Die Brut hinter der Mauer
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 103 von Jason Dark, erschienen am 10.10.1989, Titelbild: ...
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Die Brut hinter der Mauer
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 103 von Jason Dark, erschienen am 10.10.1989, Titelbild: Vicente Segrelles
Es begann so harmlos. Ein völlig normaler Wandertag. Auch John Conolly befand sich unter den Kindern. Eine Fahrt in die Vergangenheit, in die Geschichte Englands - und in ein Gebiet, das niemand betreten sollte. Der Busfahrer mißachtete die Warnung. Er starb als erster. Plötzlich war die Welt anders geworden. Schüler und Lehrer veränderten sich. Eine geheimnisvolle Mauer erschien. Die Trennung zu einer anderen Zeit. Johnny Conolly und zwei seiner Freunde überkletterten sie. Was sie erwartete war schlimmer als der Tod...
Je mehr sich die beiden Männer ihrem Ziel näherten, um so schlechter wurde das Wetter. Zuerst verschwand die Sonne. Dann überzog eine bleigraue Farbe den Himmel, aus dem sich hin und wieder Dunstschleier abspalteten, als wollten sie den Boden allein erreichen. Dazu kam es nicht. Auf der Strecke fanden sie zusammen und verdichteten sich zu Nebelstreifen, die, langen Tüchern gleich, in das einsame Tal glitten. Sie paßten in diese menschenleere Einsamkeit hinein, in der es so gut wie keine Straßen gab, dafür ein sumpfiges Gelände, wilden, fast urwaldähnlichen Bewuchs, Flächen mit hohem Gras und Büschen, an deren Zweigen sich Unkraut festklammerte. Die weiten einsamen Hügel sahen manchmal wie lange Schatten aus — als hätte der Teufel seine Zunge ausgestreckt. Ein tristes, ein ödes Land, das auch eine gewisse Romantik ausstrahlte. Dafür hatten jedoch die beiden Männer keinen Sinn. Sie hofften nur, daß ihr Transporter bis zum Ziel durchhielt. »Scheiße, auch noch Nebel!« Richmond fluchte. Er wischte mit dem Handrücken über seine Lippen. Das tat er immer, wenn er wütend war. Man hatte ihm den Spitznamen Stier gegeben, weil er von bulliger Gestalt war und auch einen Stiernacken besaß. »Ist doch egal.« Turkey, sein Mitfahrer, lachte. »Der Job wird gut bezahlt, alles andere stört mich nicht.« »Du brauchst auch nicht zu fahren.« Turkey, ein kleiner Fettwanst, lachte. »Soll ich dich ablösen?« »Nein, ich will lebend ankommen.« »Dann beschwer dich nicht.« Die Männer kannten sich schon seit langem. Sie galten als zuverlässig in der Branche. Ihnen ging der Ruf voraus, daß sie es schafften, selbst dem Teufel eine Ladung Kohlen in die Hölle zu schicken, wenn die Bezahlung stimmte. Billig waren sie nicht. Ihre Auftraggeber rechneten auch nicht damit. Wenn sie einen Job vergaben, war der meist heiß, und sie brauchten Männer, die keine Fragen stellten. Turkey und Richmond wußten auch jetzt nicht, was sich in den Fässern auf der Ladefläche befand. Ein gefährlicher Inhalt mußte es sein. Nicht ohne Grund hatten sie die Fässer mit doppelt gespannten Eisenbändern sichern müssen. Solange die Dinger verschlossen blieben, würden die beiden alles transportieren und niemals über die Fracht nachdenken. Schon eher ärgerten sie sich über die äußeren Umstände, denn sie rollten hinein in die nebelverhangene, einsame Talschüssel. Bisher waren sie ohne Licht ausgekommen. Nun ging Richmond das Risiko ein und schaltete die Lampen ein.
Das gefiel seinem Partner nicht. »He, was ist, wenn man uns beobachtet?« »Würdest du dich freiwillig hier aufhalten?« »Das nicht.« »Na bitte. Hier sind wir am Arsch der Welt, und wer kriecht da schon hinein?« Turkey grinste nicht einmal. Er schaute aus dem Seitenfenster. Der Weg, über den die großen, tiefprofiligen Reifen schmatzten, gefiel ihm nicht. Er besaß keine Befestigung, war matschig und mit braunem Gras bewachsen. Es sollte noch schlimmer kommen, denn in dem Tal breitete sich ein Sumpfgebiet aus. Sie wollten bis an den Sumpf heranfahren und dort ihre Ladung loswerden. Sogar eine Karte hatte man ihnen mitgegeben. Die Strecke war von Hand eingezeichnet worden, der Auftraggeber persönlich hatte sich darum gekümmert und verlangt, daß sie die Aufzeichnungen später verbrannten. Richmond und Turkey hatten, ohne zu fragen, zugestimmt. Sie waren es gewohnt, nicht nachzuhaken. Hauptsache, die Kohlen stimmten. Der Nebel war mit dem in London nicht zu vergleichen; er blieb schleierhaft und war durchsichtig, was die Männer etwas aufatmen ließ. Richmond lachte scharf. »Da hat der Teufel mal wieder seine Hand über uns gehalten. Du siehst, Turkey, wer mit dem Satan pokert, der kann sich auf ihn verlassen.« Turkey hatte ein Bein gegen das Armaturenbrett gestemmt. »Na ja, beim Pokern kann man auch verlieren.« »Aber wir doch nicht, Junge. Wir sind stark, wir sind nicht nur besser, wir sind die Besten.« Richmond war gut drauf. Er schaltete einen Gang höher und gab wieder Gas. Der Wagen ruckte an. Die Reifen wühlten sich durch den weichen Boden, leicht schwankte er mit seiner Ladefläche, die Fässer schabten gegeneinander, aber sie kippten nicht. Turkey zündete sich eine seiner billigen Zigarren an. Der Tabak stank, als hätte jemand alte, schweißdurchtränkte Socken verbrannt. Selbst Richmond, der nicht verwöhnt war, was reine Luft anging, bestand darauf, daß Turkey ein Fenster öffnete. Kühle Luft strömte in das Fahrerhaus und vermischte sich mit dem Gestank der Zigarre. Die Nebel waren wie Schleier, die sich an den Rahmen festklammerten. Rechts von ihnen standen die Bäume dichter. Besonders hoch waren sie allerdings noch nicht. Den Sumpf konnten sie ebenfalls schon sehen. Er breitete sich an der anderen Seite aus. Eine gewaltige Fläche, in den Farben Grün und Grau schimmernd. Bedeckt mit Inseln oder ölig glänzenden Pfützen, die an Augen erinnerten. »Schau mal auf die Karte, Turkey, der Sumpf liegt dort. Weit brauchen wir nicht mehr zu fahren.«
Turkey faltete das Papier auseinander. Er studierte es einige Sekunden und nickte. »Du mußt auf die beiden Baumstümpfe achten, Richmond, die gleich erscheinen werden.« »Wann?« »Weiß ich auch nicht.« »Okay.« Richmond ging mit Gas, Kupplung und Bremse jetzt vorsichtiger um, denn er hatte das Gefühl, als würde der Wagen an bestimmten Stellen wegschwimmen. Wenn sie die beiden Baumstümpfe passiert hatten, mußten sie vor bis zu einer kleinen Lichtung, und dort konnten sie die Ladung endlich löschen. Sehr bald schon entdeckte Richmond das Zeichen. Die Baumstümpfe sahen braun aus. Der Vergleich mit abgetrennten Armen kam ihm in den Sinn. Turkey faltete die Karte zusammen und seufzte beruhigt. Für ihn war die Sache schon gelaufen. »Weißt du eigentlich, was wir transportieren?« fragte er nach rechts rüber. »Nein, und ich will es auch nicht wissen.« Turkey lachte. »So kann man auch durchs Leben kommen.« »Klar, was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Bisher haben wir immer gut kassiert.« Turkey knetete seine lange Nase. »Ob es sich um Gift handelt?« »Kann sein.« »Damit kannst du viel versauen, weißt du das?« Richmond hob die Schultern. »Klar doch. Aber wen stört das? Dich etwa?« »Manchmal schon.« »Mich nicht. Seit wann bist du so empfindlich.« Turkey schob die Unterlippe vor, ohne daß ihm die Zigarre aus dem Mund fiel. »Du hast auch keine Kinder, Richmond, ich denke manchmal an die Zukunft, wenn du verstehst. Wo soll das noch hinführen, wenn alle so denken wie wir?!« Richmond kicherte. »Das denken die ja nicht. Zum Glück, wir sind eben die Ausnahmen.« »Ganz schön pervers, was du da gesagt hast.« »Nein, realistisch.« Richmond schlug mit seiner schwieligen Pranke auf den Lenkradring. »Und jetzt laß mich mit deinem Gesabbere in Ruhe, ich muß mich konzentrieren. Das Gelände wird immer beschissener, das wirst du auch merken, wenn du zurückfährst.« Turkey schnippte den Rest der Zigarre aus dem Fenster, was seinen Kollegen sichtlich beruhigte. Dennoch fragte er: »Sagen deine Frau und die Kinder nichts, wenn du das Zeug qualmst?« »Ich muß im Garten rauchen.« »Aha.«
»Du kennst doch meine Alte, die hat Haare auf den Zähnen. Vor der haben wir alle Angst.« »Schick sie mal mit auf Tour«, schlug Richmond grinsend vor und erntete dafür einen Blick aus verdrehten Augen. Das wollte Turkey nun doch nicht. Sie bewegten sich am Rand des Sumpfgeländes entlang. Und sie entdeckten auch die eingezeichnete Lichtung. Es war mehr eine Zunge mit kleinen Erhebungen, die sich wie eine Halbinsel in dieses Sumpfgelände hineinschob und so aussah, als würde sie das Gewicht des Lastwagens durchaus ertragen können. »Da sind wir ja«, sagte Richmond. Er kurbelte am Lenkrad. Mit beiden Händen faßte er in die Speichen, als er es nach links drehte. Wieder wühlten sich die Reifen durch, hinterließen lange, krumme Spuren. »Wunderbar!« freute sich Turkey. »Kannst du hier auch drehen, oder willst du rückwärts raus?« »Rückwärts.« Richmond konzentrierte sich stark. Er durfte nicht zu weit fahren, hielt an, gab wieder Gas, wobei sich Turkey wunderte, denn er hatte bereits die Wagentür aufgestoßen. »Bleib sitzen, ich drehe noch.« Richmond zeigte in den beiden folgenden Minuten, daß er ein guter Fahrer war. Auch auf der kleinen Halbinsel bekam er den Wagen herum. Mit der Ladefläche stand er schließlich zum Sumpfgelände hin. »So, jetzt kann es losgehen.« Zugleich verließen die Männer den Wagen. Ihre halbhohen Stiefel verschwanden fast im hohen Gras. Gemeinsam schnürten sie die Plane auf, die die Ladung verdeckt gehalten hatte. Danach öffneten sie die hintere Ladeklappe. Als sie nach unten kippte, bekamen sie den freien Blick auf die Fläche. »Da sind ja die Schätzchen«, sagte Richmond. Turkey mußte lachen. »Schätzchen ist gut. Das ist konzentriertes Gift, verdammt!« »Sei nicht so pingelig.« Richmond kletterte bereits auf die Fläche. In einer Klammer steckte eine Blechschere, mit der er die Bänder durchtrennen wollte, was nicht so einfach war, denn sie schnellten oft genug zurück wie harte Arme. Richmond war ein Profi. Er bekam auch mehr Geld als Turkey, nur wußte das der andere nicht. Der hörte die singenden und klatschenden Geräusche, die beim Durchtrennen der Stahlbänder entstanden. Richmond arbeitete schnell und geschickt. Es waren genau zwölf Fässer, die sie in den Sumpf kippen sollten. Noch standen sie ruhig, und Turkey überlegte, was sie wohl beinhalteten.
Es kam eigentlich alles in Frage. Angefangen von Dünnsäure über noch giftigere Chemikalien bis hin zu Atomabfall, der überhaupt nicht roch und trotzdem derart gefährlich war, daß sich Turkey davor fürchtete. »Alles klar!« meldete Richmond von der Ladefläche her. »Du kannst den Kipper einstellen.« »Okay.« Turkey stieg wieder ins Fahrerhaus, wo sich der Hebel für die Hydraulik befand. Richmond stand nun draußen und gab ihm ein Zeichen. Sie waren gut aufeinander eingespielt, da ging eigentlich nichts schief. Auch die Hydraulik arbeitete perfekt. Der leichte Ruck, der durch den Wagen ging, das Brummen des Motors, als die beiden Stempel in die Höhe gedrückt wurden, und dann das übliche Rumpeln, mit dem sich die ersten Fässer in Bewegung setzten, um über die Ladefläche zu rutschen. Es dauerte nicht lange, dann kippten die ersten auf den weichen Boden. Andere Fässer rumpelten hinterher, während die Ladefläche sich noch weiter aufrichtete. Turkey reckte den Kopf aus dem Fenster und rief: »Alles in Ordnung?« »Ja, du kannst kommen.« Turkey sah, als er neben Richmond stand, daß einige der Fässer schon bis über den Sumpfrand hinwegrollt waren und bereits in der weichen Masse einsanken. Der Sumpf schien aus tausend Armen und Händen zu bestehen, die sich schlangengleich um die Fremdkörper legten und diese schluckten. Die Fässer gehörten nicht mehr zu den neusten. An einigen Stellen zeigten sie schon Rostflecken. Diese Tatsache veranlaßte Tur-key zu einer Bemerkung. »Lange werden die auch nicht mehr halten, glaube ich.« »Was kümmert es uns?« Turkey räusperte sich, ansonsten enthielt er sich einer Antwort. Zusammen mit seinem Kumpan machte er sich an die Arbeit, nicht ohne vorher die dicken Arbeitshandschuhe übergestreift zu haben. Sie arbeiteten schnell, geschickt und routiniert. Mit wuchtigen Stößen trieben sie die weiter vom Sumpfrand entfernt liegenden Fässer an und rollten sie in den Brei, auf dem sie erst noch schwammen, bevor sie schmatzend verschlungen wurden. Das letzte Faß rollte Richmond durch Fußtritte bis an den Rand. Es war mittlerweile dämmrig geworden. Die graue Düsternis hatte sich in die Nebelwolkcn hineingeschoben und verschlechterte die Sicht noch mehr. Wer die beiden Männer aus größerer Distanz beobachtete, hätte kaum erkennen können, was sie trieben. Zudem hatte Turkey noch die Scheinwerfer des Wagens gelöscht. Mit einem letzten Tritt verschwand das Faß im Sumpf. »Geschafft!« sagte Richmond, zog die Handschuhe aus und schleuderte sie zielsicher auf die Ladefläche, die nach dem Abkippen wieder heruntergelassen worden war.
Turkey tat es ihm nach. Er bekam mit, wie sein Kollege grinste. »Was hast du?« »Ich denke gerade an die Bezahlung! Die wird stark sein.« »Ich denke auch daran!« meldete sich eine harte Stimme im Rücken der beiden Männer. Wie von der Tarantel gestochen, fuhren sie herum. Vor ihnen stand eine Gestalt. Dunkel gekleidet, von Nebelschwaden umwabert, einen ebenfalls dunklen Hut tief in die Stirn gezogen. Die Gestalt wirkte wie ein Geist, der aus dem Sumpf gestiegen war, um töten zu wollen. Sie selbst hätte die beiden Männer nicht so stark erschreckt. Fs war vielmehr das Ding, das die Gestalt mit beiden Händen festhielt. Sie kannten sich nicht besonders bei Waffen aus, aber dieser langgestreckte und dennoch klobig wirkende Gegenstand erinnerte sie fatal an ein Schnellfeuergewehr... *** Turkey hob als erster die Hände. Er konnte es nicht fassen, deshalb blieb er stumm und stellte keine Fragen. Zwar versuchte er, unter den Hutrand zu schauen, da war aber nichts zu erkennen, weil die Krempe einen zu langen Schatten warf. Richmond atmete zischend aus. Im ersten Augenblick hatte er an einen Bullen gedacht, doch die traten anders auf. Sie zeigten sich in ihren Uniformen und nicht so gespensterhaft grau. Das mußte ein anderer sein. Aber was wollte er von ihnen in dieser gottverlassenen Gegend? Sie überfallen oder sie für ihr Tun zur Rechenschaft ziehen? Vielleicht war der Knabe ein besonders radikaler Umweltschützer, der mit der Waffe gegen die Verseucher vorging. So etwas sollte es ja geben, Richmond hatte davon gelesen. »Was ist denn Mister? Sind Sie zufällig hier, oder haben Sie sich an unsere Fersen geheftet?« »Nicht zufällig!« Richmond bekam große Augen, als er die Stimme hörte. Die war ihm bekannt. Mit diesem Kerl hatte er schon gesprochen, wenn auch nicht von Angesicht zu Angesicht, möglicherweise am Telefon, und da kam eigentlich nur einer in Frage. Er wollte es ganz genau wissen. »Sind Sie zufällig Mister. . .?« »Keine Namen!« Die harte Stimme unterbrach Richmond. »Hier werden keine Namen erwähnt!« »Ja, schon gut. Aber was wollen Sie von uns? Ich weiß, wer Sie sind. Ich habe Sie erkannt.« »Das war nicht schwer.«
Richmond grinste schief. »Und weshalb sind Sie erschienen und bedrohen uns mit der Waffe?« »Weshalb wohl?« Beide Männer brauchten nicht lange, um den Sinn der Frage zu begreifen. Nur konnten sie es nicht fassen, daß der Mann ihnen indirekt angedroht hatte, daß ihr Weg hier zu Ende war. Auch TLirkey fand die Sprache wieder. »Hören Sie mal, Mister. Sie wollen uns doch nicht erschießen?« »Doch, das will ich.« Turkey wunderte sich, daß er noch eine Frage hinterherschieben konnte. »Weshalb denn? Was haben wir Ihnen getan?« »Ich kann keine Zeugen gebrauchen.« Da mußte Richmond plötzlich lachen. »Sie sind gut! Keine Zeugen, das ist Quatsch. Hören Sie, es gibt kaum Personen, die derart vertrauenswürdig sind wie wir. Haben Sie verstanden? Wir sind diejenigen, denen Sie vertrauen können. Von uns wird niemand etwas erfahren, da können Sie sagen, was Sie wollen.« »Das ist mir egal. Hier geht es um andere Dinge, um viel größere.« »Okay, okay, es ist ein Gift. . .« »Nicht irgendeines«, wurde Richmond unterbrochen. »Ihr habt etwas ganz Besonderes transportiert, auf das ihr eigentlich stolz sein könnt. Wirklich, sehr stolz. Das hat noch niemand vor euch geschafft, noch niemand sage ich.« »Wir wissen doch nicht, was sich in den Fässern befindet. Da können wir nichts verraten.« »Stimmt. Aber«, der Mann hob seine Stimme etwas an. »Euch ist der Ort bekannt, wo die Fässer liegen. Wenn ein bestimmtes Freignis eintritt, werdet ihr euch wieder erinnern, denn dieses Ereignis bleibt nicht ohne Aufsehen.« »Das verstehe ich nicht.« »Es ist auch gut so. Ich darf mich noch einmal bei euch bedanken, daß ihr es geschafft habt. Es war nicht einfach, genau die Stelle zu finden. Herzlichen Dank!« Richmond und Turkey schauten sich an. Die kalte Höflichkeit des Sprechers hatte ihnen Furcht eingejagt. Vielleicht blickten sie sich einen Moment zu lange ins Gesicht, so sahen sie das tanzende Mündungsfeuer nicht, dem der'l'od folgte. Der Nebel schluckte die harten Schußgeräusche teilweise. Die Männer hatten keine Chance. Sie schrien nicht einmal, als die Geschosse sie erwischten und zurückschleuderten. Beide starben lautlos. Turkey fiel direkt in den Sumpf, der noch mit seinem leblosen Körper spielte, ihn für eine Weile auf der Oberfläche schwimmen ließ, bevor er zupackte und ihn in die Tiefe zerrte, aus der es normalerweise kein Entrinnen gab.
Richmond lag am Rand. Er war auf den Rücken gefallen. Seine untere Gesichtshälfte war nicht mehr vorhanden. Die Augen lagen wie Glaskugeln in den Höhlen. Der Fremde legte die Waffe zur Seite und packte den Toten unter den Achseln. Dann schleifte er ihn bis zum Rand, hob ihn hoch und schleuderte den Körper in den Sumpf. Er klatschte wie eine Puppe auf und wurde sofort in die Tiefe gezogen. Der Mörder blieb auf dem Fleck stehen. Er schob nur seinen Hut etwas zurück, als würde ihn die Krempe bei klarer Sicht zu sehr stören. »Pech für euch«, sagte er, »gewaltiges Pech, aber ihr seid trotzdem gut gewesen.« Mit diesen zynischen Abschiedsworten drehte er sich um und begann mit dem zweiten Teil seiner Arbeit. Er wollte alle Spuren verwischen, und dazu gehörte auch der Lastwagen. Auf keinen Fall sollte er hier gefunden werden, das hätte gewisse Leute nur auf gefährliche Spuren gebracht. Die Zeit würde sowieso kommen, wo in diesem einsamen Tal die Hölle ausbrach. Der Mörder nahm sein Gewehr mit und legte es neben sich auf den Beifahrersitz. Dann startete er, der Zündschlüssel steckte noch. Er hatte zuvor danach geschaut. Den Kipper ließ er nicht mehr nach unten gleiten. Fr wollte den Wagen, so wie er war, in den Sumpf fahren. Der wiederum fraß alles in sich hinein und schwieg. Der Weg war frei. Relativ schnell und bei offener Fahrertür rollte der Mann an den Rand der kleinen Landzunge heran. Bevor die vorderen Räder darüber hinwegkippen konnten, sprang er ab. Sicher landete er im weichen Gras und konnte sich sogar auf den Beinen halten. Selbst seinen dunklen Hut hatte er nicht verloren. Er blieb stehen und schaute zu, wie der Lastwagen langsam nach vorn kippte, als hätte jemand Steine an seine Achse gehängt. Wieder war der Sumpf unersättlich. Immer tiefer zog es den Wagen. Was der Sumpf einmal hatte, ließ er nicht los. Darüber schwebten lautlos die Nebelschleier. Zuerst verschwand das Fahrerhaus. Blubbernd drang das graugrüne Wasser durch die offenen Scheiben, füllte den Innenraum aus und machte ihn sehr schwer. Fünf Minuten später war alles vorbei. Da sah der Sumpf aus, als hätte er überhaupt nichts bekommen. Nicht eine Blase zerplatzte mehr. Die Oberfläche lag glatt vor den Augen des Betrachters, der noch einmal zufrieden nickte, sich umdrehte und ein ziemlich langes Stück zurückgehen mußte, um seinen versteckt abgestellten Geländewagen zu erreichen. Er stieg in den Japaner, wendete und fuhr ohne Licht davon. Erst später, als er die normale Straße erreichte, schaltete er die Scheinwerfer ein und stellte auch das Radio an. Die Musik gefiel ihm. Sie war laut und heizte ein. Er trommelte den Rhythmus mit.
In der ersten Stadt hielt er an und ging in ein kleines Restaurant. Er hatte den Tag über noch nichts gegessen und bestellte sich ein großes saftiges Steak. Er schaute zu, wie beim Einschneiden das dünne Blut herauslief, dachte an seine Tat und lächelte. Die Zeitbombe war gelegt. Nun brauchte er nur darauf zu warten, daß sie explodierte... *** Sheila wußte nicht, daß ich mich mit ihrem Mann Bill Conolly treffen wollte. Der Reporter hatte mir ans Herz gelegt, seiner Frau bitte nichts davon zu sagen, und ich hatte mich natürlich daran gehalten. Schließlich war Bill Conolly mein ältester Freund, und manchmal mußten Männer zusammenhalten. Es ging zwar nicht um eine Verschwörung, aber Bills Stimme hatte doch sorgenvoll geklungen, so daß ich damit rechnete, irgend etwas zu erfahren, was mit meinem Job als Geisterjäger zu tun hatte. Lieber wäre mir ein privates Treffen mit einer großen Feier gewesen, aber die waren in der letzten Zeit selten geworden, denn es gab einfach zu viele Frobleme, unter denen wir zu leiden hatten. Wir hätten uns auch bei mir treffen können, aber Bill wollte das Gespräch mit einem kleinen Essen verbinden und hatte mich in ein Lokal eingeladen. Im Gegensatz zu einer leider immer noch aus Vorurteilen bestehenden Meinung, kann man in London durchaus hervorragend essen. Bill hatte sich in diesem speziellen Fall für ein schweizerisches Lokal entschieden mit dem Namen WALLIS. Das Lokal gab es noch nicht lange, besaß jedoch einen guten Ruf, so daß ich mir eine meiner wenigen Krawatten umgebunden hatte, als ich in den Wagen stieg, um hinzufahren. An diesem Abend war London zu wie immer, aber ich kannte einige Schleichwege . .. Das WALLIS besaß an der hinteren Seite einen Parkplatz für Gäste. Klein aber fein. Bills Porsche stand schon da, und ich klemmte meinen Dienstrover direkt daneben. Das Lokal selbst betrat ich durch den offiziellen Eingang. Vor der für wölbte sich eine halbrunde Markise, die im Licht der Strahler weißbeige schimmerte. Über einen schmalen Teppich schritt ich auf die Glastür zu, die ein Portier eilfertig öffnete. Ich hatte ein elegantes Interieur erwartet, erlag allerdings einem Irrtum. Man hatte teures Eibenholz verwendet. Die hellen Lampen ließen trotz
des Lichts eine gewisse Gemütlichkeit und Intimität aufkommen, wozu auch die Nischen beitrugen. Bill hatte sich bestimmt eine dieser Nischen ausgesucht. Bevor ich nach ihm Ausschau halten konnte und meine Blicke durch das zur Hälfte gefüllte Lokal gleiten ließ, trat eine junge Frau neben mich. Sie trug ein dezentes Kostüm und erkundigte sich, ob ich reserviert hätte. »Das nicht, aber ich bin verabredet.« Ich schaute sie nicht an, dafür sah ich Bills Winken. »Mit dem Herrn dort?« »Sicher.« »Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen bei uns, Sir.« »Danke.« Bill stand auf, als ich an seinen Tisch trat und mir einen Stuhl zurechtrückte. Mein Freund wirkte erlöst, was seine nächsten Worte auch bestätigten. »Mensch, John, bin ich froh, daß du gekommen bist.« »Wo brennt es denn?« Bill strich seinen blauen Leinenblazer glatt. Dazu trug er ein dezent gestreiftes Hemd und eine Krawatte mit verschlungenem Muster. »Es brennt noch nicht, ich bin trotzdem froh. Was möchtest du trinken?« »Das gleiche wie du zunächst.« »Wasser!« »Ja.« Ein italienisch aussehender Ober kam und erkundigte sich nach unseren Wünschen. Die Speisekarte hatte er direkt mitgebracht. Ich bestellte und widmete mich dann dem Studium der etwas zu hohen, zweiseitigen Karte. Es gab einiges, was mir gefiel. Ich entschied mich schließlich für eine Bündner Graupensuppe als Vorspeise. Als Hauptgericht nahm ich eine rustikale Berner Platte, auf der so ziemlich alles vertreten war, was dick machte: Sauerkraut, Bratwürste, Kassler, Selchfleisch, Schweinebraten . .. Bill nahm eine Steakpfanne, keine Vorspeise. »Und der Wein?« fragte er. »Einen Roten aus dem Wallis.« Mein Freund lächelte mir zu. »Dafür habe ich mich auch entschieden.« Er gab die Bestellung auf und reichte dem Ober die beiden Karten zurück. Ich hatte mir eine Zigarette angezündet. Durch den Rauch sah ich, wie Bill auf seine zusammengelegten Hände starrte und dabei einen sehr nachdenklichen Eindruck machte. »Du hast Probleme, Junge!« Er hob die Schultern, ohne mich anzuschauen. Seine Antwort sprach er gegen die Tischplatte. »Im Prinzip nicht, es könnten welche werden.« »Laß mich raten. Hängt es mit deinem Job zusammen? Mit der Suche nach Legenden, alten Mythen und Abenteuern?« »Nein.«
»Das ist schon positiv.« Bill grinste. »Wieso?« »Dann brauche ich nicht in die weite Welt zu reisen. Ich denke noch an den Fall bei Baton Rouge . . .« »Erinnere mich nicht daran.« Bill winkte ab. »Dennoch, John, irgendwie hast du schon recht. Es kann indirekt mit den Legenden zusammenhängen, denen ich nachgehe.« »Spuck's schon aus.« »Du weißt selbst, daß Großbritannien reich an Sagen und Legenden ist. Es gibt eigentlich keine Gebiete, keine Städte und keine Dörfer, die nicht davon betroffen sind. Sogar die Burgen, Schlösser und Klöster haben ihre eigenen Hausgespenster, aber das brauche ich dir ja nicht zu erzählen.« »Stimmt genau.« Er wechselte das Thema. »Kennst du dich eigentlich in Cornwall aus?« Ich runzelte die Brauen. »Klar, ein wenig. Denkst du vielleicht an Dartmoor?« »Auch.« »Schon.« »Gut, aber ich meine nicht Dartmoor direkt, sondern den gewaltigen Dartmoor Forest. Er bildet ja ein Gebiet für sich, in dem noch der National Park eingebettet liegt.« »Das weiß ich auch.« Bevor Bill weitersprach, wartete er ab, bis der Ober die Suppe servierte. Ich rührte zweimal durch, so daß die frischen Kräuter von der Oberfläche verschwanden. »Erzähl ruhig weiter, ich esse dabei.« »Okay.« Der Ober brachte den Wein, Bill schaute auf das Etikett, war zufrieden, nickte, ließ einschenken, probierte und nickte noch einmal, während ich die wirklich ausgezeichnete Graupensuppe löffelte und zwischenfragte, ob es sich bei dem Koch um einen Schweizer handelte. »Ja, sogar aus Graubünden. Er stammt aus Davos!« »Bestellen Sic ihm ein Kompliment. Er soll sich ein Bier auf meine Rechnung genehmigen.« »Werde ich machen, Sir.« Bill Conolly wartete trotzdem, bis ich meine Tasse geleert, zur Seite gestellt und den ersten Schluck Roten genommen hatte. Dann erzählte er weiter. »Also Dartmoor.« »Nein, der Park.« »Richtig. Ein Teil gehört ja dem Mann der Queen, aber davon will ich nicht reden. Es geht hier um andere Dinge. Ich las heute morgen in einem Buch, das die englische Sagenwelt behandelt. Du weißt, daß ich immer auf der Suche bin. Ich stieß auf einen Bericht, der sich mit einem bestimmten Tal im National Park beschäftigt. Man nennt es Tal der Unheils, weil es so versteckt liegt, äußerst sumpfig ist und sehr oft von Nebelschwaden durchwandert wird.«
»Nur deshalb?« fragte ich und ließ danach den Schluck Rotwein genießerisch über meine Zunge wandern. Bill schüttelte den Kopf. «Es gibt auch einen anderen Grund. Der Sage nach sollen in diesem Tal vor langer, langer Zeit Dämonen oder Außerirdische gelandet sein, um es für sich zu beanspruchen, was sie allerdings nicht getan haben, denn ich habe keinen weiteren Hinweis darauf gefunden.« »Klingt phantastisch«, sagte ich. »Zu phantastisch?« »Eigentlich nicht.« Ich lachte leise. »Wir sind keine Normalbürger, auch wenn wir so aussehen.« Bei diesem Satz gönnte ich mir einen Rundblick durch das Restaurant, das mittlerweile fast voll war. Es sprach sich eben herum, wo man in London gut essen konnte und auch noch was auf den Teller bekam, denn die Schweizer Gastlichkeit kann man mit dem Begriff Großzügigkeit umschreiben. »Der Meinung bin ich auch.« Ich zwinkerte ihm zu. »Hast du mich deshalb herbestellt, um mir das zu sagen? Da hättest du auch Sheila mitnehmen können, und ich wäre mit Jane Collins gekommen.« »Das ist nicht der Grund.« »Welcher dann?« Wieder erschien der Ober. Bill hielt mit seiner Erklärung zurück. Unser bestelltes Essen wurde gebracht. Wir orderten noch Wasser nach, was ein Lehrling schnell brachte. O je, da waren meine Augen größer als der Magen gewesen. Was sich da auf der ovalen Platte türmte, davon konnten zwei Personen satt werden. Ich geriet in Versuchung, meinen Freund und Kollegen Suko anzurufen, damit er mithalf, die Köstlichkeiten zu vertilgen. »Das schaffe ich nie!« beschwerte ich mich. »Sie müssen langsam essen und dabei genießen, Sir.« »Wie Sie meinen.« »Für das Bier läßt sich der Koch bedanken. Leider kann er nicht persönlich bei Ihnen erscheinen, denn in der Küche herrscht Hochbetrieb.« »Das verstehe ich.« Der Ober verbeugte sich und ging auf lautlosen Sohlen davon. Während ich in die erste Bratwurst stach, sprach ich Bill an. »Du wolltest mir den eigentlichen Grund deiner Besorgnis noch nennen, Alter. Rück mal raus mit der Sprache.« »Der Grund heißt Johnny.« »Was hat er damit zu tun?« »Fr könnte etwas damit zu tun bekommen.« Während ich ein Stück Bratwurst aß, sprach Bill weiter. »Früher sagte man wandern, heute heißt es ja Trekking. Johnny ist mit seiner Klasse auf große Fahrt
gegangen. Für eine Woche ist er unterwegs. Zuerst fahren sie mit dem Bus, dann übernachten sie im freien Gelände, sie zelten . ..« »Moment mal«, sagte ich. »Willst du etwa behaupten, daß sie in den National Park gefahren sind?« »Das will ich, John.« Bill senkte seine Stimme, da der Nachbartisch soeben besetzt wurde. »Und nicht nur das. Sie haben im Park ein besonderes Ziel.« »Das Tal des Unheils?« »Leider john, leider...« *** Ich aß weiter. Während ich kaute, dachte ich nach. War die Besorgnis meines Freundes zu weit hergeholt, oder hatte er recht damit? Was war an dieser Legende von uralten außerirdischen Wesen oder Dämonen Wahres dran? Ich schaute ihn an. Er aß sehr langsam und wie jemand, der mit seinen Gedanken ganz woanders ist. »Es ist eine Legende, Bill.« »Stimmt.« Er richtete sich auf. »Haben wir nicht schon erlebt, daß Legenden oft gar nicht so legendenhaft sind und zu schrecklichen Tatsachen werden können?« »Ja, schon, aber . . .« »Ich bin besorgt, John. Ich mache mir sogar verdammt große Sorgen, ehrlich.« »Hast du einen Grund dafür?« »Nein, es ist das Gefühl.« »Also geht es Johnny gut?« »Bisher ja. Er hat sich gestern noch telefonisch bei uns gemeldet. Da haben sie eine kleine Tour gemacht und in einem Dorf angehalten, wo es auch ein Telefon gibt. Heute erst fahren sie in das Tal des Unheils.« »Davor hast du Angst?« »Ja, John, es liegt sehr abgelegen. Praktisch ohne Zugang zur Außenwelt, ein Stück Dschungel im Park. Urwüchsig, man holzt nichts ab, man hat alles so gelassen. Für mich ist es eine unheimliche Gegend, das will ich dir ehrlich sagen.« »Die du noch nicht kennst!« Bill winkte ab. »Was ich darüber gelesen habe, reicht mir eigentlich aus.« Ich wollte ihn beruhigen. »Jetzt werden wir erst einmal essen, bevor alles kalt wird. Danach reden wir weiter.« »Kannst du dir vorstellen, daß mir der Appetit vergangen ist?« »Nein. Das sind nur Phantastereien, Bill.« Er griff wieder zum Besteck. »Ich weiß es nicht, John, ich weiß es wirklich nicht. Hast du dich nicht auch oft auf dein Gefühl verlassen?
Diesmal ist es bei mir so. Mein Gefühl sagt mir einfach, daß Johnny und die anderen aus der Klasse in Gefahr schweben.« Da er von mir keine Antwort bekam, blieb ihm nichts anderes übrig, als wieder zu essen. Auch ich sorgte für mein leibliches Wohl. Sosehr ich mich auch anstrengte, ich bekam die ovale Schüssel einfach nicht leer. Es war zuviel gewesen. Bill erging es nicht anders. Er schob den Teller zur Seite und griff zum Weinglas. »Tut mir leid, John, daß ich dich damit belästigt habe, aber ich mache mir echt Gedanken.« »Kann ich sogar verstehen.« Ich schüttelte eine Zigarette aus der goldenen Packung. »Wir haben hier zusammen gesessen und geredet. Nur glaube ich, daß du mit dem eigentlichen Grund noch nicht herausgerückt hast, mein Lieber.« »Du kennst mich gut, wie?« »Noch besser.« »Okay.« Er nickte. »Gib mir auch einen Glimmstengel.« Bill bekam ihn, Feuer ebenfalls, dann kam er auf den wirklichen Grund seines Kommens zu sprechen. »Hast du am Wochenende etwas vor?« Ich wußte, worauf Bill hinauswollte. »Bis jetzt noch nicht. Wie ich dich kenne, willst du mich zu einer Tour einladen.« »Heute ist Freitag, John. Wie wäre es, wenn wir uns morgen früh in den Porsche setzen und in den National Park fahren, um den Ausflüglern einen Besuch abzustatten?« Ich lächelte. »Das habe ich mir gedacht, mein Freund. Aber hältst du es für gut?« »Sonst hätte ich dir den Vorschlag nicht gemacht.« »Mal abgesehen von deinen Befürchtungen, Bill, aber die anderen Klassenkameraden werden dumm gucken, wenn plötzlich ein Vater erscheint. Das mußt du doch von deiner Jugend her kennen, in der ja auch diese Ausflüge unternommen wurden. Hast du das vergessen?« »Nein, nicht. Ich habe mich mit dem Problem auch auseinandergesetzt. Nur gebe ich zu bedenken, daß mit Johnny schon sehr viel geschehen ist. Er sieht zwar aus wie ein normaler Junge, aber meines Erachtens ist er keiner. Er ist ein Mitglied unserer Familie, vielleicht sogar unseres Clans. Er steht vielleicht nicht auf der Abschußliste, doch ungefährdet ist er auch nicht. So denke ich.« »Beweise hast du nicht!« »Dann wäre es möglicherweise zu spät!« flüsterte Bill mir zu. »Als ich den Bericht über das Tal des Unheils las, bekam ich plötzlich Angst. Da wurde mir anders.« »Hast du das vorher nicht gewußt?«
»Nein. Du kannst mich auslachen, John, ich nehme es als einen Wink des Schicksals hin, daß ich den Bericht überhaupt gelesen habe. Vielleicht wollte mich da jemand warnen.« »Das könnte sein.« »Bist du einverstanden?« Bill stellte die Frage mit banger Stimme und bekam die Antwort erst, als der Ober den Tisch wieder freigeräumt hatte. »Habe ich dich jemals hängenlassen?« »Das nicht.« »Also werden wir fahren — vorausgesetzt, du findest eine Erklärung für Sheila.« »Das mußt du übernehmen«, sagte Bill mit trüber Stimme. »Du weißt, daß sie mir nicht glaubt. Der kann ich nichts vormachen. Sie wird auch bei dir skeptisch sein, aber es fällt dir schon etwas ein.« Ich nahm das Glas mit dem Wein in die Rechte und schaute gegen die rubinrote Flüssigkeit. »Probleme, Probleme. Was soll ich Sheila sagen? Daß wir eine Zwei-Mann-Tour machen?« »Warum nicht?« »Das glaubt sie uns nie.« »Wir können sie nicht mitnehmen, John.« »Und Nadine, die Wölfin?« »Lassen wir auch zu Hause.« Bill stand wahnsinnig unter Druck, das merkte ich immer deutlicher. Mußte er tatsächlich Angst um seinen Sohn haben? Ich wußte es nicht, ich konnte auch nicht so recht daran glauben. Andererseits bestand die Möglichkeit, daß sich die Schulklasse tatsächlich in ein Gebiet gewagt hatte, in dem es nicht geheuer war. Daß es so etwas gab, hatten wir oft genug erleben müssen. Sollte Johnny tatsächlich etwas zustoßen, wären nicht nur seine Eltern ihres Lebens nicht mehr froh geworden. Bill hielt mir die Hand hin. »Schlägst du ein, John?« Ich tat es. Er hielt sie noch fest. Seine Lippen zuckten. »Verdämmt, John, ich bin froh, echt froh, daß du mich nicht im Stich läßt und meine Befürchtungen nicht als Spinnerei abtust.« »Ich hoffe aber, daß es Spinnereien sind. Lieber umsonst dorthin gefahren, als .. .« »Ja, du brauchst nichts mehr zu sagen. Ich weiß ja, wie du denkst. Wann sollen wir starten?« »Mir egal. Es ist noch früh.« »Gegen fünf Uhr?« »Einverstanden.« Bill ließ meine Hand los. »Willst du noch einen Kaffee trinken?« »Nein, danke. Wir können gehen, dann kann ich noch eine Mütze voll Schlaf nehmen.« »Hoffentlich kann ich schlafen«, murmelte er. »Das wirst du schon, Bill.«
Der Reporter zahlte. Wir lobten das Essen noch einmal, auch wenn wir die Teller nicht leerbekommen hatten. »Das geht uns oft so«, erklärte der Ober. »Wir bleiben trotzdem bei dieser Portionsgröße.« »Das wollte ich Ihnen auch geraten haben«, sagte ich und schob meinen Stuhl zurück, bevor ich aufstand. Draußen holten wir tief Luft. Es war noch nicht dunkel geworcien. Über London hatten sich die Schatten der Dämmerung gelegt. Nebeneinander schlenderten wir zum Parkplatz. Es regnete nicht. Auch das Wetter der nächsten läge versprach, gut zu werden. »Ich komme zu dir mit einem Taxi«, sagte ich zu Bill. »Bei dir kommen wir besser weg.« »Okay, John, und nochmal — danke.« »Halt die Klappe, Mensch!« Ich schaute nach, wie mein Freund sich in den Porsche faltete und abfuhr. Erst als er den Parkplatz verlassen hatte, stieg auch ich in den Rover. Mit relativ trüben Gedanken fuhr ich zu meiner Wohnung. Dort sprach ich noch kurz mit Suko über den Fall. Der Inspektor, der sein Apartment neben dem meinen bewohnte, war ebenfalls skeptisch, stellte sich allerdings auf meine Seite, was die Fahrt anging. »Schon aus alter Freundschaft solltest du das machen.« »Daran habe ich nie gezweifelt, das war keine Frage für mich. Ich wünsche mir nur, daß Bill unrecht hat.« »Ich mir auch.« Suko streckte die Beine aus. »Du hast nie von diesem Tal des Unheils gehört?« »Nein.« »Willst du Sarah Goldwyn fragen?« Ich winkte mit beiden Händen ab. »Um Himmels willen, nein, das kommt nicht in Frage. Da würde ich ja ihr Mißtrauen und ihren Jagdinstinkt um mehr als hundert Prozent anheizen. Die letzte Sache mit dem Campingplatz reicht mir noch.« »Ja, du erzähltest davon.« Ich stand auf und reckte mich. Das Essen hatte mich tatsächlich müde gemacht. »Gute Nacht, Suko.« »Ja, und sei vorsichtig. Grüß auch Bill von mir, den alten Eisenfresser.« »Mach' ich glatt.« Fünf Minuten später lag ich im Bett, starrte gegen die Decke, dachte an Bill, an seinen Sohn und auch an den National Forest, den ich noch nicht kannte. Okay, Dartmoor war mir ein Begriff, die Umgebung ebenfalls, aber das andere Gebiet konnte ich als einen weißen Fleck auf meiner ganz persönlichen Landkarte ansehen.
Mit diesem Gedanken schlief ich ein und träumte nicht einmal von dem neuen Fall — vorausgesetzt, es wurde einer. Wen ich gewußt hätte, was tatsächlich auf mich zukam, hätte ich nicht so gut geschlafen und statt dessen senkrecht im Bett gesessen. So schlimm wurde es... *** Der Busfahrer hieß Malcolm! Einfach nur Malcolm, das hatte er auch den Jugendlichen gesagt und sich auch von ihnen duzen lassen, denn er gehörte zu den unkomplizierten Menschen, die ihre eigene Jugend glücklicherweise noch nicht vergessen hatten. Malcolm fuhr den Bus seit mehr als zehn Jahren. Er selbst war vierunddreißig, und die Insel kannte er wie seine Westentasche. Ob die großen Städte oder die einsamen Gegenden, Malcolm kannte jede Strecke und alle günstigen Gaststätten. Da stoppte er an Lokalen, an denen viele vorbeifuhren. Aber gerade dort schmeckte es gut. Wenn viele Lastwagen in der Nähe parkten, mußte es einfach ein schmackhaftes Essen geben, denn die Trucker kannten sich da aus. Malcolm war auch bei seinen Kollegen bekannt, denn er besaß zwei Markenzeichen. Zum einen war es die alte, mit Patina belegte Fliegerjacke aus Leder, zum anderen die blaue Schiebermütze, die er, nach Lust und Laune, mal schief auf dem Kopf sitzen oder sie tief in die Stirn gezogen hatte. War das der Fall, standen bei ihm die Zeichen auf Sturm. Malcolm gehörte auch zu den Typen, die nicht braun wurden. Seine Haut war mit unzähligen Sommersprossen übersät. Wenn er die Mütze einmal abnahm, kam dünnes, blondrotes Haar zum Vorschein. Klassenfahrten hatte er schon oft hinter sich gebracht. Es gab gute, es gab schlechte, die Jungen und Mädchen, die jetzt hinter ihm hockten, zählte er zu den guten. So manchen Witz hatte er schon zum besten gegeben, denn selbst die Jugendlichen wollten nicht nur die heiße Rockmusik hören und sich auch mal entspannen. Ein Lehrer war nur mitgefahren. Ein Mann namens Dick Chilmark. Die zweite Begleitperson war während der Reise krank geworden und befand sich wieder in London. Der größte Teil der Reise lag längst hinter ihnen. An diesem Freitag ging es in den National Forest, wo sie noch zwei Tage verbringen wollten, bevor sie die Rückreise antraten. Das würde ein richtiges Abenteuer werden, denn man mußte in Zelten übernachten und nicht in Jugendherbergen, wie auf dem überwiegenden Teil der Reise.
Sie hatten Exeter längst hinter sich gelassen und rollten in Richtung Süden. Der neben Malcolm sitzende Lehrer schaute auf die Straßenkarte, denn irgendwann mußten sie ab in die hügelige und auch sumpfige Umgebung des National Parks. Dick Chilmark gehörte zu den Lehrpersonen, die bei den Schülern beliebt waren. Er gab Sport und Mathe. Hin und wieder half er auch bei Physik aus. Mit seinen einunddreißig Jahren gehörte er zu den jüngeren Lehrpersonen, und er kleidete sich auch so. Jeans, Pullover, T-Shirts, einfach cool und locker. Das blonde Haar wuchs ziemlich lang und fiel ihm als gewellter und weicher Pony bis in die Stirn. Trotz der blonden Haarpracht gehörte er zu den Menschen, die schnell braun wurden, so machte er stets auf seine Schüler den richtigen sportlichen Eindruck. Er und Malcolm duzten sich ebenfalls, da nahm es Dick nicht so genau. »Sag mal, Malcolm, kennst du dich eigentlich hieraus?« »Klar doch.« »Auch im Park?« »Aber sicher.« »Ich nicht.« Der Fahrer lachte, bevor er über einen Honda-Fahrer fluchte, der riskant überholt hatte. »Weshalb seid ihr denn dahingefahren, wenn das Gebiet keiner kennt?« »Das frage ich mich auch.« Er hob die Schultern. »Wie das so ist, auf einmal fiel der Name. Alle waren begeistert, zudem wollten die Schüler sehen, was mit der Umwelt geschieht, wenn sie noch intakt ist und wachsen kann, ohne daß die Hand eines Menschen eingreift. Das ist mal interessant.« »Glaube ich dir.« »Aber du kennst das Gebiet — nicht?« Malcolm gab eine zögernde Antwort. »Ja — ich war schon einige Male dort, Dick.« Dem Lehrer war der ungewöhnliche Stimmenklang nicht entgangen. »Du hast so komisch geredet. Ist da was?« »Nicht daß ich direkt wüßte.« »Aber indirekt.« Malcolm lachte. »Dir kann man wohl auch schlecht etwas vormachen, wie?« »Nur selten.« »Nun ja, ehrlich gesagt, mir gefällt das Gebiet nicht so sehr. Es ist mir einfach zu düster. Wir werden sicherlich Nebel bekommen, denn dort gibt es einige Nebelinseln, und das Tal des Unheils gehört dazu.« »Moment mal, was hast du gesagt? Tal des Unheils?« »Ja, habe ich dir nicht davon erzählt?« »Kein Wort.« »Komisch.« Malcolm hob die Schultern. »Ich dachte, ich hätte die Geschichte erwähnt.« »Welche denn?«
»Nun ja, du weißt, daß viel geredet wird. Dieses Tal des Unheils besteht zu einem großen Teil aus Sumpf. Vor unheimlich langer Zeit soll dort etwas geschehen sein. Angeblich haben es Dämonen in ihren Besitz genommen oder fremde Wesen aus dem All. So genau weiß ich das nicht. Man erzählt es sich.« Dick Chilmark lachte. »Das ist toll, wirklich. Erleben wir da tatsächlich eine Gespenstergeschichte?« »Viele meiden das Tal.« Der Lehrer winkte ab. »Hauptsache du nicht. Sonst müßten wir zu Fuß gehen. Mit all dem Gepäck wäre das schlecht. Glaubst du denn auch daran?« »Ich stamme aus Plymouth.« »He, das ist nicht weit entfernt.« »Eben, und da glaubt man noch an die alten Geschichten.« Auf sich ging er nicht mehr ein, und Dick Chilmark fragte auch nicht weiter. Er griff zum Mikrofon, räusperte sich zweimal, stieß einen Pfiff aus, damit auch alle Schüler richtig wach wurden — einige hingen nämlich wie Schlaffies in den Sitzen. »He, ihr müden Gesellen, hört mal zu! Werdet wach! Reibt euch den Schlaf aus den Augen, denn hier vorn sitzt jemand, der euch eine Neuigkeit verkünden will.« »Machen wir Pause?« rief jemand. »Nein, noch nicht, aber es geht um unser Ziel, das wir bald erreichen werden. Wer von euch war schon einmal dort?« »Keiner!« riefen gleich drei. »Dann wißt ihr auch nicht, daß der Ort, wo wir den Rest der Fahrt verbringen, auch das Tal des Unheils genannt wird oder?« Es entstand eine Schweigepause. Mit dieser Eröffnung hatte niemand gerechnet. Dick lachte in das Mikrofon. »Wollt ihr nicht wissen, weshalb man es so nennt?« »Klar doch!« schrie ein Mädchen. »Da ist es immer so unheilig und auch sumpfig.« »Genau, Linda.« Er räusperte sich. »Vor sehr langer Zeit, müßt ihr wissen, soll dieses Tal von Dämonen oder Kreaturen vom anderen Stern besetzt worden sein. Sie haben es einfach überfallen und lauern darauf, wieder aus dem Sumpf steigen zu können.« »Hat man sie denn gesehen?« fragte jemand. »Bisher noch nicht. Vielleicht solltet ihr die Augen mal richtig aufhalten.« »Machen wir. Was ist mit Nessy?« »Was soll damit sein?« »Das hat doch auch keiner gesehen.« Dick lachte leise. »Da wäre ich mir nicht so sicher. Wir jedenfalls werden uns mal auf die Suche machen und auch die Kameras schußbereit
halten. Allerdings möchte ich euch noch warnen. Das Tal wird oft von Nebelfeldern umhüllt, wir müssen schon sehr genau hinschauen, wenn wir die Dämonen sichten wollen.« Das war genau nach dem Geschmack der Schüler. Diese Worte hatten sie aufgeweckt. Erste Pläne wurden geschmiedet, wie man die Suche nach den Dämonen oder außerirdischen Wesen anfangen sollte. Es waren alle voll dabei, bis auf einen Schüler. Er hockte auf der letzten Bank, ziemlich nah am Fenster und dachte anders über die Worte, auch wenn er den Mund zu einem Lächeln verzogen hatte, um bei den Freunden nicht aufzufallen. Dieser Schüler hieß Johnny Conolly! Einer, der nicht auffiel, der völlig normal reagierte, der allerdings über etwas Außergewöhnliches verfügte. Es war das Wissen um magische Kräfte. Um Hexen, Dämonen, um Zauberei und Spuk. Der Junge hatte in seinem Leben schon viel durchgemacht und mehrmals dicht vor der Schwelle zum Tod gestanden. Er war praktisch in den Kreislaufseiner Eltern eingebettet, die auf der Todesliste schwarzmagischer Wesen ziemlich weit oben standen, fast so hoch wie sein Patenonkel John Sinclair. Da Johnny vieles wußte, konnte ersieh nicht so freuen wie die anderen Schüler und machte einen eher nachdenklichen Eindruck. Neben ihm saß Linda. Ein dunkelhaariger Wirbelwind, bekannt für ihre täglich wechselnden Frisuren. »He, du Schnarchhahn, ist das nicht total irre? Das wird eine Schau. Wir gehen auf Dämonenjagd.« »Meinetwegen.« Sie blitzte ihn an. »Sag nur, du hast die Hosen voll?« »Nein.« »Weshalb freust du dich denn nicht?« Johnny hob die Schultern. Er mußte sich blitzschnell eine Ausrede einfallen lassen. Die Wahrheit konnte er nicht sagen. »Vielleicht habe ich keine Lust, durch das Moor zu laufen. Ist mir auch viel zu anstrengend.« Linda wollte es nicht glauben, was ihr Blick deutlich zeigte. »Mann, dabei habe ich immer gedacht, daß du für die Action bist und noch nicht zu den Schlaffies gehörst.« »Manchmal habe ich eben keine Lust.« Sie kitzelte Johnny unter dem Kinn. »Oder will der kleine Junge lieber nach Hause?« »Ja, später.« Linda schüttelte den Kopf. »Bist du nicht gut drauf?« beschwerte sie sich und schob die Hände flach unter die Oberschenkel. »Also ich finde es irre, da zwei Tage zu wohnen und einfach die Gegend zu erleben, mit Geistern und Dämonen.« Johnny warf ihr einen schiefen Blick zu. »Glaubst du denn daran?« »An Geister?« kicherte sie.
»Auch.« »Eigentlich ja nicht, aber man weiß ja nie.« Sie rückte wieder näher heran. »Dabei müßtest du doch auch an so etwas glauben, Johnny.« »Wieso?« »Man erzählt sich so einiges über dich in der Klasse. Daß du schon tolle Erlebnisse gehabt hast und so.« »Welche denn?« »Das weißt du doch selbst«, erwiderte Linda spitz. Sie wollte Johnny damit aus der Reserve locken, was ihr allerdings nicht gelang, denn der Junge schaute aus dem Fenster. Sie hatten die Kreisstraße 38 verlassen. Über eine wesentlich schmalere rollten sie von Süden her in das Gebiet des National Parks hinein. Noch war nicht viel zu sehen, da sie sich zwischen den Hügeln befanden und sich mehr im Tal aufhielten. Sie mußten bis Poudsgate fahren, einem kleinen Ort am Rand des Parks. Von dort aus ging es dann direkt in das Tal des Unheils. Die andere Landschaft war zu sehen. Die Wälder wirkten hier geschlossener und auch größer. Sie verteilten sich mehr auf den Hängen und gaben in den Tälern dafür weite Rasenflächen frei, auf denen viele Schafe weideten, denn ein kleines Netz von Bächen und winzigen Seen garantierten ihnen auch genügend Wasser. »Schön ist es hier«, sagte Linda. »Und einsam!« fügte Johnny hinzu, der sein Kinn auf den Handballen gestützt hatte. »Richtig gruselig.« Linda wurde zur Kichererbse. »Ich freue mich schon auf die Nacht oder die Dunkelheit.« »Warum?« »Da kommen bestimmt die Geister.« Sie senkte ihre Stimme. »Die kriechen aus dem Boden und umwallen dich wie Gewänder.« »Verwechselst du sie nicht mit dem Nebel.« »Hör mal!« erwiderte sie entrüstet. »Ich kann doch wohl Geister von Nebelschwaden unterscheiden.« »Meinst du?« Linda tippte gegen ihre Stirn, bevor sie in eine andere Richtung schaute und ihren rechten Nebenmann anmachte, der aber schlafen wollte, weil er in der vergangenen Nacht kaum ein Auge zugetan hatte. Die Gegend war nicht nur einsamer geworden, auch unheimlicher, wie Johnny fand. Dichte Wälder trugen entscheidend dazu bei. Bisher hatte Johnny die Klassen fahrt Spaß bereitet, nun nicht mehr, denn durch die Rede des Lehrers war er wieder an sein Zuhause erinnert worden, wo man oft über Dämonen und schwarzmagische Wesen diskutierte und sie auch erlebt hatte. Johnny wollte nicht mehr, er haßte sie geradezu und hätte sich Nadine gewünscht.
Die Straße nahm vor einer Ortschaft an Breite zu. Auf einem Schild lasen die Jugendlichen den Namen Poudsgate. Vorn griff der Lehrer zum Mikrofon. »Sollen wir durchfahren oder hier noch eine kurze Rast einlegen. Proviant haben wir genug bei uns. Wie ist es?« »Weiterfahren!« schrien die meisten. Und Linda rief mit einer Stimme, die fast überkippte. »Wir wollen endlich die Dämonen und Geister im Tal des Unheils sehen.« »Ja, das wollen wir!« stimmten ihr andere bei. Nur Johnny blieb stumm. Fr hoffte, daß nichts Außergewöhnliches geschah. Sollten dort tatsächlich böse Mächte lauern, konnte es ihnen sehr übel ergehen. »Also fahren wir vorbei!« entschied Chilmark. »Jaaa . . .« Ein Schrei aus über zwanzig Kehlen brandete durch den Bus, selbst Malcolm zuckte zusammen, und der war einiges gewohnt. Keiner der Schüler ahnte, daß es eine Fahrt ins Grauen werden sollte... *** Sie waren da, endlich, und sie hatten eine Fahrt hinter sich, die keiner vergessen würde, wenigstens nicht die letzte halbe Stunde, wo es keinen Weg mehr gegeben hatte und Malcolm den Bus quer durchs Gelände schaukeln mußte. Sie hatten in das Tal des Unheils hineinsehen können, das wie eine gewaltige Schüssel vor ihnen lag. Eine Schüssel, durch die dünne Schwaden zogen, denn über dem tückischen Sumpf in der Mitte lag ein Nebel, der eigentlich nie abriß. Die Hänge stiegen sanft an. Zunächst noch mit hohem Gras bewachsen, über dessen Halme hin und wieder die frischen Blätter der Sträucher schauten. Weiter oben begann der Wald. Umgekippte Bäume und dichtes Unterholz machten ein Durchkommen fast unmöglich. Zum anderen Ende des Tals reichte der Wald bis fast an den Sumpf heran, der dort in einen mit Schilf und zahlreichen Wasserpflanzen bewachsenen See überging. Vögel fanden hier ebenso ihr kleines Paradies wie Insekten, Frösche und Fische. Ein Stück Natur, in die der Mensch zwar einbrechen durfte, sich aber gewissen Regeln unterziehen mußte. Das Tal besaß eine bestimmte Atmosphäre. Selbst wenn die Sonne schien, drangen ihre Strahlen nicht so klar bis auf den Grund, wie es bei anderen Tälern der Fall war. Die Nebelschwaden schluckten doch sehr viel an Wärme, deshalb blieb stets eine gewisse Feuchtigkeit zurück, die sich auf die Umgebung legte. Die Schüler schliefen zwar im Freien, völlig unter blankem Himmel doch nicht, denn Mitglieder eines Naturschutzvereins hatten zwei Hütten aufgestellt, in denen man bei zu feuchtem Wetter Schutz finden konnte.
Sie standen am Hang in sicherer Deckung des Waldes. Von dort fiel der Blick auf das Moor und bis zur jenseitigen Talseite hin, die allerdings im nebligen Dunst verschwunden war. Malcolm hatte das Kommando übernommen und sorgte durch seine klaren Anweisungen dafür, daß der Bus innerhalb einer halben Stunde entladen wurde. Die Schüler schleppten ihr Gepäck und den Proviant zu einer Lichtung hin, wo sie der Lehrer erwartete. Er wollte etwas sagen und wartete, bis auch das letzte Kichern verstummt war. »Da wir uns in einem National Park befinden«, begann er, »möchte ich, daß ihr euch entsprechend verhaltet und die Natur nicht zerstört, verdreckt oder verändert. Man hat Vertrauen in uns gesetzt, in dem man uns erlaubte, hier zu campieren. Zeigt euch würdig und haltet euch an die Regeln. Darum möchte ich euch bitten.« Es waren die Eingangsworte, damit jeder wußte, woran er war. Zu den Einzelheiten kam der Lehrer ebenfalls. Anschließend schafften die Schüler ihr Gepäck in den Schutz der Hütten. Es war noch nicht klar, wo sie die Nacht verbringen wollten. Wurde der Nebel dichter und brachte er auch zuviel Feuchtigkeit mit, würden sie schon in die Hütten gehen. Malcolm hatte sich das alles genau angehört. »Nicht schlecht, Dick«, sagte er. »Ich werde trotzdem verschwinden.« »Wohin?« Malcolm zog die Mütze tiefer in die Stirn. »Holz suchen und holen. Es wäre doch schön, wenn wir ein Lagerfeuer machen könnten. So richtig romantisch.« »Ja, die Idee ist stark. Einverstanden. Ich werde es den Schülern sagen, die freuen sich bestimmt.« Malcolm nickte und grinste dabei. »Bis später dann.« Er tippte gegen den Schirm der Mütze und verschwand. Chilmark wollte ihm noch nachrufen und fragen, weshalb er keinen Schüler als Hilfe mitnahm, aber Malcolm war schon zu weit weg. Der dünne Nebel legte sich auf ihn wie eine zweite Kleidung. Auch Chilmark dachte über den Nebel nach. Damit hatte er nicht gerechnet, und er fragte sich, ob er eine lange Wanderung riskieren sollte. Wurde er dicht, so bestand die Gefahr, daß sie sich in Gebieten verirrten, die sie eigentlich nicht durchwandern wollten. Sein Blick glitt nach vorn, wo das feste Ufer allmählich in die Sumpflandschaft überging. Dieses ruhig daliegende grünbraune Meer sah so harmlos aus, doch wehe demjenigen, der hineingeriet. Er würde nie mehr erscheinen. Zwar stand die Sonne wie ein rundes, gelbes Auge am Himmel, doch der über dem Sumpf schwebende Dunst filterte die warmen Strahlen. Wenn sie den Boden erreichten, dann stachen sie.
Die Schüler hielten sich weiter oben an den Blockhütten auf. Sie waren nicht gerade sauer, aber eines ärgerte sie schon. Die Insektenplage. Dieses Gebiet war für sie ein Eldorado, und als Ziele hatten sie sich die Haut der Schüler ausgesucht. Besonders Linda beschwerte sich lautstark. Immer wieder fuchtelte sie mit den Armen durch die Luft und versuchte, die Mücken zu erwischen, was ihr kaum gelang. »Stell dich nicht so an«, sagte jemand. Ein anderer meinte: »Hast wohl Angst um deine Hose, wie?« »Ihr könnt mich mal.« »Wann denn?« »Ihr seid mir zu blöd.« Sie drehte sich um und ging weg. Linda fiel in der Tat auf. Als einzige hatte sie es geschafft, sich umzuziehen. Sie trug nun eine knallrote Fallschirmspringerhose. Eine nicht gerade ideale Farbe in dieser Wildnis, aber Linda war schon immer etwas anders gewesen. Sie suchte Johnny Conolly, der an seinem Rucksack stand und ihn geöffnet hatte. »Was suchst du denn?« Johnny schaute hoch. »Ich habe irgendwo noch eine Stange Kaugummi, glaube ich.« »Klasse. Gibst du mir auch einen?« »Wenn ich es finde.« »Soll ich helfen?« Linda beugte sich nach vorn. »Nicht nötig, ich habe es schon.« Er zog die Stange hervor und schnallte den Rucksack wieder zu. »Sogar mit Geschmack!« Linda nickte. »Aber ohne Zucker.« »Das macht nichts.« Sie bekam ihren Gummi, steckte ihn zwischen die Zähne und schaute sich in der Hütte um. »Ist was?« fragte Johnny. »Nicht direkt, aber wenn ich ehrlich sein soll, gefällt es mir hier nicht besonders.« Johnny kaute ebenfalls. »Weshalb?« »Es ist so komisch. Die Mücken, die Sonne, dann der Nebel. Alles ist feucht, klamm und dunstig.« Johnny hob die Schultern. »Damit haben wir rechnen müssen, als wir herfuhren.« »Mußten wir nicht. Bisher war das Wetter stark. Keiner hat uns etwas über das Gebiet erzählt. Am liebsten würde ich ja wieder fahren. Ab nach London.« »Und dann?« Linda bekam glänzende Augen. »In einen Lissaion schlemmen gehen.« »Das kannst du ja übermorgen.« Sie trat mit dem rechten Fuß auf. »Ich will es aber jetzt!« »Da hast du Pech gehabt.« »Das freut dich wohl, wie?« Johnny hob die Schultern. Jedenfalls beschwere ich mich nicht. Wir können sowieso nichts machen und erst mal nicht hier weg. Oder willst du zu Fuß gehen.«
»Das nicht, aber ich will dir eines sagen, Johnny. Die haben das Gebiet doch das Tal des Unheils genannt. Ich glaube, daß der Name zutreffend ist. Das ganze Gebiet hier macht einen so komischen und unheimlichen Eindruck. Da kann man richtig Furcht bekommen. Was hat Chilmark gesagt? Hier sollen mal Dämonen oder ähnliche Wesen gelebt haben?« »So ungefähr.« »Das ist wirklich ein unheimlicher Ort!« flüsterte Linda. »Ein verflixt unheimlicher sogar. Ich spüre förmlich, daß sich über uns etwas zusammenbraut, eben diese Dämonen.« Der Junge winkte ab. »Rede dir nur nichts ein.« »Ach, das mußt du gerade sagen. Wo es bei dir zu Hause doch komisch zugeht.« »Wie meinst du das denn?« »Man erzählt sich so einiges. Bei euch soll es zu unerklärlichen Dingen gekommen sein.« »Zu welchen denn?« »Das kann ich dir auch nicht sagen. Und wer hat schon einen Wolf im Haus?« Johnny hob beide Hände. Erstens ist es kein Wolf, sondern eine Wölfin.« »Wie heißt sie denn?« »Nadine.« »Komischer Name.« »Überhaupt nicht. Ich finde ihn gut. Wie gesagt, sie ist eine Wölfin und sehr zahm.« »Dir gegenüber.« »Klar.« »Was ist, wenn ich komme.« Johnny grinste und schaute Linda von oben bis unten an. »Hör auf zu grinsen, Johnny Conolly! Du bist mir einfach zu blöd, bist du mir. Widerlich.« Die dunkelhaarige Linda drehte sich auf der Stelle um und verließ die Hütte. »Blöde Gans«, murmelte Johnny hinter ihr her. Er wartete noch eine Weile, bevor er ebenfalls ins Freie gingLehrer und Schüler hatten sich auf der Lichtung versammelt. Sie würden über das weitere Programm reden wollen, und Johnny mußte ebenfalls hin und zuhören. Linda wartete trotzdem auf ihn. Johnny verdrehte die Augen, als er ihre roten Hosenbeine sah. »Mußt du mir immer hinterherrennen?« beschwerte er sich. »Ich habe nur gewartet.« »Und weiter?« »Nichts weiter.« Linda grinste. »Jetzt hören wir uns an, was der Pauker da zu . . .« Sie sprach nicht weiter und gab unartikulierte Laute von sich. Dabei drehte sie sich nach rechts und streckte den rechten Arm aus. Der Finger zeigte auf eine Lücke zwischen den Bäumen und dorthin, wo sich der Sumpf ausbreitete. »Was ist denn?« fragte Johnny.
»Das . . . das darf nicht wahr sein! So etwas gibt es nicht. Ich . . . ich glaube, ich spinne.« Nein, sie hatte nicht gesponnen. Auch Johnny sah das Unwahrscheinliche, das Unglaubliche. Sie waren die einzigen Zeugen, denn die anderen achteten nicht auf den Bus. Obwohl kein Fahrer hinter dem Lenkrad saß, hatte sich der Bus in Bewegung gesetzt. Und nicht nur das, er rollte direkt auf den Sumpf zu... *** »Neiiinnnn!« Lindas Schrei gellte wie der Klang einer Sirene durch die Stille und erreichte auch die Ohren der übrigen Schüler. Sie lief ihnen und dem Lehrer bereits entgegen, wobei sie mit dem hin- und herzuckenden Finger auf den Bus wies, von dem immer mehr in den grünbraunen Tiefen verschwand. Dann erst drehten sich die anderen um. Sekundenlang waren sie stumm, dann brach es aus ihnen hervor. Plötzlich redeten alle durcheinander. Vier Schüler liefen auf den Bus zu, als wollten sie ihn stoppen. Erst die laute Stimme des Lehrers holte sie zurück, denn sie liefen Gefahr, ebenfalls zu versinken. Unternehmen konnten sie nichts. Sie mußten mit ansehen, wie der Bus allmählich verschluckt wurde. Auch Johnny hatte die Gruppe mittlerweile erreicht. Er war ebenso weiß im Gesicht wie die anderen, die für diesen Vorgang keine Erklärung hatten. Einer meinte: »Da war bestimmt die Handbremse los.« »Na und? Der Bus stand auf flachem Gelände.« »Wieso konnte er dann fahren?« »Dämonen!« flüsterte ein Mädchen. »Hier soll es doch Dämonen geben, wie wir hörten.« Niemand lachte über die Bemerkung. Die Schüler standen unbeweglich auf dem Fleck, und manch einer von ihnen spürte die Gänsehaut auf seinem Rücken. Selbst Dick Chilmark wirkte so, als hätte er sich am liebsten verstecken wollen. Er hatte den Kopf eingezogen und atmete scharf durch die Nase. Irgendwie wirkte er hilflos, so wie alle anderen auch. Der Sumpf kannte keine Gnade. Der hätte auch Panzer und Flugzeuge verschlungen, wären ihm diese angeboten worden. Dort, wo die Schüler standen, war es still. Kommentare wurden nicht mehr gegeben. Sie lauschten dem Schmatzen, dem Gurgeln, diesen urwelthaften Geräuschen, die vom Sumpf herzu ihnen drangen, eine Begleitmusik des Todes, die das Verschwinden des Busses begleitete. Ab und zu sah
es so aus, als wollte er sich noch einmal aufbäumen, doch die Fangarme ließen ihn nicht mehr los. Mit dem Heck ragte er noch in die Höhe. Dann war es, als würde der Sumpf noch einmal Atem holen, um sich zu einem letzten Schlingen bereit zu machen. Noch einmal vernahmen sie das Schmatzen. Eine lautstarke Warnung, die keiner der Schüler überhörte. Und einige Sekunden später gab es den Bus nicht mehr. Da starrten sie auf eine leere braungrüne Fläche, auf der die letzten Wellen ausliefen. Das Schweigen blieb, ebenso wie die Furcht auf den jungen Gesichtern. Johnny Conolly bewegte sich. Er trat neben seinen Lehrer, ohne ihn anzusprechen. Die Stirn des Jungen war gewölbt, ein Zeichen bei ihm, daß er scharf nachdachte. Was hier geschehen war, konnte mit den normalen Gesetzen der Physik wohl nicht erklärt werden. Auf diesem Gelände, über das man sich Legenden erzählte, mußte eine Kraft herrschen, die von Menschen nicht unter Kontrolle gebracht werden konnte. Es war schlimm, dieser Bus war von allein losgefahren, ohne daß der Weg abschüssig gewesen wäre. Allein diese Tatsache bewies, daß etwas nicht stimmte. Auch Johnny war durcheinander. Er hätte am liebsten seinen Vater und seinen Onkel bei sich gehabt, die jedoch lebten in London, viele Meilen entfernt und waren auch telefonisch nur erreichbar, wenn Johnny in das nächste Dorf ging. Das wieder würde eine lange Wanderschaft bedeuten. Vielleicht hätte Malcolm mehr gewußt. Der würde sich wundern, wenn er zurückkehrte und den Bus nicht mehr vorfand. Vielleicht hätte Malcolm auch mehr sagen oder erklären können, denn er hatte die Geschichte von den Dämonen erzählt. Was lauerte hier? Auch über Johnnys Arme strich eine Gänsehaut, als er in den sonnigen Dunst über dem See schaute. Die Stille gefiel ihm nicht. Der Wald wirkte unheimlich. Das Tal des Unheils hatte man dieses Gebiet genannt. Sehr zu Recht, wie sie nun selbst erlebt hatten. »Wie kommen wir denn jetzt nach Hause?« fragte ein Mädchen, das ziemlich weit vorn stand. »Wir werden wohl zu Fuß gehen müssen«, erwiderte Dick Chilmark. »Eine andere Chance haben wir nicht.« Die Gesichter der Schüler drehten sich ihrem Lehrer zu, der einen ratund hilflosen Eindruck machte und sich überhaupt nicht in seiner Rolle wohl fühlte. »Wohin denn gehen?« »Zumindest, bis wir den nächsten Ort erreichen. Dort können wir dann einen Ersatzbus chartern, denke ich. Allerdings müßten wir abwarten, bis Malcolm zurückkehrt.«
»Wie lange kann das dauern?« »Keine Ahnung.« Chilmark war ehrlich. »Ich weiß nichts. Ich kenne mich hier nicht aus. Malcolm wollte nur Holz für ein Lagerfeuer suchen. Lange kann er nicht wegbleiben.« »Vielleicht hat er gesehen, wie sein Bus versunken ist«, meldete sich die blonde Gaby aus dem Hintergrund. »Wenn er am Sumpf geblieben ist, bestimmt.« Dick Chilmark nickte. »Ja, das ist durchaus möglich. Warten wir mal ab. Jedenfalls kennt er sich in dieser Gegend aus, denn er ist nicht weit von hier entfernt aufgewachsen. So, Freunde, jetzt wollen wir nicht mehr über unser Pech nachdenken und das hier als ein Abenteuer der besonderen Art ansehen. Einverstanden?« So recht wollte kein Funke überspringen. Die Zustimmung oder Begeisterung hielt sich doch sehr in Grenzen, was der Lehrer durchaus verstehen konnte. Als er sich umdrehte, schaute er in das Gesicht des Johnny Conolly. Ihm fiel der nachdenkliche Ausdruck des Jungen auf. »Ist was, Johnny?« »Nein, was sollte sein?« »Komm mal mit.« Sie gingen einige Schritte zur Seite, bis sie außer Hörweite waren. »Du machst dir deine eigenen Gedanken über den Fall, wie mir scheint.« »Wie kommen Sie darauf?« Chilmark strich durch seinen Bart. »Ich will nicht gerade sagen, daß ich dich gut kenne, Johnny, aber ich habe einiges von dir gehört. Das heißt, ich sprach hin und wieder mit deinen Eltern über gewisse Vorfälle, die bei euch geschehen sind. So ganz wollte keiner mit der Sprache heraus. Dein Vater und deine Mutter ergingen sich stets in Andeutungen, so mußte ich mir mein eigenes Bild machen. Kann es sein, daß eure Familie ein Geheimnis umgibt?« Da wollte Johnny nicht zustimmen. »Nein, doch kein Geheimnis! Wir sind eine völlig normale Familie, Mr. Chilmark. Das müssen Sie mir glauben.« Er nickte. »In gewisser Hinsicht seid ihr schon eine normale Familie. Nur habe ich den Eindruck, daß du über gewisse Dinge mehr weißt als alle anderen von uns, mich eingeschlossen.« »Was soll ich sagen?« Dick Chilmark legte eine Hand auf die Schulter seines Schülers. »Johnny, hör mir zu. Kann das, was hier geschehen ist, einen anderen Grund gehabt haben als nur ein Versagen der Technik?« Johnny schaute zu Boden. Natürlich wußte er, worauf der Lehrer hinauswollte. Er hütete sich, eine konkrete Antwort zu geben. Es wurde sowieso schon zuviel geredet, und er wollte auf keinen Fall derjenige sein, der irgendwelchen Gerüchten neue Nahrung gab. »Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen, Mr. Chilmark?«
»Technik schließe ich so gut wie aus. Kann es eine andere Kraft gewesen sein? Eine Kraft, die wir nicht begreifen können? Die mehr ist als alles, was wir kennen?« »Das ist schwer.« »Johnny, bitte.« »Es tut mir leid, ich weiß es auch nicht.« Er blickte seinem Lehrer ins Gesicht. »Wir sollten warten, bis Malcolm zurückkehrt. Wenn der die Gegend kennt, dann weiß er auch, was hier läuft. Davon bin ich überzeugt, der kennt sich aus.« »Ja, ja«, stöhnte Chilmark die Antwort. »Irgendwo hast du schon recht, mein Junge.« Er nickte sich selbst zu. »Warten wir also, bis Malcolm zurückkehrt. Hoffentlich bald.« Johnny nickte. »Lange kann es nicht dauern.« Dick Chilmark warf ihm noch einen seltsamen Blick zu, bevor er zu den anderen Schülern trat. Johnny schaute über den Sumpf. Er lag in einer fast bleiern wirkenden Stille. Auch der Wind war eingeschlafen. Wenn er mal als sanfte Brise über den Sumpf strich, bewegte er die Oberfläche kaum. Johnny kam es vor, als würde das Tal unter einer Kontrolle stehen. Eine Brut, eine fremde Macht, uraltes Grauen lauerte in der Tiefe und hatte sich gezeigt. Ein Anfang war gemacht worden - schlimm genug, wie Johnny fand. Er fragte sich noch, wie es weitergehen und das Ende aussehen würde... *** Auch Malcolm fühlte sich nicht wohl! Das hatte zwei Gründe. Zum einen lag es an seinem schlechten Gewissen. Er hatte dem Lehrer nämlich nicht die ganze Wahrheit gesagt. Die Gegend hier kannte er recht gut, denn man sprach über sie. Im Tal des Unheils war schon öfter etwas passiert. Es gab Menschen, die waren hineingewandert, doch nie zurückgekehrt. Sie gehörten zu den spurlos Verschwundenen. Man nahm an, daß sie zu forsch gewesen waren und die Gefahr mißachtet hätten, denn der Sumpf kannte kein Pardon bei einem Fehltritt. Das war die offizielle Lesart. Malcolm glaubte, es besser zu wissen. Er hatte stets zugehört, wenn über die alten Legenden geredet wurde, über ein Leben, das es nicht geben konnte, das längst gestorben sein mußte und trotzdem vorhanden war. Die Menschen hatten es als Brut bezeichnet, eine tödliche Brut, die sich zumeist versteckt hielt. Wenn sie sich aber zeigte, schlug sie grausam zu.
In der Nähe des Sumpfes blieb Malcolm stehen und drehte sich um. Von den Schülern sah er nichts mehr. Sie hielten sich im nahen Wald auf, wo die Blockhütten Schutz boten. Vor der Brut bestimmt nicht... »Verdammt!« flüsterte Malcolm und schlug ein Insekt zu Brei, das sich auf seinem Gesicht niedergelassen hatte. »Mach dich nicht selbst verrückt! Bisher ist alles nur Legende, da stimmt so gut wie nichts. Sei nicht blöd, zum Henker!« Es hatte keinen Sinn. Die aufmunternden Worte halfen ihm nichts. Immer wieder schaute er in den verschwommenen Sonnenball hinein, der hinter dem Dunst stand. Wenn die Strahlen trafen, dann stachen sie heiß in Gesicht und Nacken. Obwohl die Umgebung des Sumpfs als feucht bezeichnet werden mußte, wußte Malcolm, wo er trok-kenes Holz finden konnte. Dazu mußte er in das dichte Unterholz, wo die kleinen Bäume von Unwettern geknickt worden waren. Ohne Motorsäge war das Holzgewirr kaum zu durchdringen. Einen letzten Blick warf er über diese gefährliche Fläche, die so unbeweglich und fast harmlos vor ihm lag. Nicht grundlos spürte er die Gänsehaut. Malcolm wußte genau, daß sich unter der Oberfläche etwas verbarg. Das schienen ihm zahlreiche Stimmen zuzuflüstern, die ihm auch rieten, das Gebiet zu verlassen. Er schwitzte stärker als gewöhnlich. Mit einer entschlossenen Bewegung nahm er die Mütze ab und wischte sich über das schweißfeuchte Haar. Das Summen der Insekten störte ihn ebenso wie die trügerische Ruhe. Er hatte den Schülern Holz für ein Lagerfeuer versprochen und wollte das Versprechen auch einhalten. Malcolm wandte sich vom Sumpf ab und lief auf den Waldrand zu, wo das Unterholz bereits eine Barriere bildete. Die jungen, gefällten Bäume hatten sich mit ihren dünnen Ästen und Zweigen ineinanderverhakt. Dichter konnte auch eine gepflanzte Hecke nicht wachsen. Unter seinen Schuhsohlen knirschte es, wenn er ging. Das Holz war trocken und hielt keinen Druck mehr aus. Im Unterholz blieb er stehen und suchte sich die besten Äste aus. Blätter wischten durch sein schweißfeuchtes Gesicht und blieben kleben. Spinnweben zitterten an seiner Haut entlang. Mücken und Fliegen umsummten ihn mit dumpf klingender Musik. Mit beiden Händen packte er zu und brach einen ihm besonders günstig erscheinenden Ast ab. Das trockene Holz platzte weg. Er brach den Ast noch einmal über dem Knie entzwei. So machte er weiter. Was sich Malcolm vorgenommen hatte, führte er auch durch. Er brach in das Unterholz ein, schreckte Tiere auf, die dann davonstoben. Ein Eichhörnchen kletterte wieselflink einen Stamm hoch und verbarg sich in der Baumkrone.
Malcolm grinste. »Keine Sorge, euch tue ich nichts. Ahhh, komm schon.« Kräftig zog er an einem alten Ast und war erst zufrieden, als er das Brechen hörte. Das Geräusch blieb. Zuerst achtete er nicht weiter darauf, hielt es für eine Täuschung. Bis er feststellen mußte, daß noch immer Holz brach, obwohl er selbst eine Pause eingelegt hatte. Malcolm spürte, wie etwas kalt seinen Rücken hinablief. Er wollte nicht unbedingt an eine Gefahr denken, schloß sie auch nicht aus. Da war etwas Gefährliches in seiner Nähe. Er drehte sich um .. . Zu sehen war nichts. Zwar konnte er durch die Lük-ken schauen, entdeckte auch einen hellgrünen Sonnenfleck, doch keinen Verfolger. War ihm einer der Schüler nachgegangen, um ihm bei seiner Arbeit zu helfen? Das konnte sein, brauchte aber nicht. Ahnungen überfielen ihn. Er dachte an die Legende, die man sich über dieses Gebiet erzählte. Uralte Dämonen sollten im Tal lauern, finstere Gestalten, stets bereit für eine Rückkehr. Ob sie gekommen waren? Wieder vernahm er das Knacken und Brechen. Diesmal sehr nahe, leider hinter ihm. Auf dem schmalen Fleck drehte er sich um — und stand unbeweglich. Durch den Wirrwarr der Zweige entdeckte er den Umriß einer fürchterlichen Gestalt. Mensch oder Monster? Er konnte es selbst nicht sagen, jedenfalls sah die Gestalt menschlich aus, die sich den Weg bahnte und mörderische Hiebe verteilte. Sie drosch mit den Handkanten zu, als wären diese schwere Messer oder Macheten. Für sie bildete das hohe Unterholz kein Hindernis. Gesehen hatte Malcolm die Gestalt zuvor nicht. Sie besaß etwa seine Größe, allerdings eine andere Haut, die blaßgrün schimmerte und sich der Farbe des Sumpfes anpaßte. Die Kleidung umwehte stinkend den Körper, das Haar sah aus wie bleiche Wolle, und die beiden Pranken verschafften sich freie Bahn. Der wollte zu ihm! Neben Malcolm lag das gesammelte Holz. Einen handlichen Ast hielt er noch in der rechten Hand. Der würde nicht nur gut brennen, er eignete sich auch als Schlagwaffe. Malcolm holte aus. Er atmete dabei zischend ein. Seine Augen leuchteten in einem wilden Glanz. Diesem Hundesohn würde er es zeigen. Obwohl ihm der unheimliche Fremde noch nicht attackiert hatte, rechnete Malcolm damit, daß dieser ihm ans Leben wollte, und deshalb drosch er zu. Viel Platz hatte er nicht gehabt und aus dem Handgelenk schlagen müssen.
Wie gemalt waren das Gesicht des Fremden und ein Teil der Schulter vor ihm erschienen. Ein gut zu treffender Ausschnitt zwischen zwei Ästen. Malcolm hörte das klatschende Geräusch und wollte innerlich aufjubeln, doch zur Freude bestand kein Anlaß. Die Gestalt hatte den Treffer weggesteckt, der sie eigentlich zurück in das Unterholz hätte schleudern müssen. Der Kerl blieb stehen. Er schwankte kaum, stand da, als wäre überhaupt nichts gewesen. Nur auf seinem Gesicht malte sich ein schräger Streifen ab, der Beweis, daß Malcolm ihn erwischt und sich nichts eingebildet hatte. »Verdammt!« keuchte er, »das darf doch nicht wahr sein. Du mußt kippen, Hundesohn.« Die Gestalt tat ihm den Gefallen nicht. Sie stand da, starrte ihn an und hatte eine Hand auf einen quer laufenden Ast gelegt, als wollte sie sich dort wie an einer Reckstange halten. »Okay, dann eben nicht beim erstenmal!« keuchte Malcolm. »Einen zweiten Treffer wirst du nicht verkraften, das schwöre ich dir.« Wieder holte er aus. Dabei ging er einen kleinen Schritt nach vorn, um mehr Platz zu haben. Er schwang den rechten Arm zurück — und verlor den Ast. Die Klaue war stark wie eine Klammer. Sie brauchte nur einen Ruck, um Malcolm den Ast zu entreißen. Dabei taumelte der Fahrer nach hinten, war aber geistesgegenwärtig genug, um sich zu drehen. Der zweite sah fast so aus wie der erste. Wenigstens von der Gesichtsfarbe her. Ansonsten besaß er einen wuchtigen Stiernacken und einen massigen Schädel, den er vorgestreckt hielt. In seinen Augen war überhaupt kein Ausdruck vorhanden. Man konnte den Blick als leicht schwachsinnig bezeichnen. Dann schlug er. Malcolm brüllte auf, als er den Kopf zur Seite drehte. So wurde er nur auf der linken Schulter getroffen. Der Hieb schmerzte trotzdem, denn es lief durch seinen Arm wie Feuer und erreichte sogar das Handgelenk. Der Tritt in den Rücken wuchtete ihn nach vorn. Er riß noch die Arme hoch, verfluchte seinen Leichtsinn, dann fegte bereits ein schattenhafter Gegenstand durch die Lücke zwischen seinen Armen. Etwas zerplatzte an seiner Stirn. Malcolm hatte das Gefühl, von einer Eisenkugel erwischt zu werden. Nichts ging mehr, alles war plötzlich anders geworden. Er sah weder den Himmel, das Unterholz, noch die Gestalt. Nur den verfluchten Kreisel, der auch ihn faßte und ihn in die Dunkelheit hineinzog.
In seinem Kopf fanden zahlreiche kleine Schmerzexplosionen statt. Daß er durch die Kraft des Unterholzes abgefangen wurde, bekam er nicht mit. Für ihn war die Welt untergegangen. Die beiden Gestalten aber arbeiteten sehr geschickt. Sie räumten den Weg frei und hoben den Bewußtlosen an. Dann marschierten sie mit ihm los. Irgendwann, das Zeitgefühl hatte Malcolm längst verloren, kam er wieder zu sich. Zunächst konnte er sich an nichts erinnern, er hatte nur den Eindruck, sich auf einem Boot zu befinden, das hin- und herschaukelte. Bei jeder Bewegung zuckte es wieder durch seinen Schädel, die Schmerzen empfand er als wütende Bisse. Weshalb lag er auf einem Boot. Hatte man ihn auf den Sumpftümpel hinausgefahren? Bis er die volle Wahrheit erkannte, verging wiederum Zeit. Die Wahrheit wollte er immer noch nicht wahrhaben. Er hing über der Schulter einer dieser beiden Gestalten, die ihn überwältigt hatten, nahm den Geruch nach altem Wasser und Moder wahr und schlug fast bei jedem Schritt mit dem Gesicht gegen den Rücken. Die zweite Gestalt schritt hinter ihm her. Manchmal sah er die feuchten, mit Algenschleim bedeckten Hosenbeine und auch die zerfetzten Schuhe, die zwei Füße umspannten. Was die beiden mit ihm vorhatten, darüber konnte er nicht einmal spekulieren. Wie er die Sache sah, lief es auf eine Entführung hinaus. Nur — was hatten sie davon? Man schleppte ihn weiter. Trotz der schaukelnden Bewegungen versuchte Malcolm, den Kopf zu drehen. Nur so konnte er erfahren, wo sie ihn hinbrachten. Erblickte nach rechts. Sein Sichtfeld war relativ frei. Sie schritten nicht durch den dichten Wald, mehr an dessen Rand entlang, der parallel zum Sumpftümpel verlief. Der Fahrer sah das grünbraune Wasser und auch den Schilfgürtel, der das Ufer kennzeichnete. Eigentlich hatten sie den tückischen Sumpf schon hinter sich gelassen. Malcolm wußte, daß es in dieser Gegend kaum etwas anderes als Buschwerk, Wald und Unterholz gab. Was hätte er hier sollen? Ein Grab finden! Trotz der Schmerzen kam ihm der Gedanke klar und scharf. Wenn sie ihn in dieser gottverlassenen Gegend verscharrten, würde kein Hahn nach ihm krähen. Da konnten Trupps suchen, bis sie schwarz wurden. Wahrscheinlich würde man sowieso annehmen, daß ihn der Sumpf verschluckt hatte. Und wer waren die beiden Gestalten, die sich bewegten wie Menschen, wobei er allerdings nicht glaubte, daß es sich um Menschen handelte, denn er hörte kein Atmen.
Malcolm sah sich nicht gerade als Leichtgewicht an. Wer eine Person wie ihn über der Schulter trug, der mußte einfach schneller atmen oder anfangen zu keuchen. Er hörte nichts, und Menschen, die nicht atmeten, gab es nicht. Es sei denn, bei ihnen handelte es sich um Zombies. Als ihm dieser Name einfiel, schrillte im Kopf die Alarmglocke. Zombies, Untote, vielleicht Dämonen. Möglicherweise waren die, die sich so lange versteckt gehalten hatten, wieder erschienen, um sich auf furchtbare Art und Weise zu rächen. Komisch, in diesen Augenblicken dachte er nicht so sehr an sich als an die Schüler. Wenn seine Befürchtungen eintrafen, befanden sie sich in einer wahnsinnigen Gefahr. Vergessen waren auch die Schmerzen. Er mußte etwas tun, raus aus dieser Klammer. Leichter gedacht als getan. Der Arm des Unholds hielt ihn eisenhart fest. Wenn Malcolm die Augen weit öffnete, konnte er den Boden kaum erkennen, da Einzelheiten seinen Blicken entrissen wurden. Er schlug. Es war schon lächerlich, wie er versuchte, in Wadenhöhe zwischen die Beine der Gestalt zu greifen, um diese zum Stolpern zu bringen. Ein vergebliches Unterfangen, der Zombie schleppte ihn weiter, auch ohne nur einmal anzuhalten. Noch immer stand die Sonne am Himmel. Dabei hieß es doch, daß Zombies Geschöpfe der Nacht wären. Diese hier konnten sich auch tagsüber bewegen. Sie gingen weiter mit ihrer Beute in ein Gebiet hinein, das sich im Vergleich zur Umgebung des Sumpfes verändert hatte, denn aus dem Boden stiegen die Schwaden hervor. Zunächst glaubte der Fahrer an einen normalen Nebel, bis er erkannte, daß dünne Bodenspalten diesen nebelartigen Dampf entließen, der immer mehr Nachschub bekam und sich ausbreitete, so daß er schon bald einen wolkenartigen Teppich gebildet hatte. Natürlich kamen in den Sagen und Legenden auch andere, fremde Welten vor. Malcolm hatte oft genug von ihnen gehört, auch darüber gelesen, jedoch nie so recht daran glauben können — bis zu dieser Minute. Da kam er sich vor wie auf einem fremden Planeten. Zu dritt erreichten sie das Zentrum des Nebels, und plötzlich blieb die Gestalt stehen. Malcolm schaukelte noch zwei- dreimal nach, dann kam er zur Ruhe und spürte wieder die Schmerzen in seinem Schädel. Sie explodierten wieder, als der Zom-bie ihn von der Schulter rutschen ließ, so daß er zu Boden knallte. Er war zuerst mit dem Kopf aufgeschlagen, danach mit der Schulter. Dann blieb er auf der Seite liegen, umwabert von Dunstschleiern, die aus dem Boden krochen.
Die beiden unheimlichen Gestalten traten zur Seite und kümmerten sich vorerst nicht um ihr Opfer. Nach einer Weile, die Schmerzen im Kopf waren etwas abgeflacht, fand der Fahrer den Mut, seinen Kopf zu drehen. Er schaute nicht zurück, sein Blick schwamm in die entgegengesetzte Richtung. Trotz des Nebels konnte er etwas erkennen. Innerhalb der Schwaden stieg etwas Breites, Großes, Dunkles hervor, das er zunächst nicht identifizieren konnte. Allmählich setzte sich in seinem Kopf etwas fest und durchdrang sogar die Schmerzen. Das war eine Wand, eine Mauer. Vielleicht aus Stein oder Holz errichtet, eine Abtrennung. Wie kam sie hierher? Er konnte sich nicht daran erinnern, sie bei seinen früheren Besuchen schon einmal gesehen zu haben. Die hatte jemand neu errichtet, um etwas abzutrennen. Zwei Gebiete — vielleicht? Seine Gedanken erfuhren eine schmerzhafte Unterbrechung, als der Stiernackige sich bückte und ihn in die Höhe zerrte. Dabei waren sich ihre Gesichter nahe, sehr nahe. Hätte er gekonnt, er wäre zurückgezuckt. So aber starrte er nur in das widerliche Gesicht mit der fahlen Haut und den leblosen Augen, die ihm Angst machen konnten. Auf seinem Rücken zog sich die Haut zusammen. Ruckartig stellte ihn der Stiernackige auf die Füße. Der Schwindel hätte ihn von den Beinen gerissen, doch eiserne Fingerhielten ihn fest. Man drehte ihn herum. Unter den Griffen war er willenlos wie eine Puppe. Der Stoß schleuderte ihn gegen die Mauer. Ja, sie war aus Stein. Seine Hände rutschten daran ab. Sie fühlte sich feucht an, hart und dennoch weich, als wäre sie von einem unheimlichen Leben erfüllt. Welch eine Scheißwelt, dachte er. Welch ein Irrsinn, den niemand begreifen kann. Er merkte kaum noch, daß seine Gedanken in Sphären abglitten, wo es die Realität nicht mehr gab. Dafür spürte er den Stoß. Ein unbarmherziger Aufprall, der entsetzliche Schmerzen auslöste. Die Mauer wurde inzwischen höher, schien in den Himmel reichen zu wollen. Erlag darauf und »wuchs« mit. Dann fiel er, immer tiefer, er schrie und brüllte, als er schon längst hinter der Mauer aufgeschlagen war. Ja, hinter ihr, wo sie lauerte, die verfluchte Brut... ***
Die meisten Schüler waren beschäftigt. Auch Johnny hätte seinen Rucksack leerräumen müssen, er tat es nicht. Statt dessen hatte er sich abseits hingestellt und beobachtete das Treiben seiner Klassenkameraden. Von ihrer guten Laune und der Freude war nichts mehr zu hören. Was sie taten, das machten sie schweigend und sprachen untereinander nur das Notwendigste. Johnny beobachtete des öfteren den Lehrer. Dick Chilmark sorgte sich, weshalb hätte er sonst immer in kürzeren Intervallen auf die Uhr schauen sollen? Zu fragen brauchte der Junge nicht. Er wußte auch so, worum sich die Gedanken des Mannes drehten. Um Malcolm, den Fahrer. Er hätte längst wieder zurücksein müssen. Johnny stand neben einem Baumstamm, der ihm Schatten gab. Um von Mr. Chilmark gesehen zu werden, mußte dieser sich erst drehen, das wiederum tat er nicht. Er war auch nicht bei der Sache, ließ die Schüler werkeln, sah immer öfter auf die Uhr und ließ seine Blicke ebenfalls in Richtung Sumpf schweifen, denn in diese Richtung war der Fahrer verschwunden. Von dort mußte er auch wieder herkommen. Johnny war trotzdem von einer Person entdeckt worden. Linda schlich an ihn heran, so leise, daß Johnny sich erschreckte, als sie ihm flüsternd ansprach. Er drehte den Kopf. Das Gesicht des Mädchens zeigte einen besorgten Ausdruck. Hatte Linda geweint? »Was ist denn?« Sie schluckte. »Weißt du, Johnny, ich habe Angst. Fhrlich, und das geht nicht nur mir so, auch den anderen, mit denen ich gesprochen habe.« »Vor wem haben sie denn Angst?« »Kannst du dir das nicht denken?« Sie sah bang an ihm hoch. »Sie haben hier vor allem Angst. Vor der Erde, dem Sumpf, dem Tümpel, dem Dunst, selbst vor der Sonne. Es ist furchtbar, Johnny, aber die reine Wahrheit.« »Das glaube ich dir sogar.« »Dann spürst du es auch ...« Sie suchte nach den passenden Worten, fand jedoch keinen guten Vergleich. »Das .. . das andere, das hier lauert.« Johnny wischte sich über seine Stirn. Es war sehr schwül geworden. Die Luft drückte und schien auf seiner Haut zu kleben. Wenn er die Hand bewegte, kam es ihm vor, als würde er durch eine dünne Bleischicht fassen. Linda hatte ihn schon eine Weile beobachtet. Es war ihr aufgefallen, wie oft er zu Mr. Chilmark hinschaute. »Chilmark sagt nichts, aber er macht sich seine Gedanken. Er hat Angst, Johnny, das spüre ich.« »Malcolm ist noch nicht zurück.«
»Genau. Willst du ihn suchen?« Johnny gab keine Antwort. Er fühlte sich ertappt, denn mit diesem Gedanken hatte er bereits gespielt. »Du willst es, nicht?« Der Junge schaute auf den Boden. »Okay, ich habe mit dem Gedanken gespielt, das gebe ich zu.« »Ja und?« »Wie und?« »Weshalb gehst du nicht? Es fällt nicht auf, wenn jemand verschwindet. Ich bleibe bei dir.« »Du?« Johnny tippte gegen seine Stirn. »Irre, wie?« »Nein, überhaupt nicht. Ich bin nicht irre, ich will nur mithelfen und ihn finden, das ist alles.« »Linda, das kann gefährlich werden. Stell dir vor, mit Malcolm ist etwas geschehen!« »Dann können wir die anderen warnen. Oder glaubst du, daß Chilmark mit uns gehen wird?« »Das nicht.« »Na bitte. Wenn wir uns jetzt verziehen, können wir in einer Stunde wieder zurücksein.« »Wir sollten ihm trotzdem etwas sagen.« Linda verzog die Lippen. »Ob er uns dann gehen lassen wird, ist fraglich, Johnny.« Der Junge hatte längst ein schlechtes Gewissen bekommen. Er wollte nicht so einfach verschwinden. Es wäre unfair gewesen, doch Chilmark machte es ihm leicht, als er zu den anderen Schülern ging und mit ihnen redete. Seine Stimme reichte aus, um von Johnny und Linda verstanden zu werden. Zwei Stunden wollte er ihnen geben. Wenn Malcolm bis dann nicht zurückgekehrt war, sollte eine Suchaktion beginnen. Linda stieß ihren Klassenkameraden an. »Mann, das ist doch die Chance, die wir haben. Nichts wie weg.« Johnny zögerte noch. Seine Klassenkameradin war da entschlossener. Sie zerrte an Johnnys Ärmel. Verflixt noch mal, komm endlich! Sonst überlegt es sich Chil-mark noch anders. Zu zweit wird uns kaum etwas passieren. Du gibst auf mich acht, und ich auf dich. Dann läuft alles wie geschmiert.« »Was treibt dich denn weg?« »Weiß ich auch nicht. Das ist ein Drang. Die Geschichte hat mich angemacht.« »Die mit den Dämonen?« »Genau.« Sie tippte Johnny die Zeigefingerspitze auf die Nase. »Und wenn du dir weiterhin in die Hosen machst, gehe ich allein. Ich habe immer gedacht, du wärst etwas Besonderes, war wohl nicht, wenn ich dich so ansehe.« »Ja, man kann sich irren.« »Kommst du nun oder kommst du nicht?«
»Ich komme.« Linda war schon vorgelaufen. Sie trug Schuhe mit einer weichen Sohle, so daß ihre Schritte kaum zu hören waren. Zudem sorgte der ebenfalls weiche Boden für eine weitere Dämpfung. Johnny schaute zurück. Er bekam noch mit, wie vier Schüler dabei waren, Proviant auszupacken. Der Lehrer half ihnen dabei. Bestimmt wollte er sich ablenken. Linda und Johnny mußten zwar auf den Sumpf zulaufen, das wollten sie aber nicht auf direktem Wege. Sie hätten ein zu großes Stück an freier Fläche überqueren müssen, deshalb blieben sie noch im Schutz der Bäume. Aus der Sichtweite der anderen, blieb Linda stehen. Sie war hastig gelaufen, das Gesicht glänzte ebenso wie die Augen. »Da sind wir gut weggekommen. Ich finde es total gut, daß du mitkommst, Johnny, echt stark.« »Ja, schon gut.« Er hielt Linda an der Schulter fest. »Eines will ich dir sagen. Wenn irgend etwas passieren sollte, spiel nicht den Helden!« Das Mädchen lächelte. Ihr Augenausdruck bekam etwas Lauerndes. »Was sollte denn passieren?« »Ich meine ja nur.« »Okay, das packen wir. Uns wird es nicht so ergehen wie dem komischen Bus. Wobei ich gern wüßte, wie das geschehen konnte. Mann, das ist vielleicht ein Ding.« Johnny gab keine Antwort. Er behielt seine Erklärung für sich, denn sie hatte etwas mit Schwarzer Magie zu tun. »Gehen wir weiter?« fragte sie. »Ist okay.« Linda zögerte trotzdem. Sie legte eine Fingerspitze gegen die Unterlippe, zog sie nach unten und ließ sie langsam los. »Malcolm ist auf den Sumpf zugegangen«, meinte sie nachdenklich. »Klar, aber nicht hinein.« »Weiß ich selbst, du Hirnie.« »Komm schon.« Diesmal machte Johnny den Anfang. Er wollte nicht auf der Stelle festwachsen. Er schaute sich auch nicht um, ob Linda ihm folgte. Sie mußte sich schließlich beeilen, um ihn erreichen zu können. Der Sumpf lag als eine ruhige, glatte Fläche vor ihnen. Obwohl ein leichter Wind wehte, erzeugte er keine Wellen. Mit den Gräsern spielte er zitternd. Vom Bus sahen sie nichts mehr. Weder ein Stück des Dachs noch ein abgerissenes Teil schimmerten an der Oberfläche. Die fahlen Dunststreifen über der Oberfläche glitzerten im Sonnenlicht wie dünnes Glas, in das Insektenschwärme zitternd und summend hineintanzten. »Ich habe mal gehört«, flüsterte Linda, »daß ein Sumpf schmatzt.« »Was meinst du denn damit?« Sie lehnte sich gegen Johnny und strich das dunkle Haar zurück. »Auch hier schmatzt er. Hörst du nicht die leisen Geräusche? Dieses komische Blubbern . . .«
»Das sind aufsteigende Gase; an der Oberfläche zerplatzen die Blasen. Mehr ist das nicht.« »Ich meinte ja nur.« Johnny Conolly war weitergegangen. Gras dämpfte ihre Schritte. Vor den Blicken der anderen schützte sie der Wald. Sie gingen langsam weiter. Schon bald änderte sich die Festigkeit des Untergrunds. An vielen Stellen wurde er weich. Sie erkannten auch schimmernde Flecken. Dort hatte sich Wasser gesammelt und war als Pfützen geblieben. Wenn sie auftraten, verursachten sie selbst schmatzende Geräusche. Beide trugen Turnschuhe, deren Stoff sehr bald feucht war. Es fiel dem Mädchen auf, daß Johnny des öfteren zu Boden schaute und seine Blicke auch kreisen ließ. »Hast du was?« erkundigte sie sich. »Kaum, aber ich suche nach Spuren. Hier muß Malcolm hergegangen sein, da bin ich mir sicher.« Linda blickte nach links, wo der Sumpf lag. »Er hat nie davon gesprochen, daß es einen Weg in den Sumpf gibt.« »Wenn es den gibt.« »Aber es gibt immer Wege durch ein Moor . . .« »Nicht unbedingt.« Johnny war stehengeblieben, weil er sich auf das Quaken der Frösche konzentrieren wollte. Deren »Gesang« hallte auch über die Grenzen des Sumpfs hinweg. Die Luft kam ihnen dick vor. Bei jedem Atemzug hatten sie das Gefühl, den Sauerstoff zu trinken. Linda stöhnte. »Schwitzt du auch so? Die Klamotten kleben mir am Körper.« »Klar, bei der Feuchtigkeit.« Sie knuffte Johnny. »Manchmal sprichst du wie ein Erwachsener.« Er hob die Schultern. »Ich habe mich mit meinem Dad oft über gewisse Dinge unterhalten. Der hat mir viel erklärt.« Sie nickte. »Dein Dad kommt viel herum.« »Kann man sagen.« »Ist er nicht Reporter?« »Genau.« »Meiner arbeitet als Ingenieur. Das ist vielleicht ein langweiliger Job, kann ich dir sagen.« »Weiß ich nicht.« Johnny war weitergegangen. Er wollte es hinter sich bringen. Sein Gefühl sagte ihm, daß er sich beeilen mußte. Der Raum zwischen dem Sumpf und dem Wald verengte sich. Die Bäume wuchsen näher an die gefährliche Fläche heran. Das Unterholz bestand aus Sträuchern, Farnen und Gras. Noch hatte sich nichts verändert. Das blieb jedoch nicht so, denn beide sahen in einer gewissen Entfernung eine dunstige Wand, als würde sich dort eine Nebelinsel befinden. Sie schimmerte in einem hellen Grau, bewegte sich
kaum und baute sich vor ihnen auf, als wollte sie sagen, bis hierher und nicht weiter. Linda faßte Johnny an, der stehengeblieben war. »Verflixt, was ist das?« »Nebel.« Sie gab ein glucksendes Lachen ab. »Und wo kommt der her? Kannst du mir das auch sagen?« »Er bildet sich, wenn Feuchtigkeit.. .« »Das weiß ich selbst. Ich frage mich nur, wieso der plötzlich hier erschienen ist.« »Die Stelle da vorn kann durchaus feuchter sein als die übrigen.« Linda gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. Nach einem Räuspern meinte sie: »Weißt du, wie er mir vorkommt, Johnny?« »Sag schon.« »Als wollte er etwas verbergen. Weißt du, der ist wie ein Tuch. Nur nicht dahinter schauen, lieber wegbleiben. Das ist eine Warnung, könnte man meinen.« »Braucht man aber nicht.« »Klar, wenn du das so siehst.« Johnny lächelte knapp. »Willst du hier stehenbleiben oder mit mir weitergehen?« »Das letztere. Ich gehe nämlich dorthin, wo auch Malcolm hingegangen ist.« »Woher willst du das wissen?« Linda deutete schräg zu Boden. »Sind das nicht Fußspuren, mein großer Sherlock Holmes?« »Stimmt.« »Von uns stammen sie nicht. Ich sage dir, Johnny«, sie sprach jetzt leiser, »dieser Nebel hat etwas zu verbergen. Da entdecken wir bestimmt ein Geheimnis.« Ihre Worte waren nicht mehr als ein Wispern, das den Nebelwolken entgegen wehte. Johnny war kein Feigling. Nur hatte er es gelernt, Gefahren genau abzuschätzen und zu vergleichen. Die Spuren wiesen in die Richtung der unnatürlichen Nebelwand. Er war mittlerweile älter geworden und hatte von seinem Vater und Patenonkel so einiges zu hören bekommen. Manches davon unfreiwillig. So wußte Johnny auch über den Todesnebel Bescheid, der den Menschen die Haut vom Fleisch löste. Sollte dieser Nebel damit identisch sein? Der Junge merkte, wie sich ein Kloß im Hals bildete, und auch Linda fiel sein Verhalten auf. »Hast du was?« fragte sie. »Nicht direkt, ich habe nur an was gedacht.« »An was denn?« Er winkte ab. »Spielt keine Rolle.« »Dir gefällt der Nebel nicht?«
»Nein, das nicht gerade. Jedenfalls werden wir ihn uns ansehen.« »Und dann?« »Gehen wir wieder zurück, sagen den anderen Bescheid, daß wir Malcolm leider nicht gefunden haben.« »Meinst du, daß sie sauer sind?« »Und wie. Ich rechne sogar damit, daß wir nur das Nötigste mitnehmen und das Tal dann verlassen. Die Polizei muß alarmiert werden. Die suchen dann die Umgebung ab, den Sumpf eingeschlossen. Den durchwühlen sie mit langen Stangen.« »Dann laß uns endlich losgehen.« Linda redete forsch, ließ Johnny jedoch den Vortritt. Der Nebel hatte die letzten Geräusche entrissen. Eine wallende, dampfende Stille empfing sie. Je näher sie an die graue Masse herantraten, um so besser gelang es ihnen auch, sie zu durchdringen, und es war Linda, die es zuerst entdeckte. »Johnny, das ist ein Ding.« »Was denn?« »Ich . . . ich weiß es nicht genau, aber ich habe das Gefühl, als wäre noch etwas im Nebel. Das ist da dunkler. Du kannst es bestimmt auch sehen, wenn du mal genauer schaust.« »Ja?« Sie schob sich vor. Feuchte Tücher umwehten das Gesicht des Mädchens und sehr bald auch das des Jungen. Die Wolken umschwebten sie, als wollten sie ihnen eine neue Kleidung verpassen. »Da ist es!« rief Linda. Sie war stehengeblieben, drehte sich um. Einen Arm streckte sie Johnny entgegen, die Hand des anderen hatte sie gegen eine Mauer gelegt. »Das ist verrückt, ist das, Johnny, aber hier ist eine . . . eine Wand oder so.« »Was?« »Komm her!« Johnny überwand seine letzte Furcht. Als er wenig später neben seiner Klassenkameradin stand, konnte er ihre Worte nur bestätigen, denn auch seine Hand berührte den Widerstand, der hart und gleichzeitig feucht war. »Tatsächlich, eine Mauer.« Linda legte den Kopf schief und schielte an ihr hoch. »Ob die wohl hoch ist?« »Mal ausprobieren.« Johnny ging in die Knie, dann stieß er sich ab, streckte die Arme aus, weil er zugreifen wollte. Er schaffte es. Die Handflächen klatschten gegen die Kante der Mauer, die gar nicht mal so hoch war. Johnny hing an ihr wie ein Türner. »Man kann sie überklettern.« »Willst du das denn?« Er ließ wieder los und kam dicht neben Linda auf. »Nein, das hatte ich nicht vor.«
Linda legte wieder ihren Zeigefinger gegen die Unterlippe und sprach weiter. »Ich frage mich nur, wer diese komische Mauer in das Gelände gebaut hat.« »Keine Ahnung.« »Ob die etwas abtrennen soll?« Sie schielte wieder in die Höhe. »Vielleicht zwei Gebiete oder so.« »Meinst du?« »Hast du eine bessere Erklärung?« Johnny überlegte. »Nein, eigentlich nicht. Ich bin dafür, daß wir zurückgehen und unseren Fund melden. Auch glaube ich, daß Malcolm die Mauer überklettert hat. Der wird bestimmt dort hinten irgend etwas suchen und umhergeistern.« »Das kann sein.« Linda schüttelte sich, als würde sie frieren. »Allmählich bekomme ich Angst. Erst der Bus, jetzt diese Mauer — Johnny hier geht was vor.« »Glaube ich auch.« Er tastete über die feuchten Steine, während sich Linda schon umgedreht hatte. So war sie es auch, die die beiden Gestalten sah. Zuerst sagte sie nichts, zwinkerte nur mit den Augen und glaubte an eine Einbildung, denn die zwei bewegten sich innerhalb der Nebelwolken wie Gespenster. Sie sahen schlimm aus, denn sie gingen nicht normal, sondern schwankend, wobei sich ihre Arme in einem gewissen Rhythmus aufund abbewegten. Noch waren ihre Tritte nicht zu hören, zwei Sekunden später vernahm sie die Geräusche, wenn die Füße dumpf auf den feuchten Untergrund klatschten. »Johnny«, sagte sie mit drängender Stimme. »Da . . . da sind welche. Dreh dich um!« »Wo?« Johnny drehte sich, sah die schattenhaften Wesen ebenfalls und erkannte, daß sie ihnen den Weg abgeschnitten hatten. Aus ihren Händen wuchsen lange Gegenstände hervor. Wahrscheinlich hatten sie sich mit Knüppeln bewaffnet. »Die meinen uns!« hauchte Linda. »Ich glaube auch.« »Und jetzt?« Eine gute Frage, nur mit der Antwort konnten sie sich keine Zeit nehmen, weil die beiden Gestalten sehr schnell herankamen und den Fluchtwinkel eng gemacht hatten. »Weg, über die Mauer!« »Du bist verrückt!« »Nein, bin ich nicht, komm!« »Wie denn?« Lindas Stimme kratzte. Sie hatte Mühe, die Angst zu unterdrücken.
Sie hätten es noch schaffen können — vor Sekunden. Plötzlich war es zu spät. Zudem verzerrte der Nebel die Entfernungen. Die beiden Wesen waren schon näher, als sie gedacht hatten. Aus den Nebelwolken drang den Schülern ein widerlicher Geruch entgegen. Johnny hielt den Atem an. Er hatte den Geruch bereits identifiziert. So stanken lebende Leichen, da besaß er leider seine Erfahrung, und er wußte auch, wer die beiden waren. Zombies, Untote aus dem Sumpf, aber das konnte er Linda nicht sagen. Die Lage spitzte sich immer weiter zu, denn die Gestalten waren fast in Griffweite heran. Und sie warfen sich vor! *** Zum Glück nicht so schnell wie ein normaler Mensch, so blieb den beiden noch ein wenig Zeit, um zu handeln. Johnny stieß Linda weg. Sie taumelte erst, dann fiel sie neben der Mauer zu Boden, worauf der Junge nicht mehr achtete, denn eine der Gestalten schlug nach ihm. Johnny drehte sich zur Seite, duckte sich, und der Knüppel verfehlte ihn. Er klatschte gegen die Wand, der Zombie fiel vor und klammerte sich daran fest. Johnny war schon gelaufen. Soeben raffte Linda sich auf und stöhnte, wobei sie sich ihr linkes Bein ziemlich weit unten hielt. »Ich glaube, es hat mich erwischt.« »Wie meinst du das?« »Ich . . . ich kann nicht mehr so laufen.« Johnny sagte nichts, doch er wußte, daß es dem Zombie entgegenkommen würde. Wenn einer von ihnen behindert war, hatten sie so gut wie keine Chance. Vielleicht wäre er weggekommen, nur konnte er Linda nicht im Stich lassen. Deshalb zerrte er sie hoch und weiter. Sie protestierte; Johnny gab keine Antwort, er wollte weg und lief mit ihr parallel zur Mauer entlang, wobei sie hinter sich die dumpf klingenden Tritte der sie verfolgenden Zombies hörten. Das konnte haarig werden, sogar ins Auge gehen, denn die Gestalten bewegten sich ebenfalls schnell. Sie holten sogar auf. Nebeneinander liefen sie her, wobei sie zwischen sich eine genügend große Distanz ließen, um eine Falle zuschnappen lassen zu können, falls es nötig war. Linda humpelte talsächlich. Ihr Gesicht zeigte einen schmerzverzerrten Ausdruck. Sie keuchte, sie holte immer wieder tief Luft, als wollte sie den
Nebel trinken. Hin und wieder fluchte sie auch über Johnny, der sie weiterzerrte. Wenn sie jetzt aufhörten, war alles aus. Manchmal schaute er zurück. Gnadenlos blieben ihnen die beiden Mordgestalten auf den Fersen. Sie würden kein Pardon kennen. Sie wollten die Menschen; sie wollten sie töten und . .. Er sah den Baum! Zuerst glaubte er an eine Täuschung inmitten der Nebelwolken, dann schaute er genauer hin und mußte einfach lächeln. Der Baum streckte ihnen sein Astwerk wie einen geflochtenen Himmel entgegen, in den sie auch hineingreifen konnten. »Auf den Baum!« »Bist du . . .?« Johnny zerrte seine Klassenkameradin vor und kümmerte sich keinen Deut um die Proteste. Unter einem starken Ast hielt er an, packte I .inda an den Hüften und stemmte sie hoch. »Los, greif den Ast!« Ihre Hände faßten zu. »Und dann?« fragte sie mehr weinend als sprechend. »Auf den Mauerrand!« Mehr sagte er nicht. Er drückte Linda noch weiter hoch, so daß sie mit dem gesunden Bein Halt finden und sich abstützen konnte. Zum Glück zog sie sich mit einem Klimmzug weiter in die Höhe, so daß Johnny sie loslassen konnte. Nun mußte ersieh um sein Leben kümmern. Die beiden Gestalten waren schon ziemlich nahe heran. Johnny sprang hoch, auch seine Hände umklammerten einen tiefwachsenden Ast, nur war dieser zu schwach. In Lindas Schrei mischte sich das Knacken. Johnny fiel nach unten, sackte zusammen, hielt aber den Ast fest und sprang sofort wieder hoch. Die nachfolgenden Sekunden kamen ihm vor wie ein Alptraum, den er rege 1 rec h t d u rc h w ü te t e. Er hielt den Ast mit beiden Händen fest und ließ den ersten Zombie kommen. Als dieser den rechten Arm hob und zuschlagen wollte, war Johnny schneller. Erfand die Lücke — und den Kopf! Der Verfolger schrie nicht, aber die Wucht trieb ihn zurück und mitder Schulter gegen seinen Artgenossen. Linda hockte bereits auf der Mauer, umwoben von feuchten Nebeltüchern. Sie sah Johnny nur schattenhaft und schrie in den Dunst hinein mit einer überkippenden Stimme. »Johnny, komm doch, komm endlich!« Der Junge drehte sich. Er lief einige Schritte weiter, denn es gab nicht nur zwei tiefwachsende Aste. Er hoffte, beim zweiten Versuch einen stärkeren zu erwischen.
Noch einmal schnellte er sich ab. Der Ast, den er sich ausgesucht hatte, wuchs etwas höher. Er schrie dabei, dann erreichten die Hände den feuchten Gegenstand und wären fast noch abgerutscht. Wieder mußte sich Johnny durch einen Schrei selbst Power geben. Er hing wie ein Turner an dem Ast, schaute nicht in die Tiefe, das tat die auf der Mauer hok-kende Linda. »Johnny, sie kommen! Mach schnell!« Der Junge wußte, daß er sich beeilen mußte. Die Gestalten brauchten nur die Arme auszustrecken, um ihn zu erwischen; eine Kleinigkeit für sie. Er schwang die Beine hoch, als er unter sich die stapfenden Tritte hörte und die Bewegung des Arms mehr .ahnte, als daß er sie sehen konnte. Der Zombie hatte ausgeholt, um ihn mit dem Knüppel zu treffen. Er schlug fast ins Leere, weil Johnny zu schnell war. Zwar streifte ihn die Schlagwaffe noch am Rücken, mehr geschah jedoch nicht. Von seinem eigenen Schwung getragen, taumelte die Gestalt nach vorn und prallte gegen die Mauer. Johnny und Linda hatten zunächst Luft bekommen. Der Junge reagierte wie im Turnunterricht. Er umklammerte mit den Kniekehlen einen weiteren Ast, gab sich Schwung, richtete sich auf, wobei seine Hände im über ihm wachsenden Blattwerk Halt fanden. Linda hockte schräg unter ihm, das Gesicht nach oben gedreht, dabei in den Nebel und gegen Johnny schauend. Er hörte sie atmen. Sie drückte ihm und sich die Daumen, daß alles klappte. Die beiden Gestalten trafen noch keine Anstalten, den Baum zu erklettern. Ausruhen konnten sich Johnny und Linda nicht. Der Junge glitt auf seine Klassenkameradin zu. »Ich habe vielleicht Angst gehabt!« flüsterte sie. »Mein Gott, ich dachte, du hättest es nicht geschafft.« »Glück gehabt!« erwiderte Johnny keuchend und bewegte sich weiter. Er wollte sich einen relativ sicheren Platz aussuchen und dann überlegen, wie es weiterging»Warte«, sagte Linda, »ich mach' dir Platz.« »Wo willst du denn hin?« »Auf den Mauerrand.« »Okay, aber sei vorsichtig.« »Immer. Wenn nur das Bein nicht wäre. Da ist was gezerrt, glaube ich.« Sie bewegte sich von Johnny weg. Von ihrem Platz aus war es nicht weit bis zur Mauerkrone. Eine Distanz von höchstens einer Armlänge. Kein Problem, den Platz zu erreichen. Es ging auch alles glatt, bis zu dem Zeitpunkt, als Linda ihren verletzten Fuß vergaß. Sie setzte ihn falsch auf. Der Schmerz mußte wie eine Stichflamme sein, denn sie schrie plötzlich auf, knickte ein und bekam das Übergewicht.
Es ging alles so schnell, daß Johnny nicht eingreifen konnte. Er schrie noch, dann sah er sie fallen — und verschwinden. Der Junge schloß für einen Moment die Augen. Seine Lippen bebten. Linda war von der Mauer gefallen, nur nicht auf ihrer Seite, sondern auf der anderen. Unter sich vernahm er das Kratzen, als die Gestalten versuchten, den Baum zu erklettern. Sie wollten keinesfalls aufgeben und sich zumindest den Jungen holen. Johnny hatte sich vorbewegt, prüfte die Festigkeit eines Asts und turnte auf die Mauerkante zu, die er sicher mit beiden Füßen erreichte, wobei er sich mit einer Hand noch im Geäst festhielt. Blätter verwehrten ihm den Blick, er schaufelte sie zur Seite und traute sich kaum, Lindas Namen zu rufen. Johnny bekam keine Antwort. Er rief noch einmal, diesmal lauter. Dann hörte er etwas. Keine Worte, keine Sätze, es war ein leises Weinen oder Schluchzen. »Bist du verletzt, Linda?« »Weiß nicht. Es ist alles so schrecklich. Johnny, ich weiß nicht, was hier ist, aber... bitte ... hol mich raus.« »Gut, Mädchen, gut.« Johnnys Herz klopfte selbst bis zum Zerspringen, aber es gab keine andere Chance, er mußte in den sauren Apfel beißen. Und er war auf sich allein gestellt. Weder von seinem Vater, von seinem Patenonkel, noch von Nadine konnte er Hilfe erwarten. Hier mußte er sich beweisen. »Ist es tief?« »Nein, ich glaube nicht.« Johnny ging einen Schritt zur Seite. Er wollte Linda nicht anspringen, wenn er sich abstieß. FTinter sich hörte er das Rascheln der Blätter, als es ein Zombie geschafft hatte, den Baum zu erklettern. Für Johnny war dieses Geräusch so etwas wie ein Startsignal. Er stieß sich ab. Sein Sprung führte ins Ungewisse und in die Gewalt der Brut hinter der Mauer... *** Bill schüttelte den Kopf, als er seinen schnellen Porsche am Rand des Tals anhielt, ausstieg und sich reckte, denn nach der langen Fahrstrecke brauchten wir Bewegung, deshalb verließ auch ich den Wagen. »Was hast du?« Bill ließ die Arme sinken. »Kannst du dir das vorstellen, John? Hinter uns liegt die Sonne und vor uns das Tal des Unheils. Verdammt, man hat recht gehabt, das ist ein Tal des Unheils. Schau hinein, der Nebel, der
Sumpf, der düstere Wald. Ehrlich gesagt, hier möchte ich nicht begraben sein.« Ich konnte ihm nur zustimmen. Das Tal lag vor uns wie eine Riesenschüssel, über die jemand Dunsttücher gespannt hatte, so daß die Sonne nicht mehr war als ein heller Kreis, der irgendwo hinter dem Dunst über dem Tal schwebte. »Wenn ich an unsere Wandertage denke, die führten uns zu anderen Zielen.« »Wohin denn?« fragte ich. »Meistens in Museen.« »Auch nicht das Wahre — oder?« »Nein, wir haben uns auch immer gelangweilt. Das werden die Schüler hier nicht, obwohl die Atmosphäre des Tals genau zu dem paßt, was ich gelesen habe. Hier kann sich das Grauen halten und konservieren. Hier hat es eine Heimat gefunden.« »Übertreib mal nicht, Bill. Noch haben wir nichts gesehen. Noch ist uns niemand begegnet.« »Stimmt schon, aber . . .« Er drehte sich wiederum, griff in den Wagen und holte die Büchsemit Wasser aus der Halterung. »Auch einen Schluck?« »Ja.« Wir leerten die Dose, ich knüllte sie zusammen und warf sie auf den Rücksitz. Im Tal selbst existierte ein schmaler Weg, den man mehr als Schneise ansehen konnte, die allerdings befahren worden war, denn die breiten Abdrücke der Busreifen waren noch nicht verschwunden. Sie hatten sich regelrecht in den weichen Boden hineingefräst. Wenn wir ans Ziel kommen wollten, brauchten wir nur den Spuren zu folgen. Es war ein heißer Tag. Im Wagen nicht so sehr, eine Klimaanlage sorgte für die entsprechende Temperatur. Auch der Verkehr hatte sich trotz des schönen Wetters in Grenzen gehalten, wir waren nur einmal in einen Stau gekommen. Bill drehte sich um. »Fahren wir?« »Meinetwegen.« Der Reporter schaute nach vorn, weil er das Camp suchte. Es war weder etwas von den Jugendlichen zu sehen noch zu hören. Der Dunst schluckte die meisten Geräusche. Mich interessierte noch der Sumpf. Aus der Entfernung gesehen hob er sich kaum von der übrigen Fläche ab. Er war nur um eine Idee dunkler, denn zwischen den zahlreichen Pflanzen und Blättern schimmerte eine braune, tückische und gefährliche Brühe. Das Feuchtgebiet war für zahlreiche Vögel ein ideales Gebiet. Die Tiere schwebten lautlos über dem Sumpfgelände. Hin und wieder stießen sie
pfeilschnell nach unten und holten sich ihre Beute. Auch unzählige Insekten sorgten dafür, daß sie genügend Nahrung bekamen. Ein kleines Paradies für die Tierwelt, das es in einer Zeit wie dieser, wo die Umwelt so schlimm zerstört wurde, nicht oft gab. Man konnte nur hoffen, daß den großen Worten der Verantwortlichen auch Taten folgten, wo jeder Mensch mitmachen mußte. »Okay«, sagte Bill, »bringen wir den letzten Rest der Strecke hinter uns.« Er grinste mir zu. »Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, wenn ich meinem Sohn die Hand drücken kann. Da ist es mir völlig egal, was die anderen dazu sagen.« »Kann ich mir vorstellen.« Im Vergleich zur vorherigen Fahrt schlichen wir nur mehr dahin. Der Porsche bewegte sich im Schrittempo durch die vom Bus hinterlassene Spur. Jedenfalls in eine konnten wir hineinfahren. Gras, Büsche, hohes Farnkraut, bunte Blumen, eine dicht bewachsene Flora begleitete uns. Über allem lag ein feuchter Geruch, verursacht durch den Dunst, der in den Porsche wehte. Es stank manchmal regelrecht faul, als würde die Natur allmählich vor sich hinmodern, um schließlich abzusterben. Bill fuhr sehr konzentriert. Der Porsche besaß eine hervorragende Straßenlage, doch auf diesem Weg schwankte er manchmal wie ein alter Kahn. Mein Freund war sehr ernst geworden. Um seinen Mund hatte sich ein nahezu verbitterter Ausdruck gelegt, der mir natürlich auffiel. »Was ist denn los, Junge?« »Ich weiß nicht, John. Mir gefällt die Gegend überhaupt nicht. Ich habe den Eindruck, in einen Tunnel fahren zu müssen, der sich immer mehr verengt.« »Sind das nicht Vorurteile?« »Nein, John, es ist mein Empfinden.« Er schaute mich kurz an. »Hast du denn nichts bemerkt?« »Was?« »Du trägst das Kreuz. Es hätte dich eigentlich warnen müssen, wenn meine Empfindungen stimmen.« Ich lächelte. »Da ich nichts spüre, müssen dich deine Empfindungen getrogen haben.« »Scheint mir auch so. Trotzdem, ein letzter Rest des Mißtrauens bleibt auch in mir.« Ich lachte leise. »Mach dir keine Sorgen, Bill. Dafür, daß du mich mitgenommen hast, brauchst du dich nicht quasi zu entschuldigen. Heute ist Samstag, ich hatte sowieso nichts Besseres vor. Du mußt dir nur eine gute Ausrede für Sheila einfallen lassen.« »Das geht schon klar, wenn ich ihr nachher alles sage. Dann wird sie sogar froh sein, daß ich mich um Johnny gekümmert habe. Daran denke
ich nicht. Ich habe noch immer den Eindruck, als würde sich über dem Tal etwas zusammenbrauen.« »Klar, der Dunst.« »John Sinclair, dir fehlt wieder das gewisse Feeling. Du solltest mit mehr Ernst bei der Sache sein.« »Das versuche ich ja.« »Dann ist es gut.« Bill Conolly gestattete sich ein leichtes Grinsen. Das Tal schluckte uns. Schon sehr bald hatten wir die normale Welt vergessen. Hier war alles anders. Es konnte am Dunst liegen, auch an der Sonne und an der dichten Vegetation, daß ich mich wie in einem großen, von der Natur erschaffenen Gefängnis fühlte. Ich saß auch nicht mehr so entspannt neben Bill, was dem Reporter auffiel. »Ist was, John?« »Nicht direkt, aber hier hätte ich meinen Wandertag auch nicht gern abgeschlossen.« - »Wie wahr.« Nicht daß uns etwas passiert wäre, es war eben das beklemmende Gefühl, das wir beide nicht loswurden. Die Frontscheibe des Wagens war zu einem regelrechten Insektenkiller geworden. Die toten Körper der Fliegen und Mücken klebten als blutverschmierte Gebilde außen auf der Scheibe und ließen sich auch nicht abwaschen. Am manchen Stellen dampfte der Boden. Da klebten die Tücher regelrecht fest. Der Weg führte nicht in einer Geraden in das Tal hinein, sondern in weiten Kurven, so daß uns ständig neue Ausblicke gewährt wurden. Das Tal des Unheils hatte einen Zeitstillstand erlebt. Ich konnte mir vorstellen, daß so ähnlich die Welt auch vor Hunderttausenden von Jahren ausgesehen hatte, als es den Mensch noch nicht gab. Wie hatte es noch in der Geschichte geheißen, auf die wir uns beide stützten? Vor sehr langer Zeit waren Dämonen oder Wesen von einem anderen Stern in dieses Tal eingefallen und hatten ihm ihren Stempel aufgedrückt. Der war heute noch zu spüren. Wir merkten auch, daß sich die Beschaffenheit des Bodens veränderte. Er war weicher geworden, die Reifen schmatzten. Da Bill langsam in die nächste Kurve fuhr, rutschten wir auch nicht weg. Dafür bekamen wir an deren Ende einen freien Blick. Wir sahen die Jugendlichen auf einer freien Fläche zwischen Sumpf und Wald. Schon der erste Blick bewies uns, daß alles normal wirkte. Ich hörte Bills Aufatmen. »Geht's dir jetzt besser?« »Ein wenig schon. Ich bin erst richtig beruhigt, wenn ich mit Johnny gesprochen habe.« »Das wirst du gleich.« Jetzt hatte man auch uns entdeckt. In die Schüler geriet Bewegung. Sie holten aus dem Wald ihren Lehrer, einen bärtigen, noch jüngeren Mann, der uns, begleitet von den Jugendlichen, entgegenschlenderte.
»Kennst du den Mann?« Bill nickte. »Das ist Dick Chilmark, einer der Pauker, die bei Jungs und Mädchen beliebt sind. Er ist locker und ziemlich cool. Der nimmt nicht alles so tragisch und läßt auch mal fünf gerade sein. Er gibt übrigens Sport und Mathe.« »Sport kann ich ja noch verstehen, aber Mathe?« Ich schüttelte mich, weil ich an meine Schulzeit dachte, in der die Mathematik nicht gerade zu meinen Stärken gehört hatte. Wir rollten langsam auf die Gruppe zu, während Bill einige Male unwirsch vor sich hinbrummte. Ich konnte mir den Grund für seinen Unmut vorstellen und fragte: »Wie ich dich kenne, vermißt du deinen Sohn.« »Richtig, John. Ich weiß nicht, wo sich der Bengel herumtreibt. Wahrscheinlich . . .« »Wart es ab, wir werden es bald erfahren.« »Dann ist mir noch etwas aufgefallen. Sind die Schüler eigentlich zu Fuß hergekommen?« »Wieso?« »Ich sehe keinen Bus.« Jetzt, wo Bill es erwähnt hatte, fiel es auch mir auf. Nicht, daß ich dieser Tatsache eine zu große Bedeutung beigemessen hätte, ungewöhnlich war es schon. »Vielleicht ist er wieder gefahren und parkt hinter dem Wald. So ein Wagen muß laufen, sonst kostet er nur Geld.« »Stimmt auch wieder.« Mein Freund grinste und strich sein braunes Haar zurück. »Manchmal bin ich eben sehr empfindlich.« Es waren seine letzten Worte vor dem Stopp. Als wir standen, waren wir im Nu von den Schülern umringt. Ich schaute beim Aussteigen in fremde Gesichter. Das meines Patenjungen Johnny entdeckte ich nicht. »Mr. Conolly!« hörte ich die erstaunte Stimme des Lehrers. »Wo kommen Sie denn her?« Bill lachte etwas unecht. »Wissen Sie, Mr. Sinclair und ich hatten in dieser Gegend zu tun. Da haben wir uns gedacht, schauen wir mal kurz hier vorbei.« »Ja, das ist nett.« Nur der Lehrer sprach, die Schüler machten einen etwas bedrückten Lindruck. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich ein gewisses Mißtrauen, sogar Angst. War doch etwas geschehen? »Sagen Sie mal, Mr. Chilmark, wo befindet sich eigentlich der Bus? Ist der wieder gefahren oder . . .« »So ähnlich.« Nach dieser etwas ungewöhnlichen Antwort des Lehrers ging auch ich vor, um in seine Nähe zu gelangen. Ich hörte dabei die Bemerkung eines Schülers. »Der ist verschwunden.« Ich blieb stehen. »Sag das noch mal.«
»Der Junge hat recht.« Chilmark winkte verlegen ab. »Der Bus ist tatsächlich weg.« »War das abgesprochen?« fragte ich. Chilmark schüttelte den Kopf. Es war plötzlich so still geworden, daß wir das Summen'der Insekten überdeutlich vernehmen konnten. Bill griff ein. »Moment mal, Sie sagen, der Bus sei wieder gefahren. Was war mit dem Fahrer abgemacht worden?« »Überhaupt nichts, Mr. Conolly. Er hat ihn auch nicht weggefahren, der rollte von selbst.« »Wie?« »Es hat keinen Sinn, Ihnen die Wahrheit zu verschweigen. Es ist uns allen unerklärlich, aber der Bus setzte sich plötzlich von selbst in Bewegung und rollte in den Sumpf. Leer wohlgemerkt, es saß kein Schüler mehr darin. Das wollte ich Ihnen sagen.« Bill wurde blaß, auch mir lag etwas im Magen. Beide schauten wir auf die ruhige, mit Dunst überzogene Fläche des Sumpfs. »Wie kann«, so fragte ich, »sich ein Bus einfach in Bewegung setzen? Da komme ich nicht mit. War das Gelände abschüssig, hatte sich die Bremse gelöst?« »Nichts von dem«, gab der Lehrer zu. »Und was ist mit dem Fahrer?« Chilmark geriet ins Schwitzen. »Der ... der ist ebenfalls verschwunden, meine Herren.« »Was?« flüsterte ich. »Er hat doch nicht im Bus gesessen.« »Nein oder ja, ich meine, er ist weggegangen, weil er Holz für das Lagerfeuer holen wollte. Bisher kam er nicht zurück. Er ist der einzige, der sich hier auskennt.« »Wann war das denn?« fragte Bill. Die Antwort erklang leise. »Vor mehr als zwei Stunden. Eher drei als zwei.« Bill schluckte. Er schaute in die Gesichter der Schüler. »Jetzt, Mr. Chilmark«, fuhr er sehr leise fort, » hätte ich noch eine Frage.« »Ich kann es mir denken.« »Ja — wo befindet sich mein Sohn?« Chilmark stand da, hob die Schultern, ließ sie wieder fallen und schwieg betroffen. »Sie wissen es nicht?« Bills Stimme klang gefährlich leise. Ich schob mich noch näher an die beiden heran, weil ich gesehen hatte, daß Bill blaß geworden war. Ein Beweis dafür, wie dicht er vor einer Explosion stand. »So ist es.« Bill schluckte, holte tief Luft. »Haben Sie eigentlich schon von dem Begriff Aufsichtspflicht gehört, Mr. Chilmark? Sie haben hier die Aufsichtspflicht über die Jugendlichen. Sie hätten nicht zulassen sollen, daß sich mein Sohn davonstiehlt.«
»Er ist auch nicht allein gegangen. Linda Ferguson ist ebenfalls nicht mehr hier. Wahrscheinlich sind die beiden zusammen verschwunden. Ich habe allen gesagt, daß wir zusammenbleiben, aber ich kann meine Augen nicht überall haben, sorry.« Bevor sich Bill weiter aufregte, griff ich ein. »Hör zu, Alter. Mr. Chilmark hat recht. Die Schüler sind keine Kinder mehr, sie sind in gewisser Weise selbst für sich verantwortlich. Er kann nicht jeden einzelnen anketten.« Ich wußte nicht, ob Bill meine Worte überhaupt verstanden hatte. Er stand da, starrte ins Leere und flüsterte: »Ich habe es mir gedacht, verdammt, ich habe es im Gefühl gehabt. Das konnte nicht gutgehen, konnte dtis. Ich wußte es.« »Wann ist der weg?« »Das ist schwer zu sagen, Mr. Sinclair. Mehr als eine Stunde wird es schon gewesen sein.« »Ah so. Haben Sie denn gesehen, wo Johnny und diese Linda hingegangen sind?« »Nein, die haben sich davongestohlen. Sie waren plötzlich nicht mehr aufzufinden.« Chilmark hütete sich davor, gegen den Sumpf zu schauen, um nur keine falschen Vermutungen aufkommen zu lassen, obwohl wir dieses Schicksal auch mit einbeziehen mußten. Heftig trat Bill mit dem rechten Fuß auf. Mit seiner nächsten Frage wandte er sich an Johnnys Klassenkameraden. »Hat denn von euch niemand gesehen, wie sie verschwunden sind?« Er erntete Schweigen und Kopfschütteln. Einer trat vor. Es war Randy, den Bill kannte, weil Johnny ihn schon des öfteren mit nach Hause gebracht hatte. »Ich kann mir denken, Mr. Conolly, was Johnny und Linda gesucht haben.« »So?« »Die wollten bestimmt nachschauen, weshalb Malcolm noch nicht zurückgekommen ist. Das ist der Fahrer.« »Ach so.« »Von dem, Mr. Conolly, wissen wir aber, in welche Richtung er gegangen ist«, berichtete der Lehrer. »Er bewegte sich parallel zum Sumpf dem Talende zu.« »Darauf können wir uns verlassen?« »Selbstverständlich.« Bill warf mir einen Blick zu. »Was meinst du, John, nehmen wir den Wagen, oder gehen wir zu Fuß?« »Gehen Sie zu Fuß«, riet uns der Lehrer. »Der Untergrund kann sehr weich werden.« »Danke.« Ich nickte ihm zu.
Bill strich mit den Handflächen über seine schweißfeuchten Wangen. »Ich habe es geahnt!« flüsterte er, »verdammt noch mal, ich habe es geahnt. Nicht wahr, John?« »Sicher.« Mich interessierte der Lehrer, der sich in seiner Haut verdammt unwohl fühlte. »Sagen Sie mal, Mr. Chilmark, was hätten Sie denn unternommen, wenn wir nicht erschienen wären?« »Ja, das möchte ich auch gerne wissen!« blaffte Bill. »Ich hätte Suchtrupps zusammengestellt. Wir waren schon dabei, das zu bereden. Wenn Sie wollen, können wir Sie noch immer begleiten. Wir sind einige Augen mehr.« Ich winkte ab. »Das ist gut gemeint, aber Mr. Conolly und ich werden allein gehen.« »Wie Sie wollen.« »Tun Sie uns und sich selbst einen Gefallen. Halten Sie die Schüler zusammen, was immer auch passiert. Ich kann mir vorstellen, daß hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht.« »Die Legende, wie?« hauchte Chilmark tonlos. »Sie wissen davon?« »Alle Schüler wissen es. Der Fahrer hat davon erzählt und das Tal in düsteren Farben gemalt.« »Hatten sie Furcht?« »Nein, sie waren eigentlich nur neugierig.« »Verständlich. Wie gesagt, warten Sie hier auf uns. Sollten wir ebenfalls nicht zurückkehren, dann verlassen Sie das Tal und alarmieren Sie die Polizei.« Ich gab ihm eine Karte. »Rufen Sie bitte die Nummer bei Scotland Yard an.« »Sie . .. Sie sind Polizist?« »Ja, Mr. Chilmark. Drücken Sie Mr. Conolly und mir die Daumen ebenso wir den Schülern und dem Fahrer.« Mit diesen Worten drehte ich mich um und ging zu meinem Freund Bill, dereinige Schritte vorgegangen war und im Abseits auf mich wartete. »Eine verdammte Scheiße ist das, John, eine verdammte . . .« Seine Stimme erstickte. Auch der Druck meiner Hand auf seiner rechten Schulter konnte ihn nicht beruhigen. Heftig ging er zwei Schritte vor. Anklagend wies er auf die weite Sumpffläche. »John, der frißt alles. Ob Menschen, Tiere, Busse oder Bäume.« »Es ist nicht gesagt, daß der Sumpf auch Johnny und Linda verschlungen hat.« »Wo sind sie dann?« »Wir werden sie suchen und finden!« Bill drehte sich. Er schnaubte und wischte über seine Augen. »Kann sein, kann auch nicht sein. Ich weiß es eben nicht.« Er fuhr über seine Lippen. »Dann laß uns gehen, bitte!« Den Gefallen tat ich ihm gern. Als wir fuhren, hatten wir von der Umgebung nicht so viel mitbekommen. Jetzt drang uns der faulige
Geruch entgegen, vermischt mit der Feuchtigkeit des Wasserdampfs und der Kraft der brennenden Sonnenstrahlen, die durch den Dunst auf unsere Köpfe niederstachen. Selten hatte ich derart viele Insekten gesehen. Das hier war für sie das reine Paradies. Sie umschwirrten und umtanzten uns. An ihr Summen hatten wir uns längst gewöhnt. Eine Musik, die auch unseren weiteren Weg begleitete. Bill sprach wenig, er schritt aber schneller aus als ich, so daß ich auf seinen Rücken schaute und mir ebenfalls die Umgebung ansah. Sie war einsam geworden. Von den Schülern konnten wir nichts mehr entdecken. Ein fremdes Land schien uns umfangen zu halten. Manchmal dachte ich direkt an Aibon, das grüne Paradies der Druiden, das leider auch zwei gegenpolige Seiten besaß. Unter unseren Füßen hatte der Boden tatsächlich seine relative Festigkeit verloren. Wir hörten das Rascheln des Grases, wir sanken in den Untergrund, wo die Schritte innerhalb der Masse als Abdrücke zurückblieben, die auch so leicht nicht verschwinden würden. Das brachte mich auf eine Idee. Wenn Johnny und Linda den gleichen Weg genommen hatten, mußten noch ihre Spuren zu sehen sein. Ich hielt mich ein wenig abseits von Bill auf und hatte tatsächlich das Glück, Spuren zu entdecken. Auf meinen Pfiff hin blieb er stehen, drehte sich um und schaute zu mir rüber. »Kennst du die Schuhgröße deines Sohnes?« »So ungefähr.« »Komm mal her.« Bill war rasch bei mir, ging ebenfalls in die Hocke und schaute zu, wie ich den Umriß des Abdrucks mit dem ausgestreckten Zeigefinger nachzeichnete. »Das, mein Lieber, müßte der Abdruck von Johnnys Schuh gewesen sein.« Ich schwenkte den Arm und wies auf die nächsten Spuren, kleiner als die von Johnnys Schuh. »Das kann Linda gewesen sein, die ihn begleitet hat.« »Stimmt genau.« Ich kam wieder hoch. »Wenn du dir die Spuren genau ansiehst, Bill, führt keine auf den Sumpf zu. Es heißt, daß wir vorerst keine Furcht zu haben brauchen, daß die beiden dort verschwunden sind.« »Du bist Optimist.« »Und Realist, nach all dem, was wir hier gesehen haben.« Ich grinste. »Weißt du, jetzt ist mir wohler.« »Mir auch.« Wir ließen die Spuren von nun an nicht mehraus den Augen. Dabei brauchten wirnicht einmal sehr langsam zu gehen, denn die Abdrücke zeichneten sich deutlich ab und waren nicht zu übersehen. Die Warnung traf mich wie ein kleiner Schock. Als ich stehenblieb, schaute mich Bill groß an. »Was ist los, John?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das Kreuz!« flüsterte ich. »Es hat sich gerührt.« »Tatsächlich?« »Ja, ich spüre seine Wärme.« Mit zwei Schritten war ich an Bill vorbei und starrte nach vorn. Wir hielten uns in einem Gebiet auf, wo der Wald relativ nahe an den Sumpf heranreichte. Zwischen ihm und dem Wald befand sich eine mit dichtem Gras bewachsene Fläche. Auf dem weichen Untergrund standen braune Pfützen. Lauerte in diesem Tal das Grauen in der Tiefe? Direkt unter uns oder im Sumpf? Mein Kreuz hatte mich nicht ohne Grund gewarnt. Etwas mußte hier irgendwo sein, von dem wir keine Ahnung hatten. Bill Conolly kam mir vor wie jemand, den etwas irritiert hatte. Fr deutete nach vorn und schüttelte dabei den Kopf. »Entweder täuschen mich meine Augen, John, oder ich sehe den Dunst mehr als eine dicke Nebelwand. Was meinst du?« Er hatte recht. Der Dunst war dort tatsächlich stärker geworden, wir sahen ihn wie ein graues Konzentrat vom Boden her in die Höhe steigen, als wollte er etwas verbergen. »Das ist nicht im Sumpf«, murmelte ich und zog mein Kreuz unter der Kleidung hervor. Ich ließ es außen und sichtbar hängen, hörte auch Bills Frage: »Das wird doch nicht der Todesnebel sein?« »Mal den Teufel nicht an die Wand!« »Ausgeschlossen ist es nicht.« »Nein, Bill, deshalb werde ich auch vorgehen. Das Kreuz ist der einzig wirksame Schutz gegen den Nebel.« »Verflixt, ich hätte meine goldene Pistole mitnehmen sollen!« »Wart erst mal ab und bleib hinter mir.« »Das mache ich glatt.« Wohl war mir nicht, als ich mich der Nebelwand näherte. Meiner Ansicht nach hatte sie sich grundlos in dem Gelände aufgebaut. Wenn sie über dem Sumpf gelegen hätte, okay, dann wäre ich nicht einmal mißtrauisch geworden, aber sie stand über dem normalen Gelände, das wiederum ließ auf andere Gründe schließen, vielleicht sogar auf gefährliche. Da mein Kreuz sich »gemeldet« hatte, ging ich davon aus, daß in ihm etwas Magisches, Böses steckte. Dieser Eindruck verstärkte sich, je mehr ich mich der hellgrauen Wand näherte. Unbeweglich stand sie nicht, obwohl so gut wie kein Wind wehte. Sie bewegte sich von innen her. Dort mußten Kräfte am Werk sein, die die Wolken durcheinanderwallten. Das Metall erwärmte sich nicht weiter. Es lief auch kein Leuchten über das Kreuz, dennoch hatte sich etwas verändert. In dem Nebel erkannte ich einen breiten, hohen und vor allen Dingen dunkleren »Schatten«. Also gab es dort einen Gegenstand, der von Nebelschwaden umspielt worden war.
Auch Bill war der Schatten aufgefallen. »John, das sieht mir fast so aus wie eine Mauer.« »Da könntest du sogar recht haben.« »Wahnsinn, die Überraschungen reißen einfach nicht mehr ab. Bin gespannt, was uns das verdammte Tal noch alles zu bieten hat.« »Bestimmt keine guten Überraschungen.« Ich brauchte nur mehr wenige Yards zurücklegen, um die ersten Ausläufer der Nebelwand zu erreichen. Jedenfalls gehörte er nicht zu dem uns bekannten Todesnebel, dann hätte das Kreuz anders reagiert. Zum Greifen nahe lag er vor mir. Aus dem Boden schien er gedrungen zu sein. Neben mir hörte ich Bill atmen und auch andere Geräusche, die diese beklemmende Stille unterbrachen. Schritte... Ich drehte mich nach rechts. Durch den Nebel und dicht an dem in ihm versteckten Schatten entlang, bewegte sich eine Gestalt. Sie hielt etwas in der Hand, das wie ein Knüppel aussah. »Johnny ist das bestimmt nicht«, hauchte Bill. »Stimmt.« Ich schob meinen Freund etwas zurück und trat auch selbst zur Seite. Die Gestalt im Nebel hatte uns beobachtet, denn sie änderte plötzlich ihre Richtung und verließ die Schwaden. Beide bekamen wir große Augen. Bill sprach aus, was ich ebenfalls dachte. »Verflucht, ein Zombie, John!« *** Wir hatten in unserem Job oft genug mit den Wesen zu tun gehabt, die als Zombies bekannt waren. Man konnte sie auch als lebende Tote bezeichnen, als Untote, als Wesen, die in ihrer Gier nach Menschen unberechenbar waren. Das alles war uns klar, das wußten wir, und wir besaßen auch die entsprechenden Waffen, um uns gegen die mordgierigen Bestien wirksam zu schützen. Es reichte nicht, wenn man in einen untoten Körper eine normale Kugel feuerte. Die verkraftete er. Man mußte ihm mit magischen Waffen auf den Leib rücken, denn die konnten die teufliche Kraft in ihm radikal vernichten. Vom Aussehen her konnte man ihn nur als furchtbar bezeichnen, wie jemand, der eine Weile im Sumpf gelegen hatte, wieder hochgekommen war und noch einige Andenken mitgebracht hatte. An seiner fetzigen Kleidung klebten Algen, Blätter, Blüten und einiges mehr. Die Augen waren verdreht, als hätte jemand mit weißer Farbe in
die Höhlen hineingepinselt. Der Mund stand halb offen, die Lippen wichen in ihrer Farbe kaum von der bleichen Haut ab, und an seinem dürren Hals traten die Adern hervor wie kleine Stränge. »Ich glaube, John, daß der mehr über den Verbleib von Johnny und Linda weiß. Verdammt, wenn die dem in die Klauen gefallen sind, haben sie keine Chance gehabt.« »Abwarten.. .« »Willst du schießen?« »Noch nicht. Möglicherweise kann er uns auf irgendeine Art und Weise darüber Auskunft geben, was mit den Kindern geschehen ist. Sie werden miteinander gekämpft haben, kann ich mir vorstellen, dann könnte er ein Stück Stoff oder. ..« »Paß lieber auf, John!« Der Zombie hatte es auf uns abgesehen und hob den rechten Arm wie ein Roboter. Die schmutzigen Finger umklammerten dabei einen handlichen Ast, der mir blitzschnell entgegensauste. Ebenso schnell war ich zur Seite getaucht. Der Ast hieb mit einem klatschenden Laut in den weichen Boden. Ich packte ihn, warf ihn Bill zu und bat meinen Freund, ihn zu untersuchen. »Vielleicht findest du Blutspuren.« Bill fing den Knüppel auf. »Du machst mir Hoffnung.« Das machte sich auch der Zombie. Ich zerstörte sie, als mein Tritt ihn zurück in den Nebel schleuderte, wo er sich überschlug, doch wieder auf die Beine kommen wollte. Ich drehte mich um. Bill hatte den Knüppel untersucht und schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts gefunden, wirklich nicht. Überhaupt nichts.« »Wunderbar.« »Weshalb schickst du den Untoten nicht einfach zur Hölle?« »Das werde ich auch.« Die Beretta ließ ich stecken, diese Gestalt konnte ich auch ohne Silberkugel erledigen. Ich streifte die Kette über den Kopf und ließ die aus dem Nebel kommende, schwankende Gestalt direkt gegen mein Kreuz laufen. Dabei tauchte ich zur Seite, damit mich seine Pranken nicht erwischten. Der Untote schrie nicht einmal. Es drang auch kein Gurgeln aus seiner Kehle. Er stand da, richtete sich auf, breitete die Arme aus und besaß plötzlich auf der Brust eine dicke, zischende Wunde, aus der stinkender Qualm drang, der sich mit dem Nebel vermischte. Der Zombie starb endgültig vor unseren Augen, und ich drehte mich zu Bill Conolly hin um. Der Reporter hatte die Schultern angehoben. »Wer war er?« fragte er leise, »weißt du das?« »Nein. Jedenfalls keiner, der in der Legende dieses Tals Platz gehabt hätte.«
»Das sehe ich auch so.« Bill kam langsam näher. »Ich frage mich nur, wie er zum Zombie geworden ist. Was lauert hier, John?« Ich deutete gegen den Nebel. »Kannst du mir denn erklären, woher diese komische Mauer kommt?« »Nein.« »Ich auch nicht. Es erscheint mir so, als hätte sie eigentlich nie hier gestanden und wäre nur für uns aufgebaut worden. Sehr seltsam ist das.« »Sie muß einen Grund haben.« »Sicher.« Ich nickte. »Den werden wir auch herausfinden, indem wir die Mauer überklettern. Ich kann mir zudem sehr gut vorstellen, daß Johnny und Linda auf die gleiche Idee gekommen sind.« »Das traue ich ihm zu.« So etwas wie Stolz klang aus Bills Stimme heraus. »Ja, das traue ich meinem Sohn zu. Der hat einiges von seinem Vater geerbt.« Wir tauchten in den Nebel ein, der uns wie feuchte Tücher umwickelte. Ich traute mich nicht einmal, richtig Luft zu holen, denn man schmeckte ihn. Lr enthielt den Geruch der Gegend. Moder, Fäulnis, auch der Geschmack von brakigem Wasser durchzog meinen Mund. Bill hatte die Mauer vor mir erreicht. Mit der flachen Hand schlug er dagegen, und wir beide wunderten uns über das Klatschen. Das hatte sich anders angehört, als hätte Bill auf Stein geschlagen. Wenn, dann mußte die Mauer mit einer Moos- und Algenschicht bewachsen sein. Gemeinsam tasteten wir sie ab. Tatsächlich. Über den Steinen wuchs die widerliche Schicht, die an einigen Stellen sehr schleimig war. Ich schaute meinen Freund an. »Normal oder nicht normal?« erkundigte ich mich. »Das ist mir egal.« Bill peilte bereits an der Mauer hoch, wo die Nebelschwaden wie festgeklebt wirkten. Er schätzte die Entfernung ab. Wo die Mauer endete, war nicht zu erkennen. Er sprang. Ich hörte sein Lachen und sah ihn einen Augenblick später am Rand hängen. Seine Hände hatten an der Krone Halt gefunden. Ich umfaßte seine Hüften, schob ihn höher. Bill winkelte dabei sein Knie an und schwang sich herum. Flach lag er auf der Krone, drehte den Kopf, weil er auf die andere Seite schauen wollte. »Was siehst du?« »Nicht viel, nur diesen verfluchten Nebel.« »Okay, ich komme hoch.« Bill wartete auf mich. Er hatte sich aufgesetzt, drehte sich auf der Stelle und ließ seine Beine in die Tiefe baumeln. Dabei schaute er auch nach unten.
Der Grund war nicht zu sehen, weil die graue Nebelsuppe ihn verdeckte. Bill hoffte nur, daß sich hinter der Mauer kein Abhang oder ein Loch befand. Da geschah es. Die Hand hatte er nicht entdeckt. Er spürte nur den plötzlichen Druck an seinem rechten Knöchel, dann den heftigen Ruck, und es gab nichts mehr, woran sich Bill hätte festhalten können. Die Klaue riß ihn in die Tiefe, und der Reporter verschwand auch vor meinen Augen... *** Johnny Conolly hatte es geschafft! Er war sicher neben seiner Klassenkameradin gelandet, die auf dem Boden saß, das malträtierte Bein angezogen hatte und sich noch die Schulter hielt. »Bist du da auch verletzt?« »Keine Ahnung, Johnny, ich glaube.« »Gut. Kannst du aufstehen?« »Was heißt hier gut, Mann? Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Zurück will ich nicht.« »Das können wir auch nicht mehr. Da lauern die beiden Gestalten. Bestimmt warten sie auf uns.« »Meinst du?« »Klar doch.« Sie schluckte. »Und was sollen wir wirklich machen? Weitergehen?« Johnny schaute in den Nebel. »Daran habe ich auch gedacht, wirklich, daran habe ich gedacht, aber ich weiß nicht, in welch einem Gebiet wir gelandet sind, verstehst du? Das kann ja eine Welt für sich sein, Linda. Wenn wir jetzt losziehen . . .« »Und wenn wir an der Mauer entlanggehen, bis wir vielleicht das Ende finden?« »Keine Ahnung, ob das was bringt.« »Versuchen müssen wir's.« Johnny nickte. »Na gut, probieren wir es aus. Komm erst mal hoch, Linda.« »Keine Angst, das packe ich schon.« So einfach war es doch nicht. Als Linda ihren Fuß belastete, stöhnte sie schon auf und konnte auch einen Fluch nicht vermeiden. Sie biß die Zähne dermaßen hart zusammen, daß sie knirschten. Dann versuchte sie zu gehen und wehrte Johnnys Hand ab, die sie stützen wollte. »Ich will es allein packen!« Im Gegensatz zu ihrem Vorschlag humpelte sie von der Mauer weg, weil sie den Nebel verlassen wollte. Johnny ging hinter ihr her und beschleunigte seine Schritte, als er Lindas erstaunten
Ausruf hörte. »Das . . . das gibt es doch nicht, Johnny! Schau dir das an! Das ist irre.« Johnny ging weiter, bis er das Mädchen erreicht hatte. Dann blieb auch er stehen, als wäre er von der Tarantel gestochen worden, denn es war unwahrscheinlich. Statt die Weite des Tals zu überblicken, starrte er auf eine gewaltige Ruine. Es mußte einmal ein prächtiger Bau gewesen sein, soviel war noch zu erkennen — von dem Dach jedoch nichts mehr. Die steinernen Rundbögen, die einmal das Dach gehalten hatten, waren noch als Fragmente zurückgeblieben. Auf dem Boden lagen dicke Steine. Sie sahen Treppen, sie sahen Säulen, einen Altar, furchtbare Figuren, Mischungen aus Tieren und Fabelwesen, und sie entdeckten in manchen Wandnischen die grünlich schimmernden Totenschädel. Sogar ein grünliches Feuer brannte. Die Flamme zuckte aus einer Schale, die den oberen Abschluß einer noch stehengebliebenen Säule bildete. Von diesem Tempel, der Burg oder dem Haus standen drei Mauern. Die vierte war verschwunden. Eingestürzt oder zur Seite gefegt lag sie dort und bildete einen Wirrwarr aus Steinen und Balken. »Das . . . das ist ja wie im Kino!« hauchte Linda. Sie faßte nach Johnnys Hand. Der nickte nur. »Kannst du denn was erklären?« »Nein«, gab Johnny flüsternd zurück. »Nicht direkt, aber ich muß an die Legende denken, von der Malcolm erzählt hat.« »Meinst du, daß dies ein Haus gewesen ist, das von einem anderen Volk errichtet wurde?« »Kann sein.« »Dann . . . dann muß es aber lange hergewesen sein. Schau dir mal die Steine an, die Spinnweben, den Staub, und alles ist ohne Leben.« »Da bin ich anderer Meinung«, widersprach der Junge. »Warum?« »Manchmal gibt es Leben, auch wenn es tot ist oder nur tot erscheint, Linda.« Sie schaute ihn mißtrauisch an. »Das verstehe ich nicht.« Johnny hob die Schultern. Sein Jungengesicht war angespannt. »Es kommt mir ja selbst komisch vor, aber was willst du machen? Das hier... das ist... das ...« Er suchte nach einer Erklärung. »Weißt du, wie eine gigantische Filmkulisse.« Linda Ferguson bewegte sich nicht. Johnny spürte nur den Druck ihrer Hand an der seinen. »Mensch, du kannst recht haben. Hier hat jemand einen Film gedreht. Einfach so, einen Sternenreißer, einen SF-Film oder einen Fantasy-Streifen.« »Das wäre schön.« »Du glaubst nicht daran?« Ihre Stimme klang enttäuscht.
»Nein, Linda, daran nicht. Das muß einen anderen Grund gehabt haben. Die Gebäude sind teilweise eingestürzt. Es sieht aus, als hätte hier ein Kampf stattgefunden, ein gewaltiger Fight.« »Hat jemand überlebt?« Johnny runzelte die Stirn. »Vielleicht die beiden Gestalten vor der Mauer.« Linda schlug die Hand vor den Mund. »Das . . . das sind Untote oder Zombies gewesen, hast du gesagt.« »Stimmt.« Mehr sagte Johnny nicht. Erschaute gegen den Himmel, der anders aussah als auf der anderen Seite der Mauer. Nicht heller, nein, er wirkte so, als hätte man ihn mit einem neblig fahlen Licht betupft, und eine Sonne war nicht zu sehen. »Was machen wir?« fragte Linda. »Willst du wieder zurückgehen oder dir das Gemäuer anschauen?« »Kannst du denn Laufen?« »Ich werde es versuchen. Du mußt mich allerdings stützen.« »Mach' ich doch glatt.« Von Johnny gehalten, humpelte Linda Ferguson, die sich ihre Klassenfahrt auch anders vorgesteltt hatte, neben dem Jungen her. Die Ruine nahm einen gewaltigen Platz ein. Da eine Mauer der Wandseite nicht mehr vorhanden war, kam ihnen die Öffnung dreimal sogroß wie ein Scheunentor vor. Ein gewaltiges Maul, dessen Größe sie erst ermessen konnten, als sie es durchschritten. Linda hielt sich tapfer. Sie trat nur mit einem Fuß richtig auf, den verletzten zog sie nach. »Ob Malcolm die Ruine auch entdeckt hat?« fragte sie leise. »Was meinst du?« Johnny nickte. »Daran habe ich auch gerade gedacht. Wenn er nicht von den beiden Zombies erwischt worden ist, müßte er hier gewesen sein.« »Vielleicht finden wir ihn.« »Mal sehen.« Johnny wollte weitergehen. Seine Füße hinterließen auf dem staubige Boden Abdrücke. Ihm fiel noch auf, daß sich kein Windhauch rührte. Über der Ruine lag eine nahezu gespenstische Stille. Die noch stehengebliebenen Mauern waren aus mächtigen Felsquadern zusammengesetzt. Graue Brok-ken, wie auch die aus Steinen bestehenden Dachbögen. Das grüne Feuer irritierte Johnny ebenso wie die ebenfalls grün leuchtenden Totenschädel in den Nischen. Er hatte keine Erklärung dafür. Vielleicht war es ein von den anderen zurückgelassenes Erbe. Von einem Volk, daß sich längst wieder in seiner Heimat befand. »Hinter der Mauer«, murmelte Johnny, »die Brut hinter der Mauer.« »Wie kommst du darauf?«
»Fiel mir nur gerade so ein.« Er zog seine Begleiterin weiter. Erst jetzt entdeckten sie die breiten Öffnungen im Boden. Dort waren die Steine ebenfalls herausgerissen oder zerstört worden. Wie Krater sahen die Öffnungen aus. Als Linda in eine hineinschaute, schauderte sie zusammen. »Himmel, ist das tief.« »Sei nur vorsichtig.« »Klar«, sie zog sich zurück. Beide gingen bis zu einer Säule und blieben dort stehen. Johnny wußte den Grund selbst nicht, er brauchte Muße, um sich umzuschauen. Linda war es, die den Körper entdeckte. Nach einem Aufschrei klammerte sie sich wieder an Johnny und zeigte dorthin, wo ein Teppich über eine Steintreppe lief. »Da ist er!« Johnny stand ebenfalls unbeweglich. Es brauchte ihm keiner eine Erklärung zu geben, auch er hatte gesehen und erkannt, wer dort auf dem Bauch lag. Der Mann war unverkennbar. Malcolm, ihr Fahrer! Linda hauchte: »Was machen wir denn jetzt? Ist er tot? Lebt er noch? Da . . . da müssen wir doch nachschauen.« »Ja, das müssen wir, dachte Johnny und hatte selbst schreckliche Angst. Obwohl sich zwischen den alten Mauern nichts weiter abspielte, kam es ihm vor, als wären sie von Feinden umgeben, die sich nur nicht zeigten. »Sag doch was!« Johnny schluckte. Er nickte sich selbst Mut zu. »Ich werde hingehen«, erklärte er. »Und dann?« »Weiß ich noch nicht. Jedenfalls sage ich dir Bescheid, was mit ihm ist. Warte.« »Ja, klar.« Johnny bewegte sich sehr vorsichtig weiter. Linda blieb zurück. Sie lehnte sich gegen die Säule, so konnte sie besser das Gewicht verlagern und den verletzten Fuß außer acht lassen. Sie schaute auf den Rücken ihres Klassenkameraden und glaubte, die Gänsehaut sehen zu können. Johnny ging gebeugt. Wenn Linda ehrlich war, mußte sie zugeben, daß sie nicht in der Haut des Jungen stecken wollte. Auch Johnny fühlte sich mehr als unwohl. Jeder Schritt auf das Ziel zu fiel ihm schwer. Er spürte die Belastung, denn er wußte genau, daß es jetzt auf ihn ankam. Machte er etwas falsch, konnte es für alle ungeahnte Folgen haben. Natürlich konnte er Malcolm nicht aus den Augen lassen. Der Fahrer hatte seine Mütze verloren und lag in einer ungewöhnlich verrenkten Haltung inmitten der Steine, des Staubs und der aus alten Spinnweben geflochtenen Netze.
Johnny schlug einen kleinen Bogen und erschrak, als unter seinen Füßen etwas knirschte und er den Eindruck bekam, als würden Steine wegbrechen. Er machte einen großen Schritt, schaute dabei über die Leiche hinweg und direkt in eine Nische hinein, an deren Rückwand der grüne Totenschädel flimmerte. Als wäre er mit Energie gefüllt worden, die denen, die damals vielleicht hier gewohn t hatten, eine Existenz gegeben hatte. Waren sie noch da, oder schwebte nur ihr Geist durch diese halbzerstörte, schaurige Ruine, um Furcht zu verbreiten? Johnny hielt neben Malcolm an. Sein Herz schlug oben im Hals, und die Stimmbänder schienen verknotet zu sein. Wenn ihn jemand etwas gefragt hätte, es wäre ihm nicht möglich gewesen, eine Antwort zu geben. »Malcolm . . .?« Einen winzigen Funken Hoffnung besaß er noch, daß der Fahrer lebte. Er bewegte sich nicht. Johnny nickte sich selbst zu. Vielleicht wollte er sich auch nur Mut machen. Malcolm lag auf dem Bauch. Um alles genau zu wissen, mußte der Junge den Körper herumdrehen. Es widerstrebte ihm, nur gab es keine andere Möglichkeit. Er faßte den Leblosen an, wobei er mit einer Hand die runde Schulter umspannte. Die Linke legte er in den Rücken, setzte seine Kraft ein und merkte, wie steif der Körper war. Nein, darin konnte kein Leben mehr stecken! Trotzdem wollte er den endgültigen Beweis haben, so leicht gab er nicht auf, da kam er auf seinen Vater raus. Johnny schaffte es auch, die Gestalt auf den Rücken zu drehen. Der Kopf rutschte ebenfalls mit — und Johnny fuhr mit einem Schrei auf den Lippen zurück. Malcolm besaß kein Gesicht mehr. Was den Jungen da anstarrte, war eine aus Knochen, grauem Staub und Spinnweben bestehende Gesichtshälfte... *** In einer Reflexbewegung hob der Junge die Arme an und preßte beide Hände vor sein Gesicht. Er spürte den Schweiß und den Staub. Beides drang in seine Augen und brannte. Es war furchtbar, es war nicht zu fassen. Die schlimmsten HorrorVisionen waren durch diesen furchtbaren Anblick übertroffen worden. Er hatte sich schon damit abgefunden, einen Toten zu finden, aber keinen, der so furchtbar aussah. Die Gänsehaut auf seinem Rücken wurde stärker. Was sollte er tun? Nichts, er konnte überhaupt nichts tun. Er mußte sich nur damit
abfinden, daß hinter der Mauer noch Leben vorhanden war, auch wenn er es selbst nicht wahrnehmen konnte. Schweißperlen rannen über sein Gesicht. Den Kopf hatte er gedreht, er wollte den Anblick nicht länger ertragen. Jedenfalls mußten er und Linda von hier fort. Das war eine mörderische Falle. Johnny drehte sich um. Er hatte vor, Linda anzusprechen, doch das erste Wort schon blieb ihm im Hals stekken. Linda stand noch immer an der Säule. Nur wirkte sie jetzt, als wäre sie eingefroren. Sie bewegte nicht einmal die Wimpern. Nicht ohne Grund, denn etwas hatte sich auch bei ihr verändert. Jemand mußte sich in ihrem Rücken an sie herangeschlichen haben, lautlos, und dann hatte der andere zugepackt, denn auf Lindas Mund lag eine Pranke, die ihre Lippen derart fest verschloß, daß sie nur mehr durch die Nase Luft holen konnte. Johnny fühlte sich wie jemand, der einen Volltreffer abbekommen hatte. Unternehmen konnte er nichts. Er kannte die Person nicht, die sich hinter Linda aufhielt. Der Hand nach schien es sich bei ihr um einen Menschen zu handeln. Oder war es etwa die faulige Pranke eines Zombies, die den Mund des Mädchens umklammerte? Wer von dieser untoten Brut existierte noch auf diesem Gebiet? Nur die Nasenflügel der jungen Linda Ferguson bewegten sich zitternd, wenn sie Luft holte. Diese Chance gab ihr der andere noch, und er schob in diesem Augenblick auch seine zweite Hand um die Säule, damit sie Johnny erkennen konnte. Der mittlere Zeigefinger bewegte sich dabei. Er knickte zur Handfläche hin und wurde wieder gestreckt. Ein Zeichen, das Johnny gut verstanden hatte. Er sollte näher heran . . . Es war klar, daß der andere, wer immer er sein mochte, dem Mädchen etwas antun würde, wenn Johnny nicht gehorchte. Also setzte er sich in Bewegung und ging mit steifen Beinen zur Säule hin, wo Linda schnaufte. Hinter der Säule erklang ein Geräusch. Ls war ein leises Kichern, vielleicht auch ein Lachen. Nicht von einem Tier abgegeben, sondern von einer menschlichen Stimme. Beruhigender war das für Johnny kaum. Wer immer der Unbekannte war, er stand auf der anderen Seite. Die Hälfte der Distanz hatte Jonny bereits zurückgelegt, als der Fremde seine Hand vom Mund des Mädchens löste. Sehr langsam rutschte sie tiefer. Für einen Moment sah es so aus, als wollte sie den Hals umklammern, dann glitt sie zur Seite und blieb auf der Schulter liegen, wo sich die Finger zu einem härteren Griff krümmten.
Noch einen Schritt legte Johnny zurück. Seine Sohlen schleiften dabei durch dunkelgrauen Staub. Dann blieb er stehen, ohne den akustischen Befehl bekommen zu haben. Er wollte seinen Augen nicht trauen, als er die Gestalt erkannte, die sich hinter der Säule gelöst hatte. Der Mann wirkte wie verkleidet, nur hütete sich Johnny davor, über ihn zu lachen. Er sah den Bart nur mehr als Schatten, die Haut hatte einen braunen Teint angenommen. Ein grünes, langes Hemd wurde in Hüfthöhe von einer Kette gehalten. Die Hose war schwarz und pludrig. Über die Schulter hatte er einen braunen Umhang geworfen, der am Hals von einer glänzenden Schnalle gehalten wurde. Am meisten irritierten Johnny die Augen. Sie besaßen keine Pupillen mehr, waren einfache Löcher, gefüllt mit einem hellen Licht, das dem der Sterne gleichkam. Diese Augen veränderten das Gesicht zwar ebenso wie der dunkle Teint, Johnny hatte die Gestalt trotzdem erkannt, denn mit diesem Menschen hatte er fast täglich zu tun. Es war Dick Chilmark, sein Lehrer! *** Im ersten Augenblick überkam Bill Conolly das Gefühl, in einen endlosen Schacht zu stürzen. Er wartete auf den Aufprall, er wünschte ihn sich herbei, und er kam. Der harte Schlag, das Ziehen in der Schulter, dann ein Versuch der Hand, den Knöchel zu drehen, doch Bill trat mit dem freien Fuß zu, gleich zweimal. Er hörte das dumpfe Geräusch, als er die Gestalt irgendwo erwischte. Genau erkennen konnte er sie nicht, denn der Nebel hatte sich noch wie ein Schutzschirm um sie gelegt, doch Bill ging davon aus, daß es sich bei ihr um einen Zombie handelte. Auch durch den Tritt hatte er sich nicht von dem Druck befreien können, deshalb ließ er sich nach hinten fallen und seine Hand unterdas dünne Jackett rutschen. Auch Bill fuhr selten waffenlos. Er riß die Silber-kugel-Beretta hervor, zielte auf den Nebelschatten und schoß. Das Mündungslicht verschluckte der Dunst, aber die Kugel hatte getroffen. Bill sah nicht nur, daß der Gegner zusammenzuckte, die Wucht schleuderte ihn auch zurück, und im gleichen Moment löste sich der Druck vom Knöchel des. Reporters. Er war frei, blieb aber sitzen und hörte einen dumpfen Aufprall, als sein Freund dicht neben ihm die jenseitige Welt der Mauer erreichte.
Ich hatte mich beeilt und war wie ein Irrwisch an der Mauer hochgeklettert. Der Schuß hatte noch einmal die Furcht in mir hochfließen lassen, die jetzt verschwunden war, denn Bill drehte sich mir zu und sagte keuchend: »Alles klar, John, ich habe ihn erwischt.« »Okay, bleib da.« Mit schußbereiter Waffe näherte ich mich der im Nebel liegenden Gestalt. Es war tatsächlich ein zweiter Zombie gewesen. Die geweihte Silberkugel hatte ihn im Kopf getroffen. Sehr lange schaute ich nicht hin. Als ich mich umdrehte, war Bill dabei, sich aufzurichten. Er trat einige Male mit dem linken Fuß auf, drehte ihn auch, nickte zufrieden. »Was war denn?« »Der Hundesohn hatte mich am Knöchel erwischt und von der Mauer gezogen.« Er tastete auch nach seiner Schulter. »Es tut zwar weh, aber es läßt sich ertragen.« Die Waffe steckte er nicht weg, als er auf mich zukam. »Mal eine andere Frage. Mit wie vielen dieser Un toten können wir deiner Meinung nach rechnen?« »Keine Ahnung.« »Und was liegt jenseits des Nebels?« »Das werden wir gleich sehen. Oder willst du wieder zurückgehen?« »Wohl wahnsinnig, wie? Schließlich geht es um meinen Sohn. Schade, daß dir diese Kreaturen keine Auskunft geben können. Ich hätte zu gern gewußt, ob sie Johnny und Linda begegnet sind.« Er ging vor mir her und verließ auch als erster die Nebelwelt nahe der Mauer. Ich hörte seinen leisen, erstaunten Ruf. »John, komm her, das mußt du dir ansehen.« Neben meinem Freund blieb ich stehen und konnte tatsächlich nur staunen, denn mit diesem Anblick hatte ich beim besten Willen nicht gerechnet. Vor uns lag eine andere Welt, ein Land, eine halbzerstörte Burg, eine Ruine. Eingebettet in eine graugrüne Landschaft, über der fahl und hellgrau der Himmel lag. Welch eine Welt lag da vor uns? War es noch die normale oder ein Teil Aibons? Hatten wir mit dem Überklettern der Mauer gleichzeitig ein transzendentales Tor durchschritten, um in einer Parallelwelt zu landen? Möglich war alles. Die Ruine interessierte uns besonders. Wir waren an einer relativ ungünstigen Stelle aus dem Nebel getreten und konnten nicht in die Überreste hineinblicken. Aber wir sahen trotzdem den schwachen grünen Schein, der über den Mauerresten der ehemaligen Burg schwebte. Bill meinte: »Ich brauche dich wohl erst nicht nach einer Erklärung zu fragen — oder?«
»Nein.« Ich gab bewußt die spärliche Antwort, weil ich an meiner Brust entlangschaute, um auf die Reaktion des Kreuzes zu achten, die allerdings nicht vorhanden war. Kein grünes Flimmern wischte darüber hinweg, was auf das geheimnisvolle Druidenreich Aibon hingedeutet hätte. Damit hatte diese Ruine nichts zu tun. »Wie war noch die Legende?« fragte ich leise. Bill hatte einen Schauer bekommen. Mit spröder Stimme antwortete er: »Es soll Zeiten gegeben haben, da lebte hier ein Sternenvolk oder Dämonen von einem anderen Planeten, die es geschafft haben, Raum und Zeit zu überwinden.« »Erzählt man sich auch mehr?« »Ich weiß es nicht, John. Ich habe es auch nur gelesen, und es war gut, daß wir hergefahren sind.« »Das glaube ich auch.« Er schaute mir ins Gesicht. »Was ist, Alter? Sehen wir uns die Ruine mal aus der Nähe an?« Ich grinste schief. »Ich wüßte wirklich nicht, was ich lieber täte...« *** Der Lehrer also! Johnny war wie vor den Kopf geschlagen. Mit allem hätte er gerechnet, das jedoch überstieg sein Begriffsvermögen. Wieso ausgerechnet Mr. Chilmark? Wieso der Sport- und Mathelehrer? Das wollte nicht in seinen Kopf. Hatte es Sinn, ihn danach zu fragen? War er überhaupt bereit, Antwort zu geben? Er lächelte. Es war kein freundliches Lächeln. Auf seinem Gesicht wirkte es so eisig wie in seinen Augen, wo die Pupillen verschwunden waren. In dieser Welt kannte er sich aus und war dennoch vorsichtig und mißtrauisch, denn er ließ Linda nicht los, als er sich in Bewegung setzte. Er hielt ihren rechten Arm fest und drehte ihn zurück. So hatte er sie .. . Linda sah so verzweifelt aus. Ihr junges Gesicht wirkte wie eine gezeichnete Grimasse, die Lippen waren so geformt, als wollten sie eine Frage stellen. Sie blieb stumm. Zwischen ihr und Johnny schien eine Wand aus Eis zu stehen, die der Lehrer aufgebaut hatte. Er ging so weit vor, daß er mit normaler Lautstärke reden konnte, um verstanden zu werden. Und er ergriff das Wort. »Du stellst dir bestimmt die Frage, Johnny, wie ich dazu gekommen bin, mich hier zu zeigen — oder?« »Ja, das stimmt.«
»Ich will es dir erklären, denn das Erklären bin ich aus dem Unterricht gewohnt.« Er lachte leise. »Es ist wie in der Mathematik, alles ist logisch aufgebaut. Ich habe mir die Dinge sehr genau überlegt, bevor ich damit anfing, sie in die Tat umzusetzen. Erinnerst du dich noch, wie wir davon sprachen, die Trekking Tour zu machen?« »Das habe ich nicht vergessen.« »Schön, dann erinnerst du dich doch bestimmt an die zahlreichen Vorschläge, die gemacht wurden.« »Aber Ihren nahm man an.« »Genau, Johnny, genau. Ich habe vorgeschlagen, in dieses Gebiet zu fahren, weil ich es kannte.« »Woher, Mr. Chilmark, woher?« »Ho, ich war oft hier, denn ich habe ein Hobby. Es ist nicht der Sport, auch nicht die Mathematik. Nein, ich sammle alte Geschichten, Sagen und Legenden. Ich bin davon fasziniert. Sie besitzen für mich eine wunderbare Ausstrahlungskraft, und so habe ich auch über diese Legende hier erfahren, mein Junge.« »Was denn?« »Dämonen haben hier gelebt. Vor langer Zeit sind sie gekommen.« »Von den Sternen?« Er hob die Schultern. »Ob von den Sternen oder aus einer anderen Dimension, was spielt das für eine Rolle? Für mich waren es die LichtDämonen. Sie brachten das Sternenlicht mit, das nun auch meine Augen füllt. Jetzt kann ich sehen, ich kann erleben, was hier geschehen ist. Sie kamen in dieses Gebiet, doch sie vergingen. Sie fanden keine guten Lebensbedingungen, deshalb starben ihre Körper. Aber eines will ich dir sagen. Junge, ihre Geister sind noch vorhanden.« »Wo denn?« rief Johnny. »Spürst du sie nicht? Siehst du nicht das Licht der Schädel? Es mußte nur etwas passieren, um sie wieder zum Vorschein kommen zu lassen. Eine schlimme Tat, ein Verbrechen, etwas Negatives, wenn du verstehst, mein Junge.« »Nein, ich weiß nicht, was ich davon halten soll.« »Ich will es dir sagen. Es ist etwas geschehen. Die Menschen selbst haben dafür gesorgt, daß der Vorhang des Vergessens zur Seite gerissen und die Bühne wieder geöffnet wurde. Es waren zwei Männer, die mit einem Lastwagen herkamen und ihren Müll in den Sumpf kippten. Es war verboten, es ist nicht erlaubt. Wer sich zu so etwas hergibt, der schändet die Umwelt, der muß bestraft werden. Aber die Tat hatte auch etwas Gutes. Die alten Kräfte kehrten zurück. Sie, die bisher versteckt gewesen waren, zeigten sich wieder. Sie traten nicht aus dem Sumpf, nein, sie durchbrachen die Zeit und sind in diesem dämonischen Tempel noch immer vorhanden. Die Katastrophe der Umwelt sorgte für das Freiwerden der alten Dämonologie. Ist es nicht herrlich?«
»Es ist verfallen!« rief Johnny. Ja, es ist verfallen. Es wird weiter verenden und . . .« »Das macht nichts, Junge. Die alten Kräfte der Sterne, das Licht, das die Dämonen mitbrachten, die Brut hinter der Mauer, die hat sich nun konzentriert. Und zwar in mir, mein Freund, in mir.« Das verstand Johnny nicht. »Was war denn mit den beiden Gestalten, die uns verfolgt haben?« »Sie mußten der Magie Tribut zollen. Es waren die Fahrer des Lastwagens. Sie hatten ihre Ladung kaum gekippt, da wurden sie erschossen. Sie landeten im Sumpf, aber sie entstiegen ihm als Untote, als Wächter dieser Brut hinter der Mauer. Den Staub, den du auf dem Boden siehst, ihn bezeichne ich als Sternenstaub aus anderen Welten und anderen Zeiten. Es ist einfach wunderbar, wenn man diese Möglichkeiten besitzt. Ich bin von ihnen fasziniert. Derjenige, der früher einmal hier geherrscht hat, gab seine Führung an mich ab.« Johnny hob die Schultern. Er wußte nicht, was er sagen sollte, aber auch Linda hatte bisher nicht gesprochen. Sie befand sich noch unter der Kontrolle ihres Lehrers. Sein Griff umklammerte ihr Handgelenk. »In mir steckt das Licht, Johnny, /wischen den Mauern aber lauert der Geist des Sternenvolkes, der jeden vernichten wird, der nicht hierher gehört. Malcolm kam ebenfalls. Er ahnte etwas, dieser Narr, und er hatte sich tatsächlich vorgenommen, euch zu schützen. Es ist ihm nicht gelungen. Der Staub hat sein Gesicht zerfressen. So wird es jedem ergehen, der sich diesem Gebiet als Unbefugter nähert. Und ich kann dir auch sagen, daß zwei Männer unterwegs sind, um dieses Gebiet zu erforschen. Zwei Männer, Johnny, die bald gestorben sind. Sie werden die Mauer überklettern, sie werden kommen, aber sich nicht gegen die Magie der Sterne auflehnen können. Du wirst bald Halbwaise sein, Junge.« Der letzte Satz hatte den Jungen besonders hart getroffen, doch er zeigte, daß er in der Lage war, die Dinge zu verfolgen. »Ist mein Vater gekommen?« »Ja, er und dieser Sinclair!« »Onkel John!« Plötzlich strahlten Johnnys Augen. Die Hoffnung erreichte und durchflutete ihn wie ein Fanal. Er war in den folgenden Sekunden völlig von der Rolle, bis Linda plötzlich aufschrie und ihr Schrei ihn zurück in die Realität holte. »Mach dir keine Hoffnungen, Junge. Ich habe dir doch gesagt, daß dieses Gebiet stärker ist.« »Warum sind wir denn nicht gestorben?« schrie Johnny. »Weshalb leben wir, wenn der Staub so stark ist?« »Weil ich das Licht bin, und das Licht kontrolliert den Geist, mein Junge. Ich habe durch das Erbe dieser mächtigen Dämonen die Kontrolle über dieses Reich bekommen. Ich werde auch die Kontrolle über euch
bekommen, denn ich bleibe in eurer Nähe. Es wird sich kaum etwas verändern, denn wir drei unternehmen einen Spaziergang.« »Wohin?« »Zurück ins Lager.« »Nein«, sagte Johnny, »das .. . das wagen Sie nicht.« »Doch, es ist alles geplant. Das wage ich schon, denn ich brauche eine neue Brut.« »Wie?« ächzte er. »Uns?« »Ja, Junge, euch. Die neue Brut, die dann hinter der Mauer lauern wird. Auch ihr sollt die Weihe des Sternenvolkes erfahren, die Macht der alten Vergangenheit kennenlernen, gegen die ihreuch nichtmehrauflehnen könnt, denn ihr werdet einsehen müssen, welch ein Wicht der Mensch doch ist. Er besitzt längst nicht die Kräfte, die er zu haben glaubt. Ich kann euch beweisen, daß ich Welten verändere. Alles weitere wird sich im Lager abspielen.« Johnny wußte nicht mehr, was er noch sagen sollte. Er fragte plötzlich nach dem Bus, obwohl er es nicht wollte. »Den haben meine Freunde verschwinden lassen. Es ist für sie leicht, mit gewissen Kräften zu spielen und sie zu manipulieren, verstehst du? Ich habe mich entschlossen, in diesem Gebiet zu herrschen, und nun wirst du zu mir kommen, und zwar sofort.« Johnny wollte nicht, doch er sah in das Gesicht der Linda Ferguson. Darin zeigte sich die ganze Angst und die schlimme Furcht, die sie empfand. Wenn er nicht gehorchte, würde sich Chilmark an ihr rächen. Außerdem hatte Johnny in dieser eigenen Welt keine Chance. Dazu reichten seine Kräfte nicht aus. Er nickte. »Ja, ich komme.« So schlecht fühlte er sich nicht. Er wußte jetzt, daß sein Vater und John Sinclair in der Nähe waren. Nur konnte er sich nicht erklären, weshalb sie gekommen waren. Das hatte sein Dad nicht vorgehabt. Der Lehrer nickte ihm zu. Aus der Nähe konnte Johnny in dessen Augen schauen. Selten zuvor hatte er einen dermaßen kalten und abweisenden Glanz gesehen. »Wohin jetzt?« »Wie gesagt, Junge, zu den anderen. Da werdet ihr sehen, wie schnell sich das Licht ausbreiten kann . . .« Worte, die eigentlich harmlos klangen, doch auf Johnnys Rücken ein Frösteln hinterließen... *** Der Mann, der mit seinem 535i durch das offene Tor gefahren war und den sommerlichen Vorgarten durchquerte, hatte ein schlechtes Gewissen, als er die Wagentür abschloß.
Er befand sich in einer Zwickmühle und machte sich schon jetzt darauf gefaßt, Fragen zu beantworten, die er nicht beantworten wollte. Der Mann war Suko. Normalerweise wäre er mit raschen Schritten auf die Haustür zugelaufen, in diesem Fall nicht, da hätte er sich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen. Da er erstens zu groß und zweitens kein Mauseloch in der Nähe war, blieb ihm nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen und sich der Person zu stellen, die ihn eingeladen hatte. Sheila Conolly öffnete die Tür, bevor Suko seinen Finger auf den Knopf legen konnte. Sie strahlte ihn an, was Suko gar nicht gefiel. Da kam das dicke Ende bestimmt nach. »Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, daß du gekommen bist.« Sheila umarmte Suko. »Komm bitte ins Haus und geh direkt durch. Bei dem Wetter müssen wir uns einfach auf die Terrasse setzen.« »Ja, natürlich, danke.« So umständlich, wie Suko redete, wischte er auch seine Sohlen ab. Verflixt, dachte er, wie verhalte ich mich nur? Da er auf der Fahrt zum Ziel keine Lösung gefunden hatte, war es ihm jetzt auch nicht möglich. Sheila hielt die Tür offen und ließ Suko vorbeigehen. Auf ihren Lippen lag ein wissendes Lächeln, das Suko allerdings nicht auffiel, denn er hielt den Blick gesenkt. Der Inspektor war oft genug bei den Conollys gewesen, den Weg durch das Haus kannte er im Schlaf, aber selten hatte er sich so unwohl gefühlt wie an diesem Tage. Er spürte die Schweißperlen auf seinem Rücken, okay, es war warm , aber daran lag es nicht allein. Suko wußte genau, was Sheila von ihm wollte. Sie hatte auf der Terrasse gedeckt. Noch wehrte der große, gelbweiß gestreifte Sonnenschirm die schrägen Strahlen ab. Die Getränke standen auf Eis, das sich in einer großen Isolierschüssel aus Kunststoff verteilte. Weißwein, Wasser, Saft. Sheila hatte zudem einen leichten Sommersalat angerichtet und Baguettes aufgeschnitten. Suko stand unschlüssig neben den bequemen Gartenstühlen und hob unbehaglich die Schultern. »Bitte, Sheila . . .« »Aber nicht doch, Suko. Ich hatte dich gebeten, zum Essen zu kommen. Ich wollte nicht allein sein.« »Das verstehe ich gut.« Er schaute sie an. Sheila trug ein locker geschnittenes, luftiges Sommerkleid aus rotem Leinen. Etwas schüchtern nahm Suko Platz und drehte den Stuhl von der Sonne weg, in die er nicht hineinschauen wollte. Die gartenbraune Sheila lächelte Suko zu. »Was möchtest du trinken?« »Saft.«
»Gern.« Sie mixte ihm ein Getränk. Orange, Grapefruit und einen Schuß Campari. Dazwischen klimperte Eis. Mit einem hohen Löffel rührte Sheila um. »Na denn — cheers«, sagte sie und schenkte sich selbst einen Weißwein ein. Sie füllte das Glas bis zur Hälfte. »Ja, danke.« Auch Suko trank. Er schielte über den Glasrand hinweg auf die lächelnde Sheila. Und dieses Lächeln zeigte ein Wissen. Dann stellte sie das Glas weg, beugte sich zurück und streckte die Arme aus. »Dabei wollte ich an diesem Samstag mit Bill hier sitzen und die Sonne genießen.« Suko hob die Schultern. »Er ist nicht da, wie ich hörte.« »Richtig.« Sheila streckte auch die Beine, zog einen der flachen Schuhe aus und versuchte, ihn auf den Zehen zu balancieren. »Ja, er ist nicht da, ebenso wie John. Hattet ihr etwas vor?« »Nicht daß ich wüßte.« »Ist aber nicht gut, wenn man allein hockt.« »Was willst du machen?« »Aber du weißt, wo John ist.« Suko versuchte erstaunt auszusehen. »Woher denn? Ich bin doch nicht der Hüter meines Freundes.« »Im Prinzip hast du recht. Ich will euch nicht gerade als Zwillinge bezeichnen, aber ich kann mir vorstellen, daß dir John sehr genau erklärt hat, wo er hingefahren ist.« »Weshalb sollte er das?« »Weil mein Mann auch verschwunden ist. Der hat mir irgend etwas von einer Fahrt gesagt, die er unternehmen muß und das genaue Ziel für sich behalten.« Suko hob die Schultern und nahm den zweiten Schluck, der ihn sehr erfrischte. »Ich bin zwar kein Experte, aber das haben Männer mal so an sich.« »Findest du?« »Klar.« »Na ja, ich kenne Bill besser, viel besser, bin schließlich mit ihm verheiratet. Wenn Bill so plötzlich verschwindet und ich auch bei John Sinclair keine Verbindung bekomme, läßt mich das schon mißtrauisch werden, Suko.« »Das verstehe ich. Nur weiß ich nicht, was es soll. Laß die beiden doch mal, vorausgesetzt, sie sind wirklich zusammen.« Sheila beugte sich vor. »Sie sind es, Suko! Ich sage dir, daß sie zusammen sind.« »Dann kann doch nichts passieren.« Sheila schaute ihn scharf und gleichzeitig mitleidig an. »Glaubst du das wirklich?« »Nun, ja, ich . . .«
»Suko, zum Teufel, was ist geschehen? Keiner sagt mir etwas. Man läßt mich im unklaren. Johnny ist auch nicht hier. Der ist mit der Schulklasse unterwegs. Was ist geschehen, Suko?« »Ich kann es dir nicht sagen.« »Du willst es nicht!« »Ich kann es nicht, Sheila.« »Weißt du denn, wo die beiden hin sind?« Suko schwieg. »Sie sind doch zusammen — oder?« Der Inspektor fühlte sich, als hätte man ihn auf einen heißen Stuhl gesetzt. Er drehte und wendete sich, holte schon einige Male Luft, um Antworten zu geben, die er sich dann überlegte. Verdammt, er konnte Sheila nicht ins Gesicht lügen. Zwar hatte er John versprechen müssen, nur im äußersten Notfall etwas verlauten zu lassen, aber das hier war nicht einkalkuliert worden. Sheila Conolly drängte nicht. Sie ließ Suko Zeit. Der Blick reichte ihm aus. In den Augen lag ein Vorwurf, dem er nicht entwischen konnte. »Nun?« Suko nickte. »Du kannst einen Menschen quälen, Sheila.« Er trank einen Schuck. »Möchtest du etwas essen?« »Nein, noch nicht.« »Dann später. Bitte, wo sind die beiden Männer hingefahren. Was hat Bill wieder entdeckt?« »Eigentlich nichts. Sie sind in den National Park am Dartmoor Forest gefahren.« Sheila hätte fast Wein verschüttet. »Sag das noch mal.« Er wiederholte das Ziel. Sheila begriff es nicht. »Was . . . was wollen die denn in dieser gottverlassenen Ecke?« »Keine Ahnung.« »Tatsächlich nicht?« Suko wiegte den Kopf. Er schaute gegen das Dach des Sonnenschirms. »Keine Ahnung ist natürlich etwas übertrieben. Du hast das Problem eigentlich vorhin schon angeschnitten, Sheila. Es geht um den Wandertag deines Sohnes Johnny.« Sheila bekam große Augen. »Der Wandertag? Was hat er denn damit zu tun?« »Weiß ich nicht genau. Jedenfalls ist Bill durch irgend etwas mißtrauisch geworden und hat sich vorgenommen, in den National Park zu fahren und nach dem Rechten zu schauen.« Sheila stellte ihr Glas ab und stand auf. Sie blieb vor dem Stuhl stehen, starrte ins Leere, bewegte die Lippen, ohne daß sie ein Wort sprach. Suko gefiel der Zustand nicht. »He, was ist los?« Sie schüttelte den Kopf und blieb stumm. Auch die schrägen, warmen Sonnenstrahlen störten sie nicht. Die blonde Frau wirkte in der Hitze wie eingefroren. »Es muß etwas passiert sein, Suko«, begann sie nach einer Weile. »Davon bin ich fest überzeugt. Fs ist nicht nur Bills heimliches
Verschwinden, das mich mißtrauisch gemacht hat, da spielen auch andere Dinge eine Rolle.« »Welche?« »Ist dir aufgefallen, daß Nadine nicht zu deiner Begrüßung kam?« »Das habe ich schon bemerkt.« »Sie muß etwas spüren, Suko. Du weißt selbst, daß es zwischen ihr und Johnny eine besondere Verbindung gibt. Die beiden stehen in einem außergewöhnlichen Verhältnis zueinander. Man kann es als eine Seelenverwandtschaft bezeichnen oder wie immer du es sehen und erklären willst. Jedenfalls hat sich Nadine an diesem Tag sehr zurückgehalten und zeigte gleichzeitig eine gewisse Unruhe. Sie reagierte ziemlich paradox, wenn du mich verstehst.« »Nein, das kann auch am Wetter liegen. Bei dieser Hitze reagieren auch die Tiere ungewöhnlich.« »Möglich, daß es bei normalen Katzen und Hunden so ist. Aber Nadine ist kein Haustier in dem Sinne, das weißt du auch. Sie ist mehr. Eine Wölfin mit der Seele eines Menschen. Manchmal glaube ich, daß sie trotz ihres anderen Aussehens mehr Mensch als Tier ist. Verrückt, aber wir haben oft genug den Beweis bekommen. Sie hat schon öfter bemerkt, daß etwas nicht stimmte.« »Wie hat sie denn gehandelt?« »Ungewöhnlich, so zurückgezogen. Als wäre sie deprimiert. Sie mied in den letzten beiden Stunden meine Nähe und hat sich in das Zimmer unseres Sohnes zurückgezogen. Mir kam es vor, als wollte sie mir nicht unter die Augen treten, als würde sie selbst eines der Zentren dieser Verschwörung sein.« Suko winkte ab. »Verschwörung ist wohl etwas weit hergeholt, finde ich.« »Für mich nicht. Ich will meinen Mann nicht gerade als einen Verräter hinstellen, wenn ich jedoch genauer darüber nachdenke, hat er sich unmöglich benommen. Er hätte mir zumindest etwas sagen können, das gehört sich einfach.« »Bestimmt wollte er dich nicht beunruhigen. Du kennst Bill, und du kennst dich.« Sheila fuhr herum. »Was soll denn das schon wieder heißen, du kennst dich? Bin ich denn so schlimm?« »Das nicht gerade, aber deine Besorgnis ist allgemein bekannt.« »Ja, die Sorgen einer Mutter. Bill und John fahren in den National Park. Weshalb? Weil Johnny sich in Gefahr befindet; er ist mit seiner Klasse zu dieser Stunde dort. Sie wollten im National Park die letzten beiden Tage verbringen.« »Kennst du die Gegend denn?« »Nein, leider nicht. Ich weiß nur, daß sie sehr einsam sein soll.« »Können dort Gefahren lauern?« »Klar, wo nicht?«
»Einsam«, murmelte Suko. »Er war längst aufgestanden und hatte sich neben Sheila gestellt. »Weißt du, ich würde dir gern helfen, aber ich weiß auch nicht mehr. John und Bill haben sich getroffen, um loszufahren, das ist alles.« »Dann hat man dich wirklich nicht eingeweiht?« »Leider nicht.« Sheila schaute Suko an. In ihren Augen lag ein qualvoller Ausdruck. »Was machen wir denn jetzt?« »Ich habe keine Ahnung, frage mich allerdings, ob du überhaupt etwas machen willst.« »Ja, man muß was tun.« »Aber nicht hinfahren.« Sheila schaute auf die Schuhspitzen. »Das wird nicht möglich sein. Ich hätte auch nichts gesagt, wenn sich Nadine nicht so ungewöhnlich benommen hätte. So kenne ich sie eigentlich nur, wenn eine gewisse Gefahr droht.« »Darf ich hin?« »Klar, ich gehe mit.« Suko sagte Sheila nicht, daß auch er sich Sorgen machte. Wenn Bill Conolly seinen Freund John alarmierte, um mit ihm zu einem bestimmten Ziel zu fahren, hatte das seinen Grund. Aus reinem Spaß am Autofahren taten sie so etwas nicht. Da Sheila die Hausherrin war, ließ Suko sie auch vorgehen. Das Zimmer war abgedunkelt. Vor der Fensterscheibe hingen die fast geschlossenen Lamellen des Rollos. Beide mußten sich erst an die Verhältnisse gewöhnen und sahen vor dem Bett des Jungen den Schatten, der sich auf dem Boden ausgebreitet hatte. Nadine hob den Kopf, als Suko kam. Sie kannte ihn, aber sie kam nicht, um ihn zu begrüßen, wie sie es sonst immer getan hatte, wenn Suko zu Besuch war. Sheila sprach ihn darauf an, und der Inspektor nickte. »Das ist in der Tat ungewöhnlich.« »Meine ich auch.« »Und du meinst, daß es mit Bills Reise zu seinem Sohn zusammenhängt?« »Ich weiß es nicht genau. Jedenfalls ist Nadine für mich ein Anzeiger für Stimmungen und Strömungen. Wenn sie in diese Apathie fällt, ist etwas nicht in Ordnung.« »Meinst du wirklich, daß es eine Apathie ist?« »Was sonst?« »Ich kann es dir nicht genau sagen.« Suko setzte sich neben die Wölfin auf einen Korbstuhl. »Ich habe eher den Eindruck, als wäre sie sehr wachsam. Das Funkeln ihrer Augen kommt mir jedenfalls so vor. Du kannst mich auslachen, aber ich sehe es so.«
»Kann es dann auch sein, daß sie versucht, Kontakt mit Johnny aufzunehmen? Auf dem Weg der Telepathie, zum Beispiel.« »Du prescht aber weit vor.« »Zu weit?« Sheila schüttelte den Kopf. »Nein, Suko, denn daran habe ich selbst gedacht. Ich könnte heulen, weißt du. Wenn Nadine sich wenigstens verständlich machen, wenn sie reden könnte. Dabei steckt in ihr der Geist eines Menschen.« »Stimmt schon, aber nicht dessen Stimme.« »Das ist unser Problem.« Suko wußte ebenfalls nicht, was er noch sagen sollte. Er fühlte sich immer unwohler in seiner Haut. Da saß er nun zusammen mit Sheila und starrte die Wölfin an, als wäre sie ein Orakel, das sich ihnen in den nächsten Minuten offenbaren würde. Nur tat sie das nicht. Nadine blieb ruhig und gleichzeitig wachsam liegen. Suko konzentrierte sich dabei auf ihre Augen. Bei normalen Wölfen fand man Raubtieraugen, nicht bei Nadine. Dieses Tier besaß menschliche, und es sah Suko mit einem beinahe traurigen Blick an, als wüßte es mehr als die beiden Menschen vor ihr. »Ich komm' da nicht mehr mit zurecht«, flüsterte Sheila. »Es ist irgendwie alles durcheinander.« »Das stimmt.« Sheila ging in die Knie. Es sah so aus, als wollte sie Nadine ansprechen, doch die Wölfin reagierte vorher, denn sie stand plötzlich auf, wobei sich gleichzeitig bei ihr das Fell sträubte, sie das Maul öffnete und ein Knurren hervordrang. Die Frau zuckte zurück. »Suko, das hat etwas zu bedeuten, glaub mir. Sie knurrt nicht grundlos.« »Möglich.« »Aber was, zum Teufel? Es hängt mit Johnny zusammen, das spüre ich genau.« Nadine nahm von den beiden Menschen keine Notiz. Unruhig begann sie eine Wanderung durch das Zimmer, ließ auch das Bett nicht aus und sprang hinauf. Dort blieb sie hocken, als wollte sie die Liegestatt verteidigen. Sie bewegte den Kopf, die Zunge schlug aus dem Maul. Sie schaute hoch zur Decke, dann drang ein Laut der Klage aus ihrem Maul, der Sheila und Suko Schauer der Angst über den Rücken trieb. Der Ton verwehte nur allmählich, und erhörte sich auch kurz vor Schluß noch so schlimm und deprimierend an. »Sie will es!« flüsterte Sheila. »Sie will es, aber sie schafft es nicht. Mein Gott, was ist das nur? Was ist mit unserem Jungen geschehen, Suko? Was?« Er stand da und hob die Schultern.
Nadine wälzte sich auf den Rücken. Hatte sie Furcht, war sie traurig, weil sie nichts tun konnte? »Mir kommt es vor, als hätte sie einen Hilfeschrei empfangen«, hauchte Sheila. Suko sagte nichts. Sheila hielt es nicht aus. Sie ging vor bis, zum Bett und streckte den Arm aus. Mit der rechten Hand wühlte sie das Fell der Wölfin durch und zuckte schon beim ersten Kontakt zurück, denn so etwas hatte sie noch nie erlebt. »Was ist denn?« Sheila starrte Suko an. Die Augen ebenso geöffnet wie den Mund. Das ... das ist unwahrscheinlich, Suko. Die Wölfin, das Fell ... es ... es ist kalt wie Eis.« »Nein.« »Doch. Leg deine Hand drauf und . . .« Das tat Suko nicht mehr, und auch Sheila wurde abgelenkt, denn plötzlich entstand über dem Körper ein heller Schatten. Eine Aura, ein Geist, der die Umrisse eines Frauenkörpers besaß. Die Seele der Nadine Berger hatte den Körper der Wölfin verlassen. Nun wußten Sheila und Suko erst richtig, in welcher Gefahr sich Johnny befand... *** Diese Welt war anders, ganz anders. Aber war es noch eine Welt, von der man sprechen konnte oder nur ein Teil, ein zurückgelassenes Reststück, von dem die alten Legenden und Sagen berichteten? Die Mauer hatte sie von der anderen abgetrennt, aber uns war es gelungen, die Mauer zu überklettern, und wir mußten uns dieser Welt stellen. Sie war eine Enklave, eine Insel, eine Ruine, aber gefüllt mit einer Kraft, die auch mir Rätsel aufgab. Keine Magie, wie sie die Hölle abstrahlte oder sie mir von Aibon oder Atlantis bekannt war, nein, diese hier war mir noch nie begegnet. Bill und ich hatten das Gelände sehr vorsichtig betreten. Jetzt standen wir zwischen den Ruinenmauern und ließen unsere Blicke über das zurückgelassene Chaos gleiten, das sich vor uns wie ein unebener Teppich ausbreitete. Graue Steinmauern, eine zerstörte Rundbogendecke, von der es nur noch Fragmente gab. Eine Treppe, ein Teppich, Säulen, ein grünes Feuer innerhalb einer Schale und in den Mauern kleine Nischen, in denen ebenfalls grüne Totenschädel leuchteten. Darauf konzentrierte ich mich. Es war mir unklar, was die Schädel zu bedeuten hatten. Möglicherweise konnte man sie als Erbe der Eroberer
oder Dämonen bezeichnen, die hier einmal gehaust hatten. Die Totenschädel blieben beobachtend zurück, um auch an die anderen Wesen melden zu können, was sich hinter der Mauer tat. Wir standen da, schauten uns um und hatten eine Gänsehaut bekommen. Ich hielt mich direkt neben einer der kraterähnlichen Öffnungen am Boden auf. Die Tiefe konnte ich mit den Blicken nicht ausloten. Sie verschwamm irgendwo. Ich hörte das Knirschen der Schritte, als sich mein Freund zur Seite bewegte. »John, bitte, komm mal her. Ich . . . ich muß dir etwas zeigen.« Neben einer leblosen Gestalt war er stehengeblieben. Sein Gesicht zeigte Blässe, auch ich bekam einen Schreck, als ich gegen die Knochen, den Staub und die Spinnweben sah, die das Gesicht bildeten. »Kennst du ihn etwa?« Bill nickte. Seine Lippen blieben dabei zusammengepreßt. »Es ist der Fahrer, wenn mich nicht alles täuscht. Ich war dabei, als die Schüler zu ihrer Reise starteten. Da habe ich mich kurz mit dem Mann unterhalten können. Er kannte die Gegend hier.« »Dann hätte er nicht die Mauern überklettern sollen.« »Das sagst du so einfach, John. Weißt du wirklich, was im Kopf dieses Mannes vorgegangen ist, welche Motive ihn zu dieser Tat geleitet haben? Wir wollen uns dem Grauen oder dieser anderen Magie stellen. Möglicherweise hat er das gleiche vorgehabt. Einfach nur die Schüler retten, sie vor dem Schlimmsten bewahren.« Mein Freund atmete tiefein. »Allmählich habeich das Gefühl, als würde diese Welt nur den Tod kennen, und ich habe auch Angst davor, hier weiterzusuchen. Du verstehst, was ich meine?« »Johnny und Linda?« »Ja, genau. Ich habe sie hier nicht gesehen, noch nicht, aber ich traue mich nicht, in die verdammten Krater hineinzublicken, aus Furcht, das Schlimmste zu sehen.« »Ich glaube auch nicht, daß die beiden in einem Krater verschwunden sind, Bill.« »Was macht dich so sicher?« Ich winkte mit dem Zeigefinger, denn ich wollte Bill etwas zeigen, das ich schon vorher entdeckt hatte. Wir mußten dabei zur Seite gehen und auch den Teppich überqueren, der die Mitte einer breiten Treppe wie ein langes, rotes Tuch bedeckte. »Schau dir das an.« Bill sah zu Boden. In der alten Ruine ruhte der Staub einer langen Zeit. An manchen Stellen reichte er knöchelhoch, an anderen wiederum breitete er sich auf dem Grund wie eine dunkelgraue Schicht aus. Wo der Staub höher wuchs, sahen wir die Abdrücke. Relativ große Fußspuren, die auch zu einem Erwachsenen gepaßt hätten, ihm aber nicht gehörten, denn es waren die gleichen Abdrücke, denen wir vor der Mauer gefolgt waren.
»Johnny und Linda!« Bill flüsterte die drei Worte und schüttelte sich dabei. »Sie waren hier, mein Gott, sie waren hier.« Er drehte den Kopf zu mir. »Sag was, John!« »Ja, sie waren hier . . .« »Und jetzt?« »Sind sie wieder weg. Gegangen, Bill, fort.« Er glaubte mir nicht. »Du willst mich nur beruhigen. Ich soll meinen Sohn nicht finden. Gib zu, daß du mich nur beruhigen willst. Gib es endlich zu.« »Nichts dergleichen stimmt, Bill. Komm mit.« Ich ging hinter ihm vorbei, er drehte sich um und blieb mir auf den Fersen. Was er in den folgenden Sekunden sah, war keine Täuschung. Auf dem Boden, im Staub deutlich zu erkennen, zeichneten sich die Abdrücke der beiden unterschiedlich großen Schuhe ab, zusammen mit einem dritten Paar. Die Richtung stimmte, sie führte zu dem Teil der Ruine, dessen Mauer nicht mehr stand. »Siehst du?« Bill stand da, staunte und wischte über sein schweißnasses Gesicht. Er überlegte scharf, ich kannte diesen Ausdruck beim ihm. »Das bedeutet, John, daß mein Sohn und Linda Ferguson dieses verdammte Gebiet verlassen haben.« »Sicher.« »Nur ist da noch eine Spur.« »Sehr richtig, Bill. Ich will ehrlich sein, sie bereitet auch mir Sorgen.« »Verdammt, wer kann das sein?« Ich hob die Schultern. »Rechnen müssen wir mit allem. Ein Dämon, einer der überlebt hat.. .« »Und der sich auch für den Tod des Fahrers verantwortlich zeigt, nicht wahr?« »Weshalb sollte ich lügen?« »Wenn das stimmt, John, ist er ein Mörder!« flüsterte Bill. »Und Mörder kennen kein Pardon. Denen macht es auch nichts aus, die beiden Kinder zu töten.« »Soweit sind wir nicht.« Bill räusperte sich. Ich sah es seinem Gesicht an, daß ersieh zu einem Entschluß durchgerungen hatte. »John, du kannst sagen, was du willst, ich aber bleibe nicht hier. Ich weiß nicht, wie lange sie verschwunden sind, doch wenn ich mich beeile, habe ich möglicherweise die Chance, Johnny und Linda einzuholen. Ich will mir nicht vorwerfen lassen, nicht alles getan zu haben.« »Das kann ich verstehen. Vielleicht solltest du tatsächlich allein gehen, denn hier lauert etwas, das mir überhaupt nicht gefällt. Ich habe den Eindruck, als wäre zwischen den Mauern dieser Ruine etwas
zurückgelassen worden, das ich unbedingt herausfinden muß. Geh vor, ich komme später nach.« »Ja, das mache ich auch und . . .« Bill Conolly stoppte mitten im Satz. Auch ich stand plötzlich unbeweglich, denn wir hatten beide etwas gehört, das überhaupt nicht in diese Stille hineinpaßte. Es war ein Summen, ein Singen, das sich zusammensetzte aus hohen und tieferen Tönen. Dabei drang es nicht nur von einer Stelle aus gegen unsere Ohren, es hatte uns gewissermaßen eingekreist. Wir drehten uns, denn das Geräusch paßte nicht hierher. Es kündigte etwas an. Das Etwas war da! Grüne Strahlen, die von den Totenschädeln in den Nischen ausgesandt wurden und sich an einer bestimmten Stelle konzentrierten. Sie lag oberhalb der mit einem roten Teppich bedeckten Treppe, wo grünes Feuer aus einer Schale flammte und die letzte Stufe auf einer altarähnlichen Plattform mündete. Von verschiedenen Seiten erwischten die Strahlen das Ziel. Sie schufen dort eine magische Zone, die sich immer stärker auf einen bestimmten Punkt konzentrierte, wo sich plötzlich die Umrisse einer menschlichen Gestalt abzeichneten. Diese Umrisse verdichteten sich in den nächsten Sekunden, so daß die Gestalt eine feste Materie annehmen konnte. Ein Mann war entstanden! Einen, den wir nicht kannten. Dunkelhaarig, mit einem ebenfalls leicht dunklen Teint. Das schwarze Haar wuchs auf seinem Kopf wie ein dünne Kappe. Er trug ein ebenfalls dunkles Gewand mit zwei langen, schalartigen, breiten Säumen, die vom Kragen her hinab bis zum Ende des Gewandes liefen. Die Arme hatte er hochgereckt, und seine Hände fingen die grünen Strahlen auf, als wollten sie aus ihnen die Energie für ein langes Leben herausholen. Keiner von uns wußte, um wen es sich bei dieser Gestalt handelte. Obwohl der Mann aussah wie wir, konnte ich mir gut vorstellen, es mit einem dämonischen Wesen zu tun zu haben. Ich dachte auch weiter darüber nach, ob er uns feindlich oder neutral gesonnen war. Das würden wir noch herausfinden, denn der Unbekannte zeigte sich nicht angriffslustig. Er ließ seine Arme sinken. Mit dieser Bewegung sorgte er dafür, daß auch die Strahlen verschwanden. »Das riecht schon nach Atlantis!« hauchte Bill. So unrecht hatte mein Freund damit nicht. Auch die Priester und Magier des längst versunkenen Kontinents hatten so ähnlich ausgesehen wie er. Ebenfalls in lange Gewänder gekleidet, aber ich glaubte nicht an einen Atlanter. Dahinter steckte mehr, dahinter mußte einfach mehr stecken, wie mir schien. »Was will er von uns?«
»Vielleicht eine Erklärung abgeben.« Bill lachte. »Dämonen geben Statements ab, das kann ich nicht glauben, nein, das geht nicht an. Schau dir mal sein Gesicht an und besonders die Augen. Die sehen aus, als wären sie überhaupt nicht vorhanden. Keine Farbe.« »Okay, Alter, ich gehe zu ihm.« »Und ich warte.« 1 »Willst du nicht zu Johnny und Linda?« »Später. Sieh zu, daß er dich nicht zu lange aufhält.« »Mach ich.« Beim ersten Schritt warf ich einen Blick auf mein vor der Brust baumelndes Kreuz, das sich überhaupt nicht rührte. Die Zeichen blieben still. Kein Licht schimmerte darüber hinweg. Sie selbst leuchteten auch nicht von innen. Ich konzentrierte mich auf den Gesichtsausdruck des Fremden. Auch dort entdeckte ich keine Bewegung, kein Anzeichen der Angst. An einem Krater schritt ich vorbei und hatte wenig später den Teppich erreicht, der die Stufen bedeckte. Vor der Treppe blieb ich stehen. Wenn wir uns anschauten, mußte ich den Kopf leicht anheben, er brauchte ihn nur zu senken, so daß seine Haltung etwas Majestätisches bekommen hatte, was mich nicht weiter störte, da war ich nicht eigen. Da er keinerlei Anstalten traf, mich anzusprechen, versuchte ich es. »Wer bist du?« rief ich ihm entgegen. »Aus welch einer Welt kommst du in dieses Land?« »Ich bin ein Reisender. Ich stamme aus einer Zeit, die weit vor dieser liegt.« »Das habe ich mir gedacht. Gehörst du einem Sternenvolk an?« »Ja, so sagen die Menschen heute. Wir waren schon vor sehr langer Zeit auf dieser Erde und haben unsere Spuren hinterlassen. Wir bauten Burgen, Tempel, wir durchreisten die Welt dank unserer Geisteskräfte. Wir konzentrierten uns auf die Seele, auf die psychischen Kräfte, und wir nannten uns die Psychonauten.« Mich traf fast der Schlag. Die Psychonauten kannte ich. Es war eine Gruppe von Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die Rätsel der Welt zu lösen. Soviel ich wußte, konzentrierten sie sich dabei auf den Mittelmeerraum, wo sie die Küsten Europas, Afrikas und Asiens mit einschlossen. »Ein Psychonaut?« wiederholte ich. »Und dann hier? Wieso nicht an den alten Kulturstätten der Menschheit? Kannst du mir das erklären? Es gibt die Psychonauten, ich kenne sie, aber sie haben nie davon geredet, daß sie auch hier gewesen sind.« »Es sind auch nicht die ersten. Wir waren die ersten. Was heute vorhanden ist, kannst du als unsere Nachfolger bezeichnen. Wir waren
die ersten, die es schafften, die unermeßliche und unberechenbare Ferne zu überbrücken.« »Dann seid ihr hier gelandet.« »Wir wollten einen Stützpunkt haben, doch die Erde war nicht reif an dieser Stelle. Außerdem gab es Verräter unter uns. Wir experimentierten mit dem Licht, denn das Licht ist der Anfang von allem. Wenn das Licht nicht mehr vorhanden ist, legt sich die Finsternis über die Welten. Wir reisten mit dem Licht und der Kraft unseres Geistes. Das Licht kann beeinflußbar werden, der Geist nicht. Es sind viele Lichter beeinflußbar geworden, das glaube mir. Die Kraft, die Stärke veränderte sich. Das Licht nahm das Böse auf. Viele von uns sind ihm verfallen, ich verfiel ihm nicht und versuchte zu retten, was noch zu retten war, aber meine Getreuen folgten mir nicht. So mußte ich sie bestrafen. Ich sorgte dafür, daß dieser Stützpunkt zerstört wurde, daß er blieb, sich aber nicht zeigte, vorausgesetzt, es passierte nichts Böses. Es ist etwas geschehen, die alte Brut konnte erwachen. Etwas Böses hat diese Umgebung getränkt, und es waren Menschen von heute, die es taten. Dadurch erwachte das Licht, das noch zurückgeblieben war. Es suchte sich einen Körper, in den es hineinfuhr. So war ein Mensch von dem veränderten Licht erfaßt worden und konnte sich unter Menschen bewegen. Alle anderen Verräter schloß ich in diesen Mauern ein, nur der eine war zu stark für mich. Ich konnte ihn nicht fassen, weil er Licht war. Jetzt sitzt er in einem Körper und will die Macht. Voraussetzungen sind geschaffen worden. Menschen kippten Unrat in den Sumpf, eine böse Tat, auf die das Licht nur gewartet hatte. Es hat diese Tat geleitet und die beiden Männer, die es taten, zerstört. Erschossen. Sie fielen in den Sumpf, doch sie kehrten zurück als lebende Leichname, die die Mauer bewachten, damit niemand an die Brut dahinter herankam. Wer es versuchte, mußte sterben.« Sicherlich hatte er damit den Fahrer gemeint, aber ich wollte mehr wissen. »Wie stehst du zu dem als echter Psychonaut?« »Ich hasse das Licht nicht. Aber ich hasse es in der Form, wie ich es erlebt habe.« »Im Körpereines Menschen.« »Er ist nicht würdig, es zu sein. Damals machte ich einen Fehler, weil ich nicht alle Lichter bannen konnte. Eins blieb zurück, die anderen siehst du in den Wänden gefangen. Sie leuchten in den Nischen als gelbe Totenschädel, das war meine Bestrafung sowie auch die Zerstörung dieses Tempels. Die Menschen haben gewußt, daß hier etwas existierte, doch sie wußten nicht, was es gewesen ist. Erst als eine Untat die Umgebung zeichnete, stiegen die Trümmer der Ruine wieder aus dem Kreislauf der Zeiten hervor und damit auch der letzte Verräter, der sich einen Gastkörper suchte und ihn leider fand.«
»Wo ist er jetzt?« »Er ging, er hat die Ruine verlassen. Wenn er zurückkehren will, wird er sie nicht mehr so vorfinden, wie sie jetzt aussieht.« »Willst du sie zerstören?« »]a, es ist die letzte Möglichkeit. Ich mußte warten, bis sie erschien, um sie vernichten zu können.« Mir war es in diesem Augenblick egal, was mit den alten Mauern geschah, Bill Conolly sicherlich auch. Für ihn und mich ging es um ganz andere Dinge. Johnny und Linda waren verschwunden. Ich brauchte nicht groß darüber nachzudenken, wer sie mitgenommen hatte. Da kam nur dieser mit dem Licht gefüllte Verräter in Frage. »Wirst du ihn einfangen?« erkundigte ich mich. »Ich würde es gern, doch mein Platz ist auf diesen Ort begrenzt. Ich habe kein Unheil über diese Welt bringen wollen, es waren die anderen, die meiner Kontrolle entglitten.« »Dann werden wir ihn holen!« Der Fremde, dessen Namen ich nicht einmal wußte, schwieg in den folgenden Sekunden. Wahrscheinlich traute er uns diese Aufgabe nicht zu. »Ihr wollt ihn stoppen? Wie denn?« Ich lächelte optimistisch. »Es wird uns schon etwas einfallen, keine Sorge. Können wir gehen?« »Ja, verlaßt diese Stätte, die leider zur Heimat einer schrecklichen Brut geworden ist. Ich will sie nicht mehr sehen, ich will sie vernichten. Geht, aber geht schnell.« Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich drehte mich um und lief zurück zu Bill. Es begann bereits. Nach dem zweiten Schritt schon vernahm ich das dumpfe Rumoren aus der Tiefe der Erde. Die breiten, kraterartigen Löcher trugen das Echo hinaus. Sie kündeten auch von der Gefahr, in der wir uns befanden. Ich sprang über einen neu entstandenen Spalt hinweg. Bill wich bereits zurück, und ich nahm mir die Zeit, noch im Laufen über die Schulter zu schauen. Der Psychonaut hatte seinen Platz nicht verändert. Wie schon bei seiner Ankunft hielt er die Arme in die Höhe gestreckt und wurde vom grünen Licht umtanzt, das seine Kraft verändert hatte und nun zerstörerisch wirkte. In den Nischen veränderten sich die grünen Totenschädel. Sie begannen zu reißen und knacken. Es hörte sich unheimlich an, dann zersprangen sie und wurden zu Lichtbällen, die schattengleich durch die Ruine rasten, so daß ich den Kopf einziehen mußte, sonst wäre ich von einem dieser Energiebälle noch getroffen worden. Ich rannte so schnell wie möglich, das Licht sollte mich nicht mehr erwischen.
Ich sah, wie die Mauern neben mir Risse bekamen. Es war nur mehr eine Sache von Sekunden, wann sie endgültig einstürzen würden. Bill wartete bereits auf mich. Mit beiden Händen winkte er mir heftig zu. Dann übersprang ich einen letzten Spalt, und befand mich noch in der Luft, als das mörderisch klingende Krachen mir Schauer über den Rücken jagte. Mein Freund fing mich ab, weil ich einfach mitzuviel Schwung gesprungen war. In seinem Griff drehte ich mich herum. Der Fremde hatte sein Versprechen eingelöst. Die Ruine sackte zusammen. Die letzten steinernen Rundbögen, die einmal das Dach gehalten hatten, fielen zusammen, als hätte eine Bombe sie gesprengt. Fs gab für die Ruine keine Rettung mehr. Die Gewalt war zu stark, sie richtete sich nach innen. Überall, wo die grünen Lichtbälle trafen, zerstörten sie einen Teil der Mauer. Bill und ich gingen sicherheitshalber weiter zurück. Wir wollten von keinen umherfliegenden Brocken getroffen werden, sondern aus der Distanz beobachten. Staub wallte hoch, als die Mauern ineinanderkrach-ten und sich der Boden öffnete. Es war wie bei einem Vulkanausbruch, nur eben in umgekehrter Richtung, denn die Krater im Boden verschlangen die Reste, als wären sie für sie ein besonderes Futter. »Verstehst du das?« fragte Bill. »Zur Hälfte. Ich hätte nie gedacht, daß die Psycho-nauten auch in diesem Land einen Stützpunkt hatten. Sie müssen wirklich weit herumgekommen sein.« »Und nicht nur auf unserer Welt. Die ersten haben sich damals schon einen Traum erfüllt.« »Der manchmal sicherlich zum Alptraum wurde«, bemerkte Bill. »Auch das.« Ich fühlte mich wie ein Beobachter, der zuschaute, wie ein Traum allmählich zerrann. Dies mit einem wahren Donnergetöse und einem Erdboden, der alles schluckte. Es dauerte nicht einmal eine Minute, dann war von dieser alten Ruine nichts mehrzu sehen. Auch die letzte Spur der trüben Psychonaulen war damit gelöscht worden. Ob wir sie jemals wiederlinden würden, war mehr als fraglich. Doch das war nicht das Thema. Für uns zählte der zurückgebliebene Verräter, dessen Geist in Licht umgewandelt war und dersich nureinen neuen Körper gesucht hatte. Bill hatte an das gleiche Thema gedacht wie ich. »Wer, John, kann dieser Körper sein?« Er stand vor mir, den Arm halb ausgestreckt, den Blick beschwörend auf mich gerichtet. »Ich weiß es nicht.« »Hoffentlich kein Bekannter.«
»Zumindest ist es nicht der Fahrer gewesen«, gab ich zu bedenken. »Das nehme ich als ein positives Zeichen hin.« »So könnte man es sehen.« Wir hatten dem Ort, wo einst die Ruine des Psycho-nauten-Tempels gestanden hatte, längst den Rücken zugedreht und gingen in die Richtung zurück, aus der wir auch gekommen waren. Eigentlich hätten wir noch die Mauer überklettern müssen, die aber war verschwunden, ebenso wie der Nebel, der sie als grauer, wolkiger Schutz umgeben hatte. »Nun ja«, sagte Bill, nach vorn deutend, »vielleicht haben wir beide ja Glück.« Der Satz hatte möglicherweise optimistisch klingen sollen. Das war nicht der Fall gewesen. Bills Stimme hatte sich eher angehört, als würde er jeden Augenblick anfangen zu weinen. Das Schicksal seines Sohnes und dessen Klassenkameradin deprimierte ihn sehr... *** Daß Linda Ferguson nur schlecht laufen konnte, darauf konnte und wollte Chilmark keine Rücksicht nehmen. Fr trieb die beiden Schüler an, und dies nicht allein mit Worten. Manchmal schlug er sie, damit sie sich beeilten. Johnny protestierte vergeblich, dieser veränderte Mensch kannte kein Pardon. Ihn rührte auch das Weinen des Mädchens nicht. Er war kalt wie das Sternenlicht in seinen Augen. Normalerweise wäre es Linda nicht möglich gewesen, den Schritt mitzuhalten. Bei jedem falschen Auftreten schössen die Schmerzen wie Blitze durch ihr Bein, doch das Wissen darum, daß sie eventuell getötet werden konnte, wenn sie schlappmachte, ließ ihre Kräfte wachsen, die Schmerzen zwar nicht vergessen, aber nicht mehr so direkt zur Kenntnis nehmen. Zudem gab es noch Johnny. Der Junge tat sein Bestes. Linda ging links neben ihm und hatte ihren Arm um seine Schultern gelegt. So konnte er sie besser abstützen, und sie brauchte auch ihren verletzten Fuß nicht unnötig zu belasten. Wenn sie auftrat, dann sachter. Die Beschaffenheit des Bodens machte ihnen ebenfalls zu schaffen. Zwar war er nicht hart und setzte ihnen dementsprechend weniger Widerstand entgegen, aber die Nässe an einigen Stellen und die permanente Feuchte ließ sie manches Mal ins Rutschen kommen, dann mußte Johnny besonders fest zugreifen.
Jedesmal wenn Linda aufschrie, hatte auch er das Gefühl, Schmerzen zu spüren, und er flüsterte ihr mit scharfer Stimme immer wieder den Mut zu, den sie brauchte. Der veränderte Lehrer hielt sich hinter ihnen. Manchmal hörten sie ihn sprechen, ohne ihn verstehen zu können. Dann wieder das leise, kichernde und widerliche Lachen, das aus seinem Mund drang und ihnen noch größere Furcht einjagte. Wahrscheinlich drückte er so seine Vorfreude aus, den Menschen etwas antun zu können. Die Luft umgab sie wie Blei. Es fiel ihnen schwer, sie zu atmen. Schwül war es geworden. Die Dunstschleier über dem Sumpf hatten sich zusammengefunden und noch mehr verdichtet. In ihnen tanzten ungezählte Insekten, ebenfalls beschienen von den Strahlen einer fahlen Sonne, die als zerfasernder Glutball am Himmel lauerte. Ein Vorgeschmack auf die Hölle, wie es ihnen schien. Auch dort konnte es kaum schlimmer sein. Linda hatte die Zähne zusammengebissen, die Lippen aufeinandergepreßt. Wenn sie etwas sagte, hörte Johnny es mehr wie ein Zischen, daß aus dem Mundspalt drang. »Wird er uns töten?« »Weiß nicht.« »Aber er ... er kann doch nicht einfach .. .« »Er will alles, glaube ich. Darüber sollten wir nicht nachdenken, Linda.« »Worüber dann?« »Chilmark hat selbst gesagt, daß es zwei Menschen gibt, die nach uns gesucht haben.« »Dein Vater, meine Güte . . .« »Und John Sinclair, mein Patenonkel. Er ist, so komisch es sich anhört, etwas Besonderes. Ein Mann, der bei Scotland Yard angestellt ist, aber einen besonderen Job hat.« »Welchen denn?« Johnny schaffte es sogar zu lachen. »Mein Onkel ist ein Geisterjäger. Er hetzt Geister und Dämonen, Gechöpfe der Finsternis, verstehst du das, Linda?« »Nein.« »Typen wie Chilmark sind genau sein Fall. Wie gesagt, noch haben wir durch ihn und meinen Dad eine Chance.« Linda stöhnte, weil sie wieder falsch aufgetreten war. »Und was ist, wenn sie es nicht schaffen, wenn die andere Kraft stärker war?« »Sie darf es nicht sein!« »Aber wenn . . .« »Hörtauf zu reden!« befahl Chilmark. »Habtihrnoch soviel Kraft, daß ihr sprechen könnt? Dann würde ich euch raten, schneller zu gehen.« »Nein, das geht nicht!« widersprach Johnny. »Linda kann es nicht. Sie ... sie ist behindert.« »Klar, dann soll sie auch ihr Maul halten.« Johnny hatte sich nicht einmal umgedreht. So wußte er nicht, was mit der Ruine und der Mauer geschehen war. Rechts von ihnen breitete sich
bereits der Sumpf aus. Links wuchs der dichte Wald wie ein langer Streifen den Hang hoch. Es hatte sich nichts verändert, äußerlich nicht, und doch war alles anders geworden. Je mehr sie sich dem Platz näherten, um so schlechter fühlte sich der Junge. Er dachte an die anderen Schüler, die völlig ahnungslos waren und ihrem veränderten Lehrer in die Falle liefen. Durch seinen kalten Blick besaß er Macht über sie, davon ging Johnny aus. Auch er hatte diesen Augen nicht widerstehen können. Sie hörten die Stimmen der Freunde. In der stehenden Luft wurde der Schall ungewöhnlich weit getragen. Johnny richtete seinen Blick nach vorn, um durch die Lücken zwischen den Baumstämmen schauen zu können. Er sah die Bewegungen seiner Freunde. Keiner von ihnen hockte auf irgendeinem Platz. Sie alle liefen hin und her, denn sie waren sicherlich in großer Sorge. »Ihr werdet euch gleich völlig normal verhalten«, erklärte Chilmark. »Sollte ich merken, daß ihr meinen Anordnungen entgegen handelt, greife ich ein, und das nicht zu knapp, kann ich euch sagen.« »Was wollen Sie denn tun?« fragte Linda. Sie bekam eine Antwort, die beide nicht so richtig begriffen. »Ich werde das Licht verteilen.« »Wie?« »Frag nicht mehr weiter!« zischte Johnny und hörte im gleichen Augenblick den Rufeines Klassenkameraden, der die beiden entdeckt hatte. Es war Randy Crane, der aus einer Lücke im Unterholz huschte und winkend auf sie zulief. »Da seid ihr ja, wir haben uns Sorgen gemacht. Wo habt ihr so lange gesteckt? Weshalb kommt ihr erst jetzt?« »Ich konnte nicht schneller!« erklärte Linda. »Mein Fuß ist wahrscheinlich verstaucht.« »Ach du Schreck.« Randy schaute gegen den Knöchel. »Ist es schlimm gewesen?« »Ein Spaß war es nicht.« »Kann ich mir denken.« »Na ja.« Er hob den Kopf und fuhr durch das dunkelblonde Haar. »Jetzt sind wir ja alle zusammen, bis auf einen, den Lehrer. Chilmark ist weg, stellt euch das vor.« »Der ist doch . . .«, hinter uns hatte Linda sagen wollen, kam sich aber dumm vor, denn Randy hätte den Lehrer längst sehen müssen. Da er eine Frage gestellt hatte, mußten sie davon ausgehen, daß Chilmark nicht mehr da war. Johnny drehte sich um. Der Platz hinter ihnen war leer. Der Lehrer hatte sich zurückgezogen. Wahrscheinlich noch vordem Erscheinen des dritten Schülers.
»Ist was?« fragte Randy Crane. »Ihr ... ihr schaut so komisch aus der Wäsche.« »Nein, eigentlich nicht.« Johnny grinste. Linda war still geworden, was Johnny nicht störte. »Wo wart ihr denn?« Johnny winkte ab. »Das ist eine lange Geschichte, weißt du.« »Und inzwischen wardein Vater da. Er hat nach euch gefragt und gesucht.« »Tatsächlich?« Johnny tat sehr überrascht. »Klar. Oder denkst du, ich binde dir einen Bären auf? Der hatte noch einen Bekannten mit.« »Wo sind sie denn jetzt?« Randy hob die Schultern. »Kann ich dir nicht sagen. Sie wollten euch wohl suchen und sind am Sumpf entlanggegangen. Die werden bestimmt bald kommen.« Randy überblickte längst nicht alles, wie sollte er auch? Dafür bot er sich an, Linda zu stützen. Sie sagte nicht nein. Zwischen den beiden Jungen konnte sie auch den letzten Rest der Strecke zurücklegen. Die schafften es fast, sie zu tragen. Ihnen fiel nur auf, daß ihre Klassenkameraden nicht mehr so laut waren. Je näher sie dem Camp mit dem beiden Blockhütten kamen, um so ungewöhnlicher empfanden sie die Stille. Auch Randy Crane fiel es auf. »Komisch«, meinte er, »die werden doch nicht etwa eingeschlafen sein?« »Müde ist wohl keiner«, sagte Johnny. »Bestimmt nicht.« »Wolltet ihr nicht wandern?« »Ist wegen euch ausgefallen.« Johnny sagte nichts mehr. Wenig später wühlten sie sich durch das dichte Unterholz, zertraten es oder schoben es mit den freien Händen zur Seite. Der Hang stieg an dieser Stelle etwas steiler an, so daß sie mehr Mühe hatten. Zwischen den Bäumen fielen die primitiv gezimmerten Hütten nicht als besonders störend auf. Sie vernahmen die Stimmen ihrer Klassenkameraden noch immer nicht, was auch Randy aufgefallen war. Eine Erklärung hatte er dafür nicht. Daß ihm nicht wohl war, konnten Linda und Johnny von seinem Gesicht ablesen. Sie allerdings hielten den Mund. Es war besser, wenn sie nichts sagten, es hätte falsch ausgelegt werden können. Es waren nur mehr wenige Yards, dann hatten sie den Platz erreicht, auf dem sich die Schüler versammeln mußten. Sie standen auch da, aber ihre Haltung hatte sich verändert. Randy Crane erschreckte sich dermaßen, daß er Linda losließ und diese fast
gefallen wäre, hätte Johnny nicht zugegriffen. »Aber das . . . das ist doch Blödsinn! Ich . . . ich spinne!« flüsterte Randy und lief vor. Er blieb im rechten Winkel zu seinen Mitschülern stehen, die sich hintereinander und in einer Reihe aufgebaut hatten, als wären sie von einem Feldwebel gezwungen worden. Keiner von ihnen rührte sich. Jungen und Mädchen wirkten wie erstarrt. Sie schauten stur geradeaus, die Augen waren tot, obwohl so etwas wie Glanz oder Leben in den Pupillen lag. Eine gewisse Bleichheit, die Randy und seine beiden Freunde erschreckte. Er drehte sich zu Johnny und Linda um. »Versteht ihr das?« »Nein!« flüsterte Johnny. Er verstand es, konnte die Wahrheit aber nicht sagen. »Was ist denn hier los?« Randy ging auf den ersten Jungen in der langen Reihe zu und stieß ihn an. »Fie, Frank, du alter Pinsel, rühr dich mal, verflixt.« Frank reagierte nicht. Als er angestoßen wurde, wäre er fast noch gefallen. »Das . . . das gibt es nicht!« keuchte Randy. »Der kommt mir vor, als wäre er zu Stein erstarrt. Schaut euch mal seine Augen an.« Randy lief an der Schülerreihe entlang. »Da, bei allen anderen ist das auch so. Die ... sie glänzen so komisch.« »Ja, sie glänzen, und es ist der kalte Glanz der Sterne«, sagte jemand, bevor er seine Deckung verließ. Randy Crane wurde bleich wie kaltes Fett. F.r wollte etwas erwidern und seinen Lehrerfragen, weshalb sich dieser so verändert hatte, dazu kam es nicht mehr. Der Blick aus den mit Sternenlicht gefüllten Augen erwischte auch ihn. Es glich einem Volltreffer. Zuerst durchzuckte es ihn wie ein Stromstoß, dann richtete er sich auf und reihte sich in die Schlange aus Schülern am Ende ein. Übriggeblieben waren Johnny und Linda. Noch hatten sie Chilmark nicht direkt angeschaut, aber er war dabei, den Kopf zu drehen und tat dies langsam, fast genußvoll. Linda erwischte es zuerst. In Johnnys Arm zuckte sie zusammen, stöhnte leise auf und streckte ihren Körper, bevor sie sich in Bewegung setzte und zu den übrigen Schülern hinging, um die Reihe zu verlängern. »Jetzt bist nur noch du da!« sagte der Lehrer und lachte leise. »Suchst du noch immer deine Verwandtschaft? Ich habe dir doch gesagt, daß sie es nicht schaffen können. Wir sind besser, daß heißt, ich bin besser, denn in mir schwebt das Licht. Es füllt meinen Körper aus, es gibt mir nicht nur den Glanz, sondern auch die Kraft, mit der ich euch in meinen Bann bekommen kann. Du bist der letzte, Johnny, aber die Letzten werden die Ersten sein, so heißt es.«
Johnny war nicht dumm. Er wußte, was auf ihn zukam, riß seinen Arm hoch und preßte die Hand vor die Augen. Sinnlos! Das Licht erreichte ihn wie ein kalter Lanzenstrahl und bohrte sich in seinen Kopf. Johnny spürte, daß etwas ausgeschaltet wurde, als hätte jemand einen Knipser umgelegt, dann stand auch er unter dem Bann des teuflischen Lehrers. Der war zufrieden. Seine Augen blieben tot und dennoch gefüllt, als er Johnny zulächelte. »Tu, was ich dir gesagt habe, mein Junge. Geh dorthin, wo dein Platz ist.« Und Johnny gehorchte. Im Gegensatz zu Linda und Randy reihte er sich nicht hinten an, er übernahm die Spitze. Dabei ging er wie ein Roboter, ohne eigenen Willen, ferngesteuert von einem Menschen, der das Grauen auf seine Fahne geschrieben hatte und Böses im Schilde führte. Noch wollte er nur genießen. Lächelnd schritt er die Reihe ab und kam sich vor wie ein Schleifer beim Militär. »Ich werde euch gehen lassen!« sagte er. »Ich werde dafür sorgen, daß ihr nur meinen Befehlen gehorcht. Noch steht ihr nur unter dem Bann des veränderten Lichts, das aber wird sich bald ändern, wenn ihr in den Sumpf hineingeht, dort erstickt und beim Schein des Mondes wieder hervorkommt. Als Untote, als mit Sternenlicht gefüllte Zom-bies, die auf Rachetour gehen.« Erfreute sich über seine eigenen Worte, lachte auf und klatschte in die Hände. Damit hatte er sich selbst ein Zeichen gegeben, das er direkt weiterreichte. Er brauchte den Arm nur kurz zu senken und durch seinen Gedanken den nächsten Befehl zu geben. Kaum einen Herzschlag später setzte sich die Reihe der Schüler in Bewegung. Sie gingen in Richtung Sumpf. Johnny Conolly an der Spitze, denn er sollte zuerst im grünbraunen Schlamm versinken... *** Sheila konnte es nicht fassen. Sie sprang auf Suko zu und klammerte sich an seinem Arm fest. Beide waren einige Schritte zurückgegangen, so daß sie die offene Tür fast erreicht hatten. »Sag du es!« flüsterte Sheila nach einer Weile. »Sag du, ob du das gleiche siehst wie ich.« »Wahrscheinlich.«
»Ihr Geist!« hauchte Sheila. »Gütiger Himmel, der hat den Körper verlassen. Wegen Johnny?« »Ich glaube es.« »Ob er dann noch lebt?« Die Frage hatte schrill geklungen und auf Sukos Rücken einen Schauer hinterlassen. Ob er dann noch lebt? Verdammt, viel Hoffnung besaß der Inspektor auch nicht mehr, obwohl Nadine bestimmt nicht ohne Grund Körper und Seele gespalten hatte, was bei ihr eigentlich recht selten vorkam. Man konnte diese Vorgänge an einer Hand abzählen. Wenn das passierte, mußte es einen triftigen Grund geben, der mit der Familie Conolly zusammenhing, in diesem Fall war es das jüngste Mitglied. Beide konnten nichts tun. Obwohl Suko gewissermaßen magisch vorgebildet war, durfte er in diesem Fall nicht eingreifen und mußte alles den magischen Gesetzen überlassen, was er auch tat. Der Körper der Wölfin lag bewegungslos auf dem Bett. Er sah aus wie tot. Dafür schwebte über ihm ein heller Schatten, als hätte jemand den Umriß eines Frauenkörpers mit einem Stift in die Luft gemalt. Es war die ungeheure Tragik der Nadine Berger, daß die Seele und der Wolfskörper die meiste Zeit über eine Einheit bildeten und nicht getrennt werden konnten. Trat dieses Phänomen dennoch ein, gelang es dem Geist nicht, sich zu materialisieren. Er war und blieb ein Geist, ohne in der Lage zu sein, feste Materie anzunehmen. Eine schlimme Sache, ein grausamer Fluch, der weder von John noch von Bill oder Suko hatte gelöscht werden können. Sogar das lange Haar konnten sie erkennen. Es umzitterte den schlanken Schädel der Wölfin, und es sah so aus, als wollte der Geist sich mit ihnen in Verbindung setzen, denn über dem leblosen Körper drehte er sich den beiden Wartenden zu. »Nadine!« Sheila konnte nicht mehr an sich halten, sie mußte den Namen einfach flüstern. »Bitte, Nadine, kannst du sprechen? Was ist mit Johnny geschehen?« Im nächsten Augenblick bekamen beide einen Schauer, denn im Gesicht des Geistes zuckte es, als sollte sich dort eine Antwort abzeichnen. Aber sie hörten nichts. Weder auf akustischem oder telepathischem Wege. Dennoch gab der Geist ihnen eine Antwort, denn sie glaubten, ein Nicken gesehen zu haben. »Ist er . . .?« »Nicht, Sheila!« zischte Suko. »Nicht das letzte Wort aussprechen. Nadine wird . ..« Aus Sheilas Augen rannen Tränen. »Ich kann es nicht fassen, ich begreife es nicht.« »Sie wird gespürt haben, daß er Hilfe braucht. Und sie wird ihn nicht im Stich lassen.« »Wie denn, Suko, was will sie tun?«
Der Inspektor verschluckte die Antwort, weil die Ereignisse dies erübrigten. Dort, wo der Geist soeben noch über dem Körper gestanden hatte, war ein Flimmern zu sehen — dann nichts mehr. Weg war er, wie fortgeblasen, nicht mehr sichtbar. Sheila weinte leise, Suko atmete zischend aus, wobei er sich die Frage stellte, ob alles umsonst gewesen war. Hatte Nadine mit einem letzten Aufflackern noch versucht, etwas zu retten und Johnny aus der Lebensgefahr herauszuholen? Suko wußte es nicht, auch von Sheila hätte er keine Antwort bekommen können. Sie war fertig. Er ging auf das Bett zu. Nur wenige Schritte, die ihm allerdings schwerfielen. Leblos lag die Wölfin auf dem Bett. In einer deprimierenden Rückenlage, die vier Läufe von sich gestreckt, den Kopf leicht verdreht, das Maul dabei halboffen und die lange Zunge wie eingeklemmt zwischen den beiden Gebißhälften steckend. Wie tot, dachte Suko, wie tot. Er wußte, daß sie nicht ewig leben konnte. Sie hatte schon zahlreiche Verletzungen abbekommen und sich davon immer wieder erholt. Einmal war jedes Leben zu Ende. Da brauchte er nur an den jungen Ali zu denken, unter dessen Tod alle stark gelitten hatten, nicht nur Yakup, der große Kämpfer. Sukos Hand zitterte, als er den Arm ausstreckte und den Körper der Wölfin berührte. Kalt wie Eis war er. Suko schluckte den Kloß hinunter, der aber immer wieder hochkam. Kalt wie der Tod. War das Nadines Fnde? *** Sie gingen, sie leisteten keinen Widerstand, denn sie standen unter dem Bann des veränderten Sternenlichts, mit dem der Körper des ehemaligen Lehrers ausgefüllt war. Fr selbst ließ die Schlange der Schüler an sich vorbei, denn er brauche nichts zu tun. Seine Befehle waren klar und deutlich von ihnen empfangen worden. Nehmt den direkten Weg zum Sumpf. Durch den Wald, über die freie Fläche und hinein. Das war alles . . . Fr schaute starr jeden Schüler an. Johnny war schon nicht mehr zu sehen, dafür blickte er in andere, junge Gesichter. Noch unfertig, zwischen Mädchen und Frau oder Junge und Mann schwebend. Eine Jugend, die das Leben vor sich hatte, die sich darauf freute, weiterleben zu können und nicht in den Tod geführt werden wollte.
All das kümmerte den Veränderten nicht. Sein Ziel war der brutale Egoismus. Das Leben, das er früher geführt hatte, lag längst hinter ihm. Daran wollte er auch nicht erinnert werden, er hatte die Gedanken daran längst gelöscht. Was war schon die Vergangenheit, wenn es für ihn eine Zukunft gab, die sich kaum ein normaler Mensch vorstellen konnte. Sogar eine Zukunft, die von der Weltallkraft einer alten Vergangenheit erfüllt war. Mit dem Licht der Sterne, den Planeten, die lange vor den Menschen gewesen waren und noch immerleuchteten. Er hatte das Licht auffangen und verändern können, die Psychonauten waren ausgetrickst worden. Er würde regieren und sich dieses Gebiet hier Untertan machen. Noch vier Schüler mußten an ihm vorbei. Das Gesicht eines Jungen wirkte starr. Die Augen besaßen den gleichen matten Glan/, wie alle anderen auch. Schweiß tropfte über das Gesicht des nächsten Jungen. Es war kaum zu hören, wie er atmete. Ihm folgte ein Mädchen. Die blondbraunen Haare kunstvoll hochgesteckt, innerhalb der Flut kleine Zöpfe geflochten, die durch bunte Spangen gehalten wurden. Dann kam Linda Ferguson. Sie humpelte nicht einmal und ging so normal wie die anderen Schüler. Der Bann besaß eine derart große Macht, daß er körperliche Schmerzen zurückdrängen oder löschen konnte. Auch Linda ging an ihm vorbei, ohne die Augen zu bewegen. Der kalte Glanz hielt sie starr. Chilmark starrte noch für die Dauer von wenigen Sekunden auf die Rücken seiner Diener, bevor er sich ebenfalls in Bewegung setzte. Das Gelände war abschüssig, an manchen Stellen leicht rutschig, die er jedoch sicher überwinden konnte. Die Sonne wanderte immer tiefer. Es war längst Abend geworden, und noch mehr Insekten durchtanzten die Luft, wobei sie ein Brummen ausstießen, als wollten sie all ihre Artgenossen aus einem noch tiefen Schlaf reißen. Als Wolkenschwärme tobten sie über dem tückischen Sumpf, dessen Oberfläche allmählich Schatten bekam und dadurch noch düsterer und drohender wirkte. In der Ferne hatte ein Konzert begonnen. Frösche fingen an zu quaken. Der Schall wehte über die Oberfläche und vermischte sich mit dem Gesang der Vögel, die ihr letztes Nachtlied anstimmten, bevor sie einschliefen. Es war alles so natürlich, wie Chilmark fand, nur er war es nicht. Er beeilte sich, die Schüler zu überholen, was nicht schwierig war, denn sie behielten den Schritt fast bei. Sein Blick streifte auch den Porsche, mit dem die beiden Männer gekommen waren.
Chilmark lachte innerlich auf. Als Retter hatten sie sich aufspielen wollen, diese Idioten. Da war er wesentlich schneller gewesen als sie. Er hatte sie überholt und sich innerhalb der Ruine versteckt, um auf sie zu warten. Es war alles glatt gelaufen, bestimmt hatte sie die Kraft der grünen Totenschädel schon zu Sternenstaub zerfallen lassen. Da gab es nichts, er konnte mit dem Ergebnis, das bisher erreicht worden war, sehr zufrieden sein. Auf seinen Lippen lag ein kaltes Lächeln, als er die letzten Bäume hinter sich ließ. Unter seinen Füßen befand sich jetzt der weiche und auch feuchte Boden des Sumpfrands. Bis zum eigentlichen Sumpf waren es vielleicht zehn Yard. Bei jedem Schritt wurde der Untergrund weicher — bis es dann gefährlich wurde. Jeder weitere Schritt endete mit dem Tod, denn der Sumpf kannte keine Gnade. Noch befanden sich die Schüler im Schutz des Waldes. Sie hatten einen schmalen Pfad gefunden, den sie hinabschritten, eigentlich mehr ein Wildwechsel. Er brachte sie jedoch genau in die Lücken hinein, die sie brauchten, um den Wald verlassen zu können. Und Johnny Conolly hatte die Führung übernommen. Der Lehrer konzentrierte sich auf das Gesicht des Jungen, das hin und wieder im Rhythmus der Schritte zwischen den belaubten Zweigen und Ästen der Bäume erschien. Da die Schatten innerhalb des Waldes dichter geworden waren, konnte er sehr deutlich den Glanz in den Augen des Jungen sehen. Fr kam ihm im Kontrast zwischen Licht und Schatten viel heller vor. Dick Chilmark leckte seine Lippen. Fr lutschte kleine Schweißperlen ab, rieb die Hände an seiner Kleidung trocken und schaute zu, wie Johnny Conolly endlich den Wald verließ. Fr mußte sich unter einem Ast hinwegbücken, konnte sich anschließend aufrichten und ging geradewegs auf den wartenden Chilmark zu. Fr halte ihn sogar umgelaufen, doch der Veränderte trat einen kleinen Schritt zur Seite, damit ihn die Reihe der Schüler passieren konnte. Jetzt gab es kein Hindernis mehr zwischen ihnen und dem mörderischen Sumpf. Sie würden hineingehen, wie die Urlauber am Strand eines Meeres. In den Tod laufen, um anschließend als untote Wesen, Zombies, wieder zurückzukehren. Zu diesem Zeitpunkt schon konnte er dazu gratulieren, daß alles so perfekt geklappt hatte. Das Lächeln auf seinem Mund blieb ebenso kalt wie der Blick seiner Augen. Mit jedem Yard, den die Schüler zurücklegten, änderte sich die Beschaffenheit des Untergrunds. In ihm nistete die Feuchtigkeit wie das
Wasser in einem nassen Badeschwamm. Manchmal wirkte die Erde zäh, als wollte sie die Schuhe der Schüler festhalten, wenn diese ihre Beine hochhoben. Noch waren sie stärker. Nicht mehr lange, besonders nicht bei Johnny, denn er brauchte nur mehr fünf Schritte zu gehen, um sein Ziel, den nassen Tod, zu erreichen. Diesmal blieb Chilmark an seiner Seite. Er wollte alles mitbekommen, den vielleicht langen Tod des ersten Schülers. Die anderen folgten automatisch. Johnny ging weiter. Noch ein Schritt, dann nahm er den nächsten in Angriff, blieb aber plötzlich stehen, was Chilmark sehr irritierte, wo er keinen Befehl gegeben hatte. Was war geschehen? Auch die restlichen Schüler gingen nicht mehr weiter und waren ihrem Anführer gefolgt. Johnny drehte den Kopf nach rechts. Er schaute dorthin, wo es einmal die Mauer und die dahinter liegende Ruine gegeben hatte. Von dort erklang das Geräusch. Ein dumpfes Grollen und Wummern, wie es durch ein Gewitter entstehen konnte, aber nicht mußte, es konnte auch einen anderen Grund gehabt haben. Keiner bewegte sich mehr, jeder lauschte dem Grollen nach, das die Stille zertrümmert hatte. Und irgendwo weit hinten leuchtete ein grüner Schein, ein zuckendes Licht, zu vergleichen mit einem Wetterleuchten, was es nicht war, und das wußte auch Chilmark. Nein, da war etwas anderes passiert. Die Ruine gab es nicht mehr. Der Geist mußte noch einmal zurückgekehrt sein, um den Platz des veränderten Lichts zu zerstören. Wie auch die Menschen .. .? Wie dem auch sein mochte, damit hatte er nicht gerechnet. Er verspürte zwar keine Sorge, doch eine gewisse Unruhe konnte er nicht abstreiten, weil eben dieses Grollen auch seine Diener aus dem Rhythmus gebracht hatte. »Weiter!« Diesmal gab er den akustischen Befehl. »Geht weiter! Der Sumpf wartet!« Diesmal zögerte Johnny nicht. Durch seine Gestalt lief ein Ruck, als hätte man ihn aufgezogen. Sein Blick war starr geradeaus gerichtet, wobei niemand sagen konnte, ob er nun den Sumpf abtastete oder über die Fläche hinwegglitt. Johnny ging den Weg des Todes. Nur noch einen Schritt mußte er zurücklegen, um den Rand des Sumpfes zu erreichen.
Vor ihm tobte und zitterte eine Wolke aus Insekten, die sich auf die Opfer freuten. Johnny hob das rechte Bein an, das linke blieb stehen. An der Sohle klebte braungrüner Schleim und war erst allmählich abzuziehen. Beim folgenden Aufsetzen klatschte es, da war der Junge schon in das Brakwasser des Sumpfes getreten. Ab nun wurde es gefährlich, beim übernächsten Schritt schon lebensgefährlich, denn derSumpf griff zu, so daß Johnny eine rechtsseitige Schräglage bekam. »Weiter!« keuchte Chilmark. »Du sollst weiter, der Sumpf muß, der Sumpf wird dich fressen!« Und Johnny gehorchte. Mühsam zog er das Bein wieder hervor, tat den nächsten Schritt, und diesmal spritzte die dunkle Brühe hoch auf, als er in sie hineintrat. Da genau passierte es. Chilmark spürte das andere als erster. Eine urplötzliche Veränderung, die nicht in sein Konzept paßte. Er konnte sie sich nicht erklären, sie strahlte vom Sumpf ab. Auch Johnny ging nicht mehr weiter. Im Gegenteil, er zog sich zurück und stieß gegen seinen Hintermann. Der ehemalige Lehrer stieß einen wilden Fluch aus, drehte sich etwas nach links, damit er einen besseren Blickwinkel bekam und konnte nun den Quell der Veränderung erkennen. Über dem Sumpf schwebte die gespenstische Gestalt einer Frau! *** »Nadine...!!!« Es war ein Schrei, ein Ruf der Erlösung, der aus dem Mund des Johnny Conolly brach. Er hatte die Gestalt als einziger erkannt, obwohl sie nicht materialisiert war und nur als Geist über dem tückischen Sumpfgelände schwebte. Der Schrei bewies auch, daß Johnny aus dem Bann des Fremden gerissen worden war. Der ehemalige Lehrer hatte keine Macht mehr über ihn, Nadine hatte ihn erlöst. Ihrer immensen Geisteskraft war es gelungen, Johnny zu retten. Er ging nicht mehr weiter, die Gruppe hatte gewissermaßen ihren Führer verloren und tat keinen Schritt mehr. Chilmark wich zurück. Johnny sah es, als er sich auf der Stelle drehte. Noch leuchtete in den Augen des ehemaligen Lehrers dieser mörderisch-kalte Glanz, und er sah so aus, als wollte er nicht aufgeben. Den Kopf angehoben, den kalten Blick auf die zitternde Plasmagestalt fixiert, ging er in den Sumpf. Aus seinem Mund drangen wilde Schreie. Er wollte sie holen, er wollte sie vernichten.
Ohne Johnny zu beachten, stampfte er an ihm vorbei. Es interessierte Chilmark nicht, wie stark der Sumpf war, seine Attacke galt dem Gespenst. Nadine blieb ruhig stehen. Nur an der Außenhaut zitterten die Umrisse. Im Innern schwebte ein Stoff wie Gaze oder Watte. Weich und dünn, den Körper ausfüllend, aber nicht für eine Materialisation sorgend. Waffen besaß Chilmark nicht. Er verließ sich ganz und gar auf die in ihm lauernde Kraft der Sterne. Ihr Licht mußte das Gespenst zerstören, etwas anderes konnte er sich nicht vorstellen. Nadine wartete ab, auch die Schüler taten nichts. Sie schauten zu, wie sich Chilmark weiterkämpfte. Er bewegte sich dabei schwerfällig, als würde er durch Wasser laufen. Um ein Bein aus dem Sumpf zerren zu können, mußte er sich immer mehr anstrengen, denn die Masse war verflucht zäh und umwickelte seine Beine. Er machte weiter, schrie, keuchte und fluchte in einem. Die kalten Augen voll auf die Erscheinung des Frauenkörpers gerichtet, wollte er dafür sorgen, daß sein Sternenlicht sie zerstörte. Das gelang ihm nicht. Nadine stemmte sich gegen ihn. Sie blieb auch, als sich Chilmark nach vorn warf, um nach ihr greifen zu können. Er faßte sie auch an. Genau dort, wo seine Hand und der Geistkörper sich berührten, blitzte es für einen Moment auf, aber es reichte nicht aus, um den Fall des Lehrers zu stoppen. Diesmal konnte er sich nicht befreien. Wie ein Brett kippte er nach vorn. Da war kein Boden, auf den er federn konnte, nur dieser schwammige, mit Brakwasser bedeckte Sumpf, ein saugender, tödlicher Schwamm, angefüllt mit natürlichen Kräften, denen selbst Dämonen oder dämonische Wesen nicht widerstehen konnten. Auch Chilmark gelang es nicht, die Stelle nur durch seinen Blick trockenzulegen. Es zog ihn in die Tiefe. Das Wasser und der Schlamm reagierten wie Schlangenarme. Beides schwappte über dem Körper des Lehrers zusammen, der den Blicken der Schüler entrissen wurde. Für immer? Nein, er kam noch einmal hoch, als wollte ihn der Sumpf nicht haben. Prustend und auf dem Rücken liegend tauchte er auf. Sein Kopf durchbrach mit dem Gesicht die Wasseroberfläche zuerst. Wellen, bedeckt mit Algen und anderem Grünzeug schwebten heran und über sein Gesicht hinweg. Dicht unter der Oberfläche zeichnete sich auch sein Oberkörper ab. Er sah aus wie ein Stück Holz. Chilmark schrie. Nicht vor Schmerzen, eher aus Wut. Er konnte nicht begreifen, daß dies sein Ende sein sollte. Errichtete sich auf.
Durch den heftigen Ruck geriet er in eine Schräglage, aber nicht mehr in die Senkrechte, wie er es sich gewünscht hatte. Dabei ruderte er mit den Armen, den Kopf über Wasser haltend und in seinen Augen das kalte, grausame Sternenlicht. Er würgte, spuckte, tauchte wieder unter, kam hoch, etwas zog ihn, schob ihn abermals hervor, und seine Worte klangen wie ein grausamer Schwur. »Ich komme zurück. Ich werde dem Sumpf entwischen!« Johnny hatte das Versprechen gehört. Bei jedem Wort war er zusammengezuckt. Nadines Geist war nicht mehr vorhanden. Auch sie hatte es nicht geschafft, diese Gestalt zu vernichten. »Ich komme zurück!« würgte er noch einmal hervor. »Nein!« sagte jemand. Dann fielen zwei Schüsse . . . »Und jetzt, Suko, was ist jetzt?« fragte Sheila, als sich der Inspektor wieder umgedreht hatte. »Ich weiß es nicht.« »Lebt sie denn?« stieß die Frau hervor. »Sie war kalt!« flüsterte Suko. Sheila bekam große Augen. »Kalt?« keuchte sie. »Hast du wirklich kalt gesagt?« »ja.« »Dann . . . dann ist es vorbei!« Sheila drehte sich um und rannte aus dem Zimmer. Sie kam sich vor wie jemand, der geschlagen worden war und alles verloren hatte. Suko lief ihr nach. Im Wohnraum holte er sie ein, wo Sheila ihre Stirn gegen die Wand gepreßt und die Hände zu harten Fäusten geballt hatte. »Kalt!« hauchte sie, »sie war kalt wie His. Kalt wie der Tod. Das Leben hat sie verlassen, sie besitzt keine Seele mehr. Es ist vorbei, Suko. Nadine und auch Johnny, vielleicht auch Bill und John. Diesmal hat es uns erwischt. Wir wissen nichts, gar nichts, wir . . .« »Sheila bitte . . .« »Nein, laß mich!« »Dann eben anders.« Bevor Sheila sich versah, hatte Suko sie gepackt und herumgerissen. Er hielt noch ihren Nacken fest und zwang sie, in eine bestimmte Richtung zu schauen. Suko war das Tappen der Pfoten nicht entgangen. Nun bekam er den Beweis geliefert. Über die Türschwelle lief Nadine, die Wölfin. Zwar etwas schwach und wacklig, aber sie war es, und es ging ihr wieder besser. »Nun?« fragte er. Sheila hob die Schultern. Sie wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. »Jetzt . . . jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr. Du etwa, Suko?« »Ehrlich gesagt, ich auch nicht...«
*** Ich hatte mich bewußt zurückgehalten, denn Johnny war Bills Sohn. Wir hätten ihn nicht mehr retten können, wir wären zu spät gekommen, aber Nadines Geist hatte durch sein Auftauchen die Zeit solange verzögert, bis wir den Sumpfrand erreichten. Im Sumpf schwamm er und hatte seine finsteren Versprechen abgegeben, die wir durchaus ernst nehmen mußten. »Schieß du«, sagte ich zu Bill. Und der feuerte. Zweimal drückte er ab. Wir sahen zu, wie die Kugeln den Mann trafen und unter die Oberfläche drückten. Diesmal tauchte er nicht wieder auf, aber hinterließ etwas, denn unter dem Brakwasser erschien ein gelber, sehr kalter Schein, der sich zunächst auf einen bestimmten Umkreis konzentrierte und wenig später fortgeschwemmt wurde. Von einem Körper, von einem Menschen mit dem Namen Dick Chilmark sahen wir nichts mehr. Für ihn mußte die Schule Ersatz herbeischaffen. Bills rechter Arm sank langsam nach unten. Bill drehte sich, fing meinen Blick auf und sah auch mein Augenzwinkern. »Verdammt, John«, sagte er nur, bevor er seinen Sohn in die Arme schloß. Ich war dabei überflüssig und konnte mich um die anderen Schüler kümmern und auch darum, daß wir allesamt das Tal des Unheils so rasch wie möglich hinter uns brachten...
ENDE