Atlan - Der Held von Arkon Nr. 243
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Atlan - Der Held von Arkon Nr. 243
Die Drachenwelt Reise in die Vergangenheit - und zur Schatzkammer der Sterne von H. G. Ewers
Das Große Imperium der Arkoniden kämpft um seine nackte Existenz, denn es muß sich sowohl äußerer als auch innerer Feinde erwehren. Die äußeren Feinde sind die Maahks, deren Raumflotten den Streitkräften des Imperiums schwer zu schaffen machen. Die inneren Feinde Arkons sind die Herrschenden selbst, deren Habgier und Korruption praktisch keine Grenzen kennen. Gegen diese inneren Feinde ist der junge Atlan, der rechtmäßige Thronerbe und Kristallprinz von Arkon, bereits mehrmals erfolgreich vorgegangen. Selbst empfindliche Rückschläge entmutigen ihn nicht und hindern ihn und seine Helfer nicht daran, den Kampf gegen Orbanaschol III. den Diktator und Usurpator, mit aller Energie fortzusetzen. Gegenwärtig ist Atlan allerdings nicht in der Lage, an diesem Kampf mitzuwirken, da er sowie ein paar Dutzend seiner Gefährten von der ISCHTAR im Bann AkonAkons, des Psycho-Tyrannen, stehen, gegen dessen Befehle es keine Auflehnung gibt. Akon-Akon, der mit Atlans und Fartuloons Hilfe den »Stab der Macht« in Besitz nehmen konnte, treibt die von ihm beherrschte Gruppe von Männern und Frauen durch einen neuen Transmittersprung weiter ins Ungewisse und Unbekannte. Der Kristallprinz und Fartuloon werden dabei Augenzeugen einer Legende. Ihre Bewußtseine machen eine Reise in die Vergangenheit – und sie geraten auf DIE DRACHENWELT …
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Die Hautpersonen des Romans: Akon-Akon - Ein »waches Wesen« wird geboren. Atlan und Fartuloon - Die beiden Arkoniden auf einem Trip in Akon-Akons Vergangenheit. Raimanja - Akon-Akons Mutter. ANTE - Der letzte derer von SQUARAS. Vritra - Ein junger Drache.
1. Keuchend hastete Raimanja den spärlich bewachsenen Hang hinab und warf sich unten förmlich zwischen die haushohen Farnwedel. Sekunden später schwoll das vorher leise Summen zu einem lauten Brausen an, dann fegte ein elliptischer Schatten über das Blätterdach des Farnwaldes. Das Brausen wurde schwächer, verwandelte sich wieder in ein leises Summen und erstarb schließlich ganz. Raimanja rappelte sich auf, strich sich das schweißverklebte Haar aus dem Gesicht, schraubte ihre Wasserflasche auf und trank bedächtig einen langen Schluck. Danach schraubte sie die Verschlußkappe wieder zu und verließ den Farnwald. Sie wußte, daß sie damit auch ihre Sichtdeckung vor den umherstreifenden Gleitern der Akonen verließ. Doch die Gefahren, die im dichten Farndschungel lauerten, waren so vielfältig, daß Raimanja das Risiko, von den Akonen entdeckt und eingefangen zu werden, vorzog. Allerdings wollte sie es ihren Entführern auch nicht zu leichtmachen. Darum blieb sie so nahe am Farndschungel, daß sie sich mit wenigen Sätzen in Sicherheit bringen konnte, falls sich wieder ein Gleiter nahte. Rund fünf Stunden marschierte sie so über grasbewachsenen Boden, nacktes Gestein, durch flache Bachläufe und über einen schmalen Grat. Dann entdeckte sie in der Felswand, die sich zur ihrer Linken aufbäumte, einen zirka drei Meter breiten und zehn Meter hohen Spalt, durch den helle Lichtbahnen flossen. Im ersten Augenblick ihrer Entdeckung erschrak Raimanja. Sie ging auf ein Knie
nieder und brachte ihren Impulsnadler in Anschlag. Doch dann wurde ihr klar, wie dieses Phänomen zustande kam. Auf ihrer Seite der Felswand herrschte trübes Dämmerlicht, weil die weißgelbe Sonne Ytzica so tief stand, daß der direkte Blick auf sie durch die Felswand verwehrt wurde. Mit Ausnahme jenes Spaltes natürlich. Raimanja lächelte erleichtert. Sie zog die Sonnenblende ihrer Mütze tief über die Augen, dann tauchte sie in dem Spalt unter. Als sie ihn zur Hälfte durchquert hatte, drehte sie sich um. Jetzt war sie nicht mehr geblendet und konnte demzufolge die helle Beleuchtung zu ihren Gunsten ausnutzen. Die Arkonidin sah, daß die Wände des Spaltes so glatt waren, als wären sie mit einer Energiefräse in die Felswand geschnitten worden. Ein glasartiger Überzug hatte sie davor bewahrt, von den Kräften der Erosion zerfressen zu werden. Nur an einigen Stellen schimmerte der glatte Fels grün, gelbbraun und bläulich. Hier hatten sich irgendwelche mineralhaltigen Gase niedergeschlagen. Raimanja runzelte nachdenklich die Stirn. Sie zweifelte nicht daran, daß der Spalt nicht auf natürliche Weise entstanden war. Folglich mußten schon früher Intelligenzen auf Perpandron gelandet sein – und sie hatten diesen spaltförmigen Durchbruch sicher nicht zum Zeitvertreib geschaffen. Vorsichtiger noch als zuvor setzte Raimanja ihren Weg fort. Nach siebzehn weiteren Schritten erreichte sie das jenseitige Ende des Durchbruchs – und wieder blieb sie stehen. Sie legte als zusätzlichen Blendschutz die linke Hand schräg über die Augen, dann musterte sie das schüsselförmige Tal, das unmittelbar vor ihr lag. Es mochte zwei Kilo-
4 meter durchmessen, war ringsum von hohen steilen Felswänden eingezäunt und barg genau in seiner Mitte ein hohes, ungeheuer massiv wirkendes Gebäude, dessen Wände aus kreuz und quer geschichteten Basaltstempeln bestanden. Das Gebäude war auf einem – natürlichen oder künstlichen – Hügel errichtet, der terrassenförmig abfiel. Auf den Terrassen standen die Überreste anderer Gebäude: teilweise bewachsene Mauern, die ebenfalls aus Basaltstempeln errichtet worden waren. Raimanja sah auf den ersten Blick, daß diese Stadt tot war. Jedenfalls wurde sie schon lange nicht mehr von ihren Erbauern bewohnt, denn zwischen den Mauerresten wuchsen Farne, Palmen und Lianen. Krummschnäblige Vögel lärmten, pelzbewachsene kleine Primaten turnten spielerisch auf Palmen und Mauern, und unterarmlange Echsen lagen auf den Mauerkronen, um die letzten Sonnenstrahlen dieses Tages auszunutzen. Es war ein überaus friedliches Bild, das sich Raimanjas Augen bot. Die Arkonidin beschloß, die Nacht zwischen den Mauern dieser Stadt zu verbringen. Vielleicht fand sie im Hauptgebäude sogar einen Platz, wo sie sicher vor umherstreifenden Nachtraubtieren war. Dann konnte sie endlich einmal länger als nur eine halbe Stunde schlafen. Während sie die Terrassen hinaufstieg, neugierig von den Primaten und Krummschnäblern beobachtet, dachte sie an die letzten Tage zurück – und ihre Stirn umwölkte sich. Die akonischen Wissenschaftler hatten sie medizinisch untersucht und – ohne ihr Einverständnis – das in ihr keimendes Leben so manipuliert, daß ihr Kind ein waches Wesen werden würde. Jedenfalls hatten die Akonen es ihr anschließend so erklärt. Raimanja war alles andere als erbaut darüber gewesen. Sie hatte sich über Interkom mit Caycon in Verbindung setzen wollen, aber die Akonen hatten ihr erklärt, daß Caycon sich eines Beiboots bemächtigt hatte und noch vor der ersten Transition geflohen
H. G. Ewers sei. Raimanjas Hoffnung, daß Caycon Hilfe holen würde, hatten die Akonen brutal durch ihre Aussage zunichte gemacht, daß Caycons Fluchtfahrzeug infolge seiner unmittelbaren Nähe beim Transitionspunkt durch die Strukturerschütterung in seine Einzelteile zerlegt worden wäre. Caycon war also tot. Oder doch nicht? Drei Tage lang war Raimanja in ihrer Kabine geblieben, hatte nur wenig gegessen und kaum geschlafen. Erst als das akonische Raumschiff auf dem Planeten Perpandron landete, erwachte sie aus ihrer Lethargie. Sie sah, daß die Akonen in der Nähe des Landeplatzes mit dem Ausheben einer großen Grube begannen. Auf ihre Frage erklärte man ihr, daß dort der sogenannte Schlafkristall untergebracht werden sollte, in dem ihr Sohn nach der Geburt wachsen und schlafen sollte, gegen alle nur denkbaren Gefahren geschützt. Später sollte er wiedererweckt und nach Arkon eingeschleust werden. Die Akonen hatten vor, Raimanjas Sohn als ihr Werkzeug zu benutzen. Er sollte infolge der Fähigkeiten, die sie ihm gaben, ein Herrscher über das Reich der Arkoniden werden und seine Untertanen zur akonischen Kultur und Lebensweise zurückführen, so daß die Arkoniden sich – ohne es zu wissen – in Akonen verwandelten. Als Raimanja das erfuhr, hatte sie beschlossen, sich und ihren Sohn nicht zu einer nie dagewesenen Art von Invasion auf Arkon mißbrauchen zu lassen. Lieber wollte sie sich und ihn mit töten, als das zuzulassen. Sie floh in einem unbewachten Augenblick in den Dschungel und nahm genug an Waffen und Ausrüstung mit, um längere Zeit allein auszukommen. Das lag nun schon zwei Tage zurück. Am ersten Tag ihrer Flucht hatte Raimanja, meist bis zum Hals im Wasser, in einem ausgedehnten Sumpfgelände gelegen und auf die Gleiter gelauscht, die die weitere Umgebung des gelandeten Raumschiffs absuchten. Am darauffolgenden Tag, als die Suchgleiter ihr Suchgebiet weiter weg verlagerten, war sie aus dem Sumpf gestiegen
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und hatte sich, relativ unbehelligt, immer weiter vom Raumschiff entfernt. Sie war überzeugt davon, daß sie dieses Spiel noch einige Tage im gleichen Stil weiterführen konnte, ohne daß die Akonen merkten, daß sie stets vor ihr herliefen, anstatt hinter ihr her.
* Auf der mittleren Terrasse blieb Raimanja stehen und beobachtete die dunkelgrüne Schlange, die wenige Meter vor ihr über den Boden kroch. Sie ekelte sich vor Schlangen und hätte diese am liebsten getötet, aber sie wußte, daß sie ihre Energiewaffen nur in Fällen höchster Not benutzen durfte. Die Entladungen wären von den Ortungsgeräten der Akonen angemessen worden. Also wartete sie, bis die Schlange verschwunden war. Danach setzte sie ihren Weg fort. Die Sonne versank, bevor sie den Hauptbau erreicht hatte. Aber das Streulicht reichte noch aus, um ihr den Weg zu zeigen. Große Vogelschwärme strichen über den perlmuttfarbenen Abendhimmel, zogen an der Sichel eines schmutzigweißen Mondes vorbei und ließen sich irgendwo auf Baumkronen, an Steilhängen oder anderen Schlafplätzen nieder. Als Raimanja vor der düsteren Wand des Hauptbaues stand, lauschte sie eine Weile, ob sie von irgendwoher das Summen eines Gleiterantriebs hörte. Doch alles blieb still. Da schaltete sie ihren Handscheinwerfer ein und richtete den Lichtkegel auf die Mauer. Langsam schritt sie an der Mauer entlang. Dabei stellte sie fest, daß die Basaltstempel teils sechs-, teils achteckig waren. Raimanja kam allmählich zu der Vermutung, daß sie keine Originalbauten vor sich sah, sondern Nachbauten, die aus dem Material viel älterer und verfallener Bauwerke errichtet worden waren. Primärzivilisation und Sekundärzivilisation – und beide offenkundig ausgestorben. Endlich entdeckte Raimanja den Zugang ins Innere des Hauptbaues. Es war ein recht-
eckiges Tor, eine Aussparung im Mauerwerk, nicht mehr und nicht weniger. Raimanja leuchtete hinein, ließ den Kreis des Lichtkegels über Wände und Boden wandern und sah eine riesige Halle mit nackten Wänden, tropfender Decke und einem mit Staub, Unrat und Tierresten bedeckten Boden. Eine wenig einladende Stätte. Plötzlich stutzte Raimanja. Genau in der Mitte der Haile stand ein würfelförmiger Block von etwa zwei Metern Kantenlänge. Er schimmerte in einem trübglasigen Hellgrün, und es ließ sich nicht auf Anhieb sagen, ob er aus Metall, Plastik oder Stein war. Aber das alles hätte Raimanja nicht stutzig gemacht. Es war die fleckenlose Sauberkeit dieses Blocks, die sie sich nicht erklären konnte. Nicht einmal eine dünne Staubschicht bedeckte seine Oberfläche, kein von der Decke fallender Wassertropfen schien ihn je benetzt zu haben. Raimanja blinzelte verwirrt. Sie konnte sich nicht erklären, wieso der Block inmitten dieses Unrats und Staubes so sauber geblieben war, als würde er täglich von schwebenden Wesen geputzt. Von Wesen, die schwebten, ohne Luftwirbel zu erzeugen, die ja beim Wegflug Staub hochgerissen und über den Block gepudert hätten. Gab es hier intelligente Vogelwesen? Raimanja verzog spöttisch die Lippen. Aus einem Trivideokursus für Galaktobiologie wußte sie, daß Vögel prinzipiell keine Intelligenz im Sinne bewußten Denkens entwickeln konnten, weil ein fliegendes Wesen leicht sein muß, ein großes Gehirn aber schwer ist und einen entsprechend stabil gebauten Schädel benötigt, dessen Schwere wiederum starke Nackenmuskeln voraussetzt – und so weiter. Aber die Frau wurde schnell wieder ernst. Sie suchte einen Unterschlupf für die Nacht. Die Halle war ihr jedoch wegen des Unrats verleidet, außerdem ging von dem kubischen Block etwas aus, das ihr Angst einflößte. Zwar sagte sie sich, daß es nur die Angst vor
6 dem Unbegreiflichen war; dennoch scheute sie davor zurück, die Halle zu betreten. Ein Poltern ließ sie herumfahren. Raimanja sah, daß auf einer der mächtigen Mauern ein erschreckendes Lebewesen aufgetaucht war. Von der Körperform glich es annähernd einem Arkoniden, war aber dreimal so groß, nackt und offenbar geschlechtslos. Die rötlich schimmernden Haare, die aus der Haut sprossen, waren so dünn, daß sie kaum zu sehen waren. An Stelle einer Nase vermochte Raimanja nur zwei Löcher zu erkennen, darunter einen breiten Mund – und darüber in der Stirn ein einziges großes, rot glühendes Auge. Ein Zyklop! durchfuhr es Raimanja. Der Zyklop hatte bei seiner Klettertour einen achteckigen Basaltstempel von der Mauerkrone gestoßen, eine beachtliche Kraftleistung, denn der Stempel wog mindestens eine Tonne. Über den Krach, den der abstürzende Stempel verursacht hatte, war das Wesen offenkundig selber erschrocken. Es streckte den Kopf über den Rand der Mauerkrone und äugte nach unten. Raimanjas Herz schlug schneller, so daß sie den Puls in der Halsschlagader klopfen hörte. Leise schob sie sich durch das Tor in die Halle. Sie wußte nicht, ob das zyklopenhafte Wesen sie bereits entdeckt hatte, aber sie wußte, daß sie auf jeden Fall einer Entdeckung vorbeugen mußte, falls sie noch nicht erfolgt war. Der Zyklop sah ganz so aus, als könnte er ihr gefährlich werden – trotz ihrer Energiewaffen. Drinnen schaltete Raimanja ihren Handscheinwerfer aus, entsicherte den Impulsnadler und spähte um die Torkante vorsichtig nach draußen. Der riesige Zyklop hangelte an hervorstehenden Stempelenden die Mauer herab. Unten richtete er sich zu voller Größe auf und spähte mit seinem einzigen großen Auge in die Runde. Raimanja wartete nicht, bis er sie sah. Sie löste sich vom Tor und ging langsam rückwärts, bis sie an den grünen Kubus stieß. Der Zyklop war ihr bisher nicht gefolgt.
H. G. Ewers Doch wenn er in die Halle schaute, würde er sie sehen, obwohl es hier fast ganz dunkel war. Sein großes Auge schien darauf hinzudeuten, daß er nachts so gut sah wie ein Arkonide am Tage. Die Arkonidin beugte der Entdeckung vor, indem sie um den Kubus herumging und auf der anderen Seite stehenblieb. Da der Würfel sie überragte, würde der Zyklop sie auch dann nicht sehen, wenn er durch das Tor in die Halle spähte. Dich nicht, aber die Fußspuren, die du hinterlassen hast! wisperte etwas in ihr.
* Ich hatte das Gefühl, als sträubten sich mir die Haare – was natürlich bei einem Bewußtseinsinhalt nicht möglich war. Etwas hatte sich der Arkonidin gedanklich mitgeteilt – und ich hatte es ebenfalls wahrgenommen. Doch ich wußte nicht, woher dieses Wispern gekommen war, denn nirgends war ein intelligentes Lebewesen zu sehen, das dafür in Frage gekommen wäre. »Was ist los, mein Junge?« erkundigte sich Fartuloon. Er war, wie Akon-Akon und unsere Gefährten auch, als Bewußtseinsinhalt weit in die Vergangenheit geschleudert worden. Nachdem wir in der ersten Phase unserer körperlosen Zeitwanderung passive Zeugen der Geschehnisse geworden waren, die zur Entführung von Caycon und Raimanja von Arkon und später zum Tode Caycons geführt hatten, schien die geheimnisvolle Kraft des Kerlas-Stabes uns diesmal zu Zeugen für Raimanjas Schicksal bestimmt zu haben. »Was los ist?« gab ich verwundert zurück. »Machst du dir keine Gedanken über die wispernde Stimme, die zu Raimanja sprach?« »Wenn ich eine wispernde Stimme gehört hätte, würde ich mir Gedanken darüber machen«, erklärte mein Pflegevater. »Wer hat denn gesprochen? Akon-Akon?« »Das glaube ich nicht«, erwiderte ich. »Die Stimme kam aus Raimanjas Inneren.«
Die Drachenwelt »Dort befindet sich Akon-Akon auch«, meinte Fartuloon. »Dann wäre er ja zweimal vorhanden«, entgegnete ich. »Ist so etwas überhaupt möglich?« »Es muß wohl«, erklärte Fartuloon. »Aber ich glaube nicht, daß es der Embryo war. Er ist noch so klein, daß das Gehirn noch gar nicht vorgeformt sein kann, und die besonderen Fähigkeiten, die ihn als waches Wesen auszeichnen, sind bestenfalls anlagemäßig vorhanden.« »Akzeptiert«, erwiderte ich. »Aber wer oder was war es dann?« Intelligenz ist nicht von der Existenz eines Gehirns abhängig. »Das ist mir auch klar«, sagte ich, im Glauben, Fartuloon hätte die letzte Bemerkung gemacht. »In einem Gehirn manifestiert sie sich nur in konzentrierter Form, aber …« Ich stockte. »Was faselst du da?« fragte mein Pflegevater. »Der Wispernde hat zu mir gesprochen – beziehungsweise gedacht«, antwortete ich. »Zuerst dachte ich du wärst es gewesen und wollte dir antworten.« »Ich verstehe«, erwiderte Fartuloon. »Aber warum kannst du den Wispernden hören und sonst niemand?« »Irrtum!« entgegnete ich. »Raimanja hört ihn auch. Schau sie dir doch einmal an!« Tatsächlich machte die Arkonidin einen verstörten Eindruck. Sie blickte nach links und rechts. Das schien zu beweisen, daß sie alles mitbekommen hatte, was der Wispernde geäußert hatte – ganz gleich, ob es an sie oder an mich gerichtet gewesen war. Es war nur natürlich, daß sie aus den Mitteilungen des Wispernden auf einen weiteren Gesprächspartner schloß und daß sie bestrebt war, ihn zu sehen, wenn sie schon den Wispernden nicht zu sehen vermochte. Das kann ihr zum Verhängnis werden! wisperte es. Sie merkt nicht, daß der Einäugige die Halle betritt. Ich brauche deine Hilfe, der du aus einer noch ungeborenen Zeit kommst.
7 Diesmal merkte ich schnell, daß nicht mein Pflegevater, sondern der Wispernde zu mir »gesprochen« hatte. Ich sah, daß die Warnung berechtigt war. Der Zyklop stand unter dem Torbogen und schickte sich an, in die Halle einzudringen. Wenn er Raimanja überraschte, so daß sie nicht dazu kam, auf ihn zu schießen, war sie verloren. Dieses Wesen hätte mit bloßen Fäusten einen Kampfroboter zerschlagen können. »Aber wie kann ich helfen?« gab ich zurück. »Wen meinst du diesmal?« fragte Fartuloon. »Den Wisperer!« dachte ich. »Bitte, störe mich vorläufig nicht. Es geht darum, Raimanja zu retten.« Ich bin ANTE! wisperte es. Du kannst nur helfen, wenn du dich nicht dagegen wehrst, von mir aufgesogen zu werden. Die fünfund sechsdimensionalen Energien deines sogenannten Bewußtseinsinhalts werden mich wieder zum körperlichen Leben erwecken. »Und was geschieht mit mir – beziehungsweise mit meinem Bewußtseinsinhalt?« erkundigte ich mich. »Wird mein individuelles Bewußtsein aufhören zu existieren?« Wir werden miteinander verschmelzen, aber du wirst der passive Teil bleiben. Aber meine körperliche Existenz wird von kurzer Dauer sein. Wenn sie erlischt, bist du wieder frei. »Bevor du dich unüberlegt auf etwas einläßt, erkläre mir, worum es geht!« drängte Fartuloon. Ich verstand, daß mein Pflegevater sich um mich sorgte. Aber ich sorgte mich seltsamerweise nicht um meine Sicherheit. Der Wispernde, der sich ANTE nannte, hatte mir Vertrauen eingeflößt. Außerdem war keine Zeit mehr für Diskussionen. Der Zyklop hatte den Kubus, hinter dem Raimanja stand, fast erreicht. »Einverstanden!« erklärte ich. Im nächsten Moment wurde es finster – aber nicht für lange. Sekunden danach tauchte ich auf, als wäre mein Bewußtseins-
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inhalt ein Schwimmer, der von einem Tauchausflug an die Wasseroberfläche zurückkehrte. Aber bei mir war die Wasseroberfläche das Gehirn eines fremden Lebewesens. Hier war ich aufgetaucht, hatte mich mit dem Bewußtsein des Fremden vermischt und blickte durch seine Augen. Ich erkannte bald, daß ich in dem hellgrünen Würfel stand und daß dieser Würfel immer heller und heller wurde. Der Kontakt mit Fartuloon war abgerissen. Dafür konnten der heranstapfende Zyklop und Raimanja mich – beziehungsweise den Körper, in den ich geschlüpft war – sehen. Der Zyklop blieb stehen, als wäre er gegen einen Dinosaurier gerannt. Raimanja aber riß Augen und Mund auf, ließ ihren Impulsnadler fallen und schrie gellend …
2. Raimanja wich mit abwehrend ausgestreckten Händen zurück, bis ihr Rücken gegen die hintere Hallenwand stieß. Aus weitaufgerissenen Augen starrte sie voller Grauen auf das entsetzliche Wesen, das dem Würfel entstiegen war. Es hatte gewisse Ähnlichkeit mit einem Arkoniden, doch das betraf nur die Körperform. Die körperliche Beschaffenheit unterschied sich ganz gewaltig von der eines Arkoniden. So bestand die Körperoberfläche des Wesens aus einer transparenten Substanz. Dennoch konnte man dahinter keine Muskeln, Sehnen und Knochen oder Organe wie Herz, Lungen, Leber und so weiter sehen. Statt dessen pulsierte hinter der glasartigen Oberfläche rötliches Feuer. Dort, wo bei einem Arkoniden das Gehirn war, befand sich bei diesem Wesen eine nebelhafte graugelbe Masse, in der es hin und wieder grell aufblitzte. Raimanja schüttelte sich. Da erst sah sie, daß ihr der Zyklop in die Halle gefolgt war. Das riesige Ungeheuer stand auf der anderen Seite des inzwischen transparenten Würfels und starrte das Feuer-
wesen an. Plötzlich öffnete das Feuerwesen den Mund – und eine blauweiße Stichflamme fauchte zu dem Zyklopen und hüllte ihn in eine lodernde Flammensäule. Das Ungeheuer heulte auf, warf sich herum und raste mit brennendem Fell ins Freie. Raimanja hörte das Geheul des Zyklopen noch lange. Es wurde allmählich leiser, weil das Ungeheuer sich von dem Hauptbau entfernte. Dann hörte sie nichts mehr. Als das Feuerwesen einen Schritt in ihre Richtung tat, riß Raimanja ihren Blaster aus der Gürtelhalfter. Das Feuerwesen blieb stehen und breitete die Arme aus. »Du hast von mir nichts zu fürchten, Raimanja«, sagte es. »Ich habe, den Zyklopen nicht vertrieben, um dich an seiner Stelle umzubringen. Im Gegenteil, ich will dir helfen, so gut ich kann und so lange ich kann. Du bist auf der Flucht und suchst einen Unterschlupf, nicht wahr?« Raimanja machte eine bejahende Geste, hielt aber den Blaster weiter schußbereit. »Ich habe den Unterschlupf gefunden«, erklärte sie. »Irgendwo in dieser alten Ruinenstadt werde ich einen Platz finden, an dem ich vor wilden Tieren und Ungeheuern sicher bin. Ich brauche keine Hilfe. Wer und was bist du überhaupt?« »Ich bin ANTE«, antwortete das Feuerwesen. »Der letzte lebende Bewohner von SQUARAS.« »Warum sind die anderen Bewohner ausgestorben?« erkundigte sich Raimanja. Kleine Flammen leckten aus ANTES Ohren und verschwanden wieder. »Sie sind nicht ausgestorben, Raimanja, sondern nur an einen anderen Ort gegangen, weil es ihnen hier zu langweilig wurde. In den Körpern unseres Volkes brennt ein unruhiges Feuer, Raimanja. Einst führten wir gewaltige Kriege, weil es uns Spaß machte, zu kämpfen.« »Gegen wen habt ihr gekämpft?« fragte Raimanja interessiert. »Gegen uns selbst – gegen wen sonst!«
Die Drachenwelt gab ANTE zurück. »Wir teilten uns in zwei Lager auf, bestimmten die Regeln und legten die offenen Jahre fest. Danach kämpften wir. Es waren herrliche Zeiten. Leider kam in der dritten Phase des Kampfes auf der Gegenseite ein Diktator an die Macht, der die Regeln mißachtete und alle Mittel einsetzte, um seiner Seite den Sieg zu erringen. Wir waren nicht darauf gefaßt und verloren. Aber wir gaben nicht auf. Wir bildeten Raumkommandogruppen, besetzten die meisten Planeten der Gegenseite und erklärten die Bewohner zu Geiseln. Damit wollten wir den Diktator zwingen, alle erschwindelten Vorteile rückgängig zu machen und ausschließlich nach den Regeln zu kämpfen. Er konnte unseren Gruppen nichts anhaben, da sie auf jedem besetzten Planeten eine Sonnenbombe versteckt hatten, die beim Angriff der Gegenseite gezündet werden würde. Aber der Diktator setzte keine Soldaten ein. Er verhandelte. Doch wir konnten uns nicht einigen. So blieb es praktisch bei einem Unentschieden. Unsere Kommandogruppen wurden auf den Geiselwelten seßhaft, nahmen sich Geiseln als Frauen und pflanzten sich fort.« ANTE ließ Dampf aus seinen Nasenlöchern steigen. Hinter seinen gläsernen Körperwandungen tobten Energieentladungen. »So verlief das herrliche Unternehmen im Sande. Die zweite Generation der Geiselnehmer kannte die Aufgabe ihrer Väter zwar noch, hielt sich aber nicht daran. Die vorher so säuberliche Trennung meines Volkes in zwei Parteien verwischte sich mehr und mehr. Das Leben wurde unsagbar langweilig. Sie gingen und ließen mich zurück, eingefroren in einem Block aus Pyonit, für kurze Zeit belebt durch eine Wesenheit, die in einigen Jahrtausenden erst geboren werden wird. Du kannst hier nicht bleiben, Raimanja. Du mußt nach Amalek und dich unter den Schutz der Schwarzen stellen. Aber meide die Geflügelten, denn sie sind der Feind alles Lebendigen!« »Warum sollte ich nach Amalek gehen,
9 was immer das ist?« entgegnete Raimanja. »Ich will selber bestimmen, was ich zu tun und zu lassen habe. Verschwinde, ANTE!« Die pulsierende Glut in ANTE verfärbte sich rötlich. Das Wesen ließ die Arme sinken. »Ich dränge mich dir nicht auf, Raimanja. Aber ich werde über dich wachen, solange ich nicht in den Block zurückkehren muß.« ANTE verschwand von einem Augenblick zum andern. Raimanja blickte fassungslos auf die Stelle, an der das Feuerwesen eben noch gestanden hatte. Staub und Unrat waren von dort verschwunden. Der saubere Fleck aber sah so aus, als würde Raimanja ihn durch eine Wassersäule betrachten. Er wirkte optisch verzerrt. Die Arkonidin fragte sich, wie ANTE verschwunden war. Sie wußte, daß es Deflektorgeräte gab, mit denen man sich praktisch unsichtbar machen konnte. Doch sie hatte bei ANTE weder ein Deflexgerät noch überhaupt ein Gerät bemerkt. Wie immer dieses seltsame, unheimliche Wesen auch verschwunden sein mochte, es mußte dieses Verschwinden ohne technische Hilfsmittel bewerkstelligt haben. Aber wie, das blieb Raimanja ein Rätsel. Nach einiger Zeit kehrten Raimanjas Gedanken wieder zu den nächstliegenden Problemen zurück. Sie mußte sich einen sicheren Unterschlupf suchen, in dem sie die Nacht verbringen konnte. Da die Nacht schon angebrochen war, wollte sie sich aber nicht aus der Ruinenstadt entfernen. In der Halle war es ihr jedoch zu schmutzig – und zu unheimlich. Erst jetzt wurde sie gewahr, daß die Helligkeit, die hier herrschte, von dem durchsichtigen Kubus ausstrahlte. Das machte ihr diesen Ort noch unheimlicher. Dennoch kehrte sie zu dem Würfel zurück, einmal, weil ihre Hauptwaffe dort lag und zweitens, weil sie ihre Wißbegier nicht bezähmen konnte. Sie schlug einen Bogen um die Stelle, an der ANTE verschwunden war, hob ihren Im-
10 pulsnadler auf und schob den Blaster in die Gürtelhalfter zurück. Danach spähte sie in den Kubus. Genau im Mittelpunkt gab es eine etwa faustgroße kugelförmige Stelle, die die gleiche optische Verzerrung aufwies wie der Fleck auf dem Boden, an dem ANTE zuletzt gestanden hatte. Raimanja tippte die Wandung des Würfels mit der Mündung ihres Impulsnadlers an. Sie hatte insgeheim erwartet, daß der Lauf ungehindert eindringen würde. Doch er stieß auf durchaus massiven Widerstand. Die Arkonidin trat ein paar Schritte zurück, legte den Nadler an und zielte durch das Elektronenkreuzvisier auf den Verzerrungspunkt. Ihr Finger näherte sich dem Schußauslöser, zog sich dann aber wieder zurück. »Es ist zu gefährlich«, sagte Raimanja zu sich selbst und setzte den Impulsnadler wieder ab. »Wer weiß, was ein Schuß auslösen würde.« Langsam durchquerte sie die Halle, trat durch das Tor und blickte sich aufmerksam um. Der Himmel war beinahe wolkenlos, so daß das Licht des Mondes und der Sterne ausreichte, um sich zu orientieren. Raimanjas Augen paßten sich nach kurzer Zeit so gut an, daß sie im Umkreis von zwanzig Metern Einzelheiten erkennen konnte. Was dahinter lag, ließ sich wenigstens umrißhaft sehen. Bewußt verzichtete Raimanja auf den Gebrauch ihres Handscheinwerfers. Sein heller Lichtkegel wäre der Besatzung eines Gleiters, der zufällig dieses Gebiet überfliegen konnte, sicher nicht entgangen, und wenn die Akonen erst wußten, wo sie sich aufhielt, würden sie sie innerhalb kurzer Zeit wieder einfangen. Nach ungefähr einer halben Stunde entdeckte die Arkonidin in halber Höhe einer rund fünfzehn Meter hohen Mauer aus Basaltstempeln eine Art Nische, die dadurch entstanden war, daß einige Basaltstempel sich verschoben hatten. Sie kletterte hinauf. Oben leuchtete sie ganz kurz in die Nische, sah, daß sich kein Tier hier eingenistet hatte und kroch erleich-
H. G. Ewers tert hinein. Hier wollte sie übernachten. Nachdem sie ihren Durst aus der Wasserflasche gestillt und ein paar Konzentratriegel gegessen hatte, streckte sie sich aus, sicherte den Impulsnadler und schloß die Augen. Sie war so erschöpft, daß der Schlaf schon im nächsten Moment über sie kam.
* Als sie erwachte, wußte sie zuerst gar nicht, wo sie sich befand. Sie hörte klatschende und pfeifende Geräusche und nahm an, daß diese Geräusche sie geweckt hatten. Als sie sich aufrichten wollte, stieß sie mit der rechten Hand versehentlich an ihren Impulsnadler. In einem Reflex griff sie nach der fortrutschenden Waffe und konnte sie gerade noch festhalten, bevor sie in die Tiefe stürzte. Erst dadurch wurde sie sich wieder bewußt, daß sie sich in der Nische einer uralten Mauer aus Basaltstempeln aufhielt, daß sie hier geschlafen hatte, und daß die Mauer zu den Überresten einer ehemals großen Stadt gehörte. Raimanja verharrte auf den Knien und lauschte auf das Klatschen und Pfeifen. Plötzlich tauchte ein Schemen in ihrem Blickfeld auf. Sie sah ihn überhaupt nicht, weil er vor der tiefstehenden Sichel des Mondes vorbeistrich und sich deshalb für einen Augenblick scharf und deutlich abhob. Ein Drache! durchfuhr es sie. Das Wesen war rasch wieder von der Dunkelheit verschlungen. Aber wenig später tauchte ein zweites auf – und diesmal konnte Raimanja deutlich den echsenhaften Rumpf und die riesigen lederartigen Flughäute sehen, die den Rumpf mit kraftvollen Bewegungen durch die Luft trugen. Dabei entstanden die klatschenden Geräusche, die sie geweckt hatten. Wieder ertönte ein Pfiff, wurde durch einen anderen Pfiff beantwortet. Raimanja zog unwillkürlich den Kopf ein, als ein Drache etwa zwanzig Meter an ihrem Versteck vorbeiflog und sich dann auf der Krone der
Die Drachenwelt gegenüberliegenden Mauer niederließ. Die Flughäute falteten sich zusammen; der auf einem mannslangen kräftigen Hals sitzende Schädel vollführte ruckartige Drehbewegungen. Dann gellte ein durchdringender Pfiff auf. Kurz darauf vernahm die Arkonidin wieder das Klatschen von Flughäuten, diesmal aus noch größerer Nähe. Ein Luftschwall kam von oben herab, dann ging eine schwache Erschütterung durch die Mauer. Sand rieselte an Raimanjas Gesicht vorbei. Ein Drache mußte auf der Krone »ihrer« Mauer gelandet sein. Er stieß den anscheinend obligatorischen Pfiff aus, der aus solcher Nähe beinahe ohrenbetäubend war. Raimanja fühlte sich gar nicht wohl in ihrer Haut. Die Drachen schienen die uralte Stadt zu ihrem nächtlichen Sammelplatz erkoren zu haben. Es ließ sich nicht voraussehen, wie sie reagieren würden, falls sie sie entdeckten. Waren sie Fleischfresser, würden sie sie als willkommene Beute betrachten. Doch selbst dann, wenn die Drachen Vegetarier waren, mußten sie sie nicht als Störenfried ansehen und würden sie nicht deshalb über sie herfallen? Die Arkonidin beschloß, sich ruhig zu verhalten und darauf zu hoffen, daß die Tiere sie nicht entdeckten. Immer mehr Pfiffe ertönten. Die klatschenden Fluggeräusche schwollen an, dann verebbten sie allmählich. Raimanja gewann den Eindruck, als hätte sich auf jeder Mauer ein Drache niedergelassen. Die folgenden Pfiffe waren leiser und differenzierter. Sie klangen beinahe so, als unterhielten sich die Drachen auf diese Weise. Raimanja wurde neugierig. Sie kroch auf Händen und Knien bis zum äußersten Rand ihrer Nische und streckte den Kopf aus der Deckung. Im nächsten Augenblick ertönte ein gellender Pfiff, der lauter war als alle anderen Pfiffe, die sie bisher gehört hatte. Dann verstummten schlagartig alle Geräusche. Die Arkonidin wußte, daß sie entdeckt worden war. Sie wußte auch, daß sie sich so
11 tief wie möglich in die Nische zurückziehen sollte. Doch sie konnte es einfach nicht, weil sie zu stolz dazu war. So kniete sie sich hin, entsicherte den Impulsnadler und wartete auf den Angriff der Drachen. Als die Zeit verstrich und nichts geschah, regte sich die Hoffnung in Raimanja, daß sie dieses Abenteuer wider Erwarten doch überleben könnte. Anscheinend waren die Drachen alles andere als angriffslustig. Sie schienen aber auch nicht erbaut darüber zu sein, daß sie nicht unter sich waren. Lange Zeit blieb es still, dann setzte ein Hinüber und Herüber an Pfeifsignalen ein. Anschließend schwangen sich die ersten Drachen in die Luft. Sie ließen sich einfach von »ihrer« Mauerkrone nach unten fallen, flatterten dabei heftig mit den Flughäuten und erreichten auf halber Mauerhöhe ausreichend Geschwindigkeit, um Höhe zu gewinnen. Doch die Drachen hatten, offenbar infolge ihrer Ratlosigkeit, wie sie auf die Störung reagieren sollten, zu lange gewartet. Noch war nicht mehr als ein Viertel ihrer Zahl gestartet, als die Sonne aufging und die Stadt mit Helligkeit überschüttete. Und mit der Helligkeit kam der Gleiter! Er tauchte so plötzlich über einer gestarteten Gruppe auf, daß die Drachen völlig überrascht wurden. Sie setzten sofort zu einem Ausweichmanöver an, aber es sah so aus, als würde sich eine Kollision nicht vermeiden lassen – es sei denn, der Gleiterpilot reagierte folgerichtig. Aber die Reaktion der Gleiterbesatzung fiel ganz anders aus, als Raimanja sich hätte vorstellen können. Drei Akonen tauchten über dem Rand des offenen Fahrzeugs auf. Sie hielten Strahlenkarabiner in den Händen und eröffneten ein mörderisches Dauerfeuer auf die Drachen. Die Energiestrahlen schnitten durch Flughäute, fauchten über grüngoldene Schuppenhaut, schmolzen gepanzerte Rückenkämme und entluden sich krachend in Echsenschädeln, deren Mäuler weit aufgerissen waren. Überall stürzten sich nunmehr die Dra-
12 chen von ihren Mauersitzen, kämpften sich mit klatschenden Flughäuten kreischend und pfeifend in die Lüfte und versuchten, den Ort zu verlassen, der ihnen zum Verderben zu werden drohte. Keiner von ihnen versuchte auch nur, den Gleiter anzugreifen. Die Besatzung des Gleiters aber schien von einem Blutrausch gepackt worden zu sein. Sie feuerte wild mit den Strahlenkarabinern auf die startenden Drachen, die entweder sofort starben oder verletzt abstürzten und sich zuckend am Boden wanden. Raimanja hatte dem Gemetzel fassungslos zugesehen. Das Entsetzen über die schreckliche Tat hatte sie gelähmt. Ohne darüber nachzudenken, welche Folgen ihre Handlungsweise für sie haben konnte, legte sie ihren Impulsnadler an, bewegte ihn, bis der Gleiter genau im Elektronenkreuz des Visiers blieb, dann schaltete sie auf Dauerfeuer und drückte auf den Auslöser. Die auf nadeldünne Ballungen komprimierte Energie jagte in kurzen Intervallen aus der Mündung. Der Impulsschauer wanderte durch den Gleiter, fraß sich durch, wanderte wieder zurück und zerhämmerte und zerfetzte das Fahrzeug innerhalb weniger Sekunden zu einem glühenden Trümmerhaufen, der jaulend und kreischend abstürzte und seine Bestandteile über eine Mauer verstreute. Schweratmend legte Raimanja die Waffe beiseite. Allmählich lichtete sich der Nebel wieder, der in ihrem Gehirn gewesen war, während sie ununterbrochen auf den akonischen Gleiter geschossen und sogar noch auf die herabregnenden Trümmer gehalten hatte. Als ihr bewußt wurde, daß sie nicht nur einen Gleiter abgeschossen hatte, sondern daß die Besatzung dabei umgekommen war, zitterte sie am ganzen Körper. Es war nicht die Furcht vor Bestrafung, die ihr sicher war, wenn die Akonen sie wieder einfingen. Es war die Erkenntnis, daß es grundsätzlich ein wahnwitziges Verbrechen ist, wenn intelligente Lebewesen andere intelligente Lebewesen töten. Sicher, der große Befreiungskrieg war erst
H. G. Ewers seit zwölf Arkonjahren vorbei, und in ihm hatte die Forderung gegolten, so viele Feinde wie möglich zu töten, soviel feindliches Machtpotential wie nur möglich zu zerstören und so viele Planeten, auf denen der Feind eventuell Fuß fassen konnte, wie nur möglich zu verwüsten. Doch diese Forderung war der Furcht um die eigene Existenz entsprungen und deshalb noch verständlich. Raimanja dagegen hatte weder getötet, um ihr eigenes Leben zu retten noch das anderer Intelligenzen, sondern aus bloßem Abscheu. Ihr war übel, als sie mit weichen Knien ihre Mauer hinabstieg. Sie bemühte sich, nicht auf die verstreuten Überreste des Gleiters zu sehen. Über ihr flatterten die letzten Drachen davon, schwangen sich über die Talhänge und tauchten danach sofort wieder hinab. Raimanja wußte, daß sie so schnell wie möglich verschwinden mußte. Die Energieentladungen waren sicher vom Raumschiff geortet worden. Außerdem mußte der Ausfall der Funkverbindung mit der Gleiterbesatzung inzwischen aufgefallen sein. In Kürze war mit dem Auftauchen anderer Gleiter zu rechnen. Die Arkonidin hatte vorgehabt, das Tal durch den gleichen Spalt zu verlassen, durch den sie es betreten hatte. Doch in der Aufregung mußte sie die falsche Richtung gewählt haben. Jedenfalls stand sie plötzlich vor einer geschlossenen unübersteigbaren Wand. Und im nächsten Moment hörte sie das anschwellende Summen von Gleitern, die sich dem Tal näherten! Verzweifelt blickte sie nach links und rechts. Der untere Teil des Hanges war von Buschwerk überwuchert. Notfalls mußte sie sich dort verstecken. Aber sie wußte, daß sie sich nicht lange verbergen konnte, wenn die Verfolger erst einmal ungefähr wußten, wo sie sich befand. Dann konnten sie nämlich mit Detektoren nach der schwachen Streustrahlung suchen, die der Mikroreaktor ihres Intervallnadlers emittierte. Da entdeckte sie einen Drachen, der sich im Gebüsch bewegte. Es war ein ziemlich
Die Drachenwelt kleines Exemplar, wahrscheinlich ein junges Tier – und es schleifte eine Flughaut nach, war also verwundet. Impulsiv ging Raimanja auf den Drachen zu, wollte ihm helfen. Aber der Drache fauchte und zischte warnend, dann arbeitete er sich mit verzweifelter Anstrengung tiefer ins Gebüsch – und plötzlich war er verschwunden, als hätte der Boden ihn verschluckt. Die Arkonidin runzelte die Stirn. Als sie begriff, was geschehen war, eilte sie auf das bewußte Gebüsch zu und teilte die Zweige mit den Händen, arbeitete sich hinein. Das Summen der Gleiter schwoll weiter an – und blieb dann ungefähr konstant. Das bedeutete, daß die Gleiter das Tal erreicht hatten und in großer Höhe ihre Kreise zogen und beobachteten. Raimanja blieb an einer Schlingpflanze hängen und weinte fast, weil sie sich nicht gleich losreißen konnte. Wütend trat und schlug sie um sich, stürzte und schimpfte, weil ihr der Impulsnadler aus der Hand fiel. Sie raffte ihn wieder auf, kroch auf allen vieren weiter und entdeckte plötzlich, worauf sie aus dem Verschwinden des Drachenjungen geschlossen hatte: den Eingang einer Höhle! Raimanja verließ sich darauf, daß das Drachenjunge sich viel zu sehr fürchtete, um sie anzugreifen. Sie kroch weiter und in die Höhle hinein. Der Gang, in den sie geriet, war höchstens anderthalb Meter hoch und etwa zwei Meter breit. Früher schien er höher gewesen zu sein, denn Erde und Steinbrocken unter ihren Händen und Knien bewiesen der Frau, daß der Gang im Verlauf vieler Jahrhunderte – ja, vielleicht sogar Jahrtausende – von hereingespültem Geröll und angeschwemmter Erde aufgefüllt worden war. Nach einer Weile schaltete Raimanja ihren Handscheinwerfer ein, richtete sich auf und blickte sich um. Der Gang führte in sanfter Neigung abwärts, wie sie sofort vermutet hatte. Wie weit er ging, konnte Raimanja nicht ahnen.
13 Aber der junge Drache war nicht mehr zu sehen, also mußte die Höhle noch ein ganzes Stück tiefer in den Berg gehen. Raimanja seufzte, sicherte den Intervallnadler, hängte sich die Waffe am Riemen über den Rücken und marschierte zügig los. Sie hoffte, daß die Höhle einen zweiten Ausbeziehungsweise Eingang besaß und daß sie ihn durch diesen Gang erreichen würde.
* Ich war ein Teil des Wesens geworden, das sich ANTE nannte. Deshalb wußte ich mehr über ANTE, als ein Außenstehender je hätte erfahren können. Eigentlich war ANTE kein typischer Vertreter seines Volkes. Er war zwar auf die Art und Weise entstanden, die bei seinem Volk als die natürliche Art und Weise galt, aber infolge bestimmter Manipulationen hatte er eine starke Ausprägung aller Fähigkeiten mitbekommen, die bei seinem Volke als Überlebensfähigkeiten gelten oder galten. Als sein Volk fortging, wurde er in dem bewußten Kubus energetisch konserviert und zurückgelassen, damit eventuelle Versprengte seines Volkes bei der Heimkehr jemanden fänden, der ihnen wirksam zu helfen vermochte. Aber der Zustand der energetischen Konservierung hatte wohl zu lange gedauert, länger jedenfalls, als ganz bestimmte Stoffe, die zur Steuerung des Konservierungszustands dienten, stabil blieben. ANTE hatte die Fähigkeit verloren, den Konservierungswürfel zu verlassen. Als er Kontakt mit meinem Bewußtseinsinhalt bekam, erkannte er, daß er diese Schwierigkeit überwinden konnte, wenn er seine Geisteskraft mit Hilfe meiner sogenannten Trägerwelle auflud. Das war geschehen. Zuerst erschrocken, dann verwundert hatte ich begriffen, daß ANTE sich von einem Arkoniden mindestens so stark unterschied wie ein Raumschiff von einer Regenwolke. Sein Metabolismus ließ sich mit keinem anderen Metabolismus vergleichen, der mir je begegnet
14 war. Er schien die Macht zu besitzen, kosmische Energien auf sich zu lenken, in sich zu konzentrieren und sie für seine Zwecke auszunutzen. Und doch war er kein Ungeheuer, sondern ein denkendes, fühlendes und mitfühlendes Wesen. Er hatte Raimanja vor dem Zyklopen gerettet und ihr weitergehende Hilfe angeboten. Es war nicht seine Schuld, daß Raimanja ihn zurückgewiesen hatte. Schuld daran war der ausgeprägte Eigensinn dieser Frau, der sicher durch ihre Schwangerschaft noch verstärkt wurde. Aber was meinte ANTE mit Amalek? Was meinte er mit den Schwarzen und den Geflügelten? Sprach er von der Stadt auf Perpandron, in die ich mich mit meinen Gefährten vor einiger Zeit auf der Flucht vor den Goltein-Heilern verirrt hatte? Meine Gedanken führten mich irre, denn ich dachte an etwas, das weit in der Relativzukunft lag. Dennoch formulierte ich meine Gedanken gemäß der subjektiven Erfahrung, daß diese Zukunft für mich schon geschehen war – vor vielen Tausenden von Jahren. Aber jetzt, in der Zeit kurz nach dem großen Befreiungskrieg meines Volkes, lag diese Episode objektiv viele tausend Jahre in der Zukunft. Wenn ich die Stadt, die ich viele tausend Jahre später finden würde, hier und heute sehen konnte, mußte sie viel besser erhalten sein als bei meinem ersten Besuch. Vielleicht fand ich dann heraus, wer sie gebaut hatte. Doch alle meine diesbezüglichen Gedanken brachen jäh ab, als mit ANTE – und damit auch mit mir – etwas Unbegreifliches geschah. Eben noch hatten wir in der riesigen Halle Raimanja gegenübergestanden – und im nächsten Augenblick befanden wir uns in einer Art wallendem bleichen Nebel. Doch da ich so eng mit ANTE verbunden war, war das für mich nicht lange unbegreiflich. Plötzlich wußte ich, daß das, was ich als wallenden bleichen Nebel sah, die gleiche Halle war – beziehungsweise die Halle, wie sie sich dem Auge auf einem anderen Energieniveau darbot.
H. G. Ewers Das mag simpel klingen, aber wer diese Erklärung als phantastisches Wortgeklingel abtut, möge bedenken, daß sich unseren Sinnen immer nur ein arg begrenzter Ausschnitt des Seins erschließt. Einen weiteren Ausschnitt machen wir uns mit Hilfe von technischen Instrumenten zugänglich. Dennoch bleibt der größte Teil aller Phänomene des Universums uns verschlossen. Vielfach erhalten wir niemals eine Ahnung davon – und wenn, dann fehlen uns die Möglichkeiten, solchen Ahnungen auf den Grund zu gehen. Ich weiß nicht, ob wir in ferner Zukunft mit technischen Mitteln die verschiedenen Energieniveaus wechseln können, aber ich weiß, daß es sie gibt. Sie ergeben sich ganz einfach aus der Tatsache, daß die Ladung der Atome – vereinfachend ausgedrückt – unterschiedlich ist, aber doch meist ein bestimmtes Niveau hält, wodurch es zum dauerhaften Bestand eines Energiegehalts mit der größten Wahrscheinlichkeit des natürlichen Auftretens kommt, unserer uns vertrauten Existenzebene. Oberhalb und unterhalb dieses »normalen« Energieniveaus treten jedoch mehr oder weniger massive Abweichungen auf, in denen sich eine unbekannte und sicher schwankende Anzahl von andere Existenzebenen herauskristallisiert. Diese verschiedenen Existenzebenen haben nichts mit Zeitebenen oder Paralleluniversen gemein. Wer sie erreichen will, braucht dabei weder durch die Zeit noch durch den Raum zu reisen; er muß lediglich seinen Energiegehalt verändern – beziehungsweise die von irgendwoher projizierten Ladungen, aus denen sich alle »materiellen« Gebilde, also auch wir, zusammensetzen. ANTE war dazu offenkundig in der Lage, ohne Maschinen benutzen zu müssen. Ich fragte mich noch, wie er von einer anderen Existenzebene aus verfolgen wollte, was mit Raimanja geschah, als ich spürte, daß ich dabei den entscheidenden Faktor spielte. Der Bann, der mich zwang, meine Aufmerksamkeit auf Raimanja zu richten, war so stark, daß er eine Art Fenster zwischen der normalen Existenzebene und der, in die
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ANTE sich zurückgezogen hatte, aufbaute, einen Strom von Atomen, die ihre Ladungen sprunghaft veränderten und dadurch auswertbare Informationen aus Raimanjas Ebene in unsere Ebene brachten. Und ich sah, daß die Ereignisse auf Perpandron sich zuspitzten …
3. Raimanja blieb stehen und schaltete ihren Handscheinwerfer aus. Mit angespannten Sinnen schaute und lauschte sie zurück. Ihr war gewesen, als hätte sie weit hinter sich das Knirschen von Stiefelsohlen auf körniger Erde und Geröll gehört. Es war möglich, daß die Akonen den Höhleneingang ebenfalls entdeckt hatten und ihr gefolgt waren. Aber sosehr sie ihre Sinne auch öffnete, sie hörte keine Schritte von Verfolgern und sah auch kein Licht hinter sich. Sie schaltete ihren Handscheinwerfer wieder ein und ging weiter. Nach einiger Zeit gelangte sie an kahlen Felsboden. Weiter war das hereingespülte Geröll und die Erde nicht gekommen. Raimanja sah, daß der Felsboden so glatt war, als wäre er künstlich planiert worden. Als sie die Querrillen entdeckte, die man kaum sehen, aber gut fühlen konnte, wenn man mit den Fingern darüberfuhr, wurde ihre Vermutung, der Höhlengang sei vor langer Zeit von intelligenten Wesen angelegt worden, zur Gewißheit. Ihre Zuversicht erhöhte sich dadurch, denn wenn der Höhlengang von intelligenten Wesen angelegt worden war, dann mußte er zu einem Ziel führen – und dort, so hoffte die Arkonidin, würde sie sicher einen Weg an die Oberwelt finden. Doch als die Stunden verstrichen und der Gang unverändert mit schwachem Gefälle weiterführte, kamen Raimanja wieder Zweifel, ob sie auf diesem Wege jemals wieder die Oberwelt erreichen würde. Sie wußte schließlich nicht, zu welchem Zweck man diesen Gang angelegt hatte. Vielleicht stellte er eine Verbindung zwischen zwei Konti-
nenten dar und war früher mit schnellen Fahrzeugen befahren worden. Eine Entfernung von mehreren tausend Kilometern zu Fuß zu gehen, mit nur einer halben Flasche Wasser und Konzentraten für rund zehn Tage, war aber unmöglich. Als Raimanja durch einen Blick auf ihren Armband-Chronographen feststellte, daß sie sich seit rund sieben Stunden durch den Gang bewegte, beschloß sie, eine Rast einzulegen und danach umzukehren. Ein knapp kniehoher Steinwürfel, der an der rechten Gangwand lag, lud sie förmlich ein, sich hinzusetzen. Ächzend ließ Raimanja sich nieder – und prallte im nächsten Moment sehr unsanft mit dem Gesäß auf den harten Felsboden. Der Schmerz und der Zorn trieben ihr Tränen in die Augen. Sie rappelte sich auf und entsicherte den Intervallnadler, weil sie sich für den Schmerz impulsiv an irgend etwas rächen wollte. Als ihr die Unvernunft ihrer Handlungsweise klar wurde, sicherte sie die Waffe beschämt wieder. Sie musterte die Stelle, an der der Steinwürfel gelegen hatte. Er war verschwunden, aber nicht spurlos. Dort, wo er gelegen hatte, zeichnete sich auf dem Boden ein Quadrat ab: Fugen. Der Würfel war demnach im Boden versunken, aber seine Oberfläche lag auf gleichem Niveau wie der Gangboden. Raimanja runzelte die Stirn. Sie war davon überzeugt, daß der Steinwürfel nicht grundlos versenkbar gemacht worden war. Irgend etwas mußte damit bezweckt worden sein. Noch während die Arkonidin überlegte, ertönte ein dumpfes Rollen. Es schien von rechts zu kommen, und als Raimanja den Kopf in diese Richtung wandte, sah sie, wie ein Teil der Felswand sich in die übrige Wand zurückzog und dann nach links verschob. Nach etwa zwei Minuten hatte sich eine zirka drei mal vier Meter große Öffnung gebildet. Raimanja leuchtete hindurch und erblickte auf der anderen Seite eine ebene rote Felsplatte und dahinter einen runden See, dessen Wasser so klar war, daß man bis
16 auf den Grund sehen konnte. Unwillkürlich kaute Raimanja auf ihrer Unterlippe, während sie mit einem Entschluß rang. Einerseits lockte das klare Wasser, und die Existenz der Geheimtür verriet, daß die Bewohner dieser Anlage nicht wollten, daß Unbefugte die Verbindung zwischen Gang und See entdeckten – andererseits wollte Raimanja die Möglichkeit nicht ausschließen, daß es sich um eine Falle handelte, in die die Erbauer eventuelle Verfolger zu locken und damit für immer auszuschalten pflegten. Die Entscheidung wurde Raimanja abgenommen, als irgendwo weit hinter ihr Geräusche ertönten, wie sie entstanden, wenn jemand stolpert und stürzt. Gleich darauf erscholl eine halblaute Verwünschung, gefolgt von einem scharf geflüsterten Befehl. Also waren die Akonen doch hinter ihr her – und sie bemühten sich offensichtlich, so leise zu sein, daß Raimanja sich sicher fühlte. Die Arkonidin lächelte spöttisch. Jetzt aber hatten die Akonen sich doch verraten. Abermals ertönte ein dumpfes Rollen. Raimanja sah, daß die Türplatte sich wieder über die Öffnung zu schieben begann. Sie preßte die Lippen zusammen und sprang hinüber. Mit ausdruckslosem Gesicht beobachtete sie, wie die Platte die Öffnung wieder völlig verschloß. Sie bewegte sich dabei auf Steinkugeln, die in einem T-förmigen Wasserbett lagen. Als die Öffnung endgültig geschlossen war, ertönte ein gedämpftes scharfes Knacken. Raimanja nahm an, daß es das Geräusch war, mit dem der Steinwürfel auf der anderen Seite wieder aus dem Boden sprang. »Hoffentlich kommt keiner der Akonen auf den Gedanken, den Steinwürfel als Sitzgelegenheit zu benutzen«, sagte die Arkonidin zu sich selbst. Sie hörte ein Klatschen und Schleifen und fuhr herum. Der Lichtkegel ihres Handscheinwerfers fingerte über die Oberfläche des Höhlensees und verharrte auf einer schwachen Wellenbewegung, die sich in
H. G. Ewers Richtung Seemitte ausbreitete. Die Arkonidin hob den Scheinwerfer an, aber sein Licht reichte nicht bis zum gegenüberliegenden Ufer, von dem aus die Wellenbewegung ihren Anfang genommen haben mußte. Raimanja zögerte nur kurz. Sie ahnte, wodurch die Wellenbewegung ausgelöst worden war, und wenn ihre Ahnung nicht trog, brauchte sie sich nicht zu fürchten. Sie wandte sich nach links und ging mit weitausgreifenden Schritten am roten Felsenufer entlang. Der Lichtkegel wanderte vor ihr her, schwenkte einmal nach links, dann nach rechts. Raimanjas Schritte wurden von den Wänden des Felsendoms als Echos reflektiert. Doch Schritte und Echos blieben zu Raimanjas Verwunderung die einzigen Geräusche. Das Klatschen und Schleifen wiederholte sich nicht. Als der Lichtkegel auf eine reglose Gestalt und auf grüngoldene Schuppenhaut fiel, blieb Raimanja abrupt stehen. Der junge Drache lag halb im klaren Wasser. Er mußte seine Wunden gekühlt haben und war dabei bewußtlos geworden. Doch glücklicherweise war sein Kopf mit den Atemöffnungen auf festen Boden gesunken, sonst wäre er ertrunken. Die Arkonidin riß sich aus ihrer Erstarrung, eilte zu dem Tier und hob das Lid eines Auges an. Das Auge verriet tiefe Bewußtlosigkeit, aber auch, daß das Tier lebte. Raimanja versuchte, den Drachen ganz aufs Trockene zu ziehen. Es war mühsam, denn das Tier wog ungefähr anderthalb mal soviel wie sie. Aber schließlich schaffte sie es doch. Anschließend untersuchte sie die verletzte Flughaut. Sie stellte fest, daß die verbrannten Partien ohne medikamentöse Unterstützung der körperlichen Regeneration nur unter starker Narbenbildung verheilen würden, so daß der Drache wahrscheinlich niemals mehr fliegen konnte. Raimanja hätte ihre Flucht niemals gewagt, wenn es ihr nicht gelungen wäre, eine komplette medizinische Einsatzausrüstung
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mitzunehmen. Dazu gehörte die bei Raumfahrern obligatorische Medobox, deren Mikropositronik in der Lage war, jede Diagnose zu stellen und die entsprechende Therapie auszuwählen. Ein konzentrierter Vorrat an hochwirksamen Stoffen, die durch zahlreiche Kombinationsmöglichkeiten in ihrer Wirkung außerordentlich vielseitig waren, befand sich ebenfalls in dem flachen kastenförmigen Gerät. Raimanja setzte die Box mit der Unterseite auf den schlanken Hals des Drachenjungen. Es dauerte etwas länger als bei einem Akonen oder Arkoniden, bis die Positronik die genaue Diagnose gestellt hatte. Das kam von dem andersartigen Metabolismus des Drachen. Aber schließlich fuhr die Medobox drei dünne Tentakelarme aus, die in den Düsenköpfen von Hochdruckinjektionspistolen ausliefen. Es zischte, dann zogen sich die Tentakelarme zurück. Die Arkonidin tat ein übriges und sprühte aus einer flachen Dose Heilplasma auf die schweren Brandwunden. Sie war gerade fertig damit, als der muskulöse Schwanz des Tieres hochzuckte und ihr einen heftigen Schlag ins Gesicht versetzte. Raimanja spürte, wie sie durch die Wucht des Schlages angehoben und fortgeschleudert wurde. Sie schmeckte Blut im Mund, sah Sterne vor ihren Augen tanzen und hörte ein lautes Klatschen. Dann erlosch ihr Bewußtsein.
* Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf der rechten Seite. Sie öffnete die Augen – und schloß sie geblendet wieder. Also haben mich die Akonen doch gefangen! dachte sie resigniert. Sie wollte etwas sagen, aber ihre Gesichtsmuskeln gehorchten ihr nicht. Die Mundpartie fühlte sich stark geschwollen an; die Lippen waren aufgeplatzt. Das erinnerte Raimanja daran, daß der Schwanz des Drachen sie ins Gesicht getroffen hatte – wahrscheinlich eine unbewußte
Reflexbewegung des zu sich kommenden Drachenjungen. Aber Raimanja erinnerte sich auch daran, daß sie in den See gestürzt war. Das hatte sie noch erfaßt, bevor sie ihr Bewußtsein verlor. Warum war sie nicht ertrunken? Waren die Akonen so schnell gekommen, daß sie sie vor dem Ertrinken bewahren konnten? Sie unterbrach ihre Überlegungen, als sie dicht vor sich ein schleifendes Geräusch wahrnahm. Hinter der grellen Helligkeit der Lampe bewegte sich etwas. Ein ledriger Hautlappen streifte über die Lampe und riß sie um, so daß der Lichtkegel nun an Raimanja vorbeiging. Die Arkonidin erkannte verblüfft, daß sie anscheinend mit dem Drachenjungen allein war. Demnach mußte das Tier sie aus dem Wasser gezogen und damit vor dem Ertrinken gerettet haben – und es hatte sie auf die Seite gelegt, damit sie während ihrer Ohnmacht nicht an der eigenen Zunge erstickte. Eine erstaunliche Verhaltensweise für ein Tier! Konnte ein Tier sich überhaupt so folgerichtig verhalten, wie es das Drachenjunge getan hatte? Der Drache war zur Bewegungslosigkeit erstarrt, als die Lampe umfiel. Jetzt rührte er sich wieder. Sein Hals streckte sich; der Kopf näherte sich vorsichtig der Frau. Die gelben Augen mit der smaragdfarbenen Iris musterten Raimanja. »Danke, Vritra!« sagte sie, das arkonidische Wort für »Drache« anwendend. »Ich danke dir!« Der Drache schnaubte leise, dann stieß er einen halblauten Pfiff aus, bewegte die gespaltene Zunge im Maul und sagte undeutlich auf Lemu, einer alten galaktischen Sprache: »Du hast mir geholfen, ich habe dir geholfen. Es schmerzt mich, daß ich dich schlug. Ich wollte es nicht.« Raimanja schluckte. Sie war dabei gewesen, dem Drachenjungen Intelligenz zuzusprechen. Aber daß er
18 sogar in der Lage war, sich sprachlich auszudrücken und mit ihr zu verständigen, daß hätte sie niemals erwartet. Allerdings hätten die meisten Arkoniden nicht verstanden, was der Drache sagte. Lemu war eine tote Sprache, die nur in den herrschenden Kreisen gesprochen wurde, wenn man sich über die Masse herausheben wollte. Raimanja beherrschte sie nur unvollkommen, aber es reichte, um die Worte des Drachen zu verstehen. »Ich weiß«, sagte sie, diesmal auch das Lemu verwendend. »Wollen wir Freunde sein? Und hast du einen eigenen Namen?« »Ja, gern«, erwiderte der Drache. »Ich habe einen eigenen Namen. Er lautet Xypldlmaklollmnt. Mit deiner verwachsenen Zunge wirst du ihn nur schwer aussprechen können. Deshalb nenne mich weiter Vritra, wenn du möchtest.« »Einverstanden«, sagte die Arkonidin. »Und ich bin Raimanja. Kennst du dich hier aus, Vritra?« »Ich war schon oft hier«, antwortete Vritra. »Hinter dem Höhlensee liegt ein Gang, durch den man zur Halle der Blinden Spiegel kommt. Es sind drei Spiegel, von denen einer manchmal zum Weg nach Amalek wird.« »Amalek!« entfuhr es Raimanja. »Warum will mich jeder nach Amalek schicken? Was ist dieses Amalek eigentlich?« »Ich schicke dich nicht nach Amalek«, erklärte der Drache lispelnd. »Wir mögen Amalek nicht, denn es ist eine Stätte, an der sich in alten Zeiten die Gejagten verkrochen, um von der Schlange, die ihnen durch die Himmel folgte, nicht gefunden und vernichtet zu werden. Die Gejagten sollen seltsame Wesen gewesen sein, klug und voller Bosheit. Sie bauten sich eine Stätte, die so in sich gekrümmt ist wie ihr Charakter es war. Als sie starben, blieben ihre Diener zurück, Spiegelbild ihrer Herren: eine Hälfte gilt als Beschützer von friedlichen Besuchern, die andere Hälfte versucht, Besucher in Fallen zu locken und umzubringen.« »Eigenartig«, meinte die Arkonidin.
H. G. Ewers »Wenn das so ist, warum versuchte ANTE dann, mich nach Amalek zu schicken?« »ANTE – das Feuerwesen?« fragte Vritra leise. »Ja, es beschützte mich im Hauptbau der alten Stadt vor einem Zyklopen.« »Aber ANTE, das Feuerwesen, schläft seit Äonen«, erklärte der Drache. »Es wartet, ob Leute seines Volkes dereinst zurückkehren. Tritt das ein, soll ANTE sie angreifen, um ihnen klarzumachen, daß sie hier keinen faulen Frieden finden werden.« Raimanja seufzte. »Eine verschrobene Mentalität haben diese ANTE-Leute! Aber vielleicht ist das alles relativ. Vielleicht würden sie die arkonidische Mentalität als verschroben bezeichnen.« »Warum sich darüber Gedanken machen, Raimanja«, meinte das Drachenjunge. »Ich habe Hunger. Kommst du mit in die Halle der Blinden Spiegel?« »Gibt es dort etwas zu essen?« erkundigte sich die Arkonidin. »Manchmal findet sich etwas dort«, antwortete Vritra. »Aber trink zuerst von dem Wasser des Sees. Es ist gut und belebend.« Raimanja befolgte den Rat. Sie leerte ihre Wasserflasche, füllte sie mit dem klaren Wasser des Sees und trank so viel, daß sie für die nächsten fünf bis sechs Stunden genug haben würde. Danach ließ sie sich von dem Drachenjungen führen. Sie leuchtete den Weg mit dem Handscheinwerfer aus und hielt sich an Vritras Rückenkamm fest. Die Brandwunden der Flughaut waren von einem milchigen Film überzogen, ein verläßliches Anzeichen dafür, daß der Heilungsprozeß mit Macht eingesetzt hatte und zügig voranschritt. Wahrscheinlich würde Vritra in zwei Tagen wieder fliegen können. Raimanja fühlte sich ungewöhnlich frisch. Sie überlegte, ob das tatsächlich auf das Seewasser zurückzuführen war, das sie getrunken hatte. Möglicherweise enthielt es eine Spur Arsen, das in geringer Dosis sehr belebend sein sollte. Die Arkonidin hatte früher
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von einem Chemiker gehört, der sich jahrzehntelang mit Arsen gedopt hatte. Da sein Metabolismus sich mit der Zeit immer stärker daran gewöhnte, reagierte er bald nicht mehr auf kleinste Dosen, so daß der Mann die Dosierung allmählich immer mehr erhöhen mußte. Als er eines Tages von einer Schlange gebissen wurde, wobei die Schlange ein paar Tropfen seines Blutes schluckte, starb die Schlange innerhalb von anderthalb Minuten an Arsenvergiftung. Raimanja wunderte sich, daß sie an solche Nebensächlichkeiten dachte, während sie mit einem Drachen durch die Unterwelt eines fremden und unheimlichen Planeten wanderte, auf der Flucht vor Akonen, die ihr das Kind entfremden wollten und im Ungewissen über das Schicksal ihres geliebten Caycon, dem die Flucht mit einem Beiboot des Akonenschiffs gelungen war. Woher hätte Raimanja wissen sollen, daß Caycon sich im relativistischen Raumflug befand und sich, obwohl für ihn subjektiv nur wenige Stunden vergehen würden, infolge der Zeitdilatation noch rund dreieinhalb Arkonjahre darin befinden würde …
* Vielleicht war die Zeit, die ich durch die Schuld von Akon-Akon anscheinend sinnlos vertan hatte, doch im Endeffekt nicht nutzlos vergeudet. Ich hielt es für einen Gewinn, daß ich durch die Beobachtung Raimanjas mehr über Perpandron erfahren hatte. In meiner Jetztzeit hatte ich über diesen Planeten nur gewußt, daß die Goltein-Heiler ihn als ihren Behandlungsplaneten benutzten. Ich hatte auch die Legende von Caycon und Raimanja gekannt, mich allerdings früher nie dafür interessiert, da ich sie für ein romantisches Märchen hielt. Inzwischen wußte ich viel mehr. Ich wußte, daß es auf Perpandron intelligente Drachenwesen gegeben hatte, die sich offenkundig in den unterirdischen Anlagen einer vergangenen Zivilisation ausgezeichnet auskannten und die vorhandene Technik
folgerichtig benutzten, sofern sie noch funktionierte. Außerdem hatte ich durch Vritra erfahren, daß die Stadt, in die ich in meiner Jetztzeit – also in der Relativzukunft – verschlagen worden war, nicht von dem gleichen Volk erbaut worden war, das die Stadt im Tal bewohnt und vielleicht auch die unterirdischen Systeme angelegt hatte. Die »in sich gekrümmte« Stadt war vielmehr von Lebewesen erbaut worden, die durch den Weltraum geflohen waren, um nicht von einer mysteriösen Schlange gefunden und vernichtet zu werden. Wahrscheinlich waren die Flüchtlinge gescheiterte Revolutionäre oder einfach nur Verbrecher gewesen, deren Denken nicht mehr in normalen Bahnen verlaufen war und die sich eine Zufluchtsstätte geschaffen hatten, die ihrer krankhaften Psyche entsprach: kugelförmig, in sich abgeschlossen, mit Zweckgravopolung und von Wesen bewacht, von denen die einen alle Fremden umzubringen und die anderen alle Besucher zu beschützen trachteten. Und dann hatte es auf Perpandron irgendwann noch die Wesen gegeben, die mit ANTE verwandt waren. Ein Volk, dem an kämpferischen Auseinandersetzungen so viel gelegen war, daß es sich über einen Abtrünnigen empörte, der im Krieg die Entscheidung suchte und dadurch das Verbrechen beging, den Krieg zu beenden. Ihr Götter Arkons! Es gibt wahrhaftig nichts, was es nicht gibt!
4. »Gleich sind wir in der Halle der Blinden Spiegel!« zischelte das Drachenkind. Raimanja blickte sich um. Der Lichtkegel ihres Handscheinwerfers glitt über die glatten Wände eines Korridors mit rechteckigem Querschnitt. Die Luft war warm, aber nicht schwül. Ab und zu kam aus winzigen Spalten und Löchern ein frischer Luftstrom, und manchmal rieselte klares Wasser aus haarfeinen Rissen, dort, wo die Seitenwände an die Decke stießen. Das Wasser wusch die
20 Wände sauber, spülte fingerhoch über den Boden und verschwand dann in kleinen Abflußöffnungen. »Ich glaube, wer diese Anlage erbaute, hat sie weniger für seine Generation als für spätere Generationen erbaut, die nicht über sein eigenes technisches Wissen verfügten und darum nicht in der Lage waren, Reparaturen vorzunehmen.« Raimanja blickte ihren neuen Freund fragend von der Seite an. Vritra wischte mit dem Schwanz über den Boden. »Vielleicht dachten die Erbauer, ein Leben ohne Anwendung technischer Produktionsmittel wäre angenehmer als ein Leben für die Technik«, sagte er lispelnd. »Vielleicht wußten sie nicht, daß man unglücklich ist, wenn man etwas benutzt, dessen Funktionsweise man zwar versteht, weil sie auf primitiven Prinzipien beruht – aber das man nicht weiterentwickeln kann, weil die Basiskenntnisse fehlen.« Raimanja dachte bei sich, daß das Drachenjunge ein richtiger kleiner Philosoph sei. Sie fragte sich, ob die Drachen von Perpandron die Nachfahren jener Intelligenzen waren, die die unterirdischen Anlagen und die Stadt im Tal errichtet hatten. Vielleicht hatte dieses Volk auf dem Zenit seiner technologischen oder technokratischen Entwicklung geglaubt, eine Rückkehr zur natürlichen Lebensweise würde ein glücklicheres oder mindestens zufriedeneres Leben garantieren. Wenn es sich so verhielt, dann hatten sie nicht recht behalten, denn die Drachen waren nicht damit zufrieden, daß sie die einfachen technischen Hinterlassenschaften ihrer Vorfahren benutzen konnten. Sie hätten gern mehr gewußt, immer mehr, um alles zu begreifen, was ihnen unbegreiflich geblieben war. Als der Lichtkegel auf eine stählern schimmernde Platte fiel, erklärte Vritra: »Das ist das Tor zur Halle der Blinden Spiegel.« Erstaunt bemerkte Raimanja, daß das Ma-
H. G. Ewers terial des Tores fast genau so aussah wie Arkonit, jenes Metallplastik, daß die Arkoniden zur Fertigung von Raumschiffszellen benutzten. Vielleicht war es in seiner Zusammensetzung sogar identisch mit Arkonit. Irgendwie schien es nicht zu den Felskorridoren und den auf Steinkugeln gelagerten Türen zu passen. Auch der Öffnungsmechanismus paßte nicht dazu. Das Metallplastiktor teilte sich in der Mitte, als Raimanja und Vritra noch zirka drei Schritte davon entfernt waren. Mit schwachem schabenden Geräusch glitten die Torhälften auseinander und gaben den Weg frei. Irgendwo in den Korridorwänden müssen Sensoren verborgen sein, die die Annäherung von Personen registrieren und dadurch den Öffnungsmechanismus einschalten! dachte die Arkonidin. »Vorsichtig!« warnte das Drachenjunge. »Manchmal ist Böses in der Halle.« Raimanja begriff zwar nicht, was Vritra darunter verstand, doch vorsichtshalber entsicherte sie ihren Intervallnadler und hielt ihn so, daß sie jederzeit aus der Hüfte heraus feuern konnte. Sie wollte mit der linken Hand den Scheinwerfer schwenken, um in kürzester Zeit möglichst viel von der Halle auszuleuchten, aber als sie und Vritra durch die Türöffnung schritten, schaltete sich die Beleuchtung ein: Hunderte von kugelförmigen Leuchtkörpern, die frei in halbkugelförmigen Deckennischen schwebten, wahrscheinlich von Kraftfeldern gehalten. Ein Wesen, so groß wie ein Wildrind, aber fast völlig von schwarzer schleierartiger Haut verhüllt, schoß aus der linken hinteren Ecke auf Vritra und Raimanja zu, schleuderte ihnen seine schwarzen Hautschleier entgegen und stieß einen Schrei aus, der Raimanjas Nerven so vibrieren ließ, als wären es hart angeschlagene Instrumentensaiten. Die Arkonidin ächzte erschrocken und überrascht, riß sich aber zusammen. Sie ließ sich auf das rechte Knie sinken, hob den
Die Drachenwelt Kolben des Intervallnadlers an die rechte Wange, ging ins Ziel und drückte auf den Feuerknopf. Das Zentrum des Wesens wurde zerrissen; der Rest wirbelte in großen schwarzen Fetzen heran, klatschte hinter Vritra und Raimanja an die Hallenwand und fiel zu Boden. Ein winziges Teil schwarzer Substanz traf Raimanjas Stirn. Die Arkonidin schrie schmerzgepeinigt auf und wischte es mit dem Ärmel weg. »Das brennt fürchterlich«, sagte sie. »Es sieht auch aus wie eine Brandwunde«, meinte Vritra mit bebender Stimme. »Ich glaube, wenn du nicht deine Waffe hättest, würden wir jetzt beide tot sein.« »Was mag das gewesen sein?« sagte Raimanja zu sich selbst. Was von dem Zentrum – oder dem Rumpf – des Wesens übrig war, bot sich den Blicken als unförmiger Klumpen einer schwarzen Masse dar, die Hitze und Aasgeruch ausstrahlte. Dünne, aber offenkundig sehr kraftvolle peitschenähnliche Muskelschnüre gingen von dem Rumpf aus und endeten an den Fetzen, die von den schwarzen Hautschleiern des Angreifers übriggeblieben waren. Die Arkonidin erschauderte. Sie hielt ihre Waffe weiterhin schußbereit und schaute nach anderen Angreifern aus. Doch außer dem einen schien es keine zu geben. Dafür entdeckte Raimanja in der Mitte der riesigen Halle drei gläsern glitzernde und schimmernde doppeltmannshohe Ovale, deren untere Siebtel sich in einer kegelförmigen Bodenvertiefung befanden. Alle drei Ovale drehten sich langsam entgegen dem Uhrzeigersinn. »Die Blinden Spiegel!« sagte Vritra ehrfürchtig. »Seltsame Spiegel!« erwiderte Raimanja und näherte sich den Ovalen. Da die Gebilde sich drehten, sah sie nacheinander alle Seiten und bemerkte, daß keine Fläche so glatt war, daß sie den größten Teil der auftreffenden Lichtstrahlen regelmäßig reflektierte. Also waren diese Spiegel gar nicht in der
21 Lage, Gegenstände, die sich vor ihnen befanden, abzubilden. Natürlich, deshalb werden sie ja als Blinde Spiegel bezeichnet! überlegte die Arkonidin. Aber warum dann überhaupt als Spiegel? Sie wollte das Drachenjunge fragen, da geschah mit einem der Ovale etwas Unerklärliches. Seine Drehung verlangsamte sich und hörte schließlich ganz auf. Die ebene Fläche, auf die Raimanja blickte, wurde allmählich heller, glatter – und plötzlich sprang der Frau das Bild förmlich in die Augen. Doch es war kein Spiegelbild, sondern das Bild einer künstlichen Welt unter einem künstlichen Himmel …
* Der ovale Spiegel zeigte mehr, als ein richtiger Spiegel hätte zeigen können. Nach einiger Zeit stummer Betrachtung erkannte Raimanja, daß das, was sie für die Oberfläche einer ganzen Kunstwelt gehalten hatte, in Wirklichkeit eine gigantische Halle war. Goldfarbene Helligkeit erfüllte die Halle. Sie kam aus keiner lokalisierbaren Quelle, sondern war einfach da, als schöpfte sie ihre Energie aus dem Tanzen der Atome, dem Zusammenspiel von Kernballungen und den sie umkreisenden Elektronen. Die Wände der Halle verliefen in geschwungenen, teilweise sogar verschnörkelten Linien und ergaben einen Gesamteindruck, der die geistige Gesundheit eines Intelligenzwesens in Frage stellen mußte, das diese Schwünge und Schnörkel längere Zeit betrachtete. Raimanja blinzelte verwirrt. Sie kniff die Augen zusammen, um die fremdartigen Skulpturen und Statuen, Figuren und Statuetten besser sehen zu können, die in zahllosen Nischen und Erkern oder auf Vorsprüngen standen. Langsam ging Raimanja auf diesen Spiegel zu. Vritra eilte an ihr vorbei, stellte sich ihr in den Weg.
22 »Tu es nicht, Raimanja!« bat er. »Es ist nicht gut, in die Schatzkammer von Amalek zu gehen. Über ihr liegt ein gefährlicher Bann, der schon viele tötete, die es wagten.« Die Arkonidin blieb stehen. »Ich verstehe nicht«, sagte sie. »Das ist doch nur ein Bild – und noch nicht einmal ein Spiegelbild. Wie könnte ich in ein Bild hineingehen?« »Du irrst dich, Raimanja«, erwiderte das Drachenjunge beschwörend. »Das ist wirklich ein Spiegelbild. Der Spiegel bildet nur etwas ab, das sich nicht hier, sondern woanders befindet. Es hat irgend etwas mit der Projizierung der endlichen Unendlichkeit auf kleinsten Raum zu tun, mit einer Verwindung der Raum-Zeit-Struktur. Ich kann es nicht anders sagen, weil ich es selbst nicht verstehe, sondern nur einmal eine ähnliche Erklärung gehört habe.« »Ich verstehe es auch nicht«, meinte die Arkonidin. »Aber ein Experiment könnte uns zeigen, was es mit dieser Abbildung auf sich hat.« Sie nahm einen Konzentratwürfel aus der Verpackung, schob ihn sich in den Mund und warf die Verpackung gegen die Spiegelfläche. Als sie auftraf – oder eindrang – blitzte es funkenartig auf. Die Spiegelfläche schien zu verschwimmen, wurde aber sofort wieder klar. Raimanja sah, daß die glitzernde Verpackung nunmehr Teil jenes Spiegelbildes war. Sie flog ein Stück durch die gigantische Halle und fiel dann zu Boden. »Das begreife ich nicht«, sagte Raimanja fassungslos. »Es ist – wie Zauberei. So, als wäre der Spiegel ein Tor, durch das man in eine andere Welt kommen kann.« Sie schluckte, als das Bild im Spiegel verschwamm, dann verblaßte und sich auflöste. Der Vorgang dauerte kaum drei Herzschläge lang, danach sah die Spiegelfläche genauso aus wie die Flächen der anderen beiden Ovale. »Ein blinder Spiegel ist kein Tor mehr«, erklärte Vritra. »Aber wenn sich die Bilder zeigen, dann wird aus einem Blinden Spie-
H. G. Ewers gel ein Tor. Das Böse, das uns angriff, ist durch ein solches Tor gekommen.« Raimanja sah, daß ein anderes Oval sich plötzlich langsamer drehte. Nach kurzer Zeit kam es zum Stillstand – und dann wurde die der Arkonidin zugewandte Fläche zur Fläche eines Spiegels. Das Bild zeigte eine vor dünnem Nebel halb verhüllte karge Landschaft. Reifbedeckte verkrüppelte Gewächse standen gleich Gnomen in der Nebelwelt. Mehrere große Tiere mit zottigen Fellen und krummen Hörnern standen dicht beisammen im Hintergrund. Im Vordergrund erhoben sich Lebewesen, die bisher unsichtbar für Raimanja gewesen waren, weil sie offenbar flach auf dem Boden gelegen hatten. Raimanja runzelte verwundert die Stirn, denn die Lebewesen waren ähnlich gebaut wie Arkoniden, nur gedrungener – und sie trugen Fellkleidung und statt Energiewaffen Speere und Steinschleudern. Diese Wesen huschten hinter Krüppelgewächsen näher an die Tiergruppe heran, dann blieben sie unbeweglich stehen. Plötzlich stieß einer der Jäger einen schrillen Pfiff aus. Im nächsten Moment flogen Steine und Speere zu den Tieren. Eines wurde mehrfach getroffen und wankte; die anderen Tiere stoben davon. Die Jäger stürmten schreiend vor, schleuderten weitere Speere auf das verwundete Tier, das langsam zusammenbrach. Langsam verschwamm das Bild, verblaßte und löste sich auf. »Das war nicht Perpandron, sondern eine andere Welt«, sagte Raimanja tonlos. »Eine sehr kalte und unfruchtbare Welt. Dort möchte ich nicht leben.« »Niemand kommt dorthin«, erklärte Vritra. »Alle Gegenstände, die wir durch diesen Spiegel werfen, verschwinden spurlos.« »Die Entfernung ist zu groß«, meinte Raimanja. »Aber eigentlich ist die Entfernung immer zu groß, denn ein Spiegel kann doch nur als Tor dienen, wenn es etwas zeigt, was unmittelbar hinter ihm ist. Ich begreife das alles nicht.«
Die Drachenwelt Als der dritte Spiegel ebenfalls seine Drehbewegung verlangsamte, richtete sie seine Aufmerksamkeit auf ihn. Auch hier wurde die der Frau zugewandte Seite immer glatter, bis sie schließlich so glatt wie die Funktionsfläche eines Spiegels war. Raimanja sah zuerst nur Dunkelheit – und in der Dunkelheit einige leuchtende Flecken, die etwas aus der Finsternis rissen, das ein männliches Gesicht sein mußte. Es war schmal, edel zugeschnitten und besaß eine hohe Stirn. Die Farbe der Augen war nicht zu erkennen, da sie grelles Licht reflektierten. Aber das Gesicht war starr, unbeweglich. Und ein Stück darunter fiel Helligkeit auf Hände, die einen seltsamen Stab hielten. Aber die Hände waren viel seltsamer als der Stab. Der sichtbare Teil ihrer Innenflächen war mit Sternsymbolen bedeckt, die auf eine geheimnisvolle Weise von innen heraus leuchteten. Je länger Raimanja hinschaute, desto besser stellten sich ihre Augen auf die Dunkelheit ein, die nicht vollkommen war, wie sie bald erkannte. Sie sah noch viele Gesichter und dazu Gestalten, die reglos verharrten. Die Gestalten waren nur undeutlich zu sehen, aber die Konturen waren die von Arkoniden. Sie standen anscheinend in einem alten zerfallenen Bauwerk, durch dessen zerstörte Decke bleigraues Dämmerlicht sickerte … »Das zeigte dieser Spiegel noch nie zuvor«, lispelte das Drachenjunge aufgeregt. »Sonst war dort immer eine Halle mit sonderbaren Sockeln. Aber sie war nicht zerfallen, und sie war immer leer gewesen – bis manchmal auf ein paar Tiere.« Raimanja wußte nicht, was sie dazu sagen sollte. Ihr kam das alles unheimlich vor. Sie hätte viel dafür gegeben, wenn sie die Möglichkeit bekommen hätte, nach Arkon zurückzukehren. Es interessierte sie nicht einmal, als auch dieses Spiegelbild wieder erlosch. Plötzlich ertönte ein dumpfer Knall, dem eine Erschütterung des Bodens folgte.
23 »Was war das?« fragte Vritra. Langsam drehte Raimanja sich um und blickte auf das Metallplastiktor, das sich hinter ihnen wieder geschlossen hatte. »Eine Explosion«, sagte sie tonlos. »Ich fürchte, die Akonen haben Detektoren eingesetzt, als sie merkten, daß sie mich anders nicht finden würden. Sie ermittelten ungefähr, in welche Richtung ich geflohen war und sprengten sich einen Weg in dieses Gangsystem. Wohin können wir gehen, damit sie uns nicht einholen, Vritra?« »Hier geht es nicht weiter, Raimanja«, antwortete das Drachenjunge. »Wir können nur den gleichen Weg zurückgehen.« »Dann würden wir auf die Akonen stoßen«, entgegnete die Arkonidin. Sie drehte sich um und preßte die Lippen zusammen, als der erste Spiegel seine Drehbewegung abermals verlangsamte. »Es gibt nur einen Weg, den durch diesen Spiegel«, erklärte sie entschlossen. »Ich werde in die Schatzkammer von Amalek gehen. Kommst du mit, Vritra?« »Ich fürchte mich«, gab Vritra zischelnd zurück. »Zu viele sind schon in die Schatzkammer von Amalek gegangen und vom lautlosen Tod geholt worden.« Die Arkonidin schlug mit der flachen Hand an den Kolben ihres Intervallnadlers. »Ich kann mich wehren. Gegen die Akonen reicht das nicht, aber vielleicht gegen den lautlosen Tod.« Goldfarbene Helligkeit strahlte vom ersten Spiegel aus, erleuchtete eine Halle: die Schatzkammer von Amalek. »Komm!« flüsterte Raimanja. Sie ging zögernd ein paar Schritte auf den Spiegel zu, dann holte sie tief Luft, nahm Anlauf und sprang. Etwas wie ein schwacher Stromschlag jagte durch ihren Körper. Grelles Licht blendete sie, ertrank in absoluter Finsternis, die wiederum von goldenen Strahlen abgelöst wurde. Raimanja strauchelte, fing sich wieder und blickte sich wachsam in der Schatzkammer von Amalek um. Von einem Spiegel
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war hier nichts zu sehen. Dafür tauchte, scheinbar aus dem Nichts kommend, plötzlich Vritra in der Luft auf und landete auf allen vieren neben der Arkonidin. Und im nächsten Augenblick dröhnte eine furchterregende Stimme auf …
* Zuerst wunderte ich mich darüber, daß Raimanja die sogenannten Spiegel nicht als das identifizierte, was sie waren: nämlich Materietransmitter. Aber die Erklärung fiel mir relativ schnell ein. Die Arkoniden kannten zu Raimanjas Zeit offenbar noch keine Transmitter. Vielleicht war einigen ihrer Wissenschaftler – und sicher auch den Wissenschaftlern der Akonen – klar, daß sich Materie prinzipiell wegen ihrer energetischen Basis genauso oder ähnlich wie Funkwellen durch den Raum senden und empfangen lassen mußte. Aber von der Erkenntnis eines Prinzips bis zu deren Verwirklichung war manchmal ein langer Weg. Ich brauchte es nur mit meinem langen Weg zu vergleichen. Das Ziel stand seit langem fest: die Absetzung Orbanaschols und die Erneuerung des Großen Imperiums. Dennoch waren meine Freunde und ich bislang immer in Kreisen getappt. Zuerst in dem aus vielen kleinen Kreisen bestehenden großen Kreis, der uns mit einem Stein der Weisen narrte, der sich als simple Maschine entpuppte – und nun in dem AkonAkon-Kreis, bei dem das Ziel noch so verschwommen war wie die morgendlichen Gedanken eines Rauschgiftsüchtigen. Als ich in dem einen Transmitterspiegel das Gesicht Akon-Akons erblickte und danach uns alle – reglos in der halbverfallenen Transmitterstation stehend –, hatte ich an eine Halluzination geglaubt. Aber aus den Gedanken von ANTE hatte ich herausgelesen, daß so etwas tatsächlich möglich war, weil sich mit Hilfe »andersartiger« Energieniveaus nicht nur Fenster in andere Räume, sondern auch in andere Zeiten öffnen ließen.
Doch als ich spürte, daß ANTE diese Tatsache dazu benutzen wollte, um Raimanja durch das Zeitfenster aus der Relativvergangenheit in meine Jetztzeit zu stoßen, entsetzte ich mich so darüber, daß mein Bewußtseinsinhalt diesem seltsamen Wesen entglitt. Ich treibe ab! teilte ANTE mir mit. Warum hast du dich gegen mich gewehrt, Atlan? »Du warst dabei, ein Zeitparadoxon zu schaffen«, antwortete ich. Es gibt keine Zeitparadoxa! »Genauer gesagt: Es darf keine Zeitparadoxa geben. Da sie aber im Ansatz verursacht werden können, verändert sich schlagartig die Ausgangssituation. Dadurch wird das heraufziehende Paradoxon im Keime erstickt. Die Wirkung kann so einschneidend sein, als hätte es tatsächlich ein Zeitparadoxon gegeben.« Vielleicht hättest du dir dadurch viele Umwege erspart, Atlan. Wäre mein Vorhaben geglückt, brauchtest du wahrscheinlich den Umweg über Akon-Akon nicht zu gehen. Möglicherweise wäre dein Vater niemals ermordet worden, so daß du ein ganz normales Leben als Kristallprinz führen könntest. »Vielleicht – wahrscheinlich – möglicherweise«, erwiderte ich. »Es gibt also keine Gewißheit?« Niemals ist etwas gewiß! erklärte ANTE. »Also auch nicht, daß niemals etwas gewiß ist«, entgegnete ich sarkastisch. Richtig! meinte ANTE. Ich verliere den Kontakt. Falls du mich brauchst, ich kehre in den Kubus zurück. Vielleicht kann ich dir irgendwann helfen. Ich spürte, wie ANTE sich von mir entfernte. Dann war ich nur noch das körperlose Etwas, das man Bewußtseinsinhalt nennt – beziehungsweise nennen konnte. Ich bemerkte noch, daß das Spiegeltor, durch das Raimanja in die Schatzkammer von Amalek geflohen war, wieder blind war, so daß ich der Arkonidin nicht folgen konnte. Dennoch befand ich mich im nächsten Augenblick in unmittelbarer Nähe Raiman-
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jas. Das erinnerte mich wieder daran, daß es für einen gepolten Bewußtseinsinhalt offenbar keine räumlichen und zeitlichen Hindernisse gab.
5. Raimanja lauschte dem dumpfen Dröhnen der Stimme. Sie verstand die Sprache nicht, in der die Stimme redete, aber sie konnte sich denken, daß die fremdartigen Worte an sie gerichtet waren. Vritra stand auf dem Boden der gigantischen Halle, hatte den Kopf hochgereckt und schiefgelegt. Sein Schweif zuckte unruhig. »Du machst mich nervös«, sagte Raimanja. »Wir sind doch gut angekommen, oder?« »Aber hier droht uns Gefahr«, zischelte Vritra. »Ich fühle, wie sich die Gefahr von allen Seiten nähert. Vielleicht sollten wir zurückgehen.« »Hier gibt es doch keinen Zauberspiegel«, erwiderte die Arkonidin. »Man kann sie nicht sehen«, erklärte das Drachenjunge. »Aber es muß sie dennoch geben, denn manchmal kamen Gegenstände und Tiere von der Schatzkammer in die Halle der Blinden Spiegel. Wenn wir herumprobieren, werden wir die Stelle finden.« »Nein!« sagte Raimanja wild entschlossen. »Lieber will ich gegen den lautlosen Tod kämpfen, als mich freiwillig in die Gewalt der Todfeinde meines Volkes begeben!« »Dann werden wir jetzt kämpfen müssen«, sagte Vritra und fauchte drohend. Die Drohung galt nicht Raimanja, wie die Arkonidin im nächsten Moment erkannte. Sie galt den Giganten, die aus zahllosen Öffnungen in den Wänden hervorgekommen waren und sich absolut lautlos in ihre Richtung bewegten. Auf den ersten Blick sahen die Giganten genauso aus wie der Zyklop, dem Raimanja in der Stadt im Tal begegnet war. Jedes Geschöpf war dreimal so groß wie ein Arkonide und hatte nur ein einziges rundes Auge
im Gesicht. Doch im Unterschied zu jenem Zyklopen waren diese Wesen haarlos, und ihre grauweißen Körper waren in golden schimmernde Rüstungen gekleidet. In den Händen trugen sie Lanzen, Schwerter und Schilde. Es war gespenstisch anzusehen, wie sie in Abständen von zirka einer Sekunde alle gleichzeitig einen ruckhaften Schritt vorwärts gingen, ohne dabei ein Geräusch zu verursachen. Raimanja spürte sofort, daß mit diesen Zyklopen etwas nicht stimmte. Bald wurde ihr auch klar, was das war. Sie bemerkte, daß die Rüstungen dieser Giganten uneinheitlich und unvollständig waren. Teile, die irgendwann verlorengegangen waren, hatte man nicht ersetzt. Andere Teile der Rüstungen waren miteinander vertauscht worden, so daß die Formation trotz der Gleichheit der Bewegungen wie ein achtlos zusammengewürfelter Haufen von Söldnern wirkte. »Sie handeln wie Automaten«, flüsterte sie dem Drachenjungen zu. »Wahrscheinlich sind sie die Nachfahren einer Wachtruppe, die schon seit Generationen keinen Befehlshaber mehr besitzt und nur das nachahmt, was von einer Generation an die nächste überliefert worden ist.« »Um so gefährlicher sind sie für uns«, gab Vritra zurück. Raimanja mußte sich dieser Logik beugen. Mit einer Truppe, die keinen Kommandeur besaß, konnte man nicht verhandeln. Sie würde stur irgendwelche Befehle befolgen, die jemand ihren Vorfahren gegeben hatte – oder von denen sie sich einbildeten, sie von ihren Vorfahren übernommen zu haben. Sie entsicherte ihren Intervallnadler. Dennoch hatte sie fast zu lange gezögert. Die Zyklopen hatten ihre Lanzen gehoben und wollten sie auf die beiden Eindringlinge werfen. Raimanja handelte intuitiv der Lage entsprechend. Sie feuerte einen verhältnismäßig eng begrenzten Fächer, komprimierter Energieballungen ab, versetzte Vritra einen Stoß und lief auf die Lücke zu, die
26 sich in der Formation der Giganten gebildet hatte. Das Drachenjunge begriff und blieb dicht neben ihr. Hinter ihnen bohrten sich die stählernen Lanzenspitzen genau dort in den Boden, wo Raimanja und Vritra eben noch gestanden hatten. Die Formation der Zyklopen reagierte, als wäre sie ein einheitlicher Organismus. Wie in einem zentral gesteuerten Reflex veränderten die Einzelwesen ihre Position so, daß die Lücke geschlossen wurde, die die Energieballungen in die Phalanx gerissen hatten. Ihre Schwerter hoben sich drohend. Erneut schoß Raimanja, und wieder rissen die sonnenhell flammenden Energienadeln eine Lücke in die Phalanx des lautlosen Todes: Und wieder schloß sich die Formation, zog sich gleichzeitig um die Arkonidin und das Drachen junge zusammen. Raimanja war keine Kriegerin. Sie hatte getötet, weil sie wußte, daß ihr keine andere Wahl blieb. Aber der Anblick der Opfer erfüllte sie mit Entsetzen. Sie merkte, daß sie nicht endlos weitertöten konnte. Ein kampferprobter Mann oder eine kampferprobte Frau hätten Dauerfeuer auf eine Stelle der feindlichen Phalanx geschossen und wären dort durchgebrochen. Raimanja dagegen wich in die Mitte der Halle zurück und beschränkte sich auf einzelne Schüsse vor die Füße von Zyklopen, die ihr, am gefährlichsten erschienen. Aber diese Wesen waren eines so gefährlich wie das andere. Sie verhielten sich, als führten sie eine rituelle Handlung aus. Die Arkonidin schoß noch einmal gezielt auf die heranrückenden Zyklopen, dann brach sie psychisch zusammen, warf die Waffe weg und schlug die Hände vors Gesicht. Ringsum schwangen lautlos scharfgeschliffene Schwerter empor, holten zum Todesstreich aus … Plötzlich geriet die Formation der Zyklopen durcheinander. Zwischen ihnen, vor und hinter ihnen tauchten Männer in Kampfanzügen auf, als wären sie aus dem Nichts gekommen. Sie wirkten winzig und unscheinbar gegen die rotäugigen Giganten, aber sie
H. G. Ewers handelten mit der Kompromißlosigkeit erfahrener Raumsoldaten, die schon unzählige Male dem Tode ins Angesicht geschaut und dabei überlebt hatten. Die Entladungen von Blastern erfüllten die Halle mit sonnenhellen Blitzen und ohrenbetäubendem Krachen. Getroffene Zyklopen wankten und stürzten, doch die anderen Giganten hoben ihre Schwerter gegen die neuen Eindringlinge, bis auch sie die Opfer der überlegenen Waffen und der Entschlossenheit ihrer Gegner wurden. Als Ruhe eintrat, merkte Raimanja, daß sie innerhalb einer Energieblase atmete, die von den Schutzschirmprojektoren zweier Akonen erzeugt wurde, die dicht an sie herangetreten waren. Andernfalls wäre sie wahrscheinlich in der Hitze umgekommen, die in der Halle herrschte. Sie blickte sich um, von dem Schock noch immer halb gelähmt. Die Zyklopen waren sämtlich tot. Aber was war aus Vritra geworden? Das Drachenjunge war nicht zu sehen. Hatte es noch rechtzeitig fliehen können, oder war es von den Energiestrahlen aufgelöst worden? Einer der Akonen, der ihr mit seinem Schutzschirmprojektor das Leben gerettet hatte, wandte ihr das Gesicht zu. Es lag unter der transparenten Scheibe seines Druckhelms, deshalb erkannte sie es nicht sogleich. Es kam ihr nur bekannt vor. »Ich bin Orthrek«, half der Akone ihrer Erinnerung nach. »Mein Trupp befreite dich aus der Polizeistation auf Arkon. Du hast uns ganz schön irregeführt. Dennoch hättest du dir sagen müssen, daß du uns nicht auf die Dauer davonlaufen kannst.« »Ihr seid durch den Zauberspiegel …?« flüsterte Raimanja. Orthrek lachte trocken. »Mit Zauberei hatte das gewiß nichts zu tun, Raimanja«, erklärte er. »Aber das ist jetzt nicht wichtig.« »Wo ist Vritra?« erkundigte sich die Frau. »Wer ist Vritra?« fragte Orthrek zurück. »Meinst du die kleine Echse, die davonlief, als wir auf die Zyklopen schossen?«
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»Das Drachenjunge, ja«, antwortete Raimanja. »Ist es entkommen?« »Wir hatten keinen Grund, auf ein flüchtendes Tier zu schießen«, sagte der Akone. Seine Augen verengten sich, verrieten Ärger. »Aber du hattest auch keinen Grund, auf den Gleiter zu schießen, der dich im Tal der Ruinen aufspürte. Warum hast du es getan?« »Die Besatzung richtete grundlos ein Blutbad unter den Drachen im Tal an«, erklärte Raimanja. »Es … es war Wahnsinn. Ich konnte nicht anders, als auf sie zu schießen.« »Das Weib hat unsere Leute ermordet!« warf ein anderer Akone ein. »Sei still, Khelva!« fuhr Orthrek ihn an. »Wenn das stimmt, was Raimanja sagte, dann geschah der Gleiterbesatzung recht. Und ich denke, sie lügt nicht.« Er wandte sich wieder an die Frau. »Komm, wir bringen dich zum Schiff zurück, Raimanja«, sagte er. »Du brauchst größte Schonung – in deinem Zustand.« Er sah sich in der Halle um. Plötzlich runzelte er nachdenklich die Stirn. »Diese Halle – sie ist phantastisch, irgendwie faszinierend«, sagte er gedehnt. Seine Augen funkelten. »Eigentlich der rechte Ort, um einen künftigen Herrscher heranwachsen und formen zu lassen. Ich werde mit Tekla von Khom darüber sprechen.« Raimanja wollte fragen, was der Akone gemeint hatte, doch sie kam nicht mehr dazu. Ihr wurde schwarz vor den Augen, dann schwand ihr Bewußtsein.
* Endlich bekam ich wieder Kontakt mit Fartuloon – beziehungsweise mit seinem Bewußtseinsinhalt. »Ich bin froh, daß es dich noch gibt«, meinte mein Pflegevater. »Ich dachte schon, du wärst verlorengegangen.« »Ich war nie in Gefahr«, erwiderte ich. »Aber auf Perpandron sieht es anders aus, als ich es in Erinnerung habe.«
»Selbstverständlich. Es ist ja auch einige Jahrtausende früher. Bis du zum erstenmal hierherkommst, muß sich vieles verändert haben. Ich frage mich nur, wie lange wir diesmal hierbleiben müssen. Wenn wir die ganze Vorgeschichte Akon-Akons beobachten sollen, dann wird das ziemlich lange dauern. Raimanja ist ja gerade im ersten Monat schwanger.« Ich antwortete nicht gleich, denn die Vorstellung, im günstigsten Fall viele Monate und im ungünstigsten viele Jahre als Bewußtseinsinhalt in der Vergangenheit herumgeistern zu müssen, versetzte mir einen gelinden Schock. Und als ich dann antworten wollte, merkte ich, daß sich das Problem auf wundersame Art von selbst gelöst hatte – denn die Szene, in die ich gerissen wurde, bewies mir, daß es etwa acht Monate später war …
6. Raimanja stieß einen gellenden Schrei aus, dann verstummte sie und sank mit schweißüberströmtem Körper auf das Kopfteil des Pneumobetts zurück. Verschiedene matte Geräusche waren in der folgenden Stille zu hören, dann ertönte ein zaghafter Laut, dem bald heftiges Geschrei folgte – der Protestgesang eines Neugeborenen, das die konstant auf Körpertemperatur gehaltene Flüssigkeit des MiniUrozeans gezwungenermaßen verlassen hatte und aus der totalen Geborgenheit in ein rauhes feindliches Leben gerissen worden war. Ein akonischer Mediziner deckte Raimanja mit einer Thermodecke zu. Sie schaute ihn aus großen Augen an; ihre Finger glitten unruhig über die Decke. Ein zweiter Mediziner trug etwas auf den Armen, das in eine transparente Folie halb eingeschlagen war. Er lächelte und legte das Bündel in Raimanjas Arme. Zuerst traute sich die Arkonidin nicht, den Inhalt des Bündels anzuschauen. Sie fürchtete, die Manipulationen der Akonen hätten
28 aus ihrem Kind ein Monstrum gemacht. Aber dann zwang sie sich doch dazu, es anzusehen – und ihr Herz vollführte einen regelrechten Freudensprung. Es war ein ganz normales Arkonidenkind – und ein strammer Junge! Raimanja weinte vor Freude, bedeckte den rosigen Körper ihres Kindes mit Küssen und stammelte liebevolle Worte. Das leise weinende Kind wurde ruhiger und schlief schließlich ein. Eine Hochdruckinjektionsdüse zischte. Raimanja achtete nicht darauf. Sie spürte nur nach einiger Zeit, daß eine wohlige Müdigkeit sie überkam. Seufzend schloß sie die Augen und schlief ein. Als sie erwachte, war das Kind verschwunden. Raimanja rieb sich die Augen, gähnte und schaute sich nach ihrem Baby um. Ihrer Meinung nach mußte es in ihrer Kabine untergebracht sein. Doch ihr Bett war das einzige in der Kabine. Raimanja wollte gerade den Interkomanschluß neben ihrem Pneumobett einschalten, als sich das Schott öffnete und der Akone eintrat, den sie als Tekla von Khom, den Wissenschaftlichen Kommandanten des Unternehmens, kannte. »Wo ist mein Kind?« fragte die Arkonidin mit schwacher Stimme. Tekla von Khom lächelte. »Akon-Akon befindet sich in guter Obhut«, erklärte er. »Sein Gesundheitszustand könnte nicht besser sein, Raimanja.« »Ich will ihn sehen!« sagte Raimanja. »Und wie kommen Sie dazu, meinem Kind einen Namen zu geben? Niemals werde ich zulassen, daß er Akon-Akon heißt. Mein Sohn soll den Namen seines Vaters tragen!« Tekla von Khom machte eine Geste, die andeuten sollte, daß er sich über dieses Thema nicht zu streiten wünschte. »So wirst du ihn Caycon nennen – und wir nennen ihn Akon-Akon. Er soll, wenn er erwachsen ist, selbst entscheiden, welchen Namen er für immer tragen will.« »Einverstanden«, erwiderte Raimanja, halb beschwichtigt. »Wann wird man mir
H. G. Ewers Caycon bringen?« »Wir werden deinen Sohn besuchen, sobald der Arzt dich noch einmal untersucht hat«, antwortete Tekla von Khom. Raimanja gab sich vorerst damit zufrieden. Nachdem der Wissenschaftler die Kabine verlassen hatte, verging etwa eine halbe Stunde, bis der Arzt eintraf. Er untersuchte Raimanja gewissenhaft und erlaubte ihr danach, an diesem Tag für eine Stunde aufzustehen. Kaum hatte die Arkonidin sich angekleidet, als auch schon Tekla von Khom kam, um sie abzuholen. Er führte sie aber zu ihrer Verblüffung nicht in eine andere Abteilung des Hospitaltrakts des Schiffes, sondern in einen Gleiterhangar. »Ist mein Sohn nicht im Schiff?« fragte Raimanja aufgeregt. »Sei ganz ruhig, Raimanja«, sagte Tekla von Khom. »Dein Sohn hat den besten Platz erhalten, den es auf ganz Perpandron gibt. Steig ein, ich, bringe dich zu ihm!« Raimanja gehorchte, denn sie wollte schließlich ihren Sohn sehen. Tekla von Khom steuerte den Gleiter über eine grasbedeckte Ebene, auf der Verfärbungen sich zu geometrischen Mustern und stilisierten Tierbildern formten. Dahinter lag, von niedrigem Buschwerk eingezäunt, eine Stadt mit sonnengebleichten quaderförmigen Steinbauten, Kuppeln und gepflasterten Straßen und Plätzen. Das Ganze wurde von einem zirka hundertfünfzig Meter hohen viereckigen Turm aus rotem Stein überragt. Aber die Stadt schien verlassen. Gras wucherte zwischen Mauerritzen und den Fugen der Pflastersteine; die Mauern der Bauwerke zeigten erste Spuren erosiver Zerstörung. Tekla von Khom bemerkte Raimanjas Neugier und sagte, ironisch lächelnd: »Nichts besteht ewig, Raimanja. Aber diese Stadt ist noch zu gut erhalten und könnte durch puren Zufall aus dem Weltraum entdeckt werden. Wir werden sie später künstlich altern. Übrigens ist diese Stadt später als jene gebaut worden, die du Amalek nanntest. Von ihr drohen keine Gefah-
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ren, aber in Amalek lauern Fallen und Roboter. Ich habe den Weg zur Schatzkammer mit Signalbojen markieren lassen, denn sehr leicht verirrt man sich hier. Außerdem wird unser Weg von mehreren Kampfgruppen abgeschirmt.« »Warum benutzen wir nicht die Spiegel?« erkundigte sich die Arkonidin. Teklas Gesicht verdüsterte sich. »Die hat Orthrek zerstören lassen«, sagte er zornig. »Angeblich, weil von einem der sogenannten Spiegel gefährliche Fremdintelligenzen herüber und durch den anderen Spiegel in die Schatzkammer kommen könnten. Es scheint da irgendwo eine Nebelwelt zu geben, auf der sich die Überlebenden eines lange zurückliegenden Weltraumkriegs immer noch bekämpfen. Oder Orthrek wollte seine Stellung als Mitglied des Energiekommandos bloß hochspielen, was weiß ich.« »Orthrek ist vom Geheimdienst?« fragte Raimanja entsetzt. Sie hatte früher von einigen Aktionen des akonischen Energiekommandos gehört – und was sie gehört hatte, war schlimm gewesen. Tekla von Khom lächelte grimmig. »Ich mag die Methoden des Energiekommandos auch nicht besonders, aber Tatsache ist, daß dein Volk uns schon vor fünfzig Jahren ausgelöscht hätte, wenn ein paar kleine Agentengruppen des Energiekommandos eure Schlagkraft damals nicht empfindlich geschwächt hätten. Und nun geht es in die Unterwelt.«
* Für Raimanja war der Flug zur Schatzkammer ein Alptraum. Nachdem der Gleiter eine Öffnung in der Oberflächenstadt passiert hatte, war er durch irrsinnig gewundene halbdunkle Gänge geflogen, die scheinbar immer wieder zum Ausgangspunkt zurückführten. In kurzen Abständen sah die Arkonidin große Scheinwerfer leuchten. In ihrer Nähe hielten sich schwerbewaffnete Raumlandes-
oldaten auf. Manchmal waren keine Soldaten zu sehen; dafür krachten und knatterten in den verborgenen Gängen dahinter die Entladungen von Energiewaffen. Tekla von Khom steuerte den Gleiter nach den Anzeigen des Pulsationspeilers auf dem Armaturenbrett. Das Gerät empfing die Signale der Bojen und bestimmte danach die Position. Einmal entdeckte Raimanja den Vorderkörper eines riesigen käferartigen Wesens, der aus einer Stollenmündung ragte. Vor einem tellerförmigen Rückenschild saß ein Schädel – dreimal so groß wie der Kopf eines Arkoniden oder Akonen, schwarz wie ein Kohlensack und mit riesigen Facettenaugen und Fühlern bewehrt. Die Arkonidin konnte nicht feststellen, ob der Riesenkäfer noch lebte. Während der Gleiter vorbeihuschte, rührte er sich jedenfalls nicht. Nur seine schwarze Oberfläche funkelte und schillerte, als die Lichtkegel der Gleiterscheinwerfer darüber hinwegwischten. Später schwebte der Gleiter durch eine Halle. Rechts lagen zwei umgeworfene Scheinwerfer, von denen nur noch einer leuchtete. Drei Raumlandesoldaten lagen verkrümmt daneben. Aus einer dahinter befindlichen Gangöffnung zuckte immer wieder ultrahelles Wabern, begleitet von donnernden Entladungen. Dort wurde offensichtlich gekämpft. »Sollten wir nicht versuchen, Ihren Leuten zu helfen?« fragte Raimanja. Tekla von Khom preßte die Lippen zusammen. »Nein!« erklärte er hart. »Die dort kämpfen und vielleicht sterben, sollen ja gerade verhindern, daß wir ernsthaft gefährdet werden. Wir dürfen nichts anderes tun, als unbeirrt weiterzufliegen.« Plötzlich öffnete sich links ein breiter Spalt in der Hallenwand. Eine Wolke seltsamer, unheimlicher geflügelter Wesen quoll oder wallte daraus hervor. Raimanja sah, daß die Wesen sich mit Hilfe großer, schimmernder Flügel durch die
30 Luft bewegten, daß sie vier Beine und einen annähernd würfelförmigen Kopf besaßen und von einem kurzhaarigen Fell bedeckt waren. »Die Geflügelten!« flüsterte Raimanja, als sie sich der Warnung von ANTE erinnerte. »Wie?« fragte der Akone. Bevor er begriff, was die Arkonidin vorhatte, hielt Raimanja schon seinen Blaster in der Hand und feuerte auf den Schwarm der Geflügelten. Einige der Wesen explodierten so heftig, als trügen sie Sprengladungen am Leib. Glühende Fetzen jaulten über den Gleiter hinweg; einer streifte Teklas rechten Oberarm, zerriß die Kombination und fügte dem Akonen eine Fleischwunde zu. Tekla von Khom stieß eine Verwünschung aus und riß den Gleiter steil nach oben. Raimanja wäre beinahe über den Bordrand gefallen. Mit der linken Hand klammerte sie sich fest, mit der rechten hielt sie weiter den Blaster und schoß auf die Geflügelten, die sich anschickten, dem Fahrzeug zu folgen. Wieder gab es heftige Explosionen. Ein Splitterregen prasselte gegen den gepanzerten Boden des Gleiters. Es hörte sich an, als trommelten Hagelkörner auf ein leeres Eisenfaß. »Das müssen robotische Konstruktionen sein«, meinte Tekla von Khom, als sie die Halle hinter sich gelassen hatten. »Lebewesen wären nicht so heftig explodiert. Aber beim Rückflug hältst du dich bitte zurück, Raimanja. Die Geflügelten sind die besten Wächter, die wir uns für AkonAkon denken können.« »Caycon!« fuhr Raimanja ihn an. Der Akone nahm ihr gelassen den Blaster aus der Hand, schob ihn in seinen Gürtelhalfter zurück und setzte den Flug ungerührt fort. Durch einen großen Schacht schwebten sie schließlich in die Schatzkammer hinab. Raimanja hätte die Schatzkammer nicht wiedererkannt, wenn nicht die goldene Helligkeit gewesen wäre. Der Raum selbst sah völlig anders aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. Seine Wände waren begradigt worden,
H. G. Ewers die meisten der Unebenheiten beseitigt. Nur noch wenige Vorsprünge ragten aus dem Fels, gekrönt von Tier- und Menschenstatuen. Die zahllosen verspielten Nischen und Erker waren verschwunden. Der gewaltige Saal hatte seinen Charakter völlig verändert; er hätte in einem akonischen Herrscherpalast stehen können. Und noch etwas war anders geworden. In der Mitte der gewaltigen Halle erhob sich ein gläserner Turm von ebenfalls gewaltigen Dimensionen. Mit einem Durchmesser von zirka dreißig Metern stieg er naht- und fugenlos aus dem geglätteten, mit einer schimmernden Masse überzogenen ehemaligen Steinboden, stieg bis hinauf zur scheinbar himmelhohen Decke und schien sich dort noch fortzusetzen. Raimanja blickte verwundert auf den gläsernen Turm, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den tiefschwarzen Sockel, der im Innern des Turmes stand. Das Material des Sockels schien das Licht seiner Umgebung aufzusaugen, so daß kein einziges Photon reflektiert wurde. Auf dem Sockel aber befand sich ein gläserner Würfel von etwa drei Metern Kantenlänge – und mitten in diesem Würfel schwebte oder schwamm ein Kind. »Caycon!« schrie Raimanja und stürzte auf den Turm zu. Sie prallte gegen die Wand und merkte an der besonderen Art des elastischen Widerstands und einer gewissen Wärmeausstrahlung, daß der Turm nicht gläsern war. Seine Außenhülle bestand aus einem Energiefeld. Raimanja fühlte sich an den Armen ergriffen und zur Seite geführt. Einer der Männer, die sie führten, war Tekla von Khom, den anderen erkannte sie als Orthrek. »Was habt ihr mit meinem Sohn gemacht?« schrie Raimanja und versuchte, sich loszureißen. »Es geht ihm besser als irgendeinem Kind im Universum«, erklärte Tekla von Khom. »Das, worin er sich befindet, ist sein kristallener Mentor. Dort wird dein Sohn achtzehn Jahre lang bleiben, wird von seinem Mentor
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ernährt, gepflegt, behütet und erzogen werden, bis er erwachsen ist. In diesem Augenblick schaltet sich das Mentorprogramm ab, dafür wird das Schlafprogramm aktiviert. Dein Sohn wird schlafen, bis wir zurückkehren, um ihn aus dem Schlafkristall zu befreien und nach Arkon zu bringen.« »Das ist ungeheuerlich!« schrie Raimanja und wand sich in den fest zupackenden Händen der beiden Akonen. »Ihr seid Untiere, Dämonen! Laßt meinen Sohn frei – oder die Götter sollen euch zu Staub zerblasen!« Es gelang ihr, sich von Teklas Griff zu befreien und dem Wissenschaftler den Ellbogen ins Gesicht zu stoßen. Tekla von Khom taumelte zurück. Orthrek schnaufte unwillig, dann lähmte er Raimanjas peripheres Nervensystem mit einem Spezialgriff. »Sie hat durchgedreht«, erklärte er. »Wir müssen sie in die Bordklinik bringen und mit unserem Start warten, bis sie sich von dem Schock erholt hat.« Tekla von Khom tupfte sich die blutenden Lippen mit einem Tuch ab. »Diese Frau ist verzweifelt und zu allem fähig«, sagte er. »Ich würde sie in einen langjährigen Unterkühlungs-Tiefschlaf versetzen lassen, wenn unsere Berechnungen nicht ergeben hätten, daß Akon-Akon sich nur dann voll entwickeln kann, wenn seine Mutter auf dem gleichen Planeten lebt, so daß er ihre emotionelle Ausstrahlung empfängt.« Die beiden Männer hoben Raimanja an und legten sie in den Gleiter. Dann stiegen sie dazu und starteten.
Jedenfalls wußte ich jetzt, daß mein erster Eindruck, den ich, in der Relativzukunft beziehungsweise meiner eigenen Zeitepoche von der riesigen Halle gewonnen hatte, falsch gewesen war. Ich hatte angenommen, die Halle wäre von Architekten gebaut worden, die sich grundlegend von denen unterschieden, die die in sich gekrümmte Stadt erbaut hatten. Jetzt wußte ich, daß das nicht stimmte und daß dieser Eindruck deshalb entstanden war, weil in der Halle nachträglich von den Akonen Umbauten vorgenommen worden waren, um den Mentorkristall unterzubringen. Während Raimanja zum Raumschiff zurückgebracht wurde, bemerkte ich, daß die Lähmung ihres peripheren Nervensystems schneller abklang, als es bei dem von Orthrek angewandten Griff normalerweise der Fall gewesen wäre. Ich wunderte mich darüber, denn wie ich den Agenten des akonischen Energiekommandos kennengelernt hatte, pflegte er perfekte Arbeit zu leisten. »Vielleicht ist Orthrek abgelenkt worden«, teilte mein Pflegevater mir mit. »Wodurch?« erkundigte ich mich. Als Antwort erhielt ich den Eindruck eines Lächelns. Fartuloon schien sich über meine Unwissenheit zu amüsieren. Folglich beruhte meine Unwissenheit darauf, daß ich die bekannten Fakten nicht folgerichtig verarbeitet hatte. Ich dachte angestrengt nach. Dabei beobachtete ich weiterhin die Arkonidin und bemerkte, daß sie sich nichts anmerken ließ, sondern die Gelähmte spielte. Raimanja hatte demnach etwas vor …
* Es war ein eigentümliches Gefühl, die Geschehnisse auf Perpandron zu beobachten, waren sie doch die Vorgeschichte von Ereignissen, in denen ich Jahrtausende später eine aktive Rolle spielen würde – oder wie man sich sonst ausdrücken konnte, wenn man in der Vergangenheit von einer Relativzukunft sprach, die man bereits als Gegenwart erlebt hatte.
7. Raimanja zitterte innerlich, doch äußerlich war ihr nichts anzumerken. Sie wunderte sich, daß Orthrek das Abklingen der Lähmung nicht bemerkte. Anscheinend war der Einzelkämpfer so von der Unfehlbarkeit seiner Nahkampftricks überzeugt, daß er gar nicht auf den Gedanken kam, sich davon zu überzeugen, ob die Wir-
32 kung seines Lähmgriffs anhielt oder nicht. Dennoch war es schwierig für die Arkonidin, sich so zu verhalten, als ob sie sich nicht bewegen – ja, nicht einmal mit den Lidern oder den Lippen zucken – konnte. Orthrek hatte ihr die Lider herabgezogen, damit die Augäpfel nicht austrockneten, und sie hütete sich davor, sie auch nur einen Spaltbreit zu öffnen. Aber sie konnte alles hören, was um sie her geschah – und sie hörte jedes Wort, das zwischen Orthrek und dem Wissenschaftlichen Kommandanten gewechselt wurde. Dadurch erfuhr sie, daß die Akonen in Kürze starten und Perpandron verlassen würden. Sie selbst sollte in der kleinen Siedlung zurückgelassen werden, die die Akonen in der Nähe ihres Landeplatzes angelegt hatten. Tekla von Khom würde der akonischen Regierung Bericht erstatten und ihr damit die Möglichkeit geben, achtzehn Jahre später wieder ein Raumschiff nach Perpandron zu schicken, um den Jungen abzuholen. Da Raimanja zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gebraucht wurde, würde man sie einfach auf dem Planeten zurücklassen. Letzteres schreckte die Arkonidin nicht so sehr wie der Gedanke, daß ihr Sohn von den Feinden ihres Volkes dazu mißbraucht werden sollte, die Arkoniden indirekt wieder unter den Einfluß der Akonen zu bringen. Ganz abgesehen davon, daß der junge Caycon, der bereits vor der Geburt genetisch manipuliert worden war, im Mentorkristall seine angestammte Persönlichkeit voll und ganz verlieren würde. Raimanja war entschlossen, alles zu tun, um das zu verhindern. Sie legte sich auch einen Plan zurecht. Er würde allerdings nur gelingen, wenn Orthrek nicht doch noch merkte, daß sie nicht mehr gelähmt war. Orthrek merkte nichts. Im Raumschiff angekommen, brachten die beiden Akonen Raimanja ins Bordhospital und wiesen die Mediziner an, sie zu versorgen. Da die Ärzte gerade drei Raumlandesoldaten operierten, die bei den Kämpfen im Labyrinth der Stadt Amalek schwer ver-
H. G. Ewers letzt worden waren, kümmerte sich vorläufig nur ein Medoroboter um sie. Der Robot störte sich nicht daran, daß die periphere Lähmung verschwunden war. Er injizierte Raimanja ein mildes Sedativum, kombiniert mit einem schnellwirkenden Regenerationspräparat, und ließ sie dann in ihrer Kabine allein. Kaum hatte der Medoroboter die Hospitalkabine verlassen, richtete Raimanja sich auf, suchte ihre Kleidung zusammen und zog sich an. Sie fühlte sich etwas träge. Das kam von dem Sedativum, aber solange sie in Bewegung blieb, würde seine Wirkung nicht stärker werden. Sie durfte nur nicht ausruhen und die Augen schließen. Das Schott der Kabine war unverschlossen, da Orthrek sicher war, daß Raimanja noch einige Zeit gelähmt bleiben würde. Aber als die Arkonidin auf den Korridor trat, wäre sie beinahe von einigen Akonen umgerannt worden, die schwerverwundete Männer begleiteten. Medoroboter verabreichten den Verwundeten noch während des Transports Injektionen. Schon glaubte Raimanja sich verraten, da waren die Akonen auch bereits vorbei. Sie hatten sie kaum angesehen. Raimanja begriff, daß diese Männer mit ihren eigenen Problemen reichlich beschäftigt waren und gar nicht daran dachten, sich auch noch um sie zu kümmern. Für einen Augenblick spürte die Arkonidin Mitleid mit diesen Männern in sich aufwallen. Sie verdrängte dieses Gefühl, indem sie sich immer wieder sagte, daß diese Leute Feinde waren und daß sie niemals zu ihrer Basis zurückkehren durften, wenn die Arkoniden nicht erneut unter die Herrschaft der Akonen geraten sollten. Sie gelangte unbehelligt zur Waffenkammer. Aber als sie versuchte, das Panzerschott zu öffnen, mußte sie erkennen, daß sie das niemals schaffen würde. Das elektronische Sperrschloß war so kompliziert, daß es sich nur mit dem Original-Kodegeber öffnen lassen würde. Und gewaltsames Eindringen kam auch nicht in Frage, da bei ei-
Die Drachenwelt nem entsprechenden Versuch eine Alarmanlage aktiviert worden wäre. Raimanja schlich weiter durch das Schiff. Als sie nach einstündigem Umherirren merkte, daß sie so nichts erreichen würde, kehrte sie in die Bordklinik zurück und bewaffnete sich mit einer Injektionspistole, deren Kammer mit einer Kapsel schnellwirkendem Betäubungsmittel gefüllt war. Sie verbarg die Pistole in der hinteren Beintasche ihrer Kombination und verließ die Klinik wieder. Diesmal begab sie sich zum Wohndeck für einfache Mannschaftsdienstgrade. Neben den Kabinenschotten waren Leuchtplatten an den Wänden, die anzeigten, ob der jeweilige Bewohner an- oder abwesend war. Darunter befanden sich die Meldetasten, mit denen eventuelle Besucher sich zu melden hatten. Raimanja drückte die Meldetaste einer belegten Kabine. »Wer ist da?« klang es aus dem Lautsprechergitter der Gegensprechanlage. »Ich!« flüsterte Raimanja geheimnisvoll. Wie sie erwartet hatte, siegte die Neugier des Bewohners. Das Schott öffnete sich. Raimanja trat ein und sah sich einem kräftig gebauten Raumlandesoldaten gegenüber, der offenbar soeben geduscht hatte. »Was willst du?« fragte der Soldat. Raimanja näherte sich ihm. »Was soll ich schon wollen!« erwiderte sie mit laszivem Lächeln. »Ich bin schließlich noch keine alte Frau.« Sie blieb dicht vor dem Akonen stehen, blickte zu ihm auf und fingerte mit der rechten Hand nach der Injektionspistole. In den Augen des Raumsoldaten glomm Begierde auf, dann wurde sie von Zorn verdrängt. »Verschwinde!« fauchte er. »Minderwertiges Gezücht derer, die auf ihrer Welt die Nahrung mit eigenen Händen erzeugen! Wie kannst du es wagen, dich einem Akonen anzubieten!« Er holte zu einem Schlag aus. In diesem Augenblick preßte Raimanja ihm den Dü-
33 senkopf der Injektionspistole in die Halsgrube und drückte auf den Auslöser. Die Augen des Raumsoldaten verdrehten sich. Seine erhobene Hand sank schlaff herab. Dann brach er wie vom Blitz gefällt zusammen und stürzte polternd zu Boden. Raimanja zog ihm den Blaster aus der Gürtelhalfter, öffnete das Griffstück und nahm das Energiemagazin heraus. Es war ein frisches Magazin und noch voll. Raimanja verbarg das Magazin in einer Tasche ihrer Kombination und eilte in die Triebwerkssektion. Da sie sich schon immer besonders für die Transitionstechnik interessiert hatte, besaß sie auf diesem Gebiet einige Spezialkenntnisse. Außerdem genügte das Wissen um einige wenige Einzelheiten. Raimanja öffnete eine Abdeckplatte, erkannte darunter die Pole des Energieschockauslösers, der jenen Hochenergieschock erzeugte, der notwendig war, um die Sprungtriebwerke eines Raumschiffs schlagartig zu aktivieren. Die Arkonidin befestigte das Energiemagazin mit Klebeband so zwischen den beiden Polen des Energieschockauslösers, daß es genau in der Überschlagszone lag. Danach legte sie die Abdeckplatte wieder darüber, kehrte in ihr Klinikzimmer zurück und legte sich aufs Pneumobett. Als die Mediziner kamen, um sie zu untersuchen, schlief Raimanja fest …
* Eine Woche danach wurde Raimanja aus der Bordklinik entlassen. Orthrek brachte sie mit einem Gleiter in die kleine Siedlung neben dem Landeplatz. »Hier wirst du leben, während AkonAkon in seinem Mentorkristall heranwächst«, erklärte er. »Du hast im Lagerhaus Vorräte für ein ganzes Jahr, so daß du dich in aller Ruhe auf das Leben als Jägerin umstellen kannst. Ein Brunnen, den wir gebohrt haben, wird dich mit Wasser versorgen, und ein Roboter wird dir die niedrigsten Arbeiten abnehmen.«
34 Raimanja protestierte nicht, weil sie sicher war, daß es nicht so kommen würde, wie der Akone es ihr erklärte. »Welche Waffen bekomme ich für die Jagd?« fragte sie ruhig. Orthrek blickte sie ein wenig verwundert von der Seite an. – Er hatte offenbar wilden Protest erwartet und konnte sich die gelassene Haltung der Arkonidin nicht erklären. »Du bekommst einen Intervallnadler mit hundert Energiemagazinen, ein automatisches Gewehr, das Raketen mit hochbrisanten Sprengköpfen verschießt, ausreichend Munition, einen Handblaster sowie ein Vibratormesser und verschiedene andere Geräte und Werkzeuge.« »Wo sind diese Waffen?« erkundigte sich die Arkonidin. Orthrek lächelte. »Sie sind in der Waffenkammer im Haupthaus. Allerdings ist die Kammer mit einem Zeitschloß gesichert, das sich erst eine halbe Stunde nach unserem Start ausschaltet. Dafür wirst du sicher Verständnis aufbringen.« Raimanja lächelte undefinierbar. »Die überlegenen, hochzivilisierten Akonen fürchten das primitive arkonidische Barbarenmädchen«, sagte sie sarkastisch. »Natürlich, das verstehe ich, zumal ihr euch zu Recht fürchtet.« »Wir Akonen werden noch existieren, wenn man im Universum nicht einmal mehr den Namen Arkoniden kennt«, erwiderte Orthrek stolz. »Und weißt du auch, warum, Raimanja?« Die Arkonidin lächelte. »Weil ihr euch jeden Tag von Kopf bis Fuß wascht, euch niemals mit minderwertigen Subjekten fortpflanzt und fest daran glaubt, daß ihr das Monopol auf den höchsten Intelligenzquotienten habt«, spottete sie. »Ihr seid so intelligent, daß ihr gar nicht mehr wißt, was Schläue ist.« Orthrek musterte die Arkonidin argwöhnisch. »Wenn ich nicht wüßte, daß du die ganzen Tage über ständig überwacht wurdest,
H. G. Ewers ich würde denken, du hättest irgend etwas angerichtet«, sagte er. Dann lächelte er herablassend. »Aber du willst mich nur beunruhigen. Ich weiß wohl, was Schläue ist, Raimanja, sonst lebte ich schon lange nicht mehr.« Er faßte sie am Arm und führte sie ins Haupthaus. Raimanja sah, daß das Gebäude alles enthielt, was jemand brauchte, der den Rest seines Lebens hier wohnen sollte. Weder eine vollautomatische Küche fehlte noch die Wasch- und Reinigungsautomaten, Annäherungsdetektoren, eine Schaltzentrale mit Pulten für die Rundumverteidigung gegen wilde Tiere, für die beiden Fusionsmeiler, die die Siedlung versorgten, für Rechenoperationen mit Hilfe einer kleinen Positronik und für die Herstellung von synthetischen Nahrungsmitteln und Getränken. Raimanja wunderte sich über den Luxus, den die Akonen ihr überließen. Doch sie sagte natürlich nichts, denn sie wußte ja, daß sie Perpandron nie wieder verlassen würde – und sie wußte außerdem, daß sie hier nicht allein leben würde, sondern zusammen mit ihrem Sohn Caycon. Als Orthrek sich von ihr verabschiedete, ließ er den Gleiter zurück. Raimanja sah ihm nach, wie er zu dem großen Kugelraumschiff hinüberging und es durch die Mannschleuse betrat. Wenig später baute sich um die Raumkugel ein flimmerndes Feld auf, dann stieg es langsam und mit durchdringendem Summen in die Höhe. Es befand sich bereits außer Sichtweite, als die Impulstriebwerke im Ringwulst gezündet wurden. Das Donnergrollen, in den oberen Schichten der Atmosphäre von Perpandron ausgelöst, rollte heran und verebbte wieder. Raimanja holte tief Luft, dann schwang sie sich in den Gleiter und zog ihn hoch. Mit maximaler Beschleunigung trieb sie ihn vorwärts, in Richtung auf die Stadt Amalek. Als sie die Oberflächenstadt erreichte, sah sie, daß die Akonen sie künstlich gealtert hatten, wie es ihre Absicht gewesen war. Die Stadt hatte sich in ein Ruinenfeld ver-
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wandelt, und die Ruinen sahen so aus, als wären sie durch viele Jahrtausende natürlichen Zerfalls entstanden. Schon keimte zwischen ihnen der Samen von Bäumen und anderen Pflanzen, die die Akonen in Zuchtbehältern in den Boden gebracht hatten, um dafür zu sorgen, daß die Ruinen so bald wie möglich überwuchert wurden. Raimanja hatte große Mühe, die Stelle wiederzufinden, an der sie damals mit Tekla von Khom in die Stadt Amalek eingedrungen war. Sie entdeckte sie nach längerer Suche schließlich unter der Ruine eines mächtigen Torbogens. Dieser Torbogen war damals nicht dagewesen. Die Akonen hatten ihn also nachträglich angebracht, um den Eingang zu tarnen. Raimanja fühlte, wie ihr Herz klopfte. Bald würde sie bei ihrem Sohn sein. Sie steuerte den Gleiter unter den Torbogen, so daß er genau über der Öffnung hing. Dann ließ sie ihn absinken. Als der Boden des Gleiters sich auf gleicher Höhe mit dem Rande der Öffnung befand, gab es eine grelle Entladung. Der Gleiter wurde herumgewirbelt, streifte einen steinernen Torbogen, ratschte funkensprühend an einem Mauerrest entlang und landete in einem staubigen Gebüsch. Raimanja war nicht angeschallt. Sie wurde aus dem offenen Fahrzeug geschleudert, rollte über einen niedrigen Sandhügel und stürzte in einen natürlich wirkenden Teich, der von den Akonen angelegt worden war. Wahrscheinlich rettete der Sturz ins Wasser ihr das Leben. Der Anprall gegen eine Mauer hätte sie zumindest schwer verletzt. Raimanja tauchte unter, kam prustend wieder hoch und schwamm zügig zum Ufer. Sie war wütend auf die Akonen, die den Eingang nach Amalek mit einem Energieschirm versiegelt hatten, ohne sie zu warnen. Aber sie war nicht gewillt, so schnell aufzugeben.
* Raimanja hatte stundenlang nach einem
zweiten Eingang in die Stadt gesucht – vergeblich. Körperlich und geistig erschöpft kehrte sie schließlich an den geschützten Eingang zurück. Sie setzte sich auf einen niedrigen Mauerrest, stützte das Kinn in die Hände und gab sich der Resignation hin. Nach einiger Zeit blickte sie auf und bemerkte, daß die Sonne tief stand. In weniger als einer Stunde würde es dunkel werden, dann war es nicht ratsam, sich allein in der Wildnis herumzutreiben. Die Arkonidin beschloß, ihr Vorhaben für heute aufzugeben und zur Siedlung zurückzukehren. Müde schlurfte sie zu dem auf der Seite liegenden Gleiter, um festzustellen, ob er noch flugfähig war. Sie mußte dabei an dem kreisrunden Loch vorbei, unter dem Amalek lag. Versehentlich stieß ihr linker Fuß an einen Stein. Der Stein flog davon, rollte über das Loch und verschwand darin. Raimanja schloß in Erwartung eines Entladungsblitzes reaktionsschnell die Augen. Als der Blitz ausblieb, öffnete sie sie und trat verwundert an den Rand des Loches. Von dem Stein war nichts mehr zu sehen. Die Arkonidin trat zurück, hob einen etwas größeren Stein auf, warf ihn auf die Öffnung zu und beobachtete diesmal zwischen gespreizten Fingern hindurch. Sie konnte genau sehen, wie der Stein in die Öffnung fiel und in den darunter liegenden Schacht stürzte. Rasch trat sie wieder vor und lauschte. Kurz darauf vernahm sie das Aufprallgeräusch. Der Energieschirm war erloschen! Raimanja konnte es sich nicht erklären. Sie wußte nur, daß sie die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen durfte. Sie kümmerte sich nicht mehr um den Gleiter, weil sie fürchtete, daß sich der Schutzschirm in der Zeit, die sie brauchte, um das Fahrzeug zu untersuchen, wieder schloß. Ohne zu zögern, sprang sie in den Schacht. Es war ein Risiko, aber die Sorge um ihren Sohn ließ Raimanja das Risiko eingehen, sich zu Tode zu stürzen. Sie verließ sich auf die Aussage Tekla von Khoms, nachdem die
36 Schächte innerhalb von Amalek mit einer Detektorschaltung versehen worden waren, die bewirkte, daß sich Antigravfelder aktivierten, sobald ein intelligentes Wesen einen Schacht betrat. Jetzt spürte Raimanja am eigenen Leibe, daß diese Aussage stimmte. Sie war kaum einen Viertelmeter tief gefallen, als ein Kraftfeld sie mit schwachem Ruck auffing, sich dann abschwächte und sie sanft nach unten schweben ließ. Erst als die Arkonidin den Grund des Schachtes erreichte, erinnerte sie sich an die Schwarzen und die Geflügelten, die sie bei ihrem ersten Besuch der Stadt gesehen hatte und von denen die Geflügelten sich als aggressiv, heimtückisch und gefährlich erwiesen hatten. Sie preßte die Lippen zusammen, als ihr klar wurde, daß sie, waffenlos wie sie war, überhaupt nicht für eine gewaltsame Auseinandersetzung gerüstet war. Die erste Begegnung mit Geflügelten mußte tödlich für sie ausgehen. Dennoch drang sie in die geheimnisvolle Anlage ein. Die Sorge um ihr Kind war stärker als alle Ängste. Nachdem ihre Augen sich an das eigenartige Licht gewöhnt hatten, das eine Orientierung erleichterte, drang sie bis zu einer Art Verteilerhalle vor. Dort blieb Raimanja allerdings ratlos stehen. Es mündeten sechs Tunnels in die Verteilerhalle. Die Frage war, welcher Tunnel sie näher an die Schatzkammer mit dem Mentorkristall bringen würde. Während die Arkonidin verbittert die Tunnelöffnungen musterte, spürte sie, wie sich etwas in ihr Bewußtsein schob, etwas, das wie eine Eingebung oder eine innere Stimme war. Drei rote Sonnen! Raimanja zuckte zusammen, als sie im nächsten Augenblick in der einen Tunnelmündung drei rote Lichtpunkte schimmern sah. Sie nahmen die Positionen der Eckpunkte eines gleichschenkligen Dreiecks ein und schwebten offenbar schwerelos in der Luft. Die Arkonidin schluckte, zögerte aber noch. Eine Weile später bemerkte sie, daß
H. G. Ewers die drei roten Lichtpunkte sich langsam um einen unsichtbaren gemeinsamen Schwerpunkt drehten – wie es drei Sonnen gleicher Konstellation tun würden. Das gab den Ausschlag. Entschlossen betrat Raimanja den Tunnel mit den drei roten Sonnen. Sie verschwanden spurlos, als sie die Tunnelmündung durchschritten hatte. Dafür leuchteten sie an der nächsten Kreuzung auf und wiesen ihr abermals den Weg. Beinahe wie in Trance, wie in einem Traum, in dem einem alles gelingt, gelangte Raimanja in die von goldener Helligkeit erfüllte riesige Halle mit dem Mentorkristall. Erst dort erwachte sie aus der Trance. Sie blickte durch die Energiehülle, sah ihr Kind und wollte darauf zueilen. Im letzten Moment besann sie sich darauf, daß die energetische Außenwand des Turmes sie schon einmal aufgehalten hatte. Sie würde niemals zu Caycon gelangen, wenn sie nicht zuvor den betreffenden Energieschirmprojektor ausschaltete. Verzweifelt irrte Raimanja in der Halle umher, suchte nach einer Schaltung – doch es gab keine. Komm! Raimanja erstarrte. Da war sie wieder gewesen, diese eigenartige innere Stimme, die sich von außen in ihr Bewußtsein zu schieben schien. Und auch der Inhalt ihrer Botschaft sprach dafür, daß sie von außen gekommen war. Die Arkonidin schaute zu ihrem Kind. Kann ein Baby sich telepathisch mitteilen? fragte sie stumm. Und kann es Energieschirme zusammenfallenlassen? Wie zur Antwort begann der zylindrische Energieschirm zu flackern. Der gläserne Turm schrumpfte und erlosch. Langsam sank der schwarze Sockel in den Boden, bis nur noch das, was wie ein gläserner Würfel aussah, über dem Boden schwebte – und in ihm das Kind. Zuerst zögernd, dann mit festem Schritt, ging Raimanja auf den gläsernen Würfel zu, streckte vorsichtig die Hände aus – und
Die Drachenwelt seufzte erleichtert, als die Hände mühelos durch die Wand des Würfels drangen. Als Raimanjas Hände sich behutsam unter das Kind legten, richteten sich die großen rötlichen Augen auf sie – und Raimanja glaubte in ihnen bewußtes Begreifen zu sehen. Aber sie war viel zu glücklich, um sich Gedanken über solche zweitrangigen Wahrnehmungen zu machen. Sie hob das Kind aus dem gläsernen Würfel, drückte es an ihre Brust und ging unbeirrbar den Weg zurück, den sie gekommen war. Stunden später schwebte sie den Schacht aufwärts, betrat festen Boden und erblickte im bleichen Schein des Mondes den auf der Seite liegenden Gleiter. Irgendwo in der Nähe schlich Getier herum. Deshalb wagte Raimanja nicht, das Baby abzulegen, während sie den Gleiter überprüfte. Sie kletterte hinein, schaltete und merkte, daß die Gyrotrone ausgefallen waren, so daß das Fahrzeug seine Fluglage nicht automatisch stabilisierte. Es ließ sich jedoch noch starten und beschleunigen – und ein Scheinwerfer brannte noch. Raimanja startete, zog den Gleiter vorsichtig hoch und steuerte ihn zur Siedlung zurück. Sie atmete auf, als sie schräg unter sich den Hauptbau erblickte. Im nächsten Augenblick erschrak sie – denn kaum fünfhundert Meter vom Hauptbau entfernt stand eines jener diskusförmigen akonischen Beiboote auf seinen Landestützen im Gras. Akonen auf Perpandron, das konnte nur bedeuten, daß einige Männer der Zerstörung ihres Schiffes entkommen und zurückgeflogen waren. Verstört wollte Raimanja den Gleiter von der Siedlung wegsteuern, da blitzte es unten grell auf. Der Energiestrahl fraß sich in das heckseitige Pulsationstriebwerk, sodaß der Gleiter nicht mehr beschleunigt werden konnte. »Wenn du nicht sofort landest, schießen wir dich herunter!« schrie eine zornige Stimme. Mit Rücksicht auf das Baby verzichtete
37 die Arkonidin auf einen Fluchtversuch. Sie verringerte die Leistung des Antigravprojektors – und kurz darauf setzte der Gleiter zwischen dem Hauptbau und einem Nebengebäude auf. Aus dem Schatten eines großen Baumes traten drei Akonen auf den mondbeschienenen freien Platz. Sie trugen einfache Raumschiffskombinationen, die an vielen Stellen zerfetzt waren, hatten zerkratzte blutige Gesichter und hielten drei Blaster auf Raimanja gerichtet. »Wie hast du es fertiggebracht, unser Schiff zur Explosion zu bringen?« fragte der mittlere der drei Männer. Raimanja erkannte Orthreks Stimme und antwortete stolz: »Indem ich nicht nach einer perfekten Methode, sondern nach einer möglichst starken Wirkung strebte. Eine Akonin hätte in meiner Lage versagt.« »Dafür wirst du büßen!« Das war die Stimme des Schiffskommandanten Perc von Aronthe. »Nein, warte!« sagte Tekla vom Khom. »Worauf sollen wir warten?« rief Orthrek zornig. »Wir sind verpflichtet, Raimanja zu bestrafen, denn sie hat durch einen Sabotageakt ohne zwingende Not getötet und unseren Plan gefährdet. Die Auslöschung ihrer Intelligenz ist die einzige angemessene Strafe und beugt gleichzeitig weiteren feindlichen Akten vor.« »Nicht so voreilig«, sagte nun auch Perc von Aronthe. »Bedenke, daß unser Beiboot niemals zur Basis zurückkehren kann. Sein Aktionsradius ist zu gering. Und unser Funkgerät ist zu schwach, um den nächsten unserer Stützpunkte zu erreichen. Wir werden demnach für immer auf Perpandron bleiben müssen, denn die Basis weiß nicht, wohin wir das wache Wesen brachten. Den Planeten Perpandron haben wir erst später ausgewählt. Wenn wir schon bis zu unserem Tode hier bleiben müssen, ist es da nicht besser, wir sind zu viert als nur zu dritt?« »Das ist richtig«, pflichtete Orthrek ihm bei. »Außerdem müssen wir Raimanja, als
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Mutter des wachen Wesens, beschützen.« Raimanja glaubte ihren Ohren nicht zu trauen, als sie den unmotivierten Stimmungsumschwung bei den drei Akonen bemerkte. Es schien ihr, als würden sie unmerklich geistig gesteuert. Anders war ihr sprunghaft verändertes Verhalten nicht zu erklären. Sie drehte sich so, daß das Mondlicht voll auf Caycon fiel und schaute dem Baby ins Gesicht. Aber sie konnte nichts entdecken, was ihr Kind von einem anderen Kind unterschied. Oder hatte Caycon verschmitzt gelächelt? Raimanja wandte sich wieder den drei Schiffbrüchigen zu, die verwirrt und verlegen vor ihr standen. »Ihr werdet müde sein«, sagte sie. »Und Caycon braucht Nahrung und Ruhe. Gehen wir ins Haupthaus!« »Ja, Raimanja«, sagte Tekla von Khom, senkte den Kopf und ging mit hängenden Schultern zum Hauptbau. Seine Gefährten folgten ihm. Orthrek hielt Raimanja die Tür auf.
* Ich wunderte mich, denn die drei Akonen hatten offenbar nichts dagegen, daß AkonAkon in der Siedlung blieb. Warum überhaupt Akon-Akon? Warum nannte sich das »wache Wesen« so, wie es seine akonischen Manipulatoren gewollt hatten und nicht so, wie seine Mutter es gewünscht hatte? Und überhaupt: Es erschien mir undenkbar, daß ein Arkonide, dessen Namen gleich zweimal den Namen des Todfeindes enthielt, auch nur die geringste Chance gehabt hätte, auf Arkon in eine führende Position zu kommen. Er wäre, ob geistige Beeinflussung oder nicht, innerhalb weniger Wochen einem Attentat zum Opfer gefallen. »Vielleicht haben die Akonen sich die Namensgebung nicht ausreichend überlegt«, teilte Fartuloon mir mit. »Akonen überlegen sich alles genau«, er-
widerte ich. »Aber lassen wir das einmal beiseite. Sollen wir vielleicht achtzehn Jahre lang auf Perpandron herumgeistern – und das im Sinne des Wortes –, bis dieser Caycon-Akon erwachsen ist?« Kaum hatte ich das ausgesprochen, als mir schwindlig wurde. Noch bevor ich meine eigene Frage, ob ein Bewußtseinsinhalt unter Schwindelanfällen leiden konnte, beantwortet hatte, teilte mir mein Pflegevater mit: »Offenbar erspart uns eine Art Zeitservice das jahrelange Herumgeistern. Oder solltest du noch nicht gemerkt haben, daß Raimanjas Sohn die Statur eines sechsjährigen Arkoniden hat?«
8. Raimanja hörte den vereinbarten Pfiff, blickte nach links und erkannte lächelnd Orthrek, der ihr zuwinkte. Der Akone stand unter einem Sdellabaum, auf dem lange wurstförmige Früchte wuchsen, die nach der Reifung zu Boden fielen und verschiedenen Tieren als willkommene Leckerei dienten. Besonders die Khurus, pferdeähnliche Tiere mit kurzen Rüsseln und scharfen Hauern, waren scharf auf Sdellabaumfrüchte. Und das war der Grund, warum Orthrek und Raimanja hier standen. Tekla und Perc hätten inzwischen auch schon da sein müssen. Die vier Personen waren am frühen Morgen von der Siedlung aufgebrochen und an vier verschiedenen Punkten am Rand der Khailek-Sümpfe aus dem Gleiter gestiegen. Der riesige Sdellabaum in der Mitte des Sumpfgebiets war der Treffpunkt, den sie vereinbart hatten. Wer zuerst dort ankam, sollte warten und sich bereithalten, die Tiere abzuschießen, die die später Kommenden vor sich her trieben. Raimanja freute sich, daß Orthrek und sie zuerst angekommen waren. Im Laufe der Jahre war die gegenseitige Abneigung immer geringer geworden – und bevor die Arkonidin und der Akone es sich versahen, war
Die Drachenwelt aus gegenseitiger Respektierung so etwas wie Zuneigung geworden, vielleicht sogar Liebe. Auf jeden Fall aber wußten beide, daß sie sich aufeinander verlassen konnten, und daß keiner von ihnen etwas tun würde, was dem anderen – und besonders Caycon – schaden konnte. Tekla von Khom und Perc von Aronthe verhielten sich dem Paar gegenüber weitgehend neutral. Sie akzeptierten die Verbindung, die normalerweise von jedem Akonen als abartig bezeichnet worden wäre. Raimanjas ursprüngliche Ahnung, daß ihr Sohn selbst einen geheimnisvollen Einfluß auf die Akonen ausübte und sie auf unerklärliche Weise veranlaßte, zusammenzuhalten und für sein und Raimanjas Wohlergehen zu sorgen, hatte sich längst zur Überzeugung verdichtet. Manchmal kam der Arkonidin ihr eigener Sohn unheimlich vor. Doch das waren Anwandlungen, die schnell vorübergingen. Caycon war ein Kind, dessen Erziehung keinerlei Probleme aufwarf. Vielleicht, weil es insgeheim selbst bestimmte, wie es erzogen werden sollte. Raimanja lächelte, dann wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und spähte durch das Wipfeldach nach oben. Sie sah, daß die Sonne den Zenit bereits überschritten hatte. »Orthrek!« rief sie leise. Der Akone blickte zu ihr und machte eine fragende Handbewegung. »Wenn wir nicht bald umkehren, sind wir bei Einbruch der Dunkelheit noch im Sumpfgebiet«, sagte Raimanja. »Ich weiß«, erwiderte Orthrek. »Aber wir müssen noch warten. Tekla und Perc könnten sich verirrt haben. Wenn sie verspätet eintreffen und wir sind schon weg, dann finden sie womöglich nicht mehr aus den Khaileks heraus.« »Ich weiß«, gab Raimanja zurück. Es war nicht das erstemal, daß der Wissenschaftler und der Raumschiffskommandant sich auf Perpandron verirrt hatten. Beide Männer waren fast total spezialisiert gewesen – der eine auf die Koordinierung wis-
39 senschaftlicher Fachgebiete und der andere auf die Sternnavigation – und konnten sich nur bis zu einem gewissen Grade auf völlig andere Lebensbedingungen umstellen. Eine Stunde verging, ohne daß die beiden Männer sich gezeigt hätten. Aber auch die Khurus ließen sich an diesem Tage nicht sehen. Schließlich kam Orthrek zu Raimanja herüber. »Wir kehren um«, sagte er. »Und zwar gehen wir in die Richtung, aus der Perc kommen sollte. Er hat den Gleiter zuletzt geflogen, und wenn er ihn am vereinbarten Platz abgestellt hat, dann werden wir ihn dort finden. Mit ihm können wir besser nach den beiden suchen.« Die Arkonidin gab ihr Einverständnis mit einer Geste zu verstehen. Schweigend wandten sie sich nach Süden. Unter ihren Stiefelsohlen schmatzte der sumpfige Boden. Insekten schwärmten gleich Rauchwolken auf. Sie näherten sich den beiden Personen, trafen aber keine Anstalten, sich auf sie zu stürzen. Anscheinend spürten sie instinktiv, daß das Blut von Akonen und Arkoniden für sie ungenießbar war. Und plötzlich stießen Raimanja und Orthrek auf Perc – oder vielmehr auf das, was von ihm noch übriggeblieben war. Eine gelb und rot gefleckte Raubkatze kauerte über dem Leichnam und hob fauchend den Kopf, als sie den Mann und die Frau witterte. Die Reißzähne in dem aufgerissenen Maul drohten furchterregend. Orthrek zögerte keinen Augenblick. Er legte den Intervallnadler an, ging mit der Waffe ins Ziel und drückte den Auslöser. Fünf Energiebündel jagten zur der Raubkatze, fuhren durch sie hindurch und entflammten ihr Fell. Das Tier sprang mit allen vieren hoch – und sackte dann tot über Percs schlimm zugerichtetem Leichnam zusammen. »Wir hätten ihn nicht allein gehen lassen sollen, aber er bestand ja darauf«, sagte Orthrek leise. Raimanja hörte nur mit halbem Ohr hin. Sie lauschte einem pfeifenden Laut nach,
40 der aus großer Entfernung herübergeweht war. Der Laut kam ihr bekannt vor. Er erinnerte sie an ein Erlebnis, das sie vor knapp sieben Jahren auf diesem Planeten gehabt hatte. »Was hast du, Raimanja?« fragte der Akone. Erneut ertönte ein Pfiff, diesmal so laut, daß auch Orthrek ihn nicht überhören konnte. Er wußte sofort, woher er ihn kannte, obwohl auch er ihn vor rund sechs Jahren zum letztenmal gehört hatte. »Ein Drache«, sagte er. »Sie sind harmlos, nicht wahr?« »Die ich damals kennenlernte, waren es«, antwortete Raimanja. »Obwohl ich mich zuerst vor ihnen fürchtete, weil ich heimlich in ihren nächtlichen Versammlungsort eingedrungen war.« Orthrek entspannte sich etwas. Plötzlich rauschte es in der Luft. Ein geflügeltes Tier mit langem Hals und dreieckigem Schädel bremste seinen Flug vor der schirmförmigen Krone eines Ukalandobaumes und flatterte vor einer bestimmten Stelle herum. »Tatsächlich, ein Drache«, stellte Orthrek fest. »Aber was will er dort oben?« »Vritra?« rief die Arkonidin. Und lauter: »Vritra!« Der Drache flatterte heftiger, und plötzlich hieb aus dem undurchsichtigen Blattgewirr der Ukalandobaumkrone eine krallenbewehrte Tatze nach ihm. Im nächsten Moment hatte Raimanja ihren Blaster gehoben, gezielt und gefeuert. Im Blattgewirr ertönte lautes Kreischen. Blätter, Zweige und Äste gerieten in wilde Bewegung. Raimanja feuerte abermals. Das Kreischen brach ab. Rauch und Dampf schossen explosionsartig aus der Baumkrone, dann stürzte der qualmende Körper einer Raubkatze sich überschlagend heraus, fiel in die Tiefe und schlug klatschend auf dem sumpfigen Boden auf. Der Drache hörte auf zu flattern, breitete die lederhäutigen Schwingen weit aus und segelte herab. Vor Raimanja landete er,
H. G. Ewers reckte den Kopf und schaute sie an. »Raimanja!« sagte er. »Wir haben uns lange nicht gesehen, doch ich vergaß dich nie.« »Danke, daß du uns gewarnt hast«, sagte Orthrek. »Die Raubkatze wollte sich in der Krone über mich schleichen und dann springen, nehme ich an. Ohne deine Hilfe wäre ich jetzt tot.« »Ich habe es für Raimanja getan«, erklärte Vritra, der längst zu voller Größe herangewachsen war. »Sie braucht dich. Wenn sie dich nicht brauchte, hätte ich nicht eingegriffen, denn du und deinesgleichen, ihr habt diese Welt meinem Volk verleidet. Seit es die Blinden Spiegel nicht mehr gibt, kümmern wir nur noch dahin, und wir werden bald ausgestorben sein.« Orthrek senkte verlegen den Kopf. Raimanja streckte die Hand aus und berührte zaghaft den Kopf des Drachen. »Sei ihm nicht böse, Vritra«, bat sie. »Er wußte nicht, daß ihr unter der Zerstörung der Blinden Spiegel leiden würdet. Können wir etwas für dein Volk tun?« »Ich glaube nicht«, antwortete Vritra. »Vielleicht erholen wir uns aus eigener Kraft. Ich muß jetzt weiter.« »Vielen Dank und alles Gute, Vritra«, sagte Raimanja. »Ich hoffe, wir sehen uns bald einmal wieder.« »Vielleicht!« erwiderte der Drache, schwang sich empor und flog dicht über den Wipfeln der Bäume davon. Orthrek blickte auf den Leichnam Percs. »Wir müssen ihn begraben und dann sofort weitergehen«, sagte er.
* Sie fanden den Gleiter, den Perc abgestellt hatte, kurz vor Sonnenuntergang am Südrand des Sumpfgebiets. Orthrek öffnete das Fahrzeug mit seinem Impulskodegeber und schwang sich hinter die Kontrollen. Raimanja nahm wortlos neben ihm Platz, dann startete der Mann den Gleiter. Er steuerte ihn mit Höchstgeschwin-
Die Drachenwelt digkeit in nördliche Richtung, überflog den riesigen Sdellabaum in der Mitte des Sumpfgebiets und drosselte die Geschwindigkeit. »Falls Tekla nicht zu weit nach Osten oder Westen abgekommen ist, müßten wir ihn sehen«, sagte der Akone. »Es wird gleich dunkel sein«, erwiderte Raimanja. Die Arkonidin hatte sich angeschnallt und beugte sich aus der offenen Seitentür, um das Gelände unter dem Gleiter besser beobachten zu können. Mehrmals sah sie Bewegung, aber es stellte sich jedesmal heraus, daß es sich um Tiere handelte. Als es dunkel wurde, schaltete Orthrek die Scheinwerfer an und aktivierte die Außenlautsprecher des Fahrzeugs. Seine vielfach verstärkte Stimme dröhnte auf das Sumpfgelände herab und rief nach dem Wissenschaftler. Aber Tekla von Khom antwortete nicht. Nachdem sie das gesamte Gelände zwischen dem Sdellabaum und Teklas Ausgangspunkt abgesucht hatten, zog Orthrek den Gleiter höher und ging auf Heimatkurs. »Heute erreichen wir nichts mehr«, erklärte er. »Morgen früh kommen wir wieder hierher und suchen weiter.« Obwohl es sinnlos ist! dachte Raimanja. Oder doch nicht? Hat es nicht immer Sinn, helfen zu wollen? Helfen wir nicht letzten Endes uns selbst, wenn wir versuchen, anderen zu helfen? Unser Streben mag nutzlos sein; sinnlos ist es gewiß nicht. »Du bist so nachdenklich, Raimanja«, sagte Orthrek leise und legte ihr eine Hand auf das linke Knie. »Du trauerst der Vergangenheit nach, nicht wahr?« Raimanja lächelte verloren und legte ihre Hand auf die Orthreks. »Haben wir nicht alle etwas, dem wir nachtrauern, Orthrek? Ich glaube, wir sollten das sogar ganz bewußt tun. Nur dürfen wir dabei nicht vergessen, daß die Vergangenheit nicht mehr beeinflußt werden kann, wohl aber die Zukunft.« »Du bist sehr klug«, erwiderte Orthrek. »Heute verstehe ich nicht mehr, wie ich ein-
41 mal auf dich herabsehen konnte, als wärest du im Vergleich zu Akoninnen minderwertig. Aber ich nehme an, daß Akon-Akon für meinen Gesinnungswandel verantwortlich ist.« »Warum sagst du Akon-Akon, obwohl du weißt, daß ich diesen Namen nicht gern höre?« »Ist das so schwer zu verstehen?« fragte Orthrek zurück. Raimanja sah dem Mann ins Gesicht und begriff. Orthrek mied den Namen Caycon deswegen, weil er nicht daran denken wollte, daß die Frau, mit der er zufrieden und sogar glücklich zusammen lebte, einst einen Arkoniden namens Caycon geliebt hatte. Mit der Erinnerung an jenen Caycon war ein seltsames Gefühl verbunden. Raimanja fragte sich, ob es Wehmut war oder Schmerz. Sie kam zu dem Ergebnis, daß sie keinen Schmerz verspürte. Dazu war die Zeit mit Caycon wohl zu kurz gewesen: Verwundert stellte sie fest, daß sie sich mit Orthrek stärker verbunden fühlte. Ihn kannte sie dreimal so lange wie Caycon, und mit Orthrek hatte sie mehr durchgemacht als mit Caycon: die Schwierigkeiten, sich gegen eine Natur zu behaupten, in der es eigentlich keine Existenzberechtigung für humanoide Lebewesen gab, die Überwindung des Zivilisationsvakuums und was der Schwierigkeiten mehr waren. Sie beschloß, sich daran zu gewöhnen, daß ihr Sohn Akon-Akon hieß. Dieses Opfer erschien ihr mit einemmal nicht zu groß, wenn sie damit Orthrek glücklicher machen konnte. »Flieg etwas schneller, Orthrek!« sagte sie. »Akon-Akon wird schon auf uns warten.« Ein glückliches Lächeln erhellte das harte Gesicht des Akonen. Um seine Mundwinkel zuckte es kaum merklich. »Ja«, erwiderte er leise. »Ich beeile mich, Raimanja.« Als der Gleiter vor dem Hauptgebäude der Siedlung landete, sahen die Frau und der Mann, daß die Tür geöffnet war. Ein breiter
42 Lichtstreifen fiel von drinnen auf die mit roten Steinplatten befestigte Terrasse. Raimanja war beunruhigt. Sie sprang aus dem Fahrzeug, eilte ins Haus und rief nach ihrem Sohn. Doch Akon-Akon meldete sich nicht. Sie kehrte nach einem schnellen Rundgang wieder auf die Terrasse zurück. Orthrek stand unbeweglich draußen, hielt den Intervallnadler locker in der rechten Hand und drehte sich lautlos auf den Absätzen. Seine Miene verriet, daß er angestrengt in die Wildnis lauschte. Raimanja wußte, daß Orthrek in der Identifizierung kaum hörbarer Laute einige Klassen besser war als sie. Deshalb blieb sie sofort stehen und wagte kaum zu atmen. Nach einer Weile stand Orthrek plötzlich still. Er lauschte noch einen Moment, dann blickte er zu Raimanja und flüsterte: »Wahrscheinlich ist er in diese Richtung gegangen.« Er deutete nach Südosten. »Ich gehe allein. Paß du hier auf, Raimanja!« Bevor die Frau etwas darauf erwidern konnte, war Orthrek mit langen federnden Schritten zwischen den nächststehenden Bäumen untergetaucht. Raimanja ging von dem hellen Rechteck der Tür weg, daß sie im Schatten stand, dann zog sie ihren Blaster und wartete geduldig. Ungefähr eine halbe Stunde verging, dann tauchten Orthrek und Akon-Akon zwischen den nächsten Bäumen auf und kamen auf die Terrasse zu. Raimanja atmete auf und steckte den Blaster in die Gürtelhalfter zurück. Danach trat sie aus dem Schatten. »Mutter!« sagte Akon-Akon. »Guten Abend!« »Guten Abend, Akon-Akon!« erwiderte Raimanja. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Warum bist du allein und nachts in den Wald gegangen, mein Junge?« Die großen rötlichen Augen des Jungen blickten die Mutter an. »Ihr brauchtet euch keine Sorgen zu machen«, erklärte er mit überraschend präziser Ausdrucksweise – jedenfalls für einen Sechsjährigen. »Die Tiere tun mir nichts, und die Paths kann man leider nur nachts be-
H. G. Ewers obachten. Am Tage schlafen sie in ihren Erdlöchern.« »Die Paths?« fragte Raimanja, der der Name nichts sagte. »Es sind Wesen, die auf dem Nicht-Weg gehen«, sagte der Junge. »Sie stammen nicht von Perpandron und bleiben auch nicht hier, sondern befinden sich auf der Durchreise.« »Ich habe einige bizarre Leuchtflecke gesehen, als ich Akon-Akon suchte«, warf Orthrek ein. »Sie tauchten wie aus dem Nichts auf und verschwanden nach einiger Zeit wieder ins Nichts.« »Das waren Paths«, sagte Akon-Akon. »Sie suchen etwas, aber ich habe noch nicht herausbekommen, was sie suchen. Kann ich jetzt etwas zu essen haben?« »Selbstverständlich«, erwiderte Raimanja lächelnd, strich ihrem Jungen über den zerzausten Haarschopf und schob ihn vor sich her ins Haus. Plötzlich stutzte sie und beugte sich vor, drehte Akon-Akons Handflächen nach oben, so daß sie sie genau betrachten konnte. »Was ist los?« erkundigte sich Orthrek, der hinter ihr gegangen war und nun ebenfalls stehenblieb. »Seine Handflächen!« stieß Raimanja hervor. »Sieh doch, Orthrek!« Der Akone ging um Raimanja herum, zog Akon-Akons Hände zu sich heran und musterte die Handflächen. »Sternsymbole«, flüsterte er. »Sie sehen aus wie eintätowiert und sie … Raimanja, schalte doch bitte einmal das Licht aus!« Raimanja gehorchte. Als es dunkel wurde, kehrte sie zu AkonAkon zurück – und sah ganz deutlich die rötlich leuchtenden Symbole, die stilisierte Sterne darzustellen schienen. Wenn Raimanja den Kopf bewegte und die Sternsymbole aus einem anderen Blickwinkel ansah, veränderte sich die Farbe. »Haben diese Paths das getan, AkonAkon?« fragte sie beunruhigt. »Nein«, antwortete ihr Sohn. »Ich nehme an, es hat mit der bewußten Manipulierung zu tun«, erklärte Orthrek.
Die Drachenwelt
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»Zwar sind mir die Details unbekannt, aber ich hörte damals davon, daß dafür gesorgt sei, daß das wache Wesen auch äußerlich unverwechselbar als solches erkannt werden würde.« »Was ist?« fragte Akon-Akon. »Bekomme ich nun etwas zu essen?« »Sofort!« antwortete Raimanja und schaltete die Beleuchtung wieder ein.
* Die Entwicklung war – meiner Ansicht nach – absolut logisch verlaufen. Nur eines störte mich, weil es nicht so verlaufen war, wie wir bisher immer angenommen hatten. Akon-Akon war nicht im Mentorkristall aufgewachsen, hatte also auch nicht die für ihn gedachte Erziehung und Bildung genießen können. Zwar gaben sich Raimanja und Orthrek redlich Mühe, ihm das Wissen ihrer Zivilisationen zu vermitteln, aber da beide nur jeweils einen Ausschnitt aus den vielfältigen Wissensspektren beherrschten, mußte sein Wissen notwendigerweise lückenhaft bleiben. Ich wartete darauf, daß Raimanja in die Stadt im Tal zurückkehrte und die Halle mit dem Kubus aufsuchte, in dem ANTE gefangen war, denn ich wollte versuchen, Kontakt mit dem seltsamen Wesen aufzunehmen. Da ich aber an die Nähe der Arkonidin gefesselt war, konnte ich das nur, wenn Raimanja sich persönlich in die Nähe des Kubus begab. Vorerst aber wurde mein Bewußtseinsinhalt wieder durch die Zeit gewirbelt – und als ich wieder klarsehen konnte, stellte ich fest, daß weitere acht Jahre vergangen waren …
9. »Du bist heute vierzehn Jahre alt geworden, mein Junge«, erklärte Raimanja. »Du darfst dir etwas Besonderes wünschen.« Raimanja hatte das Gefühl, als sagte sie das nicht gänzlich aus freien Stücken. Sie wußte inzwischen, daß Akon-Akon die Kraft
besaß, Orthrek und sie zu beeinflussen, also nahm sie an, daß er ihr diese Worte eingegeben hatte. Akon-Akon blickte zuerst seine Mutter an, danach den Akonen, den er manchmal Vater nannte, obwohl er wußte, daß er nicht sein leiblicher Vater war. »Ich möchte in die Stadt der Drachen gehen«, sagte er. »In die Stadt der Drachen?« fragte Orthrek verständnislos. »Auf Perpandron gibt es keine Stadt der Drachen.« »Ich glaube, ich weiß, was er meint«, warf Raimanja lächelnd ein. »Die Ruinenstadt im Tal, in der ich zum erstenmal den Drachen begegnete.« Sie wandte sich wieder an Akon-Akon. »Ist das richtig?« »Das ist richtig, Mutter«, antwortete der Junge. »Aber was willst du dort?« fragte Orthrek. »Ich spüre, daß uns von dort aus Gefahr droht«, erklärte Akon-Akon ernst. »Vielleicht können wir sie abwenden, wenn es uns gelingt, mit ANTE zu sprechen.« »Meinst du das Feuerwesen aus dem grünen Würfel, von dem deine Mutter uns erzählte?« erkundigte sich der Akone. Er wandte sich an Raimanja. »Sagtest du nicht, es wäre nicht in den Würfel zurückgekehrt, sondern hätte sich praktisch in Luft aufgelöst?« »Das sagte ich«, antwortete die Arkonidin. »Aber ich gab damit nur meinen Eindruck wieder. Vielleicht ist ANTE längst in seinen Würfel zurückgekehrt. Er hat mir einmal gegen den Zyklopen geholfen. Es dürfte also nichts schaden, wenn wir versuchen, Kontakt mit ihm aufzunehmen.« »Einverstanden«, sagte Orthrek. »Es entspricht zwar nicht meiner Vorstellung von einer Geburtstagsfeier, aber der Wunsch des Geburtstagskindes ist mir Befehl.« Mit schlecht verhohlenem Stolz beobachtete Raimanja, wie ihr Sohn in die Kampfkombination stieg, die Orthrek aus einer normalen akonischen Kampfkombination passend angefertigt hatte. Akon-Akon war
44 groß für seine vierzehn Jahre, allerdings noch etwas schlaksig. Aber das Gesicht zeigte die Züge eines Arkoniden aus edlem Geblüt. Sie selbst und Orthrek zogen ebenfalls Kampfkombinationen an und rüsteten sich mit Energiewaffen aus. Akon-Akon dagegen lehnte es ab, eine Waffe zu tragen. Anschließend stiegen sie in den Gleiter, der immer noch zuverlässig arbeitete. Allerdings hatte Orthrek ihn jedes Jahr einmal gründlich überholt, denn bei ihren teilweise weiten Streifzügen über Perpandron wäre es höchst fatal gewesen, wenn das Fahrzeug plötzlich ausfiel, während sie sich vielleicht Tausende von Kilometern von der Siedlung entfernt befanden. Nachdem Orthrek den Gleiter gestartet und auf Kurs gebracht hatte, wandte er sich an Akon-Akon, der neben ihm saß und fragte: »Genaueres über die Bedrohung weißt du nicht, Junge, oder?« Akon-Akon blickte starr geradeaus. »Nein, Vater«, antwortete er. »Ich spüre nur, daß etwas auf Perpandron angekommen ist und sich in der Ruinenstadt zu schaffen macht.« Orthrek wechselte einen Blick mit Raimanja. Er merkte, daß sie beunruhigt war und gestand sich ein, daß er ebenfalls Unruhe spürte. Vierzehn Jahre lang waren sie auf Perpandron gewesen. Es war ihnen nicht immer leichtgefallen, ohne jeden Kontakt zur Zivilisation auf einem wilden ungezähmten Planeten leben zu müssen. Aber nun fragte sich Orthrek, ob sie sich nicht glücklich schätzen durften, daß sie so lange hatten allein bleiben dürfen. Wenn etwas Fremdes nach Perpandron gekommen war, konnte das bedeuten, daß der relative Frieden, in dem sie mit der Natur des Planeten gelebt hatten, für immer zerstört wurde. Als die Geländemarkierung, die die Nähe des betreffenden Tales verriet, am Horizont auftauchte, drückte Orthrek das Fahrzeug tiefer und drosselte die Geschwindigkeit.
H. G. Ewers »Am besten landen wir außerhalb der Stadt vor dem Felsspalt, durch den ich damals – vor vierzehn Jahren – in die Stadt gelangte«, schlug Raimanja vor. Sie beschrieb Orthrek die Lage der Felsspalte, so daß er den Gleiter nach ihren Angaben steuern konnte. Als das Fahrzeug vor dem Spalt aufsetzte, blieben sie alle sitzen und lauschten. Sie hörten die normalen Geräusche der Wildnis: das Lärmen von Baumbewohnern, das Kreischen von Vögeln und in regelmäßigen Abständen das klagende Rufen eines Umaluks. Erst nach einiger Zeit wurde ihnen klar, daß diese Geräusche von überall kamen, nur nicht aus der Richtung, in der die Ruinenstadt lag. Akon-Akon schwang sich schweigend ins Freie und ging auf den zirka drei Meter breiten und zehn Meter hohen Felsspalt zu, dessen Wände so glatt waren, als wären sie mit einer Energiefräse in die Felswand geschnitten worden. »Warte!« rief Orthrek und eilte dem Jungen nach. Unterwegs entsicherte er den Intervallnadler. Akon-Akon hörte nicht, sondern ging unbeirrt weiter. Orthrek begab sich an seine linke Seite, während Raimanja an die rechte Seite ihres Sohnes eilte. Die Arkonidin vermochte kaum die Angst um ihren Sohn zu verbergen. Nach vierunddreißig Schritten erreichten die drei Personen das jenseitige Ende des Durchbruchs und blieben stehen. Von hier aus konnten sie das rund zwei Kilometer durchmessende runde Tal überblicken. Raimanja sah, daß sich in den vergangenen vierzehn Jahren – eigentlich waren es fast fünfzehn Jahre gewesen – nichts verändert hatte. Auf dem Hügel in der Mitte des Tales thronte noch immer das ungeheuer massiv wirkende Bauwerk, dessen Wände aus kreuz und quer geschichteten Basaltstempeln bestanden. Aus den terrassenförmig abfallenden Hügelflanken standen die Überreste anderer Gebäude: teilweise bewachsene Mauern, die ebenfalls aus Basaltstempeln errichtet worden waren.
Die Drachenwelt Aber als Raimanja damals hierher geraten war, hatten überall im Tal krummschnäblige Vögel gelärmt, pelzbewachsene kleine Primaten waren spielerisch auf Palmen und Mauern herumgeturnt, und kleine Echsen hatten sonnenhungrig auf den Mauerkronen gelegen. Heute fehlten alle diese Tiere. Die Stadt im Tal wirkte dadurch wie eine Gruft. Wieder setzte sich Akon-Akon in Bewegung. Sein Gesicht war ausdruckslos; nur die Augen schienen stärker als sonst zu strahlen. Mit den Bewegungen einer Marionette stieg er ins Tal hinab. »Es sieht aus, als würde er beeinflußt!« flüsterte Raimanja mit angstvoll geweiteten Augen. »Müssen wir ihn nicht zurückhalten?« »Ich fürchte, er würde sich nicht zurückhalten lassen«, entgegnete Orthrek. »Wir werden ihm folgen und ihn beschützen, wenn etwas angreifen sollte.« Sie gingen zwei Schritte hinter dem Jungen her, der inzwischen die unterste Terrasse erreicht hatte und sich an den Aufstieg machte. Plötzlich packte Raimanja Orthreks Arm und preßte ihn zusammen. »Dort!« flüsterte sie und deutete auf einen buntgefiederten Vogel, der unter einem Strauch lag. Er lag auf der Seite, und seine Beine waren steif vom Körper abgespreizt. »Er ist tot.« »Ich habe ihn schon gesehen«, erwiderte Orthrek. Er deutete zur nächsten Mauerruine. »Die sind auch tot.« Raimanja sah, daß am Fuß der Mauerruine drei der pelzbedeckten kleinen Primaten lagen. Ihre Haltung verriet unmißverständlich, daß sie tot waren. Raimanja erschauderte. Sie wollte ihrem Sohn zurufen, er solle umkehren. Doch sie merkte, daß sie es nicht konnte. Während sie weitergingen, entdeckten sie immer mehr tote Tiere. Orthrek untersuchte einige von ihnen flüchtig, konnte aber keine Verletzungen erkennen. Er war ratlos, und Raimanja war es auch. Nur Akon-Akon schien genau zu wissen, was er wollte. Als der Junge den Hauptbau erreichte,
45 wandte er sich nicht dem Tor zu, sondern schritt um das Bauwerk herum. Auf der anderen Seite blieb er stehen – und Raimanja und Orthrek folgten seinem Beispiel. Auf dem ebenen Boden hinter dem Hauptbau stand ein seltsames Fahrzeug, eine Konstruktion aus silbrig schimmerndem Material, die aus einer zu einem großen Ring geformten Röhre bestand, auf der an Streben ein eiförmiger Körper verankert war, so groß wie drei normale Fluggleiter und ohne erkennbare Öffnung. Die drei Personen standen einige Minuten unbeweglich und starrten das fremdartige Fahrzeug an. Erst dann nahmen sie das leise dünne Pfeifen wahr, das aus dem Innern des eiförmigen Körpers zu dringen schien.
* »Vielleicht geht eine gefährliche Strahlung von dem Ding aus«, sagte Raimanja. Akon-Akon wandte sich um. »Ich weiß nicht, woraus die Bedrohung besteht, aber sie ist da«, erklärte er. »Wir müssen versuchen, Kontakt mit ANTE herzustellen. Nur ANTE kann uns helfen.« Er ging zu dem Tor im Hauptbau und schritt hindurch, ohne zu zögern. Orthrek und Raimanja folgten ihm. Sie schalteten ihre Handscheinwerfer ein, da das Tageslicht nur spärlich in die gigantische Halle sickerte. »Er ist kleiner geworden!« entfuhr es der Arkonidin. Sie deutete auf den trübhellgrünen Block von zirka anderthalb Metern Kantenlänge, der genau auf dem Mittelpunkt des Hallenbodens stand. »Er hat nur noch drei Viertel der früheren Kantenlänge.« »Verhaltet euch bitte still!« befahl AkonAkon. Er trat auf den Kubus zu und legte seine Handflächen auf zwei der Seitenflächen. Ein schwaches Knistern ertönte, dann trat wieder Stille ein. Plötzlich strahlten im Innern des Würfels rötliche Sternsymbole auf, bildeten eine Konstellation, die sich majestätisch langsam drehte.
46 Dabei strebten die Sternsymbole allmählich auseinander – und in dem angedeuteten Hohlraum zwischen ihnen formte sich eine annähernd humanoide Gestalt, deren Körperoberfläche durchsichtig war. Unter der glasartig erscheinenden Körperoberfläche aber pulsierte rötliches Feuer – und dort, wo bei einem Arkoniden das Gehirn war, wogte und wallte eine graue Masse, in der es hin und wieder grell aufblitzte. Orthrek holte hörbar Luft. »Martianec, der Gott des Feuers und des Krieges!« stieß er hervor. »Ich hielt es immer für eine Sage, aber das ist er wirklich.« »Es ist ANTE«, sagte Akon-Akon und trat von dem Würfel zurück. Kurz darauf wurde der Würfel immer heller, bis von ihm nur noch ein zartgrüner Schimmer zu sehen war. Und durch diesen zartgrünen Schimmer hindurch stieg das Feuerwesen. »Es ist kleiner als damals«, sagte Raimanja. ANTE wandte sich der Arkonidin zu. Kleine Flammen leckten aus seinen Ohren und verschwanden wieder. »Meine Kraft verrinnt, seit die Zeitkapsel gelandet ist«, erklärte er. »Diejenigen meines Volkes, die auf der Suche nach Abenteuern auswanderten, müssen einen Fehler begangen haben. Jemand versucht, ihre Existenz auszulöschen, bevor sie auswanderten. Er schickte die Zeitkapsel, doch er traf nicht die richtige Zeitphase. Er kann mich auslöschen, aber er kann nicht verhindern, daß mein Volk seinen Fehler begeht, der wahrscheinlich seinem Volk zum Verhängnis wurde.« »Wer ist mit der Zeitkapsel gekommen?« erkundigte sich Orthrek. »Der Tod«, antwortete ANTE lakonisch. »Wir sahen, daß der Tod im Tal seine Ernte gehalten hat«, erklärte Raimanja. »Er wird sich über ganz Perpandron ausbreiten und alles Leben zerstören«, warf Akon-Akon ein. »ANTE, du mußt uns helfen. Vernichte die Zeitkapsel!« »Das kann ich nicht«, erwiderte das Feu-
H. G. Ewers erwesen. »Ich kann nur versuchen, sie in eine Zeitphase zu drängen, wo sie keinen Schaden anrichten kann.« Orthreks Augen glitzerten. »So ist Zeitreise also doch möglich«, sagte er nachdenklich. »Unsere Wissenschaftler stritten sich darüber. Die führenden Leute erklärten, Zeitreisen wären niemals möglich.« Aus den Augen von ANTE schossen zwei dünne Blitze. »Alles erscheint unmöglich, solange es nicht über das Stadium der Hypothese hinausgelangt«, entgegnete er. »Und auch die meisten Theorien werden angezweifelt, bevor sie durch ihre praktische Anwendung bewiesen werden. Wäre Zeitreise unmöglich, so würdest du dich in diesem Moment nicht selbst beobachten können, AkonAkon.« »Ich – mich selbst?« fragte der Junge und schaute sich verstört um. Er lachte unsicher. »Du treibst deine Späße mit mir, ANTE.« »Ich spaße nie«, erklärte das Feuerwesen. »In einigen tausend Jahren wirst du erkennen, daß ich die Wahrheit sagte. Orthrek, wohin gehst du?« Orthrek, der sich leise von seinen Gefährten entfernt hatte, blieb abrupt stehen. »Ich sehe mir die Zeitkapsel an«, antwortete er. »Komm zurück!« rief ANTE. »Es würde dir nichts nützen, die Funktionen der Zeitkapsel zu durchschauen. Außerdem ist es gefährlich, dem Gerät zu nahe zu kommen.« »Ich halte mich nicht lange auf«, erklärte Orthrek und stürmte aus der Halle. Raimanja wollte ihm folgen, aber sie konnte sich plötzlich nicht von der Stelle rühren. Wild fuhr sie zu ihrem Sohn herum. »Laß mich gehen, Akon-Akon!« befahl sie. »Oder hole auch Orthrek zurück!« »Ihn kann ich nicht mehr beeinflussen«, entgegnete der Junge. »Die Ausstrahlung der Zeitkapsel überlagert meine Kraft, und Orthrek befindet sich bereits im Bereich dieser Interferenz.« »Dann laß mich gehen!« schrie seine
Die Drachenwelt Mutter ihn an. »Du bist mein Sohn und mußt mir gehorchen!« »Weil du meine Mutter bist, werde ich dich nicht in den Tod gehen lassen«, sagte Akon-Akon leise. »Ich will versuchen, die Zeitkapsel so schnell wie möglich in eine andere Phase abzudrängen«, erklärte ANTE. »Vielleicht schaffe ich es, bevor Orthrek sich zu lange in ihrer Nähe aufgehalten hat. Alles Gute für euch!« Das Feuerwesen leuchtete von innen heraus in blutigem Rot. Gleichzeitig schrumpfte es. Ein hohles Singen und Klingen erfüllte die Luft, die innerhalb der Halle plötzlich flimmerte. Immer schneller schrumpfte das Wesen, das sich ANTE genannt hatte. Dabei verstärkte sich sein Leuchten so sehr, daß Raimanja geblendet die Hände vor die Augen preßte. Akon-Akon schien das grelle Leuchten nichts auszumachen. Er starrte unverwandt hinein, bis ANTE mit einem sonnenhellen Aufblitzen auf die Dimension Null geschrumpft war. Von draußen kam ein schrilles Pfeifen. Durch das Tor flackerte grünes Licht und erlosch in dem Moment, in dem das Pfeifen verstummte. Als Raimanja merkte, daß sie ihre Füße wieder bewegen konnte, eilte sie auf das Tor zu. Doch bevor sie es erreichte, wankte Orthrek herein. »Ich habe es gesehen«, flüsterte er mit belegter Stimme. Seine Augen waren unnatürlich geweitet, und er zitterte wie im Fieber. »Ich habe es gesehen!« Raimanja schluchzte auf und stützte Orthrek. »Bist du verletzt?« erkundigte sie sich angstvoll. Orthrek lächelte geistesabwesend. »Nicht verletzt«, sagte er. »Ich habe ein Wunder gesehen. Aber dann war es weg. Wo bin ich?« »Bei mir, bei Raimanja«, sagte die Arkonidin. »Komm, wir gehen nach Hause!« Akon-Akon tauchte an der anderen Seite des Akonen auf. Gemeinsam führten er und
47 Raimanja Orthrek zum Gleiter. Dort betteten sie ihn auf die Rücksitze. Raimanja startete das Fahrzeug und flog mit Höchstgeschwindigkeit zu der Siedlung. Als der Gleiter aufsetzte, wandte sie sich zu Akon-Akon um, der neben Orthrek saß. »Schnell, wir müssen ihn ins Haus bringen!« sagte sie. Der Junge sah sie ausdruckslos an. »Es eilt nicht«, flüsterte er. »Er ist tot.«
* Ich hatte mich ANTE noch einmal zur Verfügung gestellt. Doch diesmal hatte ich – im Gegensatz zu unserem ersten Zusammenwirken – so gut wie nichts begriffen. Dabei hätte ich vor allem gern mehr über die Zeitkapsel gewußt, die – einige Jahrtausende vor meiner Jetztzeit – auf Perpandron angekommen war. Die Frage, welche Zivilisation wohl diese Zeitkapsel gebaut und auf den Weg geschickt hatte, würde mich sicher mein ganzes Leben bewegen. Das Motiv jener Leute dagegen hatte ich aus den Andeutungen des Feuerwesens entnehmen können. Sein Volk, das den Krieg zu seinem Lebensinhalt erkoren hatte, mußte bei seinen Streifzügen mit einer Zivilisation zusammengestoßen sein, die dem Krieg keinen Reiz abgewinnen konnte. Es hatte entsprechend hart reagiert und eine Zeitkapsel losgeschickt, die die Entstehung einer Zivilisation auf Perpandron und damit die Entstehung einer Gefahr für sie selbst unterbinden sollte. Dank dem Eingreifen von ANTE war ihnen das mißlungen. Es war sicher besser so, denn niemand besaß das Recht, die Entstehung einer fremden Zivilisation überhaupt zu verhindern, auch dann nicht, wenn diese Zivilisation im Lauf ihrer galaktischen Ausbreitung auf den falschen Weg geriet und andere Zivilisationen gefährdete. Ich bedauerte, daß mein Bewußtseinsinhalt an Raimanja gefesselt war. Dadurch hatte ich Orthrek nicht folgen und nicht sehen können, was er gesehen hatte – und was
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ihn anscheinend getötet hatte. Und was mochte in Akon-Akons Bewußtseinsinhalt vorgegangen sein, als er sich selbst beobachtete – beziehungsweise sein jüngeres Ich, das rein biologisch nur vier Jahre von seinem Jetztzeit-Zustand entfernt war, zeitmäßig aber viele Jahrtausende! Ich wollte mich mit meinem Pflegevater in Verbindung setzen, aber bevor es dazu kam, spürte ich abermals den Wirbel der Zeit, der meinen Bewußtseinsinhalt mit sich riß …
10. Raimanja wischte sich den Schweiß von der Stirn und spähte über die hitzeflimmernde Steppe. Ungefähr einen Kilometer vor ihr kreisten Vogelschwärme über der Wasserfläche eines Sees. Sie fächelten sich mit dem Schlagen ihrer Flügel Kühlung zu, denn die Strahlen der Sonne brannte an diesem Tage besonders heiß herab. Am gegenüberliegenden Ufer des Sees sah Raimanja die Ausläufer des Schwarzen Dschungels. Orthrek hatte ihn so genannt, weil er in ihm die schwarz glänzenden Trümmer eines ehemaligen Tempels entdeckt hatte. Das lag fast vier Jahre zurück. Orthrek hatte mit Raimanja hierher zurückkehren wollen, um die Trümmer genau zu untersuchen. Das Auftauchen der Zeitkapsel hatte diesen Plan zunichte gemacht – jedenfalls was ihn selbst betraf. Raimanjas Augen verdunkelten sich. Sie hatte den Verlust des Mannes, der früher einmal ihr Feind gewesen war, immer noch nicht ganz verwunden. Seit seinem Tode war sie stiller geworden, war nur noch selten auf die Jagd gegangen und hatte oft stundenlang an Orthreks Grab gesessen. Akon-Akon war taktvoll genug gewesen, sie weitgehend in Ruhe zu lassen. Er hatte sich immer öfter den Gleiter ausgeborgt, um Erkundungsflüge zu unternehmen. In letzter Zeit war er immer unruhiger geworden, so, als würde er ein bestimmtes Ereignis erwar-
ten. Die Arkonidin fragte sich, ob das daran lag, daß die akonischen Genetiker bei der Manipulation des Embryos bereits eine Erwartungshaltung vorprogrammiert hatten, die nach achtzehn Jahren zum Durchbruch kommen sollte. Immerhin war vorgesehen gewesen, daß Akon-Akon nach Erreichen des achtzehnten Lebensjahrs von den Akonen abgeholt und auf Arkon eingeschleust werden sollte. Das würde allerdings nicht geschehen, denn die akonische Regierung hatte niemals erfahren, welcher Planet für die Geburt des wachen Wesens ausgewählt worden war. Raimanja selbst hatte es verhindert, indem sie dafür sorgte, daß das Raumschiff, das diese Nachricht an die akonische Regierung übermitteln sollte, beim ersten Transitionsversuch explodierte. Die Frau lächelte bei dem Gedanken daran, wie zornig Orthrek gewesen war, als er zusammen mit den anderen beiden Überlebenden der Explosionskatastrophe in einem kleinen Beiboot wieder auf Perpandron landete. Er hätte sie am liebsten getötet, doch Akon-Akon hatte schon als Baby seine Kraft so einsetzen können, daß er andere Personen in seinem Sinne lenkte – und es war in seinem Sinne gewesen, daß die überlebenden Akonen und seine Mutter gut zusammenarbeiteten und für sein Wohl sorgten. Langsam bewegte sich Raimanja weiter über die Steppe. Sie trug nur leichtes Gepäck und einen Intervallnadler. Akon-Akon wollte am Nachmittag mit dem Gleiter zu ihr stoßen und ihr bei den Untersuchungen der schwarzen Trümmer helfen. Er war, nachdem er sie in der Steppe abgesetzt hatte, zur Stadt der Drachen geflogen. Was er dort wollte, verriet er nicht. Irgendwie aber mußte es mit der Unrast zu tun haben, die ihn seit einiger Zeit beherrschte. Als die Frau vor sich eine Gruppe Raubkatzen entdeckte, schlug sie einen Bogen darum. Die Haltung der Tiere deutete darauf hin, daß sie satt und träge waren. Folglich würden sie nicht angreifen, wenn Raimanja
Die Drachenwelt ihnen nicht zu nahe kam. Als sie sie sahen, hoben sie die Köpfe, schauten desinteressiert herüber und verfielen dann wieder in ihren Verdauungshalbschlaf. Raimanja wanderte am Ufer des Sees entlang. Die Hitze störte sie nicht besonders, denn auf Arkon war es auch heiß gewesen, sogar meist noch heißer als auf Perpandron. Zahllose Vögel tummelten sich am und im Wasser, und genauso viele kreisten in niedriger Höhe über dem See. Die Vögel kümmerten sich kaum um die Frau. Sie beobachteten sie lediglich und flatterten ein paar Schritte weiter, wenn Raimanja ihre Fluchtdistanz unterschritt. Als Raimanja in den Schatten des Dschungels eintauchte, blieb sie stehen, um ihren Augen Gelegenheit zu geben, sich von dem grellen Sonnenschein an die grünliche Dämmerung zu gewöhnen. Es wäre zu gefährlich gewesen, halb blind in den Wald zu gehen. Nicht einmal so sehr wegen der großen Räuber, sondern wegen der giftigen Schlangen und Riesenkäfer, die erst gefährlich wurden, wenn man versehentlich auf sie trat. Raimanja wanderte gern durch die Dschungel Perpandrons. Sie kannte ihre Gefahren, wußte, wie sie ihnen ausweichen oder ihnen begegnen konnte und erfreute sich daran, die Tier- und Pflanzenwelt zu beobachten. Viele Tiere verhielten sich ausgesprochen zutraulich, vor allem in den Gebieten, in denen Raimanja und Akon-Akon noch nie gejagt hatten. Gegen Mittag erreichte die Arkonidin die Lichtung, auf der Orthrek die schwarzen Trümmer gefunden hatte. Es handelte sich um eine kreisrunde Lichtung von zirka fünfhundert Metern Durchmesser, auf der kein einziger Baum oder Strauch wuchs. Die Vegetation bestand ausschließlich aus höchstens kniehohen Gräsern und Kräutern, die von dem schwachen Wind zu wellenförmiger Bewegung angeregt wurden. Raimanjas Augen funkelten erregt, als sie die großen tiefschwarzen Platten, Dreiecke und Würfel sah, die sich an fünf Stellen der
49 Lichtung bis zu fünfzehn Meter hoch türmten. Die Arkonidin sah sofort, daß das Material nicht etwa bearbeiteter Fels war, sondern ein künstlich hergestelltes Material von hoher Dichte. Die Überreste einer weiteren untergegangenen Zivilisation? War Perpandron in seiner Vergangenheit immer wieder Zufluchtsort von Raumfahrern gewesen, die sich hier so sicher vor Verfolgern wähnten, daß sie mit dem Aufbau einer Zivilisation anfingen? Und warum hatte sich keine dieser Zivilisationen über den ganzen Planeten ausgebreitet? Was hatte die Raumfahrer oder ihre Nachkommen wieder weitergetrieben? Ein Gedanke kam Raimanja, der so phantastisch, aber zugleich auch so faszinierend war, daß sie sich völlig geistesabwesend über die Lichtung bewegte. War die Zeitkapsel, von ANTE in eine andere Phase abgedrängt, vielleicht zum ruhelosen Wanderer durch die Zeiten geworden, der in bestimmten Abständen immer wieder auf Perpandron stieß und dort seine unheilvolle Wirkung entfaltete und die, die hier Zuflucht gefunden zu haben glaubten, tötete oder vergrämte? Raimanja lächelte und ließ ihren Geist in die Realität zurückkehren. Im nächsten Augenblick glitt sie aus. Ihre Arme ruderten haltsuchend, stießen gegen die spiegelglatte Wandung eines trichterähnlichen Schlundes, dann wurde Raimanja von dem Schlund verschlungen. Eine Falle! dachte sie, während sie eine glatte schiefe Ebene hinabrutschte und es dunkel um sie wurde. Kurz darauf prallten ihre Füße gegen harten Widerstand. Raimanja geriet nicht in Panik. Sie merkte, daß ihre Fahrt beendet war und drehte den Kopf, bis sie den Lichtkreis sah, der die Öffnung des Trichters markierte, in dem sie sich gefangen hatte. Sie zweifelte nicht daran, daß es sich um die Falle eines Tieres handelte, auch wenn sie ein Tier, das so große Trichterfallen baute, bisher nicht kennengelernt hatte. Zehn Minuten später mußte sie einsehen,
50 daß sie sich nicht aus eigener Kraft befreien konnte. Die Wandung war so glatt, daß ihre Hände und Füße keinen Halt fanden. Sie war zudem so hart, daß nicht einmal die Klinge ihres Vibratormessers eindrang. Als Raimanja von draußen ein Rascheln und rhythmisches Knirschen hörte, griff sie nach ihrem Intervallnadler – und griff ins Leere. Beunruhigt tastete sie den Grund des Trichters ab, wo sie ihre Waffe vermutet hatte, aber vergeblich. Der Intervallnadler mußte ihr bereits draußen entfallen sein. Im nächsten Augenblick verdunkelte sich die Trichteröffnung. Raimanja nahm ihr Vibratormesser in die Hand und spähte nach oben. Es dauerte einige Zeit, bis sie die Konturen eines Schlangen- oder Echsenkopfes erkannte, so groß wie der Schädel eines Zyklopen und mit zwei Reihen nach hinten gerichteter Zähne sowie zwei dolchartigen Giftzähnen bewehrt. Eine armlange gespaltene Zunge schob sich aus dem Maul des Tieres und tastete nach dem Gesicht der Frau. Raimanjas Hand mit dem aktivierten Vibratormesser zuckte vor, beschrieb einen Halbkreis. Die rasend schnell vibrierende Klinge schnitt zwei unterarmlange Enden der gespaltenen Zunge ab. Von der Trichteröffnung kam ein überraschtes Fauchen, dann schoß der Reptilschädel in die Falle. Der Oberkiefer mit den beiden furchterregenden Giftzähnen holte zum tödlichen Biß aus. Die Arkonidin sah keine andere Möglichkeit, als dem Zuschnappen des Kiefers zuvorzukommen. Wieder zuckte ihr Arm vor, holte diesmal von oben aus und fuhr dann kraftvoll herab. Die vibrierende Klinge teilte den Oberkiefer, glitt an einem Giftzahn ab und wurde fortgeschleudert, als die Riesenschlange trotz ihrer Verletzung noch zubiß. Raimanja klammerte sich mit der Kraft der Verzweiflung an die beiden Giftzähne. Die kleineren Haltezähne zerrissen ihre Kombination und fügten ihr tiefe Fleischwunden zu. Aber sie hielt eisern fest. Das riesige Reptil spürte die Beute zwischen den Zähnen und riß den Kopf aus der
H. G. Ewers Falle zurück. Um Raimanja wurde es schlagartig hell. Ihre Hände klammerten sich weiterhin um die schlüpfrigen Giftzähne. Die Füße kamen frei und stemmten sich gegen den Unterkiefer. Mit einem kraftvollen Aufschwung beförderte Raimanja sich auf den Schädel des Reptils, wurde herabgeschleudert und kroch beharrlich auf die Stelle im Gras zu, an der sie ihren Intervallnadler entdeckt hatte. Als die Riesenschlange, die wegen des Verlusts ihrer Zunge, also ihres Organs, mit dem sie die Umgebung nach Gerüchen abtastete, gehandikapt war, sie endlich erspäht hatte und erneut zustoßen wollte, jagte Raimanja ihr eine volle Serie hochkomprimierter Energieballungen in den Schädel, der daraufhin mit einem dumpfen Knall zerbarst. Dann brach die Arkonidin bewußtlos zusammen. Sie sah nicht mehr, daß ein einzelner Drache über ihr kreiste und dann mit kraftvoll schlagenden Schwingen davonflog. Akon-Akon traf zwei Stunden später auf der. Lichtung ein. Ein Drache hatte ihn in der Ruinenstadt aufgestöbert und ihn nicht eher in Ruhe gelassen, bis er in den Gleiter gestiegen und ihm gefolgt war. Er ließ den Gleiter hart aufsetzen, sprang heraus und eilte zu seiner Mutter. Raimanjas Körper wies unzählige tiefe Wunden auf, beide Unterschenkel waren gebrochen, aber das wäre nicht so tragisch gewesen, wenn ihre Haut sich nicht auf eine Weise verfärbt hätte, die typisch war dafür, daß die betreffende Person das Gift eines Reptils von Perpandron im Blut hatte. Akon-Akon sah, daß Raimanjas Medobox fehlte. Er fand sie vor der Trichteröffnung im zerdrückten Gras, setzte sie seiner Mutter auf die Brust und schaltete sie ein. Doch das Gerät arbeitete nicht. Etwas mußte in seinem Innern zerbrochen sein, wahrscheinlich, als das Reptil sich darüber gewälzt hatte. Als Raimanja die Augen aufschlug, nahm Akon-Akon ihren Kopf behutsam zwischen seine Hände. »Mutter!« flüsterte er. Raimanja lächelte.
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»Ich wäre gern länger bei dir geblieben, mein Junge«, flüsterte sie kaum hörbar. »Lebe wohl! Vielleicht treffe ich – irgendwann und irgendwo – deinen Vater wieder.« Ihr Gesicht verzerrte sich. Sie bäumte sich röchelnd auf, dann sank sie ruckartig zurück. Der Kopf fiel schlaff zur Seite. Akon-Akon schloß ihr die Augen. Die Tränen liefen ihm übers Gesicht, als er Raimanja zum Gleiter trug, sie hinein bettete und hinter den Kontrollen Platz nahm. Er wußte, daß er nun ganz allein auf Perpandron war und allein bleiben würde, wenn zu seinen Lebzeiten niemand auf dieser vergessenen Welt landete. Plötzlich stutzte er. Zu Lebzeiten? Mit Hilfe des Schlafkristalls konnte er doch so lange leben, bis jemand kam und ihn weckte. Akon-Akon beschloß, seine Mutter im Grab Orthreks zu bestatten und dann nach Amalek zu gehen, um seinen Platz im Schlafkristall einzunehmen – und zu warten …
* Eisige Kälte, durchdrungen von einem schwachen rhythmischen Pulsieren: die ersten Anzeichen der Rückkehr des Bewußtseinsinhalts in den eigenen Körper. So viele Empfindungen waren in der Vergangenheit auf mich eingestürmt, daß sich mein Geist nicht sofort im Körper zurechtfand. Erst nach und nach stellten sich die vielfältigen Rückkopplungsfunktionen wieder ein. Ich spürte, daß ich am ganzen Körper zitterte und daß mir der Schweiß ausbrach, aber dabei handelte es sich wohl nur um eine Art Rückversetzungsschock. Als ich mich umsah, entdeckte ich alle unsere Gefährten in der gleichen Haltung, in der ich sie zuletzt gesehen hatte – vor Tausenden von Jahren oder vor wenigen Sekunden. Mit Ausnahme von Akon-Akon. Der Junge war aus seiner Starre erwacht. Auf seinem Gesicht spiegelte sich eine breite Skala von Gefühlen wider. Langsam hob
er die Hände, die den Kerlas-Stab hielten. Der seltsame Stab wirkte stumpfer als vor unserer körperlosen Reise durch die Zeiten. Wahrscheinlich hatte sich die Kraft, die unsere Zeitversetzungen ermöglicht hatten, verbraucht. Doch ich war sicher, daß in dem mysteriösen Stab noch andere Kräfte schlummerten. Ich fing einen bedeutungsvollen Blick Fartuloons auf. Mein Pflegevater schien sich die gleichen Fragen zu stellen wie ich. Die Herkunft Akon-Akons war geklärt, desgleichen seine Bestimmung. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß er nach Arkon gehen würde, um zu versuchen, seine Bestimmung zu erfüllen. Als der Embryo manipuliert wurde, waren die Voraussetzungen völlig andere als heute, Jahrtausende später. Außerdem hatte Akon-Akon nicht, wie es das Programm der Akonen vorsah, seine achtzehn ersten Jahre im Mentorkristall verbracht. Alles, was er in jenen achtzehn Jahren hatte lernen sollen, hatte er nicht gelernt. Das erklärte wahrscheinlich seine bisherigen Fehlreaktionen. Aber, und das erschien mir wichtiger, ich hatte gesehen, daß Akon-Akon in der vertrauten Umgebung von Perpandron sich nicht schlechter Verhalten hatte, als es jeder andere Arkonide getan hätte. Was immer die Akonen aus ihm gemacht hatten, er war ein vernünftiges Wesen mit starken Empfindungen und ausgeprägtem Sinn für Gut und Böse. Mit seinen besonderen Fähigkeiten konnte er große Taten vollbringen: im Sinne des Bösen oder des Guten. Es war noch alles offen. Ich schüttelte diese Gedanken ab, blickte nach oben, wo die Strahlen der Morgensonne durch das defekte Dach der Station fiel, und sagte: »Ein neuer Tag ist angebrochen!« ENDE
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H. G. Ewers ENDE