Gruselspannung pur!
Der Werwolf von Eisenach
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Den Sozialismus in seinem Lauf...
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Gruselspannung pur!
Der Werwolf von Eisenach
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf. Dieses geflügelte Honecker-Wort fiel mir ein, als ich die Zentrale der Gauck-Behörde in Berlin betrat. Ich war herbestellt worden. Weshalb, wußte ich nicht. Was hatte ich, Mark Nikolaus Hellmann, Träger des Rings und passionierter Kämpfer gegen die Mächte der Finsternis, mit dieser Behörde zu schaffen? Ich sollte es bald erfahren. Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt! In der folgenden Stunde sollte ich eine der größten Überraschungen erleben, seit ich am 1. Mai 1980 nackt und ohne Erinnerung in der Weimarer Bachgasse aufgegriffen worden war.
Bis heute wußte ich nicht, wie ich wirklich hieß und wer meine Eltern waren. Ich war adoptiert worden; meinen Nachnamen hatte ich von meinen Adoptiveltern erhalten. Meine Vornamen waren von den Buchstaben des magischen Rings abgeleitet worden, den ich als einziges Besitztum bei mir getragen hatte. Ich meldete mich an diesem schönen Tag beim Portier hinter der schußsicheren Rezeption an. Sie war aus gutem Grund so eingerichtet. Die Gauck-Behörde, nach ihrem Leiter benannt, mochte nicht jeder. Eigentlich hieß das Amt >Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Den Zungenbrecher wollte sich jedoch keiner zumuten. Die Gauck-Behörde hatte die umfangreichen Akten und Schriftstücke des ehemaligen ostdeutschen MfS (Ministerium für Staatssicherheit) und seines Ablegers, kurz Stasi genannt, aufzuarbeiten. Dabei wurde viel Dreck aufgewühlt, der zahlreichen, angeblich sauberen Bürgern an der Weste klebte. Es war ein sehr schwieriges Kapitel deutscher Geschichte, das zu bewältigen ich niemanden beneidete. Ein Portier avisierte mich. Ich wurde bereits erwartet und durchschritt eine Kontrollschleuse, wurde elektronisch gecheckt und fuhr dann hinab in den Keller. Dabei fielen mir meine sämtlichen Sünden aus der DDR-Zeit ein, obwohl ich zur Zeit der Wende erst neunzehn gewesen war. Ich war bei der Wende sehr engagiert gewesen. In Leipzig hatten wir im Dezember '89, gleich nach dem Fall der Mauer, die >Runde Ecke< am Dittrichring besetzt, die dortige Zentrale des Staatssicherheitsdienstes mit über zweitausend Mitarbeitern. Für mich waren es große Tage gewesen, besonders die in Berlin, als im November 1989 die Mauer geöffnet wurde, ein Jahrhundertereignis. Das würde ich nie vergessen! Jetzt war das schon alles Geschichte. Doch ich bin dabeigewesen. Was ich mit dem Begrüßungsgeld der BRD anfing und wie ich den Westberliner Mädchen nachstellte, sei hier nicht weiter erwähnt. Auch die größten geschichtlichen Ereignisse haben ihre persönlichen und intimen Seiten. Zurück zu meinem Besuch in der Gauck-Behörde. In einen Keller gebeten oder befördert zu werden, erweckte bei mir als ehemaligem DDR-Bürger sehr unangenehme Erinnerungen. Meine
Kopfhaut prickelte unter dem blonden Haar. In den Stasi-Kellern hatte sich allerhand abgespielt, und manch einer war mit Zähnen hineingegangen, aber ohne wieder herausgekommen. Heutzutage gab es das nicht mehr, jedenfalls nicht in Deutschland. Eine schwere Eisentür wurde geöffnet. Ich schaute auf meinen Ring. Keine Gefahr. Also lag kein dämonischer Einfluß vor. Mephisto, von Goethe im Faust treffend beschrieben, traute ich nicht über den Weg. Der Megadämon und Oberteufel konnte sich auch zu Behördenräumen Zutritt verschaffen, wie ich vor nicht allzu langer Zeit im Berliner Polizeipräsidium am Treptower Damm leidvoll erfahren hatte. Jetzt begrüßte mich ein Mitarbeiter der Gauck-Behörde, ein jüngerer, agiler Mann. Er führte mich in einen modern eingerichteten Arbeitsraum, wo ein weiterer Mitarbeiter der Behörde saß und mich mit Handschlag begrüßte. »Herr Hellmann«, sagte dieser etwas konservativ gekleidete Mann mittleren Alters, »vielen Dank, daß Sie unserer Einladung unverzüglich gefolgt sind. - Hatten Sie eine gute Fahrt von Weimar herüber?« »Ja, danke. Können wir gleich zur Sache kommen? Sie werden mir doch hoffentlich nicht unterstellen, ein Stasi-Spitzel gewesen zu sein?« »Nein. Wir wissen um ihre demokratische Gesinnung. Und sind auch informiert über ihre Einsätze zur Erlangung der Freiheit. Doch nehmen Sie erst einmal Platz. An dem runden Tisch dort.« Ich setzte mich und schaute mich in dem nüchternen und zweckmäßig eingerichteten, fensterlosen Raum um. Was wollen die hier von mir? überlegte ich. »Wollen Sie mir einen Orden verleihen?« fragte ich die beiden gutgekleideten Männer mir gegenüber. »Was soll die Geheimniskrämerei?« »Das hat nichts zu bedeuten. Hier ist das Archiv. Wir bitten um Ihre Mithilfe, um eine Besonderheit aus der DDR-Zeit aufzuklären. Wir hätten Sie auch in einem der oberen Büros empfangen können. Doch wir sind die Stelle, in der die kuriosesten und geheimnisvollsten Akten des MfS aufgearbeitet werden. Die XAkten des MfS, möchte ich sagen. Vorfälle der höchsten Geheimhaltungsstufe, die über den Bereich des Normalen
hinausgehen.« »Wollen Sie damit sagen, in der DDR hätte es Spuk und Geister gegeben?« fragte ich die beiden Herren. Sie hatten mir ihre Namen genannt: Kuhn und Lewzewski. Kuhn war der Ältere, verbindlich, mit scharfen Augen. Ein Mann, dem man nichts vormachen konnte. »Paranormales? Am Ende noch Meldungen über fliegende Untertassen? Derlei Dinge wurden immer als Ausgeburten kapitalistischer Phantasten abgetan. Laut DDRPropaganda hatten Hexen, Werwölfe, Vampire und anderes Gelichter im Sozialismus keinen Platz. Vermutlich weil man sie nicht systemkonform einschwören konnte. Sie paßten jedenfalls nicht ins sozialistische Weltbild, in keinen Fünf-Jahres-Plan, und sie wären als Systemabweichler zudem schlecht zu kontrollieren gewesen.« Der Gauck-Mitarbeiter Kuhn seufzte, was ich von ihm nicht erwartet hätte. »Leider ist dergleichen aber doch vorgekommen«, sagte er. »Hier haben wir nämlich die Akte >Werwolf<, angelegt von der Stasi-Bezirkszentrale in Eisenach. Und raten Sie mal, wessen Foto ganz vorne in dieser Akte prangt?« Ich riet lieber nicht. Ahnte es und sagte: »Zeigen Sie's mir.« Kuhn reichte mir die in einem unauffälligen grauen Schnellhefter befindlichen Papiere. Vorn waren säuberlich Name und Kennziffer des Vorgangs sowie ein paar bürokratische Kürzel aufgedruckt. >MfS - streng geheim< las ich den Stempel. Daneben stand ein schwarzes X. »Unbekannte Materie«, sagte Kuhn und deutete auf das X. Ich öffnete die Akte, schlug das Anlageblatt um und schaute mir kurz drei Fotos an. Zwei der abgebildeten Personen, beides Männer, kannte ich nicht. Das Schwarzweißfoto der dritten Person versetzte mir einen Schock. Das war nämlich ich selbst, 1975 aufgenommen, und ich sah so aus, wie ich heute leibte und lebte. Ich mußte zweimal hinsehen. 1975 bin ich also in Eisenach fotografiert worden, dachte ich. Mehrmals schon hatte ich mich in die Vergangenheit versetzt. Einmal ins Jahr 1198, einmal ins Jahr 1583… Von einem Zeitsprung in die jüngere deutsche Vergangenheit war mir bisher nichts bekannt gewesen. Was bedeutete, daß ich diesen Zeitsprung noch vornehmen würde.
Sicherheitshalber fragte ich: »Sie haben sich überzeugt, daß dieses Foto tatsächlich dreiundzwanzig Jahre alt ist? Nicht, daß wir hier über eine Fotomontage reden.« »Herr Hellmann«, sagte Lewzewski, der zweite GauckMitarbeiter im Raum, »wir sind keine Idioten. Die Akte und das Bild sind über zwanzig Jahre alt. In der Akte finden Sie Ihren Namen: Mark Nikolaus Hellmann. Dabei steht: Herkunft unbekannt, wahrscheinlich Westagent, Agitator. Gefährlichkeitsstufe eins. Die Beschreibung und das Foto sind absolut mit Ihnen identisch.« Ich setzte mein Pokerface auf. Von meinen Zeitreisen und meiner Funktion als Träger des Rings wollte ich den beiden Männern freiwillig nichts erzählen. »Wie erklären Sie sich das?« fragte Kuhn. »Die Akte hat eine ganze Weile hier gelegen. Dann ist jemand von unserer Behörde durch einen Zufall darauf gestoßen, daß es einen Mark Nikolaus Hellmann, wie in der Stasi-Akte erwähnt, im Jahr 1998 tatsächlich gibt.« »Hängt das mit den Vorfällen Polizeipräsidium zusammen?« fragte ich.
neulich
im
Berliner
»So könnte man sagen.« Mephisto war beim Verhör des aus dem Jahr 1198 in die Gegenwart geratenen maurischen Kriegers Nasreddin al-Nasr aufgetaucht und hatte allerhand angerichtet. Seitdem galt ich, was allerdings nicht offiziell war, als Spezialist für übernatürliche Fälle. Ich fragte mich, wo mein Name noch überall gespeichert war, und brachte eine gallige Bemerkung über den Datenabgleich an. Darauf gingen weder Kuhn noch Lewzewski ein. »Meine Herren«, sagte ich, »es ist zutreffend, daß ich heutzutage einen gewissen Ruf genieße und bereit bin, heiße Eisen anzupacken. Aber Sie werden zugeben«, fuhr ich fort, »daß ich nicht schon vor dreiundzwanzig Jahren, dazu noch im selben Alter und mit demselben Aussehen wie heute, aktiv gewesen sein kann. Oder meinen Sie, daß ich, wie H. G. Wells in seinem Roman schrieb, eine Zeitmaschine erfunden hätte?« Lewzewski wurde etwas lauter: »Wollen Sie sich über uns lustig machen?«
»Keineswegs. Aber Sie bestellen mich einfach hierher und veranstalten eine Rätselstunde. - Woher soll ich denn wissen, wie alte Stasi-Akten entstanden sind?« Kuhn beschwichtigte. »Aber, aber, meine Herren, wir wollen doch miteinander und nicht gegeneinander arbeiten. Für Sie, Herr Hellmann, müßte es doch ebenfalls von enormem Interesse sein, zu erfahren, wie Ihr Name und Ihr Foto in die Stasi-Akte >Werwolf< aus dem Jahr 1975 gelangt sind?« Ich setzte mein unschuldigstes Gesicht auf und sagte: »Ich kann es mir einfach nicht vorstellen.« Das hätte mir noch gefehlt, bei einer Behörde zu gestehen, daß ich Zeitreisen unternehmen konnte. Mit meinem magischen Ring. Ich wollte weder ein Studienobjekt werden, noch mich in der Psychiatrie wiederfinden. Die Sensationspresse sollte sich mir nicht auf die Fersen heften. Meist sickerte doch etwas durch. Auch wollte ich meinen Ring nicht an irgendwelche Wissenschaftlichen Institute abgeben, damit sie ihn mit allen möglichen Methoden untersuchten, womöglich bestrahlten und am Ende noch zerstörten. Zumindest seine besonderen Funktionen. Der Ring war mein bestes Mittel im Kampf gegen Mephisto. Schließlich stand ich ganz oben auf seiner Abschußliste. Mir drohte ein Schicksal, das viel schlimmer war als der Tod. Da riskierte ich lieber nichts. Die beiden Behörden-Mitarbeiter reagierten enttäuscht, weil sie von mir nichts erfahren konnten. »Schade«, sagte Kuhn. »Wir hatten gehofft, Sie könnten uns weiterhelfen. Es ist schwer einzusehen, daß Sie damals einen Doppelgänger mit exakt demselben Aussehen und Ihrem Namen gehabt haben sollen.« »Tja«, sagte ich. »Lassen Sie mich mal die Akte lesen. Vielleicht fällt mir dann etwas ein.« Ich durfte. Die Eisenacher Stasi hatte wegen gewisser Vorfälle ermittelt und trotz größter Vorbehalte beinhart den Begriff >Werwolf< aufs Tapet gebracht. Es handelte sich um die Geschichte eines Leutnants der Roten Armee. Er hieß Sergej Nikolajewitsch Kagunin und war in der Nähe von Eisenach stationiert gewesen, zu einer Zeit, als die
Mauer ihr vierzehnjähriges Bestehen feierte und der Sozialismus noch in voller Blüte stand. Ich war damals, was ich den Behörden-Mitarbeitern Kuhn und Lewzewski deutlich sagte, fünf Jahre alt gewesen.
* 1975 - Geschichte des Sergej Nikolajewitsch Kagunin: »Geh nicht bei Vollmond in den Wald, moj wnutschkek - mein Enkelchen«, sagte die Großmutter Elisaweta. »Der Wolfspope streift umher. Wenn er dich erwischt, bist du tot. Oder, noch schlimmer, dann wirst du ein Werwolf wie er.« Sergej Kagunin stand in seiner erdbraunen Uniform mit den Rangabzeichen eines Leutnants der Roten Armee vor der alten Babuschka in ihrer ärmlichen Hütte. Der 27jährige Leutnant, hochgewachsen, dunkelhaarig, mit einem schmalen Oberlippenbart, war ein attraktiver, schneidiger Mann, der Stolz seiner Familie und des ganzen Dörfchens, aus dem er stammte. Es lag am Ufer des Cusavaja-Flusses im mittleren Ural. Kagunin hatte weit weg, in Kalinin, die Militärakademie absolviert. Seit zwei Jahren war er in der DDR stationiert, in der Nähe von Eisenach. Dies war sein erster Besuch bei seinen Verwandten in dem Dorf Lubva. Sergej Kagunin hatte inzwischen selbst eine Familie. In Kalinin hatte er die hübsche Tatjana Mitrailowa kennengelernt und zum Abschluß seiner Akademiezeit geheiratet. Auf der Halbinsel Sachalin, hoch im Norden, gottverlassen, wo Kagunin zuerst stationiert war, wurde ihre Tochter Soja geboren, heute zwei Jahre alt. Sergej Kagunin liebte seine Frau und die kleine Soja sehr. Er war überhaupt ein Mustersoldat, gehorsam, aber ein Draufgänger. Die Riesenentfernungen, über die er jeweils versetzt wurde, waren in der UdSSR, dem größten Land der Erde, normal. Breschnjew regierte im Kreml. Die atomaren Langstreckenraketen der UdSSR bedrohten die westliche Welt. In den USA hatte Gerald Ford den über die Watergate-Affäre gestolperten Richard Nixon als Präsidenten abgelöst.
Die Vietkong berannten Saigon, und die Weltmacht USA stand vor dem Schock einer schweren militärischen Niederlage. So sah die Welt aus, in der der Leutnant Sergej Kagunin lebte. Er war überzeugter Kommunist und glaubte felsenfest daran, daß die UdSSR, die wie Kuba an viele Krisenherde ihre Militärberater schickte, eines Tages die allein führende Weltmacht sein würde. Die Weltrevolution würde den Kapitalismus zerschlagen. Dann würden glorreiche Zeiten beginnen. Kagunin fühlte sich durchaus wohl in der DDR und nahm seine Aufgabe als russischer Offizier und Besatzungssoldat ernst. Über die Werwolfwarnung seiner fast blinden Großmutter lachte er nur gutmütig. »Babuschka - Großmutter«, sagte er zu der alten Frau im derben Leinenkleid, die Holzpantinen an den Füßen trug. »Der Kommunismus hat mit solch abergläubischen Vorstellungen für immer aufgeräumt. - In welcher Zeit lebst du eigentlich? 1918 war die Oktoberrevolution. Zar Nikolaj und der dämonische Mönch Rasputin, zu deren Zeit abergläubische Vorstellungen wie die Deinen gediehen, sind schon lange tot.« »Damals war ich schon einundzwanzig«, sagte die Großmutter. »Aber das tut nichts zur Sache. Ich weiß, was ich weiß. Ihr meint, weil ihr Kraftwerke baut, Atome spaltet und Raketen ins Weltall schießt, haben die Mächte der Finsternis keine Kraft mehr? Wisse, Söhnchen, lange bevor die Menschheit entstand, sind die Dämonen der Nacht schon vorhanden gewesen. Sie sind stärker als alle Wissenschaft.« Kagunin seufzte. Was für Wenn ihm einer von seinen Sprüchen gekommen wäre, Woche in den Bau gesteckt geschickt.
eine dumme alte Frau, dachte er. Soldaten mit solch abergläubischen hätte er ihn für mindestens eine und anschließend zur Umerziehung
Der Leutnant liebte jedoch seine Großmutter und vermied jedes böse Wort. Er legte der Babuschka die Hände auf die Wangen und küßte sie auf den faltigen Mund. »Babuschka Olga, heute nacht gehe ich in den Wald und schieße ein Reh oder einen Hirsch. Wir werden einen Festbraten haben. Du sollst roten Wein und Wodka trinken, fröhlich sein mit mir, deinen anderen Verwandten, den Nachbarn und Freunden.
Der Wolfspope, bah, was für ein Unsinn! Man könnte glauben, Lenin und Marx hätten umsonst gelebt, wenn man dich sprechen hört. Babuschka, Babuschka, was hast du nur gelernt in den letzten fünfundsechzig Jahren?« Damit ging der Leutnant aus der Hütte, die von der Kalonka, der einfachen Gasbrennvorrichtung, trotz zugiger Fenster erwärmt wurde. Auf dem Herd kochte der Borscht. Die Großmutter rief hinter Kagunin her: »Sergej, um der Liebe der Mutter Gottes willen, geh nicht! Nicht bei Vollmond, der Wolfspope wird dich töten!« Kagunin hörte nicht. Wölfe kann ich erschießen, dachte er, denn er wollte mit der Kalaschnikow auf die Jagd gehen. Und Popen haben nichts mehr zu melden, diese Schmarotzer und Hurenböcke, Fresser und Prasser und Volksverdummer. Religion ist Opium für das Volk, und Hammer und Sichel haben das Kreuz abgelöst. Er ärgerte sich bloß, daß keiner mit ihm auf die Jagd gehen wollte. Den Dorf Vorsteher nannte er einen verkalkten Deppen, als er nicht mit dem Grund herausrücken wollte. »Das wollen wir doch mal sehen, ob man hier bei Vollmond jagen kann oder nicht!« fauchte Kagunin. Er fügte einige saftige russische Flüche hinzu, an denen diese Sprache reich war. »Ein Wolfspope soll im Wald sein, bei einer verrufenen alten Kapelle. Pah! - Wo ist das? - Genau da gehe ich hin. Ich werde Euch allen beweisen, wie blöd euer Aberglaube ist. Ich bringe ein Wildbret nach Hause. Wir feiern, aber das sage ich euch, dem Bezirkskommissar gebe ich einen Tip, daß er auf euren Aberglauben ein besonderes Auge hat und euch umerzieht. - Ihr Hinterwäldler! Man muß sich ja schämen, aus diesem Dorf zu stammen.« Wutschnaubend ging er dann in den Wald und stieg hoch in die Berge. Von den Dorfbewohnern hatte ihm auch noch einer eine Silberkugel andrehen wollen. Aber die hatte ihm der Leutnant Kagunin vor die Füße geworfen. Er war bei einem Panzerbataillon und befehligte Panzergrenadiere. Er war stählerne Panzerungetüme gewöhnt und schwere Geschütze, rauhen Kommandoton und militärisch-pragmatisches Denken. Und jetzt kamen sie ihm in Lubva mit Werwölfen und mit Popen, wovon nach seiner Ansicht die ersteren Ammenmärchen waren und die zweiten nach Sibirien ins Arbeitslager gehörten. Oder
beim Straßenbau durch die Tundra eingesetzt, damit sie einmal lernten, was ordentliche Arbeit und Fortschritt waren. Der Vollmond badete die rauhen Berge, mit Laub- und Nadelwäldern bestanden, in seinem Licht. Tiefschwarz waren die Schatten. Kagunin hatte sich umgezogen und trug derbe Kleidung und seine Marschstiefel. Er schleppte das KalaschnikowSturmgewehr, sein Messer, die Pistole und etliche Handgranaten mit. Zudem eine Taschenlampe und die Leuchtpistole in seinem Tornister. So fühlte er sich allem gewachsen. Als Wolfsgeheul ertönte, fürchtete er sich keineswegs. Die Biester sollten nur kommen! Kagunin stapfte durch den Wald. Die Wölfe schienen alles Wild vertrieben zu haben, was den Leutnant ärgerte. Aber dickköpfig, wie er war, gab er nicht auf. Gegen Mitternacht gelangte er zu einer hohen Felskanzel, unterhalb derer eine Schlucht begann. Am Ende dieser Schlucht sollte die verrufene Kapelle stehen, die angeblich nur bei Vollmond zu sehen war. Der Wolfspope Andrassow hielt dort dann Schwarze Messen. Der Leutnant zögerte, als er vor der Schlucht stand. Hier war der Wald licht. Es roch würzig, nach Harz und nach Humus. Kagunin erwog, umzukehren und ins Dorf zurückzumarschieren. Er mußte es nicht auf die Spitze treiben und zu der Wolfskapelle gehen, falls sie überhaupt existierte. Eine Beklemmung legte sich auf Kagunins Herz. Er spürte, als die Wölfe wieder heulten, das Übernatürliche und Unheimliche. Doch er wehrte sich gegen den Instinkt, der ihn warnte. Sein Vater hatte im Großen Vaterländischen Krieg tapfer gekämpft und einen hohen Orden erhalten. Von 1941 bis 1945 hatte dieser Krieg gedauert, vom Einmarsch der Deutschen bis zu deren Kapitulation. Kagunin schalt sich selbst einen Feigling. Er würde nie wieder guten Gewissens seine Uniform tragen können, wenn er sich jetzt nicht ermannte. Von allen Seiten heulten die Wölfe schaurig und klagend, als er durch die Schlucht marschierte. Zwischen den Bäumen zu beiden Seiten der Bergschlucht sah er Wolfsaugen leuchten. Kagunin fluchte derb. »Ha, Wolfsbrut, da habt ihr!« rief er und jagte einen Feuerstoß zu den Wölfen, die ihn umzingeln wollten.
»Wollt ihr noch ein paar Handgranaten als Nachspeise?« rief der Kuhne Leutnant barsch. »Euch werde ich es geben, ihr Biester!« Gejaul und Gewinsel ertönten. Die Wölfe hetzten davon. Kagunin lachte grimmig. Na also, dachte er. Man darf sich nur nicht ins Bockshorn jagen lassen. Er marschierte weiter, bog um eine Kurve, verließ die Schlucht und entdeckte unverhofft auf einem unbewaldeten kleinen Plateau eine Kapelle mit vergoldeten Zwiebeltürmen. Ein niedriger Knüppelzaun umgab sie. »Tschort poberi«, fluchte der Leutnant. »Verdammt noch mal! Wo gibt es das denn?« Vor der Kapelle, die düster und bedrohlich wirkte, saß eine uralte Hexe an einem Feuer und rührte in ihrem Topf. Auf ihrer Schulter hockte ein schwarzer Kater, der nur noch ein Auge hatte. Kagunin marschierte sofort zu ihr. »Na, Mütterchen«, sagte er. »Ist die Suppe fertig? Kochst du dir Bucheckern, oder ist es Borscht?« »Weder noch«, meinte die Alte und kicherte. »Dummheit und Arroganz koche ich, wie immer, wenn einer trotz aller Warnungen blind hierherkommt. - He, Allona, Dimitri, Oleg, wir haben Besuch.« Kagunin staunte, als sich die Tür der Kapelle öffnete und eine barbusige, blonde Schönheit, ein hinkender, grauer Wolf und ein bärtiger Mann mit einem langem Stab herauskamen. Letzerer trug eine härene Kutte. Er hatte einen Strick um den massigen Leib, an dem statt eines Rosenkranzes ein Kranz mit kunstvoll geschnitzten Wölfen hing. Der Stab glich dem eines Patriarchen der Ostkirche und hatte in dem spiralförmig gewundenen Griff einen Wolfskopf. »Na, Freundchen«, sagte der bärtige Pope, ein massiger Hüne, der fast drei Zentner auf die Waage brachte. »Was führt dich denn hierher? Willst du an meiner Wolfspredigt teilnehmen?« Der Massige war ungeheuer stark behaart. Seine Augen glühten und funkelten Kalinin an. Bei Lenins Schrei! dachte der Leutnant. Das sind üble Tricks, die hier angewendet werden, um abergläubische Menschen zu täuschen. Wer weiß, was dahintersteckt. Hier werde ich aufräumen müssen! Er legte das Schnellfeuergewehr an, um das Quartett vor sich in Schach zu halten. Hinter ihm im Wald hörte er Äste knacken. Er
wußte, daß Wölfe heranschlichen. Doch der tapfere Leutnant zagte und zitterte nicht. »Hände hoch!« rief er. »Ihr werdet euch gegenseitig fesseln und an ein Seil binden. Dann führe ich euch als Gefangene ab. - Was sind das für Umtriebe hier? Das soll die Abteilung für Innere Sicherheit untersuchen. - Du willst der Wolfspope sein, Dicker? Was treibst du hier allein mitten im Wald?« »Nun, ich feiere Schwarze Messen und predige den Wölfen. Manchmal haben wir hohen Besuch, nämlich vom Teufel. Ich bin ein guter Freund Rasputins gewesen. Wenn sie ihn nicht in die Newa geworfen hätten, wo ihn das fließende Wasser umbrachte, würde er immer noch leben. Normale Waffen vermochten ihn nicht zu töten. - Mich auch nicht.« »Das wollen wir doch mal sehen!« rief Kagunin. Er legte an, zielte auf die Schulter des Wolfspopen und schoß. Er sah, wie die Kugel einschlug. Andrassow zuckte nicht mal mit der Wimper. Es floß kein Blut. Die Wunde schloß sich sofort wieder. Genauso wie beim zweiten Schuß. Die alte Hexe blieb sitzen, rührte im Topf und kicherte in einer Tour. »Tollkirschen, Kröten, Molche, Asseln, Spinnen und Schlangeneier, Bilsenkraut und Alraunenwurzeln, das gibt ein feines Süpplein. - Will der Herr kosten?« Der einäugige Kater fauchte. Die Hexe spritzte Kagunin das stinkende, heiße Gebräu aus dem Kessel ins Gesicht. Er wich zurück. Die barbusige Blonde, der hinkende Wolf und der Wolfspope näherten sich ihm. Hinter sich hörte Kagunin hechelnde Wölfe. Er warf dem Wolfspopen die Kalaschnikow ins Gesicht und zerrte die Leuchtpistole aus dem Tornister. Sie war schon geladen. »Hundesohn!« rief der Leutnant und feuerte die Leuchtkugel auf den Wolfspopen ab. Sie traf ihn voll und verschwand. Rauch quoll aus Andrassows Mund, der Nase und den Ohren. Er blähte sich auf. Seine Augen funkelten rot. Er hatte das Schnellfeuergewehr aufgefangen und zerbrach es wie einen morschen Ast. Kagunin war nicht mehr ganz so zuversichtlich, zog aber seine Pistole und nestelte eine Handgranate vom Gürtel. Seine
Gedanken galten Frau und Tochter. Wenn er hier schon sterben mußte, dann wollte er seine Gegner mit in den Tod nehmen. Der Wolfspope spuckte Feuer! Kagunin schrie auf, als ihm Gesicht und Haare versengt wurden. Pistole und Handgranate wurden ihm von der barbusigen Hexe und dem grauen Wolf aus den Händen gerissen. Dann bissen sie zu. Der Wolfspope spuckte hohnlachend die Leuchtkugel aus, die ihm nicht das Geringste geschadet hatte. Sie raste im Zickzack hoch in den Himmel, explodierte und übergoß die umheimliche Kapelle sowie die gesamte Szenerie mit grellem Licht. Der Wolfspope verwandelte sich in eine massige, klotzige Werwolfsbestie. Knurrend sprang erKagunin an, entwaffnete ihn vollends und biß ihm erneut in die Hand. Der Leutnant schrie auf. Er schlug und trat zu. Noch immer wollte er kämpfen. Doch gegen den Werwolf vor ihm hatte er keine Chance. Er bezog fürchterliche Prügel. Nach einer Weile lag er stöhnend am Boden. »Hast du jetzt genug?« grollte der Wolfspope in seiner Werwolfsgestalt. Statt einer Antwort versuchte Kagunin, zu seiner Pistole zu kriechen, die am Boden lag. Er erreichte sie nicht. Ein behaarter, massiger Fuß stellte sich auf die Pistole. Ein Tritt warf ihn zurück. Dann wurde Kagunin Zeuge, wie der Wolfspope in Werwolfsgestalt Dutzende von Wölfen aus dem Wald herbeiheulte und ihnen fauchend und knurrend predigte. Aus einer uralten Zeit, in der es die mächtigen Reiche Wolferone und Vampyrodam gegeben hatte. Damals bevölkerten noch Saurier die Erde. Am Ende der Schwarzen Messe baute sich der Wolfspope wie ein Berg vor Kagunin auf, der noch immer am Boden lag. »Lykanthropus!« rief er. »Werwolf von meinem Blut! Du hast den magischen Keim in dir, mein Wölfchen. - Lauf, trage Allona. Sie liebt es, im Vollmond spazierenzureiten.« Der Wolfspope riß Kagunin hoch. Lachend sprang ihm die Hexe auf den Rücken. Er konnte sie nicht abschütteln. Sie hing dort wie eine Klette. Mit ihren spitzen Fingernägeln kratzte sie ihn und schlug ihn mit einer Gerte. Die Wölfe schnappten hechelnd nach den Beinen des Leutnants und trieben ihn an. Er spürte, wie ein fremder Wille von ihm Besitz ergriff. Er mußte
rennen, ob er wollte oder nicht. Er raste, die Hexe auf seinem Rücken, durch den Wald, verfolgt von den hechelnden, knurrenden Wölfen. Der Mond über ihm zeigte statt der sonst üblichen Konturen einen Wolfskopf. Kagunin keuchte. Sein Herz drohte zu zerspringen. Er spuckte Blut. Doch Allona, die Hexe, ließ nicht locker. Grausam trieb sie ihn an. Sie jagte ihn umher, bis der Morgen graute. Dorfbewohner aus Lubva fanden ihm am Morgen bewußtlos neben einem Feldweg im Graben. Sie schleppten ihn in das Dorf. Seine Kleider waren verdreckt und zerrissen. Er sah schrecklich aus. Durch seine Haare zog sich ein weißer Streifen, der am Vorabend noch nicht dagewesen war. An der linken Hand hatte er tiefe Bißwunden. Kagunin brauchte den Rest seines Urlaubs, um sich wieder zu erholen. Seine Verwandten und die Dorfbewohner mieden ihn abergläubisch. Die Großmutter weinte, wenn sie ihn sah. Doch keiner unternahm etwas gegen ihn, noch wurde er gefragt, was er in jener Nacht erlebt habe. Als sein Urlaub zu Ende ging, trat Leutnant Kagunin die lange Rückreise an. Zunächst mit einem Versorgungs-LKW zur nächstgrößeren Stadt. Von dort mit der Bahn bis zu einem Militärflughafen, wo er an Bord einer Antonow-Maschine nach Ost-Berlin flog. Nun hatte er es nicht mehr weit bis zu seiner Kaserne nach Eisenach. Leutnant Kagunin freute sich einerseits auf das Wiedersehen mit Frau und Tochter. Andererseits hatte er Angst davor. Er verdrängte, was er erlebt hatte. Doch die Angst saß ihm im Genick. Er spürte, er ahnte, daß sich etwas Fremdes und Böses in ihm eingenistet hatte. Es war der Keim der Lykanthropie, der beim nächsten Vollmond eine grausige Frucht treiben würde. Ein blutgieriger Werwolf war durchaus fähig, selbst Frau und Kind zu zerreißen.
* Bei der Gauck-Behörde in der Glinker Straße las ich von den
Greueltaten des Werwolfs Sergej Kagunin. Die KGB-Agenten hatten sich drastisch geäußert, und die langen Ohren, die StasiSpitzel, hatten sich dem Großen Bruder und seinen Organen anschließen müssen. Besonders interessierte ich mich für die Unterlagen, die mich betrafen. Danach war ich im Mai 1975 in Eisenach aufgetaucht und hatte Kontakt mit einem >Neue Welt<-Reporter namens Rudolf Oertzner gehabt. Besagter Oertzner hatte noch für andere DDRBlätter und Medien gearbeitet, die damals alle ziemlich systemkonform berichteten. Oertzner hatte bis zu dem Kontakt mit dem geheimnisvollen Hellmann als parteirichtlinientreu gegolten. Er war in seiner Eigenschaft als systemtreuer Berichterstatter auf die >Geheimsache Werwolf< angesetzt worden. Ich merkte mir Oertzners Adresse, die in der Akte stand, und betrachtete sein Foto. Er war zu dem Zeitpunkt einunddreißig gewesen, einsachtzig groß, mit dunkelblondem, leicht welligem Haar, das sich über der Stirn bereits deutlich lichtete. Wie er ausschaute, schien er mir ein Freund guten Essens und Trinkens gewesen zu sein. Wohl auch ein Freund der Frauen. Hellmann hatte, so schrieb die Stasi 1975, bei Oertzner entweder kapitalistische Faulstellen entdeckt oder ihn total umgedreht. Die beiden waren auf die Jagd nach dem Werwolf gegangen. Was sie dabei erreicht hatten, blieb ungewiß. Jedenfalls hatte das Wirken des Werwolfs Kagunin Anfang Juni 1975 schlagartig geendet. Ich fragte mich, ob ich diesen Werwolf damals zur Strecke gebracht hatte. Andererseits mußte er etwas mit der heutigen Zeit zu tun haben. Denn ohne sein Auftauchen im Jahr 1998 und seine dämonische Ausstrahlung konnte ich überhaupt nicht in seine Zeit reisen und ihm dort den Garaus machen. Also kam etwas auf mich zu: Kagunin würde sich in der Gegenwart zeigen. Mehrere Stasi-Mitarbeiter hatten 1975 ihren Senf zu den Vorfällen und zur Person jenes Hellmann gegeben. Hellmann sei, schrieb einer, sicher ein Deckname. Daß die Stasi das annahm, wo jeder einen Decknamen hatte, war mir klar. Der Westspion oder Westagent Hellmann war 1975 mit einem Teleobjektiv fotografiert worden, daher rührte das gestochen scharfe Schwarzweißbild. Er war fast gleichzeitig mit dem Werwolf
Kagunin spurlos verschwunden. Dabei und vorher mußte es dramatische Zwischenfälle gegeben haben. Stasi und KGB, die unheiligen Brüder, hatten ihn vergeblich gesucht. Oertzner hatte nach einem gewissen Vorfall einen Ausreiseantrag gestellt, dem blitzartig stattgegeben worden war. Eine Notiz des Stasi-Obersten für den Bezirk Eisenach bezeichnete den vormals linientreuen Reporter als Systemabweichler und Gefahr für die linientreue Allgemeinheit. Der Oberstleutnant empfahl, ihn abzuschieben. Das war schleunigst geschehen. Mit einem Koffer in der Hand hatte man Oertzner über die Grenze geschickt, ab in die BRD! Damit war dann die Akte geschlossen worden, zur Erleichterung der Eisenacher Stasi. In den Zeitungen war nichts von dem Werwolf veröffentlicht worden. Es wäre unkalkulierbar gewesen, einen heldenhaften Sowjetsoldaten in diesem Zusammenhang zu präsentieren. Ein Erfurter Professor und Gerichtspsychiater hatte eine bemerkenswerte Stellungnahme zu dem >Werwolf-Fall< geschrieben. Da hieß es: Im Sozialismus gibt es keine Werwölfe und dergleichen Ungeheuer. Das sind Ausgeburten der Phantasie imperialistischkapitalistischer Schreiberlinge, die ihre degenerierten Phantasmagorien (Trugbilder von Gespenstern) schildern. Zugleich Urängste, die der moderne Werktätige mit der Jugendweihe abgelegt hat. Sollte in der Deutschen Demokratischen Republik doch einmal ein Werwolf sein Unwesen treiben, kann es sich dabei nur um republikfeindliche, von den Kapitalisten gezüchtete Umtriebe handeln. Oder um eine krankhafte Entartung, wobei die Psychiatrie krasse Fälle kennt. Anschließend waren Fallbeispiele genannt, bei denen Menschen unter Schizophrenie und anderen Wahnformen gelitten und dadurch sogar ihr Äußeres verändert hatten. Das Sprechen mit fremder Stimme und sogar in Sprachen, die dem Kranken nicht hätten bekannt sein dürfen, wurde angeführt. Von einer Frau in Halle war die Rede, die jeweils wenn sie einen schizoiden Schub hatte, mit Männerstimme geflucht und gesprochen und sogar einen starken Bartwuchs entwickelt hatte. Die Erklärungen des Professors waren an den Haaren herbeigezogen. Er schrieb, daß im Sozialismus nicht sein konnte,
was nicht sein durfte. Zuletzt sah ich in der Akte ein Foto des Leutnants Kagunin, der als Werwolf von einem Heimaturlaub im Ural-Gebirge zurückgekehrt war. Es zeigte einen gutaussehenden, dunkelhaarigen Mann mit Schnurrbart. Er hatte ein hageres Gesicht und schaute unternehmungslustig drein. Hinten in der Akte fand ich noch ein kleines Foto von einer schönen Frau. Margot Oertzner, las ich ihren Namen. Schwester des Rudolf Oertzner. Produktionsleiterin bei Wartburg, Eisenach, ausgezeichnet als Heldin der Arbeit. Margot Oertzner war wohl sehr tüchtig gewesen. Ich schloß die Akte. Die beiden Behörden-Mitarbeiter schauten mich an. »Ist Ihnen etwas eingefallen, Lewzewski, der Jüngere.
Herr
Hellmann?«
fragte
Ich zuckte die Achseln. »Was sollte denn wohl? Da müssen Sie einen Parapsychologen fragen. Es soll Fälle geben, wo unentwickelte Foto-Negative von Menschen mit besonderen Fähigkeiten beeinflußt werden. Sie zeigen dann etwas ganz anderes als das, was fotografiert worden ist. Vielleicht haben Sie jemanden in der Zentrale, der sogar fertige Fotos und Schriftstücke mental verändern kann.« »Sie wollen uns wohl auf den Arm nehmen?« fragte Lewzewski. »Wir können aber gern einen Test vornehmen.« Er legte eine Klarsichthülle mit einem Papier auf den Tisch, auf dem deutlich Fingerspuren zu erkennen waren. Abdrücke waren die erkennungsdienstlich mit Druckerschwärze aufgenommenen Drucke der Fingerkuppen. Lewzewski forderte mich auf, meine Fingerabdrücke nehmen zu lassen, damit man sie mit den 1975 von der sichergestellten Spuren vergleichen konnte. Zunächst lehnte ich ab. Gab dem Drängen jedoch nach, um die Befragung, wie Kuhn sagte, abzurunden. Auf das Zauberwort >Bitte< hin stimmte ich zu. Meine Fingerabdrücke nahmen die beiden Behörden-Mitarbeiter rasch ab. Fünf Minuten später schon sahen wir von einem Dia-Projektor auf die Leinwand geworfen den Vergleich. Meine heutigen Fingerabdrucke stimmten hundertprozentig mit den 1975 von der
Stasi von Gläsern gesicherten überein. »Was sagen Sie jetzt?« fragte Kuhn. »Sie kommen doch hoffentlich nicht wieder mit der absurden Geschichte, daß jemand auf telepathischem Weg Ihre Fingerspuren in die Akte gebracht habe?« Das Papier mit den Fingerspuren hatten Kuhn und Lewzewski zuerst aus der Akte herausgenommen gehabt. Als Überraschungseffekt für mich aufgespart. »Was soll ich denn sagen?« fragte ich. »Ich stehe genauso vor einem Rätsel wie Sie, meine Herren. Wenn Sie es lösen, geben Sie mir bitte Bescheid.« Kuhn nahm das mit Fassung hin. Lewzewski jedoch regte sich auf. »Also, Herr Hellmann, Sie sind ja wohl eine sehr geheimnisumwitterte, um nicht zu sagen fragwürdige Erscheinung.« Er rasselte mir einiges herunter. »Ihre richtigen Eltern sind unbekannt, genauso der Ort Ihrer Geburt. Oder können Sie uns dazu etwas sagen?« Ich beugte mich über den Tisch. »Weil Sie es sind, will ich Ihnen etwas verraten. Aber nur, wenn Sie mir strengstes Stillschweigen versprechen.« Lewzewski gelobte es. Geheimnisvoll flüsterte ich ihm zu: »Ich bin ein unehelicher Sohn von Schalck-Golodkowski. Was glauben Sie denn, wer meinen BMW bezahlt? Wenn Sie wollen, werde ich bei meinem Alten mal ein Wort für Sie einlegen, damit er Ihr Gehalt etwas auffrischt.« Lewzewski regte sich wieder auf. Der Devisenbeschaffer der ehemaligen DDR war ihm natürlich bestens bekannt. Kuhn beschwichtigte seinen aufgebrachten jüngeren Kollegen wieder. »Sie müssen ruhiger werden«, sagte er und schaute ihn über den Rand seiner Lesebrille hinweg an. »Sonst erreichen Sie das Pensionsalter nicht.« »Beamte werden sowieso nicht beerdigt«, sagte ich. »Sie werden umgebettet.« »Ihr loses Mundwerk wird Ihnen noch mal gehörige Schwierigkeiten bereiten«, sagte der Behörden-Mitarbeiter Kuhn.
»In der DDR hätten Sie sich das nicht leisten können.« Da hatte ich schon genug Ärger mit dem Regime gehabt. Zahlreiche Kontroversen mit Lehrern, Parteifunktionären und sonstigen Autoritätspersonen fielen mir ein. Mich hatten in der DDR-Zeit zwei Dinge vor dem totalen Absturz - Jugendgefängnis und/oder Erziehungslager - gerettet: Einmal mein Adoptivater Ulrich Hellmann, der immer wieder ein Wort für mich eingelegt hatte. Zum andern, daß ich immer ein Sport-As gewesen war. Ein erstklassiger Zehnkämpfer im Sportkader, später, als Student, was allerdings nicht mehr in der DDR-Zeit gewesen war, Zehnkampfmeister. Mit etwas mehr Trainingsfleiß und weniger Weibergeschichten hätte ich Olympiateilnehmer werden können. Aber ich hatte nie eingesehen, weshalb ich asketisch nur für den Sport leben und am Ende noch Anabolika schlucken sollte. Der gesunde Hormonschub dank der holden Weiblichkeit hatte mir mehr bedeutet, leider aber auch Kondition gekostet. Ich bereute nichts. Nun verabschiedete ich mich von den beiden Mitarbeitern der Gauck-Behörde und bedauerte mit einem Grinsen, daß ich ihnen nicht weiterhelfen konnte. »Wenn Sie neue Erkenntnisse gewinnen«, sagte ich, »lassen Sie es mich bitte wissen. Die Lösung dieses Rätsels interessiert mich sehr.« Als ich die Tür hinter mir schloß, hörte ich noch, wie Lewzewski sagte: »Was für ein frecher Hund! Der hätte schon damals an den Richtigen geraten sollen« »Willst du wohl ruhig sein!« ermahnte ihn Kuhn. »Das kannst du doch hier nicht laut sagen.« Das Folgende bekam ich nicht mehr mit. Ich verließ das Gebäude, ging zur nächsten Bushaltestelle und fuhr zum Bahnhof. Mit dem Zug kehrte ich nach Weimar zurück. Mein BMW befand sich in der Werkstatt. Es hielt halt nichts ewig. Bisher hatte mir meine Tätigkeit als Träger des magischen Rings und Kämpfer gegen das Böse keine irdischen Reichtümer beschert. Ich mußte zusehen, wie ich über die Runden kann. Ich war sehr nachdenklich wegen dem, was ich bei der GauckBehörde erfahren hatte, und ich beschloß, schnellstmöglich nach Eisenach zu fahren, um dort Recherchen anzustellen. Wie es
aussah, würde ich bald eine Zeitreise ins Jahr 1975 unternehmen, in eine Zeit also, als es für den DDR-Sozialismus noch hoffnungsvoll ausgeschaut hatte und der Ährenkranz um Hammer und Sichel in voller Blüte stand. So etwas wie Nostalgie überkam mich. Obwohl ich ein gefährliches Abenteuer bestehen mußte, bei dem mein Leben gefährdet war, freute ich mich auf die Reise in die Vergangenheit.
* 1975 - Geschichte des Sergej Nikolajewitsch Kagunin Zunächst fiel nichts auf, als Leutnant Kagunin in die Kaserne zurückkehrte, seine Familie begrüßte und seinen Dienst wiederaufnahm. Der Kasernenkommandant teilte ihm mit, daß die Frühjahrsmanöver um drei Wochen verschoben worden waren. Sie fanden gemeinsam mit der Nationalarmee der DDR statt. Außerdem zeigte der Kommandant, ein Untersetzter Berufsoffizier mit schweren Gesichtszügen und unergründlichen asiatischen Augen, Kagunin die letzten Meldungen. »Es hat wieder Zwischenfälle an der deutsch-deutschen Grenze gegeben«, sagte der Kommandant in seinem Dienstzimmer, wo er hinter dem massiven Schreibtisch im schwenkbaren Ledersessel saß und eine Zigarette rauchte. »Zwei Tote, ein Schwerverletzter und drei Leichtverletzte allein in den letzten zwei Wochen. Mehrere Flüchtlinge wurden verhaftet und werden wegen Republikflucht und anderer Vergehen eingesperrt.« Zynisch fügte er hinzu: »Und das alles, weil sie um jeden Preis raus wollten aus dem Paradies der Arbeiter und Bauern und den Schutzwall gegen den Faschismus berannten.« Kagunin schwieg. Er hatte andere Sorgen. Seine Wunden an der linken Hand verheilten schlecht. Er trug noch immer ein paar Pflaster. Er hatte sich bereits in der UdSSR gegen Tollwut und Tetanus impfen und seine Wunde ärztlich versorgen lassen. Es war aber nicht die medizinische Seite, die ihn beunruhigte. Er spürte vielmehr, daß etwas Fremdes in seinen Körper, den Geist und die Seele eingedrungen war. Manchmal hatte er Visionen von frischem Blut, von einem
reglosen Körper, der im bleichen Licht des Vollmonds vor ihm lag. Und aus dem er das entfliehende Leben in sich aufnahm. Von der wilden Hetzjagd einer altertümlichen Kreatur durch nächtliche Wälder, von der gewaltigen Kraft, die in einem Werwolf wohnte und seinem Band an die Finsternis und das Böse. Der Leutnant sah den nächsten Vollmondnächten mit Bangen entgegen. Er mochte sich aber niemandem anvertrauen. Nicht mal mit seiner Frau sprach er darüber, was ihm im Ural-Gebirge passiert war. Wenn er Tatjana in die Arme nahm, war sie ihm fremd. Selbst wenn er mit ihr schlief, kam ihm das vor, als würde er als Fremder den Vorgang beobachten. Nur wenn er sich mit seiner kleinen Tochter beschäftigte, war alles wie früher bei ihm. Denn Soja liebte er sehr. »… hat es eine Schießerei gegeben«, hörte Kagunin seinen Kommandanten sagen. »Die von der NVA haben den Finger schnell am Drücker. Doch wir haben mit dem antifaschistischen Schutzwall nichts zu schaffen«, sagte der russische Kommandant. »Wir stehen hier als Bollwerk gegen die US-Imperialisten. Wenn die Rote Armee aus der DDR abzieht, wird diese sofort von den Amerikanern überrannt.« Davon war er fest überzeugt. Kagunin meinte, das mit dem Weichen würde ja wohl nie der Fall sein. Er verabschiedete sich bald. Mit schwerem Kopf suchte er seine Wohnung auf dem Kasernengelände auf, das von Mauern und Stacheldraht umgeben war. Von einer Bürgernähe der Roten Armee war hier nichts zu spüren. Am Tor standen Wachtposten, die jeden kontrollierten, der hier rein- und rausging. Es war militärisches Sperrgebiet, ostdeutsches Arbeitspersonal tätig war.
auf
dem
allerdings
Kagunins Frau stand in der Küche der Zweizimmerwohnung und kochte. Die Tochter spielte auf dem Spielplatz unten im Sandkasten. Tatjana konnte sie durch das Fenster vom dritten Stock aus sehen. Sie hoffte, bald eine Dienstwohnung in der Stadt zu erhalten, wo sie mehr Platz hatten. Sergej Kagunin stellte den Gasboiler an und duschte. Er wusch sich in letzter Zeit oft, was aber an seinem Allgemeinbefinden nicht änderte. In dieser Nacht war er Offizier vom Dienst. Ruhelos streifte er umher, kontrollierte die Posten und konnte keine fünf Minuten im Wachzimmer stillsitzen.
Es war Vollmond. Kagunin spürte, wie sich etwas in ihm mächtig aufbäumte. Er verließ die Wache. »Was ist los mit dem Leutnant?« fragte der Obersergeant, der in der Wachbaracke Innendienst hatte, einen Soldaten. »Er taumelt, aber er ist nicht betrunken.« »Irgendwas wird ihm nicht bekommen sein«, sagte der Soldat, der zwei Jahre Wehrpflicht ableistete. Er hatte stoppelkurz geschnittenes Haar und kriegte drei Rubel im Monat. Mit seiner Aussage über Leutnant Kagunin hatte er mehr recht, als er ahnte. Der Leutnant suchte die Toilette auf. Durchs hochgelegene Fenster fiel ihm silbriges Vollmondlicht ins Gesicht. Es juckte ihn am ganzen Körper. Er spürte den Drang, sich die Kleider vom Leib zu reißen und laut wie ein Wolf zu heulen. Er bezwang sich. Mit aller Macht kämpfte er gegen den finsteren Drang an. Ich will kein Werwolf sein! Ich will ein Mensch bleiben! Nein, nein, nein! hämmerte er sich immer wieder ein. Er wankte hinaus, am Fuhrpark vorbei, wo LKWs, Panzer und Panzerspähwagen standen, an Gebäuden vorbei, aus deren Fenstern Licht fiel. Drinnen unterhielten sich nichtsahnende Menschen. Kagunin ging ans Kasernentor. »Stoj - Steh!« rief ihn der Posten an. »Kto eto - Wer ist das?« »Leutnant Kagunin. Kennst du mich nicht mehr, Soldat? Nimm gefälligst Haltung an, wenn ich mit dir spreche!« »Der Leutnant. Aber ich verstehe nicht…« Der Wachtposten besann sich auf den militärischen Drill, der ihm in Fleisch und Blut übergegangen war. Er knallte die Hacken zusammen und schnarrte die Meldung herunter: Name, Dienstgrad, Funktion. Kagunin sah allerdings so aus, daß man staunen mußte. In seinem Gesicht sprossen Haarbüschel. Seine Uniform war an verschiedenen Stellen aufgeplatzt. Sein Körper war viel gröber, klotziger und massiger geworden. Er strotzte vor Muskeln, die mit denen eines Menschen kaum noch etwas gemeinsam hatten, Haarbüschel quollen hervor. Und Kagunin veränderte sich weiter. Ein Jeep fuhr von draußen ans Kasernentor. Zwei Soldaten saßen darin. Sie kehrten von einer Dienstfahrt zurück. Im Scheinwerferlicht sahen sie entsetzt,
wie Leutnant Kagunins Hände zu Pranken wurden. Das Gesicht verlor alle menschlichen Züge und wurde zu einer haarigen Bestienfratze, aus deren aufgerissenem Rachen ein heiseres Brüllen drang. Die Uniform hing nur noch in Fetzen und Streifen am Körper des Werwolfs, der schaurig den Mond anheulte und sich auf alle Viere niederließ. »Heilige Muttergottes von Kasachstan!« rief der Soldat am Tor, obwohl ihm derlei Ausdrücke streng verboten waren. »Das ist ja ein Ungeheuer!« »Schieß, Pjotr, sonst springt er dir an die Kehle!« rief der Soldat am Steuer des Jeeps und riß die Maschinenpistole vom Rücksitz. Sein Beifahrer, ein Untersergeant, saß vor Schreck gelähmt da. Mit zitternder Hand legte der Posten am Tor das Schnellfeuergewehr an. Er spürte, es ging um sein Leben. Noch bevor er abdrücken konnte, sprang ihm das Ungeheuer an die Kehle. Es geschah so schnell, daß dem Soldaten keine Chance zur Gegenwehr blieb. Der Werwolf tötete ihn mit ein paar Prankenschlägen und Bissen. Dann sprang er zum Jeep, gerade als der Fahrer die MPi hob. Auf brüllend und mit gewaltiger Kraft warf er den Jeep um. Die Maschinenpistole belferte in den Himmel, dem Vollmond entgegen. Der Beifahrer kroch unter dem Jeep hervor. Er hob die Pistole. Ein Tritt riß sie ihm aus der Hand. Dann sah der Untersergeant nur noch einen aufgerissenen Rachen in einem behaarten Gesicht, glühende Bestienaugen, und er spürte einen furchtbaren Schmerz. Im nächsten Moment war er tot. In der Kaserne heulte die Alarmsirene auf. Der Werwolf zögerte. Er wußte nicht, wohin er sollte. Die neue Existenz war ihm noch zu fremd. Zwei Kilometer entfernt sah er die Lichter von Eisenach. Links von ihm erstreckte sich das Kasernengelände, von dem er wußte, daß er dorthin nicht mehr gehörte. In der Nähe befand sich ein finsterer Wald. Bleich schien der Vollmond. Der Werwolf roch das aus dem Tank des umgestürzten Jeeps auslaufende Benzin. Eine Leitung war geborsten. Kagunin heulte schrecklich auf. Der Benzingestank beleidigte seine empfindliche Nase. Er zerfetzte mit seinen Pranken einen Jeepreifen, riß ihn weg und warf ihn weit fort.
Der Fahrer des Jeeps lag unter dem Fahrzeug und wagte sich nicht zu rühren. Er sah die behaarten Beine des Werwolfs und wußte, es war sein Tod, wenn ihn dieser bemerkte. Kagunin hätte ihn wohl gewittert. Doch der Benzingestank rettete dem Fahrer das Leben. Als auf dem Kasernengelände Rufe laut wurden und Soldaten herbeiliefen, rannte der Werwolf in den Wald. Der Fahrer lag unter dem Jeep eingeklemmt, konnte jedoch die Maschinenpistole in Anschlag bringen. Er zog durch. Der zweite Feuerstoß traf den Werwolf. Der Fahrer jagte das gesamte Magazin in das Ungeheuer. Er wollte seinen Augen nicht trauen, als der Werwolf ungerührt weiterrannte und im Wald verschwand. Kurz darauf, nachdem Kameraden den Fahrer befreit hatten, suchte man die Leiche des zum Werwolf gewordenen Leutnants. Sie wurde jedoch nicht gefunden. Nur wenige Tropfen schwarzen Bluts waren vergossen. Kagunin war entkommen. Suchtrupps fahndeten vergeblich nach ihm, allerdings nicht sehr sorgfältig, denn sie hatten alle Angst. Abergläubische Vorstellungen wurden vorgebracht, auch daß man einen Werwolf nur mit einer Silberkugel töten könnte. Silberkugeln standen ihnen natürlich nicht zur Verfügung. Tatjana Alexandrowa Kagunina brach zusammen, als sie hörte, was ihrem Mann widerfahren war. Der Kasernenkommandant Major Sewtuschenko stand vor einem erheblichen Problem, wie er sich verhalten sollte. Nach einigem Überlegen rief er beim KGB und dem NKWD an, den beiden Geheimdiensten für Äußere und Innere Angelegenheiten. Am Telefon fragte man ihn zunächst: »Sind Sie betrunken, Genosse?« »Ich wünschte, ich wäre es«, äußerte sich der Major. »Es ist leider die grausige Wahrheit. - Wie? Das weiß ich selbst, daß Werwölfe und Vampire im kommunistischen Weltbild keinen Platz haben. Aber der Werwolf weiß es nicht, oder er schert sich nicht darum. - Er ist da draußen. Er hat zwei meiner Soldaten umgebracht. - Dann wecken Sie meinetwegen den General, wenn Sie selbst nicht weiterwissen. Geben Sie Nachricht an die Zentrale nach Moskau, fragen Sie an, ob es Präzendenzfälle gibt. - Ich erwarte Anweisungen. Ich übernehme keine Verantwortung. Irgend jemand muß da Bescheid wissen. Wozu gibt es Gremien
und Sonderstäbe? - Wie, das ist ein militärisches Problem, die Armee soll es lösen? - Nein, das sehe ich anders. Es handelt sich um einen Sonderfall, nämlich um einen Werwolf. Das ist kein normaler Soldat mehr. - Ja, W-E-R-W-O-L-F. Von mir aus schickt ihn nach Sibirien, aber schafft ihn weg von hier. Ich weiß nicht, wie man ihn erledigen kann. Mit normaler Munition ist er nicht zu töten. - Genosse, es reicht jetzt. Geben Sie meine Meldung sofort weiter! - Dos-widanje. Wiedersehen.« Sewtuschenko legte auf und sank erschlagen in seinen Sessel zurück. Kagunin ist ein Werwolf geworden, ausgerechnet der, dachte er. Mir wäre es lieber, er wäre ins kapitalistische Ausland geflohen.
* In Weimar rief ich am Abend von meiner Wohnung in der Florian-Geyer-Straße aus meine Eltern und danach den KripoHauptkommissar Pit Langenbach an. Pit war mein bester Kumpel. Wir hatten in Weimar die Tage des Schreckens erlebt und gegen den Blutdruiden Dracomar gekämpft, den drei leichtsinnige junge Leute durch einen Teufelspakt mit Mephisto beschworen und das mit dem Leben bezahlt hatten. (Siehe Mark Hellmann Band 1). Pit und Tessa wußten, genau wie meine Eltern, über meine schicksalhafte Bestimmung und meinen Kampf gegen die Mächte der Finsternis Bescheid. Sie unterstützten mich dabei, so gut sie konnten. Ohne ihren Rückhalt wäre ich verloren gewesen. Weimar war ein historischer Boden, nicht nur was die klassische Dichtung betraf. Goethes Faust war hier entstanden. Im tausendjährigen Weimar traf manches zusammen, was Spuk und übernatürliche Ereignisse betraf. Ich war in Weimar verwurzelt, hatte hier gute Freunde und kehrte, wenn ich mich außerhalb aufhielt, immer wieder gern in meine Heimatstadt zurück. Klassisches und Modernes mischten sich dort und ergaben ein Flair, wie es einmalig war auf der Welt. »Mark Nikolaus, wie war es bei Joachim?« fragte mich Pit Langenbach.
Joachim war der Vorname des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Als Abgeordneter der Volkskammer für das Bündnis 90 war er 1990 Leiter des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des MfS und AfNS (DDR-Ministerium für Staatssicherheit und Amt für Nationale Sicherheit, Nachfolger des MfS) gewesen. Am 3. 10. 1990 dann zum obersten Leiter der Behörde berufen, die meist nach ihm benannt wird. Sie diente und dient der Öffnung der Stasi-Akten für die politische, juristische und historische Aufarbeitung. Ich hatte die Ehre, dabei als Rätselfall miterfaßt zu werden. Die Spötteleien über meinen zweiten Vornamen Nikolaus wärmte Pit Langenbach regelmäßig auf. Ich hatte mich bei meinen Adoptiveltern früher bereits über meinen zweiten Vornamen beklagt. Mein Vater, ich nannte ihn meist Ulrich, hatte mir daraufhin die schöne Antwort gegeben: »Sei froh, daß wir dich nicht Nero oder Nebukadnezar genannt haben.« Den Anfangsbuchstaben N leiteten sie von den Initialen M.N. ab, die sich auf meinem Ring befanden. Ich berichtete Pit, was sich zugetragen hatte. »Was hast du jetzt vor?« fragte er. »Gleich morgen früh fahre ich nach Eisenach und recherchiere vor Ort, was 1975 geschah«, sagte ich. »Mit dem Archiv der größten Tageszeitung fange ich an.« Ich arbeitete immer noch gelegentlich als Reporter, besaß einen Presseausweis und hatte gute Verbindungen sowie einen guten Namen in der Branche. Pit sagte, ich sollte ihn auf dem laufenden halten und mich bei ihm melden, wenn ich Hilfe brauchte. Anschließend telefonierte ich mit meiner Freundin Tessa Hayden, mit der ich eine offene Beziehung hatte. Sie besuchte zur Zeit ihre Schwester, die auf der Ostseeinsel Usedom wohnte. Tessa schickte mir heiße Küsse durch den Hörer und gurrte, ich sollte gut auf mich aufpassen, damit wir uns gesund wiedersahen. Ich schlief in dieser Nacht mal allein in meinem Bett. Die in meiner Wohnung bei dem Kampf gegen die Spinnenfrau entstandenen Schäden (Siehe MH 7) waren beseitigt worden, was eine schöne Stange Geld gekostet hatte.
Am ändern Morgen holte ich meinen BMW in der Werkstatt ab, bezahlte die Rechnung und düste sofort die paar Kilometer nach Eisenach. Von weitem schon sah ich die Wartburg über der Stadt, wo von Mai 1521 bis März 1522 Martin Luther als Junker Jörg getarnt Zuflucht gefunden und in nur zehn Wochen das Neue Testament aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzt hatte. Ich parkte bei dem Verlagshaus in der Innenstadt und suchte sofort die Zeitungsredaktion auf. Der Chefredakteur, an den ich geriet, erwies sich als umgänglich und gewährte seinem Kollegen sofort Zutritt zu dem Archiv. Er schaute mich seltsam an. »Soso, für diese alte Geschichte interessieren Sie sich also«, sagte er. »Was bringt Sie denn nach dreiundzwanzig Jahren darauf?« »Ich interessiere mich für ausgefallene und geheimnisvolle Vorfälle«, antwortete ich ausweichend. »Vielleicht schreibe ich mal ein Buch darüber.« »Na, wenn Sie die Zeit dazu haben. Viel Erfolg, wünsche ich.« »Sind Sie denn über den Werwolf-Fall informiert?« fragte ich den freundlichen Chefredakteur. »Haben Sie damals schon in Eisenach oder in der Umgebung gewohnt und davon etwas mitbekommen?« »Ich weiß nur am Rand über den Fall Bescheid«, wich er mir aus. »Nein, ich bin nicht hier aus der Gegend. Vielleicht finden Sie jemanden, der damals schon hier gewohnt hat und Ihnen weiterhelfen kann.« Er griff zum Telefon und gab mir damit zu verstehen, daß die Unterredung beendet sei. Ich hatte das Gefühl, daß er mir etwas verschwieg. Sowie ich sein Büro verlassen hatte, tippte er eine hausinterne Kurzwahl ein, was ich nicht mitkriegte. »Rudi?« fragte er »Kannst du mal rüberkommen? Da ist einer, der sich für deine Vergangenheit interessiert. - Ja, wegen dem Werwolf von Eisenach, von dem du mir mal im Vertrauen erzählt hast.« Damit legte er auf. Ich fuhr mit dem Fahrstuhl ins Archiv im Keller. Das System hier war nicht anders als beim >Weimarer Tagblatt< und anderen Zeitungen, in deren Archiven ich schon recherchiert hatte. Der Werwolf-Fall war nicht im Computer
registriert, weshalb, wußte ich nicht. »Da müssen Sie suchen, junger Mann«, antwortete der Archivar auf meine Frage. »Nee, ich kann Ihnen nicht helfen. Da könnte ja jeder kommen.« Ein Sachse war das - mit denen verstand ich mich immer besonders gut. Die Sachsen sind schon seit dem Herzog Widukind, der sich mit Karl dem Großen gekabbelt hatte, ein Sonderfall. Ich hatte Völkerkunde, Geschichte und Vorgeschichte studiert und wußte da gut Bescheid. Ich fing also an, in den vergilbten Zeitungen aus der DDR-Zeit zu forschen, die in den hinteren Reihen des Archivs zu finden waren. Es war interessant, was mir da unter die Augen kam. 1974, wo ich zunächst hineingeriet, war der DDR-Spion Guilleaume das beherrschende Thema. In den DDR-Blättern wurde Guilleaume zum Staatshelden hochstilisiert. Wegen der nach ihm benannten Affäre war der westdeutsche Kanzler zurückgetreten. In der Zeitung, die ich durchblätterte, las ich Schreckliches über die maroden Zustände in der BRD und den drohenden Kapitalismus und Imperialismus. Zum Glück, konnte man lesen, bildeten die Mauer und die hermetisch abgeriegelte Grenze einen Schutzwall dagegen, so daß die Bürger der DDR vor den üblen Einflüssen und Feindagenten geschützt waren. Auch wurden die neuen FünfJahres-Pläne vorgestellt und äußerst Positives über das sozialistische System und seine Fortschritte berichtet. In der Honecker-Ära, die seit 1971 währte, machte sich viel Optimismus breit und wurde in den Medien entsprechend dargestellt. Ich las Produktionszahlen des Wartburg-Automobilwerks und erfuhr, daß ein Werktätiger, so er es bezahlen konnte, nur noch sieben Jahre auf sein Auto zu warten brauchte. In der BRD und im kapitalistischen Ausland, hieß es, häuften sich die Arbeitslosenzahlen, und dort könnte kaum einer ein Auto haben. Papier war schon immer geduldig gewesen, besonders und auch in der DDR. Nach dem kurzen Ausflug in die jüngere Zeitgeschichte wollte ich mit meinen Werwolfrecherchen beginnen. Da trat jemand hinter den Lesetisch, an dem ich saß. Automatisch schaute ich auf meinen Siegelring, der dämonische Aktivitäten anzeigte. Er leuchtete nicht, und er prickelte nicht. Ein endgültiger Beweis,
daß ich keinen Dämon vor mir hatte, war das allerdings nicht. Starke Dämonen konnten die automatische Warnung des Rings außer Kraft setzen. Vor mir stand ein kräftig gebauter Mann um die Fünfzig, hemdsärmelig und mit zerbeulter Designerhose. Er war fast so groß wie ich und hatte eine gesunde Gesichtsfarbe. Sein Schädeldach glänzte kahl. Das dunkelblonde Haarkränzchen trug er ziemlich lang. In seinem Gesicht fielen die kräftige Höckernase und das Grübchen im Kinn besonders auf. Wie er aussah, hielt ich ihn für einen hart arbeitenden und erfolgreichen Mann in gehobener Position. Die teuren Schuhe und die Schweizer Markenuhr verrieten das deutlich. Ich hatte gelernt, auf solche Details zu achten und war recht gut darin. Er starrte mich an wie ein Gespenst. »Mark Hellmann!« stöhnte er. »Du bist es, wie du leibst und lebst. Aber - wie ist das möglich? Es ist dreiundzwanzig Jahre her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Und du hast dich in dieser Zeit überhaupt nicht verändert.« Jetzt erkannte ich ihn endlich. Ich hatte sein Foto am Vortag bei der Gauck-Behörde in Berlin in der Stasi-Akte >Werwolf< gesehen. Es war Rudolf Oertzner, mit dem ich 1975 in Eisenach Kontakt gehabt hatte. Seitdem hatte er mich logischerweise nicht gesehen. Damals hatte ich ihm nicht verraten, daß ich ein Zeitreisender war. Ich wollte kein Aufsehen haben. Also stand ich auf und gab ihm die Hand. »Hallo, Rudi! Schön, dich wiederzusehen. Wir haben allerhand zusammen erlebt, was?« »Ja.« Seine Augen waren weit aufgerissen. Plötzlich fiel er mir um den Hals und umarmte mich voller Rührung. »Mark, alter Junge. Endlich sehe ich dich wieder. Margot und ich haben uns immer gefragt, was wohl aus dir geworden ist. Du warst plötzlich spurlos verschwunden. - Ich weiß nicht, ob du es weißt. Aber ich bin damals abgeschoben worden. Margot ist in der DDR geblieben. Du weißt ja, wie ehrgeizig sie immer gewesen ist, und was für eine Top-Position sie schon '75 bei Wartburg hatte. Doktor-Ingenieur, Stellvertreterin des Leiters der Abteilung Motorenbau, Werkssprecherin und Betriebsratsvorsitzende. - Jetzt
arbeitet sie in Leipzig und ist Betriebsleiterin einer Traktorenbaufirma. Wenige Monate nachdem du verschwandest, hat sie das Kind bekommen. Einen Jungen, Dieter heißt er. Er ist heute zweiundzwanzig und studiert Elektronik an der Berliner Universität. - Die Trennung von dir, der plötzliche Abschied, daß du niemals ein Wort von dir hören ließest, ist Margot sehr nahe gegangen. Damals war sie nahe daran, sich deswegen umzubringen. Ich bin im Westen gewesen, konnte nicht zu ihr und ihr auch nicht helfen. - Was hast du dir dabei eigentlich gedacht, Mark?« Oertzner schaute mich wütend an. Die Wiedersehensfreude war verflogen. Wie sollte ich ihm etwas erklären? Ich hatte überhaupt keine Ahnung, wer jene Margot war. Ich fragte ihn aber lieber nicht. Denn ich hatte den Eindruck, er hätte mich dann ins Gesicht geschlagen, ganz egal, daß ich gut zwanzig Jahre jünger und viel stärker war als er. »Es sind besondere Umstände gewesen«, antwortete ich. »Rudi, ich konnte nicht anders handeln, glaube es mir. Wir müssen irgendwohin gehen, wo wir uns in Ruhe unterhalten können. Dann erzähle ich dir alles.« »Das solltest du auch«, antwortete Oertzner förmlich, »und dir vor allem eine recht gute Geschichte einfallen lassen. Wir haben uns die größten Sorgen um dich gemacht. Wir fürchteten nämlich, du seist von den Mächten der Finsternis umgebracht worden. Oder vom Werwolf getötet. Oder die Stasi hätte dich einkassiert und klammheimlich verschwinden lassen. Oder du wärst vom KGB nach Rußland verfrachtet worden. - Es gab damals viele Möglichkeiten, wie ein Mensch spurlos verschwinden konnte.« »Die gibt es heute noch«, antwortete ich. Ich grinste dünn. »Was wäre denn schlimmer gewesen, wenn mich Mephisto erwischt hätte oder die Stasi oder der KGB?« »Du hast immer noch deinen Galgenhumor«, sagte Oertzner. »Aber wo warst du die ganze Zeit? Wo hast du die dreiundzwanzig Jahre lang gesteckt? Warum hast du uns nie eine Nachricht zukommen lassen? Spätestens nach der Wende hättest du leicht nach Eisenach fahren und dich umtun können. - Und warum bist du, wie du aussiehst, keinen Tag älter geworden?« Er überlegte. »Oder bist du vielleicht der Sohn von dem Mark Hellmann, den
ich kannte? Dann würdest du deinem Vater ähnlich sehen wie ein Zwillingsbruder. Sogar die Frisur und die Augenfarbe sind gleich.« »Ich bin der Mark Hellmann, mit dem du damals Kontakt hattest«, antwortete ich. »Aber ich sagte gerade, hier können wir nicht darüber sprechen. - Ich recherchiere wegen Kagunin, dem Werwolf.« Oertzner lachte auf, so fassungslos war er. »Ich glaube es nicht. Genauso hast du 1975 zu mir gesprochen, als du mitten in der Nacht an meine Tür klopftest. Stellst du dich immer so vor?« »Nur bei dir, Rudi. Wie ist es dir in den Jahren ergangen? Was bringt dich plötzlich hierher?« »Ich will die zweite Frage zuerst beantworten. Der Chefredakteur hat mich angerufen. Ich bin jetzt Vertriebsleiter bei dieser Zeitung, für die ich bis zum Frühsommer '75 als Reporter und damals schon stellvertretender Redaktionsleiter gearbeitet habe. - Also, die Stasi schob mich damals, nach der Werwolfgeschichte, über die Grenze ab. Ich bin im Westen zu einem großen Boulevardblatt gegangen.« Jetzt grinste er dünn. »Von dieser Zeitung sagte man, daß das Blut heruntertropfen würde, wenn man sie schief hielte. Trotzdem oder gerade deshalb hatte sie einen Riesenerfolg. - Nun, dort habe ich mich weiterentwickelt, obwohl es zunächst natürlich eine Riesenumstellung für mich war. Der DDR-Journalismus ist gegen den in der BRD wie ein lauwarmes Badewässerchen gegen konzentrierte Salzsäure gewesen. Ich machte im Westen Karriere. Vom Außen ging ich dann in den Innendienst, zum Vertrieb. Nach ein paar Jahren durfte ich auch wieder mit Margot, meiner Schwester, Kontakt haben. Wir haben uns vor der Wende zweimal in West-Berlin getroffen. Ich bin jedesmal rübergeflogen, über die DDR-Autobahn oder mit dem Zug durch die DDR traute ich mich nicht. Ich hatte Angst, daß mich die Vopos wegen der alten Geschichten und des Republikverweises einkassieren würden. Dann, nach der Wende, zog es mich in die alte Heimat. - Ja, und jetzt bin ich Vertriebsleiter des Blatts, in dessen Archiv du stehst.« »Gratuliere. Du bist schon immer ein pfiffiger Bursche gewesen. Hast du Familie?«
Oertzner seufzte. »Ich bin im Westen geschieden worden. Dort leben zwei Jungs von mir, dreizehn und vierzehn Jahre alt. Jetzt bin ich wieder Jung- oder vielmehr Altgeselle, arbeite viel und vernasche ab und zu mal eine Volontärin, wenn mir der Job die Zeit dazu läßt.« Er zwinkerte mir zu. Obwohl ich Rudi Oertzner in der Vergangenheit kennenlernte, faßte ich sofort Vertrauen zu ihm. Mir war, was sich rationell nicht erklären ließ, als ob wir schon sehr viel zusammen erlebt hätten. Rudi war ein Typ, mit dem man Pferde stehlen konnte. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch. Wegen seiner Schwester war mir Rudi noch gram, doch er gestand mir zu, wie ich bereits merkte, daß ich gute Gründe für mein Verhalten gehabt hatte. Natürlich brannte er darauf, sie zu erfahren. Wir beschlossen, den nahen Ratskeller aufzusuchen, wo wir uns in gediegener Atmosphäre zwanglos unterhalten konnten. Rudi Oertzner wußte mehr über die Werwolf-Geschichte, als ich dem Zeitungsarchiv je entnehmen konnte. »Klar habe ich mich sofort wieder auf diese Sache gestürzt, als ich nach Eisenach zurückgekehrt bin«, erklärte mir Rudi, als wir das Archiv zusammen verließen. Er wollte sich für ein paar Stunden frei nehmen. »Das habe ich nie aus den Augen verloren. Du hast den Werwolf damals erwischt. Jedenfalls ist er nie wieder aufgetaucht. - Kagunins Frau und seine Tochter leben übrigens noch hier in Eisenach. Tatjana Kagunina heiratete nach dem Verschwinden ihres Mannes den SED-Funktionär Lorbach. Propaganda-Lorbach, wie wir ihn hinter seinem Rücken alle nannten, auch die Große Klappe von Moskau genannt. - Frag mich nicht, weshalb sie gerade auf ihn reinfiel. Daß sie die Frau eines Werwolfs gewesen war, wurde nie offiziell, trotzdem wußte es jeder. In die UdSSR wollte sie nicht mehr zurück.« »Was treibt der Ex-SED-Funktionär jetzt denn so?« fragte ich. »Und wie ernährt er Tatjana?« »Verwitwete Tatjana Kagunina. Sergej Kagunin wurde für tot erklärt. Der Lorbach ist schon wieder obenauf. Als er bei der Wende spitzkriegte, wie die Sache lief, hat er sofort die Seiten gewechselt. Ein Wendehals ersten Ranges. Dank seiner alten Seilschaft ist er heute Fabrikant und wohnt in einer Villa. Wenn du ihn heute fragst, ist er schon seit vielen Jahren ein erklärter
Gegner des Sozialismus gewesen. Er kann dir sogar schriftlich geben, wem er in der DDR-Zeit alles gegen die Stasi half.« »Das glaube ich, daß er das schriftlich hat. Was da geschrieben steht, glaube ich jedoch nicht. Wir sollten Tatjana und ihre Tochter - wie heißt sie noch?« »Soja.« »Soja mal aufsuchen.« »Ja, aber erst nachdem wir uns unterhalten haben. Und dann entweder an einem neutralen Ort oder in seiner Villa, aber nur dann, wenn Lorbach nicht da ist. Mich mag er nämlich nicht. Er würde ja gern wieder in die Politik gehen, aber dem habe ich durch meine diversen Kontakte mit Medienleuten einen Riegel vorgeschoben. Ich habe mir auch mal die Freiheit genommen, bei einer anderen Zeitung über seine Laufbahn in der Ex-DDR zu berichten, und das las sich komplett anders, als er es heute darstellt.« »Was hatte das für Folgen?« »Für ihn, daß er aus der Politik raus ist. Für mich, daß ich eine Weile anonyme Anrufe mit Drohungen erhielt. Der Verleumdungsprozeß, den er gegen mich anstrengte, endete schon in der ersten Instanz mit einem Sieg für mich. Lorbach wußte sehr wohl, weshalb er nicht in die Revision ging.« »Hatten wir '75 viel Kontakt mit ihm?« fragte ich. Oertzner schaute mich überrascht an. »Weißt du das nicht mehr? Er hat mich verpfiffen, und dich auch. Er sorgte damals dafür, daß mein Privattelefon abgehört wurde. Er hat der Stasi viele gemeldet und ans Messer geliefert. - Aber gehen wir erst mal zu Tisch.« Auf dem Weg zum Ratskeller hatte ich einen Gedanken. Rudi Oertzner hatte davon gesprochen, daß seine hochbegabte Schwester Margot, mit der ich '75 zweifellos ein Verhältnis gehabt hatte, einige Monate nach meinem Verschwinden ein Kind bekommen hätte. Konnte es sein, daß ich in den Neuen Bundesländern einen zweiundzwanzigjährigen Sohn hatte, also sechs Jahre jünger, als ich selbst war? Einen Sohn, den ich 1975 bei einer Zeitreise in die damalige DDR gezeugt hatte?
* Wir waren gerade zum Ratskeller unterwegs, als Rudi Oertzners Handy klingelte. Er meldete sich. »Hallo, Tatjana«, sagte er dann. »Schön, dich mal wieder zu hören. -Was ist passiert? Du hast Sergej gesehen? Deinen ersten Mann? Aber das kann doch nicht sein. Bist du ganz sicher?« Was Oertzner erfuhr, bekam ich nicht mit. Doch sein Gesicht war eine Studie zunächst äußerster Überraschung und dann des Schreckens. »Wir kommen sofort«, sagte er dann. »Ja - wir. Ein guter Freund von früher ist bei mir. Erschrick nicht, wenn du ihn siehst. Ist Edgar zu Hause? Okay. Ruhe bewahren, wir sind schon unterwegs.« Oertzner schob die Antenne ein und steckte das Handy weg. Wir eilten im Laufschritt zu meinem Wagen, der beim Hotel in der Nähe geparkt war. »Das war die Kagunina«, sagte Rudi Oertzner unterwegs und nannte sie immer noch mit ihren alten Namen. »Sie hat Sergej nie vergessen. Er ist ihre große Liebe gewesen. Deshalb begreife ich nicht, wie sie den Widerling Lorbach heiraten konnte.« »Frauen sehen das anders«, antwortete ich. »Vielleicht deshalb, weil sie Schutz für sich und ihr Kind brauchte.« Die Tochter des Werwolfs, schoß es mir durch den Kopf. »Sie hat Kagunin gesehen?« »Ja. Im Garten vor ihrer Villa. Ihr Mann ist zum Glück nicht zuhause, sonst würde er mich gleich hochkant hinausschmeißen.« Wir erreichten die Seitengasse, wo mein BMW stand, stiegen ein und fuhren los. Rudi Oertzner lotste mich aus dem Zentrum hinaus in das noble Villenviertel. Ich war alarmiert und hoffte, daß sich Tatjana Lorbach getäuscht hatte. Doch ahnte ich schon, daß das nicht der Fall war. »Sie sagte mir, sie hätte Sergej Kagunin ganz deutlich gesehen«, teilte mir Oertzner mit. »In seiner menschlichen Gestalt, genauso, wie sie ihn in der Erinnerung hatte.« Dann bin ich wenigstens nicht der einzige, der genauso aussieht wie vor dreiundzwanzig Jahren, dachte ich. Die Sache wurde
immer rätselhafter. Außer mir kannte ich nur noch einen, der Zeitreisen unternehmen konnte. Das war Mephisto, mein Erzfeind. Bevor ich mir weiter den Kopf zerbrach und Theorien aufstellte, die dann doch keinen Bestand hatten, wollte ich mich lieber vor Ort umsehen und mit Tatjana Lorbach sprechen. Im Villenviertel herrschte wenig Verkehr. Hier standen teils noch die Klinkerhäuschen der DDR-Privilegierten, die zum größten Teil Funktionäre gewesen waren. Im Sozialismus waren zwar alle gleich gewesen, doch einige davon gleicher. In dem Zustand wie zur Zeit der Wende befanden sich nur noch wenige Häuser. Es war viel abgerissen, neu gebaut, umgebaut und modernisiert worden. Große Hecken, Zäune oder Mauern friedeten die Grundstücke ein. Alarmanlagen und Flutlichtscheinwerfer sicherten viele Villen. »Da vorn ist es«, sagte Oertzner. Ich stoppte, wir stiegen aus. EPR stand über der Klingelleiste. Das Grundstück war groß, hervorragend gesichert, hatte einen großen, schon parkähnlichen Garten und lag am Hang. Beste Lage, konnte man sagen. In dieser Straße wohnten unter anderem Manager des Autokonzerns, der Wartburg übernommen und seine veralteten Fertigungsanlagen seit der Wende zu modernen Bandstraßen umgebaut hatte. Computergesteuert und vollautomatisiert, was eine Menge Arbeitsplätze gekostet hatte. Aber auch die Tatsache, daß viele Mitbürger seit der Wende ausländische Fahrzeuge bevorzugten, kostete im Inland viele, viele Arbeitsplätze. Wir brauchten nicht zu läuten. Vom Haus aus hatte man uns bereits über die Videokamera am Tor bemerkt. Der Toröffner summte. Wir liefen einen mit Steinplatten belegten Weg entlang. Die Villa war nach der Wende im Atriumstil erbaut worden, flach, mit zwei Seitenflügeln und einem Vorbau, mit großer Terrasse und Swimmingpool, zweistöckiger Doppelgarage und Carport. Das Grundstück war sicherlich von einem Landschaftsarchitekten angelegt worden und sehr gepflegt. Hier roch alles nach Geld und Erfolg. Woher er rührte, stand auf einem anderen Blatt. Der Wendehals Lorbach hatte sich ohne Zweifel in die für ihn richtige Richtung gedreht. Noch
bevor
wir
das
flache
Haus
mit
Walmdach
und
ausgebautem Untergeschoß erreichten, wurde die kunstvolle Haustür geöffnet. Zwei Frauen traten heraus, die ohne Zweifel Mutter und Tochter waren. Beide waren teuer und modisch gekleidet, dunkelhaarig und sehr apart. Die Mutter war siebenundvierzig, die Tochter fünfundzwanzig. Tatjana Lorbach, verwitwete Kagunina, trug die Haare mittellang und gewellt. Soja, die Tochter, hatte eine gemäßigte Punkerfrisur und prunkte mit einem schwarzen Lederanzug, der eng wie eine zweite Haut saß. Lippen und Fingernägel hatte sie dunkellila angemalt, beziehungsweise lackiert. Mein Herz machte einen Sprung, als ich Soja Kagunina sah, wie sie immer noch hieß. Sie war bildschön und sexy, was mir sofort in die Augen stach. Zwei Jahre alt ist sie damals gewesen, dachte ich. Sollte ich diese Rassefrau als zweijähriges Mädel auf meinen Knien gewiegt haben? Tatjana, die Mutter, sah mich, faßte sich ans Herz und erstarrte. »Mark Hellmann!« rief Tatjana. »Das ist doch nicht möglich. Sie leben? Ich dachte, Sergej hätte sie damals umgebracht. - Sie sind, genauso wie er, keinen Tag älter geworden.« Es war zuviel für sie. Sie brach ohnmächtig zusammen. Soja fing sie auf. Wir trugen die Dame im Cocktailkleid in die Halle der Villa, die teuer und geschmackvoll eingerichtet war. Der Hausherr mußte sich jeden Tag, wenn er erwachte, wie Graf Koks vorkommen und dem Gott Mammon danken, daß er es so gut mit ihm gemeint hatte und die bescheidenere sozialistische Ära vorbei war. Wir legten Tatjana auf die helle Ledercouch. Soja holte Salmiakgeist, ein bewährtes Hausmittel, und hielt ihrer Mutter den Stöpsel des Flakons unter die Nase. Tatjana nieste und schlug sofort die Augen auf. Einen Moment schaute sie sich verwundert um. Dann wußte sie wieder alles. »Mark Hellmann«, sagte sie. »Sie müssen uns helfen. 1975 sind Sie bereits meine letzte Hoffnung gewesen. Dann waren Sie plötzlich verschwunden, und…« Sie sprach nicht weiter. Was hätte sie auch über ihre Eheschließung mit dem SED-Funktionär Lorbach sagen sollen? Ich ergriff ihre Hände.
»Es wird alles gut, Tatjana«, sagte ich. »Fragen Sie nicht, alle Rätsel werden sich lösen, wenn die Zeit dafür reif ist. - Wann und wo haben Sie Ihren früheren Mann gesehen? Hat ihn noch jemand erblickt?« Tatjana, eine schöne, reife Frau, schüttelte den Kopf. Ich entdeckte Melancholie und einen tiefen Kummer in ihren Augen. Für das Leben in Luxus, das sie mit ihrem zweiten Mann führte, hatte sie einen hohen Preis bezahlt und bezahlte ihn noch. Ich glaubte nicht, daß materialistische Erwägungen der Hauptgrund dafür waren, weshalb sie damals Lorbach ehelichte und bei ihm blieb. Dafür mußte sie andere Gründe gehabt haben. »Keiner sah Sergej, außer mir«, sagte sie. »Es war vor einer knappen halben Stunde. Ich schaute in den Garten. Etwas Fremdes lenkte meinen Blick. Dann sah ich Sergej. Wir schauten uns in die Augen. Trotz allem, was er vor dreiundzwanzig Jahren getan hat, hatte ich im ersten Moment keine Angst vor ihm. Ich spürte nur Freude. Ich öffnete die Terrassentür und lief hinaus.«
* 1998 - Geschichte des Sergej Nikolajewisch Kagunin »Geh in die Zukunft!« brüllte die Teufelsfratze den sterbenden Werwolf an. »Dein Wunsch ist erfüllt. Vollende dein Werk!« Der übel zugerichteten Bestie stach eine feurige Lanze ins Gehirn. Die Teufelsfratze mit den rotglühenden Augen verschwand. Der Werwolf stürzte durch Zeit und Raum, hörte Sphärenklänge und sah wirbelnde Spektralfarben, vorbeirasende Spiralnebel, ferne Galaxien und wallende Schleiernebel und vom menschlichen Auge noch nie gesehene Farben. Ein Werwolf schaute in die Ewigkeit und erkannte über sich strahlendes Licht. Unter ihm klaffte der finstere Abgrund mit den schrecklichen Kreaturen der Finsternis, waren die Sieben Kreise der Hölle mit all ihren Teufeln, Dämonen und Unwesen. Dann wirbelte es den Werwolf herum. Hart fiel er auf den Boden. Sergej Kagunin brauchte eine Weile,
um sich zu erholen. Er spürte ziehende Schmerzen im ganzen Körper, als sich die Atome und Moleküle seines Körpers wieder verstofflichten und ihm die frühere Gestalt verliehen. Es war seine menschliche. Kagunin sah, daß es heller Tag und er splitternackt war. Er befand sich in einem Park. Sein Herz raste. Wo bin ich? fragte er sich, und: Wer bin ich? Bin ich Kagunin, der Werwolf, oder Kagunin, der Mensch? Er stand auf. Es war Spätsommer. Die Blätter an den Bäumen und Büschen verfärbten sich schon. In der Nähe hörte der sowjetische Leutnant die Stimmen von spielenden Kindern. Er schlich an den Rand des Gebüschs und schaute sich um. Als er nach Südosten blickte, sah er die Wartburg, die er natürlich kannte. Sie war ihm vertraut, doch sonst war irgendwie alles anders. Kagunin erinnerte sich an die Stimme des Teufels, den er sterbend angerufen hatte, um mit ihm einen Pakt zu schließen. Er erinnerte sich auch an seinen letzten Wunsch. Plötzlich fiel ihm ein Fußball vor die Füße! Zwei Jungs, die auf der Wiese mit anderen gekickt hatten, rannten herbei. Sie erstarrten, als sie den nackten Mann in den Büschen sahen. Was haben die denn für Kleider an, dachte der hochgewachsene, dunkelhaarige Leutnant. 1975, als er in der Kaserne bei Eisenach stationiert gewesen war, war die Mode völlig anders gewesen. Jetzt, dieses bunte Zeugs, es konnte weder östlich noch sozialistisch sein. Was waren das für Klamotten? Kagunin warf den Jungen den Ball zu. Sie schrien auf und rannten zu Spaziergängern im Park. »Da ist ein nackter Mann in den Büschen!« Kagunin konnte ein wenig Deutsch. Er verstand nicht, was die Jungs riefen, wußte jedoch, daß es besser war, sofort zu verschwinden. Er lief durchs Gebüsch und versteckte sich. Diesen Park kannte er aus dem Jahr 1975, dort war er öfter mit Frau und Tochter gewesen. Aber als er aus den Büschen spähte, waren die Lampen im Park völlig anders, als er sie in Erinnerung hatte. Die Wege waren frisch angelegt, es war alles verändert. Er kroch ins Gebüsch. Nach einer Weile sah er ein Polizeiauto heranfahren. Zwei Uniformierte stiegen aus. Kagunin beobachtete sie, auf dem Bauch liegend und aus größerer Entfernung. Das
sind keine Vopos, dachte er. Konnten das westdeutsche Polizisten sein? Das war doch unmöglich, der Kommunismus mußte gewinnen. Auch das Auto, das war Hein Tatra, Wartburg oder Trabant, 'auch kein Moskwitsch oder Wolga. Auch keins aus dem Westen, das wußte Kagunin, der manchmal heimlich Westfernsehen schaute. Das Polizeiauto hatte eine ganz andere Form. Er krallte die Finger in den Boden. Es gab nur eine Erklärung. Ich bin in eine andere Zeit geraten, dachte Kagunin. Aber in welches Jahr, welche Zeit? Was ist passiert, seit ich 1975 zum Werwolf wurde? Was wurde aus der Roten Armee, der stärksten Armee der Welt? Was aus der mächtigen UdSSR? Diese Gedanken beunruhigten ihn fast mehr als sein eigenes Schicksal, denn er war ein linientreuer Soldat. Da er bei der Roten Armee in Sibirien ein Überlebenstraining unter härtesten Umständen absolviert hatte, war es für ihn kein Problem, ein paar Stunden im Park zu verbringen. Er deckte sich mit Zeitungen zu, die er aus einem Papierkorb holte. Die lateinische Schrift kannte er, er selbst war mit der kyrillischen aufgewachsen. Auf den Zeitungen las er das Datum. Das war aber ein Hammer! 28. September 1998. Es war unglaublich. Kagunin war dreiundzwanzig Jahre in der Zukunft gelandet. In seinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Zunächst blieb er in den Büschen verborgen und regte sich nicht. Die von dem fußballspielenden Kindern und Passanten herbeigerufene Polizeistreife hatte den nackten Mann nicht entdeckt und war inzwischen wieder weggefahren. Sie glaubten, die beiden Jungs hätten einen Exhibitionisten gesehen, der längst wieder verschwunden wäre. Kagunin war am Nachmittag in dem Park gelandet. Bis es dunkel wurde, versteckte er sich. Er konnte kaum fassen, was ihm widerfahren war. Zuviel war in den letzten Wochen auf ihn eingestürmt. Zuerst war er von dem Wolfspopen gebissen und selbst ein Werwolf geworden. Dann hatte er die knochenharte Auseinandersetzung mit dem baumlangen Deutschen gehabt, diesem geheimnisvollen Werwolf Jäger, von dem er nur wußte, daß er Mark Hellmann hieß. Und jetzt war er dreiundzwanzig Jahre in die Zukunft geschleudert worden. Das genügte, um auch einen Werwolf wahnsinnig werden zu
lassen. Kagunin mußte sich zusammenreißen, um bei klarem Verstand zu bleiben. Er fragte sich, ob jetzt Vollmond war und ob er auch im Jahr 1998 noch ein Werwolf sein würde. Es war anzunehmen. Wilde Gedanken rasten ihm durch den Kopf. Immer wieder dachte er an Blut und ans Töten. Die menschliche Seite in ihm beschäftigte sich mit den Gedanken an seine Frau und die Tochter. Wo mochten sie sein? Befanden sie sich noch immer in Eisenach, und hatte der Teufel, der sich Mephisto nannte, ihn deshalb hierher und ins Jahr 1998 geschickt? Kagunin war erleichtert, als er bemerkte, daß noch kein Vollmond war. Dieser stand jedoch unmittelbar bevor. In der nächsten Nacht schon würde die Metamorphose einsetzen. Der Leutnant spürte das ihm inzwischen wohlbekannte Ziehen in den Knochen. Seine Sinne waren auch in seiner menschlichen Gestalt viel schärfer als je zuvor. Er konnte über hundert Meter weg ein Flüstern oder einen knackenden Ast hören. Sein Geruchssinn entsprach dem eines Schäferhunds, und er verfügte über übermenschliche Kräfte. Hellmann, dachte er. Ich will Rache nehmen. Und: Wo sind Tatjana und Soja? Später überwältigte er einen Passanten, der durch den Park seinen Heimweg abkürzen wollte. Kagunin sprang hinter dem Mann aus den Büschen, betäubte ihn mit einem Würgegriff und schleppte ihn ins Gebüsch. Dort nahm er ihm die Kleider ab. Sie paßten ihm einigermaßen. Zwar waren die Hosenbeine und Jackenärmel ein Stück zu kurz, doch so genau schaute bei Nacht niemand hin. Im Licht einer Parklampe setzte sich Kagunin auf die Bank und schaute sich den Inhalt der Geldbörse seines Opfers an, das bewußtlos in den Büschen lag. Die Scheine und Münzen kannte Kagunin nicht. Es war deutsches Geld, aber keine Ostmark. Der Ausweis und die Euroscheckkarten waren ihm ebenfalls unbekannt. Der Werwolf in menschlicher Gestalt durchstreifte die Stadt, den Jackenkragen hochgestellt. Er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Autos, die Geschäfte, die Verkehrsschilder, Telefonhäuschen, die Reklameschilder und Tafeln, die Kleidung
der Passanten, Häuser und Hausfassaden, alles war anders geworden. Kagunin sah weder russische noch DDR-Soldaten, die früher das Straßenbild mitgeprägt hatten. Das waren keine HO-Läden sowie Konsum- und HO-Gaststätten mehr. Alles war viel, viel heller, und es gab ein Überangebot an Waren, das Kagunin beinahe die Augen aus dem Kopf fallen ließ. Er schluckte, der Speichel lief ihm im Mund zusammen, als er im Schaufenster einer Metzgerei pralle Schinken und Würste sowie die Fleischdekoration sah. Soviel war er noch Mensch, um nicht nur wie ein Werwolf nach Blut zu dürsten. Früher hatte beim DDR-Metzger oft eine einsame Salami an der Stange gehangen. Das war ja ein Unterschied wie Tag und Nacht. Die Mangelversorgung war in der DDR ein ständiges Thema gewesen. Schlangestehen hatte zur Tagesordnung gehört. Hier gab es Geschäfte, wie Kagunin noch nie welche erblickt hatte. Vor einem Radio- und Fernsehgeschäft drückte er sich die Nase platt. Er sah einen flachen Farbfernseher mit einem für seine Begriffe riesigen Bildschirm. Die Bildqualität ließ ihn staunen. Der Fernseher hatte auch keine Knöpfe zum Drehen, wie er sie kannte, sondern seltsame rote Zeichen. Die Menschen, die an dem Geschäft vorbeieilten, schienen den technischen Fortschritt als selbstverständlich hinzunehmen. Keiner nahm sich die Zeit, die Wunderwerke im Schaufenster so zu betrachten wie Kagunin. Er faßte es nicht. Bei einem Kino wunderte er sich genauso. In den Schaukästen waren äußerst freizügig gekleidete Frauen zu sehen. Solche Filme hatte es zu seiner Zeit in der DDR nicht gegeben. Von den sozialistischen Parolen, die früher an Litfaßsäulen und Plakatwänden geprangt hatten, war überhaupt nichts mehr zu sehen. Kagunin gewann mehr und mehr den Eindruck, daß der Kapitalismus triumphiert hatte. Er getraute sich nicht, in den Bus zu steigen, obwohl er Geld hatte. Er sah jedoch Taxis, viel mehr, als er vom Jahr 1975 gewöhnt war. Ich muß es riskieren, dachte Kagunin und winkte ein Taxi heran. Der Fahrer hielt, Kagunin stieg ein. »Zu russisch' Käsern«, sagte er in gebrochenem Deutsch. »Was wollen Sie dort?« fragte der Taxifahrer. »Da ist doch kein Mensch mehr.« »Russisch Käsern«, beharrte Kagunin auf seinem Wunsch.
Er zeigte dem Fahrer die gutgefüllte Geldbörse. Achselzuckend fuhr dieser los. Kagunin sah das veränderte Straßenbild nun vom Auto aus. Es hämmerte in seinem Kopf. Was für ein Wahnsinn! dachte er. Mephisto, was hast du mir angetan? Fast wünschte er sich, 1975 den Teufel nicht angerufen zu haben und gestorben zu sein. Das ließ sich jetzt jedoch nicht mehr rückgängig machen. Der Fahrer fuhr aus der Stadt. Die Straße war breiter, als Kagunin sie in Erinnerung hatte. Sie hatte zudem Leitplanken, wie Kagunin noch nie welche gesehen hatte. Der Fahrer setzte den Fahrgast, der ihm unheimlich erschien, beim Kasernengelände ab und machte, daß er davonkam. Geld wollte er nicht, nur seine Gesundheit retten. Kagunin stand mitten in der Nacht bei der verlassenen Kaserne, über die der Wind hinstrich. Er war seltsam berührt, als er durchs Tor ging. Da standen keine Wachtposten mehr. Das Gelände war völlig verlassen und verwahrlost. Die Fensterscheiben waren zum Teil eingeworfen worden. Türen standen offen. Gras wuchs auf den Türschwellen. Kagunin betrat die Kommandantur, was er früher in voller Uniform und in strammer Haltung getan hatte. Alles war demontiert, die Räume leer, und es roch nach Kalk und feuchtem Beton. Wo sind nur die Kameraden alle geblieben? dachte Kagunin. Was ist los auf der Welt? Er ging zu den Wohnquartieren und suchte die Wohnung auf, wo er mit Frau und Tochter sein Glück gehabt hatte, bevor er zum Werwolf wurde. Sein Herz schmerzte. Sein Gesicht brannte wie mit kochendem Wasser übergossen, und es war nicht die Wahnvorstellung, in einen Werwolf verwandelt zu sein, die das verursachte. Kagunin setzte sich auf eine Türschwelle und vergrub das Gesicht in den Händen. Er fühlte sich wie die einsamste Kreatur überhaupt, vom Teufel und von aller Welt verlassen, wie man in seinem Fall sagen mußte. Er war nicht mal mehr ein Mensch. Er hatte nur noch die Werwolfsexistenz und die Gier nach Blut, die bald wieder einsetzen würden. Kagunin war keine Kreatur der Finsternis, die ihre Untaten und die Bosheit genoß, so wie die meisten anderen. Er beging seine Mordtaten als Werwolf wie ein Süchtiger, der für die Droge lebte, der nicht mehr anders konnte, als sie sich zu beschaffen. Im Grunde genommen war er ein armer Teufel oder
ein armer Werwolf, deswegen jedoch nicht weniger gefährlich. Er legte sich, abgehärtet war er von Natur aus und mit dem Werwolf keim im Blut sowieso, im Freien zum Schlafen nieder. Am Morgen weckte ihn das Zwitschern der Vögel. Er stand auf. Das Blut pulste schneller durch seine Adern. Er wußte, in der kommenden Nacht würde er sich verwandeln, und er würde wieder töten. Der Mordtrieb beherrschte ihn. Bei seinem Umherstreifen auf dem Kasernengelände fand Kagunin eine alte russische Zeitung. Sie lag in einer Baracke in der Ecke. Kagunin las vom Abzug der Roten Armee, von Gorbatschow und Glasnost, vom Zerfall der Weltmacht UdSSR und ihrem Nachfolger, der Föderation der GUS-Staaten. Die Informationen klaubte er sich aus dem Blatt zusammen, das er regelrecht verschlang. Für ihn stand die Welt kopf. Wie hatte das nur geschehen können? Er faßte es nicht. In seiner Not, weil ihm nichts anderes mehr einfiel, rief er auf dem verlassenen Kasernengelände Mephisto an. Er beschwor den Teufel. Mephisto selbst war ihm früher kein Begriff gewesen. Mit emporgereckten Armen stand der hochgewachsene, dunkelhaarige Mann mit den hohlen Wangen da. »Satanas, erscheine!« rief er. »Ich, Sergej der Werwolf, rufe dich!« Dann stieß er ein gellendes Wolfsgeheul aus. Gleich darauf brauste es in der Luft. Der Wolfspope Oleg Andrassow und die barbusige Jung-Hexe Allona erschienen. Sie wollten sich ausschütten vor Lachen, als sie Kagunin erblickten. »Was schaust du denn so betroffen, du Tropf?« fragte der massige Wolfspope in der härenen Kutte. »Frisch gemordet und Blut getrunken. Das bringt dich auf andere Gedanken.« »Das ist mir ein Trübsalbläser«, sagte die schöne, blonde Hexe. »Da lobe ich mir einen Vampir, mit dem ich auf dem Besen durch die Luft reitend Sex machen kann. - He, Kagunin, willst du mich wieder mal durch den Wald tragen?« »Verfluchtes Gesindel!« rief Kagunin. »Hätte ich euch doch niemals gesehen, oder hätte ich auf die Warnungen meiner Großmutter gehört und wäre bei Vollmond nicht in den Wald gegangen.« »Ja, hätte und wäre«, sagte Allona. »Das kannst du dir alles schenken.«
»Du wirst dich schon noch an das Dasein als Werwolf gewöhnen, Brüderchen«, sagte der Wolfspope Oleg. »Ich führe es nun schon seit mehreren hundert Jahren. Und was die wirklich alten Dämonen betrifft, so bin ich gegen sie wie eine Sekunde gegen den langen Tag. - Laß es dich nicht verdrießen, Sergej. Mit jedem Mord, den du begehst, wird dein Blut schwärzer und dein Herz unmenschlicher. Bald hast du überhaupt keinen menschlichen Gedanken mehr.« »Und wenn ich ein Mensch bleiben will?« »Das kannst du nicht. Du bist und bleibst ein Werwolf. Ich habe dich dazu gemacht. Ich bin gewissermaßen dein Werwolfvater.« »Darauf würde ich gern verzichten«, knurrte Kagunin. Der Wolfspope winkte ihm zu und lachte. Es klang, als ob in einem Faß ein schwerer Stein kollern würde. Allona bewegte aufreizend ihr Becken vor und zurück. Dann erschien plötzlich ein langer Hexenbesen. Wie hingezaubert. Der Wolfspope und Allona bestiegen ihn und ritten hohnlachend durch die Lüfte davon. Kagunin schüttelte die Faust hinter ihnen her. »Hab dich nicht so«, sagte da eine Männerstimme hinter ihm. »Du bist genauso wie sie.« Als Kagunin sich umdrehte, stand der Teufel hinter ihm, genauso wie ihn die Legende schilderte. Groß, hager und schwarz behaart, mit Hörnern und Ziegenbart, zottigem Fell und einem Pferdefuß. Er stank nach Pech und Schwefel. In der Hand hielt er einen Dreizack. »Ich bin Mephisto. Ich will dir ein paar Aufklärungen geben.« Vom Teufel erfuhr Kagunin von der deutschen Wiedervereinigung und einigem anderem mehr. Ihn wunderte jetzt schon überhaupt nichts mehr. »Jetzt zu dir persönlich«, sagte Mephisto. »Tatjana, deine Frau, hat den früheren SED-Funktionär Lorbach geheiratet. Du kennst ihn, du hast ihn mehrmals bei offiziellen Anlässen und bei Festen der russischen Garnison gesehen. Er hat Tatjana schon immer angestarrt und begehrt. Sie ließ dich für tot erklären. Deine Tochter Soja ist in Lorbachs Haus aufgewachsen.« »Ich bringe ihn um!« stöhnte der Werwolf in Menschengestalt. »Tatjana auch. Soja kann ich nicht töten.« »Das sollst du auch nicht.« Mephisto flüsterte Kagunin ins Ohr:
»Auch Oertzner und Hellmann sind da, all unsere Feinde. Du kannst dir großen Ruhm in der Hölle erwerben, wenn du Hellmann zur Strecke bringst. Du sollst ihn zur Hölle schicken, wo wir ihn auf dem kleinen Rost tausend mal tausend Jahre lang braten und uns noch einiges mehr für ihn einfallen lassen wollen.« Kagunin nickte. Mephisto beschrieb ihm, wo er Frau und Tochter finden konnte. Er flüsterte ihm noch etwas ins Ohr. Dann zerplatzte er zu einer stinkenden Rauchwolke, aus der ein schwarzer geflügelter Ziegenbock meckernd davonstob. Mephisto liebte solche Scherze. Sie hielten ihn jung. Er sagte gelegentlich, es habe ihn schon gegeben, als die Rasse der Valusianer, Haarsternwesen, unendlich lange bevor an die Menschheit überhaupt gedacht wurde. Schon damals hatte das Licht gegen die Finsternis gekämpft. Kagunin verließ das Kasernengelände, wie ihn Mephisto geheißen hatte. Er lief in flottem Trab in die Stadt unterhalb von der Wartburg. Nach der Beschreibung Mephistos fand er die Straße und das Grundstück im Villenviertel, wo seine Frau und die Tochter wohnten. Der Haß gegen Tatjana und ihren jetzigen Mann schnürten ihm die Kehle zu. Wartet, dachte er, bis der Vollmond scheint. Dann will ich euch besuchen… Nur bei Nacht, wenn der Vollmond schien, hatte Kagunin seine Werwolfsgestalt. Tagsüber sah er aus wie ein normaler Mensch. Das Sonnenlicht schadete ihm nicht. Er mochte es jedoch nicht besonders. Wenn es möglich war, ruhte er sich während der Tage zur Zeit des Vollmonds aus. Dann träumte er von Mord und von Tod, von Nachtmahren und dämonischen Schrecken. Von Vampiren und Ghulen und Hexen, die seine Brüder und Schwestern waren, und von Friedhöfen, in denen Leichen aufstanden und umhergingen, die Menschen zu töten. Kagunin vergewisserte sich, daß ihn niemand beobachtete. Er stieg gewandt über den schmiedeeisernen Zaun der Lorbach'schen Villa. Instinktiv vermied er es, die Alarmanlage auszulösen. Er schlich sich ans Haus heran. Im Wohnzimmer, in einem schweren Ledersessel, in dem sie zierlich wirkte, sah er Tatjana sitzen. Er starrte sie an. Sie war älter geworden, reifer, aber immer noch schön. Doch nichts als Haß und Mordgier glühten in den Augen des
Wolfsmenschen, als er seine frühere Ehefrau sah. Dann schaute Tatjana auf. Ihre Blicke begegneten sich. Sie kam auf die Terrasse. Kagunins Hände öffneten und schlossen sich krampfhaft. Doch er beherrschte sich. Noch war er kein Werwolf. Er grinste verzerrt. »Auf bald, Tanja«, flüsterte er und gebrauchte die Kurzform von ihrem Namen. Dann schlug er sich in die Büsche und sprang mit einem Panthersprung über den Zaun.
* »So ist es gewesen«, erzählte uns Tatjana Lorbach. »Er sah mich an, und ich glaubte schon, daß er mich angreifen würde. Doch dann ist er weggelaufen. Er hatte seine menschliche Gestalt. Doch ich fürchte, daß er zurückkehren wird, wenn er wieder ein Werwolf ist. Und in der kommenden Nacht ist schon Vollmond.« »Das fürchte ich auch«, sagte ich. »Wir müssen bereit sein, wenn der Werwolf kommt.« Mein Ring hatte keine Reaktion gezeigt. Kein Werwolf oder Dämon war in der Nähe. Ich war mir allerdings nicht sicher, ob mein Ring bei einem Werwolf in seiner menschlichen Gestalt reagieren würde. Ich hatte noch keine Erfahrungswerte. Tatjana Lorbach schaute Rudi Oertzner und mich an. Soja saß bei uns im Wohnzimmer, das wir aufgesucht hatten und wo wir uns einen Drink genehmigten. »Hast du Marks Pistole noch?« fragte sie Oertzner. Er nickte. »Das weißt du doch. Ist dein Mann heute abend zu Hause?« Die aparte, dunkelhaarige Frau verzog das Gesicht. »Nein, er hat ein Bankett mit Geschäftsfreunden. Eine Delegation aus dem Ausland ist da. Da läuft Edgar immer zu großer Form auf und zeigt sich von seiner besten Seite. Das Bankett findet im größten Hotel der
Stadt statt. Migräne.«
Ich
werde
mich
entschuldigen
lassen,
wegen
»Ich werde auch nicht hingehen«, sagte Soja. Sie schaute mich an. »Ich studiere Musik und Kunstgeschichte. Das geschäftliche Gerede meines Stiefvaters und das seiner Geschäftsfreunde ödet mich an. Da geht es nur um Kostenersparnis, Wettbewerb, Produktionseffektivität und darum, wie man die Konkurrenz austricksen kann. Und die Erschließung von neuen Märkten. Um Profit und Bilanzen. Das ist nicht meine Welt.« Die Eheleute Lorbach hatten sich auseinandergelebt. Bei Tatjana war zweifellos die Erinnerung an die Vergangenheit wieder aufgestiegen, als sie ihren ersten Mann wiedergesehen hatte. Für sie war das ein schwerer Schock gewesen. Schließlich hatte sie Sergej Kagunin für tot erklären lassen und mit diesem Kapitel ihres Lebens ein für allemal abgeschlossen. Ich fragte mich, was Edgar P. Lorbach und Tatjana eigentlich noch zusammenhielt. Vielleicht war es die Macht der Gewohnheit. Vielleicht spielte der Luxus, den Lorbach seiner Frau und seiner Stieftochter bot, doch eine größere Rolle, als Tatjana zugeben wollte. Vielleicht waren es die Möglichkeiten, die Soja bei ihm hatte. Es konnte auch sein, daß für Lorbach eine Scheidung zu teuer war oder zu unbequem. Wir vereinbarten, uns am Abend erneut zu treffen. Tatjana wollte Rudi Oertzner und mich in die Villa einlassen. Dort hatten wir vor, gemeinsam auf den Werwolf zu warten. Tatjana unterhielt sich leise mit ihrer Tochter. Dann fragte sie mich: »Wie kommt es, daß du keinen Tag älter geworden bist, seit wir uns vor dreiundzwanzig Jahren das letzte Mal sahen? Ich verstehe das nicht.« »Ich bat Sie vorhin schon, mir keine Fragen zu stellen«, erwiderte ich. »Nehmen Sie es einfach so hin, wie es ist. Zu gegebener Zeit werden Sie eine Antwort erhalten.« »Sie sind kein normaler Mensch«, flüsterte Tatjana. »Das habe ich schon beim ersten Mal gespürt, als wir uns begegneten. Ich habe eine ausgeprägte Intuition. Was sind Sie? Ein Magier, Hexer oder dergleichen?« »Ich kämpfe gegen das Böse«, antwortete ich, »und die Mächte der Finsternis. Mehr kann ich Ihnen darüber nicht verraten.«
Tatjana wollte mir Fragen stellen, was damals, 1975, vorgefallen sei, als ich ihren Mann, den Werwolf, verfolgte und stellte. Soja schaute mich mit großen, dunklen Augen an. Schließlich handelte es sich um ihren Vater. Auch diese Fragen blockte ich ab. Es war eine seltsame Situation. Die anderen am Tisch, selbst Soja, die von ihrer Mutter allerhand erzählt bekommen hatte. »Darüber will ich jetzt »Vielleicht heute abend.«
nicht
sprechen«,
antwortete
ich.
Rudi Oertzner und ich verabschiedeten uns. Soja studierte am Konservatorium in Berlin. Zwei ihrer Dozenten waren krank, deshalb fielen viele Vorlesungen aus. Soja, sonst eine gewissenhafte Studentin, hatte sich daher die Freiheit genommen, für ein paar Tage zu ihrer Familie zu fahren. Als wir in meinem BMW in Richtung Innenstadt unterwegs waren, sagte Rudi Oertzner zu mir: »Irgendwie wirkst du unsicher. Was ist los mit dir, Mark?« »Es ist alles in Ordnung.« Zu dem Zeitpunkt war ich noch nicht bereit, ihm zu erzählen, daß ich von den Geschehnissen im Jahr 1975 überhaupt keine Ahnung hatte. Tatjana Lorbach und ihm waren sie geläufig. Soja hatte davon erzählt bekommen. Für mich lagen diese Ereignisse noch in der Zukunft. Ich war mir nicht sicher, ob ich Rudi Oertzner einweihen sollte, daß es mir möglich war, Zeitreisen zu unternehmen. Dazu kannte ich ihn noch nicht lange genug, um ihm das dazu nötige Vertrauen zu schenken. Wenn ich den Werwolf Kagunin in der kommenden Nacht tötete, würde es vielleicht nicht nötig sein, Rudi Oertzner einzuweihen. Andererseits, wenn ich den Werwolf umbrachte, welchen Grund sollte ich dann noch haben, in die Vergangenheit zu reisen, um ihm dort zu begegnen? Das wußte ich im Moment nicht, es mußte sich erst noch ergeben. Das war mit ein Grund für meine Unsicherheit, die ich zu überspielen versuchte. Ich kam mir vor wie jemand, der sich durch einen dunklen Raum tastete und nicht wußte, wer und was sich darin befand. Und der bisher noch den Lichtschalter suchte. Oertzner, Tatjana und Soja wußten besser als ich Bescheid, doch nur, was das Jahr 1975 anging.
* Bei Sonnenuntergang betraten wir wieder die luxuriöse Villa im besten Viertel der Stadt. Noch war es nicht dunkel geworden. Doch der bleiche Vollmond, der Wolfsmond, war bereits am Himmel zu sehen. Wir wollten kein Risiko eingehen. Meinen BMW hatte ich der Einfachheit halber in die zweistöckige Garage gestellt, in der ein Motor jeweils die beiden Etagen hob und versenkte. Tatjana Lorbach erwartete uns bereits. Sie hatte sich die Mühe gemacht, russische Spezialitäten zuzubereiten. Soja gesellte sich bald zu uns. Tatjana, die Mutter, hatte ein dunkles Gesellschaftskleid an, nichts Mondänes zum Ausgehen, aber modisch und schick. Soja prunkte mit einem schulterfreien, tiefgeschlitzten Kleid, das ihr rechtes Bein beim Gehen bis zum Oberschenkel entblößte und einen Spitzenslip vorblitzen ließ. Ich fing Feuer bei ihr, sie gefiel mir, und ich war überzeugt, daß das auf Gegenseitigkeit beruhte. Ich war jedoch hergekommen, um einen Werwolf zur Strecke zu bringen, nicht, um die Tochter des Hauses zu vernaschen. Wir aßen den Krimsky Salat aus Hühnerfleisch, Schinken, Salzgurken, Oliven und anderen Beilagen. Dazu gab es Bauernbrot und Wodka. Blinis Ikroy - Buchweizenpfannkuchen mit Kaviar - und kaukasischer Schaschlik folgten. Ich begnügte mich bei dem Wodka mit zwei Gläschen, die mir als Zielwasser für den Werwolf dienen konnten. Rudi Oertzner schaufelte und schüttete wacker in sich hinein. »Tatjana«, sagte er, »du bist eine Superfrau.« Wohlig rieb er sich seinen Bauch. »Wenn du dich von Edgar scheiden läßt, mußt du mich heiraten.« »Bei dir geht Liebe durch Magen«, sagte Tatjana. Ihr Deutsch war noch immer nicht besonders. Ein Schatten überflog ihr apartes Gesicht. »Mein Mann gibt mich nicht frei. Ich glaube nicht, daß es Liebe ist, was ihn an mich kettet. Eher ein Besitzanspruch. Ihm gefällt sein Leben so, wie er es für sich eingerichtet hat. Ich weiß, daß er Geliebte hat.«
Sie winkte mit der rechten Hand ab, an deren Gelenk zwei schmale Armbänder klirrten. »Schauen Sie nicht so überrascht drein, Mark, weil ich offen darüber spreche. Wir beide sind uns schon einmal begegnet. Für mich sind Sie eine Vertrauensperson. Es schmerzt mich schon lange nicht mehr, daß mein Mann andere Frauen hat. Ich habe mich damit abgefunden. Es hat auch seine guten Seiten. So will Edgar nicht mehr viel von mir, und ich habe viel Freiraum. Ich repräsentiere bei offiziellen Anlässen an seiner Seite, bin für das Personal zuständig. - Ich bin beschäftigt, jedoch nicht ausgelastet.« Ein wenig traurig schaute sie auf das Essen, mit dem sie sich viel Mühe gegeben hatte. »Für Edgar brauche ich selten zu kochen. Er benötigt mich eigentlich nur noch der Form halber. - Bei Sergej ist es anders gewesen.« Sie wischte sich über die Augen. »Es ist eine Tragödie, daß er zum Werwolf wurde. Das muß geschehen sein, als er 1975 zum ersten Mal nach anderthalb Jahren wieder in seinem Heimatdorf im Ural-Gebirge war. Ich bin damals nicht mitgefahren, weil Soja krank war. Er konnte den Urlaub auch nicht verschieben. Sein Vater teilte mir später mit, als schon alles vorbei war, daß er ein Opfer des berüchtigten Wolfspopen geworden sei.« Es gab überall Kreaturen der Finsternis. Ich hatte noch viel Arbeit vor der Brust. Nachdem wir gegen Mittag die Villa der Lorbachs verlassen hatten, hatte ich Rudi Oertzner beim Zeitungsverlag abgesetzt. Ich hatte dann an einer Imbißbude gegessen und war in der Stadt gebummelt. Ich kannte Eisenach gut, schließlich war es nur fünfzig Kilometer von Weimar entfernt. Die Sehenswürdigkeiten, Wartburg, die Alte Mälzerei, das Bachhaus, das Lutherhaus und die Lorbach-Villa mit der RichardWagner-Sammlung, kannte ich noch aus der DDR-Zeit. In Eisenach wie in allen Städten in den Neuen Bundesländern war seit der Wende allerhand geschehen. Das Stadtbild hatte sich sehr verändert, überall gab es Banken, Supermärkte, Großtankstellen und Kaufhallen. Von früher, wo es geruhsamer zugegangen war, provinzieller, war nur noch wenig geblieben. Ein neuer Wind wehte. Er hatte uns allerdings auch eine hohe Arbeitslosenziffer ins Land geblasen, Gammler, Junkies und
Obdachlose. Das hatte es in der DDR, wie immer sie gewesen sein mochte, nicht gegeben. Das sagte ich jedem, und es war keine Politpropaganda, sondern die Wahrheit. Die früheren Staatsbetriebe waren entweder geschlossen oder privatisiert worden. Das Industriemuseum DDR, wie es ein westlicher Arbeitsminister so schön bezeichnet hatte, war ausund umgeräumt. Alles strampelte, um den Anschluß zu finden. Ich auch. Nach meinem Stadtbummel war ich zu Rudi Oertzners Wohnung in einem Terrassenhaus-Neubau gegangen. Rudi hatte mir seinen Schlüssel mitgegeben. Ein zweiter lag in seinem Büro. Er war dann bald eingetroffen und hatte mir eine russische Nagan-Pistole gezeigt, eine alte Knarre, ähnlich gebaut wie die Nullacht aus dem Zweiten Weltkrieg. Für den Ballermann Kaliber 12 Millimeter hatte Rudi Oertzner drei Magazine mit Silberkugeln, die mit einem kunstvollen Kreuz vorne verziert waren. »Wo ist eigentlich die andere Pistole geblieben?« hatte Rudi gefragt. »Ich habe '75, auf deine Anweisung hin, zwei Pistolen und Silberkugeln besorgt. Das war äußerst schwierig, ohne meine speziellen Beziehungen und Kontakte wäre es überhaupt nicht gegangen. Du hattest die zweite Pistole dabei, als du den Werwolf stelltest.« »Sie ist mir abhanden gekommen«, hatte ich gemurmelt. Rudi hatte mich scharf angeschaut, jedoch nichts dazu gesagt. Er war dann zur Wand gegangen und hatte einen reichziselierten armenischen Dolch samt Scheide von der Wand genommen, der als Dekoration dort hing. »Den Dolch habe ich mir, als ich im Westen war, als Sammlerstück gekauft«, hatte er gesagt. »Er besteht aus echtem Silber. Vielleicht kann man ihn jetzt genau wie die Nagan gebrauchen.« Ich hatte die schwere Pistole in der Hand gewogen und geantwortet: »Hast du schon mal genau nachgesehen, ob nicht irgendwo versteckt >Made in Taiwan< an deinem Prunkdolch steht?« Rudi hatte nur das Gesicht verzogen. »Wie hast du die Nagan von damals all die Jahre behalten können?« war ich dann fortgefahren.
»Bevor ich '75 abgeschoben wurde, versteckte ich die Nagan samt der Silbermunition in einer alten Familiengruft auf dem Hauptfriedhof«, hatte mir Rudi geantwortet. »Dazu entfernte ich einen Stein und mauerte ihn wieder fest. Nach der Wende, als ich zurückkam, holte ich mir die Knarre zurück.« »Grabschänder«, hatte ich gemurmelt. Bald nach dem Gespräch waren wir mit meinem BMW ins Villenviertel gefahren, in dessen Grünanlagen die Vögel zwitscherten. Jetzt saßen wir, die Bewaffnung in Reichweite, mit den Damen des Hauses zusammen. Ich hatte meine Jeans, ein sportliches Hemd und eine Lederjacke an. Ich sei der WerwolfFahnder, hatte sich Rudi bereits bei der Abfahrt zu einem Witz durchgerungen. Er war sehr besorgt. Nach dem Essen, das wir in der Speiseecke vor der verschiebbaren Panoramawand zum Garten hin einnahmen, suchten wir die Wohnhalle auf. Soja setzte sich an den Flügel. Die junge Frau spielte gekonnt eine Etüde von Tschaikowski, dann Beethovens >Mondscheinsonate<. Die zarten Klänge minderten ein wenig die Spannung, die wir alle empfanden. Das Licht brannte im Zimmer, da es draußen bereits dunkel geworden war. Die Terrasse wurde von Flutlichtscheinwerfern angestrahlt. Die Alarmanlage war eingeschaltet. Wir verließen uns jedoch nicht auf sie, da Kagunin in seiner menschlichen Gestalt schon einmal auf dem Grundstück aufgetaucht war, ohne sie auszulösen. Von Sergej Nikolajewitsch Kagunin und seinen Taten als Werwolf im Jahr 1975 war bisher nichts gesprochen worden. Auch was sein Auftauchen im Jahr 1998 betraf, hatte sich niemand weiter geäußert. Wir warteten auf die weitere Entwicklung. Die idyllischen Klänge der Mondscheinsonate ertönten. Plötzlich fing mein Ring an zu prickeln und strahlte auf. Ich erhob mich und ergriff die Nagan, die ich unter einer Zeitung auf dem Tisch liegen hatte. Ich winkte den anderen zu. »Spiel weiter, Soja«, sagte ich leise und entsicherte die durchgeladene Pistole. »Er ist da.« Oertzner ergriff den gebogenen Dolch und zog ihn aus der Scheide. Er verbarg die Klinge neben seinem Oberschenkel. Seine
Haltung straffte sich. Rudi Oertzner mochte Übergewicht und seit Jahren keine körperliche Auseinandersetzung mehr gehabt haben. Doch feige war er nicht. Soja zuckte einen Moment zusammen. Doch sie geriet nicht aus dem Takt. Ich ging zu dem Panoramafenster und schaute auf die Terrasse hinaus. Der Ring strahlte hell. Ich hielt die schwere Pistole mit beiden Händen. So stand ich neben dem Fenster, halb von den Stores verborgen. Der Werwolf mußte ganz in der Nähe sein. Im nächsten Moment, die besinnliche Mondscheinsonate war noch nicht zu Ende, flog krachend ein schwerer Gegenstand durch das Fenster. Glas klirrte. Es polterte dumpf. Ich zielte instinktiv auf den wuchtigen Holzkloben, den jemand durchs Fenster geworfen hatte. Ich konnte nicht verhindern, daß er gegen den Flügel krachte. Soja und Tatjana schrien auf. Ein geschwungenes Bein des Flügels brach ab, und er sackte nach einer Seite weg. Soja rollte mit dem Klavierstuhl zurück und blieb so unverletzt. Das Holzstück war mit ungeheurer Kraft geworfen worden. Es wog bestimmt anderthalb Zentner. Es handelte sich um ein Stück von einem Baumstamm, einen Dreiviertelmeter dick, einszwanzig lang. Dieses Holzstück war mit anderen unter dem vorspringenden Dach der Lorbach'schen Villa aufgestapelt gewesen und sollte zu Kaminholz verarbeitet werden. Der Werwolf sprang brüllend durch die kaputte Scheibe. Der Wurf mit dem Holzkloben hatte mich ablenken sollen, und das war ihm gelungen. Gesehen haben konnte mich der Werwolf nicht. Ich hätte gemerkt, wenn er durchs Fenster hereingeschaut hätte. Doch mit seiner unglaublich feinen Nase hatte er mich gewittert. »Hellmann!« dröhnte es heiser aus seinem weit auf gerissenen, mörderischen Rachen. »Diesmal kommst du mir nicht davon.« Da war noch einer, der mich von früher kannte, ich ihn leider nicht. Und es war kein Freund. Der Werwolf, eine Bestie in meiner Größe, aber viel massiger, schlug mir mit seiner Pranke die Pistole zur Seite, als ich sie blitzschnell auf ihn richtete. Ein Schuß löste sich krachend und schlug in den Aufbau des kalten Kamins. Dann rang ich mit dem rasenden, fauchenden, geifernden Werwolf um den Besitz der Pistole.
Mit einer Pranke hielt er meine Pistolenhand gepackt. Mit der anderen fetzte er mir das Hemd vom Leib und versuchte, mir die Kehle durchzubeißen. Wir rollten über den Boden. Tatjana und Soja schrien auf. Ohne den magischen Ring, dessen noch heller gewordener Glanz ihn blendete und dessen Strahlung ihm wohl auch etwas zusetzte, hätte mich der Werwolf glatt erledigt. Mit ihm zu kämpfen, war schon unheimlich. Nur meine Kraft und die Fähigkeiten und Reaktionen, die ich mir als Zehnkämpfer erworben hatte, ließen mich gegen ihn bestehen. Rudi Oertzner sprang hinzu und hielt den langen Dolch bereit. Doch er konnte nicht zustoßen. Statt des Werwolfs hätte er auch mich treffen können. Die Bestie brüllte und geiferte. Ich verlor die Pistole, doch irgendwie gelang es mir, auf die Füße zu kommen. Der Werwolf packte mich bei der Kehle, und ich hatte Glück, daß er mir mit seinen Pranken, die lange Krallen aufwiesen, nicht die Gurgel zerriß. Es gelang mir, ihm den strahlenden Ring über die Augen zu ziehen. Er brüllte auf und war einen Moment irritiert. Ich ließ mich nach hinten fallen, stemmte ihm die Füße gegen den Leib und warf ihn schwungvoll über mich. Mit seinem massigen, behaarten Schädel krachte der Werwolf gegen die Wand, daß es dröhnte und ein paar als Dekoration dienende Karpatenhirschgeweihe herunterfielen. Den Werwolf juckte das überhaupt nicht. Ein Mensch hätte sich glatt den Schädel gebrochen, wäre er mit solcher Wucht gegen die Wand geknallt. Der Werwolf schüttelte nur den Kopf. Ich raste zu der auf dem Teppich liegenden Pistole. Doch mit einem wahren Panthersprung kam die Bestie mir zuvor und setzte die Pranke auf die Nagan. Ich verpaßte dem Werwolf einen Karatetritt! Es war, als ob ich gegen Beton treten würde. Nichtsdestotrotz nutzte ich den Schwung meines Angriffs aus, knallte ihm das Knie dorthin, wo es einen Menschen besonders schmerzte, und verpaßte ihm Faust- und Handkantenschläge. Ich traf stählerne Muskelbündel und stahlharte Knochen. Doch meine Rechte, an deren Ringfinger ich den magischen Ring trug, setzte ihm zu. Schwarzes Blut sickerte ihm aus ein paar Schrammen. Sein linkes Auge schwoll zu. Ich hatte die rechte Faust mit dem Ring darauf plaziert.
Er wankte ein wenig, als ich ihm die mit dem magischen Ring versehene Faust auf den Punkt setzte. Ich triumphierte schon. Doch zu früh. Der Werwolf drosch zu, und ich kriegte eins voll gegen die Rippen. Die anderen Schläge hatte ich wegstecken oder teils auch mit dem Ring abblocken können, wobei ich aufpassen mußte, daß mich die Bestie nicht mit den Pranken erwischte. Der Hieb jedoch, dem gleich ein weiterer folgte, warf mich durch den Raum. Ein Stuhl und ein Beistelltisch zerbrachen unter meinem Gewicht. Ich hörte die Englein >Gleich bist du bei uns, Mark Hellmann< singen, und das gefiel mir gar nicht. Der Werwolf kickte die Pistole weg. Sie flog meterweit davon und war erst mal verschwunden. Die Bestie hätte mich glatt erledigt, angeschlagen, wie ich war, zerfetzt und zerrissen und meiner Laufbahn als Träger des Rings ein jähes Ende bereitet. Rudi Oertzner rettete mich. Er sprang vor und stellte sich mit erhobenem Dolch gegen den Werwolf. Rudi war blaß, aber zu allem entschlossen. »Kagunin!« rief er, weil ihm nichts Besseres einfiel. »Schämst du dich nicht? Da sind deine Frau und deine Tochter. Was willst du ihnen noch antun an Leid und an Qual? - Warum bist du aus der Hölle zurückgekehrt?« »Der Teufel hat mich nicht haben wollen«, stieß der Werwolf in kehligem Deutsch hervor. Dann wandte er sich an Tatjana und Soja und sprach mit ihnen in schnellem Russisch, wovon ich einiges mitkriegte. Schließlich war Russisch in der DDR Pflichtfach gewesen. »Treulose!« fauchte der Werwolf. »Ich zerreiße dich!« Tatjana stellte sich vor ihre Tochter. »Mich kannst du umbringen, Sergej«, stieß sie ebenfalls auf Russisch hervor. »Aber verschone Soja. - Sie hat nichts getan. Damals war sie erst zwei Jahre alt.« Die Fratze des Werwolfs verzerrte sich. »Soja, mein Täubchen, kennst du Papa?« fragte er. Soja sah den Mann, den sie nur von Fotos kannte und an den sie allenfalls vage Erinnerungen hatte, in seiner jetzigen Gestalt. Damals hatte er sie als liebevoller Vater auf den Knien geschaukelt, geküßt und geherzt. Sie war sein Prinzeßchen und
sein ein und alles gewesen. »Du bist nicht mein Vater!« schrie Soja. »Du Bestie!« Der Werwolf brüllte. Geradezu beiläufig fegte er Rudi Oertzner mit einem Prankenhieb aus dem Weg. Rudi überschlug sich zweimal, so stark war der Hieb. Der Werwolf stapfte auf Tatjana und Soja zu. Ich raffte mich auf, schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden, und sah den langen Dolch mit den armenischen Schriftzeichen, der Rudi Oertzner entfallen war. Der Dolch lag auf dem Teppich. Ich rannte hin und ergriff ihn. Der Werwolf packte Tatjana an der Schulter und zerriß ihr Kleid. »Sieh hierher!« rief ich. »Laß sie los, Bestie!« Der Werwolf schaute zu mir. Da flog die Tür zum Flur auf. Ein grauhaariger, schlanker, sehr elegant gekleideter Mann sprang über die Schwelle. Er hatte eine kleinkalibrige Pistole in der Hand, die man ohne weiteres in die Tasche stecken und darin verbergen konnte. »Was geht hier vor?« rief er. Der Werwolf schaute zu ihm. Der Grauhaarige schoß sofort. Drei Schüsse krachten. Die Kugeln schlugen in den massigen Körper des Werwolfs, der jedoch kaum zusammenzuckte. Er warf Tatjana zur Seite. Soja stand bebend vor ihm. Der Grauhaarige schaute auf die rauchende Pistole in seiner Hand. »Lykanthropus«, sagte er tief erschüttert. Mit einer resignierenden Geste ließ er die nutzlose Pistole fallen und schaute sich nach einer anderen, geeigneteren Waffe um. Rudi Oertzner regte sich am Boden. Der Werwolf schaute Tatjana und Soja an. »Morgen nacht komme ich wieder«, grollte er. Ich warf einen Stuhl gegen ihn. Er drosch mit der Pranke dagegen, daß der Stuhl in der Luft zerbrach. Ich griff tänzelnd an, wechselte den Dolch von einer Hand in die andere. Anstürmen wäre verkehrt gewesen. Ich mußte verdammt aufpassen, sonst schlug mir der Werwolf den Kopf herunter. Ein Hieb von ihm war so ähnlich wie der Prankenhieb eines Bären. Doch er wollte keinen Kampf mehr mit mir. Er knurrte bloß. Dann drehte er sich um, sprang durch das zersplitterte Fenster, dessen Scherben herumlagen, und raste über die Terrasse. Ich
folgte ihm um die Villa herum. Gerade noch sah ich, wie er sich auf der Rückseite des Grundstücks über die Mauer schwang und dabei die Alarmanlage auslöste. Dann war er in der Nacht verschwunden. Ich kehrte in die Villa zurück.
* Dort war, wie sich herausstellte, der Hausherr eingetroffen. Der elegant gekleidete Grauhaarige war Lorbach, ehemals SEDFunktionär und Stasi-Mitarbeiter, nachmals Wendehals und jetzt Fabrikant. Ein Industrieller, der sich ein früheres Kombinat unter den Nagel gerissen hatte, das jetzt computergesteuerte Präzisions-Werkbänke sowie Fräs- und Stanzmaschinen herstellte. Intelligent war Lorbach schon immer gewesen, aber auch charakterlos. Sein neues Metier beherrschte er gut. Die Alarmanlage verstummte, als ich durch die Terrassentür, die man geöffnet hatte, eintrat. Lorbach hatte sie abgestellt. Er erschien gleich wieder, rief beim nächsten Polizeirevier an und behauptete, es sei falscher Alarm gewesen. Dann wandte er sich an uns. »Was verschafft mir die Ehre?« fragte er höhnisch. »Habe ich Ihnen nicht ein für allemal mein Haus verboten, Herr Oertzner?« Rudi Oertzner saß in einem Ledersessel. Blut sickerte ihm aus dem Mundwinkel. Er wirkte angeschlagen, war aber weniger verletzt, als ich befürchtet hatte. Dann schaute mich Lorbach an und stutzte. Er wischte sich über die Augen. »Das ist doch nicht möglich. Der West-Agent Hellmann.« Auch er erinnerte sich von 1975 noch an mich. »Wie kommen Sie denn hierher? Und wieso sind Sie keinen Tag älter geworden?« Ich grinste ihn ohne jede Freundlichkeit an. »Ich habe mich liften lassen«, antwortete ich. Lorbach war mit meinem Aussehen noch immer nicht fertig. »Unglaublich«, sagte er. »Mir erzählt man, ich hätte mich gut gehalten. Aber im Vergleich zu Ihnen sehe ich alt aus.« Das war verkehrt ausgedrückt, er wirkte für einen Mittfünfziger
durchaus jünger und vital. Aber ich war eben achtundzwanzig. Eisig sagte ich zu ihm: »Sie haben mich damals an die Stasi verpfiffen. Jetzt sind Sie wieder gut im Geschäft und geben sich als früherer DDR-Dissident und Demokrat aus. Sie wechseln Ihre Gesinnung wie andere ihre Hemden.« »Werden Sie bloß nicht frech«, schnarrte er. Dann mäßigte er seinen Ton. »Das können Sie auslegen, wie Sie wollen. Ich habe keine Verbrechen begangen. Meine Weste ist weiß, meine Hände sind sauber.« »Das letztere hat Pontius Pilatus auch gesagt«, höhnte ich, »und er hatte weniger Schmutz abzuwaschen als Sie, Herr Lorbach. Ich gratuliere Ihnen auch im Namen derjenigen, die Ihretwegen nach Bautzen oder in andere DDR-Strafanstalten kamen, zu Ihrer Karriere nach der Wiedervereinigung.« Eine steile Falte kerbte Edgar P. Lorbachs Stirn. Doch als der rücksichtslose Karrieremacher, der er war, konnte er nicht empfindlich sein. Er strebte Zweckbündnisse an, und zwar für die Zeit, für die er sie brauchte. Und er holte aus jedem Kontakt, ob ihm sein Gegenpart nun gefiel oder nicht, das für ihn Beste heraus. »Wollen wir uns denn streiten?« fragte er einschmeichelnd. »Wozu über die alten Geschichten reden? Das ist Schnee von gestern. Jeder beging schon in seinem Leben Irrtümer und Fehler. Ich gestehe, ich bin nicht frei davon.« Er legte die Hand auf sein Herz. »Ich schwöre, ich habe an den Sozialismus geglaubt. Das Herz ist mir aufgegangen, wenn ich die DDRNationalhymne hörte oder vor jungen Pionieren eine Rede hielt, und ich sagte ihnen immer mit vollster Überzeugung: Ihr seid die Zukunft! Dieses Land ist die Zukunft.« Von soviel Pathos und Heuchelei konnte einem schlecht werden. Ich verkniff mir äußerst gallige Kommentare. Schließlich war ich hier, um einen Werwolf zur Strecke zu bringen, nicht um die neuere deutsche Vergangenheit aufzuarbeiten. Oertzner murmelte, daß ich es gerade noch hörte: »Dem ist das Herz immer nach der Seite aufgegangen, auf der es am meisten zu holen gab. - Was soll's? Fettaugen schwimmen immer oben, ganz gleich, welche Suppe es ist. Das ist nun mal ein Naturgesetz.«
Lorbach hatte vielleicht doch etwas verstanden. Aber sein politisch geschultes Gehör war so fein, daß es vollautomatisch überhörte, wenn das angebracht war. Das ist auch eine Kunst. »Herr Oertzner, Herr Hellmann - Sie sind es doch?« »Ja. Der von '75, in alter Frische.« »Wir müssen gemeinsam beraten, was zu tun ist. - Tatjana, ich bin enttäuscht von dir. Unser Hausmädchen rief mich an, daß du dem Personal für heute abend Urlaub gegeben hast. Das wunderte mich. Deshalb verließ ich das Bankett, um hier einmal nach dem Rechten zu schauen. Den Wagen habe ich um die Ecke geparkt.« Bewaffnet war er wohl immer oder jedenfalls meistens. Das erwähnte er nicht extra. Lorbach wußte, weshalb er >umgeschnallt< ging, wie die Ganoven sagten. »Ist einer von euch verletzt?« fragte er Frau und Stieftochter endlich. Es war bezeichnend für diesen Mann, daß er nicht früher danach gefragt hatte. Tatjana und Soja schüttelten den Kopf. Lorbach murmelte: »Ich habe mit normalen Kugeln auf ihn geschossen, weil mir nichts Besseres einfiel. Genausogut hätte ich ihn mit Erbsen bewerfen können.« Mein Ring leuchtete kaum noch. Es fiel nicht besonders auf, man hätte es für einen besonderen Glanzeffekt halten können. In der Wohnhalle sah es noch immer wüst aus. Hier war einiges aufzuräumen. Mein Pistolenschuß hatte, falls er in der Nachbarschaft gehört worden war, keine Polizei auf den Plan gerufen. Ich ging dahin, wohin die Nagan geflogen war, fand sie jedoch nicht. Tatjana und Soja saßen auf der Ledercouch. Lorbach und ich standen als einzige. Das Klavier war eingeknickt und lag mit einer Ecke am Boden. Der Holzkloben, den der Werwolf hereingeschleudert hatte, lag daneben. Kopfschüttelnd betrachtete Lorbach die Bescherung. »Dieser Werwolf - wir hatten in der Vergangenheit schon einmal mit einem Werwolf zu tun, Tanja. Wer ist dieser, wo kommt er her?« Tatjana hob stolz ihr Kinn.
»Es ist Sergej, mein Mann. Er ist nicht tot. Ich habe ihn heute schon einmal gesehen, in seiner menschlichen Gestalt.« Sie fügte hinzu: »Bist du dir eigentlich dessen bewußt, daß unsere Ehe damit ungültig ist? Sergej wurde fälschlicherweise für tot erklärt. Meine Ehe mit ihm ist niemals geschieden worden.« Lorbach lachte auf. »Du hast vielleicht Sorgen, Tanja. Willst du lieber mit einem Werwolf verheiratet sein als mit mir?« Tatjana beantwortete ihm diese Frage nicht. Er hakte nicht nach. »Was wird hier eigentlich gespielt?« fragte er. »Kagunin ist wieder da, Hellmann, Oertzner, wir drei. Nur, daß Soja damals erst zwei Jahre alt gewesen ist. - Was hat das zu bedeuten?« »Daß Sergej Kagunin irgendwie in die heutige Zeit gelangt ist, Herr Lorbach«, sagte ich. Er schaute mich an. Etwas wie Verstehen blitzte in seinen Augen auf. Lorbach war sogar hochintelligent. Er erriet manches. »Der Werwolf, ja«, sagte er. »Und sein Jäger ist auch gleich mit in die heutige Zeit gelangt. Gehe ich in der Annahme richtig?« Alle sahen mich an. »Vielleicht«, antwortete ich. »Wie ist das möglich?« schnappte Lorbach. Ich schwieg. Engäugig musterte mich Lorbach. Er war etwas über mittelgroß, hatte ein schmales Gesicht und kalte, graue Augen. Er war ein sehr gutaussehender Mann. Doch wer ein Gespür dafür hatte, bemerkte die berechnende, kalte Ausstrahlung, die er hatte. »Sie wollen es mir also nicht verraten«, sagte Lorbach nach zwei Minuten des Schweigens. »Wahrscheinlich steckt eine üble Schwarze Magie dahinter. Da Sie nicht kooperativ mit mir sein wollen, möchte ich, daß Sie gehen. - Oder wollen Sie mir doch etwas erzählen?« »Da gibt es nichts zu erzählen.« Da hätte ich mich fast noch lieber mit Mephisto unterhalten. Ich nickte Tatjana und Soja zu. Damit gab ich ihnen zu verstehen, daß wir uns später unterhalten würden. Den Kontakt zwischen seiner Frau und der Stieftochter konnte und wollte Lorbach jedenfalls nicht verhindern. Der Fabrikant deutete zur Tür. Seine Miene war eisig. Edgar P.
Lorbach maßte sich an, alles zu überstehen und zu seinen Gunsten hindrehen zu können. Systemumschwünge vom Sozialismus zum Kapitalismus, der Fall der Berliner Mauer, Werwölfe, Unwetter, sämtliche Anfeindungen, einen Edgar P. Lorbach brachte nichts zu Fall. Er stolperte nicht mal, dachte er, zu gut waren seine Kontakte, er zu clever und viel zu erfahren, um Stolperstricke und Fallgruben zu erkennen. Ich nahm den Silberdolch vom Tisch und schaute mich suchend um. »Wo ist die Nagan?« fragte ich. Tatjana nahm ihre Handtasche von einem Tisch und holte die schwere russische Pistole heraus. Sie hatte sie vorher aufgehoben und in die Handtasche gesteckt. Als sie sie mir geben wollte, wehrte ich ab. »Behalten Sie die Pistole, mir reicht der Dolch. Können Sie mit der Nagan umgehen?« Stolz richtete Tatjana sich auf. »Ich bin die Frau eines Offiziers der Roten Armee«, antwortete sie mir. »Was für eine Frage! Ich bin mit meinem Mann zusammen in Garnisonsstädten und Kasernen gewesen. - Ich danke Ihnen sehr für die Waffe, Mark.« Ich winkte ab. »Gern geschehen.« Für Lorbach waren ihre Worte ein klarer Verweis. Er steckte ihn locker weg, zuckte nicht mal mit der Wimper und äußerte kein Wort des Dankes an mich, obwohl er sich denken konnte, daß es sich um eine mit Silberkugeln geladene Pistole handelte. Sie konnte für seine Frau und seine Stieftochter, vielleicht auch für ihn, lebensrettend sein. Wir verabschiedeten uns. Soja lief zu mir und küßte mich impulsiv auf den Mund. »Sie sind ein tapferer Mann und ein Held«, sagte sie. »Ohne Sie hätte uns der Werwolf umgebracht.« Sie schaute auf die blutigen Schrammen an meinem Oberkörper. »Sie sind verwundet. Wir müssen Sie verbinden, vielleicht sogar einen Arzt rufen.« »Das ist nicht nötig. Es sind nur ein paar Schrammen.« »Aber«, Sojas Blick war voller Sorge, »werden Sie jetzt auch von dem magischen Keim infiziert?« Der nächste Satz war ein
Schrei: »Werden Sie zum Werwolf, wie mein armer, unglücklicher Vater?« »Soweit ich weiß, wird die Lykanthropie durch Werwolfbisse übertragen«, antwortete ich. »Etwas anderes habe ich noch nie gehört.« »Hoffentlich.« Soja bebte. »Ich werde für Sie beten.« Ich stützte Rudi Oertzner, der noch wacklig auf den Beinen war. In der Diele zog ich die Lederjacke über mein zerfetztes Hemd. Lorbach schaute uns von der Tür zur Wohnhalle nach, als wir sein Haus verließen. Ich sagte ihm, daß ich meinen BMW in seiner zweistöckigen Garage hätte und ihn holen wolle. Er meinte, er hätte nichts dagegen. Zum Schluß sagte er noch: »Wenn Sie mein Haus noch einmal ohne meinen ausdrücklichen Wunsch oder meine Erlaubnis betreten, Herr Hellmann, zeige ich Sie wegen Hausfriedensbruchs an. Für Sie, Oertzner, gilt das sowieso. Wegen heute abend will ich noch einmal darüber hinwegsehen.« Wir beachteten ihn nicht mehr. Als wir vom Grundstück fuhren, sagte ich zu Rudi Oertzner: »Ein Glück, daß du den nach der Wiedervereinigung aus der Politik herausgehalten hast. Da hast du ein gutes Werk getan.« »Ja«, sagte Rudi, »das denke ich auch. Die Menschen in den Neuen Bundesländern bemühen sich redlich und arbeiten hart, um die Folgen von über vierzig Jahren Sozialismus zu überwinden. Fast alle Politiker sind anständig. Da kann man keinen Lorbach gebrauchen.« Ich ahnte nicht, daß Edgar P. Lorbach zu dem Zeitpunkt nur noch knapp zwanzig Minuten zu leben hatte. »Kennst du Lorbachs Auto?« fragte ich. »Er fährt mehrere.« »Aber doch wohl nicht gleichzeitig?« Rudi schüttelte den Kopf. »Dein Mundwerk ist unübertrefflich, Mark. Lorbach hat einen Mercedes, einen Jaguar und für etwas biederere Zwecke einen Opel Omega. Seine Frau und die Stieftochter haben eigene Autos.« »Er wird bald wieder wegfahren, schätze ich. Dann rufen wir in der Villa an. Vielleicht wollen Tatjana und Soja noch mal
persönlich mit uns sprechen.« Gleich um die Ecke, wie Lorbach gesagt hatte, parkte ein schwerer Mercedes. Ich hätte auch ohne Rudi Oertzner vermutet, daß das Lorbachs Auto war. Ich bog um die Ecke und hielt ein Stück weiter, Richtung Stadtmitte. Das war der kürzeste Weg, hier sollte Lorbach vorbeikommen. Wir warteten. Rudi bat um die Erlaubnis, eine Zigarette rauchen zu dürfen. Ich ließ das Fenster herunter, er steckte sich eine an. »Glaubst du, der Werwolf kehrt in dieser Nacht noch einmal in die Villa zurück?« fragte er mich. »Er hat gesagt, er kommt nächste Nacht wieder«, antwortete ich. »Beschwören würde ich es nicht. Lorbach, der diese Äußerung des Werwolfs gehört haben mußte, glaubt sie entweder, oder es liegt ihm nicht viel an Frau und Tochter.« Ich hielt es für möglich, daß wir uns diese Nacht noch einmal mit dem Werwolf von Eisenach herumschlagen mußten. Wie wir Tatjana und Soja am besten vor ihm beschützten, hatten wir mit ihnen noch abzuklären. Vielleicht, dachte ich, ist Lorbach ebenfalls in Gefahr. Kagunin haßt ihn sicher. Obwohl ich Lorbach nicht mochte, nahm ich mein Handy, ließ mir die Geheimnummer der Villa geben und rief an. »Hellmann hier. Eins möchte ich noch bemerken: Passen Sie auf, bewaffnen Sie sich, am besten mit geweihtem Silber. Es ist möglich, daß es der Werwolf auch auf Sie abgesehen hat.« »Danke, ich brauche kein Kindermädchen«, erwiderte Lorbach arrogant. »Mit Kagunin werde ich schon fertig. Was Ihre alte Nagan angeht, morgen beschaffe ich eine MPi, die Silberkugeln verschießt. Mit dem Werwolf werden wir auch ohne Sie fertig.« »Da wünsche ich viel Erfolg«, antwortete ich und beendete die Verbindung. »Großkotzig wie immer«, sagte Rudi Oertzner, der etwas mitgehört hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte Lorbach nur noch acht Minuten zu leben.
*
Ein Auto fuhr aus der Seitenstraße. Als es uns passierte, sahen wir, daß es sich um Lorbachs Mercedes handelte. Mit verbissenem Gesicht hockte er hinterm Steuer. Lorbach wollte zu seinem Bankett zurück, um die geschäftlichen Kontakte zu pflegen. Das bedeutete ihm mehr als alles andere. Ich griff schon zum Handy, um in der Villa anzurufen, als vor uns und vor dem Mercedes auf einem verwahrlosten Grundstück mit leerstehendem Haus ein großer Baum umstürzte. Die mächtige Ulme kippte genau auf die Straße. Lorbach trat voll auf die Bremse, als er die Baumkrone herunterrauschen sah. Nur das ABS verhinderte, daß er auf der glatten Fahrbahn schleuderte. Die Reifen quietschten kaum hörbar. Der schwere Mercedes blieb in der Spur. Die schnelle Reaktion des Fabrikanten verhinderte, daß der tonnenschwere Baum genau auf seinen Mercedes krachte. Der Jägerzaun zersplitterte. Es krachte noch lauter, als der Baum den Kühler des Mercedes zermalmte. Und es rauschte, prasselte und krachte, als dicke Äste und Zweige auf der Asphaltdecke der Fahrbahn zerbrachen. Blätter wirbelten auf. Dann lag der Baum ruhig da. Der zertrümmerte Motor des Mercedes zischte. Ein Scheinwerfer brannte noch und schickte seinen Lichtstrahl ins Blattgewirr. Die Karosserie hatte sich verzogen, die Frontscheibe war geborsten. Rudi und ich starrten hin. »Was war das?« fragte Rudi. »Der Baum ist nicht von selbst umgefallen.« »Das hat der Werwolf getan!« rief ich, obwohl ich noch nicht genau wußte, wie er das bewirkt hatte. Selbst mit seinen riesigen Kräften konnte er die große Ulme nicht entwurzelt haben. Ich schnappte mir den armenischen Silberdolch und sprang aus dem BMW. Wir waren ungefähr zweihundert Meter von dem Mercedes entfernt, den man als Totalschaden einschätzen konnte. Was mit dem Fahrer war, wußte ich noch nicht. Ich rannte die Straße entlang, so schnell ich konnte. Rudi, der noch angeschlagen war, humpelte hinter mir her. Als ich fünfzig
Meter zurückgelegt hatte, sah ich, wie ein schwarzer Schatten über den Jägerzaun sprang. Der Werwolf raste aufheulend zu dem Mercedes, in dem sich der Fahrer regte. Lorbach warf sich gegen die Tür. Sie klemmte, weil sich der Rahmen verzogen hatte. In der Villenstraße war der laute Krach selbst in den von der Straße zurückgesetzten Häusern gehört worden. Anwohner eilten auf die Straße. Ein vorbeifahrendes Auto hielt. Ohne daß ich es verhindern konnte, ereilte Lorbach sein Schicksal. Er konnte nicht aus dem Auto. Schreckensbleich sah er den Werwolf auftauchen, der Zweige zur Seite drückte. Die Zentralverriegelung des Mercedes war betätigt. Doch den Werwolf hielt das nicht auf. Er donnerte seine haarige Pranke durchs Türfenster, entriegelte die Tür, riß sie auf und zog den aufschreienden Fabrikanten aus dem Auto. Vergeblich sträubte sich Lorbach. Unter den Pranken und dem schrecklichen Gebiß des Werwolfs beendete er sein Leben. Die drei Insassen des VW-Passat, der an der Unfallstelle angehalten hatte, schauten schreckensbleich zu. Weitere Zeugen blieben an ihren Grundstückstoren stehen, wagten sich jedoch nicht näher heran. Ich spurtete noch schneller, den Silberdolch in der Faust. »Kagunin!« schrie ich. Der Werwolf ließ von seinem schrecklich zugerichteten Opfer ab. Er hob seine haarigen Pranken in Siegerpose, stellte den rechten Fuß auf die Leiche und heulte schaurig den Vollmond an. Ich hätte den Werwolf erledigt oder es zumindest versucht. Doch bevor ich ihn erreichte, vollführte er einen riesigen Sprung über die Baumkrone der gestürzten Ulme hinweg und verschwand auf der anderen Seite. Ich rannte um das Astwerk herum, den Dolch in der Faust. »Wohin ist die Bestie gelaufen?« fragte ich zwei bei ihren Grundstücken stehende Anwohner. Die eine Person, eine ältere Frau, war so bleich wie ein Laken. Sie schüttelte nur den Kopf und kriegte vor lauter Schrecken und Schock kein Wort heraus. Ihr Mann beugte sich über sie. Er deutete auf einen schmalen Pfad zwischen den Grundstücken gegenüber. »Dort ist er hin.« Ich verfolgte den Werwolf und beobachtete dabei genau meinen
Ring. Er leuchtete nicht besonders stark. Der Werwolf war wohl nicht in der Nähe. Um sicherzugehen, hielt ich den Ring gegen das sternförmige Mal auf meiner Brust, mit dem es eine besondere Bewandtnis hatte. Das aktivierte ihn stärker. Es war noch nicht sehr lange her, daß ich das wußte. Der Ring leuchtete jedoch schwach wie zuvor. Ich schaute mich um. Der Wind rauschte in den Bäumen. Am Himmel glänzte der Vollmond. Vom Werwolf war weit und breit nichts zu sehen. Ich wußte, wie schnell diese Bestie rennen konnte, wie leicht sie über Mauern und Zäune hinwegsetzte. Den Werwolf holte ich nicht mehr ein. Also kehrte ich um. Polizeisirenen näherten sich, noch bevor ich den dunklen Pfad verließ. Jetzt mußte ich mir eine gute Geschichte ausdenken, was ich den Polizisten, vor allem der Mordkommission, erzählte. Ich nahm, noch auf dem Pfad, mein Handy und rief in der Lorbach'schen Villa an, wo sich Tatjana und Soja aufhielten. Ich erreichte sie noch. Sie waren gerade von Nachbarn von dem Ableben Edgar P. Lorbachs unterrichtet worden. Tatjana war sehr geschockt. »Wir stellen uns einfach dumm«, sagte ich zu ihr. »Wer der Werwolf ist und woher er kam, wissen wir nicht. Ich gebe mich als Freund von Soja aus. Rudi ist ein Freund des Hauses.« »Ja«, flüsterte Tatjana nach einer Pause, die so lang war, daß ich schon glaubte, die Verbindung sei unterbrochen. »So machen wir es.« Ich steckte das Handy ein und ging auf die Straße. Zwei Funkstreifen mit flackerndem Blaulicht standen am Tatort, Drei Polizisten waren ausgestiegen und sicherten den Tatort. Ein vierter saß im Auto und sprach über Funk. Zahlreiche Schaulustige hatten sich eingefunden, und es wurden noch mehr. Tatjana und Soja kamen von ihrer Villa her. Sie hatten sich gegenseitig untergehakt, sie stützten sich. Rudi Oertzner stand ganz vorn bei den Schaulustigen. Ich drängte mich zu ihm durch und hörte dabei ein paar protestierende Personen, die ich zur Seite drängte. Jetzt sah ich Edgar P. Lorbachs Leiche ganz aus der Nähe. Sie sah gräßlich aus. Auf die Zuschauer übte sie eine grausige Faszination aus. Eine junge Frau, die Hand vor den Mund gepreßt, mit entsetzter
Miene, sagte immer wieder: »Ich kann das nicht sehen.« Sie wandte jedoch nicht den Blick von dem Toten. Am grausigsten war, daß der Werwolf Kagunin aus dem übergescheiten Wendehals Lorbach buchstäblich einen solchen gemacht hatte. Er hatte ihm nämlich das Gesicht auf den Rücken gedreht.
* Die Mordkommission traf ein. Die Beamten fragten nach Zeugen. Ich hatte mich mit Rudi Oertzner absprechen können. In Übereinstimmung mit Tatjana und Soja sagten wir aus, wir hätten die beiden Frauen in ihrer Villa besucht und seien von dort weggefahren. Lorbach habe uns überholt, und dann sei es passiert. Was für ein Monster ihn umgebracht habe, wüßten wir nicht. Tatjana und Soja gaben an, Lorbach sei kurz in der Villa gewesen und gleich wieder weggefahren. Von dem Auftauchen des Werwolfs in der Villa und den Schäden dort berichteten sie nichts. Wem er zum Opfer gefallen sei, wüßten sie nicht. Sie stünden noch zu sehr unter Schock, um mehr aussagen zu können. Die Mordkommission gab sich damit zufrieden. Den krummen armenischen Dolch zeigte ich offen und sagte, das wäre ein Sammlerstück, das ich Rudi Oertzner abkaufen wollte. Wir hätten den Dolch im Auto liegen gehabt. Inzwischen waren auch Reporter eingetroffen. Zusammen mit Rudi Oertzner schaute ich über den Jägerzaun auf den Stumpf der gestürzten Ulme im Garten. Ein Polizist leuchtete dorthin. »Einwandfrei mit einer Kettensäge angesägt«, stellte er fest. »Dann wurde der Baum von diesem Monster umgestoßen oder umgerissen.« Zwei Beamte der Mordkommission standen bei ihm. Die Spurensicherer waren schon an der Arbeit. Sie riefen den Leiter der Mordkommission, und er ging zu ihnen. Die Spurensicherer wiesen ihn auf die Prankenspuren des Werwolfs hin, die überall im Garten verteilt waren. Ein Beamter maß die Spuren aus und wunderte sich über die Größe. »Was für ein Wesen ist das?« fragte er. »Wer hinterläßt solche
Spuren, und wer verfügt über derartige Kräfte? Um den Baum umzureißen, so wie er angesägt wurde, braucht man einen schweren Traktor oder eine Motorseilwinde.« Ich hätte ihm einiges dazu erzählen können, unterließ es aber. Kagunin mußte den Mord an Lorbach geplant und die Ulme schon während des Tages angesägt haben. Nachbarn sagten prompt, sie hätten am späten Nachmittag die Kettensäge auf dem verwahrlosten Grundstück gehört. Aber es hatte sich keiner darum gekümmert. »Ein Maklerbüro hat den Auftrag, das Anwesen zu verkaufen«, sagte ein Nachbar. »Wegen des hohen Preises bleiben sie jedoch darauf sitzen. Die Besitzer leben im Ausland. Wir dachten, in ihrem Auftrag sollten das Grundstück hergerichtet und einige Bäume gefällt werden.« Wir fragten den Leiter der Mordkommission, einen Hauptkommissar, ob er uns noch brauchen würde. Er verneinte, unsere Personalien und Adressen waren notiert. Für dringende Rückfragen hatte ich meine Handynummer angegeben. Lorbachs Leiche war vom Polizeiarzt untersucht und von einem Fotografen der Mordkommission abgelichtet worden. Jetzt wurde sie in eine schwarze Plastikhülle gelegt, der Reißverschluß zugezogen. Der Polizeiarzt hatte amtlich Lorbachs Tod festgestellt. Jetzt hoben zwei Polizisten die Plastikhülle mit der Leiche in den schwarzen Leichenwagen, der den Toten in die Pathologie bringen würde. Bei den zahlreichen Verletzungen würden die Ärzte bei der Obduktion allerhand Arbeit haben. Schaudernd wandte ich mich ab. Lorbach war kein guter Mensch gewesen. Ich hatte ihn nicht gemocht. Aber ein solches Ende hätte ich ihm nicht gewünscht. Als wir weggingen, hörten wir verschiedene Theorien, was für ein Wesen Lorbach umgebracht hätte. Sie reichten von einem aus dem Zoo ausgebrochenen Gorilla über einen verkleideten Wahnsinnigen bis zu einem aus einem Gentechniklabor stammenden Monster. Wir hatten uns von den neugierigen Reportern, zu denen auch welche von der Zeitung zählten, bei der Rudi Vertriebsleiter war, strikt ferngehalten. Der Werwolf mit Kettensäge verwunderte mich. Da Kagunin jedoch in seiner menschlichen Gestalt damit vorgegangen war, war es so erstaunlich auch wieder nicht. Er hatte erst die Ulme
fachmännisch angesägt und sich später, nachdem er zuerst in der Villa Lorbachs gewesen war, auf die Lauer gelegt. Mit seinen ungeheuerlichen Kräften hatte er den Baum dann auf den Mercedes stürzen lassen. Ein Abschleppwagen für den Mercedes und ein Kranwagen der Feuerwehr, um den Baum wegzuheben, trafen ein, als wir weggingen. Rudi und ich begleiteten Tatjana und Soja zu ihrer Villa. Soja schluchzte. Das Gesicht ihrer Mutter, die einen Pelzmantel trug, war wie aus Stein. »Sergej hat wieder getötet«, murmelte sie. »Wo soll das noch hinführen?« Nachbarn wollten sie ansprechen und boten Beistand und Hilfe an. Tatjana blockte alles ab. »Danke, ich brauche niemanden«, antwortete sie. »Ich möchte nur bitte meine Ruhe haben.« In der Villa schenkte sie zuerst ein Glas Wodka ein. Das trank sie in einem Zug leer. Dann ging sie in einem Nebenzimmer an eine Art Hausaltar, auf dem ein orthodoxes Kreuz, eine in russischer Art gemalte Madonna und Ikonen standen. Vor diesem Hausaltar brach sie weinend zusammen. »Warum?« schrie sie. »Warum bist du zurückgekommen, Sergej? Was willst du von uns?« Das hatte sie kaum gesagt, als in dem Zimmer nebenan ein gellender Angstschrei von Soja ertönte. »Der Werwolf! Vater, nein!« Ich riß die Nagan-Pistole an mich, die Tatjana auf eine Sitzbank gelegt hatte, und raste ins andere Zimmer. Dort war die Bibliothek untergebracht. Der Werwolf hatte Tatjana zwischen zwei hohen Buchregalen gepackt und schüttelte sie wie ein Bündel. Soja stand neben ihnen und schlug mit einer zwanzig Zentimeter hohen Bronzebüste auf das Monster ein. »Nein!« rief sie wieder. »Du darfst Mama nicht töten. Sie ist deine Frau.« Die Schläge mit der Büste beeindruckten überhaupt nicht. Er hätte Tatjana umgebracht.
den
Werwolf
Rudi Oertzner war zur Toilette gewesen und stürzte jetzt mit dem Dolch herbei. Er wäre zu spät gekommen. Ich duckte mich
und zielte. »Weg da, Soja!« rief ich. Das dunkelhaarige Mädchen wich sofort zur Seite. »Kagunin!« schrie ich. Der Werwolf wollte Tatjana als Kugelfang vor sich halten. Aber ich war schneller. Ich feuerte dreimal auf ihn und traf ihn in die Seite. Die Nagan krachte wie eine Kanone im geschlossenen Raum und spuckte Mündungsfeuer. Der Werwolf wankte. Er lachte laut auf, was mich wunderte, ließ Tatjana los und verging wie ein Nebelstreif. Tatjana sank seufzend zu Boden. Wir liefen sofort zu ihr hin, trugen sie zu einer Couch, auf die wir sie betteten, und verarzteten sie. Die aparte Frau hatte keine ernsten Verletzungen erlitten, nur Schrammen. Sie stand unter Schock. Statt einen Arzt zu rufen, der nur allzu viele Fragen gestellt hätte, behandelten wir Tatjana mit kalten Umschlägen. Sie zitterte heftig, doch wie es aussah, würde sie sich bald wieder erholen. Plötzlich weiteten sich ihre Augen. »Da!« rief sie und schaute über meine Schulter zurück. Ich wirbelte herum. Ein Gebrüll ertönte. Kagunin, der Werwolf, stand im Salon, in den wir Tatjana gebracht hatten. Er sah aus wie zuvor, unverletzt, schwarz behaart, eine grausige Bestie. Mit einem Riesensatz sprang er mir an die Kehle. Ich schoß, traf ihn in der Luft, und er löste sich auf, gerade als er mich packte. Ich erhob mich. »Was war das?« fragte Rudi Oertzner. »Man kann ihn nicht töten«, antwortete ich. »Nicht in dieser Zeit, so wie er jetzt ist. Es gibt nur eine Methode dafür.« »Welche?« fragten Tatjana, Soja und Rudi. Ich entschloß mich, ihnen alles zu sagen. »Ich muß in die Vergangenheit reisen. Ins Jahr 1975. Ja, ich kann Zeitreisen unternehmen. Ich habe als Träger dieses Rings« - ich hob die Rechte hoch und zeigte ihn - »eine besondere Mission. Ihr habt mich 1975 schon kennengelernt, ich euch aber noch nicht. Weil ich nämlich jetzt erst in die Vergangenheit reise.« Rudi machte große Augen. »In die DDR im Jahr 1975? Kannst du mich mitnehmen? Wenn ich mit dem Wissen von heute dort
wäre und es meinem früheren Ich mitteilen könnte, würde sehr vieles anders laufen. Dann hätte ich ein anderes, besseres Leben und könnte viele Fehler vermeiden.« »Rudi«, sagte ich, »ich kann dir nicht abnehmen, deine Erfahrungen. zu machen. Sie gehören zum Leben. Gelebt ist gelebt. Du kannst nichts mehr ungeschehen machen. Außerdem, was gäbe das für ein Schlamassel? Du würdest dir selbst begegnen, einundfünfzig Jahre alt, deinem früheren Ich mit achtundzwanzig. Wenn das nun möglich wäre, was ich noch nie ausprobiert habe, würde es nicht nur dein Leben durcheinanderbringen. Noch viel mehr würde sich ändern. Vielleicht würdest du dann die Frau nicht heiraten, von der du im Westen geschieden worden bist. Dann würden auch deine beiden Söhne, die du dort hast, nicht geboren werden. Diese Menschen werden aber gebraucht. Kein Mensch lebt vergebens.« In Bierlaune pflegte ich, wenn ich sonst diesen Spruch brachte, hinzuzufügen: Wenn für nichts anderes, ist er immer noch als abschreckendes Beispiel zu gebrauchen. In dieser ernsten Situation verkniff ich mir diesen Spruch. »Nein, Rudi«, fuhr ich fort. »Das lassen wir lieber. Ich reise allein in die Vergangenheit, und, wenn ich meine Mission erfolgreich abgeschlossen habe, zurück in die Zukunft.«
* Werwolf tauchte noch einmal auf, ehe ich meinen Plan verwirklichen konnte. Diesmal erwischte ich ihn schon, als in der Villa, wo wir gerade aufräumten, die Luft flimmerte. Wieder bellte die Nagan. Der Werwolf verging, noch ehe er sich richtig materialisiert hatte. Soja schluchzte. »Soll dieser Schrecken denn nie ein Ende nehmen?« fragte sie. Wir hatten die Rolläden heruntergelassen. Die Villa war schalldicht, die Schüsse auf der Straße kaum zu hören. Tatjana lag immer noch auf der Couch. »Es wird Zeit«, sagte ich.
Ich ging allein, nur mit dem Dolch zu meinem Schutz, aus der Villa. Rudi blieb bewaffnet als Schutz für die beiden Frauen zurück. Inzwischen war es zwei Uhr früh. Der zertrümmerte Mercedes von Edgar P. Lorbach war abgeschleppt, die Ulme von der Feuerwehr zersägt und die Stücke auf dem Grundstück deponiert worden. Der Tatort war mit Plastikbändern abgesperrt. Glas- und Lacksplitter, Blätter und Holzstücke lagen noch herum. Ein einsamer Polizist stand Wache. Ich ging an ihm vorbei, schlüpfte in den dunklen Pfad und kletterte von der Seite über den Zaun auf das mit Büschen und Unkraut überwucherte Grundstück. Mein Ring strahlte schon die ganze Zeit, mal schwächer, mal stärker, als Zeichen dämonischer Aktivität. Ich versteckte den silbernen Dolch in einem hohlen Baum und zog mich bis auf die Haut aus, weil ich bei der Zeitreise nur meinen Ring mitnehmen konnte. Auch die Kleidungsstücke verbarg ich im Baum und duckte mich dann hinter einen Busch. Der Ring fing zu strahlen an, als ich ihn auf einen Prankenabdruck des Werwolfs richtete. Wie ein kurzer Laserstrahl brach es aus ihm hervor. Mit diesem Strahl schrieb ich die altgermanischen Runenbuchstaben für das Wort >Reise< aus dem Futhark-Alphabet auf den Boden. In dem Moment näherte sich der Polizist, der Verdacht geschöpft hatte. »Wer ist da?« fragte er. Der Beamte sah einen splitternackten hochgewachsenen, blonden Mann, der durchsichtig wurde und im nächsten Moment verschwunden war. Der Polizist rieb sich die Augen und schüttelte heftig den Kopf. »Das gibt es nicht«, stieß er hervor. Er überlegte eine Weile und beschloß dann, lieber keine Meldung zu erstatten. Sonst untersuchte man ihn noch auf seinen Geisteszustand, und die nächste Beförderung war im Eimer.
* Der Ring an meiner Hand brannte wie Feuer. Ich hörte seltsame, verworrene Laute. Licht explodierte in meinem Kopf. Ich vernahm Sphärenklänge und sah einen hellen, pulsierenden
Schacht, in den ich hineinfiel. Spektralfarben wirbelten. Ich schwebte über einem finsteren, gräßlichen Abgrund, und über mir war ein strahlendes Licht. Plötzlich erlosch es. Ich fiel auf den Boden. Diesmal hatte ich Glück. Ich erkannte das Haus und das Grundstück, obwohl sich einiges verändert hatte, wieder. Ich war an derselben Stelle gelandet, von wo ich im Jahr 1998 die Zeitreise angetreten hatte. Bei anderen Gelegenheiten war es mir schon anders ergangen. Mein ganzer Körper schmerzte, und ich war ein paar Minuten benommen. Mühsam kroch ich in die zu der Zeit, in der ich jetzt war, noch sehr gepflegten Büsche. Es war spät in der Nacht, was mir recht war. Im Haus, auf dessen Grundstück ich lag, brannte kein Licht. Sobald ich dazu in der Lage war, stand ich auf und schaute mich um. In einem Geräteschuppen fand ich alte Klamotten für die Gartenarbeit und zog sie erst einmal an. Darin stieg ich dann über die Mauer, wanderte mitten in der Nacht durch die Stadt Eisenach im Jahr 1975 und suchte Rudi Oertzner. Die Adresse hatte ich im Kopf. Es mußte zwei oder drei Uhr sein, so genau wußte ich es nicht. Sehr wenige Autos, für westliche Verhältnisse, standen am Straßenrand: Wartburgs, die hier gebaut wurden, Trabis und ein paar Tatras. Westautos sah ich überhaupt nicht. Plötzlich hielt ein Wartburg neben mir. Zwei Volkspolizisten stiegen aus. »Zeigen Sie mal Ihre Papiere«, verlangte der eine und leuchtete mir mit der Taschenlampe ins Gesicht. »Was haben Sie um die Zeit auf der Straße zu suchen?« »Ich bin mit Walter Ulbricht verabredet. Haben Sie einen Herrn mit einem Spitzbart gesehen?« Der Spruch kam mir wie von selbst über die Lippen. »Was?« rief der Vopo. »Frech werden wollen Sie auch noch? Der ehrwürdige Staatsratsvorsitzende ist 1973 im Alter von achtzig Jahren gestorben.« »Ah, dann kann er ja nicht kommen.« Die Vopos packten mich und wollten mir Handschellen anlegen. Ich nutzte die Chance. Die Straße war menschenleer. Mit schnellen, gezielten Hieben streckte ich die beiden Vopos nieder und schleifte sie in eine Einfahrt. Den Wartburg, in dem der Schlüssel noch steckte, fuhr ich an den Straßenrand. Dann zog
ich die Uniform des größeren Volkspolizisten an und beeilte mich, wegzukommen. Bald würde es Alarm geben. Ein paar Straßen weiter betrat ich das Mietshaus, in dem Rudi Oertzner wohnte. Das Haus war nicht abgeschlossen, viele Wohnungen ebenfalls nicht. Es war sicher auf den Straßen, die Kriminalitätsrate minimal, was allerdings eine Kehrseite hatte. Nämlich die der allgegenwärtigen Partei, Bespitzelung und ihrer Kontrolle. Ich pochte an Oertzners Tür. »Aufmachen!« »Volkspolizei!«
rief
ich,
als
er
sich
verschlafen
meldete.
So schnell hatte mir selten einer geöffnet. Hinter Rudi Oertzner, dreiundzwanzig Jahre jünger, als ich ihn aus dem Jahr 1998 kannte, stand eine bildschöne Blondine im Morgenmantel. Sie hatte hellblaue Augen, in denen jetzt Angst zu erkennen war. Der Besuch der Volkspolizei um diese Zeit bedeutete nie etwas Gutes. Ich erkannte die Blondine durch das Foto, das ich bei der Gauck-Behörde in Berlin in der Akte gesehen hatte. Es war Margot Oertzner, Rudis Schwester, anderthalb Jahre älter als er. Sie hatte die Haare in der Mode der Siebziger Jahre frisiert, also halblang, leicht toupiert und am Ende gekräuselt. »Ich recherchiere wegen dem Werwolf Kagunin«, sagte ich eingedenk der Worte, die mir Rudi Oertzner bei unserem Zusammentreffen im Zeitungsarchiv dreiundzwanzig Jahre in der Zukunft genannt hatte. »Lassen Sie mich herein!« Die beiden gehorchten. Wir setzten uns an den Küchentisch. Ich zog die Pistole und legte sie auf den Tisch. »Sie werden jetzt eine unglaubliche Geschichte hören«, sagte ich. »Wenn Sie danach wollen, können Sie mich der Volkspolizei übergeben. Ich bin kein Vopo, die Uniform habe ich einem abgenommen, den ich niederschlug.« Die beiden staunten. Ich erzählte, daß ich ein Spezialist aus dem Westen sei, der auf den Werwolf Kagunin angesetzt wäre. Mein einziges Bestreben wäre, den Werwolf zur Strecke zu bringen. Danach würde ich die DDR sofort wieder verlassen. Als ich geendet hatte, griff Rudi nach der Pistole. »Hände hoch!« sagte er. »Wenn Sie mich fragen, gehören Sie ins Irrenhaus.« Margot legte ihm die Hand auf den Arm.
»Leg das Schießeisen weg, Rudi«, sagte sie. »Ich glaube ihm. Mark Hellmann ist nicht verrückt, das spüre ich. Du hast mir von den Untaten des Werwolfs erzählt, der die Grenze unsicher macht, der einen DDR-Grenzer tötete, einen Flüchtling zerriß und zwei anderen wider Willen mit seinem Auftauchen zur Flucht über die Grenze verhalf. In der Zeitung dürft ihr nichts davon berichten.« »Ja«, sagte Rudi, damals achtundzwanzig. »Ich finde, daß du ihm helfen solltest. - Wie wollen Sie denn den Werwolf zur Strecke bringen, Herr Hellmann?« »Ich muß sein Versteck finden, in dem er sich tagsüber verborgen hält, dort eindringen und ihn mit einer Silberkugel oder mit einem silbernen Messer töten.« Die beiden schauten sich an. »Na hören Sie mal, Sie machen mir Laune, Sie Kapitalist«, sagte Rudi. »Silbernes Tafelgeschirr ist bei uns nicht gerade häufig. Und Silberkugeln, also wissen Sie? Dafür braucht man eine Sondergenehmigung.« »Was ist mit dem schwarzen Markt?« fragte ich. Rudi rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander. »Wie sieht es denn mit Devisen aus? D-Mark oder Dollar?« »Schlecht. Ich habe keinen Pfennig. Ich bin mit dem Fallschirm abgesprungen, aus einem Sportflugzeug, das im Tiefflug die Radarkontrollen unterflog. Leider habe ich meine gesamte Ausrüstung verloren. Grenzer jagten mich, ich mußte alles zurücklassen und entkam ihnen mit knapper Not.« Rudi zögerte. Meine Geschichte klang wirklich unglaublich. Aber die Wahrheit wäre noch unwahrscheinlicher gewesen. Irgendwie gelang es mir doch, die beiden zu überzeugen. Vielleicht lag es an meinem beschwörenden Ton, vielleicht an meinen treuherzigen blauen Augen. Viel spielte mit, daß sie die Republikflüchtlinge, wie sie sie nannten, vor dem Werwolf retten wollten. Rudi Oertzner war in seinem Herzen kein überzeugter Sozialist. Seine Devise lautete >Leben und leben lassen<. Den Schießbefehl an der Grenze zur BRD verabscheute er. Margot, seine Schwester, war Doktor-Ingenieur und mit ihren neunundzwanzig Jahren bereits Produktionsleiterin für Gelenkwellen und Getriebe bei Wartburg. Sie mußte enorm
tüchtig sein und vor allem systemtreu. Doch Schießbefehl an der Grenze war auch sie eingestellt.
gegen
den
»Es geht nicht an«, sagte sie, »daß auf Menschen geschossen wird, nur weil sie von einem Deutschland ins andere wollen.« Dann verstieg sie sich zu einer langen Rechtfertigung, weshalb der derzeitige Staatsratsvorsitzende Erich Honecker das nicht unterbinden konnte. Sie sprach von dem Erbe des Vorgängers, das er übernommen hatte, vom Druck der Machthaber im Kreml. Ich war jedoch nicht zu Politdiskussionen hergekommen. »Wie kann ich den Werwolf jagen?« fragte ich. »Wann erhalte ich meine Waffen?« Margot nickte. Rudi sagte: »Ich finde soviel wie möglich heraus. Was die Silberkugeln und das Messer betrifft…« »Darum kümmere ich mich«, sagte Margot. »Ich weiß da so einiges. In ein paar Tagen haben wir alles zusammen.« Vorsichtshalber, vielleicht hatte doch jemand gesehen, wie ich das Haus betrat und vor Rudis Tür stand, verließ ich das Haus. Margot schmuggelte mich in ihrem Trabi zu ihrer Wohnung. Dort kroch ich erst einmal unter. Margot schnitt mir am nächsten Tag nach ihrem Schichtarbeitsende bei Wartburg erst mal die Haare ab, obwohl sie das schade fand. Aber mit der Westmähne konnte ich '75 in Eisenach nicht herumlaufen. Mit Kleidern, die sie mir besorgte, bewegte ich mich in der Stadt. Ich sah viele russische Soldaten aus der nahen Kaserne, Volkspolizisten und Soldaten der Nationalarmee auf der Straße. Sie gehörten zum Straßenbild. Im Sozialismus jener Jahre war keineswegs alles eintönig und grau, wie das später behauptet wurde. Zwar gab es nicht alles zu kaufen, doch verhungern brauchte niemand. Böse Witze über die Mangelversorgung kursierten dennoch. Doch die DDR war im Aufschwung begriffen. Die Mauer, so übel sie war, verhinderte das Abwandern einer intellektuellen Oberschicht, die nun wohl oder übel aus den Zuständen in der DDR das Beste machte. Erich Honecker kam in den Siebziger Jahren flott daher, immer gepflegt, in der Öffentlichkeit immer agil und strahlend. Sein Lieblingswort war dynamisch. Mindestlöhne und Mindestrenten waren seit 1971, als Honecker
Erster Sekretär des ZK der SED wurde, angehoben worden. Die DDR war seit '73 Mitglied der UNO und hatte, was den sportlerfördernden Staat gewaltig freute, 1974 bei einem Spiel zur Fußballweltmeisterschaft die BRD 1:0 besiegt. Das Lebensniveau in der DDR war deutlich gestiegen. Trotz Weltwirtschafts- und Ölkrise, die damals die westlichen Industrienationen beutelte, gab es keine Arbeitslosen. Die Preise für Grundnahrungsmittel waren stabil. Mit S-Bahn und Straßenbahn fuhr man für zwanzig Pfennige. »Wir haben«, erzählte mir Margot mit leuchtenden Augen, »in unserem Staat 1975 das Jahr der Frau. Wißt ihr im Westen, daß die DDR mit der Zahl der Kindergärten, Krippen und Horte an der Weltspitze liegt? Deshalb können 85% der Frauen berufstätig sein. Junge Familien werden besonders gefördert. Wir sind die fortschrittlichste Nation der Welt.« Wir gingen Hand in Hand durch den Park. Danach aßen wir in einem HO-Restaurant, nachdem Margot schimpfend den Oberkellner auf Trab gebracht hatte. Sonst hätten wir zwei Stunden vor dem Restaurant gewartet, obwohl drinnen gähnende Leere herrschte. Hier herrschte ein übler Schlendrian. Ochs und Esel, wie es Honecker formuliert hatte, hielten den Sozialismus nicht auf, wohl aber die Bequemlichkeit und der Dünkel von manchen Genossen. Sie meinten, wenn schon alles dem Staat gehörte und sozialistisches Gemeinschaftseigentum war, brauchten sie sich persönlich nicht anzustrengen und könnten eine ruhige Kugel schieben. Eine umständliche Bürokratie tat ein Übriges, um später die Kluft zwischen Planvorgaben und Wirklichkeit immer mehr zu vergrößern. Der Kapitalismus zielte realistischer auf die Habgier des einzelnen und lag damit besser im Trend. Ab und zu wollte ich raus aus der Wohnung. Meine wahre Geschichte, daß ich nicht aus dem Westen war, sondern aus der Zukunft kam, verschwieg ich Margot noch immer. Ihr Optimismus und Schwung rührten mich. Ich brachte es nicht fertig, ihre in den Sozialismus gesetzten Hoffnungen zu zersetzen. Wozu sollte ich ihr erzählen, daß er bankrott gehen und scheitern würde? Sie würde es früh genug merken. An diesem Abend, am dritten Tag meines Aufenthalts in der DDR, gingen wir in Margots Wohnung zum ersten Mal ins Bett. Es
ergab sich, wir waren uns nähergekommen. Voller Leidenschaft nahm ich Margot. Sie war wunderschön, und sie klammerte sich an mich, bewegte sich im Einklang mit mir. Im Orgasmus stöhnte sie auf. Wir blieben die ganze Nacht zusammen in einem Bett. Der Körper des anderen war für jeden von uns ein Wunder, das er erforschen wollte und von dem er nicht genug bekommen konnte. Am übernächsten Tag schmuggelte mich Margot unter falschem Namen als angeblichen Ingenieur aus Halle, der sich hier bewerben wollte, bei Wartburg zu einer Produktionsbesichtigung ein. Für den Standard der Siebziger Jahre konnte der Maschinenpark mit westlichen Maßstäben seiner Zeit noch so einigermaßen mithalten. Bei aller Liebe zu Margot und meinem Interesse an der Vergangenheit der DDR, die ich nun mit eigenen Augen sah meine Mission rief. Doch noch war es nicht Vollmond. Bis dahin mußte ich noch eine Woche in der DDR zubringen. Ich wohnte bei Margot. Sie gab mich als ihren Freund aus Halle aus. Ich lernte Tatjana Kagunina kennen, wie sie damals noch hieß, und ihre zweijährige süße Tochter Soja. Rudi arrangierte das. Er wurde zu dem Zeitpunkt bereits bespitzelt, sein Telefon abgehört. Ein SED-Funktionär namens Lorbach, den ich mal von weitem sah, war besonders hinter ihm her. Er stellte, wie ich von Rudi und Margot hörte, auch der Kagunina nach und bot ihr Schutz für sich und die Tochter. In die UdSSR zurückgehen wollte sie nicht. Gleich nach der ersten Vollmondnacht hörten wir von Rudi Oertzner, daß der Werwolf am Todesstreifen wieder ein Opfer gefunden hatte. Wer es war, ob Flüchtling oder Grenzer, konnte selbst Rudi diesmal nicht herausbringen. Der Werwolf wurde von Spezialeinheiten der Roten Armee und der Nationalen Volksarmee gejagt, doch ohne Ergebnis. Er war bereits zweimal in ein Minenfeld geraten und mehrmals beschossen worden, was ihn nicht umbrachte. Silbermunition mochte niemand ausgeben. Vielleicht hatten ein paar Spezialisten welche, es entzog sich unserer Kenntnis. Dann jedoch erhielt Rudi von einem Grenzer, den er gut kannte, einen Hinweis, wo Kagunin tagsüber versteckt sein könnte. Zwei Nagans, Silberkugeln und ein silbernes Tafelmesser, das
scharfgeschliffen und spitz war, hatte Rudi besorgt. So war die Sachlage, als ich von Rudi und einem schneidigen Hauptmann der NVA geführt, bei Wartha an der Grenze den dichten Wald durchstreifte. Die Werra floß hier vorbei. Der Thüringer Wald, in dessen Ausläufern wir uns hier befanden, war ein Mittelgebirge mit zahlreichen Schluchten, Hügeln und Tälern. Unübersichtlich, wie er war, bot er viele Verstecke für einen Werwolf und auch für unerlaubte Grenzgänger und Republikflüchtlinge. Auch gab es hier ein paar alte Steinbrüche und Bergwerke. Der Hauptmann, der uns führte, hieß Ralf Henke. Dunkelhaarig, drahtig und etwas kleiner als ich. Glattrasiert, mit kurzem Haarschnitt. Ein Berufssoldat, den außer dem, was ihm die Militärakademie beibrachte, nicht viel interessierte. Schnaps und Weiber dagegen um so mehr. Wenn er den entsprechenden Befehl erhielt, hätte Henke es auch mit dem Teufel aufgenommen, zumal dieser kein DDR-Bürger war und als phantastische Ausgeburt des Kapitalismus galt. Dem Werwolf stand Hauptmann Henke skeptisch gegenüber. Er räumte zwar ein, daß es da Probleme gab. An ein übernatürliches Wesen mochte er jedoch nicht glauben. Er meinte eher, es würde sich um eine Mutation handeln, die von atomarer Strahlung herrührte. Oder von Chemieabwässern, vielleicht auch dem mißglückten Experiment irgendeines wahnsinnigen Wissenschaftlers. Henke, der mich für einen Spezialisten aus unbekannten Landen hielt, trug einen Flammenwerfer bei sich. Den Tornister mit dem unter Druck stehenden Gas- und Kerosingemisch hatte er auf den Rücken geschnallt. »Woher kommen Sie jetzt eigentlich?« fragte mich Henke, als wir oben am Rand eines Steinbruchs standen. »Das ist streng geheim«, antwortete ich, was er akzeptierte. Streng geheim war in der DDR vieles, im Militär- und Forschungsbereich sozusagen alles. »Hier geht es nur ums Ergebnis, die Eliminierung des republikschädlichen Ungeheuers.« Der Satz kam mir schwer über die Zunge. Henke nickte salopp. »Alles klar, Agent X«, sagte er. Unter
dem
Decknamen
hatte
mich
Rudi
Oertzner
ihm
vorgestellt. Henke war kein Dummkopf. Ob er Vorgesetzte informiert hatte, vielleicht sogar die Stasi, was mich betraf, wußte ich nicht. Jedenfalls ließ man mich erst einmal gewähren, in der Hoffnung, ich würde das leidige Werwolf-Problem aus der Welt schaffen. Später, dachte man beim MfS und der Stasi, konnte man mich dann festnehmen und verhören. Ich hatte vor, mich unmittelbar nach dem Erledigen des Werwolfs in die Zukunft abzusetzen. DDR-Flucht, die schlecht zu verhindern war. Die Umtriebe Henkes, die ich in Kauf nehmen mußte, hatten wohl auch zu der späteren Abschiebung von Rudi Oertzner geführt. Wir sahen die Grenze oben vom Steinbruch aus. Stacheldraht war gezogen. Alle anderthalb Kilometer stand ein Wachtturm. Der verminte Todesstreifen auf der DDR-Seite ließ sich im Vollmondund Sternenlicht deutlich erkennen, abgeholzt und kahl, wie er war. Im Wald patrouillierten Grenzpatrouillen der NVA (Nationalen Volksarmee) mit Schäferhunden. Bei den Wachttürmen, die auf Holz- oder Metallstreben standen, waren Scheinwerfer angebracht. Auch an manchen anderen Stellen. Im Bedarfsfall jagten die Grenzer eine Leuchtkugel hoch, die die gesamte Gegend in grelles Licht tauchte. Ich tastete nach der Nagan, die ich in den Hosenbund geschoben hatte. Auch Rudi Oertzner war bewaffnet. Ich lauerte, wollte auf die Reaktionen meines Magischen Rings warten. Irgendwo in dieser Gegend hatte der Werwolf Kagunin seinen Unterschlupf gefunden. Ich hatte mir Karten der NVA für die Sektion besorgen lassen und suchte sie nach Versteckmöglichkeiten ab. In einem ehemaligen Bergwerk vermutete ich den Tagesschlupfwinkel des Werwolfs. Wir wollten uns jedoch zuerst, da er in der Nacht jeweils umherstreifte, einen Überblick verschaffen, wofür der Platz, an dem wir uns jetzt befanden, bestens geeignet war. Dabei ahnte ich nicht, daß ich vom Jäger bereits zum Gejagten geworden war! Weit entfernt erscholl Wolfsgeheul im Wald. Wir schauten uns an. »Da ist das Monster«, sagte der Hauptmann Henke und umfaßte
die Düse seines tragbaren Flammenwerfers.
* Der Werwolf war tatsächlich da, und zwar schon viel näher, als wir gedacht hatten. Mein Ring prickelte plötzlich und leuchtete hell. Ich zog Pistole und Messer. Ein Stein flog aus dem Hinterhalt, von der Bestie mit barbarischer Kraft geschleudert. Er hätte mir glatt den Schädel zertrümmert. Doch instinktiv riß ich den Kopf zur Seite. Trotzdem kriegte ich noch eins ab, daß mir der Schädel dröhnte und ich die Waffen fallen ließ und in die Knie sank. Eine Brombeerhecke riß förmlich auseinander, als der Werwolf hervorsprang. Mit einem Tigersprung über zehn Meter flog er Rudi Oertzner an die Kehle und riß ihn um. Rudi schoß mit der Nagan. Trotz seiner Schießausbildung, die er während seiner Wehrpflicht absolviert hatte, verfehlte er die Bestie. Hauptmann Henke rannte hinzu und haute dem Werwolf, der geifernd über dem armen Rudi lag und ihn würgte, den Klappspaten ins Genick. Die Bestie heulte auf. Mit einem Rückhandschlag fegte sie den NVA-Hauptmann in die Brombeerhecke. Dann wollte sie Rudi umbringen. Ich sah die Szene im Mondlicht verschwommen. Vor meinen Augen wackelte alles, und es war wie bei einem unscharf eingestellten Teleobjektiv. Beim Umhertasten erwischte ich die am Boden liegende Nagan und schoß, so gut ich es konnte. Der Werwolf heulte auf, in die Schulter getroffen. Rudi lag röchelnd am Boden. Ich hatte mein Magazin leergeschossen und warf dem Werwolf die Nagan ins Monstergesicht. Er brüllte. Das Silber zersetzte seine linke Schulter und wirkte auf seinen Stoffwechsel ein. Ich lag auf Händen und Knien und konnte mich nicht erheben, angeschlagen, wie ich von seinem Steinwurf war. Die Bestie hätte mich glatt erledigt. Doch Hauptmann Henke betätigte nun seinen Flammenwerfer und badete den Werwolf förmlich in der meterlangen Flamme. Die Bestie brüllte entsetzlich. Ihre langen, zotteligen Haare am Körper und Schädel brannten lichterloh. Brennend, schwarz verkohlt, raste sie auf den
Hauptmann los und entriß ihm die Düse des Flammenwerfers. Es stank abscheulich nach versengtem Fleisch und nach verbrannten Haaren. Der Werwolf zerriß den Metallschlauch des Flammenwerfers wie einen Zwirnsfaden. Ich sah jetzt besser. Mein Ring leuchtete. Damit eine magische Waffe herstellen, wollte ich nicht, dafür hatte ich ja das Silber. Im Leuchten des magischen Rings sah ich mein silbernes Messer. Das packte ich und rannte zum Werwolf. Er hatte den NVA-Hauptmann im Griff, hob ihn mit Urkraft hoch und warf ihn mir entgegen. Henke flog wie eine Puppe über mich weg, als ich mich fallen ließ, über die Kante am Rand des Steinbruchs hinaus. Ich hörte noch seinen Schrei, der jäh abbrach, als er achtzig Meter tiefer landete. Dann ertönte eine Explosion, Feuerschein lohte. Der Tank des Flammenwerfers war explodiert und hüllte den tapferen Offizier in Flammen ein. Henke war nicht mehr zu helfen. Ich sprang auf. Mit qualmendem, schwarz versengtem Körper ging der Werwolf auf mich los, die rechte Pranke erhoben. Die linke Schulter der Bestie hatte sich glatt aufgelöst durch die Silberkugel. Trotzdem war Kagunin, wie ich ihn kaum noch nennen wollte, nach wie vor ein mörderischer Gegner. Rudi Oertzner konnte mir nicht helfen in diesem Kampf. Der Werwolf hatte ihn fast erwürgt. Ich tauchte unter dem Prankenhieb der Bestie weg, stieß mit dem silbernen Messer zu. Dann begann ein furchtbarer Kampf, an den ich mich später nur noch nebelhaft erinnerte. Wir kämpften, zum Glück traf mich die Pranke des Werwolfs nicht voll, und es gelang mir, seinem Monstergebiß zu entgehen. Immer wieder stach ich zu. Dann lag ich unter dem Werwolf, mit Kopf und Schultern über dem Abgrund. Das schwarze Gesicht mit den rotglühenden Augen und dem weitaufgerissenen Rachen näherte sich meiner Kehle. Noch einmal führte ich einen Stich aus, instinktiv, obwohl ich kaum noch ein Quentchen Kraft übrig hatte. Diesmal traf ich sein Herz. Der Werwolf ließ mich los. Ich versetzte ihm einen Stoß, und er stürzte ab, achtzig Meter tief. Keuchend schaute ich über den Klippenrand oben am Steinbruch. Das zähe schwarzmagische Leben hatte den Werwolf noch nicht verlassen.
»Mephisto«, schrie er, und auf Russisch; »Satan, erhöre mich! Laß deinen treuen Diener nicht sterben.« Eine schwarze, hagere Teufelsgestalt erschien und breitete ihren außen schwarzen und innen roten Umhang über den sterbenden Werwolf. Mephisto, er war es wieder einmal, der meinen Weg kreuzte, schaute zu mir herauf. »Ihr seid noch nicht fertig miteinander, mein Freund«, sagte er spöttisch zu mir. »Du siehst meinen treuen Diener Kagunin wieder.« Dann waren beide verschwunden.
* Der Rest ist schnell erzählt. Dem armen Henke war nicht mehr zu helfen. Ich leistete Rudi Oertzner Erste Hilfe, gab ihm ein paar Verhaltensmaßregeln und zog mich zurück. Die Schüsse aus den Nagans waren gehört worden. NVA-Soldaten und Grenzer rückten bereits heran. Ich nahm Rudis Nagan und die Ersatzmunition. Mein Messer hatte ich verloren und fand es nicht wieder. Rasch eilte ich zu dem stillgelegten Bergwerk. Mein Ring leuchtete stark. Ich war auf der richtigen Spur. Es krachte, als ich die Bohlen wegriß, die den Zugang zum Stollen versperrten. Das silbrige Licht meines Rings reichte als Beleuchtung so einigermaßen. Der Ring führte mich hinunter, zu einem Schacht, in den Steigeisen gehauen waren. Auf seinem Grund fand ich einen riesigen, verzerrten Schatten mit glühenden Augen. Es war Kagunins Seele oder das Böse in ihr, monströs verzerrt. Mephisto hatte sie hier untergebracht und den Werwolf ins Jahr 1998 geschickt, wo ich ihn dann zuerst kennenlernte. Der Megadämon selbst war nicht da. Ich fackelte nicht, ich schoß. Mit einem Wimmern löste sich der riesige Schatten auf. Eine schwarze Fledermaus flog kreischend an mir vorbei. Ausgelaugt stieg ich wieder hoch. Als ich den Stollen verließ, strahlten mich Handscheinwerfer grell an und blendeten mich. »Ergeben Sie sich!« hörte ich DDR-Grenzerstimmen. »Werfen
Sie Ihre Waffe weg!« Ergeben ließ ich die Nagan fallen, preßte jedoch den Ring auf mein sternförmiges Mal auf der Brust. Das Hemd war vom Werwolf zerfetzt, aufzuknöpfen brauchte ich nichts. Der Ring sandte einen kurzen Laserstrahl aus. Die dämonische Energie, die hier vorhanden war, genügte, um ihn zu erzeugen. »Was haben Sie da?« fragte ein Grenzer. Ich sah seine auf mich gerichtete Maschinenpistole. »Wenn das ein Trick ist, werden Sie sofort erschossen.« »Immer mit der Ruhe«, antwortete ich kaltblütig, obwohl mir nicht danach zumute war. Nach all meinen Abenteuern wollte ich nicht 1975 von einem DDR-Grenzer mit übernervösem Zeigefinger durchlöchert werden. »Wenn Sie schießen, berauben Sie die Deutsche Demokratische Republik einer wichtigen Informationsquelle und einer völlig neuen Technologie!.« Daraufhin schrieb ich mit dem Ring die Futhark-Runen für >Reise<. »Packt ihn!« befahl der Patrouillenführer. Sein dummes Gesicht und das seiner acht Untergebenen, als ich mich auflöste und spurlos verschwand, sah ich leider nicht mehr.
* Nach der Zeitreise durch die Dimensionen landete ich exakt wieder auf dem Grundstück im Villenviertel von Eisenach, im Jahr 1998. Als ich mich von der Zeitreise ausgeruht hatte, holte ich mir meine Kleider, den Dolch und auch meine Uhr aus dem hohlen Baum. Im Jahr 1998 war nur eine halbe Stunde vergangen. Ich schlich mich vom Grundstück und erreichte die Villa Lorbach. Dort ließ man mich ein. Kagunin in seiner menschlichen Gestalt lag tot vor dem orthodoxen Hausaltar von Tatjana. Dorthin hatte er sich mit letzter Kraft geschleppt. Seine Hände waren zum Gebet gefaltet. Rudi Oertzner saß in der Ecke auf der Bank, die Nagan in der Hand, die herabbaumelte. Er sah sehr erschöpft aus. Soja zündete eine Kerze vor der Madonna an. Tatjana hatte den
Kopf ihres Mannes in ihren Schoß gebettet. Seine Züge waren entspannt und friedlich. Ein Lächeln lag noch um seinen Mund. »Sergej Nikolajewitschs Seele ist erlöst«, sagte Tatjana und schluchzte. »Der Keim des Bösen, der ihn zum Werwolf machte und zu all seinen Untaten trieb, ist von ihm gewichen. - Mein armer Mann hat die ewige Ruhe gefunden.« Wegen Edgar P. Lorbach, mit dem sie zu Recht oder Unrecht über zwanzig Jahre lang verheiratet gewesen war, hatte sie keine Träne vergossen. Mein Ring strahlte nicht, als ich mich über Kagunin beugte. Es mußte den Werwolf, der nochmals im Jahr 1998 aufgetaucht war, erwischt haben, als ich 1975 im Bergwerk den schwarzen Schatten erschoß. Den bösen Teil seiner Seele. Oertzner bestätigte das knapp. »Der Werwolf war plötzlich da«, sagte er. »Doch dann heulte er auf und verwandelte sich. Als nackter Mensch, wie du ihn hier siehst, brach er in der Wohnhalle zusammen und kroch noch zum Hausaltar. Hier ist er gestorben.« »Er soll ein christliches Begräbnis erhalten«, sagte ich und machte mir noch kein Kopfzerbrechen, wie man das Vorhandensein der Leiche erklären wollte, die es eigentlich schon lange Zeit nicht mehr hätte geben dürfen. Mephisto hatte die Hände im Spiel gehabt. Wäre ich nicht, 1998 vorgewarnt, dem Werwolf nach dem Sturz von der Steinbruchklippe ins Bergwerk gefolgt, wäre er immer wiedergekommen. Solange der schwarze Schatten im Bergwerk existierte, hatte man den Werwolf im Jahr 1998 nicht töten können. Ich setzte mich, ich war völlig fertig. Während der Zeitreise waren meine Haare übrigens wieder nachgewachsen, in den Zustand also, wie sie beim Zeitsprung ins Jahr 1975 gewesen waren. Kurz überlegte ich, ob ich Margot Oertzner wiedersehen wollte, die inzwischen zweiundfünfzig war und in Leipzig lebte. Ich entschied, daß lieber zu unterlassen. Ich wollte sie so im Gedächtnis behalten, wie ich sie 1975 in Eisenach kennengelernt hatte. Jung, bildschön, erfolgreich und von einem rührenden Glauben an die Zukunft des Sozialismus erfüllt, der sie, genauso wie ich, der sie damals verließ, bitter enttäuscht hatte. Das war ja wohl alles Schicksal.
Wegen Dieter, ihrem Sohn, wollte ich Rudi noch genauer fragen. Doch nicht mehr in dieser Nacht. ENDE Auf der Elbinsel Brook, vor den Toren der Freien und Hansestadt Hamburg herrschte am 23. Oktober 1401 ein großes Gedränge. Auf der Weidefläche der Insel, die auch als Richtstätte diente, sollten an diesem Tage der berüchtigte Seeräuber Klaus Störtebeker und vierzehn seiner Vitalienbrüder enthauptet werden. Darunter auch ich, Mark Hellmann, geboren im Jahr 1970, und durch eine Zeitreise in die Vergangenheit gelangt.
Ich war Störtebekers Maat heißt der Mark Hellmann Band 10, sicherlich der bisher spannendste Roman dieser noch jungen Roman noch jungen Gruselserie von C.W. Bach.