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Delikte Indizien Ermittlungen
Reihe
Karsten Welowczyk alias Günther Viehland, Exterrorist, möchte sein altes Leben...
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Delikte Indizien Ermittlungen
Reihe
Karsten Welowczyk alias Günther Viehland, Exterrorist, möchte sein altes Leben gern hinter sich lassen, doch was er auch tut, es holt ihn immer wieder ein. Heinrich Randulke möchte ein bißchen mehr als tagein, tagaus die Post zustellen, doch das kommt ihm teuer zu stehen. Gernot Katenkamp möchte seinen ersten Fall als frischgebackener Kommissar bei der Hamburger Mordkommission unbedingt aufklären, doch wer erschießt schon einen Briefträger? Polizist, Briefträger und Exterrorist haben zumindest etwas gemein: Die drei Herren kennen Uta Schlandorf – auf die eine oder andere Weise. Und wie immer, wenn eine schöne Frau mit Ambitionen im Spiel ist, gibt es Verwirrungen und Mißverständnisse. Doch dies durchschauen nur Sie, verehrter Leser, die literarischen Helden tappen bis zuletzt ziemlich im dunkeln. Detlef Wolff, der geistige Vater der Katenkamp-Figur, lebt in der BRD und wird mit diesem auf ungewöhnliche Weise erzählten Krimi Zum erstenmal in der DDR vorgestellt.
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Detlef Wolff Delikte Indizien Ermittlungen
Katenkamp und der tote Briefträger
Verlag Das Neue Berlin
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Reihe Dies ist ein Roman. Jede Übereinstimmung oder auch nur Ähnlichkeit mit lebenden und toten Personen und den Umständen ihres Lebens oder Sterbens könnte nur auf einem Zufall beruhen. Dem Autor sind solche Umstände beim Schreiben nicht bekannt gewesen. Er würde es bedauern, von der Realität eingeholt worden zu sein. D.W.
Copyright © 1982 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Ausgabe für die Deutsche Demokratische Republik mit Genehmigung der Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg. 1. Auflage Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1984 Lizenz-Nr.: 409-160/126/84 • LSV 7304 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 6226208 00200
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1 Scheiße! Wenn das nicht die ganz große Scheiße ist. Genau unter mir wohnt ein Bulle. Ein Kriminalkommissar. Seit fünf Minuten weiß ich es, Ich wohne über einem Bullen. Oder der Bulle unter mir. Na und? Worin besteht da der Unterschied? In achtundzwanzig Treppenstufen? Quatsch! Achtundzwanzig Stufen strategischen Vorteil gibt es nicht. Höchstens bei einer Schießerei. Da kann es wichtig sein, oben zu stehen. Aber ich will mich mit dem Bullen nicht schießen. Ich will mich mit keinem Menschen der Welt mehr schießen. Auch nicht mit Bullen. Selbst wenn ich wollte, ich könnte es nicht. Meine letzte Waffe hab ich in Venedig in einen Kanal geschmissen. Addio. Addio, piccola Beretta. Ich hätte das Spielzeug behalten sollen, um mich umlegen zu können, wenn sie mir auf die Bude rücken. Es ist zum… Und 5
ich wollte doch nur aussteigen. Einfach aussteigen. Als ob das so einfach wäre. Sie lassen dich nicht. Die Genossen lassen dich nicht - und der Staat läßt dich auch nicht. Du kommst nie wieder ‘raus, wenn du einmal drin warst in der Mühle. Du kannst nicht einfach untertauchen. Deine Vergangenheit verfolgt dich. Bis in den Tod? Klingt schön pathetisch. Hat’s aber schon gegeben. Nicht nervös werden. Aber werd einer wie ich mal nicht nervös, wenn er feststellt, daß in der Wohnung unter ihm ein Bulle… Bleib du mal ruhig, wenn unter dir ein Bulle wohnt und dein Steckbrief überall rumhängt. Für die bin ich doch immer noch einer von den vierundzwanzig meistgesuchten Terroristen; der in der dritten Reihe, zweiter von links. Schön, das Poster ist fünf Jahre alt. Wir hatten es in unserer Wohnung in Paris an der Wand hängen, und keiner von unseren Besuchern hat gemerkt, daß zwei von uns da abgebildet sind. Na ja, unsere Besucher, das waren ja auch keine Bullen. Genossen, meistens. Aber der Mann da unter mir müßte ein erkennungsdienstlicher Blindgänger sein, wenn er mich nicht früher oder später erkennt. Oder er hat mich schon erkannt: So wird es sein, ja. Nur aus taktischen Gründen nehmen die mich noch nicht fest. Die gehen davon aus, daß ich hier eine illegale Wohnung unterhalte, eine Anlaufstelle. Die Idioten. Mich läuft niemand mehr an. Ich bin der Exterrorist Günther Viehland und wohne hier als Karsten Welowczyk. Ich hab mir den Bart abnehmen las6
sen, eine scheißbürgerliche Frisur zugelegt und laufe schön linksgescheitelt ‘rum. Ich besitze sogar einen Anzug. Den ersten seit meinem Konfirmationsanzug. Aber das genügt eben nicht. Du kannst jeden Morgen deine Schuhe putzen und dich mit dem Schlips rumquälen und brav in diese Scheißfirma traben. Es bringt gar nichts, wenn unter dir ein Bulle wohnt. Haben die das denn nicht auch merken können? Ausgerechnet mir müssen sie diese Wohnung besorgen… Nein: Mir müssen sie ausgerechnet diese Wohnung besorgen. Es ist zum Verrücktwerden. Oder zum Totlachen. Oder zum Schießen. Aber schieß mal, wenn die Beretta im Kanal liegt. Aber so war das immer bei uns. Und so ist es auch jetzt wieder. Es scheitert an Kleinigkeiten. Wie vor vier Jahren in Andorra. Da hätte es uns fast erwischt, weil Hoppe kein Französisch konnte. Marschiert in die Bank und brüllt den Kassierer auf englisch an. Muß ein Aushilfskassierer gewesen sein, einer, der nur in der Mittagszeit mal hinter den Schalter darf. Dabei hatten wir uns gerade von der ruhigen Mittagszeit so viel versprochen. Schließlich soll nach Möglichkeit kein Blut fließen. Und dann ging alles schief. Ein Bankkassierer in Andorra hat doch Englisch zu verstehen. Der verstand nur Bahnhof. Jedenfalls kein Englisch. Drehte sich seelenruhig um und zuckte nur die Achseln, während Hoppe weiterhin auf englisch nach Geld schrie. Das gibt es bloß in komischen Gangsterfilmen. Und ich stand da in meinem Trenchcoat, hatte in jeder Hand eine Pisto7
le und sollte den Rückzug decken. Und bei Hoppe am Schalter tat sich nichts. Jedenfalls nichts mit Geld. Bis Hoppe hinter dem Bankmenschen her schoß, als der endlich einen Kollegen holen wollte. Wäre der Idiot doch bloß hinter seinem Panzerglas geblieben und hätte nur Bahnhof verstanden. So lagen da am Ende zwei Tote ‘rum, nur weil Hoppe nicht auf französisch… Sollte er auch nicht. Man sollte uns für Engländer oder Amerikaner halten. Primitiv. Aber es hätte klappen können. So gab es zwei Tote und kein Geld. Die Toten hat Hoppe nach seiner Verhaftung mir in die Schuhe geschoben. Klar, ich war ja schon ‘raus aus der Szene. Mich, den Verräter, konnte man für zwei Morde verantwortlich machen. Mich hatte man abschreiben müssen, also konnte man mir getrost noch das eine oder andere Ding anhängen. Die Bullen würden schon mitspielen; denen ist es egal, woher der Erfolgsnachweis kommt, wenn sie einen Fall als geklärt abhaken können. Und nun wohne ich über einem Bullen. Der Mann kam mir gleich verdächtig vor. Nein, nicht gleich. Erst als ich die Wagen vorfahren sah. Einmal an einem Sonntag. Der Fahrer blieb am Steuer sitzen, und der Mann stieg vorn ein. Erst dachte ich, irgend so’n Manager. Aber in dieser Gegend wohnen keine Manager. Außerdem haben die größere Wagen und setzen sich auch nicht neben den Fahrer. Aber der Wagen gab den Ausschlag bei mir. Es bleibt was hängen, wenn man lange genug in der Szene war. Man ist geschult worden und hat außerdem 8
einen sechsten Sinn entwickelt. Man ahnt, wo etwas nicht stimmen kann. Und an dem Wagen stimmte was nicht. Da war eine Spezialantenne dran, wie sie für Privatfahrzeuge gar nicht zugelassen ist. Der Mann war zumindest in ein Behördenfahrzeug gestiegen. Jetzt weiß ich sogar, daß es sich um eine Bullenkutsche handelte. Ob sie mich in der mal abtransportieren? Wahrscheinlich nicht. Für mich werden die die große Aktion starten. Die wissen zwar, daß ich mich vom harten Kern abgesetzt habe, aber das werden sie für ein taktisches Manöver halten. Die glauben nicht, daß einer aussteigen kann. Nicht, bevor er zwei Illustrierten ein Interview gegeben hat. Ich hätte die Interviews geben können. Ich wollte nicht. Ich wollte meine Ruhe haben. Damit ist es nun vorbei. Man hat mir eine Wohnung direkt über einem Bullen besorgt. Bei dem Gedanken bleibt einer wie ich nicht ruhig. Dabei wohnen hier angeblich lauter harmlose Leute. Daß ich nicht lache. Aber mir ist nicht zum Lachen. Ich möchte mich lieber besaufen. So richtig vollaufen lassen und dann die achtundzwanzig Stufen runtertorkeln, bei dem an der Tür läuten und ihm zu dem Fahndungserfolg gratulieren, bevor ich ihm stinkbesoffen vor die Füße falle. Ich saufe sowieso zuviel. Aber irgendwie muß man die Spannung abreagieren. Noch einen Korn? Klar. Das ist schon der neunte. Na und? Im Knast gibt’s keinen Schnaps mehr. Nicht da, wo man uns unterbringt. Schnaps im Hochsicherheitstrakt? Das schafft keiner, den da reinzuschmuggeln, und im Hochsi9
cherheitstrakt sitzen die alten Genossen. Die warten nur auf mich. Ich bin der Verräter. Ich bin der Aussteiger. Nein, ich habe keinen verraten. Aber Aussteigen ist bereits Verrat. Wer dem Verein den Rücken kehrt, den darf man in den Rücken schießen. Ich weiß. Und sie werden es tun. Verräter muß man liquidieren. Das war lange genug auch meine Ansicht. Gibt es dazu nicht einen Spruch vom alten Genossen Mao? Prost, Mao. Du hattest für jede Situation den richtigen Spruch drauf. Ich weiß genau, wo es steht, was du über Verräter gesagt hast. Ich kann den Wortlaut momentan nur nicht nachschlagen. Ich bin ja ausgestiegen. Ich bin abgetaucht. Ich lebe im doppelten Untergrund. Die Genossen dürfen mich nicht aufspüren, weil sie mich sonst umlegen. Und die Bullen dürfen mich auch nicht kriegen. Möglicherweise legen die mich auch gleich um. Denen sind tote Terroristen die liebsten Terroristen. Wenn sie es nicht schaffen, mich bei der Festnahme zu erledigen, sperren sie mich früher oder später zu den ehemaligen Genossen, und dann bin ich fällig. Man steigt nicht ungestraft aus. Prost, Mao. Deine kleine rote Bibel hätte ich vielleicht behalten sollen. Mao-Bibeln sind unverdächtig. Aber ich bin ja so scheißbürgerlich geworden, daß es mich schon wieder ankotzt. Ich wollte total aussteigen. Es geht nicht. Man kann seine Vergangenheit nicht auf den Müll werfen. Die Vergangenheit holt einen ein. Der Bulle unter mir beweist es. Alles falsch. Die Freunde haben mich nicht zufällig über ei10
nem Bullen einquartiert. Die Fahndung hat unter mir einen Bullen einquartiert. Ich bin für die ein Langzeitprojekt. Sie beobachten mich schon seit Monaten. Die halten mein Aussteigen für Tarnung. Die denken, ich unterhalte hier eine Anlaufstation für die aktiven Genossen… Ich nicht. Ich wollte total abtauchen. Ich, Günther Viehland, Gründungsmitglied der Aktionsgruppe Absoluter Anarchismus (AAA), wollte meine Ruhe haben. Aber das können die ja nicht wissen. Die können nicht wissen, daß ich nicht mehr will. Ich will kein Aushängeschild mehr sein. Das war ich zu Anfang. Der Sohn von Magnifizenz Professor Dr. rer. nat. Dr. rer. nat. h. c. Mitglied wissenschaftlicher Akademien des In – und Auslandes, macht bei der AAA mit. Alles falsch. Der alte Herr war in Ordnung. Für den ging nicht mal die Welt unter, als wir in sein schönes Rektorat stürmten und unser Sit-in veranstalteten. Der suchte schon lange einen Vorwand, um den Posten des Rektors der Uni an den Nagel hängen zu können. Der fühlte sich im weißen Laborkittel wohler als im feierlichen Ornat. Der hat mich sogar verstanden und unsere ganzen Aktionen für eine Art Hambacher Fest gehalten – Burschen heraus! Die Eskalationen hat er dann nicht mehr erlebt… Schade. Mit ihm könnte ich jetzt vielleicht reden. Er billigte jedem Menschen das Recht auf Irrtum zu… Das will ich jetzt in Anspruch nehmen. Ich will nicht mehr die Revolution predigen und ihre Sache mit Feuer und Schwert verbreiten. Ich 11
bin nicht mehr der Missionar dessen, was ich mal für politisches Heil gehalten habe. Ende der Durchsage. Weg mit der Flasche. Schluß für heute. Ich muß mich zusammenreißen. Unter mir wohnt ein Bulle. Das kann Zufall sein. Aber in meiner Lage ist es besser, nicht an den Zufall zu glauben. Mao, was sagst du über den Zufall? Jetzt fehlt mir wieder dein kleines rotes Buch… Als ob es verdächtig wäre, wenn es da drüben zwischen den Büchern stünde. Was steht da? Klassiker und Unverdächtiges aus dem Lesering. Sogar der Lyrische Hausschatz der Deutschen fehlt nicht. Danke, liebe Freunde. So stellt ihr euch eben ein bürgerliches Bücherregal vor. Ihr wolltet mir die perfekte Fassade verpassen. Als ob die MaoBibel da nicht hineinpassen würde. Die ist doch nicht nur von uns gelesen worden. Nein, Freunde – die Fassade wirkt ein bißchen zu echt. Auch Perfektion kann verdächtig sein. Ein bißchen Literatur aus der anderen Ecke dürfte da ruhig stehen. Dergleichen findet sich doch heute in jedem Haushalt… Aber ihr wolltet mir ja nicht mal ein Paar Jeans erlauben. Als ob der Lagerist einer Arzneimittelgroßhandlung keine Jeans trägt. Doch, Freunde, ihr habt wirklich an alles gedacht. Sogar an ein Abonnement der Tageszeitung auf den Namen Karsten Welowczyk. Ein schöner Name. Wer untertauchen will, entscheidet sich eher für Müller, Meier oder Schulze. So verdächtig einfach wolltet ihr es nicht. Recht so. Einfache 12
Namen tippt man bei jeder Paßkontrolle eben mal in den Computer. Welowczyk weist genau den richtigen Grad an Kompliziertheit auf, um nicht ständig durch den Computer gejagt zu werden. Außerdem liegt unter dem Namen Karsten Welowczyk nichts vor. Auch das habt ihr überprüfen können. Wäre auch eine böse Panne gewesen, mir den falschen Namen zu verpassen. Einen, der in den Fahndungsakten steht – und sei es wegen Fahrerflucht. Doch, Freunde, ihr habt wirklich an alles gedacht. Nur an den Bullen da unten habt ihr nicht gedacht. Da mußte ich selber draufkommen. Durch das Behördenfahrzeug bin ich mißtrauisch geworden. Das Mißtrauen sitzt bei uns nun mal drin. Einen vom Wasserwerk, hab ich mir gesagt, holen sie nicht nachts aus dem Bett. Einer von einer normalen Behörde hat regelmäßige Dienstzeiten… Der da unten nicht. Und das fiel mir auf. Meine Instinkte sind noch in Ordnung. Noch. Solange ich nicht noch mehr saufe. Ich reagiere damit auf die Angst. Besonders am Wochenende. Aber heute habe ich gehandelt. Als ich an dem Briefkasten vorbeikam, habe ich gehandelt. Der weiße Umschlag schaute etwa einen Zentimeter aus dem Briefkastenschlitz heraus. Weit genug, um ihn mit spitzen Fingern fassen und herausziehen zu können. Ich habe ihn herausgezogen. Adressiert an Herrn Kriminalkommissar Gernot Katenkamp. Kein Absender… Was kümmert mich der Absender. Für mich ist nur der Empfänger interessant. Eine etwas ungelenke Handschrift. 13
Erstaunlich ungelenk. Wirkte wie verstellt. Trotzdem sitze ich in der Falle. Gar keine Frage; die haben den auf mich angesetzt. Der Brief war ein Regiefehler. An der Wohnungstür steht nur G. & E. K. Nicht Kriminalkommissar und auch nicht Katenkamp, geschweige denn Gernot. Überhaupt, Katenkamp. Und dann auch noch Gernot… Das sieht denen vom Bundeskriminalamt ähnlich. Wenn die anfangen zu denken, dann kommt was Apartes bei ‘raus. Als die uns damals nach der Aktion in Frankfurt gejagt haben, lief die Großfahndung unter dem Decknamen „Butterblume“. Dünnholz ist damals dabei draufgegangen. Auch in einer konspirativen Wohnung? Im Gegenteil. Ist auch egal. Jedenfalls machte Dünnholz die Tür auf, und dann ballerten sie auch schon los. Dabei wußten die genau, daß er unbewaffnet war. Die Wohnung zehn Wochen lang beobachten und dann trotzdem voll draufhalten. Schweine. Wer weiß, wie lange sie mich schon beobachten. Aber mich besucht niemand. Das ist so ausgemacht. Ich will durch nichts auffallen. Ich darf nicht auffallen. Sogar das Radio stell ich leise. Es soll sich niemand über mich beschweren. Es kann an Kleinigkeiten liegen, daß sie auf mich aufmerksam werden, auf den Lageristen Karsten Welowczyk… Eigentlich ist die Wohnung für einen Lageristen schon zu teuer. Aber ich arbeite in einer Arzneimittelgroßhandlung, und die bezahlen den ehemaligen Pharmaziestudenten nicht schlecht. Aber auch nicht so gut. 14
Was soll’s. Auf meiner polizeilichen Anmeldung steht als Beruf „Angestellter“. Das kann alles sein… Nun nicht mehr. Wenn die mich beobachten, dann wissen sie auch, wo ich arbeite. Dann wissen sie auch, daß sich ein Lagerist bei Dose & Wienhöft die Wohnung eigentlich nicht leisten kann. Lagerist - eine ziemlich stupide Arbeit. Der Job sollte ein Übergang sein, um mich wieder in das bürgerliche Leben einzuschleusen… Alles vorbei. Sie haben mich. Es ist nur die Frage, wann sie zuschlagen. Spätestens dann, wenn sie merken, daß zwischen mir und den Genossen keine Verbindung mehr besteht. Seit vier Monaten weiß ich nicht mehr, was die Genossen machen. Hoffentlich wissen sie auch nicht, was ich mache. Sie würden mich umlegen. Ich weiß, daß sie es beschlossen haben. Konsequenterweise ganz automatisch beschlossen haben müssen. Es darf keiner aussteigen. Aussteiger verraten nicht nur die Sache der Revolution, sie verraten auch Tatsachen. Wie Koppel, der jetzt in jedem Prozeß seinen großen Auftritt als Zeuge hat und auspackt. Ein Toter ohne Bewährungsfrist. Irgendwann erwischen sie ihn. Das Bundeskriminalamt kann ihn nicht ewig bewachen. Irgendwann hat er als Zeuge ausgedient, und dann lassen sie ihn fallen. Sie werden versuchen, ihm eine neue Identität zu verschaffen. Bestimmt gelingt es auch denen nicht, einem Mann zu einer neuen Identität zu verhelfen. Ich habe es auf eigene Faust versucht und bin gescheitert. Ich hätte Koppels Rolle spielen 15
können. Ich wollte nicht. Schließlich hab ich an die Sache geglaubt, ich, der Sprengstoffexperte der AAA… Mir ist der Glaube an die Revolution abhanden gekommen, wie einem Priester der Glaube an die leibliche Himmelfahrt der Jungfrau Maria abhanden kommt. Zurück bleibt die große Leere. Ich weiß nicht, ob sie sich irgendwann wieder auffüllt. Wahrscheinlich gibt es den Weg zurück gar nicht. Man bleibt im Niemandsland zwischen den Welten hängen. Alle Wertvorstellungen sind zerstört. Man glaubt nicht mehr an die Revolution, aber man glaubt auch nicht mehr an die sogenannte bürgerliche Ordnung. Man weiß sogar, daß sie zerstört werden muß, aber man will sich dabei die Hände nicht schmutzig machen… Weil man weiß, daß die Revolution das Maß der Ungerechtigkeit nicht verringert. Weil man selbst ein Scheißbourgeois ist, tief drinnen. Ich habe lange gebraucht, um das zu erkennen. Macht kaputt, was euch kaputt macht – das konnte ich noch unterschreiben. Gewalt gegen Sachen, keine Gewalt gegen Menschen – hinter der Parole konnte ich noch stehen. Ich habe damals den Sprengsatz in das Nürnberger Warenhaus geschmuggelt. In den Augen der Genossen eine Heldentat. Eine unserer ersten. Tatsächlich war es ein Kinderspiel. Jeder Kunde will einen Koffer vor dem Kauf auch von innen sehen. Ich habe den braunen Lederkoffer geöffnet und den Sprengsatz darin deponiert. Es war kurz vor Geschäftsschluß, und wir wußten, daß sich zum Zeitpunkt der Detonation niemand mehr in dem Warenhaus befinden 16
würde. Dann kam unsere erste Entführung. Schön, dabei mußte ich nur die Kreuzung blockieren, damit die Genossen den Bankmenschen ungestört abtransportieren konnten. Gut, ich habe die Kreuzung blockiert. Nur anders als geplant. Viel besser. Ich war viel zu nervös, um den Unfall planmäßig herbeizuführen. An der Ampel hab ich vor lauter Aufregung den Motor abgewürgt. Der hinter mir konnte noch bremsen, aber sein Hintermann ist auf ihn aufgefahren. Deshalb war ich bei dem ganzen Unfall sofort aus dem Schneider. Die falschen Papiere hätte ich gar nicht nötig gehabt. Damals hieß ich Günther Eckesheim, und der Wagen war auch auf diesen Namen zugelassen. Später hielten wir uns mit solchen Feinheiten nicht mehr auf. Da wurde nicht mehr entführt, sondern gleich hingerichtet. Die Entführung hat wenig gebracht. Man ist auf unsere Forderungen nicht eingegangen. Die beiden Genossen blieben in Haft. Zwei Genossen. Wie viele sitzen heute? Hoffentlich weiß es wenigstens die Bundesanwaltschaft. Ich habe den Überblick verloren. Emma und Günther sitzen immer noch. Wenn sie Glück haben, überleben sie die fünfzehn Jahre Knast. Billiger käme ich auch nicht davon. Den Mord an dem CDU-Abgeordneten können sie mir nicht anhängen. Dafür sitzt Werner schon. Er hat alles auf seine Kappe genommen, um uns zu schützen. Bei dem Prozeß ging man zwar davon aus, daß es mindestens einen Mittäter gab, nur konnten sie es 17
nicht beweisen. Es gab einen Mittäter. Mich. Zwar habe ich nicht geschossen, doch wenn Werner erfährt, daß ich ausgestiegen bin, dann packt er aus. Er müßte es eigentlich schon wissen. Die Verbindung zu unseren Leuten im Knast reißt nicht ab. Sobald ich auch drin bin, werden die inhaftierten Genossen gegen mich aussagen. Dann machen sie mich auch für den Fall Wendel-Forgach verantwortlich. Wendel-Forgach war bei zwei Verfahren gegen unsere Leute der Anklagevertreter. Als er mit seinem Wagen in die Luft flog, spielte die Justiz verrückt. Sie konnten es sich nicht bieten lassen, daß wir anfingen, den Apparat lahmzulegen. Kann man mir die Sache Wendel-Forgach anhängen? Man kann. Ich habe den Zünder für die Bombe gebastelt. Seit Wendel-Forgach begann eigentlich der Terror. Damals fing ich an zu begreifen, daß wir gar nichts bewirkten. Mit Terroraktionen läßt sich die Verbindung zu den Massen nicht herstellen. Uns fehlt die Verbindung zur Basis. Niemand außer uns will die Revolution. Die Massen nörgeln nur an einem Staat herum, mit dem sie grundsätzlich einverstanden sind. Aus der Illegalität heraus lassen sich die Massen nicht aufrütteln. Durch Morde lassen sie sich nicht zum Nachdenken bewegen. Sie fangen nur an, nach dem starken Mann zu rufen. Unsere Bewegung leitet nur Wasser auf die Mühlen der Ultrakonservativen. Einige von uns erkannten das. Marianne zum Beispiel. Leider sprach sie den Gedanken auch aus. Wenig später flog sie in einem 18
unserer Ausbildungslager mit einer Handgranate in die Luft. Ich glaube nicht an einen Unfall. Marianne wußte, was eine Handgranate ist, und sie konnte damit umgehen. Kurz darauf sollte ich zu einer Sonderschulung. Es ging um Minen. Vor einem Staatsbesuch sollte der Platz an einem Ehrenmal für die Opfer des Krieges vermint werden. Man wollte zwei Staatschefs und eine halbe Regierungsmannschaft in die Luft fliegen lassen. Ich muß „man“ sagen, denn da hatte ich mich innerlich bereits von der AAA abgesetzt. Nach Mariannes „Unfall“ wollte ich auch nicht mehr. Aus Angst. Ich wußte nicht, ob die Genossen bereits mißtrauisch geworden waren. Vielleicht. Ich wußte nur, daß wir auf dem falschen Weg waren. Es gab bei uns keinen, mit dem ich darüber reden konnte. Ich mußte handeln, ohne mich absichern zu können. Ich konnte vor meinem Absprung kein Auffangnetz spannen. Ich hätte mich zwar der Polizei stellen können. Aber den Knast betrachte ich nicht als Auffangnetz. Es blieb mir nur die Möglichkeit, in Paris in die falsche Maschine zu steigen. Als ob das so einfach gewesen wäre. Die Tante am Flughafenschalter wollte mein Ticket nicht umschreiben. Später war ich ihr dankbar. Also bin ich bei der Zwischenlandung in Rom einfach von Bord gegangen. In Rom kann man leicht für ein paar Tage untertauchen. In Rom wimmelt es von Touristen. Eine Woche war ich in Rom. Ich bin sogar zur Beichte gegangen und habe mir die Absolution für meine Teilnahme an allen unseren 19
Aktionen geholt. Ich empfand die Beichte nicht als Blasphemie. Schließlich habe ich wirklich bereut. Mein katholisches Erbteil. Man kommt von seiner Erziehung nicht los. Man kommt auch von seiner Vergangenheit nicht los. Sie wird mich verfolgen, wie mich die Genossen und die Bullen verfolgen. Vielleicht sollte ich doch in den Knast gehen. Sollte die fünfzehn Jahre hinnehmen. In fünfzehn Jahren ist die AAA tot. Sie steht jetzt schon ohne Nachwuchs da. Aber in fünfzehn Jahren bin ich dreiundvierzig. Vorausgesetzt, ich stelle mich sofort. Kriegen sie mich in fünf Jahren, bin ich bei der Entlassung aus dem Knast achtundvierzig. Zu alt, um noch einmal anfangen zu können. Fünfzehn Jahre Knast geben einem den Rest, falls die Genossen nicht einen Weg finden, mich im Knast fertigzumachen. Ihre Strafe heißt Tod. Aber ich will leben. Das ist mir klargeworden, als ich den Umschlag in der Hand hielt und die Adresse las. Das Maß der Angst ist der Gradmesser für den Lebenswillen. Nein, dieser Kriminalkommissar Gernot Katenkamp soll mich nicht kriegen. Ich kann nicht mehr klar denken. Der Schnaps. Ich muß hier ‘raus. Ich weiß, daß der Bulle unter mir weg ist. Der eine Bulle. Dafür sitzt jetzt garantiert ein anderer in der Wohnung. Die lösen sich ab. Die Frau gehört auch zu denen. Und das Kind haben sie zur Tarnung in die Wohnung gesteckt. Sie beobachten mich rund um die Uhr. Die Ablösung haben sie in die Nachtstunden verlegt. Deshalb habe ich den Mann zweimal in den Wagen steigen 20
sehen. Die denken, ich schlafe nachts. Oder sie denken, nachts finden keine konspirativen Treffs statt… Ach, was weiß denn ich, was die denken. Wahrscheinlich gar nichts. Die haben den Auftrag, mich zu beobachten. Vielleicht wissen die nicht mal, wer ich bin. Das sind untere Chargen, denen sagt man nichts. Die schlagen auch nicht zu, solange sie keinen Befehl erhalten. Die da unten nicht. Nicht dieser Kriminalkommissar Katenkamp. Ob sie auf der Straße auch Leute postiert haben? Ich muß versuchen, das festzustellen. Also die Gardine nicht bewegen. Unsinn. Man muß immer versuchen, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Ich werde die Fenster putzen. Es ist die beste Tarnung, wenn man eine Straße beobachten will. Ich ziehe jetzt einfach die Gardine auf. Es sind kaum Menschen auf der Straße. Aber diese Straße ist nie sehr belebt. Auch an einem Sonnabendvormittag nicht. Drüben schiebt eine Frau einen Kinderwagen vorüber. Zwei Frauen tragen Einkaufstaschen nach Hause. Ein Liebespaar küßt sich flüchtig und geht dann weiter. Jetzt ist die Straße für einen Moment sogar ganz leer. Der Postbote kommt aus einem Hauseingang. Er hat vorhin den Brief an diesen Kriminalkommissar in den Kasten geworfen und bedient nun die gegenüberliegende Straßenseite. Manchmal hat er auch etwas für mich. Immer nur Prospekte. Ich bestelle sie bei allen möglichen Firmen. Wer nie Post bekommt, macht sich verdächtig. In dem Hauseingang schräg gegenüber treiben sich 21
zwei Männer herum. Ob das meine Bewacher sind? Ich präge mir die Männer genau ein. Beide sind jung. Eigentlich zu jung für die Polizei. Der eine trägt eine großkarierte Jacke. Die langen blonden Haare hat er im Nacken zusammengebunden. Es sieht aus wie ein Zopf. Der andere ist größer und sehr schlank. Er hat Jeans an und ein kragenloses Hemd. Beide halten Lederbeutel in den Händen. Sprechfunkgeräte? Die Tarnung ist auf den ersten Blick nicht schlecht. Nur die langen blonden Haare sollten nicht sein. So läuft heute kaum noch jemand ‘rum. Jetzt biegt der Postbote in den Hauseingang ein. Die beiden reden mit dem Briefträger. Sie sind nah an ihn herangetreten. Vielleicht wollen sie wissen, ob ich Post bekommen habe und von wem… Nein, so funktioniert das nicht. Die weihen keinen Postboten ein. Meine Post wird früher kontrolliert. Der Postbote reagiert unwillig auf die beiden. Er stößt sie zurück und geht an ihnen vorbei in das Haus hinein. Ich kann jetzt nur noch seine Beine sehen. Die beiden ziehen Pistolen aus den Beuteln. Sie heben die Waffen in Brusthöhe und schießen gleichzeitig. Man hört fast nichts. Schalldämpfer. Die Beine des Postboten knicken weg. Der mit dem kragenlosen Hemd reißt ihm die Tasche mit den Briefen von der Schulter und schüttet ihren Inhalt in den Hauseingang. Die beiden bücken sich, durchsuchen hastig das kleine Häufchen Briefe. Dann hebt der Lange einen bräunlichen Geschäftsumschlag auf. Beide werfen einen Blick dar22
auf, dann steckt der Karierte den Umschlag in die Tasche und schlendert auf die Straße und nach links davon. Der Lange entfernt sich mit strammen Schritten nach rechts. Ich habe bei einem Mord zugesehen. Das Ganze hat knapp eine Minute gedauert. Profiarbeit? Kaum. Zuviel Risiko. Und ausgerechnet hier muß es passieren - ein ausgewachsener Kriminalkommissar in der Wohnung unter mir reicht wohl nicht. In einer halben Stunde wird es hier von Bullen wimmeln, die an allen Türen klingeln: „Haben Sie etwas beobachtet?“ Scheißspiel. Und ausgerechnet am Sonnabend. Werktags bin ich um diese Zeit in der Firma.
2 Weber hob den Feldstecher an die Augen und sah in die Runde. Unter den gekanteten Prismen öffnete sich sein Mund zu der Frage: „Was soll ich mit dem Prachtstück denn nun anfangen? Menschen beobachten? Dazu habe ich noch nie Lust gehabt.“ „Versuch’s mal mit Möwen“, sagte jemand. „Wenn ich Genickstarre kriegen will, setz ich mich im Kino in die erste Reihe.“ Weber spielte an dem Okular herum. „Wenigstens habt ihr das Ding nicht gravieren lassen“, sagte er. „Unserem verehrten Kriminalhauptkommissar zur Versetzung in den wohlverdienten Ruhestand oder etwas in der Richtung. Gravuren vermindern den Wert. Erkenntnis aus meiner Zeit beim Ein23
bruchsdezernat. Gravierte Sore bringt die Hälfte.“ „Du sollst unser hochherziges Abschiedsgeschenk ja nicht verscherbeln“, sagte Klapprodt. Er versuchte, eine drohende Geste zu vollführen, aber aus dem vollen Glas schwappte ihm nur der Sekt übers Handgelenk. „Mein lieber Nachfolger…“ Weber hob die Stimme: „Sollte ich mal unverschuldet in größere Not geraten, dann.“ „Bei deiner Rente“, warf Heidelbach ein, „kann dir gar nichts passieren. Pardon, Pension“, verbesserte er sich. „Wenn ihr weiter so mäßig sauft, lasse ich die restlichen Flaschen wieder abholen.“ Weber machte über die Flaschenbatterie hinweg eine einladende Handbewegung. „Meine Abschiedsvorstellung in diesem Laden hab ich mir immer anders vorgestellt. Ist ja kaum Publikum da. Wo stecken eigentlich unsere Labormäuse?“ „Die kommen später“, sagte Heidelbach. „Es ist noch ein Fall aufgelaufen.“ „Seit wann beeilen sich die denn mal?“ Weber schob sich ein belegtes Brötchen in den Mund. „Was für ein Fall denn?“ erkundigte er sich kauend. „Ein Briefträger ist ermordet worden“, sagte jemand aus der Runde, die noch aus einem guten Dutzend Männern bestand. Webers offizielle Verabschiedung hatte am Vormittag stattgefunden, und seitdem hatten etwa achtzig Leute sein Dienstzimmer nüchtern betreten und mehr oder weniger 24
alkoholisiert wieder verlassen. Es roch nach kaltem Rauch und nach Bier. Man trank aus Pappbechern. Die wenigen vorhandenen Gläser schienen für die Dienstgrade vom Hauptkommissar aufwärts reserviert zu sein. Niemand hatte eine entsprechende Parole ausgegeben, aber es konnte der Eindruck entstehen, daß jemand darauf achtete, keinem Höherrangigen einen Pappbecher in die Hand zu drücken. „Im Dienst ermordet?“ fragte Altmann. „Im Dienst“, antwortete Klapprodt. „Deine Taschendiebe hätten ihm höchstens die Brieftasche geklaut.“ „Wer wird denn einen Briefträger umbringen?“ Weber schüttelte den Kopf. „Das lohnt doch nicht. Die haben doch heute keine müde Mark mehr bei sich. Dahinter steckt was anderes. Ich würde zunächst mal auf Eifersucht tippen. Überprüft mal, wieviel grüne Witwen der in den letzten Jahren getröstet hat.“ „Nicht mehr als Sie“, sagte ein Kriminalassistent. Niemand wagte zu lachen. Erst als Weber sagte: „Also keine“, brach das Gelächter los. „Die dienstliche Ausübung des Geschlechtsverkehrs ist unter keinen Umständen gestattet; die private nur in Notfällen zur Wiederherstellung des häuslichen Friedens unter Beachtung aller Vorsichtsmaßnahmen vorzunehmen“, rief Weber und griff nach einer halbvollen Bierflasche. „Wer bearbeitet den Fall denn?“ erkundigte er sich. 25
„Katenkamp“, antwortete Heidelbach. „Deshalb ist er nicht da.“ Weber stellte die Bierflasche wieder ab und faßte nach einem Wasserglas voll Whisky. „Nun ist sein Liebling nicht anwesend“, flüsterte jemand im Hintergrund. „Gleich fängt er an zu heulen.“ Weber drückte das Kreuz durch. „Meine Herren“, sagte er mit erhobener Stimme, „um das vielleicht klarzustellen, und auch, weil der Mann nicht anwesend ist: Herr Katenkamp ist nicht mein Liebling. Aber er ist ein verdammt guter Polizist. Und deshalb hab ich mich in der oberen Etage um seine Wiedereinstellung bemüht. Weil wir Leute wie ihn brauchen.“ „Ach - der war früher schon mal…?“ fragte der im Hintergrund. ,Ja, der war früher schon mal“, äffte ihn Weber zornig nach. „Und dann war er nicht mehr, weil zwei Zuhälter gegen ihn ausgesagt haben. Und wenn nicht einer von denen kürzlich umgefallen wär - ich weiß nicht, warum, wird wohl schon wieder mal ‘n Kuhhandel dahinterstecken -, ja, dann wäre Katenkamp nicht so fix Kommissar geworden. Dann wär er vielleicht heute noch Warenhausdetektiv. Ich dachte, das sei allgemein bekannt.“ „Naja.“ Klapprodt wollte Öl auf die Wogen gießen. „Schließlich hat dir ja keiner Günstlingswirtschaft vorgeworfen…“ Er merkte, daß er sich nicht besonders glücklich ausgedrückt hatte und verstummte abrupt. 26
„Du hast das natürliche Taktgefühl eines Panzernashorns“, sagte Weber, schon wieder friedlich. „Nichts für ungut, allerseits. Das eben, das hab ich als Privatmann gesagt, schon im Besitz meiner Entlassungsurkunde.“ Er nahm einen Schluck aus dem Whiskyglas. „Morgen ist Sonntag, da können Sie ausschlafen.“ „Wenn man uns läßt“, murmelte jemand. „Ich danke dir“, sagte Klapprodt. „Auch wenn du schon als Privatmann gesprochen hast, das mußte mal zum Ausdruck gebracht werden. Sonst hätte ich dafür Worte finden müssen… Prost! Auf deinen Ruhestand. Ich bin überzeugt, du wirst unsere Arbeit mit Interesse verfolgen und uns deinen Rat auch in Zukunft nicht vorenthalten. Nochmals prost!“ Es erklang ein allgemeines Prost. „Jetzt wird mir das zu feierlich“, erklärte ein junger Beamter. „Hört sich an wie beim Kaninchenzüchterverein.“ Er griff sich eine Käseschnitte und verließ den Raum. Als Katenkamp bei der Abschiedsfeier auftauchte, befanden sich nur noch sechs Leute in dem Zimmer. „Na?“ fragte Weber. „Es geht mich zwar nichts mehr an, trotzdem reagiert das alte Kavalleriepferd noch prompt auf die Signale… Bedienen Sie sich.“ Katenkamp hebelte den Verschluß von einer Bierflasche. „Der Mann ist aus nächster Nähe erschossen worden. Zwei Schüsse von hinten. Keine Zeugen. 27
Jedenfalls hat sich niemand gemeldet.“ „Raubmord?“ erkundigte sich Klapprodt. „Schwer zu sagen. Von den persönlichen Gegenständen scheint nichts zu fehlen. Und ob von den Briefen einer fehlt, wird sich kaum feststellen lassen. Wir können seinen Bezirk abklappern und fragen, ob jemand Post erwartet und nicht erhalten hat.“ „Das bringt nicht viel“, sagte Weber. „Hätten Sie sich für den Anfang keinen besseren Fall aussuchen können? Ein erschossener Briefträger! Immerhin hat die Geschichte Seltenheitswert. Seitdem es keine Geldbriefträger mehr gibt, brauchen die Herren eigentlich nur noch vor bissigen Hunden Angst zu haben. Außerdem wurden auch Geldbriefträger nie erschossen. Die schlug man einfach nieder.“ Er ist betrunken, dachte Katenkamp. Weber und betrunken. Das hat’s noch nie gegeben. „Nun suchen Sie mal schön nach einem Motiv“, fuhr Weber fort. „Ich kann mir keins vorstellen.“ Clausen von der Spurensicherung sah über seine Nickelbrille hinweg und kratzte sich am linken Ohr. „Vielleicht wollte jemand… Wie ist das eigentlich? Wenn ich einen Brief aufgebe und will den zurückhaben? Muß der Postbote mir den aushändigen? Vorausgesetzt, ich kann mich als Absender ausweisen?“ „An und für sich schon“, sagte Hempel. Er saß auf Webers Drehstuhl. Vor ihm stand ein Pappbecher voll Kognak. „Immerhin bin ich der Eigen28
tümer des Briefes. Oder?“ Er malte mit dem rechten Zeigefinger ein Fragezeichen in die Luft. „An und für sich…“, nuschelte Heidelbach. „Aber wer weiß denn, wie die postalischen Bestimmungen aussehen? Außerdem bringt uns das auch nicht weiter. Es bleibt sich gleich, ob wir einen Empfänger oder einen Absender suchen.“ „Bier oder gleich einen Whisky?“ fragte Weber. „Whisky ist besser. Wegen der Anfangsgeschwindigkeit. Wir haben alle ziemlich Vorsprung.“ Katenkamp warf Klapprodt einen fragenden Blick zu. Ob es einen schlechten Eindruck machte, wenn er als Neuling bei der Mordkommission mehr trank als nur Bier? War er nicht verpflichtet, sofort einen ersten Bericht zu Papier zu bringen? „Wenn Sie auf Whisky stehen - bitte!“ sagte Klapprodt. „Vielleicht inspiriert das schottische Zeug Sie ja.“ „Ich wollte nur schnell mal reinschauen“, sagte Katenkamp. „Bevor hier alles vorbei ist.“ Er suchte nach einer Flasche mit Sodawasser. Ausgerechnet heute übertrugen sie ihm seinen ersten Fall. „Hier gibt es nur Alkohol.“ Weber hielt ihm einen Becher voll Whisky hin. „Sie werden den Stoff schon ungebremst auf mein Wohl trinken müssen.“ Dieser Abschiedsfeier für Weber verdankte er es, daß man ihn an den Fall rangelassen hatte. „Prost“, sagte er. Von den alten Kollegen wollte keiner fehlen, wenn Weber verabschiedet wurde. „Prost“, wiederholte er. Und nun hatte er den ersten Fall 29
am Hals, der in Klapprodts Ära fiel. Und Klapprodt dachte sicher nicht daran, seine Amtszeit als Leiter der Mordkommission mit einem unaufgeklärten Fall zu beginnen. Auch wenn er nicht gerade vor Ehrgeiz umkam - einen solchen Start wünscht sich niemand. „Gab es Augenzeugen?“ fragte Heidelbach. „Nee. Hab ich doch schon gesagt. Der Täter muß dem Mann aufgelauert haben. Direkt im Hauseingang.“ Der Whisky war lauwarm. Katenkamp schüttelte sich nach dem ersten Schluck. „So hätt ich’s auch gemacht“, sagte Klapprodt. „Das hilft uns bloß nicht weiter.“ „Keine Kampfspuren“, referierte Katenkamp weiter. „Soweit sich das bereits sagen läßt, war der Mann damit beschäftigt, Post in die Briefkästen zu verteilen, als der Täter schoß - vermutlich vom Vorgarten aus.“ Weber hustete. Er klopfte sich auf den Brustkorb. „Ruhe da drin!“ rief er. „Ich will nicht an Lungenkrebs verrecken. Jetzt auch nicht mehr.“ Dann sah er Klapprodt an. „Hoffentlich kriegt ihr es nicht mit einem Killer zu tun. So einen, der sinnlos draufhält. Davor hatte ich immer Angst.“ „Mal den Teufel nicht an die Wand“, antwortete Klapprodt. Zu Katenkamp: „Haben Sie die Hausbewohner befragt?“ „Ja. Soweit sie anzutreffen waren. Ein Rentnerehepaar im ersten Stock. Im zweiten Stock trafen wir eine Mutter mit drei Kindern an. Oben wohnt ein Schauspieler. Der lag noch im Bett. Keiner 30
hatte zur fraglichen Zeit Besuch. Und der Schauspieler hätte es nicht geschafft, nach der Tat wieder ungesehen in seine Wohnung zu gelangen. Es ist übrigens in meiner unmittelbaren Nachbarschaft passiert.“ „Das war auch Ihr Briefzusteller?“ fragte Heidelbach. „Ja.“ „Haben Sie mit dem Mann mal ein paar Worte gewechselt?“ „Nein. So lange wohnen wir da noch nicht. Die Post kommt auch erst am späten Vormittag. Da bin ich längst unterwegs.“ Nach dem zweiten Schluck Whisky schüttelte Katenkamp sich nicht mehr. Trotzdem setzte er den Pappbecher ab. „Ich werde mich um die Familie kümmern müssen. Der Mann wohnt draußen in Sasel. Es war kein großer Umweg, eben mal hier reinzuschauen.“ Es war schon ein Umweg, dachte Katenkamp. Aber ich wollte mich wenigstens bei der Abschiedsfeier für Weber sehen lassen. Ich verdanke Weber zuviel. Ich kann nicht so tun, als ginge er mich ab sofort nichts mehr an. Und an Webers letztem Tag muß ich meinen ersten Fall kriegen. Einen hoffnungslosen, wie es scheint. Weber beendet heute eine erfolgreiche Karriere, und meine ist möglicherweise beendet, bevor sie begonnen hat… Ich hab kein gutes Gefühl bei dieser Geschichte. Hätte nicht ein Pennbruder seinen Saufkumpan erschlagen können? Solche Fälle sind spätestens am Abend aufgeklärt. Oder ein Mann bringt seine Frau um. 31
Den Mann nimmt man fest, und dann ist es nur eine Frage von Stunden, bis er ein Geständnis ablegt. Da zieht man ein sauberes Protokoll aus der Maschine, läßt den Täter unterschreiben, übergibt die Akten der Staatsanwaltschaft und betrachtet den Fall als erledigt. Aber nein, ich muß einen erschossenen Postboten kriegen! - Gut, in der ersten Meldung war nur von einer männlichen Person die Rede. Wer weiß, was unter der Notrufnummer durchgegeben wurde. Die ersten Angaben taugen meist nicht viel. Trotzdem könnten die Dinge schon klarer liegen. „Viel Glück“, sagte Weber. Es klang nicht sehr hoffnungsvoll. Klapprodt nickte Katenkamp zu. „Sie kriegen selbstverständlich jede Unterstützung.“ Was denn wohl sonst… Aber worin konnte die Unterstützung schon bestehen? Höchstens aus zwei Kriminalassistenten, die im Bezirk des Briefzustellers nach verschwundener Post fragten. Aber wer weiß denn im voraus, was ihm mit der Post ins Haus steht? Vielleicht war der Empfänger auch froh, einen bestimmten Brief nicht bekommen zu haben, und hielt den Mund. Und wer konnte denn mit Bestimmtheit sagen, daß es dem Täter darum zu tun gewesen war, in den Besitz eines Briefes zu gelangen? Wenn es sich nicht gerade um einen am Vortage in Hamburg aufgegebenen Brief handelte, dann konnte niemand sicher sein, daß der Postbote einen bestimmten Brief in seiner Tasche hatte… Falls Post für mich dabei war, dann hab ich sie 32
noch bekommen, dachte Katenkamp. Unser Haus hat er noch bedient. Eine Viertelstunde später war er tot. Und ich soll seinen Mörder finden. „Kopf hoch“, sagte Weber. „Wir haben alle mal angefangen.“ Ich bin kein Anfänger mehr, dachte Katenkamp. Hier handelt es sich um meinen siebten Mordfall. Sechs konnte ich aufklären. Vier als Amateur, nach dem Rausschmiß - als Warenhausdetektiv, als Privatschnüffler. Und dann zwei als Schutzpolizist. Und nun, wo ich zur Mordkommission gehöre und theoretisch genau weiß, wie man vorzugehen hat, da gerate ich an einen hoffnungslosen Fall. Keine Augenzeugen, kein Motiv… Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Nur nicht ungeduldig werden“, sagte ein Beamter, den er nicht kannte. „Manchmal hilft die Technik weiter.“ Also ein Laborfritze. Einer von denen, die nicht zu denken brauchen. Die stellen ihre Untersuchungen an und knallen einem die Ergebnisse auf den Tisch. Sieh zu, ob du damit was anfangen kannst; unsere Werte sind hieb- und stichfest. Wage nicht, Zusatzfragen zu stellen oder unsere Ergebnisse anzuzweifeln. Außerdem sind wir überlastet, sei froh, daß du die Ergebnisse überhaupt schon hast. Nein, die von der Technik leisten schon brauchbare Arbeit. Nur wäre ihm im Augenblick ein Augenzeuge lieber gewesen. Einer, nach dessen Angaben man ein Phantombild zusammensetzen konnte. Ein Phantombild machte sich auch in der Presse gut oder auf einem Steckbrief… Ne33
ben der Tür hing der Fahndungsaufruf nach den meistgesuchten Terroristen. Von denen besaß man sogar Fotos und erwischte sie trotzdem nicht. Na gut; die meisten hielten sich wahrscheinlich im Ausland auf. Sein Täter lief hier in Hamburg herum. Die Chancen, ihn mit Hilfe einer Phantomzeichnung zu erwischen, waren ungleich größer als die Aussichten, einen Terroristen nach einem jahrealten Foto zu erkennen. „Verlassen Sie sich man nicht zu sehr aufs Labor“, sagte Weber. „Die Nase ist manchmal viel wichtiger.“ „Ach, du!“ Der Beamte von der Technik drückte eine Zigarette in Webers Aschenbecher aus. „Als ob wir dir noch nie was Gutes getan hätten. Wenn ich mal Zeit habe, suche ich alle Fälle ‘raus, bei denen du uns fast alles verdanken konntest. Da kommt etliches zusammen.“ „Ich hab jetzt viel mehr Zeit als du. Laß mich lieber die Gegenrechnung aufmachen“, brummte Weber. Weber hält nicht viel von kriminaltechnischen Untersuchungen, dachte Katenkamp. Das ist auch eine Generationsfrage. Auf beiden Seiten. Früher sind auch die Herren Verbrecher nicht so raffiniert vorgegangen. Da wußte man ungefähr, in welchen Kreisen man den Täter zu suchen hatte. Früher… Ich werde auf die Laborarbeit angewiesen sein. In ein paar Stunden werde ich wissen, wie die Tatwaffe beschaffen war; das Kaliber, vielleicht sogar das Modell. Später können sie mir sagen, aus welchem Winkel der Schuß abgefeuert 34
wurde. Nur, wer ihn abgefeuert hat, das können sie mir nicht sagen… Sie werden auch rauskriegen, was der Tote zuletzt gegessen hat. Das könnte sogar wichtig sein, falls er irgendwo eingekehrt ist. Vielleicht hat er bei einer Imbißstube haltgemacht und Bratwurst mit Ketchup gegessen. Vielleicht hat ihn dabei jemand gesehen und auch beobachtet, daß ihm anschließend einer gefolgt ist… Vielleicht weist der Mageninhalt auch auf den Verzehr von selbstgebackenem Kuchen hin; dann könnte an der Grüne-Witwen-Theorie doch was dran sein… Vielleicht. Immer nur vielleicht. In jedem Fall lief alles auf zeitraubende Befragung hinaus. „Ich bin draußen in Sasel“, sagte Katenkamp und verließ den Raum.
3 Heinrich Randulke. Das Namensschild unter den Klingelknöpfen des Sechsfamilienhauses sah neu aus. Wahrscheinlich erst frisch eingezogen, dachte Katenkamp. Er drückte auf den Klingelknopf über dem Namensschild. Mit einem unangenehmen Schnarrton sprang die Tür auf. Wenigstens ist die Familie schon benachrichtigt worden. Gut, daß ich nicht dabei war. Ich werde trotzdem mein Beileid aussprechen müssen, überlegte er. Im ersten Stock stand eine Wohnungstür offen, Katenkamp trat in den Flur. Es sah ungefähr so aus, wie er es sich vorgestellt hatte. Geblümte Tapete und ein gemusterter Tep35
pich; rechts hinter der Tür vier Garderobenhaken aus geschwärztem Eisen. Es sollte wie handgeschmiedet aussehen. An den Haken hingen drei Bügel mit gelbem Plastiküberzug. Ein Junge trat aus der Wohnzimmertür. „Was wollen Sie denn?“ fragte er. Es klang trotzig. „Kriminalpolizei.“ Vor kurzem hast du noch geweint, dachte Katenkamp. Du bist höchstens siebzehn. In deinem Alter weint man noch, auch wenn man mit dem Alten sonst Krach hatte. Jetzt willst du mutig sein und Mutti vor zudringlichen Besuchern schützen. Im Augenblick fühlst du dich ein bißchen wie Vatis Nachfolger, als Familienoberhaupt. Recht so. „Kriminalpolizei“, wiederholte er. „Ich muß Ihre Mutter sprechen.“ Spätestens jetzt willst du gesiezt werden. Ich tu’s gern. In deinem Alter sollte man den Vater noch nicht verlieren. Entweder früher oder später. In deinem Alter gewöhnt man sich nicht mehr an einen Stiefvater. „Können Sie sich ausweisen?“ „Selbstverständlich.“ Katenkamp hielt dem Jungen seinen Dienstausweis hin. Der Junge nickte und trat in das Wohnzimmer zurück. Du wirst wahrscheinlich nie einen Stiefvater haben, dachte Katenkamp, als er die Frau in dem hochbeinigen Lehnstuhl sitzen sah. Über ihre Knie war eine großkarierte Decke gebreitet. Neben ihr lehnte ein schwarzer Stock mit breiter Krücke an dem Lehnstuhl. Die Frau saß vornübergebeugt 36
und starrte apathisch vor sich hin. Dabei vollführte ihr Kopf leichte Pendelbewegungen. „Hier ist wieder jemand von der Kriminalpolizei“, sagte der Junge. Die Frau wandte den Kopf nur leicht. Ihre grauen Haare waren unordentlich zusammengesteckt. Aus dem blassen Gesicht sahen ihn müde Augen teilnahmslos an. „Wir wissen schon Bescheid“, sagte die Frau. Dann senkte sie den Kopf wieder. „Leider muß ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen.“ Er schaffte es nicht, irgend etwas von Beileid zu murmeln. Statt dessen fragte er: „Darf ich mich setzen?“ Neben dieser kranken Frau auf gesunden Beinen dazustehen, das kam ihm unpassend vor. Die Frau reagierte nicht. Der Junge nickte ihm zu. Katenkamp schob sich in eine Ecke der niedrigen Couch und war froh, niedriger als die Frau zu sitzen. „Wie ist es passiert?“ fragte sie. „Wir wissen es noch nicht. Versuchen Sie, meine Fragen zu beantworten, nur damit können Sie uns im Augenblick helfen.“ Die Frau nickte. Er zog sein Notizbuch hervor. Es enthielt noch keine anderen Eintragungen. Bei dem Fall Wagenknecht war er nur am Rande beteiligt gewesen. Martin Wagenknecht hatte seinen Arbeitgeber umgebracht, einen Bauunternehmer. Die Tat war im Zustand der Volltrunkenheit verübt wor37
den, weil sich Wagenknecht um Überstundenzuschläge betrogen fühlte. Einer der Fälle, die sich innerhalb weniger Stunden aufklären. Sie machen keine Eintragungen in ein Notizbuch erforderlich, sondern nur ein Vernehmungsprotokoll. „Ihr Mann hieß mit Vornamen?“ Hätte er nicht besser ,heißt’ sagen sollen? „Heinrich.“ „Er war wie alt?“ „Zweiundfünfzig.“ Wie er da tot in dem Hauseingang lag, sah er älter aus, dachte Katenkamp. Macht der Tod den Menschen älter? Oder war Heinrich Randulke an der Seite dieser kranken Frau nur schnell gealtert? Sie muß schon länger leidend sein. Eine kranke Frau zu haben, das kann einem Mann Sorgen machen und ihn altern lassen… Wenn Erika chronisch krank wäre, oder Jonathan? Er schob den Gedanken beiseite. „Seit wann ist er bei der Post beschäftigt?“ „Von Anfang an. Gleich nachdem er aus Ostpreußen gekommen ist. Aus Polen“, verbesserte sie sich. „Er war Spätaussiedler und konnte damals gleich bei der Post anfangen.“ „Hatte Ihr Mann Feinde?“ Er mußte die Frage stellen, obwohl er sich nicht denken konnte, warum ein Briefträger Feinde haben sollte. Noch dazu welche, die ihn am hellen Sonnabendvormittag erschossen. Die Frau schüttelte den Kopf. Ihre rechte Hand tastete nach dem Stock. „Nein“, sagte sie. „Er war 38
überall beliebt. Hier bei den Nachbarn und auch bei den Kollegen.“ „Bitte denken Sie genau nach.“ Es war eine Verlegenheitsfrage. Die Frau verließ die Wohnung vermutlich kaum noch und wußte über ihren Mann nur, was er ihr erzählte. Das brauchte nicht viel zu sein. „Gehörte Ihr Mann einem Verein oder dergleichen an?“ Auch keine vielversprechende Frage, aber er brauchte Menschen, die mehr über Heinrich Randulke wußten als diese Frau. „Er war in der Postgewerkschaft. Sonst hat er sich um nichts gekümmert.“ „Kam er manchmal außergewöhnlich spät vom Dienst zurück, oder verließ er das Haus zu ungewöhnlichen Zeiten?“ „Er war immer pünktlich und ging dann auch nie wieder fort. Er wußte ja, daß ich ihn brauche.“ Die Frau holte ein Taschentuch unter dem Plaid hervor. Sie benutzte es nicht, sondern zerknüllte es in der Hand. „Hat er getrunken?“ Katenkamp bereute die Frage. Wenn Heinrich Randulke ein Trinker gewesen war, dann wußten seine Kollegen das besser als diese bedauernswerte Frau. „Nie. Dazu neigte er nicht. Dazu hätte das Geld bei uns auch nicht gereicht.“ „Frau Randulke, Sie haben sich sicher Gedanken darüber gemacht, wie das passieren konnte. Wenn Sie irgendeine Vermutung haben, dann sprechen Sie sie bitte aus. Sie brauchen nicht zu befürch39
ten…“ „Ich habe keine Erklärung dafür.“ Sie preßte die Lippen aufeinander und wandte den Kopf ab. Er glaubte ihr. Ob der Täter weiß, was er mit diesem Mord angerichtet hat? Warum muß ich auch bei der Tötung landen? Wir werden immer mit dem größten menschlichen Elend konfrontiert. Gegen Einbruch kann man sich versichern, und manchmal tauchen die gestohlenen Gegenstände auch wieder auf. Ein Toter wird nie wieder lebendig. Wir können nur verhindern, daß der Täter wieder tötet. Und auch das nicht immer. Der Sohn stand an dem Wohnzimmertisch mit der unechten Kristallschale darauf. Er sah Katenkamp nicht mehr so feindselig an wie zu Beginn der Befragung. „Kannst du etwas dazu sagen?“ Katenkamp hatte bei dem Sie bleiben wollen; das Du war ihm herausgerutscht. Er bedauerte es. „Wie heißt du?“ „Jochen. Nein, ich weiß auch nichts.“ Es klang etwas trotzig. Aber wahrscheinlich riß der Junge sich nur zusammen, um nicht weinen zu müssen. „Ja, dann…“ Katenkamp klappte das Notizbuch mit den wenigen Eintragungen zu. Was hatte er auch erwartet? Daß man ihm wenigstens einen Verdächtigen lieferte? Er wußte es nicht. „Sollte Ihnen noch etwas einfallen…“ Eine Floskel. „Wir werden unser Möglichstes tun.“ Auch eine Floskel. Natürlich würde er sein Möglichstes tun. Dazu war er verpflichtet. Und außerdem wollte er nicht, daß 40
sein erster Fall unaufgeklärt blieb. Teamarbeit oder nicht - intern ist für einen Fall doch immer jemand federführend; bei einem laufen die Fäden zusammen… Diesmal bei ihm. Aber wenn es nun keine Fäden gab? Katenkamp erhob sich. Er deutete eine Verneigung an. Hier ist kein Trost zu spenden, dachte er. „Ich bringe Sie nach draußen“, sagte Jochen Randulke. „Danke.“ Der Sohn zog die Wohnungstür hinter sich ins Schloß. „Vater…“ Er zögerte. Mit der Schuhspitze bohrte er in den Borsten der Fußmatte vor der Wohnungstür. Sein Blick schien sich nicht von Katenkamps Schlipsknoten lösen zu können. „Es hat bestimmt nichts damit zu tun.“ Jochen Randulke brach wieder ab. Ich muß es ihm leicht machen, dachte Katenkamp. Er weiß etwas über seinen Vater, aber er will seine kranke Mutter schonen. Wir dürfen hier nicht zu lange stehen, sonst wird sie mißtrauisch. „Kannst du in zehn Minuten unten an der Ecke sein? Ich warte dort auf dich.“ Jochen Randulke nickte. Er strich sich die Haare aus dem Gesicht. Die Andeutung eines Lächelns hob seine Mundwinkel. „Das geht“, sagte er. „Ich muß sowieso einkaufen.“ „Gut. Ich warte.“ An der Ecke befand sich ein Edeka-Laden. Katenkamp wartete vor dem Geschäft. Die Schaufensterscheibe war mit Plakaten für Sonderangebote fast völlig zugeklebt. Viel wird 41
der Junge nicht wissen, dachte er. Was wissen Söhne schon über ihre Väter? Aber er weiß bestimmt mehr als die Frau. Zumindest ist sie nun eine Beamtenwitwe. Irgendwann wird sie das als schwachen Trost empfinden. Viele Frauen in ihrer Lage wären jetzt auf das Sozialamt angewiesen. Ist das nun zynisch gedacht oder nur realistisch? Er sah auf die Uhr. Der Fall wird mit viel Lauferei verbunden sein. Später werde ich mich mit Randulkes Vorgesetzten und Kollegen unterhalten müssen. Himmel, warum erschießt jemand einen Briefträger? Oder hat die ganze Geschichte gar nichts mit Randulkes Beruf zu tun? Möglich ist alles. Ein eifersüchtiger Mann vermutet, daß seine Frau ein Verhältnis mit dem Postboten hat, und legt ihn einfach um. Dann wäre der Täter im Zustellbezirk Randulkes zu suchen. Oder es bekommt jemand laufend Mahnungen und macht Randulke da-. für verantwortlich. Ein Verrückter, der für sein Unglück den Überbringer der schlechten Nachrichten verantwortlich macht. Wie in der Antike, als Könige die Unglücksboten hinrichten ließen. Auch dann müßte der Täter in Randulkes Zustellbezirk zu suchen sein… Es wird darauf hinauslaufen, daß wir alle Häuser durchkämmen, die Randulke zu bedienen hatte. Also muß ich auch mich befragen. Ich wohne in seinem Zustellbezirk… Idiotisch. Jochen Randulke hatte das schwarze Einkaufsnetz wie einen Boxhandschuh um die linke Hand gewickelt. Er führte einen wütenden Schlag in die 42
Luft aus. Hoffentlich hat er es sich nicht anders überlegt, dachte Katenkamp. Niemand kann ihn zwingen, Nachteiliges über seinen Vater zu sagen. Ich hätte mich auf das Treffen vor diesem Laden nicht einlassen sollen. In solchen Situationen muß man am Ball bleiben. „Was liegt denn nun an?“ fragte er viel zu aggressiv, als Jochen Randulke vor ihm stand. „Es hat bestimmt nichts damit zu tun. Nur…“ „Das entscheiden wir.“ Schon wieder reagierte er zu heftig. So schüchterte er den Jungen nur ein. Wo war sein Verständnis für die Trauer des Jungen geblieben? Hatte sich vor diesem Laden der Gedanke in ihm eingenistet, unter Erfolgszwang zu stehen? Wahrscheinlich. „Du wolltest mir was sagen.“ Das hörte sich etwas versöhnlicher an. „Ich werde gegebenenfalls verhindern, daß deine Mutter etwas davon erfährt.“ Ein leichtsinniges Versprechen. Schließlich wußte er noch nicht, worum es sich handelte. Jochen Randulke wickelte das Einkaufsnetz von der Faust. „Mutter ist schon lange krank. Ich meine…“ Das Einkaufsnetz wurde jetzt zusammengeknüllt. Katenkamp zwang sich zu geduldigem Zuhören. „Sie werden verstehen“, sagte Jochen Randulke. „Vater hatte eine Freundin.“ Und ob er das verstand. Der Mann hatte jahrelang neben einer kranken Frau gelebt. Und überhaupt. Auch gesunde Frauen werden von ihren Männern betrogen. Und schließlich ging es hier 43
nicht um eine moralische Wertung. „So“, sagte er. Verständlich, daß der Junge ihm diese Mitteilung nicht im Beisein der Mutter machen wollte. „Kannst du mir die Adresse geben? Ich werde mit der Frau reden müssen.“ Jochen Randulke senkte den Kopf. „Ich weiß nicht, wie sie heißt.“ „Bitte?“ Katenkamp sah den Jungen mißtrauisch an. „Immerhin handelt es sich um eine wichtige Mitteilung.“ Stimmte das wirklich? War die Mitteilung so wichtig? Jedenfalls war sie nicht unwichtig. Denkbar, daß Randulke mit dieser Freundin Probleme besprochen hatte, die er seiner Frau nicht zumuten wollte. Aber wenn sein Sohn den Namen der Freundin nicht kannte, dann spielte das nicht die entscheidende Rolle. Randulkes Kollegen würden den Namen schon wissen. Der Sohn hatte die Grundinformation geliefert. Alles andere würde sich finden. „Wie bist du daraufgekommen?“ „Ach, das merkt man. Ich meine, Vater war manchmal so anders.“ „Du meinst, er hatte ein schlechtes Gewissen.“ „Ja.“ Jochen Randulke nickte eifrig. „Das ist doch kein Beweis.“ „Nein. Nur… Er kam einmal mit einer neuen Krawatte nach Hause. Die hätte er sich nie selbst gekauft. Und dann hatte er nach seinem Geburtstag eine neue Armbanduhr.“ „Das besagt wenig. Warum soll er sich keine neue Armbanduhr kaufen?“ 44
„Das hat er auch gesagt. Ein Händler in seinem Zustellbezirk hat ihm einen unheimlich hohen Rabatt eingeräumt.“ „Da hätten wir die Lösung schon.“ Eine neue Armbanduhr besagte gar nichts. Der Junge machte sich jetzt wahrscheinlich alle möglichen Gedanken über seinen Vater und bauschte die geringfügigsten Beobachtungen zu Verdachtsmomenten auf. Oder er stand völlig auf seiten der Mutter und hatte den Vater voll Mißtrauen beobachtet. Jede Mark, die er ausgab, konnte der Mutter nicht mehr zugute kommen. „In diesem Zustellbezirk gibt es gar kein Uhrengeschäft. Ich hab das nachgeprüft.“ Jochen Randulke strich sich verlegen die Haare aus der Stirn. „Ich habe ihm nicht richtig nachspioniert. Ich wollt’s einfach nur wissen.“ Natürlich hatte der Junge seinem Vater nachspioniert. Aus welchen Gründen auch immer. Fest stand jedenfalls, daß Heinrich Randulke sich keine neue Armbanduhr kaufen durfte, ohne die Anschaffung umständlich begründen zu müssen und ohne daß man seine Angaben auch noch nachprüfte. „Was hast du denn sonst noch herausgefunden?“ Katenkamp trat näher an den Jungen heran. „Oder willst du behaupten, daß ich hier nur wegen dieser Krawatte und der Geschichte mit der Armbanduhr herumstehen mußte?“ Er spürte, wie sich sein Respekt vor der Trauer des Jungen in Aversionen verwandelte. Die Liebe zur Mutter entschuldigte 45
doch nicht dieses Verhalten gegenüber dem Vater. Später würde Jochen Randulke sich dafür vielleicht einmal schämen. Aber das mußte er mit sich ausmachen. Im Augenblick kam es darauf an, in dem Mordfall Randulke einen roten Faden in die Hand zu bekommen. Einen roten Faden, der möglicherweise zu einem Täter führte. „Nun komm mal mit der Hauptsache rüber.“ Katenkamp hielt diesen typischen Verhörton jetzt für gerechtfertigt. „Es bleibt auch alles unter uns“, behauptete er. Ob sich das Versprechen dann einhalten ließ, würde sich zeigen. Jochen Randulke hielt das Einkaufsnetz locker an dem Ledergriff und ließ es vor seinen Knien pendeln. Dann knüllte er es wieder heftig zusammen. „Mein Vater hatte eine Freundin“, stieß er heftig hervor. „Das weiß ich ja nun schon“, entfuhr es Katenkamp. Mehr schien den Jungen wohl nicht zu interessieren. Psychologisch verständlich. „Wie heißt die Frau?“ Eine Unterhaltung mit ihr führte möglicherweise auch keinen Schritt weiter. Wie die Dinge lagen, hatte Heinrich Randulke bestimmt nicht viel Zeit für die Frau erübrigen können. Ein Wunder, daß er es geschafft hatte, noch eine Beziehung anzuknüpfen. Sicher ein Bumsverhältnis mit einer einfachen Frau seines Alters. „Wie heißt die Frau?“ wiederholte Katenkamp. „Ich weiß es nicht.“ „Das kannst du mir nicht einreden.“ „Ich weiß es wirklich nicht.“ 46
„Dann sag mir, wo sie wohnt.“ „Das weiß ich auch nicht.“ „Und wie kommst du darauf, daß dein Vater eine Freundin hatte?“ Vielleicht existierte die Frau nur in der Phantasie des Jungen. „Ich hab sie zusammen gesehen.“ „Mehrfach?“ Der Junge war imstande, aus einer zufälligen Beobachtung eine ganze Geschichte zu konstruieren. Enttäuschte Liebe kann die Phantasie intensiv beschäftigen. Auch enttäuschte Liebe zum Vater. „Ja. Ich weiß, es war nicht schön. Ich… Ich hatte nur Angst, daß Mutter etwas davon erfährt. Deshalb… Wenn er zu Versammlungen von der Postgewerkschaft ging… Da bin ich einige Male hinterher. Zweimal hat er sich bestimmt mit ihr getroffen… Ich hab Mutter immer erzählt, daß er wirklich zu den Versammlungen gegangen ist. Sie war immer so eifersüchtig. Deshalb hab ich mich auch bloß darauf eingelassen. Ich konnte ihn ja verstehen.“ Ich habe dem Jungen unrecht getan, dachte Katenkamp. „Wann fand das letzte Treffen statt?“ „Vor zwei Wochen.“ Jedenfalls handelte es sich da nicht um eine uralte Geschichte, die überhaupt nichts mehr versprach. „Wo haben sie sich denn getroffen?“ „Vater ist mit der S-Bahn bis Farmsen gefahren und da zu ihr ins Auto gestiegen.“ „Du hast dir nicht zufällig die Autonummer gemerkt?“ 47
„Nein. Ich bin nicht nah genug rangekommen. Er sollte ja nicht merken, daß ich…“ Jochen Randulke fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Schon gut. An den fraglichen Abenden fanden wirklich keine Versammlungen statt?“ Eine Kollegin nimmt Randulke in ihrem Wagen mit zu einer Versammlung, der Sohn läßt seine Phantasie spielen, und die Kripo startet eine mehr oder weniger große Suchaktion. Das fehlte gerade noch. Jochen Randulke schüttelte den Kopf. „Nein. Bestimmt nicht.“ „Was für einen Wagen fuhr die Frau?“ „Einen Mercedes.“ Das sprach allerdings gegen eine Kollegin. In Postgewerkschaftskreisen fuhr man kaum einen Mercedes. Der Mercedes sprach aber auch gegen ein Verhältnis mit einer Frau aus Randulkes Kreisen. Briefzusteller führt Doppelleben… Das war vielleicht eine schöne Überschrift für die Boulevard-Presse, nur keine Arbeitshypothese. Oder etwa doch? Der Henker mochte wissen, welche Qualitäten Heinrich Randulke als Mann aufzuweisen hatte. Der Tote wirkte abgearbeitet und frühzeitig gealtert. Andererseits besagte ein Mercedes noch gar nichts. Nicht alle Mercedes-Fahrerinnen sind jung und hübsch. Zunächst galt es, die Frau zu finden. „Kannst du die Frau beschreiben?“ Jochen Randulke antwortete schnell. „Sie sieht nach Geld aus. Ich meine, sie hatte einen Pelzmantel an. Sehr jung ist sie nicht mehr. Ja, sonst…“ Er überlegte. Schließlich machte er eine 48
vage Handbewegung. „Nicht gerade schlank.“ Eine erschöpfende Personenbeschreibung sah anders aus. Aber die Frau hatte in einem davonfahrenden Auto gesessen. Jedenfalls schien Heinrich Randulke keiner jungen, eleganten Frau verfallen gewesen zu sein. Warum auch? Was hätte er einer jungen Frau schon bieten können? Aber wie sonst war es zu diesem ungleichen Verhältnis gekommen? Der Briefträger und die Frau im Mercedes. Wer konnte da wem nützlich sein? Zunächst kam es darauf an, die Frau ausfindig zu machen. Unwahrscheinlich, daß es sich bei ihr um die Täterin handelte. Frauen neigen nicht zum Mord auf offener Straße. Und wenn man von der Ausnahme ausging? Dann kam als Tatmotiv Eifersucht in Frage. Ein höchst unwahrscheinliches Motiv. Heinrich Randulke hatte Schwierigkeiten genug gehabt, diese eine Freundin vor seiner Familie zu verheimlichen, geschweige denn eine zweite. Absurd, sich vorzustellen, daß Randulke dieser Frau versprochen haben könnte, sich scheiden zu lassen, und nicht bereit gewesen war, das Versprechen einzulösen. Einstweilen führten alle Überlegungen nicht zu dem ersten, wesentlichen Punkt aller Mordfälle: zu einem Motiv. „Kann ich jetzt einkaufen?“ fragte Jochen Randulke. „Selbstverständlich. Sollte dir noch was einfallen…“ Katenkamp rang sich nicht dazu durch, dem Jungen ein Lob auszusprechen. Die Art, wie Jochen Randulke zu seinem Wissen gekommen war, gefiel ihm nicht. Außerdem mußte sich erst 49
noch herausstellen, ob die Informationen auch nur den geringsten Wert besaßen. Falls es überhaupt möglich war, sie zu überprüfen.
4 „Der Fall weitet sich aus“, sagte Kriminaloberkommissar Heidelbach. „Lesen Sie mal den Befund.“ Katenkamp schlug die Mappe mit dem Bericht des Gerichtsmediziners auf. Beigeheftet war ein Befund des Waffensachverständigen. „Was sagen Sie nun?“ „Ich bin noch gar nicht zum Lesen gekommen“, antwortete Katenkamp. „Die Schüsse sind aus zwei verschiedenen Waffen abgegeben worden. Schöne Schweinerei.“ „Kann man wohl sagen. Andererseits… Es könnte das die Sache vereinfachen. Zwei Täter kriegt man möglicherweise eher als einen.“ „Ihren Optimismus in Ehren“, unterbrach ihn Werner Heidelbach. „Die Geschichte kriegt plötzlich eine ganz andere Dimension.“ „Genau!“ Katenkamp nickte. „Zwei Täter hinterlassen mehr Spuren als einer. Außerdem, wenn man nicht davon ausgehen will, daß ein Täter zwei Waffen benutzte, dann sprechen die Tatsachen gegen eine Affekthandlung. Zwei Leute müssen sich verabreden und Vorbereitungen treffen. Das geht meist nicht völlig unbemerkt vor sich.“ „Die Theorie gefällt mir“, meinte Heidelbach. „Jetzt müssen wir sie nur noch durch Tatsachen untermauern. Gar nicht so einfach. Bei unserer 50
Personallage. Ich sehe Laufereien über Laufereien auf uns zukommen.“ „Tut mir leid…“ „Nun entschuldigen Sie sich man nicht. Sie haben sich den Fall nicht ausgesucht. Versuchen Sie, so weit zu kommen, daß wir eine Fahndung ausschreiben können.“ „Das setzt eine halbwegs zutreffende Täterbeschreibung voraus.“ Katenkamp hatte sich in den Obduktionsbefund vertieft. Besonders interessierten ihn die Anmerkungen über den Mageninhalt. Danach hatte Randulke etwa fünf Stunden vor seinem Tod die letzte Nahrung zu sich genommen. Folglich unterhielt er innerhalb seines Zustellbezirks zu niemandem so enge Beziehungen, daß er irgendwo gefrühstückt hätte. Schade. Es hätte vielleicht schon die Suche nach dieser Frau etwas erleichtert. „Wo wollen Sie denn ansetzen?“ fragte Heidelbach. „Bei den Arbeitskollegen. Die Familie ist völlig unergiebig. Ein Sohn, der von nichts weiß, und eine Frau, die im Rollstuhl sitzt und noch weniger weiß…“ Die Frau im Mercedes verschwieg Katenkamp. Nach seiner Meinung war es noch zu früh, sie aktenkundig zu machen. Erwies sich die Bekanntschaft als völlig harmlos, dann brauchte Randulkes Frau davon nichts zu erfahren. Wenn es sich machen ließ, dann sollte sie ihren Mann als aufopferungsvollen Familienvater in Erinnerung behalten. 51
„Eine praktisch gelähmte Frau“, fuhr er fort, „da könnte ein Motiv liegen.“ „Hm? Ich komme nicht ganz mit.“ Heidelbach sah ihn an. „Die Krankheit könnte mehr Geld gekostet haben, als Randulke nach Hause brachte. Die beste Voraussetzung, um sich auf krumme Touren einzulassen.“ „Worauf kann sich ein Briefträger schon einlassen?“ Heidelbach schob auf seinem Schreibtisch Akten und Papiere zur Seite. Suchend durchblätterte er einen Stapel Notizblätter. „Ist ja auch egal“, murmelte er. „Es hat ohnehin nichts erbracht“, sagte er laut. „Bisher liegt gegen den Mann nichts vor. Keine Vorstrafen. Kann sein, daß er Post unterschlagen hat. Auch das müßten wir erst noch rauskriegen.“ „Nachträglich dürfte das schwierig werden. Entweder besteht postintern schon ein Verdacht oder eben nicht. Mal hören, was seine Vorgesetzten sagen. Es kann natürlich sein, daß man nachträglich auf eine auffallende Häufung von Verlustmeldungen in seinem Bezirk stößt.“ Auf den ganz großen Einfall war Heidelbach da auch nicht gekommen. Nach Unregelmäßigkeiten im Berufsleben eines Getöteten zu forschen, das gehörte zur Routine. Instinktiv glaubte Katenkamp nicht an solche Unregelmäßigkeiten. Sie entsprachen nicht seiner Vorstellung von Heinrich Randulke. In der kleinbürgerlichen Umgebung da draußen in Sasel konnte nichts gedeihen, was schließlich zu einer Verstrickung in Gesetzwidrigkeiten und endlich zu einem gewalt52
samen Tod führte. Andererseits… Laut Kriminalstatistik ereignen sich die großen Verbrechen keineswegs nur in großbürgerlicher Umgebung. „Wie wollen Sie denn vorgehen?“ unterbrach Heidelbach seine Überlegungen. Die Frage war berechtigt. Er gehörte erst seit kurzem zum Kommissariat, und es fehlte ihm an Routine bei der Bedienung des Polizeiapparats. „Ich werde mir die Kollegen vornehmen. Sollten sich da keine Anhaltspunkte ergeben, dann weiß ich vorerst auch nicht weiter.“ „Versuchen Sie Ihr Glück. Ich sehe in der ganzen Angelegenheit ein bißchen schwarz.“ Heidelbach rümpfte die Nase. „Irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl. Das gibt’s. Es gefällt mir ganz und gar nicht, was die uns da geliefert haben.“ „Sie zweifeln den Bericht an?“ warf Katenkamp ein. Abwehrend hob Heidelbach beide Hände und lächelte spöttisch. „Solche Berichte zweifelt man tunlichst nie an. Hinterher stellt sich zwar manchmal heraus, daß Details nicht stimmen, aber danach fragt dann schon kein Mensch mehr. Wir haben von der Richtigkeit auszugehen. In diesem Falle von Schüssen aus verschiedenen Waffen. Das läßt auf eine Bande schließen. Und wenn die am hellen Vormittag jemand umlegen, dann sorgen sie auch dafür, daß sie keine Spuren hinterlassen.“ „Profis also.“ „Absolut profihafte Arbeit.“ Heidelbach sah Katenkamp scharf an. „Sie sind neu hier, und wenn mich nicht alles täuscht, dann kommt da ein 53
schwerer Brocken auf uns zu. Trauen Sie sich da ‘ran? Ich meine, die Ermittlungen haben kaum eingesetzt. Falls Sie sich das noch nicht zutrauen, können Sie aus diesem Fall unauffällig aussteigen. Das legt Ihnen niemand als Kneifen aus.“ Natürlich wird man das tun, dachte Katenkamp. Andererseits hat Heidelbach schon recht. Es ist immer mißlich, mit einem unaufgeklärten Fall anzufangen. „Wenn es ganz schlimm kommt, müssen wir eine Sonderkommission bilden“, unterbrach Heidelbach seine Überlegungen. „Deren Leitung können Sie auf keinen Fall übernehmen.“ „Damit hätte sich das Problem dann automatisch erledigt.“ Selbstverständlich kam ein frischgebackener Kriminalkommissar nicht als Leiter einer Sonderkommission in Frage. „So kann man es sehen“, meinte Heidelbach. „Versuchen Sie also Ihr Glück.“ Er reckte den rechten Daumen in die Luft. „Aber halten Sie mich auf dem laufenden. Und keine Eigenmächtigkeiten bitte.“ Katenkamp nickte. Er hatte nicht vor, Extratouren zu reiten. Heidelbach, der korrekte Beamte, würde nichts decken, was außerhalb der Legalität lief. Doch auf seine Fairneß war Verlaß. „Sie können sich auf mich verlassen.“ Solche Antworten hörte Heidelbach gern, und es gab keinen Grund, es jetzt schon mit Heidelbach zu verderben. Er verfügte über Möglichkeiten, ihm in Zukunft nur noch aussichtslose Fälle zuzuschanzen - und dann Karriere, gute Nacht! 54
„Wie wollen Sie weiter vorgehen?“ fragte Heidelbach. „Vorgesetzte und Kollegen befragen.“ Die Annahme, daß der Mord an Randulke auf das Konto einer kriminellen Vereinigung ging, war nicht von der Hand zu weisen. Aber wie sollte Randulke mit denen in Berührung gekommen sein? Absichtlich oder zufällig? Wenn absichtlich, dann warum? Und wenn überhaupt, welchen Grund hatte er der Bande dann geliefert, sich seiner zu entledigen? „Versuchen Sie Ihr Glück“, sagte Heidelbach. Er strich sich über die kurzgeschnittenen Haare und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Die schmalen Lippen kräuselten sich skeptisch. „Wir werden ja sehen.“ Schade, daß Weber nun nicht mehr im Dienst ist, dachte Katenkamp. Weber hätte mir jetzt den einen oder anderen Tip gegeben. Heidelbach denkt nicht daran. Weber hätte mich an den Fall überhaupt noch nicht rangelassen. Der ist nur für mich abgefallen, weil die anderen bei der Abschiedsfeier für Weber dabeisein wollten. „Wir werden sehen“, wiederholte Katenkamp leise. Einige Minuten später ließ er sich mit der Oberpostdirektion verbinden. Auf so hoher Ebene war man zwar über die einzelnen Zustellbezirke nicht auf Anhieb informiert, doch man reichte ihn wenigstens an die zuständige Stelle weiter, und schließlich landete er bei Heinrich Randulkes Vorgesetzten. 55
Es meldete sich ein Herr Bruns. „Ja, der Kollege Randulke… Traurig, traurig. Von wo aus rufen Sie an? Kriminalpolizei? Das kann jeder behaupten. Können Sie sich ausweisen?“ „Telefonisch geht das schlecht. Ich müßte Sie bitten zurückzurufen.“ Herr Bruns schien zu überlegen. „Grundsätzlich gebe ich am Telefon keine Auskünfte“, sagte er schließlich. „In Personalangelegenheiten gleich gar nicht. Und in diesem besonderen Falle am allerwenigsten. Ich müßte Sie bitten vorbeizukommen. Bis sechzehn Uhr können Sie mich hier antreffen.“ Katenkamp sah auf die Uhr. Gleich drei! „Ich komme vorbei“, sagte er. Fast ein ganzer Arbeitstag war vergangen, ohne daß es wenig mehr als die Erkenntnis gab, daß Heinrich Randulke tot war. Und er hatte inzwischen Hunger. Irgendwo würde er sich unterwegs zwei belegte Brötchen kaufen. Er wählte seine eigene Nummer. „Katenkamp.“ „Hier auch.“ Er war es noch nicht gewohnt, in seiner Wohnung anzurufen. In vier Monaten Ehe lernt man das nicht. „Du“, sagte Erika Katenkamp, „unser Postbote ist heute vormittag erschossen worden.“ „Ich weiß. Ich bearbeite den Fall. Deshalb ruf ich an. Versuch bitte, etwas Reichhaltiges auf den Tisch zu bringen. Ich bin noch nicht zum Essen gekommen.“ „Das trifft sich gut. Ich auch nicht… Meinst du, daß du den Täter kriegst?“ 56
„Es sieht noch gar nicht gut aus. Gibt’s sonst was Neues?“ „Du hast Post.“ „Von wem?“ „Keine Ahnung. Es steht kein Absender drauf.“ „Dann kann es nicht so wichtig sein. Was macht Jonathan?“ „Er sieht fern.“ Katenkamp lag eine Bemerkung über das Fernsehen auf der Zunge. Er unterdrückte die Bemerkung. Jonathan war nicht sein Sohn. Er hieß Jonathan Bodenstedt und durfte an manchen Sonntagen seinen Vater sehen. Verbot er Jonathan das häufige Fernsehen, dann beschwerte er sich bei seinem Vater oder entwickelte eine Aversion gegen den Stiefvater… Gestern noch Junggeselle und heute schon komplizierte Familienverhältnisse, dachte Katenkamp. „Falls du was hörst“, sagte er. „Es scheint nicht einen einzigen Augenzeugen zu geben… Manchmal wollen die Leute aber auch nichts gesehen haben. Halt beim Einkaufen die Ohren mal ein bißchen offen.“ „Ich denke nicht daran, dir die Arbeit abzunehmen. Korrigierst du für mich etwa Hefte? Ich tu meine Pflicht als Staatsbürger und kein bißchen mehr.“ „Das genügt vollkommen. Bring der Kripo einschlägige Beobachtungen zur Kenntnis, und du hast deine staatsbürgerliche Pflicht erfüllt. Zweckdienliche Hinweise nimmt dein Ehemann entgegen.“ „Zweckdienlicherweise kommt der nicht zu 57
spät nach Hause.“ „Ich werd mir Mühe geben.“ Kriminalbeamter und Lehrerin, dachte er, keine schlechte Kombination. Zwei Beamte in einer Familie. Daraufhin könnte man an einen Hausbau denken. Wenn die Baukosten nur nicht so absurd hoch wären. „Ja“, sagte Claus Bruns, „wir stehen auch vor einem Rätsel.“ Der Postoberamtmann lehnte sich auf seinem knarrenden Drehstuhl zurück und faltete die Hände über dem Bauch. Durch die dicken Brillengläser sah er Katenkamp freundlich an. „Sie können überzeugt sein, daß wir alles tun werden, Sie bei Ihrer Arbeit zu unterstützen. Schon in unserem eigenen Interesse. Verständlicherweise ist die Erregung unter den Kollegen groß. Wir können nur hoffen, daß es sich um einen Einzelfall handelt.“ „Einzelfall?“ Katenkamp verstand nicht gleich. Der Oberamtmann deutete hinter sich, wo an der hellgrau gestrichenen Wand ein Plan der Zustellbezirke hing. Daneben waren auf einer Stecktafel die Namen jener Briefzusteller notiert, die Bruns unterstanden. Eine Reihe von Namen steckten unter den Rubriken Urlaub und krank. „Wenn es…“ Bruns unterbrach sich. „Ich meine… Galt die Tat dem Privatmann Randulke oder dem Briefzusteller? Will sagen: Sollten wir es hier mit dem Beginn einer Serie von Verbrechen zu tun haben, die sich grundsätzlich gegen Briefzusteller richten? Dann bricht innerhalb kürzester Zeit unser ganzer Appa58
rat zusammen. Erst häufen sich die Krankmeldungen, und wenig später kommt es zu Dienstverweigerungen.“ Die Befürchtung mochte übertrieben sein; trotzdem schnitt der Oberamtmann da einen möglichen Aspekt des Falles an. „Geldbriefträger gibt es nicht mehr“, sagte Katenkamp. „Was könnte…“ Bruns unterbrach ihn. „Den Geldbriefträger im alten Sinne kennen wir nicht mehr. Was nicht ausschließt, daß die Beamten im Einzelfalle namhafte Beträge bei sich haben.“ „Hatte Randulke Geld bei sich?“ „Ja. Der Betrag ist unangetastet geblieben. Es handelte sich um etwas mehr als zweitausend Mark.“ „Ein unüblicher Betrag?“ „Keineswegs. Aber wie gesagt: Es fehlte kein Pfennig.“ Was nicht ausschloß, daß die Täter es auf den Betrag abgesehen hatten. Katenkamp ertappte sich bei dem Gedanken, daß es ihm lieber gewesen wäre, von dem Geld hätte der größte Teil gefehlt. Lieber ein Raubmord als eine scheinbar so sinnlose Schießerei. „Fehlte sonst etwas?“ Bruns schüttelte zufrieden den Kopf. „Nein.“ „Läßt sich das mit Bestimmtheit sagen?“ „Mit hundertprozentiger Sicherheit natürlich nicht. Wir können nicht für jede Drucksache die Garantie übernehmen, aber die wesentlichen Poststücke waren vorhanden.“ „Was sind für Sie wesentliche Stücke?“ 59
„Das Geld zunächst, dann Einschreiben und die Arzneimittelproben.“ „Wieso Arzneimittelproben?“ Bruns sah ihn mit der Überlegenheit des Experten an. „In Randulkes Bezirk wohnen zwei Ärzte. Es ist üblich, daß Ärzte von der pharmazeutischen Industrie Arzneimittelproben anfordern. Die sogenannten Ärztemuster. Dabei kann es sich um harmlose Medikamente wie auch um gefährliche Mittel handeln. Wir führen über die Anzahl der Ärztemuster jeweils eine Strichliste.“ „Aus welchem Grund?“ „Vor längerer Zeit sind Rauschgiftsüchtige auf die Idee gekommen, sich bei einem unserer Zusteller zu bedienen. Es muß sich in den Kreisen etwas herumgesprochen haben. Zwar sind den Burschen nur harmlose Präparate in die Hände gefallen… Es ist auch bei drei oder vier Beraubungen geblieben… Trotzdem habe ich für meinen Bezirk diese Vorsichtsmaßnahme eingeführt. Schon um eine Selbstbedienung zu verhindern. Man soll die Leute nicht in Versuchung führen.“ „Sie wollen damit sagen, daß Ihre eigenen Leute…“ Bruns schnitt ihm mit einer energischen Handbewegung das Wort ab. Abwehrend spreizte er alle fünf Finger. „Das wollte ich damit nicht sagen!“ „Drücken wir es anders aus. Bei diesen Ärztemustern ist die Verlustquote allgemein außergewöhnlich hoch.“ 60
Bruns überlegte. „Nicht außergewöhnlich“, konstatierte er schließlich. „Es kommt nur immer prompt zu Reklamationen, wenn die Arzneimittel nicht eintreffen. Dem wollte ich einen Riegel vorschieben.“ „Tauchte bei diesen Reklamationen der Name Randulke besonders häufig auf?“ Das war ungeschickt gefragt. Aber bei Bruns brachten vermutlich auch geschickte Fragen keine befriedigenden Antworten. In seinem Amtsbezirk hatten keine Unregelmäßigkeiten vorzukommen. Wie er da hinter seinem Schreibtisch saß, war er ganz Wachsamkeit und Abwehr. „Es wäre immerhin denkbar“, sagte Katenkamp. „Der Mann hatte eine kranke Frau und daher möglicherweise ein besonderes Interesse an Arzneimitteln.“ „Nein“, sagte Bruns mit Entschiedenheit. „Ich kann dem Kollegen Randulke nur in jeder Hinsicht das beste Zeugnis ausstellen.“ „Keine dienstlichen Unregelmäßigkeiten?“ hakte Katenkamp nach. „Wir machen alle mal Fehler.“ Oberamtmann Bruns schwieg. Sein Schweigen drückte Beleidigtsein aus. „Verstehen Sie mich recht“, redete Katenkamp auf ihn ein, „es geht nicht darum, gegen den Mann noch nachträglich ein Disziplinarverfahren einzuleiten. Wir suchen zwei Mörder…“ Er wurde laut: „Solange wir die nicht haben, läßt sich der Wiederholungsfall nicht ausschließen. Bisher kennen wir nicht einmal das Motiv der Täter. Es liegt also 61
durchaus im Bereich des Möglichen, daß über Randulke hinaus die Post als Ganzes tangiert ist. Unter diesem Gesichtspunkt sollten wir auch Kleinigkeiten nicht außer acht lassen. Wenn Sie mir sagen, Randulke war der untadelige Beamte, dann muß ich Ihnen glauben.“ Er nahm die Lautstärke zurück. „Nur… Auch Kleinigkeiten können wichtig sein. Falls es solche Kleinigkeiten gibt…“ „Kleinigkeiten!“ Claus Bruns stieß die Luft durch die Nase. „Wo gibt es die nicht… Unser Kollege Randulke ist in letzter Zeit etwas langsamer geworden. Nützt Ihnen das nun etwas?“ „Er brauchte für seine Tour außergewöhnlich lange?“ „Nicht außergewöhnlich. Es bestand kein Grund, ihm deshalb Vorhaltungen zu machen. Es fiel eben einfach auf.“ „Ein Grund für diese - sagen wir mal - Verspätungen ist Ihnen nicht zu Ohren gekommen?“ „Nein. Es gab keinen Anlaß, dem nachzugehen. Noch nicht.“ Wenigstens stand Heinrich Randulke nun nicht mehr ganz so untadelig da. „Sie als Vorgesetzter“, sagte Katenkamp in versöhnlichem Ton, „hatten begreiflicherweise wenig Gelegenheit zu einem persönlichen Gespräch mit Randulke…“ „Das stimmt“, warf Bruns ein. „Könnten Sie mir jemand benennen, der besonders engen Kontakt zu ihm unterhielt? Wir wissen praktisch nichts über den Mann.“ Das stimmte 62
zwar nicht mehr uneingeschränkt, doch das wiederum brauchte Bruns nicht zu wissen. „Uns interessieren ganz private Dinge, mit denen man die Hinterbliebenen nicht gern belästigt. Schon gar nicht unter diesen besonderen Umständen.“ Zurückhaltung gegenüber Hinterbliebenen leisten wir uns sonst eigentlich weniger, dachte Katenkamp; Pietät ist in unserem Job nicht so gefragt. „Ja, soweit ich da über persönliche Freundschaften orientiert bin“, sagte Bruns bedächtig, „kann ich Ihnen höchstens empfehlen, mal mit dem Kollegen Werner Hochwind zu sprechen. Soviel ich weiß, bestand da so etwas wie eine Freundschaft.“ „Der Mann hält sich nicht mehr im Amt auf?“ „Um diese Zeit selbstverständlich nicht mehr.“ „Können Sie mir die Adresse geben?“ Oberamtmann Claus Bruns konnte. „Sie gestatten, daß ich eben mal telefoniere?“ Es war besser, den Tag noch zu nutzen und morgen vielleicht von einer ganz anderen Seite her an den Fall heranzugehen, als den Postzusteller Hochwind jetzt ungestört zu lassen und morgen dann doch nichts von ihm zu erfahren. Claus Bruns übernahm es, Hochwind anzurufen. „Ein Herr von der Kriminalpolizei möchte Sie sprechen. Vielleicht können Sie dem Herrn weiterhelfen. Ich übergebe.“ Er hielt Katenkamp den Hörer hin. Werner Hochwind erklärte sich sofort bereit, jede Auskunft über Heinrich Randulke zu geben. „Ich kann ja ins Präsidium kommen“, sagte er diensteif63
rig. „Macht mir gar nichts aus. Also, für Heinrich tu ich alles. Das war ein so feiner Kerl. Also, daß der sterben mußte, und dann auf die Art - nein! Also, wenn ich da was tun kann, dann tu ich das.“ Das in breitem Hamburgisch. Wenn es dem Mann Spaß machte, aufs Präsidium zu kommen, dann mochte er kommen. Es konnte auch nicht schaden, sich da selbst noch einmal sehen zu lassen. Katenkamp verabredete sich mit dem Briefträger Werner Hochwind für siebzehn Uhr im Präsidium.
5 Die Akte Randulke war während seiner Abwesenheit nicht angeschwollen. Katenkamp blätterte die wenigen Seiten durch. Er hätte ihnen jetzt den Tatortbefundbericht hinzufügen müssen. Das verlangte die Polizeidienstvorschrift. Er hatte nicht die Absicht, diese Vorschrift zu verletzen. Trotzdem spannte er den Bogen nur lustlos in die Schreibmaschine und begann entsprechend langsam zu tippen. Wer wurde am Tat- oder Fundort angetroffen. Der tote Heinrich Randulke und ein Haufen Neugieriger. Nur keine Augenzeugen des Vorfalls. Katenkamp nahm die Finger von den Tasten. Es war also möglich…? Offenbar ja. Der Zufall ist nicht immer auf Seiten der Polizei; er kann auch Tätern zu Hilfe kommen und ihnen ermöglichen, nach zwei Schüssen ungesehen das Weite zu suchen… Katenkamp ertappte sich dabei, wie er mit beiden Händen rhythmisch gegen die Seitenteile der 64
Schreibmaschine klopfte. Zwei Täter. Ein Täter handelt unter Umständen spontan. Zwei Täter treffen Vorbereitungen. Aber warum gehen sie das Risiko ein, die Tat am hellen Vormittag auszuführen? Es wäre einfacher gewesen, Randulke bei Dunkelheit aufzulauern oder ihn bei Nacht und Nebel vor die Haustür zu locken. Aus welchem Grunde entschieden sie sich nicht für dieses relativ risikolose Vorgehen? Weil es Dinge gab, die Randulke nach Dienstschluß nicht bei sich zu tragen pflegte? Ging man von der Hypothese aus, dann lag doch ein Raubmord vor. Unterstellte man das als wahr, blieb da immer noch die Frage nach dem Risiko. Welche Beute konnte so wertvoll sein, daß sie das Risiko einer Festnahme unmittelbar nach der Tatausführung rechtfertigte? Ein paar beherzte Männer hätten genügt, die Täter an der Flucht zu hindern… Na ja – angesichts der Bewaffnung der Täter hätten sich die Männer in Lebensgefahr begeben, korrigierte sich Katenkamp. Aber es hätte genügt, die Täter aus sicherer Entfernung bis zum Eintreffen eines Streifenwagens im Auge zu behalten… Nichts dergleichen war geschehen. Nicht zu ändern. Blieb die Frage nach der Beute. Was um alles in der Welt kann ein Briefträger bei sich tragen, das einen Mord unter so riskanten Umständen…? Nach Aussage von Oberamtmann Bruns fehlten keine postalischen Dinge. Soweit sich das feststellen ließ. Jemand will das Zustellen eines bestimmten Briefs mit allen Mitteln verhindern. Also auch mit Waffengewalt? Meinetwegen auch mit Waffenge65
walt, obwohl es eigentlich unvorstellbar ist. Erst recht unvorstellbar, daß er für sein solches Wahnsinnsunternehmen einen Mittäter findet. Oder gar erfordert… War Heinrich Randulke das Opfer einer Verwechslung geworden? Unmöglich. Einen uniformierten Briefzusteller kann man nicht verwechseln. Ein Klopfen an der Tür riß Katenkamp aus seinen Gedanken. „Herein.“ „Guten Tag… Hochwind.“ Werner Hochwind schob sich förmlich ins Zimmer. Der Mann mit dem runden Gesicht wog gut zwei Zentner. Knapp geschätzt. Er hielt die Prinz-Heinrich-Mütze mit beiden Händen vor den Bauch, über den sich ein marineblauer Troyer spannte. Werner Hochwind sah nach Hafen und Schauermann aus, nach Barkassenführer und Werftarbeiter, nur nicht nach Postbote. „Katenkamp. Bitte, nehmen Sie Platz.“ Werner Hochwind warf einen prüfenden Blick auf den angebotenen Stuhl. Dann nickte er befriedigt und setzte sich. „Ja, das ist ja man traurig“, sagte er. „Den Kerl möcht ich zu fassen kriegen.“ „Die Kerle. Es handelt sich mit ziemlicher Sicherheit um zwei Täter.“ „Was! Also nun…!“ Hochwinds Gesicht lief rot an. „Das darf nich wahr sein!“ Er walkte seine Mütze zwischen den Händen. „Lassen wir das mal beiseite“, sagte Katenkamp. „Sie sollen sich jetzt nicht aufregen, sondern mög66
lichst genau nachdenken. Nur damit können Sie uns eventuell helfen.“ „Das will ich wohl tun.“ „Ihr Vorgesetzter, Herr Bruns…“ „Ach, der. Was weiß denn der!“ Werner Hochwind strich sich über den kugelrunden Schädel und ließ die Hand dann auf den Oberschenkel fallen. „Der sollte mal eine Tour mitlaufen, dann wüßte der vielleicht ein bißchen Bescheid. Aber so…“ „Können Sie sich vorstellen, daß Herr Randulke Feinde hatte?“ „Aber der doch nich! Ein gutmütiger Mensch wie der doch nich… Der Heinrich, der hat immer mehr getan, als er mußte.“ „In welcher Hinsicht denn?“ Wie konnte ein Briefzusteller mehr tun als das, was er muß? Werner Hochwind hustete. Sein Gesicht lief rot an. „Entschuldigung“, keuchte er. „Erkältung ist Berufskrankheit bei uns…“ Er sah Katenkamp aus seinen kleinen Augen belustigt an. „Glauben Sie wohl nich? Glaubt keiner. Stimmt aber. Sehn Sie, wir kommen ja leicht ins Schwitzen. Haben Sie schon mal einen von uns im Mantel gesehen?“ „Nein“, gab Katenkamp zu. Es war wohl klüger, dem Mann eine Weile zuzuhören. Leute wie Hochwind muß man reden lassen, sonst reagieren sie beleidigt und sagen nichts mehr. „Heute, mit unseren Karren“, fuhr Hochwind fort, „is ja alles ‘n bißchen leichter geworden. Wir brauchen nich mehr so viel zu schleppen. Trotzdem schwitzt man 67
noch ganz schön. Manche wollen die Post ja ganz nach oben gebracht haben. Sind wir ja nich zu verpflichtet, ja? Briefkästen sind Vorschrift. Denn wohnen da aber manchmal ältere Leute oder Kranke. Da is man dann auch nich so. Außerdem muß man mit den Einschreiben und so dann doch hoch. Ja, und wenn man dann so richtig durchgeschwitzt ist, dann steht man da und wartet auf den Bus und so, hinterher… Denn passiert das ja dann meistens.“ „Herr Randulke war also besonders gefällig, wenn es darum ging, mal Briefe in die oberen Stockwerke zu bringen?“ Nun nahm auch Hochwind den roten Faden hoffentlich wieder auf. „Der besonders. Bei seiner kranken Frau, da wußte er doch, was es heißt, behindert zu sein.“ „Kann ich verstehen“, sagte Katenkamp. „Weil wir gerade dabei sind: Die Frau stellte ja wohl eine ziemliche Belastung für ihn dar?“ „Das kann man wohl sagen. Trotzdem hat er nie geklagt. Das war nich seine Art.“ Werner Hochwind unterstrich die Aussage durch das Erheben des rechten Zeigefingers. „Wie ist er denn als Mann damit fertig geworden?“ fragte Katenkamp. Schließlich schien es da eine Frau zu geben. „Alles, was Sie hier sagen, wird selbstverständlich vertraulich behandelt“, setzte er hinzu. „Wir wollen hier keinem nachträglich was am Zeuge flicken. Andererseits wäre es ja nur verständlich, wenn er sich in seiner Lage… Sie in Ihrem Beruf sollen ja so manchen Versuchungen ausgesetzt sein.“ Eine schlecht 68
formulierte Frage. Katenkamp sah auf die Uhr. Hoffentlich nutzte Hochwind das Stichwort nicht, um sich über das außereheliche Sexualverhalten des deutschen Briefträgers zu verbreiten. „Das wird immer übertrieben.“ Hochwind zwinkerte Katenkamp zu. „Natürlich macht einem schon mal eine Frau in leichtbekleidetem Zustand die Tür auf. Will ich gahnich abstreiten. Manche denken sich nichts dabei. Manche eine ganze Menge. Da kommt es denn darauf an, wie man reagiert. Das hängt von einem selbst ab.“ „Wie hätte Herr Randulke denn reagiert?“ „Darüber kann ich nun nix sagen.“ „Wirklich nicht?“ Es war an der Zeit, die Fragen etwas direkter zu stellen, sonst faßte der Mann die Befragung nur als gemütlichen Plausch auf. „Mir scheint, daß Randulke zumindest in einem Falle nicht ganz so abweisend reagiert hat.“ „Ja, wenn Sie’s denn schon wissen…“ Hochwind setzte eine beleidigte Miene auf. „Ich möchte gern Ihre Version hören.“ Gar nichts weiß ich, dachte Katenkamp. „Er hatte also eine Freundin.“ „So genau kann man das nich sagen.“ „Was wissen Sie darüber?“ Die Betonung lag auf dem Sie. Zeugen müssen das Gefühl haben, nur noch aus Gründen der Kontrolle anderer Aussagen befragt zu werden, dann kommen sie am ehesten mit der Wahrheit über. Werner Hochwind senkte den Kopf. „Das war wirklich nich einfach für ihn. Wir haben darüber 69
mal ausführlich gesprochen.“ „Worüber?“ „Über die ganze Geschichte.“ „Erzählen Sie mal. Wie hat er die Frau kennengelernt?“ Nun kamen die gezielten Fragen. „Sie wohnte in seinem Bezirk.“ „Wohnte?“ „Später ist sie in eine bessere Gegend gezogen.“ Ich wohne also in keiner besseren Gegend, dachte Katenkamp. „Wohin?“ „Nach Klein-Flottbek.“ „Wo da?“ „Baron-Voght-Straße.“ Wirklich eine bessere Gegend. Zwischen Jenischpark und Reitturnierplatz. „Hat er Ihnen gegenüber auch den Namen der Frau erwähnt?“ Nun konnte Hochwind davon ausgehen, daß Randulke den Namen anderen Leuten gegenüber erwähnt hatte. „Warten Sie mal…“ Hochwind überlegte. „Unsereiner hört so viele Namen. Na.“ Er schnippte mit den dicken Fingern. „Der fällt mir wieder ein. Uta mit Vornamen. Das weiß ich bestimmt. Ich komme noch drauf. Er hat den Namen erwähnt. Sonst sprach er nur von Uta.“ „Lassen wir das mal im Augenblick.“ Mit Uta allein ließ sich wenig anfangen. Trotzdem genügte das möglicherweise schon. So viele Utas gab es in der Baron-Voght-Straße wohl nicht. Half das Adreßbuch nicht weiter, dann schaltete man eben das Einwohnermeldeamt ein, und notfalls klapperte 70
man eben die verdammte Straße ab. „Was hat er denn an ihr gefunden?“ „Das is ganz merkwürdig“, sagte Werner Hochwind. „Deshalb hat er auch mit mir darüber gesprochen. Wissen Sie, die beiden paßten eigentlich gahnich zusammen. Sie war viel zu fein für ihn. So elegant, nich.“ „Sie haben die Frau mal gesehen?“ „Nein, nie.“ „Dann sind das also Randulkes Worte?“ „Ja, genau.“ Hochwind nickte eifrig. „Der Heinrich wußte gahnich, wie er zu der Ehre kam.“ „Daraus resultierte dann ein Gefühl der Unterlegenheit?“ Man soll Zeugen nichts in den Mund legen, dachte Katenkamp. „Unterlegenheit, das is das richtige Wort“, pflichtete Hochwind ihm bei. „Heinrich fühlte sich da anfangs gahnich so sehr wohl in seiner Haut. Die Frau hätte ganz andere Männer haben können, sagte er sich immer. Dann kam noch sein schlechtes Gewissen dazu. Er war ziemlich durcheinander, als er mit mir darüber sprach.“ „Wie lange ist das her?“ „Ein Jahr ungefähr. Ja, fast genau ein Jahr.“ „Später ist er nicht mehr darauf zurückgekommen?“ „Er nich. Aber ich. Man erkundigt sich ja manchmal, wie das denn so läuft.“ „Wie lief es denn?“ „Da wollte er nich so richtig mit der Sprache ‘raus. Es lief jedenfalls noch. Letzte Woche noch. 71
Also, wenn Sie mich fragen, die Frau hatte ihn regelrecht eingewickelt. Werner, hat er zu mir gesagt, letzten Dienstag war das, Werner, das nimmt kein gutes Ende! Ich komm da nich wieder ‘raus.“ „Wie hat er das gemeint?“ Werner Hochwind legte den Kopf schief und sah zur Zimmerdecke hinauf. „Darüber hab ich auch schon nachgedacht.“ „Mit welchem Ergebnis?“ Es folgte eine längere Pause. Der massige Mann fuhr sich mit der Zunge über die dicken Lippen; dann rieb er sie mit dem Daumen wieder trocken. Schließlich sagte er: „Der Heinrich hat bei der so seinen zweiten Frühling erlebt. Na, und dann noch die besonderen Umstände. Das hätte jedem von uns passieren können. Ich meine, als Briefträger stellt man ja nich viel dar. Mag man manchmal gar nich sagen, daß man bloß Post austrägt. Und dann kommt da so eine tolle Frau, und… Das is ‘n bißchen wie ‘ne andere Welt, ja? Da braucht einer gahnich besonders anfällig zu sein - Sie verstehn, was ich meine?“ Mit dieser Frage beschloß er seine Ausführungen. Für Werner Hochwind stellten diese wenigen Sätze jedenfalls bereits Ausführungen dar. „Ich will mich da gahnich ausnehmen“, fügte er hinzu. „Inzwischen bin ich ‘n bißchen ruhiger geworden. Aber damals, als ich noch im Hafen gearbeitet hab… Da wurde ja auch ganz anderes Geld verdient. Ich konnt das nachher bloß nich mehr.“ Schön und gut. Nur, wie paßte Randulkes Satz 72
„Das nimmt kein gutes Ende!“ in das Bild vom zweiten Frühling? Fürchtete er, seine kranke Frau würde sich von dem Schock nicht erholen, betrogen worden zu sein? „War Randulke dieser Frau sexuell hörig?“ Mit der Frage war Hochwind überfordert. Er atmete tief ein und ließ die Luft langsam durch die Nase entweichen. „Gott, das kann man vielleicht auch so sagen“, murmelte er. „Obwohl…“ Er zuckte die Achseln. Über die Intensität ihrer Beziehung zu Heinrich Randulke mochte diese Uta Auskunft geben. Sofern sie existierte und ausfindig zu machen war. „Verfügte Randulke über außergewöhnlich große Geldbeträge? Anders ausgedrückt: Leistete er sich Dinge, die seinem Gehalt eigentlich nicht entsprachen? Es muß sich nicht gleich um Luxus gehandelt haben.“ „Wo Sie danach fragen…“ Hochwind wiegte den Kopf. „Aufgefallen ist mir da schon das eine oder andere.“ „Zum Beispiel?“ So wenig erschöpfend Hochwinds Auskünfte auch waren, in Umrissen ergab sich aus ihnen ein Bild, das Heinrich Randulke nicht mehr als den vorbildlichen Ehemann erscheinen ließ. Ergänzt um die mageren Hinweise des Sohnes… Konnte es da etwas geben, was ausreichte, um einen Mann zu erschießen? „Mir fiel auf, daß Heinrich gern Taxi fuhr.“ „So?“ Stellen Taxifahrten für einen Briefzusteller bereits eine ungewöhnliche Ausgabe dar? Unter 73
den Bedingungen der finanziellen Existenz Randulkes wohl doch. „Haben Sie ihn darauf mal angesprochen?“ „Ja. Er meinte, weil er kein eigenes Auto hat, gönnt er sich manchmal ein Taxi. Von den Trinkgeldern. Er war dann auch schneller bei seiner Frau.“ „Ein Taxi bis nach Sasel? Gibt es denn so viel Trinkgeld?“ „In meinem Bezirk nich.“ „Haben Sie ihn öfter in ein Taxi steigen sehen? Und wo?“ „Viermal vielleicht. Gleich beim Amt um die Ecke is ‘n Taxenstand.“ Das vereinfachte die Sache etwas. Vermutlich hatten an dem Taxenstand einige Fahrer ihren Stammplatz und erinnerten sich an den Briefträger. War Randulke nach Sasel gefahren? Katenkamp zweifelte mittlerweile daran. „Mehr leistete er sich nicht?“ „Mal ‘ne tolle Armbanduhr.“ Die hatten wir schon, dachte Katenkamp. Kann sich um ein Geschenk der Frau gehandelt haben. „Das wär’s dann wohl“, sagte er. „Oder ist Ihnen sonst was Außergewöhnliches aufgefallen? Sollten Sie noch was hören… Man spricht bei Ihnen ja wohl über den Mord.“ Im Augenblick brachte es nichts, den Mann noch weiter auszuquetschen. Diese Uta versprach, entschieden lohnender zu werden. Werner Hochwind rieb sich verlegen die Hände. 74
„Aufgefallen nun nich. Jetzt sieht das alles anders aus. Er wirkte in letzter Zeit ein bißchen bedrückt. Wie ich schon sagte. Nun weiß ich auch wieder, was er genau gesagt hat: ,Wenn das alles mal rauskommt, dann kann ich mich aufhängen.’ „Machte er öfter solche Sprüche?“ „Nein, das war absolut nich seine Art.“ Also war mit Randulke in letzter Zeit eine Veränderung vor sich gegangen. Daraus ließ sich aber allenfalls ein Indiz für eine gewisse Unordnung in seinem Privatleben ableiten, nur eben kein Motiv für seine Ermordung. „Ich danke Ihnen“, sagte Katenkamp. „Sie haben uns doch ziemlich geholfen.“ Werner Hochwind erhob sich. „Was ich noch fragen wollte: Wie steht es denn mit Zeugengeld?“ „Zeugengeld gibt es nur bei Gerichtsverhandlungen. Und auch dann nur, wenn Sie einen Verdienstausfall nachweisen können.“ „Ach so.“ Enttäuscht verließ Hochwind den Raum. Katenkamp holte sich das Adreßbuch. Niemand sprach ihn an, als er den Nebenraum mit dem dicken Buch wieder verließ. Polizeiarbeit ist Teamarbeit, dachte er. Nur mich lassen sie mit diesem Fall ziemlich allein. Kein gutes Zeichen. Sie scheinen die Sache schon abgeschrieben zu haben und wollen an der Blamage nicht beteiligt sein. Es gibt sehr subtile Formen, einen mehr oder weniger hängenzulassen. In der Baron-Voght-Straße wohnten laut Adreßbuch zwei Utas. Eine Uta Brinkmann, von Beruf Studienrätin im Ruhestand. Das 75
ließ auf ein Alter jenseits der Sechzig schließen. Damit kam sie als Randulkes Freundin kaum in Frage. Trafen Hochwinds Angaben einigermaßen zu, dann hatte man sich um eine Uta Schlandorf zu kümmern. Das Adreßbuch enthielt keine Berufsangabe. Auch aus dem Telefonbuch ging nicht hervor, wovon die Frau lebte. Katenkamp notierte sich ihre Telefonnummer. Es konnte nicht schaden, sie parat zu haben, obwohl er im Augenblick nicht vor hatte, sie anzurufen. Baron-Voght-Straße, das bedeutete für ihn einen gewaltigen Umweg. Er würde es nicht schaffen, einigermaßen pünktlich nach Hause zu kommen. Erika anrufen und Jonathan wenigstens am Telefon gute Nacht sagen? Ein vernünftiger Gedanke. Bis er nach Stellingen in die Jütlander Allee kam, lag Jonathan im Bett. Ob Erika mit dem Essen wartete? Sie brauchte nicht zu warten. Es war zwischen ihnen so ausgemacht. Die Frau eines Kriminalkommissars muß immer darauf gefaßt sein, daß ihr Mann spät nach Hause kommt. Heute würde es wohl nicht zu spät werden. Im Mordfall Randulke gab es keine heiße Spur. Es gab niemand, der zu observieren und mitten in der Nacht festzunehmen war. Der Besuch bei Uta Schlandorf gehörte zur Routine. Am besten brachte er ihn gleich hinter sich, um morgen… Um morgen, was? Er hatte nicht das Gefühl, daß der Besuch bei der Frau ihn weiterbringen würde. Auf dem Wege zu ihr kamen ihm keine neuen 76
Erkenntnisse, wie weiter zu verfahren war. Falls nicht noch ein Augenzeuge auftauchte, drohte der Fall sehr schnell im Sande zu verlaufen. Die Täter waren, ohne verwertbare Spuren zu hinterlassen, ungesehen entkommen. Der Lebenswandel des Opfers wies keine besonders dunklen Flecken auf. Die besten Voraussetzungen, um eine Aufklärung so gut wie unmöglich zu machen. Je länger er darüber nachdachte, desto pessimistischer wurde er. Die Beziehung zwischen Randulke und der Schlandorf würde sich als ein harmloses Bumsverhältnis herausstellen. Vermutlich war die Schlandorf häßlich wie die Nacht und mußte froh sein, daß wenigstens ein Mann wie Randulke in seiner besonderen Situation noch etwas an ihr gefunden hatte. Sie revanchierte sich gelegentlich mit einigen Geschenken oder auch ein bißchen Bargeld. Na und? Dergleichen kam eben vor. Vorsichtshalber wollte er zuerst bei dieser Uta Brinkmann vorbeischauen. Sie wohnte in einem der gepflegten Häuser an der Ecke zur Wilhelmistraße. Zweiter Stock. Katenkamp läutete. Es dauerte geraume Zeit, bis die Haustür mit einem unangenehmen Summen aufsprang. Uta Brinkmann erwartete ihn hinter der spaltbreit geöffneten Wohnungstür. Die Sicherheitskette spannte sich in Schlüsselbeinhöhe über dem geblümten Hauskleid der alten Dame. Katenkamp wußte sofort, daß er falsch war. „Ja, Sie wünschen?“ Mißtrauen mischte sich mit Furcht. Es wäre nicht unklug gewesen, sich mit einer Entschuldigung wegen eines falsch gedrück77
ten Klingelknopfs wieder zu entfernen. Aber damit weckte er das Mißtrauen der pensionierten Studienrätin erst recht und bereitete ihr möglicherweise eine schlaflose Nacht. Alte Damen rechnen ohnehin schon immer mit Einbrechern; wieviel mehr, wenn bei ihnen abends jemand im Treppenhaus herumgeistert. Er zog seine Dienstmarke hervor. „Kommissar Katenkamp. Ich habe nur eine Frage.“ „Ja, bitte?“ Die Sicherheitskette verschwand trotzdem nicht. „Kennen Sie zufällig einen Heinrich Randulke?“ „Nein. An den Namen kann ich mich nicht erinnern. Handelt es sich um einen ehemaligen Schüler von mir?“ „Wohl kaum. Der Mann war Briefträger.“ „Randulke, wenn ich Sie recht verstanden habe? Klingt so ostpreußisch. Den Namen hätte ich mir bestimmt gemerkt. Meine Mutter war Ostpreußin,“ „Dann entschuldigen Sie bitte die Störung. Es handelt sich nur um eine Routineangelegenheit. Wir müssen die Frage, einer ganzen Reihe von Personen stellen. Ich weiß auch nicht, wie Sie auf die Liste gekommen sind“, log er. „Nichts für ungut.“ „Tut mir leid, daß ich Ihnen nicht helfen kann.“ „Macht nichts. Guten Abend.“ Uta Schlandorf wohnte am anderen Ende der Straße zur Elbe hin. Uta Schlandorf war nicht zu Hause. Jedenfalls öff78
nete ihm auf sein zweimaliges Läuten hin niemand. Sich bei Hausbewohnern nach der Frau erkundigen? Rechtfertigte ihr Verhältnis zu Randulke das? Es hing davon ab, welche Fragen er stellte. Es lag nicht in seiner Absicht, Hausbewohner über den Fall zu informieren. Hausbewohner kann man mit einer harmlosen Erklärung abspeisen. Eine Erkundigung nach einer Mitbewohnerin braucht nicht in Rufschädigung auszuarten. Er läutete bei Dr. S. Krankel. Nachdem er sich ausgewiesen hatte, erhielt er eine typische Großstadtantwort: „Nein, wir kümmern uns so gut wie gar nicht um unsere Nachbarn“, beschied ihn der Mittdreißiger mit der beginnenden Stirnglatze. Bedauernd hob er die schmalen Schultern unter dem weiten Pullover. Typisch, dachte Katenkamp. Aber um wen kümmern wir uns denn? Kenne ich alle Hausbewohner in der Jütlander Allee? Nein. Von Kontakt zu ihnen ganz zu schweigen. „Danke. Es handelt sich um eine Routineangelegenheit. Sie brauchen Frau Schlandorf nicht zu beunruhigen, falls Sie ihr zufällig begegnen.“ Ob Uta Schlandorf über Randulkes Tod überhaupt schon informiert war? Wer hätte sie davon in Kenntnis setzen sollen? Er war etwas erleichtert, daß er es nicht war, der ihr die Nachricht zu überbringen hatte. Wenn er morgen wieder bei ihr auftauchte, wußte sie vielleicht schon Bescheid. Wie hatte die Verständigung zwischen den beiden ü79
berhaupt funktioniert? Telefonisch, wie sonst schon. Da sie in Sasel nicht anrufen durfte, würde er sich wohl bei ihr gemeldet haben. Nun meldete er sich nicht mehr. Es war eine Frage der Zeit, dann stellte sie Nachforschungen an, weshalb sie nichts mehr von ihm hörte. Oder sie las morgen über Randulke in der Zeitung. Auch wenn die den Namen nicht nannten, würde sie Bescheid wissen. Ein Mord in der Jütlander Allee. Ein Briefträgermord. Da rastete bei ihr etwas ein. Jütlander Allee, das war sein Bezirk. Vielleicht meldete sie sich dann bei der Kripo, um etwas zu Protokoll zu geben.
6 „Du bist spät dran“, sagte Erika Katenkamp. Er strich ihr über die Haare. „Es hätte schlimmer kommen können.“ „Noch schlimmer?“ Sie sah ihn mißmutig an. „Ich finde es schon schlimm genug.“ Verärgert drehte sie den Kopf zur Seite. Früher war es anders zwischen uns, dachte er. Es ist ein Unterschied, ob man sich zweimal in der Woche sieht oder ob man verheiratet ist. „Dienst ist Dienst“, sagte er lakonisch. „Ich weiß.“ Sie nahm den Deckel von der Bratpfanne. „Wenigstens sind die Frikadellen nun bestimmt gar.“ Als sie einander beim Essen gegenübersaßen, sagte sie: „Entschuldige. Ich freu mich eben doch drauf, daß du nach Hause kommst. Vielleicht verliert sich das 80
ja mal.“ „Hoffentlich nicht“, sagte er kauend. „Ich kann mich ja ein bißchen umhören, wie es bei den Kollegen aussieht.“ „Was gehen uns die Kollegen an! Wir führen unsere Ehe.“ Nach einer Pause. „Es geht um diesen Briefträger?“ „Ja. Meinen ersten richtigen Fall hätte ich mir auch anders vorgestellt. Einstweilen existieren nicht mal brauchbare Spuren.“ „Den Brief für dich hat er noch eingeworfen“, sagte sie und griff hinter sich zum Sideboard. Dann reichte sie ihm einen weißen Briefumschlag. „Ja, es ist auf der anderen Straßenseite passiert. Von uns aus hätte man es gut sehen können. Leider hat es niemand gesehen.“ Er las die Anschrift: Herrn Kriminalkommissar Gernot Katenkamp. Der Brief trug keinen Absender und war am Vortag in Hamburg abgestempelt worden. „Stört es dich, wenn ich ihn schon mal lese?“ „Lies nur. Ich hol inzwischen den Nachtisch.“ „Was mit Joghurt?“ fragte er spöttisch. „Ausnahmsweise nicht. Ich kenne auch Rezepte ohne Joghurt.“ Sie verließ das Zimmer. Er leckte die Gabel ab und fuhr mit einer Zinke unter den Klebefalz. Kein besonders teures Papier, dachte er. Ausgesprochene Kaufhausware. Der Umschlag enthielt ein gefaltetes DIN-A5-Blatt. Der Bogen war von einem Schreibblock heruntergerissen worden. Am oberen Rand trug er noch Leimspuren. 81
Katenkamp faltete das weiße Blatt auseinander. Die beiden Sätze waren in großen, ungelenken Buchstaben mit Kugelschreiber geschrieben worden. Laß die Finger von dem Fall. Sonst passiert Deinem Sohn was! Er überflog die Sätze ein zweites Mal. Die Drohung war deutlich. Nein, so deutlich auch wieder nicht. Von welchem Fall sollte er die Finger lassen? Von dem Fall Randulke? Den hatte es gestern noch gar nicht gegeben. Und Jonathan war nicht sein Sohn. Er hieß Jonathan Bodenstedt und stammte aus Erikas Ehe mit Herrn Bodenstedt. „Was ist denn los?“ fragte Erika. „Du siehst so anders aus.“ Sie setzte die Puddingschüsseln ab und beugte sich zu ihm hinüber. „Ist dir nicht gut?“ „Ich weiß noch nicht.“ Gehörte es zu seinem Beruf, von Zeit zu Zeit solche Briefe zu erhalten? „Komische Antwort.“ Er zögerte einen Augenblick, dann reichte er ihr den Brief. Zu seinem Erstaunen reagierte sie zunächst völlig gelassen. „Wie ernst muß man so was nehmen?“ fragte sie. Dabei hielt sie das Blatt gegen die niedrig hängende Lampe über dem Tisch, als könnte der Bogen noch eine zusätzliche Mitteilung enthalten. Ich weiß nicht, wollte er antworten. Meine Erfahrungen mit Drohbriefen beschränken sich auf dieses eine Schreiben… „Solche Briefe sind unterschiedlich zu bewerten“, sagte er. „Manchmal steckt absolut nichts dahinter. Verrückte oder Wichtigtuer. Andere meinen es ernst. Bevor man 82
den Absender nicht kennt, läßt sich das nicht sagen.“ Sie blieb immer noch ruhig. „Wie groß sind die Aussichten, den Absender zu ermitteln?“ „Schwer zu sagen. Bei so vagen Hinweisen…“ Sie stieß den Löffel in den hellbraunen Pudding. „Man will Jonathan etwas antun. Für mich ist das keineswegs vage“, sagte sie mit erhobener Stimme. Er kannte diesen Tonfall und nannte ihn ihren Lehrerinnenton. Gleich würde sie in einer etwas höheren Stimmlage fortfahren, und das würde dann leicht dozierend klingen. „Was willst du nun unternehmen?“ fragte sie. „Solche Vorfälle behandelt man bei euch höchstwahrscheinlich nach einem bestimmten Schema.“ Ja, höchstwahrscheinlich, überlegte er. Mal sehen, wie Klapprodt reagiert. Möglich, daß jeder im Dezernat ein Dutzend solcher Briefe vorweisen kann und daß man sie kaum noch zur Kenntnis nimmt. „Morgen früh…“ Sie unterbrach ihn. „Morgen früh geht Jonathan zunächst mal nicht zur Schule. Und ich auch nicht. Ich könnte keine Stunde lang unterrichten, wenn ich damit rechnen müßte, daß hier in der Zwischenzeit etwas passiert. Ich verlange Bewachung für den Jungen.“ Sie hatte den Pudding zu einem braunen Brei zerrührt. Bewachung für ein Kind. Dafür stellten die bestimmt nicht einen einzigen Mann ab, geschweige denn drei, wie es eine Bewachung rund um die Uhr erfordert. „Kannst du ihn nicht mit in deine Schule nehmen? Dann ist er wenigstens unter deiner 83
Aufsicht.“ „Ausgeschlossen. Wie soll ich das den Kollegen erklären? Außerdem bin ich bestimmt kein nennenswerter Schutz für ihn.“ Das stimmte, obwohl sie als Sportlehrerin… „Kann Jonathan nicht ein paar Tage bei seinem Vater wohnen?“ „Das könnte dem so passen!“ sagte sie scharf. Sie nahm den Brief wieder auf und studierte mit zusammengekniffenen Augen die beiden Sätze. „Vielleicht ist es genau das, was er will.“ „Du meinst…?“ „Aus der Schrift läßt sich gar nichts ersehen. Die ist sowieso verstellt. Außerdem wäre er nicht so dumm, den Brief selbst zu schreiben. Damit kann man jemand beauftragen.“ „Um gleich einen Mitwisser zu haben?“ warf er ein. Es lag nahe, bei diesem Brief an Jonathans Vater zu denken; zugleich war der Gedanke absurd. Einen verschwundenen Jonathan suchte man bei seinem Vater zuerst. „Ruf ihn an“, sagte er. „Auf gar keinen Fall. Damit spielen wir ihm nur Pluspunkte zu. Er kann damit kommen, daß Jonathan bei uns nicht sicher ist. Und dann kann kein Mensch vorhersagen, wie ein Familienrichter entscheidet… Ich verlange, daß sich die Polizei damit beschäftigt.“ „Die sich sofort mit seinem Vater in Verbindung setzt“, erwiderte er. „Laß uns bis morgen warten. Ihr bleibt zu Hause, und ich nehme die Sache in die 84
Hand. Das scheint mir im Augenblick am vernünftigsten zu sein.“ „Warum mußte ich auch einen von der Kripo heiraten?“ seufzte sie. Gleichzeitig schob sie ihm ihre Hand über das Tischtuch entgegen. Katenkamp ergriff sie. „Ja, warum wohl?“ Er lächelte. „Schon gut…“ Sie blieb ernst. „Solches Geschreibsel regt einen zunächst mal auf. Ich wurde mal wochenlang mit anonymen Anrufen bombardiert, ohne überhaupt zu wissen, worum es sich handelt. Schließlich sind wir auf die hysterische Mutter einer Schülerin gestoßen. Sie wollte mich dazu bringen, die Schule zu wechseln, weil ich ihre Tochter angeblich ungerecht behandelt habe.“ „Trotzdem müssen wir was unternehmen“, sagte er und drückte ihre Hand. „Jonathan kann nicht ewig zu Hause bleiben.“ „Auf welchen Fall spielen die an?“ fragte sie. „Wie kommst du auf die?“ „Einer allein kann eine Kindesentführung kaum bewerkstelligen.“ „Von Entführung ist keine Rede. Und auf welchen Fall da angespielt wird, kann ich beim besten Willen nicht sagen. So was können überhaupt nur Idioten schreiben. Als ob es von mir abhinge, die Hände von einem Fall zu lassen oder nicht. Dann würde ich zuerst die Hände von diesem Fall Randulke lassen.“ „Schwierig?“ fragte sie. „Schlimmer. Völlig undurchsichtig.“ Er begann 85
lustlos den Pudding zu essen. „Morgen früh müssen wir uns mit Jonathan unterhalten“, sagte er zwischen zwei Löffeln. „Normalerweise beobachtet man sein Opfer eine Weile, ehe man zuschlägt.“ „Ob ihm was aufgefallen ist?“ Erika Katenkamp versuchte gelassen zu bleiben. „Kinder beobachten manchmal sehr scharf.“ Er war ihr dankbar, daß es ihr gelang, sich so zu beherrschen. Jonathan durfte nichts passieren. Sie hatte um den Jungen gekämpft, und bevor sie heirateten, spielte Jonathan in ihren Gesprächen eine wichtige Rolle. Sie selbst hatte Katenkamp auf die Schwierigkeiten hingewiesen: Vom Junggesellen zum Ehemann und Stiefvater - der Schritt will überlegt sein. Trotzdem hatte er ihn getan und noch nicht bereut. Jonathan lehnte ihn nicht ab, und die Vergleiche zwischen dem richtigen Vater und ihm fielen in letzter Zeit öfter zugunsten „Gernots“ aus, wie der Junge ihn nannte. ,Ja, Kinder beobachten manchmal sehr scharf, pflichtete er ihr bei. „Man darf ihnen nur nichts in den Mund legen. Sie können ziemlich viel Phantasie entwickeln.“ Sie lächelte ihn über den Tisch hinweg an, dann bildete sich über ihrer Nasenwurzel wieder eine senkrechte Falte, die ihm den Stimmungswechsel signalisierte. „Am Ende nehmen eure weiblichen Kripobeamten ihn noch in die Mangel“, sagte sie ungehalten. „Das läßt sich hoffentlich vermeiden.“ Er war nicht sicher, ob Jonathan wirklich völlig ungescho86
ren davonkommen würde. „Vielleicht überläßt man mir das.“ Ausnahmsweise, wollte er hinzusetzen. Er gehörte zur Mordkommission, und für Fälle wie diesen hier war garantiert ein anderes Dezernat zuständig. Da drohten Kompetenzüberschneidungen. Obwohl es vernünftig wäre… Was ist schon vernünftig, dachte er. „Versuch, das Beste daraus zu machen… Ich bin ein bißchen durcheinander.“ Ich auch, dachte er. Vorsichtig nahm er den Brief und den Umschlag auf und legte beides in seine Brieftasche. Vor dem Einschlafen fragte sie: „Hab ich mich sehr albern benommen?“ „Quatsch!“ Er drückte das Kopfkissen flach und sah zu ihr hinüber. „Jedenfalls hast du nicht hysterisch reagiert. Ich weiß, daß du nicht dazu neigst, aber…“ „Es kann sich ja auch um einen albernen Scherz handeln.“ „Es kann sich um vieles handeln“, antwortete er. „Wir werden sehen.“ Jonathan nahm einen großen Schluck von seinem Kakao. Um den Mund bildete sich ein hellbrauner Rand. Er wischte ihn mit dem Handrücken ab und leckte die verschmierte Hand sauber. „Du, wir müssen mal miteinander reden“, sagte Katenkamp. Über den Frühstückstisch hinweg sah er den Jungen freundlich an. Er gefiel ihm, wie er in dem Schlafanzug mit dem Bärenmuster vor ihm saß und sich bemühte, manierlich zu essen. Jona87
than biß in den Toast und sagte mit vollen Backen: „Man los. Was liegt denn an?“ „Ihr spielt doch unten auf der Straße?“ „Keine Angst, ich paß schon auf die Autos auf.“ „Glaub ich dir. Wenn ihr so spielt, mischen sich da manchmal Erwachsene ein?“ „Nicht richtig. Nein, die kümmern sich nicht um uns. Nur die eine Frau, die mit ihrem Hund, die hat Angst um ihren Köter. Dem tun wir aber nichts.“ Erika kam aus dem Bad in die Küche. Sie hatte den Morgenmantel eng um den Körper gezogen, und es fiel ihm einen Augenblick lang schwer, sich auf Jonathan zu konzentrieren. „Das ist kein Köter“, sagte sie, „sondern ein Beagle.“ „Lenk ihn jetzt nicht ab“, murmelte Katenkamp. „Mir doch egal“, sagte Jonathan. „Von mir aus ein Biegel. Die Alte soll sich nicht so haben.“ Zu Katenkamp: „Noch was?“ „Ja. Beobachten euch da manchmal Leute beim Spielen? Männer vielleicht?“ „Du meinst, ob die uns anquatschen? Ich geh mit keinem mit. Hab ich doch versprochen.“ „Davon ist jetzt nicht die Rede. Steht da jemand ‘rum und beobachtet euch bloß?“ „Kann ich nicht sagen. Wir spielen.“ Jonathan schob die Hände unter das Oberteil des Schlafanzugs und beulte es vor der Brust aus. „Es hat dich also in letzter Zeit niemand angesprochen oder sich sonst um dich gekümmert?“ „Wie soll ich denn das wissen? Gestern hat mich 88
einer gefragt, ob ich mal zum Automaten gehen und für ihn Zigaretten ziehen kann.“ „Hast du’s getan?“ fragte Katenkamp schnell. Auch eine Möglichkeit, dachte er, ein Kind von seinen Spielkameraden zu separieren. Man trennt es von der Gruppe und läßt es am Zigarettenautomaten von einem Komplicen in Empfang nehmen. Dann kann der Mittäter sogar bei den Kindern bleiben und sich später an der Suche beteiligen… Ein riskantes Spiel zwar, doch möglicherweise das erfolgversprechendste. Jonathan schüttelte den Kopf. „Ich hab gesagt, ich hab keine Zeit.“ „Kanntest du den Mann?“ fragte er. „Ich glaub schon. Der wohnt hier irgendwo und bastelt dauernd an seinem Auto ‘rum. Ist aber auch eine böse Mühle. Wie er mich gefragt hat, war was mit seinem Auspuff.“ „Der wohnt bestimmt hier?“ vergewisserte sich Katenkamp. „Was hat er denn für einen Wagen?“ „Ach, so einen alten Opel mit grünen Seitenstreifen. Die sind ganz schlecht drangemalt. Könnt ich besser.“ „Der Wagen steht hier manchmal in der Nähe“, sagte Erika. Damit kam der Mann als möglicher Täter kaum in Frage. Trotzdem würde man ihn wohl überprüfen müssen. Jonathan sah auf die Küchenuhr. „Warum sind wir heute überhaupt so früh aufgestanden? Ich 89
muß noch lange nicht zur Schule.“ „Aber ich muß zum Dienst“, sagte Katenkamp. „Dann geh doch. Willst du wieder Mörder fangen? Sieh mal zu, daß du den von dem Briefträger kriegst!“ „Mal sehn, was sich tun läßt.“ Katenkamp erhob sich. „Dann macht euch einen schönen Tag“, sagte er. „Tschüs.“ Erika brachte ihn bis zur Wohnungstür. „Du rufst mich an, sobald du was weißt?“ Sie lehnte sich gegen ihn. Er legte ihr die Arme um die Schultern. „Bestimmt. Mach dir keine Sorgen.“
7 „Morgen. Ist der Chef da?“ Oberkommissar Günther Thölke nickte. Dabei verdrehte er die großen blauen Augen. „Das will ich meinen“, sagte er. Diesen großen blauen Augen, so hieß es, konnten Frauen nur schwer widerstehen. Aber, so hieß es weiter, auch Tatverdächtige waren auf Thölkes treuherzigen Blick schon reingefallen. „Willst du zu ihm ‘rein?“ „Es wird sich nicht vermeiden lassen“, antwortete Katenkamp. „Na, dann viel Spaß.“ Thölke fuhr fort, Männchen auf die Rückseite eines Formulars zu malen. Dabei behielt er Katenkamp im Auge. „Was liegt denn an?“ wollte er wissen. „Was Privates“, sagte Katenkamp. Irgend jemand hatte Thölke mal den neugierigen Casanova genannt. Die Bezeichnung 90
schien zutreffend gewählt worden zu sein. Thölkes Apparat läutete. Während Thölke mit halbgeschlossenen Augen etwas in die Muschel flüsterte, verließ Katenkamp den Raum. Wetten, daß das kein Dienstgespräch ist, dachte er. Kriminalhauptkommissar Simon Klapprodt hatte noch keine Zeit gefunden, in seinem Dienstzimmer Veränderungen vorzunehmen. Außer daß in Webers Aschenbecher statt der Zigarrenstummel nun Büroklammern lagen. Klapprodt blätterte in einem Ordner und schien von dem Ergebnis seiner Suche wenig befriedigt zu sein. Bei Katenkamps Eintreten sah er mit gerunzelter Stirn von den Papieren auf. „Sie wollen sicher Erfolgsmeldung machen.“ Seine Stirn glättete sich. „Mit wem haben wir es denn nun zu tun?“ „Wenn ich das wüßte“, sagte Katenkamp. Er zog die Brieftasche hervor. „Ich hab da was bekommen… Ich weiß nicht, wie ich das beurteilen soll.“ Er reichte Klapprodt den Brief über den Schreibtisch. „Möglicherweise…“ „Nun geben Sie mal her“, sagte Klapprodt nachsichtig. Er hielt den Brief dicht vor die Augen. „Ein schöner Quatsch“, sagte er vor sich hin, dann sah er von dem Brief auf. „Nehmen Sie das ernst?“ „Ich bin noch nicht lange genug dabei, um das richtig einordnen zu können. Deshalb komme ich damit zu Ihnen.“ Klapprodt lächelte zufrieden. „Ist ja auch richtig“, sagte er. „Man kann nie wissen. Trotzdem würde ich dem keine große Bedeu91
tung beimessen…“ Er holte eine Lupe aus der Schreibtischschublade und hielt sie über den Bogen. Was soll denn das Getue, dachte Katenkamp. Wo sind wir denn hier? „Lassen wir den Schrieb doch mal untersuchen“, sagte Klapprodt. „Wozu haben wir denn ein Kriminaltechnisches Untersuchungsamt. Mit der Hand geschrieben, das könnte schon aufschlußreich sein. Heutzutage benutzt man dafür eigentlich eine Maschine. Also kann man davon ausgehen, daß dem Absender keine Maschine zur Verfügung steht“, dozierte er. Oder er seine eigene nicht benutzen wollte, dachte Katenkamp. „Sie stellen in der Zwischenzeit mal alle Fälle zusammen, mit denen Sie zu tun hatten“, sagte Klapprodt. „Da ist nicht viel zusammenzustellen. Einmal der erschlagene Stadtstreicher. Da sitzt der Täter bereits. Und dann die Arztfrau. Da bin ich nur mehr oder weniger zufällig am Tatort erschienen. Den Fall bearbeitet Wilckens.“ „Dann tippe ich eher auf diesen Stadtstreicher. Wer weiß denn, ob nicht ein Kumpel von dem festgenommenen Penner ein paar Schreibübungen veranstaltet hat. Primitiv genug sieht es aus“, sagte Klapprodt. Demnach hätte sich jemand aus der Stadtstreicherszene die Mühe gemacht, meine Adresse und meine Familienverhältnisse auszubaldowern, dachte Katenkamp. „Schutzmaßnahmen für meinen Sohn halten Sie nicht für erforderlich?“ Klapprodt 92
lachte verhalten. „Wo kämen wir denn da hin! Dann könnten anonyme Briefschreiber in Zukunft den ganzen Polizeiapparat in Anspruch nehmen. So nun nicht. Warten wir erst das Untersuchungsergebnis ab. Weil Sie es sind, machen wir es dringend. Mehr ist einstweilen nicht drin.“ „Gut“, sagte Katenkamp. Mehr war wohl einstweilen wirklich nicht möglich. Klapprodt reichte ihm den Brief zurück. „Wie weit sind Sie denn mit dem Briefträger gekommen?“ „Nicht sehr weit. Es scheint sich aber was abzuzeichnen.“ Das war eine äußerst optimistische Aussage. Falls diese Uta Schlandorf nicht in der Lage war, einige Ansatzpunkte zu liefern, bestanden kaum Aussichten, den Fall Randulke aufzuklären. „Dann mal ‘ran“, sagte Klapprodt. „Halten Sie mich auf dem laufenden.“ „Du, ich muß jetzt Schluß machen“, sagte Thölke, als Katenkamp wieder ins Zimmer trat. „Wir haben im Augenblick einige hochbrisante Fälle und sind pausenlos im Einsatz. Ich melde mich, sobald ich kann. Tschüs.“ Er legte auf. „Manche Weiber wird man einfach nicht wieder los“, stöhnte er. „Saulaune, was? Bei Weber ging’s gemütlicher zu, und trotzdem hatten wir nicht weniger Erfolg.“ „So lange ist Weber ja noch gar nicht weg“, knurrte Katenkamp. Und ob Klapprodts Dezernat Erfolg hat, das hängt im Augenblick von mir ab. 93
Alle anderen Fälle sind doch gewissermaßen Übernahmen aus Webers Ära. Wenn sich die nicht aufklären lassen, dann kann Klapprodt behaupten… Nein, er kann nicht behaupten, es wären von Anfang an die falschen Maßnahmen getroffen worden. Immerhin amtierte er schon als Webers Stellvertreter. „Das soll hier sofort zur Untersuchung“, sagte Katenkamp. Er schob den Brief in eine Plastikhülle und legte nun auch den frankierten Umschlag dazu. „Was soll denn alles festgestellt werden?“ erkundigte sich Thölke. „Die möchten nach Möglichkeit genau wissen, wonach sie suchen sollen.“ „Auf Feinheiten kommt es im Augenblick noch nicht an. Herkunft des Papiers und dergleichen können sie sich vorerst schenken. Eine Schriftanalyse“, sagte er, „und nach Möglichkeit Fingerabdrücke. Damit kommen wir vielleicht schon weiter.“ „Es ist natürlich dringend“, sagte Thölke mit einem Seufzer. „Du mußt die Arbeit schließlich nicht machen.“ Katenkamp legte Thölke die Plastikhülle auf den Schreibtisch. „Es interessiert mich, was dabei rauskommt. Ich ruf im Laufe des Tages mal an.“ „Kannst du nicht hinterlassen, wo du zu erreichen bist?“ „Kann ich leider nicht.“ Thölke ging ihm langsam auf die Nerven. In der Kantine trank er einen Kaffee. Natürlich hatte er erreichbar zu sein. Das brauchte ihm Thölke nicht erst zu sagen. Aber sollte er dem erklären, 94
daß er nicht wußte, wo er bei dem Fall Randulke ansetzen sollte? Die Herkunft der beiden Tatwaffen feststellen? Zwecklos. Wie denn? Selbst wenn die Ballistiker da was hatten – Namen und Adressen bestimmt nicht. Solange es nicht einen auch nur ungefähr einzugrenzenden Täterkreis gab, hatte es keinen Zweck, eine solche personalintensive Aktion zu starten. Einstweilen gab es nach wie vor nur die vage Möglichkeit, über diese Uta Schlandorf mehr über Heinrich Randulke zu erfahren. Katenkamp machte sich Vorwürfe, nicht noch mehr Hausbewohner als diesen komischen Doktor nach Uta Schlandorf befragt zu haben. Ich muß hartnäckiger werden, dachte er. Jemand anders aus dem Haus hätte vielleicht sagen können, wo sie tagsüber zu erreichen ist. Aber Erika wartete mit dem Abendessen… Kriminalbeamte sollten vielleicht doch nicht verheiratet sein, dachte er. Nein, es liegt wieder nur daran, daß ich Erika nicht warten lassen wollte. Er schob die leere Kaffeetasse von sich. Es half alles nichts, ohne diese Uta Schlandorf in der Baron-Voght-Straße gab es im Fall Randulke kein Weiterkommen. Ob mit ihr, das würde sich allerdings auch erst noch zeigen müssen. Er gab sich einen Ruck. Ab nach Klein-Flottbek. Und wenn ich mich vor dem Haus rund um die Uhr auf die Lauer legen muß. Einmal kommt die Dame bestimmt nach Hause. Falls es sich nicht um eine Nymphomanin handelt, die jede Nacht in einem anderen Bett landet und tagelang nicht in ihre vier 95
Wände kommt. Beziehungsweise nächtelang… Wo hat sich das mit Randulke eigentlich abgespielt? Doch wohl nicht auf dem Autorücksitz. In Randulkes Alter ist man für solche Gymnastik nicht mehr zu haben. Aber hatte Hochwind nicht was von sexueller Hörigkeit gefaselt? In dem Fall war alles möglich. Achselzuckend betrachtete Katenkamp in der Baron-Voght-Straße die sechs Namenschilder neben den Klingelknöpfen. Sieben Namenschilder. In einer der Wohnungen schien ein unverheiratetes Paar zu leben. Oder zwei Schwule. Die Punkte hinter den Vornamen ließen jeden Schluß zu. Ehe er sich durch das ganze Haus läutete, drückte er noch einmal auf den Klingelknopf neben dem Namensschild U. Schlandorf. Er zuckte leicht zusammen, als das Summen des Türöffners ertönte. Sie arbeitet also vormittags nicht, dachte er. Vielleicht hat sie einen Job mit Schichtdienst. Das hätte mir auch eher einfallen können. In der halbgeöffneten Wohnungstür stand ein langhaariger Jüngling. Er trug abgewetzte Jeans und ein T-Shirt mit dem Aufdruck BROCKDORF NIE. Um den dürren Hals unter dem hageren Gesicht verlief ein schmales Lederband. Es verschwand unter dem verwaschenen hellgrünen T-Shirt. Der Sohn offenbar. Warum sollte Uta Schlandorf auch keinen Sohn haben. „Ich möchte zu Frau Schlandorf“, sagte Katenkamp. Der Jüngling trat einen Schritt zurück. „Die 96
ist nicht da“, antwortete er kurz angebunden. Katenkamp fühlte sich mißtrauisch gemustert. „Kann ich sie irgendwo erreichen?“ „Das ist schwierig.“ Die Tür schloß sich bis auf einen fußbreiten Spalt. Das Gesicht in der Türöffnung nahm einen noch abweisenderen Ausdruck an. „Worum geht’s denn?“ Es klang herausfordernd. Der Langhaarige sollte sich bloß nichts einbilden. Eine Dienstmarke hat schon ganz andere Typen eingeschüchtert. „Ich komme vom Wasserwerk“, sagte Katenkamp hochnäsig. „Sie können ja anrufen und sich erkundigen, ob es stimmt.“ Als Reaktion auf die Bemerkung kam ein mißtrauisches langgezogenes „Sooo? Dann kann ich Ihnen auch nicht helfen.“ „Können Sie schon, indem Sie mir verraten, wo Frau Schlandorf zu erreichen ist.“ „Die arbeitet.“ „Und wo, bitte?“ Kam der Bengel jetzt nicht mit einer verwertbaren Antwort über, dann gab es Möglichkeiten, ihm auf die Sprünge zu helfen. „Bei Dose & Wienhöft in der Eimsbütteler Straße.“ In Altona also, überlegte Katenkamp. „Ich danke Ihnen sehr“, sagte er übertrieben höflich und machte kehrt. Randulkes Sohn hatte auf ihn einen besseren Eindruck gemacht. Schlandorf junior war ihm unsympathisch. Nicht wegen seines Benehmens. In dem Alter neigen manche dazu, ihre Unsicherheit durch betont patziges Benehmen zu überspielen. 97
Aber der da eben wollte mehr verbergen als nur Unsicherheit. Vielleicht schwänzte er die Schule oder machte bei der Arbeit blau, ohne daß seine Mutter etwas davon wußte. Vielleicht trieb er sich auch mit einer Freundin im Bett ‘rum, während seine Mutter arbeitete… Egal: Er hatte eine exakte Auskunft geliefert. Zur Eimsbütteler Straße also. Während Katenkamp hinunter zur Elbchaussee fuhr, machte er sich Gedanken darüber, wie er der Frau den Tod Randulkes erklären sollte. Oder war es klüger, die Befragung nicht gleich mit der Todesnachricht zu beginnen? Unter Schockeinwirkung war sie möglicherweise keiner vernünftigen Antwort fähig. Abwarten. Bei der Firma Dose & Wienhöft handelte es sich um eine Arzneimittelgroßhandlung. Vor dem Gebäude standen einige Lieferfahrzeuge. Hinter die Windschutzscheiben waren von innen Schilder mit der Aufschrift EILIGE ARZNEIMITTEL geklemmt. Ein dürftiger Schutz gegen Strafmandate wegen Parkens im Halteverbot. Katenkamp stellte seinen Wagen an die Spitze der Firmenfahrzeuge. ANMELDUNG las er auf einer der Türen in der Eingangshalle. Unter den blankgeputzten Messingbuchstaben klebte der gedruckte Hinweis: Vertreterbesuche nur donnerstags von 14.00 bis 17.00 Uhr. Als Katenkamp die Tür öffnete, nahm er einen schwachen Apothekengeruch wahr. Arzneimittelgroßhandlung, natürlich. 98
„Sie wünschen?“ Das Mädchen mit den hennaroten Haaren sah ihn über die schmale Brille hinweg freundlich an. Endlich mal kein abweisender Empfang. „Kann ich wohl Frau Schlandorf sprechen?“ „Aber gern. Wenn Sie einen Augenblick Platz nehmen möchten? Ich rufe gleich durch.“ Katenkamp blieb stehen, während das Mädchen telefonierte. „Frau Schlandorf, hier möchte Sie jemand sprechen.“ Zu Katenkamp: „Waren Sie schon mal bei uns?“ „Nein. Katenkamp ist mein Name.“ Er vermied das Wort Kriminalpolizei. Das Mädchen brauchte nicht die ganze Firma von seinem Besuch in Kenntnis zu setzen. „Sie kommt sofort.“ Sie kam tatsächlich zwei Minuten später durch die rechte der beiden Türen im Hintergrund des Empfangszimmers. Er hatte sich die Frau älter vorgestellt. Zumindest machte sie in dem roten Rock und der cremefarbenen Bluse einen jugendlichen Eindruck, der seinen Erwartungen widersprach. In ihrem runden Gesicht mit den hohen Backenknochen waren auch aus der Nähe kaum Falten zu entdecken. Die straff zurückgekämmten schwarzen Haare unterstrichen das Slawische ihres Gesichts. Die Figur? Jede andere Kennzeichnung als „üppig“ wäre unzulänglich gewesen. Der Frau hätte auch ein anderer als Randulke verfallen können, dachte Katenkamp. „Was kann ich für Sie tun?“ Uta Schlandorf fuhr sich mit der Zungenspitze über die vollen Lippen. 99
„Ich hätte Sie gern allein gesprochen. Falls das hier möglich ist.“ „Das ist möglich.“ Während sie vor ihm durch den Raum ging, betrachtete er ihre Beine. Die fülligen Oberschenkel zeichneten sich unter dem engen Rock deutlich ab. Eine Frau, der Bauarbeiter auf der Straße nachpfeifen, dachte er. Hatte die es nötig, sich mit einem so verbrauchten Mann wie Heinrich Randulke einzulassen? Sie öffnete eine Tür. EINKAUF stand auf dem dunkelgebeizten Holz. Nun nicht mehr in Messingbuchstaben, sondern in großen Lettern auf weiße Pappe gedruckt. Uta Schlandorf nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz und wies mit einer fleischigen Hand auf den lederbezogenen Besucherstuhl. „Sie waren noch nicht bei uns?“ Dunkle Augen musterten ihn interessiert. „Von wem kommen Sie?“ Jetzt ließ es sich nicht länger verschweigen. „Von der Kriminalpolizei“, sagte er. „Ach, ist wieder was mit einem unserer Fahrer? Dann sind Sie bei mir falsch.“ „Was könnte denn mit einem Fahrer sein?“ Sie wußte also nichts von Randulkes Tod. „Bei den vielen Aushilfsfahrern, die wir beschäftigen, ist immer mal ein Fixer. Die glauben, sie könnten bei uns besonders leicht an den Stoff kommen.“ Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen und wippte leicht mit dem rechten Fuß. „Da wenden Sie sich bitte an Herrn Sartorius, 100
der bearbeitet bei uns die Personalsachen. Wer hat Sie überhaupt zu mir geschickt?“ „Niemand. Es geht auch nicht um einen Fahrer. Ich komme wegen Herrn Randulke.“ Ihr Fuß hörte auf zu wippen. Sie richtete den Oberköper etwas weiter auf, schien sich plötzlich zu versteifen. „Ja, bitte“, sagte sie leise. Sie weiß, daß mit Randulke etwas passiert ist, zumindest ahnt sie es, dachte er. „Ich komme von der Mordkommission. Katenkamp ist mein Name.“ Bei dem Wort Mordkommission wurden ihre Augen schmal. Die Hände wollten sich um die Seitenlehnen ihres Schreibtischstuhls krampfen. Er registrierte es und nahm auch wahr, wie sie sich dazu zwang, die Hände locker auf den Seitenlehnen liegenzulassen. „Herrn Randulke ist leider etwas zugestoßen.“ Sie setzte zu einer Bemerkung an, doch die Lippen schlossen sich wieder vor den weißen Zähnen, ohne daß sie etwas gesagt hatte. „Er ist gestern vormittag in der Jütlander Allee erschossen worden.“ „Von wem?“ Die Frage kam schnell. Uta Schlandorf schob das Kinn vor. Sie sah an Katenkamp vorbei auf den großformatigen Kalender eines Arzneimittelherstellers. Das Blatt des Monats zeigte eine blaßgrüne Birkenlandschaft, die so beruhigend wirken sollte wie das rezeptpflichtige Medikament des Herstellers. „Das versuchen wir gerade herauszufinden.“ Die 101
Reaktion der Frau überraschte ihn. Die Tatsache der Ermordung Randulkes schien sie weder zu erschrecken noch zu überraschen. Ihre ersten Worte galten dem Täter. „Möglicherweise können Sie uns dabei helfen.“ „Nein“, sagte sie mit Nachdruck. Ein Schütteln durchlief ihren Oberkörper. In Verbindung mit dem Nein ließ diese Reaktion auch den Schluß zu, daß der Tod Randulkes ihr erst jetzt richtig bewußt geworden war. „Nein“, wiederholte sie gedehnt. Dabei schien sie in sich zusammenzusinken. „Wie konnte das passieren?“ Nun erst sah sie Katenkamp forschend an. „Wir verfügen über eine Reihe von Hinweisen“, log er, „aus denen sich leider noch kein eindeutiges Bild ergibt.“ Das hätte man auch anders ausdrücken können, dachte er, aber etwas an dem Verhalten der Frau behagte ihm nicht. Spontan neigte er zu der Ansicht, daß sie mit dem Tod Randulkes gerechnet hatte. „Sie waren mit Heinrich Randulke befreundet?“ „Ja. Woher wissen Sie das?“ Uta Schlandorf wirkte verärgert. Sie griff nach einem Kugelschreiber und ließ die Mine mehrmals vor- und zurückschnappen. „Wir haben eine Reihe von Hinweisen erhalten.“ „Von wem?“ Wieder reagierte sie eher ungehalten. „Das tut im Augenblick nichts zur Sache. Ich möchte, daß Sie mir einige Fragen beantworten… Seit wann waren Sie befreundet?“ 102
„Seit knapp zwei Jahren…“ Stimmte das mit Werner Hochwinds Angaben überein? Oder hatte er Hochwind eine ähnliche Frage gar nicht gestellt? Er erinnerte sich nicht mehr. „Wie haben Sie Herrn Randulke kennengelernt?“ „Ich wohnte damals in seinem Bezirk, und da hat es sich ergeben… Man steckt dem Postboten mal ein Trinkgeld zu. Wie das so ist.“ Er nickte verständnisvoll. „Darf ich fragen, welcher Art Ihre Beziehung war?“ „Sie verdächtigen mich?“ fragte sie aggressiv zurück. „Nein.“ Es gab keinen Grund, Uta Schlandorf zu verdächtigen. Daß sie nicht so reagierte, wie er es erwartet hatte, begründete noch keinen Verdacht. Ihr Verhalten konnte auch aus dem Gefühl des Ertapptseins resultieren. Was sie für ein Geheimnis gehalten haben mochte, war nun sogar polizeikundig geworden. Ein Tatverdacht bestand gegen sie nicht. Ziemlich undenkbar, daß eine Frau aus zwei Waffen feuert. Außerdem hat sie bestimmt ein Alibi… Er nahm sich vor, das zu überprüfen, ohne sie selbst danach zu fragen. „Dann könnte ich also die Aussage verweigern?“ „Sie brauchen uns keine Angaben zu machen. Vor Gericht sähe es allerdings anders aus. Falls Sie dort als Zeugin erscheinen müssen, könnten sie die Aussage nur verweigern, wenn Sie sich damit selbst belasten würden… Oder betrachten Sie sich als mit Herrn Randulke verlobt?“ Wäre das im 103
Hinblick auf das bevorstehende Ableben der Frau Randulke möglich gewesen? „Nein.“ „Dann ersparen Sie uns langwierige Recherchen, und sagen Sie mir, welcher Art Ihre Beziehung war.“ „Sie meinen, ob wir miteinander intim waren?“ Uta Schlandorf schien für einen Augenblick zu erröten. „Zum Beispiel. Waren Sie miteinander intim?“ „Ja.“ „Dann kann man also davon ausgehen, daß er keine Geheimnisse vor Ihnen hatte?“ „Ich verstehe Ihre Frage nicht.“ „Wenn er sich bedroht gefühlt hätte… Ich meine, hätte er Sie dann ins Vertrauen gezogen?“ „Das bezweifle ich.“ Sie preßte die Lippen aufeinander. „Warum?“ „Das entsprach nicht seinem Wesen. Er war ein sehr verschlossener Mensch.“ „Ihnen gegenüber hat er also keine Befürchtungen geäußert? Auch keine Andeutungen über eine Bedrohung gemacht?“ fragte er nach. „Nein“, bestätigte sie. „Kam er Ihnen in letzter Zeit verändert vor?“ Sie überlegte. „Die Krankheit seiner Frau bedrückte ihn mehr oder weniger ständig. Er hatte verschiedentlich ein Tief, müssen Sie wissen. Das wirkte sich auch auf unser Verhältnis aus. Ganz zu schweigen von den besonderen Umständen.“ 104
„Wissen Sie, ob er Feinde hatte?“ „Mir gegenüber hat er nichts geäußert.“ Das war es also. Von Uta Schlandorf kamen keine zweckdienlichen Hinweise. Ob Randulke ihr einziger Liebhaber gewesen war? Hatte ein eifersüchtiger Liebhaber die Schüsse abgegeben? Wenn ja, dann hatte es wohl wenig Zweck, sie danach zu fragen. Ihre Antworten fielen schon jetzt reichlich nichtssagend aus, obwohl sie sich den Fragen nicht direkt entzog. „War es nicht schwierig, sich mit Herrn Randulke zu treffen?“ Er fand die Frage zudringlich - wie kam er dazu, im Sexualleben einer erwachsenen Frau herumzustochern? „Angesichts seiner besonderen häuslichen Umstände“, setzte er lahm hinzu. „Ich kann hier ziemlich selbständig arbeiten“, antwortete sie. „Wir haben uns in meiner Wohnung getroffen. Falls Sie das meinen.“ „Nachdem er seine Tour beendet hatte?“ „Ja. Es steht mir frei, meine Mittagspause so zu legen, wie ich sie brauche.“ Das erklärte denn auch Randulkes Taxifahrten. Es erklärte nicht, wieso eine solche Frau es nötig hatte, ein flüchtiges Schäferstündchen mit einem Briefträger zu absolvieren. Aber die Liebe ist nun mal eine Himmelsmacht und kriminalistisch kaum auswertbar… „Nur noch der Vollständigkeit halber: Haben Sie Herrn Randulke gelegentlich Geschenke gemacht?“ Sie überlegte eine Weile. „Ja“, sagte sie schließlich. „Eine Armbanduhr 105
zum Beispiel.“ Warum war ihr das nicht schneller eingefallen? Aber er konnte wohl auch diesen Punkt abhaken. Es blieb nichts mehr zu fragen… Besonders schwer schien Uta Schlandorf den Tod ihres Liebhabers nicht zu nehmen. Aber auch das Maß der Trauer kann man einem Menschen nicht vorschreiben. Und niemand ist verpflichtet, sie offen zur Schau zu stellen. Trotzdem… Katenkamp erhob sich. Trotzdem war er fest entschlossen, über Uta Schlandorf weitere Informationen einzuholen. „Halten wir also fest“, sagte er, „daß nach Ihrer Meinung niemand einen Grund hatte, Herrn Randulke nach dem Leben zu trachten.“ „Ich bestimmt nicht.“ Sie gab sich einen Ruck und schob den Stuhl zurück. Dabei schwang sie sich zu Katenkamp herum. „Welchen Nutzen hätte ich davon? Wenn seine Frau umgebracht worden wäre… Aber so?“ Sie versuchte ein Lächeln. „Ich habe nur Schwierigkeiten davon. Zum Beispiel die, daß ich mir unangenehme Fragen gefallenlassen muß.“ Katenkamp zuckte die Achseln. „Das gehört zu meinem Beruf. Ich…“ Das Telefon auf Uta Schlandorfs Schreibtisch läutete. Sie streckte die Hand aus. Er nickte ihr zu. Dann ging er aus dem Zimmer. Nachdem er die Tür hinter sich zugezogen hatte, blieb er auf dem leeren Flur stehen. Wer bearbeitete doch gleich die Personalsachen? Egal, wer bei 106
Dose & Wienhöft die Einstellungen und Entlassungen vornahm. Es gab keinen Grund, sich bei ihm über Uta Schlandorf zu informieren. Sie gehörte nicht zu dem Kreis der Verdächtigen… Welcher Verdächtigen? Es gab keine. „Es war gerade einer hier“, hörte er Uta Schlandorf hinter der Tür sagen. „Natürlich ging es um Heinrich.“ Katenkamp bemühte sich, langsam zu atmen. Aber warum regten ihn die beiden Sätze überhaupt auf? Der Sohn glaubte nicht an den Beamten vom Wasserwerk. Hatte lange genug gedauert, bis bei ihm der Groschen gefallen war. Jetzt telefonierte er mit der Mutter… „Du bleibst ganz ruhig und unternimmst gar nichts“, sagte die Schlandorf. Natürlich ging es um Heinrich… Wieso? Sie war demnach bereits vor seinem Erscheinen über den Mord informiert gewesen. Deshalb also ihr so gefaßtes Verhalten. Und weshalb sollte der Sohn nichts unternehmen? Katenkamps erster Impuls war, die Tür aufzureißen und die Frau zur Rede zu stellen. Er unterließ es. Sie würde ihn nur mit einer plausibel klingenden Erklärung abspeisen, und er würde dabei eine schlechte Figur machen. Über den Fall war am Morgen in der Presse berichtet worden. Zwar ohne Namensnennung, doch von der Jütlander Allee war die Rede gewesen; und da die Schlandorf wußte, in welchem Bezirk Randulke die Post austrug… Aber weshalb dieses Versteckspiel? Und wenn sie ihre Informationen nicht erst aus der Zeitung bezogen hat? dachte 107
Katenkamp. Nur wird ihr das nicht nachzuweisen sein. Nicht sofort jedenfalls. Er schlich auf Zehenspitzen über den Flur. Ob es sich lohnte, sich den Sohn mal vorzunehmen? Warum sollte sich der ruhig verhalten? Das Mädchen in der Anmeldung beachtete ihn nicht, als er die Firma Dose & Wienhöft wieder verließ. „Wo stecken Sie denn?“ fragte Petersen im Vorübergehen. Kriminaloberkommissar Uwe Petersen warf ihm einen warnenden Blick zu. „Der Chef sucht Sie wie wild. Was haben Sie denn ausgefressen?“ „Ich bin mir keiner Schuld bewußt“, sagte Katenkamp. Petersen wedelte mit einer Akte. „Das behaupten alle, und dann kriegen sie doch lebenslänglich… Gehen Sie gleich ‘rein, und reizen Sie ihn nicht unnötig. Sonst müssen wir es alle ausbaden. Scheint sich um ein dickes Ding zu handeln.“ „Ich weiß von nichts.“ Petersen war in Ordnung. Nur ein bißchen neugierig. Er hätte ihm gern einen Informationsbrocken hingeworfen, schon um zu verhindern, daß Petersen nun überall herumhorchte, um rauszukriegen, was der Neue sich denn nun geleistet hatte. Simon Klapprodt war dabei, die fünfte oder sechste Büroklammer zu verbiegen. Bei Katenkamps Eintreten fegte er die Drahtgebilde in den Papierkorb. Mit einem leichten Prasseln landeten sie auf den zer108
knüllten Formularbögen. Klapprodt tippte mit dem rechten Zeigefinger auf die Schreibtischkante. Soviel wußte Katenkamp bereits: Diese Geste bedeutete bei Kriminalhauptkommissar Klapprodt nichts Gutes. Klapprodt schien da auf eine unsichtbare Alarmklingel zu drücken. Er sah Katenkamp lange an. „Da haben Sie sich vielleicht auf was eingelassen!“ sagte er schließlich mit einem Unterton von Wut in der Stimme. Katenkamp schwieg. Auf solche Bemerkungen reagiert man nicht. Am allerwenigsten, wenn ein Chef sie macht. „Wissen Sie, woher Ihr ominöser Brief stammt?“ Klapprodt hob beide Hände. Es sah leicht theatralisch aus. „Keine Ahnung.“ „Dann will ich es Ihnen sagen. Unsere Experten haben auf dem Umschlag die Abdrücke von Viehland entdeckt. Von Günther Viehland. Sagt Ihnen der Name was?“ Klapprodt schien auf die Antwort gespannt zu sein. „Natürlich. Viehland gehört zur linken Szene.“ „Zur ganz linken“, korrigierte Klapprodt die Aussage. „Sie können sein Bild auf jedem Fahndungsaufruf bewundern. In der zweiten Reihe, wenn ich nicht irre, gleich der erste rechts. Gesucht wegen aktiver Mitgliedschaft in einer politischen Terrororganisation, wegen Beteiligung an verschiedenen Banküberfällen, wegen Mord, versuchten Mordes, unerlaubtem Waffenbesitz und wegen etlicher Verstöße gegen das Meldegesetz.“ Klapprodt 109
grinste, als er die Anschuldigungen um die Bagatellsachen ergänzte. „Schnelle Arbeit“, sagte Katenkamp. Er wollte Zeit zum Nachdenken gewinnen. Wann war er jemals mit der Terroristenszene in Berührung gekommen? Und dann gleich so intensiv, daß man ihm Drohbriefe schickte? „Wieso schnelle Arbeit? Wozu hat das Landeskriminalamt den Fingerabdruckcomputer denn da stehen? Damit kann das LKA direkt mit Wiesbaden in Verbindung treten.“ Ich weiß, dachte Katenkamp, was früher drei Tage dauerte, läßt sich heute in einer halben Stunde erledigen. Hoffentlich hält er mir jetzt nicht noch einen Vortrag über den halbautomatischen Fingerabdruckanalysator. „Wir müssen das Bundeskriminalamt einschalten“, sagte Klapprodt. „Das heißt, die schalten sich automatisch ein. Machen Sie sich darauf gefaßt, von denen in die Mangel genommen zu werden.“ „Dann komm ich am Ende noch in die Befa“, murmelte Katenkamp sarkastisch. „Auf eine direkte Beobachtende Fahndung wird es wohl nicht hinauslaufen. Aber rechnen Sie mal damit, daß man sich ausführlich mit Ihnen befaßt. Irgendeinen Grund müssen die ja haben, ausgerechnet Ihnen mit Entführung zu drohen.“ „Meinem Sohn“, antwortete Katenkamp. „Schön. Dessen Bewachung wird sich nun wohl nicht mehr umgehen lassen. Wie alt ist der Junge?“ „Knapp zehn.“ „Setzen Sie sich endlich mal hin“, sagte Klap110
prodt. Es ist mein Schicksal, ständig vor Schreibtischen herumzusitzen, dachte Katenkamp, während er Platz nahm. „Die Sache wird Staub aufwirbeln.“ Klapprodt schlug einen kollegialen Ton an. „Machen Sie sich auf was gefaßt. Unglücklicherweise ist der Brief in Hamburg aufgegeben worden. Viehland hält sich also hier auf. Das bedeutet höchste Alarmstufe. Dabei ist die Antiterrorismuskommission gerade reduziert worden. Jetzt können sie alles wieder aufstocken.“ Er machte ein unglückliches Gesicht. „Daß den Burschen auch nicht beizukommen ist.“ „Gegen Fanatiker ist die Polizei immer machtlos. Denken Sie an Nordirland. Da geht das schon seit Jahrzehnten so.“ „Das ist kein Vergleich“, widersprach Klapprodt. „Den Nordiren kann man noch echte politische Ziele unterstellen. Wir haben es hier mit Spinnern zu tun. Sie bewegen sich nicht mehr ohne Waffen“, sagte er unvermittelt. „Ich möchte Sie nicht gleich wieder verlieren… Was macht denn die andere Geschichte?“ „Eine total verfahrene Kiste.“ Katenkamp fand, die Gelegenheit sei günstig, Klapprodt darauf vorzubereiten, daß der Fall Randulke wohl unaufgeklärt zu den Akten wandern würde. „Es gibt kein Motiv für den Mord. Sieht fast so aus, als hätten irgendwelche Idioten eine Schießübung veranstaltet.“ „Um so schlimmer“, meinte Klapprodt. „Dann müssen wir damit rechnen, daß die mit ihren 111
Schießübungen noch nicht fertig sind.“ Er hob den Kopf mit einem scharfen Ruck. „Sagen Sie mal, dieser Brief ist Ihnen doch von dem Randulke in den Kasten gesteckt worden?“ „Es gibt kaum eine andere Möglichkeit.“ „Dann könnten da also Zusammenhänge bestehen.“ „Theoretisch wohl“, sagte Katenkamp langsam. „Ich sehe die Zusammenhänge zwar nicht, aber so undurchsichtig, wie der Fall liegt, lassen sie sich auch nicht ausschließen. Ebensogut läßt sich eine Verbindung zu meinen beiden anderen Fällen herstellen.“ Die Wahrscheinlichkeit von Zusammenhängen blieb immer gleich groß. Also auch gleich gering. Klapprodt war derselben Ansicht. „Es sollte mich wundern, wenn einer der beiden Penner Verbindungen zur Terroristenszene gehabt hätte. Und was die Arztgattin betrifft… Medizinerkreise gehören auch nicht gerade zu den Sympathisanten der Roten. Aber rechnen muß man mit allem. Legen Sie die Akten bereit. Die Herren vom BKA interessieren sich unter Garantie dafür. Hoffentlich weisen uns die Klugscheißer nicht noch kapitale Ermittlungsfehler nach.“ Vielleicht klärt das Bundeskriminalamt ja im Vorübergehen den Fall Randulke, dachte Katenkamp. Sobald es um Terroristen geht, wird ein personeller Aufwand getrieben, den wir uns nie leisten können. Von den Methoden des BKA ganz zu schweigen.
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8 Scheißbullen. Wer weiß, wie lange die mich schon beobachten. Aber warum haben sie nicht schon längst zugeschlagen? Aber eigentlich… Die müßten doch inzwischen wissen, daß bei mir nichts mehr läuft. Ich bin ‘raus aus der Szene. Ich hab mich abgemeldet. Man kann sich bloß nicht abmelden. Nicht bei den Genossen und nicht bei den Bullen. Man kann die Jagd nicht abblasen. Die Genossen legen mich um, sobald sie an mich rankommen. Der Staat läßt mich im Knast langsam verrecken, sobald er mich hat. Ich kann mir aussuchen, ob ich schnell oder langsam verrecken will. Eine Scheißalternative. Der Unterschied besteht nur darin, daß mich die Bullen praktisch schon haben; die Genossen müssen mich erst noch finden. Und wenn sie mich gefunden haben, dann kommen sie nun nicht mehr an mich ‘ran. Die Bullen schützen mich einstweilen vor den Genossen. Eine irre Situation. Ich stehe unter dem Schutz des Staates. Ich trinke auf diesen Scheißstaat. Er soll leben. Er wird leben. Er ist einfach nicht zu beseitigen. Erst wollten wir ihn wegdiskutieren, dann wegbrennen, danach wegbomben und schließlich wegschieben. Dabei haben wir nur für immer mehr Staat gesorgt. Einige von uns haben gemeint, das würde die revolutionäre Situation verschärfen. Ein Denkfehler. Wir paar wirklich Linken haben nur viele Rechte auf den Plan gerufen. Der Staat hat alles ausgehalten. Es gibt ihn immer noch. Nur uns gibt es bald nicht mehr. Gehören 113
noch zwanzig Leute zum harten Kern? Oder sind es nur noch ein Dutzend? Ich weiß es nicht. Ich habe keine Verbindung mehr. Ich habe andere Verbindungen geknüpft. Ich muß sie abreißen lassen. Ich gefährde meine Freunde, wenn ich jetzt nichts unternehme. Ich muß den Doktor anrufen. Er soll sich nicht mehr um mich kümmern und den anderen sagen, daß sie nichts mehr für mich tun können. Sie haben getan, was sie konnten. Es war zuwenig. Man kann einem Menschen keine neue Identität verschaffen. Nicht auf die Dauer und erst recht keinem von uns. Günther Viehland bleibt Günther Viehland, auch wenn er sich Karsten Welowczyk nennt und sein Aussehen verändert. Man kann machen, was man will, aus den Fahndungscomputern kriegt man ihn nicht ‘raus. Ich muß den Doktor anrufen. Morgen, von einer öffentlichen Telefonzelle aus. Meinen Anschluß haben die bestimmt längst angezapft. Ob ich mal die Zeitansage anrufe? Nur um die zu ärgern. Dann kriegen sie wenigstens die genaue Uhrzeit aufs Band. Viel kann da bisher nicht drauf sein. Meinen Anschluß gibt es erst seit vierzehn Tagen. Man hat ihn schnell gelegt. Normalerweise dauert es länger. Deshalb also die bevorzugte Behandlung. Die wollten mich so schnell wie möglich abhören können. Also wissen sie spätestens seit zwei Wochen, wer ich bin und wo ich sitze. Gut, daß ich den Apparat bisher kaum benutzt habe. Altes Mißtrauen gegenüber Fernmeldeeinrichtungen. Das sitzt drin. Man 114
lebt nicht sechs Jahre im Untergrund, ohne daß was hängenbleibt. Wen hab ich überhaupt angerufen? Den Doktor jedenfalls nicht. Wir treffen uns morgens in der Bahn. Bei der Gelegenheit tauschen wir unsere Aktentaschen aus. Völlig identische Aktentaschen, sogar mit den gleichen künstlichen Kratzspuren versehen. Manchmal sind die Aktentaschen sogar leer. Eine Vorsichtsmaßnahme. Wir wollten sichergehen. Falls sie uns unmittelbar nach einem Taschentausch festnehmen, soll ihnen nicht unter allen Umständen Material in die Hände fallen. Eine Vorsichtsmaßnahme, um das Risiko meiner Enttarnung niedrig zu halten. Eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme. Sie haben mich längst enttarnt. Vorgestern habe ich vom Doktor einen Satz Zeugnisse bekommen. Schöne alte Zeugnisse, von der ersten Klasse bis zum Abitur. Danach ist der Schüler Karsten Welowczyk in der vierten Klasse einmal sitzengeblieben. Bin ich nie. Ich war immer ein guter Schüler. Die Zeugnisse nützen mir nichts mehr. Auch die Zeugnisse von meinen diversen Arbeitgebern nicht mehr. Hat alle ihm übertragenen Aufgaben zu unserer vollsten Zufriedenheit erledigt. Damit kann man sich normalerweise bewerben. Jetzt kann ich mir mit den Zeugnissen den Arsch wischen. Die Papiere müssen jetzt auch verschwinden. Makulatur. Schöne Muster ohne Wert. Es gehörte bestimmt was dazu, sie zu beschaffen. Ich geb sie am besten zurück. 115
Nein, ich kann die Papiere nicht zurückgeben. Wenn sie mich beobachten, dann ist der Doktor auch in ihr Blickfeld geraten. Fragt sich nur, ob sie gemerkt haben, welche Rolle er spielt. Es wäre ein Witz, wenn sie uns ausgerechnet bei der Rückgabe der Papiere erwischen würden. Ich muß die Papiere selbst verschwinden lassen. Das wird schwierig sein. Die heben doch jeden Fetzen Papier auf, den ich auf der Straße fallen lasse. Und hier handelt es sich um einen dünnen Aktenordner mit Inhalt. Ob ich bei Dose & Wienhöft an den Reißwolf rankomme? „Aktenvernichtungsgerät“ heißt das Ding offiziell. Toller Apparat. Schneidet Papiere in Streifen, zerhackt sie in kleine Partikel oder zermalmt sie wahlweise auch zu Staub. Ich werde die Einstellung Staub wählen. Mit Streifen kann das Bundeskriminalamt möglicherweise noch was anfangen. Dem BKA trau ich alles zu. Wir haben deren Möglichkeiten zu lange unterschätzt. Deshalb sitzen jetzt einige von uns. Von uns? Ich denke immer noch in den alten Kategorien. Hätte ich gewußt, daß sie mich doch kriegen, wäre ich dabei geblieben. Jetzt werde ich im Knast ein Niemand sein. Keiner wird meinen Namen an eine Wand sprayen und meine Freiheit fordern. Mit mir erklärt sich niemand solidarisch. Wir paar Ehemaligen sollten fordern, daß man uns im Knast zusammenlegt. Jetzt ist das Problem, wie ich an den Aktenvernichter rankomme. Man kann das Ding nicht unbemerkt betätigen. Macht einen Höllenlärm. Zu116
ständig für das Gerät ist die Schlandorf. Eigentlich komme ich ganz gut mit ihr aus. Es könnte sogar noch besser sein, wenn es nach ihr ginge. Jedenfalls habe ich den Eindruck. Die Schlandorf ist scharf wie ein Rattenzahn. Leider nicht mein Typ. Zuviel Frau. Bei der im Bett? Die vernichtet einen glatt. Gut, dann muß ich mich eben mal vernichten lassen. Wenn es meiner Rettung dient. Morgen früh muß ich dem Doktor einen Zettel in die Hand drücken. Aktion stoppen. Werde beobachtet. Dank für alles. Ich schaffe es, ihm den Zettel zuzustecken. Sobald ich den grünkarierten Schal trage, ist alles aus. Dann findet auch kein Aktentaschentausch mehr statt. Grünkarierter Schal heißt: Bin in Not. Dann rempeln wir uns irgendwie an, und er hält die Hand auf, um eine Mitteilung in Empfang zu nehmen. Geschrieben auf Zigarettenpapier. Zigarettenpapier kann man sofort verschlucken. Alles ausprobiert, Der Personalausweis muß auch verschwinden. Ob der Aktenvernichter den schafft? War ich froh, als ich den Ausweis endlich hatte. Alles echt. Keine Totalfälschung. Stammt nicht mal aus einem Einbruch in ein kleines Landratsamt. Die Methode wird nicht mehr angewandt. Hat zu viele Genossen auffliegen lassen. Die Nummern gestohlener Blankoausweise kommen in den Computer. Meine Personalausweisnummer ist nirgends gespeichert. Und wenn, dann meldet der Computer auf Befragen Fehlanzeige. Gegen Karsten Welowczyk liegt nichts vor. Lag nichts vor. Inzwischen lautet die Auskunft bestimmt schon: Sofort festneh117
men. Vorsicht: bewaffnet. Nicht mehr, meine Herren… Ja, der Ausweis ist nutzlos geworden. Trotzdem muß er verschwinden. Sie dürfen ihn nicht bei mir finden. Die verfügen über Möglichkeiten, seine Herkunft festzustellen. Über den Ausweis können sie an meine Freunde kommen. Und ich will nun zum Schluß nicht noch jemand gefährden. Es genügt, daß sie mich haben. Den Doktor brauchen sie nicht auch noch zu kriegen. Falls er nicht schon auf ihrer Liste steht. Armer Doktor. Du bist ein Idealist. Ein Idealist der Gewaltlosigkeit. Ich war ein Idealist der Gewalt. Ein Fanatiker der Gewalt. Bis ich anfing zu denken und aufhörte, Parolen nachzubeten. Danke, Doktor. Dein Leserbrief in diesem Wochenmagazin lag genau auf meiner Linie. Du hast genau das formuliert, womit ich mich herumgeschlagen habe. Ein großer Theoretiker war ich nie. Ich war Organisator und Praktiker des Terrorismus. Theoretiker steigen nicht aus; die finden immer irgendwo einen Satz, der alles rechtfertigt. Der Leserbrief hat meine Gedanken geordnet. Der Doktor hat mir geholfen, als ich mich an ihn gewandt habe. Er hätte mich auffliegen lassen können. Er hat es nicht getan. Deshalb darf er jetzt auch nicht auffliegen. Er hat getan, was er konnte. Ich wußte nicht, daß es so viel sein würde. Und es war verdammt schwer, mir eine neue Identität zu verschaffen. Jetzt muß ich versuchen, sie wieder loszuwerden. Wie wird man seine falsche Identität los? Es ist einfach, wenn man seine alte danach wieder an118
nehmen kann. Ich kann mir das nicht leisten. Für mich gibt es keinen Weg zurück. Und vorwärts bedeutet Knast. Ich muß einen dritten Weg finden. Vor allem muß ich hier ‘raus. Die Falle darf erst hinter mir zuschnappen. - Ganz ruhig bleiben. Die beobachten mich. Also wissen sie auch, daß ich bei Dose & Wienhöft als Lagerist arbeite. Ein nicht allzu stupider Job. Bei bescheidenen Ansprüchen könnte ich davon leben und ein geruhsames bürgerliches Dasein fristen. Chemiestudent bricht sein Studium ab und jobbt in einer Arzneimittelgroßhandlung. Hört sich plausibel an. Trotzdem sollte der Job bei Dose & Wienhöft nichts für die Ewigkeit sein. War nur als Wiedereinstieg ins bürgerliche Leben gedacht. Später wollte ich versuchen, mein Studium wiederaufzunehmen. Später, wenn der Doktor es geschafft haben würde, mir noch Studienpapiere auf den Namen Welowczyk zu beschaffen. Kein Problem. Es sind schon ganz andere Papiere gefälscht worden. Das Problem hat sich erledigt. Da ist jetzt ein anderes: Wie komm ich hier ‘raus? Wahrscheinlich begleitet mich morgens ein Bulle zur Arbeit und nimmt mich auch abends wieder vor der Firma in Empfang. Tagsüber observieren sie mich wahrscheinlich nicht. Die wissen, daß ich in dem fensterlosen Lager arbeite und vor Feierabend nicht rauskomme. Oder vermuten sie, daß ich bei Dose & Wienhöft eine Anlaufstelle für die Genossen eingerichtet habe? Zu machen wäre das. Die beschäftigen ständig Aushilfsfahrer. Von de119
nen könnte jederzeit einer Kurieraufgaben übernehmen. Und wenn die da schon einen eingeschleust haben, um mich besser beobachten zu können? Zumindest in den letzten zwei Wochen ist niemand neu eingestellt worden. Das weiß ich positiv. Also begnügen sie sich wohl damit, mich an der langen Leine laufen zu lassen. Ich bin einstweilen noch ihr Langzeitobjekt. Trotzdem ist es eine Frage der Zeit, bis sie merken, daß über mich kein Weg zu den Genossen führt. Manchmal frage ich mich, warum die Genossen denen noch nicht signalisiert haben, daß ich ausgestiegen bin. Weil nach einem Exterroristen etwas weniger intensiv gefahndet wird. Das wollen die Genossen nicht. Jeder Mann, der von mir abgezogen wird, kann gegen sie eingesetzt werden. Das wollen sie auch nicht. Wenn sie mich nicht kriegen können, dann sollen mich wenigstens die Bullen haben. Ich will versuchen, mich zwischen den Fronten ins Niemandsland durchzuschlagen. Wie das aussehen wird, weiß ich noch nicht. Ich könnte versuchen… O verdammt verdammt verdammt - kann ich denn an nichts anderes denken? An Gisela… Aus der Traum. Die wird sich schön wundern, wenn ich sang- und klanglos verblühe. War ja auch der reine Schwachsinn, was mit ihr anzufangen. In meiner Situation… In meiner Situation. Schon wieder beim Thema. Ich will an was anderes denken, Herrgott noch mal… An den toten Briefträger meinetwegen. Warum haben sie den wohlumgelegt? Wegen des braunen Umschlags, klar. Und wer? Also, von uns 120
waren das keine. Doch idiotisch, die Ballerei. Sowas kann man doch ein bißchen eleganter machen. Also, bei uns hätte der überlebt. Wir haben erst gedacht und dann geschossen… Es hat keinen Sinn. Ich komm und komm nicht los von dem Kram. Ich möchte jetzt irgendwo auf einer Wiese liegen, mit Gisela, und mit der Seele baumeln. Steht irgendwo. Tucholsky. Aber meine Gedanken haben sich festgefressen, drehen sich immer nur um den einen Punkt. Ich komme mir vor wie ein Goldhamster im Laufrad. Als ich acht wurde, haben sie mir einen Goldhamster geschenkt. Gott, hab ich geflennt, als der eines Morgens tot im Käfig lag… Na ja, der Mensch ändert sich eben im Lauf der Zeit. Aber heute weiß ich, daß tote Industriekapitäne die Welt sowenig verändern wie tote Goldhamster… Stimmt logisch nicht ganz: daß der Tod von Industriekapitänen… Ach, scheiß doch drauf! Ich will hier ‘raus. Ich will kein toter Terrorist sein. Exterrorist. Also: Vor allen Dingen muß ich Zeit gewinnen. Mindestens zwei Tage. Einen Tag brauche ich, um die Papiere loszuwerden. Am zweiten Tag brauche ich die endgültige Lösung… Sagen wir, die vorläufige Lösung. Das bedeutet, irgendwo unterzutauchen, wo sie mich nicht finden. Da muß mir dann die endgültige Lösung einfallen. Ich besitze noch achttausend Mark. Alles in Hundertern. Sie stammen noch aus dem Überfall in Waibstadt. Eine unblutige Angelegenheit. War 121
eine dieser ländlichen Genossenschaftskassen, die damals noch keine Sicherheitsanlagen hatten. Der Leiter rückte den ganzen Bestand freiwillig ‘raus. Die Achttausend sind nicht mein Beuteanteil. Bei uns wurde nicht geteilt. Ich bekam fünfzehntausend mit auf den Weg, um bei unvorhergesehenen Zwischenfällen beweglich zu sein. Mein Aussteigen war ein solcher Zwischenfall. Aus meiner Sicht jedenfalls… Die restlichen achttausend müssen reichen, bis ich wieder Boden unter den Füßen habe. Hoffentlich weniger schwankend als jetzt. Zwei Tage gebe ich mir. Vorher dürfen sie mich nicht festnehmen. Von hier komm ich nicht ungesehen weg. Es gibt nur die Möglichkeit, vor Feierabend bei Dose & Wienhöft zu verschwinden. Fragt sich nur, wohin. Man müßte wissen, ob der Name Karsten Welowczyk schon in den Fahndungsunterlagen auftaucht. Möglicherweise nicht. Sie glauben mich hier so sicher an der Angel zu haben, daß sie den Namen offiziell gar nicht benutzen. Aber das müßte man eben genau wissen. Dann gäbe es verschiedene Möglichkeiten. Zumindest die Möglichkeit, aus Deutschland rauszukommen. Eine Galgenfrist. Sobald sie merken, daß Welowczyk weg ist, geht der Name so weltweit ‘raus, wie der Name Viehland schon draußen ist. Es bleibt dabei: Alle Papiere müssen verschwinden. Ich habe nicht das Recht, mich auf einen Zufall zu verlassen. Die Tarnung Karsten Welowczyk gehört der Vergangenheit an. Sie sind mir auf die 122
Spur gekommen. Ich kann nur versuchen, zu verhindern, daß sie auch noch meinen Helfern auf die Spur kommen. Das Spiel soll fair zu Ende gebracht werden. Zumindest die eine Spielhälfte. Oder kann ich mich als Karsten Welowczyk noch ins Ausland absetzen? Alles zu risikoreich. Ich muß irgendwo in Ruhe über alles nachdenken. Nur nicht hier.
9 „Nun erzählen Sie uns doch mal, wie Sie an den Brief gekommen sind.“ Der Mann vom Bundeskriminalamt wischte sich ein Staubkorn aus dem rechten Auge. Dabei sah er schräg zur Zimmerdecke hinauf und öffnete den Mund. Der Mann war als Herr Bieger vorgestellt worden. Katenkamp bezweifelte, daß er tatsächlich so hieß. Die vom BKA spielten möglicherweise auch Behörden gegenüber noch Verstecken. Neben Bieger saß ein Mann von der Hamburger Dienststelle. Er hielt die Hände im Schoß gefaltet und sah den Gast aus Wiesbaden von Zeit zu Zeit mit einem Ausdruck der Beflissenheit von der Seite an. Gleich zu Beginn des Gesprächs hatte er mehrfach betont, daß man in Hamburg keine Ahnung von der Anwesenheit Günther Viehlands in der Freien und Hansestadt gehabt habe, anderenfalls wäre selbstverständlich sofort eine entsprechende Meldung nach Wiesbaden… Bieger hatte diese Versicherungen jeweils mit einem gelangweilten Kopfnicken quittiert. 123
Jetzt sah er Katenkamp an. „Wie haben Sie denn den Brief gefunden?“ Bieger schien sich viel in der Natur aufzuhalten, oder auf der Sonnenbank. Seine Haut war gleichmäßig gebräunt. Die Augen unter den schmalen Brauen waren vermutlich schon zahlreichen Menschen als außerordentlich beweglich in Erinnerung geblieben. Der Typ des Jägers, dachte Katenkamp. „Ich habe den Brief überhaupt nicht gefunden, sondern meine Frau. Mehr ist dazu kaum zu sagen“, antwortete er. „Sind Sie über die besonderen Umstände unterrichtet worden?“ Der Mann aus Hamburg, ein Herr Johannsen, begleitete Biegers Frage mit einem eifrigen Kopfnicken. „Der Brief lag im Kasten. Ich sehe darin keinen besonderen Umstand“, erlaubte sich Katenkamp zu antworten. Bieger reagierte mit einem kurzen „So!“ Dann lächelte er unvermittelt nachsichtig. „Es ist nicht etwa geläutet worden, ich meine draußen am Haus oder wo sich die Klingeln befinden, um darauf aufmerksam zu machen, daß da bei Ihnen was im Kasten liegt?“ „Meines Wissens nicht“, antwortete Katenkamp präzise. „Der Brief kam also normal mit der Post?“ „Ja.“ Bieger gab sich mit der Antwort nicht zufrieden. „Wissen Sie das positiv?“ „Mir ist nichts anderes bekannt.“ 124
Bieger rieb sich wieder das rechte Auge. „Darüber wird Ihr Briefträger zu befragen sein.“ Klapprodt hatte bis dahin stumm an dem Konferenztisch gesessen. Jetzt sagte er mit einem leichten Grinsen: „Das stößt auf Schwierigkeiten. Der Mann ist wenige Minuten nach Zustellung des Briefes erschossen worden.“ Bieger richtete sich abrupt auf. „Warum steht davon nichts in der Meldung an uns?“ fragte er scharf. „Sehen Sie da Zusammenhänge?“ fragte Klapprodt zurück. Es hörte sich etwas kleinlaut an. „Wollen Sie Zusammenhänge ausschließen?“ setzte Bieger das Fragegeplänkel fort. „Was sagt denn der Täter?“ Katenkamp fühlte sich verpflichtet, für Klapprodt zu antworten. „Wir kennen die Täter noch nicht.“ „Wieso die Täter?“ mischte sich Johannsen ein. „Der Mann ist mit zwei Schüssen aus unterschiedlichen Waffen verschiedenen Kalibers erschossen worden. Das gerichtsmedizinische Gutachten geht davon aus, daß die beiden Schüsse aus unterschiedlichen Richtungen abgegeben wurden. Auch ein beidhändiger Schütze…“ Bieger winkte ungeduldig ab. „Geschenkt“, sagte er. „Motiv für die Tat?“ „Völlig offen“, antwortete Katenkamp. „Das Vorleben des Mannes…“ Wieder winkte Bieger ab. „Ich glaube Ihnen ja.“ Sein Tonfall hätte auch den Satz zugelassen: Wenn Sie sich intensiver um die Geschichte gekümmert 125
hätten oder nicht so unfähig wären, könnten Sie jetzt zumindest mit einem Motiv aufwarten, wenn schon nicht mit den Tätern. „Ich vermute, daß Viehland diesen an sich völlig albernen Brief unter allen Umständen wieder in seinen Besitz bringen wollte“, sagte Bieger mit dem Brustton der Überlegenheit dessen, der aus der Zentrale in die Provinz kommt. „Es gibt keine andere Erklärung für diese Wahnsinnstat, die sich ja wohl am hellen Vormittag ereignet hat. Ich kann Ihnen auch den Grund dafür nennen. Dieser Brief ist gegen alle Regeln unserer Terroristenfreunde geschrieben worden. Wir haben es mit der ersten Postsache zu tun, auf der er Fingerabdrücke hinterlassen hat. Die Panne sollte unter allen Umständen ausgebügelt werden. In gewisser Weise können wir uns dazu gratulieren. Auf diese Art verfügen wir wieder über einen Anhaltspunkt bezüglich des Aufenthalts von Viehland.“ Und Randulke mußte dafür sterben, dachte Katenkamp. „Viehland“, fuhr Bieger fort, „ist lange nicht in Erscheinung getreten. Genaugenommen liegen über ihn keine neueren Erkenntnisse vor. Wir haben ihn irgendwo in einem Ausbildungslager vermutet. Es spricht einiges dafür, daß er sich da tatsächlich aufgehalten hat. Sein Erscheinen in Hamburg läßt nichts Gutes erwarten.“ „Wir können mit einem Sprengstoffanschlag rechnen“, warf Johannsen ein. Klapprodt räusperte sich. „Das paßt alles nicht 126
zusammen“, sagte er schließlich zögernd. Bieger reagierte auf den Einwand mit einem Achselzucken. „Einstweilen noch nicht. Kindesentführung wäre eine völlig neue taktische Variante bei denen.“ Mit Entführung haben sie ja gar nicht gedroht, überlegte Katenkamp. „Wie man sieht, wollten sie von dem Versuch zurücktreten“, fuhr Bieger fort. „Dabei mußte der Postbote dran glauben.“ Er wandte sich an Katenkamp: „Solange Sie den Brief und den Mord voneinander getrennt sehen, können Sie auch auf kein Motiv stoßen. Zusätzlich ist bei denen eine Panne eingetreten, die überhaupt erst zu dem Mord geführt hat.“ Klapprodt sah Katenkamp an. Zwischen seinen Augenbrauen hatte sich eine senkrechte Falte gebildet. Das überzeugt Klapprodt auch nicht, dachte Katenkamp. Er mag es nur nicht sagen. Aber ich bin hier nur der kleine Kommissar, ich darf begriffsstutzig sein. „Dann gibt es also zwei Möglichkeiten“, formulierte er vorsichtig. „Entweder kam es ihnen nur darauf an, sich wieder in den Besitz des Briefes zu setzen - oder die ganze Aktion sollte nicht mehr stattfinden.“ „So ähnlich“, antwortete Bieger. „Jedenfalls können Sie ganz beruhigt sein. Ihrem Sohn passiert nichts mehr. Die ganze Geschichte hat zuviel Lärm gemacht.“ Johannsen meldete sich zu Wort: „Ich bin da nicht so sicher. Genau dieselbe Überlegung werden die auch schon angestellt haben. Normalerweise 127
kommt eine Aktion, die so spektakulär schiefgelaufen ist, nicht mehr zur Durchführung. Ich betone: normalerweise. Bei unserem Täterkreis müssen wir unterstellen, daß sie von ihrem Vorhaben nicht zurücktreten. Die können sich viel zu gut in unsere Lage versetzen.“ „Dann möchte ich die Sache noch etwas komplizieren“, sagte Klapprodt. „Dieser Viehland hält sich Gott weiß wo auf, nur nicht in Hamburg. Die Fingerabdrücke wurden in München, nur um einen Ort zu nennen, auf den unbeschrifteten Umschlag gesetzt. Der Umschlag kam in einem anderen Umschlag hierher, damit Sie nach einem Mann suchen, der sich weit vom Schuß ins Fäustchen lacht.“ „Ist das ironisch gemeint?“ fragte Bieger gekränkt. „Keineswegs“, sagte Klapprodt gelassen. „Ich dachte nur, weil wir gerade beim Spekulieren sind…“ „Von welcher Annahme gehen Sie denn aus?“ erkundigte sich Johannsen. Klapprodt stützte beide Ellenbogen auf die Tischplatte und faltete die Hände unter dem Kinn. „Ich bin hier Leiter der Mordkommission und verpflichtet, einen Fall aufzuklären. Das gedenke ich zu tun. Es sei denn, Sie nehmen mir die Sache offiziell aus der Hand. Dazu müßten Sie beweisen, daß der Fall einen eindeutig politischen Hintergrund aufweist. Das können Sie nicht. Also mache ich weiter. Was Sie machen, ist Ihre Sache.“ 128
Bieger und Johannsen wechselten einen schnellen Blick. Es trat eine Pause ein. An Jonathan denkt niemand mehr, dachte Katenkamp. Wenn ich es jetzt nicht tue, dann verlangt Erika morgen Polizeischutz für den Jungen. „Unter diesen Umständen…“ Bieger unterbrach ihn. „Das ist Ihr Standpunkt, Herr Kollege“, wandte er sich an Klapprodt. „Aber wollen wir uns hier um Kompetenzen streiten? Ich schlage vor, daß wir einstweilen zweigleisig arbeiten und unsere Erkenntnisse regelmäßig austauschen. Früher oder später wird sich herausstellen, wer von uns die besseren Karten hat.“ „Einverstanden“, sagte Klapprodt. Johannsen fixierte Katenkamp. „Dann werden wir uns noch ein bißchen mit Ihnen beschäftigen müssen. - Können Sie sich erklären, warum der Brief ausgerechnet an Sie gerichtet wurde? Sind Sie irgendwann einem aus der Terroristenszene in die Quere gekommen?“ „Wissentlich nicht.“ „Haben Sie sich irgendwann politisch betätigt?“ „Soweit ich Ihre Arbeitsweise kenne“, sagte Katenkamp, „haben Sie längst festgestellt, daß das nicht der Fall war.“ Johannsen lächelte vor sich hin. Katenkamp holte tief Luft. „Als einzigen konkreten Punkt haben wir die Bedrohung meines Stiefsohnes.“ „Na, na“, sagte Bieger leise. „Wir können das Kind ja in ein Heim bringen“, 129
schlug Johannsen vor. „Sicher nicht ohne Zustimmung der Mutter“, antwortete Katenkamp. Und die wird sie kaum geben, dachte er. „Eine Bewachung für den Jungen scheint mir angemessen.“ Bieger stieß die Luft hörbar durch die Nase. Dann kräuselte er die Lippen. „Das müßte sich machen lassen. Außerdem kann es nicht verkehrt sein, in Ihrer Umgebung für eine Weile einen unserer Leute zu installieren.“ Wie der das sagt, dachte Katenkamp, hört es sich an, als sollte ich zunächst mal unter die Lupe genommen werden. Bitte, sollen sie. Ich hab keinen Dreck am Stecken. Wissentlich bin ich mit keinem Terroristen in Berührung gekommen. Ich reagiere auf deren Aktivitäten wie die meisten Kollegen: mit einem Rechtsruck des Denkens. Seit BaaderMeinhof sind wir doch nur die Bullen und kriegen bei jeder Demonstration was vor die Schnauze. Wir verkörpern für die den Staat, also hält man sich an uns schadlos, weil die Verantwortlichen für die ganze Scheiße in den Parlamenten rumsitzen und sich bei den Demos nicht blicken lassen. Ich weiß, daß manche von uns am liebsten in Brockdorf mitdemonstriert hätten, aber wenn sie sich den vermummten und maskierten Gestalten gegenübersehen und die Steine fliegen, dann schlagen sie eben zu. Aus Notwehr. In solchen Situationen ist man nur noch wütend. „Lassen Sie uns mal machen“, sagte Johannsen. „Sie kümmern sich um gar nichts und machen weiter wie bisher.“ „Der Fall Randulke bleibt also bei uns?“ hakte 130
Klapprodt ein. „Einstweilen ja“, versicherte Bieger. „Sie halten uns über Ihre Ermittlungsergebnisse auf dem laufenden. Gegebenenfalls können wir unsere Maßnahmen koordinieren. Im übrigen gehen wir unsere eigenen Wege. Unsere Methoden müssen einfach anders sein als Ihre. Wir sehen uns einem anderen Täterkreis gegenüber.“ Zu Katenkamp gewandt: „Machen Sie sich keine Gedanken über Ihren Sohn. Wir behalten ihn im Auge. Lassen Sie ihn wie bisher zur Schule gehen und so weiter. Unsere Chance besteht darin, die Burschen herauszufordern,“ Bieger begann seine Papiere zusammenzulegen. Er stapelte die wenigen Blätter sorgfältig aufeinander, bevor er sie in eine dunkelbraune Mappe legte. Jonathan als Lockvogel, dachte Katenkamp. Taktisch ist das in Ordnung. Persönlich gefällt es mir nicht… Bieger und Johannsen erhoben sich. „Sie hören von uns“, sagte Johannsen zum Abschied. An der Tür wandte er sich noch einmal um. „Es ist möglich, daß Sie als Fachmann, Herr Katenkamp, unsere Leute erkennen. Treten Sie auf keinen Fall mit ihnen in Kontakt. Eine Enttarnung unserer Leute können wir uns nicht leisten. Sollten Sie eigene Beobachtungen machen, so teilen Sie uns die über Ihren Hauptkommissar mit. Das wär’s dann wohl.“ „Uff,“ machte Klapprodt, nachdem sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte. „Die hab ich gern! Aber es hätte schlimmer kommen 131
können. Den eigentlichen Fall haben sie uns wenigstens gelassen.“ „Ein schöner Fall“, sagte Katenkamp. „Brauchen Sie Unterstützung?“ „Ich wüßte nicht, wobei.“ Klapprodt strich sich über das Kinn. „Es gibt so Fälle, da läuft alles schief. Verlieren Sie den Mut nicht. Manchmal platzt der Knoten plötzlich. Aber anstrengen würde ich mich jetzt an Ihrer Stelle schon.“ „Die Konkurrenz schläft nicht“, meinte Katenkamp trocken. „Ob die mehr Erfolg haben als wir, das wollen wir erst mal abwarten!“ Klapprodt fuhr leiser fort: „Seien Sie beim Telefonieren in Zukunft ein bißchen vorsichtig. Wie ich die Brüder kenne, gehen die an Ihre Leitung. Ob sie das nun dürfen oder nicht.“ Katenkamp saß in der Steinstraße in einem Cafe. Die Sahnehaube auf seiner Tasse Schokolade fiel langsam in sich zusammen und bildete einen cremigen Teppich. Er starrte auf den Marmortisch und kam sich nutzlos vor. Am Nebentisch unterhielten sich zwei Frauen. Sie sind vom Finanzamt rübergekommen, dachte er. Haben auch keine Lust, ewig in der Kantine rumzusitzen, auch wenn der Kaffee da billiger ist. Nach dem Gespräch mit den Herren vom BKA hatte er Erika anrufen wollen, es dann aber unterlassen. Vielleicht wartete sie jetzt auf seinen Anruf. Ich habe ein ausgesprochenes Tief, dachte er. Aber anstrengen würde ich mich jetzt an Ihrer Stelle 132
schon - ja, was glaubte Klapprodt denn? Daß er sich bisher nicht angestrengt hatte? Gut, Klapprodt hätte einen ganz anderen Ton anschlagen können. Er war als Vorgesetzter schon ganz in Ordnung. Trotzdem hätte er sich den Satz sparen können. Ob ich Weber mal anrufe? Aber hier kann auch Weber nichts ausrichten. Auch mit all seiner Erfahrung nicht. Überhaupt war Weber immer erst beim Verhör richtig gut, wenn es darum ging, einen Täter in Widersprüche zu verwickeln, die Widersprüche scheinbar auf sich beruhen zu lassen, um dann plötzlich darauf zurückzukommen. Und besonders gut war Weber immer dann gewesen, wenn er einen altgedienten Ganoven vor sich hatte. Mit denen kam er am besten zurecht. Aber hier war niemand zu verhören. Sollte die Geschichte tatsächlich einen politischen Hintergrund haben, dann wußte Weber damit vermutlich nichts anzufangen. Auf politisch motivierte Täter sind wir alle nicht eingerichtet. Das Strafgesetzbuch sieht keine politischen Straftaten vor. Keine, wie sie heute vorkommen. Folglich wird bei unserer Ausbildung darauf nicht eingegangen. Wir wenden immer noch die alten Methoden an und wundern uns, wenn wir damit nicht weiterkommen… Eigentlich hat sich nur die Rauschgiftfahndung genau auf ihren Täterkreis eingestellt. Die gehen ‘rein in die Szene und mimen den miesen kleinen Dealer, der den Stoff so weit streckt, daß seine eigene Tagesration dabei abfällt. Oder sie laufen hochelegant rum und 133
lassen sogar Geld sehen, um an die großen Händler und Importeure ranzukommen… In bezug auf die politischen Gruppen stehen wir dumm da. Bei denen kann man keinen V-Mann einschleusen. Von denen muß sich schon mal einer absetzen, damit man Einblick in ihre Operationen erhält. Bei der Rauschgiftfahndung müßte man sein. Rauschgiftfahndung ist viel interessanter als Mordkommission. Vom kriminalistischen Standpunkt aus sind die meisten Morde langweilig. Ein Ehemann bringt seine Frau um. Jemand erschießt einen Bankkassierer. Sexualtäter vergeht sich an einem Kind und ermordet es aus Angst vor der Entdeckung… Traurig. Aber auch kriminalistisch interessant? Eher was für die Psychiater. Katenkamp trank die zerlaufene Sahne von der Schokolade. Rauschgiftfahndung? Er setzte die Tasse vorsichtig ab. An ihrer Außenwand lief ein hellbrauner Tropfen langsam nach unten. Die Schlandorf arbeitete in einer Arzneimittelgroßhandlung. Fällt da nicht auch Rauschgift an? Nicht direkt. Opiate allenfalls und natürlich Aufputschmittel. Und dieses beruhigende Zeug, die Tranquilizer. Keine uninteressante Ware, sobald jemand über genügend große Mengen verfügt und über die entsprechenden Abnehmer. An die Ware ranzukommen ist eine Sache, der Vertrieb eine andere. Vier Ausländer betraten das Cafe. Offenbar aus irgendeinem arabischen Staat. Lautstark diskutierten sie - über den günstigsten Tisch? - und warfen den beiden Damen vom Finanzamt interessierte 134
Blicke zu. Katenkamp fühlte sich in seinen Überlegungen gestört. Ließen sie sich überhaupt als ernsthaft bezeichnen? Die Schlandorf verfügte unter Umständen über die Möglichkeit, an größere Mengen rezeptpflichtiger Arzneimittel zu kommen. Aber das war bereits eine Unterstellung. In dieser Richtung etwas zu unternehmen kam dem Griff nach dem Strohhalm gleich. Eher lohnte schon eine Beschäftigung mit Randulkes Sohn. Die Mutter schwerkrank; der Vater geht fremd. Der Sohn beschließt, den Vater zu beseitigen. Und mit wessen Hilfe? Zu einem Mord gibt sich der beste Freund nicht her… Alles Spekulationen. Katenkamp legte das Geld für die Schokolade abgezählt auf den Tisch und brach auf. Ich verziehe mich am besten ins Rauschgiftdezernat, dachte er. Mal sehen, ob bei denen Erkenntnisse über die Firma Dose & Wienhöft vorliegen. Am besten in Verbindung mit dieser Schlandorf… Die Frau gefällt mir nicht. Oder nehme ich ihr nur das geringe Maß an Trauer über Randulkes Tod übel? Seine eigene Frau hat nicht weniger gefaßt reagiert. Und der Sohn stirbt auch nicht gerade vor Gram. Randulkes Tod scheint niemand tiefer zu berühren. Im Dezernat empfing ihn Thölke mit der Mitteilung: „Du sollst diese Frau hier anrufen.“ Er schob ihm einen Zettel hin. „Aufregende Stimme, muß ich schon sagen.“ Katenkamp las den Namen 135
Uta Schlandorf und zwei Telefonnummern. „Die zweite ist ihre Privatnummer“, sagte Thölke. „Scheint ein vielversprechendes Objekt zu sein. Oder täusche ich mich da?“ „Du täuschst dich nicht“, antwortete Katenkamp. „Die Frau hat mal als Bauchtänzerin in einer türkischen Tanzbar gearbeitet.“ Eigenartig, daß die Bemerkung der Wirklichkeit irgendwie nahekam. Vom Typ her paßte Uta Schlandorf in den Orient, wenn auch nicht unbedingt als Bauchtänzerin. Günther Thölke stieß einen leisen Pfiff aus. „So was fehlt mir noch in meiner Sammlung. Bestell sie doch her.“ „So tief werde ich nicht sinken, daß ich dir noch Frauen verschaffe“, sagte Katenkamp. „Du kommst ohne mich zurecht.“ „Die wahre Kollegialität ist das auch nicht“, murmelte Thölke. „Dann muß ich mein Glück eben auf eigene Faust versuchen.“ „Tu das“, sagte Katenkamp. „Aber warte damit, bis der Fall abgeschlossen ist, sonst könntest du wegen Zeugenbeeinflussung dran sein.“ Er griff nach einem Telefon und zog es zu sich heran. Dann wählte er die erste der beiden Nummern. Unter ihrer Privatnummer würde Uta Schlandorf noch nicht zu erreichen sein… Man verband ihn mit Uta Schlandorf. Klang ihre Stimme wirklich aufregend? Im Augenblick eher aufgeregt. „Kann ich Sie noch einmal sprechen?“ fragte sie. „Selbstverständlich. Sie können jederzeit etwas zu Protokoll geben.“ 136
„Muß das gleich so offiziell sein?“ „Auf Wunsch behandeln wir Informationen vertraulich.“ „Bis zu welchem Grad?“ „Ich verstehe Ihre Frage nicht.“ Uta Schlandorf schien sich eine Zigarette anzuzünden. Das metallische Klicken im Hintergrund konnte nur von einem Feuerzeug herrühren. Es folgte eine kurze Pause. „Sie verstehen meine Lage. Ich möchte nicht als Zeugin vor Gericht auftreten müssen. Seine Frau…“ Sie vollendete den Satz nicht. Was sollte dieses Kokettieren mit Möglichkeiten? „Sie dürfen uns zweckdienliche Mitteilungen nicht vorenthalten“, sagte Katenkamp scharf. „Ob man Sie später vor Gericht als Zeugin benötigt, das hängt von der Geständnisfreudigkeit der Täter ab. Aber die letzte Entscheidung darüber liegt beim Richter. Das fällt nicht in unsere Kompetenz.“ Die Winkelzüge der Schlandorf durfte er sich einfach nicht bieten lassen. Es war ja nicht so, daß es in diesem Fall von Zeugen nur so wimmelte. „Einen gewissen Einfluß können wir freilich ausüben“, setzte er versöhnlich hinzu. Er durfte sie auch nicht verprellen. „Ich schlage vor, daß wir uns zunächst mal vertraulich unterhalten. Danach sehen wir weiter.“ Der Vorschlag war unfair. Machte Uta Schlandorf eine wichtige Aussage, dann ließ sich das Auftauchen ihres Namens in den Akten überhaupt nicht vermeiden. „Das ist sehr nett von Ihnen.“ 137
Ihn störte der Beigeschmack von Flirt, der in ihrem Tonfall mitschwang. „Worum geht es denn nun?“ fragte er ungeduldig. „Das möchte ich Ihnen am Telefon nicht sagen.“ Frauen können stundenlang telefonieren, dachte er, bloß bei den wichtigen Sätzen wollen Sie einem dann doch Auge in Auge gegenübersitzen. „Ich kann noch einmal zu Ihnen kommen.“ „Bitte nicht“, sagte sie schnell. „Holen Sie mich um siebzehn Uhr vom Geschäft ab.“ „Einverstanden. Bis dann.“ Er legte auf. „Mit einer schönen Frau geht man aber nicht so ruppig um“, sagte Thölke. „Die schöne Frau will die Geheimnisvolle spielen.“ „Wie aufregend.“ Thölke verdrehte die Augen. „Im Außendienst müßte man sein, da lernt man wenigstens Weiber kennen.“ „Laß dich doch zur Sitte versetzen.“ „Das ist selbst mir zu gefährlich.“ Thölke wandte sich wieder seinen Akten zu. Anschließend rief Katenkamp zu Hause an. Erika war sofort am Apparat. „Hör zu“, sagte er, „Jonathan soll sich so normal wie möglich verhalten.“ Wie wollen die ihn eigentlich schützen, dachte er, wo sie nicht wissen, wie er aussieht? „Da er gar nicht mitgekriegt hat, was hier läuft, kommt es auf dich an. Bemuttere ihn nicht zu sehr, dann fällt ihm gar nichts auf.“ „Ich tue, was ich kann“, sagte Erika. „Ist sonst was passiert?“ 138
„Unser Telefon war gestört. Sie haben aber schon jemand vorbeigeschickt. Ich selbst habe von der Störung gar nichts bemerkt. Hast du die Post informiert?“ „Ja“, sagte er. Daß denen auch keine neuen Tricks einfielen. Zumindest unternahmen sie nun was. Über Einzelheiten brauchte Erika nicht informiert zu sein. Wo sie es nicht einmal für nötig hielten, ihn selbst zu informieren. „Rechne mal damit, daß ich einigermaßen pünktlich zu Hause bin.“ „Damit rechne ich lieber nicht.“ „Dann laß dich überraschen. Tschüs.“ Polizisten sollten nicht verheiratet sein, dachte er zum wiederholten Male. Das Familienleben leidet unter dem Beruf. Und manchmal womöglich der Beruf unter dem Familienleben. „Es paßt gut“, sagte Uta Schlandorf, als sie zu ihm ins Auto stieg, „mein Wagen ist sowieso in Reparatur. Sie können mich bei der Gelegenheit nach Hause fahren.“ Sie sah ihn von der Seite an und lächelte dabei. „Ich meine, wenn es nicht gegen irgendwelche Vorschriften verstößt.“ „Wenn ja, dann sind mir diese Vorschriften nicht bekannt.“ Er hatte den Eindruck, daß sie auf seine Hände starrte. Sollte er jetzt sagen, daß Erika und er übereingekommen waren, keine Eheringe zu tragen? Eigentlich war es Erikas Vorschlag gewesen. Sie empfand Eheringe als Besitzmarken. „Sie wissen ja wohl, wo ich wohne“, sagte Uta 139
Schlandorf. „Oder etwa nicht?“ „Doch. Leider habe ich mich bei Ihrem Sohn etwas eigenartig eingeführt. Manchmal…“ „Ich habe keinen Sohn“, warf sie ein. „Pardon. Das war eine Annahme von mir. Er hat sich auch nicht als Ihr Sohn ausgegeben.“ War er jetzt berechtigt, die Frage zu stellen, warum sich ein etwas verwahrlost aussehender junger Mann in ihrer Wohnung aufhielt? „Ein Student“, sagte sie. „Einer von unseren Aushilfsfahrern. Die Jungs sind manchmal handwerklich ganz begabt. Er repariert mir die Waschmaschine. Ich hoffe, daß sich nur das Abflußsieb zugesetzt hat. Ich hatte damit schon mal Ärger.“ So genau wollte ich’s gar nicht wissen, dachte er. Und so genau wollte sie es mir auch gar nicht erklären… Es ist ihr peinlich, daß ich den jungen Mann gesehen habe; deshalb holt sie so weit aus. Ob sie mit dem Mann was hat? Wahrscheinlich ist er in ihrem Bett geblieben, während sie am Morgen zur Arbeit fuhr. Jetzt ist ihr das peinlich, weil ich nun denke, daß sie Randulke betrogen hat. „Sie wollten mir eine Mitteilung machen“, sagte er. Was interessierte ihn ihr Liebesleben! „Ja“, sagte sie gedehnt. „Es fällt mir nicht leicht. Ich kann das auch nicht beweisen.“ „Es ist unsere Aufgabe, nach Beweisen zu suchen“, warf er ein. „Sie geben uns einen Hinweis, und wir gehen dem nach. Sollte dabei nichts herauskommen, dann werden wir Ihnen keinen Vorwurf machen.“ „Das beruhigt mich.“ Sie kramte eine Schachtel 140
Zigaretten aus der Handtasche. „Darf ich?“ Er nickte. „Leider kann ich Ihnen kein Feuer geben.“ „Danke, ich habe welches.“ Wie sie es sagte, bekam der Satz etwas Zweideutiges. „Es fällt mir nicht leicht.“ Sie rauchte eine Zigarette an. „Einem Toten soll man nichts Schlechtes nachsagen.“ „Es läßt sich manchmal nicht umgehen“, antwortete Katenkamp leichthin. „Sicherlich nicht.“ Sie rauchte nervös. „Nur, in diesem besonderen Fall… Ich weiß nicht, ob man bei einem Beamten die Hinterbliebenenversorgung nachträglich kürzen kann.“ Das weiß ich auch nicht, dachte Katenkamp. Er schwieg. Sie standen an einer Ampel. Uta Schlandorf drehte das Seitenfenster herunter und warf die halbgerauchte Zigarette aus dem Wagen. „Ich weiß auch gar nicht, ob da Zusammenhänge bestehen.“ Sie ließ das Schloß ihrer Handtasche aufschnappen. Gleich darauf drückte sie es wieder zu. „Vielleicht wissen Sie es auch längst. Er hat sich dienstlicher Verfehlungen schuldig gemacht.“ „Schwerer?“ fragte Katenkamp. Davon wissen wir nichts, dachte er. Und auch Randulkes Vorgesetzter weiß nichts davon. Oder hatte dieser Oberamtmann darüber nur nicht reden wollen? Kaum denkbar. Randulkes Personalakte war bis zum letzten Tag sauber geblieben. „Sie müssen seine Lage verstehen“, sagte Uta Schlandorf. „Die Frau, sein Sohn in der Ausbildung… Das war alles nicht so einfach für ihn. Da141
zu sein ganzer Charakter. Er nahm immer alles sehr schwer.“ Sie machte sich wieder am Schloß ihrer Handtasche zu schaffen. „Worin bestand seine Verfehlung denn nun?“ „Er hat sich Geld angeeignet.“ Wie kann ein Zusteller sich Geld aneignen, ohne daß es auffällt? „Einen größeren Betrag?“ „Für ihn war es viel.“ „Sie haben also keine Vorstellung von der Größenordnung?“ „Nur ungefähr.“ Sie bogen in die Baron-Voght-Straße ein. Er ließ den Wagen vor ihrem Haus ausrollen. „Was hat er Ihnen denn erzählt?“ „Wollen Sie hier im Wagen bleiben?“ fragte sie mit schleppender Stimme. Das hatte er vorgehabt. Er fühlte sich in ihrer Nähe nicht gerade unsicher, aber es gab da Augenblicke, in denen er sich fragte, ob sie es vielleicht auf eine Verführung ankommen lassen wollte. Andererseits: Was versprach sie sich von der RockhochMethode? Daß er den Fall Randulke im Sand verlaufen ließ? Einen so naiven Eindruck machte sie nicht. Wenn überhaupt, dann suchte sie wohl eher ein Abenteuer. Vielleicht fehlte ihr noch ein Kriminalbeamter in der Sammlung. „Wir erledigen das wohl tatsächlich besser bei Ihnen oben“, sagte er. Mochte sie ihr Glück versuchen. Er hatte nicht vor, sie weit kommen zu lassen. Ihre Wohnung verriet Geschmack. Zumindest 142
jenen Geschmack, der sich in einer gewissen Üppigkeit äußert. Uta Schlandorf bevorzugte Quellendes. Tiefe Sessel mit weichen Polstern und bauschigen Kissen. Vor den Fenstern hingen schwere Vorhänge. Die Möbel… Barock? Er verstand nichts davon. Aber wenn die echt waren, dann stellten sie vermutlich ein kleines Vermögen dar. Neben einem ausladenden Aufsatzsekretär hingen zwei Ikonen. Das Wohnzimmer hätte man bei schlechtem Willen als Boudoir bezeichnen können. Wohlwollender ausgedrückt: Die Umgebung paßte zu Uta Schlandorf. „Sherry?“ fragte sie. „Oder was Stärkeres?“ „Am liebsten Tee.“ Sie deutete ein Lachen an. „Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut. Dann muß ich ja in die Küche gehen.“ „Bitte. Darf ich mir inzwischen wohl die Hände waschen?“ „Gern. Die Tür gleich rechts. Der Schalter ist außen.“ Das Badezimmer war ganz in Weiß gehalten. Er ließ das Wasser laufen. Heinrich Randulke muß sich hier ziemlich fremd gefühlt haben, dachte er. Ob er wohl jemals diese breite Wanne benutzt hat? Vor das Bild des nackten Randulke in der weißen Wanne schob sich die Erinnerung an den niedergeschossenen und blutüberströmten Briefzusteller. „Ich bin hier“, rief Uta Schlandorf leise, als er aus dem Badezimmer kam. Sie stand vor dem Elektroherd in der Küche. Auch da eine nüchterne Ein143
richtung, aufgelockert durch bunte Wandteller. Offenbar Reisemitbringsel - aus Mexiko? Er kannte sich da sowenig aus wie mit Barockmöbeln. „Das Wasser kocht gleich.“ Sie kam ihm auf dem gefliesten Küchenboden entgegen. Zum erstenmal standen sie einander gegenüber. Sie könnte einen schon reizen, dachte er. Wenn ich jetzt Thölke wäre… „Wir waren bei dem Geld stehengeblieben“, sagte er. Man fängt nichts mit potentiellen Zeuginnen an. Außerdem wünsche ich mir für den ersten ernsthaften Krach mit Erika einen anderen Grund als eine andere Frau… „Hat er sich das Geld in seiner Eigenschaft als Zusteller angeeignet?“ War es Enttäuschung, daß sie sich abwandte? „Ja.“ „Der Post ist davon nichts bekannt.“ „Das habe ich befürchtet.“ Der Wasserkessel begann schrill zu pfeifen. Sie goß das kochende Wasser in eine hellblaue Porzellankanne. „Dann kommt es wohl jetzt erst an die große Glocke“, sagte sie über die Schulter. „Können Sie das Tablett nehmen?“ Sie reichte ihm ein ovales englisches Holztablett mit Messingintarsien. Er trug es ins Wohnzimmer. Die Tür daneben führte wohl in ihr Schlafzimmer. Für seinen Geschmack saß er zu tief in dem Sessel. „Falls sich herausstellt, daß diese Veruntreuung, darum handelt es sich ja wohl, nichts mit der Tat zu tun hat, dann dürfte es nicht so schwierig sein, das unter den Tisch fallen zu lassen“, behauptete 144
er. Sie lächelte ihn dankbar an. „Damit kann es eigentlich nichts zu tun haben. Jetzt, wo ich mir das überlege, finde ich, daß ich Ihnen damit gar nicht hätte kommen dürfen.“ „Na, was war’s denn nun?“ So spannend brauchte sie es nun auch wieder nicht zu machen. „In seinem Bezirk gab es bis vor einiger Zeit eine alte Frau. Schon sehr alt und fast blind. Ihr Sohn lebt in den Staaten, und wie das bei alten Menschen manchmal so kommt… Sie war ihrer Umgebung gegenüber sehr mißtrauisch geworden und kam mit den Hausbewohnern überhaupt nicht mehr zurecht. Er mußte ihr die Briefe vorlesen, und den Briefen lag immer Geld bei.“ Sie machte eine Pause. „Das hat er sich angeeignet.“ Sie griff nach der Teetasse. „Alles?“ Randulke bestahl eine alte Frau. Undenkbar. „Nein“, sagte sie. Die Hand mit der Teetasse zitterte leicht. „Ungefähr die Hälfte.“ „Stand denn nicht in den Briefen, wieviel Geld da beilag?“ „Ja…“ Uta Schlandorf beugte sich vor. Sie schlug die Beine übereinander. Ihr Rock rutschte bis über die Knie hinauf. „Er las ihr die Briefe doch vor. Da war es eine Kleinigkeit, auch falsche Zahlen anzugeben.“ Ohne sich dessen bewußt zu werden, starrte er auf ihre Knie. Eine etwas sehr phantastische Geschichte. „Die Frau lebt nicht mehr?“ Er stellte die Frage eigentlich nur, um Zeit zum Nachdenken 145
zu gewinnen. Randulkes Verfehlung ließ sich kaum nachweisen. „Sie ist vor einigen Monaten gestorben.“ Uta Schlandorf lehnte sich zurück. Sie lag jetzt fast auf ihrem dreisitzigen breiten Sofa mit den weichen Polstern. „Hat er auch die Antwortbriefe an den Sohn geschrieben?“ „Warum sollte er?“ „Bei ihrer geringen Sehkraft… Die alte Dame brauchte ja wohl auch jemand, der die Antwortbriefe für sie schrieb.“ „Schon möglich.“ „Da hätte dem Sohn auffallen müssen, daß seine Mutter sich für niedrigere Summen bedankte, als den Briefen tatsächlich beilagen.“ Wirklich? Bedankt man sich nicht einfach nur so für das Geld? „Mehr weiß ich nicht über diese Angelegenheit.“ Sie legte einen Arm hinter den Kopf, nahm ihn aber gleich darauf wieder zurück, als gefiele ihr die Pose selber nicht. Eine höchst eigenartige Geschichte. Sohn reist aus Amerika an, um den Mann niederzustrecken, der seine Mutter bestohlen hat. Reist nicht nur an, sondern bringt auch noch einen Helfer mit… „Sie wissen nicht zufällig den Namen der alten Dame?“ „Sie ist tot.“ „Das macht nichts. Ich möchte mich nachträglich ein bißchen mit ihr beschäftigen.“ Die Frau hatte in Randulkes Zustellbezirk gewohnt. Sehr viele alte Damen mit Söhnen in Amerika konnten da in letzter Zeit nicht gestorben sein. Am besten würde 146
sich das wohl über das Nachlaßgericht feststellen lassen. Danach fiel es nicht mehr schwer, sich mit dem Sohn in Verbindung zu setzen… Zeitraubend. Katenkamp dachte an den Mann vom Bundeskriminalamt. Unter Umständen verfügten die über Möglichkeiten, das Verfahren abzukürzen. Uta Schlandorf setzte sich wieder auf. „So hat er es mir jedenfalls erzählt.“ Sie zog den Rocksaum über die Knie. „Ich zweifle nicht daran.“ Er überlegte bereits, ob es einen Sinn hatte, sich noch einmal mit Oberamtmann Bruns in Verbindung zu setzen. „Ich danke Ihnen“, sagte er. Nach Aussage seiner Freundin befand sich auf Heinrich Randulkes weißer Weste nun zumindest ein Fleck. Denkbar, daß der Mann noch andere krumme Touren… „Sie haben uns vielleicht sehr geholfen.“ Die übliche Floskel. Katenkamp erhob sich. „Ich danke Ihnen für das Vertrauen.“ „Meinen Sie, daß sich das vertraulich behandeln läßt?“ Uta Schlandorf kam von dem Sofa hoch. Sie trat dicht an ihn heran. Er nahm den schwachen Duft eines Parfüms wahr. Es roch nach Orient und paßte zu ihrem Typ. „Ich denke doch“, sagte er vage. Das läßt sich überhaupt nicht vertraulich behandeln, dachte er. Sie griff nach seinen Revers. „Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar.“ Nun lehnte sie sich leicht gegen ihn. „Ich schäme mich.“ „Dazu besteht kein Grund.“ Wenn ich jetzt den Arm um sie lege, komme ich hier so schnell nicht 147
wieder ‘raus. Er trat einen Schritt zurück. „Doch, doch, das wird sich machen lassen. Ganz bestimmt.“ Sie ließ die Hände fallen. „Ich hätte keinem Menschen etwas davon gesagt, wenn nicht…“ Sie schien mit den Tränen zu kämpfen. „Ich verstehe“, sagte er. „Ob Sie mich wohl auf dem laufenden halten können?“ fragte sie an der Tür. „Man wird mich kaum offiziell benachrichtigen, wenn sich neue Aspekte ergeben. Ich war ja nur seine…“ Sie wandte sich ab. „Das sollte möglich sein“, antwortete er. Als er unten im Wagen saß, sah er einen Mann in das Haus gehen. Etwa dreißig Jahre alt, schlank, sehr korrekt gekleidet. Der Mann kam ihm irgendwie bekannt vor… Man sieht zu viele Menschen, dachte er und startete. In Verbindung mit dem Fall Randulke ist mir der Mann jedenfalls noch nicht begegnet.
10 Es hat geklappt. Sehr gut sogar. Ob es wirklich gut war, mit der Schlandorf was anzufangen, davon bin ich noch nicht überzeugt. Fest steht nur, daß sie unheimlich scharf ist. Unter normalen Umständen wäre sie genau richtig. Älter als ich und alleinstehend. Keine Kinder und einen deutlich bürgerlichen Hintergrund. Genau das, was einer wie ich braucht. Jedenfalls nach den Spielregeln des Untergrunds. Ältere Freundinnen sollen 148
einem einerseits einen gewissen emotionalen Halt geben, andererseits halten sie den Mund, falls sie wirklich merken, mit wem sie es zu tun haben. Bei älteren Frauen kann man auf der Klaviatur der Verlustängste spielen. Ich bin nicht sicher, ob das bei Uta klappt. Die Frau rutscht nicht vor einem auf den Knien, bloß damit sie weiterhin einen Schwanz im Bett hat. Utas Selbstbewußtsein ist völlig intakt. Die frißt einem nicht aus der Hand, bloß weil man ein bißchen Sexualakrobatik produziert. Sie hat es gern, gar keine Frage, aber ich bin sicher, daß sie knallhart sein kann, sobald etwas nicht so läuft, wie sie sich das vorstellt. Ich höre sie atmen. Ihre Körperwärme strahlt zu mir herüber, obwohl wir in diesem wahnsinnig breiten Bett keinen Körperkontakt mehr haben. Die Matratze ist etwas zu weich. Sonst ist es ein Irrsinnsbett. Die ganze Wohnung ist ein Irrsinn. Ich frage mich, wie sie sich die von ihrem Gehalt leisten kann. So üppig verdient sie bei Dose & Wienhöft bestimmt auch nicht. Ich frage mich vor allem, was sie von mir will. Ich scheine ihr irgendwie in den Kram zu passen. Sonst hätte sie es mir nicht so leicht gemacht. Man hat doch seine Erfahrungen mit Frauen. Und ich weiß außerdem, wie ich aussehe. Nicht gerade schlecht, aber auch nicht so, daß eine wie Uta in diesem Tempo auf mich fliegen müßte. Auch dann nicht, wenn ich mich anstrenge. Allerdings habe ich mich angestrengt. Bin unter einem blödsinnigen Vorwand in ihr Büro mar149
schiert und habe mich gleich rangeschmissen. Jetzt ist mir klar, daß sie sich innerlich über mich lustig gemacht haben muß. Schön, ich hatte mich vorher ein bißchen umgehört und erfahren, daß sie auf jüngere Männer stehen soll. Es hieß, sie hätte mindestens einen von unseren Aushilfsfahrern ins Bett gezerrt. So einen bulligen Typ mit Tätowierungen. Der Junge soll später in der Rauschgiftszene verschüttgegangen sein. Jedenfalls brauchte ich nicht lang rumzusülzen. Wenn ich es richtig überlege, dann ging die Initiative am Ende sogar von ihr aus. „Es führt zu weit, wenn wir das jetzt hier alles erörtern wollen. Wenn Sie weiter nichts vorhaben, dann kommen Sie doch heute abend mal bei mir vorbei. Da können wir in Ruhe reden.“ Damit war ja wohl alles gesagt. „Und wenn Sie den Aktenvernichter mal benutzen wollen, bitte. Wir haben alle unsere kleinen Geheimnisse, die wir auf Nimmerwiedersehen aus der Welt schaffen möchten.“ Dazu ein verschwörerisches Lächeln. Meine Papiere bin ich also los. Sie liegen zu Staubkorngröße zermahlen in dem blauen Plastiksack unter dem Aktenvernichter. Karsten Welowczyk gibt es nicht mehr. Jedenfalls keine Papiere auf diesen Namen. Normalerweise würde ich sie jetzt als verloren melden und nach einiger Zeit neue ausgestellt bekommen; nun restlos einwandfreie, deren Herkunft sich nur bis zu meinem zuständigen Einwohnermeldeamt zurückverfolgen ließe. Normalerweise. Tatsächlich kann ich es mir 150
nicht leisten, zur Polizei zu gehen. Das heißt, leisten schon. Es ist nur sinnlos geworden. Die Bullen wissen, daß es sich um Günther Viehland handelt, der da neue Papiere auf den Namen Karsten Welowczyk ausgestellt haben will. Aber ich bin kein Selbstmörder; ich will nicht wissen, bis zu welchem Punkt sie das Spiel mitspielen würden. Aus taktischen Gründen vielleicht noch eine ganze Weile, weil sie glauben, auf diese Weise an die Genossen herankommen zu können. Das ließe sich unter Umständen sogar machen. Eine konspirative Wohnung hier in Hamburg kenne ich noch. Ich weiß zwar nicht, wer sie im Augenblick benutzt. Aber ich brauchte die Adresse nur als meinen neuen Wohnsitz anzugeben, dann würden die Bullen die Räume schon unter die Lupe nehmen und dort früher oder später fündig werden. Es ist genau das, was ich nicht will. Ich bin kein Verräter. Ich bin nur Aussteiger. Der Doktor ist blaß geworden, als er das verabredete Zeichen gesehen hat. Er braucht keine Angst zu haben. Soweit kriegen mich die Bullen nicht, daß ich irgend etwas preisgebe. Die Bullen dürfen mich überhaupt nicht kriegen. Ich muß mir was einfallen lassen. Etwas Sinnvolles. Es hat keinen Zweck, einfach nach Holland oder Österreich abzuhauen. Das Problem besteht nicht darin, unkontrolliert über die Grenze zu kommen. Über die Grenze kommt man immer. Aber wie dann weiter? Eine Möglichkeit wäre, den Touristen zu spielen. In den kleinen Hotels und Pensionen Hollands und 151
Österreichs fragt man nicht nach Papieren. Man braucht nur alle drei Wochen den Ort zu wechseln, dann fällt man nirgends auf und geht als normaler Urlauber durch. Zumindest wäre das eine Zwischenlösung. Ich hätte Zeit gewonnen. Österreich wäre besser. Da ergeben sich keine Sprachprobleme. Und in Wien könnte ich vielleicht wieder zu Papieren kommen. Die Wiener Unterwelt ist leistungsfähig, effizient. Obwohl… Mit der Unterwelt sollte sich einer wie ich nicht einlassen. Einen wie mich liefern die Ganoven ans Messer. Vorausgesetzt, ich bin dumm genug, die merken zu lassen, weshalb ich die Papiere brauche. Das hat alles nur einen Haken. Ohne Geld läuft nichts. Mit meinen paar Scheinen komm ich nicht weit. Wie komm ich also an Geld? Banküberfall? Mittlerweile aussichtslos als Einzelgänger. Wir haben die Erfahrung gemacht, daß es selbst als Gruppenunternehmen kaum noch funktioniert. Alles zu gut abgesichert, zu risikoreich. Trotzdem brauche ich Geld. Und nicht zuwenig. Wenn, dann muß es sich lohnen. Es ist teuer, auf der Flucht zu sein. Und ich darf nicht nach drei Monaten schon wieder vor der Frage stehen, wie ich zu Geld komme. Das einmalige Risiko ist eigentlich schon zu hoch. Alles große Scheiße. Ich wollte aussteigen und nie wieder an einer krummen Sache beteiligt sein. Um das durchhalten zu können, muß ich mir jetzt eine krumme Sache einfallen lassen. Die Situation zwingt mich dazu. Die Bullen zwingen mich dazu. Aus dem politischen Untergrund in den krimi152
nellen Untergrund. Es ist absurd. Trotzdem. Lieber in einer absurden Situation als im Hochsicherheitstrakt. Ich müßte wissen, wieviel Zeit ich habe. Sobald die merken, daß ich in der Jütlander Allee nicht mehr zu erreichen bin, treten sie bei Dose & Wienhöft in Erscheinung. Ich merke, wie ich anfange zu schwitzen. War ich heute abend vorsichtig genug? Hat es genügt, den Umweg über Ohlsdorf zu machen und zweimal in letzter Sekunde wieder aus der S-Bahn zu springen? Nach meiner Meinung hat es genügt, sie abzuschütteln. Zuletzt habe ich mir in Othmarschen ein Taxi genommen und den Wagen auf der Jürgensallee halten lassen. Ich bin ziemlich sicher, daß mir niemand gefolgt ist. Lassen sie sich auf das Spiel längere Zeit ein, oder schlagen sie nun sofort zu, sobald sie mich irgendwo entdecken? Früher habe ich mich sicher gefühlt und auf solche Vorsichtsmaßnahmen verzichtet. Spätestens jetzt wissen sie, daß ich mich verfolgt fühle. Nun hängt es davon ab, ob sie die Hoffnung aufgeben, auf dem Umweg über mich an die Genossen ranzukommen, und sich mit meiner Festnahme begnügen. Nach meinem heutigen Verhalten müssen sie damit rechnen, daß ich ihnen auch noch durch die Lappen gehe. Merken sie, daß die Falle in der Jütlander Allee leer ist, kommen sie zu Dose & Wienhöft. Dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie sich bei Uta nach mir erkundigen. Erstens: Ich darf mich bei Dose & Wienhöft nicht mehr blicken lassen. Vorerst werde ich mich 153
krank melden. Dann bleibt ihnen noch ein Rest Hoffnung, und sie lösen vielleicht nicht gleich die Großfahndung aus. Auch Bullen glauben manchmal an Wunder. Zweitens: Ich muß erreichen, daß Uta sich dumm stellt, falls sie nach mir fragen. Herrgott, es war ein Fehler, bei ihr unterkriechen zu wollen. Unbürgerlich ist die nur, wenn es darum geht, mit einem Kerl ins Bett zu springen. Sonst ist sie wahrscheinlich genauso bürgerlich wie diese halbfeudale Umgebung. Bloß nichts mit der Polizei zu tun kriegen. Bloß wegen zwei Nummern wirft die noch nicht ihre Grundsätze über Bord. Gut, zwei hervorragende Nummern. Für mich jedenfalls. Aber auch für sie? Ich hatte während der ganzen Zeit das Gefühl, nicht richtig an sie ranzukommen. Irgendwie war sie nicht voll da. Aber was verstehe ich schon von solchen Frauen. Sie schläft unruhig. Falls sie schläft. Sie atmet zu gleichmäßig. Ich weiß, wie sich jemand verhält, der sich schlafend stellt. Er verhält sich zu ruhig. Ich habe sie atmen hören, wenn sie schliefen und wenn sie sich schlafend stellten. Ich kenne die Geräusche der Schlafenden und der Wachenden aus Wohngemeinschaften, aus den Zelten unserer Ausbildungslager und aus unseren konspirativen Wohnungen. Einzelzimmer waren für uns bürgerlicher Luxus. Wir wollten als Gruppe existieren. Und wir wollten und sollten uns gegenseitig kontrollieren können. Wer allein ist, fängt an, sich eigene Gedanken zu machen. 154
Vielleicht sollte ich jetzt mit ihr reden. Ihr wenigstens die halbe Wahrheit sagen. Ihr erzählen, daß man mich sucht, und dann sehen, wie sie reagiert. Sie braucht nicht zu wissen, weshalb man mich sucht. Es genügt, wenn sie weiß, daß ich hier verschwinden muß. Um nicht in die Geschichte hineingezogen zu werden, hilft sie mir unter Umständen weiter. Ich könnte versuchen, ihre bürgerliche Angst vor der Polizei auszunutzen. Ich könnte ihr erzählen, daß ich zu Freunden nach Süddeutschland muß. Das könnte sie sogar den Bullen erzählen. Die würden sofort davon ausgehen, daß ich eine falsche Spur legen wollte, und ihre Suche auf den norddeutschen Raum konzentrieren. Bullen sind so programmiert. Die unterstellen immer das Gegenteil als wahr. Das Problem ist, daß ich einen Vorsprung brauche. Und Geld… Geld kann ich von ihr bestimmt nicht kriegen. Höchstens ein paar Mark für eine Fahrkarte. Auf die paar Mark bin ich nicht angewiesen. Ich brauch ein paar Tausender. Sie hätte das Geld. Das weiß ich. Bevor wir vorhin zur Sache kamen, machte sie eine Bemerkung in dieser Richtung. Wie war das noch? „An Geld kann man immer kommen. Man muß es nur richtig anfangen.“ So ähnlich hat sie sich ausgedrückt. Oder sprach sie von „gewissen Möglichkeiten“? Ich hätte da nachhaken sollen. Aber ich war einfach zu geil. Seit Monaten keine Frau gehabt, und nun gleich Uta. Sexbombe hätte man früher gesagt. Sie schien es fast noch nötiger zu haben als ich… Nicht mehr 155
dran denken. Wie war das mit den Möglichkeiten? Ich hab da mal eine Bemerkung aufgeschnappt. Gleich zu Anfang, als ich erst ein paar Tage bei Dose & Wienhöft war. Es war in der Kaffeepause. Jemand sagte: „Wenn man von dem Zeug hier was abzweigen könnte, dann hätte man ausgesorgt.“ Die Antwort war sinngemäß gewesen: „Ich wette, daß hier was abgezweigt wird.“ Und dann die Bemerkung: „Dazu müßte man schon im Einkauf sitzen.“ Klar, beim Einkauf gehen die Bestellungen ‘raus. Die Pharmaindustrie liefert, was bestellt wird. Je mehr, desto besser. Wenn jemand die Möglichkeit hätte, Bestellungen aufzugeben, könnte er an alles rankommen. Nicht gerade an Heroin, aber an alles, was rezeptpflichtig ist und in der Szene Geld bringt. Die Firmen liefern, solange die Rechnungen bezahlt werden. Uta macht bei Dose & Wienhöft den Einkauf. Ich hab keine Ahnung, wie das im Büro läuft. Aber nehmen wir mal an, jemand bestellt irgendwelches Zeug und bezahlt es auch, dann kümmert sich keine Sau mehr darum, was mit dem Kram passiert. Eine einfache Sache. Das Problem besteht nur darin, zu verhindern, daß die Lieferungen im Lager landen. Wir im Lager führen genau Buch und haben einen genauen Überblick über den Bestand. Bei uns kann nichts verschwinden. Aber die Kontrolle setzt eben erst bei uns im Lager ein. Was bei uns gar nicht erst ankommt, das ist praktisch nicht vorhanden. Da müßte schon jemand - wer? Uta? - einen Weg gefunden haben, bestimmte Sendungen umzuleiten. 156
Ein genial einfaches System. Sie schläft genausowenig wie ich. So bewegt sich niemand im Schlaf. Ihre Bewegungen sind zu kontrolliert. Ich könnte sie jetzt überrumpeln und ihr auf den Kopf zusagen, daß sie krumme Geschäfte macht. Und was hätte ich damit erreicht? Daß sie sich erpreßt fühlt. Erpressung ist ein unsicheres Geschäft. Vor allem dann, wenn man nicht über Beweise verfügt. Und ich brauche Beweise, ehe ich es wagen kann, Druck auf sie auszuüben. Keine Erpressung. Nur ein Vorschlag. Der Vorschlag, daß ich für einen bestimmten Betrag für immer von der Bildfläche verschwinde. Ich will aus der Sache kein Dauergeschäft machen. Ich bin kein Krimineller. Ich muß sie überzeugen, daß es auch in ihrem Interesse ist, wenn ich verschwinden kann. Sie muß froh sein, den Mitwisser loszuwerden. Dann hält sie automatisch den Mund und behauptet auch ohne mein Zutun, daß ich nie bei ihr war. Die Konstruktion ist noch nicht schlüssig. Damit, daß sie irgendwelches Zeug in größeren Mengen bezieht, hat sie noch keinen Pfennig daran verdient. Sie braucht Abnehmer. Eben hat sie sich im Bett aufgerichtet. Ja, ich habe es auch gehört. Das Telefon neben ihrem Bett läutet. Es ist nur ein leises Schnurren. Fast unhörbar für jemand, der schläft. Aber ich schlafe nicht. Ich liege mit angewinkelten Beinen in dem Riesenbett, habe mit der linken Hand die Augen bedeckt und stelle mich schlafend. Sie nimmt den Hörer ab und flüstert „Gleich“ in 157
die Muschel. Nun schiebt sie sich langsam aus dem Bett. Hinter der Hand öffne ich die Augen einen Spalt breit und sehe gegen das Fenster ihre Silhouette. Sehe die schweren Brüste und den runden Hintern im Profil. Wieder frage ich mich, warum sie’s mir so leicht gemacht hat. Diese Frau ist auf einen wie mich nicht angewiesen. Mit dem Telefon in der Hand schleicht sie aus dem Zimmer. Die Schnur spannt sich über das Fußende des Bettes. Sie ist jetzt auf dem Flur und zieht die Schlafzimmertür hinter sich zu. Wegen der Telefonschnur kann sie die Tür nicht völlig schließen. Ich höre sie flüstern. „Mitten in der Nacht“, sagte sie. Ihr Flüstern klingt verärgert und scharf. „Geht nicht. Es ist jemand bei mir.“ Das bin ich. Die Pause ist lang. „Ich sage: es geht nicht. Ihr habt genug Scheiße gebaut.“ Trotz des Flüsterns hat ihre Stimme einen vulgären Unterton bekommen. „Ich kann ihn nicht wegschicken. Ich brauche ihn für uns.“ Interessant zu hören. Das paßt in meine Theorie. Um ihre Ware an den Mann bringen zu können, braucht sie Helfer. Aber nicht mich! Ich bin doch kein Idiot. Aus der Terroristenszene ‘raus und in den illegalen Arzneimittelhandel ‘rein - das fehlt mir gerade! Die Bullen von der Rauschgiftfahndung sind mir zu clever. Denen ist gelungen, was das Bundeskriminalamt nie geschafft hat: die Szene zu unterwandern. „Rührt euch nicht vom 158
Fleck. Noch tappen die völlig im dunklen.“ Pause. „Klar waren sie bei mir…“ Die Dame befindet sich also selbst in Schwierigkeiten. Oder interpretiere ich das falsch? „Schluß jetzt; ihr bleibt, wo ihr seid… Das wird sich finden. Und ruft hier nicht an.“ Sie hat aufgelegt. Ich lasse die Hand von der Stirn gleiten. Jeder Schläfer verändert in bestimmten Intervallen seine Position. Sobald sie zurückkommt, werde ich mich auf die andere Seite wälzen und so signalisieren, daß ich die Störung im Unterbewußtsein wahrgenommen habe. Nun schleicht sie sich wieder ins Bett. Ich könnte die Hand ausstrecken und ihren warmen Körper berühren. Mir ist nicht danach. Plötzlich fühle ich mich nicht mehr wohl in diesem Bett. Ihre Helfer haben Scheiße gebaut, und bei denen, die bei ihr waren, kann es sich nur um Bullen handeln. Uta Schlandorf hat also Schwierigkeiten. Keine empfehlenswerte Gesellschaft für mich. Trotzdem kann ich es mir nicht leisten, sofort den Abflug zu machen. Ich brauche mehr Informationen über Uta und ihre Geschäfte und ihre Schwierigkeiten. Je mehr ich weiß, desto höher kann ich meine Forderungen schrauben. Und sie braucht mich! Gut. Bevor sie mich für sich einspannen kann, muß sie mich bis zu einem gewissen Grade in ihre Geschäfte einweihen. Die Informationen werde ich gegen sie verwenden. Ich werd ihr keinen Strick daraus drehen. Nur einen kleinen Aderlaß vornehmen. Wer mit irgendwelchen Drogen handelt, ist ein Verbrecher. Drogen vernebeln das Bewußtsein und machen 159
blind für die gesellschaftlichen Realitäten. Zumindest zu dem Satz stehe ich noch, auch wenn mich das ganze linke Gequatsche nicht mehr interessiert. Ich werde noch vierundzwanzig Stunden warten. Das heißt, ich werde morgen noch einmal in der Firma erscheinen und mich intensiver umhören. Sie unternimmt wahrscheinlich morgen beim Frühstück den Versuch, mich für ihre Pläne zu gewinnen. Ich werde mich nicht mehr sträuben als unbedingt nötig. Aber ein bißchen werd ich mich sträuben. Ich kenn das Geschäft der Illegalität zu gut. Wer sofort mitmacht, der macht sich verdächtig. Jetzt schläft sie wirklich. Vermutlich hat sie die ganze Zeit auf diesen Anruf gewartet… Ich muß rauskriegen, wer da angerufen hat, verdammt noch mal. Ich bin gespannt, wie sie es morgen früh anstellt…Ich bin zu müde, um mir darüber noch Gedanken machen zukönnen.
11 „Was passiert denn nun konkret?“ fragte Erika. Sie hatte ein Handtuch um den Kopf gewickelt. Im Nacken waren einige Haarspitzen frei geblieben. Aus den nassen Strähnen liefen ihr Wassertropfen langsam über den Nacken. Mit frischgewaschenen Haaren mag ich sie sehr, dachte Katenkamp. Dieser Handtuchturban steht ihr… „Jonathan soll sich ganz normal verhalten“, 160
sagte er. „Kinder verhalten sich immer normal, solange Erwachsene sie nicht beeinflussen. Damit Jonathan sich nicht normal verhält, müßten wir ihn schon in die ganze Angelegenheit einweihen. Ist das vorgesehen?“ „Natürlich nicht.“ „Was ist denn nun vorgesehen?“ Sie betrachtete ihre Fingernägel, von denen der hellrote Lack an einigen Stellen abgesplittert war. „Jonathan soll morgen wieder zur Schule gehen und auch draußen spielen, wenn er Lust dazu hat. Er wird bewacht.“ „Von wem?“ „Das weiß ich nicht.“ „Also läßt sich in keiner Weise kontrollieren, ob er überhaupt bewacht wird.“ „Bitte!“ Er schlug die Fernsehzeitschrift zu. „Du kannst unmöglich verlangen, daß man dir die Herren einzeln vorstellt.“ „Ich möchte aber wissen, an wen ich mich wenden kann, falls ich eine zweckdienliche Beobachtung mache. So heißt das ja wohl in eurem Jargon.“ „Du kannst dich an mich wenden.“ Erika verzog den Mund zu einem skeptischen Lächeln. „Was fängst du dann mit meiner Mitteilung an, wenn ich mal fragen darf?“ „Ich leite sie weiter. Was denn sonst.“ „Ziemlich umständlich, nicht?“ Katenkamp zuckte die Achseln. „So wörtlich war 161
das nicht gemeint. Du kannst selbstverständlich jeden Kollegen informieren. Heidelbach zum Beispiel oder meinetwegen auch Klapprodt. Die veranlassen dann das Notwendige.“ „Hoffentlich.“ „Mit Sicherheit.“ „Davon bin ich noch nicht überzeugt.“ „Wollen wir uns hier noch lange im Kreise drehen?“ fragte er. Sie griff nach dem Fläschchen mit dem Nagellackentferner und zupfte Watte aus einem Plastikbeutel. „Ich weiß, du magst es nicht, wenn ich mir die Nägel lackiere.“ „Es sieht sehr schön aus. Der Vorgang als solcher begeistert mich nicht.“ „Auf mich wirkt er beruhigend.“ „Dann fang bitte an.“ Sie hatte ja recht. Er wußte tatsächlich nicht, was nun konkret passieren würde. Das Bundeskriminalamt läßt sich von einem kleinen Kommissar nicht in die Karten gucken… Er überlegte, ob er versuchen sollte, ihr das klarzumachen. „Begreifst du denn nicht“, sagte sie, „hier ist ein Top-Terrorist im Spiel, und ich soll seelenruhig dasitzen und so tun, als wäre gar nichts passiert.“ „Es beruhigt mich, daß ein Terrorist im Spiel ist“, sagte er und machte den Versuch, sie zuversichtlich anzulächeln. Warum regt mich das alles gar nicht so sehr auf, überlegte er. Weil Jonathan nicht mein Sohn ist? Das kann eigentlich nicht der Grund sein. Mein Verhältnis zu Jonathan ist in 162
Ordnung. Ich weiß zwar nicht genau, was väterliche Gefühle sind, aber sollte dem Jungen etwas zustoßen, dann… Doch. Ich würde um ihn weinen. „Dich beruhigt das also!“ Erika starrte ihn empört an. „Ich versteh nicht, wie du da so ruhig bleiben kannst! Ich jedenfalls hab den ganzen Tag über hier gesessen und nur Angst gehabt. Nichts als Angst… Verstehst du das denn nicht?“ Katenkamp rollte die Fernsehzeitschrift zu einer dicken Röhre zusammen. „Selbstverständlich versteh ich das. Nur… Schau…“ „Red mit mir nicht wie mit einem Kind!“ unterbrach sie ihn. „Ich kann auch komplizierteren Gedankengängen durchaus schon folgen.“ „Das bezweifle ich nicht. Ich will auch nur sagen, daß Terroristen sich bisher noch nie an Kindern vergriffen haben. Selbst nicht an Kindern von Spitzenmanagern oder Politikern. Ihre Grundidee ist ja wohl immer noch, Sympathisanten zu gewinnen und ihre Bewegung auf eine breitere Basis zu stellen. Sobald sie Kindern etwas antun, verlieren sie noch mehr Anhänger.“ „Die stehen doch mit dem Rücken an der Wand. In ihrer Situation sind die wahrscheinlich zu allem fähig. Woher willst du wissen, ob sie ihre Taktik nicht geändert haben? Vielleicht nimmt man jetzt Familienangehörige von Polizisten aufs Korn, um euren Fahndungseifer etwas zu bremsen.“ Erikas Handtuchturban war ins Rutschen gekommen. Mit einer energischen Handbewegung drückte sie ihn wieder fest auf die frischgewaschenen Haare. 163
„Nee, du: Da würden sie, um die nötige Publicity zu kriegen, das Kind von einem Popstar entführen oder so. Da fangen sie doch nicht bei einem kleinen Licht wie mir an!“ Sie lächelte kurz. „Immerhin ein Licht.“ Sie nahm ihm die zusammengerollte Fernsehzeitung aus der Hand. „Ich versuche ja, ruhig zu bleiben. Nur gelingt mir das eben nicht.“ Sie legte die Zeitschrift auf den Fernsehapparat. „Du bist ja auch nervös“, sagte sie. „Ich hab mir meine Gedanken gemacht.“ Sie setzte sich neben ihn. „Diese Leute sind nicht dumm, das wissen wir. Denen fallen die Schutzmaßnahmen für Jonathan sofort auf. Du siehst, ich bestreite gar nicht, daß diese Maßnahmen getroffen worden sind… Im günstigsten Falle geben sie dann ihr Vorhaben auf. Ich bezweifle nur, ob sie uns davon freundlicherweise Mitteilung machen.“ „Kaum“, gab er zu. „Also kann dieser Zustand der Ungewißheit ewig dauern.“ „Benutzt du ein neues Shampoo?“ fragte er. „Es gefällt mir.“ „Lenk nicht ab. Stimmst du mir zu?“ „Daß man diesen Viehland festnehmen könnte, ziehst du überhaupt nicht in Betracht.“ „Ganz am Rande“, sagte sie. „Diese Leute operieren als Gruppe, als Bande, wenn dir das lieber ist. Da macht es kaum was aus, ob einer ausfällt oder nicht. Ihr habt die Fingerabdrücke von diesem Viehland. Der operiert ja nicht allein. Wißt ihr, wer 164
sonst noch auf der Lauer liegt?“ „Die Herren vom BKA sind über Viehlands Auftauchen schon erstaunt genug. Der ist lange nicht in Erscheinung getreten.“ „Ich habe ihn mir mal auf einem dieser Terroristen-Plakate angesehen. Weißt du, mit wem er eine gewisse Ähnlichkeit aufweist?“ „Keine Ahnung.“ „Mit diesem netten jungen Mann, der über uns wohnt.“ Katenkamp lachte. „Ich hab noch gar nicht gemerkt, daß über uns ein netter junger Mann wohnt.“ „Wirklich“, sagte sie. „Denk dir den Bart weg und stell dir den Viehland mit einer anderen Frisur vor, dann ist da eine gewisse Ähnlichkeit. Zumindest die Augenpartie… Seine Augen kann man nicht verändern.“ „Wie heißt denn der nette junge Mann über uns?“ Er sah Erika von der Seite an. „Über meine Eifersucht reden wir später.“ „Vertane Zeit“, sagte sie. „Er heißt Welowczyk oder so ähnlich. Der Name steht auf dem Klingelschild.“ „Und der hat also Ähnlichkeit mit diesem Viehland?“ Katenkamp griff nach Erikas Hand. „Wenn das so ist, dann wollen wir den Mann mal schnell vergessen. Oder kannst du dir vorstellen, daß jemand so dämlich ist, im eigenen Hause einen Erpressungsversuch zu starten?“ „Ich kann mir alles mögliche vorstellen.“ Sie 165
entzog ihm die Hand. „Das nun allerdings nicht. Dagegen könnte ich mir vorstellen, daß du mich heute betrogen hast.“ „Bist du wahnsinnig?“ Katenkamp lehnte sich zurück und sah sie verblüfft an. War die Bemerkung ernst gemeint? „Sieh mich bitte nicht so an.“ Erika schob beide Hände in die Taschen ihres Bademantels. Sie hob die Schultern und saß kampfbereit da. „Mußte das denn wirklich sein?“ fragte sie leise. „Ausgerechnet in dieser Situation? Oder ist das deine Form, extreme Spannungen abzubauen. Ich will das nicht dramatisieren, nur…“ Sie vollendete den Satz nicht. Ob ich jetzt entgeistert aussehe? dachte er. Ist es womöglich ihre Art, in bestimmten Situationen haltlose Vorwürfe aus der Luft zu greifen? „Du, ich weiß nicht, wovon du redest.“ „Dann will ich es dir sagen. Die Dame war zu stark parfümiert.“ Sie sprach schnell. „Wenn der Duft auch nur einigermaßen zu ihr paßt, dann handelt es sich um eine üppige Dunkelhaarige. Schätzungsweise zweite Hälfte der Dreißig.“ Sie hob den Kopf und stieß die Luft durch die Nase, als müßte sie einen unangenehmen Geruch loswerden. „Deine kriminalistischen Fähigkeiten sind bemerkenswert.“ Er lächelte dabei. „Du gibst es also zu?“ Sie riß ein Taschentuch aus dem Bademantel und wollte es zur Nase führen. Auf halbem Wege stoppte sie die Bewegung. „Nein! Ich werde jetzt nicht heulen. Später viel166
leicht. Erst bist du so nett und sagst mir, ob es sich um einen einmaligen Ausrutscher handelt oder ob ich mich schon wieder auf eine Scheidung einrichten muß.“ „Du brauchst weder zu heulen, noch brauchst du dich auf eine Scheidung einzurichten. Ich gebe allerdings zu, daß ich in der Nähe einer Frau war. Deine Beschreibung der Dame ist sogar ziemlich genau.“ Er stützte das Kinn in die Hand und strich sich mit Daumen und Zeigefinger über die Mundwinkel, um sich ein Grinsen aus dem Gesicht zu bügeln. „Allerdings habe ich mich der Dame rein dienstlich genähert. Es handelt sich um die Freundin des ermordeten Postboten.“ „Eine Frau mit solchem Parfüm paßt nicht zu einem Postboten“, sagte Erika und deutete ein schwaches Lächeln an. „Der Meinung bin ich auch.“ „Was also hat die beiden zusammengeführt?“ „Das möchte ich auch wissen.“ Erika hielt ihm die Hand hin. „Entschuldige. Ich glaube, ich war albern. Sei nicht böse. Aber ich bin ein gebranntes Kind auf dem Gebiet. Solltest du mal wieder in solche Situation kommen, einer stark parfümierten Frau zu begegnen, dann sag mir lieber gleich, was gewesen ist. Sonst fängt meine Phantasie an zu arbeiten.“ Er ergriff ihre Hand. „Dann laß sie mal noch ein bißchen arbeiten. Was kann denn nach deiner Meinung ein so ungleiches Paar zusammengeführt haben?“ 167
„Nymphomanie zum Beispiel. Sie steht unter einem krankhaften Zwang, sucht wahllos Männerbekanntschaften, um… Im Sexualkundeunterricht würde man das ungefähr so ausdrücken.“ „So weit würde ich in diesem Falle nicht gehen. Aber als außergewöhnlich zugänglich könnte man die Frau schon bezeichnen.“ „Sie hat dir also Avancen gemacht?“ „Denen ich mannhaft widerstanden habe.“ Er beugte sich zu Erika hinüber und küßte sie auf den Hals. „So möchte ich es auch in Zukunft halten.“ „Ihr habt sie in Verdacht?“ „Nein. Einmal hat sie ein Alibi, zum anderen könnte sie die Tat gar nicht ausgeführt haben. Zumindest nicht allein. Tatverdacht besteht wirklich nicht.“ „Trotzdem beschäftigt dich die Frau.“ „Vergiß es. Wir waren mal übereingekommen, nie über Fälle zu reden.“ „Da wir nun ausnahmsweise mal damit angefangen haben… Außerdem hat es sich quasi vor unserer Haustür zugetragen. Es ist ganz natürlich, daß man dann darüber redet. Andere Leute in der Jütlander Allee tun das bestimmt auch.“ „Die hätten lieber mal aus dem Fenster gucken sollen“, sagte Katenkamp. „Das hab ich heute ausgiebig getan“, sagte Erika. „Und?“ „Es gibt tatsächlich Minuten, da ist die Straße wie ausgestorben. Vormittags jedenfalls.“ „Deshalb gibt es auch keine Augenzeugen.“ 168
„Mal zurück zu der Frau“, sagte Erika. „Kommt sie denn als Anstifterin in Frage?“ „Dieser Randulke war kein Mann, den man erst erschießen müßte, um ihn loszuwerden. Eher ein armer Teufel.“ „Dann hat die Frau wohl nichts damit zu tun.“ „Eben davon bin ich noch nicht überzeugt“, sagte Katenkamp. „Sie scheint mehr zu wissen, als sie zugibt.“
12 „Können Sie sich zur Verfügung halten?“ fragte Heidelbach. Katenkamp war ihm im Korridor begegnet. „Unsere Einquartierung vom BKA hat Sehnsucht nach Ihnen.“ Der Kriminaloberkommissar sah Katenkamp leicht vorwurfsvoll an. Heidelbach schätzte schon die Zusammenarbeit mit anderen Dezernaten wenig, geschweige denn den Kontakt mit dem Bundeskriminalamt. In seinen Augen stellte die Mordkommission das vornehmste oder zumindest das wichtigste aller Dezernate dar und hatte gefälligst in Ruhe gelassen zu werden. „Haben die Herren gesagt, wann sie hier eintreffen wollen? Sonst würde ich eben mal zum Rauschgift gehen.“ „Was wollen Sie denn bei denen?“ Die Frage wurde in schroffem Ton gestellt. Nach Heidelbachs Ansicht spielte sich die Rauschgiftfahndung auf eine Weise in den Vordergrund, die in keinem Verhältnis zu ihren Fahndungserfolgen stand. 169
Schon fuhr er fort: „Wenn Sie irgendwo auf ein paar Gramm Haschisch stoßen, dann stecken Sie das Zeug in den nächsten Ofen! Die Brüder kommen wegen jedem Dreck in die Presse. Unterstützen Sie das nicht noch.“ „Ich sehe da möglicherweise eine Querverbindung“, formulierte Katenkamp vorsichtig. „Jetzt warten Sie zunächst mal auf die Leute vom BKA, und dann sehen wir weiter“, entschied Heidelbach. Während ich warte, kann ich ja telefonieren, überlegte Katenkamp. Obwohl es immer besser ist, als Person in Erscheinung zu treten. Unter vier Augen erfährt man mehr als unter zwei Ohren… Am schlechtesten ist eine schriftliche Anfrage. Eine ungenaue oder falsche schriftliche Auskunft kann einem später vorgehalten werden. Entsprechend vorsichtig formuliert man schriftliche Auskünfte. Ein Mann - schätzungsweise Mitte der Vierzig, schlank, volles Haar, blauer Nadelstreifenanzug wurde an ihnen vorbei ins Vernehmungszimmer geführt. Er hielt die Hände eng an den Körper gepreßt, als könnte er so die Handschellen verbergen. „Hat gestern nacht seine Geliebte umgebracht“, sagte Heidelbach. „Mindestens ein Dutzend Messerstiche. Heute früh hat er uns heulend angerufen.“ „Affekthandlung?“ fragte Katenkamp. „Eben nicht. Das Messer hat er sich schon vor drei Wochen besorgt, dazu eine Schußwaffe. Immerhin einer, der uns keine Arbeit macht. Ich 170
möchte nur wissen, warum er die Schußwaffe nicht benutzt hat.“ „Wahrscheinlich wegen der Nachbarn.“ „Auf die Anzeige wegen nächtlicher Ruhestörung wär’s auch nicht mehr angekommen.“ Heidelbach lachte verhalten. Da schießt einer nicht, dachte Katenkamp, weil er nachts keinen Lärm machen will und die Entdeckung durch die Wohnungsnachbarn fürchtet, und in meinem Fall schießen zwei am hellen Vormittag auf offener Straße und kommen trotzdem ungehört und ungesehen davon. Die Täter müssen bei Randulke mit Schalldämpfern gearbeitet haben. Am liebsten würde ich eine Ortsbesichtigung veranstalten und in dem Hauseingang Schüsse abgeben lassen. Ich möchte wissen, ob so ein Hauseingang schalldämpfend wirkt oder nicht. In Verbindung mit dem BKA ließe sich die Rekonstruktion der Tat sofort bewerkstelligen. Die verfügen über alle Möglichkeiten. Ich sehe nur keine Verbindung zwischen Randulke und diesem Viehland und dem Brief an mich. Werner Heidelbach stieß ihn leicht in die Seite. „Hören Sie auf zu denken. Die hohen Herrschaften nahen.“ Er zwinkerte Katenkamp zu. „Machen Sie uns keine Schande.“ „Wollen Sie nicht dabeisein?“ „Ich kann diese Wichtigtuer nicht ausstehen“, sagte Heidelbach und verschwand in seinem Dienstzimmer. Demonstrativ laut schloß er die Tür hinter sich. 171
„Warten Sie hier etwa auf uns?“ fragte Bieger. Er streckte die Hand aus. „So ungefähr“, sagte Katenkamp und schüttelte dem Mann aus Wiesbaden die Hand. Johannsen nickte nur zur Begrüßung. „Wo können wir hingehen?“ erkundigte er sich. „Das eine Vernehmungszimmer ist frei.“ Johannsens Miene drückte Mißbilligung aus. „Mir ist jeder Ort recht“, sagte Bieger. „Sind Sie weitergekommen?“ fragte Johannsen, als sie in dem nüchternen Vernehmungszimmer saßen. Ich sitze da, wo sonst die Verdächtigen sitzen, dachte Katenkamp. Typisch. „Nein“, sagte er. „Wir schon“, sagte Johannsen. Er öffnete eine Aktentasche. Langsam blätterte er die gelben Seiten in einem blauen Ordner durch. „Dieser Brief, er rieb sich das Kinn, „höchst merkwürdig. Unsere Experten sind der Meinung, daß er von einem Halbwüchsigen stammt.“ „Von zweien, um genau zu sein“, ergänzte Bieger. „Einer hat den Text zu Papier gebracht, der andere den Umschlag beschriftet. Das konnte Ihnen natürlich nicht auffallen, zumal die Schriftzüge eine gewisse Ähnlichkeit aufweisen.“ „Bringt uns das weiter?“ Katenkamp lehnte sich vor. Er fühlte sich nicht wohl auf dem Stuhl. Auf diesem gelblich lackierten Holzmöbel nahm einer immer die Position des Beschuldigten ein. Es wäre das beste gewesen, den Stuhl einfach umzudrehen und rittlings zu sitzen. Das hätte noch am ehesten eine Atmosphäre der Zusammengehörigkeit er172
zeugt. „Nicht unmittelbar“, sagte Johannsen. „Es stellt nur gewisse Zusammenhänge her.“ „Zu dem Fall, den Sie bearbeiten“, sagte Bieger. „Auch da haben wir es eindeutig mit zwei Tätern zu tun.“ „Darf ich daran erinnern, daß der Brief vor der Tat zugestellt wurde.“ Katenkamp ärgerte sich über seine geschraubte Ausdrucksweise. „Denen ist der Zeitplan durcheinandergeraten.“ Bieger schnippte mit den Fingern. „Manchmal ist die Post eben doch schneller, als man annimmt. Dieser Brief sollte Sie erst einen Tag später erreichen.“ „Das läßt sich auch aus dem Poststempel schließen“, warf Johannsen ein. „Denen scheint entgangen zu sein, daß Briefe innerhalb der Stadt eine kürzere Laufzeit haben.“ „Falsches Timing“, sagte Bieger. Katenkamp lehnte sich zurück und kippelte mit dem Stuhl. „Schön“, sagte er. „Dann bleibt noch zu klären, woher sie wissen konnten, daß ausgerechnet ich mit dem Fall befaßt sein würde.“ Bieger spreizte die Finger und hob die Hände. „Das war vermutlich deren Risikofaktor. Aber ich glaube, das hatten wir bereits. Ihre Wohnung liegt in unmittelbarer Nähe des Tatorts, also gingen sie davon aus, daß man den Fall auch Ihnen übertragen würde. Zerbrechen wir uns darüber einstweilen nicht den Kopf. Wie sich gezeigt hat, ist die Rechnung aufgegangen.“ Er nickte befriedigt. 173
„Das mit dem Risiko sehe ich anders“, sagte Katenkamp. „Die Chance, ungesehen davonzukommen, war denkbar gering. Es…“ Bieger fiel ihm ins Wort: „Unsere Freunde von der Terroristenszene haben schon ganz andere Dinger gedreht. Vergessen Sie nicht - die haben Erfahrung auf dem Gebiet. Bei Banküberfällen und Mordanschlägen sind sie auch davongekommen. Sie können sicher sein, daß ein Fluchtfahrzeug bereitstand. Höchstwahrscheinlich sogar mit einem dritten Mann besetzt. Ich persönlich möchte sogar noch von einem zweiten Fahrzeug ausgehen. Umsteigen gehört zu deren Taktik.“ Johannsen schlug eine andere Seite in seinem Ordner auf. „Wir haben uns hier mal eine Liste aller in letzter Zeit als gestohlen gemeldeten Fahrzeuge verschafft. Vom Typ her kämen mindestens vier Wagen in Betracht. Schnelle und doch ziemlich unauffällige Fahrzeuge. Drei von denen sind bereits wieder aufgetaucht. In keinem haben sich Fingerabdrücke bereits erkennungsdienstlich behandelter Personen befunden. Unsere Fahndung konzentriert sich auf einen schwarzen BMW.“ Johannsen murmelte das Kennzeichen vor sich hin. „Sobald wir den Wagen haben, haben wir auch eine weitere Spur. Darauf können Sie sich verlassen.“ Das hörte sich sehr zuversichtlich an. Trotzdem ist das alles auch nur Theorie, überlegte Katenkamp. Immerhin, auf ein mögliches Fluchtfahrzeug hätte ich selbst kommen müssen. Bloß ist das bestimmt auch keinem aufgefallen. „Fehlt uns nur 174
nach wie vor das Motiv“, sagte er zögernd, darauf gefaßt, dass die beiden ihm triumphierend ein Motiv präsentieren würden. Bieger nickte zustimmend. „Richtig. Der Postbote paßt ganz und gar nicht ins Bild. Soweit wir das bisher ermitteln konnten, handelt es sich um ein wahres Unschuldslamm.“ Ihr arbeitet also parallel, dachte Katenkamp. Gut zu wissen. Nur, so ganz unschuldig ist er nun auch wieder nicht. Aber sonst stimmt es schon, mit Terroristen ist Randulke wohl nie in Berührung gekommen. „Wir halten das für ein einziges Ablenkungsmanöver“, fuhr Bieger fort. „Gerade weil die Biographie des Opfers keinerlei Motive für die Tat liefert, davon gingen die wohl aus, würden wir sehr zeitraubende Recherchen anstellen. Das Ganze ist ein bewußt angelegtes Verwirrspiel. Viehland ist zuletzt in Paris gesehen worden. Danach verliert sich seine Spur. Hier taucht sein Name nach langer Zeit wieder in Verbindung mit einer völlig widersinnigen Geschichte auf. Was schließen Sie daraus?“ Er sah Katenkamp an. „Na?“ „Die haben sich eine neue Taktik zugelegt.“ „So kann man’s auch nennen. Hier sollen Kräfte gebunden werden, damit man woanders zu einem großen Schlag ausholen kann. Viehland ist deren Sprengstoffexperte, abgebrochener Chemiestudent, speziell geschult. So einen beschäftigen die nicht in Verbindung mit einem Drohbrief.“ „Mit anderen Worten…“ Johannsen klappte den Aktenordner zu. „Wir sollen denen hier auf den 175
Leim gehen. Aber wir denken nicht daran. Von uns aus können Sie sich noch ein bißchen mit dem Fall vergnügen, ‘raus kommt dabei nichts. Geklärt wird das alles mal in einem anderen Zusammenhang. Wir stellen Ihnen anheim, Ihrem Vorgesetzten in diesem Sinne zu berichten.“ „Wollen Sie der Staatsanwaltschaft in diesem Sinne berichten?“ fragte Katenkamp. „Wir können die Ermittlungen nicht eigenmächtig einstellen. Dazu…“ Diesmal war es Johannsen, der ihm ins Wort fiel. „Stellen Sie man nicht ein. Halten Sie sich an dem Fall noch ein bißchen fest.“ Er versuchte ein joviales Lächeln. „Das macht Ihnen doch sicher nichts aus.“ „Wollen wir denn wirklich so verfahren?“ fragte Bieger dazwischen. „Wir haben unsere Gründe.“ Johannsen murmelte den Satz geheimnisvoll heraus. „Irgendwo an höherer Stelle scheint es ein Leck zu geben.“ Bieger reagierte mit einem deutlichen Stirnrunzeln. „Sooo…“, sagte er gedehnt. „Keine Stelle, die Zugang zu unseren Unterlagen hätte“, beschwichtigte ihn Johannsen. „Aber irgendwo sitzt da ein Sympathisant ‘rum. Vermutlich beim Justizsenator. Einer von diesen idealistischen Akademikern.“ Johannsen schloß den oberen Knopf seines blauen Blazers. „Nicht, daß er großen Schaden anrichtet. Es scheint da in der Vergangenheit nur den einen oder anderen Informationsfluß gegeben zu haben.“ Er öffnete den Knopf 176
wieder. „Ich möchte das in diesem Falle ausschließen. Deshalb schlage ich vor, daß Herr Katenkamp den Fall pro forma weiterverfolgt.“ „Wäre es nicht logischer, gerade umgekehrt zu verfahren?“ fragte Bieger. „Einstellungsbeschluß! Das könnte bei den Burschen ein Gefühl der Sicherheit erzeugen.“ „Nein“, widersprach Johannsen. „So früh stellen wir hier in Hamburg nicht ein. Wir würden damit nur Mißtrauen erwecken. Sie verstehen?“ „Wie Sie meinen“, sagte Bieger. „Aber die Sache mit der undichten Stelle…“ „Eine Vermutung.“ Johannsen war das Thema sichtlich unbehaglich. „Der Verdacht könnte sich im Laufe dieser ganzen Angelegenheit überhaupt erst erhärten. Wir führen den Vorgang unter dem Stichwort Doktor. Aber nun suchen Sie beim Justizsenator mal einen, der keinen akademischen Titel hat… Er kann übrigens auch beim Innensenator sitzen.“ „Na, wenn Sie meinen, daß der Mann unsere Kreise nicht wesentlich stört…“ Bieger erhob sich langsam. Zu Katenkamp gewandt: „Ich muß Sie nachdrücklich auf die Vertraulichkeit dieses Gesprächs hinweisen. Nun besonders.“ Er bedachte Johannsen mit einem skeptischen Seitenblick. „Lassen Sie das BKA in Ihren Berichten nicht auftauchen. Man weiß ja nicht, durch welche Hände die Papiere gehen.“ „Gut“, sagte Katenkamp. Kein Einstellungsbeschluß. Das gab ihm die Möglichkeit, den Fall 177
Randulke weiterzuverfolgen. Und die Herren vom BKA… Die tappten offensichtlich weitgehend im dunkeln. Auch wenn sie nicht alle Karten auf den Tisch gelegt hatten, so stand ihre Theorie, wie sie sich jetzt darbot, doch auf schwachen Füßen. Das hörte sich alles ein bißchen sehr nach Spekulation an, untermischt mit Geheimniskrämerei. „Wie sieht es denn mit den Sicherungsvorkehrungen für meinen Sohn aus?“ fragte er. „Wir haben Maßnahmen getroffen“, antwortete Johannsen. „Im übrigen ist er ja gar nicht Ihr Sohn“, setzte er hinzu. Sieh an, die Herren waren also genau im Bilde. Mich haben sie bei der Gelegenheit wohl auch gleich unter die Lupe genommen, dachte Katenkamp. Stellt es nun einen Vertrauensbeweis dar, daß sie mir den Fall nicht gleich entziehen? Was kümmert’s mich. Ich mach weiter, bis sie mich stoppen. „Übrigens…“ Johannsen verstaute den Ordner in der Aktentasche. „Der Vater Ihres Jonathan…“ Johannsen legte den Kopf schief. „Haben Sie eigentlich Verbindung zu ihm?“ „Nein.“ „In dessen Finanzklemme möchte ich nicht stecken.“ Man hatte sich wirklich Mühe gegeben. Einen Augenblick lang war Katenkamp selbst der Gedanke gekommen, daß Jonathans Vater mit dem Brief etwas zu tun haben könnte. Herr Bodenstedt wollte Jonathan am liebsten bei sich haben, das war bekannt; der Nachweis einer Gefährdung des Kindes in seiner jetzigen Umgebung wäre Wasser 178
auf seine Mühle gewesen. Aber dann war dieser Viehland ins Spiel gekommen. Und über Verbindungen zur Terroristenszene verfügte Bodenstedt höchstwahrscheinlich nicht. „Sonst noch was?“ fragte Bieger. „Ich mache weiter wie bisher.“ Ich könnte mich noch erkundigen, was sie über Erika wissen, dachte Katenkamp. Sagen würden sie es mir doch nicht. Außerdem will ich es gar nicht wissen. „Das wäre alles. Viel Glück.“ Bieger verabschiedete sich wieder per Handschlag. Johannsen hielt sich an seiner Aktentasche fest. Als sie über den Flur gingen, kam Heidelbach wie zufällig aus seinem Dienstzimmer. „Wesentliche Neuigkeiten?“ fragte er. „Verfolgen Sie den Fall weiter“, antwortete Johannsen. „Sie haben da einen tüchtigen Mann.“ Das hört sich nach Hohn an, dachte Katenkamp.
13 Ein zweites Mal zur Post? Die reine Zeitverschwendung. Diese Unterschlagungen nachzuweisen kostete nur Zeit. Praktisch bedeutet es, den Namen einer verstorbenen Empfängerin von Geldsendungen aus den Vereinigten Staaten zu eruieren, ihren ausgewanderten Sohn ausfindig zu machen, mit dem in einen Schriftwechsel einzutreten, um doch nur zu erfahren, daß seine fast blinde Mutter den Empfang der Summen immer prompt quittiert hatte. 179
Vorsichtshalber konnte diese Aktion ein bißchen parallel laufen. Also zunächst Anfrage an das Einwohnermeldeamt, ob während des fraglichen Zeitraums in der Jütlander Allee eine hochbetagte Witwe mit Verwandtschaft in Amerika verstorben war. Katenkamp spannte das entsprechende Formular in die Maschine. Betrifft:… Ob ein Sohn in Amerika existierte, wußten die auf dem Einwohnermeldeamt schon mal nicht. Also würde später eine Nachfrage beim Nachlaßgericht erforderlich werden. Erbitten Auskunft über die Erben der am… in… verstorbenen Witwe… Anschließend ein Schreiben an den Sohn. Oder erst Nachforschungen anstellen, ob der Mann sich zur Tatzeit in der Bundesrepublik aufgehalten hatte. Benötigen Amerikaner für einen Besuch der Bundesrepublik eigentlich ein Visum, und wer erteilt das, sofern erforderlich? Katenkamp stellte fest, daß er beides nicht wußte. Er zog das Formular aus der Schreibmaschine und ließ es in den Papierkorb rutschen. Lieber bei den Kollegen vom Rauschgiftdezernat vorbeischauen. Was er von denen wissen wollte, ließ sich mündlich erledigen. Bloß keinen Schreibkram, hatte Weber mal gesagt. Vielleicht hatte er es deshalb nie zum Kriminalrat gebracht, weil er um jede Schreibmaschine einen großen Bogen gemacht hatte. Er steckte den Kopf bei Heidelbach durch die Tür. Heidelbach saß über den Hochglanzprospekten einer Wohnungsbaugesellschaft und sah nicht auf. 180
Der wird doch als Oberkommissar auch nur nach A 10 bezahlt, dachte Katenkamp; und dann bauen wollen… Na, wenn es ihm Spaß macht, sich bis ans Ende seiner Tage zu verschulden, dann soll er eben bauen. Leise schloß er die Tür zu Heidelbachs Dienstzimmer und rief statt dessen Thölke im Vorübergehen zu: „Ich bin eben mal beim Rauschgift.“ „Bring mir welches mit“, sagte Thölke. „Damit läßt sich heutzutage fast alles machen.“ „Vielleicht haben sie ja ein Sonderangebot.“ Du Schwein, dachte er, du bist imstande und arbeitest auch noch mit Rauschgift. Es gibt genügend Mädchen, die für ein bißchen Stoff zu dir ins Auto steigen würden. Und über kurz oder lang hätten wir einen neuen Skandal. Solche krummen Dinger gehen auf die Dauer nie gut. Obwohl… Bei denen vom Rauschgiftdezernat war auch schon beschlagnahmtes Heroin auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Oder war das in Frankfurt gewesen? Hier herrschen andere Sitten. Das war sein erster Eindruck, als er sich im Rauschgiftdezernat zu einem leitenden Beamten durchfragte. Hier laufen die wildesten Typen ‘rum. Scheinen alle Jeans zu tragen und so gut wie nie zum Friseur zu gehen. Außer zweien, die nur zum Friseur zu gehen scheinen. Sehen aus wie bessere Zuhälter. Da soll sich noch einer auskennen, wer hier Fahnder und wer Dealer ist. Im Vergleich zu denen stellt die Mordkommission ein Nadelstreifendezernat dar. Ein 181
Tweedsakko-Dezernat, verbesserte er sich. Der Oberkommissar schien nie an die Rauschgiftfront zu müssen. Glattrasiert saß er hemdsärmelig hinter seinem Schreibtisch. Er hakte die Daumen hinter die schmalen Hosenträger. Vor ihm lagen zwei Packungen Reval; im Aschenbecher die Kippen von mindestens einer weiteren halben Schachtel. „Ich bin der Hasch-Höpfner“, hatte er sich vorgestellt. „Mann, waren das noch Zeiten, als wir es bloß mit Hasch zu tun hatten. Weber ist also pensioniert. Hätte ich gewußt, wie sich das bei uns hier mal auswächst, wäre ich in seinem Laden geblieben - obwohl wir beide nicht besonders gut miteinander ausgekommen sind… Hier haben wir es mit einem Affenzirkus zu tun. Manche tragen einen roten Frack mit goldenen Knöpfen, andere laufen ‘rum, als ob sie Läuse im Pelz hätten. Und dazwischen gibt es alle Schattierungen.“ Offensichtlich redete Höpfner gern und mußte zusätzlich erst seine Standardsätze loswerden, bevor er zur Sache kam. Laß ihn reden, dachte Katenkamp. Solche Leute sind am Ende meist ziemlich hilfsbereit. „Sie haben nur ein Gemeinsames: Sie sind alle hinter derselben Sache her. Stoff.“ Höpfner ließ die Hosenträger gegen den breiten Brustkorb klatschen. „Hinter was sind Sie her?“ fragte er ohne Überleitung. „Mich interessiert eine Firma“, sagte Katenkamp. „Reederei oder Pharmazie?“ „Pharmazie.“ „Mehr Möglichkeiten gibt es kaum, sobald es sich 182
um Firmen handelt. Allenfalls noch mal eine Spedition. Wobei die Firmeninhaber durchweg ahnungslos sind. Es kommt vor, daß einem das Wasser bis zum Halse steht, und er versucht, sich durch ein krummes Ding zu sanieren. Das geht regelmäßig schief. Amateure haben in dem Geschäft kaum noch eine Chance. Dafür sorgt schon die Konkurrenz. Wenn ich Ihnen sagen würde, woher wir den einen oder anderen Tip kriegen… Das betrifft natürlich nicht den kleinen Dealer; den schafft man sich auch ohne unsere Hilfe vom Halse oder setzt ihm in irgendeiner Pinkelbude den goldenen Schuß. Da steckt nach meiner Meinung eine erhebliche Dunkelziffer. Nicht jeder verpaßt sich freiwillig oder versehentlich eine Überdosis. Da wird manchmal ganz schön nachgeholfen. Oder man jubelt ihm hochprozentiges Zeug unter. Was wirklich reiner Stoff ist, das wissen die doch schon gar nicht mehr.“ Höpfner schnippte eine Zigarette aus der Packung. Er klopfte sie auf der Schreibtischkante fest, ehe er sie mit einem Wegwerffeuerzeug anzündete. „Soviel zum Grundsätzlichen“, sagte er zwischen zwei Zügen. „Nun kommen Sie, falls Sie noch Lust haben.“ Hoffentlich war es das auch, dachte Katenkamp, sonst sitz ich in drei Stunden noch hier, ohne daß wir zur Sache gekommen wären. „Ist die Firma Dose & Wienhöft bei Ihnen schon mal in Erscheinung getreten?“ Gegenüber Höpfner war es empfehlenswert, sofort zur Sache zu kommen. „Dose & Wienhöft in der Eimsbütteler Straße.“ 183
Höpfner schnalzte leicht mit der Zunge. „So direkt noch nicht. Jedenfalls nicht als Firma. Die ganzen Großhändler haben mit einem Problem zu kämpfen. Bei denen heuern immer wieder Süchtige an, weil sie meinen, für sich was Brauchbares abzweigen zu können. Das geht manchmal leichter, manchmal schwerer. Gut geht es auf die Dauer nie. Da passen die Firmen schon selbst auf.“ „Und daß sie den Handel mit Opiaten, um es mal so auszudrücken, in großem Stil selbst betreiben…“ Höpfner winkte ab. „Alles schon dagewesen. Glauben Sie mir, uns ist hier nichts fremd. Aber auch da muß ich die Einschränkung machen, daß sich dergleichen meist ohne Wissen der Firmeninhaber abspielt. In der Branche wird auf legalem Wege genug verdient. Wenn da was läuft, dann auf einer unteren Ebene. Interessanter sind die Apotheken. Die verdienen nicht mehr so klotzig wie noch vor einigen Jahren und rücken in Einzelfällen auch ohne Rezept was ‘raus.“ „Grundsätzlich könnte also ein Angestellter mit einiger Befugnis Geschäfte auf eigene Rechnung machen“, stellte Katenkamp fest. Höpfner drückte die Zigarette aus. „Stellen Sie sich das nicht so einfach vor. Der Mann müßte schon im Einkauf sitzen und gewisse Vollmachten haben.“ Das traf auf Uta Schlandorf zu. „Die Schwierigkeit besteht darin, die Ware abzusetzen. Im Großhandel fallen erhebliche Mengen an. Entsprechend groß muß der Abnehmerkreis sein. Wie kommen Sie gerade auf Dose & Wien184
höft?“ „Es ist eine Überlegung von mir. Die Zusammenhänge liegen ganz anders.“ Plötzlich leuchteten ihm die Zusammenhänge gar nicht mehr so recht ein. Selbst wenn Uta Schlandorf Geschäfte auf eigene Rechnung gemacht hatte, dann fiel Randulke als Abnehmer aus. Als Großabnehmer schon ganz und gar. „Verfügen Sie über eine interne Kartei?“ fragte Katenkamp. „So über einige Erkenntnisse, die nicht gleich in den Computer eingespeist werden?“ Höpfner spielte mit dem Feuerzeug. Er zündete es an und musterte Katenkamp über die Flamme hinweg. „Das würde ich im Zweifelsfalle nie zugeben. Aber wenn Sie nun als Kollege fragen, ob ich dieses oder jenes zufällig weiß…“ Höpfner ließ die Flamme erlöschen. „Wollen Sie mich was fragen?“ „Ich könnte Sie zum Beispiel fragen, ob bei Ihnen zufällig auf irgendeinem Schmierzettel die Namen Heinrich Randulke und Uta Schlandorf stehen. Der Mann ist bei uns kürzlich als Leiche angefallen.“ „Dann haben Sie die offiziellen Quellen ja schon ausgeschöpft“, sagte Höpfner. „Und was hat die Frau mit der Geschichte zu tun?“ „Das weiß ich eben nicht.“ „Na, dann wollen wir doch mal sehen, ob wir was wissen.“ Er zog das Telefon zu sich heran. „Aber versprechen Sie sich nicht zuviel. Es ist geradezu modern geworden, jeden besseren Fall mit Rausch185
gift in Verbindung zu bringen. Was war der Mann denn von Beruf?“ „Briefträger.“ „Da werden Sie bei uns wenig Glück haben. Briefträger und Rauschgift - das hatten wir noch nicht.“ Höpfner nahm den Telefonhörer in die linke Hand. „Und die werte Dame?“ „Erledigt bei Dose & Wienhöft den Einkauf.“ „Das hört sich vielversprechend an. Obwohl…“ Er wählte eine Nummer. „Hartmuth? Du, hier sitzt ein Kollege von der Tötung bei mir… Doch; der jedenfalls hat den Weg zu uns gefunden. Nun wollen wir mal sehen, ob wir ihm auch helfen können. Sieh doch mal in deinem Zettelkasten nach, ob da die Namen Randulke oder Schlandorf auftauchen… Nee, ich bleibe dran.“ Höpfner ließ den Hörer sinken. „Das haben wir gleich oder nie. Wir sind da etwas besser dran als Sie. Bei der Mordkommission gibt es wohl keine Kundenkartei.“ Katenkamp schüttelte den Kopf. „Hab ich ganz vergessen.“ Höpfner langte mit der freien Hand zum Seitenfach seines Schreibtischs hinunter. „Einen kleinen Schnaps?“ „Nein, danke.“ „War nur als Begrüßungsschluck gedacht.“ „Gut, dann einen kleinen.“ Höpfner stellte eine Flasche Weinbrand auf den Tisch und zwei Kognakschwenker daneben. „Bedienen Sie sich selbst, damit es nicht heißt, ich hätte Sie besoffen gemacht. Mir können Sie ruhig mehr einschenken.“ 186
Katenkamp drehte den Schraubverschluß von der Flasche und schenkte ein. Wenigstens handelte es sich nicht um eine ganz billige Marke. „Prost“, Höpfner griff nach dem volleren Glas und nahm gleichzeitig den Hörer wieder ans Ohr. „Klar, ich bin noch dran… Aha. Hätte mich auch gewundert… So? Na, das läßt sich doch hören. Dank dir schön, Hartmuth. Ich bring dir aus dem nächsten Urlaub auch zwei schöne Muscheln für deine Sammlung mit.“ Er legte auf. „Trinken wir erst mal.“ Katenkamp nippte an dem Weinbrand. „Ja, wie ich mir das so dachte“, sagte Höpfner. „Ihr Briefträger Randulke - Fehlanzeige. Was die Schlandorf betrifft…“ Er wiegte den Kopf. „Da sieht es ein bißchen anders aus. Zumindest stand sie bei uns mal eine Weile unter Verdacht. Das ließ sich dann wohl nicht erhärten. Ich drücke mich ganz vorsichtig aus: Sie soll in Berlin Beziehungen zu einschlägigen Kreisen unterhalten haben. Unsere Information ist zwei Jahre alt. Mehr ein Wink von Stadt zu Stadt. Gravierendes kann nicht vorgelegen haben, sonst hätte sie den Job bei Dose & Wienhöft nicht gekriegt. Mit anderen Worten: Ihre Papiere sind in Ordnung… Sonst noch Wünsche?“ „Im Augenblick nicht.“ „Sollen wir uns einschalten?“ Höpfner schien nur darauf zu warten, der Mordkommission irgendeine Stümperei nachweisen zu können. Er machte sein Hilfsangebot nach dem Motto: Laß da endlich mal Fachleute ‘ran. 187
„Das scheint mir nicht erforderlich zu sein“, wehrte Katenkamp ab. Gleichzeitig wußte er, daß es nur ratsam sein konnte, mit den Leuten vom Rauschgift zusammenzuarbeiten. Sie kannten sich auf ihrem Sektor aus und würden den Fall wahrscheinlich genau umgekehrt aufrollen: sich nicht sosehr um Uta Schlandorf kümmern, als sich vielmehr in ihren potentiellen Abnehmerkreisen umhören und sie dann womöglich in eine Falle laufen lassen. Aber damit war dann allenfalls der Fall Schlandorf geklärt und nicht der Fall Randulke. Ein angenehmes Nebenprodukt der Kooperation von Mordkommission und Rauschgiftdezernat, nur kein endgültiges Resultat. Bisher zeichnete sich keine Möglichkeit ab, die Schlandorf mit dem Mord in Verbindung zu bringen. „Was haben Sie denn nun vor?“ fragte Höpfner. Er hob sein Glas und stürzte den Weinbrand schnell hinunter. „Darf ich Ihnen einen Rat geben? Falls Sie von uns Ratschläge annehmen?“ „Immer.“ Der weiß genau, daß ich ratlos bin, dachte Katenkamp. Schon die Tatsache, daß ich hier erschienen bin, sagt ihm alles. Unter Garantie kommt jetzt der Ratschlag, die Finger von der Sache zu lassen. Höpfner hakte wieder die Daumen hinter die Hosenträger. „Wir könnten bei Dose & Wienhöft den ganzen Laden auseinandernehmen. Das können Sie theoretisch auch, bloß bringt das nichts. Die lassen die Beweise unter Ihren Augen verschwinden, ohne daß Sie’s überhaupt merken, weil Sie 188
nicht wissen, wonach Sie suchen sollen. Da ist nichts mit Fingerabdrücken, Spurensicherung am Tatort, Schußwinkel und so; da geht’s um Geschäftsunterlagen, fingierte Rechnungen zum Beispiel, die Sie gar nicht als solche erkennen. Versuchen Sie gar nicht erst, in dieser Richtung tätig zu werden. Versuchen Sie’s auf die gute alte Methode: Spazieren Sie hinter der Frau her… Das ist das Schöne bei uns. Unsere Kundschaft tritt nicht nur einmal in Erscheinung. Rauschgifthandel stellt eine Kette fortgesetzter Handlungen dar. Wenn die richtigen Leutewissen, daß Sie irgendwelches Zeug im Hause haben, dann rennen die Ihnen irgendwann die Bude ein, weil sie von dem Zeug abhängig sind. Kümmern Sie sich dann nicht gleich um Ihre Hauptfigur. Greifen Sie sich einen von den Abnehmern. Diese labilen Typen singen ziemlich schnell, und den Rest wissen Sie selbst. Außerdem kennen sich die untereinander. Kann sein, daß von denen einer was über Ihren Briefträgerweiß.“ „Vielen Dank für den Tip“, sagte Katenkamp. „Gern geschehen.“ Höpfner stellte die Weinbrandflasche in den Schreibtisch zurück. „Aber nun ist meine Beratungsstunde auch zu Ende. Lassen Sie mich wissen, wie Sie zu Rande gekommen sind. Ich verspreche Ihnen, bis dahin nichts zu unternehmen… Und verscheuchen Sie uns die Frau möglichst nicht. Im Zweifelsfall ist die mehr wert als ein Dutzend kleiner Dealer.“ „Kommen Sie doch mal ‘rein“, sagte Heidelbach. 189
Katenkamp folgte der Aufforderung nicht gern. Er war daraufgefaßt, daß der Kriminaloberkommissar einen zusammenfassenden schriftlichen Bericht von ihm verlangen würde. Darin hätte nichts anderes stehen können als das Eingeständnis seiner totalen Erfolglosigkeit. „Was hat denn unser hoher Besuch von sich gegeben?“ Heidelbach schob mißmutig das Kinn vor. „Diese Klugscheißer“, murmelte er. „Wir sollen uns um nichts kümmern und einfach weitermachen wie bisher.“ Heidelbachs Laune besserte sich schlagartig. „Na, dann machen Sie mal weiter“, sagte er locker. „Wie weit sind Sie denn?“ „Es zeichnet sich was ab“, antwortete Katenkamp ausweichend. „Nicht viel, um ehrlich zu sein.“ „Mehr kann man kaum verlangen.“ Heidelbach hustete. „Ein ekelhaftes Wetter“, sagte er. „Alle Welt ist erkältet.“ Er riß ein Päckchen Papiertaschentücher auf. „Zwei Täter und kein Motiv. Die haben den Postmenschen verwechselt. Solche Fälle gehen leicht in die Hose. Sehen Sie zu, was sich machen läßt. Wir müssen alle mal lernen, mit unseren Niederlagen zu leben.“ Er entfaltete ein Taschentuch. „Klapprodt hat sich krank gemeldet. Es wäre natürlich schön, in seiner Abwesenheit hier was Positives zu leisten.“ „An mir soll’s nicht liegen“, sagte Katenkamp. Er überlegte. Nein, er brauchte keinen zweiten oder dritten Mann. 190
14 Alles ganz schön blöd. Plötzlich kümmern sich die um mich, als ob ich ein Prinz aus dem Märchen wäre. Und dann so alberne Fragen. Ich paß doch nicht auf, ob uns wer beobachtet, wenn wir spielen. Jonathan, denk mal ganz scharf nach. Wenn ich es doch nicht weiß, dann hilft auch kein Nachdenken. Fast wie in der Schule. Immer soll man was wissen. ,Jonathan, kannst du dich erinnern?“ Woran denn bloß. Ich weiß, daß ich mit fremden Männern nicht mitgehen darf. Auch dann nicht, wenn sie einem Kaugummi anbieten. Schokolade mag ich sowieso nicht. Man darf auch nicht mitgehen, wenn sie einem Geschenke versprechen. Sogar Autos darf man sich nicht schenken lassen. Nicht von Fremden. Die sperren einen in den Keller oder machen Sachen mit einem, die furchtbar weh tun. Weiß ich alles. Wo mein Vater doch Polizist ist. Kein richtiger Polizist, sondern ein Kriminaler. Einer wie aus dem Fernsehen. Die haben auch nie Uniform an. Dabei finde ich die mit Uniform und Auto viel besser. Am besten sind die mit Motorrädern. Die kommen überall durch. Aber mein neuer Vater ist auch sonst ganz in Ordnung. Manchmal ist er besser als mein richtiger Vater. Der hat nicht soviel Phantasie wie Gernot. Bloß seit ein paar Tagen spinnt Gernot. Der denkt, ich habe nicht mitgekriegt, daß da so ein komischer Brief gekommen ist. Seitdem ist auch Mutti ganz anders. 191
Was kann ich denn dafür, wenn ein Brief kommt. Von der Schule war er nicht. In der Schule ist alles in Ordnung. Trotzdem durfte ich einen Tag nicht in die Schule gehen. War ja auch mal schön. Bloß den ganzen Tag drin bleiben müssen, das ist langweilig. Immer allein spielen macht keinen Spaß. Ich kriege auch noch ‘raus, was in dem Brief dringestanden hat. Wenn die beiden fest schlafen, dann such ich ihn. Ich bleib wach, bis sie eingeschlafen sind, und dann… Der liegt bestimmt bei Mutti im Schreibtisch. Oben im linken Fach; da legt sie alle wichtigen Sachen hin. Ich darf bloß vorher nicht selber einschlafen, sonst kann ich nicht suchen. Wenigstens darf ich jetzt wieder in die Schule und draußen spielen. Aber jedesmal, wenn ich runtergehe, macht Mutti so ein komisches Gesicht. Sie sagt aber nichts. Dabei könnte ich jetzt was sagen. Nun hab ich nämlich gemerkt, daß da immer so zwei Männer rumstehen. Die gucken dauernd zu mir ‘rüber. Ich glaube, früher waren die nicht da. Genau weiß ich’s nicht. Ich glaube aber nicht. Der eine sieht so komisch aus. Er hat immer eine Plastiktüte bei sich, so einen richtigen Türkenkoffer, da sammelt er alles mögliche ‘rein. Sogar alte Fahrscheine und leere Bierdosen. Er sammelt das gar nicht für sich. Wenn die Tüte voll ist, kippt er sie in einen Abfallbehälter. Ich glaub, der spinnt ein bißchen. Von dem laß ich mir bestimmt nichts schenken. Wenn er kommt, lauf ich weg. Sein alter Mantel reicht fast bis auf die Erde. Damit kann er bestimmt nicht schnell laufen. Der andere Mann 192
ist jünger. So mit Bart und Brille und langen Haaren. Sieht eigentlich auch aus wie ein Penner. Bei dem merkt man es nicht so genau, daß er mich beobachtet. Ich hab ihn aber vor der Schule gesehen und vor unserem Haus. Er ist immer da, wo ich auch bin. Manchmal sieht es so aus, als ob er verschwunden ist. Ich brauch aber bloß um die Ecke zu gehen, dann kommt er hinter mir her. Vor dem könnte ich nicht so schnell weglaufen. Ich muß mal mit Gernot reden, was ich machen soll. Oder… Besser nicht. Wenn ich davon anfange, stellt er wieder so viele Fragen. Ich warte ab, bis ich weiß, was die beiden wollen. Ob sie mich entführen wollen? Dazu brauchen sie ein Auto. Da wird man reingesperrt, und dann fahren die mit einem ganz schnell weg. Und die Eltern müssen Lösegeld zahlen. Ob die beiden in dem Brief für mich Lösegeld verlangt haben? Nee, dann müssen sie mich ja erst entführt haben. Vorher schreibt man keine Lösegeldbriefe. Das weiß ich auch aus dem Fernsehen. Ob Mutti und Gernot für mich Lösegeld zahlen würden? Ich glaube, die haben nicht viel Geld. Mit meinem Freund Sascha hab ich noch nicht drüber gesprochen. Der meint bloß immer, ich würde beim Spielen nicht aufpassen. Der weiß ja auch nicht, daß ich immer zu den beiden Männern hingucke. Mit Sascha kann man nicht drüber reden. Der erzählt gleich alles seinen Eltern. Ich hab ja ein bißchen Angst. Nicht viel. Aber wenn die mich entführen wollen, dann schrei ich ganz laut und sag, mein Vater ist Polizist. Dann trauen die 193
sich vielleicht nicht. Weil mein Vater keine Uniform hat, wissen sie bestimmt gar nicht, daß er Polizist ist. Ich glaube, am besten könnte ich darüber mit dem Mann reden, der über uns wohnt. Der ist immer freundlich. Jetzt hab ich ihn schon ein paar Tage nicht gesehen. Schade. Der redet mit einem nicht so albern wie manche Erwachsenen. Einmal haben wir uns ganz prima unterhalten. Das war über Flugzeuge. Ich stand gerade auf der Straße, und oben flog ein Flugzeug. Da habe ich Sascha gefragt, ob er weiß, warum die nicht runterfallen. Das hat der Mann gehört und uns dann erklärt, wie das mit den Flügeln und der Luft ist. Ganz schön kompliziert. Ich hab’s auch schon wieder vergessen. Aber der kann toll erklären. Ich glaube, ich rede mal mit dem. Er kann mir bestimmt einen Tip geben. Als der eine Reifen von meinem Feuerwehrauto ‘runter war, hat er mir auch den richtigen Tip gegeben. Einfach in heißes Wasser legen. Dann wird er weich, und man kriegt ihn ganz einfach wieder drauf. In der Schule kann man ja nichts sagen. Die rufen bei solchen Sachen gleich die Eltern an. Da könnte ich auch gleich zu Mutti gehen. Die flippt aus und erzählt alles Gernot. Der ist Polizist. Klar, der könnte was machen. Er soll aber nichts machen. Noch nicht. Die beiden Männer bleiben ja immer ziemlich weit weg. Vielleicht kriege ich ‘raus, was sie vorhaben, dann kann ich’s Gernot immer noch sagen. Vielleicht sollte ich auch mal mit meinem rich194
tigen Vater sprechen. Am Sonntag holt er mich wieder ab. Wir gehen bestimmt wieder zu Hagenbeck. Immer bloß Hagenbeck. Das ist langweilig. Und dann will er wieder alles über Mutti und Gernot wissen. Richtig reden kann man mit dem gar nicht. Ich muß noch mal überlegen, was ich wirklich mache. Der nette Mann über uns ist noch am besten.
15 Uta Schlandorf sah auf die Küchenuhr. Dann ließ sie zwei Eier in das kochende Wasser gleiten. Das eine Ei platzte, und das Wasser in dem dunkelroten Topf überzog sich mit einer blasigweißen Schaumdecke. „Verdammt!“ sagte sie laut. „Magst du überhaupt Eier zum Frühstück?“ rief sie. Günther Viehland antwortete nicht. Er stand vor dem Badezimmerspiegel und schnitt Grimassen. Mit diesem Wegwerfrasierer kam er nicht zurecht. Immerhin hat die Dame von Welt dergleichen im Hause. Nicht jeder Mann, den man (Frau) aufreißt, hat komplettes Nachtgepäck dabei. Sie jedenfalls ist auf Herrenbesuch eingerichtet. Auf Doppelbettbesuch, denn ein Gästezimmer hat sie nicht. Ob ich Eier zum Frühstück will? Eigentlich nicht. Nicht mehr. Früher schon. Aber mit diesem Leben, wie ich es in den letzten Jahren geführt habe, handelt man sich einen empfindlichen Magen ein. Ein frisches Hemd hält sie wohl nicht zufällig auch noch vorrätig? Wäre auch ein bißchen viel verlangt. Allein wegen der unter195
schiedlichen Größen. Trotzdem möchte ich ein frisches Hemd anziehen. „Wenn es keine Mühe macht, nehme ich ein Ei!“ rief er durch die angelehnte Badezimmertür. Ich muß sie ein bißchen bei Laune halten. Es könnte sich lohnen. Vorhin, als sie mich geweckt hat, machte sie nicht den Eindruck, als wollte sie mich gleich abservieren. Vielleicht hebt sie es sich bis nach dem Frühstück auf. Das ist immer der übliche Zeitpunkt. Auf das Hemd kann ich zur Not auch verzichten. Rasieren ist mir wichtiger. Ich könnte auch erst in die Jütlander Allee fahren, mich da umziehen und bei der Gelegenheit ein paar Sachen einpacken. Von da aus kann ich auch in der Firma anrufen und behaupten, ich müßte dringend zum Arzt. Bisher war ich noch nie krank. Immer hübsch unauffällig. Es ist vielleicht sogar am klügsten, jetzt in die Jütlander Allee zu fahren. Nachdem sie mich die Nacht über vermißt haben, stehen sie jetzt bestimmt vor der Firma ‘rum. Die sind beruhigt, wenn ich da mit Verspätung eintrudele. Die Sachen könnte ich auf dem Hauptbahnhof in ein Gepäckschließfach legen. Nur ein paar Kleinigkeiten. Ein gewisses Risiko ist damit verbunden. Wenn ich Pech habe, schaffe ich es nicht, die Sachen da wieder abzuholen. Schön, dann werden sie eben irgendwo versteigert. Es ist nichts dabei, was auf den Namen Viehland schließen läßt. Deshalb brauche ich den Gepäckfachschlüssel auch nirgends zu deponieren. Nehmen sie mich vor der Firma mit großem Getöse in Empfang, dann können sie auch 196
ruhig das Gepäckfach ausräumen. Mit großem Getöse. Anders tun es die nicht. Waffen im Anschlag und eine Hundertschaft in der Umgebung postiert. Nach Möglichkeit noch ein Hubschrauber über dem Gelände. So ein Terrorist bringt es ja fertig und geht senkrecht in die Luft. So, Schaum abwischen. Eine fröhliche Miene aufsetzen. Gute Laune versprühen. Ein mürrischer Hausgenosse ist nirgends gern gesehen. Nicht pfeifen. Das mögen manche Damen nicht. Gut, wenn man seine Lektionen gelernt hat. Nun mal abwarten, ob sie mich rausschmeißt. Läßt sie zu, daß ich mich hier einquartiere, dann komm ich ihr auch auf die Schliche. Seit diesem nächtlichen Anruf bin ich von ihrer Unschuld nicht mehr überzeugt. Günther Viehland griff nach Uta Schlandorfs weißem Bademantel. Er fühlte den weichen Stoff auf der Haut und hoffte den Mantel noch öfter tragen zu können. Wenigstens drei - oder viermal, dachte er. „Hoffentlich ist Kaffee recht.“ Aus einer rustikalen Kanne füllte sie große Frühstückstassen. „Ich hab momentan keinen vernünftigen Tee im Hause. Nur so parfümiertes Zeug.“ „Kaffee ist schon recht.“ Er zuckte zusammen, weil der Toaster sich abgeschaltet hatte und die gerösteten Scheiben ruckartig nach oben sprangen. „So schreckhaft?“ fragte sie und reichte ihm eine der beiden Scheiben. „Ein ungewohntes Geräusch. Ich bin in der Hinsicht etwas empfindlich.“ Auf der Flucht wird man 197
empfindlich. Besonders in einer fremden Umgebung. Sie musterte ihn eindringlich. „Wie hast du denn geschlafen?“ „Ganz ordentlich.“ Mal vorsichtig einen Versuchsballon starten lassen. Bloß um zu sehen, wie sie reagiert. „Ich glaube, das Telefon hat geschnurrt.“ Sie schien das Messer eine Spur fester zu fassen. „Ja“, sagte sie schließlich. „Eine gegessene Sache. Manche begreifen eben nicht, wann es aus ist. Ich bin mit dem Apparat auf den Flur gegangen und etwas deutlich geworden.“ In dem Gespräch fiel das Wort „ihr“, dachte er. Nun ja, es kann sich auch um eine Dreiergeschichte gehandelt haben. Manchmal liest man Anzeigen: Ehepaar sucht nette Freundin… „Davon habe ich nichts mitbekommen“, log er. Lächelnd setzte er hinzu: „Nach manchen Sachen schläft man besonders gut.“ Er griff nach ihrer Hand. „Du bist phantastisch.“ Ein Kompliment schadete bestimmt nicht. Außerdem war sie phantastisch. Es lohnte sich auch in dieser Hinsicht, die Geschichte etwas am Kochen zu halten. „Ich bin im Augenblick solo.“ Nun wußte sie ungefähr, woran sie war. Selbst erfahrene Frauen empfinden sich nicht gern als Eintagsfliege. „Wir scheinen ganz gut zusammenzupassen.“ „Meine ich auch“, sagte er kauend. „Auch noch aus einer Branche. Das hat Vorteile. Man braucht ja nicht immer über die Firma zu reden. Aber…“ Er strich ihr über den Busen. „Aber es 198
füllt manchmal die Pausen ganz gut.“ In manchen Situationen kann man es sich nicht leisten, anständig zu bleiben. Sie schob seine Hand weg. „Morgens bin ich nicht dafür.“ „Ich hab heute abend wieder Zeit“, sagte er schnell. Uta Schlandorf lächelte ihn an. Sie kniff die Augen zusammen. „Wie sich das trifft: ich auch!“ „Abgemacht.“ Ob das cool genug klang? Er war nicht sicher, ob sie ihm den Frauenhelden abnahm. „Ich müßte nur mal bei mir vorbeischauen und ein paar Sachen einpacken.“ Nun kapierte sie ja wohl, daß er vorhatte, nicht gleich wieder aus ihrer Wohnung zu verschwinden. Gespannt wartete er auf ihre Reaktion. „Nur ein paar Kleinigkeiten.“ Den Bogen auch nicht überspannen. „Mach das doch gleich“, sagte sie. „Heute abend hatte ich mit uns beiden was vor. Ruf an, du müßtest zum Arzt.“ Ob es so etwas wie Gedankenübertragung gibt? „Gute Idee.“ „Hast du einen Wagen?“ „Im Augenblick nicht. Totalschaden. Ein neuer ist so schnell nicht drin.“ Er glaubte, ein kurzes Aufblitzen in ihren Augen zu beobachten. „Das Leben ist zu teuer.“ „Du kannst meinen nehmen. Dann gewöhnst du dich schon an ihn. Du fährst mich bis in die Nähe der Firma und stellst ihn später irgendwo um die Ecke ab. Deine Sachen kannst du in den Kofferraum legen.“ 199
„Hört sich gut an“, sagte er. „Woran hast du denn gedacht?“ „Bitte?“ „Ich meine, an was für einen Wagen?“ „Eine Ente sollte es eigentlich nicht wieder sein. Die sind doch ein bißchen sehr lahm.“ Sie schraubte das Marmeladenglas zu. „Kann ich verstehen. Vielleicht kann ich dir ein bißchen unter die Arme greifen. Mal sehen.“ Auch eine Möglichkeit, jemand zu ködern. Man leiht ihm Geld und findet dann schon eine Möglichkeit, ihn in die Ecke zu manövrieren. Sie braucht anschließend bloß dafür zu sorgen, daß ich bei Dose & Wienhöft rausfliege, dann steh ich voll auf dem Schlauch. Wer rausfliegt, kriegt ein mieses Zeugnis und kann zum Arbeitsamt gehen. Bei der Stütze ist dann an eine Kreditrückzahlung nicht zu denken. Wir liefern uns hier einen ganz schönen Eiertanz, dachte er. Jeder will den anderen für sich einspannen. „Das wäre prima!“ Ob ich sie jetzt küssen muß? „Geld spielt nicht die entscheidende Rolle.“ Uta Schlandorf stand auf und räumte das Geschirr zusammen. „Für mich schon.“ Er reichte ihr die Kaffeekanne. „Das glaube ich.“ Sie drehte sich zu ihm um. In der Rechten hielt sie ein langes Brotmesser. Die Spitze zeigte auf seinen Magen. „Wer, wie du, keine reine Weste hat…“ „Spinnst du?“ Er fand, daß sich das nicht sehr 200
überzeugend anhörte. „Wie kommst du auf den Quatsch?“ Sie stand abwehrbereit vor ihm. „Ich hab mir mal deine Papiere kommen lassen. Zwei Zeugnisse… Bei den Firmen bist du nie gewesen.“ Die Messerspitze senkte sich etwas. „Du bist zu intelligent für den Job, den du bei uns machst… Bleib ganz ruhig; es ist keine Schande, im Knast gewesen zu sein. Ich weiß, wie schwer es einer anschließend hat.“ Sie wartete, bis er die Sätze verarbeitet hatte. Die ist total auf dem falschen Dampfer, dachte er. Mit den Papieren ist eine Kleinigkeit schiefgelaufen. Da hat der Doktor sich einen Schnitzer erlaubt. Aber das ist nicht entscheidend. In der Hauptsache liegt sie daneben. Sie gibt ein paar Schüsse ins Blaue ab. Knast. Anders kann sie sich das alles nicht erklären. Ich und Knast. Einmal vielleicht, dann aber für immer. Bloß hab ich das noch vor mir, wenn ich jetzt nicht aufpasse. „Es ist doch nichts vorgefallen“, sagte er bewußt lahm. „Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.“ Sie darf getrost bei ihrer Knasttheorie bleiben. Solange sie daran glaubt, sucht sie nach keinem anderen Grund für meine Tätigkeit bei Dose & Wienhöft. „Du, ich brauch den Job!“ Sie legte das Messer auf die Spüle. Es wirkte, als hätte sie es überhaupt nur zufällig in die Hand genommen. „Du sollst den Job auch behalten. Ich wollte nur was klarstellen.“ Sie sah ihn prüfend an. Ihre Schneidezähne gruben sich leicht in die Unterlippe. 201
„Okay; begriffen.“ Er ließ die Schultern hängen. Doch nicht mehr fit. Angst vor dem Messer. Und das nach einer harten Nahkampfausbildung. Die Reflexe sind nicht mehr da. Oder lag es daran, daß ich auf die Situation nicht vorbereitet war? „Was hast du begriffen?“ Uta Schlandorf machte einen kurzen Schritt auf ihn zu. „Daß ich hier nicht der Boß bin. Hatte ich auch gar nicht vor. Wie du aussiehst… Ich meine, du hast mich als Frau gereizt. Sonst nichts. Ich brauch meine Sachen nicht zu holen.“ Immer schön kleine Brötchen backen. „Weshalb warst du drin?“ Nun nur das richtige Delikt nennen. Mit einem ausgesprochenen Knastologen wird sie sich nicht einlassen. „Autos“, sagte er. „Ich bin damals in eine Geschichte reingeraten… Schwere Wagen in den Orient verschieben. Die haben uns Studenten als Fahrer angeheuert.“ Student entsprach der Wahrheit und erklärte zugleich die Grundkenntnisse in Chemie. „Ich hab dann ein bißchen sehr mitgemischt und auch mal Wagen geklaut. Das ging schief, und bei der Gelegenheit haben sie mir zusätzlich was angehängt. An die Drahtzieher sind sie nicht rangekommen. Wie immer.“ Das genügt. Nur keine zu ausführlichen Erklärungen abgeben. „Dann kennst du dich ja aus mit Autos.“ „Ich denke schon.“ Nur daß ich keinen Führerschein besitze. Einen Führerschein auf den Namen Karsten Welowczyk zu beschaffen war nicht auch noch möglich. Wollte ich auch nicht. Als motori202
sierter Verkehrsteilnehmer gerät man zu leicht in Kontrollen. Der Job bei Dose & Wienhöft entsprach genau meinen Vorstellungen. Arbeit in einem fensterlosen Lagerraum bei einer kleinen Firma ohne Publikumsverkehr. Das gewährleistet größtmögliche Sicherheit. Für sie soll ich nun bestimmt Geschäfte abwickeln, bei denen man einen Wagen braucht. Das Risiko muß ich zwei oder drei Tage lang eingehen, um mich zu sanieren. Obwohl, sie ist ein harter Brocken. Soviel weiß ich jetzt auch. Aber ich bin auch nicht der ehemalige Knacki, der ihr vor lauter Dankbarkeit aus der Hand frißt. Und es ist noch die Frage, wer hier das höhere Risiko eingeht. Solange sie nicht weiß, wen sie wirklich vor sich hat, bin ich in der besseren Position. „Wir müssen los“, sagte sie. Auf dem Flur half er ihr in den Mantel. Von hinten legte er ihr die Arme um die Schultern. Er spürte, wie sie sich unter seinen Händen verkrampfte. Also doch nicht die ganz große Souveränität. „Du“, flüsterte er ihr ins Ohr, „ich will hier bestimmt nichts drehen.“ Er zog sie stärker an sich. „Was könnte ich von dir auch sonst schon wollen.“ Sie drehte sich zu ihm um. Ihr Unterleib kam näher. „Als Frau kann man nicht vorsichtig genug sein.“ Sie hielt ihm die Lippen hin. „Es war vielleicht dumm von mir, das überhaupt zu sagen. Aber weißt du, mein Vertrauen ist schon etliche Male mißbraucht worden. Da lernt man, klare Verhältnisse zu schaffen.“ 203
„Verstehe.“ Er küßte sie vorsichtig auf den Mund und schmeckte ihren frisch aufgetragenen Lippenstift, „Ich bin ja selbst ein gebranntes Kind.“ Sie scheint nach der Methode Zuckerbrot und Peitsche zu arbeiten. Beide Komponenten kenne ich nun. Beide beherrscht sie gleich gut. Hab ich richtig mitgespielt, dann kommt sie bald zur Hauptsache. Abschieben will sie mich jedenfalls nicht mehr. „Ich könnte dir auch gleich einen Schlüssel geben.“ Sie zog die obere Schublade einer Eichentruhe auf, die unter dem großen Spiegel stand. „Er paßt auch für die Haustür. Verlier ihn nicht.“ „Danke.“ Er ließ den Schlüssel in die Hosentasche gleiten. „Vertrauen gegen Vertrauen“, sagte sie. „Gehen wir.“ Mißtrauen gegen Mißtrauen wäre besser, dachte er. Auf der Straße reichte sie ihm den Wagenschlüssel. „Mal sehen, wie du fährst.“ Wann habe ich das letzte Mal einen Wagen gefahren? Muß in Paris gewesen sein. Ein Irrsinnsverkehr dort. Also dürfte mir Hamburg nichts ausmachen. Abgesehen von der mangelnden Ortskenntnis. „Lots mich mal ein bißchen. Hier bin ich vorher noch nie gewesen.“ „Wo kennst du dich denn besser aus?“ „Berlin.“ Er gab sich Mühe, weich zu schalten. Gibt dem Besitzer das Gefühl, daß sein Wagen pfleglich behandelt wird. „Würde es dir was ausmachen, mal für mich nach Berlin zu fahren?“ „Im Gegenteil“, behauptete er. Berlin fällt völlig 204
aus. Ohne Papiere durch die DDR. Unmöglich. Es war eine Panikreaktion, die Papiere zu vernichten. Ich hätte sie irgendwo deponieren sollen. Manchmal sind schlechte Papiere besser als gar keine. „Paß doch auf!“ sagte sie. Er trat auf die Bremse. Das hätte ein Auffahrunfall werden können. „Entschuldigung. Ich mußte an Berlin denken.“ „Mit Drogen hast du nie zu tun gehabt?“ Was war darauf nun die richtige Antwort? „Ganz flüchtig. Als Hasch so eben populär wurde. Sonst nicht. Anders war ich noch nicht wieder draußen.“ Sie kommt allmählich zur Sache. Ich habe also richtig spekuliert. „Damit ist Geld zu machen.“ Sie beobachtet mich zu genau. „Nicht ohne Startkapital. Und für einen allein ist da gleich gar nichts zu wollen.“ „Stimmt“, bestätigt sie. „Man braucht Beziehungen zu den richtigen Kreisen.“ Auf das Thema eingehen. Ein bißchen Initiative entwickeln. In ihren Augen bin ich nun mal der Kriminelle. „Ich hab mir schon manchmal gedacht, wenn bei uns im Lager einer an gewisse Sachen rankäme, hätte er ziemlich schnell ausgesorgt. Aber bei der lückenlosen Kontrolle…“ Das genügt. Nun ist sie am Zug. Es dauert eine Weile, bis sie auf das Stichwort reagiert. „War das bei dir wirklich nur eine Autogeschichte?“ fragt sie. „Es wäre besser, wenn du es mir gleich sagtest.“ Sie will also die Gewißheit haben, daß ich nicht 205
einschlägig vorbestraft bin. Oder spekuliert sie auf bereits vorhandene Erfahrung in dem Geschäft? Mädchen, ich bin überhaupt nicht vorbestraft. Schon gar nicht einschlägig. Trotzdem steht mein Name in jeder Kartei und sind meine Daten in jedem Computer gespeichert. Du läßt dich von einem der meistgesuchten Männer zur Arbeit fahren und versuchst, ihn zu kriminalisieren. „Nur Autos“, antworte ich. „Sonst nichts. Nur… Man macht sich so seine Gedanken, wenn man sieht, was da bei uns durchs Lager geht. Wer es schafft, davon was abzuzweigen, der braucht für den nächsten Urlaub nicht zu sparen.“ Sie lacht verhalten. „Aus dem Lager läßt sich nichts abzweigen. Da passen wir schon auf. Mach dir keine Hoffnungen. Du wirst für den Urlaub sparen müssen. Es sei denn…“ Sie stützt sich am Armaturenbrett ab, weil ich wieder mal etwas heftig bremsen muß. Dieser Morgenverkehr, der fremde Wagen mit dem ungewohnten Bremskraftverstärker - es gibt günstigere Gelegenheiten, über mögliche Geschäfte mit Drogen zu reden. „Es sei denn…?“ helfe ich nach. Ich kann die günstige Gelegenheit nicht abwarten. Aus einer Seitenstraße versucht ein Streifenwagen, sich in die Autoschlange hineinzuschieben. Ich reagiere auf Blaulicht, obwohl sie unsereinen nicht mit Blaulicht und Sirene jagen. Für uns sind die unauffälligen Wagen viel gefährlicher… Der Streifenwagen ist hinter uns. Jemand hat ihm eine Vorfahrt eingeräumt, die er nicht hatte. Schiß vor 206
Bullen. „Es gibt ein besseres Verfahren“, sagt Uta Schlandorf. „Klauen ist vielleicht deine Methode.“ „Und welche ist deine?“ Nun muß sie die Katze aus dem Sack lassen. Oder das ganze Vorgeplänkel abbrechen. Oder empört tun. Kann sie sich das leisten? Ich weiß, daß bei ihr etwas schiefgelaufen ist. Dieses Telefongespräch. Sie will mich irgendwie einbauen. Welchen Grund hätte sie sonst gehabt, sich um meine Personalunterlagen zu kümmern? Intensiv zu kümmern. Anders hätte sie nie gemerkt, daß mit den Zeugnissen was nicht stimmt. Es kann sich nur um eine Kleinigkeit handeln, sonst wär’s schon bei meiner Einstellung aufgefallen. Wieso hat gerade sie den Blick für solche Unstimmigkeiten? Personalangelegenheiten gehen sie gar nichts an. „Die überlaß nur mir.“ Immerhin ein Eingeständnis, daß sie über eine eigene Methode verfügt… Gott sei Dank, der Streifenwagen biegt ab. „Wir reden später darüber. In Ruhe. Es hängt von dir ab, ob du für den nächsten Urlaub sparen willst.“ Oder das Geld mit einem Schlag verdienen willst. Will ich. Erheblich mehr sogar. Mit deiner gütigen Hilfe. „Ich bin dabei. Das Risiko darf nur nicht zu groß sein.“ „Was läuft schon ohne Risiko!“ „Ich sagte: nicht zu groß. Es sollte sich auch lohnen. Ein einmaliger großer Schlag, und dann die Platte putzen.“ 207
„Aber in verschiedene Richtungen bitte.“ Ob ihr der Boden hier auch zu heiß geworden ist? Wundern würde es mich nicht. „Soll ich schon mal kündigen?“ frage ich. Das würde meinem Verschwinden sogar einen Anflug von Legalität geben. Mir stehen ein paar Tage Urlaub zu. Die von der Kündigungsfrist abgezogen, dann bleiben nur noch wenige Arbeitstage. Das ermöglicht einen einigermaßen geordneten Rückzug… Irrtum. Die Bullen halten unter Garantie in irgendeiner Form Kontakt zu Dose & Wienhöft. Ich könnte wetten, daß sie diskrete Erkundigungen über mich eingezogen haben. Was die diskret nennen. Sobald ich kündige, macht jemand aus der Personalabteilung bei denen ebenso diskret Meldung. Nur so kann das überhaupt gelaufen sein. Die haben bei Dose & Wienhöft rumgeschnüffelt. Solche Aktionen bleiben niemals völlig geheim. Irgend jemand kriegt immer Wind davon. Uta zum Beispiel. Welchen Grund hätte sie sonst gehabt, sich um meine Papiere zu kümmern? Ich scheine in jeder Beziehung in der Falle zu sitzen. Aus deren Sicht jedenfalls. Sonst hätten sie nicht so viel Geduld mit mir. Also darf ich nicht kündigen und sie noch auf meinen Abflug hinweisen. Lieber eine Gehaltserhöhung durchdrücken. Zumindest den Versuch machen. Wer mehr Geld verlangt, hat die Absicht zu bleiben. Oder ob Uta für die den Verbindungsmann spielt? Stand das Telefongespräch von heute nacht damit in Zusammenhang? Alles verdammt beschis208
sen. „Du kannst hier halten“, sagt sie. Wir sind in der Waterloostraße. Ich fahre rechts ‘ran. Sie hält mir die Wange hin. Ich küsse sie zerstreut. „Bis dann“, sagt sie. „Ich bring das mit dem Chef in Ordnung. Du brauchst dich nicht zu beeilen.“ „Danke. Wir sehen uns später.“ Sie steigt aus und winkt mir noch einmal zu. Ich warte, bis sie in die Eimsbütteler Straße eingebogen ist. Jetzt zu mir fahren und wirklich ein paar Sachen einpacken? Die beste Idee scheint das nicht zu sein. Die Bullen brauchen mich bloß aus dem Wagen steigen zu sehen, dann geben sie womöglich Alarm. Bislang war ich für sie ein leicht zu observierendes Objekt. Regelmäßige Fahrten von der Wohnung zum Arbeitsplatz und sonst so gut wie keine Bewegungen. Das Auto erschwert ihnen die Aufgabe. Hinter mir hupt jemand ungeduldig. Ich versperre einem Lieferwagen den Weg. Fahr doch vorbei, du Trottel. Du hast jede Menge Platz. Ach so, du willst hier in die Einfahrt ‘rein. In Ordnung, ich hau ja schon ab. Und wenn ich überhaupt abhaue? Vor Ablauf von drei Stunden wird Uta nicht mißtrauisch. Wie weit könnte ich in drei Stunden sein? Nicht weit genug. Ich habe den Schlüssel zu ihrer Wohnung. Ich könnte ihr vorher noch die Wohnung ausräumen. Da müßte sich etliches an Schmuck finden lassen. Und wer nimmt mir den ab? Ich kenne keine Heh209
ler. Ehe ich den Schmuck los bin, hat mich jemand auffliegen lassen. Ich kann vielleicht den besten Molotow-Cocktail der Welt basteln, aber wie man ein bißchen Schmuck an den richtigen Mann bringt, davon habe ich keine Ahnung. Also doch in die Jütlander Allee. Ich muß es darauf ankommen lassen, daß Uta mit mir ein relativ ehrliches Spiel spielt. Innerhalb ihrer Grenzen. Meine Grenzen lernt sie bei der Gelegenheit dann kennen.
16 Eintreffen bei Dose & Wienhöft um 8 Uhr 02 aus Richtung Waterloostraße, notierte Katenkamp in Gedanken. Wagen vermutlich in der Nähe abgestellt. Bekleidet mit einem weißen Mantel. Cremefarbene Handtasche und dazu passende Schuhe. Und wie nun weiter? Um 17 Uhr 02 würde Uta Schlandorf die Firma wieder verlassen, dann irgendwo in ihren Wagen steigen und in die BaronVoght-Straße fahren, sich vor den Fernsehapparat setzen und für den Rest des Tages unsichtbar bleiben. Unter Umständen führt sie noch ein paar Telefongespräche und füllt zwischendrin die reparierte Waschmaschine. Waschmaschine? Wo stand die eigentlich? Soweit er sich erinnern konnte, gab es in ihrer Wohnung keine Waschmaschine. Er hatte sich bemüht, in jedes der Zimmer einen Blick zu werfen. Mit Ausnahme des Schlafzimmers. Nun 210
stehen Waschmaschinen in der Regel nicht im Schlafzimmer. War das denn nun so wichtig, ob sie eine Waschmaschine besaß oder nicht? Jedenfalls hatte sie die Anwesenheit des jungen Mannes in ihrer Wohnung mit einer Waschmaschinenreparatur erklärt. Besaß sie keine Waschmaschine, dann deutete alles auf eine unzutreffende Erklärung hin. Auf eine Lüge also. Katenkamp ging langsam in Richtung Schulterblatt/Altonaer Straße. Außer ihm bewegte sich niemand langsam. Nachzügler gingen schnellen Schrittes in die Büros. Eine junge Frau rannte an ihm vorbei. Unter ihrem Mantel wölbte sich ein Viermonatsbauch. Sie machte einen gehetzten Eindruck. Einem Mann rutschte die Morgenzeitung unter dem Arm weg. Er blieb abrupt stehen, um sich danach zu bücken. Ein Mann in grauem Kittel lief ihm in die Seite. Beide knurrten einander an und setzten ihren Weg in verschiedene Richtungen fort. Keine Zeit für eine Auseinandersetzung. Waschmaschine also. Möglicherweise stand das Ding ja im Keller. Aber dann handelte es sich doch wohl um eine Gemeinschaftswaschmaschine, und Uta Schlandorf war für Reparaturen nicht zuständig. Falls doch, dann erklärte es die Anwesenheit des Mannes in ihrer Wohnung nicht. Wer überläßt einem Handwerker gleich den Wohnungsschlüssel, wenn im Keller eine Reparatur anfällt? Außerdem tragen die Männer vom Kundendienst fast immer Kittel mit einem Firmenschild. Der Mann in Uta 211
Schlandorfs Wohnung hatte alte Jeans und ein Hemd getragen und im übrigen einen ungepflegten Eindruck gemacht. Solche Typen beschäftigt niemand im Außendienst. Warum also die Lüge von der defekten Waschmaschine? Vorsichtig. Katenkamp blieb vor der Auslage eines Rundfunk - und Fernsehgeschäfts stehen. Fast nur Sonderangebote. Nur nicht für Videorecorder. Die Lüge wollte bewiesen sein. Und dann? Uta Schlandorf würde mit einem verschämten Lächeln behaupten, den jungen Mann irgendwo für eine Nacht aufgerissen zu haben und überhaupt nur seinen Vornamen zu kennen… Nein, ein verschämtes Lächeln paßte nicht zu ihr. Sie würde das selbstbewußt oder trotzig behaupten. Immerhin lohnte es sich, den Aspekt Waschmaschine zu überprüfen. In einem Mordfall befragt und bei einer Lüge ertappt zu werden, das erhöht die Glaubwürdigkeit der befragten Person auch in anderer Hinsicht nicht. Katenkamp schloß seinen Wagen auf und setzte sich hinters Steuer. Also noch einmal in die Baron-Voght-Straße. Wenn die Herren vom Bundeskriminalamt und ihrer Hamburger Filiale meinen, sich um die großen Dinge kümmern zu müssen, dann bleiben mir eben nur die Kleinigkeiten, dachte er und schob den Schlüssel ins Zündschloß. Es wäre interessant, zusätzlich die Erklärung des jungen Mannes für seinen Aufenthalt in der Wohnung zu kriegen. Der Mann müßte sich finden lassen. Selbst dann, wenn sie ihn irgendwo aufgele212
sen hat. Dieses Irgendwo kann eigentlich nur ein Lokal gewesen sein. Solche Typen verkehren immer in den gleichen Lokalen und lassen sich verhältnismäßig leicht ermitteln. Sei vorsichtig, warnte er sich, du verrennst dich in eine Theorie, die sich dann in einer halben Stunde als unhaltbar erweist. Die Waschmaschine steht im Keller, und alles hat seine Richtigkeit. Baron-Voght-Straße. Er parkte direkt vor dem Haus. Spaßeshalber läutete er zuerst bei Uta Schlandorf. Der Mann brauchte sich nur wieder in der Wohnung aufzuhalten… Niemand betätigte den elektrischen Türöffner. Auch in zwei anderen Wohnungen war offensichtlich niemand zu Hause. Er drückte einen vierten Klingelknopf. „Wer ist da?“ fragte eine weibliche Stimme aus dem verborgenen Lautsprecher der Gegensprechanlage. „Kriminalpolizei“, antwortete er spontan. Ein Fehler. Vermutlich kein schwerwiegender. Die Kommunikation unter den Bewohnern dieses Hauses war so gering, daß sich das Auftauchen eines Kriminalbeamten nicht wie ein Lauffeuer herumsprechen würde. Jetzt kam es nur noch darauf an, eine möglichst harmlos klingende Erklärung zu finden. Er stieg bis zur letzten Etage hinauf. Eine ältere Dame erwartete ihn mit mißtrauisch gekrümmten Schultern vor ihrer Wohnungstür. Ihre Haltung verriet, daß sie bereit war, sich sofort in ihre vier Wände zurückzuziehen und ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Aus ihrem Gesicht sprach die Erfahrung einer zu oft von Vertretern 213
übertölpelten alten Frau. Er streckte ihr seinen Dienstausweis entgegen. Sie wagte nicht, ihn genauer zu prüfen. „Wohnen Sie schon länger hier im Hause?“ erkundigte er sich. Nicht die geschickteste Gesprächseröffnung. Allenfalls ein vager Versuch, ihre Gesprächsbereitschaft zu fördern. „Seit drei Jahren.“ „Dann kennen Sie sich ja ziemlich gut aus.“ „Nicht sehr. Ich bin viel bei meiner Tochter und reise auch viel.“ Natürlich, wer hier eine Eigentumswohnung besaß, war auch so gut situiert, daß er es sich leisten konnte, einen Teil seiner Rente im Ausland zu verzehren. „Aber Sie können mir sicherlich sagen, wo es hier im Hause eine Waschmaschine gibt.“ „Eine Waschmaschine?“ Bei ihr meldete sich das Mißtrauen. Also doch wieder einer jener Vertreter, die mit allen Tricks arbeiten. „Ich brauche keine.“ Die Frau griff zur Türklinke. „Ich will Ihnen keine Waschmaschine verkaufen“, sagte er ruhig. „Wir suchen nach Diebesgut. Hier sollen in letzter Zeit gestohlene Maschinen angeboten worden sein…“ Warum ließ er sich auf diese abenteuerliche Erklärung ein? „Mir ist nichts angeboten worden. Wir dürfen auch gar keine Waschmaschinen in der Wohnung haben. Das ist auf einer Eigentümerversammlung so beschlossen worden. Es gibt sonst Differenzen bei der Wasserabrechnung. Der eine wäscht laufend, der andere gibt die Wäsche außer Haus. Da haben wir uns für diese Regelung entschieden.“ 214
Die Gewißheit, dem Mann gar nichts abkaufen zu können, gab ihr die Sicherheit zurück. „Im Keller steht eine Maschine. Sie wird so gut wie nie benutzt.“ „Ach ja?“ Genau so hatte er sich das gedacht. „Und Sie wissen nicht zufällig, ob die Maschine in jüngster Zeit kaputt war?“ „Das weiß ich nun wirklich nicht.“ „Wer wäre denn für Reparaturen zuständig? Jemand muß sich doch darum kümmern.“ „Der Hausmeister.“ Unwahrscheinlich, daß Uta Schlandorf den Posten des Hausmeisters versah. „Wo kann ich den finden?“ „Im Nachbarhaus. Herr Harmsen. Der müßte Ihnen Auskunft geben können. Für uns allein lohnt es nicht, einen Hausmeister zu beschäftigen. Hier wäre auch gar keine Wohnmöglichkeit. Wir haben uns mit den Nachbarn zusammengetan.“ „Sehr vernünftig. Entschuldigen Sie die Störung. Herr Harmsen kann mir dann wohl weiterhelfen. Es ist wirklich nur eine Routineangelegenheit. Wir fragen überall herum. Man muß den Dingen ja nachgehen, wenn jemand Anzeige erstattet.“ Alles soweit wie möglich herunterspielen. Obwohl die Frau wohl kaum zu Uta Schlandorf gehen und über den Besuch von der Kriminalpolizei reden würde. Allenfalls galt es, den Herrn Harmsen zu vergattern. Obwohl sich der Gang zu ihm eigentlich bereits erübrigte. Aber Hausmeister wissen oft mehr über die Hausbewohner. „Haben Sie vielen Dank. 215
Nichts für ungut.“ Katenkamp setzte sich in Bewegung. „Sie können Herrn Harmsen sagen, daß die Birne im Keller immer noch nicht ausgewechselt ist.“ „Ich werde es ausrichten.“ Die Polizei als Buhmann der Nation. Das konnte der Dame so passen. Er dachte nicht daran, diesem Herrn Harmsen mit einer nicht ausgewechselten Glühbirne zu kommen. Herr Harmsen war in einer Kellerwohnung untergebracht worden. Im Vorraum roch es nach Katzen. Zwischen Herrn Harmsens Beinen hindurch wollte ein graugetigerter Kater die Kellertreppe hinaufflüchten. Der alte Mann mit dem kahlen Schädel bückte sich schnell und erwischte das Tier an den Hinterbeinen. „Aber doch nicht mit mir“, sagte er und hob die Katze auf die Arme. „Das kannst du mit einem alten Artisten doch nicht machen. Meine Reflexe sind nämlich noch ziemlich gut“, sagte er zu Katenkamp. „Das sitzt drin, wenn man jahrelang auf dem Schlappseil gearbeitet hat. Sie müssen wissen, das ist viel schwieriger als ein Hochseil.“ Er streichelte die Katze. „Um darauf zurückzukommen: Die Waschmaschine funktioniert tadellos. Um ehrlich zu sein, ich benutze sie am häufigsten. Die übrigen Herrschaften können es sich ja leisten, ihre Wäsche wegzugeben. Unsereiner dagegen…“ Er hob die mageren Schultern. „Ich will mich nicht beklagen. Ich habe die Welt gesehen. Das macht mir das Alter erträglicher. Ich sterbe mal ohne Sehnsucht.“ Die Katze saß friedlich auf sei216
ner Schulter. Artistenschicksale können interessant sein, dachte Katenkamp, nur jetzt verschon mich damit. „Ist es denkbar, daß jemand heimlich eine Waschmaschine in seiner Wohnung aufgestellt hat?“ Herr Harmsen zog mit einem schnellen Griff die rutschende Kordhose hoch. „Nein. Das wüßte ich. Es gab erst in der vergangenen Woche eine sogenannte Begehung von der Wohnungsbaugesellschaft, zu der man mich hinzugezogen hat. Es besitzt niemand eine Waschmaschine außerhalb der Legalität, um es mal so auszudrücken. Ich konnte mich davon selbst überzeugen.“ Eine eindeutige Auskunft. Damit war etwas anzufangen. Wieviel, das würde sich herausstellen. „Also besitzt auch Frau Schlandorf keine“, sagte Katenkamp. „Warum gerade die?“ Die Katze sprang von Herrn Harmsens Schulter nach hinten in die Wohnung hinein. „So ist’s brav!“ rief er ihr nach. „Ich bin auch im Zirkus aufgetreten, da lernt man den Umgang mit Tieren. Mögen Sie Tiere?“ „Am liebsten sind sie mir in Freiheit.“ „Ja… Sie haben bestimmt Familie. Da denkt man über manche Dinge anders. Ich bin allein hier unten. Dabei muß ich dankbar sein, daß ich überhaupt Katzen halten darf. Es hat zum Glück noch keine Beschwerden gegeben. Ich darf gar nicht dran denken… Einen Umzug kann ich mir nicht leisten. Dann müßte ich auf die Tiere verzichten. Sie können nicht ermessen, was das bedeutet.“ 217
„Ja“, sagte Katenkamp vage. Die Polizei schätzt ein gewisses Maß an Redseligkeit bisweilen außerordentlich, es muß sich nur um eine zweckdienliche Redseligkeit handeln. Mit der wartete Herr Harmsen nicht gerade auf. Er drückte sich nur bemerkenswert gewählt aus. „Frau Schlandorf hat also keine Waschmaschine“, wiederholte er. „Das hat sie nun wirklich nicht nötig. Bei ihrem Einkommen kann sie sich das bißchen Wäscherei auch noch leisten. Wer sich für ein Auto zwei Garagen mietet…“ „Wie bitte?“ Die Frage war ihm herausgerutscht. Nun gut, in irgendeiner Form hätte er sie doch stellen müssen. „Ja, manche Leute haben es eben. Ein Auto und zwei Garagen.“ Herr Harmsen bekräftigte die Mitteilung durch einen diskreten Rülpser. „Entschuldigung“, murmelte er. „Ich habe es mit dem Magen. Darunter leiden viele Artisten. Immer dieser Streß, ob die Nummer auch gelingt. Besonders…“ Ehe Herr Harmsen sich über Streß-Situationen im Leben eines Artisten verbreiten konnte, schnitt Katenkamp ihm das Wort ab. „Zwei Garagen? Das ist nun wirklich Luxus! Oder meinen Sie eine Doppelgarage?“ „Nein, nein. Eine befindet sich hier hinter dem Haus. Aber auch da stellt sie ihren Wagen nur selten ‘rein. Meist läßt sie ihn auf der Straße stehen. Die andere hat sie in der Jacobstraße angemietet.“ „Wo sind denn da Garagen zu vermieten?“ Ka218
tenkamp wartete gespannt auf Herrn Harmsens Antwort. „Das würde mich nun aber wirklich interessieren.“ „Gleich das dritte Haus, wenn Sie von der Jürgensallee aus reinkommen. Hier wird übrigens auch eine frei. Jemand will seinen Wagen abschaffen.“ Zufrieden registrierte Katenkamp, daß Herr Harmsen sein Interesse für Garagen nicht mehr als dienstliches Interesse auffaßte. Uta Schlandorf verfügte also über eine zweite Garage. Das paßte ins Bild. In angemessener Entfernung vom Wohnort unterhält man ein Lager. Vielleicht noch unter falschem Namen angemietet. Dann kann man einer eventuellen Hausdurchsuchung gefaßt entgegensehen. „Manche Leute haben es eben“, griff er Herrn Harmsens Bemerkung auf. „Ich kann mir mit Mühe und Not eine leisten, und sie benutzt beide nicht.“ „Manche Leute wissen nicht, was Geld ist“, entrüstete sich der alte Mann. „Eine merkwürdige Frau“, sinnierte er. „Ich meine, sie stellt ja was dar. Ein richtig spanischer Typ. Gleichzeitig gibt sie sich mit so Leuten ab…“ Die Leute interessieren mich, dachte Katenkamp. Über die darf er noch ein bißchen mehr erzählen. Notfalls bleibt mir weiter nichts übrig, als ihn regelrecht auszufragen und anschließend förmlich zu vergattern, keinem Menschen etwas über mein Auftauchen zu sagen. Bisher habe ich mich 219
nur ein bißchen umgehört und ihn unverbindlich reden lassen; nun könnte es ernst werden. Und dann darf es nicht passieren, daß er sich ans Telefon hängt und die Schlandorf anruft. „Sie soll ja mit einem Briefträger befreundet gewesen sein…“ War das zu plump, zu direkt? Nein, offenbar nicht. „Ja, der Briefträger“, sagte Herr Harmsen mit herabgezogenen Mundwinkeln. „Den hab ich verschiedentlich hier gesehen. Übrigens auch drüben vor der anderen Garage. Aber ihr sonstiger Bekanntenkreis erst! Lauter junges, langhaariges Volk. Sie scheint überhaupt nicht wählerisch zu sein. Auch sonst gibt es hier Leute… Als Hausmeister bekomme ich ja vieles mit. Nicht, daß ich mich auf die Lauer lege wie eine Pariser Concierge. Es ergibt sich einfach so.“ Die Kordhose war wieder nach unten gerutscht, und Herr Harmsen zog sie mit einer schnellen Bewegung nach oben. „Na, also…“ Das war jetzt nicht mehr so interessant; nicht für die Mordkommission… „Das mit der Waschmaschine hat sich ja nun aufgeklärt“, sagte Katenkamp. „Manchmal müssen wir den seltsamsten Dingen nachgehen.“ Mochte Herr Harmsen versuchen, sich einen Vers darauf zu machen, warum die Kriminalpolizei sich für Waschmaschinen in Eigentumswohnungen interessierte. Im Lauf des Gesprächs hatten sich ganz andere Aspekte ergeben, denen möglichst schnell nachzugehen war, „Wo ist denn hier die nächste Telefonzelle?“ fragte er. „Gleich oben an der Jürgensallee ist eine, dann 220
wieder am S-Bahnhof. Da funktioniert das Telefon meistens nicht. Die Zerstörungswut der Jugend hat ungeheure Ausmaße angenommen“, entrüstete sich Herr Harmsen. „Sie können auch von mir aus telefonieren.“ Lieber nicht. Was ich zu sagen habe, braucht ein schwatzhafter alter Mann nicht zu hören. „Vielen Dank. Ich habe sie lange genug belästigt.“ „Ich werde Ihren Besuch vertraulich behandeln“, sagte Herr Harmsen. Wer das so unaufgefordert verspricht, der hat es bestimmt nicht vor. „Ich wäre Ihnen sehr verbunden.“ Katenkamp hatte bereits den Rückzug angetreten. „Auf Wiedersehen“, sagte er vom Treppenaufgang her. Die Telefonzelle an der Jürgensallee strahlte in leuchtendem Gelb. Vorsicht, frisch gestrichen, warnte ein Schild. Behutsam schob sich Katenkamp in das enge Geviert. Es roch intensiv nach frischer Farbe. Kein Kleingeld, stellte er fest. Ein Markstück für ein Ortsgespräch opfern? Es gibt größere Opfer. Er wählte. Im Dezernat meldete sich Thölke. „Hör zu, du schickst jetzt jemand in die Asservatenkammer und läßt den Schlüsselbund von Randulke raussuchen. Den schickst du mir dann auf dem schnellsten Wege in die Jürgensallee. Die ist in Klein-Flottbek. Ich stehe da vor der Telefonzelle.“ „Das werde ich nicht tun. Du kommst hierher“, antwortete Thölke. 221
„Stell dich nicht so an. Es wird ja wohl noch eine Möglichkeit geben, ein Schlüsselbund hierherzuschicken.“ „Gibt es“, sagte Thölke. „Wir verfügen über ganz andere Möglichkeiten. Nur momentan nicht. Du wirst nämlich so schnell wie möglich hier antanzen. Die Herrschaften aus Wiesbaden haben Sehnsucht nach dir.“ „Ist was passiert?“ Jonathan, dachte Katenkamp. Die Schutzmaßnahmen haben nicht funktioniert. „Nicht daß ich wüßte.“ Thölke zog die Silben in die Länge. „Mach es nicht so spannend!“ herrschte Katenkamp ihn an. „Sag, was da läuft.“ „Du, die ziehen mich nicht ins Vertrauen. Ich habe nur mitgekriegt, daß eine größere Aktion gestartet werden soll. Das scheint nicht ohne dich zu gehen. Also tauch hier auf. Die wundern sich sowieso schon über die Zustände bei uns. Kein Aas weiß, wo du dich rumtreibst. Mir hättest du wenigstens Bescheid sagen können.“ „Ich komme“, sagte Katenkamp. „Laß die Schlüssel trotzdem schon mal holen.“ Kriminaloberkommissar Werner Heidelbach machte eine beruhigende Handbewegung. Die Herren haben hier gar nichts zu sagen, signalisierte er Katenkamp hinter dem Rücken von Bieger und Johannsen. „Ist das nicht etwas ungewöhnlich?“ fragte er. „Ungewöhnlich oder nicht“, antwortete Bieger, „wir haben uns zu diesem Vorgehen entschlossen und…“ Er zögerte…. und Kritik an dem Vorge222
hen des Bundeskriminalamtes steht einem Kriminaloberkommissar nicht zu, dachte Katenkamp. „Und Sie werden uns daran nicht hindern“, sagte Bieger scharf. „Ich hatte nicht die Absicht.“ Heidelbach sah mit einem unschuldsvollen Gesichtsausdruck in die Runde. „Ich wollte nur auf das Ungewöhnliche der Maßnahme hingewiesen haben. Unter Umständen wird dadurch einer meiner Männer gefährdet…“ Heidelbach hob die Stimme: „Unnötig gefährdet!“ „Trotz unserer Rückendeckung?“ fragte Johannsen. „Trotz Ihrer Rückendeckung.“ Heidelbach wandte sich an Katenkamp. „Was sagen Sie dazu?“ Alles leeres Gerede, dachte Katenkamp. Ich kann gar nicht ablehnen. „Werde ich auch bewaffnet sein?“ „Gewiß“, sagte Bieger. „Nur… Vergegenwärtigen Sie sich die Situation. Im Ernstfall stehen Sie dem Mann entschieden zu nah gegenüber. Wie wollen Sie die Waffe ziehen? Und mit der Pistole in der Hand läuten? Halten Sie das für ratsam?“ „Aus dem Hintergrund läßt sich die Situation wesentlich besser überblicken“, warf Johannsen ein. „Sie sind im Stande und knallen einen Unschuldigen über den Haufen.“ „Wäre es nicht vernünftiger, den Mann auf der Straße abzufangen?“ Heidelbach stützte den Kopf in beide Hände. „Eine falsche Bewegung, und der Kollege Katenkamp hat Blei im Bauch. Viehland 223
braucht bloß mißtrauisch zu werden, dann drückt der ab.“ Johannsen wischte sich über den Mund. „Nicht bei einem Mann, den er nur als Hausbewohner kennt.“ Heidelbach gab noch nicht auf. „Hausbewohner ist gut! Nach Ihrer Theorie deutet die Lage der Fingerabdrücke darauf hin, daß er den Brief aus dem Kasten gezogen hat - egal, aus welchem Grunde. Also ist ihm auch bekannt, daß dieser Hausbewohner Kriminalkommissar ist. Steht ja deutlich auf dem Umschlag.“ Katenkamp überlegte. Eigentlich betraf ihn das in erster Linie. Bei diesem Viehland läuten, ihn nach Möglichkeit unter einem Vorwand aus der Wohnung locken und in die Arme der Leute vom Bundeskriminalamt lotsen, das sollte nicht allzu schwerfallen. Taktisch war das zunächst besser als deren übliche Methode: mit möglichst viel Getöse anrücken, die Tür einschlagen und bei dem Anschein einer falschen Bewegung einfach draufhalten. Und dabei möglichst noch kugelsichere Westen tragen. Völlig risikolos war die Aktion freilich nicht. Er riskierte eine Verletzung. Die zumindest. Und Heidelbach wußte das genausogut wie jeder andere. Heidelbach meldete sich wieder zu Wort: „Ist es denn überhaupt erwiesen, daß Welowczyk und Viehland identisch sind?“ „Wir haben keine Zweifel“, antwortete Bieger. „Die Fingerabdrücke an der Wohnungstür…“ Er wandte sich an Katenkamp. „Ein Gutes hat dieser 224
ominöse Brief ja nun wirklich bewirkt. Wir haben Ihre Umgebung mal unter die Lupe genommen. Einen Mann direkt über Ihnen einzuquartieren…“ Er sah Johannsen an. „Steckt dahinter nun Absicht, oder ist denen eine Panne unterlaufen?“ Johannsen rieb sich das Kinn. „Das wäre eine neue Variante. Ich möchte die Absicht nicht ausschließen. Im Zentrum des Orkans soll es bekanntlich am ruhigsten sein.“ „Ein Orkan bin ich nun wirklich nicht“, warf Katenkamp ein. „Da tippe ich eher auf eine Panne.“ „Wie dem auch sein mag…“ Bieger zeichnete mit einem Kugelschreiber komplizierte Ornamente auf die Rückseite eines fotokopierten Stadtplanausschnitts. „Wir müssen zu einem Ergebnis kommen, bevor der Vogel ausfliegt.“ „Gibt es denn Anzeichen für Vorbereitungen?“ Heidelbach war hartnäckig. „Es gibt solche Anzeichen“, antwortete Johannsen. „Seit gestern abend ist unser Mann verschwunden. Auch an seiner Arbeitsstelle hat er sich heute früh nicht blicken lassen. Das muß noch nichts bedeuten. Die Genossen können irgendein Treffen angesetzt haben. Oder er ist bei einer Puppe versackt. Wir eruieren das noch.“ „Dann können Sie lange bei ihm läuten“, murmelte Heidelbach. Lauter sagte er: „Der ist auf und davon.“ Der Tonfall verriet Genugtuung darüber, daß das BKA einen vielgesuchten Mann aus den Augen verloren hatte. „Aber versuchen Sie Ihr Glück.“ Heidelbach rieb sich die Hände. Schaden225
froh grinste er. „Es liegt nun an Herrn Katenkamp, ob er mitspielt. Ich kann ihn nicht zwingen.“ Das Telefon läutete. Heidelbach nahm den Hörer ab. „Ja, die Herrschaften sind hier“, sagte er im Ton eines Hotelportiers. Er reichte den Hörer an Bieger weiter. „Ja?“ Bieger schob den Kugelschreiber mit einer energischen Geste in die Innentasche seines Sakkos. „Na wunderbar!“ Sie haben ihn bereits, dachte Katenkamp. Es hat sich alles erledigt. „Wir handeln sofort!“ Bieger reichte Heidelbach den Hörer zurück. „Der Fuchs ist in seinem Bau.“ Er nickte Katenkamp zu. „Unsere Leute, die auf Ihren Sohn aufpassen, haben ihn beobachtet. An seiner Arbeitsstelle hat er sich krank gemeldet. Das läßt auf einiges schließen.“ „Wo arbeitet er denn?“ erkundigte sich Katenkamp. „In Altona. Bei einer Arzneimittelgroßhandlung. Dose & Wienhöft.“ Bieger räumte, seine Papiere zusammen. „Nun müssen Sie sich aber entscheiden, Herr Katenkamp. Unterstützen Sie uns ein bißchen?“ Dose & Wienhöft - Uta Schlandorf - Günther Viehland - Heinrich Randulke. Ein eigenartiges Zusammentreffen von Namen. Katenkamp erhob sich als erster. „Ich bin dabei. Jetzt interessiert mich der Mann auch.“ „Hat ja lange genug gedauert“, meckerte Johannsen. Heidelbach trat neben Katenkamp. Er streckte ihm die Hand hin. „Viel Glück. Spielen Sie nicht 226
den Helden.“ Katenkamp drückte Heidelbach die Hand. „Es sollte mich wundern, wenn bei der Geschichte nicht auch für uns was abfällt.“ Verständnislos sah ihn Heidelbach an.
17 Ich spiele nicht mit. Dieser Wagen ist heiß. So heiß, wie ein Wagen nur sein kann. Für die Bullen mag der Kofferraum eine wahre Fundgrube sein; für mich ist er eine einzige Fallgrube. Ich traue mich nicht, mit der Karre auch nur einen Meter zu fahren. Nach dieser Entdeckung nicht mehr. Die zwei Pistolen im Kofferraum… Ich glaube nicht, daß ich die Waffen finden sollte. Ich hab sie auch nicht gesucht. Ich wollte nur meine paar Klamotten nicht offen auf den Rücksitz legen und hab im Kofferraum nachgesehen, ob da Platz ist. Ein großer geräumiger Kofferraum. Wenig Inhalt. Aber das bißchen Inhalt ist hochbrisant. Besonders für einen in meiner Situation… Ein Reserverad, etwas Werkzeug und ein Wagenheber gehören in jeden Kofferraum. Auch zwei Kartons mit Aufputschmitteln? Jeweils fünfhundert Schachteln ä 20 Tabletten. Zwanzigtausend Tabletten. Gefährliches Zeug. Und in einem dritten Karton dann die beiden Waffen. Einfach zwischen zusammengeknülltes Zeitungspapier gelegt. Beide geladen und gesichert… So bewahrt man keine Waffen auf, und so transportiert man sie auch nicht. Keine zusätzliche Munition. Statt dessen 227
eine etwas schäbige Uniformmütze. Unmilitärisch. Sieht eher nach Post aus. Es spielt auch keine Rolle, wie die Uniformmütze in den Kofferraum gekommen ist. Wichtig ist das Aufputschmittel, und noch wichtiger sind die beiden Pistolen. Damit bin ich nun durch Hamburg gefahren. Damit hat Uta mich durch Hamburg fahren lassen. Ohne Führerschein. Es hat keinen Zweck mehr, Sachen zusammenzupacken. Ich werde den Wagen in der Steinburger Straße stehenlassen und nie mehr anfassen. Ich werde auch nicht bei Uta einziehen. Auch nicht vorübergehend. Falls sie das überhaupt wollte. Ich trau dem Aas zu, daß sie mich mit dem Wagen hochgehen lassen wollte. Aber… Das gibt keinen Sinn! Was gibt überhaupt noch einen Sinn? Sie drückt mir einen Wagen in die Hand, der auf ihren Namen zugelassen ist. In dem Wagen befindet sich Zeug, das allein schon für ein paar Jahre Knast gut ist. Da braucht einer nicht erst so gesucht zu werden wie ich. Gesucht? Ich stehe auf der Abschußliste. Angenommen, ich wäre in eine Kontrolle geraten. Keinen Führerschein und keine anderen Papiere. Da heißt es automatisch, machen Sie bitte mal den Kofferraum auf! Als Halterin des Fahrzeugs wäre sie sofort mit dran gewesen. Zunächst jedenfalls. Ja, zunächst. Und dann? Dann hätte sie alles auf mich abgeladen. Die Scheißtabletten hätte ich womöglich aus dem Lager geklaut und die Waffen ohne ihr Wissen in den Karton gepackt. 228
Auf den Dingern müßten schon ihre Fingerabdrücke sein, damit sie in der Geschichte mit drinhinge! Ich wette, daß mit Fingerabdrücken nichts ist. Wer hat die Scheiße eingefädelt? Das kann sie nicht allein gewesen sein. Was hätte sie davon - außer Schwierigkeiten? Und Schwierigkeiten kann sie nicht gebrauchen, wo sie mit dem Zeug handelt… Handelt sie überhaupt damit? Ist das Ganze nur ein Trick gewesen, um mir den präparierten Wagen zu überlassen? Bißchen viel Aufwand für meine Festnahme. Warum lassen sie die Aktion nicht hier in meiner Wohnung über die Bühne gehen? Festnahme auf offener Straße… Auf offener Straße läßt sich leichter ein Fluchtversuch inszenieren. Knallen sie mich in der Wohnung ab, dann glaubt ihnen den Fluchtversuch keiner. In einer Wohnung ist schon mal einer von uns erschossen worden. Das hat ihnen eine schlechte Presse eingebracht. Wozu eigentlich noch Drogen und Waffen? Es gibt genug, was sie mir anhängen können. Oder fehlen ihnen für Banküberfälle, Mordversuch und Sprengstoffanschläge die letzten Beweise? Die Beweise werden ihnen die Genossen schon liefern. Auf einen Verräter kann man bei der Gelegenheit gleich noch ein paar Sachen abladen. Vorerst geht ihre Rechnung nicht auf. Den Wagen laß ich stehen, wo er steht. Damit können sie mir den Kofferrauminhalt zwar immer noch unterjubeln, weil ich den Wagen eindeutig gefahren habe, nur Erschießen auf der Flucht ist nicht mehr drin. Nicht auf der Straße. 229
Ist die Flucht noch drin? Oder soll ich gleich die Bullen anrufen, die Tür zum Treppenhaus weit aufsperren, mich mit gespreizten Armen und Beinen in den Flur legen und ihr Eintreffen abwarten? Es kann sich nur um Minuten handeln. Ihr Hauptquartier ist nur ein Stockwerk tiefer. Bei diesem Katenkamp läuten und gleich die Hände ausstrecken? Handschellen werden sie ja wohl bei sich haben. Zwanzigtausend Tabletten von diesem Aufputschmittel – der Jahresbedarf einer mittleren Apotheke! Was mir jetzt fehlt, ist ein Beruhigungsmittel. Ich drehe langsam durch… Wie oft hat man seine Festnahme in Gedanken durchgespielt! Ruhig bleiben und keine falsche Bewegung… Man bleibt am Ende doch nicht ruhig. Wenn es bloß das wäre. Ich habe Angst. Stinkende Angst. Vor der Festnahme und allem, was dann kommt. Sie können mich zum Krüppel schießen. Sie können mich im Knast verkommen lassen, in ihren Hochsicherheitstrakten seelisch verkrüppeln oder zum Selbstmord treiben. Für uns gibt es doch keine vorzeitige Haftentlassung. Ich habe Angst vor dem Umgedrehtwerden. Ich will nicht als Zeuge der Anklage auf Tournee durch die Gerichtssäle gehen. Mich soll keine Seite mehr für sich beanspruchen können. Ich wollte total aussteigen… Sie lassen einen nicht. Ganz zum Schluß schieben sie einem noch ein todsicheres Ding unter. Todsicher aus ihrer Sicht. Damit sie um Himmels willen etwas Hieb- und Stichfestes in der 230
Hand haben… Wer weiß, welche Schlingen sie außerdem noch gelegt haben. Zwecklos, danach zu suchen. Sie werden mir ihr Material schon rechtzeitig präsentieren. Vielleicht zaubern sie einen Mikrofilm aus der Zahnpastatube und hängen mir zusätzlich Spionage für Moskau an. In ihren Augen ist uns Roten alles zuzutrauen… Ich bin nicht mehr rot! Ich bin geheilt von dem ganzen Gefasel über Freiheit und Gleichheit. Unsere Superroten haben mir den Glauben an die Menschheitsbeglückung ausgetrieben. Selbst in unserem kleinen Zirkel gab es keine Gleichheit. Die ideologischen Spinner gaben den Ton an und nahmen sich Sonderrechte heraus. Ich als Sprengstoffexperte war ein nützlicher Idiot im Dienste ihrer privaten Weltrevolution, nicht versehen mit den höheren Weihen des ideologischen Durchblicks. Und was bin ich nun? Ein ganz armes Schwein. Meinetwegen pinselt niemand Parolen an die Wand. FREIHEIT FÜR GÜNTHER VIEHLAND , das wird an keiner Mauer stehen. Eher schon: TOD DEM FASCHISTISCHEN VERRÄTERSCHWEIN VIEHLAND! Entlaufene Priester werden von der Kirche ausgestoßen. Nicht anders verfährt der rote Orden des Terrorismus. Aber diese letzte Sauerei verdanke ich einzig und allein den scheinheiligen Hütern des Gesetzes. Ich soll um jeden Preis auch noch kriminalisiert werden, damit sie mich ja ganz sicher haben. Und Uta ist ihre Handlangerin. Oder wurde sie bei Dose & Wienhöft einge231
schleust, um mich ständig unter Kontrolle haben zu können? Hier der Stützpunkt unter dem Namen Katenkamp - dort die Aufpasserin Uta Schlandorf? Ich war die ganze Zeit über eingekreist. Saubere Arbeit. Ob die letzte Nacht auch vorgesehen war? Oder war das eine private Zugabe von der Schlandorf? Mal eine Nummer mit einem Terroristen machen… Die neueste Form von Snobismus? Früher gab es die Henkersmahlzeit. Heute gestatten sie einem einen letzten Fick. Ich rufe die Sau jetzt an! Die sollen mithören, was ich von ihrer Staatsnutte halte. Auf Tonband sollen sie es aufnehmen. Oder hat sie ihren Dienst bei Dose & Wienhöft bereits quittiert? Aufgabe erfüllt; der Lockvogel kann abgezogen werden? Wie ist die Nummer von diesem Laden? Hier… Ich hab sie mir mal auf den Einband des Telefonbuchs geschrieben. Meine Hand zittert, während ich die Nummer wähle. Ich brauche mich nicht mehr als Karsten Welowczyk zu melden. Die Rolle ist ausgespielt. „Viehland. Frau Schlandorf bitte.“ „Einkauf, Schlandorf.“ „Einkauf! Warum nicht Verkauf?“ Ich brülle fast. Dazu eine gewisse Bitterkeit in der Stimme. Ich habe den Ton eines Mannes drauf, der erfahren hat, daß ihn seine Frau betrügt. „Mit wem spreche ich denn? Sie sind falsch verbunden.“ „Ich bin genau richtig verbunden. Du hast mich doch verkauft!“ 232
„Ach - du bist es… Was ist los mit dir?“ Sie spricht leise. „Mit mir ist nichts los. Was soll schon mit einem los sein, der in der Falle sitzt? Schönen Dank für die freundliche Mithilfe. Das habt ihr sauber gedreht.“ „Ich kann mich an den Vorgang im Augenblick nicht erinnern. Geben Sie mir doch mal Ihre Nummer. Ich rufe gleich zurück.“ Ich lache in den Hörer. „Finden die Bullen den Weg nicht? Jütlander Allee. Sie können ja ein Taxi nehmen, wenn sie sich nicht auskennen.“ Ich höre, wie sie mit einem Besucher redet. Bestimmt ein Arzneimittelvertreter. Verzeihung, Pharmaziereferent. Den schickt sie jetzt aus dem Zimmer. Die Leute sind es gewohnt, zu warten. Oder stehen die Bullen neben ihr? Nein, denen hätte sie einen Zettel rübergeschoben. „So, da bin ich wieder. Jetzt können wir reden.“ „Mit Vergnügen.“ Ich werde immer wütender. Hier am Telefon kann ich auspacken. Wer weiß, was die nachher bei ihren Vernehmungen mit mir anstellen. „Spiel dich nicht so auf!“ Sie wird auch scharf. „Hätte ich geahnt, was mit dir los ist…“ Ich unterbreche sie. „Was ist denn mit mir los? Hat man dich auch ausführlich informiert?“ „Ich weiß nur, daß sie dich suchen. Du und bloß Autodiebstahl! Einfach lachhaft. Und das soll auch noch lange her sein! Kannst du mir nicht erzählen! Sie sind hinter dir her. Ich würde an deiner Stelle sofort verschwinden. Nimm meinetwegen meinen 233
Wagen. In den nächsten zwei Tagen melde ich ihn nicht als gestohlen. Du kannst ihn unterwegs auch irgendwo stehenlassen. Es genügt, wenn du mir kurz Bescheid gibst, wo ich ihn abholen kann.“ „Ach! Neue Taktik? Soll ich nun doch unter Beschuß genommen werden? Vielleicht mal vom Hubschrauber aus? Das gab’s noch nicht.“ „Du spinnst total.“ „Ich seh das ganz nüchtern. Mein Verhalten paßt nicht in euer Konzept. Ihr braucht einen Fluchtversuch und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Deshalb soll ich die Karre benutzen… Das läuft nicht. Ihr kriegt den bewaffneten Widerstand nicht hin. Oder liegt eine dritte Pistole im Handschuhfach? Da habe ich dummerweise nicht nachgesehen.“ „Wovon sprichst du eigentlich?“ Sie klingt unsicher. Bin ich der Wahrheit zu nahe gekommen? Liegt im Handschuhfach tatsächlich noch eine dritte Waffe? „Ich kann dir genau sagen, wovon ich spreche: von den zwanzigtausend Scheißtabletten und den beiden Pistolen in deinem Kofferraum!“ Ich schreie. „Die wollt ihr mir unterjubeln!“ „Bist du denn wahnsinnig?“ Uta sagt den Satz mit tonloser Stimme. Sie spielt ihre Rolle gar nicht so schlecht. Das hört sich nach einem echten Schock an. „Hat man dich nicht restlos eingeweiht? Ich kann dir versichern, der Wagen ist erstklassig präpariert.“ „Wo steht der Wagen?“ 234
Schön, wie sie diesen gehetzten Ausdruck hinkriegt. Soll ich sagen, wo das Fahrzeug steht? Auf die Kleinigkeit kommt’s auch nicht mehr an. „In der Steinburger Straße. Ziemlich genau in der Mitte. Ecke Pantherstieg.“ „Du gehst sofort hin und läßt die beiden Waffen verschwinden!“ „Ich rühr mich hier nicht von der Stelle.“ „Bitte!“ Man bittet mich förmlich, ihnen in die Arme zu laufen. Ich bin gespannt, was man noch anstellt, um mich hier aus der Wohnung zu locken. Ich fang noch an, mich hier wohl zu fühlen. Zumindest noch am sichersten. „Kommt nicht in Frage“, sage ich locker. „Du mußt die Waffen verschwinden lassen.“ „Ich muß gar nichts. Am Ende soll ich mir vielleicht auch noch die Kartons unter den Arm klemmen und diese komische Postmütze aufsetzen.“ Sie gibt einen Ton von sich, der zwischen Seufzen und Stöhnen liegt. „Ich kann mir auch noch eine Zielscheibe hinten auf die Jacke malen.“ Soviel Ironie wird man sich ja noch leisten dürfen. „Kannst du mir einen Augenblick lang zuhören, ohne irgendwelche blödsinnigen Bemerkungen zu machen? Bitte, versuch’s wenigstens!“ Sie fleht ja geradezu. „Zuhören? Warum nicht… Plan geändert? Wollt ihr mich jetzt möglichst lange am Telefon festhalten? Fang an. Ich höre zu.“ Die 235
Telefonschnur ist lang genug. Ich gehe durchs Zimmer und setze mich auf das unbequeme kleine Sofa mit dem abgeschabten braunen Kordbezug. Ein Sonderangebot. „Hör zu. Ich bin in einer scheußlichen Situation.“ „Ich auch. Milde ausgedrückt.“ Sie scheint jemand abzuwimmeln. „Soll später wieder anrufen“, höre ich sie sagen. „Es geht im Augenblick wirklich nicht.“ Nun wieder zu mir: „Kannst du deine Situation mal schildern?“ Ich kriege so etwas wie einen Lachkrampf. Eine nervöse Überreaktion, ich weiß. „Hör mal, sind wir hier in einer Selbsterfahrungsgruppe? So nach dem Motto: Pack mal deine Schwierigkeiten aus, dann komm ich mit meinen auch über… Aber ich sag dir gleich: Meine sind viel komplexer… Soviel Humor bring ich im Augenblick nicht auf. Meine Schwierigkeiten kennst du genau. Die Bullen stehen praktisch vor meiner Tür.“ Die alte Wut kommt wieder hoch. „Du hast schließlich alles getan, damit die Aktion Viehland möglichst störungsfrei ablaufen kann. Alle Minen sind gelegt. Auf eine trete ich bestimmt drauf.“ „Welche Aktion Fieland?“ fragt sie. Es reicht mir. „Verarschen kann ich mich allein!“ schreie ich in den Hörer. „Du weißt genau, wer ich bin! Ich bin der Top-Terrorist Günther Viehland, gesucht wegen einiger Banküberfälle, mindestens zwei Sprengstoffanschlägen, dazu ein Mordversuch, 236
Freiheitsberaubung und was weiß ich – Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung… Das dürfte eigentlich genügen. Da brauchst du mir nicht zusätzlich noch diesen Wagen mit Waffen und Drogen unterzuschieben! Die Schweinerei hättet ihr euch sparen können. “Das hat gesessen. Sie schweigt. Soll ich noch ein paar persönliche Worte nachschieben? Ein paar freundliche Sätze darüber, wie ich ihr Verhalten in der vergangenen Nacht einstufe? Es ist die letzte Gelegenheit. Vor dem Prozeß sehe ich sie doch nicht wieder, und dann wird man mir kaum das Wort erteilen, damit ich Ausführungen über das Verhalten einer Mitarbeiterin des Bundeskriminalamtes machen kann. „Stimmt das alles?“ fragt sie. Wieder diese tonlose Stimme. „Sag, daß es nicht stimmt. Du phantasierst.“ „Mir ist nicht nach Scherzen zumute.“ Ich halte es auf diesem Sofa nicht länger aus. Langsam bewege ich mich durch das Zimmer zum Fenster hin. „Du bist also Terrorist?“ „Bin ich.“ Auf die Feinheiten kommt es nicht an. Es wird schwer genug werden, die davon zu überzeugen, daß ich mich von der Szene abgesetzt habe. „Dann sitzen wir beide in der Scheiße.“ Sie hat wieder die Stimmlage gewechselt. Es hört sich wirklich an, als ob jemand am Ende wäre. „Du ja wohl nicht. Wenn hier jemand in der Scheiße sitzt, dann bin ich es. Du hast bloß noch ein bißchen dazugetan. Auf eine sehr charmante Art, muß ich sagen. Gibt es bei euch dafür Prämien?“ Ich sehe aus dem Fenster. Auf der anderen 237
en?“ Ich sehe aus dem Fenster. Auf der anderen Straßenseite geht einer und sammelt Zigarettenkippen und Papier in eine Plastiktüte. Für einen Penner sieht er nicht schäbig genug aus. Irgendein harmloser Spinner. Jetzt geht er in den Hauseingang, in dem sie den Postboten umgelegt haben. „Oder hat man dir die Arbeit abgenommen? Du brauchtest den Mist wohl nicht selber in den Kofferraum zu schaffen?“ Und ich Idiot habe geglaubt, sie handelt mit dem Zeug. „Ich habe nichts in den Kofferraum getan.“ „Sag ich ja.“ „Das waren meine Leute.“ „Freilich, für die Dreckarbeit hat man seine Leute.“ „Traust du dir zu, die beiden Waffen verschwinden zu lassen. Wenigstens die. Ich zahl dir, was du willst.“ „Laß wenigstens den Trick weg. Ich geh nicht auf die Straße. Gib’s auf! Du hast deine Rolle erstklassig gespielt. Das BKA wird dir Dank wissen.“ „Du denkst, ich bin vom Bundeskriminalamt?“ Ein hysterisches Lachen kommt durch die Leitung. „Meinetwegen auch vom Landeskriminalamt. Für mich macht’s keinen Unterschied.“ „Was kann ich tun, damit du mir glaubst?“ Den bettelnden Ton hat sie also auch voll drauf. „Versuch mal was. Ich bin gespannt, womit du als nächstes kommst.“ „Mit der Wahrheit.“ „Benutz bitte keine Fremdwörter.“ 238
Nach einer Pause sagt sie: „Hör zu - wir sitzen beide in einem Boot. Kann sein, daß wir beide noch das Ufer erreichen. Vorausgesetzt, wir spielen uns die richtigen Bälle zu. Ich muß dir deinen Terrorismus glauben; nun nimm mir auch meine Geschichte ab.“ Sie atmet schnell. „Ich habe hier so eine Art Organisation aufgezogen. Drogenhandel. Dabei ist eine Panne passiert. Zwei Leute wollten sich selbständig machen und haben meinen besten Mann ausgeschaltet.“ „Wer war denn dieser beste Mann?“ werfe ich ein. „Ein Briefträger. Er hat für mich einen Großteil der Transporte erledigt. Ein Briefträger kann sich überall bewegen, ohne besonders aufzufallen. Der Mann lebt nicht mehr.“ „Ich weiß“, entfährt es mir. „Du weißt das?“ „Ich habe gesehen, wie sie ihn umgelegt haben.“ „Das hat niemand gesehen. Zum Glück nicht. Also komm mir nun nicht mit solchen Geschichten.“ Erstaunlich, wie schnell sie sich fängt. Zumindest momentan hat sie wieder zu ihrer alten Sicherheit gefunden. Klingt auch ziemlich glaubhaft, die Story. Hört sich auch für mich ganz günstig an. Liegen die Waffen und die Tabletten nicht meinetwegen in dem Kofferraum, dann bin ich eine Spur besser dran. Für sie dagegen sieht es schlecht aus. Man wird ihr zumindest die Mitwisserschaft an diesem Mord anhängen können. Die beiden Täter reißen sie bestimmt voll mit ‘rein und stellen sie 239
als Anstifterin hin. Als Mittäterin fällt sie aus, das weiß ich. „Das hat jemand gesehen“, sage ich. „Du weißt, wo der Mord passiert ist?“ „Jütlander Allee.“ „Genau da wohne ich.“ „Das heißt gar nichts!“ „Die Geschichte hat sich in einem Hauseingang abgespielt.“ „Komm mir nicht mit Sachen, die du aus der Zeitung hast.“ „Gut - dann liefere ich dir jetzt eine Täterbeschreibung: zwei Männer. Beide etwa Mitte Zwanzig. Einer mit blonden langen Haaren. Einer…“ „Hör auf!“ stöhnt sie. Die Allerweltsbeschreibung genügt ihr also bereits. „Beide haben geschossen“, fahre ich fort. „Es genügt! Ich glaub dir ja… Warum bist du nicht zur Polizei gegangen?“ „Ich? In meiner Situation? Damit sie mich gleich dabehalten?“ „Ich glaube dir allmählich“, sagt sie. „Also laß uns überlegen, wie wir beide davonkommen. Man hat sich hier heute früh nach dir erkundigt. Du fehlst entschuldigt und triffst im Laufe des Vormittags wieder ein. Zur Zeit vermuten sie dich beim Arzt. Also kann man davon ausgehen, daß sie deine Wohnung ein bißchen vernachlässigen. Eher warten sie hier auf dich. Deshalb kannst du ruhig zum Wagen gehen. Versuch rauszukriegen, ob du beschattet wirst. Falls ja, dann mußt du sie abschüt240
teln.“ „So einfach ist das also. Du, bei uns treiben sie etwas mehr Aufwand, als wenn’s nur um Rauschgift geht. Aber entwickle deinen Plan ruhig mal weiter.“ Ihr Vorschlag belustigt mich. Gleichzeitig bin ich immer noch darauf gefaßt, daß sie mich austricksen will. „Ich geh inzwischen zur Bank und heb an Geld ab, was nur irgend möglich ist. Irgendwo treffen wir uns, und du übergibst mir den Wagen. Dann fahren wir irgendwo hin und räumen gemeinsam den Kofferraum aus. Danach kriegst du Geld von mir und kannst verschwinden.“ Nicht schlecht, der Vorschlag. Ich sehe nur in einigen Punkten noch nicht ganz klar. „Laß die Karre doch stehen, wo sie steht, und hol sie später selber.“ Ich darf nicht von dem Geld reden. Das macht sie nur mißtrauisch. „Erstens hast du im Augenblick die Wagenschlüssel. Erwischen sie dich damit, dann sind sie nicht eher zufrieden, als bis sie auch den dazugehörigen Wagen haben.“ „Logisch“, werfe ich ein. „Zweitens möchte ich deine Fingerabdrücke auf den Waffen haben. Bisher konntest du es dir nicht leisten, zur Polizei zu gehen. Ich möchte verhindern, daß du einem Staatsanwalt später mal ein Tauschgeschäft vorschlägst. Kapiert?“ Sie rechnet also mit meiner Festnahme. Eine realistische Überlegung. Also will sie sich mein Schweigen erkaufen. Aber wer garantiert mir, daß sie mit dem Geld 241
auch rausrückt? Hat sie erst die Fingerabdrücke, dann braucht sie nicht mehr zu zahlen. Und welches Interesse hat sie daran, die Täter zu schützen? Ist es nur Angst um ihre Organisation, oder war sie bei diesem Mord die Drahtzieherin? „Was passiert denn mit der Uniformmütze?“ frage ich naiv. „Die verschwindet natürlich auch.“ „Warum mußte der Mann sterben?“ „Das ist eine lange Geschichte.“ „Gib mir die Kurzfassung.“ Der Penner steht immer noch im Hauseingang. Er hat sich vorgebeugt und fummelt unter seinem Mantel herum. Ein kurzer schwarzer Stab ragt schräg aus seinem Mantel heraus. „Er hat geglaubt, er könnte Geschäfte auf eigene Rechnung machen. Ich dulde keine krummen Touren. Aber trotzdem sollte er nur einen Denkzettel kriegen. Die Sache ist in jeder Hinsicht schiefgelaufen.“ Ich höre kaum noch zu. Was ist da schiefgelaufen? Der Penner hat ein Walkie-Talkie unter dem Mantel. „Die Kerle haben mich falsch verstanden. Mit Fixern kann man nichts anfangen. Wenn die high sind, drehen sie durch. Die Jungs haben mehr Glück gehabt als Verstand. Wenn ich’s mir leisten könnte, würd ich sie hochgehen lassen.“ Der Penner steht meinetwegen da. Eine hübsche Tarnung haben sie sich ausgedacht. Er sieht zu meinem Fenster hoch. Ob er mich sieht? Ich kann das Haus also nicht mehr verlassen. Utas schöner Plan ist ins Wasser gefallen. Wer 242
weiß, ob er funktioniert hätte… Ich hatte immer Angst vor einer Schießerei. Bei uns halten die Bullen voll drauf. Eine Flucht mit Utas Wagen hätte die Schießerei geradezu provoziert. „Nun sag doch endlich was“, kommt Utas Stimme aus dem Hörer. Was soll ich noch sagen? Daß ich ihr nicht helfen kann? Daß ich ihr nicht helfen will? Um mein Fell zu retten, hätte ich mich auf das Geschäft eingelassen. Ich hatte ohnehin vor, sie ein bißchen zu erpressen. Ich bin nicht mehr sicher, ob es geklappt hätte. Die Frau ist eiskalt. Bei einem Erpressungsversuch hätte sie mich vielleicht auch umlegen lassen. Langsam ziehe ich den Vorhang zur Seite. Der Pseudopenner soll mich deutlich sehen. Uta spricht noch. Soll sie ruhig. Mit einer Mordgeschichte will ich nichts zu tun haben. Das war eine rein kriminelle Angelegenheit. Unsere Aktionen waren politisch motiviert. Falsch motiviert; deshalb bin ich ja ausgestiegen. Und nun lasse ich mich zum Schluß nicht noch auf pure Kriminalität ein. Der Penner sieht mich. Es scheint ihn zu verwirren, daß ich mit erhobenen Armen am Fenster stehe. Ich winke ihm zu. Er spricht in sein WalkieTalkie. Ein Wagen fährt vor. Der Penner läuft auf den Wagen zu und deutet zu mir hinauf. Sie sind also da. „Tschüs“, sage ich in den Hörer und lege auf. So, jetzt ist die liebe Uta auch dran. Die haben das Gespräch bestimmt auf Band. 243
Ich muß ihnen die Wohnungstür öffnen und mich dann wieder ans Fenster stellen. Der Kerl mit dem Walkie-Talkie kann sie dann darüber informieren, daß ich aufgegeben habe. Ich habe die Wohnungstür geöffnet und wieder meine Position am Fenster eingenommen. Ich höre ihre Schritte im Treppenhaus und bin ganz ruhig. Der Penner steht unten und quasselt in seinen Apparat. Wenn sie jetzt noch schießen, dann ist es glatter Mord. „Bleiben Sie mit erhobenen Händen so stehen“, sagt jemand hinter mir. Ich spüre, wie er näher kommt. „Nehmen Sie die Arme langsam nach unten.“ Ich befolge die Aufforderung. Dann denke ich, Handschellen klicken ja wirklich so, wie man es immer liest. Das Telefon läutet. Uta ruft zurück. Zu spät. „Ich geh mal ‘ran“, sagt jemand. „Dann kriegen wir die Stimme auch noch aufs Band.“ Dann wissen sie also auch, daß ich mit dem Mord nichts zu tun habe.
18 Gestern hat Gernot bei uns im Haus einen Mann verhaftet. Wie ich aus der Schule gekommen bin, haben sie ihn gerade abgeführt. Es war der Mann über uns, der, mit dem man so prima reden konnte. Mutti sagt, sie ist jetzt froh. Gernot sagt, es war ein Terrorist. Er will mir mal erklären, was das ist. Bestimmt vergißt er es wieder. Jedenfalls darf ich jetzt wieder draußen spielen, sagt Mutti, weil mir der Mann nichts mehr tun kann. 244
Dabei hat er mir vorher auch nichts getan. Angst habe ich eigentlich nur vor den beiden Jungen von nebenan. Die sind schon groß und fahren Mopeds. Dem einen haben wir mal den Rückspiegel mit Dreck beschmiert. Es war Dietmars Idee. Aber weil ich eine Wette verloren hatte, hat er gesagt, weil Jonathan verloren hat, muß er den Rückspiegel beschmieren… Bloß blöd, daß mich der Junge dabei gesehen hat. Seitdem will er mich verhauen. Aber er kriegt mich nicht. Ich kann zu schnell laufen. Neulich hab ich gehört, wie er zu seinem Freund gesagt hat, ob sein Alter wohl immer noch rumläuft und rauszukriegen versucht, wer ihm den Brief geschickt hat? Ich stand hinter einem großen Lieferwagen, und sie konnten mich nicht sehen. Mit „sein Alter“ war Gernot gemeint. Ob ich Gernot mal frage, ob er einen Brief gekriegt hat? Lieber nicht. Sonst muß ich das mit dem verschmierten Rückspiegel erzählen. Das gibt nur Ärger, und ich darf vielleicht wieder nicht draußen spielen.
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