Atlan - König von Atlantis Nr. 458 Dorkh
Die beiden Götter von Hans Kneifel
Abenteuer in der vergessenen Stad...
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Atlan - König von Atlantis Nr. 458 Dorkh
Die beiden Götter von Hans Kneifel
Abenteuer in der vergessenen Stadt
Atlans kosmische Odyssee, die ihren Anfang nahm, als Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, das Vorfeld der Schwarzen Galaxis erreichte, geht weiter. Während Pthor und die Pthorer es immer wieder mit neuen Beherrschern und Besatzern zu tun bekommen, ist der Arkonide zusammen mit seinen Gefährten Razamon und Grizzard auf Veranlassung von Duuhl Larx, dem Herrn des Rghul‐Reviers, nach Dorkh gebracht worden, um dort eine Mission im Sinne des Dunklen Oheims zu erfüllen. Doch Dorkh, das Pthor in vieler Hinsicht gleicht, ist eine Welt voller Schrecken und voller Gewalt, und den drei Männern von Pthor wird bald klar, daß sie eine fast unlösbare Aufgabe vor sich haben. Vorläufig können sie jedenfalls nur versuchen, jeder tödlichen Konfrontation auszuweichen und am Leben zu bleiben. Während Atlan von einer Gefangenschaft in die andere gerät, versuchen die Gefährten, seinen Spuren zu folgen. Der eine will den Arkoniden befreien, der andere verfolgt völlig andersgeartete Pläne. Auf ihrer Suche stoßen Razamon und Grizzard auf Flüchtlinge aus dem Hordenpferch. Für diese Wesen gelten die Pthorer als DIE BEIDEN GÖTTER …
Die Hauptpersonen des Romans: Razamon ‐ Der Pthorer in der Rolle des Feuerbringers. Grizzard ‐ Razamons Gefährte benimmt sich eigenartig. Katzenohr ‐ Anführer einer Horde von Tiermenschen. Steinschwinge, Fellknie und der Dombler ‐ Mitglieder von Katzenohrs Horde.
1. Razamon warf einen Blick hinüber zu Axton. Sein Kampfgefährte taumelte schweigend geradeaus. Seine Fußspitzen streifen das trockene Gras und wirbelten Staub auf. Drei Schritte später stolperte er und fiel schwer zur Seite. Mit zwei Sprüngen war Razamon bei ihm und half ihm auf. »Wir hätten«, stieß Lebo Axton stockend und erschöpft aus, »neben dem Titanenpfad wandern sollen. Hier gibt es kein Wasser.« »Auch dort gibt es kein Wasser. Aber längst wären wir von den Mirrn überfallen worden!« gab Razamon zurück und zog Axton hoch. »Los, mein Freund – weiter!« Die Landschaft, durch die sie sich nach Osten schleppten, sah gesund aus. In kleinen Senken wuchsen saftig erscheinende Bäume und Büsche. Aber in Wirklichkeit war dies ein staubiges Gelände, trocken wie eine Steppe und ebenso heiß. Ab und zu erkannten ihre blinzelnden Augen den Titanenpfad als schwarzen Streifen in der Ferne. Sie stolperten weiter. »Bist du sicher, daß wir auf dem richtigen Weg sind?« stöhnte Axton hinter Razamon her. »Nein«, gab der Berserker nach einigen Schritten zu. »Keineswegs. Weißt du, ob wir in die Richtung der Stadt marschieren?« »Ich weiß gar nichts«, murmelte Lebo Axton mürrisch. Er war für Razamon keine Hilfe, eher eine Last. Noch schwieg der Berserker und dachte sich sein Teil, aber der Zustand seines
Begleiters machte ihn mißtrauisch und ärgerte ihn, um so mehr, als er nicht verstand, welche inneren Qualen diesen Mann heimsuchten. Langsam stolperten sie weiter, fast über eine Stunde lang wechselten sie nicht ein Wort miteinander. Plötzlich rief Axton: »Dort drüben, die Felsen … erinnerst du dich?« Razamon blieb verblüfft stehen, drehte sich um und starrte in die flackernden Augen seines Freundes. »Woran soll ich mich jetzt schon wieder erinnern?« fragte er ungeduldig. Die Felsen, die Axton meinte, lagen südlich ihres Weges durch die Einöde. »Dieselben Felsen gibt es neben der FESTUNG von Pthor. Sie haben etwas zu bedeuten …« Razamon knurrte unwillig: »Sie sehen einander vielleicht ähnlich. Aber es sind nicht dieselben Felsen. Wir befinden uns auf Dorkh!« »Du willst dich nicht erinnern …«, maulte der staubbedeckte Mann, änderte seine Marschrichtung und wankte auf die Felsgruppe zu. Sie befand sich auf der Kuppe eines winzigen Hügels, keine zweihundert Schritt entfernt. Wider Willen folgte Razamon und antwortete: »Du tust, als ob ich deine Erinnerungen auffrischen müßte!« Darauf antwortete Lebo Axton nichts mehr. Ihr Durst war inzwischen so schlimm geworden, daß nur noch ein Gedanke sie beherrschte: Wasser! Kühles, sprudelndes Wasser. Als Razamon seinen schweigenden Freund überholte, sah er, daß dessen Hände und Finger wie im Fieber zitterten. Razamon fühlte sich nicht weniger schlecht. Jeder Schritt dröhnte in seinem Schädel wie ein Hammerschlag. Er fiel nach vorn und hielt sich an den Felsen fest. Razamon stöhnte: »Eine Schlucht! Und dort unten … Wasser! Endlich!« Unter den Felsen breitete sich eine kleine Schlucht aus. Sie war nicht sonderlich tief, auch der Hang, der zu den weißen und runden Steinen hinunterführte, schien keineswegs unbezwingbar. Die
Steine, die inmitten grüner Pflanzen lagen, waren von sprudelndem Wasser umflossen. Eine Quelle kam unter den Felsen aus dem Hang. »Für den ersten Moment«, sagte Razamon mit aufgesprungenen Lippen, »sind wir gerettet.« Sie krochen zwischen den kochend heißen Felsen hervor und rutschten den Hang abwärts. Sie klammerten sich an Wurzeln und dornigen Pflanzen fest, schlugen mit den Rücken und Schultern gegen kantige Steine und fielen die letzten Meter vorwärts. »Wasser!« Sie tauchten die Köpfe und die Schultern tief ins Wasser. Zunächst war es wie ein Schock, aber der erste Schluck sagte ihnen, daß sie tatsächlich gerettet waren. 2. »Mußt schlurren!« sagte Steinschwinge. »Klar?« Er kauerte vor der Höhle im Schatten. Mit einem scharfkantigen Stein schabte er eine Spitze in einen Holzstab. Dünne Lederriemen, keilförmige Steinsplitter und andere, simple Werkzeuge lagen neben ihm. »Will nicht schlurren«, brummte der Dombler. »Muß ronnen.« Steinschwinge hob gleichgültig die Schultern. In den Haaren seines Fells krabbelten Insekten herum. Lange Späne ringelten sich vom Holz des Stockes. In einigen tiefen Rillen des Stockes, aus dem ein Wurfspeer werden sollte, waren dreieckige Steinplättchen mit Harz eingeklebt und mit Leder festgebunden. Der Dombler spuckte auf das Leder der Schleuder und polierte die Riemen und den Korb. In einem Netz aus Pflanzenfasern, das vor seiner Brust hing und bei jeder Bewegung schaukelte, steckten faustgroße Steine mit scharfen Bruchkanten. »Noch Gedanken?« fragte der Dombler nach einiger Zeit.
»Immer denken an gut Leben«, war die Antwort. Sie kamen aus dem Hordenpferch. Als sie erkannten, daß die strenge Überwachung durch die Gesandten aus dem SCHLOSS nachließ, waren sie aufgebrochen. Der Dombler, Steinschwinge und Katzenohr, die Anführerin, waren nur drei aus einem Haufen von zwei Dutzend. Vorläufig fühlten sie sich in dem System von Spalten, Höhlen und Kavernen wohl. Sie nannten es das Schloß. »Hunger!« knurrte der Dombler und ließ die Schleuder über dem Kopf kreisen. Ein Ende schlug gegen Steinschwinges Genick. Steinschwinge duckte sich und fluchte: »Aufhören mit schlurren!« »Schon gut.« Katzenohr, die breitschultrige Anführerin, hatte den Haufen hierhergebracht. Sie war die schnellste und klügste der kleinen Rotte, die ständig um ihr Überleben kämpfte. Die Rotte baute keine Nahrungsmittel an, sondern lebte von der Jagd und von Überfällen, die selten genug vorkamen. »Steine! Prettern drüben«, murmelte der Dombler und deutete mit den Enden der Schleuder über seine Schulter. »Immer prettern Steine«, sagte sein Nachbar. In der Schlucht gab es Wasser, was für die Tiermenschen aus dem Hordenpferch eine Kostbarkeit war. Im Wasser schwammen handgroße Fische, sie stellten eine Art Notvorrat dar. Kleine und große Tiere kamen zum Wasser, das in mehreren Windungen durch die Schlucht floß und hinter einer Steinbarriere verschwand. Die Schlucht war drei Steinwürfe lang und an der breitesten Stelle, die zugleich die flachste war, knapp einen Steinwurf aus der Schleuder des Domblers breit. Unterschiede in der Temperatur zwischen Tag und Nacht lockerten kleines und großes Gestein, das immer wieder den Hang hinunterprasselte. In ihrer einfachen und unbeholfenen Sprache, einer Art Debilenpthora, nannten die Hordenteilnehmer dieses Geräusch prettern. Es begleitete ihr Leben während der Tage und der
Nächte. Jetzt aber war es ungewohnt stark und laut. »Stark prettern!« Steinschwinge stand auf und warf den angefangenen Speer zur Seite. »Gehe gucken«, brummte er, spuckte an die Felswand und hob einen mittelgroßen Stein auf. Sein Magen knurrte, als er den ausgetretenen Pfad von der Höhle zum Wasser hinuntersprang. Er war sicher, jetzt in der heißen Zeit des Mittags würde sein Steinwurf ein Tier erlegen. Die Horde brauchte frisches Fleisch bitter nötig. Er drehte den kantigen Schädel nach links. »Ha. Fremde«, brummte er und ließ den Stein fallen. Zwei Männer lagen halb im Wasser. Ihre Beine waren außerhalb. Die Köpfe und Oberkörper tauchten immer wieder, wie bei durstigen Tieren, tief ein. In großen Sätzen sprang Steinschwinge den Hang wieder hinauf und kauerte sich neben den Dombler zu Boden. »Männer!« stieß er hervor und zeigte mit zwei Fingern die Anzahl. Der Dombler nickte ihm beschwichtigend zu und knurrte: »Katzenohr sagen, schnell.« »Ja.« Das Wasser unter ihren Fußspitzen war rein und frisch. Aber es half ihnen nicht, widerstandsfähig gegen Krankheiten und stark und schnell zu werden. Es war nicht das Wasser des Bitterflusses. Der Lärm der fallenden Steine und das verstärkte Plätschern des Wassers lockten andere Hordenangehörige aus den Höhlen und Spalten. Verwirrt blickten sie hinüber zu dem Dombler und zu Steinschwinge. Beide Männer waren aufgestanden und gaben den anderen aufgeregte Zeichen: Sie sollten unsichtbar in ihren Behausungen bleiben. Die Horde verstand, was Steinschwinge meinte. Zwar hielten die ehemaligen Pferchbewohner ihre Waffen in den Händen, aber sie fürchteten sich. Vom anderen Ende der Schlucht ertönten wilde Geräusche. Das Klatschen von Schlägen, leises Fluchen und laute Schreie, und
dazu die Geräusche von Sohlen auf dem Stein und den grünen Pflanzen. Mindestens zwei Hordenangehörige näherten sich. Die Lautstärke des Lärms deutete darauf hin, daß Katzenohr jemanden bestrafte. Der Dombler legte einen kleinen Stein in seine Schleuder, schwang sie über seinem Kopf und zielte auf einen großen, weißen Kiesel, der mitten im Bachbett lag. Gerade als Katzenohr und Fellknie an der Stelle vorbeirannten, zerplatzte das Geschoß mit einem scharfen Krachen an dem Kiesel. Augenblicklich verstand die Anführerin das Signal. Sie blieb stehen, ließ den Knüppel sinken und sah uninteressiert zu, wie Fellknie davonraste, seiner Höhle entgegen. Die Mächtigkeit seiner Sätze bewies, daß er bitteres Wasser getrunken hatte. Aber ebenso wie seine Kraft waren seine Dummheit und seine Streitsucht angewachsen. Einen Teil davon hatte ihm die Anführerin schon mit den wütenden Schlägen ausgetrieben. Der Dombler machte ihr Zeichen. Katzenohr verstand, daß sich zwei Fremde – waren es Kontrolleure vom SCHLOSS? – am anderen Ende der Schlucht befanden. Schnell und lautlos schlich sie bachaufwärts. In einer Hand hielt sie den knorrigen Prügel, in der anderen zwei gute Wurfsteine. »Katzenohr kämpfen!« flüsterte Steinschwinge. »Wenn Feind, wir kämpfen«, gab der Dombler zurück und lud seine Schleuder neu. Angespannt warteten sie. Die Tiermenschen blieben angsterfüllt in ihren Höhlen zurück. Aber sie waren bereit, ihre Freiheit so teuer wie möglich zu verkaufen. Katzenohr rannte neben dem Wasser auf den Anfang der Schlucht zu. Nach einigen Schritten verschwand sie aus den Augen der Horde. Nach einigen Sprüngen sah die Anführerin die beiden Fremden. Sie war sicher, daß es sich nicht um Kontrolleure aus dem SCHLOSS handelte – diese wären auf keinen Fall zu Fuß gekommen und
würden sich nicht verhalten wie Halbverdurstete. Mit einem brüllenden Angriffsschrei stürzte sich Katzenohr auf den nächsten der beiden Eindringlinge. * Lebo Axton schüttelte den Kopf, wischte sich das Wasser aus dem Gesicht und kam auf die Beine. Unmittelbar vor ihm stand Razamon auf und schlug ihm grinsend auf die Schulter. Der aufkeimende Streit schien vergessen zu sein. Ein tierhaftes Brüllen ließ den Berserker herumwirbeln. Zwischen Felsbrocken sprang eine riesige, zottige Gestalt auf ihn los. Sie schwang einen Knüppel und schleuderte gleichzeitig einen mächtigen Stein in Razamons Richtung. Der Berserker duckte sich und warf sich vorwärts. Ein weiterer Sprung ließ ihn mit dem Angreifer zusammenprallen. Katzenohr hatte sich verschätzt. Niemals hatte sie in dem schlanken, sehnigen Mann diese gewaltigen Körperkräfte und die schnellen Reflexe vermutet. Er umklammerte ihre Beine, rollte sich zur Seite und brachte sie zu Fall. Der zweite Stein surrte davon und traf Axton an der Schulter. Razamon und der zottige Angreifer wälzten sich im Sand des Bachbetts. Razamon gelang es, Katzenohr den Knüppel aus den Fingern zu reißen. Er holte aus und schmetterte ihn mit aller Kraft gegen das Schienbein des humanoid aussehenden Riesenwesens. Ein Schlag einer mächtigen, beharrten Faust ging über seinem Kopf hinweg, als er die Schultern einzog. Razamon sprang vor und packte den Angreifer um die Hüften, drehte den Körper und schleuderte das zottige Wesen in den Bach. Aus der Kehle des Humanoiden löste sich ein langgezogenes Ächzen. Razamon tänzelte nach links und hob den Knüppel.
Das Wesen machte schwache Bewegungen mit den Beinen und den Armen. Ein schmerzlicher Ausdruck glitt über das großflächige, schmutzige Gesicht. »Aufhören zu kämpfen!« sagte der Angreifer. »Ich bin Katzenohr. Ihr seid nicht aus dem SCHLOSS?« Der Berserker blieb wachsam, aber nachdem er die gutturalen Laute verstanden hatte, senkte er den klobigen Ast und antwortete: »Wir sind nicht vom SCHLOSS, Katzenohr.« Er hatte nicht sehr laut gesprochen. Noch ehe er geendet hatte, stürzten von links und rechts, aus Höhlen in den Hängen und entlang des Wasserlaufes wilde Gestalten auf Katzenohr und ihn los. Grizzard wich Schritt um Schritt bis zum Hang zurück und bückte sich nach einem Stein … Es waren rund zwei Dutzend Tiermenschen. Razamon drehte den Kopf und sah, daß sie in der Falle waren. Die zottigen Gestalten schwangen einfache, aber gefährlich aussehende Waffen und kamen in rasendem Lauf näher. Razamon faßte den ersten ins Auge, spannte seine Muskeln und hob den Knüppel. »Zurück!« schrie er. Mühsam wuchtete sich Katzenohr in die Höhe. Die anderen ehemaligen Pferchbewohner blieben einige Schritte vor Razamon und Lebo Axton stehen. Dann warfen sie sich unvermittelt zu Boden und versteckten die Gesichter in den Handflächen. Razamon konnte nur undeutlich ihr Geschrei verstehen. »Zurück in den Pferch … schnell. Ihr Befehle! Sind nicht weggelaufen … gehen zurück … bleiben nix hier.« Verblüfft schaute Razamon Katzenohr und ihre etwa vierundzwanzig Schützlinge an. Er hob die Arme und rief: »Wir sind nicht aus dem SCHLOSS. Steht auf!« Katzenohr kam taumelnd auf ihn zu. Sie hinkte und preßte die Hände auf das geschwollene Bein. Auch die anderen wagten jetzt, ihre Köpfe aus dem Gras zu heben. »Sie sind dumm und verstehen nichts«, erklärte Katzenohr. »Aber
sie sind nicht schlecht. Ich bin … wie sagen … Anführerin.« Einige der früheren Pferchbewohner riefen: »Götter! Helfen! Beute bringen!« Razamon lachte kurz auf. Axton kam näher. Die armen, unwissenden Wesen hielten die beiden Eindringlinge also für Abgesandte des Übernatürlichen. Nachdenklich sagte Razamon: »Deine Leute scheinen Angst zu haben. Ihr seid aus dem Hordenpferch davongelaufen?« »Ja. Wir merken, daß Wächter nachlässig. Der Dombler versucht es, und wir sind hinterher.« »Und was sucht ihr hier in der Schlucht?« »Wir suchen …«, sagte Katzenohr stockend, »frei sein, verstehen? Gutes Essen. Ruhe und dicke Felle. Unsere Träume sind voll von dem.« »Ich verstehe«, erwiderte Razamon und warf sein schwarzes Haar in den Nacken. »Ihr träumt von Freiheit, vom besseren Leben und davon, daß ihr der Aufsicht des SCHLOSSES für immer entkommen könnt. Richtig?« »Du hast recht.« »Götter! Helfen! Wir tun alles.« Aus allen Richtungen ertönte der dumpfe, schlecht artikulierte Chor der Tiermenschen. Razamon holte tief Luft, sein Magen knurrte. Ob diese zwei Dutzend unintelligenter Wesen viel Glück mit ihrer versuchten Unabhängigkeit haben würde, hielt zumindest er für fraglich. Seine Gefühle schwankten zwischen Mitleid und Verständnis. »Also. Noch einmal«, sagte er, diesmal so laut, daß ihn alle hören konnten. Und damit sie ihn auch verstanden, wählte er seine Worte sehr sorgfältig. »Wir sind keine Götter. Wir kommen nicht vom SCHLOSS. Wir sind Wanderer und haben ein festes Ziel. Ich sehe nicht, wie wir euch helfen können. Aber wir bleiben eine kleine Weile hier.« »Danke«, sagte Katzenohr einfach. »Steht auf, ihr Idioten! Sie sind nicht vom SCHLOSS! Geht hinauf und jagt etwas!«
Von hinten schrie jemand: »Gehe schlurren! Schnell!« Die Tiermenschen standen auf und näherten sich scheu. Razamon und Lebo Axton sahen sich um. Schleudern und einfache Speere, Steinbeile und Keulen waren die Jagdwaffen. Bekleidet waren die Tiermenschen mit löchrigen Lumpen und räudigen Fellen. Der wilde Haufen bot einen bemitleidenswerten Eindruck. Einige von ihnen drängten sich an Razamon und Grizzard vorbei und kletterten schnell und geschickt den Hang hinauf. »Wohin ihr wollt?« fragte Katzenohr und blickte Razamon mit breitem Grinsen an, das ihre gelben Zähne entblößte. »Nach Osten«, sagte Razamon. »Wo? Osten?« »Nach Turgan«, erklärte Grizzard. »Warum Turgan?« »Wir hoffen, daß wir dort einen Freund treffen«, sagte Razamon. »Freund – gut. Turgan böse Stadt. Lauder dort König.« »Wer ist dort König?« »Sie sagen: Lauder aus Eisen.« Razamon hob die Schultern. Die Tiermenschen bildeten einen dichten Kreis. Ihre Augen hingen förmlich an Razamons Mund. Alles, was er sagte, auch wenn sie es nicht verstanden, war für sie eine Art göttlicher Offenbarung. Sie sahen tatsächlich irgendwie menschlich aus. Aber anstelle von Haut waren große Teile ihres Körpers mit verfilztem Fell bedeckt. Ihre Stirnen waren niedrig, die Augen leuchteten rot und schienen ständig entzündet zu sein. »Lauder aus Eisen …«, wiederholte Razamon und sah sich nach Grizzard um. »Wer immer das ist, vielleicht werden wir ihn treffen.« »Glaube nicht. Gerippe niemals gefunden«, murmelte Katzenohr wegwerfend. »Keine Waffen.« Razamon beschloß, diese vorläufig rätselhaften Äußerungen und Informationen zu ignorieren und später wieder aufzugreifen. Er hob
die Hand und deutete dann lächelnd auf seinen Magen. »Knurrt!« sagte er. »Hunger.« Katzenohr drehte sich herum und sagte über die Schulter: »Kommt mit.« Die Situation, fand Razamon, war typisch für ihren Versuch, sich auf Dorkh zurechtzufinden. Im Augenblick schien wieder einmal ein kurzes Zwischenspiel der Ruhe stattzufinden. »Wohin?« fragte Razamon. »Höhlen. Dort essen. Fleisch und Frucht … Früchte.« »Einverstanden.« Razamon wußte noch nicht recht, was er von all diesem zu halten hatte. Katzenohr, der Dombler, Fellknie und Steinschwinge … merkwürdig unbeholfene und dennoch präzise charakterisierende Namen. Trotz dieser eindeutigen Spur von schöpferischer Intelligenz blieben für ihn die Chancen dieser Leute denkbar gering. Er winkte Grizzard, der Freund folgte schweigend. Sie gingen hinter Katzenohr her, folgten den Windungen des schmalen Rinnsals und kletterten die einfache Treppe zu einer Höhle hinauf. Die Treppe bestand aus großen Steinen, die in Sand versunken waren. Es roch nach faulenden Abfällen und stinkenden Fellen. Vor dem Höhleneingang ließ sich Katzenohr auf den Boden sinken. Der Rest der Horde zog sich ebenfalls zurück. Sie hockten vor den Eingängen der Höhlen und Spalten und starrten, während sie an ihren Waffen arbeiteten, aufmerksam hinüber zu Katzenohr, Razamon und Grizzard. Katzenohr huschte in den Hintergrund ihrer Höhle und kam mit einem riesigen Knochen zurück, an dem Reste von rohem Fleisch hingen. Das Fleisch stank geradezu mörderisch. Razamon blickte trotzdem genauer hin und entdeckte, daß Fleisch und Knochen nicht gebraten worden waren. Grizzard hockte auf einem Stein und lehnte sich gegen den sonnendurchglühten Fels. Razamon entdeckte nach einiger Suche, daß es nicht nur vor dieser Höhle keine Anzeichen für den Gebrauch von Feuer gab; auch nahe den anderen Eingängen
vermißte er die charakteristischen runden Feuerstellen und die Reste verbrannten Holzes. Er schüttelte sich und zwang sich dazu, Katzenohr anzulächeln und zu erklären: »Danke. Kein Hunger im Augenblick. Wir warten, bis die Jäger zurückkommen.« Katzenohr blickte ihn gleichgültig an und schlug ihre kräftigen Zähne knirschend in den Fleischrest. Razamon blickte schnell weg und hielt sich diskret die Nase zu. Dann sagte er zu Grizzard: »Du kannst hinuntergehen und Holz sammeln.« Der andere schien aus einem tiefen Traum zu erwachen. »Wie? Was soll ich tun?« Mit nachlassender Geduld erklärte Razamon ihm noch einmal, was er tun sollte, und wozu er das Holz brauchte. Noch während er sprach, polterten Steine und Erdreich den Hang abwärts, und zwei Jäger zerrten hinter sich ein erlegtes Stück Wild durch das Wasser. Das erlegte Tier war etwa so groß wie ein pthorischer Hirsch. In die anderen Mitglieder der Horde kam aufgeregte Bewegung. Sie fingen provozierend zu schmatzen an; auch sie schienen Hunger zu haben. Razamon stand auf und sah, daß Grizzard gehorsam einen großen Stapel Holz zusammengetragen hatte. »Hierher mit der Beute!« schrie der Berserker. Er glitt zwischen den Steinen und den verdorrten Zweigen am Rand des Baches hin und her und suchte zusammen, was er brauchte. Dann zog er langsam sein stumpf gewordenes Messer. »Und nun«, murmelte er im Selbstgespräch, »werde ich versuchen, diesen Tiermenschen den ersten Funken der göttlichen Kultur zu bringen: das Feuer!« Er fand einen Stein und schlug mit dem Rücken der Messerklinge Funken. Fein aufgefaserte Holzspäne begannen zu glimmen, und als er unablässig darauf blies, züngelte die erste winzige Flamme hoch. Er sah sie selbst im hellen Licht des frühen Nachmittags kaum. Aber als er das kleine Bündel Holz unter trockene Reiser hielt,
entzündeten sie sich und brannten mit hellem Rauch. Der Chor der Tiermenschen gab dumpfe Schreie von sich – sie drückten zur Hälfte Entsetzen aus, zur anderen Hälfte Verblüffung und Erstaunen. Konnte es sein, daß sie im Hordenpferch niemals echtes Feuer gesehen hatten? Undenkbar, fand Razamon. Er merkte nicht, daß sie abermals aus ihren Höhlen kamen, sich rund um das Feuer aufstellten und das Tun der zwei Fremden mit riesengroßen Augen schweigend oder andachtsvoll murmelnd betrachteten. Selbst die beiden Jäger hatten ihre blutende Beute hingeworfen und starrten die Flammen und die Rauchfäden an. Als einige glühende Funken prasselnd aus dem Haufen herauszischten, sprangen die Tiermenschen schreiend zur Seite. Razamon blickte zuerst Grizzard, dann die Anführerin an. Lebo Axton stand scheinbar unbeteiligt da und blickte in den Rauch. Katzenohr hatte jeden seiner Handgriffe genau beobachtet und schien dank ihrer größeren Intelligenz mehr oder weniger genau zu verstehen, was er unternahm. Der Berserker zog das getötete Tier zu sich heran, zog einen langen Schnitt über den Bauch und schlug das Tier schnell und fachgerecht aus der Decke. Dann nahm er es aus, schickte einen Jäger nach großen Blättern und legte die eßbaren Innereien auf diese grünen, nassen Pflanzenteile. Schweigend und stumm vor Ehrfurcht sahen die Tiermenschen, wie er das Fell vom Körper des Tieres trennte. Er zerteilte die Beute in mehrere entsprechend große Brocken, brach und schnitt einige Spieße und Astgabeln, und schließlich zeigte er den Zottigen, wie sie die Bratenstücke über der windzugewandten Seite des Feuers zu drehen hatten. Razamon ging hinunter zum Wasser, wusch sich Blut und Fleischreste ab und suchte nach Würzkräutern. Er fand nicht viel davon, aber die Menge würde reichen, um das gebratene Fleisch wenigstens etwas zu würzen.
Als er zum Feuer zurückkam, stand Katzenohr da und hielt ihm die offene Hand entgegen. In der Handfläche befand sich eine kleine Menge gelblichweißer Kristalle. »Gefunden«, sagte sie stockend. »Tiefer in Schlucht. Dort wo ist Todesrinne. Können brauchen?« Razamon befeuchtete die Spitze seines Zeigefingers mit Speichel, tippte damit in die Kristalle und stellte fest, daß es sich um grobes Salz handelte. Er nickte und ging zurück zum Feuer. Vorsichtig salzte und würzte er die verschiedenen Bratenstücke und bedeutete den Jägern, noch weiter an den Spießen zu drehen. »Salz ist immer gut«, erklärte er grinsend. Der Geruch des Bratens ließ das Wasser in seinem Mund zusammenlaufen. Sein Magen knurrte lauter und vernehmlicher. Auch die Tiermenschen sahen so aus, als würden sie sich gleich schreiend vor Gier auf das heiße Fleisch stürzen. »Unsere Stadt hat neue Herren!« sagte Katzenohr plötzlich überraschend deutlich. »Wie?« fragte Razamon unaufmerksam. Die Gebärden und die schwer zu deutenden Gesichtsausdrücke der Umstehenden bewiesen ihm, daß die Anführerin etwas ausgesprochen hatte, das auch ihre Gefolgsleute begeisterte. »Ihr hier bleiben«, schrie Katzenohr begeistert. »Ihr neue Herren! Ihr uns alles zeigen. Wir für euch jagen und so. Wir alle schlurren und zerchen.« »Alles klar«, murmelte Razamon fatalistisch. »Aber wir bleiben nicht lange hier, wie ich schon gesagt habe.« Grizzard sagte gar nichts; er hockte auf einem Steinblock und stierte in die Flammen. Mehr und mehr verhielt er sich wie jemand, der mit der Umgebung nicht mehr zurechtkam. Razamon fiel der kurze Moment wieder ein, in dem Grizzard zusammengebrochen war. Als er dann wieder zu sich kam, war er verändert. »Ihr sollt bleiben!« sagte die Anführerin und streckte den Arm nach dem Braten aus. Als sie in den Bereich der Flammen und der
Hitze kam, zuckte sie aufstöhnend zurück. »Ich sage euch, wo es bitteres Wasser gibt.« Razamon hob aufmerksam den Kopf. Bitteres Wasser! Er und Grizzard kannten den Einfluß dieser gelösten Bestandteile im Fluß der zwei Quellen. Er sagte sich, daß er das Mißverständnis mit jeder Minute weiter trieb: Schon jetzt waren Grizzard und hauptsächlich er in den Augen der Tiermenschen zu wahren Übermenschen geworden. Die »Erfindung« des Feuers würde erst dann voll zur Geltung kommen, wenn die armen Flüchtenden den Geschmack des gebratenen Fleisches genossen. Mit der Messerspitze prüfte der Berserker die Gare des Bratens und dachte an den verschwundenen Freund Atlan, den »König von Atlantis«, der an anderer Stelle ebensolche und noch verrücktere, gefährlichere Abenteuer erleben mochte. »Wir brauchen kein Bitterwasser«, sagte er. »Wir auch nicht. Aber es macht stark, wild und schnell«, erläuterte Katzenohr und setzte einen rätselhaften Gesichtsausdruck auf. »Und dumm. Ich immer verprügeln solche, was trinken Bitterwasser.« Razamon erinnerte sich mehr als deutlich daran, wie auch ihn das Wasser des Bitterflusses ebenso mordlüstern wie streitsüchtig, so stark wie schnell und genauso uneinsichtig gemacht hatte. Auf diese einfachen Naturen hier würde Bitterwasser einen noch stärkeren Einfluß haben. Er hob den ersten Spieß vom heruntergebrannten Feuer und rief: »Vorsicht! Das Fleisch ist heiß! Faßt es behutsam an!« Das erste Stück bekam Katzenohr, das zweite Grizzard, der es von einer Hand in die andere fallen ließ, bis es abgekühlt war, das dritte und vierte nahmen sich die Jäger, denen diese Beute zu verdanken war. Die drei Tiermenschen bissen gierig in den Braten. Saft und Fett lief über ihre Kinne, die kleinen Würzkräuter klebten an ihren Wangen und Fingern. Kurze Zeit später aßen alle Tiermenschen. Sie schmatzten und schlürften, stießen Laute des Wohlbehagens
aus, rammten einander die Ellbogen in die Rippen und riefen sich derbe Scherzworte zu. Sichtlich genossen sie zum erstenmal den gänzlich veränderten Geschmack des Fleisches, das sie sonst roh oder halb verfault heruntergeschlungen hatten. Razamons Erfolg war durchschlagend – jene Wesen, die sich ihm vor kurzer Zeit unterworfen hatten, zeigten zum erstenmal den Ausdruck reiner Freude und großen Wohlbehagens. »Gut, nicht wahr?« fragte Grizzard und brach überraschenderweise sein Schweigen. Razamon gab ihm augenblicklich einen weiteren Fleischbrocken. »Sehr gut!« mampfte Katzenohr. »Wir immer so machen. Feuer nicht lassen ausgehen.« Razamon pflichtete ihr mit einem Kopfnicken bei. Sie hatte wirklich schnell begriffen! Er sagte halb befehlend: »Wenn wir für morgen noch ein Beutetier hätten, würden wir es in der Nacht braten. Dann, zusammen mit irgendwelchen Früchten, hätten wir alle ein Essen nach Sonnenaufgang.« »Wir heute noch schlurren!« versicherte der Dombler und hob den abgenagten Knochen. Schlurren schien also etwas mit jagen oder mit dem Vorbereiten von Jagdwaffen zu tun zu haben, sagte sich Razamon, der diesen Ausdruck noch nie gehört hatte. Er schien ähnlich fremdartig zu sein wie die Legende des Eisernen Lauder. »Sehr gut!« sagte er und holte sich das nächste, größere Stück Fleisch. Es war langfaserig und schmeckte bemerkenswert gut. Die Probleme waren nur aufgeschoben, dachte er. Falls sie morgen weiter wandern würden, schien es für Katzenohr eine Verpflichtung zu sein, die neuen Götter daran zu hindern. Allerdings: er wünschte sich – sein Denken verlief im Moment in pragmatischen Bereichen! – keineswegs zurück auf die staubige, wasserlose Savanne oberhalb der Schlucht. Hier waren sie für diese Nacht gut aufgehoben. Die Tiermenschen waren beruhigt und keine unmittelbare Gefahr
mehr. Falls er es schaffte, sie richtig zu motivieren, dienten sie ihm und Grizzard als willkommene, wenn auch unberechenbare Helfer. Aber würden sie ihnen bis zu dem Zeitpunkt helfen können, an dem sie die Stadt Turgan erreichten? Auch diese Überlegung, fand Razamon, war zum gegenwärtigen Zeitpunkt mehr als verfrüht. Er spuckte ein Stück Knorpel in die Glut und stand auf. Er ließ seinen Blick über die kauernden Tiermenschen gleiten und sagte schließlich: »Morgen früh sehen wir weiter. Gibt es eine leere Höhle hier irgendwo, Katzenohr?« Katzenohr deutete auf einen untersetzten Jäger. »Steinschwinge wird dir zeigen, Herr des Feuers!« »Danke.« Razamon packte Grizzard am Oberarm und zog ihn hinter dem hinkenden Jäger her. Der Bepelzte verströmte einen schier unerträglichen Gestank, ebenso wie die uralten Felle, die in einer kleineren Höhle lagen. Das gerundete Loch in der Felswand befand sich etwa zehn Meter über dem leise rauschenden Wasser. Razamon war sich deutlich bewußt, daß er in den letzten Stunden der wichtigere Mann gewesen war. Die völlig passive Haltung Grizzards würde ihn in den Augen der Tiermenschen als weniger bedeutend erscheinen lassen. »Was sollʹs«, sagte er leise. »Irgendwie überstehen wir auch diese schlimmen Tage.« Steinschwinge bewegte seine geschwollene Schulter und deutete ins Innere der Höhle. »Hier. Viel Platz. Bringen neue Felle, ja?« Razamon, der sich vorstellte, wie die »neuen« Felle stanken und welche Mengen an Ungeziefer in ihnen herumkrabbelten, winkte ab. »Nein. Wir schlafen im Sand«, sagte er. Dann deutete er nach unten. »Zuerst baden wir uns!« »Wasser kalt. Brrrr!« machte Steinschwinge und verschwand
wieder. Razamon wandte sich an Grizzard. »Ich meine«, sagte er, »daß du eine Phase durchmachst, die uns Kopf und Kragen kosten kann. Du sagst kein Wort. Du irrst mit stieren Blicken umher. Du gibst dir den Anschein, als wüßtest du nicht mehr, wo wir sind, und wie unser Ziel aussieht. Zugegeben, es ist nicht gerade klar und deutlich, aber ich habe es satt, dich wie einen Schwachsinnigen mit mir herumzuschleppen. Du bist mir nicht nur keine Hilfe; du wirst allmählich zu einer Gefahr für uns beide. So retten wir Atlan auf keinen Fall! Willst du dich dazu äußern? Oder laufen wir auch weiterhin schweigend nebeneinander her bis zur Stadt?« Grizzard‐Axton ließ resignierend die Arme sinken. Der Blick, den er Razamon zuwarf, war rätselhaft. »Du hast recht«, sagte Grizzard gepreßt. »Und wiederum auch nicht. Worauf es zurückzuführen ist – ich weiß es nicht. Für mich liegt alles, Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit, wie in einem Nebel. Ununterbrochen versuche ich, einen neuen Standpunkt zu finden. Es hat nichts mit dir zu tun, Berserker!« Razamon entgegnete sarkastisch: »Wie tröstlich. Weiter! Ich höre!« »Es sind unbewußte Ängste, Razamon«, sagte Lebo Axton leise und beschwörend. »Ich verliere langsam mein Selbstbewußtsein. Wenigstens glaube ich das. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Früher, so glaube ich mich zu erinnern, war ich voller Entschlußfreudigkeit und Kampfgeist. Heute zweifle ich ununterbrochen. Ich weiß selbst nicht mehr, was mit mir los ist. Aber ich hoffe, daß es ein vorübergehender Zustand ist. Du erinnerst dich an den Moment, wo ich bewußtlos zusammengebrochen bin? Seit dieser Stunde kämpfe ich gegen mich selbst und weiß nicht mehr, wie mir geschieht. Das ist alles. Ich kann dir nicht mehr dazu sagen. Zufrieden?«
Razamon versuchte, die Bedeutung dessen, was ihm Grizzard eben erzählt hatte, zu erfassen. Aber er kam nach einigen Sekunden intensiven Nachdenkens darauf, daß er nur viel geredet und in Wirklichkeit wenig gesagt hatte. Er zuckte die Schultern und erwiderte unbefriedigt: »Nein. Ich bin nicht zufrieden. Aber ich halte es wohl noch einige Zeit mit dir aus. Es wäre allerdings schön, wenn du bald wieder völlig Herr deiner Sinne sein würdest.« Er ließ Lebo Axton sitzen, zog einige Teile seiner Kleidung aus und ging schweigend hinunter zum Wasser. Dort wusch er sich langsam mit Sand, bis er das Gefühl hatte, rein zu sein. Dann ging er in die Höhle zurück, breitete seine Kleidung aus und legte sich darauf. Binnen kurzer Zeit war seine Haut trocken, und er fühlte sich wohl. Noch bevor es richtig dunkel wurde, schlief er tief. Seine Träume – oder wenigstens einen Teil von ihnen – erschreckten ihn am nächsten Morgen. Er sah nicht mehr, wie es Grizzard zum Wasser trieb. Der Kamerad zahlloser Abenteuer reinigte sich ebenso intensiv wie Razamon, und er legte sich auch neben den Berserker zum Schlaf nieder. Seine Träume waren ganz anders: sie glichen monströsen Alpträumen. Nur das Bewußtsein, hier in der Schlucht und im Schutz von rund fünfundzwanzig Tiermenschen‐Jägern zu sein, ließ beide Männer schlafen. * Razamons Traum war kurz, aber voller gewalttätiger Einzelheiten. Er sah Lauder, den Eisernen. Im Traum nahm dieser Sagenheld eine merkwürdige Gestalt an; ein Wesen zwischen Spinne und Zentaur, mit acht eisernen Gliedern, mit denen er seine Feinde niederschlug und ihre Knochen zertrümmerte. Sein Heer, mit dem er sich über den Titanenpfad bewegte, war aus ähnlichen Spuk‐ und
Schauergestalten zusammengesetzt. Aber auch in Razamons Traum verringerte sich die Anzahl der Krieger, und schließlich blieb nur Lauder übrig, eine riesige, schweigende Gestalt, die mit ihren metallenen Gliedern – oder war es eine besondere Art von Rüstung? – klirrend und krachend über den Titanenpfad stolzierte, der fernen Stadt Turgan entgegen. Grizzard träumte nicht; er versuchte halb wachend, sich mit seinem Körper und der für ihn unbekannten neuen Umwelt zurechtzufinden. Er wußte noch immer nicht, wie er hierhergekommen war – wie sein Körper, Grizzards Körper, in diese trostlose Lage geraten war. Und überdies fürchtete er sich davor, was ihm befohlen worden war. Seine Gedanken waren ein Knäuel von Kurzzeiterinnerungen, von großen Strecken gähnender Leere und von Erinnerungen an die Zeit vor der Versetzung hierher. Razamon glaubte, nein, er wußte, daß im Grizzard‐Körper das Bewußtsein von Lebo Axton steckte. Und er durfte die Wahrheit um keinen Preis erfahren. Schon war er mißtrauisch geworden, aber das war nicht der Hauptgrund für Grizzards Zustand. Er selbst fürchtete, seinen Körper, den er nun endlich wieder besaß, hier in der Einöde des fremden Landes wieder zu verlieren. Jetzt, in der Nacht, war er in Sicherheit … scheinbar. Morgen, beim ersten Sonnenlicht, würden sämtliche Nöte und Ängste wieder auftauchen und sein Weiterleben bestimmen. Dachte er an die Tiermenschen und ihre Höhlen, die sie als »Stadt« bezeichneten, dann wußte er, daß er die nächsten Stunden und Tage nur unter äußerster Anstrengung würde ertragen können. * Mit einem blitzschnellen Satz war Razamon auf den Füßen und griff nach dem Knüppel. Im Höhleneingang zeichnete sich ein großer
schwarzer Schatten ab. Der Schatten sprang zurück, und Razamon erkannte Steinschwinge. Der Tiermensch hob abwehrend die Arme und brummte: »Nicht strafen. Nur sehen … GötterHerrscher.« »Schon gut, Steinschwinge«, sagte Razamon. »Du hast uns bewacht, ja?« »Ja. Wache.« Razamon ging an ihm vorbei und blieb vor der Höhle stehen. Er holte tief Atem und erkannte, daß die Horde bereits arbeitete. Die Tiermenschen hatten Holz geholt und aufgeschichtet, damit das kostbare Feuer nicht ausging. Der Berserker ging hinunter zum Wasser und erfrischte sich. Lebo Axton schlief noch in der Höhle. Sein Gesichtsausdruck ließ erkennen, daß er üble Träume hatte. Als Razamon in der beginnenden Tageshitze das Wasser von den Armen rieb, beschlich ihn deutlich fühlbar die Vorahnung kommenden Unheils. Er wußte, daß er sich auf diese Art Instinkt verlassen konnte. Schweigend hob er den Kopf und suchte die Ränder der Schlucht ab. Alles war ruhig, der Rauch des Feuers trieb schräg nach oben. Die Tiermenschen arbeiteten an den Waffen, aber immer wieder blickten sie auf Razamon. Drei Jäger, unter ihnen der Dombler mit seiner Schleuder, kamen zurück und brachten frische Jagdbeute. »Sie werden es nicht gern sehen«, knurrte Razamon. »Aber es muß sein. Zuerst das Essen, dann die neuen Probleme.« Er straffte die Schultern, setzte ein vorsichtiges Lächeln auf und ging entlang des Wassers auf die Höhle zu, die seines Wissens nach Katzenohr bewohnte. Sie stand mit Fellknie und Steinschwinge neben dem Feuer und sah zu, wie die Tiere ausgenommen wurden. »Hunger«, sagte Razamon. »Gibt es bald etwas zu essen?« Katzenohr lachte ihn begeistert an. Aber in ihrem Blick war ein Lauern, das ihm sagte, er solle sich in acht nehmen und die Horde
keineswegs verlassen. Sie deutete auf das Feuer und die zerstückelten Tiere. In einem geflochtenen Korb, der handwerkliche Fähigkeiten erkennen ließ, lagen verschiedene Früchte. »Selbst sehen. Bald Essen, ja?« Razamon nickte ihr zu und ging zur eigenen Höhle zurück. Er fühlte die mißtrauischen Blicke der Horde in seinem Rücken. Grizzard saß gähnend vor dem Eingang. »Nach dem Essen brechen wir auf, Axton«, sagte er knapp. »Was? Schon heute? Es geht uns hier glänzend. Ich bin nicht dafür«, antwortete Axton verblüfft. »Unser Ziel ist Turgan – hast du das vergessen?« fragte der Berserker zurück. Wieder fragte er sich, ob Axton nicht nur schwach war, sondern auch mehr und mehr die Kontrolle über seinen Verstand verlor. »Nein. Habe ich nicht vergessen. Aber wir sollten noch mindestens einen Tag bleiben und uns erholen«, rief Lebo Axton. Er schüttelte wild den Kopf und gestikulierte mit den Händen. Der Unterschied zwischen den Tagen, an denen sie mit Atlan zusammen durch den Dschungel gerannt waren und gekämpft hatten, und heute war nicht nur auffallend, sondern für Razamon deprimierend. »Erholen? Wir sind in hervorragender Form!« widersprach Razamon energisch. Der Wind brachte den verlockenden Geruch des bratenden Fleisches heran. »Vielleicht du. Ich fühle mich nicht ausgeruht genug!« Argwöhnisch entgegnete Razamon: »Dir geht es schlecht, wie?« »Jedenfalls fühle ich mich nicht stark genug, bis zu dieser unbekannten Stadt durch die Steppe zu rennen, ohne Wasser, Essen, von den Mirrn verfolgt …« »Nach dem Essen sehen wir weiter. Komm jetzt mit, der Braten dürfte bald fertig sein. Dann versuchen wir, die Horde zu verlassen.« »Sie werden es verhindern. Du hast gesehen, wie stark sie sind!«
beschwor ihn Axton. Razamon seufzte tief und winkte ab. »Ich rechne damit, daß sie ihre Götter nicht gehen lassen wollen. Wir versuchen es trotzdem.« Das Gefühl, daß es in ganz kurzer Zeit großen Ärger geben würde, verstärkte sich. Die beiden Männer gingen wieder zurück zu Katzenohr und hockten sich neben das Feuer. Sie wurden von den Frauen der Tiermenschen geradezu liebevoll bedient: die dampfenden Fleischbrocken lagen auf gefalteten Blättern, und die Früchte waren halbiert und ohne harte Kerne. Razamon dankte, und sie fingen zu essen an. Es schien für die Tiermenschen eine Art Test zu sein; immer mehr von ihnen kamen herbei und stellten sich um Katzenohr herum auf. »Was ihr uns heute neu zeigen?« fragte der Dombler schließlich. Undeutlich erwiderte Razamon: »Du kannst uns heute den Weg nach Turgan zeigen, Freund!« Überrascht sagte Katzenohr: »Ihr gehen?« Überraschendes Murmeln ertönte ringsum. Die Tiermenschen stießen sich gegenseitig an. Katzenohr beugte sich zu Razamon herunter und sagte fast drohend: »Ihr nicht gehen!« »Welche Richtung müßten wir gehen, nach Turgan?« fragte Lebo Axton und wischte sich Fett und Fleischfasern von seinem Kinn. »Nicht wissen!« dröhnte der Dombler. »Keiner wissen.« »Wirklich niemand wissen«, wiederholte Katzenohr. »Ihr sollt hierbleiben. Wir lernen von euch – alles!« Razamon zog ein Knie hoch und umfaßte es mit den Armen. Er blickte in die Richtung, in der sich die schmale Schlucht weiter erstreckte. Dann sagte er halblaut: »Ihr wollt uns nicht gehen lassen, Katzenohr. Wir aber müssen nach Turgan, und zwar dringend. Ich habe schon gestern gesagt, daß wir keine Götter sind. Kommt doch mit uns!«
Er zählte schnell die Tiermenschen, die sich inzwischen hinter Katzenohr aufgestellt hatten. Es waren zwanzig, also schienen vier von ihnen zu fehlen. Vermutlich waren sie auf der Jagd. Katzenohr fuchtelte mit den langen Armen vor Axtons Gesicht und schrie: »Wir nicht gehen aus Stadt! Ihr nicht gehen aus Stadt!« Razamon zwang sich dazu, trotz des sichtbaren Erschreckens, das Axton zeigte, ruhig und besonnen zu sein. Gegen zwanzig Tiermenschen hatten sie nicht die geringste Chance. »Warum wollt ihr nicht aus der sogenannten Stadt hinaus?« Wieder nahmen die Tiermenschen drohende Haltung an. Sie schlugen mit den Waffen gegen ihre Brustkörbe und zitterten erregt. »Hier alles. Wasser. Schatten. Früchte und Tiere. Jetzt heißes Brennfeuer!« gab Katzenohr laut zurück. »Ich habe es dir doch gesagt!« murmelte Lebo Axton niedergeschlagen. »Es gibt keine Möglichkeit, von hier wegzukommen. Sie bringen uns um.« »Unsinn«, erklärte Razamon schnell. »Wir schaffen es schon.« Er sagte, während er bedächtig eine Frucht anbiß: »Gut. Wir bleiben noch eine kurze Zeit bei euch!« Sofort erhoben die Tiermenschen ein jubelndes Geschrei und fingen an, auf der Stelle unbeholfene Sprünge und Tanzschritte auszuführen. »Halt! Aber wir sehen uns in der Schlucht um, oder wie ihr es nennt, in der Stadt. Klar?« »Steinschwinge und wir euch begleiten!« versicherte Katzenohr. »Niemals aus Augen lassen.« Razamon winkte Grizzard und ging langsam hinunter zum Wasser. Etwa die Hälfte der Tiermenschen folgte ihnen schweigend und voller Argwohn. Aber die andere Hälfte der Horde verkroch sich wieder in die Höhlen und arbeitete dort weiter, an Waffen oder anderen Gerätschaften. Razamon hatte aus dem Verhalten der Tiermenschen schließen können, daß sie keinerlei Rücksicht nehmen würden. Falls die neuen
Götter wirklich zu fliehen versuchten, würden die Hordenmitglieder ihnen auch die Beine brechen, um sie bei sich zu behalten. Vernünftige Überlegungen waren nicht zu erwarten. Von dem einen Ende der Schlucht, wo die Quelle aus den Felsen brach, bis hierher waren es etwa hundertfünfzig Meter. Razamon wandte sich in die entgegengesetzte Richtung und ging vor Axton über den schmalen Pfad neben dem Wasser her. Die Schlucht schien sich nach Osten hin fortzusetzen und fiel leicht ab. »Du forderst es wirklich heraus«, bemerkte Axton nach einigen Schritten. »Du bringst uns in größte Gefahr.« Hinter ihnen gingen die Hordenmitglieder mit ihren Waffen. Zwei von ihnen wateten schnell durch das Wasser und liefen auf der anderen Seite des schmalen Baches weiter. »Ich gehe kein Risiko ein«, versprach Razamon. »Schließlich rechne ich damit, daß du einem Kampf aus dem Weg gehen wirst.« »Ich bin nicht lebensmüde«, gab Axton zurück. Sie gingen schätzungsweise zweihundert Schritte weiter in die Schlucht hinein. Die Wände wurden steiler und bestanden jetzt nur noch aus nacktem Fels, in dessen Ritzen ein paar Pflanzen wuchsen. Es wurde dunkler zwischen den Schluchtwänden. »Wie weit reicht diese Schlucht?« erkundigte sich Razamon bei Katzenohr und deutete nach vorn. »Nicht wissen alles. Sehr weit. Dort nicht schlurren können«, rief Steinschwinge und zeigte auf eine schmale Treppe. Sie war nicht künstlich angelegt, wirkte aber sehr gleichmäßig und führte die Felswand hinauf. »Dort schlurren«, bestätigte er. »Aufsteigen zur Ebene. Dort, wo dürr und heiß«, erläuterte Katzenohr in einem Tonfall, der ihn erkennen ließ, daß die Horde die Steppe haßte und so selten wie möglich besuchte. Als er den Kopf wieder drehte, ertönten vor ihnen wilde, hallende Schreie. Katzenohr und Steinschwinge nahmen sofort eine drohende Haltung ein. »Was war das? Wilde Tiere?« Axton wich langsam zurück und
prallte mit Razamon zusammen. »Nicht wissen. Still!« sagte Katzenohr zischend. »Lauer legen.« Sie machte einige weit ausholende Bewegungen mit den Armen. Ihre Jäger verstanden sie augenblicklich und gehorchten ihr schnell. Sie warfen sich, als sie hinter Sträuchern und Felsen Deckung gefunden hatten, zu Boden. Sie spähten in die Schlucht hinein, die an dieser Stelle eine Biegung machte oder im Zickzack verlief. Wieder ein röhrender, johlender Doppelschrei! »Am liebsten würde ich davonrennen«, sagte Axton neben Razamon. Sie kauerten hinter einem Felsen, der voll im Sonnenlicht lag. Fliegen summten um ihre Köpfe. Aus der Schlucht kam ein feuchter, salziger Geruch herangeweht, zugleich mit einem kühlen Luftzug. »Aber in die Richtung auf die Stadt Turgan«, spottete Razamon. »Und gleichzeitig mit mir bitte.« Vor ihnen polterten Steine, man hörte die Geräusche von Schritten oder von Tatzen, die ins Wasser schlugen. Wieder schrien mehrere Wesen auf. Dann nahm der Berserker undeutliche Bewegungen wahr. Vier Wesen bogen um die Felswand. Riesengroße, nasse Wesen, mit wehenden Haaren und schlenkernden Armen. Einige Sekunden später erkannte die Horde die Angreifer. Es waren die vier Tiermenschen, die angeblich auf der Jagd waren. Katzenohr schrie: »Sie haben Bitterwasser genommen!« Razamon und Grizzard sprangen auf. Die Horde verließ ihre Deckung und bildete schnell eine Reihe quer durch die Schlucht. Die Tiermenschen stolperten und sprangen heran und stießen furchtbare Schreie aus. Sie wirkten wie Rasende. »Aufhalten!« schrie Katzenohr. »Nicht töten. Fesseln und niederschlagen. Sonst alles kaputt.« Die Tiermenschen schienen sich verbotenerweise bitteren Wassers
bemächtigt zu haben. An welcher Stelle sie es getrunken hatten, wußte Razamon nicht. Aber er sah, wie sich Katzenohr zusammen mit Steinschwinge auf den ersten der heranspringenden Rasenden stürzte. Sie handhabten ihre Waffen mit den stumpfen Enden und schlugen erbarmungslos mit den Fäusten zu. Nach wenigen Augenblicken bildeten drei Tiermenschen ein wildes Knäuel um sich schlagender Gliedmaßen, das in das flache Wasser fiel und dort herum wirbelte. Die drei übrig gebliebenen Tiermenschen warfen sich schreiend und tobend auf ihre Artgenossen. Steine schwirrten hin und her. Knüppel krachten dumpf auf Brustkörbe und Schultern. Auch die Tiermenschen, die normales Wasser getrunken hatten, begannen vor Wut zu schreien. Quer über die Schlucht bildeten sich vier Gruppen von Wesen, die erbarmungslos aufeinander einprügelten. Katzenohr sprang auf die Beine, blickte kurz eine lange Rißwunde an ihrem Arm an und hieb dann dem ersten Tiermenschen die Faust auf die Stirn. Mit einem gurgelnden Schrei sackte das Wesen wieder ins Wasser, aus dem es sich soeben hochgestemmt hatte. Dann stürzte Katzenohr sich auf die nächste Gruppe. Sicherlich war ihr daran gelegen, den Streit schnell zu einem Ende zu bringen. Aber ebenso sicher war es für Razamon, daß sie selbst gern kämpfte, sich von den Ereignissen hatte mitreißen lassen, ebenso wie die anderen »normalen« Tiermenschen der Horde. Ein Körper wurde hochgewuchtet und mit dem Rücken gegen die Felsen geschleudert. Razamon packte Axton an der Schulter und sagte scharf: »Das ist unsere Chance.« »Du hast recht. Unsere einzige Möglichkeit zur Flucht …«, sagte der junge Mann und glitt hinter den Felsen. Gebückt und in der Deckung schlichen Razamon und Grizzard tiefer zwischen die Felsen hinein. Hinter ihnen kämpften die Tiermenschen wie die Besessenen.
Noch immer hallten die Schreie der Kämpfenden in der Schlucht. Jeder der Beteiligten schien den Kampf in vollen Zügen zu genießen. Die zwei Flüchtenden sahen sich kurz um, als sie dicht vor der Kante der Felsen waren. Nichts hatte sich verändert; es gab noch drei Gruppen von Kämpfenden, von denen immer wieder Körper zurück und in die Höhe geschleudert wurden. »Großartige Kämpfer!« murmelte Razamon anerkennend. Die Tiermenschen, die zurückgeschleudert wurden, warfen sich augenblicklich wieder in den Kampf. Am wildesten schlug sich die riesenhafte Anführerin. »Schneller, Freund Axton!« Sie verschwanden hinter dem Felsen und jagten los. Vermutlich hatten die Tiermenschen bei ihren Vorstößen in die Schlucht diesen schmalen Pfad hinterlassen. Sie befanden sich noch nicht lange hier in der Schlucht, denn der Weg zwischen immer kleiner werdenden Pflanzen und Felstrümmern war kaum sichtbar. Razamon sprang mit langen Sätzen neben dem Bachbett dahin und drang immer tiefer zwischen die steilen Wände ein. Mehr und mehr schwand das Sonnenlicht. Hinter ihnen entlud sich die aufgestaute Aggressivität der Tiermenschen in einer wüsten Schlägerei. »Katzenohr hat gesagt«, erklärte Razamon stoßweise über die Schulter, »daß die Schlucht angeblich in die ›Todesrinne‹ einmündet. Ich stelle mir darunter eine noch tiefere Schlucht vor.« »Durchaus möglich. Unsere Lage wird immer schwieriger. Keine Waffen und nicht einmal eine Fackel«, gab Grizzard mürrisch zurück. Aber er bemühte sich, mit Razamon Schritt zu halten. Nach dem ersten Spurt liefen sie etwas langsamer weiter. Die Felswände wurden höher und steiler; der Bach wand sich zwischen Geröll und Kieseln dahin, sein Gefälle nahm zu. Aus winzigen Gesteinsfugen sickerte Wasser und lief in breiten Bahnen die Wände herunter. Weiße Ablagerungen kristallisierten am Rand der Rinnsale aus. Statt der Sträucher, die ihre Wurzeln in Felslöcher und Spalten bohrten und krallten, hingen Moos und lange Flechten von den schrundigen Wänden der Schlucht. An diesen Stellen war
es so gut wie unmöglich, hinaufzuklettern. Das Wasser des Baches, das durch viele kleine Quellen und Zuläufe angeschwollen war, stürzte sich in mehreren Kaskaden abwärts. Aber neben den schäumenden Wasserfluten führte der Weg in Schlangenlinien abwärts. Vorsichtiger geworden folgten die Männer dem Pfad. Aber auch er wurde nach zwei weiteren Richtungsänderungen unsichtbar. Jetzt gab es nur noch kleinere und größere Kiesel, vom Wasser der vergangenen Jahrtausende rundgeschliffen und poliert. Ab und zu ragte aus dem wild aufgetürmten Feld der Steine ein einzelner Block heraus, der aus der Schluchtwand gestürzt war. Razamon turnte weiter abwärts und folgte dem Wasser, das nicht nur seine Menge vergrößert, sondern auch seine Farbe und den Geruch verändert hatte – die Zuläufe von rechts und links wurden zahlreicher. Schwüle Feuchtigkeit füllte den Raum zwischen den Wänden aus. Das Rauschen und Plätschern des Wassers war das einzige Geräusch. Es machte die Schritte der zwei Männer unhörbar. Razamon fand ein weißes Stück Holz, dessen Rinde abgewaschen und abgerieben worden war; eine brauchbare Waffe und eine Art Wanderstock. »Ich weiß auch nicht«, schrie er Grizzard zu, »wie wir hier herauskommen. Aber das Wasser wird uns den Weg zeigen!« Einige schnelle Blicke zeigten ihm wiederum, daß sein Begleiter eine bestimmte Art von Willenlosigkeit befallen hatte. Er lief mit ihm mit, aber in Wirklichkeit trieb ihn selbst nichts, bestenfalls noch die Einsicht, daß sein Leben an Razamons Seite sicherer war als bei den Tiermenschen. »Das Wasser … hoffentlich irrst du dich nicht!« gab Axton zurück und turnte über einen Wall kantiger Felsblöcke, auf deren Flanken farbige Moospolster wucherten. Auf dem höchsten Punkt dieser zufälligen Barriere drehte er sich um, ruderte mit den Armen durch die Luft und fand sein Gleichgewicht wieder.
Bis jetzt waren keine Verfolger aufgetaucht. Entweder schlugen die Tiermenschen noch aufeinander ein, oder sie hatten den Versuch, ihre falschen Götter zu behalten, tatsächlich aufgegeben. »Los! Weiter!« schrie ihm Razamon zu. Nach abermals einer halben Stunde Klettern, Rennen und Stolpern veränderte sich das Aussehen der Schlucht abermals. Bis zu dem engen Durchlaß, der das Wasser aufstaute und brodeln ließ, war immer wieder in einzelnen Abschnitten Sonnenlicht auf den Boden der Schlucht gefallen. Aber der düstere Eindruck überwog. Der Gestank nahm zu, es roch nach Schwefel und anderen ätzenden Mineralien. Jetzt weitete sich die tiefe Felsspalte. Mehrere hundert Meter waren die fast völlig glatten Wände hoch, meist wiesen sie senkrecht, ab und zu auch überhängend nach oben. Vor den zwei Flüchtenden dehnte sich eine große, felsige Fläche aus. Sie schien seltsam bunt und schillernd zu sein. Als Razamon und Axton näher heran gingen, sahen sie, daß etwa zwei Drittel des Bodens von Ablagerungen und Wasser bedeckt waren. An vielen Stellen quoll Wasser aus dem Boden. Einige der Quellen dampften und gaben durchdringende Gerüche von sich. Das Wasser lief über farbige Terrassen, Stufen und Wälle und versickerte meist nach kurzem Lauf wieder im Boden. Zwischen den flachen Steinen erhoben sich runde Becken in verschiedenen Höhen, jedes in einer anderen Farbe. Grelles Licht erfüllte den Felsenkessel und wurde von Nebelschwaden aufgesogen, die an einigen Bassins ihren Ursprung hatten. Sie lösten sich auf und bildeten sich ununterbrochen wieder neu. Das jenseitige Ende des Talkessels war nicht zu sehen, nur die Wände glänzten feucht und in ihrem bizarren Schmuck aus wachsähnlich verlaufenden Ablagerungen. »Vielleicht«, meinte Razamon, »haben die Tiermenschen hier ihr bitteres Wasser gefunden. Es wäre denkbar.«
»Es ist ebenso denkbar, daß wir hier ersticken«, sagte Axton voll
Bitterkeit. »Ich hätte bei Katzenohr bleiben sollen.« »Wir können noch immer zurückgehen, wenn wir es nicht schaffen, aus dem Kessel zu entkommen«, versicherte der Berserker. »Halte dich an mich.« Sie bewegten sich zwischen zwei riesigen, fast mathematisch runden Becken hindurch. Eines war schneeweiß und leuchtete ebenso wie das andere, feuerrote im Licht. Als sie dreißig Schritte zurückgelegt hatten, bildete sich hinter ihnen eine Dampfwand und fauchte in die Höhe. Erstickend legten sich die Dämpfe aus dem Innern Dorkhs auf die Männer. Aber schon wenige Schritte weiter riß der Schleier auf und trieb in die Höhe. Razamon hustete und deutete auf die Felswand links von ihnen. »Wir finden ganz bestimmt einen Weg, der aus diesem Kessel herausführt«, sagte er mit fester Stimme. Das milchigtrübe Wasser des Baches stürzte sich über eine Geröllbarriere und versickerte zusammen mit dem heißem Wasser aus der Tiefe in einem Erdspalt. Auch die Felswände waren von stufenförmigen Sinterterrassen bedeckt, von langen Stalaktiten und weichen Formen, die wie geschmolzenes und wieder erstarrtes Fett in sämtlichen Farben des Regenbogens leuchteten und schillerten. Überall tropfte, lief, rieselte und fiel Wasser, das am Ende von verschlungenen Wegen ausnahmslos im Boden verschwand. Razamon tauchte, als sie über eine rot‐gelbbraun‐weiße Treppe hinunterrutschten, den Finger ins Wasser und prüfte den Geschmack. Das Wasser war nicht nur bitter und salzig, sondern roch auch unbeschreiblich. »Ungenießbar«, stellte er fest. Er hatte nichts anderes erwartet. Wieder verschwanden sie in einer Wand aus brodelndem Nebel. Eines war sicher: Dieser Felsenkessel schien rund zu sein. Also würden sie am Ende des Weges, wenn sie sich der Wand entlang vorantasteten, wieder an den Ausgangspunkt ihres Weges gelangen.
Mit dieser halben Gewißheit drang Razamon weiter vor. Einige Schritte hinter ihm tappte wie eine Marionette Lebo Axton. Die Männer waren von Nebelschwaden und Dämpfen umgeben, und die zahllosen mineralischen Quellen erzeugten blubbernde, zischende, fauchende und merkwürdig pfeifende Laute. Noch immer hatte Razamon seinen Optimismus nicht verloren. Der Umstand, daß sie der wohlwollend‐brutalen Obhut der Tiermenschen entkommen waren, schien ihn sicher zu machen. Auch aus dieser Hölle, sagte er sich, gab es ein Entkommen. 3. Katzenohr drehte sich um ihre Achse, zielte mit beiden zusammengeballten Fäusten auf den kurzen, behaarten Hals des Mannes und schlug zu. Der letzte der Tiermenschen, der Bitterwasser getrunken hatte, fiel stocksteif um. »Bitterwasser … mir nicht gehorcht diese vier. Horde sie bestrafen.« Ihre Stimme war ächzend. Sie keuchte, und ihr Fell blutete aus zahlreichen kleinen Wunden. Die Anführerin sprang ins Wasser, tauchte tief darin unter und schüttelte sich wie ein Tier, als sie wieder im Sonnenlicht stand. »Dort. Todesrinne. Dort geholt.« Dann fiel ihr auf, daß die Mitglieder der Horde schweigend auf die Stelle starrten, an der die beiden neuen Herrscher gekauert hatten. »Weg!« schrie der Dombler wütend. »Fortgerannt.« »Götter uns verlassen«, heulte Steinschwinge wie ein Rasender. »Wir wieder allein und dumm.« »Dumm wie die da!« schrie Katzenohr und gab Fellknie einen mächtigen Tritt. »Jagen!« Sie zeigte auf die vier Männer, die von ihr und den anderen
niedergeschlagen worden waren. Die Tiermenschen lagen halb im Wasser und zuckten mit den Beinen und Armen. Die Anführerin schrie ihre Männer an: »Unsere Götter … sind sie zur Stadt?« Sie deutete auf das westliche Ende der Schlucht. »Nein. Nicht gegangen dorthin«, lautete die Antwort. »Dann andere Richtung. Jagen! Holt sie zurück! Alle mit mir«, rief Katzenohr, hob eine Waffe auf und schlug nach Fellknie. »In die Stadt. Alle sollen kommen!« Sie schüttelte sich. Der rauschhafte Zustand, der auch sie während des Kampfes überkommen hatte, war wieder vorbei. Der sinnlose Angriff der Männer, die durch das bittere Wasser halb wahnsinnig geworden waren, hatte die Wut und die Freude am Kampf ausgelöst. Die Anführerin empfand jetzt so etwas wie Scham und Verantwortungsgefühl für die Horde. Sie wußte mit untrüglicher Sicherheit, daß die fremden Götter der Horde helfen konnten – schon jetzt besaßen sie mehr Kenntnisse als je zuvor. Keiner dieser Gedanken und Überlegungen war klar und präzise in ihrem Kopf, aber die Summe aller Empfindungen drückte genau das aus, was sie fühlte. Fellknie rannte davon. »In Todesrinne sie gehen tot«, brüllte Katzenohr aufgeregt. »Wir sie holen und retten. Kommt!« Die Mitglieder schrien begeistert auf. Jagd in jeder Form spornte sie augenblicklich an. Ein Teil der Schlucht war ihnen bekannt, aber sie hatten sich niemals in den Bereich der Dämpfe und der farbigen Wälle und Stufen hineingewagt. Mit Katzenohr an der Spitze setzte sich der Trupp in Bewegung und pirschte hinter den beiden Männern her, die für die Tiermenschen mehr als ein Geschenk waren. Die Anführerin hoffte, daß sie die Fremden retten und fest an sich binden konnte. Nur vor dem Tal der Nebel und Dämpfe hatte sie eine so starke Angst, daß sie dieses Gefühl nicht einmal in Gedanken fassen konnte.
* Razamon lehnte sich gegen eine mehrfarbig verkrustete Felswand, wischte den Schweiß aus seinem Gesicht und sagte, nachdem er mehrmals würgend gehustet hatte: »Dort vorn ist ein Spalt. Ich helfe dir beim Klettern.« »Dort hinaufzukommen ist völlig unmöglich. Ich schaffe es nicht«, erwiderte Axton. »Wir stürzen uns zu Tode.« Sie hatten den Kessel fast zu zwei Dritteln umrundet. Zwischen fauchenden Dampfsäulen, durch stinkendes Wasser fast jeder Temperatur, durch treibende Nebelschleier hindurch und über die bizarren Strukturen der ausgeschiedenen Mineralien hinweg hatten die Flüchtenden einen Ausweg, eine Höhle oder eine Felstreppe gesucht. Jetzt sah Razamon in wenigen Schritt Entfernung eine Möglichkeit, das Tal zu verlassen. »Ich werde dir helfen, Axton. Keine Sorge«, versicherte er und stapfte weiter durch heißes Wasser und über glitschiges Gestein. Der Spalt verlief im Zickzack fast senkrecht nach oben und war rund zehn, fünfzehn Meter tief. Der Kamin hörte nach etwa zwei Dritteln der Felswand auf, endete in einer Art Höhlung, die weiter in den Berg hineinführte. Razamon versuchte sich hochzuziehen, aber er fand keine genügend großen Griffe oder Risse im Fels. Er rutschte wieder zu Boden, streckte Beine und Arme seitlich gerade aus und stemmte den Rücken gegen die gegenüberliegende Wand. Wie ein Insekt, nur um neunzig Grad verkantet, bewegte er seinen Körper und glitt erstaunlich schnell aufwärts. Nach etwa zehn Metern blickte er nach unten und sah, daß Axton versuchte, es genauso zu machen wie er. »Du mußt die Knie durchdrücken!« rief er. »Und niemals die Muskeln erschlaffen lassen.«
»Das sagst du so leicht«, ächzte Axton. »Du mit deiner Kraft.« »Wenn ich ein Seil hätte, würde ich dich ziehen«, meinte Razamon. »Weiter oben wird es leichter. Ich kann schon das Sims sehen.« Er kletterte weiter. Seine Sohlen und die Handflächen schienen am Fels zu kleben. Die Rückenmuskeln stemmten die Schultern höher und höher. Hier im Kamin war der Fels trocken, sicherer war er nicht, denn immer wieder lösten sich Steinsplitter und einzelne Brocken aus der Wand und prasselten nach unten. Aber beide Männer arbeiteten sich langsam höher. »Denke an die Tiermenschen«, rief Razamon und streckte eine Hand nach der Kante aus. »Katzenohr will dich bei ihr behalten, in ihrer Höhle, auf den stinkenden Fellen.« »Das würde«, keuchte Axton, der bereits mehr als zwei Drittel des Kamins überwunden hatte, »meinem Körper weniger schaden als ein Absturz.« »In der Not verträgt man überraschend viel«, tröstete ihn Razamon, krallte die Finger der anderen Hand um die Kante und schwang sich hinüber. Mit einem einzigen Klimmzug erreichte er die Oberfläche des waagrechten Simses. Er schob sich hinauf, rollte sich zur Seite und blieb liegen. Langsam holte er Atem und sah sich um. Das Sims verbreiterte sich binnen weniger Meter. Daraus wurde ein waagrechter Spalt, dessen Wände immer mehr auseinanderstrebten, eine kleine Schlucht hoch über dem Grund des Felsenkessels. Eine Felskanzel, eine überhängende Kante und mehrere herabgestürzte Blöcke verhinderten die Sicht, aber jenseits des Spaltes schien Sonnenlicht zu herrschen. Razamon grinste kurz und sagte sich, daß sein Optimismus wohl zutreffend gewesen war. Dann rollte er sich zur Kante zurück, schob sich nach vorn und erkannte acht Meter unter sich Axton. »Noch ein paar Anstrengungen«, rief er, »dann kann ich dich heraufziehen, Partner!«
»Schon gut.« Vorübergehend schien Lebo Axton ausreichende Kräfte und genügend Geschicklichkeit entwickelt zu haben. Er benutzte dieselben Spalten und Vorsprünge wie Razamon und stemmte sich höher. Endlich konnte der Berserker den anderen Körper packen. Er zerrte ihn mit einem kräftigen Ruck auf die Felsplatte. Axton rollte auf den Rücken und blieb keuchend und schweißüberströmt liegen. »Geschafft!« sagte Razamon. »Die Tiermenschen werden ihre Schwierigkeiten haben, uns hierher zu folgen.« Axton stöhnte und erwiderte mutlos: »Mit ein paar Schluck Bitterwasser fliegen sie hier herauf!« »Damit könntest du recht haben«, mußte Razamon zugeben. »Ein guter Grund für uns, weiter zu flüchten.« Irgendwie hatte ihn Axton beeindruckt; in diesem Augenblick höchster Anforderungen hatte er sich zusammengenommen und eine hervorragende Leistung erbracht. Er überwand seine Erschöpfung ziemlich schnell und stand auf. »Hast du schon gesehen, was dahinter ist?« »Noch nicht«, sagte Razamon und fuhr mit gutmütigem Spott fort: »Ich wollte die Schönheit des Ausblicks nur mit dir zusammen genießen.« Sie folgten dem waagrechten Spalt. Der Boden war eben, wenn auch mit Geröll übersät. Als sie zwischen zwei kantigen Blöcken einen dritten hinaufgeklettert und auf der anderen Seite hinuntergesprungen waren, befanden sie sich einer riesigen, höhlenartigen Vertiefung im Felsen gegenüber. Heller Sonnenschein fiel durch ein Loch, das irgendwo oben in der Steppe enden mußte. In der Höhle befand sich tatsächlich und ohne jeden Zweifel eine Stadt. Schweigend und staunend gingen die Männer näher und traten in den warmen Lichtschein. Eine amphitheatralische Anordnung von spitzkegeligen Bauwerken öffnete sich zu den Männern hin. »Alles habe ich erwartet – aber das hier nicht«, sagte Razamon
fassungslos. »Eine Stadt, die wie Cibola aussieht.« »Was ist Cibola?« »Es ist der Name für eine der Sieben Goldenen Städte der Konquistadoren. Sie erinnert auch an die Pueblobauweise in einer Welt, die einmal meine Heimat war.« Die steinernen Wände der Spitzkegel, die bis zu zehn Meter hoch waren und, erkenntlich an Fenster‐ und Türöffnungen mehrere Stockwerke umfaßten, schienen aus dieser Entfernung ohne jede Fuge zu sein. »Das müßte bedeuten, daß sie aus dem gewachsenen Fels herausgemeißelt worden sind«, sagte Razamon zu sich selbst. »Welch eine Menge Arbeit.« Zwischen den einzelnen Spitzkegeln, die sich in der Art einer Orgel mit ihren säulenartigen Pfeifen entlang der gerundeten Höhlenwände und in verschiedenen Höhen gruppierten, lagen behauene Steine in allen Größen. »Diese Steine … vielleicht gab es Mauern oder Treppen«, brummte Axton und wies auf die Reste hin. »Oder andere Häuser, die inzwischen längst zerfallen sind. Die Stadt scheint unbelebt zu sein.« Grizzard fuhr unschlüssig durch sein Haar. »Und sogar Pflanzen gibt es hier.« Direkt vor ihnen lag das Zentrum der Anlage. Die unterste Ebene war gekennzeichnet durch ein zylinderförmiges Gebäude mit vier Türöffnungen. Auch dieses Bauwerk war nahtlos aus dem Fels geschlagen. Die Höhe betrug rund drei Meter, und als Razamon vorsichtig durch eine Türspalte hineinging, sah er sich dem Anfang einer Wendeltreppe gegenüber. Sie führte, innen an der Wandung gelegen, in unergründliche Tiefen. Razamon schnupperte, hob einen Stein auf und warf ihn vor sich in die runde, dunkel gähnende Höhlung eines scheinbar unendlich tiefen Schachtes. Nach mehreren Sekunden fiel der Stein
deutlich hörbar in Wasser. »Es ist ein Brunnen«, rief Razamon. Das Echo seiner Worte hallte schaurig hohl aus dem Brunnenschacht zurück. »Und ich wette, daß es sich nicht um bitteres Wasser handelt!« »Erstaunlich. Bist du durstig?« »Nicht sonderlich«, gab Razamon zurück. »Aber ich bin sehr interessiert, diese Stadt kennenzulernen. Vielleicht finden wir ein paar gute Waffen.« »Wahrscheinlich finden uns ein paar Ungeheuer, die sich hier versteckt halten«, sagte Axton. »Also gut. Dann klettern wir weiter. Allerdings müssen wir noch einen Ausgang finden«, stimmte Razamon zu. »Ich klettere nicht mehr. Ich habe genug. Ich bin restlos erschöpft«, weigerte sich Lebo Axton. Razamon ließ seinen Blick um die vielen Spitzen der Kegel gleiten, die in der Höhle, in mehreren Kreisen, aber unregelmäßig hoch, fast wie ein Zaun das Zentrum umgaben. Ihn faszinierte die Stadt, und er sah in der gegenüberliegenden Wand eine Konstruktion, die eine Treppe sein konnte. Er zuckte mit den Schultern und sagte: »Wir müssen damit rechnen, daß Katzenohr uns weiterhin folgt. Auch wenn wir wenige Spuren hinterlassen haben, so ist doch der Instinkt der Tiermenschen ebenso groß wie ihre Liebe zu uns. Ich sehe mich hier um, und du versteckst dich an einem sicheren Platz. Einverstanden?« Bissig entgegnete Axton: »Seit dem Feuer für den Braten deine beste Idee der letzten Tage.« Razamon lachte und antwortete sarkastisch: »Deine aufbauende Kritik macht Dorkh wirklich lebenswert. Danke, Partner.« Lebo Axton zog sich schweigend in eines der Spitzkegel‐Häuser zurück, die im vollen Sonnenlicht standen. Razamon wandte sich in die entgegengesetzte Richtung und hoffte, wenigstens einige interessante Stellen zu finden und vielleicht das Geheimnis dieser
uralten, leeren Steinstadt Cibola zu klären. Oder einen kleinen Teil davon. Er sprang über einen Wall aus Quadern, eine ehemals mittelhohe Mauer oder Rampe. Er drang ungehindert in das nächste Haus ein, ein Gebäude von mindestens drei Stockwerken. Der Eingang mündete in eine Wendeltreppe, die diesmal im Zentrum des Gebäudes lag. Alle zehn Stufen etwa gab es zur linken Hand eine weitere Tür, die in einen segment‐förmigen Raum führte – das Haus glich entfernt dem Innern eines symmetrischen Schneckenhauses. Gähnende Leere herrschte überall. Nur eine dicke, festgebackene Schicht befand sich auf jeder waagrechten Fläche. Unter Razamons Schritten zerbröckelte der Belag zu feinem Staub. »Eine rechts gewendelte Treppe … Räume, die für humanoide Wesen gemacht zu sein scheinen … eine verblüffend menschlich aussehende Stadt«, murmelte Razamon. Aber nichts war beweisbar, nichts war zu fassen. Es gab keine eindeutigen Informationen. Alles konnte so oder so sein – oder ganz anders. Dasselbe galt für Grizzard‐Axton. Ab und zu dachte Razamon, sein Freund hasse ihn. Und auch die Tiermenschen mußten gemerkt haben, daß zwischen ihren beiden »Göttern« eine nur mühsam unterdrückte Spannung herrschte. Razamon sagte sich, daß er früher oder später gezwungen sein würde, sich dieses Problems anzunehmen. Er verließ das Haus und suchte nacheinander acht kleinere und größere Bauwerke auf. Sie glichen sich, abgesehen von der Größe, wie ein Ei dem anderen. Nicht der winzigste Hinweis auf die Natur und Eigenarten derjenigen Wesen, die diese Stadt aus dem Gestein geschlagen und bewohnt hatten, war vorhanden. Nur die Größenverhältnisse, die einen Mann wie Razamon entsprachen. Ohne sonderlich große Eile streifte Razamon weiter durch die seltsame Stadt; der Name Cibola war ihm beim ersten Anblick eingefallen, und er wußte nicht, warum.
Eine halbe Stunde später entdeckte er die Treppe aus der Nähe, die er vom Zentrum aus undeutlich gesehen hatte. Sie führte in eckigen Steigungen und Absätzen etwa von der mittleren Ebene aus aufwärts. Auch sie war mit dickem Staub bedeckt und mit den Trümmern eingestürzter Mauern oder Häuser, und auch sie war aus dem Felsen herausgeschlagen worden. Sie schmiegte sich genau in die freigelassenen Stellen und ließ erkennen, daß hier mit großer architektonischer Meisterschaft gearbeitet worden war. Auf dem hartgewordenen Staub waren keine Fußspuren, weder von »Menschen« noch von Tieren. Es war völlig ruhig, als Razamon mit langen Sätzen die ersten Absätze der Treppe aufwärts sprang. Die Treppe gabelte sich, nachdem sie unter einem Torbogen hindurchgeführt worden war, dreimal. Razamon nahm die rechte, schmalere Abzweigung und kam über Schlangenlinien und kanzelförmige Haltepunkte in eine höhlenähnliche Nische. Auch die Nische lag jetzt voll im Sonnenlicht. Aus Spalten in den Wänden lief Wasser hervor. Kleine Rinnen und nasenförmige Steinfinger verteilten das Wasser an viele unterschiedliche Stellen des Erdreichs, das sich auf dem Boden der Nische befand, festgehalten durch Mauern und Felsbarrieren. Bäume, nicht selten zehn Meter hoch, wuchsen hier, ebenso wie lange Schlinggewächse, die zur Stadt hinunterhingen. In den Zweigen einiger Bäume – sie waren Razamon schon beim ersten Blick bekannt vorgekommen – entdeckte er große Früchte. Diese Früchte kannte er allerdings genau: Sie waren saftig, schmeckten gut und enthielten keinerlei Gifte. Er, Atlan und Axton hatten oft diese Früchte gegessen und mitgeschleppt, wenn es keine anderen Nahrungsmittel gab. »Ein Problem weniger«, sagte er, kletterte am nächsten Baum hoch und pflückte etwa zwei Dutzend der gelben Kugeln ab. »Vielleicht hört Axton zu jammern auf.« Er legte die Früchte vorsichtig neben der Treppe auf einen Haufen,
suchte sich die schönste heraus und biß herzhaft hinein. Er eilte die Treppe hinunter, kam zur Abzweigung und kletterte auf der anderen Seite wieder aufwärts. Diese Rampe führte in eine ebenso große Nische, auch voller Erde und pflanzlichen Abfällen, die sich im Lauf der vielen Jahre wieder in Humus verwandelt hatten. Auch hier speisten winzige Quellen die Gewächse. Andere, fremdartige Früchte wuchsen hier. Auch von ihnen sammelte Razamon einige ein; er riß eine Ranke ab und versuchte, die Früchte mit den Stengeln daran aufzufädeln. Sie hatten grüne Schalen und rochen wie Beeren. Im Lauf seiner Suche entdeckte Razamon insgesamt fünfzehn kleinere und größere Nischen, in denen vor undenkbar weit zurückliegender Zeit die Bewohner von Cibola ihre künstlichen Gärten angelegt gehabt hatten. Jetzt war alles bis zur Unkenntlichkeit verwildert, aber die stärksten Spezimen hatten sich durchgesetzt und überlebt. Das Unkraut roch betäubend, und aus dem Dunkel der Höhlen, die jetzt im Schatten lagen, leuchteten seltsame, exotische Blüten. Gerade, als Razamon versucht war, nach Axton zu rufen, sah er am Fuß der Treppe einen weiteren Torbogen. Vorsichtig legte er die Früchte wieder ab. Eine Frucht, die wie eine große Orange aussah, rutschte ihm aus der Armbeuge und verschwand rollend und springend treppab und in Richtung auf das zylindrische Brunnenhaus. Der Bogen befand sich vor oder besser in der Felswand der großen Höhle, sozusagen auf der Rückseite des am weitesten vom Mittelpunkt entfernten Kegelhauses. Hier war der Fels rund um einen Eingang künstlerisch und mit geschwungenen Elementen verziert worden. Ein paar Moose oder Flechten wuchsen an jenen Stellen, an die irgendwann einmal die Hände derjenigen gefaßt hatten, die die Kaverne aufgesucht hatten. Razamon schob sich vorsichtig durch den schmalen Spalt und konnte nur registrieren, daß er eine ausgedehnte Höhle gefunden
hatte. Es war darin stockfinster, und schon nach drei Schritten hörte der winzige Lichtstreifen auf, der durch den Eingang hineinfiel. Razamon brauchte nicht lange zu überlegen, was er zu tun hatte – er lauschte lediglich, als er die erste Pflanzennische wieder erreicht hatte, in die Stadt hinein. Aber weder die Verfolger noch Axton waren zu hören. »Ich denke, sie habenʹs aufgegeben«, murmelte Razamon, suchte trockene Pflanzenteile zusammen und stellte einige große Fackeln her. Dann schlug er Feuer und setzte die erste Fackel in Brand, rannte damit die Treppe wieder abwärts und drang in die Höhle ein. Nach wenigen Sekunden hatten sich seine Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt. Zuerst fielen ihm entlang der Wand einige Skelette auf. Sie lagen und saßen auf dem Boden und teilweise an einem Band aus Stein, auf dessen Vorderseite Zeichen und Bilder eingraviert waren. Schweigend und voller Spannung ging er näher heran. Knisternd brannte die Fackel. Rauch wölkte auf und zog durch Öffnungen in der unsichtbaren Decke ab. Razamon konnte nicht glauben, was er sah. Es waren menschliche Skelette. Menschen, dachte er schweigend und in steigendem Entsetzen, damit meine ich Menschen von Terra, von der Erde. Von dem Planeten, auf dem man mich für Jahrtausende ausgesetzt hat. Sechs, nein sieben … acht Skelette von Männern und Frauen. Als er sich vorsichtig niederkauerte und einen Schmuckring berührte, der an den Handknochen des sitzenden Frauenskeletts auf dem Felsboden lag, zitterten die uralten Knochen, lösten sich auf und wurden zu feinem Staub, der sich verteilte wie Flugasche eines erloschenen Feuers. Völlig lautlos war das erste Skelett zerfallen. Razamon richtete sich wieder auf und hob die Fackel höher. Dann erst erkannte er an den Wänden die eingravierten, farbigen
Zeichnungen und die Reliefs. Er schien an der richtigen Stelle angefangen zu haben, denn sofort erzählten ihm die einfachen Bilder eine leicht verständliche Geschichte. Daß außen neben dem Eingang eine Treppe in die zerklüfteten Deckenfelsen hinaufführte, hatte Razamon nicht gesehen. Er war von den Informationen und der Art der Darstellung gebannt und ging mit winzigen Schritten weiter, von Bild zu Bild … 4. Die Bilder schienen eine Tragödie zu schildern. Sie zeigten große Städte, in denen Menschen lebten. Sowohl die Häuser als auch die Menschen waren in den richtigen Größenverhältnissen wiedergegeben, und zahllose kleine Merkmale unterstützten diese Gewißheit. Auf Dorkh hatte es Städte gegeben, bevölkert von Terranern. An diesem Punkt seiner Überlegungen mußte sich Razamon korrigieren – sowohl die Skelette als auch Häuser, Gesichtsformen und Kleidung sahen aus, als würden sie von Terra stammen. Aber mit geringerer Wahrscheinlichkeit konnte der Dimensionsfahrstuhl diese Menschen auch von einer anderen Welt geholt haben. Einige Bilder weiter … Unglück kam über die Städte. Aus Gewitterwolken schwebten vierarmige Gestalten. Sie waren in Gelb dargestellt und schwebten in zwei schwarzen Ringen. Razamon blinzelte; es war eine unrealistische Bildfolge. Aber offensichtlich hatte derjenige, der hier die Botschaft oder die Geschichte in den Stein gehämmert, geritzt und mit Farbe ausgefüllt hatte, die Gefährdung so und nicht anders gesehen. Fremde Aggressoren also schleuderten rote Strahlen nach den menschlichen Bewohnern von Dorkh. Daraufhin verwandelten sich die Menschen. Eine längere Bildfolge schilderte einzelne Phasen und Ergebnisse
der Verwandlung. Aus Menschen wurden ungefüge und bizarre Ungeheuer. Eine Idee kam dem Berserker, und er stieß flüsternd hervor: »Vielleicht sind nukleare Waffen gemeint?« Die Verwandlung der Menschen erfolgte über einen längeren Zeitraum hinweg. Wachsende Bäume, die immer größer wurden, und einstmals stolze Bauwerke, im Gegensatz dazu immer mehr verfallend, schilderten deutlich einen längeren zeitlichen Ablauf. Die Ringe um die Fremden konnten vielleicht Atommodelle symbolisieren? Dann würde die Veränderung und Verwandlung der Menschen ihre Erklärung darin finden, daß nach einem Bombardement mit Strahlen negative Mutationen stattgefunden hatten? Die Menschen sanken auf die Stufe der Tiere herab. Man vertrieb sie aus den Städten Dorkhs. Ihr Ende schien vorprogrammiert zu sein und wurde nicht mehr in den Bildern gezeigt. Razamon ging weiter. »Das ist Cibola!« sagte er entgeistert und fühlte nicht, daß die Glut der abgebrannten Fackel bereits seine Hand erreicht hatte. »Unverkennbar.« Die nächste Folge des farbigen Reliefs zeigte tatsächlich diese Stadt in der Höhle. Sie sah ein wenig anders aus, denn auf dem Bild waren noch alle Mauern, Treppen und Häuser zu sehen, die jetzt zusammengebrochen zwischen den Kegeln lagen. Auch fehlten heute die Gewächse innerhalb der eigentlichen Stadt. In dieser Stadt sammelten sich Menschen, die von den Mutationen oder den Veränderungen verschont geblieben waren. Er versuchte, grobschlächtig auszurechnen, wie lange sie in der Stadt lebten, und kam auf mehrere Jahrhunderte, denn es waren verschiedene Generationen fortlaufend geschildert. Aber auch dann veränderten sich die Menschen. Nicht so drastisch wie auf den Bildern nach dem Angriff der
Fremden, aber dennoch deutlich. Vielleicht, dachte Razamon bei sich, waren dies die Folgen der Inzucht, die unweigerlich in Cibola stattgefunden haben mußte. Die Glut brannte seine Haut. Er ließ die Fackel fallen und zündete die nächste Fackel an. Inzwischen hatte er einen Großteil der Höhlenwand hinter sich und näherte sich wieder den Skeletten, von denen eines zerfallen war. Nahe den Skeletten lehnte an der Felswand, zwischen den Bildern von immer weniger werdenden Einwohnern der Stadt, eine Steintafel. Ihre Front war glatt, aber die Ränder waren nicht bearbeitet. Schriftzeichen waren darauf zu erkennen, in großer Eile eingemeißelt. Sie glichen in gewisser Weise dem Pthora, wie es sich auf den Bruchstücken des Parraxynts abzeichnete. Verblüfft las Razamon; MEIN HEER KAM IN DIESE HÖHLENSTADT. ABER SIE WAR LEER UND TOT. WÄHREND WIR DIE STADT VERLIESSEN, WURDEN EINIGE VON UNS ANGEGRIFFEN UND VERSCHLEPPT. ABER MEIN ZIEL BLEIBT TURGAN. DORT WERDE ICH … TREFFEN, ICH, LAUDER VIERKÄMPFER, DER EISEN … Die Schrift war flüchtig, einige Stellen fehlten, und der Schreibende war vertrieben worden. Lauder Vierkämpfer, dachte Razamon, also doch keine legendenhafte Gestalt aus der Vorzeit von Dorkh? Die letzten Bilder schilderten, wie die acht letzten Überlebenden von Cibola die Bilder und Gravuren fertigten. Dann legten sie Hand an sich und brachten sich um. »Acht Menschen, acht Skelette«, murmelte Razamon niedergedrückt. »Die Menge der Rätsel nimmt nicht ab.« Er stand vor dem unwiderruflich letzten Vermächtnis der Menschen von Dorkh. Schweigend betrachtete er die sieben Skelette, die bei der geringsten Berührung ebenso zerfallen würden wie das achte. Dann fiel aus großer Höhe ein einzelner Stein herunter und
zersprang auf dem glatten Felsboden. Ein Rumpeln, Knistern und Krachen ertönte hoch über Razamon. Eine lange Staubfahne fiel zwischen den spaltartigen Eingang und den Berserker. Dann, als er sich mit drei riesigen Sprüngen ins Innere der Höhle in Sicherheit brachte, polterten Felsbrocken, Geröll, Gestein und nochmals Staub herunter. Beim zweiten Aufprall von Steinen fielen die Skelette in sich zusammen. Razamon stand an die hinterste Wand der Höhle gelehnt, hielt die brennende Fackel hoch und wußte, daß er noch eine Reservefackel hatte. Er war eingeschlossen. * Grizzard saß auf der Wendeltreppe in einem der Häuser. Er lehnte sich gegen die kühle Steinwand und blickte auf seine zitternden Finger. Seine Probleme waren übermächtig geworden. »Ich hasse ihn!« flüsterte Grizzard‐Upanak. »Ich bringe ihn um!« Dabei wußte er, daß Razamon an seiner Lage so gut wie unschuldig war. Aber er war verwirrt und suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Schon jetzt konnte er sicher sein, daß der Berserker in kurzer Zeit den wahren Tatbestand herausfinden würde: In Grizzards Körper befand sich nicht mehr länger das Bewußtsein von Lebo Axton, sondern wieder das von Grizzard, dem Mann, der »für alle schläft«. In dem Moment, da Razamon die Wahrheit erkannte, würde er auch herausfinden können, daß Grizzards Auftrag lautete, Atlan umzubringen. Diesen Auftrag hatte vor dem Tausch der Körper der Magier Copasallior erteilt. Und nun fürchtete Grizzard – und diese Furcht beherrschte ihn ausschließlich –, daß ihn die Magier wieder in den
Axton‐Körper zurückschleudern würden. Er stand auf, und als er zwischen den Häusern in die Richtung ging, in der Razamon verschwunden war, spürte er die Schwäche der Furcht in seinen Knien. Konnte er die Maskerade noch länger durchführen? »Nein!« stöhnte er. Natürlich kannte er Axton einigermaßen gut. Aber er kannte nur in sehr eingeschränktem Maß dessen Gedanken und vor allem seine Erinnerungen. Zahllose Informationen fehlten ihm einfach. Es gab keine Möglichkeit, sie zu finden. Schon seit einem Tag plagte ihn eine neue, noch größere Furcht. Er glaubte zu wissen, daß die Magier noch einmal zuschlagen würden. Diesmal aber würden sie Lebo Axton als Werkzeug benutzen. Er gierte danach, wieder den Grizzard‐Körper in Besitz nehmen zu können. Um in diesen Körper zu kommen, würde er selbst vor einem Mord nicht zurückschrecken. Grizzard blieb stehen und entdeckte schließlich die Spuren, die Razamon in dem harten Staubbelag zurückgelassen hatte. Sie waren im grellen Licht unübersehbar. »Was kann ich tun?« fragte er sich. Die Stille in der verlassenen Stadt, die Razamon aus unbegreiflichen Gründen Cibola nannte, verschluckte seine Worte. Solange Razamon in der Nähe war, gab es für ihn, Grizzard, nicht die geringste Chance, seinen Auftrag zu erledigen und Atlan zu töten. Außerdem mußten sie Atlan erst einmal finden. Wo war Atlan eigentlich? Razamon – wenn er ihn richtig verstanden hatte – war der Meinung, Atlan müsse sich in Turgan befinden; daher auch ihr erschöpfender Versuch, diese verdammte Stadt zu erreichen. Razamon mußte beseitigt werden. Seine eigenen Gedanken und Ängste trieben ihn in die Enge. Aber die Furcht saß so tief und übermächtig in Grizzard, daß er nicht
erkannte, wie sehr er sich selbst schadete, wenn er diesen Plan weiter verfolgte. Razamon war auf Dorkh die einzige Garantie für sein Überleben. Einerseits empfand Grizzard noch immer tiefe Bewunderung, fast Scheu vor Razamon, dem Berserker. Damals, vor Äonen, als er noch der Jäger Upanak gewesen war. Und auch jetzt, als er zu jeder Stunde des Tages miterleben mußte, wie schnell, zuverlässig und sicher sich Razamon durch eine fremde Welt voller Gefahren bewegte – und dabei ihn noch vor diesen Gefahren schützte. Andererseits hatte er begriffen, daß Razamon an seinem Schicksal auf schwer erklärbare Weise schuld war. Ohne die Einmischung des Berserkers, damals, wäre aus ihm niemals Grizzard geworden, derjenige, der für alle schlief. Allerdings wäre Upanak inzwischen auch zu Asche zerfallen, denn diese Ereignisse hatten sich vor undenkbar weit zurückliegender Zeit abgespielt. Ratlosigkeit und Furcht bestimmten sein Handeln, und er kam zu dem Schluß, daß Razamon für alles verantwortlich war. Er haßte ihn. Aus dem Haß erwuchs die Überzeugung, daß Razamon getötet werden mußte. Er stand zwischen Grizzard und jeder weiteren Chance, die Grizzard in seinem Leben noch jemals haben würde. Grizzard war und blieb unsicher; er war kein Mörder, und er haßte nicht nur Razamon, sondern auch sich selbst und seine Schwäche. Aus dem chaotischen Wirrwarr seiner Gedanken, aus der Vielfalt undeutlicher Gefühle, aus seiner Not erwuchs die Überzeugung, daß nur er sich helfen konnte. Er mußte den verhaßten Razamon töten. Schwer atmend lehnte er an einem der Kegelhäuser. Seine Gedanken wurden abgelenkt, als er schräg über sich undeutlich eine Bewegung wahrnahm. Razamon lief mit einer brennenden und qualmenden Fackel, einem Busch zusammengedrehter dürrer Pflanzenteile, auf einen schwarzen Spalt in der Felswand zu.
Grizzard schrak zusammen. Ein Spalt? Was dahinter lag, mußte in dieser langweiligen Stadt interessant sein. Lautlos stieg Grizzard die Treppe hinauf, wand sich zwischen den Trümmern hindurch, kletterte über Geröll und stand vor dem Eingang. Die Verzierungen um die Kanten des Felsausschnitts sagten ihm nichts, obwohl sie sorgfältig herausgearbeitet waren. Unweit des Spaltes führte eine simsartige Treppe, nur zwei Fuß breit, im Zickzack in die Höhe. Das Knistern der Fackel kam zusammen mit dem flackernden Licht zwischen den glatt gemeißelten Kanten des Durchlasses hervor. Grizzard zögerte. Trat er in die finstere Höhle ein, entdeckte ihn Razamon sofort. Unsicher blickte er an der Höhlenwand hinauf. Diese Treppe … sie konnte etwas bedeuten. Wenn er keinen Erfolg hatte, konnte er sich noch immer mit seinem eigenen Interesse herausreden. Er hob die Schultern und kletterte schnell die ersten beiden Teile des Simses hinauf. Er stützte sich vorsichtig gegen den Fels und bewegte sich seitwärts über die ungleichen, schmalen Stufen der Treppe aufwärts. Zwischen den Knien sah er die senkrecht abstürzende Felswand, aber er versuchte, seine Angst zu unterdrücken und tastete sich weiter. Er wußte selbst nicht, warum er ausgerechnet hier war, aber aus dem Chaos seiner Gefühle und Gedanken löste sich eben nur dieser Impuls. Er holte tief Luft und kletterte weiter. Die Treppe wurde nicht breiter, aber sie folgte, steiler werdend, den leichten Wölbungen des Felsens. Schwitzend arbeitete sich Grizzard über die Stufen. Grizzard merkte, als er sich etwa dreißig Meter über dem Boden der Höhle befand, voll im Sonnenlicht stehend, daß der Sims breiter wurde und waagrecht verlief. Er drehte sich herum und warf einen vorsichtigen Blick auf die Stadt. Von hier aus sah er die Spitzen der vielen Kegel. Vier Schritte weiter entdeckte er in der Felswand eine
große Aussparung, die mit behauenen Steinen verschlossen war. Zwischen den Blöcken, die ebenso im labilen Gleichgewicht übereinander lagen wie die Reste der Mauern in der Stadt, klafften breite waagrechte und senkrechte Spalten. Auf dem breiten Sims lagen Geröll und einige herausgefallene Steine. Grizzard steckte seinen Kopf durch ein Loch und sah schwachen Lichtschein tief unter sich. Also lag hinter dieser schlecht ausgebesserten Wand die Höhle, in der sich Razamon befand. Er zog den Kopf zurück, und eine aberwitzige Überlegung schoß durch seinen Kopf. Er rüttelte an einem der kleineren Steine. Augenblicklich rieselten breite Bäche aus Staub und zermahlenem Gestein aus den Spalten, und aus der Mauer kam ein knarrendes Ächzen. Grizzard sagte sich, daß die Mauer sowohl nach außen wie nach innen einstürzen konnte – und, wenn sie nach innen fiel, erschlugen die Quadern den Berserker. Und der Staub erstickte ihn. Grizzard streckte beide Arme aus, aber dann erstarrte er. Wenn er jetzt gegen die Steine der Mauer stieß, würde er Razamon mit den fallenden Trümmern erschlagen. Aber er war wirklich kein Mörder! Er zögerte noch immer, als er vom Eingang zur Stadt her wilde, keuchende Schreie hörte. Sofort dachte er an Katzenohr und ihre Tiermenschen. Sie hatten den Kamin überwunden, die wenigen Spuren gefunden und holten jetzt Razamon und ihn ein. Er geriet in Panik. Sein Körper schwankte hin und her. Der Drang, die Mauer zum Einsturz zu bringen und das Zurückschrecken vor dem feigen Mord kollidierten mit der Angst vor den tierhaften Wesen des Tales. Dann ließ er sich nach vorn fallen. Gleichzeitig rutschte er im angehäuften Geröll aus und verstärkte durch den Versuch, sein Gleichgewicht zu finden, seinen Sturz. Ein kleiner Stein, von seinen Händen getroffen, rutschte nach
innen. Der darauf liegende und die zwei seitlichen kippten und fielen ebenfalls. Dann schwankte die Mauer und fiel stückweise nach innen. Als er zurücksprang, neigte sich die Mauer nach der anderen Seite, und einzelne Riesensteine lösten sich. Mit polterndem Krachen brachen zwei Drittel der Mauer auf der Seite der Höhlenstadt fast senkrecht herunter. Ein Drittel verschwand in einer gewaltigen Staubwolke im Innern der Höhle. In das Geräusch mischten sich die Schreie der Verfolger, die sich gegenseitig anfeuerten. Grizzard war mehr erschrocken, als er zugeben wollte. Am meisten erschreckte ihn der Umstand, daß er Razamon umgebracht hatte. Gleichzeitig war er befriedigt darüber, daß er sein Problem gelöst hatte. In äußerster Verwirrung kletterte und rutschte er die Treppe hinunter in die Stadt. Der Spalt im Fels war von innen und außen mit großen Brocken verkeilt, und zwischen ihnen häuften sich kleinere Blöcke und die vielen zerbrochenen Steine. Auch wenn Razamon nicht von den Steinen erschlagen worden war, wußte Grizzard, würden selbst die Kräfte des Berserkers nicht ausreichen, den Eingang wieder aufzubrechen. Als Grizzard den Boden erreicht hatte, brach die Horde der Tiermenschen zwischen den Häusern hervor. An ihrer Spitze rannte Katzenohr, einen mächtigen Holzknüppel in der Hand. Es war derselbe, den Razamon vor dem Aufstieg durch den Kamin weggeworfen hatte; Grizzard erkannte ihn an den knollenförmigen Enden. Es waren mehr als zwanzig Tiermenschen, das sah Grizzard binnen weniger Augenblicke. Aber auch sie hatten ihn gesehen und stürmten auf ihn zu. »Wir jagen. Wir getroffen … gefangen Gott!« johlte Katzenohr. Sie sah unbeschreiblich aus; naß, voller Staub, mit Salzkrusten in den Fellen und mit ihrem Knüppel, den sie siegesgewiß über dem Kopf
schwenkte. »Du Axton!« schrie Fellknie. »Wo Razamon?« Grizzard wich bis an die Felswand zurück und breitete beide Arme in einer nichtssagenden Geste aus. Er war sicher, daß nicht einmal Katzenohr ihn auf dem Sims gesehen hatte. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Wirklich. Hier … ich habe gesehen, wie die Mauer eingestürzt ist.« »Felsen … Steine prettern?« rief Katzenohr aufgeregt. »Sucht Spuren von starkem Gott!« Die Hälfte ihrer Horde schwärmte aus. Einige machten sich über die staubbedeckten Früchte her, die neben der Treppe säuberlich aufgestapelt worden waren. In heller Aufregung packte Katzenohr Grizzard an den Schultern und schüttelte ihn. »Wir gesehen Spuren. Beide Götter«, kreischte die Anführerin. »Wir gesucht in Stadt. Dann gesehen Staub und Steine hier. Wo Razamon?« Schwach erwiderte Grizzard: »Ich habe auch gehört, daß die Steine heruntergefallen sind.« Er blickte auf den gewaltigen Berg der Trümmer. Noch immer stieg Staub davon auf. Der Schutt und das Geröll bildeten einen dreieckigen Hügel, der den Spalt in der Felswand völlig verdeckte. Einige Tiermenschen schrien sich irgendwelche Bemerkungen zu. Sie streiften entlang der Spuren Razamons über die Treppen und durch die Stadt. Natürlich war es für sie leicht, mit einem Blick festzustellen, in welche Richtung Razamon gelaufen oder aus welcher Richtung er gekommen war. »Du haben Razamon gesehen … er nicht in Todesrinne. Er hier. Ich spüren. Wo Razamon?« Katzenohr schüttelte ihn wieder. Zwei andere Tiermenschen sprangen auf ihn zu und hoben drohend die Waffen. »Weg!« fuhr Katzenohr sie an. »Axton nicht mächtig wie anderer. Trotzdem er Gott. Nicht schlagen.« Einige Tiermenschen kamen zurück. Sie trugen Früchte und
verteilten sie, ehe sie ihnen aus den Händen gerissen wurden. Die Zottigen zeigten auf den Boden, auf die deutlich erkennbaren Spuren Razamons. Entlang der letzten Fußabdrücke lagen einzelne Teile der primitiven Fackeln, dieser Abfall fehlte an allen anderen Stellen. Grizzard wußte, daß er die Wahrheit nicht mehr lange verheimlichen konnte. »Wo anderer Gott?« kreischte Katzenohr spuckend und fauchend in sein Gesicht. Ihre Finger bohrten sich in seine Schultern. »Vielleicht unter Geröll«, sagte er. »Ich meine, vielleicht stand er hier, und das Mauerwerk hat ihn erschlagen und verschüttet.« Wenigstens bestand diese Möglichkeit. Der Dombler trug in seiner Schleuder zwei Früchte und sprang vor Katzenohr. »Er gegangen. Mit trocken Gras und so. Ich riechen Rauch. Er liegen hier«, sagte er überzeugt. »Dann suchen. Schnell. Weg mit Stein.« Achtlos stieß Katzenohr Grizzard zur Seite, warf sich förmlich über die Steine und packte den größten, den sie erreichen konnte. Sie schien bitteres Wasser literweise getrunken zu haben, dachte Grizzard verwirrt, denn mit einem einzigen wilden Schwung rollte sie den Quader mit den zerstoßenen Ecken zur Seite und den Hang zur Stadt hinunter. Er krachte gegen die Rückwand eines Steinkegels. »Helfen! Alle!« dröhnte ihre Stimme. Plötzlich war die ausgestorbene Stadt wieder von Leben erfüllt. Stimmen und Geräusche hallten zwischen den Häusern wider. Die Steine polterten nach allen Seiten, und auch Grizzard beteiligte sich an den Aufräumungsarbeiten – er durfte nicht auffallen. Aber immer wieder rammten ihn die Körper der Tiermenschen zur Seite. Für ihn gab es nur eine Gewißheit. Selbst die Tiermenschen stuften ihn geringerwertig ein. Für sie war und blieb Razamon der eigentliche »Gott«. Es dauerte Stunden, bis der letzte größere Steinbrocken vor dem schmalen, hohen Eingang weggeräumt war.
»Du nicht gesehen Eingang?« keuchte Katzenohr. Ihr und allen anderen Tiermenschen tropfte der Schweiß aus dem nassen Fell. »Nein. Ich war dort unten, als die Steine herunterfielen«, sagte Grizzard und zeigte auf eine Stelle, an der sich tatsächlich seine Fußspuren befanden. »Ich habe nichts mehr gesehen. Zuviel Staub.« Die Anführerin zwängte sich in den Spalt und stemmte ihre Schulter gegen die Trümmerstücke, von denen der Durchgang innen verkeilt war. Einige Steine begannen sich zu bewegen. Als sie zurücksprang, förmlich vor Eifer glühend, fiel selbständig ein weiterer Brocken nach innen. Über dem Geröll tauchten Staubschleier auf. Grizzard malte sich aus, wie die Tiermenschen diesen Steinhaufen wegräumten und darunter den zerschmetterten, erstickten Körper Razamons hervorzogen. Dann würde wohl er an die Stelle ihres verdammten Götzen treten. »Und auch das ist keine Lösung«, sagte er leise. Er wußte nicht mehr, was er tun sollte. In diesem Moment wünschte er sich weit weg, dorthin, wo in Pthor ehemals sein Körper und sein Verstand geschlafen hatten. »Helfen! Steinschwinge komm!« Wütend zerrten die Tiermenschen an den Steinen, stießen sie nach innen, zogen sie durch den Spalt und gaben sie an die anderen Hordenmitglieder weiter. Eine dichte Traube dampfender Leiber hatte sich um den Eingang gebildet. Schließlich war das Geröll bis etwa zur Hälfte abgetragen. Ein lauter Schrei ging durch die Tiermenschen, die vor dem Spalt standen. Razamon kletterte über die Steinbrocken, über und über von Staub bedeckt, in den sein Schweiß tiefe, schwarze Rillen gegraben hatte. Aber er grinste breit. Dann hustete er und sagte mühsam: »Du hast mich also gefunden, Katzenohr!« Die Horde brach in stürmischen Jubel aus. Sie zerrten Razamon
aus dem Loch hervor, warfen ihn in die Höhe und stellten ihn in ihrer Mitte wieder ab. Dann fingen sie auf ihre klobige Art an, um ihn herumzutanzen. Grizzard lehnte an der Felswand und versuchte zu lächeln und so zu tun, als freue er sich darüber, daß Razamon noch lebte. 5. Zuerst stärkte sich Razamon mit einigen Früchten. Dann bat er einige Tiermenschen, aus dem Abfall der »Gärten« Fackeln zu machen und hierher zu bringen. Schließlich, als er, leidlich erholt, auf den Treppenstufen unweit der obersten Rampe saß, sagte er zu Grizzard: »Du hast nicht gesehen, daß sich dort dieser Durchgang befand?« Grizzard schüttelte den Kopf und beteuerte: »Ich war gerade auf der Suche nach dir, da hörte ich den Lärm. Bis ich merkte, daß es die Wand dort war, gab es überall Staub. Ich sah nichts mehr.« »Du warst auch nicht in der Höhle?« »Nein. Was sollte ich dort?« erwiderte Grizzard mürrisch. Razamon wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah, daß die Grenzlinie zwischen Sonne und Schatten ein gutes Stück über die Pueblostadt hinweggewandert war. »Axton«, sagte er dann nachdenklich, »ich habe in dieser Höhle zwei verblüffende Wahrheiten entdeckt. Mit größter Wahrscheinlichkeit sind diese Tiermenschen die späten Nachkommen von Menschen. Und zwar von Menschen, die von demselben Planeten kommen wie deine Ahnen und du. Nicht zu beweisen, aber durchaus möglich. Und zweitens hat sich dort entweder ein Witzbold verewigt, oder es gibt – oder gab – den Vierkämpfer Lauder wirklich. Jedenfalls steht dort eine Tafel, auf der eine entsprechende Mitteilung
eingeritzt ist. Lauder befand sich ebenfalls auf dem Weg nach Turgan. Er beabsichtigte, die Stadt zu beherrschen, denke ich. Und du fragst, was in der Höhle so interessant sei?« Grizzard winkte ab und sah den Tiermenschen zu, wie sie die Fackeln zusammenbanden. »Ich sehe mir deinen Fund früher oder später an. Was hast du jetzt vor? Weitermarsch nach Turgan?« »Auf keinen Fall heute«, erklärte Razamon. »Für Katzenohr und ihr Team ist mir eine überraschende Lösung eingefallen.« »Sie eskortieren uns nach Turgan?« fragte Grizzard erschrocken. »Nein, sicher nicht.« Razamon hatte Steinschwinge, den Dombler und Fellknie die breite Treppe und die Abzweigungen zu den Garten‐Nischen gezeigt. Die Tiermenschen waren zusammen mit anderen noch immer auf Erkundung in der Stadt und in den Höhlen unterwegs. Katzenohr und ein paar andere standen und saßen auf den staubbedeckten Stufen und hörten fast andächtig zu, wenn Razamon sprach. »Sondern?« Bedächtig schlug Razamon Feuer und wartete, bis die Spitze einer Fackel brannte. Er wirbelte sie hin und her und stand auf. Dann packte er Katzenohr am Arm und zog die Anführerin mit sich. Sie verschwanden im Spalt der versteckten Höhle und kletterten über die Felstrümmer. Das Licht der Fackel verschwand hinter den Körpern, dann kam es wieder nach vorn, und Grizzard stand auf und folgte Razamon ins Innere der großen Höhle. Unwillkürlich schaute er nach oben und sah eine viel kleinere Öffnung, als er sich vorgestellt hatte. Wieder hatte er versagt. Er fühlte, daß seine Zeit ebenso schnell ablief, wie seine Möglichkeiten, Razamon oder Atlan zu töten, geringer wurden. Trotzdem schaute er die Bilder und Reliefs an, die Razamon in bewußt einfacher Sprache erläuterte.
Die Tiermenschen hörten gebannt zu. Ihre Finger tasteten ehrfürchtig die Linien und Figuren im Stein ab. Razamon gab der Anführerin den breiten Armring, den er bei dem zerfallenden Skelett gefunden hatte. Schließlich, nachdem die letzten Fackeln brannten, beleuchteten die zuckenden Flammen die Tafel von Lauder Vierkämpfer. Langsam las Razamon den Text ab. »Kann nicht … Buchstaben lesen«, sagte Katzenohr ärgerlich im Gefühl, von ihrem angebeteten neuen Mentor für dumm gehalten zu werden. »Aber kann gut jagen.« »Unsinn. Hast du verstanden?« fragte Razamon langsam. »Ja. Lauder kein Märchen. Aber ich nicht kennen Lauder. Ich gehört von jemand, der von jemand gehört. Klar?« »Alles klar«, meinte der Berserker. »Ihr Hordenangehörige seid nach meiner Meinung die Nachkommen der Menschen, die Cibola gebaut haben. Das soll jetzt eure Stadt sein.« »Stadt?« fragte Katzenohr. »Nachkommen?« Geduldig erläuterte der Mann vor ihr, daß die Nachkommen die Kinder der Kinder der Kinder und so fort waren, und daß es sein Plan und sein Wunsch war, daß die Horde diese verborgene Stadt bewohnen sollte. »Einverstanden? Unter einer Bedingung«, sagte er abschließend. »Wie?« »Nur dann, wenn Cibola einen Ausgang hinauf auf die Ebene hat, werdet ihr hier wohnen. Und dies stellen wir morgen fest. Holt Holz, macht ein Feuer, sammelt Früchte. Ich gehe hinauf und reinige mich.« Er warf den Fackelrest achtlos zu Boden und verließ die Höhle. Alle Tiermenschen waren jetzt absolut sicher, daß er ihr Lehrer, Freund, Oberster Jäger und Richter in Streitigkeiten war. Sie fingen an, ihm die Wünsche von den Augen abzulesen. Das größte Problem, sagte sich Razamon, würde die Einrichtung eines Wasserschöpfeimers am langen Seil sein. Erst dann konnten
sie den Brunnen von Cibola benutzen. Er stieg die Treppen hinauf und verschwand in derjenigen Nische, in der die meiste Menge Wasser aus der Wand rann. Nachts schlief er auf einem Lager aus trockenen Pflanzen, von denen es mehr als genug gab. Er zog es vor, am Eingang einer Nische zu liegen und nicht in einem der leeren Räume der symmetrischen Kegelbauwerke. Die Nacht verlief ohne jeden Zwischenfall. Nur Grizzard schlief lange nicht. Überlegungen, Ängste, Vorstellungen und Phantastereien lösten einander ab. Seine Verwirrung nahm zu, seine Furcht wurde größer – und es gab niemand, der ihm half. Auf die Idee, sich Razamon anzuvertrauen – dem Mann, den er als einfacher Jäger ebenso angestarrt und schrankenlos bewundert hatte wie die Tiermenschen heute –, kam er nicht. * Razamon kaute auf einem Holzspan. Der Berserker saß auf einem feuchten Felsen, lehnte sich gegen die Wand und verfluchte innerlich Dorkh, seinen Partner Axton, die Tiermenschen und überhaupt alles. Seine Laune war auf dem tiefsten Punkt angelangt. Zwar hatte er sich ausgeruht, die Früchte schmeckten gut und hatten ihn gesättigt, sein allgemeines Befinden konnte er nur als zufriedenstellend bezeichnen – trotzdem würde er, wenn es möglich wäre, alles hinwerfen und sich in einer dunklen Ecke zusammenkauern. Nichts hören, nichts sehen und an nichts mehr denken, sagte er sich … aber auch die Gedanken daran waren sinnlos. Mit mäßigem Interesse sah er zu, wie die Chefin der Nachfolger jener Menschen ihr Expeditionsteam zusammenstellte. Der Vorgang wirkte allerdings mehr wie eine Prügelei unter Primaten.
»Du. Zu Razamon«, schrie sie Fellknie an. »Schnell.« Die Horde war von der neuen Entwicklung ebenso berauscht wie von Bitterwasser. Instinktiv erkannten sie, daß Cibola ihnen das Überleben leichter machen würde. Jeder von ihnen wollte mit Katzenohr und Razamon zusammen den Vorstoß an die Oberfläche Dorkhs versuchen, aber der Berserker war nur an einer kleinen Gruppe besonders fähiger Hordenmitglieder interessiert. Fellknie löste sich aus dem wild durcheinanderrennenden Haufen und kam zu Razamon herauf. »Wir jagen, ja?« fragte er eifrig. Razamon gähnte und schenkte ihm dann ein gönnerhaftes Lächeln. Als er in die Augen des Halbwilden blickte, besserte sich seine Laune ein wenig. Genauer: er erkannte, daß Mitleid oder Verständnis weitaus mehr der Lage entsprachen als Überheblichkeit und Sarkasmus. »Wir suchen einen Weg, mein lieber zottiger Freund«, belehrte er ihn. »Und das kann eine schwierige Sache werden.« Auch bei der Vorstellung, wieder den Felskamin abwärts zu klettern und durch die Zone der kristallisierenden Salze und der kochenden Nebel zu waten, schauderte es ihn. Er hoffte, daß sich die Treppe irgendwo nach ihrem oberen Ende fortsetzen würde, in einem Pfad oder einem Hang. Er kannte sie nur bis zu den beiden Abzweigungen, die zu den obersten Gartennischen führten. Seiner Schätzung nach befanden sich die tiefsten Stellen dieser Höhlen rund zweihundert Meter unterhalb der Oberfläche der Steppe. Der Dombler und Steinschwinge kamen, dann noch eine jüngere Frau, die sich Weißschulter nannte. Dann packte Katzenohr ihren Knüppel und stapfte die Stufen hinauf. Sie lachte Razamon an, und der Berserker fühlte einen Stich, als er die geradezu unfaßbare Menge an blindem Vertrauen erkannte. »Axton nicht suchen Weg?« fragte Katzenohr. »Axton ist krank. Er bleibt in eurer Stadt und erholt sich«, wich
Razamon aus. »Krank in Kopf?« fragte Katzenohr und machte eine bezeichnende Geste. »Nein. Körper. Er kann nicht mit uns schlurren«, meinte Razamon. »Wir gehen.« Die ersten Stunden der Nacht hatte er am Feuer der Horde gesessen und die Vorteile geschildert, die ein Leben in der Steinstadt mit sich brachte. Er hoffte, die Horde überzeugt zu haben. Andernfalls würde er wieder zwei Dutzend Tiermenschen gegen sich haben, die ihn in der Stadt gefangenhielten. Und Lebo Axton war ihm alles andere als eine echte Hilfe. »Gehen, Schlurren!« bestätigte der Dombler und wirbelte seine Schleuder über dem Kopf. Razamon duckte sich unter dem schwirrenden Leder hinweg und setzte sich an die Spitze der Gruppe. Nach kurzer Zeit erreichten sie die Stelle, an der sich die gewundene Treppe zum letztenmal gabelte. Sie gingen geradeaus weiter und kamen zu einer senkrechten Felswand. Der Pfad wurde zu einem breiten Sims, das sich um diese Kante herumzog. Der Berserker blieb stehen und drehte sich um. Unter ihnen lag die riesige, hohlkugelartig geformte Höhle ausgebreitet. Sie sah aus wie zwei Drittel eines Trichters, dessen oberster Rand stark überhing. Einige scharf gezackte Felsen zeichneten sich am Rand ab, und die Strahlen der Morgensonne berührten bereits die Spitzen der obersten Kegelhäuser. »Das ist eure neue Heimat«, sagte Razamon und vergaß seine schlechte Stimmung. Der Anblick vertrieb die dunklen Nebel aus seinen Gedanken. »Die Stadt. Eure Stadt – Cibola. Niemand wird euch entdecken. Die Gesandten vom SCHLOSS kennen diesen Platz nicht. Verstanden?« Katzenohr nickte eifrig. »Alles klar«, wiederholte sie Razamons häufig gebrauchten Ausspruch. Wieder mußte er lachen.
»Los. Weiter.« Die Gruppe zog sich auseinander. Links von ihnen befand sich, als sie die Felskante erreichten, ein Abgrund von etwa hundertfünfzig Metern Tiefe. Rechts ging die Felswand, wie die Rückwand der Pueblostadt leicht überhängend, ebenso hoch steil hinauf. Razamon schob mit den Füßen hin und wieder kantige Steinbrocken vom Pfad hinunter. Wie er es erwartet hatte, war das Felsband von Geröll und zerriebenem Gestein bedeckt. Jenseits der Kante hob sich der Pfad und führte, den Unregelmäßigkeiten der zerklüfteten Wand folgend, schräg aufwärts. Razamon zeigte geradeaus. Dort oben, zwischen klobigen Monolithen, mündete der Pfad in die Ebene. Die Steine befanden sich genau gegenüber der Gruppe, hundertfünfzig Meter höher und ebenso weit entfernt. Zwischen dem Berserker und den Steinen befand sich der Abgrund, die Felswände mündeten in ein Loch mit geringem Durchmesser, das von riesigen, heruntergebrochenen Felsstücken gefüllt war. »Das der Weg hinauf?« fragte der Dombler. »Wenn er nicht irgendwo dort hinten unterbrochen ist«, sagte Razamon und kämpfte sich weiter durch Geröll, Sand und zwischen Steinen hindurch. Schweigend folgten ihm die Tiermenschen. Fünfzig Schritte später wandte sich Razamon an Katzenohr und fragte: »Du hast berichtet, daß die Schlucht zur Todesrinne führt. Die Schlucht, meine ich, in der ihr bisher gelebt habt.« Katzenohr machte ein ratloses Gesicht und grinste verlegen. »Sie haben es gesagt, im Hordenpferch. Alle sagen es. Aber wir haben die Schlucht, die Stadt, zuerst gesehen. Kann sein, kann nicht sein. Vielleicht hinter dort Steine?« Razamon nickte; mehr oder weniger hatte er diese Antwort erwartet. Der geistige Horizont der Lebewesen im Hordenpferch war sehr eng. Obwohl es sich bei dieser Horde wohl um die klügsten und stärksten Wesen handeln dürfte, hatten sie noch nicht
genug Zeit gehabt, eigene Beobachtungen zu machen. Was sie wußten, hatten sie aus zweiter oder dritter Hand. Sie waren aus dem Hordenpferch geflüchtet und hatten etwas von einem versteckten Tal mit Höhlen gehört, und dann hatten sie zufällig – so wie Axton und er! – dieses geheimnisvolle Tal gefunden. Sicherlich stand das Sickerwasser des Talendes irgendwie mit einem der vielen Ausläufer des Bitteren Flusses in Verbindung. »Aber auch das sind müßige Überlegungen«, sagte Razamon laut, spannte seine Muskeln an und rollte einen Felsbrocken, der ihm bis zur Hüfte reichte, ächzend über den Rand des Felsbands. »Wie? Nicht verstehn«, rief Weißschulter. »Ich habe gesagt«, erwiderte Razamon, »daß wir in kurzer Zeit in euren Schlurrengebiet sind.« »Ja! Schlurren«, schrie Steinschwinge von hinten. Noch zwanzig Schritt, wieder eine Felskante, abermals änderte der aufwärts führende Pfad seine Richtung. Ein überhängender Felsblock, von dem fauliges Wasser tropfte. Dann hingen lange Ranken über die Felskante abwärts und bildeten einen tarnenden Vorhang. Irgendwo lärmte ein Vogel. Die Gruppe trat aus dem Schatten der Felsen, schlich durch das schwankende Gebüsch und kletterte die letzten Meter bis zu den Felsen hinauf. Dann standen sie alle auf der narbigen Fläche eines großen Steinbrockens, der an beiden Seiten von den wuchtigen Monolithen flankiert wurde. Hinter ihnen lagen Cibola und die Schlucht. Vor ihnen lag die Steppe mit ihren vereinzelten Inseln aus Bäumen und Sträuchern. Razamon orientierte sich: dort war Norden, dort mußten sie auf den Rand der Todesrinne stoßen, wenn sie weiterzogen. Mißtrauisch und schweigend musterte er die Felsen und ließ seinen Augen umherschweifen. Ein leichtes Blinken fesselte seine Aufmerksamkeit. Zwischen den Steinen, weiter abwärts, fast schon im dürren Steppengras, lag etwas, das das Sonnenlicht besonders stark reflektierte. Razamon
lief schnell über den abschüssigen Felsen und kauerte sich nieder. Er schob einige Halme zur Seite und sah vor seinen Fingerspitzen ein dreieckiges Stück Metall, das wie Silber aussah. In jeder Ecke befand sich ein Loch. Sofort mußte er an Lauder Vierkämpfer denken und dessen angeblich eisernen Körper. Er stand auf und sagte: »Dombler und ihr anderen … seht zu, ob ihr für den Stamm eine fette Beute schlurren könnt.« »Beste Zeit!« rief der Dombler, winkte seinen Jagdgenossen und rannte los. Katzenohr warf ihm achtlos einen Stein hinterher und setzte sich neben Razamon auf den Fels, der von der Sonne gewärmt worden war. »Du gefunden was?« »Ja. Ich habe Metall gefunden … was ist das?« Er sprang vom Fels hinunter in das raschelnde, aufstaubende Gras. Kleine Tiere, Eidechsen nicht unähnlich, huschten schwänzelnd davon. Unterhalb des Felsens war eine Höhlung; der Stein war in Wirklichkeit eine mächtige Platte, die sich schräg in den Boden bohrte. Einige Büsche und vertrocknete Bäumchen verdeckten die Kante des Steines. Razamon riß zwei Büsche aus dem Boden und schleuderte sie über die Schultern. »Hier sind bearbeitete Steinquadern aufeinander geschichtet worden«, murmelte er zu sich selbst und erkannte, daß diese Mauer ebenso uralt sein mußte wie die Stadt, über der sie standen. Je genauer er sich mit den Quadern und Fugen beschäftigte, desto mehr sah er. Zwischen den einzelnen Felsen hatte es einst ein annähernd dreieckiges Loch gegeben. Wenn der Hohlraum in seinen Maßen etwa der Größe der Felsplatte entsprach, auf der Katzenohr saß und ihm unschlüssig zusah, dann wäre er so groß wie ein normaler Wohnraum, mit schrägem Dach allerdings. »Was gefunden?« wollte Katzenohr wissen. Razamon hielt das Metalldreieck hoch und bewegte es hin und her. Reflexe blendeten die Anführerin. Er sagte:
»Ja. Ich habe eine Mauer gefunden, die eine Höhle verschließt.
Komm und hilf mir.« Mit einem Satz war Katzenohr an seiner Seite und zeigte auf die freigelegte Stelle. »Mauer. Wie in Cibola.« »Richtig. Nur besser erhalten«, gab er zurück und riß zwei weitere dürre Strünke aus dem sandigen Boden. Katzenohr sprang auf die andere Seite und brach Äste ab, warf herausgerissene Pflanzen zur Seite, und nach wenigen Minuten hatten sie eine Fläche freigelegt, die etwa fünf Meter lang und auf der einen Seite zwei Meter hoch war. Auf der anderen Seite schloß die Mauer mit dem Boden ab. »Dahinter … was?« fragte Katzenohr voller Neugierde. In den letzten Tagen schien sie viel von der dumpfen, tierhaften Unbeweglichkeit des Verstandes verloren zu haben. Jeder neue Impuls fiel auf fruchtbaren Boden, schien es dem Berserker. Er lachte kurz und erwiderte: »Vielleicht haben deine Ahnen hier etwas versteckt. So etwas Ähnliches wie die Bilder in der Höhle.« »Knochen, die sich zu Staub machen?« »Ist nicht auszuschließen«, meinte Razamon und schob seine Finger zwischen den Fels und einen zerbröselnden Stein. Aus den Trümmern in der Pueblostadt hatte er geschlossen, daß jene alten Baumeister keinen Mörtel und keinen Zement für die Verfugung der Steine verwendet, sondern die Fugen bestenfalls mit Lehm oder feuchtem Sand verstrichen hatten. Er riß und rüttelte an dem Stein, der sich mit hellem Knirschen bewegte. »Wir zerstören, ja?« »Es gibt keine andere Möglichkeit, hinter dieses Geheimnis zu kommen«, sagte Razamon, setzte alle seine Kraft ein und riß gleichzeitig drei Steine aus dem Mauerverbund. Der Schwung ließ ihn stolpern. Er fiel auf den Rücken, und die kantigen Steine purzelten nach verschiedenen Richtungen auseinander. Katzenohr packte die Kanten der nächsten Steine und riß einen nach dem anderen heraus. Sie warf sie geradezu lässig zur Seite.
Razamon hatte seine Mißstimmung völlig vergessen und spürte die prickelnde Erregung, die sich einstellte, wenn er dicht vor einem neuen Geheimnis stand. »Ich sage dir …«, keuchte er und arbeitete auf der gegenüberliegenden Seite des ständig größer werdenden Loches, »… dahinter gibt es eine Überraschung.« »Steine prettern weg«, sagte sie nur. Noch war das Loch nicht groß genug, als daß sie vom Hellen aus sehen konnte, was sich im Dunkel verbarg. Jedenfalls sprangen nicht irgendwelche Tiere aus der Höhle ihnen entgegen. Es stank auch nicht nach Giften oder vermoderten Dingen, deren Dünste Krankheiten hervorrufen konnten. Katzenohr und Razamon erweiterten die Öffnung in rasender Eile, und schließlich war das Loch rund eineinhalb Meter im Quadrat groß. Katzenohr erkundigte sich in kameradschaftlichem Ton: »Du gehst? Oder ich gehe? Ich meine, ich gehe.« »Ich meine, daß ich nachsehe, was sich hier versteckt«, meinte Razamon und spähte ins Innere. Er sah nicht viel mehr als bisher: matt schimmernde, röhrenartige Formen im hintersten Winkel des Hohlraumes. Eine flüchtige Ahnung stieg in ihm auf: Metall! Eisen! Lauder Vierkämpfer? »Der unbekannte Ritter wird mittlerweile zu einer echten Spukgestalt«, flüsterte er, ließ sich auf Hände und Knie nieder und kletterte über die unterste Reihe Steine in die Dunkelheit. Sein Körper verdeckte das Licht, er wich zu der Seite aus, an der die Mauer höher und der Abstand der Felsplatte vom Boden größer war. Der Boden der Höhle war mit unregelmäßig großen Blöcken gepflastert. Staub lag dick auf den Steinen. In der Mitte der Fläche befanden sich röhrenförmige Stücke, die unregelmäßig übereinanderlagen. Sie sahen aus wie Stücke eines Panzers, wie riesige hohle Knochen oder irgendwelche silberfarbene Teile eines
zusammengefallenen Gegenstands. Razamon berührte mit den Fingerspitzen eines der Teile. Er fuhr zurück, als sich das dünne Rohr bewegte und zur Seite polterte. Er verbesserte sich; sein erster Eindruck war falsch gewesen. Das Poltern kam von der Eigenart des Gewölbes oder der Grabstätte – oder was immer der Hohlraum bedeutete. Der offensichtlich metallene Gegenstand hatte, als er zusammen mit anderen Teilen umgefallen war, ein metallisch klapperndes Geräusch erzeugt. Razamon schob sich zur Seite, mehr Licht fiel auf den Haufen, und dann zog er das längste Rohrstück daraus hervor und ins Licht. Es war ein röhrenförmiges Stück Metall. Offensichtlich bestand es aus Eisen oder Stahlblech, aber die Oberfläche glänzte teilweise silbern. Tiefe Narben und breite Flächen waren dunkelbraun und dick mit Rost bedeckt. Als er seinen Fund hinter sich herzog und gebückt ins Freie zerrte, fielen große Flecken von Rost aufstaubend zu Boden. Katzenohr starrte ihn an, als er neben ihr aufstand und den Fund hochhob. Nach einer Weile, in der er versuchte, seiner Verwunderung Herr zu werden, sagte Razamon halblaut: »Das ist zweifellos das Stück einer Rüstung! Uralt. Fast völlig verrostet. Aber wenn … weißt du, Katzenohr, wie Lauder Vierkämpfer und seine Mannen aussahen?« Verständnislos starrte ihn die Anführerin an. Er erklärte es ihr ein zweitesmal in weitaus einfacheren Worten. Dabei sah er, daß dieses Rohr etwa zweieinhalb Handbreit Durchmesser hatte. Es war nicht geschlossen, sondern durch einen drei Finger breiten Spalt unterbrochen. Breite Schlitze und dünne, vermoderte Reste von Riemen, und daran bis zur Unkenntlichkeit verrostete und narbige Schnallen deuteten darauf hin, daß dieses Metallstück einst wie eine Beinschiene oder ein Armschutz um eine Gliedmaße befestigt war. »Also sind es tatsächlich Teile einer Rüstung?« mutmaßte
Razamon, legte den röhrenförmigen Gegenstand auf den Boden, tauchte wieder hinein ins Halbdunkel des Grabes und zog vorsichtig nacheinander elf weitere Rüstungsteile heraus. Jeweils drei hatten einst dieselbe Länge gehabt, also mußte das Wesen, das damit geschützt gewesen war, vier gleichartige Gliedmaßen gehabt haben. Ganz zum Schluß fand er in einer Längsfurche zwischen den Steinen eine Waffe. Zuerst wollte er sein Glück nicht glauben, aber dann hob er den langen, schlanken Schaft hoch und sah an dessen Ende eine scharfe, nadelfeine Spitze. Eine Schneide, halbmondförmig wie ein Kampfbeil, stand im rechten Winkel vom Schaft weg, ihr gegenüber befand sich eine Art Hammer mit flachem, runden Kopf. Als er die Waffe in der Hand hielt, hoffte er, daß er im hellen Licht keinen oder nur wenig Rost daran finden würde – und tatsächlich war es so! »Welch ein Glück!« murmelte er. Katzenohr stand starr da und beobachtete halb argwöhnisch, halb von dem Wunder in den Bann geschlagen jede seiner Bewegungen. »Was noch drin?« fragte sie schließlich. Razamon riß sich von der Betrachtung des langschäftigen Kampfbeils los und sagte: »Nichts mehr. Es ist leer. Ich denke …« »Das Grab von Lauder!« rief Katzenohr aufgeregt. Razamon schüttelte den Kopf und sagte: »Nein. Vielleicht ist es das Grab eines der Krieger von Lauder. Vielleicht auch nicht. Wir werden es niemals wirklich wissen. Diese Rüstung muß einem Wesen gehört haben, das vier lange, starke Arme hatte. Und diese Waffe hat es benutzt. Wäre es Lauder Vierkämpfer gewesen, müßte das Grab anders aussehen. Er schrieb, daß er allein nach Turgan wandern würde. Also wird er diese Mauer aufgerichtet haben. Und ich habe endlich eine hervorragende Waffe.«
»Deine Waffe! Groß Zeichen!« pflichtete die Anführerin ehrfürchtig bei. »So ist es. Die Rüstung … ihr könnt das Metall verwenden. Als Spiegel, als Schneidwerkzeug, und auch sonst für allerlei Zwecke.« Mehr als die Hälfte der einstmals strahlend glänzenden Rüstung war von Rost zerfressen. Es fiel schwer, sich vorzustellen, daß eine kleine Armee solcher Kämpfer über die Steppe Dorkhs gezogen war und versucht hatte, sich einen Weg nach Turgan freizukämpfen. Es mußte eine kleine Ewigkeit zurückgelegen haben – dieser Fund bestätigte es. Waren es Jahrhunderte oder gar Jahrtausende? Die herrliche, ausgewogene Waffe in Razamons Händen bewies, daß Lauders Heer aus hervorragenden Kriegern bestanden haben mußte. Ein Sonnenstrahl brach sich auf der Schneide des Beiles und blendete Katzenohr. Staunend und voller Ehrfurcht stieß sie hervor: »Axt, sie sein deine Waffe. Gut für Jagd. Gut für Kampf. Du unser Anführer!« »Für die nächsten zwei Tage«, sagte er. »Das Grab ist leer. Vielleicht findet ihr ein zweites.« »Wir nicht finden. Wir dumm und klein.« »Nichts da! Ihr seid viel klüger, als du meinst«, schränkte Razamon ein. »Ihr werdet in der Stadt wohnen und sollt dafür sorgen, daß sie aus der Vergessenheit auftaucht. Verstanden, Katzenohr?« Er betrachtete den Haufen Metall, der im grellen Licht erkennen ließ, wie stark verrostet und durchlöchert er war. Er winkte Katzenohr und sagte: »Wir gehen zurück in die Stadt. Deine Jäger können sich Waffen aus dem dünnen Zeug machen.« »Waffen für schlurren!« versicherte die Anführerin begeistert und hob eines der kleineren Rüstungsteile auf. Wieder rieselten breite Fladen Rost zu Boden. Vom Metall befanden sich nur noch Reste in den breiten Händen Katzenohrs. Enttäuscht starrte sie den Teil der Rüstung an und grinste verlegen.
»Wir gehen. Später bringen Beute.« Razamon hob die Streitaxt und führte einige schnelle Hiebe durch die Luft. Die Waffe war einfach, aber sehr gut ausgewogen. Er prüfte sie, aber sie war weder verrostet noch beschädigt. Als er einen Probeschlag gegen den kleinen Busch führte, zerschlug die Schneide mit dem ersten Hieb einen unterarmdicken Zweig. »Es wird immer besser. Ich brauche mich also nicht mehr halb nackt zu fühlen«, brummte Razamon und sprang zwischen die beiden Monolithen hinauf. »Kommst du?« »Kommen. Ja.« Razamon dachte an den Text auf der Steintafel und war ziemlich sicher, daß er die Grabstätte eines der Krieger entdeckt hatte, eines Kämpfers aus der Truppe des Lauder Vierkämpfers. Die Waffe war ein wichtiges Indiz dafür, aber die Vorgänge um das offensichtlich zu Staub vermoderte Wesen verschwanden im Dunkel der Vergangenheit. Razamon turnte mit Katzenohr zusammen zurück auf den Pfad und ging langsam abwärts. »Das ist der Weg in eure Stadt«, sagte er. »Axton und ich werden euch alles zeigen, was nötig ist, um zu überleben.« Katzenohr fragte traurig: »Ihr wirklich gehen? Uns allein lassen zurück?« »Wir müssen nach Turgan. Wir suchen einen Freund, den wir dort zu treffen hoffen. Es geht nicht anders.« »Wir nicht können halten euch Götter!« bekannte die Anführerin. »Aber uns alles zeigen, ja?« »Ich verspreche es euch.« Während sie zur Stadt zurückgingen, räumten sie die größten Hindernisse von dem Pfad und dem Sims weg. Die Tiermenschen, die in Cibola zurückgeblieben waren, hatten sich inzwischen so gut eingerichtet, wie sie es wußten. Die Nischen, in denen verschiedene Früchte wuchsen, hatten ihr Aussehen verändert: das alte Holz war zerbrochen und in die Kegelhäuser gebracht worden. Aus trockenen Resten hatten die Hordenmitglieder primitive Lager hergestellt.
Zwei Frauen flochten aus Sehnen ein langes Seil. Andere stellten aus Fellresten und Holz einen Gegenstand her, der einem Eimer einigermaßen ähnlich war. Razamon hob einen Stein auf, legte ihn in das Schöpfgefäß und zeigte den Tiermenschen, wie sie sauberes Wasser aus dem Brunnen unter dem zylindrischen Steinbauwerk heraufziehen konnten. Steinschwinge und Weißschulter brachten ein Beutetier und warfen es neben den großen Holzstapel. »Wo ist Axton?« fragte Razamon laut. »Dort. In Sonne«, sagte einer der Horde und zeigte in die Richtung der Treppen. Razamon lief die Stufen hinauf und kauerte sich neben ihn. Axton warf ihm einen schwer zu deutenden Blick zu. »Wir brechen morgen oder übermorgen auf«, sagte er und hob die glänzende Waffe. »Wir sind nicht mehr ganz so wehrlos wie vor einigen Tagen.« Axton hob abwehrend die Hände. »Ich gehe nicht mit«, sagte er ängstlich. »Nötigenfalls trage ich dich«, versicherte Razamon. Sein entschlossener Gesichtsausdruck bewies Axton, daß er es durchaus ernst meinte. »Hast du Angst vor dem Weg? Die Steppe ist leer.« »Die Tiermenschen haben mir berichtet, daß Reitergruppen umherstreifen. Und der Übergang der Todesrinne wird scharf bewacht.« Der Pthorer war ziemlich sicher, daß Axton krank war. Es gab keine äußerlichen Zeichen dafür, nur die Augen zeigten, wie es um ihn stand. Razamon mußte sich eingestehen, daß er ratlos war: Er konnte Axton weder bei Katzenohr und ihrer Horde lassen, noch vermochte er einen Mann, der sich nicht bewegen wollte und mit einiger Sicherheit auch nicht kämpfen konnte, bis nach Turgan mitzuzerren. Er deutete auf Axtons Brust und sagte herausfordernd: »Hör zu, mein Freund. Möglicherweise bist du wirklich krank. Aber unsere einzige Chance, von Dorkh hinunter und wieder in eine
normale Umgebung zu kommen, liegt in der Befolgung des Befehls.« »Ich weiß von keinem Befehl«, murmelte Lebo Axton. »Ich meine den Befehl, den Duuhl Larx uns gab. Wir sollen für ihn Dorkh erobern. Es gibt keine andere Möglichkeit, als nach Turgan zu gehen und dort Atlan zu treffen – wie das geschieht, weiß keiner von uns. Du wirst jedenfalls mit mir gehen.« Es ließ sich nicht feststellen, was Lebo Axton dachte. Aber als ihn Razamon verließ, um zurück zu Katzenohr zu gehen, schien er etwas entschlossener zu sein. Der Berserker sah zu, wie Katzenohr ihrem Stamm befahl, alle Werkzeuge und Waffen aus den Höhlen ihrer alten »Stadt« zu holen und hierher zu bringen. Der Weg zwischen der neuen Stadt und dem Ende der Schlucht war nicht beschwerlich, denn er führte über die Steppe. Die Tiermenschen rannten davon. Seit dem Augenblick, als sie Razamon und Axton durch die Schlucht verfolgt hatten, war keiner von ihnen der Versuchung des bitteren Wassers erlegen. Die Tiermenschen bildeten schließlich um das Feuer einen großen Kreis. Das Fleisch der Beutetiere wurde gebraten. Es gab frisches, eiskaltes Wasser und ein halbes Dutzend verschiedener Früchte. Razamon und Lebo Axton saßen zwischen den Mitgliedern der Horde, und wenigstens der Berserker schien sich wohl zu fühlen. Aber seine neu gefundene Waffe ließ er nicht aus den Augen. * Fast alle Tiermenschen trotteten hinter Razamon, Lebo Axton und Katzenohr über den Pfad. Keiner von ihnen redete. Sie hatten sich damit abgefunden, daß ihre »Götter« keine Götter waren. Sie hatten eingesehen, daß Razamon und Axton den Stamm, die Horde, verlassen mußten. Die Pthorer hatten sich mit Früchten, wohlgewürzten
Bratenstücken und einigen hohlen, bambusähnlichen Aststücken ausgerüstet, in denen frisches Wasser war. »Unser Ziel ist Turgan!« rief Razamon. Er hatte keine Ahnung, wie Turgan wirklich aussah, und was sie dort erwartete. »Schon gut«, meinte Axton. »Der Weg dorthin wird uns umbringen.« »Du scheinst dessen sicher zu sein«, brummte Razamon und spähte hinunter in den Abgrund hinter der Stadt Cibola. »Ich weiß nur, daß wir beide den langen, beschwerlichen Weg bis nach Turgan nicht lebend schaffen.« »Ich bin sicher, daß wir leben und gesund nach Turgan kommen«, sagte Razamon entschieden. »Ich habe wirklich keine Lust, gewalttätig zu werden. Aber du kannst dich darauf verlassen, daß ich dich dazu bringe, mit mir oder hinter mir bis zur Stadt zu gehen. Dort wartet Atlan. Wir treffen ihn in Turgan. Und für die nächsten Tage möchte ich von dir weder Klagen hören, noch irgendwelche Entschuldigungen, keine Ausflüchte und nichts, das mich dazu bringen könnte, an dir zu zweifeln.« Er hatte leise und in äußerster Schärfe gesprochen. Wenn Lebo Axton ihn auch nur ein wenig kannte, mußte er wissen, daß der Berserker jedes Wort ebenso ernst meinte, wie er es aussprach. »Wir werden sehen«, antwortete der andere Mann von Pthor. Sie erreichten die Felsplatte zwischen den Blöcken und schwangen sich hinauf. Als sie im Staub der Steppenlandschaft standen, hob Razamon die Hand. »Katzenohr!« sagte er laut. »Wir danken dir und deiner Horde. Bleibt in Cibola und erfüllt die Stadt mit Leben. Niemand wird euch stören – aber vermeidet, breite Spuren zu machen.« »Wir alles tun, was du gesagt, Razamon«, versicherte Katzenohr. »In paar Tagen wir alle voll Klugheit.« »Ihr habt wirklich viel begriffen«, bestätigte der Pthorer. »Aber jetzt … wir gehen.« »Achtgeben vor Bruen«, rief Katzenohr. »Jetzt schnell gehen.«
Die Horde stand auf dem Felsen und starrte Razamon und Axton auf sehr merkwürdige Weise an. Rund fünfzig Augen hefteten sich auf die Pthorer. Aus den Blicken sprachen Verehrung und Trauer und eine gewisse Resignation, daß diese Götter nun wegzogen. »Wir denken an die Gefahren, die vor uns liegen«, versprach Razamon. Axton schwieg beharrlich und blickte geradeaus über die leere Steppe, auf der die Windstöße am frühen Morgen Staubschleier hochwirbelten. »Lebt wohl!« sagte Razamon. Katzenohr schrie, plötzlich gänzlich verändert und sehr ernsthaft: »Achtgeben vor allem, Razamon – ja?« »Schlurrt weiter in Frieden!« rief Razamon, packte Lebo Axton hart am Unterarm und zog ihn mit sich. Sie gingen geradeaus weiter, in nördlicher Richtung, und irgendwann, irgendwo hofften sie, Turgan und auch Atlan zu treffen. Razamon, der Berserker, hoffte es wenigstens. Was Lebo AxtonGrizzard dachte und empfand, ließ sich nicht feststellen. 6. Vor weniger als einer Stunde war die Sonne aufgegangen. Jeder Busch, jeder Stein und jedes Grasbüschel warfen lange, schwarze Schatten. Wie an den Tagen vor dem Zusammentreffen mit Katzenohrs Horde stapfte Lebo Axton hinter Razamon einher. Der Berserker ging mit weit ausholenden Schritten über die staubige, sandige Steppe nach Norden. Seit einer halben Stunde entfernten sie sich von der kraterähnlichen Öffnung neben der versteckten Steinstadt. Das Land war nur scheinbar leer. Der Umstand, daß Katzenohrs zottige Jäger nach wenigen Stunden mit einem Beutetier zurückgekommen waren, sprach dafür, daß sich
zwischen den kleinen Pflanzeninseln Tiere ebenso versteckten wie Wasserlöcher oder – Gefahren. Razamon versuchte, die Ereignisse der letzten Tage zu verarbeiten; jede Einzelheit des Aufenthalts zog durch seine Erinnerung und wurde in seine Erfahrungen eingearbeitet, die Dorkh betrafen. Aber soviel er auch nachdachte und herumrätselte, er erfuhr nicht das geringste über die unmittelbare Zukunft. Er wußte nur, daß sich Axton und er mehr oder weniger geradlinig auf den Rand der Todesrinne zubewegten. Was war die Todesrinne? Katzenohr wußte nicht wirklich viel über die nähere und fernere Umgebung der »Stadt«, also der gezackt und schlangenlinig verlaufenden Schlucht. Sie hatte Razamon alles gesagt, was sie wußte, und was ihre Jäger im Lauf der Flucht und der wenigen Jagden erfahren und gesehen hatten. Die Todesrinne mußte eine gigantische Schlucht sein, über die zwischen der Stadt Turgan und der Steppe eine Brücke verlief. Die Bruen bewachten die Brücke – wer immer diese Wesen waren. Der Pthorer grinste in sich hinein; er würde es wohl rechtzeitig und in aller Deutlichkeit erfahren. Bis Mittag etwa legten sie unangefochten und in schnellem Marsch eine beträchtliche Strecke zurück. Der Berserker wechselte mit Lebo Axton nicht ein Wort. Aber stets, wenn er sich umdrehte, befand sich Axton wenige Schritte hinter ihm und ging mit gesenktem Kopf ausdauernd weiter. Er hatte zwar sicherlich nicht völlig den Verstand verloren, aber er war – schon mehrmals hatte Razamon dies festgestellt – stark verändert. Sein Verstand schien durch die Strapazen gelitten zu haben. Selbst Mitleid und Verständnis nützten ihm nichts, denn Razamon sah keine Möglichkeit, ihm zu helfen oder ihn zu beeinflussen. Er hoffte, daß der gegenwärtig herrschende Zustand möglichst bis zu dem Moment anhalten würde, an dem er sich mit dem Arkoniden würde beraten können. Die Hitze nahm zu. Ihre Schritte wirbelten mehr Staub und Sand
auf. Der Titanenpfad war zweimal undeutlich im Norden aufgetaucht, jetzt war er wieder hinter winzigen Hügeln verschwunden. Das Gelände war fast völlig flach und arm an Schatten. Ein leichter Wind ließ die dürren Blätter der Bäume und Büsche knisternd zittern. Ab und zu flüchtete ein kniehohes Tier mit bestaubtem Fell in rasender Eile vor den beiden Wanderern und hinterließ eine hochwirbelnde Staubspur. Eine zweite Staubspur tauchte weit im Westen auf. Noch war sie winzig und unbedeutend, aber als sie sich näherte und größer wurde, unterschied Razamon drei einzelne Staubschleier, die schräg vom Wind weggetrieben wurden. Deutlich erkannte er mittelgroße Reittiere und dunkle Gestalten auf deren Rücken. Wenn die Reiter ebenso gute Augen hatten wie er, würden sie im selben Moment auch die Pthorer gesehen haben. »Hinter uns galoppieren drei Reiter. Sie nehmen Kurs auf uns«, informierte er Lebo Axton und zeigte die näherkommenden Tiere. Ihr Fell oder die Schuppen ihrer Haut glänzten matt im Sonnenlicht. »Sie werden uns gefangennehmen und fortschleppen«, verkündete Axton. »Ich habe dich gewarnt, den Schutz von Katzenohrs Horde zu verlassen.« Razamon vertraute auf seine Schnelligkeit und die Wirkung seiner neuen Waffe. »Wenn ich es verhindern kann, werden sie uns nicht verschleppen«, sagte er, trank eines der Wasserröhrchen leer und sah sich um. Es gab keine Möglichkeit, sich zu verstecken – nur Bäume, dürre Büsche und das verwelkte Gras der Steppe. Er packte die Waffe und hielt sie locker in der rechten Hand. Wieder drehte er sich um. Die Reiter waren bis auf zwei Bogenschußweiten heran. Ihre Reittiere waren etwa so groß wie Esel, hatten eine geschuppte Haut, die jetzt die Farbe der Steppe und der gelbbraunen Bäume
annahmen. Die Köpfe und die Läufe ließen erkennen, daß die Tiere in Wirklichkeit Reptilien waren. »Das müssen die Chreeans sein, von denen wir gehört haben«, erklärte Razamon nach einigen Sekunden. »Auch haben wir oft ihre Spuren gesehen. Die Reiter fangen die Wesen aus dem Hordenpferch.« »Wir sind für sie nichts anderes als potentielle Gefangene.« Razamon knurrte wütend: »Wenn sie angreifen, dann nimm einen Stein und wehre dich. Sonst verlierst du deine Freiheit schneller, als du es dir vorstellen kannst.« »Du hast recht«, antwortete Axton zu Razamons nicht geringer Verblüffung mit neuem Schwung und sichtbarer Entschlossenheit. »Dieser Umstand verändert die Situation.« Die Reiter schrien sich in einem kehligen Dialekt, von dem Razamon nichts verstand, einige Kommandos zu. Dann trieben sie ihre Tiere auseinander und bildeten eine Reihe. Razamon sah plötzlich in den Händen der vermummten Gestalten Schnüre oder lassoartige Seile mit klumpenähnlichen Enden auftauchen. Die Reiter schwenkten die Enden der Fangleinen über ihren Köpfen. Der Berserker schrie Axton zu: »Du mußt einen Strauch oder Baum zwischen dich und den Jäger bringen.« Gleichzeitig bückte er sich und hob einen Stein auf, der dreimal so groß war wie seine Faust. Er lief geradeaus auf einen dürren Strauch zu. Die Tiere setzten sich keuchend in Bewegung und galoppierten auf die Pthorer zu. Razamon schleuderte den Stein auf den ersten der herangekommenen Reiter. Summend kreisten die Fangseile durch die Luft. Der Stein traf den kantigen Schädel des Reittiers. Das Tier stieß einen gellenden Schrei aus, schüttelte sich und bäumte sich vorn und hinten auf. Die zwei übriggebliebenen Reiter kamen von rechts und links und
hatten Lebo Axton in der Mitte. Er rannte auf einen Baum zu, drehte sich blitzschnell herum und warf mit aller Kraft einen Stein. Das Geschoß flog nur eine Handbreit vom Kopf des nächsten Reiters vorbei. Der dritte Jäger hatte noch immer Schwierigkeiten, sein Tier zu bändigen. Razamon schlug einen Haken, kam von der Seite an einen der Reiter heran und bohrte den Stachel der Waffe in die Flanke des Tieres, dann hob er die Waffe und sah, wie sich das Fangseil um die Schneide wickelte. Razamon sprang zur Seite und riß, so fest er konnte, an dem Griff der Waffe. Der Reiter wurde aus dem Sattel gerissen, überschlug sich in der Luft und fiel mit einem dröhnenden Geräusch flach auf sein Gesicht. Das Tier schlug aus, sprang in die Höhe und traf mit den wirbelnden Klauenfüßen seinen Reiter. Die Schuppen änderten ihre Farbe in ein grelles Weiß, als das Tier nach einigen wilden Sprüngen mit seinem ganzen Gewicht auf dem Oberkörper des Reiters landete und dessen Genick brach. Razamon hatte das Fangseil mit zwei schnellen Bewegungen von der Kampfaxt abgewickelt und sprang aus dem Bereich des wie rasend um sich schlagenden und beißenden Tieres. Dann schrie das echsenartige Reittier noch einmal auf und rannte in holprigem Galopp nach Westen davon, das Seil hinter sich her schleifend und eine große Staubspur in die Luft wirbelnd. Der zweite Reiter jagte um den Baum herum, vor dem Lebo Axton stand und mit einem Felsbrocken zielte. Razamon warf einen Blick auf den dritten Mann. Dieser hatte seine Reitechse wieder unter Kontrolle und kam in scharfem Tempo auf Razamon zu. Er hatte sicher erkannt, daß der Berserker der schnellere der zwei Kämpfer war. Das Fangseil beschrieb jetzt keine Kreise über dem Kopf des Vermummten, der wütende kehlige Schreie ausstieß, sondern es schwang senkrecht in der Hand des Jägers. Der Beutel am Seilende, vermutlich mit Steinen gefüllt, streifte die Grasbüschel. Die Echse streckte den Kopf
angriffslustig vor und bleckte die Zähne. Blut lief zwischen den Schuppen der Stirnfläche. Breitbeinig stand Razamon da, hielt die hervorragend ausgewogene Waffe schlagbereit und erwartete den Zusammenprall. Als der Reiter, von dem er hinter der Vermummung nur die Augen sah, sich kurz vor ihm befand, reagierte der Berserker. Er sprang mit einem gewaltigen Satz zur Seite. Der Reiter preschte an ihm vorbei. Razamon streckte den linken Arm aus und griff in das schwirrende Seil. Augenblicklich wickelte sich das Tau um sein Handgelenk, er packte es und stemmte seine Beine in den Boden. Der Reiter warf sich, ohne das Fangseil loszulassen, auf die andere Seite, aber die Echse rannte geradeaus weiter. Razamon spürte in seinem Arm und in der Schulter einen harten Ruck. Der Reiter wurde im Sattel nach rückwärts gerissen und zügelte sein Tier. Der Berserker rannte auf ihn los, hob das Beil und versetzte dem Jäger einen Schlag mit der breiten Klinge. Der Mann gurgelte und schwankte im Sattel hin und her. Wieder riß Razamon am Tau und schaffte es, den halb Bewußtlosen vom Rücken der Echse herunterzuzerren. Der Mann brach vor ihm zusammen und blieb liegen. Das Reittier machte noch einige Sprünge und rannte mit der Schulter gegen einen kleinen Baum. Im kargen Schatten des Baumes blieb es stehen und sah sich nach seinem Reiter um. Razamon wirbelte herum, ließ das Fangseil los und lief wie gehetzt in die Richtung des letzten Reiters, der sich mit Lebo Axton herumschlug. Der Reiter und sein Tier waren mehrmals von Felsbrocken getroffen worden. Aber immer wieder schleuderte der Jäger sein Fangseil nach Axton, der ebenso oft und bemerkenswert geschickt auswich. Bevor Razamon, der mit großen Sprüngen auf den fremden Reiter zurannte, den Baum und die kämpfende Gruppe erreichte, drehte er
sich kurz um. Die Staubwolke am Horizont zeigte deutlich, daß das erste Reittier in rasender Geschwindigkeit dorthin zurück flüchtete, woher es gekommen war. Ein Reiter lag tot im Staub, der andere bewegte sich schwach. Die zweite Echse stand regungslos unter dem Baum. Wieder bückte sich Axton, riß einen Stein aus dem Boden und schleuderte ihn auf den Reiter. Gleichzeitig bewegte sich das Seil, in Schlingen dem beschwerten Ende folgend, auf Axtons Beine zu. Der Stein traf die Brust des Reiters. Und jetzt war Razamon unmittelbar hinter ihm. Das Ende des Fangseils wickelte sich um Axtons Füße. Er versuchte auszuweichen und sprang in die Höhe, aber ein schneller Ruck straffte das Seil und ließ ihn schwer zu Boden stürzen. Razamon klammerte sich am Sattelrand fest und sprang auf den Rücken der Echse. Er hob das Beil und schlug dem Reiter den Griff mit großer Wucht an die Stelle, an der er unter den dunklen Tüchern den Hinterkopf vermutete. Lautlos sackte der Reiter nach vorn auf den Hals der Echse. Aber seine Hand ließ das Seil nicht los. Die Echse schüttelte den Körper und brach zur Seite aus. Axton wurde mitgezerrt und einige Meter weit über den Boden geschleift. Razamon klammerte sich mit beiden Beinen an dem Körper des Reittiers fest, hielt mit der linken Hand den Reiter im Sattel und schob die Klinge der Axt unter das straff gespannte Seil. Er bewegte die gekrümmte Schneide viermal hin und her und schnitt das Tau durch. Die Echse sprang weiter. Axton blieb im Staub liegen. Razamon griff nach dem Zügel, riß daran und sprang aus dem Sattel. Sofort warf sich das Tier zur Seite, keilte nach ihm aus und verfehlte seine Schulter mit den stumpfen Klauen nur knapp. Es rannte hinter dem ersten Reittier her und suchte sich im Zickzack einen Weg zwischen den Büschen nach Westen.
Razamon lief auf Axton zu und half ihm auf die Beine. »Du hast dich gut geschlagen«, sagte er zufrieden und wischte sich den Staub aus dem Gesicht. Axton humpelte in den Schatten, öffnete ein Wasserrohr und trank es leer. Dann spuckte er aus und antwortete: »Es war sicher nicht der letzte Zwischenfall vor Turgan.« »Damit rechne ich«, stimmte der Berserker zu und betrachtete liebevoll die Waffe. Hoffentlich glückte es ihm, sie lange zu behalten. »Immerhin haben wir einen Sattel und ein Reittier«, murmelte Axton. »Es wird uns das Fortkommen etwas erleichtern.« Razamon lachte kurz und sah dem Tier nach, das etwas langsamer rannte als das erste, und voller Verblüffung merkte er, daß der Reiter sich noch immer im Sattel befand. Es war von hier aus nicht zu erkennen, ob er schon zu sich gekommen war oder noch immer besinnungslos im Sattel hing. Als Axton auf das dritte Tier zuging, warf die Echse den Schädel hoch, stieß einen Schrei aus und trabte, immer schneller werdend, hinter den anderen Tieren her. »Dein Optimismus war voreilig«, sagte Razamon. »Die Jäger haben ohne Warnung angegriffen. Sie scheinen wirklich nichts anderes zu tun als andere Wesen einzufangen.« »Ich sagte es. Machen wir uns aus dem Staub«, empfahl Axton zweideutig. Razamon blieb neben dem Reiter stehen, den er aus dem Sattel geschlagen hatte. Er drehte den Fremden auf den Rücken und riß die Tücher von seinem Kopf. Die großen Augen waren grün und rund, das Gesicht schmal und starkknochig. Es war, von den Augen abgesehen, erstaunlich menschlich. Schnell untersuchte Razamon den Fremden nach Waffen, aber sie schienen sich alle am Sattel oder in Taschen befunden zu haben. Die Hautfalten, die in diesem Gesicht die Nase ersetzten, flatterten leicht – der Mann war also nicht tot. Über der Hälfte des Gesichts und dem zahnlosen Mund
lagen die Strähnen dunkelbraunen Haares. Razamon hob die Schultern und sagte halblaut: »Mein unbekannter Freund, ich werde dich hier liegenlassen. Vielleicht freut es dich so wenig, zu Fuß gehen zu müssen wie wir.« Er ging zurück zu Axton und schlug dem Pthorer aufmunternd auf die Schulter. Sie nickten sich zu und marschierten weiter. Axton hatte sich das erbeutete Seil um den Bauch geschlungen. Noch hatten sie die Todesrinne längst nicht erreicht, aber es würde nicht mehr lange dauern. Schweigend wanderten sie in der Richtung weiter, die sie am frühen Morgen eingeschlagen hatten. Nur unmerklich änderte die Steppe ihr Aussehen. Sie war nicht mehr ganz so flach; es gab kleine Hügel, nur wenige Meter hoch. In den winzigen Einschnitten zwischen den Hängen wuchsen mehr und grünere Pflanzen. Die trockene Hitze ließ nach, und schließlich, gegen Mitte des Nachmittags, knurrten die Mägen der Pthorer vernehmlich. Der Berserker deutete auf einen besonders großen Hügel, auf dem sich eine Baumgruppe befand. Razamon brach das lastende Schweigen und schlug vor: »Dort sollten wir rasten. Wir sehen jeden Angreifer auf Tausende Schritt Entfernung. Einverstanden, Wanderfreund?« »Meinetwegen«, sagte Axton mürrisch. Er befand sich nach dem kurzen, gefährlichen Zwischenspiel wieder in seiner depressiven Phase, sagte sich der Berserker. Sein Verhalten war derart merkwürdig, daß es für ihn keinen Zweifel mehr gab: Lebo Axton war krank. Sein Gemüt hatte sich völlig verändert. * Am frühen Abend sahen sie die Todesrinne. In schätzungsweise fünf oder mehr Kilometern Entfernung hörte
die Steppe auf. Inzwischen war das Land sehr viel hügeliger geworden. Die Männer standen auf der Kuppe des höchsten Hügels und sahen im Nordosten nur die Kante der ungeheuren Schlucht – und zwar die gegenüberliegenden Felsabstürze. »Sehr beeindruckend«, sagte Razamon nachdenklich. »Diese Schlucht zu durchqueren, dürfte fast unmöglich sein.« »Die Bewacher der Brücke werden uns auch daran hindern, auf weniger beschwerlichem Weg nach Turgan zu kommen«, antwortete Axton. »Die Bruen sind wild und gefährlich, sagte Katzenohr.« »Katzenohr sagte vieles, das nicht stimmte«, schränkte Razamon ein und hob die Hand, um die Augen abzuschirmen. Die Todesrinne war eine breite Schlucht mit zerklüfteten Felswänden. Von ihrem Standort erkannten die Pthorer nur einen kurzen Abschnitt der Rinne, die sich in nördlicher Richtung fortsetzte. Ihr südliches Ende verschwand irgendwo in einem fahlen Dunst, der aus der Schlucht heraufzog. »Wir werden mehr wissen, wenn wir an der Kante auf unserer Seite sind«, sagte Razamon. »Bis es dunkel wird, haben wir die Schlucht erreicht.« Sie hielten sich abwechselnd in den gebogenen kleinen Tälern und kletterten hin und wieder, um sich zu orientieren, auf einen Hügel. Tatsächlich kamen die Ränder der Schlucht immer näher. An der Stelle, die sie ansteuerten, war die Schlucht mindestens zwanzigtausend Meter breit, aber es war zu vermuten, daß die Breite ständig variierte. Die Sonne sank tiefer und tiefer. Ab und zu gab es in den Tälern kleine Wasserlöcher. Spuren und ausgetretene Pfade bewiesen, daß viele Tiere zu den Wasserstellen kamen. Die Wanderer füllten ihre leeren Wasserbehälter wieder auf tranken reichlich, wuschen sich die Gesichter und die Hände. Der Marsch verlor jetzt vorübergehend seine Schrecken. Sie trafen weder Jäger, noch fanden sie deutliche Spuren. Das Land schien
weitestgehend leer und friedlich zu sein. Irgendwann sagte der Berserker: »Sollten wir die Kante erreichen, müssen wir ihr nach Norden folgen.« »Ja.« »Es macht wirklich von Stunde zu Stunde und von Kilometer zu Kilometer mehr Freude, mit dir zusammen durch Dorkh zu laufen«, kommentierte Razamon halb verzweifelt. »Aber immerhin antwortest du wenigstens noch.« »Bist du sicher, daß Atlan jenseits der Brücke in Turgan ist?« Axton war die letzten Stunden nicht hinter Razamon dahergetrottet, sondern war neben ihm durch die Steppe gegangen. Ob dies auf eine Änderung seines Verhaltens hindeutete, wagte Razamon nicht zu entscheiden. »Ich bin nicht sicher«, bekannte er, »aber vermutlich werden es uns die Wächter der Brücke sagen können.« »Wenn sie wollen …« Noch hundert Schritte, und sie standen vor dem Abgrund. Schweigend betrachteten sie diese riesige Spalte, deren Tiefe sich nicht abschätzen ließ, weil man den Boden nicht sehen konnte. Die oberen Teile des gegenüberliegenden Absturzes lagen voll im fast waagrechten Licht der abendlichen Sonne. Messerscharfe Felsen, senkrechte Platten und überhängende Blöcke waren zu erkennen, sie wirkten, als würden sie sich jeden Moment aus der Wand lösen und in die Tiefe krachen. An wenigen Stellen hatten sich genau an der Kante riesige Bäume festgekrallt, deren Wurzeln unsichtbar und deren Kronen schräg waren. Direkt vor den Füßen der Pthorer ging es senkrecht abwärts. Nach einem Absturz von mehr als zweihundert Metern zeigte sich ein mit riesigem Geröll übersätes Band. Darunter ragten nadelförmige Felsspitzen hoch, zwischen denen unbedeutendes Grün wuchs. Tief unten flogen zwei riesige Vögel mit weißen Schwingen nach Norden; ihre klagenden Schreie hallten zwischen
den Felsen wider. Es war ein gespenstischer, ängstigender Blick dort hinunter. »Weiter.« Die Pthorer gingen dicht entlang der Spalte. Ihr Weg führte jedenfalls jetzt mehr oder weniger genau nach Norden, aber sie mußten den Ausbuchtungen und Vorsprüngen folgen, und so änderte sich ihre Richtung alle hundert Schritt. Die Hügel des Steppenrandes blieben links von ihnen zurück. Die Sonne versank jenseits der Hügel. Razamon fing an, sich wegen des Nachtlagers Sorgen zu machen. Konnten sie es riskieren, ein Feuer zu machen? Oder lockte das Feuer irgendwelche Bestien aus der Tiefe der Todesrinne an? Ab und zu setzten sich die winzigen Täler mit ihren Pflanzen und den ebenso unbedeutenden Quellen bis an den Rand der Spalte fort. Wasser tropfte über die Felsen abwärts. Hin und wieder tauchten einzelne Felsformationen auf, die in die Gesteinsmasse der Rinne übergingen. Das Gelände wirkte mehr und mehr verlassen, drohend und gewaltig. An einer Stelle, an der drei hausgroße schwarze Steinblöcke aneinanderstießen, blieb Razamon stehen und entschied: »Wir bleiben hier. Es gibt etwas Wasser, die Felsen geben uns Schutz, und für ein Feuer liegt genug trockenes Holz herum. Wenn wir überhaupt irgendwo sicher sind, dann hier. Oder willst du noch weitermachen, Lebo?« Immer wieder wurde er entmutigt: jede noch so gut gemeinte Frage oder Bemerkung wurde von Lebo Axton entweder nicht beantwortet oder in einem Tonfall zurückgegeben, der Razamon ärgern mußte. Lange würde er es sich nicht mehr gefallen lassen. Aber schließlich war der verwirrte Verstand Axtons weder durch Prügel oder Schreien zu heilen, noch dadurch, daß er ihn hier irgendwo zurückließ. Seufzend fügte er sich in sein Schicksal. »Ich bleibe hier«, entschied Axton.
Die Zeit bis zum endgültigen Beginn der Nacht verbrachten sie damit, zwei Lager zu richten, die Wasserstelle zu säubern und einen Teil des Proviants auszupacken. Mit der gefundenen Waffe schlug Razamon Holzstücke zurecht und schichtete sie auf. Er unternahm einen schnellen Rundgang um die Felsgruppe und sah zu seiner Erleichterung, daß es auch hier keine Raubtierspuren gab. Vielleicht konnten sie in der Nacht wieder einmal ruhig schlafen. Bald brannte ein fast rauchloses Feuer. Sie aßen Früchte, tranken frisches Wasser und hielten die Fleischbrocken zum Aufwärmen an zugespitzten Holzstücken über die Glut. Das Feuer war nur im Osten zu sehen, also von der anderen Seite der Todesrinne. Zuerst war es nur ein feines Knistern. Dann, als Razamon mit einem Satz hochsprang, sich die Schulter an dem Felsen prellte und lauschend stehenblieb, wurde aus dem hellen Geräusch ein Ächzen und Krachen. Der Boden fing an zu zittern. Kleine Steine kollerten über die Risse und Vertiefungen der schützenden Felsen. Razamons Finger krampften sich um den Griff der Waffe. Axton hatte abrupt zu schnarchen aufgehört. Was war das? Das Zittern des Bodens hörte auf, als rechts von Razamon in der Finsternis das Krachen lauter wurde. Ein letzter Stoß ließ den Berserker taumeln. Dann hörte er, wie aus der Felswand der Todesrinne ein riesiger Block sich löste, gegen anderes Gestein prallte und schließlich zusammen mit einer gewaltigen Steinlawine abwärts rumpelte. Der Berserker zählte langsam bis fünfzehn, erst dann glaubte er zu hören, wie die Gesteinsmasse auf dem unsichtbaren Grund der Todesrinne zur Ruhe kam. Razamon lehnte sich gegen die Felswand und holte tief Atem. Vor seinen Fußspitzen leuchtete der kleine Glutkreis des erloschenen Feuers und strahlte ein wenig Wärme aus. Axton bewegte sich im Schlaf, legte sich wieder auf den Rücken
und schnarchte leise weiter. »Jedenfalls hat er ein gutes Gewissen«, tröstete sich Razamon sarkastisch. Er tastete sich am Felsen entlang und blieb in der Finsternis, östlich vom Feuer und von ihrem Lager, stehen. Seine Augen bohrten sich in die Dunkelheit, er bemühte sich, leise und flach zu atmen. Er sah nichts; weder ein Feuer noch irgendwo etwas, das sich als Lichtsignal deuten ließ. Aber er hörte ein ununterbrochenes Prasseln kleiner Steine oder Felsbrocken, die irgendwo in der Wand der Todesrinne sich lösten. Er zuckte schließlich die Schultern und tappte zurück zu seinem Lager. Er legte sich hin, verschränkte die Arme im Nacken und starrte hinauf in die Sterne. Axton stöhnte leise, aber langgezogen auf, atmete keuchend und warf sich unruhig auf den Blättern und Gräsern des Lagers herum. Razamon ahnte, daß wieder einmal ein Alptraum den Mann heimsuchte, der ihm von Tag zu Tag rätselhafter und unheimlicher wurde. * Als Grizzard aufwachte, mußte er sehen, daß Razamon wieder einmal schneller gewesen war. Auf sauberen Blättern lagen die letzten Früchte. Sie waren in Scheiben geschnitten und ohne Kerne. Die letzten Bratenstücke waren in Scheiben geschnitten. Zwei Wasserröhren aus Holz, sauber gewaschen und frisch gefüllt, steckten im Boden. Sand und Steine lagen über der letzten Glut des Feuers. »Heute werden wir vermutlich die Brücke erreichen, Axton«, sagte der Berserker und nickte. »Diese Nacht, so scheint es, war für dich nicht erholsam.« Er saß ruhig da, das Beil auf den Oberschenkeln, ein Stück Braten
auf der Messerspitze aufgespießt. »Ich habe tief geschlafen!« versicherte Axton verwundert. »Du hast gestöhnt und gewinselt«, verbesserte ihn Razamon. »Außerdem hast du einen Felsrutsch verschlafen, der den Boden erschüttert hat.« »Nein!« »Doch. Es stimmt«, meinte Razamon. »Vermutlich hast du vom Sklavenmarkt in Turgan geträumt.« »Auf dem Atlan verkauft wird.« »Was keineswegs sicher ist«, meinte Razamon. »Aber auch das können wir nur an Ort und Stelle erfahren. Aus diesem Grund, mein Freund, werden wir gleich starten. Guten Appetit.« Er zeigte auf das fertige »Frühstück«. Grizzards Gedanken – was Razamon nicht einmal ahnte – waren seit dem mißglückten Mordversuch noch chaotischer als vorher. Der Augenblick, an dem die Steine der Mauer in die dunkle Höhle in Cibola hineingekracht waren, ging ihm nicht aus dem Sinn. Er glaubte zu wissen, daß Razamon alles wußte. Es würde nur logisch sein, wenn der Berserker seinerseits versuchte, ihn auszuschalten. Daß Razamon unverändert freundlich war, ihm half und sogar während des Zusammenstoßes mit den Sklavenjägern für ihn gekämpft hatte, erfüllte ihn mit Mißtrauen und Angst. Und dazu kam, daß keines seiner anderen Probleme auch nur einen Schritt der Lösung näher gekommen war: Copasalliors Auftrag, Atlan zu töten. »Danke«, murmelte Grizzard‐Axton und begann schweigend zu essen. Razamon kletterte auf die Felsen hinauf und versuchte herauszufinden, ob er die Brücke über die Todesrinne sehen konnte. Sie war entweder zu weit entfernt oder lag verborgen hinter Hügeln oder Bäumen. Er sah sie nicht. Aber alle Informationen, die er besaß, sagten übereinstimmend, daß sich die steinerne Furt über die Todesrinne im Norden befinden mußte. Er ließ sich von dem Steinblock gleiten und wartete, bis Axton fertig war.
Dann traten sie den nächsten Abschnitt des Marsches an. ENDE Weiter geht es in Atlan Band 459 von König von Atlantis mit: Die Todesrinne von Hans Kneifel