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Buch: Durch Zufall ist »Win« Bear, Polizeileutnant in Denver, bei der Aufklärung eines Mordfalls in der Universität of Colorado durch einen sogenannten Pwheet-Thorens-Durchbruch in ein Paralleluniversum gelangt: Das Gallatin-Universum, benannt nach dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, der George Washington hatte erschießen lassen und den Grundstein legte zu einer anarcho-demokratischen »Konförderation von Nord-Amerika«
»Win« Bear hat sich mit »Will« Bear, seinem anderen Ich in der Parallelwelt, zusammengetan. »Will« Bear ist Privatdetektiv – in der Konförderation gibt es ebensowenig Polizisten wie Bürokraten oder Politiker. Aber es gibt erzkonservative Elemente, die mit allen Mitteln versuchen, im Namen von »Recht und Ordnung« die Anarchie zu vernichten, um eine Regierung zu etablieren, Macht auszuüben und die Bürger zu besteuern, um sich an ihnen zu mästen. Selbstverständlich finden sie Unterstützung in unserem Universum für ihre dunklen Machenschaften. Durch seinen munteren, fröhlich-frechen Stil, seine anarchistische Kaltschnäuzigkeit und ein Feuerwerk von Ideen hat Neil Smith frischen Wind in die amerikanische Science Fiction gebracht.
SCIENCE FICTION Herausgegeben von Wolfgang Jeschke
Von L. Neil Smith erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: DAS GALLATIN-UNIVERSUM: Der Durchbruch 06/4250 Der Venus-Gürtel 06/4251 Ihrer Majestäten Kübeliere 06/4252 Der Nagasaki-Vektor 06/5253 Tom Paine Maru 06/4281 Die Gallatin-Abweichung 06/4282
L. NEIL SMITH
DER VENUS-GÜRTEL Zweiter Roman aus dem Gallatin-Universum
Science Fiction
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/4251
Titel der amerikanischen Originalausgabe THE VENUS BELT Deutsche Übersetzung von Irene Holicki Das Umschlagbild schuf Roy Michael Payne
Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1980 by L. Neil Smith Copyright © 1985 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1985 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Schaber, Wels Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin ISBN 3-453-31232-5
INHALT
1. Kapitel – Spionage im Stil der Konföderation 2. Kapitel – Stimmen von den Sternen 3. Kapitel – Gorilla meiner Träume 4. Kapitel – Hotel Zum Gebrochenen Herzen 5. Kapitel – Mein Liebchen macht mir's Herz so schwer 6. Kapitel – Der Geist in der Pyramide 7. Kapitel – Mittagessen mit einem Einsiedler 8. Kapitel – Die Gehirnsonde 9. Kapitel – Jede Minute wird ein neuer geboren 10. Kapitel – Schwebt durch freundliche Himmelsgefilde 11. Kapitel – Ein Freund in der Not 12. Kapitel – So sieht es wenigstens aus 13. Kapitel – Basalt der Erde 14. Kapitel – Morgensuppe, Giftsuppe 15. Kapitel – Aus tausend Toden geschnitten 16. Kapitel – Exekution im Morgengrauen 17. Kapitel – Hinter Schloß und Riegel 18. Kapitel – Semper Fidelio 19. Kapitel – Die Schafe von den Böcken 20. Kapitel – Wollt ihr alle Könige und Captains sein? Anhang – Kurzer historischer Abriß des Gallatin-Universums ÜBER DEN AUTOR
9 18 30 45 65 84 105 118 131 145 152 164 174 184 196 211 221 230 242 254 265 280
Meinen Eltern, Les und Marie Smith und den geschätzten Erinnerungen an Leben und Werk von H. Beam Piper und Karl Bray gewidmet. Niemand möge diesen Anlaß als Verbindung unserer Myriaden von Interessen und verschiedenen Wünschen begrüßen. Alle, die hier vertreten sind, die Vereinigten Staaten von Amerika und Mexiko, die früheren Dominien Neufundland und Kanada, die Republiken Quebec, Alaska, Kalifornien, Texas und Kuba – sie alle haben eine einmalige Geschichte und einmalige Traditionen, die weder verlorengehen noch ohne Folgen bleiben dürfen. Laßt uns lieber sagen, daß die Barrieren zwischen uns niedergerissen worden sind, damit diese Historien und Traditionen frei leben und sich nach Belieben vermischen können zu einer neuen Synthese, die größer ist als die Teile, die verbunden wurden, um dieses Werk zu schaffen, unsere neue Konföderation von Nord-Amerika. Präsident Benjamin R. Tucker im Kontinentalkongreß, 2. Juli 117 A.L.
1. Kapitel Spionage im Stil der Konföderation Dienstag, 23. Februar 223 A.L.* Der übereifrige Bezirksstaatsanwalt von Denver würde keinen einzigen Tante-Emma-Pornokiosk mehr plündern. Nicht nach dem geheimen Fototermin letzte Nacht in seinem Keller – in diesem Extrazimmer, von dem niemand etwas wissen soll. Ich hatte einen Winterabend gewählt, an dem er ausgegangen war, um eine Rede vor den BPS**, oder wie immer man dieses Gremium nennt, zu halten. Das Einbrechen war ein Kinderspiel – Übung hatte ich schließlich genug. Das gleiche galt für die Bilder – mein Lichtverstärker ist größer als die Kamera, mit der er verbunden ist, die hat die Ausmaße einer .38er Kugel. Und was für eine Sammlung das war! Peitschen, Ketten, Videokassetten. Ich habe nicht mehr so viele Gummianzüge gesehen, seitdem man ›Sea Hunt‹ aus dem Programm genommen hat. Am nächsten Morgen schickte ich ein Klassesortiment von Hochglanzfotos im Format 20 x 25 an die ›News Post‹ und die ›Rocky Mountain Liberty‹ und ließ noch einen anonymen Anruf folgen, aber ich hielt mich am Telefon nicht lange auf. Nicht daß ich gefürchtet hätte, aufgespürt oder von den Stimmanalyseverfahren der Sipo erkannt zu werden. Erstens wurde der Anruf über eine Leitung geschickt, die gar nicht existieren durfte – eine Gefälligkeit der Partei der Eigentumsrechtler des Staates Colorado. Und außerdem benutzte ich sowieso einen in der Konföderation hergestellten Stimmsynthesizer, ein Gerät, wie es die Schimpansen und Gorillas verwenden, über die Zeitrechnung im Gallatin-Universum siehe Anhang. Besorgt Prüfende Sittenwächter, im Volksmund die Berüchtigten Prüden Schnüffler genannt, eine bildungsfeindliche Vereinigung, die überall Unrat wittert und sich kompetent wähnt in allen Fragen der Kunst und Literatur, nach dem Motto: Was wir nicht verstehen, können andere gar nicht verstehen.
*
**
um sich mit anderen Leuten zu verständigen. Dauerte sechs Monate, bis ich gelernt hatte, mit dem verdammten Ding umzugehen. Zweitens bin ich völlig über jeglichen Verdacht erhaben, mein Alibi ist mehr als perfekt: Ich bin seit zwölf Jahren tot. Der Hauptgrund war, daß ich es eilig hatte. Ich war in einem Besenschrank verabredet und würde zu spät zu einem Golfspiel kommen. Man könnte es Golf nennen. Ich tue es. Mein Tod? Eine vernünftige, aber glücklicherweise unberechtigte Schlußfolgerung meines früheren Arbeitgebers, der Stadt- und Bezirksverwaltung von Denver, etwa im Jahre 1987. Obwohl ein paar Milliarden anderer Leute – einschließlich Wesen, von denen ich damals nicht einmal wußte, daß sie existierten – dieses Jahr als 211 A.L. bezeichneten. Das bedeutete anno libertatis, und wenn Sie genügend Finger haben, um bis 1776 zu zählen, können Sie sich selbst ausrechnen, warum. Jetzt schreibt man das Jahr 223 A.L. und in den guten alten USA 1999. Ich legte auf. Die ›News Post‹ wollte die Geschichte, das ging klar, und wegen der zweitgrößten Zeitung der Stadt machte ich mir keine großen Sorgen, denn in diesem Augenblick reichte mir Jenny Noble, Chefredakteur der ›Rocky Mountain Liberty‹ – und auf nationaler Ebene Vorsitzende der Eigentumsrechtler –, gerade einen Käsetoast. Ich schob meinen klitschnassen Überzieher beiseite, damit sie Platz zum Sitzen hatte – immerhin war es ja ihr Schreibtisch – und schlang mein Schulterhalfter über die Lehne meines Stuhls. Die recht mitgenommene Smith & Wesson .41 klapperte noch ein paarmal, ehe sie zu schwingen aufhörte. Die Zeitung in Jennys Papierkorb war von gestern, aber ich war seit zwei Monaten nicht mehr auf dem laufenden in meinem Heimatland, daher glich es sich aus. Jenny unterbrach mich beim Überfliegen der Titelseite, noch ehe ich damit angefangen hatte: »Du und deine nette, kleine Kamera, ihr wart ja heute nacht recht fleißig, was? Soviel ich hörte, werden sie die Bilder wirklich bringen.« Jenny ist schlank, hat Sommersprossen, es ist ein Vergnügen, sich in einem Raum mit ihr aufzuhalten, und nur zum Teil deshalb, weil sie hübsch ist. Sie verbreitet Begeisterung um sich, und ihre Bande sanfter Revolutionäre arbeitet anscheinend nur, um ihr eine Freude zu machen. Sie ist ungefähr Anfang Vierzig, glaube ich, aber das wäre auch dann
unwichtig, wenn sie keine Antialtersbehandlung in der Konföderation bekäme. »Du kannst, deine süße Verfasserangabe dafür verwetten, daß sie sie bringen«, antwortete ich zwischen geröstetem Brot und geschmolzenem Plastikkäse hindurch. »Bilde ich es mir ein, oder macht sich hier wirklich eine neue Wertschätzung für die Menschenrechtserklärung breit? Die Dame am Schreibtisch des Stadtbüros sagte mir, sie versuchten seit langem, den Staatsanwalt am Wickel zu kriegen.« Sie grinste, was mich freute, und schloß ihre Tür, um den Krach aus dem gedrängt vollen Büro nebenan auszuschließen. Durch das Glas hörte man Kopiergeräte rattern; Leute tauschten über den Raum hinweg Witze und gutmütige Hänseleien aus. Gelegentlich schwebte ein Überschalljäger aus Papier in einer Kurve zwischen den Lichtleitungen hindurch. »Am Schreibtisch des Stadtbüros ist nicht immer eine Dame gesessen. Ihr Vorgänger bekam ständig von irgendeinem Verrückten von der erzkonservativen ›Einsatzgruppe Recht auf Leben‹ Korrekturen in seine Artikel geschmiert – das hat die Einstellung der Leitartikel gegenüber der Abtreibung Gott sei Dank nicht geändert, hat aber rechtzeitig dazu geführt, daß die ›News-Post‹ ihre Haltung zur Waffenbeschränkung überprüft hat.« Ich lachte. Sie griff an mir vorbei nach einem Stapel von Ausdrucken im Eingangskorb und blätterte ihn durch, um den Stand von hundert kleinen, subversiven Übungen wie der meinen letzte Nacht zu überprüfen. Jemand kam aus der lärmerfüllten Anarchoküche herüber und legte noch einen fünf Zentimeter hohen Stapel Kopien an. Sie blickte mit leichtem Stirnrunzeln auf. »Mußt du wirklich sofort nach Hause, Win?« Ich nickte. Win bin ich: Edward William Bear, vormals wohnhaft in Denvers feinster Gegend und Detektiv im Morddezernat, jetzt Privatdetektiv und Teilzeitspion für die Konföderation von Nord-Amerika. Wenn das zu melodramatisch klingt, wie wäre es dann mit liebender Gatte und werdender Vater im (wenigstens für mich) erstaunlichen Alter von verdammt nahe an Sechzig? Ich schluckte noch einen Bissen. »Ich könnte lügen und sagen ›leider‹, aber für diese unzivilisierten Winter von Colorado werde ich allmählich zu alt.« Ich schüttete die halbe Tasse Campbell-Suppe hinunter, die sie
mir reichte, und sah zu, wie draußen vor den Eckfenstern des zweiten Stockwerks der Schnee in dichten Flocken vom Himmel fiel. Meine Füße waren eiskalt, durch und durch naß, aber es lag nicht nur am Wetter; ich hatte mich einfach seit zwölf Jahren an reine Luft, sofortige Beförderung ohne Gedränge und Geschubse, und an praktisch nicht vorhandene Kriminalität gewöhnt. Ich warf noch einen Blick auf die einen Tag alte Schlagzeile und schauderte: BEI DER LETZTEN ENTFÜHRUNGSSERIE 87 VERMISSTE »Mach dich nicht lächerlich! Du siehst allein seit letzten Dezember, als du die Ladung Koks und Silber rübergeschmuggelt hast, zehn Jahre jünger aus.« Sie blickte hinaus auf das lärmende, geschäftige Büro und schwelgte in Erinnerungen: »Ja, das waren fröhliche Weihnachten!« Ich mußte ihr zustimmen, in beidem – obwohl zehn Jahre vielleicht etwas übertrieben ist. Verjüngung vollzieht sich allmählich, besonders bei jemandem wie mir, der während seiner ersten fünfzig Jahre nur die falschen Sachen gegessen, getrunken und eingeatmet hat. »Das ist Clarissas Verdienst Win Bears Praktischer Gesundheitstip Numero uno: Heirate eine Heilerin – wenn möglich, eine hübsche.« Noch ein selbstgefälliger Blick auf den halbgefrorenen, braunen Matsch auf der Straße, dann aß ich mein Sandwich vollends auf, stellte die Tassen entschieden auf Jennys Schreibtisch – höchstwahrscheinlich würde sie in Computerauswurf begraben werden, ehe jemand dazu kam, sie auszuwaschen – und dann: »Zeit zu verduften. Sag deinen Mitverschwörern auf Wiedersehen von mir. Wenn du meine Fähigkeiten als Einbrecher wieder einmal benötigen solltest, jederzeit…« »So leicht kommst du mir nicht davon, Officer!« Sie stand mit mir auf, umarmte mich, als wollte sie mich zerquetschen, und gab mir einen Kuß auf die Wange. »Alles liebe an Clarissa, und ich möchte dir raten, mich sofort zu verständigen, sobald deine Tochter angekommen ist, kapiert?«
»Uff! Du wirst die erste sein, die es erfährt – in DIESEM Universum jedenfalls.« Ich sammelte meinen Mantel und meine Pistole ein, faltete die Zeitung unter dem Arm zusammen und schlängelte mich durch das Labyrinth von Schreibtischen im äußeren Büro. Auf einer gelben Fahne an einer Wand warnte eine stilisierte Klapperschlange: TRITT NICHT AUF MICH!, während ein Schild mit handgeschriebenen Buchstaben verkündete: DANKE FÜR POT! Ungefähr fünfzig herausfordernd bunte Plakate warben für die vor kurzem angelaufene Wahlkampagne für Fraser. D. Nolan Fraser hatte die Partei damals, 1971 gegründet, ohne zu wissen, daß es so etwas wie die Konföderation gab. Zwei Jahrzehnte später zog er als erster Eigentumsrechtler-Bürgermeister die Stadt aus ihrem Teil der das ganze Land umfassenden Wirtschaftskrise heraus, und jetzt hatte er, mit ein wenig Hilfe von außen, den Umfragen nach eine gute Chance, das ganze Land, wenn es auch schrie und um sich schlug, auf dem Weg über vier Jahre Amtsführung in der Pennsylvania Avenue 1600 zu ›bürgerlicher und wirtschaftlicher Freiheit‹ zu zerren. Heil dem Häuptling! Ja, heil. Auf dem letzten Schreibtisch hatte ein Mädchen einen Spender für Papiertaschentücher stehen, die wie die Neudollars des Bundes bedruckt waren; sie putzte sich die Nase und warf das Tuch in einen Papierkorb. Der Bursche neben ihr tat das gleiche mit einer echten Regierungsbanknote, und beide kicherten über die grüne Tinte, die dabei am Ende seines Rüssels zurückblieb. Er grinste zu mir auf und zeigte auf das Schild, das über ihm an der Wand klebte: IN GOLD WE TRUST*. Ich schüttelte den Kopf, trat ins Lesezimmer und freute mich auf etwas Ruhe. Auf halbem Weg zum Besenschrank drehte ich mich um, überrascht, daß sogar in diesem Heiligtum ein Kopiergerät schnurrte. An einem Lesetisch saß – heftig tippend – noch eine Jenny. »Als ich zum letztenmal von dir hörte, hattest du draußen auf Ceres zu tun.« Ich schob den schneenassen Überzieher auf meinem Arm etwas bequemer zurecht. »Sehr geheim. Ed und Lucy haben mir einen Chip darüber geschickt. Wie geht es dir, Prä?« *
Auf Gold vertrauen wir.
Das heißt ›Präsidentin der Konföderation‹. »Ex-Prä, por favor.« Sie reichte einem Assistenten einen Durchschlag, und der rannte damit Gott weiß wohin. »Soviel ich gehört habe, will Olongo noch eine dritte Periode im Amt bleiben, der arme, masochistische, alte Affe. Sag mal, was ist das eigentlich für eine Geschichte mit all diesen Überfällen?« Das war am Tag meiner Abreise gewesen; ich wußte noch nicht genug darüber, um ihr etwas erzählen zu können, aber ich breitete die Zeitung aus, um ihr die erschreckende Schlagzeile zu zeigen. »Das Verbrechen ist auf dem Vormarsch – in letzter Zeit anscheinend überall. Warum nehmen sie wohl nur Frauen, was meinst du?« »Wahrscheinlich, weil es MÄNNER sind. Damit sind es mehr als hundertfünfzigtausend, nicht wahr?« Sie schüttelte grimmig den Kopf. »In den beiden Amerikas und in Westeuropa jedenfalls. Ich hab' nicht richtig mitgezählt.« Ich blickte auf eine andere Spalte. »Hier steht, daß auch noch ein Dutzend Männer von der Einkommenssteuerbehörde vermißt werden.« »Ja, und in sieben westlichen Staaten und in den ländlichen Regionen von New Jersey sind die Verkäufe von Segeltuch und Atzkalk gestiegen – alter Witz. Aber NIEMAND glaubt, daß das irgend etwas mit den entführten Frauen zu tun hat – es ist nur ein untrügliches Zeichen wachsender Gesundheit.« Sie klopfte auf den vorstehenden Griff einer stattlichen Automatik, die sie in einem Halfter unter ihrer Jacke trug. »Jedenfalls hat es Gott sei Dank nicht auf die Konföderation übergegriffen, und solange ich hier drüben bin, wird mir auch nichts passieren!« Jenny Smythe ist genauso ansehnlich und energisch wie Jenny Noble, und das hat einen ausgezeichneten Grund: Während die letztere in den Vereinigten Staaten gezeugt wurde, begann ihre charmante ›Zwillingsschwester‹ ihr Leben genau im gleichen Augenblick in der Konföderation. Trotzdem ist sie physiologisch vier Jahre jünger, dank einer fortschrittlichen, paratronischen Gaunerei, die man Stasisverzögerung nennt; ihre Mama wollte sie wirklich haben, aber nicht gerade in diesem Augenblick, vielen Dank. Kompliziert, nicht wahr? In der Geschichte, mit der ich aufwuchs, be-
legte Alexander Hamilton Whisky mit einer Steuer und löste damit beinahe eine zweite Revolution* aus. Präsident Washington mobilisierte fünfzehntausend Mann Bundestruppen, um die Ordnung wiederherzustellen, dabei wurde er von einem Professorentyp namens Albert Gallatin unterstützt, der nicht zusehen wollte, wie man seine pennsylvanischen Landsleute abschlachtete. Ende des Whisky-Aufstandes. In der Konföderation hingegen half Gallatins Gegenstück den aufgebrachten Schnapsbrennern, sich zu organisieren, brachte die Blauröcke dazu, auf seine Seite überzuwechseln, und marschierte nach Philadelphia. Der alte George wurde kurzerhand an die Wand gestellt; Hamilton verduftete in Richtung Preußen und rief eine kleine pseudofaschistische Bewegung ins Leben, die noch Jahrhunderte später Unruhe verursachte. Trotzdem Ende der föderalistischen Regierungsform. Während Jenny Noble einen widerspenstigen Haufen von Anarchisten im Zaum hält, die Gallatin aus reinem Entzücken an der Zwietracht auf alle vier Backen geküßt hätte, ist Jenny Smythe häufig zu Besuch in den Staaten, um den Aufruhr zu unterstützen. Ich bin nicht sicher, ob all das den Begriff ›Synchronizität‹ verdient; es ist einfach eine von einer Million Halbzufälligkeiten, die eine bessere Erklärung verlangen, jedenfalls für einen runderneuerten, alten Plattfuß** wie mich. »Nun ja«, sagte sie schließlich, »es gibt auch gute Nachrichten. Fraser hat angefangen, sich mit den Medien gut zu stellen, fast ein Jahr, ehe die Demagogen und Republikraten ihre duckmäuserischen Bodensätze auch nur nominiert haben.« Sie zeigte auf die Bücher, die offen auf dem Tisch lagen, Werke, zu denen Gallatin in diesem Zweig der Wahrscheinlichkeit nie gekommen war. »Und du hast dir also gedacht, Fraser könnte sich aus ›Regel der Vernunft‹ oder ›Prinzipien der Freiheit‹ eine aufwühlende Rede zusammenIn den USA wird der Unabhängigkeitskrieg gegen England (1776-1783) als ›Revolution‹ bezeichnet. – Anm. d. Hrsg. ** Spitzname für Polizist – Anm. d. Übers. *
klauen?« Ich warf verstohlen einen Blick auf meine Uhr, ein durch Materievernichtung betriebenes Bonbon aus den fünfzig Jahre alten Mondkolonien der Konföderation. »Pah! Ich habe bekanntlich auch selbst schon ein paar aufwühlende Reden gehalten.« »Ja, mit der letzten hast du dieses ganze teure, komplizierte und wahrscheinlich unmoralische Unternehmen hier ausgelöst. Na ja, schreib weiter, Schwester! Das Essen steht auf dem Herd, und wahrscheinlich kocht inzwischen auch meine kleine Frau, weil ich so spät dran bin.« Jennys Lakai stand ungeduldig da und wartete auf den nächsten Schub tiefgründiger Weisheit. Sie ließ ihn zappeln. »Wenn Clarissa dieses Geschwätz von wegen ›kleine Frau‹ und so hört, bist du derjenige, der kocht, und zwar bis an deine abstehenden Ohren in der Suppe!« »Nein, danke.« Ich machte einen Knicks. »Ich hatte gerade welche – Tomatencreme, glaube ich. Und jetzt, liebe ehemalige Leiterin der Exekutive, au revoir. Mein Schrank erwartet mich dort draußen.« »Passieren«, antwortete Jenny und lehnte damit ein erstklassiges Wortspiel ab. »Wenn deine Tochter fällig ist, werde ich wieder in Laporte sein.« Sie musterte mich betont. »Ich glaube, ich bin krankhaft neugierig, wie sie aussehen wird.« Ich antwortete mit einem höhnischen Prusten und wandte mich wieder dem Schrank zu, der einzigen Einrichtung der Eigentumsrechtler, die sich in den letzten zwölf Jahren nicht verändert hat. Ursprünglich war die Partei eine winzige, unbedeutende Splittergruppe voll heroischer Entschlossenheit, Amerika wieder in die Richtung zurückzudrängen, die Tom Paine gewiesen hatte. Sie hatte ein kleines, desinfiziertes Kabäuschen an der Ecke Colfax und York bewohnt, inmitten einer sonst urinfleckigen Ansammlung von Linken, Öko-Freaks und Maschinenstürmern der letzten Tage. Jetzt gehörte das Gebäude Jennys Sauhaufen, dazu besaßen sie noch Druckerpressen, Hunderte von Telefonen und unten sogar eine gut besuchte, öffentliche Bar. Und außerdem noch zahlreiche, weniger gut bekannte Einrichtungen, auf die die Sipo – die Bundessicherheitspolizei – selbst in ihrem gegenwärtigen, geläuterten Zustand zweifellos sehr finster herabblicken mußte. Eine davon war dieser Schrank. Ich schob die knarrende Tür gewalt-
sam auf und quetschte mich hinein. Endlich Frieden. Hier waren das anvertraute, schäbige Waschbecken mit der kleinen, braunen Spinne, die hier wie immer ihre Heimatstatt hatte, ein paar rostige Kübel, ein Plastikmülleimer und ein dumpfer, modriger Geruch, der meinen Würgereflex kitzelte. An der Wand gab es außerdem ein von Trockenfäule zerfressenes Rechteck von sechzig auf einszwanzig, aus dem Nägel herausstanden, an denen eine Batterie von angefressenen Mops und Besen hing. Ich zog an der ausgefransten Schnur, die mir ins Gesicht baumelte, blinzelte in der Fünfzehn-Watt-Beleuchtung, zählte die Nägel an dem Ständer und drückte den dritten, den fünften, wieder den dritten und dann den siebten von links FEST nach oben. Ein Loch im Universum – der P'wheet/Thorens-Durchbruch – tat sich irisierend vor mir auf. Als die Öffnung groß genug war, trat ich vorsichtig hindurch, ich hatte keine Lust, ihre materievernichtenden Eigenschaften mit einem Mantelzipfel oder mit der Ferse meines Schuhs zu testen. Hinter mir schrumpfte der Durchbruch wie der kleine Punkt, den man früher sah, wenn man ein Fernsehgerät abschaltete, dann verschwand er mit einem ›Plopp‹ und einem winzigen, sternenhellen blauen Blitz. Ich war wieder einmal unversehrt auf die andere Seite der Realität gelangt.
2. Kapitel Stimmen von den Sternen Mit Tränen von der plötzlichen Helligkeit in der Interwelt-Station von Laporte in den Augen trat ich durch eine verglaste Sicherheitskabine in die Halle. Berufsmäßige Pistolenschützen machten ihre Runden, sie hatten es auf die gelegentlichen Einwanderer mit feindlichen Absichten abgesehen. Die Konföderation heißt jeden Fremden willkommen, möchte ihn sich aber vorher ansehen. Der einzige Einfuhrartikel, den wir ablehnen, sind feindliche Absichten. Wie so mancher andere ›Durchbruch‹, so wurde auch der Penetrator aus Versehen entdeckt. Ein Delphin – Tursiops truncatus – mit Namen Ooloorie Eckickeck P'wheet hatte zu den Sternen gelangen wollen. Ihr menschlicher Partner, Professor D. J. Thorens – die OHNE ihren Labormantel in einem Penthouse-Heft natürlicher gewirkt hätte – hatte den Prototyp zusammengebastelt, und ich war die ahnungslose, erste Probe gewesen, die sie durch Zufall aufgesammelt hatten allerdings nicht zwischen den Sternen, sondern in einer schäbigen Parallelwelt – unserer. Laporte ist einen Katzensprung und ein Universum – sagen wir neunzig Kilometer – von Denver entfernt. Jeder Ort hat sein Gegenstück im anderen Kontinuum, der erste als winziger Vorort von Fort Collins, der letztere als schläfriges Dorf mit Namen Saint Charles-Auraria. Jeder hatte einmal Aussicht, die Hauptstadt von Colorado zu werden, Denver wegen seiner Eisenbahn. Aber in der Konföderation liefen schon die Postkutschen mit Dampf, und so wurde Laporte, ein Depot des Overland Trail, ein Bevölkerungszentrum mit zwei Millionen Einwohnern. Weit auf der anderen Seite der Station, die so groß war wie ein mittleres Fußballstadion, applaudierte eine riesige Holoaufnahme. KINGSLEYS PENNSYLVANIA WHISKY DER SAFT, DER SIE ECHT BESOFFEN MACHT!
Aufrichtig und zutreffend, besonders für brandneue Flüchtlinge vor hundert Prohibitionen. Nach ein paar Tagen in meinem Heimatuniversum, das mir immer enger und bedrückter vorkam, als ich es gewöhnlich in Erinnerung hatte, konnte selbst ich einen Drink brauchen. Auch wenn es Kingsleys Pennsylvaniafusel war. In der erleuchteten Halle tauchten andere Agenten, Spione und Schmuggler auf die gleiche Weise auf wie ich gerade eben, der vertraute Blitz und das ›Plopp‹ kündigten sie an. Noch mehr reisten ab, beladen mit Geräten, Handelsgütern, auf dem Weg zu einer Million abgelegener Telefonzellen, Dschungellichtungen und ›verlassener‹ Lagerhäuser. Anderswo speisten automatische Penetratoren Radiosignale ein und druckten Propagandamaterial, das irgendwo zwischen Salt Lake City und dem Großen Platz in Peking aus dem Nichts auftauchen würde. Riesige Frachtmaschinen rumpelten in einem anderen Teil der Endstation. Ich war anfänglich der Infiltration meines Landes sehr skeptisch gegenübergestanden, und mit den moralischen Bedenken kämpfe ich immer noch. Verdammt, niemand kann jemals sicher sein, aber wenn nicht alle menschlichen Bestrebungen in einem zähen, düsteren Sirup von Zweifeln versinken sollen, müssen wir weitermachen. Was immer die Folgen sein mögen, die Alternative ist schlimmer. Was mich ursprünglich störte, war das Nachschubproblem: Dank Gallatins Nachfolgern ist der Kongreß kaum mehr als ein Ritual, er ist in mehr als zehn Jahren nicht ein einzigesmal zusammengetreten und wird es wahrscheinlich auch niemals wieder tun. Keine Steuern, keinerlei Reglementierung (all das wurde damals, 1794, zusammen mit George Washington beseitigt), wie kann man da ein genügend großes Reservoir an Finanzmitteln und Menschen zusammenkratzen, um im Nachbaruniversum einen Umsturz herbeizuführen? Nun, Kingsleys Whisky könnte zum Beispiel ein paar Milliarden neuer Abnehmer gebrauchen – das Zeug kauft man im allgemeinen nur einmal – und das gleiche gilt für Laporte Paratronics, Sicherheitstechnik GmbH, Neova Luftkissenfahrzeuge. Es ist eine neue Facette des Begriffs Industriespionage: das Unternehmertum der Konföderation möchte, wenn möglich gestern nachmittag, in Amerika einen freien Markt errichtet haben. Was soll's, meinen letzten Streich führte ich im Auftrag einer uralten, geachteten Dynastie von Pornographen durch.
Vergessen Sie ›die Wiederherstellung gesellschaftlicher Werte‹ – schmutzige Bilder machen einfach Spaß! Wenn ich sterbe, soll man meine Asche über einem Nudistencamp ausstreuen. Ich winkte zurück, als zwei Detektive, die ich kannte, in einem Penetrator verschwanden. Ihre Spezialität ist es, Fälschern das Handwerk zu legen – der Sorte, die das Zeug körbeweise aus regierungseigenen Druckpressen herausleiern. Ich hoffte wirklich, sie würden mit all den Sprengkapseln vorsichtig umgehen. Mit den weniger vernünftigen Satrapien meiner Heimatwelt macht man noch kürzeren Prozeß. Ich weiß noch, wie ich las, daß die Alliierten im Zweiten Weltkrieg Millionen von primitiven, einschüssigen ›Liberator‹ .45 für die europäischen Partisanen abwarfen. Die Dinger wurden von General Motors ausgespuckt, für 1,71 $ pro Stück, zu jeder Pistole gab es ein Kaugummi-Comic, das die Bedienung und den Zweck der Waffe erläuterte: man schleiche sich von hinten an Herrn Nazi heran, puste ihm das Hirn aus dem Kopf, werfe die wertlose Knallbüchse weg und eigne sich die Mauser oder P 38 des Feindes an. Wir verfolgen über den Penetrator eine ähnliche Taktik, mit wesentlich verfeinerten, aber ähnlich billigen Geräten. Wenn die Russen das nächstemal die Tschechoslowakei oder Afghanistan ›disziplinieren‹ wollen, müssen sie sich auf einen ziemlich erniedrigenden Schock gefaßt machen. Das gilt im übrigen auch für die Israelis. Ich sprang auf ein Laufband und fuhr ein paar Ebenen nach oben bis zu einer konventionelleren Untergrundkreuzung. Farbenfroh gekleidete Kauflustige gafften kurz auf mein Hemd und meine Krawatte irrt. Stil der anderen Welt, auf meinen verbeulten Filzhut, den grauen, röhrenförmigen Anzug und die bequemen, braunen Laufschuhe. (Einmal ein Polizist – immer ein Polizist! – Ich mußte mich umziehen, ehe ich in den Club ging.) Dann wandten sie sich, vielleicht weil sie sich an die Endstation weiter unten erinnerten, wieder ihren eigenen Angelegenheiten zu und respektierten mein Grundrecht, exzentrisch zu sein, ohne deshalb belästigt zu werden. Ich fand ein Telekom und tippte unsere Kombination ein. Clarissa ist blond, irgendwie knuddelig und golden, mit Augen, die man schwer
beschreiben kann: grün, nußbraun, irgend etwas in der Art; sie wechseln. Ihre Züge wölbten sich dreidimensional vor dem flachen, weißen Bildschirm herauf, aber ich konnte kaum ein Wort dazwischenkriegen… »Hier spricht Clarissa Olson-Bear oder vielmehr eine Aufzeichnung von mir. Ich bin gerade nicht zu Hause, und Win… ist auswärts. Bitte wählen Sie für Anfragen und Nachrichten unsere Geschäftsnummern – und falls Sie ein Einbrecher sind, wird es Sie sicher interessieren, daß wir von der Schutzfirma Griswold betreut werden.« Brr. Vor denen hatte ich beinahe selbst noch Angst. Das Motto der Firma lautete zwar nicht wörtlich ›Wir machen keine Gefangenen‹, aber sie vermittelte diesen Eindruck. Wirklich schade, daß Captain Forsyth, unser alter Profibeschützer, letztes Jahr in Ruhestand getreten war. Ich spielte wieder mit der Tastatur herum, mein Neova-Hover-Sport meldete sich mit einem fröhlich-getreuen ›Tüüt!‹ Ich gab ihm einige Anweisungen und fuhr dann mit der Rolltreppe weiter nach oben in den Sonnenschein der Konföderation. Als ich an dem bunten, pastellfarbenen Randstein stand, blickte ich über die Schulter. Die Vorberge im Westen, außerhalb des mildernden Einflusses von ›Energie & Klimatechnik Cheyenne Ridge‹ waren einen Meter tief unter nassem Matsch begraben. Jawoll. Wenn der kleine Neova auf sich selbst gestellt ist, fährt er sehr vorsichtig, und so mußte ich ein paar Minuten herumbringen. Direkt vor mir stand ein Turner Nachrichtenautomat, sein Stützpfosten war in dem gummiartigen Randstein verankert. Ich suchte nach einem Kupferstück, warf es ein, klappte den Sitz heraus und suchte ziellos in den verschiedenen Kanälen herum, während ich es mir bequem machte. Irgendwo mußte es doch Nachrichten geben. Der kleine Bildschirm schien sich vor meinen Augen auszuweiten: ›… in Funkobservatorien überall im System sind weiterhin fasziniert von angeblich intelligenten Signalen, die vom Sternbild Cygnus ausgehen. Ein Raumschiff würde Hunderte von Jahren brauchen, um dorthin zu gelangen und nachzusehen, was wirklich vorgeht, aber in der Zwischenzeit ist hier ein Kommentar über dieses erstaunliche Phänomen vom Hausphilosophen des Kanals 1572, Rod Mac…‹
Klick! Sinnlos, diesen Quatsch anzuhören. Das Zeug war schon Jahre, ehe ich in die Konföderation gekommen war, ein alter Hut: unverständliches Stöhnen, anscheinend Ausdruck von Qual; etwa so, als würde man auf einem Radio mit Schwingungsmodulation ein einzelnes Seitenfrequenzband auffangen oder Holländisch oder Norwegisch hören – Laute, die man irgendwie gerade nicht mehr versteht. Aber verdammt, Wale geben auch oft Laute von sich, als würden sie auf kleiner Flamme geröstet, und das, wenn sie gerade rumknutschen. Wenn Sie mich fragen ist es interstellares Sumpfgas. Ich wechselte zu Kanal 1789: ›… unmoralisch und unklug‹, erklärte in nüchternen Tönen der Erste Nachrichtensprecher des Systems – und aus eigener Machtvollkommenheit die ›Stimme der Sterne‹. Er nickte mit seinem väterlichen Graukopf in die Kamera. ›Vielleicht vergehen Jahrhunderte, ehe die letzten Ergebnisse eingegangen sind, aber eine Einmischung in die Werte einer anderen Kultur, in das Recht der Vereinigten Staaten, den Weg zu gehen, den sie gehen wollen, gleichgültig, wie sehr wir ihn mißbilligen mögen, bringt ein grundlegendes Gleichgewicht in Gefahr, das kein Mensch, Primat oder Waltier wirklich versteht. Vielleicht haben wir noch Anlaß, dieses Hineinpfuschen zu bereuen. So sieht es jedenfalls aus, heute, am Dienstag, den 23. Februar 223 A.L. Hier spricht Voltaire Malaise, Hauptstation Ceres, gute Nacht.‹ Gute Nacht, Voltaire, und das Timing war gut. Der Hover Sport fuhr vor, und ich zwängte mich hinein. Nachdem ich zwei Tage lang eigenhändig stinkende, gummibereifte, in Brasilien hergestellte Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor über beton-, schwefel- und asphaltbedeckte Straßen gesteuert hatte, war es eine Erleichterung, mein Spielzeug mit Fusionsantrieb auf Automatik zu stellen, zu spüren, wie seine elektrostatischen Flügelräder den Luftrand aufplusterten, und mich schnellstens über die grünen, grasbedeckten Durchgangsstraßen von Laporte nach Hause brachten. Ich sah mir die Streckenprogrammierung an und verzog das Gesicht. Kein Wunder, daß der Wagen so lange gebraucht hatte. Er war über die McKinley-Umführung gekommen, deren Besitzer kürzlich auf den irrationalen BLEIB AM LEBEN – FAHR ACHTZIG!-Trip verfallen waren. Noch eine Woche, und sie würden Konkurs anmelden. Ich programmierte den Neova neu und flitzte auf sichere und angemessene
110 hinauf. Metrische Jeffersonmeilen pro Stunde. Voltaire Malaise: komisch, wie sogar in einem Land, das auf eine Lebenserwartung von drei- oder vierhundert Jahren eingestellt war, die Öffentlichkeit Falten und grau werdendes Haar immer noch mit Weisheit verbindet anstatt mit dem, was sie wirklich sind: Symptome einer buchstäblich tödlichen Krankheit. Es war leicht für ein gelehrtes Haus wie ihn, aus dem Weltall über die ›Einmischung in die Werte einer anderen Kultur‹ zu meckern – er hatte ja nicht die Opfer dieser Werte mit Hilfe des Penetrators aus Folterkammern und ›Nervenheilanstalten‹ herausgeholt, verstümmelt, gebrochen, mit Thorazin aus ihren eigenen Schädeln vertrieben. Ich schon. Meine Welt war ein versautes Chaos gewesen, ehe die Konföderation dazwischentrat: Depression, Superinflation, verdummende Vorschriften und ständiger Buschkrieg, um die Leichtgläubigen von den wirklichen Problemen abzulenken. Die Leute wehrten sich: eine Hälfte der Wirtschaft war voll auf heimlichen Tauschhandel umgestiegen, aber hysterische Gegenmaßnahmen der Regierung – abgabenfreie Abhörleitungen der Einkommensteuerbehörde, massive Propaganda für die Verfolgung von Schwarzmarktaktivitäten, magnetisch kodierte Neudollars und schließlich, der letzte, verzweifelte Zugriff der Bundespolizei: die Mehrwertsteuer hatten das Räderwerk des nationalen Überlebens zähneknirschend zum Stillstand gezwungen. Vielleicht war ich in einigen Punkten sogar der gleichen Meinung wie der alte Voltaire. Die Amerikaner brauchten die Hilfe, die sie bekamen, aber war es richtig, sie geheimzuhalten? Malaise beharrte darauf, daß das Vordringen der Konföderation eigentlich nach draußen zielen müßte; er war soweit gegangen, seine Tätigkeit ganz auf die Asteroiden zu verlegen. Heutzutage folgten anscheinend die Hälfte meiner Bekannten seinem Beispiel. Ich ertappte mich sogar selbst bei diesbezüglichen Tagträumereien. Verdammt, ich war doch glücklich wie ein Fisch im Wasser in Laporte mit Clarissa, und meine Arbeit – so unmoralisch und unklug sie auch sein mochte – würde noch lange Zeit wichtig sein. Die USA waren
noch nicht einmal aus dem Gröbsten heraus! Genet-Platz 626, ich war zu Hause. Ich trat erfrischt und trocken aus der Dusche, entfernte mir mit Laser ein paar Barthaare und bewunderte mich dabei selbst im Spiegel. Nicht schlecht für neunundfünfzig, dank der konföderierten Medizin eigentlich nicht einmal für neununddreißig schlecht. Die kleineren Wölbungen hier und dort verliehen mir ein wenig Würde, fand ich. Bei einer Größe von einsachtundsechzig hatte ich das weiß Gott nötig. Und daß mein Kopf voll buschiger, schwarzer Haare war, war auch kein Nachteil – als ich in dieses Universum geflogen kam, war mein Haaransatz grau und rasch am Zurückweichen gewesen. So sah ich also aus wie ein untergewichtigter Sumo-Ringer. Clarissa sagte, ich sähe gut aus, und ihr Wort genügte mir. Ich zog die üblichen, sackförmigen Hosen und einen Poncho an und schlüpfte in handgemachte Gauchostiefel, dann steckte ich meine .441 Magnum aus dem Schulterhalfter in einen weiten, bequemen Waffengurt. Es ist ein älteres Modell 58, ein zusätzliches, durchaus ernst zu nehmendes Schießeisen, dessen ursprüngliche Bläuung sich schon lange zu einer weichen, grauen Patina abgeschliffen hat. Da Golftag war, steckte ich zusätzlich noch ein paar Runden der speziellen 240-Korn Munition ein, die ich am liebsten verwende, packte eine Schachtel Schlangenbeschwörer für die heiklen Schüsse ein und ging wieder in die Garage hinunter. Der Owl Canyon Country Club schmiegt sich an den Fuß der Cheyenne Ridge, wo starke, unsichtbare Thermalströmungen vom Fusionskraftwerk die natürliche Schutzwirkung des Berges noch verstärken. In einem anderen Universum in Fort Collins gibt es oft noch trockenen Boden, wenn Denver schon bis zum Arsch im Schlamm sitzt. Hier ist es wie in Camelot, es schneit, regnet oder hagelt nie, es graupelt nicht einmal, außer nach Vereinbarung. Wenn die Post nicht elektronisch verteilt würde, hätten die Postboten hier ein herrliches Leben. Ich fand Clarissa und Captain Forsyth auf dem dritten Platz, der den liebevollen Spitznamen ›El Presidente‹ trägt. Es wurde gerade dämmrig, aber ein Versorgungssatellit leuchtete hell über der Prärie. Da ich meine geliebte, schwangere Zimmergenossin, die einen reizenden, angemessen
erweiterten, scharlachroten Overall trug, nicht stören wollte, lehnte ich mich mit dem Rücken gegen einen Felsblock von der Größe eines Omnibusses, zündete mir eine Zigarre an und sah zu, wie sie sich fertigmachte. Rechts von ihr liefen auf einem Nebenanschluß des Telekom gerade die aufgezeichneten Anweisungen ab: ›Sobald Sie den Ton hören, läuft die Uhr. Die Vorgabe für ›El Presidente‹ ist zehn Sekunden. Nehmen Sie Ihre Position ein!‹ Die einfachste Strecke auf dem ganzen Golfplatz. Wie. die Regeln es verlangen, drehte Clarissa dem Fairway den Rücken, hob die Arme über die Schultern. Da erblickte sie mich, wie ich da am Felsen lehnte, ließ ein Lächeln von ungefähr einem Megawatt erstrahlen, mit Grübchen, dann konzentrierte sie sich wieder auf die vorliegende Aufgabe. Eine Webley Electric Kaliber .11 hing an ihrer Taille in diesem gottverdammten Kreuzgurt aus Wildleder, den ich ihr seit Jahren auszureden versuche. Es ist schwer, sie zu überzeugen, weil sie schneller zieht als ich. Das Telekom machte ›Tuut!‹. Clarissa wirbelte graziös herum, die Pistole erschien in ihrer Hand, noch ehe die menschenförmigen Plastiksilhouetten – drei davon in schlecht sichtbarer Kleidung – ganz nach oben geschnellt waren. Pfft! Pfft! Pfft! Die Linearinduktionswaffe durchschlug jedes Ziel zweimal, von ihren winzigen Ultraschallgeschossen aus rasten Schockwellen durch das lederfarbene Plastik. Mit äußerst geschickten Fingern lud Clarissa blitzschnell nach, wie es die Sechsschußregel erfordert (obwohl die im Grunde albern ist – Webley Magazine enthalten zweihundert Stahlnadeln von je zwei Zentimetern Länge) und beharkte jedes Ziel wieder zweimal. Zeit: 5,47 Sekunden, schneller, als ich es je bei ihr erlebt hatte; durch die künftige Mutterschaft wurde sie keineswegs langsamer. Ergebnis: Das Telekom zeigte 56, vier Punkte weniger als die Höchstpunktzahl. »Oh, Scheiße!« bemerkte meine vornehme, feinsinnige Frau. »Win, da bist du ja wieder!« Um jede mögliche Verbindung zwischen diesen beiden Aussagen auszuschalten, kam sie mir entgegengelaufen, ehe ich sie zur Vorsicht mahnen konnte, und warf die Arme um mich. Ich spürte, wie ihre Waffe gegen meine Schulterblätter schlug, wo sie von ihren
Fingern baumelte. Forsyth starrte diskret ins Weite – ein altmodischer Affe wie aus dem Bilderbuch. Wir lösten uns voneinander, um wieder zu Atem zu kommen, und ich tätschelte ihr das wohlgerundete Fünfmonatsbäuchlein. »Die Hindernisbahn wirst du heute ja wohl auslassen?« »Wer ist hier eigentlich der Heiler? Natürlich lasse ich die Hindernisse aus, du Dummchen. Warum, glaubst du, sind wir hier auf der Babybahn?« Ehe ich die offensichtliche Antwort dazwischenkriegte, fügte sie hinzu: »Und jetzt sag dem Captain guten Tag und gib deinen Schuß ab! Wir rechnen das Durchschnittsergebnis aus und geben dir zehn Punkte vor.« »Lieber zwanzig, ich habe ein paar harte Tage hinter mir. Wie geht's Cap?« Ich schüttelte dem Pistolenmeister i. R. von Groß-Laporte, Rommee-Hai par excellence, einem meiner ältesten, engsten Freunde die Hand. Er ist außerdem ein voll ausgebildeter Schimpanse. »Gut, würde ich sagen.« Er sprach nicht wirklich. Schimpansen können das nicht. Statt dessen benützte er einen Synthesizer in Armbanduhrgröße, der unterschwellige Muskelbewegungen aufnahm und sie in Sprache umsetzte. »Niemand hat mir gesagt, daß der Ruhestand so verdammt anstrengend ist. Bin aber doch froh, daß ich die Arthritis loswerde. Tut mir leid, daß ich das so lange habe schleifen lassen. Win, sobald ich die Verjüngung hinter mir habe, werde ich auf eigene Faust wieder ins Geschäft einsteigen. Ceres, vielleicht auch Pallas – könnte sein, daß ich einen Partner brauche.« »Das ist der Gipfel. Wir müssen noch auswandern, wenn wir unsere Freunde je wiedersehen wollen. Was meinst du dazu, Schätzchen, sobald das Baby mal da ist?« »Warum so lange warten? Gib deinen Schuß ab, und wir machen es gleich auf der Stelle!« »Hier, vor dem Captain? Es waren doch nur zwei Tage, Liebling, und er wird so leicht verlegen.« Ich wackelte mit meiner Zigarre und machte obszöne Bewegungen mit meinen Augenbrauen. »Ach, halt den Mund und gib deinen Schuß ab!« Mir gefällt es, wenn ein Mädchen diese Farbe annimmt. Ich klemmte
mir die Zigarre fest zwischen die Zähne, trat vor und wartete mit dem Rücken zu den Zielen, die Hände über die Schultern gehoben, bis die Anweisungen zu Ende waren – ›Tuut!‹ – dann drehte ich mich um, breitbeinig, mit steifem Ellbogen, den linken Arm zurückgezogen. Das Korn hob sich zum Fünferring. ›Wamm! Wamm! Wamm! Wamm! Wamm! Wamm!‹ Ich schob mit dem Daumen den Zylinder auf, drückte mit der linken Handfläche auf den Auswurfstab. Mit der rechten Hand suchte ich an meinem Gürtel einen Lader und drückte die neue Munition hinein. Wieder griff ich zu und ließ die Waffe einschnappen. ›Wamm! Wamm! Wamm! Wamm! Wamm! Wamm!‹ Ergebnis: Volle 60, Zeit:… ACHTEINHALB SEKUNDEN? Nun ja, man kann schließlich nicht alles haben. Ich lud noch einmal nach, ließ meine kostbaren, eigenhändig importierten Metallbrocken rausballern und trat dann an die Linie zu meinen Gefährten, die sich immer noch die Hände vor die Ohren hielten. »Wirst du diesen verpesteten Krachmacher wohl jemals verhökern?« Forsyth warf mir einen stocksauren Blick zu. »Wenn Mündungsfeuer gleichbedeutend mit Durchschlagskraft wäre, mein Sohn, dann wärst du der gefährlichste Schütze in ganz Nord-Amerika!« Er trat vor, protzte seine abgewetzte .476 Savage auf und drehte sich gegen die Anweisungen zu uns, während er auf den Ton wartete. »Verdammter Kracher!« »In dieser Beziehung hört er nie auf mich, Cap, ich versuche schon seit Jahren… Wupps! Jetzt hat sich das Baby gerade wieder bewegt – wahrscheinlich hält sie sich auch die Ohren zu!« Ich legte sanft den Arm um meine Partnerin. »Still, der Captain will sich konzentrieren!« »Konzentrieren kann ich mich erst, wenn mir die Ohren nicht mehr dröhnen! Entschuldige dich bei deiner Tochter, Win, sonst möchte sie vielleicht gar1 nicht auf die…« ›Tuut!‹ Forsyth fuhr herum, zog seine Automatik und riß so schnell sechs Runden durch, daß ich sie kaum auseinanderhalten konnte. Er ließ das leere Magazin fallen, rammte eine Ersatzladung hinein und zog noch einmal schnell sechs ab. Ergebnis: Natürlich 60. Zeit: vier und einen winzigen Sekundenbruchteil.
Arthritis hin oder her, erinnern Sie mich daran, daß ich den Captain nie wirklich in Rage bringe. ›Tuut!‹ Nur der alte Schimpanse griff nicht nach seiner Waffe: Ich steckte die meine wieder ein und sah zu, wie meine Frau errötend das gleiche tat und mir die Zunge rausstreckte, als ich in einen Gürtelbeutel griff und meinen Taschenrufer herausholte, den einzigen in Laporte, möglicherweise einmalig in der ganzen Konföderation. »Das ist auch so etwas«, sagte sie zu ihm. »Wie ein zivilisiertes Wesen so ein lautes, lästiges Ding ertragen kann, das einen ständig unterbricht…« »Dann unterbrich mich doch nicht so oft, meine Liebe.« Ich war nicht wendig genug, um meinem Schienbein einen ehelichen Tritt ersparen zu können. Forsyth zuckte nur seine pelzigen Schultern. Er kannte mich beinahe so gut, wie Clarissa es manchmal leugnet, und versteht, wie zählebig die Gewohnheiten eines alten Polizisten sind. Ich hinkte dramatisch zum Telekom und stellte es um. Von unserem Gerät zu Hause übertragen erschien ein weiteres, hübsches Gesicht. Heute war einfach mein Glückstag, vermutete ich. »Winnie? Clarissa, mein Mädchen? Hier spricht Lucy!« Nur war das Gesicht nicht so hübsch gewesen, als ich es zum erstenmal gesehen hatte, fleckig und vertrocknet, voller Falten aufgrund des Alters und der Strahlenkrankheit, darüber eine Mähne schlohweißen Haares und ein entsetzlicher Sonnenhut im Paisleymuster. Lucille Gallegos Kropotkin hatte gleich neben dem Haus gewohnt, das jetzt Clarissa und ich hatten, sie war Nachbarin und Freundin von Edward William Bear, einem guten Freund von mir – meinem Gegenstück in dieser Parallelwelt. Lucy war wieder gesund geworden, hatte ihre Jugend zurückgewonnen, sich mit Ed verheiratet und war auf die Asteroiden gezogen. Ich sah mir ihre warmen, dunklen Augen, ihre olivfarbene Haut und das schimmernde, schwarze Haar jetzt genau an. Ziemlich sexy für eine Frau von einhundertachtundvierzig. »Hört mal zu, ihr beiden«, wies sie uns an, »das hier ist eine Aufzeichnung – ich kann nicht warten, bis die Signale zu euch und wieder zurückkommen. Ich wollte sowieso anrufen, hören, wie es mit dem Baby geht und so, aber… na ja, jetzt wird es wohl nicht ganz so erfreulich
werden.« Sie schaute auf einen Gegenstand hinunter, den sie in der Hand hielt und schüttelte den Kopf. »Ich bin in Schwierigkeiten. Hier draußen ist was faul und Ed – dieser Pappkamerad – fing an, darin herumzustochern, obwohl er im Detektivspielen überhaupt keine Übung mehr hatte…« Sie unterbrach sich und blinzelte heftig gegen einen Strom von Tränen an, der sichtlich nur noch Sekunden entfernt war. »Jedenfalls ist er… Win, es ist mir elend peinlich, dich herzurufen, wo doch deine Tochter unterwegs ist und so, aber – Ed ist seit TAGEN vermißt, und das habe ich vor einer Stunde gefunden. Du wirst schon wissen, was es bedeutet.« Sie hielt ein Medaillon vor das Aufzeichnungsgerät, rund, ungefähr vier Zentimeter im Durchmesser, aus Bronze. Ich brauchte es nicht genauer zu untersuchen, um zu wissen, daß auf einer Seite ein Datum stand, 1789. Auf der anderen dräute das unheimliche Markenzeichen der wichtigsten Feinde der Freiheit im ganzen System: das hamiltonistische Auge in der Pyramide. »Win, komm hier raus so schnell du kannst! Inzwischen ist er vielleicht schon t-tot!«
3. Kapitel Gorilla meiner Träume Mittwoch, 24. Februar 223 A.L. »Nein!« Clarissa stampfte mit einem Fuß auf, den sie seit Wochen nicht mehr gesehen hatte. Auf dem dicken Teppich unseres turnhallengroßen Wohnzimmers ging die ganze Wirkung verloren. »Aber doch!« Ich setzte mich, kaute auf meiner Zigarre herum und sah sie finster an. »Nein!« »Aber ja doch!« Klick-klick-klick! »Könnte ich von dieser Konferenz freigestellt werden?« Koko Featherstone-Haugh, meine Chefassistentin und Schnüffelnasenlehrling, lehnte sich auf dem Sofa zurück und strickte weiter an einem Pullover für das Baby. Koko ist ein ziemlich junger, weiblicher Gorilla, die Lieblingsnichte des Präsidenten der Konföderation von Nord-Amerika. Und dort spricht man den Namen ›Fanshaw‹ aus. »Sicher«, knurrte ich als Antwort, »geh nur in die Küche hinaus und schäl dir eine Banane. Du bist ja ohnehin auf ihrer Seite.« Koko schob ihr Halfter in eine bequemere Lage und nahm einen Schluck King Kong Kola, eine Marke, die plötzlich populär wurde, seitdem man einen gewissen Film importiert hatte. Klickklickklick. »Nein, das ist nicht wahr!« »Aber ja doch! Sag mal, das kommt mir so bekannt vor. Habe ich nicht mit meinen eigenen Ohren gehört, wie du gesagt hast, ›so ein bißchen Schwangerschaft‹ sei kein Grund, warum Clarissa nicht mit mir zu den Asteroiden kommen sollte?« Ich sah mir ihr Strickzeug genauer an und überlegte, ob ich erwähnen sollte, daß die Ärmel ein bißchen sehr lang wurden. Klickklickklick. »Ist das eine Frage von meinem Arbeitgeber oder nur
vom Gatten meiner besten Freundin?« Klickklickklick. »Und schon quasselte sie! Schau, selbst wenn die Hamiltonisten nicht die Finger im Spiel hätten, wäre eine Weltraumreise einfach ein zu großes Risiko für…« Clarissa setzte sich neben mich. »Win, ich bin Heilerin. Außerdem bin ich ein voll erwachsenes, vernunftbegabtes Wesen…« Diese unabhängige Stimmung kannte ich schon. Leider war sie einer der Hauptgründe, warum ich diese Frau liebte. »Ja, und?« »Ich weiß, was ich tue! Vielleicht fliegt man dort, wo du herkommst, auf riesigen Knallfröschen herum…« »Das ist unfair! Nur weil mein Land sich in einer Wirtschaftskrise befindet…« »Und technologisch rückständig ist.« Klickklickklick. »Raus mit dir, Bananenfresser! UND technologisch rückständig ist, ist das kein Grund, um… Hör zu! Wie viele Grav wirst du wohl abkriegen, nur bis zum Raumschiff hinauf?« »Hmm. Na ja, das Raumschiff selbst fängt mit einem g an und die Schwerkraft sinkt dann allmählich auf ein Zehntel g bis sie Ceres erreichen. Das kann ja wohl nicht so schlimm sein, oder?« »Schlag dir das aus dem Kopf! Beantworte meine Frage! Welche Schwerkraft an Bord der Fähre?« »Hm, sechs – aber da gibt es Mittel, Win. Herzpatienten machen es ständig…« »Klasse! Irgendwann in der Mitte des 25. Jahrhunderts wirst du auch dazugehören. ICH starte am Ende dieser Woche. Glaubst du vielleicht, ich bin begeistert davon, hundert Millionen Meilen weit wegzureisen, vielleicht das Baby zu versäumen – sicherlich aber dich zu vermissen?« Ich beugte mich hinüber, um sie zu küssen und zögerte dann. »He, Frau Primatenkollegin, ich dachte, du wolltest freigestellt werden?« »Kümmert euch nicht um mich, für das Thesenpapier in Anthropologie, das ich gerade mache, kommt mir das gerade recht: ›Liebe bei den Menschen – Überdruß oder Langeweile?‹« Klickklickklickklack. »Verflixter… jetzt habe ich schon wieder eine fallenlassen… Wer kann das wohl sein?«
Ich stand auf und ging zu den Fenstern hinüber. Es war schwierig, in der Abenddämmerung etwas zu erkennen, der Geschmack der Konföderierten tendiert zu weitläufigen Grundstücken mit vielen Bäumen und verschiedenen Sträuchern und Hecken. Die Leute in Cheyenne Ridge hatten widerwillig ein bißchen weißes Zeug durchgelassen, nicht genug, um die elektrisch beheizten Straßen feucht zu machen, aber ausreichend für Postkartenromantik, vielleicht für ein oder zwei Schneemänner morgen früh. Ich drehte am Fensterknopf, um die Vergrößerung zu verdoppeln. Tatsächlich, durch das Tor und die anmutig geschwungene Auffahrt herauf glitt ein Luftkissenfahrzeug, kam zum Stehen und zwei vertraute Pelzgestalten kletterten heraus. Ich wandte mich meinen Gefährten zu. »Was meint ihr, sollen wir nicht den Kamin anwerfen? Und dann müssen wir die gemästete Whiskyflasche schlachten. Es ist Captain Forsyth – mit dem Onkel dieses Affenkinds.« Olongo Featherstone-Haugh, – ein Berg unter den Gorillas, reichte mir vierzig Meter feuchten Oberrocks und wickelte sich ein oder zwei Kilometer Schal von seinem massigen Hals. »Man kann nicht vorsichtig genug sein, alter Junge« er wischte sich einen verirrten Schneetropfen vom Pistolengriff –, »ich bin ganz schrecklich anfällig für Atemwegsbeschwerden, weißt du.« Das stimmte. Obwohl ihnen die gängige medizinische Technik zur Verfügung stand, ging kein Gorilla in dieser Beziehung ein unnötiges Risiko ein. Ich legte Forsyths uralten, gelben Regenmantel auf einen Haufen dampfender Kleidungsstücke auf dem Treppengeländer. Oben hatte Koko ein prasselndes Feuer in Gang gesetzt. Clarissa reichte dem Präsidenten ungefähr fünf Liter Scotch. »Ahh! Ein Winterabend bei Freunden. Vielen Dank, gnädige Frau!« »Hast du deinen Herumtreiber schon erwischt?« fragte ich. Letztes Wochenende war irgendein Narr in sein Büro eingebrochen. Olongo, der Oberstunden machte, war gerade von der Toilette zurückgekommen und hatte eine Frau mitten beim Einbrechen überrascht. Er ließ sich in meinem größten Stuhl nieder, legte die Arme bequem über seine weitläufige Vorderseite, der Feuerschein flackerte in seinen
Augen. »Leider nicht, alter Freund. Ich war so trottelig, meinen Lebensretter im Büro zu lassen, als ich rausging. Hatte nur Glück, daß sie mich damit nicht erschossen haben – hatten ihn schon halb aus dem Halfter gezogen, als ich mit dem Papierkorb warf. Nächstesmal bin ich darauf vorbereitet. Und jetzt erzähl mir mal, in welcher Patsche Lucy sitzt, ehe ich vor Neugier umkomme!« »Da ist nicht viel zu erzählen.« Ich schob meinen etwas weniger großartigen Korpus beiseite, griff in meinen Sporran, um ein Bic herauszuholen – noch ein beliebter Einfuhrartikel – und zündete meine Zigarre wieder an. Clarissa rümpfte die Nase und stellte auf dem Telekomblock, den sie im Schoß liegen hatte, die Lüftung höher. Ich reichte Olongo einen winzigen Datenchip hinüber. »Habe schon den ganzen Tag versucht, mehr als das von ihr zu kriegen, aber…« »Verstehe.« Der Gorilla nickte. »Hat was mit Sonnenstörungen zu tun.« »Verdammt komische Sonnenstörungen«, murmelte Forsyth und nahm noch einen Schluck Kola – auch ihm waren alkoholfreie Getränke lieber, ein Überbleibsel aus den vielen Jahren der Enthaltsamkeit im Dienst. »Die Jahreszeit stimmt nicht, und die Stelle im Sonnenzyklus auch nicht. Lucy hat recht – da ist was Komisches im Gange.« »Mein lieber Captain, so etwas passiert eben.« Der Präsident hob seine gewichtige Pranke und legte sie wieder nieder. Sein Fell hatte deutlich einen rötlichen Ton; ich hatte nie den Mut gehabt, ihn nach den Orang Utans zu fragen, die dafür eventuell verantwortlich waren. »Der Zyklus stimmt allerdings nur annähernd.« Er gab mir den Chip zurück. »Warum sehen wir uns nicht selbst an, was Lucy zu sagen hatte?« Ich schob den Chip in einen anderen Telekomblock – wir haben immer mehrere herumliegen – der Kamin erlosch, und auf der Wand erschien Lucys Gesicht. »Winnie? Clarissa, mein Mädchen? Hier spricht Lucy…« Diesmal achtete ich nicht auf ihre Worte, sondern konzentrierte mich auf die Umgebung. Eine Geschäftszelle. Also nicht ihre Wohnung auf – wie hieß es noch? – Bulfinch 4137, einem winzigen Planetoiden, der ihr und Ed vollständig gehörte. Hinter ihr drängten sich Leute durch einen
belebten Korridor. Ceres, dachte ich, erste Station auf der Route meines Raumschiffs. Aber warum war sie auf Ceres und nicht zu Hause? Die Nachricht war zu Ende. Ich drehte wieder das Bild des Kamiris an, spürte seine Ausstrahlung warm auf meinem Gesicht und sah sie auf dem polierten Holz und Metall des Waffenschrankes auf der anderen Seite des Zimmers leuchten. »Erstaunlich«, sagte Olongo nachdenklich, »wenn auch nicht sehr informativ. Habt ihr gemerkt, wie sie ständig über die Schulter schaute? Was hast du jetzt vor, Win?« Ich betrachtete einen Augenblick lang die Feuerstelle. »Nun ja, ich habe einen Platz auf der Unbeugsamer Geist gebucht, Abflug übermorgen. Als ihr beiden aufgetaucht seid, hatten wir gerade endgültig entschieden, daß Clarissa nicht…« »Augenblick mal, Win Bear!« Sie blickte von dem Telekomblock auf, wo sie den ganzen Abend lang per Telemetrie ihre kritischen Patienten betreut hatte. »So etwas haben wir niemals entschieden…« »Clarissa« – ich nahm ihre Hand und streichelte sie sanft –, »wenn es nur um das Baby ginge, würde ich vielleicht nicht… ich meine, ich liebe unsere Tochter, als wäre sie schon geboren, aber ein neues Kind kann man immer machen.« »Du hast leicht reden!« Das kam von meinem zottigen Lehrling Koko, die neben dem Feuer auf dem Boden lag. Sie fuhr mit einem Aufzeichnungsgerät an jedem der beinahe fertigen Pulloverärmel entlang und starrte mit einem primatenhaft verständnislosen Ausdruck auf den Papierstreifen in ihrer Hand und auf die abweichenden Daten auf dem winzigen Bildschirm. »Halt den Mund, Koko!« »Darf er so mit mir reden, Onkel Präsident?« »Nicht, wenn ich hier bin – um es für ihn zu tun. Halt den Mund, meine Liebe, und sei ein braves Äffchen!« Clarissa preßte meine Hand. »Ich weiß, was du sagen willst, Win, aber…« »Kein Aber! Eine zweite Clarissa kann ich nicht bekommen, weder in diesem Universum, noch in irgendeinem anderen. Ich wollte das nicht
öffentlich zur Diskussion stellen, aber was würdest du sagen, wenn ich derjenige wäre, der schwanger ist?« Sie öffnete den Mund, blickte auf meine großzügig entwickelte Taille hinunter und kicherte. Vielleicht würde eine Abhandlung über eheliche Telepathie Kokos Noten in Anthropologie gut tun, aber verdammt, das sollte sie selbst herausfinden. »Ich hasse es, wenn du recht hast«, seufzte Clarissa. »Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich selbst schon gefragt, wie ich die sechs g aufnehmen würde. Was sollen wir also tun?« Ihr Gesicht hatte diesen gewissen, traurigen Ausdruck. Noch etwas mehr, und ich würde sie wahrscheinlich mitkommen lassen. »Eine Zeitlang unglücklich sein.« In all unseren Ehejahren sind wir vielleicht fünf oder sechs Nächte getrennt gewesen. »Ich werde mich bemühen, es so kurz wie möglich zu machen. Wenn ich nur Lucy erwischen könnte – ich dachte, wir hätten diese hamiltonistischen Schweinehunde schon vor Jahren alle ausgerottet.« Der Präsident beugte sich ein wenig vor. »Dürfte ich einen Vorschlag machen? Obwohl ich gestehen muß, daß ich gewisse Vorbehalte habe…« »Nur raus damit, alter Primat, ich brauche alle Hilfe, die ich kriegen kann!« »Gut, um ungefähr mit den Worten eines eurer größten Staatsmänner – oder war es ein Religionsführer? – zu sprechen – nimm meine Nichte mit, bitte!« Sein gewaltiger Bauch zuckte in einer Nachahmung menschlichen Gelächters. Koko ließ ihr Strickzeug fallen und sprang auf, dabei sah sie aus wie eine Kreuzung zwischen Orson Welles und einem übermütigen Zottelteppich. »Ehrlich? Du machst nicht nur…« »Nein, meine Liebe, ich mache nicht nur. Aber ich bin logisch: Du bist vor nicht allzu vielen Jahren mit mir auf Ceres gewesen. Wenn du dir Mühe gibst, dein jugendliches Ungestüm zu überwinden… Komm morgen früh zu mir, dann veranlassen wir alles Notwendige.« »Mann o Mann! Die Asteroiden!«
Ich schüttelte den Kopf. »Freu dich nicht zu früh. Ich möchte mir das erst noch überlegen.« »Überlegen? Was gibt es denn da zu überlegen? Mann! Die Asteroiden!« »STILL! Es sei denn, du willst diese Reise lieber im Laderaum machen…« »Dann darf ich also mit! Oh, danke Boss! Mann! Die…« »Bei mir brauchst du dich nicht zu bedanken. Dein Onkel ist auf die Idee gekommen, und ich verstehe seine Vorbehalte. Andererseits könnten zwei Ermittler… Sag mal, sollten wir eigentlich wegen einer Expedition deine Ausbildung unterbrechen? Olongo?« »Win, mein Freund, an diesem Planeten und allem, was er uns zu lehren hat, geht die Zeit vorbei. Wenn es meine Entscheidung wäre – und das ist nicht der Fall, das ist Kokos Sache –, würde ich sagen, geh! Und komm nie wieder zurück!« Er sah sich im Zimmer um. Ich wußte, was er sah, ich sah es selbst: Möbel, Beleuchtungskörper, nanoelektronische Gerätschaften – wenn nicht tatsächlich auf den Asteroiden hergestellt, dann aus Rohmaterialien von den Asteroiden gemacht. »Es sind nicht nur die Konsumgüter«, sagte Olongo, »es ist die ZUKUNFT. Und ein beträchtlicher Teil der Gegenwart, wie ich hinzufügen möchte. Lysander sei Dank, daß wir es euren Eigentumsrechtlern ausreden konnten, die reine Goldwährung zu fordern.« »Davon wußte ich gar nichts. Für sie ist Gold genauso wichtig wie…« Ich verhedderte mich, weil mir nichts einfiel, was genauso wichtig war. »Win, mein Junge, in diesem einen, winzigen Bereich kommen die Keynesianer der Wahrheit nahe. Gold hat keine besonderen, magischen Eigenschaften, die es zur einzig möglichen Form von Geld machen würden. Eine stabile Wirtschaft beruht auf einer Unzahl von Handelsgütern: Du kannst einen Scheck genausogut von einem Petroleumkonto wie von Helium oder Weizen einlösen.« »Ja, schon, aber warum diese plötzliche Abneigung gegen das Gold?« Das bißchen, was ich von Wirtschaft verstand, wurde mir jetzt unter den Füßen fortgerissen. »Plötzlich wohl kaum. In der Konföderation ist Metall verglichen mit
nichtmetallischer Währung – schon seit geraumer Zeit auf dem Rückzug. Die Asteroiden, du verstehst?« Ich verstand. Wenn von etwas mehr vorhanden ist, wird es billiger – ›Grenznutzen‹ nennt man das. Der Asteroidengürtel stieß Schwermetalle aus wie Popcorn – das ist einer der Vorteile, wenn man mit den Trümmern eines Planeten arbeitet, der seine Innereien (und alles andere) nie zusammengekriegt hat. Man braucht nicht sehr tief zu graben. Gleichgültig, es würde schon etwas auftauchen, was knapper war und was wir zur Grundlage unserer Währung machen konnten. Aber Olongo predigte noch weiter: »… zur Erde hinunter auf einer schönen, ballistischen Spiralkurve. Eure Vereinigten Staaten werden im Laufe der Zeit ebenso davon profitieren. Aber bis dahin wird die Unsichtbare Hand noch einige Veränderungen bewirken müssen.« »Großartig. Also kann ich mir irgendwann nächstes Jahr eine schwarze Maske besorgen und meine ersten Kugeln aus massivem Silber gießen lassen. Die Leute werden mir danken wollen. Ich…« »Sag mal, Win, da wir gerade von Kugeln sprechen…« Captain Forsyth stand auf, streckte sich ein wenig und zuckte unter den Schmerzen in seiner arthritischen Schulter zusammen. Er klopfte auf die Waffe an seiner Hüfte. »Wolltest du vielleicht diese alte Smith & Wesson mitnehmen?« Phantastisch. Die nächste Rangelei war fällig. »Sicher. Warum nicht?« Der Schimpanse zuckte die Achseln – und fuhr wieder zusammen. »Nun, überleg dir als erstes einmal, was die Kälte ihrer Feder antun würde: Wenn du zum erstenmal den Abzug durchziehst – knirsch! – pulverisierter Stahl.« »Und außerdem«, fügte Olongo hinzu, »besteht die ganze Waffe aus Stahl. Wenn sie bis auf ein paar Grad über dem absoluten Nullpunkt abgekühlt wird und dann plötzlich einem Druck von zehntausend Kilo pro Quadratzentimeter ausgesetzt wird… Bei dem Gedanken schaudert es mich!« »Jetzt halt mal eine Minute die Luft an, die Federn kann ich ersetzen lassen. Und es geht nicht um zehntausend Kilo. Die Spezialladungen, die ich verwende…«
»Dabei fällt mir noch etwas ein«, unterbrach Captain Forsyth, »diese Kugeln aus Bleilegierung, die du da hast, die werden doch geschmiert, nicht? Kleine Rinnen rings um jedes Geschoß, die mit irgendeinem Schmierfett gefüllt sind?« »Richtig, Bienenwachs und…« »Im absoluten Vakuum verdampfen ätherische Substanzen. Das gleiche gilt für dieses veraltete Nitropulver, ganz zu schweigen von den Zündern.« »Gut, du Klugscheißer, sehen wir uns mal an, was da ist und warten wir ab, was du vorschlägst.« Ich stand widerwillig auf und ging zum Waffenschrank, Forsyth und Olongo kamen gleich mit. Das Schloß reagiert auf zwei Daumenmuster auf Erden, meine und die von Clarissa – drei, wenn man Ed Bear mitrechnet, mit dem ich die Fingerabdrücke teile. Ich öffnete die Doppeltüren. »Tja, damit scheidet vermutlich der größte Teil meiner Sammlung aus.« Da war der handgefertigte .41 Derringer, den ich mit der Smith in diese Welt gebracht hatte, und fast ein Dutzend weiterer Andenken an verschiedene mißliche Abenteuer seither. »Halt, was ist damit?« Ich griff nach oben und zog einen Handlaser von Walther-Zeiss herunter. »Keine Munition, die verdampfen kann, kein Stahl. Der wurde in eurer Welt gemacht, meine Herren. Glaubt ihr, der würde gehen?« Forsyth nahm die Pistole und drehte sie in den Händen. »Er ist jedenfalls für den Weltraum freigegeben.« Er zeigte mir ein winziges, stilisiertes Raumschiff, das auf der Unterseite des Abzugsbügels eingestempelt war. »Aber diese überdimensionierte Taschenlampe hat einige Nachteile, meinst du nicht auch, Herr Präsident?« »Mmm. Erstens sind Patentanzüge darauf angelegt, so viel Energie zu absorbieren, wie sie nur können, und alles zu reflektieren…« »Patentanzüge?« »Absolut unerläßlich, alter Junge. Eine Feststofferfindung in Form eines zähen, leichten, gummiartigen Kleidungsstücks. Ein wenig so, wie es die Meerestaucher tragen, aber unendlich viel raffinierter. Du hast doch wohl nicht geglaubt, wir würden immer noch diese klobigen Rüstungen verwenden, die eure Astronauten…«
»Olongo, für heute abend ist die NASA schon genug kritisiert worden. Außerdem habe ich diese Patentanzüge am Fernsehen – Verzeihung, am Telekom – schon gesehen, jetzt fällt es mir wieder ein. Heutzutage kriegt man ja nichts anderes mehr als diese verdammten Weltraumopern zu sehen. Jedenfalls sind Laser vom Tisch, so wie ich es sehe?« Der Captain rieb sich nachdenklich das Kinn. »Na ja, dieses Spielzeug hier könnte vielleicht einen Patentanzug überladen, aber da müßtest du wirklich draufhalten – ohne Witz, Win. Ungefähr so, als wolltest du mit dem Browning 9 mm, der da hängt, Elche jagen – theoretisch möglich, aber riskant.« Ich dachte an all die Jahre als Polizist, in denen ich eine kümmerliche .38 getragen hatte und damit in einer Welt voll unterschiedlich tödlicher .45 und Magnums nie ganz glücklich gewesen war. »Kein Wort mehr. Ich weiß, worauf du raus willst.« Ich. streckte mich und legte die Walther wieder auf ihre Haken zurück. »Was ratet ihr mir also – die Zeit wird allmählich knapp?« Olongo warf Forsyth einen kurzen Blick zu. Der Captain nickte zustimmend, und der Präsident zog seine Pistole. »Es wäre mir eine ganz große Ehre, wenn du die hier nehmen würdest.« Am anderen Ende des Zimmers blickte Clarissa kurz von ihrem Telekom auf, lächelte und machte sich wieder an die Arbeit. Mein hilflos gereizter Blick entging ihr. Es war nicht gerade das allerhäßlichste Ding, das ich je gesehen hatte: eine Webley & Scott, der große Bruder des kleinen, elektrischen Schnellfeuerers, auf den meine Frau schwor. Sie hatte Kaliber .17 – ungefähr die Größe von Schrotmunition zu Hause –, aber ich wußte, daß sie ihre kleinen Stahlpfeile mit drei- bis dreieinhalbtausend Meter pro Sekunde – sagen wir Mach 10 – hinausschleuderte, das genügte, um jedem die Aussicht zu verderben. Das Magazin faßte hundert Runden. Der Griff, für die Finger eines Gorillas geformt, lag mir unbequem in der Hand. »Suchen wir die Originalgriffe«, schlug Olongo vor. »Ich habe sie irgendwo im Wagen liegen. Ich habe auch ein paar Spezialgeschosse mitgebracht, die du vielleicht gerne ausprobieren möchtest.«
Forsyth grinste. »Falls du auf ziemlich große Feinde stoßen solltest.« »Der gute Captain bezieht sich mit seiner bekannt kargen Ausdrucksweise auf Owen-Röhren – ein Hohlgerät, das man über das vordere Ende schiebt. Weißt du, die Antriebsströme fließen auch an der Außenseite der…« »Mein Gott!« unterbrach ich und sah mir die kräftigen Schlingen des Laufs an. »Auf welchen Durchmesser käme man denn da?« »Etwas weniger als fünf Zentimeter«, erwiderte der Captain gelassen, »genau richtig, um eine Beule von Affengröße in einen Privatflitzer zu machen. Die benützt man dort draußen anstelle von Luftkissenfahrzeugen, winzig kleine Raumschiffe, die…« »Ich sagte doch schon, daß ich Telekom sehe. Hört sich an, als sollte ich mir einige dieser Owen-Bonbons anschaffen. Seid ihr sicher, daß ich dort draußen so ein häßliches Ding brauche?« »Oh, das liegt ganz bei dir, mein lieber Junge. Aber wenn hamiltonistische Föderalisten mit. im Spiel sind, möchtest du dich sicher angemessen verteidigen können.« »Ich habe nur keine Lust, so kurz nach dem Abendessen darüber nachzudenken.« Ich wollte den Waffenschrank schließen. »Noch etwas, Win.« Forsyth griff an mir vorbei. »Dieses Schlachtmesser wirst du doch nicht hierlassen. Das ist ein Astronautenmesser, oder ich habe noch nie eins gesehen.« »Meinst du das alte Bowie – oder Rezin?« Benannt nach dem Burschen, der die Dinger in beiden Welten erfunden hat, dem kleinen Bruder von Jim, war das fragliche Exemplar eine weitere ›Trophäe‹. Seit Jahren hatte ich es höchstens angesehen. Es war vom Knauf bis zur Spitze fünfundvierzig Zentimeter lang und hatte eine dreißig Zentimeter lange, sechs Zentimeter breite und einen halben Zentimeter dicke Klinge, die auch auf dem rückwärtigen Rand bis auf halbe Höhe scharf war wie ein Rasiermesser. Die Legierung wurde Stellit genannt, und der Griff hinter den schweren Messingschutzblechen war lang genug für eineinhalb Hände – ausgenommen bei jemandem wie Olongo. Das verdammte Ding wog mehr als zwei Pfund, und wenn ich nur daran dachte, kam mir schon das kalte Grauen.
»Jetzt auch noch Schwerter. Merkt ihr Clowns eigentlich nicht, daß wir uns inzwischen beinahe im 21. Jahrhundert befinden?« »Nach meinem Kalender nicht.« Forsyth nahm das Messer, strich mit dem Daumen am Rand entlang und machte so nebenbei einen Schlag, der mich zusammenzucken ließ, dann gab er es mir zurück. »Du wolltest etwas über Patentanzüge wissen? Nun ja, sie heilen von selbst zu, schneller und besser als gewöhnliches Fensterglas. Man kann sich nicht immer darauf verlassen, daß eine Pistole ausreicht. Messer reißen größere, scheußlichere Löcher.« »Und«, fügte Olongo hinzu, »bei den Asteroiden gibt es in bezug auf Privatwaffen einen höchst vernünftigen Brauch: Pistolen sind hauptsächlich fürs Freie gedacht. Klingen für drinnen. Vernünftig, wenn man in einer Umgebung mit Druckausgleich lebt, meinst du nicht auch?«
Freitag, 26. Februar 223 A.L. Wenn man schon das Klima kontrolliert, dann doch vor allem auf den Flughäfen, möchte man meinen. Aus irgendeinem Grund ist man in der Konföderation nicht dieser Ansicht. Das Gebäude der LilienthalFluggesellschaft steht mitten in der Stadt und bohrt sich ein paar hundert Stockwerke hoch hinauf, direkt ins richtige Wetter hinein. Wir standen ganz oben und warteten auf den Abflug der Fähre. Ich stand zitternd da, hatte meinen Umhang so oft um mich gewickelt wie nur möglich und fragte mich, ob Clarissa wirklich warm genug angezogen war. Durch das Schneegestöber konnte ich sehen, wie sich meine Assistentin an ihren Onkel kuschelte, der gekommen war, um sich von uns zu verabschieden. Trotz einer vierstündigen Informationssitzung am Tag zuvor überhäufte er sie in letzter Minute immer noch mit weiteren Ratschlägen. Sie sah mich stumm und flehentlich an und ließ sich dann resigniert wieder ihre kleinen Pelzohren vollschwätzen. Mir tat auch der alte Gorilla leid. Er hatte letzte Nacht einen Einbrecher gefaßt: eine attraktive, junge Frau aus meiner Welt, die anscheinend damit gerechnet hatte, daß der Affe unbewaffnet sei. Das war
nicht der Fall gewesen – sein Reserveüberredungsmittel ist ein .375 Nauvoo Browning; sie war tot, noch ehe sie auf dem Boden aufschlug, ihre schnell erkaltenden Finger umklammerten einen abgesägten .22 Colt Woodman. Manche Leute brauchen einige Zeit, bis sie begreifen, warum es hier bei uns so wenig Verbrechen gibt. Andere bekommen nie Gelegenheit dazu. Jetzt sollten Koko und ich zu einem geheimnisvollen Abenteuer aufbrechen, während der Präsident nur in dieselbe alte Tretmühle zurückkehren konnte, die Fortführung des Umsturzes in meiner Heimatwelt. Olongo war davon persönlich betroffen, und das hatte seinen guten Grund: Seine Gattung ist dort verdammt nahe an der Ausrottung und wird andauernd weiter ausgerottet. Damit sie überleben konnten, mußte man ihnen den – zivilisierten Status beibringen, den ihre glücklicheren Artgenossen in der Konföderation längst angenommen hatten. Wenn man nur die menschliche Politik in dieser Gegend ansah, würde das eine langwierige, gefährliche Aufgabe werden. Die ›Stimme der Sterne‹, der gute alte Voltaire, hatte am vergangenen Abend in einem etwas anderen Zusammenhang davon gesprochen: »Die Primatenbevölkerung auf der anderen Erde ist ohne unsere Hilfe dem Untergang, geweiht, aber das ist kaum eine Rechtfertigung für die Einmischung in die Angelegenheiten der Menschen in jenem Kontinuum. Ja, laßt uns Schimpansen und Gorillas in eine bessere Welt führen, aber laßt auch die bestehenden Zivilisationen ihren eigenen Weg gehen. Wir haben Besseres zu tun. So sieht es jedenfalls aus, am Donnerstag, dem 25. Februar 223 A.L. Hier spricht Voltaire Malaise, Hauptstation Ceres, gute Nacht.« Das Problem ist, daß man unmöglich alle wilden Primaten zusammentreiben konnte. Voltaire hatte es nicht für nötig befunden, Tümmler und Mörderwale auch nur zu erwähnen die Cetaceen beider Welten, seit Jahrtausenden zivilisiert, hatten sofort Ordnung geschaffen. Genauso brauchte man nur ein paar Affen das Sprechen beizubringen, dann würden sie sich in ein paar Jahren selbst zusammentreiben, und nicht nur, um zu fliehen. Schließlich ist es auch ihr Planet.
Koko löste sich und verschwand in der untertassenförmigen Fähre. Ich wandte mich Clarissa zu, die hübsch, rosig und schwanger aussah, eine Frau, wie sie kein normaler Mann verlassen würde. »Nun, ich…« »O Win, versprich mir, daß du…« »Schätzchen, ich versprech's dir.« »Idiot! Paß auf dich auf!« Sie warf die Arme um mich, heiße Tränen tropften mir in den Kragen der Kasackbluse. »Ich will dich wiederhaben, und deine Tochter zweifellos auch… Ich liebe dich so!« Ich grinste und rieb meine Nase an ihrem Haar. »Ja, und ich versuche seit Jahren rauszukriegen, warum. Ich war ein verbrauchter, halb seniler, alter…« »Oh, halt den Mund! Aus drei Gründen, du Dummkopf, und nicht aus denen, die du meinst, na ja, aus denen auch, aber weil du mich zum Nachdenken bringst, und weil du mich zum Lachen bringst…« »Das war einfach. Ich brauchte dir nur meinen…« »Und weil du mich geil machst! Komm bloß bald zurück, sonst komme ich dich suchen, das schwöre ich dir!« »Clarissa, ich dachte, das hätten wir klargestellt!« »Na ja, du weißt schon, was ich meine.« Sie biß sich auf die Unterlippe, um das Zittern zu unterdrücken. Dadurch und mit ihrer kleinen, roten Nase wirkte sie plötzlich so anziehend, daß ich beinahe selbst zu weinen angefangen hätte. »Das hoffe ich. Und ich liebe dich auch – und frag mich jetzt nicht auch, warum, sonst steige ich nie in diese Fähre. Und bleib nicht stehen, um mir nachzuwinken! Ich hasse das. Außerdem ist es kalt hier draußen. Paß gut auf unser kleines Mädchen auf; ich werde versuchen, vor ihr wieder hier zu sein, ja?« Sie nickte und wischte sich über die Augen. »Ach! Das hätte ich beinahe vergessen…« Sie reichte mir ein kleines, in Geschenkpapier gewickeltes Päckchen, von der Größe und der Form her wie ein Taschenbuch. »Und das schickt dir der Captain.« Noch ein kleines Paket, schwerer, in einfache, braune Plastikfolie gewickelt. »Ich wollte nicht zulassen, daß er es selbst herbringt, die Kälte ist nicht gut für seine…« »Und für deine ist sie auch nicht gut. Geh jetzt hinunter, da ist es
warm!« Ich küßte sie fest, drehte mich um und wagte nicht, zurückzuschauen. Selbst in der winterlichen Öde der Rocky Mountains leuchtete der buntbemalte Rumpf der Fähre fröhlich rot und weiß: LAKER RAUMFAHRT ELEKTROJET. Gut, daß ich mein Mittagessen selbst mitgebracht hatte. Ich ging über die Laufplanke, die das Gitter des Flügelrads schützte, kletterte die dreistufige Einstiegsleiter hinauf, reichte der Stewardess Olongos Webley, die sie mit einem Sortiment von hundert anderen Schießeisen in einen Behälter legte, und trampelte dann durch den Mittelgang, um mir einen Platz neben meiner Assistentin zu suchen. Sie hatte sich ihr Mittagessen ebenfalls mitgebracht, in einer braunen Tüte. »He, Boss, willst du 'ne Banane? Leider völlig durchgefroren, aber ich habe extra eine für dich mitgenommen!« Die Fähre begann zu vibrieren und hob langsam ab. Clarissa stand draußen in der Kälte, gehorsam wie immer, und winkte mir unter Tränen nach.
4. Kapitel Hotel Zum Gebrochenen Herzen Sechs g sind gar nicht so schlimm, die halte ich noch aus, wenn ich auf dem Kopf stehe. Und dieses Gefühl hatte ich auch, mehr oder weniger. Laporte verschwand unter uns in den Wolken, als der Elektrojet von einem außenbords angebrachten Ring von Hochspannungsflügelrädern in den Himmel gehoben wurde, vom Prinzip her waren die Dinger so ähnlich wie die in meinem Neova, wurden aber von einer auf dem Boden stationierten Mikrowellenformation angetrieben. Im Innern waren in konzentrischen Kreisen unter einer transparenten Kuppel Sitze angeordnet. Im Zentrum ragte ein Pfeiler durch das Dach: Lift oder Treppe zur Kontrollkapsel; bei Laker-Raumfahrt wahrscheinlich das letztere. Fünfzehn Minuten später hatten wir eine Höhe von etwa fünfzigtausend Metern erreicht, wo sogar anärobe Bakterien Schwierigkeiten haben, Luft zu kriegen, und wo die Flügelräder keinen Nutzen mehr brachten. Die größte Behinderung für eine Kugel ist, wie man mir sagte, nicht so sehr die Schwerkraft als die Luft. Vermutlich gilt das gleiche für Raumschiffe, und deshalb lohnt es sich, erst einmal mit einem Schub vom Boden aus anzufangen, ehe man die Haupttriebwerke zündet. Raumschiffe? Ich war auf einem Raumschiff! Neben mir kaute und summte Koko schwachsinnig vor sich hin, während sie verzückt durch die Decke starrte. Eine Stewardess kam vorbei, klappte unsere Sitze zurück wie Liegen beim Psychiater, und machte uns für einen magenkitzelnden Augenblick im freien Fall fest, während sich die Flügelräder wie ein billiger Blitzlichtreflektor zusammenfalteten. An dem vorwärtsrasenden Rumpf pfiff der Wind entlang, dann… WAMMM! Plötzlich wog ich mehr, als sich Nero Wolfe jemals erträumt hatte, Atmen wurde zu einer bewußten Anstrengung. Drei Minuten Beschleunigung – meine Gesichtszüge flossen blödsinnig auf meine Ohren zu – viel länger als eine Stunde kam es mir nicht vor. Wie
die Zeit verfliegt, wenn man sich amüsiert. Unvermittelt schienen die Fusionstriebwerke auszusetzen, mein Sitz richtete sich auf, ich konnte wieder atmen. Schwerelosigkeit? Darauf hatte ich mich gefreut: Ich tastete an den Sicherheitsgurten vorbei, zog meinen Lieblingsfilzstift heraus, auf seinem Schaft war LAPORTE PARATRONICS GMBH eingraviert, und hielt ihn ungefähr dreißig Zentimeter vor mein Gesicht. Dann ließ ich los. Er fiel in meinen Schoß und rollte auf den Boden der Kabine hinunter. »Hier enden Schwerkraft und Regierung!« Auf einem zentralen Bildschirm erschien das draufgängerische Gesicht eines Schimpansen in weltraumschwarzer Kasackbluse. Ich knickte mich unter Schmerzen in der Mitte ab, steckte den Kopf zwischen die Knie und tastete unter dem Sitz vor mir nach meinem Stift, um dann zu entdecken, daß ich in dieser Stellung eingekeilt war. »Willkommen an Bord von Lakers Elektrojetdienst zur synchronen Ankopplung. Entschuldigt den Start, Leute, hehe. Jetzt werden wir bequem und angenehm noch ungefähr achtundzwanzig Minuten lang bei einem g weiterfliegen. Vielen Dank, daß Sie sich für Laker entschieden haben, guten Morgen.« Ein g? Und das sagt er mir erst jetzt! »Koko!« flüsterte ich verlegen. »Was ist los, Boss?« Sie beugte sich hinunter und starrte auf die Adern, die an meiner Stirn hervortraten. »Durch die Fenster sieht man viel besser, weißt du…« »Hol mich hier raus! Meine Mutter hat mich nicht großgezogen, damit ich eine Witzfigur werde!« »Schon gut, schon gut! Geh mit deinen Schultern ein wenig nach rechts, so ist‘s gut. Und jetzt heb dein Bein, und dann… soll ich die Stewardess rufen?« »Um Himmels willen, NEIN!« In meinem Nacken knirschte etwas, dann war ich frei. Der Passagier vor mir drehte den Kopf und starrte mich an. Ich grinste einfältig und versuchte, eine Krawatte zurechtzuziehen, die ich gar nicht trug. Bequem und angenehm? Da muß ich erst mal einen Chiropraktiker fragen.
In der Leere rings um das Raumschiff glitzerten tausend Glühwürmchen: Fähren wie die unsere, Fahrzeuge von Luna, die LagrangeStationen, Synchron- und erdnahe Satelliten. Aber als wir unter kleinen Püffen und Stößen zur Kurskorrektur näher heranglitten und das Riesenschiff allmählich eine erkennbare Gestalt annahm, wußte ich, daß das nicht der Dampfer war, für den ich Fahrkarten hatte. Laut Prospekt des Reisebüros war die ›Unbeugsamer Geist‹ eine große, runde Kugel mit zirka achthundert Metern Durchmesser, hinten ragten wie ein Kürbisstengel die Antriebsaggregate heraus. Die Erscheinung vor uns war wenigstens viermal so groß, eine Ansammlung riesiger, silberner Rohrpoströhren, die an eine Zigarrenkiste geklebt waren. Als wir an ihren gigantischen Rammblöcken vorbeistrichen, wurde es uns in dreißig Meter hohen Lettern klargemacht: BONAVENTURA LOS ANGELES, N.A.K. Eine nominelle Registrierung, gelinde gesagt. Das Ding hier würde nie in einem Stück die Erdoberfläche erreichen. Aber was war aus der ›Unbeugsamer Geist‹ geworden? Wurden wir alle gerade schanghait, oder was? Jetzt verspürte ich eine komische Übelkeit, wie in einem Fahrstuhl: Endlich Schwerelosigkeit – aber ich würde meinen Souvenirstift (und meine Würde) an diesem Tag nicht noch einmal aufs Spiel setzen. Die Fähre flog auf das geradlinige Heck des Raumschiffs zu, glitt an einer Seite in einen gewaltigen Hangar und kam dort mit einem sanften Klirren zur Ruhe. Das Gewicht kehrte zurück; das Schild mit der Aufforderung zum Anschnallen erlosch. Koko beehrte mich mit einem nichtssagenden Achselzucken. An der Schleuse gab die Stewardess Aktentaschen, Schirme und Pistolen aus. »Die ›Unbeugsamer Geist‹ wurde für wissenschaftliche Zwecke gechartert. Das hier ist die ›Bonaventura‹. Alle Reservierungen bleiben gültig. Die ›Unbeugsamer Geist‹ wurde…« Für wissenschaftliche Zwecke? Ein ganzes Raumschiff? Nur gut, daß ich die Rechnung nicht zu bezahlen brauchte!
Ich folgte der watschelnden Koko in einen Ziehharmonikatunnel, der von der Fähre zu einer Innenwand des Hangars führte. Wir gingen hintereinander durch eine U-Boot-ähnliche Tür, die sich zischend hinter uns schloß. Ich fragte mich, woher all diese kostenlose Schwerkraft wohl kam, stieß meine Assistentin an und wandte mich wieder einem Fenster zu: Der Passagiertunnel war eingezogen worden, die Fähre wurde gerade verschlossen. Nebel erfüllte den Hangar, der Elektrojet glitt über die Schwelle nach draußen und verschwand sofort aus dem Blickfeld. Jetzt begriff ich. Wir waren bereits unterwegs! Auf der Fahrkarte, die man mir eintauschte, stand Kabine 12-22. Kokos Unterkunft lag etwa siebenundsiebzig Ebenen weiter vorne und hatte die Nummer 89-141. Gewöhnlich kann ich mich mit reizenden, kleinen, einen Meter großen Robotern nicht allzusehr anfreunden, aber der hier hatte Räder und rief Erinnerungen an Zeiten und Orte wach, wo GuteLaune-Männer mit Pedalen angetrieben wurden. Außerdem bot er an, mein Gepäck zu tragen. Ich sagte meinem Lehrling Adieu und ließ mich von dem Apparat durch die verwirrende Halle einige Decks über dem Hangar und durch ein Labyrinth von Gängen und unregelmäßig geformten Becken führen, in denen Delphine quiekten und herumpaddelten und sich mit Menschen und Primaten unterhielten, die in kleinen, ovalen Cocktailbuchten am Rand des Wassers saßen. Ein Dutzend sich überlappende, überhängende Zwischengeschosse waren untereinander mit gewundenen Treppen und Rollbahnen verbunden und schufen oben eine verwirrende Perspektive. Das Kofferwesen führte mich zu einer imposanten, ockerfarbenen Säule, einem von vielen verschiedenfarbigen Zylindern, die anscheinend das Dach der Halle stützten. Ein Türenpaar glitt auf, ließ uns ein und schloß sich wieder. »Oh, mein Gott, was, zum Teufel, ist das denn!« Der Lift schoß an Zwischengeschossen und Treppenhäusern vorbei direkt durch die Decke, und plötzlich befand sich der kleine Glaskäfig AUSSERHALB des Schiffs und strich über seinen Leviathanrumpf hin. Ich kauerte mich betäubt neben der Tür nieder und spähte zwischen den Fingern hindurch, in einer Art selbstmörderischer Faszination. Der kleine Roboter stieß ein verächtliches Kichern aus. Ich starrte ihn finster an. »R 2, Brutus?« Er fuhr mit dem Kopf herum und starrte betont in eine andere Richtung.
Es war beinahe ein religiöses Erlebnis für mich, als der Lift heftig schwankend anhielt und seine gesegneten Schiebetüren beiseite glitten. Ich war wieder im Innern, ganz benommen, und wurde nach links um einen Korridor herum zu meinem Zimmer geführt. Dort erwartete mich ein neuer Schwindelanfall: eine ganze Wand war durchsichtig, von der Decke bis zum Fußboden, und ich starrte hin wie gelähmt, das Fenster fesselte mich wie eine Kobra, die ihr Mittagessen hypnotisiert. Der Zimmerroboter polarisierte das Glas ein wenig und wartete dann mit leisem Summen. Mit schwitzenden Händen tastete ich nach einer Münze irgend etwas Rundes, Blankes – und ließ sie in die kleine Auffangschale des Apparats fallen. Als er das Zimmer verließ, klang sein Summen fröhlich und war eineinviertel Oktaven höher geworden. Ich zählte mein Wechselgeld – ich hatte ihm eine halbe Unze Gold gegeben! Der Architekt, der dieses sinnverwirrende Disneyland für Klaustrophobiker gebaut hatte, mußte Schmiergelder von der Gewerkschaft der Handelsmaschinen genommen haben. Polarisierung hin oder her, durch das wandgroße Fenster war immer noch ein ziemliches Feuerwerk zu sehen. Die Fahrstühle, von meinem Aussichtspunkt aus vier – ein Paar wurde von einem zweiten, silbrig glänzenden Turm gegenüber reflektiert –, trugen kleine Heiligenscheine aus blauen Flammen. Die verdammten Dinger hatten eigene Raketenmotoren! Weiter entfernt funkelten immer wieder helle Blitze, warum, wußte ich nicht. Und obwohl wir schon beschleunigten, wurden noch in letzter Minute Fähren aufgenommen. Ich sah zu, wie eine von Antarctic-Air ins Hangardeck weiter unten glitt. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich ein eisiges, dienstlich blickendes Gesicht, das mich vom Telekomschirm an der rechten Wand herunter anstarrte. Ich drehte den Ton auf: »… Ihr Kapitän Edwin H. Spoonbill III. Die Farbexplosionen, die Sie steuerbords sehen, sind Tests für unsere Schuttabwehr. Kein Grund zur Besorgnis, hier ist die Umgebung so sauber, daß unser Artilleriecomputer für die Übung Material auswerfen mußte. Geschätzte Ankunftszeit auf Ceres: dreihundertvierzig Stunden – ungefähr zwei Wochen –, also entspannen Sie sich einfach und genießen Sie die Reise. Sollten Sie irgendwelche Fragen haben, wird unsere Informationsabteilung…«
Klick! Das Bad war am anderen Ende der Kabine, weiter konnte ich mich von diesen gottverdammten Fenstern nicht entfernen. Ich beschloß, daß ich noch eine Dusche vertragen konnte. Vielleicht drei oder vier, wenn die Mikrominiaturausgabe eines Seifenstücks so weit reichte. Eine halbe Stunde später demonstrierte mir mein Lunchpaket, an das ich schon gar nicht mehr gedacht hatte, noch eine weitere Tatsache der Weltraumfahrt: Sechs g und weichgekochte Eier vermischten sich nur allzugut. Ich fand eine Müllklappe und überantwortete meine vormalige Nahrung dem wütenden Toben des Maschinenraums. Dabei fielen mir meine Abschiedsgeschenke ein. Das von Captain Forsyth war typisch für ihn: ein halbes Dutzend gefüllter, wiederaufladbarer Webleymagazine. Guter alter Forsyth! Ich steckte ein paar davon in die Wand und ließ die Guccione-Zellen an Kapitän Spoonbills Energiehahn vollaufen. Als nächstes öffnete ich sorgfältig Clarissas Geschenkpapier (sie hebt es immer auf). Ein Stein von Taschenbuchgröße, aus dem gleichen, flachen, weißen Pseudokeramikmaterial, aus dem man Telekomschirme fertigt. Keine Gebrauchsanweisung, nichts. Nur eine Karte des Herstellers, die mir riet, auf den einzelnen Aktivierungsknopf am Rand des Geräts zu drücken und K-E-Y einzutippen. Kunststück, ohne Tastatur… Unten auf der Karte hatte meine Frau in ihrem berufsmäßig unleserlichen Gekritzel hinzugefügt: ›Tipp zuerst W-I-N ein!‹ Das gleiche Problem, Liebste. Nun ja, ich drückte auf den kleinen Knopf. Das Bild eines Tastenfelds erschien auf der Oberfläche des Geräts. Gut, ich berührte einen Phantombuchstaben nach dem anderen: W-I-N. Das Tastenfeld verschwand. Clarissas Bild erschien, sie trug den gleichen goldbraunen Anzug wie heute morgen beim Abschied. Sie lag in aufreizender Pose quer über unserem Riesenbett wie in einem Werbespot für Rasierwasser; die Tatsache, daß sie im fünften Monat schwanger war und der vertraute Anblick meines altersfleckigen Schulterhalfters, das vom Eckpfosten hing, verdarb vielleicht die Wirkung – für jeden anderen, aber nicht für mich.
»Gute Reise, Liebling – und komm schnell nach Hause. Hoffentlich unterhält dich dieses Spielzeug während deiner Abwesenheit fast so gut wie ich es könnte.« Sie schaute über die Schulter, als hinter ihr die Tür zum Badezimmer aufschwang. Den haarigen, tropfnassen Körper, der jetzt auftauchte, kannte ich. »Hast du etwas gesagt, Liebling?« Die nackte Gestalt hatte ein Handtuch vor dem Gesicht und rieb sich gerade die Haare trocken. Ich muß wirklich abnehmen. »Leb wohl!« Clarissa blinzelte mir verschwörerisch zu, packte eine Ecke der Tagesdecke und warf sie über das Aufzeichnungsgerät. Verflixt – ich hatte gedacht, sie mache die Betten. Die Unterseite der Dekke war noch einen Augenblick lang auf dem Schirm zu sehen, dann verschwand sie. Ich hatte jetzt schon Heimweh. Diesmal tippte ich K-E-Y ein. »Gratuliere!« gratulierte mir ein gratulierender Gratulant. »Sie haben das allerneueste, nanoelektronische Wunder erstanden, ein (Fanfarengeschmetter, gefolgt von einem Engelschor) Gigakom 67 G von Helmers! In seinen siebenundsechzig Gigabyte-Speichern sind Filme, Bücher, akustische Aufzeichnungen, Spiele und genügend Raum für jede akustische oder optische Information enthalten, die Sie vielleicht speichern möchten. Das 67 G ist weiterhin verwendbar als Computer, Rechner, Enzyklopädie, Wecker, Zigarettenanzünder…« Ich ließ die überflüssige Verkaufsleier ablaufen. Gut getroffen, Liebling, vielen Dank. Ich tippte I-N-S-T-R ein, holte, sobald ich es mir zutraute, sehr vorsichtig Clarissas Botschaft aus dem temporären Speicher, wo sie sie bescheidenerweise aufgezeichnet hatte, heraus und brannte sie auf Dauer in die Maschine ein, wo sie wie eine Inschrift auf einer Uhr erhalten bleiben würde. Als ich den Inhalt durchsah, fand ich Hunderte von Filmen, Tausende von Romanen und Schallplatten, eine Menge davon genau auf meinen Geschmack abgestimmt. Sie hatte alle Mike-Morrison-Filme eingefügt, die ich lieben gelernt hatte, und eine überraschende Anzahl meiner Lieblingsfilme aus den Staaten: ›The Naked Prey‹ von Cornell Wilde; ›Thirty-six Hours‹ mit James Garner. Ich zauberte ein Album von Maria
Muldaur herbei, das ich besonders schätze, und ließ die sonderbare, schöne Musik durch die Kabine tönen, während ich vollends auspackte. Die einen nennen es Kitsch, die anderen nennen es Herz. Das erste, worum ich mich kümmern mußte: an der Webley waren Veränderungen vorzunehmen, und ich mußte mich mit ihr vertraut machen. Als ich Koko anrufen wollte, meldete sich nur eine Zeichentrickfigur, eine kleine, grüne Schimpansin mit Antennen und allem Drum und Dran, um mir mitzuteilen, die Leitung sei besetzt. Wahrscheinlich waren ihr die Bananen ausgegangen, und sie rief jetzt den Zimmerservice an. Als nächstes versuchte ich es noch einmal bei Lucy. Nichts zu machen. Ich schickte ihr über Funk eine Nachricht, postlagernd Allgemeiner Zustelldienst, Hauptstation Ceres, und rief dann Clarissa an. »Hallo! Ich bin's!« »Hallo ich!« Sie trug immer noch diesen hormonstimulierenden Anzug. »Mann, ich freue mich, dich zu sehen. Das Haus kommt mir jetzt schon leer vor. Gefällt dir mein Geschenk?« »Hör mal, was im Hintergrund los ist – ›Midnight at the Oasis‹. Wo hast du bloß all die amerikanischen Filme aufgetrieben?« »Jenny Noble, die Gute, diese Eigentumsrechtler haben eine ganz schöne Bibliothek. Wie, war die Fahrt auf der Fähre?« »Koko hat es gefallen. Für dich wäre es nichts gewesen, und für unseren künftigen Nachwuchs auch nicht. Ist Olongo gut in sein Büro zurückgekommen?« »Ich glaube schon, er hatte es sehr eilig. Hör mal, glaubst du, unser Budget erlaubt es, daß du mich jeden Tag anrufst? Warum ich es mir habe ausreden lassen…« »Baby, die Fahrt hier rauf war schrecklich. Du solltest mein Mittagessen sehen!« »O je, du hast doch nicht…« »Ich hatte gar keine Gelegenheit dazu. Und jetzt paß gut auf dich auf!« »Das verspreche ich. Sehen wir uns dann morgen?« »Richtig, Mädchen, jeden Tag, bis die Verzögerung untrüglich wird.« Ihr Bild verschwand und hinterließ dieses Gefühl von etwas besser /
etwas schlechter, das man nach solchen Gesprächen immer hat. Ich steckte meine Tom Swift Electric ein und machte mich auf die Suche nach etwas Trinkbarem.
Samstag, 27. Februar 223 A.L. Ich brauchte erstaunlich viel Schiffszeit, bis ich mich auf der ›Bonaventura‹ zurechtfand. Die Anlage war vom Konzept her einfach, aber in der Praxis beinahe unmöglich: Man nehme vier altmodische US-Pennies – von der Kupfersorte, meine ich – und ordne sie in einem Quadrat an, die Ränder berühren einen Vierteldollar in der Mitte. Das ist der Querschnitt des Schiffs. Nun lege man alle fünf Münzen auf eine Schachtel Zigaretten und mache Stapel daraus, sagen wir, fünfzig Vierteldollars und vierzig Pennies hoch: fünf gewaltige Türme, die diagonal auf einer blockförmigen, rechteckigen Basis stehen. Die äußeren Zylinder enthalten größtenteils Kabinen, keilförmig angeordnet; damit jeder Gelegenheit bekommt, sich seine Höhenangst von der Seele zu kotzen. Der Mittelturm ist mit all seinen siebenhundertzweiundneunzig Stockwerken Dienstleistungseinrichtungen vorbehalten, Läden, Restaurants, Freizeiteinrichtungen; ganz oben, direkt unter Kapitän Spoonbills Reich, der Brücke, ist eine Bar, die sich langsam dreht. Drei Fahrstühle führen auf Schienen an jeder Verbindungsstruktur zwischen den Zylindern auf und ab, zusammen ein Dutzend winzige, gefangene Raketenschiffe. Erst am letzten Tag der Reise entdeckte ich, daß es für feige Memmen wie mich auch ein Transportsystem im Innern gibt. Jeder Wohnturm ist innen kodiert, der meine in Gold, die anderen in Blau, Grün und Orange. Die Mittelsäule ist weiß, auch da kam ich erst nach ein paar Tagen dahinter; ich wandte mich von den Fahrstühlen aus immer in die falsche Richtung und verirrte mich schließlich. Eine solche Gelegenheit erwies sich als reizvoll. Koko war in einem Kosmetiksalon und ließ sich von der Körpermitte bis zu den Greifzehen mit Plastiklockenwicklern spicken. Um mir die Zeit bis zum Mittagessen zu vertreiben, steuerte ich schlecht und recht die Bar auf dem
790. Stockwerk an, und als sie sich genügend weit gedreht hatte, konnte ich durch das Glas die Erde sehen, die stetig kleiner wurde, und einen hellgelben Splitter, der schätzungsweise mit acht oder neun g schneidig auf die ›Bonaventura‹ zuraste. Da war jemand fest entschlossen, das Schiff nicht zu verpassen. Ich trank mein Cola aus und eilte zu einem Fahrstuhl, wie ein Bauerntölpel aus den Rockies, der in die Stadt läuft, um zu sehen, wie die Verkehrsampeln umschalten. Von einem Bullauge über dem Hangardeck aus sah ich zu, wie das schnelle Schiff längsseits kam; es war so groß, daß der Raumkreuzer es nicht an Bord nehmen konnte, sehr lang und schlank, der vom Wiedereintritt geschwärzte Nasenkegel und die rosaglühenden Triebwerke am Heck stachen stark vom gelbgestrichenen Mittelstück ab. Am Rumpf war in auffallendem, metallischem Grün deutlich folgende Aufschrift zu erkennen: TICONDEROGA JERSEY CITY, N.A.K. Sie machte an der Außenseite des Riesenschiffs fest. Den Passagier brachte man durch die ausgefahrene Ziehharmonikaröhre an Bord. Wer immer es war – ein älterer Gorilla anscheinend mit kastanienbraunem Fell –, er sah so aus, wie ich mich an dem Morgen gefühlt hatte, als man mir den Blinddarm rausnahm und ich in blaßgrüne Tücher gehüllt, die zu meiner Gesichtsfarbe paßten, auf einer Räderbahre lag. Seine Gliedmaßen waren mit Plastikröhren und telemetrischen Geräten gesäumt, ein Sauerstoffzelt verbarg seine Gesichtszüge noch mehr. Wollte er aus Gesundheitsgründen zu den Asteroiden? Vielleicht war die Fahrt mit der Rakete bei starker Beschleunigung schlimmer gewesen, als er es sich vorgestellt hatte. Wenigstens würde ich Koko beim Mittagessen etwas Interessantes zu erzählen haben. Ich traf sie, wie vereinbart, in einer kleinen Hamburgerkneipe zwei oder drei Überhänge über der Halle, wo wir dem Flossenvolk bei seinen Kapriolen zusehen konnten. Der Besitzer lehnte lässig am Tresen und neckte sich mit seinen Kunden.
»… und so habe ich es schließlich aufgegeben, reich zu werden«, erzählte er Koko gerade. »Das Geld war nichts wert, sobald ich es einmal hatte, und die Einkommenssteuerbehörde nahm mir ohnehin alles weg, einschließlich der Tantiemen auf meine Bücher. Ich lernte schweißen und tauschte für meine Dienste das ein, was ich brauchte.« Der stämmige, bärtige Kneipenwirt war offensichtlich ein Flüchtling wie ich. Irgendwie kam er mir bekannt vor. »Unglaublich«, Koko schüttelte den Kopf. »Ein Glück für Sie, daß die Eigentumsrechtler – Win! Karyl Hetzer, das ist Win Bear, aus den Vereinigten Staaten, aus Saint Charles Town. Win, das ist Karyl.« »Denver heißt das, mein lieber Wasist. He, rate mal, was gerade angekommen ist?« »Äh, Karyl hat einen Sohn in Denver, nicht war, Karyl?« »Nein, Koko, in Laporte – dem KLEINEN Laporte, gleich außerhalb von Fort Collins. Kennen Sie den Ort, Mr. Bear?« »Sagen Sie doch Win. Ja, ich kenne ihn – und Sie kenne ich auch: ›Die Regierung – der hirnlose Rachen‹ von Karyl Hetzer. Sie kamen mir gleich bekannt vor. Jenny Noble hat mir ein Exemplar gegeben. Wie kommt es, daß Sie hier an Bord der ENTERPRISE Bestellungen entgegennehmen?« »Durch das Schweißen. Ich habe beim Bau mitgeholfen und hatte ein bißchen Geld übrig – ausnahmsweise – so beschloß ich, dabeizubleiben. Was möchten Sie, Win?« Ich sah mir die Speisekarte an, die auf der Platte des Tresens flackerte. Dieses Lokal hätte jeder der beiden Jennies gefallen. »Ich glaube, ich versuch's mit einem Spoonerburger, und schenken Sie mir einen Scotch und ein Glas Milch ein.« »Es ist Ihr Magen«, bemerkte Karyl, als er die Bestellung eintippte. »Und ein freies System. Was hast du so getrieben, getreue Primatengefährtin?« »Hm, nicht allzuviel, kemo sabe – habe mich verschönern lassen, hast du es nicht gemerkt?« Sie drehte sich auf ihrem Hocker herum und prahlte mit ihrem frisch gelockten Fell. »Man weiß ja nie bei diesen Kreuzfahrten, vielleicht läuft mir mal ein gutaussehender, junger Affe
über den Weg, der Industriekapitän oder so was ist. Sag mal, hast du gewußt, daß es siebenhundertneunzig…« »Ich habe den Prospekt auch gelesen. Da kommt unser Essen, fangen wir an!«
Montag, 1. März 223 A.L. Ein paar Tage später fand ich endlich den Waffenschmied, er war unter ›Plätze, Schießen‹ eingetragen. Es gab auch ›Plätze, Rinder und Schafe‹ (Zuchtvieh für die Kolonien) und ›Plätze, Golf‹ – die Sorte, bei der man einen kleinen, weißen Ball benützt. Ich selbst rühre das Zeug nie an. Das Schild, das an seinem Fenster klebte, lautete: EIN TAG HAT NICHT MEHR ALS VIERUNDZWANZIG STUNDEN; MICH GIBT ES NUR EINMAL SIE KÖNNEN SCHNELLE ARBEIT HABEN ODER SIE KÖNNEN GUTE ARBEIT HABEN SUCHEN SIE ES SICH AUS Der übergewichtige, schmuddelig aussehende Typ hinter dem Tresen verschränkte seine muskelbepackten Arme und intensivierte den säuerlichen Ausdruck, der unauslöschlich in seinem Gesicht eingeprägt war. »Sie wolln also unbedingt 'n gutes Schießeisen ruinier'n, was?« Ich bin noch nie über einen dieser Typen gestolpert, der anders gewesen wäre. Ich glaube, die haben auf der Handelsschule Kurse belegt: Verschrobenheit, 201, n.V. »Sehn Se, der Kunde hat immer recht.« »Nur manchmal nicht.« Fünf Zentimeter Asche fielen von der Kippe, die in seinem Mundwinkel festgeschraubt war, und rollten an seiner fettigen Ladenschürze hinunter. »Freund, Sie haben da'n tadelloses, koaxiales Laservisier in der Waffe eingebaut. Sie brauchen nur den Bügel hochzuziehen, dann landen die Nadeln genau da, wohin der kleine, rote Punkt zeigt. Eisenvisier? Völlig mittelalterlich!« Koko blickte von einem Schaukasten mit Kaffeeflecken auf, wo sie
sich an einem neuen Vernichtungswerkzeug begeistert hatte. »Mittelalterlich ist richtig, fest verankert im Grund des…« »Koko, wenn ich deine Hilfe brauche, dann schreie ich vielleicht sogar laut.« Ich blickte den Schmied wieder finster an. »Können Sie das Visier dranmachen oder nicht?« Er rieb mit seinem dreckigen Daumen sein unrasiertes Kinn. »Na ja, das heißt, ich muß die vordere Wicklung abmachen, und ich muß 'ne Stelle finden, wo ich die Kimme montieren kann. Brauch' ich wenigstens 'ne Woche zu. Woll'n Sie 'n Leiheisen?« »Sagen Sie lieber vierundzwanzig Stunden. Und was haben Sie so da?« »Na, wie wär's denn mit 'ner netten Edison .14 – hab' eine im Hinterzimmer, auf der bin ich wegen Außenständen sitzengeblieben – sind Sie auf Elektrik eingestellt?« »Ich bin auf Smith & Wesson eingestellt. Haben Sie vielleicht was da, was SEHR klein ist?« »Klein?« Er kramte in dem faszinierenden Schrott unter der Theke herum. »Nichts, was für Sie interessant sein könnte. Was ist 'n das, 'n Smith & Wrestling, irgend so 'n europäischer Typ? 'n paar Kinderpistolen hätt‘ ich noch da.« Er reichte mir eine winzige Waffe, nicht größer als ein Streichholzbriefchen, mit der Aufschrift ›Kolibri‹. »Elektrik .09 hab' wahrscheinlich hier noch irgendwo 'n Kolbenausrichter, der sie auf .17 hochbringt, dann können Sie Ihre eigene Munition verwenden. Ist aber einschüssig. Was woll'n Sie denn mit so 'nem winzigen…« »Schon mal von 'ner Reservewaffe gehört?« Er hatte nicht. In dieser ganzen, gewaltigen, schießwütigen Zivilisation waren versteckte Waffen für den Notfall etwas Neues. Ich entschloß mich, es sein zu lassen – ein oder zwei Tage konnte ich auch unbewaffnet überstehen. Ich überredete ihn, die Änderungen in zwei Tagen fertigzumachen, aber vorher wollte ich mit der Webley noch ein bißchen in Übung kommen. »Moment mal, was ist das denn?« Der Waffenschmied hatte das Rotorgehäuse schon abgenommen und spähte vom Mündungsende aus in den Lauf hinein. Ohne hinzusehen tastete er auf der Bank hinter sich nach einer Messingwelle.
»Stimmt was nicht?« Komisch, ich hatte Olongo für einen Knaben gehalten, dessen Schießeisen makellos gepflegt waren, innen und außen. »Weiß nicht. Mal…« Die Welle glitt halb in den Lauf hinein. Dann blieb sie stecken. Ich nahm die Waffe und blickte durch die glatte, glänzende Mündung. Schmutzig konnte da drin nicht viel werden. Die Nadeln Kaliber .17 wurden magnetisch in der Schwebe gehalten und kamen mit den Innenwänden nie in Berührung. Eine Neigung in den Windungen versetzte die Projektile in Drehung. »Für mich sieht sie tadellos aus. Ich kann wunderbar das Tageslicht sehen.« »Ja, und kurz vor Torschluß werden Sie auch noch Sterne sehen. Da ist etwas…« Er drückte ein wenig auf die Welle. Sie bog sich leicht, glitt dann stockend weiter, bis ein Gegenstand auf die Theke schnellte und auf den Boden rollte. Er bückte sich grunzend und hob das Ding auf. »Da haben Sie Ihr ›Tageslicht‹, Mister.« Es war ein winziger Zylinder, so groß wie die Mündung, aus unglaublich durchsichtigem Plastik, ungefähr sechs Millimeter lang. »Junge, wenn Sie bei dem Ding da den Abzug durchgezogen hätten – bei dreitausend Meter pro Sekunde – das hätte Sie glatt weggepustet. Das kann nicht durch Zufall reingekommen sein. Da hat einer was gegen Sie…« »›El Presidente‹.«, sagte ich zum Terminal und drehte ihm dabei den Rücken zu. »Tuut!« antwortete das Gerät. Ich wirbelte herum und berührte dabei leicht den Abzug. Ein leuchtend roter Fleck spritzte über das Zentrum der Zielscheibe, gefolgt von einem Paar Stahlnadeln, als ich den Bügel durchzog. Ich nahm mir den nächsten Umriß vor und dann den dritten. Schnell nachladen und das Ganze noch einmal. Ergebnis: 42! Zeit: 9,67. Da würde ich noch üben müssen. Ich sah mir die Webley an: beidhändige Bedienungselemente – etwas, was die Hersteller in den Vereinigten Staaten nie geschafft hatten, als ob nicht ein Siebtel ihrer Kunden Linkshänder wäre – die Sicherung paßte gut unter meinen Daumen, und weiter vorn war ein Hebel, auf dem drei Positionen markiert waren. Die erste war GESICHERT, die
zweite hatte jedesmal, wenn ich den Abzug betätigte, einen Schuß ausgelöst. Jetzt schob ich den Hebel auf die mittlere Position FEUERSTOSS und verlangte ein Ziel. Dididit! Drei gezackte Löcher im Plastik, als ich versuchsweise ein wenig an dem Knopf hinten am Rotorgehäuse drehte, konnte ich die Länge des Feuerstoßes zwischen zwei und einem Dutzend Schüssen bestimmen. Ich stellte auf fünf ein und ließ es dabei. Die nächste Hebelstellung war VOLL Automatik: Ein leeres Magazin (etwa vier Sekunden), das Plastikziel sah aus wie ein Stück schlecht gewebter Spitze. Ich schaltete wieder auf FEUERSTOSS zurück und verlangte ein festes Ziel, etwas, das der flüssigen Beschaffenheit lebendigen Gewebes nahekam. Didididit! Als die Ventilatoren endlich allen Dampf aus dem Raum gewirbelt hatten, sah ich mir den Pseudoleichnam auf dem Schießstand genau an und stellte den FEUERSTOSS-Hebel zurück auf drei. Ich wollte nicht wegen Leichenschändung bestraft werden. Ich brachte die Webley zum Schmied und nahm mir vor, seine Rechnung zu verdoppeln, wie hoch sie auch sein mochte – eine kleine Vergeltung für den Burschen, der einem das Leben gerettet hat. Frage: War die Sabotage gegen MEIN Leben gerichtet gewesen, oder sollte Olongo ausgelöscht werden? Koko beschwerte sich so lautstark über meine ›gesellschaftliche Nacktheit‹, daß ich nachgab und das Rezin aus meiner Kabine holte. Das Telekom blinkte rot – wahrscheinlich schrie mir mein Lehrling von unten zu, ich sollte mich mal in Bewegung setzen. Ich schnallte mir das unhandliche Messer an die Hüfte und eilte wieder hinunter, um zu sehen, was los war. Ein ganzer Turm, natürlich der blaue, war für Tümmler und Mörderwale reserviert. Ich widerstand Kokos dringenden Bitten, uns eine Taucherausrüstung zu mieten und folgte statt dessen den luftgefüllten Parallelkorridoren. Wir starrten die Meereswesen auf der anderen Seite des Glases an; sie starrten unverwandt zurück. In einer Art von Aquatorium wurde Unterricht im Umgang mit Patentanzügen erteilt.
Komisch, ich war gar nicht auf die Idee gekommen, daß die Wasserbewohner auch Patentanzüge brauchten. Der Lehrer war ein Schimpanse, der gleiche Bursche, bei dem ich uns für später in dieser Woche eingeschrieben hatte. Er schwebte mitten im Saal, demonstrierte die Vorzüge von Raumkleidung aus Gummi und erklärte den Cetaceen, daß sie sich bei Nullschwerkraft in einer ›wasserlosen‹ Umgebung genauso gut bewegen konnten wie jeder Anthropoide. Ich war versucht, vom Techniker den Zug anhalten zu lassen, damit ich das sehen konnte, aber ich fand die Notbremse nicht. Ohne besondere Mühe hatten wir uns bald gedreht und uns in. einem Frachtbereich tief im rechteckigen Heck der ›Bonaventura‹ rettungslos verirrt; dort sah es etwa so aus wie in der Parkgarage eines riesigen Appartementhauses, von einer Wand zur anderen standen dichtgedrängt Tausende von inaktiven Luftkissenfahrzeugen, die im unterirdischen Dämmerlicht schimmerten. Ich hatte es immer toll gefunden, als die Apollo eine Lizzie aus Aluminium mit auf den Mond genommen hatte. Auch die Konföderierten sind begeistert von jeder Konstruktion, die einen eigenen Antrieb hat, und sie haben dafür alle vorstellbaren (und nicht wenige unvorstellbare) Formen von Energie nutzbar gemacht: Dampf, Verbrennung, Elektrizität, Schwungräder; es gab auch Versuche, Luftkissenbuggies auf gewaltigen Gummibändern laufen zu lassen, mit Federuhrwerken, Dynamitladungen, jetzt sogar mit thermonuklearer Fusion. Während ihre computergesteuerten Fahrzeuge mit siebenhundertfünfzig Stundenkilometern die Grünbahn entlangfegen, spielen die Konföderierten in einer Wolke von Flügelradstaub heimlich ›Preußischer Krieg‹ oder lesen ruhig, und die Energiequelle ist ihnen dabei ziemlich egal. Sie haben in der tragbaren Privatsphäre ihrer Straßenfahrzeuge ein viel größeres Energiereservoir entdeckt, ein tiefes, beschauliches Selbstvertrauen, das der Ursprung all ihrer ›kleineren‹ Wunderwerke ist. Dann sah ich genauer hin: diese ›Luftkissenfahrzeuge‹ hatten keine Flügelräder, keine Luftränder, nur Fusionstriebwerke, vollkommene, verkleinerte Kopien der gewaltigen Höllenbrenner, die die ›Bonaventura‹ inzwischen mit mehreren hunderttausend Stundenkilometern vorwärts-
jagten. Das waren also Flitzer, private Miniaturraumschiffe, die auf den Asteroiden anstelle von privaten Kraftfahrzeugen verwendet wurden. Das erinnerte mich an einen Disput über Massentransport, den ich in Denver mitangehört hatte. »Aber genau das haben wir doch schon!« versicherte Jenny (ich weiß nicht mehr, welche von beiden) beharrlich. »Und man wird von da, wo man ist, genau dorthin gebracht, wohin und wann man will, bequem, relativ sicher und völlig ungestört – und es kostet sehr viel weniger pro Passagierkilometer als irgendein BART oder Metrosystem. Sieh nur nach: Ich habe recht.« Ich hatte nachgesehen: sie hatte recht. Das Grundmodell des Asteroidenflitzers kann den Standardschub – ein Zehntel g – mehrere Tage hintereinander durchhalten. Ich bewunderte gerade einen großen 223 Truax mit bonbonfarbenen Streifen, als ich unter einer Segeltuchplane auf dem linken Kotflügel etwas unendlich viel Interessanteres entdeckte. »Was ist das für eine Karre, Koko, ein Polizeikreuzer?« »Ein was?« Sie kam polternd näher und sah, wovon ich sprach. »Oh, das… das ist nur eine Darling-Kanone.« »Ich glaube auch, daß sie wirklich ein ganz reizendes Dingelchen ist«, lispelte ich und spähte in ein Bündel von sechs bedrohlich aussehenden Läufen in einer dreißig Zentimeter langen Hülse. »Wofür, zum Teufel, ist das Ding gut?« »Eine Kreuzung aus der Dardick und der Gatling: Projektile aus dreieckigen Plastikpatronen mit vielleicht zwanzigtausend Runden pro Minute. Geht wahrscheinlich an einen Prospektor, der ein Vermögen gemacht hat – hilft ihm, Piraten abzuschrecken, und Claimräuber. Vielleicht auch für eine Registrierungspatrouille, wer weiß?« Ich blickte mich im Laderaum um, und plötzlich fiel mir auf, daß die meisten dieser harmlos aussehenden Fahrzeuge für Armageddon ausgerüstet waren. »Registrierungspatrouille? Das klingt nun aber ganz und gar nicht nach Konföderation.« »Nee«, sie visierte mit der Waffe ein Ziel an und schielte dabei ein wenig. »Das ist nur so eine Art von Versicherungsgesellschaft. Die Leu-
te reisen herum und passen auf, daß das Eigentum ihrer. Kunden nicht gegen deren Willen fortgeschafft wird. Ganz freundlich – manchmal ist ein Angehöriger der Patrouille der einzige Besucher, den ein Bergarbeiter im harten Fels innerhalb von vielen Monaten zu Gesicht bekommt.« Wie Sergeant Preston und sein Hund Tyge. Eine kleine Erinnerung daran, daß ich unterwegs zur Grenze der Zivilisation war. Ich zog die Schutzhülle wieder über die Kanone und suchte nach dem Ausgang. Statt dessen fand ich einen weiteren Laderaum. Hier war die Beleuchtung noch schwächer, blockiert von Kistenstapeln, die eine Million unheimlicher, eckiger Schatten warfen. Neugierig blieb ich stehen: drei Viertel des Krams in dieser Abteilung war an einen Typ namens J. V. Tormount von der Aphrodite GmbH adressiert. Interessant war der Hersteller: die gute alte Laporte Paratronics GmbH, Erzeuger hochwertiger Telekomtechnik, elektrischer Bleistiftspitzer und Kühlschrankteile. Außerdem, dank der wissenschaftlichen Fähigkeiten meiner Freunde Ooloorie P'wheet und D. J. Thorens, Urheber des Penetrators. Ich fragte mich, was wohl in diesen Kisten stecken mochte und wer, zum Teufel, J. V. Tormount war. Mitten in meinen Überlegungen hörte ich hinter mir ein leises, schlurfendes Geräusch. »Koko?« Schweigen. Ich drehte mich um, ganz langsam, mir war höchst deutlich bewußt, daß ich als einzige Waffe ein überdimensioniertes Küchenmesser hatte. Ich umklammerte mit der Hand den Knauf, dann kam ich mir albern vor. Wahrscheinlich eine raumfahrende Schiffsratte – oder jemand von der Besatzung, der wissen wollte, was ich hier unten eigentlich zu suchen hatte. Wieder ein Schatten, diesmal links von mir. Ich ging auf Zehenspitzen in diese Richtung und fragte mich dabei, wie ich nur dazu kam, solche Sachen zu machen. Als ich in einem Durchgang zwischen zwei Gebirgen von Behältern hineinspähte, sah ich einen zierlichen Knöchel um eine Ecke verschwinden. Zwischen mir und der flüchtenden, weiblichen Extremität lag etwas auf dem Boden. Mit vier oder fünf vorsichtigen Schritten erreichte ich den Gegenstand: ein Stück massive Schmuckkette, und daran hing ein… »Boss! Paß auf!«
Ein Schatten türmte sich über mir auf, wurde schnell größer. Ich packte die Kette und warf mich nach vorne, als hinter mir etwas mit einem Krach landete, der das Deck erschütterte und mir bis in die Zehenspitzen wehtat. Koko wühlte sich durch die verstreuten Trümmer der heruntergestürzten Kiste nach vorne. Interessant: Ich hatte genügend Zeit in D. J.‘s Labor verbracht, um einzelne Teile eines Penetrators zu erkennen: »Win! Ist alles in Ordnung?« Ihre Pfote zitterte, als sie meine geprellte Schulter berührte. Ich streichelte sie. »Ja, Koko, und vielen Dank. Ich bin nur ein bißchen durcheinander.« Ich blickte auf das Schmuckstück an der Kette, die ich in meinen zitternden Fingern hielt. »Und nicht nur, weil ich eins draufgekriegt habe.« Ich zeigte ihr das Medaillon. Sie war noch nie persönlich einem Auge in der Pyramide begegnet. Natürlich war von der Person oder den Personen, die das Medaillon – und teure paratronische Geräte im Wert von mehreren tausend Unzen – verloren hatten, keine Spur mehr zu sehen. Wir fanden den Weg zurück in meine Kabine und wollten den Zahlmeister oder Kapitän Spoonbill anrufen, wer eben verantwortlich war für beschädigte Fracht, menschliche oder sonstige. Aber auf meinem Telekomschaltpult blinkte noch immer das rote Licht. »Win?« Clarissas Stimme klang angespannt. Ich vergaß meine schmerzenden Muskeln und drehte im Geiste aus Sorge um sie und das Baby fast durch. »Alles in Ordnung mit dir, Schätzchen?« »Ja, Liebster, mir geht es gut und deiner Tochter auch. DU siehst nicht so blendend aus – hast du auch genügend Bewegung?« Darauf antwortete ich nicht. »Ich mache mir Sorgen wegen Olongo«, fuhr sie fort. »Weißt du noch, wie ich dir damals erzählt habe, daß er sehr geistesabwesend war, als wir ihn das letztemal gesehen haben?« »Sicher. Er ist sofort verschwunden, sobald die Fähre abhob.«
»Das stimmt. Nun, ich habe mehrmals versucht, ihn anzurufen, und, Win, heute nachmittag haben Vizepräsident Carlson und die übrige Belegschaft schließlich eingestanden, daß er seit drei Tagen nicht mehr zur Arbeit erschienen ist. Seine Sekretärin kann ihn nicht finden, und seine Familie auch nicht.« Ich blickte über die Schulter. Kokos Augen waren groß und rund. »Erst Ed«, sagte meine Frau, »dann Lucy – und jetzt ist auch noch Olongo verschwunden!«
5. Kapitel Mein Liebchen macht mir's Herz so schwer »Paß auf, Sherlock Junior, je weniger Sorgen du dir wegen deines Onkels machst, desto eher können wir anfangen, uns zu überlegen, was eigentlich vorgeht!« Ich zündete mir eine Zigarre an und begann meine schnell steif werdende Schulter zu reiben. Koko hörte mit dem Herumwandern auf und ließ sich müde neben dem Fenster auf den Boden plumpsen, ohne dem erschreckenden Abgrund draußen auch nur einen Blick zu schenken. »Du hast wahrscheinlich recht. Jedenfalls wissen wir ja gar nicht sicher, daß er…« »Halt den Gedanken fest! Und jetzt wollen wir mal sehen… Olongos Webley: ich habe sie nur ein einzigesmal aus den Augen gelassen, und das war hier, als ich unter der Dusche war. Und einmal an Bord des Fährschiffs. Die Frage ist, wer das Ding präpariert hat und warum.« Sie grinste zu mir auf, viel schneidiger, als ich es unter diesen Umständen erwartet hätte. »Versuch es noch mal, Boss! Auf welches Wild hatten sie es denn wohl abgesehen?« »Ich verstehe, was du meinst. Gut, vielleicht war sie schon sabotiert, als er sie mir gab. Aber Koko, er ist doch nur Präsident, wer sollte schon…« . »Politik ist einfach nicht wichtig genug, um da mit reinzuspielen.« Sie sah mich auf einmal seltsam an. »Sag mal, du glaubst doch nicht, daß es etwas mit den beiden Einbrüchen zu tun hat?« Mir ging ein Licht auf: »Das waren überhaupt keine Einbrüche! Hat Olongo gesagt, daß etwas gestohlen wurde? Nein, aber er hat die erste Einbrecherin dabei erwischt, wie sie sich an seiner Waffe zu schaffen machte. Und beim zweitenmal kam sie ganz dreist hereinspaziert, weil sie verdammt gut wußte, daß ihm die Webley ins Gesicht fliegen würde! Pech für sie, daß er sie mir gegeben hatte.« Sie brauchte eine Weile, um das zu verdauen. »Was sollte dann der Tanz heute nachmittag im Frachtraum? Wenn du nicht derjenige warst…«
Sie hatte recht. Jetzt versuchte jemand todsicher, mich zu töten, das Medaillon war offensichtlich ein Köder, und die einzige Verbindung, die es zu Lucy, nicht zu Olongo gab. Das brachte mich noch mal auf eine gute Idee: »Hör mal, ging es da um mich oder um den Ort?« »Wie meinst du das?« Sie hielt sich eine Pfote vor den Mund und unterdrückte ein Gähnen. »Nun ja, ich hatte schon angefangen, mir einen Übeltäter vorzustellen, der auf der Lauer liegt und Pläne macht, wie er mich aus dem Weg räumen kann. Aber vielleicht sollte ich nur die Ladung in Ruhe lassen.« »Wozu der Aufwand? Es gibt eine richtige Sicherheitsabteilung an Bord, die…« »Verdammt, ich weiß es nicht. Keine Zollschranken, die zu umgehen wären, keine verbotenen Stoffe in dieser verrückten Zivilisation. Das macht jede Schmuggeltheorie kaputt.« Ich kratzte mich am Kopf. Als ich mich auf dieses Unternehmen eingelassen hatte, hatte es zu wenig Informationen gegeben. Jetzt schien ich unter einer Lawine beziehungsloser Fakten zu ersticken. Koko gähnte wieder. »O Guru der Schlußfolgerungen, mich dünkt, dein Geist befindet sich auf Abwegen.« »Keine Sorge, er ist zu schwach, um sich sehr weit zu entfernen.« Meine Zigarre war ausgegangen. Ich überlegte, ob ich sie wieder anzünden sollte, sah sie mir noch einmal an und warf sie dann in den Abfallschacht. »Also zurück zu den Grundlagen: Vermißt werden Ed, Lucy, möglicherweise dein Onkel und… – he, bring mich nicht vom Thema ab! Was mich wirklich beunruhigt, ist diese Kiste. Freier Handel hin oder her, du bist zu jung, um dich zu erinnern, wie es war, als das letztemal Penetratortechnologie in feindliche Hände gelangte. Ich wüßte gerne, warum diese Ladung zu den Asteroiden geschickt wird. Verdammt, das einzige, was es dort draußen auf der anderen Seite der Wirklichkeit gibt, sind Steine – und auf keinem von ihnen gibt es ein gutes Hotel. Aphrodite GmbH, nicht wahr? Nun, wenigstens das können wir eventuell rauskriegen.« Sie sah zu, wie ich mich an das Telekom ranschob. »Was hast du vor,
Win?« »Ich habe zufällig einen kleinen Draht zu Laporte Paratronics – D. J. und Ooloorie, ganz zu schweigen vom Vorsitzenden Freeman K. Bertram persönlich; er war übrigens Hamiltonist, bis die versuchten, ihm mit einem Laser den Magen rauszubrennen. Mal sehen, was die…« »Ist das wirklich eine gute Idee? Ich meine, die Zeitverschiebung ist jetzt schon ziemlich übel, und vielleicht geben die nicht gern vertrauliche…« »Hör zu, Bertram hat mir einmal das Leben gerettet, dabei hat er die Laserverbrennung erwischt. Schon mal was von einer chinesischen Verpflichtung gehört?« »Ist das so etwas wie ›Konfuzianischer Umgang mit dem Feind‹?« Sie gähnte wieder – allmählich wurde es ansteckend. »Eines Tages, du haariges Wesen, wirst du es zu weit treiben.« Ich spielte mit Tasten herum und wartete, bis sich das Ergebnis auf den Ätherwellen bis zur Erde durchgeschlagen hatte. »Laporte Paratronics, kann ich Ihnen behilflich sein?« Eine echte, wirklich anwesende Empfangsdame: als Hauch von Tradition ganz hübsch, auch wenn sie Schimpansin war. Ich war mit dem Hauptquartier der Firma nördlich der Stadt verbunden, einer riesigen Pyramide im Neo-Inka-Stil, die Bertram vor seinem rigorosen und schmerzhaften Wechsel auf die Seite von Gesetz und Unordnung gebaut hatte. »Sicher, Nebenstelle 4511 bitte.« Da würden unten in der Universität von Laporte GmbH, vier oder fünf Blocks von meiner Wohnung entfernt, die Glocken klingeln. Noch eine Pause, bis die Funkwellen dort ankamen und wieder zurückkehrten. »Wen möchten Sie sprechen, Sir?« »D. J. Thorens ist diejenige, oder Ooloorie, wenn ihre Leitung steht. Schwierigkeiten?« »Ich fürchte ja. Professor Thorens und Professor P'wheet sind nicht mehr bei unserer Firma.« »WAS? Dann geben Sie mir Mr. Bertram. Sagen Sie ihm, Lieutenant Bear vom Morddezernat – sagen Sie ihm, das Spiel ist aus, und er soll…«
»Ich verbinde mit der Vorstandssuite.« Ich sah, wie sie mit der Hand ein Ameslanmuster zeichnete, von dem sie glaubte, ich verstünde es nicht. ›Sag's ihm doch selbst, Arschloch.‹ »WIN?« Freeman K. Bertram schielte über seine antiquierte Hornbrille ins Telekom. »Was ist mit deinem Auge passiert?« Bertram war ein magerer Hering, von Beruf und Persönlichkeit her der Typ des Ingenieurs. Ich drehte mich um und schaute in den Spiegel. Tatsächlich, ich hatte mir in der Ladebucht ein Veilchen eingefangen. »Mir ist eine von euren Kisten draufgefallen, Freeman, und ich werde Klage erheben. Im Ernst, ich bin drei – sagen wir vier – Tage weit in Richtung Ceres.« Ich informierte ihn kurz. »Und was soll der Quatsch mit D. J. und Ooloorie?« Er sah mich traurig an und baute dabei mit seinen Fingern Kirchtürme – streichen Sie ›Ingenieur‹ und setzen Sie ›Leichenbestatter‹ dafür. »Wir haben uns ganz freundschaftlich getrennt, das können wir dir versichern.« Das ›wir‹ bezog sich nur auf Bertram allein; ob er insgeheim Royalist war oder ein verhinderter Leitartikelschreiber, ich hatte nie den Mut gehabt, ihn danach zu fragen. »Sie behaupteten, sie müßten einige Forschungsarbeiten allein durchführen.« »Dann ist D. J. also in San Francisco?« Dort hatte sich Ooloorie niedergelassen, in einem großen Seewasserbecken in der Emperor Norton Universität, mit Laporte hielt sie durch verschiedene, elektronische Geräte Verbindung. »Aber nein. Vielleicht sollte ich das nicht so öffentlich sagen, aber wir wollten keine der beiden gerne gehen lassen und haben uns insgeheim ein wenig umgehört. Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?« »Ober eine mehrere Zillionen, lange, offene Telekomleitung?« »Ach so. Nun ja, es gibt Gerüchte, Win. Eine Expedition zum Merkur. Versuche, die Sonne direkt anzuzapfen, mit Hilfe eines modifizierten Doppelpenetrators – Gerede über Fusionsenergie! Alles, was wir wissen, ist, daß sie die führenden Experten auf dem Gebiet der Penetratorphysik sind, und daß die ›Unbeugsamer Geist‹ für eine Reise nach innen gechartert wurde. Keine von beiden ist erreichbar, und die letzten Honorarschecks kamen ungeöffnet zurück – man möchte meinen, sie könnten doch…«
»›Unbeugsamer Geist‹? Nun ja, damit ist wenigstens ein Rätsel gelöst. Was weißt du von einer Aphrodite GmbH oder von jemandem mit dem Namen J. V. Tormount?« »Win, woher hast du denn diese Informationen?« Er hatte einen verkniffenen Ausdruck im Gesicht. Irgendwie paßte er zu ihm, fand ich. »Ein kleines Vögelein hat sie mir auf den Kopf fallen lassen. Was ist so geheimnisvoll daran?« »Ich… Win, die Sache ist völlig legitim, und mehr können wir dir nicht sagen. Du hast ja selbst darauf hingewiesen, keine abhörsichere Leitung und so weiter. Tut mir leid.« »Ich wünschte, du würdest es dir noch einmal überlegen. Vielleicht sollte ich hartnäckiger sein, aber dein Geschäft ist deine Sache. Ich verspreche aber nicht, es dabei bewenden zu lassen.« »Fragen schadet sicherlich nichts. Das geht nicht gegen dich persönlich, alter Freund.« »Gut.« Ich schaltete ab. »Na, was hältst du davon, Koko? Koko?« Sie saß an eines dieser gottverdammten Fenster gelehnt und schnarchte voll Inbrunst. Nun ja, meine Schulter tat weh, ich konnte selbst ein paar Augen voll Schlaf vertragen. Sanft brachte ich sie hoch und führte sie schlafwandelnd zum Fahrstuhl. Der Zimmerservice verlangte eine philosophisch unmögliche Summe für die Suppe und das Sandwich, die ein paar Minuten später kamen. Ich legte mich mit dem Essen und einer frischen Zigarre in die Heia und stellte dabei fest, daß es draußen auf Ceres Zeit für die Nachrichten war. Und irgendwie war ich in die Schlagzeilen geraten. »Im Sonderbericht von heute abend geht es um die mysteriöse Privatfirma, die unter dem Namen ›Aphrodite GmbH‹ bekannt ist.« Voltaire zeigte sich heute abend von seiner besten Patriarchenseite, hager, grau, väterlich mißbilligend. »Was ist denn eigentlich ›Aphrodite GmbH‹ und wer sind ihre Hauptaktionäre? Wir haben uns bemüht, das herauszufinden.« Es folgte eine Aufzählung vergeblicher Versuche, ein Interview mit einem gewissen J. V. Tormount in seinem Büro auf Ceres zu bekommen. Oder in IHREM Büro auf Ceres. Nicht einmal soviel
hatte Malaise herausfinden können. Welches Geschlecht auch immer, Tormount war nicht da. Tormount war anscheinend nie da. Er war jedoch ein geschäftiger kleiner Teufel gewesen, hatte Hunderte von Heimstätten im isolierten Sargasso-Asteroidenschwarm aufgekauft, nicht genau bestimmte Großgeräte eingeführt – und komplizierte, paratronische Apparate. »Die Privatsphäre des Geschäftslebens ist in unserer Gesellschaft heilig«, klagte Voltaire, »trotzdem haben die Leute das Recht, etwas zu erfahren.« (Wo hatte er das denn aufgeschnappt?) »Wir werden unsere Versuche, in diese neue, aber mächtige und gut finanzierte Firma einzudringen, fortsetzen. Es ist gut möglich, daß ›Aphrodite‹ etwas Finsteres in ihrem Busen verbirgt. So sieht es jedenfalls aus am Montag, den ersten März 223 A.L. Hier spricht Voltaire Malaise, Hauptstation Ceres, gute Nacht.« Ich wünschte ihm mehr Glück dabei, als ich hatte, machte meine Zigarre aus, stellte das Gigakom (Fanfare und Engelschor) für den nächsten Morgen, kroch zwischen die Decken und legte mich auf meine gute Schulter. In ihrem BUSEN? Komm, Voltaire, so was ist zusammen mit ehrlichen Rechtsanwälten ausgestorben! »Jaap! Jaap!« Das Gigakom weckte mich – Annäherungsalarm! Ein riesiger Schatten schwebte über mir, stieß nach unten. Ich riß die herabsinkende Decke von meinem Gesicht, ehe sie landete, schlug nach dem Handgelenk – dem pelzigen Handgelenk? –, von dem sie geführt wurde, pflanzte jemandem einen Fuß in die Körpermitte und stieß zu! Die Gestalt wirbelte unter dem Flattern unrechtmäßig erworbener Bettlaken weg, taumelte nach rückwärts und prallte von den Fenstern ab, während ich vergeblich nach dem Lichtschalter tastete. Der Eindringling sprang mich wieder an und zerschmetterte mir dabei fast die Rippen. Wir krachten auf den Boden, . schlugen blind in die Dunkelheit hinein, mein Gesicht explodierte plötzlich bei einem schmerzlichen Zusammenstoß mit einem fehlgelenkten Ellbogen. Ich packte eine Handvoll Fell, hoffte auf ein Ohr oder etwas anderes, in das man hineinbeißen konnte. Mit der anderen Hand fand ich den Knauf
des Rezin, das vom Nachttisch gefallen war, und schleuderte die Scheide weg, um – WAUUU! Das Knie des Fremden hatte eine Stelle erwischt, die ich nicht ignorieren konnte. Ich klappte zusammen und hieb im Schock blind und verwirrt mit dem Messer um mich. Die Klinge traf etwas, schnitt hinein und kratzte. Ein entsetzlicher Schrei – ich war frei! . Aus der Halle drang kurz Licht in die Kabine und erlosch wieder. Ich zog mich mühsam hoch, aus meiner Nase strömte mir das Blut über das Kinn hinunter – und taumelte in den Korridor hinaus. Leer. Ich blickte auf meine Uhr; sie war nicht da. Meine Kleider auch nicht. Gerade als ich mich umdrehte, schwang die Kabinentür mit einem deutlichen ›Klick‹ zu. Der Knopf ließ sich nicht bewegen. Ich wischte mir das Gesicht ab, die linke Hand wurde klebrig und rot. Mit der rechten umklammerte ich immer noch dreißig Zentimeter blutbefleckten Stahl. Ich versuchte, Kapitän Spoonbills Gangteppich nicht zu beschmutzen und konzentrierte mich mit Mühe: ja, eine andere Blutspur. Ich fragte mich, wie gründlich ich wohl getroffen hatte. Dieses Knie hatte gründlich genug getroffen: Ich konnte kaum aufrecht stehen: Blähungen, hundertfach verstärkt. Die Methode der Barbaren, nackt das Schwert zu schwingen, wird zu hoch eingeschätzt, glaube ich. Wenn ich mitten in der Nacht, ausgesperrt, keuchend, vom Blut eines anderen bespritzt dastehe, ist es mir gleich, welchen Weg Conan einschlagen würde: Ich ließ mich zu Boden sinken, lehnte mich gegen die Wand und übte mich im Stöhnen. Ein schüchternes Passantenpaar rannte bei meinem Anblick schreiend davon, dann kam eine Uniformierte mit der Pistole in der Hand, um sich erklären zu lassen, was mit mir gescheiten war. Sie ließ mich nach einigen Diskussionen mit dem Hauptschlüssel ein und versprach, mir einen Arzt zu schicken; dann folgte sie der Blutspur. Heiler Francis W. Pololo hatte etwas absolut Großartiges gegen den Schmerz. Er nahm auch Blutproben von meinem Rezin, während ich nach einem Paar schön locker sitzender Hosen suchte, aber von Fingerabdrücken wollte er nichts hören. Vermutlich hatte er diese Theorie zusammen mit Phrenologie und Handlesen abgelegt. Trotzdem ein
netter Bursche und für einen Gorilla recht gut aussehend. Ich dachte an Koko, fragte mich, ob er wohl schon vergeben war, und als ich zaghaft meine Hosen zumachte, dachte ich an Clarissa und war froh, daß wir diese Reise nicht als zweite Hochzeitsreise gemacht hatten. Dann bat ich den Doktor um eine zweite Schmerztablette. Da ich voll mit Nervenbetäubern war, wollte ich nicht auch noch mit Alkohol dazwischengehen, aber die Bar auf Ebene 790 war ein gut beleuchtetes, öffentliches Lokal, wo sich niemand an mich heranschleichen konnte, und ich wollte erst wieder schlafen, wenn ich meine Webley zurückhatte. Nur dieses höllische Gerät von Clarissa hatte mich vor dem Gefrierfach der ›Bonaventura‹ bewahrt. Trotzdem war die nanoelektronische Reaktion ein wenig zu langsam gewesen: Mein Angreifer hatte genügend Zeit gehabt, jede einzelne Schublade im Schreibtisch herauszuziehen und sie auf den Teppich zu leeren. Irgend etwas sagte mir, daß das nicht nur eine Plünderungsaktion gewesen war. Trotz der nächtlichen Leere in den Gängen des Gelben Turms war die Bar beinahe überfüllt. »Westliche Halbkugel«; antwortete der Barmann, als er mir einen Doppelten einschenkte – King Kong Kola. »Jeder, der in Gelb wohnt, kommt aus Nord- oder Südamerika. In Grün ist jetzt gerade Frühstückszeit, und in Orange gibt es Abendessen.« Ich nippte an meinem Glas; eindeutig nicht das Wahre. »Was ist mit Blau?« »Welche Zeit ihren Zwecken auch immer dienlich ist«, kicherte er. Ich überlegte, ob ich ihm über seine nette, saubere Bar kotzen sollte. Statt dessen drehte ich mich um und hakte meine Ellbogen fest, um die Einheimischen zu beobachten, während sich der Himmel draußen wie ein Karussell drehte. Manche unterhielten sich, tranken, spielten Karten oder elektronische Spiele. Andere sahen auf eine Bühne, wo ein junges Gorillamädchen gerade ihre Kleider auszog. Kam mir vor wie Zeitverschwendung. Das Lokal wurde sogar noch voller. Im orangen Turm war wahrscheinlich eher Cocktailzeit. Diese Kneipe hier brauchte nur noch ein
großes Becken für die Delphine und… »He!« Der Bursche neben mir taumelte zur Seite und stieß dabei sein Glas um. Er drehte sich blitzschnell zu der Person neben ihm um. »Warum machst'n so was, Schwester?« nuschelte er und spähte traurig in sein leeres Glas. Die blasse, blasiert wirkende Frau neben ihm drehte sich langsam um, warf ihm schweigend einen höhnischen Blick zu und wandte sich wieder ab. »He! Du kannst mich nicht einfach so stoßen und dann weschwiggen…- wegwischen! Was iss mit mei'm Glas?« Er streckte einen schwabbeligen Arm aus und stieß sie wütend gegen die Schulter. »Ganz ruhig, Freund«, sagte ich, meine Zunge hatte sich wie üblich wieder mal selbständig gemacht. »Laß sie in Ruhe, ich zahl' dir'n neues!« »Wer hat'n dich gefragt, Kumpel?« Er bohrte mir seinen ausgestreckten Finger in die Brust und löste damit eine Reihe sich summierender Schmerzen aus. Ich packte die lästige Extremität und bog sie ein wenig nach hinten. »Also, Kumpel, willst du nun den Drink oder nicht?« Er entriß mir seine Hand und zog sie zurück, um einen Boxhieb anzubringen. »Ich werd' dich lehren…«, dann schnellte er listig die andere Faust heran, aber ich duckte mich und sie knallte saftig auf die Bartheke. Ich glitt unter einem zweiten Dreschhieb hindurch und pflanzte ihm nun meinerseits die ausgestreckten Finger genau in die Mitte des Solar Plexus. »Wuff!« Er klappte zusammen, taumelte gegen einen Stuhl, stürzte über einen Tisch daneben und verstreute das Geschirr. Die Leute an dem Tisch sprangen auf und schlugen rings um sich in einem Kreis, der sich schnell ausweitete, weitere nieder. Servietten, Getränke und Flüche flogen durch die Luft. Jemand ließ die Fäuste fliegen. Innerhalb von Sekunden, während mein vormaliger Gegner den Boden vollkotzte, brach in der Bar eine fröhliche, allgemeine Rauferei aus, hundert Kämpfer verprügelten lustig, wen sie erwischten. Ein Schimpanse schwang sich vom Kronleuchter und bewarf die Leute mir Zwiebelsauce. Die Stripperin hörte auf, wütend, weil ihr niemand mehr zusah, sie sammelte
ihre Kleider ein, setzte sich auf die Bühne, ließ die Füße herunterhängen und versetzte jedem, der auch nur in ihre Nähe getaumelt kam, einen Tritt. Wumm! Plötzlich sah ich Sterne, schüttelte den Kopf, schwang herum und packte eine Riesengestalt, die sich über mir auftürmte, an der Schulter. Ich hob die Faust. »Halt… Pilger, ich bin auf DEINER Seite!« Er legte den Kopf schräg, grinste mich schief an und hielt dabei einen kleinen Schimpansen – den Burschen, der mich verprügelt hatte – am Nackenfell, dann warf er ihn lässig in das Gewühl hinein, wo er sehen sollte, wo er blieb. »Mumm hat er ja, ist aber zu klein – mußte ihn… zurückwerfen.« Ich haute jemandem hinter mir einen Ellbogen in den Bauch, schlug einem Flaschenschwinger, der auf meinen Kopf zielte, mit dem Fuß die Flasche weg und drehte mich zu meinem Bundesgenossen um, den ich jetzt erkannte. »Sagen Sie mal, Sie sind doch nicht wirklich…« Ich kannte diese zerschrammte, häßlich-schöne Visage, die große, römische Hakennase und die Blinzelfältchen. »Mike Morrison?« Er packte zwei Raufbolde, stieß sie mit den Köpfen zusammen und trat leichtfüßig einen Schritt zur Seite, als ein Stuhl wild herangeflogen kam, der harmlos vom Spiegel hinter der Bar abprallte. »Schuldig«, kam die Antwort in der berühmten, sandig-rauhen Stimme, die sich in seltsam rhythmisch geformten Brocken vorwärtsschleppte, »aber sag's niemand – ich bin unterwegs, um meine erste Weltraumoper zu machen.« Er schüttelte den Kopf, ein ärgerlicher Ausdruck ging über sein Ledergesicht. »Das einzige, was die Leute… heutzu… tage sehen wollen. Man kommt sich richtig… albern vor, wenn man kein richtiges… Pferd unterm Hintern hat – Oh!« Jemand schlug ihm ein Serviertablett über den Schädel. Er schielte, schwankte in kleinen Kreisen, mit einer seiner großen Hände hielt er sich an der Bar fest, dann packte er den verblüfften Tablettschwinger an den Kragenaufschlägen. »Mister, dafür sollte Ihnen einer eine runterhauen.« Seine Augen zogen sich wütend zu schrägen, beinahe mongolischen Schlitzen zusammen. »Aber ich tu's nicht, ich nicht… verdammt, ich tu's nicht!« Krach! Der unglückliche Angreifer folgte einer ballistischen Kurve
quer durch den Raum und landete in einem Springbrunnen von Getränken und Knabberzeug. Morrison blies auf seine geprellten Knöchel und schüttelte sie, damit das Stechen aufhören sollte, dann sah er mich direkt von der Seite an. »Pilger, so eine richtige… Schlägerei… ist was Schönes… aber jetzt sollten wir – paß auf!« Ich wirbelte herum und riß instinktiv mein Rezin heraus. Die blasse, blasierte Dame, die ihre Gelassenheit mit einem Fauchen abgelegt hatte, richtete etwas auf mein Gesicht. Ruckartig sah ich es deutlich – ein winziger Pistolenlauf – die Kugel war glitzernd tief innerhalb des Rohrs zu sehen. Ich schlug die Pistole mit der Linken beiseite, die Frau machte einen Ausfallschritt und wurde von ihrem eigenen Schwung direkt in meine ausgestreckte Klinge geworfen. Die Waffe sank mit einem abscheulich saugenden Geräusch bis zum Fingerschutz ein, der Knauf drückte sich gegen meine Hüfte. Ihre Augen, drei Zentimeter von den meinen entfernt, weiteten sich plötzlich, als wachte sie gerade auf. Sie keuchte ganz leise, blickte auf ihre Körpermitte hinunter, höchste Verzweiflung malte sich auf ihrem Gesicht, sie taumelte rückwärts von der Klinge herunter und sackte zusammen, ihr Leben verströmte auf dem Boden. Schweigen erfüllte den Raum. Ich warf das Messer weg, ihre kleine Pistole hatte ich immer noch in der anderen Hand, und kniete neben ihr nieder. Kein Laut, kein Geräusch war zu hören. Ich tastete nach dem Puls – nichts. Sie war tot. Ich hatte eine Frau getötet, sie war tot! Eine riesige, harte Hand legte sich sanft auf meine Schulter. »Sie ist direkt reingelaufen, Pilger, so was wie… Selbstmord, würde ich sagen. Los, steh auf und komm weg von hier!« Er zog mich vom Fußboden hoch, holte mit der Stiefelspitze einen Stuhl heran und schob ihn mir unter. Dann nahm er mir vorsichtig die kleine Pistole aus der Hand und legte sie auf die Bar. Ich schloß fest die Augen und machte sie wieder auf. Morrison stand da und schüttelte langsam den Kopf, die Hände hatte er in die schmale Taille gestützt, ein Finger war abgebogen und in die Oberseite seines Segeltuchwaffengurts gehakt. Die große, schlichte Militärautomatik saß da, wo eigentlich seine rechte Hüfttasche hätte sein
sollen, sein wahrhaft überlebensgroßes Aussehen ließ sie winzig erscheinen, ihr glattgeschliffener Elfenbeinschaft war zerkratzt und vergilbt von vielem Ziehen und harter Beanspruchung. »Hat vielleicht nicht viel… Sinn, aber jemand sollte… einen Heiler… rufen!« Er schob mir einen Becher in die Hand. Ich nippte geistesabwesend daran – es brannte. Aber der Heiler war schon da, zusammen mit Sicherheitsleuten, die Rauferei hatte ihn alarmiert. Er stellte seine Tasche auf einen Barhokker, blickte sich in dem schnell leer werdenden Raum um, kniete dann neben der Leiche nieder und bestätigte, daß sie eine solche war. Er blickte zu mir auf. »Habe ich Sie heute abend nicht schon einmal gesehen?« Ich saß da, nickte betäubt, meine Hände begannen zu zittern. »Früher am A-abend. Jemand ist i-in m-meine K-kabine…« »Das SAGTEN Sie jedenfalls«, antwortete der Gorilla. Er stand auf, blickte finster auf mein bluttriefendes Messer hinunter, das neben der winzigen Automatikpistole auf der Bar lag, dann wieder zu der toten Frau – eigentlich ein Mädchen, wie ich jetzt sah – und warf mir einen Blick zu, wie ich ihn noch von niemandem auf der richtigen Seite des Gesetzes bekommen hatte. »Rufen Sie den Kapitän!« wies er den Barmann an. »Hier ist etwas faul.« Morrison setzte zum Sprechen an, stockte dann und drehte den dünnen Goldreifen an seinem kräftigen Handgelenk hin und her. »Ich habe die ganze… Sache gesehen, Bürokrat.« Dann schaute er mich an. »Sie ist diejenige, die sich den ›borracho‹ reingestoßen und die ganze… Prügelei angezettelt hat. Wollte dich in dem ganzen Durcheinander in den Rücken schießen.« Er hielt inne, fuhr sich mit seiner großen Hand gelassen durch das dünner werdende, kurzgeschorene Haar, dann sprach er in diesem unerbittlichen, entspannten Singsang weiter. »Pilger, willst du mit dem Zeug spielen oder trinkst du es? Und mach dir nicht zu viel draus. Ich werde dafür sorgen, daß eine Sicherheitsfirma für dich bürgt, sobald es Kapitän Spoonbill… genehm ist.« Er trat zur Seite, ein Knie leicht nach innen gebogen, eine Schulter
nach unten gezogen, dann blieb er stehen und wandte sich wieder mir zu. »Pilger, das geht schon in Ordnung. Dein… Mumm… gefällt mir.« Daraufhin verschwand er hinkend aus meinem Leben, direkt in den Sonnenuntergang hinein. In welchem Turm der auch gerade stattfinden mochte.
Dienstag, 2. März 223 A.L. So ausgepowert, wie ich war, hätte es eine Kleinigkeit für mich sein müssen, in dieser Nacht gut zu schlafen, noch dazu mit den bewaffneten Wachen vor meiner Kabinentür, die mich vor dem Schwarzen Mann schützen sollten. Hätte ich allerdings versucht, die Kabine zu verlassen, dann hätte die Sache vielleicht anders ausgesehen. Diese sich plötzlich weitenden Augen verfolgten mich ständig, aber dagegen hatte der Heiler eine Tablette. Und sie wirkte auch beinahe. Am nächsten Morgen brachten sie mir mein Bowiemesser zurück, gesäubert und poliert, und dazu die winzige Pistole und das Halfter meines Opfers. Es war eine Bauer .25, zweihundert Gramm schwer, ein siebenschüssiger Westentaschenrevolver aus rostfreiem Stahl, praktisch ohne Durchschlagskraft. Hergestellt in den Vereinigten Staaten! Irgendwie war ich begnadigt worden. Zusammen mit den gräßlichen Trophäen kam eine Botschaft vom Kapitän, ich möchte ihn aufsuchen, sobald ich mich angezogen hätte. Ich spähte aus meiner Kabine. Der Wächter war immer noch da, aber er lächelte wohlwollend und versprach, mich zur Krankenstation zu begleiten, wo anscheinend die Höheren Chargen auf meine Wenigkeit warteten. Die Krankenbucht ist hinten im rechteckigen Heck, so tief in der Schiffsmitte vergraben wie nur irgend möglich, und nicht allzuweit von all den Kisten für Herrn, Frau oder Frl. Tormount entfernt. Dort stand Heiler Pololo und wartete zusammen mit Koko und einem grimmig aussehenden Burschen in spartanisch schwarzgoldener Aufmachung auf mich.
Wir setzten uns ins Wartezimmer. »Mr. Bear«, meldete sich der Primatenarzt, »ich muß mich bei Ihnen entschuldigen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß jemand völlig unschuldig am gleichen Abend in zwei gewalttätige Vorfälle verwickelt werden könnte.« »Versuchen Sie doch mal, an der East Colfax Avenue einen Schnapsladen aufzumachen.« Er nahm seine drahtgefaßte Brille ab und putzte sie verlegen. »Nun ja, Sie wissen schön, was ich meine. Kapitän Spoonbill, das ist Mr. Bear.« Hörte sich an, als sei Fütterungszeit im Zoo. Spoonbill war ein eindrucksvoller Schrank von einem Mann, mehr durch seine Haltung und sein Benehmen als durch sein eigentliches Erscheinungsbild vermittelte er den gleichen Eindruck frostiger Unnahbarkeit wie die Statuen auf der Osterinsel. Er schüttelte mir die Hand und bemühte sich um den neutralen Gesichtsausdruck, den er als Lächeln verwendete. »Mr. Bear, was Ihren Arrest gestern abend angeht…« »Das ist schon in Ordnung, ich hatte ohnehin genug vom Feiern. Vermutlich haben auch Sie sich zu der Ansicht durchgerungen, daß ich ›völlig unschuldig‹ bin?« Ich hätte gerne gewußt, was die Leute hier drinnen vom Rauchen hielten. »Sie haben anscheinend mächtige Verbündete.« Er nickte fast unmerklich und zeigte auf Koko, die in ihrem brandneuen, gummiartigen Patentanzug ungewöhnlich reserviert wirkte. »Miss Featherstone-Haugh hat mir versichert, daß der Präsident vorbehaltlos für Sie bürgen wird. Außerdem ist da noch Mr. Morrison – ich hatte letzte Nacht und mehrmals heute morgen einige Schwierigkeiten, von Telekomgesprächen mit ihm wegzukommen. Er hat mir erklärt, wie sich die ganze Sache zugetragen hat, aber was sie bedeutet…« »Das möchte ich auch gerne wissen. Aber Sie lassen mich doch nicht allein auf Leumundszeugnisse hin frei, oder?« »Keinesfalls. Miss Featherstone-Haugh teilte mir mit, daß Sie in den Vereinigten Staaten Sicherheitswachmann waren, ist das richtig?« Las ich da Wohlwollen in seinen Augen oder war es nur eine Blähung, wie es die Geburtshelfer so gerne behaupten?
Ich unterdrückte die übliche, beleidigende Antwort. »Soweit man das in der Konföderation beschreiben kann. Ich war ein Bulle, ein Schwein, ein Plattfuß – arbeitete im Morddezernat.« »Dann«, unterbrach der Doktor, »können Sie sich also einen Verstorbenen ansehen, ohne gleich…« »Jedenfalls nicht allzusehr.« Ich war immer ein bißchen zimperlich gewesen, ein Grund, warum ich Mörder so sehr hasse. »Worauf soll das alles hinaus?« Koko schien sich deutlich unbehaglich zu fühlen, so wie sie auf dem. Wartezimmerstuhl aus Plastik hin- und herrutschte. Pololo führte uns in ein Hinterzimmer, wo eine stumme Gestalt auf dem Rükken auf einem kalten Titantisch aufgebahrt lag. Er zog das Tuch zurück. Koko klappte nach vorne und rannte, komisch maunzende Geräusche von sich gebend, aus dem Zimmer. Ich schluckte und trat noch einen Schritt weiter nach vorne. »Ja, das ist sie. Ich habe noch nie eine Frau getötet. Komisch, so viel anders ist es gar nicht, nur irgendwie traurig und sinnlos.« »Noch trauriger und sinnloser, als Sie vielleicht glauben«, antwortete Kapitän Spoonbill mit dem steinernen Gesicht. »Sagen Sie es ihm, Francis.« Der Doktor strich eine Locke der Verstorbenen beiseite. »Schon einmal so etwas gesehen?« Dicht an einer kahlgeschorenen Stelle auf der Kopfhaut haftete ein kleiner, blutegelförmiger Gegenstand aus Plastik voll nanoelektrischer Schaltungen. »Gehirnsonde«, verkündete der Heiler voll Abscheu. »Mit den richtigen Drogen und entsprechenden Fähigkeiten kann der Täter im Denken des Opfers jede Realität erzeugen, die er sich wünscht, eine verzerrte Welt, mit deren Hilfe das Verhalten des Opfers manipuliert werden kann. Vielleicht… vielleicht habt ihr Amerikaner doch recht: in diesem Fall sollte es wirklich ein Gesetz geben.« »Vergessen Sie's, Doktor! So was wird zur Gewohnheit.« Ich spähte unter das kleine Instrument, von dem aus Drähte in einen Nylonpfropfen und durch die Schädeldecke führten. »Sie meinen, dieses Ding war der Grund, warum sie mich töten wollte?« Und was hatte sie da für eine Verfärbung am Daumen? »Nicht ganz«, sagte der Heiler und deckte das Gesicht des Mädchens
wieder zu. Er zog eine kleine, flache Dose aus seinem Sporran, öffnete den Deckel und bot mir ein braunes, holländisches Zigarillo an. »Sie hätte subjektiv alles mögliche erleben können – hätte Sie für den leibhaftigen Clarence the Ripper halten oder glauben können, sie müsse irgendein phantastisches Unrecht rächen, das Sie ihr oder jemandem, den sie liebte, zugefügt hätten.« Ich zündete sein Zigarillo und mein eigenes an. »Nichts – niemand – zwang sie, es zu tun, man schuf nur eine illusionäre Schreckenskiste, einen Zusammenhang, in dem es eine Selbstverständlichkeit war, daß sie es versuchen würde.« Und ich dachte, es gäbe nichts mehr, wovon mir schlecht werden konnte. »Sieht so aus, als würde ich mir allmählich einen Fanclub zulegen«, bemerkte ich, »mit richtigen Keulen. Zuerst der Angriff in meiner Kabine, jetzt das hier. Ich wäre ein Übermensch, wenn ich nicht den Schluß ziehen würde, daß da eine Verbindung besteht.« Ich griff unter das Laken, um die kalte, tote Hand noch einmal zu untersuchen. Auf dem Daumennagel schimmerte matt ein Tropfen getrocknetes Blut. Der Arzt sah mich seltsam an. »Sie sind der Detektiv, aber was für eine Verbindung könnte es zwischen einem weiblichen Menschen sowjetischer Herkunft und einem Gorilla geben?« »Was?« »Das besagen die Proben aus Ihrer Kabine: ein Gorilla, wahrscheinlich ebenfalls weiblich, nach Kosmetikrückständen auf den Haarproben zu urteilen. Und dieses arme Kind war Russin, oder ich werfe meine brandneuen Zahntabellen weg und verklage den Händler, der sie durch den Penetrator gebracht hat.« Er begann zerstreut nach einer Stelle zu suchen, wo er seine Asche abstreifen konnte, und entschied sich schließlich für eine unbenutzte Bettschüssel. »Sehen Sie, wenn Sie der Sache jemals auf den Grund kommen… es wäre mir ein Vergnügen, so einen Gehirnzapfer in die Finger zu kriegen, Hippokrates möge mir verzeihen.« »Meinerseits«, sagte der Kapitän, »und ohne Voreingenommenheit, Mr. Bear, wäre ich zufrieden, wenn ich nur in Gunter's Landing anlegen könnte, um Sie dort samt Ihrem Geheimnis – und der Gewalttätigkeit, von der es begleitet ist – von meinem Schiff zu entfernen.«
Der Zeitpunkt schien nicht geeignet, um von der präparierten Webley oder meinem knappen Entkommen unter Deck zu erzählen. Und wenn ich an ein Fräulein in der Nähe dachte, fragte ich mich, wie es Koko wohl ging. Oben versuchte ich, meine letzten Eskapaden – mit Betonung auf Entrinnen – für den täglichen Anruf zu Hause ein wenig zu ordnen. Ich weiß nicht, wie andere Paare das handhaben meine erste Frau und ich haben eigentlich nie über wirklich wichtige Dinge gesprochen – aber Clarissa und ich halten nie hinter dem Berg. Das hat uns bisher ein wunderbares Leben beschwert, mit ein paar unangenehmen Minuten, auf die immer einige höchst befriedigende gefolgt waren. Stunden sogar. Aber nun hatte ich in der Krankenstation diese kleine, zusätzliche Spur entdeckt: Holz ist hier draußen im Weltraum immer noch so rar, daß jedes Stückchen davon freudig begrüßt wird. Zu Hause macht man Plastikkästen, aber Güter, die zu den Asteroiden exportiert werden, verpackt man auf besondere Bitten in Holz als zusätzlichen Verkaufsvorteil. Unter dem linken Daumennagel des russischen Mädchens war ein zwei Zentimeter langer Splitter gewesen. Muß teuflisch weh getan haben (oder wegen der Gehirnsonde vielleicht doch nicht?). Er hatte nicht lange genug dort gesteckt, um zu eitern, nur so lange, um mir eine Vorstellung zu geben, wer mir diese Kiste auf den Kopf geworfen hatte. Wie sollte ich also meiner Frau, der Heilerin, jetzt erzählen, daß die Gerichtsmedizin in der Konföderation dringend erneuerungsbedürftig war? Glücklicherweise mußte ich vorher noch einen anderen Anruf erledigen – diese kleine Bauer Automatik und die Woodsman, mit der Olongo angegriffen worden war: beides veraltete Waffen aus den Vereinigten Staaten, Sammlerraritäten in der Konföderation. Wieso tauchten sie hier auf? Koko war anscheinend anderweitig beschäftigt. Ich war ganz froh darüber: Es wurde allmählich gefährlich in meiner Nähe, und ich habe immer noch ein paar eines Neandertalers würdige Vorstellungen über Weibsleute und Gefahr, selbst wenn die Mädels ein Fell haben und
zehnmal so stark sind wie ich. Ich scheuchte sie zu einer Unterrichtsstunde im Gebrauch des Patentanzugs, versprach, später nachzukommen und griff zum Telekom. Die Verschiebung war jetzt sehr schlimm, aber Kapitän Spoonbill überließ mir widerwillig eine ganze Stunde lang seinen stärksten Funkstrahl zu einem Preis, der nur nominell räuberisch war. Ein Gespräch durch einen Penetrator wird durch den seltsamen Einfluß erschwert, den dieses Gerät auf die Strahlung, die Schwerkraft, ja, die Struktur der Realität hat. Versuchen Sie mal, einen normalen Funkspruch oder ein Lasergramm durchzukriegen; sie kommen total verzerrt an, und man braucht eine Spezialausrüstung, um wieder einen Sinn hineinzubringen. Ich mietete die passenden Geräte über Laporte Interweit und wählte einen gewissen Besenschrank in den guten alten Vereinigten Staaten an. »Jenny?« Das Bild war ein nichtssagender, grauer Pudding. »Ich habe ein Problem, bei dem du mir helfen könntest.« Ich wartete die Lichtverschiebung ab und versuchte inzwischen herauszukommen, mit welcher Jenny ich gerade sprach. »Wenn ich kann, Win, aber ich habe gerade selbst mit einem Problem…« »Der Fraserwahlkampf – aber das…« Ich verstummte; sie sprach immer noch. »Man hat uns ausgeraubt! Sie sind letzte Nacht eingebrochen, haben alles auseinandergenommen und was übrig blieb in Brand gesteckt. Selbst die Feuerschutzsysteme aus der Konföderation…« »Jenny, überall spielen sich unheimliche Dinge ab. Mordversuche, Einbrüche, Menschen verschwinden – wir haben Feinde, und allmählich glaube ich, daß sie organisiert sind.« Die Einzelheiten, die ich ihr erzählte, gefielen ihr nicht allzu gut, aber mir schließlich auch nicht. Schließlich: »Wenn ich irgendeine nützliche Information bezüglich dieser Waffen bekomme, gebe ich sie über Clarissa an dich weiter, sobald du auf Ceres angekommen bist.« »Gut. Sie muß auch ein bißchen nachbohren – kein Wortspiel – um herauszufinden, ob Olongos Einbrecherin eine Gehirnsonde hatte.« Noch ein bißchen teures Geplauder, dann legten wir auf. Es dauerte
länger, bis ich eine Verbindung mit zu Hause bekam, als man es mit Dr. Einsteins Hilfe erklären konnte. Ein älterer Schimpanse erschien: Captain Forsyth, schmutzig und zerzaust. »Bist du das, Win? Mach dich auf was gefaßt, Sohn, es gibt schlechte Nachrichten: jemand ist gestern nacht in dein Haus eingebrochen. Alles liegt in Trümmern, aber ich kann nicht erkennen, ob etwas fehlt, außer – halt dich fest, Sohn – CLARISSA. Win, ich kann sie nirgends finden. Es bedeutet zwar nicht viel, aber es gibt keinerlei Anzeichen, na ja, Blut oder so. Ich tue, was ich kann, um sie aufzuspüren, und – hörst du mir überhaupt zu, Sohn? Du hast bisher noch kein Wort gesagt.« Bei allen blutigen, dampfenden Höllenschlünden, was konnte ich dazu schon sagen? Ayn Rand, Harry Browne und Robert Ringer können weiterhin nach Nummer Eins Ausschau halten: mein einziger Lebenszweck hatte sich plötzlich in Luft aufgelöst. CLARISSA! Was konnte jetzt eigentlich noch schiefgehen?
6. Kapitel Der Geist in der Pyramide Freitag, 12. März 223 A.L. Wir erreichten Ceres gerade noch rechtzeitig zu Lucys Begräbnis. Was den Rest der Reise angeht, so spricht man am besten möglichst wenig darüber. Vielleicht waren Lucy und Ed die besten Freunde, die ich jemals hatte, aber Clarissa, na ja, sie war eben Clarissa. Ich würde schnurstracks nach Hause zurückkehren, wenn möglich mit mehr als dem Zehntel g, zu dem sich die ›Bonaventura‹ in den letzten Tagen verlangsamt hatte – ein Stasistank an Bord eines unbemannten, ferngesteuerten Frachtraumers mit drei oder vier g – mir war es egal. Ich ließ mich von anderen steuern und erlebte die nächsten zehn Tage nur mit halbem Bewußtsein, absolvierte die Routinetätigkeit völlig betäubt. Koko bestand darauf, daß ich lernte, einen Patentanzug zu tragen; ich wehrte mich schwach dagegen, weil .ich nicht vorhatte, irgendwo zu bleiben, wo man so etwas braucht, aber sie befahl mir, den Mund zu halten und in den Unterricht zu marschieren. Erstaunlicherweise interessierte mich, obwohl mich ein zermürbender, seelischer Schmerz niemals verließ, der Unterricht in gewissem Maße, amüsierte mich so sehr, daß ich deshalb Schuldgefühle entwickelte, und schließlich haßte ich jeden Tag den Augenblick, wenn die praktischen Übungen zu Ende waren und ich wieder in meine einsame Kabine zurückkehren mußte. Patentanzüge stehen ungefähr in der gleichen Beziehung zu Weltraumpanzern wie moderne Taucherausrüstungen zu den massiven, unförmigen Taucherglocken und -helmen des 19. Jahrhunderts. Jeder hat sie schon am Telekom gesehen, eine gummiartige, einteilige zweite Haut, einen halben bis eineinhalb Zentimeter dick, dem Anschein nach nur ein schwaches Hindernis für die Härte und Feindseligkeit des interplanetaren Raumes. Aber der Weltraum sollte auf seine Lorbeeren aufpassen – mit einem Patentanzug wird der feindliche Abgrund so angenehm und erträglich wie das Gebiet, das die Kartographen einst als
›Große Amerikanische Wüste‹ bezeichnet haben: Colorado. Allem Anschein zum Trotz funktioniert dieses Kleidungsstück in erster Linie als raffinierter, leistungsstarker Computer. Von allen nanoelektronischen Wunderwerken, die der konföderierten Zivilisation des 3. Jahrhunderts zur Verfügung stehen, ist dies die höchste Leistung. Jeder Quadratmillijefferson innerhalb seines vielschichtigen Gewebes mißt das Wohlbefinden des Trägers und nimmt notwendige Korrekturen an der Luftzufuhr, der Feuchtigkeit, der Temperatur und einem halben Dutzend anderer Nuancen bis hinunter auf Molekularebene vor. Jeder Quadratmillijeff auf der Außenseite absorbiert oder reflektiert wahlweise hundert verschiedene Formen von Energie, versorgt den Anzug damit und schützt den Träger. Ich glaube, was mich endgültig überzeugte, war die Tatsache, daß aus alter Tradition ein Patentanzug im Preis meiner Fahrkarte nach Ceres inbegriffen war. Schien mir eine Verschwendung, ihn nicht auszuprobieren. Ich holte ihn vom Schneider und eilte nach achtern, um mich dort mit meinem Lehrling zu treffen. »Mr. Bear!« Der Ausbilder trippelte herüber und wackelte schlaff mit seinem Handgelenksprecher, während ein Dutzend Schüler, die gleich außerhalb einer leeren Ladebucht warteten, die für den Unterricht freigemacht worden war, sich um die Luftschleuse drängten. »Ich sehe, Sie haben sich endlich Ihren Patentanzug besorgt. Jetzt wird Ihnen, bis Sie uns übrige eingeholt haben, die liebe Koko helfen, damit Sie ihn auch wirklich richtig anziehen.« Die liebe Koko knickste und bohrte mit einer Fingerspitze in einem nicht vorhandenen Grübchen. Ich trug meinen Anzug am Kleiderbügel über dem Rücken wie ein Frank Sinatra des Tiefraums. Meine Zigarre drückte ich mit der Ferse auf dem Deck aus, dann sah ich mich nach einem Unkleideraum um. »Gut, aber wird das nicht von ihrer Ausbildungszeit abgehen?« »Das macht nichts, Boss.« Im Anzug sah sie einem lebensgroßen, silbergrauen Buddha ähnlich. »Ich habe zusätzliche Übungsstunden bei Francis – ich meine, Dr. Pololo – bekommen.« Man kann nicht sagen, ob ein Gorilla errötet, aber sie senkte ihre großen, braunen Augen und scharrte mit einer gummibeschuhten Zehe auf dem Boden. Der Ausbilder grinste übertrieben geduldig. »Keine Angst, meine Lie-
be, Sie machen erstaunliche Fortschritte, wirklich, ›zusätzliche Übungsstunden‹ oder nicht.« Er nahm einen tiefen Zug an einer parfümierten Zigarette und blies eine schwüle Rauchwolke in meine Richtung. Ich zuckte die Achseln und versuchte, so unverbesserlich männlich auszusehen wie nur möglich. »Sie sind der Lehrer. Aber ich glaube, mit dem Anzug stimmt etwas nicht.« Ich schälte ihn vom Bügel. »Ich habe schon gehört, daß es Unterwäsche für Gehörlose gibt, aber das ist einfach lächerlich sollte er nicht einen transparenten Gesichtsschild oder so etwas haben, damit ich sehen kann, wohin ich gehe?« Der Schimpanse schnitt eine gereizte Grimasse, dann griff er nach der Kapuze, die er zusammengefaltet auf der Brust trug. Im Gegensatz zu Kokos und meinem Anzug war der seine üppig mit hell lavendelfarbigen und gelben Kringeln verziert. Er zog sich die Kapuze über das Gesicht und befestigte sie im Nacken, bis auf eine Öffnung für seinen Becher sah er aus wie eine gesichtslose Puppe aus einer psychedelischen Geschichte. »Sehen Sie, die Nanoprozessoren an der Oberfläche fangen Wellenfronten auf, setzen sie zusammen und machen sie auf der Innenseite der Kapuze sichtbar.« Er drückte einige Knöpfe auf einer der komplizierten Tastaturen, die an jedem Unterarm entlangliefen. »Jetzt kann ich genauso gut sehen wie Sie. Besser, weil ich die herrlichen ultravioletten, infraroten und akustischen Wellen auch ausnütze, dazu noch Röntgenstrahlen, Radiowellen, alles, was Sie sich nur vorstellen können.« Die verzierte Oberfläche der Kapuze verzerrte und veränderte sich. Ich sah in sein Gesicht! »Hat eigentlich nicht sehr viel Sinn, verstehen Sie, es ist nur mein BILD, das Sie da sehen, ein einfacher Trick der Nanoschaltung. Aber Schauspieler am Telekom bestehen darauf, und vielleicht ist Ihnen deshalb das Fehlen eines Gesichtsschilds bisher nie aufgefallen. Darf ich jetzt bitte mit meinem Unterricht fortfahren?« Er fummelte noch an einigen Ärmelknöpfen herum, seine Züge verzerrten sich zu denen von Kapitän Spoonbill, abweisendstoischer Gesichtsausdruck und so. »Und wenn Sie die Schleuse diesmal nicht ganz herumdrehen, Miß Featherstone-Haugh, lasse ich Sie ertranken!« Er setzte noch eine Augenklappe und einen goldenen Ohrring ein und tänzelte davon.
Ich benützte schließlich ein Rettungsboot, da ich mich eigentlich in meiner Kabine hätte umziehen sollen. Als ich beinahe fertig war, blickte ich auf Koko hinunter, die sich trotz des fünfzehn Zentimeter dicken Bootsrumpfs, der zwischen uns lag, höflicherweise umgedreht hatte. »He, Adlata, das ist unfair!« Ich hob meinen Fuß über das – wie, Dollbord? –, damit Sie ihn durch das Plastikverdeck sehen konnte. Er war mit gummiartigem Material bedeckt, ungefähr wie eine Kreuzung zwischen Fischerstiefeln und Ballettschuhen. Anstelle von Füßen hatte Koko in ihrem Anzug – nun ja, sie hatte ein zweites Paar Handschuhe. Jetzt drehte sie sich grinsend um. »Das kommt von der evolutionären Überspezialisierung, Boss.« Sie streckte einen Fuß aus und wackelte geschmeidig mit den Zehen. So hatte ich sie schon einmal erwischt, damals hatte sie zu Hause Klavier gespielt: ausgerechnet ›Easy Winners‹ von Joplin. Durch die abnehmende Beschleunigung in den letzten paar Tagen waren meine Reflexe ein wenig unsicher geworden. Ich kletterte vorsichtig von dem Hilfsfahrzeug herunter und verriegelte die Blase wieder an Ort und Stelle. Mein Reißverschluß war immer noch offen, der Anzug klaffte von meiner linken Hüfte bis zu meiner rechten Schulter. »Hör auf, Arpeggios zu üben und hilf mir lieber, das Ding hier zu schließen.« »Das heißt ›Arpeggios‹, Boss. Du weißt doch, ›Klein Piggy ging zum Markt, Klein…‹ Boss, was hast du da drunter an?« Ich versuchte, die Ausbuchtungen glattzustreichen. »Wo drunter?« »Unterwäsche? Dachte ich mir's doch! Das heißt, du hast den Katheter nicht angeschlossen, und den…« »Mein Gott, muß das denn sein?« Diese zusätzlichen Anschlüsse im Innern hatten den abschreckenden Vorrichtungen ähnlich gesehen, die auf den hinteren Seiten des ›Hustler‹ angepriesen wurden. »Sonst wird es dir mit der Zeit ganz schön unbequem werden. Außerdem hast du das Sensorsystem durcheinandergebracht – siehst du diese kleinen, roten Anzeigeleuchten auf den Schalttafeln an den Unterarmen? Boss, es tut nicht weh, gar nicht, du wirst dich daran gewöhnen.« »Das hat der Proktologe auch gesagt. Na ja, dann eben zurück ins
Rettungsboot. Bist du sicher, daß wir wirklich so lange im Anzug bleiben?« Ich lehnte ihre rüden Hilfsangebote ab und deponierte meine Unterhosen bei meinen übrigen, irdischen Besitztümern auf dem Sitz des winzigen Raumschiffs, dann stieg ich wieder in den Anzug und schnallte mir erneut Olongos Webley um die Taille, wo sie beinahe ein Gegengewicht zu dem gewaltigen Messer auf der anderen Seite bildete. Ich vermißte auch meinen ledernen Waffengurt, obwohl ihn zugegebenermaßen das Vakuum innerhalb von ganz wenigen Minuten in trockenes, krümeliges Pulver verwandelt hätte. Katheter anschließen – eigentlich ist es gar nicht so schwer, sich an einen Patentanzug zu gewöhnen. Er schließt dicht, wenn man mit der Hand darüberstreicht und warnt den Träger mit einer Anzahl von Idiotenlichtern und Summtönen, falls er es schafft, auch diesen einfachen Vorgang noch zu vermasseln. Ich hörte oder sah keinerlei Warnung – ja, da die verdunkelte Innenfläche der Kapuze nicht mehr als einen Zentimeter von meiner Nase entfernt war, konnte ich überhaupt nichts sehen, bis ich spürte, wie Koko an meinem Arm Knöpfe drückte. Als meine Augen wieder funktionierten, war es, als sei die Kapuze überhaupt nicht da. Als Zusatzsicherung bei Pannen und für gelegentliche Linkshänder ist jede Schalttafel auf dem anderen Arm noch einmal vorhanden. Die Schalter dienen meistens für kleinere Regulierungen, die die sichereren, automatischen Funktionen des Anzugs zur Lebenserhaltung nicht abstellen. Und sie sahen den Tasten einer Ziehharmonika so ähnlich, daß ich beinahe versucht war, mir ›Lady of Spain‹ zusammenzusuchen. Koko packte mich überall ein, ein peinlich intimer Vorgang, der an das Maßnehmen beim Schneider erinnerte, und überzeugte sich, daß das Gewebe jeden metrischen Zoll meines Körpers berührte. Dann beugten und streckten wir uns ein paarmal vorsichtig bei niedriger Schwerkraft, um die Paßform noch einmal zu überprüfen. Es war einfach und unglaublich, wieviel Bewegungsfreiheit einem der Anzug ließ und wie bequem er war. Um die Wahrheit zu sagen, ich fühlte mich richtiggehend nackt, und so sollte es auch sein, ein Beweis für die Kunst des Herstellers. Vorsichtig ging Koko mit mir eine Checkliste der Schaltungen durch.
Die Vielfalt optischer Inputs allein war schon erstaunlich; unser Ausbilder hatte nicht übertrieben. Bilder unserer Umgebung, lebenserhaltende Funktionen und andere Daten, sogar die genaue Zeit erschienen und verschwanden auf Tastendruck auf randfüllenden Schrifttafeln rings um das Blickfeld oder in Multimedia-Kästen wie auf einem geteilten Fernsehbildschirm. An einem Punkt entdeckte ich, daß ich einen Meter groß und selbst ohne den Vorzug einer laufenden Nase und übelriechender Schweißfüße völlig falschherum gebaut war. »Jetzt siehst du mit den Fingern, Boss«, erklärte Koko. »Halte sie hoch!« Es war, als schaute man durch ein Periskop. Ich tastete mich zum Rettungsboot hinüber und steckte den kleinen Finger unter die Luke. Tatsächlich, da lagen meine ausgebeulten Hosen und der Poncho zusammengeknüllt auf dem Pilotensitz. »Raffiniert. Und jetzt könnten wir eigentlich meine Augen wieder dahin setzen, wo sie hingehören, oder?« In den nächsten paar Stunden brachte sie mir bei, solche Dinge selbst zu bedienen. Radar, Sonar, Stereo, Geißeln zum Rückenkratzen und Abfallbeseitigung. Sie hatte recht gehabt mit den biologischen Funktionen – der Anzug nahm sich ihrer an, speicherte die etwas ekelhaften Rückstände und führte Wasser und Sauerstoff wieder dem Kreislauf zu. Ich wollte keine Experimente machen, aber Koko versicherte mir, in einem Patentanzug sei sogar Erbrechen möglich und bereite nur minimale Unannehmlichkeiten. Nach einiger Zeit drehten wir uns durch die Schleuse hinaus in die Frachtbucht, Koko war so ungeduldig, daß sie die äußere Tür mit einem Schwung abschaltete, der mich beinahe auf mein Fundament geworfen hätte. Draußen gab es Seile, Leitern, Schaukeln, ein Klettergerüst und verschiedene andere Geräte, mit denen man die Unversehrtheit des Anzugs aufs Spiel setzen konnte. »Koko?« Ich wünschte, ich hätte den Unterricht drinnen einmal unterbrochen, um zu rauchen; jetzt sah ich ihr zu, wie sie bei der örtlich abnehmenden Schwerkraft eine Wand erkletterte, dabei verwendete sie Klebepolster, die sie an Händen und Knien aktiviert hatte. »Was ist, Boss?« Unvermittelt erschien Kokos Gesicht in einer unteren Ecke meines Sichtfeldes.
»Das ist wirklich sauber.« Ich spielte an meinen Unterarmen herum, bis sie mein Bild ähnlich empfing. »Ja, was wollte ich noch – ach ja, wie lange wollen wir hier draußen bleiben? Trotz Recycling können diese Gummitrikots doch nicht so viel aufnehmen – Vorsicht!« Sie stieß sich von der Wand ab, machte einen Doppelsalto rückwärts und landete leichtfüßig auf Deck. »Du mußt dich bewegen, Boss, nicht nur rumstehen. Und du hast genügend Luft. Alles, was Sauerstoff enthält, wird aufgespalten, und dazu ist der Anzug noch ein einziges, großes Sandwich, viele Schichten, Millionen von winzigen, einzeln durchlässigen Mikrotanks. Wie die Perlen in diesem… diesem roten Band, von dem du mir neulich erzählt hast, wie heißt es doch noch?« »NCR-Papier? Aber wieviel Luft könnte…« »Bei ein paar tausend Tonnen pro Quadratzentimeter? Boss, ich glaube, du machst Witze.« Kein Wunder, daß es so verdammt schwierig war, einen Patentanzug undicht zu machen. Er bestand zu einer Hälfte aus Halbleitern und zur anderen aus mikroskopisch kleinen Vakuolen, die mit Verbrauchsstoffen vollgepumpt waren. Ich trabte erst auf der Stelle, dann an einer Wand entlang und wieder zurück, es widerstrebte mir, Kokos fortgeschrittene Gymnastikübungen nachzuahmen, es fiel mir schon schwer, nur zu warten, bis meine Füße zwischen den einzelnen Schritten den Boden wieder berührten. Schließlich ließ ich mich genau auf diesem Deck nieder und sah dem Rest der Gruppe zu, die ein Fußballfeld entfernt eigene Übungen machten. Bei ausreichender Vergrößerung schien es, als wäre ich dort, mitten unter ihnen. Als das Licht durch die starke Vergrößerung schwächer zu werden drohte, erweiterte sich der Bereich, den mein Anzug zum Sehen benützte, automatisch über den Gesichtskreis hinaus, bis meine Unterarme den unteren Teil des Bildschirms verschmierten. Noch ein wenig Übung, und ich entdeckte, daß ich dasitzen und die Wand hinter mir abtasten konnte – ich hatte buchstäblich Augen im Hinterkopf! Und dann das Deck darunter – das war schon Sicht nach rückwärts. Aber nach einiger Zeit wurde ich der neuen Spielereien allmählich müde und ertappte mich dabei, wie ich überlegte, wo wohl Clarissa sein könnte, und inständig hoffte, sie möge wohlauf sein. Was konnte mit
ihr geschehen sein? War sie da, wo auch Olongo, Lucy und Ed waren? Waren sie überhaupt alle am selben Ort? Waren D. J. und Ooloorie wirklich auf dem Weg zum Merkur? Ich versuchte es herauszufinden, nur um zu erfahren, daß alle Verbindungen in Richtung Sonne durch Sonnenfackeln gestört waren. Clarissa! Ich schlug hilflos mit der Faust auf das Titandeck. Was, zum Teufel, hatte ich hier zu suchen, wozu spielte ich Raumkadett in einem Anzug, für den ich niemals praktische Verwendung haben würde? Warum unternahm ich nicht etwas? Warum konnte man diese Badewanne nicht einfach anhalten und mich aussteigen lassen? Ich weiß nicht, wie viele Minuten ich in dieser elenden Stimmung verbrachte. Es war unglaublich, plötzlich merkte ich, daß mein Kinn auf meine Brust sinken wollte und ich am Eindösen war. »Win… Boss?« Jemand in einem verzierten Patentanzug stand leichtfüßig neben Koko, sein Gesicht war auf meinem Bildschirm neben ihrem eingeschoben. »Hmm? Oh, Entschuldigung – ich habe mich da drinnen wohl irgendwie verirrt.« »Boss, das ist Mr. Camillus. Mike Morrison hat ihn geschickt.« Ich stand auf. Mike Morrison entwickelte sich zu einem richtigen Schutzengel. Der Bursche kam herüber und streckte mir die Hand hin. »Gerber Camillus – nennen Sie mich Gerb – Trick-Koordinator für Mikes neuen Film ›Rache des Thrint‹. Mike sagte, nichts für ungut, aber vielleicht könnten Sie ein paar Tips brauchen, wie man mit einer Klinge umgeht!« Mit der anderen Hand hielt er ein Paar biegsamer Kinomesser. Ich musterte ihn, soweit sein Anzug das zuließ, eine drahtige Gestalt, klein, aber kein Schimpanse – seine Schuhe hatten keine Finger. Aber sie hatten das gleiche Muster wie der übrige Anzug: schwarz, mit einem imitierten, roten Kummerbund und einer Schärpe, einer weißen Rüschenhemdbrust und einer Seidenkrawatte. Daran hatte er zwei Gummischwänze befestigt, und um die ganze Zusammenstellung abzurunden, trug er einen hohen Seidenhut über seinem Gesichtsbild. Ich kam mir noch nackter vor. »Ja, vermutlich könnte ich ein bis zehn Stunden brauchen. Aber nicht jetzt. Ich bin gerade mitten in…« »Einem Nickerchen«, vollendete Koko. »Machst es dir . wirklich
schnell bequem in deinem Anzug, nicht wahr?« Sie warf einen Blick auf die Anzeigen an meinem Unterarm und regulierte ein wenig. »Aha, verstehe. Wenn du dich zu Tode grämen willst, Boss, dann schalte deine medizinischen Schaltkreise ab – sieh mal, das geht so! Sonst wirst du wieder elektrogedämpft.« Während sie mir diesen Vortrag hielt, merkten wir, daß die anderen Schüler nacheinander durch die Schleuse zurückkehrten. »Ich glaube, für heute ist der Unterricht zu Ende. Ich weiß nicht, ob ich diese automatische Verarzterei sehr gut finde. Bist du sicher, daß jetzt alles in Ordnung ist?« Koko nickte. »Dann fangen wir an«, schlug Camillus vor. »Mike sagte, Sie hätten da oben in der Bar ein paar wilde Zweikämpfe mit der Hand ausgefochten.« »Tae Kwon Do«, erwiderte ich. »Grüner Gürtel, obwohl ich schon seit einiger Zeit nicht mehr regelmäßig trainiere.« Camillus zuckte mit dem Kopf auf und ab, ohne ein einziges Wort zu verstehen. Wie für versteckte Waffen, so hatte in der Konföderation auch nie ein Bedürfnis nach waffenlosen Kampftechniken bestanden – man war nie unbewaffnet! Auch war Japan selbst unter der vernünftigeren Außenpolitik Nord-Amerikas seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in freiwilliger Isolation geblieben. Mein Detektivunternehmen war anfangs ein wenig mager gewesen, und ich hatte es aufgepäppelt, indem ich Anfangsunterricht in koreanischen Kampftechniken gab. Ich hatte den Goldenen Gürtel gehabt, war also praktisch selbst ein Anfänger, und nachdem ein paar echte Meister aus den USA und Korea richtige ›dochangs‹ einrichteten, hatte ich aufgehört und war selbst noch einmal zur Schule gegangen. Damit hatte ich vor ungefähr fünfundzwanzig Pfund aufgehört. Camillus führte uns wieder nach oben in einen Turnsaal. Koko sah eine Weile zu, dann fand sie einen wenig überzeugenden Vorwand, um sich zu verabschieden. »Verabredung mit dem Arzt«, vermutete ich. Gorillas brauchen eigentlich nicht viel Training für Faustkämpfe und dergleichen – sie brechen ihre Gegner einfach auseinander und knüpfen in den Rest Knoten.
Wir fingen mit ein paar Fecht- und Karatestellungen an und gingen dann Variationen durch, die den großen, schweren Hackmessern angepaßt waren, wie man sie auf den Asteroiden verwendet. Meines war ziemlich typisch, genau wie das von Gerb, ein zweischneidiges, fünfunddreißig Zentimeter langes Dolchschwert. Aber wir trainierten mit seinen Spielzeugkopien. Er zeigte mir einen tollen Trick mit einem Patentanzug, wobei er die Oberfläche so regulierte, daß der Druck eines Schlags eine deutlich sichtbare Spur in gräßlichem, simuliertem Rot hinterließ – da gab es wirklich keine Diskussion, ob wirklich eine Berührung stattgefunden hatte oder nicht. Aber vor allem lernte ich an jenem ersten Nachmittag, daß ich mein Rezin all die Jahre verkehrtherum gehalten hatte, so etwa wie ein Küchenmesser, den Daumen über die anderen Finger gelegt, was man verächtlich als ›Hackebeilgriff‹ bezeichnet. Gerber demonstrierte, wie die kurze, ›gestutzte‹ Schneide an der Rückseite sich dafür eignet, in Arme und Schultern zu hacken und einen vor der Klinge des Gegners zu schützen. Die ›untere‹ Hauptschneide wird nach oben gehalten, der Daumen bleibt wie ein Säbel dahinter, die lange, rasiermesserscharfe Krümmung schlitzt dem Gegner den Bauch bis zum Brustbein auf. Da gibt es nichts daran zu deuteln, Selbstverteidigung ist schlicht und einfach eine Schweinerei. Den Rest der Reise teilte ich zwischen Patentanzug- und Schwertkampfstunden, nebenbei übte ich noch ein bißchen Scheibenschießen. Taktisch gesehen ist die Pistole eigentlich ein Schwert, sie ist am wirksamsten auf Schwertdistanz und genauso in erster Linie zur Verteidigung gedacht, eher ein Mittel zum persönlichen Schutz als ein militärisches oder politisches Instrument (ein Grund, warum Gewehre in der Konföderation selten sind und warum man in den Vereinigten Staaten gegen politische Angriffe so angenehm immun ist). Und wie ein Schwert entwickelt auch die Pistole für ihren Träger allmählich eine einmalige, ganz eigene Persönlichkeit, fast symbiotisch mit der Persönlichkeit dessen, den sie verteidigt. Man kann über die Mystik von Messern sagen, was man will, die Klinge des zivilisierten Individuums ist die Handfeuerwaffe. Die neuen Visiere der Webley waren tadellos, hinten eine große, qua-
dratische Kerbe, vorne auf einem Absatz ein großer, quadratischer Zapfen, massiv und schnell zu zentrieren, genau wie meine alte S & W. Die zusätzliche Munition von Captain Forsyth kam mir mächtig zustatten – ich brauchte verdammt dringend Übung. Ich beschloß, auch die kleine Bauer .25 zu behalten. Im Notfall war sie immer noch besser als gar keine Waffe. Wenn auch nicht viel. Die ›Bonaventura‹ passierte den Wendepunkt (den ich gemütlich an einen Barhocker geschnallt erlebte) und raste brüllend weiter rückwärts durch den Kosmos, mit stetig abnehmender Beschleunigung, bis ich für die dicke Polsterung auf den Decken dankbar war: am Ende der Reise wog ich ungefähr zwanzig Pfund, ein Leichtgewicht für Muskeln, die für das Zehnfache gebaut waren. Um so leichter, sich den Schädel einzurennen. Vom Weltraum aus gesehen genügt Ceres, um einen davon zu überzeugen, daß die ›Bonaventura‹ ein großer, teurer Schwindel ist. Der Asteroid taucht als von Wirbeln durchzogene, blauweiße, in der Leere glänzende Murmel auf, gelegentlich sieht man Flecken trockenen Landes durch die Wolken, genau wie in ›Terra Firma‹. »Was, zum Teufel…?« Ich lungerte an einem Fenster in der Bar auf Ebene 790 herum und sah interessiert meiner Assistentin zu, wie sie an einem Plastiksäckchen für den freien Fall nippte. »Was, zum Teufel, was-zum-Teufelst du denn jetzt schon wieder rum, Boss?« Ich schüttelte den Kopf. »Jetzt sehe ich mir den verflixten Felsbrokken dort draußen seit einer halben Stunde an und versuche rauszufinden, was damit nicht stimmt. Koko, wirkliche Planeten haben keine Längen- und Breitengradlinien!« Ich hielt einen kurzen Zigarrenstummel in die Nähe eines Aschenbechers und ließ ihn vom Sog wegtragen. Sie kicherte. »Ja, genauso sieht es aus. Das sind die Felder der atmosphärischen Hülle, mehr nicht.« Eine Breze entwischte ihr, sie schnappte sie sich aus der Luft und würgte sie hinunter. »Du meinst, da ist eine große Plastiktüte, die rund um den ganzen…« »Und jedes Feld ist nur ein gewaltiges Molekül, das die Luft drinnen-
hält und überschüssig ultraviolette Strahlung ausfiltert. Ikarus würde sich den Kopf anstoßen, lange bevor sein Wachs zu schmelzen anfinge.« Die ›Bonaventura‹ kreiste in langsamen Spiralen um den Miniaturglobus und zielte auf Gunter's Landing am Nordpol, die Barmänner verbrachten eine letzte, kostbare Stunde damit, alles zu befestigen, was frei schwebte. Ceres ist grün genug, um seine mythologische Namensschwester zufriedenzustellen, überall durchbrochen von Tausenden von vollkommen kreisrunden Seen, eine Hinterlassenschaft prähistorischer Kollisionen. Ich hoffte wenigstens, daß sie prähistorisch waren. Als das Schiff nach innen auf den Planetoiden zuschwenkte, strahlte er auf wie ein gigantischer, japanischer Lampion, seine ›Nachtseite‹ war kaum eine Nuance dunkler. Ich hatte mit halbem Auge den Telekomschirm beobachtet, wo Kapitän Spoonbill eine Führung veranstaltete. Jetzt schwenkte der elektronische Blickpunkt vom Asteroiden auf ein gutes Dutzend gigantischer, filmdünner Plastikspiegel, die in einer Umlaufbahn hingen und nach unten auf die Oberfläche von Ceres gerichtet waren. Fakten aus dem Lehrbuch sagen mir irgendwie gar nichts. Ich wußte, daß der Miniplanet ›nicht mehr‹ als knapp tausend Kilometer Durchmesser hatte, aber draußen vor dem Fenster gab es nichts, was mir eine richtige Perspektive hätte vermitteln können. Die im Gigakom enthaltene ›Enzyklopädie von Nord-Amerika‹ stellt fest, daß die CeresOberfläche ungefähr die gleiche Größe hat wie Indien – eine verdammte Menge Grund und Boden, die die meisten Astronomen in den Staaten als ›unbedeutend‹ einfach übersehen. Die Beschleunigungswarnung ertönte, der Planetoid kippte weg und versank unter dem Fensterrahmen. Dann stieg er rings um uns wieder auf, auf dem Telekom erschien ein gewaltiges, strahlend hell erleuchtetes Bullauge unterhalb des Schiffs. Es gab einen Stoß. Wir waren unten. Ceres ist eine große, runde Widerlegung der Behauptung, Großprojekte wie Dämme oder Autobahnen seien für kleine, alte private Unterneh-
men zu viel (komisch, wie die Post immer mit vorgehaltener Waffe ihr ›natürliches‹ Monopol verteidigen muß), oder gewisse ›notwendige‹ Dienstleistungen könnten nicht einfach denen, die nicht dafür bezahlen wollen, verweigert werden und müßten daher (dahin lief der Hase natürlich die ganze Zeit) ›kostenlos‹ vom Staat zur Verfügung gestellt werden. Verdammt, AMERIKANISCHE Firmen – von denen viele jährlich mehr Einnahmen haben als drei Viertel der Minirepubliken in der UN – könnten die Pyramiden gleich noch einmal so hoch auftürmen; konföderierte Firmen sind kleiner, und sie bauen tatsächlich Dämme und Autobahnen – obwohl sie sich die dazu nötigen Mittel nicht stehlen dürfen, eine moralische Überlegung, die die Befürworter des Regierungsbauwesens nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Wir haben zu Hause nur ein ›Telefon‹, aber es nimmt Anrufe von Tausenden von Firmen entgegen und stellt auch die Post zu; Pakete kommen über ein pneumatisches System, um das uns Edward Bellamy beneiden würde. Cheyenne Ridge kontrollierte als Nebenprodukt des starker Konkurrenz ausgesetzten Energieerzeugungsgeschäfts das Wetter, allein als Reklame. Wenn einem die Mischung nicht gefällt, die sie liefern, kann man entweder umziehen oder sich sein eigenes Klima einspeisen lassen – solange man damit nicht den Rasen des Nachbarn in Unordnung bringt. Trittbrettfahrer? Nun, nehmen wir einmal an, Sie wollen eine Straßenbeleuchtung: Entweder bezahlen Sie selbst dafür, oder Sie bringen die Nachbarn dazu, sich daran zu beteiligen. Wenn ein oder zwei miesepetrige Geizhälse sich weigern, nun ja, was ist Ihnen wichtiger, den alten Carruthers dazu zu zwingen, seinen minimalen Anteil auszuspukken, oder die Straßenbeleuchtung zu bekommen, die Sie haben wollten? Höchstwahrscheinlich wird der alte Bastard verlangen, Sie sollen Ihre verdammten Photonen von seinem Grundstück fernhalten! Die Entwicklung von Ceres führte das gleiche Unternehmen durch, das die ›Bonaventura‹ betreibt. Harriman, Taggart & Hill. In einem wagemutigen, kapitalistischen Handstreich organisierten sie einen Beförderungsdienst zu den Asteroiden, ohne auf Haarspalter zu achten, die erklärten, dort draußen gäbe es niemanden, zu dem man etwas beför-
dern könnte. H, T & H erhoben Anspruch auf Ceres, veränderten den Orbit des Planetoiden, bauten die Hülle auf und boten Heimstättenfahrkarten auf Schiffen wie der ›Unbeugsamer Geist‹ an. Versorgungsgüter wie Atmosphäre und Spiegel verkauften sie als Konzessionen an andere Kunden. Die Frage, wer regiert, taucht niemals auf: Zu Hause kleben wir noch an den Resten eines Kongresses. Hier, wo jeder von Anfang an sein Leben selbst in die Hand genommen hat, gibt es nicht einmal etwas, worüber man abstimmen könnte. Die ›Bonaventura‹ hockte in einem gewaltigen, von einem Gebirgswall umgebenen Krater. »Gunter's Landing«, plapperte mein Lehrling munter, »sechzehn Kilometer im Durchmesser; es ist eine Kopie von Port Piazzi weiter im Süden.« »Richtig«, antwortete ich und schloß meinen Patentanzug bis zum Kragen, »wo sie den Schiefen Turm haben. Ganz günstig, wenn die Krater genau dort sind, wo man sie braucht.« »Boss, die haben den ganzen Planeten einfach so lange herumgeschubst, bis diese beiden Krater die Pole waren. Und die Bemerkung über den Schiefen Turm werde ich nicht vergessen!« Die Kraterwände bezeichneten die Grenzen des luftlosen Hafens; ihre äußeren Abhänge dienten als Verankerung für die Plastikhülle, die den Rest des Asteroiden umgab. Eigentlich kannte ich die Einzelheiten schon von früher. Lucy hatte hier als Projektingenieur gearbeitet und dabei eine Dosis Strahlung eingefangen. Meine Taschen standen zu meinen Füßen auf dem Boden. Ich zog mir die Kapuze über das Gesicht und dichtete sie ab. In einundvierzig Stunden startete ein Frachter, den ich nehmen wollte. Inzwischen würde ich mich bescheiden und zerstreut auf Ceres umsehen und Lucy die letzte Ehre erweisen. Auf halbem Weg hierher hatte sich an ihrem Telekom auf Bulfinch 4137 endlich jemand gemeldet – ein Fremder in Uniform. »Hier spricht Win Bear. Ist Mrs. Kropotkin zu Hause?« Sein Patentanzug war auf eine freundliche, paramilitärische Erscheinung eingestellt, wie sie Feuerwehrleute und Parkwächter gerne verwenden. »Ich bin, hm, Aufseher Trayle von der Registrierungspatrouille
Rothbard. Mrs. Kropotkin war eine unserer Kunden – sind Sie verwandt mit ihr?« »Hm… ihr Schwager.« Na ja, beinahe stimmte es. »Und was meinen Sie mit ›war‹?« Da stand Lucys Lieblingsstuhl, den sie von der Erde bis hierher hatte transportieren lassen, ein paar Kätzchen hockten auf der Lehne und rauften miteinander. Über einem sicherlich nur zur Zierde dienenden Kaminsims stand eine Büste von Lysander Spooner – Lucys Favoriten unter den Präsidenten der Konföderation –, auf seiner Nase saß ihre eigene Lesebrille. »Nun, Sir, ich bin heute nachmittag auf Routinestreife hier angekommen. Sie hat sich am Telekom nicht gemeldet, aber ihr Flitzer war noch da. Ich sah mich um, dann fragte ich bei meinem Melder nach. Er sagte, sie sei auf Ceres niedergeschossen worden. Ich sollte ihr Eigentum sichern und den Futterautomaten für die Katzen nachsehen, bis wir entschieden hätten, was weiter zu tun ist. Ich wollte mich gerade darum kümmern, als Sie…« »Niedergeschossen?« Der Gedanke war bestürzend. Lucy war mit einem Schießeisen fast genausogut wie Captain Forsyth. »Von wem?« »Weiß nicht – wollen Sie mit meinem Chef sprechen? Ich gebe Ihnen seine Kombination.« Der verschrobene, kleine Mann im karierten Patentanzug mit vorgetäuschter Schleife bestätigte es: Lucy war in einem öffentlichen Korridor der Hauptstation Ceres von hinten niedergeschossen worden, mit einem Hochgeschwindigkeitsprojektil mitten durchs Herz – der erste Mord in der Stadt seit mehr als zehn Jahren. Die Bestattung sei so und so veranlaßt worden, Entschuldigungen, Beileidsbezeugungen, und Aufseher Trayle hatte drei Stunden Verspätung, dieser Landstreicher. Jetzt fuhren Koko und ich zum letztenmal mit dem Fahrstuhl auf den Boden des Kraters hinunter, die ›Bonaventura‹ türmte sich unglaubliche drei Kilometer hoch über unseren Köpfen. Zusammen mit mehreren hundert anderen Passagieren sprangen wir auf ein Oberflächenfahrzeug und fuhren über den sternenhellen, sonnenbeschienenen Hafen, dabei schlängelten wir uns zwischen wenigstens hundert weiteren, schlummernden Ungetümen hindurch, von denen aber kein einziges auch nur entfernt so großartig war wie unser Riesenschiff.
Die Fähre, ein busähnliches Vehikel, brachte uns zu den Bergen und, durch den längsten Tunnel, den ich je befahren hatte. Nachdem seine vielen, massiven Türen sich ein dutzendmal vor uns geöffnet und hinter uns geschlossen hatten, war der Himmel wieder herrlich strahlendblau mit weichen Wolken, und rings um uns herum war auf allen Seiten alles grün. »Willst du in der Hauptstation Ceres wohnen, Boss?« fragte Koko und sah zu, wie die Landschaft vorbeiflitzte. Erst später kam ich auf die Idee, mich zu fragen, wieso im Vakuum von Gunter's Landing ein Luftkissenbus hatte funktionieren können. »Nach dem Begräbnis? Nein, hier oben im Sonnenschein gefällt es mir besser. Nivenville, wo wir wahrscheinlich hinfahren.« Wieder Landschaft, meist flach. So weit war ich gereist, um dann eine ziemlich genaue Kopie von West-Nebraska zu sehen. »Ich wünschte aber, wir würden miteinander zur Erde zurückkehren.« Sie hob die Schultern. »Nun ja, an Bord dieses Frachters ist nur noch eine Gewichtseinheit frei, für einen dürren Menschen und seinen Stasistank. Außerdem sind wir hier auf CERES. Mensch, Boss, ich würde hierbleiben und mir auch noch den Rest des Gürtels ansehen, wenn…« »Wenn Olongo nicht vermißt wäre?« Tatsächlich, das war eine Vogelscheuche, an der wir gerade vorbeirasten. Jetzt mußten jeden Augenblick Schilder für Burma Rasierwasser auftauchen. »Und Clarissa. Aber Hauptstation Ceres – ich brauche nur…« »Vergiß es, ich verstehe dich ja.« Es war schließlich die Chance ihres Lebens. Die Hauptstation Ceres liegt wirklich im Zentrum, die Stadt ist einmalig im System. Dieser Asteroid hat keinen heißen, flüssigen Kern wie jeder Planet mit Selbstachtung, also hatte man die Stadt direkt aus seinem Herzen herausgemeißelt, sie ist möglicherweise das größte, dichtestbesiedelte Wohngebiet in der ganzen zivilisierten Welt. Abgesehen von den industriellen und kommunikativen Zentren (Voltaire Malaise persönlich sendet von dort unten) gibt es noch Tausende von Kilometern belebter Straßen, Hongkong, New York, Chicago und L.A. alle sind zu einem verwirrenden, schwerelosen Knäuel zusammengewickelt, und direkt am Nabel liegt Pellucidar Gardens, der größte, verrückteste Vergnügungspark im ganzen Universum.
Nivenville sieht im Gegensatz dazu aus wie irgendeine Farmgemeinde im Mittelwesten, ausgeblichener, blauer Himmel über hellen, metallischen Feldern, auf denen sich Dorothy und Toto dankbar zu Hause gefühlt hätten. Mein Hotel, ›Le petit Prince‹, türmt seine großartigen drei Stockwerke über einer Million Hektar Marihuana, Weizen und Brenngetreide auf. Koko wartete, während ich in der kleinen, pseudoviktorianischen Halle mein Gepäck aufgab, dann marschierten wir zu einem der Fahrstühle – dem großen in der Mitte – und fuhren nach unten. Wirklich nach unten. Ich hatte das Gefühl, es seien ungefähr dreihundert Kilometer. Auf halbem Wege machte der Fahrstuhl in seiner Kardanaufhängung einen Flipflop, und ich machte beinahe einen zweiten in meine Hosen. Hier hält man nichts von allmählicher Anpassung an die Wildnis. Der Fahrstuhl öffnete sich, und wir sahen ein Gebäude, das uns verwirrend bekannt vorkam. Dann hatte ich es – eine lebensgroße Kopie von M. C. Eschers ›Relativität‹, verrückte Pflanzen, Bögen und Treppenhäuser führten in alle möglichen Richtungen, manche Leute gingen Sprossen hinauf, andere Stufen hinunter. Oben war da, wo man es haben wollte, und unten dort, wo man seine Füßchen zu befestigen wünschte. Es verwirrte einem den Verstand, wenn man nur überlegte, welches Geländer man in seiner panischen Angst ergreifen sollte. Haben Sie vielleicht schon einmal den Flughafen von Las Vegas gesehen? So war die Escherarchitektur, sie machte Reklame für Pellucidar Gardens, den holographischen Plakaten nach zu urteilen eine nur blasse Andeutung der Wunder, die einen dort, ganz im Innern, für nicht mehr als ein Zehntelstück erwarteten. Ich sah schon jetzt jede Menge Wunder. An jeden Ausgang schlängelten sich flink mehrere Dutzend farbkodierter Schleppseile, jedes in eine andere Zielrichtung, Koko und ich sahen uns ein augenverrenkendes Diagramm an, packten eine Leine, die uns zur Bestattungshalle zu bringen versprach, und ließen uns von der ›Relativität‹ zum Absoluten Erstaunen schleppen.
Ceres Central
Ich will es einmal so beschreiben: An jedem Punkt der höhlenartigen Boulevards haben acht verschiedene Geschäftsfronten Platz. Im Vergleich dazu gibt es in jeder anständigen Erdgemeinde, wo man die Schwerkraftrechnung für den laufenden Monat bezahlt hat, nur zwei. In der Hauptstation Ceres gibt es auf jeder Seite der ›Straße‹ eine, zwei weitere sind in den ›Fußboden‹ eingelassen für die Leute, die im Augenblick seitwärts denken, und das ganze Durcheinander wiederholt sich noch einmal auf der ›Decke‹ – das heißt, auf dem ›Fußboden‹, falls man zufällig gerade darauf geht. Die Korridore, dreißig Meter breit und mehr, sind im Querschnitt ungefähr achteckig, die kleineren Eckflächen dienen als Gehsteige, darüber sausen Schleppseile hin. Es ist überhaupt nichts dabei, vier Meter weit zu springen und sich anzuhängen, für die Beförderung sorgt, mit freundlichen Grüßen, die Kaufmannsgenossenschaft der Hauptstation Ceres. Die Schwierigkeit besteht darin, loszulassen und da zu landen, wo man hinmöchte. Wirklich kompliziert wird es, wenn man an eine Kreuzung kommt – so gottverdammt viele Straßenecken, daß man nicht weiß, wo man hinschauen soll. Mal sehen, aus dieser Richtung ist man gekommen, und da geht es weiter. Dann gibt es immer noch rechts und links. Und für Leute mit stärkerem Magen oben und unten – haben Sie schon einmal direkt in den Kern eines Planeten geschaut, auch wenn es nur ein kleiner war? Im Zentrum jedes zweiten Durchgangs läuft eine Einschiene, die sowohl als öffentliches Schnellverkehrsmittel wie als Straße für Privatfahrzeuge mit einprogrammierter Zielangabe dient. Habe ich etwas ausgelassen? Wie ist es mit den Brücken, die an den Gebäudefronten auf und ab führen und einen Gehsteig mit dem anderen verbinden? Vielleicht habe ich ein paar Einzelheiten vergessen – Greenhorns sehen nie so viele Alligator- und Büffelspuren wie ihre verläßlichen indianischen Führer. Und die gleichen Führer übersehen, wenn sie sich zum erstenmal in einer Stadt verirren, oft anscheinend offensichtliche Einzelheiten. Kleine Dinge wie die Hochbahn von Chicago. Das ist wirklich einmal passiert, schlagen Sie nach. Nikitas Begräbnisinstitut lag in einem prima Tunnel gleich neben dem
Geschäftsviertel. Ich ließ das Seil los, nachdem ich meine Schuhsohlen haftend gemacht hatte, und brach mir beinahe den Knöchel, als ich zum Halten kam. Laut Verzeichnis kamen wir zu spät in die Trauergrotte, drei Treppen hoch und hundert Meter nach hinten von der Straße aus. Wenigstens hielt man in diesem Haus an der Illusion von Fußboden und Decke fest. Mein Innenohr beschloß, es könne sich wieder schlafen legen. Die Gänge waren mit schweren Teppichen belegt, dichte Samtvorhänge und eine satingepolsterte Decke trugen noch dazu bei, daß man sich vorkam wie eine Stubenfliege auf der Reise durch einen Karlsbader Sarg – Orgelmusik, unterdrücktes Schluchzen hinter jeder Tür – das Ganze schwach erleuchtet und schallgedämpft. Ich kam mir vor, als wäre ich selbst gestorben. Ein diskretes Goldschild neben den Türen kennzeichnete die Trauergrotte. Ich verankerte mich auf dem Teppich, drehte den Knopf – und wildes Gelächter traf mich im Gesicht wie eine Sahnetorte. Ich glitt hastig hinein, gefolgt von einem ebenfalls völlig verblüfften Gorillamädchen. Helles Licht, Decken und Wände von fröhlichen Girlanden geschmückt, der Lärm einer lustigen Feier mit viel Alkohol schlug an meine Ohren. Der Raum war völlig überfüllt, wenigstens fünfhundert verschiedene Wesen grunzten und aßen, lachten und tranken und tanzten auf jeder dafür geeigneten Fläche zur Musik einer Rockkapelle, die offensichtlich aus den Staaten eingeführt worden war. Ich überließ Koko ihrem Schicksal und drängte mich durch die Menge – keine Gemeinheit im freien Fall –, dabei sah ich ein paar bekannte Gesichter aus den alten Zeiten. Captain Geoffrey Couper, Kriegsveteran wie Lucy. Eine Kollegin aus dem Kontinentalkongreß, Sandy Silvers, hing von der Decke. Bergleute, Farmer, Ingenieure, wie ich vermutete, die meisten in Patentanzügen. Wenigstens war ich dem Anlaß entsprechend gekleidet. Schließlich stolperte ich über die arme Lucy, die in einen Samtsarg geschnallt war und die Augen für immer geschlossen hatte. Aber posthum war sie zweifellos glücklich bei dem Gedanken, daß alle ihre Freunde sich so glänzend amüsierten. Ein komisches, mechanisches Gerät schwebte neben der Bahre, kegelförmig, ungefähr einssechzig hoch mit
abgerundeter Spitze. Nun ja, sie war schon vor einer Woche gestorben. Vielleicht war eine gewisse paratronische Konservierung erforderlich. Ich blickte nach unten und berührte sanft Lucys Hand, irgendwie war ich froh, daß es während einer ihrer jugendlichen Perioden geschehen war. Ihre Haut war schön und glatt, sie trug einen einfachen mexikanischen Rock und eine Bluse, die Hände waren über der Brust gekreuzt und hielten eine frische, gelbe Kaktusblüte. Jemand hatte ihr glänzendes, blauschwarzes Haar liebevoll über das Seidenkissen gebreitet. »Arme Lucy… es tut mir leid, daß ich zu spät gekommen bin. Wie…«Ich konnte kaum sprechen, die Kehle wurde mir eng, Tränen verschleierten meinen Blick. »Wie konntest du zulassen, daß dir so etwas passiert? Ich verspreche dir, daß ich Ed finden werde… nur muß ich vorher Clarissa finden und…« »Hallo, Winnie, mein Junge! Wie gefällt dir der Laden hier?« Das Ding neben dem Sarg regte sich, hüpfte auf seiner Grundplatte auf und ab. »Beste Leichenfeier, die die Hauptstation Ceres jemals erlebt hat, wirklich zum Totlachen, auch wenn ich sie für mich selbst ausrichten mußte! Jippie!«
7. Kapitel Mittagessen mit einem Einsiedler »… sie sonst übermitteln wollen, diese mysteriösen Signale bitten uns, an unser Schicksal zu denken, sie flehen uns an, politischem Abenteurertum zu widerstehen, drängen uns, unsere Reserven einzuteilen – nicht, damit wir uns unmoralischerweise die Rechte anderer anmaßen können, sondern um die Sterne zu erobern. So sieht es jedenfalls aus…« »He!« rief die Mißgestalt. »Mein Radio hab' ich ja ganz vergessen!« Sie wandte sich schamhaft ab, nahm mit einem Paar mechanischer Arme einige Veränderungen vor, schwenkte dann wieder zurück und sah mich an. »Dachte mir, ich höre mir mal die Nachrichten an. Der Junge hat vielleicht 'n Ton am Leib, was?« Ich strich mir eine verirrte Papierschlange aus dem Gesicht, duckte mich vor einem ungezielt geworfenen Cocktailsäckchen und bemühte mich, neben dem Partyrummel noch etwas zu hören. In einer Ecke ragte ein improvisierter Chor aus einer Wand und gurgelte einen obszönen Kontrapunkt zur Band – ganz milde ausgedrückt zeugte ›House of the Rising Sun‹ in Anbetracht der Umstände von zweifelhaftem Geschmack. Fröhliche Plastikbänder und Konfettischnipsel schwebten auf den Ventilatorströmen dahin. Ich schaute ständig hin und her, voll Bestürzung, von Lucy, die bleich und tot vor mir lag, zu dieser vulkanisierten Popcornmaschine, die ihre Stimme gestohlen hatte. »Jetzt kipp mir mal nicht aus den Pantinen, Winnie, mein Junge.« Das Ding hob ein spindelförmiges, verchromtes Anhängsel und klopfte mir damit auf die Schulter. »Derjenige, der mich umgebracht hat, ist nicht ganz damit fertiggeworden.« »Lucy?« Mehr brachte ich nicht heraus, und auch das nur in einem verwirrten Sopran. »In dir stets gewogener Metallausgabe. Das, was dort drüben liegt, ist nur das Fleisch.« Das Ding tändelte mit Besitzergeste am Rüschenbesatz des Sargrandes herum, schüttelte das Kissen auf und glättete eine
Falte in Lucys Rock. »Ist natürlich ein Schock, mein Sohn. Ich war ja selbst ganz darauf eingestellt, tot zu sein, wenn ich aufwachte.« »Lucy?« Ich umklammerte den Rand des Sarges, um nicht von der Klimaanlage weggeweht zu werden. Bei ungefähr zweieinhalb Quadratzentimeter pro Sekunde konnte ich nicht einmal anständig in Ohnmacht fallen. Die Maschine schwebte ein Stückchen zurück und musterte mich. »Laß dich mal ansehen, Junge! Hast also endlich diese antiquierte Drehkanone aufgegeben. Und da ist ja auch das Rezin, das du Tricky Dick Milhous abgenommen hast. Ja, ich bin's wirklich, Winnie, das gleiche alte Mädchen, das Clarissa geholfen hat, die Maschinengewehrkörnchen aus deinem Leichnam rauszupuhlen an dem Tag, als du nach Laporte gekommen bist. Du hast ein Stück Plastik, wo eigentlich dein Schulterblatt sein sollte, und ein goldiges, kleines Muttermal gleich auf dem…« »Hör auf!« Die Anzeigen auf meinen Unterarmen tanzten, so verwirrt und verlegen war ich. »Ich weiß nicht, wieso, aber du bist wirklich Lucy.« Aber was war sie außerdem? Ein umgedrehter Eiskremkegel aus Gummi, mit stumpfem Ende, von Patentanzugmaterial bedeckt, das nur von einem Paar gegliederter Greifzangen durchbrochen wurde – und an einem übergroßen Plastikwaffengurt, der ihre beträchtliche Taille umschlang, hing absurderweise eine Waffe. Ich hätte sie gleich erkennen müssen: ihre Gabbet Fairfax .50. »Bin froh, daß du zur Vernunft gekommen bist.« Sie schnippte ein Konfetti von der Blüte in Lucys Händen. In Lucys anderen Händen. »Hör zu, wir machen, daß wir hier wegkommen, damit wir uns unterhalten können. Begräbnisse haben mich schon immer deprimiert.« Unter fröhlichem Winken und trunkenen Abschiedsgrüßen verabschiedeten wir uns, die anderen Trauergäste waren anscheinend entschlossen, bis zu einer nicht existierenden Morgendämmerung weiterzumachen, mit oder ohne Ehrengast. Kokos fragende Grimassen blieben unbeantwortet, als wir draußen ein Schleppseil ergriffen und damit tiefer in die unterirdische Stadt hineinfuhren. Irgendwie war es nicht halb so verwirrend, wenn man Leuten zuschaute, die auf der Decke herumschlenderten, als wenn man sie auf den Wänden gehen sah. Aus meiner Perspektive lief die Hälfte der Einschienen von oben nach unten, und
aus den Gehwegen sprossen Sträucher in jede nur denkbare Richtung. Als ob die Höhlenboulevards nicht durch die Geschäftsfronten schon hell genug erleuchtet worden wären, fluoreszierten die im Winkel stehenden Gehsteige auch noch, und die Schienen und Seile leuchteten irgendwie von innen heraus. Lucy genügte es nicht, sich von dem farbkodierten Schlepplift weiterziehen zu lassen, sie schloß eine ihrer Greifzangen lose darum, startete elektrostatische Flügelräder an ihrer Grundplatte und raste vor uns dahin, an den Ecken hüpfte sie dann ungeduldig auf und ab, bis wir sie einholten. So fuhren wir weiter, tief in das Herz des Planeten hinein. Schließlich hielt sie vor einer Tricktafel in grellen Farben diesseits eines Grabens, der uns von den berühmten Pellucidar Gardens trennte. Riesige Holos priesen die Sensationen an, die einen dort erwarteten: eine Berg- und Talbahn, die auf einem riesigen Möbiusstreifen dahinraste; Menschen, die in eine Wasserkugel von der Größe eines Sees tauchten, die in der Mitte der innersten Höhle schwebte. Eine Nummer hatte die unheilverkündende Bezeichnung: ›Dekompression‹ komisch, daß man darüber fünfhundert Millionen Kilometer weit im Weltraum noch Witze machte. Koko blickte mit unverhohlener Sehnsucht zu dem berühmtesten Spielplatz des ganzen Systems hinüber, dann folgte sie uns widerwillig in das Restaurant ›Mr. Meeps Wolke Neun‹. Mr. Weep war auch einer der vielen ehemaligen Laporter aus meinem Bekanntenkreis, die auf die Asteroiden ausgewandert waren. Ein anderer Schimpanse, wahrscheinlich ein Verwandter, führte uns zu einem schmäleren, mit vielen Edelsteinen besetzten Seil, das uns schwindelerregend einige Ebenen weit vom Eingang nach oben zu einer gut gepolsterten Nische an einer Wand riß. Ich zog mich auf einen Sitz und befestigte den Bekkengurt. Koko tat es mir nach. Lucy blieb einfach neben dem Tisch hängen und hakte eine Greifzange an seinem Rand ein. »Na ja«, sagte ich, als ich mich umschaute, »der alte Meep scheint es ja ganz schön weit gebracht zu haben.« Der Raum war ein Traum, hundert dämmrige Höhlen und exotische Grotten, aus denen man über einen üppig mit Dschungelpflanzen bewachsenen Fußboden mit vielen Schichten blickte. Die mittlere Höhle war mit schwebenden, künstlichen Wolken gefüllt, auf jeder stand ein Tisch für zwei Personen, im Dämmerlicht blinkten die Kerzen wie Glühwürmchen.
Irgendwo im Innern von Lucys Rumpf gurgelte ein Glucksen auf. »Soll wohl so sein. Die Hälfte der Bevölkerung hier waren schon zu Hause Kunden von ihm. Das hier ist der Kellner.« Der Ehrenwerte wirbelte unter einem Propellerkäppchen herauf, das mit einem Riemen unter dem Kinn befestigt war. Er führte einen theatralischen Looping aus, dann kippte er nach der Seite wie ein Hammerhai, fiel über die rechte Schulter ab und kam im Sturzflug zum Stehen, schwebte neben dem Tisch und ruderte dabei mit Händen und Füßen. Er aktivierte unsere Speisekarte und machte sich auf einem Telekomblock in seiner Hand Notizen. Ich bestellte Lammkotelettes mit Pfefferminzgelee und ein großes Säckchen Milch. Koko wollte Salat und einen kleinen Hamburger. Lucy – verdammt, ich hatte so halb und halb damit gerechnet, daß sie einen Stecker in die Wand einführen und sich aufladen würde. Ich war überrascht, als sie einen kleinen Behälter Fleischbrühe bestellte und dann einen Stapel Datenchips hervorzog. »Mal sehen, Steak – roh – Pommes Frites, Milchshake, Spinat… Spinat? Wie kommt der denn da rein?« Sie warf den beanstandeten Chip über die Schulter. »Das reicht wohl zum Sattwerden. Was dagegen, wenn ich schon anfange?« Ich sah der Vorstellung zu und versuchte, meine Augen im Kopf zu behalten. »Datenchips, Lucy? Was ist daran denn nahrhaft?« »Nur für die Seele, Winnie. Schon mal was von sensorischer Deprivation gehört? Ich mache mit der Routine weiter, das hilft mir, den Verstand nicht zu verlieren – ihn jedenfalls soweit zu behalten wie sonst immer. Als Treibstoff brauche ich eigentlich nur die Brühe – und Kernfusion. Du willst wahrscheinlich wissen, was das alles soll, wie?« Ein Schimpanse im Engelsgewand stürzte mit einem Flammenschwert vorbei – jemand wollte heute abend Schisch Kebab. »Vielleicht würde es MIR helfen, den Verstand nicht zu verlieren. Schließlich erlebt man es nicht jeden Tag, daß Freunde als Roboter wiedergeboren werden.« »Paß bloß auf, was du sagst! Es ist schwer genug auszuhalten, auch ohne daß sich jemand darüber lustigmacht!« Sie hielt inne und spielte
müßig an der Salz-und-Pfeffer-Pistole herum, die an ihrem Tragegurt von der Mitte des Tischs nach oben schwebte. »Ich hatte es gerade so richtig genossen, wieder jung zu sein. Wenn ich die Filzlaus jemals erwische, die… Jedenfalls, ich war ausgegangen und wollte, keinen Block weiter von hier, ein bißchen einkaufen gehen, da machte es ganz plötzlich WAMM! Als nächstes bekam ich mit, daß jemand drauf und dran war, meinen netten, kleinen Körper zu verbrennen. Na ja, denen habe ich schon etwas…« »Halt mal«, fragte Koko, während sie von unserem Kellner mit Propellerantrieb ihren Salat entgegennahm, »wenn man dich verbrennen wollte, wie konntest du dann…« »Nur die Leiche, Schätzchen.« Sie streckte den Arm aus und tätschelte ihren konischen Torso. »Mein Hirn sitzt ganz gemütlich hier drin. Aber es ist schon unheimlich, wenn man aufwacht, überall an Drähten hängt und in einem Einmachglas schwebt.« Sie schob einen Datenchip in einen Schlitz in ihrer Brust, der sich gleich wieder schloß. »Sesambrötchen auf die bin ich verrückt!« Vielleicht war das nicht das tollste Tischgespräch der Welt. Plötzlich kam mir mein Lammkotelett erstarrt und fettig vor, gar nicht appetitlich. Ich hatte nicht gewußt, daß die Medizin in der Konföderation zu solchen Leistungen fähig war. Clarissa hätte mit Freuden – nein, im Augenblick konnte ich es nicht ertragen, darüber nachzudenken. »Wenn du mir eine persönliche Frage gestattest, Lucy, alte Freundin, wie, zum Teufel, hat man es geschafft, alle deine Nervenverbindungen richtig anzuschließen? Gibt es nicht Millionen…« »Milliarden – indem ich sechzehn volle Stunden lang die Hälfte der Kernzeit, die in der Hauptstation Ceres verfügbar war, beanspruchte. Du solltest die Rechnungen sehen. Nur gut, daß die Versicherung – halt mal, jetzt verstehe ich erst, worauf du rauswillst, Winnie. Es gibt kein Naturgesetz, daß Neuland rückständig sein muß. Quatsch, heutzutage sind alle Leute mit Köpfchen und Talent unterwegs hierher in den Gürtel. Du bist doch auch hier, oder nicht?« »Ja, aber nicht für lange.« Ich erzählte, daß Clarissa verschwunden war und Olongo auch, daß man unser Heim und das Hauptquartier der Eigentumsrechtler geplündert hatte, und schließlich von den Versu-
chen, mich auf der ›Bonaventura‹ zu ermorden. »Du liebe Güte, Winnie – und ich dachte schon, ich sei unfallträchtig. Aber sieh mal, mein Sohn, wer auch immer hinter allem steckt, die einzige Hoffnung für uns liegt genau hier, im Gürtel. Hast du das immer noch nicht begriffen?« »Tut mir leid, Lucy, ich kann an nichts anderes denken als an Clarissa. Ich kann nicht einfach hierbleiben, während sie mich braucht, verdammt noch mal!« »Aber Winnie…« »Mein Gott, Lucy, was willst du…?« »Vielleicht braucht uns Clarissa beide hier draußen?« meldete sich Koko. »Haltet den Mund, haltet alle beide den Mund, seid still!« Koko mampfte mit beleidigter Miene ihren Salat. »Ja, Euer Überflüssigkeit.« »Schon gut, tut mir leid. Aber du verstehst mich doch, Lucy, nicht wahr?« »Sicher. Ich mache mir um Eddie genauso Sorgen. Er ist seit drei Wochen weg, und wenn man es ihm so dreckig besorgt hat wie mir…« Ihr Datenchip sprang heraus. Sie ersetzte ihn zerstreut durch einen anderen, auf dem ›Pommes Frites‹ stand. Koko beugte sich vor und streichelte sanft Lucys Fahrgestell. »Mir kannst du davon erzählen, Lucy. Ich werde dir nicht den Kopf abreißen wie gewisse andere Leute.« »Hat vermutlich angefangen, als Mark, unser Mann von der Registrierungspatrouille, davon sprach, daß ein paar von seinen Kunden nicht mehr im Umlauf seien, ohne es gemeldet zu haben. Natürlich leben wir in einem freien System. Kein Asteroider wird fragen ›Mama, darf ich?‹, ehe er in Richtung Sonne auf Urlaub fährt oder nach draußen reist, um zu schürfen. Die Patrouillen hätten nur gern, daß ihre Kunden sie öfter informieren… Jedenfalls war da auch noch das ganze Geschrei um die Aphrodite GmbH – die kauften alle möglichen Schürfrechte in der Sargasso auf, wo die meisten bei Rothbard Registrierten verschwunden waren. Ungefähr um die gleiche Zeit nahm dieser Schwerkraftmolch
von Tormount mit mir Verbindung auf, wegen meiner technischen Erfahrung auf Phobos und so.« »Was is'n Schwerkraftmolch?« fragte Koko am letzten Bissen Hamburger vorbei. Wenn jemand behauptet, Gorillas seien Pflanzenfresser, dann hat er sich ihre Zähne nie genauer angesehen. »Tja, Schätzchen, das ist ein trauriges Exemplar, das lieber ganz am Boden eines Schwerkraftlochs herumhocken will ungefähr die Hälfte der Bevölkerung im System, wenn man den Schätzungen glauben darf. Ich verstehe es selbst nicht, aber…« Ich zog die Augenbrauen hoch. »Willst du damit sagen, du hast J. V. Tormount tatsächlich kennengelernt?« Es sah Lucy ähnlich, ganz zufällig dort Erfolg zu haben, wo sogar Voltaire Malaise gescheitert war. »Das ist das Komische daran. Ich bin ein ziemlich guter Ingenieur, habe früher immer mit den höheren Chargen verhandelt. Aber diesmal haben ein paar Lakaien alle Palaver geführt. Ein Orca, nannte sich Brahoohoo, und ein ›Delphinus‹ mit Namen P’wheet. Glaubst du, er könnte irgendwie mit Ooloorie verwandt sein?« Ich schüttelte den Kopf. »Sie ist ein Tursiops, und außerdem ist, soweit ich das verstanden habe, ihr Familienname Eckickeck. Komisch, daß du auf Ooloorie kommst, sie und D. J. sind entweder auf Freisemester oder sie sind dort gelandet, wo auch Clarissa und Ed sind.« Ich wiederholte mein Gespräch mit Bertram. »Und sie hängen auch irgendwie in der Aphroditegeschichte mit drin, glaube ich.« Lucy kam zum Ende ihrer Pommes-Frites-Aufzeichnung und verleibte sich noch einen Milchshake ein. »Merkur, sagst du? Na ja, ich dachte mir immer schon, daß es mit diesem Penetrator noch mehr Möglichkeiten gibt. Als nächstes werden sie damit Kohlenwasserstoffe aus dem Jupiter rausholen.« »Wie ist Ed in die ganze Geschichte reingeraten?« fragte Koko. »War er einer der Verschwundenen von Rothbard?« Sie hatte ihr Mittagessen aufgefuttert und fing jetzt mit der Nachspeise an – sie ist der einzige Gorilla, den ich persönlich kenne und der öffentlich zugibt, daß er gerne Bananen ißt. Ich war neugierig, wie sie im freien Fall mit einem Bananensplit fertigwerden würde – für das Saugrohr eines Säckchens ist er ein klein wenig zu klumpig.
»Nee, wir sind sehr sehr weit weg vom Sargassohaufen. Sieh mal; wir wollten gerade ein bißchen diversifizieren draußen auf Bulfinch: Arktische Riesenhasen. Ist schon 'ne Ewigkeit her, daß ich zum letztenmal Kaninchenbraten gegessen habe, und wir dachten, das wäre wirklich 'n Verkaufsschlager. Aber Kapital brauchten wir. Deshalb hab' ich über diesen Vorschlag von der Aphrodite auch tatsächlich ernsthaft nachgedacht. Nur haben die auf einmal die Verhandlungen abgebrochen, und danach konnte ich nicht einmal mehr die Lakaien erreichen.« »Hmm. Und da hat Ed also angefangen, ein bißchen zu wühlen.« Ich hatte allen Grund, seine neugierige Ader zu verstehen. Ich hatte sie selbst in gleichem Maße. »Sag mal, glaubst du, daß man hier rauchen darf?« »Warum eigentlich nicht?« antwortete Lucy. »Könnte selbst einen Sargnagel vertragen.« Sie blätterte wieder ihren Stapel Datenchips durch und warf einen in den Schlitz dann ließ sie ihn gleich wieder herausspringen. »Nein, den habe ich schon geraucht.« Ich fischte unter meinem Anzug eine Zigarre heraus. »Tut mir leid, daß ich dir keine von meinen anbieten kann, Lucy. Nicht mal Feuer kann ich dir geben.« »Überlaß das mal mir!« Eine winzige Flamme blühte an der Spitze ihrer Greifzange auf. »Bin ich nicht ein richtiges wandelndes Schweizer Armeemesser geworden? Du hast recht, Eddie konnte die Finger nicht davon lassen. Vielleicht ist ihm das Kolonistendasein allmählich langweilig geworden, oder er wollte einfach das Geld für die Kaninchen auftreiben. Also hat er den Fuhrpark und die Goldmine stehengelassen und angefangen, auf der Basis einer zeitlich begrenzten Vereinbarung mit Rothbard die Fälle verschwundener Personen im Haufen zu untersuchen. Hat auch noch einen ganzen Haufen teure Geräte zur Penetratorentdeckung bestellt…« »Halt mal! Meinst du, von Laporte Paratronics?« »Weiß ich nicht. Ich war gerade nicht da, habe freiberuflich ein bißchen juristisch gearbeitet. Ehe ich zurückkam, hatte er sich verdrückt wie ein FBI-Mann aus Philly und mir eine Nachricht hinterlassen, er würde in ein paar Tagen zu Hause sein. Nur – nur ist er nicht gekommen, Winnie.« Nun schwieg sie ein paar Augenblicke lang und sammel-
te ihre Gedanken. Es war unheimlich, im Halbdunkel ihre vertraute Stimme zu hören. Ich war jedesmal von neuem erschrocken, wenn ich hinüberblickte und die Maschine sah, in der ihr Geist jetzt gefangen war. Und ich hatte gedacht, ich sei in Schwierigkeiten. »Er muß irgendeine längere Reise im Sinn gehabt haben, weil er seinen brandneuen Cord zu Hause ließ und einen Flitzer für anderthalb g mit übergroßen Tanks mietete. Ich kam zurück, fand das HamiltonMedaillon in seinem Schreibtisch, schrie nach dir und machte mich dann auf den Weg hierher Eddies Wagen ist schneller als meiner –, um zu versuchen, ihn über die Mietfirma ausfindig zu machen.« Kokos Bananensplit kam ›per Luftpost‹; er war auf einem winzigen Nagelbett angerichtet – wie man es in Blumenläden verwendet. Sie hob den durchsichtigen Deckel, spießte vorsichtig eine Maraschinokirsche auf und schloß ihn dann wieder. »Und was hast du herausgefunden?« »Hatte keine Gelegenheit, irgend was rauszufinden. Ich war gerade in den ›Admiral Heinlein Arms‹ abgestiegen, als irgend so ein blutegelverseuchter Feigling daherkam und von hinten auf mich schoß.« Schritt für Schritt hatte ich mir bisher meine Pläne zurechtgelegt, nur damit die Ereignisse sie zunichtemachen konnten. Lucys Auferstehung hatte aus meinen letzten Absichten ein wüstes Durcheinander gemacht. Wir beendeten das Essen mit dem Versuch, uns zu entscheiden, wer was tun sollte, und wann. Ich mußte innerhalb von ungefähr achtunddreißig Stunden ein Raumschiff erreichen. Koko war nicht allzu begeistert davon, für sich selbst ähnliche Vorkehrungen zu treffen. Lucy, die mit unserer Hilfe gerechnet hatte, war immer noch nicht davon abzubringen, Eds Spur zu folgen. Inzwischen begann sich der eindrucksvollste Fall von Zeitverschiebung, wenigstens in meiner eigenen Geschichte, bemerkbar zu machen: eine Reise von ein paar hundert Millionen Kilometern, voll von unerwarteten Gefahren und viel zu viel Bewegung für meine seßhaften Neigungen. Lucy erklärte sich einverstanden, Koko auf einem kurzen Streifzug durch die Pellucidar Gardens zu begleiten: Es macht keinen Spaß, allein in einen Vergnügungspark zu gehen. Inzwischen wollte ich
einen Spaziergang zurück in den Sonnenschein machen und ein paar Stunden längst überfälligen Schlaf nachholen. Wir trennten uns draußen an der Ecke, wo der Park auf der anderen Seite wie eine unabhängige, schwebende Welt in einer Welt aussah – obwohl ich wußte, daß es irgendwo gewaltige Stützpfeiler gab, die ihn mit der Stadt verbanden. Eine Million vielfarbiger Lichter und beweglicher Schilder lugte verführerisch durch die schwere Laubdecke. Die Möbius-Bahn stürmte vorbei, mit fröhlich kreischenden Passagieren. Ich sah meinen Freunden nach, als sie den Canyon hinunterschwebten, Lucy zog Koko hinter sich her, dann schaute ich mir auf meinem Gesichtsbildschirm eine Landkarte an, die aufmerksamerweise von der Kaufmannsgenossenschaft übertragen wurde. Selbst wenn die Kapuze unten auf meiner Brust hing, war der verdammte Patentanzug praktisch; ich wurde schon richtig abhängig davon. Wenn an einer Straßenecke wenigstens sechzehn Unternehmen arbeiten, kann man schon durcheinanderkommen. Ich gelangte mit einer vielversprechenden Kombination von Schleppseilen bis zum Fahrstuhl, wobei ich mich unterwegs zweimal verirrte, flitzte schließlich zur Oberfläche und trat dort in die Hotelhalle, froh, wieder fest auf meinen Füßen zu stehen, wenn auch nur mit zehn Pfund pro Extremität. Ich trat an den Empfang. »Ich heiße Win Bear – habe schon vor einiger Zeit meine Taschen hier abgestellt. Ich habe ein Zimmer reserviert, bis die ›Lord Kalvan‹ zur Erde startet.« Ich blickte mich um. Nach einigen Stunden in der Tiefe kamen mir Wände und Decken seltsam leer vor, beinahe vergeudet. Die Angestellte tippte die notwendigen Daten ein. »Das ist richtig«, sagte sie. »Ihr Zimmer ist im dritten Stock, Nummer 313. Ich sehe auch, daß eine Nachricht für Sie da ist und hmm, das ist seltsam – der Geschäftsführer möchte Sie gerne sprechen, wenn es Ihnen paßt.« Sie sah auf dem Anzugbildschirm, der vor ihr herunterhing wie eine große Taschenuhr aus Gummi, nach, wie spät es war. »In einer Viertelstunde geht er zum Essen – danach kommt er in einer Stunde wieder.« »Dann bringen wir's am besten gleich hinter uns.« Die kleine Schimpansin führte mich durch einen Gang nach hinten, öffnete die Bürotür und ließ mich eintreten.
Irgendeine Feministin aus den Staaten hat einmal gewitzelt, eine Frau brauche genauso dringend einen Mann wie ein Fisch ein Fahrrad. Das hier war kein richtiges Fahrrad, und ein Tümmler ist auch kein richtiger Fisch, aber sie sollte sich doch lieber nach einer neuen Metapher umsehen – oder sagt man Gleichnis? –, jedenfalls ruhte der Chef des Hotels, von der Schnauze bis zu den Schwanzflossen in Gummiunterwäsche gehüllt, in einem mit Rädern versehenen Rahmen aus Leichtmetall. »Mr. Bear, nehme ich an. Ich bin Criickleer Akkackack Sweenie. Bitte treten Sie ein und setzen Sie sich!« Sein Vierrad rollte leicht nach vorne, eine Greifzange, ähnlich wie die von Lucy, fuhr aus dem Rahmen, um mir die Hand zu schütteln und zog mir einen Stuhl heran, so daß ich vor dem Schreibtisch saß. Ich setzte mich. »Tut mir leid, Sie zu belästigen, Mr. Bear, aber es ist etwas Seltsames geschehen, und ich glaube, Sie sollten davon erfahren.« »In letzter Zeit stoßen mir anscheinend eine ganze Menge seltsamer Dinge zu. Was ist es denn diesmal?« Ein ganz leises, mechanisches Flüstern, dann streckte sich der Arm wieder aus und bot mir eine Schachtel Zigaretten an. Ich nahm eine und fragte mich, wie all diese glänzenden Apparaturen wohl funktionierten. Die Klauenspitze flammte mit einem Schnappgeräusch auf, genau wie vor einer Stunde bei Lucy. Er zündete sich selbst ebenfalls eine Zigarette an und steckte sie in sein Blasloch. »Nun, ich gebe mir Mühe, das Haus hier gut zu führen. Daher ist es mir sehr unangenehm, so etwas zugeben zu müssen, aber jemand wollte Ihr Gepäck stehlen – ging einfach an der Rezeption vorbei und nahm es vom Ständer in der Halle. Unser Sicherheitsschaltkreis hat es natürlich bemerkt, und wir konnten es unversehrt zurückbekommen.« Mein persönlicher Besitz war anscheinend von Tag zu Tag mehr gefragt. Zuerst der Eindringling auf der ›Bonaventura‹ und jetzt das hier. Nennen Sie mich einfach den Mann mit der Millionen-DollarUnterwäsche. »Was ist mit dem Dieb?« »Das ist das seltsamste von allem. Sie brach spontan zusammen, sobald wir sie festgenommen hatten. Jetzt ist sie auf der Unfallstation von Nivenville, und der Heiler dort hat sehr wenig Hoffnung.«
Ich dachte darüber nach. »Haben die irgend etwas von einer ›Gehirnsonde‹ gesagt?« »Lassen Sie mich überlegen – ein kleiner Schaltkasten, nicht größer als ein Hering?« Ich nickte. Er auch – auf eine fischige Art und Weise. »Nun, sie sagten, es würde einige Zeit dauern, bis… Werden Sie für die Leichenschau zur Verfügung stehen?« Er blies einen dünnen Rauchfaden aus seinem Hinterkopf. Hoffentlich hat man es nicht ganz so eilig, mich einmal unter die Erde zu bringen, wenn die Zeit kommt. »Kommt darauf an. Falls die ›Bonaventura‹ dann noch in Gunter's Landing ist, schlage ich vor, daß Ihr hiesiger Knochensäger Kontakt mit einem Gorilla namens Francis Pololo aufnimmt. Seine Aussage ist viel wertvoller als die meine. Er versteht etwas von Gehirnsonden – genug, um sie gründlich zu verabscheuen. Was mich angeht, so möchte ich nicht unkooperativ sein, aber bei mir zu Hause ist ein Notfall eingetreten, und wer immer mich zwingen möchte, hierzubleiben, muß schneller ziehen können als ich. Ich würde jetzt gleich zur Klinik hinübergehen, aber ich habe schon ziemlich lange kein Auge mehr zugetan, und vermutlich hat es noch etwas Zeit.« »Möglicherweise für immer, Mr. Bear. Möglicherweise für immer.« Ich verließ das Büro und ging nach oben. Vielleicht waren meine Überraschungsmuskeln einfach überanstrengt: Skilifts in Vororten; Tümmler auf Rädern; sprechende Konservenbüchsen (solange Lucy nicht in der Nähe war und es hören konnte). Der Raum wirkte auf mich wie eine hübsche, ruhige, vertraute Oase, bis ich erkannte, daß das eigentlich schon wieder überraschend war. Zum Beispiel die Möbel: Bei einem Zehntel g sollte die Einrichtung eigentlich futuristisch spindelförmig sein. So wird es auf dem Telekom gezeigt. Aber überall werden Möbel mehr dafür gebaut, physischer Zerstörungskraft zu widerstehen als der Schwerkraft. Wenn Sie sich in einen Sessel fallen lassen, muß er immer noch Ihren vollen Schwung auffangen – und bei niedrigerer Schwerkraft kann man sich mit viel höherer Geschwindigkeit fallen lassen. Wenn ich einen Unterschied feststellte, dann, daß die Möbel schwerer werden dann schlittern sie ein bißchen weniger herum, nehme ich an.
Ich überprüfte den Inhalt meiner beinahe gestohlenen Übernachtungstasche und meiner Aktenmappe. Soweit ich sehen konnte, fehlte nichts; ich schälte mich aus meinem Patentanzug und glitt zwischen die magnetisch verankerten Laken. Dann erinnerte ich mich seufzend, daß ja am Empfang immer noch eine Nachricht auf mich wartete. »Das ist richtig«, sagte das Telekom. »Sie sind Mr. Bear von 313.« Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, daß Hotelangestellte einem immer unbedingt versichern wollen, daß man man selbst ist? »Einen Augenblick… Da ist es. Sie haben eine Stasis-Koje auf der ›Lord Kalvan‹ für morgen spät abends gebucht? Tja, Mr. Bear, es tut mir leid, der Start der ›Lord Kalvan‹ ist verschoben worden, auf unbestimmte Zeit.« »WAS?« Allmählich wurde es lächerlich. »Wieso? Können Sie mir kein anderes Schiff besorgen? Es ist doch ein Notfall!« »Es tut mir sehr leid, aber hier scheint auch ein Notfall vorzuliegen, eine allgemeine Warnung vor allen interplanetarischen Reisen: außergewöhnlich energiereiche Sonnenfackeln, heißt es hier, sehr starke Sonnentätigkeit. Bis auf weiteres werden keine Buchungen angenommen.« Ich dachte an D. J. und Ooloorie. Waren sie in Sicherheit, so nahe am Feuer? Oder waren sie einfach kleine Fetzen, die jetzt im Photonenwind herumgeblasen wurden? Augenblick mal, hatten sie mit ihrer Herumpfuscherei diese Katastrophe vielleicht selbst ausgelöst? Das war ein verdammt beunruhigender Gedanke! Und der folgende auch: Clarissa brauchte mich, und ich saß hier fest.
8. Kapitel Die Gehirnsonde Im ersten Jahr, in dem wir zusammen waren, fragte ich mich oft, ob Clarissa nicht das Gefühl hatte, unter ihrem Stand geheiratet zu haben. Ich meine, weil sie doch eine großartige Ärztin war und ich nur ein Zweipfennigbulle. Ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen: In der Konföderation sind Detektive abscheulich respektabel und gutbürgerlich. In der Konföderation ist jedermann gutbürgerlich. Die Heiler haben nicht die Vorteile, mit denen die Ärzte in den Staaten um sich werfen: Es gibt einen ganzen Haufen mehr von ihnen; sie müssen rausgehen und sich anstrengen, Hausbesuche machen. Und so gleicht es sich aus. Nun könnte Clarissa so eine besondere Ärztin sein, sogar in Laporte, so eine mit reichen, hypochondrischen Patienten und einem Stethoskop aus massivem Platin. Sie ist gut genug dafür, hat die richtige Hand. Ich glaube, sie könnte die Mumie von Ramses II. aus ihrem Loch holen, auf die Beine bringen und innerhalb einer Woche Mazurka tanzen lassen. In drei Tagen, wenn er seine Diät einhält. Aber ich erinnere mich an hundert Magenkrämpfe verursachende Nächte wie die, die ich damit verbrachte, ihr silbernes Besteck zuzureichen, wobei ich mich bemühte, nicht nach unten zu schauen, während sie zusammennähte, was von einem sechs Jahre alten Nachbarskind noch übrig war, das sich – zu früh an eine Büchse Pistolenpulver herangewagt hatte. Acht volle Stunden, und als sie damit fertig war und ich glaubte, jetzt könnte ich mich fortschleichen und mich irgendwo ganz leise übergeben, zog sie die stark angesengten Trümmer einer Straßenkatze – ein durchlöcherter, kleiner Fetzen blutigen Fells – aus der Stasis, wo sie ihn abgelegt hatte, und wiederholte das ganze Zeremoniell, damit der kleine Bursche, wenn er am nächsten Morgen aufwachte, auf seiner Brust das schnurrende Kätzchen vorfand. Wie ich schon sagte, sie hatte die richtige Hand. Ich verließ mich nicht auf die Zimmersekretärin, sondern rief selbst H, T & H an. Auch die Pan-Konföderation, Trans-System – wenn es
eine Avisfiliale für interplanetare Reisen gegeben hätte, hätte ich es auch bei denen versucht. Jede einzelne dieser Firmen war auf dem Sprung und hoffte, das Feuerwerk würde aufhören. Maschinen nach draußen starteten noch: Triebwerksschilde am südlichen Ende eines nach Norden gerichteten Rumpfes genügen für solare Strahlung bis zum Wendepunkt – und es herrschte kein Mangel an Kunden oder Besatzungsmitgliedern, die bereit waren zu wetten, daß die alte Sol ihren Schluckauf in ein bis drei Tagen überwunden haben würde. Aber sonnenwärts, das war eine ganz andere Geschichte: Kaum ein Raumfahrer im ganzen Gürtel würde Gehalt und Zulagen dafür verspielen, daß er am Ende vielleicht auch noch gegrillt wurde. Ich war inzwischen wieder hellwach. Ich gab eine Nachricht für Koko ein, und als ich versuchte, Forsyth zu erreichen, erfuhr ich, daß die Telekomverbindungen im Augenblick unterbrochen waren; da beschloß ich, selbst nachzusehen, was man auf den Asteroiden unter medizinischer Versorgung versteht. Die Konföderierten betrachten einen Krankenhausaufenthalt als beschämendes Überbleibsel aus der Vergangenheit wie das Auspeitschen von Geisteskranken oder die Berufung auf souveräne Immunität –, die schlimmste Strafe, die man einem Kranken antun kann. Man bedenke nur all die interessanten Krankheiten, die hier an einem einzigen Ort zusammenkommen, das unvermeidlich miserable, weil von einer Bürokratie bereitgestellte Essen, die ständigen Störungen gleich vor der Tür, die Art und Weise, wie man Leute aufweckt, um ihnen Schlaftabletten zu geben. Meine einzige Erfahrung als Patient in den Staaten – ein Loch im Brustmuskel von einer .22er Kugel – hatte all das enthalten: durch die glattgebohnerten Linoleumkorridore zu stolpern wie Methusalem an seinem neunhundertsten Geburtstag, sich schwach auf einen trügerisch unsteuerbaren, intravenösen Tropfständer zu stützen, den Nachtpfleger, der um Mitternacht schrie: »Intensivstation, Intensivstation, Atemstillstand!« und dann ein paar Minuten später: »Als Versuch nicht schlecht, Intensivstation!«; ältere Zimmergenossen, die husteten, schnarchten, keuchten und stöhnten, alles in dem sicheren Bewußtsein, wenn dieser Aufenthalt ihnen nicht den Garaus machte, würde es bestimmt der nächste tun; den Bauunternehmer in mittlerem Alter, mit
dem ich in einem Zimmer lag und der unaufhaltsam nach kitschigen Fernsehserien süchtig wurde; den leisen Singsang der Letzten Ölung irgendwo unten auf dem Korridor. Das sind einige meiner liebsten Erinnerungen. Mein erstes, medizinisches Abenteuer in der Konföderation war anders verlaufen. Nachdem Clarissa mich wieder zusammengeflickt hatte, hatte ich mich im Bett erholt, zu Hause. Das hatte meine Genesungszeit wahrscheinlich um die Hälfte verkürzt. Jetzt machte ich mich auf den Weg zur Dusche, wobei ich mich nicht besonders auf diese Aufgabe freute. Bei nicht mehr als einem Zehntel g wird körperliche Hygiene zu einer aufwendigen, Platzangst erzeugenden Feuerprobe. Auf dem Weg zum Badezimmer dämmerte es mir allmählich, daß ich das Waschen eigentlich gar nicht so nötig hatte. Seltsam, dabei war ich doch den ganzen Morgen in einem Overall aus Gummi eingesperrt gewesen. Tatsächlich, als ich in meiner Suite das Programm des Besitzers abrief, entdeckte ich, daß man auf den Asteroiden die Duschkabinen bald in Museen verbannen wird. Außer in Hotels – für Leute vom Land. Vermutlich war ich nicht viel mehr schockiert als die ersten Elisabethaner, als ihre jungfräuliche Königin eine Badewanne aufstellte und anfing, sie regelmäßig zweimal im Jahr zu benützen, ob sie es nötig hatte oder nicht. Diese Sache mit dem Patentanzug würde sicher Zeit sparen; vielleicht konnte ich ihm auch beibringen, mich zu rasieren. Ich fragte mich, ob ich nicht zu Hause ganz allein eine neue Mode kreieren sollte. Die Annehmlichkeiten von Kleinstädten und die Höflichkeit und Aufrichtigkeit ihrer Bewohner sind sehr zu bewundern. Als ich wieder in meinem Anzug steckte, trat ich in den Sonnenschein hinaus auf vertraute, grasgepolsterte Straßen. Der Fahrer eines Luftkissentaxis ersparte mir ein halbes Zehntelstück, indem er mir freiwillig sagte, daß die Unfallstation von Nivenville nur eine Minute zu Fuß entfernt sei, das kleine Gebäude aus geschäumtem Metall stand direkt zwischen dem Allgemeinen Warenhaus und einem Friseurgeschäft. Die Asteroider müssen ein gesundes Völkchen sein: Der medizinische Assistent hinter dem Schalter schlief. Ich räusperte mich. Er sprang auf
und streckte instinktiv die Hand aus, um nicht mit dem Kopf gegen die Decke zu rennen. »So so! Gleich zwei Kunden heute. Sie sehen mir aber nicht so aus, als wären Sie krank, Mac. Was kann ich für Sie tun?« Er hob einen Telekomblock auf, der auf den Boden gefallen war, auf dem Bildschirm konnte ich ein Kreuzworträtsel erkennen. »Ich bin wegen Ihrer zweiten Kundin hier, derjenigen, die im Hotel zusammengebrochen ist.« Ich blickte mich in dem Raum um, der eher wie das Büro eines Landtierarztes aussah: Ein paar Untersuchungszellen, ein Praxisraum, vielleicht noch drei oder vier weitere Räume. Auf dem Firmenschild an der Tür stand in roten Lettern: G. A. Scott, Heiler. Der Patentanzug des Assistenten war im Pferdedeckenkaro eines Reisevertreters gemustert. Er deutete lässig mit dem Daumen über die Schulter. »Zweite Zelle rechts«, dann setzte er sich wieder, zog einen Lichtstift aus der Tasche und nahm den uralten Kampf des Menschen gegen 37 senkrecht wieder auf. Die zweite Tür rechts war ein Büro. Der Heiler, in einem medizinisch grünen Anzug ohne jegliches Muster, das eingekreiste, medizinische Kreuz der Konföderation auf einer Schulter, saß gebückt vor seinem Schreibtisch, auf drei verschiedenen Telekomblöcken waren Seiten aus Lehrbüchern zu sehen. »Entschuldigen Sie, ich bin Win Bear.« »Das kann doch gar nicht so schlimm sein. Sie sind wegen des Falles mit der Gehirnsonde hier.« Scott, ein großer Mann mit grauem Bart und rauhen Manieren, die Unterarme von der Sonne beinahe schwarzgebrannt, sah aus, als sei er mit einem Preßlufthammer bei einem Sprengtrupp eher am richtigen Platz – oder vielleicht auf einem Pferd, beim Abschießen arktischer Riesenhasen. »Ich sehe gerade in meinen Nachschlagwerken nach. Ich wette, Sie wußten nicht, daß wir das tun, ehe wir uns einen Patienten vornehmen – wie Schummeln bei einem Examen.« Ich grinste. »Ich bin mit einer Heilerin verheiratet. Ich mußte schwören, dieses Geheimnis zu bewahren, so lange ich lebe. Irgend etwas Interessantes herausgefunden?« »Was haben Sie erwartet? Irgendein Bazillengehirn hat eine im Grun-
de anständige Technik pervertiert, sie wird bei der Kontrolle von Haustieren eingesetzt, oder wenn man Tümmlern und vorübergehend Amputierten Beweglichkeit verleihen will. Ich hatte schon gerüchteweise davon gehört, aber…« Er schlug mit den Handflächen auf den Schreibtisch und stemmte sich hoch. »Kommen Sie hier rüber auf die andere Seite und sehen Sie es sich selbst an!« Der Raum wurde von einer übergroßen, eisernen Lunge eingenommen. Durch das Beobachtungsfenster aus Plastik war eine junge Frau in einem Overall aus Plastik zu sehen, auf der linken Seite ihres Kopfes war eine kleine Fläche kahlrasiert für den Anschluß eines bekannt übel aussehenden, nanoelektronischen Gerätes. Scott spielte an den Apparaturen herum und nahm minimale Korrekturen an den Scheiben vor, sein Gesicht zeigte dabei einen Ausdruck müder Besorgnis. »Stasis, nicht wahr?« fragte ich. »Sie sieht genauso aus wie die andere.« Er schwang herum und sah mich an, seine jetzt schon wütende Stimmung verschlimmerte sich noch. »Was für eine andere?« Ich erzählte ihm von dem Mädchen auf der ›Bonaventura‹ und entdeckte dabei, daß ich viel mehr von meinen eigenen Angelegenheiten sprach, als ich eigentlich vorgehabt hatte. Manche Heiler haben diese Wirkung. »Ich schlage also vor, daß Sie mit Dr. Pololo sprechen. Er ist in dieser Sache nicht nur der gleichen Meinung wie Sie, sondern verfällt wahrscheinlich gerade still und leise dem Wahnsinn, weil sein Schiff am Boden festsitzt.« Er schnappte sich einen Telekomblock von der Wand und tippte Zahlen ein. Über seine Schulter hinweg sah ich, wie sich eine Schimpansin meldete – in Gunter's Landing. Durch die breiten Fenster hinter ihr sah man den sternenübersäten Himmel, eisig schwarz. »Sarah, wo kann ich den Knochensäger von der ›Bonaventura‹ finden, wenn er nicht gerade damit beschäftigt ist, Patienten zu mißhandeln?« Sie lachte. »Die meisten Leute von der Besatzung hier draußen sind noch an Bord und bemühen sich, unsere Übergangseinrichtungen nicht zu überlasten. Dieses Wetter bringt alle möglichen Schwierigkeiten mit sich.« Sie hielt einen dicken Packen Fotokopien vor das Aufzeichnungsgerät, dann warf sie sie wieder auf den Schreibtisch. »Kennen Sie jemanden, der vierzig Tonnen leicht überreifer Bambussprossen haben
möchte?« »Entschuldigen Sie«, unterbrach ich und machte mich auf eine neue Witzelei von Scott gefaßt, »aber ist es dort draußen im Krater nicht gefährlich für euch? Schließlich ist eine Sonnenfackel…« »Ist das einer Ihrer weniger erfolgreich Operierten, Doc, oder nur ein Schwerkraftmolch? Hör zu, Kumpel, die Wände um den Landeplatz sind ein viel besserer Schutz als jede Atmosphärenhülle aus Plastik. Und jetzt verschwinden Sie bitte, ich ersaufe in Arbeit.« Als sie ausschaltete, stürzte der medizinische Assistent herein, das Kreuzworträtsel baumelte von seinen Fingern. »Das ist ja eine richtige Seuche! Da draußen ist schon wieder so ein Clown, der Sie sprechen will, Doc. Halten Sie dieses mörderische Tempo durch oder soll ich die Notbremse ziehen?« »Laß ihn rein und halt dich raus, Dave! Und noch etwas, paß auf, daß niemand dein Strickzeug sieht.« Er deutete auf das Rätsel auf dem Bildschirm des Blocks. »Wir könnten uns wenigstens darum bemühen, den Schein zu wahren.« »Wie Sie meinen, Chef.« Er blickte auf das Rätsel hinunter. »Wissen Sie ein Wort mit acht Buchstaben für ›ungehobelter Barbar‹?« »D-U-S-E-L-B-S-T«, antwortete der Heiler. »Rindvieh«, murmelte der Assistent respektlos. »He – das ist es. Oder schreibt man das mit Bindestrich?« »Wenn du jetzt sofort wie ein Gedankenstrich hier rausflitzt, verrate ich dich nicht. Ab!« Einen Augenblick später verriet das Gummischlappengeräusch von Füßen in einem Patentanzug die Ankunft einer vertrauten Pelzgestalt. »Win Bear. Wir dürfen uns nicht ständig in dieser Weise begegnen.« »Francis, ich habe im Augenblick soviel Humor geschluckt, daß ich… daß ich eine Woche nicht mehr aufhören kann zu lachen. Wir haben gerade versucht, Sie zu erreichen.« »So? Na ja, da ist Ihnen ein ›Tursiops‹ im ›Le Petit Prince‹ zuvorgekommen.« Der Gorilla machte eine Pause, nahm seine Nickelbrille ab und polierte sie. »Dr. Scott, soviel ich erfahren habe, haben Sie noch ein Gehirnsondenopfer. Das letzte hat Wins Amateurchirurgie nicht über-
lebt.« »Ich habe davon gehört.« Er zeigte auf den Stasistank. »Ich bin nicht sicher, daß die hier viel besser dran ist. So in der Schwebe kann ich sie nicht operieren, und sobald ich das Feld abschalte, verlieren wir sie allmählich.« Francis spähte über den oberen Rand seiner Brille in die Kammer. »Jung, weiblich, menschlich – genau wie die andere. Rechtshänderin, der Plazierung der Sonde nach zu urteilen.« Er griff in eine Tasche und zog seine kleine Zigarillodose heraus. Ich nahm eine, Scott lehnte mit einem professionell mißbilligenden, finsteren Blick ab. »Ich konnte einige Erkenntnisse aus der Autopsie gewinnen. Dieses Gerät, mit dem wir es hier zu tun haben, ist höchst raffiniert, eigentlich ein elektronischer Parasit.« »Wieso sagen Sie das?« Ich hielt mein Bic an beide Zigarren. »Weil«, antwortete der Gorilla, »es mehr ist als ein einfaches Implantat. Es WACHST.« »Was?« keuchte Scott. Ich hinkte nicht weit hinterher. »Das ist richtig, so ähnlich wie das Verfahren, nach dem sich ein beschädigter Patentanzug selbst repariert; aber dieses Ding holt sich Eisen, Spuren von Kupfer und ich weiß nicht, was noch alles, direkt aus dem Blut und dehnt seinen Zugriff immer weiter aus. Ich habe mindestens hundert Gehirnbezirke entdeckt, an die es sich selbst angeschlossen hatte. Mir wird übel, wenn ich darüber nachdenke. Haben Sie von der hier Aufnahmen gemacht?« Scott lehnte sich gegen den Stasistank und schüttelte den Kopf. Unter der schützenden Schroffheit war weniger professionelle Distanz verborgen, als ich vermutet hatte. »Ihr Zustand war zu schlecht. Diese verdrehten, perversen…« »Sie können nicht mit Röntgenstrahlen oder sonst etwas in den Tank hineingehen, oder?« Er warf mir jenen bestimmten Blick zu, den Ärzte für bloße Laien auf Lager haben, die es wagen, medizinische Ansichten zu äußern. »Ohne Stasis haben wir vielleicht fünf Minuten Zeit. Sonst noch Vorschläge« –
er starrte mich wieder strafend an – »von QUALIFIZIERTEN Beobachtern?« Francis antwortete: »Ich weiß nicht einmal, wie sie getötet wird, obwohl das verdammte Ding da drin es auf ein Dutzend verschiedene Arten schaffen könnte. Was haben wir denn für Symptome?« »Alles durchgängig niedrig – Atmung, Puls, EEG, endokrine und lymphatische Funktionen, sogar das Knochenmark, bei Albert. Es ist, als…« »Als würde sie abgeschaltet«, platzte ich dazwischen. »Und kommen Sie mir nicht mit dem Quatsch von wegen ›qualifizierter Beobachter‹! Ich habe siebenundzwanzig Jahre lang auf einem verwandten Spezialgebiet gearbeitet – im Morddezernat.« »Schon gut, schon gut.« Scott sah mich mit aufkommendem Respekt an, während Francis gluckste und nach einem Aschenbecher herumsuchte. »Irgendwelche Vorschläge ganz gleich von wem?« Ich überlegte. »Solange sie in Stasis ist, geht es ihr gut, wenn man da von Leben sprechen kann. Sobald Sie versuchen, ihr zu helfen, stirbt sie, weil dieses Ding es ihr befiehlt. Ihr Burschen solltet nicht an der Patientin arbeiten, sondern an diesem gottverdammten Batzen Nanoschaltungen!« Scott schnaubte. »Das ist ein kompliziertes, lebensgefährliches kleines Spielzeug. Man kann nicht einfach…« »Und wer äußert sich jetzt außerhalb seiner beruflichen Kompetenz?« Francis ging durch den Korridor ins Büro und drückte seine Zigarre in Scotts Papierkorb aus. »Ich gebe Win recht. Wir brauchen einen Spezialisten.« »Ich kenne einen Kybernetikingenieur«, schlug ich vor, »obwohl sie nie vorhatte, in diesem Beruf zu landen. Wenn wir eine der letzten fünf Minuten dieses Mädchens dazu verwendeten, das Gerät abzutasten, das sie tötet, könnte man sie dann nicht wieder auf Warten stellen, bis wir herausgefunden haben, wie es zu exorzieren ist?« »Ihre Patientin ist es, Heiler«, sagte Francis. »Nein«, gab Scott zurück, »aber dieses Kind hier hat nicht viel Hoffnung, ganz gleich, was wir unternehmen.«
Lucy war nicht schwer zu finden. Im ›Admiral Heinlein Arms‹ teilte man mir mit, daß sie mir in bezug auf Taschenmelder überlegen war – sie brauchte nicht einmal eine Tasche. Drei Worte, und schon war sie unterwegs, mit meinem mürrischen Lehrling im Schlepptau. Fünfzehn Minuten später gab es ein regelrechtes Gedränge um den Stasistank, die Heiler waren verblüfft und konzentrierten sich mindestens zur Hälfte auf Lucys faszinierenden Zustand. »In einer Beziehung sind wir im Vorteil«, bemerkte sie. »Sie haben den Behälter durchsichtig gemacht. Ich brauche nur ein wenig Ellbogenfreiheit – ich habe Fähigkeiten, an die Burschen wie Gray, Bell und Edison nicht einmal im Traum gedacht haben.« »Ganz zu schweigen von Don Ameche.« »Halt den Mund, Winnie!« Sie scheuchte uns alle in den Korridor. Weder Scott, noch sein Assistent schienen allzu glücklich darüber, daß sie in ihrem eigenen Reich herumkommandiert wurden. Wir belagerten die Tür, und einer drückte dem anderen die Ellbogen in die Rippen, während Lucy so dicht an den Tank heranschwebte, wie es ihr konischer Rumpf zuließ. Ihre Arme wurden ausgefahren, bis die Greifzangen den Boden berührten. Dann, als ihr Torso sich hob, kippte sie nach vorne gegen das Beobachtungsfenster und blieb ein paar Augenblicke lang so hängen, schließlich senkte sie sich wieder auf den Boden. »So, jetzt dürft ihr mal alle miteinander herschauen.« Wie mein brandneuer Patentanzug, so war auch Lucys Haut von einem schlichten, schmucklosen Silbergrau gewesen. Jetzt wurde sie allmählich heller, zeigte etwas Farbe. Ich erkannte das Bild der Gehirnsonde in ihrem Plastikgehäuse, dreißig- oder vierzigfach vergrößert. Es sah aus wie ein Transistorradio mit offener Rückseite. »Seht ihr etwas, das euch bekannt vorkommt?« Sie zeigte uns einen Zentralprozessor, umgeben von einem Dutzend anderer Chips. Die Kapazität dieses Dings mußte gewaltig sein. »Das ist ein Lonestar Instruments 4311-C.Und hier sind zwei Nanodata 6517. Sagt mir einiges, gerade hier.« Francis drängte sich in den winzigen Raum, wühlte tief in seinen Taschen und hielt Lucy einen Gegenstand an losen Drähten bildlich ge-
sprochen direkt unter die Nase. »Wenn es etwas nützt, hier ist die Sonde, die ich auf der ›Bonaventura‹ entfernt habe.« »Mensch, ich will ein gebatiktes Quark sein. Die Schaltungen sehen fast genauso aus. Andererseits darf man nicht vergessen, daß die andere hier noch funktioniert. Das Ding, was Sie da haben, ist toter als ein Demokrat.« Das Bild auf ihrer Oberfläche veränderte sich, wurde weit schematischer. »He, Scotty, schalten Sie mir mal fünfzehn Sekunden lang die Stasisenergie ab. Das müßte ausreichen, um das Prinzip von dem Ding da rauszukriegen.« Scott quetschte sich in dem Raum. »Sind Sie sicher, daß es genügt? Ich möchte das wirklich nicht gern zweimal machen müssen. Und nennen Sie mich nicht immer Scotty, Mrs. Kropotkin!« »Nennen Sie mich nicht Mrs. Kropotkin! Ich bin Lucy auch wenn ich aussehe wie eine miniaturisierte Apollokapsel. Fünfzehn Sekunden müßten gut sein – bei mir läuft heutzutage vieles in Nanosekunden ab, und den Rest müssen wir bei der Wiederholungsaufzeichnung kriegen.« Scott stellte sich ans Ende des Tanks und klappte den Sicherheitsdekkel eines Schalters zurück, während Lucy sich wieder in die richtige Position kurbelte. »Jetzt!« Es geschah nichts Spektakuläres; ich weiß nicht, was ich erwartet hatte: unheimliche Purpurstrahlen, vielleicht Theraminmusik: Der Heiler legte den Schalter wieder um und klappte den Deckel nach unten. »Okay«, sagte Lucy, »vereinzelte Neutrinos, Magnetfelder, verschiedene andere Nebenerscheinungen bitte kommen!« Auf ihrer illustrierten Oberfläche bildete sich allmählich eine neue, nicht zu entziffernde Schicht, zum Teil in Farben, von denen ich nicht glaube, daß ich sie schon einmal gesehen habe. Lucy verfolgte eine Windung nach der anderen, isolierte die Funktionselemente der Gehirnsonde. »Ich hab's! Ein oder zwei Minuten muß ich an dem Ding da arbeiten, dann schaltet es sich selbst ab, statt die Kleine da drinnen. Hat jemand was zu trinken da?« Dave warf Lucy einen skeptischen Blick zu, dann sah er Scott an und der nickte. Ein Zweilitersäckchen tauchte aus einer Aktenlade auf, zusammen mit einem kleinen Stapel Metallbechern.
»Der Chef sagt, ich muß das unter L ablegen«, sagte der Assistent, »weil es…« »Für Likör steht?« riet Koko. »Oder für ›Old Lysander‹?« versuchte sich Lucy und bezog sich damit auf ihre Lieblingsmarke. »Oder die Leber zerstört?« schlug Francis vor. »Nein, weil Dave es so sehr LIEBT«, erklärte der Heiler. »Es lenkt ihn von Kreuzworträtseln ab. Sagen Sie, Lucy, wie wollen Sie das denn trinken?« »Eine gute Frage«, stimmte ich zu. »Ich dachte, du befriedigst deine Laster mit Hilfe von Datenchips?« Lucy stieß ein elektronisches Prusten aus. »Ihr Jungs solltet euch mal auf eure Manieren besinnen. Und holen Sie mir eine Pipette, Dave. Für Becher bin ich nicht ausgerüstet.« Sie nahm vorsichtig ein oder zwei Tropfen, dann drehte sie uns schamhaft den Rücken zu. »Vermutlich bin ich jetzt ein leichtes Flittchen. Aha! Genau die richtige Nährlösung!« Sie drehte sich wieder um und sah uns an. »Sagt mal, was ist eigentlich los? Trinkt hier sonst keiner was?« Ich begriff nie, wie die Gehirnsonde funktionierte, nur, daß sie in relativ kurzer Zeit umprogrammiert werden konnte, sobald Lucy einmal angefangen hatte, damit zu ›sprechen‹. Die wirkliche Chance war eine Funkverbindung, durch die das Opfer vermutlich hin und wieder neue Anweisungen erhielt. »Warte mal eine Minute!« Ich packte Lucys Arm, als sie und Francis wieder zum Stasistank zurückwollten. »Folgt daraus nicht, daß derjenige, der mich durch einen gelenkten Mörder töten wollte, vielleicht persönlich auf der ›Bonaventura‹ gewesen sein könnte? Ich meine, nachdem der erste Versuch fehlgeschlagen war…« »Weiß ich nicht, Winnie«, sagte Lucy. »Da muß ich erst ein bißchen drüber nachdenken. Ich bin nicht überzeugt, daß es bei allen drei Versuchen dieselbe Seite war, die dir an den Kragen wollte.« Das war ein Aspekt, den ich noch gar nicht in Betracht gezogen hatte. »Aber natürlich«, sagte Koko. »Wer hätte es denn sonst sein können?«
Francis blickte einen Augenblick lang zu ihr auf, dann verzichtete er auf den Streit und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Patientin im Tank. Scott spielte sich jetzt wieder als Besitzer auf. »Sie wird noch schwach sein, wissen Sie. Wenn wir die Sonde abschalten können, kommt sie sofort wieder in Stasis, bis ich ein Genesungsprogramm aufgestellt habe. Das kleine Mädchen wird noch ziemlich lange krank sein.« Lucy stand vor dem Tank und Scott neben dem Schalter, als Francis und Dave sich anschickten, den Deckel zu heben. Auf ein Zeichen hin wurde der Schalter umgelegt, und als der mechanische Sarg sich öffnete, setzte über den halben Meter Entfernung zwischen Lucy und dem diabolischen Gerät auf dem Kopf des Mädchens hinweg ein Austausch von Signalen ein. Langsam wich die tödliche Spannung sichtbar aus dem geschwächten Körper der Patientin, sie bekam wieder ein wenig Farbe. Dann begann sie gleichmäßig zu atmen, und Scott, der die Lebensfunktionen beobachtete, blickte befriedigt drein. Plötzlich stützte sich das Opfer mit einem Ruck auf einen Ellbogen, Verwirrung und Entsetzen standen in ihren Augen. Ich trat unbewußt einen Schritt vor, und sie richtete den Blick auf mich, erschrak und wich in den Tank zurück. Scott sprang an ihre Seite, wollte sie veranlassen, sich hinzulegen. Der Ausdruck wilden Entsetzens auf ihrem Gesicht verstärkte sich, sie ließ die Augen nicht von mir. »Sie! Ich muß… Was ist los? Wer seid ihr alle? Ich muß… Wißt ihr nicht, was vorgeht? ›Aphrodite‹ weiß nicht, was es ist, aber es macht den Stimmen Angst, die von den Sternen fallen!« Sie brach zusammen. Scott und Francis prüften die Lebensfunktionen, während Dave eine Injektion vorbereitete. Sie ließen sie ein paar Sekunden lang wirken, dann schlossen sie den Deckel und schalteten das Stasisfeld wieder ein. »Ich glaube, jetzt kriegen wir sie durch«, stellte Scott fest. »Sind Sie sicher, daß die Sonde völlig inaktiviert ist?« »Kein Funken mehr«, antwortete Lucy, »sie absorbiert nur die Anschlüsse im Gehirn wieder. Wenn das Mädel ein oder zwei Tage aus der Stasis raus ist, fällt das Ding höchstwahrscheinlich einfach ab.«
»Was wollte sie wohl sagen?« fragte Francis. »Hatte dieses Gerede irgendeinen Sinn für Sie, Win?« »Teilweise. Es war ziemlich deutlich, daß sie nicht wußte, wo sie sich befand.« »Und ebenso deutlich waren die Reste negativer Konditionierung gegen Sie.« Er putzte seine Brille noch einmal und setzte sie auf. »›Aphrodite‹, Stimmen, die von den Sternen fallen – was soll das alles heißen?« Ich überlegte. »Sie haben mehr Erfahrung mit Delirierenden als ich: Stimmen von den Sternen – diese mysteriösen Signale, die man aufgefangen hat. Und ›Aphrodite‹ – na ja, jetzt wissen wir wenigstens, wo die Schurken wirklich sitzen.« »Wissen wir das wirklich?« fragte Koko. »Win, mir kommt ein schrecklicher Gedanke – vielleicht ist er auch nur albern. Ihr habt doch gesagt, diese Gehirnsonde hätte eine Funkschaltung, richtig?« »Richtig, aber – Mensch! Koko, ich hoffe, das ist wirklich nur ein alberner Gedanke.« »Das hoffe ich auch, Boss. Der Gedanke, daß wir gerade eine Invasion aus dem interstellaren Raum erleben, gefällt mir gar nicht. Und auch noch per Fernsteuerung!«
9. Kapitel Jede Minute wird ein neuer geboren »Winnie, du warst jetzt lange genug nackig!« Lucy packte mich am Arm und fing an, an den Knöpfen des Patentanzugs herumzudrücken. »Was fällt dir eigentlich ein?« Ich riß meinen Arm weg, konnte aber nicht mehr verhindern, daß meine Füße sich orange färbten. Ich sah sie mir an und erschauerte. Wir waren in mein Zimmer im ›Le Petit Prince‹ zurückgekehrt und hatten es den Burschen von der medizinischen Fakultät überlassen, Pläne für die Rekonvaleszenz meiner Kofferdiebin zu machen. Jetzt saß Koko zurückgelehnt in einem Stuhl – Gorillas sind ein weiterer Grund dafür, daß extraterrestrisches Mobiliar so massiv ist – und sah sich auf meinem Gigakom einen Film an. Wahrscheinlich ›Schlafenszeit für Bonzo‹. Sie blickte zu mir auf. »Lucy hat recht, Boss. Du brauchst ein bißchen Verschönerung, ein bißchen Flair, so wie ich.« Ihr Patentanzug war aufgeputzt wie die Uniform eines Revolutionsoffiziers – der Kontinentalarmee natürlich. Ihre schnittige, hypermoderne Whitney .464 verdarb die Wirkung ein wenig; es hätte ein Säbel sein müssen, oder wenigstens ein Steinschloßgewehr. »Paß auf!« sagte ich. »Wenn du rumlaufen willst wie an Halloween, ist das deine Angelegenheit. Laß die Dinger bitte in Ruhe, Lucy!« Sie hatte noch ein halbes Dutzend Knöpfe gedrückt, während ich mich mit Koko stritt, und den Rest meines Anzugs in glänzendes Schwarz verwandelt. Die Füße hatten immer noch die Farbe von Tangerinen, jetzt auch noch mit einer ganz leichten Andeutung von Schwimmhäuten. Sie schlugen sich mit dem rosa Teppich. Ich setzte mich aufs Bett und versuchte, ihnen ihr normales Aussehen wiederzugeben. »Ach komm, Winnie, laß mich fertigmachen. Es wird dir… ich schwör's bei meinem Herzen.« »Du hast dein Herz in Nikitas Begräbnisinstitut gelassen.« Ich drehte mich um und sah in den Spiegel. »Dieser weiße Fleck auf dem Bauch,
Lucy, was soll das eigentlich darstellen?« »Das ist eine Überraschung. Und jetzt gib mir deinen Arm.« Sie drückte erneut auf den Knöpfen herum. »Hör zu, wenn du so viel Wert auf Verschönerung legst, wieso bleibt dann dein eigener, kostbarer Korpus völlig unbeleckt davon? Entschuldige, vergiß es! Ich wollte nicht…« »Ist schon gut, Winnie. Wenn ich so darüber nachdenke, hast du ja recht.« Ihre Haut leuchtete sofort auf. Plötzlich war sie in ihr Lieblingsmuster gehüllt, ein schreiend gelbes Paisley mit einer Menge verschiedener Grün- und Blauschattierungen. Sie sah aus wie ein riesiger Teewärmer. »So, wie gefällt dir das?« »Unsere Freundschaft zwingt mich, jeglichen Kommentar für mich zu behalten.« Ich sah wieder in den Spiegel. »Jetzt sag mir, was das eigentlich alles soll?« Mein Anzug war durchgehend glänzend schwarz geworden bis auf die orangefarbenen Füße und ein schneeweißes ›Lätzchen‹ auf der Vorderseite. Ich zog argwöhnisch meine Kapuze hoch. Tatsächlich, zwei schwarze, vogelartige Knopfaugen – und ein Schnabel. »Völlig geeignet«, sagte Lucy, »wenn man bedenkt, daß wir uns jetzt gleich auf den Weg zum Südpol machen werden.« »Natürlich, und wenn wir nach Gunter's Landing zurückkehrten, müßte ich mich anziehen wie der Nikolaus – wieso Südpol? Ich muß meinen Frachter erwischen, Lucy, vorausgesetzt, daß er jemals startet.« »Winnie, ich habe Eddies Flitzer unten in Port Piazzi geparkt. Damit kommst du zwar nicht zur Erde zurück, aber auf Bulfinch werden wir's alle viel bequemer haben.« Koko setzte sich abrupt auf. »Wir werden noch 'nen Asteroiden sehen? Junge!« »Na ja, soviel zur Anziehungskraft von Dr. Francis. Wer kann schließlich mit der unerforschten Wildnis konkurrieren?« »Halt mal, Lucy, wie können wir Ceres verlassen, wo doch die Sonnenfackel n…?« »Ich habe vor, eine zusätzliche Abschirmung draufzusetzen. Verunstaltet zwar Eddies brandneuen Cord – ein .23 Ad Astra, so hübsch, wie man ihn nur kriegen kann. Aber so können wir nach Hause. Bis die
›Lord Kalvan‹ ihre Triebwerke startklar hat, können wir seine Notizen und Aufzeichnungen durchgehen und vielleicht rauskriegen, was mit ihm passiert ist.« »O nein, da spielt sich nichts ab! Du wirst mich nicht so klammheimlich um den Finger wickeln! Ich bleibe hier auf Ceres, bis der Fackelalarm vorüber ist, und dann will ich sofort zu Clarissa zurück.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und starrte Lucy böse an. »Clarissa ist auch vermißt, wenn ich dich daran erinnern darf, Winnie. Was ist so schlimm daran, wenn du mit nach Port Piazzi runterkommst? Dort sammeln sich die kleineren, unabhängigen Schiffe, vielleicht findest du jemanden, der den Flug früher riskiert.« Das war auf eine total verdrehte Weise irgendwie vernünftig. Die größeren, vorsichtigeren Firmen würden warten, bis die Sonne wieder so friedlich geworden war wie eine Zuckermelone. Lohnte sich jedenfalls, sich das mal anzusehen. Aber nicht als Pinguin. Ich löschte Lucys Kunstwerk, dann stellte ich fest, daß mir der schlichte, schmucklose Stil auch nicht mehr zusagte. Ich ließ die Gebrauchsanweisung auf meinem Kapuzenschirm erscheinen und fing nun meinerseits an, Knöpfe zu drücken. »Wie gefällt es euch?« Ich prüfte das Resultat im Spiegel: Grundfarbe blau auf blau, mit einer Doppelreihe messingfarbener Knöpfe auf der Vorderseite. Jetzt mußte ich nur noch einen Helm finden. »Eine Polizeiuniform, circa 1890 – das wäre 114 A.L. bei euch Anarchisten –, seht ihr das Abzeichen? Eigentlich müßte ich 'nen Knüppel haben und – ach ja, das habe ich vergessen.« Ich programmierte eine goldene Kette vor dem Bauch ein, die eine Taschenuhr vortäuschen sollte. Beide waren sprachlos vor Bewunderung. Erst als ich anfing, meine Taschen zu packen, kam es mir in den Sinn, daß ich in dem Hotel überhaupt nicht geschlafen hatte. Nun ist es wirklich nicht so einfach, wenn man Tag und Nacht ignoriert – man schiebt das Schlafengehen immer wieder auf. Ich fragte mich, wie man damit in Alaska fertigwird. Trotzdem schien mir Ceres irgendwie zu bekommen; ich fühlte mich richtig wohl, obwohl Lucys übermenschliche, mechanische Kraft erforderlich war, um meinen Koffer zuzudrücken – bei einem Zehntel g nützt es überhaupt nichts, wenn man sich draufsetzt.
»Lucy, was hast du für ein Gefühl, wenn… – ich meine, wenn du zum Beispiel deinen Arm hebst, hast du dann das Gefühl, daß du wirklich deinen Arm hebst?« »Sicher. Sonst hätte es ja nicht viel Sinn, oder?« Koko schaltete das Gigakom aus – und das erinnerte mich daran, daß ich vergessen hatte, es mit in den Koffer zu packen. Ich stopfte es in eine Tasche. »Wie ist es beim Gehen, Lucy? Du bewegst dich genau wie ein… nun ja, wie ein Luftkissenfahrzeug.« Lucys massiger Körper hob sich ein wenig vom Boden ab, schwebte ein paar Meter weit und senkte sich dann wieder. »Das war für mich wie ein Schritt. Hab mich aber konzentrieren müssen, weil dieses Ding hier alles miteinander verschmilzt, um die Bewegung zu glätten. Ja, anscheinend höre ich auch mit den Ohren und sehe mit den Augen. Paß mal auf!« Ein dünner, dreiseitiger Spalt erschien in dem Raum, zwischen ihren Armen, wurde zu einer Art Falltür, die nach unten aufschwang und in der Waagrechten stehenblieb. Auf der Innenseite der Tür ruhte ein Metallzylinder, dessen halbes Dutzend Mündungen hungrig in meine Richtung blinkten. »Entschuldige, daß ich auf dich ziele, Winnie.« Sie drehte sich ein wenig, bis ich aus ihrer Schußlinie war. »An diese alte Dame hier wird sich keiner mehr von hinten ranschleichen und sie in den Rücken schießen!« Sie tätschelte die Gabbet Fairfax an ihrer Seite. »Die habe ich auch noch, aber hauptsächlich zur Verschönerung.« »Hm, Lucy, wenn du das Gefühl hast, einen Schritt zu machen, wenn du vorwärtsgleitest, wie stellst du es dann an, diese Darlingkanone abzuprotzen?« »Indem ich meine Zunge rausstrecke, du Neugieriger. Damit geht das Feuerwerk los, ich pruste ihnen einfach ins Gesicht. Willst du mal sehen? Hab' mir's gleich gedacht, daß du nicht willst.« Sie klappte die Waffe wieder ein. »Tja, sehen wir zu, daß wir aus dieser Flohfalle für Schwerkraftmolche rauskommen.« Der ehrliche, wie hieß er doch noch, der Luftkissentaxifahrer, wartete draußen auf Fahrgäste. Er musterte uns und klappte für Lucy das zwei-
te Paar Rücksitze weg. Das Fahrzeug sauste vorwärts, als sie ›Port Piazzi‹ sagte, gewann an Schnelligkeit, als wir an den letzten paar Blocks vorbei aus der Stadt herausfuhren und schwang herum, um eine riesige Überführung zu kreuzen. Plötzlich machten wir einen Looping wie ein Kunstfahrer auf dem Motorrad und fuhren mit dem Kopf nach unten auf der UNTERSEITE der Autobahn entlang. Ich schluckte und schloß die Augen vor dem Anblick dicht bepflanzter Felder, die OBER MIR vorübersausten. »Schwerkraftmolch?« fragte der Taxifahrer. Ich nickte schwach. »Na ja, die Umdrehungsgeschwindigkeit auf Ceres ist ein paar hundert Stundenkilometer geringer als das, was dieser Buggy auf ebener Strecke schafft. Sie wollen wohl auch nicht in einem drucklosen Fahrzeug im Orbit landen die Leute von der Atmosphärenhülle wären auch nicht begeistert davon.« Ich ließ vorsichtige Zustimmung erkennen und spähte nach draußen. Es war, als säße man in einem kleinen Flugzeug, das auf dem Rücken flog. Ich habe kleine Flugzeuge immer gehaßt. »Wenn wir auf die Hauptstraße kommen, geht's ein bißchen schneller«, sagte der Taxifahrer heiter. »Ich bringe Sie in dreißig Minuten nach Port Piazzi, oder Sie fahren gratis.« Rülps! Wir fuhren nicht gratis, aber als wir die seitlichen Abhänge des Südpolarkraters erblickten, konnte ich an Schlaf nicht einmal mehr denken, und hungrig war ich auch nicht mehr allzusehr. Ich bezahlte den bescheidenen Fahrpreis, und wir nahmen einen Bus hinaus zum Hafen. Gunter's Landing war eine gewaltige, spartanisch ausgestattete Schüssel gewesen, umringt von höhlenartigen Büros und Wartungseinrichtungen. Port Piazzi sah ziemlich genauso aus, nur hatten dort nicht mehr als ein paar Dutzend Riesen auf dem Boden des Kraters gestanden, während es hier Tausende von kleineren Schiffen gab, und die Atmosphäre war weniger formell. Oder spricht man von einem weniger formellen Vakuum?
Als wir aus dem Bus stiegen, erregte ein heller, glühend heißer Blitz meine Aufmerksamkeit. Ich verstärkte die Vergrößerung, kitzelte die Kontrastverstärkung, und da war es, in fünfhundert Metern Entfernung hing etwas wie eine Spinne an einem außen an einem kleinen Frachter angebrachten Gerüst und spritzte mit einem Schweißbrenner über den Rumpf. Die Registrierung lautete: ENTFESSELTER PROMETHEUS SONNENSYSTEM Aber das hatte jemand überpinselt und daraus ›Sitzende Ente‹ gemacht. »Karyl? Karyl Hetzer?« Ich mußte es auf mehreren Frequenzen versuchen, ehe er antwortete. »Win Bear, Privatschnüffler – und Koko!« Er schaltete seinen Brenner aus, sprang aus zwölf Metern Höhe auf den Boden und hüpfte dann wie ein Känguruh zu uns herüber. »Stellen Sie mich Ihrem Freund vor.« Er schüttelte Lucy die Greifzange, tätschelte Koko (zu ihrem Ärger) den Kopf und klopfte mir auf die Schulter. »Wie kommen Sie dazu, das alte ›Entchen‹ neu auszurüsten, Karyl?« erkundigte sich Lucy. »Ich hätte gedacht, die würde als Schrott verkauft?« Karyls bärtiges Bild auf meinem Anzugschirm schnitt eine Grimasse. »Ich versuche mich als Unternehmer, Lucy. Sie wird ganz prima Nahrungsmittel in Stasis zum Titan befördern. Und außerdem heißt sie ›Prometheus‹, allen nicht genehmigten Kritzeleien zum Trotz.« »Prometheus«, überlegte Koko, »sollte das nicht eigentlich…?« »Das erste Sternenschiff des Systems!« schnaubte Lucy. »Da habt ihr ein Projekt, mit dem D. J. und Ooloorie nicht allzuviel prahlen werden. War zu drei Vierteln fertig, als ein kleines Hindernis, das lösen zu können sie ganz sicher waren, nicht termingemäß zu beseitigen war.« Karyl gluckste. »Schließlich hat man das Schiff aus dem Orbit geschleppt, und seitdem hockt es hier und sammelt Mikronarben. Ist den
Geldgebern ganz schön teuer gekommen. Ich habe sie für 'nen Apfel und 'n Ei gekriegt – und der Apfel war schon angefault.« Kokos Gesicht war ein Bild des Verdrusses. »Hmhm. Onkel Olongo war einer dieser Geldgeber – und jetzt muß er noch ein paar Jahre länger darauf warten, die Sterne zu erreichen.« »Wieso?« Das Schiff war klein und sah bestimmt nicht allzu anziehend aus, ungefähr wie eine auf den Kopf gestellte Zwiebel, aus deren Spitze lose Kabel und Pfosten herauswuchsen. »Na ja«, fing Lucy an, und an ihrem Tonfall war deutlich zu erkennen, daß sie sich anschickte, einen Vortrag zu halten. Ich bereute die zwei unschuldigen Worte, die sie in Gang gesetzt hatten. »Theoretisch ist, wie man sagt, ZWEI eine lächerliche Zahl, Winnie. Null ist gut, selbst eine EINS strapaziert die Sache nicht allzusehr. Aber verdammt, immer wenn es zwei von etwas gibt, sollte es mehr geben – irgendwo zwischen n und unendlich.« »Das ist interessant«, log ich. »Wie bei den Ungeheuern von Loch Ness – es muß eine Herde da sein oder gar keins. Aber was hat das mit einem gebrauchten Sternenschiff zu . tun?« »Ungebraucht – das ist genau der Punkt. Winnie, als die Vereinigten Staaten entdeckt wurden, schuf das Probleme: plötzlich gab es ZWEI Universen – und eigentlich sollte es entweder nur EINES geben oder irgendeine alberne Zahl mit 'ner Menge Nullen, Verstanden?« »Ich gebe zu, daß ich mich immer gefragt habe, warum man nicht noch mehr alternative Wahrscheinlichkeitswelten entdeckt hat. Wäre doch recht interessant, nicht?« »Jetzt redest du vernünftig. Man ist tatsächlich über mindestens eine weitere gestolpert, und noch dazu über eine mächtig komische. Siehst du, theoretisch sind alle diese Universen der Länge nach aneinandergereiht – je nach ihrer, na ja, irgendwie nach ihrer Wahrscheinlichkeit –, müßte eigentlich eine große, vieldimensionale Kurve in Glockenform ergeben. Statistisch, du verstehst?« »Sprich weiter«, sagte ich ausweichend und hoffte, in den nächsten Abschnitten würde wirklich etwas kommen, was ich verstand.
»Na ja, jedes Universum entstand, als ein Ereignis, größer oder kleiner – man weiß nicht genau, wie groß eine Veränderung sein muß –, es dazu brachte, von dem Universum abzuweichen, mit dem es zu Anfang identisch war.« »Sicher. Wie Gallatin durch den Sieg im Whiskyaufstand veranlaßte, daß dieses Universum hier von dem abwich, in dem Karyl und ich geboren wurden.« »Oder wie die Niederlage im Aufstand euer Universum abweichen ließ«, schlug Koko vor. Karyl lachte laut auf. »Was auch immer«, sagte Lucy und vermied damit einen tollen Streit. »Jedenfalls gibt's am Ende der Kurve so'n winzig kleines Kontinuum, wo das allererste Ereignis irgendwie schon verpufft ist, ehe es angefangen hatte.« »Der große Knall?« fragte ich auf eine plötzliche Eingebung hin. »Kleiner Knall. Natürlich sind die physikalischen Gesetze dort ein bißchen anders, und dadurch kann man dieses Universum mit Instrumenten so kinderleicht entdecken. Und genau das haben D. J. und Ooloorie getan.« Ich dachte darüber nach. »Prima. Und was ist dann passiert?« »Sie bauten die ›Prometheus‹«, antwortete Karyl. »Überredeten meinen Onkel und seine Freunde dazu«, verbesserte Koko. »Man stellte sich vor, weil dieses Kleine-Knall-Universum so winzig ist – eigentlich nur ein Stecknadelkopf – ist es einfacher zu durchqueren als unseres.« »Ein paar Kosmologen würden ihren Kaugummi verschlucken, wenn sie diese Erklärung gehört hätten, Schätzchen, aber die wichtigsten Punkte sind drin. Für jeden Raumpunkt hier gibt es theoretisch einen entsprechenden dort.« Lucy zeichnete ein Diagramm in den Staub des Kraters, verbesserte es, verbesserte es noch einmal, gab schließlich auf und löschte es mit ihren Flügelrädern. »Man geht einfach vom Punkt A aus – zum Beispiel von der Erde – zum Punkt A Strich im KleinenKnall-Universum.« »Mit dem Penetrator?« fragte ich.
»Richtig.« sagte Karyl. »Und nachdem aufgrund eines geometrischen Gesetzes im Kleinen-Knall-Universum alle Punkte zusammenfallen…« »Bist du auch schon auf Punkt B Strich – sagen wir, dem Raumpunkt, der Alpha Centauri entspricht… Wer erzählt denn diese Geschichte jetzt eigentlich, Karyl – ihr Burschen oder ich?« »Sagen wir, es ist eine Gemeinschaftsarbeit, Lucy. Jedenfalls braucht man nichts anderes zu tun, als auf Punkt B wieder herauszukommen, und schon ist man automatisch da, wo man hinmöchte – ohne die Strecke dazwischen in unserem Universum zurücklegen zu müssen.« »Ich verstehe, was du meinst – Hyperraum. Und was ging dabei schief?« »HYPO-Raum kommt eher hin«, sagte Lucy. »Aber nachdem im Kleinen-Knall-Universum alle geometrischen Punkte zusammenfallen, gibt es auch keine Möglichkeit, sie auseinanderzuhalten. Du kannst auf Alpha Centauri landen, aber genausogut kannst du auch irgendwo drüben in der nächsten Galaxis rauskommen.« »Oder fünfzigtausend Jahre in der Zukunft«, fügte Koko hinzu. »Es funktioniert nämlich auch mit der Zeit.« »Hmm. Das ist wirklich ein Problem. Und man hat es nie gelöst?« »Sonst würden wir uns jetzt auf Bethelkauz XVII oder sonst wo unterhalten, nicht wahr?« »Wir würden uns überhaupt nicht unterhalten«, antwortete ich. »Aber da wir es doch tun«, sagte Karyl und wechselte endlich das Thema, »wie gefällt es euch bis jetzt auf Ceres? Ach ja, Sie wollten ja wieder nach Hause, als ich das letztemal von Ihnen gehört habe.« Ich nickte. »Es wird jetzt einige Zeit dauern, nachdem die Sonne mit ihrer Fackelei nicht aufhört.« Er blickte sich um, als wollte er sichergehen, daß er nicht belauscht wurde – eine sinnlose Geste bei Funkverbindung. »Was für eine Fackelei?« Er tippte vorwurfsvoll auf die Anzeigen auf seinem Unterarm. »Weder auf meinem Zähler noch bei irgend jemandem, den ich kenne, hat es auch nur einen Pieps gegeben. Win, ich glaube, da bindet uns jemand einen gewaltigen Bären auf.« Lucy glitt nach vorne, wobei die Auspuffgase von ihren Flügelrädern
sofort gefroren und zu Boden schwebten. »Wie meinen Sie das, einen Bären? Dieses Startverbot muß bis jetzt Milliarden gekostet haben. Niemand würde zulassen…« »Und es wird wahrscheinlich noch ein paar Milliarden mehr kosten, bis es vorbei ist«, unterbrach Karyl. Er schlug mit dem GuccioneSchweißer auf seine Handfläche. »Warum, glauben Sie, arbeite ich jetzt wieder hier? Die ›Bonaventura‹ fliegt nirgendwohin, und mein Restaurant auch nicht. Im Gürtel tut sich irgend was Großes, ich wünschte, ich könnte rausfinden, was es ist.« »Ich glaube kein Wort davon«, sagte Lucy. Sie glitt weg und bewegte sich mit steigender Geschwindigkeit auf einen leeren Bezirk auf dem Boden des Kraters zu. »Port Piazzi, hier spricht Lucy Kropotkin, ich möchte Startfreigabe für einen halbstatischen Testflug. Sagen wir, sechstausend Meter.« Eine neue Stimme drang durch meinen Anzugempfänger. »Hier spricht Port Piazzi, Lucy. Geben Sie uns Ihren Transponder. In welchem von den Schiffen da unten sind Sie denn?« Ich tastete den Wandhorizont ab und versuchte, das Fenster in der Klippe über uns zu finden, das die Bodenkontrollstation von Port Piazzi war. Karyl sah, was ich tat und deutete auf ein Licht hoch auf einem Gipfel. »Ich bin selbst ein Schiff, du Strohkopf!« antwortete Lucy. »Siehst du nicht, wie ich dir zuwinke?« Sie hatte sich jetzt ein gutes Stück von uns entfernt und war in eine Staubwolke gehüllt. Plötzlich stieg sie hoch auf, holte Schwung und wurde mit zunehmender Entfernung immer winziger. Einen Augenblick später war sie fast nicht mehr zu sehen. Ich drehte die Vergrößerung auf, und da war sie, sie begann gerade zurückzuschweben. Taumelnd bremste sie allmählich ihre Geschwindigkeit ab und landete sanft auf dem Felsboden, von dem sie gestartet war. »Tja, so wahr ich lebe und atme!« Sie glitt dicht an uns heran und stoppte. »Lucy, du hast seit Wochen keinen ehrlichen Atemzug mehr gemacht!« Ich blickte an ihrer komischen Gestalt auf und ab. »Nennst du das Leben?«
»Ist jedenfalls 'n Riesenstück besser als die meisten Alternativen, Winnie. Karyl, Sie haben recht. Da draußen ist es so sicher wie in 'nem Haus. Jemand nimmt uns tatsächlich auf den Arm. Ich werde der Sache auf den Grund gehen, und wenn ich noch mal ganz von vorne umgebracht werde. Ich sage Ihnen, wie es ausgeht, einverstanden? Und vielen Dank für die Information!« Wir winkten Karyl zum Abschied zu und folgten Lucy auf dem Zickzackkurs durch die abgestellten Flitzer, bis wir ein großes, weißes, stromlinienförmiges, schnell aussehendes Exemplar mit bootsförmigem Schwanz und Chromdüsen erreichten. Sie drückte eine Reihe Knöpfe in bestimmter Reihenfolge, und die Tür auf der Steuerbordseite schwang auf. »Bleibt doch nicht den ganzen Tag draußen stehen, ihr beiden. Ich will den Rumpf unter Druck setzen.« Wir betraten geduckt die winzige Kabine und zogen die Tür hinter uns zu. Lucy klappte den Fahrersitz weg und stand vor dem luxuriösen Armaturenbrett aus Metallgewebe. Ein Zischen, dann ein Brausen, ein Poltern. Die Anzeigen auf meinem Gesichtsschirm behaupteten, ich könne den Hut unbesorgt abnehmen. Koko und ich setzten uns, während Lucy mit dem Funkgerät spielte. »Hallo, Navigation Rock? Gebt mir mal den Wetterbericht.« Sie wandte sich zu mir. »Die sitzen auf einem natürlichen, kleinen Mond von Ceres, zwanzig-, vielleicht dreißigtausend Kilometer weiter draußen.« Blasen schwebten am Aufzeichnungsgerät vorbei nach oben, als der Kopf eines Mörderwals ins Bild glitt. »Hier Navigation Rock. Sonnensturm weiterhin stark und unregelmäßig nach unseren Instrumenten. Ich rate von einem Start innerhalb der nächsten sechsundneunzig Stunden ab, es sei denn, die Reise geht nach draußen und die Abschirmung ist stark genug.« »Das kannst du dir an den Hut stecken«, sagte Lucy. »Wo kriegt ihr denn heutzutage eure Ausbildung?« Der Riesentümmler hüpfte auf und ab, im Augenblick völlig sprachlos. Wahrscheinlich hatte er nie einen Hut besessen. »Tja, in… Warten Sie einen Moment, ich werde nachsehen.« Etwas leicht Widerwärtiges mit einer Menge Armen schwebte über den Schirm. Das Bild verschwand plötzlich.
Lucy wartete geduldig, dann drückte sie wieder auf die Knöpfe. »Hallo, Navigation Rock, seid ihr noch da?« Schweigen. »Da ist was im Gange – schon wieder.« Sie stellte neu ein. »Hallo, Port Piazzi, was, zum Henker, ist denn in Navigation Rock gefahren?« Einer der seltenen Orang Utans, die beschlossen hatten, sich der Zivilisation anzuschließen, erschien auf dem Schaltpult. »Hallo, mit wem spreche ich?« »Cord Ad Astra 4137 – Lucy Kropotkin. Hören Sie, ich war gerade noch mit Navigation Rock in Verbindung, und jetzt geben die keinen Pieps mehr von sich.« Der Orang sah sich seine Scheiben und Knöpfe an. »Völliges Chaos, 4137, nicht einmal mehr ein Trägerstrahl. Das ist ungewöhnlich, die haben wenigstens ein Dutzend Sender. Ich versuche es auf einem anderen Kanal. Hallo, Navigation Rock, hier spricht Port Piazzi. Hören Sie mich, Navigation Rock?« Nichts. »Einen Augenblick, 4137.« Es folgte eine lange Pause, während er sich mit einem Genossen beriet, dann noch eine Pause, noch länger. Dann: »Tut mir leid, 4137, wir würden jemanden raufschicken, um nachzusehen, wenn nicht die starke Sonnentätigkeit wäre. Anscheinend können wir auch keine Konkurrenz von denen erreichen. Kann ich noch etwas für Sie tun, während wir die Sache untersuchen?« »Sicher, geben Sie mir die Koordinaten.« »Aber 4137, Mrs. Kropotkin, da draußen ist es gefährlich!« »Hier unten wird es gleich noch viel gefährlicher werden, wenn ich nicht sofort diese Koordinaten kriege. Was glaubt ihr eigentlich, wofür ich meine Landegebühren bezahle?« »Schon gut, das ist ein freies System.« Er haspelte seine Liste von Zahlen ab, während Lucy die Computer des Cord programmierte und alles für den Start fertigmachte. Der Flitzer begann leicht zu vibrieren. »Haltet euch an euren Helmen fest, Kinder!« Sie drückte einen Knopf ein, und der Boden des Kraters stürzte unter uns weg. Plötzlich waren
wir in helles Sonnenlicht getaucht. Ich krümmte mich, weil ich an die Strahlung dachte, die jetzt durch unsere Körper prasselte. »Lucy, ich dachte, du hättest zusätzliche Abschirmung für dieses Vehikel hier bestellt!« »Dafür war keine Zeit mehr, Winnie, aber mach dir keine Sorgen – sieh dir diese Anzeige an.« Sie deutete auf das Bild einer Skala auf dem Bildschirm. Was immer da gemessen wurde, viel war nicht vorhanden. »Da schau, kaum ein Zappeln! Wir sind reingelegt worden, ganz klar, es gibt gar keinen Sonnensturm. Warte nur, bis sich das in Port Piazzi rumspricht!« Sie machte sich daran, die Verbindung wiederherzustellen. »Langsam, Lucy!« Das war Koko. »Wer immer hinter dieser Geschichte steckt – die haben sogar in Navigation Rock irgend was gedreht. Ich möchte nicht, daß die mit uns hier das gleiche machen – ehe wir rausgefunden haben, was da vorgeht.« »Sie hat recht, Lucy. Wir schleichen uns ran, einverstanden?« »Ihr habt alle beide recht, ihr zwei. Ich werde wohl langsam senil oder so – vielleicht nur unterernährt. Wie wäre es mit 'nem Bissen zu essen? Wird 'n paar Stunden dauern, bis wir dort sind.« Ich lehnte ab, weil ich mich lieber ein wenig hinlegen wollte. In dem Gefährt war nicht genügend Platz zum Stehen, aber genug, um sich auszustrecken. Ich glaube, im freien Fall läuft es auf das gleiche hinaus. Ein Teil des zusätzlichen Raums kam von der Orientierung – ›unten‹ war da, wo die Fusionsbrenner sind (bei einem Zehntel g ist das nicht so wichtig), die Zweiersitze rahmten eine Leiter ein, die auf dem ›Fußboden‹ lag. Ein Miniklo und eine Miniküche ruhten auf einem Stützbord dahinter, und noch ein Stück weiter hinten führte eine Feuerwand oder ein Schott zu den Triebwerken, großzügig gepolstert und für ein Nickerchen wie geschaffen. Ich schnallte meine Waffen ab und befestigte sie, auch die .25 holte ich aus meinem Anzug heraus und verkeilte sie in dem zusätzlichen Munitionsbeutel. Das war auch so eine Waffe. Das Grummeln der Triebwerke erzeugt ein wunderbar einschläferndes Geräusch. In unzusammenhängenden Fetzen konnte ich hören, wie meine Freunde sich über die Sonnenaktivität unterhielten. Es gab viele Firmen für Wettervorhersage, und eigentlich dürfte eine einzelne Firma nicht in der Lage
sein, eine Sturmwarnung in einem solchen Ausmaß zu fälschen. Sie würde bis ins nächste Äon Wiedergutmachung bezahlen, wenigstens behauptete Lucy das immer wieder. Koko wirkte niedergeschmettert, enttäuscht von dem, was sie für das Land der Verheißung gehalten hatte, und ungerechterweise enttäuscht von Lucy, weil sie nicht fähig war, dieses regelwidrige Geschehen zu erklären. Ich war selbst erstaunt darüber – und besorgt. Die ganze Situation wurde mit jeder Minute komplizierter: Leute verschwanden, andere versuchten mich auszuschalten, elektronische Zombies liefen frei herum. Und vor allem Clarissa, immer wieder Clarissa. Wie in jenem Traum, wo man läuft und versucht, den Menschen zu erreichen, den man liebt, und wo einem das in all der Verwirrung niemals ganz gelingt. Ich glitt aus einem immer wieder unterbrochenen Dösen in einen festen, wenn auch gelegentlich unruhigen Schlaf, kam am Wendepunkt undeutlich zur Besinnung und rutschte wieder in die warme, freundliche Dunkelheit hinter meinen Augenlidern zurück. Beinahe hätte ich unsere Ankunft auf dem Asteroiden versäumt, der als ›Navigation Rock‹ bekannt ist.
10. Kapitel Schwebt durch freundliche Himmelsgefilde Sonntag, 14. März 223 A.L. Man suche sich einen kleinen Asteroiden, bohre ein kleines Loch, setze eine kleine Bombe hinein. Dann erhitze man die ganze Sache zu kirschroter Glut in einem Induktionsfeld, das von in der Umlaufbahn befindlichen Bauraketen erzeugt wird, die man zu diesem Zwecke gemietet hat. Sobald fester Stein die Konsistenz von weißglühendem Kaugummi erreicht hat, blasen die Sprengstoffe den Körper zu einer größeren, hohlen Schale auf. Alter Schnee, ja? Dann fahren Sie ins Innere und pflanzen Bäume und Gras – vergessen Sie auch die Tiere, die Luft und die Ackerkrume nicht. FALSCH. Versuchen Sie statt dessen, die Hälfte der eineinhalb Kilometer breiten Höhlung mit Wasser zu füllen. Durch eine mäßige Drehung wird ihr gefangener See an die Innenfläche geklebt, an den Polen ist das Wasser seichter, am Äquator tiefer. Dann schließe man das Ganze mit einem Luftsystem ab wie das Aquarium im Wohnzimmer – ein Aquarium, dessen Bewohner ihre Hypotheken dadurch abzahlen, daß sie die Hälfte des zivilisierten Sonnensystems mit unerhört genauen, navigatorischen Informationen beliefern. Wenn ich in der Lage gewesen wäre, diese Situation gebührend zu würdigen – als langjähriger Bewohner des Gürtels oder als erfahrener Weltraumreisender –, dann wäre eine gefälschte Sonnensturmwarnung und der darauffolgende Ausfall der Übertragungen von Navigation Rock mein bisher größter Schock gewesen. Lucy schien jedenfalls sehr betroffen. Ihre letzte Annäherung war richtig paranoid, mit einer ›Hand‹ streichelte sie vorsichtig die Schalter, die andere schloß sich fest um den Auslöser, bereit, die Darlingkanone am Steuerbordkotflügel des Flitzers
abzufeuern. Ein nervöses Zucken ihrer Zunge, und wir hätten dank ihrer eigenen eingebauten Schnellfeuerkanone keine Windschutzscheibe mehr. Auf einem Pol des Asteroiden sahen wir eine gigantische Bucht, die hell erleuchtet und weit geöffnet war: Einladung oder Falle? Lucy entschied sich, weiterhin im leeren Raum zu schweben und weckte mich höflicherweise, ehe sie den Rumpf drucklos machte. Ich hatte mit heruntergelassener Kapuze geschlafen, daher war ich für diesen Einfall sehr dankbar. Ich setzte mich benommen auf, fühlte mich schlechter als vorher nach meinem von Alpträumen erfüllten Nickerchen. Wir waren wieder im freien Fall, teuflisch für den Gleichgewichtssinn, aber sonst ganz angenehm, als ich meinen vom Schlaf steifen Körper über die Sprossen zu einem Schleudersitz in der Nase schleppte. Koko neben mir wirkte ungewöhnlich ehrfürchtig und still, aber unser Chauffeur floß einfach über von fröhlichen Belanglosigkeiten. »Habe auf einem Dutzend verschiedener Bänder versucht, sie aufzuwecken, Winnie. Die haben anscheinend wirklich dichtgemacht.« Sie zeigte auf den aufgeblähten Felsen, der vor der Windschutzscheibe dahinrollte. »Das ist wohl der Grund.« Ich blinzelte, bis mir die Tränen in die Augen traten, dann erst kam ich auf die Idee, meine Anzugsensoren einzustellen. Aus der rissigen, von Löchern durchsetzten Oberfläche unter uns ragten vier abgebrochene Stummel aus stark versengter Metallegierung schwache dreißig Zentimeter oder so in die Scheinwerfer des Flitzers. »Antennenmasten?« »Die waren früher fast 'n Kilometer hoch«, antwortete Lucy und manövrierte uns in eine Umlaufbahn, die ihr um ein winziges besser zusagte. »Das hat jemand mit Absicht gemacht. Haltet eure Schießeisen bereit, amigos – Zeit, daß wir uns auf den Weg machen!« Die Kabine vibrierte; ein kleines, gelbes Licht auf meinem Unterarm warnte mich, daß sie jetzt völlig luftleer war. Lucy drückte noch ein paar Knöpfe am Armaturenbrett; eine scharlachrote Signallampe blinkte, dann erlosch sie. »Eine kleine Überraschung für jeden, der sich etwa an Eddies Wagen zu schaffen macht!«
Sie öffnete die Tür, schwang sich hinaus und blieb ohne jeden sichtbaren Halt hängen, bis wir kamen. Ich trat schließlich hinaus ins Nichts, klammerte mich dabei zitternd vor Höhenangst an den Türgriff, als Koko mir folgte, dann nahm Lucy uns beide bei der Hand. »Das Steuern überlaßt ihr mir. Ich lasse die Tür angelehnt für den Fall, daß wir schnell wegmüssen.« Meine Finger kribbelten kurz, als sie von der offenen Frequenz wegging und durch unsere Anzughaut sendete: »Wenn mit mir was passiert, dürft ihr die Triebwerke erst starten, wenn ihr die Toilette gespült und in der Küche das Wasser angedreht habt – das kalte. Sonst ist nämlich gleich wieder der zweite Juli fällig. Ich hab's so eingestellt, comprende?« »Toilette spülen, Wasser kalt. Verstanden, Lucy.« Auch mir wurde mit jeder Sekunde übler. Versuchen Sie mal, nicht nach unten zu sehen, wenn unten überall ist. »Aua! Äh, Toilette und Wasser«, bestätigte Koko nach einem zweiten Rippenstoß. So muß sie sich den Himmel vorgestellt haben, der verdammte, strubbelige Raumkadett. Ich klammerte mich angstvoll an Lucys Fahrgestell und versuchte, meine rechte Hand auf dem Kolben der Webley zu halten. Lucy erzeugte einen kurzen, schnellen Antriebsstoß, der mich beinahe losriß, dann fingen wir an, langsam über den hundert Meter breiten Abgrund hinzuschweben. Wenigstens versuchte ich mir vorzustellen, es ginge ›darüber hin‹. Lucy steuerte mit der Basis ihrer Flügelräder und glich Kokos größere Masse dadurch aus, daß sie ihre linke Greifzange verkürzte, während sie auf der Seite, auf der ich war, die rechte so weit ausstreckte, wie es eben ging. Es reichte nicht ganz; wir drei zusammen gaben ein mieses Raumschiff ab, aber das warme, einschmeichelnde Licht der Schleuse kam trotzdem immer näher. Schließlich drehte unsere Pilotin uns Passagiere und ihren eigenen Korpus um ihre Achsen herum und löste einen kurzen, sorgfältig berechneten Schub aus. Wir wurden langsamer und stießen sanft an den von Sabotage geschwärzten Felsen. Ich machte meine Schuhsohlen haftend, und Lucy ließ mich los. »Wartet mal einen Augenblick, Kinder! Ich muß da erst noch was rausfinden.« Sie packte ein abgerissenes Kabel, das aus einem der
durchgebrannten und eingeknickten Turmstücke herausragte. »Hallo, Navigation Rock, ist von euch Schlammpuppen noch jemand da?« Auf diese Reichweite ergaben sogar Lucys Arme noch eine ganz brauchbare Antenne. Ein undeutliches, verschneites Bild sickerte in die untere Ecke meines Anzugschirms ein, der gleiche Orca, glaube ich, mit dem wir schon von Ceres aus gesprochen hatten. »Hier spricht Navigation Rock, wer sind Sie?« »Hier spricht Lucy Kropotkin. Irgendein Grund, warum wir nicht ins Warme kommen dürfen?« Koko drehte sich zu dem Cord um, der hundert Meter entfernt schwebte und von der offenen Schleuse neben uns erleuchtet wurde. »Wir sind ziemlich in Sicherheit, Lucy. Aber wir können die äußere Tür nicht dazu kriegen, sich in Schließstellung zu drehen. Sehen Sie mal, was Sie selbst tun können; ich komme zur inneren Schleuse, um Ihnen zu helfen, soweit ich kann.« Wie zuvor glitt undeutlich ein ekliges Ungetüm über das Blickfeld, und der Mörderwal schaltete ab. Wir suchten uns vorsichtig über eine höchst unebene Oberfläche den Weg zur Schleuse. Der Boden schien geborsten, zerrissen, gemartert und gesprungen wie der Grund eines von der Hitze aufgerissenen Flußbetts. Ein Zeichen, dachte ich, für die gewaltigen Veränderungen, die man an diesem kleinen Nebenmond vorgenommen hatte. Dehnungsstreifen. Dank der künstlich erzeugten Rotation des Asteroiden war es schwierig, meine Füße am Boden haften zu lassen. Gegen eine minimale Eigenschwerkraft wirkte ein unerbittlicher Sog nach außen – annähernd das gleiche Zehntel g, das mich auf Ceres am Boden gehalten hatte – es drohte mich in den Weltraum zu wirbeln. Es war ein langer Weg nach Hause. Ich hatte noch nie so sorgfältig auf meine Schritte geachtet. Die Schleuse selbst war glattgeschliffen, rechtwinklig und so groß wie ein Hangar. Freundliches, gelbes Licht erfüllte sie, aber sonst gab es nicht viel. Lucy ließ uns in doppelseitigen Schwindelgefühlen zitternd am Rand stehen und schwebte über den Abgrund, dabei behielt sie irgendwie einen synchronen Orbit bei.
»Win, komm mal her und sieh dir das an! Und bring dein Schlachtmesser mit!« Da ich nicht mit Triebwerken ausgestattet war, kroch ich widerwillig wie eine Stubenfliege um das Loch herum und über den Rand. Lucy untersuchte gerade die Kante einer gewaltigen Schiebetür. Bruchstücke des zerschmetterten Antennenturms waren auf diese Seite der Schleuse geschleudert worden, ein gut anderthalb Meter langer Metallsplitter durchbohrte den Dichtungsring wie ein von einem Tornado in einen Telefonmast getriebener Ginsterast und nagelte die Tür ordentlich an ihrem Rahmen fest. Sie griff nach meinem Rezin. »He, versau mir mein Messer nicht! Wahrscheinlich kommt es durch die Superdichtungsmasse sowieso nicht durch. Wenn du Koko hier herüberholst, helfen wir dir, ihn rauszuziehen, okay?« Vielleicht war ›okay‹ nicht das richtige Wort; mir dämmerte langsam, daß dort, wo überall ›oben‹ sein kann, die längste, schwindelerregendste Richtung anscheinend unvermeidlich ›unten‹ ist. Ich schluckte und versuchte mir vorzustellen, die Wand, an der ich mich so verzweifelt festklammerte, sei der ›Boden‹, während Lucy ganz lässig meine Assistentin holte. Die beiden schwebten mühelos über den Abgrund, Koko hielt sich an Lucys Greifzange fest und packte das eineinhalb Meter lange Bruchstück. Erst schob ich, dann Koko, während Lucy bei jedem Schub nach ›oben‹ zog. Wir sägten hin und her, Koko kam kaum außer Atem, während ich, der ich nur die Muskeln eines Menschen hatte, mir langsam Sorgen machte, wieviel Schweiß mein Anzug wohl absorbieren konnte. Schließlich kam der Pfosten mit einem Ruck frei und nahm uns drei mit sich. Lucy zündete ein Triebwerk und riß uns in die Schleuse, als die Tür plötzlich zuglitt. Sie stampfte auf eine rote Nottafel, und wir hüpften zur Seite, als zwei weitere Türen sich ungefähr zwei Zentimeter hinter den ersten ebenfalls schlossen. Dankbar für den doppelten Boden unter uns gingen wir zu einem Handgriff in der Wand hinüber und warteten auf die Luft. Plötzlich prasselte mir ein Wasserstrahl von Elefantenausmaßen auf den Kopf und riß mich beinahe von dem Haltegurt weg. Einen Augenblick lang brodelte mir das Wasser in heftigen Wirbeln um die Hüften.
Noch eine Sekunde, und es umströmte meine Schultern, leckte an meinem Kopf vorbei und füllte die Schleuse völlig. Weit über uns in der Decke glitt eine Tür zur Seite und ich blickte nach ›oben‹ auf eine faszinierende Szene. Über uns reichte ein breiter Tunnel in den Felsen hinein. Das brodelnde Wasser erschwerte es, Entfernungen mit den Augen abzuschätzen, aber das Sonar in meinem Anzug zeigte etwa achthundert Meter an, jeder Zentimeter davon war strahlend hell erleuchtet. Lucy wirkte gelassen und heiter, und Koko behielt weiterhin ein ganz untypisches Schweigen bei. Ich schluckte und konzentrierte mich darauf, mir dieses Ding als horizontalen Tunnel vorzustellen, aber mein Gehirn schnatterte mir vor, es sei überzeugt, daß es der Boden eines Brunnens war. Waren Sie schon mal in ihrem Leben auf dem Boden eines Brunnens? Dann sauste Lucy mit einem mahlenden, schwirrenden Geräusch davon und nahm uns beide mit einem für eine Unterwasserfahrt respektablen Tempo ins Schlepptau. Am anderen Ende des Tunnels mußte ich noch einmal eine Übelkeit erregende Neuorientierung durchführen, mußte im Geiste eine anscheinend endlos in die Tiefe stürzende Klippenwand in einen flachen Meeresboden umwandeln, der mit Pflanzen in hundert verschiedenen Farben bedeckt war, zwischen denen Schwärme regenbogenfarbener Fische hin- und herschossen. Der Boden war weiß und sandig, die Oberfläche nicht weit darüber, abwechselnd sonnig und voller Spiegelungen. Dort erwarteten uns, als die inneren Türen der Wasserschleuse sich in einer Wolke stark aufgewühlten Treibsandes rumpelnd schlossen, ein Dutzend Mörderwale, ihre auffallend schwarzweiße Zeichnung war durch teilweise geschlossene Patentanzüge verdeckt, so, als hätten sie der beschädigten Schleuse nicht so ganz vertraut. Sehr vernünftig, meiner Ansicht nach. »Hallo«, eröffnete Lucy die Unterhaltung. »Habt ihr 'nen Platz, wo man sich 'n bißchen hinsetzen kann?« Die größte der Kreaturen schwamm auf mich zu, sie trug einen Anzug mit zarten, komplex geometrischen Mustern. »Ich grüße Sie, Lucy Kropotkin. Ich, Reeouhoo, bin gekommen, um Sie auf Navigation Rock herzlich willkommen zu heißen.«
Anscheinend hatte Lucy nicht auf akustische Verständigung umgeschaltet. Ich setzte sie vom Funk ab, und wir stellten uns rundherum vor. Reeouhoo, ein alter Bekannter von Lucy – wen kannte sie von den Asteroiden bis Burbank eigentlich nicht? –, war bestürzt, als er von ihrem ›Todesfall‹ erfuhr. Koko wurde pflichtschuldigst vorgestellt, und ich auch – dabei erfuhr ich, daß es unten am Südpol des Asteroiden eine tadellos funktionierende Luftschleuse für Landbewohner gegeben hätte. »Na ja, ist ja nichts passiert«, plauderte Lucy. »Jedenfalls funktioniert die Wasserschleuse jetzt wieder. Hab' auch euren Sendeturm gesehen – was noch davon übrig ist.« Sie hatte sich auf dem Boden niedergelassen, wo sich auf ihrer Leeseite eine winzige Unterwassersanddüne bildete. Koko paddelte herum wie ein Riesenfrosch, während ich, der ich nie ein begeisterter Schwimmer gewesen bin, zur Oberfläche hinaufspähte, einem gesprungenen, unruhigen Spiegel nur wenige Meter über unseren Köpfen. Das war wohl eine der seichteren Stellen des Teichs – Lucy hatte davon gesprochen, daß am Äquator Tiefen bis zu dreihundert Metern möglich waren. »Wollt ihr uns erzählen, wie das passiert ist?« Der Riesentümmler zögerte. »Das müssen wir erst noch ausloten, liebste Freundin, und die Situation ist wirklich verworren. Ich glaube, das beste wäre, wenn ihr uns zu einem Ruheplatz für Landbewohner begleiten würdet. Dort könnten wir euch erzählen, was wir wissen.« Er wirbelte plötzlich herum und brach in ein Durcheinander trommelfellsprengender Klick- und Kreischlaute aus. In der Ferne war undeutlich ein fremder Schwarm zu erkennen, nicht tümmlerähnlich, der schnell auf uns zukam. Ein innerer Reflex veranlaßte mich, in steigendem Entsetzen durch das Wasser zurückzuweichen, als die alptraumhaften Schattengestalten uns ereichten. Sie wirbelten in einem schnell enger werdenden Kreis um uns herum und schlossen uns ein. Dutzende von glitzernden, hungrigen Fangarmen umschlangen zuerst Lucy, dann Koko. Ich warf mich herum, entdeckte voll Schrecken ein Paar der abscheulichen, schwammigen Dinger hinter mir, wehrte einen mit Saugnäpfen besetzten Arm ab und fummelte verzweifelt nach meinem Messer.
11. Kapitel Ein Freund in der Not Dienstag, 16. März 223 A.L. Koko schlug mit den Flügeln und kicherte. Zehn Meter unter ihr lag ich halb schlafend auf dem sonnendurchglühten Dach des ›Oahu Wahoo‹ ausgestreckt und duckte mich, zu spät, um dem glitschigen Geschoß auszuweichen, das sie aus ihren Zehen hatte fallen lassen. Der Sonnenfisch traf mich mit einem schleimigen ›Platsch!‹ und blieb mit blöden Mundbewegungen auf meinem Bauch liegen. Ich schauderte, warf ihn seitlich herunter und sann auf Rache. Die pelzige Bombenwerferin über mir gewann an Höhe, legte sich auf einem Plastikflügel in die Kurve, ruderte wild, um das Gleichgewicht zu halten, und stieß dann hastig zu einer ungeschickten Landung auf das Hausboot nieder. Als sie an mir vorbeitaumelte, vergrößerte ich mit einem strategisch plazierten Fußtritt ihre Verwirrung noch. Sie folgte dem Sonnenfisch mit einem entrüsteten Schrei und mit einem gewaltigen Bauchklatscher in Zeitlupe über das Geländer. In der minimalen Pseudoschwerkraft von Navigation Rock hingen immer noch Wassertropfen in der Luft, als sie wieder an die Oberfläche kam, die Luftfolien klebten wie ein verhaspeltes Zelt an ihrem Körper. »Es gibt«, teilte ich ihr selbstgefällig mit, »doch noch eine Gerechtigkeit im Universum.« Koko spuckte einen Mund voll Salzwasser aus und hob ihren Handgelenksprecher über die Wellen. »Du hast mir meine schönen neuen Flügel ganz naß gemacht! Warte nur, wenn ich das Lucy erzähle!« Besagte Person erhob sich mit einem Schub vom unteren Deck und ließ sich neben mir nieder. »Was willst du mir erzählen? Hör mal, muchacha, die Dinger sind zum Fliegen da, nicht zum Schwimmen!« Der Augenblick verlor ein bißchen an Schönheit, als ich daran dachte, wie sehr Clarissa ihn genossen hätte. Ich griff in meinen Sporran, der auf dem Deck lag, und zog eine Zigarre heraus: Die Mörderwale, immer
darauf bedacht, zusätzlich ein Zehntelstück zu verdienen, hatten durch Genverschmelzung eine nikotinerzeugende Tangart gezüchtet. Da ich ein großzügiger Mensch bin, half ich ihnen beim Testen. »Unsere Wasserluftfahrerin hier muß riskante Situationen üben – obwohl Landungen auf Flugzeugträgern vermutlich ihre besonderen Schwierigkeiten haben. Was habt ihr denn den ganzen Morgen getrieben, Lucy, du und dein Fischfreund?« Seit unserer Ankunft waren fast drei Tage vergangen. Wir waren ausgiebig – wenn auch ein wenig erschreckend – begrüßt worden, mit einer Schubhilfe zum Territorium der Landwesen, die einem die Haare zu Berge stehen ließ. Sie wurde von einer Schwadron von Reeouhoos Schoßtieren durchgeführt, Loligo paelii-plus. Vielleicht ist ›Schoßtier‹ nicht das beste Wort – versuchen Sie es mal mit ›Artefakt‹ oder ›Werkzeug‹ – die meisten Meeresbewohner, die ich gut kannte, waren Schachprofis, theoretische Physiker, Mathematiker, Komponisten, zufrieden mit rein abstrakten Betätigungen und mit einer leichten Verachtung für die materialistische Kultur, die ihre intelligenten Mitlebewesen auf dem Lande errichtet haben. Diese delphinoide Bande hier war anders, sie hatte ausgesprochen mechanistische Neigungen, die sie unter den Cetaceen zu Sonderlingen werden ließen. Reeouhoos Leute rächten sich entschlossen für den schmutzigen Trick der Evolution, der sie zwar mit einem gewichtigen und komplexen Gehirn ausgestattet, sie aber gleichzeitig jeglicher manipulativer Fähigkeiten beraubt hatte, mit denen sie etwas Greifbares hätten zustandebringen können. Daher setzten sie auf eigentümliche und brillante Weise riesige Tintenfische – und die gleiche Gehirnsondentechnologie – ein, die ich erst vor Tagen als unwiderruflich abscheulich eingestuft hatte. RIESENtintenfische? Nun ja, vielleicht gibt es in den Tiefen der großen, irdischen Meere Ungetüme, die mehr Anspruch auf diesen Titel erheben können; es gibt viele Spuren von abscheulichen Wesen, die Hunderte von glitschigen Metern lang sind. Die auf Navigation Rock waren für mich riesig genug. Eineinhalb bis zwei Meter lang, gerade groß genug, um ein großartiges Paar ›Hände‹ für Mörderwale abzugeben. ›Intelligente‹ Grenzfälle? Die nanoelektronischen Geräte waren an der Hülle jedes Cephalopoden verankert, eingestellt auf die über
Ultraschall vorgetragenen, Wünsche seines Orca-Herrn; schleppe diesen Kahn, drücke auf jenen Knopf und kratz mich da… so ist es richtig, ein bißchen tiefer und weiter nach links… Ahh! – Auf ihren Frequenzen können die Waltiere in einem kurzen Ausbruch eine erstaunliche Menge von Informationen übermitteln. Was ich bei Reeouhoo zuerst für ein panisches Aufkreischen gehalten hatte, waren nur Ultraschallmarschbefehle für Mollusken gewesen – wenn ich nicht meinen Patentanzug angehabt hätte, hätte ich überhaupt nichts gehört. Wir waren unter den Achselhöhlen gepackt und schnell in den normalen Empfangsbezirk für Leute mit Beinen geschleppt worden, eine Art Höhenzug am Südpol mit einem Dock für Flitzer und einer Luftschleuse im Keller, der Hügel ragte mehrere hundert Meter über die ihn umgebenden Untiefen hinaus. Natürlich herrscht in diesem Motel für Landbewohner freier Fall, da es sich im Zentrum der Rotation befindet, und die Schwierigkeit mit dem Meer – oder vielmehr mit dem Horizont – besteht darin, daß es ihn nicht gibt. Das Meer geht immer weiter und weiter, bis es schließlich in den Wolken verschwindet. An klaren Tagen kann man den Nordpol sehen. Da ich einstweilen das Gefühl der Schwerelosigkeit bis zur Neige ausgekostet hatte – wahrscheinlich mehr als einstweilen – verzog ich mich bald auf eines der Hausboote, die in einer Reihe fest am Äquator verankert waren. Die ›Oahu Wahoo‹ war leuchtend rot und hatte achtern ein falsches Steuerrad, ein paar Topfpalmen auf Deck und eine kleine Küche, wo ich für Koko und mich das Essen zusammenmanschte. (Als Gegenleistung jagte sie jeden Tag die einzig frischen Lebensmittel in einem Umkreis von mehr als dreißigtausend Kilometern zusammen. Das Ausnehmen und Schuppen überließ sie mir – sie ist noch zimperlicher als ihr Boss. Jawoll.) Ich holte mir auf dem Dach einen richtigen Sonnenbrand. Na gut, technisch gesehen war es ein Strahlungsbrand. Die Fusionsfackel, die weit oben auf dem Penthouse des Südpolhotels auf einem unmöglich hohen, schlanken Mast steckte, hatte eine langsam rotierende Haube, so daß jede ›Nacht‹ das Licht ausging und jeden ›Morgen‹ wiederkam. Während der dunklen Perioden diente die Reflexion der Fackel auf der Ozeanfläche hoch über uns als praktischer Ersatzmond.
Gut ausgetüftelt. Ein- oder zweimal am Tag, wenn eilige Geschäfte eine Abkürzung erforderlich machten – oder vielleicht einfach aus reinem Übermut –, raste ein Mörderwal wie hochgesprengt aus der Tiefe herauf, stieg hoch in den Dunst und segelte dann, anstatt wieder herunterzufallen, mit dem Gischt weiter himmelwärts, bis er auf der anderen Seite der Welt dramatisch in die Wellen tauchte und ein Bullauge aus Schaum ausstach. Eine Miniflutwelle raste tönend um das hohle Meer herum, bis sie eine halbe Stunde später gegen mein Boot schlug und es sanft zum Schaukeln brachte. Die Entfernung schien unmöglich groß, die Reise brachte den Springer oft gefährlich nahe an die ›Sonne‹ heran, aber die Schwerkraft des Asteroiden war niedrig, und die Zielsicherheit eines Orca ist unfehlbar. Man nennt diesen Asteroiden nicht umsonst ›Navigation Rock‹. Die eigentlichen Geschäfte wurden tief unten in einer Reihe besonderer Büros abgewickelt. Tags zuvor hatte ich einen vorbeikommenden Loligo angehalten und war mit ihm hingeschwommen, um mir das einmal anzusehen; mein Lehrling hängte sich dran und kam mit. Wir gingen immer tiefer, bis sich die Anzeigen auf meinem Ärmel beklagten, dann schwebten wir ein paar Meter über dem Boden und blickten hinunter auf eine Art vorgedruckten Plan auf einem Betonfußboden: niedrige Wände grenzten verschiedene Funktionsbereiche ab: Zellen ohne Dach, angefüllt mit riesigen, von Orcas entworfenen Instrumententafeln und Schreibtischen. Überall wischten Tintenfische den stetigen Treibsandregen weg, schlitterten über Instrumententafeln mit Leuchtanzeigen, drückten auf Knöpfe und drehten Schalter, tippten und legten ab, trugen in aller Eile in Plastik verschweißte Aktennotizen hin und her, wichen Tangsträngen aus und schlugen auf lästige Fische ein, die ungehindert durch den geschäftigen Komplex schwammen, oft – meist zur Essenszeit – ereilte sie dabei überraschend ihr Schicksal. Ungefähr jede halbe Stunde erhob sich einer der Waltechniker oder aufseher plötzlich, raste an die Oberfläche, um Luft zu schnappen oder so nebenbei einen Imbiß einzunehmen und tauchte dann wieder an seinen Arbeitsplatz zurück, wo er lebenswichtige Daten maß, berechnete, abschickte und von überall im System erhielt. Irgendwo, das wußte
ich, rechnete ein Meeresbuchhalter in einer unordentlichen Zelle die Kosten zusammen und verschickte die Rechnungen – per Computer gibt es keine Finanzklemme gratis. Lucy hatte mitgeholfen, auf dem Nordpol eine provisorische Antenne zu errichten. Reeouhoo und seine Kollegen tappten, was die Vernichtung des Originals anging, noch im dunkeln, es war ein Sabotageakt, der nicht nur auf Sendeeinrichtungen beschränkt gewesen war. Das erfuhren wir an jenem ersten Tag, als wir auf einer tieferen, offenen Ebene des südlichen Wohnturms herumgammelten und an einem Tisch mit Glasplatte etwas tranken und mit dem Flossenvolk plauderten, das sich zu unseren Füßen auf einem von Koriolisströmungen überspülten Wasserbord entspannte. »Tja, ich will ein Känguruh mit Glasaugen sein! Diese Scheißer haben uns wirklich alle reingelegt!« Lucy war gerade von draußen zurückgekommen, begleitet von Technikern, die mit Schubdüsen ausgerüstet waren. Sie hatte am Südpol noch ein Überraschungspaket entdeckt, etwa so groß wie eine Schuhschachtel. Das hielt sie uns jetzt an mehreren, sorgfältig gelösten Drähten unter die Nase. »So sieht es aus«, antwortete Reeouhoo. Er schickte lässig eine mit vielen Fangarmen versehene ›Hand‹ mit rasender Geschwindigkeit hinter sich über die Wellen, packte damit einen ahnungslosen Barsch, der sich an der Oberfläche sonnte, holte ihn zu sich und verspeiste ihn nachdenklich. »Natürlich können wir die materiellen Schäden reparieren, aber um unseren Ruf mache ich mir die größten Sorgen. Wer sollte so etwas schon tun?« »Die Hamiltonisten!« antwortete ich. »Oder vielleicht die Aphrodite GmbH.« »Kommt vielleicht auf ein und dasselbe raus«, warnte Lucy. »Ich verstehe es immer noch nicht.« Koko hatte Schwierigkeiten, die Riemen ihrer Flügel richtig einzustellen, ein neues Experiment, von dem die unternehmungsfreudigen Orcas sich einen Anreiz für einen bescheidenen Touristenverkehr erhofften. Ich hob einen Finger. »Laßt mich mal versuchen – nur um zu sehen, ob ich es selbst richtig begriffen habe. Es sieht so aus, getreue Helferin,
als habe jemand für eine Zeitlang jeglichen Verkehr vom und zum Gürtel unterbrechen wollen…« »Gürtel? Unterbrechen? Boss, bei dieser Unterhaltung wirst du die Hosen verlieren.« »Aus welchem Grund wissen wir nicht. Irgendwann in den letzten paar Monaten hat jemand dieses Gerät in der Nähe einer Reihe von Sensoren eingepflanzt. Zur richtigen Zeit fing es an, Geräusche wie eine Sonnenfackel zu produzieren. Niemand hat es bemerkt, bis ein weiteres Paket später die Sendeantenne zerstörte.« Darauffolgende Anfragen bei den siebzehn oder achtzehn wichtigsten Konkurrenten von Navigation Rock – die wieder sendeten – hatten ein über das ganze System verbreitetes Netz von verräterischen Sabotageakten zutage gefördert. Der Orca brachte ein wälzendes Nicken zustande. »Ich bin betrübt. Es gibt nur eine Handvoll Mechaniker, die fähig sind, die Instrumente zu täuschen, mit denen wir arbeiten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß einer von ihnen so unmoralisch sein sollte… Allein die Schäden für den Handel im ganzen System…« Ich zündete mir eine Seetangzigarre an und lehnte mich in dem Drahtgestell zurück, an dem ich mich festgeschnallt hatte. »Was ich nicht verstehe, ist, warum sich dieses kleine Bonbon nicht selbst zerstört hat, als der Rest des Feuerwerks abbrannte.« Wenigstens ein Dutzend kleinerer Explosionen hatten den Asteroiden erschüttert, die Nachrichtenverbindungen abgeschnitten, die kleine Flotte von Privatflitzern, die den Einwohnern gehörten, betriebsunfähig gemacht. Lucy gluckste, ein sonderbares, synthetisches Geräusch, an das ich mich noch immer nicht gewöhnt hatte. »Das hat es auch versucht, so sicher wie das Amen in der Kirche, Winnie. Dem Aussehen nach würde ich sagen, es ist seit mehr als ein paar Monaten draußen – es ist ziemlich mit Narben gepfeffert.« Sie drehte das vom Staub verbeulte Gerät herum und zeigte uns eine bestimmte Baueinheit. »Da haben wir so ein kleines, metallisches Felsteilchen, gleich da, und das hat sich zwischen Gehäuse und Empfänger eingeklemmt – hat den Auslöseknopf irgendwie kurzgeschlossen.« »Also«, überlegte ich, »haben wir es mit einem raffinierten, intelligenten Feind zu tun, der auf lange Sicht plant – aber so kleine Dinge wie
die Dichte von Mikrometeoriten in dieser Gegend nicht vorausgesehen hat. Jemand, der nicht aus dem Gürtel kommt?« »Gut gefolgert, Herzensjunge. Dein Gehirn mit seiner verschlungenen Arbeitsweise werden wir von jetzt an brauchen, wenn wir diese Intrige aufdecken wollen.« Reeouhoo pfiff nach einem weiteren Imbiß und nickte mir nachdenklich zu. Selbst so eine lächerliche Schlußfolgerung wie diese war ein schwerer Schlag für mich: ich kannte wenigstens zwei von Reeouhoos winziger Handvoll von Mechanikern, die vielleicht die technischen Fähigkeiten besaßen, eine Sonnenfackel zu fälschen, sehr gut, zwei vermißte Freunde von mir gehörten möglicherweise zur scheinbaren Gegenseite, der ›Aphrodite GmbH‹. Was noch schlimmer war, ich erkannte jetzt, wie sehr ich aus der Übung war. Clarissas Verschwinden, verschiedene andere, traumatische Ereignisse, die unheimliche, sich ständig verändernde Landschaft, all das hatte sich zusammengetan und meine kleinen, grauen Zellen zu einem wirkungslosen, nur zu Besichtigungen geeigneten Brei zerstampft. Reeouhoo war nicht der einzige, der Anlaß zu Betrübnis hatte. Noch mehr erschütterte es mich, wie gemein Freund und Feind gleichermaßen mit mir schlittengefahren waren. Seitdem ich Laporte verlassen hatte, hatte man mich bedrängt und herumgeschubst, überfahren und durch die Gegend gejagt, immer hatte ich nur reagiert, nie selbst etwas in die Hand genommen. Ich war nicht mehr mein eigener Herr gewesen, sichtbare und unsichtbare Antriebskräfte hatten mich unter dem Daumen gehabt, so fest, als hätte ich mir selbst eine Gehirnsonde verpaßt. Es war höchste Zeit, meinen modus operandi zu ändern, die Ereignisse selbst zu steuern und zu versuchen herauszufinden, was, verdammt noch mal, wirklich vorging. Dieser Asteroid schien genau der richtige Ort dafür zu sein, also spreizte ich die Füße ein und blieb sitzen, um nachzudenken und Pläne zu machen.
Und mir von einem fliegenden Gorilla lebendige Nahrung aus dem Meer herunterwerfen zu lassen. Okay. Punkt eins: Eine Reihe von anständigen Leuten, besonders meine Frau, hatten sich unerlaubt von der Truppe entfernt. Möglicherweise, sagte ich mir, aus den verschiedensten Gründen. Vielleicht auch nicht. Punkt zwei: Ich selbst war mehreren, und zwar höchst unterschiedlichen Angriffen auf meine Würde, mein Eigentum und auf mein Weiterleben bis ins hohe Alter ausgesetzt gewesen. Punkt drei: Manches davon schien in Verbindung mit der ›Aphrodite GmbH‹ zu stehen, und mit ihrem nicht zu fassenden Unternehmer, der möglicherweise hamiltonistische Motivationen hatte. Vielleicht auch nicht. Punkt vier: Nichts davon war sehr sinnvoll; wenn sich da eine Verschwörung zusammenbraute, war sie ziemlich schlecht organisiert. Nehmen wir nur die Angriffe: jemand hatte versucht, mich mit einer präparierten Webley ins Jenseits zu befördern (falls er nicht hinter Olongo hergewesen war), dann hetzte er mir in der Bar ein Flintenweib mit Gehirnsonde auf den Hals. Aber mitten zwischen zwei Mordversuchen hatte man mein Zimmer durchwühlt, während ich in tiefem Schlaf lag, ohne meinem wehrlosen Schädel auch nur ein einziges Haar zu krümmen – bis ich aufwachte und Lärm schlug. Das machte die Sache todsicher schwieriger, aber der einzig vernünftige Schluß daraus war, daß es eigentlich ZWEI Verschwörungen gab, eine Gruppe war eine Herde Ratten, die anderen Leuten das Gehirn durchrührten und mir Schiffskisten auf den Schädel fallen ließen. Der andere Haufen schreckte aus unbekannten Gründen vor Mord zurück, aber nicht vor Raub – die Angsthasen. Die Hasen und die Ratten, das war es! Nun gut: Konnte ich alles, was geschehen war, danach sortieren, bestimmen, wer es getan hatte? Vielleicht verriet mir das, was jede Gruppe wollte, gab mir einen Anhaltspunkt, wer sie waren. Wenn die Ratten Ed erwischt hatten, würde ich ihn wahrscheinlich niemals finden – hofften wir lieber, daß es die Hasen waren. Olongos Pistole? Die Ratten, obwohl sein Verschwinden genauso unlösbare Probleme und Fra-
gen aufwarf wie das von Ed. Auch die Kiste war eine Idee, die zu den Ratten paßte, aber das wirkte irgendwie improvisiert und paßte nicht zu der weitsichtigen Planung, die für den Betrug mit der Sonnenfackel notwendig gewesen war. Bedeutete das, daß dieser Schwindel ein Werk der Hasen war? Schließlich Clarissa: die gleichen Fragen wie bei Ed und Olongo, um die unangenehme Wahrheit zu sagen – noch verstärkt durch das, was man mit unserem Heim und dem Hauptquartier der Eigentumsrechtler getan hatte. Also: Hasen durchsuchten die Räume der Leute und stellten tolle, elektronische Geräte auf Felsen wie Navigation Rock auf. Wenn ich Glück hatte (was ich allerdings bezweifelte, wenn ich ehrlich war), entführten sie auch Leute – und gaben sehr gut acht auf sie. Die Ratten waren Brandstifter, arbeiteten mit der Gehirnsonde, machten Mordversuche und – ja, sie ließen hamiltonistische Medaillen nachlässig in der Gegend herumliegen. Und das, fürchtete ich, war noch ein Punkt, der zu Ungunsten von Ed und Olongo sprach. Und von Clarissa. Zum hunderttausendstenmal bereute ich es bitter, daß ich sie nicht mitgenommen hatte. Ich hatte geglaubt, sehr gute Gründe zu haben, viel weitreichendere als unsere Tochter, die sie eben austrug. Es war nicht das erstemal, daß wir es versucht hatten. Und gescheitert waren. Trotz einer medizinischen Technologie, die, wie ich es sehe, an Schwarze Magie grenzt (oder vielleicht gerade deswegen) neigen die Konföderierten dazu, sich der Natur zu beugen und derartige Tragödien geschehen zu lassen. Clarissa hatte drei Fehlgeburten erlitten, und ich hatte an ihrer Seite mitgelitten, hatte all die Schuldgefühle, die Scham und die Wut empfunden, die dabei normal sind, trotz allem, was wir beide von Berufs wegen über die psychologische Seite der Sache wußten. Niemals lag eine, Trennung, wie sie ja manchmal vorkommt, auch nur entfernt im Bereich des Möglichen, aber es war eine Belastung, eine verdammte Belastung. Und dann gewann anscheinend die Heilerin in ihr die Oberhand,
hartnäckig, unter Tränen und kaltblütig unter den seltsamsten Umständen. Damals teilte sie mir rundheraus mit, sie habe von Anfang an Gewebeproben aufgehoben. Als ich schließlich begriff, was sie damit sagen wollte, da – na ja, ich konnte es nicht ertragen, ihr bei den Schnitten zuzusehen, starrte aber fasziniert auf die Mikrographien, als sie verbissen den gemeinsamen, genetischen Druckfehler im Zentrum unseres Kummers aufspürte. Dann machte sie sich daran, uns eine Tochter zu bauen, Chromosom für Chromosom, sie suchte jede Schwäche, die sie finden konnte, und musterte sie aus, nahm eine Hälfte von mir und eine Hälfte von sich selbst. MICH ließ sie die Münze werfen – sie behauptete, es sei Sache des Vaters, das Geschlecht eines Kindes zu bestimmen. Sentimental bis zum letzten, dieses Mädchen. An diesem Nachmittag teilte ich Lucy meine ungestützten Schlußfolgerungen mit. Koko war fort zum Luftspeerfischen; die Orcas waren beschäftigt, interplanetare Zäune zu flicken. Sie schob sich eine Zigarettenkassette in den dafür vorgesehenen Schlitz. »Glaube nicht, daß ich da mit dir einig bin, Winnie. Zum Beispiel hätte eine Gruppe sich Clarissa schnappen und eine andere euer Haus hochjagen können: Da sieht man, wie schlimm wir dran sind, wenn das schon wie ein positiver Gedanke aussieht.« »Ja, auch bei Olongo hätten es zwei verschiedene Gruppen sein können, die bei ihm eingebrochen sind und ihn verschwinden ließen – und das bedeutet, daß die Hasen und die Ratten im Streit miteinander liegen. Weißt du, daß sie ganz Navigation Rock hätten in die Luft jagen können, wenn sie gewollt hätten? Das beweist praktisch…« »Diese Hasen, von denen du da redest, Junge, sind nur vergleichsweise gutmütig. Der Betrug hat uns Gürtelbewohner allein versäumte Gelegenheiten in Milliardenhöhe gekostet.« Ich drückte meine Zigarre aus. »Zugestanden. Aber was mache ich jetzt? Ich kann jetzt nicht nach Hause, du hast mich fast überzeugt, daß die Antwort hier draußen zu finden ist. Lucy, es wird Zeit, daß ich etwas tue. Das Problem ist, ich habe keine Ahnung, was.«
»Na ja, damals, als noch die Steuerzahler für deinen Unterhalt sorgen mußten, ohne es zu wollen, was hättest du denn da getan?« »Oh, verdammt… Da ist Tormount – eine Sackgasse. Nicht einmal Voltaire Malaise könnte…« »Ja, aber Malaise weiß sicher mehr, als er senden kann das ist bei Reportern immer so: Prozesse und so weiter.« »Streich das mal als mögliche Spur an! Was haben wir sonst noch?« »Eine deutliche Linie direkt zu den Entführern. Ed hat sie doch gefunden, oder nicht?« »Sie haben IHN gefunden. Wenn ich seine Schritte zurückverfolgen würde, wie könnten wir dann vermeiden, daß wir selbst gefaßt werden? Scheiße! Über das ganze System sind lose Enden verstreut. Tausend Detektive wären nicht fähig…« »Nein, aber wie ist es mit tausend Ex-Kongreß-Mitgliedern? Sieht aus wie ein Hamiltonistenproblem – ich wette, da kriegen wir jede Menge Unterstützung, wenn wir schreien. Aber das kann ich nicht von hier aus machen. Wir sind zu verletzlich auf den Frequenzen, und ich möchte dafür sowieso mein eigenes S & A-Spielzeug einsetzen.« »Informations-Speicher und Abruf – meinst du, auf deinem eigenen Asteroiden?« »Gutes, altes Bulfinch – bei all den Göttern und Göttinnen, nach denen die Leute ihre Felsen benannt haben, wollte ich die Liste einfach mit einem ganz tollen Knüller abschließen. Es ist wirklich gut verteidigt, Winnie – wenn ich zu Hause geblieben wäre, wäre ich überhaupt nie zusammengeschossen worden.« »Jetzt redest du vernünftig. Zuerst sammeln wir Koko ein. Du fängst an, die Kavallerie zusammenzutrommeln, und ich folge Eds Spuren – mit aller Vorsicht. Ich werde mir sogar Malaise schnappen und herausfinden, was er der Zivilisation nicht erzählt. Wie hört sich das an?« »Das wollte ich schon die ganze Zeit – aber du warst unbedingt darauf versessen, in Richtung Erde davonzurasen.« Ich packte meine Besitztümer zusammen und winkte einem Tintenfisch, damit er mich zum Luftschleusenmotel beförderte, während Lucy gemessen in den Wellen versank, um unsere Gastgeber zu informieren.
Sie setzte auch einen Ruf nach Koko ab. Sieben Stunden später war meine Assistentin immer noch nicht aufgetaucht. Die Orcas gaben die Suche auf, als sie ihre Flügel fanden, die sie zusammengefaltet und mit einem Felsen beschwert unter irgendeinen Unterwasserbusch gelegt hatte. Ein Zähler am Ende der nördlichen Schleuse zeigte an, daß jemand sie gedreht hatte, ungefähr zwei Stunden, ehe Lucy und ich den Entschluß gefaßt hatten, es sei an der Zeit, sich zu verabschieden. Eds Ad Astra befand sich nicht mehr im Orbit um Navigation Rock. Die einzige Person außer uns beiden, die wußte, wie man die Triebwerke zündete, ohne zu Konfetti zerrissen zu werden, war meine getreue Assistentin. Anstelle des Flitzers schwebte da ein gewöhnlicher Notruftransponder, der wie verrückt blinkte und dessen Funkstimme durch einen Schnitt der Seitenschneider zum Schweigen gebracht worden war. In seinem Innern fanden wir eine Nachricht, geschrieben auf dem thermoplastischen Papier, wie man es innerhalb des Wasserasteroiden verwendete. Lieber Boss, liebe Lucy: Ich wünschte, ich könnte euch sagen, wie leid mir das alles tut, aber ich habe wirklich keine andere Wahl. Manche Dinge haben Vorrang vor anderen. Wenn ich euch nur mehr sagen könnte, aber die Sache, für die ich arbeite, ist wichtig, und sie muß noch eine Zeitlang geheimgehalten werden. Eines Tages werdet ihr mir alle vergeben können. Das hoffe ich wenigstens. Koko
12. Kapitel So sieht es wenigstens aus Eine halbe Stunde später schloß sich die Luftschleuse am Südpol hinter einem Raumschiff mit der doppelten Tonnage eines durchschnittlichen Flitzers, der sich praktisch selbst entzweiriß und Telekomausrüstung, Make-up-Leute, Redaktionspersonal, Laufburschen und Techniker von wenigstens vier verschiedenen Rassen ausspie. Und – zum Schluß, aber nicht zuletzt – den Erhabenen höchstpersönlich: Voltaire Malaise. Erhaben oder nicht erhaben, der ›vertrauenswürdigste Reporter des Systems‹ wäre immer aufgefallen in so einer Menge, sei es auch nur aus dem einen Grund, daß er allein von allen Beteiligten und Zuschauern (darunter auch Lucy und ich) es verschmähte, einen Patentanzug zu tragen. Er stieg in seinem legendären, braunen, abgetragenen Poncho und dem schäbigen, grauen Stetson aus und überblickte die ehrfurchtsvolle Menge wohlwollend und sichtlich zufrieden. So hätte Patton auftreten können. Oder vielleicht Alice Cooper. Er schenkte seinen Bewunderern einen letzten, noblen Blick, dann nahm er den nächsten Fahrstuhl ins Innere des Asteroiden, und die Menge zerstreute sich in ehrfürchtigem Schweigen. Ich machte Lucy ein Zeichen, und wir schwebten selbst zum Fahrstuhl, beinahe rechneten wir damit, vor uns eine Spur von Rosenblättern zu sehen. Fünf Zigarrenkippen und ein Fischbrötchen später starrte ich auf meine eigene Visitenkarte hinunter, die mir in dem Wartungskorridor, wo man mich seit Stunden auf kleiner Flamme hatte schmoren lassen, zurückgegeben wurde. Ein gewisser Roger Benton, ein Bursche mit ständig besorgtem Gesichtsausdruck, Hauptkomplize und Wochenendersatz bei der ›Stimme der Sterne‹, brachte seine Entschuldigung an. »Mr. Bear, ich bekam nicht einmal eine Gelegenheit, es vorzubringen. Er hat einen Anflug von Bronchitis – die Feuchtigkeit an diesem unmöglichen Ort – und braucht Ruhe vor der Sendung.« Lucy war schlauer gewesen – sie war weggegangen, um sich abschmieren oder die Haare tönen zu lassen, oder was immer sie in ihrem
Zustand machte. »Hören Sie, haben Sie ihm gesagt, daß ich untersuche, was mit der Aphrodite GmbH los ist? Er hat vor nicht allzulanger Zeit ein paar Sendungen zu diesem Thema gemacht und ist mit ziemlich leeren Händen dagestanden.« Es gab US-Präsidenten, an die man leichter herankam als an diesen Malaise. Die bekannteste Brautjungfer des Systems schluckte und sah auf die Uhr. »Wissen Sie was: Kommen Sie mit runter. Wir bauen in der Eingangshalle auf. Versuchen Sie, nicht im Weg herumzustehen, vielleicht hört er Ihnen nach der Sendung eine Minute zu. Genügt das?« »Muß wohl.« Ich zündete mir noch ein Zigarre an, nach demselben, Aufmerksamkeit erregenden Prinzip, das auch Werbespots hervorbringt, die die Leute bewußt verärgern vielleicht gaben sie mir, was ich wollte, nur um mich loszuwerden –, und folgte ihm zum Fahrstuhl. Unten ging es zu wie bei einem Feueralarm im Pentagon, ein Durcheinander von Geräten, hysterisch fauchenden Technikern, mehr Kabeln, die sich über den Teppich schlängelten, als man für einen halben Dschungel voll Tarzans gebraucht hätte. Und ganz gleich, welche Fortschritte die Technik macht, Fernsehleute haben immer noch das Gefühl, sie brauchen soviel Licht, daß sie einem die Haare in der Nase bleichen können. Ich fand eine verdunkelte, relativ ruhige Ecke und ließ mich dort nieder. Das ganze Irrenhaus verstummte plötzlich, als der Journalissimo in einer rauchsilberfarbenen Kasackbluse für wenigstens zehn Unzen erschien, geschmackvoll zu seinen Augenbrauen passend ausgewählt. Vielleicht war es auch umgekehrt. Er blieb feierlich hier und dort stehen, verteilte Scherze und persönliche Ratschläge an Leute, die sich nicht wehren konnten, bahnte sich einen Weg ins Zentrum all jener hellen Lichter, drapierte seine Jacke auf die Lehne eines komplizierten, etwas verrückten Stuhls und setzte sich in seinen nadelgestreiften Hemdsärmeln, um sein Urteil über einen Stapel Kopien zu sprechen, die irgendein demütiger Scriptmensch vor ihn hingelegt hatte. Er blickte nur einmal auf, direkt in mein Gesicht, in seinen graublauen Augen spiegelte sich eine seltsame Verwirrung, dann schüttelte er den Kopf und blickte wieder zu der Stoppuhr in seiner Hand zurück.
Gelegentlich geißelte er die Kopie mit einem Stift und las sie sich dann leise selbst vor, wobei er oft innehielt, um einen hartnäckigen Husten zu unterdrücken. Auch aus der Nähe blieb er der gleiche, gestrenge Großvater, mit dem die Nord-Amerikaner aufgewachsen waren, den sie sich seit einem halben Jahrhundert ansahen und an den sie glaubten: sandgraues Haar – war es ein Toupet? buschige, schwarzweiß gesprenkelte Augenbrauen; ein forscher, kleiner, nur halb sichtbarer Schnurrbart, mit dem er genau wie ein Abteilungsleiter der ›Konföderierten Lebensversicherung auf Gegenseitigkeit‹ aussah. Unter dem weisen, wettergegerbten Gesicht trug er mit Vorliebe neutrale, konservative Kleidung – ein toller Trick in dieser speziellen Ecke des Universums. Sogar seine tiefe Stimme mit dem Akzent aus dem Mittelwesten wirkte sandgrau und unerbittlich, und sie war zum Maßstab für korrekte Aussprache in der Konföderation geworden. In einer Kultur, in der es fast keine Autoritätsfiguren gab, hatte sein Wort, trotz der Konkurrenz von tausend anderen Sendern, das Gewicht göttlicher Offenbarung. Früher an diesem Morgen, als Navigation Rock zum erstenmal Wind von seinen Absichten bekommen hatte, hatte ich mir die Zeit genommen, seinen Namen in der ›Enzyklopädie von Nord-Amerika‹ nachzuschlagen. Er war 140 A.L. geboren, hatte lange als Zeitungsreporter gearbeitet und war gerade rechtzeitig zum Krieg gegen den Zaren 1957 in die Elektronik gegangen. Er war mit konföderierten Freiwilligen in Antarctica gelandet und mit dem Fallschirm über dem Königreich Hawaii abgesprungen, als die von den Russen unterstützten Hamiltonisten ins Meer gejagt wurden. Er war mit Admiral Heinlein, einem Landsmann aus Missouri, bei der Schlacht an der Beringstraße zusammengewesen. Beeindruckt davon, wie die Mondkolonisten der Konföderation zur Absetzung des Zaren Propaganda einsetzten, wurde er ein begeisterter Fürsprecher des Weltraums, obwohl er selbst fast dreißig Jahre gebraucht hatte, um hier herauszukommen. Jetzt waren seine täglichen Sendungen von der Hauptstation Ceres ein fester Bestandteil des Programms. Für viele war Malaise der Inbegriff der Glaubwürdigkeit, wahrhaft ein wandelnder Katalog von Pfadfindertugenden, die einzige, überzeugendste und einflußreichste Autorität am Telekom. Ein paar Miesepeter fanden ihn schroff, distanziert, selbstgefällige Wichtigtuerei
in Person. Es ging das Gerücht, daß seine Gegner ihn ›Titanenscheißer‹ nannten. Na ja, jedem kann man es schließlich nicht recht machen. Unvermittelt legte er jetzt seinen Stift beiseite, streckte sich und dehnte dabei seine Jacke aus. Ein beflissener Anhänger brachte ihm in einem Säckchen Mundwasser. Er gurgelte, spuckte aus und setzte sich genau in dem Augenblick wieder, als ein Schimpanse mit Kopfhörern einen haarigen Finger genau auf seinen Solar Plexus richtete. »Guten Abend. Zwanzigtausend Meilen über dem goldenen Angesicht von Ceres schwebt das Nervenzentrum des interplanetaren Frachtverkehrs, Navigation Rock. Hier sind wir heute abend, um über eine Reihe von bizarren Ereignissen zu berichten, die…« Dann erzählte er vom Versagen der Einrichtung, den Anzeichen für Sabotage und davon, was unternommen wurde, um die Schäden zu beheben. Auf einem Telekomschirm hinter ihm flackerten Bilder vom umgedrehten Ozean des Asteroiden, den Mörderwalen, die für die Lenkung und Sicherheit des halben Sonnensystems verantwortlich waren. Dann folgten reguläre Nachrichten; Malaise führte jeden Abschnitt ein, dazwischen, wenn die Studiokameras ausgeschaltet waren, besprach er sich leise mit seinen Assistenten und überarbeitete seine Notizen, wenn neue Fakten zu einem Dutzend sich erst entwickelnder Geschichten hereinkamen.
Dienstag, 16. März 223 A.L. Schließlich die berühmte Absage: »So sieht es aus. Hier spricht Voltaire Malaise. Gute Nacht.« Dann wurde das Ganze noch einmal aufgezeichnet für die Übertragung zu den Planetoiden, die sich auf der ›anderen Seite der Sonne‹ befanden und außer Reichweite waren. Als die Lichter endlich ausgingen, brachte jemand Malaise ein Handtuch und ein Sandwich, das auf der Erde rein architektonisch schon unmöglich gewesen wäre. Ich sah, wie Roger Benton ihm irgend etwas dringend zuflüsterte und quer durch die zweckentfremdete Halle zu mir herüberdeutete. Malaise run-
zelte die Stirn, sagte scharf ein paar Worte zu Benton und verschwand hustend und sich den Rücken reibend im nächsten Raum. Ich war abgeblitzt. Schon wieder. Die Erste Nummer Zwei des Systems schüttelte den ganzen Weg bis zu meinem Platz herüber traurig den Kopf. »Mr. Bear, ich…« »Ich wette, das sagen Sie zu allen Detektiven.« Ich stand auf und zündete meine Zigarre wieder an, dabei versuchte ich mich zu erinnern, wie Humphrey Bogart in so einer Situation vorgegangen wäre: »Schau mal, Kleiner, ich kriege ihn zu sehen, so oder so. Im Augenblick bitte ich noch recht höflich darum, verstehst du?« (Hatte sich am Ende ein Hauch von Edward G. Robinson eingeschlichen? Jein.) Benton fuhrwerkte so nervös herum, daß ich mich wunderte. Schließlich war ich nur ein Privatdetektiv – ich selbst hätte mir schon gezeigt, wo die Tür war. Plötzlich strahlte er. »Hm, äh… Warten Sie einen Augenblick, mir ist gerade eine Idee gekommen.« Damit rannte er praktisch aus der Halle. Als er fünfzehn Minuten später zurückkam, sah er aus, als sei ihm ein Stein vom Herzen gefallen. »Alles erledigt. Mir ist eingefallen, daß Sie mir erzählt hatten, Ihr Flitzer sei gestohlen worden. Nun, WIR werden Sie und Ihre Freundin nach Ceres mitnehmen. Voltaire langweilt sich sehr, wenn er nicht selbst fliegen darf – und das läßt die Versicherung des Senders nicht zu –, vielleicht findet er es unterhaltsam, ein paar Stunden lang mit einem richtigen Detektiv zu sprechen. Was sagen Sie dazu?« »Freund, ich war schon vor Stunden bereit, dieser Murmel hier den Abschiedskuß zu geben. Wir treffen uns am Südpol – ich bin der dritte Pinguin von links.« Ich wollte schon weggehen, dann blieb ich noch einmal stehen: »Und noch was, Roger, wir heizen alle die Stimmung für Sie an. Der alte Voltaire macht es auch nicht ewig.« »Hören Sie auf zu lächeln – wir sind hier nicht bei ›Fröhliche Nachrichten‹!« Malaise saugte noch einmal an seinem Säckchen, dann verschränkte er die Arme vor der Brust. Die Heiserkeit war wieder in seine Stimme gekrochen, und sein Rücken plagte ihn anscheinend noch immer. »Das bringt mich noch um meinen von Ausscheidungen umgebenen, liebenden Verstand. Verdammt, warum hat mir eigentlich kein
Mensch gesagt, daß Sie es auf ›Aphrodite‹ abgesehen hatten? Verdammt, man möchte meinen, die arbeiten alle für einen anderen Sender.« Ich grinste, dieser reizbare, hemdsärmelige Scotchtrinker, der in jeden Satz, der nicht aufgezeichnet wurde, etwas einflickte, was man in der Konföderation für einen Fluch hält, war mir unwillkürlich sympathisch. Der alte Voltaire war eigentlich doch nicht so übel, und sein Whisky auch nicht. Lucy hatte durch ihr internes Nahrungssystem etwas mehr als ein oder zwei Tropfen aufgenommen, jetzt machte sie es sich in einer Ecke neben dem Schott hinter uns bequem und ließ leise summende Geräusche ertönen. Sie wollte nur ihre Augen ein wenig ausruhen. Malaise deutete auf den Autopsiebericht, den ich seit der ›Bonaventura‹ mit mir herumschleppte, zusammen mit den erschreckenden Holos von Dr. Scott. »Lesen Sie mir das noch einmal vor, den Teil über die Frau, die sich selbst zerstört hat. Beim Geist des großen Albert, wie lange schlägt denn diese Technologie schon um sich, ohne daß jemand etwas davon merkt?« Sobald wir auf dem Kreuzer des Senders waren, hatte ich angefangen, ihn über die jüngsten Vorgänge zu informieren, in Stücken, von denen er sofort der Meinung war, daß sie sich zu einer ›großen Verschwörung gegen die Zivilisation‹ zusammenfügten. Lucys etwas hyperprothetische, künstliche Verfassung hatte das alles noch ein Stück glaubwürdiger gemacht. Er hatte selbst den ›Meuchelmord‹ gemeldet, in der Nacht, als es passierte. »Und das zeigt, daß ich recht habe«, schloß er verbittert, »und der Sender unrecht. Wir müssen schärfer rangehen, mehr nachprüfen. Wenn das ein anderer Sender erwischt hätte… ich werde mich sofort dranmachen, und, Bear, lassen Sie sich das eine Lehre sein: Ich bin in keiner Beziehung eine unfehlbare Autorität. Aber die Pest soll mich erwischen, solange ich Chefredakteur dieses Irrenhauses bin, werde ich mich darum bemühen, verdammt noch mal!« Er drehte sich unter Schmerzen um und rief über die Schulter nach hinten: »Hört ihr mich, Leute, wir werden uns, verdammt noch mal, darum bemühen!«
Darüber schienen sich seine Leute inoffiziell einig: Voltaire Malaise bemühte sich wirklich. Er hatte eine Art Spätzündung gemimt, als ich an Bord seines Kreuzers kam, als frage er sich, wo, zum Teufel, er mich schon einmal gesehen habe. Gott weiß, daß ich so etwas gewöhnt bin; ich habe eine Standardvisage. Dann beruhigte er sich, verschränkte die Arme und hörte mir mit Unterbrechungen eine ganze Stunde lang zu, nickte und schüttelte den Kopf, als ich meine Abenteuer herunterrasselte. Es gab ständig Unterbrechungen: der Bursche hatte schon bei seiner Geburt gefragt: ›Was gibt es Neues?‹, und er wurde entsetzlich ungeduldig, wenn er, selbst in so geringem Maß wie bei diesem Ausflug (eine Idee des Senders, murrte er), den Kontakt verlor. Jede zweite Minute bekam er neueste Unterlagen, Entwürfe für die nächste Sendung. Er hatte sie gelesen und brachte Korrekturen an: »Mildert diesen Schluß ein wenig ab«, oder: »Das ist Bockmist, und jeder weiß es auch.« Ich war überrascht, wie rücksichtslos er seine persönliche Meinung draußenhielt. Er war ein Profi – bestand darauf, den Titel Chefredakteur und keinen anderen zu führen – und sagte mir, es gäbe nur zwei Sorten von Leuten auf der Welt (ich stimme ihm zu: diejenigen, die sagen ›Es gibt nur zwei Sorten von Leuten auf der Welt‹ und…): Professionelle und Amateure. Die Konföderation war seiner Ansicht nach die erste Zivilisation von Amateuren in der Geschichte, und er hielt nicht allzuviel davon. »Die glauben alle, sie könnten so nebenbei jedesmal vom Bauernhof oder Bergwerk zum Bau, Bankwesen – die Verfassung möge sie erwischen, sogar zum Nachrichtenwesen überwechseln, wenn sie gerade Lust dazu haben. Diese verdammten Dilettanten haben keine Ahnung von einer arbeitsteiligen Wirtschaft, von Spezialisierung. Niemand respektiert mehr Referenzen! Vielleicht stimmt es doch – die Öffentlichkeit ist eine große Bestie, und man sollte ihr nicht einmal das Wählen gestatten!« Ich lachte. »Nun ja, soweit sind wir ja beinahe. Eigentlich ist nichts mehr übrig, was man wählen könnte.« Und das galt so ziemlich auch für die Staaten – nur war man auf anderem Weg so weit gekommen: im
nächsten Jahr wurden nur etwa zehn Prozent der Wählerschaft zur Wahl erwartet. Die Eigentumsrechtler hielten das für ein gutes Zeichen. »Wir könnten uns auf den Weg machen«, antwortete Malaise, »nach draußen, zu den Sternen. Statt dessen werden kostbare Zeit und Energie vergeudet, verschleudert, indem man in einem Land herumpfuscht, das uns überhaupt nichts angeht.« »Die Staaten? Da würde ich eigentlich nicht gerade von Verschwendung sprechen. Ohne diese ›Pfuscherei‹ wäre ich nicht hier.« Unvermittelt schaltete sich Lucy wieder ins Geschehen ein. »Die Sterne sind sehr geduldig, mein Junge, und außerdem sind die Zeit und die Energie, die Sie so beiläufig umdirigieren, Eigentum von Privatpersonen. Mensch, die halten es vielleicht für Verschwendung, zu den Sternen zu reisen, könnte doch sein, oder?« Der Reporter blickte sie finster an. »Was nur ein Beweis für die Beschränktheit von Amateuren ist. Verdammt, Weib, sie haben unrecht, und wir brauchen jemanden, der genügend Autorität hat, um es ihnen begreiflich zu machen!« Er knallte sein halbvolles Säckchen auf den Boden, wo es schwabbelte wie Wackelpeter. »Jetzt aber mal halblang. Junge! Soweit ich mich erinnere, hatten wir ein oder zwei Revolutionen, um genau diesen kleinen Punkt zu klären.« »Und wenn schon! Die Umstände verändern sich. Jetzt haben wir andere Zeiten und… – was ist los, Roger?« Benton war mit einem Telekomblock hinter ihm aufgetaucht, der besonders widerwärtige Stöhn- und Pfeifgeräusche ausstieß. »Diese Signale, Sir. Aus dem interstellaren Raum. Sie haben wieder angefangen.« Es war schwer, es genau festzustellen, aber aus irgendeinem Grund schien Malaise einen Ton blasser zu werden. »Du weißt doch, daß ich über diesen Quatsch nicht berichte. Das ist eine abgestandene Information, und sie wird erst wieder wichtig, wenn die Signale übersetzt sind – falls es da überhaupt etwas zu übersetzen gibt. Bisher ist das nicht geschehen, oder, Roger?« Jetzt begriff ich, warum Benton die ganze Zeit so unglücklich aussah. Er starrte auf seine Füße hinunter und seufzte. »Nein, Sir, das ist nur
ein neues…« »Dann nimm das Ding da weg und bring es nicht wieder her, bis mir jemand sagen kann, was es bedeutet!« Er wandte sich mir zu, als Benton sich davonschlich. »AMATEURE! Manchmal glaube ich, der Bursche wäre besser aufgehoben, wenn er gebrauchte Flitzer verhökerte.« Schließlich kriegte ich auch noch das Ende meiner Geschichte heraus, mehr oder weniger in der richtigen Reihenfolge. Ich endete mit Kokos – na ja, man könnte es Treuebruch nennen. »Featherstone-Haugh sagen Sie?« Er schien aufrichtig bestürzt. »Zuerst der Präsident der Konföderation – davon hätten wir wissen müssen – und jetzt seine…« »Nichte. Ich weiß nicht, was, zum Teufel, da los ist, aber Hören Sie, diese Weltraumsignale machen mich wirklich auch verrückt, ich…« »Bear, ich habe Sie falsch eingeschätzt. Sie haben das Auge eines Profis für Einzelheiten, und Sie sind auch, verdammt noch mal, gar nicht schlecht, wenn's darum geht, die Methode auszuknobeln. Aber wir werden es kurz machen müssen.« Er richtete die Gurte eines Spezialstuhls, den er auch für die Übertragung benützt hatte. »Mein Rücken bringt mich noch um, und ich sollte lieber versuchen, ein wenig zu schlafen. Sie und Mrs. Kropotkin hier, bedienen Sie sich an der Bar, ich gehe nach hinten.« Und das war's dann, wie man so sagt.
Mittwoch, 17. März 223 A.L. Am nächsten Tag starteten Lucy und ich in einer geliehenen Tucker Thracian wieder von Port Piazzi aus nach draußen, unser Ziel war Bulfinch 4137. Es würde eine ziemlich lange Reise werden, und ich hatte mir schon beinahe drei Stunden lang Filme auf meinem Gigakom angesehen, als ich feststellte, daß es Zeit war für die Nachrichten. Ich schaltete das Telekom des Flitzers ein und war gespannt, ob Voltaire irgend etwas von dem erwähnen würde, was ich ihm am Tag vorher erzählt hatte. Das Bild erwachte zum Leben, und es erschien das FALSCHE,
bekannte Gesicht: »… Roger Benton als Ersatz für Voltaire Malaise. Gleich zu Anfang eine wichtige Meldung: Voltaire Malaise, 83, seit fünfzig Jahren altgedienter Journalist und Chefredakteur der Abendnachrichten der Hauptstation Ceres, ist spurlos verschwunden. Die Sicherheitspolizei des Senders berichtet von Anzeichen eines heftigen Kampfes in der Wohnung des verschwundenen Nachrichtensprechers.« Und weil gerade von heftigen Kämpfen die Rede war, genauso etwas focht Benton jetzt gerade mit sich selbst aus um seinen reinen, unvermischten Jubel zu unterdrücken.
13. Kapitel Basalt der Erde Bulfinch 4137 war ein Brocken Kohlechondrit, der anscheinend hauptsächlich zu dem Zweck existierte, ungefähr eine Milliarde Krater zusammenzuhalten. Man könnte ihn als ungenügend ausgedrücktes Hamburgerpastetchen von drei Kilometer Durchmesser beschreiben, vielleicht halb so dick; achttausend Morgen, die Lucy und Ed (wenn er zu Hause war) ihre süße Heimstatt nannten. Eine Seite war von einem gewaltigen Aufschlagskrater bedeckt, genau halb so groß wie der Durchmesser des Asteroiden, um diesen Krater wucherten ihr behelfsmäßig wirkendes Haus, ein winziger Landeplatz und die Mine aller Minen, umgeben von unbestimmbaren Großgeräten. Die Rückseite der kleinen Welt prunkte mit vier riesigen, silbrig glänzenden Wassertanks und war von stickstoffbindendem Mais, Weizen, Hanf und der Feldfrucht bedeckt, die Lucy zum Verkauf anbaute, Opiummohn. Sie näherte die gemietete Tucker vorsichtig der Atmosphärenhülle aus Plastik und zielte dabei auf ein großes, rot markiertes Bullauge: »Jetzt dauert es nur noch eine Minute, Winnie. Sieh aus dem Fenster!« Es gab nicht viel zu sehen, bis wir die Hülle sanft berührten. Dann wurde die markierte Zone unter dem stetigen Druck unseres Triebwerks zu einem bauchigen Trichter, wich vor der Kühlerfigur zurück und schluckte uns, bis wir nur etwa hundert Meter über der felsigen Oberfläche hingen. Hinter uns schloß sich der Plastiktrichter, das Bullauge schrumpfte zu einem Punkt. Plötzlich zerriß das Material unter uns und ließ unser kleines Raumschiff ein, ohne daß auch nur ein einziger Kubikzentimeter des kostbaren Atmosphäregases verlorenging. Und ich wußte jetzt, wie man sich fühlt, wenn man von einer Amöbe verspeist wird. Lucy schwebte noch eine Zeitlang, damit ich zusehen konnte, wie der Plastikstalaktit zum Himmel hin schrumpfte wie Butter an der Sonne. Dann zog sie die Nase des Raumschiffs hoch und setzte uns genau in einer Landezone ab, die neben dem großen Krater ausgemeißelt war.
»Und jetzt hör zu, mein Junge, laß dich von dem hübschen Anblick nicht täuschen – dort draußen gibt es nicht einmal soviel Schwerkraft, daß man eine Briefmarke verankern könnte! Wenn du zu flott rausgehst, rennst du dir den Kopf am Himmel ein. Und du prallst so heftig ab, daß du dir deinen, du weißt schon was, brechen kannst. Benütze deine Haftsohlen und sei vorsichtig.« Ich nickte geistesabwesend. Durch irgendeine optische Raffinesse war der Himmel wundervoll tiefblau. Die nicht kultivierte Oberfläche des Asteroiden war von einem schmutzigen Graubraun, aber auf dem Boden vereinzelter Krater wuchsen Büsche, Gras und wenigstens hundert spindelförmige, lächerlich hagere Bäume und boten dem Auge Erholung. Wir glitten aus dem Flitzer und machten uns auf den Weg zum Haus, das größer war, als ich gedacht hatte, mindestens dreißig Meter lang, und trotzdem wirkte es neben einer Perlmuttkuppel, die dahinterstand, zwergenhaft. Lucy ging auf den Händen über einen ausgehauenen, treppenähnlichen Pfad zu einem breiten Absatz. Dort ruhte eine komische, dreibeinige Konstruktion, ein Thorneycroft-Rockhopper-Geländefahrzeug, dem Firmenschild nach; dem Mangel an Geschmack meiner Gastgeberin entsprechend war es in einem grellgelben Paisleymuster lackiert. Es parkte vor einer Traube grober Betongebäude und vor einer durchsichtigen Halbkugel, die einen fertigeren Eindruck machte, alles zusammen bildete das Ranchhaus. »Habe mit den Fertigbetonklötzen hier angefangen«, sagte Lucy und deutete auf einen der massiven Zementwürfel. »Mußten im freien Fall mit Fliehkraft gegossen und ganz sanft aufgesetzt werden. Drei ganze Jahre hab' ich dort gewohnt. Jetzt ist es eine Scheune – und das ist meine Treppe zu den Sternen!« Der eindrucksvolle Metallturm auf dem mittleren Gipfel des kahlen Kraters schien sogar noch durch die Atmosphärenhülle zu ragen. »Früher habe ich da die Schäkel für das DrexlerLichtsegel festgemacht, das diesen Felsen in unseren Orbit gezogen hat…« »Euren Orbit?« »Sicher. Verdammt, Winnie, hier draußen gibt es so viele Planetoiden, daß du sie dir praktisch nur zu nehmen brauchst. Die gute LAGE ist es,
die Geld kostet. Ich wollte diesen Turm als Fahrstuhl und Anlegeplattform benützen, aber dann hat jemand das dehnbare Plastik erfunden.« Sie gluckste. »Hab' schon überlegt, ob ich den Krater nicht mit Metallfolie auslegen soll – dann hätte ich den größten, sonnenbeheizten Grill im ganzen System.« »Und deshalb hast du hier draußen an der Landschaft nichts verändert. Sieht aus wie auf der Rückseite des Mondes.« Mondsüchtige Vorstellung, daß unser Satellit den Rest des Systems anschmachtete. Vielleicht brauchte ich einfach mehr Schlaf. »Na ja, wäre ja auch nicht richtig, wenn es überall so aussähe wie auf der Erde, was, Winnie? Trotzdem, eines Tages wird jemand rauskriegen, wie man Schwerkraft herstellt, und wenn es soweit ist, wird der Krater hier mein See. Wird richtig hübsch werden, glaubst du nicht?« Weitere Visionen, diesmal von Forellen, die sich den Kopf am Himmel anstießen, aber ich behielt sie für mich. Wir betraten das Haus durch eine gewöhnliche Tür, aber an den Rändern waren Dichtungen und an der Wand hing neben einem Feuerlöscher ein Reservekanister mit Sauerstoff. Dieser Raum, eine der Blockhütten aus Beton, hatte eine durchsichtige Decke und war anscheinend ein Treibhaus oder ein Wintergarten. Lucy blieb plötzlich stehen. Ich konnte einen größeren Zusammenstoß mit ihr gerade noch vermeiden, segelte aber um mich schlagend in der Luft herum, bis sie mich wieder herunterholte. »Was ist los, Lucy?« Ich schüttelte den Kopf und versuchte, mich wieder zurechtzufinden. »Schscht!« Sie schwebte vorsichtig weiter und zog ihre Pistole Kaliber .50. Ich ließ meine Webley aus dem Halfter rutschen und folgte mit leisen Schritten ihrem Beispiel. Irgend etwas stimmte tatsächlich nicht: Die Hälfte der Pflanzen, petroleumerzeugende Vettern des Gummibaums, waren aus ihren Beeten gerissen und klebten in einem vertrockneten Gewirr am Lüftungsgitter. Selbst da, wo die riesigen ›Setzlinge‹ noch an ihrem Platz waren, hatte man den Boden und seine Befestigungsnetze brutal herausgemeißelt. »Irgend so ein unerwünschter Wurmdreck hat Schatzgräber gespielt!«
Lucy ging die Gänge ab und murrte wütend vor sich hin, während sie die freischwebenden Grünpflanzen beiseiteschob. Nach fünfzehn Minuten hatte sie noch immer nichts gefunden, worauf sie schießen konnte, also wiederholten wir die Prozedur zwei Treppen höher mit schußbereiten Waffen. Hier in der Kuppel waren das Durcheinander und die Zerstörung nur etwas weniger organischer Natur. Möbel, Nippes, Plastikdokumente schwebten bei fast nicht vorhandener Schwerkraft überall herum und wurden aufgewirbelt, als wir vorbeigingen. Stahlskelettgitter unterteilten das geräumige Zimmer in mehrere Ebenen und Geschosse, ganz unten war das Wohnzimmer, in das wir eingetreten waren. Unmittelbar über unseren Köpfen befanden sich der Bibliothekscomputer und die Bürobereiche von Lucy und Ed. Und dort fand ich die Leiche. Nun habe ich mein ganzes Leben lang Leichen gefunden oder sie mir angesehen, nachdem andere Leute sie gefunden hatten. Dafür wird ein Polizist im Morddezernat bezahlt. Und dafür, daß er herausfindet, wer es getan hat. Ich habe Leichen in jedem Stadium gesehen, von warm und rosig bis grün und schmierig; doch bei jeder einzelnen war mir kotzübel. Oft setzte ich diesen Zustand auch in die Tat um. In dieser Hinsicht war dieser Kunde hier kein bißchen anders. Das einzige, was mich von einem Zustand gegenläufiger Peristaltik abhielt, war die Überlegung, welche Schweinerei ich damit bei einem Millionstel g oder was hier herrschte, anrichten würde. Der Bursche hing mit dem Gesicht zur Außenwand an einem Nagel oder einer Schraube, wo sich die offene Kapuze seines Patentanzugs verfangen hatte, als er daran vorbeisegelte. Kein Blut, aber sein Schädel war irgendwie breiig, die Folge eines heftigen Zusammentreffens mit einem Amboß oder einer vernünftigen Reproduktion davon. Einmalig war, daß er ein BULLE war, oder das, was diesem Beruf im Anarchismus der Asteroiden am nächsten kommt. Ich erkannte die bräunliche Programmierung des Anzugs von Ranger Trayle. Auf dem Schild über seiner Brusttasche stand: Rothbard's Sicherheitspatrouille. »Lucy? Stell das Sofa irgendwo ab und komm hier rauf!«
»Sicher, Winnie.« Sie hielt sich nicht mit der Wendeltreppe auf. Als sie in einem Schneesturm von Zeitungen und Plastikseiten an meiner Ebene vorbeikam, ließ sie einen Arm herausschießen und packte das Geländer. »Was hast du denn jetzt gefunden, Winnie – Ach du liebe Güte!« »Es geht mir um das ›Wen‹, Lucy. Erkennst du diesen Burschen?« Sie zog sich herein und sah genauer hin. »Das ist doch Ranger Trayle, Win. Jemand hat ihm den Schädel eingeschlagen – mit einem Mordsprügel, so wie es aussieht. Und dabei war er so ein netter, junger Bursche.« »Ich will es dir glauben. Das ist nicht der Ranger Trayle, mit dem ich gesprochen habe. Wenn die Leiche nicht so frisch wäre, würde ich sagen, er ist ganz kurz vor meinem Gespräch – mit einem Hochstapler – gestorben, vor mehr als einer Woche.« »Da ist nichts zu glauben. Du vergißt seinen Patentanzug, Inspektor – obwohl ein guter Pathologe immer noch… Na ja, ich rufe wohl besser die Patrouille an. Die haben sich vermutlich schon Sorgen um ihn gemacht.« Sie schwebte auf den Rand der Galerie zu. »Vermutlich. Und laß dir eine Lehre sein, was ich erlebt habe – sieh genau hin, damit du weißt, mit wem du sprichst. Rothbard ist ein molliger, lockenköpfiger, kleiner Bursche mit…« »Einem Kichern wie eine erregte Schildkröte. Hab verstanden.« Vielleicht bin ich sentimental, aber was mich am meisten beschäftigte, war, wie wohl ein Sanitätswagen aussehen würde, der weltraumtauglich war, vielleicht sollte man eher Leichenwagen sagen; die ehemalige Person hier war sogar über die Fähigkeiten der konföderierten Medizin weit hinaus, und nur der Patentanzug bewahrte sie davor, ein Geruchsschauspiel zu geben. Ist die Wissenschaft nicht etwas Großartiges? Nach den hiesigen Bräuchen war ich nicht gesetzlich verpflichtet, alles so zu belassen, wie ich es vorgefunden hatte. Außerdem war ich in diesen Dingen genausogut wie jeder konföderierte Pseudobulle und hatte beträchtlich mehr Erfahrung, wenn man die Verbrechensraten der Vereinigten Staaten und der Konföderation von Nord-Amerika miteinander vergleicht. Ich durchsuchte den Verblichenen von Kopf bis Fuß.
In den Taschen seines Anzugs (dieses Kleidungsstück war, unheimlich genug, allmählich wieder zu neutralem Silbergrau verblichen) fand ich seinen Patrouillenausweis, ein bißchen Hartgeld (von der wertvollsten Sorte) und verschiedene persönliche Besitztümer, die außer für seine nächsten Angehörigen für niemanden von Interesse waren. Die Waffe an seiner Hüfte verriet meiner Meinung nach den Anfänger – und das erklärte seinen jetzigen, beklagenswerten Zustand ein wenig: eine Plasmapistole, der allerletzte Schrei, und nach allem, was man hörte, nicht wirklich genau oder zuverlässig. Gleichgültig, er hatte nicht einmal die Chance gehabt, sie zu ziehen. Lucy erledigte den Anruf und versuchte dann erneut, ein wenig Ordnung in das Durcheinander zu bringen, das wir unten vorgefunden hatten. Ich brüllte ihr zu, sie solle die Spuren nicht zu sehr wegräumen, und sprang wie Erroll Flynn über das Geländer, um ihr behilflich zu sein. Vier Stunden später kam ich zu dem traurigen Schluß, daß jegliche Hinweise, die hier vielleicht zu finden gewesen wären, von der Finanzgesellschaft wieder in Besitz genommen worden waren. Unser Eindringling hatte nicht geraucht, während er hier war – etwas Neues in einer Kultur, die keine Angst vor Krebs hatte – und auch nicht getrunken, und er hatte auch, so weit ich das mit meinen bescheidenen Fähigkeiten feststellen konnte, die Toilette nicht benützt. Vielleicht war er von königlichem Geblüt. Oder ein Filmstar. Oder Superman. Oder ein Geist. Oder der Geist von Superman. Noch etwas fiel mir auf: So ungern ich daran denke, ich habe vielleicht hundert Fälle erlebt, in denen eine kleine, alte Dame seit vielen Tagen den Geist aufgegeben hatte, ohne daß die Nachbarn es bemerkten, und nach achtundvierzig Stunden etwa ohne sein Schappi fängt dann der kleine Spot oder Rover an, sein ehemaliges Frauchen anzuknabbern. Ich wußte nicht, wie es mit Katzen war, aber die von Lucy hatten nicht ein Krümelchen angerührt. Vielleicht lag es aber nur am Patentanzug. Oder vielleicht halten sich Katzen für Bürger und verabscheuen jede Art von Kannibalismus. Aber wahrscheinlich war es doch die automatische Futterversorgung in der Küche. Ich plazierte mich auf einem Stuhl in der Ecke, um mir alles durch
den Kopf gehen zu lassen. Wenn man vom Teufel spricht – es dauerte nicht allzulange, bis der alte Lysander, Lucys ehrenwerter Zimmergenosse, elegant auf meinen Schoß hüpfte. Ich rieb die dünn behaarten Flecken vor seinen Ohren, während er genießerisch die Augen zukniff und lyrisch dazu schnurrte. »Na, alter Junge, ich wünschte, du könntest sprechen. Du hast die ganze, verdammte Sache mit angeschaut, ich hab dich am Telekom gesehen. Was ist los mit dir, haben die MENSCHEN deine Zunge gefressen?« Er warf mir einen mißbilligenden Blick zu und fing an, sich die Zehen zu putzen. Ich konnte mich noch an die Zeit erinnern, als er sich mit Vorliebe auf meinen Kopf gehockt hatte, und war froh, daß er das endlich nicht mehr machte – der freie Fall war ihm alles in allem viel zu gut bekommen, er hatte mindestens eine Masse von zwanzig Pfund. »Komm, Lysander, wer hat unserem tapferen Ranger das Lebenslicht ausgeblasen?« Lysander nahm sich die zweite Pfote vor und glich die Neigung, ins Schweben zu geraten, dadurch aus, daß er seine Hinterklauen in mein Bein bohrte. Noch ein Grund zur Dankbarkeit für den Patentanzug. »He, Lucy?« Die würdige Dame war auf der anderen Seite des Raums damit beschäftigt, Plastikkopien in eine Art Maschine zu schieben. »Einen Augenblick nur, Winnie. Kannst du jetzt bald wieder was essen?« Irgendwo über meinem Kopf war Ranger Trayles Leiche immer noch am Abkühlen. »Hm, noch nicht gleich.« Ich entschuldigte mich bei dem Kater, hob ihn sanft auf und setzte ihn an meiner Stelle auf den Stuhl. Er putzte sich weiter die Pfoten, als habe ich überhaupt niemals existiert. »Ich wollte dich aus krankhafter Neugier fragen, wie es mit den hygienischen Einrichtungen für Lysander hier im… ach, sagen wir mal, im halbfreien Fall aussieht? Muß 'ne ziemliche Schweinerei sein, oder?« Sie hörte für einen Augenblick damit auf, Durchschläge einzustecken. »Geh mal nach hinten in den Versorgungsraum und sieh es dir selbst an, eine geniale Erfindung von mir, auch wenn ich es selbst sage – aber hilf mir erst mal bei dieser stumpfsinnigen Arbeit hier, ja, Sohn?« Und so blieb ich noch eineinhalb Stunden hängen und reichte Lucy Plastikblätter zu: Korrespondenz, Rechnungen, alles mögliche andere Zeug.
Sie schob ein Blatt nach dem anderen in die Maschine, wo es digitalisiert, abgelegt und mit Querverweisen versehen wurde, am anderen Ende, meinem Lieblingsteil, wurden die Seiten dann zerrissen und zum Mulchen in die Pflanzräume geleitet. Sie semper mit dem Papierkram! Das wäre ein beliebter Exportartikel, sobald wir einmal offen Handelsbeziehungen mit den USA aufnahmen. »Das wollte ich schon seit Monaten erledigen. Hier ist eine von Eddies Skizzen über die Verschwundenen.« Sie knallte das Blatt in die Maschine. »He, warte! Das wollte ich sehen!« »Entschuldige. Ruf es dir auf einem der Telekomblöcke dort drüben ab!« Sie gab mir die Referenzkoordinaten; ich störte Lysander noch einmal und setzte mich. Natürlich wollte er sich mitten auf dem Block niederlassen, also hob ich ihn auf und setzte ihn mitten in der Luft ab, wo ich, wenn ich genügend Geduld aufbrachte, zusehen konnte, wie er fiel und sogar, wie er auf dem Boden aufkam – in einer halben Stunde ungefähr. Er rollte sich auf dem Nichts bequem ein und schloß die Augen, völlig zufrieden damit, die ganze Aufregung zu verschlafen. Was Lucy zerkleinert hatte, waren mehrere Blätter handgeschriebener Notizen über Fälle unerklärlichen Verschwindens auf den Asteroiden während des letzten Jahres. Selbst wenn man die normalen Vorfälle aussortierte, war die Liste eindrucksvoll – und außerdem hatte ich mich nie so recht dran gewöhnen können, die Kritzeleien eines anderen in meiner eigenen Handschrift zu sehen. »Weißt du, ich glaube, wir haben viel Zeit damit vergeudet, nach positiven Anhaltspunkten herumzusuchen. Hast du hier irgend etwas gefunden, das fehlt?« Sie schwang herum und fixierte mich mit unsichtbaren optischen Geräten. »Na, wie könnte es denn fehlen, wenn ich es gefunden hätte?« »Na gut, Klugscheißer, du weißt doch, was ich meine. Gibt es da etwas?« Sie zögerte ein wenig. »Hab' eigentlich noch nicht darüber nachgedacht. In dem Durcheinander könnten es tausend Dinge sein. Ist vielleicht irgend etwas Brauchbares in Eddies Notizen?« »Ja! Warum hat er zum Beispiel Penetratorspielzeug im Wert von mehreren hundert Unzen bestellt? Ist das Zeug jemals angekommen?«
»Könnte ich dir nicht sagen. Weißt du, ich war zu dieser Zeit nicht hier. Müßte aber eine Rechnung oder sowas da sein, es sei denn, sie ist mit all den anderen Papieren irgendwo verstreut. Wenn ich etwas hasse, dann sind es Einbrecher, die ein Durcheinander zurücklassen.« »Mörder, Lucy. Einbrecher haben etwas mehr Niveau.« Ich kletterte wieder eine Ebene weiter hinauf, an den Überresten von Ranger Trayle vorbei – wann wollten diese verdammten ›Behörden‹ denn endlich kommen? – und suchte mir den Weg zu Eds Schreibtisch – einem schweren Möbelstück aus Metall mit eingebautem Schwingstuhl und Telekomrandzonen. Die Hauptschublade war aufgebrochen worden, mit einer Art Motorhebel heruntergedrückt, der sie aus den Schienen riß. Mitten unter den verstreuten Büroklammern und Radiergummis fand ich eine gelbe Plastikrechnung, genau wie Lucy prophezeit hatte, die die Verschiffung von einem Industriezentrum in dem großen, kontinentlangen Marskanal bestätigte, wo, wie es heißt, die Luft so dick ist, daß man sie tatsächlich atmen kann. Falls man ein Virus oder eine Kakerlake ist. Der Fortschritt geht weiter. »Lucy, hast du mal eine Minute Zeit? Ich möchte rausfinden, ob das Zeug wirklich hier angekommen ist.« »Ich bin oben, ehe ein Schamane zweimal seine Rassel geschüttelt hat.« Zehn Sekunden später erregte sie sich elektronisch über das nichtcomputerisierte Rattennest, das Ed hier angesammelt hatte. Ich weiß nicht, was er für eine Entschuldigung hat. Mein Schreibtisch zu Hause sieht genauso aus, weil ich immer Angst habe, ich würde dem Telekom irgend etwas Wichtiges anvertrauen, könnte es aber vielleicht nicht wieder abrufen. »Das ist komisch.« »Lucy, sehr viel Komisches kann es nicht geben, wenn zwei Meter neben deiner linken Schulter eine steifwerdende Leiche schwebt und du den Inhalt eines geplünderten Schreibtisches durchsiehst.« »Ich habe im Augenblick keine Schultern, und ich meine auch nicht komisch im Sinn von haha. Ich werde dir sagen, was fehlt; es ist dieses föderalistische Nippesding, das ich dir am Telekom gezeigt habe. Ich habe es gelassen, wo ich es gefunden habe, in der zweiten Schublade
von unten, und jetzt hat es Beine gekriegt.« »Interessant.« Das war vielleicht der Grund, warum die unterste Schublade nicht angerührt worden war. »Weißt du, mit diesen kleinen Medaillen hat man im Laufe der Zeit ein fürchterliches Getue angestellt.« Ich griff in meine Tasche und zog das Medaillon von der ›Bonaventura‹ heraus. Ich war mir noch immer nicht darüber klargeworden, ob jemand es zufällig verloren oder als Köder liegengelassen hatte. »Verdammtes Auge in der Pyramide, ich kriege jedesmal 'ne Gänsehaut, wenn ich es sehe. Sag mal, das ist mir noch nie aufgefallen, der gewellte Rand ist in Wirklichkeit ein eigenes Stück und dreht sich um das übrige – Lucy?« »Orrk! Gresbobble 'n frammisch Glork, Winstead!« Damit begann sie sich zu drehen und wirbelte schwindelerregend in immer größeren Kreisen herum. Ich schaute auf die Münze hinunter, und plötzlich dämmerte es mir. Ich stellte den Rand schnell um eine Vierteldrehung zurück in die Ausgangsposition, als Lucy durch das dünne Geländer brach und über den Rand taumelte. »Große feurige Donnerbälle!« Sie zündete ihre Flügelräder, richtete sich auf, verstreute die Hälfte der Papiere, die wir unten aussortiert hatten und fuhr eine Greifzange aus, als sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte. »Gib mir das Ding, ehe du mich kaputtmachst!« Ich reichte ihr zaghaft das Medaillon hinüber, und sie drückte es schützend an ihren nicht vorhandenen Busen. »Was ist los, Lucy?« »Nichts Besonderes – ich habe nur völlig die Kontrolle über meinen ganzen Körper verloren! Win, als wir uns diese höllische Gehirnsonde auf Ceres angeschaut haben, haben wir nur die eine Hälfte von dem gesehen, was los ist. Diese Medaille hier ist die andere Hälfte. Die gibt die Befehle!«
14. Kapitel Morgensuppe, Giftsuppe Wie Lucy das Kätzchen je an ein Katzenklo im freien Fall gewöhnen konnte… es war eine Art Miniaturzementmischer mit einem halben g, eine Seite war offen, so daß Lysander hinein- und herausklettern konnte. Hin und wieder wirbelte ein automatischer Staubsauger den Inhalt durch die Wand der Kuppel nach draußen auf einen Trägerstrahl, der zur Farm führte, und blies statt dessen frischgemahlenen Asteroidenstaub hinein. Aber das war nicht halb so interessant wie das Loch darüber in der paratronischen Tiefkühlkammer, das genau in Herzhöhe sauber in die emaillierte Metalloberfläche geschlagen war. Innen war die Kugel in einer Plastikschachtel mit Quittenjoghurt steckengeblieben: Vollkupfermantel, etwa 130 Korn, Durchmesser .356, so amerikanisch wie eine Pizzapastete. Es gab meines Wissens nur drei handelsübliche Patronen mit so einer Ladung, und eine davon war seit neunzig Jahren veraltet. Die anderen beiden waren .38 Special und wurden von der Armee ausgegeben, eine davon war ein verrücktes Ding mit einer Kannelüre oder gekräuselten Rinne um die Mitte der Kugel, um sie in der Hülse zu halten – und sie hatte nicht genügend Durchschlagskraft, um auch nur halb durch die Tür dieser Gefrierkammer zu dringen; die andere war ein wesentlich wirkungsvolleres, selbstladendes Exemplar, ursprünglich für Finanzbeamte entworfen, die etwas brauchten, was die gepanzerten Limousinen der Gangster durchschlug. Sechs Rillen, Linksdrall. Dieses pennyfarbene Bonbon, das da in meiner Handfläche herumrollte, war nicht aus einem Revolver gekommen. Anders als die Waffen aus der anderen Welt, die ich bisher kennengelernt hatte, hatte sich diese ein Profi ausgesucht. Vielleicht riefen sie jetzt die erste Garnitur auf den Plan. Und das, so schloß ich, wenn auch widerwillig, machte es erforderlich, den verstorbenen Ranger Trayle noch einmal zu untersuchen und sich die Sache mit der Kopfverletzung erneut zu überlegen. Lucy sah zu; der Körper drehte sich leicht, mangels auch nur ›toten‹ Gewichts,
durch seinen geöffneten Patentanzug war, wie ich erwartet hatte, unten in der rechten Brusthälfte ein häßliches, purpurfarbenes, runzliges Loch erkennbar. Der Anzug hatte es abgedichtet und versucht, es zu heilen, aber das Hochgeschwindigkeitsprojektil hatte die Leber praktisch in Stücke gerissen – eine Wunde, die sicher zum Tode führte, aber nicht zu schnell und auf sehr schmerzhafte Weise. Trayle war auf der Flucht gewesen; sein schwerer Schädelbruch war durch einen zufälligen Zusammenstoß mit Eds Schreibtisch oder etwas Ähnlichem herbeigeführt worden. Unter den gegebenen Umständen war es wahrscheinlich ein Segen. Ein wenig sorgfältige Schnüffelei förderte Haare und getrocknetes Blut am Geländer des Zwischengeschosses zutage. Normalerweise gehört es nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, aus Leichen wahrzusagen, aber die Größe der Wunde, genau an der Neun-Millimeter-Marke (wenn man die elastischen Eigenschaften der Haut berücksichtigte), verriet mir alles, was ich wissen mußte: Die Waffen der Konföderierten sind entweder viel größer oder viel kleiner (und entsprechend schneller) oder sie hinterlassen, wie die Laser oder Trayles eigene Flash-Gordon-Feuerspritze noch häßlichere Wunden, wenn solche Vergleiche überhaupt möglich sind. Eine .38 Super Automatik also, ein Hartford Colt: Entweder ein Regierungsmodell oder die kurze, leichte Commander – als letzte, äußerst unwahrscheinliche Alternative noch die Spanish Star oder die Llama – made in USA. Der Anzug hatte das Blut und andere Körpersäfte aufgesogen und versucht, seinen Träger zu retten, aber jetzt starb er in gewissem, nanoelektronischem Sinne selbst. Ich hatte inzwischen genug und entschloß mich, den Rest des Gemetzels den Medizinern zu überlassen, die ja irgendwann einmal auftauchen würden, aber Lucy wollte noch ein Experiment durchführen. Sie hatte etwas zusammengebastelt, was sie einen Franklinkäfig nannte, befestigte das Ding an einem Galeriegeländer und legte das hamiltonistische Medaillon hinein. »Okay, Winnie, schalte das Pestding an – ich will mal sehen, ob ich es aushalte.« Sie reichte mir das Teufelsinstrument und schwebte ein paar Meter weit weg. »Lucy, du wirst dir entweder das Gehirn verbrennen oder in etwas reinkrachen, höchstwahrscheinlich in mich.« Ich sah mir das Medaillon
in seinem hastig zusammengeschweißten Behälter an. »Warum lassen wir uns nicht richtige Testgeräte kommen?« »Wir werden jetzt jeden Augenblick Besuch kriegen. Außerdem hätte ich unten die ganze Werkstatt voller Geräte, aber ich glaube nicht, daß die uns etwas verraten können, was uns weiterhilft. Bist du soweit?« »Nein. Mach dich auf alles gefaßt!« Ich griff zwischen die Stangen, wobei ich sorgfältig darauf achtete, die Halskette nicht zu berühren, die Lucy für eine Antenne hielt, und drehte ungeschickt am Rand der Münze. »Nichts – noch ein Stück!« »Es ist deine Beerdigung.« »Davon hab ich mein Quantum schon aufgebraucht. Das Ding dringt einfach nicht durch. Dreh mal ganz rum!« Ich fummelte gehorsam weiter: Lucy schauderte ein wenig. »Na ja, ich sehe fast nur Schnee, wie bei einem schlechten Telekomempfang. In den Gelenken habe ich auch so ein komisches Gefühl. Komma 'n büschen näher, ja?« Ihre leicht verschliffene Sprechweise gefiel mir nicht, aber ich zuckte die Achseln und stakte mit meinen Haftsohlen so weit hinüber, wie das Bodenkabel es zuließ. »Spürst du jetzt etwas?« Schweigen. »Lucy, sag etwas!« »Et-was.« Sonst bewegte sie sich nicht. »Hm. Heb deinen rechten… äh… Arm, bitte!« Wie sollte ich weiterleben, wenn ihr das Ding einen dauernden Schaden zufügte? Ihre rechte Greifzange kurbelte sich langsam zur Decke hoch. Ich drehte den Rand in seine ursprüngliche Stellung zurück und legte das Medaillon wie eine Giftschlange vorsichtig auf den Boden. »Lucy, ist mit dir alles in Ordnung?« »Kannst deine verlausten Lenden drauf verwetten!« Sie packte den Käfig und riß ihn beinahe auseinander in dem Bemühen, an die Münze zu kommen. Dann drehte sie sich schamhaft um, öffnete ihren eingebauten Geschützstand und steckte das Medaillon in eine Nische neben der Kanone. »Niemand wird an meinen Fäden ziehen, solange ich noch
etwas zu sagen habe!« Ich versuchte, ein Schaudern zu unterdrücken. »Wie war es?« »Du hast gesagt, ich soll etwas sagen, und die Pest soll mich holen, ich konnte nicht anders, als mit einem blöden Witz zu antworten. Dann hast du gesagt, ich soll den Arm heben, und ich konnte nicht anders, ich mußte… gehorchen, Winnie, ich! Das Ding ist gefährlich. Gib den Bürokraten eine Schachtel voll davon, und die lassen uns innerhalb einer Woche alle rummarschieren wie kleine Zinnsoldaten.« »Sieht so aus, als war Ed wirklich einer scheußlichen Sache auf der Spur. Was hattest du denn für ein Gefühl dabei, Lucy – ich meine, als das Ding in Betrieb war?« »Schrecklich! Ich war wütender als ein Nest Klapperschlangen, Winnie, hätte dich mit Freuden umbringen können. Wenn man unter dem Einfluß steht, dann weiß man es, haßt es und kann, verdammt noch mal, nicht das geringste dagegen machen. Das Zweitentsetzlichste, was ich jemals durchgemacht habe.« Jetzt wußte ich, daß es ihr wieder gut ging, und ich hatte nicht vor, ihr gratis ein Stichwort zu liefern. Ich zog eine Zigarre heraus, zündete sie lässig an und genoß ein paar Züge. Aber sie hatte doch mehr Ausdauer als ich. »Okay, was war das erste, verdammt?« »Das erste was? Oh, das. Das willst du doch gar nicht wissen. Ich sage nur soviel, wenn mich das nächstemal so ein Schweinehund zum Präsidenten nominieren will, sollte er schneller ziehen können als ich. War ziemlich knapp – ›Keiner der obigen‹ hat mich nur um eine Stimme geschlagen: meine!« »Ich werde später entscheiden, ob ich dir das glauben soll. Irgendeine Ahnung, warum dieses Medaillon nur dich beeinflußt und weder mich noch die Katze?« Lysander war wie ein angesengtes Tachyon abgezischt, als Lucy anfing, sich komisch zu benehmen – komischer als sonst jedenfalls. »Winnie, du enttäuschst mich. Jeder, der auch nur soviel Hirn hat wie ein feingewürfelter Plattwurm, könnte doch…« »Vielen Dank, Lucy.«
»Siehst du, das, was mich am Leben erhält, ist im Grunde genommen die gleiche Technologie wie bei dem Gehirnsondendings da. Mensch, nicht einmal die Steuerfrequenzen sind verschieden – das ist alles durch die neurophysikalischen Gegebenheiten der Situation bestimmt. Jeder, der richtig angeschlossen ist, wird schlicht und einfach zum Gimpel, verstehst du?« Ich verstand, aber deshalb brauchte es mir noch nicht zu gefallen. Wenigstens gab es da noch einige Grenzen; übermorgen würden wir noch nicht alle zu Zombies werden. Ich zog in Erwägung, während der nächsten paar Jahre mit einem Sturzhelm zu schlafen. In diesem Augenblick fing die Türglocke zu quäken an – na ja, ein bißchen Adrenalin soll ja ganz gesund sein – und verkündete das bevorstehende Eintreffen der sogenannten hiesigen Behörden. Sie baten um Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen. Auch nach zwölf Jahren hatte ich mich immer noch nicht an höfliche Bullen gewöhnt. Lucy ging öffnen. Ich fand endlich Lysander, er hatte sich mit den Zehen in der Decke verkrallt und schlug auf einen kleinen, glänzenden Gegenstand ein, den er entdeckt hatte. Ich schwang mich in die Umlaufbahn, stolz auf meine neu erworbene Geschicklichkeit in solchen Dingen, um zu sehen, was sein Interesse erregt hatte. Drei Kurskorrekturen und ein Paar abgeschürfte Schienbeine später hatte ich es, eine leere, kleinfingergroße, halb geränderte, nickelüberzogene Patronenhülse aus Messing mit der Aufschrift: CDM .38 Auto. Interessant. In der Konföderation sind alle Hülsen aus Flußstahl oder aus Titan. Wir fanden Eds Geräte zur Penetratorentdeckung in der Werkstatt ausgebreitet, wo er sie während Lucys längerer beruflicher Abwesenheit zusammengebaut hatte. Nachdem die hiesigen Vertreter der VBF die Leiche des Rangers an sich genommen und von uns beiden eidesstattliche Aussagen bekommen hatten, eilten wir hinunter, und Lucy fing an, Knöpfe zu drücken und Schalter umzulegen. Keiner von uns war überrascht, als das Ding auf der Bank Geräusche von einer Stelle meldete, wo eigentlich keine hätten sein dürfen. »Wo kommt das her, Lucy?« »Sekunde… das ist deutlich, so sicher, wie die Korruption. Ja, genau
das habe ich mir gedacht, irgendwo in der Nomadengruppe – ein Teil des Sargassohaufens. Da wandert 'n Haufen eigensinniger Steine irgendwie ständig aus der Ekliptik raus und wieder rein, anstatt schön zu bleiben, wo sie sind.« »Hört sich an wie ein idealer Platz für Anarchisten. Ist da jemand draußen?« »Muß wohl jemand dort sein, bei so einem Signal. Ein paar Bergwerksunternehmen, ein paar Dutzend Siedler. Ziemlich einsamer Himmelsfleck, bis Aphrodite anfing, sich einzukaufen. Ist jedenfalls ein Mordssignal – vielleicht ist Tormount grade dabei, den Felsen von Gibraltar reinzupenetrieren oder sowas.« Auf eine meiner nicht allzu häufigen produktiven Eingebungen hin zog ich Eds Notizen aus einem Telekomblock in der Nähe. »Wie viele von den Leuten, die im Sargassobereich verschwunden sind, sind deiner Meinung nach aus der Nomadengruppe?« Sie nahm den Block, tippte ein paar Anweisungen ein und wartete auf die Ergebnisse. »Zwei Drittel – können auch drei Viertel sein. Schwer zu sagen – die Leute sind manchmal nicht allzu konsequent oder originell, wenn sie ihre Steine taufen.« »Lucy, mein halbmechanischer compadre, ich glaube, wir haben endlich eine solide Spur. Vielleicht ist es jetzt Zeit, daß wir uns auf die Sokken machen.« »Laß mich nur noch ein paar unaussprechliche Sachen ausspülen und die Katze aufziehen. Und du gehst mal für kleine Jungs – nicht daß ich am Straßenrand anhalten muß, weil du raus mußt.« Ganz so einfach war es nicht. Zum einen mußten wir ein halbes Dutzend sehr sorgfältig formulierter Telekomgespräche führen, um bestimmte Personen festzunageln, mit denen ich sprechen wollte. Wir hatten vor, Eds Untersuchungen so weit zu folgen, wie wir konnten, ohne selbst unter den Vermißten zu landen. Laut Eds Aufzeichnungen hatte ein Nachbar entdeckt, was er auf der Erde gemacht hatte, und ihn gedrängt, nach seinen zwei Töchtern zu suchen, die von zu Hause fortgegangen waren, um sich in den Nomaden einen Claim abzustecken.
Als die Kunde sich verbreitete, hatten sich noch weitere Leute mit verschwundenen Freunden und Familienangehörigen drangehängt. Ed wurden mehr Wertsachen angeboten, als Lucy und er in Jahren gewöhnlicher Pionierarbeit hätten zusammenkratzen können. Kompliziert wurde das alles dadurch, daß ständig vermißte Gürtelbewohner wieder auftauchen: Ungefähr zwei Milliarden von ihnen verteilen sich über das ganze System, und jeder, der närrisch genug ist, eine Zählung durchführen oder Identifizierungsnummern verlangen zu wollen, ist ein wahrscheinlicher Kandidat für eine vorzeitige Pensionierung samt zugehörigem Begräbnis. Jeder ist vor irgend etwas auf der Flucht. Nehmen Sie die Töchter dieses Nachbarn, die unterwegs waren, um sich allein und unabhängig eine Heimat zu suchen. Tausende von ehemaligen Zaristen, Hamiltonisten und Kryptoautoritären hundert verschiedener Couleurs waren hier draußen willkommen, solange sie sich anständig aufführten, obwohl sie gut beraten waren, wenn sie ihre Namen änderten. Gleichermaßen strömten diejenigen, die in meiner Welt vor der Tyrannei flohen, auf die Asteroiden, oft saßen sie am Ende Claim an Claim mit genau den Typen, vor denen sie geflohen waren, weil der Fortschritt der Eigentumsrechtler auch die vertrieben hatte. Nehmen Sie noch Millionen von Amerikanern hinzu, die Geld unterschlagen, sich den Alimenten entzogen oder vor der Steuer gedrückt hatten, Verbrecher aus der Konföderation, die vor ihren Wiedergutmachungsverpflichtungen davonliefen: eine höchst schwierige Bevölkerung, wenn man sie analysieren und auf eine Statistik zurückführen wollte. Die Leute bekamen hier draußen eine neue Chance – manchmal zwei oder drei neue Chancen – und oft versäumten sie es, eine Nachsendeadresse zu hinterlassen. Trotzdem deuteten Eds Computeraufzeichnungen auf eine Welle von Vermißtenmeldungen hin, die mit solch weltlichen und zynischen Betrachtungen nicht zu erklären war. Irgendetwas Großes, Unheilvolles schien sich abzuspielen, dessen Mittelpunkt wenigstens statistisch in der wandernden Geröllwolke lag, die als Nomadenhaufen bekannt war. Wenn es einen Unterschied zwischen meinem kosmischen Zwilling und mir gibt, so ist es der, daß er methodischer vorgeht – wenigstens auf dem Papier. Ich habe meinen Untersuchungsplan im Kopf. Als er die letzten Eintragungen in den Computer hier auf Bulfinch gemacht hatte,
hatte er beschlossen, zu den Nomaden aufzubrechen, Adresse postlagernd. Und dann war er verschwunden. Wir würden zuerst bei diesem ersten Nachbarn vorbeischauen, der Schwierigkeiten gemacht hatte, einem Rancher in gewissem Sinne, namens Schroeder. ›Nachbarschaft‹ ist auf den Asteroiden ein ziemlich bildlicher Begriff: Lucy sagte mir, der Ausflug ›nach nebenan‹ würde bei dem üblichen Zehntel g sechs Stunden dauern. Folglich verpaßte ich meinen Webley-Magazinen eine gründliche Aufladung und prüfte nach, ob sich im winzigen Magazin meiner konfiszierten Bauer eine Runde mit Sprengspitzen befand. Dann kopierte ich Eds Notizen und wir versorgten die Katze und gingen auf die Toilette (wenigstens ich – was Lucy in dieser Beziehung durchzustehen hatte, möchte ich nicht einmal wissen), dann verabschiedeten wir uns von dem alten Siedlerhaus. Lysander wollte mitkommen, und so mußte ich mich schließlich in lächerlicher Pose an ihm vorbei durch die Haustür zwängen und sie schnell hinter mir zumachen – ich glaube, ich habe ihm bei dieser Gelegenheit ein paar Schnurrbarthaare verbogen. Ich schnallte mich in den Sitz von Lucys Flitzer (die Tucker hatten wir per Autopilot nach Hause geschickt), einen Stanley Flitemaster in den für sie normalen Farben, bei denen einem übel werden konnte, und sah ihr zu, wie sie den Kurs ausrechnete. »He, ist das nicht ein kleiner Umweg? Wenn du über dieses Gebiet fliegst, das so leer aussieht, würden wir mindestens…« »Da will das Ei schon wieder mal klüger sein als die Henne eine ekelhafte Redewendung, wirklich! Winnie, da geht es direkt durch Charlies Wolke; wir würden bestimmt durchlöchert, oder atmest du gerne Vakuum?« »Charlies Wolke?« »Benannt – posthum natürlich – nach einem gewissen Charles Cato Montgomery, dem verstorbenen, vermöbelten, früheren Besitzer.« »Irgendwie spüre ich noch so eine wilde Geschichte in der Luft.« »Das sind die Brote mit Eiersalat vom Mittagessen, Junge. Anscheinend haben sich damals bei der Erschließung dieses Gürtelabschnitts
ein Haufen Greenhorns aus San Francisco manche sagen, Hamiltonisten, die ausgewiesen worden waren, vielleicht alte Nortonier, ich weiß es nicht – zu Hütern der Asteroiden erklärt. Haben ungefähr tausend Frequenzen überschwemmt und verkündet, sie würden jetzt hier draußen alles anständig ordnen und organisieren. Sagten, wir sollten uns vorsorglich für Catos Edikt Nummer Eins bereithalten.« »Und was war das?« »Hab' ich nie so richtig rausgekriegt. Der Felsen, auf dem sich der alte Charlie angesiedelt hatte, ist eines Nachts einfach auseinandergeflogen, ganz von allein. Direkt vor der großen Sendung. Kugeln, Laser, Raketen, alle möglichen Vernichtungsdinger kamen aus allen Richtungen dahergeflogen, wir kriegten nie genau raus, wer die Schuldigen waren. Alles, was von Charlie und seiner Bande noch übrig ist, ist ein riesengroßer Schwarm von kleinen Kieselsteinchen. Wir hätten einiges zu tun, wenn wir denen ausweichen wollten!« »Hört sich für mich wie schlichter, altmodischer Mord an. Wie viele von den ›Vernichtungsdingern‹ waren denn von dir, Lucy?« »Darüber schweigt des Sängers Höflichkeit. In jener Saison ist mir mein ganzes Ammoniumnitrat ausgegangen. Hat mich beinahe das ganze Mohnfeld gekostet. Es war ein guter Tausch: Regierung ist ein Laster, das man besser – wenn überhaupt irgendwo – dort läßt, wo es angefangen hat, auf der Erde.« »Ich verstehe, und wenn diese freiwillige Regierung von einer Mehrheit von Asteroidenbewohnern akzeptiert worden wäre, was hättest du dann gemacht?« »Dann hätte ich mir noch mehr Ammoniumnitrat beschafft. Niemand hat das Recht, eine Regierung anzufangen, Winnie. Das haben wir – zusammen mit Typhus und Cholera – auf der Erde zurückgelassen, als wir hier rauskamen. Und jedermann hat das Recht, Regierungen zu vernichten. Reine Notwehr.«
Dienstag, 18. März 223 A.L.
Sechs Stunden, zwei Gigakomfilme und ein Pong-Turnier später (ich glaube, Lucy schlug mich überwältigend) meldeten unsere Instrumente Kontakt mit einem Ziel, das noch zu weit entfernt war, um direkt sichtbar zu sein. Natürlich hätten wir, da wir ja abbremsten, sowieso Rückspiegel verwenden müssen. Als wir die Geschwindigkeit schließlich angeglichen hatten, war das Ziel groß genug, um mich zu überraschen, eine gewaltige, aufgeschwollene, faulig aussehende Aprikose von einer Welt, neben deren galliger Färbung Lucys Paisleymuster noch geschmackvoll aussah. Ich konnte mit den Instrumenten inzwischen gut genug umgehen, um zu erkennen, daß die scheinbare Größe des Dings hauptsächlich Illusion war, übertrieben durch die Atmosphärenhülle aus Plastik, deren Inhalt eine giftig aussehende Brühe aus grünen und gelben Gasen war. Lucy steuerte uns auf einen Pol zu, wo ein Metallturm die Plastikblase durchbohrte, und setzte uns auf einem Landepolster ab. Ich schloß meine Kapuze und zog die Webley, um die Ladung noch einmal zu überprüfen. »Halt mal, Pecos Bill, laß diesen Schweinsfuß im Wagen.« Sie fing an, sich ihren Waffengurt selbst abzuschnallen, ein Anblick – ich hätte nie gedacht, ihn jemals zu erleben. Ohne Waffen wirkte sie irgendwie unsymmetrisch. »Lucy, verlierst du vielleicht Nährlösung? Ich werde in diesen Dreck nicht ohne…« »Willst du genauso enden wie Charlie Montgomery? Das ist hier eine Mikrobenranch, Winnie, eine einzige, häßliche Kultur von anäroben Samen. Sobald du in dieser Atmosphäre einen Schuß abgibst, geht sie hoch wie…« »Der zweite Juli. Okay, du hast mich überzeugt. Wo soll ich meinen Gürtel aufhängen?« Ich machte mich daran, ihn abzuschnallen. »Das Pusterohr auch, Sohn. Ich habe gesehen, wie du dir die kleine .25 in den Anzug gesteckt hast. Es ist ganz gleich, wie groß der Funken ist, der Knall ist groß genug, um…«
»Schon gut, schon gut! Soll ich das Rezin auch hierlassen? Und wo gebe ich meine Fingernägel und Zähne ab?« »Jetzt werde nicht bissig! Mir paßt das genausowenig wie dir. Bei den Pocken, ich würde ja meine Darlingkanone auch hierlassen, aber es dauert eine halbe Stunde, bis ich sie ausgebaut habe, und außerdem bin ich eine gefestigtere Persönlichkeit als du. Das Messer kannst du behalten, die Legierung gibt keine Funken. Und paß auf, daß dein Anzug dicht bleibt – ein Atemzug von dem Mief hier drinnen, und es ist Pflanzzeit für Mama Bears einzigen Sohn.« Besagter Anzug übertrug gerade ein automatisches Landeerlaubnissignal. Am Ende der Fahrstuhlfahrt blitzte in grellen Farben in etwa siebenundzwanzig Sprachen innen an der Tür eine Warnung auf, um uns daran zu erinnern, daß wir uns hier nicht gerade in einem Kurort befanden. Außer vielleicht für Bakterien. Wir warteten, bis sich die Schleuse öffnete. »Was ist das eigentlich, eine Mikrobenranch, Lucy, eine Art aufgedonnerte, konföderierte Ameisenfarm?« Sie zog die Arme ein und fuhr sie wieder aus, jetzt steckten sie in einer dünnen Scheibe aus gummiartigem Patentanzugmaterial. »Das ist der allerletzte Schrei, Winnie. Hier draußen gibt es speziell entwickelte Mikroschwänzler, die kriechen rum, vermehren sich, fressen, gehen auf die süße, kleine Toilette – und verbrennen Felsen und Metall zu einem Brei, den man raffinieren und destillieren kann: Metalle, Chemikalien, Pharmazeutika. Und jetzt paß auf!« Die Tür glitt auf, und wir stakten auf Haftsohlen hinaus auf eine plastiküberzogene Laufplanke, die sich vor uns in ein halbes Dutzend Richtungen verzweigte. Ich blickte hinauf zum ›Himmel‹, eine Ansicht des Jupiter von innen nach außen gekehrt. Vier Meter unter der Laufplanke blubberte, platschte und rauchte es, es sah aus wie die Schlußszene aus ›Der christliche Zauberer‹. Der Himmel war mir lieber. »Mit der Zeit«, fuhr Lucy fort, während wir an den Gittern entlang auf eine kleine, von Pfeilern getragene Kuppel zusteuerten, »wird man die Hülle zum Einsturz bringen, die ganze Chose abstrahlen und in einem Induktionsfeld monatelang ausbrennen, bis alles steril ist. Dann führt man neue Mikrobenrassen ein, ein paar Millionen Nachtkriecher,
und dann wirst du hier das hübscheste, kleine Urwaldparadies vorfinden, das du jemals gesehen hast. Ich wünschte wirklich, sowas hätte es schon gegeben, als Eddie und ich angefangen haben. Das hätte uns einen Haufen knochenharte Arbeit erspart. Eigentlich warte ich seit Jahren darauf, daß jemand es unten auf der Venus ausprobiert, aber bisher…« Wir hatten die Kuppel erreicht, anscheinend eine Zuflucht mit erdähnlichen Bedingungen vor der giftigen1 Atmosphäre – mit einer speziellen Entseuchungsschleuse am Eingang. Nach seinem aufgeschlitzten, zerfetzten Patentanzug zu urteilen war der Bursche, der da in der äußeren Tür lag und sie am Zufallen hinderte, Farmer Schroeder, der Bursche, mit dem ich hatte sprechen wollen. Man mußte an dem Patentanzug vorbei; was von seinem Inhalt noch übrig war, war halbflüssig, brodelte und dampfte, bäumte sich auf durch die hyperaktiven Keime, mit denen es infiziert war. Als ich versuchte, meine Augen von den glitzernden Überresten abzuwenden, kribbelte etwas in mir, und ich erkannte, daß es mein Magen war. »Lucy, mir wird schlecht. Wie soll ich…« »Orrk!« Lucy zitterte am ganzen Körper und sämtlichen Greifwerkzeugen, machte einen Satz und fing an, ständig im Kreis herumzumarschieren. Sie prallte gegen das Schutzgeländer der Laufplanke, es bog sich gefährlich nach außen, dann drehte sie wieder einen Kreis und stieß an einer anderen Stelle dagegen, wo es unter der Belastung stöhnte und quiekte. Ich zappelte verzweifelt herum und suchte nach meinem nicht vorhandenen Halfter. Plötzlich schrie hinter mir eine Gestalt in einem Patentanzug eine Herausforderung. Ich wirbelte herum, während der andere einen Ausfall machte, in seiner Hand blitzte blanker Stahl.
15. Kapitel Aus tausend Toden geschnitten Irgendwie krümmte ich mich zur Seite, und sobald der Schock abgeklungen war, setzte die eisige, zeitlupenhafte Klarheit des Verstandes ein, die ich ›Panik zweiten Ranges‹ nenne, eine gelassene Stumpfheit, die man hinterher, vorausgesetzt, man überlebt und kann noch davon erzählen, nicht erklären kann. Schmuggler, Skirennläufer, Ladendiebe und Fallschirmspringer nicken jetzt und grinsen – ja, sie wissen Bescheid. Meine Hände waren jetzt ruhig, meine Finger umfaßten den Griff des Rezin, ohne daß ich mich erinnern konnte, es gezogen zu haben. Mein Gegenspieler war vielleicht einen Kopf größer und von leichterem Körperbau, in bezug auf Reichweite war er mir nicht allzusehr überlegen – und das bißchen wurde durch die größere Länge meines Messers ausgeglichen. Sein Patentanzug war von schimmerndem, blassem Grau, das Gesicht völlig abgedichtet und anonym. Aber um seinen Hals glänzte unverhüllt ein hamiltonistisches Medaillon, und das schaltete Lucy aus. Er schien die Grundregeln hier zu kennen, zeigte kein Interesse, die Pistole zu benützen, die er um die Hüfte geschnallt hatte, und nahm nicht die Haltung eines Kriegskünstlers ein, sondern die eines Fechters. Immerhin etwas. Viel war es nicht. Ich dachte immer wieder: Ich bin neunundfünfzig Jahre alt, schon jetzt außer Atem und habe, barmherzig geschätzt, zwanzig Pfund Übergewicht. Bei dieser Art von Zeremonien gehören der Sieg – und das Leben dem Schnellen; der erste, der rein- und wieder rauskommt, macht dem anderen ein Loch ins Fell. Er umkreiste mich, mit seinem linken Handschuh hielt er einen kurzen Dolch, mit dem er in dem Medium, das hier die Luft ersetzte, winzige, ablenkende Achterfiguren machte. Dankbar für das Training, dem ich mich unterzogen hatte, blieb ich stehen, ließ ihn an mich herankommen, löste mich aus einer reflexiven, koreanischen Gehstellung, ging mit seiner Drehung mit, hielt meine Waffe in halber Höhe vor mir,
die Spitze auf gleicher Ebene mit seiner Kehle. Er machte einen Ausfall, die Messerspitze streifte mich! Ich drehte mich auf den Zehenspitzen, trat zu, ließ ihn mit den kurzen Rippen hart in meine Ferse krachen. Sein Anzug fing den Aufprall zum größten Teil auf; als er sich schüttelte, um wieder klar zu werden, sah ich flüchtig in seiner anderen Hand etwas glitzern, eine zweite Klinge, die abwehrbereit an seinem Unterarm befestigt war. Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich mir den Tritt vielleicht verkniffen. Tatsächlich, an meinem Schienbein war eine weißliche Spur. Bei diesem Klima hätte es mich beinahe erwischt, gleich hier an Ort und Stelle. Gut, wir hatten uns gegenseitig beschnüffelt. Die Frage ist immer, auf welcher Seite der Klinge der andere Bursche hereinkommt, besonders bei Linkshändern. Ich nahm ihm die Entscheidung ab, wechselte auf diagonale Deckung, seine rechte Schulter befand sich in einer Linie mit der Spitze meines Bowie-Messers. Jetzt würde er rechts hereinkommen müssen. Sagte ich mir wenigstens. Er umkreiste mich, übte Schattenfechten in der Luft außerhalb meiner Reichweite, dann machte er wieder einen Ausfall, direkt auf meine mittlere Körperpartie gezielt. Ich wollte parieren, spürte irgendwie, daß der Stoß nicht ehrlich war, und konnte nur knapp einen Tiefstoß abwehren, den er mit der anderen Klinge versuchte, meine Lenden brachte ich gerade noch in Sicherheit. Idiotische Gedanken über den richtigen Zeitpunkt. Ich hatte diesen verrottenden Kadaver in der Tür gesehen: Es brauchte nicht viel: ein guter Schnitt, den Rest würde die teuflische Umgebung erledigen – bis auf die Knochen, vielleicht sogar die. Unvermittelt wurde ich hart gegen das Geländer der Laufplanke geworfen. Es war Lucy, die sinnloses Zeug quakte. Ich verlor beinahe das Messer, als ein Schmerz durch meine Beine schoß, von der Hüfte bis zu den Zehen, mein Gegner hatte es auf die Nieren abgesehen. Ich grunzte vor Schmerz und drehte mich weg – im letzten Augenblick, ehe ich in den bodenlosen Ätzmittelweiher geplumpst wäre. Er sprang, beide Messer ausgestreckt wie die Degen, die auf Kampfstiere gerichtet werden, und schlug zu.
Vom Geländer unter den Achselhöhlen gestützt trat ich schnell nach ihm; der Tritt erwischte ihn direkt zwischen den Beinen und hob ihn von den Füßen, aber ich hatte genug damit zu tun, mich aufrecht zu halten und konnte den winzigen Vorteil nicht ausbauen. Er taumelte gekrümmt und mit sich selbst beschäftigt weg. Irgendwie hatte er auch einen Treffer erzielt; der rechte Ärmel meines Anzugs wies einen tiefen Schnitt auf, der aber nicht ganz durch das Gewebe ging. Die Ränder bewegten sich, versuchten, wieder abzudichten. Viel mehr Zug würden sie nicht aushalten. Der Bursche mußte wirklich aus Stein sein. Er hatte den Tritt weggesteckt wie nichts. Er war mir in jeder Beziehung überlegen, und er hatte zwei Klingen – auf weitere, schmutzige Tricks mit den Füßen würde er nicht mehr hereinfallen. Ich bedrängte ihn. Er trat gerade rechtzeitig zurück, um von Lucy auf einer ihrer wackeligen Umlaufbahnen niedergerannt zu werden. Bei dem Zusammenprall flog ihm das Messer aus der linken Hand und verschwand mit einem bösartigen Zischen und einer kleinen, gelben Dampfwolke in der Brühe. Ich griff wieder an, wehrte einen rechtshändigen Stoß ab und schlug ihm Knauf und Schutzblech ins Gesicht. Er hieb blind um sich, die Klinge schlitterte über die Schaltknöpfe meines Anzugs. Ich hackte mit beiden Händen, zielte auf seinen Hals. Die Klinge traf etwas seitlich. Ich spürte den Widerstand seines Anzugs, das fettige Auseinanderklaffen von Fleisch. Meine Schneide kam mit einem einige Übelkeit erregenden Kratzen in einem grünen Schulterknochen zum Stillstand. Er schrie, suchte nach dem Kreuzgurt an seiner Hüfte. Verzweifelt nahm ich alle Kraft zusammen und machte einen Ausfall. Das Rezin verschwand in seinem Körper, sein Blut brodelte und kochte darum herum und entwickelte eine dichte, ölige Rauchwolke. Ich zog die Klinge heraus, als er stürzte, dann packte ich sein Medaillon und zermalmte es mit dem Knauf meines Messers auf dem Geländer. Lucy kam sofort wieder zur Besinnung, packte den Burschen an seinem unverletzten Arm und trug ihn halb zur Luftschleuse. Ich war ihr keine große Hilfe; die Anstrengung hatte mich fast erledigt – und aus meinem eigenen Ärmel stieg jetzt auch nicht wenig Rauch. Ich klatschte eine Handfläche über den Riß und stampfte blind vor Schmerz und
Erschöpfung hinter ihr her. Der Meuchelmörder starb, als wir die Schleusentür drehten. Die Entseuchung tat weh. Die Hälfte der kleinen Anzeigen auf meinem Arm blinkten hysterisch, als mein rohes Fleisch, versengt von dem ätzenden Spray – und wahrscheinlich mit einer Milliarde gefräßiger, künstlicher Mikroben infiziert schreiend nach Beachtung verlangte. Vielleicht sogar nach Amputation. Schließlich überschritt ich eine psychologische Grenze; als ich aufwachte, hatte Lucy meinen Angreifer in Stasis gepackt – nur für den Fall, daß wir eine falsche Diagnose gestellt hatten – und schälte ein Stück meines Anzugs ab, um meinen verletzten Unterarm zu untersuchen. Genausoviel Zeit verwendete sie auf den beschädigten Ärmel. »Das ist das Beste, Winnie. Wenn wir seine Reparatur vorantreiben können, wird er dich reparieren. Halt still!« »Jesus Christus! Versuch doch bitte, die Finger aus dem Hamburger zu lassen! Erst hast du mich da draußen fast umgebracht, verdammt, und jetzt willst du noch den Rest erledigen.« Was die Sache noch schlimmer machte, ich hatte drei Zigarren zerbrochen, die ich bei mir trug. Ich schnitt eine einigermaßen unbeschädigte Hälfte zu und zündete sie an, dabei verstreute ich Funken und Asche über meinen Schoß. »Wenigstens habe ich auch die Opposition kaputtgemacht, – du kannst nicht behaupten, daß ich nicht fair bin.« Sie sprühte Gewebedichtungsmittel – die Art, die in den Staaten verboten ist – aus den reichlich vorhandenen ›materia medica‹ der Unterkunft auf und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder meinem Anzug zu. Anscheinend hatte unser verstorbener Gastgeber tatsächlich hier unten im Schleim gelebt: wir saßen nämlich in einem bequemen, gut ausgestatteten Wohnzimmer. »Tja, nun, du solltest aber doch endlich auf meiner Seite sein.« »Und das bin ich auch, wenn ich ich selbst bin. Vielen Dank, daß du das Medaillon zerstört hast, Win. Noch eine Runde, und ich wäre im Sumpf gelandet. Scheußliche Todesart.« Sie legte meinen Ärmel beisei-
te. »Jetzt wird es wohl heilen. Sobald du den Druck wieder hältst; können wir hier raus.« Ich grunzte. »Eds früheren Kunden werden wir jedenfalls nicht mehr befragen, was? Ich hätte nicht vorher anrufen sollen, Lucy. Glaubst du, ich habe auch die anderen umgebracht, die ich antelekommiert habe?« »Sei kein Trottel! Der Mann mit dem Hackebeil war hinter uns her. Anscheinend sind wir auf einer heißen Spur. Ich wüßte wirklich gerne, was es ist, bei der Pest! Dichte deinen Anzug ab, dann spielen wir Hokkeyteam.« Ich blickte auf den Ärmel hinunter, der so gut wie neu dahing – von meinem in Plastik gewickelten Arm konnte ich das nicht behaupten. »Zuerst möchte ich mich noch umsehen. Die ›Vereinigung für bürgerliche Freiheiten‹ wird uns ins Herz schließen – wir hinterlassen allmählich eine Spur.« Dann fiel mir noch etwas ein: »Lucy, wegen dieser Mikrobenranch – wieso habe ich mir nicht eine akute Andromeditis oder so etwas geholt?« »Weil diese Mikrobiester nicht darauf angelegt sind, Menschen anzuknabbern. Es sind nur die Nebenprodukte ihres Metabolismus, die Schaden anrichten. Und wir rufen niemanden von der VBF – höchste Zeit, daß wir 'n bißchen diskreter werden. Der Bursche in der Schleuse, der wird nichts dagegen haben, und die in Stasis ist so gut aufgehoben, wie sie nur irgend sein kann.« »Sie? Ein Gehirnsondenopfer, vermutlich?« Lucy nickte. »Wenigstens ist die Gegenseite konsequent – eine Tugend, die stark überschätzt wird, wenn du mich fragst. Sag mal, wieso hat das Medaillon um ihren Hals eigentlich ihre eigenen Schaltkreise nicht durcheinandergebracht?« »Das hat man alles mit Spiegeln gemacht, Winnie. Der Anzug, den sie anhatte, hatte eine zusätzliche Abschirmungsschicht. Deshalb sagte ich ja, die sind ganz speziell hinter uns her. Sonst…« »Genau – warum sonst das zusätzliche Medaillon? Du hast gewonnen, aber wir sollten wenigstens eine Nachricht für die Patrouille hinterlassen.« Ich schob meinen Arm in den Anzug zurück und war dabei auf noch größere Schmerzen gefaßt. Überraschenderweise verschwand der Schmerz völlig. Ich probierte das Glied in jeder Stellung aus, und es schien in Ordnung. »Ihr rustikalen Typen seid sicher Pioniere des Stils«,
bemerkte ich, während ich im Zimmer herumsuchte. »Ich glaube, so ein großes Klavier hatten sie nicht einmal an Bord der… Verdammter Schweinehund!« Lucy drehte sich um. »Ich dachte, du wärst auf der ›Bonaventura‹ hierhergekommen. Was hast du da, Sohn?« Ich drehte den Holorahmen so, daß sie ihn sehen konnte. Eine handgeschriebene Widmung schwebte unter dem Doppelbild in der Luft. »FÜR DADDY, IN LIEBE, SEINE TÖCHTER.« »War es nicht die rechte, die auf Ceres versucht hat, dein Gepäck zu stehlen?« »Ja – und jetzt liegt sie bei Dr. Scott in Stasis.« Ich sah in Eds Notizen nach. »Verschwand, kurz nachdem sie mit ihrer Schwester einen Claim abgesteckt hatte – rate mal, wo. Vielleicht sollten wir die restlichen Gespräche fallen lassen und uns direkt ins Zentrum des Geschehens begeben.« »In den Sargassohaufen?« »Wo immer dieses Penetratorgeräusch hergekommen ist. Ed dachte anscheinend…« »Leider nicht oft genug. Aber noch eines: Wie kann ich es. vermeiden, daß ich jedesmal eins über den Schädel kriege, wenn irgend so ein Hinz oder Kunz eines von den Medaillons hat? Das wird allmählich richtig eintönig.« »Zertrample sie doch einfach, Lucy! Du bist der Techniker.« »Hör auf, mit dieser Antiquität rumzuspielen. Du reißt uns todsicher noch Luftlöcher rein.« Wir hatten gerade das Wendemanöver auf der ersten Etappe unserer Reise abgeschlossen. Ich untersuchte die Waffe, die sie der messerwütigen Meucheldame abgenommen hatte. »Lucy, das könnte wichtig sein: Olongo wurde mit einer amerikanischen .22 angegriffen; mich hat man beinahe mit einer amerikanischen .25 erschossen…« »Und Trayle wurde mit einer amerikanischen .38 erledigt.
Da hast du dein Muster – es sind diese pestverseuchten Landsleute von dir!« »Landsmänninnen. Das dachte ich mir auch schon, aber, Lucy, CDM ist ein mexikanischer Stempel – Cartouchos Deportivos Mexicanos oder so was, und die .38 Super Automatik ist dort und in Mittelamerika sehr viel beliebter als in den Staaten. Und dann noch das hier…« »Noch so ein bissiger, kleiner Kracher. Na und?« »Und es ist ein russischer Kracher, um genau zu sein eine 9-mmMakarov, und um so eine zu bekommen, muß man die richtigen Anfangsbuchstaben haben: KGB. Das wäre vielleicht ein tolles Bündnis, die Sowjets aus meiner Welt und eure ureigensten Hamiltonisten!« »Du mußt aber lächeln, wenn du das sagst. Wir haben zwei Kriege geführt, um zu beweisen, daß das nicht stimmt. Vielleicht ist es nur jemand, der nette, kleine Pistolen sammelt. Der möchte den Leuten nicht allzu weh tun.« Sie tätschelte die gewaltige Gabbet Fairfax, die sie wieder sicher an ihrer Seite hängen hatte. »Spaß beiseite! Das bedeutet, daß es noch einen zweiten, geheimen Kanal in meine Welt gibt, jemanden, der mit Gehirnsonden arbeitet und Leute verschwinden läßt. Jemand…« »Der dumm genug ist, dort draußen einen Penetrator aufzustellen, wo noch niemand von eurem System bisher hingekommen ist. Winnie, du schlußfolgerst dich noch um den Verstand. Wart ab, bis wir sehen, was los ist, ehe du anfängst, Theorien aufzustellen!« »Ach ja? Sag mal, Lucy, womit haben sie DICH eigentlich gekriegt? Mit welchem Kaliber?« Eine lange Pause. Dann: »Ich hatte schon Angst, daß du mich das fragen würdest, Sohn, es ist richtig erniedrigend: Kaliber 309, 71 Korn, Kupfermantel. Das heißt mit anderen Worten…« »Eine .32 ACP – das einzige Maschinengewehr mit dieser Munition, das ich kenne, ist eine tschechoslowakische Antiquität, die Scorpion Modell 60. Lucy, ich werde weiterhin ›Theorien aufstellen‹, soviel ich mag. Clarissa ist verschwunden, und ich muß ständig daran denken, daß sie eine Gehirnsonde am Kopf haben und von jemandem für so eine
dreckige Sache benützt werden könnte.« Eine Zeitlang sprach keiner von uns ein Wort. »Winnie, wie wäre es, wenn du uns auf diesem Gigakom einen Film suchen würdest? Einen von den alten Clint-Eastwood-Schinken, von denen du mir ständig erzählst?«
Freitag, 19. März 223 A.L. Zwanzig Stunden später machten wir an einem zweiten, ähnlich wie Navigation Rock aufgeblähten Asteroiden halt, um Reaktionsmasse und Lebensmittelvorräte aufzunehmen. Statt nur einer Explosion hatte man hier im richtigen Stadium der Plastizität Tausende davon ausgelöst und einen riesigen, komplexen ›Wohnblock‹ aus Schaumstein geschaffen, der aus einer Myriade untereinander verbundener Blasen bestand. Innerhalb des Planetoiden gab es außer den Treibstofflagern und den Reservoiren für Wasser und Luft künstlich geschaffene Zonen, so abwechslungsreich wie die vielen, die die Erde bietet – dazu noch eine Menge anderer, die man einfach erfunden hatte, um den Durchreisenden zu erfreuen und in Staunen zu versetzen (und ihm hartes Geld abzunehmen). Die letzten paar tausend Meilen hatten die Besitzer dieser Astrobeerenfarm uns über Funk ihren Telekomprospekt zugeschickt: Wälder, Dschungel, Wüsten, Eisdecken, Marskanäle und Krater, Schluchten und Senken, geeignet für Meeresreisende. Lucy hatte am Transponder des Flitzers herumgebastelt, weil sie der Meinung war, wir sollten unsere Ankunft nicht publik machen. Sie bezahlte für unsere Vorräte in herrlich anonymem Bargeld. Ich hörte keinerlei Klagen von der Geschäftsführung. Es blieb, uns jedoch nichts anderes übrig, als den Flitzer zu verlassen, während die Kabine gewartet wurde. Wir gingen hinein, entschlossen, uns so unauffällig zu verhalten wie nur möglich. Das war gar nicht so leicht, seit Lucy daherkam wie ein riesiger Briefkasten im Paisleymuster. »Etwas wollte ich mir sowieso noch anschauen«, sagte sie zu mir. »Willst du ein richtiges, prähistorisches Wesen sehen, ehe wir wieder
starten?« Wir schwebten am Schnittpunkt eines Dutzends röhrenförmiger Tunnel im Felsen vorbei, von denen jeder farbkodiert war, um Verwechslungen auszuschließen. Theoretisch. »Wovon redest du?« Ich blickte nervös über meine Schulter, bildete mir an jeder Tunnelkrümmung ein, Hamiltonisten, CIA-Agenten und Kommunisten auftauchen zu sehen. Es gab eine Menge Krümmungen. Das war zwar nicht die richtige Zeit für eine Besichtigungstour, aber ich gestehe, daß ich die Gelegenheit gierig ergriffen hatte, meine eigenen ›Lebensmittel‹ zu ergänzen: ein Kistchen einheimischer Zigarren steckte fest unter meinem Arm. »Du willst doch beim Wasserstofftanken niemanden drängen, oder, Winnie? Das Zeug hat 'ne Menge Temperament. Weißt du noch, wie ich sagte, ich wollte draußen auf Bulfinch Vieh haben? Na, hier gibt es mehr Kalorien auf vier Beinen, als du je gesehen hast in deinem Leben! Willst du hier stehenbleiben und gaffen oder kommst du mit?« Ich zuckte die Achseln und packte eines der Seile, die sich durch einen gewundenen, purpurfarbenen Tunnel schlängelten. Dank einer mäßigen Drehung und der unterschiedlichen Zusammensetzung des Asteroiden gab es hier mehr Schwerkraftanomalien als auf einer Achterbahn – es war ungefähr so, als steckte man in einer großen Schlinge von Salvador Dalis Eingeweiden. An einer anderen, komplizierten Kreuzung folgten wir einer scheußlich grünen Gabelung und wurden am Eingang zu einer der gewaltigen Blasen abgesetzt, die den größten Teil des Asteroiden ausfüllen. »Lucy, ich glaube, wir werden verfolgt. Es sind zwei, sie haben dieselben Abzweigungen genommen wie wir. Einer trägt einen roten Patentanzug, und der andere ist ein großer, massiv aussehender Bursche.« »Och, du bist nur nervös, Winnie. Das ist das Reizklima hier. Und jetzt komm weiter und paß auf, wo du hintrittst die haben hier Maulwurfslöcher, die die ganze ›Bonaventura‹ verschlingen könnten!« PLEISTOZÄN PLAZA. So stand es wenigstens auf dem Schild. Drinnen war es kühl, und mein Anzug brauchte eine Zeitlang, um sich neu zu regulieren. Eine künstliche Sonne schien jedoch hell, und hinter dem transparenten Plastiktunnel, in dem wir uns befanden, sah es genauso aus wie auf einer Prärie in Colorado am hellen Tag.
Bis auf die Gletscher. »Da sind sie, Winnie! In zehn Jahren habe ich selbst so eine Herde!« Sie deutete hinaus über die hügeligen Ebenen. »Elefanten? Lucy, du solltest dich schämen! Wer hat schon einmal gehört, daß man Elefanten ißt?« »Was glaubst du, woraus der Hamburger war, den du zum Mittagessen bekommen hast? Sie geben auch Milch, literweise – aber man braucht einen ziemlich hochbeinigen Melkschemel. Schau nur noch einmal genau hin, Winnie – das sind gar keine Elefanten.« Ich hielt mir die Kapuze vor das Gesicht und drehte die Vergrößerung auf. Große, gebogene Elfenbeinstücke, massive, schwere Köpfe und Körper. BEHAARTE Köpfe und Körper. »Lucy, das sind ja Mastodons! Riesige, wollige Mastodons!« Ich konnte es nicht glauben. War die Zeitlinie der Konföderation schon früher abgewichen, als ich gedacht hatte? Tausende von Jahren früher, als ich gedacht hatte? »Das sind Mammuts, Winnie. Kaisermammuts. Geklont aus einem winzigkleinen Reagenzglas voll Gewebe, das in Sibirien eingefroren war. Man hält sie hier, damit sich ihr Immunsystem aufbauen kann – denn seit sie ausgerottet wurden, haben sich auf der Erde eine Menge Krankheiten entwickelt.« Ich beobachtete eine Gruppe von einem halben Dutzend Tieren, die langsam über die Ebene trottete. »Deshalb also der Plastiktunnel, obwohl ich nicht dort draußen bei ihnen sein möchte, nicht um…« »Das wäre kein Problem, Winnie. Sieh mal genau hin, da, auf den Boden! Siehst du das Plastiknetz, ungefähr einen halben Meter hoch im hohen Gras? Genügend Fußfreiheit, aber laufen können sie nicht. Sonst würden sie bei dieser geringen Anziehungskraft praktisch herumfliegen.« »Wie Dumbo, was? Mammuts – das ist wirklich toll!« »Ja, und es sollte dir eine Lehre sein. Hier ist ein Wesen, das die Welt nie mehr zu sehen bekommen hätte, von genau der Wissenschaft wieder zum Leben erweckt worden, die eure Leute in den Vereinigten Staaten für soooo abscheulich halten. Die gleiche Wissenschaft wird mir in
ein paar Monaten meinen Körper wiedergegeben.« »Deinen Körper? Du meinst, du mußt nicht für immer so bleiben, wie…« »Wie Dorothys ›Blecherner Waldschrat‹? Nicht, solange es schöne, dicke, saftige Elefantensteaks zu verspeisen und Whisky zu trinken gibt. Niemals, wenn wir Eddie in einem Stück wiederfinden können. Ich habe vor, wieder eine PERSON zu sein, nicht nur eine komische Episode!« Diesen Tonfall kannte ich. Eines Tages würden dabei auch wieder Tränen fließen. Wenn nur Clarissa… »He, ihr da!« Durch den Tunnel lief eine Gestalt auf uns zu, die einen langen, lebensgefährlich aussehenden Gegenstand herumschwenkte. Sie fuchtelte damit in unsere Richtung und schrie sich die Kehle aus dem Leib: »Stehenbleiben, sage ich! Stehenbleiben!« »Ich habe dir doch gesagt, daß wir verfolgt werden! Siehst du, gleich dahinter kommt der andere! Ich habe das allmählich satt!« Ich griff nach meiner Pistole. Plötzlich umklammerte ein Arm aus Metall mein Handgelenk. »Nicht hier drinnen, Winnie. Wenn das Glas zerbricht, sterben vielleicht alle Tiere.« Ich zögerte einen Augenblick, dann rannte ich in die andere Richtung. Lucy folgte mir. Am Ende des Plastiktunnels erwartete uns wieder eine gut abgedichtete Tür. Lucy drückte Knöpfe, während ich mein Rezin zog und Wache hielt. Die Mörder trampelten in hundert Meter Entfernung durch den Tunnel heran. »Ich hab's!« Lucy riß mich durch die Tür und schob sie zu, dann tippte sie weitere Zahlen ein. Irgendwo fing eine Sirene an zu heulen, begleitet von Schlägen auf der anderen Seite der Tür. »Das ist der Feueralarm. Der Tunnel ist abgedichtet. Vermutlich nehmen die da drinnen jetzt ein schönes Bad. Gehen wir zum Flitzer zurück.« Und dann waren wir wieder unterwegs, in einem Lichtstrahl und einer Staubwolke, und mit einem herzlichen ›Macht's gut, ihr Speckschwarten!‹ – Silber war im Augenblick, was Spekulationen anging, im Sinken begriffen. Hin und wieder warf ich einen Blick auf Eds Penetrator-
Entdecker, und Lucy korrigierte unseren Kurs äußerst sorgfältig, um die Störung genau in die Mitte unseres Navigationsvisiers zu bekommen. Ich nahm eine Dusche, versuchte zu schlafen, richtete einige Sandwiches her und sah Lucy zu, wie sie mir beim Essen zusah. Wir spielten Tick-Tack-Zehe und Nim und Botticelli und sahen uns Mike Morrison und Dirty Harry an, und Diana Rigg, wie sie alle Bösewichte tötete. Ich dachte an unsere eigenen Bösewichte, und wie nahe sie bei den Mastodons an uns herangekommen waren, dann reinigte ich mein Rezin (auf der Mikrobenranch war sein Glanz merklich matter geworden, das waren mir vielleicht Mikroben!), spielte mit der Makarov, kaute an meinen Fingernägeln und stritt mich mit dem Piloten. Die Raumfahrt könnte einige Verbesserungen vertragen. Schließlich schwoll der Nomadenhaufen vor unseren Instrumenten auf. Die einzelnen Himmelskörper waren durchschnittlich fünfzehnhundert Kilometer voneinander entfernt und hatten einen Durchmesser von anderthalb Kilometern, also gab es durch die Fenster nicht allzuviel zu gucken. Lucy versuchte angestrengt einen der Felsen mit dem paratronischen Kreischen des Penetrators in Übereinstimmung zu bringen. »Das ist er, Winnie. Das muß er sein.« Sie hielt mir einen Telekomblock unter die Nase. »Du meinst den Kleinen unten in der Ecke?« »Nein, das ist nur ein Krümel von deinem letzten Sandwich. Dieser hier, Bester 9565 laut Registrierung. Größter Felsen im ganzen Haufen, wenn man bei achtzehn Kilometern von groß sprechen kann. Ich werde mich jetzt ein bißchen ranschleichen – möchte nicht vorzeitig raustrompeten, daß wir da sind. Hältst du es aus, wenn du deinen Anzug zuknöpfst?« »Sicher. Wieso?« »Ich werde das Schiff genau ausrichten, dann schalte ich alles ab, einschließlich Lebenserhaltung. Wir werden uns langsam um die eigene Achse drehen, dann sehen wir aus wie ein natürlicher Felsbrocken und…« »Ja? Und was passiert, wenn uns jemand dort draußen mit dem Meteor-Abwehr-Laser eins vor den Bug knallt?«
»Wir werden knapp vorbeikommen, aber eindeutig nicht kollidieren. Es wäre mehr Aufwand, als wir wert sind, uns zu pulverisieren. Ich möchte den Rest des Weges zu Fuß gehen und schau mal her, während du gepennt hast, habe ich gestrickt.« Sie hielt ein tuchähnliches Netz aus Kupferdraht mit lang herabhängenden Fransen hoch. »Klasse. Besorg dir ein bißchen Stahlwolle und strick mir eine Pistole! Was, zum Teufel, soll das sein?« »Eine Art Franklinkäfig. Ich werde das über mich werfen und auf dem Boden nachschleifen lassen. Müßte mich eigentlich vor den Medaillons schützen.« »Und ein verdammt gutes Radarziel aus dir machen. Ich ziehe jetzt meinen Reißverschluß hoch; du kannst die Fenster runterkurbeln.« Als die Lichter ausgeschaltet und die Schalttafeln tot waren, bekam ich allmählich eine völlig neue Seite der Weltraumfahrt zu sehen, absolut nicht die leere, schwarze Einsamkeit, die ich erwartet hatte. Der Himmel war voll von Farben, genügend Sternenlicht, um dabei lesen zu können – aber Lucy erlaubte mir nicht, das Gigakom zu benützen –, und die ungesteuerte, wackelige Drehung, zu der sie das Fahrzeug ermunterte, diente wirklich nur dazu, uns eine schöne Rundumsicht von dreihundertsechzig Grad zu bieten. Trotz aller Probleme stellte ich fest, daß es mir hier draußen gefiel, und selbst wenn alles (durch irgendein Wunder) gut ausgehen sollte, Laporte und die Konföderation – verdammt, sogar die Erde – würden mir von jetzt an mächtig klein vorkommen. Vielleicht, wenn Clarissa heil und unversehrt war… »Also, Winnie, mach dich fertig zum Sprung! Kümmere dich nicht um die Richtung, ich jette mm und bringe uns auf Kurs. Ich habe die Drähte dafür und du nicht – nur gut, daß diese Kiste keine automatische Türöffnung hat.« Auf ihr Zeichen hin kniete ich mich auf den gepolsterten Sitz und schob mich durch die offene Tür in die sternenübersäte Leere. Wir hatten uns einen Zeitpunkt ausgesucht, ein paar Augenblicke, nachdem wir nahe am Asteroiden vorbeigekommen waren, zu dem die Meteorwache (falls vorhanden) erleichtert aufatmen und zu ihren Schachbrettern und Monatszeitschriften zurückkehren würde.
Ich drehte mich hilflos um mich selbst und hoffte, Lucy habe nicht wieder die Kontrolle über sich verloren, dann spürte ich eine feste Greifzange in meinem gummibedeckten Nacken. Das Universum schwebte hoch und richtete sich auf, ich blickte auf die zerklüftete, geschwärzte Oberfläche eines unentwickelten Asteroiden hinunter. Unentwickelt bis auf die gigantischen Geräte mit der Aufschrift APHRODITE GMBH. Über die Oberfläche waren Bauwerke verstreut, neben denen die Chinesische Mauer wie ein Haufen Kinderbausteine aussah. Wenn in dieser Ansammlung gewaltiger Pfeiler und Träger, Rahmen, Metallgitter und spulen irgendeine Ordnung oder ein Sinn steckte, so blieb es mir verborgen. Einen Augenblick lang überlegte ich ernsthaft, ob wir vielleicht doch von Fremden überfallen wurden, die von außerhalb des Sonnensystems kamen, und ob dies vielleicht ihre Vorstellung von ›schöner wohnen‹ war. Als wir dann näher heranschwebten und ich mir über die Maßstäbe und Winkel klarwurde, tauchte allmählich ein Muster auf, ein Wiedererkennen, das mein Geist zuerst geleugnet hatte, weil es so lächerlich schien. Ich hatte einmal ein Labormodell dieses Dings in den Händen gehalten. Stellen Sie sich beispielsweise vor, Sie stolperten über eine gewöhnliche Glühbirne aus gewöhnlichem Glas, innen mit einem kleinen Stengel, darauf ein haarfeiner Tungstendraht, und unten das gute, altbekannte Schraubgewinde aus Messing mit dem üblichen, kleinen Lötzinntropfen am Ende. Würden Sie sie sofort erkennen? Natürlich. ES SEI DENN, SIE HÄTTE EINEN DURCHMESSER VON ACHT KILOMETERN. Das letztemal hatte ich so eine Apparatur auf der anderen kosmischen Seite eines Schranks an der Ecke Colfax und York gesehen. Ein Penetrator. Ein ganz gewöhnlicher Penetrator, groß genug, um beide Zweige der Niagarafälle hindurchzuschütten, wobei noch genügend Platz für den Amazonas samt Piranhas, Krokodilen und Kopfjägern blieb. Wir schwebten näher heran, jeder in betäubtem Staunen befangen.
Kein Wunder, daß dieses Ding Geräusche von sich gab, die über das halbe System hinweg zu entdecken waren. Und da, ein winziger, unbedeutender Fleck, der auf dem Felsen neben einer Art Wohnkomplex ruhte, ein Anblick, den ich irgendwie noch erstaunlicher fand. Ein Flitzer. Nun, eigentlich mehr ein weltraumtüchtiger Bus. Genügend Platz im Inneren für viele Passagiere. Und für eine Telekomausrüstung. Sogar Platz für die ›Stimme der Sterne‹ persönlich, Voltaire Malaise. So sah es wenigstens aus.
16. Kapitel Exekution im Morgengrauen Samstag, 20. März 223 A.L. Das Sendergefährt von Malaise war fester verschlossen als die Unterhose einer Jungfrau. Ich hängte mich an die Türgriffe, während Lucy nach Anzeichen elektronischer Aktivität auf dem Asteroiden herumschnüffelte. Die Geräusche, auf die wir zugesteuert hatten, waren während der letzten Etappe der Reise nur noch mit Unterbrechungen aufgetreten. Jetzt lag die gewaltige Apparatur schweigend und verlassen da. Und das gleiche galt für den konventionellen Funkverkehr. Das gefiel mir nicht, es bedeutete, daß wir erwartet wurden. Aber mir gefiel in diesen Tagen vieles nicht. Ich lockerte die Webley, machte meine Sohlen haftend und übte mich darin, wie ein Krater oder etwas ähnlich Unauffälliges auszusehen. Die Wohnungen auf der Oberfläche sahen so hastig hingesetzt aus wie Nissenhütten, Fenster hatten sie auch nicht – wenigstens eine kleine Chance. Über uns ragte die Penetratorkonstruktion auf wie eine Autobahnüberführung aus Gußeisen, und darunter bevölkerte meine Phantasie jeden Schatten mit Butzemännern. Hamiltonistischen Butzemännern. Ich machte Lucy ein Zeichen und latschte auf Haftsohlen hinüber zum Eingang, neugierig, wie leise man ihn wohl drehen konnte. Die meisten Schleusen machen einen Lärm wie ein in den Wehen liegendes Müllauto, aber diese hier war dank Vaselina, der Göttin der Bequemlichkeit, viel einfacher, eine einzelne, relativ unkomplizierte, aber gut abgedichtete Tür, unverschlossen – für Reisende, die einen Unterschlupf suchten – wie es in Alaska üblich war, ehe die Lastwagenfahrer und die Bundespolizei die Verbrechensrate verbesserten. Eigentlich war es gar keine Luftschleuse, das bedeutete, daß im Innern absolutes Vakuum herrschte, und darüber wunderte ich mich flüchtig. Innerhalb des gewellten Halbzylinders lag ein unheimliches, bläuliches Dämmerlicht auf langen Reihen von stählernen Werkbänken und hermetisch verschlossenen Spinden. Viel Platz zum Stehen, und am ande-
ren Ende eine zweite Tür. Das ganze verdammte Gebäude war eine einzige Luftschleuse, die einen ganzen Bautrupp mit einem einzigen, mindestens hundert Personen umfassenden Schluck aufnehmen konnte. Wir geisterten so leise wie möglich hindurch – auch Böden und Wände leiten den Schall –, bis Lucy sich mit ihrem antielektronischen Röckchen an einem Werkzeugregal verfing. Ihre gedämpften Flüche kamen knackend durch meinen Anzugempfänger, aber es gelang ihr, sich zu befreien, ohne allzuviel Lärm zu machen, die verfilzten Kupferdrähte ließ sie zurück. Ungefähr um die gleiche Zeit stolperte ich über eine Picknickschachtel, die jemand liegengelassen hatte, und landete mit dem Kopf an der Decke. Es ist verdammt schwierig, auf Zehenspitzen herumzutapsen und dabei die Füße halbwegs fest auf dem Boden zu behalten. Jedenfalls bei einem Hundertstel g. Die innere Tür stellte sich als Doppeltür heraus, vermutlich für die Fälle, wenn Gruppen von weniger als Zugstärke eintreten und sich die Leitungen ansehen wollten. Nach ein paar Augenblicken beklemmender Platzangst fanden wir uns bald in einem von Luft und Licht erfüllten Korridor. Das Ganze wirkte so unverkennbar transportabel, provisorisch, wie das Camp eines Pipelinebautrupps. Aber wo waren die Bauarbeiter, verdammt nochmal? Ich öffnete meine Kapuze und folgte meiner Waffe, Lucy trat mir auf die Fersen. Warum diese Bude so verlassen sein sollte… »Orrk!« Ich wirbelte herum, halb fürchtete ich zu wissen, was mit Lucy los war. Sie drehte sich auf der Stelle wie ein Kreisel, während ich verzweifelt nach etwas oder jemandem suchte, den ich niederschießen konnte – jemanden mit einem Bronzemedaillon. Rumms! Zum erstenmal in meiner Laufbahn als Detektiv kriegte ich von hinten eins auf die Birne. Blöd, gerade jetzt daran zu denken. Rumms! Ich drehte mich halb betäubt um, schwenkte meine Pistole und Rumms! kriegte ich eins auf die Stirn, direkt über dem Auge, und Rumms! wo der gelandet war, wußte ich nicht, aber ich kam mir ganz plötzlich viel kleiner vor, stellte fest, daß ich auf den Knien lag und Rumms! ertappte mich bei dem undeutlichen Wunsch, man würde das Ganze etwas gekonnter erledigen. Noch einmal Rumms! ich erinnere mich
schwach an drei- oder vierhundert weitere, derartige Schläge, dann daran, daß ich mich übergab. Und an endlose Schwärze. Sie wollten mich zum Fernsehen zwingen, die Schweine. Die Nummer mit den Seehunden, und es muß 3D gewesen sein, wie das Telekom, nur sehr viel besser; die Seehunde schlugen mir ständig ihre kalten, nassen Flossen ins Gesicht. Oder war es vielleicht ein toter Fisch? Sah ich überhaupt fern? Ein anderes Programm. Jetzt sah ich Nachrichten. Ziemlich langweilig, abgesehen davon, daß anscheinend mein Name erwähnt wurde: »Bear, können Sie mich jetzt hören? Ihr Idioten, wie oft habt ihr ihn geschlagen? Bear, passen Sie auf! Wir haben die alte Dame, Bear. Wen haben Sie sonst noch mitgebracht? Wo ist Ihr Schiff?« So viele Fragen auf einmal. Ich blinzelte durch das Blut, das über mein Gesicht tropfte, nach oben. Was, oh, was hatte ich nur getan, daß Voltaire Malaise so wütend war? Wollte ich ihn nicht retten? Machte ich nicht schöne, interessante Schlagzeilen? Stieg da nicht der Geruch von Erbrochenem von dem Sitz auf, an den man mich geschnallt hatte? Tja, man zwang mich eben doch zum Fernsehen – wahrscheinlich Lawrence Welk. »Um Alex' willen, schüttet ihm noch einen Beutel Wasser drüber. Und paßt diesmal auf – der Pullover ist neu! Bear! Wen haben Sie sonst noch mitgebracht?« »George Starkarm Custer«, murmelte ich und staunte, wie vernünftig das alles schien, »und die Siebte US-Kavallerie, sie verstecken sich draußen in einem Krater. Sie werden jeden Augenblick hier sein, genau im richtigen Moment – nein, das war auf der Mikrobenranch. Jedenfalls sollten Sie mich und Voltaire lieber gehen lassen. Geben Sie auf!« Diese rhetorische Extravaganz ließ kleine, violette Funken vor meinen Augen aufblitzen, also beschloß ich, mich zu entspannen und die Dusche zu genießen, unter der ich anscheinend stand. Plötzlich wurde alles scharf, und ich blickte wieder zum guten alten Voltaire auf. Nur schien er nicht ganz so sehr in Schwierigkeiten zu stecken wie ich.
»Bear, mir geht langsam die Geduld mit Ihnen aus. Ich möchte Antworten, und zwar gleich!« Ich spuckte etwas aus – ich hoffte, daß es kein Zahn war und wartete, bis ich ein wenig klarer denken konnte. In einer entfernten Ecke meines Blickfeldes spürte ich einen heruntergekommen wirkenden Typ, der an einem großen, grauen Aktenschrank lehnte und etwas Kleines, Schwarzes, Schweres an einem Riemen von seinem Finger baumeln ließ. Es mußte ein kleiner Lederbeutel sein, das wußte ich, gefüllt mit mehreren Unzen Bleischrot, seine Umrisse paßten zu den Dellen in meiner Persönlichkeit. Ich wollte stöhnen, war aber von meinen Rufen nach General Custer völlig erledigt. Malaise verkündete noch einmal seine Gereiztheit und wandte sich an den Totschlägerschwinger. »Sieh dir das Blut auf dem Teppich an! Verdammte Amateure!« Ich dachte daran, nicht den Kopf zu schütteln; es würde überhaupt nichts helfen, aber sehr weh tun. Ein zweiter Bursche, derjenige, der mich mit dem nassen Handtuch geschlagen hatte, widersprach seinem Boss stotternd, aber ich hob die Hand, soweit die Fesseln es zuließen. »Schon gut – is' mein Blut, ich zahle die Reinigung. Kann ich was zu trinken haben?« Ich blinzelte den Ersten Nachrichtensprecher des Systems an. »Und Sie stecken also hinter der ganzen Sache. Kein Wunder, daß Sie J. V. Tormount niemals finden konnten! Möchten Sie mir nicht erzählen, worauf das alles hinauslaufen soll? Sie haben mich mitten aus der Untersuchung gerissen.« »Gib ihm was zu trinken, Harry! Ich hasse es, auf Klischees zurückzugreifen, Bear, aber ich bin jetzt derjenige, der die Fragen stellt. Sagen Sie mir, wo Ihr Schiff ist, wie Sie hergekommen sind und wie viele andere Sie noch dabeihaben.« Ich holte tief Luft. Als ich am Boden lag, hatte mich so eine Ratte in die Rippen getreten, so hart hätte ich bei dieser Schwerkraft gar nicht fallen können. Ich weiß nicht, wer mir die Fesseln lockerte, aber etwas spritzte mir in den Mund, das herrlich wärmte, und dann blickte ich mich um. Ein Büro, ziemlich kahl, aber doch nicht so spärlich möbliert wie die übrigen Räume. Nach den Plastikkisten zu urteilen, die da und dort herumstanden, war Malaise entweder beim Ein- oder beim Aus-
zug. Ich nippte noch einmal, was, war mir eigentlich gleichgültig. »Malaise, Sie werden mich ohnehin töten. Tun Sie einem müden, alten Bullen einen Gefallen und verknüpfen Sie ein paar lose Enden.« Er pflasterte sich einen besorgten Ausdruck aufs Gesicht. »Ich versichere Ihnen, ich habe nicht die Absicht, Sie töten zu lassen, keineswegs.« »Ach, wirklich?« »Sie werden einfach eines sauberen, natürlich aussehenden Todes sterben.« »Ach, wirklich?« Er lehnte sich hinter seinem Schreibtisch zurück und legte die Finger aneinander. »Trotzdem schadet es wohl nicht, wenn ich Ihnen ein klein bißchen etwas erzähle. Aber verraten Sie jetzt kein Wort davon. Zuerst jedoch etwas anderes: Wer ist außer der verkrüppelten, alten Frau noch mit Ihnen gekommen?« »Was für eine verkrüppelte, alte Frau – ach so, Sie meinen Lucy. Zwei Flitzer«, improvisierte ich, »unser Stanley und ein Tucker. Wenn ich nicht in zwei Stunden hier raus bin, kommen sie rein – und rufen die Ranger.« Er schüttelte den Kopf. »Versuchen Sie es noch mal – Sie wollen doch auch von mir die Wahrheit hören, oder nicht? Jedenfalls sind Sie schon bedeutend länger als zwei Stunden hier.« »Wie die Zeit vergeht, wenn man sich amüsiert. Na gut, nur das eine Fahrzeug. Unser Freund, ein Dr. Scott von Ceres, versteckt sich irgendwo draußen und macht sich sicher inzwischen Gedanken. Wir sind der ›Asteroid‹, der vorbeigeflogen ist – wann auch immer. Fragen Sie Ihre Himmelswache!« »Das werde ich tun.« Er gab seinen handtuchschwingenden Laufburschen ein Zeichen. »Und sie sollen die Laser wieder besetzen.« Zu mir: »Ihr Doktor, wenn er existiert, wird selbst einen Doktor brauchen.« Nun ja, wenigstens würden sie ein wenig Zeit und Energie vergeuden. Ein kleiner Sieg, aber ohne Bedeutung. »Und wie wäre es, wenn Sie mir jetzt erzählten, was Sie eigentlich vorhaben?«
Malaise versuchte sich zu erheben und auf und ab zu gehen, aber bei beinahe null g funktioniert das nicht allzugut. Er kehrte zum Schreibtisch zurück, spritzte sich selbst etwas zu trinken und spritzte sogar mir noch etwas. Ich entdeckte eine geplatzte Lippe, die ich vorher gar nicht bemerkt hatte. »Es war natürlich der Krieg, Antarctica, Hawaii, wo man auf beiden Seiten täglich Tausende sterben sah. Wo man erkannte, wie tief, grundlegend, von. Natur aus böse der Mensch wirklich ist. Und wie dumm, wie verbrecherisch, verschwenderisch dumm: Sie wissen, die Konföderation hätte ihren Sieg zu einer weltweiten Hegemonie ausbauen können, hätte ein vernünftiges, geordnetes Herrschaftssystem errichten können. Aber wollte man das? Nein! Die Leute kehrten lieber zu ihren Telekoms und ihrem Alkohol zurück, zu ihren Einfamilienhäusern in den Vororten und zu den Luftkissenbuggies, anstatt zu vollenden, was sie begonnen hatten.« »Das war vor meiner Zeit – in der Konföderation, meine ich. Aber mir scheint, der Zar war derjenige, der angefangen hat – er träumte auch von einer weltweiten Hegemonie.« »Er hat verloren, und das beweist, daß er nicht fähig war zu herrschen. Ich bin 211 A.L. hier herausgekommen, gleich nach der Entdekkung der Vereinigten Staaten. Ungefähr zur gleichen Zeit wurde die Lage für die Hamiltonisten schwierig, und ich brauchte ein wenig mehr Handlungsfreiheit. Und Verbündete – können Sie mir folgen?« Er blickte auf seine Uhr. »Sicher. Manches davon habe ich sogar selbst herausgefunden. Nachdem Sie sich auf Ceres eingerichtet hatten, kamen Sie hier raus und bauten sich einen Penetrator, mit der Absicht, mit verschiedenen, widerlichen Typen aus meiner Welt Kontakt aufzunehmen.« Seine Augenbrauen schossen steil nach oben. »Sie sind wirklich ein halbwegs ordentlicher Detektiv, wissen Sie das? Wir beförderten die Geräte mit dem Nachrichtenbus des Senders, und ja, ich bin selbst zur Erde – zu Ihrer Erde – zurückgeflogen. Ich möchte Ihnen nur sagen, es war gar nicht so einfach, all diesen Radarabwehranlagen auszuweichen. Aber ich ließ mich genau in der Mitte eines Schrotthaufens in einer Umlaufbahn nieder, der groß genug war, um mich darin zu verstecken,
und allmählich konnte ich Verbindung mit Ihrer Bundessicherheitspolizei aufnehmen.« »Sipo – und meine ist das nicht, mein Freund. Warum sind Sie nicht einfach über eine Interwelt-Station gegangen? Warten Sie – lassen Sie mich raten! Sie wollten nicht, daß jemand sah, wie der berühmte Voltaire Malaise…« »Richtig, aber es gab noch einen triftigeren Grund: Ihre an den Planeten gefesselte Regierung nahm meine Botschaft AUS DEM ORBIT sehr ernst, besonders, als sie in einen von ihren kindischen Codes übersetzt wurde. Mein Bordcomputer knackte ihn in anderthalb Tagen.« »Raffiniert. Da waren Sie also wirklich einmal die ›Stimme von den Sternen‹.« »Ein Mann, der einen Witz zu schätzen weiß. Jedenfalls hat es den Anschein, als kämen auch in Ihrer Welt harte Zeiten für eine richtige, verfassungsmäßige Behörde. Ich begriff, sobald man mit offenen Handelsbeziehungen anfing, würden Ihre Leute den gleichen egoistischen, disziplinlosen, hedonistischen Weg einschlagen wie die Konföderation, daher bot ich Ihrer Regierung – und anderen – ein Geschäft an.« »Und was war das?« Ich legte den Whiskybeutel auf meine Stirn. Ich weiß nicht, wie er die Eiswürfel hineingebracht hatte, aber sie fühlten sich gut an. »Das Offensichtliche: konföderierte Technologie und Reichtum gegen ihre Leute und ihre Macht. Sie senkten freundlicherweise den Radarvorhang, und ich brachte noch auf dieser Reise die erste Ladung Sipound KGB-Agenten mit zurück. Später erwarben wir eine kleine Flotte von Schwerfahrzeugen und fingen an, Leute zu Tausenden damit zu befördern. Können Sie sich vorstellen, zu welchem Zweck?« Ich überlegte, kam aber im Augenblick zu keinem Ergebnis. Um nicht dumm auszusehen, sagte ich: »Ich hole mir jetzt eine Zigarre heraus und zünde sie an – wenn Ihre Schläger sie mir nicht wieder zerbrochen haben.« Der Rauch brannte, als er an den Abschürfungen auf meinem Gesicht vorbeistrich. »Sagen Sie mir, wie die Gehirnsonden und die vermißten Frauen hineinpassen. Sie wollen doch sicher nicht… o nein, das ist einfach zu albern!«
Er wirkte tatsächlich schmerzlich berührt. »Was ist zu albern?« »Sich hier draußen eine geheime, hamiltonistische Kolonie bauen zu wollen. Großer Gott, die Grenze bewegt sich so schnell weiter, Ihr Geheimnis bliebe kein Jahr gewahrt. Besonders, wenn Sie entführte Frauen benützten – wozu eigentlich, zur Zucht? Ziemlich kaltblütig.« Und genau das versuchte ich zu sein, indem ich Clarissa aus meinen Gedanken verbannte. »Bear, Sie sind erstaunlich – und so dicht an der Wahrheit! Und trotzdem noch Parsecs entfernt. Wir bauen STERNENSCHIFFE! Richtige Sternenschiffe. Zweihundertdreißig davon, auf Ihrer Seite des Penetrators, wo keine der beiden Kulturen sie entdecken kann, dazu verwenden wir Material von den Asteroiden, das bei den entsprechenden Unternehmungen hier draußen leicht zu finden war. Aber was die Frauen angeht, da haben Sie recht, es sind beinahe eine Viertelmillion, hundert für jeden Mann. Wir werden hier draußen wachsen, Bear, werden gastfreundliche Planeten finden, sie so schnell aufbauen, wie wir nur können, und dann, in hundert Jahren, werden wir unsere Milliarden auf einen Schlag wieder zurückbefördern, um beide Systeme unter eine richtige Führung zu bringen. Stellen Sie sich das vor: Ein interdimensionales, interstellares Reich!« Eines mußte ich dem Burschen lassen, in seinen Augen war auch nicht das leiseste Glitzern von Fanatismus zu sehen. »Raffiniert. Wenn auch nicht sehr moralisch. Wußten Sie, Malaise, daß die Frauen, denen Sie die Gehirnsonden haben anlegen lassen, sich dessen bewußt sind und Sie jede qualvolle Sekunde ihres Lebens hassen?« »Unwichtig. Sie werden ihren Zweck erfüllen, und ihre Kinder – ausschließlich Mädchen, wenigstens in den ersten paar Generationen – werden uns nicht mehr hassen. Wir werden Götter für sie sein!« »Ich verstehe: Kurze Lebensspannen für die Frauen, Unsterblichkeit für Sie.« Mir kam noch eine letzte, verrückte Idee: »Vermutlich werden Sie zu einem so späten Zeitpunkt niemanden mehr aufnehmen, oder? Vielleicht könnte ich so lange leben, bis…« »Hmm.« Er runzelte die Stirn. »Nein, ich glaube nicht, daß das klug wäre. Noch ein guter Versuch, Bear. Sie geben wirklich nicht auf.«
»Das ist erst mein nächster Zug. Wann starten Sie und Ihre fröhliche, kleine Gruppe von Sexbesessenen, und warum können Sie Lucy und mich nicht am Leben lassen?« Wenn ich mehr Mumm gehabt hätte, hätte ich von Clarissa gesprochen. »Nun, zuallererst einmal, weil ich Sie nicht mag. Sie haben mich Leute gekostet und viel von meiner kostbaren Zeit vergeudet. Aber hauptsächlich, weil ich nicht will, daß man uns auf irgendeiner Erde in hundert Jahren erwartet. Ich werde Ihnen aber eines sagen: Wenn Sie es schaffen, zu überleben, bis wir starten, und vorausgesetzt, jemand kommt, qm Sie zu retten, dann überlasse ich es Ihnen.« »Das ist wirklich anständig, Voltaire. Was haben Sie mit mir vor, werden Sie mich bis zum Hals eingraben und von Ameisen auffressen lassen? Aber hier draußen gibt es nicht allzu viele Ameisen, würde ich meinen.« »Sie werden schon sehen, Mr. Bear. Unser Gespräch ist zu Ende. Bringt ihn runter und behandelt ihn wie üblich! Wir werden uns nicht wiedersehen.« »So sieht es aus, Malaise!« fauchte ich, aber ich mußte ihre Technik bewundern. Sie ließen meine Beine zusammengebunden (ich muß auf diesem Felsen ganze eineinhalb Pfund gewogen haben), banden mir die Hände zusammen und trugen mich wie das Opfer eines Safarimordes nach unten. Meine Webley war natürlich schon lange weg, genau wie mein Rezin – nicht, daß mir die Waffen sehr viel genützt hätten. Vielleicht bildete ich es mir ein, aber die Kanten meiner kleinen .25 schienen sich vorne unter meinem Anzug in mein Brustbein einzudrücken. Entweder waren die Burschen nachlässig, oder das, was sie jetzt mit mir vorhatten, war ziemlich endgültig. Da ich nicht mehr viel zu verlieren hatte, wand und wehrte ich mich, so gut ich konnte. Einmal erzielte ich sogar einen Treffer – tödlich, wie ich hoffte – mit meinen Fersen direkt ins Kinn des Totschlägerschwingers, der versuchte, mich an den Füßen festzuhalten. Er schwebte weg, und eine Blutblase von der Größe eines Basketballs sickerte ihm aus Mund und Ohren. Und dann fand ich heraus, was ich zu verlieren hatte. Mein Bewußtsein.
Als ich zu mir kam, lag ich auf dem Fußboden in einem Raum, der noch kahler und bedrückender war als die anderen zuvor, ein nackter Metallwürfel mit vielleicht dreieinhalb Metern Seitenlänge. Darin war ich, die Wände, Fußboden und Decke und ein langsam tropfender Ausguß. Und eine Tür. Die gerade sorgfältig von außen zugeschweißt wurde.
17. Kapitel Hinter Schloß und Riegel Dienstag, 23. März 223 A.L. Im Kino wäre der Held sofort aufgesprungen, zur Tür gerannt und hätte entrüstet dagegen geschlagen, dabei die Schurken angeschrien und sich vielleicht die Hände ein wenig am Stahl verbrannt, wo gerade geschweißt wurde. Kinohelden werden auch nicht zweimal am gleichen Tag niedergeschlagen, jedenfalls nicht wirklich und nicht so unsachgemäß wie ich. Ich blieb also .auf dem Boden liegen, verlor andauernd das Bewußtsein und kam wieder zu mir, wie mein Anzug mir später verriet, einen Tag und eine Nacht hindurch. An einem Punkt muß ich aufgrund der Annahme, sie könne vielleicht helfen, meinen gebrochenen Schädel zusammenzuhalten, meine Kapuze geschlossen haben. Manchmal, wenn ich mehr oder weniger bei Bewußtsein war, zählte ich die Nieten in der Decke und fragte mich, wann ich wohl sterben würde. Bald, hoffte ich. Der Anzug mußte seine Aufgabe doch erfüllt haben, denn ich merkte zu meiner Verärgerung mit der Zeit, daß ich mir noch über ein paar weitere Dinge Gedanken machte. Wie zum Beispiel, wo das Licht herkam und wo meine nächste Mahlzeit herkommen sollte. Ziemlich vorsichtig setzte ich mich auf und sah nach der Zeitanzeige in einer unteren Ecke meines Blickfelds, als wollte ich irgendwohin. Das Licht sickerte anscheinend aus der dick aufgetragenen Farbe, die die Wände, die Decke und den Fußboden aus Stahl bedeckte. Dunkle, unregelmäßige Flecken rings um die Tür zeigten, wo sie beim Schweißen versengt worden war. Und ›sickern‹ war genau das richtige Wort – ein kränklich-blasser Schimmer im Dunkeln, plastikspielzeugblau. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte das Sterben im Dunkeln erledigt. Mein Magen knurrte. Ich knurrte sofort zurück.
Noch etwas ist über Kinohelden zu sagen: wenn sie aus dem Koma kommen, in das ein Bösewicht sie versetzt hat, wollen sie zuallererst etwas zu trinken. Whisky bei nicht jugendfreien und Wasser in Disneyfilmen. Ich beobachtete den Hahn über dem galvanisierten Ausguß in der Ecke, an ihm hingen Tropfen so groß wie Golfbälle und fielen wie Federn in einen breiten, trichterförmigen Abfluß. So hungrig ich auch war, bei dem Gedanken, aus diesem Becken irgend etwas zu trinken, drehte sich mir der Magen um. Und der knurrte wieder, wie ein Schoßhundanwärter bei Indy. Nachdem das vielleicht eineinhalb Stunden so gegangen war, schaffte ich mich auf die Füße, peinlich darauf bedacht, nur ja die Verbindung mit dem Boden nicht zu verlieren. Noch einen Schlag auf den Kopf brauchte ich so dringend wie – nun ja, wie noch einen Schlag auf den Kopf. Ich hatte noch nicht die Courage, ihn zu berühren, weil ich gar nicht wissen wollte, wie sich Gehirnmasse anfühlt. Dieser Raum war ursprünglich als übergroßes Hausmeisterzimmer geplant worden, er war in jeder Richtung etwa so hoch wie zwei große Männer und bestand aus kahlem, mit fluoreszierender Farbe bedecktem Metall, völlig glatt, bis auf den Ausguß, und mit viertausendsiebenhundertzweiundsechzig Nieten besetzt. Sie brauchen nicht nachzuzählen; ich weiß es ganz genau. Jeder laufende Zentimeter des Rahmens der Pseudo-U-Boot-Tür war sorgfältig mit Schweißpunkten verschlossen, eine Arbeit, auf die der alte Karyl Hetzer stolz gewesen wäre. Es war mir ein Rätsel, wie ich so lange überlebt hatte, ohne zu ersticken. Vielleicht kam durch den Siphon des Ausgusses Luft herein. Allzuviel gab es sicher nicht davon; alle paar Stunden, besonders, wenn ich mich ziemlich viel bewegt hatte, mußte ich meine Kapuze wieder schließen und das Atmen dem Anzug überlassen. Nach einer unbestimmten Zeitspanne wurden dann die Anzeigen auf meinem Arm wieder grün, und ich konnte den Hut abnehmen. Es war jedenfalls eine Unterbrechung des täglichen Einerleis. Als guter Pfadfinder machte ich so ziemlich als erstes eine Bestandsaufnahme meiner spärlichen Besitztümer. Die Leute, die mich eingelocht hatten, waren nicht sehr gründlich gewesen, aber andererseits hatten sie das eigentlich auch nicht nötig gehabt. Da war natürlich
der Anzug mit seinen beträchtlichen Fähigkeiten, und tatsächlich, in meinem nicht vorhandenen Decollete steckte die kleine Bauer aus rostfreiem Stahl, die eine massive 50-Korn-Kugel mit zweihundertfünfzig Metern pro Sekunde hinausschleudern konnte gerade ausreichend, um ein bißchen Farbe von der Wand zu kratzen. Außer der Artillerie besaß ich vier Zigarren, jede einzelne davon dank Murphys Gesetz noch ganz (ich würde sie mir aufheben, bis es mir gleichgültig war, wieviel Sauerstoff ich noch hatte), eine Tasche voll kleinerer Gold- und Silberstücke, die Schlüssel für mein Gepäck, das inzwischen auf der Rückreise durch die Meteorabwehr zweifellos verdampft war, und ein Bic-Feuerzeug. Schließlich erlebte ich ein kleineres Wunder, als ich in meine rechte Hüfttasche griff, und wußte, daß ich wenigstens nicht ohne Unterhaltung aus diesem Tal der Tränen scheiden würde: Clarissas aufmerksames Abschiedsgeschenk, mein gottverdammt lärmendes, wundervolles Gigakom. Ich habe einmal gehört, wie ein Diskjockey in Denver behauptete, die Welt würde spürbar verbessert, wenn alle Weckerradios Jugband-Musik spielten. Es ist schwer, bei Kweskins ›Sadie Green, der Vamp von New Orleans‹ deprimiert zu bleiben; ich suchte jetzt dieses Opus heraus und fühlte mich danach sofort besser. Vielleicht sogar bereit für einen Drink. Den beschaffte ich mir höchst wählerisch, indem ich eine Zigarrenhülle aus Pseudozellophan an einen der übergroßen Tropfen hielt, die sich am Wasserhahn sammelten. Flau und nach Metall schmeckte es, aber es beruhigte meinen Magen eine Zeitlang. Kweskins KazooSchlußchor endete krachend, ich tippte einen der seltenen MikeMorrison-Filme ein, in denen keine Pferde vorkommen (gerade jetzt wollte ich eigentlich nicht an etwas zu essen erinnert werden), den Kriminalfilm ›O.R.‹. Und was, zum Teufel, würde Mike tun, wenn er so in der Patsche säße? Mit bloßen Fäusten die Wände einschlagen? Versuchen, die Schwere seiner Verletzungen herauszufinden, um sie stoisch ignorieren zu können? Nun, wenn dieser Anzug mein Bild den Empfängersensoren eines anderen Anzugs übermitteln konnte, warum konnte ich ihn dann nicht dazu bringen, mich mir selbst zu übertragen? Es dauerte eine hal-
be Stunde, und ich versäumte die übliche Barschlägerei der Morrisonfilme, aber schließlich verwandelte ich die Innenseite meiner Kapuze in einen nanoelektronischen Spiegel. Ich schaltete ihn sofort wieder ab. Komisch, ich wußte gar nicht, daß ich bei drei bis vier g ein fünfundzwanzig Kilometer langes Treppenhaus hinuntergeworfen worden war, und ich hatte auch nicht bemerkt, daß mein linkes Auge zugeschwollen war. Und diese drei Zähne würden mir wirklich fehlen. Scheiße, jetzt war ich beinahe sechzig Jahre lang um eine Prothese herumgekommen. Übrigens würde ich wahrscheinlich trotz allem keine mehr brauchen. Ich schlief, so viel ich konnte, dann suchte ich die Medizinschaltung meines Patentanzugs und verschaffte mir noch mehr Schlaf. Das füllte die Zeit, genau wie die experimentelle Berechnung, daß ich genau neun Millimeter einer Zigarre verbrennen konnte, bis ich sie ausmachen mußte, mehr wegen des Geruchs als aus Atemnot (obwohl auch die vorhanden war). Ich fand auch, daß sogar bei einem Patentanzug die Abfallbehälter nach einiger Zeit geleert werden müssen, und war dankbar für den Abfluß des Beckens – und für das Wasser, mit dem ich hinterher nachspülen konnte. Eine weitere, interessante Entdeckung war, daß die Taille meines Anzugs ganz von selbst schmäler wurde, ungefähr einen halben Zentimeter pro Tag langsamer als ich. Das war vielleicht eine famose Technik – nicht einmal den Gürtel konnte man sich selbst enger schnallen! Am dritten Tag kam mir flüchtig der Gedanke, daß ich mich vielleicht nicht alleine in dieser mißlichen Lage befand; ich kam mir albern vor, weil mir das nicht früher eingefallen war. Vielleicht, weil ich so viele Schläge auf den Kopf bekommen hatte. Oder vielleicht war ich einfach ein Trottel. In letzter Zeit hatte es viele Vermißte gegeben; obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, warum Malaise meine sterblichen Überreste auf diese Weise für die Nachwelt erhalten sollte, gab es vielleicht andere in der gleichen Lage. Und natürlich Lucy. Eine dieser Zellen würde auch sie selbst vor den eindringlichsten Kontrollimpulsen auf wirksame Weise schützen. Verdammt, wahrscheinlich war sie schon länger als ich wieder sie selbst. Ich widerstand dem Drang, das noch einmal neu zu formulieren und
konzentrierte meine minimalen Intelligenzreste auf das nächstliegende Problem: das war hier kein Chateau d'If, ich würde mich nie mit den Fingernägeln zur nächsten Zelle durchgraben können, aber vielleicht war es möglich, auf eine Weise mit meinen Gefährten in Verbindung zu treten, die auch die Stahlwand gestattete. Ich schaltete das Gigakom ab und schlurfte mit meiner .25 in der Hand zu einer Wand hinüber. Lieber erst entladen – vielleicht war eine Kugel im Bauch genau das, was ich im Augenblick am nötigsten gebraucht hätte, aber wenn es um überflüssige Schmerzen ging, war ich immer ein Feigling, und es wäre absolut nicht förderlich für meinen posthumen Ruf, wenn man entdeckte, daß ich mich zufällig mit meiner eigenen Taschenknallbüchse erledigt hatte. Wie hätte Lucy gesagt: erniedrigend. Andererseits fand man mich vielleicht niemals. Dann war es gleichgültig. Ich merkte, daß dieser Gedanke mich aufgeheitert hatte, blickte auf meine Sauerstoffwarnlampe und dichtete wieder ab. Ich drückte mit dem Daumen den Magazinhalter zurück, zog den kleinen Clip heraus, schob die Sicherung herunter und ließ die Munition in der Trommel in meine Hand fallen. Dann drehte ich meine akustischen Rezeptoren so weit auf, wie es nur ging, drapierte mich künstlerisch vor das Bodenbrett und schlug mit meiner Pistole scharf gegen die Wand. Eineinhalb Stunden später hörten meine Ohren auf zu dröhnen. Diesmal schaltete ich den Ton ab, während ich klopfte, dann erst drehte ich auf. Nichts. Ich versuchte es noch einmal, mit dem gleichen Ergebnis. Danach die gegenüberliegende Wand, mit ähnlichem Erfolg. Entweder war ich allein hier, oder die Wände waren furchtbar dick. Oder sie hatten einen Haufen von Gehörlosen entführt. Es blieb noch eine dritte Wand, an der ich es auch versuchte, und die mit der Tür, wo es mir albern vorkam – draußen mußte eigentlich ein Korridor sein – aber ich schlug trotzdem dagegen. Auch an mehreren Stellen auf dem Boden; von einem hatte ich genug: Zeit. Schließlich strapazierte ich meine Eingeweide bis zur Grenze ihrer Kraft, machte jede Anzugoberfläche, bei der das möglich war, haftend, orientierte die letzten Reste meines Verstandes neu und kroch die Wand hoch zur Decke hinauf. Es wäre eine großartige Fluchtmöglichkeit gewesen – warten, bis der Kerkermeister mir das Essen brachte,
und ihm dann wie der Rosarote Panther auf den Rücken zu springen. Nur waren meine Gastgeber im kulinarischen Bereich nicht sehr entgegenkommend, mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit hatten sie inzwischen vergessen, daß ich überhaupt existierte. Und die Nachbarn über mir waren ohnehin nicht zu Hause. Diese ganzen Anstrengungen mußten mir zu Kopf gestiegen sein; immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich rein aus sinnloser Gewohnheit wieder Detektiv spielte. Ich weiß nicht, warum Malaise mich angelogen hatte. Nicht aus Schäbigkeit vielleicht. Aber vieles, was er mir gesagt hatte und ein paar Einzelheiten, die er ausgelassen hatte – paßte nicht zusammen. Zum Beispiel die Sache mit dem Penetrator, den er in seinen Senderwagen eingebaut hatte. Wenn der ihm zur Verfügung gestanden war, wozu hatte er dann diese unübersehbaren, monumentalen Bauwerke auf der Außenseite dieses Felsens errichtet? Sicher, er hatte jetzt eine Flotte, aber hier stand genügend Fassungsvermögen bereit, um jedes Schiff zu befördern, das jemals auf einem Meer gesegelt war, und dazu konnte man noch die Produktion Detroits in hundert Jahren mitnehmen. Kam mir seltsam verschwenderisch vor. Und noch etwas: Abgesehen von dem Hochstapler, der Ranger Trayle bestochen hatte, hatte es genau null (zählen Sie nach) weitere männliche – nun ja, Außendienstmitarbeiter gegeben, die die schmutzige Arbeit für Voltaire verrichteten. Und was noch bedeutsamer war, eine gleich große Zahl von Primaten und Waltieren. Das war völlig konsequent; die Hamiltonisten haben mit unseren haarigeren oder feuchteren Mitbürgern nicht viel im Sinn – sie halten sich schon für großzügig, wenn sie die Existenz von Wesen mit niedrigerer Albedo und ausländischem Akzent überhaupt anerkennen. Aber das ließ ein paar Probleme offen: Wer war, verdammt noch mal, in meine Kabine eingebrochen? Anscheinend standen Freunde von mir in irgendeiner Beziehung zur Aphrodite GmbH. Ganz gleich, wie ich es drehte und wendete, ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß Ooloorie oder D. J. oder auch nur Freeman Bertram gemeinsame Sache mit den Föderalisten machen sollten. Und auch die nicht, bei der es am meisten wehtat, Koko Feathersto-
ne-Renegat. Da hatte ich nun das verdammte Klischeegespräch mit dem Oberschurken schon hinter mir und war immer noch meilenweit davon entfernt, die Wahrheit herauszubekommen. Und in diesem Zustand würde ich wahrscheinlich auch noch sterben.
Samstag, 27. März 223 A.L. »Nun hör mir mal gut zu, Kleiner, und paß genau auf! Du tust mir keinen Gefallen, wenn du jedesmal durchdrehst, sobald du… ein paar Löcher in einen… Eisenbahnräuber schießt. Du hast doch nicht gesagt, er soll'n Eisenbahnräuber werden. Du hast doch nicht gesagt, er soll's mit dem Job probieren. Das hat er ganz allein mit sich selbst ausgemacht. Sicher, du hätt'st ihn erschießen können. Aber so, wie ich's sehe, hatte er die ganze Zeit 'n Finger am Abzug. Schau mal, Kleiner, wir sind die besten Schützen, die's bei Wells-Mulligan gibt – jeder, der in einen Güterwagen von uns einbrechen will, ist schlicht und einfach… ein Selbstmörder. Und jeder hat das Recht, sich umzubringen, wie er will, nicht… Kleiner?« Vier Tage und siebenundzwanzig Lone-Star-Republic-Filme später – ich harte so viel geschlafen, wie ich nur konnte, war kaum fähig, mich zu bewegen, als ich aufwachte, und nahm an, daß ich jetzt das Ende des Weges erreicht hätte. Verdammt, ich hatte geglaubt, man könne länger als eine Woche aushalten, ohne etwas zu. essen, vorausgesetzt, man hatte Luft und genügend Wasser. Und so lag ich da und hatte Mitleid mit mir selbst. Es kam mir so unfair vor: Ich hatte mich so auf diese zusätzlichen drei- oder vierhundert Jahre gefreut, die mir die konföderierte Medizin immer wieder versprach. Wenn andererseits meine Clarissa inzwischen eine von Malaises Zuchtsklavinnen war und eine Gehirnsonde trug, wären selbst drei oder vier Minuten mehr für ein einziges Leben zu schwer zu tragen. Komisch, wie ein anderer Mensch so unglaublich wichtig werden kann. Ich bot jedes Molekül an Willenskraft auf, um das Gigakom einzustellen.
Wenn ich schon das Handtuch werfen mußte, sollte ich dabei wenigstens ihr Bild vor Augen haben – mein Gott, wenn ich nur auf die Idee gekommen wäre, ihre Telekomanrufe an Bord der… »Gute Reise, Liebling, und komm schnell nach Hause!« Da lag sie in ihrem tollen Anzug verführerisch über unser Bett hingestreckt. »Hoffentlich unterhält dich dieses Spielzeug während deiner Abwesenheit fast genausogut, wie ich es könnte!« Ich spielte es wieder und immer wieder ab und bemühte mich, nicht zu weinen, fragte mich aber gleichzeitig, warum ich mich eigentlich bemühte. Das Innere meiner Kapuze war ohnehin ziemlich feucht, und ich konnte sie nicht einmal aufmachen, um sie auszuwischen. Zu wenig Luft. Tatsächlich war schon ziemlich lange nicht mehr genug davon vorhanden, und wenn ich so darüber nachdachte, war es nicht ziemlich heiß? Man brauchte nur zu schauen, wie die Wassertropfen am Hahn kochten. Kochten? Ohne meinen Anzug wäre ich inzwischen wahrscheinlich gesotten! Ich legte mich auf den Rücken, hielt eine behandschuhte Hand an die Tür – und riß sie wieder zurück! Warum folterten sie mich nach so langer Zeit auf diese Weise? Konnten sie mich nicht einfach in Frieden sterben lassen? Oder starteten sie jetzt in ihren Sternenschiffen, und ihre interstellaren Auspuffgase verbrannten den Außenposten wie auch die Gefangenen, die sie zurückgelassen hatten? Durch eine plötzliche Reflexbewegung war ich auf einer sanften Flugbahn bei niedriger Schwerkraft über den Boden geschleudert worden. Ich war nicht schlau genug, den Aufprall an der gegenüberliegenden Wand abzuwehren, sondern lag einfach betäubt da und wartete auf den Tod. Wamm! Die Tür brach in einer Kaskade von strahlenden Funken und geschmolzenen Metalltröpfchen nach innen auf, ich wurde nach oben durch den Raum gewirbelt wie ein Blatt, meine Anzeigen zeigten plötzlich wieder grün, ein Strom von Energie durchraste mich plötzlich, als hätte ich eine Dose von Popeyes Spinat gegessen. Ich streckte schnell eine Hand aus und heftete mich an die Decke. In der zerschmetterten, verbogenen Tür unter mir stand schwankend eine stämmige Gestalt, Sie hielt einen zischenden, tödlichen Brenner in der hochgestreckten Hand.
Ich öffnete meinen Patentanzug lange genug, um die kleine .25 freizubekommen. Sollten sie machen, was sie wollten, ein paar von den Schweinehunden würde ich mitnehmen, angefangen mit dem da. Er taumelte als Reaktion auf die Implosion, schüttelte den Kopf in der Kapuze und betrat zögernd den Raum. Ich schnellte den winzigen Sicherheitsbügel herunter, brachte Kimme und Korn, rudimentäre Erhöhungen auf der Oberfläche des Schiebers, in eine Linie, und erhöhte langsam den Druck auf den Abzug. Plötzlich folgte noch eine rotgekleidete Gestalt, die Waffe im Anschlag, und hob die Hand, um ihre Kapuze zu öffnen. »Clarissa!«
18. Kapitel Semper Fidelio »Leg das Spielzeug weg, Sohn – sonst schießt du noch jemandem ein Auge aus!« Lucy wälzte sich hinter Clarissa herein, sie sah aus, als hätte sie fünfzehn Runden mit einem Preßlufthammer hinter sich. Und wäre unterlegen. Ich heftete meine Augen auf meine Frau und ließ die Decke los, mitten in der Luft kam ich auf die Idee, den Sicherheitshebel der winzigen Pistole in seiner Kerbe unter dem Schieber einrasten zu lassen. Ich landete ziemlich würdig (na gut, sagen wir, eine Sieben-Punkt-Landung) und wickelte mich um Clarissa, die das gleiche mit mir tat. Nach einiger Zeit tupften wir uns gegenseitig die Augen mit Kleenex ab, und ich wandte mich dem Burschen mit dem Schweißbrenner zu, Karyl Hetzer. »'nen verdammten Feuerstock haben Sie da! Sie hätten mal von hier drinnen sehen sollen, was das für Flammen waren!« Ich beschrieb, wie die Tür in den Raum hereingeflogen war. Jetzt hing sie wie der Deckel einer halbgeöffneten Sardinenbüchse vom Rahmen. »Wenn das Ding runtergekommen wäre, hätte es mich direkt in der Mitte auseinandergeschnitten! Nicht etwa, daß ich mich beklagen möchte – das wäre mir immer noch lieber gewesen als…« »Win Bear!« unterbrach Clarissa. »Wie kannst du nur so etwas sagen?« »Ganz einfach, Liebste, ich werde es dir eines Tages erzählen.« Ich setzte mich auf den Boden und hoffte benommen, daß mir jemand eine Rolle Life Savers mitgebracht hatte oder ein paar Mastodons. Karyl kratzte sich an einer Stelle, unter der irgendwo ein verständnisloser Gesichtsausdruck verborgen war, seinen Bart. »Ziemlich schwer vorzustellen. Gibt es hier irgendwo Sprengstoff?« »Muß draußen im Korridor gewesen sein«, antwortete Lucy und ersparte mir die Mühe. »Schau doch nur, wie sich die Tür nach innen gewölbt hat.« Sie rollte schwerfällig zum Eingang zurück und sah sich die Tür genauer an. Mir war das wirklich verdammt gleichgültig. Ich hielt Clarissa in den Armen, bewunderte ihr Lächeln, und wunderte
mich nur ein klein wenig, was mir an ihr anders vorkam. Vielleicht war es der bezaubernde, scharlachrote Patentanzug, den sie trug, oder… »He!« riefen Lucy und ich gleichzeitig. »Du bist doch nicht…«, fügte ich hinzu, wurde aber an der entscheidenden Stelle unterbrochen. »Das klingt vernünftig«, sagte Karyl, ich glaube, zu Lucy, auch wenn es nicht stimmte. »Einer nach dem anderen«, vollendete Clarissa für uns alle drei, »aber zuerst möchte ich meinen unterernährten Gemahl versorgen.« Sie befreite sich, trat in den Korridor hinaus und holte ihren Medizinkoffer und einen Arm voll anderen Zeugs. Sie zog etwas heraus, das einer Blutdruckmanschette glich, und wickelte es mir um den Arm, das Kabel steckte sie in die Steuerknöpfe meines Anzugs. »Genau, wie ich vermutet hatte«, stellte meine Privatheilerin fest. »Fast leer – aber bei weitem nicht so, daß es eine Erklärung für einige dieser Symptome wäre.« Sie drückte auf einen Knopf auf der Manschette. »Wir werden dir Nährstoffe direkt ins System pumpen, und du solltest lieber eine von diesen Tabletten nehmen – paß auf, Liebster, sie quellen im Magen auf.« Sie hatte recht, sie fühlten sich wirklich großartig an im Magen. Ich rülpste, als ich sie mit einer Flüssigkeit aus einer Flasche hinunterspülte, die Karyl zur Verfügung stellte. Jetzt wußte ich, was sich an Clarissa verändert hatte, aber ich war mir nicht sicher, ob ich sie wirklich danach fragen wollte. Jedenfalls nicht hier. »Genau das wollte ich sagen«, sagte Lucy hartnäckig und fuhr geschickt mit einer Greifzange an dem zerfetzten Türrahmen entlang. »Hört sich eher wie Sauerstoffmangel an, und ich glaube, ich habe auch rausgekriegt, warum.« »Warum?« In dreistimmiger Harmonie, ich ein wenig aus der Tonart fallend. Unsere halbkybernetische Kameradin deutete auf die vorher entstandene Gußnaht an der Tür. Sie war nach innen gerissen worden und hatte kleine, horizontale Tropfen aus geschmolzenem und wiedererstarrtem Stahl gebildet. »Du hast die ganze Luft hier drinnen ver-
braucht, Püppchen. Als wir die Tür aufgeschnitten haben, muß hier schon fast völliges Vakuum geherrscht haben.« Ziemlich eindrucksvolles Zeugnis für den Patentanzug, der diese Art von Vakuum geschaffen und seinen Träger so geschützt hatte, daß der es gar nicht bemerkte. »Du hast recht, ich habe wirklich die ganze Luft verbraucht, mehrmals sogar. Ich habe einfach den Anzug zugemacht und…« »Und gewartet, bis er wieder welche erzeugt hatte? Laß mal deine Statuslichter sehen, Junge! – Genau wie ich mir's dachte – so leer wie der Hirnkasten eines Bürokraten. Winnie, sogar Mikrotanks haben einen Boden, und es sieht so aus, als hättest du vor zwei, vielleicht sogar drei Tagen angefangen, die letzten Reste zusammenzukratzen.« Sie drehte sich sehr langsam um und überblickte die Zelle, dann deutete sie auf den Ausguß. »Daher ist dein Sauerstoff gekommen, von dem kleinen Wassertropfen und deinem eigenen, wiederaufbereiteten Schweiß. Das ging aber nicht schnell genug, daher…« Ich unterbrach sie, weil mir ein glänzender Gedanke kam. »Also ist der übriggebliebene Wasserstoff hochge… Nein, die Explosion ging nach innen, verdammt…« Karyl nickte heftig. »Diese Wände waren nie wasserstoffdicht – schlampigste Metallarbeit, die ich seit Jahren gesehen habe. Aber sie waren dicht genug, um Wasser bei Vakuum zum Kochen zu bringen, und die Tür krachte nach innen, sobald sie an den Rändern weichgeworden war.« Ich schüttelte den Kopf, bekam nur zur Hälfte mit, was er sagte. Ich war noch immer ganz durcheinander wegen Clarissa. Sie ertappte mich dabei, wie ich ihre Taille anstarrte. Ihre wundervoll schlanke, nicht schwangere Taille. »Keine Angst, Liebling«, sagte sie zu mir und tätschelte mir die Hand, »mir geht es gut, und unsere Tochter liegt in Mulligan's Bank and Grill und ist sicher in Stasis gepackt. Sie kommt sofort wieder in den Backofen und wird fertiggebacken, wenn wir nach Hause kommen – und da fällt mir noch ein, du solltest lieber mal das hier nehmen…« Sie reichte mir meinen Waffengurt mit Webley, Rezin, Reservemunition und so weiter. »Wir haben ihn in einer Art Büro gefunden, zusammen mit Lu-
cys Waffen und vielen anderen. Da wußte ich, daß du hier warst.« Tot oder lebendig. Ich prüfte den Ladungsstand und drehte den Rotorknopf ein Stück, dann schob ich hinter der Starterspule ein Projektil ein. »Und was hat Voltaire Malaise gemacht, während ihr seine unrechtmäßig erworbene Waffensammlung durchsucht habt?« Und sollten wir nicht besser sehen, daß wir wegkamen, dachte ich, ehe er herausfand, daß er Besuch bekommen hatte? »Voltaire Malaise, der Nachrichtenreporter? Was hat der denn damit zu tun?« »Alles. Ich glaube, er ist J. V. Tormount.« Ich schnallte mir meine Waffen um und steckte die .25 weg, während ich erklärte, was ich in Malaises Büro erlebt hatte. Lucy zischte und dampfte. »Aber Winnie, weißt du nicht mehr? Ich bin doch direkt hinter dir gestanden, während sie dich bearbeitet haben, außer Gefecht gesetzt von einem elektronischen Dingsbums für ein Zehntelstück!« Na gut, dann war es eben doch kein Aktenschrank gewesen, an den sich der Schläger gelehnt hatte. Ich konnte mich nicht erinnern, im Büro zusammengeschlagen worden zu sein – war das nicht alles im Korridor geschehen? –, und das zeigte einiges. Ich weiß nicht genau, was. Als ich meine Geschichte zu Ende erzählt hatte, konnte Clarissa ihre Unterlippe kaum noch unter Kontrolle halten. Ich glaube, zur Hälfte war es reine Entrüstung. »Nun ja«, brachte sie nach einigen Ansätzen schließlich heraus, »hier scheint jetzt alles verlassen, soviel wir gesehen haben. Wir hörten Lucy vom Büro aus und rannten sofort hin.« »Ihr habt sie GEHÖRT?« Ich musterte meine kegelförmige Mitgefangene von oben bis unten. Sie sah aus, als wäre sie bis zum Gipfel von tausend winzigen Alpinisten mit Eispickeln beklopft worden. »Was, zum Teufel, ist mit dir passiert?« Mit ihrer Antwort hätte ein verlegenes Grinsen erscheinen müssen. »Ich war das Warten gründlich leid und beschloß, mich selbst zu retten. Ich war auch in so einem Zimmer wie du, nur hatte ich 'ne Koje, die ich nicht brauchte, und natürlich 'ne Toilette. Jedenfalls habe ich vorgestern
festgestellt, daß ich mich hier nicht mehr lange aufhalten würde, ganz gleich, was ich machte, also habe ich meine Darlingkanone .rausgeholt… dadadadadada! Du hättest mal sehen sollen, Winnie, die Querschläger sind rumgesummt wie die Hornissen! Aber ich habe nicht mehr geschafft als so ein winziges Löchlein, und…« »Und«, vollendete Karyl ungeduldig, »wir fanden an diesem Korridor eine Zelle, wo eine Teleskopantenne durch die Tür ragte und SOS funkte!« Sie ließ die Antenne durch eine etwas geöffnete Schießscharte herausgleiten, stupste ihn sanft an der Nase und zog sie wieder ein. »Wer erzählt die Geschichte, Söhnchen, du oder ich?« Karyl legte eine Hand auf seinen Bauch, gestikulierte weit ausholend mit der anderen und machte aus der Taille heraus eine tiefe Verbeugung. »Madame, ich bitte demütig um Ihre…« »Und sag bloß nicht ›Madame‹ zu mir, du Dreikäsehoch! Jedenfalls haben sie mich rausgeholt, und jetzt sind wir hier!« »Aber nicht für lange, wenn ich da auch etwas zu sagen habe«, sagte ich schaudernd. »Wie habt ihr mich gefunden?« Lucy zeigte auf die zweimal versengte Tür; darauf war schwach mit Kreide gekritzelt: BEAR II. »Ordentliche Schweinehunde, nicht? Aber das muß doch bedeuten…« Clarissa nickte. »Aber wir können ihn anscheinend nicht finden. Weißt du…« »Bis auf diese vier anheimelnden Wände, mein Liebling, und dein Gigakom – wo, zum Teufel, ist mein Gigakom?« Ich fand es unter dem Ausguß verkeilt, anscheinend unbeschädigt. »Mal sehen, ob wir ihn jetzt finden können – sowieso höchste Zeit, daß wir hier rauskommen! Alles bereit?« »Ja.« Clarissa ließ ihre Tasche zuschnappen und zog den Riemen auf die Schulter hoch, damit er sie beim Ziehen über Kreuz nicht behinderte. Ich drückte noch einmal ihre Hand, nickte Karyl und Lucy zu und trat zum erstenmal seit einer Woche in den Korridor hinaus. Mir schien es eher, als sei ein ganzes Leben vergangen – und es hatte auch gar
nicht viel dazu gefehlt. Ich zog meine Waffe und schob eine Owenröhre über den Lauf. Wenn ich auch nur einen Ohrwurm zu Gesicht bekam, würde ich ihm ein Loch in den Pelz brennen, durch das man einen Flitzer steuern konnte. Der Gedanke an Insekten brachte mich auf eine interessante, taktische Idee – nur für den Fall, daß Clarissas informelle Volkszählung nicht stimmte. Ich gab meinen Gefährten ein Zeichen und machte meine Schuhsohlen haftend. Für Lucy war es auf dem Boden des Korridors einfacher, also ging ich an der Decke entlang. Meine Frau und der Schweißer nahmen je eine Wand. Auf wen wir auch trafen, es würde ein sehr verwirrter Hamiltonist sein, und das konnte uns ein paar zusätzliche Sekunden einbringen. Karyl steckte sein Schweißgerät in den Gürtel und zog den größten Laser heraus, den ich je gesehen hatte. Anfangs gingen wir langsam; in dem schwach erleuchteten Korridor war in beiden Richtungen auf hundert Meter nichts zu sehen. »Scheint eine unvollendete Mannschaftsunterkunft zu sein«, flüsterte ich. »Wie, zum Teufel, habt ihr den Felsen hier überhaupt gefunden?« Clarissa sprach leise. »Als ich von Mulligans zurückkam, hatte jemand das Haus verwüstet – ich blieb nicht dort, um nähere Untersuchungen anzustellen.« Sie hob vorsichtig die Füße, um nicht von der Wand abzurutschen. Ihre Tasche hing in Richtung auf den Fußboden, stand also ›seitlich‹ von ihrem Körper ab. »Kluges Mädchen.« Und hübsch dazu – ich hatte beinahe vergessen, wie hübsch. »Nein, nur ein Hasenfuß. Es gab eine medizinische Kuriermaschine nach draußen, die bereit war, trotz der Sonnenfackel zu starten. Frisch geklöntes Gewebe, das dringend gebraucht wurde.« »Dabei gab es überhaupt keine Sonnenfackel«, sagte Karyl von der anderen Wand her. »Ich habe euch doch gesagt…« »Das ist richtig«, bestätigte Lucy. »Paß auf, wo du mit dieser überladenen Taschenlampe hinzielst, ja?« Sie schwenkte zum Nachdruck, wenn auch nicht als Beispiel, ihre Gabbet Fairfax.
»Auf Ceres«, fuhr meine Frau fort, »ließ ich dich und Koko überall ausrufen – wo ist sie übrigens?« Ich sagte es ihr, in einsilbigen Worten, von denen die meisten nicht mehr als vier Buchstaben hatten. »O je, das klingt aber gar nicht nach unserer Koko, oder? Jedenfalls hattest du Ceres schon verlassen, aber ich bekam Antwort von zwei verschiedenen Heilern und von Karyl, der beschloß, mich zu begleiten.« »Ich brauchte Frieden«, grinste der schweißende Gastwirt, »und ich hatte schon immer vorgehabt, mir mehr vom Gürtel anzusehen. Wir folgten Ihrer Spur bis Navigation Rock und über die Patrouille von Bulfinch zur Mikrobenranch. Aber dann gingen Sie anderswohin, als, Sie eigentlich sollten.« Ich lachte. »Wir wollten die Schurken abschütteln. Ich wußte ja nicht, daß wir auch andere Leute in Verwirrung stürzen würden – vorsichtig jetzt!« Wir hatten eine Kreuzung erreicht. Ich spähte um die Ecke, Lucy unter mir tat das gleiche, und ich behielt Clarissa im Auge, für die dieses Kundschaftermanöver bedeutete, daß sie vorsichtig über den Rand einer Klippe aus Metall blicken mußte. Der Korridor vor uns war verlassen. Nachdem Karyl und meine Frau über die Lücke gesprungen waren, gingen wir weiter. »Und was geschah dann?« Karyl ergriff das Wort. »Wir wußten, daß Sie auf der Suche nach vermißten Personen waren, daher kam unsere liebe Ärztin hier auf die Idee, sich mit der Hauptstation Ceres in Verbindung zu setzen, um zu erfahren, ob es bei den Vermißtenfällen irgendwelche Gemeinsamkeiten gab.« »Und so seid ihr auf den Haufen gekommen.« Ich nickte verstehend. »Und so sind wir direkt nach Bester gekommen«, sagte Clarissa. Sie griff herüber, um mir ein wenig vorwurfsvoll leicht auf den Arm zu klopfen. »Wir hätten euch fast eingeholt – beim Auffüllen, wißt ihr noch, Pleistozän Plaza?« »O verdammt!« Ich machte eine Pause und dachte an die Schuldigen, die flohen, wo kein Föderalist sie verfolgte. »Aber dann wären wir schließlich alle in diesen Zellen gelandet, nicht wahr? Wieso seid ihr direkt auf Bester gekommen? Das habe ich nicht begriffen.«
Sie sah mich verständnislos an. »Na, da liegt doch das statistische Zentrum aller Vorfälle von verschwundenen Personen!« Ich blieb stehen und hätte beinahe meinen Halt an der Decke verloren. »Der Teufel soll mich holen, Lucy, wir haben das ganze Penetratorgerümpel völlig umsonst mitgeschleppt.« »Das war also der ganze Schrott«, sagte meine Frau. »Wir haben das Zeug in Lucys Flitzer gesehen. Ihr hättet auch eine vernünftigere Umlaufbahn zum Parken wählen können. Beinahe hätten wir ihn nicht erwischt.« Lucy hatte keine Antwort gegeben, sondern war auf dem Boden stehengeblieben und schlug sich jetzt mit ihrer Pistole in die Handfläche einer Greifzange. »Sieh dir mal dieses Schott hier an. Wir haben noch eine vermißte Person gefunden.« Die verwischten Kreidezeichen auf der fest zugeschweißten Tür lauteten SCHROEDER P. Die zweite Tochter des Mikrobenranchers. Ich sah meine Frau und unsere Freunde grimmig an. Das Mädchen war viel länger hier gefangengehalten worden als Lucy und ich. Ich klopfte mit dem Griff meines Rezin an die Wand und wartete. Keine Antwort. Karyl hob wieder seinen Schweißbrenner und brannte vorsichtig ein einen Zentimeter großes Loch in die Tür. Er schaltete das Gerät ab, aber wir hörten weiterhin ein brüllendes Geräusch, als ein Miniatursturzbach von Luft in die Wand gesogen wurde. Als sich der Lärm gelegt hatte und die Ränder ausgekühlt waren, drückte ich ein paar Knöpfe auf meinem Unterarm, hob die Kapuze meines Anzugs und steckte einen Periskopfinger in den Raum. Ein schöner Anblick war es nicht. Erbärmlich in einer kahlen Ecke zusammengekauert lag da ein kleiner Haufen Knochen, Zähne, Haare und Patentanzugfetzen. Sie hätte eine Woche tot sein können oder seit Abrahams Zeiten. Karyl und Clarissa warfen auch einen Blick hinein, Lucy stellte sich auf unsere Anzugfrequenzen ein. Ich glaube, keiner von uns sagte ein Wort. Wir gingen weiter, den Korridor entlang, bis ans Ende; ein an die Wand gemalter Pfeil zeigte auf eine Luftschleuse links von uns. Ich wog
verschiedene Faktoren im Geiste gegeneinander ab, dann sagte ich: »Clarissa und Lucy, ihr beide verschwindet von diesem Felsen und rennt wie die Wilden, um Hilfe zu holen. Karyl, wenn Sie nichts dagegen haben, bleiben wir hier und suchen nach Ed.« Meine Frau öffnete den Mund, um zu protestieren; Lucy rief: »Nichts zu machen, Jüngling! Ich kann vom Flitzer aus einen Notruf absetzen, und dann nehmen wir alle zusammen diese Bude hier auseinander, bis…« DONG DONGDONGDONG…! Lärm schallte durch den Komplex mit seinen Stahlkorridoren. Ich stand wie erstarrt, das Korn meiner Pistole suchte nach einem Ziel. Clarissa packte meinen Arm und zerrte mich zur Schleuse. Wir knöpften uns hastig und unbeholfen unsere Anzüge zu. »Bist du wirklich sicher, daß du noch luftdicht bist, Lucy?« Ich ließ meine Waffe fallen, weil ich an den Kapuzennähten herumfummelte, und bückte mich dann, um sie wieder aufzuheben. »Wenn nicht, könnten wir nicht mehr drüber reden!« Sie zeigte auf die Außentür, die schnell größer wurde. Sie hatte sie geöffnet – ohne Rücksicht auf die Gefahr. Wir taumelten auf die felsige Oberfläche hinaus. Hinter uns blökte ein funkgesteuertes Gegenstück einer Alarmanlage immer noch: »Achtung! Achtung! Alles in Deckung! Achtung! Achtung!« Ober unseren Köpfen kreisten wie Geier ein Schwarm schwer gepanzerter Flitzer mit Darlingkanonen auf jedem Kotflügel und Raketenröhren, die aus ihren mit Panzerplatten gestückten Rümpfen hervorragten. Die Mündungen ihrer Waffen blitzten und funkelten; ein Staubteufel aus dem Mittelwesten wirbelte vor uns am nicht allzufernen Horizont, ein Miniaturtornado, tödlich, der mit Höchstgeschwindigkeit herankam. Ich riß einen Arm hoch und schoß! Die Webley prellte mir die Hand, die Owenröhre verfehlte das Ziel weit. Ich zog eine Sekunde lang hoch, richtete das Visier aus und feuerte wieder. Diesmal spießte ich den Angreifer in seiner Umlaufbahn auf; er geriet ins Taumeln, sprühte Funken und stieß Rauch aus, der sich schnell verteilte. Ein. Aufflammen, das Rütteln einer Schockwelle, und alles war fort, in einer Million von Scherben.
Einer war erledigt, mehrere Dutzend hatten wir noch vor uns. »Ihr da auf der Oberfläche!« verlangte über Lautsprecher eine gebieterische Stimme. »Bleibt stehen, wo ihr seid! Laßt eure Waffen fallen!« Win Bear würde nicht mehr in eine Zelle zurückgehen! »Verteilt euch!« brüllte ich und mißachtete gleichzeitig meinen eigenen Befehl, indem ich Clarissa an mich zog. Wir warfen uns in einen Krater und hüpften nur noch, um dem Feind ein bißchen die Hölle heiß zu machen. Ich erwischte einen zweiten und einen dritten Flitzer. Sind es drei oder fünf Abschüsse, die ein As ergeben? Vier Fahrzeuge scherten aus der Umlaufbahn der Armada aus und landeten rings um uns in einer weit auseinandergezogenen Kette. Menschen kamen heraus, und verschiedene andere Wesen mit Zehen in den Anzugfüßen, sie rannten geduckt und schwangen tödlich aussehende Pfeilpistolen. Über uns düste eine Schwadron von Waltieren in Patentanzügen aus den Fahrzeugen, die am Kinn befestigten Laser blinkten im Sternenlicht, wenn sie sich herumwarfen und verdrehten und zu zielen versuchten. Der Felsen neben mir geriet in Brand und rauchte. Ich schoß. Ein Schrotschütze brach einen Meter über dem Boden zusammen; Blut spritzte, bis sein Anzug dichtmachte. Ich schoß wieder und spürte das Vibrieren von Clarissas kleinerer Waffe auf meiner Schulter. Ein Blitz flammte auf, als Lucys .50 in den Chor einstimmte und eindrucksvolle Fetzen aus den gelandeten, feindlichen Flitzern riß. Die verschiedenfarbigen Blitze aus Karyls Laser erledigten noch zwei weitere Schurken. Als ich nach einem neuen Magazin tastete, explodierte die Welt rings um mich. Als sie sich wieder beruhigt hatte, funktionierte mein linker Arm nicht mehr – ganz logisch angesichts des faustgroßen Gewebebrockens, der in der linken Schulter fehlte. Ein Dutzend Stahlnadeln ragten wie Liliputpfeile aus der Wunde. Komischerweise tat es kein bißchen weh. Clarissa riß die Nährstoffmanschette von meinem rechten Arm und klatschte sie auf die Wunde. Und das tat weh! Irgendwie war ich einen Augenblick lang weggetreten, und als ich wieder Anteil am Universum nahm, befanden sich auf dem Boden .des Kraters eine Menge zusätzlicher Schatten. Unser Ersatzfuchsbau war massiv von zornig aussehen-
den, bewaffneten Männern umringt, die ihre Pfeilpistolen auf meinen Nasenrücken richteten. Bei einer Bohrung dieser Größe kann man tatsächlich die Patrone oben im Verschluß sehen. Ich steckte die Webley ein – ich war plötzlich zu müde zum Denken – und schnallte mit einer Hand meinen Gürtel ab. Auf der anderen Seite des Felsens bewegte sich noch mehr. »Wir wären wieder mal so weit«, murmelte Lucy, als sie aus ihrem Unterschlupf herausgeführt wurde. »Nehmt eure pockennarbigen Pfoten weg von mir, ihr… ihr Kosaken!« »Mund halten!« Eine stämmige Gestalt in Schwarz und Silber machte ihren nur geringfügig weniger eindrucksvollen Häschern ein Zeichen, und die sammelten unsere Waffen und Clarissas Tasche ein. Er bedeutete uns, wir sollten durch die Schleuse gehen, durch die wir gekommen waren, wartete, bis wir die Anweisung befolgt hatten, und folgte uns dann. Mit dem letzten Blick auf die Oberfläche sah ich hundert Fahrzeuge, aus denen Soldaten quollen; das einzige, was mich befriedigte, war die Anzahl von Bahrenkästen, die sie schleppten. Wenn ich so darüber nachdachte, ich hätte auch eine Freifahrt vertragen können. Karyl schien es gut zu gehen, Clarissa und Lucy waren unverletzt. Na gut, damit war ich zufrieden. Sie trieben uns mit ›Hopp-hopp‹ durch den Korridor. »Wohin bringt ihr uns?« fragte meine Frau und deutete auf all die Verwundeten ringsum. »Diese Leute sind verletzt – sie müssen versorgt werden!« Der Führer der Wachen gluckste. »Keine Sorge, Schätzchen, Sie wird der Boss ausreichend versorgen! Und jetzt vorwärts!« Wir erreichten eine Tür, die nur allzu bekannt aussah. Er straffte seine Schultern, und stupste ein paar seiner schlappen Soldaten an, bis sie aufrecht standen. »Nehmt Haltung an, ihr Affen!« Es war natürlich das Büro von Malaise. Der Oberschläger klopfte. Aus dem Augenwinkel sah ich, daß Karyl den Schweißbrenner in seinem Gürtel lockerte. Die Schlitze von Lucys verborgener Waffenkammer wurden langsam breiter. Ich schob eine Hand zum Kragen meines Anzugs hinauf, bereit, nach der Bauer zu greifen. Wenn wir schon dem Verderben ausgeliefert waren, konnten
wir genausogut stilvoll abtreten. Die Tür glitt auf, der Raum dahinter war dunkel. »Komm rein, Captain! Verdammt, wo ist der Lichtschalter?« Rings um uns wurde es unvermittelt hell. Da, an den Schreibtisch gelehnt, stand, mit einem teuflisch wütenden Gesichtsausdruck, der große Herr höchstpersönlich, J. V. Tormount. Seinen Wählern unter dem Namen Olongo Featherstone-Haugh bekannt.
19. Kapitel Die Schafe von den Böcken »Siebenundfünfzig Tote, acht Schwerverletzte, ein halbes Dutzend gehfähiger Verwundeter. Win, wie konntest du das tun?« Olongo wischte sich mit einer Pranke über sein müdes Gesicht und seufzte. »Der Polizist in dir, vermutlich. Einmal Behördenvertreter, immer…« »Was, zum Henker, hast du denn erwartet, langstielige Rosen? Deine Schläger sperren mich ein und lassen mich eine Woche lang hungern, ich will auf ewig verdammt sein, wenn ich nicht bei erster Gelegenheit ein paar von ihnen verbrenne!« Ich schob den Schläger, der mich bewachte, mit dem Ellbogen beiseite und schaute unter den Verband, den Clarissa mir draufgeklatscht hatte. Es sah immer noch aus wie Erdbeerkuchen, und das Dutzend kleiner Pfeile, das in den Muskeln eingebettet war, fing ganz unharmonisch zu pochen an. Olongo fuhr zurück: »Du warst hier GEFANGEN?« Er schwieg lange und sah dann offenbar voll Erstaunen die Situation mit anderen Augen. »Ich würde alles geben, wenn ich das glauben könnte, Win. Aber warum hast du genau auf die Leute geschossen, die dich retten wollten?« »Herr Präsident, ich weiß nicht, wer sich nun über wem wen lustigmacht, aber es wäre mir wirklich verdammt viel lieber, wenn das klargestellt würde. Verflucht, ich dachte, du hättest dich mit den Hamiltonisten zusammengetan. Haben dich deine Gefängniswärter da nicht ›Tormount‹ genannt?« Der Sicherheitschef zog seine Kapuze herunter und machte kampflustig einen Schritt auf mich zu. Ich kam ihm auf halbem Weg entgegen, und wir versuchten zu entscheiden, wer am lautesten mit den Zähnen knirschen konnte. Er gewann, aber ich war schließlich drei Zähne im Nachteil. »Gunny!« befahl Olongo. Jetzt wußte ich auch, warum mir der Hurensohn so bekannt vorkam – es war Gunnison Griswold persönlich. Brrr. »Bring den Leuten ein paar Stühle – und kümmere dich um deine Verletzten! Clarissa, ich habe offensichtlich nicht das Recht, darum zu
bitten, aber würdest du vielleicht mithelfen, meine Liebe?« Sie nickte, nahm ihre Tasche wieder an sich und ging mit der Ortspolizei in den Korridor hinaus. Ich setzte mich und fing an, nach einer Zigarre zu suchen. Olongo schloß die Augen und legte sein breites, schwarzes Gesicht in seine breiten, schwarzen Hände. »Ich bin auch ›Tormount‹! Ein Logenname, Win: Altruistische Schutzenklave für Primaten…« Er breitete seine gewaltigen Arme aus und füllte damit praktisch den Raum. »Die Vorstellung meines verstorbenen Logenmeisters von Humanität.« Lucy, die sich gerade hinauswälzen wollte, um Clarissa zu helfen, blieb in der Tür stehen. »Du solltest mir lieber eine Frage beantworten, alter Anthropoide. Wie bist du an die Föderalisten geraten? Dieses Ungeziefer hatte doch mit nichtmenschlichen Wesen noch nie viel im Sinn, jedenfalls, soviel ich weiß.« Der Präsident schlug mit den Pranken, auf den Schreibtisch, erhob sich und entdeckte, genau wie Malaise, daß man bei einem Hundertstel g nicht auf und ab gehen kann. Schließlich lehnte er seinen massigen Rumpf gegen einen Aktenschrank – einen richtigen diesmal. Der stöhnte, und eine Schublade sprang auf. »Ich weiß kaum, wo ich anfangen soll, meine Freunde. Die Aphrodite GmbH ist so weit von einer hamiltonistischen Verschwörung entfernt, wie man sich nur vorstellen kann: ein vergleichsweise einfacher, technischer Plan – obwohl euch das Ausmaß der Sache vermutlich überraschen würde. Ich habe erst vor kurzem erfahren, daß wir, ohne es zu wissen, zum Aushängeschild für viel dunklere Machenschaften geworden waren. Und deshalb kam ich natürlich hierher, um das zu untersuchen.« »Du auch?« Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich auch!« erwiderte ein wandelnder Stapel von Ausdrucken, der aus einem angrenzenden Raum auftauchte. »Wo sollen die hin, Onkel?« »Koko!« Lucy kam mir zuvor, aber nicht viel. Das pelzige, kleine Kerlchen legte die Kopien auf den Tisch und setzte eine Klammer darüber, um sie festzuhalten, dann rannte sie auf Lucy, und meine Frau zu, um sie nacheinander zu umarmen. Mit dem Urgroßvater aller verlegenen, schuldbewußten Mienen kam sie zurück. »Boss…«
»Nenn mich nicht ›Boss‹! Ich habe dich an dem Tag rausgeschmissen, als du Navigation Rock verlassen hast – in Lucys Flitzer!« War das eine Träne, was da an ihrer ledrigen Wange herunterlief? Vielleicht war es nur der Rauch meiner Zigarre. Sie schnüffelte. »O, Win, ich…« »Hrrhm!« Olongo zauberte sich selbst eine Zigarre hervor, zündete sie mit gezierten Bewegungen an und mißhandelte sie, nachdem er auf diese Weise unsere Aufmerksamkeit erregt hatte, mit einer langen, nachdenklichen Pause. Schließlich: »Mein Junge, sie hat auf meine Bitte hin gehandelt – widerwillig, wenn das ein Trost ist – sie sollte mir herausfinden helfen, was mit unseren Operationen hier schiefgelaufen ist…« ›Schief‹ war nicht ganz das richtige Wort. ›Aphrodite‹ war beinahe zehn Jahre vorher geplant worden, als der damalige Vizepräsident und seine kleine Nichte zufällig auf einer Urlaubsreise durch die Asteroiden waren. Er war eine Zeitlang dortgeblieben, dann ließ er das junge Unternehmen in seiner Meinung nach vertrauenswürdigen Händen, kehrte nur gelegentlich zu Inspektionsbesuchen zurück und kümmerte sich um die geschäftliche Seite zu Hause auf der Erde. Schon ziemlich zu Anfang des Unternehmens hatte Voltaire Malaise Wind davon bekommen. Anstatt es seinen Zuschauern offenzulegen, hatte er darauf bestanden, sich einzukaufen. Im Interesse der Geheimhaltung hatten sich Olongos Partner damit einverstanden erklärt, und außerdem bewunderten sie die Begeisterung des Reporters für die Erforschung des Weltraums. Im Laufe der Zeit nahm die ›Stimme der Sterne‹ eine immer zentralere Rolle ein und wurde praktisch der Leiter der Operationen im Gürtel. Bis vor kurzer Zeit, als schleppende Produktion, Terminverzögerungen und Kostenüberschreitungen und eine Flut von mysteriösen Vermißtenmeldungen im Nomadenhaufen und anderswo Olongo veranlaßt hatten, seine ersten Untersuchungen einzuleiten. Und daraufhin hatten die Verschwörer versucht, ihn per Fernsteuerung auszuschalten. »Und so faßte ich den Entschluß, die Sache persönlich weiterzuver-
folgen. Das hatte auch noch einen anderen Zweck«, gestand Olongo, »ich blieb außer Sicht – und am Leben.« Mit seiner Zigarre in der Hand erinnerte er mich irgendwie an Ernie Kovacs. Nur das Xylophon und der Derbyhut fehlten ihm noch. Ich grunzte. »Und Koko war Ersatzmann – oder vielleicht auch eine Tontaube, so wie ich?« Ich drehte mich um und schaute aus der Tür, wo Clarissa gerade Elektronarkose verabreichte. Sie blickte auf, lächelte und wandte sich sofort wieder ihrer Arbeit zu. Koko kicherte. »Vermutlich von jedem etwas. Onkel Präsident brauchte Ellbogenfreiheit; ich bot mich an, Staub aufzuwirbeln, eine lärmende, sichtbare Ablenkung zu sein während er einfach verschwand. Niemand würde jemals den Verdacht hegen…« »Ich dachte mir doch, daß mir der Invalide bekannt vorkam, der da in letzter Minute an Bord der ›Bonaventura‹ gekarrt wurde, ein älterer Herr mit rötlichem Fell…« »Älterer?« Olongo wirkte gekränkt, dann gab er sich philosophisch. »Na ja, vielleicht war nicht alles von diesen medizinischen Geräten nur Show.« Er blies einen Rauchring. »Die Fahrt war verdammt hart! Ich brauchte mehrere Tage, um mich davon zu erholen, während Koko springen mußte, damit du…« »Dick, dumm und zufrieden warst?« fragte ich versuchsweise. »Gesellschaft hattest«, behauptete der Gorilla, »außerdem mußte sie Botengänge machen, um herauszufinden, was hier auf Bester vorging. Die ›Sonnenfackel‹ der Föderalisten hat diese Aufgabe nicht gerade erleichtert.« Ich musterte meine ehemalige Assistentin. »Du hast vergessen, die Einbrüche zu erwähnen, Onkel Fagin!« Sie wurden beide sichtlich kleiner. Das war das erstemal, daß ich bei einem Gorilla diese Wirkung erzielte. Irgendwie machte es mir Spaß. »Äh – hm…«, äußerte Koko. »Ähem – hrrhm«, fügte Olongo zur Klarstellung hinzu. »Vergeßt es, ihr beiden Gauner. Ich bin schließlich auch selbst dahintergekommen: die russische Attentäterin hat das falsche Medaillon als Köder im Frachtraum fallenlassen. Ich sollte nicht in die Lage kommen,
Gehirnsonden steuern zu können. Eigentlich sollte ich ohnehin nur getötet werden. Aber das verdarb den Hamiltonisten ihre Pläne; ihre Attentäterin mußte danach, wie unwirksam auch immer, ihre vorprogrammierten Gemeinheiten ausführen. Deshalb wurde mein Gepäck geklaut – und deshalb hat Koko auch meine Kabine durchwühlt. Ihr wolltet diese Medaille haben, um sie selbst untersuchen zu können.« Olongo spreizte die Hände. »Wir hatten von der Gehirnsonde gehört, und…« »Ich sagte schon, vergeßt es! Vielleicht hätte ich genauso gehandelt – an eurer Stelle –, aber meinen Freunden hätte ich mich wahrscheinlich anvertraut. Habe ich dir sehr wehgetan, unfähiger Lehrling?« Sie grinste. Anscheinend hatte ihr Patentanzug die Messerwunde recht gut geheilt. Ich tupfte das Blut weg, das unter meinem eigenen, notdürftigen Verband hervorsickerte. »Warum habt ihr so lange gebraucht, um hierher zu kommen? Und wozu der Angriff mit dem ganzen Marinecorps?« Koko schnaubte. »Wir haben drei Verbände geschickt von verschiedenen Registrierungspatrouillen ausgeliehen und alle sind verschwunden. Wir dachten, unser nächstes Unternehmen sollte entweder sehr vorsichtig oder höchst dramatisch sein.« Der Präsident gluckste. »Koko stimmte natürlich für die Dramatik. Danach gibt es nicht mehr sehr viel zu erzählen: Ich wendete eine Menge kostbarer Zeit und Geld dafür auf, eine kleine Armee zu importieren, und nun sind wir hier. Tut mir leid, daß sie schließlich einen leeren Stützpunkt angegriffen haben – und unschuldige Personen – glaubt mir, es tut mir wirklich leid.« Clarissa versorgte den letzten Verwundeten, kam herein und machte sich bei mir an die Arbeit. »Ich würde dir viel bereitwilliger glauben…« »Autsch, Schätzchen! Das tut weh!« »Ich wollte es nicht an dir auslassen, Liebling – viel bereitwilliger, wenn du irgendwann in der letzten halben Stunde einmal erwähnt hättest, was für einen Zweck die ›Aphrodite‹ hier draußen eigentlich wirklich verfolgt.«
Lucy drehte sich um und richtete ihre optischen Flächen auf den großen Primaten. Er sah Koko an, die die Achseln zuckte, dann blickte er wieder zu uns zurück. »Clarissa, Win – und besonders du, Lucy. Ihr wißt, daß ich gegen die Hamiltonisten im Kongreß gekämpft habe, in Uganda, Antarctica und Hawaii. Habt ein wenig Vertrauen zu mir, allein deshalb, wenn schon aus keinem anderen Grund. Wenn ich frei sprechen könnte… Aber es gibt Partner, Aktionäre, Beteiligte, . die sich gegenseitig zum Schweigen verpflichtet haben. Durch ein einziges unvorsichtiges Wort könnten ganze Vermögen verlorengehen…« Ich drückte meine Zigarre aus. »Und das soll wohl heißen, daß du es uns nicht erzählen wirst.« »Genau das will er sagen«, bemerkte Lucy angewidert. »Mein Eddie ist vermißt, überall werden Leute ermordet Olongo, wir hätten etwas Besseres verdient.« Der Gorilla schüttelte lächelnd den Kopf. »Das ist wirklich wahr. Ich werde euch alles vergelten, darauf könnt ihr euch verlassen. Inzwischen lasse ich meine Leute jeden Kubikzentimeter dieses Felsens durchkämmen. Wenn jemand Ed finden kann, werden sie ihn finden. Er ist auch mein Freund, meine Liebe, mein Waffenbruder bei mehr als einer Gelegenheit.« Die Tür glitt auf, und Gunnison Griswold kam hereingerannt. »Chef! Schalten Sie das Telekom ein – Kanal 47 D!« Er wollte stehenbleiben, schlitterte aber um den Schreibtisch herum und wäre beinahe gegen die Wand gekracht. Olongo streckte lässig die Hand aus, richtete ihn auf, als wäre er eine Schachfigur aus Plastik, und projizierte den angegebenen Kanal auf den Wandschirm. »Sektor neun«, sagte eine körperlose Stimme, »bei uns bricht gerade ein Bandit aus, Verweiszeichen B für Bakunin…« »Meteorwache?« fragte ich. Olongo nickte und machte ›Pst!‹ Der Blickpunkt des Telekoms raste nach außen, konzentrierte sich auf einen, winzigen Fleck, der sich zu den Umrissen eines Flitzers aufblähte – eines großen Flitzers, eigentlich mehr ein Bus. »Malaise! Der Schweinehund macht sich aus dem Staub!« Olongo hämmerte auf Knöpfe. »Strengt euch an, macht es funktionsunfähig! Dieses…«
Ein Blitz! Der Weltraumbus verschwand, hinterließ Leere und kleine rote Flecken, die auf unserer Netzhaut tanzten. »Das war ein Penetrator«, sagte ich überflüssigerweise. »Er ist jetzt auf der anderen Seite, wahrscheinlich auf dem Weg zu seiner Flotte.« Und das bedeutete, daß sie noch nicht gestartet waren. »Olongo!« So schnell ich konnte, faßte ich meine Unterhaltung mit dem ›meistgeachteten Verbrecher im System‹ zusammen. »Ihr habt Penetratorgeräte hier, ich habe es gesehen. Gibt es eine Möglichkeit, wie wir…?« Der Gorilla drückte weitere Knöpfe, während wir hinsahen; eine bekannte, fröhliche Stimme meldete sich. Olongo wiederholte, was ich ihm gesagt hatte, und dreißig Sekunden später glitt die Bürotür erneut auf, und eine alte Freundin trat ein. D. J. Thorens. »Hallo, Win, Clarissa, und ist das – Lucy? Olongo, ich werde noch eine Stunde zum Einregulieren brauchen, ehe wir diesem Flitzer folgen können. Wenn man ein stationäres Gerät auf mobile Verwendung umstellen will…« Ein kurzes Wort zu D. J. die noch weniger in ein physikalisches Labor zu gehören scheint als ich nach Haight-Ashbury. Es heißt, sie sei eines der großen Genies der theoretischen Physik dieses Zeitalters, dazu hat sie noch ein ungewöhnliches Talent für angewandte Bastelei, die die ›reinen‹ Wissenschaftler Amerikas so häufig verachten. Ein Blick in diese orchideenfarbenen Augen, und sogar Heisenberg hätte es genau gewußt. Ich liebe meine Frau, aber blind bin ich deshalb noch nicht. D. J. beugte sich über Olongos Schreibtisch und ließ Fakten und Zahlen über einen Telekomschirm rasen. Gelegentlich hielt sie inne, um ihren Leuten, wo immer die sich versteckt hielten, Fragen zu beantworten oder Anweisungen zu geben. Ich saß still da und überlegte wie wild – oder versuchte es wenigstens –, während Clarissa kleine, stählerne Schrotpfeile aus mir herauszog. Umgekehrte Akupunktur. »Autsch!« ›Ping!‹ Nur gut, daß Olongo seine Armee von der Erde mitgebracht hatte; Gunny Griswold und seine Bande waren scharfe… »Autsch!«, aber hier waren sie nicht in ihrem Element. Pfeilgeschosse brauchen eine Atmosphäre für ihre kleinen Stabilisierungsflossen; im
Vakuum waren sie ziellos herumgetaumelt, und deshalb – »Autsch!« – war ich noch am Leben. Ping! Ping! Ping! Mehr oder weniger. Eines der abscheulichen, kleinen Dinger war rückwärts, mit den Flossen zuerst, eingedrungen! »Au!« Dort draußen, unsichtbar, auf der anderen Seite der Realität, parkte irgendwo eine Flotte mit zweihundertdreißig Schiffen. Holten sie vielleicht jetzt gerade Malaise an Bord, für den weiten Sprung zu den Sternen? »Au!« Das hörte sich nicht sehr vernünftig an, denn wie konnte er wissen, ob er nicht – »Au!« – direkt in einem seiner eigenen Schiffe materialisieren würde? Na, das wäre vielleicht eine, Explosion! »Au!« – Mal sehen: Der Asteroid Bester existierte wahrscheinlich auf der anderen Seite ebenso, und… »Autsch! Verdammt, hör mal einen Augenblick auf, Liebling! D. J. könntest du direkt hier einen Penetrator anschmeißen, und zwar schnell?« Mit dem Regiment von Schießwütigen, das Olongo mitgeschleppt hatte, waren wir vielleicht in der Lage, diesen Ausflug der Föderalisten zu verhindern. Sie wandte sich um und sah mich einen Augenblick lang verwirrt an, dann: »Natürlich! Wir haben eine ganze Batterie von Forschungsmaschinen. Kommt runter ins Labor!« Ein paar patentanzugbedeckte Knöchel blitzten auf, ihr Labormantel flatterte, und schon war sie fort. Clarissa strich ein Stück Anzugmaterial über meiner Wunde glatt. Wieder einmal sammelte ich meine Waffen und Freunde ein und folgte der Physikerin. Griswold sah sich nach dem verbundenen, schlafenden Teil seiner Mannschaft um und übernahm dann verärgert die Nachhut. Minuten später, nachdem wir kaum Gelegenheit bekommen hatten, D. J.‘s blitzblankes, neues Labor zu bewundern, trat ich vorsichtig zwischen die Stangen eines gerade eröffneten Penetrators, zurück in mein Heimatuniversum. Auch das hier war natürlich Bester, aber die Vorstellungen der Hamiltonisten von Architektur waren ausgeprägt – und typisch – andere. Ich befand mich mitten in einem großen, scheunenähnlichen Gebäude aus Wellblech, grell erleuchtet, unterteilt wie eine, Exerzierhalle der Nationalgarde am Übungstag für Zivilisten in zahllose Verschlage und Käfige, die unbewohnt und unaussprechlich schmutzig
waren. Ein Atemzug und ich wußte plötzlich genau, wie es in einem Sklavenschiff des 18. Jahrhunderts gerochen haben mußte. Die Tausenden von Gefangenen waren fort, aber sie hatten eine beinahe greifbare Aura des Elends hinterlassen, in das die Föderalisten und ihre Verbündeten sie gestürzt hatten. Und weiterhin stürzen würden, wenn wir ihnen jetzt nicht Einhalt geboten. Jemand mußte getötet werden. Ich hoffte, ich würde die Chance bekommen, es zu tun. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie meine Freunde durch einen geisterhaften Kreis traten, der mitten in der Luft schwebte, als letzte kam D. J. und sie drückte auf einen Handschalter. Der Penetrator schrumpfte zu einem beinahe unsichtbaren Punkt, verschwand aber nicht ganz. Das war wichtig, wenn wir wieder nach Hause zurück wollten. Wir schwärmten durch diese grell erleuchtete Schreckensgalerie aus und waren froh, daß unsere Anzüge ihre eigene Frischluftversorgung hatten. Überall, wohin ich mich wandte, traf ich auf ein Gewirr von blut- und exkrementverkrusteten Stangen, auf verrottende Reste von Essen, das wahrscheinlich von Anfang an schlecht gewesen war, auf herumflitzende, kleine Pelztiere, und da und dort auf die zerfallenden Knochen einer potentiellen Zuchtsklavin, die nicht überlebt hatte. Vielleicht waren das die Glücklicheren. Auf einem Schädel glitzerte wie ein riesiger Blutegel aus Plastik abscheulich das Gehäuse einer Gehirnsonde. Ich erreichte schließlich das Ende der Einzäunung, dort führte eine Tür zu einer Reihe von Gängen. Ich trat ein und… … schaute direkt und verblüfft in die Mündung der größten kleinen Taschenpistole, die ich je gesehen hatte. Kaliber sechzig, und dahinter stand eine höchst vertraute Gestalt. »ED!« Er grinste – mein Grinsen – und ließ den Arm mit der Waffe müde sinken. »Bruder, es tut gut, dein hausbackenes Gesicht wiederzusehen. Ich dachte schon, ich wäre für immer hier gestrandet. Wo ist Lucy?« »Ich, äh…«
»Eddie!« Lucy rollte durch die Tür und walzte mich beinahe nieder. Clarissa kam auch nach, und ich legte den Arm um sie und drehte mich am, damit Ed und Lucy ein wenig für sich sein konnten. Sie würden es brauchen. Olongo tauchte keuchend in unserem Blickfeld auf, und wenn Gorillas blaß aussehen können, dann erlebte ich das jetzt eben. »Ich kann es nicht glauben! Es müssen Tausende gewesen sein…« »Zehntausende«, sagte Ed grimmig. Koko taumelte auf uns zu und schluchzte hemmungslos. Ich spürte, wie sich mir der Magen umdrehte. »Eine Viertelmillion war die Zahl, von der Malaise gesprochen hat. Ed, wie kommt es eigentlich, daß du frei herumläufst?« Ich stand dem Ganzen allmählich seltsam ruhig und distanziert gegenüber; ich wußte, daß ich dafür später würde bezahlen müssen, in Träumen, die monatelang durch meine Nächte geistern würden. »Ich bin schon seit Tagen frei, habe mich in Besenschränken, Speisekammern und Latrinen versteckt – auf einem Gelände dieser Größe und mit einem Patentanzug –, außerdem waren die Gefangenen ja gesteuert, dachte man. Wachen hielt man daher für überflüssig.« Er hielt inne. »Wohin sie gebracht wurden, nun, kommt mit. Ihr werdet es nicht glauben, wenn ich es nur erzähle.« Nach einem langen, komplizierten Marsch kamen wir in einen kleineren, kreisrunden Raum mit einer gewaltigen, generatorähnlichen Apparatur in der Mitte. D. J. untersuchte sie sorgfältig; wir übrigen beachteten sie kaum: draußen vor den wandgroßen Fenstern bot sich der zweiteindrucksvollste Anblick, den ich je erlebt hatte. (Der erste? – Clarissa, als sie durch die zerstörte Tür meiner Zelle kam.) Ein paar Kilometer entfernt schwebte die hamiltonistische Flotte, zweihundertdreißig Metallkugeln, jede vielleicht fünfhundert Meter im Durchmesser. In zahllosen Reihen leuchteten ihre winzigen Bullaugen. Hunderttausend Flitzer standen in einigem Abstand, eine lautlose, leere Masse, als letzter, uns am nächsten, stand Malaises Senderbus in der Reihe. Sie machten gerade die Schotten dicht für einen riesigen Sprung.
»Bezugspunkt!« Bei D. J.‘s plötzlichem Schrei machte ich selbst einen riesigen Sprung und kratzte dann Koko von der niedrigen Decke. »Sie haben das Navigationsproblem gelöst!« »Was?« Ich drehte mich um und sah, wie ihre Hände über die Teufelsmaschine rasten. Blinkende Lampen funkelten vor einer Myriade von Knöpfen und Schaltern; von der Form her sah das Ding ein bißchen so aus wie Lucy in ihrer gegenwärtigen Inkarnation, nur vier- oder fünfmal größer. Es ruhte unter uns auf dem Boden und ragte durch eine vergitterte, kreisrunde Öffnung in den Raum herein. »Seht mal!« belehrte uns die freundliche Physikerin von nebenan. »Das Problem bei der Durchquerung des Kleiner-Knall-Universums ist, daß all seine raumzeitlichen Punkte geometrisch zusammenfallen, daher gibt es keine Möglichkeit, sie auseinanderzuhalten, richtig?« »So hat man es mir auf Ceres erklärt«, antwortete ich. »Und deshalb hat man es auch aufgegeben…« »Nun ja, diese Maschine hier ist der navigatorische Bezugspunkt der Hamiltonisten. Sie erzeugt einen Leitstrahl von Penetratorgeräuschen, die so primitiv und laut sind, daß man sie sogar in einem alternativen Universum als eine Art Kompaß benützen kann. Und so werden sie…« . »Sie fliegen los!« rief Ed. Ich sah es auch, eine schwache, bläuliche Aura hüllte jedes Sternenschiff ein, während es warmlief, als Antwort darauf erfolgte eine blitzende, kriechende Entladung an der Oberfläche der Maschine im Zentrum des… Krawumm! Wamm! Dididididit! Wahrscheinlich kamen wir alle gleichzeitig auf dieselbe Idee. Als der Rauch sich verzogen und ich meine Webley wieder eingesteckt hatte, bemerkte ich, daß Clarissa ihre kleine Kaliber .11 auch verstaute. Ed blinzelte und hörte auf, den Abzug seines gerade geleerten Derringer durchzuziehen. Sogar D. J. hatte eine sich langsam abkühlende Laser in der Hand. Olongo und Koko grüßten sich mit den Läufen ihrer Waffen über die Trümmer des hamiltonistischen Geräts hinweg, und Lucys Darling Schnellfeuerkanone klappte ein wie der Balg einer altmodischen Polaroidkamera. Griswold blies Rauch durch den Lauf seiner .476, senkte den Schieber auf ein frisches Magazin und rammte die Waffe ins Halfter. Selbst er
war zu langsam gewesen; draußen verglomm, wie eine Herde aufflammender Blitzlichtbirnen, die föderalistische Flotte. Koko schaute uns verwirrt an. »Sind sie auch explodiert?« »Nein«, antwortete D. ]. »sie sind zu den Sternen geflogen, genau wie sie es geplant hatten. Nur – nun ja, keines der Schiffe wird dort landen, wo sie es vorhatten. Jedes muß blind springen, immer und immer wieder, bis es einen bewohnbaren Planeten findet, auf dem es sich niederlassen kann. Sie sind über Dutzende von Parsec – und über Tausende von Jahren – willkürlich verstreut und haben keine Möglichkeit, jemals wieder nach Hause zurückzukehren.« »Gütiger Himmel!« schauderte Olongo. »Gut, daß wir sie los sind!« schnaubte Lucy.
20. Kapitel Wollt ihr alle Könige und Captains sein? Jüngster Tag, 224 A.L. D. Nolan Fraser wurde letzte Woche zum Präsidenten gewählt. In der Konföderation ist es zum zweitenmal in diesem Jahrhundert ›Keiner der Obigen‹. Informationsspezialisten an der Emperor Norton Universität haben endlich jene mysteriösen Signale von den Sternen entziffert – mit ein wenig Unterstützung von D. J. und ihrer Paratronikmannschaft: Es war keine sehr große Überraschung, als sie endlich einpenetriert und entzerrt Voltaire Malaise hörten, wie er über die Lichtjahre hinweg um Hilfe wimmerte! Jede Art von HILFE von der Konföderation – oder sonst jemandem – BITTE! Leider ist diese Nachricht schon nicht mehr neu. Er ist inzwischen seit Jahrhunderten tot. Bei interstellaren Entfernungen sind Funkbotschaften berüchtigt langsam. Im System gibt es wissenschaftliche Unternehmer, die auf der Suche nach einem verläßlicheren Sternenantrieb sind, der auf völlig anderen Prinzipien beruht, aber der alte Voltaire wird noch einmal ein paar Jahrhunderte tot sein, bis jemand zu ihm und seiner notdürftigen, ohne Plan errichteten Kolonie von MöchtegernSultanen vordringt. Wenigstens hatte er wirklich eine Chance bekommen, die ›Stimme der Sterne‹ zu sein; an stillen Winterabenden kann man ihn noch immer hören. Er hatte nicht viel Gelegenheit, etwas anderes zu sein, auf keinen Fall ein unsterblicher Gott für hilflose Sklaven und Anbeter. Dafür hatte Ed gesorgt; der fleißigste, kleine Universalschraubenschlüssel, seit FDR die Japse dazu brachte, die Wirtschaftskrise auf die harte Tour zu beenden. Gegen Ende muß es auf Bester draußen ziemlich eng geworden sein – auf jenem anderen Bester in dem Abschnitt des Kosmos, wo ich früher meinen Hut aufgehängt habe. Wo die Föderalisten ihre vom Unglück verfolgte Flotte gebaut hatten. So voll von Haremskandidatinnen mit Gehirnsonden, daß sie den Überschuß – wie auch Lucy und mich
auf Aphroditegelände hatten lagern müssen, diesseits des Penetrators. In dem ganzen Durcheinander des Umzugs hatte Ed sich befreit, dank eines Tricks, den er von mir gelernt hatte: Einer zweiten, versteckten Pistole. Eines Nachts, als man den Galgenvögeln erster Klasse zu essen gab, knallte er ein paar Wärter ab und tauchte unter. Damals litten die Föderalisten unter Arbeitskräftemangel – einer seiner Wärter war früher frankokanadischer Premierminister –, und die elektronischen Zombies verrieten ihn nicht, daher war es für Ed nicht allzu schwer, zuzuschlagen und davonzulaufen und aus dem Hinterhalt heraus immer wieder zuzuschlagen. Nur gut, daß er dabei in Bewegung blieb, denn seine letzte Mahlzeit tötete die vierbeinigen Ratten, die sich darüber hergemacht hatten. Toller Haufen, diese Hamiltonisten! Ed vergeudete die Zeit nicht, die er sich verschafft hatte. Gesprächsfetzen, die er von den Schlägern aufschnappte, genügten ihm, um sich zusammenzureimen, was sehr bald geschehen sollte. Ich bin stolz darauf, daß ich dem Jungen beigebracht habe, unter die Gürtellinie zu schlagen: Er durchsuchte ein Versteck voll altersschwacher Bonbons nach dem anderen, die auf das Verladen warteten: Das, was da war, ersetzte er der Reihe nach durch Zucker, Maissirup, nicht funktionierende, elektronische Geräte – alles, was so ähnlich aussah – die vorhandenen Sachen zerstörte er und spülte sie den Abfluß hinunter. Damals muß es ihm wie eine kleine Rache vorgekommen sein, aber es hatte doch Wirkung. Das gleiche traf für einen anderen Fall geschickter Sabotage zu: Gehirnsonden bezogen ihre Energie aus Guccione-Zellen, genau wie die Taschenlampen und Flitzer der Konföderation. Die Zellen halten gewöhnlich sehr, sehr lange. Aber alle guten Dinge gehen einmal zu Ende (oder müssen wenigstens nachgeladen werden), und wenn die ursprünglichen Energiespender schwach werden, werden die Hamiltonisten entdecken (sie haben es schon entdeckt – es ist ein verrücktes Universum), daß das, was sie für Kisten mit neuen Zellen hielten, in Wirklichkeit die in letzter Minute gesammelten Steine meines Partners sind. Plus Abfälle aus seinem Patentanzug. Ich mag Ed, er erinnert mich so an mich. Sie haben höchstens zwei Jahre. Die winzige Minderheit männlicher
›Götter‹ wird am Ende einem riesengroßen, wütenden Lynchmob aus Frauen gegenüberstehen. Ed konnte nicht verhindern, daß eine Viertelmillion Unschuldiger schanghait wurde, nicht als einzelner – aber er hatte ihnen die Möglichkeit gegeben, die Kontrolle über ihr eigenes Leben wieder an sich zu reißen. Und auf eine Ebene mit ihren Entführern zu kommen. Das ist besser als nichts – und eine ganze Menge besser als das, was Malaise und seine Bande geplant hatten. Und das bringt mich zu der Frage, was wohl in den Jahrhunderten passiert ist, seit Voltaire entdeckte, in welchem. Schlamassel er und seine Komplizen sich befanden. Welche Zivilisationen wachsen nun in den zweihundertdreißig willkürlich angeflogenen Sternsystemen heran, auf denen die zerstreute, verlorene Flotte Zuflucht gefunden hat? D. J. sagte mir, daß einige von ihnen vielleicht in der Zeit nach rückwärts versetzt wurden, bis zu fünf- oder sechstausend Jahren. Andere sind zufällig in die Zukunft geraten, und die wird es genauso lange noch nicht einmal geben. Unheimlich. Wenn es nur Konföderierte gewesen wären, hätte ich kaum Zweifel, daß sie inzwischen blühende, aggressiv-progressive, anarchistische Gemeinwesen geschaffen hätten. Aber die Frauen stammen hauptsächlich aus den Vereinigten Staaten und aus anderen Ländern meiner Heimatwelt, genauso wie die Masse der Bürokraten und Diktatoren, die immer davon träumten, Welten zu besitzen. Die wenigen Individuen von dieser Seite der Wirklichkeit die Hamiltonisten – sind philosophisch rückständig. Fünftausend Jahre. Das ist eine lange Zeit für Aufstieg und Fall vieler pervertierter, totalitärer Kulturen nacheinander. Die meisten von ihnen werden – allmählich oder auf einen Schlag – die Macht über genau die Technologie verlieren, die sie zu den Sternen brachte. Vielleicht ist mehr als eine Welt schon jetzt eine radioaktive Ruine, während man sich auf anderen durch eine neue Steinzeit kämpft. Eines Tages werden wir hinausgehen und nachsehen. Aber wir brauchen bessere Möglichkeiten, um hinzukommen, und inzwischen haben wir noch andere Sachen vor. D. J. hat uns mit anderen, verrückten und wunderbaren Plänen einen Floh ins Ohr gesetzt, seit-
dem Olongo uns endlich aufgefordert hat, wir sollten uns selbst ansehen, worum es bei der Aphrodite GmbH wirklich ging. Das machte eine weitere Fahrt mit einem Raumschiff erforderlich, mit der weniger luxuriösen, aber (dank der höchst selektiven Passagierliste) geräumigeren ›Unbeugsamer Geist‹. »Bist du sicher, daß du jetzt alles dabei hast. Liebste?« Als wir das letztemal ihre Verwandten in Antarctica besucht hatten, hatte sie die Windeln vergessen. Es war subjektiv gesehen ein sehr langer Flug gewesen, bis wir in Marie Byrd Land eine Drogerie gefunden hatten. »Das kann ich nie wieder gutmachen, nicht wahr?« Sie lächelte widerlich süß, schloß den Koffer und wandte sich um, um Lucille zuzusehen, die sich aus Leibeskräften bemühte, die Bettdecke samt den kleinen Chenillekugeln ratzekahl aufzuessen. »Vergiß es, Schätzchen! Mir kommen Ferien immer wie Arbeit vor, besonders mit unserer kleinen Freundin hier.« Ich nahm meine hübsche Frau in die Arme und drückte sie an mich, plötzlich bedauerte ich es, daß wir schon so bald aufbrechen mußten. »Das wird sicher eine ganz tolle Reise für sie – etwas, das sie ihren Enkeln erzählen kann.« Ich ließ Clarissa los, zündete mir eine Zigarre an und drehte dann die Schlafzimmerventilatoren auf, um Lucilles winzige, brandneue Lungen zu schonen – die Garantie war noch kaum abgelaufen, schien mir irgendwie eine Schande, sie kaputtzumachen. Lucille strampelte mit ihren nackten, kleinen Beinchen, kicherte und sabberte idiotisch. Die Türklingel fragte, ob wir Besucher erwarteten, also ging ich hinunter und öffnete. Es war Ed, sein hochaufgepackter, gemieteter Studebaker vibrierte hinter ihm auf der Auffahrt. Und darin saß wartend… »Lucy? Soll das heißen, daß wir dich nicht mehr im Krankenhaus zu besuchen brauchen? Ich hatte den Geruch nach Desinfektionsmitteln allmählich ganz schön satt.« »Und das sagt er mir jetzt.« Ein schlankes, nicht direkt hübsches, dunkelhaariges Mädchen stieg vom Fahrersitz, strich den Rock über den Stiefelschäften glatt und rannte über die gummibelegte Auffahrt auf mich zu. Sie packte mich so fest um den Hals, daß sie mich fast zerquetschte, und küßte mich auf beide Backen. »Soviel zu den Formalitä-
ten, Winnie – und jetzt steh nicht rum und guck dumm aus der Wäsche, ich will mein Patenkind sehen!« Sie stürzte durch die Tür und hinauf ins Schlafzimmer. Ich fuhr mir verlegen mit der Zunge über die geklonten Schneidezähne, die Clarissa mir vor einigen Monaten eingepflanzt hatte und. stellte mir schaudernd vor, was für ein Leben ›betagte Krüppel‹ wie Lucy und ich oder eine Milliarde anderer in der Sorte von Paradies führen würden, die Malaise gewollt hatte. Wie der Mann gesagt hatte: häßlich, tierisch und kurz. Ed grinste, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und rieb sich die Nase, eine Geste, die ich verblüfft als meine eigene erkannte. »Weißt du, wie sehr sie sich gefreut hat, als ihr eure Einzige nach ihr benannt habt?« »Wie könnte es anders sein? Schließlich ist Lucy Ehrengroßmama!« »Und das heißt, ich bin zufällig Lucilles Onkel und gleichzeitig ihr Ehrengroßvater. Hört sich an wie Inzest. Na ja, Lucy sieht vielleicht jetzt nicht mehr so aus, aber sie hat wenigstens das richtige Alter für diese Aufgabe. Ich bin erst sechzig – ich fühle mich wirklich nicht wie ein Opa.« »Mal sehen – sie ist jetzt ungefähr doppelt so alt wie du. Wenn du 160 bist, ist sie erst 250 – du holst auf, langsam, aber stetig.« Er lachte. »Weißt du, was sie mit ihrem brandneuen Körper als erstes angestellt hat? Sie ist mit mir zum Surfen in die klimatisierte Zone in der Davis-Meerenge gefahren. Siebzehn Knochen hat sie sich gebrochen. Nur gut, daß sie nicht jünger ist – ich kann schon jetzt nicht mit ihr Schritt halten!« Wir folgten ihr gemächlicher in den zweiten Stock, wo Clarissa inzwischen anscheinend mit dem Packen fertig war. »Na, Liebes, bist du bereit für die nächste, interplanetarische Reise?« »Wenn wir diesmal zusammen fahren.« Sie blickte auf unsere Tochter hinunter und runzelte die Stirn. »UND wenn ich sie gewickelt habe – schon wieder. Du warst doch derjenige, der darauf bestanden hat, alle Windeln einzupacken, nicht wahr?«
Hier und jetzt möchte ich Sie warnen, daß der Sex im freien Fall stark überschätzt wird. Und eine ziemlich unsaubere Angelegenheit ist. Wenn die Zeitberechnung nicht stimmt, findet man sich gerade im Augenblick des Höhepunkts möglicherweise an gegenüberliegenden Seiten des Raumes wieder. Glücklicherweise verbrachten wir den größten Teil der nächsten dreißig Tage bei ständigem Schub, und dabei bleiben Dinge wie Frauen – und schmutzige Windeln – mehr oder weniger dort, wo man sie hinlegt. Unsere Reise endete an einem Satz Plastikhalteschlingen, die in den polarisierten Fenstern eines Schrottplatzes in einer Umlaufbahn hingen, wo die ›Unbeugsamer Geist‹ uns abgesetzt hatte – ehe sie klugerweise weiter nach draußen flog. Ich wußte nicht, was mir schwerer fiel, mich daran zu gewöhnen, daß Lucy wieder eine gesunde, junge Frau war, oder zu sehen, wie meine kleine Tochter ihren ersten Patentanzug trug. Wenigstens wurde dadurch das Wickelproblem gelöst, das, ich sagte es schon, bei Schwerelosigkeit nicht ganz ohne Bedeutung ist. Bis sie alt und intelligent genug war, um die Steuerung ihres Anzugs selbst zu übernehmen, würden sich die Knöpfe dafür auf ihrem Rücken befinden. Inzwischen versuchte ich mir auszurechnen, ob es auf der Erde wohl einen Markt für computergesteuerte Gummiwindeln gab. Und ich fragte mich auch, ob, schon jemand daran gedacht hat, Patentanzüge für Katzen herzustellen. Beinahe genauso schwierig war es, sich an die Aussicht vor diesen Fenstern zu gewöhnen. Wenn jemand vor fünfzehn Jahren einem gewissen, überarbeiteten und müden Bullen in Denver erzählt hätte, daß er eines Tages so etwas sehen würde, hätte ich mir direkt einen Herzinfarkt angelacht. Nun, hier war es, eine flaumige Baumwollkugel, viel zu hell, um sie ansehen zu können, ohne das Fenster zu verdunkeln. Durch das stark getönte Plastik sah es aus, als befände sich die Welt unter uns in einer sternenlosen Leere. Die Sonne war auf der anderen Seite der Station, und einen Mond hatte es hier nie gegeben. Bis vor kurzem. Ich hörte hinter mir eine Tür aufzischen und schwang gerade rechtzeitig an meiner Halteschlinge herum, um zu sehen, wie Ooloorie, dicht gefolgt von
ihrer Partnerin, das Beobachtungsdeck betrat. »Nun, ihr Landwesen mit dem feinen Fell«, sagte der Tümmler, hüpfte anderthalb Meter vor dem Gitter auf und ab und flatterte dabei immer mit seinem im Anzug steckenden Schwanz, um diese Position zu halten, »wie gefällt euch mein Planet hier draußen?« Ihre Bauchflügelräder flüsterten kurz: Sie schwebte zu den Fenstern und griff mit einer am Anzug befestigten Greifzange nach einer Halteschlinge, um sich festzuhalten. D. J. grinste. »Nach neunundzwanzig Monaten in der Umlaufbahn hält sie sich jetzt für den Besitzer.« »In der Tat, aufmüpfiges Kalb, gehören mir volle 54 Prozent davon, ein mündelsicheres Wertpapier, todsicher und potentiell recht lukrativ. Genau wie deine Aktie, meine Liebe.« Die menschliche Physikerin grinste wieder, diesmal zu mir hin. »Soviel ich höre, hat Olongo auch dir ein bißchen Gewinn zugeschanzt.« »Ein Zehntel Prozent für jeden von uns, vorausgesetzt, dieses lächerliche Projekt funktioniert planmäßig.« Ich wußte noch immer nicht, wofür wir eigentlich belohnt werden sollten. Das Böse hat im allgemeinen die Angewohnheit, sich selbst zu vernichten – obwohl es nie schadet, ihm dabei ein wenig zu helfen. »Ich persönlich bin nicht sicher, ob diese Gegend sehr gesund ist, oder?« Selbst aus einer Entfernung von drei Viertel Millionen Kilometern wirkte der Planet zu groß und zu gefährlich, wie eine Zeitbombe. »Feigheit von meinem Höchsten Chefguru?« Koko kam wie ein Querschläger hinter ihrem Onkel ins Zimmer, auf ihrem Kopf thronte eine flotte Seglerkappe. »Einfache Vorsicht, o Vormals Gefeuerter Laufbursche, das ist ein gefährliches Spielzeug dort unten.« »Bei weitem nicht so gefährlich«, bemerkte Lucy, »wie das Spielzeug, das da unterwegs ist. Ich wünschte wirklich, du hättest uns früher etwas gesagt, du Anthropoider Primat (verdammt, jetzt habt ihr mich auch noch so weit gebracht!). Ich hätte gerne nachgeprüft, ob ihr auch rechnen könnt.«
Der Ex-Präsident deutete mit seinem kurzen Finger auf die Physiker: »Ob SIE noch rechnen können, äh… Deshalb hat sich doch Ooloorie so lange hier aufgehalten, um sicherzustellen, daß wir jede Bewegung, jede Kraft und jeden Vektor eindeutig bestimmt hatten. Folglich werden wir in annähernd… dreiundzwanzig Minuten alle um mehrere Milliarden Unzen reicher sein – eine erfreuliche Aussicht, und eine, so denke ich, die eines Trankopfers würdig ist – was meinst du, Koko?« »Nicht mein Bereich, Gewesener Onkel, ich bin jetzt ein Lauschohr.« »Schnüffelnase heißt das, Koko, und ICH hole den Champagner, einverstanden?« »Du bist der Boss, Boss.« Verwirrt untersuchte sie ihren Gesichtsvorsprung. »Und auch der Kellner, wie es scheint. Wollen alle was zu trinken?« Begeistertes Nicken, sogar von der Abgesandten der Cetaceen. Das mußte interessant werden. Lucille lallte und fing ebenfalls an zu nicken. »Sie kriegt die alkoholischen Neigungen ihres Papas«, steuerte Clarissa bei. Ich streckte ihr die Zunge heraus und fing vorsichtig an, Kicherwasser von einem Hahn in der Wand abzufüllen. Andere Besatzungsmitglieder kamen dazu, und die Beobachtungshalle begann sich zu füllen, während die Champagnersäckchen schnell geleert und wieder nachgeschenkt wurden. Noch fünf Minuten bis Zero. Beschleunigungsalarm dröhnte durch die Station, als sie sich sanft vom Planeten zurückzog. Aus den Fenstern wurden Fußböden, was meine Höhenangst ein wenig reizte, aber ich konnte trotzdem nicht anders, ich mußte zwischen meinen Füßen hinabstarren. Plötzlich gesellte sich zu der einsamen Kugel dort unten ein Eindringling, der aus dem Nichts heranschoß – aber wir alle wußten, von wo er vor Monaten aufgebrochen war. Nun näherte sich der Asteroid Bester, von tobenden, materievernichtenden Riesenpenetratoren an seinem ›Heck‹ angetrieben, mit einem sorgfältig berechneten Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit schnell der Venus. Venus: eine Welt, die der Hölle befriedigenderweise so nahe kommt wie nur möglich. Der ungastlichste, trostloseste, nutzloseste, unmög-
lichste Planet im System. Venus: von der Masse her annähernd so groß wie die Erde, wahrscheinlich ziemlich genauso groß wie der ursprüngliche Körper, der zum Asteroiden Bester (bzw. der niemals ganz ein Planet) wurde, potentiell die gleiche Goldmine, hundertmal so ergiebig. Bester schwoll auf, während er näherkam; er war nicht mehr bewohnt, nur noch von den Mechanismen, die ihn auf Kurs hielten; die grellen, pulsierenden Antriebe verbrauchten immer noch Masse, obwohl sie den Asteroiden schon fast zur Hälfte verschlungen hatten. Mit majestätischer, unerbittlicher Grazie stürzte er in den Planeten hinein. Noch durch die Wolken sahen wir, wie sich die Kruste nach oben wölbte, Magma ausspie und mit einer Geschwindigkeit nach außen gesprengt wurde, die ausreichte, die Fragmente des wertlosen Planeten entlang seiner Umlaufbahn zu verstreuen; dort kühlten sie sich langsam ab und wurden hart. Ein zweiter Asteroidengürtel, einer, der seinen Reichtum nicht verschwenderisch an irgendwelche Ausbeuter von den Monden und von anderen Planeten verläppern oder ihn achtlos zu den Sternen schleudern würde. Dort draußen irgendwo garantierten tausend frisierte, gehärtete kleine Kampfflitzer, Olongos ›Schutzpatrouille‹ – ein unfreiwilliges Abschiedsgeschenk der Hamiltonisten –, daß nicht das Territorium irgendwelcher anderer Lebewesen beschossen wurde. Sonst würden die Prozesse allen Gewinn aufzehren, den dieses Unternehmen vielleicht während der nächsten paar tausend Jahre einbrachte. Koko hatte mit der Schwadron mitfliegen wollen – bis Lucy ihr erklärte, daß man AS auf verschiedene Weise buchstabieren und aussprechen kann. »Hört zu, ihr Burschen!« Ich brach das ehrfurchtsvolle Schweigen an Bord der Außenstation. »Ich wollte vorher nicht fragen, aber… na ja, wird dieses Unternehmen nicht die ganze Schwerkraftbalance des Sonnensystems überschwappen lassen oder so?« »Ach, das«, murmelte Lucy. »Willst du, daß wir in dreifacher Ausfertigung Formulare über geschätzte Wirkungen einreichen? Die einzigen Leute, die sich für diese Art von Zeremoniell interessieren, sind mit Malaise gegangen!« »Aber du mußt doch zugeben«, beharrte ich, »daß es ein verdammter
Schlag für die ganze Umgebung war!« Draußen schwoll die Venus zu einer Wolke glühenden Abfalls auf wie eine Trillion Tonnen Popcorn, die in einer atomaren Explosion gezündet wurden. Oder, wie mir plötzlich einfiel, wie jene Zeitrafferfotos von einer Kugel, die mit hoher Geschwindigkeit auf eine Orange trifft, Remington hat sie einmal veröffentlicht. Platsch. Und drei Zehntel eines Prozents davon (Olongo hatte auf einem verspäteten Geschenk zu Lucilles Geburt bestanden) gehörten meiner Familie. Na ja, überlassen wir die Sterne noch ein Weilchen den Autoritären. Beide Systeme waren froh, sie los zu sein; zu Hause würde sich der Fortschritt der Freiheit tausendfach – millionenfach – beschleunigen, wenn sie ihm nicht mehr im Weg standen und allen im Nacken saßen. Inzwischen hatten wir die Gürtel, eine halbe Million kleiner Welten gegenüber den zweihundertdreißig von Malaise. Lucy betrachtete die Wagnerszene dort unten – oder vielleicht ist ›kryptonisch‹ eine bessere Beschreibung. »Ich sag dir was, Winnie. Bring deine Familie wieder zum alten Gürtel raus, solange sich hier unten alles abkühlt! Planeten sind ein alter Hut. Verdammt, wir könnten die Erde genausogut schließlich ist sie eine Wasserwelt! – den Tümmlern überlassen!« »O nein, so nicht!« Ooloorie gluckste. »Hast du denn vergessen, wie alles anfing? Die Cetaceen haben nach den Sternen gegriffen, weil ihr Dreckbeutel unseren Lebensraum immer mehr versaut habt. Nein, ihr werdet uns nicht an einem Gebrauchtplaneten aus zweiter Hand festbinden. Außerdem sind wir dafür gebaut, im freien Fall zu leben.« Ich spritzte ein bißchen Champagner aus meinem Säckchen, spülte mir den Mund damit aus und schluckte ihn dann hinunter. »Du hast meine Frage noch immer nicht beantwortet: Bringen wir nicht das ganze Sonnensystem durcheinander?« Sie drehte sich um und sah mich an. »Na ja, wenn es dir dann besser geht, Bübchen: Mr. Tormount da drüben hat mich jetzt endlich als Ingenieur eingestellt. Im nächsten Jahr werden wir, nur um das Gleichgewicht wiederherzustellen, den Neptun hochjagen!« Neptun? Na, dann erhöht mal den Einsatz: Ungefähr eine Million kleiner Welten, für jeden Mann, jede Frau, jedes Kind – gleich von wel-
cher Gattung –, die eine wollen. Ich überlegte, wie es mir wohl gefallen würde, Herrscher über meinen eigenen Kleinplaneten zu sein. Die Konservationisten – wie wenigen, die nicht mit Malaise gegangen waren – würden nicht begeistert davon sein. Sobald sie es herausfanden: Komisch, wenn man dachte, daß man hier draußen nur durch einen Penetrator zu treten brauchte, und gleich würde wieder ein massiver, nutzloser Planet ins Dasein gerufen. Aber verdammt, alles Leben hat Auswirkungen auf die Umgebung, einfach dadurch, daß es ist. Die Intelligenz manipuliert ihre Umgebung absichtlich, nicht umgekehrt. Die Ehrlichs, Commoners, Naders und Goffmans sind zwar anderer Meinung, aber wenn man das nicht tut, verzichtet man darauf, ein empfindendes Wesen zu sein. Wenn man dies denunziert, verzichtet man auf Intelligenz. Und das hatten sie, wie ich vermute, die ganze Zeit im Sinn. Zum Teufel mit ihnen! Sollen sie doch im Dunkeln erfrieren, die Schweinehunde! Meine Tochter wollte hinunter, um das hübsche Feuerwerk zu sehen. Clarissa setzte sie sanft auf den durchsichtigen Boden. Sie streckte die Hand aus und versuchte, die glitzernden Bruchstücke zu fassen. Sie würde es erst in ein paar Jahren erfahren, aber sie gehörten ihr schon jetzt.
Anhang
Kurzer historischer Abriß des Gallatin-Universums* Im Jahre 1796 C.Z.** beantragte der erfinderische Thomas Jefferson einen neuen Kalender, der auf Gallatins Anregung hin 1776 als das ›Jahr Null‹ festsetzte. Daten, die vor der Unabhängigkeitserklärung liegen, werden weiterhin wie früher gezählt, gefolgt von ›C.Z.‹, wo angebracht auch von ›v. Chr.‹ 100 Erdenjahre entsprechen auf Sodde Lydfe 116, auf Vespucci 132 Jahren. Wissenschaftler seien gewarnt: Es entstehen Mehrdeutigkeiten bei der Katalogisierung von Ereignissen in alternativen Zeitlinien (es gibt offenbar nur eine Konföderation, dagegen sind einige Varianten der Vereinigten Staaten bekannt), auf verschiedenen Planeten oder in Fällen, wo der Verdacht besteht, daß Zeitreisen eine Rolle spielten. Zeit ca. 3001 v. Chr.
ca. 948 v. Chr. ca. 499 v. Chr.
Ereignisse Erfindung der sumerischen Keilschrift; Berichte von Haushunden in Ägypten überliefert; Yamaguchi W523 verläßt Hauptzeitlinie; verirrte Hamiltonisten gründen Kolonie auf Sca. Salomon baut Jahve-Tempel in Jerusalem; Attika von athenischen Königen geeint; verirrte Hamiltonisten gründen Kolonie auf Obsidia. Perikles geboren; Tarquinius Superbus von röm. Revolutionären besiegt; verirrte Hamiltonisten gründen Kolonie auf Vespucci.
Zusammengestellt aus der Enzyklopädie von Nord-Amerika, TerraNovaCom Kanal 485-A von Edward William Bear aus Denver, mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber. ** C.Z. = Christliche Zeitrechnung *
ca. 159 v. Chr.
0 345 1592 1732 1743 1757 1761 1776
A.L. 0 7
C.Z. 1776 1783
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1787
3.Periode der chinesischen Literatur; in Rom Erfindung der Wasseruhr; verirrte Hamiltonisten gründen Kolonie auf Hoand; auf Sodde Lydfe beginnt mit dem Tod der Gemarterten Dreiheit die geschichtlich belegte Zivilisation. Beginn der Christlichen Zeitrechnung (C.Z.) Nach Konstantins Tod setzt Verfall des Römischen Reiches ein; auf Sodde Lydfe gründet Neoned der Aggressor Groß Foddu. Nobunaga-Periode; Japan ›gibt das Gewehr auf‹; ›OMA 789 George Herbert‹ von Zeitbanditen in Tokio entführt. George Washington in Virginia geboren. Thomas Jefferson in Virginia geboren. Alexander Hamilton auf den Westindischen Inseln geboren. Albert Gallatin in der Schweiz geboren. Beginn der neuen Zeitrechnung (A.L.*) im GallatinUniversum. Ereignisse Beginn des Unabhängigkeitskrieges (Revolution)**. Vertrag von Paris (3. September); Ende des Unabhängigkeitskrieges (Revolution). Föderalisten unter Führung von Hamilton, Jay und Madison treffen sich in Philadelphia, stimmen illegalerweise einer neuen ›Verfassung‹ zu, die eine starke Zentralregierung schafft.
A.L. = anno libertatis (Jahr [nach] der Befreiung) In den USA wird der Unabhängigkeitskrieg gegen England als ›Revolution‹ bezeichnet. – Anm. d. Hrsg.
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Ratifizierung durch den neunten und letzten notwendigen Staat (New Hampshire). Verfassung in Kraft; Hamilton Finanzminister unter George Washington. Hamiltons Verbrauchssteuer bewilligt; wütende Farmer aus Pennsylvania versammeln sich in Brownsville und leiten Gegenschlag ein. In Pittsburgh Versammlung der gegen die Steuern eingestellten Kräfte; Washington verkündet Warnung; Farmer teeren und federn Steuereinnehmer. ABZWEIGUNG DES GALLATIN-UNIVERSUMS VON ›UNSEREM‹ USA-UNIVERSUM. 15.000 Mann Bundestruppen gegen Farmer eingesetzt; Albert Gallatin schließt sich der Rebellion an; Washington in Philadelphia standrechtlich erschossen; Verfassung für ungültig erklärt; Gallatin zum Präsidenten ausgerufen; Hamilton verschwindet. Geschäftsführende Regierung gebildet; Gallatin ruft allgemeine Amnestie aus; alle Steuern wieder abgeschafft; Föderalisten und Tories bekommen Eigentum und Rechte zurück. Gallatin vom Kongreß bestätigt; verlangt neutrale Haltung zwischen England und Frankreich, humane Indianerpolitik und Revision der ›Artikel‹. Neue ›Artikel‹ ratifiziert; Betonung auf bürgerlichen Rechten und Wirtschaftsrechten; Landurkunden für Nordwestgebiete tilgen Kriegsschulden; ansonsten ist es den Regierungen verboten, Geld zu prägen oder zu drucken. Gallatin wiedergewählt (zweite Amtszeit); Maße und Gewichte nach Jefferson eingeführt. Gallatin und Monroe vereinbaren Erwerb von Louisiana, borgen von privaten Geldgebern gegen Grundbesitz.
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Gallatin wiedergewählt (dritte Amtszeit); Hamilton in einem Duell in Preußen getötet; Stevens erfindet Dampfschiff. England versucht, Schiffsverkehr einzuschränken; Gallatin beauftragt Freibeuter, amerikanische Schiffe zu beschützen. Franzosen verteidigen Seerechte der Amerikaner; Chesapeake vertreibt britische Kriegsschiffe; Forsyth erfindet System der Aufschlagszündung für Feuerwaffen; Engländer ächten Sklavenhandel; Jefferson beginnt Kreuzzug gegen Sklaverei. Hunderte von britischen Schiffen durch amerikanische Privatmarinetruppen gekapert oder versenkt, Tausende von englischen Seeleuten desertieren; erstes hochseetüchtiges Dampfschiff ›Confederation‹ (Stevens) versenkt britisches Kriegsschiff; Gallatin wiedergewählt (vierte Amtszeit). Jefferson bei Attentatsversuch verwundet, tötet Attentäter. Gallatin verkündet seinen Rücktritt; Edmond Genet zum Präsidenten gewählt. Klage der Freibeuterliga stürzt die Doktrin der Immunität von Souveränen. Gallatin veröffentlicht ›Prinzipien der Freiheit‹, systematische Behandlung der philosophischen Schriften von Paine und Jefferson. Freibeuteradmiral Jean Lafitte prangert öffentlich Sklaverei an. Geriet wiedergewählt (zweite Amtszeit); beantragt Abschaffung der Sklaverei; Entschädigung der Sklaven durch Landschenkungen im Westen. Sklaverei für alle nach A.L. 44 geborenen Kinder abgeschafft.
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Gallatin veröffentlicht ›Regel der Vernunft‹, tritt darin für nicht bindende, voluntaristische Gesetzgebung ein; in England glaubt man, Explosion im Parlament am Guy Fawkes Day sei durch Gallatins Werke heraufbeschworen; britische Regierung gestürzt. Collier-Shaw-Revolver mit Aufschlagzünder; Patentsystem bricht unter Gallatins Kritik an der Durchsetzung von Monopolen durch die Regierung zusammen. Jefferson zum Präsidenten gewählt; Sklaverei völlig abgeschafft; Jefferson weist öffentlich Angebot zurück, Präsident auf Lebenszeit zu werden, droht mit Rücktritt. Mexiko garantiert amerikanischen Siedlern Land in Texas. Monroe entwirft ›Jeffersondoktrin‹: politischer Isolationismus; Abschaffung von Handelsbeschränkungen; moralische Unterstützung für Kolonien, die ›Grundrecht‹ auf Abfall vom Mutterland geltend machen. Jefferson wiedergewählt (zweite Amtszeit); Verbrennungsmotor erfunden, erste mechanische Rechenmaschinen; anderswo Gründung der Republik Vespucci. Jefferson stirbt im Amt; Monroe übernimmt Präsidentschaft. Monroe gewählt. Erste Dampfeisenbahn (Philadelphia). Monroe stirbt im Amt; John C. Calhoun übernimmt Präsidentschaft. Calhoun gewählt; Nathan Turner erster schwarzer Abgeordneter im Kongreß; England experimentiert mit gallatinistischem Gesetzgebungssystem; Calhouns neue Indianerpolitik von Gallatin angeprangert.
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England schafft Sklaverei ab, Irland davon ausgenommen; englische Regierung stürzt. Colt entwickelt doppelläufigen Revolver; in Georgia Gold gefunden. Gallatin kehrt zurück und besiegt Calhoun; Texaner erklären sich unabhängig; Santa Anna bei San Antonio besiegt und getötet. Philip und Joseph Webley errichten in Birmingham, Alabama, Feuerwaffenmanufaktur. Gallatin tritt wieder zurück; Sequoyah Guess zum Präsidenten gewählt. Mexiko erklärt Alten Vereinigten Staaten sowie Republik Texas den Krieg. US-Streitkräfte in Mexiko; Sequoyahs Gallatin›Lesung‹ in Buena Vista löst massive Desertionen bei den Mexikanern aus; Mexiko City ergibt sich; Sequoyah von Heckenschützen getötet; Osceola übernimmt Präsidentschaft. Osceola gewählt; Trapper Antoine Janis steckt in ›Colona‹ am Cache la Poudre einen Claim ab. Jonathan Brownings Waffenfirma in Nauvoo, Illinois, gegründet. Revolution in Kalifornien; Hamiltonistische ›Republik‹ unter ›Kaiser‹ Joshua Norton ausgerufen. Erste geschlossene Revolverpatronen. Goldfunde in Kalifornien; in ganz Europa gallatinistische Aufstände; Jefferson Davis zum Präsidenten gewählt. Gallatinistische Revolution in Kanada. Gallatinistische Revolutionen in Mexiko und China. Nachricht von Pogromen gegen Gallatinisten in Kalifornien; Klimaanlage erfunden; Lucille Gallegos in San Antonio geboren.
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Albert Gallatin stirbt; weltweite Trauerfeiern, Gerüchte von Freudenfesten in Preußen und Kalifornien; Gifford Swansea zum Präsidenten gewählt. Erstes Dampfschiff ganz aus Stahl überquert Atlantik. Arthur Downing zum Präsidenten gewählt. Gallatinistischer Aufstand in Indien niedergeschlagen; englische Regierung stürzt. Gemeinsames Thesenpapier zur Evolution von Darwin und Wallace. Downing stirbt im Amt; Präsidentin Harriet Beecher befürwortet Alkoholverbot; John Provost, Antoine Janis, zwei Brüder und ihre indianischen Frauen gründen Stadtfirma in Colona. Lysander Spooner zum Präsidenten gewählt; gallatinistische Aufstände in italienischen Staaten; chinesische Gallatinisten stürzen Hamiltonisten in Kalifornien. Große Nordpazifische Eisenbahn nimmt transkontinentalen Betrieb auf, eröffnet Nebenstrecke in Republik Kalifornien hinein. Siedlung Colona in ›Laporte‹ umbenannt. Spooner wiedergewählt (zweite Amtszeit); automatische Pistole von Moray erfunden. Schauspieler John Wilkes Booth von unbekanntem Rechtsanwalt aus Illinois ermordet. Mexiko und Vereinigte Staaten verhandeln über Konföderation. Elisha Gray erfindet Telefon; rauchloses Schießpulver; Alaska von texanischem Konsortium erworben. Spooner wiedergewählt (dritte Amtszeit); beantragt gallatinistische Gesetzgebung in Vereinigten, Staaten;
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Fernmeldesystem von Atlanta nach Philadelphia eingerichtet. Aufgrund eines Rechtsstreits Wahlrecht für Frauen eingeführt; gallatinistische Gesetzgebung angenommen, ›Artikel‹ revidiert. Großbrand in Chicago; offizielle Erklärung in der Presse verlacht, Vorläufer von Griswoods Sicherheitsdienst gegründet. Brrr. Spooner wiedergewählt (vierte Amtszeit). Erste elektrische Straßenbahn (Chicago). Hundertjahrfeier; riesige ›Gallatinstatue‹ in Lake Michigan aufgestellt; Spooner wiedergewählt (fünfte Amtszeit). Thorneycroft erfindet Luftkissenfahrzeug; A. G. Bell erfindet mechanischen Kehlkopf für Schimpansen. ›Manhattankrieg‹ zwischen privaten Schutzfirmen. Admiral/General Wm. Lendrum Mitchell in USVariante und in Konföderation geboren. Spooner tritt zurück; Jean-Baptiste Huang zum Präsidenten gewählt. ›Bewegliche Bilder‹ werden populär; Huang wird wiedergewählt (zweite Amtszeit). Kanada schließt sich Verhandlungen zwischen Vereinigten Staaten und Mexiko an. Geronimo, Nationalmexikaner, wird erster Abgeordneter im Kongreß, der andere, aber nicht sich selber vertritt; erstes drahtloses Telefon; Wahlrecht für Primaten. Großer Blizzard im Osten; erste elektrisch beheizte Straßen (Edison); Frederick Douglass zum Präsidenten gewählt.
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Erste transatlantische Funkverbindung überträgt Wetten bei amerikanischen Pferderennen; Manfred von Richthofen (J. J. Madison) in Schlesien geboren. Benjamin Tucker zum Präsidenten gewählt. Konföderation von Nord-Amerika schließt Alaska, Kalifornien, Kanada, Mexiko, Neufundland, Alte Vereinigte Staaten und Texas ein. Erster motorisierter Schwerer-als-Luft-Flug (Lilienthal); britische Gallatinisten beantragen Konföderation mit NordAmerika; britische Regierung stürzt. Tucker wiedergewählt (zweite Amtszeit); Erfindung des lenkbaren Luftschiffes. Captain Forsyth in Oklahoma City, N.A.K. geboren. Hauptstadt in die Mitte des Kontinents verlegt; Tucker wiedergewählt (dritte Amtszeit); Hugh GabbetFairfax führt großkalibrige ›Mars‹-Automatik ein Bericht der königl. Marine stellt fest: »Niemand, der diese Pistole abfeuerte, wollte ein zweitesmal damit schießen.« Erstes Flugzeug überquert den Kontinent. Lenkbares Luftschiff ›City of Akron‹ fliegt nonstop der Länge nach über den Kontinent und zurück; erster Tonfilm (Ragtime Dance), Premiere in New Orleans. Tucker wiedergewählt (vierte Amtszeit); Nicaraguakanal. Erdbeben in San Francisco, Großbrand. Marion Michael (›Mike‹) Morrison, Filmstar der Konföderation, geboren. Tucker wiedergewählt (fünfte Amtszeit). Erstes Flugzeug überquert Atlantik; erstes lenkbares Luftschiff überquert Pazifik; ›Teeparty von Sidney‹: alle Regierungsbeamten ins Hafenbecken geworfen.
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Geoffrey Couper, Gründer der neoimperialistischen Partei, geboren. Albert Jay Nock zum Präsidenten gewählt. Preußen greift angrenzende Länder an; Kontinentalkongreß erklärt Neutralität; konföderierte Freiwillige rüsten Flug der ›Tausend Luftschiffe‹ aus. Nock wiedergewählt (zweite Amtszeit). Goddard-Raketen dezimieren preußische Luftstreitkräfte; durch starke Verbreitung von Gallatins Werken über Funk Aufruhr ausgelöst. Grippeepidemie; Flotte von lenkbaren Luftschiffen verteilt Versuchsimpfstoff rund um die Welt. Edward Bear, Vater von Edward William Bear, am 1. April in Denver/St. Charles Auraria geboren. Nock wiedergewählt (dritte Amtszeit). Erster Atommeiler vorgeführt (Chicago). Nock wiedergewählt (vierte Amtszeit). Fernsehen; Verständigung mit Delphinen; erstes Kraftwerk nach dem Prinzip der Kernspaltung (Chicago); Edna Cloud, Mutter von Edward William Bear, am 9. August in Los Angeles geboren. Falsche Ernährung als hauptsächliche Krebsursache erkannt; H. L. Mencken zum Präsidenten gewählt; erste Laser. Erstes Kraftwerk nach dem Prinzip der Kernfusion (Detroit); Ooloorie Eckickeck P’wheet irgendwo im Pazifik geboren; Familie Meep baut Restaurantkette auf; Herz-Lungen-Maschine. Düsenflugzeug; lenkbare Luftschiffe mit Fusionsantrieb; Mencken wiedergewählt (zweite Amtszeit); Olongo Featherstone-Haugh geboren. Mencken ermordet; Kontinentalkongreß wählt F. Chodorov zum Nachfolger; Cetaceen (Wale und
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Delphine) schließen sich der Konföderation an; erste Herztransplantationen. Gallatinistische Revolution in Spanien; Chodorov gewählt. Erster künstlicher Satellit im Süden von Mexiko gestartet. Altruistische Schutz-Enklave für Primaten in Stanford gegründet. Edward William Bear in Saint Charles Town, N.A.K. und in Denver, USA, geboren. Rose Wilder zur Präsidentin gewählt. Erster Primat in der Umlaufbahn liest Werke von Gallatin, spielt Schach mit Tümmlern an der Emperor Norton Universität (verliert); hamiltonistischer Staatsstreich in Hawaii; 3D-Fernsehen. Wilder wiedergewählt (zweite Amtszeit); F. K. Bertram in Boston geboren. US-Atombombe zerstört Nagasaki; Norrit Gregamer geboren. Clarissa MacDougall Olson in Laporte geboren; T. W. Sanders in den Vereinigten Staaten geboren. Wilder wiedergewählt (dritte Amtszeit); Regeneration von Gliedmaßen demonstriert. Mondexpedition errichtet Kolonie; Dardick entwikkelt Pistole mit offenem Magazinschacht; Laservisiere für Pistolen. Jennifer Ann Noble (Vorsitzende der Partei der Eigentumsrechtler in den Vereinigten Staaten) in Ithaca, New York, geboren; Profibeschützer GmbH gegründet. A. Rand gewählt, reist als erster Präsident zum Mond.
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Gallatinistische und hamiltonistische Revolutionen erschüttern Afrika. Jennifer Ann Smythe in Ithaca, N.A.K. geboren (Stasisverzögerung). Eugene Guccione erfindet Energiezelle. Russen schießen auf antarktische Kolonisten; Kontinentalkongreß spricht Warnung aus; Zar erklärt Krieg; Rand wiedergewählt (zweite Amtszeit); anderswo beginnt die Kommunistische Reformation. Russen greifen Alaska an, unterstützen Hamiltonisten in Hawaii, marschieren in Japan ein; Admiral Heinlein erringt entscheidenden Sieg in der Beringstraße; Russen erleiden riesige Verluste in Antarctica, Japan und Hawaii. ›Operation Sequoyah‹: starkes Aufgebot von Funk und Fernsehen; Tonnen von schriftlicher Propaganda gegen russisches Mutterland eingesetzt. Mondkolonisten strahlen ständig Sendungen nach Rußland; Regierung bricht zusammen; Zar verschwindet. Hamiltonisten versuchen Staatsstreich auf dem Mond, Überlebende werden ›in den Weltraum gestoßen‹; Robert LeFevre zum Präsidenten gewählt; Neova Luftkissenfahrzeug entwickelt; Sicherheitstechnik GmbH gegründet. Hirnschlag von Ochskahrt in mehreren US-Varianten geboren. LeFevre wiedergewählt (zweite Amtszeit); Laporte Paratronics GmbH gegründet; Dora Jayne Thorens in San Francisco geboren. Francis W. Pololo in Pine Barrens, N.A.K. geboren. Marskolonie im Coprates Canyon; Couper gründet neoimperialistische Partei; ›Keiner der Obigen‹ gewinnt die Wahl.
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Penetrator bei der Suche nach Schneller-als-LichtAntrieb entdeckt. In den Vereinigten Staaten gründet D. Nolan Fraser Partei der Eigentumsrechtler. John Hospers zum Präsidenten gewählt; Kolonien auf Asteroiden errichtet; Terraformung von Ceres durch Harriman, Taggert und Hill. Gründung der Cheyenne Energieversorgung und Klimakontrolle; erster stabiler Durchbruch in Parallelwelt. Zweihundertjahrfeier; Antiparlamentarische Partei; Hospers wiedergewählt (zweite Amtszeit). Erfindung der Basset-Spulen; erste ›große Ausgabe‹ eines Durchbruchs. John Jay Madison gründet in Laporte HamiltonGesellschaft. Hamiltonisten verlieren letzten Stützpunkt in Uganda. Hospers wiedergewählt (dritte Amtszeit); Einweihung des Vergnügungsparks Pellucidar Gardens in Ceres Central; extrasolare Funksignale entdeckt; Gründung von Turner Vendicom. Koko Featherstone-Haugh geboren. Jennifer A. Smythe zur Präsidentin gewählt; in den Vereinigten Staaten organisieren Anti- AbtreibungsTerroristen das ›Aktionskommando Recht auf Leben‹; Bundessicherheitspolizei (Sipo) in aller Stille gegründet; chinesisch-russische Konfrontation führt zu sichtbarer Beschädigung des Mondes; Dornaus und Dixon beginnen mit Lieferung von Bren Ten. Erster Kontakt mit Menschen (V. Meiss) auf der anderen Seite des Durchbruchs; G. Howell Nahuatl geboren.
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1993
220
1996
Malaise beginnt Dokumentarfilmreihe über die Asteroiden; Agot Edmoot Mao auf Sodde Lydfe geboren; ERSTER MENSCH KOMMT DURCH DEN DURCHBRUCH AUS EINER USA-PARALLELWELT INS GALLATIN-UNIVERSUM (E. W. BEAR, DENVER); hamiltonistische Verschwörung; Siebter (und letzter?) Kontinentalkongreß zusammengetreten; systematische Unterminierung der Vereinigten Staaten durch die Konföderation beginnt. Smythe wiedergewählt (zweite Amtszeit); T. W. Sanders kommt in die Konföderation; ›Patentanzüge‹ erstmalig bei der Erkundung des Weltraums eingesetzt; durch Neuralimplantationen an Cephalopoden (Kopffüßern) bekommen die Cetaceen ›Hände‹; genetische Konstruktionen von Einhörnern; der Stützpunkt ›Navigation Rock‹ im Asteroidengürtel wird errichtet. Malaise verlegt Nachrichtenhauptquartier nach Ceres Central. D. Nolan Fraser zum Bürgermeister von Denver, USA, gewählt. In US-Variante Ermordung von Blocky Yocks; Zusammenbruch des Beil-Systems. Olongo Featherstone-Haugh wird der erste nichtmenschliche Präsident der Konföderation. Bau der Interwelt-Station Laporte begonnen; entführte ›OMA 789 George Herbert‹ gelangt durch Zufall in die Konföderation; Mastodons aus gefrorenen Gewebeteilen (aus Sibirien) geklont; Erfindung von Plasmawaffen. Featherstone-Haugh wiedergewählt (zweite Amtszeit); zum erstenmal werden Massenentführungen von Frauen aus den Vereinigten Staaten bemerkt.
223
1999
224
2000
Erste nanoelektronische Gehirnrindenimplantate bei denkenden Wesen entdeckt; Tormount-MalaiseVerschwörung; geheime hamiltonistische Flotte flieht aus dem Sonnensystem. Asteroid 9656 Bester aus dem Nomadenhaufen kollidiert mit der Venus und schafft zweiten Asteroidengürtel; ›Keiner der Obigen‹ gewinnt die Wahl in der Konföderation; D. Nolan Fraser zum ersten Eigentumsrechtler-Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt; Lucille Olson-Bear in Laporte, N.A.K. geboren.
ÜBER DEN AUTOR L. Neil Smith, Berater für Selbstverteidigung und früher Reservist bei der Polizei, hat auch schon als Waffenschmied und Berufsmusiker gearbeitet. Er wurde 1946 in Denver geboren, kam als Luftwaffen›göre‹ weit herum und wuchs in einem Dutzend verschiedener Gegenden der Vereinigten Staaten und Kanadas auf. 1964 kehrte er in seine Heimat zurück, um Philosophie, Psychologie und Anthropologie zu studieren und erreichte schließlich – seiner Aussage nach – die vielleicht niedrigste durchschnittliche Punktzahl in der Geschichte der Universität des Staates Colorado. Neil hat vor kurzem seine zweite Amtszeit im Nationalen Wahlprogrammausschuß der ›Libertarian Party‹ hinter sich gebracht. 1978 kandidierte er als Libertarianer für einen Sitz in der Gesetzgebenden Versammlung seines Staates, wobei er gegen einen alteingesessenen Republikaner bei einem totalen Ausgabenetat von 44.000 Dollar fünfzehn Prozent der Stimmen errang. Jetzt ist er hauptberuflich SF-Schriftsteller, Mitbegründer und Vorsitzender des ›Prometheus Committee‹, und lebt mit seiner Frau Cynthia und vier Katzen in Fort Collins, Colorado.