Die kalte Brut von Timothy Stahl
Lilith Eden ist erwacht, wo schon einmal alles begann: im Haus an der Paddington Stre...
43 downloads
925 Views
724KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Die kalte Brut von Timothy Stahl
Lilith Eden ist erwacht, wo schon einmal alles begann: im Haus an der Paddington Street in Sydney. Doch vieles erscheint ihr seltsam falsch. Das Haus dürfte gar nicht mehr existieren – genausowenig, wie Vampire auf Erden wandeln sollten. Was ist geschehen in den zwei Jahren, in denen sie geschlafen hat? Verwirrt flieht sie aus dem Haus, nicht ahnend, daß sie das nackte Grauen darin zurückläßt. Tief unten, in den Katakomben, hat die Magie des Hauses Wesen erschaffen, die nun nach oben drängen. Einst waren sie Ratten. Nun sind sie eine tödliche Gefahr für alle, die es wagen, das Gebäude zu betreten …
Was bisher geschah … Vor nunmehr vier Jahren gingen in einem Haus an der Paddington Street in Sydney, Australien, mysteriöse Dinge vor. Damals wagte sich ein Parapsychologe, Brian Secada, hinein – und kehrte als alter Mann zurück, dessen Geist auf ewig zerstört war. Was niemand wußte: In diesem Haus hatte ein Kind zweier Welten, die Halbvampirin Lilith Eden, 98 Jahre lang geschlafen, um auf eine ganz besondere Aufgabe vorbereitet zu werden: Sie sollte die Ur-Lilith, Adams erste Frau im Garten Eden, die bei Gott in Ungnade gefallen war und deren Kinder die ersten Vampire wurden, mit dem Schöpfer versöhnen. Doch Lilith war durch dramatische Umstände zwei Jahre zu früh erwacht und nicht gänzlich gereift. So dauerte es lange und barg viele Gefahren, die ihr gestellte Aufgabe zu erfüllen. Das Haus indes wurde von der Sydneyer Vampirsippe abgerissen. Die Magie der Ur-Lilith jedoch, die es beseelt hatte, bestand weiterhin. Erst vier Jahre später erfährt Brian Secadas Sohn Darren, ein Polizei-Pathologe, vom Schicksal seines Vaters. Er will das Geheimnis des verschwundenen Hauses lüften, scheitert jedoch … Inzwischen hat Lilith nicht nur die Versöhnung herbeigeführt, sondern auch den gerissenen Plan des gefallenen Engels Luzifer vereitelt, Gott selbst zu vernichten und die Herrschaft über die Schöpfung an sich zu reißen. Als Dank entläßt Gott die Halbvampirin in die Freiheit und legt sie die fehlenden Jahre zur Ruhe, während er alle Vampire von der Erde tilgt. Nach Ablauf der zwei Jahre materialisiert sich das Haus an der Paddington Street wieder, um Lilith zu entlassen. Dies ist Darren Secadas Stunde! Wie einst sein Vater, dringt er in das Gebäude ein – und findet Lilith. Sie hypnotisiert ihn, damit er ihr hilft, unterzutauchen – denn natürlich hat das Phänomen schon Polizei und Presse angelockt.
Secada bringt sie in seine Wohnung, verfolgt von einem Polizisten und Seven van Kees, ihres Zeichens Reporterin beim Sydney Morning Herald. Sie wird Zeuge, wie zwei unheimliche Gestalten in die Wohnung eindringen, den Polizisten niederschlagen – und von der Frau aus dem Haus, die sich plötzlich in eine Fledermaus verwandelt, zur Strecke gebracht werden. Es sind Vampire! Doch dies ist unmöglich – denn die Alte Rasse wurde doch vom Antlitz der Erde getilgt! Darren stellt als Pathologe fest, daß diese Wesen seit Jahren tot sind; sie verschwanden damals aus ihren Gräbern. Und nun zerfallen sie nicht zu Staub, sondern setzen den aufgehaltenen Verwesungsprozeß fort. Was ist geschehen in den zwei Jahren, die Lilith schlief? Sie steht vor einem Rätsel, das ihr größtes Abenteuer werden soll … Prolog 333, Paddington Street mochte lange Zeit zwar öder, leerer Boden gewesen sein – eines aber war er nicht: verlassen! Es gab Leben hier, verborgen in dunkler Tiefe. Dieses Leben hauste in einem Labyrinth aus schmalen Gängen und Stollen, aus engen Höhlen und Klüften. Seit Anbeginn waren sie hier daheim, so wie sie überall auf der Welt in ewiger Nacht lebten, weil die Finsternis Schutz bot vor ihrem ärgsten Feind: dem Menschen. Doch 333, Paddington Street war anders als jeder andere Ort der Welt. Hier veränderte etwas jenen Funken, der animalisches Bewußtsein und Instinkt barg. Sein Licht gewann an Kraft. Und Macht … Sydney, Australien 333, Paddington Street
»Die drei Stunden sind um.« Chief Inspector Chad Holloway sah von seiner Armbanduhr auf. »Immer noch Lust, den Teufel bei den Hörnern zu packen?« Der gewohnt bärbeißige Unterton war aus seiner Stimme gewichen. Sie klang nur noch belegt, und das nicht allein der Müdigkeit wegen, die ihm der nun schon Stunden dauernde Einsatz aufzwang. Neech Rovens narbiges Gesicht verzog sich zu etwas, das er selbst für ein Grinsen halten mochte. Für Holloway allerdings war es eine Grimasse, angetan, sogar ihn schaudern zu lassen. Aber er beherrschte sich. »Ja, Sir«, antwortete Roven, knapp wie immer. Der Chefinspektor nickte. Das Unbehagen hing ihm wie eine Klette im Nacken. Sein Blick wanderte über das verwilderte Grundstück, so langsam, als müsse er unsichtbare Hürden nehmen, bis hin zu dessen Mitte – wo der Spuk seit exakt drei Stunden vorüber war … … oder nur Ruhe vor dem großen Geistersturm herrschte? Chad Holloway kniff die Augen zusammen, und tatsächlich sah er das Haus dadurch um eine Spur schärfer. Nicht das winzigste Detail entging seinem Blick. Und nichts rührte sich dort drüben, nichts bewegte sich – nichts verschwand. Nichts mehr schien noch so wie vor drei Stunden. Das Haus hatte sich stabilisiert. Scheinbar? Kälte kroch Holloway unter den Trenchcoat und richtete ihm die Härchen auf den Armen und im Nacken auf. Er schüttelte sich, als könne er das unangenehme Gefühl dadurch loswerden. Verdammt, er haßte seinen Job, und er haßte diesen Job! Obwohl das Haus an der Paddington Street jetzt so harmlos wirkte – immer noch unheimlich wie die allermeisten alten Häuser, sicher, aber letztlich auch genauso harmlos. Gestern hatte es begonnen. Da war das Haus aufgetaucht, wie aus dem Nichts erschienen inmitten dieses unkrautüberwucherten Grundstücks mit der Nummer 333, das sich wie ein Schandfleck
zwischen all den anderen sauberen und gepflegten Anwesen entlang der Straße ausnahm. Aber das Haus war nicht geblieben, sondern immer wieder verblaßt und verschwunden, wie das Bild eines Projektors mit Wackelkontakt. Bis vor drei Stunden. Seither stand es da, unverändert, reglos … Holloway erlaubte sich ein bitteres Grinsen. Er dachte über das verfluchte Haus, als handele es sich dabei um etwas Lebendes. Doch das Lächeln erstarb ihm auf den wulstigen Lippen, als er sich eingestehen mußte, daß es ihm mit diesem absurden Gedanken durchaus ernst war. In der Zwischenzeit hatte Chad Holloway Informationen über die Adresse 333, Paddington Street eingeholt und festgestellt, daß dieses unheimliche Haus bis vor einigen Jahren tatsächlich auf diesem Grundstück gestanden hatte, und das offenbar über hundert Jahre lang. Bis es von irgendeiner obskuren Baufirma, die sich nicht mehr ermitteln ließ, abgerissen worden war. Den Unterlagen zufolge hatte man versucht, hier ein Hochhaus zu errichten; eine Tatsache, die Holloway sich ebenfalls nicht erklären konnte, immerhin gab es an dieser Straße sonst nur Villen und schmucke Reihenhäuser. Wie also hatte man seitens der Stadtobrigkeit einen solchen Baustil genehmigen können? Aber man war ohnehin nicht über den Rohbau hinausgekommen, der – hier waren die Angaben unklar – wohl wieder abgerissen werden mußte. Kein Wunder bei dem sumpfigen Boden, mit dem Holloway schon am frühen Abend unliebsame Bekanntschaft gemacht hatte. Zumindest ein bißchen Aufschluß über Haus und Grundstück erhoffte sich Chad Holloway von dem Verhör, dem sich Darren Secada, dieser spinnerte Pathologe, würde unterziehen müssen. Der Chief hatte es bereits veranlaßt und einen seiner Männer auf Secada angesetzt. Der junge Kerl war gestern hier aufgetaucht, was Holloway nicht
einmal sonderlich verwundert hatte, schließlich war Secadas Faible für 333, Paddington Street in Polizeikreisen eine offenes Geheimnis. Schon deshalb glaubte Holloway, daß der Bursche ein paar wissenswerte Einzelheiten ausspucken könnte. Dazu kam aber noch, daß Darren Secada gestern in das Haus gegangen – und nicht allein von dort zurückgekehrt war! Er hatte eine bewußtlose junge Frau herausgetragen und angegeben, sie ins Krankenhaus zu bringen. Was er allerdings nicht getan hatte! Statt dessen hatte Secada die Frau, auf die Holloway nur einen flüchtigen Blick hatte werfen können, zu sich nach Hause verfrachtet, wie der Chief erfahren hatte. Damit nicht genug, war es – vermutlich in diesem Zusammenhang – zu zwei Todesfällen in der Nähe von Secadas Wohnung gekommen. Kurzum: Der Typ mußte ganz einfach einiges zu erzählen haben, das für Holloway von allerhöchstem Interesse sein würde. Bislang allerdings war Secada noch verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt, und mit ihm diese ominöse Fremde aus dem Haus … Chief Inspector Holloway ließ den Blick schweifen. Auch um ihn herum hatte sich in den vergangenen Stunden nichts geändert: Nach wie vor hatten seine Leute alle Hände voll zu tun, um die Schaulustigen zumindest einigermaßen auf Distanz zu halten. Rundfunkund TV-Teams allerdings hatten sich durch die Absperrungen gemogelt – wie Ratten, dachte Holloway angewidert – und waren praktisch nonstop auf Sendung. Obschon es seit drei Stunden nichts Neues zu vermelden gab. Drei Stunden – diese Frist hatte Holloway in seiner Eigenschaft als Leiter dieses Großeinsatzes gesetzt. Wenn das Haus mindestens drei Stunden lang stabil blieb, so hatte er erklärt, dann würde er ein paar Männer hineinschicken. Jetzt war die Zeit um, und Neech Roven brannte darauf, das Haus
zu stürmen. Er hatte sich freiwillig für diese Aufgabe gemeldet, so wie er sich schon immer für jedes Himmelfahrtskommando freiwillig gemeldet hatte. Seine Narben kamen nicht von ungefähr, und nicht nur Holloway hegte den Verdacht, daß Roven diese Narben sammelte wie andere Leute Briefmarken oder Münzen. Sie schienen für ihn die Bedeutung morbider Trophäen zu haben. Und obendrein gelang es Neech Roven immer, auch andere mit seinem bisweilen an Besessenheit oder Wahnsinn grenzenden Wagemut zu infizieren. Für jeden Job schaffte er es, andere Freiwillige um sich zu scharen – so auch hier und jetzt. Chad Holloway zuckte die Schultern. Ihm sollte es recht sein; das enthob ihn der unangenehmen Pflicht, weitere Männer für den Einsatz zu bestimmen. »Chief Inspector?« Neech Rovens Stimme erreichte Holloway wie von weit her, und erst da registrierte er, daß er tief in Gedanken versunken und meilenweit weg gewesen war. Er schrak beinahe auf. »Okay, Roven«, brummte er schließlich, »holen Sie Ihre Männer her.« Neech Roven, hochgewachsen und sehnig, drehte sich kurz um und hob nur die Hand. Augenblicklich lösten sich fünf Männer aus der Menge von Polizeibeamten und traten zu ihm und Holloway. Ringsum wurden die Stimmen der Reporter lauter. Niemandem entging, daß sich eine Wendung in der Sache anbahnte. Holloway bedeutete zwei Uniformierten, die Medienvertreter auf Abstand zu halten. Dann wandte er sich an Roven und die fünf weiteren Freiwilligen. Sie trugen schußsichere Westen und Helmfunkgeräte und waren mit Pumpguns bewaffnet. Zwei der Männer verdienten diese Bezeichnung kaum: Sie schienen gerade erst der Academy entsprungen und waren vermutlich noch feucht und grün hinter den Ohren. Jungs eben, die zu einem Kerl wie Neech Roven aufsahen, der Rambo-Filme und Realität gern verquickte, und die
zur Polizei gegangen waren, weil sie an ganz ähnlichen Problemen litten. Arme Irre, dachte Holloway bitter. Laut sagte er dann: »Also, Männer, ihr wißt, was ihr zu tun habt. Ihr geht in das Haus rein, durchsucht es und meldet über Funk alles, was ihr seht, und wenn es euch noch so unwichtig erscheint, klar? Ich will mit euren Augen sehen, und ich will verdammt gut und verdammt alles sehen und jeden verdammten Furz riechen, verstanden?« Die Männer nickten knapp, zwei oder drei murmelten ein »Ja, Sir«. »Roven, Sie haben das Kommando. Abmarsch – und viel Glück.« Chad Holloway hatte das ungute Gefühl, daß die Männer genau das brauchen würden: viel Glück. Noch unangenehmer aber war das Gefühl, das ihm suggerieren wollte, daß es nicht genug Glück gab; nicht in dieser Nacht, und nicht in diesem Haus …
* Neech Roven dirigierte seine Männer auf das Haus zu, als hätten sich Terroristen darin verschanzt. Mit knappen Gesten und halblauten Befehlen wies er sie an, die karge Deckung, die das Gelände bot, auszunutzen und die dunklen Fenster des Hauses im Auge und Visier zu halten. Entsprechend langsam erreichte der Trupp das Haus, das trotz der Scheinwerferbatterien, die es der Nacht entrissen, einem schwarzen Klotz gleich inmitten des Grundstücks lag, wie von titanischer Hand achtlos hingeworfen. Ein paar breite Stufen führten zur Eingangstür hinauf. Links und rechts der Treppe hockten steinerne Fabelwesen, stummen Wächtern gleich. Rovens Waffenmündung pendelte zwischen den Statuen hin und her, als gehe er davon aus, daß die unheimlichen Kreaturen unversehens zum Leben erwachen könnten.
Zweien seiner Leute bedeutete er, ihm zur Tür hoch zu folgen. Sie postierten sich zu beiden Seiten des massiven Portals, während Neech Roven in der Mitte Aufstellung nahm. Die Entfernung zur Tür betrug eine Schrittlänge. Roven hob den rechten Fuß, stieß sich mit dem linken ab, rammte den Stiefel auf Schloßhöhe gegen das Holz – und fiel wie ein Stein zu Boden! Der harte Aufprall trieb ihm pfeifend die Luft aus den Lungen. »Was ist los bei euch?« drang Chad Holloways knisternde Stimme aus Rovens Helmempfänger. »Alles klar, keine Probleme«, gab Roven unleidig zurück. »Die Tür ist nur ein bißchen massiver, als ich es nach dieser verdammten Zaubershow vermutet hatte.« »Vielleicht wohnt ja David Copperfield da drin«, gestattete sich einer der beiden anderen Männer zu bemerken. »Yeah!« machte der zweite. »Und vielleicht überraschen wir ihn mit Claudia Schiffer in der Heia …!« »Schnau-!« Die letzte Silbe blieb Neech Roven im Halse stecken. Ein hohes, rauhes Kreischen unterbrach ihn, und eine Sekunde lang starrten sie alle stumm und starr auf die Tür – – die so langsam aufschwang, als würde sie von einem unsichtbaren, altersschwachen Hausdiener geöffnet! Dunkelheit lag jenseits der Schwelle, so dicht, als habe dort jemand eine Mauer aus Kohlen hochgezogen. Roven schaltete seine Gürtelleuchte ein und wies die anderen an, es ihm nachzutun. Die Lichtkegel stanzten helle Löcher in die Finsternis hinter der Tür. Auf Rovens Wink hin sammelten sich die Polizisten und betraten hinter ihm, die Waffen im Anschlag und nach allen Seiten sichernd, das Haus. Das Licht ihrer Lampen reichte aus, um sie erkennen zu lassen, daß sie sich in einer geräumigen Eingangshalle befanden. Sie war leer, verlassen, und die Luft roch abgestanden. Jeder Stein
schien sein eigenes Alter förmlich zu atmen, wenn es denn stimmte, daß dieses Haus tatsächlich vor über hundert Jahren gebaut worden war – und ganz unabhängig davon, wo es sich in den vergangenen Jahren auch befunden haben mochte … Roven erstattete über Funk Meldung. »Wir sehen uns weiter um«, schloß er, dann wies er seine Leute an, sich aufzuteilen und die von der Halle abgehenden Räume in Augenschein zu nehmen. Doch keiner von ihnen fand etwas, das Hinweise auf frühere Bewohner des Hauses oder gar die Ursache für sein mysteriöses Erscheinen geliefert hätte. Die Zimmer standen samt und sonders leer, und es ließ sich nicht einmal erraten, wofür sie irgendwann einmal genutzt worden sein mochten. Bemerkenswert war allenfalls die Tatsache, daß sich nicht einmal Staub fand. Es schien, als habe eine außerordentlich gründliche Entrümpelungsfirma fast im wörtlichen Sinne »klar Schiff« gemacht. Im oberen Stockwerk bot sich der Einsatztruppe kein anderer Anblick. Die Zimmer waren etwas kleiner, aber ebenso leer wie im Erdgeschoß. Zwei Eindrücke allerdings verdichteten sich in Neech Roven, aber sie schienen ihm so absurd, geradezu lächerlich, daß er sie nicht in seine Funkmeldungen einfließen ließ. Zum einen kam es ihm vor, als wäre das Haus … seltsam unfertig. Als fehle es ihm an wirklicher Substanz; wie bei einem Gemälde, auf dem der Künstler die entscheidenden Details, jene Kleinigkeiten, die dem Werk erst Leben verliehen, noch ausgespart hatte. Aber diesen Eindruck konnte Roven noch auf die schlechten Lichtverhältnisse schieben … … anders verhielt es sich da mit dem zweiten: Er fühlte sich beobachtet, aus unterschiedlichsten Richtungen, stets von dort, wo die Schatten am dichtesten nisteten, aus Ecken und Nischen. Angestarrt wie ein Insekt unter dem Mikroskop, belauert wie die noch ah-
nungslose Beute eines Raubtiers. Mehr als einmal schwenkte Neech Roven seine Lampe unvermittelt herum, um exakt dorthin zu leuchten, wo er den heimlichen Beobachter vermutete, aber das Licht tat jedesmal nichts anderes, als lediglich die Dunkelheit zu vertreiben. Nur einmal war Roven, als fliehe irgend etwas anderes mit den Schatten … Unauffällig musterte er die anderen Männer und kam zu der Überzeugung, daß es zumindest einigen von ihnen wie ihm erging: Auch sie schienen zu glauben, daß da jemand oder etwas war, aber wie er behielten sie dieses namenlose Gefühl für sich. »Alles sauber«, meldete Neech Roven schließlich über Funk. Es knirschte kurz im Empfänger, dann dröhnte Holloways rauhes Organ: »Was ist mit dem Keller?« »Keller?« entfuhr es Roven. Verdammt! Er biß sich auf die Unterlippe. Wie hatte er die Möglichkeit außer acht lassen können, daß das Haus unterkellert sein könnte? Sehr wahrscheinlich war es das sogar! Wie konnte gerade ihm eine solche Nachlässigkeit unterlaufen? Irgend etwas zerrte hier drinnen an seinen Nerven, nagte an seiner Konzentration … »Steht als nächstes auf dem Plan, Sir«, sagte er in das schmale Bügelmikrofon. »Dann los«, forderte Holloway auf, und Roven gab seinen Männern das Zeichen, in die untere Etage zurückzukehren. Versteckt im Dunkel unter der Treppe ins obere Geschoß fanden sie eine niedrige Tür, die sie zuvor übersehen hatten. Auch etwas, das nicht hätte passieren dürfen, dachte Roven zerknirscht. Aber es bewies ihm auch, daß nicht nur seine Aufmerksamkeit bröckelte in diesem Haus. »Aufmachen!« befahl er. Einer der Männer trat vor, drückte die Klinke, zog. Die Tür klemmte ein wenig, der Mann zerrte stärker, dann strauchelte er und stürzte fast, als sich die Tür endlich öffnete und zurück-
schwang. Die untere Kante rieb mit einem Geräusch über den Boden, als schabten Fingernägel über eine Schiefertafel. Schwärze lag hinter der Tür wie erstarrte Sturmwolken. Und das Gefühl, angestarrt zu werden, sprang Neech Roven an wie ein Tier! Und nicht nur ihn … »Irgendwas«, entfuhr es einem der Männer halblaut, »ist da …« »Was?« kam Holloways Frage über Funk. »Was ist da?« Der Chefinspektor klang ungeduldig, aufgeregt. »Nichts, Sir«, warf Roven hastig ein. »Sieht nur so aus, als würde sich hier jemand wegen der Dunkelheit in die Hosen machen …« Und du? raunte ein boshaftes Stimmchen zwischen seinen Gedanken. Wie sieht’s in deiner Hose aus …? »Shit!« knurrte Roven unwillig. Und dann: »Wir gehen runter, Chief.« Neech Roven setzte seinen Fuß als erster über die Schwelle zum Keller – hinein in eine Finsternis, die so dicht war, als trete er auf unmögliche Weise in eine schwarze Wand.
* »Ich will über jeden Schritt informiert werden, ist das klar?« Chad Holloway hielt eine Sekunde lang inne, dann hakte er ungeduldig nach: »Haben Sie mich verstanden, Roven?« »Ja, Sir. Es ist nur so … Mann, hier ist es finster wie in ‘nem verdammten Känguruharsch!« »Dann zünden Sie dem Biest den beschissenen Enddarm an!« »Versta-chrchchrr« Chief Inspector Holloway verzog schmerzhaft das Gesicht. Das Störgeräusch malträtierte sein Trommelfell. »Roven? Hören Sie mich noch?« rief er in sein Mikro. Gleichzeitig bedeutete er einem Beamten, die Frequenz feiner zu justieren. »Geht so, Sir.« Neech Rovens Stimme klang wie mit Meeresbran-
dung unterlegt. »Okay«, erwiderte Holloway. »Wo sind Sie? Was sehen Sie?« »Wir befinden uns noch auf der Kellertreppe, so ‘ne Art Wendeltreppe. Geht ziemlich weit runter. Ende noch nicht absehbar.« Eine Weile herrschte Funkstille. Holloway sah sich derweil um. Die Reporter ringsum überboten einander mit Spekulationen, Blitzlichter schufen künstliche Gewitterstimmung. Holloway fragte sich, was zum Teufel die Pressefritzen mit ihren Kameras noch zu erwischen glaubten – inzwischen mußte es an die tausend Bilder von diesem vermaledeiten Spukhaus geben. Auf der ganzen Welt war vermutlich nichts anderes so oft fotografiert worden in den vergangenen 24 Stunden. »Treppenende erreicht, Sir«, meldete sich Neech Roven wieder. »Und?« fragte Holloway. »Vor uns liegt ein Gewölbe, ziemlich weitläufig, niedrige Decke. Steinsäulen, Holzbalken, Spinnweben, jede Menge Dreck.« »Ist das alles?« »Von den Seitenwänden aus führen ein paar Gänge sonstwohin.« Der Chefinspektor überlegte kurz. »Bleiben Sie zusammen«, ordnete er dann an. »Dann brauchen wir ewig, um alles abzusuchen«, wandte Roven ein. »Und? Haben Sie heute noch ‘ne andere Verabredung?« knurrte Holloway. »Nein, Sir.« »Also, was wollen Sie dann? Sie haben alle Zeit der Welt, klar?« »Verstanden, Sir. Wir bleiben zusammen.« Täuschte sich Holloway, oder schwang tatsächlich unterschwellig Erleichterung in Neech Rovens Tonfall mit? »Wir nehmen uns als erstes den äußersten rechten Gang vor«, teilte Roven mit. Holloway grunzte Zustimmung. War schließlich egal, welchen
Gang sie sich zuerst vorknöpften. Er wartete ein paar Sekunden, dann sagte er: »Was ist los, Roven? Ich höre nichts.« »Es gibt ja auch nichts zu sehen, Sir.« Der Truppführer klang leicht gereizt. Holloway grinste kurz. »Aber gut, bitte«, fuhr Roven mißmutig fort, »wir latschen gerade durch das Gewölbe. Gibt ein paar Ketten hier, die von den Deckenbalken herunterhängen. Und noch ‘n paar andere Sachen –« »Was für Sachen?« hakte Holloway nach. »Keine Ahnung, Sir. Irgendwelche Geräte, die’s heutzutage wohl nicht mehr gibt.« »Was hatten Sie denn erwartet?« raunzte Holloway. »Staubsauger? Toaster?« Rovens Erwiderung erstickte in statischem Gekrächze. Der Uniformierte an der Funkstation drehte und schob sofort an den Reglern. Seinem verbissenen Gesichtsausdruck entnahm Holloway, daß die Verbindung kaum besser werden würde. »Roven, alles klar?« rief der Chief Inspector. »Ja-chrchchchrrr.« »Geben Sie sich gefälligst ein bißchen mehr Mühe, Mann!« bellte Holloway den Funkverantwortlichen an. Dessen Züge entglitten ins Weinerliche. »Sir, es tut mir leid, aber –« »Davon wird’s bestimmt nicht besser!« schnauzte Holloway. Der junge Polizist beugte sich wieder über seine Station. So behutsam, als hätte er es mit etwas äußerst Zerbrechlichem zu tun, berührte er die Regler und Knöpfe, und tatsächlich sank das Rauschen auf ein erträgliches Maß herab. »Roven?« »Ja, Sir, hier tut sich was. Es –« Der Rest von Rovens Worten blieb im Äther hängen. »Was, Roven? Verdammt, melden Sie sich!« donnerte Holloway. Er warf dem Mann am Funk einen hastigen Blick zu. »Was ist los?
Warum reißt die Verbindung ab?« »Keine Ahnung, Sir. Kann die Störung nicht finden.« Die Finger des jungen Polizisten flogen über die Armaturen der Station. »Eigentlich ist das unmöglich bei dieser kurzen Entfernung …« »Liegt es an Kellermauern?« wollte der Chief Inspector wissen. »Nein, kann nicht sein, Sir. Irgendwas anderes, aber ich weiß einfach nicht, was. Hier spielt alles verrückt. Es ist, als ob uns irgendwer dazwischenfunkt.« Wortfetzen schälten sich aus dem Rauschen, Krächzen und Knistern. »Wir … gibt’s nicht … meine Fresse …«, war Neech Roven bruchstückhaft und verzerrt zu hören. »Roven, was ist los bei euch?« schrie Holloway. »… werden angegriffen …!« »Von wem?« »… unmöglich …! O Gott, das –« Holloway starrte wie gebannt zum Haus hinüber, als hoffe er zu sehen, was in dessen Keller vorging. Aber dort drüben, auf dieser taghell ausgeleuchteten Insel inmitten der Nacht gab es nicht den allergeringsten Hinweis. Alles blieb ruhig, reglos – wie tot. Ein gellender Schrei ließ den Chefinspektor so erschrocken auffahren, als habe er hinterrücks einen Tritt bekommen. Als sei der Empfänger plötzlich glühend heiß, so hastig riß er ihn sich vom Ohr. Offenen Mundes wechselte sein Blick zwischen dem Gerät und dem Haus hin und her. Dann preßte er sich das Teil abermals gegen das Ohr, doch er hörte nichts, nicht einmal mehr statisches Rauschen. Er sah zu dem Beamten an der Funkstation hin. Der hob resigniert die Schultern. »Alles tot, Sir.« Holloway konnte nur hoffen, daß das nicht wörtlich zu nehmen war …
*
Seit Minuten beherrschte Hektik die Szenerie rings um 333, Paddington Street. Die TV- und Rundfunkreporter hatten mitbekommen, daß drüben im Haus irgend etwas schiefgelaufen war. Jetzt überschlugen sie sich in ihren Meldungen an die Sender, und sie griffen wahllos Leute aus der Menge, um nach deren Meinung zu fragen, ganz gleich, ob es sich um Schaulustige oder Polizisten handelte. Letztere allerdings gaben kaum oder nur knappe Kommentare ab, weil Chief Inspector Holloway eilends einen Maulkorb-Befehl ausgegeben hatte. Dazu kam noch, daß ohnedies niemand wirklich wußte, was dem Einsatz-Team im Haus widerfahren war. Chad Holloway funktionierte derweil wie eine organische Maschinerie. Wie fortgeblasen war die Müdigkeit, die ihm bis vor ein paar Minuten noch wie Blei in allen Gliedern gesessen und seinen Gedankenapparat fast schon lahmgelegt hatte. Die unerwartete Wendung im Geschehen und die unabsehbaren Folgen hatten etwas wie geheime Kräfte in ihm mobilisiert. Adrenalin putschte ihn auf wie eine Droge. Mühelos gelang es ihm, drei oder vier Dinge gleichzeitig zu tun. Während er eine Handvoll seiner Männer anwies, die Medienmeute notfalls mit dosierter Gewalt auf Abstand zu bringen, bestimmte er ein knappes Dutzend weiterer Polizisten, die sich ihm anschließen sollten. Im selben Atemzug verlangte er nach einer kugelsicheren Weste Größe XXL, und während er diese um seinen voluminösen Oberkörper schnallte, ließ er sich eine Pumpgun bringen und funktechnisch verkabeln. Die von ihm ausgewählten Beamten wurden in gleicher Weise ausgerüstet. Ein weiterer Trupp aus sechs Leuten hatte sich auf Holloways Befehl hin als Eingreifreserve an der Grundstücksgrenze bereitzuhalten. »Okay, Männer, wir gehen rein, klar? Ich habe keine Ahnung, was uns da drinnen erwarten wird. Im Notfall gilt: Feuer frei ohne ausdrücklichen Befehl. Noch Fragen?« Holloways winzige Pause war
rein rhetorischer Natur, denn er sprach noch in derselben Sekunde weiter: »Dann los!« Im Laufschritt setzte sich Chad Holloway in Bewegung, die Pumpgun so im Anschlag, als wolle er kurzerhand auf das Haus selbst ballern. Mit wortlosen Gesten wies er seine Leute an, sich so zu verteilen, daß sie einen Ring um das Haus zogen. Vier von ihnen bedeutete er, in seiner Nähe zu bleiben, während er auch schon auf das Eingangsportal zustapfte. Die Männer positionierten sich zu beiden Seiten und auf der Treppe so, daß sie dem Chefinspektor Feuerschutz geben konnten, sollte es nötig sein. Holloway selbst stieß die halboffene Tür auf. Er hielt sich nicht damit auf, mit einem Lampenstrahl in der tintigen Schwärze dahinter herumzustochern. Kurzerhand riß er eine Magnesiumfackel aus seinem Combatbelt, steckte sie in Brand und schleuderte sie über die Schwelle. Gleißendes Licht fraß knisternd die Schatten in der Eingangshalle des Hauses. Holloway trat ein, seine Leute folgten ihm auf einen Wink hin. Bis etwa zur Mitte der Halle gingen sie vor. Dann erstarrte der Chefinspektor so abrupt, als sei er gegen eine gläserne Wand gelaufen. Ein entsetztes Keuchen entrang sich seiner Kehle. »Sir?« fragte einer seiner Leute. »Wa-?« Den Rest seiner Frage verschluckte der Mann. Denn in diesem Moment sah auch er, was Holloway entdeckt hatte. Inmitten der Eingangshalle lag – eine Hand! Abgetrennt am Gelenk und die Finger um eine Pumpgun geklammert. Eine feuchte Spur zog sich von dem blutigen Stumpf bis in die Schatten, die unter der Treppe ins obere Geschoß nisteten. »Großer Gott!« »Verfluchte Scheiße!« »Schnauze!« Holloway hatte sich nur scheinbar gefangen. Auch sein Magen rebellierte. Aber eine Panik unter seinen Leuten war
jetzt das Allerletzte, was er gebrauchen konnte. Er mußte mit gutem Beispiel vorangehen, gefaßt bleiben. Über Funk beorderte er die Reserve-Squad ins Haus; die Männer, die den Kreis um das Haus gezogen hatten, rief er zu höchster Wachsamkeit auf. Stumm deutete Holloway dann auf die Blutspur und setzte sich in Bewegung. Eine weitere Magnesiumfackel vertrieb die Finsternis, die sich unter der Treppe ballte. Eine niedrige Tür stand ein Stück weit auf, dahinter führten steinerne Stufen in den Keller. Dort unten mußte es Neech Roven und seine Männer erwischt haben. Chad Holloway schluckte hart. Es … Was oder wer mochte es sein? Er erfuhr es noch im selben Augenblick! Was nicht bedeutete, daß er es auch begriff.
* Marc Loeblin preßte sich den winzigen Funkempfänger fester ins Ohr. Jedes Wort, das zwischen den Police-Squads gewechselt wurde, bekam er mit. Und mit jedem einzelnen dieser Worte stieg seine Erregung. Die Spannung heizte ihn so sehr auf, daß er ein fast schon schmerzhaftes Pochen zwischen seinen Lenden spürte. Es verflog allerdings, als er sich kurz ausmalte, was Chief Inspector Holloway mit ihm anstellen würde, hätte er gewußt, was Loeblin tat und noch vorhatte. Holloway haßte Reporter. Er betrachtete sie als Schädlinge und natürliche Feinde der Polizei. Und Marc Loeblin war beinahe bereit, sich einzugestehen, daß Holloway allen Grund haben würde, zumindest ihn, Loeblin, zu verabscheuen, wenn es ihm wirklich gelang, seine Idee durchzuziehen.
Fast haßte sich Loeblin ja schon selbst für seine Skrupellosigkeit, seine Sensationslust und dafür, daß es eine Hemmschwelle für ihn nicht mehr gab. Aber andererseits – in der Medienlandschaft ging es um Fressen und Gefressenwerden, und nur die Stärksten, die Wagemutigsten kamen durch. Er würde ganz groß rauskommen, wenn sein Plan funktionierte. Die Zeichen standen jedenfalls günstig für Marc Loeblin – dafür, daß sein Name bald in aller Munde sein würde. Oder zumindest in den Mündern der für ihn wichtigen Leute: Fernsehbosse, Zeitungsund Illustriertenherausgeber … Der freischaffende TV-Reporter überprüfte den Sitz der kugelsicheren Weste, die er in einem günstigen Moment aus einem Einsatzwagen der Polizei gestohlen hatte. Die dunkle Kleidung, die er darunter trug, stammte aus seinem eigenen Kleiderschrank. Auf einen flüchtigen Blick hin unterschied sie sich kaum von der Einsatzuniform der Squads. Die handliche Hochleistungskamera steckte unter dem Brustteil der Schutzweste. Unbemerkt zog Marc Loeblin das Gerät hervor und schob es wieder zurück. Dabei kam er sich vor wie ein Revolverheld, der das Ziehen seiner Waffen übte. Er grinste, doch die Regung gefror ihm zur Grimasse. Es ging los! Über Funk alarmierte Chad Holloway die Reserve-Truppe. Und als die Männer sich in Bewegung setzten und auf das Haus 333, Paddington Street zurannten, schloß sich Marc Loeblin ihnen wie selbstverständlich als Schlußlicht an. Niemandem fiel es auf. Die Polizeibeamten ringsum waren viel zu sehr damit beschäftigt, den Funkkontakt zu halten und das Chaos zu ordnen, und die Schaulustigen hielten Loeblin für einen Polizisten. Noch bevor sie die Eingangstür erreichten, hörten sie aus dem Innern des Hauses Schüsse. Und Schreie.
Die Eingreif-Truppe stürmte durch die Tür, die Waffen längst entsichert und im Anschlag. Und auch Marc Loeblin war einsatzbereit. Die Kamera lief und schien wie mit seinem rechten Auge verschmolzen. Ein aufgesetzter Strahler tauchte das Szenario ausschnittsweise in widernatürliche Helligkeit – – und riß das Grauen aus dem gnädig verhüllenden Dunkel!
* Marc Loeblin mußte sich mit aller Gewalt zwingen, den Finger auf dem Record-Button und die Kamera am Auge zu halten. Was er durch das Objektiv sah, war – unglaublich. Schrecklich. Gerade so, als schaue er hinab in die Hölle selbst! Schüsse krachten. Mündungsfeuer flackerten auf. Männer schrien. Blut spritzte und floß. Und dazwischen – sie. Ratten! Nein, unmöglich; dafür waren sie viel zu groß. Marc Loeblin wußte es so wenig wie wohl jeder andere in diesem verdammten Haus. Das tobende Chaos machte es nahezu unmöglich, ein einzelnes Bild lange genug zu erfassen, um es auch wirklich erkennen zu können. Loeblin sah meistenteils haarlose Kreaturen, die wie Derwische hin und her rasten. Zähne blitzten im grellen Licht seiner Kamera ein ums andere Mal auf. Tückisch glimmende Augen. Nadelspitze Krallen. Und in der Luft lag ein hohes, in den Ohren schmerzendes Fiepen und Quieken, beinahe wie von Schweinen, die zur Schlachtbank geführt wurden. Trotz ihrer Größe – sie waren fast so massig wie Bullterrier –, sagte ihm irgend etwas, daß es sich bei diesen Wesen tatsächlich um Ratten handelte. Nur – was hatte sie so verändert, derart mutieren las-
sen? Er riß sich zusammen. Dies war weder der rechte Ort noch die geeignete Zeit, um eine Antwort darauf zu finden. Jetzt zählte nur eines – daß er draufhielt! Er brauchte die Bilder, eine Dokumentation des tödlichen Schreckens, dessen Augenzeuge er wurde. Die Fernsehsender würden ihm den Film im geradezu wörtlichen Sinne vergolden! Loeblin schwenkte die Kamera hin und her, ließ den Blick ihres gläsernen Auges über blutige Leichen schweifen und über zerfetzte Kreaturen, von den Kugeln der Pumpguns buchstäblich in Stücke gerissen. Dennoch wurden es der monströsen Angreifer nicht weniger. Ihre Zahl schien unerschöpflich. Für jedes erlegte Biest drangen aus der Tiefe des Kellers zwei oder drei neue. »Rückzug!« gellte da ein Befehl durch die Halle. Chad Holloways dröhnende Stimme übertönte den Kampflärm mühelos. In Richtung des Kellers feuernd, bewegten sich die verbliebenen Polizisten rückwärts zur Eingangstür. Loeblin fing dieses Bild ein und nahm dann wieder die angreifende Meute ins Visier. Die rattenhaften Wesen schienen plötzlich weniger aggressiv. Als hätte es ihnen genügt, die Menschen zu vertreiben … Eine Großaufnahme! schoß es Loeblin durch den Kopf. Ich brauche eines dieser Biester lebensgroß, bildschirmfüllend! Er trat vor, ließ die Zoom-Automatik surren. »Mann! Sind Sie irre?« Loeblin ignorierte Holloways donnernden Ruf. »Verdammter Idiot, ich reiß’ dir den Arsch bis zum Genick auf!« brüllte Holloway. Loeblin hörte stapfende Schritte, Atmen wie das Schnaufen einer Dampflokomotive. Holloway kam. Loeblin nahm die Kamera vom Auge, wandte den Kopf in Richtung des Chefinspektors – und schrie auf!
Etwas hatte seine ungeschützte Kehle wie ein Schlag getroffen! Feurige Nadeln schienen ihm in den Kehlkopf und die Schlagader getrieben zu werden. Wärme schoß aus seinem Leib. Kälte trat an ihre Stelle. Und Schwärze. Daß Chad Holloway ihn auffing und zur Tür schleifte, bekam Marc Loeblin schon nicht mehr mit. Er hatte die Bilder seines Lebens mit eben diesem Leben bezahlt.
* Lilith Eden schlug die Augen auf – und stieß einen leisen Schrei aus! Eine Eule stierte aus kreisrunden Bernsteinaugen auf sie herab, die Flügel wie zum Angriff ausgebreitet – aber totenstarr. Lilith entspannte sich ein klein wenig, als ihre Erinnerung wiederkehrte und die seltsame Umgebung ins rechte Licht rückte. Es schien, als sei sie in einem Trödelladen eingeschlafen, oder in einer übergroßen Rumpelkammer. Aber sie wußte, daß dem nicht so war. Sie befand sich im Haus eines alten Mannes. Wie war noch sein Name? überlegte Lilith, noch mit den Folgen des tiefen Schlafes ringend. Hendriks! Erasmus Hendriks. Polizeipathologe im Ruhestand. Ein alter Bekannter von Darren Secada. Letzterer hatte Lilith in Hendriks’ Haus gebracht, nachdem sie in Darrens eigener Wohnung von Vampiren überfallen worden waren. Obwohl es ihr gelungen war, die Blutsauger zu besiegen, war ihnen ein weiterer Aufenthalt in Darren Secadas Apartment zu gefährlich erschienen.* Erst hatten sie sich in einem Hotel einquartieren wollen, dann aber hatte Darren vorgeschlagen, bei Doc Hendriks Unterschlupf zu suchen. *siehe VAMPIRA T51: »Der Durst der Toten«
Lilith konnte Darrens Beweggrund für diese Entscheidung nachvollziehen. Immerhin hatte sein bisheriges Weltbild in der vergangenen Nacht gewaltige Sprünge bekommen, nicht nur der Konfrontation mit den Vampiren wegen, und er mußte sich wohl regelrecht nach der Gesellschaft eines vertrauten, eines normalen Menschen gesehnt haben – – schließlich hatte er auch sie, Lilith, gut genug kennengelernt, um zu wissen, daß sie nicht mit normalen Maßstäben zu messen war. Sie war nur zur Hälfte Mensch, zur anderen Vampirin. Und diese andere Seite trat in Extremfällen nur allzu deutlich zum Vorschein. Allerdings war Liliths Leben ein einziger, durchgängiger Extremfall … … schon immer gewesen, und daran hatte sich auch nach dem von Gott initiierten Regenerationsschlaf im Keller ihres Geburtshauses 333, Paddington Street nichts geändert. Im Gegenteil, kaum war sie von Darren Secada, wenn auch eher zufällig, dort gefunden und aus dem Haus gebracht worden, steckte Lilith schon wieder mittendrin in diesem morbiden Sumpf aus Gefahr, Tod und Unerklärlichem, der ihr Schicksal war. Und mit ihr Darren Secada, der das Pech gehabt hatte, Lilith Eden zu begegnen … Mittels ihrer hypnotischen Kraft hatte sie ihn zumindest vor psychischem Schaden bewahren können. Lilith hatte Darrens Geist gewissermaßen geweitet, Grenzen aufgebrochen, so daß er die mysteriösen Ereignisse wenigstens zu akzeptieren vermochte, wenn er sie auch nicht wirklich verstand. Aber dieses Verständnis fehlte auch Lilith selbst. Wie war es möglich, daß es noch Vampire gab, nachdem Gott selbst die schwarzblütige Brut von der Erde getilgt hatte? Antworten auf diese Frage zu finden, das würde ihre vordringliche Aufgabe sein. Sie seufzte.
Es gab Kämpfe, die nie endeten. Ihr ganz eigener gehörte dazu. Lilith sah sich um. Nicht aus wirklichem Interesse für ihre Umgebung, sondern in allererster Linie, um sich abzulenken. Wenigstens für ein paar Minuten. Das Zimmer, in dem sie einige Stunden geschlafen hatte, ließ keinen Zweifel daran, womit Dr. Erasmus Hendriks seinen Ruhestand zubrachte: mit dem Präparieren toter Tiere und dem Besuch von Flohmärkten, von wo er ganz offensichtlich nie mit leeren Händen zurückkam. Die Einrichtung bestand aus allem möglichen Plunder, und es war nur allenfalls eine Handvoll geschmackvoller Antiquitäten darunter. Die Polster der (allerdings sehr bequemen) Couch, auf der Lilith lag, mußten Generationen von Ungeziefer als ihre Heimat ansehen. Auf seltsame Weise harmonierten die ausgestopften Tierkörper mit dem ganzen Ramsch hier. Aus allen Ecken starrten sie auf Lilith herab – die schon entdeckte Eule, dort drüben ein Dingo, daneben ein fettes Eichhörnchen, und vor allem Vögel, die irgendwann einmal in allen Farben des Regenbogens geleuchtet haben mochten, bevor die Zeit ihnen graue Staubmäntel übergezogen hatte. Damit wußte Lilith schon eine ganze Menge über Erasmus Hendriks – Ein dumpfes Geräusch schreckte sie auf. Es klang wie Hppptschschüh! Sie lächelte. Und noch etwas wußte sie über den alten Doc: Er hatte Schnupfen. Wie Darren ihr gesagt hatte, litt er seit Jahren darunter. Eine Folge seiner langen Arbeit in den kalten Räumen der Pathologie. Lilith schwang die Beine von der Couch und befahl dem Symbionten, sie einigermaßen züchtig zu kleiden. Das lebende Kleidungsstück formte sich zu einer dunklen Hose und einer gleichfarbenen Bluse, langärmelig und hochgeschlossen. »Nicht so züchtig«, murrte Lilith.
Aus der Bluse wurde ein bauchfreies, ärmelloses Top, die Hose zu Shorts. »Schon besser«, befand Lilith, stand auf und suchte sich einen kurvenreichen Weg durch das umherstehende Gerümpel zur Tür. Kurz sah sie dabei aus dem Fenster. Ihr Blick fiel über das funkelnde Wasser der Elizabeth Bay. Die Hand auf der Klinke, blieb Lilith an der Tür stehen, als sie Stimmen hörte. Doc Hendriks unterhielt sich mit Darren Secada, dem jungen Mann, den der Zufall an ihre Seite geführt und dort vergessen hatte, bis jetzt zumindest. Und die beiden sprachen, natürlich, über sie. »Kommt dir das wirklich nicht seltsam vor, mein Junge?« fragte Hendriks gerade. »Ich weiß nicht, Doc …«, antwortete Darren zögernd. »Ich meine, du erzählst mir da Sachen, die sich anhören, als hättest du zu viele schlechte Horrorfilme gesehen, und scheinst das alles ganz normal zu finden!« Lilith lächelte still. Also wirkte ihre »Behandlung« in Darren noch nach. Gut so. Bei Hendriks hatte sie in der Nacht dasselbe versucht, mit weit weniger Erfolg. Zwar gehörte er nicht zu den Menschen, die absolut nicht zu hypnotisieren waren, aber ihre Suggestionskraft hatte bei dem alten Mann doch nicht recht verfangen. Ganz so, als sei sein Geist nicht mehr formbar genug, in den Jahren starr geworden. Aber immerhin hatte sie ihn soweit beeinflussen können, daß er sie beide, Lilith und Darren, in seinem Haus aufgenommen hatte, ohne viele Fragen zu stellen. Andererseits – das mochte er in erster Linie Darren zuliebe getan haben, in dem er wohl als so etwas wie einen Sohn sah. Darren schwieg, schien nicht recht zu wissen, was er sagen sollte. Ehe er zu sehr über alles nachdenken konnte, verließ Lilith ihr Zimmer, eilte bewußt laut die wenigen Stufen zur Zwischenetage des
Hauses hinab und trat lächelnd wie die Morgensonne in die Wohnküche. »Hi!« grüßte sie betont gutgelaunt. »Hi«, machte Hendriks mürrisch. Und Darren blinzelte verwirrt, als sei er aus tiefem Traum geweckt worden, ehe er ein gemurmeltes »Guten Morgen« zustande brachte. »Setzen Sie sich, Miss«, sagte Hendriks und schob einen Stuhl zurecht. »Danke«. Lilith nahm am Tisch Platz, auf dem die Reste eines nicht sonderlich opulenten Frühstücks standen. »Kaffee?« fragte der Doc und wies auf eine verbeulte Blechkanne. »Nein, danke. Ich nehme mir etwas davon, wenn Sie erlauben.« Lilith griff nach einer Flasche Tomatensaft. »Ich steh auf die Farbe, wissen Sie?« Sie zwinkerte dem alten Mann zu, so unschuldig mädchenhaft und aufreizend zugleich, daß Hendriks einen Moment lang unruhig hin und her rutschte. »Hast du …«, begann Darren, während Lilith sich ein Glas füllte, »… hast du gut geschlafen?« »O ja. Und du?« »Gar nicht.« Darren zog eine mißmutige Grimasse. »Oh«, machte Lilith. »Solltest du aber.« »Ich hatte über ‘ne Menge nachzudenken, weißt du? Ein paar merkwürdige Dinge, die mir seit gestern passiert sind. Und ein paar Fragen, auf die ich noch keine Antworten bekommen habe.« Darren lehnte sich über die Tischkante und sah Lilith an, als wolle er sie mit Blicken durchbohren. »Und?« Sie nahm einen Schluck. »Hast du sie gefunden?« »Was?« »Die Antworten. Deshalb hast du doch nicht geschlafen, oder?« Darren schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Verdammt! Wann hörst du auf, in Rätseln zu reden und dich selbst als größtes von allen darzustellen?«
»Sobald ich selbst ein paar dieser Rätsel gelöst habe«, meinte Lilith ernst. Sie stellte das Glas ab und sah dem jungen Mann tief in die Augen. »Darren, ich habe dir alles gesagt, was ich weiß. Mehr …«, sie hob zaghaft die Schultern, »… weiß ich eben auch nicht. Glaube mir.« Und er glaubte ihr. Eine Weile schwiegen sie. Als die Stille bedrückend wurde, schaltete Erasmus Hendriks den Fernseher an und zappte kreuz und quer durch die Kanäle. Und schließlich war doch er es, der etwas sagte. Allerdings wandte er sich betont an Darren. »Weißt du, mein Junge, ich habe nachgedacht – über das, was du erzählt hast. Diese seltsamen Toten, die verschwunden waren und dann plötzlich wieder auftauchten, ohne sich der langen Zeit gemäß verändert zu haben – und über … na ja, diese andere Sache eben …« »Vampire«, fiel Lilith ein. Hendriks verzog mißschätzig die Lippen. »Ja, wenn man es so nennen will.« »Das ist keine Frage des Wollens«, erklärte Lilith, »sondern eine Tatsache.« Sie streckte ihre geistigen Fühler aus, um Hendriks Zweifel und Ablehnung wenn schon nicht auszuräumen, so doch wenigstens etwas aufzuweichen. »Gut, nehmen wir es als solche hin«, sagte der Doc dann, hörbar umgänglicher. Lilith lächelte. »Mir scheint, da besteht ein Zusammenhang«, fuhr er fort. »Was meinst du?« Er sah zu Darren hin. Der fuhr sich mit der Hand über die unrasierte Wange, schlürfte von seinem Kaffee, dann nickte er lahm und hob zugleich die Schultern. »Ja, schon möglich. Hab’ ich auch schon dran gedacht. Vor allem, weil ich gestern, kurz bevor dein Anruf kam –«, er warf Hendriks einen Blick zu, »– und du mich auf diese Sache in der Paddington Street aufmerksam gemacht hast, etwas ganz Eigenartiges entdeckt hatte: Auf dem einen Tisch hatten wir eine fast blutleere Lei-
che, und auf dem anderen einen Toten, in dessen Speiseröhre ich …«, er schluckte vernehmlich, »… Blutreste fand.« »Na, wenn das keine Spur ist!« entfuhr es Lilith. »Könnte sein«, meinte Darren. »Sag mal«, setzte Lilith an, »wäre es möglich, daß ich mir diese Toten näher ansehe?« Darren stöhnte auf. »Mann, du bringst mich in Teufels Küche!« Lilith lächelte gewinnend. »Da war ich schon. Und glaub mir, du hast nichts verpaßt, wenn du nicht dort warst.« Darren sah sie zweifelnd und ein klein wenig beängstigt an, aber Hendriks’ erschrockener Ausruf enthob ihn einer Erwiderung. »Meine Güte, seht euch das an, Kinder!« Der Doc wies auf den Fernseher. Im Hintergrund war eine Einblendung zu sehen, die einen übel zugerichteten Toten zeigte. Rot beherrschte das Standbild. Daneben, kleiner, ein düsteres Haus, das sowohl Lilith als auch Darren nur zu gut kannten. Davor saß eine Nachrichtensprecherin, im unteren Bildschirmrand war das Senderkürzel WGKB zu lesen, sowie die Zeile Drama in der Paddington Street. »… hat sich die Situation dramatisch verändert«, las die Moderatorin vom Teleprompter ab. »Die Polizei stürmte das Haus, nachdem es sich als stabil erwies …« Darren Secada richtete sich alarmiert auf. 333, Paddington Street war für ihn zu so etwas wie einer fixen Idee geworden. Seit er erfahren hatte, daß sein Vater vor Jahren in diesem Haus dem Wahnsinn verfallen war, der irrsinnigen Vorstellung, er sei ein Vampir, und seither in einer psychiatrischen Anstalt einsaß, setzte er alles daran, das Geheimnis dieses unheimlichen Hauses zu lüften. Und seit gestern nun überschlugen sich die Ereignisse in der Paddington Street geradezu, nachdem er in den vielen Monaten vorher kaum etwas von wirklicher Bedeutung hatte herausfinden können. Um so begieriger war er jetzt zu erfahren, was aktuell dort vor-
ging. Lilith teilte dieses Interesse, wenn auch aus anderem Grund. Immerhin war sie vor über 100 Jahren in diesem Haus zur Welt gekommen, als Tochter einer Vampirin und eines sterblichen Mannes, und nachdem sie 98 Jahre träumend dort zugebracht hatte und schließlich erwacht war, hatte sich das Haus wieder und wieder als Drehund Angelpunkt ihres Lebens erwiesen. Nicht von ungefähr war sie vor zwei Jahren einmal mehr dorthin gebracht worden, um weitere zwei Jahre zu schlafen und sich von der mörderischen Schlacht gegen das Böse selbst zu erholen. »… sehen Sie als nächstes den Film, den Marc Loeblin in dem Haus drehen konnte, bevor auch er Opfer der schrecklichen Ereignisse wurde«, sagte die Nachrichtensprecherin gerade. »Und bringen Sie vorher bitte Ihre Kinder aus dem Zimmer. Wir melden uns wieder, gleich nach der Werbung.« »Ist ja widerlich«, meinte Darren angeekelt, als eine glückliche Familie den Geschmack einer furchtbar neuen und furchtbar fruchtigen Erdbeerkonfitüre anpries. »Was?« fragte Hendriks. »Daß das Zeug garantiert aus gentechnisch hochgezüchteten Erdbeeren besteht?« Darren winkte ab. Er wollte endlich sehen, was in der Paddington Street los war. Vier, fünf Spots flimmerten noch über den Bildschirm, dann meldete sich WGKB zurück, und die Sprecherin faßte noch einmal zusammen, was sie vor dem Break schon gesagt hatte. Danach wurde endlich Loeblins Film gezeigt, der, davon war auszugehen, auf nicht ganz sauberem Wege in die Hände des Senders gelangt sein mußte. Im Grunde war nicht viel zu erkennen. Andererseits war es ganz gut so. Denn die größtenteils verwackelten Bilder der Handkamera zeigten immer noch genug, um ganz Sydney das Frühstück zu verderben. Mehr Details waren niemandem zumutbar, und selbst diese Bilder gingen schon weit über die Grenzen dessen hinaus, was im
Fernsehen gezeigt werden sollte. Trotzdem würde dieser Film – und er würde an diesem Tag ganz sicher noch etliche Male gezeigt werden – Rekordquoten erreichen, wenn sich seine Existenz erst einmal wie ein Lauffeuer herumgesprochen hatte. Loeblins Kamera hatte eine Police-Squad eingefangen, die in das Haus an der Paddington Street eingedrungen war. Und dort wurden die Männer angegriffen – von monströsen Kreaturen, die an Ratten erinnerten und sich wie Bestien gebärdeten! Sie wüteten furchtbar unter den Männern, Blut spritzte im Scheinwerferlicht der Kamera, wenn die hundsgroßen, rattenhaften Wesen zuschlugen und um sich bissen. Die Kugeln der Polizeiwaffen zerrissen mindestens ein Dutzend der Tiere, aber ihre Zahl wurde nicht geringer. Einmal hatte Loeblin kurz auf die Kellertür des Hauses gehalten, und dort strömte das Getier hervor wie eine Flut aus pelzlosen Leibern. In der letzten Szene sprang eine der Kreaturen mit aufgerissenem Maul der Kamera förmlich entgegen, wuchs zu riesenhafter Größe und tauchte dann unter dem Objektiv weg. Ein markerschütternder Schrei war noch zu hören, dann wirbelnde Aufnahmen zu sehen, als der Kameramann stürzte, und schließlich nichts mehr. Die Moderatorin meldete sich zurück. »Wir schalten jetzt live in die Paddington Street, wo Tom Cassidy mit Chief Inspector Chad Holloway wartet.« Die Sprecherin wandte sich in Richtung eines Monitors, der seitlich von ihr stand. »Tom, können Sie uns hören?« Das Bild wechselte. Ein silberhaariger Dressman-Typ stand an der Grundstücksgrenze von 333, Paddington Street. Das Haus im Hintergrund wirkte selbst im Licht der Morgensonne düster und abweisend. Neben Tom Cassidy stand ein gedrungener Mann in kugelsicherer Weste, dunkle Ringe unter den Augen, Bartschatten auf Kinn und Wangen.
»Chief Inspector Holloway, was können Sie uns über die aktuelle Situation im Haus 333 sagen?« Holloways Miene sprach eine ganz eigene Sprache, und sie sagte: Einen verdammten Scheißdreck will ich dir sagen! »Nicht mehr, als Sie ohnehin schon wissen«, brummte er dann aber in das Mikrofon, das ihm Cassidy unter die Nase hielt. »Keine Ahnung, wie Sie diesen verdammten Film in die Finger bekommen haben, aber das wird ein Nachspiel haben!« Cassidy lächelte müde. »Sie wissen, Chief Inspector, wir sind nicht verpflichtet, unsere Informanten preiszugeben.« »Wird auch nicht nötig sein«, knurrte Holloway, »ich find’s schon selbst raus.« Wie zufällig ließ er die Knöchel seiner fleischigen Finger im Einzugsfeld der Kamera knacken. »Nun, wie auch immer«, fuhr Cassidy fort, »das ist noch keine Antwort auf meine Frage. – Wir haben den Film gesehen und wissen, was dort drüben vorgefallen ist. Aber wir wissen nicht, worum es sich bei diesen … Tieren exakt handelt.« »Da sind Sie nicht der einzige«, sagte Holloway. »Aber Sie müssen doch irgend etwas unternehmen, oder?« »Klar«, grunzte Holloway. »Am liebsten würde ich die verdammte Bude in die Luft jagen, um diesem Scheißspuk ein Ende zu machen –« »Was hält Sie davon ab, Sir?« Cassidys solariumgegerbten Gesicht war anzusehen, wieviel er von Holloways Ausdrucksweise hielt. Ein schwer zu definierender Ausdruck stahl sich in Holloways Züge. Es konnte Unbehagen sein, obwohl man kaum glauben mochte, daß ein Typ wie Chad Holloway eine solche Empfindung kannte. »Na ja, wir haben einen Funkspruch aufgefangen«, sagte er dann zögernd. »Einen Funkspruch, Sir? Von wem? Und worum ging es darin?« hakte Cassidy nach.
Holloway wies mit seinem dicken Daumen über die Schulter in Richtung des Hauses. »Von dort. – Und er stammte von Neech Roven.« »Neech Roven hat das erste Team geführt, das sie ins Haus geschickt haben. Ist das richtig?« »Yeah«, dehnte Holloway. »Wir dachten, die Männer seien tot?« meinte Cassidy. »Dachten wir auch. Bis zu diesem Funkspruch. Danach riß die Verbindung wieder ab.« »Was ist mit Roven? Und gibt es weitere Überlebende?« kam der Reporter auf das eigentliche Thema zurück. Holloway hob die Schultern, als würde er frösteln. »Wie viele der Männer noch leben, wissen wir nicht. Der Kontakt war zu kurz. Wir wissen nur eines –« »Ja?« forderte Cassidy den Chefinspektor auf, als er innehielt. »Roven wird gefangengehalten.« »Von diesen … Ratten?« entfuhr es Tom Cassidy entgeistert. »Ja, von diesen Ratten!« brummte Holloway. »Und jetzt entschuldigen Sie mich – denn die Ratten dort drüben«, er wies mit dem Kinn zum Haus hin, »sind mir immer noch lieber als ihr Reporter.« Er wandte sich ab und verschwand aus dem Bild. Tom Cassidy sah drein, als wolle er gleich anfangen zu heulen. Mit knappem Gruß gab er zurück ins Studio. »Reizend wie eh und je, der alte Chad«, meinte Doc Hendriks, der den Chefinspektor noch aus seiner Dienstzeit kannte. »Und er wird immer besser«, fand Darren. »Kein Wunder, daß die Polizei in der Berichterstattung so großartig –« Er unterbrach sich, als sein Blick auf Lilith fiel. Sie war aufgestanden und machte Anstalten zu gehen. »Hey, was hast du vor?« rief Darren überrascht. »Na, was wohl?« entgegnete Lilith. Sie wies auf den Fernseher, dessen Ton Hendriks leiser gestellt hatte. »Ich werde gebraucht.«
Darren verzog das Gesicht zu einem säuerlichen Grinsen. »Wer, glaubst du, daß du bist? Batgirl?« Lilith grinste zurück. »Damit liegst du gar nicht mal so falsch. Ich fürchte, damit muß ich leben.« »Und ich wohl auch«, meinte Darren. Er erhob sich. »Was soll das werden?« fragte Lilith. »Ich komme natürlich mit«, erklärte Darren. »Tust du nicht.« Lilith sah den jungen Mann einen Augenblick lang fest an – und er sank auf seinen Stuhl zurück. »Nein, tu ich nicht«, sagte er. »Bis später.« Lilith winkte. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, als Fledermaus durch das Fenster zu verschwinden. Dann ließ sie es bleiben. Darren war ohnehin schon durcheinander genug, und Hendriks wollte sie auch nicht mehr zumuten, als er bereits wußte. Auf dem Weg zur Haustür hörte sie die Stimme des Docs. »Du stehst schon ganz schön unter ihrem Pantoffel, mein Junge.« Sie konnte Darren fast grinsen hören. »Aber Sie müssen zugeben, daß sie süß ist, oder? Und diese Haare – haben Sie jemals so herrlich schwarzes Haar gesehen, Doc?« Lilith lächelte und genoß das wohlige Gefühl, als würde ihr Herz in zwei warme Hände genommen. Bis die kalte Welt jenseits der Tür sie wiederhatte.
* Die meisten Redaktionsschreibtische waren noch verwaist, als Seven van Kees das Großraumbüro des Sydney Morning Herald betrat. Spätestens in einer Stunde allerdings würden das Klappern von Tastaturen und das Summen der Computer den riesigen Raum erfüllen, würden Telefone schrillen und nahezu babylonisches Stimmengewirr herrschen.
Seven van Kees mochte diese frühe Stunde, nicht nur der Ruhe wegen. Die relative Einsamkeit in dem weitläufigen Büro gab ihr das Gefühl, wichtig zu sein, mehr als nur eine Reporterin unter vielen. Vor einigen Jahren hatte sie den Job einmal hingeschmissen. Nicht, weil er ihr keinen Spaß mehr gemacht hatte, sondern weil sie nicht länger mit Beth MacKinsey im selben Raum hatte arbeiten wollen. Die privaten Querelen, so hatte sie nach ihrer Trennung von Beth befürchtet, würden sich unweigerlich ins Berufsleben hineinziehen, und auf solchen Streß war Seven nicht erpicht gewesen. Inzwischen aber war Beth MacKinsey, »Macbeth« genannt, von der Bildfläche verschwunden. Niemand wußte etwas über ihren Verbleib, und obwohl Seven van Kees längst keine tiefergehenden Gefühle mehr für die einstige Lebens- und Liebesgefährtin hegte, hätte sie doch gern gewußt, was aus ihr geworden war. Wurmfutter? wisperte ein bösartiges Stimmchen zwischen Sevens Gedanken, ein Überbleibsel der früheren Seven van Kees, die als Biest bekannt gewesen war. Handzahm war die maisblonde Reporterin noch immer nicht geworden, aber die Jahre hatten sie immerhin gelehrt, daß man mit bloßer Provokation eher selten ans Ziel kam. Entsprechend zurückhaltender war Seven van Kees (siebtes Kind holländischer Einwanderer) geworden. Für den gemeinen Gedanken über Beth’ mögliches Schicksal verabscheute sie sich fast selbst. Ein winziges Grinsen konnte sie sich dennoch nicht verkneifen … Daß Beth MacKinsey den SMH verlassen hatte, war für Seven nicht der einzige, nicht einmal der wichtigste Grund gewesen, um in ihren alten Job zurückzukehren. Vielmehr hatte sie »draußen« sehr schnell festgestellt, daß ihr kein anderer Beruf mehr lag als dieser, und daß der Sydney Morning Herald die beste Zeitung war, für die man in dieser Stadt arbeiten konnte. Trotz Moe Marxx.
Wer immer irgendwann die Begriffe Scheusal und Ekel definiert hatte, er mußte den Chefredakteur des SMH gekannt haben. Er war hart und ungerecht gegenüber der Welt im allgemeinen – und noch ein bißchen härter und ungerechter im Umgang mit seinen Mitarbeitern. Er haßte sich und jeden anderen Menschen auf dieser Welt, von der Herausgeberin des Morning Herald abgesehen, und er machte keinen Hehl daraus. Aber er liebte diese Zeitung. Er ordnete ihr alles unter. Sein eigenes Leben ebenso wie das eines jeden anderen. Und mochte man von Moe Marxx auch halten, was man wollte, eines konnte man ihm nicht in Abrede stellen: Unter niemandes Führung sonst wäre der Sydney Morning Herald in dieser Zeit noch einzigartig im Mediengefüge dieser Stadt und ihrer weiten Umgebung. Marxx verweigerte sich hartnäckig dem Boulevard-Stil, und er ließ keine Story ins Blatt rutschen, die auch nur ansatzweise auf die Sensationslust der Leserschaft abzielte. Seriosität war seine oberste Direktive, und entsprechend war das Renommee des SMH, das sich auch im Anzeigenklientel niederschlug – die bedeutendsten Unternehmen der Welt schalteten Kampagnen in dieser Zeitung, weil sie sicher sein konnten, hier nicht Seite an Seite mit Sex & Crime & Schmuddelkram stehen zu müssen. Entsprechend hoffnungslos fühlte sich Seven van Kees, als sie mit den bisherigen Aufzeichnungen und Unterlagen ihrer Story auf das »Terrarium« zuging, in dem Moe Marxx mit Rundumblick auf seine Schreibknechte und -mägde residierte. Ihr langsamer Schritt war nicht nur eine Folge der durchwachten Nacht. Moe Marxx saß natürlich schon in seinem allseitig verglasten Büro in der Mitte des großen Saals. Seven sah seinen spiegelblanken Kopf, über irgendwelche Papiere gebeugt. Entgegen der üblichen Gepflogenheit klopfte Seven an die Glastür ins Allerheiligste. Marxx sah nicht einmal auf. Er haßte es, Zeit mit solchen Höflichkeiten zu verschwenden, und ignorierte sie, wenn jemand sich ihrer bediente.
Seven trat ein. Ohne aufzusehen, winkte Marxx sie heran. »Kommen Sie schon, van Kees. Zeit ist Geld.« Seven stutzte. »Haben Sie Augen auf Ihrer …?« Sie verbiß sich das Wort Glatze. »Oder wie konnten Sie wissen, daß ich es bin?« Marxx sah noch immer nicht in ihre Richtung. »Sie haben sich heute Morgen offenbar mit Parfüm gewaschen. Ich konnte sie schon riechen, als Sie aus dem Fahrstuhl kamen.« Seven lächelte verunglückt. Tatsächlich hatte sie den fehlenden Schlaf mit einer Überdosis Kosmetik auszugleichen versucht. »Reden Sie schon«, verlangte Marxx. »Was gibt’s?« Er bot nie jemandem einen Platz an. Es gab in seinem Büro nicht einmal einen Besucherstuhl. Schließlich waren die Leute und er zum Arbeiten hier, nicht zum Herumsitzen und Plaudern. Immerhin hob er jetzt den Kopf, und Seven van Kees konnte einmal mehr feststellen, daß Moe Marxx nicht nur seiner inneren Einstellung zu allem und jedem wegen abstoßend war. Er war schlicht und ergreifend häßlich – spindeldürr, hageres Gesicht mit bläulichdunklen Bartschatten und tiefliegenden, kohleschwarzen Augen. »Guten Morgen«, erlaubte sich Seven zu sagen und fügte sogar noch ein freundliches Lächeln an. »Guten Morgen? Was soll der Quatsch? Was haben Sie da?« Marxx zeigte auf den kleinen Packen, den Seven in Händen hielt. Sie legte die Sachen auf seinen Schreibtisch. »Deswegen bin ich hier.« »Ach was.« Marxx langte nach den Unterlagen und sah sie im Eiltempo durch. »Was soll das sein?« wollte er nach so kurzer Zeit wissen, daß er unmöglich alles gelesen und gesehen haben konnte. »Eine Story«, sagte Seven. »Eine gute. Die beste seit langem.« »Seit wann wissen Sie, wie eine gute Story aussieht?« »Seit ich Ihre Artikel aufmerksam lese.«
»Nicht die schlechteste Antwort«, erwiderte Moe Marxx, und Seven sah ihn zum zweiten oder dritten Mal in ihrem Leben etwas tun, das er für Lächeln hielt – seine blassen Lippen zuckten kurz. »Genug geschleimt«, befand Marxx. »Schießen Sie los.« Und Seven van Kees berichtete. Von der vergangenen Nacht. Von dem Auftauchen des vor Jahren verschwundenen Hauses 333, Paddington Street. Davon, daß sie einem Mann namens Darren Secada gefolgt war, der eine unbekannte Frau aus eben diesem Haus geholt und in seine Wohnung gebracht hatte. Und darüber, daß die beiden in der Wohnung von Unbekannten überfallen worden waren. Die wiederum von der Frau aus dem Paddington-Haus getötet worden waren, die sich in eine Fledermaus verwandelt hatte … Im Grunde wunderte sich Seven, daß sie ihre Geschichte überhaupt bis zu diesem Punkt hatte erzählen dürfen und Moe Marxx sie nicht schon viel früher unterbrochen hatte. »Sind Sie übergeschnappt?« Marxx’ Tonfall klang ruhig, beinahe besorgt – und gerade deshalb beunruhigend, gefährlich. Er griff abermals nach Sevens Unterlagen und zog zielsicher die Fotoausdrucke heraus. Die Reporterin verzog die Lippen. Diese »Bilder« waren der schwächste Punkt ihrer Geschichte. Denn sie zeigten nichts außer der Umgebung des Hauses, in dem Darren Secada wohnte. Was nicht an ihrem mangelnden Können als Fotografin lag. Und auch nicht an der Ausrüstung. Sie hatte die Digitalkamera überprüft; sie war einwandfrei in Ordnung. Irgendwie war Seven nicht einmal sonderlich erstaunt darüber, nach allem, was sie in der vergangenen Nacht mit eigenen Augen gesehen hatte … Wortlos klaubte sie ihre Textentwürfe und die nichtssagenden Fotos zusammen und klemmte sich das Päckchen unter den Arm.
»Was muß ich tun, damit Sie sich die ganze Geschichte anhören?« fragte sie dann herausfordernd, Marxx ganz bewußt von oben herab ansehend. »Erzählen Sie eine gute Geschichte«, erwiderte der Chefredakteur. »Eine glaubhafte. Eine, die der Linie dieser Zeitung entspricht. Und belegen Sie jedes Komma mit Beweisen. Das Übliche eben.« Kein Grinsen, kein Gruß. Moe Marxx widmete sich wieder seinen Korrekturen. »Wir sehen uns«, sagte Seven und ging. In der Tiefgarage des Verlagsgebäude blieb Seven van Kees eine Weile in ihrem Wagen sitzen, ohne den Motor anzulassen. Ein paar Minuten verbrachte sie damit, sich über Moe Marxx zu ärgern, dann überlegte sie, wohin sie fahren sollte – zurück an den Tatort oder in die Paddington Street, wo die Geschichte eigentlich begonnen hatte? Als sie endlich den Zündschlüssel drehte, hatte sie sich für die erste Möglichkeit entschieden. Nicht nur, weil sie dort die heißere Spur zu finden hoffte – – sondern auch, weil die Chancen besser standen, Darren Secada wiederzusehen.
* Seven stellte ihren Wagen in einer Seitenstraße ab und ging den Rest des Weges zu dem Apartmenthaus, in dem Darren Secada wohnte, zu Fuß. Dabei sah sie sich unauffällig um, ob in der Nähe noch Polizei präsent war. Aber man schien den Tatort bereits geräumt zu haben. Im Vorbeigehen schnappte die Reporterin ein paar Gesprächsfetzen von beisammenstehenden Anwohnern auf, die sich wohl auf dem Weg zum Einkaufen oder zur Arbeit begegnet waren und sich über die Ereignisse der vergangenen Nacht unterhielten. Doch allein dem Wenigen, das Seven hörte, konnte sie entnehmen, daß niemand
Näheres oder gar Genaues wußte und die Leute letztlich nichts anderes taten, als einander in ihren Spekulationen zu übertrumpfen. Der Ort des Geschehens brachte ihr keine weiteren Erkenntnisse. Außer einigen Kreidemarkierungen auf dem Asphalt war nichts zu finden. Seven van Kees ließ ihren Blick an der Fassade des Apartmentkomplexes emporwandern, bis zum achten Stock. Möglicherweise würde sie dort oben fündig werden. In Darren Secadas Wohnung. Der Fahrstuhl brachte sie in die achte Etage des Hauses. Secada wohnte in 8F. Seven klingelte. Lauschte. Nichts rührte sich hinter der Tür. Sie läutete ein zweites Mal. Weiterhin blieb alles ruhig. Das konnte schlicht bedeuten, daß Secada nicht zu Hause war, weil er zur Arbeit gegangen war. Ebenso war es aber möglich, daß ihn die Polizei letztlich doch in Verbindung zu den Ereignissen gebracht und zum Verhör mitgenommen hatte. Oder er war kurzerhand untergetaucht, vermutlich mit dieser seltsamen Frau. Seven van Kees überlegte einen Moment lang – oder tat zumindest so. Denn eigentlich hatte sie schon entschieden, was sie tun würde. Ihre Hand verschwand in der Tasche ihres Blazers und kam mit einem mehrgliedrigen Bund wieder zum Vorschein. Dieses Spezialbesteck hatte sie irgendwann einmal einem Police Detective abgeluchst, mit dem sie ein paar Nächte lang liiert gewesen war; so lange eben, wie sie gebraucht hatte, um ihm alle vertraulichen Informationen über einen Fall zu entlocken. Soweit sie wußte, stand der Ärmste mittlerweile nicht mehr im Dienst der Polizei … Das Türschloß gab seinen Widerstand schon bei Sevens zweitem Versuch auf. Lautlos wie ein Schatten schlüpfte sie in die Wohnung und drückte die Tür hinter sich zu. Dann sah sie sich um. Darren Secadas Wohnung lag zu weiten Teilen in dämmrigem Licht. Die Vorhänge waren zugezogen, Winkel und Ecken blieben
im Dunkeln. Auf den ersten Blick fand Seven nichts Auffälliges. Aber das hatte sie auch nicht erwartet. Im Grunde war ihr nicht einmal wirklich klar, wonach sie suchte. Sie würde es wissen, wenn sie darauf stieß. Der kleine Flur hinter der Eingangstür öffnete sich nach zwei Schritten zu einem geräumigen Livingroom. Die Einrichtung wirkte ein wenig wahllos zusammengewürfelt und trug die fast schon klischeehafte Junggesellenhandschrift. Es war nicht wirklich unordentlich, aber auch nicht aufgeräumt. Seven ging an einem Bücherregal entlang, ließ den Blick über die Titel wandern. Es befand sich einiges an Fachliteratur in der Sammlung, aber auch klassische Werke sowie triviale Lektüre – und ein paar zerlesene Kinderbücher. »Wie süß«, fand Seven. Feiner Spott ließ ihre Lippen zucken. Sie öffnete einen Schrank, fand ein paar Gläser, ein altes, aber heute wieder modernes Kaffee- und Eßgeschirr und einigen Krimskrams, wie er sich wohl in allen Schränken dieser Welt im Laufe der Zeit ansammelte. Nichts Besonderes also. Das gleiche Urteil mußte Seven nach der Inspektion von Secadas Küche fällen. Als sie das Schlafzimmer betrat, lief ihr ein sachter Schauer über den Rücken. Dieser Raum hatte etwas Verbotenes (daß ohnehin illegal war, was sie schon die ganze Zeit über tat, interessierte die Reporterin nicht); sie drang in Darren Secadas ureigenste Intimsphäre vor, und das machte sie kribbelig. Viel mehr noch als der Gedanke an ihn überhaupt … Wie sehr dieser Mann sie faszinierte, wurde Seven van Kees erst in diesem Augenblick bewußt. Sie wollte sich fragen, was er getan hatte, was er an sich hatte, das solche Gefühle in ihr wachrief. Denn letztlich hatten sie doch nur ein paar Worte miteinander gewechselt, drüben in der Paddington Street.
Sie verbat sich, eine Antwort auf diese Fragen zu suchen. Weil es den knisternden Zauber, der sie gefangenhielt, womöglich zerstört hätte. Und das wollte sie nicht. Er würde früh genug vergehen – wenn er mit der Realität kollidierte … Seven seufzte wehmütig. Nette Männer gingen ihr einfach nicht ins Netz. Und vielleicht lag dieses Pech ja gerade daran, daß sie schon dachte wie eine Spinne: daß sie Männer (und Frauen) als Beute betrachtete, die ihr ins Netz gehen mußte … Aber immerhin, Träumen war erlaubt, und darin war Seven nicht einmal schlecht. Versonnen strich sie über Secadas zerwühltes Bettzeug, und sie kniete nieder, um an seinem Kopfkissen zu riechen. »Ich muß völlig verrückt sein!« Als hätte sie sich verbrannt, so hastig sprang sie auf und verließ das Schlafzimmer fast fluchtartig. Einen Raum der Wohnung hatte sie noch nicht unter die Lupe genommen. Seven öffnete diese letzte Tür und fand sich in einem Büro wieder, das gerade genug Platz für einen Schreibtisch nebst Stuhl bot. Die Wände verschwanden hinter Regalen, die wiederum dicht bestückt waren mit Aktenordnern, Schnellheftern und Stapeln loser Blätter. Erst wollte Seven den PC einschalten, der auf dem Schreibtisch stand, dann griff sie jedoch erst in eines der Regale, zog wahllos den nächstbesten Ordner heraus und schlug ihn auf. Er enthielt Zeitungsartikel, die nach dem Erscheinungsdatum geordnet waren, wie Seven beim flüchtigen Durchblättern feststellte. Und sie befaßten sich alle mit demselben Thema – Paddington Street, Hausnummer 333. »Das ist ja ein Ding«, murmelte Seven. Die Verbindung schien ihr unübersehbar: In der Paddington Street war sie Darren Secada begegnet, und er hatte sich dort in dieses merkwürdige Haus geschlichen, von wo er mit dieser noch viel seltsameren Frau zurückgekehrt war.
Aber was hatte das Ganze zu bedeuten? Wie hingen die einzelnen Teile zusammen? Seven wußte, daß die Antwort buchstäblich zum Greifen nahe lag. Sie stand in diesen Regalen. Die Reporterin streckte die Hand nach dem nächsten Ordner aus, aber sie berührte ihn nie. Stattdessen – berührte etwas sie! Wie inmitten der Bewegung von der nächsten Eiszeit überrascht, erstarrte Seven van Kees. Sie schauderte, aber es hatte nichts mit Kälte oder Erschrecken zu tun. Vielmehr wurde sie von einem Gefühl überrascht, das sie nie zuvor kennengelernt hatte – und nie mehr missen wollte, von dieser Sekunde an! Diese Stimme … Sie war … elektrisierend, herrlich, wunderschön. Männlich im allerbesten Sinne. Trotz der profanen Worte, die sie sprach, unmittelbar an Sevens Ohr. »Darf ich fragen, wer Sie sind und was Sie hier tun?«
* Lilith Eden verspürte ein eigenartiges Gefühl in sich, fremd einerseits und doch auch ganz vage vertraut, und sie fragte sich, ob es einem Menschen so ums Herz war, wenn er nach Hause zurückkehrte, heimkam. Denn zweifelsohne war es das, was sie tat – sie kam nach Hause. In die Paddington Street. In diesem Haus, das die Nummer 333 trug, war sie zur Welt gekommen, hier war sie aufgewachsen, wenn auch nicht im herkömmlichen Sinn. Hinter diesen Mauern hatte sie erst 98 Jahre und dann die fehlenden zwei schlafend und träumend zugebracht, und in diesen Träumen hatte Lilith alles erfahren und gelernt über die Welt draußen. Jetzt war sie wieder hier.
Und alles war anders. In einer schmalen Gasse unweit von Doc Hendriks’ Haus hatte sich Lilith in ihre Fledermausgestalt verwandelt und die Strecke bis zur Paddington Street fliegend zurückgelegt. In der Nähe ihres Geburtshauses steuerte sie eine ausladende Baumkrone an, ließ sich im Geäst nieder und transformierte zurück. Dann kletterte sie katzenhaft geschickt zu Boden – und landete genau vor einem kleinen Jungen, der sie aus großen Augen angaffte. »Was ist, Kleiner?« fragte sie lächelnd. »Noch nie eine fliegende Frau gesehen?« »Doch!« behauptete der Junge, kaum älter als sieben oder acht Jahre. »Supergirl!« Lilith verzog mißmutig die Lippen. »Vorhin Batgirl, jetzt Supergirl – lest ihr Kids heutzutage nur noch solchen Mist? – Kennst du Rotkäppchen oder Rumpelstilzchen?« »Gehören die jetzt zu den Power Rangers?« »Vergiß es, Kleiner«, sagte Lilith resignierend. Sie wollte sich gerade abwenden, besann sich dann aber doch anders und beugte sich zu dem Jungen hinab. »Paß auf, Kleiner.« Sie nahm ihn fest in den Blick ihrer meergrünen Augen. »Du stiefelst jetzt direkt in die nächste Bibliothek, verlangst die gesammelten Werke der Gebrüder Grimm, und dann marschierst du schnurstracks nach Hause und liest diese Bücher. Klar?« »Ja, Ma’am.« Der Junge nickte treuherzig und ging. Lilith sah ihm lächelnd nach. »Und wieder jemanden glücklich gemacht. Wenn’s nur immer so einfach wäre.« Seufzend drehte sie sich um in Richtung des Hauses 333. Dort regierte noch immer das Chaos, wenn es auch in irgendwelchen unsichtbaren Bahnen verlaufen mochte. Polizisten in Zivil und Uniform taten ihr Bestes, um das Gebiet abzuriegeln. Kamera-Teams und Rundfunkreporter wuselten umher, und inzwischen schien es
Schaulustige aus allen Teilen der Stadt in die Paddington gezogen zu haben. Einen Moment lang wollte Lilith einfach loslaufen, um bis an das Grundstück heranzukommen. Ihre Hypnosekraft hätte verhindert, daß sie von den Beamten aufgehalten worden wäre. Dann aber fiel ihr ein, daß nicht jeder Mensch auf diese Weise zu manipulieren war und sie womöglich doch in Schwierigkeiten geraten könnte, noch ehe sie am Ziel angelangt war. Also verschwand die Halbvampirin kurz hinter dem Stamm des Baumes, von dem sie eben erst herabgeklettert war, und gab, unbeobachtet von zufälligen Zeugen, ihrem Symbionten einen Befehl. Und der reagierte unverzüglich und zu ihrer Zufriedenheit … Sekunden später schob sich eine uniformierte Polizistin durch die Menge, die nicht auf der Personalliste des Sydney Police Departments geführt wurde: Officer L. Need. In ihrer Verkleidung konnte Lilith die Absperrungen ungehindert passieren. Wohl aber wurde sie verfolgt – von den Pfiffen Schaulustiger und den verwunderten Blicken einiger Polizisten, die sich zweifellos fragten, wie sie eine Kollegin von diesem Format bislang hatten übersehen können. Insgesamt aber galt die Aufmerksamkeit aller nach wie vor dem Haus, und das war Lilith natürlich recht so. Auf dem Weg zum Grundstück hin überlegte sie, wie sie am besten vorgehen sollte. Blindlings in das Haus zu stürmen, schien ihr die zwar einfachste, aber auch schlechteste aller Alternativen. Sie brauchte zunächst Informationen, mußte alles über die aktuelle Situation im Haus wissen. In dieser Hinsicht war der Fernsehbericht nicht sonderlich aufschlußreich gewesen. Lilith blieb stehen und sah sich möglichst unauffällig nach jemandem um, den sie ins Gebet nehmen konnte. Ihr erster Wunschkandidat war Chief Inspector Chad Holloway, der bärbeißige Typ, den der Reporter interviewt hatte. Holloway lei-
tete diesen Einsatz und würde am meisten wissen. Nur konnte Lilith ihn in dem Getümmel ringsum nicht entdecken, und sie wollte mit der Suche nach Holloway auch nicht unnötige Aufmerksamkeit auf sich lenken. Also … … den da! befand sie und ging zielstrebig auf einen Mann von schwer zu schätzendem Alter zu. Er konnte ebensogut dreißig wie vierzig sein. Aber er trug ein Namensschild am Jackett, und das prädestinierte ihn für Liliths Zwecke. »Sergeant Wetherby?« sprach sie ihn an. Der Mann mit dem zerzausten Haar – er sah ein klein wenig aus wie der klischeehaft zerstreute Professor – schien sie im ersten Moment gar nicht zu hören. Sein Blick irrte suchend über die Köpfe der Umstehenden hinweg, hierhin und dorthin, und seine Miene wirkte so leidend, als laboriere er an einer regelrechten MagengeschwürPlantage. »Sergeant?« wiederholte Lilith, eine Spur eindringlicher diesmal, und endlich gelang es ihr, Wetherby für sich zu interessieren. Wenn auch nur für ihre Stimme. »Was?« fragte er abwesend, ohne Lilith anzusehen. »Ich hätte mich gerne mit Ihnen unterhalten«, erklärte Lilith, gerade so laut, daß nur Wetherby sie hören konnte. »Sind Sie völlig übergesch-«, Wetherby wandte sich ihr zu – und vergaß, was er Lilith noch hatte sagen wollen. Sein Tonfall wurde übergangslos lammfromm, seine Züge entspannten sich ein wenig. »Natürlich«, sagte er, »gern. Kommen Sie.« Er faßte Lilith am Arm und führte sie in den Schatten eines Einsatzwagens, der wie ein Fels in der Brandung stand und auch ähnliche Wirkung hatte: die hin und her wogende Menschenmenge schwappte gleichsam um das Fahrzeug herum und machte den unmittelbaren Umkreis zu einem gerade ruhigen Fleckchen. »Was gibt’s, Officer …?« Wetherby versuchte den Namen auf Liliths Brusttasche zu lesen, aber sie winkte ab.
»Mein Name tut nichts zur Sache«, behauptete sie ruhig. »Natürlich nicht, verzeihen Sie.« Wetherby lächelte unbeholfen. »Ich möchte, daß Sie mir alles erzählen, was Sie über die Vorgänge in dem Haus wissen«, verlangte Lilith. »Gern«, erwiderte der Sergeant, und dann berichtete er von den Squad-Einsätzen und den Angriffen der »Monster-Ratten«, wie er sich ausdrückte. Ein hinzugerufener Spezialist habe inzwischen bestätigt, daß es sich um mutierte Ratten handeln müsse, obwohl auch er sich die Entartung der Tiere nicht erklären könne. Radioaktivität wurde jedenfalls nicht gemessen. »Na ja«, meinte Wetherby, »nachdem das Haus auf so unheimliche Weise aufgetaucht ist, sollte uns eigentlich gar nichts mehr wundern, oder?« Er erzählte weiter. Davon, daß vier Polizisten und dieser Kameramann von den Ratten getötet worden waren, und daß man nach dem Rückzug der Überlebenden tatsächlich mit dem Gedanken gespielt hatte, das mysteriöse Haus und alles, was darin war, in die Luft zu sprengen oder wenigstens niederzubrennen. Dann aber habe man einen verstümmelten Funkspruch empfangen. Neech Roven hatte sich aus dem Haus gemeldet, und seinen Worten zufolge wurde er von diesen Kreaturen gefangengehalten. Man wußte aber weder, wo genau Roven sich in dem Haus befand und wie die Lage im Detail aussah, noch, ob es weitere Überlebende beziehungsweise Gefangene gab. Elektronische Ortungsgeräte, wie sie bei der Suche nach verschütteten Erdbebenopfern eingesetzt werden, hätten nichts gefunden. Chief Inspector Holloway war zu einer Krisenkonferenz mit dem Polizeipräsidenten gerufen worden und wurde jede Minute zurückerwartet – hoffentlich mit einer Lösung für diesen Fall. In der Zwischenzeit führte Wetherby das Kommando hier, und ein Blinder hätte erkannt, daß die Aufgabe ihn überforderte. »Haben Sie versucht, mit diesem Roven noch einmal Funkkontakt aufzunehmen?« wollte Lilith wissen.
»Natürlich! Aber es kam keine Verbindung zustande. Unsere Experten meinen, daß es nicht nur an den dicken Kellermauern liegen könne. Irgend etwas anderes müsse die Frequenzen so massiv stören, daß sie keine Erklärung dafür finden. Aber wir bleiben am Ball –« »Gottverdammich, Wetherby!« Der Sergeant wirbelte herum, als sei ihm ein Hornissenschwarm ins Hosenbein geflogen. Lilith zog einen Flunsch und wollte sich unauffällig zurückziehen. »Sir! Ich –«, stieß Wetherby nicht überrascht, sondern schier entsetzt hervor, wurde aber von Chad Holloway unterbrochen. »Was in drei Teufels Namen treiben Sie da? Hier ist die Hölle los, und Sie haben nichts Besseres zu tun, als ein Plauderstündchen mit dieser Schickse zu veranstalten?« Der Chefinspektor stapfte auf Lilith und Wetherby zu wie etwas, das selbst geradewegs der Hölle entsprungen schien. »Bitte, Sir, ich habe –«, startete Wetherby einen Rechtfertigungsversuch, der von Holloway aber noch im Keim erstickt wurde. »Ihre Pflicht haben Sie vernachlässigt, Mann! Ab morgen schreiben Sie wieder Tickets in irgendwelchen Seitengassen dieser elenden Stadt!« Holloways Blick erdolchte Lilith. »Und Sie? Wer sind Sie? Sie können sich diesem Trottel hier morgen anschließen – er nimmt die linke Straßenseite, Sie die rechte, Officer …«, sein Stierschädel stieß vor, als er versuchte, den Namen auf Liliths getürkter Uniform zu lesen. Lilith räusperte sich. Erst einmal wollte sie dafür sorgen, daß Holloway seine Sanktionsandrohung gegen Wetherby nicht wahrmachte, dann würde sie ihn ins Verhör nehmen. »Mein Name braucht Sie nicht zu interessieren, Chief«, sagte sie ruhig und mit dunkler Stimme. »Ihr Name braucht mich was nicht?« brauste Holloway auf. Sein
Kopf mutierte zur Riesentomate. »Sind Sie vom Affen gebissen? Oder hassen Sie einfach nur Ihren Scheißjob? Wissen Sie überhaupt, mit wem Sie hier reden?« »Upps!« entfuhr es Lilith. Sie versuchte sich in ein Lächeln zu retten, das ihr allerdings mißriet. Chad Holloway zählte offensichtlich zu den wenigen Menschen dieser Welt, die nicht auf Hypnose ansprachen – – und denen Lilith immer im denkbar ungünstigsten Moment über den Weg lief …
* Chief Inspector Holloways Gesichtsfarbe schwankte noch immer zwischen ungesund und besorgniserregend, aber immerhin hatte sich sein Stimmvolumen auf ein Maß reduziert, das außerhalb von Sydney nicht mehr zu hören war. »Verdammt, was soll das heißen: Sie wollen sich um die Sache kümmern und mir helfen?« bellte er Lilith an, die – im Versuch, die Situation zumindest halbwegs zu retten – annähernd die Wahrheit erzählt hatte, abzüglich freilich solcher Tatsachen wie jenen, daß sie eine Halbvampirin war und vor über 100 Jahren in dem Haus 333, Paddington Street das Licht der Welt erblickt hatte. »Genau das«, sagte Lilith. »Ich erkläre mich bereit, in das Haus zu gehen, und versuche, ihren Männern dort zu helfen.« »Und wie stellen Sie sich das vor?« Holloway grinste anzüglich. »Wollen Sie den Biestern da drin mit ihrem hübschen Arsch vor der Schnauze ‘rumwackeln, oder was?« »Wenn’s hilft, dann auch das.« Lilith grinste zurück. »Sie sind ja total irre.« »Nicht irrer als das, womit Sie es hier zu tun haben, oder?« Holloway hob beschwörend die Hände. »Hören Sie, Mädchen, ich schätze Zivilcourage durchaus«, sagte
er. »Aber Sie gehen jetzt brav zurück in die Anstalt, aus der Sie entsprungen sind, okay?« Lilith lächelte unverändert. »Ob Sie es glauben oder nicht, Chief – genau das habe ich ja vor.« Ihr Blick ging nur scheinbar wie zufällig in Richtung des Hauses. Holloway stutzte. »Wie meinen Sie das?« Lilith hob die Brauen. »Wie ich es sage.« Und dann ging sie. Nach Hause. »Stehenbleiben, verdammt noch mal!« keifte Holloway. »Halten Sie mich auf«, erwiderte Lilith, ohne sich umzudrehen. Der Chefinspektor stampfte ihr nach. Die Szenerie in unmittelbarer Nähe schien wie erstarrt. Keiner der Polizisten wagte ein Wort zu sagen, geschweige denn aktiv in die merkwürdige Auseinandersetzung einzugreifen. Holloways fleischige Finger packten Liliths Arm. »Hey«, sagte sie nur, und tatsächlich ließ der Chief sie los, was einen kaum hörbaren, aber spürbar kollektiven Laut der Überraschung ringsum zur Folge hatte. »Okay«, setzte Holloway an, »Sie wollen es nicht anders. Sie sind festgenommen, Süße. Sie haben das Recht zu schweigen und blablabla, alles klar?« »Und jetzt?« fragte Lilith mit Unschuldsmiene. »Mitkommen!« kommandierte Holloway. Lilith winkte kokett mit den Fingerspitzen, flötete ein »Bis später dann« und lief weiter. Wäre Chad Holloway ein Dampfkessel gewesen, hätte er jetzt gepfiffen. Statt dessen schrie er nur. »Damned, kommen Sie her! Ich habe Befehl, dieses elende Haus mit Benzin zu fluten und anzustecken! Und das werd’ ich verdammt noch mal auch tun!« Er biß sich auf die Lippen. Eigentlich hatte er diese unpopuläre Entscheidung nicht in dieser Lautstärke herausposaunen wollen und sollen. Immerhin bedeutete sie, daß man den
Tod etwaiger Überlebender in dem Haus seitens des Polizeipräsidiums billigend in Kauf nahm. Lilith drehte sich nicht um, aber sie rief laut genug, daß Holloway und die anderen sie hören konnten. »Tun Sie das – wenn ich in einer Stunde nicht zurück bin, okay?« »Eine halbe!« hörte sich Chad Holloway zu seiner eigenen Überraschung antworten. »Na gut, dann werd’ ich mich beeilen«, meinte Lilith salztrocken. Und widerstand nur mit Mühe dem Wunsch, sich in eine Fledermaus zu verwandeln. Aber der Auftritt wäre selbst für ihren Geschmack eine Spur zu cool gewesen …
* Die Hand, deren Wärme Seven van Kees durch den Stoff ihrer Jacke zu spüren meinte, glitt von ihrem Arm, so sanft und leicht, als streichele eine Sommerbrise über Laub. Das eigenartige Gefühl, das die Reporterin eben regelrecht gefangengenommen hatte, wich – aber es schwand nicht vollends, blieb in noch spürbarer Entfernung. Dennoch war es, als sei die Zeit eben angehalten worden und laufe nun schneller weiter, wie um den imaginären Verlust wettzumachen. Seven drehte sich hastig um – und erstarrte abermals! Weil das Gesicht des fremden Mannes ihrem so nah war, daß ihre Lippen einander hätten berühren können, wenn einer von ihnen es gewollt hätte. Seven wollte es. Und ums Haar hätte sie aufgeschrien ob dieses völlig absurden Wunsches! Mein Gott, was ist los mit mir? schoß es ihr wie ein Pfeil aus Eis durch den Kopf. Bin ich so verzweifelt oder anspruchslos, daß ich den
nächstbesten Fremden …? Und doch konnte Seven nicht umhin festzustellen, daß ihr Verlangen sie nicht in dem Maße entsetzte, wie es normal gewesen wäre. Lag es allein daran, daß der Fremde so verdammt gut aussah? »Haben Sie mich nicht verstanden?« Seine Stimme … oh, diese Stimme! »Bitte?« machte Seven verwirrt. »Meine Frage«, erinnerte der Mann. Wie alt mochte er sein? Höchstens vierzig, schätzte Seven. »Äh … ja«, stammelte sie und schlang ihre Finger ineinander. Als ihr diese Verlegenheitsgeste bewußt wurde, löste sie ihre Hände so hastig voneinander, als befinde sich etwas Glühendheißes dazwischen. Grundgütiger, dachte sie, was soll das alles? Seven van Kees galt gemeinhin als fleischgewordenes Selbstbewußtsein (manche sprachen in diesem Zusammenhang auch von Überheblichkeit), und jetzt stand sie da wie ein Schulmädchen, das von dem Lehrer, den sie im Stillen anhimmelte, zur Rede gestellt wurde. »Ja was?« fragte der Fremde, und das Gefühl seines Atems in ihrem Gesicht ließ Seven schaudernd die Augen schließen. »Haben Sie mich nun verstanden oder nicht?« »Verstanden?« echote Seven lahm. »Was tun Sie hier? Und wer sind Sie?« wiederholte der andere, nicht unbeherrscht, sondern mit buchstäblicher Engelsgeduld. »Das … das könnte ich Sie auch fragen, oder?« bekam die Reporterin endlich einen vollständigen und sinnvollen Satz auf die Reihe. »Das könnten Sie«, meinte der Fremde. »Aber ich habe zuerst gefragt.« Er lächelte – und wie …! Seven erwiderte das Lächeln, oder versuchte es zumindest. Aber sie kam sich klein und verloren dabei vor. Niemand sonst konnte so lächeln. HÖR ENDLICH AUF MIT DIESEM MIST! schrie sie sich an. Und
es wirkte. Ein bißchen. Ein kühler Wind schien durch ihre Gedanken zu fahren und die Verwirrung mitzunehmen oder wenigstens in die hintersten Winkel ihres Kopfes zu wehen. »Na gut, meinetwegen«, sagte sie, »spielen wir das Spiel eben nach Ihren Regeln. Mein Name ist Seven van Kees. Ich bin …«, ihr Zögern konnte ihm unmöglich auffallen, »… eine Freundin von Darren. Er bat mich, etwas für ihn zu holen.« Sie wies mit dem Daumen über die Schulter in Richtung der schwerbeladenen Regale. »Seltsam«, meinte der andere nur. »Was?« »Darren hat nie von Ihnen gesprochen.« »Das wundert mich …«, sagte Seven und fügte im Stillen hinzu: … nicht im Geringsten. Schließlich kenne ich ihn erst seit gestern, und vermutlich hat er mich schon wieder vergessen. »Dann sind Sie …«, setzte Seven an. Der andere nickte. »… ein Freund von Darren, ganz richtig.« Er lächelte wieder dieses Lächeln, das Seven ein Gefühl vermittelte, als würden ihr die Beine unter dem Körper wegschmelzen, und fügte hinzu: »Und er hat mich gebeten, etwas für ihn zu holen.« Er trat an Seven vorbei, wobei sie sich der Enge des Raumes wegen berührten, ließ seinen Blick suchend über die Regale wandern und griff dann zielsicher nach einem der Ordner. Woran er erkannt hatte, daß es der Richtige war, blieb Seven schleierhaft. Die Rücken waren nicht beschriftet, die Ordner glichen einander nahezu wie ein Ei dem anderen. Sie vergaß diesen Gedanken, weil ihr ein anderer in den Sinn kam. Einer, der ihr wichtiger schien und die Antwort auf die daraus resultierende Frage interessanter. »Sie sind also ein Freund von Darren«, sagte sie. »Und … äh … wohnen Sie …?« Sie beschrieb mit dem ausgestreckten Zeigefinger einen Kreis. Der Mann sah sie einen Augenblick lang fast verständnislos an,
dann lachte er leise. »Sie meinen, ob ich mit Darren hier wohne? Nein.« Und nach einer kurzen Pause ergänzte er mit geradezu elektrisierender Betonung: »Keine Sorge.« Seven hob abwehrend die Hände. »Oh, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten! Ich meine, ich wollte damit nicht fragen, ob Sie … Sie und Darren, also …« »Schwul seien?« half der Fremde aus. Er lächelte. »O doch, genau das wollten Sie fragen.« Seven nickte kapitulierend, aber lächelnd. »Okay, Sie haben gewonnen. Das wollte ich wissen.« Seine himmelblauen Augen hielten Sevens flatternden Blick wie mit Händen fest. »Seinetwegen? Oder … wegen mir?« Die Reporterin kam sich vor wie unter einer Dusche mit defekter Mischbatterie. Ihr wurde in rasendem Wechsel heiß und kalt. Und als sie antwortete, zögernd und schüchtern, war es, als höre sie eine andere reden: »Ich … bin mir … nicht sicher.« »Dann sollten wir es herausfinden«, meinte der andere und bot ihr galant seinen Arm dar. »Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?« Seven reagierte wie in Trance. »Gern«, sagte sie und hängte sich bei ihm ein. Als sie Seite an Seite Darren Secadas Wohnung verließen, dachte sie: Das muß, das kann nur ein Traum sein … Und: … lieber Gott, laß ihn nicht aufhören, bevor er so endet, wie ich mir wünsche, daß er endet! Als sie in den Aufzug stiegen, kam ihnen eine Frau mit Einkaufstüten entgegen. Und obwohl Seven registrierte, daß die Fremde sie und ihren Begleiter mit einem seltsamen Blick musterte, machte sie sich keine Gedanken darüber. Hätte sie stattdessen die Gedanken der Frau lesen können, wäre sie um so verwirrter gewesen. Es ist nicht zu glauben! dachte die Nachbarin Darren Secadas. Wie um alles in der Welt kommt eine so hübsche junge Frau an einen solchen
Widerling? Der sieht ja aus, als käme er geradewegs aus einer Gruft …!
* So ganz konnte Lilith Eden es noch immer nicht fassen, daß Chief Holloway sie letzten Endes doch hatte gehen lassen. Hätte er es wirklich gewollt, wäre es für ihn kein Problem gewesen, sie aufzuhalten – irgendwie und zur Not mit Gewalt. Und Lilith hätte ihrerseits die eigenen Mittel ganz gewiß nicht ausgereizt, um sich über Holloways Widerstand hinwegzusetzen – jedenfalls nicht in aller Öffentlichkeit. Daß sie das Haus (ihr Haus) nun ungehindert betreten konnte, mußte bedeuten, daß der Chefinspektor ihr auf seine ganz eigene Weise vertraute, oder einfach nur Hoffnung in sie setzte. Womöglich hatte sie, trotzdem er sich als resistent gegen ihre hypnotische Kraft erwiesen hatte, doch tieferen Eindruck auf ihn gemacht, ihn beeindruckt. Wie auch immer, diese Überlegungen an sich stärkten Liliths Selbstvertrauen. Denn so lässig, wie sie sich gegeben hatte, war sie längst nicht. Im Gegenteil; was immer es war, das hier auf sie lauerte, ängstigte sie. Aber Liliths Verantwortungsgefühl wog schwerer: Dieses Haus war ihr Heim, und jede Gefahr, die davon ausging, belastete ihr ganz persönliches Konto. Und darauf waren schon viel zu viele Opfer verzeichnet. Langsam ging Lilith die Stufen zum Eingang hinauf, zwischen den Statuen hindurch. Ihr Blick schweifte unablässig hin und her, suchte und fand vertraute Details, obwohl sie ihre Jugend in diesem Haus nur geträumt hatte. Trotzdem war und fühlte sie sich hier zu Hause, mit jedem Schritt, den sie tat, ein kleines bißchen mehr, und auch dieses Gefühl zwang sie dazu, der Bedrohung, die sich hier eingenistet hatte, zu begegnen und sie auszumerzen.
Wie sie das bewerkstelligen sollte, wußte Lilith noch nicht, und so konnte sie nur eines tun: die Entscheidung aufschieben, bis sie gefällt werden mußte – weil es dann um Leben und Tod gehen würde! Und wahrscheinlich nicht allein um ihr eigenes Leben … Das Portal war geschlossen, aber nicht abgesperrt. Die schwere Klinke gab unter Liliths Druck knirschend und leise quietschend nach, und mit ähnlichem, aber lauterem Geräusch schwang die Tür auf. Leere empfing Lilith, und graues Dämmerlicht, das die Eingangshalle wie glimmender Nebel erfüllte. Einen zeitlosen Moment lang vergaß Lilith den eigentlichen Grund ihres Hierseins und gab sich ganz ihren Erinnerungen hin. Sie überließ sich den Gedanken an eine Zeit, die nie wirklich existiert hatte, fiel hinein wie in ein weiches Federbett, genoß die Wärme und Geborgenheit, die ihre buchstäblich traumhafte Jugend bestimmt hatten. Damals hatte es in ihrer Welt weder Vampire noch sonstige Gefahren gegeben, damals war sie einfach nur Mensch gewesen – Dieser Gedanke war es, der Lilith aus ihrem selbstvergessenen Zustand weckte und in die Wirklichkeit zurückholte. Denn unterbewußt hatte sie in diesem Augenblick erkannt, daß sie im Grunde ihres Herzens nicht wirklich nur Mensch sein wollte. Weil ihr ein solches Leben fremd war. Sie kannte es nur als Traum, und sie wußte, daß dieser Traum an der Realität zerbrechen würde. Nein, sie war Lilith Eden, eine Hybride, das Kind zweier Welten, und sie wollte es bleiben, weil es gut so war – für diese Welt … Zwei, drei Schritte hinter der Schwelle der Eingangstür war Lilith stehengeblieben. Ihr Blick geisterte durch die Halle. Oben waren die Schlafzimmer gewesen, dort drüben ging es zur Küche, gegenüber zum Wohnzimmer und – Egal! ermahnte sie sich. Du bist nicht deshalb hier, sondern … Zum Keller. Dorthin mußte sie. Von dort waren die … Ratten gekommen. Und
dort unten mochten dieser Neech Roven und womöglich weitere Männer um ihr Leben bangen. Wie es anging, daß diese Monster gestandene Männer gefangenhalten konnten, darüber verbat sich Lilith nachzudenken. Weil sie ohnehin keine Antwort darauf gefunden hätte. Sie würde es sehen, mit eigenen Augen – wenn sie weit genug kam … Die Police-Squads waren bereits in der Halle auf die Ratten getroffen und angegriffen worden, wie Lilith wußte. Jetzt aber blieb alles ruhig. Sie fühlte sich nicht einmal belauert. Lilith spürte, daß sie allein war, hier oben jedenfalls. Die Tür zum Keller lag im Schatten der Treppe. Vorsichtig näherte sich Lilith ihr und versuchte dabei, ihre Augen überall zu haben. Die Ruhe konnte trügerisch sein. Ratten galten als verschlagen, listig, und das mochte auf diese Abart hier in ganz besonderer Weise zutreffen. Aber es blieb weiterhin alles still, und nirgendwo regte sich auch nur der berühmte Rattenschwanz. So leise wie möglich zog Lilith die Kellertür auf, dann lauschte sie in die dunkle Tiefe dahinter. Nichts. Oder? War da nicht ein Geräusch gewesen, ein helles Kratzen wie von spitzen Krallen auf Stein? Und dort, eine Fingerbreite hinter der Grenze zwischen Schatten und Finsternis – bewegte sich dort nicht etwas, ein massiger Leib, der sich jetzt, da Lilith genauer hinsah, lautlos huschend ins völlige Dunkel zurückzog? Lilith schalt sich dafür, daß sie keine Lampe mitgenommen hatte. Ihre Augen vermochten zwar, wie die eines Vampirs, jedes Quentchen Licht zu nutzen, so daß sie zu sehen vermochte, wenn auch wie durch einen Rotfilter; in völliger Finsternis jedoch war Lilith so blind und hilflos wie jeder normale Mensch. »Verdammt!« entfuhr es ihr, aber wenigstens jetzt stand das Glück
noch auf ihrer Seite: Ein paar Schritte entfernt entdeckte Lilith eine klobige Lampe, die einer der Polizisten im Kampf verloren haben mußte. Lilith hob sie auf, fühlte klebrige Feuchtigkeit unter ihren Fingern und ahnte, daß der Polizist, dem das Blut gehört hatte, tot war. Der Lampenstrahl schnitt helle Streifen in die Schwärze, die wie etwas Kompaktes auf der Treppe in den Keller lag. Beinahe meinte Lilith, mit jedem Schritt gegen echten Widerstand ankämpfen zu müssen, als wate sie durch flüssigen Teer. Aber zumindest das mußte sie sich einbilden – obwohl, in diesem Haus konnte man nie wissen … Hier war es ratsam, mit dem Unwahrscheinlichsten zu rechnen. Und mit dem Ungeheuerlichsten. Mit mutierten Ratten beispielsweise. Lilith konnte nicht anders, sie mußte einfach über Möglichkeiten nachdenken, wie es zu dieser wahrhaft gewaltigen Rattenplage hatte kommen können. Nicht auf natürliche Weise, soviel war klar. Was aber war dann die Ursache? Das Haus, beantwortete sich Lilith die Frage. Weil dieses Haus keines war wie jedes andere. Es war – es klang albern, und doch war es schlicht so – magisch. Hier wohnten und herrschten Kräfte, die alles Vorstellbare übertrafen, die nicht menschlichen noch irdischen Ursprungs waren und denen im wörtlichen Sinne alles möglich war – – und die der Kontrolle bedurften, einer Gegenkraft, die sie im Zaum hielt. Lilith wußte, was dieser Gedanke in seiner Konsequenz bedeutete. Aber es war jetzt nicht die rechte Zeit, um ihn weiterzuverfolgen. Jede Unachtsamkeit, die sie sich jetzt und hier erlaubte, konnte sie in Gefahr bringen – und zu ihrem allerletzten Fehler werden. Sie durfte sich nicht so leichtfertig dem Tode ausliefern. Sie hatte Verantwortung. Nicht nur für sich, sondern für dieses Haus – und
die Menschen, die ihm hilflos ausgeliefert waren, ihm und allem, was es an üblen Überraschungen noch bergen mochte. Was würde geschehen, wenn Chief Holloway und seine Leute tatsächlich versuchten, das Haus in Brand zu stecken? Lilith erschrak nicht nur in Anbetracht der möglichen Folgen, sondern vor allem darüber, daß sie nicht eher daran gedacht hatte! Dieses Haus war mehr als nur eine architektonische Anordnung von Stein und Holz, ohne Zweifel. Es war wie … etwas Lebendiges. Diese Beschreibung traf den Nagel gewiß nicht auf den Kopf, aber sie kam der Wahrheit wohl immerhin so nahe, wie der menschliche Wortschatz es zuließ. Lilith war sicher, daß sich das Haus gegen eine solche Bedrohung zur Wehr setzen würde. Und sie wollte sich gar nicht ausmalen, wie eine entsprechende Gegenwehr aussehen könnte … Schon deshalb mußte sie alles daran setzen, um diese Ratten auf eigene Faust zu vernichten. Lilith hatte den Eindruck, daß das Licht ihrer Lampe nicht so weit streute, wie es eigentlich hätte reichen müssen. Es schien, als sauge die Schwärze die Helligkeit ein paar Schritte entfernt kurzerhand auf, und entsprechend eingeschränkt war Liliths Blickfeld. Sie kam sich vor, als bewege sie sich in einer Art Blase durch diesen Ozean aus Finsternis, der den Keller des Hauses geflutet hatte. Dennoch, stets dort, wo sie gerade nur aus den Augenwinkeln hinsah und wo die Dunkelheit wie eine Wand aus geschwärztem Stein aufragte, glaubte sie fortwährend Bewegungen auszumachen, geräuschlos und von der Art, wie ein Schatten verschwand, wenn man das Licht ausknipste. Die Ahnung festigte sich noch, als Lilith am Ende der kehrenreichen Treppe anlangte. Sie spürte mehr, daß vor ihr ein weites Gewölbe lag, als daß sie es sah, denn auch hier versickerte das Licht in tintiger Schwärze, noch ehe es auf eine Wand treffen konnte.
Seltsam; als Darren Secada sie gestern hier gefunden hatte, war das Gewölbe von einem unwirklichen Licht erhellt gewesen. Ein Leuchten, das sie gleichsam beschützt hatte vor der Finsternis, die in tieferen Tiefen lauerte, und das erloschen war, nachdem Lilith erwacht war und das Haus verlassen hatte? Trotz der Dunkelheit erinnerte sich Lilith gut an diesen riesigen Raum, der sogar größer sein mochte als der Grundriß des Hauses darüber. Schließlich hatte sie hier vor Jahren ihre Mutter gefunden und von ihrer ursprünglichen Bestimmung erfahren.* Lilith zuckte die Schultern. Diese Geschichte war längst vorbei und erledigt. Trotzdem weckte die Erinnerung an ihre Mutter Creanna ein wehmütiges, wenn auch flüchtiges Gefühl in ihr. Die Gegenwart indes verursachte ihr Angst. Weil die Schwärze ringsum auf einmal wie mit Sternen gespickt war. In schwachem Rot glühende Punkte, die paarweise ins Dunkel gestanzt schienen. Augen, die Lilith starr und kalt im Blick hielten. Sie waren da. Und sie waren überall. Die Ratten. Ein Dutzend? Mehr. Viel mehr!
* Lilith konnte die Zahl der Augenpaare nicht schätzen. Aber sie versuchte es auch nicht wirklich. Weil etwas anderes sie weit mehr beschäftigte: Die Ratten rührten sich nicht. Sie griffen nicht an, verhielten sich still, beobachteten nur. Warum? Aus welchem Grund reagierten sie auf Liliths Anwesenheit anders als auf die der Polizeitruppen? *siehe Vampira H01: »Das Erwachen«
Lag es daran, daß sie unbewaffnet war? Aber konnten die Kreaturen denn imstande sein, diesen Unterschied zu bemerken? An ihrem Instinkt allein konnte es nicht liegen, schließlich kam Lilith letztlich in derselben Absicht wie die Polizisten – um die Ratten zu vernichten. Oder spielte es eine Rolle, daß Lilith in dieses Haus gehörte, daß sie in gewisser Hinsicht ein Teil davon war, und wurde sie deshalb von der Rattenmeute akzeptiert oder zumindest doch in Ruhe gelassen? Zögernd ging Lilith einen Schritt vor. Langsam schwenkte sie die Lampe im Halbkreis. Der Strahl glitt über rosige Leiber, schälte bizarre Bruchstücke aller möglichen Gerätschaften aus dem Dunkel und ließ sie wieder darin versinken, wenn er weiterwanderte. Nicht die geringste Bewegung war auszumachen. Als sei alles um Lilith her eingefroren und nur sie noch in der Lage, sich zu bewegen. Selbst die filigranen, glitzernden Spinnweben in den Winkeln zwischen den Deckenbalken wirkten starr wie von Künstlerhand aus gläsernen Fäden gemacht. Lilith wagte einen zweiten Schritt, und wieder reagierten die Ratten nicht darauf. Sie überwand ihren Ekel und erfaßte eine der Kreaturen mit dem Lampenstrahl. Das Tier – fast weigerte sich Lilith, das Biest so zu nennen – kauerte unter einem schiefstehenden Tisch, die Vorderpfoten unter der Brust, den rosafarbenen Schwanz dicht am Leib, der fast nackt war. Nur vereinzelt sprossen Büschel borstigen Fells aus der Haut, die in ihrer Färbung der menschlichen ähnelte. Die Schnauze wirkte stumpfer als die einer gewöhnlichen Ratte, gerade so, als hätte sie sich ein klein wenig zurückgebildet. Und die Augen – Lilith schluckte. Irgend etwas war in diesen Augen; etwas, das nicht in den Augen einer Ratte sein sollte. Etwas wie – Wissen, ein Funke von Intelli-
genz und … Emotion? Unwillkürlich schüttelte Lilith den Kopf, erschrocken ob ihrer absurden Überlegung. Das konnte nicht sein. Aber gab es in diesem Haus etwas, das nicht sein konnte? Hatte sie nicht vorhin noch selbst im Stillen behauptet, hier wäre nichts unmöglich? Sie ließ den Lampenstrahl weitergleiten, bis er auf die nächste Ratte traf. Sie hockte am Fuß einer der steinernen Säulen, die das Deckengewölbe stützten. Auf den ersten Blick wirkte dieses Tier wie ein identisches Abbild des anderen, auf den zweiten allerdings glaubte Lilith einen Unterschied auszumachen – in der Physiognomie! Hatte Lilith bei der ersten Ratte schon den Eindruck gehabt, die Schnauze sei anders als bei einer normalen, sah der Kopf dieses Tieres noch viel ungewöhnlicher aus: flach, die Schnauze nur andeutungsweise vorhanden … beinahe meinte Lilith in das Gesicht eines entsetzlich mißgebildeten Menschen zu sehen! Und das konnte nicht sein! Es mußte eine Täuschung sein! Es lag wohl an der Kraft dieses Hauses. Sie verlieh Liliths Phantasie Flügel, die sie in Abgründe trugen, in deren Tiefen nur der Wahnsinn hauste. Hastig riß Lilith die Lampe zur Seite, bis das Licht ins Nichts fiel. Weil sie den entsetzlichen Anblick nicht länger ertrug. Und weil sie nicht wollte, daß aus ihrer absurden Vermutung, ihrer schrecklichen Vorstellung grauenhafte Gewißheit wurde. Lilith wandte sich nach links. Vorsichtig setzte sie Schritt um Schritt, bis das Licht von einer Wand gestoppt wurde. Daran bewegte sie sich weiter entlang, nach wie vor langsam und darauf bedacht, keine schnellen Bewegung zu machen, die das widerliche Rattenpack aus ihrer seltsamen Lähmung oder Lethargie wecken könnte. Sie erinnerte sich, daß von diesem Gewölbe Gänge abführten, ir-
gendwohin. Sie hatte sie, nicht zuletzt mangels Gelegenheit, nie erkundet. Jetzt mußte sie es tun. Denn es war wahrscheinlich, daß sie die Männer, deren Rettung wegen sie hier war, dort finden würde – wenn überhaupt. Mit dem Rücken bewegte sich Lilith an der Wand entlang. Mit der ausgestreckten linken Hand tastete sie über das rauhe, feuchte Mauerwerk – und plötzlich ins Leere. Der erste Gang ins Nirgendwo oder Sonstwohin. Er war so gut oder schlecht wie jeder andere. Lilith glitt um die Ecke. Und erstarrte! Im Streulicht der Lampe machte sie Bewegungen aus, überall. Die Ratten rührten sich. Nicht hastig oder erschrocken jedoch, sondern geradezu gemächlich. Sie folgten Lilith. In sicherem Abstand, gerade so, als wollten sie sie nur nicht aus den Augen verlieren, weiterhin jeden ihrer Schritte beobachten. Zögernd setzte sich Lilith wieder in Bewegung, ging tiefer in den Gang hinein. Er war immerhin so breit, daß sie die Wände links und rechts mit ausgestreckten Fingern kaum berühren konnte. Immer wieder warf sie über die Schulter einen Blick zurück, aber die Ratten kamen nicht näher; wohl aber blieben sie ihr auf den Fersen. Zehn, allerhöchstens fünfzehn Schritte weit war Lilith mittlerweile in den Gang vorgedrungen. Er führte bis jetzt schnurgerade ins Dunkel hinein, und sie hatte auch noch keine Abzweigungen oder Räume entdeckt. Wieder sah Lilith nach hinten – und stolperte! Ihr Fuß war auf nachgiebigen Widerstand getroffen. Sie ruderte mit den Armen, konnte das Gleichgewicht nicht halten und stürzte. Instinktiv streckte sie die Hände vor, um sich abzustützen – – und tauchte in weiche Wärme, klebrig, und ein Geruch wie von Kupfer stieg ihr in die Nase. Ein Geruch, den sie kannte, weil er Teil
ihres Lebens, ihres vampirischen Loses war. Der Duft von Blut. In dieser Sekunde aber empfand Lilith ihn als widerlich. So widerlich wie den Anblick des Toten, der ihr im Licht der Lampe aus einem gläsern wirkenden Auge ins Gesicht starrte.
* Der Mann war übel zugerichtet. Zerfressen, zerrissen, im Grunde kaum noch mehr als eine Ansammlung blutiger Krater, von denen einer dort feuchtschimmernd klaffte, wo zu Lebzeiten sein rechtes Auge gesessen hatte. Selbst die Verschlüsse seiner kugelsicheren Weste hatten die mörderischen Biester irgendwie geöffnet, um die Brust des Toten zu verwüsten. Wenigstens hoffte Lilith, daß der Officer zu diesem Zeitpunkt schon tot gewesen war … Mühsam richtete sie sich auf, wobei sie vergeblich versuchte, ihre blutverschmierten Hände an den Resten der Kleidung des Leichnams abzuwischen. Aber die Fetzen waren samt und sonders durchtränkt von klebriger Nässe. Aus der Entdeckung des Toten schloß Lilith, daß sie auf dem richtigen Weg war. Und endlich wagte sie ihre Stimme zu erheben – wenn es auch nur nach einem Stimmchen klang, als sie zittrig ins Dunkel rief: »Hallo? Ist da jemand? Neech Roven? Können Sie mich hören?« Sie spürte die Bewegung hinter sich. Die Ratten wurden unruhig, schlossen dichter auf. Lilith sah sich kurz um, während das Echo ihres Rufs dumpf verklang. Die Biester hielten nach wie vor zumindest soviel Distanz, daß Lilith sich nicht unmittelbar bedroht fühlen mußte. Noch einmal rief sie: »Roven? Hören Sie mich?«
Sie lauschte. Und glaubte etwas zu hören. Keine wirkliche Antwort, nur ein fernes Geräusch, einen Laut wie ein Stöhnen, erstickend in Schmerz oder Angst. Lilith stieg über den Toten hinweg und ging weiter, etwas entschiedener als zuvor. Der Gang beschrieb eine erste Biegung, dann eine zweite, und schließlich wand er sich förmlich weiter. Zu beiden Seiten lagen in unregelmäßigen Abständen enge Kammern. Sie leuchtete in jede hinein, fand aber nichts und niemanden. Zwischendurch wiederholte sie ihren Ruf nach Roven, und nach dem vierten oder fünften Mal war sie sicher, daß sie etwas wie eine Antwort hörte. Unartikuliert zwar, aber zweifelsohne die Stimme eines Menschen. Und dann sah sie die Ratten. Im Pulk blockierten sie den Gang vor Lilith. Auf- und übereinander hockend, ein rosiger Berg mit Dutzenden von tückischen kleinen Augen. Und Lilith fühlte sich von jedem einzelnen dieser Augenpaare angestarrt – mehr noch: warnend fixiert. Keinen Schritt weiter! schienen diese Blicke zu signalisieren. Lilith blieb stehen. Nicht nur, weil sie die Warnung ernst nahm. Sondern weil tiefes Entsetzen sie lähmte. Denn sie las die Drohung nicht nur in den funkelnden Augen der Kreaturen – sie hörte sie … … in ihren Gedanken!
* Nein, korrigierte sich Lilith stumm, auch hören waren nicht der passende Ausdruck für die Art und Weise, in der sich die Ratten ihr mitteilten. Es war eher eine Verständigung, die über Bilder, Eindrücke und Empfindungen stattfand. Aber letztlich traf auch diese Beschreibung nicht gänzlich zu. Es war schlicht erschreckend! Diese Tiere entwickelten etwas wie
Intelligenz. Und sie standen zweifelsohne erst am Anfang dieser Entwicklung. Was mochte noch folgen? Was würde mittels der Magie des Hauses noch aus diesen Bestien werden? Lilith verdrängte diese Frage. Eine andere war drängender: Was befand sich hinter dieser Blockade aus Rattenleibern? Die Antwort lag nahe, weil es nur eine geben konnte. Die Kreaturen bewachten ihre Gefangenen – Neech Roven und möglicherweise weitere seiner Männer. Und selbst der Grund dafür schien für Lilith mittlerweile auf der Hand zu liegen. Sie brauchte nur an den Toten zu denken, den sie im Gang hinter sich gefunden hatte. Die Polizisten stellten für die Ratten einen Nahrungsvorrat dar! Aber diese Suppe wollte Lilith den Biestern versalzen, und zwar gründlich! Auch wenn sie noch nicht einmal den Ansatz einer Idee hatte, wie sie dieses Vorhaben in die Tat umsetzen konnte … Zunächst einmal mußte sie Kontakt zu den Männern aufnehmen, zu ihnen stoßen. Dem entgegen standen die Ratten, im wörtlichen Sinne. Unverändert versperrten sie den Weg in ihre »Speisekammer«. Doch Lilith war nicht auf diesen Weg angewiesen. Binnen einer Sekunde verwandelte sie sich, wurde zur Fledermaus, und noch in der Transformation schlug sie mit den ledernen Schwingen, so heftig wie selten zuvor. Wie eine bepelzte Kugel raste Lilith über die Ratten hinweg, tauchte in die Dunkelheit dahinter ein, die ihr Echolotsinn mühelos »durchschaute«. Drei Männer fand sie, zwar allesamt verletzt, aber nicht wirklich schwer, nur arg zerschunden im Grunde, voll von blutigen Schrammen und Kratzern. Daß sie auf Liliths Rufe nicht deutlicher geantwortet hatten, mochte daran liegen, daß das Entsetzen ihnen die Zunge lähmte und die Lippen verschloß. Lilith schwirrte durch den Raum, suchte nach einem zweiten Ausgang oder irgendeiner anderen Möglichkeit, das Gewölbe zu verlas-
sen, ohne die Ratten passieren zu müssen. Sie fand keinen – und kam nicht dazu, ihre Suche fortzusetzen oder gar einen anderen Plan zu ersinnen. Denn in dieser Sekunde wurde sie angegriffen! Wie von ein Katapultgeschoß wurde sie im Flug von einer Ratte getroffen und gegen die Wand geschleudert. Benommen rutschte Lilith an dem rissigen Mauerwerk entlang zu Boden. Und schon waren sie über ihr: Dutzende von Ratten, die mit Zähnen und Klauen nach ihr bissen und schlugen!
* Die Rückverwandlung in menschliche Gestalt verschaffte Lilith ein klein wenig Luft. Die an ihr hängenden Ratten rutschten ab, hinterließen dabei aber brennende Kratzwunden. Doch die Rattenbrut gab nicht auf, setzte sofort wieder zur Attacke an. Lilith gab sich keinerlei Illusion hin – in diesem Kampf hatte sie nicht den Hauch einer Chance! Die Übermacht war zu groß, und der Verletzungen, die ihr die Angreifer beibringen konnten, würden ihre vampirische Selbstheilungskraft womöglich nicht Herr werden. Es gab nur eine Chance: Sie mußte so schnell wie möglich den Schwachpunkt der Ratten in Erfahrung bringen. Dabei gereichte ihr zum Vorteil, was sie vorhin noch entsetzt hatte – die Tatsache nämlich, daß die mutierten Kreaturen sich mitzuteilen verstanden, in gewisser Weise jedenfalls. Lilith schlug und trat um sich, eher blindlings denn gezielt, aber sie schuf sich zumindest halbwegs Bahn. Zerbissen und zerkratzt langte sie am Durchgang an, der aus dem Raum führte, und ließ die meisten Angreifer hinter sich, genau wie sie es gehofft hatte. Dann beugte sie sich blitzschnell hinab, packte zu und rannte los, eines der Tiere fest in beiden Händen haltend!
Das Biest, etwas kleinwüchsiger als die meisten anderen, zappelte, kreischte, biß und schlug um sich. Aber Lilith hielt eisern fest, ignorierte den Schmerz, den Zähne und Krallen ihr zufügten. Sie hörte und spürte, wie die anderen Ratten ihr folgten. Das kratzende Geräusch ihrer Klauen auf dem steinernen Boden erreichte in seiner Gesamtheit eine beängstigende Lautstärke, dazu kam noch ihr erregtes Quieken und Kreischen, von den kahlen Wänden widerhallend wie das Geheul einer mordlüsternen Kriegsmeute. Lilith versuchte alles um sich her zu verdrängen, von ihrer Wahrnehmung auszuschließen, ohne im Lauf innezuhalten. Sie konzentrierte sich einzig auf die gefangene Ratte – und verzweifelte fast. Es war schwieriger, als sie angenommen hatte, obschon sie es sich alles andere denn leicht vorgestellt hatte. Irgendwie schaffte sie es, das Gesicht der mutierten Ratte dem ihren zuzudrehen. Liliths Blick fing den der funkelnden Tieraugen ein – und dann geschah es! Es war, als seien zwei Stromkabel miteinander verbunden worden. Der Kontakt stand – – aber er war grauenhaft! Für Lilith und für die Ratte, wie sie dem gepeinigten Geschrei des Tieres entnehmen konnte. Mensch und Tier waren der Mutation zum Trotz nicht kompatibel. Zwei Welten, einander fremd und fern, prallten mit Urgewalt aufeinander, als Lilith in den Geist der Ratte vorstieß, wie mit ungeschickt tastenden Händen darin wühlte und suchte und doch kaum verstand, was sie fand. Weil es weder rein animalisch noch wirklich menschlich war, nur unsagbar fremd, entsetzlich anders als alles, was Lilith bisher kennengelernt hatte. Liliths Geist fuhr Achterbahn im Bewußtsein der Ratte. Eindrücke, Bilder, Empfindungen rasten an ihrem inneren Auge vorüber, ließen sie schwindeln, verursachten ihr fürchterliche Übelkeit. Sie versuchte ihren unkontrollierten Sturz durch die Gedanken-
welt des mutierten Tieres kraft ihres eigenen Denkens zu lenken. Es gelang ihr leidlich – aber es genügte! Lilith wußte, was sie hatte erfahren wollen. Und sie hoffte, daß es genügen würde, um Nutzen daraus zu ziehen. Als sie wie aus Trance erwachte, hatte Lilith mit ihrer Beute beinahe schon die Kellertreppe erreicht, wie von Instinkten in die rechte Richtung geleitet. Angewidert wollte sie die Ratte von sich schleudern, als sie feststellte, daß das Tier wie tot in ihrem Griff hing. Die Kreatur hatte den Kontakt nicht überlebt. Ihr Geist war, obwohl durch die Kraft des Hauses schon fortentwickelt, nicht bereit gewesen für eine solche Verbindung und schier daran zerbrochen. Einen Moment lang spielte Lilith mit dem Gedanken, den Kadaver mit hinauszunehmen. Dann verwarf sie die Idee. Das tote Tier würde von Spezialisten untersucht werden – und möglicherweise würden die falschen Leute in der Folge zuviel über das Haus erfahren. Oder wenigstens zu viele Fragen stellen, auf die Lilith nicht antworten wollte. Sie ließ die Ratte los, verwandelte die Laufbewegung in rasenden Flug und transformierte sich erst kurz vor der Eingangstür zurück. Nachdem der Symbiont wieder die Form einer Polizeiuniform angenommen hatte – schließlich wollte sie vermeiden, daß irgendwelche übereifrigen Scharfschützen auf sie feuerten –, stürmte sie aus dem Haus. Auf den Stufen blieb Lilith jedoch stehen und wandte sich um. Nichts rührte sich hinter ihr. Die Ratten blieben im Gebäude zurück. Dort, wo sie stark waren. In ihrem Reich. »Hey! Kommen Sie her, verdammt! Aber flott!« Die Außenwelt – und Chief Inspector Chad Holloway – hatte sie wieder …
*
»Ryder … Ryder Maguire.« Seven van Kees ließ den Namen förmlich auf ihrer Zunge zergehen. Wärme wogte in ihrer Brust. »Ein seltener Name«, sagte sie dann, »aber schön.« »Danke«, erwiderte ihr Gegenüber. »Das Kompliment kann ich nur zurückgeben, Seven.« Ryder Maguire hob sein Weinglas und prostete der Reporterin lächelnd zu. Sie waren in ein kleines Restaurant am Strand gegangen. Italienische Ausgefallenheiten abseits von Pizza und Pasta wurden hier kredenzt, klein und fein, und so zog sich ihr gemeinsamer Brunch längst schon bis in den frühen Nachmittag. Seven fühlte sich ein klitzekleines bißchen beschwipst, aber herrlich. Normalerweise verzichtete sie tagsüber auf Alkohol, aber heute … Heute fühlte sie sich so leicht, so unbeschwert, als könne sie fliegen, irgendwohin, weit weg – wenn Ryder nur mit ihr flöge. Er hatte sich als charmanter Unterhalter erwiesen, geschliffene Wortwahl zeichnete ihn aus, und jeder Satz von ihm enthielt ein verstecktes Kompliment. Seven hätte ihm tagelang zuhören mögen. Und nächtelang … »Müssen Sie nicht arbeiten? Vermißt Sie niemand, Ryder?« Fast hätte Seven sich in die Zunge gebissen nach dieser Frage. Vielleicht provozierte sie damit das viel zu frühe Ende ihres Treffens. Aber Ryder lächelte nur. »Nein. Niemand vermißt mich. Und die Arbeit –«, er hob die Schultern, »– muß warten, wenn es Wichtigeres gibt.« »Wichtigeres?« Er sah ihr so tief und fest in die Augen, daß eine weitere Antwort nicht nötig war. »Aber jetzt habe ich die ganze Zeit geredet und Sie womöglich gelangweilt. Was gibt es über Sie Interessantes?« sagte Ryder Maguire nach einer Weile beredten Schweigens.
»Oh, Sie haben mich nicht gelangweilt!« beeilte sich Seven zu versichern. Wie konnte er das nur glauben? Er mußte doch bemerkt haben, daß sie ihm geradezu an den Lippen gehangen und jedes seiner Worte gleichsam davon getrunken hatte. Daß sie trotzdem kaum eines davon behalten hatte, realisierte Seven in diesem Moment nicht. »Das freut mich zu hören«, meinte Ryder Maguire. »Trotzdem, erzählen Sie mir, was Sie so tun, hm?« »Oh, da gibt es nicht viel zu erzählen.« »Sie lügen.« »Nein, ich …« »Sie dringen zum Beispiel in die Wohnungen fremder Männer ein. Das ist doch schon mal etwas Aufregendes, nicht?« Ryder Maguires Lächeln nahm dem Inhalt seiner Worte alles Vorwurfsvolle. »So würde ich das nicht nennen«, erwiderte Seven dennoch etwas unbehaglich. »Sondern?« »Berufsgeheimnis.« »Und Ihr Beruf selbst? Ist der auch geheim?« »Raten Sie.« Seven lächelte keck. Ryder tat unübersehbar nur so, als überlege er. »Reporterin?« »Treffer!« »Darf ich fragen, welcher Natur Ihr Interesse an Darren ist?« »Fragen dürfen Sie«, antwortete sie. Und im Stillen fügte sie hinzu: Mein Interesse an Darren hat sich offenbar geändert. Es ist etwas anderem gewichen – dem Interesse an dir, Ryder Maguire. Das Zucken um seine Mundwinkel ließ Seven eine Sekunde lang ernsthaft glauben, Ryder könne ihre Gedanken lesen. Aber wahrscheinlich standen sie ihr ganz einfach wie mit Leuchtfarbe ins Gesicht geschrieben. »Und wie steht’s mit der Antwort?« hakte Ryder Maguire nach. »Die behalte ich für mich. Schließlich möchte ich nicht, daß Sie mich bei Ihrem Freund schlechtmachen.«
»So schlimm also, aha.« Ryder nickte gespielt ernsthaft und nachdenklich. »Wie wäre es, wenn Sie mir etwas über Darren erzählen? Über sein … nun, Verhältnis zur Paddington Street beispielsweise?« fragte Seven. Die Reporterin in ihr erwachte allmählich wieder zum Leben. Trotzdem stand sie nach wie vor in Ryders Bann. Ist es das, was man Liebe auf den ersten Blick nennt? fragte sie sich nebenher. Hat es mich – ausgerechnet mich! – erwischt? Sie lächelte. Der Gedanke gefiel ihr. Und die möglichen Folgen gefielen ihr noch besser. Unruhig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her. Mühsam bezähmte sie das kribbelnde Gefühl. »Das«, meinte Ryder, »halte ich für keine sonderlich gute Idee.« »Was?« fragte Seven verwirrt. Sie hatte, schon wieder, vergessen, worüber sie eben noch gesprochen hatten. Woran lag es nur? An seinen Augen? Seiner Stimme? Was faszinierte sie am meisten an Ryder Maguire? Vermutlich das, was du noch nicht über ihn weißt, antwortete eine Stimme in ihr. Gut möglich, dachte Seven. »Über Darren zu reden«, erinnerte Ryder. Milder Tadel färbte seinen Ton. »Sie sind nicht bei der Sache«, meinte er. Seven räusperte sich verlegen. »Merkt man das so sehr?« Ryder nickte stumm. Dann sagte er: »Vielleicht … sollten wir uns dann einer anderen Sache zuwenden, was meinen Sie?« »Und welche wäre das?« wollte Seven wissen. Seine Hand kam über den Tisch und berührte flüchtig die ihre. Es war … ein unglaubliches Gefühl! Nie zuvor hatte Seven es in dieser ganz besonderen Intensität verspürt, obwohl doch bislang nichts zwischen ihnen gewesen war, nur Worte. Und etwas ganz Besonderes eben. Seven stellte die alte Frage und wunderte sich gleichzeitig darüber, daß sie ihr so leicht über die Lippen kam: »Zu dir oder zu mir?« Ihr Timbre war rauh, heiser, ihre Stimme bebte. Wie alles an
und in ihr. Ryder Maguire lächelte. »Zu dir, okay?« »Okay.« Er zahlte. Sie gingen. Ganz kurz dachte Seven van Kees an ein Problem, das sich bei ihr zu Hause stellen würde. Aber Ryder Maguire war es wert, dieses Problem auszuräumen. Außerdem – sie war mit diesem »Problem« schließlich nicht verheiratet, sondern nur verbandelt. Und solche Verbindungen ließen sich jederzeit lösen. Darin hatte Seven van Kees Erfahrung.
* »Sie sind irre.« Chad Holloway traf die Feststellung vollkommen sachlich, in ruhigem Ton, und dadurch wirkte er auf Lilith beinahe schon unheimlich. Nachdem sie das Haus verlassen hatte, war der Chefinspektor mit ihr in einem der Einsatzwagen verschwunden, wo sie sich an einem schmalen Tisch auf noch schmaleren Bänken gegenübersaßen. Alle anderen hatte Holloway hinausgescheucht. Dann hatte Lilith ihm kurzerhand die Wahrheit gesagt, zumindest soweit sie das Haus und das Geschehen darin betraf. Und jetzt fragte sie sich, wie sie auch nur eine Sekunde lang hatte glauben können, daß Holloway ihr glauben würde. »Ich fasse mal kurz zusammen, wenn’s genehm ist, ja?« kündigte der Chefinspektor an und sprach weiter, ohne eine Erwiderung von Lilith abzuwarten: »Also, Sie behaupten, daß dieses Haus nicht normal ist. Okay, damit kann ich mich ja noch abfinden, hab’ ja schließlich Augen im Kopf. Die Ratten habe ich auch gesehen. Soweit, so gut –«
Er holte tief und rasselnd Atem. »– aber dann kommt’s: Irgendeine verquere Magie soll die Ratten sozusagen vergiftet haben, als seien sie zu nahe an ein leckgeschlagenes Kernkraftwerk herangekommen? Und diese Vergiftung soll zur Folge haben, daß diese Scheißbiester so was wie menschlichen Intellekt entwickeln?« Holloway legte eine bedeutungsvolle Pause ein und sah Lilith durchdringend an. »Sie scheinen mich für einen Vollidioten zu halten, wenn Sie meinen, ich würde Ihnen diese beknackte Story abkaufen!« donnerte er dann los. Lilith schüttelte den Kopf. »Nein, das tu ich nicht. Ich halte Sie für jemanden, der schwer zu überzeugen ist. Das ist alles.« »Scheiß drauf«, knurrte der Chief. »Ich sag Ihnen jetzt, was Sache ist: Ich führe den Befehl von oben aus. Ich lasse die Bude mit Benzin vollpumpen und anstecken, und das war’s dann.« »Tun Sie das nicht, Chief«, sagte Lilith, »ich bitte Sie. Im Interesse Ihrer Leute und – na ja, und der ganzen Stadt.« Sie sah Holloway fest in die Augen, wohl wissend, daß sie mit ihrer hypnotischen Kraft nichts auszurichten vermochte. Aber vielleicht konnte sie an seinen Verstand appellieren – oder sein Herz, wenn Holloway so etwas besaß. Aber die Antwort des Chefinspektors brachte ihr Hoffnungsfünkchen zum Erlöschen. »Sparen Sie sich den blöden Dackelblick, das zieht bei mir nicht.« Er straffte sich, wohl um seine Autorität zu unterstreichen. »Und was Sie selbst angeht: Sie werden hier warten, bis ich Sie abholen lasse. Sie sind nämlich verhaftet, Gnädigste. Wegen Amtsanmaßung.« Lilith sah ihn fragend an, obwohl sie verstanden hatte. »Oder dachten Sie etwa, mich mit dieser Kostümierung täuschen zu können?« bestätigte Holloway ihren Verdacht. »Ich habe bei der Zentrale nachgefragt. Ein Officer namens L. Need ist in gesamten Polizeicomputer unbekannt.« Er machte Anstalten, sich zu erheben. Lilith berührte ihn kurz am
Arm. Holloway verharrte halb aufgerichtet. »Sie haben recht, Chief«, sagte sie. »Aber es war die einzige Möglichkeit für mich, in das Haus zu kommen. Wenn ich Ihnen etwas zeige, das Sie nur deshalb glauben würden, weil Sie es mit eigenen Augen sehen – würden Sie mir dann zuhören und mir eine Chance geben, diese Sache auf meine Weise zu regeln?« »Ich weiß verdammt noch mal nicht, wovon Sie reden«, gab er unleidlich zurück, »und es int-« Lilith verlor keine weiteren Worte und brachte ihn mit Tatsachen zum Schweigen. Sie stand auf – und vollbrachte das Unmögliche …
* Seit geschlagenen vier oder fünf Minuten saß Chief Inspector Holloway wie leichenstarr auf der schmalen Bank. Der Mund stand ihm offen, der Blick seiner weitaufgerissenen Augen wirkte stumpf. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren. Erst jetzt zeigte sich endlich wieder eine zarte Rötung auf seinen feisten Wangen. »Das …«, setzte er an, schluckte, bewegte tonlos die Lippen, dann versuchte er es noch einmal: »Das war ein verdammter optischer Trick, nicht? Irgendeine Sinnestäuschung.« Sein Stummelfinger wies auf die Stelle, an der Lilith zuvor gestanden – und sich verwandelt hatte. Vor Chad Holloways Augen! »Nein«, erwiderte sie. »Soll ich noch mal?« Sie tat, als wolle sie aufstehen. »Nein, nein!« wehrte Holloway ab. Er wedelte mit den Händen. »Nicht nötig, wirklich nicht.« Er verstummte kurz, dann fragte er: »Scheiße, wer sind Sie? Oder sollte ich besser fragen: Was sind Sie?« Lilith zuckte die Schultern. »Sie haben es doch gesehen, oder?« »Und? Heißt das, Sie sind –«, er kicherte abgehackt, wie irr, »– eine Fledermaus, oder was?« »Manchmal.« Lilith lächelte knapp.
»Das reicht mir nicht«, erklärte Holloway. Ganz allmählich schien er sich wieder zu fangen. Möglicherweise half ihm ja auch, was er seit gestern im Zusammenhang mit 333, Paddington Street gesehen und erlebt hatte, Liliths effektvolle Vorführung zu verdauen. »Ich will eine Antwort!« verlangte er. »Die würden Sie mir nicht glauben«, behauptete Lilith. Und zu ihrer Überraschung nickte Chad Holloway. »Ja, da könnten Sie recht haben.« Ein Ruck ging durch seine gedrungene Gestalt. Sein Blick heftete sich auf Lilith. »Okay, was haben Sie vor?« fragte er rundheraus. Lilith sagte es ihm. Und Holloway grinste. »Ich sagte ja schon: Sie sind irre. Vollkommen durchgeknallt.« »Was heißt das nun?« wollte Lilith wissen. »Stimmen Sie meinem Plan zu oder nicht?« Holloway schnaufte. »Ein Scheißplan ist das.« »Und?« Der Chief winkte lässig. »Meinetwegen, ziehen Sie’s durch.« Lilith hob die Brauen. Sie hatte immer noch mit Widerstand gerechnet. Holloway registrierte ihre Reaktion und grinste gehässig. »Vielleicht gehen Sie dabei drauf«, meinte er. »Dann bin ich wenigstens ein Problem los.« Und Lilith war nicht ganz sicher, ob der Chefinspektor mit seiner Bemerkung nur einen schlechten Scherz zu machen versuchte …
* Manchmal haßte sie Seven van Kees! Und immer dann wünschte sich Leslie Bentwick, sie wäre konsequenter in ihrem Haß. Wie jetzt zum Beispiel … »Verdammt, was willst du dir eigentlich noch alles herausnehmen?« zischte Leslie die Reporterin an, die mehr war als
nur ihre Mitbewohnerin. Sie teilten nicht nur die geräumige Loftwohnung in einem ehemaligen Industrieviertel Sydneys, sondern – bisweilen jedenfalls – auch das Bett. Leslie hatte überdies geglaubt, sie seien ein Paar – aber Seven machte es ihr mit allen möglichen Eskapaden immer wieder schwer, diesen Glauben aufrechtzuerhalten. In solchen Momenten sah Leslie Bentwick sich dann stets als das, was sie wohl tatsächlich nur für Seven war: Putzfrau, Köchin, Anrufbeantworterin … Und für diese Rolle fand sich Leslie zu schade. Zumindest immer solange, bis ihr Zorn auf die blonde Reporterin verflogen war. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, dachte Leslie in solchen Zeiten, sich als Lesbierin mit einer bisexuell veranlagten Partnerin einzulassen. Weil sie Seven letztlich nicht alles geben zu können meinte, was ein Mann ihr bieten konnte. Andererseits wollte und konnte Seven eben exakt darauf nicht verzichten. Sie versuchte es nicht einmal, und genau das war es, was Leslie Bentwick immer wieder maßlos in Rage brachte! Sie wartete Sevens Antwort nicht ab, sondern schnappte weiter: »Ich habe allmählich die Schnauze voll von deinen Frechheiten.« »Frechheiten?« Seven lupfte lässig die Augenbrauen, während sie Leslie mit verschränkten Armen gegenüber stand. »Du weißt genau, was ich meine«, fauchte Leslie. Sie wies zu einer der Treppen, die in die verschiedenen Ebenen der Loftwohnung führten. Hinter einer der Türen dort oben wartete der Grund für Leslies Ärger auf Sevens Rückkehr. »Ich kann wohl nichts dagegen tun, daß du dich sonstwo mit irgendwelchen Kerlen triffst und vergnügst«, fuhr Leslie Bentwick fort. »Aber ich dulde es nicht, daß du deine Lover in unsere Wohnung mitbringst!« Seven lächelte sarkastisch. »Ich verspreche dir, wir werden nur in meiner Hälfte dieser Wohnung Sauereien veranstalten.« Einen Moment lang machte Leslie den Eindruck, als wolle sie sich
auf Seven stürzen, um ihr das Grinsen aus dem Gesicht zu kratzen. Die Reporterin wich unwillkürlich einen halben Schritt zurück. Aber Leslie entspannte sich, ein wenig zumindest. »Was ist das überhaupt für ein Kerl? Ich hätte dir mehr Geschmack zugetraut …«, meinte sie. »Was soll das heißen?« fragte Seven fast eingeschnappt. »Daß frau sich nach so einem Typen nicht auf der Straße umdreht.« Leslie warf einen bezeichnenden Blick nach oben. »Wie willst ausgerechnet du das einschätzen können?« Sevens Ton troff vor Häme. »Du bist ein Miststück, Seven van Kees«, stellte Leslie Bentwick fest. »Ich weiß. Und deshalb liebst du mich doch, oder?« »Denkst du …« »Ich weiß es.« »Wenn du dich da mal nicht irrst …« Seven stützte die Hände in die Hüften. »Oh, wird das wieder eine deiner Drohungen, hier auszuziehen, mich zu verlassen und so weiter und so fort?« Leslie holte Atem, aber Seven ließ sie nicht antworten. »Sag mir Bescheid, wenn du dich wieder eingekriegt hast, okay? Dann besprechen wir alles in Ruhe bei einem Fläschchen Wein oder Champagner, ja? Bis dahin entschuldige mich bitte – ich habe Besuch, und ich möchte nicht als schlechte Gastgeberin dastehen. Das verstehst du doch?« Seven flötete noch ein »Ciao!«, drehte sich um und trippelte die gewendelte Treppe empor. Zwei Sekunden später klappte eine Tür ins Schloß. Zurück blieb Leslie Bentwick. Eine vor Wut kochende Leslie Bentwick! Und eine am Boden zerstörte … »Ich will nicht mehr, Seven«, flüsterte sie und sah starr dorthin, wo die Reporterin verschwunden war. »Ich halte das nicht mehr
aus.« Leslie Bentwick wünschte sich, nur einmal so stark zu sein wie Seven van Kees. Stark und konsequent genug, um die einzig richtige Entscheidung zu treffen. Um ihr Leben endlich auf die Reihe zu bringen.
* »Bist du sicher, daß du fit genug für die Arbeit bist?« Erasmus Hendriks’ Miene drückte ehrliche, geradezu väterliche Sorge aus, als er Darren Secada mit Blicken maß. Darren selbst fühlte sich seit der vergangenen Nacht zwar mindestens doppelt so alt wie der pensionierte Doc, und er stützte sich am Türrahmen ab, als würde er ohne diesen Halt umfallen, aber er nickte tapfer und brachte sogar eine Sparversion seines jungenhaften Grinsens zustande. »Natürlich«, sagte er. »Außerdem – nichts für ungut, Doc – fällt mir hier nur die Decke auf den Kopf.« Er wies mit dem Kinn in Hendriks’ Haus hinein, an dessen Eingangstür sie standen. »Ich brauche Ablenkung, das wird mir helfen.« »Oh, die könnte ich dir auch bieten«, meinte Hendriks. »Wir könnten ein paar Vögel ausstopfen. Und in der Garage hätte ich noch ein totes Stinktier –« Darren winkte ab. »Nein, danke. Ich sehe mir lieber ein paar tote Typen an.« Am Steuer seines Wagens merkte Darren erst richtig, wie elend und müde er sich fühlte. Mehr als nur einmal übersah er um Haaresbreite rote Ampeln, und genauso oft »verschlief« er die Grünphase. Auf dem Weg zur Gerichtsmedizin zog er sich vermutlich den Unmut der Hälfte aller Autofahrer von Sydney zu … Darren hatte seinen Job als Pathologe nie gehaßt, allenfalls ganz am Anfang hatte er Bedenken gehabt, daß dieser Beruf der richtige
für ihn wäre. Dr. Erasmus Hendriks hatte es damals geschafft, diese Zweifel zu zerstreuen. Mehr noch: Er hatte seinen Schützling regelrecht für die Pathologie zu begeistern verstanden – und Fähigkeiten in Darren geweckt, von denen er selbst nicht einmal gewußt hatte. Heute allerdings fiel Darren jeder Schritt in das »Reich der Toten«, wie er das Institut selbst nannte, unsagbar schwer, und nach jedem Schritt meldete sich der Wunsch in ihm, doch umzukehren. Er hatte heute partout keine Lust auf den Tod. Weil er gestern Nacht eine Überdosis davon bekommen hatte …
* »Mann, Darren, Sie sehen aus, als kämen Sie geradewegs aus einer unserer Schubladen!« »Danke, Jimmy, das ist genau die Art von Komplimenten, auf die ich heute abfahre«, grunzte Darren. Jimmy Potts, rothaarig, schlaksig und fast noch ein Teenager, war sein persönlicher Assistent. Das hieß, Jimmy war ihm nicht ausdrücklich zugeteilt, aber der Bursche arbeitete nun mal am liebsten mit Darren, und so waren sie eben im Laufe der Zeit zu einem Team geworden. »Okay, okay, tut mir leid, Darren«, beeilte sich Jimmy zu versichern. »Jeder hat mal ‘ne harte Nacht. Schwamm drüber.« Was weißt du über meine Nächte? fragte Darren im Stillen. Und wünschte Jimmy, daß er nie etwas auch nur Vergleichbares erleben mußte. »Nach dem Schock mit dieser Leiche von gestern hab’ ich mir auch ein paar Bierchen hinter die Binde gekippt. Vergessen konnte ich die Scheiße trotzdem nicht«, erzählte Jimmy munter weiter. Darren nickte nur. Der Tote von gestern, ja, damit hatte es gewissermaßen angefangen. Mit … wie war noch der Name gewesen? Ach ja, Marvin Max
Manson. Ein verstorbener Medien-Tycoon, dessen Leichnam vor einiger Zeit aus dem Grab geklaut worden – und jetzt plötzlich wieder aufgetaucht war! Ohne daß die Verwesung weiter fortgeschritten wäre! Ein Rätsel, dessen Lösung Darren zu ahnen begann, ohne sie schon konkret benennen zu können … »Heute haben wir wieder was hübsch Abgefahrenes«, kündigte Jimmy gerade an. Er stand zwischen zwei fahrbaren Untersuchungstischen, die mit Leinentüchern abgedeckt waren. Die toten Körper darunter machten etwas wie schneebedeckte Hügellandschaften daraus. Wie ein Zauberer, der seinen besten Trick präsentierte, zog Jimmy beide Tücher gleichzeitig weg. Darren wollte aufschreien, beherrschte sich aber gerade noch. Die beiden Leichen waren ihm nicht fremd. Und im Grunde hatte er keine anderen zu sehen erwartet. Schließlich wurden ihm alle merkwürdigen Fälle zugeteilt, weil er dafür einen besonderen Riecher entwickelt hatte. Und zwei Männer, die man mit zerschmetterten Knochen und gebrochenen Hälsen in seiner Straße gefunden hatte, waren durchaus merkwürdig genug, um ihm zur Obduktion auf den Tisch gelegt zu werden. Nur konnte er sich die Untersuchung diesmal im Grunde sparen. Schließlich wußte er, wodurch und durch wen diese beiden Männer zu Tode gekommen waren. Er war ja live dabei gewesen. Und er wußte, was die beiden wirklich gewesen waren: nicht unschuldige Mordopfer, sondern – Vampire! »Was für ein Irrsinn«, murmelte er gedankenverloren. »Find’ ich auch, Doc«, bekräftigte Jimmy. Sein ausgestreckter Finger wanderte zwischen den zwei Toten hin und her. »Wollen wir losen, wer sich welchen vorknöpft?« Darren zeigte auf den Tisch unmittelbar vor sich. »Ich nehme mir
den hier vor. Der andere steht mir zu weit weg.« Jimmy grinste. »Meine Fresse, Doc, Sie müssen ja gestern wirklich ordentlich zugelangt haben.« »So kann man’s auch nennen.« Er wies auf die »Hightech-Spinne«. »Mach erst mal den Physio-Scan, Jimmy. – Ich zieh’ mich inzwischen um.« Darren verschwand in einer kleinen Kammer, die ihnen als Garderobe und Pausenraum diente. Derweil setzte Jimmy im Untersuchungsraum den Physio-Scanner an, ein Gerät, das die Gesichtszüge von Toten »las« und mit den digitalisierten Bildern in der Vermißtenkartei des Police Departments verglich. Darren hatte gerade den letzten Knopf seines Kittels geschlossen, als er Jimmys Aufschrei hörte. Er überraschte ihn nicht einmal. »Was ist?« fragte Darren so harmlos wie möglich, als er an Jimmys Seite trat. Der junge Bursche zeigte aufgeregt auf den Plasma-Monitor, auf dem die Ergebnisse des Gesichtsvergleichs erschienen waren. »Dieselbe Scheiße wie gestern!« verkündete Jimmy mit überschnappender Stimme. »Charles J. Thorn, vor fast einem Jahr gestorben und aus der Leichenhalle verschwunden – und jetzt liegt er hier, so frisch, als sei er gestern erst gestorben.« Ist er ja auch, dachte Darren, ich hab’s ja selbst gesehen! Aber er hütete sich, den Gedanken laut auszusprechen. »Den anderen, los.« Darren wies auf den zweiten Toten, und Jimmy plazierte den Scanner über dessen Kopf. Das Ergebnis vermochte nicht einmal mehr ihn wirklich zu überraschen, und Darren nickte nur. »David Landau«, las er den Namen des Toten ab. Landau war vor acht Monaten an einem Herzinfarkt gestorben – und noch in derselben Nacht aus dem Leichenkeller des Krankenhauses verschwunden. Spurlos natürlich. Darren starrte auf den kleinen Bildschirm, aber seine Gedanken
kreisten um anderes. Es kam durchaus vor, daß Tote gestohlen wurden, wenn auch sehr selten. Es gab wohl Perverse, die sich mit Leichen vergnügten, aber die bevorzugten natürlich tote Frauen. Was ihm in diesen Fällen auffiel – Manson, Thorn und Landau –, war der Zeitfaktor: Alle drei Männer waren innerhalb weniger Wochen gestorben und ihre Leichen nur wenig später verschwunden. Aber darin erschöpften sich die Parallelen noch nicht. Darren konnte es spüren, fast greifen wie etwas, das in der Luft lag, aber noch unsichtbar war. Wortlos nahm er sich den Ausdruck von Mansons Daten noch einmal vor, dann las er, was die Monitore über Charles Thorn und David Landau verrieten. Ihre Berufe! schoß es Darren plötzlich durch den Kopf. Das ist es! Oder könnte es zumindest sein … Manson war ein Medienmogul gewesen. Thorn ein Universitätsprofessor. Und Landau einer der erfolgreichsten Unternehmer der Stadt, in der Computerbranche tätig. Sie waren … keine gewöhnlichen Männer, brachte es Darren auf einen vorläufigen Punkt. Sie waren wichtig. Einflußreich. Klug. Sinn machte diese Schlußfolgerung trotzdem nicht. Noch nicht … Darren seufzte schwer. Mit Daumen und Zeigefinger massierte er sich die Nasenwurzel. Schmerz stach dort, wie immer, wenn er angestrengt über etwas nachdachte, ohne zu einer Lösung zu kommen. Ein dumpfer Knall riß Darren aus seiner Gedankenversunkenheit. Die Tür zum Untersuchungsraum war aufgestoßen worden und gegen die Wand gekracht. Zwei Männer in fast identischen Anzügen traten ein, blieben stehen. Ihre Blicke schienen Darren aufspießen zu wollen. Er ahnte, was jetzt kam. Eigentlich hätte er damit rechnen müssen, aber seit der gestrigen Nacht fühlte er sich kaum noch in der Lage, klar zu denken, geschweige denn irgendwelche Entwicklungen vor-
herzusehen. Mit zerknirschter Miene nickte er den beiden Detectives zu. »Grimes, Dent.« Grimes, der kleinere der beiden Männer, winkte ihm zu. »Mitkommen«, schnarrte er. »Dacht’ ich mir«, murrte Darren und setzte sich gehorsam in Bewegung. »Hey!« meldete sich Jimmy. »Was wird denn das?« Darren machte eine beruhigende Bewegung. »Keine Sorge, Jimmy. Ich bin gleich zurück.« »Da wäre ich mir an Ihrer Stelle nicht so sicher«, meinte Dent. Sein Grinsen war das eines Haifischs und wirkte wenig aufmunternd. Spätestens jetzt wurde Darren klar, daß er in Schwierigkeiten steckte – tiefer, als er befürchtet hatte.
* Lilith ließ ihren Blick in die Runde schweifen und nickte. Relative Ruhe war eingekehrt. Die Berichterstatter von TV, Rundfunk und Presse waren vertrieben, eine Nachrichtensperre verhängt worden. Die Polizisten – knapp zwei Dutzend, der Rest war von diesem Einsatz abgezogen worden – hielten sich bereit, standen wortwörtlich Gewehr bei Fuß. »Na, alles zu Ihrer Zufriedenheit arrangiert?« Chief Holloway knurrte ihr direkt ins Ohr. Er schien tunlichst darauf bedacht, zu verheimlichen, daß alles, was er angeordnet hatte, eigentlich auf Liliths Wunsch hin geschehen war. »Ja, sieht gut aus«, meinte sie. Holloway knurrte wie ein gereiztes Raubtier. »Ich wünschte, ich wüßte, warum ich diesen Scheiß überhaupt mitmache …« »Weil Sie mich mögen und schätzen?« mutmaßte Lilith grinsend. »Das ist der allerunwahrscheinlichste Grund«, behauptete Hollo-
way übellaunig. »Ach, kommen Sie, Chief – so mies drauf sind Sie doch gar nicht«, sagte Lilith und erlaubte sich, Holloway einen versteckten Stoß zu versetzen. »Ich bin sicher, daß Sie im Grunde Ihres Herzens sogar ein ganz netter Kerl sind.« »Bin ich nicht!« empörte sich Holloway so heftig, als hätte sie ihn aufs Ärgste beleidigt. Lilith grinste schief, dann atmete sie tief durch. »Na gut, dann mach’ ich mich mal ans Werk«, sagte sie. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, brummte Holloway. »Hey, ich tu’s immerhin auch für Sie!« Der Chief verzog die Lippen. »Sie tun vor allem eines – Sie bringen mich um Kopf und Kragen, wenn rauskommt, was ich Ihnen hier erlaube.« »Haben Sie nicht etwas vergessen?« »Was?« »Verdammt noch mal – oder etwas in der Art.« Lilith zwinkerte ihm zu. »Ah, Scheiße, was tu’ ich hier eigentlich? – Los, hauen Sie schon ab, bevor ich’s mir doch noch anders überlege!« stieß Holloway hervor. »Soll ich mich wirklich beeilen?« Lilith vollführte mit angewinkelten Armen flatternde Bewegungen, die Holloway nur zu gut zu deuten wußte. »Besser nicht«, riet er ihr. »Ein paar von den Jungs haben ‘nen elend nervösen Zeigefinger.« Er wies in die Runde. Uniformierte Polizisten umstanden das Grundstück 333, Paddington Street, allesamt mit Präzisionsgewehren bewaffnet, deren Läufe in Richtung des Hauses wiesen. Holloway fuhr sich überlegend über das unrasierte Kinn, dann meinte er: »Andererseits – machen Sie ruhig die Flatter. Dann erledigt sich mein Problem wie von selbst.« Er grinste gemein.
»Chief«, flötete Lilith, »ich würde Ihnen ja jeden Gefallen tun – nur diesen nicht. Überlegen Sie sich was anderes, bis ich zurück bin, hm?« Mit aufreizendem Hüftschwung ging Lilith los. Ein zweites Mal hinein in die Hölle, in der sie einst zur Welt gekommen war.
* Neech Roven vergaß allmählich, was Entsetzen war. Für ihn wurde es zur Gewohnheit. Wie auch der Schmerz, von dem er erst geglaubt hatte, er müßte ihn umbringen … Das Funkeln der unzähligen (er hatte es mehr als einmal versucht und nicht geschafft) Augen um ihn her, es rührte ihn nicht mehr. Das Rascheln und Fiepen im Dunkeln hörte er kaum noch. Wohl aber das Stöhnen und Bibbern von Danny Melville. Und das harte Klacken, mit dem Harvey Johnsons Zähne aufeinander schlugen. Er machte ihnen keinen Vorwurf. Er sagte überhaupt nichts. Weil die Ratten jeden Laut damit quittierten, daß sie den Kreis um ihre Gefangenen enger zogen. Ihr Gestank war ohnedies schon kaum erträglich. Aber auch daran hatte sich Neech Roven in den Stunden, die sie nun schon in Finsternis und Kälte zubrachten, gewöhnt, einigermaßen wenigstens. Die Hoffnung, die vor einer Weile in ihm aufgestiegen war, hatte sich längst wieder gelegt. Beinahe hatte Roven schon vergessen, daß jemand hier gewesen war, eine Frau, die ihnen hatte helfen wollen – und selbst fast draufgegangen wäre. Oder war sie es sogar? Er wußte es nicht. Die Fremde war verschwunden. Gut möglich, daß die Monster sie erwischt hatten. Und im Grunde war es auch egal.
So egal, wie ihm sein eigenes Schicksal zu werden begann. Neech Roven fing an, den Tod zu akzeptieren. Und wie auf einem Nebengleis seines Bewußtseins dachte er darüber nach, daß der Zeitpunkt nicht mehr fern sein konnte, da er sich den Tod wünschen würde. Ausgerechnet er! Neech Roven, der Haudegen. Der Held. Der Mann, der dem Teufel ins Gesicht spuckte! Es wäre zum Lachen gewesen, hätte Roven noch den Willen dazu aufgebracht. Anfangs hatte er noch versucht, den Ratten zu entkommen. Besinnungslos hatten sie ihn sowie Melville und Johnson hierher gebracht, wo immer dieses Hier auch war. Als er wieder zu sich gekommen war, hatte Roven festgestellt, daß die Biester ihm seine Ausrüstung – Funk und Waffen – abgenommen hatten, wie auch immer sie das fertiggebracht haben mochten. Er hatte gedacht, er könnte ihnen trotzdem entkommen – und er hatte es versucht. Ein Stückweit war er sogar gekommen. Und durch Zufall war er über einen herrenlosen Funkhelm gestolpert. Es war ihm auch gelungen, einen Funkspruch abzusetzen; ob der allerdings empfangen worden war, wußte Roven nicht. Dann hatten ihn die Ratten erwischt. Zu Dutzenden hatten sie sich auf ihn gestürzt. Und dafür gesorgt, daß er nicht mehr flüchten konnte – – indem sie ihm den rechten Fuß abgefressen hatten. Dicht über dem Knöchel. Den Knochen hatten sie durchgebissen wie ein Biber, der einen Baumstamm durchnagte. Aber das hatte Neech Roven schon nicht mehr gespürt. Als er wieder aufwachte, war sein Fuß weg gewesen. Und trotzdem hatte er höllisch wehgetan. Phantomschmerz nannte man das wohl. Roven hatte schon davon gehört. Aber nie geglaubt, daß er einmal am eigenen Leibe erfahren würde, was dieser Begriff bedeutete.
»Ich versuch’s. Scheiße, ich versuche es!« Danny Melvilles Stimme zitterte, klang so hoch wie die einer Sopranistin. Roven spürte die Bewegung des Jungen in der Dunkelheit. »Laß es«, zischte er. »Nein, ich hau ab, verdammt!« »Das werden sie nicht zulassen«, mischte sich Harvey Johnson ein. »Mir egal. Dann erwischen sie mich eben. Immer noch besser, als hier ‘rumzuliegen und darauf zu warten, daß sie –« Danny Melville erhob sich. Kleidung raschelte. Stiefelsohlen schabten über den Boden. Und ringsum erwachte die Dunkelheit zum Leben. Es war, als schlage ein schwarzer Ozean Wellen. Die Ratten kamen. Danny Melville schrie auf. Stürzte, schlug mit einem dumpfen Laut zu Boden. Etwas erstickte seinen Schrei. Kupfergeruch überlagerte den Gestank der Ratten. Dann schleiften sie Danny Melville fort. Nicht sehr weit allerdings. Neech Roven und Harvey Johnson konnten hören, was mit dem jungen Polizisten geschah – feuchte Laute drangen zu ihnen, leises Reißen wie von nassen Tüchern, und der metallene Geruch wurde stärker. »O großer Gott, was tun die Biester ihm an?« keuchte Johnson. »Möcht’s nicht wissen«, knurrte Roven, aber seine Phantasie gaukelte ihm Bilder vor, und er wußte, daß die Wirklichkeit sie noch übertraf. »Klingt, als würden sie Danny …«, Johnson würgte, »… verfüttern!« Der Blutgeruch verschwand unter stechendem Gestank, als Harvey Johnson sich lautstark die Seele aus dem Leib kotzte.
*
Darren Secada wunderte sich, daß Grimes und Dent ihn nicht in eine der kahlen Verhörkammern geschleift hatten. Denn letztlich behandelten sie ihn wie einen Verbrecher, spielten das Spiel »Guter Bulle, böser Bulle«, als sei er irgendein kleiner Straßenganove, den sie weichklopfen wollten, um über ihn an die großen Fische heranzukommen. Seit einer geschlagenen Stunde drehten sie ihn durch die Verhörmangel, stellten ihm wieder und wieder dieselben Fragen, und Darren war längst dazu übergegangen, gar nichts mehr zu sagen. »Hören Sie, Darren«, übernahm Dent wieder einmal das Wort. Er spielte den guten Cop, den verständnisvollen Beichtvater, dem man alles erzählen konnte, und dann würde es schon wieder gut werden. »Wir wollen von Ihnen doch nur wissen, was gestern Nacht passiert ist, okay? Sie –« »Das habe ich euch schon gesagt«, unterbrach Darren ihn so ruhig wie möglich, was in Anbetracht seines angegriffenen Nervenkostüms nicht sehr ruhig war. »Aber nicht die Wahrheit, verdammt! Ich weiß das, und Sie wissen das!« Grimes schlug mit der Faust auf die Schreibtischplatte. Böser Bulle … Sein Kopf stieß über den Schreibtisch in Darrens Richtung, die Züge nur noch mühsam beherrscht. »Sie versuchen uns für dumm zu verkaufen, und das mag ich nicht«, knurrte Grimes. »Das mag ich nicht bei dem Gesockse, das wir auf den Straßen schnappen, und ich hasse es, wenn mich einer von unseren eigenen Leuten zum Idioten machen will!« Darren wandte das Gesicht aus dem feinen Sprühregen, der von Grimes Lippen kam. »Das würde ich mir nie anmaßen«, sagte er dann. »Secada!« brüllte Grimes. »Treiben Sie es nicht auf die –« Dents Wink ließ seinen Kollegen verstummen. Er zog sich einen
Stuhl heran, plazierte ihn neben dem von Darren und ließ sich rittlings darauf nieder, die Arme lässig über der Lehne. »Darren«, begann er versöhnlich, »wir tun nur unseren Job, das muß ich Ihnen gegenüber doch nicht extra erwähnen, oder? Und Sie werden doch einsehen, daß Chief Holloway berechtigten Grund hat, durch uns ein paar Fragen an Sie zu stellen, nicht?« »Ich habe Ihnen diese Fragen beantwortet«, beharrte Darren. »Ein bißchen dünn, Ihre Geschichte«, meinte Dent, den Kopf wiegend. »Warum haben Sie beispielsweise die Frau nicht ins Krankenhaus gebracht, sondern in Ihre Wohnung?« Darren seufzte schwer. »Weil Sie nicht verletzt schien. Das sagte ich doch schon. Ich dachte, ich könnte ihr zu Hause besser helfen – ein bißchen Ruhe, eine Tasse Tee und so …« »Na klar«, grunzte Grimes, »und dann ein kleiner Unterleibscheck, wie?« Er machte eine eindeutige Geste in Darrens Richtung. »Ich leide nicht unter Ihren Problemen, Grimes«, sagte dieser. »Und ich möchte deine Probleme nicht am Arsch haben, Jungchen!« »Bitte«, mischte sich Dent ein. Grimes schwieg. Dent wandte sich wieder an Darren. »Und dann wurden Sie überfallen, stimmt’s?« »Erst tauchte Ihr Kollege auf, und dann wurden wir überfallen«, stellte Darren die Reihenfolge der Ereignisse richtig. »Von wem und warum?« »Herrgott, ich weiß es nicht!« »Von den beiden Männern, die Sie vorhin obduziert haben?« fuhr Dent unbeirrt fort. »Vielleicht, vielleicht auch nicht.« Darren stockte. »Ich … ich erinnere mich nicht.« »Ach Gottchen, jetzt kommt die Nummer!« stöhnte Grimes. »Blackout, wie? Weil alles ach so schrecklich war, he?« Er sprang auf. »Die Tour zieht nicht bei mir, Secada! Sie schnippeln den ganzen Tag über an Toten herum, und da wollen Sie mir erzählen, daß
irgendwas so übel sein könnte, um Sie aus der Fassung zu bringen? Bullshit!« »Fakt ist«, Dents Ton war unverändert ruhig, »daß es zwei Tote gegeben hat. Und Sie waren dabei, Darren.« »Und?« Er zuckte die Schultern. »Das heißt, Sie haben zwei Probleme. – Wenn man die verschwundene Frau noch dazuzählt, sogar deren drei.« »Hören Sie«, sagte Darren, »ich weiß, wie das klingen muß, und ich kann verstehen, wenn Sie mir nicht glauben – aber es war genau so: Ich habe nicht gesehen, wie die beiden Männer zu Tode kamen. Ich bin über die Feuerleiter abgehauen, okay? Ich hatte die Hosen gestrichen voll, wenn Sie so wollen. Ich wollte nur weg, und das ist mir gelungen. – Wäre ich mutiger, wären wir ja Kollegen. So befasse ich mich eben nur mit den Toten, denn die tun einem ja bekanntlich nichts mehr.« Darren gab sich alle Mühe, den zerknirschten Feigling überzeugend zu geben. Und zu seinem Erstaunen schien es ihm zu gelingen. Dent erhob sich. »Okay, Darren, halten Sie sich zu unserer Verfügung, klar?« »Heißt das …?« fragte er zögernd. »Ja, Sie können gehen.« »Momentchen mal!« protestierte Grimes. »Was willst du Holloway erzählen? Der Alte wird toben, das schwör ich dir, wenn wir ihm beichten, daß wir nichts herausbekommen haben.« »Haben wir doch«, behauptete Dent. »Ach ja? Und was?« grunzte Grimes. »Daß Darren Secada im Polizeidienst fehl am Platze ist. Und das wird sich herumsprechen.« Dents Lächeln war eisig, seine Drohung unmißverständlich. »Ja, so gesehen hast du natürlich recht«, meinte Grimes. Auch er grinste gehässig. »Also«, Dent sah Darren an und wies zur Tür, »gehen Sie, Secada,
wenn Sie uns nichts mehr zu sagen haben.« Darren wußte nicht, weshalb er es tat. Aber er schwieg, der Drohung zum Trotz, und ging. Mit dem miesesten Gefühl im Bauch, das ihn je gequält hatte.
* Lilith wollte die Eingangstür hinter sich schließen, ließ sie dann aber doch offen. Jeder Sekundenbruchteil konnte später entscheidend sein, und sie wollte nicht einen einzigen verschwenden, indem sie etwa die Tür erst würde öffnen müssen. Die Eingangshalle des Hauses lag so verlassen vor ihr wie beim vorigen Mal. Die Bedrohung allerdings war präsenter als zuvor, spürbar wie ein bleiernes Gewicht, das sich auf Lilith legte. »Okay«, ermahnte sie sich, »keine Zeit verlieren. Vorwärts!« Sie eilte zur Kellertür, trat auf die erste Stufe und verwandelte sich. Flatternd drang sie in die dunkle Tiefe vor. Ihre Fledermaussinne ließen sie den Weg mühelos finden. In dem weiten Gewölbe am Ende der Treppe glich das Bild dem, das sie bei ihrem ersten »Besuch« hier vorgefunden hatte: Ratten hockten und kauerten überall. Nur verhielten sie sich diesmal nicht still, warteten nicht ab, was geschehen würde. Lilith hatte sich als Feindin erwiesen, obwohl sie von der gleichen Kraft beseelt war. Sie hatte vor, den Plan der Ratten zu stören, und mußte daran gehindert werden. Die Biester reagierten kollektiv. Sie gingen zum Angriff über, versuchten Lilith im Flug zu attackieren. Aber sie hielt sich dicht unter der Gewölbedecke und entging den Ratten, deren Sprungkraft nicht genügte, um diese Höhe zu erreichen.
Dennoch beeilte sich Lilith. Ihre Schwingen peitschten die Luft. Immer rasender wurde ihr Flug. Wie ein Torpedo schoß sie, ihren Echolot-Sinnen vertrauend, durch die Finsternis, schlug ein paar Haken, um die Angreifer zu verwirren und wenigstens für ein paar Sekunden in die Irre zu leiten. Dann stieß sie in den Gang hinein, an dessen Ende sie die Gefangenen wußte – und ihr eigentliches Ziel!
* »Deine Freundin ist sauer, hm?« Ryder Maguire wies mit dem Kinn zur Tür. Seven van Kees zuckte die Schultern und ließ sich neben ihm auf die Ledercouch mit dem Chromgestell sinken. Ihr Bereich der weitläufigen Loftwohnung unterschied sich grundlegend von Leslies. Seven liebte Art deco, Möbel und Accessoires konnten ihr kaum exklusiv genug sein, während Leslie auf den Countrystyle stand – Holz, putzige Muster. Gemütlichkeit war Leslies Devise, heimelig wollte sie alles haben – und auch ihre Beziehung zu Seven sollte so sein, ganz wie zwischen einem normalen Ehepaar eben. Aber dafür war Seven nie zu begeistern gewesen, nicht einmal ansatzweise. Jetzt aber, da sie neben Ryder Maguire saß und in seine Augen sah, wurden für Seven van Kees plötzlich Dinge vorstellbar, über die sie bislang nicht einmal hatte nachdenken wollen: Zweisamkeit, trautes Heim, Familie … Das Biest, die echte Seven also, schien draußen vor der Tür geblieben zu sein. »Leslie beruhigt sich schon wieder«, antwortete sie endlich auf Ryders Frage. »Und wenn nicht …« Sie ließ den Rest offen, aber ihr Lächeln verriet, daß es sie nicht interessierte, was Leslie dachte oder tun würde.
Nicht jetzt. Nicht mehr? Ryder Maguire interessierte sie. Jetzt. Und für immer? Warum nicht? dachte Seven. »Seid ihr nur … nun, Freundinnen? Oder Freundinnen?« Ryder lächelte hintergründig. »Wir sehen unsere Beziehung ein wenig unterschiedlich«, erwiderte Seven. »Vielleicht ein wenig zu unterschiedlich.« »Das heißt?« »Ich wohne hier – und Leslie lebt hier.« »Aha«, machte Ryder. Die Tür flog auf. Leslie Bentwick stand im Rahmen. »Moe Marxx hat ungefähr tausendmal hier anrufen lassen«, fauchte sie. »Du hast einen Job, falls du das vergessen haben solltest. Ruf ihn zurück.« Peng! »Die ist zu«, stellte Ryder mit Blick auf die Tür fest. »Wer ist Moe Marxx? Der Name kommt mir bekannt vor.« »Mein Boß. Chefredakteur beim Sydney Morning Herald«, sagte Seven. »Oh, das renommierteste Blatt der Stadt.« Ryder nickte anerkennend. Er zeigte auf das Telefon neben der Couch. »Willst du ihn nicht anrufen?« Seven winkte ab. »Später. Vielleicht.« »Gerade keine heiße Story auf Lager?« forschte Ryder Maguire. Seven wiegte den Kopf. »Eigentlich schon. Aber Marxx will sie nicht haben.« »Erzähl sie mir«, bat Ryder. Und zu ihrer eigenen Verwunderung kam Seven der Bitte nach. Dieser Mann konnte wirklich alles von ihr haben und verlangen … Als sie fertig war, sah sie Ryder an. Sie erwartete, daß er lachen oder zumindest zweifelnd dreinsehen würde. Aber er erwiderte nur still und ernst ihren Blick.
»Und?« fragte sie auffordernd. »Gute Geschichte«, meinte Ryder. »Sonst nichts?« »Na ja, ich kann mir vorstellen, daß dich diese Sache ganz schön mitgenommen hat.« Er berührte Sevens Schulter, wieder nur ganz kurz, wie zufällig fast. Trotzdem hätte Seven ums Haar wohlig gestöhnt. Sie riß sich zusammen. Aber sie gab sich ein klein wenig niedergeschlagen. Sie wollte, daß Ryder sie noch einmal berührte. »Ja, das hat sie wohl«, sagte sie leise, mit gesenktem Blick. »Es wurde mir bisher gar nicht so bewußt, aber ich habe … ein bißchen Angst. Glaube ich.« Sie spielte Verlegenheit, knetete nervös ihre Finger – und hätte fast aufgejauchzt, als Ryder nach ihren Händen griff und sie fest in den seinen hielt. »Dann brauchst du vielleicht einen Beschützer«, meinte er mit dunkler, warmer Stimme. »Ja, vielleicht …« »Ich würde mich anbieten, diese Rolle zu übernehmen.« »Wirklich?« fragte Seven mädchenhaft. Ryders Lachen steckte sie an. Er hatte sie längst durchschaut, natürlich. Sie lachten, bis ihre Lippen sich – endlich! – zum Kuß fanden.
* Die Dunkelheit, die den Kellergang wie die Tarnwolke eines Tintenfischs ausfüllte, hatte Liliths Fledermaussinn nichts entgegenzusetzen. Sie sah ihre Umgebung wie eine grobstrichige Zeichnung, wich jedem Hindernis mit traumwandlerischer Sicherheit aus, jagte wie ein Fernlenkgeschoß um die Ecken. Die Ratten vermochten ihr in diesem Tempo nicht zu folgen. Der
Vorteil der mutierten Kreaturen lag nicht zuletzt in ihrer schieren Übermacht. Deshalb durfte Lilith es nicht noch einmal auf einen Kampf ankommen lassen. Sie mußte ihr Tempo ausspielen und nutzen. Und das tat sie. Ihr wirbelnder Flügelschlag wäre mit bloßem Auge kaum zu verfolgen gewesen, hätte es einen Beobachter hier unten gegeben. Als sie schließlich in dem Gewölbe am Ende des Ganges anlangte, hatte Lilith Mühe, ihren rasenden Flug zu stoppen. Mit ausgebreiteten Schwingen bremste sie ihn ab und vollführte allerlei unfreiwillige Kunststücke, um nirgendwo anzustoßen, bis sie endlich fast stillstand in der Finsternis – – direkt über ihrem Ziel. Unter Lilith zuckte eine unförmige Masse. Sie blähte sich auf unter den Atemzügen winziger Lungen, kleine Leiber krochen unbeholfen und blind noch hin und her, lagen übereinander, wie um sich zu wärmen. Lilith stieß hinab – auf die Brut! Hinein in das Nest, das die Ratten hüteten wie einen kostbaren Schatz. Spitze Krallen bohrten sich in die rosige Haut eines der häßlichen Jungtiere. Dunkles Blut quoll aus den winzigen Wunden. Und als Lilith mit ihrer Beute in den Fängen aufstieg, schrie die Ratte auf – – mit fast kindlicher Stimme.
* Der Schrei tat Lilith weh! Nicht in den Ohren, sondern tiefer, in ihrer Brust; er traf sie wie ein Stich in die Seele. Denn die Art des Lautes machte ihr deutlich, womit sie es mit der zappelnden Kreatur in ihren Fängen wirklich zu tun hatte –
– mit mehr als nur einer jungen Ratte. Die neugeborenen Tiere bildeten die nächste Generation. Sie waren weiter entwickelt als die ursprüngliche, die »nur« durch die Magie des Hauses entartet war. Die Brut dort unten war … menschlicher. Und Lilith kam sich beinahe erbärmlich vor bei dem, was sie tat und noch tun würde. Dennoch konnte, durfte es kein Zurück geben. Sie mußte tun, was getan werden mußte – um der Menschen willen, für die Lilith sich verantwortlich fühlte. Letzten Endes würde ganz Sydney bedroht sein, wenn sie nichts gegen die Brut des Hauses (ihres Hauses!) unternahm. Lilith flog los, zurück in den Gang. Sie hätte keinen Augenblick länger zögern dürfen! Etwas wie ein Schlag streifte ihren kleinen Leib, als eine der Ratten endlich doch hoch genug sprang, um sie zu erwischen. Der Angreifer brachte Lilith jedoch nur kurz aus der Bahn und ins Trudeln. Heftiger schlug sie mit ihren ledernen Schwingen, gewann an Geschwindigkeit und tauchte tiefer hinein in den Gang. Verfolgt vom Trippeln unzähliger krallenbewehrter Pfoten und monströsen Lauten, die wie eine Flutwelle durch den Gang rollten. Die Beute wand sich in Liliths hornigen Klauen, und fast gegen ihren Willen grub sie ihre Krallen tiefer hinein in das weiche Fleisch, das kalt war wie das eines Toten. Der Boden unter Lilith schien zu leben. Er brodelte, kochte vor Bewegung. Hunderte von Rattenmonstern wimmelten dort, folgten der Fledermaus, wie weiland andere ihrer Art dem sagenhaften Rattenfänger von Hameln gefolgt sein mochten. Auf der Treppe geriet die Bewegung der Verfolger kurz ins Stocken. Die Masse der Tiere drohte den Weg über die Stufen hinauf geradezu zu verstopfen. Lilith gewann einen winzigen Vorsprung. Erst als sie schon in die Halle hinausflog, löste sich das Knäuel der Leiber auf der Treppe. Es war, als habe man einen Pfropfen entfernt,
so heftig ergoß sich die Rattenflut aus der Kellertür. Rosig, braun und grau wogte die Menge über die Schwelle, verbreitete sich in der Halle, als würde brackiges Wasser hineingespült, und im Nu bedeckten die Tiere den ganzen Boden der Halle. Zwei-, dreimal wurde Lilith auf ihrem Flug zur Tür noch angegriffen. Dort mußte sie zwangsläufig tiefer gehen, und dabei gelang es zwei der Ratten, ihre Krallen in Liliths Flügel zu schlagen. Schrill kreischte die Fledermaus auf. Dunkles Blut spritzte. Schmerz wollte ihr Hirn verbrennen. Trotzdem schaffte Lilith es, das Haus zu verlassen, mitsamt ihrer Beute; das Rattenjunge schrie wie ein Baby nach seiner Mutter. Draußen stieg Lilith auf, über die Höhe des Dachfirstes hinweg, während unter ihr die Rattenmeute aus dem Haus stürmte. Die Tiere überschwemmten das Grundstück geradezu, richteten sich fiepend und kreischend auf den Hinterläufen auf, schlugen mit ihren Krallen durch die Luft, als meinten sie, Lilith so erwischen zu können. Eiskalt wartete Lilith ab, bis der Strom aus dem Haus versiegte. Dann öffnete sie ihre Krallen. Das Jungtier fiel – ohne den Boden je zu erreichen. Schüsse krachten, in solcher Vielzahl, daß es wie ein Steinschlag klang. Der Leib der kleinen Ratte wurde von Kugeln förmlich zerrissen. Wie auch die Meute darunter. Rattenblut tränkte den Boden von 333, Paddington Street. Der Lärm war höllisch. Schüsse vermengten sich mit dem Sterbechor der Ratten. Minutenlang. Um so schwerer lastete endlich die Stille des Todes. Nur vereinzelt zuckte es noch in der roten, feuchten Masse, zu der die Ratten im Kugelhagel geworden waren, nachdem Lilith sie aus dem Haus und in die tödliche Falle gelockt hatte. Echtes Triumphgefühl mochte sich bei ihr nicht einstellen …
Unbemerkt von Augenzeugen verwandelte sich Lilith schließlich in ihre menschliche Gestalt und kehrte zu den Polizisten zurück. Sie hielt Ausschau nach Chief Holloway, fand ihn jedoch nicht. Einer der Männer, von Lilith nach Holloway befragt, wies auf das Haus. »Was?« fragte sie. »Er ist da drin?« Der Officer nickte. »Ja. Er will Roven und dessen Leute herausholen.« »Verdammt!« fluchte Lilith. Das war nicht abgesprochen gewesen. Sie selbst hatte die Sache zu Ende bringen wollen, weil die Gefahr im Haus auch nach dieser gelungenen Aktion nicht gänzlich gebannt sein mochte. Lilith rannte los wie von Teufeln gehetzt – und von einem schrecklich unguten Gefühl getrieben.
* Chad Holloway hatte im Laufe seiner vieljährigen Dienstzeit beim Sydney Police Department schon eine Menge gesehen, darunter auch manches, das ihm selbst heute noch unvorstellbar schien. Dieser Liste konnte er den heutigen Tag getrost hinzufügen – denn was er jetzt und hier erlebte, würde er niemals wirklich verstehen. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann wollte er es auch gar nicht. Weil er fürchtete, ernsthaften psychischen Schaden zu nehmen. Fakt war, daß dieses unheimliche (und unheimlich gutaussehende) Weibsbild sich wieder in eine Fledermaus verwandelt und die elende Rattenbrut aus dem Haus gelockt hatte. Wie geplant, feuerten seine Männer jetzt, was das Zeug hielt, auf die Biester, die so helle doch nicht sein konnten, sonst wären sie nicht auf diese Entführungskiste hereingefallen. Aber wenn er dieser Lilith glauben durfte (und es gab kaum noch einen Grund, aus dem Holloway es nicht getan hätte), dann gedieh
die wahre Bedrohung im Keller des Hauses – die Nachkommen dieser mutierten Ratten würden wirklich gefährlich sein, intelligent und (auf welche Weise auch immer) menschlicher. Soweit war die Sache also abgelaufen wie geplant. Jetzt aber war Chad Holloway der Rolle des Statisten überdrüssig. Verdammt, er leitete diesen Einsatz, und er würde seinen Kopf dafür hinhalten müssen. Also wollte er auch aktiv mitmischen. Indem er wenigstens den Schlußakt des Dramas mitbestritt: die Rettung seiner Männer aus dem Keller des Hauses. Während das Gewehrfeuer um ihn herum allmählich verklang und die letzten Ratten ihr unheiliges Leben aushauchten, eilte Chad Holloway auf das Haus zu, die Pumpgun im Anschlag. Er trat ein, schoß in der Halle wie beiläufig noch zwei übriggebliebene Ratten in Stücke und stieg dann in den Keller hinab. Auch in dem Gewölbe am Treppenende stieß Holloway noch auf ein paar der häßlichen Kreaturen, die ihm allerdings nicht gefährlich werden konnten. Vier, fünf Schüsse im Licht seiner Gürtelleuchte, und die Sache war vorüber, ehe sie wirklich beginnen konnte. Das gab Holloway Auftrieb und ein Gefühl der Sicherheit – das noch durch die baumelnden Handgranaten an seinem Gürtel verstärkt wurde. Er hoffte aber, diese todbringenden »Eier« nicht einsetzen zu müssen. Es würde nicht leicht sein, genügend Abstand zwischen sich und die Explosion zu bringen. Aus Liliths Beschreibung kannte er den Gang, an dessen Ende Neech Roven und die beiden anderen Männer gefangengehalten wurden. Unterwegs stolperte er über die Leiche, von der Lilith ebenfalls berichtet hatte, dann hatte Chad Holloway das Gewölbe erreicht. Sein Lampenstrahl stocherte in der Finsternis herum – und traf auf ein blutig-glitzerndes Etwas! Einen Beinstumpf … »Großer Gott!« entfuhr es Holloway erstickt. Zögernd ließ er das Licht höher wandern.
Dann sah Chad Holloway in das Mündungsloch eines Gewehrs, das auf ihn gerichtet war! Und in die Augen von Neech Roven – – der ihn zweifelsohne nicht erkannte. Ein unverkennbares Funkeln lag in Rovens Blick. Wahnsinn hielt den Mann in seinen Krallen, machte ihn blind und taub, ließ ihn nur noch eines in allem erkennen … »Ratten!« keuchte Roven. »Verdammte Scheißratten! Ich mach euch alle! Ihr kriegt mich nicht …« Chad Holloway hob beschwörend die Hände – oder vielmehr: Er wollte es tun. Er kam nicht dazu. Ebensowenig wie er auf das verräterische Aufblitzen in Neech Rovens Augen zu reagieren vermochte. Chief Holloway stand wie zu Stein erstarrt da – – als Rovens Waffe Feuer spie.
* Lilith stürmte wie eine Furie in die Kellertiefe hinab! Mit einem Blick erfaßte sie die Situation. Neech Roven schoß auf Chad Holloway! Lilith prallte gegen den Chief Inspector, riß ihn um und brüllte auf, als die Kugel durch ihre Schulter schlug. Sie spürte die Wärme von Blut und wußte, daß es nicht nur ihr eigenes war. Aber sie konnte sich nicht um Chad Holloway kümmern. Weil ihr etwas anderes alle Konzentration abverlangte. Die Gefahr durch die Ratten war nicht gebannt. Es gab wohl noch so etwas wie eine Eingreifreserve. Und die griff an! Stürzte sich wie ein Moloch aus Klauen und Zähnen auf Lilith. Schmerz raste wie Feuer über ihre Nervenbahnen – und verbrannte die Fesseln des Tieres in Lilith, schmolz die Ketten, die ihr dunkles Ego tief in ihrer Seele hielten. Die Halbvampirin wurde selbst zur Bestie.
Muskeln, eben noch hart wie Stahltrossen, entspannten sich. Durch die Adern tosendes Blut beruhigte sich im gleichen Maße, wie Liliths Herzschlag sich normalisierte. Die kühle Kellerluft vertrieb die fiebrige Hitze aus ihrem Körper. Erschöpfung griff wie mit dunklen Schattenhänden nach ihr. Sie hatte sich völlig verausgabt, ihre gesamte Energie in kürzester Zeit verbraucht. Lilith sah sich um. Und wollte kaum glauben, daß sie verantwortlich war für dieses … Massaker! Anders ließ sich das, was geschehen war, kaum nennen. Zerrissene Rattenkörper lagen verstreut umher, Blut klebte an nahezu jedem Stein, und der Geruch des Todes lag wie Nebel über dem Gewölbe. Liliths vampirisches Ich hatte für allerhöchstens eine Minute die Kontrolle übernommen und grauenhaft gewütet. In Momenten wie diesen war Lilith geradezu dankbar dafür, daß sie solche Ausbrüche nicht bewußt miterlebte. Ihr menschliches Empfinden war dann gleichsam ausgeschaltet, weil es Skrupel und Zögern nicht geben durfte in solchen Kämpfen. Dennoch, tief in ihrem Innersten empfand Lilith etwas wie Ekel vor sich selbst. Der Gedanke, daß es im Grunde war, als würde eine Fremde all diese Dinge tun, war ihr nur ein schwacher, ein trügerischer Trost … Sie ließ den nachtsichtigen Blick weiterwandern. Zwei Tote fand sie. Neech Roven und ein weiterer Polizist waren letztlich doch noch Opfer der mörderischen Rattenplage geworden. Blut strömte ihnen aus zahllosen Wunden und sammelte sich zu kleinen Seen auf dem Boden. Und Holloway? Da lag er – und rührte sich. Kraftlos zwar, aber er lebte. Lilith kniete neben ihm nieder. Sie konnte sich ohnehin kaum auf den Beinen halten. Sie spürte einen schmerzhaften Stich in der Brust,
der nicht von der Schwäche herrührte. Zu spät …? Konnte sie nichts mehr für Chief Holloway tun? Nein, beantwortete sie die Frage selbst. Sein Blick war noch nicht der eines Todgeweihten. Seine Verletzungen mochten schwer sein, aber er würde leben. Wenn sie sich beeilte … Die eigene Verletzung nahm Lilith kaum mehr wahr. Die vampirische Selbstheilungskraft hatte sie bereits versiegelt, und inzwischen war sie nurmehr eine Narbe, die in den nächsten Minuten gänzlich verschwinden würde. Blut pulste im Rhythmus des Herzens aus einer Wunde an Holloways Schlagader. Lilith konnte den Blick nicht davon wenden – und schämte sich dafür. Trotzdem kam sie nicht gegen den Trieb an. Chad Holloways Nicken ahnte sie mehr, als daß sie es wirklich sah. »Was …?« fragte sie verwirrt. Seine Lippen bewegten sich zitternd, kaum hörbar waren seine Worte. Lilith brachte ihr Ohr dicht an seinen Mund. »Tun … Sie es«, preßte er röchelnd hervor. Blut glänzte auf seinen Lippen. »Was soll ich tun?« Lilith schluckte. »Ich … glaube … ich weiß«, Holloway holte rasselnd Atem, »… was Sie sind. Also … machen Sie … endlich … verdammt!« Lilith schwieg betroffen. Dennoch ließ sie ihre Lippen nach unten wandern. Berührte Holloways Wunde. Ignorierte sein Stöhnen. Und trank. Chad Holloways Blut schmeckte nicht. Es war widerlich, auf diese Weise an Blut zu gelangen. Aber Lilith durfte nicht wählerisch sein. Das Blut des Schwerverletzten stärkte sie, und für ein paar Augenblicke – so lange, bis sie wieder Kraft geschöpft hatte, die überlebenswichtig für sie selbst war – zählte nur das, nichts anderes …
* Lilith ließ im gleichen Moment von Holloway ab, als dieser unter ihr erschlaffte. Sie zuckte zurück, als hätte sie sich die Lippen verätzt. Er hatte bereits viel Blut verloren; sie mußte Maß halten, um ihm nicht zuviel zu nehmen. Wenigstens hatte ihr Biß keinen Vampirkeim in ihn gepflanzt, wie es bei den reinblütigen Kelchkindern Usus gewesen war. Chad Holloway würde also nach seinem Tod – der hoffentlich noch in weiter Ferne lag – nicht als Dienerkreatur wieder erwachen. Und sie würde ihm nicht vorsorglich das Genick brechen müssen, um dies zu verhindern … Lilith ließ den bewußtlosen Chief Inspector zurücksinken und erhob sich. Noch etwas war zu tun, bevor sie sich mit Holloway zurückzog. Das Nest … Lilith ging zu der Stelle hinüber, wo sie die Brut der Ratten wußte. Weit mehr als ein Dutzend Jungtiere fiepte in einer mit Unrat überhäuften Ecke des Gewölbes. Vereinzelt hatten sie ihre Augen schon geöffnet und blickten zu Lilith empor, taxierten sie mit glitzernder Boshaftigkeit. Sie erschauderte unter dem animalisch-intelligenten Blick. Aber sie hatte es sich noch einmal ansehen müssen – um sicher zu sein, daß es für diese Brut kein Überleben geben durfte. Bereit, das Nötige zu tun, eilte sie zu Holloway zurück und schulterte ihn. Der Schmerz ließ ihn selbst in der Bewußtlosigkeit aufstöhnen. Aber er hatte – wenn überhaupt – nur dann eine Chance, wenn sie keine Rücksicht auf ihn nahm. Alles, was jetzt noch geschah, mußte schnell gehen. Holloways Gewicht forderte Tribut. Lilith brauchte die dreifache Zeit, um soviel Distanz zwischen sie beide und das Nest zu bringen, daß sie ihr Vorhaben verantworten konnte.
Hinter einer Gangbiegung ließ sie Holloway zu Boden gleiten. Er war aschfahl. Der Blutverlust hatte ein dramatisches Stadium erreicht. Wie lange sein Körper die Strapazen noch verkraftete, war nicht absehbar. Lilith fühlte sich hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, wenigstens Holloways Leben zu retten, und dem Wissen um die Gefahr, die von der Brut auch künftig für zahllose andere Menschen ausgehen würde, wenn sie jetzt nicht Konsequenz zeigte. Irgendwann zurückzukehren und sich um die Rattenjungen zu kümmern, konnte zu spät sein. Schon in einer Stunde konnte sich die verlassene Brut sonstwohin verkrochen haben … Nein! Mit fahrigen Bewegungen löste sie eine der Handgranaten von Holloways Gürtel und lief zum Ende des Ganges, der in das Gewölbe mündete, zurück. Dort zog sie den Sicherungsbügel, ließ die Granate über den Boden in Richtung des Nestes rollen, warf sich noch in der Bewegung herum und – machte sich auf ledrigen Schwingen aus dem Staub. Sie wußte nicht, wieviel Zeit sie hatte, der Explosion zu entkommen. In diesen begrenzten Räumlichkeiten würde die Wirkung vermutlich stärker als normal sein. Lilith peitschte ihren Fledermauskörper vorwärts – und wurde doch noch von der Druckwelle erfaßt, als die Granate alles verbleibende, mutierte Leben tief unter dem Haus auslöschte. Eine Titanenfaust schien das geflügelte Tier zu erfassen und nach vorn zu schleudern. Es prallte erst gegen die Wandung, dann auf den Boden, überschlug sich ein paarmal – und kam als humanoider Körper zur Ruhe, als Lilith für Sekunden das Bewußtsein verlor. Die Echos der Explosion waren noch nicht ganz verklungen, als sie die Augen schon wieder öffnete und feststellte, daß sie bis auf ein paar Schrammen unverletzt geblieben war. Rasch legte sie die letzten Meter bis zu Holloway zurück und
beugte sich über ihn. Er lebte, aber es ging ihm schlecht. Der Donner der Explosion schien bis in die untersten Schichten seines Bewußtseins gedrungen zu sein und ihn noch einmal »geweckt« zu haben. »Ist es … vorbei?« stöhnte er. »Noch nicht ganz.« »Es … gibt sie noch?« »Die Ungeheuer? Nein.« »Dann ist es gut …« Er seufzte. Dann grinste er, weil ein Lächeln zuviel Kraft gekostet hätte. Zuviel Kontrolle über sich selbst, zu der er nicht mehr fähig war. »Verschwinden Sie! Niemand wird je erfahren, daß Sie die Stadt vor diesen Monstern gerettet haben. Bringen Sie sich in Sicherheit. Sie dürfen kein …«, er hustete hart und ausdauernd, fing sich aber wieder, »… kein Verständnis erwarten. Es sind nur … Menschen. Sie haben nicht gesehen, was ich … gesehen habe. Man wird Sie jagen …« Lilith legte einen Finger auf Holloways Lippen. »Können Sie auch mal den Mund halten? Sie werden es schaffen – wenn Sie es wollen. Seien Sie einmal so hart zu sich selbst, wie Sie zu anderen sind! Reißen Sie sich zusammen, verdammt!« Holloway schwieg. Seine Augen waren wieder geschlossen. Vielleicht hatte er erneut das Bewußtsein verloren. Für den Moment war das vielleicht das Beste, was passieren konnte … Minuten später stolperte Lilith mit Holloway ins Freie. Als sie sich kurz darauf vom Geschehen zurückzog, wußte sie noch nicht, ob der Chief Inspector es wirklich schaffen würde. Sie wußte nicht einmal, ob es gut oder schlecht für sie selbst sein würde, falls er durchkam. Aber daran dachte sie nicht. Sie war müde, unendlich müde, und es erschreckte sie selbst, daß
der Ort, den sie sich wünschte, um auszuruhen und wieder zu sich selbst zu finden, in Sichtweite lag. Dort, wo das Haus stand. Das Haus, das nicht nur Schlechtes barg und mit dem sie so vieles verband, was kein Mensch hätte verstehen können. Es war mehr als eine Zuflucht. Mehr als Wände und Decken aus Stein. Es war … … ihr Freund. Ein schwieriger Freund, aber der wertvollste, den sie im Moment besaß. Wertvoller als Darren? Die Zukunft würde es weisen …
* Seven van Kees schnurrte wohlig wie ein zufriedenes Kätzchen. Nackt lag sie auf ihrem Futonbett, auf dem Bauch, lang hingestreckt. Ryder Maguire saß neben ihr, und seine Finger schienen überall zu sein. Eben noch fuhren sie sanft wie eine Feder über Sevens Rückgrat bis hinab zwischen die festen Pobacken, dann strichen sie von ihren Fersen hinauf, kreisten zart in ihren Kniekehlen, malten unsichtbare Linien auf ihre Schenkel und zeichneten die Rundung ihres Pos nach. Seine Lippen huschten wie Schmetterlinge über ihre samtene Haut, sein Atem machte sie frösteln. Seine Zunge ließ Seven den kleinen Tod sterben – und ihn immer wieder herbeisehnen. Sie wollte ihn in sich spüren, aber sie war unfähig, sich entsprechend zu bewegen. Weil es nicht schöner sein konnte als das, was er jetzt mit ihr tat. Einmal wollte Seven nach seinem längst prallen Glied greifen, um ihn zu verwöhnen, aber er entzog sich ihr wie spielerisch, hauchte
ihr ein dunkles »Noch nicht« ins Haar und ließ sie von neuem in Küssen ertrinken. Bis Seven die Sinne schwanden. Nie hatte sie tiefer und fester, nie besser geschlafen. Und nie feuchter geträumt.
* Am nächsten Morgen Seven van Kees lächelte, und sie sah sich lächeln. Ihr Ebenbild blickte ihr als Spiegelung vom Display des Laptops entgegen. »Guten Morgen«, begrüßte sich Seven selbst, strahlender als je zuvor. Das Mikrofon des tragbaren Computers zeichnete ihre Worte auf. Gespeichert wurden sie in ihrem elektronischen Tagebuch. Selten hatte Seven bislang so früh am Tage Eintragungen vorgenommen. Aber es hatte auch noch nie einen Tag wie diesen gegeben. Und noch nie eine Nacht wie die vergangene … »Ryder Maguire«, fuhr Seven fort, »ist der großartigste Mann, den ich je kennenlernen durfte. Ein Gentleman von Kopf bis Fuß …« Seven geriet regelrecht ins Schwärmen. Bis die Erinnerung an eine Entdeckung, die sie eben erst gemacht hatte, die Euphorie wieder etwas dämpfte: »… Leslie ist verschwunden«, sagte sie. »Heute Morgen war sie einfach weg. Die meisten ihrer Sachen sind noch hier, nur das Wichtigste hat sie mitgenommen – Zahnbürste, Ausweise und so weiter, all das eben, was eingeschnappte Lebensgefährten eben so mitnehmen, wenn sie Hals über Kopf ausziehen.« Seven zuckte die Schultern, lächelte. »Was soll’s? – Wir waren wohl ohnehin nicht füreinander geschaffen. Auf keinen Fall so wie Ryder und ich …«
Durch die geschlossene Tür hörte Seven das Klappern von Frühstücksgeschirr. Vager Kaffeeduft zog herein. »Ryder wollte mir helfen, Leslie zu suchen. – Ist er nicht phantastisch?« Schritte näherten sich über die Treppe. »Ich liebe ihn. Wie niemanden zuvor, nicht einmal mich selbst. Und ich sehne den Moment herbei, wenn ich mich ihm ganz hingeben kann. Wer weiß – vielleicht schon morgen Nacht …?« Seven zwinkerte ihrem Spiegelbild zu, dann fügte sie der Aufzeichnung per Tastendruck das heutige Datum – den 2. Oktober 2000 – hinzu und schloß die Datei. Als sie aufstand, um Ryder entgegenzugehen, fiel ihr Blick auf den Ordner, den er tags zuvor aus Darren Secadas Wohnung mitgenommen hatte. Sie hob ihn auf und ging hinaus. Ryder empfing sie auf der Treppe, mit ausgebreiteten Armen. Seven ließ sich hineinfallen und in die Küche tragen, wo er sie am liebevoll gedeckten Tisch absetzte. Sogar Blümchen hatte er irgendwo aufgetrieben, vermutlich auf dem Balkon der Nachbarn. Seven legte den Ordner beiseite und fragte: »Wolltest du den nicht deinem Freund Darren bringen?« Ryder winkte ab. »Später. Nicht so wichtig. – Wichtig sind jetzt nur du und dieser Morgen, dem ein wundervoller Tag folgen möge.« »An mir soll’s nicht scheitern«, meinte Seven und ließ ihren seidenen Morgenmantel wie zufällig ein winziges Stück über die Schultern rutschen. »An mir auch nicht«, flüsterte Ryder Maguire rauh in ihren Nacken und küßte sie zärtlich. Mit Lippen, die vor wenigen Stunden erst – und weit weniger zärtlich – einen anderen Hals berührt hatten … Epilog
Darren Secada war Stunde um Stunde durch die Stadt gefahren. Er hatte zur Paddington Street gewollt, aber irgendwie war es ihm nicht gelungen, sein Ziel anzusteuern. Immer wieder war er kurz vorher in irgendeine Seitenstraße abgebogen und in eine völlig andere Richtung gefahren – – bis es ihn irgendwann schließlich doch nach Hause gezogen hatte. Die Erinnerung an die Begegnung mit den Vampiren lähmte ihn, und die Sorge um seinen Job machte ihn fast krank, als er die Stufen zu seinem Apartment hochstieg. Und als er die Tür aufschloß und seine Wohnung betrat, war ihm, als müsse das Unheil gleich von neuem über ihn hereinbrechen. Aber nichts geschah. Nur – etwas war anders. Darren konnte es riechen! Nicht im wörtlichen, sondern mehr übertragenen Sinne. Es hatte mit seinem »besonderen Riecher« zu tun, seiner Nase für alles Ungewöhnliche. Wie von unsichtbarer Hand geführt ging Darren in sein kleines Arbeitszimmer, das eher einer Kammer glich und ihm gleichzeitig als Archiv für seine Untersuchungsergebnisse, die Paddington Street betreffend, diente. Niemandem sonst wäre es aufgefallen. Aber Darren hatte in den vergangenen Monaten den allergrößten Teil seiner Freizeit in diesem Raum verbracht. Jeder Quadratzentimeter war ihm vertraut. Und deshalb fiel ihm jede noch so geringfügige Veränderung auf. Einer der Ordner in den Regalen war verschwunden Darren war sich hundertprozentig sicher, daß nicht er ihn selbst herausgenommen hatte. Aber – wer dann? Und warum? Darren seufzte. Wollten die Fragen denn nie aufhören? Würden nicht endlich einmal Antworten an ihre Stelle treten?
Heute jedenfalls nicht, dachte er. Und das war sein letzter Gedanke an diesem Tag. Bleierne Müdigkeit forderte endlich ihren Tribut. Darren fiel in tiefen Schlaf. Und er träumte von Dingen, die ebenso unerfreulich waren wie die Wirklichkeit, in der er seit der vorherigen Nacht gefangen war … … seit seiner Begegnung mit Lilith Eden. ENDE
Golem 2000 Leserstory von Klaus Giesert Als das akustische Warnsignal losdröhnte, schreckte der Wachmann aus seinem unruhigen Schlaf hoch. (… guten Morgen, mein Freund …) Ein Stöhnen drang aus seiner Kehle, während er sich in seinem Sessel aufrichtete und die Beine streckte. Seine Glieder fühlten sich an, als hätte man ihn gerädert. Seine verklebten Augen blinzelten sofort die Monitore über der Kontrollkonsole auf und ab und suchten nach irgendwelchen Anzeichen für einen Störfall. Doch auf ihnen konnte er nichts Außergewöhnliches erkennen. Bloß die üblichen tristen Bilder, die ihm die Überwachungskameras aus den einzelnen Fertigungshallen lieferten. Sein Blick glitt nieder auf das Wirrwarr von Kontrollämpchen auf der Konsole und blieb schließlich an einem wild pulsierenden Lichtsignal hängen. Ein Alarmsignal, ganz ohne Zweifel. Brandalarm war ausgelöst worden. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen und schüttelte den müden Kopf. Wütend hämmerte er seine Faust auf den Knopf zum Abschalten des Signaltons. (… na, warte …) Er versuchte die Stelle, an der der Alarm ausgelöst worden war, zu lokalisieren. Das Lämpchen zeigte »Rauchentwicklung« an. Im Sektor am anderen Ende der Fabrik. Auch das noch … (… das wird dir noch leid tun …) Der Wachmann griff nach Stabtaschenlampe, Mütze und dem Telefonhörer. Seine Finger hämmerten auf die Wähltasten ein. (… mein Freund …) Eine verschlafene Stimme quakte aus dem Hörer. »Hier Max von
der Pforte. Was ist denn?« Der Wachmann räusperte sich. »Hi. Hier ist Burt. Du, ich hab’ hier ‘nen Brandalarm.« »Tatsache? Kann ich mir gar nich’ vorstellen.« »Ich auch nicht. Verständige trotzdem die Feuerwehr; ich schau mir die Sache inzwischen mal an.« »Okay.« In der Leitung klickte es. Der Wachmann legte den Hörer zurück auf die Gabel und stampfte durch die Tür aus dem Kontrollraum. (… auf Nimmerwiedersehen, Amigo …)
* Die Fertigungshalle war verlassen und dunkel. Die wenigen Arbeiter, die hier noch gebraucht wurden, erschienen erst in den frühen Morgenstunden zum Dienst und flitzten dann zwischen den monoton arbeitenden Industrierobotern umher, um hier und dort ein paar Handgriffe zu tätigen, ab und zu die Maschinen zu kontrollieren und dann wieder abzuziehen, um der nächsten Schicht das Feld zu überlassen. Die Schritte des Wachmannes hallten laut von den nackten Wänden wider. Der Lichtstrahl seiner Stabtaschenlampe glitt vor seinen Füßen über den Steinboden wie der Stock eines Blinden. Es war tiefste Nacht, und die Roboter waren abgeschaltet. Unbeweglich und starr standen sie an ihren Plätzen, hatten die Greif-, Schraub- und Schweißgerätarme in die Höhe gereckt und warteten auf den Befehl, der sie wieder zum Leben erwecken würde. Wie metallisch erstarrte Soldaten muteten sie dem Wachmann an, als er ihre Reihen abschritt und hier und da zwischen ihnen hindurch leuchtete. Durch die Fenster drang der gedämpfte Schein der Straßenlaternen und schuf eine merkwürdig kalte, erstarrte und leblose Welt aus
halbbeleuchteten Metallarmen, bizarren Schattenrissen und matt spiegelnden Wand- und Bodenflächen. Während vor seinem Gesicht eine Wolke nebliger Atemluft aufstieg, fluchte Burt leise vor sich hin. Bis ans andere Ende des Gebäudes würde er noch ein ganzes Stück zu laufen haben …
* Auf dem Monitor erschien der Schemen des durch die Fabrikhallen gehenden Wachmannes, als die erste Videokamera ihn erfaßt hatte. Die Videoüberwachung verfolgte den Weg des Mannes durch die Reihen der starren Roboteranlagen, hielt seine müden Schritte in Bild und Ton fest und sprang schließlich auf die Bilder um, die die nächste Überwachungseinheit lieferte, als der Wachmann das Hallenende erreicht hatte und den nächsten Raum betrat. (… sehr gut …) Von hier aus konnte ER den Weg des Wachmanns verfolgen. Die Kontrollkonsole mit all ihren Lämpchen, Schaltern, Hebeln und Knöpfen, mit all ihren Verbindungen zu den einzelnen Überwachungs- und Arbeitseinheiten unten in der Halle stand zu SEINER Verfügung. (… dann wollen wir doch mal sehen …) ER nahm Verbindung auf zu den Arbeitseinheiten im hintersten Fabriksektor, erteilte ihnen Befehle, bereitete alles vor. Nach SEINEM Willen …
* Der Wachmann hatte das Ende der letzten Halle fast erreicht. Vor ihm lag der hinterste Raum. Sein Ziel mit der vermeintlichen Brandstelle.
Von Rauch noch immer keine Spur. Kein flackernder Feuerschein, kein Prasseln. Gar nichts. Weiterhin nur Schatten. Starre Robotarme. Bleiches Laternenlicht. Seine eigenen hämmernden Schritte auf dem Steinboden. Schließlich blieb Burt vor der Hallenwand stehen und suchte mit dem Lichtarm seiner Lampe den Gebäudesektor ab. Doch er fand nichts. Bis ihn von hinten ein Surren und Schleifen erreichte. In seinem Gesicht machten sich Verwunderung und Überraschung breit …
* Auf dem Monitor konnte ER mitverfolgen, wie der Wachmann vergeblich nach der gemeldeten Brandstelle Ausschau hielt. (… jetzt bist du genau da, wo ich dich schon immer haben wollte …) ER nahm die Verbindung auf zu einer der Schweißeranlagen auf, aktivierte den Elektromotor und ließ das Gerät losfahren. Auf gummierten Rädern schlich der flache Wagen um die leblosen Roboter herum, geradewegs auf den in der Mitte der Hallenstraße stehenden Wachmann zu. (… ich habe eine Überraschung für dich …) Auf den letzten fünf Metern gab ER volle Energie auf den Antrieb, und aus den Lautsprechern der Überwachungsanlage drang das schrille Surren des Motors wie die wahrnehmbare Wut eines Wespenschwarms. Der Monitor zeigte in Großaufnahme, wie der Wachmann herumfuhr, wie der Lichtarm seiner Lampe die Transporteinheit erfaßte, die wie ein metallischer Blitz auf ihn zuraste … (… mein Freund …)
* Mit Blaulicht und Sirene fuhr der Ambulanzwagen am Fenster des Kontrollraums vorbei und entfernte sich mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Innenstadt, dem nächsten Krankenhaus zu. Max, der Pförtner, zündete sich eine Zigarette an. Nicht die erste in der vergangenen Stunde. Und sicher nicht die letzte. »Haben Sie auch eine für mich?« Der Pförtner schaute auf und nickte dem jungen Polizisten zu. Mit zitternden Händen reichte er dem Beamten eine halbleere Packung und ein halbleeres Feuerzeug. »Geht Ihnen wohl recht nahe, was?« (… ganz offensichtlich …) Max nickte stumm. »Sie kannten ihn schon lange?« Wiederum stummes Nicken. (… und ob … soll ich euch auf den Tag genau sagen, wie lange? …) Der Beamte seufzte und schickte eine weiße Wolke der Decke entgegen. »Sah gar nicht gut aus«, sagte der Pförtner wie zu sich selbst. (… findest du? …) Der Polizist blinzelte das Häufchen Elend an, das in einem der Sessel vor dem Kontrollpult zusammengesunken war. »Haben Sie ihn gesehen?« Der Pförtner nickte. Seine Stimme klang belegt. »Ich hab’ ihn gefunden.« »Ja, natürlich.« Der Beamte biß sich auf die Unterlippe. »Entschuldigung.« Max kratzte sich im Nacken. Zog an seiner Zigarette. »Er muß irgendwie gestolpert und genau in die Schweißanlage gefallen sein.« Sein Gegenüber sagte kein Wort.
(… was verstehst du unter »Stolpern«? …) Nachdenklich schüttelte Max den Kopf. »Aber wie sich der Schweißroboter von allein aktivieren konnte … das ist mir ein Rätsel …« »Wieso war er überhaupt da drinnen unterwegs?« erkundigte sich der Polizist. »Es hatte Feueralarm gegeben. Das hat er mir zumindest am Telefon gesagt.« »Feueralarm?« Der Beamte strich sich über den Mund. »Haben Sie davon etwas mitbekommen?« Kopfschütteln. (… wie sollte er auch? …) Der Polizist verschränkte die Arme vor der Brust. »Ob er sich getäuscht hat?« »Muß er ja wohl. Nirgends hat es in der Fabrik gebrannt. Und eine Fehlfunktion ist bei DEM Bruder hier ausgeschlossen.« Bei diesen Worten klopfte der Pförtner auf die Kontrollkonsole. »Dafür sind diese Wachcomputer viel zu intelligent.« (… danke für die Blumen …) Wenn man IHM Humor einprogrammiert gehabt hätte, dann hätte ER sich jetzt wahrscheinlich totgelacht … ENDE © Klaus Giesert, Greifswalder Straße 190, 10405 Berlin
Glossar MacKinsey, Beth – Früher war Beth Reporterin bei der Tageszeitung Sydney Morning Herald und die Geliebte Lilith Edens – bis sie von dieser unter dämonischem Einfluß getötet wurde. Später nahm Lilith Beth’ Seele in sich auf und verfügt seitdem über die Erinnerungen ihrer damaligen Freundin. Metamorphose – Vampire können Fledermaus- oder Wolfsgestalt annehmen; letzteres gelingt aber erst nach einer gewissen Reife, die Lilith noch nicht erreicht hat. Normalerweise wird die Kleidung der Vampire bei der Umwandlung auf magische Weise zu Pelz. Dies trifft nicht auf Liliths Symbionten zu; er muß sich auf ein Minimum reduzieren und sich an ihren Fledermauskörper schmiegen. Die Metamorphose von Werwölfen weist Unterschiede auf: Sie können sich nur in den Tagen um den vollen Mond verwandeln, und ihre Kleidung bleibt bestehen. Secada, Darren – Der Sohn von Brian Secada, des Parapsychologen, der damals in das Haus in der Paddington Street eindrang, dort seinen Verstand verlor und rapide alterte. Darren wußte lange Jahre nichts vom Schicksal seines Vaters und erfuhr erst beim Tod der Mutter davon. Seither versucht er zu ergründen, was damals wirklich geschah. Nun, da das Haus wieder aufgetaucht ist, soll er es erfahren … Vampire – Eigentlich dürfte es nach Band 50 keine Vampire mehr geben, denn Gott hat sie von der Erde getilgt. Vampire gab es seit Anbeginn der Zeit, hervorgehend aus den Kindern, die die Ur-Lilith im Garten Eden gebar. Ihre einzige Nahrung war Menschenblut. Mußte ein Vampir für längere Zeit darauf verzichten, so begann er unaufhaltsam zu altern. Tödlich für Vampire war der klassische Pflock ins Herz oder ein Genickbruch. Zwar konnten sie unter dem Licht der Sonne wandeln, dann aber ihre Kräfte nicht entfalten – so
waren sie bei direkter Sonnenbestrahlung nicht zur Metamorphose fähig – und litten unter psychischen Schmerzen. Daß es trotzdem noch Vampire zu geben scheint, ist das erste große Rätsel, das Lilith Eden lösen muß. Welche Fähigkeiten oder Schwächen diese »neuen« Vampire haben, ist noch nicht geklärt. Van Kees, Seven – Reporterin beim Sydney Morning Herald. Bisexuell veranlagt, war sie früher die Gefährtin von Beth MacKinsey, bis diese sich in Lilith Eden verliebte. Die blonde Seven ist alles andere als eine unkomplizierte Frau: wild, impulsiv, mit eigenem Kopf.
Chimären von Adrian Doyle Als der Zoo von Sydney eines Morgens seine Pforten öffnet, wartet das Grauen auf die Besucher! Über Nacht wurde unter den Tieren ein Massaker angerichtet – doch die bedauernswerten Opfer sind nicht tot! Obwohl dies eigentlich unmöglich ist. Denn jemand – ein begnadeter, aber wahnsinniger Chirurg? – hat sich als neuer Frankenstein betätigt und Mischwesen geschaffen, schreckliche Zerrbilder der Natur. Auch Lilith Eden wird auf diese Chimären aufmerksam. Sie ahnt noch nicht, daß sie auf schreckliche Weise ein Teil der Untat ist – dank ihres vampirischen Erbes …