Atlan - König von Atlantis Nr. 463 Dorkh
Die Herren von Dorkh von Peter Terrid
Atlan und seine Freunde im Zen...
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Atlan - König von Atlantis Nr. 463 Dorkh
Die Herren von Dorkh von Peter Terrid
Atlan und seine Freunde im Zentrum der Macht
Atlans kosmische Odyssee, die ihren Anfang nahm, als Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, das Vorfeld der Schwarzen Galaxis erreichte, geht weiter. Während Pthor und die Pthorer es immer wieder mit neuen Beherrschern und Besatzern zu tun bekommen, ist der Arkonide zusammen mit seinen Gefährten Razamon und Grizzard auf Veranlassung von Duuhl Larx, dem Herrn des Rghul‐Reviers, nach Dorkh gebracht worden, um dort eine Mission im Sinne des Dunklen Oheims zu erfüllen. Doch Dorkh, das Pthor in vieler Hinsicht gleicht, ist eine Welt voller Schrecken und voller Gewalt, und den drei Männern von Pthor wird bald klar, daß sie eine fast unlösbare Aufgabe vor sich haben. Ihre Fähigkeiten, widrigen Umständen zu trotzen und selbst in aussichtslosen Situationen zu überleben, sind jedoch so ausgeprägt, daß sie bisher alles überstanden haben, was Dorkh gegen sie aufzubieten hatte. Atlan und seine Gefährten schaffen es sogar wider Erwarten, unbeschadet zum SCHLOSS, dem Machtzentrum von Dorkh, zu gelangen. Dann aber, als sie sich Zugang zu diesem Zentrum verschaffen wollen, beginnt eine dramatische Auseinandersetzung, denn sie treffen auf DIE HERREN VON DORKH …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan, Razamon und Grizzard ‐ Der Arkonide und seine Gefährten im Machtzentrum von Dorkh. Konterfert ‐ Ein Techno von Dorkh. Aoore und Deela ‐ Ein junger Punthare und seine Geliebte. Ghyderzan ‐ Ein Torwächter. Xerylh ‐ Ein Tormagier.
1. Einmal im Leben Aufrechtgeher sein, nur ein einziges Mal, für ein paar Hellzeiten, mehr wünschte sich Aoore nicht. Nur dieser Gedanke erfüllte ihn, einmal das ehrenvolle Amt eines Aufrechtgehers übernehmen zu dürfen. Davon allein träumte er, und er malte sich die Einzelheiten genußvoll aus: wie man ihm den Speer übergeben würde, und wie ihm der Vorgeher den Auftrag erteilte. Die neidischen Blicke der anderen Seitengeher, von den neiderfüllten Ausbrüchen der alten Freunde einmal ganz abgesehen. Der Schweber würde den Segen des Himmels auf ihn herabflehen, die Blutgeher würden ihm die besten Stücke ihrer Beute abtreten müssen – nach den Kostbarkeiten, die allein dem Vorgeher und den Schwebern vorbehalten waren. »Einmal nur«, murmelte Aoore. »Reiß dich zusammen«, zischte es neben ihm. »Du kommst aus dem Tritt.« Die Puntharen bewegten sich langsam über das Land. Sie wollten nicht gesehen werden. Seit sie zurückdenken konnten, hatten sie auf der Flucht gelebt, immer gewärtig, überfallen und abgeschlachtet zu werden. Aoore, den man den Zwiebart nannte, wußte gar nicht, wovor die Sippe auf der Flucht war, dafür lag die Geschichte wohl schon wieder zu lange zurück. In jedem Fall mußte ein Punthare von klein auf lernen, wie man sich unsichtbar machte – eine Kunst, in der es
das kleine Volk zu unerreichter Meisterschaft gebracht hatte. »Anhalten«, ging der Befehl des Vorgehers durch die Reihen. Der Marschblock stoppte. Wie er es schon früh gelernt hatte, übernahm Aoore mit seinen Gefährten die Flankensicherung. Sie schlossen sich eng zusammen, preßten die Leiber gegeneinander und bedeckten die Spitzen ihrer Speere mit den Händen. Kein verräterisches Blitzen durfte über die Ebene hinweg sichtbar werden. »Die Blutgeher und Fruchtgeher sollen ausschwärmen«, lautete der nächste Befehl. Aoore hatte damit gerechnet. Das Ritual blieb stets das gleiche. Zuerst suchten die Aufrechtgeher die Gegend ab. Ihre Späherdienste waren für das Volk der Puntharen von größter Wichtigkeit. Nicht nur, daß sie Wasserstellen ausfindig zu machen hatten. Es war ihnen auch vorbehalten, die Landschaft genau zu mustern und die Entscheidung zu treffen, ob die Möglichkeit bestand, den Stamm stundenlang auf der Stelle verharren zu lassen. Aoore machte eine Bewegung zur Seite. Zwei Blutgeher mit beutegierigen Mienen schlüpften an ihm vorbei ins Freie. Sie brauchten nur ein paar huschende Schritte zu machen, dann waren sie scheinbar verschwunden. Nur ein Punthare vermochte zu sagen, ob der Steinbrocken ein paar Schritte entfernt ein Blutgeher war oder nur ein simpler Stein – so perfekt war die Tarnung der Blutgeher. Die Fruchtgeher, die in ihren großen Hauttaschen Früchte und andere Pflanzennahrung sammelten, folgten den Blutgehern. Während sie ausschwärmten, um das Land nach eßbaren Früchten oder jagdbarem Wild abzusuchen, verharrte der Rest des Volkes kauernd auf dem Boden. Tief gebückt bewegte sich der Block der Leiber vorwärts, und nur die Aufrechtgeher hatten das Privileg, die Köpfe hinaufrecken und das ganze Land in Augenschein nehmen zu dürfen. Sie sollten den Verband auch warnen, falls irgendwelche Feinde auftauchten – und für die Puntharen war alles, was sich bewegte, entweder willkommene
Beute oder aber der Feind. Sobald die Blut‐ und die Fruchtgeher den Verband verlassen hatten, rückten die anderen enger zusammen. Aus der Luft hätten die Puntharen ausgesehen wie eine flache Platte aus rauhem Fels, gelblichbraun gefärbt und vom Wind an einigen Stellen glattgeschliffen. Die einzelnen Leiber der Puntharen waren aus größerer Entfernung nicht zu erkennen, und das war genau das Ziel, das dieses kleine Volk stets zu erreichen trachtete. Überall konnte der Tod für den Sippenverband lauern, in der Luft, im Wasser, hinter jedem Fels. Alles, was größer war als Sandhüpfer, war in den Augen der Puntharen Feind, und jeder Feind war stärker als sie. »Paß auf, Krabbler!« herrschte Guule, Aoores Nebenmann, ihn an. Aoore, sehr ehrempfindlich wie die meisten Puntharen, funkelte böse zurück. »Gib selbst acht«, zischte er. Ihn als Krabbler zu bezeichnen war eine Frechheit – nur Kinder krabbelten. Aoore schielte ein wenig zur Seite. Er wollte Deela sehen, eine junge Geherin, die beim Marsch des ganzen Verbands stets in Aoores Nähe schritt. Deela sah Aoores Blick auf sich gerichtet und lächelte verhalten. Aoore fand es an der Zeit, etwas zu unternehmen. Er trug ein Geheimnis mit sich, das er niemandem anvertrauen durfte, jedenfalls noch nicht. Allem Anstand zum Trotz hatte er sich Deela genähert. Er hatte einfach keine Geduld gehabt, obendrein war Deela augenfällig hübsch, und das minderte Aoores Chancen natürlich sehr, wenn es zum Wettbewerb um Deela kam. Nun, er hatte es gewagt, und nun sah Deela einem Schicksal als Trägerin entgegen – es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihren Zustand nicht länger würde verbergen können. Und was dann geschehen würde, lag auf der Hand. Man würde sie befragen, wer
der ruchlose Bube gewesen war, der sie in diesen Zustand versetzt hatte, und Deela würde früher oder später mit der Wahrheit herausrücken müssen …. Aoore dachte lieber gar nicht erst über alle Folgen seiner Unbesonnenheit nach. Die ersten Fruchtgeher kehrten zurück. Sehr erfolgreich waren sie nicht gewesen. Das wenige, das sie in den Hauttaschen trugen, reichte gerade für den Abend – vorausgesetzt, die Blutgeher hatten mehr Glück gehabt. Wenn nicht, würde es ein sehr karges Mahl geben. Der Sippenverband bewegte sich ein wenig. Der Vorgang vollzog sich mit verblüffender Geschwindigkeit. Die einzelnen Mitglieder des Sippenverbands drehten und wendeten sich, und am Ende dieser großen Bewegung waren die heimkehrenden Geher und Geherinnen in den Verband integriert – keinem Beobachter wäre vermutlich aufgefallen, daß es in der Nähe des Lagerplatzes der Puntharen ein paar Felsblöcke weniger gab, daß dafür aber die Felsplatte an Größe zugenommen hatte. »Ich muß mit dir reden«, sagte Aoore leise, als Deelas Ohren in seine Nähe kamen. Deela machte eine Geste der Ratlosigkeit. Wo sollten sie über das gemeinsame Thema reden, inmitten des Verbands verbot sich das von selbst. So etwas wie Privatleben gab es nicht bei den Puntharen – lediglich den Paaren wurde erlaubt, sich ab und zu für wenige Stunden abzusondern. Der Rest des Lebens vollzog sich im Innern des Verbands, der niemals aufgelöst werden konnte – die gesamte Sippe konnte nur leben, wenn jedes einzelne Mitglied die ihm zugewiesene Pflicht gewissenhaft erfüllte. Die einen schleppten Beute oder Früchte heran, andere beobachteten die Umgebung, wieder andere besorgten Wasser – Deela verteilte gerade, was sie gefunden hatte –, die Seitengeher schirmten den Verband vor Feinden, die Lieger, auf den Schultern der anderen ruhend, sorgten in unablässiger Bemühung dafür, daß die Oberfläche des Sippenverbands harmlos und unverdächtig blieb. Es gab
Spezialisten am Ende des Zuges, die sorgfältig die ohnehin kärglichen Spuren verwischten, die der Verband hervorrief … »Später!« flüsterte Deela zurück. Guule bedachte Aoore mit einem scheelen Blick. Natürlich hatte er das Gespräch gehört, er stand schließlich unmittelbar neben Aoore; beider Leiber berührten sich, um so den Eindruck einer festen Felswand hervorzurufen. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Guule. »Du gehst doch nicht etwa auf Schau, bevor du einen Rang eingenommen hast, oder?« Aoore schwieg dazu. Deela nahm etwas Wasser aus dem Hautbeutel und streckte die gewölbte Hand mit den dichten Häuten zwischen den Fingern aus. »Mehr gibt es heute nicht«, sagte sie zu Guule. Der Seitengeher bedachte sie mit einem langen Blick, dann trank er langsam von dem trüben Wasser. Die nächste Ration galt Aoore, und Deela achtete genau darauf, daß er ebensoviel Wasser bekam wie Guule – Liebe hin, Liebe her. Aoore wußte, daß er einen gewaltigen Fehler begangen hatte, damals, als er beim Beutemachen zufällig auf Deela gestoßen war, die an diesem Tag zum Fruchtgang gestimmt worden war. Aoore würde erst dann eine Erlaubnis bekommen, wenn er einige Hellperioden lang Dienst als Spitzengänger getan hatte. Das aber konnte dauern – zur Zeit bewegte sich der Verband über leidlich flaches Land. Niemand stürzte ab, es gab keine Kämpfe, die Spitzengänger taten also einen ganz normalen Dienst und wurden erst nach einer Hellperiode abgelöst. »Achtung!« Jede Bewegung erstarb im Sippenverband. Einer der Aufrechtgeher hatte den leisen Warnruf ausgestoßen, und jeder Punthare hatte ihn sofort befolgt. Einmal mehr verfluchte Aoore sein Geschick. Mit etwas mehr Glück hätte er jetzt an der Spitze des Verbands gestanden und möglicherweise gesehen, was sich dort abspielte. So aber …
»Umstrukturierung!« befahl der Vorgeher. Auch dieser Befehl wurde sofort befolgt. Ohne daß äußerlich eine Bewegung sichtbar geworden wäre, formierten sich die Puntharen zum Kampf. Aoore spürte sein Herz höher schlagen – es sah so aus … Tatsächlich, der Feind – wie immer er aussehen mochte – kam aus der Richtung, die Aoore zu decken hatte. Der junge Punthare fühlte, wie sich seine Muskeln spannten. Kam es zum Kampf, hatte er eine Chance, seine Schwierigkeiten zu überwinden. Der Vorgeher näherte sich Aoore. Zum ersten Mal sah Aoore den Anführer des Sippenverbands aus der Nähe, und er fand den Anblick wenig beeindruckend. Der Vorgeher war ein ganz normaler Punthare, dazu ziemlich alt, wie sein dunkler Bart bewies, der ihm in langem Zopf vom Kinn baumelte. Seine Haut war ebenfalls sehr dunkel, auch dies ein Zeichen seines vorgerückten Alters. Vermutlich war er auch gar nicht mehr in der Lage, den Giftfirnis zu bilden, mit dem sich die Puntharen vor Räubern zu schützen versuchten – meist mit durchschlagendem Erfolg. »Wo steht der Feind?« fragte der Vorgeher ungeduldig. Er stand jetzt unmittelbar neben Aoore. Die schwere Last der Verantwortung für Leben und Sicherheit von fast zweitausend Puntharen hatte den Vorgeher gezeichnet. Begleitet wurde er von einer kleinen Gruppe erlesener Krieger, die ihm überallhin zu folgen hatten und infolgedessen Nachgeher genannt wurden. Einmal zu dieser Gruppe zu gehören, war der Traum eines jeden männlichen Puntharen – er wurde indes nur für eine sehr kleine Zahl jemals Wirklichkeit. »Seht dorthin«, sagte einer der Seitengeher. Aoore hatte eigentlich gar nicht das Recht dazu, aber er folgte einfach dem Vorgeher, natürlich in sorgsam gewähltem Abstand von den Nachgehern. Nach ein paar Schritten hatte er den Rand des Sippenverbands erreicht. Jetzt konnte auch Aoore den Feind sehen – und er wußte im
gleichen Augenblick, daß gegen diesen Gegner kein Kampf möglich war. Sie standen auf einer Anhöhe, und sie hielten jene geheimnisvollen Waffen auf die Puntharen gerichtet, gegen die es keine Gegenwehr geben konnte. Ein Stück weiter – nur eine Kante war davon zu sehen – stand das Fahrzeug, das die Gegner hergebracht hatte. Ein Gefühl ohnmächtigen Zorns durchfuhr Aoore. Sich so bewegen zu können, aufrecht zu gehen, den Kopf hoch erhoben … ja, sogar durch die Luft reisen zu können. Wie das vonstatten gehen konnte, wußte Aoore nicht. Er wußte nur, daß er Wesen betrachtete, deren Fähigkeiten sie gottgleich erscheinen ließen. Und es waren strenge, strafende Götter. »Riisa, alter Mann, komm her!« erklang die Stimme eines der Technos. In Aoore verkrampfte sich alles. Niemals, nicht in seinen kühnsten Träumen, hätte er sich erfrecht, einem Vorgeher den schuldigen Respekt zu verweigern. Und dieser Kerl dort drüben … Aoore bezähmte seinen Haß. Über das Gesicht des Vorgehers flog ein schmerzliches Lächeln. Binnen weniger Augenblicke war der Punthare vor den Augen und Ohren seines Volkes aller Macht und allen Ansehens entkleidet worden. »Komm heraus, alter Kriecher!« Höhnisches Gelächter folgte dieser fürchterlichen Beleidigung. »Haltet euch zurück, Kinder«, flüsterte Riisa. Er trat ins Freie, ja er machte sogar zwei, drei Schritte, die ihn von der kompakten Masse der anderen absonderten. Aoore spürte, wie er zu zittern begann. Den schützenden Sippenblock zu verlassen, dem Feind unmittelbar ins Gesicht sehen zu müssen, der Gedanke bereitete Qual. Sich im Schutz der Dämmerung entfernen, um zu jagen oder Früchte zu sammeln, das war etwas anderes. Jetzt konnte Aoore den hageren Körper des Vorgehers sehen. Die dürren gebeugten Glieder, den dunklen Bart, der sich leicht im
Wind bewegte. Der Körper des Vorgehers war völlig trocken – nun, was hätte es ihm auch genutzt, den Leib mit giftigem Sekret zu bedecken. Die Technos wären niemals so dumm gewesen, einen Puntharen anzufassen. Sie wußten, daß die Berührung einen langen, qualvollen Tod zur Folge hatte. »Es ist wieder soweit«, rief der Anführer der Technos. »Zahlt den schuldigen Zins.« »Es sind erst drei Perioden verstrichen«, wagte Riisa einzuwenden. »Wir sind in diesem Jahr nichts mehr schuldig.« »Willst du uns belehren, Alter? Wir bestimmen, was ein Jahr ist, niemand sonst.« »Wir haben nichts.« »Das hast du schon einmal gesagt«, versetzte der Anführer der Technos. Er bog sich vor Lachen über seinen eigenen Witz. »Vor einem Jahr, als wir uns zuletzt getroffen haben.« Aoore verkannte nicht den boshaften Spott in den Worten des Peinigers. Er wünschte, er könnte dem widerlichen Techno seine Waffe in den Leib bohren … Sie hätten ihn niedergestreckt, bevor er auch nur zwei Schritte gemacht hätte, und danach hätten sie ein Blutbad angerichtet unter den Wehrlosen und Unschuldigen. Es konnte keinen Widerstand geben, nur fügsames Ducken und braves Kriechen. »Was wollt ihr?« »Das Übliche«, sagte der Techno. »Geschmeide, Schmuck oder Sklaven, wenn ihr nichts anderes habt.« Aoore hielt den Atem an. Die letzten Hellzeiten waren elend gewesen, was die Beute betraf. Kaum einmal hatte die Sippe ein paar kümmerliche Halbedelsteine finden können, noch weniger Gold oder anderes Erz von Wert. Und der Zins, den die Technos den Puntharen immer wieder auferlegten, war drückend hart. »Ein paar Handvoll«, sagte Riisa und verbeugte sich noch tiefer. Er zeigt ihnen den gekrümmten Rücken, dachte Aoore, was für eine
Schmach. »Mehr haben wir nicht anzubieten.« Der Techno lachte. »Dann nehmen wir die Träger auch mit«, sagte er hart. »Los, zeig her, was du hast.« Furchtsam näherten sich ein paar Träger. In den offenen Handflächen glitzerten kümmerliche Edelsteine. »Das ist alles«, sagte Riisa. »Das Jahr war sehr kurz.« Der Techno quittierte diese spitze Antwort auf seinen Spott mit einem breiten Grinsen. »Recht hast du, Alter«, sagte der Techno. »Du kommst mit. Und du.« Der Techno hatte die Hand ausgestreckt. Mit dem Finger zeigte er auf seine Opfer. »Du«, sagte die harte, grausame Stimme. »Und du.« Langsam bewegte sich der ausgestreckte Arm an den Reihen der Puntharen entlang. »Du!« Aoore war nicht gemeint. Der Finger zeigte nicht auf ihn. Aber sein Nebenmann war gemeint. Der Finger deutete auf jemanden, der links hinter Aoore stand und heftig atmete. Aoore wußte sofort, auf wen der Techno deutete. Deela. 2. Es war früher Morgen, noch feucht von der Nacht. Wir gingen langsam, sehr mühsam. Es ging einen Hügel hinauf. »Bald sind wir am Ziel«, verhieß Konterfert. »Hoffentlich«, sagte Razamon. Er wirkte nervös, wie überarbeitet. Fast schien es, als bereite sich einer seiner gefürchteten Ausbrüche vor. Jedes zweite Wort, das
Razamon mehr hervorspie als sprach, war mit Emotion aufgeladen. »Hoffentlich«, sagte Grizzard. Unsicher blickte er umher. Ich war mir sicher: Irgend etwas vollzog sich in dem Mann. Grizzard kapselte sich ab, verschloß sich uns gegenüber immer mehr. »Von der Kuppe des Hügels aus kann man das SCHLOSS sehen«, versprach Konterfert. Auch ich war müde, wenn auch nicht in dem Maß wie meine Gefährten. Das Leben war nicht einfach für uns gewesen in der letzten Zeit, und es sah auch nicht danach aus, als würde es zum Honigschlecken in der nahen Zukunft. Konnte es uns gelingen, das Geheimnis zu lüften, das sich mit dem SCHLOSS von Dorkh unlöslich verband? Würden wir sie kennenlernen, die Herren, die über Dorkh und seine Bewohner geboten? Das waren Fragen genug, wenig aber gab es darauf zu antworten. Wir mußten zudem damit rechnen, alsbald getötet zu werden, wenn wir das Geheimnis lüfteten. Dennoch: es gab für uns in diesem Augenblick nur ein Ziel. Das SCHLOSS. Langsam und bedächtig machte ich die letzten Schritte. Dann war die Kuppe des Hügels erreicht. Da lag es, das SCHLOSS. Zu sehen war davon nichts, ich hatte auch nicht damit gerechnet. Daß sich an diesem Platz aber das Herz und Hirn Dorkhs befinden mußte, war nicht zu übersehen. Ein gewaltig großer Schutzschirm wölbte sich leuchtend über dem Tal und verbarg das eigentliche SCHLOSS vor unseren Blicken. Es mußte eine große Anlage sein, und unwillkürlich fühlte ich mich … »Wie die FESTUNG«, sagte Razamon und spie aus. Grizzard starrte die leuchtende Energiekuppel an. Sein Blick wirkte stumpf, sein Gesicht verriet Ratlosigkeit. »Schade, daß man nicht in das Innere hineinsehen kann«, sagte
ich. Konterfert lächelte. »Ihr werdet den Innenraum schon früh genug zu sehen bekommen.« »Offenbar nicht als einzige«, stellte ich fest. Von unserem Standort aus konnten wir sehen, daß sich zwischen der Straße der Händler und der undurchsichtigen Wand aus purer Energie viel Volk drängte. Tausende von Dorkhern hatten sich eingefunden. »Sie bringen die Tribute«, erklärte Konterfert. »Es sind Dorkher aus vielen Gegenden.« Wenig war es nicht, was Dorkh aufzubringen hatte für die Herren im Innern des SCHLOSSES. Hunderte von Karren standen in dem öden Gelände, teils von Chreeans gezogen, teils waren Tarpane ins Geschirr genommen worden. »Ungemütlich«, sagte Razamon. »Und kalt.« Ein eisiger Hauch wehte vom SCHLOSS herüber und strich über das verkümmert wirkende Land. Dunkel war der Boden, karg und steinig; kein Halm, der hier hätte zu wurzeln vermocht. Wir konnten Feuer sehen, Hunderte kleiner Feuerstellen entlang des Weges. Daneben kauerten die Dorkher, tief zusammengesunken, um der grimmigen Kälte und der eisigen Schärfe des Windes nur wenig Angriffsfläche zu bieten. Die Herren des SCHLOSSES hatten sich wahrlich ein gemütliches Plätzchen ausgesucht. Eine weniger anheimelnde, ödere Gegend ließ sich kaum vorstellen. Die gesamte Landschaft strahlte Niedergeschlagenheit aus, ließ den Betrachter frösteln und an Übles denken. Seltsam still war es. Nur ab und zu gab eines der Tiere Laut, wurde aber sofort vom Herren zum Schweigen gebracht. Das verängstigte Schweigen legte sich auf alles. Fast schien es, als halte hier jedermann furchtsam den Atem an. Ein Windstoß, schneidend in seiner erbarmungslosen Kälte, ließ
mich erschauern. »Weiter«, sagte ich. »Vielleicht finden wir an einem der Feuer Platz.« Wir gingen langsam, wir wollten kein Aufsehen erregen. Darum hatten wir auch den Zugor, der uns hierhergebracht hatte, etwas abseits gelandet und abgestellt – vielleicht brauchten wir das Gefährt noch dringend. Diesen Beweggrund hatte ich Konterfert natürlich nicht genannt – ihm hatte der Hinweis auf die Aufregung genügt, die wir hervorrufen konnten, wenn wir zu nahe an das SCHLOSS herangeflogen wären. So aber näherten wir uns den Tausenden zu Fuß; auch sie waren zu Fuß hergekommen, denn die Wagen waren beladen mit dem, was die Herren des SCHLOSSES als ihr Eigentum betrachteten. Den Warenmengen nach zu schließen, die von den tributpflichtigen Dorkhern herangeschafft worden waren, lebten die Herren des SCHLOSSES auf großem Fuß. Nun, wahrscheinlich war ein großer Teil dieses Tributs weniger für die eigentlichen Herrscher von Dorkh bestimmt als vielmehr dazu, den Hofstaat zu versorgen, die Schutzmannschaften, mit denen sich die Herren umgaben. »Wird der Schutzschirm jemals abgeschaltet?« wollte ich wissen. Konterfert verneinte. »Niemals«, beteuerte er. »Siehst du den Bogen dort, das leuchtende rote Gebilde? Das ist der Eingang zum eigentlichen Schloß, und niemand darf hinein, der den Herren des Schlosses nicht genehm ist.« »Feiglinge«, hörte ich Razamon murmeln. Grizzards Gesicht verriet Besorgnis, und auch Konterfert wirkte ziemlich nervös. Offenbar hatte der Techno noch immer nicht recht begreifen können, was eigentlich geschehen war und worum es überhaupt ging. Darin waren wir einander nicht unähnlich – auch mein Wissensstand war im Augenblick nicht der beste. Unter den herbeigeeilten Dorkhern gab es auch zahlreiche
Händler, die an diesem wichtigen Verkehrsknotenpunkt ihre Geschäfte zu machen suchten. »Heiße Baumnüsse«, rief einer. »Heiß und saftig, und ganz frisch.« Es war ein älterer Mann, hager und in Lumpen gehüllt. Er saß vor einer Blechtonne, in der ein kümmerliches Feuer knisterte. Auf einem Gitterrost oberhalb der Flammen brutzelten einige faustgroße Gebilde – der Geruch war verführerisch. Ein anderer pries mit großem Stimmaufwand seinen Schnaps, und ein zerlumpter Junge huschte durch die Menge und versuchte Liebesabenteuer zu vermitteln – gegen Gebühr, verstand sich. »Heda!« rief einer, und der Anruf galt mit Sicherheit uns. »Wartet, bis ihr an der Reihe seid.« Die Stimmung der Wartenden war gereizt. Wir blieben stehen. Die Feuer lockten uns an, aber wir hatten wenig Aussicht, unsere klammen Glieder an den Flammen wärmen zu können. Hier mußte für alles und jedes bezahlt werden, und die Tatsache, daß all diese Untertanen der SCHLOSSHERREN nur deswegen angereist waren, um Tribut zu zahlen, legte sich naturgemäß auf die Gemüter. Kaum einer, der nicht ein gereiztes oder grimmiges Gesicht gemacht hätte. »Wie lange sollen wir hier warten?« fragte ich leise. »Es kann dauern«, gab Konterfert halblaut zurück. Wir bewegten uns langsam vorwärts. Vor dem Tor zum SCHLOSS staute sich naturgemäß der Verkehr. Wir konnten sehen, daß gerade niemandem Einlaß gewährt wurde. Eine große Menge drängelte sich vor dem Tor, der Rest der Wartenden hatte sich über das Gelände verstreut. Ich rechnete mir aus, daß diejenigen, die sich vor dem Tor tummelten, am frühesten angekommen sein mußten. Offenbar hatten sich Neuankömmlinge draußen ein Quartier zu suchen und durften dann nachrücken, wenn in der Nähe des Tores ein Platz frei wurde. Daß die Dorkher über dieses System nicht gerade erfreut waren, ließ sich denken – man brauchte nur auszuatmen und den Wolken der eigenen Atemluft nachzusehen, um zu wissen, was es
hieß, unter diesen Umständen tagelang im Freien zu kampieren. »Wir müssen tagelang warten«, erklärte Razamon verdrossen. »Was kann in dieser Zeit nicht alles geschehen?« Er hatte zweifelsohne recht. Immerhin waren wir – zumindest offiziell – Abgesandte des Dunklen Oheims. Durften wir da nicht mit bevorzugten Behandlung rechnen? Nun, das mochte für die SCHLOSSHERREN gelten und für ihre unmittelbare Dienerschaft, nicht aber für die Dorkher. Dennoch versuchten wir langsam, uns dem Tor zu nähern. Da die Energiewand geschlossen war, hatten wir ohnehin keine Aussicht, ins Innere des SCHLOSSES gelangen zu können. »Halt da«, rief eine Frau. »Was drängelt ihr euch vor? Wartet, bis ihr an der Reihe seid!« »Richtig«, mischte sich ein Mann ein. »Was glaubt ihr denn, wer ihr seid, daß ihr euch vorzudrängeln versucht?« Ich bemerkte sofort, daß wir blitzartig den Volkszorn auf uns laden konnten, wenn wir nicht sehr vorsichtig waren. Konterfert hatte diesen Gedankengang nicht mitbekommen, im Gegenteil. Er richtete sich auf. »Was fällt euch ein?« schrie er. »Ich bin ein Beauftragter der SCHLOSSHERREN, und diese hier sind …« »Ach nein«, sagte die Frau. Sie fletschte die Zähne. »Einer von denen bist du. Und ganz allein und ohne Waffen.« »Vordrängeln wollen sie sich. Unerhört. So etwas gehört bestraft.« »Wollt ihr wohl …«, ereiferte sich Konterfert. »Sei still«, zischte ich ihm zu, aber leider zu spät. »So einer hat uns gerade noch gefehlt«, sagte jemand neben mir. »Frißt sich auf unsere Kosten voll, das Gesindel, und wird dann auch noch unverschämt. Bei uns zu Hause hungern die Leute, und hier wird das Kostbarste fast in den Dreck geschüttet. Seht ihr den Fruchtwagen, den dort drüben? Alles ist schon angefault, weil man den Fuhrmann nicht durchlassen will. Dutzende könnte man damit speisen, aber wir dürfen ja nicht. Beauftragter der
SCHLOSSHERREN, wenn ich das schon höre. Wir sollten diese Burschen …« Ich kannte Redensarten dieser Güte. Ich packte Konterfert am Arm und preßte ihn so hart wie möglich. Der Techno mußte aufhören zu reden, in seiner Verbohrtheit schwätzte er uns womöglich um Kopf und Kragen. »Weh über euch«, rief Konterfert, dann stöhnte er unter der Gewalt meines Griffes wehleidig auf. »Los«, schrie jemand. »Gebt ihnen, was sie verdienen.« Jetzt hielt der Techno den Mund, aber jetzt war es auch schon entschieden zu spät. Die Umstehenden drangen auf uns ein. Ihre Mienen verrieten zunächst Wut, dann eine gewisse Neugierde. »Langsam, Freunde«, sagte ich. »Keine Aufregung!« Es half nicht. Die Menge hatte offenbar Gefallen an dem Gedanken gefunden, uns ein wenig zu schurigeln. Wenn man sie gewähren ließ, konnte aus der Fopperei sehr leicht ein echter Fall von Lynchjustiz werden; jeder falsche Zuruf konnte eine Menschenjagd und ein Blutbad auslösen. Von irgendwoher kam ein Stück fauligen Gemüses angeflogen und traf Konterfert mitten im Gesicht. Der Techno stieß einen Wutschrei aus, seine Rechte fuhr hinab … Diese Bewegung entschied alles. Ich konnte dem Techno nicht böse sein, diese Reaktion war zwar falsch, wohl aber verständlich. Sie hatte nur zur Folge, daß die Menge noch wütender wurde. Jetzt vermuteten die Dorkher, Konterfert wäre bereit, sie erbarmungslos niederzuschießen. »Wir bleiben zusammen«, rief ich. Um keinen Preis durften wir uns auseinandertreiben lassen. Wer der Meute isoliert in die Finger fiel, hatte verspielt. Das Wutgeschrei wurde immer lauter. Die Menge hatte Blut geleckt. Wieder kamen Wurfgeschosse herangesaust, fauliges Obst,
verschimmeltes Gemüse. Bald waren wir über und über mit ekelhaft stinkenden Abfällen eingedeckt, und aus unseren Mienen konnten die Dorkher unschwer ableiten, wie wenig uns dieses Spiel behagte. Wir wichen langsam zurück. Wohlweislich hatte ich dafür gesorgt, daß sich unser Rückzug in geordneten Bahnen vollzog – wir wurden von unseren Bedrängern langsam aber sicher auf den Eingang zum SCHLOSS zugeschoben. Sie selbst schufen uns freie Bahn. Leicht war es nicht, beieinander zu bleiben. Wir mußten die Hände vor die Gesichter halten. Ein Teil des vermoderten Grünzeugs, mit dem wir beworfen wurden, sonderte ätzende Säfte ab, die nicht nur unsere Kleidung und Finger verfärbten, sondern auch üble Schäden hervorrufen konnten, wenn wir Spritzer davon in die Augen bekamen. Infolgedessen wichen wir halbblind zurück, und wir konnten nur hoffen, daß keiner von uns stolperte. Dann war es zweifelsfrei um den Betreffenden geschehen. Die vordersten Dorkher, die uns nachmarschierten, hatten sich unterdessen mit Waffen versehen. Es war nichts Hochwertigeres darunter als ein paar handfeste Prügel, aber auch mit ihnen konnte man Hirnschalen einschlagen. Zu unserem Glück hatten die Tapferen aber sehr großen Respekt vor dem Unrat, der auf uns herabregnete. Sie hüteten sich infolgedessen, uns zu nahe zu kommen. »Wenn ich einen davon zu fassen bekomme«, hörte ich Konterfert knirschen. Razamon stieß ab und zu ein ersticktes Wutgeheul aus. Der Himmel mochte uns vor einem Berserkeranfall bewahren; es wäre ein Blutbad daraus geworden. Als ich für einen kurzen Augenblick zur Seite schielte, konnte ich Grizzard sehen, der sich furchtsam duckte und alles tat, um nicht getroffen zu werden. Sein Gesicht verriet eine erschreckende Hilflosigkeit. Der Mann schien gar nicht zu begreifen, was mit ihm und uns überhaupt gespielt wurde.
»Nicht so hastig!« rief ich. Wir mußten denen hinter uns Zeit geben, uns freie Bahn zu machen. Das taten die Dorkher um so eifriger, je heftiger wir mit fauligem Obst und Gemüse beworfen wurden. Dann schienen die Reserven der Dorkher erschöpft zu sein. Der erste Stein kam herangeflogen. Die Sache wurde lebensgefährlich. Genau in diesem Augenblick berührte ich mit dem linken Fuß irgend etwas Glitschiges, Schleimiges. Ich konnte nicht sehen, was es war, aber ich spürte, wie mein Fuß abrutschte. Ich konnte die Hände nicht bewegen, um den Verlust des Gleichgewichtes auszubalancieren – ich hätte riskiert, einen Stein mitten ins Gesicht zu bekommen. Ich brach links in die Knie, dann verlor ich vollends den Halt. Der Länge nach fiel ich zur Seite, prallte hart auf dem steinigen Boden auf. Instinktiv rollte ich mich herum. Nur weg von dem Platz, an dem ich zu Boden gegangen war. Gerade noch rechtzeitig. Dort landete ein beachtlich großer Stein. Ich wandte den Kopf. Die Energiewand, die das SCHLOSS von der Außenwelt trennte, stand, und sie wies nicht die kleinste Lücke zum Durchschlüpfen auf. Ich versuchte in die Höhe zu kommen. Es war schwer, mein linkes Knie schien in Flammen zu stehen – ich war mit den Knochen auf den Stein geprallt, und das schmerzte infam. »Macht sie nieder!« Der Unverstand der ergrimmten Dorkher rettete uns das Leben. Hätten sie sich darauf beschränkt, uns unter einem Berg von Abfällen zu ersticken, wir hätten es nicht verhindern können. Hätten sie uns gesteinigt, wir wären chancenlos gewesen; der Tod wäre eine Frage weniger qualvoller Minuten gewesen. So aber wollte man uns offenbar aus nächster Nähe das Lebenslicht ausblasen. Mit weit geöffneten Mündern stürmten die
ersten vor. Sie kamen nicht weit. Von hinten kamen weiterhin Geschosse herangesaust, schlecht gezielt, und darum in die eigenen Reihen treffend. Zwei, drei Angreifer gingen zu Boden. Das gab mir Zeit, auf die Beine zu kommen. Ich hob die Fäuste, entschlossen, meine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Dann waren die ersten heran. Ein Flegel traf mich an der Schulter, und wäre der Dorkher zum nächsten Schlag gekommen – er hätte mir die Hirnschale zermalmt. So aber wurde er von seinen Hintermännern genau auf mich zugeschoben. Ein Treffer mit der geballten Faust ließ ihn zu Boden gehen. Dem nächsten rammte ich das Kniegelenk in den Leib, dem dritten drosch ich mit beiden Fäusten ins Gesicht. Das erzielte auch Wirkung, aber leider nur bei den unmittelbar Getroffenen, die vor Schmerz und Wut aufheulten und die Distanz suchten. Ihre Hinterleute aber, die mit jedem Schritt, den sie von uns entfernt waren, eine Zehnerpotenz an Tapferkeit mehr aufwiesen, drängelten kampfeslustig ihre Vorderleute uns auf den Leib. Binnen weniger Augenblicke war ich der Gefahr entronnen, erschlagen zu werden. Statt dessen hatte ich die Wahl: Ich konnte von der Meute zertrampelt werden, ich konnte aber auch in den Wabern des Energieschirmes enden, auf den ich mit unwiderstehlicher Kraft zugedrängt wurde. Denn das Tor zum SCHLOSS war versperrt. Der leuchtende blutrote Bogen ließ niemanden durch. Dann aber, im Bruchteil einiger Sekunden, war der Weg frei. 3. Aoore huschte davon. Er hatte fürchterliche Angst, und er wußte das. Aber er fand keine andere Möglichkeit, seiner Verzweiflung Herr zu werden. Es war
finsterste Nacht, und das machte es für den Puntharen leichter, den schützenden Sippenverband zu verlassen, einzeln, ohne Erlaubnis, geschweige denn Auftrag. Aoore machte einige wenige Schritte, dann hockte er sich nieder. Er hatte sich dies alles einfacher vorgestellt, und jetzt mußte er erkennen, was es hieß, den Verband zu verlassen. Er war zum ersten Mal ganz allein, nur auf sich selbst gestellt. Aoore wußte, das das, was er tat, ein Verbrechen an seiner Sippe war. Die Puntharen schlichen in ihrem eigentümlichen Sippenverband über das Land, duckten sich in jede Deckung, tarnten und täuschten, waren nicht zu sehen, kaum zu ahnen. Es sollte die Puntharen nach Möglichkeit im Bewußtsein anderer gar nicht erst geben. Dieses Geheimnis, dessen Wahrung sich der Verband entsetzlich viel kosten ließ, war natürlich in höchstem Maß gefährdet, wenn ein Punthare einem Fremden in die Hände fiel, lebend und noch nicht hinreichend in der Kunst der Selbstverleugnung geübt, um sich beim geringsten Anzeichen einer Gefahr für alle leichten Herzens den Tod zu geben. Das war auch das Schicksal, dem Aoore entgegenging. Er war gewillt und entschlossen, Deela zurückzuerobern, sie aus den Händen der Technos zu erretten. Dann wollte er sich irgendeinen verborgenen Winkel Dorkhs suchen und dort mit Deela zusammen einen neuen Sippenverband begründen. Er wußte aber, weil er zu jung und leidenschaftlich war, sich über den Verlust der Geliebten mit der Kälte des Verstandes hinwegzutrösten, daß er dieses Ziel niemals würde erreichen können. Heißblütig wie selten einer unter den Puntharen hatte er sich einen anderen Weg erwählt, den zu gehen er nicht minder entschlossen war. Zuerst wollte er Deela finden. Fand er sie nicht, dann wenigstens die Technos, die sie verschleppt und vielleicht ermordet hatten. Ihr Blut sollte Blüten der Rache aus Deelas Grab aufschießen lassen.
Danach wollte er sich selbst den Tod geben. Aoore richtete sich wieder auf. Es war dies eine Bewegung, die er früh verlernt hatte. Puntharen gingen in aller Regel tief gebückt, den Rücken dem Himmel zugekehrt. Leib an Leib formten sie so die kompakte Masse des Sippenverbands, die aus der Luft kaum zu entdecken war. Aufrecht zu gehen, das bedeutete für einen Puntharen Überwindung, es sei denn, er war zum Aufrechtgeher berufen. Immer schon hatte Aoore davon geträumt, aufrecht zu gehen – nun, da er es tat, gefiel es ihm wenig. Es schuf Angst. Jeder konnte ihn so sehen, vor allem den Bart, der jetzt den Körper berührte und unangenehm kitzelte. Aoore fühlte sich sehr unbehaglich, aber er wußte, daß er in der tiefen Beuge nicht schnell genug sein würde, um den Technos nachsetzen zu können. Er machte sich auf den Weg. Schweres Gewölk lagerte über dem Land und verbreitete undurchdringliche Finsternis. Aoore mußte alle Sinne schärfen, um nicht zu stolpern oder gar hinzuschlagen. Er spürte das harte Gestein unter seinen Füßen, als er aus der Mulde hinaufstieg in die Weite des Landes. Die Puntharen zogen es vor, sich durch Täler zu bewegen, auch dort waren sie vor Sichtkontakten einigermaßen geschützt. Aoore aber mußte, wenn er seinen Plan erfüllen wollte, das Land in seiner ganzen entsetzlichen Offenheit durchqueren, für jedermann sichtbar. Er spürte leise Schauder über den Körper laufen, als er den Wind zum ersten Mal am ganzen Leib spürte. Über das Land strich eine schwache Brise, und jeder Quadratzoll seines Körpers wurde vom sanften Druck des Windes berührt. Eingebettet in den Sippenverband war diese Empfindung Aoore bislang erspart geblieben, und er fand vorerst keinerlei Gefallen daran. Puntharen waren zähe und genügsame Wesen. Sie kamen mit einem Mindestmaß an Nahrung und Getränk aus, und Aoore war in
dieser Beziehung ein Vorbild. Stunde um Stunde marschierte er auf den Spuren der Technos, die er selbst im Dunkel gut erkennen konnte – die Duftfahne, die sie hinter sich herzogen, war überdeutlich. Vor allem aber lag auf dem Weg Deelas Angstgeruch, für Aoore so deutlich wahrnehmbar wie ein gellender Hilfeschrei. Als der Morgen heraufdämmerte, hatte Aoore das Gebiet seiner Sippe weit hinter sich gelassen. Wieder überfiel ihn die Angst. Das Gefühl, ganz allein der strahlenden Helle des Tages ausgesetzt zu sein, nirgendwo einen Platz zu wissen, an den er sich hätte verkriechen können – Aoores innerste Gefühle wurden von diesen Tatbeständen aufgewühlt. Er wußte selbst nicht, wie ihm geschah, aber er kämpfte die brennende Versuchung nieder. Er marschierte weiter und weiter. Erster Bedarf nach Ruhe überkam ihn in der Mittagszeit. Er entdeckte eine Felsgruppe, karg und leblos, die ihm sehr einladend erschien. Er bewegte sich auf das Versteck zu. Er hatte unglaubliches Glück. Nicht nur, daß er auf dem Weg genügend eßbares Gras fand, um zwei Tage damit bestreiten zu können, zu seiner Freude fand er zwischen den hochgetürmten Felsen auch eine Lache brackigen Wassers – wer gelernt hatte, tagelang zu dürsten, kannte keine falsche Hemmung beim Anblick trüben Wassers. Aoore trank langsam und gründlich, und er trank viel. Niemand wußte, wann er wieder etwas zu trinken bekommen würde. Aoore lehnte den Rücken gegen den Fels. Das Gefühl durchzuckte ihn wie ein scharfer Schmerz. Es war das erste Mal, daß etwas so Hartes wie der Fels seinen Rücken berührte. Während er noch versuchte, das Gefühl aufkeimender Panik niederzukämpfen, nahm er etwas anderes wahr. Er spürte Schritte, die sich ihm näherten. Instinktiv tat Aoore das, was jeder Punthare an seiner Stelle getan hätte.
Er krümmte sich zusammen und rollte sich zur Seite. Daß er dabei über scharfkantiges Geröll geriet, dessen Spitzen sich ihm schmerzhaft ins Fleisch bohrten, nahm er kaum wahr. Er sah nur, daß plötzlich in der Nähe des Wasserlochs eine große hagere Gestalt aufgetaucht war. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte der Hagere. »Er hat mich gesehen«, durchfuhr es Aoore. »Er hat mich erblickt und meine Tarnung durchschaut. Ich bin verloren.« Er wußte, was er zu tun hatte. Er mußte sich das Leben nehmen. Augenblicklich begann er damit, die Luft anzuhalten. Puntharen konnten dies bis zum Tod; es war ihre besondere Fähigkeit. »Laß den Unfug, Punthare«, sagte der Fremdling. »Ich tue dir nichts, und ich habe auch keine Angst vor dir.« Aoore erstarrte. Nicht nur, daß man ihn gesehen hatte. Der Fremde wußte auch, zu welchem Volk er zählte. Aoore entkrampfte sich. Sein Körper streckte sich ein wenig. Er kam wieder auf die Füße, krümmte sich aber instinktiv wieder zusammen. »Kann ich von dem Wasser haben?« fragte der Hagere. Sein Gesicht verriet keinerlei Freundlichkeit, nur Ekel und Verbitterung. »Nimm«, sagte Aoore. Er erkannte seine eigene Stimme kaum wieder. Sie klang wie ein Krächzen. »Ich bin Tirkis«, sagte der Hagere. »Man nennt mich den Wandersöldner.« Aoore hatte von Tirkis gehört. Er wußte, daß er eine Waffe mit sich führte und daß er sich selbst und diese Waffe vermietete. Waffen waren zum Töten bestimmt, also verkaufte dieser Mann den Tod. Ein Gedanke, der Aoore entsetzte und zugleich anzog. »Ich brauche vor allem Wasser für meine Tiere«, sagte Tirkis ruhig. »Nimm«, sagte der Punthare ein zweites Mal. Was hätte er auch anderes sagen sollen. Aoore führte nur seinen
Speer mit, und was war das für eine Waffe gegen einen Wandersöldner? Tirkis beäugte Aoore ein paar Augenblicke lang. »Glaube nur nicht, daß ich mich dir verpflichtet fühle«, sagte er dann rauh und entfernte sich. Aoore richtete sich sehr behutsam auf. Er holte tief Luft. Es würde dies das erste Mal sein, daß er aufrecht stehend mit jemandem sprach, und es war obendrein auch noch das erste Mal, daß Aoore mit einem Fremden redete, mit jemandem, der nicht zum Sippenverband gehörte. »Nun«, murmelte Aoore. »Bringen wir es hinter uns.« Merkwürdigerweise schien der Wandersöldner keinerlei Anstoß daran zu nehmen, daß Aoore aufrecht stand, als Tirkis mit seinen Packtieren zurückkehrte. Sie waren schwer beladen. »Meine Waffe«, sagte Tirkis. Beinahe zärtlich streichelte er die Umhüllung. »Meine Streitaxt Kordran. Sie wird bald vollendet sein.« Aoore hatte schon allerhand in seinem Leben erfahren, er war ein heller, aufgeweckter Punthare, und in seinem Volk wurde mangels besserer Unterhaltung viel geschwätzt, wenigstens untereinander. Aber noch nie hatte Aoore gehört, daß es jemand fertiggebracht hätte, ein so monströses Gebilde wie die Streitaxt Kordran zu schwingen. Wenn Tirkis das Ding anzuheben versuchte, würde er unter dem Gewicht zusammenbrechen müssen. Indessen war das nicht Aoores Sache. »Willst du Fleisch?« fragte Tirkis. Aoore nickte zaghaft. Tirkis hatte irgendwo ein Tier geschossen, das er jetzt briet. Als Brandmaterial diente ihm der getrocknete Dung der Tiere, die ihren Durst am Wasser gestillt hatten. Aoore hielt sich abseits. Er blieb zwar stehen, aber er sah zu, daß er nicht zu nahe bei dem Unheimlichen stand. »Für einen Puntharen erweist du dich als außergewöhnlich selbstsicher«, sagte Tirkis. Er nahm eine Probe von dem Fleisch und
kaute langsam. »Alle anderen Puntharen gehen normalerweise gebeugt.« Aoore verspürte einen starken Zwang, die gewohnte Haltung einzunehmen, dann aber straffte sich seine Gestalt wieder. »Ich bin kein normaler Punthare«, sagte er so überzeugend, wie es ihm möglich war. »Setz dich und iß«, sagte Tirkis. Er winkte Aoore zu sich. Im Hintergrund scharrten die Tragtiere. »Was machst du hier?« fragte der Wandersöldner. »Noch dazu allein.« Aoore wollte klarstellen, daß er zum Äußersten entschlossen war. »Man hat meine Freundin entführt«, sagte er. »Technos haben sie verschleppt. Ich werde sie retten oder rächen.« »Ein breites Spektrum der Möglichkeiten«, erwiderte Tirkis. »Technos, sagst du, haben sie entführt?« »Als Tribut mitgenommen«, stieß Aoore hervor. »Aha«, sagte Tirkis. Er nickte schwer. Wortlos schnitt er ein Stück vom Braten ab und gab es an Aoore weiter. Das Fleisch schmeckte ganz anders, als Aoore es gewohnt war, aber er hatte Hunger, und so aß er. »Tribute werden gewöhnlich ins SCHLOSS gebracht«, ließ sich Tirkis vernehmen. »Dort leben die Herren von Dorkh. Willst du dich mit ihnen anlegen?« Aoore setzte ein selbstsicheres Gesicht auf. »Ich werde jeden Widerstand überwinden«, sagte er zuversichtlich. Tirkis Gesicht verriet keinerlei Gemütsbewegung. Er sah Aoore nur von der Seite an. »Du könntest Hilfe gebrauchen«, sagte Tirkis nach kurzer Zeit. »Freunde, erprobte Kämpfer, die deine Sache zu der ihren machen.« »Und dann meine Freundin zu der ihren?« Tirkis grinste breit. »An deiner Freundin bin ich nicht interessiert. Puntharen‐
Mädchen … aber das ist eine Geschmacksfrage. Was ich brauche, ist Metall.« Aoore sagte gar nichts. Daß Tirkis keine Puntharen‐Mädchen mochte, war eine Frechheit. Daß er auch Deela, ohne sie überhaupt gesehen zu haben, ebenfalls in Bausch und Bogen zurückwies, ließ Aoore vor Wut beinahe platzen. Er fühlte sich versucht, kurzen Prozeß mit dem Frechling zu machen. Aber die Vernunft, die ihm sagte, daß er dabei vermutlich den Kürzeren ziehen würde, ließ ihn von dieser Versuchung Abstand nehmen. »Hast du Metall?« Aoore besaß nichts. Das einzige Stückchen Metall, das er mit sich trug, gehörte eigentlich dem Sippenverband. Es war die Klinge seines Speeres, und von der gedachte sich Aoore keinesfalls zu trennen. »Wozu willst du Metall haben«, fragte Aoore, um Zeit zu gewinnen. Er entsann sich, daß Tirkis als Kämpfer einen vorzüglichen Ruf genoß; es konnte nützlich sein für Aoore, diesen Mann an seiner Seite zu haben. Schließlich, Aoore war ehrlich genug, das einzugestehen, war es mit seiner Fähigkeit als Kämpfer nicht weit her. Tirkis machte eine Kopfbewegung, die auf die Packtiere zielte. »Für die Axt«, sagte er kauend. »Ich brauche immer neue Teile für meine Streitaxt, daher verdinge ich mich als Söldner.« Er sah Aoore düster drohend an. »Eines sage ich dir«, ergänzte er, »versuche nicht, mich zu täuschen. Alle versuchen sie, mich zu hintergehen, zuletzt diese beiden Burschen mit ihrem seltsamen Roboter.« »Extortirnser«, erklang es von einem der Packtiere her. »Haltʹs Maul«, brüllte Tirkis, ohne sich umzudrehen. Aoore verschlug es die Sprache. Wer hatte da den Namen Extortirnser genannt? Eines der Packtiere? Oder gar …? Aoore begann dem Wandersöldner jetzt fast alles zuzutrauen. »Die haben auch versucht, mich übers Ohr zu hauen«, knurrte
Tirkis. »Und jetzt ist meine Geduld erschöpft. Wenn du also meiner Dienste bedarfst, ich stehe dir zur Verfügung, wenn du gut dafür zahlst – in Metall.« »Ich habe nichts«, sagte Aoore. »Gar nichts?« Aoore schüttelte den Kopf. Tirkis machte ein mißmutiges Gesicht. »Dann wird nichts aus uns werden«, sagte er. »Oder hast du Metall in Aussicht?« »Das Beil des Henkers, bestenfalls«, antwortete Aoore. Tirkis stand auf. Irgendwie kam es Aoore normal vor, daß der hagere Wandersöldner auf ihn herabsah. Dennoch erhob auch er sich. »Lebe wohl«, sagte Aoore. »Danke für das Fleisch.« Tirkis sah ihn brummig an. »Weißt du Narr eigentlich überhaupt, wo das SCHLOSS zu finden ist?« »Ich werde danach fragen«, sagte Aoore. Tirkis benutzte das Wort jetzt zum zweiten Mal, aber Aoore wußte immer noch nicht, was damit gemeint war. Tirkis schüttelte den Kopf. »Unglaublich«, murmelte er. »Hat deine Freundin Metall?« »Woher sollte sie?« fragte Aoore zurück. »Wenn du die Puntharen kennst, dann weißt du, daß wir arme Leute sind.« Tirkis fletschte die Zähne. »Ich werde dir helfen«, sagte er dann. »Gegen meine Prinzipien werde ich etwas für dich tun. Wohlverstanden, ich werde nicht für dich fechten, so weit kann ich nicht gehen. Aber ich werde dir helfen, das SCHLOSS zu finden. Wenn du alleine danach suchst, wird deine Freundin alt und grau sein, bis du sie wiederfindest.« »Ich kann dir nichts dafür geben«, sagte Aoore. Er wollte verhindern, daß er später Ärger mit dem Wandersöldner bekam. »Das weiß ich«, sagte Tirkis finster. »Um so mehr wundere ich
mich über mich selbst. Also vorwärts, Punthare.« Aoore sah den Wandersöldner zögernd an, dann zuckte er mit den Schultern. Was sollte er anderes tun, als Tirkis zu folgen? Der Söldner war weit herumgekommen, er kannte sich im Land besser aus. Aoore wußte nicht recht, worauf er sich da einließ, aber er war gewillt, alles auf sich zu nehmen, wenn es nur seinem Ziel diente, Deela wiederzufinden. 4. Binnen weniger Augenblicke hatte sich das Bild völlig gewandelt. Waren die wütenden Dorkher noch vor ein paar Sekunden willens gewesen, uns umzubringen, so kannten sie jetzt nur noch ein Ziel – hinein in das SCHLOSS zu kommen. Binnen weniger Augenblicke waren wir überrannt. Halb besinnungslos vor Gier stürmten die Dorkher voran, auf uns zu, über uns hinweg. In rasender Geschwindigkeit bildete sich ein Knäuel ineinander verwickelter Leiber, das zuckend auf den Eingang des Tunnels zurollte. Nur ab und zu konnte ich in diesem phantastischen Durcheinander einen Blick auf das Tor erhaschen. Was ich sah, war eine Öffnung in der undurchdringlichen Wand aus Energie, umsäumt von dem leuchtendroten Bogen des Tores. Im Innern setzte sich der Energieschirm fort. Es wurde lediglich eine Art Tunnel geformt, durch den die Besucher in das Innere der Anlage eingelassen wurden. In diesem Augenblick konnte von Besuchern keine Rede mehr sein. Was sich schreiend und brüllend auf das Tor zu wälzte, war eine entfesselte Menge, die keiner Gesetzmäßigkeit unterworfen schien. Nur ein Gedanke schien die Dorkher zu beherrschen – hinein ins SCHLOSS, um jeden Preis.
»Aufgepaßt!« hörte ich Razamon rufen. Ich hatte den Kontakt zu den Freunden verloren. Ich wußte nicht, wo Razamon sich befand, in welches Knäuel Grizzard sich verstrickt hatte. Irgendwo in diesem Durcheinander mochte auch der Techno Konterfert stecken. Die Menge hinter uns drängte und schob nach. Wenn in dieses Chaos nicht sehr bald Ordnung gebracht wurde, mußte es in dem Durcheinander Tote in Mengen geben. Wer der Meute unter die Füße geriet, war dazu verurteilt, zertrampelt zu werden. Ich mußte alle meine Kräfte anspannen und meine Geschicklichkeit auf eine harte Probe stellen, um nicht diesem Schicksal anheimzufallen. Aber ich kam dem Ziel meiner Bemühungen näher, und dazu brauchte ich mich nicht anzustrengen – der Druck der Dorkher trieb mich unablässig auf das Tor zu. Noch ein paar Meter, und ich hatte den Tunnel erreicht. Ich strauchelte, mein rechtes Knie wurde von einem wilden Schmerz durchzuckt. Wäre ich nicht eingekeilt gewesen, ich hätte im Nu auf dem Boden gelegen, und aufgestanden wäre ich niemals mehr. So aber hinderte mich der Körperdruck anderer am Umfallen. Noch ein halber Schritt … Langsam begann sich das Tor zu schließen. Im gleichen Augenblick wurde aus dem Chaos eine vorweggenommene Hölle. Alles schrie und kreischte, kämpfte, trat um sich, schlug und biß. Die Massen taten alles, um die Chance wahrzunehmen. Sie wollten in das SCHLOSS hinein. Ich sah, wie sich die leuchtende Wand aus Energie zu schließen begann. Wie eine halbierte Irisblende schloß sich das Tor, langsam und von oben her. Ich begann jetzt selbst zu drängeln und zu treten. Ich hatte keine Lust, von dem sich langsam schließenden Tor zerteilt zu werden. Während eine Gruppe vor mir damit zufrieden war, den Tunnel erreicht zu haben, kämpfte hinter mir ein anderer Haufen wie besessen, um doch noch hineinschlüpfen zu können.
Es war ein Kampf, der um einen Fußbreit Bodens ausgefochten wurde. Wer auf der Scheidelinie stand, war verloren. Das sich senkende Tor aus Energie kannte weder Gnade noch Rücksichtnahme. Dann war es geschafft. Ich spürte die Bewegung knapp eine Handbreit hinter meinem Rücken, als das Tor sich schloß. Aus den Augenwinkeln heraus konnte ich sehen, daß die letzten Dorkher gerade noch rechtzeitig einsichtig geworden waren und sich abgesetzt hatten. Der Tunnel lag im Dämmerlicht und war erfüllt vom Rufen und Schreien der darin Eingeschlossenen. »Atlan?« gellt eine Stimme, die ich mit Mühe als die Grizzards identifizierte. »Hierher!« rief ich zurück. »Ich stehe unmittelbar am Tor.« Ich konnte die stabilisierte Energiewand in meinem Rücken spüren. Diese Sperre gehörte glücklicherweise nicht zu jenen Konstruktionen, die bei der Berührung elektrische Schläge austeilten oder Unvorsichtige einfach auflösten. Sie fühlte sich an wie lauwarmes Metall, das ein ganz klein wenig unter dem Druck meines Körpers nachgab. Grizzard tauchte neben mir auf. Er bot ein Bild des Grauens. Das Gesicht war blutüberströmt, in den Augen irrlichterte die Furcht. »Bin unter die Füße geraten«, murmelte er. »Kann ich dir helfen?« fragte ich. Es war eine unsinnige Frage, ich konnte kaum die Hände bewegen. »Nicht nötig«, sagte Grizzard. »Es sind nur kleine Verletzungen.« Stirnwunden neigten dazu, entsetzlich zu bluten, ich wußte das. Aber ich konnte nicht sicher sein, ob Grizzard nicht dennoch innere Verletzungen davongetragen hatte. »Ein herrlicher Fleck«, kommentierte eine wutschwangere Stimme plötzlich. Razamon war aufgetaucht. Auch er hatte einige kleinere Verletzungen abbekommen.
»Nun?« fragte der Berserker grimmig. »Was machen wir? Warten, daß man Öl zwischen uns gießt?« Der Vorschlag war so unsinnig nicht, wie er sich anhörte. Ein Gleitmittel wäre in dieser eingekeilten Menge durchaus nützlich gewesen. Wir konnten von Glück sagen, daß weder Tarpane noch Chreeans es geschafft hatten in den Tunnel einzudringen – es wäre entsetzlich geworden. »Hast du dir einen Überblick verschaffen können?« fragte ich Razamon. »Überblick?« fragte er zurück. »Ich war froh, mir die Sache nicht von unten ansehen zu müssen.« Wir standen dicht an dicht, die Arme entweder in der Luft, wo sie nichts nutzten, oder aber an den Körper gepreßt. Der Raum war bis auf den letzten Platz gefüllt mit Menschen, zusammengepackt wie eine Dosenfüllung. Mich wunderte, daß uns in dieser grauenvollen Enge nicht die Luft wegblieb. Vermutlich aber wurde der Tunnel künstlich belüftet. Überhaupt suchte ich nach dem Steuerungsmechanismus für die Tunnelkonstruktion. In irgendeiner Art und Weise mußte der Eingang verschlossen und geöffnet werden können. Vermutlich lagen die entsprechenden Apparaturen auf der inneren Seite der Energiewand. Unser Ziel mußte es sein, diese Tunnelkontrolle zu erreichen. Das ließ sich recht einfach sagen, aber nur mit größter Schwierigkeit in die Tat umsetzen. Es gab für den einzelnen in diesem Gedränge gerade genug Platz, um ihn stehen und atmen zu lassen. Die Mehrzahl der solcherart Eingeklemmten war naturgemäß nicht eben erbaut von der Enge, spektakelte und versuchte sich möglichst viel Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Daß es dabei nicht ohne Knüffe und Püffe abging, geschweige denn ohne Beleidigungen und wüstes Gezänk ließ sich denken. Immerhin war die Menge noch nicht in Panik verfallen, und das war schon etwas wert.
Ich deutete auf das andere Ende des Tunnels, das ich nur vage erkennen konnte. »Dorthin!« rief ich. »Wir müssen zusammenarbeiten, dann können wir es schaffen.« Ich hatte damit gerechnet, daß die Dorkher damit ganz und gar nicht einverstanden sein würden, und diese Rechnung ging prompt auf. Als wir uns in Bewegung zu setzen begannen, verstärkte sich in unserer Umgebung der Lärm und das Gezänk. »Bleibt, wo ihr seid, ihr Narren«, rief uns jemand zu. »Wartet, bis ihr an der Reihe seid.« »An der Reihe womit?« schrie ein anderer zurück. »Was ist dort vorn eigentlich los? Warum geht es nicht weiter.« Das hätte ich ebenfalls gerne gewußt. Wir sahen zu, daß wir die Dorkher nicht allzusehr verärgerten, während wir uns sehr behutsam einen Weg bahnten. Behutsam, das hieß, daß ich jedem, dem ich zu nahe auf den Pelz rückte, einen kräftigen Puff verpaßte, daß der Betreffende wenigstens in der ersten Überraschung den Schritt zur Seite machte, den ich brauchte, um ein paar Fußbreit Boden zu gewinnen. An meiner Seite schlug Razamon die gleiche Taktik ein, und hinter uns trottete fügsam Grizzard. Nach ihm schloß sich die Lücke wieder, die wir uns an der Spitze zusammengeboxt hatten. Es verstand sich, daß es dabei nicht nur beim Austeilen blieb. Manch einer revanchierte sich für die unsanfte Behandlung, die wir ihm angedeihen ließen, und mehr als eine Faust landete in meiner Magengrube. Ich war aber auf solche Angriffe vorbereitet, und daher zeigten die Hiebe wenig Wirkung. Dennoch fühlte ich mich schon nach relativ kurzer Zeit zerschlagen, und das im buchstäblichen Sinn. Vor allem mußte ich aufpassen, daß bei Razamon nicht die Sicherung durchbrannte, die ihn von einem Anfall berserkerhafter Wut trennte – wenn er in dieser drangvollen Enge loslegte, war ein Blutbad unausweichlich. Indessen hielt sich Razamon zurück. Er schimpfte und fluchte
zwar, aber er schwang die Fäuste maßvoll. Auf diese beschwerliche und auch recht schmerzhafte Art und Weise arbeiteten wir uns vor. Meter um Meter, Schritt um Schritt. Die Aufregung im engbevölkerten Tunnel stieg langsam an, und es war nur eine Frage der Zeit, wann sich die Erregung der Eingeschlossenen mit Gewalt Bahn brechen würde. Auf halber Strecke mußten wir eine Pause einlegen. Ich hatte genügend Hiebe gegen den Brustkorb abbekommen, um vorerst keine Luft für weiteres Vordringen zu haben. Ironischerweise brachte uns diese halbstündige Pause weiter als das mehrstündige Rempeln und Drängeln. Es hatte sich eine Art Fluktuation im Innern des Tunnels ergeben, und wenn man diese seltsame Strömung geschickt ausnutzte, kam man sogar recht bequem vorwärts. Bequem hieß unter den gegebenen Umständen, daß meine Nase blutete und irgend jemand sich derartig auf meinen rechten Fuß stellte, daß er fast einen Zeh zerquetscht hätte. Jedenfalls kamen wir ein wenig voran, und endlich konnten wir sehen, wie das Tor zum SCHLOSS betrieben wurde. Auf der anderen Seite des Tunnels hielten einige Technos Wache, und ihre Mimik verriet, daß sie dieses Geschäft mit rücksichtsloser Härte betrieben. Sie waren zudem durch eine weitere, kaum erkennbare Energiewand von der Menge getrennt, die ihnen wüste Beschimpfungen entgegenschleuderte. »Laßt uns endlich herein, elendes Gesindel!« schrie ein Dorkher neben mir, das Gesicht zornrot, die Stimme sich fast überschlagend. Die Strömung hatte uns unterdessen an den Rand des Tunnels gespült. Wäre die Energiebarriere nicht gewesen, wir hätten nur ein paar Schritte zu machen brauchen, um den Tunnel verlassen zu können. Licht fiel von der anderen Seite herein, der helle Schein des Tages. In dem dämmrigen Licht im Innern des Tunnels waren die Technos gut zu erkennen. Einer von ihnen war ganz offenkundig der Anführer des schwerbewaffneten Trupps.
Aus vereinzelten Rufen der Umstehenden konnte ich schlußfolgern, daß dieser Techno Ghyderzan hieß. Es war ein älterer Mann, den langer einförmiger Dienst hart und verbittert gemacht hatte. Seine Züge verrieten den Überdruß der monotonen Arbeit. Auch die Tatsache, daß die gesamte Tunnelwache ihm unterstand, schien ihn mit seinem Schicksal nicht versöhnt zu haben. Ein paar Schritte hinter der leicht flimmernden Barriere erkannte ich eine weitere Gestalt. Sie stand an eine Säule gelehnt, die sich aus unerfindlichen Gründen mitten aus dem Boden erhob. Es war ein Mann, ein uralter Hominide, dürr und ausgemergelt. Hände und vor allem das hagere, fast fleischlose Gesicht mit den tief in den Höhlen liegenden Augen verrieten das Alter des Mannes. Scheinbar gelangweilt lehnte er an dem metallenen Pfeiler, der mitten im Tunnel stand. Er lehnt sich nicht an, kommentierte der Logiksektor trocken. Er ist gefesselt. Erst jetzt, als ich schärfer hinsah, konnte ich sehen, daß der Extrasinn einmal mehr richtig gesehen hatte. Der magere Mann war tatsächlich an die Säule geschmiedet. Feine Verbindungen fesselten seinen Körper an das graue Metall des Pfeilers. Unwillkürlich fühlte ich mich an die Lotsen der Organschiffe erinnert. Gab es da einen Zusammenhang? Möglich, lautete der Kurzkommentar des Logiksektors. Ghyderzan bedeutete den Technos, in Position zu gehen. Sie fällten ihre Waffen und zielten damit auf die Menge der Dorkher im Tunnel. Es behagte mir gar nicht, denn ich stand in vorderster Linie. »Ghyderzan«, schrie jemand, ein paar Schritte rechts von mir. »Laß uns endlich durch.« Der Techno ging zu dem Hominide hinüber. Ich sah, wie er die Lippen bewegte. »Los, Xerylh«, sagte der Techno. »Öffne.« Es war schwer, diese Worte von den Lippen des Technos
abzulesen. Es gelang mir nur, weil er für diese Art von Beobachtung sehr günstig stand und es nicht sehr viele Interpretationsmöglichkeiten für seine Lippenbewegungen gab. Im nächsten Augenblick war die flimmernde Energiebarriere verschwunden. Die Dorkher drangen sofort vor. »Langsam, Freunde!« rief ich. Ich traute dieser Art von Einladung nicht, und das tat ich nur zu Recht. Sobald die eingedrungenen Dorkher ein paar Schritte gemacht hatten, eröffneten die Technos das Feuer. Treffer zu erzielen, war ein Kinderspiel, bedachte man, wie nahe die Opfer beieinander standen. Zu Dutzenden stürzten die Bewohner Dorkhs zu Boden – und zwar betäubt, wie ich erleichtert feststellte. Natürlich versuchte der Rest sofort, sich in Sicherheit zu bringen. Es verging keine Sekunde, und wir drei standen völlig isoliert. Die Technos beachteten uns vorerst nicht, weil wir reglos stehenblieben und vorsichtshalber kein Glied rührten. Eine Schar weiterer Technos erschien auf der Bildfläche. Diese Diener der SCHLOSSHERREN machten sich an die Arbeit, die betäubten Dorkher einzusammeln und abzutransportieren. Derweil ertönte hinter uns entsetzliches Angstgeheul. Vermutlich wußten die meisten Betroffenen nicht, daß die Waffen der Technos nur lähmten, nicht aber töteten. Für sie mußte es so aussehen, als würden sie systematisch niedergemetzelt, und entsprechend verhielten sie sich. »Nicht schießen!« rief eine bekannte Stimme hinter uns. Konterfert tauchte neben uns auf, zerlumpt und abgerissen. Offenbar hatte auch er schlimme Stunden hinter sich. Ghyderzan kam näher. »Was soll das?« fragte er hart. »Wer bist du überhaupt?« Konterfert stellte sich und uns vor, erläuterte seine Aufgabe, gab
Erklärungen ab. Es fruchtete nichts. Dem alten Torwächter waren offenbar im Lauf seiner düsteren Karriere viele Geschichten erzählt worden, und das hatte ihn mißtrauisch gemacht. »Nichts da«, sagte er, und die Blicke, mit denen er uns musterte, waren eindeutig. »Diese drei haben eine verbotene Gestalt, das kannst du selbst sehen. Eigentlich sollte ich sie niedermachen und wegschaffen lassen.« Konterfert setzte sich empört zur Wehr. Währenddessen setzten die anderen Technos ihre brutale Arbeit ungerührt fort. Immer mehr Dorkher wurden betäubt und abtransportiert. »Los jetzt«, sagte Ghyderzan. »Vorwärts, ich habe keine Zeit. Tut, was ich sage, oder es wird euch schlecht ergehen.« Konterfert machte ein grimmiges Gesicht. »Du wirst das bereuen«, stieß er hervor. »Bitter bereuen.« »Rede nicht«, herrschte Ghyderzan ihn an. In diesem Augenblick griff jemand in das Geschehen ein – jemand, mit dessen Hilfe ich am wenigsten gerechnet hatte. Die hagere Gestalt an der Säule richtete sich auf und öffnete den Mund. Eine Serie markerschütternder Schreie, langgezogen und scharf klingend, gellte durch den Tunnel. Ich sah, wie sich Konterfert an den Kopf griff, wie bei Ghyderzan fast die Augen aus den Höhlen quollen. Einen Herzschlag später lagen die Technos am Boden, betäubt. »Kommt her«, sagte Xerylh. 5. Er fühlte, daß sein Leben zu Ende ging. Irgendwann mußte jedes lebende Wesen sterben, das hatte er immer gewußt. Im Grunde bedeutete der Begriff »Leben« nichts anderes als die Tatsache, daß die betreffende Organisationsform der Materie sterben mußte – man konnte Leben auch so definieren.
Er fühlte aber auch, daß für ihn der Zeitpunkt immer näher rückte, an dem er sterben würde. Er hatte keine Angst vor dem Tod. Jemand, der ein Leben geführt hatte, wie es ihm beschieden gewesen war, kannte keine Angst mehr vor dem Tod. Er hatte zuviele sterben sehen, um noch Angst vor dem Tod zu haben – vor dem Sterben vielleicht ein wenig, weil er nicht wußte, auf welche Weise er selbst enden würde. Vor dem Tod, aber fürchtete er sich nicht, war er doch der Freund, nach dessen Umarmung er sich gesehnt hatte, lange Jahre hindurch. Jahrzehnte sogar. Er ahnte, daß sein Leben knapp bemessen war, und als er tat, was er glaubte tun zu müssen, wußte er ganz genau, daß er nur noch ein paar Stunden – bestenfalls – zu leben hatte. Wenn er nicht von innen heraus starb, wie er es sich vorgestellt hatte, dann würde man ihn töten. Vielleicht so, daß er nicht viel davon merkte, vielleicht aber auch auf eine Weise, die sein Ende zu einer langgezogenen Demütigung werden ließ, zu einem Ende als zuckendes, schmerzgepeinigtes Bündel, Zerrbild eines Lebewesens. Vor dieser letzten Möglichkeit hatte er stets besondere Angst gehabt – davor, würdelos sterben zu müssen, vielleicht begleitet vom Hohngelächter derer, die sich an seinem würdelosen Todeskampf weideten. Er hatte nicht lange gebraucht, den alles entscheidenden Entschluß zu fassen. Er hatte für ein paar Augenblicke gar nicht an die Konsequenzen gedacht, sondern einfach getan, was ihm als gut und richtig erschienen war, und ob er die Folgen fürchtete oder nicht – er würde sie nicht mehr vermeiden können. Der alte Körper schmerzte von der Anstrengung der Jahre, und jetzt schmerzte er besonders. Was er getan hatte, war verbunden gewesen mit großem Verlust an Kraft – auch das mußte sein Ende beschleunigen. »Kommt her«, sagte er. Sie waren zu dritt, drei seltsame Gestalten, fremd an diesem Ort
und dennoch in gewisser Weise wohlbekannt. Ahnungen aus längst vergangener Zeit stiegen in dem Alten auf, aber er drängte das Gefühl zurück. Wehmut war in dieser Lage kein guter Ratgeber. »Du hast uns geholfen?« sagte der mit dem weißen Haar und den roten Augen. »Ich habe«, sagte Xerylh. »Ich bin ein Tormagier.« »Du öffnest und schließt das Tor? Durch Magie?« »Durch Magie«, bestätigte Xerylh. »Rührt mich nicht an, berührt meinen Körper nicht. Es wäre euer Tod.« »Wie machst du das?« fragte der Weißhaarige. »Magie«, sagte Xerylh müde. Seltsamer Gedanke, ausgerechnet wegen dieser drei vorzeitig sterben zu müssen. Was aber hieß es schon in seinem Alter, vor der Zeit den letzten Weg gehen zu müssen. Xerylh entsann sich der Zeit, da er noch hatte schlafen können. Damals hatte er sich zur Ruhe gelegt, mit der stillen Bitte an das Geschick, daß irgendeine Macht die Gnade haben möge, ihn nicht wieder erwachen zu lassen – er war dieser Gnade nicht teilhaftig geworden. Im Gegenteil, er hatte selbst für die Verhältnisse seines Volkes ein erstaunlich hohes Alter erreicht – bis auf diesen Tag, der der letzte sein würde. »Und dazu ein paar technische Apparaturen«, erklärte Xerylh. »Ihr könnt sehen, wie die Sache zusammenhängt.« Er bewegte die Glieder. Jahrzehnte hatten ihn einüben lassen, die Arme und Beine nur behutsam zu bewegen – die zarten Verbindungen durften nicht beschädigt werden. Sie verbanden ihn mit dem Tor, und wurden sie beschädigt, hatte der Tormagier grauenvolle Qualen auszuhalten, bis sie wieder repariert waren. »Ich weiß, wer ihr seid«, sagte Xerylh. Das Bewußtsein des nahen Todes lähmte seine Gedanken. Er wollte etwas sagen, aber jedesmal drängte sich das sichere Todesgefühl dazwischen. Er begann instinktiv, diese letzten Minuten und Stunden seines Lebens auszukosten, auf jede feine Gefühlsregung zu achten, die in ihm
spürbar wurde. »Aha«, sagte einer der drei, mehr nicht. »Ihr müßt das SCHLOSS betreten«, sagte er. »Dort werdet ihr für allerhand Aufregung sorgen.« Er war sich bewußt, daß er es war, der die folgenden Ereignisse ausgelöst hatte. Es belustigte ihn zu wissen, daß ausgerechnet er, den niemals irgend jemand für voll genommen hatte, für solchen Wirbel sorgen würde. Ihm wurde aber auch im gleichen Augenblick mit schmerzlicher Stärke deutlich, daß er den Wirbel nicht mehr würde erleben können. War es das wert, fragte er sich. »Warum?« Die Frage drang nur langsam in Xerylhs Bewußtsein. Er bemerkte, daß er sich immer mehr dem Genuß hingab, sich in die eigenen Gedanken zu versenken. Wie von weit her drang die Stimme des Fremden durch seine eigenen Gedanken durch. »Eure Gestalt«, sagte Xerylh. »Ihr habt die verbotene Gestalt, ihr werdet es noch erleben.« Ihr ja, dachte er, ich nicht. Wie lange es wohl noch dauern mochte? Nun, am Ende eines so langen Lebens, das erfüllt gewesen war von so viel Leid, Elend, Qual und Pein – zählten da die wenigen Minuten, die noch blieben? Sie zählten. Der unvorstellbare Luxus, nicht mehr auf die Meinung und Reaktion anderer angewiesen zu sein, berauschte den Todgeweihten. Es konnte ihm gleichgültig sein, was sie mit seinem Leib machten. Da er auf nichts mehr wartete als auf seinen Tod, konnte man ihn um nichts mehr bringen. Mit nichts war er mehr zu ködern, zu erpressen. Es gab außer dem letzten Atemzug nicht mehr, worauf er noch gewartet oder gehofft hätte. »Wieso ist unsere Gestalt verboten«, fragte der Weißhaarige drängend. Für ihn mochte all dies wichtig sein. Er wollte leben, er wollte wissen. Wissen wollte er, um leben zu können; vielleicht lebte er nur, um Wissen zu sammeln. Für Xerylh war dies bedeutungslos.
Im Grund konnte es ihm gleichgültig sein. Sollte er den Fremden überhaupt noch Antwort geben? Wozu noch anständig sein, so kurz vor dem Ende? Es lohnte doch nicht mehr. Xerylhs Gesicht verzog sich zu einem rasch verwehten Lächeln. Es gab noch etwas zu tun. Richtig, er erinnerte sich. Wenn ihm gelang, was er sich erhoffte, durfte er erwarten, als ein gutes Wesen ins Jenseits hinüberzugehen – als einer, der vor sich selbst bestanden hatte, der seine letzten Lebensminuten für andere hingegeben hatte. Zwar konnte niemand außer ihm ermessen, wie gering er dieses Opfer weniger Minuten in diesem Augenblick erachtete … aber es würde ihn mit einem gewissen Stolz erfüllen. »Hört zu«, sagte er. Ob sie taten, was er von ihnen fordern würde? Vielleicht dachten sie gar nicht daran. Nun, dann war es nicht sein Fehler. Er hatte getan, was ihm möglich war. »Mein Leben geht zu Ende«, sagte er. Aus der Reaktion der Betroffenen konnte er ermessen, daß sie sehr wohl in der Lage waren, den Satz auf verborgene Feinheiten hin abzuschmecken, ihn so zu bewerten, wie er insgeheim gemeint war: Ich gebe mein Leben für euch. »Ich möchte euch bitten, eines zu tun. Vor kurzer Zeit wurden zwei junge Leute in dieses SCHLOSS gebracht. Zwei junge Magier. Sie kommen aus meinem Land.« »Wie heißt das Land?« »Shatna«, sagte Xerylh. In rasendem Lauf jagten seine Gedanken zurück in die Vergangenheit, weit zurück, in ein sonniges Leben, in dem er Furcht nicht gekannt hatte. Bis dann … »Wo liegt Shatna?« Xerylh empfand das Fragen des Weißhaarigen langsam als lästig. Was fiel dem Mann ein? Merkte er denn nicht, daß hier einer stand und starb? Wollte er über die letzten Minuten eines sterbenden Magiers die Regie übernehmen, ihm den Tod verderben, nur um ein paar dumme Fragen beantwortet und seine Neugierde gestillt zu
haben. »Weit von hier«, sagte Xerylh. »Sehr weit. Du wirst es nie zu sehen bekommen, also ist die Frage müßig. Wisse aber, daß nur wir Magier aus dem Lande Shatna in der Lage sind, den komplizierten Mechanismus zu bedienen, mit dem diese Pforte geöffnet und geschlossen werden kann. Einer dieser jungen Magier ist dazu …« Er ertappte sich dabei, daß er hatte sagen wollen: ausersehen. Verurteilt wäre das richtige Wort gewesen. Hatte ihm die Eitelkeit einen Streich gespielt? War er durch die Länge der Zeit so angeschlagen worden, daß er stolz war auf die Einzigartigkeit seiner Sklaverei? »… bestimmt«, fuhr er fort, »meinen Platz einzunehmen. Nur wenn ein Magier aus dem Lande Shatna das Tor steuert, können die SCHLOSSHERREN sicher sein vor der Wut derer, die sie peinigen. Wird dieser Mechanismus zerstört, fallen sie der Wut der Dorkher zum Opfer.« Wußten diese drei überhaupt zu würdigen, was für ein Geheimnis der Sterbende ihnen verriet? Es hatte nicht den Anschein. Irgendwie war der Magier aus dem Lande Shatna enttäuscht. Dennoch setzte er seine letzte Mission fort. »Befreit diese beiden jungen Leute«, sagte Xerylh. »Es ist dies der Preis dafür, daß ich euch geholfen habe.« Damit war klargestellt, daß die drei nicht etwa Xerylh einen Gefallen taten, daß er sie mitnichten um etwas bat – er forderte die Belohnung für sein Opfer. Ob die drei die Größe dieses Opfers wohl ermessen konnten? Er würde es ihnen nicht sagen, da war sich Xerylh sicher. »Wie heißen die beiden?« fragte der Weißhaarige. »Sie nennen sich Fiothra und Asparg, ein junges Paar«, berichtete Xerylh. Auch er war einmal jung und verliebt gewesen. Wie lange lag das nun zurück? Und warum erinnerte er sich daran, ausgerechnet jetzt, in der Stunde seines Todes. Xerylh spürte, daß seine Kräfte nachließen. Es konnte nicht mehr
lange dauern. »Die beiden zählen etwas mehr als zwanzig Sommer«, sagte Xerylh. Sommer! Wie lange war es her, daß er eine wirkliche Jahreszeit erlebt hatte? »Sie sind nicht sehr groß, normal. Beide sind recht schlank und zierlich, vor allem Fiothra.« »Haarfarbe?« »Blauschwarz«, antwortete Xerylh sofort. »Sie tragen es lang, wenn man sie nicht geschoren hat. Ihr werdet sie unschwer erkennen können; – seht ihnen einfach in die Augen. Wenn ihr den beiden gegenübersteht, werdet ihr es im gleichen Augenblick wissen.« »Noch etwas?« Xerylh dachte nach. Seltsam, daß jemand ihm einen Wunsch erfüllen wollte – ausgerechnet jetzt. Der Tormagier bemerkte, daß die betäubten Technos sich leise zu regen begannen. Ihm blieben nur noch wenige Minuten. »Geht dorthin«, sagte er und deutete auf den Eingang zum SCHLOSS. »Und nehmt Konterfert mit, er könnte euch von Nutzen sein.« »Und du?« »Geht«, drängte Xerylh. »Ich komme hier zurecht. Geht, der Weg ist frei.« Der Weißhaarige blieb vor Xerylh einen Augenblick lang stehen. Seine rötlichen Augen hefteten sich auf Xerylhs Gesicht. Dann schloß der Mann die Augen und nickte schwach. »Geh hin in Frieden«, sagte Xerylh, der sich durchschaut fühlte. Diesem Mann hatte er nichts vormachen können. Xerylh rührte sich nicht, als die drei Fremden den reglosen Körper Konterferts aufnahmen und abzutransportieren begannen. Er fixierte vielmehr Ghyderzan, der sich als einer der ersten zu regen begann. Die Lust an einem boshaften Scherz überkam den Todgeweihten. Xerylh sah sich um.
Die Fremden und Konterfert näherten sich langsam dem Ausgang des Tunnels. Es wurde Zeit zu handeln. Ghyderzan kam auf die Beine. Er schwankte heftig. Unsicher schritt er auf Xerylh zu, sein Gesicht war ohne jeden Ausdruck. Xerylh starrte den Techno, mit dem er viele Jahre lang Dienst getan hatte, teilnahmslos an. Ghyderzan zog ein Messer aus dem Gürtel, er erreichte Xerylh. Und er griff nach den Fesseln, die den Tormagier an die metallene Säule ketteten. Ein Schnitt, die erste Fessel war durchtrennt. »Haltet ein!« schrie der Weißhaarige vom Ausgang des Tunnels. Er wäre ohnehin zu spät gekommen. Eine Fessel nach der anderen fiel, und mit jedem Schnitt fühlte sich Xerylh leichter und leichter. Eine sanfte Freude breitete sich in ihm aus. Er spürte, wie die letzte Verbindung unterbrochen wurde. Er war jetzt frei. Das letzte Bild, das der Sterbende mitnahm, war das ungläubige Gesicht des Technos, der mit schreckgeweiteten Augen auf sein Werk starrte, das er gar nicht hatte vollbringen wollen. Xerylh starb. * Ich hatte es kommen sehen, konnte es aber nicht verhindern. Der hagere Tormagier hatte seinen eigenen Tod herbeigeführt, und er hatte sich dazu des Technos bedient, der uns hatte aufhalten wollen. Es hatte keinen Sinn, zu Xerylh hinüberzulaufen. Als mir klar wurde, was sich vor unseren Augen abspielte, war es für ein Eingreifen schon viel zu spät. Wir trugen Konterfert, und wir konnten ihn nicht einfach fallen
lassen. Bis wir ihn absetzen konnten, hatte der Techno mit dem Messer bereits drei oder vier der Verbindungen zwischen dem Tormagier und der Metallsäule durchtrennt. Niemand brauchte mir zu sagen, daß dies das Ende für den Tormagier war. Es lag auch auf der Hand, daß die nächsten Minuten chaotisch werden würden. Ich sah, wie Ghyderzan das Messer fallen ließ. Xerylh stand aufrecht an seiner Säule, dann machte er einen Schritt und fiel darauf in sich zusammen. Im gleichen Augenblick erwachten die betäubten Technos wieder zum Leben, übergangslos. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Konterfert. Wir stellten ihn sehr rasch auf die Beine. Binnen weniger Augenblicke hatte sich die Szenerie grundlegend gewandelt. Der Weg war frei. Das letzte Hindernis, das uns vom SCHLOSS trennte, war gefallen. Wir brauchten nur weiterzugehen. Gleichzeitig war aber auch für die Dorkher draußen das letzte Hindernis verschwunden. Ungehindert konnten sie in den energetischen Tunnel eindringen. »Lauft«, sagte ich zu meinen Freunden. »Rennt so schnell ihr könnt, wenn euch euer Leben lieb ist.« Wir setzten uns in Bewegung, auf das SCHLOSS zu. Hinter uns ertönten Rufe. Wutgeschrei der Technos, angriffslustiges Schreien der eindringenden Dorkher. Sie fanden den Tunnel durch den Energieschirm vollgestopft mit betäubten Artgenossen, und das versetzte sie schlagartig in Wut. Lange würden die Technos dem Ansturm der Dorkher nicht standhalten können, ganz besonders nicht, wenn die entrüsteten Bewohner des Kontinents ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben
vordrangen. Und das taten sie offenkundig – vielleicht hielten sie die Betäubten am Boden für tot. Konterfert lief an meiner Seite. »Was soll das?« schrie er. »Was ist überhaupt geschehen?« »Später«, sagte ich und winkte ab. Ein Strahlschuß fegte an uns vorbei. Die Sache wurde lebensgefährlich. Ghyderzan hatte geschossen. Er versuchte uns zu treffen, denn es war ganz offensichtlich, daß wir etwas mit der Katastrophe zu tun hatten, die unversehens über die wachenden Technos hereingebrochen war. Dann aber stellte ich fest, daß wir es nicht nur mit Ghyderzan zu tun hatten. Es gab auch Dorkher, die sich im Innern des Energieschirms aufhielten, alle jene, die in den letzten Tagen eingelassen worden waren, damit sie die Tribute hatten abliefern können. Sie hatten auf der anderen Seite des Energieschirms gewartet, und jetzt drangen sie ungestüm ein – genau auf uns zu. »An die Wand!« rief ich. Nur wenn wir uns flach an der Wand des Energietunnels entlangschoben, hatten wir eine Chance, nicht von den herandrängenden Massen der Dorkher hinweggespült zu werden. Die Chance war nicht groß, denn es dauerte nur ein paar Sekunden, dann war in dem Energietunnel die Hölle los. Die Techno‐Wachen waren hoffnungslos überfordert, wenn sie beide Gruppen von Eindringlingen zurückhalten sollten, aber sie stellten sich der unlösbaren Aufgabe. Was sich dort abspielte, wo die Gruppen aufeinandertrafen, entzog sich meinen Blicken. Ich sah vielmehr zu, so rasch wie möglich aus dem Tunnel herauszukommen. Vielleicht war der Ausfall der Torkontrolle von den Herren des SCHLOSSES längst bemerkt worden – ich wollte nicht abwarten, wie sie auf diese Panne reagieren würden.
Ich bekam Grizzards Hand zu fassen. Seine Finger krallten sich um die meinen, und das verriet überdeutlich, daß der Mann mit aufsteigender Panik zu kämpfen hatte. Ich zerrte ihn hinter mir her. Rechts neben mir erkannte ich Konterfert, der von den Ereignissen hoffnungslos überrollt wurde und gar nichts mehr verstand. In dieser mehr als brenzligen Lage erwies sich Razamon als wertvoller Helfer. Er bildete die Spitze unseres Zuges, und er schaffte es, sich den Weg freizuboxen. Mochten die von seinen Fäusten getroffenen Dorkher schreien und toben – sie machten jedenfalls vor dem Berserker den Weg frei. Dazu brüllte und tobte Razamon, daß einem angst und bange werden konnte. Dennoch dauerte es fast eine halbe Stunde, bis wir das Ende des Tunnels erreicht hatten. Aufatmend ließ ich mich zur Seite fallen, sobald der Druck auf meinen Körper endete. In tiefen Zügen sog ich die kalte klare Luft ein. Über uns wölbte sich der Energieschirm, umgeben wurden wir von grasbestandenem Land. In Richtung des SCHLOSSES waren Hügel zu erkennen. Konterfert taumelte auf mich zu. »Irgendwo hier müssen Zugors stehen«, ächzte er. »Wir müssen so schnell wie möglich ins Zentrum.« Dem konnte ich nur beipflichten. Wenn es stimmte, was der Sterbende an der Metallsäule gesagt hatte, war das SCHLOSS in höchster Gefahr – und damit auch Dorkh. 6. Konterfert hatte sich nicht geirrt. Es gab Zugors in der Nähe. Wir fanden sie in einer Mulde, in unmittelbarer Nähe des Tunnels, in dessen Höhlung noch immer erbitterte Kämpfe tobten. Die
hereindrängenden Dorkher kümmerten sich wenig um die Technos, ebensowenig um die Dorkher, die das Gebiet des SCHLOSSES verlassen wollten. Da der Tunnel die wirksamen Kräfte arg begrenzte, tobte der Kampf lange Zeit unentschieden. Als ich den startklaren Zugor bestieg, konnte ich sehen, daß sich allmählich eine Entscheidung abzeichnete – die Eindringlinge erwiesen sich als die stärkste der drei Gruppen, die um den Besitz und die Kontrolle des Energietunnels kämpften. Ich konnte sehen, daß sich die Technos zurückzuziehen begannen. »Vorwärts«, drängte Konterfert. »Wir müssen die HERREN so schnell wie möglich informieren.« Wir nahmen in dem Zugor Platz. Konterfert übernahm das Steuer, und ein paar Augenblicke später schwebten wir über dem Boden Dorkhs. Es ging nach Norden, dem Kern des SCHLOSSES entgegen. Wir brauchten nur die niedrige Hügelkette zu überfliegen, um das eigentliche SCHLOSS sehen zu können. Es lag in einer Senke, eine große, weiträumige Anlage, ein Sinnbild der nahezu unumschränkten Macht, die die HERREN über Dorkh und seine Bewohner ausübten. Auf den ersten Blick war das hohe technologische Niveau der Anlage zu erkennen. Kernstück des Ganzen war nämlich eine Versammlung von Raumschiffen, die wie fünfzackige Sterne aussahen. Dieser Grundform war der gesamte Rest der Anlage angepaßt worden. Die Schiffe standen auf dem Boden, und sie bildeten ein riesiges, vollkommen gleichmäßiges Fünfeck. Breite Straßen verbanden die Raumschiffe untereinander. Mir fiel auf, daß die inneren Straßen dieses Fünfecks ein Pentagramm bildeten – also jenes geheimnisvolle magische Zeichen, das in so vielen Geisterbeschwörungen und Mythen der Erde zu finden war. Zufall? Oder Absicht? Der Extrasinn schwieg sich zu dieser wichtigen Frage aus. Dort, wo sich die Straßen des Fünfecks kreuzten, waren sie zu
großen Plätzen ausgebaut worden, und mitten auf diesen Plätzen waren weitere Schiffe zu finden, fünf Stück, und ebenfalls sternförmig. Die gesamte Anlage war von bestechender Symmetrie. Im geometrischen Mittelpunkt der Anlage wölbte sich ein gigantisches Kristalldach halb kugelförmig in den Himmel, ein materielles Gegenstück zu der Wölbung des Energieschirms, der die gesamte weitläufige Konstruktion überwölbte. Der Logiksektor teilte mir mit knappen Impulsen mit, daß die Raumschiffe an den Ecken des Fünfecks etwa zweihundert Meter breit und im Kern etwa halb so hoch waren. Jeweils drei Kilometer trennten die einzelnen Schiffe voneinander – die SCHLOSSHERREN hatten großzügig geplant. Die kleineren Sternschiffe auf den Plätzen im Innern der Anlage waren etwa halb so groß wie die äußeren Schiffe. Im großen und ganzen verriet der Bauplan des SCHLOSSES ein ausgeprägtes Gefühl für Symmetrie und räumliche Anordnung. Ich war sehr gespannt, wer sich dieses Bauwerk hatte einfallen lassen. »Das ist das SCHLOSS«, sagte Konterfert, sichtlich stolz. »In jedem der Schiffe wohnt einer der SCHLOSSHERREN?« wollte ich wissen. »Richtig«, bestätigte Konterfert. Er verlangsamte den Zugor und streckte die Hand aus. »Dieses große Schiff«, sagte er und deutete auf das Raumschiff, dessen Position bildlich der Fünf auf einem konventionellen Zifferblatt entsprach, »die ist die DANTA, in ihr wohnt der SCHLOSSHERR Danta‐Pyrt. Dann kommt die GHORGUR …« Er ging der Reihe nach vor und umkreiste das Zifferblatt. ZEFFIN, OLYN, FALGÄR hießen die anderen vier Großschiffe der äußeren Anlage. Die kleinen Schiffe auf den Straßenkreuzungen waren nach den zweiten Namen ihrer Besitzer benannt und bildeten die Reihe PYRT, PRA, QUORM, TZAIR und KYM. Nach diesen Angaben ließen sich die Namen der fünf SCHLOSSHERREN sehr leicht ermitteln.
»Hast du je …« »Nein«, wehrte Konterfert sofort ab. »Natürlich nicht. Niemand hat jemals einen der HERREN gesehen. Das gehört sich nicht. Wären sie noch länger HERREN, würden sie sich jedem zeigen?« Auch eine Philosophie, dachte ich. Konterfert ließ den Zugor langsam sinken. »Warum fliegen wir nicht weiter?« fragte ich. Ich bekam die Antwort, auf die ich gewartet hatte. »Unser Gefährt würde unweigerlich abstürzen«, erklärte Konterfert. »Es ist verboten, den inneren Bezirk zu durchfliegen. Es wird streng bewacht.« Außerhalb des Zentrums der Anlage, in dem Winkel der Fünfeckkonstruktion und darüber hinaus gab es zahlreiche Gebäude. Ich konnte nur vermuten, welchem Zweck sie dienen mochten. Wahrscheinlich handelte es sich um die Unterkünfte der Technos, die für die Sicherheit der HERREN zu sorgen hatten. Daneben gab es Werkstätten, Lagerhallen – nicht zuletzt für die Tribute, die die Dorkher alljährlich zu erbringen hatten –, Magazine und dergleichen mehr. Alles in allem wirkte die gesamte Anlage wie eine Festung – sie erinnerte in ihrer strengen Symmetrie an die Konstruktionen meines alten Freundes Sebastian le Prestre, Seigneur de Vauban, der für Ludwig XIV. von Frankreich gewaltige Festungen erbaut hatte. Daß er dabei hauptsächlich auf meine Anregungen zurückgegriffen hatte … was spielte das für eine Rolle. Die Anlage des SCHLOSSES war in ihrer Art perfekt. Wenn die Dorkher tatsächlich versuchen sollten, das SCHLOSS im Sturmlauf zu nehmen, würde man sie mit blutigen Köpfen zurückschlagen. »Es gibt hier einige Hundertschaften als Wache«, erklärte Konterfert in dem Bemühen, die Abgesandten des Dunklen Oheims zu beruhigen. »Selbstverständlich hat dieses Gesindel draußen nicht die geringste Chance, die Sicherheit des SCHLOSSES in irgendeiner Weise zu gefährden.« »Wie beruhigend«, spottete Razamon bissig.
Der Zugor setzte auf. »Den Rest des Weges werden wir zu Fuß gehen müssen«, sagte er. Wir stiegen aus. Unwillkürlich spähte ich nach rückwärts. Von den eingedrungenen Dorkhern war nichts zu sehen. Einstweilen schienen die Techno‐Wachen noch die Herren der Lage zu sein. Ich rechnete mir die Chancen der Dorkher aus. Wenn sie schnell genug einige tausend Mann durch den Tunnel schleusten, hatten sie durchaus reelle Aussichten, die Technos trotz deren Bewaffnung niederzukämpfen. Zudem erfuhren die Angreifer unablässig Verstärkung – in jeder Stunde langten Dutzende von Tributpflichtigen in der Nähe des SCHLOSSES an, und den Unterdrückten wollte ich sehen, der nicht willens war, diese einmalige Gelegenheit beim Schopf zu fassen. Vielleicht gelang es, die Tyrannei der SCHLOSSHERREN ein für allemal zu brechen – dieser Gedanke würde die Dorkher beflügeln und vorantreiben. Konterfert sah meine Bewegung und lächelte überlegen. »Völlig sinnlos, sich darüber Sorgen zu machen«, sagte er. »Unsere Leute werden auch mit dieser Gefahr mühelos fertig.« Razamon bedachte den Techno mit einem Blick, der seine Zweifel mehr als deutlich zum Ausdruck brachte. »Und da sind schließlich noch die Maschinen«, ergänzte Konterfert. Aus der Ferne konnten wir die Roboter erkennen, schwere, klobige Maschinen, vermutlich überaus schwer bewaffnet. Wenn sie gegen die Aufständischen eingesetzt wurden, floß Blut in Strömen – wir konnten nur hoffen, daß es gar nicht erst dazu kam. Konterfert führte unseren Zug an. Wir marschierten relativ gemächlich auf die DANTA zu, das Wohngebäude jenes SCHLOSSHERREN, der sich Danta‐Pyrt nannte. Wie mochte dieses Wesen aussehen? Ich war gespannt darauf, die Antwort zu erfahren. »Was ist dort vorne?« fragte Grizzard.
Ich erkannte einen Pferch, in dem sich Tiere bewegten. Bei näherem Hinsehen erkannte ich Chreeans. Konterfert grinste breit. »Chreeans«, sagte er und bestätigte meinen Verdacht. »Spezialzüchtungen. Sie sind auf den Mann dressiert.« Was das hieß, brauchten wir uns nicht lange auszumalen – diese Tiere waren dazu bestimmt, Tod und Verderben in die Reihen derer zu tragen, auf die sie gehetzt wurden. Ich hatte da einen ganz bestimmten Verdacht. »Wem unterstehen die Tiere?« »Sie werden von den HERREN selbst kontrolliert«, sagte Konterfert. Er schien den Sinn meiner Frage begriffen zu haben. »Wir haben keinerlei Befehlsgewalt über die Tiere.« Folglich dienten die Mord‐Chreeans – anders konnte man sie schwerlich bezeichnen – hauptsächlich dazu, die im Innern der Anlage wohnenden Technos zu disziplinieren. Sollten sie es je wagen, aufsässig zu werden, konnte man sie mit den mordlustigen Chreeans rasch zur Räson bringen. Eines war nicht zu übersehen, eine Tatsache, die sich überall auf Dorkh andeutete. Hier wurde sie unübersehbar deutlich – die Herren des SCHLOSSES hatten Angst. Sie hatten gewiß Grund dazu; ihre Herrschaft über Dorkh war schließlich mehr durch die Peitsche als durch Zuckerbrot gekennzeichnet. Aber noch viel wichtiger erschien mir die Schlußfolgerung, daß die Unbekannten offenbar auch schwach waren – wer sich derartig einschottete, doppelt und dreifach sicherte, der hatte gewiß große Angst. Das gab mir ein gewisses Gefühl der Sicherheit. Dieser gigantische Aufwand wäre nicht vonnöten gewesen, hätte es nicht irgendeine Schwachstelle in der Abwehr der Herren des SCHLOSSES gegeben, einen Punkt, an dem man sie fangen konnte. Ich war entschlossen, diesen Punkt zu finden. »Hoffentlich haben die Herren gute Nerven«, sagte Razamon zu
Konterfert. Wir kamen dicht an dem Pferch mit den Mord‐Chreeans vorbei, und der Anblick genügte, um zu zeigen, daß den Herren des SCHLOSSES offenbar jedes Mittel recht war, wenn es galt, die eigene Haut zu retten. Es war ein Verbrechen, diese Bestien loszulassen. Normale Chreeans waren schon nicht gerade lammfromm, aber diese auf Blutgier gezüchteten Wesen waren fleischgewordene Tötungsmaschinen, die alles zerreißen würden, was ihnen vor die Kiefer kam. Unwillkürlich sah ich wieder zurück. Es gab keine Spur von den Eindringlingen – offenbar kamen sie nur sehr langsam voran. Wahrscheinlich war der Widerstand der Technos recht energisch. »Mir gefällt dies alles nicht«, sagte Grizzard plötzlich und blieb einfach stehen. »Überhaupt nicht.« Ich sah ihm ins Gesicht. Grizzards Miene war gezeichnet von einander widerstrebenden Gefühlen. Offenbar wurde er mit der augenblicklichen Lage nicht mehr fertig. »Ich will nicht mehr«, stieß er hervor. Ich konnte sehen, daß diese Bockbeinigkeit keineswegs auf Unwillen zurückzuführen war. Auch konnte man Grizzard schwerlich Feigheit vorwerfen – in Lagen, die er überblicken konnte, erwies er sich wie stets als umsichtig und herausragend tapfer. Dies alles aber ging über seine Verstandeskraft, die ganz offenkundig mit jedem Tag nachließ. Ich hatte schon längst bemerkt, daß Grizzards Gedächtnisleistung stark nachgelassen hatte, daß er sich nicht mehr recht konzentrieren konnte. Sein Wortschatz wies neuerdings Lücken auf. Er war überfordert, das war offenkundig. Daß er uns folgte, hatte nichts mehr mit Anhänglichkeit zu tun – er wußte nur keinen anderen Weg. Er folgte uns, weil er sonst einsam auf Dorkh geblieben wäre, wohin er nicht gehörte. »Angst?« fragte Razamon scharf.
Grizzard preßte die Lippen aufeinander. Ich wußte aus Erfahrung, daß bei psychisch angeschlagenen Menschen Sprüche dieses Kalibers nicht verfingen, weil sie an der Sache vorbeizielten. Dennoch versuchte ich es zunächst einmal mit standardisierten Redensarten. »Reiß dich zusammen«, forderte ich ihn auf. »Du darfst dies alles nicht so schwer nehmen.« Razamon stand hinter Grizzard und sah mir ins Gesicht. Ich sah, daß seine Kiefermuskeln zuckten. Er verhielt mit Mühe ein lautes Gelächter. »Willst du einfach schlappmachen? Jetzt? Mitten im Herzen des SCHLOSSES?« Grizzard verzog das Gesicht. Es sah aus, als werde der Mann von inneren Krämpfen förmlich zerrissen. Ich konnte mir vorstellen, was er litt, aber wir hatten natürlich jetzt keine Zeit, um uns um Grizzards Seelenqualen kümmern zu können. Wir mußten das Rätsel von Dorkh lösen, und das möglichst rasch. Die Dinge drängten unaufhaltsam auf eine Entscheidung zu. »Vorwärts«, sagte ich und zwang mir ein Lächeln ab. »Wir haben nicht viel Zeit.« Grizzard schüttelte erst den Kopf, dann zuckte er mit den Schultern. Er wandte sich um. »Abgesandte des Dunklen Oheims habe ich mir immer anders vorgestellt«, sagte Konterfert; er schien für einen Augenblick wieder mißtrauisch geworden zu sein. »Wie?« fragte ich. Razamon ging weiter, und Grizzard trottete folgsam hinter ihm her. Vielleicht war der Höhepunkt der Psychokrise für Grizzard erreicht, möglich war aber auch, daß wir der eigentlichen Krise erst noch entgegengingen. Nach den Ärgernissen der Vergangenheit konnte das neuen, womöglich noch schlimmeren Verdruß bedeuten. Einstweilen schien Grizzard beruhigt. »Ich weiß es nicht«, sagte Konterfert. »Irgendwie anders.«
Ich sah ihn scharf an. »Wir hatten uns die Verhältnisse auf Dorkh auch anders vorgestellt«, sagte ich mit leiser Schärfe. Konterfert zuckte zusammen, fast schien es, schuldbewußt. Solcherart von seiner Frage abgelenkt, schloß sich Konterfert uns an. Wir marschierten in mäßigem Tempo auf die DANTA zu – wir wollten nicht durch übertriebene Eile vorzeitig die Aufmerksamkeit der SCHLOSSHERREN auf uns lenken. Im großen und ganzen war ich mit der Situation sogar zufrieden. Der Zusammenbruch der Absperrung im Energietunnel und der sich daran anschließende Versuch der Dorkher, das SCHLOSS gleichsam zu stürmen, mußte die SCHLOSSHERREN stark beschäftigen. Wahrscheinlich war es der erste ernsthafte Aufstand der Geknechteten von Dorkh seit langer Zeit. Derart beschäftigt und abgelenkt, ließen uns die Herren von Dorkh vielleicht den Raum und die Zeit, die wir brauchten, um uns mit den Gegebenheiten bekannt zu machen. Ich wollte möglichst viel über die Struktur des SCHLOSSES in Erfahrung bringen, bevor ich mich in eines der Schiffe hineinwagte. Ich suchte unwillkürlich in meinem fotografischen Gedächtnis nach Hinweisen. Hatte ich Schiffe dieser Bauart schon einmal gesehen? Die Antwort lautete: nein, und ich hatte damit gerechnet. Wir steckten tief in der Schwarzen Galaxis, von der Erde und der heimatlichen Milchstraße durch Räume und Dimensionen getrennt. Wo sollten da Ähnlichkeiten und Parallelen herkommen? Dennoch beschlich mich ein unsicheres Gefühl, mehr eine Ahnung. Ich war darauf vorbereitet, eine Überraschung zu erleben. »Die Wachen sollten endlich die Eindringlinge zurücktreiben«, beschwerte sich Konterfert entrüstet. In der Tat wurde hinter uns Lärm laut. Waren die Dorkher im Vormarsch? Hatten sie die Technos bereits entscheidend geschlagen?
In jedem Fall mußten wir uns ein wenig beeilen. »Torsicherung«, gellte plötzlich eine Stimme aus den Lautsprechern. »Werft die Eindringlinge zurück.« Die Stimme konnte ich nicht identifizieren; die Klangqualität der Megaphone war dafür zu niedrig. Sie reichte gerade aus, die Befehle verständlich zu machen. Wenig später meldeten sich die Kommandeure erneut. »Eingreifreserven eins und zwei, in der Nähe des SCHLOSSES sammeln«, war zu hören. »Wozu das?« fragte Konterfert. Wir blieben stehen. »Reserven sollen die Torsicherung verstärken!« lautete der nächste Befehl. Ich begann zu ahnen, daß diese Anordnungen von verschiedenen Personen stammten, die offenbar nicht in der Lage waren, ihre Ansichten zu koordinieren. Wenn dies maßgebend für die Verhältnisse auf Dorkh war, wunderte mich nichts mehr. Zudem klangen die Stimmen in der verzerrten Wiedergabe der Megaphone so gleich, daß man sie praktisch nicht voneinander unterscheiden konnte. Ich sah, wie Dutzende von Technos auf der Bildfläche erschienen. Sie verließen ihre Quartiere, bauten sich vor den Unterkünften auf und bekamen von ihren Vorgesetzten Befehle. Danach quirlten sie durcheinander – ziellos, planlos. Konterfert neben mir knirschte leise mit den Zähnen. »Schöne Zustände sind das«, ließ sich Razamon sarkastisch vernehmen, sehr passend zu unserer Rolle als Abgesandte des Dunklen Oheims. Konterferts Ärger verstärkte sich. Erneut klangen Befehle über das weite Areal, und sie widersprachen sich mit einer außerordentlichen Gründlichkeit. Es hatte fast den Anschein, als seien die Kommandeure der Technos allesamt in Panik verfallen. War der Tod des Tormagiers Xerylh tatsächlich von so erschreckender Konsequenz? Oder gab es andere Gründe für die
immer weiter um sich greifende Hektik und Unordnung? Wenn sich an diesem Durcheinander nicht sehr bald etwas änderte, dann war das SCHLOSS verloren. 7. »Hier trennen sich unsere Wege«, sagte Tirkis. »Du gehst über die Hügel, und dann siehst du schon, wohin du gehen mußt.« Der Wandersöldner lächelte. Es war das erste Mal, daß Aoore eine derartige Gefühlsäußerung bei dem hageren Mann erlebte. In der ersten Zeit war er immer sehr schweigsam gewesen, verschlossen und verbittert. Tirkis hatte sich nicht laut beklagt, aber er machte unablässig den Eindruck eines Mannes, der nicht ohne Grund mit seinem Schicksal haderte. Trotz dieser verhaltenen Wut war er Aoore gegenüber stets von gleichbleibender Freundlichkeit gewesen – das äußerte sich nicht in Lobsprüchen oder Komplimenten. Es zeigte sich in der Hartnäckigkeit und Umsicht, mit der Tirkis Aoores Ausbildung als Kämpfer betrieben hatte. Der Punthare war ein lausiger Schüler – die Puntharen schienen dafür geboren, sich unter die Peitsche zu ducken, nicht ihren Peinigern die Faust ins Gesicht zu schmettern. Entsprechend mühselig war das Geschäft, einen jungen Puntharen zum Einzelkämpfer auszubilden. Tirkis war damit nicht fertig geworden, dafür war die Zeit zu kurz gewesen, aber er hatte an Aoore ein kleines Wunder vollbracht. »Leb wohl«, sagte Aoore. Er zögerte einen Augenblick lang, dann nahm er seinen Speer, packte ihn mit beiden Händen und brach ihn über dem Knie entzwei, knapp unterhalb der Spitze. »Ich glaube nicht, daß mir die Waffe viel nützen wird«, sagte er. »Aber vielleicht kannst du das Metall brauchen für deine Axt.« Aoore drückte die metallene Klinge der Speerspitze in Tirkis Hand. Dem Wandersöldner klappte der Unterkiefer herunter, und
mit diesem Bild wandte sich Aoore ab und ging davon. Es tat ihm gut, den starken Tirkis verblüfft zu haben, und diese Stimmung hielt bei Aoore geraume Zeit an. Ab und zu drehte er sich um und winkte dem langsam davonstapfenden Wandersöldner nach. Tirkis brauchte nicht sehr weit zu gehen, dann war er außer Sichtweite. Aoore stieg mit bangem Herzen den Hügel hinan. Hinter dieser struppigen Kuppe lag das SCHLOSS – was auch immer das sein mochte. Aoore wußte nur eines: Man hatte Deela dorthin geschafft, sie sollte als Sklavin die fehlenden Tributleistungen abarbeiten, die die Technos zu Unrecht gefordert hatten. Was das hieß, wagte Aoore sich vorsichtshalber gar nicht erst auszumalen. Als er die Kuppe erreicht hatte, blieb der Punthare zunächst einmal stehen. Er holte tief Luft und schluckte. Daß es so etwas überhaupt gab, ging schon über seinen Verstand. Ein helleuchtendes Gebilde, das sich hoch über dem Land wölbte, undurchsichtig und offenbar auch undurchdringlich. Furcht beschlich den Puntharen. Wer solches zuwege brachte, der hatte auch wenig Mühe, einen waffenlosen Puntharen auszuschalten. Dann sah Aoore die Massen. Es mußten Dutzende sein, ja noch viel mehr. Es waren so viele, daß es in der Sprache der Puntharen gar kein Wort gab, eine solche Anzahl von lebenden Wesen überhaupt auszudrücken. Es mußten so viele sein wie ein Mückenschwarm einzelne Mücken zählte. Niemals, nicht in seinen schrecklichsten Träumen, hätte Aoore sich vorzustellen gewagt, daß es so viele Lebewesen gab. Und sie alle drängten sich um eine blutrot umsäumte Öffnung in der seltsamen, schreckenerregenden Leuchtwand. Was wollten sie dort? Gleich ihm in das SCHLOSS hinein? Wollten sie Tribute bringen?
Oder warum drängten sie sich sonst derartig? Auf dem Gelände zwischen dem Hügel aus Geröll und ein wenig Gras und dem viel größeren Hügel aus Leuchten standen die Tiere der Leute, die sich aus der Öffnung drängten. Es mußten so viele Sippenverbände sein, wie es Einzelwesen in einem Sippenverband gab – unvorstellbar. Aoore spürte das starke, drängende Bedürfnis, einfach wegzulaufen. Deela hin, Liebe her – dies war Wahnsinn, ließ sich mit normalen Puntharen‐Maßstäben einfach nicht fassen. Dann aber gewann seine Tapferkeit die Oberhand. Aoore setzte sich in Bewegung. Die Puntharen waren, wenn sie sich einmal in Bewegung gesetzt hatten, schnelle und auch ausdauernde Läufer. Sie brauchten diese Qualität, um überleben zu können. Normalerweise huschten sie schnell von einem Futterplatz zum nächsten, um dort sicherheitshalber zunächst einmal reglos zu verharren und dann gedankenschnell zu einem neuen Platz weiterzuhuschen. Aoore ging nach wie vor aufrecht. Er hatte sich unterdessen an diese Gangart gewöhnt, die leichte Krümmung seines Rückens aber wies ihn nach wie vor eindeutig als Puntharen aus. Er näherte sich dem Haufen, der das Tor bedrängte. Schauder durchrieselten seinen Leib. Er versuchte sich geistig auf das einzustellen, was ihm bevorstand. Er mußte in dieses Gewühl hinein. Für andere Dorkher mochte es normal sein, sich durch eine Menge von Leibern hindurchzudrängen – für einen Puntharen nicht. Für Aoore war jede körperliche Berührung, die nicht aus dem Sippenverband herrührte, qualvoll. Es gehörte sich nicht, sich von anderen berühren zu lassen – denn für einen Puntharen war jeder andere ein Feind, und sich vom Feind berühren zu lassen, hieß, ihm ausgeliefert zu sein. Aoore wußte, daß er keine andere Wahl hatte. Er mußte auch dies auf sich nehmen – ein vielleicht größeres Opfer als der Verlust des Lebens, das er in diesen fürchterlichen Minuten seiner Liebe zu
Deela bringen würde. »Freund!« sagte Aoore und zupfte einen der Dorkher am Ärmel. Der Angesprochene, ein älterer Mann unbestimmter Herkunft, drehte sich um. Er zwinkerte verblüfft. »Was denn?« sagte er verwundert. »Ein Punthare? Und aufrecht gehend?« Offenbar wußte jedermann auf Dorkh, was ein Punthare war – allen Versuchen der Sippenverbände zu Trotz. Aoore spürte den Schmerz, der in dieser Erkenntnis lag, das bittere Gefühl der Enttäuschung. Offenbar – diese Einsicht durchzuckte ihn blitzartig – galten die Puntharen als komische Figuren; ihre verzweifelten Versuche, sich vor der Welt unsichtbar zu machen, waren ebenso hoffnungslos wie lächerlich. »Ich suche meine Freundin«, sagte Aoore, nachdem er die erste Demütigung hinuntergewürgt hatte. »Sie wurde von den Technos entführt, und man hat mir gesagt …« Der Alte lachte meckernd. Die beiden standen am äußersten Rand des Knäuels, das sich vor dem Tor drängelte. »Hehehe«, sagte der Alte. »Er sucht seine Freundin, ein Puntharen‐Mädchen. Du brauchst keine Angst um sie zu haben, so etwas faßt da drinnen keiner an …« Heiße Wut jagte in Aoore hoch. Er ballte die Faust, und ehe er wußte, was er tat, hatte er den Alten mit einem fürchterlichen Hieb gefällt. Ohne Bewußtsein blieb der Spötter auf dem Boden liegen, und mit aller Verachtung, deren er fähig war, sah Aoore auf den Betäubten herab. Er hatte keine Lust mehr, zu fragen und sich dabei womöglich noch mehr demütigende Äußerungen anhören zu müssen. Möglich, daß Puntharen‐Mädchen bei anderen Dorkhern nicht sehr beliebt waren – um so besser für ihn, wenn er Deela zurückgewann. Sofern er andere Puntharen mied, konnte er seiner Liebe sicher sein. Schmerz durchfuhr seinen Körper, als er sich in die kompakte Masse von Leibern förmlich hineinpreßte.
Es war ein Ekelgefühl, das tief aus seinem Innersten erwuchs; das Bewußtsein, nicht wiedergutzumachende Schuld auf sich geladen zu haben, den Sippenverband verraten zu haben. Er konnte sich nicht vorstellen, daß ein anderer Punthare jemals etwas Ähnliches getan hatte. Er spürte Beine, die seine eigenen berührten. Er fühlte Hände, die nach ihm griffen, ihn packten und gleichzeitig zurückdrängten. Der Atem von Fremden schlug ihm ins Gesicht. Nach ein paar Schritten am Rande der Menge war er eingekeilt, hatte er die Kontrolle über seinen Körper verloren. Gleichzeitig wuchs in ihm die Furcht, zertrampelt zu werden, und diese handfeste Angst ließ seine inneren Befürchtungen nichtig werden. Aoore drängelte und stieß. Er wollte so schnell wie möglich aus dieser Enge heraus – und er hatte sich vorgenommen, das SCHLOSS zu erreichen. Er schaffte es. Er überstand den gräßlichen Augenblick am Eingang des seltsamen Tunnels, als er vor dieser endlos erscheinenden Höhlung hatte zurückweichen wollen, befürchtend, von ihr verschlungen zu werden. Er hatte nicht ausweichen können, war hineingespült worden, hatte sich gleichsam treiben lassen und war am anderen Ende hinausgespült worden. Aoore machte ein, zwei Schritte, dann brach er zusammen. Er fühlte festen Boden unter seinem Körper, und beinahe automatisch kauerte er sich in der üblichen Haltung zusammen – Arme und Beine eng an den Körper gepreßt, daß ihn ja keiner sah. Die Erschöpfung dauerte nur wenige Augenblicke. Aoore hörte Lärmen und Schreien, das häßliche Zischen von Waffen. Er wußte nicht, was um ihn herum geschah, aber er wußte eines: Es wurde gestorben in diesen Augenblicken. Er raffte sich auf und rannte los. Zunächst wollte er nur weg, heraus aus dem Bereich, in dem
gekämpft wurde. »Macht sie nieder«, konnte er eine heisere Stimme hören, schier überschnappend vor Gier nach Blut. Er begriff nicht, was um ihn herum vorging. Jemand kämpfte gegen jemanden, warum auch immer. Aoore sah in die Höhe. Über ihm spannte sich das leuchtende Gebilde, das er von außen hatte sehen können. Also hatte er es geschafft, er war im SCHLOSS. Und das hieß: irgendwo hier in der Nähe mußte Deela sein. Irgendwo, man mußte nur nach ihr suchen. * Aoore sah den Toten am Boden liegen, in der erkalteten Hand eine jener fürchterlichen Waffen, die von den Technos verwendet wurden und die jeden Widerstand aussichtslos erscheinen ließen. Niemals hatte ein Punthare es gewagt, sich gegen die Bedrohung mit einer solchen Waffe zur Wehr zu setzen. Aoore zögerte einen Augenblick, dann bückte er sich. Mit Mühe entwand er den steifen Gliedern des Toten die Waffe. Sie wog schwer in seiner Hand. Wenn man ihn damit antraf, war ihm der Tod sicher. Eine solche Waffe in der Hand eines Puntharen … Aoore rannte ein Stück zur Seite. Das Land war hügelig, es gab aber nur wenige Möglichkeiten, sich darin zu verstecken. In dieser Kunst war Aoore selbst unter Puntharen kein Meister, unter diesen besonderen Bedingungen aber erwies sich die Tarnfähigkeit der Puntharen als lebenserhaltend. Flach auf dem Boden, den Rücken graugrünlich verfärbt, kroch Aoore vorwärts. Rechts neben ihm wurde gekämpft. Dorkher lagen dort im Kampf mit Technos – Aoore begriff gar nicht, wie so etwas überhaupt möglich war. Jedenfalls wurde
geschossen und gestorben, und Aoore hatte andere Pläne. Er robbte auf den nächsten Hügel zu. Vielleicht ließ sich von dort aus mehr erkennen. Irgendwo mußten die Bewohner des SCHLOSSES schließlich untergebracht sein – es mußte Höhlen geben oder Erdlöcher, in denen sie sich vor den Unbilden der Natur in Sicherheit brachten. Immer wieder sah Aoore nach oben. Das leuchtende Gebilde hatte sich nicht bewegt, es machte keinerlei Anstalten herunterzukrachen, wie Aoore immer wieder befürchtete. Das Gras unter seinem Leib war dünn und hatte scharfe Kanten, aber der Punthare achtete nicht darauf. Er konnte ohnehin in solchen Fällen die Härte seiner Haut ein wenig verändern, eine sehr notwendige Fähigkeit, wenn man über scharfkantiges Geröll zu marschieren hatte. Dann hatte Aoore den Hügel erreicht – und was er sah, ließ ihn bis ins Mark erschauern. Es gab künstliche Hügel in der Senke, Gebilde, die ganz ohne jeden Zweifel nicht von der Natur geschaffen worden waren. Häuser nannte man die künstlichen Hügel mit ihren Höhlungen – Aoore hatte gerüchteweise davon gehört, sich aber nie eine derartige Konstruktion vorstellen können. Was er sah, erschreckte ihn über die Maßen. Er ahnte, daß er wahrscheinlich in eines der Häuser würde eindringen müssen, um seine Deela wiederzufinden. Zwischen den Gebäuden gab es Leben. Technos rannten dort durcheinander. Aoore der schon einen einzigen bewaffneten Techno zu fürchten gelernt hatte, zählte eine entsetzlich große Zahl von Bewaffneten, die wild umherrannten, schrien und gestikulierten. Aus metallenen Tüten, befestigt an den Dächern der Häuser, erklangen Befehle, die von den Technos teilweise befolgt wurden. Aoore versuchte sich vorzustellen, daß diese Metalltüten lebten und sogar das Recht hatten, den fürchterlichen Technos Befehle zu erteilen – er schaffte es nicht, es ging über seinen Verstand.
Einige hundert Meter seitlich von Aoores Standort wogte eine Angriffswelle der Dorkher über den Hügelkamm. Sobald die Technos unten in der Senke die Angreifer sahen, formierten sie sich zum Widerstand. Aoore fühlte sich versucht, den Angriff mitzumachen, aber er blieb vorsichtshalber liegen. Er tat gut daran. Der erste Ansturm der wütenden Dorkher wurde zurückgeschlagen. Die Angreifer erlitten fürchterliche Verluste. Aber auch in den Reihen der Technos gab es zahlreiche Ausfälle. Vor allem aber – das war sogar für einen Laien wie Aoore zu erkennen – wurden die Technos hoffnungslos verwirrt, zum einen durch die einander widersprechenden Befehle der Tüten, zum anderen ganz einfach durch die Tatsache, daß die Dorkher sie offen anzugreifen wagten, noch dazu im Herzen des SCHLOSSES, wo sich die Technos vollkommen sicher gefühlt hatten. Aoore robbte vorwärts. Er wollte versuchen, hinter die Kampflinie zu kommen, sie seitlich zu umgehen. Im Rücken der Technos, die mit der Verteidigung ihrer Haut vollauf beschäftigt waren, wollte er nach Deela suchen. Und wenn er sie fand, galt es so schnell wie möglich das Schlachtfeld zu verlassen. Denn eines war Aoore blitzartig klargeworden. Das SCHLOSS war für eine der am Kampf beteiligten Parteien eine Todesfalle. Egal ob die Technos siegten oder die Dorkher – der Unterlegene kam aus dem Kessel nicht heraus. Die Partei, die den Tunnel kontrollierte, konnte jeden Fluchtweg für die Besiegten abriegeln. Aoore nahm sich vor, das SCHLOSS so bald wie möglich zu verlassen. Dies alles war für ihn unheimlich und kaum zu ertragen – er hatte keine Lust, in dieser völlig verrückten Szenerie herumzulaufen, in der er nichts verstand und jederzeit getötet werden konnte. Aoore hielt sich seitwärts, und die angeborene Fähigkeit der
Puntharen, mit dem jeweiligen Untergrund gleichsam zu verschmelzen, half ihm sehr. Niemand schien ihn wahrzunehmen, als er in weitem Bogen die Kampfzone umging und sich dann behutsam von hinten an die Häuser heranpirschte. Ungefährlich war dieser Bogen nicht. Er führte an einem Pferch vorbei, in dem Chreeans aufgeregt umherrannten. Aoore hatte ein paar Mal gezüchtete Chreeans gesehen – die Ähnlichkeit im äußeren Erscheinungsbild war nicht zu leugnen, aber das Verhalten der Tiere unterschied sich doch erheblich. Ein Glück, daß diese blutgierigen Bestien in stabilen Pferchen eingegattert waren. Aoore ging sogar so weit, die Festigkeit der Gatter zu überprüfen. Die Chreeans waren sicher eingesperrt, auch wenn sich Aoore nicht vorstellen konnte, zu welchem Zweck jemand so blutgierige Bestien in seinem Gebiet züchtete. Dann war das erste Haus erreicht. Es kam Aoore vor wie ein künstliches Gebirge. Aoore verharrte. Er hielt die Luft an. Schritte wurden hörbar, noch deutlicher konnte Aoore sie über die Schalleitung des Bodens spüren. Er kauerte sich zusammen. Unwillkürlich zog er Arme und Beine an den Leib, das Gesicht barg er in den Händen, die auf den Knien lagen. Ohne sein Zutun verfärbte sich seine Haut. »Ich möchte wissen, was in die Leute gefahren ist«, sagte eine harte Stimme. Sie kam näher. »Ich habe noch nie erlebt, daß dieses Gesindel es gewagt hätte, uns hier anzugreifen.« »Ich möchte vor allem wissen, wer sie überhaupt eingelassen hat«, sagte eine zweite Stimme. An den Schallwellen konnte Aoore ersehen, daß die beiden jetzt unmittelbar neben ihm standen. Er ließ seine Rückenhaut feucht werden. Sie sonderte ein Sekret ab, das als letztes Verteidigungsmittel der Puntharen galt. Die beiden Männer blieben neben Aoore stehen. »Ich habe gehört, daß Ghyderzan den Tormagier getötet haben
soll«, sagte der erste Sprecher. »Das erklärt, wie die Leute ins SCHLOSS gekommen sind.« »Dann soll er sie auch wieder hinauswerfen«, knurrte der zweite. »Wir haben hohe Verluste. Lange werden wir uns gegen die wahnsinnigen Rebellen nicht mehr halten können.« »Wir müssen die Verstärkung heranführen«, hörte Aoore den ersten Sprecher sagen. Dann spürte er, wie sich der Mann gegen ihn lehnte. Die ungeschützte Haut an der Hand des Technos berührte Aoores Rücken. Daß er lebendes Fleisch berührte, konnte der Techno nicht spüren – in Augenblicken wie diesen wurden die Puntharen an der Oberfläche so kalt wie die jeweilige Umgebung. »Dazu brauchen wir den Befehl«, sagte der zweite Techno. »Und was wir bisher an Befehlen bekommen haben … schweigen wir darüber.« Eine zweite Hand berührte Aoore flüchtig. »Wir müssen unsere Flanken sichern«, sagte der zweite Sprecher. »Wenn uns die Dorkher umgehen und im Rücken zu fassen bekommen …« »Wir werden rechtzeitig die Reserven mobilisieren«, wurde ihm geantwortet. »Wenn unsere Reihen nämlich umgangen werden, ist nicht nur unser Rücken bedroht. Dann können die Aufständischen nämlich auch zu den Skla …« Er brachte den Satz nicht zur Gänze über die Lippen. »Was ist?« rief der andere. »Warum wirst du so rot im Gesicht …?« Aoore brauchte nur noch ein paar Augenblicke zu warten. Der erste stürzte, wenig später der zweite. Der Schall des Aufschlags erreichte Aoores Körper wie ein Streicheln. Der Weg war frei für den Puntharen. 8.
Aoore wartete, bis er ganz sicher war, daß die beiden Technos das Bewußtsein verloren hatten. In ein paar Stunden würden sie mit recht benommenen Köpfen erwachen und sich nicht erinnern können, warum sie überhaupt das Bewußtsein verloren hatten. Aoore stand auf. Er sah auf die beiden Feinde erheitert herab. Zu wissen, daß ein harmloser, lächerlicher Punthare zwei der mächtigen, überall gefürchteten Technos ausgeschaltet hatte … wenn er das dem Vorgeher hätte erzählen können. Aoore nahm die Waffen der Technos an sich. Die beiden Messer steckte er in den fleischfarbenen Gurt, die anderen Waffen schichtete er zu einem kleinen Haufen. Dann zog er die erste Beutewaffe und gab einen Schuß ab. Befriedigt stellte er fest, daß die Waffe funktionierte. In ihrem Feuerstrahl schmolz die Bewaffnung der Technos zu einem wertlosen Haufen Schlacke zusammen. »Ihr werdet die Menschen von Dorkh nicht weiter unterdrücken«, sagte Aoore, zufrieden die Technos entwaffnet zu haben. Danach huschte er schnell vom Ort des Geschehens weg. Womöglich erschienen weitere Technos auf der Bildfläche. Bei aller Zuversicht in die eigene Tapferkeit traute sich Aoore dennoch nicht zu, es mit einer ganzen Gruppe bewaffneter Technos aufzunehmen. Zudem hatte er jetzt ein Ziel. »Sklaven«, hatte einer der Technos sagen wollen, als ihm das giftige Hautsekret des Puntharen die Kehle zugeschnürt hatte. Irgendwo in diesem Gelände waren Sklaven untergebracht. Aoore sah zum Himmel hinauf. Das Ding – was immer es auch sein mochte – war sehr fest und stabil. Aoore hatte es beim Hereinkommen gemerkt. Außerdem schien es zu dieser seltsamen Riesenhöhle nur den einen Zugang zu geben – den Tunnel, den er vor einiger Zeit passiert hatte. Wo würde man unter diesen Umständen Sklaven unterbringen – doch wohl an einer Stelle, die vom Ausgang des Gebildes möglichst weit entfernt war.
Dorthin machte sich Aoore auf. Er war zuversichtlich, daß sich die Technos hauptsächlich um die Eindringlinge kümmern würden, schon um ihre kostbare Haut in Sicherheit zu bringen. Im rückwärtigen Teil der riesigen Höhle würde es folglich nicht so viele Wachen und Aufpasser geben. Aoore rannte. Er lief so schnell er nur konnte. Er hatte einen weiten Weg zu machen, das wußte er. Die Höhle war entsetzlich groß. Es gab darin nicht nur die Häuser der Technos, es gab außerdem sehr seltsame, gefährlich aussehende Metallhäuser, es gab Straßen und Plätze. All dies waren Dinge, die der Punthare nur vom Hörensagen kannte. Die Begegnung mit einem dieser sagenhaften Wunderwerke hätte genügt, ihn zu erschüttern – der Anblick einer ganzen Welt voll solcher Unbegreiflichkeiten hatte ihn seltsamerweise nach kurzer Zeit abgestumpft. Da er die Dinge ohnehin nicht begreifen konnte, nahm er sie so, wie sie waren, ohne langes Nachdenken über Sinn und Zweck. So rannte er an den Raumschiffen vorbei, deren Funktion er nicht einmal annäherungsweise hätte beschreiben können. An den Schiffen achtlos vorbeizurennen, fiel ihm um so leichter, als er sich Dinge wie Raumfahrt gar nicht vorstellen konnte. Aoore rannte gleichmäßig, mit ruhigen, stetigen Bewegungen. Seine Schritte waren weit und raumgreifend, sein Atem ging in regelmäßigen tiefen Zügen. Es tat gut, so zu laufen. Als Punthare hatte man nur selten Gelegenheit dazu. Aoore orientierte sich an der Wölbung der Höhle. Sie zeigte ihm an, wohin er zu rennen hatte, wo sein Ziel lag. Als er von diesem vermuteten Ziel so weit entfernt war wie vor einiger Zeit vom Eintrittstunnel, verlangsamte Aoore seinen Lauf. Er hatte ein Areal umlaufen, das als Siedlungsraum groß genug für seine ganze Sippe gewesen wäre. Zudem war das Gelände zwischen den Metallhäusern so dicht bewachsen wie kaum ein anderes Gebiet, das Aoore jemals gesehen hatte.
Was es an Kostbarkeiten in den vielen Häusern gab, zwischen denen er seinem Ziel entgegengerannt war, interessierte Aoore nicht. Er suchte nach dem Ort, wo die Sklaven untergebracht waren. Er fand ihn wenig später. Es war ein Pferch, nicht unähnlich den Gehegen, in denen die wilden Chreeans gehalten wurden. Auf dem Boden saßen einige tausend unglücklicher Gefangener der SCHLOSSHERREN, zusammengekauert, müde und abgerissen. Aoore versuchte sich vorzustellen, was es bedeutete, unter diesen Umständen Wochen, Monde, womöglich gar jahrelang leben zu müssen. Denn an ein Entkommen der Sklaven war nicht zu denken. Sie wurden perfekt bewacht. Der Pferch – man konnte das Gelände nicht anders bezeichnen – war umgeben von einem stabilen Zaun. Fünfzig Schritt davon entfernt gab es einen zweiten stabilen Zaun – und dazwischen tummelte sich eine Herde wilder Chreeans. Wer von den Sklaven auch nur einen Fuß über den Zaun hinausstreckte, war einen Augenblick später zerrissen. Ein perfektes, ein gräßliches Gefängnis, das keiner weiteren Sicherungsmaßnahme bedurfte. Es gab auch keine Technos in der Nähe. Sie wären auch überflüssig gewesen. Das Hindernis der hundertköpfigen Chreean‐ Herde ließ jeden Gedanken an Flucht absurd erscheinen. Aoore schlich dennoch mit aller Vorsicht näher. Gab es von außen eine Möglichkeit, den Eingeschlossenen zu helfen? Es gab Häuser in der näheren Umgebung. Vielleicht ließ sich dort ein Mittel finden. Mit aller gebotenen Vorsicht untersuchte Aoore bangen Herzens die Gebäude. Er fand Magazine, angefüllt mit seltsamen Waren, aber er fand nichts, was ihm weitergeholfen hätte. In einem der Häuser fand er ein langes Seil, aber auch das war im Grunde zu nichts nütze.
Wie wurden die Sklaven aus ihrem Pferch herausgeholt? Diese Frage stellte sich Aoore. Er ging wieder hinaus ins Freie – immer witternd, immer darauf bedacht, von niemandem gesehen zu werden – und sah sich den Pferch an. Es gab eine Brücke, die über den Chreean‐Sperrgürtel hinwegführte. Diese Brücke bestand aus zwei Teilen, die geschwenkt werden konnten, allerdings nicht mit Muskelkraft, dafür waren sie viel zu schwer. Sie wurden von Maschinen bewegt. Aoore kannte auch das nur vom Hörensagen, er wußte nicht, was eine Maschine war, aber irgendwie mußten die Brückenteile schließlich bewegt werden. Aoore dachte an das Seil. Wenn man es zwischen den Enden der Brücke spannte … Man mußte es ganz straff ziehen, dann konnte man sich hinüberhangeln. Aber dazu mußte man ein Ende des Seiles auf die andere Seite befördern – fünfzig, vielleicht noch mehr Schritte weit. Auch dazu fiel Aoore sofort ein Plan ein. Man mußte einen kleinen aber schweren Gegenstand nehmen und daran ein leichtes, dünnes Seil befestigen. Beides wurde auf die andere Seite geschleudert, aufgefangen, und dann konnte man mit dem dünnen Tau das dicke Seil herüberziehen. Das sagte sich leicht, aber es gab in der Nähe kein dünnes Seil – und damit war auch dieser Plan gescheitert. Außerdem wußte Aoore, daß er sich beeilen mußte – wenn die Technos es schafften, die angreifenden Dorkher zurückzuschlagen, saß Aoore mit den Sklaven in der Falle. Die Zeit drängte. Es gab noch einen Plan. Aoore erwog ihn mehrere Minuten lang, dann machte er sich an die Ausführung. Er knotete sich das dicke Seil um den Leib, das andere Ende befestigte er an der äußeren Brücke. Inzwischen waren die Sklaven auf Aoore aufmerksam geworden. Sie sagten nichts, sie riefen und winkten nicht. Sie sahen nur zu.
Aoore verzichtete auf die Mühe, Deela in der Menge zu suchen – ihr Anblick hätte seinen Plan unausführbar gemacht. Er kletterte an der äußeren Wand des Gatters empor, bis er den Rand erreicht hatte. Auf der anderen Seite der Todeszone war es erschreckend ruhig. Zu hören war das Scharren und Zischen der Chreeans, und ganz aus der Ferne wurde der Widerhall des Kampfes zwischen Dorkhern und Technos hörbar. Es kam auf den Bruchteil einer Sekunde an. Aoore mußte einen Augenblick erwischen, in dem kein einziges Chreean‐Auge auf ihn gerichtet war. Nur dann hatte er eine Chance. Er wollte sich fallen lassen und auf dem Boden sofort erstarren – wie er es als Punthare gewöhnt war. Die Tarnkunst seines Volkes war so hoch entwickelt, daß sie fast alle täuschen konnte – warum nicht auch die Chreeans? Aoore ließ sich fallen. Im Sturz schoß die Angst in ihm hoch. Er erwartete das Zuschnappen der mörderischen Kiefer, den gräßlichen Schmerz an seinem Leib, wenn sich die Zähne ins Fleisch bohrten. Aoore schlug auf und erstarrte. Er bildete nur einen Felsbrocken mehr auf dem unebenen Boden des Chreean‐Pferchs. Hielten die Tiere ihn für einen Fels, war er gerettet. Taten sie es nicht … Geglückt, sagte sich Aoore einen Herzschlag später. Die Mörderchreeans waren so wild und blutgierig, daß sie keinen Herzschlag lang gezögert hätten, sich auf Aoore zu stürzen und ihn zu zerreißen, sobald er in die Reichweite ihrer Kiefer kam. Er lebte noch, also war das Täuschungsmanöver geglückt. Vorerst. Denn er lag zusammengekauert dicht neben dem äußeren Gatter. Noch mußte er hinüber zum inneren Gatter. Fünfzig Schritte und mehr, die er keinesfalls in einem Stück zurücklegen durfte, wenn er seine Tarnung beibehalten wollte.
Und dann mußte er noch am inneren Gatter emporturnen … dabei wurde jede Tarnung nach einem Wimpernschlag hinfällig. Aoore öffnete sehr vorsichtig die Augen. Die Chreeans trabten unruhig durch den Pferch. Keinen Augenblick lang kamen sie zur Ruhe. Aoore wartete einen Augenblick ab, in dem wieder kein Auge auf ihn gerichtet war. Er nutzte diese winzige Zeitspanne, sich umzudrehen. Er hockte jetzt auf seinen Füßen, spürte im Rücken die Wand des äußeren Gatters und konnte voraus die Wandung der inneren Absperrung sehen – und die Chreeans. Es galt abzuwarten. Jeder noch so kleine Fehler war sofort tödlich. Aoore machte einen Schritt und erstarrte wieder. Man hatte ihn nicht bemerkt. Die Chreeans hielten den zusammengezogenen Leib für ein Stück Fels – sie waren nicht intelligent genug, sich zu fragen, wo dieser Felsbrocken hergekommen war. Er sah aus wie ein Fels, lag da und rührte sich nicht – damit hatte es für die Chreeans sein Bewenden. Aoore mußte sehr lange warten, bis ihm wieder ein paar hastige Schritte gelangen. Geduld und Kaltblütigkeit waren die wichtigsten Eigenschaften, die von Aoore jetzt verlangt wurden. In einem ruhigen Augenblick stellte Aoore amüsiert fest, daß er augenblicklich nicht die geringste Angst verspürte – offenbar war er viel zu beschäftigt, um sich von Panik überwältigen zu lassen. Zwölf Schritte – soviel schaffte Aoore beim nächsten Versuch. Er kam seinem Ziel näher. Nichts rührte sich auf der Innenseite des Sklavenpferchs. Die Sklaven der SCHLOSSHERREN standen völlig regungslos. Vermutlich hielten sie ebenso den Atem an wie Aoore. Sie schienen ganz genau zu wissen, was sich vor ihren Augen abspielte. Vor allem konnten sie das Seil sehen, das Aoore hinter sich her zog. Es bildete den Keim zu Hoffnung für die Eingeschlossenen. Acht weitere Schritte, nach einer Zeit, die aus Ewigkeiten
zusammengesetzt schien. Aoore hockte jetzt mitten im Todesstreifen, umgeben von Chreeans, die sich nicht um ihn kümmerten. Aoore mußte sehr vorsichtig sein. Sein Plan verlangte, daß nicht ein einziges Chreean ihn bei seinen Bewegungen sah. Auf dem Rücken aber hatte Aoore keine Augen – das war die größte Gefahr für ihn. Er konnte nicht sehen, was sich hinter seinem Rücken tat – er mußte jedesmal warten, bis er sicher war, daß sein Rücken völlig unbeobachtet war. Jetzt beispielsweise, wo der Weg nach vorn frei gewesen wäre, rannten zwei Chreeans hinter ihm durch, folglich durfte er sich nicht be … Ein Ruck ging durch seinen Körper. Angststarre überfiel den Puntharen. Er fühlte sich herumgerissen, flog durch die Luft, krachte auf den Boden, überschlug sich. Eines der Chreeans hatte sich in dem Seil verfangen, das Aoore hinter sich herzog. Aus, verloren, vorbei. Noch ein Herzschlag, dann war es soweit. Aoore spürte die Härte des Bodens, über den er geschleift wurde. Er schlug mit dem Schädel gegen das Bein eines Chreeans, überschlug sich abermals und konnte nichts sehen, weil er instinktiv die Augen geschlossen hatte. Er konnte nur fühlen und hören. Fühlen, wie er herumgerissen wurde und sich wieder und wieder überschlug, wie sich schmerzhaft das Seil in sein Fleisch fraß, als daran gezerrt wurde. Er konnte das Stöhnen der Sklaven hören, die vor ihren Augen ihre erste Hoffnung im Sand und Staub des Todesstreifens verenden sehen mußten. Er konnte das Atmen der Chreeans hören, das Geräusch, das ihre Füße machten, wenn sie über den Boden scharrten. Dann spürte er, wie etwas halbwegs Weiches seinen Körper berührte, wie er gestoßen wurde. Ein Chreean hatte ihn mit dem
Maul angestoßen und wälzte den steifen Körper wie ein Spielzeug vor sich her. Andere schienen in das grausige Spiel einzugreifen, und Aoore wartete noch immer auf den Augenblick, in dem seine Tarnung hinfällig wurde. Es war eine Qual, auf den gräßlichen Tod zu warten, aber Aoore hatte nicht die Kraft, sein Ende durch eine Bewegung zu beschleunigen. Er blieb verkrampft und starr und spielte seine Rolle bis zum unvermeidlichen Ende. Er rührte sich auch nicht, als sich bei dem schrecklichen Spiel das Seil in den Beinen eines Chreeans verfing und er umhergewirbelt wurde, als das Tier sich von der Fessel zu befreien versuchte. Augenblicke, die in Ewigkeiten zerbröselten. Aoore krachte auf den Boden, wurde getreten und gestoßen, aber er blieb auch starr, als ein grauenvoller Schmerz, der zuerst seinen Kopf traf, ihm verriet, daß er mit großer Wucht gegen ein Gatter geprallt war. Noch einmal konnte er den Atem eines Chreeans ganz dicht riechen, dann wurde es plötzlich ruhig. Aoore blieb liegen. Sein Körper war nur mehr eine Ansammlung gepeinigter Muskeln und Nerven. Jeder Knochen schien mehrfach gebrochen. Dann gab es neue Geräusche. Sehr langsam und gedehnt erklang eine Stimme. Sie sagte: »Klettere hinauf!« Aoore hatte das Gefühl, als verginge die Zeit viel langsamer als sonst. Er öffnete entsetzlich langsam die Augen, sah vor sich das Gatter, und wieder ertönte sehr langsam die Aufforderung, daran in die Höhe zu klettern. Aoore konnte nicht anders. Die Rettung war buchstäblich zum Greifen nah. Er streckte die gequälten Beinmuskeln, schnellte in die Höhe. Gleichzeitig riß er die Arme hoch. Möglichst weit oben wollte er eine Stange des Gatters zu fassen bekommen, sich daran hochziehen, aus der Reichweite der Chreeans kommen, möglichst
mit einer oder zwei blitzschnellen Bewegungen. Wie langsam alles ablief. Er flog in die Höhe, und er hörte gleichzeitig das Aufstöhnen der Sklaven und das erste heisere Fauchen eines Chreeans. Er war endgültig entdeckt. Aoore bekam etwas zu fassen, krallte die Hände darum. Seine Füße fanden einen Widerstand, und in einer einzigen Bewegung, in der er alle Kraft zusammennahm, schnellte er sich noch höher. Wieder ließ er die Arme nach oben fliegen, um möglichst hoch eine Stange zu fassen zu bekommen. Von ferne her erklang wütendes Fauchen, dann ein markerschütternder Schrei. Aoore fand Halt für seine Hände. Er krallte sich fest. Halbhoch hing er im Gatter und machte den nächsten Schritt, der ihn endgültig außer Reichweite der Chreeans bringen sollte. Er schaffte es, er turnte an dem Gatter in die Höhe, und er erreichte die Kante, die ihm Sicherheit verhieß. Aoore spürte Hände, die nach ihm griffen, seinen Körper hinauf in die Sicherheit zerrten und zogen. Er drehte sich dabei, und er konnte hinabsehen auf den Todesstreifen. Er sah, wie eines der Chreeans, fast tollwütig vor Gier, in die Höhe sprang, wie es die Pranke nach ihm ausstreckte und schlug. Und Aoore sah, wie knapp die Pranke an dem Seil vorbeistrich, das der Punthare noch immer hinter sich herzog. »Schnell!« rief Aoore und zerrte an dem Seil. Es ging um winzige Augenblicke. Wenn die Chreeans das Seil zu fassen bekamen, konnten sie nicht nur Aoore zu sich herabziehen – auch der Befreiungsversuch der Sklaven hatte dann ein Ende gefunden. Noch einmal schlug eines der Tiere nach dem Seil, und die Pranke verfehlte das Tau nur um wenige Fingerbreiten. Dann hatten die Sklaven es geschafft. Das Seil war gestrafft, außer
Reichweite der blutgierigen Chreeans. Aoore war in Sicherheit. Besinnungslos brach er zusammen. 9. Das erste, was der Punthare bei seinem Erwachen sah, war ein Gesicht, nach dessen Anblick er sich gesehnt hatte. Deela beugte sich über ihn, und damit waren für Aoore alle Strapazen der letzten Zeit vergessen. »Ich habe dich gesucht und gefunden«, sagte Aoore leise. »Du siehst, ich halte Wort.« Deela lächelte nur. Sie gab Aoore Wasser zu trinken, das klarste und sauberste Wasser, das Aoore jemals genossen hatte – dafür schmeckte es allerdings ein wenig fade. »Wie lange bist du schon hier?« fragte Aoore. »Nicht lange«, sagte Deela leise. »Es ist mir nur sehr lange erschienen.« »Mein Name ist Sserda«, sagte eine Stimme. Der Kopf eines Zukahartos tauchte in Aoores Gesichtsfeld auf. »Ich bin der Anführer der Verzweifelten in diesem Lager des Grauens. Wir danken dir, daß du dein Leben gewagt hast, um uns zu helfen.« Aoore erinnerte sich. »Es hat andere – einen oder mehrere – gegeben«, sagte er und schaudert, »die ihr Leben geopfert haben, um das meine zu retten. Oder irre ich mich?« Sserda nickte. »Sie haben die Chreeans von dir abgelenkt«, sagte er. »Ihre Namen werden im unzerstörbaren Buch des Guten so groß geschrieben werden wie in unserem Gedächtnis. Aber sage mir, was hast du eigentlich hier zu suchen? Wie bist du ins SCHLOSS gekommen – was hat es überhaupt zu bedeuten, daß du uns befreien willst?« Aoore richtete sich langsam auf. Er tat es sehr langsam, und er
genoß jeden Augenblick. Aufrecht stand er vor dem hochgewachsenen Zukaharto, und niemand schien daran etwas verwunderlich zu finden. »Das Tor ist offen«, sagte Aoore. »Warum und wieso, das vermag ich nicht zu sagen. Ich weiß nur, daß Hunderte und aber Hunderte von Bewohnern unserer Welt durch den Tunnel in diese Höhle eingedrungen sind und sich mit den Technos harte Kämpfe liefern.« Aoore sah, wie der Zukaharto zusammenzuckte. »Das Tor offen?« fragte er entgeistert. »Ist denn der Tormagier tot?« »Ich weiß keine Einzelheiten«, sagte Aoore. »Ich bin durch einen Tunnel hereingekommen, und durch diesen Tunnel möchte ich diesen Ort wieder verlassen.« Er stellte fest, daß er auf dem jenseitigen Teil der Brücke stand. Am Fuß der Brücke hatten sich die Sklaven versammelt. »Freunde«, rief der Zukaharto. »Ich habe gute Kunde für euch – der Eingang zum SCHLOSS scheint frei zu sein. Unsere Gefährten von draußen liegen mit unseren Peinigern im Kampf. Wir haben jetzt die Wahl – wir können hierbleiben und uns fügen …« »Niemals!« klang es Sserda entgegen. »Wir können versuchen, uns zum Eingang durchzuschlagen und ins Freie zu kommen«, fuhr der Zukaharto fort, »und wenn uns dieser Weg versperrt sein sollte, dann können wir immer noch im Kampf mit unseren Unterdrückern einen Tod in Ehren sterben. Ich werde gehen, und jeder, der sich uns anschließen will, soll tun, wie ihm beliebt.« In der Zeit von Aoores Besinnungslosigkeit hatten die Sklaven das Seil stramm gespannt. Der Weg ins Freie stand offen; er war gefährlich, aber er verhieß die Freiheit. Keiner unter den Sklaven, der nicht sein Leben wagen wollte, um die Freiheit zurückzugewinnen. Aoore war es vorbehalten worden, als erster in die – einstweilen noch relative – Freiheit zurückzukehren.
Der Punthare schlang Arme und Beine um das Seil und schob sich vorwärts. Unter ihm tobte und heulte die Meute, eine Zusammenballung von Haß, Wut und Blutgier. Nach kurzer Zeit hatte Aoore ohne Schwierigkeit den äußeren Rand des Pferchs erreicht. Er atmete erleichtert auf, als er wieder festen Boden unter den Füßen spürte und sich sicher fühlte vor den Kiefern der Chreeans. Deela folgte. Leicht und mühelos überquerte sie den Todesstreifen, zusammen mit Aoore stieg sie am äußeren Gatter hinab. Kurze Zeit später stand auch Sserda außerhalb des Sklavenpferchs. Aoore sah, daß der Zukaharto nur mit Mühe seine Erregung dämpfte. »Waffen«, stieß Sserda hervor. »Sage mir, gibt es Waffen in der Nähe?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Aoore. Er überlegte einen Augenblick lang, ob er Sserda seine eigene Beutewaffe übergeben sollte, dann aber entschloß er sich, das wertvolle Stück zu behalten – sein Ruhm bei den Puntharen würde keine Grenze kennen, wenn er so zurückkehrte: mit der zurückeroberten Geliebten Deela und mit einer echten Technowaffe als Beute. »Durchsucht die Gebäude!« bestimmte Sserda. Seine Gefolgsleute, Dorkher aus allen Landschaften, schwärmten aus, um die umliegenden Häuser nach Waffen zu durchsuchen. Bald kehrten sie zurück, beladen mit allen möglichen Gerätschaften, die als Waffen dienen konnten – Knüppeln, Messern, Werkzeugteilen. »Das ist nicht viel«, sagte Sserda beim Anblick des Sammelsuriums. »Mehr war nicht zu holen«, entgegnete einer der Waffenbeschaffer. Unterdessen verließen immer mehr Sklaven ihr Gefängnis. Die Zahl der einsatzbereiten Kämpfer vergrößerte sich. Auch die Frauen schienen entschlossen, sich an ihren Peinigern zu rächen – und sollte
es das Leben kosten. Im Kampf zu sterben, schien diesen Sklaven erstrebenswerter als ein Leben in Unfreiheit. Sserda betrachtete Aoore und Deela. Sein Blick wanderte ab und zu zu der Waffe, die Aoore erbeutet hatte, aber der Zukaharto sagte nichts. »Was willst du tun?« fragte Sserda den Puntharen. Aoore sah seine Gefährtin an. Eigentlich hatte er sein Ziel fast erreicht. Er hatte Deela gefunden, er hatte sie befreit, und mit etwas Glück konnte er in dem allgemeinen Durcheinander durch den Tunnel hinausschlüpfen, so unbemerkt wie er hineingekommen war. Nach Heldentum stand ihm nicht der Sinn – er wollte leben. Deela nahm dem Puntharen die Antwort ab. »Wir werden kämpfen«, sagte sie entschlossen. »Ich will Rache!« So hatte Aoore die zurückhaltende Deela niemals erlebt; derartiger Rachedurst war überhaupt für einen Puntharen recht ungewöhnlich. Er ließ aber erkennen, was die Sklaven zu leiden gehabt hatten. »Wir werden kämpfen«, sagte nun auch Aoore. »Selbstverständlich. Erst dann werden wir das SCHLOSS verlassen.« Es war eine beachtliche Streitmacht, die sich inzwischen versammelt hatte. Soeben verließ der letzte Sklave sein Gefängnis. Nicht ein einziger hatte beim Übergang den Halt verloren; die Chreeans waren ohne Beute geblieben. »Nehmt mit, was ihr finden könnt«, sagte Sserda. »Und dann – legt Feuer!« »Das sollten wir nicht tun«, wandte Aoore ein. »Man kann den Rauch weithin sehen. Es würde vor der Zeit die Flucht verraten und die Technos warnen.« Sserda nickte. »Du hast recht«, gab er zu. »Legt kein Feuer. Aber sammelt euch, damit wir aufbrechen können.« Kurze Zeit später setzte sich der Zug der Sklaven in Bewegung.
Die jungen, kampffähigen Männer marschierten voran. Den Schluß bildeten die älteren Weiber mit den Kindern. Aoore führte die Sklaven den Weg, den er gekommen war – in weitem Bogen an den eigentlichen Kampfgebieten vorbei. »Wir sollten uns die Häuser der SCHLOSSHERREN vornehmen und in Brand setzen«, sagte Sserda und deutete auf die Metallgebilde. »Das wäre eine angemessene Rache.« »Ich weiß nicht, ob uns das weiterbrächte«, sagte Aoore. »Mit den Technos zu kämpfen, mag richtig sein. Aber ich halte es nicht für ratsam, wenn wir die Herren des SCHLOSSES selbst angreifen würden. Sie sind vielleicht noch stärker und gefährlicher als die Technos – ich würde es nicht wagen.« Sserda verkniff sich eine Bemerkung. Aoore wußte, was der Zukaharto dachte. Sein Volk war berühmt für Kampfeslust; alljährlich rüsteten die Zukahartos zu weiten Raubzügen. Für Sserda bedeutete es große Überwindung, einen erkannten und gehaßten Feind nicht auf der Stelle anzugreifen und zu vernichten. Für Aoore war das leichter, die Puntharen waren von Natur aus friedfertiger. »Erst kämpfen wir die Technos nieder«, sagte Deela. »Wir müssen ihnen die guten Waffen abnehmen. Und dann, wenn wir sie besiegt haben, können wir die Häuser aus Metall angreifen.« Aoore mußte an Tirkis denken, den Wandersöldner. Für ihn hätte es hier reiche Beute gegeben. »So werden wir es machen«, bestimmte Sserda. Die Reihen der Sklaven fächerten auseinander. Sie wollten die Technos nicht frontal angreifen, sondern sich vielmehr vorsichtig an sie heranschleichen. Für Aoore blieb Zeit genug, sich genau zu überlegen, was er tun wollte. Auf der einen Seite hatte er keine Lust, sich noch einmal der Lebensgefahr auszusetzen, auf der anderen Seite wollte er die racheschnaubende Deela nicht allein lassen. So blieb ihm nichts anderes, als an ihrer Seite zu bleiben, mochte kommen, was wollte.
Der Zug der Sklaven brauchte geraume Zeit, bis jenes Gebiet erreicht war, in dem die Kämpfe tobten. Sobald sie nahe genug heran waren, gebot Sserda mit einem vereinbarten Handzeichen Schweigen. Die Sklaven preßten sich an den Boden. Jetzt blieben die Kinder in der Obhut älterer Frauen zurück; sie hätten die Aktionen durch ihr Schreien verraten können. »Ich werde auskundschaften«, sagte Aoore. »Einen Puntharen wird man nicht so rasch erkennen.« »Ich werde dich begleiten«, erklärte Deela bestimmt. Sie legten sich auf den Boden und robbten sich voran. Bereits nach wenigen Schritten waren sie für Sserda und seine Begleiter fast verschwunden – nur wenn man wußte, wo die beiden stecken mußten, konnte man die Körper ausmachen. Die Tarnung der beiden Puntharen war perfekt. Aoore konnte den Lärm hören, der mit den Kämpfen verbunden war. Er nahm die Waffe zur Hand, hielt sie aber sorgsam so, daß man sie nicht ohne weiteres sehen konnte. Irgendwo war ein Feuer ausgebrochen. Rauch stieg in die Höhe, das Prasseln eines Brandes war zu hören. Aoore schob sich an einer Mauer entlang. Die Dorkher waren offenbar ein ganz erhebliches Stück vorgedrungen, und sie setzten den Technos ganz gehörig zu. Die Hauptkampflinie war von den Technos weit zurückgenommen worden. »Ich verstehe das nicht«, sagte Aoore. »Sieh dir das an!« Er deutete auf die Wachen. Ein Teil der Technos war damit beschäftigt, die Dorkher zurückzuhalten, die auf breiter Front angriffen. Sie hatten bereits jenen Teil des SCHLOSSES erreicht, in dem die Häuser der Technos standen – aus der offenen Feldschlacht war längst ein erbitterter Straßenkampf geworden, sehr zum Leidwesen der Technos, die in der Enge der Gebäude ihre Waffen nicht so wirkungsvoll einzusetzen vermochten. Von seinem Standort aus konnte Aoore
sehen, wie ein Dorkher auf einem Dach einen schweren Gegenstand anhob und mit Wucht auf einen Techno herabsausen ließ, der in seine Reichweite geriet. Ein paar Augenblicke später besaß der Dorkher die Waffen des Technos und drang weiter vor. Der weitaus größte Teil der Technos aber griff gar nicht in das Kampfgeschehen ein – das war es, was Aoore so sehr verwunderte. Die Technos waren ausgerüstet und bewaffnet, aber anstatt zu kämpfen, hielten sie Wache. Sie schützten die Eingänge für die metallenen Häuser, in denen, wie Aoore vermutete, die SCHLOSSHERREN hausten. Längst hätte diese Truppe das Blatt zugunsten der Technos wenden können, aber die Wachen griffen nicht ein. Offenbar hatten sie andere Befehle. Aoore glitt ein Stück zurück, zu einer Stelle, an der ihn die Sklaven erkennen konnten, ohne daß andererseits die Technos ihn zu sehen vermochten. Aoore winkte. Das vereinbarte Zeichen: kommt heran. Die Sklaven setzten sich in Bewegung. Sie nutzten die Sichtdeckung eines Hügels. Aoore huschte an die Stelle zurück, an der Deela weiterhin das Geschehen beobachtete. Die Dorkher machten weiter Boden gut. Offenbar drangen noch immer aus dem Umland wütende Untergebene der SCHLOSSHERREN durch den Tunnel in das Innere des SCHLOSSES vor. Die Gelegenheit, sich für Unterdrückung und Versklavung zu rächen, schien die Dorkher zu beflügeln – mit selbstmörderischer Entschlossenheit gingen sie in den Kampf, und sie griffen weiter an, ohne sich um ihre Verluste zu kümmern. »Wir haben gute Aussichten«, flüsterte Aoore. Sserda hatte sich vorsichtig zu ihm vorgearbeitet. Der Zukaharto nickte. Mit einem überraschend vorgetragenen Angriff konnten Sserdas Leute die rechte Flanke der Technos aufrollen und zum Einsturz bringen. Das bedeutete vor allem, daß sich ein Teil der
Angreifenden mit dem erstklassigen Waffenmaterial der Technos eindecken konnte. Jede Waffe, die ein Techno verlor, wurde wenig später gegen die Verteidiger gerichtet – wohingegen die Technos mit erbeutetem Gerät nichts anzufangen wußten. Der Kampf entwickelte sich langsam zu einer merkwürdigen Form von Materialschlacht. »Wir werden gewinnen«, sagte Sserda. »Wir werden sie besiegen, oder wir werden untergehen.« Diese Alternative gefiel Aoore überhaupt nicht, aber er schwieg dazu. Sserda winkte einige seiner Leute heran. Offenbar hatten die Sklaven die Zeit ihrer Haft dazu genutzt, eine regelrechte Hierarchie aufzubauen – Sserda verfügte jedenfalls über eine Reihe gut geschulter Unterführer, die seine Befehle weitergeben und ausführen konnten. »Wenn wir einen Haken schlagen«, sagte Aoore und deutete auf das Gelände, »kommen wir sogar im Rücken der Technos heraus.« »Haben aber die Wachen an den Schiffen selbst genau im Rücken«, warf Sserda ein. »Es bleibt dabei – wir greifen seitlich an.« Es konnte nicht mehr lange dauern, bis der Angriff losbrechen mußte. Unwillkürlich hielt Aoore den Atem an. Dann ballte der Zukaharto die Faust und stieß sie in die Höhe. Der Angriff begann. Die Sklaven sprangen auf, geräuschlos. Sie verzichteten auf Angriffsgeschrei, um so einige wichtige Sekunden der Überraschung zu gewinnen. Aoore konnte sehen, wie sie geduckt auf die Reihen der Technos zurannten; sie bildeten eine weitgefächerte Sichel, deren Spitze nach wenigen Sekunden die Reihe der Technos erreicht hatte. Mit Knüppel und Steinen drangen die Sklaven auf die völlig verblüfften Technos ein, die sofort niedergemacht wurden. Während die ersten Sklaven sich mit den Waffen der Technos versahen, erreichte die nächste Gruppe ihr Ziel. Solcherart
gleichsam in die Zange genommen, hatten die Technos wenig Aussicht, den Kampf zu bestehen. Während an der Seite die Zahl der gut bewaffneten Sklaven immer größer wurde und von den Technos immer größere Abwehrleistung erforderte, wurden gleichzeitig die Angriffe aus dem Rückraum stärker, die von den noch schlecht bewaffneten Sklaven durchgeführt wurden. Das Manöver klappte beinahe schulmäßig. Wenn ein Techno begriff, daß er angegriffen wurde, tauchte meist nicht nur ein Sklave mit Techno‐Waffen an seiner rechten Seite auf, sondern von hinten sprang dem Verteidiger noch ein knüppelbewehrter Sklave in den Nacken. »Vorwärts!« schrie Sserda. Aus den Reihen der angreifenden Dorkher erklang Jubelgeschrei. Mit diesem plötzlich auftauchenden Verbündeten hatten die Angreifer natürlich nicht gerechnet, so wenig wie die Technos. Die Reihen der Verteidiger wankten. Sie brauchten geraume Zeit, bis sich die Kunde von dem neuen Gegner durch die Reihen hindurch fortgepflanzt hatte. Erst danach konnten die Technos eine zweite Abwehrreihe gegen die Sklaven aufrichten. Ihre Lage wurde dadurch kaum besser. Befehle flogen durch die Reihen der Technos, Flüche und Verwünschungen erklangen. Sie galten insbesondere den ungerührt dastehenden Truppen, die an den Schiffen Wache hielten und keine Erlaubnis bekamen, die Reihen ihrer Gefährten aufzufüllen und zu verstärken. Solcherart in die Enge getrieben, warfen die ersten Technos die Waffen weg und suchten ihr Heil in der Übergabe. Die ersten wurden noch von den rasenden Dorkhern niedergemacht, dann aber setzte sich die Einsicht durch, daß sich durch Kapitulation die Kampfkraft der Technos weit eher schwächen ließ als durch direkten Kampf. Die Dorkher gaben Pardon, und die Zahl der Technos wuchs, die den Kampf aufgaben und sich davonzumachen suchten.
Schon war die Schlacht fast gewonnen, schon liefen die Technos in Scharen. Die ersten Dorkher, trunken vor Siegesfreude, aufgestachelt von Haß und Wut, drangen weiter vor, überrannten die Stellungen der Technos, betraten den inneren Bereich des SCHLOSSES, den Bezirk zwischen den stählernen Unterkünften der SCHLOSSHERREN … 10. »Diese Narren«, schimpfte Konterfert. Wir mußten ihn festhalten. Der Techno tobte vor Wut und wollte unbedingt in den Kampf eingreifen. Das durften wir natürlich nicht zulassen, wir hinderten ihn mit aller Kraft. Die Wut des Technos war verständlich. Vor unseren Augen entwickelte sich der Kampf zwischen den empörten Dorkhern und ihren Unterdrückern zu einer immer katastrophaler werdenden Niederlage der verteidigenden Technos. Ihre Reihen wurden geworfen und überrannt, und je begeisterter und ungestümer die Dorkher attackierten, um so bereitwilliger wichen die Technos zurück, wenn sie sich nicht einfach ergaben. Was ich nicht begriff, war die völlige Untätigkeit der Wachen an den Sternenschiffen. Die Posten dort, eine sehr ansehnliche Streitmacht, standen dort und rührten sich einfach nicht, weil sie keine Befehle bekommen hatten. Dabei hätten sie dem Kampf längst eine entscheidende Wende geben können. Dann aber, als der Kampf schon fast verloren war, kam plötzlich Bewegung in die Truppe. »Ich möchte wissen, wer solche Befehle gibt«, sagte Razamon kopfschüttelnd. Wer auch immer die Verteidigung des SCHLOSSES zu leiten hatte, er machte seine Sache erbärmlich schlecht. Anstatt die Technos zu einer geschlossenen Truppe
zusammenzufassen und mit einem geordneten Angriff die losen Verbände der Dorkher zu werfen, löste sich die TechnoTruppe gleichsam auf. Ohne Sinn und Plan wurden die Technos nach vorne geworfen, dem Feind entgegen, der längst jeden Respekt vor den Technos verloren hatte. Die Dorkher hatten viele Waffen erbeutet, und es war nur eine Frage der Zeit, wann sie bei dieser unverantwortlichen Abwehrstrategie genügend Material zusammenbekamen, um den Technos waffentechnisch womöglich gar überlegen zu sein. Mich wunderte auch, warum die Raumschiffe der SCHLOSSHERREN nicht in den Kampf eingriffen? Waren die Schiffe vielleicht gar nicht armiert, sondern nur Attrappen? »Unsere Zeit ist gekommen«, stieß Razamon hervor. Er hatte zweifelsohne recht. In ihrem blinden Eifer vernachlässigten die Technos sträflich ihre eigentliche Aufgabe – nämlich die Schiffe der SCHLOSSHERREN zu bewachen. Der Zeitpunkt war gekommen, sich eines dieser Schiffe von innen anzusehen. Ich stand auf und winkte die Gefährten heran. Grizzard sah bleich und müde aus, Razamon wirkte gespannt, Konterfert war sehr erregt und nur mühevoll zu bändigen. »Was hast du vor?« fragte er mich. »Wollen wir den Freunden helfen?« Ich schüttelte den Kopf. »Wir werden einen der Herren aufsuchen«, sagte ich. »Hier scheint mir einiges im argen zu liegen – wie du deutlich sehen kannst.« Ich deutete auf das Chaos auf dem Vorfeld des eigentlichen SCHLOSSES, wo Dorkher und Technos sich einen wilden Kampf lieferten. Für uns wurde es höchste Zeit, etwas zu unternehmen – mir konnte weder daran gelegen sein, mich mit den Technos herumzuschlagen, noch konnte ich ein Interesse haben, mit den
Dorkhern in Streit zu geraten, wenn sie die Herren der Lage wurden. Bei allem Verständnis für den berechtigten Zorn der Bewohner des Dimensionsfahrstuhls – ich durfte nicht zulassen, daß sie das SCHLOSS gleichsam kurz und klein schlugen. In ihrem Übereifer konnten sie Schäden anrichten, die niemals wiedergutzumachen waren. Niemand von uns konnte wissen, ob es in den Raumschiffen der Unbekannten nicht einige Überraschungen gab – unangenehme wie weitere Truppen oder vielleicht sogar angenehme … vielleicht sogar, obwohl sehr unwahrscheinlich, ein raumtüchtiges Fahrzeug? Die Technos machten es uns leicht, ungesehen zum ersten der Schiffe vorzudringen. Eine Rampe war ausgefahren worden. Sie hatten die Technos schützen sollen. Nun war die Rampe leer, die Technos in erbitterte Kämpfe verstrickt. »Wir sollten das nicht tun«, sagte Konterfert, dem die ganze Sache nicht geheuer war. »Die HERREN könnten ergrimmen, wenn wir ohne Erlaubnis …« »Unsinn«, wehrte Razamon ab. »Los jetzt, wir haben keine Zeit zu verschenken.« Der Berserker war geladen, jede seiner Bewegungen verriet eine tiefsitzende und immer stärker werdende Spannung, die sich irgendwann einmal entladen mußte. Sehr lange konnte diese Entladung nicht mehr auf sich warten lassen – es stand nur zu hoffen, daß sie nicht zur Unzeit stattfand und im Ausmaß Grenzen kannte. Ein Anfall seiner alten Berserkerwut war das letzte, was wir im Augenblick gebrauchen konnten. Ein rascher Blick ins Innere, niemand war zu sehen. Ein paar Augenblicke später waren wir außer Sichtweite der Dorkher und der Technos. Stille empfing uns. Es war kühl und ruhig im Raum unmittelbar hinter der Rampe. Wir konnten Schalter und Hebel sehen, die einen sehr primitiven
Eindruck machten. Es sah aus, als habe man eine recht komplizierte Apparatur auf die beschränkten Fähigkeiten der Technos zurückentwickelt. Bis in diesen Raum hatten die Wachen zweifelsfrei Zutritt. Ich aber war gespannt, was es in den anderen Räumen des Schiffes zu sehen gab. Eines stand schon jetzt fest, da genügte ein Blick. Was wir betreten hatten, war früher einmal ein funktionstüchtiges Raumschiff gewesen. Am Metall der Rampe waren Spuren sichtbar, die jedem erfahrenen Beobachter verrieten, daß das Metall etliche Lufthüllen passiert hatte. Zudem waren die Außenwände von der typischen Konstruktion, die notwendig war, um Vakuumeinbrüche in Grenzen zu halten. Mochten Raumschiffe in vielen konstruktiven Details voneinander abweichen – es gab überall im Universum auch Gemeinsamkeiten. Sie ergaben sich zwangsläufig daraus, daß die gleichen Schwierigkeiten mit den gleichen Gesetzmäßigkeiten der Natur überwunden werden mußten. So bestand die Außenhaut des Sternenschiffs aus Metall, vermutlich aus hochverdichtetem Stahl. So war die Außenhaut in mehrere Schichten unterteilt – wenn ein kleiner Meteorit durchschlug, verlor nicht gleich eine ganze Sektion die Atemluft. Es gab viele konstruktive Gemeinsamkeiten dieser Art, und nach dem ersten Blick wußte ich dank des Extrasinns Bescheid. Wir hatten ein Raumschiff betreten. Jetzt kam augenblicklich die zweite Frage ins Spiel. Wer hatte das Schiff erbaut? Und wer – wenn überhaupt – lebte darin? In einem Punkt war ich recht zuversichtlich – ich war nämlich fest davon überzeugt, daß die SCHLOSSHERREN noch lebten und daß sie organische denkende Wesen waren. Selbst für einen defekten Rechner waren einige der Befehle in jüngster Zeit zu unsinnig und gefühlsbeladen. »Das gefällt mir nicht«, murmelte Grizzard. Er starrte die metallene Decke des Raumes an wie einen persönlichen Feind.
»Es ist sehr still hier«, sagte ich. »Es scheint, als ob außer den SCHLOSSHERREN selbst niemand hier lebt.« »Das ist richtig«, bestätigte Konterfert. Er sah sich scheu um. »Die Herren mögen es nicht, wenn man ihnen zu nahe kommt. Danta‐ Pyrt wird sehr böse sein, wenn er uns in seinem Heim findet.« »Weiter«, sagte ich. Wir öffneten die Tür zum benachbarten Raum. »Wo steckt denn der Eigentümer des Schiffes?« »Ich weiß es nicht«, stammelte Konterfert. »Ich würde es niemals wagen, ohne besonderen Befehl in die DANTA einzudringen. Nur in diesem Fall …« Offenbar war Konterfert noch immer fest davon überzeugt, es mit Abgesandten des Dunklen Oheims zu tun zu haben. Das paßte mir ins Konzept. Wir verließen die Schleusenkammer, denn um nichts anderes handelte es sich. Die DANTA war offenbar umgebaut worden, denn ein Teil der Inneneinrichtung machte einen sehr improvisierten Eindruck. Ganz augenscheinlich war dieser Umbau mit recht primitiven Mitteln durchgeführt worden. Die Herren des SCHLOSSES hatten das technische Niveau ihrer Raumschiffe nicht halten können. Kosmische Robinsone? gab der Extrasinn durch. Der Gedanke schien naheliegend. Seit undenklich langer Zeit wurde Dorkh von den Herren des SCHLOSSES geführt und kontrolliert. Niemand konnte wissen, was da für Wesen mit ihren Raumschiffen auf Dorkh gelandet waren und die Herrschaft übernommen hatten – daß sie aber im Lauf der Zeit sehr viel von ihrem Können verloren hatten, lag eigentlich auf der Hand. Wirklich? erkundigte sich der Logiksektor. Wenn sie so lange auf Dorkh ansässig sind, warum haben sie im Lauf der Jahrtausende ihre Entwicklung nicht noch einmal vollzogen? Wir gingen weiter. Es sah danach aus, als hätten wir es mit einem sehr geräumigen Transportschiff zu tun. Die Gänge waren ungewöhnlich hoch und
breit. Ein Spezialschiff für Kolonisten? In diesem Fall hätte es einigen tausend Platz geboten, wenigstens für kurze Zeit. Daß diese Massen es zwar geschafft haben sollten, ein recht dauerhaftes Herrschaftssystem zu errichten, nicht aber fähig waren, sich auf Dorkh anzusiedeln, und darum verborgen in den Raumschiffen hausten … mir wollte das nicht einleuchten. Razamon hatte offenbar ähnliche Überlegungen angestellt. »Ein Frachtschiff?« sagte er. »Wahrscheinlich ein Spezialschiff zum Transport großformatigen Stückguts.« Der Gedanke war naheliegend. Wir durchschritten gerade einen einfachen Gang, der aber so hoch und breit war, daß er unmöglich für normale Wesen gedacht sein konnte – wohl aber für Stapler, die schwere Turbinenteile zu transportieren hatten oder ähnliche Dinge. »Eine Lagerhalle«, stellte Razamon fest, nachdem er einen Blick in einen benachbarten Raum geworfen hatte. »Die einzelnen Regalflächen sind noch gut zu erkennen.« Langsam bekam die Sache einen Sinn. Ich versuchte mir vorzustellen, was passiert war. Aus irgendwelchen Gründen war ein Konvoi mehrerer Transportschiffe auf Dorkh notgelandet. Vielleicht – ja sogar höchstwahrscheinlich – war die Ladung der Schiffe längst gelöscht gewesen. Transportschiffe hatten in der Regel sehr kleine Besatzungen, meist nur einige wenige Spezialisten, dazu Roboter für die Verladearbeiten. Diese Schiffe waren leer gewesen und schwach bemannt – das erklärte zum einen den Mangel an hochwertiger Technik in der näheren Umgebung, und es erklärte gleichzeitig, warum sich die Notgelandeten nicht in hellen Scharen über das Land ergossen hatten. Sie hatten sich abgekapselt und aus der Not eine Tugend gemacht. Voreilig, kommentierte der Logiksektor meine Überlegungen. Die DANTA machte einen Eindruck, als sei sie gründlich geplündert worden. An Einrichtung war nur das Nötigste
vorhanden, fast der gesamte Raum war für die Ladung gebraucht worden. Überall fanden wir Ladeflächen, einige davon recht seltsam anzuschauen. Wir fanden Spezialhalterungen für unerklärliche Sonderkonstruktionen, teilweise üppig gepolstert und mit Gurten versehen. Dem besonderen Verwendungszweck dieses Stückgutfrachters waren alle Einrichtungen im Innern angepaßt worden – die Decken waren mindestens sechs Meter hoch, teilweise lagen sie noch darüber. Kein Gang, der nicht wenigstens fünf Meter breit gewesen wäre. Wahrscheinlich waren die Erbauer sparsame Leute gewesen, die jeden Winkel hatten nutzen wollen. Ich begann mich allerdings zu fragen, wo man die Besatzung des Raumschiffs wohl untergebracht haben mochte – von Wohnräumen und dergleichen war nämlich nichts zu sehen. Nur Lagerhallen, Stapelplätze, Halterungen – aber keine Kabinen. »Seltsames Schiff«, murmelte Razamon. Ich versuchte das Alter der DANTA zu schätzen, vergeblich. Es gab keinerlei Anhaltspunkte dafür. Die DANTA konnte – wenn sie gut erhalten war – Millionen auf dem Buckel haben, sie konnte aber auch nur ein paar Jahrtausende zählen. »Du hast nie einen SCHLOSSHERREN gesehen?« fragte ich Konterfert. »Niemals«, sagte der Techno entsetzt. »Unter gar keinen Umständen. Nur wenige haben die Herren jemals zu Gesicht bekommen.« Sie waren also scheu und zurückhaltend, vermutlich sehr furchtsam – das erklärte die doppelte und dreifache Sicherung des SCHLOSSES! Was hatte man uns gesagt? Wir hätten eine »verbotene Gestalt«, hatte Xerylh behauptet. Allein deswegen würden wir schon für Aufregung sorgen. Hieß das, daß die Herren des SCHLOSSES Angst vor uns hatten – ganz speziell vor uns?
Der Gedanke war absurd. An unserer Gestalt war nichts, was hätte Furcht und Schrecken verbreiten können. Oder war nur ich gemeint? Mir gebrach es an der Eitelkeit, so etwas zu glauben. Daß irgend ein Lebewesen aus der Vergangenheit des Arkon‐Imperiums – und nur aus dieser Zeit gab es Anlaß, sich vor Arkoniden ein wenig zu fürchten – sich hierher gerettet hatte, nach Dorkh … unvorstellbar. Außerdem hatte Xerylh nicht von mir allein gesprochen, er hatte Razamon und Grizzard eingeschlossen. Waren also Menschen furchterregend für die SCHLOSSHERREN? Wer im Kosmos hatte Grund, sich vor Menschen zu fürchten? Meines Wissens niemand. Außerdem waren viele der Völkerschaften auf Dorkh näherungsweise humanoid – die Zukahartos beispielsweise. Gewiß, sie waren leicht von wirklichen Menschen zu unterscheiden – aber ich war schließlich auch kein echter Mensch im Sinn der Definition. Es steckte ein Geheimnis hinter all dem, und ich war sehr begierig, dieses Geheimnis zu lüften. »Wenn wir weiter in den Außenbezirken der DANTA herumirren, werden wir nie etwas über die Herren erfahren«, stellte Razamon grimmig fest. Es gab zwei Plätze in einem Raumschiff, an denen man immer jemanden von der Besatzung finden konnte – im Maschinenraum und in der Zentrale, von der aus das Schiff gesteuert wurde. Unser Marsch mußte also die Zentrale zum Ziel haben – obwohl das natürlich eine Falle sein konnte. Ich überlegte hin und her, fand aber keinen anderen Weg. »Die Zentrale liegt vermutlich im geometrischen Mittelpunkt des Schiffes«, sagte ich. »Dort sollten wir anklopfen.« Razamon grinste und betrachtete seine Faust. »Mit Vergnügen«, sagte er. Weiter ging der Marsch durch die stille DANTA. Wie viele Herren mochte es geben – tatsächlich nur fünf? War ihre Zahl auf fünf
zusammengeschrumpft im Lauf der Jahrtausende? Oder …? Ein neuer Gedanke überfiel mich. Hatte es etwa von Anfang an nur fünf SCHLOSSHERREN gegeben? Hatte ich es mit fünf Unsterblichen zu tun? Ich hütete mich, den Gedanken laut auszusprechen. Er erschien mir irgendwie absurd – man konnte nicht alles und jedes, was einem begegnete, mit so gewagten Konstruktionen erklären. Vielleicht hatten die Kapitäne der fünf Schiffe den SCHLOSSHERREN ihre Namen gegeben – man konnte von den Untertanen schließlich nicht erwarten, daß sie komplette Besatzungslisten auswendig lernten. Aus der Geschichte der Menschheit wurden auch nur die Kaiser und Könige überliefert und nicht jeweils der komplette Hochadel, die gesamte herrschende Kaste. Dennoch war die Sache sehr seltsam und stimmte mich nachdenklich. Ich überlegte. Der Extrasinn half mir dabei, unseren bisherigen Weg zu rekonstruieren. Danach konnten wir von der Zentrale nicht mehr weit entfernt sein. Nur knapp einhundert Meter noch, dann hatten wir den geometrischen Mittelpunkt des Schiffes erreicht. Wenn die DANTA noch eine Besatzung hatte, dann mußte sie notwendigerweise dort zu finden sein – in jedem Fall mußten wir dort Spuren finden. Ein Tor versperrte uns den Weg. Das Wort paßte – es war keine Tür, kein Mannschott, das wir zu passieren hatten, es war ein Tor. Offenbar war auch die Zentrale gelegentlich als Lagerhalle mißbraucht worden. Die Tür maß mindestens sechs Meter in der Höhe. Ich suchte nach dem Öffnungsmechanismus. Ich fand ihn nicht. Ich streckte die Hand aus und suchte die nähere Umgebung jenes
Bereichs am Tor ab, an dem man Üblicherweise einen Knopf oder Sensorpunkt fand, der dann die Servomechanismen der Tür in Aktion treten ließ. Ich fand keinen dieser Punkte. »Wie zum Teufel bekommt man das Ding auf!« schimpfte Razamon. Er ballte die Faust. Auf diese Weise würde er den Panzerstahl nicht überwinden können, das stand fest. Ich suchte weiter. Nichts ließ sich finden, kein Knopf, kein Hebel, keine Fotozelle, nicht was das Tor hätte aufgehen lassen. Dann aber begann sich der Stahl langsam zu bewegen. Ich wußte nicht, wer oder was den Verschluß gelöst hatte. Jedenfalls ging das Tor auf. In diesem Augenblick gab mir der Extrasinn einen kurzen scharfen Impuls durch. Es war selbstverständlich, daß ich das Tor nicht hatte öffnen können. Es war gar nicht für Menschen gemacht. Wir alle hatten uns fundamental geirrt. Es war kein Transportschiff, das wir betreten hatten, es war ein ganz normales Schiff für jenes Wesen, das sichtbar wurde, als das Schott zur Seite schwang. Noch wurde der Körper verdeckt. Danta‐Pyrt saß im Sessel des Kommandanten und hatte uns den Rücken zugekehrt. Dennoch wußte ich, wie er aussehen mußte. Tod, Verderben und Schrecken verbanden sich mit diesen Wesen. Erinnerungen stiegen in mir auf, Schreckensbilder. Vier Meter hoch waren sie im Durchschnitt, und dem entsprachen alle anderen Körpermaße. Blaugrün war ihre Hautfarbe, die sich zusammensetzte aus den Reflexen der knopfgroßen sechseckigen Schuppen, die ihren ganzen Leib bedeckten. Kein Wunder, daß sie Dorkh hatten erobern und beherrschen können. Kein Wunder, daß sie nur fünf Individuen waren. Sie waren nämlich unsterblich.
Sie alterten nicht, und sie auf normale Weise durch Gewalt zu töten, war für jeden, der gegen sie anzutreten hatte, eine schier unlösbare Aufgabe. Sie konnten sich in die Körper der anderen Lebewesen hineinversetzen. Und sie konnten die Struktur ihrer eigenen Körper so verändern, daß ihnen kaum beizukommen war. Ja, es war einer von ihnen. Ich konnte sie sehen, die drei glänzenden blauen Steine, die in den Körper hineingewachsen waren, die sogenannten »Zentrumssteine«. Sie waren es. Danta‐Pyrt war einer von ihnen, und ich konnte den gewaltigen Leib sehen, als er mitsamt dem Sessel herumschwang, als er sich zu seiner fürchterlichen Größe erhob und den Mund öffnete zu einem gräßlichen Schrei. Mit einem einzigen Wort hatte eine Zehntelsekunde zuvor der Extrasinn all dies zusammengefaßt. Das Wort hieß: ULEB. ENDE Weiter geht es in Atlan‐Band 464 von König von Atlantis mit: Dorkh erwacht von Peter Terrid