BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 33
DER VERGESSENE von Alfred Bekker
Die RUBIKON hat den Aqua-Kubus – di...
11 downloads
564 Views
365KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 33
DER VERGESSENE von Alfred Bekker
Die RUBIKON hat den Aqua-Kubus – die Geburtsstätte einer ganzen Flotte von Foronen-Raumschiffen – verlassen. Ihr Ziel: die Große Magellansche Wolke, aus der Sobek und Siroona einst, vor Jahrzehntaussenden, mit ausgewählten Angehörigen ihres Volkes flohen – vor den übermächtigen Virgh. Existieren die Eroberer des Foronen-Reiches noch? Was ist aus der ursprünglichen Heimat der Kubus-Erbauer geworden? John Cloud und seine Gefährten sind gezwungen, sich der Expedition zur Nachbargalaxis anzuschließen. Bald erreicht die RUBIKON die Randzone der Großen Magellanschen Wolke. Hier existiert eine beispiellose Sternenansammlung, in deren Einflussgebiet, dem so genannten »Sonnenhof«, plötzlich eine Strahlung aktiviert wird, die sämtliche Foronen an Bord zusammenbrechen lässt. Kurz darauf meldet die Schiffs-KI Eindringlingsalarm, und es kommt zur Begegnung mit den Merimden, die sich zunächst freundlich geben, dann aber ihr wahres Gesicht zeigen...
John Cloud betrat das Behandlungszimmer, in dem sein Vater untergebracht war. Inzwischen hatte sich Nathan Clouds Zustand zumindest physisch stark verbessert. Nachdem der katzenhafte Saskanenkrieger Boreguir ihn aus dem Staseschlaf geweckt und auf seine Flucht vor den Herren des Schiffes in die hintersten Winkel der alten Marsstation mitgenommen hatte, war der verwirrte, ohnehin schon in einer körperlich mehr als schlechten Verfassung befindliche, Nathan an den Rand des physischen Zusammenbruchs geraten. John Cloud wusste inzwischen, dass dies niemals in Boreguirs Absicht gelegen hatte. Der barbarische Saskane hatte einen Gefährten für seine Flucht benötigt. Dass es kaum eine Möglichkeit gab, diesen geschwächten Gefährten auch zu versorgen, war ihm erst später klar geworden. Namenlose Angst hatte Boreguir beherrscht. Und das nicht einmal ohne Grund, ging es John durch den Kopf, während sein Blick auf dem geschwächten, ausgemergelten Mann ruhte, der erschöpft auf seinem Lager schlief. Die Augen waren geschlossen. Nathan Cloud atmete tief und regelmäßig. Das Energiefeld, mit dem die KI der RUBIKON ihn lange umgeben hatte, war nicht mehr vorhanden. Sein Körper brauchte die intensivmedizinische Behandlung durch die Schiffs-KI nicht mehr. Trotz der überragenden Technik der Foronen hatte es Tage gedauert, bis sich Nathan Cloud einigermaßen erholt hatte. Allerdings galt das nur für seinen Körper. Sein mentaler Zustand war nach wie vor Besorgnis erregend. Nathan Cloud redete wirres Zeug. Er schien sich auch an die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit nur sehr bruchstückhaft erinnern zu können. Über zweihundert Jahre hatte Nathan Cloud, seines
Zeichens Teilnehmer der ersten irdischen Mars- Expedition, fixiert in einem Staseblock aus einem kunstharzähnlichen Material zugebracht – völlig bei Bewusstsein! Das konnte auch den gesündesten Verstand vernichten. John Clouds Vater war das gewesen, was der Forone Sobek eine »Probe« genannt hatte. Dieser Ausdruck spiegelte die ganze Überheblichkeit wider, die die Foronen dem Rest des Universums entgegenbrachten. Aber er war durchaus passend gewesen. Wie in Bernstein erstarrte Insekten hatte es in der inzwischen von SESHA an Bord geholten Marsstation Hunderte von Menschen aus allen geschichtlichen Epochen gegeben. Offenbar hatten die Erbauer der Station die Menschheit schon seit langem genau beobachtet. Zu welchem Zweck auch immer. »Dad«, flüsterte John unwillkürlich – und in völlig sinnloser Weise. Es war nur ein heiseres Krächzen, das Ausdruck seiner emotionalen Betroffenheit war. Die Gefühle seinem Vater gegenüber waren zwiespältig. Einerseits hatte er ihm als Junge insgeheim vorgeworfen, einfach verschwunden zu sein. Andererseits war die Tatsache, dass Nathan Cloud auf dem Mars verschollen war, ganz gewiss eine starke Motivation für John gewesen, ebenfalls diesen Planeten erreichen zu wollen. Im Augenblick herrschte in Johns Innerem nichts als Chaos. Du darfst dich nicht zu stark deinen Gefühlen hingeben, dachte er. Gleichgültig, welche es auch sein mögen. Er musste sich darauf konzentrieren, die Macht auf der RUBIKON wiederzuerlangen. Diesmal endgültig. Sobek und Siroona lagen in einem komaähnlichen Zustand. SESHA – wie ihre Erbauer die RUBIKON einst genannt hatten – bemühte sich zwar darum, die beiden Foronen wieder
physisch zu rehabilitieren, aber allein die Zeitspanne, die inzwischen vergangen war, sprach Bände. SESHAs Erfolg schien nicht gerade überwältigend zu sein. Im Augenblick gestand SESHA John Cloud so etwas wie eingeschränkte und vorläufige Kommandogewalt zu. Aber John gab sich keinerlei Illusionen darüber hin, dass ihm diese Autorität vermutlich sofort entzogen wurde, sobald Sobek oder Siroona wieder in der Lage waren, die Befehlsgewalt auszuüben. Plötzlich schlug Nathan Cloud die Augen auf und wandte den Kopf in Johns Richtung. Nathan richtete sich auf, seine Augen waren schreckgeweitet. Er starrte John wie entgeistert an und wich vor ihm zurück. »Du brauchst keine Angst zu haben!«, sagte John. »Hier geschieht dir nichts.« »Nein!« »Alles ist in Ordnung, Dad!« »Nein!« Nathan Cloud kauerte scheu auf seiner Liege. Er zog die Beine an, umfasste sie mit den Händen und zitterte leicht. »SESHA, ich will genaue Daten über den physischen Zustand meines Vaters!«, forderte John an die KI des Schiffes gerichtet. »Sämtliche Parameter liegen innerhalb der Normbereiche beziehungsweise weichen nur unwesentlich davon ab. Dem Menschen namens Nathan Cloud fehlt nichts. Seine Nährstoffmangellage wurde behoben. Ihm wurden alle nötigen Stoffe in ausreichendem Maß zugeführt.« Aber offensichtlich arbeitet sein Gehirn nicht mehr einwandfrei, dachte John Cloud. SESHA fehlen, was die geistige und psychische Verfassung eines Menschen angeht, offensichtlich die Vergleichsdaten...
John trat vorsichtig näher. Sein Vater sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Ein Mann, der zweihundert Jahre in Stase verbracht hatte. Er war in meinem Alter, als er den Mars erreichte und ihm dieses furchtbare Schicksal widerfuhr. In Stase bei vollem Bewusstsein! Jahrhunderte in einer Art Wachkoma, nur begleitet von den eigenen Erinnerungen. Wer sollte da nicht wahnsinnig werden? Das Eigenartigste aber war die Tatsache, dass Nathan Cloud jetzt etwa dasselbe Alter hatte wie sein Sohn. Ein aus den Fugen geratenes Universum hat das möglich gemacht. Es hatte fürs Erste gar keinen Sinn, Nathan erklären zu wollen, was geschehen war. »Ich bin John!«, sagte John Cloud einfach. »John«, wiederholte Nathan. Sein Gesicht veränderte sich nicht. Es hatte denselben, zutiefst entsetzten Ausdruck. »John«, wiederholte er noch einmal. »Wer bist du? John. Du bist John! Nein! Geh weg! Wer bist du? John! Nichts sehen! Nichts mehr sehen. Weg!« Er schloss die Augen, kniff sie regelrecht zusammen, und begann zu schreien! Dann war er plötzlich still. John schluckte. Wahrscheinlich habe ich alles falsch gemacht. In diesem Moment trat eine Gestalt durch den Türtransmitter. Es war Aylea. Nathan Cloud machte eine ruckartige Bewegung, zuckte förmlich zusammen und starrte dann auf das zehnjährige Mädchen. Aylea erwiderte diesen Blick erstaunlich ruhig und gelassen. Diese Gelassenheit schien auf Nathan Cloud einzuwirken. Seine Gesichtszüge entspannten sich etwas. Er atmete tief
durch. »Was machst du hier, Aylea?«, fragte John etwas ungehalten. Aylea trat näher. »Mir war langweilig«, sagte sie. »Jelto kümmert sich überhaupt nicht mehr um mich. Er hat nur noch diesen komischen Wald auf dem Merimden-Schiff im Kopf.« Ein mattes, nachsichtiges Lächeln glitt über Johns Gesicht. »Das kann ich verstehen«, sagte er – und ließ offen, ob er das Mädchen oder den Florenhüter meinte. »Manchmal denke ich, dass Pflanzen ihm letztlich doch wichtiger sind als alle Menschen! Und das kann ich nicht verstehen.« »Er hat eben eine besondere Verbindung zu Pflanzen. Für ihn sind sie genauso wichtig, wie für uns andere Menschen.« Aylea seufzte. »Ja, ich weiß«, sagte sie. »Aber das ist ja noch nicht alles.« »Was ist denn noch?« Sie druckste etwas herum und wollte zuerst nicht so recht heraus mit der Sprache. Schließlich brachte sie es aber doch heraus. »Überall in den Gängen liegen noch die toten Foronen herum. Das macht mir Angst, auch wenn ich weiß, dass dazu eigentlich kein Grund besteht. Außerdem träume ich von den Toten. Ich bin in die Zentrale gegangen, um mit jemandem zu reden, aber niemand war da. Scobee und Jelto sind ja an Bord des Merimdenschiffs. Und Jarvis ist mit diesem Katzenkrieger beschäftigt, den er seinen Freund nennt...« »Boreguir.« »Ja.« Sie zuckte die Achseln. »Ob man dem trauen kann, weiß ich nicht.« »Warum denn nicht?« Aylea ging nicht weiter darauf ein. Sie deutete auf Nathan Cloud. »Was ist mit deinem Vater?«
»Die lange Zeit in der Wach-Stase hat ihn verwirrt«, sagte Cloud. »Kannst du dir vorstellen, für zweihundert Jahre wie ein Stein dazustehen und alles um dich herum mitzubekommen?« Aylea schluckte. »Das muss grausam sein.« Sie näherte sich Nathan Cloud noch zwei Schritte. John hatte eigentlich erwartet, dass sein Vater bei einer derart unerwarteten Bewegung zusammenzuckte und wieder in Wahnvorstellungen verfiel, schrie oder wirres Zeug redete. Nichts dergleichen geschah. Nathan Clouds Blick war ruhiger geworden. Er gab seine verkrampfte Haltung auf, setzte sich auf die Kante seiner Liege. »Ich bin Aylea«, sagte das Mädchen. Nathan Clouds Atem wurde ruhiger. »Aylea«, wiederholte er. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Aylea. »Dir kann hier nichts geschehen.« Eine Pause des Schweigens folgte. »Ja«, sagte Nathan Cloud dann und wiederholte anschließend ihren Namen. »Aylea... Aylea...« »Du scheinst einen beruhigenden Einfluss auf ihn zu haben«, stellte John fest. »Vielleicht sollte ich mich in Zukunft etwas um ihn kümmern«, schlug sie vor. »Vielleicht ist das, was er erlebt hat, so schrecklich gewesen, dass er wahnsinnig wurde, um nicht mehr daran denken zu müssen.« John hob die Augenbrauen. Erstaunlich, wie die Zehnjährige schon in der Lage ist, andere Menschen wahrzunehmen, dachte er. Schon in der Vergangenheit hatte er immer wieder festgestellt, wie erstaunlich reif Aylea für ihr Alter schon war. Aber vielleicht waren alle Kinder des 23. Jahrhunderts so... Aylea trat jetzt bis auf zwei Schritte an Nathan Cloud heran,
ohne das dieser tobte oder schrie. So weit habe ich es bislang nicht geschafft, musste John etwas neidisch feststellen. Sie hatte offenbar irgendetwas an sich, das seinem Vater das Gefühl von Sicherheit gab. Nathan Clouds Bewusstsein schien sich wie eine Schnecke angesichts eines furchtbaren Schreckens in ihr Haus zurückgezogen zu haben. Wenn es Aylea gelang, ihn daraus wieder hervorzulocken – warum nicht? Zumindest war ihr erster Versuch weitaus Erfolg versprechender als alles, was John bisher unternommen hatte. SESHA meldete sich. »Der Anführer der Merimden möchte dich sprechen, John Cloud.« »Ich werde seine Botschaft in der Zentrale entgegennehmen«, antwortete John. »Es ist keine Funkbotschaft«, korrigierte SESHA. »Er befindet sich an Bord des Schiffes und möchte dir Einzelheiten über einen Unfall berichten, den Jelto und Scobee erlitten haben.« »Ein Unfall?«, echote John Cloud. SESHAs Auskunft war kalt und nüchtern. »Offenbar sind Jelto und Scobee tot«, erklärte die SchiffsKI. *** Merimde 1 schimmerte silbern im kalten Licht der Korridorbeleuchtung. Der drei Meter lange, einem irdischen Ohrwurm ähnliche Insektoide hatte den vorderen Teil seines Körpers aufgerichtet. Das oberste Extremitätenpaar wurde dadurch frei, das mittlere stabilisierte im Augenblick den Körper nach vorn. John Cloud trat ihm ungefähr an der Stelle des Schiffs entgegen, an der die geheimnisvollen Merimden zum ersten
Mal an Bord der RUBIKON wie aus dem Nichts aufgetaucht waren. Neben ihm stand Jarvis, den Cloud von dem Vorfall unterrichtet hatte. Außerdem wurde der derzeitige Kommandant von zwei Spinnenrobotern begleitet, deren Waffenarme auf den Fremden ausgerichtet waren. SESHA hatte darauf bestanden. John Cloud wollte seinen Autoritätskonflikt mit der SchiffsKI nicht auf die Spitze treiben. Schon gar nicht vor dem Merimden, der annehmen sollte, dass Cloud die unumschränkte Befehlsgewalt an Bord der RUBIKON hatte. Sein Blick fiel auf den Gürtel um den Vorderkörper des Silbernen, dessen Beißwerkzeuge ein schabendes Geräusch erzeugten. An diesem Gürtel trug der Merimde ein Modul, mit dessen Hilfe ein Kraftfeld erzeugt wurde, das eine Reise über die so genannten Gravitationsbahnen ermöglichte. Innerhalb des Einflussbereichs der neun Schwarzen Sonnen gab es zahllose Gravitationsbahnen. Wie genau der Transfer funktionierte, war der Besatzung der RUBIKON ebenso unklar wie der Grund dafür, dass die Merimden mit Hilfe ihrer Transporttechnik offenbar sämtliche Schutzschilde der RUBIKON problemlos zu überwinden vermochten. Der Silberne brachte ein paar Laute hervor, die von zischenden Geräuschen der sich unablässig bewegenden Lippentaster untermalt wurden. »Ich grüße dich, Kommandant«, übersetzte das äußerst leistungsfähige Translator-Modul, das der Merimde ebenfalls am Gürtel trug. »Bei euch ist es üblich, sich mit einer Individualbezeichnung anzureden«, sagte er anschließend. »Der Mensch mit der Individualbezeichnung Scobee lehrte mich diese Form der Höflichkeit, und ich möchte ihr Andenken ehren, indem ich euren Höflichkeitskodex befolge. Wie lautet
deine Individualbezeichnung, Kommandant?« Die umständliche Art des Merimden ließ Cloud innerlich kochen. Er hätte es viel lieber gesehen, wenn der Silberne endlich zur Sache gekommen wäre. Er zwang sich zur äußerlichen Gelassenheit. »Ich bin John Cloud.« »John Cloud, die Künstliche Intelligenz deines Schiffes wird dir die Nachricht vom Unfall der beiden Menschen mit den Individualbezeichnungen Scobee und Jelto bereits übermittelt haben.« »Was ist genau passiert?«, verlangte John Cloud zu wissen. »Jelto und Scobee sind zusammen mit ihren jeweiligen Lotsen bei dem letzten Transferversuch verschwunden. Wir wissen nicht, wo sie sich befinden, nur dass sie ihren Zielort nicht erreicht haben.« »Dann sind sie nicht tot, sondern nur verschollen!«, entfuhr es John Cloud. »Das dürfte in diesem Fall auf dasselbe hinauslaufen. Wir vermuten eine Fehlfunktion der Module, mit deren Hilfe wir über die Gravobahnen reisen. Es ist möglich, dass sie irgendwo im All materialisiert sind, wahrscheinlich sogar inmitten einer der neun Schwarzen Sonnen, die uns alle hier im Sonnenkerker gefangen halten.« Merimde 1 erzeugte ein raschelndes Geräusch mit seinen Lippentastern, das von einem gurgelnden Grummeln begleitet wurde. Letzteres entstand irgendwo in der Tiefe seines Schlundes und diente wohl dem Zweck, den Worten des Merimden das nötige Gewicht zu verleihen. »Wir wissen um die theoretische Möglichkeit, dass es zu derartigen Fehlern beim Transfer kommen kann. Unseren Simulationen nach wird in diesem Fall der Gravo-Läufer von einer der Schwarzen Sonnen angezogen und auf eine Geschwindigkeit beschleunigt, die auch unser Vorstellungsvermögen überschreitet. Es tut mir Leid, dass wir für die Menschen mit
den Individualbezeichnungen Scobee und Jelto nichts mehr tun konnten. Immerhin wird ihr Tod nicht schmerzhaft gewesen sein. Die Gravitationskraft einer Schwarzen Sonne wird sie sofort getötet haben.« »Ein schwacher Trost«, sagte Jarvis sarkastisch. John Cloud warf ihm einen kurzen Blick zu, schüttelte dabei den Kopf. Irgendetwas stimmt hier nicht, glaubte Cloud. Aber auf der anderen Seite waren die Merimden die einzige Informationsquelle, die sie besaßen. Darüber hinaus hatten sie das Monopol auf Fortbewegung innerhalb des Sonnenhofs. Die RUBIKON schwebte ebenso bewegungsunfähig im Raum zwischen den Schwarzen Sonnen wie all die anderen gestrandeten Schiffe im Sonnenhof, deren Bewohner nach den Angaben der Merimden bereits vor langer Zeit umgekommen waren. »Warum gehst du dieses Risiko ein, dem Scobee und Jelto doch offensichtlich zum Opfer gefallen sind?«, fragte John Cloud. Der Merimde drehte leicht den Kopf, seine Facettenaugen wirkten blicklos und kalt. »Wir hielten die Möglichkeit derartiger Fehlfunktionen bislang für so gering, dass man das Risiko vertreten konnte. Schließlich gibt es innerhalb des Sonnenkerkers keine andere Transportmöglichkeit, die funktioniert, wie ihr sicherlich inzwischen selbst festgestellt habt.« »Das ist richtig. Aber zwei solcher Fälle, die beide Mitglieder meiner Besatzung betreffen! Das scheint mir sehr ungewöhnlich zu sein.« »Du misstraust uns, John Cloud«, stellte Merimde 1 fest. »Ich verlange Erklärungen!« »Und mein Anliegen ist es, dass unsere gerade begonnene Kooperation unter diesem Vorfall nicht leidet. Unsere
Schiffsbesatzungen befinden sich in derselben ausweglosen Situation. Wir sind Gefangene dieser gigantischen Raumfalle. Für uns Merimden war es nicht leicht, bis jetzt zu überleben und auch ihr werdet noch vor Herausforderungen gestellt werden, von denen ihr jetzt noch nichts ahnt. Aber gemeinsam finden wir vielleicht einen Weg, um unsere Schiffe aus dem Bann der Schwarzen Sonnen zu befreien.« John Cloud atmete tief durch. Was will er wirklich?, ging es ihm durch den Kopf. Cloud hatte das Gefühl, dass sein Gegenüber etwas vor ihm verbarg. Andererseits scheint die Fortsetzung unserer Zusammenarbeit bei den Merimden sehr hohe Priorität zu genießen. Andernfalls hätten sie nicht ihren ranghöchsten Vertreter geschickt, um die schlechte Nachricht von dem Unfall zu überbringen... »Ich bin auch dafür, dass wir unsere Zusammenarbeit fortsetzen«, erklärte Cloud schließlich nach einer kurzen Pause. »Allerdings möchte ich genau wissen, was mit Scobee und Jelto geschehen ist.« »Die genaue Ursache dieser Fehlfunktion konnten wir bislang noch nicht identifizieren. Es gibt lediglich Hypothesen. Allerdings kann ich euch über den Fortschritt unserer Erkenntnisse auf dem Laufenden halten.« »Das ist das Mindeste!«, erklärte Cloud. »Sei versichert, dass wir alles in unserer Macht stehende tun, um das Schicksal eurer Besatzungsmitglieder aufzuklären.« »Ich würde gerne an Bord des Merimdenschiffs gehen«, sagte Jarvis. »Vielleicht kann ich Klarheit in die Sache bringen.« Cloud nickte. Er wandte sich Merimde 1 zu. »Mein Besatzungsmitglied Jarvis möchte gerne eigene Ermittlungen an Bord eures Schiffes durchführen.« »Ich denke nicht, dass dazu eine Notwendigkeit besteht«,
erwiderte Merimde 1. Der Silberne senkte den Kopf etwas nach vorn. Dadurch wurden die Lippentaster an den Hals gepresst. Der kleine antennenartige Fortsatz mitten im Gesicht des Merimden vibrierte leicht. John Cloud hatte keine Ahnung, welchem Zweck dieses Organ diente. Merimde 1 fügte schließlich noch hinzu: »Ich glaube kaum, dass jemand, der nicht aus unserem Volk stammt, etwas zur Aufklärung beitragen kann. Schließlich kennt sich keines eurer Besatzungsmitglieder mit der Technik unserer GravoläuferModule aus.« »Mein Besatzungsmitglied Jarvis verfügt über besondere kybernetische Fähigkeiten«, wandte Cloud ein. »Es ist sehr wahrscheinlich, dass er mehr über diesen Unfall herauszufinden vermag. Und das wäre doch auch in eurem eigenen Interesse, wie du gerade gesagt hast!« Der Silberne zögerte – doch schließlich stimmte er zu. »Ich bin einverstanden«, sagte er. »Dein Besatzungsmitglied Jarvis wird mich begleiten. Ansonsten möchte ich den bisher bestehenden Pendelverkehr zu unserem Schiff auf das Nötigste beschränken, solange wir noch nicht die exakte Ursache des Unfalls kennen.« »Das verstehe ich«, sagte John Cloud. Für ihn selbst bestand ohnehin keine Aussicht, auf das Merimdenschiff zu gelangen. SESHA hatte ihm das Verlassen des Rochenschiffs verboten. Es war paradox: Einerseits gestand ihm die KI nicht die volle Autorität über das Schiff zu, andererseits kam es ohne Cloud als Kommandant nicht aus, seit Sobek und Siroona in einen komaähnlichen Zustand gefallen waren. Jarvis wandte sich kurz an Cloud. »Ich werde sehen, was ich tun kann.« Er trat näher an den Merimden heran. Zum Überwechseln
auf das Merimdenschiff war es notwendig, sich im Einflussbereich des Kraftfeldes aufzuhalten, das vom Transfermodul des Silbernen erzeugt wurde. Der Merimde musterte Jarvis einige Augenblicke lang. Dessen aus Abermilliarden Nano-Teilchen bestehender Amorph-Körper hatte wie üblich eine pseudohumanoide Gestalt angenommen. Er wirkte wie ein dunkler Schatten, dessen Oberflächenstruktur sich in ständiger Bewegung befand, so als ob wimmelnde Heere winziger Insekten ihn ständig in mehr oder minder chaotisch durcheinander wirbelnden Strömen überliefen. Auch wenn der ehemalige Mensch Jarvis sich inzwischen einigermaßen mit diesem Körper arrangiert hatte, so beherrschte er ihn nach wie vor noch nicht völlig. Es gab einiges an Möglichkeiten in diesem Nano-Körper, die Jarvis noch nicht ausprobiert hatte. Die Flut der verwirrenden Sinneseindrücke war manchmal überwältigend. Sein Bewusstsein gewöhnte sich nur langsam daran, auf eine völlig neue Weise wahrzunehmen, die viel umfassender war, als alles, was man als Mensch kennen lernen konnte. Manchmal veränderte der Amorph-Körper ohne Jarvis ' Zutun seine Form, löste sie sogar ganz auf und wurde zu einer gallertartigen Masse aus Nano-Teilchen. Erst allmählich hatte er gelernt, dass es letztlich seiner Kontrolle bedurfte, um die pseudohumanoide Gestalt beizubehalten. Aber das gelang ihm immer besser. »Er unterscheidet sich von deinen anderen Artgenossen«, stellte der Merimde an John Cloud gerichtet fest. »Das sagte ich ja«, war Clouds trockene Antwort. Das mittlere Extremitätenpaar des Silbernen gab jetzt seine Stützfunktion auf und löste ein Gerät vom Gürtel und richtete es auf Jarvis. Offenbar führte der Silberne einen Scan durch. Schließlich ließ er den Apparat wieder sinken.
»Dieser Körper enthält keinerlei organische Bestandteile«, stellte er fest. »Seine Struktur ist höchst... ungewöhnlich!« »Wir müssen noch viel übereinander lernen«, erklärte John Cloud, bevor Jarvis etwas sagen konnte. Merimde 1 betrachtete dessen Amorph-Körper noch einige Augenblicke lang mit seinen kalten, übergroßen Facettenaugen, die einen Großteil des oberen Schädeldrittels ausmachten. Die Beißwerkzeuge schabten geräuschvoll gegeneinander. »Jelto und Scobee bevorzugten es, mit einem Raumanzug über die Gravobahnen zu reisen, weil es ihnen unmöglich erschien, zwei Minuten die Luft anzuhalten«, sagte der Silberne. »Ich brauche keinen Raumanzug«, erwiderte Jarvis. Das schabende Geräusch verstummte. »Das dachte ich mir«, knarrte es aus dem Lautsprecher des Obersetzermoduls. Der Silberne wandte sich wieder an Cloud. Er näherte sich mit aufgerichtetem Vorderkörper bis auf einen Meter. Dann streckte er einen freien Greifer aus. Eine Geste, die universell verständlich war und keinerlei Übersetzung bedurfte. Er will, dass ich ihm irgendetwas gebe, überlegte Cloud. »Wo ist der Datenträger mit dem gesammelten merimdischen Wissen über den Sonnenkerker, den ich euch überlassen habe?«, fragte der Silberne. »Ich trage ihn bei mir.« »Gib ihn mir zurück. Ich nehme an, dass die Daten längst überspielt sind.« »Das stimmt...«, musste Cloud zugeben. Was soll das? »Also spricht nichts dagegen.« Cloud war etwas verwirrt. Warum war dem Silbernen dieser Datenträger so wichtig? Zumal die darauf enthaltenen Dateien mit Sicherheit auch noch anderweitig gespeichert waren. Etwas
zögernd nahm Cloud den etwa münzgroßen Datenträger aus einer Tasche seiner Kombination und übergab ihn dem Merimden. Wortlos wandte der sich um und trat neben Jarvis. »Bleib immer in meiner Nähe!«, wies er ihn an und aktivierte das Transfer-Modul. John Cloud sah Jarvis und den Silbernen den Korridor entlang gehen. Noch bevor sie die Wand am Ende erreichten, wurden beide transparent und schienen sich aufzulösen… *** Bis auf die Lichtkegel, die von den Leuchtaggregaten der Raumanzüge ausgingen, war es vollkommen dunkel. Jelto und Scobee befanden sich in einem hallenartigen Raum, der von Stahlstreben durchzogen war. Es war ihnen unmöglich zu sagen, welche Funktion diese Streben hatten. Sie schienen jedenfalls nicht zur Stabilisierung zu dienen. In der Rechten hielt Scobee den röhrenförmigen Strahler, den sie – ebenso wie das Transfer-Modul, mit dem sie hierher gelangt waren – von den Merimden erbeutet hatte. »Wir sind jetzt schon mehrere Stunden hier«, stellte Jelto fest, »und die Merimden sind uns noch immer nicht gefolgt« In letzter Sekunde war ihnen die Flucht gelungen, nachdem die anfänglich so gastfreundlich scheinenden Merimden ihre Maske hatten fallen lassen. »Ja, das ist seltsam«, murmelte Scobee halblaut vor sich hin. Jelto bekam ihre Worte über Helmfunk dennoch gut mit. Die Helme ihrer eng anliegenden Anzüge bestanden aus transparenten Energieblasen. Die Sauerstoffpatronen, die jeder von ihnen bei sich trug, sorgten dafür, dass das Innere des Anzugs sich mit einer wenige Zentimeter dicken
Sauerstoffschicht füllte. Die Atemabluft wurde einem Recycling-Prozess unterzogen. Dieser Vorgang konnte jedoch nicht in alle Ewigkeit fortgesetzt werden, schließlich hatten sie sich nur auf eine kurze Reise zu den Merimden vorbereitet. Danach gab es nur die Möglichkeit, das Transfermodul noch einmal zu benutzen, oder den sicheren Tod. Zwar hatte Scobee die Bedienung des Moduls bei den merimdischen Lotsen genau beobachtet, aber trotzdem war ihre überstürzte Flucht vom Merimdenschiff zu einem Sprung ins Nichts geworden. Wir können froh sein, nicht irgendwo im Weltraum zu schweben oder gar in eine der Schwarzen Sonnen hineingestürzt zu sein, dachte die GenTec-Matrix. Dagegen ist das Innere eines atmosphärenlosen Raumschiffwracks ein wahres Paradies... Wenn es irgendwie möglich war, wollte Scobee ein zweites Erlebnis dieser Art vermeiden. Ihre Chancen dazu standen jedoch schlecht. Wer hätte sie schon retten sollen? Jeglicher Raumschiffverkehr innerhalb des Sonnenhofes war unmöglich. Kein Beiboot würde dieses unbekannte Wrack erreichen und sie abholen. Es würde alles auf einen zweiten Sprung ins Ungewisse hinauslaufen. Es sei denn, es gelingt mir doch noch, die Funktionsweise des Transfermoduls besser zu verstehen, ging es Scobee durch den Kopf. Sie setzten einen Fuß vor den anderen. Kristalle bedeckten den Boden in einer Schicht von stellenweise mehreren Zentimetern. Es handelte sich wahrscheinlich um gefrorene Bestandteile der ehemals vorhandenen Atemluft. Bei den herrschenden Temperaturen im Inneren des Schiffes erstarrten selbst Sauerstoff und Stickstoff. Der weitaus größere Teil der Atmosphäre musste jedoch
entwichen sein. Wahrscheinlich waren Hüllenbrüche dafür verantwortlich. Scobees und Jeltos Raumanzügen machte die extreme Belastung, der sie durch die Kälte unterzogen wurden, nichts aus. »Glaubst du, dass sie noch auftauchen?«, fragte Jelto. »Meinst du die Merimden?« Scobee hatte die ganze Zeit über, da sie sich schon in dem fremden Schiffswrack befanden, den Zeigefinger ihrer rechten Hand nicht aus der Nähe des Sensorpunktes gelassen, dessen Berührung den merimdischen Strahler auslöste. »Ich wundere mich ehrlich gesagt, dass sie nicht längst hier sind. Es wäre doch eine Kleinigkeit für sie, ein paar von ihnen hier herüberzuschicken und uns mit ihren Strahlern einzuäschern.« Jelto blieb stehen. Er schloss die Augen, stützte sich mit der Rechten gegen einen der Pfeiler und presste die Lippen aufeinander. »Es waren furchtbare Bilder«, flüsterte er. Scobee stoppte ebenfalls. Sie musterte ihn, sah die Qual in seinen Gesichtszügen. »Erzähl mir davon«, bat Scobee. »Ich kann nicht. Nicht mehr als das, was du schon weißt.« »Versuch es!« »Scobee...«, stöhnte Jelto. »In dem Augenblick, in dem du angefangen hast, mir von deinen Eindrücken zu erzählen, haben die Merimden uns plötzlich angegriffen. Es muss etwas damit zu tun haben.« »Ja, ich weiß...« »Denkst du, diese schrecklichen Bilder der Gewalt, die du empfangen hast...«, setzte die GenTec an. »Erinnere mich nicht daran!« »Du musst dich daran erinnern. Vielleicht sind es Wahrnehmungen einer Pflanze, die ursprünglich von einem der
Wracks stammt, die die Merimden ausgeschlachtet haben.« Jelto schüttelte den Kopf. Sein Gesicht verzerrte sich wie unter Schmerzen. »Es hat keinen Sinn«, sagte er. »Es war alles so chaotisch. Ich kann es dir nicht beschreiben, Scobee!« Der Florenhüter öffnete die Augen wieder. Es war so schwer, das, was er empfand, in Worte zu fassen. An Bord des Merimdenschiffes war er mit allen Pflanzen des künstlich angelegten Waldes, den es dort gab, in mentalen Kontakt getreten. Ein einzigartiger Chor von Stimmen. Stimmen von Freunden, wie Jelto es empfunden hatte. Freundliche Stimmen. Jelto hatte sich so lange danach gesehnt, wieder einen Wald zu hören. Die Begegnung mit den Stimmen des künstlichen Dschungels an Bord des Merimdenschiffs war dem Florenhüter fast wie eine Erlösung erschienen. Eine Erlösung aus der beinahe unerträglichen Einsamkeit, die Jelto beinahe während der gesamten Reise der RUBIKON zur Großen Magellanschen Wolke empfunden hatte. Dieses Gefühl der Einsamkeit hatte dafür gesorgt, dass er beinahe den Verstand verloren hatte. Der Strom der Bilder, die Jeltos Bewusstsein von jener verzweifelten Pflanzenstimme empfangen hatte, war für Jelto offenbar noch verstörender gewesen, als Scobee zunächst angenommen hatte. Noch scheint er einen Teil dieser Eindrücke regelrecht zu verdrängen, ging es der Klon-Matrix durch den Kopf. Scobee verzichtete zunächst darauf, weiter in ihn zu dringen. Aber auf die Dauer gab es keinen anderen Weg. Diese Erinnerungen mussten aktiviert werden. Ein einziges erkennbares Detail könnte ausreichen, um eine Verbindung zu ziehen und vielleicht sogar herauszufinden, was auf Schiffen wie diesem hier wirklich geschehen ist, überlegte Scobee.
Aber was das betraf, würde sie sich wohl noch in Geduld üben müssen. Vorsichtig gingen sie weiter. Eine der Stahlverstrebungen fiel ihr auf. Sie hatte eine seltsam gebogene Form, die vollkommen den ansonsten hier vorherrschenden Gestaltungsprinzipien widersprach. Auf der Oberfläche fiel ihr ein Klumpen auf, der aussah wie ein erstarrter Tropfen Flüssigkeit. Sie berührte ihn mit dem Handschuh ihres Raumanzugs und wischte darüber. »Sieh dir das an«, sagte sie. »Das sieht aus wie...« »... geschmolzen«, kam Jelto ihr zuvor, der inzwischen neben sie getreten war. Auf seiner bronzefarbenen Stirn hatten sich jetzt tiefe Furchen gebildet. Auch er fuhr über das Metall. »Ein Schuss mit einem Energiestrahler könnte das verursacht haben«, stellte Scobee fest. »Du meinst, hier wurde gekämpft?«, fragte Jelto. Scobee hob die Schultern. »Ja, sieht ganz so aus.« »Ich nehme an, die Merimden sind mit Hilfe ihrer Transfertechnik an Bord gekommen und haben die Besatzung angegriffen«, sagte Jelto. »Ist das eine Vermutung oder hat dir das diese Pflanzenstimme übermittelt?«, hakte Scobee nach. Jeltos Brustkorb hob und senkte sich, während er tief durchatmete. Fast so, als müsste er nach Luft ringen. Hoffentlich hält er das psychisch durch, ging es Scobee durch den Kopf. Er ist für solche Stresssituationen einfach nicht ausgebildet. Allzu lebhaft war ihr noch in Erinnerung, wie sich der Florenhüter während ihrer langen Reise zur GMW ins so genannte erste Korn versenkt und in seiner Kabine einen unkontrolliert wuchernden Wald hatte wachsen lassen, der sogar Sobek angegriffen hatte. »Es ist nur eine Vermutung«, gestand Jelto schließlich zu.
»Dagegen spricht, dass sich die Merimden ganz anders verhielten, als sie die RUBIKON betraten.« »Vielleicht waren sie aus irgendwelchen Gründen gezwungen, in diesem Fall ihre Maske der Freundschaft früher fallen zu lassen.« »Ja, das wäre natürlich denkbar. Andererseits könnten sich die Bewohner dieses Schiffes aber auch schon gegenseitig umgebracht haben, lange bevor der erste Merimde hier auftauchte. Die Nahrungsmittel wurden knapp, die Lebenserhaltungssysteme versagten nach und nach... Jeder Kubikzentimeter Atemluft wurde zu einer Kostbarkeit.« Ein Geräusch ließ sie beide zusammenzucken. Es war ein scheppernder, metallischer Laut. Für einen kurzen Moment schaltete Scobee auf Infrarotsicht um. Aber es war nirgends eine verdächtige Wärmekonzentration zu sehen, die auf die Anwesenheit eines Lebewesens hindeuten konnte. Sie hatte den merimdischen Strahler sofort im Anschlag. Diese Waffe war weder für menschliche Hände geschaffen, noch wusste die Klon-Matrix, wie oft der Strahler überhaupt noch zu gebrauchen sein würde, bevor seine Energiespeicher erschöpft waren. Jeder Schuss konnte der letzte sein. Der Lichtkegel ihrer Anzugbeleuchtung strich über kahle, halb von Rost zerfressene Wände. An manchen Stellen waren noch Reste von Farbstrukturen erkennbar, bei denen es sich vielleicht um Schriftzeichen gehandelt hatte. Scobee nahm erneut eine Bewegung wahr. Etwas Dunkles schnellte zu Boden. Sie schaltete die Beleuchtung ihres Anzugs aus, und Jelto war geistesgegenwärtig genug, um ihrem Beispiel zu folgen – auch wenn das bedeutete, dass der Florenhüter damit vollkommen blind war. Scobee nützte zwar ihre Nachtsichtfähigkeit nichts, da im
Inneren des Schiffes kein bisschen Restlicht zu finden war. Aber sie vermochte darüber hinaus den Frequenzbereich ihres Gesichtssinns zu verändern. Und Infrarot funktionierte auch bei vollkommener Dunkelheit. Das Bild vor Scobees Augen veränderte sich zu einem bizarren Farbmuster. Sehen war ein Vorgang, der im Gehirn stattfand, nicht im Auge. Scobee hatte gelernt diese Farbmuster ebenso zu interpretieren. So sicher, wie es das menschliche Gehirn auch schaffte, das eigentlich auf dem Kopf stehende Bild auf der Netzhaut umzudrehen. Eine Sache des Trainings. Sie konnte den heruntergefallenen Gegenstand lokalisieren. Im Infrarotbild blieb er absolut kalt. Die Temperatur im Inneren des Schiffes lag laut der in den Anzug integrierten Anzeige gegenwärtig bei genau -252,67 Grad Celsius, was der absoluten Kälte des Alls sehr nahe kam. Also kein Lebewesen, dachte Scobee. Auch kein Roboter. Ihr Infrarotsinn war fein genug, um minimale Hitzeabstrahlungen von eventuellen Energiequellen sofort zu erkennen. Einige Augenblicke lang verharrten Scobee und Jelto auf der Stelle. Die GenTec lauschte und sah sich weiter um. Schließlich schaltete sie ihr Licht wieder an. »Da war nichts«, erklärte sie. »Für nichts war das ziemlich laut!«, erwiderte Jelto. Doch dann sah auch er, dass Scobee Recht gehabt hatte. Im Schein der Lichtkegel stellten sie fest, dass eine der Stahlverstrebungen durchgebrochen war. Ein Teil lag auf dem Boden, ein anderer hing noch in der Luft und riss weitere Stücke aus der komplizierten Konstruktion heraus, die das Innere dieses hallenartigen
Raumes erfüllte. »Scheint so, als würde hier nach und nach alles in sich zusammenfallen«, sagte sie. »Wir können wohl froh sein, dass die Generatoren der künstlichen Schwerkraft noch aktiv sind.« Die extreme Abkühlung, die nach dem Versagen der Lebenserhaltungssysteme stattgefunden hatte und die Veränderung der Druckverhältnisse durch das Einfrieren der Atemluft bis auf das Niveau eines Vakuums – das alles waren Faktoren, die jedes noch so stabile Material auf die Dauer extrem ermüdeten. Jelto hatte sich abgewandt. Sein Gesichtsausdruck wirkte etwas entrückt. Es war Scobee klar, dass es im Moment sinnlos war, ihn anzusprechen. Wäre es nicht eigentlich logisch, wenn auch die künstliche Schwerkraft irgendwann deaktiviert worden wäre, schoss es ihr durch den Kopf. Und zwar noch bevor die letzten Besatzungsmitglieder dem Mangel an Nahrungsmitteln und Energie erlagen. Künstliche Schwerkraft stellte eine Art Luxus dar. Zwar hatte ihr Fehlen schwerwiegende physische Folgen, denen die Astronauten des zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts mit ausgiebigem körperlichem Training zu begegnen versucht hatten. Aber vor die Notwendigkeit gestellt, die letzten Energiereserven zur Erzeugung von Nahrung, Wärme und Atemluft verwenden zu müssen, gab es wohl keine intelligente Spezies mit gesundem Selbsterhaltungstrieb, die unter diesen Umständen nicht bereit gewesen wäre, auf künstliche Schwerkraft zu verzichten. Wenn man jedoch von einem Angriff der Merimden ausging, ergab alles einen Sinn. Möglicherweise gelang es ihnen, Zugang zu den
Lebenserhaltungssystemen zu erhalten, dachte Scobee. Sie gingen weiter, erreichten nun ein Schott, das offenbar gewaltsam geöffnet worden war. Wieder Kampfspuren, durchzuckte es die GenTec. In das Schott war ein Loch eingeschmolzen worden. Das Metall hatte sich an dessen Rändern zu klumpigen Wülsten gerollt und war in dieser Form erstarrt. Zu dumm, dass wir keine Ortungstechnik bei uns haben, überlegte Scobee und stieg durch das Loch. Jelto folgte ihr wortlos. Dahinter befand sich ein röhrenartiger Korridor. An den Wänden waren Spuren zu finden, die wahrscheinlich von einem Blastergefecht stammten. Rechts und links des Korridors gingen weitere Gänge ab. Nach einer Biegung trafen sie auf ein weiteres Schott, in das ebenfalls eine große Öffnung hinein geschmolzen worden war. In einige der Räume, die sich dahinter befanden, warf Scobee einen kurzen Blick. Ein Bild der Zerstörung bot sich dort. Metallteile lagen herum und auf eine Weise zerschnitten, die nichts Fachmännisches hatte. Technische Geräte, deren Funktion nicht ersichtlich war, lagen in ihre Einzelteile zerlegt auf dem Boden. Kabelbahnen ragten aus den Wänden. Die Verbindungen waren durchtrennt worden. »Das sieht nach blinder Zerstörungswut aus«, stellte Jelto fest. »Ich hoffe, dass sich irgendwo noch ein intakter Rechnerzugang oder so etwas befindet«, sagte Scobee. »Ein Datenträger oder irgendetwas anderes, das uns verraten könnte, wie die Bewohner dieses Schiffes aussahen.« »Und wie sie starben«, ergänzte Jelto. Er bedachte Scobee mit einem ernsten Blick. »Wir sollten an unsere Sauerstoffversorgung denken...«
In einem der nächsten Räume fanden sie tatsächlich einen ersten Hinweis auf die ursprünglichen Bewohner des Schiffes. Als Scobee den Raum betrat, glaubte sie zunächst, an der gegenüberliegenden Wand eine Skulptur zu sehen. Sie erschrak, als sie die Wahrheit erkannte. Ein sechsarmiger, ansonsten entfernt humanoid wirkender Körper schien mit dem Material, aus dem die Wand bestand, verschmolzen zu sein. Der Körper war teilweise kaum noch erkennbar. Er wirkte wie ein in Vulkangestein eingeschlossenes Fossil. »So sahen sie aus...«, flüsterte Jelto. Seine Stimme vibrierte. »Was glaubst du, was mit ihm passiert ist?« »Das sieht nach einem breit gestreuten Energiestrahl aus. Trotzdem wundert es mich, dass wir bislang nur auf diesen einen Toten gestoßen sind.« Jelto berührte mit dem Handschuh seines Raumanzugs das grausige Relief. Er schüttelte stumm den Kopf und schloss die Augen. Tränen rannen ihm das bronzefarbene Gesicht hinab. Eine automatische Funktion des Energiehelms sorgte dafür, dass sie absorbiert wurden. »Ich weiß jetzt, was diese Bilder bedeuten, die mir von der Pflanzenstimme übermittelt wurden«, sagte er leise. »Die Merimden müssen für ein unglaubliches Massaker verantwortlich gewesen sein. Ich sehe es vor mir...« »Stammte die Pflanze, mit der du Verbindung hattest von diesem Schiff?« »Das weiß ich nicht, Scobee. Vielleicht kam sie auch von einem der anderen Wracks. Aber ich bin mir jetzt sicher, dass die Merimden alles Leben an Bord vernichtet haben.« Jelto stöhnte auf, kniff die Augen zusammen, so als würde ein schier unerträglicher Schmerz seinen Körper durchlaufen. Die Erinnerungen an das, was die Pflanzenstimme ihm übermittelt hatte, schien außerordentlich intensiv zu sein.
»Du hast keine Vorstellung von ihrer Grausamkeit, Scobee. Die Pflanze an Bord des Merimdenschiffs hat alles mitbekommen, bevor man sie entwurzelte und in den künstlichen Wald integrierte. Das ganze Massaker.« »Dann blüht der RUBIKON wohl dasselbe Schicksal«, stellte Scobee düster fest. *** Jarvis und der Silberne materialisierten in dem künstlich angelegten Wald, der fast das gesamte Innere des Merimdenschiffs ausfüllte. Der Transfer war reibungslos verlaufen. Jarvis bemerkte, dass die wie Riesenasseln aussehenden, etwa handgroßen Tiere vor seinen Füßen Reißaus nahmen. Einige Sekunden später fiel ein gutes Dutzend von ihnen einer fleischfressenden Pflanze zum Opfer, die sie mit ihrem Fangblatt einhüllte. Durch Scobees Berichte wusste Jarvis, dass die Pflanzen ihre Beute nur teilweise verdauten. Die Panzer wurden dabei durch die scharfen Verdauungssäfte aufgelöst. Die Merimden ernteten die Pflanze danach ab und betrachteten sie samt ihrer Fleischfüllung als besondere Delikatesse. Jarvis stand noch ganz unter dem Eindruck seines Transfers über die Gravolinien, die sich zu Abermillionen durch den Sonnenhof zogen. Mit den kybernetischen Sinnen seines Nanokörpers hatte Jarvis versucht, sowohl die eigentliche Natur dieser Gravobahnen als auch das Transfermodul zu erfassen, das Merimde 1 bei sich trug. Die geistige Kontrolle, die dazu nötig war, hatte Jarvis' Bewusstsein ziemlich stark angestrengt. Aber er hatte registriert, dass sein Körper ihm besser gehorchte, als er es für möglich gehalten hätte...
Jarvis war von dieser Konzentrationsleistung noch etwas weggetreten. Alles, was ansonsten an Eindrücken auf ihn einströmte, schirmte Jarvis so gut es ging von seinem Bewusstsein ab. Er sah und hörte ohnehin nicht mehr auf dieselbe Weise wie ein Mensch. Seine Wahrnehmungen waren mit deren Wahrnehmungen nicht mehr zu vergleichen. Eine Erkenntnis, die Jarvis in gewisser Weise einsam gemacht hatte, denn es gab niemanden, mit dem er seine Eindrücke wirklich teilen konnte. Er war nicht mehr wirklich Teil ihrer Erlebnisgemeinschaft. Aber das war der Preis für sein Überleben gewesen. Selbst Cloud und Scobee waren letztlich nicht dazu in der Lage, wirklich zu begreifen, was seine Sinne zu erfassen vermochten. Sie waren so beschränkt in ihrer Kommunikations- und Wahrnehmungsfähigkeit, dass Jarvis mittlerweile bereits umgekehrt auch Schwierigkeiten hatte, sich ihre Sicht vorstellen zu können. Jarvis hatte einige Zeit gebraucht, um sich einigermaßen an die Möglichkeiten dieses neuen, aus Abermilliarden NanoTeilchen bestehenden Körpers zu gewöhnen. Die pseudohumanoide Gestalt, die er zumeist annahm, war eine Erinnerung an seine verlorene Menschlichkeit. Aber ihm war durchaus klar, dass es keinerlei sachlichen Grund gab, diese Form immer aufrecht zu erhalten. In dem Programm seines Körpers fand er nach und nach unzählige Routinen, die nur aktiviert werden mussten. Mit einiger Übung wurde die nötige geistige Anstrengung minimiert, um beispielsweise im halbflüssigen Zustand noch zu handeln. Genauso wenig machte es ihm inzwischen Mühe, auf Nano-Ebene Verbindungen zu technischen Systemen aller Art herzustellen. Und doch gab es noch so viel zu lernen... »Wie stellst du dir deine Nachforschungen auf unserem
Schiff vor?«, fragte Merimde 1. Wie aus weiter Ferne drangen diese Worte in Jarvis' Bewusstsein. Das Gehör war für ihn längst zu einem der unwichtigeren Sinne geworden. Einige Augenblicke lang schwieg Jarvis. Die Eindrücke während des Gravolinien-Transfers glichen für ihn einem grellen Feuerwerk. Es dauerte einige Augenblicke, bis er sich so weit gefangen hatte, dass er in der Lage war, den Silbernen anzusprechen. »Ich möchte, dass du mir eines eurer Transfermodule zur Verfügung stellst«, sagte er schließlich. Der Merimde zögerte. Das unangenehm klingende schabende Geräusch war unüberhörbar. Der Insektoide war von Jarvis' Vorschlag offensichtlich nicht begeistert. »Du hast am Schicksal eurer verschwundenen Leute gesehen, wie riskant die Benutzung eines derartigen Moduls ist«, warnte er. »Selbst erfahrene Merimden begehen bei deren Bedienung ab und zu folgenschwere Fehler.« »Du hast doch die Worte meines Kommandanten gehört. Er forderte rückhaltlose Aufklärung, was unsere Leute angeht...« Der Merimde unterbrach ihn. »Du redest von ihnen, als würden sie noch existieren.« »Wer könnte das ausschließen?«, fragte Jarvis zurück. Erneut folgte eine Pause. Dann griff Merimde 1 an seinen Gürtel, löste das betreffende Modul aus seiner Magnethalterung und ging mit hoch aufgerichtetem Vorderkörper auf Jarvis zu. Die Facettenaugen des Merimden unterzogen den AmorphKörper einer kalten Musterung. Mit dem Greifer berührte der Silberne einige der Sensorfelder auf der Oberfläche des Moduls. »Ich werde das Gerät auf deine Physis hin kalibrieren«, erklärte er und überreichte es schließlich Jarvis. »Die Tatsache,
dass ich dir eines der Transfermodule überlasse, ist ein außerordentlicher Beweis des Vertrauens«, stellte Merimde 1 abschließend fest. Jarvis neigte leicht den Kopf. »Ich weiß dieses Vertrauen sehr wohl zu schätzen.« Er hielt das Modul mit beiden Händen. »Du benötigst keinerlei Unterweisung im Gebrauch des Gerätes?«, vergewisserte sich der Silberne. »Nein. Ich habe während des letzten Transfers seine . Funktionsweise ausgiebig studiert.« »Und das reicht dir für die Anwendung? Selbst wir Merimden mussten den Umgang mit den Transfermodulen erst üben, und es kam zu einigen bedauerlichen Todesfällen, weil die ersten Versionen, die wir entwickelten, noch nicht dem jetzigen Standard entsprachen.« Jarvis wandte etwas ruckartig den Kopf. Die Bewegung der Abermillionen insektenartigen Nano-Teilchen schien für einen kurzen Moment zum erliegen zu kommen. »Offenbar entspricht dieser Standard in keiner Weise den Erfordernissen, wie der Unfall unserer Besatzungsmitglieder zeigt«, stellte er kalt fest. »Den Erfordernissen, die die Anwendung auf eure Spezies verlangt«, korrigierte der Merimde. »Wir hingegen hatten schon längere Zeit keine tragischen Vorfälle mehr.« Jarvis stellte eine direkte Verbindung zwischen dem Modul und seinem Nanokörper her. Das Gerät wurde praktisch ein Teil seiner selbst. Oft genug hatte er das in letzter Zeit mit allen möglichen anderen Geräten geübt, wenn er allein war. So konnte er nun selbst das Transfermodul ohne Schwierigkeiten bedienen und jede gewünschte Funktion ausführen. Er aktivierte das Kraftfeld, das mit dem Modul erzeugt wurde. Um ihn herum konnte er jetzt das feine Geflecht unzähliger Linien erkennen. Er ging einfach los, durchdrang die Außenhaut des
Merimdenschiffes, so als würde es sich um nichts weiter als eine Projektion handeln. Jarvis folgte einer starken, gut erkennbaren Gravolinie, benutzte sie als Bahn und spürte, wie er in einen bunten Strudel aus Farben und Formen hineinraste. Ein Transfer dauerte nur wenige Minuten. Das ist eine kurze Zeit, um alles erkennen, alles erforschen zu können. Die Sterne wurden zu Lichtschlieren, alles schien sich um Jarvis herum zu drehen. Entlang einer stark ausgeprägten Gravobahn raste er der RUBIKON entgegen und versuchte, mit seinen Sinnen all das aufzunehmen, was ihm vielleicht weiterhelfen konnte. Jarvis erschien schließlich auf der RUBIKON. Er meldete sich über einen Interkom-Kanal kurz bei Cloud, der sich in der Zentrale befand. Anschließend machte er sich sofort auf den Rückweg. Ein einzelner Transfer reichte einfach nicht aus, um zu irgendeiner brauchbaren Erkenntnis zu kommen. Jarvis konzentrierte seine kybernetischen Sinne auf das Modul, versuchte, sämtliche Daten in sich aufzunehmen, die das Gerät aufzeichnete. Soweit er herausgefunden hatte, bildete das durch das Modul erzeugte Kraftfeld eine Kontinuumsblase. Ein kleines Universum für sich, das auf den Gravitationsbahnen entlang rutschte. Der Kurs wurde vorher einprogrammiert. Das Modul ermöglichte es aber auch, ihn jederzeit zu ändern und auf kleineren Abzweigungen andere Bereiche des Gravo-Netzes zu erkunden. Zumindest sah das interne Menü des Transfermoduls diese Möglichkeit vor. Jarvis versuchte, diese Funktion zu aktivieren. Vergeblich. Das Modul transferierte ihn immer wieder nur von der RUBIKON zum Merimdenschiff oder umgekehrt. Ein anderer Kurs innerhalb des Sonnenhofs konnte nicht genommen werden. So war es für Jarvis beispielsweise unmöglich, eines der
anderen Wracks anzusteuern. Das Gerät könnte manipuliert sein, dachte Jarvis. Er erinnerte sich an die Manipulationen, die Merimde 1 kurz vor seinem ersten selbst durchgeführten Transfer an dem Modul vorgenommen hatte. Angeblich war das geschehen, um es auf die Physis des Amorphkörpers einzustellen. Ein anderes Motiv schien Jarvis allerdings viel näher zu liegen. Sie wollen verhindern, dass ich eins der anderen Wracks besuche, erkannte er. Aber warum taten sie das? Gab es etwas, das unter allen Umständen vor den Augen der RUBIKON-Besatzung verborgen bleiben sollte? Jarvis überlegte, ob es vielleicht etwas mit Scobees und Jeltos Schicksal zu tun hatte. Genau in diesem Moment spürte Jarvis, dass etwas nicht stimmte. Das Modul machte sich selbstständig, nahm unerwarteterweise eine Kursänderung vor und bog auf eine andere Gravobahn. Er beschleunigte um ein Vielfaches. Für quälend lange Augenblicke war nichts außer einem Geflacker verzerrter Formen und Farben sichtbar. Selbst Jarvis’ erweiterte Sinne registrierten zunächst nichts als pures Chaos und widersprüchliche Wahrnehmungen, die sich eigentlich gegenseitig ausschlossen. Das Minikontinuum innerhalb des Kraftfeldes schien nun vollkommen von seiner Umgebung getrennt zu sein. Jarvis versuchte, das Modul zu beeinflussen. Aber es reagierte nicht auf seine Bemühungen, obwohl er nur wenige Augenblicke zuvor noch einen vollständigen Zugriff gehabt hatte. Da läuft ein Programm ab, dachte Jarvis. Er erkannte, dass der Merimde ihn offenbar hereingelegt hatte. Das Modul war manipuliert gewesen.
Eine Falle! Sie wollen nicht, dass ich herausfinde, was mit Scobee und Jelto geschehen ist!, durchzuckte es Jarvis. Von Anfang an hatte er das gespürt. Sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen. Aber der Silberne war ihm um einen gedanklichen Schritt voraus gewesen und hatte deshalb leichtes Spiel mit ihm gehabt. Jarvis spürte noch, wie das Kraftfeld deaktiviert wurde. Er fiel ins Bodenlose, die schützende Kontinuumsblase war verschwunden. Der Amorph-Körper wurde förmlich auseinander gerissen. Die Abermilliarden Nano-Teilchen, aus denen er bestand, verteilten sich, lösten sich auf wie ein aufgescheuchter Fliegenschwarm. Im nächsten Moment setzten sie sich wieder zusammen und bildeten zunächst einen kugelförmigen Klumpen. Sie verdichteten sich. Jarvis gewann wieder Substanz, der pseudohumanoide Körper rekonstruierte sich. Für einige Augenblicke war Jarvis wie weggetreten gewesen. Als er wieder zu sich kam, hatte er das Gefühl, aus einem langen, todesähnlichen Schlaf erwacht zu sein. Er schwebte im All. Rechts von ihm leuchtete das Sternenband der Großen Magellanschen Wolke. Ein Teil der Sterne wurde durch eine dunkle Zone abgedeckt. Eine der neun Schwarzen Sonnen, die den Sonnenhof bildeten. Auf der anderen Seite leuchteten nur die Lichter ferner Galaxien als verwaschene Lichtflecken. Die entfernteren wirkten ihrerseits wie einzelne Sterne. Jarvis bemerkte das Modul, zu dem keine Verbindung mehr bestand. Als sein Nanokörper kurzzeitig die Form aufgegeben hatte, war sie unterbrochen worden. Das quaderförmige Gerät trudelte mit einer chaotisch wirkenden Eigenrotation von ihm fort.
Irgendwann, in hunderttausend Jahren würde es vielleicht in eine der Schwarzen Sonnen stürzen oder mit einem der zahllosen Raumschiff-Wracks kollidieren, die das Innere des Sonnenhofs füllten… *** »Du bist der Mensch mit dem Namen Johncloud«, sagte Boreguir. Es war eine Feststellung, keine Frage. John kehrte gerade von einem erneuten Besuch bei seinem Vater zurück. Erneut war es ihm nicht gelungen, sich wirklich mit Nathan zu verständigen. Aylea war dabei gewesen. In der Anwesenheit des Mädchens beruhigte sich sein Vater zumindest, und es kam nicht zu plötzlichen Tobsuchtsanfällen. John Cloud war überrascht, den Saskanenkrieger Boreguir in der Zentrale der RUBIKON zu finden. Eigentlich hatte er SESHA angewiesen, dafür zu sorgen, dass er die ihm zur Verfügung gestellte Kabine zunächst nicht verließ. Aber die Schiffs-KI schien dazu ihre eigene Meinung zu haben. »Mein Name ist John Cloud«, korrigierte er sein katzenhaftes Gegenüber. »Nicht Johncloud.« Im Gegensatz zu seinem Vater trug John einen implantierten Sprachchip, sodass eine Verständigung zwischen ihm und dem Saskanen problemlos möglich war. »Freund Jarvis hat mir viel über dich erzählt, John Cloud.« Clouds Lächeln blieb verhalten. »Ich hoffe nur Gutes.« »Er sagte, dass er dir auf dieselbe Weise vertraut wie ich ihm. Es ist also vernünftig, wenn ich dir auch vertraue.« »Das kannst du.« »So sei ein Freund Boreguirs, des Kriegers!« Cloud deutete auf das Schwert, das der Saskane bei sich trug. »Voraussetzung ist natürlich, dass du damit keinen Unfug
anstellst.« »Diese Waffe ist nur zum ehrenhaften Duell bestimmt – und zur Selbstverteidigung!« Cloud wandte sich an die KI. »Warum ist Boreguir nicht mehr in seiner Kabine? Offenbar wurde ihm die Benutzung der Türtransmitter gestattet!« »Dafür gibt es bislang noch keine logische Erklärung«, berichtete SESHA. »Dein Bezug auf die bestehenden Anweisungen sind korrekt. Offensichtlich waren die Subroutinen des Türtransmitters nicht richtig programmiert und haben Boreguir die Passage gestattet.« John atmete tief durch. »Ich möchte, dass das überprüft wird.« »Gewiss.« Cloud sah Boreguir erstaunt an. »Niemand kann mich sehen, wenn ich es nicht will«, sagte der Saskane. »Und wer mich gesehen hat, vergisst mich wieder. Das gilt auch für die Allgegenwärtige.« »Jarvis hat dich gefunden«, gab Cloud zu bedenken und dachte, dass »die Allgegenwärtige« ein treffender Name für die KI der RUBIKON war. »Jarvis ist ein Freund. Ein Freund, dessen Körper verändert wurde. Ich weiß nicht, wie das geschah, nur dass es geschah, steht fest. Seine Seele scheint in einem neuen, sehr seltsamen Ding zu leben...« Der Saskane mochte ein Barbar sein, dem beinahe jedes technische Verständnis fehlte. Aber in diesem Fall traf er die Wahrheit ziemlich genau. Boreguir machte einen Schritt auf Cloud zu. »Jarvis hat mich gerettet«, stellte er fest. »Er hat mich vor der Macht, die alles umfasst, gerettet. Sie wollte mich umbringen. Aber Jarvis sagte mir, dass diese Macht dir untersteht, John Cloud.«
»Du meinst SESHA. Sie wird dir nichts tun.« »Das sagte Jarvis auch. Aber ich könnte jederzeit wieder verschwinden und niemand würde sich an mich erinnern. Ich bin so leicht wie eine Feder. Ich existiere dann nicht...« »Wie machst du das?«, fragte Cloud. »Ich weiß es nicht«, war die trockene Antwort des Saskanen. »Ich weiß nur, dass ich es kann.« Boreguir überlegte kurz. »Wie geht es Nathancloud?« »Er erholt sich«, sagte John. »Kann ich zu ihm?« »Nein, noch nicht. Er ist zurzeit nicht ansprechbar. Mein Vater hat Jahrhunderte in Wach-Stase verbracht. Das hat ihn den Verstand gekostet.« »Er hat mir vieles gesagt«, berichtete Boreguir. »Aber ich konnte ihn nicht verstehen.« Cloud lächelte matt. »Siehst du, so ähnlich geht es mir mit ihm im Augenblick auch.« »Ich habe versucht, ihm ein Freund zu sein und ihn zu beschützen.« »Das hat Jarvis mir berichtet«, erwiderte Cloud. »Ich glaube, es war ein Fehler...« »Was?« »Deinen Vater aus seiner Erstarrung zu wecken«, erklärte der Saskane. »Aber als ich es bemerkte, war es schon zu spät. Es ging ihm immer schlechter. Ich wusste nicht, was ihm fehlte und wie ich hätte helfen können. Meine Vorräte habe ich mit ihm geteilt, aber sie haben ihn nicht gestärkt...« »Ich mache dir keinerlei Vorwurf, Boreguir.« »Das tröstet mich. Was ich tat war unehrenhaft. Ich dachte nur daran, meine Einsamkeit zu beenden. Aber ich habe nicht die Folgen überlegt, die das für deinen Vater haben konnte.« »Diese Folgen konntest du nicht erahnen, Boreguir«, sagte Cloud.
»Das ist keine Entschuldigung.« Der Saskane reichte Cloud die krallenbewehrte Hand. Es gab offenbar Gesten, die im Universum weit verbreitet waren. »Ich versuchte, deinem Vater ein Freund und Gefährte zu sein, und bin jämmerlich gescheitert. Auch wenn ich vielleicht nicht würdig genug bin, so biete ich seinem Sohn dasselbe an...« Cloud ergriff die Hand. »Danke.« In diesem Augenblick erschien Aylea in der Zentrale, wobei sie über das Bein eines toten Foronen stieg. Ihr Gesicht wirkte nachdenklich. Die Nachricht von Scobees und Jeltos Tod hatte sie sehr mitgenommen, auch wenn sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Dein Vater schläft«, sagte sie an Cloud gewandt. »Ist wahrscheinlich am besten so«, erwiderte John Cloud. Aylea hob die Augenbrauen. »Er hat ungeheure Angst. Ich nehme an, es wird lange dauern, bis er die überwunden hat.« Cloud nickte. Wenn er es überhaupt je schafft!, dachte er bitter. *** Scobee und Jelto erreichten einen großen, hallenartigen und in der Form eines Siebenecks angelegten Raum. In regelmäßigen Abständen waren hier Konsolen zu finden. Eine große Fläche an der Wand hatte wohl als Panoramabildschirm gedient. Das Material selbst schien für Scobee Ähnlichkeit mit Protomaterie zu besitzen. Staubpartikel hatten sich darauf abgesetzt. Etwa die Hälfte der Konsolen war zerstört, die anderen wirkten jedoch unversehrt. »Offenbar befand sich hier die Zentrale«, stellte Scobee fest.
Auf dem Fußboden fielen ihr etwa handgroße Gebilde auf, die wie Insekten aussahen. Allerdings bestanden sie offenbar aus Metall. Teilweise waren sie zerstört. Einzelteile fand man überall verstreut. Scobee hob ein relativ gut erhaltenes Exemplar auf. »Robot-Drohnen«, stellte sie fest. »Den Beschädigungen nach wurden sie durch Energiestrahlen zerstört.« »Ja«, sagte Jelto leise. Er schien sich nicht besonders dafür zu interessieren. Er blieb stehen und sah sich um. Es war ihm anzusehen, dass er sich hier nicht sonderlich wohl fühlte. Den Grund dafür hätte er nicht angeben können. Es war einfach ein Gefühl des Unbehagens. Der Florenhüter blickte auf die Anzeige seiner Sauerstoffversorgung. »Unsere Sauerstoffversorgung geht dem Ende zu«, sagte er. »Ich glaube jedenfalls nicht, dass sich die Lebenserhaltungssysteme dieses Schiffes noch reaktivieren lassen.« Scobee nickte. Wir hätten darauf vorbereitet sein müssen! Wir hätten bessere Ausrüstung mitnehmen sollen! Doch es hatte ja nur ein Ausflug zu einigen befreundeten Wesen sein sollen, keine Außenmission. »Es wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, als erneut das Transfermodul zu benutzen«, sagte Scobee. »Ich kann nur hoffen, dass wir dann in einer freundlicheren Umgebung landen.« »Dann sollten wir es bald tun, Scobee. Dann können wir uns ein paar Fehlversuche leisten, bei denen wir vielleicht auf ähnlich öden Wracks oder im freien Raum landen.« »Ich möchte erst noch etwas mehr über dieses Schiff herausfinden.« »Die Anzeige meiner Sauerstoffversorgung steht auf 9 Prozent!« Panik schwamm in der Stimme des Florenhüters mit. »Nicht die Nerven verlieren, Jelto!«
»Du bist gut! Meine Verbundenheit mit den Pflanzen geht leider nicht so weit, dass ich in der Lage wäre, mein eigenes Kohlendioxid zu atmen!« »Jelto, wir haben mindestens noch für eine Stunde Sauerstoff!«, versuchte ihn die GenTec zu beruhigen. »Ohne körperliche Anstrengung gerechnet!« »Gib mir noch etwas Zeit, Jelto. Wir müssen so viel wie möglich über dieses Schiff herausfinden. Schließlich wollen wir ja nicht, dass es der RUBIKON-Crew genauso ergeht wie diesen armen Teufeln.« »Sicher...« Für einen kurzen Moment schaltete Scobee auf Infrarotsicht um und suchte nach eventuell vorhandenen Wärme- und Energiequellen. Aber da war nichts. Die Zentrale war energetisch gesehen so tot wie das gesamte Schiff. Scobee veränderte erneut das Spektrum, um auch den elektromagnetischen Frequenzbereich abzuchecken. Aber auch in diesem Bereich war nichts Ungewöhnliches zu erkennen. »Was mich wundert, ist, dass wir bis jetzt nur einen einzigen Toten gefunden haben«, meinte Scobee plötzlich. Sie hob die Arme und machte eine ausholende Geste. »Hier wurde gekämpft, man kann die Einschussspuren der Strahlwaffen erkennen – und das, was mit dem mit der Wand verschmolzenen Humanoiden geschehen ist, liegt ja wohl auf der Hand. Aber es gibt hier nirgends Leichen.« »Vielleicht wurden sie weggeräumt.« »Das erklärt, weshalb wir keine merimdischen Leichen gefunden haben. Aber weshalb sollten sich die Merimden um die fremden Toten kümmern.« »Fünfzig Jahre sind die Merimden hier. Das ist lange genug, damit sich ein Körper vollständig zersetzt«, sagte Jelto. »In den Florenreservaten herrschte ein ständiges Geborenwerden und Sterben. Nicht einmal die Knochen bleiben nach wenigen
Jahren noch von einem Tierkadaver.« »Aber hier herrscht ein kaltes Vakuum, Jelto«, argumentierte Scobee. »Die Toten hätten konserviert werden müssen!« Jelto hob die Augenbrauen. Sein Gesicht wirkte erstaunlich ausgeglichen. Nachdenklich ließ er den Blick umherschweifen, aber Scobee hatte den Eindruck, dass er gar nicht wirklich hinsah. Er war in seiner eigenen Gedankenwelt. »In einem Wald gibt es keine Kadaver«, stellte er schließlich fest. »Weder von Pflanzen, noch von Tieren. Alles wird in den Kreislauf zurückgeführt.« Ein Ruck ging durch Scobee. Sie begriff plötzlich, worauf der Florenhüter hinaus wollte. »Du meinst...« Sie verstummte. »Warum sollte dieses Gesetz hier nicht gelten, Scobee?« »... dass die Merimden die Schiffsbesatzung verzehrt haben?« Jelto schwieg einige Augenblicke lang. Er schloss die Augen dabei. Die Bilder der Gewalt, die ihm die Pflanzenstimme an Bord des Merimdenschiffs übermittelt hatte, und die seitdem immer wieder aus seinen Erinnerungen emporstiegen, schienen ihn auch jetzt in ihren Bann zu ziehen. »Manches war mir bislang nicht erklärlich«, stellte er fest. »Aber jetzt macht es Sinn...« »Als ich den künstlich angelegten Wald auf dem Merimdenschiff zum ersten Mal gesehen hatte, dachte ich, sie wären Vegetarier«, erzählte Scobee. »Aber das stimmt nicht. Sie essen die Riesenasseln, die wir im Waldboden gesehen haben.« »Ja, nachdem sie von den fleischfressenden Pflanzen mit eigens dafür ausgebildeten Blättern eingefangen, umwickelt und vorverdaut werden, ernten die Merimden diese Blätter ab«,
ergänzte Jelto. Scobee blickte ihn erstaunt an. »Das weißt du?« »Die Pflanzenstimmen haben es mir gesagt. Da meine Freunde diese Ernte aber nicht als bedrohlich oder unangenehm ansahen, hatte ich keinen Grund zur Besorgnis.« Scobee runzelte die Stirn. »Deine Freunde hatten nichts dagegen, dass die Merimden ihnen quasi immer wieder die vollen Mägen amputieren?« »Nein. Ich habe mich auch darüber gewundert. Sie ziehen ihre Nährstoffe durch die Zersetzung der Panzer. Das Innere ist für sie nur ein Rest, der das Ausbilden eines neuen Fangblattes verhindert.« »Dann sind diese Pflanzen genetisch nach den Bedürfnissen der Merimden verändert worden«, vermutete Scobee. Sie hatte sowohl den Strahler als auch das Transfermodul an Magnethalterungen ihres Anzugs befestigt, um die Hände frei zu haben. Ihre Finger glitten jetzt über die Oberfläche einer Konsole. Staubpartikel hatten sich darauf abgesetzt. Scobee bemerkte den Umriss einer sechsfingrigen Hand. Sie nahm an, dass es sich um ein Sensorfeld handelte, das ursprünglich zur Bedienung der Konsole bestimmt gewesen war. Immerhin wissen wir jetzt ziemlich genau, wie die Hände jener Wesen ausgesehen haben, die einst an Bord dieses Schiffs ihrem Tod entgegensahen. Plötzlich leuchtete die von dem Handriss abgegrenzte Fläche rot auf. So stark, dass Scobees Hand wie auf einem Röntgenschirm durchleuchtet wurde. Ihre Knochen wurden sichtbar. Sie wollte den Arm zurückziehen. Doch ihre Hand ließ sich für die Dauer von zwei, drei Sekunden nicht von der Oberfläche der Sensorfläche lösen. Ein prickelndes Gefühl
durchlief ihren Arm. Es war hart an der Grenze zum Schmerz. Etwas zischte, und ein greller Blitz zuckte aus der Konsole heraus und fuhr in einen antennenartigen Fortsatz, der von der Decke herabhing. Im nächsten Moment war alles vorbei. Scobee riss ihre Hand zurück. Sie schaltete auf Infrarotsicht um. Nun war eine schwächer werdende Wärmequelle innerhalb der Konsole zweifelsfrei auszumachen. »Alles in Ordnung?«, fragte Jelto. Scobee öffnete halb den Mund, brachte aber keinen Ton hervor. Offenbar hatte die Wärmeenergie ihrer Hand, dieser winzige Temperaturunterschied, der an der Außenseite ihrer Handschuhe noch messbar war, als ein Signal gewirkt. Ein energetisches Signal, das etwas in Gang zu setzen schien, von dem Scobee noch nicht sagen konnte, was es war. Warum sollte es nicht noch verborgene Energiereserven an Bord geben?, ging es Scobee durch den Kopf. Reserven, die vielleicht ausreichen, um das Rechnersystem des Schiffes zumindest kurzzeitig wieder in Betrieb zu nehmen, sodass wir vielleicht mehr über das erfahren können, was sich hier zugetragen hat. Im günstigsten Fall gab es sogar Bild- und Tonaufzeichnungen, die Aufschluss über die Kämpfe und den Verbleib der Leichen gaben. Brauchst du diese letzte Gewissheit denn wirklich noch?, durchzuckte es sie. Scobee näherte sich noch einmal der Konsole mit dem handförmigen Sensorfeld, dessen Berührung alles ausgelöst hatte. Ein kurzer Infrarotblick zeigte ihr, dass die Temperatur innerhalb mehrerer Konsolen stieg. Ein dumpfes Summen ließ den Boden erzittern. Jelto trat an sie heran. »Was hast du vor?«
Sie löste das Transfermodul von ihrem Anzug und reichte es Jelto. »Hier! Falls mir etwas passiert, kannst du versuchen, damit zurück zur RUBIKON zu gelangen!« Ehe Jelto einzuschreiten vermochte, hatte Scobee erneut ihre Hand auf die Sensorfläche gelegt. Wieder durchfuhr sie jenes charakteristische Prickeln, das sie bereits bei ihrem ersten Versuch überlaufen hatte. Aber diesmal war es weit davon entfernt, schmerzhaft zu sein. Beinahe hatte sie den Eindruck, dass sich das Sensorsystem auf ihre Physis eingestellt hatte. Für einen kurzen Moment spürte sie einen stechenden Schmerz im Kopf. Es dauerte nicht länger als eine Sekunde, bis sie davon nichts mehr spürte. Ein Strom von Bildern, Eindrücken und Sprache floss in sie hinein. Worte, unbekannte Zeichen, Symbole... Nur ein Bruchteil davon war für Scobee verständlich. Direkte telepathische Übertragung, erkannte Scobee, als sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte. Die Erbauer dieses Schiffes scheinen technisch recht fortgeschritten gewesen zu sein. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich das Chaos ordnete. Noch immer erreichten Scobee Eindrücke und mentale Impulse, die sie nicht interpretieren konnte. Aber der verständliche Anteil stieg. Das System wird in einem energiesparenden Not-Modus hochgefahren, bekam Scobee mitgeteilt. Warnung! Energie-Notreserve bei 2 Prozent. Ein Betrieb der bordinternen Systeme ist nur für wenige Sogros möglich. Zweifellos waren Sogros eine Zeiteinheit. Der Bordrechner vermittelte Scobee allerdings keinerlei Vergleichsgröße, mit deren Hilfe sie hätte herausfinden
können, wie groß diese Zeitspanne war. Mentale Autorisation nicht gefunden, meldete der Bordrechner schließlich. Identität unklar! Überprüfung erfolglos. Abwehrmaßnahmen werden eingeleitet. »Nein!«, rief Scobee. »Wir kommen in friedlicher Absicht.« Sie sprach laut, weil sie hoffte, dass ihr Gedankenstrom dann konzentriert und stark genug war, um den Bordrechner zu erreichen. Das war jedoch ein Irrtum. Es wurde Eindringlingsalarm ausgelöst. »Die Besatzung des Schiffs ist tot! Wir haben das Wrack erforscht und die Bordsysteme reaktiviert...« Scobee brach ab. Es war sinnlos, noch irgendetwas erklären zu wollen. Sie spürte, wie die mentale Verbindung zum Schiffsrechner abbrach. Er zog sich zurück. Ein kurzes Kribbeln, dann durchzuckte Scobee ein elektrischer Schlag. Offenbar eine Abwehrreaktion, um Scobee von der Konsole zu vertreiben. Die Klon-Matrix taumelte zurück. Jelto fasste sie bei den Schultern, fing sie auf und verhinderte, dass sie zu Boden ging. In der Wand öffnete sich eine Klappe. Dahinter gähnte eine dunkle, quadratische Öffnung. Lautlos kamen mehrere der etwa handgroßen, an gigantische schwarze Hornissen erinnernden Pseudo-Insekten hervor. Sie schwebten in die Zentrale hinein, wobei ihre membranartigen Flügel vollkommen regungslos waren. Ohnehin hätten sie damit auch nicht fliegen können. Offenbar verfügten die Drohnen zusätzlich über ein Antigravaggregat für den Einsatz im Vakuum. Ein blitzartiger Energiestrahl schoss aus einem dieser Roboter hervor und verfehlte Scobee nur knapp. Der Strahl fraß sich in den Boden.
Scobee richtete den Merimden-Strahler auf die Drohne und feuerte zurück. Der Energiestrahl erfasste die Drohne, das Antigravaggregat versagte. Die membranartigen Flügel begannen vergeblich im Vakuum zu rudern. Die Drohne stürzte zu Boden. Jelto warf sich hinter eine der Konsolen, während ein Energiestrahl dicht über ihn hinwegzuckte. Scobee warf sich ebenfalls zu Boden, rollte zur Seite, während sich dicht neben ihr ein Strahlenschuss in den Boden fraß. Sie betätigte erneut den Sensorpunkt des MerimdenStrahlers. Ein Strahl schoss heraus. Durch unterschiedlich starken Druck auf den Sensorpunkt konnte man offenbar die Streuung des Energiestrahls variieren. Da Scobee diesmal ziemlich stark auf den Punkt gedrückt hatte, erfasste breit gestreutes Energiefeuer beide noch funktionsfähigen Drohnen auf einmal. Sie stürzten augenblicklich ab. »Hinter dir!«, schrie Jelto über Helmfunk. Scobee schnellte blitzschnell hoch und riss den Strahler herum. Eine weitere Klappe öffnete sich. Die GenTec drückte diesmal sofort auf den Sensorpunkt des Strahlers und zielte auf die dunkle Öffnung. Aber die Waffe versagte den Dienst. So fest Scobee auch auf den Sensorpunkt drückte, es schoss kein Blasterstrahl aus der Mündung heraus. Der Energiespeicher war leer! *** John Cloud befand sich allein in der Zentrale der RUBIKON. Jarvis war überfällig. Nachdem er bereits ein paar Mal zwischen der RUBIKON
und dem Merimdenschiff hin und her gependelt war, hatte er sich nicht mehr gemeldet. Mehrfach hatte Cloud SESHA aufgefordert, Funkkontakt zu den Merimden herzustellen. Angeblich war das nicht möglich, weil die Merimden nicht reagierten. John Cloud hatte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Irgendetwas war hier faul! Er wandte sich erneut an die Schiffs-KI. »Jarvis' Nanokörper müsste doch sehr charakteristische physikalische Eigenschaften aufweisen«, meinte Cloud. »Eigenschaften, mit deren Hilfe man ihn orten könnte!« »Das ist im Prinzip richtig«, gestand SESHA zu. »Allerdings sind meine Möglichkeiten, ihn an Bord des Merimdenschiffs zu lokalisieren sehr gering, da die spezifische Beschaffenheit ihrer Schutzschilde meine Sensoren hemmt. Im Übrigen weise ich darauf hin, dass alle bisherigen Versuche in diese Richtung fehlgeschlagen sind und es sehr ineffektiv wäre, damit angesichts der geringen Erfolgsaussichten fortzufahren. Falls du dies wünschst, werde ich es allerdings trotzdem tun.« Na, immerhin scheint SESHA zurzeit tatsächlich meine Autorität einigermaßen anzuerkennen!, ging es John Cloud durch den Kopf. Er wusste jedoch nicht, ob er verärgert oder erleichtert über die Antwort der Schiffs-KI sein sollte. Erleichtert darüber, dass sie seinen Befehl auch gegen ihre eigene Meinung ausführen würde. Verärgert, weil sie immer wieder damit begann, Anweisungen zunächst einmal in Frage zu stellen. Bei Sobek wäre ihr das nicht eingefallen!, dachte Cloud. Möglicherweise besteht die Möglichkeit, dass sie sich mit der Zeit wieder meinen Bedürfnissen anpasst! In einem Punkt tat SESHA das ja auch schon. Sie stellte sich ganz auf akustische Kommunikation ein,
weil sie wusste, dass der gegenwärtige Kommandant der RUBIKON diese bevorzugte. »Eindringlingsalarm!«, meldete SESHA plötzlich. »Was ist los?«, verlangte Cloud zu wissen. SESHA ermöglichte es Cloud, die Ereignisse in der HauptHolosäule zu beobachten. Dutzende von Merimden erschienen auf dem Schiff. Diesmal jedoch nicht ausschließlich an jener Stelle, an der zum ersten Mal Merimde 1 und sein Gefolge aufgetaucht waren. Zeitgleich und koordiniert, erschienen sie jetzt in ganz unterschiedlichen Sektoren des Schiffs. SESHA schuf eine dreidimensionale schematische Darstellung, die das veranschaulichte. Auf einem holografischen Abbild der RUBIKON wurden all jene Stellen farbig markiert, an der zurzeit Merimden auftauchten. »Ist das eine Invasion?«, verlangte Cloud zu wissen. »Abwehrmaßnahmen werden automatisch eingeleitet«, verkündete SESHA nun und fügte anschließend noch hinzu: »Standardabwehr.« Inzwischen wusste Cloud ja, was dieser Begriff bedeutete, wenn SESHA ihn benutzte. Durch einen der Türtransmitter materialisierten mehrere Spinnenroboter. Sie gingen in der Zentrale in Stellung und bildeten eine Art Kreis um John Cloud herum. Die Waffenarme waren in Stellung gebracht. »Du erwartest, dass die Zentrale angegriffen wird?«, fragte Cloud. »Die Merimden wollen offenbar das Schiff unter ihre Kontrolle bringen. Die Zentrale ist ein logisches Ziel«, erklärte die KI. Auf mehreren Holosäulen sowie dem Panoramabildschirm wurden jetzt Bilder aus verschiedenen Sektionen der RUBIKON gezeigt. Spinnenroboter und Schwärme von Nano-
Teilchen griffen die Merimden an. Es kam zu teils heftigen Kämpfen. Aber die Schutzschilde, die von dem Merimden benutzt wurden, waren von hervorragender Qualität. Nur sehr gezielter und dauerhafter Beschuss vermochte sie zu durchdringen. Die Schwärme aus Nano-Robotern waren vollkommen unschädlich für die Eindringlinge. Besorgt blickte Cloud auf die Projektion, auf der angezeigt wurde, wo überall Merimden an Bord kamen. Inzwischen war das bereits an vierzig, fünfzig verschiedenen Stellen der Fall. Mindestens fünfhundert Merimden gelangten innerhalb kürzester Zeit an Bord. »Gibt es denn keine Möglichkeit, die Schutzschirme zu kalibrieren?«, rief Cloud. »Schon geschehen.« »Und?« »Ohne Wirkung. Türtransmitter sind gesperrt. Die Zentrale ist so gut es geht vom Rest des Schiffes abgeschottet.« »Was ist mit meinem Vater? Was mit Aylea?«, fragte Cloud. »Sind sie gegenwärtig in Gefahr?« Nachdem Aylea sich einige Zeit ausgiebig mit Nathan Cloud befasst hatte, war sie in ihre Kabine gegangen, um sich auszuruhen. Was Boreguir gegenwärtig tat, wusste Cloud nicht. Seit ihrem letzten Gespräch war der Katzenartige zuerst bei Nathan Cloud gewesen, bevor er schließlich ebenfalls in seiner Kabine verschwunden war. Cloud konnte nur hoffen, dass die Transmitterzugänge zu den Räumlichkeiten der beiden ebenso intensiv abgesperrt wurden, wie dies nach SESHAs Angabe mit der Zentrale geschehen war. »Es werden alle zur Sicherung dieser Personen notwendigen Schritte unternommen«, erklärte SESHA reichlich unverbindlich.
Eine Lichterscheinung flackerte auf. Wie aus dem Nichts erschienen die Gestalten mehrerer Merimden in der Zentrale. Zunächst wirkten sie transparent. Erst allmählich gewannen sie Substanz. Offenbar war es für sie kein Problem, sich innerhalb der RUBIKON mit ihren Transfermodulen auf den unsichtbaren Gravolinien entlang zu bewegen. Feste Materie schien dabei ebenso wenig ein Hindernis darzustellen wie die Schutzschilde der RUBIKON oder die Eindämmungsfelder, mit denen SESHA die Eindringlinge zu bekämpfen versuchte. Die anwesenden Spinnenroboter eröffneten sofort das Feuer. SESHA wartete einen Befehl Clouds gar nicht erst ab. Die Zeit für Verhandlungen schien in den Augen der KI wohl vorbei zu sein und ausnahmsweise teilte Cloud in dieser Hinsicht einmal SESHAs Position. Die Energiestrahlen aus den Waffenarmen der Roboter erfassten die angreifenden Merimden voll und ganz. Es kam zu grellen, blitzartigen Lichterscheinungen, die einzelne Merimden sekundenlang wie Auren umgaben. Die Energieschilde der Merimden waren für die Waffen der Spinnenroboter offenbar nicht so leicht zu durchbrechen. Das war schon bei der ersten Begegnung dieser Insektoiden mit SESHAs Robotern zu sehen gewesen. Gewiss hatte SESHA die Waffensysteme ihrer Kampfeinheiten in der Zwischenzeit remoduliert, um für den Fall einer Konfrontation gerüstet zu sein. Aber offenbar waren diese Bemühungen nur mäßig erfolgreich gewesen. Cloud verbarg sich hinter einer Konsole, obwohl er wusste, dass sie ihm kaum Schutz bieten würde. Aber die Merimden schienen es nicht auf ihn abgesehen zu haben. Sie wussten offenbar, dass er – ohne irgendeine Bewaffnung – zurzeit keinerlei Gefahr für sie bedeutete, und ignorierten ihn einfach.
Die Strahlwaffen der Merimden zerstörten mit präzisen Schüssen die ersten beiden Spinnenroboter. Cloud erkannte den Silbernen. Den Vorderkörper hoch aufgerichtet, bediente er mit den Greifern des oberen Extremitätenpaares ein diskusförmiges Gerät. Ein kobaltblauer, konzentrierter Strahl zischte daraus hervor, ging dicht an John Cloud vorbei und verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Cloud sprang zurück. Der Strahl bohrte sich in eine der Konsolen, die daraufhin von einer ebenfalls kobaltblauen Lichtaura umgeben wurde. Im nächsten Augenblick erstarrten die noch intakten Spinnenroboter. Das Bild auf dem Panoramabildschirm erlosch. Die aktivierten Holosäulen verschwanden. Kontrollleuchten blinkten nicht mehr, und die Anzeigen der Konsolen wurden deaktiviert. »SESHA!«, rief Cloud, aber er erwartete schon gar keine Antwort mehr. Es war offensichtlich, dass es Merimde 1 gelungen war, die KI der RUBIKON außer Gefecht zu setzen. Der Silberne näherte sich Cloud. Jegliche Gegenwehr schien sinnlos zu sein. Desgleichen konnte er sich den Gedanken an Flucht wohl abschminken. Cloud hatte keine Chance, einen der Türtransmitter zu erreichen, um den Raum zu verlassen. Im Übrigen war anzunehmen, dass sie nach SESHAs Deaktivierung gar nicht mehr arbeiteten. Sämtliche Kontrollanzeigen der Transmitter waren jedenfalls verschwunden. »So sehen wir uns wieder, Kommandant«, schnarrte es aus dem Übersetzermodul von Merimde 1. »Unter leicht zu unseren Gunsten veränderten Bedingungen.« »Was habt ihr vor?«, fragte Cloud düster. »Wir sind die neuen Herren dieses Schiffes und ich denke,
es ist am besten, du akzeptierst dies einfach.« John Cloud machte eine etwas unbedachte, offenbar zu rasche Bewegung nach vorn. Die Waffen der Merimden wurden sofort in seine Richtung geschwenkt. »Zwing uns nicht, dich sofort zu töten«, warnte der Silberne. »Was wird hier gespielt? Und wo sind meine Leute?« Merimde 1 wartete einige Augenblicke lang mit seiner Antwort. Er schaltete sein Translator-Modul ab und tauschte einige Worte mit seinen Begleitern aus. Alle Merimden unterstrichen ihre jeweiligen Meinungen durch Begleitgeräusche, die mit den Lippentastern, den Beißwerkzeugen oder manchmal auch im Inneren des Schlundes erzeugt wurden. Einige der Merimden machten sich daraufhin an den Konsolen zu schaffen. Die Farbe des Strahls, der das diskusförmige Gerät mit einer der Konsolen verband, änderte sich. Sie wechselte von kobaltblau nach giftgrün. Einige der Kontrollleuchten blinkten wieder auf. Der Panorama-Bildschirm zeigte wieder das inzwischen allzu vertraute, trostlose Bild des Sonnenhofs mit seinen unzähligen gestrandeten Raumschiffwracks. »Wir haben eure Schiffs-KI reinitialisiert und lediglich die unverzichtbaren Grundfunktionen wieder aktiviert«, stellte der Merimde fest. »Der Datenträger mit euren Erkenntnissen über den Sonnenhof...«, murmelte Cloud begreifend. »Er enthielt einen Virus, der uns den Zugang erleichterte.« »So etwas nennt man wohl ein trojanisches Pferd.« Cloud musste eingestehen, dass die andere Seite einfach cleverer agiert hatte. Der unbedingte Wille, auch unter den wahrhaft mörderischen Bedingungen des Sonnenhofs zu überleben, hatte die Insektoiden offenbar zu äußerster Skrupellosigkeit
getrieben. »SESHA!«, rief Cloud. »Wie drollig! Selbst euren Rechnern scheint ihr Individualbezeichnungen zu geben«, höhnte Merimde 1. »SESHA wird dir nicht antworten, Kommandant. Genau genommen existiert sie nicht mehr...« »Was sollen wir mit ihm machen?«, fragte einer der anderen Merimden, ohne zuvor den Translator abzuschalten. Er deutete dabei mit dem rechten Arm des mittleren Extremitätenpaares auf John Cloud, während die beiden oberen Arme jeweils einen Strahler hielten. »Konservieren!«, befahl Merimde 1. Cloud begriff im ersten Moment nicht, was der Anführer der Merimden damit gemeint hatte. Einer der anderen Insektoiden machte sich inzwischen an einem der toten Foronen zu schaffen. Er hielt ein Analysegerät in der Hand, mit dessen Hilfe er den Körper des Toten scannte. »Die Außenhülle dürfte etwas Probleme beim Verzehr machen«, erklärte er nach wenigen Augenblicken, »aber das Innere ist ein hervorragender Eiweißspeicher...« *** Die Sterne. Der Raum. Und eine Ewigkeit an Zeit... Jarvis schwebte im Nichts. Er hatte versucht zu teleportieren. Schließlich war sein Amorph-Körper nichts anderes, als eine Foronenrüstung. Und Sobek hatte dasselbe mit Hilfe seiner eigenen Rüstung auch getan. Aber Jarvis gelang es nicht. Offensichtlich beherrschte er seinen Nano-Körper noch nicht gut genug. Eine andere
Möglichkeit war, dass der Substanzverlust, den der Amorphe erlitten hatte, bevor er zur Heimstatt von Jarvis' Bewusstsein wurde, zu groß gewesen war. Jarvis hatte die Erfahrung gemacht, dass ihm sein Körper gehorchte, wenn er es wirklich wollte und all seine Willenskraft darauf konzentrierte. Es war nicht immer leicht, gelang ihm jedoch zunehmend besser. Jarvis gab seine Versuche zu teleportieren schließlich auf. Es hatte keinen Sinn. Angesichts der Aussicht, bis in alle Zukunft durch die Schwärze des Alls zu treiben, erfasste ihn Verzweiflung. Jarvis wusste nicht, wie die Lebenserwartung seines Nanokörpers war. Es war allerdings anzunehmen, dass sie die Spanne eines menschlichen Lebens bei weitem überstieg. Jahre, vielleicht Jahrhunderte oder noch länger in der eisigen Kälte des Weltraums zu schweben, zur Untätigkeit verdammt und doch bei vollem Bewusstsein... Jarvis erinnerte das unwillkürlich an die Wach-Stase, denen die so genannten Proben der Foronen ausgesetzt waren, die sich noch immer in der alten Marsstation befanden. Nathan Cloud war nach zwei Jahrhunderten dieser unvorstellbaren Folter wahnsinnig geworden. Jarvis nahm an, dass ihm dasselbe Schicksal drohte – früher oder später jedenfalls. Alles in ihm sträubte sich dagegen, dieses Schicksal zu akzeptieren. Sein Nanokörper veränderte sich. Die Teilchen gruppierten sich neu, sein Arm verlängerte sich, wozu Substanz aus dem Rumpf abgezogen wurde. Jarvis griff nach dem rotierenden Transfermodul und zog es zu sich heran. Ich muss noch einmal in das interne System dieses Geräts hinein, war ihm klar. Vielleicht gelingt es mir ja, die
Manipulation aufzuheben... Mit seinen kybernetischen Sinnen drang er in das System des Geräts ein. Er hatte durch seine Test-Transfers geglaubt, das Modul in- und auswendig zu kennen. Ein Irrtum, der dazu beigetragen hatte, dass er sich in dieser verzweifelten Lage befand. Die Manipulation war ihm nicht aufgefallen und auch jetzt schien bei einem ersten Systemcheck alles in Ordnung zu sein. Es war nichts Auffälliges erkennbar. Ich muss die Veränderung aufspüren!, durchzuckte es sein Bewusstsein wie ein greller Blitz. *** »Verdammt!« Scobee starrte auf die gähnende Öffnung hinter der Klappe. Der Merimden-Strahler hatte versagt. Wenn die insektenartigen Robotdrohnen aus der Öffnung strömten, standen Scobee und Jelto ihnen vollkommen schutzlos gegenüber. Das war's dann!, durchzuckte es sie. Ein Augenblick dehnte sich zur Ewigkeit. Sekunden rannen dahin. Es kam keine Drohne aus der Öffnung heraus. Offenbar waren sämtliche, ursprünglich hinter dieser Klappe verborgenen Kampfdrohnen bereits eingesetzt worden. Der Metallschrott auf dem Boden legte davon ein beredtes Zeugnis ab. »Weg hier!«, rief Scobee. Sie schleuderte den nutzlos gewordenen Merimden-Strahler von sich und wandte sich Jelto zu, der einen ziemlich konsternierten Eindruck machte. Er starrte in der Gegend umher, schien aber letztlich durch seine Umgebung hindurchzublicken.
Die Schreckensbilder halten ihn wieder in ihrem Griff, erkannte Scobee. Sie trat auf ihn zu, fasste ihn mit einer entschlossenen Bewegung bei der Schulter. »Jelto!« Ein Ruck ging durch den Florenhüter. Scobee zog ihn einfach mit sich. Ein kurzer Blick im Infrarot-Modus zeigte ihr, dass offenbar weitere Systeme aktiviert worden waren. An immer mehr Stellen stieg die Temperatur. Der Reinitialisierungsprozess, den Scobee ausgelöst hatte, war offenbar noch lange nicht abgeschlossen. Sie verließen die Zentrale über einen Korridor. Zu beiden Seiten gab es Abzweigungen. Aus den Augenwinkeln heraus nahm Scobee eine minimale Bewegung wahr. Innerhalb eines Sekundenbruchteils schaltete sie auf Infrarotsicht um und sah nun deutlich die Wärmequelle. Mit einem unglaublichen Reflex schlug Scobee zu. Die Drohne, die im Dunkel der Abzweigung gelauert hatte, wurde voll getroffen, schlug gegen die Wand und fiel anschließend zu Boden. Eine der Flügelmembranen hatte sich gelöst und zuckte nun selbstständig über den Boden. Die Drohne war offenbar stark beschädigt. Sie rotierte wie ein Kreisel auf dem Boden. Scobee und Jelto rannten vorwärts. Da löste sich das Transfermodul von der Magnethalterung, knallte auf den Boden. Starke elektromagnetische Emissionen waren von der beschädigten Drohne in einer Stoßwelle ausgegangen und hatten die Magnethalterung neutralisiert. Weitere, schwächere Wellen gingen von der Drohne aus. Scobee sah sie aus den Augenwinkeln. Das Rotieren der Drohne verlangsamte sich. Sie feuerte dabei ihre Energiestrahlen ab, die ungezielt in einer Höhe von wenigen Zentimetern über dem Boden abgefeuert wurden. Scobee fühlte sich an Feuerwerkskörper erinnert. Scobee stoppte, wollte das Merimden-Modul aufheben,
zuckte aber im letzten Moment zurück. Ein Blasterstrahl streifte das Modul und zerschmolz es zu einem Haufen Metall. Scobee wandte sich an Jelto. »Renn! Hier schwirren sicher noch mehr von diesen Dingern herum!« Sie hetzten weiter den Korridor entlang. Schließlich wurde der Gang breiter, und eine steil abfallende Rampe führte in eine tiefere Etage. Dort fanden sie einen hallenartigen Raum vor, in dem zerstörte Maschinen in dichten Reihen nebeneinander standen. Von außen waren die meisten mit Metallgehäusen verkleidet, an deren Außenwand sich Terminals zur Dateneingabe befanden. »Was ist das?«, fragte Jelto. Er ließ etwas hektisch den Lichtkegel über die Anlage schweifen. Einige der Metallgehäuse waren gewaltsam aufgebrochen worden. Aber es schien wenig an technischer Ausrüstung demontiert worden zu sein. Vielleicht hatten die Merimden bei ihrer Invasion festgestellt, dass die Erbauer dieses Schiffs ihnen technisch unterlegen waren, sodass sich ein Ausschlachten der technischen Ausrüstung nur bedingt lohnte. Scobee zuckte die Achseln, während sie schnell und dennoch beinahe lautlos voran lief. Ihre Bewegungen waren von katzenhafter Geschmeidigkeit. Als GenTec-Matrix war sie einst gezüchtet worden, um zu kämpfen. Die Suche nach dem perfekten Soldaten war eine der Antriebsfedern des amerikanischen Klon-Programms des mittleren einundzwanzigsten Jahrhunderts gewesen – und Scobee war das Ergebnis. Jelto erhielt auf die Frage, die er gestellt hatte, zunächst keine Antwort. Er zuckte die Achseln und folgte der GenTec einfach in das
unübersichtliche Labyrinth aus Maschinenblocks. »Hier ist es eng«, sagte Scobee. »Das bedeutet, wir haben Deckung. Mach deine Beleuchtung aus!« »Scobee, ich habe nicht vor, vollkommen blind durch die Dunkelheit zu irren.« »Du wirst nicht irren. Wir verstecken uns in einem dieser Gänge und versuchen einfach, so wenig wie möglich auf uns aufmerksam zu machen. »Unser Sauerstoff...« »Am besten reden wir nicht viel, dann brauchen wir weniger davon«, schnitt sie dem Florenhüter das Wort ab. Sie kauerten sich in eine Ecke zwischen zwei gigantischen Maschinenblöcken, von denen jeder einzelne etwa das Ausmaß eines irdischen Bungalows besaß. Jelto beugte sich Scobees Argumenten und deaktivierte die Beleuchtung seines Anzugs. Auch alle anderen Funktionen sollte er auf minimale Aktivität schalten. Darunter auch die Heizung. »Wir werden erfrieren, Scobee!«, wandte er ein. »Nicht, bevor unsere Sauerstoffversorgung versagt«, erwiderte die Klon-Matrix kühl. In ihrem Hirn arbeitete es fieberhaft. »Es geht darum, dass diese Drohnen uns nicht orten«, stellte sie sachlich fest. »Ich wette, dass sie auf Wärme reagieren. Auf Licht natürlich auch.« Ich habe gut reden, ging es Scobee derweil durch den Kopf. Schließlich hatte sie selbst bei der vollkommenen Dunkelheit im Inneren des Raumschiffwracks eine Fähigkeit zur Nachtsicht, während Jelto jetzt blind war. Außerdem hatte die GenTec die Möglichkeit, in kritischen Situationen ihren Körper in einen winterschlafähnlichen Zustand zu versetzen, in dem sie zum Beispiel auch eine schwere Verletzung überleben konnte. Sie hielt es für
unwahrscheinlich, dass auch Jelto über diese Fähigkeit verfügte. Und ihr stand auch nicht der Sinn danach, ihn ausgerechnet jetzt danach zu fragen. Scobee lauschte. Sie ließ den Blick in mehreren Frequenzbereichen umherstreifen. Schon konnte sie die ersten Drohnen ausmachen. Für ihre Infrarotsicht handelte es sich um kleine Wärmepunkte hoch über den Maschinen. Insgesamt waren es drei. Plötzlich wurde eine Art Notbeleuchtung in dem Maschinenraum aktiviert. Weitere Drohnen schwebten aus einer Öffnung unter der Decke und verteilten sich im Raum. Scobee wandte sich an Jelto. Eine Nachricht über Helmfunk war zu riskant. Auch wenn die Drohnen kaum in der Lage sein würden, die Botschaft zu verstehen, so konnten sie doch den Ursprung der Nachricht anpeilen. Scobee machte Jelto ein Zeichen, mit dem sie ihm bedeutete, ihr zu folgen. Der Florenhüter verstand. Sie schlichen durch eine der sehr engen Gassen zwischen den Maschinen. Ihr Plan war es, in die Nähe der – dem Wärmebild nach zu urteilen – noch intakten Maschinen zu gelangen. Diese strahlten nämlich Wärme ab und so würde Jeltos und Scobees Körpertemperatur den Sensoren der Drohnen weniger auffallen. Während sie sich lautlos weiterbewegten, warf Scobee einen schnellen Blick auf die Anzeige ihrer Sauerstoffversorgung. Sie lag jetzt bei 2 Prozent. Nicht mehr lange und es ist aus, dachte sie. Aber die letzte Möglichkeit, das Schiff zu verlassen und
vielleicht dem furchtbaren Schicksal zu entrinnen, war mit dem Transfermodul zerstört worden. Schließlich erreichten sie eine der Maschinen mit hoher energetischer Aktivität und Wärmeemission. Da entdeckte Scobee etwa fünf Meter über sich eine der schwebenden Drohnen. Scobee erstarrte unwillkürlich einen Lidschlag. Die Drohne feuerte im selben Augenblick, in dem die GenTec sich wieder gefangen hatte und zurücksprang. Der Energiestrahl bohrte sich in den Boden. Mitten durch eine Ansammlung von gefrorenem Kohlendioxid hindurch, das zu Trockeneis kristallisiert war, als die Energiesysteme des Schiffes deaktiviert worden waren. Eigentlich hatte Scobee erwartet, dass ihr Gegner es gleich noch einmal versuchen würde. Aber das geschah nicht. Die Drohne veränderte ihre Position. Lautlos... Im Vakuum existierte keinerlei Schall. Sie sind darauf programmiert, die Maschinen nicht zu zerstören!, wurde es Scobee plötzlich klar. Es musste sich also um äußerst wichtige Aggregate handeln. Die Tatsache, dass sie zumindest teilweise Wärme abstrahlten, unterstützte diese Hypothese noch. Vielleicht handelt es sich um die Generatoren für die künstliche Schwerkraft!, überlegte Scobee. »Halt dich so dicht wie möglich an diesen Blechkästen, Jelto!«, wies sie den Florenhüter über Helmfunk an. »Sie wollen es offenbar um jeden Preis vermeiden, dass den Dingern was pass...« »Vorsicht!«, rief Jelto und starrte an der GenTec vorbei. Scobee wirbelte herum und sah die Bedrohung jetzt auch. Mehrere der Drohnen schwebten in der engen Gasse zwischen den Aggregaten. Weitere sammelten sich über ihren
Köpfen. Es schienen immer mehr zu werden. Scobee und Jelto hetzten zwischen den Aggregaten her, bogen in eine andere Gasse. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass die Drohnen das Risiko eines Schadens an diesen so wichtigen Aggregaten nicht eingingen. Scobee stoppte. Jelto ebenfalls. Etwa dreißig Drohnen schwirrten ihnen entgegen. »Wir sind völlig eingekreist!«, rief Jelto. *** Jarvis hatte das System des Moduls integriert. Für einen äußeren Betrachter hätte es beinahe so gewirkt, als wären das Modul und Jarvis' rechte Hand organisch miteinander verschmolzen. Immer wieder hatte er versucht, die Manipulation im System genau zu lokalisieren. Jedes Mal versuchte er sich von neuem auf diesen Punkt zu konzentrieren. Seine kybernetischen Sinne durchforsteten den Datenbestand und die Programmbahn. Endlich wurde er fündig. Das Modul muss reinitialisiert werden, war ihm klar, und er setzte diesen Gedanken auch sofort in die Tat um. Das System wurde neu gestartet. Die Manipulation, die Merimde 1 an dem Gerät vorgenommen hatte, entfernte Jarvis sofort, nachdem er die entsprechenden Daten lokalisiert hatte. Er konnte nur hoffen, kein wichtiges Datenmaterial gleich mit vernichtet zu haben. Schließlich war er mit dem System des Transfermoduls selbst nach seinen Tests als Gravo-Läufer nur unzureichend vertraut. Aber er hatte offenbar den richtigen Instinkt gehabt – wenn
man diesen Begriff auf ein Wesen wie ihn noch anwenden konnte. Das Modul meldete volle Funktionsfähigkeit, und vor Jarvis' optischen Sensoren wurden die Gravolinien sichtbar. Allerdings vermochte er aufgrund seiner besonderen Sinne noch viel mehr wahrzunehmen, als dies sowohl Menschen als auch Merimden oder irgendeinem anderen Lebewesen möglich gewesen wäre. Er war nicht auf die Anzeigen des Geräts angewiesen. Ein direkter Datenstrom drang in sein Bewusstsein. Er stellte fest, dass es winzige quantenphysikalische Anomalien auf den Gravobahnen gab. Zuvor waren diese Anomalien Jarvis nie aufgefallen. Mit Hilfe des merimdischen Transfermoduls analysierte er sie genauer. Er stellte fest, dass sie nur auf einem geringen Prozentsatz der Gravobahnen vorkamen. Es sind Spuren!, erkannte Jarvis. Winzige Spuren jener, die eine Gravobahn benutzt haben... Jarvis aktivierte das Modul. Die Kontinuumsblase umgab ihn nun wie eine Aura. Normalerweise hätte er sich nun beschleunigen müssen. Aber diesmal schaffte er es, die Position seiner Kontinuumsblase stabil zu halten, was ihm während der hektischen Sprünge zwischen dem Merimdenschiff und der RUBIKON nie gelungen war. Die Manipulationen des Silbernen haben das wohl verhindert, vermutete Jarvis. Bei aktivierter Kontinuumsblase – das fand Jarvis schnell heraus – war es möglich, mit Hilfe des Moduls den gesamten Sonnenhof zu scannen, um einen Kurs festlegen zu können. Außerdem konnte er nun seine Position innerhalb des Sonnenhofs lokalisieren. Jarvis forschte weiter, suchte nach Möglichkeiten, die Verteilung der Quantenanomalien im Gravoliniennetz zu ermitteln.
Es gelang ihm. Und das Ergebnis war wenig überraschend. Besonders viele Spuren gab es auf stark ausgeprägten Bahnen zwischen den Positionen der RUBIKON und des Merimden-Schiffs. Sehr viel schwächere Spuren existierten ausgehend vom Merimdenschiff zu anderen gestrandeten Raumern. Offenbar wurden diese Spuren eines Transfers mit der Zeit schwächer. Eine frische, nicht stark ausgeprägte Anomalie kennzeichnete jedoch eine Gravobahn, die vom Merimdenschiff aus zu einer Position führte, die im Datenspeicher des Transfer-Moduls als Standort eines pyramidenförmigen Raumschiff-Wracks führte. Das könnte sie sein!, durchzuckte es Jarvis' Gedanken. Die Spur, nach der ich schon so lange suche... *** Jarvis erreichte das pyramidenförmige Schiff. Er folgte der starken Gravolinie bis in die Zentrale und materialisierte dort. Die Kontinuumsblase, die ihn bis dahin umgeben hatte, löste sich auf. Jarvis erkannte sofort, dass die Schiffssysteme sich gerade teilweise reaktivierten. Offenbar gab es eine Art Notprogramm. Jarvis trat an eine der Konsolen heran und stellte eine direkte Verbindung her. Im Vergleich mit dem System des merimdischen Transfermoduls war dieser Rechner leicht zu durchdringen. Gegenwärtig fand eine Jagd nach Eindringlingen statt. Es war nicht schwer zu erraten, um wen es sich da handelte. Handgroße, bewaffnete Drohnen verfolgten die Flüchtigen, die sich gegenwärtig zwischen den Aggregaten für die künstliche Schwerkraft versteckt hatten.
Dutzende von Drohnen hatten sie eingekreist. Das System stand vor einem unlösbaren Zielkonflikt: Vernichtung der vermeintlichen Invasoren ohne Beschädigungen an den Aggregaten. Jarvis schleuste einen Befehl ein. Erhöhung der künstlichen Schwerkraft um das Zwanzigfache in genau fünf Sekunden. Da das Rechnersystem des Pyramidenraumers aufgrund des Energiemangels mit minimalen Ressourcen arbeitete, gab es keine nennenswerte systeminterne Abwehr. Jarvis zog seinen Nano-Arm aus der Konsole zurück und betätigte erneut das Transfer-Modul. Diesmal war es nur ein kurzer Sprung innerhalb des Schiffes… ***
Ein Schatten tauchte wie aus dem Nichts vor Scobee auf. Er hatte die vage Gestalt eines Menschen und wirkte transparent. Seine innere Struktur ähnelte einem wimmelnden Insektenschwarm. Sie glaubte, ihren Augen nicht trauen zu dürfen. Eine flimmernde Aura umgab den Schatten, der sich blitzschnell auf Jelto und Scobee zu bewegte und dabei Substanz gewann. Die wie handgroße Hornissen wirkenden Robotdrohnen wurden im selben Augenblick zu Boden geschleudert. Das geschah mit einer Wucht, die sie auf dem Untergrund oder an der Metalloberfläche der Aggregate förmlich zerschellen ließ. Einige kamen noch dazu, ihr Energiefeuer abzugeben. Ungezielte, verrissene Schüsse, die sich in die Maschinen fraßen. Dennoch durchdrangen einige dieser Strahlschüsse Scobees
und Jeltos Körper. Ohne jede Wirkung... Scobee blickte wie gebannt auf die farbigen Linien, die sich auf einmal in einem komplexen, dreidimensionalen Netz durch den Raum zogen. Gravolinien! Die schwarzen, insektenartigen Punkte verdichteten sich und bildeten eine pseudohumanoide Gestalt. »Jarvis!«, stieß Scobee hervor. Er konnte sie natürlich nicht hören, war aber in der Lage ihren Helmfunk zu empfangen. »Keine Angst«, sagte er, »ihr seid außer Gefahr. Die Kontinuumsblase umgibt uns. Wir befinden uns bereits im Transfer.« Scobee hatte das Gefühl zu fallen. Aber an die Begleitumstände des Gravo-Laufens war sie inzwischen gewöhnt. Die Umgebung, in der sie sich gerade noch befunden hatten, wurde transparent und verlor an Substanz. Wenig später waren sie von jenem charakteristischen Chaos aus Farben und Formen umgeben, die für einen Transfer auf den Gravobahnen so typisch waren. »Das war Rettung in letzter Sekunde«, sagte Scobee. Jarvis' pseudohumanoider Körper nickte. Das Benutzen dieser Geste, die für die Programmroutine des Amorphen vollkommen ungewohnt war, hatte Jarvis viel Willenskraft gekostet, als er sie zum ersten Mal versucht hatte. Der Nanokörper hatte sich dagegen gewehrt. Für Jarvis bedeutete diese Geste jedoch einen sichtbaren Rest seiner Menschlichkeit, auf den er nicht verzichten wollte. »Als ich an Bord des Pyramidenschiffs kam, bin ich in das sich gerade reaktivierende System des Bordrechners eingedrungen«, berichtete Jarvis. »Mir war schnell klar, dass da eine Jagd stattfand...«
»... der wir beinahe zum Opfer gefallen wären«, ergänzte Scobee. »Wie konntest du uns finden? Und wie kommst du in den Besitz des Moduls?« Das Transfermodul war fest mit Jarvis' Nano-Körper verbunden. Scobee hatte es dennoch sofort bemerkt. »Eine komplizierte Geschichte«, sagte er. »Du bringst uns an Bord der RUBIKON?«, fragte die GenTec. »Ja.« »Du weißt nicht, was uns dort erwarten könnte!« »Was meinst du damit?« In knappen Worten fasste Scobee zusammen, was ihr und Jelto widerfahren war. »Wir können davon ausgehen, dass die Merimden jedes Schiff, das nach ihnen den Sonnenhof erreichte, einfach geplündert und die Besatzung als Eiweißreservoir benutzt haben«, schloss sie. Und Jelto ergänzte: »Meine entführten Pflanzenfreunde im künstlichen Wald des Merimdenschiffs haben das miterlebt... Es war grauenhaft und ich bin überzeugt, dass der RUBIKON ein ähnliches Schicksal bevorsteht!« Jarvis schwieg. Er verlangsamte den Transfer. Inzwischen beherrschte er es nahezu perfekt. Das Modul registrierte auf Dutzenden von Gravobahnen, die zwischen dem Merimdenschiff und der RUBIKON verliefen, hunderte von frischen Anomalien. »Ich glaube, die Invasion der RUBIKON ist längst im Gange!«, stellte er fest. *** Jarvis steuerte die RUBIKON auf einem Umweg an. Er wollte nicht die von den Merimden offenbar stark
frequentierten Gravobahnen benutzen, da er sich nicht sicher sein konnte, ob dies von den Invasoren nicht vielleicht bemerkt wurde. Inzwischen wusste Jarvis auch, wie man mit Hilfe des Transfermoduls die Schutzschilde der RUBIKON durchdringen konnte. Jarvis ließ sie in einem der unzähligen Korridore der RUBIKON materialisieren. Scobee und Jelto deaktivierten die Energiehelme ihrer Raumanzüge. Das Erste, was ihnen auffiel, waren die deaktivierten Spinnenroboter. Manche von ihnen waren offenbar vom Strahlenbeschuss halb eingeschmolzen worden. Andere jedoch machten äußerlich einen vollkommen intakten Eindruck. »Diese Roboter stehen unter SESHAs direkter Kontrolle«, sagte Jarvis. »Das lässt nichts Gutes erwarten, was SESHA betrifft«, war Scobees Kommentar. Jarvis drang mit dem linken Arm seines Nanokörpers in einen Roboter ein. Wenig später zog er sich wieder zurück. »Es muss einen vollkommenen Blackout gegeben haben. Das interne System des Roboters lässt sich nicht mehr hochfahren, weil dem SESHAs direkter Befehl entgegensteht.« »SESHA? Ist sie verrückt geworden?«, fragte Scobee. »Ich meine, wenn man das von einer KI sagen kann.« Jarvis schüttelte den Kopf. Es schien dabei so, als würden die ungezählten Insektenheere aus winzigen schwarzen Punkten, die seinen gesamten Körper überliefen, durch diese Bewegung in heftige, strudelförmige Turbulenzen geraten. Ein Bild innerer Unruhe. »Nein«, sagte er. »Mir ist ein ähnlich unsinniger Befehl schon einmal begegnet.«
Die Tattoos über Scobees Augenbrauen hoben sich. »Meinst du auf dem Raumschiff, aus dem du uns gerettet hast?« Jarvis verneinte. »Dort bin ich zwar auch in das System eingedrungen, aber es fiel nur auf, wie leicht das war. Es waren gewissermaßen alle Schranken offen. Ich spreche von diesem Ding hier!« Jarvis hob das merimdische Transfermodul an. »Die Mistkerle hatten es manipuliert, um mich buchstäblich in den Weltraum zu schießen. Die Struktur des Befehls war ganz ähnlich.« »Also doch!«, murmelte Scobee. »Sie sind hier...« Unter diesen Umständen war es zu riskant, SESHA einfach zu kontaktieren. Wenn die RUBIKON tatsächlich eine Beute der Merimden geworden war, dann würde ein derartiger Versuch die Invasoren nur warnen. Scobee blickte sich um. Irgendetwas stimmte hier nicht. Es war Jelto, der es als Erster aus sprach. »Es sind nirgends tote Foronen zu sehen«, stellte der Florenhüter fest. »Dreimal dürft ihr raten, zu welchem Zweck sie entfernt wurden...«, sagte Scobee grimmig. »Wir brauchen Waffen! Früher oder später werden wir auf diese Bestien stoßen! Also sollten wir uns schleunigst zu den Arsenalen begeben, um uns zu holen, was wir benötigen. Dann sehen wir weiter.« Sie starrte Jarvis etwas irritiert an. »Was meint du?« Er antwortete nicht, sein Amorphkörper wirkte wie erstarrt. Der linke Arm veränderte sich. Die Nano-Teilchen bildeten eine neue Form aus, die sich ausdehnte, wieder zusammenzog und schließlich für den Bruchteil eines Augenblicks einem Waffenarm ähnelte, wie sie die Spinnenroboter besaßen. Scobee war sofort klar, was Jarvis versuchte. Im Prinzip entsprach das, was er tat, den Fähigkeiten, die in Monts Amorph-Rüstung angelegt waren. Aber offenbar
beherrschte ihr Freund seinen neuen Körper noch nicht gut genug. Der Waffenarm bildete sich zurück. Jarvis löste sich aus seiner Erstarrung. »Schade«, sagte er. »Ich dachte schon, wir können uns den Ausflug zu den Arsenalen ersparen.« Plötzlich materialisierten zwei Merimden durch einen der Türtransmitter. In ihrer Mitte befand sich ein entfernt humanoider Körper, der mit einer gelblichen, kristallinen Schicht überzogen war. Erst auf den zweiten Blick war erkennbar, dass es sich nicht um einen Menschen, sondern um einen Foronen handelte, der offenbar einer besonderen Behandlung unterzogen worden war. Die Merimden richteten ihre Vorderkörper augenblicklich auf. Sie waren einen Moment lang irritiert. Offenbar hielten sie es nicht für möglich, dass es an Bord der RUBIKON noch Widerstand gab. Doch im nächsten Moment griffen die Insektoiden zu den Strahlwaffen, die sie am Gürtel trugen. »Stehen bleiben!«, schnarrte es durch den Translator, den sie am Gürtel trugen. Scobee erwog im ersten Moment anzugreifen, entschied sich dann aber dagegen. Zwar verfügte sie über außergewöhnliche Reflexe, aber die Distanz zwischen ihr und den Merimden war um schätzungsweise drei, vier Schritte zu groß. Sie hatte keine Chance, einen der Insektoiden zu erreichen und auszuschalten, ehe dieser seine Waffe abgefeuert hatte. Die Merimden setzten sich mit ihrem Anführer in Verbindung. Sie fragten Merimde 1, wie mit den Gefangenen zu verfahren sei. »Auf welche Weise sollen wir sie als Eiweißspeicher konservieren?«, lautete die Frage. Scobee hat also Recht gehabt, erkannte Jarvis. Für die
Merimden sind Schiffsbesatzungen gestrandeter Wracks nichts als Nahrungsreservoire... Aber an mir werden sie sich die Zähne ausbeißen! *** Ich wurde von allen vergessen. Niemand erinnert sich an mich. Auch diese wurmartigen Kreaturen nicht... Boreguir sah den Merimden aufmerksam an, der sich suchend in der Kabine umschaute. Quälend lange hatte Boreguir nicht gewusst, was los war. Er war in seiner Kabine eingeschlossen gewesen. Die Türtransmitter – für Boreguir unerklärliche Wundertüren, deren Funktionsweise er mittlerweile aber einigermaßen erfasst hatte – hatten plötzlich nicht mehr funktioniert. Ein wirres Chaos an Gedanken und Emotionen hatte dies in dem Vergessenen ausgelöst. Hat John Cloud mir das Vertrauen etwa wieder entzogen? Und was ist mit meinem Freund Jarvis? Ist ihm mein Schicksal gleichgültig geworden? Oder war eine Katastrophe über seine Umgebung hereingebrochen? Der Angriff eines Feindes, die Gewalt unkontrollierbarer Naturkräfte… Es gab so viele Möglichkeiten. Sein Freund Jarvis verstand zweifellos mehr davon. Und für Resnick hatte das seinerzeit auch gegolten. Der Merimde bewegte sich auf Boreguir zu, schien diesen aber nicht zu bemerken. Ein zweiter Merimde erschien in der Kabine. Beide stießen abwechselnd Laute aus und erzeugten Geräusche mit ihren Beißwerkzeugen. Boreguir bewegte sich mit katzenhaften, geschmeidigen Bewegungen auf den Türtransmitter zu – doch er konnte nicht hindurch.
Die Merimden mussten irgendetwas an seiner Funktionsweise geändert haben. Boreguir verharrte. Sein Herzblut-Schwert hielt er mit beiden Händen, bereit, sich jederzeit auf seine Gegenüber zu stürzen, die ihn von ihrer Erscheinung her an eine Spezies von ebenfalls sechsbeinigen Raubwürmern seiner Heimatwelt erinnerten. Die Merimden wandten den Kopf in Boreguirs Richtung, so als hätten sie etwas bemerkt. Aber ihr seht mich nicht. Ihr bemerkt mich nicht. Denn ich bin so leicht wie eine Feder, flüchtig wie ein Gas. Unsichtbar. Vergessen... Der Saskane versuchte die Frage danach, was eigentlich geschehen war, in einen hinteren Winkel seines Bewusstseins zu verbannen. Jetzt benötigte er seine volle Konzentration, um nicht bemerkt zu werden. Der Merimde, der seine Kabine zuerst betreten hatte, verließ sie auch als Erster. Boreguir nutzte diesen Moment und trat ebenfalls durch den Transmitter. Es funktionierte. Beide materialisierten in einem der zahllosen Gänge der RUBIKON. Ein Ruck durchlief den Merimden. Er griff nach der Strahlwaffe an seinem Gürtel und richtete den Vorderkörper auf. Seine Facettenaugen starrten Boreguir auf eine Weise an, die der Saskane nicht zu deuten wusste. Er erfasste jedoch instinktiv, dass sein Gegenüber ihn bemerkt hatte, sich vielleicht sogar erinnerte, vorhin doch einen Schatten gesehen zu haben. Eine Gestalt... Der Saskane ließ sein Schwert herumsausen. Die Klinge trennte den Kopf vom Rumpf. Deine Vorgehensweise war nicht besonders ehrenhaft!, durchzuckte es den Saskanen. Ein Kampf von Angesicht zu
Angesicht wäre besser gewesen... Aber auf der anderen Seite benötigte sein neuer Freund John Cloud angesichts der Invasion dieser Kreaturen Hilfe. Und wog nicht die Treue gegenüber einem Freund mehr, als die Einhaltung der Regeln, die für einen ehrenhaften Kampf im engeren Sinn? Schließlich war es auch ehrenhaft, Freunde und Gefährten vor Schaden zu bewahren. Er hat mich noch gesehen, tröstete sich Boreguir. Und damit sind die Regeln des fairen Kampfes doch eigentlich auch eingehalten. Boreguir eilte den Korridor entlang. In den Fluren waren überall zerstörte Spinnenartige zu finden. Was ist mit der Macht, die hinter allem steht?, ging es ihm durch den Kopf. Offenbar hatte die Allgegenwärtige eine schreckliche Niederlage erlitten, denn ihre metallenen Kämpfer waren in großer Zahl außer Gefecht gesetzt worden. Noch vor kurzem hatte er selbst die Spinnenartigen bekämpft und versucht, sich vor ihnen zu verbergen. Jetzt vermochte er sich über den Anblick seiner geschlagenen ehemaligen Feinde nicht zu freuen. Ganz im Gegenteil. Boreguir stellte fest, dass die meisten Türtransmitter ganz normal funktionierten. Offenbar haben die Merimden mit voller Absicht dafür gesorgt, dass ich die Kabine zunächst nicht verlassen konnte, dachte der Vergessene grimmig. John Cloud und seine Gefährten sind wahrscheinlich auf ähnliche Weise gefangen gesetzt worden – ohne die Möglichkeit, dem Feind ins Auge zu blicken! Nein, dieses Verhalten der Invasoren war ganz und gar nicht ehrenhaft. Boreguir konnte nur Verachtung dafür empfinden. Er sah sich um. Überall begegneten ihm Merimden. Manche erschienen wie
aus dem Nichts. Anscheinend geboten sie über eine Magie von ungeahnter Macht. Ein Grund mehr, sie kompromisslos zu bekämpfen. Ihre schwarzen Künste konnten nur von Übel sein. Immerhin war es für Boreguir nahezu problemlos möglich, sich unter diesen Sechsbeinern zum Unsichtbaren zu machen. Es war viel leichter als bei den Spinnenartigen. Boreguir hatte nicht den Hauch einer Ahnung, woran das liegen mochte. Er dachte auch gar nicht darüber nach. Seine anfängliche Überlegung, dass dies irgendwie mit der Anzahl der Beine in Zusammenhang stand, hatte er inzwischen verworfen. Jedenfalls stand für Boreguir ziemlich bald fest, dass die Merimden überall die Kontrolle übernommen hatten. Du warst so lange auf der Flucht und hast im Verborgenen gelebt, dachte der Vergessene. Es wird nicht allzu schwer sein, sich wieder auf diese Lebensweise einzustellen, wenn es sein muss... Aber zuvor machte er sich auf die Suche nach seinen Freunden, um sie zu befreien. In den Gängen waren kaum noch tote Angehörige jener augenlosen Spezies zu sehen, die von Jarvis und Cloud als Foronen bezeichnet wurden. Die Merimden schienen sich sehr für die Körper der Augenlosen zu interessieren. Immer wieder traf er auf Sechsbeiner, die diese hinter sich herschleiften. Schließlich entdeckte Boreguir sogar einen Raum, in dem mehrere Dutzend Merimden damit beschäftigt waren, die Augenlosen mit einer unbekannten Substanz einzubalsamieren, die kurz darauf eine kristalline Schicht bildete. Manche der Toten wurden einer anderen Prozedur unterzogen. Sie wurden zunächst zerteilt und anschließend mit einer anderen, grünlich schimmernden Paste bestrichen, deren Geruch für Boreguir eine Zumutung war.
Boreguir war schnell klar, was die Merimden taten. Sie sind dabei, ihre Vorräte zu konservieren!, erkannte er und fragte sich dabei, ob die Invasoren etwas Ähnliches wohl auch mit ihm vorgehabt hätten, wäre er nicht aus dem Bewusstsein dieser Bestien entschwunden. Die Antwort war Ja. Es gab keinen Grund, etwas anderes anzunehmen. Boreguir schauderte bei dem Gedanken daran, was mit John Cloud und seinen Gefährten vermutlich geschehen war... Bestien wie ihr verdienen keine Ehre..., durchzuckte es den Saskanenkrieger grimmig. *** Jarvis konzentrierte sich. Er hatte es bereits einmal geschafft, einen Waffenarm auszubilden. Eine entsprechende Routine war im Programm des Nano-Körpers enthalten. Aber irgendetwas war dabei schief gegangen. Er versuchte es noch einmal. Einer der Merimden bemerkte die Veränderung an dem pseudohumanoiden Amorph-Körper. Er richtete seine Strahlwaffe auf Jarvis und drückte ab. Der ehemalige GenTec ließ seinen Körper auseinander fließen, die Abermilliarden Nano-Teilchen gaben den festen Verbund auf. Diesen Vorgang beherrschte Jarvis inzwischen recht gut. Der Energiestrahl traf auf diese Weise nur einen Bruchteil jener zahllosen Partikel, aus denen er zusammengesetzt war. Der Substanzverlust hielt sich in Grenzen und beeinträchtigte seine Handlungsmöglichkeiten kaum. Wie eine kleine Brandungswelle schossen die Nanoroboter auf die Insektoiden zu und flossen an ihnen empor. Im nächsten Augenblick umschlossen sie die Köpfe der beiden
Merimden, durchdrangen sie, flogen durch sie hindurch. Jarvis sorgte mit elektrischen Impulsen dafür, dass die Eindringlinge ausgeschaltet wurden. Sie brachen regungslos zusammen, während er sich bereits rekonstruierte. Der ganze Vorgang hatte kaum länger als eine Sekunde gedauert. »Du scheinst deinen Körper immer besser zu beherrschen«, stellte Scobee fest. »Ich bin selbst überrascht«, gestand Jarvis. Scobee trat an die beiden regungslos daliegenden Merimden heran und nahm ihnen die Waffen ab. Eine gab sie Jelto und erklärte ihm die Funktionsweise. »Ich lehne Gewalt eigentlich ab«, sagte der Florenhüter, nahm aber dennoch einen der Strahler. »Denk an die Bilder, die dir deine Pflanzenfreunde gesandt haben«, erinnerte ihn Scobee. Sie wandte sich an Jarvis, der inzwischen den chemisch behandelten Foronen untersuchte. »Wir müssen Cloud finden!« »Fragt sich nur, ob er uns noch helfen kann. Diese kristalline Schicht dient offenbar der Konservierung...« Scobee schluckte. »Du glaubst doch nicht...« »Wir können es nicht ausschließen.« »Dann sind wir verloren«, stellte Scobee fest. »Selbst wenn es uns gelingen würde, die RUBIKON zurückzuerobern und SESHA zu reaktivieren, hätten wir niemanden, den sie als Autorität akzeptiert!« »Ich werde ihn suchen«, sagte Jarvis. »Und ihr müsst in der Zwischenzeit zusehen, dass euch die Merimden nicht erwischen...« »Ihr braucht Cloud nicht zu suchen«, erklärte eine Stimme zwischen ihnen. Die Gestalt eines katzenhaften Kriegers wurde plötzlich sichtbar. In der Rechten hielt er ein Schwert.
»Boreguir!«, entfuhr es Jarvis. »Freund Jarvis! Ich bin froh, dass du wohlauf bist! Von eurem Anführer John Cloud habe ich keine Spur finden können und ich fürchte, dass er jetzt so ähnlich aussieht, wie dieser Augenlose dort!« Boreguir deutete bei diesen Worten auf den konservierten Foronen. »Diese Bestien sind Barbaren. Sie sammeln die Toten ein, um sie für den Verzehr haltbar zu machen. Manche dieser Körper zerteilen sie. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen! Ihr Hunger nach Fleisch muss sehr groß sein, denn kleinere Stücke verteilen sie sofort untereinander und verschlingen sie! Ich habe eine ihrer Vorratskammern gesehen. Von dort lassen sie die Toten verschwinden. Ich weiß nicht, wie sie das machen. Sie holen sie in ihr verborgenes Reich.« »Sie bringen sie auf ihr Schiff«, murmelte Scobee. »Ich habe ihnen lange zugesehen, war unter ihnen, ohne dass sie mich bemerkten.« Boreguir deutete auf die beiden ausgeschalteten, reglos daliegenden Merimden. Ob sie nur bewusstlos waren oder nicht mehr lebten, war schwer zu sagen. Weder Scobee noch Jarvis oder Jelto kannten sich gut genug mit dem Metabolismus der Merimden aus, um das letztendlich beurteilen zu können. »Ich bin diesen beiden gefolgt, weil ich dachte, dass sie mich vielleicht zu einer anderen Vorratskammer führen würden. Ich hatte sie lange beobachtet und wusste, dass es irgendwo noch einen weiteren Sammelpunkt für die Leichname der Augenlosen gab. Vielleicht auch Gefangene...« *** Merimde 1 passierte den Türtransmitter. Seine Lippentaster flatterten aufgeregt herum. Ein Geräusch, das tief im Kehlkopf
erzeugt wurde, drang durch die Mundöffnung. Auf all seinen sechs Extremitäten kroch der Insektoide in die Mitte des Raumes. Dort richtete er den Vorderkörper auf und drehte den Kopf etwas zur Seite. Sein Gesicht wurde zu einem Großteil von den überdimensionierten Facettenaugen beherrscht. Ihr Blick war kalt und teilnahmslos. John Cloud kauerte in einer Ecke des Raumes. Er war ein zur Untätigkeit verdammter Gefangener, während die merimdischen Invasoren wahrscheinlich inzwischen die Kontrolle über den letzten Winkel des Schiffes gewonnen hatten. Es gab nichts, was er tun konnte. Das war es, was ihn am meisten wurmte. Daneben machte ihm natürlich auch die Ungewissheit in Bezug auf das Schicksal der anderen Besatzungsmitglieder zu schaffen. Dad? Aylea? Was haben die Merimden mit ihnen gemacht? Von Jarvis hatte er ja bereits vor der Merimdeninvasion nichts mehr gehört. Er musste damit rechnen, dass er den Invasoren zum Opfer gefallen war. Dasselbe galt für Scobee und Jelto. »Wie geht es dir, Gefangener?«, fragte Merimde 1. Die Anrede Kommandant scheint mir in seinen Augen nicht mehr zuzustehen, ging es Cloud durch den Kopf. Er verzog das Gesicht zu einem grimmigen Lächeln. »Den Umständen entsprechend!«, knurrte er. Es war das erste Mal, dass ihn jemand in seinem Gefängnis besuchte. »Was wir mit dir und deiner Besatzung tun mussten, tut mir aufrichtig Leid, Gefangener«, erklärte der Silberne. »Aber wir haben keine andere Wahl, wenn wir überleben wollen. Unser Stoffwechsel ist zwingend auf einen hohen Proteinanteil angewiesen. Wird er unseren Körpern nicht zugeführt, hat das
schwerwiegende Folgen. Hinter uns liegt so manche Periode des Mangels, seit wir in diesem Sonnenhof gefangen sind. Jedes Mal war die Folge, dass wir Dutzende von Merimden töten mussten, weil ihre Gehirne durch den Mangel an Eiweiß teilweise extreme Fehlfunktionen aufwiesen. Gedächtnisverlust, Vorstellungen von Dingen, die es nicht gibt.« »Was habt ihr mit ihnen gemacht?«, fragte Cloud, obgleich er die Antwort ahnte. Das Licht spiegelte sich in den Facettenaugen. »Sie dem Kreislauf zugeführt«, sagte der Merimde ohne zu zögern. »Sie gegessen«, erwiderte Cloud. »Ursprünglich widerspricht es der Ethik unseres Volkes ebenso wie vermutlich eurer Ethik, intelligente Lebensformen zu verzehren. Auch der Genuss von toten Artgenossen ist in unserer Kultur eines der am tiefsten verankerten Tabus.« »Aber ihr tut es dennoch!« »Angenommen«, begann der Silberne, »ihr währt an unserer Stelle, bereits seit so langer Zeit Gefangene des Sonnenhofs und ihr hättet die Wahl, wahnsinnig zu werden und zu sterben oder so zu handeln wie wir. Ich bin überzeugt davon, ihr würdet euch nicht anders entscheiden.« Cloud erhob sich. Er zuckte die Achseln. »So wie es aussieht, habe ich diese Wahl nicht mehr.« Merimde 1 ging darauf nicht weiter ein. »Wir haben den biologisch aktiven Teil der Besatzung zunächst einer LebendKonservierung zugeführt.« »Ist das ein anderer Ausdruck für Gefangenschaft?« »Wir wollen uns nicht mit semantischen Feinheiten aufhalten. Ich denke, du weißt, was ich meine.« Cloud nickte leicht. »Ja.« Seine Gedanken rasten.
Was der Merimde gesagt hatte, konnte bedeuten, dass Aylea und sein Vater noch am Leben waren. »Das Rechnersystem an Bord eures Schiffes scheint sehr leistungsfähig zu sein«, fuhr der Silberne fort. »Wir haben es weitgehend deaktiviert. Du bist eine von drei Personen, die eine Autorisation besitzen.« »Das ist richtig.« »Wenn du mit uns kooperierst, denken wir vielleicht darüber nach, in deinem Fall eine dauerhafte LebendKonservierung in Betracht zu ziehen. Und das, obwohl uns das sehr wertvolle Ressourcen kostet!« »Ein zu gütiges Angebot!«, sagte Cloud. Die Ironie seiner Worte erreichte den Silbernen nicht. Ob es am Translatorsystem lag oder den Merimden Ironie grundsätzlich unbekannt war, konnte Cloud nicht sagen. »Es freut mich, dass du über mein Angebot nachdenken möchtest, Gefangener ehemaliger Kommandant.« Der letzte Zusatz war wohl als eine Art Respektsbezeugung gedacht. Der Merimde wandte sich in Richtung des Türtransmitters. Kurz bevor er ihn passierte, drehte er den Kopf noch einmal herum und kündigte an: »Ich werde mein Angebot nur noch ein Mal machen...« *** Jarvis durchsuchte mit Hilfe seiner kybernetischen Sinne die RUBIKON. Dazu stellte er eine direkte Verbindung mit dem internen Rechnermodul des Kommunikationssystems her, das mit allen anderen Systemen der RUBIKON verbunden war. Er benutzte insbesondere die untereinander vernetzten Transmittertore und deren interne Rechnereinheiten dafür.
Boreguir hatte davon berichtet, dass er zunächst in seiner Kabine eingeschlossen gewesen war, bevor die Merimden ihn aufgesucht hatten. Jarvis fand weitere Transmittertore, die so konfiguriert waren, dass die dazugehörigen Räume Gefängniszellen darstellten. Das Quartier von Nathan Cloud gehörte ebenso dazu, wie das von Aylea und Boreguir sowie die Krankenstation mit Siroona und Sobek. Für Clouds Kabine traf das jedoch nicht zu. Aber es gab einen Raum, der in unmittelbarer Nachbarschaft der Zentrale lag und dessen Transmitterzugang auf dieselbe Weise eingerichtet war. Wenn Cloud noch unter den Lebenden weilte, war er zweifellos hier aufzufinden. Unter Boreguirs faszinierten Blicken zog sich Jarvis’ NanoArm aus der Wand heraus, hinter der sich die KomVerbindungen befanden. »Einen eigenartigen Körper besitzt du, Freund Jarvis!«, stellte er fest. Der Katzenartige ließ ziemlich oft die Lider über die gelblichen Augäpfel gleiten. In seiner Kultur vielleicht ein Ausdruck der Verwunderung oder des Staunens. »Er ist vollkommen anders, als alles, was du oder irgendjemand sich vorzustellen vermag«, sagte Jarvis. »Ja, das glaub ich auch«, murmelte Boreguir. Er wirkte fast bewegt. »Und doch bist du es! Ich spüre, dass es deine Seele ist, die in diesem Körper aus«, er zögerte und suchte offenbar nach der passenden Formulierung, »aus Einzelteilen wohnt. Ich habe vorhin gesehen, wie du die beiden Merimden bekämpft hast. Eigentlich hatte ich schon eingreifen wollen, aber dann sah ich, dass du sie niedergemacht hattest.« »Ja.« »In einem fairen Kampf von Angesicht zu Angesicht. Das
ist mehr, als sie verdient haben! Viel mehr!« Scobee stoppte jetzt den Redefluss des Saskanen-Kriegers, indem sie sich an Jarvis wandte. »Hast du etwas herausgefunden?« »Das habe ich.« In knappen Worten fasste Jarvis seine Erkenntnisse zusammen. »Worauf warten wir noch?«, fragte die GenTec. »Holen wir John da raus und...« »... und setzen ihn in den Sarkophag-Sitz in der Zentrale! Wenn es so leicht wäre, Scobee. Ich kann ohne Probleme den Türtransmitter von Clouds Kabine rekonfigurieren und ihn befreien. Aber was ist dann? Die werden das sofort merken und uns jagen wie die Hasen...« Ein schleifendes Geräusch ließ die vier zusammenzucken. Tapsende Laute waren zu hören. Scobee erkannte sie sofort – Merimdenschritte! Wenig später tauchten zwei der Insektoiden hinter einer Biegung auf. Sie schleiften einen toten Foronen hinter sich her, der noch unbehandelt war. Dahinter folgten gleich zwei weitere Merimden, die ebenfalls einen Foronen abtransportierten. Die Insektoiden unterhielten sich in ihrer Sprache, die zum Großteil aus Lauten bestand, die für ein menschliches Ohr Ähnlichkeit mit klagenden Robben oder Walen hatten. Daneben gaben alle vier Merimden ständig schnalzende oder schabende Geräusche von sich, die sie mit den Lippentastern oder den Beißwerkzeugen produzierten. Vielleicht spielte auch der kleine rüsselähnliche Fortsatz in ihrer Gesichtsmitte eine Rolle dabei. Für einen Außenstehenden war das schwer zu beurteilen. Jedenfalls waren die Merimden offenbar in einer lebhaften Unterhaltung begriffen. An der Anwesenheit von Jarvis, Scobee, Jelto und Boreguir schienen sie sich nicht zu stören.
Scobee griff zu dem Merimden-Strahler. »Geht zur Seite«, wisperte Boreguir. Wir sind so leicht wie Federn. Niemand sieht uns. Niemand erinnert sich an uns. Sie werden uns nicht bemerken. »Bewegt euch nicht zu schnell und ruckhaft...« Die Merimden zogen an ihnen vorbei – ohne, dass sich auch nur einer von ihnen umdrehte! Die Insektoiden verschwanden in einem Türtransmitter. »Ich kann erreichen, dass man mich vergisst und mich niemand findet oder sich an mich erinnert. Dasselbe kann ich auch für euch tun.« Eine seltsame Fähigkeit, dachte Scobee. Ihr Verstand suchte nach einer Erklärung für das, was sie soeben erlebt hatte. Von Jarvis wusste sie, dass Boreguir sich auf diese Weise so lange hatte verbergen können. »Nichts wie los!«, forderte sie und senkte den merimdischen Strahler. *** Sie erreichten die Kabine, von der sie vermuteten, dass Cloud dort gefangen gehalten wurde. Es handelte sich nicht um den Raum, in dem Cloud normalerweise wohnte. Warum man ihn ausgerechnet hier untergebracht hatte, vermochte niemand zu erklären. Die größere Nähe zur Zentrale konnte dafür kein Grund sein. Wahrscheinlich bestand der einzige Grund dafür, Cloud noch am Leben zu lassen, darin, dass die Merimden vielleicht hin und wieder Unterstützung durch jemanden benötigten, den SESHA zumindest teilweise als Autorität akzeptierte. Aber andererseits hatten es die Merimden ja in der Hand, die Türtransmitter ganz nach ihren Bedürfnissen zu konfigurieren, sodass räumliche Entfernungen an Bord der RUBIKON kaum
eine Rolle spielen konnten. Cloud hatte sich zum Zeitpunkt der Invasion vermutlich in der Zentrale befunden. Vielleicht war sein jetziger Aufenthaltsort einfach die nächstgelegene Möglichkeit gewesen, ihn zu isolieren. »Sobald ich den Transmitter rekonfiguriert habe, seht ihr das am Aufleuchten der Kontrollanzeige«, sagte Jarvis. »Ihr kommt dann hinein.« »Meinst du, du schaffst es, den Türtransmitter so zu rekonfigurieren, dass wir direkt in der Zentrale materialisieren?«, fragte Scobee. »Ja. Aber es muss schnell gehen, sonst werden die Invasoren auf uns aufmerksam, bevor wir zuschlagen können!« Jarvis übergab Scobee das Transfermodul zur Aufbewahrung. »Das Gerät ist kein Teil meiner Nano-Struktur«, erklärte er. »Das kann ich nicht mitnehmen.« Jarvis löste die feste Struktur seines Amorph-Körpers auf. Er beherrschte das inzwischen sehr gut. Die Willensanstrengung, die dazu nötig war, wurde immer geringer, und es fiel seinem Bewusstsein inzwischen sehr viel leichter, die entsprechenden Programmroutinen im System des Amorphen auszulösen. Zwar waren die meisten Räume an Bord der RUBIKON per Transmitter verbunden, doch sie wiesen fast alle zusätzlich normale Türen oder Schotts auf. Jarvis floss auf die Tür zu, drang durch winzigste Ritzen. Die Nano-Technologie, aus der sein neuer Körper bestand, war so klein, dass die Tür kaum ein Hindernis war. Er benötigte nur wenige Augenblicke, um seine gesamte Masse hindurchzuschleusen. Auf der anderen Seite rekonstruierte sich der Nano-Körper. John Cloud ging dort unruhig auf und ab. Als hätte er ein Geräusch gehört, wirbelte er herum und
starrte den Amorphen überrascht an. »Jarvis!«, entfuhr es ihm. »Meine Güte, wie hast du es geschafft, unbemerkt an Bord zu kommen und...« »Boreguir ist bei uns. Außerdem habe ich Scobee und Jelto gefunden.« »Dann sind sie am Leben?« »Ja, aber für Erklärungen ist jetzt keine Zeit«, unterbrach Jarvis Cloud. Er streckte einen Arm aus, der durch die Wand zu dringen schien. »Ich werde den Türtransmitter neu konfigurieren. Anschließend gehen wir direkt in die Zentrale, erobern sie zurück und du legst dich in den Sarkophag.« »Das ist Wahnsinn! Hast du eine Ahnung, wie viele Merimden sich in der Zentrale befinden?« »Ehe die Merimden uns bemerken, werden viele der Invasoren ausgeschaltet sein. Es ist unsere einzige Chance, John. Du musst SESHA neu starten und ihr deinen Willen aufzwingen.« »Leichter gesagt als getan!«, warf Cloud ein. »Sobald SESHA reaktiviert und unter deiner Kontrolle ist, können Abwehrmaßnahmen eingeleitet werden.« John Cloud nickte leicht. »Du hast Recht...« *** Ein Dutzend Merimden befanden sich in der Zentrale der RUBIKON. Sie machten sich an verschiedenen Konsolen und den Sarkophag-Sitzen zu schaffen. Offenbar suchten sie nach einem Weg, nicht nur die eiweißhaltigen Ressourcen des Rochenschiffes für ihr weiteres Überleben im Sonnenhof nutzbar zu machen. Merimde 1 erteilte Anweisungen, die von Schnalzlauten untermalt wurden, bei deren Erzeugung der rüsselartige Fortsatz im Gesicht vibrierte. Dadurch wurde die Bedeutung
seiner Anweisungen unterstrichen. Einer seiner Untergebenen, Merimde 746, meldete eine Anomalie im Transmittersystem, woraufhin der Silberne eine Erklärung verlangte. Er drehte sich zu seinem Untergebenen um und... Für den Bruchteil eines Augenblicks glaubte er, einen Schatten gesehen zu haben. Er stutzte. Weder Beißwerkzeuge noch Lippentaster oder Rüsselfortsatz erzeugten irgendein Geräusch… *** Boreguir hatte als Erster den Transmitter passiert. Jarvis war der Zweite, dann folgten Scobee, Jelto und Cloud. Ehe die merimdische Besatzung der Zentrale überhaupt gemerkt hatte, was geschah, waren die ersten Invasoren bereits ausgeschaltet worden. Boreguir ließ sein Herzblut-Schwert kreisen, Scobee feuerte mit ihrem Strahler. Jelto hatte seine Waffe Cloud gegeben, der dem Beispiel der GenTec folgte. Jarvis betäubte mehrere der Invasoren durch Elektroschocks, indem er sie umfloss und ihre Gehirne kurzschloss. Einer der Insektoiden griff nach seinem Strahler, aber bevor er zu feuern vermochte, war Boreguir bereits bei ihm. Mit wuchtigen Hieben seines Herzblut-Schwertes schaltete der Saskanenkrieger innerhalb von Augenblicken drei Merimden aus. Strahlschüsse zischten jetzt grell durch die Zentrale. Ehe die Merimden ihre Schutzschirme zu aktivieren vermochten. waren sie bereits stark dezimiert. Einige schafften es doch noch, die Schirme zu aktivieren. Aber es stellte sich heraus, dass diese Energieschilde gegen die
merimdischen Strahler, die Scobee und Cloud benutzten, kaum etwas auszurichten vermochten. Sie wurden einfach durchdrungen, ohne zusammenzubrechen. Das Gefecht war hart und kurz. Ein Insektoide nach dem anderen sank getroffen zu Boden. Merimde 1 versuchte, über die Türtransmitter zu entkommen, aber Jarvis hatte dafür gesorgt, dass das unmöglich war. Der Transporter aktivierte sich einfach nicht. »Die Waffen runter!«, rief Scobee. Der Silberne senkte seinen Strahler. Noch zwei weitere Insektoide waren auf den Beinen. Auch sie senkten die Waffen. Offenbar sahen sie ein, dass sie keine Chance hatten. »Die Schutzschilde deaktivieren!«, befahl Scobee. Merimde 1 gehorchte als Erster. Die beiden anderen folgten wenige Augenblicke später dem Beispiel ihres Rangobersten. »Wir behalten sie hier«, bestimmte Cloud. Wer konnte schon voraussagen, ob sie den Silbernen nicht noch einmal benötigten. Außerdem bedeutete die Gefangennahme von Merimde 1 eine erhebliche Schwächung der Invasoren. Ihre Gruppenstruktur war nach allem, was man bisher über sie wusste, sehr autoritär. Wenn der Kopf fehlte, so Clouds Hoffnung, war der Rest ohne Führung. Jarvis' Körper nahm wieder seine übliche humanoide Gestalt an. Er stellte erneut eine Verbindung zum Steuermodul eines Türtransmitters her. Scobee entwaffnete die drei noch unversehrten Merimden. Außerdem nahm sie ihnen die Transfermodule ab. »Ihr habt nicht den Hauch einer Chance!«, sagte der Silberne anschließend. »Das Schiff ist vollkommen in unserer Gewalt!« »Bis auf die Zentrale«, erwiderte Scobee. Cloud legte sich inzwischen in einen der Sarkophag-Sessel.
»Durch meine Arbeit mit dem Transfermodul der Merimden weiß ich, wie man die Schutzschilder der RUBIKON so modifizieren kann, dass es unmöglich wird, sie mit deren Hilfe zu durchdringen«, sagte Jarvis an Cloud gerichtet. »Sobald SESHA reaktiviert ist, werde ich die entsprechenden Daten überspielen.« John nickte. »Okay!«, murmelte er. Der Sarkophag wurde geschlossen... SESHA war auf ihre Grundfunktionen reduziert. John Cloud wurde mit einer Reihe von völlig sinnlosen Abfragen konfrontiert. Worte in verschiedenen Sprachen. Manche davon hatte John noch nie zuvor gehört. Möglicherweise musste er damit rechnen, dass die KI der RUBIKON beschädigt war. Cloud gab die Anweisung, das System wieder zur Gänze hochzufahren. SESHA widersetzte sich zunächst. Befehl nicht sinnvoll, erklärte die KI. Es existieren Schäden im System. Nur Grundfunktionen sind verfügbar. Cloud fragte: Erkennst du mich? Es dauerte quälend lange Augenblicke, bis die Antwort kam. John Cloud. Cloud atmete innerlich auf. Ich will, dass meine Autorität über das Schiff bestätigt wird!, forderte Cloud. Teile der Antwort waren sinnloses Zeug. Datenmüll. Aber schließlich erfolgte die geforderte Bestätigung. Cloud erneuerte den Befehl zum Hochfahren des Systems. Und SESHA – oder das, was von ihr im Moment noch übrig war – gehorchte. Cloud spürte, wie er wieder eins mit dem Schiff wurde. Er
bekam sehr schnell ein Bild der Lage. Er gab den Befehl, Eindringlingsalarm auszulösen und die Standardabwehr einzuleiten. Schon die Tatsache, dass SESHA dies nicht automatisch tat, zeigte, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war. Aber sie führte Clouds Befehle anstandslos aus. Überall wurden die Spinnenroboter aktiviert. Sofern noch funktionsfähig erwachten sie aus ihrer Erstarrung und nahmen den Kampf gegen die merimdischen Invasoren erneut auf. Jarvis gab die Daten ein, die ein Modifizieren der äußeren Schutzschilde erlaubte. Die Außenhülle der RUBIKON wurde daraufhin für die Merimden undurchdringlich. Es gab für sie jetzt weder die Möglichkeit Verstärkung an Bord ihres Beuteschiffs zu bringen, noch zu flüchten. Außerdem wurde ein zwar schwächerer, aber ausreichender Schirm um die Zentrale gelegt. Mit Hilfe der Transfermodule war die Außenhülle der RUBIKON jetzt nicht mehr zu durchdringen, und ihre Zentrale war unangreifbar. Überall an Bord kam es jetzt zu heftigen Kämpfen zwischen SESHAs Spinnenrobotern und den Merimden. Bist du voll funktionsfähig?, fragte Cloud die KI. Die Antwort kam diesmal sofort. Es gibt ein paar Konfigurationsprobleme im System, erklärte SESHA. Aber deren Behebung hat Zeit, bis die Gefahr durch die Invasoren behoben ist. Cloud zögerte mit seiner nächsten Frage. Vielleicht weil er die Antwort fürchtete. Er stellte sie dennoch. Wer ist der Kommandant? Die Antwort kam überraschend prompt und eindeutig.
Du, John Cloud! John Cloud öffnete den Sarkophag und erhob sich. SESHA schien ihm vollkommen zu gehorchen. Im Moment hatte ihm die KI offenbar keine Widerstandskraft entgegenzusetzen. Ob das mit ihrer Beschädigung zu tun hatte, würde sich zeigen. »SESHA?«, fragte Cloud. »Was sind deine Befehle, Kommandant?«, gab die KI mit ungewohnter Demut zurück. »Ich möchte, dass ein Kommunikationskanal frei geschaltet wird, der im gesamten Schiff empfangen wird.« »Sehr wohl.« Cloud wandte sich an Merimde 1. »Über kurz oder lang werden wir die vollständige Kontrolle über das Schiff zurückgewinnen«, erklärte er dem ranghöchsten Merimden. »Du solltest allen Merimden an Bord befehlen, dass sie die Waffen niederlegen und sich ergeben sollen!« »Es ist noch nicht gesagt, wie der Kampf ausgehen wird!«, erwiderte der Silberne trotzig. Cloud ließ SESHA eine Holosäule aktivieren, auf der Merimde 1 sehen konnte, wie die Kämpfe verliefen. SESHA aktivierte sowohl Spinnenroboter als auch Schwärme von Nano-Robotern, um die Merimden zu bekämpfen, deren Verluste bereits im dreistelligen Bereich lagen. »Die Merimden an Bord unseres Schiffes sitzen in der Falle«, sagte Cloud. »Sie können nicht fliehen, weil wir die energetische Struktur der Schutzschirme neu konfiguriert haben. Nach und nach werden die Roboter unserer KI jeden einzelnen Merimden finden und vernichten, wenn es sein muss. Ich weiß, dass sie sich nur ergeben werden, wenn du es ihnen befiehlst.« »Das ist richtig«, sagte Merimde 1.
»Es liegt also in deiner Hand.« Der Merimde deutete auf die Holosäule. »Das sind doch alles nur Tricks!« »Ich denke, du weißt, dass das, was du dort siehst, der Wahrheit entspricht. SESHA konnte neu gestartet werden und wird das Schiff mit Klauen und Zähnen verteidigen. Darauf kannst du dich verlassen.« Noch zögerte der Silberne. Er schien noch nicht verkraftet zu haben, dass sich das Blatt vollkommen gewendet hatte. Die größte Beute, die die Merimden jemals an sich gebracht hatten, seit sie im Sonnenhof gestrandet waren, drohte zum größten Debakel zu werden. »Was wollt ihr uns anbieten?«, fragte er. »Eine LebendKonservierung?« »Könnte man so nennen.« »Dauerhafte Lebend-Konservierung?« »Wer sagt, dass wir euch töten wollen, wenn es nicht sein muss?« »So haben wir auch einst gedacht«, erwiderte Merimde 1. »Aber ihr seid ja auch noch nicht besonders lange Gefangene des Sonnenhofs...« Er vollführte eine ausholende Bewegung mit seinen obersten Extremitäten und begann, mit den Beißwerkzeugen zu schaben. »Schaltet den Kommunikationskanal frei«, sagte er schließlich. »Wir geben auf!« Kurz nachdem der Silberne zu den Merimden gesprochen hatte, legten diese die Waffen nieder. Sie ließen sich widerstandslos von den Spinnenrobotern abführen und in freie Kabinen einsperren. Auch die beiden untergeordneten Insektoiden, die sich noch in der Zentrale befanden, wurden fortgeschafft. Nur Merimde 1 durfte bleiben. »Dauerhafte Lebend-Konservierung!«, erinnerte der
Silberne Cloud. »Du hast es versprochen.« »Keine Sorge, daran werde ich mich unter Garantie halten«, erwiderte Cloud. »Scobee, hol bitte Aylea! Durch Jarvis' Manipulation der Transmitter ist sie zwar in Sicherheit, aber wir sollten sie nicht länger als nötig im Ungewissen lassen. Meinen Vater«, Cloud zögerte einen Moment, »lassen wir besser dort, wo er gerade ist. Da ist er besser aufgehoben.« Die GenTec nickte und wandte sich um, um die Anweisung auszuführen. Wenig später meldete SESHA, dass das gesamte Schiff wieder unter ihrer Kontrolle war. Nirgends wurde noch gekämpft. Jarvis wandte sich an Cloud und hielt ihm das merimdische Transfer-Modul hin. »Ich habe die Funktionsweise dieser Dinger genauestens studiert, John. Sie nutzen die so genannten Gravitationsbahnen zur Fortbewegung. Es ist sehr schwer, die naturwissenschaftlichen Grundlagen in Worte zu fassen, damit sie jemand versteht, der...« Er zögerte. »Jemanden, der nicht über eine so umfassende Wahrnehmung verfügt?«, vollendete Cloud. Jarvis gesichtsloser Kopf neigte sich leicht nach vorne. »Ja.« »Es ist doch eine Tatsache.« »Ich bin jedenfalls dazu in der Lage, mich mit Hilfe eines derartigen Gerätes ohne Beschränkungen innerhalb des Sonnenhofs zu bewegen. Ich könnte also zu dieser mysteriösen Station aufbrechen, von der aus diese Falle offenbar kontrolliert wird.« »Du weißt doch, dass keiner der Merimden, die dorthin zu gelangen versuchten, die Station lebend erreicht hat!«, gab Scobee zu bedenken. »Das ist die Wahrheit«, ergänzte der Silberne. »Wirklich keiner der ausgesandten Merimden erreichte sein
Ziel?«, vergewisserte sich Cloud. »Genau so ist es!«, behauptete Merimde 1. »Weißt du etwas Genaueres über den Grund dafür, dass sie alle abgefangen wurden?«, hakte Cloud nach. »Nein«, gab der Merimde zurück. »Eigentlich lässt sich das aber nur so erklären, dass es auf der Station äußerst wirksame Ortungs- und Abwehrsysteme gibt, gegen die wir einfach keine Chance hatten.« »Aber bei einem Transfer mit euren Modulen befindet man sich doch in einer Kontinuumsblase«, stellte Jarvis fest. »Für die Abwehr der Station scheint das keinen Unterschied zu machen«, sagte Merimde 1. »Jeder, der sich der Station nähert, wird aufgespürt und getötet. Wir konnten die Leichname orten.« »Unsere Schutzvorrichtungen konntet ihr auch problemlos überwinden!«, erwiderte Cloud, der sich noch etwas mehr Unterstützung von Merimde 1 erhoffte. Der Silberne wandte den Kopf leicht zur Seite. Es wirkte fast so, als würde er damit Clouds Blick ausweichen. »Eure Technologie ist vergleichsweise einfach«, gab er zurück. »Ich bin bereit, das Wagnis einzugehen«, sagte Jarvis. »Ihr wisst ja, dass mein neuer Körper vergleichsweise robust ist. Also rechnet nicht gleich mit meinem Tod.« Seinem zweiten Tod, ging es Cloud durch den Kopf. Jetzt mischte sich plötzlich Boreguir in das Gespräch ein. »Ich werde dich begleiten, Freund Jarvis!«, verkündete er. »Ganz gleich, an welch fernen Ort unsere Reise auch führen mag. Wie ich hörte, soll er gut bewacht sein. Wenn du mit mir zusammen gehst, wird uns niemand bemerken. Du hast es doch selbst erlebt, dass ich das bewirken kann.« »Ja«, musste Jarvis zugestehen. »Funktioniert diese Fähigkeit denn auch gegenüber
Fernortungssystemen?«, hakte Cloud zweifelnd nach. »Das Risiko bin ich bereit, auf mich zu nehmen«, erklärte Jarvis. »Eins steht jedenfalls fest. Wenn jemand eine Chance dazu hat, diese Station zu betreten und außer Gefecht zu setzen, dann sind das Boreguir und ich.« Einige Augenblicke herrschte Schweigen. Schließlich nickte Cloud. »Okay, dann los! Ich nehme an, es könnte euch beide ohnehin niemand von diesem Plan abhalten!« »Das siehst du richtig!«, sagte Jarvis. Cloud starrte auf die Vorderseite seines pseudohumanoiden Kopfes. Bei einem Menschen befand sich dort das Gesicht. Bei Jarvis waren dort nur die ewig umherwimmelnden NanoTeilchen. Vielleicht hätte er früher einfach gegrinst, ging es Cloud durch den Kopf. »Ich brauche noch etwas«, sagte Jarvis. »Was?« »Eine Waffe, um die Station schnell und wirkungsvoll lahm zulegen. SESHA verfügt darüber in ihren Datenspeichern. Ich möchte, dass du mir den Zugang dazu verschaffst, John.« *** Es war nicht leicht, Boreguir davon zu überzeugen, dass er bei diesem Einsatz einen Raumanzug tragen musste. Scobee erläuterte ihm die Funktionsweise. Sowohl Scobee als auch Jarvis versuchten, Boreguir einzuschärfen, dass es ihn das Leben kosten konnte, wenn er seine Stacheln während des Transfers ausfuhr. Der Anzug war für im weitesten Sinn humanoide Benutzer konzipiert. Das traf auf Boreguir zu, und der Saskane lernte schnell. Begierig sog er alles auf, was ihm darüber erzählt
wurde. Schließlich begann der Transfer. Die Eindrücke, die während dieser Phase auf beide GravoLäufer einwirkten, versuchte Boreguir nicht weiter zu beachten. Ich muss unsichtbar werden. Freund Jarvis ebenfalls. Wir sind leicht wie eine Feder, unscheinbar wie ein Staubkorn. Niemand wird uns sehen oder sich an uns erinnern... Jarvis kybernetische Sinne registrierten die hochempfindlichen Ortungsstrahlen, die breit gefächert den umliegenden Weltraum absuchten. Aber die Systeme der Station waren offensichtlich nicht in der Lage, ihre Kontinuumsblase zu orten – anders als bei den kläglich gescheiterten Versuchen der Merimden. Jarvis' Transfermodul registrierte, dass von der Station eine ortungstechnische Abtastung erfolgte – ohne Ergebnis! So gelangten Jarvis und Boreguir vollkommen unbehelligt in die Station. Kahle, aber hell erleuchtete Korridore erstreckten sich vor ihnen. Es gab keine Atmosphäre, doch die Temperatur lag knapp oberhalb des Gefrierpunkts, sodass technische Funktionen nicht beeinträchtigt wurden. Aber es war auf den ersten Blick klar, dass diese Station zumindest im Augenblick nicht von Angehörigen irgendeiner organischen Spezies bewohnt wurde. Zylinderförmige, auf Antigravfeldern schwebende Roboter patrouillierten in den Gängen. Links verfügte jeder von ihnen über einen Waffenarm. Doch die Roboter kümmerten sich nicht um sie. Jarvis durchstreifte die Station mit seinen kybernetischen Sinnen und lokalisierte so schließlich die Aggregate, die der Energieerzeugung dienten. Außerdem stellte er fest, dass die Ortungssysteme der Station Anomalien in unmittelbarer Nähe
der Station sowie kurze Zeit später auf der Station selbst aufgezeichnet hatten. Daher war Eindringlingsalarm ausgelöst worden. Unzählige Robotpatrouillen durchstreiften die Korridore der Station auf der Suche nach den Invasoren. Die KI wunderte sich darüber, dass es ihr nicht möglich war, weitergehende Daten abzurufen, die eigentlich im Zusammenhang mit der Raumanomalie hätten aufgezeichnet werden müssen. Die offenbar ausschließlich robotische Besatzung stand vor einem Rätsel. Dafür ist wohl Boreguir verantwortlich, dachte Jarvis. Wie auch immer er das machte... Schließlich – keine der Robotpatrouillen hatte sie bemerkt – gelangten sie an das Zugangsschott, hinter dem sich die Energieversorgung der Station befinden musste. »Warte hier«, sagte Jarvis an Boreguir gewandt. Er übergab dem Saskanen das Transfermodul. Die Verbindung zu Jarvis' Nano-Körper zog sich dabei zurück. »Bewahr dies für mich auf!« »In Ordnung«, sagte Boreguir durch den Helmfunk. Der Saskane fühlte sich ziemlich unwohl in seinem Anzug. Dessen Handhabung hatte man ihm zwar erklärt, aber ihm fehlte das technische Verständnis, um wirklich zu begreifen, dass dieses Kleidungsstück sein Leben schützte – vor allem die Energieblase um den Kopf, die er auf keinen Fall deaktivieren durfte, wie man ihm eingeschärft hatte. Aber Boreguir vertraute auf die Worte seines Freundes. Auf Jarvis konnte er sich verlassen. Dieser hatte Ehre, und es würde ihm nicht im Traum einfallen, einem Freund mutwillig zu schaden. Also tat Boreguir, was von ihm verlangt wurde. Gleichzeitig versuchte er, sich darauf zu konzentrieren, sowohl Jarvis als auch sich selbst für die anderen zu einem
Vergessenen zu machen. Jarvis' Körper löste sich auf, und er drang durch das Schott hindurch. Die flüssig scheinenden Nano-Teilchen rekonstruierten sich auf der anderen Seite gar nicht erst zu einem neuen Körper, sondern flossen auf die Reihe der gewaltigen, zylinderförmigen Aggregate zu. Ein grünlich schimmernder Schutzschirm wurde aktiviert. Roboter schwebten durch einen zweiten Eingang herein, schwenkten die Waffenarme – feuerten jedoch nicht. Die KI hatte offensichtlich bemerkt, dass in diesem Sektor eine Bedrohung bestand, konnte sie jedoch nicht genau lokalisieren. Jarvis drang in das erste der untereinander vernetzten Aggregate ein. Es gelang ihm, in das interne Rechnersystem zu gelangen. Ein Angriff auf die Stations-KI wäre zu riskant gewesen. So versuchte es Jarvis durch diese Hintertür. Die Sicherheitsmaßnahmen waren leicht zu überwinden. Jarvis schleuste ein Programmfragment in das System ein, das er aus SESHAs Speicher isoliert und leicht modifiziert hatte. Die Merimden hatten damit den Kollaps der SESHA verursacht, nachdem sie mit Hilfe des an Cloud übergebenen Datenträgers dafür gesorgt hatten, dass ihre systeminternen Abwehrmechanismen gegen Cyber-Attacken nicht wie gewohnt funktioniert hatten. Die Merimden waren wahre Meister in der Virusprogrammierung. Kein Wunder, schließlich hatten sie lange Übung darin, gestrandete Schiffe und deren Computersysteme lahm zulegen. Jarvis schleuste das Programmfragment ein und zog sich anschließend zurück. Die Stations-Roboter bemerkten den Strom der NanoRoboter, eröffneten sofort das Feuer mit breit gestreuten
Energiestrahlen. Jarvis war sehr schnell, sodass trotz der heftigen Attacke kein nennenswerter Teil seiner Körpersubstanz vernichtet wurde. Er kehrte zu Boreguir zurück. *** Roboter schwebten mit justierten Waffenarmen heran. Der Saskane war verwirrt. Hatte er sich nicht genug konzentriert? Sich nicht leicht genug gemacht? Nicht dafür gesorgt, dass die Erinnerung an ihn tatsächlich ausradiert wurde? Er fasste sein Schwert mit der Linken, während sich Jarvis' Nano-Teilchen wieder zu einer pseudohumanoiden Gestalt formten. Die Roboter stoppten. Irgendetwas hatte ihre Sensorsysteme verwirrt, sodass sie widersprüchliche Informationen erhielten. Jarvis nahm dem Gefährten das Modul ab und aktivierte es. Als die Roboter zu feuern begannen, hatte die Kontinuumsblase die beiden Eindringlinge auf die Station längst eingehüllt und der Transfer begonnen. »Ich weiß nicht, wie das geschehen konnte!«, sagte der Saskane. »Sie haben uns bemerkt!« »Du musst dafür sorgen, dass sie uns wieder vergessen, Boreguir. Auch wenn es schwer ist! Nur ein paar Augenblicke, dann werden sie uns nicht mehr schaden können.« »Gut!« Wir sind nicht existent. Wir schweben leicht wie eine Feder und unsichtbar wie ein Gedanke dahin. Keine Spur. Kein Bild. Kein Schatten... Jarvis war nervös. Er dachte an die Merimden, die ja ebenfalls als GravoLäufer in einer Kontinuumsblase versucht hatten, die Station zu betreten, aber offenbar von der Robotbesatzung geortet,
erkannt und vernichtet worden waren. Um sich selbst machte sich Jarvis dabei weniger Sorgen als um Boreguir. Natürlich konnte auch Jarvis' äußerst widerstandsfähiger Nanotech-Körper zerstört werden. Je nachdem, wie energiereich der Beschuss war, musste Jarvis damit rechnen, einen mehr oder weniger großen Anteil seiner Körpersubstanz zu verlieren. Und das bedeutete Schwäche. Oder gar Vernichtung, wenn ein bestimmter Prozentsatz überschritten wurde. Aber es folgte kein Beschuss. Es war Boreguir anscheinend gelungen, sich und Jarvis erneut vor den Sensorsystemen der Station zu verbergen. Jetzt!, dachte Jarvis. *** In der Haupt-Holosäule der RUBIKON war die Station im Zentrum des Sonnenhofs herangezoomt worden. Gebannt starrten Cloud, Scobee, Jelto und Aylea auf das ringförmige Gebilde. Würden Jarvis und Boreguir Erfolg haben? Da tauchten die beiden plötzlich auf. Sie materialisierten in der Zentrale zwischen den Sarkophag-Sitzen der Hohen Sieben. Die Schutzschilde der RUBIKON waren für die Dauer ihrer Außenmission wieder so konfiguriert worden, dass ein Transfer durch die Schutzschilde möglich war. Im selben Augenblick gingen auf der Station im Zentrum des Sonnenhofs buchstäblich die Lichter aus. »Eine energetische Aktivität auf der Station ist nicht mehr messbar«, meldete SESHA. »Dann hat unser Plan geklappt!«, stellte Jarvis fest. Im nächsten Augenblick meldete SESHA eine zumindest
teilweise Einsatzfähigkeit des Antriebs und der Steuerung. Die unsichtbaren Fesseln, mit denen die RUBIKON gefangen gehalten worden war, existierten nicht mehr. Zwar hatte es im Zuge der jüngsten Ereignisse erhebliche Schäden am Schiff und vor allem an der KI gegeben, aber die RUBIKON schien zumindest eingeschränkt manövrierfähig. »Dann steht einem Verlassen des Sonnenhofs nichts mehr im Weg?«, vergewisserte sich Cloud. »Die Aussage ist korrekt«, bestätigte die KI. »Worauf warten wir noch? Nichts wie weg!«, meinte Scobee. »Einen Moment«, sagte John Cloud. Er wandte sich an den Silbernen. »Ihr Merimden könnt die RUBIKON verlassen. Nehmt eure Transfermodule und kehrt zurück zu eurem Raumschiff. Ich nehme an, dass es jetzt ebenfalls wieder manövrierfähig ist.« Der Merimde schien überrascht zu sein. »Keine LebendKonservierung?« »Wir brauchen keine Gefangenen.« »Du bist großzügig.« »Ihr habt in einer verzweifelten Lage zu überleben versucht. Ich möchte nicht den Richter über euch spielen.« Und eigentlich möchte ich auch nicht wissen, wie wir in einer vergleichbaren Situation gehandelt hätten, setzte John Cloud noch in Gedanken hinzu. *** Nachdem die Merimden das Schiff verlassen hatten, stieg Cloud in den Sarkophag und lenkte die RUBIKON aus dem Einflussbereich der neun Schwarzen Sonnen heraus. Er erkundigte sich bei SESHA auch nach dem Zustand von Siroona und Sobek.
Sie sind soeben erwacht, stellte die KI fest. Cloud versetzte das einen Stich. Würde die Schiffs-KI ihm etwa wieder das Kommando entziehen und es den skrupellosen Foronen übergeben? Ich möchte sie sehen, forderte Cloud. SESHA gehorchte anstandslos. Cloud sah den Behandlungsraum vor sich, in dem die beiden Foronen untergebracht worden waren. Sie verdanken es ihren Rüstungen, dass sie nicht umgekommen sind, so wie alle anderen Foronen an Bord, erklärte SESHA. Das Energiefeld um sie herum wurde deaktiviert. Sobek erhob sich als Erster. SESHA, sandte er seine telepathische Botschaft an die KI, die auch Cloud hören konnte. Ich möchte augenblicklich einen Statusbericht. SESHA antwortete auf eine Weise, die John Cloud zutiefst überraschte. Keine Autorisation. Der augenlose Kopf des Foronen machte eine ruckartige Bewegung. Was? Siroona hatte sich inzwischen ebenfalls von ihrer Liege erhoben. Ich bin dein Kommandant, SESHA!, schrie Sobek in Gedanken. Du hast mir zu gehorchen! Negativ, war SESHAs trockene Antwort. Ich befehle dir eine Selbstanalyse im Hinblick auf Programmfehler!, sandte Sobek seine telepathischen Impulse an die KI. Die KI ließ Cloud an diesem Dialog in voller Gänze teilhaben. Auch das war ungewöhnlich. Befehl verweigert, erteilte SESHA Sobek erneut eine Abfuhr. Nur Personen, deren Hirnstruktur und mentales Muster mit den gespeicherten Vorlagen autorisierter Personen übereinstimmt, können eine Selbstanalyse anordnen.
Die Auskunft war klar und eindeutig. Irgendetwas musste bei der tödlichen Strahlung, der alle Normalforonen zum Opfer gefallen waren, mit Sobeks Gehirn geschehen sein. Die Amorphrüstung, die er trug, hatte ihn zwar vor dem Tod bewahrt, aber nicht davor, dass seine Hirnstruktur und seine Mentalstruktur sich auf eine Weise verändert hatten, die es SESHA unmöglich machte, ihn als Kommandanten zu akzeptieren. Für Siroona galt dasselbe. Als sie von SESHA Gehorsam verlangte, erhielt sie eine ähnliche Abfuhr wie Sobek. »Ich bin dein Kommandant!«, tobte der Erste unter den Hohen Sieben. Er benutzte dabei sogar den akustischen Kommunikationsweg. Etwas, das er ansonsten im Umgang mit der KI eigentlich vermied. »Diese Feststellung ist falsch«, entgegnete SESHA. »Ein Abgleich der gespeicherten Hirnmuster mit...« Sobek unterbrach die KI. »Und wer hat nun das Kommando?« Er muss es ahnen, dachte Cloud. Und es wird ihn zur Weißglut bringen. SESHA nannte seinen Namen – John Cloud. Dieser primitive, kurzlebige Wurm!, entfuhr es dem Foronen. Cloud wandte sich an SESHA. Ich möchte, dass Sobek und Siroona unter Arrest gestellt und isoliert werden, befahl er. Die Türtransmitter zum Behandlungsraum wurden entsprechend konfiguriert, erklärte die KI. Außerdem habe ich den Raum mit einem Eindämmungsfeld umgeben und sämtliche Zugänge zum Kommunikationssystem gekappt.
Cloud war zufrieden. Im Augenblick war er der Einzige an Bord, dessen Autorität SESHA akzeptierte… *** Die RUBIKON schwebte im freien Raum am Rande der Großen Magellanschen Wolke. Cloud hatte inzwischen den Sarkophag verlassen und beriet sich mit den anderen in der Zentrale. »Wohin geht es jetzt?«, fragte Scobee. »Zurück in die Milchstraße? Oder in die nahe gelegene GMW?« »Eigentlich haben wir keine Wahl«, antwortete Cloud. »Wieso?«, hakte Scobee nach. »SESHAs Schadensbericht ist deprimierend«, erklärte Cloud. »Offenbar wurde die RUBIKON während der Kämpfe mit den Merimden weitaus stärker beschädigt, als wir ursprünglich angenommen hatten.« Scobee verschränkte die Arme. »Was heißt das im Klartext?« Die Tattoos über ihren Augen hoben sich dabei etwas. »Unsere momentane Reichweite beträgt zurzeit lediglich 100.000 Lichtjahre«, gab Cloud Auskunft. »Das reicht, um zur GMW zu gelangen, aber nicht für eine Rückkehrer in die Milchstraße«, stellte Jarvis fest. Cloud nickte. »Genau darum geht es. Nach und nach wird die KI die Schäden natürlich reparieren, aber wie viel Zeit das in Anspruch nimmt, kann ich nicht sagen. Und ob die RUBIKON dann wirklich einwandfrei funktioniert, wird sich auch erst in Zukunft zeigen.« Er wandte sich dem Panorama-Bildschirm mit Blick auf die nahe Sterneninsel zu. Sein Gesicht wurde nachdenklich.
Wann hast du eigentlich das letzte Mal eine Entscheidung treffen können, die nicht durch äußere Umstände erzwungen wurde?, überlegte er. Das musste in einem anderen Leben gewesen sein. In einem anderen Jahrhundert. In einer Welt, die nicht mehr existierte… ENDE