das Mei‐Maos Ungläubigkeit erzeugte. „Seit wann wohnst du mit deinen Eltern hier?“ „Wir haben schon immer in Ba‐Schui gelebt“, antwortete das Mädchen. „Und deine Vorfahren?“ „Alle wohnten in Ba‐Schui.“ „Seit wie vielen Jahren?“ Sie machte eine allumfassende Geste. „Oh, seit aller Ewigkeit, glaube ich.“ Ein schmerzliches Lächeln flog über Rogers Gesicht. Mei‐Maos Ahnen waren ohne Zweifel mit einer ganzen Siedlerflotte in dieses Universum verschlagen worden – durch dasselbe Loch, durch das er mit der Natomas Star gekommen war. Nach den Aussagen des Mädchens zu urteilen, mußte die Katastrophe sich schon vor langer Zeit ereignet haben – wenigstens zweitausend Standardjahre, schätzte Roger. Denn die Nachkommen der Siedler kannten die Erde nur noch aus dem Märchen und glaubten, schon von Urzeiten an auf dieser Welt gelebt zu haben. „Du bist mit diesem Fahrzeug übers Meer gekommen, nicht wahr?“ fragte Mei‐Mao und deutete auf das Boot. Einen empfindlichen Rückschlag der Zivilisation hatten die Siedler offenbar nicht erlitten, schloß Roger, wenn das Mädchen in dem linsenförmigen Boot ohne weiteres ein Fahrzeug erkennen konnte. „Ja“, gestand er. „Übers weite Meer.“ Es stimmte ihn traurig, daß er Mei‐Mao nicht die Wahrheit sagen konnte. Er hatte keine Zeit, um sich in die langwierige Auseinandersetzung einzulassen, deren es bedurfte, um in dem Mädchen wenigstens die ersten Zweifel an der Richtigkeit ihrer
Überzeugung zu wecken. Er rechnete in jedem Augenblick damit, daß Kalix’ ihm die Fertigstellung seines elektronischen Geräuscherzeugers meldete, und von da an würde er jede Sekunde, jeden Gedanken der Ausführung seines Planes widmen müssen. Aber er schwor sich, er werde, falls der Plan erfolgreich war, hierher zurückkehren und sich dann alle Zeit nehmen, die er brauchte, um die Leute von Ba‐ Schui davon zu überzeugen, daß sie wirklich von der Erde stammten. Er schaute auf und sah Kalix’ vor dem Boot stehen und winken. Er wandte sich dem Mädchen zu. „Mei‐Mao, du mußt jetzt gehen“, sagte er ernst. „Warum?“ fragte sie überrascht. „Böse Menschen werden hierherkommen“, erklärte er. „Sie verfolgen uns, und wir müssen uns gegen sie wehren. Das ist gefährlich für dich. Geh zurück nach Ba‐Schui, so schnell du kannst.“ Ihr unkompliziertes Gemüt fand es nicht schwer, die Anweisung zu befolgen. „Du wirst nach Ba‐Schui kommen?“ fragte sie im Weggehen. „Ganz gewiß“, versprach er. Er sah ihr nach, bis sie durch einen Spalt am Fuße der Felswand verschwand. Als er auf das Boot zuschritt, erwartete ihn Kalix’ mit spöttischem Grinsen. „Man schäkert mit der Frauenwelt, während andere Leute sich im Schweiße ihres Angesichts mühen.“ „Mensch, du hast ein Herz aus Blech!“ ereiferte sich Roger. „Weißt du, was das war?“ „Ein Mädchen“, gab der Hybride trocken zurück. „Ein Mädchen!“ rief Roger. „Ein Mädchen irdischer Herkunft, hier, auf einer fremden Welt und in einem fremden Universum!“ Kalix’ zuckte mit den Schultern. „Für dich vielleicht aufregend. Ich finde Geräuschgeneratoren weitaus interessanter.“ Roger beschloß, sich nicht aufzuregen. „Ist das Ding wenigstens fertig?“ erkundigte er sich. „So fertig wie Adam am fünften Tag.“ „Sechsten“, verbesserte Roger. „Meinetwegen, am sechsten“, brummte Kalix’. „Ich kenne mich da nicht so gut aus. Du kannst das Ding sofort einschalten, wenn du Wert darauf legst.“ * Kalix’ war zurechtgekommen, ohne sich selbst in den Stromkreis einschließen zu müssen. Das Gerät, das er zum Teil aus lebenswichtigen Bauteilen des Bootes zusammengebastelt hatte, bestand aus einem wirren Durcheinander loser Komponenten, die durch Drähte miteinander verbunden waren. Das Ganze war an den Generator des Bootes angeschlossen. Bis auf ein merkwürdig helles Summen arbeitete die seltsame Apparatur völlig geräuschlos. Es gab kein Meßinstrument, mit dem Roger hätte nachweisen können, daß das Gerät seine Funktion erfüllte. Er mußte sich voll und ganz auf Kalix’
verlassen. Er kletterte ins Boot und beobachtete den Orterschirm. Kalix’ hockte draußen auf dem Boden und wandte kein Auge von seinem Kunstwerk. Eine Viertelstunde verging, ohne daß auf der Mattscheibe des Schirms auch nur die Spur eines Reflexes erschien. Roger schätzte, daß Sanakas Schiff sich auf einer möglichst niedrigen, schnellen Umlaufbahn befand, die eine Periode von nicht mehr als fünfzig oder sechzig Minuten hatte. Fünfzehn Minuten waren infolgedessen zu wenig, um über Erfolg oder Nichterfolg des Unternehmens zu urteilen. Er gab sich Mühe, die Ungeduld zu zähmen. Die Stille war fast unerträglich, nachdem das Ohr sich an das Summen der Apparatur gewöhnt hatte und es nicht mehr wahrnahm. Plötzlich sagte Kalix’: „Vielleicht setzt du mir bei Gelegenheit mal auseinander, was Sanaka meinte, als er behauptete, er könnte meinen Gehirninhalt lesen.“ Roger biß sich auf die Lippen. Er hatte das Thema bisher bewußt vermieden. Er kannte Kalix’ gut genug, um zu wissen, daß der Hybride auf seine Doppelnatur stolz war und sich insgeheim für ein dem Menschen überlegenes Wesen hielt. Er hatte noch nie versucht, aus dieser Überzeugung Kapital zu schlagen, daher war sein Stolz zu ertragen. Die Erkenntnis, daß selbst der Wundermechanismus seines Zwitterkörpers schwache Stellen hatte, würde ihn unwillkürlich verletzen. Roger hatte sich vorgenommen, die Sache erst dann zur Sprache zu bringen, wenn sie aus diesem Schlamassel heraus waren und Zeit genug hatten, um in aller Ausführlichkeit über den Fall zu diskutieren. „Bei Gelegenheit, ja“, antwortete er und spielte ohne Mühe den Schwerbeschäftigten. „Du brauchst nicht soviel Rücksicht zu nehmen“, fuhr Kalix’ fort. „Ich habe mir alles schon ausgerechnet. Dein Besuch bei Nadelman war verraten, noch bevor du selbst wußtest, weshalb du bestellt worden warst. Von deiner Idee mit den Fernsehanzeigen erfuhr Sanaka rechtzeitig genug, um alle Fernsehstationen aufzukaufen. Und die Sache mit dem Hypnokode haben sie auch ausgetüftelt. Klar, ist auch kein Wunder. Ein Teil meines Gedächtnisses ist eben weiter nichts als ein gewöhnlicher elektronischer Speicher, der genauso leicht abgetastet werden kann wie jeder Rechenspeicher. Wenn wir erwartet hätten, daß jemand hinter mein Geheimnis kommt, hätten wir uns wahrscheinlich schon längst gegen so etwas vorgesehen; aber es ist trotzdem zu dumm…“ Ohne es zu wollen, hatte Roger ihm aufmerksam zugehört. Es schmerzte ihn, die Traurigkeit in Kalix’ Stimme zu hören. Er wollte etwas einwenden; aber bevor er dazu kam, blitzte am Rande seines Blickfeldes etwas auf. Er starrte auf den Orterschirm und betrachtete fasziniert den grellen Reflexpunkt, der vom Rande der Mattscheibe her mit beachtlicher Geschwindigkeit auf das Zentrum zuwanderte. Die Größe und Helligkeit des Punktes ließen keine Zweifel übrig – Sanaka kam mit seinem ganzen Schiff! Roger sprang auf. Kalix’ unterbrach seinen traurigen Monolog mitten im Satz. „Sie sind schon fast da!“ keuchte Roger.
* In dem bläulichweißen Feuerball seines eigenen Feldtriebwerks sank das gegnerische Fahrzeug rasch auf die Oberfläche der fremden Welt zu. Sanaka hatte es eilig. Der Trick war gelungen. Der Gegner war überzeugt, daß Roger Staff mit seinem vermeintlich wracken Schiff in jeder Sekunde starten werde. Die Mulde, in der das Boot lag, war für Sanakas Schiff zur Landung nicht geeignet. Roger nahm an, daß er in günstigerem Gelände aufsetzen und dann ein paar Beiboote aussenden würde, um dem hartnäckigen Widersacher ein für allemal den Garaus zu machen. Erst nach der Landung würde es ihm möglich sein, den Ausgangspunkt des Störgeräuschs auf den Meter genau anzupeilen, da im Augenblick sein eigenes Triebwerk soviel Störungen verursachte, daß die Taster nicht mit Maximalleistung zu arbeiten vermochten. Rogers Plan stand fest. Er war primitiv und zugleich der einzige, der in einer Lage wie dieser angewendet werden konnte. Er beruhte auf der Annahme, daß Kalix’ und Roger jederzeit mit der Besatzung eines feindlichen Bootes fertig werden konnten, jedoch nicht mit mehreren. Es ging darum, eine Bedingung zu schaffen, in der eines der beiden ausgesandten Suchboote die Talmulde wenigstens fünf Minuten vor dem nachfolgenden erreichte. Der strahlende Feuerball, in dem Sanakas Schiff verborgen war, verschwand hinter den Bergen. Das typische hohle Brausen der Feldtriebwerke durchdrang die Luft. Roger dachte an Mei‐Mao und hoffte, daß sie in Sicherheit sei. Als das brausende Geräusch plötzlich erstarb und die erfolgreiche Landung des feindlichen Fahrzeugs signalisierte, ließ er Kalix’ den Simulator ausschalten. Von jetzt an konnte Sanaka die Störgeräusche des vermeintlichen Schiffstriebwerkes nicht mehr anmessen, und wenn das Schicksal mit Roger Staff auch nur für zwei Subsol Nachsicht hatte, dann würde er jetzt glauben, die beiden Gestrandeten hätten ihren Startversuch vorerst aufgegeben, weil sie sich vor ihm fürchteten. Minuten vergingen. Inzwischen hatte Kalix’ den Orter bemannt. Roger hielt sich auf dem Sprung. Die Spalte, durch die Mei‐Mao verschwunden war, bildete ein ideales Versteck. Wenn er sich dort verbarg und Kalix’ im Innern des Bootes blieb, dann mußte es ihnen gelingen, das feindliche Suchfahrzeug wenigstens ein paar Augenblicke lang zwischen zwei Feuer zu bringen. „Drei Fahrzeuge“, brummte Kalix’. „Wie bestellt!“ Roger warf einen Blick auf den Schirm. Die Stelle, an der Sanakas Schiff gelandet war, zeigte einen schwachen, rötlichen Reflex, der von der Reststrahlung der Triebwerke herrührte. Von dem verwaschenen rötlichen Fleck weg strebten in diesem Augenblick drei kleinere, jedoch schärfer gezeichnete Reflexe – die Ortungsbilder der drei Suchboote, die Sanaka ausgeschickt hatte. Sie entfernten sich in drei verschiedenen Richtungen von dem gegnerischen Schiff. Das hieß, daß Sanaka den Standort seines Opfers nur ungefähr kannte und sich genauere Informationen nur durch Absuchen des eingezirkelten Gebietes verschaffen konnte. Nachdem die Boote ihre Ausgangspositionen bezogen hatten, bewegten sie sich auf Parallelkurs mit etwa zwölf Kilometern Zwischenraum in einer Richtung, die Roger
nach dem Stand der fremden Sonne und der Anzeige seines Chronometers willkürlich als Ost bezeichnete. Auf diesem Kurs würde das nördlichste der Boote in einem Abstand von nicht mehr als einem oder anderthalb Kilometern an der Talmulde vorbeikommen. Nach Rogers Schätzung blieben nicht mehr als fünf Minuten Zeit. Die Fahrzeuge bewegten sich mit mäßiger Geschwindigkeit, um den Kameras die Aufgabe zu erleichtern. Roger schwang sich ins Freie. „Hals‐ und Beinbruch!“ rief er Kalix’ zu. Dann kletterte er in den Spalt. Von seinem Versteck aus konnte er den Hybriden durch die gläserne Kugel des Bootes undeutlich sehen. Als die fünf Minuten fast verstrichen waren, machte Kalix’ eine schwenkende Bewegung mit dem rechten Arm. Das war das verabredete Zeichen. Er hatte den Simulator wieder eingeschaltet und ließ ihn mit einem Prozent Nennleistung e’in schwaches Signal ausstrahlen, das nur von dem nächststehenden Suchboot empfangen werden konnte. Das Signal dauerte nicht länger als eine Millisekunde. Aber einen Augenblick später schwenkte Kalix’ den Arm zum zweitenmal, um anzudeuten, daß der Gegner sich anschickte, in die Falle zu gehen. Die Frage war nun, ob er sich zuvor mit den beiden anderen Fahrzeugen in Verbindung gesetzt hatte oder nicht. Kalix’ mußte auf seinem Orterschirm sehen können, ob die zwei anderen ihren Kurs wechselten. Er rührte sich nicht, also schien alles nach Plan zu verlaufen. Ein hohes, brausendes Geräusch wurde hörbar, als das gegnerische Boot von Südost kommend dicht über die Bergkuppen hinwegstrich und sich in die Mulde hinabzusenken begann. Roger beobachtete es. Der Pilot zögerte beim Anblick des in der Mulde liegenden Fahrzeugs keine Sekunde lang. In fast halsbrecherischem Gleitflug stürzte er auf den Boden der Mulde und setzte unweit des Spaltes auf. Ein Spalt öffnete sich in der transparenten Kuppel. Das Boot hatte eine Besatzung von zwei Mann. Einer davon sprang zu Boden, der andere blieb vorsichtigerweise im Innern des Fahrzeugs. Der Augenblick war gekommen. Roger legte an. Einen Atemzug später zischte sein Desintegrator auf. Der grelleuchtende Strahl fraß ein Loch in die Kuppel. Roger sah, wie der Mann im Innern des Bootes entsetzt aufsprang. Durch die rasche Bewegung geriet er ins Schußfeld der Waffe. Den Bruchteil einer Sekunde später sank er reglos zu Boden. Ein wilder Schrei gellte auf. Wie eine blitzende Nadel aus kaltem Stahl brach aus dem Boot der Natomas Star der Strahl von Kalix’ Desintegrator hervor, traf den zweiten Gegner in die Schulter und wirbelte ihn herum. Das Geschrei erstarb in schmerzvollem Wimmern. Kalix’ schoß aus dem Boot hervor. Im selben Augenblick sprang Roger aus dem Spalt herab. Der Mann im Boot lebte nicht mehr. Kalix’ nahm ihn unter die Arme und schleppte ihn in die Nähe des Spaltes. Inzwischen hatte Roger den Bewußtlosen aufgenommen und trug ihn so weit in den Spalt hinein, daß er bei dem, was nun kommen würde, keinen Schaden erleiden konnte. Dann kletterten sie in das feindliche Boot. In der Kuppel gähnte ein häßliches Loch,
und der Gestank von verbrannter Isolierung war intensiv. Roger drehte den Desintegrator in der Hand und zertrümmerte scheinbar planlos eine Reihe von Geräten auf dem Armaturenbrett. Inzwischen hatte Kalix’ die Kontrollen übernommen. Auf Rogers auffordernden Blick schob er den Fahrhebel nach vorne. Das Boot hob ab und schoß zwischen den steilen Bergwänden in die Höhe. Seit dem Zeitpunkt, zu dem Kalix’ dem Simulator das geschwächte Signal entlockt hatte, waren noch keine zwei Minuten vergangen. Roger warf einen hastigen Blick auf die Uhr, dann einen zweiten in die Tiefe der Talmulde. Ein greller Blitz zuckte unten auf. Eine Wolke aus Staub, Qualm und heißer Luft schoß in die Höhe und riß das Boot mit sich. Kalix’ hantierte wie ein Berserker an den Fahrtinstrumenten. Er ließ das Fahrzeug seitlich aus dem Strom der stärksten Turbulenz ausscheren. Die Luft wurde wieder klar. Das Boot hörte auf zu bocken und zu stampfen. Es hatte die Berge, die die Mulde umschlossen, hinter sich gelassen. Über die Bergkuppen erhob sich eine graubraune Wolke, die rasch in die Höhe stieg und sich in dünneren Luftschichten pilzförmig auszubreiten begann. Vor dem Boot jedoch erstreckte sich ein weites, sanftes Tal, das in südwestlicher Richtung verlief. Unter der fremden Sonne blitzte Sanakas Raumschiff wie ein Diamant aus smaragdgrüner Fassung. Sanakas erregtes Gesicht erschien auf dem Bildschirm. „Was ist los?“ bellte er. „Was bedeutet die Explosion?“ Roger stieß Kalix’ an die Schulter. „Eine Falle“, krächzte der Hybride mit einer Stimme, die irgend jemand gehören konnte. „Zeitbombe… mitten ‘reingeflogen…“ „Bildübertragung!“ schrie Sanaka. „Ich will sehen, mit wem ich rede!“ „Du kannst mich mal“, hustete Kalix’. „Transmitter hin, ein Mann hin, ich beinahe hin… bin froh, daß das Triebwerk noch funktioniert. Du… kannst dir alles… ansehen, wenn wir an Bord sind. Macht die… macht die Schleusen weit auf. Ich kann… kann nicht mehr so gut zielen!“ Sanaka schwieg. Das Boot schoß in wahnwitzigem Flug auf das glitzernde Schiff zu. Roger ballte die Fäuste. Der Trick hatte funktioniert. Sanaka war mißtrauisch, aber fürs erste schien er Kalix’ gekrächztem Bericht zu glauben. Eine dunkle Schleuse gähnte vor dem heranschießenden Boot. Rogers Hände krampften sich um die Lehne des Sessels. Kalix’ ließ das Fahrzeug hart auf den Schleusenboden schlagen. Es wirbelte zwei‐, dreimal um die eigene Achse, prallte gegen die Hinterwand der Schleusenkammer und kam schließlich kreiselnd zum Stillstand. Noch bevor die Bewegung völlig aufhörte, hatten Roger und Kalix’ ihre Gurte gelöst und glitten blitzschnell in Richtung des Ausstiegs. Somit entzogen sie sich dem Blickfeld der Kameras, die von der Schleusendecke herab die transparente Kuppel des Bootes zu durchdringen suchten. Eine Minute verging. Sanaka meldete sich noch einmal und wollte Auskünfte haben. Kalix’ ließ ein langgezogenes, schmerzliches Stöhnen hören. Eine Minute verging, und noch eine. Dann öffnete sich in der Seitenwand der Schleuse ein Mannluk. Zwei Gestalten traten daraus hervor – ein stiernackiger
Geselle, der einen schweren Desintegrator schußbereit hielt, und dicht hinter ihm Merin Sanaka mit der Miene eines Mannes, der dem Frieden nicht recht traute. Vorsichtig näherten sie sich dem Boot. Als sich nichts rührte, wuchs ihr Mut. Der Stiernackige ließ den Desintegrator so weit sinken, daß die aufgestülpte Mündung des Laufes auf den Boden zeigte. Roger richtete sich vorsichtig auf. Er hatte das Loch, das er selbst in die Kuppel des Bootes geschossen hatte, schräg vor sich. Der gezackte Rand bildete ein vortreffliches Visier, und als der Mann mit dem Desintegrator darin auftauchte, feuerte er ohne Zögern. Das Manöver klappte wie am Schnürchen. Während Sanaka noch ungläubig auf die breitschultrige Gestalt starrte, die sich vor seinen Augen in wirbelnde Nebelschwaden auflöste, glitt Kalix’ durch den Ausstieg. Sanaka hatte sich von dem Schock noch nicht erholt, da hatte der Hybride die Waffe schon im Anschlag. Aus dem Innern des Bootes rief Roger: „Sie sind am Ende, Sanaka! Nehmen Sie die Hände in die Höhe, und wenden Sie sich mit dem Gesicht zur Wand.“ Sanaka gehorchte. „Wie viele Leute haben Sie an Bord, Sanaka?“ fragte Roger, „Z‐zwölf“, war die dumpfe Antwort. „Ohne die Männer in den Suchbooten?“ „Ohne… die Männer in den Suchbooten.“ „Geben Sie Befehl, daß sich die gesamte Besatzung waffenlos hier in der Schleuse einfindet.“ Sanaka wandte den Kopf und starrte mit haßerfülltem Blick in Richtung des Bootes. „Und daß die Suchfahrzeuge sich dem Schiff nicht bis mehr als zehn Kilometer zu nähern haben!“ fügte Roger hinzu. Sanaka starrte ihn reglos an. „Kalix’?“ „Hier!“ „Der Mann hat zehn Sekunden. Wenn er bis dahin keine Anstalten macht, unsere Anweisungen zu befolgen, verfährst du mit ihm genauso wie mit dem Stiernackigen.“ „Klar!“ Da brach Sanaka zusammen. Er ließ die Arme sinken. Schluchzend, mit zuckenden Schultern stieß er hervor: „Ihr habt gehört, was der Mann will! Tut, was er sagt!“ Und die Mikrophone in der Decke der Schleuse übertrugen seinen Befehl an die Besatzung des Schiffes. SCHLUSS Nur wenige Minuten später hatte Sanakas Schiff die fremde Welt weit unter sich liegen. Die Besatzung war ausgestiegen. Roger hatte keinerlei Gewissensbisse, ihr
und den Männern in den Suchbooten dasselbe Schicksal angedeihen zu lassen, das ursprünglich ihm und Kalix’ zugedacht war: Ein Robinson‐Dasein in einem fremden Kosmos, zumindest vorläufig ohne jegliche Aussicht auf Rückkehr in das Universum, aus dem sie stammten. Roger hatte Merin Sanaka an Bord zurückbehalten. Dieser erholte sich allmählich von seinem Schock, und sein Widerstandswille begann zu wachsen. Roger brachte ihn vorläufig in einem kleinen Lagerraum unter, dessen Schott nur von außen geöffnet werden konnte. Dann begab er sich zu Kalix’ in den Kommandostand, um dem Hybriden bei der Festlegung des Kurses zu helfen. Der elektronische Speicher des Steuer‐ und Kontrollrechners enthielt einige Datensätze von derselben Art, die Roger schon an Bord von Hakkalynes Jacht aufgefallen waren. Er wußte nun, daß sie sich auf das Koordinatennetz des fremden Universums bezogen. Es gab insgesamt drei Sätze. Der erste bestand ohne Zweifel aus den Koordinaten des Punktes, an dem Sanakas Schiff nach dem Durchflug des Übersterns in diesem Kosmos aufgetaucht war. Der zweite Satz, nur um einen geringen Wert von dem ersten verschieden, kennzeichnete den Standort des G2‐Sterns, auf dessen einem Planeten Mei‐Maos Ahnen vor Jahrtausenden einen Hafen gefunden hatten. Der dritte Satz mußte daher aus den Koordinaten des Punktes bestehen, an dem die Rückkehr in den heimatlichen Kosmos bewerkstelligt werden konnte. Kalix’ brachte das Schiff auf Fahrt. Der Sprungpunkt lag rund dreihundert Lichtjahre oder knapp zwei Tage von ihrem augenblicklichen Standort entfernt. Die geringe Distanz zwischen Ein‐ und Austrittspunkt regte Roger zum Nachdenken an. Entweder handelte es sich bei diesem fremden Kosmos um ein ungewöhnlich kleines Gebilde, oder die Natur hatte hier Wunder gewirkt, indem sie die beiden Punkte, an denen eine Verzerrung des Kontinuums dieses Universum mit einem anderen verband, in so geringem Abstand voneinander geschaffen. Allerdings befand sich die Theorie der Paralleluniversen – oder der Simultankosmen, wie sie von anderen genannt wurde – aus Mangel an Anschauungsmaterial noch in den Anfangsgründen. Es mochte eine Gesetzmäßigkeit bestehen, die verlangte, daß Ein‐ und Austrittspunkt sowohl in dem einen, wie auch dem anderen Universum nicht allzuweit voneinander entfernt waren. Roger nahm sich vor, darüber mit einem Fachmann zu sprechen. Der Flug verging ereignislos. Roger empfand einige Sorge wegen der fünfzig Raumschiffe, die I & E nach Sanakas Aussage in Richtung Erde entsandt hatte, um alle handelsoffenen Raumstationen im Notfall zu besetzen. Aber als sie unmittelbar vor dem Sprungpunkt aus dem Überraum auftauchten, lag das All ringsum leer und finster, und nirgendwo war auch nur die Spur eines Streufeldes, das aus dem Triebwerk eines anderen Raumschiffes hätte herrühren können. Roger hatte erwartet, am Sprungpunkt wiederum eine von einem Überstern erzeugte Raumverzerrung zu finden, sah sich in dieser Vermutung jedoch getäuscht. Weit und breit war nichts anderes zu sehen als ein kleines Doppelsternpaar, bestehend aus einem hellroten K5‐ und einem schwachleuchtenden M3‐Stern. Im Augenblick des Auftauchens, errechnete Kalix’, war das Paar nicht weiter als dreizehn Astronomische Einheiten vom Schiff entfernt. Mehr noch, das Fahrzeug trieb mit
seiner Restfahrt genau auf den Masseschwerpunkt zwischen den beiden Sternen zu. Es bestand kein Zweifel daran, daß die Öffnung ins andere Universum sich zwischen den kleinen Sternen befand. „Das erscheint sinnvoll“, sagte Kalix’. „Der M‐drei ist wahrscheinlich im fortgeschrittenen Stadium des Zusammenbruchs. Er erzeugt Gravitationsimpulse, die am Ort des Masseschwerpunkts eine Instabilität erzeugen. Im Viererkontinuum eine Instabilität, im Fünferraum ein Loch in der Wand. Das ist das ganze Geheimnis!“ Er sah Roger an und zwinkerte. „Im übrigen kenne ich das Paar“, behauptete er. „Stell es mir vor“, bat Roger grinsend. „Mein Gedächtnis war schon immer schwach.“ „Die kleine Hantel, ein veränderliches Sternpaar in einer sternenarmen Gegend, rund viertausendsiebenhundert Lichtjahre von der Erde entfernt.“ Roger blickte auf die Bildfläche und nickte sachlich. „Du hast sie nicht alle“, bemerkte er voller Ruhe. „Nichts in diesem Universum befindet sich in irgendeiner meßbaren Entfernung von der Erde.“ „Außer einem veränderlichen Doppelstern“, behauptete Kalix’ seinen Standpunkt. „Beide Komponenten schwanken im gleichen Rhythmus. Wenn sie von der Erde aus am schwächsten sind, strahlen sie wahrscheinlich in diesem Kosmos am hellsten. Und umgekehrt. Sie gehören beiden Kosmen an.“ Roger lag ein Widerspruch auf der Zunge; aber er entschied sich anders. „Es gibt nur eine Möglichkeit, dich zu überzeugen“, sagte er. „Ich hole Sanaka. Mach das Schiff fertig zum Sprung.“ Er wandte sich zum Gehen. Kalix’ hielt ihn zurück. „Noch etwas.“ „Was?“ „Wir haben fünfzig I – und – E‐Schiffe hinter uns. Die Astrophysiker haben ausgerechnet, daß die Instabilität im Masseschwerpunkt des Hantelsystems im Laufe von spätestens zweitausend Jahren zum Kollaps des Doppelsterns führen wird. Eine Nova wird entstehen.“ „Und?“ „Es bedarf nur geringer Hilfe von außen, um den Vorgang zu beschleunigen.“ Roger verstand, worauf er hinauszielte. „Wie sehr zu beschleunigen?“ „Bis auf wenige Tage, vielleicht sogar Stunden.“ „Eine Bombe?“ Kalix’ Augen blitzten. Er nickte mit der Miene eines Verschwörers. „Kaliber nicht mehr als zwanzig bis dreißig Hiro. Dieses Schiff hat solche Waffen an Bord. Eine Explosion dieser Stärke in unmittelbarer Nähe des Masseschwerpunkts, und die Hantel klappt zusammen.“ „Das Loch ist verschlossen?“ „Das Loch ist verschlossen.“ Roger sah auf. Er erinnerte sich an Mei‐Mao. Verschwand der Doppelstern, dann
würde sie nie erfahren, woher ihre Ahnen in Wirklichkeit gekommen waren. Brach die Hantel zusammen, dann gab es vom Kosmos der Erde aus nur noch einen Zugang zu diesem Universum, und jeder, der ihn benützte, würde niemals zurückkehren. Er biß die Zähne zusammen und wandte sich zum Ausgang. „Vorbereitung zum Sprung!“ befahl er bitter. „Ich hole Sanaka. Er soll sich das Schauspiel mitansehen.“ * Kalix’ behielt recht. Als Sanakas Schiff aus dem Überraum auftauchte, befand es sich in bekannter Umgebung, weniger als fünftausend Lichtjahre von der Erde entfernt. Unmittelbar hinter dem Schiff leuchtete matt, kaum wahrnehmbar ein winziges Doppelsternsystem – die Kleine Hantel. Kalix’ hatte die Feuerkontrolle sorgfältig studiert und war bereit zum Abschuß des Projektils, das eine Fusionsbombe von fünfundzwanzig Hiro, fünfhunderttausend Tonnen chemischen Sprengstoffs entsprechend, an den Schwerpunkt des Doppelsternsystems befördern würde. „Nein!“ schrie Sanaka. „Das können Sie nicht tun! Man wird Sie dafür bestrafen! Man wird Sie umbringen! Man wird…“ Er war außer sich. „Niemand wird uns bestrafen“, erwiderte Roger ruhig. „Niemand wird uns umbringen. Niemand wird uns auch nur einen Vorwurf machen. Die einzigen, die unter dieser Entwicklung leiden, sind Sie und Ihre Freunde von I und E.“ Er gab Kalix’ einen auffordernden Wink. „Nein…!“ schrie Sanaka ein letztesmal. Das Schiff ruckte leicht, als die Rakete durch das Ausstoßrohr schoß. Wenige Stunden später, nach einem kurzen Überraumsprung von weniger als dreißig Lichtjahren, erschien das Hantelsystem der konventionellen Optik nur noch als ein verwaschener, rötlicher Fleck, den erst das leistungsfähige Teleskop in zwei deutlich voneinander verschiedene Objekte zu trennen vermochte. Elektromagnetische Strahlung würde nicht vor Ablauf von dreißig Jahren die Nachricht vom Zusammenbruch des Doppelsterns an den Standort des Schiffes bringen. Aber die Überraumtastung ergab eindeutig, daß dort, wo sich bis vor wenigen Stunden noch die beiden Hantelsterne umeinander gedreht hatten, jetzt eine Nova flammte. Der Ausschlupf aus dem fremden Universum war für immer verstopft. * Auf der Erde verurteilte man Merin Sanaka vor einem Gericht der Raumpatrouille zu fünfzigjährigem Freiheitsentzug wegen interstellarer Piraterie. Interstellar I & E überlebte den nächsten Alao‐Markt auf den handelsoffenen Raumstationen der Erde nur um wenige Tage. Von Gläubigern bestürmt, durch den Verlust von fünfzig in
einem fremden Universum für immer eingeschlossenen Raumschiffen bis ins Mark getroffen, ging die Firma in den Konkurs. Roger Staff kassierte seine Prämie und eine zynische Ansprache von Sy Nadelman. Kalix’ erbat sich einige Tage Urlaub, erhielt sie genehmigt und verschwand spurlos. Als er zurückkehrte, strahlte aus seinem faltigen, ungewaschenen Gesicht ein neuer Ausdruck von Zuversicht und Selbstvertrauen. „Wenn ich nur wüßte, was sie mit dir gemacht haben!“ beschwerte sich Roger. „Meinen Kopf ein bißchen schwerer“, antwortete der Hybride bereitwillig. „Mein Gott, der war doch so schon…“ „Mit vierhundert Gramm Abschirmmetall“, bog Kalix’ die ohne Zweifel beleidigende Äußerung schnell ab. „So daß von jetzt an keiner mehr meinen Speicher austasten kann.“ Roger Staff seufzte ergeben. „Gelobt sei Kleopatra!“ ENDE