Terra Astra 321
Der Zeit-Zauberer von
PETER TERRID
Die Abenteuer der Time Squad – 4. Band
Die Hauptpersonen des Roma...
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Terra Astra 321
Der Zeit-Zauberer von
PETER TERRID
Die Abenteuer der Time Squad – 4. Band
Die Hauptpersonen des Romans: Don Slayter und Demeter Carol Washington - Chefs der Time-squad Tovar Bistarc und Inky -Agenten des Time Intelligence Corps Marleen deVries - Eine Studentin macht sich Sorgen um ihren Vater Petantes - Hafenmeister von Atlantis Valcarcel - Der Zeit-Zauberer schlägt wieder zu
1.
„Machen wir uns nichts vor", sagte Don Slayter mißmutig. Der Chef der Time-squad (Abteilung San Francisco) lief unruhig in seinem Zimmer auf und ab. Inky und ich hatten in den Sesseln Platz genommen. „Die Operation Zeit-Piraten war ein glatter Reinfall. Wir wollten ein bestimmtes Konstruktionsgeheimnis der gegnerischen Anlage erobern. Statt dessen haben wir ein Schiff verloren und uns mehr als ein Dutzend neugieriger Mitwisser aufgeladen, die uns schwer zu schaffen machen werden!" Ich machte ein schuldbewußtes Gesicht. Ich war der Leiter der Aktion gewesen, und damit fiel auch die Verantwortung für einen Fehlschlag auf mich. Ungerührt setzte Slayter seine Litanei fort. „Und der einzige greifbare Beweis für diese Aktion, der Zauberer Valcarcel, löst sich in Luft auf. Er ist betäubt und förmlich versteinert, aber er schafft es, sich beim Transport durch die Zeit verschwinden zu lassen. Die verwackelten Fotografien, die Sie mitgebracht haben, können wir ins Archiv stecken - unsere Wissenschaftler bringen sie keinen Schritt weiter." „Sie hätten mitreisen sollen, Chef", warf Inky trocken ein. „Dann wüßten Sie, daß wir mehr als zufrieden sind. Wir haben es nämlich geschafft, unser Leben zu retten, und das war unter den Umständen am Zielort schwierig genug!" Slayter winkte ab. „Ich gebe Ihnen recht, Inky. Aber verraten Sie mir einmal, wie es weitergehen soll? Wir, die Time-squad, haben Zeitmaschinen; das hört sich gut an, gewiß. Aber der Gegner, von dem
wir nicht einmal den Namen kennen, verfügt über Maschinen, die unseren Modellen weit voraus sind. Wie weit voraus, das konnten Sie bei Ihrem letzten Einsatz spüren. Der einzige brauchbare Hinweis, den wir hatten, war die Spur, die nach Port Royal führte. Damit ist es aus, wir wissen nicht mehr weiter. Jetzt bleibt uns nur eines übrig - wir müssen warten, bis der Gegner den nächsten Zug macht. Wie dieser Zug aussieht, wage ich mir nicht auszumalen." Eine Zeitlang war es still in dem kleinen Konferenzzimmer. Genaugenommen wußte jeder, daß die andere Partei recht hatte. Natürlich hatten wir unser Ziel nicht erreicht, auf der anderen Seite war Slayter heilfroh, daß wir überhaupt zurückgekehrt waren. Der Einsatz in der Piratenhöhle Port Royal im ausgehenden siebzehnten Jahrhundert lag genau sechs Tage hinter uns. Unsere Begleiter waren zu ihren Einheiten zurückgeschickt worden, während sich Spezialisten der Time-squad die Köpfe darüber zerbrachen, was sie mit den englischen Seeleuten tun sollten, die wir in unsere Zeit gerettet hatten. Wahrscheinlich würden Monate vergehen, bis man den Leuten klargemacht hatte, daß es keineswegs etwas mit Hexerei zu tun hatte, wenn mit einem Knopfdruck die elektrische Beleuchtung eingeschaltet wurde. „Einen wesentlichen Punkt haben Sie noch vergessen, Chef", bemerkte ich. „Mir ist dieser Zusammenhang selbst erst in der letzten Nacht klargeworden." „Reden Sie, Bistarc!" fauchte Slayter. Er setzte sich auf seinen Sessel hinter dem Schreibtisch und stopfte sich eine Pfeife. „Machen Sie es nicht so spannend!" „Ziel des Unternehmens Zeit-Piraten war die Stadt Port Royal. Dort sollte es nach unseren Informationen einen Stützpunkt des Gegners geben." „Erzählen Sie mir nichts, was Sie von mir erfahren haben", knurrte Slayter. „Als Zielzeit wurde ein Datum kurz vor dem siebten Juni 1692 festgelegt. An diesem Tag wurde Port Royal von einem Erdbeben vernichtet und von der See überflutet." „Das weiß ich", fuhr mir Slayter dazwischen. „Wir haben den Stützpunkt gefunden", setzte ich meine Überlegungen fort. „Er war, wie uns die Gefangenen verraten haben, erst vor kurzer Zeit eingerichtet worden. Wir konnten feststellen, daß die Anlage zweifellos als Dauereinrichtung geplant war. Nun wurde aber der Stützpunkt zusammen mit Port Royal vernichtet." Slayter stieß einen leisen Seufzer aus. „Ich habe Ihnen folgen können", sagte er wehleidig. „Wollen Sie nicht endlich zum Kern der Sache kommen." „Der ist längst erreicht. Wir wissen leider nicht, ob Port Royal von sich aus versank, oder ob die Vernichtung des gräßlichen Gallertenwesens im Stützpunkt für das Erdbeben verantwortlich ist. In jedem Fall existiert Port Royal nicht mehr, seit dem 7. Juni Anno Domini 1692. Der Untergang der Stadt ist eine historische Tatsache." „Mann, kommen Sie doch endlich zur Sache", fauchte Slayter. Inky richtete sich in seinem Sitz kerzengerade auf. Seine Augen weiteten sich. Er hatte begriffen. „Würden Sie einen Stützpunkt für die Time-squad im Jahre 79 nach Christus anlegen? Vor dem 24. August, und zwar in Herculaneum?" Über den Schreibtisch hinweg beäugte mich Slayter mißtrauisch. „Was hat es mit diesem Datum für eine Bewandtnis?" fragte er. Inky übernahm die Antwort. „An diesem Tag brach der Vesuv aus und begrub die Städte Herculaneum und Pompeji unter Lava."
„Natürlich nicht", erklärte Slayter empört. „Ebensowenig wie im Jahre 1945 in Hiroshima.
Die Time-squad ist schließlich keine Organisation
von Selbstmördern."
„Eben", sagte ich nachdrücklich.
„Eben deswegen frage ich mich, wer einen fast neuen, unerhört aufwendigen Stützpunkt
ausgerechnet kurz vor dem Untergang von Port Royal in der Nähe dieser Stadt anlegt."
Slayter ließ seine Pfeife fallen und schlug die Hände vor das Gesicht.
Länger als eine Minute verharrte er in dieser Stellung, dann sah er wieder auf. Sein Gesicht
war fahl, von Schrecken gezeichnet.
„Das kann ein Fehler sein", murmelte er. „Der Gegner hat nicht aufgepaßt, das wird es sein."
„Unser Gegner ist nicht dumm, Chef", gab ich zurück. „Es gibt nur zwei Möglichkeiten:
entweder war dieser Stützpunkt nur eine Falle, die man für uns gebaut hat, oder ..."
Slayter hatte Kraft genug, den Gedankengang selbst fortzusetzen.
„... oder er kennt sich in der irdischen Geschichte nicht aus. Ihm ist Denken in historischen
Kategorien fremd, jedenfalls was irdische Verhältnisse angeht. Das kann nur eines
bedeuten..."
Diesmal war es Inky, der den Satz fortführte.
„... daß dieser Gegner nichtirdischen Ursprungs ist."
Schweigen breitete sich in dem kleinen Konferenzimmer aus, ein bedrückendes Schweigen.
Minuten vergingen, in denen wir uns ausschließlich mit unseren Gedanken beschäftigten.
Die schrecklichen Konsequenzen meiner Überlegungen waren mir erst in der letzten Nacht
klargeworden. Ich hatte von unserem letzten Einsatz geträumt, vor allem von jenen Szenen,
deren Anblick uns erspart geblieben war - dem Untergang des Piratennestes Port Royal.
Szenen, wie sie sich zwischen den zusammenstürzenden Häusern abgespielt haben mußten,
hatte ich nie selbst erlebt - aber es gab immerhin eine rührige Filmindustrie, die immer
wieder gerade solche Katastrophen nachgespielt hatte, angefangen bei der Eroberung Trojas
über den von Nero verursachten Brand Roms bis hin zum großen Erdbeben von San
Francisco. Meine Phantasie hatte diese Filmbilder aufgegriffen.
Schweißgebadet war ich aufgewacht, und in der Zeit, die ich gebraucht hatte, um wieder zu
mir zu finden, war mir die Erkenntnis gekommen. Immer wieder hatten Naturkatastrophen in
das Leben der Menschen
eingegriffen, und fast jedem Menschen auf der Erde waren mehrere Katastrophen bekannt,
die sich in längst vergangenen Jahrhunderten
abgespielt hatten. Hätte ich einem Nordamerikaner vorgeschlagen, eine Station der Time
squad in San Francisco anzulegen, und zwar der Vergangenheit - er hätte sofort in einer ganz
bestimmten Art und Weise reagiert. Er hätte gewarnt:
„Vorsicht, in San Francisco hat es mehrere fürchterliche Erdbeben gegeben. Seht zu, daß ihr
euch sichere Jahre aussucht!"
Bei der Nennung irgendeines anderen Namens hätte mir jeder Durchschnittsbürger
vermutlich geraten, erst einmal nachzublättern, was in der Vergangenheit in diesem Ort
geschehen war. Dieses Sicherheitsbedürfnis war elementar. Es stützte sich auf das Wissen
nahezu
jedes Erdbewohners, daß früher oder später fast jeder Winkel der Erde von Seuchen,
Hungersnöten, Kriegen oder Naturkatastrophen heimgesucht worden war.
Es erschien mir unvorstellbar, daß der Erbauer einer Station mit einer Zeitmaschine diese
Tatsachen einfach nicht beachtete. Es gab nur eine denkbare Erklärung dafür, daß unser
unbekannter Gegner dennoch so gehandelt hatte - er war an Katastrophen einfach nicht
interessiert.
Vorgänge, bei denen Hunderttausende von Menschen getötet worden waren, waren für ihn
belanglos. Sie besaßen für ihn den gleichen Stellenwert wie für mich die Nachricht, daß
irgendwo im Innern Afrikas ein Termitenvolk verhungerte.
Für mich stand fest: wer immer die Station in Port Royal angelegt hatte, dachte nicht in menschlichen Bahnen. Ich sah keine andere Möglichkeit als diese: der Gegner der Time squad war außerirdischen Ursprungs. „Ich muß etwas unternehmen", murmelte Slayter. Sein Gesicht drückte deutlich seine Betroffenheit aus. „Ich muß die Zentrale informieren!" Mit schleppenden Schritten ging er zum Video hinüber. Ein kleiner Schlüssel stellte die geheime, unmittelbare Verbindung mit der Zentrale der Time-squad her. Der Bildschirm wurde hell, dann tauchte das Gesicht jenes Adjutanten auf, der angeblich William Smith hieß und das Vorrecht besaß, als Sekretär in unmittelbarer Nähe unserer Chefin arbeiten zu dürfen. „Stellen Sie sofort eine Leitung zur Chefin her", sagte Slayter erregt. Smith zog die Brauen in die Höhe. Die Geheimratsecken, dank seiner Stoppelfrisur ohnehin nicht zu übersehen, vergrößerten sich noch mehr. „Die Chefin schläft bereits, Sir", wandte er ein. „Sie vergessen, daß es bereits später Abend ist!" „Stellen Sie die Verbindung her, Mann", knurrte, Slayter. Er konnte sehr freundlich sein, aber es gelang ihm auch vorzüglich, eine magenkranke Bulldoge zu imitieren. „Es geht um Leben oder Tod!" Smith zuckte mit den Schultern. Inky und ich sahen uns an und schüttelten fast synchron die Köpfe. Dieser Smith war wirklich ein Klotzkopf von einem Mann. Das Bild flackerte kurz, dann tauchte ein verwuschelter roter Haarschopf vor der Linse auf. „Slayter", murmelte D. C. schlaftrunken. „Was gibt es?" Hastig trug Slayter meine Überlegungen vor. Er war fair genug, deutlich klarzumachen, daß diese Überlegungen keineswegs von ihm stammten. „Deswegen wecken Sie mich?" fragte D. C. gähnend. „Lieber Freund, was Sie da sagen, war mir bereits klar, als ich Bistarcs ersten Bericht in Händen hatte, also vor mehr als sechs Tagen. Ist Bistarc da?" Ich drängte mich vor das Objektiv des Geräts und winkte freundlich. Einmal mehr stellte ich fest, daß sie nicht nur ausnehmend attraktiv war, sondern auch über einen bewundernswerten Verstand verfügte. Nur ihr Charakter ließ oft zu wünschen übrig. „Ich wollte Sie morgen ohnedies anrufen. Hören Sie zu!" „Das tue ich immer, wenn Sie etwas sagen", beeilte ich mich zu versichern. D. C. lächelte säuerlich. Gegen Komplimente schien sie ähnlich gepanzert zu sein wie die Goldvorräte in Fort Knox gegen Diebe. Ich brauchte mich gar nicht erst umzudrehen, um mich zu vergewissern, daß Inky hämisch grinste. „Wir haben Anhaltspunkte, daß unser Freund Valcarcel noch einige andere Stützpunkte unterhält, davon einige in der Zeit der europäischen Kolonisation. Englisch ist Ihre Muttersprache, Spanisch und Portugiesisch beherrschen Sie ebenfalls. Wie steht es mit anderen Sprachen?" „Französisch leidlich", antwortete ich. „Mein Niederländisch läßt allerdings zu wünschen übrig." „Gut. Ich bewillige Ihnen einen kleinen Bildungsurlaub. Sie brechen morgen auf. Ich werde die niederländische Time-squad informieren, daß man Ihnen eine Unterkunft und Lehrmaterial besorgt." Ich begann zu ahnen, daß hier eine kleine Schiebung vorbereitet wurde. Inkys triumphierendes Grinsen war förmlich fühlbar. „Haben Sie auch einen Auftrag für meinen Freund?" erkundigte ich mich mißtrauisch.
„Er wird zur Zentrale abgestellt." Ich brauchte mich nicht umzudrehen. Inkys Mundwinkel mußten inzwischen an den Ohren angelangt sein. „Sie brauchen nicht zu grinsen, Inky. Ich habe bereits einen Konditionstrainer für Sie besorgt. War das alles? Ja? Dann wünsche ich eine angenehme Nacht!" Schlagartig verdunkelte sich der Bildschirm. Ich kam nicht einmal mehr dazu, mich mit wohlgesetzten Worten von ihr zu verabschieden. Enttäuscht drehte ich mich um. Inkys Grinsen war verschwunden, dafür lächelte jetzt Don Slayter. „Ihr solltet euch sehen", kicherte er. „Wie zwei Schuljungen beim ersten Rendezvous!" „Pah!" machten Inky und ich gleichzeitig. Ein Glück, daß wenigstens Slayter zu alt und zu verheiratet war, um uns ins Gehege zu kommen. „Sie wissen also, was Sie zu tun haben", sagte Slayter. „Ich werde mich dem Beispiel der Chefin anschließen und mich ebenfalls zur Ruhe begeben." Wir grüßten und zogen uns zurück. Inkys Apartment lag neben meinem, und die Verbindungstür war immer offen. So kam es, daß Inky sofort hereingestürzt kam, als er meinen wehleidigen Seufzer hörte. „Auch das noch", stöhnte ich. Inky zog fragend die Brauen in die Höhe. Er starrte auf das Päckchen, das ich vor einigen Augenblicken in meinem Postfach gefunden hatte. „Mein Beitrag zum Staatshaushalt", klärte ich ihn auf. „Das Ding wird mich mindestens zwei Wochen beschäftigen." Ich brach das pompöse Siegel auf und betrachtete den Inhalt des Päkchens. Ich hatte mich nicht geirrt. Diese Ansammlung von Formularen und Tabellen war eindeutig. Inky setzte sich neben mich auf das Bett und betrachtete mit sichtlichem Interesse die Papiere. Er lebte noch nicht allzu lange in unserer Zeit, also war es meine Aufgabe, ihm den Sachverhalt zu erklären. „Dies hier ist eine Aufstellung der Steuererträge, die für das nächste Jahr erwartet werden. Die schwarze Ziffer stellt die Summen dar, die mit Sicherheit in das Staatssäckel fließen werden, die rote Zahl ist nur geschätzt - stimmt aber meistens sehr genau." „Und was hast du damit zu tun?" wollte Inky wissen. „Ich verteile diese Gelder auf die verschiedenen Ressorts. Dies hier ist der Planungsvorschlag der Regierung. Jeder einzelne Posten ist mit einer Ziffer von eins bis neun gekennzeichnet. Eins bedeutet: Ausgaben, die unumgänglich sind; neun bedeutet: zur freien Verfügung. Mit eins gekennzeichnet ist beispielsweise dieser Posten im -Wohnungsbau. Das Projekt läuft acht Jahre und wurde vor zwei Jahren bewilligt. Dieser Teil der Steuergelder ist also verplant und steht nicht mehr zu Verfügung." „Aha" machte Inky. Er sah ebenso ratlos drein, wie ich es beim ersten Kontakt mit dieser Einrichtung getan hatte. „Ich habe nun die angenehme Aufgabe, die einzelnen Posten meinerseits mit Kennziffern zu versehen. Meine eins bedeutet: unter allen Umständen ausführen. Die neun besagt dann: nur dann in Angriff nehmen, wenn nichts Wichtigeres mehr vorliegt und genügend Geld vorhanden ist." „Und dies hier?" „Der Folgekostenkoeffizient. Wenn ich dafür bin, ein neues großes Krankenhaus zu bauen, dann müssen in der Zukunft natürlich die Gelder für die Ärzte und das andere Personal bereitgestellt werden." „Langsam begreife ich", murmelte Inky. „Wenn du viele Projekte förderst, die sich durch hohe Folgekosten auszeichnen, ist der Etat des nächsten Jahres unter Umständen total verplant, und es bleibt kein Spielraum mehr übrig. Ergibt das nicht eine fürchterliche Tüftelei?" Ich nickte sorgenvoll.
„Ich habe zwar, wie fast jeder, einen kleinen Rechner, der für diese Art von Kalkulationen vorprogrammiert ist, aber es ist trotzdem eine Heidenarbeit. Auf diese lästige Art und Weise muß ich die Etats von Staat, Bundesstaat und Gemeinden bestimmen." „Und anschließend?" „Wird der ganze Datenberg einem riesigen Rechner eingefüttert, der die einzelnen Wünsche der Bürger addiert, gegeneinander aufrechnet und schließlich den Etat für die jeweiligen Verwaltungen aufstellt." „Und wenn du diesen Papierberg nicht ausfüllst?" erkundigte sich Inky teilnahmsvoll. „Wenn ich das nicht tue, kann ich mich im nächsten Jahr nicht über Fehlplanungen beschweren. Mit diesem zugegebenermaßen ziemlich komplizierten Verfahren wird jedem Bürger die Chance gegeben, seine besonderen Wünsche der Regierung vorzutragen - und die Regierung muß diese Wünsche berücksichtigen. Das Wichtigste an diesem Verfahren ist die Tatsache, daß jederzeit nachprüfbar ist, was der Bürger wirklich will." „Dabei können aber gewaltige Fehler entstehen", wandte Inky ein. „Sicher", gab ich zu. „In Demokratien können genausogut Fehler auftreten wie in Diktaturen. Bezahlen muß solche Fehler in beiden Systemen der Bürger. Nur ist in unserem Fall der Bürger selbst an diesen Fehlern schuld - das ist der kleine, aber ungemein wichtige Unterschied. In diesen Tagen erhält jeder wahlberechtigte Bürger dieses lästige Päckchen. Es liegt dann an ihm, ob er seine Rechte ausnutzt, oder ob er die Sachen treiben läßt." „Viel zu kompliziert", sagte Inky und gähnte. „Ein Glück, daß ich kein wahlberechtigter Bürger bin." Ich sah ihm lächelnd nach, als er in sein Zimmer zurückging. Er wußte nicht, daß er in den nächsten Tagen ebenfalls sein Datenpaket bekommen würde. 2. Das Angenehme an Europa war, daß hier auf vergleichsweise engem Raum so viele verschiedene Völker nebeneinander und zusammen lebten. Man mußte nur wenige hundert Kilometer reisen, um eine andere Landschaft mit völlig anderen Sitten und Gebräuchen kennenlernen zu können. Einige dieser Bräuche und Gewohnheiten waren so alt, daß niemand mehr ihren Ursprung kannte, trotzdem hielt man sich daran. In England trank man weiterhin bevorzugt Tee, während die Deutschen von ihrem Kaffee und die Italiener nicht von ihrem Espresso abzubringen waren. Mir behagte besonders die niederländische Gewohnheit, das Frühstück ziemlich karg ausfallen zulassen, dafür aber zur Mittagszeit ein zweites, um so opulenteres Frühstück einzuschieben. Ich hatte den Morgen in einem modernen Sprachlabor zugebracht, dann ausgiebig und in Ruhe zu Mittag gefrühstückt und trabte nun, einen Packen Lehrbücher schleppend, auf die Bücherei der Universität Amsterdam zu. Mein Holländisch war mittlerweile entschieden besser geworden. Nur die Umlaute machten mir noch Schwierigkeiten. Da auch das Niederländische reichlich mit diesen vertrackten Lauten gesegnet war, mußte noch einige Zeit vergehen, bis man mich nicht mehr nach ein paar Sätzen als Ausländer erkennen konnte. Die zehn Tage, die ich in Europa zugebracht hatte, waren mir sehr gut bekommen. Meine Laune war prächtig, und mir war trotz aller Schinderei im Sprachlabor genügend Zeit übriggeblieben, um mich im Land umsehen zu können. Das Bibliotheksgebäude war erst vor wenigen Jahren errichtet worden, ein langgestreckter Bau aus stuckverkleidetem Beton und viel Glas. Stilistisch war er den jahrhundertealten Bauwerken der Nachbarschaft angepaßt. Im Innern lag das Kernstück der Anlage, ein Komputer samt Mikrofilmarchiv. Die Bibliothek konnte sechzig Millionen Bücher prompt
liefern und war in der Lage, weitere achtzig Millionen Werke innerhalb kürzester Frist zu besorgen. Normalen Benutzern der Bücherei wurden Mikrofilmkopien angeboten, die in jedem VideoGerät entsprechend vergrößert und abgelesen werden konnten. Benutzer, deren wissenschaftliche Qualifikation außer Frage stand, wurden die Originalbände aus Papier und Druckerschwärze angeboten. An die wirklich wertvollen Werke, gedruckte Bücher der ersten Generation oder gar echte Handschriften des Mittelalters, kam kaum jemand heran. Einzelstücke dieser Art waren viel zu wertvoll, sie wurden ständig unter Verschluß gehalten. Eines der wertvollsten echten Stücke der Amsterdamer Sammlung war übrigens die berühmte Kulturdeklaration von 2001, in der festgelegt worden war, welche Baudenkmäler, Gemälde, Bücher und Statuen zum unantastbaren Kulturbesitz der Menschheit zu rechnen waren, die selbst im Kriegsfall unter gar keinen Umständen in Gefahr gebracht werden durften. Die Bücherei selbst war ein solches Kulturdenkmal, ebenso die Urschrift dieses Vertrages – aus dem einfachen Grund, weil sämtliche anderen originalen Ausführungen in Kriegswirren zerstört worden waren. Ich suchte mir einen Platz im großen Lesesaal. Hundert von Mikrofilmprojektoren waren in Betrieb. Ich nahm vor einem freien Gerät Platz und schaltete es ein. Der Katalog der Bücherei allein war fast schon ein Kunstwerk, freilich eine künstlerische Leistung technischer Art. Dieser Katalog kam mit jeder Art von Fragestellung zurecht. Er hielt nicht nur Autor und Buchtitel parat, das waren Selbstverständlichkeiten. Als bekannt geworden war, daß der Riesenkomputer der Bibliothek gegen eine Gebühr von 150 Soldor jedem Interessierten zu jedem beliebigen Thema – und mochte es noch so absurd sein – eine komplette Liste aller einschlägigen Werke lieferte, sorgsam nach wissenschaftlicher Aktualität gestaffelt, hatten die Studenten der Amsterdamer Universität - immerhin vierzigtausend junge Leute - ein Freudenfest gefeiert, von dem heute noch gesprochen wurde. Einen ganzen Monat lang war die Stadt einem Tollhaus ähnlich gewesen. Damit waren aber die Fähigkeiten dieses Komputers noch nicht erschöpft. Eine Sonderabteilung war speziell für solche Fragesteller entwickelt worden, deren Probleme Bibliotheksbedienstete an den Rand eines Nervenzusammenbruchs bringen konnten. „Ich habe da vor Jahren einen alten Schmöker gelesen, über einen jungen Mann, der Armand heißt, oder Armin, oder Arthur, ich weiß nicht mehr recht. Das Mädchen hieß glaube ich Genevieve ... etc." Im Extremfall brauchte der Komputer eine Viertelstunde, um aus diesen vagen Angaben exakt den Roman herauszukalkulieren, den der Besucher wünschte. Wer Bücher liebte, mußte sich in diesem Gebäude dem Himmel auf Erden nahe wähnen. Am Anfang hatte es mir Spaß gemacht, mit dem Komputer zu spielen, wie es die meisten Neulinge taten. Wer hatte beispielsweise den idiotischen Text verfaßt, den amerikanische Viehauktionatoren als Schnell sprechübung benutzten: „How much wood would a woodchuck chuck, if a woodchuck would chuck wood?" Ich hatte mir Farbfotografien von Kippus angesehen, den merkwürdigen Knotenschnüren, die die Inkas erfunden hatten; ich hatte Papyri begafft und die herrlichen Buchmalerein alter irischer Bibeln; akkadische Keilschrifttafeln, Pergamentrollen aus der Zeitenwende und die Kritzeleien in ägyptischen Grabkammern. Dieser ersten Phase folgte die Zeit, in der man sich der Einrichtungen der Bücherei mit kühler Gelassenheit bediente und den Komputer als eine Art Sklaven ansah, der jede noch so ausgefallene Laune befriedigte. Inzwischen hatte ich das Stadium erreicht, in dem ich die Bücherei fast wie einen Tempel betrat. In diesen Räumen war ein beachtlicher Teil des geistigen Erbes der Menschheit gespeichert. Unzählige Genies hatten dazu beigetragen, diesen Schatz aufzufüllen und zu mehren.
Einmal hatte ich mich gefragt, wieviel Gedanken es noch gab, die denkbar waren und noch nicht irgendwo in den Archiven der Bibliothek ge speichert waren? Ein Knopfdruck ließ auf dem Mikrofilmprojektor die nächste Lektion des Sprachkursus erscheinen, mit dem ich mich zu beschäftigen hatte. Dieses Kapitel behandelte idiomatische Ausdrücke, jene Redewendungen, die sich einfach nicht übersetzen ließen, aber ungemein wichtig waren, wenn man eine Fremdsprache wirklich beherrschen wollte. Ich war gerade damit beschäftigt, die zehnte Redewendung auswendig zu lernen und leise vor mich hin zu sprechen,, als ich plötzlich angerempelt wurde. Ein halbes Dutzend Mikrofilmkassetten fiel mir in den Schoß, als nächstes sah ich das Gesicht der Person, die mich jäh in meiner Arbeit gestört hatte. Gegen Störungen dieser Art hatte ich noch nie etwas einzuwenden gehabt. Die junge Frau war schlank und gutgewachsen, trug ihr hellblondes Haar offen und sah mich aus blauen Augen verzeihend an. „Entschuldigen Sie", murmelte sie und machte eine hilflose Geste. „Ich wollte Sie nicht stören. Ich bin ausgerutscht." „Derlei kann passieren", antwortete ich und lächelte so freundlich wie möglich. Ich sammelte die Kassetten auf, die mittlerweile auf den Boden gekollert waren. „Haben Sie es sehr eilig?" „Eigentlich nicht", sagte sie und lachte. „Ich war nicht in Eile, als ich Sie anstieß, ich war nur in Gedanken versunken." „Kann ich Ihnen vielleicht beim Auftauchen behilflich sein?" erkundigte ich mich und drückte ihr die Kassetten in die Hand. „In der Mensa soll es einen vorzüglichen Kaffee geben. Ich lade Sie ein!" Sie zögerte einen Augenblick, dann nickte sie. „Sie sind Ausländer?" fragte sie im Gehen. „Amerikaner. Hört man es?" „Ein wenig. Ich heiße Marleen de Vries und studiere Archäologie. Und Sie?" „Tovar Bistarc", stellte ich mich vor. „Polizeibeamter auf Bildungsurlaub." Sie sah mich nachdenklich an. Um ein Haar hätte sie die Kante der automatischen Tür gerammt. Ich konnte die Kollision gerade noch abwenden. Es tat gut zu wissen, daß die junge Frau sich ungeachtet ihres Berufes nicht nur für Männer interessierte, die mehr als tausend Jahre tot waren. * Der Kaffee war heiß und stark, und das Essen schmeckte, obwohl es einer Großküche entstammte, großartig. Marleen sah in Gedanken versunken auf die Milchwolken in ihrem Kaffee. Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum. Erst als das Schweigen schon fast beleidigend wurde, sah sie mich wieder an. „Ich kenne Sie zwar nicht, aber ich habe dennoch eine Bitte", eröffnete sie mir. „Nur zu", ermunterte ich sie. „Was kann ich Für Sie tun?" „Mein Vater ist verschwunden", murmelte sie bedrückt. „Er hat sich auf Unterwasserarchäologie konzentriert. Vor vierzehn Tagen ist er zu einer Tauchfahrt aufgebrochen, aber nicht zurückgekehrt." „Kannte Ihr Vater sich mit Tauchbooten aus?" „Er war an ihrer Entwicklung beteiligt", erhielt ich zur Antwort. „Ich habe mich an die hiesige Polizei gewandt, aber dort konnte man mir nicht weiterhelfen."
„Hm", machte ich. „Vierzehn Tage sind viel Zeit."
Sie sah mich offen an. In ihren Augen schimmerte es feucht.
„Ich weiß, daß Papa tot ist. Er konnte nur für zwei Tage tauchen, und ein aufgetauchtes Boot
hätte die Küstenpatrouille längst gefunden.
Ich möchte wissen, was ihm zugestoßen ist. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß er
einen technischen Fehler gemacht haben soll."
„Sie denken an ein Verbrechen?
Sabotage?"
„Mein Vater hatte Neider, ziemlich viele sogar. Ich möchte keine dieser Personen
beschuldigen, aber ich weiß, daß Vater nicht durch eigene Schuld gestorben ist. Er kannte
sich unter Wasser hervorragend aus, er tauchte seit mehr als zwanzig Jahren. Fehler hat er
bestimmt nicht gemacht."
„Mag sein", gab ich zu. „Nur – wieso ausgerechnet ich? Ich meine, es ist doch etwas
ungewöhnlich, daß Sie den ersten besten Polizisten beauftragen, der Ihnen zufällig über den
Weg läuft."
Marleen errötete leicht. Es stand ihr vorzüglich.
„Sie sehen aus, als würden Sie sehr viel Sport treiben", gestand sie. „Ich hoffte, daß Sie
vielleicht auch tauchen könnten..."
„Ich soll nach dem Boot Ihres Vaters tauchen?" fragte ich verblüfft. Daß sie mich für einen
guten Sportler hielt, wunderte mich nicht.
Die Time-squad sorgte sehr gründlich dafür, daß ihre Agenten in körperlicher Höchstform
waren. Ich hatte auch einige Tauchversuche hinter mir, aber der Golf von Mexiko war ein
ganz anderes Tauchgewäs
ser als die Nordsee.
Einem Agenten des Time-Intelligence-Corps standen allerdings auch andere Hilfsmittel als
Druckflaschen und Gummianzüge zur Verfügung.
„Ich werde sehen, was sich machen läßt", versprach ich.
Ich sah auf die Uhr. In Nordamerika war es jetzt früher Morgen.
„Warten Sie hier. Ich muß ein paar Auskünfte einholen. Inzwischen können Sie noch eine
Portion Kaffee bestellen, ja?"
Die nächste Video-Zelle war schnell erreicht, und den offiziellen Anschluß der Time-Squad
in San Francisco hatte ich im Kopf. Eine halbe Minute verging, dann tauchte Don Slayters
Kopf auf dem Bildschirm auf.
„Donnerwetter", staunte er. „Ich wußte gar nicht, daß Sie neuerdings so früh aufstehen."
„Hierzulande ist Mittagszeit", informierte ich ihn. „Chef, ich habe eine Bitte. Könnte ich die
Maschine der Amsterdamer Abteilung einmal be
nutzen?"
Slayters Gesichtsausdruck bekam etwas Lauerndes.
„Wie heißt sie?"
„Wer?"
„Die Frau! Ich kenne euch Burschen. Wenn ihr' euch um Arbeit reißt, dann steckt immer eine
Frau dahinter. Wenn Sie herausfinden wollen, mit wem Ihre heueste Eroberung vor zwei
Tagen ausgegangen ist, muß ich Sie enttäuschen. Für solche Spaße bin ich nicht zu haben."
„Der Fall liegt etwas anders, Chef!"
Ich schilderte ihm hastig, was mir Marleen erzählt hatte. Slayter wiegte nachdenklich den
Kopf, als ich meinen Bericht beendet hatte.
„Einverstanden", sagte er schließlich. „Ich werde die Kollegen in Amsterdam verständigen.
Was machen Ihre Sprachstudien? Fortschritte?"
„Man kann es so nennen", erklärte ich fröhlich. „Ich melde mich, wenn ich etwas gefunden
habe. Auf bald!"
Der Bildschirm wurde dunkel. Ich kehrte zu Marleen zurück.
„Ich habe die Erlaubnis", eröffnete ich ihr. „Und ich verspreche Ihnen, wenn es etwas zu finden gibt – ich werde es finden." Sie sah mich an, als glaubte sie mir. „Was suchte Ihr Vater eigentlich dort draußen? Daß man im Mittelmeer nach versunkenen Palästen taucht, weiß ich. Aber in der Nordsee?" „Er suchte weitere Beweise dafür, daß das sagenhafte Atlantis in der Nordsee gelegen hat!" Ich brauchte einige Zeit, bis ich diese Nachricht verdaut hatte. Es tat mir fast schon leid, Slayter angerufen zu haben. Wenn Marleens Vater ein solcher Narr war, in der Nordsee nach Atlantis zu suchen, dann war ihm auch die Narretei zuzutrauen, sich mit seinem Boot selbst versenkt zu haben. „Mädchen", sagte ich. „Atlantis lag im Atlantik, wie der Name schon besagt, nicht in der Nordsee!" Marleen ließ sich durch diesen Einwand nicht aus der Fassung bringen. „Erstens ist die Nordsee ein Randmeer des Atlantiks, und zweitens wurde der Ozean nach der Insel benannt - nicht umgekehrt. Glauben Sie mir, es gibt zahlreiche vernünftige Hinweise darauf, daß Atlantis dort lag, wo heute das Rote Kliff zu finden ist." „Helgoland?" fragte ich erstaunt. Seit der Flutkatastrophe vor mehr als achtzig Jahren war von der Insel nicht mehr übriggeblieben als einige rote Felsen. „Richtig, Helgoland." „Atlantis soll jenseits der Säulen des Herakles gelegen haben, also westlich von Gibraltar sagt jedenfalls Plato. Helgoland liegt aber weiter im Osten als Gibraltar, das wird Ihnen jeder Hausatlas zeigen." „Derlei kannten die alten Griechen nicht. Wer von Hellas nach Atlantis auf dem Seeweg wollte, mußte die Meerenge von Gibraltar passieren - folglich liegt auch Helgoland auf der anderen Seite der Säulen des Herakles." „Ich dachte immer, Atlantis sei mit der Insel Thera oder Santorin identisch, die im ägäischen Meer liegt." „Es gibt auch einen vernünftigen Zusammenhang zwischen Santorin und Atlantis, der gewaltige Ausbruch des Santorin-Vulkans und der Untergang von Atlantis fallen beide in die Bronzezeit, genauer gesagt, ins zwölfte vorchristliche Jahrhundert. Die Santorin-Explosion war eine der größten, die in geschichtlicher Zeit stattgefunden haben. Experten sind der Meinung, daß sie fürchterlicher gewesen sein muß als der berühmte Ausbruch des Krakatau im Jahre 1883." Marleen hatte mich keineswegs überzeugt. „Und Sie glauben wirklich daran?" fragte ich mit unverhohlener Skepsis. Sie lachte mich an. „Selbstverständlich. Und selbst, wenn die Theorie nicht stimmt, eines steht immerhin zweifelsfrei fest: Helgoland war in früheren Jahrhunderten und Jahrtausenden sehr viel größer als kurz vor seinem Ende. In der Bronzezeit, also zwischen 2000 und 1000 vor Christus war es zudem wesentlich wärmer als heutzutage. Daß sich in einer so fruchtbaren Landschaft wie dieser Region keine bronzezeitliche Hochkultur entwickelt haben soll, erscheint nicht nur mir ausgesprochen unwahrscheinlich." Sie machte eine kleine Pause und seufzte leise. „Leider kann man nicht einfach hinfahren, und sich die Angelegenheit an Ort und Stelle ansehen, um die entsprechenden Beweise finden zu können. Schade!" Ich hütete mich, dem zu widersprechen. Es gab einige historische Institute, die mit der Zeitmaschine arbeiteten, aber diese Benutzer waren extreme Spezialisten, die für die Atlantisfabel nicht viel übrig hatten.
Ich bezahlte den Kaffee, und wir verließen die Gebäude der Universitätsbücherei. Ich versprach Marleen, mich am nächsten Abend bei ihr zu melden. Bis dahin müsste ich den Fall eigentlich geklärt haben. Der Mann'auf dem Tisch dehnte und streckte sich. Er war gerade erst aus der Vergangenheit zurückgekehrt. Stundenlang hatte er eine Konferenz von Diamantenschmugglern belauscht und sich die Worte dieser Besprechung eingeprägt. Wer als Beobachter bei der Time-squad arbeiten wollte, mußte über ein Gedächtnis verfügen, das bühnenreif war. Allerdings verdiente man bei der Time-squad erheblich mehr als in einem Variete. „Sie können die Maschine haben, Mister", bedeutete mir der Leiter der Amsterdamer Time squad. Er war über Slayters Anruf nicht sonderlich erfreut gewesen, aber er hatte eingewilligt, mir die Zeitmaschine zur Verfügung zu stellen. Das konstante leise Zischen verstummte. Die Pumpen hörten auf, durch die zahlreichen Düsen in der Tischplatte Druckluft blasen, die den Körper des Beobachters während seiner Zeitreise in der Schwebe hielt. Nacheinander wurden die Kabelverbindungen gelöst. Während seiner Beobachtung war der Zeitreisende unausgesetzt telemetrisch überwacht worden. „Kennen Sie eigentlich die Zentrale?" fragte mein Nachbar. Ich nickte. Ich hatte nicht das Recht, dem Mann zu erzählen, daß ich dem TIC angehörte. Diese Abteilung der geheimen Time-squad war selbst für die meisten Mitarbeiter geheim. „Gibt es dort irgendwelche Fortschritte?" wollte mein Nachbar wissen. Er hieß Jos van Veen. „Ich gäbe ein Jahresgehalt, wenn es endlich gelänge, aus dem Elektroenzephalogramm des Beobachters einen gerichtsverwertbaren Film herauszufiltern!" „Darüber weiß ich nichts", erklärte ich wahrheitsgemäß. Ich legte mich auf den Tisch. Jetzt wurden die Kabel an meinen Körper angeschlossen, wenig später hob mich die Druckluft sanft in die Höhe. „Gute Reise", wünschte van Veen automatisch. Das Zeitfeld verdichtete sich, ich fühlte, wie ich langsam das Bewußtsein verlor und einschlief.
3.
Schlagartig wachte ich wieder auf. Es war entsetzlich kalt um mich her um. Ich lag im Wasser. Das hieß: ich glaubte, im Wasser zu liegen. Auf die Reise gegangen war lediglich mein Bewußtsein, mein Körper lag nach wie vor auf dem Tisch der Zeitmaschine. Für mich war es eine einfache Konzentrationsübung, die Körperempfindung zu unterdrücken. Sekunden später war mir wieder warm. Diese Körperempfindung stellte das einzige Risiko dar, das ein Beobachter einging. Sein Körper war in der Zielzeit gar nicht vorhanden. Er konnte ohne Mühe fliegen, Wände durchdringen, oder sich mit einem einfachen gedanklichen Befehl innerhalb eines Augenblicks von Amsterdam nach Paris befördern. Er konnte sich aber auch vorstellen, einen Körper zu besitzen. Dann konnte er aufrecht gehen, wie jeder normale Bewohner der Zeit auch. Der Haken lag darin, daß das Bewußtsein einige Schwierigkeiten hatte, sich an dieses Phänomen zu gewöhnen. Theoretisch konnte dem Beobachter nichts zustoßen, wenn er von einem Wolkenkratzer auf die Straße hinabsprang. Vergaß er aber, daß er keinen Körper mehr besaß, empfand er den Sprung als echt, dann konnte allein der Erlebnisschock den Mann töten.
Ich war mitten in der kalten Nordsee herausgekommen, und wenn ich mich in diese Vorstellung förmlich hineinkniete, konnte ich tatsächlich ertrinken. Ich kannte dieses Phänomen bereits und hatte keine Mühe, die Körperempfiridung zurückzudrängen Irgendwo in dem bleigrauen Wasser, das von weißen Schaumkronen übersät war, schwamm das Tauchboot von Marleens Vater. In seiner Zeit war er vor acht Stunden gestartet und konnte sein Zielgebiet gerade erst erreicht haben. Marleen hatte mir verraten, wo ihr Vater hatte tauchen wollen. Nach fünf Minuten hatte ich das Boot gefunden. Es wurde langsam von der Strömung bewegt, die Maschinen waren ausgeschaltet. Es bereitete mir keine Mühe, durch die Bordwand zusichern. Marleens Vater saß auf dem Pilotensitz und betätigte eine automatische Kamera. Auf einem Bildschirm über seinem Kopf war der Meeresboden unter dem Boot dargestellt. Professor de Vries rieb sich erfreut die Hände. Was ihn entzückte, konnte ich nicht feststellen. Der Meeresboden sah aus wie Millionen von Quadratmetern Meeresboden andernorts. „Prächtig!" hörte ich den Professor murmeln. „Einfach prächtig!" Ich lächelte still in mich hinein. Der alte Mann schien von seiner Aufgabe förmlich besessen zu sein, er benahm sich ganz so, wie ich mir ein leicht zerstreutes Genie vorstellte - ein wenig kauzig, aber durchaus liebenswert. Schlagartig wurde mir bewußt, daß ich nicht hergekommen war, um den Professor zu bewundern. Meine Aufgabe bestand darin, seinen Tod zu klären - und das bedeutete, daß ich zusehen mußte, wie er starb. An dieser unerbittlichen Aufgabe waren viele Kandidaten der Time- squad gescheitert. Selbst der abgebrühteste Beobachter mußte sich immer wieder aufs neue überwinden, bevor er einen solchen Auftrag übernahm. Ich stieg etwas in die Höhe. Über die Schulter des wie besessen fotografierenden Professors hinweg schielte ich auf die Anzeige der automatischen Trägheitsnavigation. Die Koordinaten zu notieren, kostete mich nur einige Sekunden. Ich hatte meine Körperempfindung unterdrückt, trotzdem spürte ich plötzlich einen brennenden Schmerz. Unwillkürlich krümmte ich mich zusammen. * „Schnell!" rief van Veen. „Holt ihn zurück!"
Die Bedienungsmannschaft der Zeitmaschine reagierte prompt. Der Körper des Beobachters
hörte auf zu zucken, die Herztätigkeit normali
sierte sich langsam.
„Bistarc, können Sie mich hören?
Reden Sie, was haben Sie gesehen?"
Ich verbiß den Schmerz und richtete mich langsam auf.
„Es war kein Unfall", ächzte ich. „Geben Sie mir eine Spritze, und dann brauche ich eine
Direktverbindung zur Zentrale!"
Ein Mediziner näherte sich mit einer Injektionspistole.
„Was haben Sie gesehen?" hakte van Veen nach.
Ich schüttelte den Kopf.
„Das kann ich nicht verraten. Tut mir leid, aber dieser Fall unterliegt
anderen Kompetenzen!"
Das Aufputschmittel ließ mein Blut heiß durch die Adern pulsieren. Die Dosis schien mir
etwas zu hoch zu sein. Zum Glück taten die anderen Komponenten des Medikaments ihre
Wirkung. Der Schmerz ließ nach, und ich wurde ein wenig ruhiger.
„Kann ich Ihr Video benutzen?" fragte ich van Veen. „Allein!"
Ich bekam einen ausgesprochen bösen Blick zur Antwort, dann nickte van Veen. Er führte
mich in sein Büro. Es unterschied sich nur wenig von den Räumen, in denen Don Slayter
seiner Arbeit nachging.
Erst als ich ihn streng ansah, zog sich van Veen zurück und ließ mich allein. Der Mann tat
mir leid, aber ich mußte ihn aus diesem Fall heraushalten. Der Fall de Vries war kein Fall für
die Kriminalpolizei mehr.
Hier wurde das TIC gebraucht.
Wie nicht anders zu erwarten, tauchte am anderen Ende der Leitung D. C.'s Sekretär auf.
„Sagen Sie nicht, daß Sie die Chefin schon wieder aus dem Bett klingeln
wollen!" fauchte er.
„Von Wollen ist keine Rede", fauchte ich zurück. „Geben Sie mir D. C., es eilt!"
Eine halbe Minute verging, darin wurde Demeter Carol Washington sichtbar. Sie sah noch
schlaftrunkener aus als beim letzten Anruf. Diesmal konnte mich der verwuschelte Rotschopf
nicht entzücken, ich starrte wie hypnotisiert auf den dunklen Haarschopf, der auf dem
zweiten Kissen des Doppelbetts ruhte.
Sekundenlang starrte D. C. ebenso verblüfft wie ich, dann drehte sie sich herum, um
festzustellen, wohin ich stierte. Sie seufzte leise auf, dann zog sie die Bettdecke zurück.
Der Rest, der zu dem Haarschopf gehörte, war knapp fünf Jahre alt und lächelte im Schlaf.
„Bistarc", sagte D. C. leise. „Wenn Sie nicht einen sehr plausiblen Grund für diese Störung
haben, werden Sie gefeuert!"
„Ich brauche ein paar Kleinigkeiten", sagte ich hastig. „Vor allem anderen brauche ich ein
modernes Bergungs-U-Boot. Besitzt die Time-squad ein solches Fahrzeug?"
D. C. schüttelte den Kopf. „Ich müßte mich an die Marine wenden", sagte sie verwirrt. „Wozu brauchen Sie ein
Bergungsboot."
„Um das Wrack eines kleinen Forschungsunterseeboots vom Grund der Nordsee
hochzuholen. Professor de Vries ist tot, sein Boot wurde durch eine Sprengladung zerstört!"
D. C. setzte sich auf. Sie trug ein geradezu viktorianisches Nachthemd.
„Augenblick", wehrte sie ab. Sie wischte sich die roten Strähnen aus dem Gesicht. „Sie sind
kein Dummkopf, Bistarc . .."
„Danke", warf ich ein und erntete einen Verweis in Form eines Blickes.
„Wenn jemand eine Sprengladung an Bord des Forschungsboots gebracht hat, dann genügt
es, wenn sie in die Zeitmaschine steigen und den Mann beobachten, der die Bombe
angebracht hat. Wozu also ein Bergungsboot?"
„Ich will Ihnen die Geschichte erzählen. Während ich de Vries beobachtete, hatte ich
plötzlich das Gefühl, als versuche jemand, mich umzustülpen wie einen alten Handschuh. Ich
wurde dabei fast besinnungslos vor Schmerz, obwohl ich jede Körperempfindung unterdrückt
hatte. Hätten mich die Amsterdamer Kollegen nicht sofort zurückgeholt, wäre ich jetzt
wahrscheinlich tot."
D. C. nickte. Ruhig wartete sie die Forsetzung meines Berichts ab.
„Kurz bevor ich zurückgeholt wurde, konnte ich noch etwas sehen. Im Innern des Bootes
materialisierten plötzlich zwei Handgranaten. Einfach so, als ob das der normalste Vorgang
der Welt wäre."
„Materialisierten?" fragte D. C. zurück. Sie war jetzt hellwach und konzentriert. Ihr brauchte
ich nicht zu erklären, was dieser Vorgang zu bedeuten hatte.
„Wieviel haben Sie van Veen erzählt?"
„Nichts, kein Wort“
„Gut so. Spätestens morgen wird man sich mit Ihnen in Verbindung setzen. Sie bekommen
Ihr Bergungsboot! Ende!"
Der Bildschirm verdunkelte sich.
* Ich verließ das Büro der Time-squad und suchte Marleen auf.
Marleen bewahrte Fassung.
„Er ist also tot", sagte sie leise.
„Nun, ich habe damit gerechnet. Wie ist er gestorben?"
Glücklicherweise brauchte ich nicht einmal zu lügen.
„Er war tot, bevor er überhaupt wußte, was geschah. Ich glaube, er hat es nicht einmal
bemerkt."
Marleens Augen fixierten mich.
„Woher haben Sie eigentlich Ihre Kenntnisse?" fragte sie plötzlich. Mir entging nicht, daß
ihre Stimme einen Unterton von Mißtrauen bekommen
hatte.
„Das darf ich Ihnen nicht verraten", erklärte ich und erwiderte ihren Blick.
„Dienstgeheimnis."
„Ich wundere mich", sagte Marleen. Sie stand auf und sah aus dem Fenster. „Ich habe Sie
gestern zufällig getroffen. Ich fragte Sie, ob Sie mir helfen könnten, das Schicksal meines
Vaters zu klären. Die hiesige Polizei hat bisher nichts zuwege gebracht. Aber Sie erscheinen
keine vierundzwanzig Stunden später und erklären mir, daß Sie genau wüßten, wie Vater
gestorben ist. Dieses Tempo ist einigermaßen erstaunlich, finden Sie nicht auch?"
„Ich verstehe Sie", antwortete ich.
Ich verfluchte meine Geheimhaltungspflicht. „Ich verspreche Ihnen, daß Sie alle
Informationen bekommen werden, sobald das möglich ist. Die Entscheidung liegt nicht in
meiner Hand!"
Marleen biß sich leicht auf die Unterlippe.
„Sie reden wie ein Geheimagent aus einem schlechten Film", sagte sie
schroff. „Ich glaube Ihnen kein Wort!"
Ich saß in einer verteufelten Zwickmühle. Das Mädchen hatte natürlich das Recht, mehr zu
erfahren.
Auf der anderen Seite würde mir D. C. fürchterlich den Kopf waschen, wenn ich
Geheiminformationen preisgab. Glücklicherweise trat gerade noch rechtzeitig die Türglocke
in Aktion.
Ich war nahe daran gewesen zu plaudern. Marleen ging zur Tür, um zu öffnen. Das gab mir
die Zeit, mir ein paar plausible Ausreden einfallen zu lassen.
„Erzählen Sie mir nichts", hörte ich eine wohlbekannte Männerstimme
sagen. „Ich kenne meinen Freund Tovar, und wenn ich Sie ansehe, dann weiß ich genau, daß
er bei Ihnen ist!"
Lang und hager, mit einer Frisur, die an ein tornadoverwüstetes Getreidefeld erinnerte, dazu
grinsend - unverkennbar Inky.
Ich brauchte eine halbe Minute, um mich von der Überraschung zu erholen.
„Wie, zum Teufel, bist du hergekommen? Ich dachte, du wärest in
der Zentrale?"
Inky lachte verschmitzt.
„Es gibt da gewisse Maschinen", verriet er mir. „Man muß nur eine
gewisse Koordinate stillegen ..."
Ich verstand. Eine Zeitmaschine ließ sich, wenn man die Zeitkoordi
naten nicht veränderte, auch als Transportmittel bedienen. Der Energieverbrauch einer
Zeitmaschine war aber so groß, daß zu ihrem Be
trieb ein Fusionsreaktor gebraucht wurde. Wenn D. C. Inky auf diesem
extrem kostspieligen Weg nach Europa befördert hatte, zeigte dies überdeutlich, wie ernst sie
meinen Bericht genommen hatte.
Inky trat ans Fenster.
„Amsterdam sieht hübsch aus", stellte er fest. „Die Stadt hat sich ziemlich verändert, seit ich
zum letztenmal hier war, aber durchaus zu ihrem Vorteil."
Marleen war völlig verwirrt. Sie gehorchte den ungeschriebenen Gesetzen der Konversation,
als sie automatisch fragte:
„Und wann war das?"
„Sommer 1940", antwortete Inky ebenso automatisch.
„Ich werde Kaffee machen", sagte Marleen und ging in die Küche. Nach erstaunlich kurzer
Zeit kehrte sie wieder zurück. Sie stellte sich mitten im Zimmer auf, riß die ausgestreckte
rechte Hand in Schulterhöhe und brüllte:
„Heil!"
Ich wurde leichenblaß. Inky fuhr wie vom Blitz getroffen herum, schlug knallend die Absätze
zusammen.
„Hei...!"
Er verstummte. Mit jedem Zentimeter, den er die ausgestreckte Rechte sinken ließ, wurde
sein Gesicht fahler.
Marleen war eine junge Frau und ungewöhnlich hübsch. Der .Revolver in ihrer Hand war
uralt und von erschreckender Häßlichkeit. Sie machte nicht den Eindruck, als würde sie
spaßen.
„Los", rief sie scharf. „Sie setzen sich neben ihn auf das Sofa!"
Inky schlich wie ein geprügelter Hund zu mir und hockte sich neben mich. Unablässig
pendelte die schwarze Mündung von Marleens Waffe hin und her, von meinem Kopf auf
Inkys Schädel und wieder zurück.
Sie sah Inky an.
„Entweder sind Sie ein erstklassiger Schauspieler oder ..."
„Oder was?" fragte Inky bedrückt.
Ihm war natürlich klar, daß er einen haarsträubenden Fehler gemacht hatte. Aber der Drill
seiner Zeit saß noch tief in ihm, dafür war er dieser Herrschaft zu lange ausgesetzt gewesen.
Also hatte er so reagiert, wie es in seiner Zeit angebracht gewesen war.
„Erzählen Sie mir, was Sie wollen", forderte Marleen uns auf. „Aber erzählen Sie, wenn Sie
verhindern wollen, daß ich Sie beide aus Angst erschieße, bevor ich die Polizei rufe!"
Sie meinte es ernst, daran gab es keinen Zweifel.
Ich sah Inky an, Inky sah mich an.
Was war gefährlicher, die Wut von D. C. oder der Revolver in Marleens' Hand? Wir
entschieden uns für den Revolver.
„Ich glaube euch beiden kein Wort!"
Den Revolver hatte sie weggelegt. Er war ohnehin nicht geladen gewesen. Jetzt stand
duftender Kaffee auf dem flachen Tisch. Dazu gab es einen selbstgebackenen Honigkuchen.
Ich verstand etwas davon, er war vorzüglich.
„Eine bessere Geschichte können wir nicht anbieten."
„Aber ...“ Mehr brachte Marleen nicht über die Lippen.
Ich sah, daß sie nachdachte, und ich ahnte auch, welche Überlegung in ihr aufkeimte.
„Könnt ihr dann nicht meinem Vater helfen?"
Ich schüttelte den Kopf. Wir hatten ihr genug von der Time-squad erzählt, um unser
Verhalten zu erklären. Wir hatten ihr gesagt, daß wir Beobachter wären. Die Möglichkeit
einer körperlichen Zeitreise hatten wir nicht erwähnt. Es gab keine Möglichkeit, den Professor nachträglich noch zu retten. Da war zum einen das Risiko eines Paradoxons. Ich wußte nicht, was für Forschungen die Time-squad in diesem Bereich ergeben hatte, man hatte mir nur gesagt, daß es sich um ein unerhört kitzliges Problem handelte. Die Schwierigkeit lag darin, daß es zwar die Möglichkeit einer Zeitreise durchaus gab - daß wir aber auf der anderen Seite bestenfalls Grundlagenkenntnisse über das Wieso und Warum hatten. Was beim Prozeß einer Zeitreise wirklich geschah, welche Gesetzmäßigkeiten es gab, das war uns noch immer unbekannt. Zum anderen galt in der Time-squad ein striktes, wenn auch unge- schriebenes Gesetz. An Schicksalsschlägen, die überschaubare Personengruppen betrafen, durfte nicht gerüttelt werden. Selbst wenn man das Problem der Paradoxa außer acht ließ, selbst wenn wir die Möglichkeit einer kontrollierbaren körperlichen Zeitreise besessen hätten – Professor de Vries hätten wir dennoch nicht retten dürfen. Es gab Millionen von Unglücksfällen pro Jahr auf der Welt. Wenn wir auch nur einen davon nachträglich aus der Welt schafften, dann waren wir moralisch verpflichtet, alle Unglücke im Nachhinein zu verhindern. Letztlich wäre alles darauf hinausgelaufen, daß wir sämtliche Menschen in eine Zukunft hätten befördern müssen, in der es die Möglichkeit gab, das menschliche Leben endlos zu verlängern. Dieser Aufgabe wäre keine noch so gut organisierte Time-squad gewachsen gewesen. Wir hatten nur eine Möglichkeit: da wir nicht die Möglichkeit hatten, alle Menschen vor dem ihnen vorbestimmten Schicksal zu retten, mußten wir weitestgehend alle Menschen diesem Schicksal überlassen. Eine Organisation, die wenigen Menschen zu Unsterblichkeit verhalf wenn es so etwas überhaupt gab -, aber andere dafür sterben ließ, hätte die menschliche Gesellschaft wahrscheinlich gesprengt. „Wir können nicht", sagte Inky. Er sagte es leise, aber seine Worte waren dadurch für Marleen nicht weniger schmerzlich. „Und was soll nun geschehen?" fragte Marleen. Ich sah, wie sehr sie sich anstrengen mußte, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. „Das Boot deines Vaters wird gehoben werden. Dann werden wir versuchen, aus den Spuren zu rekonstruieren, wer den Sprengkörper an Bord geschafft hat." Ich zögerte beim Sprechen, weil ich mir darüber klar war, daß ich Marleen schamlos betrog. „Eines kann ich dir aber jetzt schon sagen. Wundere dich nicht, wenn dieser Fall niemals an die Öffentlichkeit dringt. Fälle dieser Art werden von einem Spezialgerichtshof unter Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelt. Selbst als Angehörige wirst du niemals erfahren, wer deinen Vater getötet hat und warum." Es tat weh, die junge Frau belügen zu müssen, aber ich war mir sicher, daß die Wahrheit für sie weit schlimmer gewesen wäre. Die Wahrheit, daß der unbekannte Gegner zu einem neuen Schlag ausgeholt hatte. Traf dieser Schlag, dann würde Professor de Vries nicht das einzige Opfer sein. Dann war die ganze Menschheit an der Reihe.
4.
Wir hatten uns in der Zentrale der Time-squad versammelt.
Wir, das waren Demeter Carol Washington, Don Slayter als unser unmittelbarer Vorgesetzer,
Inky, ich und ein ziemlich verschlossen wirkender Mann, der uns als Jeffrey Holmes
vorgstellt worden war.
Don Slayter übernahm es, die Unterhaltung zu eröffnen.
„Die Marine war so freundlich, uns ihr modernstes Bergungs-U-Boot zur Verfügung zu
stellen. Da sich Tovar die Koordinaten der Absturzstelle gemerkt hatte, war es ziemlich
einfach, das Boot zu finden. Unsere Spezialisten haben die Trümmer genauesten untersucht.
Es steht fest, daß Tovar richtig beobachtet hat. Im Boot sind plötzlich zwei Sprengkörper
aufgetaucht. Das Glück wollte es, daß einer dieser Sprengkörper nicht detonierte. Dies hier
ist dieser zweite Sprengkörper!"
Er hielt den Gegenstand in die Höhe.
„Eine Handgranate!" bemerkte Inky. „Modern oder alt?"
„Die Handgranate ist modern", fuhr Slayter fort. „Sie wurde erst vor einigen Monaten
hergestellt. Das aber ist nicht das Besondere. Sehen Sie diesen Sicherungsstift?"
„Wir sehen ihn", sagte ich schnell. „Und wir sehen auch, daß Sie mit diesem Ding reichlich
leichtsinnig umgehen, Chef!"
„Die Sprengladung wurde entfernt", beruhigte er mich. „Dieser Sicherungsstift wurde
nachträglich eingebaut. Und jetzt sind Sie an der
Reihe, Holmes."
Holmes begann - es war unvermeidlich, ich wußte es - mit den Wor
ten: „Es ist alles ganz elementar, meine Herren. Wir haben den Stift untersucht. Er besteht,
im Gegensatz zum restlichen Material der Handgranate, nicht aus Stahl, sondern aus
Bronze!"
Bei dem Stichwort Bronze zuckte ich unwillkürlich zusammen. Ich ahnte, was nun kommen
würde.
„Diese Tatsache erschien uns einigermaßen erstaunlich. Wir haben daraufhin auch den Stift
genauestens untersucht. Es gab keinen Zweifel,
Bronze. Der Materialprüfung schloß sich, weil dies in unserer Abteilung
zur Routine gehört, eine Altersbestimmung an. Das Ergebnis dieser Prüfung war überaus
erstaunlich!"
Holmes machte eine Pause, um der folgenden Eröffnung die nötige Einprägsamkeit zu
verleihen. Ich war rüde genug, ihm die Schau zu stehlen.
„Der Bronzestift ist ziemlich genau 3500 Jahre alt!" sagte ich gleichmütig.
Holmes riß die Augen auf, Slayter starrte mich verdutzt an, und Inky drehte sich verblüfft
um. Ich zuckte mit den Schultern.
„Ahnungen", sagte ich leichthin. „Ich hatte es im Gefühl."
„Ihre Gefühle kennen wir", kommentierte D. C. trocken. Sie war die mit weitem Abstand
schönste Bestie von Frau, die ich mir vorstellen konnte.
„Sie haben recht", bestätigte Holmes meine Äußerung. Er war sichtlich verärgert. „Eine
metallurgische Untersuchung hat ergeben, daß diese Bronze gleichsam in der Nähe des
Forschungsbootes hergestellt wurde. Nähe ist in diesem Fall räumlich zu verstehen!"
„Ich wußte es", murmelte ich. „Ich habe es geahnt."
„Was haben Sie geahnt, Bistarc?" forschte D. C. „Ihre Ahnungen werden langsam zur
Landplage!"
„Ich weiß, wo dieser vermaledeite Bronzestift hergestellt worden ist.
Auf Atlantis!"
„Jetzt ist er völlig übergeschnappt", stöhnte Slayter auf und ließ sich in seinen Sessel fallen.
„Sie sind gut informiert, Bistarc", sagte Demeter Carol freundlich. Sie schien durch nichts
aus der Fassung zu bringen sein. „De Vries beschäftigte sich mit diesem Thema, und seine
Tochter ebenfalls. Ich stelle fest, daß der Umgang mit jungen Frauen Ihrer Bildung sehr
nützt!"
Ich nickte eifrig.
„Stimmt", sagte ich schnell.
„Und..."
„Schon einmal etwas von einem Numerus clausus gehört?" konterte sie, noch bevor ich ihr
vorschlagen konnte, bei ihr in die Schule zu gehen. „Ich danke Ihnen, Holmes!"
Holmes knurrte eine Unverständliece Antwort und zog sich zurück. D. C. führte die
Unterhaltung weiter.
„Halten wir die Tatsachen fest", begann sie. „Irgend jemand, vermutlich unser persönlicher
Gegner, hat ein technisches Verfahren entwickelt, feste Körper durch Raum und Zeit zu
schicken. Das können wir ebenfalls, nur brauchen wir diese Methode nicht zum
Bombenlegen.
Ihnen dürfte klar sein, was geschieht, wenn der Gegner die räumlichen Koordinaten dieser
Zentrale in Erfahrungen bringen kann!"
Es war uns klar. Eine atomare Bombe würde ausreichen, die gesamte Anlage zu zerstören.
„Wenn dem so ist", wandte Inky ein, „warum hat der Gegner dann noch nicht eine Bombe an
Örtlichkeiten geschickt, deren Koordinaten leicht zu besorgen sind - beispielsweise das
Weiße Haus?"
„Eine kluge Frage, Inky", antwortete D. C. „Und Sie beide werden diese Frage zu
beantworten haben. Ihr Auftrag lautet: Suchen Sie den Standort dieser neuen Waffe – wir
haben sie Zeit-Schleuder genannt.
Finden Sie die Waffe und zerstören Sie sie, nach Möglichkeit mit sämtlichen Bauplänen!"
„Dann auf nach Atlantis", murmelte Inky betroffen. „Aber ich spreche kein Wort atlantisch."
„Ich wüßte auch keinen, der es könnte", fügte ich hinzu.
D. C. lächelte nur. „Ich kenne eine solche Person", verriet sie. „Ich habe dieser Person vor
wenigen Stunden erst eine Einstellung bei der Time-squad verschafft. Dabei ist mir allerdings
aufgefallen, daß die betreffende Person über unsere Organisation verblüffend gut Bescheid
wußte. Erstaunlich, nicht wahr?"
Inky und ich saßen wie ertappte Sünder auf unseren Stühlen.
„Wir werden diesen Fall von Geheimnisbruch in den nächsten Wochen genau untersuchen",
versprach D. C. „Sie beide werden dann allerdings unterwegs sein. Haben Sie noch etwas zu
bemerken?"
„Nein!" sagten wir gleichzeitig.
* „Nein", sagten wir gleichzeitig.
„Völlig ausgeschlossen. Unter gar keinen Umständen!"
„Seid keine Narren", schimpfte Marleen. „Die Ägypter waren keine Narren. Sie wären
niemals mit ihren Waren quer durch unerforschte Urwälder gezogen, wenn sie das gleiche
Ziel zur See erreichen konnten. Wir werden ein Schiff benutzen."
Ich hob abwehrend beide Hände, und Inky tat es mir nach.
„Ausgeschlossen!"
Marleen zuckte mit den Schultern.
„Morgen beginnen die Untersuchungen in dem Fall von Geheimnis
bruch", erzählte sie. „Ich weiß es genau!"
„Das ist glatte Erpressung", protestierte ich. „Außerdem - Ägypter in
der Nordsee!"
„Schlagt bei Plato nach", riet sie uns. „Er kennt die Atlantisgeschichte von
Solon her, und der wiederum hat sie von Ägyptern erfahren. Diese Sage
ist nicht griechischen, sondern ägyptischen Ursprungs. Die Ägypter waren - für ihre Zeit vorzügliche Seeleute." „Ich weiß", seufzte ich. Nur zu gut erinnerte ich mich jenes Pharao Necho, der den Befehl zur ersten, geschichtlich einigermaßen verbürgten Umsegelung Afrikas ge geben hatte. Nach diesem Pharao hatten wir das Schiff der Operation Zeit-Piraten getauft. Jetzt ruhte es auf dem Grund des Mittelatlantiks, und es hätte nicht viel gefehlt, und wir lägen ebenfalls dort. „Akzeptiert", sagte ich. „Es bleibt das Problem der Sprache. Ich spreche kein Ägyptisch, Inky auch nicht." „Aber ich", konterte Marleen gelassen. „Und die Mehrzahl unserer Begleiter ebenfalls. Zur Not kann ich mir auch mit einigen anderen Spra chen der Bronzezeit behelfen." Wir nickten schicksalsergeben. Was uns bevorstand, war an den Fingern einer Hand abzuzählen. D. C. würde uns wieder mit einer Nußschale von Schiff auf die Reise schicken. Und wieder würde unsere einzige Chance, die Heimat wiederzusehen, darin bestehen, die Zeitmaschine des Gegners für unsere Zwecke zu benutzen. Ein Lotteriespiel, bei dem wir unter zehntausend Nieten den einzigen Volltreffer brauchten. „Wann soll die Reise losgehen?" fragte ich desinteressiert. „In wenigen Stunden", verriet Marleen. „In dieser Zeit können wir niemals ein Ägypterschiff nachbauen!" überlegte ich laut. „Was hat D. C. mit uns vor?" „Das wird sie euch selbst erklären", sagte Marleen. Rechnete man den Umstand ein, daß sie uns gradlinig in den nahezu sicheren Tod schickte, mußte man D. C. als ungewöhnlich gefaßt bezeichnen. Sie sprach, als handle es sich lediglich um eine besonders komplizierte Hausaufgabe in Mathematik. „Dieser Fall", dozierte sie, „weicht von den bisherigen in einigen Punk ten, ab. Ich will diese Punkte kurz erklären. Zunächst haben wir als Hinweis nur einen Stift aus Bronze, und das ist sehr wenig. Wir haben keinerlei Garantie dafür, daß es im zwölften vorchristlichen Jahrhundert wirklich eine Zeitmaschine des Gegners gibt. Selbst wenn diese Voraussetzung zutrifft, liegt der Fall dennoch anders als bei der Operation Zeit-Piraten. Auf die Verhältnisse in einem Piratenschlupfwinkel konnten wir uns leidlich vorbereiten. Auch war das Problem der Sprache nicht sehr groß. In diesem Fall aber haben wir es mit einer Hochkultur zu tun, von der kaum Daten überliefert sind. Einigermaßen erwiesen scheint aber zu sein, daß es sich nicht um einen wüsten, undisziplinierten Haufen handelt, sondern um einen durchorganisierten Feudalstaat. Es wird also entsprechend schwerer werden, sich in dieser Gesellschaft zu bewegen. Darum haben wir uns zu einem ungewöhnlichen Experiment ent schlossen." Ich stöhnte unterdrückt auf. Diese Experimente kannte ich. „Unsere Wissenschaftler haben ein Verfahren ausgetüftelt, das vielleicht eine Chance darstellt, den technologischen Vorsprund des Gegners auszugleichen. Gelingt dieses Experiment, dann können wir - zumindest für kurze Zeit - eine unmittelbare Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen." D. C. sah mich kurz an, dann wanderte ihr Blick weiter.
„Wir werden folgendes machen: wir werden eine Versuchsperson körperlich in die
Vergangenheit schicken. Eine halbe Stunde nach seiner Ankunft werden wir das neue
Zeitfeld aufbauen und ihn in die Ver- gangenheit schicken. Kehrt die Versuchsperson zurück,
dann wissen wir, daß der Test gelungen ist. Schlägt das Experiment fehl, dann werden wir
die gesamte notwendige Ausrüstung und den Rest der Truppe nachschicken. In diesem Fall gelten dann die bekannten Alternativen!" Also entweder Eroberung der Maschine des Gegners oder ein Ausweichen nach Australien. Dort würde die Time-squad eine Zeitmaschine samt dem nötigen Reaktor bauen, um uns abzuholen. Für uns würde dabei nicht allzu viel Zeit vergehen, wohl aber für die Time-squad. Ob der Gegner unseren Freunden überhaupt genug Zeit ließ, vermutlich zwei oder mehr Jahre, diese Station zu bauen, stand auf einem anderen Blatt. Eine Versuchsperson, hatte D. C. gesagt. Und dann: seine Ankunft! Sie hatte also einen Mann als Kandidaten ausersehen, und ich wußte auch schon, wer dieser Mann sein würde. D. C. war eine beneidenswerte Frau. Welche andere Frau hatte schon die Möglichkeit, ihr lästig gewordene Männer förmlich
durch die Zeit zu schießen und sich derart elegant vom
Halse zu schaffen?
„Ich habe verstanden, Chefin!" Inky trat vor und ging auf die einsatzbereite Zeitmaschine zu.
Sofort sprang ich auch auf.
„Ob einer oder zwei, das spielt doch keine Rolle", sagte ich lahm, wohl wissend, daß ich
mich durch diese übereilte Reaktion einigermaßen blamiert hatte. Am wenigsten gefiel mir
der amüsierte Blick, den D. C. und Marleen tauschten.
„Wenn es Ihnen Spaß macht", sagte D. C. Sie lächelte, wurde dann aber übergangslos ernst.
„Ich hoffe sehr, Sie in einer halben Stunde wiederzusehen!"
Gemeinsam legten wir uns auf die Transportplatte der Zeitmaschine.
Die Generatoren wurden eingeschaltet, das Transportfeld baute sich auf. Ich spürte den
typischen Müdigkeitsschock, der jeder Zeitreise voranging.
Während ich allmählich hinüberdämmerte, formte sich in meinem Schädel ein Gedanke. D.
C. hatte uns zwar gesagt, wann wir herauskommen würden – sie gesagt, wo!
Um uns herum war Wald, dicht und undurchdringlich. Sobald ich erwachte, richtete ich mich
auf. Ich hörte auf die Geräusche des Urwalds, die Stimmen der Vögel und die Geräusche des
Windes. Es war angenehm warm.
„Kein schlechter Platz", stellte Inky fest. „Hast du eine Ahnung, wo
wir sind?" Ich zuckte mit den Schultern.
„Ich habe vergessen, D. C. danach zu fragen! Aber ich vermute, daß wir
irgendwo in Europa sind." Inky atmete tief durch.
„Zwölf Jahrhunderte vor Christi Geburt", murmelte er. „Man sollte glauben, daß es damals
auf der Welt ziemlich übel aussah. Merkwürdigerweise war dem nicht so!"
„Aha", machte ich. Ich verstand gar nichts mehr.
„Wir haben zur Zeit ein ausgesprochenes Klimaoptimum", berichtete
Inky. „Die Erde ist überall unerhört fruchtbar. Freund, dies ist das Goldene Zeitalter, von
dem die alten Sagen berichten. Zum erstenmal in der geschriebenen Geschichte der
Menschen gibt es überall genug zu essen, ja geradezu Überfluß. Das hängt allerdings vom
Standpunkt ab - ich beziehe mich auf die Völker, aus denen das Abendland erwachsen ist und
seine frühesten Einflüsse bezogen hat. In Kleinasien erreicht die Kultur einen vorher nie
gekannten Höchststand. Während wir hier plaudern, werden dort Paläste gebaut, größer und
schöner als alle Nachfolger."
„Ich weiß nicht recht", murmelte ich. Der Frieden ringsum schien mir verdächtig. Ich
erwartete jeden Augenblick, die Vorfahren der berüchtigten alten Germanen kennenzulernen.
„Du mußt die Zeit berücksichtigen, Freund", sagte Inky. „Die Kenntnisse, die in dieser Zeit
gewonnen wurden, waren wenige Jahrhunderte später völlig vergessen. Vor etwas mehr als
hundert Jahren wurde Tu-ench-Amun zu Grabe getragen, das mußt du berücksichtigen. Wenn
es stimmt, dann wurde mehr als ein Jahrtausend später in dieser Landschaft das Grab eines
Fürsten so kärglich mit Beigaben versehen, daß man weinen möchte. In Babylon rechnete man in Größenordnungen, die erst in der Neuzeit wieder erreicht wurden." „Mag sein", gab ich zu. „Aber deine kulturphilosophischen Ergüsse ändern nichts an der Tatsache, daß wir nicht genau wissen, wo uns die Time-squad abgesetzt hat." Die Antwort auf diese Frage wurde schneller geliefert, als uns lieb sein konnte. Der Bursche war mehr als einen Kopf kleiner als ich, hatte lange, ziemlich verfilzte Haare, stank mörderisch nach ranzigem Fischöl und beäugte uns mit einem Gesichtsausdruck, der zwischen nackter Habgier und fürchterlicher Angst schwankte. „Winnetous Urgroßvater!" rief Inky aus. Ich wußte nicht, was er damit meinte. Aber ich wußte, wo wir waren. In Nordamerika, mitten unter Indianern. In den Händen hielt der Bursche einen ziemlich schäbigen Bogen. In dem Lederband, das ihm als Gürtel diente, schleppte er einen Schädelknacker aus Stein mit sich herum. Unwillkürlich führte ich zwei Bewegungen aus, die eine galt meinem Skalp, der noch fest am Schädel haftete, die andere meiner Waffe. Das Halfter war leer, und ein rascher Seitenblick belehrte mich, daß auch Inky vergessen hatte, sich zu bewaffnen. Ich war mir sicher, daß der Bursche sich nicht allein in dieser Wildnis herumtrieb. Irgendwo in den Wäldern ringsum versteckten sich seine Stammesgenossen. „Teufel auch", knurrte ich. „D. C. hätte uns wenigstens informieren können." Eine halbe Stunde mußten wir warten, bis wir diesen Platz entweder verlassen konnten oder aber unsere Freunde mit Nachschub auftauchten. Eine halbe Stunde, dreißig Minuten, 1800 Sekunden. Ich hob die rechte Hand und streckte die leere Fläche dem Indianer entgegen. Der Waldteufel grunzte und spuckte auf den Boden. Inky setzte ein feierliches Gesicht auf. „Mein roter Bruder mag näher treten", sagte er pathetisch. „Howgh, ich habe gesprochen!" Ich fragte mich, wo er diesen Schwachsinnstext hergenommen hatte, von dem der rote Teufel keine Silbe verstanden hatte. Er zog prüfend die Luft ein. Der schwache Wind mußte ihm Proben unseres Rasierwassers zutragen, jedenfalls verzog er angewidert das Gesicht. Dann tauchten zwei andere Gestalten auf, lautlos wie Nachtgeister und ebenso gefährlich anzusehen. Auch sie waren nackt, schwerbewaffnet und ziemlich verblüfft, uns zu sehen. Ich wiederholte meinen Friedensgruß, dann setzte ich mich auf den Boden. Vielleicht verstanden die Burschen wenigstens das. Einer kam vorsichtig näher, spuckte sich auf den Zeigefinger und verrieb die Feuchtigkeit auf meiner Stirn. Er schien sehr enttäuscht, daß er das helle Braun meiner Haut nicht hatte abwaschen können. „Wenn wir wenigstens eine Pfeife hätten", murmelte Inky. Er brachte mich auf eine Idee. Waffen hatten wir nicht, aber dafür Zigaretten - und ein Gasfeuerzeug. Langsam, um unsere Gastgeber nicht zu irritieren, zog ich die Zigaretten und das Feuerzeug aus der Tasche. Zwei der drei Indianer flüchteten, als die Flamme hochzuckte und ich die Zigarette ansteckte. Der dritte, am durchdringenden Gestank unschwer als Anführer auszumachen, kam sehr langsam näher. Inky übernahm von mir die Materialien und folgte meinem Beispiel. Dann bot er dem Wilden ein Stäbchen an. Er schnüffelte neugie rig daran herum, dann grinste er. Offenbar hatte er den Geruch erkannt. „Wieso benutzt er nicht das Wort Tabak?" fragte Inky verblüfft, nachdem der Wilde eine Reihe von Lauten von sich gegeben hatte, die nur von einer Tonbandmaschine einigermaßen wirklichkeitsgetreu wiederzugeben waren. „Ich denke, das Zeug kommt aus dieser Gegend?" Ich gab dem Indianer Feuer. Er paffte und machte dabei ein zufriedenes Gesicht. In mir keimte ein schrecklicher Gedanke auf.
„Weißt du eigentlich, was wir hier veranstalten?" fragte ich meinen Gefährten. Inky
schüttelte den Kopf.
„Wir bringen den Indianern das Rauchen bei!"
„Ich denke ...", begann Inky.
„Dieser Bursche lernt es von uns, und er wird diese Neuigkeit verbreiten. Da sie keine
Zigaretten herstellen können, werden sie die Zigarre erfinden. In Südamerika werden dann
die Spanier auf diesen Brauch treffen, ihn nach Europa exportieren, und dann wird das Laster
nach Amerika zurückkehren und zur Großindustrie werden. Die Millionen von Menschen,
die an den Folgeerscheinungen des Rauchens gestorben sind, haben wir beide jetzt auf dem
Gewissen!"
Inky warf die Zigarette auf den Boden und trat sie aus.
„Verfluchter Tabak!" schimpfte er.
„T'bakk", freute sich der Wilde.
„T'bakk?"
Inky und ich sahen uns entgeistert an. Jetzt hatte das Kind auch seinen Namen.
5. Es hatte keinen Zweck. Wir hätten die Indianer erschlagen müssen, um die Kenntnis vom Tabak aus der Welt schaffen zu können. Dazu aber waren wir nicht in der Lage. Inzwischen hatten sich fast dreißig Menschen eingefunden, Männer, Weiber und Kinder. Die Kleinen hatten nicht den geringsten Respekt vor uns. Sie zerrten an unseren Haaren, warfen mit Erdbrocken nach uns und versuchten immer wieder, unsere Hautfarbe abzuwaschen. Die Frauen hatten uns zu essen gegeben, und wir hatten das Zeug heruntergeschluckt. Vor die Wahl gestellt, uns entweder eine Magenverstimmung einzuhandeln oder mit den steinernen Schädelknackern Bekanntschaft zu machen, hatten wir dem Magen den Vorzug gegeben. Ab und zu schielten wir auf unsere Uhren. Die Zeit verging unendlich langsam. Vor uns hatten sich die Anführer des Stammes aufgebaut. Sie hockten mit ernsten Gesichtern in einem Halbkreis vor uns und starrten uns an. Ab und zu tuschelten sie etwas in ihrer Sprache. Mir wäre wohler gewesen, hätten sie etwas weiter von uns entfernt gesessen. Ein leises Pfeifen war plötzlich zu hören, dann erklang ein dumpfer, langsam anschwellender Ton. Um uns herum begann die Luft zu flimmern. Die Time-squad schickte sich an, uns aus unserem Dilemma zu befreien. Wir sahen, wie sich die Luft um uns herum rötlich zu verfärben begann. Das Zeitfeld wurde aufgebaut. Wir waren gerettet. „Abschalten!" brüllte ich. „Sofort abschalten!" Ich war gerade erst rematerialisiert. Sobald ich wußte, daß ich wieder in den Räumen der Time-squad war, schrie ich so laut, wie es meine Lungen zuließen. Wir brauchten nur wenig Zeit, uns von der Transportplatte herunterzu rollen. „Schaltet das Ding ab!" brüllte auch Inky. Die Warnung kam zu spät. „Uff!" sagte eine tiefe Stimme. Ich konnte den Sprecher nicht sehen, weil ich auf dem Boden lag. Aber ich konnte ihn riechen. Einer der India ner war in der Zentrale der Time-squad aufgetaucht. „Abschalten!" Das war die Stimme von D. C., aber der Befehl kam zu spät. Der Wilde war total überrascht, aber mit der Instinktsicherheit, die er in seiner Zeit zum Überleben brauchte, spürte er, daß er in Gefahr schwebte. Er warf sich vom Tisch der Zeitmaschine, rollte sich am Boden ab und stand blitzschnell wieder auf den Beinen. Ebenso schnell hatte er seinen Schädelknacker
aus dem Gürtel gerissen. Die Menschen in der Zentrale stoben auseinander. Der Indianer stieß ein Geheul aus, daß die Haare sich aufrichteten. Die Zentrale der Time-squad wurde zum Tollhaus. Der Indianer schrie und fuchtelte mit seiner Waffe herum, unsere Mitarbeiter schrien nach den Wachen. Es splitterte, als unser Mitbringsel seine Waffe nach einem der Mitarbeiter schleuderte. Die Steinwaffe verfehlte ihr Ziel nur deshalb, weil der Mann in seiner Aufregung gestolpert war. Dafür krachte sie in ein Instrumentenpult und löste einen knisternden Kabelbrand aus. Mit funkelnden Augen sah sich der Indianer um. Inky und ich waren längst wieder auf den Beinen, aber noch konnten wir in die Auseinandersetzung nicht eingreifen. Immer wieder wurden wir von den Technikern angerempelt, die verzweifelt versuchten, in dem Raum irgendeinen Winkel zu finden, in dem sie vor dem Indianer sicher waren. Die einzige Person, die sich an diesem chaotischen Wirbel nicht beteiligte, war unsere Chefin. D. C. stand ruhig an ihrem Platz und wartete ab. Der Indianer sah sie und verharrte für einen Sekundenbruchteil. Er stieß ein zufriedenes Grunzen aus, und sein Gesichtsausdruck ließ an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. In der Rechten hielt er ein Messer aus Flintstein, die Linke streckte er nach D. C. aus. Demeter Carol Washington war so nicht zu bekommen. Noch bevor der Wilde wußte, wie ihm geschah, hatte sie ihn mit einem eleganten Hüftwurf von den Beinen gerissen. Der Indianer schlitterte über den glatten Boden und schrie. Er landete genau vor meinen Füßen, kurz danach schrie er nicht mehr. „Ich möchte wissen", sagte D. C. in die plötzliche Stille hinein, „wofür die Time-squad Ihnen eigentlich Ihre Gehälter zahlt. Ein einziger halbnackter Wilder reicht offenbar aus, um hier alles zusammenbrechen zulassen!" Sie sah Inky und mich an und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. „Schafft den Indianer in seine Zeit zurück", befahl sie und verließ den Raum. „Wir wissen nun, daß unser Verfahren funktioniert", stellte D. C. fest. „Der Energieverbrauch ist zwar viel zu hoch, um einen Dauerbetrieb zuzulassen, wie ihn der Gegner praktiziert, aber für unsere Zwecke reicht das Verfahren." Wir nickten brav. Inky und ich sowie der Indianer, den man in seine Zeit zurückgeschickt hatte, waren der lebende Beweis für ihre Worte. „Unser Unternehmen kann also gestartet werden. Wir werden allerdings eine andere Zielzeit wählen, um unsere Mitarbeiter vor unnötigen Demütigungen durch steinzeitliche Wilde zu bewahren." Sie lächelte freundlich, während sie uns verspottete. „Sie werden vierzig Tage Zeit haben, das Boot zu bauen. Das dafür nötige Handwerkszeug wird anschließend während der Fahrt im Atlantik versenkt. Sie werden danach das bronzezeitliche Helgoland ..." „... Atlantis", wagte Marleen zu korrigieren. „... also das vermutliche Atlantis ansteuern. Da wir über diesen Geschichtsabschnitt so gut wie keine Informationen besitzen, werden Sie an Ort und Stelle improvisieren müssen. Zu welchen Maßnahmen Sie sich entscheiden, ist in Ihr Ermessen gestellt. Tun Sie alles, was nötig ist, um die neue Waffe des Gegners zu finden und zu zerstören." Ich hob die Hand. D. C. gab mir mit einem Nicken Redeerlaubnis. „Gesetzt den Fall, wir finden diese Zeitschleuder "und zerstören sie. Dann wäre es möglich, daß diese Maschine vernichtet wird, bevor sie dazu benutzt wurde, das Boot von Professor de Vries zu versenken. Wie sollen wir dieses Zeitparadoxon umgehen?" Ihr Lächeln gefror zu einer Maske. „Sie haben nicht, ich wiederhole: nicht den Auftrag, dieses Paradoxon zu vermeiden! Ich habe mich in Fachkreisen erkundigt; nächst dem Professor selbst gibt es keinen Menschen,
der sich in diesem örtlichen und zeitlichen Abschnitt der Weltgeschichte so gut auskennt wie seine Tochter. Miß de Vries ist damit für dieses Unternehmen unentbehrlich geworden. Ich konnte ihr nicht zumuten, während dieser Operation tatenlos zuzusehen, wie Vorbereitungen für die Ermordung ihres Vaters getroffen werden. Die Anweisung für Ihre Gruppe lautet so: ergibt sich aus den Daten, die Sie hoffentlich sammeln werden, daß dieses Paradoxon vermieden werden muß, weil entweder die Sicherheit der Menschheit oder die Sicherheit Ihrer Gruppe bedroht ist, dann haben Sie den Auftrag, das Paradoxon zu verhindern. Liegt keiner der genannten Gründe vor, ist die Entscheidung über das Paradoxon in die Hand von Miß de Vries gelegt!" D. C. machte eine kurze Pause. „Um Streitigkeiten in der Gruppe zu verhindern, ordne ich an, daß die Verantwortung für alle anderen Entscheidungen bei Tovar Bistarc liegt. Er hat zu entscheiden, ob gewichtige Gründe gegen das Paradoxon sprechen. Sollte er während des Unternehmens ausfallen, fällt die Verantwortung seinem Stellvertreter zu - und so fort. Noch Fragen?" * Wir saßen beim Abendessen, dem vermutlich ersten Barbecue auf dem Boden Nordamerikas. Wir hatten harte Wochen hinter uns. Das Boot war fertig und brauchte nur noch zu Wasser gebracht zu werden. Jeder hatte in seiner Freizeit seine Rollen gelernt oder Sprachstudien be trieben. Es war typisch für die Time-squad, daß die meisten ihrer Mitarbeiter Allroundbegabte waren. Anders wäre es auch nicht möglich gewesen, einen Mann abzukommandieren, der sprachgewandt war, sich mit Segelschiffen aller Arten auskannte, die Axt wie ein gelernter Zimmermann schwingen konnte und dazu ein erfahrener und zuverlässiger Kämpfer in fast allen Disziplinen war. Joshua Slocum, der bei unserem letzten Unternehmen die NECHO kommandiert hatte, konnte boxen, reiten und schießen. Degen und Schwerter handhabte er mit der gleichen Könnerschaft, mit der er Laserwaffen bediente oder mit Pfeil und Bogen schoß. Marleen hatte sich nicht nur als Sprachgenie und archäologische Expertin erwiesen; sie konnte spleißen und knoten wie eine alte Teerjacke, und was sie aus dem Wildbret zauberte, das ihr Slocum lieferte, war atemberaubend. Den größten Teil der Gruppe kannte ich. Inky gehörte dazu, er war mein Stellvertreter. Maipo Rueda war dabei, der hünenhafte Schwarze, mit dem ich meinen ersten Einsatz durchgefochten hatte. Susan Gilmore hatte einen beachtlichen sozialen Abstieg hinter sich. In Port Royal war sie als gefangene Herzogin von Wharfdale aufgetreten, jetzt mußte sie eine Sklavin spielen. Nicht ohne Grund hatten wir erneut viele Frauen mitgenommen. Daß Frauen grundsätzlich ebenso belastbar waren wie Männer, hatte sich in den letzten vier Jahrhunderten allmählich herumgesprochen. In dieser Zeit aber war von Gleichberechtigung nicht die Rede. Hier waren sie nur Arbeitskräfte oder Handelsware, für uns waren sie der letzte im Ärmel versteckte Trumpf. Um festzustellen, wie eine selbstbewußte Frau, die sich in allen Selbstverteidigungstechniken auskannte, auf einen Mann früherer Jahrhunderte wirkte, brauchte man nur den Jüngsten in unserer Gruppe anzusehen. William Chadwick, knapp sechzehn Jahre alt und vormals Fähnrich in der englischen Flotte, sah Susan stets mit einer Mischung aus Verzweiflung und Hochachtung an. Frauen dieser Spezies waren ihm nicht geheuer. Genußvoll biß ich in die Hasenkeule die lange genug auf dem improvisierten Grill gelegen hatte. Es schmeckte vorzüglich. Daß der Fleischsaft auf die Kleidung kleckerte, entsprach dem Zeitgebrauch und diente der Anpassung an die Verhältnisse. Indianer hatten wir in der letzten Zeit kaum zu Gesicht bekommen. Die meisten waren bei unserem bloßen Anblick in die Wälder geflohen und hielten sich dort versteckt. Zudem
hatten wir unser Lager weiter südlich aufgeschlagen, weitab von jener Stelle, an der wir den ersten Zusammenstoß mit Indianern gehabt hatten. Wochenlang war ein Strom von Menschen und Material aus der Gegenwart in die Vergangenheit geflossen. Äxte, Messer, Sägen und Beile, Tauwerk aus bestem Manilahanf, Segel und Chemikalien zur Präparierung des Bauholzes. Als Unterkunft hatten uns Holzhäuser gedient, die kurz vor unserer Abfahrt mit einem speziellen Bakterienstamm übersprüht wurden. Diese Bakterien würden, zusammen mit den Chemikalien, mit denen das Holz besprüht worden war, die Hütten in wenigen Wochen so restlos zerfallen lassen, daß nichts mehr davon übrigblieb. Die Wissenschaftler hatten garantiert, daß in der Zukunft niemand unsere Spuren würde entdecken können. Inky hatte sich neben mir im Gras ausgestreckt und seufzte wohlig. Er war mindestens so verfressen wie ich, und Wildgerichte waren seine Leidenschaft. „Mehr als zweitausend Jahre", murmelte Inky. „Bitte?" „Wenn wir einfach hier blieben, müßten mehr als zweitausend Jahre vergehen, bis zum erstenmal wieder Weiße dieses Land erreichen." „Falsch", widersprach Marleen. „Du hättest sagen müssen, bis zum erstenmal wieder Weiße dieses Land erreichen und glaubhaft davon berichten. Ich bin sicher, daß lange vor Erik dem Roten einige Weiße diese Küste erreicht haben. Wahrscheinlich wurden sie unfreiwillig an dieses Gebiet geschwemmt, und ihre Spuren haben sich verloren. Trotzdem wird noch immer Kolumbus als der Mann genannt, der diesen Kontinent anno 1492 entdeckte, obwohl das überhaupt nicht stimmt." „Ich weiß", wehrte ich ab, „die Wikinger haben Amerika entdeckt." „Auch sie nicht. Das Wort ,entdecken' gibt einen völlig falschen Sinn wieder. Amerika wurde überhaupt nicht entdeckt - es war ja längst besiedelt. Dieses Wort hat nur dann einen Sinn, wenn man es auf Europa und seine Bewohner bezieht. Ob ihr es wollt oder nicht, wenn ihr das Wort entdecken so benutzt, wie ihr es tut, dann steckt eine ganz bestimmte Geisteshaltung dahinter. Chemische Elemente werden entdeckt, Quellen, Bodenschätze Menschen aber kann man nicht entdecken." Ich hatte da meine Zweifel, denn ich hatte gerade einen Menschen entdeckt, und wenige Sekunden später waren es bereits etliche. Ich stieß Inky an. „Vorsichtig zu den Hütten zurückziehen", murmelte ich. „Mir scheint, die Indianer haben sich diesen Augenblick ausgesucht, um sich etwas intensiver mit uns zu befassen!" Inky gab die Nachricht weiter. Langsam zogen wir uns in den schützenden Bereich der Hütten zurück. Anfangs ließen uns die Indianer gewähren, dann begriffen sie, daß wir versuchten, uns von ihnen abzusetzen. Ein infernalisches Geheul erklang, dann tauchten sie allenthalben auf. Es mußten mindestens einhundert sein, und ich konnte nicht ausschließen, daß es noch wesentlich mehr waren. Vielleicht hatten sie in den letzten Tagen, von der Hoffnung auf reiche Beute angestachelt, sämtliche Siedlungen im Umkreis von fünfzig Kilometern benachrichtigt. Pfeile umschwirrten uns und schlugen in die hölzernen Balken der Hütten ein. Unterdrückte Schreie erklangen, die Indianer hatten einige unserer Freunde verwundet. Ich rannte um mein Leben, und noch im Laufen zog ich den Narkonadler. Ich verfeuerte ein ganzes Magazin in die Dunkelheit des uns umgebenden Waldes, ohne zu zielen. Eine kräftige Hand packte mich am Arm und zerrte mich in das Innere einer der Hütten. Dann klappte die schwere Bohlentür hinter mir zu. Krachend wurde der hölzerne Riegel vorgeschoben. „So", murmelte eine Stimme, die ich als die Inkys erkannte, „fürs erste wären wir in Sicherheit. Was fällt diesen roten Teufeln eigentlich ein, nachts anzugreifen? Wissen diese Burschen nicht, daß nachts gefallene Krieger nicht in die ewigen Jagdgründe kommen? Ich
hätte große Lust, hinauszugehen und diesen Flegeln beizubringen, wie man sich als anständiger Indianer zu benehmen hat!" „Rede nicht, mach Licht!" forderte ich ihn auf. Wenig später wurde die erste Fackel entzündet, und nach kurzer Zeit war es hell in der Hütte. Draußen vor der Tür rückten die Indianer den Balken mit ihren Schädelknackern und den Messern zuleibe, während andere sich bemühten, unsere Hütten in Brand zu setzen. Daß ihnen das nicht gelingen konnte, wußten wir, daher konnten uns die Aktivitäten nicht erschüttern. Ich spähte durch eine Schießscharte hinaus. Ich hatte mich nicht verschätzt. Es waren weit mehr als einhundert Indianer, mehr als doppelt so viel, und es schienen immer mehr zu werden. Ein Teil war über unsere Nahrungsmittelvorräte hergefallen und vertilgte sie im Handumdrehen. Die anderen umringten die Hütten und schossen immer wieder Pfeile ab. Aus den Schießscharten schlug ihnen ein Hagel von Narkonadeln entgegen. Immer wieder sanken Angreifer bewußtlos zusammen, aber die Neuankömmlinge waren bei weitem kopfstärker als dieser Ausfall. „Ich fürchte fast, daß sie sich auf eine regelrechte Belagerung vorbereiten!" erklärte Inky. Er zielte sorgfältig und holte einen Schützen von einem Baum. „Zwar können sie unsere Hütten nicht in Brand stecken, aber es gibt noch andere Möglichkeiten!" Eine dieser Möglichkeiten war, uns buchstäblich aufs Dach zu steigen. Wir hörten Schritte auf unserem Dach, dann die schmetternden Schläge der Schädelknacker. Diese an Hartholzstücken befestigten Steine sahen für einen an Technik gewohnten Menschen zunächst einmal eher kurios als gefährlich aus. Aber bereits mit diesen primitiven Vorläufern der späteren Tomahawks hatten die Indianer im siebzehnten Jahrhundert den englischen Siedlern gehörig zu schaffen gemacht. „Sollen wir sie mit Lasern vertreiben?" erkundigte sich Maipo Rueda grimmig. Ihn hatte ein Pfeil an der Wange gestreift, das Blut lief herunter und tropfte auf seine Kleidung und den Boden. Gefährlich war die Verletzung allerdings nicht. ch schüttelte den Kopf. , Oberstes Gebot der Time-squad war es, grundsätzlich nicht zu töten - es sei denn, dies war absolut unvermeidlich. Zwar konnten die Narkonadeln nicht die Decke durchschlagen, aber das war kein Grund, die Indianer mit tödlichen Waffen zu bekämpfen. „Der Zustrom hört allmählich auf", stellte Maipo fest, während er seinen Nadler mit einem frischen Magazin versah. „Ich schätze, daß wir es mit knapp fünfhundert Gegnern zu tun haben. Davon sind mehr als hundert bereits ausgeschieden, aber der Rest ist verteufelt munter - bis auf diesen da!" Ich sah nicht, auf wen er zielte und schoß, aber seinem zufriedenen Grinsen entnahm ich, daß er getroffen hatte. Splitter rieselten auf uns herab, als der erste Indianer ein Loch in die Decke unserer Hütte geschla gen hatte. Bevor er noch einen Pfeil durch die Öffnung schießen konnte, war er bereits von einer Narkonadel außer Gefecht gesetzt. Plötzlich drehte sich Inky zu mir um. „Das Boot!" rief er laut. „Wenn diese Burschen das Boot finden ...!?" * Es war etwa dreißig Meter lang und maß in der Breite etwas mehr als sechs Meter. Der Tiefgang lag knapp über einem Meter. Alles in allem hatte die HATSCHEPSUT eine Verdrängung von annähernd achtzig Tonnen. Am Heck, dessen Abschluß eine vergrößerte Abbildung der Papyruspflanze bildete, gab es ein kleines Kastell. Von dort aus wurden die beiden Ruder bedient, die rechts und links ins Wasser ragten. Mittschiffs erhob sich ein Mast, der ein großes Rahsegel trug. Auf dem Vorschiff gab es kurz vor dem Bug eine weitere
kleine Plattform. Im muldenförmigen Rumpf des Schiffes zwischen diesen beiden Plattformen saßen die Ruderer, unter ihnen war die Last verstaut. Es gab Platz genug für die Mannschaft, Wasser, Lebensmittel und wertvolle Fracht – allerdings war die HATSCHEPSUT oben offen. Wenn es regnete, wurde jeder naß, und zum Abwettern eines handfesten Sturmes war das Schiff ebenfalls nicht gedacht. Sicherheitshalber war vom Bug bis zum Heck ein sogenanntes Sprengtau ge spannt. Dadurch sollte verhindert werden, daß das Schiff in zwei Teile zerbrach, wenn es auf einer Welle ritt und Heck und Bug frei in der Luft hingen. „Mit so etwas sind die Ägypter rund um Afrika gereist?" staunte ich. Marleen nickte. „Unvorstellbar!" „Sie dürfen die Zeitmaßstäbe nicht vergessen", erinnerte sie mich. „Damals wurden die Menschen nicht sehr alt. Der Tod war allgegenwär tig. Die kleinste unsaubere Wunde konnten den stärksten Mann blitzschnell in die Grube bringen. Die Menschen hatten nicht so viel Angst vor dem Sterben wie wir. Ein Ägypter würde in unserer Lage vielleicht daran denken, daß er kurz nach der Rückkehr vielleicht sterben muß - wir dagegen haben trotz aller Unfälle und Krankheiten noch eine statistische Lebenserwartung von mehreren Jahrzehnten. Das ist ein erheblicher Unterschied!" „Mag sein", sagte ich. Mir fiel auf, daß ich diese Formulierung im Gespräch mit Marleen immer häufiger gebrauchte. „Wie sieht eigentlich unser Ziel aus? Was für Menschen leben dort?" „Das wissen wir nicht sehr genau", gab Marleen zu. „Es wird vermutet, daß - selbst aus unserer Sicht – vor langer Zeit ein Volk es schaffte, die ersten Pferde zu zähmen und sich dienstbar zu machen. Vermutlich ist das am Unterlauf der Wolga geschehen, in den weiten Steppen. Es wird weiter vermutet, daß von diesem Nomadenvolk ein Großteil der europäischen Völker abstammt, vor allem die Kelten. Ich neige zu der Annahme, daß es sich bei den Atlantisbewohnern um ein Volk handelt, das mit den Kelten stark verwandt ist. Wenn die Gleichsetzung von Atlantis mit Helgoland richtig ist, werden wir dort auf jene Menschen treffen, die in ägyptischen Texten als Seevölker beschrieben werden. In Medinet Habu ist eine Schlacht zwischen den Ägyptern und den Seevölkern dargestellt. Danach verwenden die Angreifer Helme mit Hörnern, daran runde Schilde und ein Schwert, das sehr stark an das sogenannte gemeingermanische Griffzungenschwert erinnert. Typisch ist aber vor allem der Kopfschmuck dieser Kämpfer. Er sieht aus, als hätten die Träger ihre Haare senkrecht in die Höhe gekämmt und so mit einer besonderen Helmkonstruktion festgehalten. Nun wissen wir aber aus römischen Quellen, daß die Kelten die Angewohnheit hatten, ihre Haare mit Kalkwasser zu bearbeiten und ebenfalls stachelförmig hochzutürmen." „Dann dürfen wir also erwarten, auf Krieger zu stoßen, die mit Griffzungenschwertern und Rundschildern antreten und eine Art Bürstenfrisur tragen", faßte ich die Daten zusammen, die ich hatte verdauen können. „Hoffentlich", erklärte Marleen lächelnd. „Das würde unsere Theorie gewaltig stützen!" Lange würde es nicht mehr währen, bis wir auf die ersten Seekrieger stießen. Wir hatten eine erstaunlich flotte Fahrt gemacht, ohne die geringsten Zwischenfälle. Der Wind hatte uns vorwärtsgetrieben, manchmal waren wir gerudert, und unablässig hatte uns der Golfstrom auf unser Ziel zugedrückt. Wenn der Rest dieses Unternehmens ähnlich glatt ablief, konnten wir zufrieden sein. Während dieser Fahrt hatte uns nur eines gestört: wir hatten bereits nach wenigen Stunden keinen trockenen Faden mehr am Leib gehabt, und daran hatte sich während der Überfahrt nichts geändert. Es war einfach unmöglich, die Kleider zu trocknen, obwohl die Sonne schien. Das Spritzwasser hatte alle Versuche vereitelt.
„Land in Sicht!" schrie William Chadwick. Er hockte auf der Rah des Segels und hielt dort Ausschau. Er war dazu abkommandiert worden, weil er nicht nur hervorragende Augen hatte, sondern auch der Leichteste an Bord war. „Genau voraus!" Ich leckte mir die Lippen. „Freunde", sagte ich laut. „Wir sind da. Ihr kennt eure Rollen?" Ein allgemeines Nicken war die Antwort, trotzdem war mir nicht wohl in meiner Haut. Dieser Auftrag schien mir gefährlicher als alles, was wir bislang erlebt hatten. Offiziell - für die Seevölker - stellte ich einen vornehmen Ägypter dar. Marleen war meine Frau, die als kleines Kind von Ägyptern geraubt worden war. Ihre Heimat war Atlantis. Maipo spielte einen afrikanischen Leibwächter, der Rest der Crew war je nach Hautfarbe und Aussehen in verschiedene Rollen eingeteilt worden: Schiffsmannschaft, Dienstpersonal und Sklaven. Als Ware führten wir hauptsächlich Elfenbein (künstlich), Weihrauch (künstlich) und Tuche (maschinengewebt). Echt war das Gold, gerade genug, um uns genügend Spielraum freikaufen zu können, aber nicht soviel, daß bedeutende Personen in Atlantis übermäßig habgierig werden konnten. Dazu kamen noch Halbedelsteine, die tatsächlich aus ägyptischen Gruben stammten, und Gewürze und Spezereien. Alles in allem waren wir gut versehen. Die Waffen, die wir trugen, waren antiken Vorbildern nachgestaltet. Das bronzene Schwert an meiner Seite bestand tatsächlich aus Bronze, allerdings aus einer Legierung, die erst in der Neuzeit erfunden worden war. Ähnliches galt für alle anderen Ausrüstungsstücke, neuzeitlich, soweit möglich, antik, soweit nötig. An Bord gab es außerdem noch einige Kultstatuen. In den Hohlräumen waren die Narkonadler samt Magazinen verborgen, unsere Geheimwaffe, wenn andere Mittel versagten. Am Horizont tauchte ein Schiff auf. Es steuerte südwestlich, wollte also wahrscheinlich durch den Ärmelkanal ins Mittelmeer. „Es scheinen Soldaten an Bord zu sein", meldete der Ausguck. „Sie haben übrigens recht, Marleen - es sind Seevölker. Der Kopfputz ist nicht zu verkennen!" Marleen strahlte, als habe sie einen Haupttreffer in der Lotterie gemacht. Mir war weniger wohlgemut. Es ging also nicht gegen einen Haufen barbarischer Wilder, sondern gegen ein hochstehendes Kulturvolk, das sich hinter der mesopotamischen und der Nilkultur nicht zu verstecken brauchte. Früher hätte ich auf diese Völker mit dem verachtungsvollen Dünkel des Neuzeitmenschen herabgesehen, aber das hatte sich gründlich geändert. In dieser Zeit gehörten die Seevölker zu den Großmächten. Wenn die Besatzung des anderen Schiffes Lust verspürte, uns zu kapern, dann hatten wir nur mit unseren Nadlern eine Chance, diesem Angriff zu begegnen. Die Atlanter schienen zu beschäftigt, um sich um uns kümmern zu können Mit gleichmäßigem Ruderschlag zogen sie an uns vorbei. Marleen stieß mich an. „Dort!" sagte sie und wies voraus. „Atlantis!" Zuerst war nur die Küstenlinie zu erkennen, ein dunkler Strich über den etwas helleren Wellen der See. Nur langsam schälten sich im Näherkommen Einzelheiten heraus. Sehr hoch lag das Festland nicht, das war sehr rasch zu erkennen. Es erinnerte mich sehr an ähnliche Regionen in den Niederlanden. Wären dort nicht die Deiche gewesen, hätte das Land einen ähnlichen Anblick geboten. Weitgestreckt und eben, gerade hoch genug gelegen, um normale Fluten und etwas heftigere Stürme überstehen zu können. Einer wirklich großen Flut, einer Jahrhundertüberschwemmung, konnte das Land allerdings nicht widerstehen. Plötzlich erschien es mir sehr einleuchtend, ausgerechnet hier nach Atlantis zu suchen. Ich erinnerte mich an den Text, der so oft falsch interpretiert worden war: „Späterhin aber entstanden gewaltige Erdbeben und Überschwemmungen, und da versank während eined schlimmen Tages und einer schlimmen Nacht das ganze streitbare Geschlecht bei euch scharenweise unter die Erde, und ebenso verschwand die Insel Atlantis, indem sie im Meere unterging. Deshalb ist auch die dortige See jetzt unbefahrbar
und un- durchforschbar, weil der sehr hoch aufgehäufte Schlamm im Wege ist, welchen die Insel durch ihr Untersinken hervorbrachte." Der also sprach, war ein Ägypter und redete mit Solon, dem berühmten griechischen Staatsmann. Solon gab die Geschichte weiter; Plato schrieb sie auf. Bei euch, damit waren die Athener gemeint, deren Kriegsmacht in einer schauerlichen Nacht vernichtet wurde. Daß Atlantis ebenfalls untergegangen war, bestätigt der Ägypter, aber er sagt nicht, daß dies ebenfalls innerhalb von vierundzwanzig Stunden geschah. Vor allem aber: die Geschichte, die der Ägypter erzählte, spielte viele Jahre vor Solon. Wenn er behauptete, daß jene Gegend wegen des Schlammes unpassierbar geworden sein - und zwar jetzt - konnte damit nur die Solonzeit gemeint sein. Die alte These, daß es sich bei diesem Schlamm um den Bimssteinauswurf des explodierten Santorin gehandelt haben sollte, der kilometerweit die See um die Insel bedeckte und so dicht war, daß man darauf spazieren konnte, brach damit zusammen. Kein Bimssteinteppich schwimmt fast ein Jahrtausend lang an der gleichen Stelle des Meeres und macht die See dort unpassierbar. Ich sah Marleen an. Sie lächelte verzückt, sie war am Ziel ihrer Wünsche. Während der Fahrt hatten wir den Atlantisbericht des Plato hin und her gedreht. Das Problem war, daß sich Plato unzweifelhaft geirrt hatte. Angeblich war Atlantis 9000 Jahre vor Solon untergegangen. Damals hatte es weder Ägypter noch Griechen gegeben, keine Schrift, in der man dieses Ereignis hätte festhalten können. Meist wurde dieses Datum einfach um eine Null gekürzt, dann kam man in der Bronzezeit heraus, und die Angelegenheit war weit wahrscheinlicher. Wenn man mit anderen, präzisen Daten von Plato ähnlich verfuhr, sie teils als echt, teils als falsch wertete, gab es Kombinationen von Daten, deren Zahl ins Astronomische ging. Wenn man nur zehn dieser Daten wahlweise als falsch oder richtig wertete und alle Möglichkeiten durchging, kam man bereits auf 1024 verschiedene Interprerationen. Es gab kaum einen Winkel der Erde, den man auf diese Weise nicht mit Atlantis identifizieren konnte. „Siehst du, Tovar!" rief Marleen plötzlich aus. „Diesen merkwürdigen goldenen Schimmer über der Stadt?" Tatsächlich, irgend etwas dort drüben glänzte und warf das Licht zurück. Noch waren wir zu weit entfernt, um Einzelheiten ausmachen zu können. „Das ist der berühmte Oreichalkos, von dem Plato berichtet", fuhr Marleen fort. „Kein Mensch wußte bisher genau, was damit gemeint war. Wir werden es bald wissen!" Der Wind flaute ab, wir mußten auf das Festtand zurudern. Wir kamen nur langsam näher, und das war mir lieb. Je mehr Zeit wir brauchten, bis wir den Hafen erreichten, um so mehr Zeit blieb, uns allmählich mit den Gegebenheiten vertraut zu machen. Dies war keine Ferienfahrt in ein Touristenland. Wir hatten kein Konsulat, an das wir uns im Notfall wenden konnten, keinerlei Rückhalt. Wir wußten nicht einmal, welche Sprache hier gesprochen wurde. Es gab praktisch kein Bezugssystem, an das wir uns halten konnten. Wir drangen nicht aus vertrautem Gebiet langsam ins Unbekannte vor, wir fielen kopfüber hinein. Es gab keine weitgestreckte Grenze; keinen Raum, in dem Zivilisation allmählich in Barbarei überging - für uns war die Zivilisation weiter entfernt als für jeden anderen Entdeckungsreisenden. Einzelheiten wurden deutlich. Was wir erkennen konnten, war das Festland und eine kleine, vorgelagerte Insel. Von dort kam der metallische Schimmer, der immer deutlicher wurde. Offenbar war dies die Basileia, die Königsburg der Atlanter. Der Hafen lag zwischen der Insel und dem Festland. Insel war genaugenommen ein falsches Wort, die Wasserfläche zwischen den beiden
Teilen von Atlantis war nicht breiter als ein großer Flußlauf. Mit gleichmäßigem Ruderschlag, dessen Rhythmus von Maipo auf einer großen Pauke diktiert wurde, glitten wir in den Hafen hinein. Es gab keinen Zweifel mehr. Dies war keine einfache Stadt, die zufällig am Meer lag. Was wir sahen, waren Hafenanlagen, die denen der berühmten Häfen Piräus und Ostia in ihren Glanzzeiten wahrscheinlich in nichts nachstanden. Dies war kein Anlegeplatz für kleinere Boote, viel- mehr ein richtiger Hafen für ausgedehnten Handel und regelmäßige Schiffahrt. Zwar war der größte Teil der Anlage aus Holz, aber er verriet Erfahrung und Präzision. Hier trafen Schiffe aus vielen verschiedenen Ländern ein und löschten ihre Ladung, von hier aus stießen die Kriegsschiffe der Seevölker in See, um beutebeladen zurückzukehren. Wir hatten Atlantis erreicht, das stand für mich fest. Aus der Geschichte bekannt waren die kleinasiatischen Kulturen der Hethiter, Babylonier Assyrer, Ägypter und andere. Gesucht wurde seit langem nach einer noch wenig bekannten Hochkultur im europäischen Großraum, die Plato Atlantis nannte. Wenn dies hier nicht Atlantis war, wo lag es dann? Dies hätte auch bedeutet, daß es außer Atlantis noch eine andere, nämlich diese Hochkultur gegeben hatte, von der aber überhaupt nichts bekannt gewesen war. Wenn ich mir die Menschen auf den Straßen ansah, wußte ich, daß dieses Reich Verbindungen mit allen anderen Kulturen hatte, die asiatischen und amerikanischen ausgenommen. Dieses Reich sollte sang- und klanglos verschwunden sein, ohne jede Erwähnung in den sehr exakten ägyptischen Chroniken? Mit sicheren Handgriffen machte die Crew die HATSCHEPSUT an einer freien Stelle des Kais fest. Wir waren am Ziel! Der Mann war ungefähr so groß wie ich, aber ein wenig breiter in den Schultern. Sein Haar war von Kalkmilch geweißt und ragte wie ein Igelrücken in die Höhe. Er trug lederne Sandalen, ein langes weißes Gewand mit weiten Ärmeln. Um die Hüften trug er eine feingliedrige Kette aus Gold oder goldüberzogener Bronze. In einer hölzernen Scheide steckte ein Schwert, von dem nur der Griff zu sehen war. Der Knauf war viereckig, darunter waren sechs Ringe aus Gold zu sehen. Die Waffe sah nicht nur gut aus, sie war sicher auch sehr wirksam. Der Mann redete auf Marleen ein, die ich mit einer raschen Handbewe-gung zur Dolmetscherin befördert hatte. „Wir sollen von hier verschwinden, sagt er uns", übersetzte Marleen. „ich kann seine Sprache leidlich verstehen, sie erinnert entfernt an keltische Idiome. Außerdem spricht er ein paar Brocken ägyptisch!" „Und warum sollen wir verschwinden?" fragte ich mißmutig. Diesmal dauerte das Palaver zwischen Marleen und dem Atlanter noch länger. Ich hörte mit größter Konzentration zu. „Er sagt, daß morgen ein Frachter erwartet wird, dessen Platz wir belegt haben. Er fordert uns auf, an anderer Stelle festzumachen, anderenfalls will er die Wache alarmieren." Ich zog es vor, den Hafenbeamten nicht zu ärgern. Mit Gesten erklärte ich mich einverstanden. Dann griff ich in den kleinen Beutel an meinem Gürtel und holte einen kleinen Saphir heraus. Ich warf dem Beamten den Stein zu. Er zog die Augen zusammen, begutachtete den Stein - und warf ihn ins Wasser. Sein Blick verhieß nichts Gutes. „Ägyptergesindel", übersetzte Marleen trocken seine Äußerung. „Er scheint absolut unbestechlich zu sein. Es wird besser sein, wenn wir uns davonmachen!" Ich breitete die Arme aus. Mein Gegenüber verstand die Geste. Er sah mich noch einmal grimmig an, dann ging er von Bord. Aufmerksam verfolgte er vom Kai aus, wie wir uns eine neue Anlegestelle suchten. Als wir zum zweitenmal festmachten, nickte er. Offenbar war er
mit dieser Wahl einverstanden. Er kam langsam näher, während die Crew die Ladung von
Bord mannte.
Der Hafenbeamte prüfte die Waren, die wir auf dem Kai stapelten, mit großer Sorgfalt.
Sichtlich zufrieden stimmte ihn die Ladung Weihrauch.
„Frage ihn, ob es in der Nähe einen Schuppen oder ein Lager gibt, in dem wir die Sachen
verstauen können, bis wir einen Käufer gefunden haben!"
Erneut begann ein nervenzerreißendes Palaver. Marleen mußte Hände und Füße einsetzen,
um sich verständlich machen zu können. Ihr Gegenüber griff zum gleichen Mittel.
So kam, mühsam aber dennoch wirkungsvoll, eine Übereinstimmung zustande.
„Er hat einen Schuppen für uns", berichtete Marleen. „Er heißt übrigens Petantes und ist so
etwas wieder Chef des Hafenbetriebs."
„Dann vorwärts", befahl ich. Als Anführer der Gruppe brauchte ich keine Lasten zu
schleppen. Um so mehr mußten die Sklaven sich auf die Schultern laden, und von der
mühseligen Arbeit wurden auch die Frauen nicht verschont. Zu unserem Glück verstand kein
Mensch die Flüche und Verwünschungen, die sie gegen mich, die Time-squad und die Welt
im allgemeinen ausstießen.
Petantes ging uns voran. Das gab mir Zeit, die Menschen zu betrachten, die die Straßen der
Stadt bevölkerten. Es war erstaunlich: ich sah keinen einzigen Bettler, und der Prozentsatz an
Menschen, die mürrisch, verdrossen oder betrübt aussahen, war staunenswert gering. Die
meisten bewegten sich mit ruhiger Selbstsicherheit, sie schienen kaum Sorgen zu kennen.
Die Atlanter waren wohlgenährt, aber es gab nur wenige Übergewichtige unter ihnen.
An den Straßenecken standen kleine Gruppen beieinander, es wurde diskutiert und gelacht.
Die Straßenhändler riefen ihre Waren aus und feilschten erbittert. Kinder trieben sich auf den
Straßen umher, jagten die ebenfalls wohlgenährten Hunde und spielten den Erwachsenen
Streiche. Das ganze Bild hatte etwas ungemein Idyllisches an sich, fast zu schön, um wahr zu
sein.
Dann fiel mir zweierlei auf. '
Zum einen sah ich kaum Bewaffnete. Entweder waren alle Krieger ausgezogen, oder sie
wohnten in eigenen Lagern außerhalb der Stadt.
Die zweite Entdeckung sah auf den ersten Blick banal aus: die Straßen der Stadt waren
gepflastert, regelmäßige viereckige Steinplatten be- deckten den Boden der Straße.
Was diese Tatsache zu bedeuten hatte, konnte man erst ermessen, wenn man daran dachte,
wieviel Zeit zu vergehen hatte, bis es in diesem Teil der Welt wieder einmal gepflasterte
Straßen geben würde – mehr als zweieinhalb Jahrtausende! Es war wirklich erstaunlich, was
die Atlante zuwege gebracht hatten.
Daß der größte Teil der Häuser aus Holz' gebaut war, wunderte nicht. Erstaunlich aber war,
wieviele Gebäude aus Stein errichtet worden waren. Ich sah sauber verputzte Wände, Fenster
mit Glasfüllung und aus Schilf oder Stroh hergestellte Giebeldächer. Den Atlantern ging es
wirklich gut, das bewies nicht zuletzt die Tatsache, daß sie Glas kannten und damit
umzugehen wußten.
, Ich versuchte, eine Unterhaltung mit dem Hafenbeamten zu beginnen.
Es war mühsam, weil Marleen meine Worte übersetzen mußte, aber der
Versuch gelang leidlich.
„Wie heißt diese Stadt?"
„Atlantis. So heißt auch unser Land. Wir selbst nennen uns Atlanter."
Marleen warf mir einen triumphierenden Blick zu.
„Mich wundert, daß ich wenige Krieger in den Straßen sehe. Ich hörte sagen, die Krieger von
Atlantis seien von herausragender Tapferkeit!"
Petantes warf mir einen belustigten Blick zu.
„Ägypten kann ein Lied davon singen", sagte er mit leisem Spott. „Du bist zum erstenmal
hier?"
Umständlich erklärte ich ihm die vorbereitete Geschichte, derzufolge ich ein vornehmer Ägypter war, den Staatsintrigen in die Fremde getrieben hatten. „Dann wirst du nicht wissen, Amosis, daß unsere Krieger in der Burg leben, wenn sie nicht im Kampf stehen. Du wirst die Burg zu sehen bekommen, morgen vielleicht!" Petantes blieb vor einem Steinhaus stehen. „Hier könnt ihr wohnen", erklärte er. „In die Lagerräume nebenan könnt ihr eure Waren stellen. Ich werde wiederkommen!" Er grüßte und verschwand in der Menge auf der Straße. Er ließ uns einigermaßen hilflos zurück. „Versuchen wir es", schlug ich vor. Zusammen mit Marleen betrat ich das Innere des Hauses. Die Einrichtung entsprach schon eher dem, was ich erwartet hatte, als dieses Unternehmen begann. Die Innenkonstruktion bestand aus schweren, rauchgeschwärzten Balken. Der Fußboden war aus Steinplatten zusammengesetzt, die Decke wurde von Brettern und Bohlen dargestellt. In bronzenen Haltern an den Wänden blakten Kienfackeln. Ich war mit meinen Betrachtungen noch nicht fertig, als der Wirt erschien. Er begrüßte uns in tadellosem Ägyptisch. Auch ihn hatte das Schicksal aus dem Lande getrieben und nach Atlantis geführt. Damit, daß wir auf Ägypter stießen oder mindestens auf Atlanter, die fließend Ägyptisch sprachen, hatten wir gerechnet. Dank Marleens Unterricht konnte ich den Wirt einigermaßen verstehen, aber eine Unterhaltung mit ihm war ausgeschlossen, er hätte mich nach zwei Sätzen als Lügner entlarvt. Also mußte mein Gelübde herhalten. Angeblich hatte ich geschworen, nie wieder im Leben auch nur ein Wort Ägyptisch zu sprechen. Ich mühte mich daher, möglichst hoheitsvoll dreinzusehen, und beteiligte mich nur mit Handzeichen an dem Gespräch. Wir bekamen Stauraum für unsere Ladung und Wohnung für die edleren Gäste. Die Manndschaft der HATSCHEPSUT mußte in den Hafen zurückkehren und an Bord schlafen, während unsere Sklaven im Keller des Hauses untergebracht wurden. Sie machten gleichmütige Gesichter, wie es ihren Rollen entsprach, aber ich wußte genau, daß ihnen diese Unterbringung wenig behagte. Erst als sich herausstellte, daß sie dort unten allein sein würden, schienen sie etwas zufriedener auszusehen. Der Wirt - Herbergsvater, Koch, Mundschenk, Händler und Geldwechsler in einer Person – hatte sein Sklavenlager vor zwei Tagen geschlossen verkaufen können. Mir graute, wenn ich daran dachte, das uns etwas zustoßen konnte und unsere Freunde im Keller in die Hände dieses Mannes fielen. Er würde wenig Hemmungen haben, sie zu verkaufen. Ein Rubin mittlerer Größe genügte, um uns die ewige Freundschaft und Dienstbarkeit des Wirtes zu sichern, jedenfalls beteuerte er dies immer wieder. Die Sklaven wurden vom Personal in den Keller geführt und dort angekettet. Die Dienstboten des Wirtes waren selbst Sklaven und genossen es, Leidensgefährten mißhandeln zu dürfen. Erst als unsere Freunde zwei von ihnen fürchterlich verprügelten, zeigten sie sich sanftmütiger. Der Wirt hingegen machte ein finsteres Gesicht, als zwei seiner Männer hinkend und jammernd aus dem Keller hervorkrochen. Wir schafften unsere wenigen Habseligkeiten in unsere Kammern. Meine Unterkunft war erstaunlich groß, gutgelüftet, und es gab sogar ein richtiges Bett - allerdings mit Stroh gefüllt. Ungeziefer bemerkte ich nicht. Marleen sah ziemlich verdrossen drein. Atlanterprinzessin hin, Atlanterprinzessin her – als Weib eines noblen Ägypters mußte sie nicht nur sein Schlaf gemacht teilen, sondern genoß auch den Vorzug, auf dem Boden schlafen zu dürfen. „Keine Sorge", beeilte ich micht zu versichern. „Ich werde das Spiel nicht zu weit treiben. Das Bett gehört selbstverständlich dir. Nur am frühen Morgen werden wir die Plätze tauschen müssen. Das Zeitalter der Höflichkeit jungen Damen gegenüber wird noch zwei Jahrtausende auf sich warten lassen. Wenn der Wirt dich im Bett und mich auf dem Boden erwischt, sind wir aufgeflogen!"
Über Marleens Gesicht flog ein Lächeln. „Nimm du nur das Bett", sagte sie strahlend. „Ich glaube nicht, daß ich heute nacht schlafen werde. Allein der Gedanke, in Atlantis zu sein, wird mich wachhalten. Am liebsten würde ich sofort losziehen und mir alles ganz genau ansehen." „Das wirst du nicht tun", befahl ich ernst. „Der kleinste Fehler kann für uns verhängnisvoll werden!" Im Erdgeschoß erwartete uns eine weitere Überraschung. Im Kamin brannte ein großes Feuer, und davor hatte der Wirt einen Tisch für uns aufgebaut. Ich hatte oft in Büchern von Festmählern gelesen, bei denen sich die Tischplatten unter der Last der Speisen und Getränke bogen - nun, dies war nicht sehr weit davon entfernt. Der Wirt forderte uns auf, Platz zu nehmen. „Frage ihn, was das zu bedeuten hat!" forderte ich Marleen auf. Die Antwort verblüffte mich. „Das Essen ist im Preis einbegriffen", wurde ich aufgeklärt. „Das sei auf Atlantis Brauch." Marleen lächelte verhalten. „Ein Beweis mehr, daß wir es mit Verwandten der Kelten zu tun haben", klärte sie mich auf. „In römischen Dokumenten können wir nachlesen, daß die Kelten, die sich in Oberitalien festsetzten, ein - für Römer - sehr merkwürdiges System kannten. Die Gäste handelten mit dem Wirt nicht jede Dienstleistung einzeln aus. Vielmehr wurde ein Pauschalpreis abgesprochen, für den der Wirt Unterkunft, Getränke und Speisen bereitstellte." „Mit anderen Worten, die Vollpension ist eine keltische Erfindung", stellte ich fest. „Und eine billige obendrein", fügte Marleen hinzu. „Das hat die Römer nämlich am meisten gewundert. Die Preise waren bei den Kelten sehr niedrig, viel niedriger als bei römischen Wirten. Das hat sich allerdings mittlerweile geändert." Die Speisen auf dem Tisch verrieten einiges über die Kultur und den Reichtum der Atlanter. Brot, Fleisch- und Fischgerichte erschienen mir normal, dabei handelte es sich offenbar um Produkte des Landes. Ich entdeckte aber auch Dinge, die ich niemals soweit nördlich vermutet hätte. Weintrauben, die allerdings etwas arg säuerlich schmeckten; Oliven, die im Mittelmeergebiet gewachsen waren; Muscheln von den berühmten englischen Muschelbänken; über einigen Speisen lag ein Geruch nach Gewürzen, die aus Asien stammen mußten. Marleen lief dss Wasser im Mund zusammen. „Hummer!" seufzte sie wohlig. „Hummer in Riesenportionen! Jetzt fehlt nur noch eines ...!" Sie sah mich bittend an, ich zuckte mit den Schultern. Der Wirt hatte tatsächlich Öl und Eier, Essig und Salz. Nur auf Zitronensaft mußte ich verzichten. Er machte zwar ein erstauntes Gesicht, aber er ließ mich gewähren. Eine Viertelstunde später wurde der Hummer zusammen mit der ersten Mayonaise der Welt verzehrt, und ich staunte nicht schlecht, was Marleen in ihre schlanke Gestalt hineinzustopfen vermochte. Ich hielt mich etwas zurück, um so intensiver widmete ich mich einem Getränk, das der Wirt in einem dickbauchigen Krug servierte. Die auf der Flüssigkeit schimmernden Getreidereste gaben mir den ersten Hinweis, und eine Probe bestätigte meinen Verdacht. Es handelte sich tatsächlich um Bier. Das Gebräu hielt zwar keinen Vergleich mit modernen Produkten aus, - aber es ließ sich trinken. Jetzt fehlten nur noch ein paar Freunde, ein Paket Karten, und einem zünftigen Herrenabend hätte nichts mehr im Wege gestanden. Marleen, Inky, Joshua Slocum und ich schafften es, die Last des Tisches um die Hälfte zu verringern. Den Rest schickten wir, ungeachtet des stummen Protests des Wirtes, in den Keller hinab. Inky streckte die Beine aus und| legte sie auf den Tisch.
„Freunde", sagte er zufrieden. „Sobald wir den Trick unseres Gegners gefunden haben, eröffnen wir ein Touristikunternehmen. Atlantis , könnte der Schlager der nächsten Jahre werden. Wenn D. C. es zuläßt, werde ich meinen Urlaub hier verbringen." Sein Vorschlag war absurd, aber er paßte zu unserer Stimmung. Während des Essens hatten wir unseren Auftrag fast vergessen. Das Land war wirklich schön, und das Wetter entsprach der Zeit. Die Bronzezeit fiel mit einem Klimaoptimum zusammen. In Nordafrika trabten jetzt die Vorfahren von Hannibals Kampfelefanten über eine Landschaft, die in meiner Zeit zur Wüste Sahara gehörte. Noch ahnten wir nicht, daß dieses idyllische Bild bald Züge bekommen würde, die jeden Gedanken an einen längeren Aufenthalt zu einem Alptraum machen würden.
7. Geweckt wurden wir vom Straßenlärm. Schwere Ochsenkarren polterten über das Pflaster unter unserem Fenster, Händler priesen ihre Waren an, Kinder begannen lärmende Spiele. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Die Nacht auf dem Boden war mir nicht sehr gut bekommen. Ich fühlte, daß meine Glieder steif waren. Marleen lag im Bett, einen träumerischen Ausdruck auf dem Gesicht und leise schnarchend. Die Menschheit hatte den Mond und den Mars erreicht, den Jupiter umflogen und Zeitmaschinen gebaut - aber gegen Schnupfen, Schnarchen und Liebeskummer war noch immer kein Kraut gewachsen. Ich stieß Marleen sanft an. Sie öffnete die Augen. „He", sagte sie schlaftrunken. „Was machen Sie... Tovar!?" Nur langsam fand sie sich zurecht. Als Inky gegen die Tür hämmerte und uns lautstark aufforderte aufzustehen, war sie hellwach. „Richtig", sagte sie leise. „Wir sind in Atlantis. Gut geschlafen?" „Leidlich", gab ich zurück. Als abgebrühter Agent des TIC durfte ich schließlich nicht zugeben, daß mir die Muskeln schmerzten. „Ich gehe nach unten!" verkündete ich und verließ die Kammer. Inky wartete auf mich, und nach und nach kamen auch die anderen aus den Betten. Der Wirt - er nannte sich Teje - hatte längst ein Frühstück für uns bereitet, nicht minder üppig als das Abendessen. „Was unternehmen wir nun?" erkundigte sich Marleen. Das Kleid aus weißem Leinen, ärmellos und bis zu den Knien reichend, stand ihr vorzüglich. Die Schnalle ihres Gürtels war mit edlen Steinen besetzt und signalisierte so jedem, daß er es mit einer hochgestellten Person zu tun hatte. Ich kaute mißmutig auf dem Brot herum. Brot war genaugenommen ein anmaßender Name für den trockenen Fladen, den man uns vorgesetzt hatte. Anderes Brot gab es aber in dieser Zeit nicht. Von Backpulver konnte keine Rede sein, und die Wirkung von Hefepilzen war einstweilen noch unbekannt. Einen Augenblick lang spielte ich mit dem Gedanken, diese Entdeckung in diese Zeit einzuführen, dann aber verwarf ich den Gedanken. Ich hätte Jahre gebraucht, um unter den vielen Arten von Hefepilzen jene herauszusuchen, die man zum Backen brauchte. „Ich schlage vor, wir sehen uns in der Stadt um", sagte ich kauend. „Noch besser wäre es, könnten wir die Burg betreten!" Ich entdeckte einen Mann im Eingang - Petantes. Er grüßte zurückhaltend und trat an unseren Tisch. „Er fordert uns auf, ihm zu folgen", übersetzte Marleen seinen Redeschwall. „Er sagt, es sei Sitte, daß Kaufleute aus fremden Länder dem König vorgestellt werden. Er sagt auch, wir sollten die Geschenke für den König nicht vergessen."
„Wird er uns führen?" Marleen nickte. Ich gab Inky ein Zeichen. Er stieg in den Keller hinab und holte unsere Sklaven herauf. Sie machten sehr mürrische Gesichter, schließlich hatten sie die Nacht noch weit weniger angenehm verbracht als ich. Petantes ließ sich von uns zum Frühstück einladen. Während wir aßen, besorgten die Sklaven aus unserer Ladung Probestücke, die für den König bestimmt waren. Pedantes begutachtete die Proben und nickte anerkennend. „Schöne Stücke", übersetzte Marleen. Sie kam mit der Sprache immer besser zurecht. „Er sagt, der König wird zufrieden sein. Vielleicht kauft er sogar die gesamte Ladung." Unmittelbar nach dem Frühstück brachen wir auf. Petantes führte uns. Die eigentliche Hauptstadt, die Königsburg, lag auf jener Insel, die durch den Meeresarm vom Festland getrennt war. Sie wurde umgeben von einem System konzentrischer Wälle und Wassergräben, die miteinander in Verbindung standen. In der Mitte dieses Systems lag die eigentliche Burg. Diese Technik des Städtebaus hatte nicht nur den Vorzug, daß sich die Stadt einfach in verschiedene Viertel und Bereiche aufgliedern ließ. Sie machte es auch jedem Eroberer schwer, die Burg einzunehmen. Davon konnten wir uns mehrfach überzeugen. An jeder Brücke über einen Wassergraben wurden wir kontrolliert, und von Ringwall zu Ringwall verstärkte sich die Zahl der Waffenträger, die den Bereich sicherten. Im Innenkreis angekommen, trafen wir fast nur auf Soldaten. Zivilpersonen fanden wir vergleichsweise seltener, hauptsächlich Hofbeamte und Sklaven. „Beeindruckend", murmelte Inky. „Dies scheint mir keine Stadt zu sein, sondern weit eher eine Riesenkaserne, die sich als Stadt getarnt hat. Ob Atlantis die beste aller Regierungen hervorgebracht hat, wie Plato behauptet, weiß ich nicht, in jedem Fall aber hat dieses Reich ausgezeichnete Soldaten." Ich nickte nur. Mir war überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, daß wir uns unter Umständen einen Weg durch diese Truppen mit Gewalt bahnen mußten. Dies waren andere Gegner als die Indianer, gegen die wir vor unserer Abfahrt hatten kämpfen müssen. Die Soldaten hatten eine aus Me tallstreifen - wahrscheinlich Bronze - gefertigte Rüstung, die den Oberkörper bedeckte. Um die Hüften trugen sie einen ähnlichen Lendenwickel, wie ich ihn als angeblicher Ägypter zu tragen hatte. Bewaffnet waren die Krieger mit Pfeil und Bogen, langen Speeren und den typischen Schwertern, deren Wirksamkeit ich lieber nicht erproben wollte. Körperlich waren die Krieger in einer Verfassung, um die sie mancher Spitzensportler beneidet hätte. Beeindruckend waren auch die Wälle, die aus grobbehauenen Steinen bestanden. Die Atlanter hatten sie mit Metall überzogen. Erst nach einigem Nachdenken begriff ich den Sinn dieser Maßnahme. Noch waren die gewaltigen Belagerungsmaschinen noch nicht erfunden, mit denen später die Römer selbst die stärksten Festungswälle bezwungen hatten. Ein Mittel aber war auch in dieser Zeit wohlbekannt - das Feuer. Ein rascher Wechsel von extremer Hitze zu Kälte ließ auch den stärksten Fels bersten - es sei denn, seine Erzummantelung leitete die Hitze ab, die dem Stein gefährlich wurde. Die Außenmauer der Burg war ebenfalls mit Metall überzogen. Oreichalkos hatte Marleen den Stoff genannt; dieses griechische Wort wurde meist mit Goldkupfererz übersetzt - eines der vielen Themen im Zusammenhang mit Atlantis, über das sich die Gelehrten unablässig stritten. Auf dem Weg in das Innere der Burg mußten wir ein Stück an der Mauer vorbeigehen. Zwischen uns und der Wand lag ein tiefer Graben, breit genug, uns daran zu hindern, das Metall anzufassen. Gold war es nicht, was dort glänzte. Ich war mir da ganz sicher. Zwar konnte ich nicht abschätzen, wie dick der Metallüberzug war, aber es erschien mir ausgeschlossen, daß irgendein Volk der Erde soviel Gold hätte zusammentragen können, um ein so großes Bauwerk vollständig damit überziehen zu können.
„Das ist keine einheitliche Fläche", murmelte Inky. „Wenn du genau hinsiehst, wirst du feststellen, daß es sich um viele Lagen eines hauchfeinen Drahtes handelt!" Unwillkürlich verlangsamte ich den Schritt. Draht? Hauchdünner Metalldraht, rings um die ganze Burg gelegt, Lage neben Lage, vermutlich auch übereinander? „Das Ganze ist nichts weiter als eine Transformatorspule", murmelte Inky. „Eine simple Spule mit vielen Wicklungen - nur eben im Format eines Häuserblocks. Ahnst du etwas?" Daß hier kein normaler elektrischer Strom transformiert wurde, lag auf der Hand. Wenn Inkys Theorie stimmte, dann wurde hier etwas anderes transformiert. Irgend etwas - aber was? Ich hatte nicht den Schimmer einer Ahnung. Aus Gold bestand der Draht nicht, das war klar. Messing? Der Glanz des Materials widersprach dieser Überlegung. Eine unbekannte Legierung von Metallen, die auf der Erde vorkamen? Ich war kein Metallurg, aber auch diese Möglichkeit erschien mir wenig wahrscheinlich. Eine mir völlig fremde Energie wurde transformiert, warum sollte der Draht dann nicht aus Stoffen bestehen, die ebenfalls fremd waren? Ich fühlte, wie sich meine Nackenhaare aufrichteten. Ich hatte bereits vermutet, daß der Gegner der Time-squad nichtmenschlichen Ursprungs war, und ich hatte nun die feste Überzeugung, daß mir diese gigantische Transformatorspule einen weiteren Beweis für diese These lieferte. Was waren das für Wesen, gegen die wir antraten? Was hatten sie mit der Menschheit vor? Worauf wollten sie hinaus?
* Petantes bedeutete uns, ihm zu folgen. Zehn grimmig dreinblickende Posten kontrollierten uns, als wir die Burg betreten wollten. Wie die gesamte Königsstadt war auch die Burg kreisrund, umkränzt von der metallüberzogenen Mauer, die wir bereits kannten. Der Boden, auf den wir traten, nachdem uns die Posten durchgelassen hatten, bestand aus Glas oder zumindest einem glasähnlichen Material. Unwillkürlich zögerte ich, meinen Fuß auf das Material zu setzen. Nicht daß ich befürchtet hätte, durchzubrechen. Die Menschen, die gleichmütig auf diesem Boden gingen, bewiesen, daß er hielt. Zudem war in geringer Tiefe massiver Fels zu sehen. Ich hielt, wie Inky, die Burgmauer für eine Transformatorspule ungeheuren Ausmaßes. Daher kostete es mich einige Mühe, meine Angst zu überwinden. Durch den glasartigen Boden zog sich ein Gespinst goldener Fäden, ein systemloses Gewirr von sich kreuzenden Drähten, verschlungen und verknotet, das die Burgmauer mit der zweiten Umwallung verband. Der Unterschied bestand lediglich darin, daß wir einige Stufen in die Höhe hatten steigen müssen, um den ersten Hof zu erreichen. Wieder standen wir vor einer kreisrunden Mauer, wieder war sie mit dem geheimnisvollen Golddraht umwickelt. Eine neue Pforte. Fünfzehn Soldaten. Wieder Stufen, und dann – ein neuer Hof. Noch ein Stück höher gelegen als der erste, wieder mit einem gläsernen Boden, wieder mit dem darin versenkten Drahtgewirr. Der Zweck, den diese Anlage erfüllte, wurde vollends unergründlich.
Im vierten Hof erst erreichten wir unser Ziel. Wir wurden in eine große Halle geführt. Der Boden war mit Marmor bedeckt, die Decke bestand aus Elfenbein - mit einer Einlegearbeit aus Gold, Silber - und dem geheimnisvollen Oreichalkos. Aus dem gleichen Material bestand auch die Wandverkleidung der Halle. Ich sah keine Fackeln, keine Feuer - dennoch war die Halle erleuchtet. Kam dieses Licht von dem Goldkupfererz? Aus diesem Material bestand auch der Thron, der im Mittelpunkt der Halle stand. Ein Mann saß darauf und sah uns entgegen. Langsam gingen wir auf ihn zu. Ich hatte Zeit, mir die Gestalt anzusehen. Ich war sicher, in der Höhle des Löwen gelandet zu sein, dennoch flößte mir der König der Atlanter Vertrauen ein. Dieser Mann war alt. Ein dichter, eisgrauer Bart reichte ihm bis tief hinab auf die Brust. Die weißen Haare waren in der Mitte des Kopfes hochgekämmt, an den Schläfen und im Nacken waren sie zu Zöpfen geflochten, die von goldenen Bändern gehalten wurden. Sie fielen ihm bis auf die Schulter. Das Gesicht war von der Sonne braungebrannt. Der König trug an den Füßen die Riemensandalen, die jedermann in Atlantis verwendete. Sein Gewand stellte eine Mischung aus einem indianischen Poncho und einer römischen Tunika dar. Der Stoff schimmerte in einem tiefen Dunkelblau. Ich sah keinen Schmuck am Körper des Königs, wenn man von der schlichten Schnalle seines Gliederkettengürtels absah. Ich schätzte, daß der König mindestens sechzig Jahre alt war. Dennoch hatte ich keine Lust, einen Streit mit ihm anzufangen. Die Muskulatur der nackten Arme verriet, daß dieser Mann über beeindruckende Körperkräfte verfügte. In seiner Hand mußte das Griffzungenschwert an seiner linken Hüfte eine mörderische Waffe sein. Die Haltung des Königs verriet Ruhe und Gelassenheit, Aufmerksamkeit und Konzentration. Ich brauchte nur einen Blick auf sein Gesicht zu werfen, um mir über eines im klaren zu sein: Dieser König war mächtig, mächtiger als jeder seiner Zeitgenossen. Seine Macht reichte weit über die ehrgeizigsten Wahnträume größenwahnsinniger Potentaten hinaus. Dennoch hatte diese Machtfülle den König weder arrogant gemacht, noch ihn mit der Resignation des hoffnungslos Übersättigten gestraft. Wir brauchten den Respekt, den wir zur Schau trugen, nicht zu heucheln, er war ehrlich gemeint. Petantes warf uns einen erstaunten Blick zu, als wir in der Nähe des Thrones stehenblieben, ohne uns zuvor tief verneigt zu haben. Marleen übernahm es, die Unterhaltung zu übersetzen. Ich breitete unsere Gaben vor dem König aus. Er prüfte sie mit Sorgfalt und Sachverstand, dann klatschte er in die Hände. Muskulöse Sklaven tauchten auf und schleppten die Waren in benachbarte Räume. Erst in diesem Augenblick fiel mir ein, daß in diesem Zeitalter auch Menschen Warencharakter hatten. Zwei der Sklaven blieben in der Nähe des Thrones stehen und schienen zu warten. Währenddessen musterte der König die Sklavinnen. An Susan Gilmore blieb sein Blick hängen. Ich sah, wie Susan erbleichte. Inky drehte sich zu mir um und sah mich ratlos an. Ich zuckte mit den Schultern. Was sollte ich tun? Der Wunsch des Königs war offenkundig, Susan gefiel ihm. Das konnte ich verstehen, fraglich war aber, ob der König mich verstehen würde, wenn ich ihm dieses Geschenk verweigerte. Ich wußte hinter uns die Palastwachen, nach meiner Schätzung mindestens eintausend schwerbewaffnete Männer. Und wir hatten nicht einen Narkonadler mitgenommen! Ich räusperte mich. Der König sah auf, sein Blick heftete sich auf mich. „Sage ihm, daß ich ihm die Mädchen gern überlassen würde, alle, wenn er es befiehlt!"
Hinter mir hörte ich Susan einen Fluch murmeln, auch die anderen Frauen gaben Laute des Unmuts von sich. Der König sah mich erstaunt an. „Er fragt, warum du gleich alle hergeben willst. Er wäre mit einer zufrieden, vor allem mit Susan." „Die Mädchen sind krank, sage ihm das. Sage ihm, ich hätte ihnen ein Gift eingegeben. Jeder, der mit ihnen umgeht, muß sterben. Es ist dies eine Rache von mir, ein Plan, der meine Feinde verderben soll. Sage ihm, er kann die Mädchen haben - aber sage ihm auch, daß ich nicht seinen Tod will. Er möge sich eine andere Gabe aussuchen!" „Schuft!" flüsterte Susan hinter mir. „Erst, willst du uns verschachern, und jetzt hängst du uns auch noch alle möglichen Krankheiten an. Wir sprechen uns in der Zentrale wieder!" „Der König ist mit den Geschenken zufrieden!" übersetzte Marleen. „Er entläßt dich für heute, wünscht aber, dich morgen wieder zu sehen. Er sagt, daß ihm ein Mann, der solch einen Racheplan erfunden hat, gefällt. Er liebt Männer, die ihre Ziele mit allen Mitteln zu erreichen trachten." „Zur Hölle mit ihm!" murmelte Susan. Sie stand so dicht hinter mir, daß nur ich ihre Bemerkung hören konnte. Ihre Stimme wurde übertönt von Geräuschen. Menschen betraten den Saal, und aus dem leisen, metallischen Klirren ließ sich unschwer folgern, daß es sich um Wachen handelte. Der König klatschte in die Hände. Er hatte sich nicht verändert. Noch immer lagen seine gelblich funkelnden Raubtieraugen tief in den Höhlen des mageren Schädels. Noch immer war er fast kahl, und die wenigen noch verbliebenen Haare schimmerten weiß. Immer noch waren seine Hände fast fleischlos, lange, schmale Glieder, Raubtierkrallen ähnlicher als Händen. Wieder trug er ein langes Gewand aus dunkelblauer Seide, auf der Brust eine Sieben aus gestickter Seide. Er hatte sich nicht verändert. Valcarcel! Der Hexenmeister der Zeit, der dämonische Gegner der Time-squad, begabt mit Fähigkeiten, die Menschenkräfte überstiegen, Verbündeter von Gewalten, die in einem Universum des Schreckens und des Schauders beheimatet waren. Allein sein Anblick genügte, mich mit Furcht zu erfüllen. Valcarcel, der Zeit-Zauberer. Von einer Sekunde zur anderen war klar, daß wir ausgespielt hatten. Der Blick des Atlanterkönigs verriet selbst dem Dümmsten, wer der wahre Herr von Atlantis war. Valcarcel gebot über die Seevölker. Er schickte sie aus, die Welt für ihn zu erobern. Ihm war es zu danken, daß die Seevölker sich den halben Mittelmeerraum botmäßig machten. Erst die Ägypter würden seinen Truppen entscheidenden Widerstand entgegensetzen. Hatte er mich erkannt? Lag dieses Zusammentreffen - aus der Sicht Valcarcels - vor unseren anderen Begegnungen? Oder war die Operation Zeit-Piraten auch für den Zeit-Zauberer bereits Vergangenheit? Wenn er uns erkannte, waren wir so gut wie verloren. Ich durfte nicht hoffen, ihn ein zweites Mal überlisten zu können. Wenn er uns jetzt zu fassen bekam, ließ er uns sicherlich nicht mehr los. Was er mit uns anstellen würde, um alle nur denkbaren Daten aus uns herauszupressen, konnte ich mir an den Fingern ausrechnen. Unwillkürlich drehte ich mich nach meinen Freunden um. Die meisten von ihnen konnten sich beherrschen. Sie hatten Valcarcel noch nicht in voller Aktion erlebt, sie wußten nicht, was es hieß, wenn dieser Mann seine Magie uneingeschränkt einsetzte. Inky hatte eine solche Behandlung hinter sich, nur die Sonnenbräune verhinderte, daß er kalkweiß im Gesicht wurde. Marleen hatte noch nie etwas von Valcarcel gehört, sie plauderte munter mit dem König. Die zunehmende Sicherheit in der Sprache der Atlanter beflügelte sie.
„Der König möchte uns seinen wichtigsten Ratgeber vorstellen. Er heißt Valcarcel. Leider
kenne ich keinen Wortstamm der Atlantersprache, der diesen Namen irgendwie erklären
könnte."
Es war purer Zufall, vielleicht Einfluß der Umgebung - Marleen hatte unwillkürlich
ägyptisch gesprochen. Sie war in ihre Rolle als Übersetzerin
hineingekrochen und spielte sie nun schon unbewußt.
Hoffentlich hielt sie durch. Ein Wort in einer modernen Sprache genügte, und Valcarcel hätte
uns erkannt. Marleen mußte weitermachen, sie mußte weiter aus dem Atlantischen ins
Ägyptische übersetzen
und umgekehrt. Ich zog sie'etwas näher, bis sie hart neben mir stand.
„Nur Ägyptisch reden!" murmelte ich eindringlich. Ich sprach, ohne die Lippen zu bewegen,
und so leise wie nur möglich.
Valcarcel schien unsere Identität nicht entdeckt zu haben. Noch hatten wir eine Chance.
Unseren Auftrag hatte ich vergessen. Jetzt galt es, unsere eigene Haut zu retten. Wenn ich
daran dachte, was mir in den Klauen des Zeit-Zauberers bevorstand, dann war mir das
Schicksal der Menschheit herzlich gleichgültig. Ich würde erst wieder ruhig atmen können,
wenn ich mindestens einen Kilometer Luftlinie zwischen mir und diesem unheimlichen
Mann wußte. Die Gefahr, die von ihm ausging, war fast körperlich zu spüren.
„Der König erlaubt, daß wir uns zurückziehen!" übersetzte Marleen.
Endlich.
Es konnte nur noch Minuten dauern. Wenn wir erst den Eingang erreicht hatten. Dann an den
Wachen vorbei. Beim Verlassen würden sie wohl nicht so peinlich genau sein. In die Stadt
hinunter, ins Hafenviertel.
Irgendwohin, nur weg, weg von diesem Hexermeister.
Automatisch setzte ich einen Fuß vor den anderen. Die Wachen machten höflich Platz, als
wir den Ausgang erreichten.
Leise, aber sehr fröhlich sagte Marleen:
„Habe ich das nicht gut gemacht?"
Sie sprach Englisch!
8.
Ich hätte sie erschlagen mögen. Der Zeit-Zauberer reagierte auf Marleens Fehler gedankenschnell. Er schnippte nur mit den Fingern. Sofort senkten die Soldaten ihre Lanzen. Die gefährlichen bronzenen Spitzen zielten auf unsere Bäuche. Aus dem Hof drangen weitere Wachen in die Halle ein, die Lanzen gefällt und mit Gesichtern, die die Entschlossenheit ausdrückten, uns bei der kleinsten falschen Bewegung zu durchbohren. Wir hatten keine andere Wahl, die Speerspitzen drückten uns in das Zentrum der Halle zurück. Der König der Atlanter saß weiterhin ruhig auf seinem Thron, daneben hatte sich Valcarcel aufgebaut. Das Gesicht des Hexenmeisters strahlte Zufriedenheit aus. „Sie werden mir verzeihen, daß Ich Sie und ihre Begleiter nicht sofort erkannt habe, Tovar Bistarc. Ihre Kostümierung ist außerordentlich gut. Ich gebe zu, daß ich hier - an diesem Ort und zu dieser Zeit - nicht mit Ihrem Erscheinen gerechnet habe. Wie sind Sie auf Atlantis verfallen?" Er konnte mich mit dem sanften Klang seiner Stimme nicht täuschen. Ich wußte zu gut, daß hinter der Maske der Freundlichkeit eine Satansfratze steckte.
Warum fragte er? Erinnerte er sich nicht mehr, Professor de Vries getötet zu haben? Oder lag
dieser Mord aus Valcarcels Sicht noch in der Zu
kunft?
„Zufall", entgegnete ich. „Ein Forschungsauftrag der Time-squad. Wir nahmen an, Sie wären
nach unserem letzten Abenteuer irgendwo im Zeitstrom versackt!"
Valcarcel schien amüsiert.
„Sie glauben doch nicht ernsthaft, daß Ihre Time-squad meine Pläne stören kann? Dazu ist
diese Organisation viel zu schwach. Ich glaube, ich habe Ihnen schon einmal angeboten, in
meine Dienste zu treten. Sie sind ein fähiger Mann, Tovar Bistarc, und das gefällt mir. Wie
steht es?
Wollen Sie mit mir zusammenarbeiten?"
„Eher paktiere ich mit Satan höchstpersönlich!" fauchte ich.
Valcarcel sah überrascht auf. „Nanu? Woher kennen Sie...?"
Er unterbrach sich, dachte einen Augenblick nach. Mir stand kalter Schweiß auf der Stirn.
Nein! schrie eine Stimme in mir. Bei allen Göttern, das darf nicht wahr sein! Nein!
Ich begann zu zittern. War dieser unvollendete Satz des Zeit-Zauberers ein Bluff? Oder...
Ich wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Die Konsequenzen waren zu grauenvoll.
„Wir werden sehen", murmelte Valcarcel. „Vielleicht ändern sie Ihre Meinung noch!"
Er fiel vom Englischen in die Sprache der Atlanter. Was er sagte, verstand ich nicht, aber die
Reaktionen der Wachen waren eindeutig. Sie trieben uns wie Schlachtvieh vor ihren Speeren
her, aus der Königshalle in den ersten Hof.
„Es tut mir leid, Tovar", flüsterte Marleen. „Ich hatte völlig vergessen..."
„Es wird dir bald noch mehr leid tun", knurrte Inky düster. „Wir haben ausgespielt. Dieser
Valcarcel wird uns nicht mehr aus seinen Klauen lassen. Wir sind in einer Lage, in der selbst
der abgebrühteste Atheist Gott um Gnade und einen leichten Tod anfleht!"
Ich schwieg.
Noch hatten wir eine leise Hoffnung. Noch war die Mannschaft der HATSCHEPSUT im
Hafen, noch standen in unseren Kammern im Gasthof die Götterbilder mit den darin
versteckten Nadelwerfern. Alles hing davon ab, daß unsere Freunde rasch reagierten - und
von dem Ausmaß, in dem Valcarcel die Atlanter in seine Pläne eingeweiht hatte.
Ich hoffte, daß die Krieger der Atlanter dem entsprachen, was ich mir unter ihnen vorstellte.
Sie durften keine Schlagetots sein, sondern gutausgebildete disziplinierte Soldaten mit einem
gewissen Ausmaß an Intelligenz. Um an Dämonen zu glauben, waren sie nicht dumm genug
-vielleicht waren sie aber einsichtsvoll genug, zu begreifen, daß sie gegen die Nadelwerfer
nichts ausrichten konnten.
Es war alles eine Frage der Wenns...
Wenn unsere Freunde rechtszeitig von unserem Schicksal erfuhren; wenn sie rasch und
umsichtig reagierten; wenn die Narkonadler die Atlanter entsprechend beeindruckten ...
Es waren viele Voraussetzungen, die zu unserer Rettung nötig waren, und ich begann zu
fürchten, daß es zu viele waren.
* Die Soldaten führten uns in die Kellerräume der Burg. Eine steile, aus dem Fels gemeißelte Treppe führte tief in den massiven Fels desBodens. Die Wände waren kalt, von Wasser bedeckt. In bronzenen Haltern steckten Kienfackeln und erleuchteten unseren Weg. Nach kurzer Zeit wurde mir klar, daß ein Ausbruchsversuch sinnlos war. Wir waren an vier Sperren vorbeigeführt worden. Vier Doppelposten, die vier schwere Türen aus dickem, eisenhartem Eichenholz bewachten. Die bronzenen Beschläge der Türen machten es unmöglich, sich mit Messern oder Äxten einen Weg hindurch zu graben.
Wir kamen an Magazinräumen vorbei. Hunderttausende von Speeren waren hier gelagert, Bündel von Pfeilen füllten Hallen bis an die Decke, Rundschilde waren meterhoch gestapelt. Wer dieses riesige Materiallager angelegt hatte, erfuhren wir, als wir das unterste Geschoß erreicht hatten. Wir wurden durch eine große Werkshalle geführt, in der fast zweihundert Menschen festgehalten wurden. Bronzene Ketten und Fesseln hielten sie an ihren Arbeitsplätzen. Sie schmiedeten die Klingen für Schwerter und Sperre, sie fertigten die Pfeile, die Rundschilde - und die Ketten, mit denen sie selbst gefesselt waren. Peitschenschwingende Aufseher gingen durch die Reihen und trieben die Menschen an.. Ich stellte fest, daß die Arbeiter einigermaßen gutgenährt waren. Offenbar legten die Atlanter Wert darauf, ihre Arbeitskräfte nicht vorzeitig zu verschleißen. Schlafen mußten die Arbeiter an ihren Arbeitsplätzen. Erst wenn sie tot waren, wurden sie losgekettet. Einige der Aufseher grinsten anzüglich, als wir an ihnen vorbeigeführt wurden. Sie hatten es auf die Frauen abgesehen. Wahrscheinlich waren Jahre vergangen, seit die Arbeiter zuletzt Frauen gesehen hatten - unwillkürlich stellten sie ihre Arbeit ein und gafften. Peitschenschläge brachten sie in die Wirklichkeit zurück. „Keine Angst, Mädchen", raunte ich in Marleens Ohr. „So wie ich Valcarcel kenne, wird er uns nicht hier lebendig begraben. Er hat andere Pläne mit uns!" Daß ein Leben als Arbeitssklave in diesen unterirdischen Gewölben unter Umständen angenehmer war als das Ergebnis von Valcarcels Plänen, verschwieg ich. Hinter der großen Halle gab es eine Art Wohnbereich. Dort verbrachten die Aufseher ihre Freistunden, außerdem wurde in eigens dafür eingerichteten Zellen der Nachschub für die Arbeitshalle aufbewart – der menschliche Nachschub, wie ich feststellen mußte. Die Zelle war groß genug für uns alle. Widerstand war zwecklos, längst hatte man uns alle Waffen abgenommen. Ich bekam ein breites Band aus Bronze um die Taille gelegt. Es saß sehr stramm, nachdem der Wächter das Schloß abgeschlossen hatte. Diese Schlüssel waren vermutlich ein Beitrag Valcarcels zur atlantischen Kultur. Eine Kette aus Bronze, knapp zwei Meter lang, verband diese Fessel mit der Felswand der Zelle. Ich konnte so ein Stück auf und ab gehen, vor allem aber konnte ich mich nachts auf dem Boden ausstrecken. So gesehen, war diese Fesselung fast schon human zu nennen. „Da sitzen wir nun", faßte Inky die Lage zusammen. „Hat irgend jemand eine Idee, was wir unternehmen können, um aus diesem Verlies herauszukommen?" „Völlig aussichtslos", sagte Maipo sofort. „Zwischen uns und der Freiheit liegen die Aufseher der Halle, vier dicke Türen, vier Doppelposten und anschließend die gesamte Besatzung dieser Kaserne. Wir können uns nicht mit bloßen Fäusten durch mehr als tausend schwerbewaffnete Soldaten in die Freiheit prügeln." „Inky hat recht", stimmte Susan zu. „Ich sehe nur noch eine Möglichkeit die Crew der HATSCHEPSUT. Diese Atlanter mögen allerhand gewohnt sein, aber ein Stoßtruppunternehmen moderner Prägung und mit modernen Waffen müßte sie eigentlich überwinden können." „Eine Handvoll Männer gegen eine ganze Armee?" fragte Maipo zurück. „Freunde, macht euch keine Illusionen. Günstigenfalls werden wir hier verschimmeln." „Marleen, wann wird Atlantis eigentlich untergehen?" fragte ich laut. Es war dunkel, wir konnten einander nicht sehen, aber ich hörte das leise Weinen der jungen Frau. Sie machte sich bittere Vorwürfe. „Daß weiß man nicht genau", sagte sie stockend. „Die Daten aus dieser Zeit beruhen alle auf Ergebnissen der Radiokarbonmethoden, und dieses Verfahren hat naturgemäß eine gewisse Fehlerquote. In unserem Falle liegen diese Fehler schon im Bereich von einem Jahrzehnt und mehr. Geschätzt wird der Untergang von Atlantis auf 1220 vor Christus." „Und was für ein Jahr schreiben wir heute?" „Wenn die Rechnung der Time-squad stimmt: 1228 vor Christus."
„Das heißt, daß wir bereits morgen den Untergang von Atlantis erleben können - vielleicht
aber auch erst in zehn oder zwanzig Jahren?"
„In dieser Größenordnung müssen wir rechnen", stimmte Marleen zu.
„Schöne Aussichten", kommentierte Inky trocken. „Ich wäre euch dankbar, Freunde, würdet
ihr etwas weniger mit den Ketten rasseln. Ich will versuchen, ein paar Stunden zu schlafen.
Man kann nie wissen, wozu so etwas gut ist!"
Eines mußte ich Inky lassen, seinen bissigen Humor verlor er nur selten.
* Um die Mittagszeit herum erschien wieder eine Wache und brachte uns Brot und Wasser sowie einige Früchte. Danach war es wieder ruhig. Wir hörten unsere Ketten leise klirren, und aus der Ferne erklang, durch die Mauern stark gedämpft, das monotone Hämmern der Schmiede in der Arbeitshalle. Eine Stunde nach der anderen verging, und unsere Stimmung sank auf einen Tiefpunkt. Wir waren fast erleichtert, als am frühen Abend dieses Tages wieder die Wachen erschienen. Ihr Anblick versetzte uns einen neuen Schock. Es war nicht eine Wache, es waren zehn schwerbewaffnete Soldaten, und die Männer, die sie vor sich hertrieben, waren unsere Freunde. Joshuas Slocum blutete aus einer Wunde an der Stirn, Chadwick hatte einen Zahn verloren. „Tut uns leid, Freunde", sagte Slocum, während die Soldaten ihn anketteten. „Wir wurden völlig überrascht. Bevor wir wußten, was überhaupt los war, hatten die Soldaten uns bereits überwältigt." „Jedenfalls sind wir wieder alle beisammen", murmelte Inky gähnend. „In Gemeinschaft stirbt es sich wahrscheinlich angenehmer. Marleen?" „Ja?" „Versuche einmal, mit dem Anführer der Soldaten zu reden. Bevor ich sterbe, möchte ich mich noch mit meinem Gott versöhnen. Ich nehme an, den anderen ergeht es ähnlich!" Inky brauchte seine Stimme nicht zu erheben, um uns hellhörig zu machen. Die Gefühle, die er mit seinem letzten Satz in uns auslöste, hatten mit religiöser Inbrunst wenig zu tun, standen dem aber an Intensität in nichts nach. Marleen begriff rasch. Sie redete auf den Hauptmann der Soldaten ein. Zunächst machte der Mann nur eine abwehrende Handbewegung. Dann aber zog Marleen alle Register, und wir taten es ihr nach. Der Offizier mußte glauben, die Insassen einer Irrenanstalt inhaftiert zu haben. Wir bettelten und schrien, Tränen flossen reichlich, und vor allem die Frauen schluchzten herzzerreißend. „Er wird uns die Götterbilder besorgen", berichtete Marleen nach zehn anstrengenden Minuten. Diesmal hätte ich Marleen am liebsten in den Arm genommen. Sie hatte ihren Fehler meisterhaft wieder ausgebügelt. Statt dessen küßte ich dem Offizier die Füße, was mich erhebliche Überwindung kostete. Er war so gerührt, daß er uns sogar einige Fackeln überließ. Als die Tür hinter ihm zufiel, beleuchteten diese Fackeln eine Meute, die über das ganze Gesicht grinste. „Jetzt haben wir eine Chance", freute sich Inky. „Wir werden es diesen Atlantern zeigen!" Zum erstenmal seit einigen Stunden spürte auch ich so etwas wie Zuversicht. Unsere Streitmacht bestand zwar nur aus dreißig Männern und Frauen, aber mit geladenen Narkonadlern in der Hand konnte das ausreichen, uns die Freiheit zurückzugeben. Es kam darauf an, wie sehr sich die Atlanter von unseren modernen Waffen einschüchtern ließen. Es dauerte länger als eine Stunde, bis der Offizier mit den Götterstatuen zurückkehrte. Sehr respektvoll setzten seine Untergebenen die Standbilder auf dem Boden der Zelle ab. Danach
spielte sich eine ähnlich temperamentvolle Szene ab, wie wir sie eine Stunde zuvor
dargeboten hatten. Unsere darstellerischen Leistungen waren etwas zuviel für den Atlanter;
er zog sich eilends zurück.
Die Götterbilder waren von beeindruckender Scheußlichkeit, aber unter diesen Umständen
hätte uns nichts mehr entzücken können als sie.
Sofort machten wir uns an die Arbeit, die Böden der Statuen zu entfernen und die Nadler aus
ihren Verstecken zu holen. Das flackernde Licht der Fackeln lieferte eine Beleuchtung, die
die Gesichtszüge seltsam verzerrte. Dennoch konnte ich deutlich sehen, wie Inkys Lächeln
gefror und zu einer Grimasse des Schreckens wurde.
„Leer!" schrie er laut. „Die Nadler sind fort!"
Wir brauchten nur wenige Minuten, um festzustellen, daß alle Statuen leer waren. Unser
Trick war jämmerlich fehlgeschlagen.
„Valcarcel", tobte Inky. „Dieser Teufel hat an alles gedacht. Er hat nicht nur sofort
Anweisung gegeben, die Crew der HATSCHEPSUT festzunehmen, er hat auch dafür
gesorgt, daß unser Gepäck untersucht wurde!"
Ich nickte düster.
Das Spiel war aus.
„Was wird er mit uns machen?"
Susan Gilmore hatte die Frage gestellt. Eine Antwort darauf wußte niemand. Ich hätte ihr
sagen können, daß wir uns glücklich preisen durften, wenn er uns einfach umbringen ließ,
aber ich unterdrückte diese Regung.
Ich hörte, wie der schwere Riegel zur Seite geschoben wurde. Das Scharren von Schuhen war
zu hören, dazu leises Waffengeklirr. Nach meiner Schätzung mußte es draußen dunkel sein,
kurz vor Mitternacht. Hatte es Valcarcel so eilig, uns den Garaus zu machen?
Die Tür wurde geöffnet. Auf dem Gang stand der Hauptmann, hinter ihm eine ansehnliche
Streitmacht. Mit einer Handbewegung forderte er den Wächter auf, unsere Fesseln zu lösen.
Ich wurde als erster befreit und auf den Gang geführt. In meinem Rücken spürte ich den
Druck von zwei Speerspitzen.
Eine Bewegung würde genügen, fiel mir ein. Ein schneller Schritt. Die Soldaten würden
annehmen, ich würde einen Fluchtversuch wagen.
Sie würden sofort zustoßen, und sie würden auch treffen. Ein schneller Schritt, ein heftiger
Schmerz - und dann würde alles vorbei sein. Die Soldaten verstanden mit ihren Waffen
umzugehen, ich würde nicht lange zu leiden haben.
Ein Schritt nur trennte mich von einem raschen Tod. Vielleicht kam diese Chance nie wieder.
Ich blieb stehen. Ich wußte nicht, worauf ich hoffen sollte. Ich konnte mir das Wunder nicht
vorstellen, das mir die Rettung bringen konnte. Aber ich machte den Schritt nicht. Noch
hoffte ich.
Zum zweitenmal an diesem Tage wurden wir durch die Halle geführt. Inzwischen hatte man
den Arbeitern Wasser und Brot gebracht. Sie aßen, während sie arbeiteten. Unermüdlich
schmiedeten sie Klingen für die Krieger des Atlanterreichs.
Die Soldaten führten uns den gleichen Weg, den wir am Morgen zurückgelegt hatten. Erst im
Innenhof der Burg schlugen sie eine andere Richtung ein. Die Mauer, die die eigentliche
Burg umgab, hatte eine Dicke von mehr als vier Metern. Erst jetzt entdeckte ich, daß ein Teil
dieser Mauern hohl war. Eine schmale Treppe führte in die Höhe, auf das Dach der Burg.
Wir marschierten hintereinander. Jeder Gefangene wurde von zwei Soldaten bewacht.
Langsam stiegen wir in die Höhe. Die äußere Form der Königsburg der Atlanter entsprach
dem Rotationskörper eines H um seine vertikale Achse. Die Außenmauer überragte das Dach
um einige Mannslängen.
Auch diese Mauer war mit Oreichaltios überzogen, sowohl außen als auch innen. Der Boden
bestand aus dem gleichen glasartigen Material, das wir bereits von den Höfen kannten.
Wir kannten auch das Bauwerk, das sich auf dem Dach des Königspalasts erhob.
Inky, vor "Schreck fast erstarrt, sprach den Namen aus. Er flüsterte. „Stonehenge! Ein verkleinertes Abbild der Anlage in Stonehenge!" Er hatte sich nicht geirrt. Die Ähnlichkeit war nicht zu leugnen. Ich sah die Säulen aus Stein, die schweren Quader des steinernen Rings, der von diesen Säulen gestützt wurde. Im Innern die fünf Tore aus je zwei Stützsteinen und einem Dachstein, angeordnet in Form eines U´s. Im freien Raum zwischen den Balken des U stand Valcarcel. Er sah uns entgegen. Seine Gestalt schien transparent geworden zu sein, ein Knochengerüst schimmerte fahl durch das Blau seines Gewandes. Man mußte kein Mediziner sein, um sofort sehen zu können, daß dies kein normales Menschenskelett war. Valcarcel hob die Arme, streckte sie in die Höhe. Kleine Flammen tauchten auf. Sie entstanden auf dem metallischen Belag der Mauern, sie huschten durch das Leitungssystem im durchsichtigen Boden. Züngelnd bewegten sie sich auf das Stonehenge-Modell zu. Das Gespinst aus haarfeinen Drähten im Boden hatte ein Gegenstück in dem steinernen Ring. Kreuz und quer liefen die Metallfäden durch die Zwischenräume im äußeren Ring. Blitze zuckte zu den Toren des U hinüber. Dort, wo Valcarcel stand, bildete sich eine Kugel, ein feuriger Ball, aus dem rotgelbe Flammen züngelten. Die Kugel schwoll an, begann Valcarcel einzuhüllen. Dann wanderte die Kugel in die Höhe, begann sich zu verformen. Ein Strang aus Energie unerklärlicher Herkunft wuchs in die Höhe, den Sternen entgegen. „Was hat das zu bedeuten?" fragte Inky atemlos. „Was ist das für eine Energie? Was ist das für ein Wesen?" Ich fand auf seine Frage keine Antwort., Das Geschehen vor mir hatte mich völlig in seinen Bann geschlagen. Unsere Bewacher standen regungslos. Wir hätten leicht fliehen können, aber wir waren nicht in der Lage, auch nur einen Muskel zu rühren. Selbst wenn es uns das Leben kostete, wir wollten dieses einmalige Schauspiel bis zu seinem Ende verfolgen.
9.
Es gab keine Fortsetzung des Schauspiels. Schlagartig erlosch der feurige Strang, die kleinen Flammen lösten sich auf, und Valcarcel wurde wieder undurchsichtig. Hatte er dieses Spektakel nur inszeniert, um uns zu beeindrucken, uns zu zeigen, über welche Mächte er gebot? Langsam kam Valcarcel auf uns zu. Er lächelte überlegen, er schien sich über unsere bleichen Gesichter prächtig zu amüsieren. Sein Lächeln gefror jäh zu einer Maske. Im freien Raum zwischen ihm und uns begann die Luft zu flimmern. Sie bekam einen rötlichen Schimmer, und dieser Farbton verstärkte sich in jedem Augenblick. „Was ist das?" fragte Valcarcel. Zum erstenmal sah ich ihn erstaunt. Ich hielt den Atem an. Ich wußte nur zu gut, worum es sich handelte. Valcarcel durfte nicht zu einer Reaktion kommen. Sein Erstaunen mußte anhalten, fortdauern bis... Es schepperte metallisch, und ich warf mich nach vorn. Über den glatten Boden rutschend, erreichte ich die Stelle unter dem sich verstärkenden rötlichen Feld. Meine Finger griffen nach dem Kolben der Waffe, die buchstäblich aus diesem Feld herausgefallen war. Der Nadler war schußbereit, und ich zögerte keinen Augenblick, den Abzug zu betätigen. Die Nadel fegte Valcarcel entgegen, schlug in seinen Körper ein. Ein zweites Geschoß traf ihn, und seine Augen weiteten sich vor Überraschung. Fast glaubte ich, Angst in seinen Zügen erkennen zu können.
Diesmal lagen die Verhältnisse anders als in Port Royal. Valcarcel wurde von meinem
Angriff völlig überrascht, er konnte sich nicht mehr rechtzeitig auf die betäubende Wirkung
der Nadeln einstellen. Dennoch brauchte ich vier Treffer, bis er endlich langsam zu Boden
ging.
„Auf sie mit Gebrüll!" schrie Inky.
Er hatte es mir nachgetan und den zweiten Nadler ergriffen, der aus dem Zeitfeld gefallen
war. In die Szenerie kam Bewegung.
Inky und ich feuerten Schuß auf Schuß in die Reihen der Atlanter.
Von irgendwoher erklang ein Alarmruf. Während wir auf die Atlanter schossen, fiel eine
Waffe nach der anderen aus dem Feld. In buchstäblich letzter Sekunden hatte die Time-squad
eingegriffen und uns Nachschub geschickt.
Es dauerte nicht lange, bis wir alle bewaffnet waren und auf dem Boden
mehr als vierzig Atlanter lagen. Trotz der offenkundig verheerenden Wirkung unserer
Waffen griffen sie immer wieder ein. Immer neue Krieger erschienen auf dem Dach der
Königsburg, und sie zögerten keinen
Augenblick, bevor sie sich auf uns stürzten.
„Hier, nimm!" rief Inky. Er reichte mir einen Laser. „Wir müssen versuchen, diese Anlage so
weitgehend zu demolieren, wie wir es nur fertigbringen!"
Ich warf einen Blick auf Valcarcel.
Der Zeit-Zauberer lag besinnungslos auf dem Boden und rührte sich nicht. War er wieder
förmlich versteinert, wie wir es schon einmal erlebt hatten? Ich sah, wie sich seine Brust
langsam bewegte. Folglich war er betäubt, ebenso wie die Atlanter, die auf dem Boden lagen.
„Feuer frei!" rief ich.
Ich zielte auf das feine Drahtgespinst, das wie ein feinmaschiges Netz den äußeren Ring des
Stonehenge-Modells einhüllte. Und während ich das Drahtgeflecht nach Kräften zerstörte,
feuerte Inky unablässig auf die dichten Wicklungen an der Burgmauer. Schuß auf Schuß
löste sichaus seinem Laser, ein Lichtstrahl nach dem anderen schlug in den metallenen
Überzug ein, zerstörte die Wicklungen und ließ das Metall verdampfen.
„Schafft Valcarel fort!" schrie ich.
Ich sah aus den Augenwinkeln heraus, daß die Atlanter niedergekämpft waren. Die Truppen,
die es geschafft hatten, bis auf das Dach vorzudringen, waren außer Gefecht gesetzt. Jetzt
kontrollierten Slocum und Chadwick den schmalen Zugang. Zwei Männer mit geladenen
Nadlern reichten vollauf aus, den Weg nach oben abzuriegeln - jedenfalls für einige Zeit.
Daß sich die Atlanter etwas einfallen lassen würden, uns zu erreichen und niederzumachen,
stand für mich fest. Ich hütete mich, die Intelligenz und Entschlossenheit dieser Soldaten zu
unterschätzen.
Marleen und Susan rannten zu Valcarcel hinüber.
Das Zeitfeld war nun so groß geworden, daß es auch Menschen transportieren konnte. Ich
sah, wie die beiden Frauen den schlaffen Körper des Zeit-Zauberers in das Feld stießen.
Blitzartig war Valcarcel verschwunden.
„Hoffentlich hält er diesmal die Reise aus", wünschte Inky laut. Ruhig und kaltblütig nahm er
einen Bereich der Ummantelung nach dem anderen unter Feuer.
„Aufhören!" rief ich plötzlich.
Die Front kam von allen Seiten gleichzeitig. Eine gleißende Woge aus Energie stieg an der
Königsburg in die Höhe. Sie kroch von Wall zu Wall, und mit jeder Oreichalcos-Spule, die
sie erreichte, nahm sie an Intensität zu.
„Joshua, William - ihr haltet die Stellung!" befahl ich schreiend. „Die anderen setzen sich ab.
Beeilt euch!"
Die letzte Aufforderung war überflüssig. Jeder konnte den Energiesturm sehen, der uns
unaufhaltsam entgegenbrandete. Es sprach für die Qualität der Mitarbeiter der Time-squad,
daß aus dieser Absatzbewegung keine chaotische Flucht wurde, nach jahrhundertelanger Tradition wurden zuerst die Frauen in Sicherheit gebracht. Dann folgten die Männer. Wir waren acht Männer, als uns die Energieflut erreichte. Sie leckte an den Wänden hoch. Schmetternde Blitze zuckten zu den steinernen Säulen hinüber, ein tiefes Grollen klang auf und schwoll an. Es war Mitternacht in diesem Teilder Welt, aber die Landschaft um uns herum war taghell erleuchtet. Aus der Ferne konnten wir sehen, wie sich die Menschen angsterfüllt auf den Straßen der Stadt sammelten. Das Grollen wurde zu einem andauernden Donnern. Wir konnten uns nur noch durch Zeichen verständigen. Von allen Seiten strömte die Energie auf die Burg zu, stieg an ihr in die Höhe und kletterte weiter. Senkrecht stieg der gleißende Strahl in die Höhe, fächerte sich auf und zerfaserte. Eine Krone von Blitzen bildete sich. Die Entladungen zuckten in die Wolken. Das Spektakel mußte kilometerweit zu sehen, der Widerschein der Entladungen an den Wolken konnte vielleicht einige hundert Kilometer weit wahrgenommen werden. „Joshua, William, ihr seid an der Reihe!" Der bärtige Seemann und der junge Ex-Fähnrich verließen ihre Posten. Chadwick war einer Ohnmacht nahe, Slocum mußte ihn stützen. Zusammen erreichten sie das Transportfeld und tauchten hinein. Sekunden später waren sie verschwunden. Inky stieß mir den Ellenbogen in die Rippen. Es war Zeit, daß auch wir uns zurückzogen. Längst hatten wir aufgehört zu schießen. Es gab nichts mehr, was wir hätten treffen können. Unter dem Ansturm der Energien löste sich der Oreichalkos auf. Dämpfe, dicht, grün und gefährlich aussehend, bildeten sich, formten Wolken, in deren Innerem es zuckte und brodelte, als würden diese Schwaden leben. Fast taub von dem unausgesetzten Donnern, geblendet von der strahlenden Energiesäule taumelten wir auf das schwach leuchtende Zeitfeld zu. Immer lauter wurde das Toben des Energiesturms, immer greller strahlte der feurige Strang zwischen der Königsburg der Atlanter und dem wolkenbedeckten Himmel. Ich tauchte in das Zeitfeld ein. Der Schmerz setzte schlagartig ein. Ich hatte erwartet, rasch die Besinnung zu verlieren, sanft einzuschlafen, wie dies am Anfang einer Zeitreise üblich war. Offenbar wurden die Kräfte, die in dem Zeitfeld wirkten, von dem Energiesturm stark beeinträchtigt. Der Schmerz tobte in jedem Nerv, wühlte in meinem Schädel und preßte mir einen Schrei über die Lippen. Ich merkte nicht, daß ich längst auf dem Transporttisch in der Time-squad-Zentrale lag. Ich hörte ein leises Zischen, als jemand mir eine Injektionspistole an den Oberarm preßte und ein Medikament in die Blutbahn schoß. Die Droge tat rasch ihre Wirkung, bereits nach wenigen Minuten war der Schmerz fast völlig verschwunden. „Herzlich willkommen in der Gegenwart", sagte Don Slayter freundlich. „Wir haben kaum noch mit Ihrer Ankunft gerechnet!" Ich richtete mich langsam auf. „Wieso?" fragte ich knapp. Hinter Slayter standen Inky, Slocum und die anderen Mitglieder unseres Stoßtruppunternehmens. Nur Valcarcel konnte ich nicht entdecken, wahrscheinlich hatte man ihn in ein ausbruchsicheres Gefängnis gesteckt. „Inky hat uns von dem Energiesturm erzählt", berichtete Slayter. „Dieser Sturm hat auch uns allerhand Kopfzerbrechen gemacht. Wir konnten das Transportfeld nicht annähernd so lange stabiliseren, wie wir es vorherberechnet hatten. Der Energiesturm muß sich in einem energetischen Milieu abgespielt haben, das mit der Zeit-Energie, die wir verwenden, stark verwandt ist. Einen Sekundenbruchteil nachdem Sie hier materialisierten, brach das Feld völlig in sich zusammen. Sie haben sehr viel Glück gehabt, Bistarc!"
„So kann man es nennen", murmelte ich. Fast wäre ich noch nachträglich blaß geworden. „Besten Dank für Ihre Hilfe. Ich nehme an, Sie haben uns fortlaufend beobachten lassen." „Richtig", stimmte Slayter zu. „Wir haben erst eingegriffen, als wir keine andere Möglichkeit mehr sahen. Allerdings ..." Er stockte einen Augenblick. „... der Beobachter ist zu lange in der Vergangenheit geblieben. Vermutlich wollte er das Ende des Energiesturms erleben. Was genau auf dem Dach der Königsburg der Atlanter geschehen ist, wissen wir noch nicht. Der Mann hat einen Schock erlitten. Wahrscheinlich werden wir Jahre brauchen, bis wir seine Psyche wieder stabilisiert haben." Ich preßte verärgert die Lippen zusammen. Der Mann tat mir leid, ich wußte nur zu gut, wie er sich fühlte. „Viel erreicht haben wir nicht", erklärte ich. Inky reichte mir eine Tasse Kaffee. „Wenn man davon absieht, daß wir Valcarcel gefangengenommen haben. Oder ist der Zeit-Zauberer schon wieder entwischt?" In diesem Augenblick betrat D. C. den Raum. Sie hatte meine Frage gehört. „Er ist in unserer Zeit angekommen", antwortete sie schnell. „Und wir haben ihn so eingesperrt, daß er sich so leicht nicht wird davonmachen können." „Kein voreiliger Optimismus", warnte ich. „Man darf Valcarcel nicht mit menschlichen Maßstäben messen. Er ist zu allem fähig. Denken Sie daran, wie er sich beim letztenmal davongemacht hat - er verschwand einfach während des Transports durch die Zeit." D. C. lächelte selbstsicher. „Diesmal wird er uns nicht erwischen", versprach sie. „Als unser Beobachter berichtete, daß
Valcarcel sich auf Atlantis aufhalte, haben wir sofort Maßnahmen eingeleitet. Er wird uns
nicht entwischen, ich verspreche es."
„Vorsicht", mahnte ich. „Valcarcel kennt Tricks, die für uns unvorstellbar sind. Vielleicht
stiehlt er sich diesmal als unsichtbares Gas davon. Vergessen Sie nicht, daß wir genügend
Beweise haben, um glaubwürdig behaupten zu können, daß er kein Mensch ist."
„Und wie sollen wir dieses Wesen nennen?" erkundigte sich Slayter.
„Valcarcel scheint ein angenommener Eigenname zu sein. Wie wird er von seinen
Artgenossen genannt, und wie sollen wir dieses Spezie nennen?"
„Ich schlage Gestaltwandler vor", warf Inky ein. „Die anderen Fragen wird er uns selbst
beantworten müssen - das heißt, wenn wir überhaupt dazu kommen, ihn zu befragen."
Auf D. C.s Gesicht zeichnete sich Verdrossenheit ab.
„Wir werden ihn befragen, und er wird uns antworten", erklärte sie.
* Zwei Tage waren vergangen. In diesen achtundvierzig Stunden hatte ich mich geistig wie
körperlich von unserem Atlantis-Abenteuer erholen können. Aus der Tatsache, daß man uns
nicht gestört hatte, folgerte ich, daß Valcarcel noch nicht entflohen war. Offenkundig hatten
sich die Mitarbeiter der Time-squad allen Zweifeln zum Trotz doch ein Verfahren einfallen
lassen, wie man ein Wesen wie Valcarcel festhalten konnte.
Ich wischte mir gerade den letzten Rasierschaum vom Gesicht, als der Türsummer ertönte.
„Herein!"
Marleen stand im Rahmen, und sie strahlte über das ganze Gesicht. Ich wußte sofort, was sie
so strahlen ließ.
„Dein Vater ist wieder aufgetaucht", vermutete ich.
„Stimmt", bestätigte Marleen. „Ich kann es selbst kaum glauben. Er ist vor zwei Tagen in
seiner Wohnung aufgetaucht."
„In seiner Wohnung?"
Erst jetzt wurde mir klar, welches Risiko wir eingegangen waren. Wir hatten nicht die leiseste Ahnung, was bei einem Zeit-Paradoxon passierte. Professor de Vries hätte ebensogut auch dort auftauchen können, wo er gestorben war - in der Nordsee, einige Meter über dem Meeresboden. „Die Leiche, die man in den Trümmern des Bootes fand, ist seither verschwunden", berichtete Marleen weiter. „Nur die Trümmer sind merkwürdigerweise noch vorhanden. Ich verstehe das alles nicht." „Wenn du von mir eine Erklärung erwartest", bemerkte ich, „muß ich dich enttäuschen. Ich begreife auch nichts. Was sagt dein Vater? Was hat er nach seiner Erinnerung gemacht, während er tot war? Oder hätte tot sein sollen, oder wie immer, man solche Dinge sprachlich verpackt?" „Er kann sich an nichts erinnern. Er weiß nur, daß er einen sehr langen Traum gehabt hat und daß er sich zwar an Einzelheiten dieses Traumes erinnert, es aber nicht fertigbringt, darüber zu sprechen. Sehr angenehm kann dieser Traum übrigens nicht gewesen sein, soviel hat er jedenfalls verraten." Wieder summte es. Diesmal erschien Inky. Marleen hatte ihn bereits informiert. „Ich habe eine Theorie", verkündete er. „Sie hört sich zwar sehr abenteuerlich an, aber sie erklärt immerhin einiges." Ich setzte mich, um mir Inkys Vorstellungen genau anzuhören. „In der Theorie sieht die Sache so aus", begann Inky. „Es gibt Tatsachen, Zustände, Dinge oder Ereignisse, die unwiderruflich sind. Die Wahrscheinlichkeit für diese Daten ist gleich eins - sie sind eingetreten. Dann wieder gibt es Ereignisse, die niemals eintreten können, weil sie einem Naturgesetz widersprechen. Die Wahrscheinlichkeit für solche Ereignisse ist gleich Null - sie können niemals eintreten. Soweit alles klar?" „Ich kann dir leidlich folgen", stimmte ich zu. „Weiter: Alles, was vergangen ist, hat den Koeffizienten eins, diese Ereignisse sind eingetreten. Der Koeffizient für andere Ereignisse, vor allem für zukünftige schwankt zwischen Eins und Null, genauer gesagt - zwischen Null und beinahe Eins. Wir rechnen beispielsweise fest damit, daß die Sonne morgen aufgehen wird - aber es bleibt eine winzige Unsicherheit dabei. Jemand könnte die Sonne stehlen, explodieren lassen oder abschalten. Eben weil es noch einen winzigen Unsicherheitsfaktor gibt, sind solche Ereignisse noch keine Tatsache - sie sind zukünftig. Ich hoffe, ihr habt auch das verstanden." Marleen nickte. „Nun unterliegen wir alle aber einer Art von Sinnestäuschung. In dem Koeffizientensystem, das ich geschildert habe, gibt es nämlich weder den Wert Eins, noch den Wert Null. Was wir für unwiderrufliche Tatsachen halten, sind lediglich denkbare Ereignisse, die sich dem Grenzwert sehr stark genähert haben. Genaugenommen steht nichts unwiderruflich fest, und nichts ist absolut unmöglich. Wir gehen nur von dieser Annahme aus, damit wir unsere Welt begrifflich einigermaßen in den Griff bekommen. Den Rest meiner Idee werde ich an meinem Modell erklären. Stellt euch einen riesigen Topf mit kochendem Wasser vor. Jene Wassermoleküle, die die Oberfläche bilden, entsprechen Ereignissen, die wir für feststehend halten. Die Moleküle am Boden sind die Unmöglichkeiten. Was wir für die Realität halten, ist genaugenommen nichts weiter als ein Aspekt dieser Oberfläche. In Wirklichkeit ist dies nur eine unter fast unendlich vielen Kombinationen von Molekülen, die in diesem Topf aufsteigen, wieder absinken und erneut aufsteigen. Mit Professor de Vries ist einfach folgendes geschehen: er sank unter die Oberfläche und wurde durch unser Eingreifen wieder nach oben gebracht. Wir haben nur bewirkt, daß er beim Eintritt in unsere Wirklichkeit nicht wieder an der Stelle landet, wo ein anderes
Ereignis-Molekül - nämlich die Detonation einer von zwei Handgranaten - ihn wieder in die Tiefe zurückstoßen kann. Nur so ist zu erklären, daß die Bombe zwar zündete, Professor de Vries aber nicht getötet wurde. Was wir gemacht haben, ist, daß wir unter unendlich vielen Ereignis-Kombinationen eine herausgesucht haben, die uns in den Kram paßt. Das ist alles." „Dieses Modell hat aber auch einige Schwachstellen", wandte ich ein. „Natürlich, das ist der Vorzug aller Modelle. Sie erklären einiges, aber noch lange nicht alles. Das Wichtige ist nur, daß wir uns die Wirklichkeit nicht als eine Art Mauer vorstellen, bei der ein Ereignisstein unverrückbar auf dem anderen sitzt und nicht herauszubrechen ist, weil sonst die gesamte Mauer einstürzen würde. Was wir für die Wirklichkeit halten, ist in Wahrheit nur eine unter unzähligen EreignisKombinationen, die zufällig an die Oberfläche des Topfes gespült wurde. Und unsere Zeitmaschine ist lediglich eine Art Rührlöffel, mit dem wir bestimmte ErgebnisKombinationen in den Zustand stark verminderter Wahrscheinlichkeit hinabrühren oder dafür andere, uns angenehmere Kombinationen, nach oben befördern." Marleen zuckte mit den Schultern. „Ich habe nicht alles verstanden", sagte sie ruhig. „Ich habe nur eines begriffen, mein Vater lebt wieder. Das genügt mir." „Mir auch", sagte Inky grinsend. „Übrigens habe ich eine Botschaft zu übermitteln. D. C. erwartet uns. Valcarcel soll zum erstenmal verhört werden. Sie will, daß wir dabei sind!" Ich verzog das Gesicht. Ich verspürte nicht die geringste Lust, erneut mit dem Zeit-Zauberer konfrontiert zu werden. Wer einmal in den Genuß der Fähigkeiten dieses Wesens gekommen war, war wenig an Wiederholungen interessiert. Auf der anderen Seite war eine Konfrontation mit einer wütenden D. C. sicherlich nicht angenehmer. Also standen wir auf und folgten Inky. Die Time-squad hatte sich wirklich etwas einf allen lassen. Valcarcel steckte in einer transparenten Kugel aus reiner Energie. Es war die gleiche Art von Schirmfeld, mit dem wir den großen Fusionsreaktor sicherten. Ein unerhört aufwendiges Verfahren, aber das einzige, das Erfolg versprach. Und es schien, als sei die energetische Struktur des Schirmfelds den magischen Kräften des Zeit-Zauberers gewachsen. Genau genommen, war sein Gefängnis ein Kugelausschnitt. Im Boden liefen Teile des Feldes weiter, durch spezielle Apparaturen so verändert, daß sie den Beton nicht zerstörten. Auf diesem nackten Beton saß der Zeit-Zauberer. Er konnte weder durch den Boden entfliehen noch die Feldlinien des Schutzschirms durchbrechen. Er saß fest - ein unglaublich beruhigender Anblick. Das Feld schimmerte leicht rötlich, war aber noch transparent genug, um eine klare Sicht hinein und heraus zuzulassen. Valcarcel rührte sich nicht. Erst als ich näher trat, hob er den Kopf und sah mich an. Angst schien er nicht zu haben. Über sein Gesicht flog ein Lächeln. „Gratuliere", sagte er. „Sie haben mich gefangengenommen. Was nun?" Seine Stimme wurde durch das Schirmfeld leicht gedämpft, dennoch war der spöttische Unterton nicht zu überhören. Ich lächelte zurück. „Sie sind unser Gegner, Valcarcel. Warum bekämpfen sie die Menschheit? Welchen Zweck haben ihre Anschläge? Warum wollten Sie Professor de Vries töten?" „Ich wollte ihn nicht töten", sagte der Zeit-Zauberer ruhig. „Er geriet in mein Abwehrsystem und wurde beseitigt, das ist alles. Den Automaten interessiert es nicht, wer auf dem Meeresboden herumschnüffelt."
„Und warum durfte niemand dort herumschnüffeln? Was wollten Sie auf Atlantis? Was
wollen Sie überhaupt?"
Varlcarcel lachte leise.
Mit den Fingernägeln strich er über den Boden. Die Kratzer waren einen halben Zentimeter
tief, stellte ich entsetzt fest. Wenn man ihm genug Zeit ließ, konnte er sich aus jedem
normalen Gefängnis befreien.
„Wer ich bin und was ich will,"werden Sie erfahren, früher oder später. Sie brauchen nur
abzuwarten."
„Valcarcel!" sagte ioh scharf. „Wir sind an Gesetze gebunden. Wir dürfen von keinem
Menschen Geständnisse erpressen oder gar durch Folter abzwingen. Auch die Mißhandlung
von Tieren wird streng bestraft. Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, daß selbst der Oberste
Gerichtshof kein Gesetz kennt, daß die Mißhandlung von Wesen unter Strafe stellt, die weder
Tier noch Mensch sind."
„Nur zu!" spottete der Zeit-Zauberer. „Was haben Sie anzubieten? Daumenschrauben,
Steckbrett?"
„Ich könnte veranlassen, daß man den Radius des Schirmfelds so sehr verkleinert, daß Ihr
Körper darin keinen Platz mehr haben wird!"
„Sie wollen mir Knochen brechen? Bitte sehr!"
Es knackte hörbar, als er sich lächelnd den Zeigefinger der linken Hand brach. Hinter mir
hörte ich einen Mann würgen.
Dann erklang eine Frauenstimme. „So kommen wir nicht weiter!"
D. C. schob sich aus dem Hintergrund nach vorn. Valcarcel reagierte blitzartig. Sein Gesicht bekam den Ausdruck panischen Erschreckens. Seine Augen weiteten sich, er preßte die Hände vor den Mund. Er kroch auf dem Boden, bis ihn das Schirmfeld stoppte. Dann begann er zu schreien, und sein Schrei wurde lauter und lauter, je näher Demeter Carol Washington seinem Gefängnis kam. Ich hielt mir die Ohren zu, aber dieses entsetzliche Schreien war immer noch zu hören. Es klang, als müsse Valcarcel alle Qualen der Menschheit in diesem Schrei ausdrücken. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, wie zwei junge Männer ohnmächtig zusammenbrachen. Valcarcel schrie. Entsetzen schwang in seiner Stimme mit, ein Grauen, das tiefer ging als alles, was ich bisher erlebt hatte. Er schrie, als würde er schlimmer gequält, als er es jemals mit einem von uns gemacht hatte. D. C. war bleich geworden, aber sie ging Meter auf Meter an Valcarcel heran. Der Zeit-Zauberer veränderte sich. Seine Gesichtszüge wurden glatter, auf dem Schädel sprossen Haare in die Höhe. Die faltige Haut, der Hände änderte sich, die Pigmentflecken darauf verschwanden. „Er wird jünger!" murmelte Inky neben mir. Seine Bemerkung ging im gellenden Schreien des Zeit-Zauberers fast unter. Innerhalb weniger Minuten wurde der Greis zu einem jungen Mann, und dieser Prozeß schritt weiter fort. Sein panisches Schreien bekam eine andere Stimmlage, aber es büßte nichts an Intensität ein. Wir waren unfähig, uns zu rühren. Wir unternahmen nichts. Acht Minuten vergingen auf diese Weise, dann war Valcarcel verschwunden. Er war immer jünger geworden, zum Säugling geschrumpft, und dann löste er sich in Luft auf. Sein Schreien war zum Schluß nur noch ein Wimmern gewesen, dessen Klang in unseren Ohren nachhalllte. „Schaltet das Schirmfeld ab", sagte D. C. tonlos. Sie wirkte wie geistesabwesend. Ich wollte protestieren, aber bevor ich den Mund öffnen konnte, war das Feld in sich zusammengebrochen. Unwillkürlich wartete ich auf ein ohrenbetäubendes Hohngelächter, aber nichts war zu hören. „Er ist tot", sagte D. C. leise. „Er starb, weil er meinen Anblick nicht ertragen konnte. Könnt ihr das verstehen?"
Wir schüttelten die Köpfe, dann schlichen wir leise aus dem Zimmer, Wir würden Zeit brauchen, um diesen Vorgang zu verarbeiten. Der Zeit-Zauberer war tot, der gefährlichste Gegner der Time-squad hatte ausgespielt. Ich dachte darüber nach, als ich zu meinem Zimmer ging, und plötzlich wußte ich, daß dies noch nicht das Ende war. Eher der Anfang.
ENDE