Juan Benet
Der Turmbau zu Babel
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Band 54 der Bibliothek Suhrkamp
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Juan Benet
Der Turmbau zu Babel
Bibliothek Suhrkamp
SV
Band 54 der Bibliothek Suhrkamp
Juan Benet Der Turmbau zu Babel Essay Aus dem Spanischen von Gerhard Poppenberg
Suhrkamp Verlag
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel La construcción de la torre de Babel © Juan Benet 990
Erste Auflage 994 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 994 Alle Rechte vorbehalten Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany
Der Turmbau zu Babel
Auch wenn das Gedächtnis voll ist von anderen Gemälden, die beunruhigender und dramatischer sind: welcher Besucher des Kunsthistorischen Museums in Wien wird den Eindruck vergessen können, den Der Turmbau zu Babel von Brueghel erzeugt? Neben so bedeutenden Stücken wie der Bauernhochzeit oder den Landschaften Herbst und Winter – zu deren Beschreibung die Kunstgelehrten reichlich Tinte verbraucht haben – überrascht der Anblick des im Bau befindlichen großen Turms zweifellos durch seine Einfachheit; da es sich anscheinend um die Darstellung eines leblosen Gegenstands handelt, kann man vermuten, daß der Meister trotz der großen Neugierde, die der Turm zu allen Zeiten geweckt hat, in diesem Fall sein dramatisches Talent beiseite lassen wollte, um eine minuziöse Darstellung des Bauwerks in einem Klima unmittelbarer Heiterkeit zu erreichen und zu hinterlassen. Es gibt auf dem Bild keine abwegigen geometrischen oder chromatischen Achsen – die schon Wölfflin als eines der Hauptmittel des Meisters deutlich gemacht hat, die Aufmerksamkeit des Betrachters auf bestimmte Punkte zu lenken – und keine starken Kontraste von Licht und Schatten; noch auch die wohlbemessene szenische Dynamik, mit der so häufig das rechteckige Blickfeld 7
in ein Gebilde ohne lineare Grenzen verwandelt wird. Das Bauwerk ist kegelförmig dargestellt, die vertikale Achse fällt mit der Mittelsenkrechten des Gemäldes zusammen, und die Horizontlinie verläuft ungefähr auf Zweidrittelhöhe, so daß der Fluchtpunkt – falls das Bild richtig gehängt ist, wie es im Wiener Museum der Fall ist – auf der Höhe der Augen eines durchschnittlich großen Betrachters liegt und ihnen entspricht, wenn sie auf die beiden Bögen gerichtet sind, mit denen der Turm wie mit rotgrundierten Augen auf die Neugierde antwortet und rätselhafterweise sein unergründliches Geheimnis bekundet. In diesem Punkt, mehr oder weniger im Zentrum des im Bau befindlichen Abschnitts dieser dritten Etage, liegt der Brennpunkt des Bilds. Stärkere Frontalität ist nicht möglich. Der Turm wird an einem heiteren Tag dargestellt; den Himmel durchziehen wenige, nicht bedrohliche Wolken, die dazu dienen, das Licht des Morgens zu dämpfen und ein Übermaß an Schattenwurf zu vermeiden; nach den zaghaften Schatten der Strebemauern zu urteilen, ist es vermutlich gegen Mittag. Es ist der Moment, wo der König von Babylon den Arbeiten einen Besuch abstattet (um sie, wie Philipp II. das Escorial, von der Höhe eines nahen Hügels aus in Augenschein zu nehmen), begleitet vom Oberbaumeister, der ihm einige Stein8
Pieter Brueghel. Der Turmbau zu Babel, 563
metze präsentiert, welche ihm knieend Huldigung erweisen. Damit ist die Handlung abgeschlossen; sowohl durch ihre Position im Vordergrund, in vollkommener Beachtung der Regel des Repoussoirs, als auch durch die geringe Größe der Gestalten wird die Gruppe aus königlichem Gefolge und Steinmetzen von dem Meister dazu benutzt, die Handlung auf ein Minimum einzuschränken und das Hauptgewicht auf das stolze Bauwerk zu legen, das fast die gesamte Landschaft einnimmt, von der Erde bis zum Himmel, von der Küste bis zur Stadtmauer. Man kann sagen, daß es das erste Gemälde der europäischen Kunst mit einem Bauwerk als Hauptthema ist. Die Darstellung von Architektur in der Malerei, deren Beginn gewöhnlich in der frühen Renaissance angesiedelt wird, zeigt zweifellos eine Entwicklung, indem das Bauwerk nach vorn rückt und den Hintergrund verläßt, bis es den Vordergrund einnimmt. Diese Bewegung allerdings führt im allgemeinen nicht zu einer Thematisierung des Bauwerks, das nur selten mehr ist als der Rahmen für eine Szene; wenn der Maler ihm eine Hauptrolle zuweist, dann gewöhnlich als Innenraum, wie bei den Ansichten der holländischen Kirchen und Synagogen aus dem 6. und 7. Jahrhundert, als wären Fassaden und Frontansichten eine solche Darstellung nicht wert. Es verdient hervorgehoben 9
zu werden, daß über Jahrhunderte die reine Darstellung des Bauwerks die Grenzen der Gravierkunst nicht überschritt, als scheute sie vor der Macht der Farbe zurück und als hätte der Künstler sich entschieden, sie den Normen der einfachen Zeichnung zu unterwerfen; das ist die Tradition, die von Giulio Romano bis zur Veröffentlichung des berühmten Albums von Piranesi reicht, dessen Einfluß, vor allem in England, in der romantischen Aufhebung des Verbots Ausdruck gewinnt, wofür Constables Ansichten der Kathedralen oder Schinkels Fiktionen frühe Beispiele sind. Selten nur – was die These bestätigt – sind die Stadtlandschaften der Venezianer des 8. Jahrhunderts, die sich derart detailgetreu an die architektonische Ausgestaltung hielten, daß die Künstler sich bei ihrer Ausführung der camera obscura und einer Vorläufertechnik des belichtungsfähigen Films als handwerklicher Hilfsmittel bedienten, auf ein einzelnes Bauwerk konzentriert; sie ziehen in den meisten Fällen das lebendige Treiben, das eine Gruppe von Bauwerken bietet – ob in der Perspektive eines Kanals, einer Straße, eines Platzes oder einer Mole –, der strengen Einsamkeit eines einzigen vor, selbst wenn dieses an sich überreich an Stilen und Formen wäre, wie etwa im Fall des Markusdoms. Aber die Darstellung des Turms von Babel, oder genauer, seines abgebrochenen Baus, bildet einen 0
Einzelfall, der jedem Muster oder jeder Schule bauwerklicher Malerei vorgreift. Zweifellos hat der Mythos die Einbildungskraft des Künstlers angezogen wie kein anderes Bauwerk irgendeiner Passage der Bibel, der christlichen Heiligenlegenden oder der griechisch-lateinischen Literatur – den fast alleinigen Inspirationsquellen des Malers für seine nicht-zeitgenössischen Kompositionen –, und er konnte das tun, entweder weil der Turm selbst den Gehalt des Mythos bildete, im Unterschied zu anderen Bauten, die ihn nur aufnahmen, oder weil er nicht mit einer menschlichen Gestalt mit Eigennamen verbunden war – sondern mit dem ganzen Volk – und den Maler von der Aufgabe einer zweipoligen Komposition befreite. In der Reformationszeit erhält der Turm für einige sektiererische und esoterische Maler aus Nordeuropa einen unbezweifelbar symbolischen Sinn und verwandelt sich in ein Geheimzeichen; gewiß verdankt sich die Tatsache, daß er so häufig und unaufhörlich gemalt wurde, zu einem guten Teil der Notlage verschiedener geheimer Bruderschaften, die ein Erkennungsmerkmal brauchten. Auch wenn zahlreiche Darstellungen des Turms über ganz Europa verteilt vom Mittelalter an überliefert sind (im Dogenpalast und in der Kathedrale von Monreale, im Fenster von St. Martin in Colmar, auf den Wandgemälden von Saint-Savin-sur-Gar
tempe, im Camposanto von Pisa, einem Werk von Benozzo Gozzoli), kann man doch sagen, daß es eine gewisse Konzentration von Bildern im Raum und in der Zeit gibt: in Deutschland, in den Niederlanden und in Flandern, und zwar zu dem Zeitpunkt, als deren Völker sich von dem Gehorsam gegenüber Rom lossagen. Von Brueghel selbst kenne ich zwei Versionen; die hochberühmte in Wien und eine andere, weniger bekannte, von kleineren Ausmaßen, die im Museum Boymans in Rotterdam aufbewahrt wird und die vielleicht später entstanden ist; zwischen 550 und 650 können ebenfalls das anonyme Bild aus dem Museum in Prag und das von Berning im Mauritshuis in Den Haag datiert werden; weiter die von Bril und Kaulbach im Dahlemer Museum in Berlin; die von Van Cleef, auch in Prag, von Van Troyen in der Dresdener Gemälde-Galerie; und sowohl in Dresden als auch in der Alten Pinakothek in München die beeindruckenden Bilder von Lucas van Balkenborch mit einem Turm von quadratischem Grundriß. Im Prado gibt es drei Versionen: ein rundes Bild, das zu einem quadratischen gemacht worden ist, Pieter Brueghel dem Jüngeren zugeschrieben, das von dem Wiener Gemälde inspiriert ist; eine Ansicht des Turms mit dem Architekten und einer Gruppe Hebräer im Vordergrund, ein Werk von Frans Franck dem Jungen, einem 58 in Antwerpen ge2
borenen Maler, und eine nahezu als Miniatur zu bezeichnende Darstellung auf dem Bild mit dem Titel Ein Humanist, der auf das Bauwerk im Hintergrund zeigt, entstanden von der Hand Jan van Scorels, eines 495 geborenen Holländers. Im Prado findet sich der Turm auf keinem der Bilder aus den spanischen Schulen. Was auch die esoterische Bedeutung des Turms gewesen sein mag, gewiß ist, daß Brueghel sich nicht allzusehr davon beeinflussen ließ oder zumindest nicht so sehr, um seine Technik und seine gewöhnliche Stimmung aufzugeben, die sich wenig dazu eignete, mit einer mystischen Lektion verbrämt zu werden. Er malte den Turm so gut wie ohne Begleitumstände – wenn auch nicht ohne Zeitlichkeit oder besser: Dauer –, und wenn er ihn als ein Symbol oder eine Ikone dargestellt hat, unterließ er es deshalb doch nicht, die Konstruktion eines Bauwerks mit derselben Ausführlichkeit und Genauigkeit wiederzugeben und zu veranschaulichen, die er auch für seine Gastmahle und Kinderspiele aufgewandt hatte. Brueghels ebenso satirisches wie katasterhaftes Temperament hielt ihn an, die ganze katalogische Vielfalt des von ihm gewählten Gegenstands auf die Leinwand zu bringen, und innerhalb dieses Rahmens ist das Wiener Bild nicht weniger als ein zusammengefaßter Lehrgang der Baukunst und Bautechnik in dem Stadium, das sie um 3
die Mitte des 6. Jahrhunderts erreicht hatten. Vorhin habe ich mit voller Absicht von einem »anscheinend leblosen Gegenstand« gesprochen, und zwar, um zu zeigen, wie das künstliche Gebilde – von weitem ein unvollendetes Bauwerk, zur Ruine bestimmt, von nahem ein Bienenstock, wo jeder einzelne seine besondere Arbeit innerhalb einer strengen und vollständig aufzugliedernden Ordnung ausführt; im ganzen die Größe eines Planungsfehlers, der es verhinderte, ein so stolzes Werk zum Abschluß zu bringen, und im einzelnen die Vollkommenheit des ursprünglichen Entwurfs und die Treue, mit welcher der Baumeister versuchte, das ursprüngliche Vorhaben zu verwirklichen – sich wie kein anderes dazu eignete, die ganze Macht des Mythos hervorzuheben. Unlängst wurde mit den Daten, die das Bild Brueghels liefert, vom Rechner Tower der NCR Italia ein Modell erstellt; nach diesem Modell konnte der Turm, bei einer polygonalen, vierundzwanzigseitigen Grundfläche, einen Umfang von 300 Metern haben und sich bis zu einer Höhe von 95 Metern erheben. Der Turm Brueghels steht weder inmitten der babylonischen Wüste noch an den Ufern des Euphrat, sondern an der Küste eines reichen Lands mit fruchtbarem Boden, und zwar in der Gegend eines Seehafens mit einer Mole von einiger Bedeu4
tung; ein Teil des Turms ruht auf einer felsigen Steilküste, die zweifellos die Stadt an einem Ende begrenzte und an deren Fuß zuvor eine Burg und ein befestigtes Tor gebaut worden war; aus der Pracht einiger Häuser, aus der Zahl der Kirchen und der Länge ihrer Mauern läßt sich erschließen, daß es sich um eine Stadt von etwa dreißig- oder fünfzigtausend Einwohnern handelte, größer als Alkmaar und kleiner als Antwerpen; sie durchzog ein schiffbarer Fluß, den die Phantasie Brueghels im Meer münden ließ, sei es durch einen in die Steilküste gebohrten Tunnel, sei es entlang einer in sie geschnittenen und später von dem Turm überdeckten Schlucht. Der Architekt hat den Standort gut gewählt; ein Bauwerk von solchem Gewicht könnte als Fundament nur ein solides Felsmassiv – den festen Fels Vitruvs – haben, und die Steilküste lieferte vielleicht den einzigen geeigneten Standort in einem Land mit ausgedehnten und von Pflanzenwuchs bedeckten Ebenen; die Farbe und das lithologische Gesicht der Steilküste kennzeichnen sie als eine Formation aus dinanteser Kalkstein, der hier sehr weit von seinem Ursprung ist und einer Phase der Auffaltung der Alpen entstammt. Der Architekt nahm nicht nur die Steinformation zum Fundament für den Turm, sondern er nutzte sie auch – ebenso wie den anderen benachbarten Berg, der 5
sich dem Blick entzieht und zu dem der König mit seinem Gefolge kommt, um das Werk in Augenschein zu nehmen – als Steinbruch und sogar als verborgenen Teil des Bauwerks, so daß man den nackten Felsen bis hinauf zum fünften Stock in dem unvollendeten Abschnitt des dritten und vierten Stocks sehen kann, deren Fassaden noch nicht geschlossen sind. All das läßt annehmen, daß trotz seines hohen Werts als Versorgungsquelle für den Steinbruch – wozu zweifellos der benachbarte Berg ausreicht – die Gesteinsformation nicht zertrümmert werden und das Bauwerk sie umschließen soll, so daß sein inneres Mauerwerk auf ihren Abhängen ruht und nachher das Ganze mit der den gesamten Turm abschließenden Fassade aus gehauenen Quadersteinen bedeckt wird. Die kurze Beschreibung der Genesis sagt von ihm nur, daß er, im Land Schinar gelegen, mit seiner Spitze bis an den Himmel reichen sollte und daß er aus im Feuer gebrannten Ziegeln statt aus Stein und mit Erdharz statt mit Mörtel gebaut werden sollte. Brueghel wich entschieden und dreist von der biblischen »Anleitung« ab und entschied sich, einen nach römischer Art gebauten Turm darzustellen, mit einer Fassade aus Quadersteinen und dem Mauerwerk aus mit Mörtel verbundenen Ziegeln. So war es nicht nur ein Gebäude, das dem betrachtenden Blick viel vertrauter war – der ähnliche Formen von 6
den nordischen Sakral- und Profanbauten kannte –, sondern eine derartige Verbindung von verschiedenem Mauerwerk fügte sich vollkommen seiner symbolischen Absicht, indem sie zwei vorherrschende Farben ins Bild brachte; man braucht nur noch einen Schritt zu tun, um die Ansicht des Turms als eine Anatomielektion zu interpretieren – ein Thema, dem sich die holländische Malerei später zuwandte –, deren Gegenstand ein Körper ist, der im wesentlichen aus kalkblasser Haut und einem blutigen Inneren aus Ziegeln besteht. Es ergibt sich eine weitere Rechtfertigung für die »anscheinende Leblosigkeit«, wenn man daran denkt, daß ein Körper seziert wird – und nichts anderes sieht man auf Brueghels Bild –, der soeben gestorben ist und Geist und Seele verloren hat, die ihn belebt haben, wohingegen sein Inneres noch die Kraft, die Frische und das Pulsieren bewahrt, die es gestatten, seinen Aufbau und die ausgeübten Funktionen zu untersuchen. Deshalb hat Brueghel auch nicht den »Turm zu Babel« gemalt, wie man gemeinhin annimmt, sondern den »Bau des Turms zu Babel« in einem weit fortgeschrittenen Stadium – und zweifellos kurz vor der Aufgabe des Unternehmens –, um sein Vorhaben vollständig auszuführen, den Anblick einer Agonie auf die Leinwand zu übertragen, des letzten Augenblicks eines Geschöpfs, das nicht mehr dazu kommen würde, seinen Körper 7
vollständig auszubilden, und das, stillgelegt, verlassen und im Lauf der Jahre in eine Ruine verwandelt, seine doppelte Färbung verlieren und die aschgraue Tönung der archäologischen Überreste annehmen würde. Die Analogie des Turms mit einem noch warmen Körper ist außerdem ein geschickter Kunstgriff – ohne ein Sinnbild oder ein Emblem einzuführen, ohne auf mehr oder weniger geheime Codes oder Symbole mit bekannter Bedeutung zurückzugreifen –, ihn als Allegorie einer im Sterben liegenden Gesellschaft zu nehmen; denn wenn eine Gesellschaft ein begrenztes Gefüge aus Menschen ist, die durch gewisse Bindungen geeint sind, dann scheint nichts passender, als sie wie einen Körper darzustellen, der im großen und ganzen aus dem gleichen Stoff besteht wie der des Menschen – nämlich aus Fleisch – und der die Form dessen hat, was der Mensch als erstes erstellt, wenn er unter ihren Gesetzen lebt: das Gebäude. Ich möchte genauer auf ein Detail eingehen, das, soviel ich weiß und obwohl die Kommentatoren darauf hingewiesen haben, niemals die Aufmerksamkeit geweckt hat, die es meines Erachtens verdient. In fast allen Darstellungen, die der Brueghels vorangehen, wird der Turm so dargestellt, daß ein schraubenförmiger Körper sich über einer runden Basis mit stetiger Gewindesteigung erhebt, in Übereinstimmung mit der rampenartigen Form der 8
Zikkurats, deren letzte Abkömmlinge vielleicht die Türme der Almohaden auf der Iberischen Halbinsel sind. Das sagt genug über die Gelehrsamkeit einiger flämischer Maler; tatsächlich muß man wohl, einer lokalen Tradition gemäß, Babel mit dem Turm der Zikkurat von Birs Nimrud in Borsippa identifizieren, an den Ufern des Euphrat und etwa fünfzehn Kilometer flußabwärts von den Ruinen Babylons gelegen, auf der sich der Esida-Tempel erhob, dem der Gott Nabu vorstand. Einer anderen Tradition gemäß – die durch eine Keilschrifttafel mit einer Beschreibung Babylons bestätigt wird – ist Babel nichts anderes als der Turm des Esagila-Tempels, dem Marduk geweiht, errichtet innerhalb der Mauern von Babylon, unweit des Babil- oder Babilu-Tors, was Gottestor bedeutet. Aus einer Inschrift, die man bei in diesem Jahrhundert durchgeführten Ausgrabungen in Borsippa gefunden hat, weiß man, daß der babylonische König, der Esida errichten ließ, den Tempel unvollendet lassen mußte, ohne abschließendes Holzdach, was sehr wohl die erstaunten hebräischen Sklaven zu der Sage von Babel angeregt haben könnte. Auch in Ur – heute Al-Muqayyar, zweihundertsiebzehn Kilometer flußabwärts von Babylon – finden sich die Ruinen eines rechteckigen Tempels mit einer Grundfläche von sechzig mal vierzig Metern und einer Höhe von mehr als zwanzig. Eine nicht 9
allzu phantastische Rekonstruktion des Etemenanki-Tempels (»Grundstein von Himmel und Erde«) in Babylon erlaubt anzunehmen, daß auf einer quadratischen Grundfläche von neunzig Metern Seitenlänge und um einen massiven Kern aus an der Sonne gebrannten Lehmziegeln eine vierseitige Rampe lief, ebenfalls mit stetiger Steigung und gefertigt aus Füllmaterial, die in dem eigentlichen Tempel in einer Höhe von etwa sechzig Metern über dem Boden gipfelte. Die Weiterentwicklung dieser Form, die sie für religiöse, zivile und militärische Bauwerke verwendbar machte – mit kleinerer Grundfläche und widerstandsfähigerem Baustoff als dem an den Ufern des Euphrat benutzten –, hätte dann ihren letzten Ausdruck in den Minaretten der Almohaden im muslimischen Spanien gefunden; an der Giralda in Sevilla ist die Aufstiegsrampe, die von einer viereckigen Grundfläche ausgeht, von vier senkrechten Wänden aus Ziegeln umgeben, während im Kern sieben Kammern einander in der Höhe folgen, was man an der Fensterreihe im mittleren Abschnitt der Fassade sehen kann; am Goldenen Turm, etwa dreißig Jahre nach der Giralda erbaut, sind die Verhältnisse umgekehrt; in eine äußere zwölf eckige Grundfläche, die in ihrem Innern drei Stockwerke enthält, ist ein zentraler sechseckiger Kern mit einer Seitenlänge von jeweils etwa drei Metern eingefügt, in den die 20
Treppe gebaut ist. Die zwölfeckige Grundfläche ist ein Vorspiel zu der kreisrunden, zu der die almohadischen Baumeister sich nicht entschließen konnten, um die Errichtung der Fassade nicht zu komplizieren, die somit flächenweise vorgenommen und an den Holzbrettern für die Verschalung ausgerichtet werden konnte, wodurch sie die Linienführung aus sich selbst erhielt, ohne daß vermittelnde Anhaltspunkte nötig gewesen wären. Im Wiener Bild zögerte Brueghel nicht, mit einer derart langen Tradition zu brechen, und wählte eine andere als die Schraubenform, die er jedoch dann in dem zehn Jahre später gemalten Rotterdamer Bild verwandte. Anstelle der Schraubenform, die eine stetige Gewindesteigung trägt, entschied Brueghel sich für eine teleskopische Form, bei der horizontale Rohre oder Tambours mit abnehmendem Durchmesser übereinander geschichtet wurden, wofür es keine Vorläufer gab. Die gleiche teleskopische Anordnung, mit Geschossen von viereckiger Grundfläche, hat Johann Bernhard Fischer von Erlach für seine Spectacula Babilonia von 72 übernommen, eine schon vom archäologischen Geist beherrschte Nachbildung. Dagegen hat die um einen Kegel geführte Spiralform den »Kegelstumpf-Turm« von Etienne-Louis Boullée angeregt, dem phantastischsten und unnachgiebigsten Architekten seiner Zeit. Das mag 2
wenig belangvoll erscheinen, und doch erweist es sich als sehr bedeutsam, um die vortreffliche Veranschaulichung des Mythos in Übereinstimmung mit dem biblischen Bericht genau einzuschätzen. Dazu ist es wiederum nötig, den Blick von den Erscheinungen abzuwenden; da es nicht möglich ist, die Fortsetzung der Schraubenlinie auf der nicht sichtbaren Seite zu bestätigen, bemerkt man den Unterschied beider Formen nur an der Steigung jedes Abschnitts, und da die perspektivische Darstellung eine optische Abschwächung bewirkt, nähern sich die obersten Abschnitte kurz vor der Spitze der Waagerechten an; so kann es, wenn die unteren Abschnitte, etwa durch Laubwerk oder Gestalten – wie auf dem Bild van Scorels –, geschickt verborgen sind, schwierig werden zu bestimmen, ob der Turm schraubenförmig oder teleskopisch ist. Brueghel wählte ohne Umschweife die teleskopische, und den Grund dafür muß man nicht darin suchen, so meine ich, daß er die dabei verwandte Baukunst besser kannte, daß eine solche Bauform der abendländischen Kunst angemessener war oder daß er eine stilistische oder ornamentale Vorliebe gehabt hätte. Mit dieser Lösung bot er einfach eine überzeugendere Erklärung des biblischen Berichts, den wiederzugeben mir an dieser Stelle notwendig erscheint:
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Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, laßt uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel und sprachen: Wohlauf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder. Da fuhr der Herr hernieder, daß er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. Und der Herr sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, laßt uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, daß keiner des anderen Sprache verstehe! So zerstreute sie der Herr von dort in alle Länder, daß sie aufhören mußten, die Stadt zu bauen. Daher heißt ihr Name Babel, weil der Herr daselbst verwirrt hat aller Länder Sprache und sie von dort zerstreut hat in alle Länder. (Genesis II) Von den zahlreichen Einzelheiten, die aus diesem äußerst gedrängten Bericht hervorgehen, ist die hervorzuheben, die vor allen anderen Anlaß zur 23
Überlieferung des Mythos noch in seiner beschränktesten Form gegeben hat: einige Menschen, die ein und dieselbe Sprache reden, beschließen einen ehrgeizigen Turmbau – um bis zum Himmel zu gelangen –, den sie in dem Augenblick aufzugeben sich gezwungen sehen, da sie verschiedene Sprachen reden; wenn der Geist, der sie beseelt – da es sich nicht um ein blasphemisches Vorhaben handelt, zumindest wird das, auch wenn es impliziert ist, nirgends ausdrücklich gesagt –, aus der sprachlichen Verständigung hervorgeht, dann muß, sobald das Nichtverstehen sich unter ihnen ausbreitet, das Projekt scheitern. Der Turmbau, der zweifellos erfolgreich begonnen worden war – andernfalls hätte Jehova sich nicht gezwungen gesehen einzugreifen –, muß eingestellt und aufgegeben werden, weil niemand den anderen mehr versteht. Nun wäre vielleicht dieses gegenseitige Verstehen nicht so notwendig gewesen, wenn jeder einzelne gewußt hätte, was er zu jedem Zeitpunkt zu tun hatte, ganz gleich, welche Sprache sein Nachbar sprach. Eine beträchtliche Anzahl von Arbeiten auf dem Bau – das weiß ich aus Erfahrung – kann schweigend ausgeführt werden, und eine weitere und nicht geringere wird nach Maßgabe eines Plans und nicht einer Stimme verrichtet. Das bauliche Chaos entsteht, wenn es weder Stimme noch Befehl, noch Plan gibt. Der Hauptunterschied zwi24
schen der schraubenartigen und der teleskopischen Form liegt in der Stetigkeit. Bei der ersten bestimmt ein einziger Abschnitt der Schraubenlinie alle Abschnitte der weiteren Entwicklung, und zu jedem Zeitpunkt genügt es, sich an das zu halten, was bereits getan ist, um zu wissen, was zu tun ist: man muß nichts verändern, man hat nur die Richtlinien zu befolgen. Mehr noch, auch die leichtsinnigste Veränderung kann nur punktuell sein und führt – ob sie nun eine neue Serie erzeugt oder ob sie vereinzelt bleibt und eingeschlossen zwischen den beiden gleichen und nebeneinander verlaufenden Serien – zu einer stetigen Lösung, die den Prozeß der Wiederholung nicht unterbricht. Ein vollkommenes Bild einer solchen unveränderbaren Form stellt das beeindruckende Szenario dar, dessen sich Fritz Lang für seinen Film Metropolis bediente und das flämischen Modellen entnommen, aber bis zur äußersten geometrischen Konsequenz geführt worden ist, das heißt, der Turm – eine Schraubenlinienform von zehn Abschnitten – ist zu Ende geführt ohne eine einzige Veränderung an seiner nüchternen modularen Architektur. Wenn also die Nachfahren Noahs das schraubenförmige Modell übernahmen und zu dem Zeitpunkt, als sie die gemeinsame Sprache verloren, den Turm nicht mehr weiterbauen konnten, dann deshalb, weil unter ihnen persönliche Streitereien und Probleme 25
der Rangordnung aufkamen, nicht aber, weil die einzelnen Baumeister – und mit ihnen ihre jeweilige Sprachgruppe – nicht mehr gewußt hätten, was sie zu tun hatten, was ja vollkommen durch das nicht beendete Bauwerk bestimmt war. Ein historisches Gedächtnis, mit architektonischen Zeichen geschrieben, was zweifellos an das »Sichvornehmen« des biblischen Berichts anknüpfte. Da die Überlegungen sich bereits im Bereich einer Theopsychologie bewegen, kann man auch annehmen, daß der Zornesausbruch Jehovas nicht, wie in anderen Fällen, durch den Ungehorsam seiner Geschöpfe zu rechtfertigen ist – die naiv genug waren, mit der Spitze ihres Turms den Himmel erreichen zu wollen –, sondern durch die Angst, die ein Gesamtprojekt in ihm auslöste, das eine vollkommene Gesellschaft auf ihren Gipfel führen sollte. Die Verhältnisse sind gänzlich verschieden bei dem teleskopischen Turm mit übereinander geschichteten Rohren oder Tambours. Jeder Tambour kann eine identische Wiederholung der vorherigen, tiefergelegenen, sein, oder er kann Veränderungen einführen. Die vertikale Stetigkeit ist entbehrlich, wenn man auf die horizontale Wiederholung des Moduls achtet, eine Konstante sowohl der Architektur des Islam als auch der vom Humanismus durchtränkten abendländischen; die Baumeister der Renaissance hatten für ihre dreigeschossigen 26
Der Turm nach dem Szenario für Metropolis von Fritz Lang
Gebäude das barocke-spätrömische Modell übernommen, die drei klassischen Ordnungen an ihren verschiedenen Stockwerken übereinanderzuschichten, als eine frontale Darstellung der historischen Entwicklung, und das europäische Auge hatte sich daran gewöhnt, horizontale Staffelung mit wenig oder gar keiner vertikalen Korrespondenz harmonisch zu finden. Dem Anschein nach – man muß immer wieder auf den Anschein hinweisen, um, ausgehend von ihm, aufmerksamer einige hintersinnige Details zu betrachten, welche die ersten Eindrücke widerlegen und das Kunstwollen bekunden – verschmäht Brueghel die »moderne« Lösung, führt er keine Veränderungen ein und entscheidet sich für die stilistische Wiederholung desselben Moduls bei allen Tambours. Wenn es also (dem Anschein nach) keine stilistischen Veränderungen gibt, so gibt es doch zwangsläufig solche des Ausmaßes; indem er alle Tambours mit derselben Anzahl von architektonischen Einheiten entwirft, um den Eindruck der Vertikalität hervorzuheben und der Kontinuität der sie trennenden Strebemauern anzuvertrauen, nimmt die Grundfläche jedes Moduls mit zunehmender Höhe ab, da der Umfang jedes Tambours im Verhältnis zu dem darunter liegenden kleiner wird; und wenn die Harmonie und die internen Proportionen des Moduls erhalten bleiben sollen, muß bei einer verän28
derten Basis auch die Höhe sich ändern, und zwar in derselben oder ähnlichen Proportion, und damit alle Maße der verschiedenen Parameter, die den Modul bilden. Wenn nun die Ausmaße des Moduls im ersten Stock (also im zweiten Geschoß, in dem sich die Konstruktion vollständig zeigt, da das untere ein fast blindes Geschoß aus Grundmauern ist) 9 Meter an der Basis und 2 Meter in der Höhe betragen – abgeleitet von irgendeinem der zahlreichen Vergleichsmaße, die das Bild liefert –, dann betragen die des dritten 8,0 Meter an der Basis und 0,8 Meter in der Höhe. Im gleichen Verhältnis müssen die Bögen, Gewölbeträger, Strebemauern, Türen und Fenster kleiner werden, was eine abnehmende Stufenfolge mit sich bringt, die ihre Grenze eher an den Maßen des menschlichen Körpers hat als in der arithmetischen Reihe. Und für meine Überlegungen ist es noch wichtiger, daß sie eine stilistische Entwicklung nach sich zieht, damit die Abnahme der Maße kaum wahrnehmbar ist, ein Problem, für das der Bauzeichner des 6. Jahrhunderts bereits über zahlreiche Lösungen und Kunstgriffe verfügte. Das Bild ist – ich wiederhole es – ein ganzer Kursus über den »Stand der Kunst« um die Mitte des 6. Jahrhunderts, entwickelt über Fächer, die in horizontalen Flächen sowohl den genetischen Prozeß des Bauens als auch den Aufstieg der Lehre vom 29
Einfachen zum Komplexen darstellen. Im Vordergrund finden sich die Baumaterialien und ihre Beschaffung; Steinmetze schneiden den Stein mit Keilen aus, behauen ihn und geben ihm mit einer Raspel den letzten Schliff, bewegen ihn mit Stangen und stapeln ihn für den letzten Transport; die gebrannten Steine und das Holz kommen über das Meer, in Karavellen, Frachtkähnen, Feluken und auf Flössen; der Sand, der vom Strand stammt, und der Kalk aus dem Landesinneren werden mit Karren bis zu dem Vorplatz transportiert, wo das erste Geschoß beginnt. Man hat, provisorisch aus Backsteinmauern, einen obligatorischen Durchgang gebaut, was für den Zoll und die Kontrolle so vieler verschiedener Materialien notwendig ist. Ebenfalls auf dem Vorplatz, der sich hinter dem Speicherturm öffnet, ist die erste der großen Maschinen aufgestellt worden, ein Steigrad oder eine Winde, um die schweren Steine vom Hafen auf das Niveau des ersten Stocks zu befördern. Aber das ungewöhnlichste Stück unter den Geräten ist zweifellos die zweite Winde, die fast in der Vertikalen über der ersten aufgestellt ist, zur Beförderung der Blöcke zwischen dem ersten und dem zweiten Stock; es ist eine seltsame Maschine, ein Radkran mit horizontaler Achse, eine Metallkonstruktion, betätigt von vier Männern, die auf den Innenflächen der beiden so angetriebenen Schwungräder laufen. Das Ge30
hause enthält zweifellos einen mächtigen Untersetzungsmechanismus, der große Gewichte mit geringer Bewegungskraft zu heben imstande ist; der Kran ist in der vertikalen Achse drehbar, was gestattet, die Lasten auf beiden Seiten abzulegen. Ansonsten gibt es überall auf dem Turm Hebezeuge, Schwungbäume und Flaschenzüge, Zug- und Hebegeräte aller Art, um die schweren Gewichte zu bewältigen und zu bewegen. Oberhalb des zweiten Stocks sieht man an den folgenden Etagen, dank der noch offenen Pforten in den Mauern, das Backsteinmauerwerk, das ab dem dritten Stock sichtbar mehr Bedeutung hat als die Quadersteine der äußeren Verkleidung. Mit diesem anatomischen Kunstgriff zeigt Brueghel, daß die Konstruktion des Bauwerks aus Ziegeln ist – was mit dem biblischen Bericht übereinstimmt –, während die Steinverkleidung wenig mehr als ornamentale Zugabe ist, die, notwendigerweise, im Gefolge der ersten und etwas schleppend voranschreitet. Trotzdem bekunden einige Partien auf der linken Seite des fünften und sechsten Stocks, daß die Steinverkleidung, aus Gründen, die nicht deutlich sind, die aber jeder mit den bei allen Arbeitsplänen unweigerlich auftretenden Störungen vertraute Baumeister sofort versteht, weiter fortgeschritten ist als das Backsteinmauerwerk, so daß die künstliche Verbindung der beiden Konstruktionen sowie die rein auf die szeni3
sche Wirkung zielende Funktion der Verkleidung offenbar wird, gewiß zum allergrößten Ärger eines der unvermeidlichen Ruskins, die in jeder Epoche und in bezug auf jeden nachgotischen Stil nicht müde werden, den ethischen Wert der ästhetischen Einheit zu predigen. An diesen oberen Partien, wo der Gegensatz zwischen dem Inneren und dem Äußeren, zwischen der Haut und den Innereien oder zwischen dem Ziegel und dem Stein offenkundig wird, bemerkt man, daß der Bau des Turms gestört ist und daß der Plan und das Vorhaben, die in den ersten Geschossen so klar bestimmt sind, nicht zu einem guten Ende kommen können. Noch einmal entscheidet Brueghel sich für den »historischen Fehler« im Gegensatz zu dem möglichen »genetischen Fehler«. Der Entwurf für den Turm, so sagt er uns, war gut, aber der Fortgang des Baus, einer Reihe von aufeinanderfolgenden Generationen anvertraut, die sich allmählich von dem anfänglichen Konzept entfernten, mündete in solchem Durcheinander, daß er von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht fortgesetzt werden konnte und aufgegeben werden mußte. Der beste Beweis dafür liegt in der Stabilität und Festigkeit der ersten Geschosse im Gegensatz zur Unausgewogenheit, den Störungen und dem Durcheinander, die den Bau der oberen beherrschen. Sowohl das Geschoß mit den Grundmauern als auch der erste und zweite Stock stehen 32
kurz vor der Beendigung, es fehlen lediglich einige Abschlußarbeiten, die gerade deshalb noch nicht ausgeführt worden sind, um den Fortgang der Arbeiten in den oberen Geschossen zu erleichtern; das ist etwa der Fall bei dem letzten Stück der Außenmauer des zweiten Stocks im Umkreis des Metallkrans oder bei der Beendigung der Partie im ersten, die die Ausbeutung des Kalksteinkamms für die Gewinnung der Quadersteine verhindern würde. Dagegen kann man in den oberen Stockwerken – dem vierten, fünften und sechsten – unschwer den Einfluß eher zufälliger Vorfälle auf den Bau bemerken; vielleicht wurden irgendwann die Backsteine knapp, und es wurde nötig, um das Werk nicht anzuhalten, die Arbeit der Steinmetze übermäßig voranzutreiben, und so kam es zu den weit ausgeführten, freistehenden Partien der Steinverkleidung, die keinen Rückhalt im Inneren haben. In einer anderen Phase ging es möglicherweise umgekehrt, und der Architekt beschloß, die Errichtung des Backsteinkerns zu fördern und zu beschleunigen, um nicht der vorherigen Unausgewogenheit ganz zu verfallen, was zum Aufbau des inneren Teils führte, erbaut unter dem Risiko, es ohne seine umhüllende Ergänzung zu lassen. Das Ergebnis ist folglich nicht nur ein unvollendetes Werk, sondern ein ungleichmäßig unvollendeter Turm, ein Stand, der durch die Tatsache bestimmt 33
ist, daß keines seiner Stockwerke, das heißt seiner formalen Elemente, (und nicht einmal die Grundmauern) endgültig zum Abschluß gebracht worden ist; zu dem Zeitpunkt, den Brueghel ausgewählt hat, ist nichts vollendet, alles ist in dem Zustand der Unvollkommenheit geblieben, der den Verheerungen der Zeit gegenüber am schutzlosesten ist und der Hetzjagd der Stunden und der Tage am ehesten erliegen wird. Wenn der Turm sich nicht bis in unsere Zeit erhalten hat, so sagt Brueghel, dann vielleicht genau deshalb, weil der kühne Architekt, nachdem er bemerkt hatte, daß das Durcheinander, das den Bau beherrschte, schließlich seine Beendigung scheitern lassen würde, anstatt auf das anfängliche Vorhaben zu verzichten und das bereits Erbaute einem bescheideneren Projekt anzupassen, das, da von geringerem Umfang, dem Gang der Zeit widerstehen könnte, es vorzog, den folgenden Generationen ein gediegenes Zeugnis des Scheiterns und den besten Beweis eines unseligen Willens zu hinterlassen, der nicht dazu in der Lage war, seinen Traum zu verschleudern, mit dem Zufall zu paktieren und seinen utopischen Turm auf die Ausmaße eines weltlichen Bauwerks zu verringern, in einer Linie mit all den vielen, die den Weg der Gesellschaftsgeschichte säumen. Die darin enthaltene Lehre kann nicht übergangen werden: Der Turm zerfiel, und von ihm blieb nichts übrig, weil 34
in den Gründungssatzungen für seinen Entwurf beschlossen worden war, daß er entweder alles oder nichts sein würde. Ein derart übermäßiges Vorhaben bildet das Wesen jedes religiösen Versprechens mit zwei wählbaren Grenzen – die Glückseligkeit oder die Verdammung –, zwischen denen sich nur das Ödland des weltlichen Lebens erstreckt, das für das religiöse Bewußtsein höchst unbefriedigend ist und das es in eine der beiden Richtungen des Überlebens überschreiten muß. Babel ist wie jede Utopie nicht so sehr eine Replik auf das göttliche Projekt als seine Enteignung, nicht so sehr eine Gegenreligion als eine Parareligion, die, verdrossen über die Idee, das göttliche Versprechen auf eine ungewisse und nicht bezeugte Zukunft zu vertagen, sich bemüht, es in einer Gegenwart wirklich einzulösen, die zweifellos bald in eine gut begründete und unzerstörbare Vergangenheit übergehen wird. Jeder Visionär und Verfasser der Utopia widmet sehr viel mehr Seiten ihrer Beschreibung und der schwierigen Methode, die nötig ist, sie zu errichten, als ihrer Bewahrung; das ist – sagen wir es ruhig so – ein Laster, das jedem architektonischen Projekt innewohnt, das sich mit den überflüssigsten Einzelheiten und den heitersten Aussichten unterhalten kann, aber häufig die elementarsten Normen für die Nutzung des Gebäudes vernachlässigt. Die Utopie hat, wie jedes Er35
bauungsunternehmen, Anteil an diesem Laster, denn sie setzt voraus, daß ihre Erhaltung so gut wie automatisch vor sich geht und fast gar keiner Anstrengung bedarf; wenn das Gebäude – so die Theorie, auf der sie beruht – errichtet wurde, um gerade die internen Konflikte der Gesellschaft zu lösen, dann kann, wenn es einmal errichtet und in Dienst genommen ist, keine schädigende Handlung es mehr bedrohen; es ist vor jeder Zerrüttung sicher und vor jeder Veränderung bewahrt. Es steht unter zwei einander entgegengesetzten Bedingungen: Wenn es einmal errichtet ist, kann es dem Gang der Zeiten trotzen, unvollendet wird nichts von ihm bleiben, und nichts werden die nachfolgenden Generationen von ihm wissen. Die Utopie tritt nicht in die Geschichte und verändert sie nicht wie das weltliche Projekt oder Bauwerk; entweder beendet sie die Geschichte mit einem abschließenden Kapitel, indem das göttliche Vorhaben wirkliche Gestalt annimmt, oder sie läßt sie unverändert; sie ist nicht einmal auf romantische Art als ein Ruinenszenario zu gebrauchen. Wenn ich zuvor behauptet habe, Brueghels Bild sei ein zusammengefaßter Kursus über den Stand der Baukunst um die Mitte des 6. Jahrhunderts, muß ich diese Behauptung nun durch einen kleinen stilistischen Exkurs ergänzen. Der Kursus wäre unvollständig ohne die Darlegung einer – ebenfalls 36
kurzen – Entwicklungsgeschichte der architektonischen Stile, die Brueghel ebenfalls bietet, wie der Professor, der wegen seines reichen, vielfältigen Wissens zwei verschiedene Fächer an derselben Fakultät lehrt. Anscheinend ist der Turm im romanischen Stil der europäischen Profan- und Sakralbauten des hohen Mittelalters entworfen. Es ist der Stil, welcher der Epoche und dem Stein entspricht, aber er beherrscht nur anscheinend alle Abschnitte einer andererseits so einfachen Komposition, die aus der Wiederholung eines Moduls gebildet wird, das, eingeschlossen zwischen zwei Strebemauern, zwei Entlastungsbogen, zwei Türen und eine Fensterreihe enthält. Die Einfachheit und Einförmigkeit, die auf den ersten Blick die vorherrschenden Merkmale des Entwurfs bilden, werden durch eine etwas aufmerksamere Betrachtung Lügen gestraft. In der Tat, wenn zwar die Moduln ein und derselben Etage identisch sind – und ihre jeweilige Achse mit den darüber und darunter liegenden zusammenfällt, um die vertikale Stetigkeit zu kennzeichnen –, so gibt es zwischen den Moduln zweier verschiedener Etagen merkliche und bezeichnende Unterschiede, die die Absicht Brueghels enthüllen, die Richtung einer Entwicklung und die stetige Entfernung von einer ersten Norm darzulegen, was möglicherweise als eine der Ursachen für das Desaster am Ende gedeutet werden mag. Auf den 37
sechs beigegebenen Skizzen sind die sechs Moduln vom ersten bis zum sechsten Stock im Aufriß dargestellt. Der Modul im ersten Stock gehorcht dem einfachsten und strengsten »romanischen« Stil: zwei Entlastungsbögen teilen das Stück in zwei Hälften, die jeweils eine Tür und ein schmales Fenster enthalten; darüber öffnen sich drei kleinere Luken, wovon die mittlere mit einem tambourartigen Balkon ausgestattet ist; der Modul wird abgeschlossen durch ein Gesims aus kleinen Halbbogen. Das Schema wird im wesentlichen im zweiten Stock wiederholt, aber um die Fassade aufzulokkern und ihr den düsteren und militärischen Anblick zu nehmen, sind die Luken des mittleren Teils vergrößert worden und zu richtigen Fenstern geworden. Die erstaunlichste Veränderung geschieht im dritten Stock, indem auf der Achse des mittleren Wandpfeilers vom Boden bis zum unteren Rand des Balkons ein Rundstab angebracht wird; die Fensteröffnungen werden zu jeweils einem in eine halbbogenförmige Vertiefung eingelassenen doppelten Fenster, eine Lösung, die wiederholt wird, um die Eingangstore zu markieren; der Eindruck einer Festung ist vollständig getilgt, und die Fassade hat einen palastartigen Charakter bekommen. Die Zeichnung wiederholt sich im vierten Stock, wobei die Bogen der mittleren Fensterreihe geteilt und die Torstürze gerade sind. Der Vorgang der 38
Erster Stock
Zweiter Stock
Dritter Stock
Vierter Stock
Fünfter Stock
Sechster Stock
Gotisierung des Moduls ist vom ersten bis zum vierten Stock vollendet, was indirekt bedeutet, daß die Errichtung des Gebäudes sich über die vier Jahrhunderte – vom . bis zum 5. – hingezogen hat, die zwischen den Hochzeiten beider Stile liegen. Der zivile und fast zierliche Charakter wiederholt sich im fünften und sechsten Stock und wird sogar noch betont durch die Teilung der Türen und Fenster in jeweils zwei Vertiefungen und vor allem, im sechsten, durch die Einrahmung des ganzen Stücks durch eine oben eingelassene Fassung in Form eines eleganten Korbbogens; ein Schritt weiter und die Gotisierung würde zur Renaissance führen, aber für Brueghel hatte der Stil seine endgültige Form erreicht und mußte sich mit Ausnahme einiger noch hinzugefügter ornamentaler Einzelheiten nicht mehr weiterentwickeln. Wenn es ausdrücklich eine Entwicklung der Moduln mit zunehmender Höhe gibt, so ist die der äußeren Verkleidung der Strebemauer, des anderen Elements, das die Gesamtansicht der Etage vervollständigt, noch deutlicher. Im Geschoß mit den Grundmauern wird die Verstrebung kaum hervorgehoben, sie ist lediglich ein Stück behauenen Steins in dem Massiv oder wird durch große Steinbrocken gebildet, die nicht geglättet sind, um sie den natürlichen ähnlich zu machen; im ersten Stock zeigt sie frontal vier Flächen, und auch trotz der 40
Grundmauern
Erster Stock
Zweiter Stock
Dritter Stock und folgende
Einfügung der Diamantenspitze, die auf den beiden mittleren aufliegt, ist der Eindruck der Robustheit vorherrschend; im zweiten ist die Diamantenspitze gewachsen und hat sich in einen Kämpfer verwandelt, der, da er fast die ganze frontale Oberfläche der Verstrebung bedeckt, die ornamentale Funktion betont; im dritten und allen weiteren ist die Verstrebung nicht mehr breiter an der Basis als am Abschluß und wird zu einem quaderartigen Strebepfeiler mit einem Rundstab auf ganzer Länge; eine derartige Ausführung ist geradezu zwingend durch die zunehmende Abschrägung des Turms sowie durch die Unmöglichkeit, die gleiche Abweichung von der Senkrechten zwischen den Durchmessern zweier aufeinanderfolgender Tambours aufrechtzuerhalten. Die außerordentliche Robustheit des Turms an der Basis verliert sich nach und nach mit steigender Höhe, das Gebäude wird schwächer in dem Maß, wie es wächst, und in den oberen Stockwerken zeigt es die Symptome der Zerbrechlichkeit eines jeden Szenarios, das zu seiner Stabilität eine Abstützung auf der Rückseite benötigt. Trotz allem ist dies nicht das Beunruhigendste. Das Unbehagen, das Brueghels Gemälde auslöst, geht, wenn man so will, dem Bild voran und ist dem Titel unterworfen – dessen Kenntnis den Betrachter in die tragische Aura einführt, die das Bauwerk um42
hüllt –, aber eine unwissende Annäherung an den dargestellten Gegenstand würde ebenfalls zu den schwärzesten Vermutungen über sein Schicksal gelangen. Ob es nun der Turm zu Babel ist oder nicht, dieses Bauwerk ist verflucht, ist dazu bestimmt, unvollendet zu bleiben und von der Verheerung der Zeit geschleift zu werden. Es ist in gewisser Weise ein heroisches Bauwerk, das zu jedem Zeitpunkt den himmlischen Zorn auf sich zieht, weil es – und dies ist die einfachste Sage, die über es in Umlauf ist – einen Anschlag auf das Wohlergehen der Götter und die sozialen Regeln verübt hat, die sie für den Gang der Gesellschaft eingerichtet haben. Das Bauwerk beunruhigt nicht durch die zunehmende Schwäche der Fassade, die sich geradezu wunderbarerweise erhält, bedenkt man, daß zu ihrer Abstützung das organische Ziegelmauerwerk nicht hilft, mit dem sie zusammenwachsen muß; es beunruhigt, weil sein Inneres unbegreiflich ist und nur zur Aufgabe des Werks führen kann. Zunächst einmal steht das Innere im Widerspruch zu der Struktur aus übereinandergeschichteten teleskopischen Rohren oder Tambours, wie sie die Fassade bekundet. Nichts davon stimmt, alles, was man aus der Betrachtung der Fassade abgeleitet hat, erweist sich als falsch, denn das Gebäude krankt daran, daß diese radikal von dem inneren Zustand abweicht. Mit anderen Worten, die Fassade ist trü43
gerisch, dient nur dazu, eine Illusion zu schaffen und den Körper hinter ihr zu verbergen, der schräg ansteigend ist und überhaupt nichts Teleskopisches hat. Offensichtlich sind die Tore jedes Moduls, wie man vom unvollendeten dritten Stock an sieht, der Zugang zu jeweils einer Treppe, die auf einem geraden, schräg ansteigenden Tonnengewölbe aufruht; die Strebepfeiler verlängern sich im Innern als unterschiedlich dicke Backsteinmauern, deren Funktion es ist, die Gewölbe zu trennen und ihren Druck abzuleiten; von jedem Modul gehen vier Gewölbegänge aus, zwei untere und zwei obere, hinter dem geteilten Bogenfenster; gleicherweise beginnt hinter dem mittleren Wandpfeiler des Moduls eine weitere Backsteinmauer – weniger dick als die zwischen zwei Moduln –, die vertikal die zwei von ihr ausgehenden Gewölbepaare trennt. Eine Reihe von Schwibbogen, die konzentrische Vielecke bilden, unterteilt die Sohle jedes Gewölbes – ein struktureller Kunstgriff, der bei den geraden Tonnengewölben unnötig ist – in rechteckige Abschnitte. Die Gewölbe verbinden den äußeren teleskopischen Aufbau mit einem entsprechenden, aus Ziegeln erbauten inneren, der in gewisser Weise eine Wiederholung des ersten ist und anscheinend den Kern des Gebäudes bildet, wie bei den zuvor beschriebenen Almohadentürmen. Dieses zweite Teleskop aus Ziegeln ist ein vollständiges Rätsel; 44
man bemerkt leicht, daß es gar nicht ein solcher Kern ist, sondern ein Schirm, hinter dem sich die Struktur schräg ansteigender Gewölbe wiederholt. Sonst läßt sich darüber nichts ermitteln, und ob es möglicherweise einen massiven Kern mit konischem Abschluß gibt, kann nur vermutet werden, da unglücklicherweise gerade eine kleine Wolke vorbeizieht, mit der Brueghel, während er zugleich die erreichte Höhe des mythischen Turms anzeigt, durch einen Dunstschleier eines seiner undurchschaubaren Spiele verbirgt und sich größere Schwierigkeiten und die Erklärung eines Hauptpunkts erspart. Aber die Rätsel sind nicht auf den zweiten Teleskopabschnitt beschränkt, als wären der erste und die Konstruktion aus strahlenförmig aufsteigenden Gewölben frei davon. Vom Betrachter aus links wird die Treppe, die vom Boden des vierten Stocks ausgeht, an ihrer linken Seite nicht von einer weiteren ins Zentrum führenden Mauer abgeschlossen, wie es sein müßte, wenn die untere Struktur wiederholt würde, sondern von einer Reihe konzentrischer, kreisförmiger und horizontaler Gänge, mit denen man offensichtlich bereits den nicht sichtbaren Teil des Turms von dieser Höhe an ausgebaut hat. Obwohl der mittlere Teil (im Bild) noch nicht bedeckt ist, kann man annehmen, daß diese Lösung sich auf das gesamte Bauwerk ausweiten läßt; wenn 45
das so ist, gibt es vom vierten Stock an eine vollständige Veränderung der Bauweise, so daß der Bau, während er sein aufsteigendes Profil bewahrt, nun nicht mehr aus strahlenförmig zum Mittelpunkt aufsteigenden Gewölbegängen gebildet wird, sondern eben aus konzentrischen, kreisförmigen und horizontalen Gewölbegängen, Aber es ist auch die Annahme möglich, daß, nachdem der große Turm in Abschnitte unterteilt worden war und diese an verschiedene Mannschaften und Architekten vergeben, im (für den Betrachter des Bilds) mittleren Abschnitt eine Mannschaft gerade strahlenförmige Gänge baute, während im linken eine andere konzentrische, kreisförmige errichtete. Es gab also eine Veränderung, sei es im Raum, sei es in der Zeit, die den ursprünglichen oder historischen Anfangspunkt des Durcheinanders anzeigt, das den Vorgang des Baus leitete und ihn zum Desaster führte. Im Abschnitt auf der rechten Seite findet sich das Durcheinander im höchsten Grad. Eine Ansammlung von rechtwinklig zueinander stehenden Entlastungsmauern, die keiner der beiden vorhergehenden Ordnungen folgen, zerbricht die beiden gemeinsame aufsteigende Komposition. Und zur Vollendung einer derartigen Unordnung wird der Turm mit einem befremdlichen Treppenrund abgeschlossen, das großenteils durch den zentralen Kern verborgen ist und das mit keinem der 46
vorherigen Elemente übereinstimmt; die Steigungen verlaufen umgekehrt, und was ein Turm war, wird überraschenderweise zu einem Zirkus, in dessen Mitte oder Arena sich der hohle und blinde Tambour erhebt, der nichts sonderlich Anziehendes zu bieten scheint für die fernen Zuschauer auf den Rängen der Stufensitze. Dem Bild Brueghels ist zu entnehmen, daß der Turmbau nicht an einem Tag aufgegeben wurde, bewirkt durch die von der Gottheit erzeugte Verwirrung der Sprachen, um das ruchlose Unternehmen zu bestrafen, und daß die Errichtung, auch als das Projekt mangels Verständigung zwischen den Ausführenden schon zum Scheitern verurteilt war, noch über einen langen Zeitraum weiter voranschritt, vielleicht einen genauso langen wie den von der sprachlichen Einheit beherrschten. Der Mythos stellt eine enge Beziehung zwischen dem Bauwerk und der ersten, der gesamten Menschheit gemeinsamen Sprache her – jener Ursprache, die so viele Forscher des vergangenen Jahrhunderts mit den ältesten Sprachen zu identifizieren versuchten –, und beiden weist er ein gemeinsames Schicksal zu: ihr Verschwinden von der historischen Bühne, ohne Spuren zu hinterlassen, die es gestatteten, sie zu rekonstruieren, womit jegliches archäologische Ansinnen abschlägig beschieden wird. Aber seltsamer- und paradoxerweise hat die Forschung auf 47
dem stets offenen Weg der Auslegung des Mythos versucht, den Schlagbaum zu öffnen, den weder die Logik noch die Etymologie zu überspringen in der Lage waren. Der Mythos präsentiert sich immer als eine Nachahmung des exakten Wissens, als ein Bericht, der alle hermeneutischen Zutaten eines Ereignisses enthält, dieses aber in Wirklichkeit nur zu verdecken imstande ist und so Anlaß zu weiterer Erforschung gibt, die, ohne notwendigerweise zufriedenstellend zu sein, es doch gestattet, die erzählerischen Elemente durch irgendwelche anderen zu ersetzen, die einer ähnlichen Beugung unterzogen werden können. So kann man annehmen, daß die beständige Geltung des Mythos – sein ewiges Wuchern – darauf beruht, dem »eigenen Fall« angepaßt werden zu können; das Interesse, das er weckt, beruht nicht so sehr darauf, der zusammengefaßte Ausdruck irgendeiner der gesellschaftlichen oder übermenschlichen Kräfte zu sein, die auf das menschliche Verhalten in einer bestimmten Gesellschaft einwirken, sondern auf der fast universalen Bestimmung dieses Verhaltens durch diese oder irgendwelche anderen, vergleichbaren Kräfte. Folglich bleibt der finale Gehalt des Mythos – wenn man es einmal so sagen kann, um zu einem raschen Verständnis seiner kulturellen Funktion zu kommen – immer derselbe, auch wenn die Kräfte, die auf das Verhalten wirken, sich teilweise oder insgesamt än48
dern, und so, um es mit anderen Worten zu sagen, kann man den Mythos als eine zeitlose Invariante definieren, die von einer Gruppe geschichtlicher Variablen bestimmt wird; er bildet das Zeugnis der Dauer einer gewissen Kultur in dem Maß, wie diese sich von ihren Überzeugungen ablöst und sie durch andere ersetzt, was durch die Geschichte der Religionen deutlich offenbar geworden ist. In gewisser Weise entspricht diese Funktion – die Bewahrung von Modellen – den mehr oder weniger dunklen Ursprüngen des Mythos, den Caillois als eine Wiederkehr der Erfahrung sieht, eine Übersetzung nichtsprachlicher Zeichen in eine sprachliche Ordnung, die sie artikulieren und in einer festen Formulierung bewahren kann. »Der Mythos stellt für das kollektive Bewußtsein das Bild eines Verhaltens dar, das es als Anreiz erfährt. Wenn es dieses Verhalten an anderer Stelle der Natur gibt, findet der Mythos seine tatsächliche Verwirklichung in der objektiven Welt.« Und umgekehrt tendiert jede willentliche Reizung des Geistes dazu, ihr objektives Korrelat in einem Phänomen der Natur zu suchen, und wenn dieses bereits zur Inspiration des Mythos gedient hat, ist es durchaus erklärlich, wenn das Verhalten sich auf die mythische Tradition stützt, das heißt auf eine von Worten und Namen beherrschte Schilderung. Der Mythos ist, wie die Wissenschaft, ein Rekonstruktionsunterneh49
men, aber im Unterschied zu dieser siedelt er sich entschieden und hartnäckig im Bereich des Imaginären an, aus dem nicht einmal der Antimythos, um es einmal so zu nennen, ihn zu vertreiben vermag; er ist nicht widerlegbar, und wenn er dank seiner palingenetischen Beweglichkeit auf jeder Stufe der Kultur mit solchen aktuellen Inhalten genährt werden kann, die sich einer gleichen narrativen Behandlung fügen, dann betritt er aus eigenem Recht den Bereich des »Realen«, verstanden im Sinne Kants, als Teil der Einheit der Erfahrung, als durch universale Gesetze bestimmter Inhalt der empirischen Anschauung. Durch seine Rückläufigkeit wirkt er auf die weitere Erfahrung ein und bürdet ihr die Last der spekulativen Reflexion über die anfängliche Anschauung auf, womit er ihr jeglichen Anspruch auf Ursprünglichkeit nimmt. Der Mythos stärkt alle Erfahrung – eine Vorbeugung gegen die Neurasthenie, die jeder romantischen Haltung droht mit ihrer Neigung, die Natur auf einen einzigen, unaussprechlichen Akt zurückzuführen, der in der Einsamkeit des Geistes verstanden und wiederholt wird – und veranlaßt das Individuum, die gesellschaftliche Komponente seines Bewußtseins anzuerkennen, mit anderen Worten, die dauernde Schuld, in der jede Erfahrung beim Wort steht. Das Wort an sich ist ein Mythem, eine klangliche Wiederkehr eines Stücks Erfahrung, das eine große Zahl 50
von Ähnlichkeiten mit einem anderen vorhergehenden aufweist und vorweg die Natur des folgenden prädiziert; nur das Wort verwandelt diese unvollkommene Analogie in Identität, indem es von den nicht gemeinsamen und nicht bestimmenden Elementen bei aufeinander bezogenen Erlebnissen absieht, und auf diese Weise wird es zum Leitfaden einer Erfahrung, die, um einen geschichtlichen Gedankengang zu vollziehen, notwendigerweise von einer analogen Syntax ausgehen muß, aber niemals umgekehrt. Die gleiche Anschauung wie Caillois hatte auch Usener in dem 896 publizierten und niemals ins Spanische übersetzten Buch Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung geleitet, ein erstes Stadium des mythisch-religiösen Denkens anzuerkennen, das sich um die »Augenblicksgötter« entwickelt, die ausgehend von einer Wiederholung konzipiert werden, anwesend nur in Einzelfällen, die Vorläufer haben, und ganz ohne Kontinuität im Bewußtsein. Der Gott, Mythos oder Wort, gibt dem Baum die Weihe, der einen Jäger vor dem Sturm beschützt hat, oder der Quelle, die entsprungen ist und den Durst eines Stammes gestillt hat, oder der Höhle, die als Schutz bei einer Flucht gedient hat, und diese werden von einer Wiederholung an zu Stellvertretern einer Kraft, die nicht notwendigerweise an eine statische 5
übernatürliche Macht gebunden ist, wachend über die Schritte der Menschen, sondern die zwischen diesen und ihrer Umwelt umgeht, wie ein Fluidum, das unter bestimmten Umständen zwischen ihnen fließt, um die Gefahr zu bannen. Die Augenblicksgötter nehmen so nicht einen beständigen Platz im Bewußtsein ein, sind in ihm nicht anwesend, und das Bewußtsein, das kein Dokument hat, auf das es sich berufen kann, reguliert das Verhalten nicht in Übereinstimmung mit Geboten, die es ja nicht gibt, oder auf eine Gunst hm, die nur im analogen Augenblick gewährt wird. Erst, immer noch nach Usener, wenn die Erfahrung zu einer geordneten, sich wiederholenden und zyklischen Tätigkeit wird – wie sie die Viehzucht, der Ackerbau oder die Jagd verlangen –, entsteht eine weitere Reihe von Göttern – man kann sie besondere oder angewandte nennen –, die über die Erlangung der von jener Tätigkeit verfolgten Ziele wachen und darauf achten, daß alle elementaren Handlungen, aus denen sie besteht, nach ihrer Anordnung und unter Einhaltung ihrer Norm vollzogen werden, womit sie ein rituelles Prinzip einführen, das eine stenographische Kopie des gesamten Vorgangs sein kann. Im Unterschied zu den Augenblicksgöttern wohnen sie einem Zeitpunkt inne – der Aussaat oder der Ernte –, zu dem sie angerufen werden können und müssen, wenn man auf ihre Gunst zählen will. 52
Diese Sondergötter, wie Usener sie genannt hat, sind nur auf ihrem eigenen Feld zuständig – wie es bei den zahlreichen römischen indigitamenta der Fall ist –, stehen in keinem hierarchischen Verhältnis zu ihren Nachbarn und bilden eine sakrale Wiederholung, wie es Dumézil gezeigt hat, der irdischen Gesellschaft. Man erinnere sich jener empörten Seite des heiligen Augustinus, auf der er sich gegen die Anwesenheit all der kleineren Gottheiten verwahrt, die in der ersten Hochzeitsnacht Beistand zu leisten haben: die Göttin der Jungfräulichkeit, die den Gürtel der Braut löst, Subigus, die sie niederwirft, Prema, damit sie sich nicht auflehnt, und Pertunda zur Penetration. Oder die lange Litanei, die der Flamen, wenn er der Ceres und dem Tellus opfert, zu Ehren des Gottes hersagen muß, der, jeweils mit der Endung -tor, die einzelnen Phasen des Ackerbaus lenkt: Veruactor und Reparatur das erste Durchackern des Brachfelds, Imporcitor das Pflügen; Insitor sorgt für die Saat, Obarator und Occator für das Harken, Saritor für das Jäten, Messor für die Ernte und so fort bis zur Lagerung des Korns im Speicher. Die Theorie Useners und die fast gleichzeitigen Forschungen Codringtons über die Folklore in Melanesien führten zu einem radikalen Wechsel bei den Untersuchungen über die Ursprünge der Sprache, indem sie den Vorgang umkehrten und an Stelle eines Anfangs mit der Logik 53
eine vorgängige Phase mythischer Ordnung annahmen. Bei der Frage nach dem Ursprung der Sprache, für Cassirer eine wahrhafte Vexierfrage, kann man zu einem Prinzip der Lösung vordringen, wenn man »die Form der primären Sprachbegriffe, statt sie der Form der logischen Begriffe zu vergleichen, vielmehr mit der Form der mythischen Begriffe« zusammenfaßt. Tatsächlich lehrt die Logik, daß man zum Begriff (oder Universale) durch eine Folge von Abstraktionen gelangt, indem man die abweichenden oder unwesentlichen Eigenschaften eines Gegenstands (oder eines Phänomens), die es von einem anderen analogen unterscheiden, beiseite läßt und nur die ihnen gemeinsamen zurückbehält, die dann den Begriff bilden. Allerdings lassen sich die nicht gemeinsamen Züge nur schwerlich beseitigen, wenn man nicht über die Begriffe verfügt, die sie als solche unterscheiden – denn die Wildheit, die den Hund vom Wolf unterscheidet, ist gerade so begrifflich wie der Hund selbst –, und nichts erscheint heute so naiv wie die Behauptung, eine analoge Seele könnte auf dem Weg der Logik zum einzelnen Begriff kommen. Die logische Theorie des Begriffs ist eine reine Tautologie: man kann nur mit Hilfe eines Begriffs einen anderen Begriff erhalten, denn jeder Begriff führt unerbittlich zum Begriff des Begriffs. Was auch der Ursprung der sprachlichen Ordnung sein mag, gewiß ist, daß 54
jede Sprache ihre Logik enthält – wie der Evangelist Johannes meinte – und daß es, wenn man den archäologischen Eifer außer acht läßt und sich dem Problem über die Gleichzeitigkeit der sprachlichen Funktionen nähert, möglich ist, im Wort ein mindestens ebenso machtvolles Instrument der Tat und des Verhaltens zu erkennen, als es ein Organen der spekulativen Vernunft ist. »Das Wort«, sagt Cassirer, »muß im mythischen Sinne als substantielles Sein und als substantielle Kraft verstanden werden, ehe es im ideellen Sinne als ein Organen des Geistes verstanden werden kann.« Von dem Augenblick an, wo es von den Lippen des Menschen kommt, um den Augenblicksgott bei der Wiederkehr zu benennen, ist es ein mythisches Wesen oder, wenn man will, ein göttliches. Es gibt keine andere Bekundung der mythischen Macht als dieses Wort, das nicht mit einer Darstellung eines Gottes zu verwechseln ist – was die Logik verschuldet, indem sie die verschiedenen Funktionen der Worte aufhebt und versucht, sie alle unter der Herrschaft des spekulativen Denkens zu zentralisieren –, der noch über gar keine eidetische Substanz verfügt. Das Verhalten, selbst das spekulative, braucht diesen Weg des Worts hin und zurück zur Idee nicht, wenn es einer artikulierten Sprache gehorcht, die alle möglichen Flexionen gestattet, ohne die verbale Ordnung zu verlassen. Der Begriff hat nichts, 55
was dem Wort fehlte, und nur die Übernahme und Bewahrung des platonischen Systems hat die Logik in dem phantasmatischen Bereich der Ideen gehalten. Im Mythos von Babel konzentrieren sich drei Mythen verschiedener und eigenständiger Natur: . Die Existenz einer einzigen Menschenrasse mit einer einzigen Sprache, die ihren Mitgliedern ein vollständiges Verstehen ermöglichte. 2. Der Vorsatz, einen Turm zu bauen, der hoch bis zum Himmel reichen sollte. 3. Die Entscheidung der Gottheit, das Vorhaben scheitern zu lassen, die Utopie zu zerstören und eine zweite Vertreibung aus dem Paradies vorzunehmen. Aus dieser Entscheidung geht die Verschiedenheit der Sprachen hervor, die Zerstreuung der Menschen und die mangelhafte Verständigung zwischen ihnen. In Folklore in the Old Testament hat Frazer gezeigt, daß die drei Mythen in den verschiedenen Kulturen unabhängig voneinander existierten, ohne notwendigerweise miteinander verbunden zu sein. Der biblische Bericht ist folglich ein Fall von mythologischem Synkretismus, einem Volk eigentümlich, das eine sehr weit entwickelte religiöse Kultur hatte, die der Prüfung durch den Kontakt mit seinen Nachbarn und Eindringlingen unterworfen war. Nicht ohne einen gewissen Humor 56
stellt Frazer die Ansichten über die Ursprache zusammen, die im Europa vor der Aufklärung in Umlauf waren: … die christlichen Gelehrten verhielten sich nicht anders als die Weisen sonstiger religiöser Glauben, die in der Sprache ihrer heiligen Schriften nicht nur die Sprache sahen, die unsere Vorfahren gesprochen, sondern sogar die, deren sich die Götter bei ihren häuslichen Unterhaltungen bedient hätten. Der erste, der in unseren Zeiten einen derartigen Irrtum wirksam bekämpfte, war Leibniz, der einmal folgendes beobachtete: »Es gibt genauso viele Gründe für die Annahme, das Hebräische sei die ursprüngliche Sprache der Menschheit gewesen, wie es sie für die Meinung des Goropius gibt, der in dem Buch, das er 580 in Antwerpen publizierte, zu beweisen versuchte, daß die im Paradies gesprochene Sprache das Holländische gewesen sei.« Ein anderer Autor vertrat die These, Adam habe baskisch gesprochen; wieder andere übertrafen selbst die Schrift, indem sie die Sprachverwirrung bereits in Eden einführten und behaupteten, Adam und Eva hätten persisch gesprochen, die Schlange hätte arabisch gesprochen und der freundliche Erzengel Gabriel hätte mit unseren Vorfahren türkisch gesprochen; noch ein anderer vertrat ernstlich, der Allmächtige hätte sich auf schwedisch an Adam ge57
richtet, Adam hätte seinem Schöpfer auf dänisch geantwortet und die Schlange hätte Eva auf französisch verführt. Den Mythos von der Existenz einer allgemeinen Ursprache hat Frazer mit seiner seltsamen Reisebüromethode in aller Welt aufgespürt: in der griechischen Mythologie, bei den afrikanischen Wasania, den Kachcha Nagas in den Bergen von Assam und den Kukis von Manipur, bei den Stämmen der Encounter-Bay im Süden Australiens, bei den kalifornischen Maidu-Indianern und bei den Quiche in Guatemala. Der Mythos des Turms, der den Himmel erreichen soll und im Verlauf der Errichtung zusammenbricht, findet sich bei den Bewohnern des Sambesi, den Bambala des Kongo, den Ashanti und selbstverständlich bei den Eingeborenen in der Umgebung der großen mexikanischen Pyramide von Cholula, auch wenn die Anthropologen den größten Teil der betreffenden Berichte wegen der vielfältigen Ähnlichkeiten mit dem biblischen für erst kürzlich eingeführt halten; aber auch die Karen in Birma, die Mikir in Tibet und die Bewohner der Admiralitätsinseln erzählen von ihrem jeweiligen Babel. Und was die Vertreibung aus dem Paradies und den Fall der menschlichen Gattung aus einem glückseligen Zustand in ihre jetzigen Verhältnisse angeht, hat Frazer den Mythos auf allen fünf Kon58
tinenten aufgespürt, von den australischen Aborigines über Vietnam bis zu den Eingeborenen von Feuerland. Die monumentalen Pyramiden, die in mehr oder weniger fortgeschrittenem Ruinenzustand bis in unsere Tage überdauert haben – aus Babylon, Ägypten, Mexiko oder Birma –, wie auch die mythologischen Erzählungen über einen Turm, der bis zum Himmel reichen sollte, stammen verständlicherweise von Völkern, die in weiten Ebenen lebten und für die das mythisch-religiöse Bauwerk nicht mit einer schwerlich zu übertreffenden natürlichen Gegebenheit wetteifern mußte. Sie konnten sogar einen praktischen Zweck haben, wie Frazer zutreffend gezeigt hat, und außerdem als Wegmarken von den Karawanen benutzt werden, die durch die umliegenden Wüsten zogen und sich vom Rauch und Licht des Feuers, das Tag und Nacht zu Ehren des Gottes auf der Spitze brannte, leiten ließen bei ihrer Rückkehr zum heimischen Herd. Für den Hebräer, der seine Gebote von einem unzugänglichen heiligen Berg erhalten hatte, zu dem er ein ums andere Mal seinen Blick wandte, um seinen Glauben zu stärken, konnte eine derartige Nachahmung der göttlichen Macht nur eine überaus blasphemische Bedeutung annehmen, und so mußte er unbedingt und jederzeit sein gequältes Gemüt mit der Aussicht auf den Einsturz des Turms besänfti59
gen, ein weiterer Beweis der Überlegenheit seines wahren Gottes – mit festem Sitz auf dem Sinai und dem Moria – über den Götzen seiner Vorfahren. Im Unterschied zu den anderen von Frazer angeführten Beispielen bezieht sich der biblische Text – ein Fragment aus dem jahwistischen Kodex, das zwischen die Geschlechterfolge Noahs eingefügt wurde, ohne Anknüpfung an das Vorherige oder Nachfolgende – nicht auf die eigenen Vorfahren, sondern auf ein namenloses Volk, das eine einzige Sprache hatte und in der Ebene von Schinar ansässig war; diese fehlende Beziehung führt zu der Annahme, daß der Chronist dieses Volk insgesamt als ein fremdes betrachtet und sich nicht einmal zu sagen gestattet, daß unter den nach der Katastrophe zerstreuten Massen eine Gruppe das hebräische Volk gebildet hätte. Wenn es so nicht ein Mythos über die eigenen Ursprünge ist, muß man das Fragment als ein Gleichnis über den Ursprung der übrigen betrachten, der anderen Völker, die das hebräische umgeben und nicht seine Sprache sprechen. Wenn man den Glauben, Jehowa habe hebräisch gesprochen, für feststehend nimmt, ist es sehr bezeichnend, daß er, als er alarmiert den Bau des Turms betrachtete, sagt: »Siehe, sie sind ein Volk und haben alle eine Sprache«, eine unzweideutige Formulierung, um den Unterschied zur eigenen zu bezeichnen. Wenn man hinzufügt, daß das Frag60
ment zwischen den ausführlichen Bericht über die ersten Generationen des auserwählten Volks geschoben ist, kann nicht der geringste Zweifel über die Absicht des Chronisten aufkommen, wenn er den Ursprung des hebräischen Volks als von dem der übrigen verschiedenen aufzeigt. Alle übrigen erleiden eine zweite Vertreibung durch Jehowa von dem Wohnsitz, den sie sich gesucht hatten, nachdem sie Eden verlassen hatten; man könnte fast sagen, daß sie hinter dem Rücken Jehowas ihr Leben neu eingerichtet hatten, eine fast vollkommene Gesellschaft mit einer einzigen Sprache organisiert und eine Macht erlangt hatten, die gegen die in der Höhe aufbegehren konnte. Aber Jehowa greift ein, bringt das Vorhaben zum Scheitern, verwirrt sie mit verschiedenen Sprachen und zerstreut sie über die Erde; während also das hebräische Volk sich in der Linie Sem–Abraham entwickelt, mit dem Jehowa einen Bund schließt, erleiden die übrigen eine zweite Vertreibung, die so schlimm ist wie die erste. Wenn diese, eine Folge der Leichtfertigkeit der Frau, einen individuellen Charakter hat und die menschliche Seele in Sünde und Mangel stürzt, woraus sie sich nur durch den Willen des Herrn befreien kann, verweist die zweite auf einen gesellschaftlichen Fluch, durch den das Geschlecht von Schinar keine harmonische Gesellschaft mehr bilden konnte. Das ist eine Umschreibung dafür, daß 6
nur das hebräische ein Recht hat, ein Volk zu bilden, und daß man nur in seiner Sprache mit der Gottheit in Verbindung treten kann. Die Vereinigung eines Bauwerks und einer Sprache im Mythos von Babel ist erstaunlich und ziemlich voraus weisend; später wird man bis zum Überdruß vom »gemeinsamen Haus der Sprache« reden, ein weiterer moderner Mythos, der den üblichen Hang zeigt, sich im Bereich des Imaginären anzusiedeln. Beide, Bauwerk und Sprache, sind geheiligt und haben ein gemeinsames Schicksal in der Zerstörung von dem Augenblick an, wo sie den göttlichen Zorn wecken. Wenn beide sich vereinen, entsteht eine ganze Nachkommenschaft, zumindest auf der metaphorischen Ebene; im unteren Bereich dieser Ebene kann man sowohl sagen, daß der Turm spricht, wie auch, daß die Sprache gebaut ist, und vielleicht auf solche Weise, wie Brueghel es beschreibt, nämlich aus aufeinanderfolgenden Tambours, die etymologisch in der Vertikalen voneinander abhängen und synchronisch in der Horizontalen ihre Freiheit haben; das bestätigt die Zweifel Cassirers an der Möglichkeit, das Warum und das Wie des Geschosses mit den Grundmauern jemals vollständig aufzuklären. Aber auf einer anderen Höhe dieser selben metaphorischen Ebene kann man auch behaupten, daß beide, Bauwerk wie Sprache, blasphemisch sind, denn beide sind von 62
demselben Vorhaben begeistert, das Verbotene zu erreichen, sei es, damit der Mensch Zutritt zum himmlischen Reich erhält, sei es, damit die Götter über sie zur Erde herabsteigen, um mit dem Menschengeschlecht auf gleichem Fuß zu verkehren. Wenn das Wort – neben anderen, denn seine Funktionen müssen keineswegs ausschließlich sein – mythisch-religiöse Ursprünge hat, um die flüchtige und spröde Anwesenheit der Augenblicksgötter zu festigen, und sich durch die Beugungen des Worts in das Organon der spekulativen Vernunft verwandelt, dann verwandelt sich der Augenblicksgott im Verein damit und parallel dazu in Kunstfertigkeit und wird schließlich, nach einer von den Sondergöttern beherrschten Zeit, zum Betrieb. Möglicherweise kommt beim Stelldichein der Religionen – oder bei einer von ihnen – der Einzige und Allmächtige Gott der Monotheisten als letzter, aufgerufen, Ordnung und Rangstufen in einem überbevölkerten Haus einzurichten. An ihn richtet sich zweifellos der Turm zu Babel, und seine Antwort ist dermaßen aufbrausend, daß man annehmen muß, er sei als erster und am meisten von dem Geschehen betroffen. Eine allerdings gänzlich unbiblische Interpretation des Mythos würde die Absichten und Ergebnisse umkehren und den Architekten von Babel den Plan zuweisen, die Gottheit zu reizen – sie aufzurufen, daß sie Farbe bekenne –, 63
damit sie das Vorhaben vereitle und zugleich die – nichtsnutzige – sprachliche Einheit zerstöre, aus deren Ruinen dann die Verschiedenheit der Sprachen und Völker hervorgehen würde und in der Folge auch die der Götter. Eine Rückkehr zu den Sondergöttern, die, da spezialisiert, den menschlichen Geschicken gegenüber sehr viel aufmerksamer sind als der Allmächtige. Offensichtlich fielen und verschwanden in Babel nicht nur der Turm und die allgemeine Sprache; mit ihnen fiel auch der einzige Gott eines geeinten Volks. Die Beharrlichkeit, mit der die nordischen Maler des 6. und 7. Jahrhunderts den Mythos während der Religionskriege und der folgenden aufgewühlten Jahrzehnte abbildeten, das geringe Echo, das er unter den Künstlern des Mittelmeerraums hatte, und die Annahme, er könnte ein esoterisches, zugleich offenbarendes und verhüllendes Zeichen darstellen, führen zu einer Deutung jener etwas sonderbaren Mode. Bekannt ist die Bedeutung der Ablaßfrage am Beginn der Reformation und wie die religiöse Bewegung gegen Rom zumindest in Deutschland und Flandern getragen und begleitet wurde von den Protesten gegen die von den Kirchen erhobenen Abgaben, die das Gemüt des deutschen Volks überaus schnell und tief erregten. Die zusätzlichen Einnahmen aus dem Verkauf von Ablässen waren bekanntlich dazu bestimmt, die au64
ßergewöhnlichen Ausgaben zu bestreiten, in welche die Päpste Sixtus IV., Julius II. und Leo X. mit ihren vatikanischen Bauwerken sich gestürzt hatten. Als Luther 50 nach Rom reist, um mit dem General des Augustinerordens einige Fragen der deutschen Pfarreien zu besprechen, ist Bramante gerade dabei, die Fassade der Peterskirche zu errichten, malt Michelangelo gerade die Sixtinische Kapelle aus und legt Raffael letzte Hand an den »Eucharistiestreit« in der Segnatura. Auch wenn der Mönch zu diesem Zeitpunkt kaum auf die Werke achtet, verbreitet er doch nach 520 in Deutschland eine Reihe von Anklagen gegen den unsinnigen und gotteslästerlichen Luxus Roms, den er, mit seiner heftigen Rhetorik, herausstreicht, um ihn der von ihm gepredigten strengen und innerlichen Religiosität gegenüberzustellen. Besonders die Kuppel der Peterskirche scheint den Zorn, die Verachtung und den unbarmherzigen Hohn der deutschen Reformatoren auf sich gezogen zu haben. »Wer aufrichtig zum Bau der Peterskirche um der Liebe Gottes willen beiträgt«, schreibt Luther 57, »handelt besser und gewisser, als wer deswegen Ablässe kauft.« Nichts natürlicher, als Rom ein neues Babylon zu nennen, Babel, der Vergleich, der einem Kirchenmann jederzeit vorgefertigt von den Lippen geht, um die vom Luxus verkommene Stadt zu schmähen. Jakob 65
Böhme, der mystische Schuster aus Görlitz, der unstudierte Philosoph, verkündete für die Zeit nach der Zerstörung Babylons den Beginn der Lilienzeit. Das feurige Temperament Luthers spielte eine beträchtliche Rolle in den entscheidenden Jahren der Reformation und ließ ihn immer unnachgiebiger werden, je mehr er der Borniertheit seiner Gegner die Stirn bot; wenn er 57 noch mit Achtung vom Papst sprach, so vertraute er 59 Spalatin an, daß Rom nicht nur Babylon sei, sondern Sitz und Hauptstadt des Antichrist, des Feinds des Menschengeschlechts, der die allgemeine Herrschaft über alle Seelen anstrebe. Gegen die Theologie des Kreuzes und die Lehre von der Rettung durch die Gnade setze Rom den Gehorsam gegenüber dem Papst auch in den weltlichen Handlungen. Gegen die Verschiedenheit der Gewissen, die radikal unterschieden seien in der Verfehlung und vereint nur in der Liebe zu Christus durch eine souveräne Tat Gottes, setze Rom die für ein unterwürfiges Volk geeignete kirchliche Disziplin durch. Und mehr noch: Dieses in Rom geeinte Volk habe auch eine einzige Sprache, das Latein, einer der Gründe dafür, daß der Europäer den Evangelien so fernstehe, weshalb er sie, um sie näherzubringen, in sein geliebtes Deutsch übertragen müsse. Und Jakob Böhme richtet sich in seiner Aurora an Luzifer und 66
warnt ihn: »Warte nur noch eine kleine Weile, so wird dich das höllische Feuer küssen: Nimm derweil mit dem Latein für lieb, bis dir mehr draus wird, du wirst bald deine Crone verlieren.« Wäre das Latein zerstört, würde jeder Europäer Christus in seiner eigenen Sprache wiederfinden; wer weiß, wie viele Nächte Luther eben deswegen auf die Nachricht wartete, die gotteslästerlichen Gerüste am Petersdom seien eingestürzt. Bekannt ist die enge Beziehung, die Luther mit Cranach verband, einem der fünf geladenen Gäste bei seiner Hochzeit mit Katharina von Bora, die im engsten Kreis im »schwarzen Kloster« von Wittenberg stattfand. Gründlich hat man den außerordentlichen Einfluß Cranachs auf die reformatorische Malerei in Deutschland untersucht, seinen entschiedenen Willen, sie von den italienischen Vorbildern zu befreien und die sakralen Themen auf eine direktere – und sozusagen lutheranische – Art anzugehen, unmittelbar durch die Schrift inspiriert und ohne die römische Deutung. Man weiß auch, daß Granvelle, der Gesandte des Kaisers, sein ganzes Leben lang Brueghel protegiert hat, der in den Habsburgern seine Hauptkunden hatte, und das nicht nur, weil er Nachfolger des Hieronymus Bosch war, der großen Leidenschaft Philipps II.; deshalb auch hat man nie gezögert, ihm in Anbetracht seines satiri67
schen und hermetischen Zugs Hintergedanken zuzuschreiben, die nicht so sehr uneingestanden als vielmehr geschickt ausgeführt sind. Wenn ihm die Darstellung des heiligen, mythischen oder historischen Ereignisses in moderner Umgebung erlaubte, in der Ermordung der unschuldigen Kinder die ganze Brutalität der spanischen Besetzung der Niederlande abzubilden, käme es ihm dann nicht auch gelegen, in Babel die ganze unsinnige und gotteslästerliche Prachtentfaltung des Clementinischen Rom zu zeigen? Nach dem Konzil von Trient verliert die BabelIkonographie nach und nach ihre emblematische Verbissenheit und hält sich an die einfache Darstellung des Turms – sogar des vollendeten –, wobei die archäologische Rekonstruktion zunehmend stärker akzentuiert wird. Auch kann man die wenigen, aber bezeichnenden Versuche der römischen Kirche nicht übergehen, den Turm als ein Beispiel für den Hochmut der Menschen zurückzugewinnen und den ärgerlichen reformatorischen Vergleich abzuschütteln. 679 veröffentlicht der Jesuit Athanasius Kircher eine Turris Babel, worin er mit Hilfe von »höchst sachkundigen Mathematikern« beweist, daß es wegen der ungenügenden Basis auf der Erde nicht möglich sei, mit dem Turm »den lunaren Himmel« zu erreichen, und daß folglich die Gottheit angesichts eines unbeständigen und nicht 68
zu verwirklichenden Unternehmens untätig geblieben sei. Man möchte meinen, daß Kircher nebenbei das Plazet der Gottheit für das Unternehmen der Gesellschaft Jesu suchte, die universale und absolute Monarchie Christi über ein Babel aus Rassen, Sprachen und falschen Religionen und Glaubensrichtungen. Die Reformation war für Flamen und Deutsche im Norden eine Befreiung von einer Macht, die so lästig war wie die kaiserliche und zweifellos mehr als die militärische, die lediglich in einigen Garnisonen und im Verlauf mancher Feldzüge Gestalt annahm. Dagegen zielte der von Rom ausgeübte Druck darauf, allgegenwärtig und dauerhaft zu sein und wenigstens alle Sonntage des Jahrs gefestigt zu werden. Die Aufhebung dieses Drucks auf zwei sehr verschiedenen Feldern – dem des Geldes und dem der Sprache – konnte auf das unmittelbare Wohlwollen einer großen Volksmasse zählen, ohne daß diese dabei in die ausgeklügelten Erörterungen der Theologie des Kreuzes eintreten mußte. Der Einsturz des babylonischen Bauwerks war das Ende des Lateins als auferlegte und unverstehbare Sprache, das seit einem Jahrhundert zuvor sich ankündigende Ende der obrigkeitlichen Gewalt über das Gewissen, des Gehorsams gegenüber der Forderung einer universalen Herrschaft über den Geist, die im Cäsaropapismus enthalten ist. Die Rück69
kehr schließlich zur Souveränität der kleinen Gemeinschaften mit ihrer einheimischen Sprache, ihrer Gottheit im Bewußtsein des einzelnen, das tausendmal höher ist als die Kuppel in Rom.
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