Mythor Der wahnsinnige Xandor von Ernst Vlcek Band 02
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Mythor Der wahnsinnige Xandor von Ernst Vlcek Band 02
VORWORT Liebe Leserinnen, liebe Leser, daß Fantasy so alt sei wie die Menschheit selbst, ist eine Ansicht, die in den vergangenen zwanzig Jahren, seit diese Literaturgattung in Deutschland überhaupt bekannt wurde, schon oft genug geäußert wurde. Tatsächlich gehört die Fantasy zur fantastischen Literatur im allgemeinen und ist häufig eine direkte Fortsetzung der Märchen und Sagen, die sich unsere Vorfahren in grauer Vergangenheit erzählt haben. Zauberer und Hexen, Monster und Feen, Zwerge und Riesen, Drachen und gigantische Wassertiere – sie alle finden ihre Entsprechung in den klassischen Sagen aller möglichen Völker und in der Fantasy unserer Zeit. Und immer wieder behandeln sowohl die Klassiker als auch die Fantasy-Literatur den anscheinend ewigen Kampf der Menschen gegen die Mächte des Bösen oder der Finsternis. In der MYTHOR-Serie ist der junge Krieger, dessen Abenteuer in erster Linie geschildert werden, eine Verkörperung jenes unendlich währenden Kampfes gegen die Finsternis. Im vorliegenden Buch werden die Konturen dieses Krieges deutlicher. Ernst Vlcek schreibt in »Der wahnsinnige Xandor« über Mythors Zusammentreffen mit einem Menschen, der – das sei schon verraten – im weiteren Verlauf der Reihe noch an Bedeutung gewinnen wird. In »Die Lichtburg« und »Das Gläserne Schwert« schildert Peter Terrid, wie Mythor versucht, die erste jener legendären Waffen zu erlangen, die ihm im Kampf gegen die Finsternis helfen sollen. Viel Vergnügen bei diesen spannenden Abenteuern wünsche ich Ihnen schon jetzt! Klaus N. Frick
Die gierigen Finger des Bösen greifen wieder aus der Dunkelzone nach der Welt der Menschen. Der Schatten des gleißenden Ringes aus kosmischen Trümmern, der die Welt in zwei Hälften teilt, beherbergt die Mächte der Finsternis. Von Dämonenpriestern vorangetrieben, machen sie sich daran, den Norden der Welt zu erobern. Zu lange schon ist es her, daß der Bote des Lichts mit seinem strahlenden Kometentier den Menschen den Frieden brachte. Und der »Sohn des Kometen«, der möglicherweise dem Bösen standhalten kann, ist noch immer nicht aufgetaucht. Die uralte Nomadenstadt Churkuuhl, die seit langer Zeit auf den Rücken gewaltiger Tiere über die nördliche Welt getragen wird, geht an der Küste des Meeres der Spinnen in einer furchtbaren Katastrophe unter. Aus ihren Trümmern retten sich nur wenige, darunter der junge Mann, den man Mythor nennt und dessen Herkunft unbekannt ist. Nyala, die Töchter des Herzogs von Elvinon, bewahrt Mythors Leben, denn sie glaubt fest daran, daß. er jener Sohn des Kometen sei, dessen Kommen vorausgesagt wurde. Als er sich auf Nyalas Geheiß in einen unterirdischen Tempel begibt, erfährt er, daß der Sohn des Kometen sich diesen Titel erst erkämpfen muß, indem er mehrere Aufgaben erfüllt und sich außerdem als würdig erweist. In Elvinon gerät Mythor mitten in die Invasion durch das Kriegervolk der Caer. Die von den Dämonenpriestern geführte Invasionsflotte erstürmt die Stadt, und Mythor gerät zusammen mit Nyala und deren Vater, Herzog Krude, in Gefangenschaft. Eine Flucht auf dem von Ungeheuern heimgesuchten Meer ist nur mit Hilfe der »Goldenen Galeere« möglich, eines Geisterschiffes mit untoter Besatzung. Doch selbst auf diesem geheimnisumwitterten Schiff treffen die Flüchtlinge auf einen der schwarzen Priester. Und dann begeht Mythor einen großen Fehler: Um Xanadas
Lichtburg zu finden und dort als erste seiner Aufgaben das Gläserne Schwert Alton an sich zu bringen, verrät er Herzog Krude und kann so fliehen. Aber – ist er jetzt noch würdig, zum Sohn des Kometen zu werden?
Ernst Vlcek
DER WAHNSINNIGE XANDOR »Nottr chom fanchn!« rief Iki über den Strand, während sie Chnoch mit wild schlagenden Hufen im seichten Ufer tänzeln ließ, daß das Wasser schäumend aufspritzte. »Tutt ir murkn!« antwortete Nottr lachend seiner linken Flankenschwester. Iki war ein unbändiges Weib. Mit ihrem Übermut riß sie die anderen mit und stachelte sie zu einem Blutrausch auf. Schade nur, daß sie diesen nicht würden stillen können. Denn auf den Wogen des Meeres trieb nur eine einsame Gestalt. Was war schon ein einzelner Gegner für eine Kriegerschar, deren Zahl der von fünfzehn Viererschaften entsprach! Vermutlich würde er nach den Anstrengungen, die es ihn kostete, sich über Wasser zu halten, nicht einmal die erste Runde des Fanchn-Spiels überstehen. Nottr fand keinen Spaß daran, einen ohnehin erschöpften Mann zu Tode zu hetzen. Darum beteiligte er sich nicht an dem Spiel. Er tätschelte seiner Stute Nardor beruhigend die Flanke und blickte aufs Meer hinaus. Der einzelne Schwimmer war dem Ufer schon recht nahe. Aber nun zögerte er und trat Wasser. Der Anblick der Krieger schien ihn einzuschüchtern. Ihm mußte klar sein, daß er nur die Wahl hatte, entweder in den Fluten zu ertrinken oder im Kampf zu fallen. Nottr hoffte für seine Leute, daß er ein richtiger Mann war. Jetzt näherte er sich wieder mit gemächlichen Schwimmbewegungen dem Ufer. Die Krieger dankten es ihm mit wildem Geschrei. Ihr Blut kochte, es dürstete sie nach Kampf. Nottr hatte geglaubt, daß die Meeresstrände dichter be-
wohnt seien und daß sie hier reichlich Beute finden würden. Darum hatte er seinen Haufen mit dem Ruf: »Zur zonn!« der untergehenden Sonne entgegengeführt. Aber die Strände waren so leer und unbewohnt wie das öde Hinterland. Die Enttäuschung der Lorvaner war groß, als sie vor sich nichts als die endlose Wasserwüste sahen. Nottr fürchtete schon, daß sie sich seinem Befehl widersetzen und umkehren würden, wie es der Schamane vor seinem Tod geraten hatte. Aber dann tauchte ein Schiff auf, das geradewegs auf das Ufer zuhielt. Es näherte sich in seltsam stiller Fahrt, gleich einem Geisterschiff. Erst als es fast in Reichweite der Bogen war, konnte man erkennen, daß es bemannt war. Doch schnell drehte das Schiff bei und fuhr in einem gleichbleibenden Sicherheitsabstand das Ufer entlang. Nottr hatte seine Krieger lange zügeln können. Doch als diese erkannten, daß das Schiff nicht anlegen würde, war es um ihre Beherrschung geschehen. Ikis Schrei: »Da champf!« riß die anderen mit, und sie preschten auf ihren Pferden aus den Verstecken hinter den Dünen, als wollten sie das Wassergefährt im Sturmlauf nehmen. Doch das Meer erwies sich für die Reiter als unüberwindliches Hindernis. Die Krieger hätten ihrer Wut am liebsten mit einem Pfeilhagel gegen das Schiff Luft gemacht. Doch Nottr fuhr mit Worten und Fäusten drein und erreichte, daß sie davon abließen. Seine Krieger sahen ein, daß jeder Pfeil, der die Sehne in Richtung offenes Meer verließ, unwiederbringlich verloren war. Der Durchzug durch die Friedländer war sehr verlustreich gewesen. Ugalien war ihnen zum Schicksal geworden. Dort war nicht nur fast all ihr Rüstzeug verlorengegangen, sondern Nottr hatte bei den erbitterten Kämpfen gegen die Ugalier auch die Hälfte seiner Krieger eingebüßt. Es gab keine Viererschaft, die noch vollständig gewesen wäre. Beim letzten Kampf hatte es seine rechte Flankenschwester Fada erwischt.
Nottr war über Fadas Tod noch nicht hinweggekommen, sie war so sinnlos gestorben. Nonu hätte es verhindern müssen. Nonu, die Rückenschwester seines Gevierts. Nottr wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sich ein Reiter an seine Seite gesellte. Als er Nonu erkannte, erwachte wieder sein Zorn über ihr Versagen. Er hätte sie am liebsten geschlagen, aber er herrschte sie nur an: »Che fanchn!« Einen Moment lang sah sie ihn aus ihren großen Augen fragend an. Dann, als sie merkte, daß sich seine Narbe, die quer über den Mund verlief, vor Wut rötete, gehorchte sie wortlos und trieb ihr Pferd zum Ufer. Nottr starrte auf ihren Rücken, der keinerlei Fellbesatz aufwies. Sie hatte darüber einen Umhang geworfen, der aus der Haut einer Stacheltierart gefertigt war. Nur auf ihren Knien, den Waden und auf der Herzbrust war ihre Haut mit Tierfell verwachsen. Erst jetzt fiel Nottr auf, daß Nonu keine einzige Narbe am ganzen Körper hatte. Ihr flaches Gesicht mit der etwas zu schmalen, platten Nase war makellos. Sie war eine Schönheit unter all den Stammesweibern, aber gerade das zeugte davon, daß sie keine gute Kriegerin war. Eine Rückenschwester, die keine einzige Narbe aufwies! Nottr hätte ihr in diesem Moment am liebsten einige Wunden schlagen mögen. »Nonu chrichst buß«, nahm er sich vor. Der Schwimmer hatte das Ufer erreicht. Er kam geduckt an Land, und die Reiter bildeten einen Halbkreis. Iki beschimpfte den Fremden, aber wahrscheinlich verstand er kein Wort davon. Er betrachtete die Reiter lauernd und hielt dabei eine eigenartige Lanze stoßbereit. Diese Lanze hatte keine Spitze, sondern Widerhaken an einem Ende. Das andere Ende war wie eine Keule verdickt, und der Schaft wies auf halber Länge eine zweischneidige Klinge wie ein Schwert auf.
Die Krieger bestaunten diese Waffe, und Nonu äußerte, daß der Fremdling hoffentlich damit umgehen könne. Ausgerechnet Nonu, die Feige! Nottr verspürte Hunger. Er zog sein wertvolles Krummschwert, das er einst im Zweikampf erworben hatte, und klemmte es so zwischen seinen Schenkel und Nardors Körper, daß die gebogene Schneide nach oben wies. Dann holte er hinter dem Sattel die gepökelte Tierschwarte hervor und begann, dünne Streifen davon abzuschneiden. Diese schob er sich in den Mund und begann gedankenverloren zu kauen. Obwohl er das Geschehen betrachtete, war er mit den Gedanken auch nicht beim Fanchn-Spiel. Er dachte über die Zukunft seines Haufens nach. Die Ugalier waren ihnen immer noch auf den Fersen. Aber vielleicht konnten sie ihren Verfolgern entkommen, wenn sie weiter nach Norden auswichen und über die Eislande in die Heimat zurückkehrten. Dort wollte Nottr alle kampffähigen Lorvaner um sich scharen und mit ihnen nach Ugalien zurückkehren. Das Fanchn begann. Iki schleuderte dem Fremden ein Schimpfwort entgegen und brach mit gezücktem Kurzschwert aus dem Kreis aus. Der Fremdling erkannte zweifellos ihre Absicht, ihm mit einem Streich das Haupt zu rasieren, und duckte sich. Gleichzeitig stieß er Iki das Keulenende seiner Lanze von unten in den Leib. Er hob sie auf diese Weise förmlich aus dem Sattel und schleuderte sie in hohem Bogen ins Meer. Nottr vergaß für einen Moment das Kauen. Der nächste Reiter brach aus dem Kreis aus. Er ging den Fremden von der anderen Seite an, weil er sah, daß er auf dem falschen Fuß stand und zudem noch seine Waffe abgedreht hatte. Der Fremde wurde von dem Angriff überrascht, aber er tat dennoch das Richtige. Statt auszuweichen, umschlang er
den Hals des Pferdes mit beiden Armen, ohne seine Waffe loszulassen. Gleichzeitig schwang er die Beine in die Höhe und trat dem Reiter die Füße ins Gesicht. Dieser wurde zwar zurückgeschleudert, konnte sich jedoch im Sattel halten. Er zügelte sein Pferd, so daß es sich aufbäumte und den anderen abwarf. Der Fremde fiel in den Sand, verlor für einen Moment seine Waffe, raffte sie jedoch sofort wieder an sich und kam geduckt auf die Beine. Diesmal war er jedoch im Nachteil, denn er hatte nicht gesehen, daß sich in seinem Rücken ein weiterer Angreifer näherte. Der Reiter war Anght, der in vollem Galopp einen fliegenden Vogel aufspießen konnte. Er zielte auch diesmal mit seiner Lanze genau und fuhr dem Fremden von hinten mit dem Spieß unter die Achsel. Die Spitze ritzte vermutlich nicht einmal seine Haut und ging ihm zwischen Arm und Körper durch das Lederwams. Anght hob ihn auf diese Weise hoch und ritt mit dem Zappelnden im Kreis. Aber der Fremde ließ sich nicht lange lächerlich machen. Irgendwie gelang es ihm, sich seines Wamses zu entledigen und sich zu befreien. Dabei verlor er jedoch seine Waffe. Bevor er sich danach bücken konnte, war der nächste Reiter heran, beugte sich aus dem Sattel und brachte die Waffe im Vorbeireiten an sich. Nun war der Fremde entwaffnet, und die zweite Runde des Spiels begann. Die Krieger würden ihn hin und her hetzen und dabei versuchen, ihm die Kleider vom Leibe zu fetzen, ohne ihn zu verletzen. Erst im dritten Durchgang würden sie darangehen, ihm anfangs harmlose Wunden beizufügen. Der Ausgang des Fanchn-Spiels war für Nottr klar, aber er empfand trotzdem schon jetzt Bewunderung für den Fremdling. Er hielt sich überraschend gut. Nottr ritt etwas näher. Der Fremdling stand geduckt und breitbeinig da. Er drehte
sich langsam im Kreis, um die Reiter im Auge behalten zu können. Nottr wußte, wie wenig ihm seine Wachsamkeit nützen würde. Denn nun hatte er es nicht nur jeweils mit einem einzelnen Reiter zu tun, sondern immer mit mehreren gleichzeitig. Und da setzten sich die ersten beiden Reiter aus entgegengesetzten Richtungen in Bewegung. Als der Fremde sah, daß er von zwei Seiten angegriffen wurde, versuchte er, den freien Raum zwischen ihnen auszunutzen. Doch ließen sie ihm keinen Spielraum. Sie trieben ihn zwischen sich in die Enge, und dann sausten ihre Schwerter auf ihn nieder. Die Klingen kreuzten sich fast, als sie knapp vor und neben dem Opfer die Luft durchschnitten. Bevor der Fremdling Luft holen konnte, waren schon die nächsten beiden Reiter heran. Diesmal standen eine Lanze und ein Dolch gegen ihn. Doch als diese Waffen ihm bereits bedrohlich nahe waren, brach er unvermittelt mit einem Sprung zur Seite aus. Nottr glaubte schon, daß er von den Hufen der Pferde zertrampelt würde. Doch hatte er seinen Sprung so gut berechnet, daß er unversehrt wieder auf die Beine kam und sogar gewappnet war, als die nächsten beiden Reiter auf ihn zukamen. Einer der beiden Angreifer war Nonu. Ihre Stärke war die Peitsche. Sie schwang sie knallend über dem Kopf, wartete, bis ihr der andere Reiter das Opfer zutrieb, und ließ den Riemen dann auf dieses zuschnellen. Nonu traf den Fremden um die Leibesmitte und wollte ihn im Vorbeireiten mitschleifen. Aber der Fremde stand wie ein Fels. Durch Nonus Körper ging ein Ruck, und der Fremde zog sie an ihrer Peitsche aus dem Sattel. Nottr hielt den Atem an. Er hatte noch keinen Stammesfremden so kämpfen sehen! Und selbst dieser Kraftakt schien
den Fremden nicht geschwächt zu haben. Er holte Nonu an ihrer Peitsche ein, die sie festhielt, als hänge daran ihr Leben. Als er sie zu sich gezogen hatte, schlang er ihr den Riemen um den Hals und hob sie als lebenden Schild vor sich. In diesem Augenblick war der nächste Fanchn-Reiter heran. Er konnte den vollzogenen Schwertstreich nicht mehr stoppen und fügte Nonu eine Schnittwunde zu. Jetzt hatte Nonu ihre erste Narbe! Die Reiter brüllten auf. Aus ihren Schreien klang eine gewisse Bewunderung für ihr Opfer, aber auch Zorn darüber, daß sie von einem Entwaffneten so genarrt wurden. Das vertrug ihr Stolz nicht, und Nottr wußte, daß seine Leute nun Schluß machen würden. Sie zogen sich zurück, um Aufstellung für die letzte Runde zu nehmen. Der Fremde hielt die wild um sich schlagende Nonu noch immer in der Peitschenschlinge fest. Nottr konnte die kurze Atempause dazu nützen, den Fremdling eingehender zu betrachten. Er ritt in den Kreis ein, und Iki machte ihm sofort Platz. »Tu tust tott hib?« fragte sie. Aber Nottr schüttelte den Kopf. Er war nicht gekommen, um den tödlichen Hieb gegen den Fremdling zu führen. Er wollte ihn sich nur genau ansehen und sich das Gesicht eines Mannes merken, der mit bloßen Händen einen wahrhaft heldenhaften Kampf gegen eine übermächtige Horde geliefert hatte. Der Fremde war groß und schlank und mehr sehnig als muskulös, obwohl er vor innerlicher Kraft zu strotzen schien. Sein Gesicht wirkte entschlossen, die Lippen über dem kraftvollen, energischen Kinn waren voll. Am auffälligsten war die Hautfarbe des Fremden, die dunkler als die der Bewohner dieses Landes war. Und zudem hatte er helle Augen. Die blickten Nottr nun geradewegs an. Da traf den Anführer der Lorvaner so etwas wie eine Erkenntnis. Das war nicht das Gesicht eines unbekannten Hel-
den. Es war für ihn ein seltsam vertrautes Antlitz, das ihm ein Geheimnis offenbarte. »Da murkn, Nottr!« rief Iki ungeduldig. Nottr winkte ab. Überwältigt verließ er den Fanchn-Kreis und näherte sich dem Fremdling. »Tott hib!« verlangten Nottrs Krieger. Sie wollten endlich Blut sehen und damit die Schande von ihrer Kriegerehre waschen. Aber Nottr sagte entschlossen: »Net tott hib! Da mutt un tapfr. Chutr erer. Chrottr erer.« Die Krieger äußerten ihren Unmut über Nottrs unverständliches Verhalten. Nottr hätte es ihnen nicht erklären können, was ihn veranlaßte, dem Fremden das Leben zu schenken. Der Mut und die Tapferkeit des Fremden, die er gegenüber seinen Kriegern pries, wären keine ausreichende Veranlassung für seinen Gnadenakt gewesen. Die Wahrheit war, daß sich Nottr bei der Betrachtung des Fremden seltsam berührt fühlte. Als er Nardor vor ihm anhielt, griff er unter den Sattel und holte das Pergament hervor, in das die gepökelte Schwarte eingewickelt war. Er entrollte das Pergament und steckte die Schwarte weg. Dann blickte er lange auf das Bildnis, das auf dem Pergament festgehalten war. Von dort sah er immer wieder kurz zu dem Fremden, und mit jedem Mal, da er den unbekannten Helden mit dem Bildnis verglich, stieg Nottrs Ehrfurcht vor ihm. Tukk hätte dieses Geheimnis vielleicht lüften können. Aber der Schamane war tot. Nottr mußte selbst entscheiden. Mit einem Gefühl der Ergriffenheit stieg er aus dem Sattel, kauerte vor dem Fremden nieder und reichte ihm das Pergament. Dazu sagte er in der Sprache der Friedländer, die er leidlich beherrschte: »Du nicht sterben. Du sehen und zu mir sagen. Ich Nottr.« Der Fremde ließ Nonu los und ergriff zaghaft das Perga-
ment. Er hielt es vors Gesicht und starrte darauf. Dabei weiteten sich seine Augen vor Überraschung, und seiner Kehle entrang sich ein unverständlicher Laut. Er konnte die Augen nicht von dem Bildnis lassen, das schließlich seinen zitternden Händen entglitt und zu Boden fiel. Aber auch dann starrte er immer doch verständnislos darauf. »Es dein! Dir gehören«, sagte Nottr plötzlich aus innerem Antrieb. »Du mutig! Du tapfer! Du mir Freund?« Es erleichterte Nottr, daß der Fremde auf sein Angebot nicht mit Ablehnung antwortete. Es war immer gut, sich mit geheimnisumwitterten Leuten gut zu stellen. Weil man nicht wußte, ob sie nicht auch Träger übernatürlicher Kräfte waren. »Wie dein Name?« fragte Nottr. Und der Fremde, der dem Frauenbildnis auf dem Pergament so stark ähnlich sah, antwortete: »Man nennt mich Mythor.« * Mythor glaubte nicht, daß er sein Leben der Kampfkraft verdankte, die er gegenüber den Barbaren gezeigt hatte. Auch wenn ihr Anführer seinen Mut und seine Tapferkeit hervorhob, so war er sicher, daß er Nottrs Gnade nur seiner Ähnlichkeit mit dem Frauenbild auf dem Pergament zuzuschreiben hatte. Der Barbar war abergläubisch wie alle einfachen Menschen dieser Welt. Vermutlich glaubte er an Bilderzauber, und die Ähnlichkeit zwischen Mythor und der Frau auf dem Bild mußte seine Urängste angesprochen haben. Äußerlich nahm Nottr diese Tatsache jedoch recht ruhig auf. Ganz im Gegensatz zu Mythor. Er war zutiefst beeindruckt. Vergessen war die Gefahr, in der er sich gerade noch befunden hatte. Das Schicksal hatte ihm durch Nottrs Hand ein großartiges, außergewöhnliches Geschenk gemacht. Er sah das Unerklärliche als bedeutungsvolle Fügung.
Wenn er das Bildnis betrachtete, glaubte er, darin zu versinken. Das schmutzige, fettige Pergament zeigte ein übernatürlich schönes Wesen. Eine junge Frau, wenn auch nur ihr Gesicht. Aber was für ein Gesicht! Das Gesicht einer Fee – noch mehr, das Gesicht einer Göttin. Und doch sah er sich selbst darin! Es war keine Vermessenheit, denn er fand sich selbst weder schön noch anziehend. Er hatte aber dennoch vom ersten Moment an die Gewißheit, daß er bestimmte Züge dieses Frauenbildnisses in seinem eigenen Gesicht trug. Er war so in die Betrachtung vertieft, daß er gar nicht erschrak, als Nottr seinen Krummsäbel zog und ihn vor ihm in den Boden trieb. Die breite Klinge war so blank, daß er sich darin wie in einem Spiegel sehen konnte. Und sein Spiegelbild gab ihm die Bestätigung. Sie mochte eine Göttin sein, ein Überwesen aus höheren Gefilden, aber etwas war an dieser Frau, was auch er in sich trug. Wie gering diese Gemeinsamkeit auch sein mochte, wenn sie selbst dem Barbaren Nottr aufgefallen war, dann mußte sie vorhanden sein. Nottr war so beeindruckt, daß er aus abergläubischer Furcht nicht wagte, Hand an ihn legen zu lassen. Und das machte ihn sicher, daß es eine geheimnisvolle Verbindung zwischen ihm und dieser Frau gab. Er würde ihr Bild immer bei sich tragen. Er wollte nicht eher ruhen, bis er dieser Göttin eines Tages gegenübertreten konnte. Seiner Göttin! »Dir«, sagte Nottr und schob ihm das Pergament zu. »Du mit uns. Nonu deine Kampfschwester. Du reiten mit ihr. Wir weiterziehen.« Mythor strich das Pergament glatt, dann rollte er es zusammen und steckte es behutsam unter sein Lederwams. Nonu, die üppige Barbarin mit der blutigen Wunde quer über dem Gesicht, saß bereits verkehrt auf dem Rücken ihres
stämmigen Pferdes. »Müttr!« Sie sprach seinen Namen hart und bellend aus. Aber das störte Mythor weniger als der verächtliche Unterton. Dennoch hatte er keine andere Wahl, als ihre dargebotene Hand zu ergreifen und sich in den Sattel helfen zu lassen. Rücken an Rücken ritten sie mit den anderen davon. * Sie kamen in ein Gebiet mit kargem Pflanzenwuchs. Der Boden war felsig und brüchig, und überall klafften Spalten, aus denen stinkende Dämpfe stiegen. Nottr gab dieser Landschaft einen unaussprechlichen Namen, den Mythor mit Hilfe des Barbaren in »Qualmsenke« übersetzte. »In Qualmsenke Lager«, sagte Nottr in seiner kehligen Art. »Bis morgen Rast. Dann weiter.« Mythor fand, daß der Lagerplatz gut gewählt war. Gegen Norden bildeten die aus den Schlünden aufsteigenden Bodengase einen natürlichen Schutz gegen Feinde. Daran anschließend zog sich über Westen nach Süden ein Erd- und Felswall, der Sichtschutz bot und sich gut verteidigen ließ. Nur im Osten war das Gelände eben und ging in eine baumlose Steppe über. Aber dieser Zugang ließ sich leicht verteidigen. Aus verschiedenen Bemerkungen Nottrs und aus den Anweisungen, die er seinen Leuten gab, hörte Mythor heraus, daß sich die Barbaren auf dem Rückzug befanden und mit der Verfolgung durch Ugalier rechneten. Trotz der nach Sonnenuntergang einsetzenden Kälte verbot Nottr seinen Leuten, Feuer zu machen. In der Qualmsenke standen vier steile Zelte. Sie waren mit derber Tierhaut bespannt, die mit Erdfarben bemalt war. Es handelte sich um einfache Zeichnungen mit offenbar magischer Bedeutung. Die Enden der Zeltstangen waren mit Toten-
schädeln geschmückt. Verrußte Bodenstellen und Abfälle zeigten Mythor, daß die Barbaren schon vor einiger Zeit ihr Lager hier errichtet haben mußten. »Mythor und Nonu«, sagte Nottr und deutete auf ein Zelt, das mehr magische Zeichen als die anderen aufwies. Nachträglich erklärte er: »Das sein Zelt von Tukk. Aber Schamane tot.« »Wenn du nichts dagegen hast, verbringe ich die Nacht wie deine Leute im Freien«, sagte Mythor und fügte hinzu: »Und allein. Ich müßte sonst fürchten, daß mir Nonu im Schlaf den Hals umdreht.« Nottr grinste wissend. »Du nicht weit kommen bei Flucht«, sagte er. Ernst und bestimmt fügte er hinzu: »Du Zauberkraft. Du unser Schamane.« »Ich fürchte nur, daß du mich falsch einschätzt«, meinte Mythor. »Ich verstehe mich überhaupt nicht auf Magie.« Aber das wollte Nottr nicht anerkennen und lehnte Mythors Einwand mit einem herrischen Kopfschütteln ab. »Du mit Zauber und Schwert mit uns!« sagte er und klopfte mit der Handfläche auf das Pergament, das Mythor unter dem Wams trug. »Das dir gehören – und du unser sein.« »Ich verstehe«, sagte Mythor. Ihm war klar, daß er sich durch die Annahme des Geschenks dem Barbaren verpflichtet hatte. »Ich füge mich.« »Chutr«, sagte Nottr zufrieden, unwillkürlich in den Barbarendialekt verfallend. Er berichtigte sich aber sofort: »Gut, sehr gut, Mythor. Du klug, wir uns verstehen.« Mythor behielt für sich, daß er sich nur der Not gehorchend fügte. Solange die Absichten der Barbaren seinen Plänen nicht zuwiderliefen, konnte er bei ihnen bleiben. Vielleicht gelangte er mit ihnen sogar in die Nähe von Xanadas Lichtburg. »Was bedeuten die verschiedenen Felle an deinem Körper?« fragte Mythor unvermittelt. »Es sieht so aus, als seien einige
von ihnen mit deinem Körper verwachsen.« »Es sein wahr«, sagte Nottr nickend. Dabei verrutschte sein Zopf über dem linken Ohr, und Mythor sah, daß ihm dort die Ohrmuschel fehlte. Trotz des eisigen Westwinds entledigte sich Nottr seiner geflochtenen Felljacke. Als seine Brust freigelegt war, erkannte Mythor auf der linken Seite ein handtellergroßes Stück weißen Felles, das fast kreisrund war. »Herzfell von weißer Bär macht tapfer und stark«, sagte Nottr und strich dabei sanft über seinen Brustfellbesatz. »Wir Lorvaner als Kind bekommen schon immer Fell gegeben von Tier, das Schamane in unserer Zukunft sieht. Tukk damals mir sagen, Nottr Herz wie Bär, und ich bekomme Herzfell von weißer Bär. Du mich verstehen?« »Keine Frage«, antwortete Mythor. »Du sprichst Gorgan recht gut.« Nottr winkte ab. »Ich radebrech’. Macht nichts. Ich hören und nachsagen. Wenn ich mehr hören, besser verstehen und sagen. Andere Lorvaner nicht wollen.« »Du bist klüger als alle deine Krieger zusammengenommen, Nottr«, sagte Mythor. Nottr winkte wieder ab, diesmal ziemlich ungehalten. »Mehr Felle ich mir«, sagte er und drehte sich herum, so daß Mythor seinen Rücken sehen konnte. Dort spannte sich ein fußgroßer Streifen eines schwarzen Fells, das ebenfalls mit der Haut verwachsen war. Dazu erklärte Nottr: »Rückenfell von Schwarzbär macht Schutz, wo Augen nicht sehen. Und wärmt gut.« Nottr drehte sich wieder um und streckte im Sitzen die Beine aus. Sie steckten von den Hüften bis hinunter zu den Knöcheln in einem lehmgelben Fell mit schwarzen Tupfen. Was zuerst wie ein übergestülpter Beinschutz ausgesehen hatte, erwies sich nun ebenfalls als eine Fellverwachsung, die zu einem Bestandteil von Nottr geworden war.
»Fell von Chochkr, das sein große, flinke Bergkatze, machen Beine schnell und sicher«, erklärte er dazu. Mythor dachte an das Pergament mit dem Frauenbildnis und faßte den Entschluß, Nottr darüber zu befragen. »Was hat dich und deine Krieger eigentlich so weit nach Westen verschlagen, Nottr?« fragte er den Barbaren. »Ihr müßt auf dem Weg aus den fernen Wildländern durch viele Orte und Länder gekommen sein und viele Völker kennengelernt haben. Ich hätte gerne gewußt, was dich dazu trieb, das Bildnis, das du schließlich mir überlassen hast, auf diesen langen Marsch mitzunehmen.« Nottr grinste, daß sich die über seinen Mund ziehende Narbe verschob. »Nicht Bild aus Wildland mitgenommen«, sagte er. »Einfach so weggenommen. Gefunden!« »Und wo hast du das Bild – gefunden?« Nottr deutete nach Süden. »Dort. Weit weg, viele Tagesritte fort. Vor vier… nein, noch mehr Monden?« Er dachte kurz nach und zuckte die breiten Schultern. Dann sah er Mythor fragend an. »Es von dir? Du es verloren?« »Nein, es gehört mir nicht«, sagte Mythor. »Und doch bedeutet mir sein Besitz nun sehr viel. Ich muß erfahren, wo es herkommt.« Nottr legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du mit mir kommen nach Wildland. Dort mit vielen Kriegern reiten zurück nach Ugalien und viel Beute machen. Da ich dich führen dorthin. Du dann selbst sehen.« Die freundschaftliche Stimmung zwischen ihm und dem Barbaren hätte ihn fast dazu verleitet, Nottr zu sagen, daß er nicht daran denke, sich dessen Raubzügen anzuschließen. Aber er verkniff es sich noch rechtzeitig. Statt dessen fragte er: »Kannst du mir nicht die näheren Umstände erklären, wie du zu diesem Pergament gekommen bist?« »Du selbst sehen«, sagte Nottr wieder. Es klang abschlie-
ßend. Mythor hatte das Gefühl, daß er doch noch etwas dazu sagen sollte. Aber da erklang gedämpftes Hufgeklapper, und ein kehliger Ruf erreichte sie aus der einsetzenden Dunkelheit. Mythor glaubte, Nottrs Namen zu verstehen. Ein Reiter tauchte auf, der sein kleines, zottiges Pferd vor ihnen zügelte und sich aus dem Sattel schwang. Mythor sah, daß die Hufe des Pferdes umwickelt waren. Nottr sprang auf und bellte eine Frage. Der Reiter, offenbar ein Kundschafter, antwortete mit einer Reihe von bellenden Lauten. Nottr gab etwas zurück, dann wandte er sich an Mythor. »Viele Ugalier«, sagte der Barbar. »Sie wissen, wo wir sind. Du gehen in Zelt von Tukk und Zauber machen, damit wir stark für Kampf.« »Ich fürchte, du mutest mir zuviel zu«, sagte Mythor, der sich ebenfalls erhoben hatte. »Wenn du mir eine Waffe gibst, werde ich an eurer Seite kämpfen. Aber zaubern kann ich nicht.« Für einen Moment schien es, daß Nottr sich in aufwallender Wut auf Mythor stürzen wolle. Aber dann bellte er einen Befehl über die Schulter und ging weg. Nonu tauchte auf. Sie hielt Mythor in einer Hand einen Bogen und drei Pfeile hin und in der anderen ein Schwert. Mythor griff nach dem Schwert. »Chutr tott hib«, sagte sie, was Mythor als spöttisch gemeinten Zuspruch für »guten Todesstoß« verstand. Die kommende Nacht verlief ruhig, ohne daß von dem außerhalb der Qualmsenke lauernden Feind etwas zu hören war. Mythor fand sogar einige Stunden Schlaf. Im Morgengrauen wurde er von wüstem Lärm aufgeschreckt. Sofort griff er nach seinem Schwert, mußte jedoch feststellen, daß es noch nicht zum Kampf gekommen war. Der Tumult hatte andere Gründe. Eines der stämmigen, zottigen Zwergpferde war ohne seinen Reiter ins Lager zurück-
gekommen. Auf den Sattel war nur ein silbrig schimmerndes Fell von Unterarmlänge gebunden. Nottr ergriff es und hielt es Mythor wie anklagend hin. »Das sein Herzfell von Chrenk«, sagte er dazu. »Wer nun sein Barbaren? Lorvaner oder Ugalier? Wir gehen in Kampf!« Aber Nottrs Entschluß kam zu spät. Der stete Wind, der bisher aus Westen gekommen war, schlug um und blies nun aus Norden. Das führte dazu, daß die dichten Giftgaswolken in die Qualmsenke geweht wurden. Innerhalb weniger Atemzüge war das Lager der Barbaren in dichte Rauchschwaden gehüllt. Dadurch wurde ihnen nicht nur die Sicht genommen, sondern die Giftgase raubten ihnen auch den Atem. Der Qualm trieb sie geradewegs in die Arme der Ugalier, die nur darauf gewartet zu haben schienen, daß die giftigen Gase die Barbaren endlich aus ihrem Versteck scheuchten. * Es war ein gespenstisches Bild. Aus den Rauchschwaden tauchten gelegentlich Gestalten auf. Hustend, röchelnd, manche blutverschmiert. Pferde ohne Reiter huschten an Mythor vorbei. Als er nach einem Zügel griff, um sich in den Sattel zu schwingen, strauchelte das Tier und kam zu Fall. Es blieb liegen. Mythor eilte weiter. Der giftige Qualm verursachte ihm Übelkeit und einen stechenden Schmerz in der Brust. Ein Lorvaner, der keine sichtbaren Verletzungen aufwies, taumelte auf ihn zu. Als er Mythor erkannte, wollte er mit einer Lanze nach ihm stechen. Aber Mythor wehrte den Angriff mit der Schwertklinge ab. Der Lorvaner hatte nicht mehr die Kraft, zu einem zweiten Schlag auszuholen. Er brach zusammen. Der Kampflärm wurde immer heftiger. Mythor hörte die
rauhen Todesschreie der Lorvaner und Hilferufe auf gorganisch. Das Klirren von Schwertern und das Surren von Pfeilen schienen von überall zu kommen. Mythor hatte sich das Lederwams über den Kopf gezogen und preßte es sich auf die Atemwege. Das verschaffte ihm etwas Erleichterung. Als er von links mehrfaches Hufgetrappel hörte, wandte er sich nach rechts. Die Giftgaswolken kamen nun aus seinem Rücken. Und er wußte, daß dort Norden war. Er stolperte über eine reglos am Boden liegende Gestalt. Er erkannte eine lorvanische Kriegerin mit geschecktem Brustfell. Aus ihrer Kehle ragte die metallene Spitze eines Pfeiles. Eine Gestalt fiel mit einem heiseren Schrei von oben durch die Giftgaswolken. Das zeigte Mythor, daß er den westlichen Felswall erreicht hatte. Er kletterte über die Gesteinsmassen hinauf und über einen weiteren Lorvaner hinweg, der von vier Pfeilen durchbohrt war. Als er den Grat erreicht hatte, der frei von Qualm war, und den Kopf hinausstreckte, sah er in der Ebene vor sich eine Reihe von ugalischen Bogenschützen. Sie knieten schußbereit da und warteten darauf, bis sich ein Gegner zeigte. Bei Mythors Anblick ließen sie augenblicklich die Pfeile von den Sehnen schnellen. Mythor duckte sich und hörte gleich darauf das Pfeifen der tödlichen Geschosse dicht über sich. Da war kein Durchkommen, das war ihm klar. Unter den Felsgrat geduckt, eilte er in südlicher Richtung weiter. Aber auch hier war es nicht anders. Immer wenn er den Kopf hob, erblickte er eine geschlossene Reihe von Bogenschützen. Und jedesmal wurde er sofort unter Beschuß genommen, kaum daß er sich zeigte. Vor ihm brachen zwei Lorvaner im Pfeilhagel zusammen. Er wich ihnen aus und kehrte in die Qualmsenke zurück. Aber die giftigen Wolken trieben ihn wieder zum Wall. Endlich erreichte er dessen Ende und kam zu dem offenen
Gelände, wo die Qualmsenke in die Steppe überging. Mythor tauchte wieder aus dem dichten Qualm auf. Weit draußen sah er ein großes Reiterheer. Es waren bestimmt zwei Hundertschaften, die den versprengten Barbaren einen gnadenlosen Kampf lieferten. Oftmals kamen zehn Ugalier auf einen einzelnen lorvanischen Reiter, der über kurz oder lang förmlich von der Übermacht erdrückt wurde. Die zottigen Zwergpferde irrten zu Dutzenden herrenlos umher. Mythor sah einen Haufen Lorvaner in nördlicher Richtung fliehen. Unter der Handvoll Barbaren glaubte er auch Nottr zu erkennen. Nonu, die in dessen Rücken ritt und verkehrt herum im Sattel saß, konnte er ganz deutlich ausmachen. Dieser spärliche Rest der Barbarenschar wurde von dem Gros der Ugalier verfolgt, und sie kamen ihnen immer näher. Nonu bäumte sich auf einmal im Sattel auf. Eine Lanze ragte ihr aus dem Körper. Sie schwang noch im Fallen ihre Peitsche nach einem Verfolger und holte ihn aus dem Sattel, bevor sie, sich überschlagend, im Staub landete. Mehr konnte Mythor nicht erkennen, denn die Reiter verschwanden hinter einer Bodenerhebung. Er hoffte nur, daß Nottr seinen Feinden entkam. Irgendwie fühlte er sich mit dem Barbaren verbunden. »Laßt keinen lebend entkommen!« Der Ruf brachte Mythor in die Wirklichkeit zurück. Rechts tauchten ugalische Reiter auf, die Turnierreitern gleich die Lanzen aufgepflanzt hatten. Nur unterschieden sich diese Lanzen von Turnierwaffen durch ihre messerscharfen, tödlichen Spitzen. Die Ugalier trugen Lederhelme mit Metallbesatz. Ihre ledernen Rüstungen waren ebenfalls durch metallene Platten und Plättchen verstärkt. Arme und Beine waren durch Schienen besonders geschützt. Zusätzlich deckten sie ihre Körper durch eisenbeschlagene Schilde. Mythor wollte vor dieser furchterregenden Reiterei zurück-
weichen. Aber da erhielt er einen Schlag in den Rücken. Jemand bellte ihn befehlshaberisch an. Mythor blickte hinter sich und sah fünf Lorvaner aus dem Qualm auftauchen. Einer von ihnen stieß ihn vor sich her auf den Gegner zu. Es gab kein Entrinnen für ihn. Die Barbaren hätten ihn eher erschlagen, als ihm den Rückzug zu erlauben. Und so hatte er keine andere Wahl, als sich ihnen anzuschließen und sich den Reitern zu stellen. Und da waren die Ugalier auch schon heran. Die fünf Lorvaner sprangen ihnen mit lautem Geschrei entgegen. Zwei von ihnen wurden im Sprung aufgespießt. Einer stieß ins Leere, die beiden anderen erreichten ihr Ziel und rissen ihre Gegner aus den Sätteln. Mythor nutzte die so geschlagene Lücke für sich und sprang in den freien Raum. Damit war die Gefahr aber noch nicht gebannt. Die Ugalier wendeten ihre Pferde und kehrten zurück. Sie bildeten jetzt einen Halbkreis, um die verbliebenen Gegner in die Enge zu treiben. Es waren noch zwei Lorvaner am Leben. Einer von ihnen wollte gerade dem Ugalier, den er aus dem Sattel geholt hatte, den Todesstoß versetzen. Ohne lange zu überlegen, sprang Mythor ihm auf den Rücken und riß ihn von seinem Gegner. Der Barbar entwand sich jedoch seinem Zugriff und gewann die Oberhand. Mythor sah sein wutverzerrtes Gesicht über sich und wußte, daß er keine Gnade zu erwarten hatte. Sein eigenes Schwert war ihm entglitten, und so hatte er wenigstens beide Hände frei. Er griff nach dem Waffenarm des Barbaren und versuchte, dessen sich auf ihn senkende Klinge abzulenken. Aber der Barbar, ein bulliger und muskelbepackter Kerl, hatte in einem Arm mehr Kraft als er in beiden. Die Klinge kam seinem Gesicht immer näher. Da durchlief den Lorvaner ein Zittern, die Kraft entwich ganz plötzlich seinem Körper, und Mythor konnte ihn von
sich stoßen. Als er sich von der Last des toten Barbaren befreit hatte, sah er über sich breitbeinig einen Ugalier stehen. Er unterschied sich durch eine wertvollere Rüstung von den anderen Kriegern, so daß Mythor sofort klar war, daß er es mit einem ihrer Anführer zu tun hatte. Seinen Helm zierte der ausgestopfte Kopf eines Falken. In seiner locker herabbaumelnden Linken lag ein langes Schwert mit ungewöhnlich schmaler Klinge. Er hob das Schwert mit einer spielerisch wirkenden Bewegung und setzte Mythor die blutige Spitze an die Kehle. Mythor wagte sich kaum zu rühren. Er blickte von der Klinge zu dem Ugalier auf, der den Blick mit ausdruckslosem Gesicht erwiderte. Es war ein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht, das von einem Oberlippen- und spitzen Kinnbart geziert wurde. Die Barthaare waren leicht ergraut wie das Haupthaar, das unter dem Helm hervorsah. »Ich bin kein Lorvaner«, sagte Mythor schließlich, als der andere keine Anstalten machte, das Schweigen zu brechen. »Das habe ich gesehen«, sagte der Ugalier. »Und jetzt höre ich es auch an deiner Aussprache. Was hast du unter den Barbaren zu suchen?« »Ich bin ihnen in die Hände gefallen, und ihr Anführer hat mir das Leben geschenkt«, antwortete Mythor. »Es muß Nottr, das ist der Name des Barbarenführers, gefallen haben, wie gut ich mich gegen seine Krieger hielt. Ich war trotzdem nur ein Gefangener.« »Bei Aqvitre, ein Gefangener mit einem Schwert in der Hand!« rief der Ugalier aus. »Wer hat so etwas schon gesehen.« »Ich habe diese Waffe gegen keinen Ugalier erhoben«, sagte Mythor. Der Ugalier nickte und setzte endlich sein Schwert ab. Er drehte sich seinen Leuten zu und sagte: »Laßt ihn am Leben.«
Dann wandte er sich ab. Mythor wurde unsanft hochgehoben. Zwei Ugalier nahmen ihn in die Mitte, bogen ihm die Arme auf den Rücken und schleppten ihn mit sich. Der eine sagte unfreundlich: »Du kannst den Göttern danken, daß sie Graf Corian gnädig gestimmt haben. Wenn es nach uns gegangen wäre…« Sie brachten ihn in eine kleine Senke, wo alle von den Lorvanern erbeuteten Gegenstände auf einem Haufen lagen, und fesselten ihm die Arme auf den Rücken. Dann durchsuchten sie ihn und waren enttäuscht, als sie nichts als das Pergament fanden. Der Ugalier, der Mythor zuerst angesprochen hatte, entrollte es und grinste, als er das Frauenbildnis sah. »Ist das dein Liebchen?« fragte er. »Steck es sofort wieder zurück!« sagte Mythor mit unheilvoller Stimme. »Wenn du nicht sofort deine schmutzigen Finger davon läßt, dann wird alles Böse aus der Schattenzone über dich kommen.« Der Ugalier zuckte unter diesen Worten zusammen. Schnell steckte er das Pergament wieder unter Mythors Wams und verließ die Senke. Von oben warf er Mythor noch einen kurzen, unsicheren Blick zu und verschwand eilig. Der andere blieb als Wache zurück. Aber er wahrte einen sicheren Abstand zu Mythor, und man merkte ihm an, daß er ihm nicht zu nahe kommen wollte. * »Dann stimmen die Gerüchte also«, sagte Graf Corian, nachdem Mythor seine Erzählung beendet hatte. »Die Caer haben nun auch Elvinon genommen, und bald wird ihnen ganz Tainnia gehören.« Mythor war bald von seinen Fesseln befreit und dem ugali-
schen Grafen vorgeführt worden. Corian saß mit seinen fünf Unterführern, deren Namen er Mythor nicht genannt hatte, um ein Lagerfeuer. Darüber briet das Rippenstück von einem Tier. Bevor Mythor aufgefordert worden war, seine Geschichte zu erzählen, hatte man ihm davon zu essen gegeben. Ein tönerner Krug mit säuerlichem Wein hatte die Runde gemacht. Mythor fühlte sich danach satt und merkte, wie seine Lebensgeister wieder erwachten. Er hatte seine Erlebnisse seit dem Untergang der Nomadenstadt Churkuuhl ziemlich lückenlos erzählt, verschwieg jedoch Nyalas Behauptung, daß er der legendäre Sohn des Kometen sei, wie auch sein Erlebnis in der Gruft hinter den Wasserfällen von Cythor. Er wollte nicht zu sehr die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Aber offenbar hatte er allein durch die Schilderung seiner abenteuerlichen Erlebnisse Graf Corians Beachtung gefunden, denn dieser sagte anschließend: »Du bist ein guter Erzähler, Mythor, und kannst dich überaus gewählt ausdrücken. Wenn man dir zuhört, würde man dir nie glauben, daß du viele Jahre bei den Marn zugebracht hast. Ich könnte mir dich gut als Unterhalter für die langen Winternächte und als Spielkameraden für meine vier Kinder vorstellen.« »Ich habe mich nie als Marn gefühlt«, sagte Mythor ausweichend. »Ich habe mich nie mit dem Leben in der Abgeschiedenheit der wandernden Nomadenstadt abfinden können. Ich habe immer gefühlt, daß ich nicht zu den Nomaden gehöre.« »Du schweigst zu meinem Angebot«, sagte Corian unwirsch, fügte dann aber versöhnlicher hinzu: »Nun gut, ich will dich nicht nötigen. Du bist ein freier Mann und kannst gehen, wohin du willst. Aber ich würde dich gerne in meine Burg mitnehmen. Dein Schicksal erscheint mit so ungewöhnlich, daß ich es wert fände, es von einem gelehrten Sterndeuter durch-
leuchten zu lassen. Ich gebe sehr viel auf die Kunst, das Schicksal durch Beobachtung der Sterne zu deuten.« »Das ist ein Wissensgebiet, über das ich gar nichts weiß«, gestand Mythor. »Und wie ist es mit Magie?« »Auch davon verstehe ich nichts«, sagte Mythor. »Wie kommt es dann, daß dieser Caer-Priester dich unbedingt lebend zur Insel bringen wollte?« fragte Corian sofort. »Du sagtest selbst, daß dieser Drundyr etwas in dir sah, was ihn als Dämonenpriester fesselte.« »Drundyr dürfte in der Hierarchie der Caer-Priester eine recht unbedeutende Rolle spielen«, sagte Mythor. »Ich kann nur annehmen, daß er sich in mir irrte.« »Möglich«, sagte Corian und betrachtete ihn nachdenklich. »Aber um dich sind Dinge geschehen, die nicht mit Zufall zu erklären sind. Allein, daß du an Bord der Goldenen Galeere warst und sie wieder lebend verlassen konntest – und ohne daß die dämonischen Mächte deinen Willen brachen –, ist ungewöhnlich genug. Du hast in wenigen Tagen Gefahren überstanden, die andere Männer in einem ganzen langen Leben nicht meistern könnten.« »Du schmeichelst mir, Graf Corian«, sagte Mythor bescheiden. »Aber ich darf doch annehmen, daß dein Leben auch nicht gering an Abenteuern war.« »Bei Lorvain, ich habe gelebt!« sagte Corian, und seine Unterführer bestätigten das mit wissendem Lachen. »Aber ich habe mich nie allein auf meine Kraft und meine Geschicklichkeit verlassen. Ich habe immer an die Schicksalskraft der Götter geglaubt und sie stets befragt, bevor ich ein Wagnis einging. Ich kenne alle Götter bei allen ihren Namen. Und mir sind auch viele Dämonennamen bekannt. Ich kenne ihre Macht und weiß, welchen Einfluß sie aus der Schattenzone auf unsere Welt haben, darum hüte ich mich vor ihnen. Ich be-
schäftige ein ganzes Heer von Jüngern der magischen Künste. Sie übertreffen an Zahl meine Leibwache, meine Köche und Knechte – und sogar meine Liebschaften. Ich weiß, warum ich mir die Wahrsager und Sterndeuter und Magier halte. Die Macht der Dämonen auf uns Menschen ist groß, und sie wird immer größer. Die Caer-Priester sind Dämonendiener, schütze uns Lavoux vor ihnen! Wenn es den Caer unter ihrem obersten Dämonenbeschwörer Drudin gelingt, über Tainnia hinauszugreifen, dann wird dieses Land bald von den Mächten der Finsternis beherrscht. All das Böse geht von der Schattenzone aus.« »Ich weiß über diese Dinge nicht Bescheid«, sagte Mythor, als Corian endete. »Viele Leute, mit denen ich sprach, drückten jedoch ihre Besorgnis in ähnlichen Worten aus. Aber sie klammern sich auch an die Hoffnung, daß in Zeiten größter Not der Sohn des Kometen eingreifen wird.« »Wenn es den Menschen schlechtgeht, dann erinnern sie sich auf einmal der alten Legenden, um sich Mut zu machen«, sagte Corian und enttäuschte damit Mythor, der sich von diesem kundigen Mann einige neue Hinweise erwartet hatte. Corian fuhr fort: »Es geht die Kunde, daß sich die Düsterzone immer mehr ausdehnt. Vor kurzem war ein Reisender auf meiner Burg, der mit eigenen Augen gesehen haben will, wie eine gewaltige düstere Wolke aus dem Süden gewandert kam und riesige Landstriche verschlang. Irgendwann wird diese Wolke auch am Horizont von Ugalien auftauchen. Aqvitre gebe, daß ich das nicht mehr erleben muß. Warst du mit den Marn nie so nahe der Düsterzone, daß du sie sehen konntest, Mythor?« »Ich wurde vor fünfzehn Jahren in Salamos gefunden«, erinnerte Mythor. »Das ist nicht besonders weit im Süden. Man sieht dort des Nachts mehr als hier. Bloß einen schwachen Silberstreif, der sich manchmal rötlich verfärbt. Ist es nicht seltsam, daß die Schattenzone, ein Hort des Bösen, hell leuchtet?
Hell wie ein Komet?« »Blendwerk!« sagte Corian entschieden. »Das Böse tritt in vielerlei Masken auf, Dämonen sieht man nicht. Und nur manchmal geben sie sich offen zu erkennen. Aber dann ist es für die Betroffenen meist zu spät.« Es entstand ein bedrückendes Schweigen. Mythor hätte das Gespräch gerne wieder auf die Legende vom Sohn des Kometen gebracht, denn er war sicher, daß Graf Corian ihm einiges Neue hätte erzählen können. Aber er wußte nicht, wie er das anstellen sollte, ohne zuviel über sich zu verraten. Graf Corian war überaus mißtrauisch und sah hinter allem Intrigen der Mächte der Finsternis. Es war seltsam, daß ein Mann der Tat wie er, ein Kämpfer, der keinen Feind fürchtete, wegen jeder Kleinigkeit irgendwelche Götter um Beistand anrief. »Was verheimlichst du mir, Mythor?« fragte Corian plötzlich. »Du kannst mir viel erzählen, aber nicht, daß du ein namenloses Findelkind warst, das nach dem Untergang der Marn zufällig in die Obhut des Herrscherhauses von Elvinon geriet.« »Alles, was ich erzählt habe, entspricht der Wahrheit«, sagte Mythor fest. »Es ist nichts gelogen, ich habe nichts hinzugefügt.« »Aber was hast du für dich behalten?« Mythor begann sich unter dem forschenden Blick des Ugaliers unbehaglich zu fühlen. »Könnte es nicht sein, daß er ein Kundschafter der Caer ist?« mutmaßte einer der Unterführer. Es war ein kleiner, drahtiger Mann mit einem Bart, wie Corian ihn trug. »Warum nicht?« fragte ein anderer, der nicht viel älter als Mythor war und mit seinem Bartflaum ein wenig lächerlich wirkte. »Der Caer-Priester könnte ihn besessen gemacht haben«,
sagte ein dritter, der seine Worte jedoch selbst nicht ernst nehmen konnte, denn er lächelte dabei. »Laßt diesen Unsinn«, sagte Corian barsch. »Ich will davon nichts mehr hören.« Er hob den Kopf und blickte nach Norden, von wo Hufgeklapper näher kam. »Seht, da kommt Roncome mit seinem Trupp zurück.« Corian erhob sich und ging der kleinen Reiterschar entgegen. Die Unterführer folgten ihm, und Mythor schloß sich ihnen an. Der Trupp aus zehn Mann hielt wenige Schritte vor ihnen, und der Anführer schwang sich vom Pferd. Er blutete aus mehreren Wunden und konnte sich nur mühsam auf den Beinen halten. Aber er grinste, als er Bericht erstattete: »Wir haben den Rest der Barbaren geschlagen. Und das ist das Pferd des Hordenführers«, sagte er und deutete hinter sich. Mythor erkannte am Stirnmal des kleinwüchsigen Pferdes, das einer der Ugalier am Zügel führte, daß es sich um Nottrs Nardor handelte. »Schlachtet es!« ordnete Corian an. »Die Männer sollen sich noch einmal ordentlich die Bäuche vollschlagen, bevor wir uns auf den Ritt nach Hause machen.« In Mythor krampfte sich etwas zusammen. Nottr, der einfache Barbar, dem ein Menschenleben nicht viel bedeutete, den jedoch der Anblick eines Frauenbildnisses rühren konnte, war nicht mehr. Wie sollte er nun etwas über die Herkunft des Pergaments erfahren? In Mythor erwachte das starke Verlangen, einen Blick auf das Bild zu werfen. Aber er widerstand diesem Wunsch. Corian durfte von dem Pergament nichts wissen, er hätte es sonst vielleicht besitzen wollen. »Wir feiern den Sieg über die Barbaren«, verkündete Corian. Seine Augen erfaßten Mythor. »Und du feierst mit mir. Vielleicht kann ich dich doch noch bewegen, mit mir zu kommen. Meine älteste Tochter Valida kommt bald ins heiratsfähige Al-
ter.« Die Männer lachten grölend. In der Qualmsenke wurde ein großes Feuer entzündet, in dem alles, was die Ugalier nicht für wert befanden, es als Beute mitzunehmen, verbrannt wurde. Auch die Leichen der gefallenen Barbaren. Die Ugalier banden ihre Trophäen an die Sättel. Dabei rissen sie derbe Witze. Weitere Lagerfeuer wurden entzündet. In der Qualmsenke brannte das Feuer lichterloh, Die Harzsiegel der Weinkrüge wurden erbrochen. Die Krüge gingen von Hand zu Hand. Die Krieger scharten sich in Kreisen um die Lagerfeuer. Jemand in Corians Runde begann ein Saiteninstrument zu zupfen und sang dazu mit heller Stimme: »Im Jahr des Kometen In einer Welt voll Licht…«
»Nicht diesen Schmus«, fiel Corian ein. »Stimm lieber ein Heldenlied an! Sing von Kampf und Mut und Sieg! Das ist was für unsere Ohren!« »Besinge unseren tapferen Heerführer Graf Corian!« Die Männer kamen immer mehr in Stimmung. Sie träumten von der Heimkehr nach der beschwerlichen Jagd auf die Barbaren und von dem Empfang, den ihnen ihre Frauen bieten würden. Das Abenteuer war bestanden. Der Sieg errungen. * Mythor hielt sich abseits. Er fühlte sich diesen Männern nicht zugehörig, wie ihm in diesem Augenblick überhaupt bewußt wurde, daß er nirgendwohin gehörte. Er konnte die Schauergeschichten, die sich die Ugalier über
die Lorvaner erzählten, nicht mehr hören. Er kannte sie auswendig. Die Männer erzählten immer dasselbe. Beim Einfall der Lorvaner in Ugalien hatte Corian einige Männer abgestellt, die mit Kriegern aus anderen Grafschaften ein Heer bildeten und den Barbaren entgegenzogen. Offenbar standen sie jedoch unter schlechter Führung, denn diese bunt zusammengewürfelte Truppe konnte den Lorvanern, die damals noch zweihundert gewesen sein sollten, nicht Einhalt gebieten. Alle Mann wurden niedergemetzelt. Corian stellte daraufhin keinen einzigen Mann mehr ab. Schließlich drangen die Lorvaner in Corians Grafschaft ein, überfielen eine kleine Siedlung, mordeten und plünderten und vernichteten die Speicher, in denen das Getreide der letzten Ernte lagerte. Nach diesem Einfall in sein Hoheitsgebiet schwor Corian, die Barbaren bis zum letzten Mann zu vernichten, und wenn er sie ans Ende der Welt jagen müßte. Graf Corian stellte den Barbaren in einem Dorf eine Falle. Er ließ es von den Bewohnern räumen und brachte dort seine verkleideten Krieger unter. Als die wilde Horde der Lorvaner ahnungslos einritt, wurde sie vernichtend geschlagen. Den verbliebenen Rest der Barbaren verfolgte Corian durch das ganze Land und über die Grenze Ugaliens hinaus bis tief nach Dandamar hinein, wo er an der Qualmsenke zum endgültigen Vernichtungsschlag ausholte. Jetzt würden sich die Krieger Ugaliens als nächstes vielleicht bald mit den Caer messen können. Dazu zupfte der Barde unermüdlich sein Instrument. Er war blond, schmal und blaßhäutig, hatte aber dunkle Augen, die verträumt durch alles hindurchblickten. Er war nicht mehr als ein Jüngling. Mythor zog sich zurück und begab sich in den Schutz eines Stapels von Sätteln. Der Barde stimmte nun lustige Lieder an, und an dem Gegröle der Krieger war zu erkennen, daß er da-
mit Erfolg hatte. Der Jüngling sang mit seiner hellen Stimme von einem törichten Herbergswirt, der seiner mannstollen Frau die Treueschwüre nicht glaubte und sich mit der Frage an einen Wahrsager wandte, ob das Kind, das unterwegs war, auch wirklich von ihm sei und ob es denn auch ein Junge werde. Für drei Goldstücke sagte der falsche Schicksalsdeuter dem Wirt alles zu, was er sich erwartete – aber dann gebar die Frau dem hellhäutigen Mann ein Mädchen mit einer Haut wie dunkler Samt. Diese Geschichte verpackte der Barde so geschickt in Reime, daß selbst Mythor sich ablenken ließ und schmunzeln mußte. Aber als er dann hinter den Sätteln das Pergament entrollt hatte, verlor er sich in der Betrachtung des überirdisch schönen Mädchenantlitzes, und die Welt versank um ihn. Er hörte nicht einmal, daß das Spiel des Barden aufgehört hatte. »Ist das dein Schutzgeist, Mythor?« fragte die helle Stimme hinter ihm. Mythor fuhr erschrocken herum und versteckte das Pergament schnell wieder unter seinem Wams. »Du wärst besser bei den Schlächtern geblieben, anstatt dich um Dinge zu kümmern, die dich nichts angehen«, sagte Mythor drohend. Der Jüngling setzte sich auf den Sattelberg und stützte sich dabei auf sein Saiteninstrument. »Ich wollte nicht in deine Geheimnisse eindringen, aber da es nun einmal geschehen ist, kann ich es nicht mehr ungeschehen machen«, rechtfertigte sich der Barde. »Ich kann sehr gut schweigen.« »Das will ich dir auch raten!« sagte Mythor wütend. Ruhiger fügte er hinzu: »Wie kommst du darauf, daß das Bild meinen Schutzgeist darstellen könnte?« »Die Ähnlichkeit mit dir ist nicht zu übersehen«, antwortete der Barde. »Ich bin einmal durch ein Gebiet gekommen, in
dem die Leute glaubten, daß jede Frau einen männlichen Beschützer und jeder Mann einen weiblichen habe und daß solche Schutzgeister etwas von einem selbst an sich hätten. An diesen Glauben erinnerte ich mich, als ich das Frauenbildnis mit deinen Zügen sah.« »Das Bild zeigt nur meinen Traum«, sagte Mythor. Er straffte sich. »Es ist besser, wenn du zu den Kriegern zurückkehrst.« »Ich nenne mich Lamir von der Lerchenkehle«, sagte der Barde. »Ich bewundere dich, Mythor. Du bist ein Mann, wie ich immer einer werden wollte. Aber ich mußte früh erkennen, daß ich für den Gebrauch von Waffen zu schwächlich bin. Meine Stimme ist meine einzige Waffe. Immerhin habe ich gelernt, mich damit durchs Leben zu schlagen. Willst du mich zum Minnesänger haben?« »Ich weiß nicht einmal, wozu man einen solchen braucht«, sagte Mythor. »Nun, ich könnte deine Taten besingen und dich so auf der ganzen Welt berühmt machen. Und wenn du dein Herz an eine Schöne verlierst, werde ich ihr mit einem Lied deine Liebe gestehen. Ich könnte noch weitere Beispiele aufzählen, die dir zeigen, daß ein Minnesänger für einen Helden unentbehrlich ist.« Mythor mußte lachen. »Gehörst du nicht dem Grafen?« frage er dann. »Ich bin ein freier Mann«, antwortete Lamir voll Stolz. »Ich habe mich den gräflichen Kriegern nur angeschlossen, um mir etwas zum Leben zu verdienen. Corian will mich mit auf seine Burg nehmen, aber ich würde lieber dich begleiten.« »Vor mir liegt ein gefahrvoller Weg«, sagte Mythor. »Ich fürchte nur, daß die Hürden, die ich zu nehmen habe, nicht mit Musik zu bewältigen sein werden. Ich würde eher die Hilfe eines starken Armes brauchen.« »Was ist dein Ziel?«
»Xanadas Lichtburg.« Lamir schluckte hörbar und sagte mit plötzlich rauher Stimme: »Dann wähle ich lieber die andere Richtung.« »Wieso? Was weißt du über Xanadas Lichtburg?« »Nichts«, sagte der Barde schnell. »Ich weiß nur, daß es sie gibt. Und gar nicht so weit von hier. Einige Tagesmärsche entfernt. Aber ich habe einiges über das Land ringsum gehört. Es soll dort einen ausgedehnten Sumpf geben, in dem die Ruine eines Schlosses steht, das einst von einem gewissen Magnor de Freyn bewohnt wurde. Jetzt haust darin ein wahnsinniger Xandor und verbreitet Angst und Schrecken.« »Was ist ein Xandor?« fragte Mythor unbeeindruckt. »Frag die Leute, und sie werden es dir nicht sagen«, antwortete Lamir. »Vielleicht wissen sie es selbst nicht, oder aber sie fürchten, dieses Schreckenswesen durch ihre Schilderung heraufzubeschwören. Ich habe es bald aufgegeben, mich nach dem Xandor zu erkundigen, und mir vorgenommen, dieses Sumpfgebiet zu meiden.« »Dann haben wir wirklich nicht den gleichen Weg.« »Warum willst du dich in Gefahr begeben?« fragte Lamir. »Schließe dich Graf Corian an, dann machst du bestimmt dein Glück.« »Ich habe eine Prüfung zu bestehen«, sagte Mythor. »Aber wenn du mir helfen willst, dann lenke Corian ab. Bei Anbruch der Dunkelheit mache ich mich davon.« »Viel Glück, Mythor. Vielleicht treffen wir uns einst wieder.« Lamir reichte ihm die Hand, und Mythor drückte sie. Dann kehrte der Barde zum Lagerfeuer zurück. * Einst, zur Zeit Ur, kam ER über das Weltendach geritten. Damals war überall Finsternis. Das Weltendach war ein dunkles Nichts; über der Welt
lag die Wolke des Bösen und hielt die Natur in sicherem Griff. Als ER das sah, da opferte ER sein strahlendes Kometentier, und aus ihm wurden die Sterne, die den Nebel des Bösen in die Schattenzone vertrieben und der Welt das Heil brachten. Und wenn diese Lichter eines Tages wieder von der Wolke des Bösen verschluckt werden sollten, wird ER seinen Sohn schicken, auf daß er dem Licht des Guten erneut zu strahlender Glorie verhelfe.
* Diese Legende hatte Mythor bei einem seiner vielen Ausflüge aus Churkuuhl von den Mitgliedern eines einfachen Bergvolkes vernommen. Und er hatte sie in abgewandelter Form auch von seiner Ziehmutter Entrinna gehört. Heute wußte er, daß beide Fassungen nichts als Abarten der Legende über den Lichtboten waren, wie sie ihm Nyala von Elvinon erzählt hatte. Es schien, daß jedes Volk seine eigene Legende über die Entstehung der Welt und von der Wechselwirkung zwischen Gut und Böse besaß. Aber letztlich hatten alle diese verschiedenen Fassungen die gleiche Aussage, nämlich daß ER, der Lichtbote, das Böse aus der Welt vertrieben habe und dafür sorgen wolle, daß eines Tages der Sohn des Kometen, wenn das Böse wieder überhandnahm, dem Licht endgültig zum Sieg verhelfen würde. Und auch Entrinna mußte irgendwie gefühlt haben, daß er ein Auserwählter war. Denn sie hatte ihn mit einer Scheu und Ehrfurcht behandelt, wie man sie nur gegenüber einem höhergestellten Wesen zeigt. Was war wirklich an Entrinnas Ahnung und Nyalas Behauptung, daß er jener Sohn des Kometen aus der Legende sei? Er wußte es nicht, gedachte jedoch in diesem Sinn zu handeln und die ihm auferlegten Prüfungen auf sich zu nehmen. Er mußte Xanadas Lichtburg finden und dort versuchen, das Glä-
serne Schwert Alton an sich zu bringen. Die Sterne wiesen ihm in dieser Nacht den Weg. Sie strahlten hell vom Weltendach, diese glitzernden Splitter, die aus dem strahlenden Kometen entstanden sein sollten. Was an der Legende war Dichtung, was Wahrheit? Mythor hatte sich aus dem Lager der Ugalier geschlichen. Noch lange hörte er das ausgelassene Lachen von Corians Kriegern und das heitere Spiel des Barden Lamir. Braver Junge, er wäre ein guter Freund gewesen. Mythor hätte in dieser grausamen Welt einen solchen brauchen können. Hatte der Einfluß des Bösen aus der Schattenzone die Menschen zu dem gemacht, was sie waren? Brachten die Dämonen sie dazu, daß sie einander belogen und hintergingen, daß sie stahlen, mordeten und brandschatzten, daß sie einander übervorteilten, einen gegen den anderen ausspielten, daß sie alles taten, um Unglück über sich und andere zu bringen, anstatt gut zueinander zu sein? Zwietracht, Haß und Neid! Kamen sie aus dem Süden? Von dort, wo sich an der Grenze zwischen der Welt und deren Dach ein silberner Streif dahinzog? Mythor konnte ihn deutlich sehen, denn die Nacht war klar. So mochte einst der Komet gestrahlt haben. Aber wenn das Licht für das Gute stand, wie konnte dann das Sinnbild des Bösen so hell scheinen? Er würde wohl nur von einem sehr gelehrten Mann eine Antwort auf diese Frage erhalten, die ihn so sehr beschäftigte. Das Lachen und die Musik waren längst verklungen. Mythor war allein auf weiter Flur. Der Mond breitete sein bleiches Licht über das flache Land. Steppe, in der sich kein Tier regte. Dandamar war wie ein verwunschenes Land in dieser Nacht. Hinter Mythor war deutlich die Rauchsäule aus Giftgasen zu sehen, die der Qualmsenke entströmte. Xanadas Lichtburg lag irgendwo in nordöstlicher Richtung. Mit einem Pferd hätte er sein Ziel vermutlich in zwei Tagen
erreichen können. Aber er hatte es nicht gewagt, eines der Reittiere zu entwenden. Ein Fußmarsch war besinnlicher als ein schneller Ritt, und es war gut, Zeit zum Nachdenken zu haben. Die Ereignisse der letzten Zeit waren so turbulent gewesen, daß Mythor nicht dazu gekommen war, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. All sein Denken und Handeln war nur von der Überlegung geprägt worden, zu überleben. Das mußte sein oberstes Gebot sein. Und in Augenblicken wie diesen konnte er sich Gedanken über seine Beweggründe machen. Aber je mehr er darüber nachdachte, desto mehr Fragen formten sich in seinem Kopf. Mythors Gedanken bewegten sich im Kreis, aber sein Schritt führte ihn geradewegs in nordöstliche Richtung. Er konnte sich dessen so lange sicher sein, wie er im Südwesten die Rauchfahne der Qualmsenke sehen konnte und ihm der Mond die Orientierung erleichterte. Aber dann kam er durch einen finsteren Wald. Als er ihn nach geraumer Weile wieder verließ, sah er hinter sich keine Rauchfahne mehr, und der Mond war hinter einer Wolkendecke verschwunden. Ein dunkler Vorhang bedeckte die Sterne. Das Gelände wurde unwegsamer. Es stieg leicht an; felsiger Boden erschwerte das Vorankommen. Dichtes Gestrüpp versperrte ihm den Weg und veranlaßte ihn, sich mit dem Schwert, das er den Ugaliern entwendet hatte, durchzukämpfen. Endlich lichteten sich die Sträucher, und er kam wieder auf freies Gelände. Hier standen vereinzelt knorrige Bäume, die sich unter dem Druck der ständigen Winde geneigt hatten. Sie erhoben sich wie Skelette vielarmiger Wesen, die aus dem Gleichgewicht geraten waren. Eine kühle Brise trug Mythor den Geruch nach Salz und Meer zu. Das ernüchterte ihn. Wie konnte er den Duft des
Meeres einatmen, wenn er ins Landesinnere vorgedrungen war? Er lauschte und vernahm ein gleichförmiges Rauschen, das von endlos gegen Klippen brandenden Wellen zu stammen schien. Und da wurde Mythor klar, daß er sich verirrt hatte. Anstatt sich vom Meer der Spinnen zu entfernen, war er zu diesem zurückgekehrt. Auf diese Weise hatte er einen ganzen Tagesmarsch umsonst getan – eigentlich zwei, wenn er bedachte, daß er dieselbe Strecke nochmals zurücklegen mußte, um zu seinem Ausgangspunkt zurückzukehren. Nun, da es einmal geschehen war, half es auch nichts mehr, mit dem Schicksal zu hadern. Er mußte sich damit abfinden und wollte sich ein Versteck für den Rest der Nacht suchen und bei Tagesanbruch seinen Marsch fortsetzen. Er ging dem Wind entgegen, bis er den seltsamen Wald hinter sich gelassen hatte und den Rand der Klippe erreichte. Von unten kam das Rauschen der Wellen, und er konnte die hell schäumenden Kronen der Brandung ausmachen. Er stieg über die zerklüfteten Felsen hinab, bis er einen windgeschützten Spalt erreichte. In diesem richtete er sich für die Nacht ein. Er holte das Pergament unter dem Wams hervor und entrollte es, ohne die Hoffnung zu haben, daß er das Frauenbildnis in der Finsternis erkennen könne. Um so erstaunter war er, als er feststellte, daß es in einem eigenen Licht zu strahlen schien. Das Mädchenantlitz hatte auf einmal Tiefe, so als lebe es, und als er mit den Fingern sanft darüberfuhr, da glaubte er die Rundung ihrer Wangen, die Erhebung ihrer Nase und den Schwung ihrer Lippen zu fühlen. Es mochte alles Einbildung sein, ein Trugbild seines Wunschdenkens, aber es war doch ein einmaliges, aufwühlendes Erlebnis für ihn. Mythor bettete seinen Kopf. Mit dem Pergament in Händen schlief er ein, und das Bildnis der geheimnisvollen Schönen begleitete ihn in seine Träume.
* Mythor fuhr aus unruhigem Schlaf hoch. Wie aus weiter Ferne drangen Geräusche zu seinem Versteck in den Klippen. Er vertauschte die Pergamentrolle mit dem Schwert und machte sich an den Aufstieg. Als er den oberen Abschluß der Steilwand erreichte, hob er vorsichtig den Kopf. Ihm bot sich ein seltsames Bild. Es ging noch immer ein steter Westwind, der die Geräusche forttrug und deshalb ferner erscheinen ließ. Dabei waren die beiden Urheber nur einen halben Steinwurf von ihm entfernt. Es waren zwei Männer. Der eine klein und mager und ungewöhnlich gekleidet, der andere von kräftiger Statur und in Pelze gehüllt. In ihm erkannte Mythor sofort Nottr, den totgeglaubten Barbarenführer. Diese so unterschiedlichen Männer fochten auf recht eigenartige Weise ein Duell aus. Es war noch eine dritte Person anwesend, die sich jedoch nicht an dem Kampf beteiligte, sondern hinter einem Strauch kauerte und von diesem Versteck aus die Auseinandersetzung verfolgte. Dies war ein uralt wirkendes, häßliches Weib mit einem Buckel. Aus den sie einhüllenden Lumpen ragte ein graues, runzeliges Gesicht mit einer gekrümmten Nase. Das weiße Haar wurde von einem schwarzen Kopftuch fast verdeckt. Die Alte kaute mit gelbschwarzen Zähnen an ihrer Unterlippe und machte Zuckungen, als wolle sie einen der Kampfhähne stumm anfeuern. Keine Frage, daß sie um das schmächtige Männchen bangte, das offenbar ihr Begleiter war. Mythor wandte seine Aufmerksamkeit wieder diesem zu. Der Alte mochte nicht viel jünger als das hexenhafte Weib hinter dem Strauch sein. Er hatte ein spitzes, zerfurchtes Mausgesicht, eine blasse Haut und helles Haar, das schon ge-
lichtet war. Seinen schmächtigen Oberkörper umschloß eine schwarze, mit fremdartigen Zeichen bestickte Samtjacke, die von einem breiten Ledergürtel zusammengehalten wurde. Seine dünnen Beine umflatterte eine zu weite Pluderhose. Es war jedoch der Gürtel, der Mythors ungeteilte Aufmerksamkeit erweckte. Nicht nur, daß die Schnalle ein Löwenkopf zierte, ein Tier, das in diesen Regionen unbekannt war, sondern in dem Ledergurt steckte zudem noch eine Reihe von Messern. Drei davon hielt der seltsame Alte an den Spitzen in der Linken. Eines hielt er in der erhobenen Rechten. Und in diesem Moment warf er es nach Nottr. Der Barbar umlauerte seinen Gegner mit gezogenem Krummschwert. Wahrscheinlich hatte er bisher nur wegen dessen erbärmlichen Aussehens damit gezögert, zum Angriff überzugehen. Das war jedoch eine grobe Unterschätzung, die sich gleich darauf rächen sollte. Nottr kam gerade vor einen der knorrigen, windschiefen Bäume, als der andere sein Messer schleuderte. Es zischte haarscharf an Nottrs abgehacktem Ohr vorbei, durchbohrte seinen Haarzopf und nagelte ihn an den Baumstamm. Nottr, der sich mit einem Wutschrei auf seinen Gegner stürzen wollte, wurde von seinem am Baum verankerten Zopf unsanft davon abgehalten. Seine Wut steigerte sich zur Raserei, und er begann wie wild mit seinem Krummsäbel zu fuchteln, ohne jedoch den Alten damit zu erreichen, denn dieser hatte sich aus der Gefahrenzone gebracht. Nun flogen auch noch die drei anderen Messer durch die Luft, durchbohrten Nottrs Felljacke auf beiden Seiten und nagelten ihn auch damit an dem Baum fest. »Nimm endlich Vernunft an, Barbar!« rief der Alte, der seine minderen Körperkräfte durch die Geschicklichkeit im Umgang mit Messern wettmachte. »Oder das nächste Messer durch-
bohrt das Fell an deinem Herzen.« Noch während er seine Drohung aussprach, stürzte Nottr nach vorne. Dabei schlüpfte er geschmeidig aus seiner geflochtenen Felljacke, und er riß seinen Zopf los, daß das Messer ihn der Länge nach durchtrennte. Bevor der Alte noch weitere Messer aus seinem Gürtel ziehen konnte, war Nottr bei ihm und schlug mit der Breitseite des Krummschwerts auf ihn ein. Der Alte taumelte schreiend unter den Hieben hin und her. Dabei versuchte er rückwärts auszuweichen. Aber Nottr setzte nach und ließ ihn nicht zu Atem kommen. Die Alte hinter dem Strauch gab einen Laut des Entsetzens von sich. Sie wandte den Kopf und erblickte Mythor. »Herr, helft!« rief sie zeternd. »Schlagt mit eurer Waffe dem barbarischen Wüstling den Schädel ein, bevor er es mit meinem Steinmann tut.« Steinmann, wie die Alte ihren Gefährten nannte, stolperte über einen Stein und kam rücklings zu Fall. Nun war Nottr über ihm und schien mit gesenkter Klinge Maß für den tödlichen Streich zu nehmen. Da schritt Mythor ein. »Halt!« rief er und eilte zu den ungleichen Kampfhähnen. »Nottr, erhebe deinen Arm nicht gegen diesen wehrlosen alten Mann.« Nottr drehte sich verwundert um, als er Mythors Stimme vernahm. Als er ihn erkannte, erhellte freudige Überraschung sein finsteres Gesicht. »Müttr!« rief er und verfiel dabei unwillkürlich in die Barbarensprache. Diesen Moment nutzte der Alte, um auf die Beine zu kommen und blitzschnell zwei Messer zu ziehen. »Nur keine Hinterlist, Steinmann«, sagte Mythor scharf. »Ich will euren Streit schlichten und mich nicht an dir vergreifen müssen.« »Wieso weißt du, daß ich ein Steinmann bin, Fremder?«
wunderte sich der Alte. Ohne eine Antwort abzuwarten, wies er mit seinen beiden Messern auf Nottr, der gleichfalls wieder Kampfstellung einnahm. »Dieser Wilde hat uns überfallen und versucht, meiner Gefährtin, der Runenkundigen Fahrna, Gewalt anzutun.« »Genauso war es!« rief nun die häßliche Alte, die aus ihrem Versteck hervorkam. »Wir sind friedliche Wanderer und dachten an nichts Böses, als dieser… dieses Tier über uns herfiel. Als ich dich um Hilfe bat, da wollte ich, daß du ihm das Fell über die Ohren ziehst. Und nun ergreifst du Partei für ihn!« »Das sein beleidigend!« sagte Nottr und drohte mit seinem Krummschwert. »Der kann ja sprechen!« entfuhr es dem Alten, und seine Gefährtin fragte herausfordernd: »Was kann dich Unmenschen denn beleidigen?« »Die Lüge, daß ich dir Gewalt tun wollen.« Nottr schüttelte sich. »Ich nur von euch Zeug wollen, nichts sonst. Nur Essen nehmen und Beute machen. Aber euer Leben lassen. Du ohnehin schon halb tot, Chekse!« »Unerhört!« rief die Runenkundige Fahrna. »Sadagar, rette meine Ehre. Schneid ihm den Zopf ab!« Als Nottr das hörte, schnaubte er vor Wut und drohte mit der Waffe. Sein Gegner hob die Messer abwehrend, sagte aber mit einem hilfesuchenden Blick zu Mythor: »Kannst du den Wilden nicht bändigen? Ihr kennt euch offenbar. Sag, daß er uns in Ruhe lassen soll, damit wir wieder unserer Wege gehen können.« Mythor hob beschwichtigend die Hände und sagte: »Ich würde vorschlagen, daß ihr erst einmal die Waffen wegsteckt. Dann können wir uns in Ruhe unterhalten und uns vielleicht einigen.« »Worüber einigen?« wunderte sich der Alte, schob aber die Messer langsam in den Gürtel zurück, als er sah, daß Nottr
sein Krummschwert ebenfalls verstaute. »Es würde auf der Welt viel weniger Blut fließen, wenn die Menschen ihre Händel mit Worten anstatt mit Waffen austrügen«, sagte die Runenkundige Fahrna belehrend und lächelte Mythor von unten herauf an. Dann wandte sie sich ihrem Begleiter zu und keifte: »Los, Sadagar, laß gefälligst die Finger von deinem Spielzeug und sei froh, daß der Lorvaner dir nicht den Hals umgedreht hat.« In der Sprache der Barbaren sagte sie zu dem verblüfften Nottr: »Net murkn tun aff erer frönt chutr.« Auf gorganisch fügte sie spöttisch hinzu: »Du siehst, ich beherrsche auch dein Gebelle. Es gibt überhaupt keinen Dialekt dieser Welt, den ich nicht verstehe.« »Chekse!« sagte Nottr voll Überzeugung, und das verstand sogar Mythor. * Steinmann Sadagar und die Runenkundige Fahrna unterhielten sich flüsternd miteinander und rückten dann mit ihren Vorräten heraus, so daß sie eine karge Mahlzeit zu sich nehmen konnten. Nottr erzählte Mythor, wie es ihm gelungen war, den Ugaliern zu entkommen. Er hatte seinen verbliebenen Kriegern befohlen, in verschiedenen Richtungen davonzureiten, damit auch die Verfolger gezwungen wurden, ihre Streitmacht zu zersplittern. Zwei Verfolger waren Nottr auf den Fersen geblieben. Mit diesen war er mühelos fertig geworden. Doch bei diesem Kampf war er von Nardor abgeworfen worden. Er hatte sein Reittier daraufhin aufgeben müssen, als weitere Ugalier erneut auf seine Fährte stießen. Er stellte sich an einer Schlucht mit einem reißenden Strom der Übermacht zum Kampf, wurde dabei jedoch so abgedrängt, daß er in die Tiefe
stürzte. Der Strom riß ihn mit sich und entließ ihn erst im Meer, und hier war er nun. Hungrig und abgekämpft, wie er war, traf er auf die beiden Alten. Er versicherte, daß es unter seiner Würde gewesen wäre, ihnen auch nur ein Härchen zu krümmen. Aber es war einem Lorvaner nicht gegeben, um irgend etwas zu bitten; er nahm es sich einfach. Steinmann Sadagar hatte jedoch Widerstand geleistet, und so war es zu diesem beschämenden Zweikampf gekommen. »Ich nicht stolz«, sagte Nottr verlegen. »Das nicht Tat von Held.« »Ihr Lorvaner seid mir überhaupt Helden!« rief Fahrna lachend. »Ich erinnere mich einer Begebenheit, die noch nicht lange zurückliegt. Damals habe ich allein eine ganze Horde von euch in die Flucht geschlagen.« »Lüge!« rief Nottr erbost. »Ich dir Fleisch verhauen, auf das du sitzt!« »Es ist wahr, Nottr, ehrlich«, behauptete Fahrna, und dann erzählte sie, wie Sadagar in finsterer Nacht in der verfallenen Mühle von einem Trupp Barbaren überrascht worden war und sie mit Hilfe der ringsum stehenden hohlen Baumstümpfe geisterhafte Geräusche verursachte, die die Lorvaner dermaßen verwirrten und einschüchterten, daß sie sich gegenseitig bekämpften. »Das sein ihr?« sagte Nottr kopfschüttelnd. »Ich nicht mit war. Dann aber nächste Tag mit meine Krieger zu Hütte und niederreißen und anzünden mit Feuerstein und Geister austreiben.« »Da waren wir längst wieder fort«, sagte Fahrna lachend. »Wir zwei, Sadagar und ich, sehen zwar unscheinbar aus, aber wir haben Köpfchen.« »Du scheinst mir überaus wissend zu sein, Fahrna«, sagte Mythor.
»Es gibt nur wenige Gelehrte, die mich nicht um mein Wissen beneiden würden«, behauptete Fahrna. »Hast du schon einmal etwas über das EMPIR NILLUMEN gehört? Das ist eines der größten Zauberbücher, wenn nicht das bedeutendste überhaupt. Es ist in Runenschrift verfaßt, aber ich habe es ins Gorgan übersetzt. Stimmt es nicht, Sadagar?« »Es ist wahr«, bestätigte Sadagar, fügte jedoch hinzu: »Ich weiß aber vom Hörensagen, daß Fahrna dabei eine Menge Fehler unterlaufen sind und daß so mancher Magier, der sich an ihre Übersetzung hielt, ein schreckliches Schicksal erlitt.« »Aus dir spricht nur der Neid«, sagte Fahrna abfällig. »Jeder hat seine Fehler, Fahrna«, tröstete sie Sadagar scheinheilig; an Mythor gewandt, fügte er hinzu: »Es ist Fahrnas großer Traum, eines Tages die Runenbotschaft der Königstrolle zu übersetzen. Davon ist sie besessen.« »Und du, Sadagar?« fragte Mythor. »Warum läßt du dich eigentlich Steinmann nennen?« »So heißt mein Volk«, sagte Sadagar stolz. »Von dem aber noch kein Mensch je gehört hat«, warf Fahrna mit spitzer Zunge ein. »Daran erkennt man, daß du nicht so wissend bist, wie du tust.« Sadagar fuhr fort: »Ich habe keinen so großen Ehrgeiz wie Fahrna. Ich bin nur ein bescheidener Wahrsager, der Blicke in die Zukunft tun kann. Wenn ich wollte, wie ich könnte, dann wäre ich in der Lage, die Geschicke der Welt zu beeinflussen. Ich könnte mit meiner Gabe Königen zu Macht und Ruhm verhelfen und sie zu Herrschern über die Welt machen. Ich wüßte, welche Schlacht zu gewinnen und welche zu vermeiden wäre. Ich könnte Goldadern finden und die Geheimnisse der Götter aufspüren. Aber ich begnüge mich damit, den kleinen Leuten den Weg ins Glück zu weisen.« »Warum erzählst du nicht, wie du den kleinen Leuten in Büttelborn geholfen hast?« sagte Fahrna. »Eine beliebige Epi-
sode aus deinem Leben würde genügen, um deinen Zuhörern die Augen über dich zu öffnen. Gib doch zum besten, wie du Oblatko, dem Herbergswirt, geholfen hast, Sadagar.« »Vielleicht ein andermal«, lenkte Sadagar ab und kam sofort auf etwas anderes zu sprechen. Er schlug Mythor vor: »Wenn dir etwas daran liegt, zu erfahren, was dir die kommenden Tage bringen, könnte ich dir die Zukunft weissagen.« »Wäre dir das möglich?« fragte Mythor mit gespielter Neugierde, ohne sich seine Heiterkeit anmerken zu lassen. »Dann könntest du mir vielleicht sagen, ob ich je Xanadas Lichtburg finden werde und was mich dort erwartet.« »Was?« rief Sadagar verwundert aus und wechselte einen eigenartigen Blick mit Fahrna. Diese fragte fast feindselig: »Wie kommst du gerade auf Xanadas Lichtburg?« »Ist das etwa ein Tabu?« fragte Mythor zurück. »Und versagen deshalb deine Fähigkeiten, Sadagar?« »Keineswegs«, behauptete der angebliche Wahrsager schnell. »Ich kann sogar noch weiter in deine Zukunft blicken und dir sagen, wie dein holdes Weib heißen und welcher Kindersegen dir beschert sein wird. Darauf verstehe ich mich besonders.« »Ich weiß, davon singen schon die Barden«, sagte Mythor trocken. »Wie soll ich das denn verstehen?« Mythor hielt mit seinem Wissen nicht länger hinter dem Berg und erzählte, wie Lamir sein Wirken in der Herberge »Zum Licht« besungen hatte. Nottr grölte vor Lachen, und Fahrna fiel kreischend darin ein. »Das kann schon mal passieren«, sagte Sadagar kleinlaut. »Zu dieser Panne kam es nur, weil der Kleine Nadomir mich im Stich gelassen hat. Aber sonst irre ich mich nie! Ich sehe, ohne daß ich mich groß anstrenge, daß jemand, der du sein könntest, Mythor, in Xanadas Lichtburg Hinweise auf die Ru-
nenbotschaft der Königstrolle zu finden hofft.« »Halt dein loses Maul!« unterbrach ihn Fahrna. »Es kommt doch nur Unsinn heraus.« »Diesmal irre ich mich bestimmt nicht«, beharrte Sadagar. »Habe ich recht, Mythor?« »Ich will eigentlich aus einem anderen Grund zu Xanadas Lichtburg«, sagte Mythor, und nach kurzem Zögern nannte er den Grund: »Ich suche das Gläserne Schwert Alton.« »Ach so?« Sadagar war verblüfft. »Ich sagte ja, daß du schweigen sollst«, keifte Fahrna. »Du kannst sowenig die Zukunft deuten wie ich eine Wasserspinne reiten.« »Weil Wasserspinne vor dir haben Angst«, meldete sich Nottr zu Wort, der dem bisherigen Gespräch verständnislos zugehört hatte. »Ich dachte nur…« sagte Sadagar kleinlaut. »Dachtest du es, weil ihr aus diesem Grund auch zur Lichtburg wollt?« vermutete Mythor. Als beide schwiegen, fügte Mythor hinzu: »Wenn wir dasselbe Ziel haben, dann könnten wir den Weg gemeinsam gehen. Ihr stellt mir euer Wissen zur Verfügung, und ich biete euch meinen Schutz an.« »Warum eigentlich nicht?« meinte Sadagar nachdenklich und sah Fahrna fragend an, doch sie schwieg beharrlich. Sadagar sagte mit hämischem Grinsen: »Fahrna fürchtet nur, daß ihr jemand etwas streitig machen könnte.« »Ach, blödes Geschwätz«, sagte die Runenkundige. »Meinetwegen, tun wir uns zusammen.« »Und was ist mit dir, Nottr?« wandte sich Mythor an den Lorvaner. »Willst du dich uns nicht anschließen? Wenigstens so lange, bis du unser überdrüssig bist?« »Solange ich die Chekse ertrage«, stimmte Nottr zu. Fahrna wandte ihm die Kehrseite zu und zeigte damit an, daß sie es unter ihrer Würde fand, darauf zu antworten.
»Nottr verrückt«, sagte der Barbar und schüttelte wie in Verwunderung über sich selbst den Kopf. »Nottr verrückt, weil das tun. Aber du bist Freund, Mythor. Und darum!« * Sie waren schon ein eigenartiges Gespann. Eine alte, keifende Frau mit dem Aussehen einer Hexe, die unter ihren vielen Kitteln obskure Schätze versteckte und deren sehnlichster Wunsch war, die Runenbotschaft der Königstrolle zu enträtseln. Ein Wahrsager, der mit seinen Prophezeiungen stets danebenlag und dennoch den Anschein von Unfehlbarkeit erwecken wollte. Dieser Angehörige eines Volkes, von dem noch nie jemand gehört hatte, der mit den Wurfmessern besser umgehen konnte als mit seinen Fetischen. Nottr, den es aus den Wildländern in den Westen verschlagen hatte und der ein Barbarenführer ohne Krieger war, für einen Lorvaner ungewöhnlich klug und gelehrig, einfach und doch offen für alles Neue. Ein ungestümer Barbar von überschäumendem Temperament. Und er, Mythor, ein junger Mann von unbekannter Herkunft, ein ewig Fragender, der seine Vergangenheit und seine Zukunft erforschen wollte – und seine Bestimmung suchte. Vier grundverschiedene Menschen auf dem Weg zu Xanadas Lichtburg. Sie ließen die Küste hinter sich und marschierten unter Fahrnas Führung gen Osten. Sie beantwortete keine Fragen, die Xanadas Lichtburg betrafen, erweckte mit ihrer Geheimnistuerei aber den Eindruck, daß sie ihr Ziel ganz genau kenne. Fahrna erwies sich als überhaupt unansprechbar, und Steinmann Sadagar erklärte das damit, daß sie während der
nächtlichen Ruhepausen in ihre Schriftstücke vertieft war und tagsüber während des Marsches im Gehen döste. Als die Sonne hinter einer Wolkenschicht verborgen etwa im Mittag stand, erreichten sie einen dichten Wald. Er bestand aus immergrünen Nadelbäumen, die fast bis zu den Wipfeln von Schlingpflanzen umschlungen waren. Das Unterholz war dornig, und das Gestrüpp leuchtete im Gelbbraun welkender Blätter. Da Fahrna immer wieder zurückfiel, lud Nottr sie sich kurzerhand auf den Rücken. Von da an kamen sie flotter weiter. Mythor ging nun voran und schlug ihnen mit dem Schwert einen Weg, obwohl dieses dadurch recht bald stumpf wurde. Nottr, mit Fahrna auf dem Rücken, folgte dichtauf. Sadagar bildete den Abschluß. Er hatte Nottrs Bogen und den Köcher mit den Pfeilen an sich genommen. Es hatte Mythor allerdings einige Überredungskunst gekostet, bis der Barbar dem Wahrsager seine Waffe überließ. Fahrna hing entspannt auf Nottrs Rücken. Sie hatte ihm die Arme um die Schultern gelegt und schlang ihm die Beine um den Körper. Sie sprach den ganzen Tag über kein Wort; wenn sie eine Richtungsänderung wünschte, zeigte sie dies Nottr durch Fersendruck an. Das kam aber nur zweimal vor. Einmal wollte Mythor in einen aufwärts führenden Hohlweg einbiegen, aber Nottr rief: »Gerade weiter.« Ein andermal, als Mythor einen Bach überqueren wollte, verlangte Nottr, daß er ihm entgegen der Strömung folge. Am späten Nachmittag erreichten sie die Quelle des Baches. Er entsprang an einem schroffen Felsen und Mythor schlug vor, daß sie Rast machen und sich einen Lagerplatz für die Nacht suchen sollten. Nottr ließ Fahrna einfach ins Moos fallen. Die Runenkundige gab keinen Laut von sich und rollte sich an Ort und Stelle zum Schlafen zusammen.
»Faule Chekse«, sagte Nottr. Irgendwo heulte ein Tier. Und dann ein zweites. Es war das erste Lebenszeichen, das sie an diesem Tag hörten. Die Wälder, durch die sie bisher gekommen waren, hatten wie ausgestorben gewirkt. Nicht einmal Vogellaute waren zu hören gewesen. »Sind das Wölfe?« fragte Mythor. Aber Nottr und Sadagar schüttelten gleichzeitig den Kopf. »Es sind Wildhunde«, erklärte Sadagar. »Sie sind kleiner als Wölfe, aber trotzdem gefährlicher. Wölfe jagen nur aus Hunger, aber die Wildhunde sind tollwütige Bestien, die alles anfallen, was sich bewegt. Diese blutrünstigen Mörder wurden von den Barbaren aus den Wildländern eingeschleppt.« »Nicht wahr.« Zornig nahm Nottr eine drohende Haltung ein. »Wir nicht Freunde von Hunde. Wir sie fressen, Hunde gut schmecken, sonst nichts.« Wieder erklang das Heulen, und diesmal fielen weitere Tiere aus verschiedenen Richtungen ein. »Sie haben uns gewittert und rotten sich zusammen«, stellte Sadagar fest. »Wir sollten uns eine Höhle zum Übernachten suchen, um uns besser gegen diese Meute wehren zu können.« Das Geheul brach nun nicht mehr ab. Mythor erklomm zusammen mit Nottr den Felsen, Sadagar blieb ohne große Begeisterung bei Fahrna zurück. Nottr erreichte noch vor Mythor die Anhöhe und deutete dahinter. »Da! Guter Schlafplatz!« sagte er. Als Mythor ihn erreichte, sah er vor sich eine schräg abfallende Wiese, aus der ein großer Felsen ragte, auf dem ein einzelner Nadelbaum wuchs. Den Fuß des Felsens umrankte ein fast mannshohes Dornengestrüpp. Mythor nickte zufrieden. Vom Felsen konnten sie das Gelände gut überblicken, die Hecke bot einen wirksamen Schutz
gegen nächtliche Angreifer, und das dichte, breite Geäst des Baumes schützte sie vor Unbilden des Wetters. »Ich hole die anderen«, sagte Mythor, ging zur Felswand, rief Sadagar und winkte ihn herauf. Der Wahrsager weckte Fahrna durch einen unsanften Tritt. Die Runenkundige begann sofort zu keifen, kaum daß sie wach war. Als Mythor zu Nottr zurückkehrte, war der Barbar gerade dabei, einen Jungbaum mit seinem Krummschwert zu fällen. »Was machst du da, Nottr?« fragte Mythor. »Wir wollen uns hier doch nicht häuslich niederlassen.« »Machen Pflöcke«, sagte Nottr und fällte einen zweiten, übermannshohen Baum. »Hunde sich daran aufspießen, wenn kommen.« Mythor fand das keine schlechte Idee. Sie hatten bereits zehn Bäume gefällt und schlugen nun die Äste vom Stamm, als Sadagar und Fahrna seitlich der Felswand auftauchten. Sie hatten einen leichteren Aufstieg gewählt, waren aber dennoch beide außer Atem. »Lohnt sich denn der Aufwand für eine einzige Nacht?« fragte Fahrna. »Es sieht ja aus, als wolltet ihr euch auf eine Belagerung durch ein Dämonenheer einrichten.« »Du Essen machen, Chekse«, sagte Nottr, ohne in seiner Tätigkeit aufzuhören. »Oder wir dich Hunde vorwerfen.« »Pah«, machte Fahrna, raffte ihre Kittel und kämpfte sich durch die Dornhecke zum Felsen mit dem Baum. An dessen Stamm ließ sie sich nieder und begann damit, ihre Schätze, Schriftrollen und Runenstücke um sich auszubreiten. Sadagar lud das Bündel mit den Vorräten ab, sammelte Zunder und entzündete ihn durch Schlagen von Feuersteinen. Danach baute er mit dem Reisig eine Feuerstelle. Das Heulen der Wildhunde kam immer näher. Nottr lauschte und hielt Mythor dann zweimal beide Hände mit gestreckten Fingern hin. »So viele!« sagte er dazu. »Es werden mehr.«
»Wir können uns auf eine unruhige Nacht gefaßt machen«, meinte Sadagar, während er den Rest des Pökelfleischs in Stücke schnitt, auf seine Dolche spießte und ins Feuer legte. Nottr entledigte die Jungbäume ihrer letzten Äste, und Mythor spitzte die Stämme mit dem Schwert zu. Nachdem sie die Spieße in dem Dornengestrüpp untergebracht hatten, so daß gerade die spitzen Enden herausragten, verkündete Sadagar, daß das Essen fertig sei. Fahrna verstaute ihre Schätze unter den Kitteln und gesellte sich zu ihnen ans Lagerfeuer. Nottr schob sich ein Stück angekohltes Fleisch in den Mund, kaute kurz und spuckte es dann angewidert aus. Er rief etwas in seiner bellenden Sprache, sprang auf und rannte davon. Mythor wollte ihm nacheilen, bevor er im nahen Wald verschwunden war, doch Sadagar sagte: »Nicht, laß ihn, Mythor. Der Barbar hat gewisse Gewohnheiten, die er nicht über Nacht ablegen kann.« Mythor blickte zu der Stelle, wo Nottr verschwunden war, und hörte Fahrna gehässig kommentieren: »Wilde wie er essen nur rohes Fleisch. Jetzt wird er nach Würmern, Kröten und Schlangen suchen und sie hinunterschlingen, solange sie noch zucken.« »Du tust Nottr unrecht, Fahrna«, sagte Sadagar. »Ein so übler Bursche ist er gar nicht. Ich glaube, ich könnte mich an ihn gewöhnen, wenn er etwas von unserer Lebensart annimmt.« »Er ist ein besseres Tier«, behauptete Fahrna. Mythor sagte nichts. Das Jaulen und Kläffen der Wildhunde kam nun von allen Seiten. Er schätzte ihre Zahl auf etwa fünfzig, und bestimmt waren sie nicht weiter als drei Steinwürfe entfernt. Mythor war in Sorge um Nottr. *
Die Dunkelheit kam, und sie zogen sich auf den Felsen zurück. Das Feuer ließen sie brennen. Mythor verließ einige Male die schützende Hecke, um Reisig nachzulegen. Das schaurige Jaulen und Heulen ging weiter und riß praktisch nicht mehr ab. Einmal vernahm Mythor ein Winseln und gleich darauf eine bellende Stimme wie die von Nottr, aber er war nicht sicher, ob er nicht einer Täuschung erlegen war. Auf die Frage, was denn Fahrna davon halte, zuckte die Runenkundige nur die Schultern. Sadagar hatte etwas Reisig zusammengetragen und sich darauf gelegt. Seine regelmäßigen Atemzüge verrieten, daß er eingeschlafen war. Fahrna saß wieder am Stamm des Baumes, legte ihre leuchtenden Runenzeichen aus und verglich Schriftrollen miteinander. Als Mythor sich zu ihr gesellte, sagte sie feindselig: »Was schnüffelst du um mich herum? Willst wohl meine Geheimnisse ergründen!« »Vielleicht möchte ich dich nur besser kennenlernen und herausfinden, warum du dich zu allen Menschen so ablehnend verhältst«, sagte Mythor freundlich. »Man hat so seine Erfahrungen«, murmelte Fahrna, ohne sich beim Studium ihrer Runenschriften stören zu lassen. Manche waren in Gorgan verfaßt, andere wieder wiesen Reihen von Zeichen auf, die Mythor völlig fremd waren. Fahrna fügte versöhnlich hinzu: »Du bist noch jung, Mythor, und wirst schon noch merken, daß man niemandem als sich selbst vertrauen darf.« »Ist Steinmann Sadagar nicht dein Vertrauter?« fragte er. Fahrna lachte. »Sadagar ist ein Lügner und Betrüger. Er würde mich an Kannibalen verkaufen, wenn er dafür ein Goldstück bekäme. Umgekehrt würde auch ich nicht zögern, ihn zu verraten, wenn ich einen Vorteil davon hätte. Wir sind uns in der Wesensart sehr ähnlich, darum haben wir uns zusammengetan.«
»Das glaube ich dir nicht«, sagte Mythor. »Ihr ergänzt euch vorzüglich. Ihr würdet keiner den anderen im Stich lassen.« »Vielleicht hast du recht«, sagte Fahrna leichthin. »Aber mehr als eine Haßliebe verbindet uns nicht. Wenn ich mein Ziel erreicht habe, kann mir Sadagar gestohlen bleiben.« »Suchst du wirklich nach der Runenbotschaft der Königstrolle?« »Was erlaubst du dir!« rief Fahrna voll Empörung und so laut, daß Sadagar aus dem Schlaf schreckte. Er beschimpfte sie und drehte sich auf die andere Seite herum. Fahrna sagte zu Mythor: »Ich durchschaue dich, du willst mich nur aushorchen. Aber nicht mit mir, Bürschchen!« Wortlos holte Mythor das Pergament unter dem Wams hervor und breitete es vor Fahrna aus. Das Verlangen, dieses Wesen in Wirklichkeit vor sich zu haben und es in die Arme zu schließen, wurde übermächtig. Im Schein der leuchtenden Runen erschien ihm dieses Mädchen schöner als je zuvor. Als der erste Zauber sich legte, merkte Mythor, daß auch Fahrna beeindruckt war. »Woher hast du dieses Bild?« fragte sie. »Von Nottr«, antwortete Mythor wahrheitsgetreu. »Dieser Barbar!« Fahrna sagte es wie ein Schimpfwort. »Wie kann er es nur wagen, dieses Heiligtum zu entweihen!« »Glaubst du, daß ich seiner würdiger bin?« fragte Mythor. Fahrna sah ihn an, blickte wieder auf das Bild und dann zurück zu ihm. In ihrem Blick zeichnete sich Erkennen ab. »Dieses Mädchen hat etwas von mir an sich, nicht wahr?« fragte Mythor. »In der Tat«, murmelte Fahrna und fuhr mit ihren knöchernen Fingern sanft über das Pergament. »Und weißt du auch, was das bedeutet, Mythor?« »Ich hoffe, daß du es mir sagen kannst«, antwortete er. »Du bist eine weise Frau, und darum wende ich mich an dich,
Fahrna. Ich merke deinem Gesicht an, daß dir dieses Bild viel mehr sagt als mir. Du mußt mir verraten, was du darüber weißt.« Fahrna riß sich von dem Anblick los und lachte gekünstelt. »Ich weiß überhaupt nichts darüber«, sagte sie, aber es klang nicht glaubhaft. »Ich war nur gebannt, weil es sich um eine so wirklichkeitsgetreue Darstellung handelt. Es muß von einem Meister stammen. Ich würde es dir auf der Stelle abkaufen, Mythor.« »Nie!« Mythor rollte das Pergament wieder zusammen und steckte es weg. »Warum willst mir eigentlich nicht sagen, was dieses Bild dir verrät, Fahrna?« »Es sagt mir nichts, und das ist die Wahrheit«, behauptete Fahrna zornig. »Du bist ein närrischer Träumer, Mythor. Nur weil du dich in ein Bild vergafft hast, glaubst du, es müsse ein weltbewegendes Geheimnis darin verborgen sein.« »Und wenn ich dir sage, daß ich für den Sohn des Kometen gehalten werde und mir eine Reihe von Prüfungen auferlegt wurden?« rief Mythor und verriet damit mehr, als er eigentlich wollte. »Dann erwidere ich, daß du einem Schwindler aufgesessen bist!« rief Fahrna mit schrill erhobener Stimme zurück. »Laß mich jetzt gefälligst mit deinen Albernheiten in Ruhe. Ich habe zu tun.« Enttäuscht wollte sich Mythor abwenden. Aber da sah er beim Lagerfeuer eine Gestalt auftauchen. Etwas flog durch die Luft und landete klatschend inmitten von Fahrnas ausgebreiteten Schriftstücken. Die Runenkundige schrie markerschütternd, als sie das pelzige, blutverschmierte Bündel vor sich liegen sah. Es war ein Tier, der Kadaver eines Wildhundes. »Habe Biest erlegt, es mich angefallen!« rief von unten Nottr. »Ihr es meinetwegen braten.«
Nottr sprang mit einem Riesensatz über die Hecke. Er hatte einen ausgehöhlten Hundeschädel wie einen Helm auf den Kopf gestülpt. Der Kopf war unversehrt und sah aus, als würde das Tier noch leben. Die scharfen Zähne waren gebleckt, die dunklen Augen schienen zu funkeln. Das Fell des Tieres, an dem noch die Pfoten baumelten, hing ihm wie ein Umhang über die Schultern. Mythor stellte mit einem Blick fest, daß das Tier nicht frisch gehäutet war. »Woher hast du dieses Beutestück, Nottr?« erkundigte sich Mythor. »Kampf«, sagte Nottr stolz. »Erst drei Hunde erlegt, andere flüchten. Verfolgt und Mann gestellt, der mit Hunden zusammen.« »Heißt das, daß ein Mensch die Wildhunde angeführt hat?« fragte Mythor ungläubig. »Ich dachte, Wildhunde ließen niemanden an sich heran, der nicht ihren Geruch hat.« »Mann hat Geruch«, sagte Nottr und deutete auf seine Kopfbedeckung. Sadagar hatte sich aufgesetzt und aufmerksam zugehört. Jetzt mischte er sich ein. »Mir hat mal einer erzählt, daß es in den Wäldern Dandamars Banden von Wegelagerern geben soll, die die Wildhunde beherrschen«, sagte er. »Angeblich ziehen sie sich das Fell von Weibchen über und locken so die Männchen an. Bis jetzt habe ich das nicht geglaubt, aber offenbar entspricht dieses Gerücht der Wahrheit.« »Ist so«, bestätigte Nottr. »Hunde schrecklich wild, aber diese Fell auf Kopf macht ganz zahm winseln. Fressen aus Hand.« Mythor klopfte ihm auf die Schulter und sagte: »Wisch dir den Mund ab. Er ist noch ganz blutig.« »Nottr wachen«, sagte der Barbar und verließ den Schutz der Hecke. Von draußen rief er zu Fahrna hinauf: »Soll ich Hund braten?«
»Danke, mir ist der Hunger vergangen.« Fahrna hatte ihre Schriftstücke und Runen zusammengeklaubt und suchte sich auf der anderen Seite des Felsens einen Platz, um ungestört arbeiten zu können. »Ich habe nicht geschlafen, sondern alles gehört, was du mit Fahrna gesprochen hast, Mythor«, sagte Sadagar. »Ich kenne sie gut genug, um zu wissen, daß sie dir nicht alles gesagt hat, was ihr über dein Pergament bekannt ist.« »Warum tut sie so falsch?« fragte Mythor. »Ich weiß es nicht.« Sadagar zuckte die Schultern. »Freiwillig wird sie ihr Wissen auch nicht preisgeben. Aber vielleicht hilft eine List. Wenn ich etwas erfahre, werde ich es dir sagen, Mythor.« »Danke, Sadagar.« Das Klagen der Wildhunde ging weiter. Es riß die ganze Nacht nicht ab. Aber keines der Tiere ließ sich auf der Lichtung blicken. Der erwartete Angriff fand nicht statt. Die Morgendämmerung kam, und sie brachen noch vor Sonnenaufgang auf. Das jämmerliche Klagen zeugte davon, daß die Rotte der Wildhunde noch immer in ihrer Nähe war. »Die warten doch nur darauf, daß wir unser Versteck verlassen«, sagte Steinmann Sadagar, und mit Nachdruck fügte er hinzu: »Das weiß ich vom Kleinen Nadomir.« »Wenn Sadagar eine Eingebung hat, dann sollten wir genau das Gegenteil tun«, meinte Fahrna. »Wir sollten auf den Rat des Kleinen Nadomir hören und hier bleiben, wo wir sicher sind«, beharrte Sadagar. »Das kostet uns nur Zeit«, widersprach Mythor. Er konnte es nicht erwarten, Xanadas Lichtburg zu erreichen. »Wir müssen weiter.« *
Mythor nahm Nottrs Vorschlag an, und so marschierten sie in lorvanischer Kampfformation. Mythor ging voran, Nottr bildete den Abschluß und sicherte den Rücken. Sadagar und Fahrna sollten für die Flankensicherung sorgen. Die Runenkundige bekam für diesen Zweck von Nottr einen langen Ast mit einer Gabel, deren Enden zugespitzt waren. Damit sollte sie sich die Hunde vom Leibe halten, aber Sadagar war aufgetragen, sich auch um ihre Flanke zu kümmern, wie überhaupt jeder bereit sein mußte, für den anderen einzuspringen. Vorerst war dies jedoch eine reine Vorsichtsmaßnahme. Die Angreifer ließen sich noch nicht blicken, waren aber stets zu hören. Wenn einmal das Geheule und Gewinsel abbrach, dann raschelte es rings um sie im Busch. Die Hunde waren immer auf gleicher Höhe mit ihnen. Der Wald wurde wieder dichter. Mythor mußte sich immer öfter mit dem Schwert den Weg durchs Unterholz bahnen. Das ermüdete, und er wechselte das Schwert immer öfter in die Linke. Die Sonne schien durch die Wipfel der Bäume und wob ein verwirrendes Netz von Licht und Schatten. Dazu kam noch Morgennebel. Manchmal glaubte Mythor vor sich kleine, flinke Schatten vorbeihuschen zu sehen, aber er vermochte nicht zu sagen, wie oft er einer Täuschung erlegen war. Nur zweimal war er ganz sicher, daß es sich um Wildhunde handelte. Sie waren wirklich von kleinem Wuchs, hatten aber unverhältnismäßig große Köpfe, und ihre gefletschten Gebisse wirkten raubtierhaft. Sie knurrten ihn an, zogen sich dann jedoch mit eingerolltem Schwanz zurück. Nottr trug noch immer sein Hundefell mit dem zu einem Helm verfremdeten Schädel. »Geruch von Weibchen wirkt«, behauptete er. »Rüden ganz verrückt. Nicht wissen, ob angreifen.« »Die Räuber, die die Rotten anführen, werden sie schon noch
auf uns hetzen«, sagte Sadagar unbehaglich. Er hielt in der Linken einen Fächer aus sechs Wurfmessern. »Sie warten nur auf eine günstigere Gelegenheit. Irgendwann wird unsere Aufmerksamkeit nachlassen, und dann…« »Hör auf zu jammern«, rügte ihn Fahrna, die einen überraschend frischen Eindruck machte und fast nicht nörgelte. Sie fluchte nur, wenn sie mit ihrer langen Astgabel irgendwo hängenblieb. Nachdem sie sich damit einige Male im Unterholz verfangen hatte, brach sie ein ellenlanges Stück davon über dem Knie ab, und dann kam sie besser damit zurecht. »Da!« Fahrna stieß mit der Astgabel in ein Gebüsch. Gleich darauf war ein Winseln zu hören. Sadagar handelte augenblicklich. Als er den aufgescheuchten Hund davonrennen sah, warf er ein Messer nach ihm. Er traf das Tier, das sich schreiend überschlug und dann reglos liegenblieb. »Hierbleiben!« rief Nottr dem Wahrsager nach, als dieser sich seitlich durch die Büsche schlug, um sich dem getroffenen Tier zu nähern. Aber Sadagar hörte nicht. Er erreichte das Tier und wollte sich sein Messer zurückholen. Da sprangen ihn von verschiedenen Seiten zwei Hunde an, die offenbar auf eine solche Gelegenheit gelauert hatten. Das eine Tier konnte Sadagar mit einem Messerstich abwehren. Das andere landete jedoch auf seinem Rücken und wollte gerade nach seinem Nacken schnappen, als Nottr ihn erreichte. Er packte mit der einen Hand den Hund am Fell, hob ihn hoch und tötete ihn mit einem Streich seines Krummschwerts. »Narr!« sagte Nottr zu Sadagar. »Ich mußte mir mein Messer zurückholen«, rechtfertigte sich der Wahrsager und fügte zufrieden hinzu: »Jetzt habe ich wieder alle zwölf.« Sie schlossen zu Fahrna und Mythor auf, die trotz des Zwischenfalls nicht stehengeblieben waren. Mythor sah durch den
Nebel links von sich einige gestreckte Körper, die einer hoch aufragenden Gestalt folgten, die förmlich durch die Luft flog. Für einen Augenblick konnte er ein bärtiges Gesicht erkennen, dann war der in Felle gehüllte Mann hinter Sträuchern verschwunden. Mythor beschleunigte den Schritt, damit ihnen die Meute nicht den Weg abschneiden konnte. Fahrna begann zu keuchen. Sie benutzte ihre Astgabel immer öfter als Stütze. »Ich kann nicht mehr!« rief die Runenkundige erschöpft und wurde langsamer. Nottr stieß sie in den Rücken und trieb sie auf diese Weise immer wieder an. »Weiter, Chekse!« rief er. »Sonst Hunde dich auffressen.« Das Gekläff zu beiden Seiten wurde wütender. Die Hunde steigerten sich gegenseitig zur Raserei und wurden von ihren menschlichen Treibern vermutlich noch aufgestachelt. Sie rückten langsam näher. Sadagar warf hintereinander zwei Messer. Einmal verfehlte er sein Ziel, aber beim zweitenmal verkündete ein gequälter Schrei, daß er getroffen hatte. »Schneller!« rief Nottr und stieß Fahrna vor sich her. Mythor verschärfte daraufhin die Gangart und verfiel in leichten Lauf. Nottr sprang auf ein Wildhundpaar zu, daß sich im Laufen von der Seite her knurrend näherte. Die beiden Tiere wichen eingeschüchtert vor ihm zurück. Nottr lachte ausgelassen. »Schweiß von Hündin macht Furcht!« rief er, nahm seine Kopfbedeckung ab und schwang sie wie einen Morgenstern. Die nachrückenden Hunde wichen davor zurück. Nottr lachte wieder. Als er sich jedoch umdrehte, sah er, daß ihm ein einzelner Hund auf den Fersen war. Es war ein besonders großes Tier. Nottr schwang das Fell in Richtung des Hundes, aber dieser wich nicht zurück, sondern schnappte danach. Der Lorvaner wurde von diesem Verhalten völlig überrascht, und bevor er sich darauf einstellen konnte, hatte der
Wildhund ihm das Fell entrissen und zerrte es mit wütendem Knurren davon. Sadagar, der das beobachtet hatte, sagte: »Das muß ebenfalls ein weibliches Tier gewesen sein, das beim Geruch einer Rivalin außer sich geriet. Die Treiber haben die Hündin mit Absicht auf dich gehetzt, Nottr. Jetzt bist du deinen Schutz los.« »Schwert genügt!« sagte Nottr. Der Wald lichtete sich etwas, und sie kamen besser voran. »Ergebt euch!« erklang es da von links. Eine riesenhafte Gestalt, ganz in Hundefelle gehüllt, war dort aufgestanden. Sie hielt einen Wildhund an den Vorderläufen und an der Schnauze fest. Gut zwei Dutzend weitere Hunde umsprangen winselnd und jaulend den Treiber mit seinem Tier. Mythor hob die Hand und blieb stehen. Fahrna stieß taumelnd gegen ihn, und Nottr mußte die Runenkundige stützen, damit sie nicht zusammenbrach. Der Lorvaner murmelte ihr in seiner Sprache irgend etwas zu, und sie nickte schwach. »Was wollt ihr von uns?« rief Mythor zu dem Wegelagerer hinüber. »Nur eure Habe!« antwortete dieser, und ringsum aus den Büschen erklang verhaltenes Gelächter. Mythor schätzte am Klang der Stimmen, daß dort noch mindestens fünf weitere Männer versteckt waren. Das war keine unüberwindliche Übermacht. Doch die Wegelagerer hatten rund vierzig Wildhunde zu Verbündeten, und diese waren viel gefährlicher als sie selbst. »Legt alles ab, was ihr am Leib tragt, dann schenken wir euch das Leben!« rief der Hundehalter, der offenbar der Wortführer der Wegelagerer war. »Darauf dürfen wir uns nie einlassen«, raunte Sadagar. »Die werden uns so oder so von den Hunden zerfleischen lassen.« »Ich weiß«, versetzte Mythor ebenso leise. »Ich möchte die
Wegelagerer nur hinhalten.« »Was ist?« rief der Hundeführer ungeduldig. »Ich kann Taizza nicht mehr lange bändigen. Sie ist eine überaus blutrünstige Hundedame. Ich zähle bis drei. Wenn ihr euch dann nicht ergebt, dann hetze ich Taizza auf euch. Eins!« »Bei drei schlagen wir los«, flüsterte Mythor. »Du, Sadagar, versuchst, so viele Messer wie möglich ins Ziel zu bringen, während wir gleichzeitig…« »Zwei!« »… der Meute entgegenstürmen«, fuhr Mythor hastig fort. »Du müßtest zumindest den Anführer und diese tollwütige Hündin erledigen. Das schafft Verwirrung und gibt uns die Möglichkeit, die Rotte zu übernehmen.« Als Fahrna Mythors besorgten Blick auf sich gerichtet sah, winkte sie ab und murmelte: »Nehmt auf mich keine Rücksicht. Ich schaffe es schon.« »Drei!« Das war das Kommando für sie. Sadagar schleuderte seine Messer in solch schneller Folge, daß das Auge seinen Bewegungen nicht folgen konnte. Der Anführer der Hundetreiber warf mit einem Aufschrei die Arme in die Luft. Dadurch kam die Hündin frei. Aber mitten im ersten Sprung krümmte sie sich und fiel zuckend zu Boden. Sadagars weitere Dolche lichteten die Reihen der Hundemeute um einige Tiere mehr. Mythor und Nottr rannten geradewegs in das sich wie verrückt gebärdende Rudel hinein und beförderten die Hunde mit Schwerthieben und Tritten beiseite. Die Tiere leisteten fast keine Gegenwehr, denn der Tod ihrer Leithündin hatte sie völlig durcheinandergebracht. Sie umschlichen ihren leblosen Körper winselnd, stießen und beleckten ihn, als könnten sie ihn auf diese Weise beleben. Die verzweifelten Befehle ihrer im Unterholz verborgenen Treiber konnten daran nichts ändern.
Mythor war selbst wohl am meisten überrascht, daß sie mit seinem Plan einen so durchschlagenden Erfolg hatten. Er hatte ihn aus der Erkenntnis gefaßt, daß sie nur dann eine geringe Aussicht auf Überleben hatten, wenn sie die Anführer ausschalteten und die Überraschung nutzen konnten. Aber er hätte nicht gedacht, daß die Hunde daraufhin wie gelähmt wären und daß die restlichen Wegelagerer flüchten würden. Und genau das traf ein. Innerhalb weniger Augenblicke hatten sie die Hundemeute aufgerieben. Die völlig verstörten Hunde rannten in alle Richtungen davon, gefolgt von ihren menschlichen Gefährten. »Wie sie rennen!« rief Nottr ausgelassen. »Freuen wir uns nicht zu früh«, dämpfte Mythor seine Freude. »Wir müssen einen Vorsprung herausholen, bevor die Wegelagerer die Hunde wieder um sich sammeln und auf uns hetzen.« »Fahrna kann nicht mehr«, gab Sadagar zu bedenken. Ohne ein Wort zu verlieren, lud sich Nottr die Runenkundige wieder auf den Rücken und trug sie. Eine Weile kamen sie auf diese Weise recht flott voran. Aber als Mythor merkte, daß Nottr immer langsamer wurde, nahm er ihm seine Last ab. Als auch Mythor das zusätzliche Gewicht zu spüren begann und erste Anzeichen von Ermüdung zeigte, war Fahrna bereit, den Weg aus eigener Kraft fortzusetzen. Nachdem sie einige Stunden unterwegs waren, ohne daß sie etwas von ihren Verfolgern gehört hatten, sagte Sadagar hoffnungsvoll: »Ich glaube, jetzt haben wir unsere Ruhe.« Aber er hatte kaum ausgesprochen, als sie plötzlich das Heulen eines Wildhundes vernahmen. Es kam von ziemlich nahe. Und gleich darauf fiel aus einer anderen Richtung ein zweiter Wildhund in das Geheul ein. Und dann ein dritter und ein vierter, und nun kamen die unheimlichen Laute von überall hinter ihnen.
»Nein, nein!« rief Fahrna mit schriller Stimme. »Ich will das nicht noch einmal durchmachen. Lieber sterbe ich.« »Cheksen haben viele Leben«, sagte Nottr und klopfte ihr den Rücken. Fahrna verfiel daraufhin in einen Trott. Der Boden wurde morastig. Sie sanken immer tiefer ein, und schmatzende Geräusche begleiteten ihre Schritte. Der tiefe Boden war sehr kräfteraubend und hinderte sie am raschen Fortkommen. Das Lärmen der Wildhunde kam bereits von bedrohlich nahe. Ihr Kläffen wurde wütender, was darauf schließen ließ, daß sie ihre Witterung aufgenommen hatten. »Nehmen wir wieder Kampfaufstellung ein«, befahl Mythor. Als er Fahrna hinter sich aufschreien hörte, dachte er, daß dies wieder ein Ausdruck ihrer Verzweiflung sei. Aber als er sich umdrehte, sah er, daß sie bis über die in einem morastigen Loch eingebrochen und der Länge nach hingefallen war. Nottr und Sadagar zerrten sie mit vereinten Kräften heraus. Mythor tat einen Schritt nach vorne und spürte auf einmal, wie auch unter ihm der Boden nachgab. »Wir sind in einen Sumpf geraten!« rief Sadagar. »Jetzt ist es endgültig aus.« »Weiter!« befahl Mythor und stapfte unverdrossen durch den knietiefen Schlamm. »Da vorne ist eine Insel. Die müssen wir erreichen, um uns besser verteidigen zu können.« Doch die Insel aus trockenem, festem Boden war noch etliche Schritte von ihnen entfernt, als der erste Wildhund hinter ihnen auftauchte. Nottr streckte ihn mit einem Pfeil nieder. Ein zweites Tier kam heulend und mit eingezogenem Schwanz ins Blickfeld, und Sadagar erledigte es mit einem Wurfmesser. Nun brach ein Rudel von zwölf Hunden hervor. Sadagar verbrauchte seine letzten Messer, und Nottr verschoß seine restlichen Pfeile. Aber obwohl sie kein einziges Mal ihr Ziel verfehlt hatten, blieben vier Tiere übrig. Und es stießen weite-
re zu ihnen. »Seht nur!« rief Sadagar da verblüfft aus. »Sie bleiben stehen, als scheuten sie vor dem Sumpf. Und jetzt ziehen sie sich sogar zurück.« Mythor drehte sich um und sah die letzten Hunde im Wald verschwinden. »Das ist Finte!« behauptete Nottr. »Wir bleiben wachsam!« »Ich vermute, der Rückzug der Hunde hat einen anderen Grund«, sagte Mythor, als sie den festen Boden der Insel erreicht hatten. »Und welchen?« fragte Sadagar. »Dies muß bereits das Hoheitsgebiet des Xandors sein, der nahe von Xanadas Lichtburg haust«, sagte Mythor. Fahrna, die sich erschöpft ausgestreckt hatte, fuhr mit einem Ruck hoch; Sadagar wurde blaß. »Diese Erklärung höre ich gar nicht gerne«, sagte er mit belegter Stimme. * Krüdelzuhr gab einen grollenden Laut von sich, als das lästige Summen der Irrwische ihn weckte. Er hatte sich in die Folterkammer zurückgezogen, um in diesen Stunden allein zu sein. Die Knochenrüstung lastete auf seinem Körper. Er fühlte sich beengt. Das Atmen fiel ihm immer schwerer, er konnte sich kaum noch bewegen. Er trug schwer an dieser Rüstung, die seinen Körper die meiste Zeit des Jahres über schützte, ihm aber nun zu einer unerträglichen Last geworden war. Bald schon würde er aus der immer dicker und enger werdenden Knochenlarve schlüpfen können. Aber bis es soweit war, brauchte er seine Ruhe. Er mußte sich entspannen und all seine Kräfte für den Augenblick aufheben, wenn es soweit war, daß er aus seiner Rüstung ausbrechen konnte. Und da störte auf einmal ein Schwarm der Irrwische die Stil-
le der Folterkammer. »Quälgeister!« stieß Krüdelzuhr keuchend durch sein Knochenvisier. Die Wolke aus irrlichternden Pünktchen, die wie Staub durch die Luft flirrten, stob unter seinen Worten auseinander. Aber sofort sammelten sich die Irrwische wieder zu einem geschlossenen Gebilde. Sie tanzten noch schneller durch die Luft, ihr Summen wurde eindringlicher. »Was habt ihr mir zu sagen?« fragte Krüdelzuhr, der sich langsam mit dieser unliebsamen Störung abfand. Er lauschte dem an- und abschwellenden Summen, als könne er einen Sinn heraushören. Und so war es in der Tat. »Eindringlinge?« rief Krüdelzuhr aus, als er die Botschaft der Irrwische vernommen hatte. »Vier Menschen, die sich in mein Reich wagen?« Es war schon lange nicht mehr geschehen, daß sich jemand in sein Sumpfland verirrt hatte. Obwohl kaum einer, der in Krüdelzuhrs Gewalt geriet, mit dem Leben davongekommen war, hatte sich die Kunde von seiner Schreckensherrschaft rasch im Land verbreitet. Die Menschen wichen dem Sumpf aus, und so fand Krüdelzuhr immer weniger Opfer. »Sie sollen mich kennenlernen!« rief er mit erhobener Stimme. Aber so willkommen ihm Eindringlinge im allgemeinen waren, so wenig erfreut war er über den Zeitpunkt, den sie gewählt hatten. Er liebte es, sich selbst mit seinen Opfern zu messen, mit ihnen zu spielen und sie auf ausgeklügelten Pfaden ins Verderben zu führen. Doch in seiner augenblicklichen Verfassung würde er außerstande sein, in den vollen Genuß seiner Opfer zu kommen. »Wer sind diese Menschen?« fragte Krüdelzuhr die irrlichternde Wolke aus unzähligen staubkorngroßen Irrwischen. »Wie sehen sie aus?«
Die Irrwische wirbelten durcheinander und begannen ein rasendes Formen- und Farbenspiel. Die Wolke nahm die Konturen einer menschlichen Gestalt an, die durchscheinend blieb und an der nur der Kopf in Einzelheiten herausgearbeitet war. Es bildete sich das Gesicht eines Mannes, das wild und brutal wirkte; quer über den Mund verlief eine Narbe, das Haupthaar war zu einem langen Zopf geflochten. »Ein Barbar aus den Wildländern«, stellte Krüdelzuhr fest. Als nächstes bildeten die Irrwische das Gesicht eines Mannes mit edlerem Profil. Das Kinn war kraftvoll und energisch, die Nase scharfrückig und gerade, die Augen hell und von einem gelblichen Leuchten erfüllt. Dunkles, halblanges Haar, das fast bis auf die Schultern fiel, rahmte dieses Gesicht ein. Krüdelzuhr traute diesem Gesellen zu, daß er dem Barbaren an Kampfkraft nicht viel nachstand. Danach stellten die Irrwische ein uraltes, häßliches Weib mit einer Nase wie ein Geierschnabel dar und einen nicht viel jüngeren Mann mit einem spitzen Mausgesicht, in dem das Augenpaar listig funkelte. »Schwärmt aus und bringt mehr über diese seltsamen Leute in Erfahrung!« befahl Krüdelzuhr. Ein Teil der Wolke entfleuchte, als sei ein Windstoß in sie gefahren. Die anderen Irrlichter bildeten über dem Xandor eine Schwade, die mit ihrem Licht die Folterkammer erhellte. Sie beleuchteten eine Sammlung von vielfältigen Marterwerkzeugen, die noch nie von einem Folterknecht gehandhabt worden waren. Einige dieser schrecklichen Instrumente verwendete Krüdelzuhr gelegentlich, jedoch immer zweckentfremdet. Seit vielen Jahren schon lagen, standen und hingen diese Folterwerkzeuge nutzlos herum. Jener, der diese Folterkammer eingerichtet hatte, war nicht mehr dazu gekommen, sie zu benützen. Denn das Schicksal hatte ihn schon frühzeitig ereilt. Er
war Krüdelzuhrs erstes Opfer gewesen. Krüdelzuhr lachte so schrill, daß seine Knochenrüstung erbebte. »Weckt Magnor de Freyn!« verlangte er von den Irrwischen. »Ich möchte ihn sprechen. Vielleicht kann er etwas für mich tun.« Ein Schwarm aus der leuchtenden Wolke verschwand mit schrillem Pfeifen. Krüdelzuhr rollte sich vom Streckbett und fiel krachend auf den steinigen Boden. Er drehte seinen gepanzerten Körper dabei so geschickt herum, daß er mit den Beinen aufkam. Einige Atemzüge stand er nur da, dann schritt er mit steifen Beinen auf eine Wand zu, aus der Reihen spitzer Eisendorne ragten. Wenn die Gelenke seiner Knochenrüstung schon verhärtet waren, daß er sie kaum bewegen konnte, dann trieb er die Eisenspitzen dazwischen und sprengte die Verknorpelungen einfach. Er hatte darin schon einige Übung, denn es kam immer wieder vor, daß seine Ruhepause gestört wurde. Vor der dornenbespickten Wand angekommen, nahm er einen Anlauf und warf sich mit voller Wucht dagegen. Seine Knochenrüstung krachte, als sie gegen das zugespitzte Eisen prallte. Krüdelzuhr zuckte mit den Armen und Beinen, um das Eisen tiefer in die Zwischenräume zwischen den Knochen zu treiben. Dies betrieb er einige Zeit. Als er endlich davon abließ, zeigte sich, daß seine Knochenrüstung gelenkiger geworden war und er sich freier bewegen konnte. Zufrieden mit dem Erreichten, verließ er die Folterkammer und begab sich in den Waffenraum. Dort wählte er ein Schwert und eine kurze, speerähnliche Stichwaffe aus und stieg die steinerne Wendeltreppe nach oben. Es kostete Krüdelzuhr große Anstrengung, die Treppe zu überwinden, und als er ihr Ende erreichte, mußte er ruhen, um sich wieder zu sammeln. Er hätte sich auch von seinen tierischen Sklaven tragen lassen können, aber daran dachte er jetzt
nicht, denn er wollte sich für den bevorstehenden Kampf stärken. Er beabsichtigte, die vier Eindringlinge seinen Ärger über die Ruhestörung in vollem Ausmaß spüren zu lassen. Sie würden langsam und qualvoll zugrunde gehen und schließlich dankbar dafür sein, wenn sie ihr Leben im Schlamm seines Sumpfes aushauchen durften. »Magnor de Freyn!« rief Krüdelzuhr durch sein Visier. Seine Stimme hallte schaurig durch die von Sumpfpflanzen überwucherten Ruinen, die von dem einstmals stolzen Schloß übriggeblieben waren. Der Sumpf – Krüdelzuhrs Sumpf – herrschte nun mit seinen vielfältigen Lebensformen über diese Gemäuer. Ob Pflanzen oder Tiere, sie standen alle in seinem Bann. Er beherrschte sie, er lenkte sie, sein Wort war ihnen Befehl. Krüdelzuhr schritt auf die grüne Fläche zwischen den Mauern des einstigen Festsaals hinaus. Das Grün bot sich dem unbefangenen Auge wie eine bemooste Wiese dar, und es war fest genug, um Krüdelzuhr in voller Knochenrüstung zu tragen. Doch der Boden war trügerisch. Er bestand aus einer dicken Schicht von Schlick, der sich teilte, wenn Krüdelzuhr es wollte. Der Schlick teilte sich auch jetzt vor dem Xandor. Es kam eine graue, schleimige Brühe zum Vorschein. Darunter begann es schwach zu leuchten. Blasen bildeten sich und zersprangen. Etwas erhob sich aus dem Schlamm. Ein Schädel wie aus Lehm geformt tauchte auf, dem sogleich der dazugehörige Körper folgte. Magnor de Freyn, einstmals Krüdelzuhrs Herr und Gebieter, tauchte aus seinem schlammigen Grab auf. Magnor de Freyn war schon seit langen Jahren tot. Aber die Kraft des Schlammes hatte seinen Körper erhalten. Würmer bewohnten ihn und hielten seine vertrocknete Hülle zusammen. Und Tausende und aber Tausende Irrwische fuhren auf Krüdelzuhrs Geheiß
in ihn und verhalfen ihm zu magischem Leben. Der Schlamm rann von Magnor de Freyns Körper ab, trocknete und hinterließ seine Spuren auf dem toten und doch von unheimlichem Leben erfüllten Körper. »Du rufst mich, Krüdelzuhr«, kam es krächzend aus der Kehle des Sumpftoten, der einst die Dämonen versucht hatte. Obwohl es die Irrwische waren, die seine Sprechwerkzeuge zum Tönen brachten, wurde der Sinn der Worte von Magnor de Freyns Geist geprägt. Ein Teil von ihm beseelte immer noch den Körper, und darum war er als Gesprächspartner für Krüdelzuhr so wertvoll. Gelegentlich überließ er seinem Sumpftoten auch ein Opfer. Aber in erster Linie erhielt er Magnor de Freyn am Scheinleben, um ihn quälen zu können. Das war Krüdelzuhrs Strafe dafür, daß der andere ihn einst als Mittel zum Zweck benutzt hatte. »Wie gefällt dir dein Dasein?« fragte Krüdelzuhr. »Ich möchte sterben«, antwortete Magnor de Freyn mit klagender Stimme. »Das kannst du erst, wenn du deine Schuld abgebüßt hast«, sagte Krüdelzuhr und kicherte; de Freyns Qual erheiterte ihn. »Vielleicht bekommst du schon bald Gelegenheit dazu. Vier Menschen haben es gewagt, in mein Reich einzudringen. Möchtest du, daß ich dir einen von ihnen überlasse?« »Ja.« Es klang wie ein langgezogenes Stöhnen. »Mal sehen…« »Sterben…« Es war ein Flehen und Bitten. »Noch mußt du leiden. Du weißt, warum. Weißt du es noch? Dann sage es mir.« Der Mund des Sumpftoten weitete sich wie zu einem Schrei: »Ich habe gefehlt… wollte dein Meister sein… habe Dämonen beschworen und dich als Schild gegen ihren Einfluß benützt… Das wäre dein Tod gewesen… Du aber wurdest durch die
Kraft der Dämonen vom Diener zu meinem Meister… Töte mich, Krüdelzuhr!« »Das geht nicht«, sagte Krüdelzuhr wütend. »Kehre in den Sumpf zurück! Ich rufe dich, wenn es an der Zeit ist.« Krüdelzuhr gestand es sich nicht gerne ein. Aber das Schicksal hatte magische Bande zwischen ihm und Magnor de Freyn geknüpft. Etwas von dem Toten war in ihm, und Magnor de Freyn trug etwas von ihm in sich. Krüdelzuhr konnte aus dem Sumpftoten Kraft schöpfen, aber wenn Magnor de Freyn etwas Unangenehmes widerfuhr, dann übertrug sich das auch auf ihn. Sie standen in starker Wechselbeziehung zueinander, und ob es Krüdelzuhr gefiel oder nicht, er mußte sich damit abfinden. Der Sumpftote tauchte zurück in den Schlamm, die Lücke schloß sich über ihm, und der Schlick bildete wieder eine tragfähige Fläche. Aus dem Sumpf näherte sich eine leuchtende Erscheinung. Es war der Schwarm Irrwische, den Krüdelzuhr zur Erkundung ausgeschickt hatte. Nun kehrten die dienstbaren Geister zurück, um ihrem Herrn und Meister zu berichten, was sie über die vier Eindringlinge erfahren hatten. Danach wollte Krüdelzuhr seine Maßnahmen richten. Das Spiel mit den Opfern konnte beginnen. * »Lästige Mücken«, schimpfte Nottr und versuchte, die ihn umgebende Wolke aus unzähligen winzigen Leuchttieren mit dem Schwert zu vertreiben. »Wären nur alle Sumpfbewohner so harmlos wie diese Irrlichter«, sagte Sadagar, der nichts tat, um den ihn umtanzenden Irrlichterschwarm abzuwehren. »Was bist du unwissend, Steinmann Sadagar«, sagte Fahrna
gehässig, die auf dem schmalen Pfad durch den Sumpf hinter dem Wahrsager ging. »Hörst du das bösartige Summen der Irrlichter? Das ist ihre Sprache. Ein geschultes Gehör kann diese Sprache verstehen.« »Glaubst du, es könnten Kundschafter des Xandors sein?« erkundigte sich Mythor, der an der Spitze ihrer kleinen Gruppe ging. Vor jedem Schritt, den er tat, prüfte er die Festigkeit des trügerischen Bodens. Links und rechts von ihnen brodelte der Sumpf. Gelegentlich tauchte der gepanzerte Schädel einer Echse auf. Schlangenkörper durchteilten die von Sumpfpflanzen überzogene graue Brühe. »Der Xandor sieht und hört alles in seinem Reich«, behauptete Fahrna. »Jedes Tier gehorcht ihm, er beherrscht jede Pflanze. Natürlich sind auch die Sumpfgeister seine Diener.« Mythor versuchte durch fächelnde Bewegungen seiner freien Hand, den Schwarm zu verscheuchen, der so dicht war, daß er ihm die Sicht nahm. Einige dieser leuchtenden Pünktchen waren ihm unter das Wams gedrungen und verursachten ein Kribbeln auf der Haut. »Ich hätte nicht alle meine Messer verschießen sollen«, klagte Sadagar. »Ohne sie komme ich mir nackt und hilflos vor.« »Du hast immerhin noch den Kleinen Nadomir«, sagte Fahrna giftig. »Hört auf zu streiten!« befahl Mythor. Er vernahm unter seinem Wams ein Knistern, als die Irrlichter über sein Pergament schwirrten. Er hatte plötzlich die abergläubische Befürchtung, daß diese winzigen Sumpfgeister das Bildnis der unbekannten Schönen bleichen könnten. Er holte das Pergament hervor, entrollte es kurz und verstaute es wieder, als er sich davon überzeugt hatte, daß das Bild unversehrt geblieben war. Mythor achtete nur einen Atemzug lang nicht auf den Weg. Das hätte ihn fast das Leben gekostet. Er verfing sich mit einem Bein in einer Schlingpflanze. Bevor er sich daraus befrei-
en konnte, zog ihm die Schlingpflanze mit einem kraftvollen Ruck das Bein unter dem Körper weg und brachte ihn zu Fall. Mythor krümmte seinen Körper und schlug den armdicken Strang mit einem Schwerthieb ab. Aber da legten sich auf einmal weitere Schlingpflanzen wie die Fangarme eines Polypen um seinen Körper und zogen ihn in den Sumpf. Nottr stürzte Mythor mit einem wütenden Bellen nach. Sein Krummschwert peitschte den Sumpf auf, und er schlug einen Pflanzenstrang nach dem anderen ab. Zuckende Stümpfe, denen ein giftgrüner Saft entquoll, wühlten den breiigen Schlamm noch mehr auf. Mythor wurde unbarmherzig weitergezogen, geradewegs auf ein übermannshohes Gebilde aus kürbisförmig geschlossenen Blättern zu. Jetzt teilten sich die Blätter und gaben eine buntschillernde Blüte frei. Es war die schönste und größte Blume, die Mythor je gesehen hatte. Aber auch die gefährlichste. Als sich die Blütenblätter entfalteten, sah Mythor in eine Öffnung, die ihn an das Maul eines Ungeheuers erinnerte. Unterarmlange Dornen gingen wie ein Gebiß auf und zu und erzeugten ein schauriges Klappern. Dahinter leuchtete ein roter Blütenkelch wie ein gefräßiger Schlund. Mythor war davon nur noch zwei Armspannen entfernt. »Eine fleischfressende Sumpfmörderin!« hörte er Fahrna schreien. Nottr gebärdete sich wie ein Rasender. Er hieb mit seinem Schwert auf die Fangarme der Fleischfresserpflanze ein. Mit dem freien Arm umschlang er Mythors Oberkörper und stemmte sich mit ihm gegen den unerbittlichen Zug. Mythor war zu keiner Gegenwehr fähig, denn ein Schlingarm hielt seine Schwerthand fest. Da durchschlug Nottr den Strang, der Mythors Waffenarm umschlang. Ein schnalzendes Geräusch, und Mythor war frei. Die fleischfressende Pflanze schloß sich mit einem letzten
Klappern ihrer Fangdornen. Erschöpft kämpften sich Mythor und Nottr durch den aufgewühlten Sumpf zurück zu dem Pfad, auf dem Fahrna und Sadagar warteten. Sie halfen ihnen hinauf. Als der Schlamm abrann, sah Mythor, daß sich an seinen Beinen an die zwanzig fingerlange Würmer festgesaugt hatten. »Blutegel!« stellte Sadagar fest. »Manche Heilkundige verwenden diese Biester für den Aderlaß. Aber ich finde diese Tiere eklig.« Das fand auch Nottr. Fluchend klatschte er seine Beine ab und zerquetschte so die Blutsauger, die ihn befallen hatten. Sie fielen ab und hinterließen blutige Male. Nachdem sich auch Mythor von den Egeln befreit hatte, setzten sie ihren Weg fort. »Lieber gegen Hunde kämpfen«, sagte Nottr und zertrampelte die über den Boden zuckenden Blutsauger mit den Füßen. »Jetzt gibt es kein Zurück mehr«, sagte Mythor. »Stimmt«, pflichtete Sadagar düster bei. »Der wahnsinnige Xandor hat uns in seiner Gewalt und entläßt uns nicht mehr daraus.« »Wenigstens sind die Irrlichter verschwunden«, stellte Mythor fest. Er sank mit einem Fuß im Schlamm ein und hielt sich nach links, wo der Boden fester war. »Das bedeutet nur, daß die Spione des Xandors alles ausgekundschaftet haben«, erklärte Fahrna. »Was ist ein Xandor?« fragte Nottr und hieb einer dicken Schlange den Kopf ab, als sie ihn aus dem Sumpf reckte. »Ein Zwischending zwischen Mensch und Dämon«, sagte Fahrna. »Der Xandor, der diesen Sumpf beherrscht, heißt Krüdelzuhr. Einst war er ein unbedeutender Magier, der im Dienst des ugalischen Grafen Magnor de Freyn stand. Magnor de Freyn war ein Alptraumritter, der Krüdelzuhr befahl, für ihn die Dämonen zu beschwören. Aber Krüdelzuhr war dieser
Aufgabe nicht gewachsen, man könnte aber auch sagen, daß er einen zu starken Willen hatte, so daß der angerufene Dämon nicht von ihm Besitz ergreifen konnte. Jedenfalls brachte die Beschwörung Krüdelzuhr um den Verstand, und das machte ihn zu einem Xandor. Ein Xandor besitzt übernatürliche Fähigkeiten, gehört aber nicht den Mächten der Finsternis an. Er steht dazwischen, ist unberechenbar und deshalb gefährlicher als so mancher Dämon.« »Unsinn!« sagte Nottr überzeugt. »Du nur unverstandenes Zeug reden, Chekse. Schwert stärker als Xandor!« »Wenn du nur recht hast, Nottr«, sagte Fahrna. Mythor blieb unwillkürlich stehen, als der feste Pfad auf einmal endete. Wohin er auch trat, überall gab der Boden unter seinem Gewicht nach. Er stocherte mit dem Schwert im Schlamm, bis er eine Stelle fand, die nicht so tief war. Vorsichtig watete er in den Sumpf, ihn vor jedem Schritt mit dem Schwert auslotend. »Ich gehe nicht weiter!« zeterte Sadagar. »Ich lasse mich doch nicht von den Blutegeln aussaugen.« »Du kein Blut«, meinte Nottr lachend. »Du nur Haut und Knochen. Und lange Hosen an. Geh schon, Steinmann.« Der Wahrsager murrte, aber er fügte sich. Fahrna folgte Mythor bedenkenlos. »Chekse tapferer als du!« sagte Nottr zu Steinmann Sadagar. »Wann wirst du endlich lernen, daß es Hexe heißt?« versetzte Sadagar und zuckte mit dem Arm zurück, als er ihn ungewollt bis zum Ellbogen eintauchte. Sofort hatten sich an seinem Handgelenk drei Blutegel festgesaugt. Er entfernte sie fluchend. »Hexe tapfer!« sagte Nottr. »In Wirklichkeit hat sie die Hosen voll«, behauptete Sadagar. »Ihre einzige Hoffnung ist, daß sich hier irgendwo ein Königstroll herumtreibt, den sie für sich gewinnen könnte.«
»Auf einen solchen wäre mehr Verlaß als auf deinen Kleinen Nadomir«, meinte Fahrna. Der Sumpf reichte ihr bis über die Hüften. »Achtung!« rief Mythor. Er hatte unter den Beinen den Boden verloren und sank bis zum Hals ein. Bevor das schlammige Wasser jedoch über seinem Kopf zusammenschlagen konnte, fand er wieder Halt unter den Füßen. Die anderen wichen dem Sumpfloch aus. Der Sumpf wurde wieder seichter, und sie versanken darin nur noch bis zu den Knien. Mythor strich im Gehen mit der Schwertklinge über seine Schenkel, um die vielen Blutegel abzustreifen, die sich dort festgesaugt hatten. Sadagar und Fahrna hatten diese Sorge nicht. Der Wahrsager offenbar deswegen, weil er lange Beinkleider trug, und die Runenkundige, weil die Blutegel sie aus unerklärlichen Gründen nicht befallen hatten. »Was ich sage, Blut der Hexe giftig«, legte Nottr diese Tatsache auf seine Weise aus. »Dafür hast du eine giftige Zunge, Barbar«, versetzte Fahrna. »Wenn Nottr erst richtig sprechen gelernt hat, übertrifft er noch dich«, sagte Sadagar. »Wer weiß, vielleicht zaubere ich ihm vorher noch Warzen auf seine Zunge, damit er sie nicht gebrauchen kann«, meinte Fahrna. »Ich werden dir deine herausschneiden«, meinte Nottr nur dazu. Mythor hörte dem Streitgespräch nur beiläufig zu. Er traute der Ruhe nicht, er rechnete damit, daß der Xandor jeden Augenblick die Schrecken des Sumpfes auf sie loslassen würde. Zwischen den dichten Baumkronen, die bis tief über den Sumpf reichten, sah er es verschiedentlich aufblitzen. Es mutete wie Wetterleuchten an, aber er vermutete, daß es von den Irrlichtern herrührte. Irgend etwas braute sich hinter dem
dichten Pflanzenwerk zusammen. »Wir können Magnor de Freyns Schloß nicht mehr fern sein«, sagte da Fahrna. »Wenn der Xandor jetzt nicht bald zuschlägt, dann gibt es ihn nicht mehr. Es wäre schön, wenn er sich in seinem Wahn selbst aufgefressen hätte.« »Zu schön, um wahr zu sein«, knurrte Sadagar. Sein Arm schnellte vor. »Da! Seht!« Mythor wandte den Kopf nach links. Dort teilte sich das Blattwerk, und eine furchterregende Erscheinung trat hindurch. Sie mutete wie ein Krieger in voller Rüstung an. Nur daß diese Rüstung nicht aus Leder und Metall bestand, sondern aus gewachsenen Knochen. »Krüdelzuhr!« schrie Fahrna. »Es ist Geist!« sagte Nottr voll Überzeugung. »Nur Geist kann gehen über Wasser.« Tatsächlich schritt die Gestalt in der knöchernen Rüstung über den Sumpf, ohne auch nur einen Fingerbreit einzusinken. Sie schwang in einer Hand ein Schwert und in der anderen eine kurze Stechlanze. In dieser drohenden Haltung kam sie auf sie zu. * Der Angriff erfolgte in dem Moment, als Mythor und seine Gefährten ein Loch erreicht hatten. Der Sumpf reichte ihm selbst bis an die Brust, von dem kleineren Sadagar war überhaupt nur der Kopf zu sehen. »Geist nicht fürchten!« schrie Nottr und stellte sich dem ungelenk herankommenden Gegner mit über dem Kopf schwingenden Krummschwert. Doch beim nächsten Schritt geriet er in ein Loch und versank darin. Einen Augenblick lang ragte nur der Unterarm mit dem Schwert aus dem Sumpf. Der Knöcherne erreichte Nottr mit einem staksenden Schritt.
Mit einer eckigen Bewegung ließ er sein Schwert niedersausen und kreuzte mit Nottr die Klinge. Als der Lorvaner wieder auftauchte, sah er die Stechlanze auf sich zukommen. Mit einer blitzschnellen Kopfdrehung konnte er dem tödlichen Stich gerade noch ausweichen. Der Knöcherne geriet durch seinen eigenen Schwung in Vorlage, verlor jedoch unerklärlicherweise nicht den Halt. Es war, als richte ihn eine magische Kraft wieder auf. »Das ist keine Geistererscheinung, das ist ein Alptraumritter!« rief Sadagar. Nottr nutzte die Gelegenheit und hieb sein Krummschwert gegen die verknorpelten Beinschienen des Gegners. Es klang dumpf und hohl, als die Klinge dagegen schlug, aber sie prallte wirkungslos davon ab. Die unheimliche Gestalt in der Knochenrüstung wich mit steifen Schritten zurück und holte wieder mit der Stechlanze aus. Die Bewegung war jedoch so langsam, daß Nottr die Absicht des Gegners durchschauen und sich außer Reichweite bringen konnte. »Kommt hierher!« rief Fahrna. Die Runenkundige hatte eine Bodenerhebung unter einem von Schlingpflanzen überwucherten Baum erreicht. Mythor ließ sich von ihr nicht ablenken. Er kämpfte sich durch den Schlamm zu dem Knöchernen, um ihm in den Rücken zu fallen. Eine dicke Wurzel verstellte ihm den Weg, aber Mythor stieg auf sie, so daß er einen erhöhten Standort hatte. Jetzt zeigte sich, daß der Knöcherne gut um einen Kopf kleiner war als er selbst. Und noch etwas entdeckte er: Im Rücken wies die knöcherne Rüstung einen breiten Sprung auf. Mythor holte mit dem Schwert aus und schlug mit voller Wucht auf den brüchig wirkenden Rückenpanzer des Gegners ein. Die Knochenplatte barst krachend unter seiner Klinge. Etwas blitzte dahinter auf, was Mythor für einen kurzen Au-
genblick blendete. Als er wieder sehen konnte, entwich der geschlagenen Öffnung eine leuchtende Wolke. Ein Schwarm von Irrlichtern umtänzelte die nun leere Knochenhülle, die daraufhin im Sumpf versank. »Alles nur Spuk, Nottr sagt«, meinte der Lorvaner grin send. Sein Gesichtsausdruck änderte sich aber sofort. Gleichzeitig erklang Fahrnas verzweifelter Schrei. Mythor blickte zu der Bauminsel und sah, wie Fahrna mit einem Knöchernen rang, der ein Ebenbild des anderen zu sein schien, den sie eben versenkt hatten. Sadagar hatte seine Gefährtin erreicht und wollte ihr zu Hilfe kommen. Aber da erschien eine weitere Gestalt in einer Knochenrüstung und streckte ihn mit einer Armbewegung nieder. Sadagar blieb reglos liegen. Nun tauchten immer mehr solcher gepanzerter Gestalten auf. Es waren insgesamt zehn, die mit staksenden Schritten durch den Sumpf herankamen. Mythor wußte nun, daß es sich um leere Hüllen handelte, die von Schwärmen von Irrlichtern bewegt wurden. »Chekse, wir komm’!« rief Nottr in seiner bellenden Barbarensprache und stapfte auf die Insel zu, auf der Fahrna noch immer mit den beiden Knöchernen um ihr Leben rang. Aber Mythor erreichte den festen Boden noch vor dem Lorvaner. Fahrna wurde von einem Knöchernen festgehalten. Der andere hatte seine Stechlanze und sein Schwert fallen lassen und legte ihr die knochengepanzerten Finger um die Kehle. Fahrnas Schrei erstarb. Mythor eilte auf den Knöchernen zu, der Fahrna im Würgegriff hielt. Er wandte Mythor den Rücken zu, und dieser stellte fest, daß auch dessen rückwärtiger Panzer eine Reihe feiner Sprünge aufwies. Es schien, als hätten diese Schauergestalten alle den gleichen wunden Punkt. Ohne lange zu überlegen, schlug Mythor mit dem Schwert
zu. Einmal und noch einmal und immer wieder. Unter dem Geräusch berstender Knochen entlud sich eine irrlichternde Wolke ins Freie. Mythor schloß diesmal rechtzeitig die Augen, um nicht geblendet zu werden. Als er sie wieder öffnete, lag zu seinen Füßen eine leere Knochenrüstung. Nottr verfuhr gerade mit dem zweiten Gegner auf die gleiche Weise wie Mythor. Ein Schwarm Irrlichter ergoß sich summend ins Freie und verflüchtigte sich. Die leere Knochenrüstung brach in sich zusammen. Fahrna war frei. Aber sie hatte das Bewußtsein verloren und sank reglos zu Boden. »Besser so«, sagte Nottr trocken. »Wir kämpfen allein, Mythor.« »Hinter dir!« warnte ihn Mythor, als er in Nottrs Rücken zwei der gepanzerten Gestalten auftauchen sah. Der Lorvaner wirbelte mit einem Kampfschrei herum. Mythor sah aus den Augenwinkeln, daß durch Sadagar ein Ruck ging. Es schien fast, als komme der Wahrsager wieder zu sich. Aber die Bewegung wirkte unnatürlich, und als Mythor den Kopf wandte, sah er, wie Sadagar von einem Knöchernen hochgehoben wurde. Ein zweiter stellte sich Mythor zum Kampf, um Sadagars Entführer Rückendeckung zu geben. »Nicht mit mir!« rief Mythor und wich dem kraftvollen, aber viel zu umständlich vorgetragenen Angriff des Knöchernen aus. Dessen Schwert und Stechlanze fuhren ins Leere. Die Gestalt neigte sich durch die Wucht der Schläge weit nach vorne, aber sie fiel nicht. Bevor die Irrlichter die Knochenrüstung wieder in die aufrechte Lage zurückbringen konnten, war Mythor in ihrem Rücken und zertrümmerte mit einem Schwertstreich den Panzer an seiner schwächsten Stelle. Die Irrlichter entfleuchten mit bösartigem Gesumme, aber sie konnten Mythor nicht einmal blenden. Dieser wandte sich dem zweiten Knöchernen zu, der Sada-
gar mit sich forttrug. Er hatte bereits den festen Boden verlassen und schwebte unter dem Einfluß der Irrlichter über das Sumpfgelände. Mythor sah ein, daß er die Gestalt nicht mehr einholen konnte. Er bückte sich nach einer der Stechlanzen und warf sie wie einen Speer. Das Wurfgeschoß traf den Rückenpanzer des Fliehenden und sprengte ihn. Sofort stapfte Mythor durch den Sumpf zu der nun unbelebten Knochenrüstung, die langsam im schlammigen Wasser versank. Mythor war zur Stelle, bevor das Knochengebilde Sadagar mit ins Verderben ziehen konnte. Mit dem bewußtlosen Wahrsager auf den Armen kehrte er zur Insel zurück. »Spuk ist vorbei«, empfing ihn Nottr grinsend. »Nur noch Knochenhaufen übrig.« »Das war erst ein Vorgeschmack auf Kommendes«, sagte Fahrna, deren Lebensgeister wieder erwacht waren. »Krüdelzuhr hat sicher noch größere Schrecken für uns bereit.« »Waren das Alptraumritter?« fragte Mythor in Erinnerung an Fahrnas Ausspruch. Die Runenkundige schüttelte den Kopf. »Nein, das glaubte ich nur im ersten Moment. Jetzt vermute ich, daß diese Knochenrüstungen von Krüdelzuhr stammen. So verrückt wie Xandoren im Geiste sind, so wandeln sie sich auch körperlich. Ähnlich wie Schlangen sich häuten, dürfte Krüdelzuhr solche Knochenrüstungen abstoßen. Anscheinend tut er das ziemlich oft, so daß er mit Hilfe der Irrwische ein ganzes Heer solcher Knöcherner auf die Beine stellen kann.« »Sollen nur kommen«, sagte Nottr. »Da wird der Knochenberg größer.« »Krüdelzuhr wird sich bestimmt etwas anderes einfallen lassen«, meinte Fahrna mit schwachem Lächeln. »Wir können dem Xandor nur beikommen, wenn wir ihn in seinem Unterschlupf aufspüren. Solange wir aus der Ferne gegen ihn kämp-
fen müssen, ist er unverletzlich.« »Dann machen wir uns eben auf die Suche nach dem Schloß von Magnor de Freyn«, sagte Mythor. »Wenn Sadagar zu sich kommt, setzen wir den Weg fort.« Kurz darauf schlug Sadagar die Augen auf. Er rüstete sich mit einem Schwert und einer Stechlanze der Knöchernen. Fahrna wurde von Mythor angehalten, sich ebenfalls derart zu bewaffnen. Dann erst machten sie sich wieder auf den Weg durch den Sumpf. * Krüdelzuhr tobte, als die Irrwische ihm von ihrer Niederlage berichteten. Er hätte sich am liebsten ins eigene Fleisch beißen mögen. Aber daran hinderte ihn seine Knochenlarve. In seinem Zorn versuchte er, die ihn umschließende Rüstung aufzubrechen. Aber die Zeit war dafür noch nicht reif. Er mußte noch warten, bis die Verwandlung abgeschlossen war und sein Körper sich von der äußeren Knochenschale gelöst hatte. Erst dann konnte er ausschlüpfen. In der Zwischenzeit kamen ihm die vier Menschen immer näher. Er mußte sie sich so lange vom Leibe halten, bis er sich wieder frei bewegen konnte. Aber auch dann durfte er sie nicht zu nahe an sich heranlassen. Denn ohne die Knochenrüstung war er äußeren Einflüssen schutzlos ausgeliefert. Er war dann nur ein weiches, zuckendes Bündel Fleisch ohne tragendes Gerippe. »Tod den Eindringlingen!« kreischte er. Und er hetzte die Sumpfbewohner gegen sie. Er warf die Echsen und die Schlangen in den Kampf und mußte sich von den Irrwischen berichten lassen, daß die vier Eindringlinge auch diesem Ansturm trotzten. Krüdelzuhr schickte die fleischfressenden Sumpfrosen auf
die Wanderung. Aber sie blieben mit abgeschlagenen Fangarmen auf der Strecke. Er ließ Bäume stürzen, um die Eindringlinge unter ihnen zu begraben, ließ Sumpflöcher entstehen, die sie verschlingen sollten, und versuchte, sie in einen Sog zu locken, der sie ins Verderben ziehen mochte. Aber da erwiesen sich die gefällten Baumriesen als ihre Rettung. An deren Ästen konnten sich die Eindringlinge festklammern, über ihre Stämme konnten sie den Tiefen und den Strudeln ausweichen. Krüdelzuhr biß vor Wut in einen Knochenvorsprung seines Visiers. Nun blieb ihm nur noch eine Möglichkeit, den Widerstand der vier Menschen zu brechen. »Irrwische, schwärmt aus und leuchtet den Eindringlingen heim!« befahl Krüdelzuhr. Als sich aus dem Sumpf rund um die Schloßruine eine unüberschaubare Leuchtwolke erhob, schickte er dem Heer seiner winzigen Helfer ein schrilles Gelächter nach. Die Eindringlinge würden durch ihr eigenes Wünschen und Wollen zu Fall kommen. * Sadagar schleuderte das Schwert mit der gebrochenen Klinge von sich und sah vom Stamm des umgestürzten Baumes aus, wie es vom Sog des Sumpfes verschlungen wurde. Seine Stechlanze steckte im Rachen irgendeiner monströsen Sumpfechse. »Nicht stehenbleiben«, sagte Nottr in seinem Rücken und schob ihn weiter. Mythor hatte wie immer die Spitze übernommen. Fahrna folgte ihm mit gerafften Röcken. Sie waren alle von den mörderischen Kämpfen mit den Sumpfbewohnern gezeichnet, hatten aber zum Glück nur wenige Schrammen ab-
bekommen. Sadagar hinkte ein bißchen. Sie wechselten von diesem Baum auf einen anderen über, kämpften sich durch die dichtstehenden Äste der Krone und balancierten über den mächtigen Stamm. Die Baumriesen lagen kreuz und quer, als habe ein mächtiger Sturm sie entwurzelt. Dabei hatte sich kein Lüftchen geregt. Magie in ihrer gewaltigsten Form! »Kleiner Nadomir, steh mir bei!« sagte Sadagar. »Oder ich verliere noch den Verstand.« »Du hast nie welchen besessen«, keifte Fahrna. »Andernfalls würdest du dir nicht immer die Existenz deines Kleinen Nadomir einreden.« »Es gibt ihn!« beharrte Sadagar. Er sagte es – und dort stand er! Steinmann Sadagar zwinkerte, aber die Erscheinung blieb. Es war ein kleiner, munterer Geselle in einem farblosen, enganliegenden Gewand. Er war so klapperdürr, wie Sadagar sich selbst sah, nur sein Kopf war zu groß, sein Gesicht so derb wie aus Granit geschlagen. Aber es war ein pfiffiges Gesicht. »Der Kleine Nadomir!« entfuhr es Sadagar. »Nicht träumen. Komm weiter«, sagte Nottr hinter ihm. Aber Sadagar blieb stehen. Nottr wich ihm geschickt aus und ging an ihm vorbei. Der Lorvaner achtete nicht darauf, daß der Wahrsager fassungslos in die Büsche wies. Nottr glaubte, daß sich in ihm ein menschliches Bedürfnis rege, dem er nicht vor den Augen der anderen nachgehen wolle. So waren die Bewohner der Friedländer nun einmal. Erst als Nottr zwei Bäume weiter war, drehte er sich nach Sadagar um. »Halt!« rief er Mythor zu. »Der Steinmann ist verschwunden.« Mythor blieb stehen. Fahrna drehte sich um. »Das gibt es nicht!« sagte sie. »Er wird doch nicht von einem Fleischfresser verschluckt worden sein? In diesem Fall finden
wir ihn bestimmt wieder. Sadagar ist zäh und unverdaulich.« Ihr Scherz kam nicht an. Mythor zwängte sich an ihr vorbei und ging zusammen mit Nottr den Weg zurück. Fahrna wollte ihnen irgendeine spitze Bemerkung über ihren wahrsagenden Gefährten nachrufen. Doch da nahm sie eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr. Sie hatte den Eindruck, daß eine zwergenhafte menschliche Gestalt über die umgestürzten Bäume klettere. Als sie jedoch in diese Richtung blickte, war dort nichts zu sehen. Sie fragte sich, wie sie auf den Gedanken gekommen war, daß es sich bei der Gestalt um einen Königstroll gehandelt haben könnte. War hinter den Ästen nicht wieder eine Bewegung? Etwas, das menschliche Umrisse zu haben schien, leuchtete dort. Langsam näherte sich Fahrna der Stelle. Sie blickte zu ihren Gefährten zurück. Nottr stand auf einem der Bäume, das Schwert stoßbereit. Mythor kletterte gerade vom Baum, um die Umgebung nach Sadagar abzusuchen. »Da ist eine Spur«, sagte Mythor. »Der Abdruck von Sandalen ist im weichen Boden deutlich zu sehen.« »Laß mich«, sagte Nottr und sprang in die Tiefe. Der Boden war einigermaßen fest, so daß er nur bis zu den Knöcheln einsank. »Wir dem Steinmann nachgehen. Narr, er ist!« »Fahrna!« rief Mythor. »Komm zurück, wir müssen Sadagar suchen. Er ist aus irgendeinem Grund vom Weg abgekommen.« Mythor erhielt keine Antwort. Er kletterte auf den Baum hinauf und blickte sich um. Von der Runenkundigen war nichts zu sehen. »Was ist?« fragte Nottr aus einem Gebüsch. »Fahrna scheint ebenfalls verschwunden zu sein«, sagte Mythor. »Dann wir uns trennen«, meinte Nottr. »Du suchen Hexe, ich
Lügensager.« »Nein«, entschied Mythor. »Am Ende sind wir dann jeder für sich allein. Wer weiß, ob der Xandor nicht gerade das bezweckt.« »Den Steinmann im Stich lassen?« fragte Nottr. »Oder Hexe?« »Keinen von beiden«, sagte Mythor unsicher. »Wir werden uns zuerst um Fahrna kümmern und dann Sadagar suchen. Komm, Nottr.« Aber der Lorvaner stand wie angewurzelt an seinem Platz und starrte auf irgend etwas vor sich. Mythor konnte nicht sehen, was Nottrs Aufmerksamkeit erregt hatte, denn ihm war die Sicht verstellt. »Was ist, Nottr?« fragte er. »Fada!« sagte Nottr. »Deine rechte Flankenschwester?« wunderte sich Mythor. »Ja, Fada«, sagte Nottr entrückt. »Da!« »Aber Fada ist schon lange tot«, sagte Mythor, der nicht verstand, was denn plötzlich in den Barbaren gefahren war. »Nein!« sagte Nottr fest. Es klang trotzig. Und er setzte sich mit ungestümen Schritten in Bewegung. »Da Fada! Ich sehen Fada!« Nun begriff Mythor allmählich, was hier vor sich ging. Irgendwie mußte die Magie des Xandors stark genug sein, Nottr ein Trugbild vorzugaukeln. Er glaubte, seine verlorene Flankenschwester Fada vor sich zu sehen. Und was mochten Fahrna und Sadagar gesehen haben? »Nottr, komm zurück!« rief Mythor dem Barbaren nach, der sich wie gehetzt durch die Büsche schlug. »Das ist alles nur Schein. Was du zu sehen glaubst, das ist nicht wirklich Fada. Es ist eine Falle.« Mythor nahm die Verfolgung des Lorvaners auf. Er richtete sich nach den Geräuschen, die sein barbarischer Freund verur-
sachte. Einmal hörte er ihn verzweifelt Fadas Namen rufen. »Nottr!« Mythor blieb stehen, als er merkte, daß er in der Eile in die falsche Richtung gerannt war. Er machte kehrt und wollte wieder Nottrs Spur folgen. Aber da hielt er mitten in der Bewegung inne. Vor ihm stand ein traumhaft schönes Wesen. Eine Frau, ein Mädchen noch – das Weib schlechthin. Aus einem ebenmäßigen Gesicht blickten ihn große Augen strahlend an. Das weizenfarbene Haar umwehte das von einem Geheimnis umgebene Gesicht und verschleierte es. Sie trug ein langes weißes Gewand, das Mythor jedoch nur unbewußt wahrnahm. Vor ihm stand seine Göttin. Die unbekannte Schöne von dem Pergament. Sie lächelte, drehte sich langsam und majestätisch um und schritt davon. »Warte!« rief Mythor ihr nach, aber sie schien ihn nicht zu hören. Sie entfernte sich immer weiter, und Mythor mußte ihr folgen, wollte er sie nicht aus den Augen verlieren. Seine Freunde fielen ihm ein. Aber für sie konnte er jetzt nichts mehr tun. Sie waren irgendwo im Sumpf verschollen, und er wußte nicht, in welcher Richtung er nach ihnen suchen sollte. Die Frau da vorne war dagegen ein sichtbares Ziel. Er lief ihr nach und holte auf. Aber als er glaubte, sie erreicht zu haben, entschwand sie ihm wieder. »Warte auf mich!« rief er keuchend. Sie bewegte sich gemächlich über das unwegsame Gelände, schwebte förmlich über Hindernisse und Sumpflöcher hinweg. Aber sie blieb stets außer Mythors Reichweite, wie sehr er sich auch abmühte, sie einzuholen. Er geriet in ein Sumpfloch und wurde von einer Riesenspinne angefallen. Er zerhieb sie mit dem Schwert und befreite sich vom Würgegriff einer Schlange, die sich aus einem Baum auf ihn herabfallen ließ. Seine Göttin war verschwunden.
Es krampfte ihm das Herz zusammen, als er sie nirgends sehen konnte. Er kletterte auf einen umgestürzten Baum – und da sah er sie wieder. Sie stand vor einer von Pflanzen überwucherten Mauer. Dahinter erhob sich weiteres Gemäuer. Das Mädchen seiner Sehnsüchte winkte ihm, und er kam der Aufforderung nach. Sollte es wahr sein? Konnte er der Erscheinung wirklich glauben? Oder war alles nur Lug und Trug? Er erinnerte sich, was seinen Freunden widerfahren war, und das klärte seinen Verstand. Mythor wurde langsamer. Aber er hielt weiterhin auf die überirdische Erscheinung zu. Egal, was er davon hielt, sie hatte ihn in ihren Bann geschlagen. Als er ihr bis auf drei Schritte nahe war, wollte sie wieder entschwinden. Aber diesmal ließ sich Mythor nicht überraschen. Er stürzte nach vorne, um nach dem Mädchen zu fassen. Doch seine Hand griff ins Leere. In seiner grenzenlosen Enttäuschung hieb er schreiend auf die Erscheinung ein, und sie barst in einer blitzartigen Lichtentladung und verging in einer Wolke unzähliger Irrwische. Aus den Ruinen erscholl ein schrilles Gelächter. »Zuerst die anderen, dann du!« rief eine schaurige Stimme, die sich zwischen den überwucherten Schloßruinen brach. »Deine Freunde sind in meiner Gewalt. Du aber sollst Magnor de Freyn gehören!« Mythor blickte sich nach dem Xandor um, konnte jedoch nichts entdecken. Es war unheimlich still in der Ruine. Nichts regte sich. Vor ihm dehnte sich eine grüne Fläche aus, die moosbewachsen schien. Aber Mythor traute dem nicht. Er rührte sich nicht von der Stelle. Er überlegte, wie er ungefährdet in die Ruine eindringen könne, um nach dem Versteck des Xandors Krüdelzuhr zu suchen. Er kam zu dem Schluß, daß es noch am sichersten sei, sich entlang dem Gemäuer zu
bewegen. Gerade als er darangehen wollte, seine Absicht in die Tat umzusetzen, kam Bewegung in den grünen Teppich. Die moosartige, dicke Schicht teilte sich, und aus dem darunterliegenden Schlamm tauchte eine Gestalt auf. Mythor wich vor Entsetzen und Abscheu bis an die Wand zurück und verhielt erst, als sich Dornen schmerzhaft in seinen Rücken bohrten. Das Wesen, das aus den Tiefen des Sumpfes auftauchte, war einst zweifellos ein Mensch gewesen. Kopf, Körper und Gliedmaßen waren immer noch zu erkennen, aber sie waren von Verwesung gezeichnet. Das Gesicht hatte keine Augen, in den Höhlen wand und schlängelte sich winziges Getier. Die Nase war zerfressen, der Mund wie zu einem Schrei weit aufgerissen, und in der großen, weiten Mundhöhle schwirrten Irrwische und hatten Schmarotzerpflanzen die Zähne ersetzt. Dieser lebende Tote stand triefend vor Mythor. »Ich bin Magnor de Freyn«, sagte er mit unmenschlichem Krächzen. »Ich muß dich töten.« Mythor war überrascht, als die Schauergestalt eine geschmeidig anmutende Bewegung zur Hüfte machte und ein langes, schmales Schwert zog, wie er es schon bei Graf Corian gesehen hatte. »Deine Lebenskraft wird durch die Klinge auf mich überströmen«, sagte Magnor de Freyn. »Aber zuvor… muß ich wissen… wessen Leben ich verschlinge.« »Ich bin der Sohn des Kometen«, sagte Mythor und stellte sich zum Kampf. * Schon beim erstenmal, als Mythor mit Magnor de Freyn die
Klinge kreuzte, merkte er, daß er es mit einem übermächtigen Gegner zu tun hatte. Der lebende Tote schien von einem unversiegbaren Kraftquell gespeist, und seine Bewegungen waren längst nicht so hölzern wie die der magisch belebten Knochenritter. Magnor de Freyn war wendig und flink, er führte die Klinge elegant und mit geschmeidigen Bewegungen. Mythor parierte zwei Angriffe und ging dann zum Gegenangriff über. Aber die Schauergestalt ließ sich keinen Fingerbreit zurückdrängen. Spielerisch wehrte sie Mythors Attacken ab und drängte ihn in die Verteidigung. »Du kämpfst geschickt«, kam es kaum verständlich aus Magnor de Freyns Kehle. »Aber gegen einen Alptraumritter kommst du nicht an.« Mythor duckte einen seitlich geführten Streich ab, deutete einen Vorstoß von links an und führte seinen Angriff dann aber von der anderen Seite. Magnor de Freyn fiel jedoch auf diese Finte nicht herein. Es war, als könne er Mythors Gedanken lesen. »Hast du dich schon einmal selbst gesehen, Magnor de Freyn?« fragte Mythor außer Atem. Er parierte einen senkrechten Hieb und ging unter dessen Wucht in die Knie. »Jetzt bist du nur noch ein Alptraum. Ich habe Mitleid mit dir.« Magnor de Freyn stieß einen unmenschlichen Laut der Wut aus und deckte Mythor mit einer Reihe von Schwertschlägen ein, die dieser nur mit Mühe abwehren konnte. »Erzürnt es dich, daß ich dir die Wahrheit sage?« fragte Mythor spöttisch. Er ahnte Magnor de Freyns nächste Attacke und brachte sich mit einem Sprung zur Seite in Sicherheit. Der andere focht nicht mehr so überlegen wie am Anfang. Mythors Worte schienen ihn getroffen zu haben. Mythor fragte sich, ob dieser lebende Tote Gefühle besaß und ob er diese verletzt hatte.
»Was für ein erbärmliches Dasein du führst«, sagte er also in der Absicht, seinen unheimlichen Gegner noch mehr zu verunsichern. »Findest du nicht selbst, daß es deiner unwürdig ist?« Magnor de Freyn schien nun völlig die Beherrschung über sich verloren zu haben. Er führte die Waffe nicht mehr gezielt gegen Mythor, sondern drosch nur noch wild auf ihn ein. »Nicht mich solltest du töten, Magnor de Freyn«, sagte Mythor, als er sich etwas Luft verschafft hatte. »Du solltest froh sein, durch den Tod von deinem Schicksal erlöst zu werden.« Magnor de Freyn stieß einen langgezogenen Schrei aus, als hätten ihm Mythors Worte unsagbaren Schmerz verursacht, und Mythor wußte, daß das in gewisser Weise auch zutraf. Er hatte den lebenden Toten an seiner verwundbarsten Stelle getroffen und mit Worten erreicht, was ihm mit der Waffe noch nicht gelungen war. Wahrscheinlich war der Sumpftote mit dem Schwert gar nicht zu töten. Man konnte ihn nur bezwingen, wenn er es selbst wünschte. Magnor de Freyn hatte Mythor wieder gegen die Wand zurückgedrängt. Jetzt holte er langsam mit der Klinge aus, als wolle er es weidlich auskosten, wenn er den Todesstoß führte. Doch ließ er sich so lange Zeit, daß Mythor sein Schwert in Anschlag bringen konnte. Er streckte es mit steifem Arm von sich – und Magnor de Freyn stürzte sich in seine Klinge. Eine Weile standen sie einander in dieser Stellung gegenüber. Durch die Ruinen hallte ein qualvoller Schrei, der nicht aus der Kehle des lebenden Toten kam. Als der Schrei verklungen war, ging ein heftiges Zittern durch Magnor de Freyns Körper. Er gab noch einen letzten Laut von sich, der für Mythor wie ein Seufzer der Erlösung klang. Dann zerfiel sein Körper, als bestünde er aus trockenem Laub. Ein Häufchen blieb zurück, das nicht mehr an einen Menschen erinnerte. Es
waren die Überreste eines Mannes, der schon vor vielen Jahren gestorben war. Zu Mythors Füßen ringelte sich erdfarbenes Gewürm. Er trat angewidert danach. Jetzt war der Weg frei in die Ruine, in der irgendwo der Xandor lauerte. Mythor erinnerte sich des schaurigen Schreies. Er mutmaßte, daß Krüdelzuhr ihn ausgestoßen hatte, als er des Sterbens seiner Kreatur teilhaftig wurde. Der grüne Teppich über dem Sumpf riß auf und wurde von dem schlammigen Untergrund verschlungen. Der Sumpf geriet in Bewegung und schlug Wellen, die auf Mythor zurollten und über den festen Boden schwappten. Die Wellen wurden immer höher und wanderten mit steigender Geschwindigkeit in seine Richtung. Mythor bewegte sich entlang der Mauer, bis er ihr Ende erreichte. Zwischen ihm und dem nächsten Mauerrest, der zwei Mannslängen entfernt war, gab es nichts, was ihm Halt geboten hätte. Da war nur die schleimige, wogende Masse, in der alle möglichen Schrecken lauern mochten. Der Sumpf geriet in immer heftigere Bewegung und schwoll an. Mythor ging etwas in die Knie, und dann schnellte er sich kraftvoll vom Boden ab. Als er an der gegenüberliegenden Mauer mit den Füßen aufsetzte, rutschte er ab und spürte, wie sich etwas um seinen Knöchel schlang und daran festsog. Mit letzter Anstrengung konnte er sich an den Kletterpflanzen festhalten und aus dem Sumpf ziehen. An seinem Knöchel hing ein ellenlanger Blutegel, den Mythor mit dem Schwert abhieb. Er befestigte die Waffe an seinem Gürtel und kletterte an den Ranken der Schlingpflanzen um die Mauer herum. Auf der anderen Seite bot sich ihm jedoch auch kein erfreulicherer Blick. Auch diese Mauer war nur eine von Sumpf umgebene
Insel. Erst hinter der nächsten Ruine war fester Boden. Doch davon trennten Mythor gut vier Mannslängen. Um diese Kluft zu überwinden, mußte er höher klettern. Er tat es, und erst als er sich in schwindelnder Höhe befand, wagte er den Sprung über den Sumpfarm. Er landete mit den Füßen voran, federte den Aufprall ab und rollte sich nach vorne ab. Vom Sumpf drohte ihm jetzt keine Gefahr mehr, aber er hatte es immer noch mit Krüdelzuhr zu tun. Vor der Auseinandersetzung mit dem Xandor war ihm jedoch nicht so bange wie vor dessen Kreaturen. Wenn Krüdelzuhr so sehr darauf bedacht war, Gegner von sich fernzuhalten, dann konnte er nicht unverwundbar sein. Mythor hielt das Schwert wieder in der Hand, bereit, es gegen jedwede Bedrohung zu erheben. Aber nichts stellte sich ihm in den Weg, als er das Ruinenfeld durchstreifte. Einem Tümpel, der brodelte, als koche er, wich er in weitem Bogen aus. Er kam zu einem schmalen Durchlaß zwischen zwei Wänden und erblickte dahinter einen von hohen Mauern umschlossenen Innenhof. Vermutlich hatte es sich einst um eine überdachte Halle gehandelt, doch nun lag sie frei. Zur Linken entdeckte Mythor einen halb verschütteten Torbogen. Als er hinkam, stellte er fest, daß dahinter eine Treppe in die Tiefe führte. Das schmale und hohe Gewölbe war unversehrt, und Mythor zögerte nicht lange, es zu betreten. Er war fast sicher, daß dies der Zugang zu Krüdelzuhrs Versteck sei, und entsprechend vorsichtig stieg er in die Tiefe, denn hinter jeder Biegung der gewundenen Treppe konnte der Xandor oder eine seiner Bestien lauern. Mythor nahm Stufe um Stufe, aber nichts geschah. Die Wendeltreppe schien kein Ende nehmen zu wollen. Von oben fiel
längst kein Tageslicht mehr ein. Um ihn herrschte Finsternis. Die geschwungene Wand aus Steinquadern war glitschig. Von unten schlug ihm bestialischer Gestank entgegen. Er tat wieder einen Schritt und erkannte, daß er das Ende der Treppe erreicht hatte. Er stieß die Schwertspitze nach vorne und stellte fest, daß die Wand nun gerade verlief. Außer dem Geräusch von Metall auf Stein war nichts zu hören. Mythor schlug das Schwert auf die andere Seite und stieß auch dort auf Widerstand. Also befand er sich in einem Gang. Die Decke lag höher, als seine Schwertspitze mit ausgestreckter Hand reichte. Die Klinge links und rechts gegen die Wand führend, drang er tiefer in den Gang ein. Nur fünf Schritte weiter stieß er links von sich mit der Waffe ins Leere. Dort war ein Durchgang. Er ging jedoch den Gang weiter und kam nach weiteren fünf Schritten zu einem nach rechts mündenden Durchgang. Dieser war durch eine Tür verschlossen. Mythor versuchte sich daran, aber sie gab nicht nach. Er suchte vergeblich nach einem Schloß und schob die Klinge in den Spalt zwischen Tür und Stein, um sie aufzusprengen. Aber die Klinge brach. Nun blieb Mythor keine andere Möglichkeit, als zu versuchen, die Tür einzurennen. Er nahm einen Anlauf und warf sich dagegen. Erst beim siebten Versuch merkte er, daß die Tür leicht nachgab. Er mußte aber noch zweimal mit aller Wucht dagegen anrennen, bis die Tür splitternd nach innen brach. Er stolperte in einen Raum, der vom Schein einer Wolke von Irrlichtern erhellt war. Entlang den Wänden standen Gestelle mit Waffen aller Art. Es waren genug, um fünf Hundertschaften bis an die Zähne zu bewaffnen. Aber Mythor dachte nicht daran, seinen Schwertstumpf gegen eine vollwertige Waffe zu vertauschen. Er sah in der Mitte
des Raumes eine knöcherne Gestalt, die ein Ebenbild jener Knöchernen war, gegen die sie im Sumpf gekämpft hatten. Er erinnerte sich augenblicklich an Fahrnas Worte, als sie gesagt hatte, daß sich vermutlich Krüdelzuhr auf diese Weise verpuppte. Mythor stürmte auf den vermeintlichen Xandor los, sprang ihn an und riß ihn mit sich zu Boden. Aber schon beim Anprall merkte er, daß irgend etwas nicht stimmte. Die Knochenrüstung war überraschend leicht und klang hohl. Als er auf dem Boden lag und die Rüstung herumdrehte, sah er das Loch im Rücken. Dahinter war Leere. Krüdelzuhr war bereits ausgeschlüpft. Mythor wandte suchend den Kopf. Da verspürte er von oben einen Luftzug, und im nächsten Augenblick landete etwas klatschend auf seiner Schulter. Eine zuckende, schleimige Masse kroch ihm über den Kopf. Etwas schob sich über seine Augen und drang ihm in den Mund. Er konnte nicht atmen und nichts sehen, in seinen Ohren war ein schmerzhafter Druck. r Mythor bäumte sich auf. Seine Hände griffen verzweifelt in die Masse zuckenden Fleisches, das immer fester gegen seinen Kopf drückte und ihm tiefer in den Mund eindrang und seinen Schlund hinunterwanderte. Er meinte zu ersticken, die Sinne drohten ihm zu schwinden. Noch einmal bäumte er sich gegen die tödliche Umklammerung auf. Er griff mit aller Kraft nach dem schlangenartigen Auswuchs, der ihm durch den Mund in den Körper eindrang, und zog ihn mit einem Ruck heraus. Während er gierig die Luft einsog, ließ das unförmige Ding von ihm ab und sprang von seinem Kopf. Es landete klatschend auf dem Steinboden und versuchte, auf vier Gliedmaßen davonzukriechen. Das Scheusal hatte annähernd menschliche Gestalt, an der
jedoch die Konturen zu zerfließen schienen. Arme und Beine waren biegsam wie Schlangen, der Körper schob sich wie bei einer Raupe zusammen und auseinander. Der Schädel war ein unbeständiges Etwas, in dem Augen, Mund und Nase zu schwimmen schienen. Mythor sprang zu einem Waffenschrank, brachte zwei Kurzschwerter an sich und stellte sich dem fliehenden Wesen entgegen. »Jetzt hat dein letztes Stündchen geschlagen, Krüdelzuhr«, sagte er drohend. »Ich werde dich in Stücke schlagen, und die Welt wird es mir danken.« »Und deine Freunde?« rief der Xandor blubbernd und schob seinen Körper zu einem buckeligen Fladen zusammen, aus dem sich Mythor zwei Schlangenarme abwehrend entgegenstreckten. Mythor hielt die beiden Kurzschwerter drohend erhoben. »Was ist mit meinen Gefährten?« fragte er. »Wenn du mich anrührst, dann sind auch sie des Todes«, kam Krüdelzuhrs Antwort unter brodelnden Nebengeräuschen. »Sie sind in der Folterkammer eingemauert, und allein wirst du den Weg zu ihnen nie finden.« »Dann führe mich zu ihnen, Krüdelzuhr.« Der Xandor gab ein Geräusch von sich, das höhnisch klang und einem Lachen ähnlich war. »Ich bin bereit, großzügig zu sein und euch allen die Freiheit zu geben«, blubberte der Xandor, der sein Knochengerüst abgelegt hatte und nur noch aus Fleisch, Sehnen und Muskeln bestand. »Aber nur unter der Bedingung, daß du nicht Hand an mich legst.« »Ich werde dich am Leben lassen«, versprach Mythor. Krüdelzuhr formte aus seiner Kopfmasse eine wutverzerrte Fratze. »Bilde dir nur nichts auf diesen Erfolg ein«, zeterte er haßerfüllt. »Du konntest mich nur überwinden, weil du mich
in geschwächtem Zustand überraschtest. Aber getraue dich nicht wiederzukommen, wenn ich im Vollbesitz meiner Fähigkeiten bin!« »Ich habe kein Verlangen, mich mit dir zu messen«, sagte Mythor. »Auf mich warten größere Aufgaben. Wenn ich meine Freunde befreit habe, dann ziehe ich mit ihnen weiter. An dich werde ich keinen weiteren Gedanken verschwenden. Und jetzt führe mich zu ihnen. Aber versuche keine List, ich bin auf der Hut.« »Folge mir.« Krüdelzuhr schlängelte sich zu der Tür, durch die Mythor eingebrochen war. Die Irrlichter schwebten in einer Wolke über ihm. Krüdelzuhr glitt in den Gang hinaus, diesen entlang und hielt vor einer Mauer an. Dann schob er das Ende eines Schlangenarms in einen Spalt zwischen den Steinquadern, woraufhin ein Teil der Wand ein Stück nach innen sprang. »Du kannst die Geheimtür jetzt mühelos öffnen«, sagte der Xandor. Mythor bedrohte ihn mit einem Schwert, während er sich gegen die Steine stemmte, die unter seinem Gewicht nach innen schwangen. Krüdelzuhr glitt auf allen vieren durch die Öffnung. Mythor folgte ihm und sah im Schein der Irrlichterwolke seine Gefährten. Sie waren alle drei an Händen an die Wand gekettet. Mythor schob mit der Schulter die steinerne Geheimtür wieder zu, damit der Xandor nicht entwischen und ihn nicht auch noch einmauern konnte. »Der Kleine Nadomir hat doch geholfen«, sagte Sadagar bei Mythors Anblick erleichtert. »Ich glaube eher an die Wirkung meines Runengebets«, sagte Fahrna. »Mythor ist Held, Nottr einfältiger Narr!« rief der Lorvaner erfreut.
»Losmachen mußt du sie schon selbst«, sagte Krüdelzuhr. »Ich habe mein Versprechen gehalten, jetzt lasse du mich frei.« »Du hast meine Freunde angekettet, befreie auch du sie wieder von ihren Fesseln«, verlangte Mythor. Der Xandor näherte sich mit wallenden Bewegungen zuerst Fahrna, streckte seinen Körper und seinen Schlangenarm, und gleich darauf klirrten ihre Handschellen gegen die Steinwand. Auf die gleiche Weise befreite er auch Sadagar und Nottr. Der Lorvaner wollte sich, kaum daß er frei war, mit einem Wutschrei auf den Xandor stürzen, doch der zog sich schlängelnd in einen Winkel zurück. »Nicht, Nottr«, sagte Mythor. »Ich habe Krüdelzuhr versprochen, ihn am Leben zu lassen.« »Dann gib mir den Weg endlich frei, bevor dieser Wilde mich auffrißt«, sprudelte Krüdelzuhr hervor. »Laß mich ziehen.« »Davon kann keine Rede sein«, erklärte Mythor. »Ich schenke dir das Leben, aber nicht auch die Freiheit. Du bleibst in dieser Folterkammer.« »Hier werde ich jämmerlich zugrunde gehen!« rief Krüdelzuhr. »Das glaube ich nicht«, erwiderte Mythor. »Du bist mächtig genug, dich früher oder später aus eigener Kraft zu befreien. Aber dann werden wir längst schon außerhalb deiner Reichweite sein.« Sie verließen die Folterkammer, und Mythor verschloß die Geheimtür sorgfältig. »Glaubst du, das genügt, einen Xandor festzuhalten?« fragte Sadagar zweifelnd. »Wir werden eine zusätzliche Mauer aus Steinquadern aufschichten, um ganz sicher zu sein, daß wir vor Krüdelzuhr Ruhe haben«, beruhigte ihn Mythor. »Töten wäre besser«, sagte Nottr.
* Mythor und Nottr schleppten aus den Ruinen Steinblöcke heran und errichteten vor Krüdelzuhrs Gefängnis die Mauer. Steinmann Sadagar und Fahrna durchsuchten inzwischen die Gewölbe nach nützlichen Dingen. Nach getaner Arbeit suchten Mythor und Nottr die Waffenkammer auf, wo sie von den beiden anderen erwartet wurden. »Ich habe Krüdelzuhr eine lange Gefangenschaft prophezeit, noch bevor Mythor ihn überwältigte«, hörten sie Sadagar gerade aufgebracht sagen. »Und das hat mir der Kleine Nadomir eingegeben.« Fahrna kauerte auf dem Boden und war über einige vergilbte Fetzen eines Pergaments gebeugt. Im Licht einer Harzlaterne versuchte sie die zur Unkenntlichkeit verwitterte Schrift zu enträtseln. »Wir sind beide einer magischen Blendung aufgesessen«, sagte Fahrna, ohne aufzublicken. »Du hast deinen Schutzgeist ebensowenig gesehen wie ich einen Königstroll. Krüdelzuhr hat uns damit nur gelockt.« Sie blickte auf und wandte sich an Nottr, der sich an den Waffenregalen zu schaffen machte. »Nottr, glaubst du, deiner toten Flankenschwester wahrhaftig gegenübergestanden zu haben?« »Nicht darüber reden«, sagte Nottr und füllte seinen Köcher mit Pfeilen. Er fand in einer Halterung auch noch ein Krummschwert. Dabei fragte er über die Schulter: »Essen?« »Wir rühren besser nichts von dem Zeug an, das Krüdelzuhr in seiner Vorratskammer gelagert hat«, sagte Sadagar. »Es stinkt wie die Pest. Wir müssen uns gedulden, bis wir diesen Sumpf hinter uns gebracht haben. Dann kann Fahrna Beeren und Wurzeln sammeln, und vielleicht stoßen wir auch auf Wild.«
Nottr ließ ein Magenknurren hören. Mythor deutete auf Sadagars Gürtel, in dem wieder zwölf Messer steckten, die er sich aus Krüdelzuhrs Arsenal geholt hatte. »Warum gerade diese Zahl?« fragte Mythor. »Zwölf ist eine magische Zahl«, sagte Sadagar. »Bei deinesgleichen ist jede Zahl magisch«, keifte Fahrna. »Du kannst hundert Magier befragen oder solche, die es gerne sein möchten, und ein jeder wird dir eine andere Zahl als die absolut magische nennen… Das ist interessant!« rief die Runenkundige plötzlich aus. »Mythor, das wird dich interessieren. Aus den Fragmenten dieses Pergaments geht hervor, daß auch Magnor de Freyn auf das Gläserne Schwert Alton aus war.« »Hat er es bekommen?« fragte Mythor. Fahrna schüttelte den Kopf. »In diesem Fall hätten wir es ganz sicher unter Krüdelzuhrs Schätzen gefunden«, sagte sie. »Hast du auch Hinweise auf die Runenbotschaft der Königstrolle gefunden?« fragte Sadagar. »Nein!« Es klang ablehnend. Fahrna klaubte die Pergamentstücke zusammen und ließ sie in die Flamme der Harzlaterne fallen, wo sie verkohlten. »Krüdelzuhr wird uns nicht mehr zu schaffen machen«, erklärte Mythor, der sich einer Reihe von Schwertern zugewandt hatte und eines mit breiter Klinge für sich auswählte. »Aber wir sollten machen, daß wir von hier fortkommen.« »Dieser Meinung bin ich auch«, sagte Fahrna und erhob sich. Sadagar kam mit drei weiteren Laternen, die sie an Fahrnas entzündeten. So konnte sich jeder selbst den Weg durch den Sumpf leuchten. Denn oben war es bereits finstere Nacht. Als sie das Gewölbe verließen, nahm Sadagar Mythor beiseite, und sie folgten Fahrna und Nottr außer Hörweite. »Ich habe Fahrna auszuhorchen versucht«, raunte Sadagar Mythor zu. Als er dessen fragenden Gesichtsausdruck sah,
fügte er erklärend hinzu: »Ich meine, wegen des Bildes, das du bei dir trägst.« »Und?« fragte Mythor. »Ich wurde nicht schlau daraus«, sagte Sadagar bedauernd. »Fahrna scheint diese Frau für ein bedeutungsvolles Wesen zu halten, aber sie machte keine genauen Angaben darüber. Entweder hat sie selbst nur eine schwache Ahnung, oder aber sie will ihr Wissen unbedingt für sich behalten. Es tut mir leid, Mythor, aber mehr kann ich dir nicht sagen.« »Ich danke dir trotzdem, Sadagar.« Sie kamen über die Wendeltreppe nach oben, wo Nottr und Fahrna sie erwarteten. »Ich werde euch aus dem Sumpf führen«, sagte die Runenkundige. Sie warf Steinmann Sadagar einen abschätzigen Blick zu, als wisse sie alles über seine geheime Absprache mit Mythor, dann wandte sie sich ab und ging davon. Die anderen folgten ihr. Der Weg aus dem Sumpf war beschwerlich, aber sie kamen die ganze Zeit über kein einziges Mal mehr in tödliche Gefahr. »Du bist hier wie zu Hause, Fahrna«, äußerte sich Nottr lobend. »Ich weiß, wo Norden ist, und das genügt«, sagte Fahrna bloß. »Und wonach richtest du dich in dieser undurchdringlichen Finsternis?« fragte Sadagar. »Das werde ich dir nicht auf die Nase binden«, antwortete Fahrna. »Hexe!« sagte Nottr voll Überzeugung. Sie ließen den Sumpf hinter sich. Auch hier, im freien Gelände, herrschte finstere Nacht. Das Weltendach war wolkenverhangen, die Luft war kalt, und ein feiner Nieselregen schlug ihnen entgegen. Mythor sah in der Ferne ein schwaches Flimmern wie von
einer geheimnisvollen Lichtquelle. Den anderen fiel es auch auf. »Kann das Xanadas Lichtburg sein?« fragte Mythor. »Das muß sie sein«, antwortete Fahrna.
Peter Terrid
DIE LICHTBURG Als Keshban den Morgen heraufdämmern sah, wußte er, daß er verloren hatte. Der Kampf dauerte nun schon Stunden, und seine Kräfte erlahmten allmählich. Sein Widersacher aber erhielt gleichsam mit jedem Sonnenstrahl, der ihn traf, neue Kraft, so hieß es jedenfalls, und Keshban hatte bisher keinen Grund gefunden, diese Behauptung anzuzweifeln. Er spürte seine eigene Muskulatur hart werden, steif vor Müdigkeit. Unter seinen Fingern zuckten die Muskeln seines Gegners. Aber noch hatte Keshban ihn fest im Griff, noch zappelte Calhar hilflos. »Gib auf!« ächzte Keshban. Er mußte sich anstrengen, um den Satz überhaupt über die Lippen zu bringen. »Du bist besiegt.« Calhar grunzte nur verächtlich. Er spuckte einen Zahn aus, den er beim letzten Faustschlag verloren hatte. »Niemals«, gab er zurück, und Keshban erschrak, so klar und deutlich waren die Silben gewesen. Also stimmte es doch, was er insgeheim befürchtet hatte. Calhar stand mit dunklen Mächten im Bunde, er bezog seine Kräfte aus grausigem Zauber. Aber es ließ sich nichts dagegen unternehmen, denn es fehlte am Beweis. Liebend gern hätte Keshban den stiernackigen Calhar vor dem Rat gesehen, ihn angeklagt und seine Schuld bewiesen. Er hätte ihn mit eigener Hand erdrosselt, und hohnlachend hätte er den Leichnam den Wölfen zum Fraß vorgeworfen. Jetzt aber… Ein Knie traf Keshban, und der Schmerz trieb ihm den letzten Rest Luft, der ihm verblieben war, aus dem Leib. Keshban
unterdrückte ein Stöhnen, aber er konnte nicht anders – er ließ Calhar los. Noch schien die Sonne nicht hell auf die Siedlung herab, noch konnte Calhar seine gräßlichen Zaubereien nicht voll entfalten. Aber es war schlimm genug für Keshban, sehen zu müssen, wie der andere zur Seite rollte und mit welcher Geschwindigkeit er wieder auf die Beine kam. Calhars rundes Gesicht war blutverschmiert, ihm fehlten drei Zähne, und seine Haare waren von Blut, Schweiß und Sand verklebt. Auch ohne Magie wäre er ein Bild des Grauens gewesen. Calhar öffnete den Mund zu einer Grimasse. »Jetzt habe ich dich«, knurrte er. Er holte aus und trat zu. Keshban wurde von dem Tritt in der Leibesmitte getroffen. Er knickte zusammen, rollte zur Seite und blieb fast leblos liegen. Vor seinen Augen tanzten farbige Funken, in seinem Leib pochte und dröhnte der Schmerz. Wie durch dichten Nebel sah Keshban seinen Gegner auf sich zukommen. Er sah, wie Calhar ein zweites Mal zum Tritt ausholte, und er wußte, diesmal würde der Tritt tödlich sein. Hinter Keshbans Kopf lag ein Fels, und wenn der Kopf gegen dieses Hindernis prallen sollte… »Genug, Calhar!« sagte eine klare Stimme. »Du hast gesiegt, schone sein Leben.« Beifälliges Murmeln ertönte. »Natürlich«, sagte Calhar, und er lachte sein widerwärtiges Lachen. »Lassen wir ihn leben.« Keshban krümmte sich vor Schmerz und Scham. Er war so dicht am Ziel gewesen, so nahe dem ersehnten Triumph, und jetzt lag er zerschunden im Staub des Kampfplatzes. Niemand kümmerte sich um ihn. Der Rat der Alten, zehn Köpfe stark, scharte sich um Calhar, der künftig Stamm und Sippen der Banithen führen würde, angetan mit dem Wolfsmantel, dem Zeichen seiner Würde. Er würde das kostbare
Schwert bekommen, das von Generation zu Generation weitergereicht wurde. Nur der Stammesführer besaß ein solches Schwert aus schimmernder Bronze, die anderen mochten zusehen, womit sie sich ihrer Haut wehrten. Keshban rappelte sich auf und kam auf die Knie. Die Lichtung im Wald, die von alters her für Zweikämpfe dieser Art bestimmt gewesen war, lag verlassen. Der Sieger war mit dem Rat der Alten abgezogen, den geschlagenen Gegner hatten sie zurückgelassen. Keshban stieß ein schwaches Stöhnen aus. Er fühlte sich mehr tot als lebendig, und wenn er daran dachte, daß Calhar mit diesem Kampf auch das Recht erworben hatte, Raldee zu freien, sobald der Tag ihrer Heiratsfähigkeit gekommen war, dann hätte er den Tod dem Leben wahrlich vorgezogen. Er brauchte erschreckend lange, um auf die Beine zu kommen. Der Kampfplatz war blutgetränkt. Keshban hatte eine klaffende Wunde am Ohr, Calhar hatte einige aufgeschlagene Stellen an der Stirn zu beklagen. Das sah aber ärger aus, als es war. Die Kräuterweiber vermochten das binnen weniger Tage zu heilen. Keshban taumelte zum Rand der Lichtung. Dort lag seine Kleidung, dort lagen seine Waffen. Auch als Verlierer durfte er sie tragen, als einfacher Gefolgsmann des Stammesführers. Vor zehn Nächten noch war Keshban der Stellvertreter des alten Stammesfürsten gewesen, der jetzt im Walde lag, erschlagen, den Raben zum Fraß. Und niemanden gab es, der hätte sagen können, wer den alten Mann gemeuchelt hatte. Keshban legte das Hemd aus Flachs an, den breiten Gürtel aus dickem Leder. Das Schwert hing daran, natürlich nur Hartholz mit Steinsplittern darin. Im Kampf Mann gegen Mann brauchbar, wenn man nicht gerade mit einem zu fechten hatte, der ein Bronzeschwert trug. »Keshban!«
Lopan, Keshbans jüngerer Bruder, hatte die Lichtung betreten. Er war noch nicht waffenfähig und hatte eigentlich an diesem Ort nichts verloren. Nur die jeweiligen Gegner und die Alten, als Richter, hatten Zutritt. »Hast du verloren?« Keshban ließ die müden Arme sinken. »Sieht so ein Sieger aus?« fragte er in bitterem Ton. »Calhar hat gesiegt. Die Sonne gab ihm die Kraft. Verfluchter Zauber. Man sollte…« »Du brauchst Ruhe und Schlaf, Bruder, dazu einen kühlen Trunk, Ich habe dir Saft mitgebracht.« Keshban beäugte mißtrauisch das Trinkhorn, das der Bruder ihm reichte. »Woher hast du den Sud?« »Die alte Heena hat ihn gebraut«, erklärte Lopan. »Er soll die Glieder stärken, fast wie durch Zauber.« »Wer’s glaubt«, murmelte Keshban. Er setzte sich auf den Stamm eines gestürzten Baumes und trank. »Hm, schmeckt gut«, knurrte er nach den ersten Schlucken. »Du siehst entsetzlich aus«, sagte Lopan, »beide Augen fast zugequollen, aus der Nase fließt dir Blut, und ob dein Ohr noch zu retten ist, weiß ich nicht.« »Der Rest ist auch nicht viel besser«, knurrte Keshban grimmig. »Ich hätte ihn schon gestern abend erwürgen sollen.« »Ihr habt schon abends angefangen?« »Bei Sonnenuntergang und dann im Schein der Fackeln die ganze Nacht hindurch. Er hat geschlagen und getreten, gespuckt und mit Sand geworfen, aber es hat ihm nichts genutzt. Ich hatte ihn fest im Griff, weißt du, und es hat wirklich nicht mehr viel gefehlt. Aber dann schien wieder die Sonne, und sie hat diesem…« »Hüte deine Zunge, Bruder«, warnte Lopan. »Wenn dich einer hört und es dem neuen Fürsten verrät?« »Das ist mir gleich«, stieß Keshban trotzig hervor. »Ich weiß, daß Calhar mich töten wird, früher oder später. Denn er weiß,
daß ich weiß, daß er ein Zauberer ist, ein Mann der Finsternis und des Dunkels. Mit so einem will ich nichts zu schaffen haben.« Lopan machte ein erschrockenes Gesicht. »Was sonst willst du tun?« »Ich werde das Land verlassen«, sagte Keshban. Der Saft tat wirklich gut. Es war ein würziger Sud aus Kräutern und wildwachsenden Beeren, der die Glieder belebte und den Geist erfrischte. »Verlassen? Wohin denn? Überall sind Feinde, und in den Wäldern heulen die Wölfe. Gieriges Gesindel macht die Wege unsicher, und in den Sümpfen liegt manch einer, der ungerächt erschlagen wurde. Bleib hier, Keshban, du gehörst zu unserem Stamm.« »Nicht mehr«, knurrte Keshban. »Seit dieser Hexenmeister am Werke ist, wurde das Wort Frieden bei uns nicht mehr ausgesprochen. Ich werde gehen, wohin auch immer.« Lopan sah ihn traurig an. »Ich werde bleiben«, sagte er leise. »Es fehlt mir nicht an Mut, du weißt das, aber ich habe nicht die Tollkühnheit, den Bereich unseres Stammes zu verlassen.« »Dann bleib hier«, sagte Keshban. »Ich habe keine Lust, noch einmal ins Dorf zu gehen. Kannst du mir Brot besorgen, Fett und ein Stück getrocknetes Fleisch? Ich brauche Wegzehrung.« »Und deine Waffen?« »Schaffe auch sie zur Stelle, vor allem den Bogen. Ich werde hier auf dich warten.« Lopan seufzte leise, dann machte er sich auf den Weg. Es gab einen Quell in der Nähe, dort wusch Keshban seine Wunden aus. Sie waren nicht schwer, höchstens ein wenig lästig, vor allem das halb abgerissene Ohr. Die kleine Siedlung der Banithen lag nicht weit entfernt; bis zur ersten der dreißig Hütten hatte man knapp eine Viertelstunde zu gehen. Es gab noch zwei weitere Ansiedlungen der
Banithen in diesem Wald, sie waren etwas mehr als eine Wegstunde entfernt. Keshban war gerade damit fertig geworden, eine Pak-kung Moos mit dem ledernen Haarband auf seinem Ohr zu befestigen, als Lopan keuchend zurückkehrte. Er trug schwer an einigen Broten, einem Topf mit Schmalz und einem mächtigen Stück Räucherfleisch. »Du hättest nicht soviel bringen sollen«, sagte Keshban. »Vielleicht habt ihr im Winter nichts mehr zu essen, weil ihr mir zuviel abgegeben habt.« »Ich kann fischen und jagen«, sagte Lopan. »Außerdem haben wir ja einen Esser weniger.« »Richtig«, sagte Keshban grinsend. »Wie sieht es in der Siedlung aus?« »Calhar hat einen großen Eimer Bier gestiftet, dazu unglaublich viel Fleisch. Der lichte Himmel mag wissen, wie er dazu kommt.« »Pah«, sagte Keshban. »Nicht der lichte Himmel – die Mächte der trüben Finsternis haben ihm geholfen.« Lopan wiegte den Kopf. »Vielleicht war er einfach stärker als du«, sagte er zögernd. »Hättest du gesiegt, wäre es auch ohne jede Zauberei passiert.« »Es war Zauberei!« rief Keshban. »Böse, infame Magie. Alle Mächte der Finsternis wünsche ich dem Kerl an den feisten Hals, und jetzt will ich davon nichts mehr hören.« »Wie du willst«, sagte Lopan. »Ich hole noch deine Waffen.« Seine Waffen brauchte Keshban noch dringender als die Speisen. Ohne Nahrung konnte er zur Not auskommen, ohne die Möglichkeit zur Gegenwehr hätte er die nächsten Stunden nicht überleben können. Einen kurzen Augenblick lang dachte Keshban an Raldee, das Mädchen mit den rotgoldenen Flechten. In zwei Jahren würde sie im heiratsfähigen Alter sein, und ihr Vater besaß die
besten Schweine weit und breit. Auf beides würde Keshban verzichten müssen, wobei sich nur schwer sagen ließ, welcher Verlust ihn härter traf, denn er war gleichermaßen arm wie verliebt. Keshban betrachtete sich im Spiegel des Wassers. Keshban besaß alle Vorzüge, die Calhar nicht aufzuweisen hatte. Er war schlank und hochgewachsen, und seine Haare waren kurz und dunkel. Keshbans Gebiß war noch vollständig, trotz etlicher Raufereien, die ihn nah und fern gefürchtet gemacht hatten. Keshban hatte sogar einen Kriegszug mitgemacht, zwei Tagesreisen weit, und er hatte dabei eine Keule und zwei Hühner erbeutet. »Ich habe sogar an deinen Speer gedacht«, sagte Lopan, kaum daß er Keshban erreicht hatte. Er ähnelte seinem Bruder, war aber nicht ganz so wohlgestaltet ausgefallen wie Keshban. Zufrieden musterte Keshban seine Ausrüstung. Er hatte zu essen, und an Wasser mangelte es in diesem Land nur selten. Er trug einen erstklassigen Dolch im Gürtel, er besaß einen Speer mit schlankem, geradem Schaft und einer guten selbstgefertigten Klinge. Am Gürtel hing ihm die handliche Wurfkeule, und über der Schulter trug er den Bogen samt Köcher. Der lederne Behälter war mit Pfeilen gefüllt. »Wohin willst du dich wenden?« fragte Lopan. Daran hatte Keshban noch nicht gedacht. Einstweilen wollte er nur fort, weg von der Stätte seiner Niederlage. Ein bestimmtes Ziel hatte er dabei noch gar nicht vor Augen. Lopans Frage setzte ihn einigermaßen in Verlegenheit. Dann aber fiel ihm eine Antwort ein: »Ich werde dem Sonnenuntergang folgen, zu Xanadas Lichtburg«, verkündete er so leise, daß nur Lopan ihn hörte. »Ich werde das Gläserne Schwert für mich gewinnen, Alton, das Schwert der Gerechtigkeit.« »Bei allen Baum- und Erdgeistern«, flüsterte Lopan, und er sah sich erschrocken um. »Wie bist du auf den Gedanken ver-
fallen? Bist du von Sinnen?« »Ich werde das Schwert für mich gewinnen, und dann werde ich klarstellen, wer diesen Kampf gewonnen hat. Ich werde diesen ekelhaften Zauberer töten.« »Du hast den Verstand verloren«, murmelte Lopan, bleich vor Schrecken. »Du kannst doch nicht…« Keshban hatte sich in seinen Einfall längst hineingesteigert. »Xanadas Lichtburg ist mein Ziel«, murmelte er, und sein Blick verlor sich in namenloser Ferne. »Dort ist das Gläserne Schwert zu finden.« »Du wirst es nicht schaffen«, beschwor Lopan den Bruder. »Andere, die stär…« Keshbans Blick ließ ihn verstummen. »Ich werde die Lichtburg finden, groß und strahlend, leuchtend im Schein der Sonne, wie es die alten Sagen berichten.« »Keshban!« rief der Bruder verzweifelt. »Niemand weiß, was an den Berichten wahr ist. Keiner von uns hat jemals das Gebiet unseres Stammes so weit verlassen, wie du es vorhast. Woher willst du wissen, daß nicht die Welt endet, wo der Blick keinen Halt mehr findet?« »Ich werde gehen«, sagte Keshban. Zuversicht erfüllte ihn. »Ich werde gehen und siegen und zurückkehren und Calhar töten.« »Sterben wirst du!« rief Lopan. »Und in der Ferne irgendwo verfaulen, wo keiner an deinem Grab weinen wird.« »Pah«, machte Keshban. »Ich will nicht sterben, ich will leben, und ich werde leben. Als Held, das verspreche ich dir.« »Müßige Träumerei.« Keshban machte eine abwehrende Geste. »Du wirst es erleben«, sagte er leidenschaftlich. »Alle werden noch von mir reden.« *
Am Nachmittag des Tages hatte Keshban das Land seines Sippenverbandes bereits verlassen. Er hielt sich jetzt in einem Bereich des Waldes auf, der von den Pasguten beansprucht wurde, einem räuberischen Gesindel, das keiner geordneten Arbeit nachging und sich lediglich von dem ernährte, was ihm gleichsam ins Maul wuchs oder in die stets gierig ausgestreckten Fänge lief. Keshban hatte nicht die geringste Lust, sich mit einer Meute von Pasguten herumzuraufen, schon gar nicht nach den Anstrengungen des Kampfes mit Calhar, den Keshban während seiner Wanderung ein um das andere Mal in die schrecklichsten Schlünde der Finsternis wünschte. Keshban war kein schlechter Jäger. Er kannte sich aus im Wald, fand Pfade und Wechsel, frische Losungen und geschälte junge Bäume. Es gab viel Wild in diesem Teil des Waldes. Die Pasguten waren zu faul oder zu ungeschickt, um erfolgreiche Jäger zu sein. Für die nächsten Tage war Keshban des Zwanges enthoben, sich frisches Fleisch zu schießen, daher kümmerte er sich nicht weiter um die Fährten, die er fand. Er fand die Spuren einer Bache mit einer Schar Frischlingen, aber er fand auch ein paar Abdrücke, die ihm ganz und gar nicht gefielen. Jemand schlich auf sehr weichen Sohlen durch den Wald, war groß und massig und trug ein gewaltiges Gebiß und gefährliche Krallen spazieren. Das Alter der heruntergeschabten Wolle verriet, daß der Bär, der vermutlich ein Einzelgänger war, ein hübsches Alter erreicht hatte. Vielleicht war es gar einer, der schon Menschenblut gekostet hatte und daher nichts anderes mehr wollte. Keshban hatte schon einmal einen Bären, einen jüngeren und viel kleineren, zur Strecke gebracht, und er verspürte keine Lust, sich mit dem streitbaren Urahnen seiner Beute herumzuprügeln. Keshban sah daher zu, daß er sich aus dem Revier des stein-
alten Bären entfernte, bevor der ihn zu sehen bekam. Auf dem Stumpf eines umgestürzten Baumes legte Keshban eine kurze Rast ein. Er aß ein wenig Brot, stillte seinen Durst und sammelte ein paar Früchte. Danach ging der Marsch weiter. Längst hatte Keshban ein Gebiet erreicht, das ihm fremd war. Nebel begann sich auf den Wald herunterzusenken – weißliche Schleier verbanden die Bäume untereinander, durchwebten das Geäst der Urwaldriesen. Die tausendfältigen Geräusche des Waldes wurden stark gedämpft, sanken zu einem Flüstern und Wispern herab. Fast glaubte Keshban seine Atemzüge nicht mehr hören zu können. Es wurde kühl. Der Nebel verdichtete sich. In kalten Dampf gehüllt stand der Wald da, schwarz und drohend. Von irgendwoher erklang erstickt der Schrei eines Vogels, dann war es wieder still. Der Wind strich flüsternd durch die Äste, naß und kalt umklammerte er Keshban, der den Pelz fester um sich zog. Das Geräusch seiner Schritte klang häßlich in seinen Ohren. Er begann zu frösteln. Es wurde allmählich dunkler, und die bedrückende Stille über dem Wald wurde zu einer eisigen Klammer des Schweigens, die alles erfaßte. Der Wald schien den Atem anzuhalten. Keshban blieb stehen. Nichts regte sich mehr, nur das Klagen eines Käuzchens durchtrennte die Stille, ein schauriger Klang, der Tod ahnen ließ. Beim nächsten Schritt wäre Keshban fast gestolpert, und als er sich wieder aufrichtete und seine Hände betrachtete, mit denen er das Hindernis befühlt hatte, da sah er im fahlen Schein der nebelgetränkten Dämmerung an seinen Fingern Blut. Feucht glänzend und frisch. Ein Fuchs hatte einen Vogel geschlagen, war dann aber abgezogen. Keshban leckte sich die Lippen. Wohin er sich wenden soll-
te? Er wußte es nicht. Besser, er blieb an diesem Ort, so seltsam, so beklemmend der Platz auch sein mochte. Der Pelz würde nicht ausreichen, die Nachtkühle fernzuhalten. Keshban entschloß sich, ein Feuer anzumachen. Es sollte ihn wärmen und ihm die nächtlichen Räuber vom Leib halten. Zum ersten Mal in seinem Leben nächtigte Keshban allein auf fremdem Land. Sonst war er entweder in der Nähe des Lagers gewesen, mit jedem Pfad und jedem Weg auch im Dunkeln vertraut, oder aber in der Gruppe der mannbaren Krieger, wo einer dem anderen Mut und Schutz spendete. Keshban trug Holz zusammen und machte Feuer. Er verstand sich auf die Kunst, und schon nach kurzer Zeit züngelte das erste feurige Rot in die weißliche Schemenwelt des nachtdunklen Waldes. Im Schein des leise knisternden Feuers rupfte Keshban den Vogel und nahm ihn aus. Er spießte ihn auf ein Scheit und briet das Tier über dem Feuer. Irgendwo hinter ihm bewegte sich etwas, huschte schemenhaft durch das weiße Schweigen, lautlos, gefährlich. Dann hörte Keshban den ersten Ton. In der Ferne, kaum hörbar, aber um so erschreckender: das Heulen eines Wolfes. »Elende Bestien!« knurrte Keshban. Er hatte den Rücken an einen Riesen von Baum gelehnt. Es tat gut, die ruhige Härte des Holzes zu spüren. Vor ihm brannte das Feuer. Es zischte explosionsartig in die Höhe, wenn ein Tropfen Fett, aus der Haut des Vogels herausgesotten, in die Flammen tropfte. Keshban sah in die Höhe. Der Mond war wegen des Nebels kaum zu sehen. Im schier undurchdringlichen Blattwerk des Waldes hätte sein Schein auch wenig genutzt. Wieder das Heulen, schärfer diesmal, langgezogen und näher. Es mußten mehrere sein, ein ganzes Rudel wahrscheinlich. Vielleicht waren sie auf der Jagd. Keshban fühlte, wie die Furcht nach ihm griff. Es mußte ein großes Rudel sein, stellte er fest. Das Heulen war lauter und
durchdringender geworden. »Hast du Nahrung genug, sie mit einem wegmüden Wanderer zu teilen?« Die sanfte, wohlklingende Stimme ließ seine Nackenhaare steif abstehen. Keshban erstarrte. Er war gekommen, ohne daß Keshban auch nur das geringste Zeichen gehört hatte. Lautlos wie der Tod selbst, durchfuhr es Keshban. Er drehte sich um. Der Mann war hinter ihm aus dem fahlen Weiß des Nebels getreten. Umweht von wirbelnden Nebelschleiern, die gleichsam aus seinem Körper herauszuströmen schienen, stand er da und lächelte. Der Mann war jünger als Keshban, aber sein wohlgeformtes Gesicht bewies in jedem einzelnen Zug, daß der junge Mann viel gesehen und erlebt haben mußte. »Ich bin Gruulx«, sagte der Fremde. Er kam leichtfüßig, fast schwebend zwei Schritte näher. »Keshban«, stellte sich der Banithe vor. In seiner Hand bebte der Spieß mit dem daran haftenden Vogel stärker, als es die Anstrengung des Haltens hätte rechtfertigen können. »Setz dich!« sagte Keshban. »Das Feuer wird dir guttun.« Der Fremde lächelte. Er hatte helle Haare, die fast so weiß waren wie der Nebel, der ihn noch immer umfloß wie ein Mantel. Lang wallten die Haare auf die Schultern herab. Zwei blaue Augen sahen Keshban an, und wieder fröstelte der Banithe. »Danke«, sagte der Fremde sanft. Er setzte sich, aber nicht sehr nahe ans Feuer. »Bist du ein Pasgute?« »Ich bin Gruulx«, sagte der junge Mann. Er hatte auf den bloßen Armen nicht die kleinste Narbe, auch sein Gesicht war bartlos, glatt und frei von jeglicher Wunde. Ein überirdischer Held oder ein bemerkenswerter Feigling, der sich vor Jagd
und Kampf drückte. »Du bist Banithe und fremd im Land«, sagte Gruulx. Fröstelnd, so schien es, zog er die Beine an den Körper. Er trug ein langes, bis auf die schlanken Knöchel herabfallendes Gewand aus feingewirktem Leinen und ohne jeden Zierat. »Ich wandere«, sagte Keshban. Er begann den Vogel wieder über dem Feuer zu drehen. Der Gesichtsausdruck des unverhofften Gastes verriet keinerlei Gemütsbewegung. »Ohne Ziel, ohne Plan, nur so.« Diesmal lächelte Gruulx. »Ohne Ziel?« fragte er. Seine Kinnmuskeln zuckten leicht. Er sah an Keshban vorbei auf den Vogel, der einen prachtvollen Duft zu verströmen begann. Vermutlich hat er schrecklichen Hunger, sagte sich Keshban. »Gleich ist der Braten fertig«, sagte er. Gruulx lächelte zurückhaltend. »Du müßtest das Fleisch sonst roh essen«, sagte Keshban. »Es würde mich nicht stören«, versetzte Gruulx. Keshban zögerte, dann zuckte er mit den Achseln. Er nahm sein Messer zur Hand und trennte eine Keule ab. Auf der Spitze seines Messers reichte er das Fleisch an Gruulx weiter. Die Haut war bereits knusprig braun gebraten, im Inneren war das Fleisch noch roh. »Du solltest dich näher ans Feuer setzen«, schlug Keshban vor. »Du mußt fürchterlich frieren in deinem dünnen Gewand.« »Es geht mir gut«, sagte Gruulx. Er leckte einen Tropfen rosafarbener Bratflüssigkeit von der Innenseite des Schenkels, dann biß er zu. Keshban hörte das Bersten des Vogelknochens, und er erschauerte. Gruulx aß hastig und zermalmte die Knochen zwischen seinen weißen Zähnen, die in der Nähe des Zahnfleisches schwärzliche Säume aufwiesen. Obwohl er weit von Keshban
entfernt saß und völlig unbewaffnet war, überkam den Banithen ein Gefühl der Beklemmung. »Noch mehr?« fragte er und sah Gruulx an. »Du scheinst entsetzlichen Hunger zu haben.« »Ich kann ihn ertragen«, sagte Gruulx. Im Nebel heulte einer der Wölfe, sein Klagen durchtrennte die Stille am Lagerplatz. Keshban konnte sich eines furchtsamen Fröstelns nicht erwehren. Gruulx lächelte verhalten. »Du hast keine Waffen«, sagte Keshban. »Ich brauche keine«, behauptete Gruulx. Für die Begriffe, die Keshban mit Schönheit verband, war Gruulx ein herausragend schöner Mann, schlank und gut gewachsen. Aber es war etwas an dieser Schönheit, was Keshban mit Furcht erfüllte. »Es sind Wölfe im Wald«, sagte Keshban leise, als habe er Angst, durch den Klang seiner Stimme einen der Wölfe heranzulocken. »Ich weiß«, sagte Gruulx. »Ich kann ihr Singen hören.« »Singen?« fragte Keshban entgeistert. »Dieses gräßliche Heulen nennst du Singen?« »Nicht ich nenne es so«, sagte Gruulx. Er deutete mit Augenbewegungen an, daß er gerne etwas Wasser gehabt hätte. Keshban nickte, und Gruulx griff mit seinen schlanken Fingern nach dem Schlauch. Er schüttete sich ein wenig Wasser in die Höhlung der linken Hand und leckte es heraus. Wie ein Wolf, dachte Keshban und schluckte. Gruulx sah auf, sein Blick begegnete dem des Banithen. Die blauen Augen des Fremden waren ausdruckslos, ihr Blick schien durch Keshban hindurchzugehen. »Wer nennt den Klang Singen, wenn nicht du?« Gruulx lächelte und legte den Wasserschlauch zurück. »Sie selbst«, sagte er leise. Ein leichtes Brummen schien tief aus
seiner Kehle zu kommen. »Die Wölfe? Haben denn Wölfe eine Sprache?« »Alle Tiere haben Sprachen«, sagte Gruulx. »Man muß sie nur verstehen.« Keshban drehte heftig seinen Braten im Feuer herum, damit das Fleisch nicht verkohlte. »Woher willst du das wissen?« fragte er. »Verstehst du denn die Sprache der Wölfe?« »Ich bin Gruulx«, sagte der Fremde. Wieder lächelte er, und wieder glitt etwas Eisiges über Keshbans Rücken. »Man nennt mich den Rudelbruder.« Keshban erstarrte mitten in der Bewegung. Unwillkürlich sah er sich um. Draußen, im dichten Nebel, lauerten die Wölfe. Sie schwiegen jetzt. Warum? Und ziemlich weitab vom Feuer, eingehüllt in leise steigenden Nebel, saß ein Mann namens Gruulx, der sich den Bruder des Rudels nannte? Wer mochte ihm den Namen gegeben haben? Die Wölfe etwa? »Noch Braten?« fragte Keshban. Es gab keine Fluchtmöglichkeit, nicht in diesem Nebel, nicht, wenn die Wölfe sich in der Dunkelheit gesammelt hatten. »Gern. Warum hast du dein Volk verlassen?« »Ich will Abenteuer erleben«, versetzte Keshban. Er schnitt ein Stück aus dem halbgaren Vogel und reichte es Gruulx. Der Rudelbruder hatte Mühe, das Fleisch zu fassen. Es zitterte heftig an der Spitze von Keshbans Messer. »Eine schöne Waffe«, sagte Gruulx. »Sehr guter Stein und vorzüglich verarbeitet.« Keshban lächelte geschmeichelt. »Ich habe sie selbst hergestellt«, sagte er. »Du wirst sie brauchen«, sagte Gruulx. Er sah Keshbans Blick auf sich gerichtet und aß nun langsamer, ohne aber das unbestimmte Mißtrauen in Keshbans Seele dadurch abbauen zu können.
Mit jedem Augenblick, den Gruulx am Feuer in seiner Nähe verbrachte, wuchs in Keshban ein vages Gefühl der Angst. Dieser Mann war ihm nicht geheuer, auch wenn Keshban nicht zu sagen vermochte, was ihn an dem Rudelbruder störte. »Bald werde ich eine bessere Waffe haben«, sagte Keshban. »Ach?« war die einzige Reaktion des Rudelbruders. »Ich werde Alton in meinen Besitz bringen, das Gläserne Schwert«, verkündete Keshban. Er sah, wie sich der Rudelbruder zusammenkrümmte. In dem Gesicht des Mannes zuckte kein Muskel, aber die Haut wurde ungewöhnlich bleich, und in den gerade noch ausdruckslosen Augen loderte ein verhaltenes Feuer. »Ach, wirklich?« sagte Gruulx, und Keshban konnte spüren, wie der Rudelbruder sich zurückhielt. Er hat Angst vor der Waffe, sagte Keshban sich insgeheim, und er freute sich, einen Gesprächsgegenstand zu haben, mit dem er dem unheimlichen Gast ein wenig zusetzen konnte. »Ich werde Xanadas Lichtburg finden«, sagte Keshban. »Dort ist das Gläserne Schwert.« »Bist du berufen, es aufzuheben?« fragte Gruulx mit seltsamem Lächeln. Er hatte sich wieder in der Gewalt, seine Augen waren erneut ohne Ausdruck. »Das wird sich zeigen«, sagte Keshban. »Ich bin jedenfalls voller Zuversicht. Weißt du, wie weit man zu gehen hat bis zu Xanadas Lichtburg?« Der Rudelbruder lächelte geheimnisvoll. »Vielleicht bis du dem Ort näher, als du denkst«, sagte er. Seine Stimme klang jetzt wie ein leises Grollen, und im Nebel jaulte wieder einer der Wölfe. »Hast du keine Angst?« »Wovor?« »Vor Wölfen?« »Wir sind zwei und haben das Feuer«, sagte Keshban. Er nahm einen entflammten Ast zur Hand und schwang die Fa-
ckel durch die Luft. Unwillkürlich kam er dem Rudelbruder damit zu nahe. Gruulx fletschte die Zähne und wich grollend zurück. »Damit schlagen wir die Wölfe in die Flucht«, sagte Keshban. »Falls sie überhaupt kommen.« »Wenn es so einfach ist, das Gläserne Schwert zu erobern, warum hat nicht längst jemand die Waffe aus der Lichtburg entfernt?« »Weiß ich nicht«, sagte Keshban. Er behielt die Fackel in der Hand. »Vielleicht war bisher keiner so mutig, sich in das Innere der Burg zu wagen. Was weiß ich?« »Es heißt«, sagte der Rudelbruder langsam, »daß schon viele ausgezogen sind, um das Schwert Alton für sich zu gewinnen. Zurückgekehrt aber ist keiner.« »Ich bin voller Zuversicht«, sagte Keshban. Er schlug seine Zähne in das Fleisch des gebratenen Vogels. Der Rudelbruder lächelte. »So tapfer bist du?« fragte er. Der Spott war nicht zu überhören. »Nun denn, dann geh in Frieden und versuche dein Glück. Du wirst nicht mehr weit zu gehen haben.« »Woher weißt du das?« fragte Keshban. »Kennst du die Lichtburg?« »Vielleicht«, sagte der Rudelbruder. »Ich weiß vieles. Möglich, daß wir uns eines Tages wieder begegnen.« Gruulx stand auf. In dieser Stellung, von unten vom Feuer beleuchtet, gegen den matten Hintergrund der ihn umwallenden Nebel, sah er einem Dämon ähnlicher als einem Menschen. »Ich muß gehen«, sagte Gruulx. »Ich bedanke mich für deine Gastfreundschaft, und ich hoffe, daß du Xanadas Lichtburg erreichen wirst.« »Du willst gehen?« rief Keshban entgeistert. »Es ist stockfinster, und dort draußen schleichen die Wölfe.«
Gruulx lächelte nur. Er machte ein paar Schritte, dann war er im dichten Nebel verschwunden. »Heda!« rief Keshban. Er ließ das Fleisch fallen und sprang Gruulx nach, aber der Fremde war verschwunden. »Seltsamer Kerl«, murmelte Keshban. Er kehrte zum Lager zurück und hockte sich neben das Feuer. Er führte gerade die Vogelkeule zum Munde, als ihm etwas auffiel. Seine Hand sank herab. Der Rudelbruder hatte auf dem weichen Boden des nachtfeuchten Waldes keine einzige Fußspur hinterlassen. In der Ferne erklang, sich langsam entfernend, das Heulen des Rudels. * »Ein abstoßendes Land«, sagte die Frau, und sie hatte recht damit. »Wer oder was mag hier schon hausen?« Mythor gab auf die Frage keine Antwort. Einige wenige Stunden der Ruhe hatten der ganzen Gruppe gutgetan. Sie hatten sich ein wenig erholen können von den Strapazen des Kampfes gegen Krüdelzuhr. Der Sumpf war überwunden, der Marsch konnte weitergehen. »Das Leuchten ist weg«, stellte Sadagar fest. »Das ist ein böses Zeichen.« Nottr grunzte nur verächtlich. Mythor streckte die Hand aus, deutete nach vorne. »Dort«, sagte er mit ruhiger Stimme, »liegt Xanadas Lichtburg. Dorthin werden wir gehen.« Er lächelte. »Möchte jemand zurückbleiben?« »Gibt es Kampf?« fragte Nottr. »Dann ich sein dabei.« »Man kann allerlei verlieren bei der Sache«, stellte die Runenkundige Fahrna fest. »Den Kopf und sein Geld. Eine üble Sache, und keiner weiß, wie sie ausgehen wird.«
»Ich…«, begann Sadagar, verstummte aber, als er Mythors tadelnden Blick auf sich gerichtet sah. »Wir haben keine Zeit, Beschwörungen durchzuführen«, sagte Mythor. »Außerdem…« »Außerdem was?« fragte Sadagar giftig. »Wenn man mir keine Zeit läßt, eine ordentliche Beschwörung meines wissenden Freundes durchzuführen, wenn man mich hetzt und drängt und beschimpft und beleidigt, dann kann ja nichts Vernünftiges herauskommen.« »Quacksalber«, schimpfte Nottr. »Was?« ereiferte sich Steinmann Sadagar. »Quacksalber?« Nottr grinste ihn rauflustig an. »Aufschneider, Lügenbeutel, Jämmerling.« »Ich könnte dich erwürgen«, knirschte Sadagar. »Mit diesen meinen Händen könnte ich dich erdrosseln, wenn ich nicht von Natur aus gutmütig, großherzig und sanftmütig wäre.« »Schluß jetzt«, bestimmte Mythor. Er wollte sich das Gezänk nicht länger anhören, das offenkundig nur dazu diente, den Aufbruch ins Ungewisse hinauszuzögern. Mythor setzte sich in Bewegung. Nottr folgte ihm auf dem Fuß. »Vorwärts!« forderte die Runenkundige Fahrna ihren Gefährten auf. »Worauf wartest du? Soll ich dich tragen, weil deine Knochen nichts mehr taugen?« »Ha!« machte Sadagar empört. »Meine Knochen sind besser und jünger als deine. Ich gehöre nicht zu denen, die sich kopfüber in dunkle Gefahren stürzen.« »Nun«, sagte Fahrna boshaft. »Dann stelle dir vor, du hättest deinen Freund befragt, den Kleinen Nadomir. Er habe dir gesagt, was vor uns liegt. Würdest du gehen?« Sadagar trottete hinter Fahrna her. »Was weiß ich?« fragte er wehleidig. »Man läßt mich ja nicht. Alles könnte ich euch vorhersagen, alles. Aber man läßt mich nicht.«
Fahrna streckte ihm die Zunge heraus. »Seht euch das an«, murmelte Sadagar. »Was für ein Land.« Von Sumpf konnte keine Rede mehr sein. Im Gegenteil, der Boden war ausgetrocknet, von kleinen und großen Rissen durchzogen. Struppiges Gras wucherte in den Spalten. Wenn man fest auf eine der Schollen trat, wirbelte Staub auf. »Alles wie tot«, murmelte Nottr. »Ich sage euch, auch wir werden bald tot sein«, gab Sadagar bekannt. »Unsere Gebeine werden…« »So etwa?« fragte Mythor mit leisem Spott. Sadagar sah in die Richtung, die Mythor mit dem Finger bezeichnete. Von der Sonne gebleicht, lag ein Skelett auf dem trockenen Boden, große Knochen, und nichts war zu sehen, was als Ursache für den Tod des Wesens hätte herhalten können. Sie lagen einfach da, eine große Zahl weißer Knochen, und ihr Anblick war in der Trostlosigkeit des Landes doppelt bedrückend. »Was habe ich gesagt?« murmelte Sadagar. Sie schritten auf das Gebein zu. Ein Schädel war zu sehen, ein gewaltiges Gebilde mit vier beängstigend großen Reißzähnen und zwei nicht minder furchteinflößenden Hörnern. »Ein Tier«, sagte Nottr. »Ein totes Tier, nichts weiter.« Mythor kniete neben dem Knochenhaufen nieder. Es war still, man konnte nur das leise Wehen des Windes hören, der über das dürre Land strich. »Was kannst du sehen?« fragte Sadagar. »Spuren von Verletzungen?« »Das Tier, wie immer es auch ausgesehen haben mag, war recht jung. Seht hier die Zähne. Kaum abgeschliffen. Das Tier war jung, als es starb, und wenn die Knochen so mürbe sind, dann nur, weil das Tier schon vor langer Zeit verendet ist.« Er faßte einen der Knochen an, groß genug, um als Keule verwendet zu werden. Das Gebein zerbröselte in Mythors
Hand. Feiner weißer Staub wehte davon. »So wird es auch uns ergehen«, jammerte Steinmann Sadagar. »Woran mag das Tier gestorben sein?« fragte Nottr. »Das läßt sich so einfach nicht sagen«, murmelte Mythor. Er richtete sich wieder auf. »Gehen wir weiter.« »Mich bringt keiner…«, wollte Sadagar sein Gezeter wieder beginnen. »Du kannst ja zurückgehen«, schlug Fahrna hinterhältig vor. »Allein selbstverständlich.« Sadagar zuckte mit den Achseln und fügte sich in sein Schicksal. »Dort vorn!« rief Nottr, der ein Stück vorausgeeilt war. »Noch ein Knochenhaufen.« »Es wird nicht der letzte sein, fürchte ich«, bemerkte Mythor. Der zweite Knochenhaufen war nur ein paar hundert Schritte vom ersten entfernt, und man mußte nur wenig mehr als fünfzig Schritte gehen, um auf das dritte Skelett zu stoßen. »Nicht gut«, bemerkte Nottr. »Der reinste Friedhof«, murmelte Fahrna. »Aber ich weiß, daß diese Tiere nicht hierhin gekommen sind, um freiwillig ihr Leben zu beenden.« Nottr grinste breit. »Hier hausen Tod«, sagte er. »Er ist sehr zuvorkommend zu seinen Gästen.« »Was mögen das für Geschöpfe gewesen sein?« rätselte Fahrna. »Das dort, mit dem gräßlichen Horn, was mag es getan haben, als es noch gelebt hat?« »Was wohl, alte Hexe«, kicherte Sadagar. »Es hat irgend jemand gehörnt.« »Ich hab’ solche Knochen gesehen«, erklärte Nottr. »Früher, lange her. Riesiger Bär, damals. Dieser ist viel größer.« Schweigen breitete sich nach diesen Worten aus. Es war sehr still im Land der Trockenheit, und der Anblick der Knochen-
haufen ließ auch den leisesten Anflug von Galgenhumor nach kurzer Zeit vergehen. Es gab Hunderte von Gerippen auf dem Boden. Seltsam verkrümmt waren die Leiber der Tiere gewesen, als der Tod sie ereilt hatte. Teilweise waren die Knochen vom Sand bedeckt, aus Schädeln wucherte struppiges Gras. Die Knochen lösten sich beim ersten Zugriff auf. Mit einem Handzeichen gebot Mythor Halt. »Seht euch das an«, sagte er. Wieder ein Knochenhaufen. Sie hatten aufgehört zu zählen, es gab zu viele. Dieser aber unterschied sich von den anderen, und das schon auf den ersten Blick. Jemand hatte mit einem scharfen, spitzen Gegenstand versucht, auf den Knochen herumzukratzen. Auf der Stirnfläche des Tierriesen waren Zeichen zu erkennen. »Was ist das?« fragte Mythor. »Fahrna, kannst du die Zeichen lesen.« »Vielleicht«, sagte sie zögernd. »Ich werde es versuchen.« Sie kniete nieder und hob das Stirnbein langsam auf. Mit einem häßlichen Geräusch brach der Schädel auseinander. Scheitel und Hinterhaupt blieben auf dem Boden liegen. »Ja, es sind Zeichen«, sagte Fahrna langsam. »Jemand hat versucht, eine Botschaft zu hinterlassen.« »Wer?« fragte Sadagar. »Und was hat er zu sagen?« Die Runenkundige hielt die Fläche des Stirnbeins schräg zur Sonne, um die Kontraste zu erhöhen. »Ich kann es nicht lesen«, murmelte Fahrna. »Es scheint aber eine Warnung zu sein.« »Wovor?« fragte Sadagar begierig. »Rede, Fahrna! Wir müssen wissen, worauf wir uns da einlassen. Ich habe keine Lust, meine wertvolle Haut zu Markte zu tragen.« »Eine Warnung«, sagte Fahrna. Sie stand auf und ließ den Knochen fallen. »Wir müssen vorsichtig sein, über die Maßen vorsichtig.«
Mythor setzte den Marsch in Richtung jenes geheimnisvollen Leuchtens fort, das er am gestrigen Abend gesehen hatte. »Dort«, sagte Fahrna. »Ein Mensch!« Es war das erste Gerippe eines Menschen, das sie fanden. Mythor kniete kurz nieder, um die Knochen zu untersuchen. »Ein Mann«, sagte er, als er sich wieder aufrichtete, »ein kräftiger, gesunder Mann. Er hat keine schwere Verletzung erlitten.« Ein Frösteln überlief jeden einzelnen der kleinen Gruppe. »Xanadas Lichtburg scheint nicht gerade ein Ort der Freude zu sein«, sagte Mythor leise. »Der Tod hier zu Hause«, sagte Nottr ungewöhnlich ernst. »Besser nicht anklopfen.« Dem ersten Menschengerippe folgte das zweite, das dritte. Dazwischen immer wieder Tierknochen, teilweise von Aasfressern oder vom Wind verstreut. Ein bedrückendes Schweigen legte sich über die Gruppe. Jeder Schritt, den Mythor machte, brachte ihn tiefer in diese Zone der Trockenheit, in der so viele Wesen den Tod gefunden hatten. »Eines Tages wird ein anderer unsere Gebeine so finden«, sagte Sadagar. »Hast du überhaupt ein Knochengerüst?« spöttelte Fahrna. Sie verstummte rasch, die Zeit für Scherze war vorüber. »Siehst du den Glanz?« fragte Mythor den Steinmann. »Dort vorn?« Sadagar nickte. »Sieht aus wie Glas«, sagte er. »Aber woher sollte hier Glas kommen?« Sie gingen auf den Schein zu. »Seltsam«, sagte Mythor, als das Ziel erreicht war. »Ich habe nie etwas Ähnliches gesehen.« Es war eine Spur, ein Pfad, der sich durch das Land schlängelte. Die Spur schien aus dem Sumpf zu kommen, und sie
führte in die Richtung, in der Mythor Xanadas Lichtburg vermutete. »Es sieht aus«, sagte Sadagar, dem die Sache nicht geheuer schien, »als ob eine riesengroße Schnecke hier entlanggekrochen sei.« Die Schnecke hätte die Größe eines Wachturms haben müssen, um eine solche Spur hervorrufen zu können. Er bückte sich, um die Fährte zu untersuchen. Er klopfte mit dem Knöchel gegen das durchscheinende Gebilde auf dem Boden. »Glas«, sagte er. »Oder etwas Ähnliches.« Der Klang war angenehm, aber er konnte das unsichere Gefühl nicht vertreiben, das von den vieren Besitz ergriffen hatte. »Gehen wir der Spur nach?« fragte Fahrna. Mythor nickte. Er sagte sich, daß dies voraussichtlich der kürzeste Weg zu Xanadas Lichtburg sei. War diese Spur ein Wegweiser, der Wanderer durch diese Einöde lotsen sollte? Eine unerklärliche Scheu hielt Mythor davon ab, auf der Spur selbst zu gehen. Er schritt daneben, und ab und zu blieb er stehen, um die Umgebung zu betrachten. Feuchter Herbstwind strich über das Land. In einigen der Schädel und Hohlknochen erzeugte der Wind seltsame Klänge, ein Singen und Klagen, das auf das Gemüt drückte. »Gespenstisch«, sagte Sadagar. Immer wieder sah er sich um. Außer den vieren waren keine lebenden Wesen zu sehen. Nottr hatte recht. Dies Land war die Heimstatt des Todes. »Wie mag das Land im Sommer aussehen?« murmelte Sadagar. »Nicht viel besser«, vermutete Mythor. Es schien ihm seltsam, daß ein Werkzeug des Guten ausgerechnet in dieser Wüstenei verborgen sein sollte. Was war geschehen, daß in der Nähe des Schwertes Alton der Tod sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte? »Oh, Nadomir«, murmelte Sadagar. »Hilf mir!«
»Schweig!« fauchte die Runenkundige. »Wir werden unser Glück in der Lichtburg machen. Es muß dort Dokumente geben, und die will ich haben – um jeden Preis.« »Du und deine Königstrolle«, sagte Sadagar verächtlich. »Was nützt dir die weiseste Botschaft, wenn man dir den Schädel einschlägt?« Nottr kicherte. Sadagar wäre am liebsten weggelaufen, wußte aber nicht, wohin, und eine Rückkehr auf der eigenen Spur kam für den Steinmann nicht in Frage. Fahrna war sichtlich aufgeregt, hoffte sie doch, zu weiteren Hinweisen und Erklärungen zu kommen, die ihr bei der Entzifferung der Runenbotschaft der Königstrolle fehlten. Nottr schließlich suchte Aufregung, Kampf und Getümmel. Er war nicht so dumm, daß er die Angst nicht empfand, die das bloße Betrachten dieses Landstrichs schon hervorrufen mußte. Er freute sich aber darauf, diese Furcht in heldenhaftem Kampf überwinden zu können. »Vorwärts!« knurrte der Lorvaner. Sadagar blieb plötzlich stehen. »Keinen Schritt gehe ich mehr weiter!« verkündete er. »Ich will erst den Kleinen Nadomir befragen, was das Schicksal für uns bereithält.« »Prügel!« verkündete Nottr. »Wenn du nicht weitergehst!« »Wir haben nicht die Zeit für diesen Unfug«, sagte die Runenkundige geringschätzig. »Beschwöre Nadomir ein anderes Mal.« »Jetzt oder nie«, gab Sadagar bekannt. Er setzte sich auf den Boden und verschränkte die Hände vor der Brust. Mythors Hand fuhr wie gedankenverloren zum Schwert. »Nun«, sagte er dann freundlich. »Niemand wird dich hindern zu tun, was du für recht erachtest. Wir werden das gleiche tun. Lebe wohl.« Er entfernte sich. »Bei allen Dämonen der Finsternis!« keifte Sadagar los. »Wollt ihr wohl bleiben und mir helfen? Ungläubige, Zweifler,
Spötter. Der Kleine Nadomir…« Niemand hörte auf ihn, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als wieder aufzustehen und den Davonschreitenden nachzuhasten. Dabei stolperte er über einen Totenschädel und landete der Länge nach auf dem Boden. Genau vor seinen Augen lag ein weiterer Schädel, groß und massig, und auf der Stirn des Totenschädels war ein Bild eingeritzt, das jedermann verstehen konnte: ein Totenschädel. Von Knochenhaufen zu Knochenhaufen stolperte Sadagar hinter den anderen her, immer wieder lauthals beteuernd, daß es heller Wahnsinn sei, sich in solch ein Abenteuer zu stürzen, ohne zuvor den Kleinen Nadomir zu befragen. Als die anderen stehenblieben, war Sadagar beinahe außer Atem und dankbar, daß sie ihn zu Luft kommen ließen. Dann aber begriff er, daß man nicht seinetwegen angehalten hatte. Das Ziel war erreicht: Xanadas Lichtburg. Schimmernd lag sie im Licht der frühen Sonne, gleißend über dem morgendlichen Dunst. Zu sehen war nur die Spitze, hoch über dem Frühnebel. Ihr Licht strahlte über das dürre Land. »Die Lichtburg«, sagte Fahrna. Nottr bestaunte das Wunderwerk offenen Mundes. Er kratzte sich hinter dem Ohr. Mythor lächelte verhalten. Die Legenden hatten nicht gelogen. Es gab die Lichtburg, daran war kein Zweifel mehr möglich. Man konnte sie sehen. Weit hinaus strahlte sie auf das Land. »Sie muß sehr groß sein«, murmelte Sadagar. »Wer mag darin wohnen?« »Vermutlich Xanada«, sagte Fahrna leise. Sie sah Mythor an. »Du wirst mir erlauben, dort nach Schriften zu suchen, nicht wahr?« »Jeder mag sein Glück in der Lichtburg versuchen«, sagte
Mythor, der die Augen nicht vom Anblick der strahlenden Burg wenden konnte. Sie setzten ihren Marsch fort und sputeten sich, denn der Wunsch, die Burg endlich zu betreten, hatte alle Angst jäh hinweggefegt. An der Richtung des Marsches konnte jetzt kein Zweifel mehr bestehen, unübersehbar lag Xanadas Behausung vor den vieren. »Ein seltsamer Widerspruch«, sagte Mythor unterwegs. »Diese strahlend schöne Burg und das düster schweigende Umland. Dort Licht und Leben, hier Trübsal und Tod.« »Wer weiß, was die Tiere und Menschen hierhergeführt hat«, gab Fahrna zu bedenken. »Viele gibt es, die die Geschichte vom Schwert Alton kennen. Du kannst sehen, wo sie geblieben sind.« In der Tat wurde der Leichenacker immer voller. Zu Myriaden mußten Tiere hierhergekommen sein, um auf dieser Ebene ein rätselhaftes Ende zu finden. Im gleichen Maß, in dem sich der Morgendunst lichtete, wurde die Lichtburg deutlicher sichtbar. Drei Stufen waren zu erkennen, die eine riesige Pyramide bildeten, wahrscheinlich so hoch wie ein kleiner Berg. Wegen des Lichtes konnte man die Einzelheiten so genau nicht abschätzen. Das Gebäude schien aus glitzernden Kristallen zu bestehen, in denen sich das Licht der Sonne brach und spiegelte. Die ganze Lichtburg wurde eingehüllt in ein Meer von flackernden Blitzen, von irisierendem Leuchten. In diesem Glitzern und Funkeln waren Strukturen nicht mehr zu erkennen. Nur die groben Umrisse konnte man sehen – eine Pyramide aus Licht. »Ich wüßte gerne, wie die Burg bei Regen aussieht«, sagte Sadagar, »ob sie dann auch so glitzert und gleißt?« »Wahrscheinlich«, sagte Fahrna mit hörbarer Ergriffenheit. »Ich glaube, daß der Lichtbote selbst diese Burg erbaut hat, und dann wird sie wahrscheinlich auch im Dunkel der Nacht
ihren strahlenden Schein nicht verlieren.« Mythor schwieg zu dieser Vermutung. Er wußte nicht, welche Kenntnisse die Runenkundige besaß, aus welcher Quelle sie ihre kühne Vermutung speiste. Er war sicher, in der Lichtburg auf viele Fragen eine Antwort zu finden. Er mußte an das Pergament denken, das Nottr ihm übergeben hatte, an die Frau… Er sah auf. »Schaut!« rief er. »Seht nur!« »Wundervoll!« rief Sadagar. »Herrlich!« hauchte die Runenkundige. »Hm«, machte Nottr. Wie herbeigezaubert stand das Bild der Schönen vor dem lichten Kranz der Burg, umsäumt vom Schein der Lichtburg. Mythor mußte schlucken. Er glaubte jetzt, daß er in der Lichtburg die Lösung aller Rätsel erfahren würde. »Wer ist Xanada?« fragte Mythor leise. »Ich weiß es nicht«, sagte Fahrna. »Die Dokumente in der Burg werden uns vielleicht Auskunft geben.« »Ist sie Xanada?« murmelte Mythor, wie geblendet vom Bild der Unbekannten. Sie setzten ihren Weg fort. Über Knochen hinweg ging der Marsch, durch zermahlenes Gebein, das der Wind in feinkörnigen Fahnen über das Land wirbelte. Mythor sah nur noch das Bild vor sich, und er achtete kaum darauf, wo er ging. Er sah nicht, daß die Zahl der beritzten und beschnitzten Gebeine größer wurde. Er sah nicht, daß jemand aus Knochen einen Wegweiser errichtet hatte und daß dieses Wegmal ihn von der Burg wegführen wollte. Mythor sah nur, immer wieder von flackerndem Schein unterbrochen, das Bild der schönen Unbekannten, und bei diesem Anblick gab es für ihn kein Halten mehr. Auch Sadagar beschleunigte seine Schritte. Er lächelte ein wenig, schien seine Furchtsamkeit zur Gänze eingebüßt zu
haben. Neben ihm trabte Fahrna, fast keuchend. »Gut«, sagte Nottr immer wieder. »Ist gut.« Das Bild, dem Mythor folgte, wurde ein wenig undeutlich. Vielleicht lag das daran, daß die vier ihrem Ziel immer näher kamen. Ab und zu wurden Einzelheiten der Burg erkennbar. Sie bestand offenbar aus gewaltigen kristallenen Quadern, jeder einzelne größer und schwerer als alles, was Mythor gesehen hatte. Wahrscheinlich hätten zehn Männer einen solchen Kristall nicht von der Stelle gebracht. Und jeder dieser Kristalle fing das Licht der Sonne auf und gab es in veränderter Form wieder ab. Überall glitzerte und flackerte es. »Als ob dort Hunderte von Kisten mit schönstem Schmuck lägen«, sagte Fahrna. »Ein Gebirge aus kostbarem Geschmeide.« »Und gut bewacht, wie?« knurrte Nottr. Immer stärker und greller wurde das Strahlen und Funkeln. Immer wieder mußten die vier die Augen schließen, um nicht geblendet zu werden. »Es sieht aus, als wohnte dort der Lichtbote selbst«, sagte Fahrna plötzlich. »Xanada«, flüsterte Mythor. Die Lichtburg war nicht zur Gänze verlassen. Durch das feurige Schimmern der Kristalle hindurch konnte Mythor Gestalten sehen, die sich bewegten. Sie schienen zur obersten Plattform hinaufzusteigen. Dann klang der erste Ton über das Land, laut und grell. »Entsetzlich«, schimpfte Steinmann Sadagar. »Das sind die schlechtesten Spielleute, die ich jemals gehört habe.« Das Schmettern der Fanfaren wurde immer lauter, und der Klang verbesserte sich keineswegs. Das Schlimmste aber war nicht der Lärm, der bald schmerz-
haft stark zu werden begann. Am unerträglichsten war die Art des Klanges, der das Gehör peinigte und empfindsameren Gemütern fast schon körperliche Schmerzen zufügen konnte. Mißtönend und grell waren die Klänge, durchtränkt von einer Bösartigkeit, die förmlich mit Händen zu greifen war. Sadagar wurde langsamer. »Das kann niemand aushalten«, sagte er. »Aufhören da oben, aufhören!« Auch die Runenkundige verzerrte das Gesicht. »Als wolle man uns vertreiben«, sagte sie ächzend. Mythor konnte sie gut verstehen. Der Mißklang steigerte sich noch mehr, er schien durchsetzt von Haß und Qual zugleich, und er schuf wiederum Haß und Qual. Mythor hatte ein Gefühl, als würden ihm die Eingeweide verknotet. »Weiter!« drängte er eingedenk des Bildes, das er gesehen hatte. »Vorwärts!« »Ohne mich«, stieß Sadagar hervor. »Laßt uns fliehen, bevor wir den Verstand verlieren.« »Wie halten die da oben das nur aus?« jammerte Fahrna. »Nottr?« Der Lorvaner zuckte nur mit den Achseln. »Schwächlinge«, sagte er. Ihn schien der gräßliche Klang nicht zu stören. Mythor spürte den Widerwillen immer stärker in sich aufsteigen. Noch immer stießen die Gestalten auf der obersten Plattform der Pyramide in ihre grauenerregenden Instrumente, deren Klang durch Mark und Bein schnitt. »Folgt mir!« befahl Mythor, der sich selbst überwinden mußte, bevor er weiterschritt. Nottr zögerte keinen Herzschlag lang, und wenig später stolperten Sadagar und Fahrna hinterdrein. Sie schienen eingesehen zu haben, daß sie ohne Mythor und Nottr in dieser Wildnis verloren waren. Ihre einzige Rettung bestand darin, Mythor zu folgen.
Dann war die Lichtburg beinahe erreicht. Vor Mythors Augen lag einer der funkelnden Riesenkristalle, ein Gebilde, das fast zweimal mannslang war und ihm bis zur Hüfte reichte. Feuerfunken sprühten im Schein der Morgensonne von dem Quader. Hinter diesem Feuer war etwas anderes zu erkennen. Mythor beugte sich über den Kristall. Er berührte ihn. Das Material war kalt, sogar sehr kalt. Mythor hatte ein Gefühl, als fahre ihm eisiger Schrecken durch den Leib. Hastig zog er die Finger zurück. Dann sah er den Körper im Innern des Quaders. Es war ein menschlicher Körper. »Hierher!« rief Mythor. Die anderen schlossen zu ihm auf. »Seht!« sagte Mythor. »Kann einer von euch mir das erklären?« Sie zuckten mit den Gesichtern, weil der Lärm sie peinigte. Nottr beugte sich über den Quader, und als er sich wieder aufrichtete, zeigte sein Gesicht alle Zeichen des Entsetzens. »Ein Mann«, stieß er hervor. »Ein Toter!« »Ein kristallener Sarg?« rätselte Fahrna. »Seltsam, der Mann sieht noch jung aus. Man könnte glauben, daß er nur schläft.« Mit einem Würgen im Hals sah Mythor auf den Kristall hinab. Darin eingeschlossen, in seltsam verkrümmter Haltung, lag ein Mann; er mochte dreißig Sommer zählen. Er trug Waffen, und sein Körper war von jeder Wunde frei. Er sah aus, als sei er in einem Herzschlag mitten aus dem Leben gerissen und eingefroren worden, den Fischen vergleichbar, die man in sehr kalten Wintern ab und zu an Land ziehen konnte, eingefroren im Eis eines erstarrten Flusses. »Gräßlich«, sagte Sadagar. »Laßt uns weitergehen«, drängte Mythor. Er stolperte mehr, als daß er ging, hinüber zum nächsten Kristall. Diese Blöcke waren nicht in die Pyramide eingefügt worden. Sie lagen verstreut vor dem Fuß des riesigen Gebildes.
»Eine Frau!« rief Sadagar. »Eine Ugalierin«, stellte Fahrna fest. Sie fanden Ugalier und Tainnianer, Eislander und Leute aus den Wildländern; sie fanden Männer, Frauen und Kinder; sie fanden Junge wie Alte, Bewaffnete und Waffenlose. Abrupt brach der Lärm ab. Mythor spürte ein ungeheures Gefühl der Erleichterung. »Was mag das zu bedeuten haben?« fragte Sadagar. »Und was sind diese Kristalle? Schreine?« Der Gedanke war naheliegend, aber es sprach einiges dagegen. An der Kleidung der Eingeschlossenen war zu erkennen, daß sie aus allen Schichten des Volkes kamen: Es gab Bauern, Handwerker, aber auch Edle. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, einen Mann von hoher Geburt in gleicher Weise zu bestatten wie einen Bettler. Überall lagen diese Kristalle herum. Es mußte Hunderte von ihnen geben. »Ich fürchte«, sagte Fahrna leise, »daß diese Leute alle das gleiche Ziel hatten wie wir. Und das ist aus ihnen geworden.« »Sind sie tot?« fragte Sadagar und schüttelte sich vor Grauen. »Oder leben sie vielleicht noch?« Mythor klopfte an die Hülle des Kristallschreins, vor dem er stand. Im Inneren lag ein älterer Mann, aber er rührte sich nicht, auch nicht, als Mythor mit dem Knauf seines Schwertes gegen den Kristall schlug. Es gab einen weithin hallenden, wohlklingenden Ton, der in krassem Gegensatz zu dem schauerlichen Getöse der Spielleute stand, aber der Alte bewegte sich nicht. »Vielleicht eine Art von Schlaf«, murmelte Sadagar. »Ich sollte den Kleinen Nadomir befragen.« »Tu’s!« forderte ihn Fahrna auf. Sadagar verzog das Gesicht zu einem kläglichen Grinsen. Unsicher sah er sich um. »Lieber nicht«, murmelte er. »Wer
weiß, was Nadomir zu sagen hat.« »Aufmachen?« fragte Nottr und zeigte auf den Kristall. Mythor versuchte es gar nicht erst. Er war sicher, daß er den Kristall nicht würde aufbrechen können. Sadagars Gesicht war von wächserner Blässe. »In ein paar Tagen liegen wir auch in einem solchen Ding«, orakelte er. Niemand widersprach ihm. »Tot sind sie nicht«, murmelte Mythor. »Und zu den Lebenden kann man sie auch nicht rechnen.« »Ein Zwischending«, sagte Fahrna. Sie sah Mythor an. »Irgendwo zwischen Tod und Leben. Entsetzlich.« »Wir gehen weiter«, sagte Mythor. »Dort liegt die Lichtburg, dort ist das Schwert Alton, dort ist…« Er wollte sagen, dort ist auch die Frau, aber er brach ab. Das ging die anderen nichts an. »Dort kann auch der Tod sein«, murmelte Fahrna. »Ich sterbe nicht gern.« Nottr, unerschütterlich in seiner Tapferkeit, brach in rauhes Gelächter aus. Mythor setzte sich wieder in Bewegung, auf die Lichtburg zu. Eine seltsame Anziehungskraft ging von ihr aus. Etwas in Mythor warnte ihn vor Xanadas Behausung, aber das stärkere Gefühl war der brennende Wunsch, die Lichtburg zu betreten und sich das Schwert Alton zu verschaffen, das er so bitter nötig brauchte, wenn er seinen Kampf fortsetzen wollte – und vielleicht jene Frau zu treffen, die ihn so magisch anzog. Die kristallenen Quader waren mit unglaublicher Genauigkeit gearbeitet. Nicht die dünnste Messerklinge paßte in die Fugen, sofern sie überhaupt sichtbar waren. Schemenhafte Körper, durch den Lichtschein hindurch gerade noch wahrnehmbar, zeigten den Näherkommenden, daß auch die Kristallquader der Lichtburg mit Körpern gefüllt waren.
Der Widerstreit der Empfindungen in Mythor wurde immer stärker. Es war ihm zumute, als trügen in seinem Leib zwei erbitterte Feinde einen gnadenlosen Kampf aus. Weg von hier, das sagte der eine der Gegner; immer weiter nach vorne, so drängte der andere. Mythor setzte einen Fuß vor den anderen; fast zaghaft bewegte er sich vorwärts, und den anderen ging es nicht besser. Am sichersten marschierte Nottr, dann folgte Mythor. Fahrna humpelte, Sadagar schlich gleichsam vorwärts. Schlagartig wurde es dunkel um die vier. Wie ein großer Becher stülpte sich die Finsternis über die Wanderer, von einem Schritt zum anderen. »Hexerei«, murmelte Sadagar in die Finsternis hinein. Dann erschien wie herbeigezaubert ein Lichtstrahl. Die Burg wurde wieder sichtbar, gläsern und durchsichtig gegen einen pechschwarzen Hintergrund. Von einem der Kristallbausteine der Lichtburg ging der Strahl aus. Er wanderte über den schwarzen Boden, tastend und suchend. Mythor rührte sich nicht. Er wußte nicht, was er von der Sache halten sollte. Der Lichtstrahl tastete sich an die Gruppe heran, verfehlte sie aber und verlor sich in andere Regionen. Mythor konnte Zähneklappern hören, und er verstand die Furcht. Irgend etwas bewegte sich im Inneren der Lichtburg, ein leuchtender Körper. Aber die vielen Kristallsteine ließen keinen genauen Blick zu. Nur ein milchiges Licht drang nach außen, das gerade reichte, die Pyramide wahrzunehmen. »Wir werden sterben, wenn das Licht uns findet«, sagte Fahrna mit hohler Stimme. Im nächsten Augenblick war es geschehen. Der breite Lichtfinger erfaßte die vier und verharrte bei ihnen. Mythor konnte kein Glied mehr rühren. Er wollte sich auch gar nicht mehr bewegen.
Als habe jemand anders die Kontrolle über seinen Körper übernommen, blieb Mythor stehen, und er konnte sehen, daß die anderen ebenfalls erstarrten. Es war, als habe sich bleierne Müdigkeit auf Mythor gelegt. Viele Herzschläge vergingen, in denen nichts geschah. Dann aber wich der Bann plötzlich von den vieren. Sie setzten sich in Bewegung, auf die Lichtburg zu. Mit seltsamen Bewegungen, als seien die Muskeln starr und steif und würden von Fäden gezogen, stapften sie los, Mythor voran, die anderen hinterdrein. Der Lichtschein blieb bei ihnen, folgte ihnen unablässig. Es schien, als habe er die magische Fähigkeit, die solcherart Angestrahlten zu bannen. Mythor konnte denken und fühlen, auch wenn er die Kontrolle über seinen Körper verloren hatte. Er kam sich vor wie in einem Wirklichkeit gewordenen Alptraum. Seine Umgebung konnte er deutlich erkennen. Er sah die mächtigen Quader, aus denen die Burg gefügt war. Er konnte die Fährte sehen, der er bis zu diesem Punkt gefolgt war. Jetzt leuchtete die Spur in gefährlichem Grün, von innen heraus, als glühe sie. Mythor setzte einen Fuß vor den anderen. Der Weg führte um die Lichtburg herum, und nach kurzer Zeit war ein Eingang erreicht. Es war ein gewaltiges Tor, ein hoher, geschwungener Bogen, von starken Säulen getragen. Früher einmal hatten vor diesen Säulen Figuren gestanden. Jetzt waren sie nur noch in ihren Resten zu erkennen. Mythor konnte sie auf dem Boden liegen sehen, von haßerfüllter Hand dorthin geschleudert. Die Statuen waren, das war selbst aus den spärlichen Resten zu ersehen, von ungewöhnlichem Liebreiz gewesen, Menschen und Tierfiguren von erlesener Schönheit. Jemand hatte die Statuen umgestürzt, hatte auf sie einge-
schlagen, um sie zu zerstören. Wer war es gewesen, und was hatte ihn bewegt, daß er den Anblick der Statuen nicht hatte ertragen können? Was war überhaupt mit Xanadas Lichtburg geschehen? Denn so stellte sich Mythor keinen Ort vor, an dem der Lichtbote seinen Wohnsitz hatte. Während er sich bewegte und doch die Kontrolle über seine Glieder nicht wiederfand, durchfuhr ihn mit schmerzhafter Stärke die Gewißheit, daß er sich grausam getäuscht hatte. Denn dieses Bauwerk, das Xanadas Lichtburg genannt wurde, war gewiß kein Stützpunkt des Lichtboten. Besucher zu töten, wie die Skelette bewiesen, oder zu bannen, wie es mit ihm selbst gerade geschah, paßte nicht zu Mythors Vorstellungen vom Lichtboten oder seines Sendlings. So handelten die Kräfte des Bösen, und der erschreckende Zustand der Statuen bestärkte ihn in seinem Verdacht. Unfähig, etwas gegen den magischen Bann zu unternehmen, schritt Mythor über den Boden des Vorhofs. Die Lichtburg war eingesäumt von einer hohen Mauer, deren Quader aus dem gleichen kristallenen Material gefertigt worden waren wie die Burg selbst. Das Tor zu diesem Areal hatte Mythor bereits passiert; jetzt konnte er den Innenhof sehen. Tod und Verwüstung hatten hier gehaust. Trümmer schichteten sich mannshoch, in einem Winkel türmte sich eine Schreckenspyramide aus Schädeln, und in der Luft lag ein eigentümliches, bedrückendes Klingen, ein tiefer, gewaltiger Ton, der mehr zu spüren als zu hören war und der einen Schauder seinen Rücken hinabjagte. Der Bann ließ Mythor genügend Bewegungsfreiheit, den Kopf wenden zu können. Das Tor schloß sich hinter den vieren. Mächtige Platten aus Eisen senkten sich herab und versperrten den Weg. Sie waren
gefangen. Wie die gesamte Umgebung der Lichtburg war auch der Hof in tiefe Finsternis getaucht, nur erleuchtet von jenem fahlen Schein. Mythor entging nicht, daß einige Quader nicht leuchteten, und im Schein der anderen Kristalle konnte er sehen, daß diese Kristallschreine leer waren. Und eine Ahnung von etwas Grausamem, unglaublich Bösartigem befiel ihn und hielt ihn fest. Dann spürte Mythor, wie ihn etwas berührte. Schnüre senkten sich aus dem Dunkel auf ihn herab, klebrige Schnüre, ganze Netze. Sie fielen auf die vier herab, hüllten sie ein und klebten an ihren Leibern fest. Seltsam leicht waren diese Netze, als bestünden sie aus feinstem Spinngewebe. Mythor spürte nur einen leisen Hauch, aber er bemerkte sogleich, wie ihm die Netze die Bewegungsfreiheit nahmen. Doch dann plötzlich erlosch der Bannstrahl, und sofort merkte Mythor, wie er die Beherrschung seines Körpers zurückgewann. Unwillkürlich bäumte er sich auf, spannte er die Muskeln an. Noch konnte er sich bewegen. Der Arm fuhr zum Gürtel, die Hand legte sich auf den Knauf des Schwertes. »Verrat!« gellte Nottrs Stimme schaurig durch das Dunkel. »Eine Falle!« »Wir sind verloren!« kreischte Fahrna auf. »Rettet mich!« Mythor unterdrückte eine Verwünschung. Wie aus dem Nichts tauchten weitere Klebnetze auf, fielen auf ihn herab. Er spürte, wie sich einer der Fäden über seine linke Hand legte und binnen eines Herzschlags die Finger zusammenschnürte, daß er kaum mehr die Hand zur Faust ballen konnte. Mythor versuchte einen Schritt zu tun, stolperte aber über die Fäden des Klebnetzes und schlug auf den Boden. Mit jeder Bewegung verhedderte er sich mehr. Dennoch gelang es ihm, sein Messer zu ergreifen. Er schaffte es auch, die Klinge an
einen der Fäden heranzubringen, aber schon bald mußte er feststellen, daß das widerliche Zeug mit dem Messer nicht zu zerteilen war. Es war zu zäh, um von der Schärfe des Stahls durchtrennt zu werden. Nottr heulte in ohnmächtiger Wut und stieß in seiner Sprache Flüche und Verwünschungen aus. Fahrna jammerte und kreischte, während Steinmann Sadagar eine Litanei vom Stapel ließ, in der hin und wieder der Name Nadomir auftauchte. Mythor wußte, daß die Aufregung sinnlos war. Weder er noch einer seiner Begleiter war in der Lage, sich gegen die klebrigen Netze zu wehren. Die vier waren gefangen, und nun stellte sich nur noch die Frage, wer sie gefangengenommen hatte und warum. Mythor lag auf dem Bauch, und sehr bald war er derartig eingehüllt, daß er kein Glied mehr zu rühren vermochte. Er mußte im Gegenteil darauf achten, sich nicht zu sehr zu bewegen, damit sich die teuflische Fesselung nicht von selbst zusammenzog und ihm den Brustkorb einschnürte. Er blieb also ruhig liegen, und er bewegte sich auch nicht, als wieder das grauenvolle Fanfarengetöse über ihn und seine Leidensgefährten hereinbrach – diesmal noch lauter, noch mißtönender. Eine Ewigkeit lang zog sich der entsetzliche Lärm hin, dann wurde es ebenso überraschend wieder still. Mythor war gespannt, wie die Spielleute aus der Nähe aussehen mochten. Er hatte sie beim Anmarsch nur vage erkennen können. Er spürte, wie jemand nach ihm griff. Hände. Fünf Finger, kurz und stämmig und kalt wie Eis. Das Gefühl großer Kälte ging von diesen Fingern aus und drang in Mythors Körper. Er erschauerte und kämpfte gegen das Gefühl der Panik an. Man hob ihn auf und drehte ihn herum. Zu sehen war nichts.
Finsternis lag über dem Geschehen, absolute Schwärze. Einen Augenblick lang wähnte Mythor, jählings erblindet zu sein, dann aber konnte er wieder etwas sehen. Der Anblick indessen war derart grausig, daß Mythor sich fast wünschte, des Augenlichts verlustig gegangen zu sein. Mythor sah, unmittelbar neben seinem Gesicht, eine schwärzliche, pockennarbige Schulter, darüber einen gleichfalls schwarzen, faltigen Hals. Schwarz auch das Gesicht. Die Lippen, die Nase. Weiß aber leuchtete in dem fratzenhaften Gesicht das Auge, ein großer weißer Ball, mitten auf der Stirn, und in diesem Auge lag ein Ausdruck unnachgiebiger Härte, der Mythor abermals erschauern ließ. Er versuchte zu sprechen, aber er brachte es zu nicht mehr als zu einem mißtönenden Krächzen. Es waren sechs. Sie waren nicht sehr groß. Hätte Mythor gestanden, die Wesen wären ihm bis an den Gurt gegangen. Aber sie wirkten hart und zäh, und ihre Gesichter verrieten keinerlei Gemütsbewegung. Mit marionettenhaften Bewegungen schleppten sie Mythor, und es hatte nicht den Anschein, als bedürfe es einer großen Kraftanstrengung – die zwergenhaften Zyklopen schienen ungeheure Körperkräfte zu besitzen. Obendrein waren sie bewaffnet. Nach Mythors Schätzung war der Vorhof bald überquert. Der eigentliche Eingang zur Lichtburg mußte erreicht sein. Er fühlte, wie seine Träger verharrten und dann damit begannen, eine Treppe hinabzusteigen. Fahles, milchiges Licht umfing Mythor. Er begriff, daß er den Innenraum der Lichtburg erreicht hatte. Er war am Ziel, wenn auch in Fesseln. *
Die Wände waren rußgeschwärzt, verdunkelt von den Ausdünstungen der Fackeln, die in roh gearbeiteten Haltern steckten. Es schien, als wüßten die Schwarzzwerge nicht, wie man sich im Inneren einer Lichtburg bewegte, wie man sich ihrer Mittel bediente. Der Bereich der Lichtburg, in dem sie sich aufhielten, wirkte heruntergekommen, primitiv und schmutzig. Sie stiegen mit ihren Gefangenen in die Tiefe. Es ging vorbei an Dutzenden von Quadern aus Kristall, so nahe, daß Mythor die Gesichter der Eingeschlossenen hätte sehen können, wäre der Ruß nicht gewesen und der Unrat, der alles bedeckte. Ein scharfer, raubtierhafter Geruch lag in den Gängen und Stollen. Auf den kristallenen Böden machten die Füße der Zwergzyklopen häßliche Geräusche, einem gierigen Schmatzen nicht unähnlich. Ab und zu mischte sich jammervolles Stöhnen hinein, vermutlich von Sadagar ausgestoßen. In dem düsteren Halbdunkel der Gänge konnte Mythor seine Träger genauer sehen. Sie waren noch häßlicher, noch alptraumhafter, als er sie ursprünglich eingeschätzt hatte. Plump und verwachsen waren die kurzen Körper, verunstaltet von Narben und Warzen und Falten die Haut, klobig die Bewegungen, kraftvoll zwar, aber auch ungelenk und rauh. Sie behandelten Mythor wie einen Ballen Handelsware ohne Wert. Sie stießen und schoben ihn, ließen ihn auf den Boden fallen, rammten ihn gegen Wände, wenn es um eine Ecke ging. Mythor unternahm einen neuen Versuch, sich mit den Zyklopen in Verbindung zu setzen, aber zum zweiten Mal versagte seine Stimme. Er brachte ein häßliches Krächzen über die Lippen, nicht mehr. Von Fahrna vernahm er ein hohes Wimmern. Endlich kam der Zug zum Stillstand. Mythor konnte das Scharren von Stein auf Stein hören, dann setzten sich seine Träger mit ihrer Last wieder in Bewegung. Sie machten ein
paar Schritte und durchquerten dabei ein Tor aus Kristall. Mythor konnte sehen, daß auch dieses Tor einen Gefangenen barg, einen hageren Mann, der steif und maskenhaft nach vorne sah. Der Anblick war nur für einen kurzen Augenblick zu erhaschen, dann schob sich die Pforte in ihre alte Position. Ein Ton erklang. Eine dunkle, finstere Schwingung, die den Magen traf wie ein Fußtritt und an den Knochen und den Eingeweiden rüttelte. Eine grausige Drohung schwang in dem Klang mit; die Verheißung des Schreckens war darin enthalten. Mythor spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Der Ton wurde lauter. Die Zyklopen legten ihre Beute ab. Sie ließen sie einfach fallen, und beim Aufprall auf den Kristallboden hätte sich Mythor beinahe ein paar Knochen gebrochen. Er kam auf dem Bauch zu liegen, und er lag auf einem kristallenen Quader. Mythor sah genau in das Gesicht des Eingeschlossenen. Es war eine Frau, nicht mehr ganz jung, der Schädel kahlgeschoren, die Lippen zu schmalen Strichen zusammengepreßt. Die Augen, reglos und starr, aber dennoch nicht tot, sahen gleichsam durch Mythor hindurch in unerkennbare Fernen, und Mythor glaubte fast, im leisen Funkeln dieses Blicks irrlichternden Wahnsinn aufflackern zu sehen. Es war ein Anblick des Schreckens, und er wirkte um so gräßlicher, als Mythor sich nicht rühren konnte und auch nicht die Kraft hatte, die Augen einfach vor diesem Anblick zu schließen. Die Frau in dem kristallenen Schrein rührte kein Glied. Sie atmete auch nicht. Mythor suchte vergebens nach dem nebligen Niederschlag der Atemfeuchte an den kühlen Wänden des Schreins. Er sah bald den Dampf, den sein eigener Atem herbeiführte, und durch diesen Nebel schimmerte das Gesicht der Frau sanft und weich, wie verklärt.
Er sah sein eigenes Geschick. Ihm war das gleiche Schicksal beschieden, die einsame Einkerkerung in einem halb durchsichtigen Schrein. Nicht tot, nicht lebend, dem Leben näher als dem Tode und doch den Tod mehr herbeisehnend als eine Fortsetzung dieses Lebens wünschend. Er spannte seine Muskeln an. Das Netz hielt, es riß nicht, gab nicht nach. »Nein!« gellte Sadagars Stimme, und es gab ein Echo in dem Raum, das den Schrei verzerrt zurückwarf und verdoppelte zu einem gräßlichen Heulen der Angst und Verzweiflung. »Neeiinn!« kreischte Sadagar und mit ihm sein Echo. Mythor konnte nichts sehen, nur hören. Er vernahm das Scharren, und er folgerte, daß man einen neuen Sarg heranschaffte, den Schrein, in dem Sadagar eingeschlossen werden sollte. Der Steinmann jammerte mit sich überschlagender Stimme. Das Knistern und Prasseln von Feuer wurde hörbar, das leise Zischen einer Flüssigkeit, die im Feuer verdampfte. Auf seltsame, erschreckende Weise wurde der Boden unter Mythors Leib warm. Der Schrein, auf dem man ihn abgestellt hatte, begann von innen heraus zu glühen. Feurig durchstrahlte es den nebligen Schleier, den Mythors Atem auf dem Kristall geschaffen hatte. Einen entsetzlichen, alptraumhaften Gesichtsausdruck bekam die Frau nun, ohne daß sich ein Muskel rührte. Ein Geruch strich über Mythor hinweg, eine schwere, modrige Ausdünstung, die alle Schrecknisse des Grabes einschloß und verströmte. Sadagar schrie nur noch, hoch und gellend, ohne Worte hervorzubringen. Alle Pein der Welt heulte in diesem Schrei mit und brach sich in höhnischem Echo an den kristallenen Wänden. Durch sein Schreien hindurch klang, auf seltsame Weise verstärkt, das bösartige Schleifen von Metall auf Metall, als
wetze jemand sein Opfermesser. Schwerer wurde der harzige Geruch, der den Raum erfüllte, und jetzt kam ein neuer Bestandteil hinzu. Der süßliche Duft frisch vergossenen Blutes legte sich auf die Szene. Mythor versuchte sich herumzudrehen, aber es gelang ihm nicht. Er mußte in das Gesicht der Frau blicken und daran denken, daß dieses Weib ehemals vielleicht auch hier gelegen und das gleiche gehört und gefühlt hatte. War es die Angst gewesen, die sie hatte erstarren lassen? Es war denkbar, denn die Atmosphäre des Raumes, den Mythor nicht sehen konnte, wurde mit jedem Herzschlag unerträglicher. Leises Murmeln klang auf, gewisperte Gebete an die Macht des Bösen, ein Chor des Grauens formierte sich zum Gesang an die Gottheit des Wahnsinns. Mythor spürte, wie sein ganzer Körper sich zu versteifen begann, und er wußte, daß dieser entsetzliche Ritus nicht einmal ihm selbst galt, denn noch immer konnte er Sadagar hören, dessen Schreien zum jämmerlichen Wimmern herabgesunken war, zu einem Klagelaut, der andeutete, daß der Steinmann jede Hoffnung hatte fahrenlassen. Der Blutgeruch verstärkte sich, der Gesang wurde lauter. Tiefe, grollende Laute, anschwellend wie die Flut des Bösen, dessen Ausdünstung den Raum überschwemmte. Das Atmen wurde schwer, der Gesang zerrte an den letzten Resten klaren Denkens. Nottr war verstummt, desgleichen Fahrna. Das häßliche Schmatzen erklang wieder, diesmal rhythmisch. Die Diener Xanadas tanzten ihren beschwörenden Tanz. Der Boden des Raumes erzitterte leicht. Stechend und scharf mischte sich Schwefel in den Blutgeruch, und von irgendwoher, scheinbar aus der Luft, kam ein hohes, böses Kichern.
Sadagar verstummte, und das Patschen der nackten Füße auf dem Kristallboden wurde lauter. Mythor konnte die Tänzer nicht sehen, aber er spürte jeden einzelnen Tritt dieses grauenvollen Balletts. Wie ein dumpfer Schlag schlug jeder Stampfer in seinem Körper ein, hämmerte gegen sein Herz und ließ jede Faser seines Körpers erzittern. Mythor wußte, daß der Höhepunkt des schrecklichen Zeremoniells noch nicht gekommen war. Das eigentliche Grauen nahm erst seinen Anfang. * Der Anstieg war steil und beschwerlich. Keshban geriet mehr und mehr ins Schwitzen. Er mußte über schroffe Felsen klettern, um die Höhe erreichen zu können. Tage und Wochen der Entbehrung lagen hinter Keshban. Er war hagerer geworden, der Schnitt seines Gesichts hatte an Härte und Entschlossenheit gewonnen. Er legte eine kurze Verschnaufpause ein und sah den Hang hinunter, den er bereits erklettert hatte. Knapp zweimal hundert Mannslängen unter ihm lag die Waldgrenze, darüber war nur noch dürftiges Gestrüpp zu finden. An einzelnen Stellen des grünen Meeres, das Keshban überblicken konnte, kräuselten sich helle Fäden in die klare Luft. Dort brannten Feuer, und Keshban sehnte sich danach, an einem solchen Feuer zu sitzen. Der Tag war kalt geworden; der Winter deutete sich bereits an. Nun, wenn der erste Schnee fiel, wollte Keshban längst in Sicherheit sein. Nach seinem Wissensstand, erweitert durch die Auskünfte einiger Vaganten, die er getroffen hatte, lag Xanadas Lichtburg auf der anderen Seite des Hügels. Keshban versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen. Seine Vorräte waren zum größten Teil aufgezehrt, den Wasser-
schlauch hatte er bei einem Handgemenge mit einer kleinen Räuberbande verloren. Keshban war aber voller Zuversicht, daß er über solche Nöte erhaben sein würde, nannte er erst einmal das Gläserne Schwert Alton sein eigen. Der Gedanke, daß er von seinem Ziel nicht mehr weit entfernt war, erfüllte Keshban mit fiebriger Erregung. Er stand auf und setzte den Aufstieg fort. Bevor er sich schlafen legte, wollte er noch einen Blick auf die Lichtburg geworfen haben, von der Kuppe des Hügels aus. Der Anstieg war steil. Der Fels war spröde und rissig. Keshban fand zwar genügend Halt für Finger und Zehen, aber er war sich nicht immer sicher, ob dieser Halt nicht unversehens in die Tiefe poltern werde. Die Festigkeit des Steins ließ sich nur sehr schwer beurteilen. In die Tiefe zu sehen wagte er nicht. Er fürchtete sich davor, schwindlig zu werden und hinabzustürzen. Keshban spürte einen Stein unter seinem linken Fuß nachgeben, und sofort verlagerte er sein Gewicht. Er spürte, wie die Härte unter dem Fuß schlagartig verschwand, danach erklang der erste Aufprall des Felsstücks auf den anderen Steinen. Eine ganze Steinlawine begann sich in Bewegung zu setzen und ging polternd talwärts. Daß sich dieser Vorgang auch ohne sein Eingreifen hätte vollziehen können, daß er möglicherweise genau in der Fallrichtung gerastet hatte, mit diesem Gedanken wollte sich Keshban lieber nicht beschäftigen. Er wartete, bis der Lärm unter ihm verklungen war, dann riskierte er einen Blick in die Tiefe. Die Steinlawine hatte ein breite Schneise in den Wald geschlagen und etliche große Bäume zersplittern lassen. »Glück muß man haben«, sagte Keshban. Er kletterte weiter. Es begann schon ein wenig zu dämmern. In diesen Herbstzeiten senkte sich die Nacht früh über das Land, nicht selten begleitet von Regenschauern oder undurch-
dringlichem Nebel. Keshban nahm sich zusammen. Er durfte jetzt nicht in den Fehler verfallen, aus Angst vor Nebel oder Kälte zu schnell zu klettern und dabei die Vorsicht zu vernachlässigen. Er brauchte ziemlich viel Zeit, aber er schaffte den Aufstieg ohne weitere Vorkommnisse. Auf dem Gipfel sackte Keshban erst einmal erschöpft zusammen. Sein Atem ging schwer, und seine Muskeln zitterten noch von der Anstrengung des beschwerlichen Kletterns. Aber vor ihm lag der Landstrich, in dem Xanadas Lichtburg vermutet wurde, und diese Tatsache allein gab ihm neue Kraft. Die Sonne ging unter. In düsterem Rot versank sie am Horizont, während weißer Nebel sich über den Wald legte. »Ein böses Vorzeichen«, murmelte Keshban, der sich angewöhnt hatte, laut mit sich selbst zu sprechen. Er gönnte sich ein Stück Braten, während sich die Nacht über dem Land ausbreitete. Der Sonnenuntergang sah tatsächlich über die Maßen bedrohlich aus, und der heraufziehende Nebel wollte Keshban auch nicht gefallen. Die Luft schmeckte nach Regen, und der fiel im Herbst sehr kalt aus. Es würde ratsam sein, einen Unterschlupf zu suchen. Keshban wartete nicht, bis es völlig dunkel geworden war. Er beendete die knappe Mahlzeit, dann suchte er nach einem Rastplatz für die Nacht. Vor ihm, inmitten der Nebeldecke, blitzte etwas grell auf. Angestrengt blickte Keshban in diese Richtung. Wieder stahl sich der helle Schein durch den grauen Nebel, ein strahlendes, flackerndes Leuchten. Keshban grinste zufrieden. »Na also«, murmelte er. »Die Sagen haben doch recht.« Was dort so glänzte und gleißte, konnte nur die Lichtburg sein. Keshban war dem Ziel nahe, und der Umstand gab ihm
neuen Mut und frische Kräfte. Auf der anderen Seite fiel der Hügel in sanftem Schwung ab, beileibe nicht so steil wie beim Aufstieg. Keshban entschied sich nach kurzer Überlegung dafür, sich im Wipfel eines hohen Baumes ein Quartier für die Nacht zu suchen. Dort war er vor Raubtieren leidlich sicher. Bald hatte er gefunden, was er suchte: einen hochgewachsenen Laubbaum mit breiter, ausladender Krone. Rasch hatte Keshban ein paar Äste zurechtgehauen, mit deren Hilfe er im Astwerk des Baumes eine kleine Plattform schuf, auf der er bequem schlafen konnte. Daß er hinunterfallen und sich das Genick brechen konnte, war Keshban bewußt, aber er achtete diese Gefahr gering. Derlei durfte einem erfahrenen Jäger, zu denen sich Keshban rechnete, in keinem Fall passieren. Mit ein wenig Laub polsterte er sein Schlafnest aus, dann streckte er sich aus, zog eine Felldecke über sich und war nach kurzer Zeit eingeschlafen. * Er erwachte vom Lichtschein. Sein Aufwachen fiel mitten hinein in einen Donnerschlag, der die Fundamente des Himmels zu erschüttern schien, und einen Herzschlag später war Keshban geblendet vom Schein eines langen Blitzes, der quer über den nachtdunklen Himmel zuckte. »Auch das noch«, murmelte Keshban. »Ein Gewitter!« Der Donner folgte dem Blitz in kurzem Abstand; die Sturmzwillinge marschierten also zusammen, und wenn, wie zu befürchten stand, die Regenhexe und der gewaltige Windbruder mitmischten, stand eine Nacht des Schreckens bevor. Keshban konnte sich nach kurzer Zeit davon überzeugen, daß sich das schreckliche Geschwisterquartett diese Nacht für einen besonderen Auftritt ausgesucht hatte.
Fast ohne Pause wetterleuchtete es über der Kuppe, und nur wenige Herzschläge danach, ohrenbetäubend laut und heftig genug, die Erde erzittern zu lassen, folgte das Krachen des Donners. Der Windbruder blies die Backen auf und peitschte den Regen über das Land. Nach wenigen Augenblicken war Keshban triefend naß. Gegen diese Wutausbrüche der Wetterdämonen gab es keinen Widerstand. Im Gegenteil. Es war bekannt, daß besonders jene, die sich diesen Dämonen zu nähern pflegten – ob bittend oder fluchend, war einerlei –, von ihnen bevorzugt erschlagen wurden. Keshban hielt es für ratsam, sich schnellstens aus dem Blickfeld der Dämonen zu begeben. Er raffte seine Habseligkeiten zusammen und kroch an dem Stamm entlang, der seifig glatt geworden war von der Nässe. Ums Haar hätte Keshban den Halt verloren und wäre in die Tiefe gestürzt. Er hastete davon. Sein Quartier ragte weit über die Wipfel der anderen Bäume hinaus; wenn die Wetterdämonen Mordlust verspürten, dann mußte dieser Baum fallen. Keshban hatte sich noch keine fünfzig Schritte von dem Baum entfernt, als auch schon der Blitz in den Wipfel einschlug und den Baum von oben bis unten spaltete. In das ohrenbetäubende Schmettern des Donners hinein fiel das grelle Auflodern des Stammes, der nach kurzer Zeit trotz des Regens lichterloh brannte. Keshban rannte, was seine Beine hergaben. Wie ein gehetztes Wild setzte er über umgestürzte Bäume hinweg, und er ruhte nicht, bis er von dem Gemetzel nichts mehr sehen konnte. Über ihm tobten die Dämonen, und sie schienen an diesem Abend eine entsetzliche Wut zu haben. Noch nie hatte Keshban einen derartigen Gewittersturm erlebt. Er suchte Zuflucht in einer Erdhöhle. Die mußte er aber in der Finsternis des nachtdunklen Waldes nicht nur finden, er
mußte auch sorgsam darauf achten, daß die Höhle keinen Vorbesitzer hatte, der es mit Keshban aufnehmen konnte. Er sah sich um. Im grellen Schein der Blitze war so gut wie nichts zu erkennen – erst entsetzliche Helligkeit, danach tiefstes Dunkel. Keshban entschloß sich, eine Fackel zu beschaffen. Kieniges Holz fand er auch im Dunkeln, und Feuer zu machen, verstand er besser als irgendeiner, den er kannte. Nach kurzer Zeit hielt Keshban eine knisternde, zischende Fackel in der rechten Hand, dazu zwei andere in der linken. Es hieß, daß die Wetterdämonen es gar nicht mochten, wenn man bei ihrer Arbeit ein Licht ansteckte, und es hatte auch den Anschein, als strengten sie sich nun besonders an, die Fackel zum Erlöschen zu bringen. Der Regen, der auf den Wald herunterging, war von einer Stärke, die Keshban noch nicht erlebt hatte. Er war insgeheim froh, hier auf dem Rücken eines Berges zu stehen und nicht im Tal zu lagern, wo er bei diesem Regen hätte befürchten müssen, ersäuft zu werden wie eine junge Katze. Keshban nahm sein Bündel auf und machte sich auf den Weg. Er achtete darauf, sich immer möglichst in der Nähe eines Baumstamms aufzuhalten, denn nur dort war er unter dem Blätterdach davor sicher, daß ein Guß seine gerade erst entzündete Fackel auslöschte. Er brauchte Licht in dieser Lage sehr dringend. Es fehlte nicht viel, und er wäre mit dem rechten Fuß in einen Dachsbau getreten. Keshban bewegte sich langsam, sehr vorsichtig. Bei Gewitterstürmen dieser Art suchten die meisten Tiere des Waldes nur noch Schutz vor dem Wüten der Wettergeister, untereinander vergaßen sie alle Streitigkeiten. Dennoch erschien es Keshban ratsam, weder einem Wolf noch einem Bären in die Arme zu laufen. Er fand schließlich Schutz unter einer riesigen Eiche, die
beim letzten Gewitter gespalten worden war. In der Höhlung, die der einschlagende Blitz hinterlassen hatte, war Keshban vor Nachstellungen einigermaßen sicher, und er brauchte nur sein Schaffell über das Loch des Baumstumpfes zu spannen, um leidlich vor den schlimmsten Güssen geschützt zu sein. Ein wenig erleichtert hockte er sich in sein Versteck. Er lauschte den Geräuschen des Waldes; sie waren erschreckend. Es krachte und knackte, prasselte und ächzte; der Sturm wütete mit größter Erbarmungslosigkeit. War dies vielleicht gar kein normaler Sturm? War dies die vorweggenommene Strafe für den frevelhaften Versuch eines Unwürdigen, sich in den Besitz des Gläsernen Schwertes zu setzen? Keshban hatte unterwegs einige Leute getroffen, Händler und Jäger, Spielleute, Diebsgesindel, Musikanten, Schreiber und anderes loses Volk. Fast jeder hatte Keshban ausgelacht, als er von seinem Plan erzählt hatte, und ausnahmslos jeder hatte ihn gewarnt. Noch keiner sei zurückgekehrt, so hieß es, der seine Hand nach Alton ausgestreckt hatte. Keshban aber dachte nicht daran, so kurz vor dem Ziel, gleichsam in Sichtweite der erhofften Beute, aufzugeben. Eine armlange Schlange zeigte sich plötzlich im Schein der Fackel. Sie rollte sich neben Keshban zusammen und blieb dort liegen. Keshban ließ sie gewähren. Ob er einen Kampf gewonnen hätte, wußte er nicht, und die Schlange schien an ihm nicht interessiert zu sein. Der Sturm nahm kein Ende, an Schlaf war nicht zu denken. Langsam füllte sich die Höhlung der Eiche mit Wasser; daraufhin kletterte die Schlange an Keshban vorbei in die Höhe. Ein paar Augenblicke später krachte ein Blitz, und Keshban hatte das Gefühl, von einer riesigen Faust angehoben worden zu sein. Der nachfolgende Donner ließ ihn minutenlang taub werden.
Sicher war er also nicht einmal hier. Keshban knurrte vor Wut, aber er sah ein, daß seines Bleibens länger nicht war. Wieder machte er sich auf den Weg, tiefer in den Wald hinein. Dabei stieg er, ohne es richtig zu merken, immer weiter in die Ebene hinab. Das Pech blieb Keshban in diesen Stunden treu. Zuerst stolperte er und schlug sich an einer Wurzel das Knie auf, eine Wunde, die scheußlich aussah und sich auch so anfühlte. Und dann, als er nur für ein paar Augenblicke Luft schnappen wollte, ging ein Schwall Regenwasser auf ihn herab und löschte die Fackel aus. Damit nicht genug, mußte er einen Augenblick später erschrocken erkennen, daß offenbar der ganze Wald in Brand geraten war. Irgendwo weit voraus loderten Flammen. Keshban unterdrückte eine Verwünschung. Jetzt saß er in der Klemme. Blieb er, wurde er früher oder später von dem Waldbrand erfaßt. Ein Feuer, das so gewaltig war, daß es auch dem strömenden Regen trotzen konnte, mußte selbst diesen Bereich des Waldes früher oder später erreichen. Bleiben konnte Keshban daher nicht, auch wenn er sich verzweifelt zu erinnern suchte, wann er jemals einen solchen regenfesten Brand erlebt hatte. Versuchte er hingegen der Feuersbrunst auszuweichen, lief er den wildgewordenen Wettergeistern in die Falle und wurde entweder vom Blitz erschlagen, von einem umstürzenden Baum zerquetscht oder in irgendeinem Erdloch jämmerlich ersäuft. Eines war so schlimm wie das andere, wobei die Gefahr, vom Blitz getötet zu werden, noch am größten war. Solche Leute gehörten danach zum wilden Heer und mußten sturmbrausend die Wettergeister auf ihrer nächtlichen Hatz durch die Länder begleiten. Ewige Verdammnis war ihnen sicher.
Keshban entschloß sich, zur Seite auszuweichen. Vielleicht fand sich eine Möglichkeit, diesen grauenvollen Brand zu umgehen. Aber der fahle Widerschein des Feuers erfüllte den ganzen Horizont. Es schien keinen Ausweg zu geben. Schließlich sah Keshban nur noch eine Möglichkeit. Er legte sein Bündel auf dem durchweichten Boden ab und stieg am nächsten Baum in die Höhe. In der Finsternis war das ein lebensgefährliches Unterfangen, aber Keshban mußte das Risiko eingehen. Nur aus größerer Höhe konnte er abschätzen, auf welcher Seite er die besseren Aussichten hatte, das Feuer zu umgehen. Keshban stieg langsam und bedächtig, jeden Ast prüfend, bevor er ihm sein Gewicht anvertraute. Erst als er den Wipfel fast schon erreicht hatte, fand er Gelegenheit, sich umzuwenden und den Horizont ins Auge zu fassen. Was er sah, verblüffte ihn so, daß er ums Haar den Halt verloren hätte: Der Wald brannte gar nicht. Das Licht ging nicht von den Bäumen aus. Dazu war es auch viel zu fahl. Der Schein entsprang einem Gebilde mitten auf der Ebene. Blauweiß gleißte es, ein waberndes Etwas aus Licht, dessen Schein den Himmel füllte. Geisterhaft bleich war das Licht, und es malte die Konturen der Wolkenreiter als gräßliche Fratzen an das Schwarz des Himmels. Das Licht zuckte und bewegte sich, als sei es lebendig – ein Gedanke, der Keshban bis ins Mark mit Schauder erfüllte. Siedendheiß fiel ihm ein, daß es dort draußen nur eines gab, von dem dieser Lichtschein ausgehen konnte: Xanadas Lichtburg. Keshban hielt sich an dem Baum fest, der unter dem Druck des Windes heftig schwankte. Der Sturm zerzauste Keshbans Haare und peitschte ihm den Regen ins Gesicht, aber er spürte es nicht. Mit weit geöffneten Augen starrte er hinaus in die Weite, wo
das fahle blauweiße Leuchten sich über den Horizont zu wälzen schien, einem Steppenbrand aus Licht vergleichbar. Bisher war Keshban der Meinung gewesen, Xanadas Lichtburg habe etwas mit dem sagenhaften Lichtboten zu tun; sie sei eine Stätte des Friedens und der Freude. Jetzt aber dämmerte Keshban die schreckliche Erkenntnis, daß die Lichtburg womöglich eine Heimstatt des Grauens war. Und er ahnte, daß er die größten Schwierigkeiten auf seinem Weg zum Erfolg noch vor sich hatte. In diesem Augenblick stieg eine strahlende Säule aus Licht hinauf in das nächtliche Dunkel, faltete sich dort auseinander und vermählte sich mit den unentwegt zuckenden Blitzen. Durch das Wüten und Toben des Sturmes hindurch ertönte plötzlich ein klagender, verhaltener Gesang, lockend und rufend. Und Keshban begann zu lächeln. * Die Züge des Steinmanns waren verzerrt von einem Entsetzen, das sich schwerlich in Worte fassen ließ. Mythor konnte die panische Grimasse seines Begleiters sehen. Man hatte ihn auf die Seite gelegt, damit er alles verfolgen konnte. Noch war er nicht an der Reihe. Noch liefen die Vorbereitungen für die anderen. Es war plötzlich ruhig geworden, aber diese Stille hielt nicht lange an. Mit hartem Knirschen öffneten sich die Türen, und eine Gruppe von sechzehn der gnomenhaften Zyklopen erschien. Schwer schleppten sie an einem der Schreine des Grauens. Der große Kristallquader war leer. Steinmann Sadagar lag auf einer Art Altar, einem düsteren, grob behauenen Stein. Offenbar war es nicht mehr nötig, ihn mit den Klebenetzen zu halten. Er war ungebunden, hätte sich vielleicht gar bewegen können, aber die Starre des Entsetzens
hielt den Mann umfangen und hinderte ihn daran, auch nur ein Glied zu rühren. Nicht einmal die Augen konnte er schließen, die starren Augen, in denen die ganze Angst des Mannes gesammelt schien. Fahrna war an der Reihe. Sie schrie nicht. Längst hatte das nackte Entsetzen von der Runenkundigen Besitz ergriffen. Sie brachte es nur zu einem halb erstickten Wimmern, als die eisigen Finger der Schwarzzwerge nach ihr griffen und sie neben Steinmann Sadagar auf den Opfertisch legten. Gleichzeitig wurde Sadagars Schrein näher gerückt. Dann hob man den Steinmann auf, legte ihn auf den Kristall. Jetzt konnte Mythor Teile des grauenvollen Rituals sehen, mit dem aus lebenden, denkenden Menschen willenlose Sklaven der Lichtburg wurden. Es war ein Schauspiel, das Mythor bis ins Mark erschütterte. Wieder begannen die Zyklopen ihren abscheulichen Tanz. Ihre Füße stampften den Boden, sie faßten sich an den Händen und umtanzten den Opfertisch in grausigem Ringelreihen. Ihre faltenreiche, blatternarbige schwarze Haut zuckte bei diesem Tanz, und die Augen schienen von innen heraus zu glühen. Fahrna auf dem Opfertisch stieß ein ersticktes Wimmern aus. Ihr Körper zuckte unkontrolliert. Einer der Zyklopen hob langsam beide Hände und murmelte in beschwörendem Singsang eine Formel. Das Netz, das Fahrnas Körper umhüllte, begann zu zucken und zu zappeln. Leben schien in das Gebilde zu kommen; es bewegte sich. Die einzelnen Fäden des Netzes schwollen an zu grauer Gallerte, die zuckend auseinanderfloß und den starren Körper der Frau freilegte. »Jetzt!« wollte Mythor schreien. »Bewege dich!« Fahrna aber war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Die Gallerte floß am Opfertisch entlang, sammelte sich in einer Vertie-
fung unmittelbar vor dem Opferstein und gerann dort binnen weniger Augenblicke zu jenem ekelhaften netzartigen Gebilde, das Mythor bereits kannte. Einer der bislang unbeteiligten Zyklopen trat und heran und nahm das Netz auf. Schweigend entfernte er sich mit diesem Werkzeug des Grauens, das offenbar bereit zu neuem schrecklichen Einsatz war. Der Ring der Zyklopen zog sich zusammen. Sie rückten hüpfend und springend an den Opfertisch heran. Ihre Glieder wanden und krümmten sich in furchteinflößenden Bewegungen und Gebärden. Der Singsang des Anführers schwoll zum Heulen an. Die anderen fielen in das Heulen ein, und Mythor konnte sehen, wie sich Fahrnas Körper immer mehr verkrampfte. Aus der Decke fiel ein schwarzer Strahl auf Fahrnas Körper herab und hüllte ihn ein. Von der Runenkundigen war nichts mehr zu sehen, und Mythor ahnte, daß sich jetzt auf dem Opfertisch die schreckliche Verwandlung vollzog, die aus einem lebenden Wesen einen halben Toten machte. Auch zu hören war nichts mehr, und fast schien es, als existiere die Runenkundige gar nicht mehr. Rauch stieg von der Fläche des Opfersteins auf, fahle gelbe Schwaden mit stechendem Geruch. Mythor hätte husten müssen, konnte es aber nicht. Mit abscheulichem Behagen sogen die Zyklopen den Nebel ein, und fast schien es, als würden sie dadurch größer. Die faltige Haut glättete sich, die Pockennarben verschwanden. Mythor fragte sich, in welchem Land diese abstoßenden Gestalten leben mochten. Sie mußten aus der Schattenzone kommen. Der Strahl schwarzen Lichtes erlosch, und ein leichtes Zittern ging durch den Boden. Fahrna, die plötzlich wieder sichtbar wurde, war bleich; ihr
Gesicht wirkte völlig blutleer. Schwärzliche Schwaden umschwebten ihren Leib, wirbelten hinauf zur Decke und lösten sich in den Quadern der Lichtburg auf. Die Zyklopen beendeten ihren Tanz. * Mythor spürte unter sich die Härte des Opfersteins. In seinen Ohren gellte das beschwörende Geheul der Zyklopen. Bei ihm schienen sich die Schwarzzwerge ganz besondere Mühe zu geben. Ihr widerliches Kreischen war von schmerzhafter Lautstärke. Das den ganzen Körper schüttelnde Gefühl des Abscheus, das ihn erfüllte, als er die Gallerte von seinem Körper herabfließen fühlte – dieses Gefühl würde Mythor zeitlebens nicht vergessen. Unterdessen war ein zweiter Kristallschrein in den Raum gebracht worden. Auf seiner Oberfläche war der reglose Körper der Runenkundigen Fahrna ausgestreckt. Mythor wartete auf den Augenblick, da ihn der schwarze Strahl treffen würde. Er schauderte diesem Augenblick entgegen. Seinem Herzen war die Furcht nicht fremd, und das Schreien, Wimmern und Zucken der anderen hatte ihn belehrt, daß sich Schrecklicheres als dies nicht mehr denken ließ. Mythor sah die häßlichen Augen der Schwarzzwerge auf sich gerichtet, sah den bösartigen, lauernden Ausdruck darin, gleichzeitig die grausame Freude, ihn dieser Prozedur unterwerfen zu können. Dann war der Lichtstrahl heran. Im nächsten Augenblick war um ihn herum nur noch Schwärze. Und Leere. Mythor hatte das Gefühl, in einen Abgrund zu fallen, und mit jedem Augenblick, der verging, wuchs dieses Gefühl, wurde stärker und stärker und ließ seinen Körper erzittern.
Hinab ging es, immer tiefer in die grundlose Schwärze, an deren Ende das Unfaßbare lauerte, das Grauen, das keines Namens mehr bedurfte. Mythor war vollkommen gelähmt. Er spürte mit grauenerregender Deutlichkeit, wie das Blut in seinen Adern gleichsam gefror. In dieser grenzenlosen Einsamkeit, eingehüllt in unendliches Dunkel, spürte Mythor, wie sein Herz stehenblieb. Es machte noch einen Schlag, ein schwächliches, banges Zittern kaum, das aber den Körper mit hämmerndem Widerhall durchtobte, dann war es still in Mythors Körper. Die Schwärze hatte vollends von ihm Besitz ergriffen. Der Sklave der Lichtburg war bereit. Es wurde nicht hell vor Mythors Augen. Aus der Schwärze wurde lediglich ein diffuses Grau. Der Lichtstrahl des Bösen war erloschen, aber er hatte seine Wirkung bereits getan. Die Schwärze saß in Mythors Körper und hielt den Leib in der Starre des Todes, ohne ihm den Tod wirklich zu bringen. Mythor konnte sein Herz nicht schlagen fühlen, wohl aber fühlte er die eisigen Finger der Zyklopen, als man ihn aufhob und auf jenem Sarg abstellte, in dem er nun für alle Ewigkeit gefangen sein würde. Eisige Kälte ging auch von dem Kristall aus. Sie durchdrang Mythors Körper und füllte selbst seinen Geist mit Eis. Aber noch war die Zeremonie nicht überstanden. In sein eigenes kaltes Grauen versunken, ließ Mythor über sich ergehen, was die Schwarzzwerge taten. Hatte er noch mit schrecklicher Hilflosigkeit das Zeremoniell an Fahrna und Steinmann Sadagar verfolgt, so sah er ohne jede Anteilnahme zu, wie Nottr für sein Sklavendasein vorbereitet wurde. Mythor war zu Gefühlen wie Anteilnahme nicht mehr fähig. Ihn durchtobten nur zwei Empfindungen: Die eine war ein eisiges Grauen. Das zweite Gefühl war Haß. Grenzenloser,
unerbittlicher Haß, tödliche Wut, der alles andere hinwegfegende Durst nach Rache für dieses grausame Schicksal. Von einem dieser Gefühle fiel Mythor in das andere. Der Schrecken, der durch seine Seele tobte, wurde noch verstärkt durch das Bewußtsein, daß er seine Rache nie würde vollziehen können. Und die Gewißheit wiederum, daß er seinem teuflischen Schicksal niemals würde entrinnen können, fachte den Haß zu wahrer Höllenglut an. Dieses Wechselbad von Grauen und Haß, von eisiger Kälte und Todesfeuer der Wut schaukelte sich immer höher und höher, und doch wußte Mythor, daß diese Wellen niemals über ihm zusammenschlagen würden. Denn eine peinigende innere Stimme sagte ihm, daß die Zukunft für ihn weder den Ausweg des vollständigen Wahnsinns bereithalten würde noch die erstickende Umarmung der Resignation. An dem Zustand, in dem er sich befand, würde sich in aller Ewigkeit nichts ändern. Er würde bestehen, solange die Lichtburg bestand. Er konnte wahrnehmen, wie der letzte Kristallschrein in den Raum geschafft wurde. Man brauchte die vier nur noch einzusargen. Erneut begannen die Zyklopen mit ihrem beschwörenden Tanz. Diesmal war der Gesang anders, höher und schriller. Mit vereinten Kräften schoben die Zyklopen die vier Kristallschreine zusammen, so daß sie sich berührten. Mythor blickte an die Decke. Mehr als dieses milchige Weiß der Decke konnte er nicht sehen. Er konnte die krächzenden Stimmen der Zyklopen hören, ihren abstoßenden Gesang. Und er konnte fühlen. Er konnte fühlen, wie der Stein unter ihm nachzugeben begann. Der Kristall war nicht hohl, wie er vermutet hatte. Es gab keinen Deckel, der angehoben und wieder verschlossen wur-
de. Die Opfer der Lichtburg wurden in die Kristalle gleichsam eingeschmolzen, den Fliegen vergleichbar, die Mythor in einem Stück Bernstein gesehen hatte. Er spürte, wie der Kristall sich unter seinem Leib zu verflüssigen begann. Der letzte Akt des schauerlichen Rituals hatte begonnen. Und Mythor wußte: War dieses Ritual vollzogen, gab es in alle Ewigkeit kein Entkommen mehr. Noch einmal sammelte Mythor seine Kräfte, und er hatte plötzlich das Bildnis vor Augen. Das Pergament, das Nottr ihm gegeben hatte. Die Frau, die ihm so ähnlich sah, wie Nottr behauptete. Die unbekannte Schönheit, einer Göttin ähnlicher denn einer lebenden Frau. Ihr Bild stieg vor Mythors Augen auf, und der Gedanke an sie erfüllte den Gefangenen der Lichtburg mit einer Wärme, die ihn die gnadenlose Kälte seiner Umgebung beinahe vergessen ließ. Nein, er wollte sich nicht geschlagen geben! Noch hatte Mythor jene Unbekannte nicht selbst gesehen, nur ihr Bildnis. Und solange er das nicht geschafft hatte, wollte er kämpfen und sich wehren und nicht aufgeben. Mythor spürte in diesem Augenblick, daß etwas hart gegen seine Schulterblätter drückte. Der Kristall schien pich wieder verfestigt zu haben. Diese Tatsache gab Mythor neue Hoffnung, und wenn vorher jeder Gedanke ihn immer tiefer in den Bann der Schwarzzwerge getragen hatte, so wurde nun jeder Gedanke zum Ansporn und gab ihm neue Kraft. Mythor spürte, daß er auf dem Kristallblock lag, in den die Zwerge ihn hatten einschließen wollen. Ihre dunkle Magie war offenkundig ohne Wirkung geblieben. Mythor konnte hören, daß sich Unruhe unter den Gnomen breitmachte. Sie verstärkten ihre Bemühungen, und zum ersten Mal hörte Mythor sie einen Namen nennen, den er in die-
sem Zusammenhang nicht erwartet hatte: Xanada. Ein vorher schon aufgekeimter Verdacht wurde zur Gewißheit. Die Lichtburg befand sich längst nicht mehr in der Hand des Lichtboten oder seines Abgesandten. Das Böse hatte seine gierigen Hände nach der Lichtburg ausgestreckt und sich ihrer bemächtigt. Die Mächte des Dunkels beherrschten die Lichtburg vermutlich schon seit langer Zeit. Xanada, das war keineswegs der Name des Burgherrn, des Abgesandten oder Stellvertreters des Lichtboten. Xanada, das mußte der Name eines Dämons sein, denn ihn riefen die Zyklopen, als sie ihre magischen Künste an Mythor scheitern sahen. Mythor sammelte seine Gedanken. Er wollte sein volles Körpergefühl zurückgewinnen. In diesen Gedanken warf er all seinen Willen, und schon nach sehr kurzer Zeit konnte er etwas wahrnehmen, was er normalerweise überhaupt nicht bemerkt hätte. Sein Herz schlug wieder. Ruhig und langsam zuerst, dann schneller, heftiger. Mythor hätte am liebsten ein triumphierendes Gelächter ausgestoßen, aber soweit war er noch nicht. Langsam, unendlich langsam kehrte das Gefühl in seinen Körper zurück. Er spürte, daß er Hände besaß. Seine Augen nahmen das Licht wieder wahr, sie sahen scharf, und wenig später konnte er sogar den Kopf wenden. Die Zyklopen hatten ihren Tanz beendet. Kreischend drängten sie sich in den Winkeln des Raumes zusammen. Der häßlichste von ihnen, der das Ritual vollzogen hatte, wand sich wimmernd auf dem Boden. Er versuchte, von Mythors Schrein wegzukommen. Der Zauber, der Mythor für alle Zeit zum Sklaven der Lichtburg machen sollte, hatte nicht gewirkt, und diese Tatsache ließ die Schwarzzwerge bis ins Mark erschauern. Mythor konzentrierte sich auf seine rechte Hand. Er spürte,
wie das Blut zurückkehrte; eine heiße, brennende Welle spülte über die Finger, als ob das Blut in den Adern koche. Danach aber konnte er die Finger wieder krümmen, und der Gedanke allein gab ihm ungeahnte Kräfte. Der rechte Arm. Wieder dieses heiße Aufwallen, ein Gefühl, als stünde der Arm in Flammen. Dann ließ er sich bewegen. Mythor konnte sehen, wie die Schwarzzwerge fluchtartig den Raum verließen, allen voran der Anführer, der auf allen vieren kroch. Es war ein Triumph ohnegleichen für Mythor, als er sich Stück für Stück den eigenen Körper zurückeroberte, Urne und Beine wieder bewegen konnte. Vermehrte Kraft fühlte er, als er zum ersten Mal wieder den Griff seines Schwertes in der Hand hielt. Er war gerade so weit, daß er sich aufrichten konnte, als die Bewohner der Lichtburg in den Beschwörungsraum zurückkehrten. Was sie mitbrachten, dämpfte Mythors Hoffnung auf Freiheit jäh und gründlich. Er raffte in letzter verzweifelter Anstrengung alle Kräfte zusammen, und er schaffte auch, den Kristallschrein zu verlassen. Er brachte noch das Schwert aus der Scheide, aber dann flog ihm das erste Klebenetz entgegen. Mit einem wuchtigen Hieb schaffte es Mythor, das zähe Geflecht zu durchhauen, aber in der gleichen Zeit flogen zwei weitere Fangnetze heran, und Mythor war im nächsten Moment wieder eingeschnürt wie zuvor. Er stieß einen lauten Fluch aus. In diesem Augenblick betrat jemand den Raum. Xanada? * Leise und lockend war der Gesang. Süß und einschmeichelnd. Unwiderstehlich. Keshban lächelte, während er der zarten Lockung folgte.
Er vernahm nicht mehr das Tosen des Sturmes. Er achtete nicht mehr darauf, daß der Regen auf ihn einhämmerte. Die Wunde am Bein war vergessen, und unbeachtet blieb, daß er sich eine zweite Wunde am linken Arm holte, tief und stark blutend. An einem langen, harten Dorn riß er sich den Arm bis fast auf den Knochen auf. Keshban lächelte. Es war finstere Nacht, erhellt lediglich vom Schein der heftig zuckenden Blitze und vom geheimnisvollen Feuer der Lichtburg, deren Gleißen den Horizont überstrahlte und die Erfüllung aller Wünsche verhieß. Keshban war gewillt, sich seine Wünsche erfüllen zu lassen. Willenlos folgte er dem Gesang. Er strauchelte, brach in die Knie und stand wieder auf. Irgendwann verlor er sein Messer, aber er merkte es nicht. Nur weiter, immer weiter. Auf das Leuchten zu. Dem Licht entgegen, der Verheißung ungeahnten Glücks. Keshban stolperte, fiel und drehte sich dabei um seine Achse. Im Aufstehen blickte er hinein in den Wald, den er gerade verlassen hatte, in fahle Schwaden des Nebels, zusammengeballt zu scheußlichen Gestalten, deren Grimassen ihn höhnisch angrinsten. Keshban drehte sich um und ging weiter. Er kannte nur noch ein Ziel: die Lichtburg. Neben ihm brach ein Tier aus dem Wald, jagte in wilder Flucht an ihm vorbei, ein kapitaler Hirsch, Fleisch genug für Tage. Unter normalen Umständen hätte Keshban alles andere vergessen und die Beute erlegt. Jetzt aber achtete er nicht darauf. Er wiegte leicht den Kopf zum Klang der Lichtburg, deren Wohllaut ihn in ihren Bann geschlagen hatte. Weit würde er nicht mehr zu gehen haben. Spätestens am nächsten Mittag mußte er das Bauwerk erreicht haben. Keshban hätte am liebsten laut aufgeschrien vor Schmerz, als
das wundervolle Singen erstarb. Er blieb wie angewurzelt stehen, denn wenige Augenblicke später verschwand auch der strahlende Schein. Nächtliches Dunkel beherrschte die Szene. Das Gewitter grollte nun jenseits des Hügels. Der Regen fiel noch, aber längst nicht mehr so stark wie zuvor. Keshban schluckte. Die Enttäuschung traf ihn tief. Irgend etwas war in der Lichtburg geschehen. War er zu spät gekommen? Hatte jemand direkt vor seinen Augen das Gläserne Schwert gefunden und erobert? Er sank auf den grasbewachsenen Boden nieder. Neben ihm, nur wenige Schritte entfernt, gurgelte das Regenwasser in einer selbstgewaschenen Rinne zu Tal. Keshban fühlte eine tiefe Niedergeschlagenheit, und plötzlich wurden ihm auch die Schmerzen bewußt. Erschrocken betrachtete er die klaffende Wunde am linken Arm. Der Schmerz war zu ertragen, aber der Anblick des weißen Knochens schlug Keshban auf den Magen. Hoffentlich heilte die Wunde ohne Brand. Er wußte, daß er die Wunde nicht sich selbst überlassen durfte. Sie mußte verbunden werden. Es war nicht einfach, doch Keshban schaffte das kleine Kunststück. Er zündete eine Fackel an, steckte damit ein Feuer in Brand und konnte dann die Wunde verbinden. Ein Stück dünnen Leders, sorgsam mit durchgekauten Kräutern bestrichen und auf die Wunde gelegt, sollte schneller Heilung bringen und verhindern, daß böse Lüfte den Brand in die Wunde trugen. Es hatte aufgehört zu regnen. Der Boden war naß, aber das scherte Keshban nicht. Er ging mit sich zu Rate, was er tun sollte. Bis zur Morgendämmerung konnte es nicht mehr lange dauern. Keshban nahm sich vor, diesen Zeitpunkt abzuwarten, dann wollte er weitersehen.
* Er erwachte mit dem ersten Lichtschein. Trotz seiner Wunden erhob er sich rasch und spähte ins Tal. Weiße Schwaden wälzten sich über das Land. Nichts war zu erkennen, alles floß im undurchdringlichen Nebel zusammen. Der einzige Punkt weit und breit, der nicht vom Nebel eingehüllt wurde, war die Kuppe des Berges. Sie wirkte arg vom Sturm zerzaust. Keshban war froh, daß er nicht dort genächtigt hatte. Er hatte Hunger und Durst. Den Durst stillte er an dem kleinen Bach in der Nähe seines Lagers. Den Hunger vertrieb er mit dem letzten Rest Brot, den er noch besaß und den er dringend essen mußte, weil er vom Regen durchfeuchtet nach kurzer Zeit schimmeln würde. An diesem Tag schienen die Morgennebel einfach nicht weichen zu wollen. Keshban blieb mindestens zwei Stunden neben dem langsam herunterbrennenden Feuer sitzen und starrte dorthin, wo er am Vorabend den Schein der Lichtburg gesehen hatte. Er war voller Zweifel. Die Ereignisse der letzten Nacht hatten ihn verunsichert. Was er in der Dunkelheit leuchten gesehen hatte, war gewißlich die Lichtburg gewesen. Sie überhaupt erreicht zu haben war schon wundersam genug, hatte es doch geheißen, sie sei lediglich Legende. In das Reich der Fabel gehörte auch das Gläserne Schwert Alton. Zwar wußten angeblich viele, wo es zu finden sei, nur geholt hatte es noch niemand. Keshban kannte diese Sage. Es gab einige andere, die im Umkreis seines Wohnbereichs nicht sehr bekannt waren, beispielsweise die Legende vom Lichtboten, von dem Keshban wenig mehr wußte als den Namen.
War er also tatsächlich am Ziel? Lag dort unten im Tal die Lichtburg, und gab es dort wirklich das Schwert der Gerechtigkeit, Alton, das Gläserne Schwert? Die Zweifel in Keshban wurden immer stärker. Er ärgerte sich nicht wenig, daß ihn die Zweifel ausgerechnet an diesem Ort peinigten. Wären sie früher gekommen, hätte er sich einen weiten, beschwerlichen Fußmarsch ersparen können. Andererseits… »Sorgen?« fragte eine freundliche Stimme. Keshban erstarrte vor Schreck, dann aber erkannte er die Stimme wieder: Gruulx, der Rudelbruder. »Du hast mich erschreckt«, stieß Keshban hervor. »Was suchst du hier?« »Das gleiche könnte ich dich fragen«, sagte Gruulx. Er schien die Nacht an einem wesentlich geruhsameren Ort verbracht zu haben. Während man Keshban die Ereignisse der letzten Nacht deutlich ansehen konnte, sah der Rudelbruder genauso aus, wie Keshban ihn zuerst gesehen hatte. Und wieder war es neblig! Keshban hatte Zweifel, ob das purer Zufall war, aber er wagte es nicht, den Gedankenfaden zu Ende zu spinnen. Möglich, daß ein Ergebnis herauskam, das für ihn nicht erfreulich war. »Bist du mir nachgegangen?« fragte Keshban mißtrauisch. Er nahm sich vor, nicht von der Lichtburg zu reden. Man mußte diesem Unheimlichen ja nicht alles auf die Nase binden. Vielleicht war er ebenfalls hinter dem sagenhaften Schwert her. »Das bin ich nicht«, sagte der Rudelbruder freundlich. »Ich bin zufällig hier in der Nähe, und ich habe deine Spur gefunden.« »Ach?« machte Keshban. Gruulx log, das stand für Keshban fest. Die Regenfälle und der Sturm der letzten Nacht mußten alle nur denkbaren Spuren verwischt haben.
»Möchtest du ins Tal?« fragte Gruulx. »Vielleicht«, antwortete Keshban ausweichend. Gruulx lächelte. »Die Lichtburg liegt dort unten«, sagte er leichthin. Keshban stellte fest, daß er auch hier im Freien stets von Nebel umflossen wurde. Stand er gar mit den Nebelgeistern im Bunde? »Das weiß ich«, sagte Keshban. Er wußte in diesem Augenblick, daß er den Rudelbruder töten mußte. Er hatte in dem Unheimlichen einen Konkurrenten im Kampf um die Schätze der Lichtburg, und Konkurrenten pflegte Keshban für gewöhnlich wirksam zu beseitigen. Er überlegte, wie er am besten an den Rudelbruder herankam. Erst jetzt entdeckte Keshban voller Wut, daß er sein Messer verloren hatte, eine seiner kostbarsten Waffen. »Suchst du vielleicht dein Messer?« fragte Gruulx lächelnd. Er hielt die Waffe in der Hand, halb hoch. Der Griff wies auf Keshban, die Klinge zielte genau auf das Herz des Rudelbruders – wenn er denn überhaupt eines besaß. Das Zögern dauerte nicht lange, aber lange genug. Die Hand des Rudelbruders zitterte nicht um Haaresbreite, als Keshban schließlich nach seinem Messer griff, es einen Augenblick lang nachdenklich in der Hand wog, um es dann wieder in den Gürtel zu stecken. »Hast du Hunger?« fragte Keshban, um etwas Zeit zu gewinnen. Er überlegte, wo und wann er am besten über Gruulx herfiel. Irgendwo im Wald oberhalb des Lagers heulte ein Wolf. Keshban fröstelte wieder. Unwillkürlich versuchte er sich den Namen Rudelbruder genauer auszumalen, und diese Vorstellung war alles andere als angenehm. Auf der anderen Seite sah Keshbans Gegenüber bei weitem nicht so aus, wie Keshban sich den Bruder eines Wolfsrudels vorstellte. »Ich brauche jetzt keine Nahrung«, sagte Gruulx. »Du willst zur Lichtburg?«
Keshban sah sich um. Zwischen den Nebelschwaden glitzerte etwas. Die Lichtburg stand also noch. Was wußte der Rudelbruder von den Geheimnissen der Lichtburg? Das Rätsel dieses Mannes wurde für Keshban immer größer. »Das will ich«, sagte Keshban. Gruulx lächelte. »Dann geh«, sagte er und stand wieder auf, nebelumflossen, das Gesicht zu einem freundlichen Lächeln verzogen. Das Lächeln wirkte in diesem Augenblick schreckenerregender als alles, was sich Keshban vorstellen konnte. »Verliere keine Zeit«, sagte Gruulx. Er legte den Kopf ein wenig zur Seite, als ob er einem unsichtbaren Sprecher in der Ferne zuhören wolle. Schaurig durch den Nebel klang das Wolfsgeheul, und Keshban wußte in diesem Augenblick, daß der Kampf eröffnet war. Er packte zusammen, was ihm gehörte, schnürte sein Bündel und warf es sich über die Schulter. »Willst du mich begleiten?« fragte Keshban. »Vielleicht sehen wir uns wieder«, sagte Gruulx, ohne auf die Frage einzugehen. »Bis dahin gute Jagd.« Keshban spürte in diesem Augenblick, daß er Gruulx töten mußte, jetzt, in diesem Augenblick und an diesem Ort. Aber er brachte es nicht fertig. Keshban wandte sich zum Gehen. Mit ruhigen Schritten stieg er den Abhang hinab, auf die dichte Wand des Nebels zu. Er wußte, daß der Rudelbruder ihm nachblickte, und fast glaubte er das Hecheln der Meute hören zu können, die sich in diesem Augenblick auf seine Fährte setzte. Keshban drehte sich um. Er war bereits in die weiße Welt eingedrungen. Vom Rudelbruder war nicht mehr das Geringste zu sehen. Aber in der Nähe, scheinbar zum Greifen nahe, heulte wieder ein Wolf. Keshban begann zu rennen. Er wußte, daß er um sein Leben lief. Er wußte, daß die Meu-
te sich sammelte, daß der Rudelbruder sie anführte und auf seiner Spur halten würde. Keshban ahnte, daß er verloren war, wenn er den Rudelbruder noch einmal traf, und ihn schauderte, wenn er sich vorzustellen versuchte, wie einer der Wölfe ihn ansprang und seine Zähne in sein Fleisch schlug. Er versuchte, gleichmäßig zu rennen. Haken zu schlagen erschien ihm sinnlos, denn die Wölfe waren schneller als er und ihre feinen Nasen würde er nicht betrügen können. Er hatte nur eine Chance: Er mußte die Lichtburg erreichen, bevor das Rudel ihn erreichte. Möglich, daß er sich furchtbar irrte, was den Rudelbruder betraf. Möglich, daß es sich nur um einen harmlosen Irren handelte, der geschickt so tat, als sei er mit geheimnisvollen Kräften im Bunde. Nun, wenn er sich irrte, schadete es nichts. Er wollte ohnehin zur Lichtburg. Irrte er sich aber nicht, dann mußte er um sein Leben rennen. Denn irgendwo im Nebel stürmte das Rudel heran, vielleicht ein Dutzend, vielleicht sogar mehr. Fleischgewordene Vernichtung, gierige Kiefer, mörderische Zähne. Wer ihnen in die Fänge fiel, war verloren. Keshban spürte die ersten Stiche in der Lunge. Wieder ertönte das langgezogene Heulen der Meute; diesmal schien es näher zu klingen. Der Nebel war dicht, schier undurchdringlich. Keshban konnte gerade ein paar Schritte weit sehen. Seltsam war, daß er sich über die Richtung, in die er zu laufen hatte, nie im Zweifel war. Er wußte instinktiv, wohin er sich wenden mußte. Der Boden war hart und trocken, wie durchgefroren, und das trotz der endlosen Regenfälle der Nacht. Die Sache hätte Keshban nicht geheuer sein sollen, aber einstweilen hatte er vor dem sanften Rudelbruder und seinen wölfischen Freunden
mehr Angst als vor dem seltsamen Boden, auf dem er sich vor Gruulx in Sicherheit zu bringen trachtete. Eine Bodenspalte tauchte auf. Keshban setzte in weitem Sprung darüber hinweg. Wieder das Heulen, diesmal sehr nahe. Im Laufen riß sich Keshban den Bogen von der Schulter. Er nahm einen Pfeil zur Hand. Er schloß die Augen, lauschte, und er spannte dabei den Bogen, den er meisterlich zu handhaben wußte. Da – ein Hecheln. Keshban drehte sich ein wenig, dann ließ er den Pfeil davonziehen. Dem Schwirren der Sehne folgte Stille, dann ein lautes Heulen, diesmal schmerzvoll. Keshban nahm wieder den Weg unter die Füße. Ein paar Augenblicke lang würden die Wölfe zu tun haben. Sie nahmen sich, wenn sie ausgehungert genug waren, ihres verletzten Artgenossen auf ihre Art an, und in der Zeit, die sie brauchten, ihn zu zerreißen, konnte er wieder einen kleinen Vorsprung gewinnen. Vor allem half ihm diese kleine Pause, Luft zu schöpfen. Das Atmen fiel schwer in dem Nebel, und Keshban war noch von den Anstrengungen der Nacht erschöpft. Die Beinwunde hinderte ihn nicht sehr, wohl aber die Armwunde, besonders beim Bogenschießen. Keshban warf im Laufen einen Blick auf die Armwunde, und was er sah, erfüllte ihn mit größtem Entsetzen. Der Verband hatte sich gelockert, die Wunde war offen. Sie blutete. Mit dieser überdeutlichen Fährte vor sich mußte das Rudel leichtes Spiel haben. Keshban hätte vor Wut und Enttäuschung am liebsten laut aufgeschrien. Was sollte er tun? Stehenbleiben, die Wunde verbinden und weiterlaufen, vorausgesetzt, die Wölfe hatten ihn nicht schon zu packen bekommen, bevor er weiterlaufen konnte? Oder mit
letzter Kraft weiterhetzen und dabei eine Spur hinterlassen, die ein Blinder hätte finden können? Keshban entschloß sich, seinen Verzweiflungslauf fortzusetzen. Er wollte keinen Augenblick mehr an Zeit verlieren. Nur weg von der heulenden Meute… Offenbar hetzte das Rudel nicht zum ersten Mal in diesem Gebiet. Keshban mußte einen Sprung machen, um nicht über einen ausgebleichten Tierschädel zu stolpern, der plötzlich im Weg gelegen hatte. Wenig später sah er ein weiteres Gebein, und immer mehr Knochen wurden sichtbar. Keshban begann zu ahnen, daß er in eine mörderische Falle gelaufen war. All diese Menschen und Tiere waren hier verendet. Allesamt Opfer des fürchterlichen Rudels? Er stolperte und fiel. Hinter ihm erklang wieder das Heulen der Meute, und es hörte sich an, als säße sie ihm unmittelbar im Nacken. Er raffte sich auf und kam wieder auf die Füße. Er schwankte jetzt mehr, als daß er lief. Die zahlreichen Hindernisse auf dem Boden ließen ein Laufen gar nicht zu. Und dann tauchte plötzlich der Rudelbruder wieder auf. Keshban konnte durch den Nebel das grausame Lächeln sehen. Das Heulen der hungrigen Wölfe gellte in seinen Ohren. Er ließ sein Bündel fallen, griff zum Schwert. »Komm her, Rudelbruder!« schrie Keshban mit der Kraft der Verzweiflung. »Stell dich zum Kampf!« Dann waren sie heran. Keshban sah noch etwas Großes, Graues durch die Luft schießen, dann traf ihn ein harter Stoß und riß ihn von den Beinen. Stinkender Raubtieratem schlug ihm ins Gesicht. Die Meute hatte ihn erwischt. Keshban konnte noch im Fallen einen Hieb mit dem Schwert führen, dann landete er auf dem Boden inmitten keuchender Leiber und schnappender Kiefer.
Und mit einemmal, während er vor Schmerz aufschrie, als sich ein scharfes Gebiß in seinen rechten Arm grub, spürte er den Boden unter sich beben. Einen Augenblick lang erstarrte alles. Ein neuer Erdstoß. Einen Herzschlag später war Keshban allein. Die Meute war verschwunden. Was war es, das so furchtbar war, daß sogar des Rudelbruders Meute sich aus dem Staub machte? * »Xanada!« schrie Mythor und zerrte an den Fesseln. Die Frau blieb am Eingang stehen. Sie sah Mythor an. Sie war noch jung, mochte keine dreißig Sommer gesehen haben. Sie schien überhaupt seit Jahren nicht oft dem Sonnenlicht ausgesetzt gewesen zu sein. Ihr Gesicht war von fahler Blässe, schmal und hohlwangig. Die tiefen Augen hatten keinen Glanz. Die Frau war schlank, fast hager, man hätte sie sogar ausgehungert nennen können. So zart und zerbrechlich wirkte die Gestalt, daß Mythor fast glaubte, durch sie hindurchsehen zu können. »Ich bin nicht Xanada«, sagte die Frau. Ihre dunkelbraunen Augen waren auf Mythor gerichtet. Sie war von mittlerer Größe, und jetzt, da Mythor sie genauer sehen konnte, entdeckte er, daß sie erheblich jünger sein mußte, als er auf den ersten Blick vermutet hatte. Sie konnte höchstens zwanzig Jahre alt sein. Tiefes Leid hatte sie gezeichnet. Mythor wußte sofort, daß es sich bei diesem Wesen nicht um die Herrin der Lichtburg handeln konnte, weit eher um eine Sklavin. Die Frau hatte blondes, fast weißes Haar, das ihr in prachtvollen Locken bis auf die Schulter fiel. Vielleicht trug ihre Zer-
brechlichkeit dazu bei, daß Mythor ihr augenblicklich Sympathie entgegenbrachte, daß er das Bedürfnis verspürte, ihr zu helfen. Sie trug ein enges blaues Kleid, das bis zu den Knien reichte. Um die Taille trug sie eine geflochtene Schnur als Gürtel. Eine goldene Kette am Hals hielt ein handgroßes Amulett. Mythor konnte keine Einzelheit erkennen, er glaubte aber das Bildnis eines großen Tieres darauf zu erkennen. Vervollständigt wurde die Kleidung der Frau durch kurzschäftige schwarze Stiefel. »Ich bin Mythor!« stellte sich der Gefangene vor. »Sagst du mir deinen Namen?« Das bleiche Gesicht der Frau verzog sich zu einem unendlich wehmütigen Lächeln. »Nenn mich Kalathee!« sagte sie sanft. Die Gestalt – instinktiv nannte Mythor sie in Gedanken die »Bleiche Kalathee« – paßte überhaupt nicht in diese Szenerie. Die sie umwimmelnden Zyklopen mit ihrer schwarzen Häßlichkeit ließen die Schönheit der Bleichen Kalathee unwirklich, alptraumhaft erscheinen. Mythor stand hoch aufgerichtet vor ihr und sah sie durchdringend an. »Wenn du nicht Xanada bist, nicht die Herrin der Lichtburg, wer bist du dann?« Gedankenverloren sah die Bleiche Kalathee ihren Gefangenen an. War es Mitleid, was sich in ihren kummerblassen Zügen widerspiegelte? »Ich bin Xanadas Pflegerin«, sagte sie tonlos. »Xanadas Diener sagen, du hättest dich zur Wehr gesetzt.« »Wer würde sich wohl nicht dagegen wehren?« fragte er mit Ironie und Bitterkeit und deutete mit dem Kopf auf die Kristallschreine. Er konnte dabei sehen, daß seine Gefährten noch immer oben auf den Schreinen lagen. Die Bleiche Kalathee antwortete nicht auf die Frage, aber sie sah Mythor an, und Mythor sah den Schmerz und die innere
Qual in ihren Augen. Er traf mit seinem Vorwurf die Falsche. Die Bleiche Kalathee war selbst eine Gefangene und kaum verantwortlich für die grausigen Zeremonien in der Lichtburg. »Vielleicht kannst du Xanada helfen«, sagte die Bleiche Kalathee. Ihre von den Ärmeln des Kleides bis zu den Handgelenken bedeckten Arme hingen schlaff herab. »Helfen?« fragte Mythor, unfähig, diesen Hohn hinzunehmen, den die Frau vielleicht gar nicht empfand. Kalathee sprach mit einem seltsamen Akzent, aus dem sich nicht entnehmen ließ, woher sie stammte. Sie sagte etwas zu den Zyklopen, die daraufhin vorsichtig näher kamen und Mythor ergriffen. Sie hoben ihn hoch und trugen ihn. »Was habt ihr mit mir vor?« fragte Mythor. Kalathee antwortete mit leiser Stimme: »Wir bringen dich zu Xanada.« * Der Herr der Lichtburg mußte also noch am Leben sein, und nach allem, was Mythor in der Lichtburg erlebt hatte, gab es dafür nur eine Erklärung: Schwarze Magie. Mythor hatte keine Lust, diesem Wesen Xanada in irgendeiner Form behilflich zu sein, sein schändliches Leben fortzusetzen. Die Zyklopen trugen ihn mit den Füßen voran durch rußgeschwärzte Gänge der Lichtburg. Kalathee folgte Mythor, und sie blieb ihm so nahe, daß er von unten ihr Gesicht sehen konnte. Ihr Blick verweilte in unbekannten Fernen, als sie leise erzählte. »Früher einmal«, sagte sie, »wohnte Berryl in der Lichtburg. Er war der Wächter, den der Lichtbote hier zurückgelassen hatte. Er hütete das Gläserne Schwert.« »Offenbar nicht gut genug«, stellte Mythor bitter fest. »Was weißt du, wie stark die Mächte des Bösen sind?« versetzte Kalathee. »Xanada ist gekommen, einer aus dem Reich
der Schatten, und er war stark und grausam und hinterlistig. Und er hat den Kampf gewonnen, zu dem er Berryl zwang, den Königstroll.« Unwillkürlich mußte Mythor an Fahrna denken, die sich für diese Erweiterung ihrer Kenntnisse über die Königstrolle sicherlich dankbar gezeigt hätte. »Was ist aus Berryl geworden?« fragte Mythor. »Er ist tot«, bekam er zur Antwort. »Xanada hat ihn getötet.« Damit war dann wohl auch das Gläserne Schwert verloren, sagte sich Mythor. Seine Hoffnungen zerstoben jäh. Alle Pläne waren damit hinfällig geworden. Wenn er bei dieser Aufgabe versagte, ob durch eigenes Versäumnis oder nicht, konnte er die anderen Aufgaben nicht in der richtigen Reihenfolge lösen, vielleicht nicht einmal in Erfahrung bringen, worin sie eigentlich bestanden. »Jetzt hat also Xanada das Gläserne Schwert«, sagte Mythor bitter. »Er hat es«, sagte die Bleiche Kalathee. »Bald wirst du es sehen.« In tiefem Schweigen ging der Marsch durch die Räume der Lichtburg, die ihren Namen nicht mehr verdiente, denn sie war zu einem Ort der Finsternis geworden. Die Mächte des Lichtes wohnten nicht mehr in diesen Räumen, nur die Ausgeburten des Dunkels. In den meisten Gängen der Lichtburg war es finster, weil die Wände von Fackeln geschwärzt waren. Jetzt aber näherte man sich offenbar einem Raum, der heller zu sein schien. »Ist dies Xanadas Behausung?« fragte Mythor. »Du wirst ihn bald sehen«, vertröstete ihn die Bleiche Kalathee. Sie stieß einige Befehle in der Sprache der Zyklopen hervor. Die Schwarzzwerge stellten Mythor auf die Füße. Er stand in einer Halle. Boden, Wände und Decken bestanden aus den gleichen Kristallquadern, die Mythor bereits
kannte. Ein geheimnisvolles Dämmerlicht herrschte in der Halle. Von allen Seiten fiel ein düsterroter Schein in die Mitte des Raumes. Dort lag auf einem in gleichem Rot erglühenden Kristall eine Gestalt. »Xanada«, sagte die Bleiche Kalathee. Mit energischen Handbewegungen schickte sie die Zyklopen aus dem Raum, und es hatte den Anschein, als befolgten die Gnomen diesen Befehl gern. »Löse meine Fesseln!« sagte Mythor. Kalathee bückte sich, aber sie befreite nur Mythors Füße, und auch das nur so weit, daß er sich langsam vorwärts bewegen konnte. Für Mythor war es offensichtlich: Kalathee diente Xanada, aber sie tat es nicht gern. Noch war ihre Furcht vor Xanada größer als ihr Wunsch nach Freiheit. Mit kleinen, langsamen Schritten näherte er sich dem glühenden Kristall. Es war ein Mann, der auf dem Block lag. »Xanada ist ein Dämon«, sagte die Bleiche Kalathee mit leiser, kaum hörbarer Stimme. Personifiziert war dieser Dämon in einem Menschen. Mythor konnte den kahlen Schädel sehen und die groben Umrisse des Mannes. Er war ein feister Bursche mit Pausbacken, dicken Armen und Beinen und fettem Bauch. »Eine gute Tarnung«, sagte Mythor spöttisch. »Ein dicker, gemütlicher Kahlkopf.« Kalathee schwieg. Mythor bewegte sich weiter. Er wollte um den reglosen Körper herumgehen. »Berühre ihn nicht«, sagte die Bleiche Kalathee eindringlich. »Es wäre dein sicherer Tod, auch wenn du vielleicht gegen Schwarze Magie gefeit bist.« »Ist er tot?« fragte Mythor. »Nein«, antwortete die Bleiche Kalathee. »Warum rührt er sich dann nicht?« wollte Mythor wissen. »Sieh selbst«, sagte Kalathee.
In diesem Augenblick entdeckte Mythor das Geheimnis der Lichtburg, und jetzt verstand er vieles, was ihm vorher unklar geblieben war. Xanada hatte das Gläserne Schwert nicht in seinen Besitz bringen können. Sterbend hatte der Königstroll Berryl einen Platz gefunden, das Schwert vor Xanadas Zugriff für alle Zeiten zu sichern. Es stak in der Brust des Dämons. Mythor holte tief Luft. Er sah den Griff des Schwertes, der aus dem regungslosen Xanada ragte. Er sah die beiden Kugeln an den Enden des Griffbodens, silbern schimmernd wie das Horn am Ende des Heftes. Von dem eigentlichen Schwert war nichts zu sehen. »Sterbend hat Berryl, der Königstroll, Xanada diese Wunde beigebracht«, wußte Kalathee zu berichten. »Berühre ihn nicht, nur ich darf das. Nur ich kann seine Ausstrahlung ertragen, ohne daran zu sterben.« »Warum stirbt er nicht, wenn er todwund geschlagen ist?« »Sieh dich um«, sagte die Bleiche Kalathee. »Jeder dieser kristallenen Schreine enthält ein lebendes Wesen. Jedes dieser Wesen gibt nach und nach seine ganze Lebensenergie ab. Siehst du die Strahlen, die Xanada treffen? Sie geben ihm neue Lebenskraft, und darum kann er nicht sterben. Leben kann er nicht, sterben will er nicht, und so steht die Lichtburg seit Ewigkeiten hier.« »Und die Menschen in den Kristallen?« »Sie verlieren alle Lebenskraft«, sagte die Bleiche Kalathee. Sie sagte es mit leiser, ruhiger Stimme, aber Mythor konnte das Grauen hören, das die Frau seit langer Zeit empfinden mußte. »Sie sterben entweder und werden irgendwo draußen abgelegt, damit ihre Gebeine dort zerfallen. Oder sie werden…« Die Bleiche Kalathee verstummte. Mythor kannte die Antwort, auch ohne ihre Hilfe.
Sie verwandelten sich in einem langsamen, grausamen Prozeß in jene häßlichen, schwarzen, einäugigen Zwerge, die in der Lichtburg Xanadas Befehle ausführten. Ein schlimmeres Geschick als dieses konnte Mythor sich nicht vorstellen. Er sah hinüber zu dem reglosen Körper auf dem glühenden Kristall. Das seltsam unwirkliche Licht gab dem Gesicht Xanadas einen Ausdruck ungeheurer Heimtücke und Bösartigkeit. Das Gesicht war eine gefrorene Fratze des Hasses, und dieser Eindruck wurde von dem rötlichen Licht noch unterstrichen. Mythor versuchte sich vorzustellen, was Xanada empfinden mußte. »Er lebt, solange das Schwert in der Wunde steckt«, flüsterte Kalathee. »Wird es herausgezogen…« »Dann zieh es heraus!« rief Mythor. »Mach deiner Gefangenschaft ein Ende!« »Ich kann es nicht«, sagte Kalathee. Ihr Gesicht verriet, mit welchen Gemütsqualen sich die junge Frau trug. »Ich würde ihn töten, vielleicht, aber ich kann nicht töten. Nicht direkt, nicht mit eigener Hand.« »Nur du kannst es!« rief Mythor. »Von dir hängt alles in dieser Festung des Grauens ab, nur von dir. Solange er existiert, werden andere in den Kristallschreinen grausam sterben müssen, wie du genau weißt.« Kalathee schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht«, flüsterte sie. »Versuche es«, beschwor Mythor die Frau. »Nur du kannst ihn berühren, ohne sterben zu müssen. Nur du kannst seiner Qual und der Qual all der anderen ein Ende bereiten.« »Meine Kräfte reichen nicht aus dazu«, murmelte Kalathee. »Dann will ich es versuchen«, sagte Mythor. »Binde mich los, dann werde ich Xanada erlösen.« Die Bleiche Kalathee barg das Gesicht in den Händen. Sie weinte lautlos.
Kein Geräusch war zu hören in diesem Raum der Lichtburg. Es war totenstill. Drei Wesen, deren Geschicke untrennbar miteinander verknüpft waren: Es lag an Kalathee, wer sterben mußte – Mythor, wenn sie ihren Dienst an Xanada fortsetzte; Xanada, wenn sie Mythor half. In beiden Fällen war auch ihr eigenes Leben gefährdet, aber Mythor hatte nicht den Eindruck, als hinge die Bleiche Kalathee an diesem Leben. »Binde mich los!« sagte er. »Er wird dich und mich töten«, sagte Kalathee schluchzend. »Es ist alles so sinnlos.« »Nicht, wenn du mich befreist. Kann ich mein Schwert erst benutzen, werde ich den Weg nach draußen freikämpfen.« »Du wirst es nicht schaffen«, murmelte Kalathee. Mythor zerrte an seinen Fesseln, eine sinnlose Kraftvergeudung, denn das unzerreißbare Gespinst ließ sich nicht abstreifen. »Befreie mich«, drängte Mythor. »Nur dann hast du eine Chance, ein neues, ein anderes Leben zu beginnen.« Der Kristall mit dem aufgebahrten Dämon stand zwischen Mythor und Kalathee. Die Frau blickte auf die Fratze Xanadas, dann sah sie Mythor an. Der Blick wanderte hin und her. Mythor schwieg. Er ahnte, daß er jetzt kein Wort sagen durfte, wollte er den lautlosen Kampf in Kalathees Seele nicht zu seinen Ungunsten beeinflussen. Kalathee bewegte sich. Sie ging langsam um den Kristall herum. In dem rötlichen Dämmerlicht wirkte ihr Gesicht von grenzenloser Qual gezeichnet. Kein Wort wurde gesprochen. Kalathee blieb vor Mythor stehen und sah ihn an. Mythor begriff, was in der Frau vorging. Er verkörperte in diesem Augenblick alle Wünsche und Hoffnungen Kalathees und bildete gleichzeitig den Kristallisationspunkt für alle Ängste der Frau. Mythor spürte, daß sie nur dieses eine Mal
zu einer solchen Entscheidung fähig sein würde. Kalathee kniete nieder. Sie murmelte etwas in einer Sprache, die Mythor nicht verstand. Er spürte aber, daß sich der Druck um seine Kniegelenke lockerte, und sprach kein Wort. Er hörte nur zu und wartete ab. Langsam löste Kalathee die Fesseln, erst an den Beinen, dann an der Hüfte. Mythor fühlte, daß die Frau entsetzliche Angst vor einem Fehlschlag hatte. Daß sie dennoch den Versuch unternahm, sprach für ihren Lebensmut und ihren Charakter. Dann war die letzte Fessel gefallen. Mythor war frei. Er griff nach seinem Schwert. Im gleichen Augenblick begann Xanada zu schreien, gellend, angsterfüllt. * Mythor zögerte einen Augenblick lang. Die Augen des Dämons waren geschlossen. Woher wußte er, was sich in seiner unmittelbaren Nähe abspielte? »Beeil dich!« schrie Kalathee. »Er hat uns entdeckt, er weiß, daß ich ihn verraten habe!« Mythor zog sein Schwert. »Lauf und befreie meine Freunde!« rief er. »Ich werde ihre Hilfe noch brauchen können.« Kalathee zögerte einen Augenblick, dann nickte sie und hastete aus dem Raum. Im gleichen Augenblick, in dem sie den Saal verließ, erschienen Xanadas Helfer auf dem Plan. Aus einem halben Dutzend Öffnungen stürmten die Zyklopen hervor, wutentbrannt, wie es schien. Und sie waren bewaffnet. Mythor kam nicht mehr dazu, sich auf Xanada zu stürzen und ihm den tödlichen Streich zu versetzen. Er mußte sich seiner Haut wehren.
Mythor ließ seine Klinge kreisen. Die angreifenden Zyklopen wichen zurück. Der Kampf war mehr als ungleich, er war streckenweise absurd. Die Angreifer reichten Mythor kaum bis an den Leibgurt, und sie aus der Höhe zu treffen war alles andere als leicht. In die Knie zu gehen, um sie aus gleicher Höhe zu bekämpfen, verbot sich von selbst. So mußte Mythor ungezielt in die Scharen der Angreifer förmlich hineindreschen. Zuerst wichen die Zwerge furchterfüllt zurück, zumal Mythor bei den ersten Streichen die Schwarzzwerge gleich in Haufen von den Beinen warf. Er wußte, daß sie Opfer Xanadas waren, unfreiwillige Helfer seiner perfiden Bösartigkeiten. Das nahm ihnen aber grundsätzlich nichts von ihrer Gefährlichkeit, zumal, wenn sie in Mengen auftraten wie in diesem Augenblick. Mythor trieb sie vor sich her. Tänzelnd, zuschlagend, ausweichend. Er wollte nicht töten. Sein Trachten stand danach, nicht zu unterliegen, bis Kalathee die Freunde herbeigeführt hatte. Mit vereinten Kräften mußte es möglich sein, die Gnomen zurückzudrängen, ohne sie gleich zu Dutzenden zu erschlagen. Schließlich, Mythor war sich dessen schmerzlich bewußt, hatten sie sich dieses Schicksal nicht freiwillig ausgewählt. Langsam aber mußte er sich sagen, daß er früher oder später der Übermacht erliegen würde, wenn er nicht Mittel fand, sich wirkungsvoller zur Wehr zu setzen. Mythor wich zurück, bis er in einem Winkel des Raumes wenigstens vor Angriffen von hinten sicher war. Mit der Kraft seines Armes konnte er sich die planlos angreifenden Gnomen leidlich vom Leibe halten. Wo er wirklich einmal einen Schlag anbrachte, schlug er mit der flachen Klinge zu. Noch wollte er keine tödlichen Wunden schlagen. Dann aber spürte er, daß die Wand hinter seinem Rücken heiß wurde. Offenbar wurde das durch Befehle Xanadas be-
wirkt, und die Auswirkung ließ nicht lange auf sich warten. Wenn er sich nicht den Rücken verbrennen wollte, mußte Mythor seinen geschützten Winkel verlassen und sich mitten im Raum zum Kampf stellen. Langsam rückte Mythor von der Wand ab. Einen kleinen Augenblick lang ließ er sich ablenken, und sofort bekam er die Folgen zu spüren. Kalter Stahl drang ihm ins linke Bein, ein stechender Schmerz zuckte in seinem Körper hoch. Mythor reagierte nicht überlegt. Er tat, was er immer in Lagen dieser Art getan hatte. Im Bruchteil einer Sekunde fuhr er herum. Im Zeitraum eines Herzschlages hatte er die Klinge in die Höhe gebracht und mit Kraft herabsausen lassen. Gespaltenen Hauptes fiel der angreifende Zyklop zurück. Einen Augenblick lang war es still. In dieser winzigen Pause hörte Mythor zweierlei: Er hörte undeutlich das wütende Keifen Xanadas, sein Schreien und Heulen. Und er hörte, mehr als feines Wispern, das erlöste Aufseufzen einer Kreatur, die eines gnädigeren Todes gestorben war, als sie befürchtet hatte. Es war der sterbende Zyklop gewesen, der diesen Seufzer ausgestoßen hatte, einen Laut, der alle nur fühlbare Erleichterung und Dankbarkeit in sich barg. Mythor begriff. Der Tod durch seine Klinge war für diese Wesen eine Gnade, weil er ihnen den anderen, langsameren, grauenvollen Tod ersparte. Im Augenblick des Todes erlosch auch der schreckliche Bann, mit dem Xanada seine Opfer geschlagen hatte. Im Augenblick des Todes kehrten sie in die Freiheit zurück. Das hieß nicht, daß die andern Zyklopen Mythor dankbar für die Erlösung ihres Artgenossen gewesen wären. Im Gegenteil, sie fielen mit verdoppelter Heftigkeit über ihn her. Jetzt aber kannte Mythor keine Hemmnisse mehr. Er preßte die Zähne aufeinander, und er erinnerte sich der
Beschwörung in den Grüften der Lichtburg. Haß und Wut durchtobten seine Adern und gaben ihm neue Kräfte. Leicht wie eine Feder wog das Schwert in seiner Faust, und mit der Gewalt von Hammerschlägen fielen die Hiebe auf die Zyklopen nieder. Mythor drosch in die Menge der Angreifer hinein, und er traf. Es war ein ungleicher Kampf, denn die Wut und Erbitterung verlieh Mythor Kräfte, denen auch die große Zahl der Angreifer nicht gewachsen war. Blut floß, und die ersten Zyklopen starben unter Mythors Schwert. Er hielt sich nach Möglichkeit in der Nähe der Wände auf. Er wollte keinem der Gnomen Gelegenheit geben, sich in seinen Rücken zu schleichen und ihm womöglich die Kniesehnen durchzuschneiden oder ihm hinterrücks ein Schwert in den Leib zu bohren. Eine Weile gelang dieses Vorhaben. Immer wieder sammelte Mythor seine Kräfte, dann unternahm er einen plötzlichen Ausfall. Er sprang vor, mitten hinein in die Knäuel seiner Widersacher, und er schlug mit größter Härte und Treffsicherheit zu. Hatte er ein solches Knäuel gesprengt, wich er wieder zurück. Bis die Zyklopen sich von der Überraschung erholt hatten, war Mythor in neuem Ansprung schon wieder vorgeprescht, um mit der Schärfe des Schwertes Verderben in die Reihen der Schwarzzwerge zu tragen. Dann aber sah er aus den Augenwinkeln, daß die Angreifer die Taktik wechseln wollten. An einem Ende der Halle tauchten Zyklopen auf, die keine Schwerter trugen. Schwarzhäutige Bogenschützen traten auf den Plan. Ihre Bogen mochten nicht viel taugen, aber einen solchen Pfeilhagel würde er nicht überleben. Jetzt gab es für Mythor kein Halten mehr. Er faßte sein Schwert beidhändig und trieb die Gegner vor sich her. Mit
solcher Wucht und Kraft und Geschicklichkeit schlug er seine Klinge, daß die Schar der Zyklopen vor ihm auseinanderklaffte und sich hinter ihm nicht wieder zu schließen vermochte. Schritt für Schritt kämpfte sich Mythor vorwärts, auf den Tisch zu, auf dem Xanada lag und sein Heulen ertönen ließ. Mythor war klar, daß nur dort der Kampf ein Ende finden würde. Als erstes schaffte er es, den Tisch zwischen sich und die Bogenschützen zu bringen, deren Tätigkeit sofort von Xanada gestoppt wurde. Dann arbeitete Mythor sich näher heran. Er drosch nach links und rechts. Immer neue Zyklopen fielen seinen wuchtigen Schwertstreichen zum Opfer, und immer wieder ertönte in den sekundenlangen Kampfpausen der gleiche Laut, das erleichterte Aufseufzen der Sterbenden. Endlich hatte Mythor sein Ziel erreicht, den Tisch, auf dem Xanada lag. Mit selbstmörderischer Entschlossenheit, das eigene Leben bedenkenlos wegwerfend, stürzten sich Dutzende von Zyklopen in das Gemenge und versuchten, Mythor von dem Tisch abzudrängen. Mythor mußte zurückweichen, aber er wußte, erst wenn er Xanada vor der Spitze seines Schwertes hatte, erst dann war er, und das auch nur vorerst, in Sicherheit. Unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihm, sich ein zweites Mal zu Xanadas Tisch durchzukämpfen. Diesmal kam der Verzweiflungsangriff der Zyklopen zu spät. Mythor wandte sich blitzschnell um, und ehe die Zyklopen begriffen, was geschah, hatte Mythor sein Schwert angesetzt. Die Spitze zielte auf die Kehle des Dämons. »Aufhören!« schrie Mythor triumphierend. Er glaubte fest, diesen Kampf gewonnen zu haben, doch er wurde eines Besseren belehrt. Wie flüssiges Feuer floß etwas aus Xanadas Körper. Mythor
mußte sich festhalten, um nicht umzufallen. Er schaffte es noch, Druck auf sein Schwert auszuüben. Es drang ein wenig in den Leib des Dämons ein, und von den Wänden gellte ein schauerlicher Schrei der Wut. Das Schmerzgeheul des Dämons war so entsetzlich, daß die Zyklopen sofort die Flucht ergriffen. Dann aber, bevor Mythor in seiner grenzenlosen Ermattung den Sieg auskosten konnte, kehrten sie wieder zurück. Der offene Kampf war beendet. Mythor hielt sein Schwert an Xanadas Kehle, und die Zyklopen schlichen wütend um die beiden herum. »Zurück!« schrie Mythor. »Oder euer Herr ist des Todes!« »Du selbst bist todgeweiht, vermessener Frevler!« gellte eine schrille Stimme. Xanada hatte sich zu Wort gemeldet. Wenigstens ein Teilerfolg, sagte sich Mythor. »Gib meine Freunde frei!« befahl Mythor. »Niemals«, erklang die Antwort. »Ergib dich, dann werde ich dir einen leichten Tod bestimmen, dich vielleicht gar in meine Dienste nehmen!« »Wie Kalathee?« »Kalathee hat versagt, sie wird nicht mehr gebraucht«, gab Xanada bekannt. »Das wird sich zeigen«, sagte Mythor. Er wischte sich Schweiß und Blut aus dem Gesicht. Seine Glieder waren schmerzerfüllt von der Anstrengung des Kampfes. Der Boden der tempelartigen Halle war blutverschmiert. Ein Schlachtfeld konnte nicht gräßlicher aussehen. Mythor bewegte kurz die Spitze seines Schwertes. »Sinnlos«, sagte Xanada. »So kommen wir nicht ins Geschäft.« Der Körper auf dem Kristalltisch bewegte keinen Muskel, aber von irgendwoher erklang die Stimme des Dämons.
Mythor hätte gerne gewußt, wie Xanada dieses Kunststück bewerkstelligte, ob es da einen einfachen Trick gab oder ob Zauberei im Spiel war. »Du sollst mir dienen«, sagte Xanada. »Ich werde dein Leben zum Lohn verlängern. Du wirst den Tod nicht mehr zu fürchten haben.« »Wer in deinem Dienst steht, fürchtet den Tod nicht mehr«, gab Mythor zur Antwort. »Du kannst mir nicht entkommen«, sagte Xanada. »Ewig wirst du nicht neben mir stehen können, und sobald du fällst, werden dich meine Knechte zu fassen bekommen.« »Ich habe genug von ihnen erschlagen«, sagte Mythor, »um sie das Fürchten gelehrt zu haben.« »Wer mir dient«, wiederholte Xanada mit grausigem Spott Mythors Satz, »der fürchtet den Tod nicht mehr.« »Auch richtig«, sagte Mythor. »Aber du scheinst ihn zu fürchten, Xanada. Was gibst du mir, wenn ich dich verschone?« »Nichts.« »Wenig für etwas so Kostbares wie dein Leben, Xanada«, sagte Mythor. »Aber du magst recht haben, wenn du mein Schwert nicht fürchtest. Was aber, wenn ich mich deines Schwertes bediene, das in deinem feisten Körper steckt?« »Niemand kann es entfernen«, sagte Xanada, und der ruhige Klang der seltsamen Stimme schien zu verraten, daß Xanada es ehrlich meinte. »Wer es versucht, stirbt eines schrecklichen Todes.« »Nun«, sagte Mythor, »mag sein. Welchen Todes aber stirbst du, wenn ich das Schwert herausziehe und dir an anderer Stelle in den Körper jage?« »Du magst es versuchen«, sagte Xanada. »Es wird dich schnell und grausam töten, mehr nicht. Das Leben kann nur ich dir erhalten. Nutze den Augenblick der Gnade, den ich dir
gewähre.« »In keinem Fall«, sagte Mythor. Er ließ sein Schwert fallen und sprang mit einem Satz auf den Tisch, auf dem Xanada lag. Das seltsame, schreckenerregende feurige Fließen, das Mythor schon einmal empfunden hatte, durchströmte ihn wieder, diesmal noch stärker, und sein Körper krümmte sich. Die Zyklopen drangen vor, rückten dem Tisch näher, vor dem klirrend Mythors Schwert auf dem Boden gelandet war. »Rufe sie zurück, feister Dämon!« rief Mythor. »Oder ich werde dir die Klinge im Leibe ein wenig herumdrehen.« Die Zyklopen wichen langsam zurück, von unhörbaren Befehlen gelenkt. In diesem Augenblick erschienen Nottr, Kalathee und die anderen beiden auf dem Plan. »Vorsicht!« wollte Mythor schreien, der die Freunde zu spät gewahrte. Die Zyklopen reagierten schneller, als Mythor gedacht hatte. Ehe er noch Zeit zum Reagieren fand, hatten sie die Flüchtigen bereits umkreist. Ein Ring blitzender Schwerter umgab die vier, und an einigen der Schwerter war frisches Blut zu sehen. Mythor erkannte, daß er sich in einer keineswegs sehr günstigen Verhandlungsposition befand. »Ergib dich«, sagte Xanada. »Ich werde dein Leben schonen, und wenn dir etwas daran liegt, kannst du das bleiche Weib als Gefährtin dein eigen nennen.« »Deine Manieren lassen zu wünschen übrig, Dämon«, sagte er. Mythor versetzte dem Dämon einen Fußtritt, und der Schmerz, der im Augenblick der Berührung durch seinen Körper peitschte, ließ ihn laut aufschreien. »Siehst du«, sagte Xanada. Mythor hatte Mühe, nicht von dem Tisch herunterzufallen. Vor seinen Augen schwirrten grelle Funken, in seinen Gliedern tobte ein gnadenloser Schmerz.
»Du kannst mir nichts anhaben«, sagte Xanada höhnisch. Das Gespenstische an dem Zwiegespräch war, daß sich an Xanadas Körper kein Glied bewegte. Die Stimme kam vielmehr von irgendwoher, scheinbar mitten aus dem Raum. »Aber ich kann dich töten, wann immer und wie immer es mir beliebt«, fuhr Xanada fort. »Ich habe erfahren, daß du Kräfte besitzt, die dich vor der Verwandlung in einen Spender beschützen. Das ist gut so, ich kann solche Leute brauchen.« »Ach ja«, höhnte Mythor, der in diesem Augenblick nicht wußte, was er darauf sagen sollte. Die Lage war mehr als verfahren. Mythor schielte zu dem Gläsernen Schwert hinüber, das aus Xanadas Leib herausragte. Wenn die Berührung des Dämonenkörpers schon solche Qualen bereitete, wie mochte es sich dann anfühlen, wenn er wagte, seine Hände nach Alton auszustrecken? Hatte Kalathee recht, wenn sie behauptete, niemand könne das Schwert aus Xanadas Leib entfernen? »Du wirst mir helfen können«, sagte Xanada. »Darum will ich deine Frevel nur mäßig sühnen. Du wirst ein guter Diener werden, das weiß ich, wenn ich deinen Willen erst gebrochen habe.« Die niederträchtige Offenheit, mit der Xanada Mythor seine Pläne enthüllte, ließ diesen vor Wut aufschreien: »Niemals!« »Du wirst mir dienen«, versprach Xanada. »Sieh dir Kalathee an. Sie hat sich einst auch geweigert, und sie ist mir eine folgsame Dienerin geworden, die liebste, die ich je hatte.« Mythor empfand sehr wohl den giftigen Hohn, der in diesen Worten lag. Und ihm bereitete die Sicherheit Angst, mit der der Dämon nun redete. War sich Xanada tatsächlich so sicher, daß er jede Gefahr für sich selbst abgewehrt hatte? Gab es wirklich kein Mittel, diesem Dämon auf den Leib zu rücken? »Lieber sterbe ich!« sagte Mythor. Er wollte Zeit gewinnen. Seine Gedanken überschlugen sich.
Wenn er den Versuch wagte, wenn er in einem plötzlichem Ausfall nach dem Gläsernen Schwert griff, wenn er es schaffte, die Waffe aus Xanadas Leib herauszureißen, wenn es ihm gelang, sofort danach den tödlichen Streich zu führen… genügte das? Die Spitzen der Zyklopenschwerter zeigten auf die Leiber der vier Gefährten. Mythor rechnete Kalathee seltsamerweise bereits dazu, und wenn Xanada nicht auf der Stelle tot war, würde er Zeit genug finden, seinen Sklaven den Mordbefehl zu geben. »Es stirbt sich nicht gern in meinem Reich«, sagte Xanada mit unverhohlener Drohung. »Wer wann und wie stirbt, befehle ich, und ich sage dir, Fremder, es wird dich gereuen, wenn du dich länger meinem Willen widersetzt.« »Totmachen!« schrie Nottr plötzlich. »Lieber totmachen und selbst tot, als so zu leben!« Auch ein Standpunkt, dachte Mythor. Er bewegte die Hände. Er sah, daß Fahrna ihn ansah, und darin sah er eine letzte Chance. Fahrna antwortete ebenfalls mit einer Geste. Sie hatte verstanden. Mythors Plan war einfach. Auf ein Zeichen hin wollte er nach Alton greifen. Gleichzeitig sollten Nottr und Sadagar versuchen, sich zumindest so viel Luft zu verschaffen, daß sie in einen normalen Kampf eingreifen konnten. Fahrna murmelte etwas in Nottrs Ohr. Der Lorvaner grinste und nickte. Sadagar rollte, angesprochen, die Augen, nickte dann aber ebenfalls. Mythor grinste zufrieden. Jetzt oder nie. »Nun?« fragte Xanada. »Nun ja«, sagte Mythor. Er gab das Zeichen. , In einer einzigen fließenden Bewegung griff Mythor nach dem Gläsernen Schwert, und mit aller ihm zu Gebote stehenden Kraft zog er
daran. Nottr und Sadagar griffen zu den Waffen, sogar Fahrna begann zu kämpfen. Ein gräßliches, markerschütterndes Schreien füllte den Saal. Xanada schrie, vor Schmerz, vor Wut, niemand vermochte es zu sagen. Er konnte auch vor Freude schreien. Denn Alton, das Gläserne Schwert, ließ sich nicht bewegen. Was nützte es da, wenn die Freunde ihre Widersacher zurückdrängen konnten? Alton ließ sich nicht bewegen. Statt dessen erschütterte ein dumpfer Schlag die ganze Lichtburg. Ein ohrenbetäubendes Knirschen ging durch das Bauwerk. Abgesplitterte Kristalle regneten plötzlich von der Decke herab. Ein zweiter Stoß erschütterte den Boden. Kalathee war schreckweiß geworden. »Er ist erwacht!« schrie sie gellend. »Bei allen Geistern der Finsternis, er ist erwacht!« »Wer?« rief Mythor. Kalathees Antwort sagte ihm nicht viel. Er konnte mit dem Namen nichts anfangen. Aber er konnte Kalathees Stimme entnehmen, daß den fünfen jetzt eine Gefahr drohte, die Xanadas Heimtücke und Gefährlichkeit bei weitem übertraf. »Er ist erwacht!« schrie Kalathee. »Der Nöffenwurm!« Mythor spürte, wie etwas Kaltes nach seinem Herzen griff.
Peter Terrid
DAS GLÄSERNE SCHWERT Mythor konnte ihn hören – und fühlen. Er spürte das Beben und Zittern des Bodens. Der gesamte riesenhafte Bau der Lichtburg wurde erschüttert durch die Bewegungen des Wurmes, und das gab jedem eine Ahnung von der Größe und der Kraft des schrecklichen Wesens. »Was ist der Nöffenwurm?« fragte Mythor. Die Bleiche Kalathee lehnte an einer Wand und barg das Gesicht in ihren schmalen Händen. »Xanadas Gefährte«, schluchzte sie. »Xanada kam auf ihm zur Lichtburg geritten. Saht ihr die Spur nicht, draußen, vor der Burg?« Mythor spürte einen eisigen Klumpen in seinem Magen wachsen. Er erinnerte sich der Spur, eines breiten gläsernen Pfades, der sich vom fernen Rand des Sumpfes bis zu den Mauern der Lichtburg zog. »Erzähl mehr!« rief Mythor. Er nahm die Hände von Alton, und sofort ließ der peinigende Schmerz nach. Xanadas magische Kräfte schufen diesen Schmerz, und es schien Wunder genug, daß Mythor diesen Kräften bisher hatte standhalten können. Andere, die es vor ihm versucht hatten, waren jämmerlich gestorben. »Der Nöffenwurm ist ein schreckliches Untier«, sagte Fahrna. Ein neuer Stoß ließ den Boden erzittern. Von der Decke regnete es Kristallsplitter. »Er ist unverwundbar, heißt es, und seine Kraft und Schrecklichkeit kennen keine Grenzen. Wir sind alle verloren.« »Hahahaha!« gellte Xanadas Lachen durch den Raum. »Wo ist der Nöffenwurm?« fragte Mythor. Er ließ von dem Dämon ab. Von der Stelle bewegen konnte
sich Xanada nicht. »Tief drunten«, sagte die Bleiche Kalathee mit hohler Stimme. »Er wird sich jetzt in die Höhe arbeiten… Heiliges Licht!« Die letzten beiden Worte waren mehr ein Aufschrei, denn wieder wurde der gesamte Bau von einer furchtbaren Erschütterung heimgesucht. »Wir müssen ins Freie!« schrie Mythor. Er sprang von dem Opfertisch herab und nahm das Schwert auf, das er hatte fallen lassen. »Kalathee, du mußt uns führen!« Die fahle Frau nickte, dann huschte sie fast ohne Geräusch den Gang entlang. Mythor folgte ihr mit den anderen. Überall hasteten die Zyklopen in wilder Verstörtheit durcheinander und schrien sich in einer unverständlichen Sprache an. Ersichtlich war, daß sie große Angst hatten. »Hierher!« rief Kalathee. Eine Abzweigung war erreicht. Dieser Teil der Lichtburg wurde offenbar nicht so oft benutzt wie die anderen. Hier waren die Wände und Decken nicht blind von Ruß. Sie strahlten vielmehr in jenem hellen Schein, den Mythor schon von draußen wahrgenommen hatte. Er mußte sich konzentrieren, um nicht dem wohlklingenden Singsang zum Opfer zu fallen, der von den lichtfunkelnden Kristallen ausging. Plötzlich blieb die Bleiche Kalathee stehen. Sie streckte die Hand aus. »Dort!« rief sie. Mythor sah, daß eine der drei Plattformen erreicht war, aus denen die stufige Pyramide der Lichtburg bestand. Er trat hinaus ins Freie. Erst jetzt fiel ihm der modrige Geruch auf, der in jedem Winkel der Lichtburg saß. Hier draußen war die Luft klar und kühl. Es klirrte und schepperte. Mythor sah nach der Quelle des Geräusches. Die Lichtburg bestand aus der Pyramide und einem mauer-
umgürteten Areal, auf dem jetzt Scharen der Schwarzzwerge durcheinanderstoben. Sie vertrugen offenbar das grelle Sonnenlicht nur sehr schlecht, ihr Wimmern und Winseln klang in Mythors Ohren. Einer der Türme der Umwallung bewegte sich, als handle es sich nur um ein Spielzeug. Und dann war der Wurm zu sehen. Tosend brach der Turm zusammen und begrub ein Dutzend der Zyklopen unter sich. In den Trümmern sah Mythor eine Bewegung. Er konnte nur den sich windenden Leib des Nöffenwurmes sehen, eine mächtige Rolle aus Muskeln, grün geschuppt. Und jede dieser Bewegungen ließ die Lichtburg bis in ihre Grundfesten erzittern. »Großes Licht!« stieß Sadagar hervor, als er neben Mythor auftauchte. »Mit diesem Vieh werden wir niemals fertig.« Es sah aus, als habe der Nöffenwurm nur ein Ziel – die Lichtburg in ihre Teile zu zerlegen. Mythor hatte keine Lust, unter den Trümmern begraben zu werden, und seinen Gefährten erging es ebenso. »Wir müssen es in jedem Fall versuchen!« rief er. Er sagte sich im gleichen Augenblick, daß der Kampf wahrscheinlich hoffnungslos war, aber er wollte den Widerstand wenigstens versuchen. »Vorsicht!« gellte Fahrnas Stimme. Unter den fünfen wölbte sich der Boden, platzte knirschend auseinander. Sirrend wie Pfeile schwirrten Kristallsplitter durch die Luft. Einer jagte so dicht an Mythors Gesicht vorbei, daß er den Luftzug des Geschosses an der Wange spüren konnte. Der Boden brach auf, und der Nöffenwurm wurde sichtbar – wieder nur ein Teil davon. Mythor machte einen Satz und ließ das Schwert auf den schuppigen Leib herabsausen. Er schlug mit aller Kraft zu,
aber der Hieb blieb ohne jede Wirkung. Im Gegenteil, die Klinge federte von dem Schuppenleib zurück, und Mythor hatte das Gefühl, seine Handgelenke würden auseinandergerissen. »Helft mit!« rief er. Nottr grunzte und stellte sich an Mythors Seite. Zu zweit schlugen sie auf den Nöffenwurm ein, aber ohne jeden Erfolg. Sadagar versuchte einmal die Wirkung seiner Messer, das Ergebnis war gleichermaßen kläglich. Ein paar Schritte tiefer im Gang brach einer der Kristallschreine auseinander. Ein älterer Mann stürzte aus dem Behältnis und landete auf dem Boden. »Aaahhh!« Ein haßerfüllter Schrei löste sich aus der Brust des Alten. Er kam auf die Füße, griff zum Schwert und sah sich um. Sein Blick fiel auf die Bleiche Kalathee. Ohne zu zögern, stürzte er auf die Frau los. Die Augen irrlichterten vor Haß. Es war Steinmann Sadagar, der Kalathee rettete. Ein Messer, schnell und sicher geworfen, stoppte den Haßerfüllten und ließ ihn zurücktaumeln. Gleichzeitig aber öffneten sich auch andere Kristallschreine. Die lebenden Toten der Lichtburg wurden frei, und sie griffen in die Kämpfe ein. Nach kurzer Zeit war Mythor klar, daß er keine Chance hatte, den Kampf siegreich zu beenden. Immer neue Gegner traten auf den Plan, und vom Nöffenwurm, dem schrecklichsten von allen, hatte er nur ein Stück des gewaltigen Leibes gesehen – ein Stück, das zudem in diesem Augenblick verschwand und nur ein großes Loch im Boden hinterließ. Der Klang dumpfer Erschütterungen durchzitterte die Lichtburg. »Ist diese Bestie nicht zu bändigen?« rief Mythor. »Nur Xanada kennt die magischen Formeln, mit denen der Nöffenwurm gelenkt werden kann«, wußte die Bleiche Kalathee zu berichten.
Mythor kehrte auf die Plattform zurück. Er warf einen Blick nach draußen. »Aussichtslos«, sagte er. Auf dem Hof spielte sich eine mittlere Schlacht ab. Jeder kämpfte gegen jeden. Zyklopen untereinander, die Eingesargten der Lichtburg gegen die Zyklopen, untereinander und gegen den Nöffenwurm. Es war ein Durcheinander, wie Mythor es noch nie gesehen hatte. Zwischen den Kämpfern irrten, von Verzweiflung offenbar um den Verstand gebracht, Frauen und Kinder hilflos hin und her. Ein Winkel der Umwallung hatte Feuer gefangen, Rauch wälzte sich über den Hof. »Zurück zu Xanada!« bestimmte Mythor. »Wir werden ihn zwingen, uns zu helfen!« Doch im Inneren der Lichtburg sah es nicht besser aus als im Hof. Überall erwachten die Sklaven Xanadas aus ihrem todesähnlichen Schlummer, und sie stürzten sich ohne jedes Zögern ins Getümmel. Offenbar hatte sie die grauenvolle Haft in den kristallenen Schreinen schier um den Verstand gebracht. Zu Mythors Leidwesen erkannten viele der Opfer die Bleiche Kalathee, und beinahe sofort stürzten sich die Sklaven auf ihre vermeintliche Peinigerin. Mythor und Nottr hatten alle Hände voll zu tun, Kalathees Leben zu retten. »Der Gang ist eingebrochen!« rief Mythor. »Kalathee, wir müssen einen anderen Weg finden!« Ein Stück des Stollens war zusammengestürzt, eine mehrere Schritte breite Lücke klaffte. In dem Spalt sah man am Boden den geschuppten Leib des Nöffenwurms und auf ihm ein Dutzend Gestalten, die mit allen nur erdenklichen Waffen auf den Wurm einhieben, ohne viel auszurichten. »Folgt mir!« rief Kalathee. »Ich kenne Schleichwege.« »Dachte ich es mir«, stieß Fahrna hervor. Die Runenkundige war schon beim ersten Anblick der Bleichen Kalathee keine große Freundin der Jüngeren gewesen. Steinmann Sadagar sah
zu, daß er nicht zwischen die Fronten geriet, und hatte damit mehr als genug zu tun. Sie mußten einen engen Schacht hinunterklettern, dann durch einen langen Stollen kriechen. Es war ein grauenvolles Gefühl, sich bäuchlings vorwärts zu robben und dabei zu spüren, wie der Boden erzitterte und erbebte, wann immer der Nöffenwurm seinen gewaltigen Leib bewegte. Er würde nicht lange brauchen, die ganze Lichtburg in Trümmer zu legen. Dann ging es wieder in die Höhe. »Vorwärts!« drängte Mythor. »Wir müssen Xanada erreichen, bevor er die Kontrolle über den Nöffenwurm zurückgewinnen kann.« »Und was dann?« fragte Sadagar höhnisch. »Legen wir das Vieh an die Leine?« Das Schreien und Lärmen wurde lauter. Der Kampf war in vollem Gang. Jetzt war auch wieder Xanada zu hören. Das Wutgeheul des Dämons gellte durch die Gänge und Stollen der Lichtburg. »Offenbar gefällt dieser Lauf der Dinge auch Xanada nicht«, stellte Mythor fest. »Die Zerstörungen des Wurmes kosten Xanada Lebenskraft«, stieß Kalathee hervor. »Jeder Gefangene, der aus dem Kristall entkommen kann, beraubt Xanada seiner Kraft. Und er lebt gerne, das weiß ich.« »Wer tut das nicht«, sagte Mythor. Einen Teil seiner Dienerschaft hatte Xanada wieder unter seine Kontrolle bringen können. Ein Trupp Zyklopen versperrte den Weg. »Verschwindet!« brüllte Mythor. Kalathee stieß mit hoher Stimme eine Reihe von Befehlen aus, aber die Zyklopen gehorchten nicht. »Nottr! Sadagar! Auf sie!« Mythor stürmte vorwärts. Mit der Schärfe seines Schwertes schuf er freie Bahn. Seine Klinge pfiff
durch die Luft. Hageldicht und hammerschwer fielen seine Hiebe in die Reihen der Zyklopen. Die nur hüftgroßen Zwerge kämpften mit selbstmörderischer Verzweiflung, aber es half ihnen nichts. Mythors Schwert hielt blutige Ernte, und Nottr tat es ihm in wilder Kampfeswut gleich. Wäre jenes leise, verhaltene Aufseufzen nicht gewesen, der dankbar wehe Laut, den die Zyklopen im Sterben ausstießen, die beiden hätten das Gemetzel nicht lange ertragen können. Es war kein Heldenstück, die verwirrten Zyklopen niederzumähen, die nur dort standen und fochten, weil sie nicht Herren ihrer Entschlüsse waren. Wieder durchtobten Erdstöße die Lichtburg. Hinter dem Rücken der Zyklopen fielen zwei Gestalten aus den Schreinen, dem Aussehen nach Vater und Sohn, dem Zustand nach schon lange Sklaven der Lichtburg. Bei ihnen war die gräßliche Verwandlung in einen Zyklopen noch nicht abgeschlossen, sie waren gleichsam auf halbem Weg stehengeblieben. Im Gesicht war ihre Haut schon von jener pockennarbigen, faltigen Schwärze, aber sie besaßen noch zwei Augen, die allerdings schon miteinander verwachsen schienen. Mit todesverachtender Wut warfen sich diese beiden von hinten ins Getümmel. Aussicht auf Sieg hatten sie nicht. Sie wollten – das verriet jede ihrer Bewegungen – nur möglichst viele der Zyklopen mitnehmen in das Dunkelreich des Todes. Sich selbst nicht schonend, schlugen sie tödliche Wunden, und als sie in einem Knäuel von Leibern untergingen, war der Kampf so gut wie beendet. Die letzten Zwerge ergriffen heulend die Flucht, als Mythor in den Raum stürmte, in dem Xanada sein kümmerliches Scheinleben fristete. »Nun, Schattenkreatur«, sagte Mythor und lächelte breit. »Da sind wir wieder.« »Sterben werdet ihr!« schrie der Dämon.
»Du mit uns«, sagte Nottr. »Ich werde dich erschlagen.« »Versuche es nicht«, schlug Mythor vor. »Ich weiß besseren Rat. Wie fühlst du dich, Xanada? Merkst du schon, wieviel Lebensenergie dir dein schuppiger Freund stiehlt, indem er dir deine Fronfeste zerstört? Spürst du schon, wie deine Kräfte nachlassen?« In der Tat war es finster geworden in Xanadas Halle. Das rötliche Dämmerlicht, dem Xanada sein Fortleben verdankte, war merklich schwächer geworden. »Kannst du hören und fühlen, was der Nöffenwurm mit deiner Behausung macht?« fragte Mythor. »Gib ihm Befehl aufzuhören – oder kannst du das nicht? Hast du gar die Herrschaft verloren über eines deiner Geschöpfe?« Von den Wänden hallte das ohnmächtige Wutgeheul des Dämons wider, in dessen Seele der Haß kochte, der aber keine Möglichkeit fand, seinen Haß zu stillen. »Was hast du vor?« fragte Sadagar. Er drückte sich an die Wand. Der Anblick des Dämons behagte ihm nicht und das Wutgeheul noch weniger. »Welchen Tod willst du sterben, Xanada?« fragte Mythor. Er hielt das Schwert in der Hand, jederzeit bereit zum tödlichen Hieb. »Möchtest du durch meine Klinge dein Ende finden? Oder ziehst du es vor, dahinzusiechen, wenn der Nöffenwurm dir nach und nach die Lichtburg zerstört? Oder was geschieht, wenn diese Decke hier einstürzt und helles Sonnenlicht auf deine schwarze Seele fällt? Sage mir, Xanada, welchen Tod hast du dir erwählt?« Aus jedem Winkel des Raumes erklang Xanadas Zähneknirschen ohnmächtiger Wut. »Du willst mir Alton nicht geben, nicht wahr? Und du weißt, daß nur Alton den Sieg bringen kann. Nur wenn ich das Schwert schwingen kann, das in deiner Brust steckt, nur dann kann der Nöffenwurm besiegt werden. Habe ich recht?«
»Er wird sterben, wenn du ihm das Schwert aus der Brust ziehst«, sagte die Bleiche Kalathee. »Vielleicht«, sagte Mythor. »Vielleicht auch nicht. Das weiß Xanada allein. Bekomme ich das Schwert nicht jetzt, dann bekomme ich es eben später. Ich muß nur warten, bis der Nöffenwurm seine Arbeit getan hat, dann ziehe ich es aus Xanadas Leiche.« Ein markerschütterndes Knirschen bewies, daß der Nöffenwurm mit seiner Arbeit noch nicht fertig war. »Verschwinden wir von hier!« schlug Sadagar vor. »Diese Lichtburg wird zusammenstürzen. Ich traue dem Bau nicht.« »Xanada, wie hast du dich entschieden?« fragte Mythor. »Willst du den sicheren Tod gegen eine milde Hoffnung eintauschen – dann gib mir das Schwert!« Xanada stieß ein dumpfes Grollen aus. Wahrscheinlich wog er seine Chance ab, überlegte sich Mythor, und er wünschte sich, daß Xanada schnell zu einem Entschluß kam. Die Lichtburg konnte in jedem Augenblick zusammenstürzen. Je länger man den Nöffenwurm ungehindert arbeiten ließ, um so größer wurde die Gefahr für jedes lebende Wesen in der Burg. Dann erklang plötzlich Xanadas Stimme, matt und verzagt: »Nimm es!« Mythor spürte, wie ein Schauer über seinen Rücken lief. »Nimm es!« ertönte Xanadas Stimme, diesmal drängend. Mythor ließ seine eigene Waffe fallen. Langsam näherte er sich dem kristallenen Tisch, auf dem der Dämon lag, das Schwert in der Brust, nicht lebend, nicht sterbend, nur todgeweiht seit langer Zeit. »NIMM ES!« Mythor sprang auf den Tisch. Er blieb vor Xanada stehen. Das dumpfe Grollen einstürzender Stollen durchfuhr den Boden.
Mythor griff nach dem Heft des Gläsernen Schwertes. Diesmal durchfuhr ihn kein feuriges Sieden. Eine angenehme Wärme ging von der Waffe aus. »Nimm es!« flüsterte Xanada. Mit einer kraftvollen Bewegung zog Mythor das Schwert aus der Wunde. Xanada stöhnte schmerzerfüllt auf. Aus der Wunde quoll gelbliches Blut. Ein seltsamer Geruch verbreitete sich in der Halle. Mythor achtete nicht darauf. Heller Schein erfüllte den Raum, strahlendes Licht, das von der Waffe ausging, die Mythor in beiden Händen hielt. Ein leise klagender Ton hing in der Luft. Mythor spürte, wie Kraft auf ihn überströmte. Heller Lichtschein umstrahlte die Waffe, umstrahlte ihn, als er die Waffe hob und die leuchtende Klinge küßte. »Alton«, murmelte Mythor verzückt. »Gläsernes Schwert. Mein Schwert!« Nottr trat zurück, Sadagar riß die Augen auf. Fahrnas Augen bekamen einen gierigen Schimmer. Kalathee lächelte zum ersten Mal. Strahlender Glanz durchflutete den großen Raum; er ging von der Waffe aus. »Alton hast du nun«, ertönte plötzlich eine Stimme, die nicht die Xanadas sein konnte, denn sie war tief, wohltönend und sanft. »Dein ist das Schwert des Lichtes und der Gerechtigkeit. Unfehlbar ist die Waffe in der Hand des Würdigen.« Mythor spürte, wie sich ein Schatten auf sein Gemüt legte. Die strahlende Siegeszuversicht wurde getrübt. Das Schwert verlor an Strahlkraft. »Du aber hast Schuld auf dich geladen, die Gläserne Waffe mit Schande bedeckt. Du bist nicht vollkommen würdig, Alton zu führen. Erinnerst du dich, Mythor? Entsinnst du dich des Tages, da du schuldig wurdest?«
Mythor schloß die Augen. Nur zu deutlich erinnerte er sich. Schamerfüllt gedachte er des argen Handels, den er geschlossen hatte, als er Herzog Krude schnöde verraten hatte. Noch immer erklang die Stimme, die Mythor sofort für die des Königstrolls Berryl hielt. »Entwunden hast du die Kraft der herrlichen Waffe. Bestimmt war sie, dem Guten zu dienen und das Böse zu vernichten. Deine Schuld hat bewirkt, daß dieses wunderbare Schwert nun dienstbar sein kann dem Bösen wie dem Guten. Wann immer sein Streich einen Gerechten trifft – ist es deine Schuld. Du wirst sie zu tilgen haben, durch Leid und Verzicht, durch Einsicht und Demut. Erst dann wird Alton wieder sein, was es war, bevor deine Hände nach der Waffe griffen – ein vollkommenes Werkzeug des Guten in der Hand des Gerechten. Dann erst wird sie in ihrem ganzen Feuer erstrahlen.« Schlagartig erlosch die Lichtfülle, die Mythor und die Waffe umgab. Noch glänzte das Schwert in lichtem Schein, aber längst nicht so strahlend wie vor wenigen Augenblicken. Mythor stand wie gebannt. »Nun geh und führe die Klinge, so gut du es vermagst.« Berryls Stimme wurde leiser und schwächer, verlor aber nichts an Deutlichkeit. »Geh, Mythor, geh und suche Althars Wolkenhort. Finde den Platz und erwirb dir den Helm der Gerechten. Du wirst ihn brauchen, willst du die lichte Welt vor dem Schatten des Bösen beschirmen. Fahre wohl, Mythor!« Die Stimme erlosch, verwehte. Mythor stand reglos, erschüttert. Wie gebannt starrte er auf die Waffe. Jetzt gehörte sie ihm. Das erste Ziel war erreicht, das nächste genannt. Der Weg schien frei für den künftigen Sohn des Kometen. In diesem Augenblick brach der Nöffenwurm durch. *
Niemals zuvor hatte Nottr etwas derart Schauerliches gesehen. Groß wie ein gewöhnlicher Ochsenkarren war der gräßliche Schädel des Nöffenwurms, ein Haupt des Schreckens und des Schauders. Ein endlos langer Rachen, geschuppt und von vergossenem Blut bedeckt, gespickt mit schrecklichen Hauern und mörderischen Reißzähnen, einer endlos langen Zunge, deren gespaltenes Ende durch den Raum zuckte, darüber die gelblichen Augen, erfüllt von grenzenloser Blutgier, bewehrt mit elfenbeinernen Hörnern – das war der Nöffenwurm. Die Bestie stieß ein heiseres Fauchen aus. »Zu Hilfe!« kreischte Steinmann Sadagar. Er stand neben Nottr und drückte sich platt an die Wand. Fahrna war stumm vor Angst, Kalathee sackte ohnmächtig zusammen. Nottr packte den Griff seines Schwertes fester. Wen würde der Wurm zuerst angreifen? Sein Ziel war Mythor. Der Schädel fuhr zurück und schoß dann nach vorn. Er traf den kristallenen Opfertisch, der augenblicklich barst. Die Zunge leckte über den Tisch, aber noch erreichte sie Mythor nicht. Nottr sprang vor und ließ seine Klinge auf den Schädel des Monstrums herabsausen, doch wirkungslos prallte sie daran ab. Nottr mußte aufpassen, daß er von der Wucht des eigenen Hiebes nicht von den Beinen gerissen wurde. »Abstoßendes Gewürm!« knirschte der Lorvaner. Der Nöffenwurm hatte ihn gesehen, der Schädel pendelte ein wenig hin und her, dann… Nottr raffte alle Kraft zusammen und warf sich zur Seite. Er spürte den Lufthauch, als der klobige Schädel neben ihm vorbeiglitt und die Wand des Raumes rammte. Krachend barsten die Kristalle auseinander. Zwei Körper, klein und schwarz, wurden sichtbar und waren einen Augenblick später, ehe noch irgend jemand eingreifen konnte, von dem gierigen Schlund
des Ungeheuers verschlungen. Nottr spürte, wie der Leib des Ungeheuers ihn streifte, ihm einen Fetzen Haut vom Arm schabte. »Sadagar!« schrie Nottr. »Ziel auf die Augen!« »Zu Hilfe!« kreischte Sadagar, der nun Auge in Auge dem gräßlichen Wurm gegenüberstand. Schreckgelähmt war Sadagar, und er bewegte sich auch nicht, als die lange Zunge hervorschoß und sich um sein Bein wickelte. Sadagar schrie nur, während Nottr vorstürzte und erneut mit aller Kraft seine Waffe schwang. Tödlich war die Wunde nicht, die er dem Monstrum beibrachte, aber er war mit sich zufrieden. Er hatte die Zunge durchtrennt. Ein Strahl hellen Blutes schoß aus dem Rachen der Bestie, die sofort den lauthals kreischenden Sadagar in Ruhe ließ und sich dem wesentlich gefährlicheren Nottr zuwandte. Nottr wußte, daß dies das Ende war. Schade, daß die hellgesichtige Schöne nicht sehen konnte, wie er tapfer kämpfend starb, dachte Nottr mit leisem Bedauern. Er schaffte es noch einmal, sich vor dem heranjagenden Schädel in Sicherheit zu bringen. Der Nöffenwurm benutzte seinen Schädel wie einen gigantischen Hammer, und dort, wo er traf, barst alles in Stücke. In diesem Fall hinterließ der Nöffenwurm ein großes Loch in einer Wand. »Mythor!« schrie Fahrna. »Hilf uns!« Nottr lag auf dem Boden, waffenlos. Der Rachen des Nöffenwurms schob sich langsam heran, der Stumpf der Zunge wedelte hin und her. Aus entsetzensgeweiteten Augen konnte Nottr sehen, daß die Zunge vor seinen Augen nachwuchs. »Mythor!« gellte Fahrnas Stimme erneut. Nottr schielte zu Mythor hinauf. Noch immer stand er auf dem halb zertrümmerten Opfertisch und betrachtete die leuchtende Waffe in seiner Hand. Das Schwert war herrlich, aber es wurde allgemach Zeit, es auch zu nutzen, fand Nottr. In diesem Augenblick kam Bewegung in die Gestalt.
* Mythor fühlte die Waffe in der Hand, und er fühlte die Kraft in seinen Gliedern wachsen. Er konnte nicht sagen, ob es Alton war, dem er die Kraft dankte, oder der Wut, die er empfand. Er rannte auf den Nöffenwurm zu, der gerade Anstalten machte, Nottr zu verschlingen. Mythor ließ Alton auf den Leib des Nöffenwurms herabsausen. Ungeheuer war die Kraft dieses Schlages, und Mythor konnte spüren, daß der Hieb nicht ohne Wirkung geblieben war. Sofort ließ der Nöffenwurm von Nottr ab. Die Bestie wandte sich dem neuen Gegner zu. Mythor hieb dem Ungeheuer die leise klagende Klinge mitten auf den Schädel. Ein hallender Ton war zu hören, und durch den Leib des Nöffenwurmes ging ein Aufbäumen. Blut floß aber nur wenig, und die Wunde auf der Stirn schloß sich augenblicklich. Mythor nahm seine Kräfte zusammen. Ein titanischer Zweikampf entbrannte. Hin und her wogte der Kampf. Mal mußte Mythor ausweichen, um nicht von dem heranschießenden Schädel an einer Wand zerquetscht zu werden; ein anderes Mal konnte er mit einem Hagel von Hieben dem Nöffenwurm ein paar Fußbreit Raum abgewinnen – und das war bitter nötig, weil die Bestie erneut Anstalten machte, Nottr zu verschlingen. Der Lorvaner hielt sich danach zurück, einsehend, daß er in diesem furchtbaren Streit nur Zeuge sein konnte. Sadagar blieb in der Nähe Xanadas, während sich Fahrna und die Bleiche Kalathee furchtsam hinter dem Opfertisch in Sicherheit gebracht hatten. Dieser Schutz war nur wenig wert, denn der Nöffenwurm
besaß nicht nur den riesigen Schädel, mit dem er furchtbare Verwüstungen anrichten konnte. Er konnte auch den Rest seines mächtigen Leibes als schreckliche Waffe verwenden, und er machte Gebrauch davon. Während Mythor den Wurm Schritt für Schritt zurückdrängte, zog der Nöffenwurm seinen Leib in der Nähe des Raumes zusammen, in dem der Kampf tobte. Dabei wurden immer mehr Bereiche der Lichtburg aufgebrochen und vernichtet. Daß Dutzende von Kämpfern mit allen verfügbaren Waffen auf den Schuppenleib einschlugen, schien der Nöffenwurm nicht wahrzunehmen. Ihre kümmerlichen Waffen reichten auch nicht aus, dem Wurm fühlbare Wunden zu schlagen. Die Bestie schien erkannt zu haben, daß Mythor der einzige ernstzunehmende Gegner war. Vor der Wucht und Schärfe des Schwertes Alton schien das Monstrum Respekt zu verspüren. Immer wieder setzte der Nöffenwurm seinen mächtigen Schädel als Ramme ein. Er schuf sich solcherart Bahn für seinen Körper, mit dem er den zentralen Bereich immer mehr und enger eingürtete. Schon zeichnete sich ab, wann der schreckliche Wurm seinen Leib nur noch zusammenzuziehen brauchte, um Mythor und seine Gefährten zu zerquetschen. Mythor sah das, und er rüstete sich zum letzten Angriff. Vor den Augen der entsetzten Gefährten ergriff er die Flucht. Der Nöffenwurm setzte ihm sofort nach. Mythor nutzte die Lücken und Spalten, die der Nöffenwurm hinterlassen hatte. Er verschwand in dem Gewirr von Trümmern. Der Nöffenwurm verharrte, stieß ein heiseres Fauchen aus. Dann tauchte Mythor plötzlich wieder auf – hinter dem Schädel der Bestie. Alle Streiche, die er bisher geführt hatte, waren nicht imstande gewesen, dem Wurm ernstlich zu schaden. Mythor
vermutete aber, daß es eine Stelle geben mußte, an der der Nöffenwurm sterblich war, und er vermutete diese Stelle im Nacken des Ungeheuers. Mythor sprang auf den Leib des Nöffenwurms. Wieder brüllte die Bestie auf. Mit beiden Händen hob Mythor das Schwert in die Höhe, die Spitze auf den Nacken des Wurmes gerichtet. Dann stieß er mit aller Kraft zu. Bis ans Heft bohrte sich die Klinge in den riesigen Leib des Wurmes. Blut spritzte auf, der Nöffenwurm schrie. Der gewaltige Körper bäumte sich auf, Mythor wurde von seinem Rücken geschleudert. Er schaffte es gerade noch, das Schwert aus der Wunde zu reißen. Mit weiten Sätzen brachte er sich in Sicherheit vor dem im plötzlichen Todeskampf zuckenden Körper des Wurms. Dann, nach entsetzlich langer Zeit, brach die Bestie zusammen. Dumpf krachte der Riesenschädel auf den Boden. Im gleichen Augenblick aber erschien eine neue Gestalt auf der Bildfläche. Sie sahen es mit Entsetzen. »Xanada!« gellte Kalathees Schrei. Sie standen alle im gleichen Raum. Mythor, mit dem blutbespritzten Schwert in der Hand, schwer atmend; Nottr, grimmig dreinblickend, auch er zum Zuschlagen bereit; Sadagar, ängstlich in eine Ecke geduckt; neben ihm, nicht minder furchterfüllt, Fahrna. Ganz im Hintergrund, bleich und einer erneuten Ohnmacht nahe, stand Kalathee. Sie alle starrten die beiden Schreckenswesen an, Xanada und den Nöffenwurm. Schwer tropfte gelbes Blut auf den Boden. Xanadas Wunde blutete stark, aber er hielt sich auf den Beinen. Sadagars Hand fuhr zum Gürtel. »Zurück!« gebot Mythor mit lauter Stimme. Xanadas Gesicht war von erschreckender Blässe. Er hielt sich nur mit Mühe auf den Beinen, leise Worte in unbekannter
Sprache murmelnd. Neues Leben schien in den Nöffenwurm zu kommen, als er die Stimme seines Herrn hörte. Xanada ging an Mythor vorbei, ohne sich um das Schwert in dessen Hand zu kümmern. Neben dem Nacken des Nöffenwurms, von dem in breitem Strom das Blut lief, blieb Xanada stehen. Dann zog er sich mit letzter Kraft in die Höhe. »Laßt ihn gewähren!« gebot Mythor, der sah, daß Nottr mit einem raschen Schwerthieb dazwischenfahren wollte. Xanada hielt sich sterbenswund auf dem Nacken des Nöffenwurms, der sich in Bewegung setzte und sacht aus der Lichtburg hinausglitt. »Laßt sie nicht entkommen!« schrie Fahrna. Mythor schüttelte den Kopf. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn, eine Empfindung, die unerhört anmutete an dieser Stätte des Grauens. Er wollte Xanada und seinem Geschöpf, deren Ende nur eine Frage der Zeit war, einen Tod in Würde gönnen. Er hob die Waffe zum Gruß, als Xanada, heftig auf dem Rücken des Nöffenwurms schwankend, den Bereich der Lichtburg verließ und hinausritt in die strahlende Mittagssonne, die beider sicherer Tod sein mußte. * Keshban mußte sich festhalten, um nicht umzufallen. Was er sah, erfüllte ihn mit Entsetzen. Vor seinen Augen verwandelte sich die Lichtburg nach und nach in einen Trümmerhaufen. Mit vielem hatte Keshban gerechnet, damit jedoch nicht. Insbesondere war er nicht darauf gefaßt gewesen, die Zerstörung der Lichtburg mit eigenen Augen ansehen zu müssen – es kam ihm wie Hohn vor, daß er allen Fährnissen zum Trotz sein Ziel erreicht hatte, nun aber erleben mußte, wie dieses Ziel in
Trümmer zerfiel. Was genau sich in der Lichtburg abspielte, konnte Keshban nicht sehen. Er erkannte nur, daß die Umwallung plötzlich große Löcher aufwies, daß einer der Türme zusammengestürzt war – und daß zwischen den Trümmern gekämpft wurde. Keshban hielt das Schwert in der Hand; er war sich der Kümmerlichkeit seiner Ausrüstung bewußt, drang aber langsam in Richtung auf die Lichtburg vor. Das Getöse der zusammenstürzenden Lichtburg schallte zu ihm herüber, der Boden dröhnte und bebte. Es war keine leichte Sache, sich an einen solchen Ort des Grauens heranzupirschen, aber Keshban wußte in seinem Nacken den Rudelbruder, und diese Tatsache gab ihm den Mut der schieren Verzweiflung. Keshban hätte gerne gewußt, was dort vorne eigentlich gespielt wurde. Rings um ihn lagen Skelette bleich in der Sonne, in der Lichtburg selbst aber schien es von Leben zu wimmeln. Er konnte von seinem Standort aus sehen, wie die Leute aufeinander losgingen, teilweise mit richtigen Waffen, zum Teil aber auch mit Knütteln, Steinen und jedem waffenähnlichen Gegenstand, der sich finden ließ. Wer in den Trümmern der Lichtburg wen bekämpfte und warum überhaupt – auf diese Fragen hätte Keshban gerne eine Antwort gewußt. Er schlich sich langsam näher. Unterwegs stieß er auf einen halb zerfallenen Bärenschädel, in dessen Gebein jemand eine Warnung eingeritzt hatte – Keshban erkannte die Schriftzeichen, die bei seinen Leuten üblich waren, zumindest bei denen, die lesen und schreiben konnten. Keshban war kein Weiser oder Magier, daher konnte er die Zeichen nur grob deuten, nicht aber lesen. Sie bewiesen ihm aber, daß schon einmal jemand aus seinem Volk den Versuch gewagt hatte, die Lichtburg zu betreten. Und ganz offenkundig hatte dieser Vorgänger den Versuch bitter gebüßt.
Dennoch ließ Keshban sich’s nicht verdrießen, er marschierte weiter. Er sah allerdings zu, daß er nicht so leicht von den Kämpfern in der Burg gesehen werden konnte. Plötzlich bebte wieder der Boden. Keshban fühlte sich, als habe ein Riese, der unter ihm im Boden lag, plötzlich von unten gegen den Erdboden getreten. Er wurde ruckartig angehoben, dann fiel er ebenso ruckartig wieder hinab – zusammen mit dem Boden, auf dem er stand. Mit ohrenbetäubendem Getöse brach ein weiterer Turm der Lichtburgumwallung zusammen, und wenig später sah Keshban das scheußlichste Ungeheuer auf sich zukommen, das er jemals gesehen hatte. Er wußte, daß er mit seiner mit Steinsplittern besetzten Holzklinge schlecht gegen diese gewaltige Kreatur gerüstet war. Er konnte sich überhaupt keine Waffe vorstellen, mit der er in solch einem Kampf eine Chance gehabt hätte. Es gab nur eines, was er tun konnte – fliehen. Er zögerte nicht, dieser Einsicht zu folgen. Dummerweise kam das Scheusal genau auf ihn zu, und dann erkannte Keshban auf dem Nacken des Drachen eine Gestalt, einen fetten Mann, der mit gelber Flüssigkeit überströmt war, heftig hin und her schwankte und dann – Keshban glaubte, sein Herz bliebe stehen – auf Keshban zeigte und wild mit dem Arm ruderte. »Alles verloren«, stöhnte Keshban auf. Er wandte sich zur Flucht. Lieber vom Rudelbruder erwischt werden, als im Rachen dieser Bestie zu enden, die gerade in diesem Augenblick mit einem Geräusch, das Keshban den Angstschweiß auf die Stirn trieb und ihm die Haare zu Berge stehen ließ, seine gewaltigen Kiefer schloß. Er hatte niemals etwas so Schauerliches gehört wie dieses harte, trockene Schnappen. Und das Geräusch war ganz dicht hinter ihm erklungen… »Hau ab!« schrie Keshban. »Verschwinde!«
Natürlich hielt sich das Scheusal nicht daran. Unablässig kroch es mit entsetzlich schnellen, windenden Bewegungen hinter Keshban her, und auf dem Nacken saß der Reiter und rief dem Wurm etwas zu, dabei machte er drohende Gebärden in Keshbans Richtung. Der Banithe nahm alle Kräfte zusammen. Längst hatte er sein hölzernes Schwert weggeworfen. Es hätte ihn in diesem Lauf auf Leben und Tod nur behindert. In weiten Sätzen rannte Keshban über das dürre Land. Er setzte über Knochenhaufen hinweg, die er wenig später unter dem Leib des Drachen zerknirschen hören konnte. Ein Krüppelbaum tauchte auf. Keshban rannte knapp an ihm vorbei, der Drache begrub den Baum unter sich. Er schien nur ein Ziel zu kennen – immer hinter Keshban her. Es kam dem Banithen nicht in den Sinn, daß solcher Aufwand für ihn viel zu übertrieben war. Er spürte nur die entsetzliche Gefahr in seinem Nacken, und er rannte, was seine Beine hergaben. Einmal, als er gestolpert war, konnte das Scheusal so nahe herankommen, daß Keshban den Pestatem der Bestie riechen konnte, und er wußte in diesem Augenblick, daß er, sollte er diesen Tag überleben, den Geruch niemals würde vergessen können. Dann blieb der Wurm plötzlich ein Stück zurück. Keshban stellte es mit großer Erleichterung fest, und er nutzte die unverhoffte Chance, einen Haken zu schlagen. Völlig ausgepumpt blieb er schließlich stehen. Er sank in die Knie, und er schaffte es gerade noch, sich einen großen Tierschädel, der auf dem Boden lag, als Sitzplatz auszusuchen, bevor seine Beine unter ihm einknickten. Es war still ringsum, totenstill – der Vergleich drängte sich auf, und das erfüllte Keshban mit Mißbehagen. Er wußte aber, daß er in diesem Augenblick nichts würde unternehmen können. Gleichgültig, was auch geschehen mochte, er würde kein
Glied mehr rühren – mochte der Rudelbruder kommen, der Erdboden sich auftun… Keshban würde sitzen bleiben und sich nicht rühren. Es hatte ohnehin keinen Sinn mehr, weiterzurennen. Keshban konnte sehen, daß nur ein paar hundert Schritte weiter der Sumpf begann – der Wind trug den modrigen Geruch herüber, und man konnte den Flüssigkeitsspiegel tückisch schillern sehen. Wieder erzitterte der Boden, und allen Vorsätzen zum Trotz fuhr Keshban herum. Er sah, daß ihm der Haken nichts genutzt hatte – der Schreckenswurm kam herangekrochen. Er schrie auf und versuchte auf die Füße zu kommen, aber die Beine versagten ihm den Dienst. Keshban stieß einen gellenden Angstschrei aus, während er der Länge nach auf den Boden stürzte. Der schreckliche Reiter auf dem Nacken des Wurmes bewegte sich kaum noch. Die Gestalt schwankte heftig, auch der Wurm war langsamer geworden. Dennoch mußte er Keshban bald erreicht haben. Verzweifelt versuchte der Banithe, sich kriechend in Sicherheit zu bringen, aber er sah bald ein, daß seine Kräfte nicht mehr ausreichten. Er schloß die Augen und wartete ergeben auf das Ende. Er konnte das Beben des Erdbodens fühlen, als der riesenhafte Wurm immer näher und näher kam. Wieder stieg der aasige Geruch in Keshbans Nase, dann fühlte er, wie sich der riesenhafte Leib der Bestie an ihm vorbeiwälzte. Keshban öffnete die Augen. Der Wurm kroch langsam an ihm vorbei, schnurgerade auf den Sumpf zu. Er traute seinen Augen nicht und glaubte zu träumen. Es war doch nicht möglich, daß sich ein solches Wesen, ein solcher Riesenwurm, unangreifbar wie der Tod selbst, in den Sumpf stürzte!
Es war möglich, und er sah es. Eine Zeitlang hielt der schreckliche Wurm noch den Kopf in die Höhe, während der Leib schon im fauligen Grün des Sumpfes verschwand. Keshban konnte den Blick nicht abwenden. Dann ging der Wurm vollends unter und mit ihm der seltsame Reiter in seinem Nacken. Ein paar Gasblasen stiegen noch aus dem Sumpf auf und platzten, dann lag über dem Sumpf wieder die trügerische Ruhe des Todes. Keshban fühlte sein Herz heftig schlagen. Eine Weile später bewegte er sich mit größter Vorsicht auf der glitzernden Schleimspur, die der seltsame Wurm auf seinem Weg in den Sumpf hinterlassen hatte. An einigen Stellen waren Tropfen der gelben Flüssigkeit, die den Körper des Reiters bedeckt hatte, in den Schleim gefallen und dort zu funkelnden Kristallen geronnen. Keshban hatte ein paar davon gesammelt, obwohl er sich hatte überwinden müssen, bevor er seine Hände nach dem Wurmschleim ausgestreckt hatte. Seltsam kalt waren diese Kristalle, aber sie glitzerten hübsch. Keshban hatte nie zuvor etwas Ähnliches gesehen, die Mädchen bei ihm zu Hause auch nicht – die Beute war also in jedem Fall sehr kostbar. Bevor er aber an eine Rückkehr denken konnte, wollte sich Keshban in der Lichtburg nach Schätzen umsehen. Er verstand zwar nicht ganz, warum eine Waffe des Lichtes wie das Gläserne Schwert Alton ausgerechnet an einem Ort des Grauens verwahrt wurde, wie es die Lichtburg ohne Zweifel war, aber über dieses Problem gedachte sich Keshban nicht unnötigerweise den Kopf zu zerbrechen. Wenn es ihm gelang, sich in den Besitz Altons zu setzen, war ihm ohnehin alles andere gleichgültig. Sein eigenes Schwert hatte Keshban nicht finden können. Es lag irgendwo zwischen den struppigen Gräsern und den Knochenhaufen, die in weitem Gürtel die Lichtburg umgaben –
vielleicht war auch der gräßliche Wurm darüber hinweggewalzt. Bevor er also umkehrte, wollte Keshban in jedem Fall ein Schwert erbeuten, und es war ihm egal, wem er das Schwert würde abnehmen müssen. In der Lichtburg wurde noch immer gekämpft. Keshban verstand gar nicht, wo die Streiter plötzlich hergekommen waren, noch dazu in so großer Zahl und von verschiedener Hautfarbe und Kleidung – wie kamen sie hierher? Etwa alle zur gleichen Zeit und mit dem gleichen Ziel, das auch Keshban im Herzen trug: das Gläserne Schwert zu erringen? Keshban hatte mit so vielen Widersachern nicht gerechnet, und er war nicht überheblich genug, daran zu glauben, daß ausgerechnet er das bewerkstelligen würde, wozu offenbar viele angereist waren. Indes nahm sich Keshban vor zu tun, was in seiner Macht stand. Es erwies sich als Glücksumstand, daß die Lichtburg schon arg zerstört war. In den Trümmern konnte man sich ungesehen heranschleichen und auf eine günstige Gelegenheit lauern. Keshban suchte sich einen Platz, von dem aus er das Getümmel in aller Ruhe verfolgen konnte. Mit freudigem Entzücken stellte er fest, daß viele der Kämpfer aus aller Welt bronzene Schwerter trugen, richtige Klingen aus Metall, die Funken schlugen, wenn sie aufeinanderprallten. In seinem Versteck fühlte er sich leidlich sicher – bis plötzlich jemand zu ihm kam und ihn aufstöberte. Es war einer jener kleinen Einäugigen – das Auge saß mitten auf der Stirn und sah gräßlich aus –, die überall herumliefen und kämpften. Sie hatten schwarze, faltige und pockennarbige Haut, und es gab entsetzlich viele davon. Keshban wußte: Wenn er seinem Gegner Zeit ließ, Verstärkung heranzurufen, war er verloren. Er machte einen Satz
nach vorn und packte den Zyklopen an der Gurgel. Im gleichen Augenblick schrie er selbst auf. Tödliche Kälte stieg von seinen Fingern auf, und er hatte das Gefühl, als würde er in einen endlosen, eisigkalten Abgrund gesogen, in ein dunkles Loch aus Kälte und Angst. Entsetzlich fühlte sich die Haut unter Keshbans Fingern an, dazu griff der Zyklop nach Keshbans Arm und preßte ihn mit unwiderstehlicher Kraft zurück. Keshban brachte die Rechte in die Höhe und stach zu. Der Gegner zuckte noch einmal, seufzte dann wohlig und brach zusammen. Keshban spürte ein Gefühl unsäglicher Erleichterung, als er den Toten vor sich liegen sah. Bewaffnet war der Zyklop nicht gewesen, sehr zu Keshbans Leidwesen. Er nahm sich vor, auf seine Weise in die Kämpfe einzugreifen. Ärmlich bewaffnet, wie er war, hatte er gegen die anderen keine Chance – es sei denn, er hielt sich im verborgenen und nutzte, was ihm gegeben war. Steine gab es in Hülle und Fülle – überall lagen scharfkantige Trümmer herum – und ein entsprechendes Lederband trug Keshban jederzeit mit sich. Er brauchte nur kurze Zeit, dann war die Steinschleuder fertig, und schon beim ersten Wurf holte Keshban einen der Zyklopen von der Zinne, der daraufhin lautlos in die Tiefe stürzte und außerhalb von Keshbans Sicht auf dem Boden aufschlug. »Prächtig!« freute sich Keshban. Er überlegte, auf welche Seite er sich schlagen sollte, denn die Fronten waren nicht ganz eindeutig. Es gab Dutzende der Zyklopen, die einmütig alle anderen Lebewesen angriffen, sogar Frauen, wie Keshban entgeistert feststellte. Die anderen kämpften einmütig gegen die schwarzen Zwerge und, wo sie Gelegenheit dazu fanden, mit gleicher Unerbittlichkeit auch untereinander. Keshban hatte das sichere Gefühl, daß etliche dieser Männer schlichtweg den Verstand verloren hatten. Anstatt sich zum Kampf gegen den gemeinsamen
Feind zu verbünden, fielen sie übereinander her, sobald das erbitterte Ringen ihnen Gelegenheit dazu bot. Eines stand für Keshban fest – mit den Zyklopen wollte er sich keinesfalls verbünden. Er wußte nicht, woher diese Wesen kamen, noch, was sie hier zu suchen hatten, aber sie flößten ihm in jedem Fall ein Gefühl des Grauens ein. Keshban war sicher, daß sie ihm an die Gurgel fahren würden, sobald sie eine Gelegenheit fanden – nicht zuletzt, da er in diesem Augenblick mit gut gezieltem Schleuderwurf die Zahl der Schwarzzwerge erneut vermindert hatte. Keshban blieb in seinem Versteck und verfolgte das Geschehen. Er rührte sich auch nicht, als er einen Zyklopen sah, der hinter einer flüchtenden Frau herrannte, sie einfing und davonschleppte. Ein hünenhafter Mann sprang heran, tötete den Zyklopen mit einem Schwertstreich und holte aus, um auch das Weib zu erschlagen. Er hätte es geschafft, wäre er nicht im gleichen Augenblick von einem anderen Mann mit einem Speer gefällt worden. Der Hüne begrub sterbend die Frau unter sich, die sich klugerweise nicht rührte, sondern sich totstellte. Keshban hatte gesehen, daß das Weib wohlgewachsen war, und er nahm sich vor, nach ihm zu sehen, wenn er seine Arbeit getan hatte. Wieder brach ein Teil der Lichtburg krachend zusammen, und jetzt konnte Keshban sehen, woher die vielen Streiter kamen – die hatten bis zu diesem Augenblick in den Kristallblöcken gelegen, aus denen die Lichtburg aufgetürmt worden war. Das Rätsel, das über der Lichtburg lag, wurde für Keshban immer größer. Er verstand überhaupt nichts mehr. Er wußte nur eines noch: Irgendwo in der Lichtburg lag, wenn die alten Sagen und Legenden nicht logen, das Gläserne Schwert Alton. *
Einer derer, die dem Dunkel geboten, sagte: »Xanada ist tot.« Die anderen, die gleich ihm dem Dunkel geboten, schwiegen. »Ich habe seine Todesbotschaft empfangen«, sagte der erste. Der zweite fiel ein: »Und der Nöffenwurm?« Der erste derer, die dem Dunkel geboten, antwortete: »Er fand den Tod, zusammen mit Xanada.« Ein dritter fragte: »Was wurde aus…« Er sprach den Namen nicht aus. Der Klang des Wortes allein hätte Mißbehagen ausgelöst in der Runde derer, die Herren waren über Nacht und Grauen. »Vermutlich in fremder Hand, bereit, uns tödliche Wunden zu schlagen.« Ein Schauer lief durch die Runde. Unversehens hatte die Macht des Lichtes Einzug gehalten, zunächst nur in der Ferne, als Name, als kaum vernehmliche Drohung. Dennoch schauderten sie, da sie des Schwertes gedachten. Ein anderer: »Was soll getan werden?« Wieder ein anderer: »Wer soll es tun und vor allem: wann?« Der erste, der nicht der Höchste derer war, die dem Dunkel geboten, sagte mit fester Stimme: »Es wird Zeit vergehen, bis unsere Kräfte nach dem Gegner selbst zu greifen vermögen, bis unsere Mannen Hand an ihn legen, ihm das… entreißen können.« »Soll sein Wirken ungerächt bleiben?« »Niemals!« klang es in der düsteren Runde auf. »Er wird leiden für diese Tat«, verkündete der erste Sprecher. »Beim leibhaftigen Dunkel, er wird leiden für Xanadas Tod. Aber wir können ihn nicht sofort ergreifen. Unsere Schergen brauchen Zeit, die Lichtburg zu erreichen.« »Was soll geschehen?« Eine lange Pause entstand.
»Ich schlage vor, die Vrods auf die Fährte des Frevlers zu schicken, ihn zu jagen, wenn möglich zu töten.« »Wird das genügen?« Mit grausigem Frohlocken sagte der erste Sprecher in das Dunkel der Runde: »Es wird ihm einen Tod bescheren, den Tausende fürchteten.« Die, die dem Dunkel geboten, schwiegen zu diesen Worten und gaben so ihr Einverständnis kund. Ein Sprecher sagte: »So wird es geschehen.« * »Wir können doch nicht alle erschlagen«, seufzte Steinmann Sadagar. »Mythor, laß uns von hier verschwinden, es sind einfach zu viele für uns. Wir werden der Übermacht erliegen.« Mythor lächelte. »Nicht, solange ich Alton in meiner Hand halte«, sagte er. Seit geraumer Zeit tobte der Kampf im Inneren der Lichtburg, der seine Fortsetzung in dem erbitterten Ringen auf den Höfen fand. Schwerterklirren drang durch die Räume, Rauch wirbelte beißend durch die Gänge, und aus allen Winkeln erklangen Wehrufe, die aber bald erloschen, denn keiner der Kämpfer kannte Gnade. Die Lichtburg zerfiel. Ihr Ende war abzusehen. Während aus geheimen Verstecken immer neue Scharen der schwarzen Zyklopen ans Tageslicht drangen und sich ohne Zögern in den Kampf stürzten, um zu töten und zu sterben, leerten sich die Arsenale des Schreckens. Einer der Eingesargten nach dem anderen erschien im Freien. Während die Frauen und Kinder die Flucht ergriffen - Mythor konnte nur hoffen, daß sie nicht scharenweise in den Sümpfen zugrunde gingen –, begannen die Männer ohne Ausnahme zu kämpfen. Die schreckliche Einkerkerung in den
gläsernen Zellen hatte viele völlig um den Verstand gebracht – sie schlugen auf alles ein, was ihnen vor die Klinge kam. Sie kämpften mit Schwertern und Messern und Keulen, sie kämpften aber auch mit bloßen Händen, mit Nägeln und Zähnen. Und noch war kein Ende des grausigen Schlachtens abzusehen. Im Innern der Lichtburg ging es nicht ganz so wüst zu. Die Eingekerkerten suchten nach ihrer Befreiung sofort den Weg aus der Lichtburg heraus, und die Zyklopen setzten ihnen augenblicklich nach. »Wir können uns ausruhen«, sagte Mythor. Leise seufzend streckten sich die fünf auf dem Boden aus. In einem Winkel lagen zwei tote Zyklopen. Die müden und erschöpften Menschen achteten nicht darauf. Es war das erste Mal, daß Mythor eine Rast gestattete. Seit er das Gläserne Schwert in seiner Hand wußte, war er von ungeheurem Tatendrang befallen. Er wollte herausfinden, was für eine Waffe das war, welche besonderen Eigenschaften sie besitzen mochte. Der Name, der ihr gegeben worden war, traf zu. Es sah tatsächlich aus, als sei Alton aus Glas gefertigt worden. Mythor hatte aber schon erprobt, daß Alton nicht aus richtigem Glas bestehen konnte, denn sonst wäre es bei den Hieben, die er geführt hätte, längst zerschellt. Armlang war die Klinge, doppelschneidig, und sie schien von innen heraus zu leuchten. Mythor wußte, daß das Licht, das er nun sah, nur ein matter Abglanz des Strahlens war, das die Waffe aufweisen würde, wenn ein Würdiger sie führte – wenn er selbst seine Schuld abgebüßt hatte. Der Schwertboden bestand aus einer silbernen Platte von zwei Handspannen Breite, mit zwei kugelförmigen Enden. Der Knauf war von zwiefacher Handbreite, geriffelt und rund. An seinem Ende saß ein gedrehtes Horn.
»Seltsam«, murmelte Mythor. »Was ist?« fragte Sadagar, der mit scheelen Augen auf das Schwert sah. Ihm war anzusehen, daß er die Waffe gern selbst besessen hätte, aber die Ereignisse der letzten Stunden hatten ihm sehr deutlich vor Augen geführt, von welchem Schlage der Mann sein mußte, der würdig war, Alton zu führen. Von diesem Kaliber war Steinmann Sadagar nicht, und er war ehrlich genug, das einzusehen. Trotzdem… »Das Heft des Schwertes«, sagte Mythor. »Es ist mir vorher gar nicht aufgefallen – es ist warm, und es wirkt irgendwie weich.« »Ein Zauberschwert«, sagte Sadagar. »Mit Zeichen darauf«, sagte Nottr. Er deutete auf die Klinge. »Zeichen? Wo sind Zeichen?« Die Runenkundige Fahrna kam hastig näher. Ihre Augen waren zusammengekniffen. »Auf der Klinge«, sagte Mythor. »Seht ihr?« Er deutete mit dem Finger darauf. Da war ein Sonnensymbol, ein Fünfeck und ein Doppelbogen, klar zu erkennen, ziemlich genau in der Mitte der Klinge. »Gib«, sagte Fahrna. Sie stieß das Wort hervor wie eine Beschwörung. »Ich muß sehen, gib her!« Unbezähmbare Gier hatte die alte Frau überkommen, ihr Gesicht war nur mehr eine Grimasse der Habgier. Ihre Augen funkelten Mythor an, ihre Hände hatte sie krallenartig weit vorgestreckt. »Herzeigen!« schrie sie mit sich überschlagender Stimme. »Ich muß sehen.« »Nicht so aufgeregt«, sagte Mythor besänftigend. Der Anblick Fahrnas ließ einen kalten Schauer über seinen Rücken laufen. Mythor hatte gegen gefährliche Feinde nichts einzuwenden, aber Freunde dieser Art waren furchteinflößender als jeder Feind. Mythor wußte: Von diesem Augenblick an
war er seines Lebens nicht mehr sicher. Fahrna haßte ihn nicht, sie hatte keine Ursache dazu. Aber sie wollte das Gläserne Schwert in ihren Besitz bringen, und dafür war ihr jedes Mittel recht – ihr Gesicht verriet das überdeutlich. »Hier, du kannst die Zeichen sehen«, sagte er. Er hielt Fahrna die Klinge entgegen. Fahrna erkannte, daß Mythor das Schwert nicht aus der Hand geben würde, und in diesem Augenblick loderte wilde Wut in ihren Augen auf. »Runen!« stieß sie hervor. »Es ist ein Teil der Runenbotschaft der Königstrolle. Natürlich, es muß so sein, denn dies ist Berryls Waffe.« Mythor lächelte sanft. Die Spitze des Schwertes zeigte auf Fahrnas Körper. »Meine Waffe«, sagte er leise. Ihre Blicke trafen sich. Fahrna war gewarnt, Mythor desgleichen. »Möglicherweise sind diese Zeichen sogar der Schlüssel zur Runenbotschaft«, stieß Fahrna hervor. »Ich müßte sie untersuchen.« Unverhüllte Drohung lag in diesen Worten. »Später«, sagte Mythor, und darin lag unverhüllte Zurechtweisung. Fahrna preßte die dünnen Lippen fester aufeinander, dann zog sie langsam ihre Hände zurück. Ihr Blick wurde ausdruckslos, aber sie konnte Mythor nicht täuschen. Er würde auf der Hut sein. Kalathee näherte sich Mythor, langsam und zögernd. Sie lächelte matt. »Ich wollte dir danken«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Danken? Wofür?« fragte Mythor. »Du hast mich befreit«, sagte die Bleiche Kalathee. Sie griff nach Mythors Händen. »Ich hätte nicht mehr lange so leben können, zusammen mit diesem entsetzlichen Scheusal.« Sie schluchzte auf. War es Schwäche oder Berechnung, im
nächsten Augenblick hielt Mythor sie im Arm, sie legte den Kopf an seine Schulter und begann hemmungslos zu schluchzen. Sadagar grinste anzüglich, Fahrna bedachte Kalathee mit einem Blick, der alles Gift der Welt enthielt. Nottr riß die Augen weit auf. »Heda, Mädchen!« rief Fahrna. Kalathee zuckte zusammen. Sie richtete sich auf, wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Ja?« »Hier muß es doch mehr geben als nur diese schwarzen Widerlinge, Xanada und andere Scheusale.« »Ich verstehe nicht«, sagte Kalathee verwirrt. »Botschaften«, sagte Fahrna. »Runen, Karten oder ähnliches.« »Richtig«, fiel Mythor ein. »Ich habe gehofft, Hinweise auf meinen weiteren Weg zu finden.« »Ich kenne mich hier nicht aus«, sagte Kalathee unsicher. »Ich weiß nur, daß es in der Lichtburg Keller gibt, tief unter der Erde. Ich habe nie versucht, sie zu betreten, denn sie waren mir nicht geheuer.« »Ich gehen mit!« sagte Nottr und stand sofort auf. Er lächelte Mythor an. »Kampf, eh?« Mythor lächelte zurück. In Nottr hatte er einen unverbrüchlich treuen Gefährten gefunden, und die Kämpfe der letzten Stunden hatten Nottrs Bewunderung für Mythor noch mehr gesteigert. Nottr war ein rechter Kämpfer, und er bewunderte andere Kämpfer, wo immer er sie traf. »Wollen wir es versuchen?« Fahrna nickte sofort, desgleichen Nottr. Kalathee wirkte unsicher. Sie hatte offenkundig wenig Lust, in die unterirdischen Tiefen dieses Gemäuers hinabzusteigen, und Mythor konnte sie gut verstehen. Zum einen hatte Xanadas Herrschaft aus dem Ort des Lichtes längst eine Heimstatt des Bösen gemacht,
zum anderen zeigten Risse und Sprünge, daß die Tage der Lichtburg gezählt waren. Der Einsturz des ganzen Gebäudes war nur eine Frage der Zeit. »Wenn die Burg zusammenkracht«, meinte Sadagar, »sitzen wir in der Falle und kommen nicht mehr heraus.« »Wir sind aus Xanadas Fängen entkommen«, sagte Mythor, »wir werden auch alle anderen Hindernisse aus dem Weg räumen. Du kannst ja hierbleiben, wenn dir danach ist.« »Pah«, machte Sadagar. »Ich bin doch nicht feige. Was glaubt ihr denn?« »Kalathee?« »Ich gehe voran«, sagte sie. Sie schenkte Mythor ein bewunderndes Lächeln. Kalathee fühlte sich offenbar zum ersten Mal seit entsetzlich langer Zeit wieder besser. Das gab ihren Bewegungen mehr Kraft und Sicherheit, und auch ihre Züge verloren etwas von der wächsernen Blässe. Es war ein wenig ruhiger geworden in der Lichtburg. Im Inneren jedenfalls schienen keine Kämpfe mehr stattzufinden. Aber damit war längst noch nicht alles vorbei. Mochten auch viele der Unglücklichen wieder frei sein – zu Hunderten lagen noch Xanadas lebenspendende Sklaven in ihren Schreinen, und Mythor hatte sich geschworen, diesen Ort nicht zu verlassen, bis alle Sklaven der Lichtburg befreit waren. Mythor winkte Nottr an seine Seite. Steinmann Sadagar murmelte, daß ein solcher Erkundungsspaziergang sich erübrigt hätte, hätte man ihm Gelegenheit gegeben, sich mit dem Kleinen Nadomir in Verbindung zu setzen, und überhaupt hätte durch ihn und sein Wissen alles Unheil vermieden werden können, aber nein, immer glaubten sie, alles besser zu wissen. Wenn einer sich so leichtsinnig in Gefahr begebe, dürfe er sich nicht wundern, wenn ihn alle guten Geister verließen, und ihm wäre das nie passiert. Aber man höre ja nicht auf
ihn… »Halt den Mund!« schalt ihn Fahrna, und Sadagar setzte seine Tirade so leise fort, daß niemand ihn mehr verstehen konnte. »Hier liegen Fackeln«, sagte Kalathee. Sie nahmen einen ausreichend großen Vorrat mit hinab in die Tiefe. Eine Treppe führte hinunter in die Unterwelt der Lichtburg. Nach kurzer Zeit wurde Mythor klar, daß er das künstliche Bauwerk verlassen hatte. Lichtspendende Kristallquader gab es nicht mehr. Vielmehr führte eine steinerne Treppe in felsige Tiefe. »Wer hat diese Treppen geschaffen?« fragte Mythor. »Ich weiß es nicht«, antwortete Kalathee. Sie hielt sich in Mythors Nähe. »Wahrscheinlich Xanada oder seine Helfer.« »Das ist nicht das Werk eines Königstrolls«, sagte Fahrna. »Kennst du die Trolle so gut?« fragte Mythor zurück. »Was soll das heißen?« ereiferte sich Fahrna. »Für wen hältst du mich? Ich bin Fahrna, und ich habe das EMPIR NILLUMEN… Aber was sage ich, es glaubt mir ja doch keiner.« »Ereifere dich nicht«, sagte Mythor begütigend. »Ich gebe dir recht. Dieser Ort trägt Xanadas Handschrift.« Die Treppenstufen waren krumm und ungleichmäßig behauen, die Wände rauh. Immer tiefer ging es hinab. Noch war der Weg im Licht der Fackeln gut zu erkennen, die Rußspuren an der Decke verrieten, daß er schon oft begangen worden war. »Wenn ich mir die Unglücklichen vorstelle…«, murmelte Sadagar. »Besser nicht«, knurrte Nottr. Er hatte die Hand am Schwert. Sein Schritt war langsamer geworden, wie der der anderen. Die Vorahnung einer schrecklichen Gefahr ließ sie mit größter Vorsicht weitergehen.
»Wozu dient dieses Gewölbe?« fragte Mythor. Kalathee zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie kaum hörbar. »Xanada hat mir verboten, hier hinunterzusteigen, und er hat mir gedroht, er würde mich zu einem der Zwerge…« Ihre Stimme erstickte im Schluchzen. Mythor ahnte, daß es viel Zeit kosten würde, bis Kalathee so viel Selbstvertrauen zurückgewonnen hatte, daß sie nicht bei jedem kleinen Anlaß in Tränen ausbrach. »Vorsicht!« rief Nottr. Ein Körper huschte an den fünfen vorbei. Im Licht der Fackel erkannte Mythor eine Ratte mit einer Länge von mehr als zwei Fuß. »Hübsch«, sagte Mythor spöttisch. »Ein erster Bote der Unterwelt. Ich bin gespannt, was uns als nächstes begrüßen wird, vielleicht Schlangen.« Kalathee zitterte am ganzen Körper. Mythor legte einen Arm um sie, um sie zu beruhigen. Das Ende der Treppe kam in Sicht. Mythor mußte noch zwei Absätze in die Tiefe hinabsteigen, dann hatte er einen hochgewölbten Raum erreicht. Er hielt die Fackel in die Höhe. »Nun, Sadagar, was sagt der Kleine Nadomir? Wohin sollen wir uns wenden?« »Fluch über diesen Ort und seine Bewohner«, sagte Sadagar. »Der Kleine Nadomir sagt gar nichts, er vertraut sich dem Schutz des Großen Mythor an.« Mythor lächelte, als er Sadagars Rede hörte. Der Raum, in dem die fünf standen, war aus dem massiven Fels geschlagen, feucht und kalt und von Modergeruch erfüllt. Er hatte sechs Ausgänge, düstere Öffnungen zu finsteren Gängen. Keiner dieser Gänge lud dazu ein, ihn zu betreten. Weiß glänzten Spinnweben im Licht der Fackeln. »Wohin?« fragte Nottr.
»Wir könnten uns trennen«, sagte Mythor. »Dann wäre die Arbeit leichter.« Schaudernd schmiegte sich Kalathee an ihn. »Einverstanden«, sagte Fahrna. »Ich habe keine Angst. Gebt mir eine Fackel.« »Nottr, du gehst mit Sadagar, und Kalathee bleibt bei mir. Ihr wißt, wie man sich in einem Irrgarten zurechtfindet?« Nottr und Sadagar schüttelten den Kopf, Fahrna lächelte verächtlich. »Rechte Hand an rechte Wand und dann niemals loslassen – früher oder später werdet ihr hier wieder herauskommen. Ich werde den Ort markieren.« Er wollte mit dem Schwert eine Kerbe aus dem Eingangsbogen schlagen, aber die Klinge fuhr erheblich tiefer in den Fels, als Mythor angenommen hatte. Obwohl er nur schwach zugeschlagen hatte, saß sie zolltief im Fels. »Hier treffen wir uns wieder«, sagte Mythor und vergrößerte das Zeichen. Kalathee schauderte wieder. »Wenn wir uns treffen«, murmelte sie verzagt. * Mit einem gezielten Wurf holte ihn Keshban von der obersten Spitze der Lichtburg. Schreiend fiel der Mann, von einem faustgroßen Stein an der Stirn getroffen, herab. Keshban sah nicht, wo der Mann aufschlug, aber er war überzeugt, daß er sich beim Aufprall das Genick brechen würde. »Freie Bahn«, sagte Keshban frohlockend. Eine seltsame Stille hatte sich über die Lichtburg gelegt. Die gnadenlose Schlacht hatte ein Ende gefunden. Die letzten Zyklopen hatten in wilder Flucht das Weite gesucht, und allmählich waren auch die anderen zur Besinnung gekommen. Sie
hatten sich davongemacht. Die Walstatt bot ein Bild des Grauens. Keshban ging zu der Stelle, wo der Hüne über der jungen Frau zusammengebrochen war. Beide hatten sich seither nicht mehr gerührt. Im Rücken des hochgewachsenen Mannes mit den breiten Schultern stak noch der abgebrochene Schaft des Speeres. Der Mann war tot. Keshban wälzte ihn zur Seite. Die Frau lebte noch. Aus flackernden Augen, dem Wahnsinn nahe, starrte sie Keshban an. Der Banithe reichte ihr die Hand und zog sie langsam in die Höhe. »Es ist vorüber«, sagte er halblaut. »Du kannst aufatmen.« Die Frau zitterte am ganzen Leib. Sie war jung, und wären der verstörte Ausdruck und die blutverschmierte Kleidung nicht gewesen, hätte Keshban sie hübsch gefunden. Sie starrte ihn einen Augenblick lang bebend an, dann riß sie sich los und rannte davon, hinaus ins Freie, weg von der entsetzlichen Lichtburg. Eine seltsame Stimmung hatte sich Keshbans bemächtigt. Ein großer Teil der Angst war gewichen, fort war auch die fast magische Bewunderung der Lichtburg. Was Keshban jetzt sah, war eine Ruine, umgeben von einem Schlachtfeld. Er hatte nie Schlimmeres gesehen, er wunderte sich aber, daß er diesen Anblick so leicht ertrug. Die Lichtburg war nur noch ein Trümmerberg aus geborstenen Kristallquadern. Die Stille, die über der Szene lag, war beängstigend. Am Himmel hing kein Vogel – selbst die Aasfresser schienen den Platz zu scheuen. Keshban suchte sich Waffen zusammen. Das Schlachtfeld war eine wahre Schatzkammer. Überall lagen kostbare Waffen herum, und Keshban konnte sich die besten auszusuchen. Viele Bronzeschwerter war schartig und in beklagenswertem Zu-
stand. Er fand schließlich eine Waffe, deren Zustand und Form sein Herz höher schlagen ließen. Er ergänzte seine Bewaffnung um einen herrlichen Dolch, den er einem schlanken Mann mit dunklen Haaren entwand, welcher ein zweites Messer im Rücken stecken hatte. Das tote Gesicht lächelte ihn an. »Hier scheint es sich gern zu sterben«, spottete Keshban. Waffen hatte er, Wasser hatte er gefunden, und Hunger verspürte er einstweilen nicht. Irgendwo in dem Gemäuer mußte das Gläserne Schwert liegen. Er verspürte keine Lust, bei der Suche nach der Waffe von einem herabfallenden Stein erschlagen zu werden. Aber er hatte keine andere Wahl. Er würde nicht ohne Alton zu seinen Leuten zurückkehren, und für dieses Ziel riskierte er auch sein Leben. Dunkelheit umfing ihn, kaum daß er die Lichtburg betreten hatte. Warum das Gebäude überhaupt einmal diesen Namen getragen hatte, blieb verborgen – jetzt jedenfalls war es finster und bedrohlich. Keshban suchte ein wenig, und bald hatte er Fackeln gefunden, mit denen er seinen Weg erhellte. Es war kein erfreuliches Bild, das sich ihm bot. Überall in den Wänden waren noch Menschen zu erkennen, die in kristallenen Särgen schliefen oder aufgebahrt lagen. Keshban dachte daran, daß er einige dieser Särge hatte aufplatzen sehen und daß die darin steckenden Menschen noch am Leben gewesen waren. Vermutlich galt das auch für die Unglücklichen, die er jetzt sah. Einen Augenblick lang fühlte sich Keshban versucht, die Eingeschlossenen zu befreien, dann aber gedachte er der Tatsache, daß viele der Befreiten vollkommen wahnsinnig gewesen waren, und sich eine Bande Mordlustiger aufzuhalsen entsprach nicht seinem Charakter.
Also schritt er an den Schreinen vorbei und stieg über die Leichen erschlagener Zyklopen hinweg. Die seltsamen, schreckenerregenden Wesen faulten rascher als die Menschen – ein Pesthauch lag über der Lichtburg, der das Atmen zur Qual machte. Keshban konnte sehen, daß auch das Skelett der Zyklopen zur Gänze schwarz und faltig war. Schreckliche Wesen, dachte er und dankte seinen Göttern, daß sie tot waren. Keshban folgte der glitzernden Schleimspur, die der gräßliche Wurm hinterlassen hatte. Sie war leicht zu erkennen. Auch sie war in Fäulnis begriffen. Stinkende Blasen quollen auf und platzten. Keshban folgte der Spur bis in einen düsteren Raum. Hier endete die Fährte in der Nähe eines kristallenen Opfertisches, der in fahlem Rot zu glühen schien. Auf dem Opfertisch lag ein Schwert, eine prachtvolle Waffe, die sofort Keshbans Begehrlichkeit weckte. Augenblicklich tauschte er seine Waffe aus. »Herrlich!« rief er unwillkürlich. Ein seltsam sicheres Gefühl überkam ihn. In dem Raum schien ein schrecklicher Kampf stattgefunden zu haben. Überall waren Spuren der Verwüstung zu erkennen. Ein riesiger Kristallblock in der Mitte war halb geborsten, und die Wände sahen aus, als wären sie von innen mit schwerem Belagerungsgerät bearbeitet worden. Keshban hatte nie zuvor ähnliches gesehen. Er fühlte sich sehr unbehaglich in diesen Gängen. Er war ein freies Leben im Wald gewohnt, und es mißfiel ihm, daß sein Blick alle paar Schritte von einer Wand aufgehalten wurde. Zudem roch es schlecht in diesen Räumen, sie waren entsetzlich niedrig, und es gab auch keinen kühlenden Wind darin. Gab es noch Leben in der Lichtburg? Keshban machte sich auf die Suche, obwohl ihn in immer
stärkerem Maß die Furcht beschlich. Er durchkämmte die oberen Räume, fand aber nichts Lebendes mehr – nur Trümmer, Kampfspuren und Tote. Niemals zuvor hatte Keshban so viele gesehen. Bis zu seinem Aufbruch zur Lichtburg hatte er sich eine so große Zahl von Menschen gar nicht vorzustellen vermocht. Er setzte seine Suche erneut fort und gelangte dabei in die unteren Bereichen der Lichtburg. Abrupt blieb er stehen. Keshban war ein scharfäugiger Beobachter. Das war eine lebenswichtige Eigenschaft für jemanden, der sein Leben nicht zuletzt dem erfolgreichen Jagen im Wald zu verdanken hatte. Daher war ihm nicht entgangen, daß außer ihm noch jemand in der Lichtburg mit Fackeln hantiert hatte, und zwar vor nicht allzu langer Zeit. Die Rußspuren an den Decken waren noch ganz frisch. Keshban folgte der Fährte. Es mußten mehrere Personen sein, stellte er fest. Die Rußspuren konnten unmöglich von einer einzigen Fackel stammen. Er schlich durch die Gänge der Lichtburg, auf der Fährte der Unbekannten, die er längst zu seinen Gegnern erklärt hatte. Einer von ihnen besaß wahrscheinlich das Gläserne Schwert, und wenigstens dieser Mann würde sein erbitterter Feind sein. Keshban erreichte eine Treppe, die tief in den Erdboden hineinführte. Er war gewiß kein Feigling, aber es widerstrebte ihm, in einen Bau einzudringen, dessen Bewohner er nicht kannte. Man konnte sehr böse Überraschungen dabei erleben, und das ging selten ohne Blutvergießen ab. Der schreckliche Drache fiel Keshban ein. Hatte das Vieh hier unten gehaust? Gab es dazu noch ein Gegenstück, ein weibliches oder männliches? Dem Ungeheuer in der Enge einer solchen Treppe zu begegnen kam dem sofortigen Tod gleich.
Keshban blickte auf den Boden. Eine Schleimspur, wie er sie draußen gefunden hatte und der er gefolgt war, gab es hier nicht. Aber das wollte nichts besagen. Er lauschte. Er hörte sein Herz laut und heftig schlagen, sonst nichts. Es war totenstill in der Lichtburg. »Vorwärts!« munterte er sich selbst auf. Er blieb aber dennoch stehen. Angst und Gier kämpften in ihm einen lautlosen Kampf. Die Gier siegte. Keshban machte sich an den Abstieg. Er ging vorsichtig, Stufe um Stufe. Die Nähe der Decke drückte auf sein Gemüt. Er kam sich vor, als marschiere er geradewegs in die Unterwelt hinein, in das Reich der Dämonen, Geister und Zwerge – jedenfalls hieß es so bei Keshbans Stamm. Es blieb still, nichts rührte sich. Sehr langsam bewegte sich Keshban vorwärts. Er traf auf keine Menschenseele, und er war insgeheim sogar dankbar dafür. Tief in seinem Inneren wohnte die Furcht, daß sich unversehens die Wände auf ihn herabsenken und ihn unter sich begraben würden. In Räumen wie diesen bekam er es stets mit der Angst zu tun. Er erinnerte sich dann einer Balgerei mit einem aufgestörten Bärenweibchen, das ihn übel zugerichtet hatte. Die Narben trug er jetzt noch, und ein paar dieser breiten Kratzer saßen an einer Stelle… Keshban erreichte den letzten Absatz. Die Fackelspuren waren frisch. Vor kurzem erst waren hier Menschen gegangen. Er sah sich um. Das Tor, das die letzte Treppenstufe überwölbte, war gekennzeichnet worden. Jemand hatte eine Kerbe in den Stein geschlagen. Also wollten die Fremden an diesen Ort zurückkehren. Keshban überlegte, ob er eine Falle vorbereiten sollte. Er konnte sich in einem der Gänge verstecken, gemütlich warten, bis der Besitzer des Gläsernen Schwertes auftauchte und die
Treppe hinaufzusteigen begann. Ein gut gezielter Pfeil in den Rücken würde dann die Besitzfrage rasch und gründlich zu seinen Gunsten klären. Keshban war sich bewußt, daß er einen infamen Mordplan ausbrütete, und ein wenig erschrak er angesichts von soviel Heimtücke, die er bisher in seiner Seele nicht vermutet hatte. Nein, sagte er sich, keinen Hinterhalt. Er wollte dem Besitzer des Gläsernen Schwertes offen gegenübertreten. Keshban untersuchte die Stollen. Die Fremden hatten sich in drei Gruppen aufgeteilt und drei der sechs Ausgänge des Raumes benutzt. Keshban entschied sich für den linken Stollen. Er bewegte sich sehr leise, fast geräuschlos. Gefährlich war, daß auch er eine Fackel bei sich tragen mußte, um nicht unversehens in einem tiefen Loch auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Das hieß aber auch, daß der Gegner ihn sehen konnte und gewarnt war. Keshban schlich weiter. Immer bedrückender wurde die Atmosphäre. Die Luft war schlecht und stickig, und ab und zu huschten Ratten an ihm vorbei, die einen entsetzlich wohlgenährten Eindruck machten. Dann erreichte er den ersten Raum. Am liebsten hätte er sich auf der Stelle davongemacht. Überall hingen Spinnweben, und in einigen der Netze saßen die größten und fettesten Spinnen, die Keshban jemals gesehen hatte. Ein paar Knochen lagen auf dem Boden herum, und in jedem Winkel des Raumes standen Statuen. Es war das erste Mal, daß Keshban das steinerne Abbild eines lebenden Wesens sah, und er erschauerte unwillkürlich. Dazu kam, daß es sich bei dem Standbild um ein Wesen handelte, das man sich schrecklicher gar nicht vorstellen konnte: Krallen waren zu sehen, ein haßerfüllter Blick, gierig aufgerissen der Schlund. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Dämon, einen Bewohner dieser finsteren unterirdischen Welt.
»Nichts wie weg von hier!« murmelte er. Er hatte genug. Mochte sich das Gläserne Schwert holen, wer wollte. Er wollte es ihm nicht länger neiden. Diese Sache hier war zuviel für einen Banithen – Keshban wollte leben, nicht in den Fängen eines gräßlich glotzenden Dämons verenden. Dann hörte er ein Geräusch. Es kam aus der Dunkelheit des Ganges vor ihm. Der Stollen setzte sich auf der anderen Seite des Raumes fort. Lauerte dort noch größere Gefahr? Wenn sich dort jemand herumtrieb, warum nicht auch er? In Keshban kehrte der alte Mut zurück. Er löschte die Fackel und schlich auf die Quelle des Geräusches zu. Er mußte höllisch aufpassen, nicht zu stolpern oder an eine der Statuen zu stoßen. Wieder erklang das Geräusch. Keshban erstarrte. Der Laut klang wie das hohe Lachen eines alten Weibes, eines sehr boshaften Weibes. Das letzte, was er in diesen Grüften vermutet hätte, wäre eine alte Frau gewesen. Etwas stimmte nicht. Keshban bewegte sich lautlos weiter. Er hatte das Schwert gezogen, das er in der Lichtburg gefunden hatte. Lichtschein tauchte auf. Keshban ging in die Knie. Behutsam kroch er auf den Schein zu. Es war eine Fackel. Jemand hatte sie in eine Halterung gesteckt, damit sie den Raum ausleuchten konnte. Diese Kammer war fast noch schrecklicher als jene, die er bereits durchquert hatte. Er verstand nichts von diesen Dingen, aber er ahnte, daß er sich an einem Ort des Schreckens befand. Überall grauenvolle Fratzen an den Wänden, rnagische Gerätschaften lose aufgehäuft, dazwischen bleiche Gebeine und über allem übelkeiterregender Aasgeruch, vermischt mit jenen stechenden Ausdünstungen, die man bei Keshbans Sippe dem Auftreten finsterer Mächte zuschrieb.
Und da war sie. Eine alte Hexe. Sie beugte sich über etwas, das Keshban nicht sehen konnte, und sie lachte boshaft. »Hehehe!« machte die Frau, und der Klang ließ Keshbans Nackenhaare senkrecht stehen. »Ein prachtvoller Fund, genau das richtige für meine Freunde.« Sie trat ein wenig zur Seite. Jetzt konnte er sehen, wovon die alte Hexe sprach, und nacktes Entsetzen griff nach dem Banithen. Es gab ein paar Kristalle in diesem Raum, ähnlich denen, aus denen die Lichtburg erbaut worden war. Diese Kristalle hier waren aber nicht regelmäßig, sie waren seltsam verkrümmt und verbogen, als habe eine Riesenfaust sie halb zerquetscht. Das aber war nicht das Schlimme an diesem Anblick. In den Kristallen bewegte sich etwas. Es zuckte und zappelte und sprang gegen die kristallenen Wände an, und in dem Augenblick, in dem die Hexe einen der Kristalle mit der Waffe zu bearbeiten begann, konnte Keshban genau sehen, was da in dem Kristall tobte und zuckte. Kleine Würmer, die Kinder des grausigen Drachen, der ihn fast umgebracht hätte. Knirschend brach der Kristall auseinander, und ein Dutzend schrittlanger Würmer ergoß sich auf den Boden. »Hehehehe!« lachte die Hexe. Keshban wandte sich zur Flucht. * »Hier hat Xanada alles zusammengetragen, was ihm gefiel«, murmelte Mythor. Im Licht der Fackel konnte er ein Schreckenskabinett sehen, eine Ausstellung der Häßlichkeit. Schauerlich anzusehende Statuen und Bildnisse, magisches Gerät, alles staubbedeckt, von Spinnweben eingehüllt. Der Modergeruch verschlug einem den Atem. Kalathee hielt sich an Mythors Arm fest. Sie war vor Angst
fast gelähmt. Im flackernden Fackelschein waren ihre Züge totenblaß. »Dies ist Xanadas Reich, nicht das des Königstrolls«, sagte Mythor. Spuren des Lichtboten würde er hier sicherlich nicht finden. »Kehren wir um?« fragte Kalathee zaghaft. Mythor nickte. Wo befand sich Althars Wolkenhort, wie gelangte man dorthin, welche Gefahren gab es unterwegs zu bestehen? Das waren Fragen, auf die Mythor gerne eine Antwort gefunden hätte. Hier würde er sie nicht bekommen. »Wir kehren um«, sagte er. Er hielt die Fackel in die Höhe. Ihr Licht schien den Fratzen an den Wänden plötzlich Leben einzuhauchen. »Vorsicht!« gellte eine Stimme, die Mythor sofort als die Sadagars erkannte. »Mythor, zurück!« »Halte die Fackel«, sagte Mythor. Er nahm Alton zur Hand. Das Licht des Schwertes allein reichte aus, den Raum genügend zu erhellen – und seltsam genug, es schien sogar den Masken an der Wand friedfertigere Züge zu verleihen. Nottr kam mit dem Schwert in der Faust in den Raum gestürmt, dicht gefolgt von Sadagar. »Was ist los?« rief Mythor. »Nöffenwürmer!« schrie Sadagar. »Dutzende!« Ohne einen Laut auszustoßen, brach Kalathee zusammen, und Mythor verstand das sehr gut. Er weigerte sich zu glauben, was er gehört hatte. Dutzende der entsetzlichen Würmer? Hier, in der Unterwelt der Lichtburg? »Unmöglich«, sagte Mythor. »Die Gewölbe sind nicht groß gen…« »Es sind junge!« schrie Sadagar. »Einen Schritt lang, vielleicht ein paar Handbreit länger. Der Nöffenwurm hat seine Brut in diesen Höhlen abgelegt.« Mythor spürte, wie eine kalte Hand nach ihm griff. Diese
Kreaturen waren nicht nur für ihn und seine Gefährten eine tödliche Bedrohung. Die Brut des Nöffenwurmes würde die Welt mit Schrecken erfüllen. Mythor hatte selbst erlebt, wie wenig mit normalen Waffen gegen einen erwachsenen Nöffenwurm auszurichten war. Ein Dutzend der Bestien konnten einer Armee eine unlösbare Aufgabe stellen. Mythor faßte Alton fester. »Da ist der erste!« rief Nottr. Er lachte auf. Mit einem Satz war er bei dem Nöffenwurm. Seine linke Hand packte den Wurm, und mit ungeheurem Kraftaufwand warf er den Leib in die Höhe. Sein Schwert pfiff durch die Luft, dann lagen Schädel und Rumpf auf dem Boden, und Nottr stieß ein Triumphgeschrei aus. »Es geht also«, sagte er zufrieden. »Wir werden siegen.« Die Aussichten waren alles andere als rosig, denn bereits der nächste Nöffenwurm war von einer Größe, die eine Wiederholung von Nottrs Kunststück unmöglich machte. Es war Mythor, der die Bestie erledigte. Alton spaltete dem Nöffenwurm den Schädel. Er war zufrieden, daß dies so leicht gelang – offenbar waren die Tiere in diesem Alter mit herkömmlichen Waffen durchaus zu besiegen. Jetzt war nur noch fraglich, wie viele es waren, wie groß und wie gefährlich. »Wo ist Fahrna?« rief Kalathee. Mythor sah sich um, entdeckte die Alte aber nicht. Bedauernd dachte er, daß die Runenkundige höchstwahrscheinlich bereits den Nöffenwürmern zum Opfer gefallen war. Aber jetzt blieb keine Zeit mehr für Sorge oder Mitleid. Die Nöffenwürmer griffen an. Es mußten Dutzende sein, ihre Kiefer schnappten nach allem, was sich bewegte. Mythor konnte eine Ratte sehen, die einem Nöffenwurm vor den Rachen lief und binnen eines Herzschlages zerrissen und gefressen war.
»Für dich, Kalathee!« rief Mythor und warf Kalathee sein Messer zu. Die bleiche Frau fing die Waffe auf und preßte sie ans Herz. Der Kampf war gnadenlos. Mythors Schwert war die wirksamste Waffe, aber selbst Alton hatte Mühe, die Nöffenwürmer zu töten. Nottr mußte Übermenschliches leisten, um sich seiner Haut zu wehren, denn wo Mythor mit einem Hieb auskam, mußte er dreimal oder noch öfter zuschlagen, bis er seinen Gegner erledigt hatte. Sadagar huschte zwischen den Kämpfern umher und suchte nach Beute für seine Messer. Die Sache behagte ihm überhaupt nicht, aber er wehrte sich seiner Haut, so gut es ging. Was Nottr mit Kraft erreichte, vollbrachte Sadagar dank seiner Geschicklichkeit. Keines seiner Messer ging fehl, und er schaffte es sogar, seine Würfe so anzusetzen, daß er mit Nottrs und Mythors Hilfe seine Messer zurückbekam. »Hierher!« rief Mythor. Unbemerkt hatte sich ein Nöffenwurm an ihn herangeschlichen und den schuppigen Leib um seine Beine gelegt. Er strauchelte und fiel. Im nächsten Augenblick war Nottr heran, und seine Klinge fuhr eine Handbreit über Mythors Gesicht hinweg, traf einen Nöffenwurm unter dem Schädelansatz und durchschlug den Hals. Der Kopf des Nöffenwurmes flog mit weitgeöffnetem Rachen durch die Luft, landete einen halben Schritt von Kalathee entfernt auf einem Ballen und biß sich im Tode dort fest. Von Sadagar kam ein Messer herangesaust und nagelte den Wurm, der Mythors Beine zerquetschen wollte, an eine hölzerne Statue. Mythor konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken, als die Bestie im Todeskampf die Glieder zusammenzog und ihm fast die Knochen brach. Dann wurde der Körper schlaff, die Schlinge fiel ab von seinen Beinen. Er stand auf, griff nach dem Wurm. Während er Sadagar wieder das Messer zuspielte,
warf er den Körper des toten Nöffenwurms seinen gierigen Artgenossen vor, die ihn zerfetzten und verschlangen. Schweiß lief über Mythors Gesicht. Die stickige Luft machte das Atmen unsagbar schwer. Dennoch schwang Mythor seine Waffe, und er traf sicher. Er sprang zu Sadagar, der sich gerade noch vor zuschnappenden Zähnen in Sicherheit bringen konnte. Ein Schlag, und wieder war ein Nöffenwurm getötet. »Woher kommen die Viecher alle?« fragte Sadagar keuchend. »Vielleicht gibt es ein Nest«, spottete Nottr. Der Lorvaner war in seinem Element. Es machte ihm offenbar riesigen Spaß, sein Schwert zu schwingen und Tod und Verderben in die Reihen der Nöffenwürmer zu tragen. Die Würmer attackierten augenblicklich, wenn sie ein Opfer vor sich sahen. Sie schlichen und schlängelten sich an Kisten und Ballen vorbei, sie konnten sich auch zusammenziehen und einige Schritte weit springen, wenn auch nicht sehr zielsicher. Sie schafften es jedoch mit diesem Trick, die Menschen von zwei Seiten anzugreifen. »Versucht es mit Feuer!« rief Kalathee plötzlich. Mit der freien Hand griff Mythor nach der Fackel. Die Gefahr war groß – erlosch die Fackel, dann blieb als Lichtquelle nur der Glanz des Gläsernen Schwertes, und der reichte keinesfalls aus, die heranschnellenden Nöffenwürmer auszumachen und wirkungsvoll zu bekämpfen. Vor den Flammen der Fackel aber hatten die Nöffenwürmer gehörigen Respekt. »Sie weichen zurück!« schrie Kalathee triumphierend. »Noch mehr Fackeln!« rief Mythor. »Zündet alle an!« Kalathee rutschte von dem Ballen herunter und sammelte die übrigen Fackeln auf. Rasch waren sie entzündet, es wurde sehr hell in dem Raum. Die Nöffenwürmer stießen hohe Laute aus, wütend und angriffslustig. Aber sie wichen.
»Endlich Luft«, seufzte Mythor auf. »Treiben wir sie zusammen!« Zu viert riegelten sie den Gang ab. Während Kalathee, Nottr und Sadagar die Nöffenwürmer mit den Bränden zurückscheuchten, sicherte Mythor den Rücken. Ab und zu machte er einen Sprung, um einen vereinzelten Nöffenwurm, der den vieren nachsetzte, mit einem Hieb Altons zu töten. Bevor er endgültig den Raum verließ, hielt Mythor die Fackel an die Ballen, die darin gelagert waren. Sie fingen sofort Feuer. Hier würde kein Wurm überleben. Sie erreichten den Raum, in den die Treppe mündete. Der Boden war von Nöffenwürmern bedeckt. Irgendwo in der Unterwelt der Lichtburg mußten Hunderte von ihnen ausgeschlüpft sein. Mythor blickte sofort zur Treppe. Die Nöffenwürmer machten seltsamerweise keine Anstalten, die Höhlen zu verlassen. Das gab den vieren die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatten. »Wir nehmen uns einen Gang nach dem anderen vor«, bestimmte Mythor. »Und gebt acht, daß euch keiner entkommt!« Sie suchten den nächsten Stollen auf. In diesen Gang hatte sich Fahrna begeben. Mythor hatte keine Hoffnung, die Frau lebend zu finden, ja sie überhaupt zu finden. Er wollte aber keine Möglichkeit unversucht lassen. Schritt für Schritt drängten die vier die Nöffenwürmer zurück. Das Heulen und Pfeifen der Bestien wurde stärker. Fast schien es, als begriffen sie, worum es in diesem Kampf ging. Mythor und Nottr trieben die Nöffenwürmer vor sich her – Kalathee und Sadagar deckten ihnen den Rücken. Immer wieder versuchten einzelne Nöffenwürmer, die Menschen anzugreifen, aber schon ein kurzer Kontakt mit den Flammen der Fackeln genügte, sie zurückzuschlagen. Feuer schienen sie besonders zu fürchten. Was das Feuer übrigließ,
tötete Mythor mit der Schärfe des Schwertes. Die vier erreichten einen Raum, der mit allerlei gespenstischem Gerümpel gefüllt war. »Zu Hilfe!« kreischte jemand. »Rettet mich!« »Fahrna!« staunte Mythor. Die Frau schien es tatsächlich geschafft zu haben, sich vor den Nöffenwürmern in Sicherheit zu bringen. »Wo bist du?« rief Mythor. »Komm hierher!« schrie Fahrna. Mythor konnte nicht viel sehen. Der Gerümpelhaufen war sehr unübersichtlich. Außerdem lagen einige leere Kristallbehälter auf dem Boden, über die man leicht stolpern konnte. »Hier!« rief Fahrna. Mythor versuchte sich anhand der Stimme zurechtzufinden. Fahrnas Rufen klang, als habe sie sich an einen Ort unter der Decke geflüchtet. »Ich komme!« rief Mythor. »Schrei, Fahrna, damit ich dich finden kann.« »Hier bin ich!« Mythor tastete sich vorwärts. Plötzlich hörte er ein Geräusch, ein Schaben von Stein auf Stein. »Vorsicht!« rief er und sprang zurück. Nicht schnell genug. Einer schlängelte sich um seinen linken Arm, der die Fackel trug, ein anderer zog sich blitzschnell um seine Beine zusammen, gleichzeitig rutschten mehrere an seinem Körper herab. Irgendwo oberhalb Mythors hatte sich eines der Nester geöffnet und seinen tödlichen Inhalt auf ihn herabgespien. Mythor griff instinktiv zu. Er ließ die Fackel fallen, die funkenstäubend über den Boden kollerte, gleichzeitig ruderte er wild mit dem linken Arm, um den Nöffenwurm am Beißen zu hindern. Mit blitzschnellem Vorstoßen brachte er es fertig, mit der linken Hand den Nacken des Tieres zu fassen. Am Fuß zuckte ein scharfer Schmerz hoch. Der Nöffenwurm
hatte zugebissen, war aber noch nicht durchgedrungen. Mythor strauchelte. In seiner linken Hand spürte er das Toben und Wüten des gefangenen Tieres. Er trat mit den Füßen, soweit er es vermochte, dann fiel er zur Seite und rollte über den Boden. Schmerzhaft preßte sich ihm der Körper eines Nöffenwurms in die Seite. Mit hartem Schnappen verfehlte ein Kieferpaar sein Gesicht. »Wir kommen, Mythor!« schrie Sadagar. Nottr grunzte nur. Er nahm Alton auf. Das Schwert war Mythor entfallen. Mythor konnte das leise, klagende Singen hören, als Nottr die Waffe schwang. Ungeheure Kraft besaß der Lorvaner, und mit entsprechender Wirkung setzte er die strahlende Waffe ein. Als erstes befreite er wieder Mythors Beine, dann sorgte er mit einigen raschen Hieben dafür, daß sein Freund Luft bekam. Mythor griff auch mit der zweiten Hand zu. Mit gewaltiger Kraftanstrengung drückte er zu. Knirschend barst der Schädel der jungen Bestie, der Leib wurde schlaff. Inzwischen war Sadagar mit der Fackel heran, und eine paar Atemzüge später war Mythor frei. Nur in seinem rechten Fuß spürte er noch ein wenig von dem Biß des jungen Nöffenwurms. »Legt Feuer!« gebot er. Es dauerte nicht lange, dann stand der Raum lichterloh in Flammen. Jetzt erkannte Mythor im Schein des Feuers die Runenkundige, eine hagere Gestalt, die durch die lodernden Flammen auf ihn zugesprungen kam. Fahrnas Gesicht wirkte versteinert. »Du hast unglaubliches Glück gehabt«, stieß Sadagar hervor. »Jetzt aber komm, wir verschwinden hier!« Sie verließen den Raum, der sich in kurzer Zeit in eine
Flammenhölle verwandelt hatte. Gellend erklang das wütende Pfeifen der jungen Noffenwürmer aus der Glut. »Die anderen Stollen!« befahl Mythor, sobald sie den Vorraum erreicht hatten. Noch immer war auf der Treppe kein Wurm zu sehen. Nacheinander drangen sie in die anderen Stollen vor. Überall bot sich ihnen das gleiche Schreckensbild: Zwischen Xanadas grausiger Beute lagen, teils offen, teils geschlossen, die kristallenen Eier des Nöffenwurms. Einen Raum nach dem anderen steckten Mythor und seine Gefährten in Brand, und es gab genügend Nahrung für das Feuer, um es tagelang wüten zu lassen. Wenn aus diesem Glutorkan ein Nöffenwurm lebend hervorgekrochen kam, dann war das gewiß nicht Mythors Schuld. Ätzender Rauch wirbelte durch die Gänge, es wurde Zeit, ans Licht des Tages zurückzukehren. Die fünf stiegen langsam die Treppe hinauf, stets gewärtig, auf eine Schar beutehungriger Nöffenwürmer zu stoßen. Und tatsächlich… Mythor sah den Wurm als erster. Er schien lange Zeit im Ei gelegen zu haben. Seinem Ahnen kam er an Größe und Schrecklichkeit am nächsten. Der Körper war mehrere Schritt lang, und Mythor konnte sich gerade noch zur Seite biegen, als der Kopf herangeschossen kam. Während Nottr empört aufschrie, als er von dem Wurm an der Brust getroffen und einige Stufen hinabgestoßen wurde, gab Mythor dem letzten der Nöffenwürmer den entscheidenden Schlag. Der Wurm verendete unter Altons Hieb. Danach war es still. * Keshban aß langsam und ohne rechten Appetit. Daß er die
Unterwelt fluchtartig verlassen hatte, wurmte ihn. Wenn die Alte es unten aushielt, warum nicht auch er? Er war schließlich ein Mann – und ein mutiger dazu. »Vielleicht ist sie eine Hexe?« murmelte er. »Ausgesehen hat sie danach.« Es tat gut, die abendliche Kühle auf der Haut zu spüren, den sachten Wind, der über das Land strich. Nach dem Gefühl, in den Kavernen der Lichtburg lebendig begraben zu sein, tat die Freiheit des Blickes doppelt gut. Es dämmerte, die Sonne sank langsam am Horizont herab. Es wurde Zeit, sich ein Nachtquartier zu suchen. Keshban hatte keinerlei Lust, im Inneren der Lichtburg zu nächtigen. Von diesem Gemäuer hatte er wahrlich genug – dort war jeder Schritt lebensgefährlich. Er beschloß, es sich zwischen den Trümmern gemütlich zu machen. Wenn er ein paar Leichen entkleidete und diese Kleidung zu einem Haufen zusammenschichtete, konnte er so bequem schlafen wie lange nicht mehr. Er machte sich an die Arbeit. Ab und zu hielt er inne und sah sich um. Er fürchtete noch immer, daß der Rudelbruder der Lichtburg einen Besuch abstattete, aber von dem Geheimnisvollen war nichts zu sehen. Die Arbeit war keineswegs angenehm. Die Toten waren inzwischen steif und kalt, aber er hatte keine Lust, auf dem harten Fels zu schlafen. Der Himmel war klar und hell, und im Licht des Mondes konnte Keshban genug sehen. Nach einiger Zeit hatte er genügend Material gesammelt. Er überlegte, ob er ein Feuer machen solle, nahm dann aber davon Abstand – Feuer lockte allerlei Gesindel heran, und er zog es vor, allein zu bleiben. Die Lichtburg lag still im Mondschein, eine traurige Ruine. Fahl glänzten die Quader des Gemäuers im Schein des Mondes. An diesem Abend würde es keinen Lichtzauber geben.
Die Tage der Lichtburg waren gezählt, bald würde es sie nur noch als das geben, als was er sie zuerst gekannt hatte: als Legende. Er kniff die Augen zusammen. Da war etwas gewesen. Eine Bewegung, sacht, kaum wahrnehmbar. Wieder die Bewegung… Keshban brauchte geraume Zeit, bis er begriff, was geschehen war. Über der Lichtburg zitterte die Luft. War das Gemäuer heiß geworden? Er blickte schärfer hin. Tatsächlich, aus einzelnen Öffnungen der Lichtburg quoll Rauch. Vermutlich hatte die alte Hexe das schreckliche Gerümpel entzündet, das er in der Unterwelt gesehen hatte. Das war genau das Verfahren, das auch ihm ratsam erschienen war. Je weniger von diesem zauberischen Spuk übrigblieb, desto besser. Ob die Alte noch lebte? Er hatte jedoch andere Sorgen. Er bereitete sein Lager, streckte sich aus und rollte sich zum Schlaf zusammen. Es war seltsam still. Nicht einmal die unvermeidlichen Käuzchenrufe erklangen, die doch sonst überall zu hören waren, wenn es dunkel wurde. Es schien, als habe das Leben Angst, sich diesem Ort zu nähern. Dieser Gedanke, einmal in Keshbans Hirn aufgetaucht, hielt den Mann wach. Er wagte plötzlich nicht mehr zu schlafen. Ihm war auch noch aufgefallen, daß er bislang keinen einzigen Aasfresser gesehen hatte – und das bei einem Schlachtfeld, wie es bequemer nicht liegen konnte. Er blickte nach oben. Nichts, keine Schwinge. Seltsam. Keshban stand auf. Leise schlich er sich zum Hof hinüber. Dort lagen die Erschlagenen im Mondschein. Auch dort war nichts zu sehen. Dann aber bemerkte er etwas. In unmittelbarer Nähe der Lichtburg, ein paar Schritte außerhalb der Umwallung, glänzte etwas hell. Ein Feuer, dachte Keshban. Fremde.
Er zückte sein Messer. Gebückt huschte er in Richtung des Scheins. Das Mondlicht half ihm, seinen Weg zu finden, auch wenn er zweimal ums Haar gestolpert wäre – einmal über die eigenen Füße, beim zweiten Mal über einen Leichnam. Menschliche Stimmen wurden hörbar, wenig später drang ihm der Geruch von Holzfeuer in die Nase. Die Fremden hatten ein Lagerfeuer angesteckt; offenbar fühlten sie sich recht sicher. Keshban grinste. Die Fremden würden eine Überraschung erleben, denn im Nachtkampf mit dem Messer war er ein Meister. Er legte sich flach auf den Boden und robbte vorwärts. Der Geruch brennenden Holzes wies ihm den Weg. »Ich hoffe nur«, konnte er jemanden hören, »daß wir auch wirklich alle Nöffenwürmer erwischt haben. Wenn nicht… armes Tainnia. Den anderen Ländern wird es nicht viel besser ergehen.« »Ob Xanada gewußt hat, was der Nöffenwurm in den Verliesen der Lichtburg abgelegt hat?« fragte eine andere Stimme. »Vielleicht, vielleicht auch nicht«, antwortete eine helle Frauenstimme. Keshban konnte den fremdländischen Akzent hören, und ein paar Augenblicke später sah er die ganze Gesellschaft sogar. Es waren fünf, drei Männer und zwei Frauen. Zweierlei fiel ihm sofort ins Auge. Das ältere der beiden Weiber war niemand anders als die alte Hexe, die in den Verliesen der Lichtburg die jungen Nöffenwürmer freigelassen hatte – jetzt wußte er endlich, wovor er sich gefürchtet hatte. Und die zweite Entdeckung war für Keshban noch wesentlich wichtiger: Einer der drei Männer, ein Hochgewachsener mit dunklen Haaren, trug ein Schwert ohne Scheide, und dieses Schwert leuchtete im Dunkeln. Alton. Das Gläserne Schwert. Am liebsten wäre er vor Freude aufgesprungen. Er sagte sich aber, daß dann alle seine Chancen dahin wären. Die zweite
Frau war ein bleiches Geschöpf, das man getrost vergessen konnte – sehr schön anzusehen, wie er zugeben mußte, aber im Kampf um das Schwert ohne Belang. Der älteste der drei Männer, ein schmächtiger Bursche mit einer Unzahl Messer im Gürtel, gefiel Keshban gar nicht. Er hatte eine Abneigung gegen Wurfmesser, und das Gesicht des Mannes verriet eine gehörige Portion Schläue. Neben dem Schwertträger gab es dann noch einen lederhäutigen Barbaren, dessen Bewegungen sehr viel Kraft und Geschicklichkeit verrieten. Es war Keshban vom ersten Augenblick an klar, daß er allein gegen diesen Haufen nicht würde bestehen können. Es galt, die Leute einen nach dem anderen zu erledigen – als ersten nach Möglichkeit den Barbaren, dann den Messerwerfer, zum Schluß den Träger des Schwertes. Die Alte wollte Keshban ungeschoren lassen, und was die Jüngere betraf… Er zog eigentlich drallere Weiber vor. »Niemand weiß genau, was sich im Laufe vieler Jahre in der Lichtburg zugetragen hat«, sagte die junge Frau. »Vielleicht hat Xanada nach einem Ersatz gesucht, für den Fall, daß jemand den Nöffenwurm tötet.« »Unwahrscheinlich«, sagte der Barbar. »Aber trotzdem, ich froh, daß wir Kampf gewonnen. Diese Viecher können leicht Ende unser bedeuten.« Warum habt ihr sie dann freigelassen, ihr Tölpel? dachte Keshban. »Ja, ja«, sagte die Alte. »Wir haben viel Glück gehabt, daß wir diese Gefahr überstanden.« Keshban wartete auf den Vorwurf, denn schließlich war es die Alte gewesen… Nichts geschah. Sieh an, dachte Keshban, der langsam begriff. Die Hexe hat den anderen nichts erzählt, vielleicht hat sie gar vorgehabt, ihre Freunde auf diese Weise umzubringen.
Daß die fünf untereinander bereits zerstritten waren, kam ihm sehr gelegen. Die ältere Frau war hinter dem Schwert her, das war klar. Die jüngere interessierte sich mehr für den Schwertträger, auch das war offensichtlich. Der hagere Messerwerfer schielte ab und zu ebenfalls begehrlich auf das Schwert, aber ihm traute Keshban weder offenen Widerstand noch den Mut zu einer schnellen Attacke aus dem Hintergrund zu. Der spitzgesichtige Mann mit der prächtigen Kleidung war der Typ eines Leichenfledderers, kein Mörder. Mit dem Barbaren würde zu rechnen sein. Der Mann betrachtete den Träger des Gläsernen Schwertes mit einer an Ehrfurcht grenzenden Scheu, er schien dem Dunkelhaarigen in fast hündischer Treue ergeben. Der Schwertmann selbst würde wohl der gefährlichste Gegner sein. Die Kleidung aus schmiegsamem Leder ließ eine kraftvolle Muskulatur erkennen, das Gesicht verriet Klugheit und ein gerütteltes Maß an Selbstvertrauen. Viel mehr konnte Keshban nicht ablesen. Der Mann war ihm sympathisch, und wenn er sich freiwillig von dem Schwert getrennt hätte, hätte Keshban vielleicht versucht, ihn zum Freund zu gewinnen. So aber würde er ihn bei passender Gelegenheit töten müssen, so leid es ihm auch tat. »Was wir nun machen?« fragte der Barbar. »Wenn das Feuer heruntergebrannt ist, sollten wir nach weiteren Spuren suchen«, schlug die Alte lauernd vor. »Irgendwo muß doch ein Hinweis auf den Königstroll zu finden sein.« Keshban zuckte zusammen. Was waren das für Worte, die die alte Frau da in den Mund nahm? Königstroll? Keshban kannte nur das Wort, mehr nicht, und er wußte, daß sich hinter diesem Wort große Geheimnisse verbargen, Rätsel, über die man als kleiner Mann besser gar nicht erst nachdachte. Was waren diese Leute für Wanderer, daß sie es
wagten, an solche Mysterien zu rühren? Hatten sie gar das Recht dazu? Etwas knisterte hinter Keshban. Sofort zuckte er zurück, damit er nicht gesehen werden konnte. »Habt ihr gesehen?« hörte er den Dunkelhaarigen sagen. »Dort drüben.« Keshban verfluchte sich innerlich. Jetzt hatten die fünf ihn entdeckt, und es galt nun, sich ein paar geschickte Lügen auszudenken. »Die Lichtburg!« sagte die junge Frau. »Sie zerfällt.« Keshban zuckte zusammen. Er richtete sich ein wenig auf. Tatsächlich, die Lichtburg löste sich auf. Er sah, wie die Kristallquader an der Spitze der Pyramide plötzlich auseinanderfielen. Es war ein gespenstischer Vorgang. Ein paar der Brocken kollerten an der Lichtburg herab, einer fiel genau in den Lichtkreis des Lagerfeuers. Keshban richtete sich auf und spähte. Der kristallene Brocken wurde vor den Augen der Fremden grau und matt, und dann zerfiel er plötzlich zu feinem Staub, der vom Wind erfaßt und weggeweht wurde. Keshban sah wieder zur Lichtburg hinüber. Dort vollzog sich das gleiche Geschehen. In einer deutlich sichtbaren Fahne trug der Wind die zerstäubte Spitze der Lichtburg davon. Ein menschlicher Körper wurde einen Augenblick lang sichtbar, dann bewegte er sich und verschwand aus dem Blickfeld. Keshban wußte, was das bedeutete. Wenn die Lichtburg jetzt zerstört wurde, wurden alle darin Eingeschlossenen frei, und das hieß, daß es binnen kurzem wieder zu Kämpfen kommen würde. Er hätte am liebsten laut geflucht, aber er beherrschte sich. Er sah die düstere Silhouette der Lichtburg gegen die fahle Helligkeit des Mondlichts. Wieder trug der Wind in Schwaden Staub davon. Dahinter wurde am Himmel ein Vogel
sichtbar. Also doch, dachte er, der erste Aasfresser. Sie hatten die Beute gewittert. Ein zweiter Vogel erschien und begann über dem Areal zu kreisen. Es waren sehr große Vögel, adlergroß. Keshban überlegte, ob er versuchen sollte, mit dem Bogen einen der Vögel vom Himmel zu holen – die Federn hätten einen prächtigen Schmuck abgegeben. Inzwischen standen sogar drei Adler zur Auswahl. Er fragte sich, wo die Tiere ihren Horst haben mochten. Dann aber erinnerte er sich. Siedendheiß fiel es ihm ein. Ein Name durchzuckte sein Hirn und überschwemmte seine Gedanken mit neuerlicher Furcht. Was dort am Himmel seine Kreise zog, war keine Gruppen von Adlern. Es waren – Keshban war sich seiner Sache ganz sicher – die Beobachter der Vrod-Krähen. Er hatte davon raunen hören, vornehmlich alte Weiber erzählten davon allerlei schaurige Geschichten. Jetzt aber sah er die Wirklichkeit. Vrod-Krähen, so lautete die alte Geschichte, waren berüchtigte Raubvögel. Den Namen Krähen hatten sie von ihrem Gekrächze, ansonsten waren sie schlimmer als Geier. Angeblich hausten sie in Riesenskelettbäumen. Der Himmel mochte wissen, was das für Bäume waren. Dort saßen sie und warteten auf Beute. Mit ihren spitzen Schnäbeln und den Krallen waren sie ernstzunehmende Gegner, auch einzeln. Sie griffen aber angeblich in großen Schwärmen an, und dagegen half keine Tapferkeit der Welt. Es waren immer zu viele. Vier. Er erinnerte sich, daß zu jedem Schwarm sieben Beobachter gehörten. Sie stöberten die Beute auf. Jetzt erschien die fünfte Vrod-Krähe über der Lichtburg. Dann holten sie die anderen. Der ganze Schwarm umfaßte
angeblich… Sechs. Keshban spürte sein Herz hämmern. … zehn Dutzend Vrod-Krähen, und das war mehr als genug… Da war die siebte. … um selbst einem gut bewaffneten Trupp arg zuzusetzen. Sieben Krähen kreisten krächzend über Xanadas Lichtburg. Das war kein Zufall, Keshban wußte es. Es hieß nämlich, daß die Vrod-Krähen, zumindest einzelne Schwärme davon, im Dienst der Mächte der Finsternis stünden. Er kroch von dem Feuer weg. Zwei der Vrod-Krähen lösten sich aus der Runde der Beobachter mit mächtigem Flügelschlag. Sie zogen davon – vermutlich holten sie Verstärkung. Keshban wußte, daß sein Leben keinen Baumpilz wert war, wenn er sich nicht schleunigst nach einem Versteck umsah, in dem die Vögel ihn nicht finden konnten. Fast glaubte er schon, die Schwingen über sich rauschen zu hören. Was aus den anderen wurde, war ihm gleichgültig. Vielleicht nahmen ihm die Krähen die Arbeit ab, die fünf umzubringen. Er brauchte danach nur noch das Schwert aufzuheben und seiner Wege zu gehen – vorausgesetzt, diese schwarzen Vögel fanden ihn nicht. Erst würden sie ihm das Gesicht zerkratzen, danach die Augen aushacken. Zehn Dutzend Vrod-Krähen, das war mehr als genug, um sechs Leute zu töten, und was den Krähen nicht zum Opfer fiel, das würden die Wahnsinnigen töten, die währenddessen den Verliesen und Kristallschreinen der Lichtburg entkamen. Es mußte doch irgendwo ein Loch geben, eine Öffnung, in der er sich verstecken konnte, bis alles vorbei war. Keshban war nun außer Sichtweite der Fremden. Er stand auf und begann zu rennen. Er hatte eine Idee…
Im Laufen schielte er ab und zu in die Höhe. Jetzt kamen die ersten des Schwarms. Noch blieben sie in der Luft, große Vögel mit schwerem Schwingenschlag, schwarz gegen den düsteren Himmel. Ab und zu erklang ein heiseres Krächzen, Vorbote des mörderischen Keifens, das beim allgemeinen Angriff erklingen würde. Keshban rannte, was seine Lungen hergaben. Der Sumpf war sein Ziel. »Krrrk!« erklang es über ihm. Er schnellte sich zur Seite. Die Schwinge traf ihn an der Schulter, er spürte den harten Schlag, dann war der Vogel vorbei. Sie hatten ihn also entdeckt. Die Jagd war eröffnet, und er spielte die Rolle des Wildes. Er setzte sich nicht zur Wehr, noch nicht. Sobald er zur Waffe griff, würde sein Angreifer Verstärkung herbeischreien, und dann war alles verloren. Alles kam darauf an, daß der schwarze Vogel das grausige Spiel mitmachte, daß er ihn jagte, ihm aber Zeit ließ, den rettenden Sumpf zu erreichen. Keshban hetzte weiter. Hinter ihm klang Kampflärm auf. Der Banithe spähte in die Höhe. Der Schwarm sammelte sich. Der Himmel war schwarz von Vrod-Krä-hen, das Krächzen wurde stärker. Es konnte nicht mehr lange dauern. Ein paar Dutzend Herzschläge noch… Er war weit genug von der Lichtburg entfernt. Schwarz und drohend zog der Schwarm seinen Kreis über Xanadas Feste, bereit zum mörderischen Angriff. Die Krähe, die ihm nachsetzte, machte sich offenbar einen Spaß daraus, ihn im Anflug knapp zu verfehlen. Einmal erwischte sie ihn mit einer Kralle und fetzte ihm ein handtellergroßes Stück Fleisch vom Kopf. Keshban biß die Zähne zusammen und rannte weiter.
Dann endlich spürte er, daß er am Ziel war. Der Sumpf lag vor ihm. Er verlangsamte sein Tempo. Der Boden unter seinen Füßen wurde weicher. Jetzt galt es, jeden Schritt sorgsam zu überlegen. Keshban bückte sich und nahm eine Handvoll von dem Schlamm heraus. Beim nächsten Angriff der Vrod-Krähe blieb er stehen und schleuderte dem Tier den fauligen Brei entgegen. Er traf. Der Vogel war geblendet, und der Schlamm setzte sich in sein Gefieder. Noch einen Anflug unternahm die Krähe, und wieder konnte Keshban einen Treffer landen. Krächzend und keifend zog die Krähe ab. Keshban streckte sich auf dem Boden aus. Er rollte sich in dem Morast hin und her, bis er so mit Schlamm bedeckt war, daß man seinen Körper nicht mehr ausmachen konnte. Er barg den Kopf in den Händen und blieb liegen, hoffend, daß sein Plan gelingen möge. Ein gräßlicher Laut klang über die Ebene. Die Krähen griffen an. * »Du und dein Nadomir!« keifte Fahrna. »Jetzt haben wir, was wir wollten!« Mythor spähte in die Höhe hinauf. Der Anblick war beängstigend. Der Himmel war schwarz von Vögeln, und die Größe dieser Tiere verhieß Schreckliches. »Zufall ist das nicht«, sagte Mythor. »Natürlich«, keifte Fahrna. »Die Mächtigen der Finsternis haben längst gemerkt, daß Xanadas Lichtburg nur noch ein Trümmerhaufen ist. Das ist die Quittung für unser Eindringen.« Mythor hatte Alton unter der Kleidung verborgen. Er wollte
die Aufmerksamkeit der Tiere nicht auf die Gruppe lenken. Er dachte sich, daß die Vögel vorzugsweise den Träger der Lichtwaffe angreifen würden. »Es sind Vrod-Krähen«, sagte Fahrna. »Ich habe darüber gelesen, aber nicht gewußt, daß es in der Nähe der Lichtburg einen Riesenskelettbaum gibt.« Sadagar, der den bescheidenen Versuch gewagt hatte, seine und des Kleinen Nadomir Fähigkeiten zu erproben, schwieg verbissen. »Pah!« machte Nottr. »Vögel leicht zu töten.« Mythor war da anderer Meinung. Der Schwarm war inzwischen groß genug, den Himmel über der Lichtburg zu verdecken. In immer enger werdenden Kreisen umflogen die Vögel die Lichtburg, und sie sanken stetig tiefer auf das Land herab. »Was machen wir?« fragte Sadagar. »Sollen wir weglaufen, sollen wir uns in der Lichtburg verkriechen, sollen wir kämpfen?« Mythor entging nicht, daß Sadagar den Kampf erst an letzter Stelle erwähnt hatte, aber er schwieg dazu. »In der Lichtburg wüten Brände«, sagte er. »Aufs freie Land zu flüchten hieße, den Tieren in die Krallen zu laufen. Wir bleiben und kämpfen.« »Hier? In der Nähe des Feuers?« fragte Sadagar. Er schielte in die Höhe, wo die Krähen ihre bedrohlichen Kreise zogen. »Krähen sehen nachts besser als du«, sagte Nottr kalt. »Wir bleiben bei Feuer.« »Barbar«, schimpfte Sadagar. »Pah«, machte Nottr nur. Mythor stieg auf die Trümmer in der Nähe. Von seinem Standort aus konnte er einen großen Teil des Geländes überblicken. Der Lichtburg fehlte jetzt die Spitze, und ein großer Teil der frei im Gelände herumliegenden Kristallschreine hatte sich
geöffnet. Menschen rannten schreiend durcheinander. Es bahnten sich ähnliche Szenen an wie am Morgen dieses Tages. »Wie viele mögen es sein?« fragte Mythor. »Viecher?« fragte Nottr. Er sah ebenfalls in die Höhe. »Handvoll. Nicht genug für alle.« Das mochte stimmen, wenn man die Kämpfer mitrechnete, die in diesen Augenblicken aus den Trümmern der zusammensinkenden Lichtburg hervorgekrochen kamen. Aber der größte Teil dieser Leute war irrsinnig und nicht mehr in der Lage, sich erfolgreich gegen die Vrod-Krähen zur Wehr zu setzen. »Kalathee!« rief Mythor. Die Frau hatte sichtlich Angst, aber sie lief sofort auf Mythor zu. Die Nähe des Mannes schien ihr Kraft und Zuversicht zu geben. »Kalathee, wie genau kennst du die Lichtburg?« »Die oberen Bereiche recht gut«, antwortete Kalathee. »Den Rest nur wenig.« »Besteht die Burg nur aus Kristallquadern?« fragte Mythor. »Oder gibt es außer den Höhlen darunter noch andere Teile, die aus Stein bestehen?« Kalathee dachte nach. »Ich glaube, es gibt einen solchen Bereich«, sagte sie dann zögernd. »Dort werden wir uns verbergen«, bestimmte Mythor. »Eine Mausefalle«, sagte Sadagar. »Ob wir da je wieder herauskommen werden?« »Frag Nadomir«, spottete Nottr. »Jetzt aber Schluß. Kämpfen, nicht reden. Krähen kommen heran.« »Kalathee, führ uns!« sagte Mythor. Die junge Frau schritt voran. Es war nicht leicht, den Weg zu finden. Niemand konnte wissen, ob der Kristall, auf dem er stand, den nächsten Augenblick überdauern würde. Überall löste sich der Kristall auf, zerfiel zu Staub und wehte langsam davon. Von der Lichtburg würde bald nichts mehr übrig sein.
Noch immer waren die Vrod-Krähen seltsam ruhig. Sie zogen ihre Kreise, aber sie griffen nicht an. »Wir müssen über den Hof«, sagte Kalathee. Mythor wußte, was sie damit ausdrücken wollte. Auf dem Hof wurde gekämpft. Schwerterklirren war zu hören, Keuchen und Ächzen, Wehrufe und Kampfgeschrei. »Die Schwerter heraus!« sagte Mythor. Er zückte Al ton. Im gleichen Augenblick wußte er, daß er einen Fehler gemacht hatte. Auf dieses Zeichen hatte der Schwarm gewartet. Die VrodKrähen griffen an. »Beeilt euch!« schrie er. »Lauft um euer Leben!« Er hielt Alton in der Rechten. Hell strahlte die Waffe in der Nacht. »Männer!« schrie Mythor. »Sklaven Xanadas, her zu mir!« Er wollte wenigstens versuchen, die Scharen der halb Umnachteten zu einem organisierten Kampf gegen die VrodKrähen zu vereinen. »Dort kommt der Feind!« schrie er mit weithin hallender Stimme. »Steht und kämpft um euer Leben!« Der Ruf tat seine Wirkung, wenigstens teilweise. Der erbitterte Kampf der Männer untereinander kam ins Stocken. Im gleichen Augenblick waren die Krähen heran. Eine dichte Masse hackenden, krallenden, federflatternden Fleisches, so kamen sie herangeschossen, und Mythors erster furchtbarer Hieb schlug mitten hinein in das Gewimmel. Blut floß, heisere Schreie gellten. »Kämpft!« schrie Mythor. Er konnte nicht mehr sehen, was sich um ihn herum abspielte. Er mußte darauf achten, die eigene Haut vor den wütend angreifenden Vögeln in Sicherheit zu bringen. Wie gefährlich die Krähen sein konnten, bewies ein Mann in Mythors Nähe. Als er einen Augenblick lang nicht achtgab,
krallte sich eine Krähe in seinem Gesicht fest und hackte erbarmungslos zu. Aufschreiend rannte der Mann los, schlug mit den Fäusten auf den gnadenlosen Vogel ein und fiel dann von einer Mauer. Alton schlug verheerende Wunden, aber selbst die Wirkung des Schwertes reichte nicht aus, den unerbittlichen Angriff zurückzuschlagen. »Kalathee?« schrie Mythor. »Ich bin hier!« rief Xanadas einstige Pflegerin. »Hast du ein Schlupfloch gefunden?« »Ich suche, Mythor!« Mythor zog sich langsam in Richtung auf die Lichtburg zurück. Eine Krähe riß ihm ein Büschel Haare aus dem Kopf – keine schlimme Wunde, aber Blut floß über Mythors Gesicht und blendete ihn. Er mußte sich die Augen wischen, und sofort griffen die Krähen mit Erbitterung an. Mythor spürte einen fürchterlichen Schmerz an der rechten Hand. Er fühlte, wie Alton seinem Griff zu entgleiten begann. Während er eine der Krähen mit der Linken abwehrte, die er schützend vor die bedrohten Augen gehalten hatte, hackte und biß eine andere Vrod-Krähe mit aller Kraft in die Schwerthand. Alton fiel, und sofort stürzten sich zwei Vrod-Krähen auf die herrliche Waffe. Mythor konnte sich seines Angreifers entledigen; er schlug dem Tier den Schädel ein. Dann sah er, wie die beiden VrodKrähen seine Waffe mit den Krallen erfaßten und aufzusteigen begannen. So schnell, daß kein Auge den Vorgang erfassen konnte, zischte ein Messer heran, und ehe die erste Krähe noch todwund herabfiel, war auch die zweite durchbohrt. »Danke!« rief Mythor und nahm die Waffe wieder an sich. »Auf Steinmann Sadagar ist Verlaß«, sagte der Hagere grin-
send und holte sich seine Messer zurück. »Hierher, Mythor!« gellte Kalathees Stimme über den Kampflärm hinweg. Mythor zog sich langsam zurück. Der Kampf wurde erbitterter, und das Blatt wandte sich langsam, aber sicher zugunsten der Krähen. Ihr Leben nicht achtend, stürzten sie sich immer wieder ins Gefecht, und sie schlugen tiefe Wunden, wenn ihre Schnäbel und Krallen ungeschütztes Fleisch fanden. Mythor stieß mit dem Rücken gegen eine Wand, die hinter ihm sofort zusammenbrach. Der Einsturz der Lichtburg war nur noch eine Sache weniger Stunden. Zwei Frauen fielen aus den aufgelösten Schreinen, kamen zu sich und sprangen auf die Füße. Von Panik erfüllt, rannten sie los, und Mythor war dankbar, daß er nicht sehen mußte, was in dem mörderischen Getümmel aus ihnen wurde. Er focht wie ein Rasender. Immer wieder mußte er sich das Blut aus dem Gesicht wischen, um klar sehen zu können. An einen Pfeiler gelehnt, der seinen Rücken gegen unverhoffte Attacken schützen sollte, handhabte er Alton mit größtmöglicher Wirkung. Ein Dutzend erschlagener Krähen zu seinen Füßen bewies, mit welcher Geschicklichkeit er sein Leben zu verteidigen wußte. Aber die Reihen der Verteidiger wurden schwächer. Einzelne Männer verloren die Nerven, warfen die Waffen fort und suchten ihr Heil in der Flucht. Im nächtlichen Dunkel aber hatten sie keine Chance. Die Vögel sahen bei Nacht vorzüglich, und sie beherrschten ihr grausames Handwerk meisterlich – ein Angriff auf das Gesicht, dann eine nadelspitze Kralle zwischen die zum Schutz emporgerissenen Arme, und die Halsschlagader lag schutzlos frei. Ein paar Augenblicke später war für den Angegriffenen alles vorüber.
Mythor spürte, daß er die Stellung nicht mehr sehr lange halten konnte. Auch seine Kräfte kannten Grenzen, und er hatte in der letzten Zeit einen Kampf nach dem anderen zu bestehen gehabt. Seit er die Lichtburg erreicht hatte, war er nicht mehr zur Ruhe gekommen, und nun spürte er mit Schrecken, wie sein Arm schwerer zu werden begann. Müdigkeit überfiel seine Glieder. Aber noch hatte er genügend Kraft. Mit einem Hieb holte er gleich zwei der Krähen aus der Luft. Plötzlich tauchte Nottr neben ihm auf, blutverschmiert, aber breit grinsend. Er schlug einer heranfliegenden Krähe die rechte Schwinge ab, dann den häßlichen Schädel. »Komm mit«, stieß er hervor. »Wir Mauseloch gefunden!« Mythor bewegte sich zu Seite. Lange würde er den Kampf nicht mehr führen können; immer schwerer wurde sein Arm. Dann stieß er eine Verwünschung aus. Er wechselte das Schwert in die linke Hand und focht so weiter. Er war ein wenig behindert, aber die Kraft reichte, die Vögel zurückzuschlagen. Unterdessen hatten die Vrod-Krähen den ersten Teil des Kampfes gewonnen. Von Xanadas Sklaven war keiner mehr zu sehen – sie waren tot oder hatten die Flucht ergriffen. Die Vögel setzten ihnen nicht mehr nach. Ihre Angriffe schienen nur noch dem Mann zu gelten, der das Gläserne Schwert trug. »Weiter!« drängte Nottr. Er tat sein möglichstes, Mythor zu helfen. Seine Hiebe waren kraftvoll, und er traf gut. Dennoch zeichnete sich der Augenblick ab, da die Übermacht der Vrod-Vögel sich auswirken mußte. »Noch einen Schritt, Mythor, dann du in Sicherheit«, stieß Nottr hervor. »Kalathee haben Versteck gefunden. Gutes Weib.« Mythor mußte trotz seiner Schwäche grinsen. Daß Nottr da-
für Zeit fand, Kalathee zu loben, bewies, was für ein unerschrockener Kämpfer der Lorvaner war. Dann nahm ein Felsspalt Mythor auf. Sofort drängte ihn Nottr zur Seite. Der Barbar übernahm es, den schmalen Eingang mit seinem Leib zu decken. Mythor lehnte sieh schwer atmend gegen den Fels. Kalathee sprang herbei und wischte ihm das Blut aus dem Gesicht. »Du bist verwundet!« rief sie. »Es sind nur Kratzer«, stieß Mythor hervor. »Wo sind wir hier?« »In einem Spalt im Fels«, sagte Kalathee. »Ich habe ihn vor langer Zeit gefunden. Hier sind wir sicher.« Im Licht des Gläsernen Schwertes konnten sie sich ein Bild von der Höhle machen. Hier waren offenkundig Xanadas Sklaven am Werk gewesen, ein behaglicher Platz war der Spalt aber nicht. Mythor erholte sich langsam von den Strapazen des Kampfes. »Wie sieht es draußen aus?« fragte er. »Nicht schlecht«, antwortete Nottr, der unentwegt den Eingang deckte. »Sie greifen an, aber sie es nicht schaffen.« Der Lorvaner hatte in der letzten Zeit erstaunliche Fortschritte gemacht. Er sprach fast normal, nur wenn er sehr aufgeregt war, so wie jetzt, fiel er in jenes rauhe, verstümmelte Gorgan zurück, das er früher gesprochen hatte. »Jetzt sitzen wir in der Falle«, sagte Fahrna boshaft. »Kann mir einer von euch Helden sagen, wie wir jemals wieder hier herauskommen sollen?« »Das wird sich finden«, sagte Mythor. »Wir könnten… Aber dazu fehlen mir die Mittel«, sagte Steinmann Sadagar. »So kann auch der Kleine Nadomir nicht helfen.« »Wir helfen uns selbst«, sagte Mythor. Er trat an den Eingang der Höhlung. An Nottr vorbei spähte er ins Freie. »Sie
greifen nicht mehr an«, sagte er zufrieden. »Nein«, stellte Nottr fest. »Kein Angriff – jetzt Belagerung.« »Auch gut«, murmelte Mythor. Er streckte sich auf dem Boden aus, um wenigstens ein paar Augenblicke lang die schmerzenden Glieder zur Ruhe kommen zu lassen. »Wie viele sind es noch, Nottr?« »Ein paar Handvoll«, sagte der Lorvaner. »Genug für einen von uns.« Den weitaus größten Teil der Vögel hatten die Verteidiger also töten können, aber um welchen Preis. Der Hof der Lichtburg war ein einziger Platz des Grauens. Während sich eine Gruppe der Krähen in der Nähe des Felsspalts lauernd auf den Trümmern der Lichtburg ausruhte, machten sich die anderen an die scheußliche Arbeit, das Aas zu beseitigen. »Fahrna, du kennst dich in solchen Dingen am besten aus«, sagte Mythor. »Was werden die Krähen als nächstes unternehmen?« Die Alte kam näher. Begehrlich schielte sie auf Alton, dann preßte sie die Lippen zusammen. »Unternehmen?« fragte sie. »Nichts. Sie werden warten und lauern, und wenn die Mächte des Bösen ihre Söldner nach uns ausschicken, werden sie ihnen den Weg weisen.« »Du meinst…?« »Diese Vögel sind längst nicht der letzte Gegner«, stieß Fahrna hervor. »Vergiß nicht, daß du Alton trägst. Diese Waffe ist wichtig im großen Kampf zwischen dem Licht und dem Dunkel. Die Mächte der Finsternis – ihre Namen seien verdammt auf ewig – werden nicht ruhen und rasten, bis sie nicht wenigstens erreicht haben, was sie zuvor geschafft hatten: das Gläserne Schwert für die andere Seite unbrauchbar zu machen. In Xanadas Brust war Alton gut aufgehoben. Diesen Zustand werden sie erneut herbeizuführen trachten, und darum
werden sie jede Kreatur der Unterwelt auf unsere Spur hetzen,