Die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus Schelling, Hegel und Fichtes ungeschriebene Lehre
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Die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus Schelling, Hegel und Fichtes ungeschriebene Lehre
Fichte-Studien-Supplementa Band 22
im Auftrage der Internationalen Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici herausgegeben von Helmut Girndt (Duisburg) Wolfgang Janke (Wuppertal) Wolfgang H. Schrader (†) (Siegen) Hartmut Traub (Mülheim a. d. Ruhr)
Wolfgang Janke
Die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus Schelling, Hegel und Fichtes ungeschriebene Lehre
Amsterdam - New York, NY 2009
Fichte-Studien-Supplementa Die Supplementa zu den Fichte-Studien präsentieren Forschungen zur Geschichte und Systematik der Transzendentalphilosophie. Es werden in diesem Rahmen umfangreichere Untersuchungen veröffentlicht, z.B. Monographien, Dissertationen und Habilitationsschriften, die dem Verständnis der Transzendentalphilosophie dienen oder ihre Erneuerung und Weiterentwicklung voranbringen können. Bildnachweise Fichte-Porträt: Aquatintaradierung, 1814, von Friedrich Jügel (gest.1833) nach einem Gemälde vonHeinrich Anton Daehling (1808) – Schelling-Porträt: Stahlstich, um 1850, von Albrecht Schult-heiss (1823-1909) nach einem Gemälde von Joseph Stieler (1835) – Hegel-Porträt: Stich, um 1825,von Friedrich Wilhelm Bollinger (1777-1825) nach einem Gemälde von Johann Christian Xeller
Die Reproduktion der broncierten Leibniz Büste: ©„Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek“, „Niedersächsische Landesbibliothek Hannover“ Typographie und Satz: Christoph Asmuth (Berlin) The paper on which this book is printed meets the requirements of “ISO 9706:1994, Information and documentation - Paper for documents Requirements for permanence”. ISBN-13: 978-90-420-2503-5 ©Editions Rodopi B.V., Amsterdam-New York, NY 2009 Printed in The Netherlands
Inhalt Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand 1. Abschnitt: Freilegung des Tatbestandes einer dreifachen Vollendung des Deutschen Idealismus ................................................................................................ 1 1. Kapitel: Restitution der Vernunftwissenschaft im Schatten des Nihilismus. Verdeutlichung einer unzeitgemäßen Aufgabe ............................ 1 2. Kapitel: Nachprüfung des philosophiegeschichtlichen Klischees ›Von Fichte über Schelling zu Hegel‹ ....................................................................... 9 3. Kapitel: Exkurs. Heideggers Stellungnahme zum Fortgang des Deutschen Idealismus ....................................................................... 13 4. Kapitel: Vorzeichnung des antihegelschen Vollendungsanspruchs Schellings ........................................................................... 16 5. Kapitel: Verweise auf Fichtes Ankündigung, allen Streit auf dem Gebiet der philosophischen Wissenschaft beendet zu haben .............. 18 6. Kapitel: Vorblick auf die Problemlage der ›ungeschriebenen Lehre‹ Fichtes ............................................................................. 21 2. Abschnitt: Konkurrierende Denkwege: Fichte – Schelling – Hegel Eine biographische Annäherung .................................................................................. 24 1. Kapitel: Dokumentation der wachsenden Rivalität zwischen Schelling und Fichte ................................................................................ 25 2. Kapitel: Zuspitzung des Differenzpunktes im Briefwechsel Fichte – Schelling (der Scheidebrief vom 15. Januar 1802) .................................. 30 3. Kapitel: Hinweise auf das ausgebliebene Grundlagengespräch zwischen Fichte und Hegel ...................................................................................... 34 4. Kapitel: Erinnerung an den Zerfall der Geistesbruderschaft zwischen Schelling und Hegel ................................................................................. 37 5. Kapitel: Annäherung an den wahren Grund der feindseligen Entfremdungen ............................................................................ 39
Teil I: Schelling 1. Abschnitt: Vorlage des Vollendungsanspruchs von Schellings Identitätssystem 1801 .................................................................................... 43 1. Kapitel: Ankündigung des ersten Systems der Vernunftwissenschaften. Eine Vorerinnerung .................................................................................................. 43 2. Kapitel: Herausstellung von Hauptsätzen und Grundproblemen des Standpunktes absoluter Identität ..................................... 48
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Inhaltsverzeichnis
3. Kapitel: Überblick über die Entfaltung des Systems ............................................. 53 2. Abschnitt: Platonisch-theogonische Vertiefungen 1802 – 1804 ................................. 58 1. Kapitel: Der Gott der Philosophie und der Religion (Philosophie und Religion 1804, Einleitung) ............................................................. 58 2. Kapitel: Platonischer Pantheismus. Zwischenbemerkungen zum Gespräch Bruno oder Über das göttliche und natürliche Princip der Dinge, 1802 .................. 61 3. Kapitel: »Transzendentale Theogonie«. Geschichtliche und systematische Erörterung ...................................................... 65 3. Abschnitt: Einsprüche: Das Identitätssystem und seine Weiterungen. Überprüfung der Schellingkritik Fichtes 1804 – 1806 ................................................ 75 1. Kapitel: Erinnerung an eine schriftstellerische Zurechtweisung ........................ 75 2. Kapitel: Nachrechnung von Schellings zehnfacher Blindheit aus Nichtbesinnung in Fichtes Analyse von Philosophie und Religion ................. 78 3. Kapitel: Die logische Auflösung von Schellings Einfall vom Abfall des Absoluten ............................................................................ 82 4. Abschnitt: Ende oder Vollendung? Schellings Spätphilosophie im Widerstreit ..... 87 1. Kapitel: Grundsätzliche Vorgaben. Über Differenz und Korrelation der positiven und negativen Philosophie .............................................................. 88 2. Kapitel: Verfolgen der Streitfrage: Umbruch zum theistischen Spätidealismus oder Vollendung des kritischen Anfangs? .................................. 93 3. Kapitel: Beleuchtung der Schlußapotheose: Schelling, der Vollender ............... 98 5. Abschnitt: Schellings Lehre von der Wahrheit als Unverborgenheit. Wiedereinholung einer Gegenstellung ....................................................................... 102 1. Kapitel: Über die Umstellung der Wahrheitsoffenbarung in der Wirklichkeitserfahrung positiver Philosophie .................................................... 102 2. Kapitel: Der Weg zur Wahrheit von der intellektuellen Anschauung zur entsetzenden Ekstasis ....................................................................................... 105
Teil II: Hegel 1. Abschnitt: Vollendung der Vernunftwissenschaft als System? Nachfragen ........... 109 1. Kapitel: Hegels Zusammenschluß von Wissenschaft und System. Wiederholung eines Vollendungspostulats ......................................................... 109 2. Kapitel: Zweiteiliger Systembau oder dreiteilige Enzyklopädie? Eine Vorfrage ............................................................................................................ 112 2. Abschnitt: Wege zum absoluten Wissen. Ein synoptischer Überblick .................... 115 1. Kapitel: Der Weg der Erfahrung im Erfassen des absoluten Wissens ............... 115 2. Kapitel: Bedenken des absoluten Wissens als Äther lebendigen Insich-Kreisens ................................................................... 120 3. Kapitel: Vorschau auf die Konfrontation Hegels mit Fichtes Hinführung zum Standpunkte absoluten Wissens ................................ 123 3. Abschnitt: Problematisierung des Anfangs der Onto-theo-Logik .......................... 124 1. Kapitel: Wiederholung des Einsatzes der Logik als Onto-theo-Logik ............. 124 2. Kapitel: Durchlaufen des Anfangs der Seinslogik. »Das Werden ist der erste konkrete Gedanke« .................................................... 127
Inhaltsverzeichnis
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3. Kapitel: Vorbehalte gegenüber der Logik des Anfangs. Eine Problemskizze ................................................................................................. 135 4. Abschnitt: Fragen nach der End- und Vermittlungsfunktion der Ideenlogik ....... 141 1. Kapitel: Wiederholung des Endstandes der Logik: die absolute Idee ............... 141 2. Kapitel: Zur Restituierung der freiesten Persönlichkeit Gottes ........................ 144 3. Kapitel: Nachfragen zu Hegels Andeutungen eines Übergangs von der Ideenlogik zur Realphilosophie .............................................................. 146 5. Abschnitt: Wege und Wesen der Wahrheit. Bereitstellungen zum Widerstreit ..... 150 1. Kapitel: Hegels Wege zur Wahrheit ........................................................................ 151 2. Kapitel: Begreifen der Wahrheit auf der Höhe spekulativer Logik ................... 154 6. Abschnitt: Hegel im Widerstreit ..................................................................................... 156 1. Kapitel: Hegels Bloßstellung des unvermittelten, schlechten, leeren und unvollständigen Idealismus (Kant – Fichte) ................ 156 2. Kapitel: Herausstellung von Hegels vielseitigem Widerstreit gegen das Prinzip des Sollens ............................................................................................ 159 3. Kapitel: Analyse von Sollen und Schranke als Fichtekritik in Hegels Seinslogik ..................................................................................................... 163 4. Kapitel: Vorblick auf Fichtes Rechtfertigung des Soll – Umkehr des Widerstreits ....................................................................................... 169
Teil III: Fichte 1. Hauptstück: Fichte im Widerstreit ........................................................................... 173 1. Abschnitt: Beiträge zum Streit über die veränderte, ungeschriebene Lehre und die populären Schriften ......................................................................................... 173 1. Kapitel: Stellungnahme zur Diskussion über die ›veränderte Lehre‹ ............... 173 2. Kapitel: Wiederentdeckung von Fichtes ›ungeschriebener Lehre‹ .................... 175 3. Kapitel: Die ungeschriebene Lehre im Spiegel der populären Schriften. Eine Erklärung von Schellings und Hegels Abschätzungen .............................. 179 4. Kapitel: Ein Vorbericht über die Polemik gegen Fichtes Rede vom absoluten Sein und göttlichen Leben (Schellings Rezension von Über das Wesen des Gelehrten) .................................. 184 2. Abschnitt: Richtigstellungen. Fichtes populäre Grundsätze über die Natur und das Göttliche unter Anklage ................................................................................. 187 1. Kapitel: Austragen des Grundkonflikts. Fichtes und Schellings Auffassung der Natur ...................................................... 187 2. Kapitel: Versuch einer Schlichtung im Grundsatzstreit um Sein und Sinn der Natur .......................................................................................................................... 191 3. Kapitel: Revision von Schellings Anklage und Aburteilung der Grundsätze in Fichtes Die Anweisung zum seligen Leben .................................... 195 3. Abschnitt: Ausblicke auf die strittige Über-, Unter- und Gleichordnung der Gottesliebe (Amor Dei intellectualis) ................................................................. 200 1. Kapitel: Schellings Angriff auf den Gipfelsatz von Fichtes Religionslehre »Die Liebe ist höher denn alle Vernunft« ..................... 201
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Inhaltsverzeichnis
2. Kapitel: Exkurs. Friedrich Schlegels Kritik an Fichtes Prinzip der Liebe (Heidelberger Jahrbücher für Litteratur 1808) ................................................... 204 3. Kapitel: »Auch der Geist ist noch nichts das Höchste – die Liebe aber ist das Höchste«. Zur Überhöhung der Liebe in Schellings Freiheitsschrift 1809 ....................... 206 4. Kapitel: Hegels dialektische Unterordnung des Wunders der Liebe im System der Vernunftwissenschaft ................................................................... 209 5. Kapitel: Bewährung von Fichtes religions-philosophischer Gleichordnung der Liebe als Quellgrund und Band im Widerstreit ................ 211 4. Abschnitt: Apologien zu zwei verrufenen populären Schriften in ihrem Zusammenhang ................................................................................................. 214 1. Kapitel: Korrigierender Bericht über die Wirkungsgeschichte der Reden an die deutsche Nation 1807/1808 ................................................................. 215 2. Kapitel: Exkurs. Verteidigungen gegen die Anklagen des Antisemitismus und des Judenmordes ................................................................. 218 3. Kapitel: Epochale Kennzeichnung unserer Krisenzeit durch den Weltalterentwurf. Vorgaben der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters 1804-1805 ....................... 220 4. Kapitel: Die Reden an die deutsche Nation in ihrer geschichtlichen Zeit. Zur Diagnose und Therapie unserer Epoche »vollendeter Sündhaftigkeit« ...... 225 2. Hauptstück: Das vollendete System der Wissenschaftslehre: Einleitung – Grundlegung – Ausfaltung. Nachkonstruktion der ungeschriebenen Lehre ................................................... 229 1. Abschnitt: Einleitende Hinführungen: faktische Phänomenologie – genetische Prolegomena ................................................................................................ 231 1. Kapitel: Zur methodischen Funktion von Fichtes historisch-faktischer Phänomenologie des Geistes (Die Tatsachen des Bewußtseins) ........................... 233 2. Kapitel: Feststellung von Hauptphänomenen absoluten Wissens in Fichtes faktischer Phänomenologie (Tatsachen des Bewußtseins 1810/1811 3. Hauptabschnitt 4. Kapitel) .................... 236 3. Kapitel: Genetische Phänomenologie. Ermittlung des Grundgesetzes allen Wissens in den Prolegomena der W.L. 1804-II ............... 242 2. Abschnitt: Markierung des veränderten historischen Anknüpfungspunktes ....... 247 1. Kapitel: »Bester Anknüpfungspunkt: das System des Spinoza« (W.L. 1812). Bemerkungen über den Rückgang vom kritischen Kant zum ›heiligen Spinoza‹ ............................................................... 247 2. Kapitel: Ein Zwischenschritt. Der zweideutige historische Rückgang zu Spinoza in der Einleitung zur Königsberger Wissenschaftslehre 1807 .......... 249 3. Kapitel: »So Spinoza, so wir – So wir. Anders Spinoza«. Genaue Markierung des philosophiegeschichtlichen Ausgangs in der Wissenschaftslehre 1812 .......................................................................................... 251
Inhaltsverzeichnis
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3. Abschnitt: Grundlegung der aufsteigenden Einheits- und Vernunftlehre. Eine Durchsicht (W.L: 1804-II, 10.-15. Vortrag) ......................................................... 256 1. Kapitel: Überblick über den Aufstieg zum Ursprung wahrer Einheit. Vorbemerkungen zur Abstufung von Idealismus und Realismus .................... 256 2. Kapitel: Einblick in die Formierung der Gegenpositionen: das »lebendige Durch« ........................................................................................... 261 3. Kapitel: Entfaltung der archaischen Antinomie .................................................. 263 4. Kapitel: Überstieg über die Standpunkte des höheren Idealismus und höheren Realismus ......................................................................................... 267 5. Kapitel: Einsicht in Fichtes These vom Sein ........................................................ 270 4. Abschnitt: Grundlegung der Wahrheitslehre ............................................................. 274 1. Kapitel: Rückgang zur Wahrheitskehre vom Wissen zum Glauben (Die Bestimmung des Menschen, 1800) ................................................................... 275 2. Kapitel: Fichtes Aufstieg zum Wahrheitsgrund in der Wissenschaftslehre 1804-II ...................................................................................... 280 3. Kapitel: Von einem Vorrang der Fichteschen Konzeption im Rangstreit der dreifachen idealistischen Wahrheitsbegründung ........................................ 284 5. Abschnitt: Grundlegung und Grundzüge der Erscheinungslehre ......................... 290 1. Kapitel: Reine Gewißheit. Vergewisserung von Licht und Evidenz der Erscheinungseinsicht (W.L. 1804-II, 23. Vortrag) .......................... 290 2. Kapitel: Angabe der Aufgabenstellung (Wissenschaftslehre Königsberg, 23. Vortrag) ........................................................ 294 3. Kapitel: Feststellung des Mittelpunktes der fünffachen Vernunftstruktur (W.L. 1804-II, 28. Vortrag) ...................................................................................... 299 4. Kapitel: Genetische Herleitung der unendlichen Vielheit und Veränderlichkeit .............................................................................................. 302 5. Kapitel: Schematisierung der fünf Standpunkte menschlichen Seins- und Weltverstehens ..................................................................................... 304 6. Kapitel: Ausblick auf die 25 Grundformen vernunftbestimmten Wissens ...... 307 7. Kapitel: Anweisungen für die fünffache Erscheinungsform der Liebe im Leben (Anweisung zum seligen Leben, 7.-9. Vorlesung) ..................................................... 311 6. Abschnitt: Ausfaltung der Grundlagen (Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre, 1805) ................................................. 318 1. Kapitel: Erörterung des Programms der explikativen Prinzipienforschung ......................................................................... 319 2. Kapitel: Wiederholende Klärung der Aufgabenstellung, den Hauptgegensatz von Gott und Welt zu verknüpfen .................................... 322 3. Kapitel: Einsetzung des kategorischen Soll als Anfangsgrund der Gottes- und Religionslehre .................................................................................... 324 4. Kapitel: »Das absolute Soll des Soll als Soll«: Durchdringen zum Mittel- und Ableitungspunkt für die sinnliche und sittliche Welt .................... 327 5. Kapitel: Erforschung der teleologischen Verhältnisse der sinnlichen zur rechtlichen wie der sittlichen zur religiösen Weltansicht ......... 332
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Inhaltsverzeichnis
Nachschriften. Ausführungen über die Bedeutung des kritisch vollendeten Idealismus für das gegenwärtige Zeitalter 1. Abschnitt: Vom Vorrang der ungeschriebenen Lehre (Zu Grundsätzen der Erlanger Wissenschaftslehre 1805) .......................................... 339 1. Kapitel: Hervorhebung des Behauptens einer absoluten Reflexion in transzendentaler Besonnenheit ..................................... 339 2. Kapitel: Sich-Besinnen auf sich. Vorlage der Wort- und Sacherklärung .......... 341 3. Kapitel: Problemanzeige der absoluten Reflexion .............................................. 345 4. Kapitel: Auflösung des Problems einer absoluten Reflexion. Anzeige des Vorzugs von Fichtes ungeschriebener Lehre ................................. 348 2. Abschnitt: Einsichten in das gegenwärtige Zeitalter vollendeter Nicht-Besinnung ................................................ 351 1. Kapitel: Die Besinnungs- und Wahrheitskrise im Geiste des Positivismus ........................................................................................... 351 2. Kapitel: Philosophische Besonnenheit wider die Idealismuskritik des pathologischen Nihilismus. Eine unzeitgemäße Betrachtung .................... 355 Quellen (mit Siglen) ............................................................................................................ 359 Namenverzeichnis .....................................................................................................................
Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand 1. Abschnitt: Freilegung des Tatbestandes einer dreifachen Vollendung des Deutschen Idealismus 1. Kapitel: Restitution der Vernunftwissenschaft im Schatten des Nihilismus. Verdeutlichung einer unzeitgemäßen Aufgabe Die epochalen transzendentalen und spekulativen Grundlegungen des neuzeitlichen Idealismus und deren systematische Vollendung in der geistigen Hochkultur der Fichte-, Schelling- und Hegelzeit liegen tot und verdunkelt im Schatten des Nihilismus. Nun hatte schon Hegel selbst kurz vor seinem Tode 1831 als Abschluß der Vorrede zur zweiten Ausgabe seiner Wissenschaft der Logik Zweifel darüber geäußert, »ob der laute Lärm des Tages und die betäubende Geschwätzigkeit der Einbildung, die auf denselben sich zu beschränken eitel ist, noch Raum für die Teilnahme an der leidenschaftslosen Stille der nur denkenden Erkenntnis offen lasse« (TWA 5,34). Und näherhin hat Schelling im Endstadium seines langen, immer wieder zu eigenständigen Versionen der alten Wahrheits- und Wirklichkeitsfrage drängenden Denkweges im Rückblick auf den geschichtlichen Anfang, den Geistesblitz des transzendentalen Grundgedankens Fichtes, die diffuse Wirkungsgeschichte beschrieben: So belebend und umstürzend Fichte für einen großen Augenblick der Geschichte gewirkt habe, so tot und beiseitegestellt sei er im allgemeinen Bewußtsein wenige Jahrzehnte danach; seine wahre Bedeutung sei selbst dem philosophischen Fachmann so gut wie unbekannt, geschweige denn lebendig angeeignet. Der wahre Fichte, der auf das Leben einwirken und geschichtlich sein Zeitalter aus dem Zustande selbstsüchtiger Gedankenlosigkeit zur Vernunft bringen wollte, sei zur Mumie einer antiquarischen Philosophiehistorie geworden. Sein kraftvoller, alles umwendender Grundgedanke jedenfalls sei »heutzutage von vielen, die sich philosophischer Studien und Kenntnisse rühmen, kaum noch gekannt, noch weniger verstanden, wie er insbesondere jeden Einfluß auf alle großen Fragen des Lebens verloren hat; – wie alsdann der kraftvolle Fichte, der Urheber des
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Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand
transzendentalen Idealismus, dessen Erscheinung wie ein Blitz wirkte, der für einen Augenblick gleichsam die Pole des Denkens umkehrte, aber auch wie ein Blitz wieder verschwand, in dem gegenwärtigen Bewußtsein der Deutschen kaum noch die Stelle finden wird, an die er damals sein System anlegte« (Philosophie der Offenbarung, Einleitung; W XII 14 = SW XIII 14). In der Tat hatte Fichte, etwa in seinem aufsehenerregenden Publikum Von den Pflichten der Gelehrten in Jena 1794, wie ein Blitz unmittelbar einschlagend, das Feuer der Begeisterung für Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen unter Menschen und für das Gleichheitsideal der Französischen Revolution entzündet, indem er die Pole des Denkens, Sein und Bewußtsein, Ding und Vorstellung umdrehte, so daß sich die Energie der Tathandlung entlud.1 Fichtes kraftvolle Energie, sein rhetorisches Pathos, sein Aufruf zum Handeln, ergriff blitzartig die Geister: Novalis, Hölderlin, die Geschwister Schlegel, Wilhelm von Humboldt, nicht zuletzt den aufgeweckten, genialen jungen Schelling. Hölderlin berichtet an Neuffer im November 1794: »Fichte ist jetzt die Seele von Jena und gottlob! daß er’s ist. Einen Mann von solcher Tiefe und Erscheinung des Geistes kenne ich sonst nicht« (StA VI 139). Und der blutjunge Schelling hatte in einer Mitteilung an Hegel Fichte als den neuen Helden im Lande der Wahrheit begeistert begrüßt. Aber diese Entladung geistiger Energie in einem kairotischen Augenblick sei auch »wie der Blitz« vergangen. Wenige Jahrzehnte danach sind der transzendentale Gedanke und die Erhebung spekulativen Geistes in ihrer auf das Leben anwendbaren Kraft erloschen. Was das allgemeine Bewußtsein und den Stand positiver Wissenschaftlichkeit angeht, so ist eine Grundeinstellung entstanden, die für die großen metaphysischen Grundfragen der Menschheit, etwa für die verzweifelte Nachfrage »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht nichts?« keinen Sinn mehr hat.
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Die Studie von W. E. Ehrhardt: Schellings Metapher ›Blitz‹ – eine Huldigung an die Wissenschaftslehre, 1997 geht der Frage nach, welche Bedeutung diese Metapher gerade auch für das Auftreten Fichtes im Schellingschen Verstande hat. Diskutiert wird das naturphilosophische Verständnis des Blitzes als Lösung einer Spannung entgegengesetzter Pole, aus der erst plötzliche Helle und Feuer resultieren, übertragen als Spannung zwischen der theoretisch verlangten allgemeinen kausalen Gesetzmäßigkeit und der praktisch zu fordernden Freiheit. Und das sei mit der Tatsache zusammenzusehen, daß Schelling auch die Auferstehung Christi einen Blitz genannt hat, welcher eine fundamentale Wende in der Geschichte der Menschheit bedeute.
1. Abschnitt: Freilegung des Tatbestandes
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Bezeichnenderweise hat Fichte in den ›populären‹ Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters seine geschichtliche Welt als Periode einer blinden Vernunftherrschaft und halben Aufklärung diagnostiziert. Das ist auch heute noch zutreffend. Eine zersetzende Kritik habe sich von aller Vernunftautorität befreit, aber nur, um lediglich noch den gemeinen Menschenverstand und das Interesse des je eigenen Wohlstandes gelten zu lassen. Folgerichtig würden Systeme der Philosophie mit skeptischer Abschätzung behandelt. Es sei das Zeitalter der Langeweile durch Geistlosigkeit, der Meinungsfreiheit ohne Denkfreiheit, des oberflächlichen Raisonnierens ohne den Ernst geistiger Anstrengung, der Empirie ohne Prinzipien der Ideen. Dem dürfte Heideggers Phänomenologie des Daseins durchaus entsprechen: die Diagnose unseres ›Verfallens‹ ins ›man‹, in jene Phänomene unseres Existierens, in denen wir durchschnittlich so eingeebnet leben, wie man zumeist lebt und denkt und miteinander umgeht, nämlich in Gerede, Alltäglichkeit, Vielgeschäftigkeit, Öffentlichkeit, Abständigkeit. Darin manifestiert sich nicht nur die Flucht unseres endlichen Daseins vor dem Tode, es prägt auch ein Zeitalter, dessen Ungeist die philosophische Frage nach Sein und Dasein niederhält. Und es mag auch nicht abwegig sein, Heideggers schon ganz frühen, christlich-katholisch eingewurzelten Impuls, dem Übel des verflachten Modernismus wie dem Ungeist von Naturalismus und Nihilismus entgegenzuwirken, mit Fichtes Einsatz der Wissenschaftslehre nach Heideggers Bruch mit Katholizismus und Neukantianismus in Verbindung zu bringen.2 Dem steht die geschichtsmächtige Heraufkunft des europäischen Nihilismus immer noch im Wege. In der Perspektive des scharfäugigen Wahrsagevogels Nietzsche, welcher die Heraufkunft des europäischen Nihilismus voraussagt, werden im gegenwärtigen Zeitalter Gestalten des ›unvollkommenen Nihilismus‹ dominant. Diese verwerten Platonische Ideen, obwohl sie den platonischen Idealismus in allen seinen Ausformungen entwerten. Versteht man mit Nietzsche die Tatsachenphilosophie des Positivismus, die Ideenfeindschaft des Materialismus, die auf Faktenzeugnisse bauende Historie als halbher-
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Vgl. die kühn zugespitzte These von A. Denker: Fichtes Wissenschaftslehre und die philosophischen Anfänge Heideggers, 1997, es sei gar nicht die Frage nach dem Sinn von Sein (bei Aristoteles nach Brentano), sondern die Auseinandersetzung mit Grundlagen der Wissenschaftslehre, welche Heidegger auf den Weg seines Denkens gebracht hätte.
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Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand
zige Phasen der Heraufkunft des Europäischen Nihilismus, so werden Verschleierungen des Idealismus greifbar: Es ist nichts (nihil) mit einem Reich der Ideen, es ist nichts mit dem ›absoluten Subjekt‹ und dem reinen ›Ich-denke‹ der neuzeitlichen Philosophie, und es ist schon gar nichts mit Platos ›Idee des Guten‹, mit einem spekulativen Absoluten, der Identität von Realität und Idealität, Wirklichkeit und Gedanke. Der Gott der Philosophen ist tot. Die Sonne Platos, die absolute Idee Hegels sind im Schatten des Nihilismus scheinbar endgültig und unwiederholbar kraft- und trostlos untergegangen. Im schmerzhaften Schlaglicht von Nietzsches ›Umwertung aller Werte‹ bildet der Positivismus im Stile des großen Methodologen Auguste Comte eine Form des unvollkommenen Nihilismus. Er ist Nihilismus, weil er erklärt: Es ist nichts mehr mit der einstigen Erkenntniskraft der idealistischen Metaphysik. Er ist unvollkommen, weil er – wie der Sozialismus – Werte der platonisch-christlichen Weltauslegung nicht ab- und umwertet, sondern verwertet. Nach Comtes berühmtem Drei-Stadien-Gesetz, dem Gesetz des unumkehrbaren Fortschritts menschlicher Erkenntnis, ist das dritte und letzte Erkenntnisstadium das der positiven, hierarchisch geordneten Wissenschaften mit der Physik der Soziologie an der Spitze. Dieses Vollendungsstadium hat nicht nur die fiktive Mythologie der Religion, sondern auch das abstrakte Stadium der Metaphysik hinter sich. Positionen der Metaphysik sind, so fortschrittlich und aufklärend sie einstmals auch gewesen waren, unwiederbringlich vergangen. Die Begründung dafür ist ebenso naiv wie weitverbreitet: Die Ideen der Metaphysik abstrahierten vom positiv Gegebenen und meiden das empirische Sinnkriterium. Ein noch vernichtenderes Urteil im Zuge der Idealismusfeindlichkeit und Religionskritik unseres nihilistisch-materialistischen Zeitalters fällt das Wort des revolutionären Verfechters einer parteilichen, wissenschaftlichen Weltanschauung: Wladimir Iljitsch Lenin. Lenin ordnet Hegel mit Gewalt, nicht aus Unkennntnis in eine umwälzende Dialektik ein. Hegel wird dabei das Verdienst zugestanden, die Dialektik als Instrument verstanden zu haben, mit dem die Wahrheit des Wirklichen zu erfassen sei. Der dialektische Weg aber führe von der lebendigen Anschauung zum abstrakten Denken und von da zur revolutionären Praxis. Hegel habe sich dagegen der Vergangenheit zugewendet und letztlich die christliche Religion in philosophische Terminologie übersetzt. Das macht den Weg von Kant zu Hegel unpassierbar. Die Vollendung des Weges im religionskritisch aufgeklärten Materialis-
1. Abschnitt: Freilegung des Tatbestandes
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mus führt über Kant und Hegel so hinaus, daß er das idealistische Gerede von Gott und dem Absoluten endgültig erledigt. »Kant setzt das Wissen herab, um dem Glauben Platz zu machen. Hegel erhöht das Wissen, beteuernd, daß Wissen das Wissen von Gott sei. Der Materialist erforscht das Wissen von der Materie, von der Natur und wirft Gott und das ihn verteidigende Philosophenpack auf den Misthaufen« (LW 38, 160). Nietzsche schließlich, der sprach- und stilartistische Allesverneiner, der Immoralist, Antichrist, Antiplatoniker hat für die idealistische ›Bildung‹ der deutschen Hoch-Zeit nur noch von Vorurteilen gesättigten Hohn und häßliche Verachtung übrig. So will er den Aufklärer Kant als »Nihilist mit christlich-dogmatischen Eingeweiden« entlarven. Der »Königsberger Chinese«, ein moderner Konfuzius, mache Kotau vor den Hirngespinsten von ›Tugend‹ und ›Pflicht‹ und dem ›Guten an sich‹. Und seine geschichtliche Wirkung beruhe auf dem Theologeninstinkt einer Gelehrtenwelt, die zu drei Vierteln aus Pfarrer- und Lehrersöhnen bestehe und die ihm, dem abgefallenen Sohn eines evangelischen Landgeistlichen, engstirnig die schmerzlich vermißte Anerkennung und den verdienten Ruhm versagten. Schiller und dessen »edel verstellte Gebärde und edel verstellte Stimme« hat Nietzsche bekanntlich als »Moraltrompeter von Säckingen« verhöhnt. Über Hegel urteilt er, psychologisch nachrechnend, obenhin: »Von den berühmten Deutschen hat vielleicht Niemand mehr esprit gehabt als Hegel, – aber er hatte dafür auch eine so grosse deutsche Angst vor ihm, dass er seinen eigenthümlichen schlechten Stil geschaffen hat. Dessen Wesen ist nämlich, dass ein Kern umwickelt und nochmals und wiederum umwickelt wird, bis er kaum noch hindurchblickt [...] -aber in jenen Umwicklungen präsentiert es sich als abstruse Wissenschaft selber und durchaus als höchst moralische Langeweile!« (Morgenröthe, Drittes Buch 193; KSA 3, 166-167).3 Im Jahre 1888, da der Briefwechsel fast nur noch um die Schinkenpakete der Mutter, die hypochondrischen Berichte körperlicher Beschwerden, den ausgebliebenen Ruhm, die unendliche Genugtuung über die Vorträge von
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Nietzsches Briefwechsel von 1770 bis 1888 läßt sich zweierlei entnehmen: Von Hegel hat Nietzsche selbst nur eine Vorlesungsstunde bei Jakob Burckhardt über Hegels Philosophie der Geschichte gehört. Von den letzten Hegelianern berichtet er: Deren Parole lautete in den fünfziger Jahren »Wagner und Hegel!«. Das empfand und deutete Nietzsche als Götzendämmerung im unerträglichen Stil. Wagners Parzival sei »Heuchelei in Musik«. Offenkundig ist Hegel hier nur noch im Streit der Hegelianer präsent und in Nietzsches Abscheu vor dem Wagnerianismus.
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Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand
Georg Brandes in Kopenhagen über die »Deutsche Philosophie und Friedrich Nietzsche« kreist, findet sich ein ungemein erregter Protestbrief vom 20. Oktober an die verehrte Freundin und »Idealistin« Malwida von Meysenbug: »Ich behandle den Idealismus als eine Instinkt gewordene Unwahrhaftigkeit, als ein Nicht-sehn-wollen der Realität um jeden Preis: jeder Satz meiner Schriften enthält die Verachtung des Idealismus.« Und Nietzsche fügt eine ebenso maßlose und schrecklich simplifizierende Abwertungsbegründung hinzu: »Es giebt über der bisherigen Menschheit gar kein schlimmeres Verhängnis als diese intellektuelle Unsauberkeit; man hat den Werth aller Realitäten entwerthet, damit, dass man eine ›ideale Welt‹ erlog« (KSA Br 8, 458). Und pauschal hat Nietzsche ohne genauere Kenntnisnahme den drei Vollendern des Deutschen Idealismus Fichte, Schelling und Hegel überhaupt einen Platz in der Geschichte der Erkenntnis abgesprochen. Alle drei seien unbewußte Falschmünzer, unsaubere Schleier-Macher; sie hätten kein Buch hervorgebracht, das Tiefe besitzt (Ecce Homo. Der Fall Wagner 3; KSA 6, 31). Es ist, aufs Ganze gesehen, die philosophische Reszendenzbewegung im radikalen Stile eines Feuerbach, Marx und Nietzsche, welche die Welt verändert hat.4 Sie setzt die Transzendenzbewegung zu einer ›Hinterwelt‹ von übersinnlichen Ideen und den Überstieg zum Göttlich-Absoluten in spekulativer Vernunft und intellektueller Anschauung außer Kraft. Zarathustras Beschwörung dringt durch: »Brüder, bleibt der Erde treu!« So scheint das Verhängnis philosophischer Spekulationen vorüber. Jede Weltanschauung, welche die Sinnenwelt auf ein Unbedingtes hin aufsteigend transzendiert, um es als Erscheinung des Absoluten absteigend zu deduzieren, verkehrt und entstellt die Wirklichkeit der Welt. Weltanschauungen im Siegeszug der Reszendenz wollen das Ganze vom Kopf auf die Füße stellen. Das ist zugleich durch den imponierenden Siegeszug der Natur- und Geisteswissenschaften manifest geworden. Sie bringen das durch Hegel so geistvoll vollendete dreiteilige System von Logik – Naturphilosophie – Philosophie des Geistes zum Einsturz. Hegel hatte ja nach Schellings gottvoller Naturphilosophie im Ausbau seiner Enzyklopädie auch eine eigene Naturphilosophie veröffentlicht. Deren Ideen, etwa über Mechanismus, Chemis-
4 Fundamentale Stationen dieser Reszendenzbewegung hat I. Schüssler: Hegel et les rescendances de la métaphysique, 2003 analysiert: Schopenhauer – Nietzsche – Marx – Kierkegaard – Wissenschaftspositivismus.
1. Abschnitt: Freilegung des Tatbestandes
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mus, Organismus, Teleologie sind durch die verselbständigten Einzelwissenschaften des 19. Jahrhunderts beseitigt worden. Mit einem integralen Teil aber bricht das Ganze des Systembaus zusammen. Das gilt als Urteil des Erkenntnisfortschritts: Mit der spekulativen Naturwissenschaft ist es nichts. Unbemerkt aber ist der sogenannte Zusammenbruch des Idealismus auch von Seiten der sich emanzipierenden Geisteswissenschaften zustandegekommen. Von Wilhelm Dilthey, dem Erzhermeneuten der modernen Geisteswissenschaften und des geschichtlichen Lebens – dem Entdecker auch der Hegelschen Jugendschriften –, ist das destruktive Wort überliefert: Hegels Logik sei ein schlechthin unverdauliches Zeug.5 Auch das hat sich ausgebreitet: Mit der spekulativen, ontotheologischen Logik ist es zumal angesichts des Fortschritts der mathematischen Logik nichts. Mit der Logik Hegels als alles vermittelnder Mitte aber löst sich das systemgebundene Ganze des Deutschen Idealismus in allen seinen Teilen auf. So scheint sich derjenige Zustand nach der Auflösung der in der Hochzeit des Deutschen Idealismus vollendeten Metaphysik wieder einzustellen, den Hegel vor dem Aufbau des Vernunftsystems so merkwürdig gefunden hatte. »Indem so die Wissenschaft und der gemeine Menschenverstand sich in die Hände arbeiteten, den Untergang der Metaphysik zu bewirken, so schien das sonderbare Schauspiel herbeigeführt zu werden, ein gebildetes Volk ohne Metaphysik zu sehen« (TWA 5, 14). Diese progressive einzelwissenschaftliche Präzisierung unserer geschichtlichen Welt hat eine Rückseite. Sie schneidet zentrale Grundfragen nach Wahrheit, absolutem Wissen und Sein ab und schenkt den Stimmen philosophischer Seinsbesinnung kein Gehör mehr. Das ist dem totalitären Charakter unserer modernen, technologischen, politisch ideologisierten Weltpräzisierung geschuldet. Das treffende Grundwort ›Präzisierung‹, das fortschrittlich leuchtet, hat eine Schattenseite. Lateinisch praecidere besagt auch und zuvor: vorne abschneiden, zum Exempel linguam praecidere: die Zunge abschneiden und ein Sprachwesen verstümmeln.6 Wie aber steht es, wenn die so präzisierte, vom Reich der Ideen, von der philosophischen
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Vgl. dazu O. Pöggeler: Die Komposition der Phänomenologie des Geistes, 1973, 378ff. – H. Glockner: Beiträge zum Verständnis und zur Kritik Hegels, 1963, 485. 6 Vgl. dazu Vf.: Kritik der präzisierten Welt, 1999. Da ist programmatisch die zweideutige Präzisierung unserer Welt (praecisio mundi) auf eine Präzisierung des Seins (praecisio entis) zurückgeführt und die zur Präzisionsanalyse gehörige Restitutionssynthese als unzeitgemäße Aufgabe angelegt.
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Grundlegung des Rechts, der Sittlichkeit, der Religion abgeschnittene, ›entzauberte‹ Welt zum Bezirk der Angst und Sinnlosigkeit geworden ist, in welchem der entfremdete Mensch nicht mehr zu Hause ist? Auch das hat Nietzsche uns, den Mördern Gottes, vor Augen gestellt. Was uns angeht, ist die eigentliche Angst der Sinnlosigkeit im Andrang der end-, ziel-, seins- und sinnlosen Werde-Welt. Kommt nicht so wieder ein Bedürfnis unseres nihilistischen Zeitalters auf, die angstdurchstimmte Entfremdung unseres präzisierten In-der-Welt-Seins aufzuheben? Wäre es dann nicht mehr als eine Aufgabe von lediglich antiquarisch-historischem Interesse, die im Deutschen Idealismus vielfach errungene Grundlegung von Bewußtsein und Sein, von Welt und Gott zu restituieren, d.h. in ihr unverlierbares Recht wieder einzusetzen? Und sollte nicht der Stand des ›Gelehrten‹ der von Fichte angemahnten Aufgabe wieder gerecht werden, ein wissenschaftliches Wissen der wahren Ideen, etwa der sozialen Gerechtigkeit, auf das geschichtliche Leben anzuwenden, gerade in einem Zeitalter, das sich von der angeblich realitätsfremden Ideenwissenschaft gedankenlos abgewendet hat? Längst ist der Terminus ›Deutscher Idealismus‹ zum Sammelbegriff und Schmähnamen für das spekulative Reden vom Absoluten und für ein leerlaufendes Konstruieren von Systemen in der Sphäre des phantastischen Ich=Ich geworden. Eine Restitution, also die Wiedereinsetzung eines Geschädigten in sein Recht, hat nicht nur das systematische Ziel, die verschüttete metaphysische Naturanlage der menschlichen Vernunftnatur wieder freizulegen. Ihr ist auch aufgegeben, den Gang der Philosophiegeschichte aus gewandelter Problemsituation – und weitaus verbesserter Quellenlage – neu zu sichten und zu überdenken. Dafür sei zuerst das dreischrittige Fortschrittsschema ›Von Fichtes Wissenschaftslehre über Schellings Naturphilosophie zu Hegels Logik und Enzyklopädie‹ in seiner bestechenden Dialektik und in seinem Fortleben (auch noch in Heideggers einschlägigen Vorlesungen) kritisch zu wiederholen. Dieses Klischee ist ja schon durch den Hegel widerstreitenden Vollendungsanspruch von Schellings Identitätssystem und dem Hochmut Schellingscher Spätphilosophie durchstrichen. Zudem und nicht zuletzt ist der sich im Streit mit Schelling formierende Anspruch von Fichtes ›ungeschriebener Lehre‹ einzuholen, welcher verkündet, die Riesenschlacht um das Sein endgültig für sich entschieden zu haben. Das ist vorläufig und einleitend in einem Problemaufriß der dreifachen Vollendung des Deutschen Idealismus vorzuzeichnen.
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2. Kapitel: Nachprüfung des philosophiegeschichtlichen Klischees. ›Von Fichte über Schelling zu Hegel‹ Der dialektisch markierte Weg von Fichte zu Hegel gilt heute als philosophiegeschichtliche Sackgasse. Die gründlich verbesserte Forschungslage, welche die großen Entwürfe der Spätphilosophie Schellings und Fichtes fast gleichzeitig ins Zentrum des Interesses gestellt hatte, läßt das überkommene Fortschrittsschema als Klischee beiseite, ohne sich freilich den Problemen einer dreifachen Vollendung des Deutschen Idealismus zu stellen. Dafür aber ist vorerst die immerhin von Hegel selbst inaugurierte triplizitäre Ausdeutung in ihrer systematischen Plausibilität und ihrer geschichtlichen Fortdauer nachzuprüfen. Immer noch nämlich wird die Ansicht von der Geschichte des Deutschen Idealismus als dialektischer Gang zur vollendeten Wahrheit des absoluten Geistes vom Hegelschen Schema beherrscht. Danach wird Fichtes Wissenschaftslehre als Thesis angesehen, welche über die Antithesis der Schellingschen Naturphilosophie in einer diesen Widerspruch aufhebenden Synthesis aufgeht. Diese verführerische Triplizität hat in Hegels ›Differenzschrift‹ von 1801 eine erste maßgebliche Vorzeichnung gefunden. Diese in den aufbrechenden Streit der Systeme eingreifende Schrift sollte nicht nur Fichtes und Schellings Sache so weit wie möglich trennen, sie hat auch eine Systemkonzeption nahegelegt, in welcher Fichtes Transzendentalphilosophie und Schellings Naturphilosophie umfassend aufgehoben sind. Dafür stellt Hegels Darstellung des Fichteschen Systems fest: Fichtes Grundlegung der gesamten, d.h. theoretischen und praktischen Wissenschaftslehre mache mit der Aufstellung des obersten Grundsatzes Ich=Ich den Anfang, um die unvollendete Vernunftwissenschaft Kants und deren ungenügende Kategorienlogik systematisch zu vollenden. Nun verkünde Fichtes Grundsatz zwar ein absolutes Ich, aber in der Gestalt einer bloß subjektiven Subjekt-Objekt-Einheit unter der Gleichung: absolutes Ich=Alles. Durch Vereinigung mit dem Grundsatz unbedingten Entgegensetzens eines Nicht-Ich aber sei das schlechthin sich selbst setzende Ich an Schranken gebunden, die zu überwinden zur unendlichen Aufgabe praktischen Vernunftstrebens werde, so daß »die höchste Synthese, die das System aufzeigt, ein Sollen ist. Ich gleich Ich verwandelt sich in Ich soll gleich Ich sein; das Resultat des Systems kommt nicht in seinen Anfang zurück« (TWA 2, 68). Seitdem ist die Sollenskritik die schärfste Waffe Hegels gegen Fichtes Anspruch,
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Kants Vernunftkritiken systematisch in Form und Gehalt einer Vernunftwissenschaft abgeschlossen zu haben. Als immer bloß Gesolltes sei hier das Absolute nie erfüllt und der Anfangsgrund nicht mit dem Ende vermittelt. Der dreifache Mangel der Fichteschen Position – die bloß subjektive Subjekt-Objekt-Einheit, die einseitige Grundgleichung Ich=Alles, der systematisch unvollendbare Endstand Ich soll=Alles sein – fordere eine Gegenposition heraus, Schellings Naturphilosophie. Diese setzt der Transzendentalphilosophie den undogmatischen Versuch entgegen, das Subjektive aus dem Objektiven, den Geist als höchste Potenz in der Stufenreihe der Natur herzuleiten. Das sei auf dem Wege zur Wahrheit des Ganzen unumgänglich. Es müsse nämlich nicht nur gezeigt werden, daß Tätigkeit, Leben, Freiheit, Vernunft allein das wahrhaft gesollte Wirkliche sind, sondern auch umgekehrt, daß alles wahrhaft Wirkliche Tätigkeit, Leben, Freiheit, Vernunft zum Grunde hat. Während formelhaft ausgedrückt Fichtes Grundgleichung Ich=Alles lautet, lautet die Grundgleichung der Naturphilosophie Alles=Ich. Freilich kann das philosophische Bewußtsein in seinem Suchen nach der ganzen Wahrheit als Wahrheit des Ganzen und Absoluten nicht stehenbleiben; denn auch die Antithese Schellings ist einseitig und darum unvollständig unvollendet. Im Gegenzug zur transzendentalen Subjektivität erhebt sie das Objektive, die Natur als Inbegriff des Objektiven, zum Erklärungsgrund von Sein, Erkenntnis und Wahrheit. Das Prinzip der Naturphilosophen ist die objektive Subjekt-Objekt-Einheit. Nun entspricht es dem Bedürfnis des neuzeitlichen philosophischen Geistes, sich nicht mit einem Dualismus abzufinden, sondern die Einseitigkeiten gegensätzlicher Ansätze zu einem Ganzen zu ergänzen, und zwar nicht einfachhin als additive Hinzufügung des einen zum andern, sondern auf den Spuren Spinozas im Aufstieg zum Absoluten unter der Losung Hen kai Pan. Hegels Differenzschrift weist für diese Vollendungsgestalt auf einen absoluten Idealismus, auf die indifferente Subjekt-Objekt-Einheit von Schellings Identitätssystem. Im Stande der absoluten Indifferenz von Subjektivität und Objektivität, von Geist und Natur, sind die einseitigen Prinzipien dadurch vernichtet, daß sie im Absoluten polar vereinigt werden. So wird der Fortgang vom subjektiven über den objektiven zum absoluten Idealismus als Selbstkonstruktion der Identität zur Totalität durchsichtig. Obwohl Hegel unüberhörbar Schellings Identitätsgedanken als Vollendung dieses Fortschrittsschemas anpreist, lassen sich doch Indizien dafür
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herauslesen, daß Hegel über Schellings Grundlegung hinaus will. Schelling zufolge ist das Absolute, der Gott der Philosophen, ungeschiedene Indifferenz des Idealen und Realen und die reale Welt deren äußerliche abgestufte, quantitative Differenzierung. Hegel dagegen spricht schon in der Differenzschrift eine andere Grundformel des absoluten Idealismus an, eine Identität, welche die Negativität, das Entgegensetzen, die Nicht-Identität in sich selber hat. Hegels berühmt gewordene Grundformel lautet: »Das Absolute selbst aber ist darum die Identität der Identität und Nicht-Identität: Entgegensetzen und Einssein ist zugleich in ihm« (TWA 2, 96). Darin deutet sich eine dialektische Vollendung einer Vernunftwissenschaft im Geiste vollständiger Identität an. »Die ursprüngliche Identität [...] muß beides vereinigen in der Anschauung des sich selbst in vollendeter Totalität objektiv werdenden Absoluten« (TWA 2, 112).7 Ein halbes Jahrzehnt später ist Hegel mit seiner Vorrede zur Phänomenologie des Geistes selbstsicher mit eigenen Grundbestimmungen eines absoluten Idealismus hervorgetreten. Dabei wird Schellings Prinzip der Indifferenz des Realen und Idealen, der Grund und Boden des vollendeten Identitätssystems, zum Entsetzen Schellings als das unerfüllte Leere, die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind, beiseitegestellt. Und im Ausbau der Logik erscheint das Ganze und Wahre als die absolute, alle Seins-, Wesens- und Begriffsbestimmungen in sich versammelnde Idee, die im Anderswerden, im frei entschlossenen Sich-Entlassen in Natur und Sinnenwelt bei sich bleibt, sich als subjektiver, objektiver, absoluter Geist aufsteigend bewährt und im großen trinitarischen Kreisgang in seinen Anfang zurückkehrt. Dabei schließt Hegels geistesgeschichtlicher, methodisch-dialektischer Systembau ein, daß auch die Philosophiegeschichte logisch schrittweise aufsteigt und in ihr Ziel, die Grundlegung und Entfaltung des Wahren,
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Die Überprüfung der Differenzschrift durch A. Schurr: Philosophie als System bei Fichte, Schelling und Hegel, 1974, 173-192 verteidigt nicht nur die erkenntniskritische und transzendental-philosophische Grundlegung der Jenaer Wissenschaftslehre als stimmige Systemvollendung, die durchaus zur vollständigen Identität durchdringe, insofern die bewußtseinskonstitutive Beschränkung der Tathandlung – durch die Entgegensetzung des 2. Grundsatzes, die Deduktion des Anstoßes, die Konsequenz eines gesollten Absoluten – unaufhebbar sei. Dagegen scheitere Hegels Systemkonzeption daran, daß eine Potenzierung des Objekts zur Selbstanschauung eines Subjekt-Objekts undenkbar und letztlich darum gesetzt sei, um die unterstellte Identifizierbarkeit von Subjekt und Objekt im Absoluten zu gewährleisten.
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welches das Ganze ist, kommt. Hegels Sinngebung der Philosophiegeschichte aus Einsicht in den methodischen Fortgang der ontotheologischen Logik revidiert den äußerlichen Anblick der Philosophiehistorie. Für den ›gesunden Menschenverstand‹ und unser natürliches Bewußtsein stellt sich die Philosophiehistorie als eine Anhäufung von Weltanschauungen dar, aus deren Angebot sich jedermann das Passende heraussuchen kann. Gemeinsam aber sei allen, daß sie, durch einander widerlegt, ein Vergangenes sind. Mithin führe das trostlose Studium der Philosophie bestenfalls zum Skeptizismus. Das ist wohl allgemeine Ansicht geblieben: Keine der seit Plato bis Hegel in der Geschichte hervorgetretene Philosophie, schon gar nicht Fichtes verstiegene Wissenschaftslehre und Schellings phantastische Naturphilosophie, bieten haltbare Wahrheiten, welche unser Zeitalter der modernen Wissenschaft, mathematischen Technologie, politischen Ökonomie in Gedanken zu fassen vermöchte. Von solcher Trostlosigkeit befreit der geistvolle Durchblick Hegelscher Dialektik. Danach bilden die geschichtlich hervortretenden Systeme der Philosophie verschiedene Stufen der logischen Seinsbestimmungen als »metaphysische Definitionen Gottes« auf ihrem Wege zur absoluten Idee; denn sie haben die systematische Vollendung des Anfangs im kühnen, abstrakten Seinsgedanken des Parmenides durch ein Vernunftsystem auf dem Grund und Boden konkretester Identität zum Ziel. Also schreitet die Geschichte der Philosophie dialektisch vom ersten und abstrakten Vernunftsystem zu einem immer reicheren und konkreteren fort. Ihre Phasen entsprechen dem Fortgange der Ontologik vom unbestimmt-unmittelbaren Sein bis zum Reichtum der absoluten Idee. Die früheren, ärmeren, einseitigen Systeme werden in die späteren aufgehoben (negiert – konserviert – eleviert). Damit sind sie ebenso widerlegt wie nicht widerlegt. Sie sind widerlegt, insofern ihr Prinzipienanspruch negiert wird; sie werden nicht widerlegt, insofern ihre Grundgedanken und Hauptsätze als Momente einer erfüllteren Grundidee bewahrt und erhöht werden. Mithin hat es die Geschichte der Philosophie gar nicht mit Vergangenem und Abgetanem zu tun, sondern mit Ewigem und schlechthin Gegenwärtigem. Sie bilde mit Hegels pathetischem Wort nicht eine Galerie menschlicher Verirrungen, sondern ein Pantheon von Göttergestalten. Zu den Heroen auf dem Wege zur wahren Philosophie zählen Fichte, der Kants Vernunftkritik aufhebt, ebenso wie Schelling, der Spinozas Gedanken des Hen kai Pan systematisch ausbaut. Beide verbreiten nicht beliebige Meinungen, sie fördern das Wissen, daß es Wahrheit in der Gestalt
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eines einzigen und vollendeten Vernunftsystems gebe. Indessen können nach dem Urteil Hegels Fichtes und Schellings Systeme in ihrer Differenz nicht bestehen. Beide enthalten zwar eine echt spekulative Tendenz, aber keins von beiden dringe zur vollkommenen, konkreten Identität durch. Sie sind als Momente im Fortgange zum vollendeten System des absoluten Geistes aufzuheben und höher zu heben. So also behauptet Hegel, die Aufgabe der neueren Philosophie im dialektischen Dreischritt gelöst zu haben. Und die Philosophiegeschichtsschreibung ist dieser geistvollen Konstruktion allzu lange gefolgt. 3. Kapitel: Exkurs. Heideggers Stellungnahme zum Fortgang des Deutschen Idealismus Hegels eindrucksvolle, mit geordneter Gedankenfülle, genialen Geistesblitzen, universaler Gelehrsamkeit, theologischer Fundierung begabte spekulative Synthese eines zur Vollendung fortschreitenden Vernunftsystems leuchtet ein, zumal in einem Zeitalter, das unter der Idee der Perfektibilität und des Fortschritts im Glauben an die Macht der Vernunft in der Geschichte steht. Das hat lange die neuere Philosophiegeschichtsschreibung unter dem Fortschrittsmuster ›Von Kant zu Hegel‹ beeindruckt.8 Auch für diese fortlebende Perspektive kann die Auseinandersetzung Heideggers mit Fichte und der Geschichte des Deutschen Idealismus als Zeuge aufgerufen werden. Heidegger hat Fichtes Jenaer Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre 1928 mit dem Vorgriff seiner Fundamentalontologie neu gelesen und im Sommer 1929 die Erträge seines Fichte-Studiums vorgetragen. Hier ist lediglich zweierlei in den Blick zu fassen: die philosophiegeschichtliche Zusammenstellung der drei maßgeblichen Systembildungen und der thematische Schwerpunkt von Heideggers Fichte-Interpretation. Dabei muß konstatiert werden: Heideggers Vorlesung geht im Dreischritt von Fichte über Schelling zu Hegel als dem Vollender der abendlän-
8 Beispielhaft dafür ist das noch zur Zeit der Schulherrschaft des Neukantianismus entstandene Standardwerk von Richard Kroner: Von Kant zu Hegel, 1921-1924. – Und das bildet auch noch den Hintergrund im Werke von V. Hösle, Hegels System, 1988. Lediglich in einem Seitenblick auf die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus mahnt Hösle eine Forschungsaufgabe an, nämlich Fichtes und Schellings Spätphilosophien in ihrem Vollendungsanspruch durch eine von Hegel inspirierte Kritik in die Schranken zu weisen.
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dischen Metaphysik vor; und das Zentrum der Fichte-Erörterung liegt auf den drei obersten Grundsätzen der Wissenschaftslehre 1794. Dabei wird diese erste, unvollendete Grundlegung im Horizont der fundamentalontologisch angesetzten Seinsfrage durchgesprochen und Fichtes absolutes Ich mit dem ekstatischen Dasein in seinem geworfenen Entwurf konfrontiert. Folgerichtig fällt das Schwergewicht solcher Auseinandersetzung auf den dritten Grundsatz, die transzendentale Teilbarkeit des Ich im Ich und des NichtIch im Ich mit dem Charakterzug der transzendentalen Selbst-Verendlichung. Von der ontologisch-existentialen Seinsverfassung des Daseins aber bleiben alle drei Urhandlungen des Ich abgeschnürt.9 In der Vorlesung vom Sommersemester 1929 wird die philosophiegeschichtliche Situation seit Fichtes Wissenschaftslehre so skizziert: Fichtes Unternehmen belasse das Ich in der isolierten Leere der Selbstherrlichkeit seines Setzens und verharre in einer merkwürdigen Enge, die weder der Natur noch der Kunst in ihrem Eigenwesen einen Platz einräume. Diese Position werde folgerichtig durch Schellings Naturphilosophie ergänzt und danach von Hegel aufgehoben. »Situation. Fichte: Identität – oberster Grundsatz, Schelling: Identität – Natur. Problem der absoluten Identität, d.h. der Identität im Absoluten und durch das Absolute [...]. So macht Hegel Ernst mit dem Absoluten und dem absoluten Erkennen. Er will loskommen von der je einseitigen Substanz, sei es das Ich, sei es die Natur [...]. Absolute Identität ist nicht absolute Indifferenz sondern Totalität der Bestimmtheit« (Der deutsche Idealismus § 19, 198-199).
9 Einen genauen Bericht über die intensive Beschäftigung Heideggers mit dem Grundriß der Jenaer Wissenschaftslehre vom Wintersemester 1916/1917, über die große Vorlesung vom Sommersemester 1929 mit dem Titel: Der Deutsche Idealismus. Fichte, Schelling, Hegel bis zum Seminar im Wintersemester 1933/1934 (Fichtes Wissenschaftslehre von 1794) bietet F.-W. von Herrmann: Fichte und Heidegger, 1976. – Der Bericht von C. Strube: Heideggers Wende zum Deutschen Idealismus, 1992 stellt Heideggers Vorgriffe heraus: Fichtes Vorzug der Gewißheit vor der Wahrheit, den »Machtspruch der Vernunft« als das, was die Ichheit als solche fordert, das Ideal eines einstimmigen Systems als großartige Grundlegung der Metaphysik, bei der die Seinsfrage immer mehr in Vergessenheit gerät. – Die Studie von J. Stolzenberg: Martin Heidegger liest Fichte, 2003 zeigt auf, wie Heideggers Erschließung der Existenzverfassung, zumal das Sichentscheiden zur Eigentlichkeit, die Analyse des Selbstbewußtseins voraussetzt, und daß Heidegger im Grunde Fichtes Begriff des ursprünglich praktischen Selbstbewußtseins für sich entdeckt.
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Hegels Auseinandersetzung mit dem Deutschen Idealismus stellt sich als ein Miteinanderringen um die ursprüngliche, aber ausgebliebene Fassung der Leitfrage nach dem Sein heraus. Und diese Auseinandersetzung wendet sich am Ende Hegel zu; denn Hegel vollende die abendländische Metaphysik im Fragen nach dem Absoluten, das aus dem Denken Fichtes und Schellings herausgewachsen ist. In seinem bislang unveröffentlichten Amsterdamer Vortrag von 1930 Hegel und das Problem der Metaphysik wiederholt Heidegger das Schema ›Von Fichte zu Hegel‹: »Fichtes Wissenschaftslehre sucht das absolute Wissen und will im absoluten Ich die Relativität der Kantschen Transzendentalphilosophie überwinden. Schellings Naturphilosophie erkennt, daß das Nicht-ich [...] bei Fichte keine eigenständige Macht hat, und so versucht er umgekehrt, die Relativität der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Natur zu gründen, bis Schelling selbst dann mindestens zur formalen Idee derjenigen Identität vordringt, die Ich und Nicht-Ich (Intelligenz und Natur) einigt. Während bei Schelling diese absolute Identität nur negativ, als der Wider-Spruch gefaßt wird, ist er bei Hegel positiv. Das Absolute ist als Geist und Vernunft, die Wirklichkeit des Wirklichen [...] das ens realissimum, das alle Realitäten, Wesenheiten in sich einigend, die Ermächtigung des Wirklichen ist« (vgl. den Bericht von W. Biemel: Heideggers Gespräch mit Hegel, 2006). Indessen, Heidegger selbst hat außer der hierarchischen Triplizität und dem dialektischen Dreischritt zur Vollendung des Deutschen Idealismus auch die Perspektive eines dreifach getrennten Denkweges zu je eigenen Prinzipien und Systemgründungen vorgesehen. »Fichte, Schelling, Hegel: 1. Jeder in seiner Weise das Ganze. 2. Jeder in seiner Weise eine prinzipielle Begründung« (Der deutsche Idealismus § 17, 186). Das ist in der Problementfaltung des Idealismus im dreifachen Stadium seiner Vollendung einleitend zuzuschärfen. Nicht mehr diskutiert werden kann in dieser Problemstellung die ›seinsgeschichtliche‹ Erfahrung Heideggers auf seinem Denkweg der ›Kehre‹ in den ›anderen Anfang‹. Da wird die Vollendung der platonischen Metaphysik in der Gestalt des vollendeten Vernunftsystems als jenes Seinsgeschick erblickt, da die Wahrheit (Aletheia) unter dem Joch der Idee von einem abgeschlossenen System her durch und durch bestimmt ist.
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4. Kapitel: Vorzeichnung des antihegelschen Vollendungsanspruchs Schellings Hinführend zum Problemstand der dreifachen Vollendung ist eine philosophiegeschichtliche Streitsache hervorzuheben. Vor und gegen Hegels großmächtige Entfaltung der philosophischen Enzyklopädie hat gerade auch Schelling auf seine Weise eine prinzipielle Begründung des Ganzen von Gedankenwelt und Wirklichkeit aufgestellt: am Anfang durch die Idee des Identitätssystems, am Ende durch die komplementäre Konfundierung von negativer und positiver Philosophie. Und niemand hat den Primat des Hegelianismus kompetenter verworfen als Schelling am Ende seines protheushaften Gestaltwandels. Den Anspruch, als erster die Philosophie von der Bedeutungsleere des Kathederbetriebs auf die großen Grundfragen der Menschheit zurückgeführt und den festen Standpunkt einer umfassenden, kohärenten Systemgründung errungen zu haben, bekräftigt Schelling in seiner Münchener Antrittsvorlesung am 6. November 1822. Da verlangt er von einer wahren Philosophie, sich auf einen Standpunkt zu stellen, »da die innere Identität aller Wissenschaften sich enthüllt [...]; wo endlich die vieltausendjährige Unruhe des menschlichen Wissens zur Ruhe kommt, und die uralten Mißverständnisse der Menschheit sich lösen« (W V 56-57 = SW IX 363). Diesen Standpunkt habe der philosophische Geist vor einem Vierteljahrhundert – in der Grundlegung des Identitätssystems – eingenommen, und seitdem sei kein anderes und wesentlich neues System erschienen, der geläufigen Meinung vom schnellen Wechsel der Systeme zum Trotz. »Man hat aber nicht gesehen, daß irgendein wesentlich neues und in seinen materiellen Grundlagen anderes System in den letzten fünfundzwanzig Jahren sich erhoben und lebendiger Geister sich bemächtigt hätte, und was allein seit dieser Zeit Geltung sich erworben, gibt sich selbst nur für Verbesserung, für Vollendung des damals Gewonnenen« (W V 58 = SW IX 364). Und wie das Identitätssystem vormals ein epochaler Durchbruch zum Unbedingten war, steht jetzt, in einer neuen Krisenzeit, ein noch tieferer Durchbruch bevor. Er, Schelling, sei bereit, was er einst begann, jetzt zu vollenden. Diese Vollendungsaufgabe erfordert, von einer bloß ›negativen Philosophie‹ zur ›positiven Philosophie‹ überzugehen. Dabei heißt eine philosophische Wissenschaft negativ, welche bloß die logische Gedankenbewegung der absoluten Idee, d.i. das Gesamt der Wesensbestimmungen von der Natur bis
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zur Kunst, organisch und differenziert entwickelt. Aber solche Systembildung logischer Wesenheit ist negativ. Sie vermag nicht, das Wirkliche, das Daßsein des Existierenden zu erfassen. Geschichtlich gesehen habe die negative Philosophie ihre höchste Stufe im Identitätssystem erreicht. Um die ausstehende Konfundierung von logischer Idee und existenter Wirklichkeit zu erreichen, sei es im Zeitalter der Vollendung wahrer Philosophie notwendig, die Bahn der Hegelschen Allesvermittlung zu verlassen. Eine radikale Aussonderung der Hegelschen Doktrin haben die aus dem handschriftlichen Nachlaß herausgegebenen öffentlichen Münchener Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie gefordert. Hier ist lediglich die allgemeine und grundsätzliche Abschätzung von Intentionen des Hegelschen Irrweges wiederzugeben. Schelling nimmt das Programm der Hegelschen Ontotheologik beim Wort: Die Vernunftwissenschaft habe sich in das reine Denken zurückzuziehen; ihr einziger unmittelbarer Gegenstand sei der reine Begriff. »Man kann Hegel das Verdienst nicht absprechen, daß er die bloß logische Natur jener Philosophie, die er sich zu bearbeiten vornahm, und die er zu ihrer vollkommenen Gestalt zu bringen versprach, wohl eingesehen hatte« (W V 196 = SW X 126). Aber Hegel habe diese Intention seiner Logik, die negative Philosophie zu vollenden, überspannt und dadurch das Ziel heillos verfehlt. Er setze das Logische an die Stelle des Realen und maße sich an, innerhalb einer Gesamtbewegung des sich entäußernden und zu sich zurückkehrenden göttlichen Begriffs in die Realität von Welt und Gott einzudringen. »So wenig ist Hegel geneigt, seine Philosophie als die bloß negative zu erkennen, daß er vielmehr versichert: sie sey die Philosophie, die schlechthin nichts außer sich zurücklasse« (W V 197-198 = SW X 127). Damit eröffne diese Grenzüberschreitung eines logisch negativen Philosophierens den Irrweg des Geistes; denn der Übergang aus der Welt des Begriffs in die wirkliche Welt der Existenz müsse mißlingen. Auf dem Wege einer Selbstbewegung der Idee im Äther des absoluten, sich als Einheit von Gedanke und Realität wissenden Wissens komme auch die reichste Entfaltung einer Seins-, Wesens- und Begriffslogik nicht an die Wirklichkeit und Existenz heran. Mithin liefere Hegels Vermittlung von Begriff und Wirklichkeit nicht etwa die Vollendungsgestalt, sondern ein Zerrbild der Philosophie. Der Hegelianismus sei keineswegs das erfüllte Endstadium einer tausendjährigen Geschichte des Geistes, sondern eine ins Leere und Monströse verlaufende Episode. »Für so verdienstvoll man daher auch die Anwandlung anschlagen muß, die Hegel hatte, die bloß logische Natur und Bedeutung der Wissen-
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schaft, die er vor sich fand, einzusehen, so verdienstvoll insbesondere es ist, daß er die von der früheren Philosophie im Realen verhüllten logischen Verhältnisse als solche hervorgehoben hat, so muß man doch gestehen, daß in der wirklichen Ausführung seine Philosophie (eben durch die Prätension auf die objektive, reale Bedeutung) um ein gut Theil monströser geworden ist, als es die vorherrschende je war, und daß ich daher auch dieser Philosophie nicht Unrecht gethan habe, wenn ich sie – eine Episode nannte« (W V 198 = SW X 128). Dieser Rückblick auf die Selbstauslegung Schellings in seiner Absonderung von Hegels Prätension mag genügen, um vorerst die Problemfülle anzudeuten, welche Schellings Prioritätsanspruch auslöst, als erster und gänzlich das Bedürfnis der Zeit nach Vollendung eines Vernunftsystems und nach Beendigung des alten Streits um Sein und Nichtsein einer wahren Philosophie befriedigt zu haben. Inzwischen hat eine intensive philosophiegeschichtliche Forschung die Spätphilosophie Schellings, die übrigens ohne Schulnachfolge geblieben war, aufgenommen und das geläufige Bild des Deutschen Idealismus zwiespältig revidiert. So ist Schelling als Inaugurator dem ›Spätidealismus‹ zugeordnet und gleichsam als das fehlende Glied in die Kette zwischen Hegelianismus und Antihegelianismus eines Kierkegaard, Nietzsche, Marx eingeordnet worden.10 5. Kapitel: Verweise auf Fichtes Ankündigung, allen Streit auf dem Gebiet der philosophischen Wissenschaft beendet zu haben Genau denselben Anspruch, den Schelling im Widerstreit mit Hegel erhebt, nämlich als erster das Ringen der Menschheit um die Wahrheit bestanden und den Streit der Geister für sich entschieden zu haben, hat auch Fichte im Zuge der Ausarbeitung seiner ungeschriebenen Lehre in den großen Berliner Vortragszyklen 1804 erhoben. Dabei ist für eine Rezeption der Fichteschen Grundlegung einer vollendeten Vernunftwissenschaft ernstlich zur Kenntnis zu nehmen: Die frühen Grundsätze der gesamten Wissenschaftslehre in Jena – der Grundsatz der theoretischen Vernunft (»Das Ich setzt sich als bestimmt durch das Nicht-Ich«), der Grundsatz der praktischen
10 Daß der in solch aktuelle geistige Auseinandersetzung verwickelte Schelling nicht genau der historischen Wahrheit entspricht, vermerkt X. Tilliette: Schellings Wiederkehr, 1975. Letztlich blieb selbst für Kierkegaard, dem Hörer Schellings in Berlin, dessen Spätphilosophie terra incognita.
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Vernunft (»Das Ich bestimmt sich als bestimmend das Nicht-Ich«) und der Schlußsatz der absoluten Vernunft (»Das Ich soll sich gleich Ich setzen«) – sind keineswegs die letzte Form und äußerste Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. In mündlichen Vorträgen während der Blütezeit seines immensen Schaffens 1804-1807 hat Fichte immer reiner ein eigenständiges System der Wahrheits- und Erscheinungslehre ins Klare gebracht mit dem Anspruch, damit den Systemstreit um die wahre Philosophie überzeugend beendet zu haben. Das betrifft nicht zuletzt den offen ausgebrochenen Zwist mit Schellings Naturphilosophie und Identitätssystem. In Fichtes Darstellung ist das allreale Absolute, das in sich geschlossene Singulum von Leben und Sein, als das Unbegreifliche und Unsägliche begriffen und damit die von Hegel perhorreszierte negative Theologie auf der Höhe absoluter Reflexion und Selbstbesinnung des absoluten Wissens vollendet, dergestalt, daß das absolute Wissen als einzig unmittelbares Dasein des Seins sich intelligierend als Bild des Absoluten in allen Formen und Abstufungen der Selbst-, Welt- und Gottesbezüge prinzipiell durchbildet. Nun ist diese gewaltige Gedankenarbeit Fichtes nur in ihren Resultaten mit der Einschränkung bloß faktischer Evidenz als Grundlage der veröffentlichten und heiß umstrittenen populären Schriften – Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Vom Wesen des Gelehrten, Die Anweisung zum seligen Leben – zur Kenntnis genommen worden. Schelling hat in seinem ›Anti-Fichte‹, der Streitschrift gegen Fichtes ›verbesserte Lehre‹, das neue System in rudimentärer Kenntnisnahme als den »vollendetsten Eklekticismus« ingrimmig ironisiert. »Ueberhaupt kommen diesem neuen System in Vergleichung mit den übrigen Philosophien unleugbare Vortheile zu. Es ist, wie wir es jetzt, nach sattsam erlangter Kenntniß davon, wohl ohne Bedenken aussprechen können, der vollendetste Eklekticismus, der für unser Zeitalter möglich war. Dem Kantianismus bleibt sein Theil von Wahrheit; der Fichtesche Idealismus ist durch die eben angeführte Theorie wieder in das Ganze aufgenommen; aber auch die Naturphilosophie behält über gewisse Punkte recht, die sie wahrscheinlich nur selber nicht recht verstanden hatte« (W III 678 = SW VII 841). Am Ende hat Schelling Fichtes Wirkungsgeschichte eben auf die wie ein Blitz in die Geister der Zeit einschlagende Jenaer Grundlage reduziert und als beschränkte Teilvollendung des Idealismus zurückgelassen. Dessen Wissenschaft des Wissens erhebe zwar energisch das Ich zum Ausgang apriorischer Deduktionen und zum Herleitungsprinzip aller Erkenntnis. Aber sie intendiere die Ausarbeitung einer vollendeten Vernunftwissenschaft, ohne deren wahren Einheitsgrund zu erreichen. Sein System war
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eben bloß vollkommener Idealismus, dem die Welt nur in den notwendigen Vorstellungen des Ich bestehe, da im Grunde nur der zeitlose Akt menschlichen Selbstbewußtseins existiere. Als Beleg zitiert Schelling einen aus dem Kontext herausgerissenen Satz der Anweisung zum seligen Leben: »Allein das menschliche Geschlecht ist da« (W XII 51). Fichtes Idealismus mußte als initialer Anfang zurückbleiben. An die Stelle eines verabsolutierten menschlichen Bewußtseins ist ein Unbedingtes getreten. Die spätere ›verbesserte‹ Wissenschaftslehre in Gestalt der von Schelling zur Kenntnis genommenen ›populären‹ Schriften arbeitet nach Schellings Vorurteil die wissenschaftlichen Vorstellungen ins Populäre hinüber, und Fichtes Grundsätze vermischen eben entlehnte, der Wissenschaftslehre anfänglich fremde Ideen vom Absoluten mit dem früheren Reflektiersystem und bringen es nur noch zu einem systemlosen Mischmasch. Diesem Urteil Schellings, das alle Ansprüche der Wissenschaftslehre auf systematische Vollendung der wahren Philosophie abweist, sollte sich Hegel anschließen: Fichtes spätere Schriften seien ohne jeden spekulativen Wert. Gleichwohl hat Fichte in Berlin, Erlangen, Königsberg von 1804 bis 1807 eine eigenen Wahrheitslehre durchgearbeitet und in voller Klarheit dargestellt. Mit welch hohem Anspruch er diese seine Vollendungsgestalt der Philosophie versehen hat, dokumentiert ein Pro Memoria für das Königliche Kabinett in Berlin vom 3. Januar 1804. »Es ist seit kurzem auch in seiner äußeren Form vollendet, ein System vorhanden, welches von sich rühmt, daß es, in sich selber rein abgeschloßen, unveränderlich und unmittelbar evident, außer sich allen übrigen Wißenschaften ihre ersten Grundsätze und ihre Leitfäden gebe, hierdurch allen Streit und Misverständniß auf dem Gebiet des Wißenschaftlichen auf ewige Zeiten aufhebe« (GA III/5, 222). So meldet sich die nach Form der Darstellung und im Sachgehalt der Grundsätze rein vollendete Vernunftwissenschaft an, wie sie in den Berliner Jahren ab 1800 entdeckt und für geeignet gefunden wurde, Leitfäden für die Rechts-, Sitten- und Religionslehre herzugeben und in Anwendungswissenschaften wie Politik, Pädagogik, Geschichtsphilosophie heilvoll auf das Leben anwendbar zu sein. Diese Entdeckung bringe die rein abgeschlossene Wissenschaftslehre mit genetischer, nicht nur faktischer Evidenz ins Reine. Daher habe aller Streit von Weltanschauungen und alles dogmatische Suchen nach Wahrheit ein Ende. Dieses System hebe das, was die Vorzeit seit den Anfängen der Philosophie als Liebe zur Weisheit dunkel geahnt hätte, in die Helle der Gewißheit und begreife die Ursprungsverhältnisse, die bis dato ver-
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geblich gesucht waren. Und sie entziehe jener Pseudoweisheit den Boden, welche mit Plattheiten Nicolaitischer Aufklärung die Möglichkeit einer transzendental besonnenen Systembildung bekämpfe. »Daß eine solche Wissenschaft, ohnerachtet sie vom Beginn alles wissenschaftlichen Bemühens unter dem Namen Philosophie dunkel geahndet, und gesucht worden, dennoch niemals in der Vorzeit auch nur vorgeblich vorhanden gewesen, liegt am Tage; wie denn in dem kecken Abläugnen der Möglichkeit einer solchen Erkenntniß die ganze Weißheit und Aufklärung unsrer Tage besteht« (GA III/5, 223). Im Blick auf solch zeitgenössische geistige Verfallenheit verkündet Fichte eine epochale Wende der Menschheitsgeschichte. Durch die nunmehr entdeckte volle Wahrheit sei der Grund und Boden dafür geschaffen, daß die ins Dunkel versunkene Geistlosigkeit der Menschheit wiedergeboren werde und daß alle menschlichen Verhältnisse nach Prinzipien der Vernunft aus Freiheit eingerichtet werden könnten. »Klar ist daher, daß durch jene Entdeckung, wenn sie nur wirklich ist, was sie zu seyn behauptet, eine noch nie möglich gewesene Wiedergeburt der Menschheit, und aller menschlichen Verhältniße, vorbereitet worden« (GA III/5, 223). 6. Kapitel: Vorblick auf die Problemlage der ›ungeschriebenen Lehre‹ Fichtes Der Problemstand des Deutschen Idealismus im Stadium seiner dreifachen Vollendung hat sich durch die Veränderung des Fichte-Bildes neu gestellt. Anfänglich war Fichtes Wissenschaftslehre systematisch wie wirkungsgeschichtlich eben fast ausschließlich durch die erste 1794-95 veröffentlichte, unvollendete Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre geprägt und analog zur politischen Französischen Revolution als geistige Freiheitstat und als bedeutendste Tendenz des Zeitalters unmittelbar aufgenommen worden, um sonach vorzüglich in den Systembildungen Schellings und Hegels fortentwickelt und aufgehoben zu werden. Weithin unbekannt sind die der ersten Werkgruppe folgenden 15 neuen bzw. veränderten Fassungen der Grundlegung eines umfassenderen Vernunftsystems geblieben. Fichte hat sie öffentlich vorgetragen, aber mit Ausnahme eines Abrisses der W.L. 1810 nicht in der Form der Schriftlichkeit allgemein zugänglich gemacht. Diese ›ungeschriebene Lehre‹ erreicht an Klarheit und Tiefe der Darstellung ihren Höhepunkt in den Vortragszyklen zu Berlin (1801/1802, 1804), Erlangen (1805) und Königsberg (1807). Sie ist allein den Hörern in Kolloquien zur Diskussion gestellt worden,
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eine schriftliche Abfassung wollte Fichte dem Ungeist im Zeitalter vollendeter Gedankenlosigkeit nicht ausliefern. Bekannt waren die zeitgleichen ›populären Schriften‹: Über das Wesen des Gelehrten und seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Die Anweisung zum seligen Leben und in wechselnden Verunstaltungen die Reden an die deutsche Nation. In ihnen wenden die ›Anwendungswissenschaften‹ der Pädagogik, der Politik, der Religionslehre Prinzipien der Wissenschaftslehre auf das geschichtliche, bildungsfähige religiöse Leben jedes einzelnen Menschen in seinem Lebensentwurf an. Daher finden sich, freilich lediglich historisch-faktisch, Resultate der ungeschriebenen, nur mündlich einem erlesenen Hörerkreis mitgeteilten Lehre in ihnen vorangestellt. Deren Verständnis aber blieb erschwert, sofern und solange die wissenschaftlich zureichenden, methodisch in genetischer Evidenz deduzierten Grundlegungen im Hintergrund verborgen sind bzw. hartnäckig ausgeklammert werden. Darum sind die Schriften der ›mittleren Periode‹ seit der Bestimmung des Menschen von 1800 als Flucht in den Glauben, als Abwendung vom Kritizismus und Hinwendung zu Schwärmerei und Mystizismus und – im Blick auf die Reden an die deutsche Nation – als Verrat an weltbürgerlichen Idealen verkannt worden. Schelling hat sie als heterogenen Eklektizismus verworfen. Die Erlanger Reden über die Bestimmung des Gelehrten oder die Berliner Anweisungen der Religionslehre stückten Grundsätze über Gott, das Sein, das Absolute aus Schellings Identitätssystem mit der Reflexionstheorie des subjektiven Idealismus unverträglich zusammen. Und Hegel hat die ›populären Schriften‹ kaum mehr beachtet. Als Vorträge vor einem unqualifizierten Publikum wären sie von keinerlei spekulativem Interesse. An dieser Kenntnislage hat auch die Edition der nachgelassenen Schriften durch Fichtes Sohn Immanuel Hermann im Jahre 1834/35 nichts geändert, obwohl da nicht nur die großen Darstellungen der Wissenschaftslehre von 1801 und 1804, sondern auch die letzte vollendete Fassung von 1812 sowie die kriegsbedingt abgebrochene Wissenschaftslehre 1813 öffentlich gemacht wurden. Weder Hegel noch Schelling haben sie zur Kenntnis genommen. Inzwischen sind diese unausgeschriebenen Darstellungen der Wissenschaftslehre entweder erstmalig überhaupt oder erstmals in gereinigter Fassung ediert und ins Zentrum der Forschung gerückt. Fast einhellig wird zumal die mittlere Schaffensperiode Fichtes nicht mehr als Abbruch, Rückschritt oder als Scheitern des transzendentalphilosophischen Anfangs, sondern als Höhepunkt einer Systementwicklung angesehen, die
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sich kontinuierlich der Vollendung annähert, anknüpfend nicht mehr ausschließlich an Kants drei Kritiken, sondern an die All-Einheitslehre Spinozas und so in Konkurrenz tretend mit den Tübinger Geistesbrüdern Schelling und Hegel, die über das Eingangstor ihres Denkweges die Losung »Hen kai Pan« geschrieben hatten. Zudem ist die Werkgruppe der spätesten Schaffensperiode in Fichte letzten vier Lebensjahren von 1810 bis 1814 editorisch umfassend neu erschlossen worden.11 Sie umfaßt fünf Darstellungen der Wissenschaftslehre, die von Jahr zu Jahr neu vorgetragen und zum Teil aus äußeren Gründen nicht abgeschlossen wurden. Die fortschreitende Auslegung und Erörterung dieser Werkreihe der ungeschriebenen Lehre prägt die Problemlage weiter aus. So ist es kennzeichnend, daß sich in eindrucksvoller Klarheit eine Weiterentwicklung der Grundlagen abzeichnet, die zum Jenaer Anfang, zum subjektiven Grundsatz des Ich, und zum Jenaer Abschluß, dem sittlich strebenden Wollen, zurückkehrt. Das gilt etwa für den dritten Teil des Diarium von 1813/1814 oder für den Torso der W.L. 1814. Gleichwohl baut dieses mehr und mehr erforschte Spätwerk der ›dritten Periode‹ auf Prinzipien, die in der zweiten Periode zur Darstellung gekommen waren. Da hat die Philosophie als Einheits-, Seins- und Wahrheitslehre dadurch ein Fundament gelegt, daß die Selbstgewißheit des einenden und sondernden Ich in die Wahrheit des absoluten, allrealen Seins eingewurzelt wurde, und zwar unter Bewahrung einer kritischen Besonnenheit, welche die innere Existentialform des in sich geschlossenen, absoluten göttlichen Seins und Lebens und die äußere Existentialform des menschlichen Daseins als sich bildenden Bildes des Absoluten unterscheidend zusammenhält. Das, was noch beim letzten Fichte im Zentrum der Wissenschaftslehre steht, hat diese Grundlegung ausgearbeitet, nämlich das Ich als Bild Gottes zwischen Gott und Welt. Das bedeutet nun keineswegs, daß mit dem Grundlagenstand von 1804 das abschließende, letzte, alles erschöpfende Wort gesprochen war. Fichte hat in fortwährenden
11 Ein detailliertes chronologisches Verzeichnis des Fichteschen Spätwerks auf dem neuesten Editions- und Forschungsstand bietet E. Fuchs: Verzeichnis der Lehrveranstaltungen, Predigten und Reden J. G. Fichtes in chronologischer Reihenfolge, 1998. – Über die Grundlegung der Wissenschaftslehre durch den ›letzten Fichte‹, zumal über die als Diarium geführten, informellen Notate aus den Jahren 1813 und 1814 berichtet G. Zöller: Leben und Wissen. Der Stand der Wissenschaftslehre beim letzten Fichte, 2001. – Ders.: »On revient toujours...«: Die transzendentale Theorie des Wissens beim letzten Fichte, 2003.
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neuen Denkleistungen an der Vervollständigung seines Systems weitergearbeitet, zumal an den Einleitungen der Tatsachen des Bewußtseins und an einer weiter klärenden Darstellungsform der Erscheinungslehre, ohne die erreichte Grundlage von 1804 zu verlassen. Mithin bilden die drei abgrenzbaren Perioden des Fichteschen Denkweges keine diskrete Abfolge mit Brüchen und Rückfällen, sondern eine kontinuierliche Vertiefung des Anfangsgrundes und eine fortschreitende Ausarbeitung des Systemganzen, wobei die ungeschriebene Lehre der mittleren Periode im Prinzip einen nicht mehr überbotenen Höhepunkt bildet. Ein Motiv solcher fortwährenden Fortbildung liegt sicherlich in der Auseinandersetzung mit den Systementwürfen eines Reinhold, Bardili oder Jacobi. Der nachhaltigste Antrieb aber entwickelt sich im Widerstreit mit Schelling. Und der untergründigste Kampf um die Wahrheit ist die immer noch offene, zu Lebzeiten der philosophischen Heroen nicht ausgekämpfte Konkurrenz zwischen Hegels ausgebreitetem System des absoluten Geistes und Fichtes versunkener ungeschriebener Lehre. 2. Abschnitt: Konkurrierende Denkwege: Fichte – Schelling – Hegel Eine biographische Annäherung Die drei großen Repräsentanten des Deutschen Idealismus fühlten sich im Anfang durch die gemeinsame Aufgabe einmütig verbunden. Sie brachen auf, das Zeitalter endlich aus der Zerrissenheit von Weltansichten zu erlösen und zum Quellgrund einer Wahrheit zu führen, aus welchem ein allumfassendes organisches, auf das Leben einwirkendes System aller Vernunftwissenschaften quillt. Im Ausbau ihrer Denkwege aber entfernten sich ihre Methoden und Prinzipien immer weiter voneinander, so daß ihr Zusammenwirken in Polemik und Streit umbrach und die anfängliche freundschaftliche Verbundenheit unglücklich zerfiel. Am Ende ihres Lebens hatten Fichte und Schelling, Schelling und Hegel einander nichts mehr zu sagen. Einleitend soll lediglich die wachsende menschliche Entfernung anhand biographischer Zeugnisse verfolgt und auf den wahren Grund des Widerstreits hingewiesen werden.
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1. Kapitel: Dokumentation der wachsenden Rivalität zwischen Schelling und Fichte Den völligen Umbruch im Verhältnis zwischen Schelling und Fichte mögen zwei Zeugnisse illustrieren. Am Dreikönigsabend 1795 schreibt der 20jährige Schelling an seinen Geistesbruder Hegel: »Fichte wird die Philosophie auf eine Höhe heben, vor der selbst die meisten der bisherigen Kantianer schwindeln werden. [...] Glücklich genug, wenn ich einer der ersten bin, die den neuen Helden, Fichte, im Lande der Wahrheit begrüßen! – Segen sei dem großen Mann! Er wird das Werk vollenden!« Im selben Atemzug aber meldet er dem Freund hochgemut: »Nun arbeit’ ich an einer Ethik à la Spinoza; sie soll die höchsten Prinzipien aller Philosophie aufstellen, in denen sich die theoretische und praktische Vernunft vereinigt« (Hegel Br. I 15 Nr.7). Am 3. Oktober 1801 attestiert Schelling, nunmehr selbst im Besitze eines eigenen umfassenden Vernunftsystems, Fichte brieflich nur noch, sich der wahren Spekulation angenähert, ein System des Unbedingten aber nicht im wissenschaftlichen Wissen begründet zu haben. Voreilig bezieht sich Schelling freilich dabei, ohne die ab 1801 ausgearbeitete, in Prinzipien und Form neue Grundlegung Fichtes abzuwarten, auf die populäre Bestimmung des Menschen. Da finde sich das Spekulative aus dem Wissen in den Glauben übertragen, »von dem meines Erachtens in der Philosophie so wenig die Rede seyn kann, als in der Geometrie. Sie erklärten in derselben Schrift, fast mit so viel Worten: das eigentlich Ur-Reale, d.h. doch wohl das wesenhaft Spekulative, sey im Wissen nirgends aufzuzeigen. Ist dieß nicht Beweises genug, daß Ihr Wissen nicht das absolute, sondern irgendein noch bedingtes Wissen ist, welches die Philosophie, wenn es in ihr herrschend seyn müßte, zu einer Wissenschaft wie jede andere herabsetzen würde« (GA III/5 83). Angesichts dieses Umbruchs von Begeisterung zu Abschätzung mag es kein Zufall sein, daß Schelling die Zusammenarbeit mit Fichte in demselben Jahr aufgab, da Hegel nach Jena kam und eine Verbindung mit ihm auch in der ›Zeitschriftenfrage‹ philosophisch befestigt wurde. Umgekehrt hat sich das persönliche Verhältnis von seiten Fichtes vom Ausdruck freundlichen Wohlwollens zum Tadel einer »schriftstellerischen Zurechtweisung« gewandelt. Auch dafür mögen vorläufig zwei Dokumente sprechen. Am 20. September 1799 schreibt Fichte an Schelling: »Sie haben ein Publicum, das Sie ehrt; es ist der äussere Haupt-Beweiß der Richtigkeit der WL., daß ein Kopf, wie Sie, sich derselben bemächtigt und sie in seinen Händen so fruchtbar wird« (GA III/4, 86; vgl. den Brief an Reinhold vom
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2. Juli 1795, worin Fichte Schellings Schrift Vom Ich als Prinzip der Philosophie als trefflichen und unterrichtenden Kommentar seiner Wissenschaftslehre lobt). Indessen konnte Fichte schwerlich übersehen, daß Schelling sich dagegen sträubte, als Vertreter der Naturphilosophie in das System der Wissenschaftslehre ein- und untergeordnet zu werden, und dazu überging, Fichtes Wissenschaftslehre und die Transzendentalphilosophie als Teilwissenschaft in seinem System unterzubringen. Solche Tendenz war in den Frühschriften Schellings noch vorsichtig verborgen.12 Sie tritt aber im System des transzendentalen Idealismus, 1800 und unverhüllter in Schellings Darstellung meines Systems, das er eben als Erzeugnis seines eigenen Geistes ankündigte, heraus. Jetzt zeichnet sich ein Systemkonzept ab, da die eine Grundwissenschaft, die Naturphilosophie, das Objektive zum Ersten macht und zeigt, wie das Subjektive hinzukomme, während die andere Grundwissenschaft, Fichtes Transzendentalphilosophie das Subjektive zum Ersten macht und darlegt, wie ein Objektives hinzukomme, beide Wissenschaften aber das Absolute, die Indifferenz des Subjektiven und Objektiven, als erstes und oberstes Prinzip des Systems haben. Im Brief vom 3. Oktober erklärt Schelling offen, daß sein System mit jener höchsten Synthesis als dem Ersten anfange, bei der Fichte als letzter Synthesis aufhöre, daß Fichtes Grundlegung daher propädeutisch und sein idealistisches System zwar nicht falsch sei, aber eben doch nur ein Teilgebiet des Identitätssystems darstelle. Es ist solch prinzipieller Prioritätsanspruch, der Fichtes Urteil über das geniale Talent Schellings, mit dem er bis zum Abschied aus Jena Gemeinschaft hatte und mit dem er gehofft hatte, in Einem Geiste fortzuarbeiten (glaubhaft überliefert durch Fichtes Schüler J. D. Gries; vgl. FG II 124), in seinem revozierenden Rückblick aus dem Jahre 1806 umschlagen läßt. »Was zuerst meine früheren weniger geringschätzigen Urtheile betrift, so gebe ich dabei zu bedenken, daß damals, als ich diese fällte, der Mann
12 Zur Auslegung von Schellings Frühschriften und über den Streit darüber, ob darin schon ein Durchbruch zu einer Ontologie oder gar zu einem Mystizismus des Absoluten konzipiert sei, vgl. die Untersuchungen von F. Meier: Die Idee der Transzendentalphilosophie beim frühen Fichte, 1961. – R. Lauth: Die erste philosophische Auseinandersetzung zwischen Fichte und Schelling 1795-1797, 1967. – Ch. Wild: Reflexion und Erfahrung, 1968. – I. Görland: Die Entwicklung der Frühphilosophie Schellings in der Auseinandersetzung mit Fichte, 1973.
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schon um seiner Jugend willen der philosophischen Reife und Klarheit durchaus unfähig war, und ich diese an ihm loben weder wollte noch konnte, daß ich aber hoffte, er werde fleißig seyn, und nicht zweifelte, daß durch Fleiß ihm etwas gelingen könnte, und daß es allein diese Hoffnungen waren, welche ich aussprach. [...] Jene meine guten Hoffnungen von ihm hat er nun keinesweges erfüllt, sondern durch unverständige Schmeichler früh sich verderben laßen, und seit dieser Zeit keines anderen Dinges sich befleißigt denn des Hochmuths, und des Eigendünkels, und durchaus den Rang ablaufen wollen demjenigen, welchen auch nur zu verstehen er gleichwohl fortdauernd unfähig geblieben« (Bericht; GA II/10, 62-63). Persönlich sind sich der anfangs angebetete Heros der neueren Philosophie Fichte und das frühreife Tübinger Genie wohl nur flüchtig begegnet: auf Fichtes Durchreise durch Tübingen 1793 und 1794 und während jener Monate, da Schelling 23jährig nach seiner von Fichte befürworteten Berufung nach Jena neben seinem berühmten und berüchtigten Meister naturphilosophische Vorlesungen vortrug. Zwar blieben Schelling und Fichte durch einen lebhaften und intensiven Briefwechsel noch einige Jahre verbunden, aber letztlich führte der immer unverhüllter hervortretende Rangstreit um die wahre Philosophie zur unversöhnlichen Rivalität. Es ist die polemische Herabsetzung seiner Rangstellung, die Schelling in seinem letzten grußlosen Brief vom 25. Januar 1802 bitter beklagt: die »zweideutige Aeußerung in der Ankündigung der Wissenschaftslehre und der Brief an Herrn Schad« (GA III/5, 116). In seiner Ankündigung einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, die in der Allgemeinene Zeitung 1801 am 24. Januar erschienen war, apostrophiert Fichte Schelling als seinen geistvollen, aber problematischen Mitarbeiter. »Inwiefern es meinem geistvollen Mitarbeiter, Herrn Prof. Schelling, in seinen Naturwissenschaftlichen Schriften und in seinem neuerlich erschienenen Systeme des transscendentalen Idealismus, besser gelungen sey, der transscendentalen Ansicht Eingang zu verschaffen, will ich hier nicht untersuchen« (GA I/7, 154). Schelling ist tief verletzt. Er spürt in jenem herablassenden Lob die versteckte Zurechtweisung, daß auch er die Einstellung der Wissenschaftslehre nicht verstanden habe. Das sei Wasser auf die Mühlen Friedrich Nicolais und dessen Organ der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, »mich als Ihren geistvollen Mitarbeiter zu rühmen, dabei aber dem Publikum auf eine feine und versteckte Weise, daß es auch die Nicolais und Recensenten der Allg.D.B. merken, unter die Füße zu geben, daß ich Sie
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nicht verstehe« (GA III/5, 88-89). Das reduziere die zitierte Mitarbeit Schellings auf das Bemühen, Fichtes Philosophie darstellen zu wollen und darin nicht einmal glücklich gewesen zu sein. Über diesen Fall schreibt Karoline Schlegel an Schelling am 1. März 1801: »Eben habe ich Fichtes Ankündigung gelesen. [...] So wie ich die Sache einsehe, würde ich vermuten, daß er Dich mit der Naturphilosophie wie in einem Nebenfach zurückweisen und das Wissen des Wissens für sich allein behalten möchte« (FG III, 14). Noch aufgebrachter reagiert Schelling auf den ominösen, gleichsam offenen Brief Fichtes an Johann Baptist Schad (1758-1834, seinerzeit Privatdozent in Jena), der in Jena herumgezeigt wurde. »Mir«, teilt Schelling an Fichte mit, »(unter andern auch) ist noch nicht lange eine Mittheilung gegen einen Dritten von Ihrer Seite zu Gesicht gekommen, worin steht, daß Sie mein Vorgeben u.s.w. in seiner ganzen Blöße darzustellen gedenken, und daß ich die Wissenschaftslehre nicht besser verstehe, als sie Friedrich Nicolai auch versteht« (GA III/5, 116). In der unvollständig erhaltenen Abschrift dieses Manifests an den Hinterträger Schad vom 29. Dezember 1801, der diese abschätzige Zuschrift in Jena mit dem Kommentar verbreitete, diesmal verstehe Fichte Schelling nicht, heißt es: »Was Prof. Schelling betrifft, so ist mir das, was Sie mir gütigst melden, nicht unbekannt gewesen. Ich hoffe, meine zu Ostern erscheinende neue Darstellung soll sein Vorgeben, daß er mein System, welches er nie verstanden hat, weiter geführt, in seiner ganzen Blöße darstellen. Es mag wohl seyn, daß seine Naturphilosophie, indem er darauf auszugehen scheint, die Erscheinung völlig zu vernichten, sich auf meine Metaphysik nicht bauen ließ. Und was soll man zu seinem neuen – verklärten! – Spinozismus sagen, in welchem er glücklich das Absolute unter Quantitätsformen existiren läßt, wie es Spinoza freilich auch thut und aller Dogmatismus. Kann derjenige, der die wahre Quelle des ganzen Quantitätsbegriffs und mit ihm aller Mannigfaltigkeit so wenig kennt, jemals gewußt haben, was der kritische Idealismus sey? Freilich hat Schelling dieses nie gewußt. Er gibt es nun deutlich an den Tag, daß er geglaubt, die Wissenschaftslehre leite das Ding von dem Wissen vom Dinge ab, und daß er ehemals mit seinem eigenen Idealismus es wirklich also gemeint; daß er sonach die Wissenschaftslehre so verstanden, wie sie Fr. Nicolai auch versteht« (GA III/5, 100-101). Über das Manifest an Schad berichtet Karoline Schlegel an ihren Mann am 28. Januar 1802: »In diesem Brief hat Fichte schon alles gebrochen, was er Schelling auch im äußersten Falle gelobt: er hat in seiner Wut alle Achtung aus den Augen gesetzt. Wir haben das Schreiben selbst gesehen. Schad hat es
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niemanden geheim gehalten, wie auch wohl nicht die Absicht war, und hat es auf den ersten Wink Schelling selbst gebracht, indem er gänzlich auf dessen Seiten zu seyn sich erklärt« (FG III 103). Kurz zuvor schon, im Februar 1801, hatte sie Schelling dringend geraten: »Sehr bin ich auch der Meinung: laß Dich nicht wegschieben. Das Entgegensetzen, denke ich, könnte wohl so abgehen, daß es nur die wahrhaft Eingeweihten gewahr würden – denn Du kannst fortbauen ohne Dich um ihn zu kümmern, er ist an Kenntnissen und Poesie so gewaltig zurück, daß er mit aller Denkkraft Dir doch Deine Natur nicht nachmachen kann, also hast Du Dich nicht so sehr dagegen zu verwahren, daß er Dir das Deinige raube, und eine offenbare Spaltung würde eine ungeheure Verwirrung nach sich ziehen« (FG III 12-13). Nun ist das durchaus ein skandalöses Abschieben, einem Schelling zu unterstellen, er verfalle in Betracht der Wissenschaftslehre in dieselbe Seichtigkeit und Oberflächlichkeit wie ein Nicolai, der über das rein Faktische aus völliger Unfähigkeit zur genetischen Reflexion nicht hinauskomme.13 Das ist der Habitus einer ›Nicolaitischen Verwachsenheit‹. So hat Fichte in seiner von August Wilhelm Schlegel im Mai 1801 herausgegebenen Parodie Friedrich Nicolais Leben und sonderbare Meinungen polemisch formuliert: Die Wesensverfassung dieses unverschämten Philisters bestehe in einer absoluten Bedürfnislosigkeit, über die Oberfläche hinauszugehen; »und so entsteht in ihm und verwächst mit seinem Selbst das Phänomen der absoluten Oberflächlichkeit und totalen Seichtigkeit. [...] Die absolute Oberfläche ist das nackte abgerißne Faktum, als solches« (GA I/7, 420). Freilich endet der letzte, frostige Brief Schellings an Fichte mit der abmildernden Floskel, es sei noch immer Schellings Plan und Hoffnung, Fichte im Frühjahr 1802 persönlich begrüßen zu können. Von einer letzten persönlichen Begegnung berichtet, wenn auch vage und unbestätigt, Jean Paul in einem Brief an Jacobi vom 13. August 1802, ausgeschmückt mit der geradezu sukzessionsmythischen Anmerkung: »Das Geschöpf ›Schelling‹ frisset seinen Schöpfer (Fichte) [...] und dieser jenen«. Nach Jean Pauls Zeugnis fan-
13 Mit Recht weist Ch. Asmuth: Fichte: Ein streitbarer Philosoph, 1997, 17-20 auf diesen abfälligen Passus des Schad-Briefes als einen Skandal in der philosophisch gebildeten Welt der Jahrhundertwende hin, der zur Beendigung des Fichte-Schellingschen Briefwechsels den Anstoß gab und durch den Fichte seinen wohl kompetentesten und kongenialen Ansprechpartner verlor.
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den beide nicht mehr gütlich zueinander. »Fichte und Schelling giengen in Dresden (oder Berlin) schnell zornig auseinander« (FG III 134).14 2. Kapitel: Zuspitzung des Differenzpunktes im Briefwechsel Fichte – Schelling (der Scheidebrief vom 15. Januar 1802) Fichtes entschiedener, zunächst aber zurückgehaltener Scheidebrief vom Oktober 1801 war schließlich dem Brief an Schelling vom 15. Januar 1802 beigelegt worden. Er bringt die wissenschaftliche Differenz im nur scheinbar gemeinsamen Denkweg zum Absoluten, wenn auch nur in hingeworfenen Winken, zu einer vorläufigen Anzeige. Nun kann sich eine einleitende Einführung mit einer gezielten Analyse dieses Scheidebriefes begnügen, obwohl auch vorhergehende Briefabhandlungen philosophisch durchaus ergiebig sind.15 Eine Konzentration auf den endgültigen Scheidebrief ge-
14 Also ist die Streitfrage: Schelling oder Fichte? gerade auch angesichts der parallelen Renaissance der Fichte- und Schelling-Forschung seit Jahrzehnten ebenso aktuell wie das Kongreßthema: Kant oder Hegel? – M. J. Siemek: Schelling oder Fichte. Zwei Paradigmen des nachkantianischen Denkens, 1987 hat Schellings Identitätssystem und Fichtes Wissenschaftslehre als zwei ganzheitliche Paradigmen philosophischen Denkens charakterisiert, die miteinander unvereinbar und unvergleichlich sind, sofern Schelling das Ich-Subjekt depotenziere, das Objekt von subjektiver Sinngebung reinige und das Sein als unvordenkliche Indifferenz verabsolutiere. Eine Entscheidung dieser Alternative für Fichtes transzendentalen Grundgedanken könne die zeitgenössische Kritik an der Bewußtseinsphilosophie, sofern und soweit sie sich auf das Schellingsche Paradigma stützt, ins Schwanken bringen. 15 Dafür sei etwa auf den eindringlichen Kommentar der Fichte-Briefe an Schelling vom 31. Mai und vom 17. August 1801 durch V. L. Waibel: Fichtes Kritik an Schelling, 2005 mit dem Resultat hingewiesen: Hier werden Konzepte für eine evidente Synthese von Natur- und Transzendentalphilosophie entworfen, die sich gar nicht notwendig widerstreiten, sondern prinzipiell koexistieren können, zumal da die Kontroverse eigentlich in einen persönlichen Konflikt um die Werthierarchie der philosophierenden Subjekte umschlägt. – Schellings Systemskizze im Brief vom 19. November 1800 hat B. Sandkaulen: Was heißt Idealismus?, 2005 herausgestellt und weitsichtig überdacht. Hier werde der Begriff von Idealismus überhaupt strittig. Schellings Systemskizze suche die Differenz zwischen dem Idealismus der Wissenschaftslehre als einer formallogischen Methodologie und einem ›Spinozismus der Physik‹ aufzuheben, verstricke sich aber in einen Zirkel, wodurch die Grundfragen nach Idealismus, Realität, Freiheit neu entfacht werden. – K. Okada: Fichte und Schelling, 2003 legt in seiner Untersuchung der Schöpfungsphase im Briefwechsel die These vor, hier habe Fichte
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schieht also nicht, weil die vorangegangenen Briefabhandlungen zumal nach 1800 philosophisch bedeutungslos wären, sondern darum, weil die Tiefe des Widerstreits mit seiner rücksichtslosen Schärfe erst aufbrach, als Schelling öffentlich den Primat seiner erstmalig vollendeten Vernunftwissenschaft vertrat und Fichte seine ausreifende Grundlegung, über die Synthesis der Geisterwelt als Zielpunkt der Wissenschaftslehre hinaus, in der ungeschriebenen Lehre 1804 formuliert hatte. Jedenfalls läßt sich im Doppelbrief vom Oktober 1801/Januar 1802 jener Scheidepunkt markieren, da sich Fichtes Methode einer Ableitung aller Mannigfaltigkeit und Vielheit aus der einfachen Einheit des unbegreiflichen Absoluten in der Durchdringung des absoluten Wissens von Schellings Identitätssystem und dessen Vervollständigung eines im Grunde dogmatisierten Spinozismus trennen werden. Am Ende des vielfach, auch kulturhistorisch interessanten vieljährigen Briefwechsels zwischen Fichte und Schelling kündigt sich die tiefste wissenschaftliche Differenz zwischen den auseinanderlaufenden Systembegründungen an. Sie trat heraus, als Schelling eine Darstellung seines eigenen Systementwurfs für sich reklamiert hatte. Und das wirft ein Licht auf Fichtes künftige Stellungnahmen zur spekulativen Entfaltung des Absoluten im Ansehen des Spinozistischen Hen kai Pan und der idealistischen Indifferenz von Subjektivem und Objektivem: Solche Systeme ignorieren den Reflexionsstand absoluter Besonnenheit im Andenken des Absoluten und bleiben dogmatisch verwachsen.16 Eine einschneidende Kontradiktion der wissenschaftlichen Differenz zwischen der vertieften Wissenschaftslehre und der Darstellung des sogenannten Identitätssystems spricht der Doppeleinwand Fichtes aus: »Ihr System ist in Beziehung auf das Absolute nur negativ [...]; und das Ihrige erhebt sich eben nicht zum GrundReflex« (GA III/5, 111). Damit hebt Fichte nicht nur einen Mangel in der Auffassung des Absoluten selbst heraus, er kreidet
den für seine neue Darstellung der Erscheinungslehre so bedeutenden Grundbegriff ›Bild‹ eingeführt. 16 Dieser Ansatz teilt die Auffassung von W. Schulz: Fichte – Schelling Briefwechsel, 1968, daß der Briefwechsel nur der Reflex der auseinandergehenden Systemwege, nicht der Entstehungsgrund persönlicher Entfremdung sei und daß darum erst die letzten Briefe ein eigenes philosophisches Schwergewicht erhalten. – Dem kommt die Zweiteilung des ganzen Briefwechsels in »Der große Zeitschriftenplan« und »Schellings Trennung von Fichte« durch H. Fuhrmans: F. W. J. Schelling. Briefe und Dokumente, Bd. 1, 1962 entgegen.
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vor allem die Unterlassungssünde im gescheiterten dogmatischen Versuch an, Vielheit und Mannigfaltigkeit, die Differenz von Denken und Sein, Idealem und Realem dem Absoluten zu entnehmen. Als Indifferenz ist das Absolute eben nur negativ gefaßt, nämlich als Nicht-Unterschiedensein des Subjektiven und Objektiven. Solcher Einwand findet sich auch in Hegels vielzitierter Auslassung, Schellings oberstes Prinzip sei wie die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind. Während Hegel jedoch die Einheit von Identität und Nichtidentität, von Positivität und Negativität für den lebendigen, absoluten Ursprung aller Spekulation einfordert, geht Fichte auf den ausweisbaren Standpunkt einer Grundreflexion auf der Höhe des absoluten Wissens zurück. Ausgang des Scheideweges ist so der Punkt, da sich die transzendentale Reflexion auf den Zusammenhang und den Unterschied von absolutem Wissen und dem Absoluten selbst besinnt. Vom absoluten Wissen ist einzusehen: Außer dem Absoluten ist nichts außer dem Dasein absoluten Wissens. Darauf insistiert die komplexe Briefformel Fichtes: »Es scheint mir an sich klar, daß das Absolute nur eine absolute, d.h. in Beziehung auf Mannigfaltigkeit, durchaus nur Eine, einfache, sich ewig gleiche Aeusserung haben kann; und diese ist eben das absolute Wissen« (GA III/5, 112). Dies ist das Formprinzip aller Disjunktion und Sonderung des Idealen und Realen, Subjektiven und Objektiven, Unendlichen und Endlichen, einfach Einen und unendlich Vielen. Das Absolute selbst dagegen bleibt in sich geschlossen und geht nicht wie in Hegels Hilfskonstruktion aus Freiheit aus sich heraus. Es kann nur als Unsägliches ausgesprochen und als Unbegreifliches begriffen werden. Damit bringt Fichte in transzendentaler Besinnung die überkommene Lehre einer negativen Theologie von Gott als dem Unsagbaren (Arrheton) wieder zu Ehren. Den Grundsatz, der ein unreflektiertes, rein spekulatives Gerede vom ›Absoluten‹ untersagt, hat Fichtes Brief scharf formuliert: »Das absolute selbst aber ist kein Seyn, noch ist es ein Wissen, noch ist es Identität, oder Indifferenz beider: sondern es ist eben – das absolute – und jedes zweite Wort ist von Uebel« (GA III/5, 113). Diese Maxime einer Wissenschaft vom absoluten Wissen, das sich auf sich als einzige unmittelbare Daseinsform des an sich unfaßlichen Absoluten besinnt, versperrt den Denkweg Spinozas wie des Schellingschen Systembaus. Auch das findet sich im Scheidebrief Fichtes klassisch formuliert. »So ergeht es Spinoza. Das Eine soll Alles [...] seyn, und umgekehrt; was denn ganz richtig ist. Aber wie das Eine zu Allem, und das All zu Einem
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werde – den Uebergangs-Wende- und realen IdentitätsPunkt derselben kann er uns nicht angeben, daher hat er das Eine verlohren, wenn er aus dem All greift, und das All, wenn er das Eine faßt« (GA III/5, 112). Und dieses Spinoza-Dilemma überträgt Fichte auf Schellings Alleinheitssystem, welches den Spinozismus verklären will, dergestalt, daß es das indifferent Unbedingte zwischen den Polen des Denkens mit dem Übergewicht des Subjektiven und dem des Seins mit dem Übergewicht des Objektiven quantitativ ausdifferenziert, so wie Spinoza ohne den Schatten eines Beweises. »Drum stellt er auch die beiden GrundFormen des Absoluten, Seyn, und Denken eben ohne weiteren Beweiß hin, wie Sie eben auch, – durch die W.L. keinesweges berechtigt, thun« (GA III/5, 112). Diese Markierung des wissenschaftlichen Differenzpunktes macht eine Interpretation zweifelhaft, welche im Ideenaustausch der Schlußbriefe immer noch den Versuch sieht, die auseinanderdriftenden Systembegründungen am Ende doch wieder einander anzunähern und einen gemeinsamen Grund und Boden idealistischer Prinzipien einzuhalten. 17 Das sind beiderseitige Beteuerungen und Ausdruck eines Strebens, den je eigenen Ansatz als das grundlegende Wahre einsichtig zu machen. Das muß in den Augen Fichtes scheitern; denn die Basis und das proton pseudos des Schellingschen Idealismus wie der Einheitslehre Spinozas und eines jeglichen spekulativen Dogmatismus überhaupt ist ein Andenken des Absoluten, das sich nicht auf sich besinnt, sondern alles, was doch der Reflexionsform des absoluten Wissens geschuldet ist, als Formierung des Absoluten selbst mißversteht. Und solche Nichtbesinnung rechnet Fichte Schelling vor. »Nemlich weil Sie an das Absolute unmittelbar mit Ihrem Denken gingen, ohne sich auf Ihr Denken, und daß es wohl nur dieses seyn möge, was durch seine eigenen immanenten Gesetze Ihnen unter der Hand das Absolute formirte, zu erinnern« (GA III/5, 91). In der Region des Formgesetze des absoluten Wissens aber
17 Daher plädiert der Kommentar von H. Traub: Schelling – Fichte Briefwechsel, 2001 für zwei Tatsachen. Gegen W. Schulz wird darauf hingewiesen, daß im späteren Briefwechsel explizit behandelte, philosophisch schwergewichtige Probleme schon in der früheren Korrespondenz bis 1800 impliziert waren, und ferner, daß der Schlußstand eben die Perspektive einer Systemannäherung offenhält, die sich freilich nicht realisiert hat, so daß der Kairos für die Umwälzung der Denkungsart des Zeitalters durch eine einmütige, wirkungsgeschichtlich umfassende, machtvoll geschlossene Vollendung des Deutschen Idealismus ungenutzt verstrich und in einer Trilogie schwer miteinander vermittelbarer Vollendungsgestalten idealistischer Metaphysik verendete.
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liegt der Idealismus der Wissenschaftslehre. Sie ist Schelling unbekannt geblieben. Sie war zur Zeit des Briefwechsels auch noch nicht zur reifen und rein vollendeten Darstellung gekommen. Daher reicht der Widerstreit zwischen Fichte und Schellling in seinem vollen Ausmaße über den Briefwechsel hinaus.18 3. Kapitel: Hinweise auf das ausgebliebene Grundlagengespräch zwischen Fichte und Hegel Das gescheiterte Ringen um eine gemeinsame Vollendung eines umfassenden Vernunftsystems im Andenken eines Unbedingten und all-einen Absoluten, wie es sich im Briefwechsel zwischen Fichte und Schelling spiegelt, hat das Tragische einer unverschuldeten Blindheit an sich; denn Schelling hat die großen Entwürfe von Fichtes ungeschriebener Lehre seit den immer tieferen und reineren Darstellungen der neuen Grundlegung ab 1801 nicht einsehen können, und Fichte ist der Aufbruch der Schellingschen Spätphilosophie seit der ›Freiheitsschrift‹ von 1809 nicht mehr vor Augen gekommen.19 Eine gleiche tragische Unkenntnis aus geschichtlicher Ungleichzeitigkeit herrscht im ausgebliebenen namentlichen Gespräch zwischen Fichte und Hegel; denn deren Systembildungen, die beide über das einseitige absolute Ich-Subjekt zur Entfaltung von absolutem Wissen und Absolutem führen, sind beiden epochalen Geistern so gut wie unbekannt geblieben und historisch entgangen. So hat Fichte den gigantischen Entwurf der Phänomenolo-
18 Darauf geht die souveräne, konzentrierte Studie von Ch. Danz: Die Duplizität des Absoluten in der Wissenschaftslehre von 1804 (Zweiter Vortrag) – Fichtes Auseinandersetzung mit Schellings identitätsphilosophischer Schrift ›Darstellung meines Systems‹ (1801), 1997 ein. Danach erschließt sich die Auseinandersetzung erst im Kontext der W.L. 1804-II mit dem Grundsatz von der Vernichtung des Begriffs durch die Selbstkonstitution des Absoluten im unmittelbaren Denkvollzug, der die in sich geschlossene Einheit des Seins von sich und durch sich in sich behält. Diese Seinslehre Fichtes ist durchzogen von kritischen Äußerungen gegenüber Schelling, zumal in dessen Zuordnung zum ›höheren Idealismus‹: Schelling habe sich nur scheinbar vom Reflexionsstandpunkt entfernt und das, was erste Erscheinung ist, zum Absoluten selbst gemacht. 19 Darauf hat W. Schulz: Briefwechsel, Einleitung 12 hingewiesen: »Fruchtbar wäre das Gespräch zwischen Fichte und Schelling gewesen, wenn Schelling in der Zeit des Briefwechsels bereits seine eigene Spätphilosophie konzipiert hätte, dann wäre die Auseinandersetzung von einem sachlich vergleichbaren Ansatz her möglich gewesen.«
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gie des Geistes von 1807, zu der Zeit in Königsberg eine neue Darstellung seiner philosophischen Wissenschaft vortragend, überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Ebenso hat Hegel die Phase der sich vollendenden Wissenschaftslehre ignoriert und die darauf bauenden populären Schriften, Schelling nachredend, unnachsichtig abqualifiziert. Hegel ist nach dem gründlichen Studium der frühen Jenaer Schriften Fichtes verstockt bei der Meinung geblieben, daß der höchste Punkt der Wissenschaftslehre, welcher die Widersprüche der Vernunft aufzulösen vermeint, das Sein als Sollen sei und daß damit Fichtes Streben nach dem Absoluten auf dem Stande der Endlichkeit stehen und im Widerspruch stecken bleibt. Die gesamte Systembildung, d.i. Fichtes spätere Einleitungen einer historisch-faktischen Phänomenologie, die genetische Entfaltung der Wissenschaftslehre als prima philosophia, die Ausfaltung ihrer Prinzipien auf die philosophischen Wissenschaften von Recht, Sittlichkeit, Religion wie deren Applikation auf Leben und Geschichtlichkeit in den ›Anwendungswissenschaften‹ wie Pädagogik, Politik, Geschichtsphilosophie, hat Hegel, befangen in seinen Vorurteilen, nicht interessiert. Ist es Zufall, daß Hegel Fichtes Tatsachen des Bewußtseins von 1810-1811, die 1817 erschienen waren, wohl in der Winterschen Buchhandlung in Heidelberg bestellt, aber ›aus Versehen‹ remittiert hat? Fichte, der wenigstens doch wohl Hegels ›Differenzschrift‹ kannte, ist, jedenfalls direkt, niemals auf Hegels Okkupation der Jenaer und auf Abschätzungen der Berliner Fassungen seines Werkes eingegangen. Einen Briefwechsel, gar von dem Gewicht der Fichte-Schelling-Briefe, gibt es nicht. Fichte und Hegel sind einander nie persönlich begegnet. Als Hegel 1801 nach Jena kam, war Fichte schon endgültig nach Berlin umgezogen. Als Hegel im Oktober 1818 seine Vorlesungen in Berlin eröffnete, war Fichte schon vier Jahre auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof begraben. Die Geister waren gleichsam aneinander vorbeigeglitten. Wohl suchte Hölderlins FichteBegeisterung Hegel für den Jenaer Titanen im Gleichklang mit Schelling einzunehmen, aber als Hegel 1801 die Differenzschrift mit der unterordnenden Einteilung der Jenaer Grundlage herausgab, war Fichte bereits auf seinem weiteren Denkweg: über das Sollen im Streben der praktischen Vernunft hinaus zum absoluten Wissen als Dasein des sich bildenden Bildes des Absoluten. Aber auch umgekehrt: Wohl hatte Schelling Fichte auf die Differenzschrift hingewiesen. »So ist erst dieser Tage ein Buch von einem sehr vorzüglichen Kopf erschienen, der zum Titel hat Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, an dem ich keinen Antheil habe, das ich aber auf keine Weise verhindern konnte« (Jena, den 3. Oktober 1801;
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GA III/5, 98). Aber Fichte zählte Hegel noch zu den Schildknappen Schellings und zu den Verschlimmbesserern der Wissenschaftslehre, als dieser schon längst auf seinem Wege zur Vollendung eines spekulativen Systems des absoluten Geistes war. Fichte erwähnt Hegel wohl nur ein einziges Mal. Dabei dreht es sich immerhin um die Grundlegung der Ersten Philosophie. An Schelling schreibt Fichte am 15. Januar 1802 über das strittige Wissen des Absoluten: »So wünschte ich wohl, daß Sie sowohl als Hegel über diesen Streitpunkt nicht weiteres Aufheben, und dadurch, wie ich glaube, die Misverständnisse nicht zahlreicher machten; bis meine neue Darstellung erschienen ist« (GA III/5, 113). Die neue Darstellung hat ihre reinsten Fassungen nun erst in den Berliner Vortragsreihen gewonnen. In ihren Grundlagen ist diese Lehre zu Hegels Lebzeiten nicht im Druck erschienen. Allerdings hat Fichte Hegels Logik noch zur Kenntnis nehmen können. Und in der Tat gibt es maßgebende Fichte-Forscher, welche im Blick auf Fichtes Logik-Texte und auf die Tatsachen des Bewußtseins von 1813 die Vermutung angestellt haben, daß Fichte nach der Konfrontation mit Schelling beim Erscheinen von Hegels Wissenschaft der Logik 1812 zu einer fundamentalen Auseinandersetzung mit Hegel ansetzte, was freilich dem Umfang der Sache nach ein Randphänomen blieb. Es hat sich auch ein polemischer, freilich für die Vorlesung gestrichener Abschnitt im Manuskript der Fichteschen Logik 1812 gefunden, der auf Hegel gemünzt sein könnte.20 Da wird ein »scharfsinniger, neuerer Schriftsteller« abgefertigt, der entschlossen sei, den Idealismus nicht gelten zu lassen und den Dogmatismus wieder einzuführen. Das ließe sich auf Hegel und dessen eben erschienene Logik (eher doch wohl auf Herbart) beziehen. Der folgende Satz dieser polemischen Verortung macht den Hegel-Bezug fraglich. »Nun sieht dieser zum Unglük ein, daß im Seyn der Grund einer Veränderung eines Werdens nicht liege« (GA II/14, 140). Hegel hat doch wohl unübersehbar am Anfag der Seinslogik übermittelt, daß der erste konkrete Gedanke vom absoluten Sein eben das Werden ist. Mithin hat das möglicherweise machtvollste Streitgespräch über Prinzipien und Methode, Einleitung und Systembildung der Ersten Philosophie nicht stattgefunden. Das mag dazu beigetragen haben, daß Fichtes
20 Vgl. dazu J. Widmann: Johann Gottlieb Fichte, 1982, 34 u. 44. – Ausführlich R. Lauth: Eine Bezugnahme Fichtes auf Hegels ›Wissenschaft der Logik‹ im Sommer 1812, 1998. – Vgl. auch die redaktionelle Anmerkung in GA II/14, 140.
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Wissenschaftslehre zur Vorstufe von Hegels absolutem Idealismus herabgestuft blieb und die geistvollste Durchkonstruktion des absoluten Geistes und der absoluten Idee in der Philosophiegeschichtsschreibung ihre Vorherrschaft so lange unwidersprochen behaupten konnte. 4. Kapitel: Erinnerung an den Zerfall der Geistesbruderschaft zwischen Schelling und Hegel Ebenso umstritten wie die Aufhebung der Wissenschaftslehre als einseitig subjektiver Idealismus durch Hegels absoluten Idealismus ist die Aufhebung der Schellingschen Philosophie als einseitig objektiver Idealismus vermerkt worden. Schelling hat eben anfangs nicht nur solche Aufhebung gegenüber Hegel in einem Identitätssystem auf dem Grunde der absoluten Vernunft als eine eigene Leistung reklamiert, er hat am Ende Hegels spekulative Systembegründung als Auswuchs einer bloß negativen Philosophie systematisch degradiert und philosophiegeschichtlich verflüchtigt. Das geht mit dem völligen Zerfall einer einstmals blühenden persönlichen Geistesfreundschaft zusammen, und zwar in aller Stille. Während die Verfeindung Fichtes und Schellings die geistige Welt aufregte und zu Parteinahmen, etwa im Kreise der Frühromantik, veranlaßte, wurde die Entfremdung zwischen Schelling und Hegel Jahrzehnte später kaum mehr registriert. Persönlich hat Schelling zu guter Letzt mit dem einstigen Tübinger Studienfreund total gebrochen, erbittert über den entglittenen Ruhm, den Hegel ihm gestohlen habe. Systematisch-sachlich hat Schelling im Vollendungsstadium seiner positiven Philosophie mit Hegels Herrschaftsanspruch als einer hyperbolisch verirrten Vernunftbildung abgerechnet. Nach Schelling habe das Urteil der Geschichte eben zu lauten: Hegels Weg zum allesvermittelnden Systemganzen sei ein Irrweg, eine zum Verschwinden bestimmte Episode in der Vollendungsgeschichte der neueren Philosophie. Beides, die persönliche Entfremdung und die philosophiegeschichtliche Radikalkritik, ist zusammenzusehen, nicht nur, um die selbstherrliche Alleinherrschaft des Hegelianismus in Frage zu stellen, sondern auch, um die Konfrontation mit der letzten End- bzw. Vollendungsgestalt des Idealismus kenntlich zu machen. Nun ist kaum ein innigeres geistiges Freundschaftsverhältnis – idem velle, idem nolle – zu denken als das zwischen den Jugendfreunden Hegel und Schelling. Beide für den Theologenstand bestimmte Stipendiaten der
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Landesuniversität Tübingen haben im Verein mit Hölderlin einen Bund freier Geister geschlossen. Der gemeinsame Tanz um den Freiheitsbaum einer revolutionären liberté aber ist doch wohl Legende. Durch Schelling hat Hegel später in Jena Fuß gefaßt, und beide haben unter der Losung Hen kai Pan ihren langen Weg zur Wahrheit angetreten. Gemeinsam gaben sie 1802/1803 das Kritische Journal der Philosophie heraus. Und in der Systemfrage schien Hegel gleichsam als Sprachrohr des erfolgreicheren Jüngeren zu sprechen, nicht zuletzt nach dem Eindruck Fichtes. So hat Hegel zumal in der Differenzschrift Schellings Identitätssystem als überlegenen Fortschritt gegenüber der Jenaer Wissenschaftslehre gepriesen, obwohl sich hier bereits andeutete, daß Hegels Weg zur Vollendung des Systemprogramms über Schelling hinausführte. In der Vorrede der Phänomenologie des Geistes trat Hegel dann in machtvoller Souveränität mit eigenen Grundsätzen auf: Das Wahre ist das Ganze und nur als System wirklich; die Substanz ist wesentlich Subjekt; das Absolute spricht sich als Geist aus, als das in seinem Außersichsein in sich selbst Bleibende. Und Schelling konnte wohl zu seiner Überraschung auch die Absage an seine Auffassung des Absoluten (A=A, Subjekt=Objekt) lesen. »Sein Absolutes für die Nacht ausgeben, worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind, ist die Naivität der Leere an Erkenntnis« (TWA 3, 22). Jedenfalls hat Hegel Schelling fernerhin lediglich den Ruhm als Stifter der neuen Naturphilosophie, welche Begriff und Geist in die Natur einführte, gelassen und die Idee eines Identitätssystems für sich vereinnahmt. Nach 1807 und nach der Lektüre der Vorrede von Hegels Phänomenologie hat Schelling seinen Freund keines Wortes mehr gewürdigt. Hochempfindlich gekränkt empfand er es z.B. als einen feindseligen Akt, als Friedrich Immanuel Niethammer, ab 1803 Oberzentralschulrat in Bayern, es unternahm, Hegel nach Erlangen zu bringen. Ingrimmig hat er die Priorität für die Idee einer Entwicklungsgeschichte des Bewußtseins unter Berufung auf sein System des transzendentalen Idealismus von 1800 reklamiert. Die transzendentale Geschichte des Geistes sei seine Erfindung und gehöre zum Eigentümlichen seines Systems. Dieses sein geistiges Eigentum habe Hegel ihm gestohlen. In dieser Seelenlage ist eine persönliche bittere Entfremdung erwachsen. Das illustriert jenes zufällige Wiedersehn der beiden Titanen der Philosophie im Spätsommer 1829 in Karlsbad. Hegel, in den Augen der Welt der ruhmreiche Imperator im Reiche des Geistes, suchte ahnungslos den erbitterten Jugendfreund auf, der ihn längst als Räuber seines Ruhms und seiner Ideen perhorreszierte. Zu einem wissenschaftlichen Gespräch ist es nicht gekommen, le-
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diglich zu einer ›guten Unterhaltung‹ für ein paar Abendstunden. Der abgründige persönliche und tiefe sachliche Bruch der einst so begeistert beschworenen Freundschaft kam nicht zur Sprache. Dabei hat Schelling Christian H. Weiße, dem hegelkritischen ›Spätidealisten‹, gegenüber gnadenlos geurteilt: Die sogenannte Hegelsche Philosophie sei nichts als Episode und gänzlich als nicht vorhanden zu betrachten; um zur wahren Vollendung der Philosophie zu kommen, dürfe man Hegels Vernunftwissenschaft nicht fortsetzen, man müsse ganz von ihr abbrechen. 5. Kapitel: Annäherung an den wahren Grund der feindseligen Entfremdungen Ein einvernehmliches Gespräch, der einander fördernde Gedankenaustausch, selbst eine neutrale gegenseitige Anerkennung zwischen den Stiftern der Wissenschaftslehre, des Identitätssystems, der Ontotheologie hat nichts gefruchtet, trotz zeitweilig betriebener Pläne der Zusammenarbeit, etwa im großen Zeitschriftenprojekt. Freundschaftliche Verbindungen, sei es die innige Jugend- und Geistesfreundschaft der ingeniösen Tübinger, sei es das eher förmliche akademische Einvernehmen zwischen Fichte und Schelling, haben sich aufgelöst und in Feindseligkeiten verwandelt. Für dieses Scheitern ist sicherlich auch die empfindliche Reizbarkeit der agierenden Personen mit schuld, so daß lobende Anerkennung sich in peinliche Beleidigungen gefühlsmäßig verkehrten. Dahinter aber steckt ein Ringen der Geister um das intellektuelle Licht der Wahrheit, das in der interessierten Öffentlichkeit freilich als gespenstisch empfunden wurde. So schreibt geradezu symptomatisch Sophie Reimarus, die Gattin des Hamburger Arztes und Schriftstellers, am 1. Oktober 1804 am Sulpiz Boisserée: »Schelling, Hegel, Fichte und das große Heer ihrer Zunft kann ich mir nur als Gespenster denken, die sich unter einander herumpeitschen um einen Lichtfunken, den jeder in sich zu haben glaubt, und der nur da ist, wo sie ihn nicht suchen« (FG III 270). Indessen, das ist keine ins Leere leuchtende Irrlichterei, sondern ein wissenschaftliches Ringen um die eine, allumfassende Vollendungsgestalt der Philosophie, welche die großen Fragen der Menschheit endgültig aufklärt. Die persönlichen Zwistigkeiten erwachsen aus einschneidenden wissenschaftlichen Differenzen. Die Entfernungen auf den Stadien des Lebensweges resultieren aus der Unvereinbarkeit der Denkarbeit. Und es ist die Hypothesis des einzig wahren Systemgrundes, die es verhindert, den
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Widersinn zweier Absoluta und das Nebeneinander dreier gleichermaßen in sich abgeschlossener Systeme zuzulassen. Daraus nährt sich der Vorwurf des einen, vom anderen in seinem Standpunkt verkannt und mißdeutet und letztlich auch um den Ruhm des wahren Vollenders gebracht worden zu sein. Gewiß sind verletzende Herabsetzungen – auch im Dunstkreis von akademischem Klatsch – Anstoß für Zerwürfnisse. Aber das sind Anlässe und nicht der tiefere Grund für unüberbrückbare Entfernungen. Was das Zerbrechen der befreundeten Gemeinschaft der führenden Geister bewirkt, ist die Behauptung einer Systemstiftung, welche die Position der anderen zum integralen Teil des konstruierten Ganzen herabsetzt. Dabei sind es nur retardierende Momente im Drama dieses Konflikts, wenn immer wieder die Gemeinsamkeit der zu lösenden philosophischen Aufgabe beschworen wird. So hat Schelling noch am 24. Mai 1801 seinem »verehrungswürdigen, theuersten Freund« Fichte gegenüber beteuert, »daß wir beide nur Eine und dieselbe absolute Erkenntnis zugeben, welche in allem Erkennen die gleiche, immer wiederkehrende ist, und die in allem Wissen darzustellen und offenbar zu machen, unser beider Geschäft ist. [...] Wir mögen uns über dieselbe verschieden ausdrücken, sie auf ganz verschiedene Art darzustellen streben, über sie selbst können wir nie mehr uneinig sein [...]. Wenn diese Erkenntnis erst als einziges Thema und Princip des Philosophirens förmlich etabliert und festgesetzt ist, so wird dann die göttliche Philosophie ihrer ganzen Freiheit wieder gegeben seyn, und gleich dem Gegenstand, den sie darstellt, in unendlichen Formen und Gestalten, immer nur das Eine Absolute wiederholen und an den Tag bringen. [...] Es wird also fortan nur Ein Gegenstand seyn, und nur Ein Geist, Ein Erkennen, Ein Wissen dieses Gegenstandes« (GA III/5, 39-40). Indessen, diese Einigungsbeschwörung impliziert, daß die göttliche Philosophie die Selbsterkenntnis des Absoluten zum Erkenntnisgrund und die absolute Indifferenz des Realen und Idealen – also Schellings Systementwurf – zum Einheitsgrund hat und Fichtes Transzendentalphilosophie sich vom bedingten Ich zu diesem Unbedingten aufzuschwingen habe. Ähnlich zweideutig ist Fichtes Versöhnungsangebot am Ende seines unerbittlich polemischen Berichts über den Begriff der Wissenschaftslehre von 1801. »Uebrigens ist auch das, was der Mann durch seine Speculation sucht und anstrebt, keinesweges etwas schlechtes und gemeines, sondern es ist das höchste, deßen der Mensch theilhaftig werden kann, die Erkenntniß der Einheit alles Seyns mit dem göttlichen Seyn« (GA II/10, 64). Leider sei diese
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achtenswerte Absicht, die höchste gemeinsame Aufgabe aller wahren Philosophie zu vollbringen, in von Blindheit geschlagene Antiphilosophie umgeschlagen. Darum bricht Fichte jeden weiteren Dialog ab. »Mit diesem genannten Mann selber rede ich, da wir durchaus von kontradiktorisch entgegengesetzten Maximen ausgehen, und in Beziehung auf Kunstfertigkeit zwischen uns beiden kaum ein Verhältniß stattfinden dürfte, niemals« (GA II/10, 65). Im Hintergrund der persönlichen Spannungsverhältnisse zwischen Fichte und Schelling, Schelling und Hegel stehen also die kontradiktorischen Standpunkte, Methodenwege, Prinzipien im Ausbau des einzig-einen, allumfassenden Systembaus der Vernunft: seit Fichtes Grundlage der gesamten theoretischen und praktischen Wissenslehre, Schellings Identitätssystem, Hegels Enzyklopädie bis zur Spätphilosophie Schellings und dem Übergang des Idealismus von der negativen zu einer positiven Philosophie. Zeichnet sich so überdeutlich eine strittige dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus ab, so steht die gegenwärtige philosophiegeschichtliche und systematische Grundfrage nach Wissen und Sein, nach Wahrheit und Einheit vor einer Entscheidung. Der ist man nur entzogen, wenn man solchartigen idealistischen Spekulationen überhaupt mit Skepsis begegnet und im historischen Bericht zwischen den drei entgegengesetzten Systemen bei aller Gelehrsamkeit in der Schwebe bleibt. Dagegen hat ein Schelling in seiner berühmten Münchener Antrittsvorlesung zu Recht erklärt: »Man kann nicht in der Philosophie zwischen entgegengesetzten Systemen kapituliren oder gar unbestimmt schweben, es ey denn, man ergebe sich frei und offen einem traurigen, unerquicklichen, Geist und Herz tötenden oder doch entlarvenden Sceptizismus« (W 5 52 = SW IX 358). Gleichwohl ist eine philosophiehistorische Nachkonstruktion aus neuerer, umfassenderer und gründlicherer Quellenkenntnis dabei, die drei einander widersprechenden Systeme unentschieden gleich-gültig nebeneinander wiedereinzuholen und durchzuarbeiten. Das aber kann nur einen Skeptizismus, der solchen Systemen zweifelsfreie Wahrheit abspricht, bestärken. Eine systematisch-geschichtliche Restituierung dagegen muß sich der Frage nach dem Vorrang des einzig wahren Systemgrundes auf der Höhe absoluten Wissens stellen.
Teil I: Schelling 1. Abschnitt: Vorlage des Vollendungsanspruchs von Schellings Identitätssystem 1801 1. Kapitel: Ankündigung des ersten Systems der Vernunftwissenschaften. Eine Vorerinnerung Das authentische Dokument für ein Vollendungsprogramm der philosophischen Grundwissenschaften, welches erstmals dem neuzeitlichen Anspruch auf systematische Darstellung Genüge zu tun verheißt, ist Schellings 1801 in der Zeitschrift für spekulative Physik öffentlich gemachte Darstellung meines Systems der Philosophie. Nun ist die Ausarbeitung dieses Systemplans Fragment geblieben. Durchgeführt wurde allein das System der naturphilosophischen Ideen in einer reellen Reihe der Begriffe Materie, Kraft, Licht, Magnetismus, Elektrizität bis zur Organik, offengeblieben ist die Darstellung der ideellen Reihe, die in der Idee der Wahrheit und Schönheit gipfelt. Was somit inhaltlich vorgetragen wurde, war nicht neu, sondern bereits in Schellings Studien zur Naturphilosophie vorgelegt. Neu und unerhört aber ist der Anspruch, in evidenter und methodisch stringenter Darstellung zum ersten Mal und ganz allein ein System der Philosophie aufzurichten. Diese programmatische Ankündigung eines folgerichtig erreichten Vollendungsstadiums der Vernunftwissenschaft spricht die hochgemute »Vorerinnerung« aus (W III 3-10 = SW IV 107-114). Selbstverständlich stellt sich bei jeder neu auftretenden, epochalen Grundlegung im Laufe der Philosophiegeschichte zumal in einer Krise der Vernunftwissenschaft und Vernunftkunst die stets mit immenser Gelehrsamkeit betriebene Frage, ob und in wie langer Inkubationszeit sie herangewachsen oder wie der Blitz plötzlich ausgelöst ist, und zudem, ob und wie stark sie von Vergangenem vorbereitet, beeinflußt, auf den Weg gebracht oder ob und wie dringend sie durch eine bestimmte Problem- und Notsituation auf den Plan gerufen wurde. Schellings Vorerinnerung erklärt: Der vorgestellte neue Anfangsgrund einer umfassenden Systembildung werde, durch eine bestimmte Krisenlage genötigt, früher als geplant öffentlich gemacht. Aber es sei das von Anfang an verfolgte Ziel und
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Teil I: Schelling
der früh ins Auge gefaßte Orientierungspunkt eines Denkweges. »Nachdem ich seit mehreren Jahren die eine und selbe Philosophie, welche ich für die wahre erkenne, von zwei ganz verschiedenen Seiten, als Natur- und als Transzendental-Philosophie darzustellen versucht hatte, sehe ich mich nun durch die gegenwärtige Lage der Wissenschaft getrieben, früher als ich selbst wollte, das System selbst, welches jenen verschiedenen Darstellungen bei mir zu Grunde gelegen, öffentlich darzustellen« (W III 3 = SW IV 107). Zur gegenwärtigen Lage der Vernunftwissenschaft gehört es, Schelling aufgrund der frühreifen Schriften des Tübinger Magisters (Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt, Vom Ich als Prinzip der Philosophie) als Meisterschüler und besten Erklärer von Fichtes Wissenschaftslehre zu betrachten und Schellings Naturphilosophie als mehr oder minder glückliche Ergänzung der Transzendentalphilosophie ein- und abzuschätzen. So war Schelling von Baggesen als »Ichmarktschreier« und von Jean Paul als »Generalvikar und Geheimdiener Fichtes« karikiert worden. Solcher Lageentsprechung, da auch Fichte Schelling eben als seinen trefflichen Mitarbeiter und Interpreten ansah, erteilt Schellings öffentliche Vorerinnerung eine deutliche Absage. Und widersprochen wird auch der Meinung, Schelling habe seine philosophische Intention mit der Aufstellung des Identitätssystems sprunghaft verändert. »Das System, welches hier zuerst in seiner ganz eigenthümlichen Gestalt erscheint, ist dasselbe, was ich bei den ganz verschiedenen Darstellungen desselben imer vor Augen gehabt, und woran ich mich, für mich selbst, in der Transzendental- sowohl als Naturphilosophie beständig orientiert habe« (W III 4 = SW IV 108). Diese Selbstauslegung seines Verfahrens als Einholen eines von Anfang an ins Auge gefaßten Standpunktes beruft sich darauf, weder die Naturnoch die Transzendentalphilosophie als vollständiges System, sondern beide stets als einseitige Darstellungen eines erst noch zu vervollständigenden Systemganzen vorgegeben zu haben. Beide Grundwissenschaften bilden entgegengesetzte, einander entgegengerichtete Pole. Die Transzendentalphilosophie geht vom Pol des Subjektiven aus, um das Objektive aus ihm entstehen zu lassen, die Naturphilosophie hat das Objektive zum Ausgangspol, um daraus das Subjektive herzuleiten. Eine systematisch vollendete Vernunftwissenschaft aber steht im Indifferenzpunkt des Subjektiven und Objektiven. Der erst erlaubt es, die Totalität des All-Einen in den Differenzierungen von Natur und Geist durchzukonstruieren. So ließen sich die unvermittelten Pole der Naturphilosophie als Lehre von der Natur, d.i. dem seiner selbst noch nicht bewußten Geist, wie der transzendentale Ide-
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alismus als Lehre von der Geschichte des Selbstbewußtseins vermitteln. Dafür ist ein Standpunkt aufzuheben, der auf das Ich, die Tathandlung, das absolute Subjekt und die Methode der Reflexion als Statthalter der Subjektivität setzt. Nur so komme eine an sich seiende Vernunft ins Klare: als Indifferenzpunkt, der sich in das maximal Objektive (die äußere Welt und das materiale Sein) als Minimum des Subjektiven gleichermaßen quantitativ differenziert wie in das maximal Subjektive (die Welten des Geistes und der Kunst) als Minimum des Objektiven. Offenkundig wird damit ein Anfangs- und Systemgrund proklamiert, der das absolute Ich eher im Sinne Spinozas, denn im Sinne der Jenaer Grundlage auffaßt. Das hat Schelling von Anfang an im Blick: das absolute Ich als das Unbedingte, das Ursache seiner selbst, schlechthinnige Einheit und das All-Eine ist. Und es gibt Bekenntnisse genug, da Schelling bekundet, er sei Spinozist geworden.1 So schließt schon das Vorwort zur Schrift von 1795 Vom Ich als Prinzip der Philosophie mit der Vorankündigung einer Vernunftidee, die als Gegenstück zu Spinozas Lehre De Deo als All-Einheitslehre auf den Boden der Subjekt-Objekt-Einheit ins Werk zu setzen sei. »Und hoffen darf ich es, daß mir noch irgend eine glückliche Zeit vorbehalten ist, in der es mir möglich wird, der Idee, ein Gegenstück zu Spinozas Ethik aufzustellen, Realität zu geben« (W I 83 = SW I 159). In der Tat hat Schellings Vernunftsystem von 1801 an öffentlich die Lehre Spinozas »in seiner erhabensten und vollkommensten Gestalt« verwandelt in sich integriert. Das betrifft den Grundsatz über die an sich bestehende All-Einheit ebenso wie die Methodik des mos geometricus. Offenbar läßt sich diese Kontinuitätshypothese problematisieren und mit der Gegenthese konfrontieren, Schelling habe 1801 eine philosophische Erleuchtung erlebt (vgl. den Brief an Eschenmayer, 30. Juli 1805). Ihm sei plötzlich ein Licht aufgegangen, eine Idee des Absoluten, ein Strahl der Identität, und zwar im Lichte der reinsten Evidenz. Bis zu dieser Erleuchtung sei Schellings Suchen nach dem Anfangsgrunde und obersten Prinzip ein unbestimmtes Schweben zu etwas Unbedingtem
1
Vgl. den gärenden Freundschafterneuerungsbrief an Hegel aus Tübingen vom 4. Februar 1795, worin der 20jährige bekennt: »Ich bin indessen Spinozist geworden! […] Spinoza’n war die Welt (das Objekt schlechthin, im Gegensatz gegen das Subjekt) – alles; mir ist es das Ich. [...] Vom Unbedingten muß die Philosophie ausgehen« (Hegel Br. I, 22).
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Teil I: Schelling
gewesen und Schellings philosophische Schriften bis dahin ein freies Kommentieren von Prinzipien der Wissenschaftslehre geblieben.2 So nun wie diese Vorerinnerung einen Bruch und Sprung im kontinuierlichen Denkweg von den frühesten Entwürfen bis zum ausgereiften Identitätssystem verneint – und die Annahme einer wachsenden Reifezeit braucht ja nicht mit dem Einbruch plötzlicher Erleuchtung zu streiten –, so verwahrt sich Schelling auch dagegen, diese seine originäre Denkleistung einem Vorgänger geschuldet zu haben. Das gilt wohl auch für den Fall Bardili und Reinhold. So hat Reinhold in seinem Beyträgen zur leichteren Übersicht des Zustandes der Philosophie beym Anfang des 19. Jahrhunderts vermerkt, Schelling habe seine Augengläser zum Erblicken des Identitätssystems von Bardilis Grundriß der ersten Logik, 1799 machen lassen. Aber diese Streitfrage liegt zeitlich nach der Proklamation der Vorerinnerung. Und beiseite bleiben kann auch die nicht so unwahrscheinliche Vermutung, Schelling habe sein Identitätssystem eigentlich von Reinhold übernommen. In seiner Vorerinnerung attestiert Schelling, gekränkt durch Reinholds wenig empfehlende Rezension seines System des transzendentalen Idealismus von 1800, diesem, einem unspekulativen Kopf und bloß historisch-faktischem Geist, zeit seines Lebens in tiefster Unwissenheit über den eigentlichen Kern aller Spekulation gelebt zu haben.3 Das Hauptanliegen der Vorerinnerung, die Eigentümlichkeit des nun erstmals und ohne Vorgänger hervortretenden Gesamtsystems zu versichern, besteht darin, sie vom Standpunkte der Wissenschaftslehre abzugren-
2
3
Vgl. dazu X. Tilliette: Schelling an der Furt des Identitätssystems, 1989. Zumal im Blick auf Schellings Briefe über Dogmatismus und Kritizismus könne konstatiert werden, Schelling sei nicht kontinuierlich zum Absoluten fortgeschritten, habe er doch das Absolute einer intellektuellen Anschauung in dieser Frühschrift dem absoluten Ich menschlicher Freiheit geopfert. Zudem habe sich die intellektuelle Anschauung verflüchtigt, so daß sich Schelling rühmen konnte, den Namen intellektuelle Anschauung in der allein kanonischen Schrift, der Darstellung meines Systems, keinmal benutzt zu haben. Der Frage, ob Schelling die Idee der absoluten Identität von Bardili oder von Reinhold her gekommen war, ist R. Lauth: Schellings Konzeption der absoluten Identität in Beziehung auf diejenige Reinholds, 1974 akribisch und mit souveräner Detailkenntnis nachgegangen. Mit dem Resultat: Schelling habe Bardili den Primat der Konzeption der absoluten Identiät zu Unrecht abgesprochen, und Reinholds Konzept habe durchaus die entscheidende Systemveränderung bei Schelling auslösen können.
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zen. Dafür ist dadurch Sorge getragen, daß das Proömium behutsam Vorschläge zur Unterscheidung nahelegt. »Fichte zB. könnte den Idealismus in völlig subjektiver, ich dagegen in objektiver Bedeutung gedacht haben; Fichte könnte sich mit dem Idealismus auf dem Standpunkte der Reflexion halten, ich dagegen hätte mich mit dem Prinzip des Idealismus auf den Standpunkt der Produktion gestellt: um diese Entgegensetzung aufs Verständlichste auszudrücken, so müßte der Idealismus in der subjektiven Bedeutung behaupten, das Ich sey Alles, der in der objektiven Bedeutung umgekehrt: Alles sey = Ich« (W III 5 = SW IV 109). Mithin ergäben sich zwei entgegengesetzte Einstellungen des Idealismus. Besteht Fichte auf dem Reflexionsstandpunkt, wonach alles, was ist, ein vom Ich Gesetztes ist, dann herrscht die Grundgleichung Ich=Alles. Stellt sich ein Idealismus dagegen auf den Standpunkt der Produktion, dann herrscht die Grundgleichung Alles=Ich. Eine Systembildung wiederum, die sich nach dem Muster Spinozas auf den Standpunkt des Absoluten stellt, erhebt sich zur Gleichung: das AllEine = absolute Vernunft oder Indifferenz von Subjektivem und Objektivem. Offenkundig also ließe sich nach diesen Vorerinnerungen eine Kontinuitätshypothese über das notwendige Fortschreiten der neuzeitlichen Vernunftwissenschaft in drei Phasen konstruieren. Das Reflexionssystem (Ich=Alles) schlägt um in ein Produktionssystem (Alles=Ich), um sich im Stadium des Identitätssystems als Vernunftwissenschaft zu vollenden. Diese Elevation, die Erhebung zur Höhe eines absoluten Idealismus, setzt die Negation und Entfernung des Reflexionssystems voraus. Deutlich wird, daß die Auseinandersetzung zwischen Schelling und Fichte auf eine Klärung des Verhältnisses eines absoluten Identitätssystems und eines relativen Reflexionssystems hinausläuft und nicht etwa nur im Streit um die Naturphilosophie hängenbleibt. Das ist nach Schellings Ankündigung von vitalem Interesse. »Denn es ist um das absolute Identitätssystem, welches ich hiermit aufstelle, und welches sich vom Standpunkt der Reflexion völlig entfernt, weil dieses nur von Gegensätzen ausgeht und auf Gegensätzen beruht, in seinem Innern zu fassen, äußerst nützlich, das Reflexionssystem, welchem jenes entgegengesetzt ist, genau kennen zu lernen« (W III 9 = SW IV 113). Also kündigt Schelling in diesen »Vorerinnerungen« dreierlei an: die Einholung des von früh an leitenden Orientierungspunktes seines Denkweges, die Ergänzung der Grundwissenschaften einer Natur- und Transzendentalphilosophie in einem System und die Auseinandersetzung mit dem Reflexionsstandpunkt, auf dem Fichtes Wissenschaftslehre zu behar-
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ren scheint. So sichert sich die Ankündigung des ersten Vernunftsystems überhaupt als genuine Leistung Schellingschen Selbstdenkens ab. 2. Kapitel: Herausstellung von Hauptsätzen und Grundproblemen des Standpunktes absoluter Identität Die Darstellung des Vernunftsystems von 1801 also war in den Augen Schellings immer die Geburtsurkunde der systematisch entfalteten Vollendungsgestalt eines absoluten Idealismus. Deren Aufbau ist in den Paragraphen 1-50 vorgezeichnet. Daher ist es für eine Rückbesinnung auf die Tragweite des Deutschen Idealismus in seinem Vollendungsstadium unumgänglich, wenigstens einen Überblick über diesen grundlegenden Teil in seinen Axiomen und Problemen zu gewinnen.4 So lassen sich zunächst jene Hauptsätze und Grundprobleme herausstellen, welche für Schellings Standpunkt der Indifferenz charakteristisch sind. Sodann ist wenigstens im Überblick die Darstellung eines Systems nachzuzeichnen, da die Indifferenz von Subjektivem und Objektivem gleichermaßen dem objektivem Subjekt-Objekt (der Naturphilosophie) wie dem subjektivem Subjekt-Objekt (der Geistphilosophie) so vorausliegt, daß verständlich wird, daß und wie aus der Natur der Geist hervorgeht und wiederum der Geist das Bild der Natur hervorbringt. Den Sicht und Halt gebenden Standpunkt der Philosophie charakterisieren drei Grundsätze. (1) »Der Standpunkt der Philosophie ist der Standpunkt der Vernunft« (§ 1; W III 11 = SW IV 115). Das ist Platonisches Erbe. (2) »Es gibt keine Philosophie, als vom Standpunkt des Absoluten« (§ 2; W III 11 = SW IV 115). Das entspricht der Herausforderung Spinozas.
4 Der Problemdurchblick bei H. Zeltner: Das Identitätssystem, 1975 sieht in 1801 das Geburtsjahr einer systematischen Philosophie, welche nicht mehr vom Ich, sondern vom ›Absoluten‹, der ›absoluten Vernunft‹ ausgeht. Und er hebt Schwierigkeiten dieser Neuorientierung heraus: die Markierung des Indifferenzpunktes, die Kausalitätsproblematik, die Entpersönlichung, Probleme der intellektuellen Anschauung, der quantitativen Differenz, der Potenzenlehre. – S. Jürgensen: Schellings logisches Prinzip: Der Unterschied in der Identität, 2000 verfolgt die Hauptschwierigkeiten des Identitätssystems in den Jahren nach 1800 bis zur Freiheitsschrift mit der Leitthese: Es sei nicht die Identität, welche den Unterschied, sondern umgekehrt der Unterschied, welcher die Identität bestimme, dergestalt, daß das Absolute im Unterschiedenen nicht eine Identität mit sich, sondern nur Ähnlichkeit erreiche.
1. Abschnitt: Vorlage des Vollendungsanspruchs
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(3) »Ich nenne Vernunft die absolute Vernunft, oder die Vernunft, insofern sie als totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven gedacht wird« (§ 1; W III 10 = SW IV 114). – »Die absolute Identität ist nur unter der Form einer Identität der Identität« (§ 16; W III 17 = SW IV 121). Das ist Schellings Standpunkt eines absoluten Idealismus, der Platos Ideenlehre und Spinozas Lehre absoluter All-Einheit eigentümlich in sich aufhebt. Dieser Anspruch sieht sich tödlichen Einsprüchen ausgesetzt. (1) Die Identität (A-A) sei nicht die Selbsterkenntnis des Absoluten, sondern die Naivität der Leere an Erkenntnis. Eine absolute Identität sei allein in der Form einer Identität von Identität und Nichtidentität zu denken (Hegel). (2) Die absolute Vernunft sei nicht das Absolute selbst, sondern dessen Dasein und Bild; das Absolute als Ineinanderaufgehen von Subjektivität und Objektivität sei in sich geschlossen und nur als Unbegreifliches begreiflich (Fichte). Unangefochten aber bleibt die Platonische Standortbestimmung in Kraft: Philosophie ist Vernunftwissenschaft, wahre Erkenntnis »ist eine Erkenntnis der Dinge an sich, d.h. wie sie in der Vernunft sind« (§ 1; W III 11 = SW IV 115). Platonisch-idealistisch gedacht ist das Sehen der Vernunft deren ›Gesicht‹, das Vernommene, nämlich die Idee in ihrem immerwährenden Ansichsein. Schellings Vernunftwissenschaft faßt die Ideen als Potenzen, als Arten und Stufen, in denen sich die Identität von Subjektivem und Objektivem, das wahre Ansich, differenziert und potenziert ausdrückt. Nun beansprucht Schellings Grundlegung als wahren Anfang und Grund aller Philosophie den Standpunkt des Absoluten oder der absoluten Vernunft im strengen Sinne, so daß »vom Standpunkt der Vernunft aus (§ 1) keine Endlichkeit sey, und daß die Dinge als endlich betrachten, so viel ist, als die Dinge nicht betrachten, wie sie an sich sind« (§ 14 Zusatz; W III 15 = SW IV 119). Dabei gehört zur Verendlichung der Einzeldinge in ihrer wesenlosen Nichtigkeit gerade die Kategorie, welche die objektive Realität der Dinge konstituieren soll, die Kausalität. Kausal geordnet bestehen die Dinge gar nicht an sich, sondern durch ein anderes in endloser Reihe. So aber sind die Dinge wesenloser, zum Irrtum verleitender Schein. Hier bricht der schon gegen Spinoza gerichtete Einwand des Akosmismus auf. Sind Gott und das Universum eins, unsere endliche, zeitlich-kausale
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Welt aber nicht wahr, sondern nichtig und scheinhaft, ist dann nicht das absolute Universum weltlos? Ist Schellings Pantheismus, konsequent erwogen, etwa ein Akosmismus? Zu solcher weltabgesonderten Vernunftansicht gelangt jeder Vernunftbegabte auf dem Wege einer Abstraktion, welche nicht nur von sich, dem denkenden Subjekt, sondern vollständig von der Differenz zwischen Denkendem und Gedachtem in einer Subjekt-Objekt-Relation absieht, so daß die Dinge gar nicht mehr als Objekte und Gegenstände erscheinen, die nach Gesetzen der Reflexion uns entgegengesetzt sind. Im Vollzug einer »völligen Abstraktion« kommt die absolute Vernunft als Indifferenz zu Gesicht. Die strittige Frage einer Vernunftwissenschaft ist, ob und wie sich auf diesem Wege der Zugang zum Absoluten eröffnet und ob sich mit diesem Resultat ein vollständiges System entfaltet. Fichtes kritisch besonnener Bescheid auf dem Höhepunkt seiner Vernunftwissenschaft von 1804 wird erklären: Der aufsteigende Weg einer absoluten Abstraktion erreicht im Wegsehen von aller Bewußtseinsrelation das von diesen Bezügen absolvierte Absolute – unter der Bedingung, daß von dieser ununterscheidbaren, ineinander aufgehenden Einheit des aus sich lebenden Lichts und Lebens mit dem substanten, auf sich beruhenden Sein nichts Begreifbares weiter gesagt werden kann als: Das Absolute – ist. Von Schellings ›Spinozistischem‹ Axiom aus lassen sich dagegen folgerichtig zwei umwälzende Hauptsätze der Vernunftwissenschaften herleiten. Zusammen befestigen sie eine pantheistische Ansicht. »Außer der Vernunft ist nichts, und in ihr ist alles« (§ 2; W III 11 = SW IV 115). Das ist eine Proposition der Ethik Spinozas. Sie wird sich in allen Vollendungsgestalten des postspinozistischen Idealismus wiederfinden: Es ist in Wahrheit (sub specie aeterni) nichts außer dem Sein und Leben der absoluten Vernunft als Indifferenz (Schelling), als Identität von Identität und Nichtidentität (Hegel), als Inkludenz (Insichgeschlossensein: Fichte) des Substantialen und Subjektiven. Davon unabtrennlich ist der Folgesatz: »Die Vernunft ist also Eine im absoluten Sinne« (§ 3; W III 12 = SW IV 116). Das schließt allen Dualismus, die Zweiheit erster Prinzipien, von substantia cogitans und substantia extensa, von Geist und Natur, aber auch von göttlicher und menschlicher Vernunft, von Gott und Ich, aus. Das Absolute ist Eins und Alles. Hier steckt in Fichtes Sicht das Grundproblem einer Philosophie, die nicht Dualismus sein wollte. Entweder müßte Gott als Prinzip zugrunde gehen oder Wir; Gott sollte nicht, Wir wollten nicht.
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Der eigentümliche Standpunkt einer absoluten Vernunft in Schellingscher Intuition aber besteht jenseits von Platonismus und Spinozismus auf zwei Hauptsätzen. Der erste erklärt das Sein, der zweite die Form des Absoluten. »Das höchste Gesetz für das Seyn der Vernunft, und da außer der Vernunft nichts ist (§ 2), für alles Seyn (insofern es in der Vernunft begriffen ist) ist das Gesetz der Identität, welches in Bezug auf alles Seyn durch A=A ausgedrückt wird« (W III 12 = SW IV 116). Ist absolute Vernunft das All-Eine, das sich selbst schlechthin gleich ist, dann gibt es in ihm keine Ungleichheit zwischen Denkendem und Gedachtem. Beides ist einander gleich und läßt sich eben im Axiom A=A ausdrücken. Solches Seinsgesetz der universalontologischen, schlechthin unendlichen, niemals aufzuhebenden Identität ist eien ewige Wahrheit. Sie erstreckt sich auf alles, was wesenhaft an sich seiend ist. Philosophisch, vom Standpunkte der absoluten Vernunft sub specie aeterni angesehen, bewährt sich die Wahrheit: »Alles, was ist, ist an sich Eines« (§ 12, Zusatz; W III 15 = SW IV 119). Das Ganze ist einbehalten in der untrennbaren Einheit von Subjektivem und Objektivem. Der hier einfallende Problemstand erregt die Streitfrage, ob überhaupt, und wenn, auf welche Art das Absolute aus sich in das Sein der endlich und mannigfaltig scheinenden, im Nacheinander der Zeit und Auseinander der Kausalität eines erscheinenden Dinges heraustritt. Hegel wird diese Frage im Übergang von der Logik zur Realphilosophie spekulativ fragwürdig und vom späteren Schelling vehement verworfen, Fichte im Übergang von der Wahrheits- zur Erscheinungslehre kritisch besonnen zu lösen versuchen. Schellings Identitätssystem erklärt Hypothesen, wonach die absolute Identität wirklich aus sich herausgetreten sei, zum »Grundirrthum aller Philosophie« (§ 14, Erläuterung), ein Irrtum, der sich freilich von der Creatio-Metaphysik bis zu Hegels Theologik durchhält. Dagegen stellt sich Schellings Hauptsatz: »Die absolute Identität ist nicht Ursache des Universums, sondern das Universum selbst« (§ 32; W III 25 = SW IV 120). Nun aber gehört zur Grundlegung der absoluten Vernunft nicht nur die Demonstration des Seins eines absoluten Identischseins, sondern auch die Konstruktion der davon unabtrennlichen Form. Aus dieser Aufgabe resultiert der Hauptsatz: Die absolute Identität hat die Form einer Identität der Identität. Diejenige Form nämlich, welche das Absolute formt, ist die ursprüngliche Erkenntnis der Gleichheit mit sich selbst. Der Satz A=A ist ja seit Leibniz ebenso Seins- wie Erkennntisprinzip. Mithin beschließt sich
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die Grundlegung des Identitätssystems im Hauptsatz: »§ 19. Die absolute Identität ist nur unter der Form des Erkennnens ihrer Identität mit sich selbst« (W III 18 = SW IV 122). Das erhebt eine Einheitslehre auf den Standpunkt eines absoluten Idealismus. Das oberste Prinzip von allem, was in Wahrheit ist, ist absolute Vernunft, die in der Form unendlicher Selbsterkennntis lebendig ist. Damit klärt sich die drückende Frage, in welcher Form die totale Indifferenz zugänglich ist. Für einen positiven Bescheid reicht offenbar der äußere Vorgang einer Abstraktion nicht aus. Die Abstraktion von allem Subjektiven – und das ist zugleich die Abstraktion von allem Objektiven – scheidet lediglich die Reflexion des Verstandesdenkens aus. Nun konnte aber darüber hinaus gleichsam von Innen heraus bewiesen werden: Die absolute Vernunft ist sich selbst gleich und so ein unbedingtes Vernehmen der Identität A=A. Mithin ist die Form des Zugangs ein Erkenntnisvorgang, in dem sich die Vernunft selbst als das Sein absoluter Identität im Sinne totaler Indifferenz unmittelbar intuierend vernimmt. Es ist nun durchaus vermerkt worden, daß Schelling hier sein Schlüsselwort für die Form des Zugangs zum Absoluten, die intellektuelle Anschauung, nicht einsetzt. Das bedeutet aber weniger einen Abschied von dieser Lehre als eher eine Richtigstellung. Korrigiert wird eine Fehldeutung, der selbst Hegels Einwände erliegen. Die intellektuelle Anschauung ist nicht Vermögen und Organ des menschlichen Intellekts, und sei dieser noch so zur philosophischen Prinzipienforschung fähig; sie ist jene Form, in welcher die absolute Vernunft sich selbst in ihrer Identität qua Indifferenz vernimmt.5 Steigt so ein absoluter Idealismus über den schlechthin unbedingten Grundsatz der frühen Wissenschaftslehre von der Tathandlung des absoluten Subjekts, das schlechthin die Welt und Natur als Nicht-Ich entgegensetzt, zur Alleinheit auf, dann wird die Frage nach der Konstitution unse-
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Die Problemskizze bei Ch. Asmuth: Der Anfang und das Eine. Die Systemgestalt bei Fichte, Schelling und Hegel, 2000 konstruiert diesen Beweisgang sehr deutlich nach, um die intellektuelle Anschauung als Anfang und Zugang zum absoluten Einen zu demonstrieren, mit dem Anfang der W.L. 1804 und dem Anfang der Seinslogik Hegels zu kontrastieren und um diesen dreifachen Anfang zu problematisieren. Das führe zu einer jeweils fixierenden und hierarchisierenden Abgeschlossenheit eines Systems, welches über die tiefe Verunsicherung menschlichen Anfangsdenkens hinwegtäusche.
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rer Welterfahrung neu rege. Wie denn kann außerhalb der absoluten Totalität eines unendlichen Seins und Lebens der Vernunft noch eine davon unterschiedene Welt als Inbegriff endlicher und mannigfaltiger Dinge sein, wenn doch außer dem Absoluten nichts ist? Noch schärfer gefragt: Muß sich nicht ein Vernunftprozeß, der abstrahierend zur Indifferenz aufsteigt, mit dem Standpunkt einer negativen Theologie begnügen, das Absolute oder Gott sei für unser Begreifen des Unbegreifliche und für unser Aussagen das Unsägliche? Und wie in aller Welt kann sich das indifferente Absolute begreiflicherweise in die Wirklichkeiten der Natur und des Geistes entfalten? 3. Kapitel: Überblick über die Entfaltung des Systems Schellings Erstes System erschließt die Totalität aller Vernunftwissenschaften in polarer Abstufung der absoluten Identität vom Standpunkt absoluter Vernunft aus. Seine Entfaltung wird von zwei Hauptsätzen geleitet: vom Sonderungsprinzip der quantitativen Differenz und von der Totalität aller Potenzen. Die erste einschlägige Proposition lautet: »Zwischen Subjekt und Objekt ist keine andere als quantitative Differenz möglich« (§ 23; W III 19 = SW IV 123). Der Beweis setzt (fälschlicherweise) eine ausschließende Disjunktion voraus. Entweder sei diese Differenz qualitätiv oder quantitativ – tertium non datur. (Fichte wie Hegel setzen dagegen ein ganz anderes Sonderungs- und Disjunktionsprinzip ein.) Unter Schellings Voraussetzung ergibt sich schlüssig: Ist die eine der einander ausschließenden Möglichkeiten falsch, dann ist die andere eo ipso wahr. Nun ist offenkundig eine qualitätive Differenz zwischen Subjekt und Objekt unmöglich; das widerstreitet der Prämisse qualitätiver Wesensgleichheit des wahren, indifferenten Seins. Mithin ist es undenkbar, daß etwas Objektives und Naturhaftes jemals in seiner Wesensbeschaffenheit vom Subjektiven und Bewußthaften unterschieden und getrennt ist. Dieser Abweis reicht weit. Er widerlegt alle Ansichten, welche eine Differenz in der Wesensbeschaffenheit der Natur und des Geistes unterstellen. Was wahr und wesenhaft ist, ist im Stande einer qualitativen Ungeschiedenheit. Also bleibt zur Erklärung der Unterschiedenheit einzig eine quantitatve Differenz denkmöglich. Solche quatitative Differenz betrifft mithin nicht die Wesensbeschaffenheit, wohl aber die Größe des Seinsbestandes. So bleibt zwar das Eine und Selbe, die wesenhafte Untrennbarkeit der Subjektivität und der Objektivität, von Selbsterkennen mit dem Sein, gewahrt, zugleich aber ist ein Sonderungsprinzip gefunden: das quantitative
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Übergewicht der Objektivität auf der einen Seite (A+=B) bzw. das Übergewicht an Subjektivität auf der anderen Seite (A=B+). Zu diesem Hauptsatz der Systementfaltung gehört der noch problemreichere Folgesatz. »Die Form der Subjekt-Objektivität ist nicht actu, wenn nicht eine quantitative Differenz beider gesetzt ist (§ 24; W III 20-21 = SW IV 125). Dieser Satz behauptet eine quantitative Differenz nicht nur als Bedingung für die widerspruchsfreie Denkmöglichkeit der Sonderung, er versteht sie als notwendige Bedingung für die Wirklichkeit gesonderter Formen des Erkennens und Selbsterkennens. Die gesonderte Form der Selbsterkenntnis ist nicht wirklich, wenn Subjekt und Objekt nicht als solche auseinandergehalten und unterscheidbar werden. Und solches Auseinanderhalten ist nur aufgrund der quantitativen Differenz möglich. »Beweis. Denn sie ist nicht actu, wenn nicht Subjekt- und Objektivität als solche gesetzt sind. Nun können aber beide nicht als solches gesetzt seyn, sie seyen denn als quantitative Differenz gesetzt« (§ 24; W III 21 = SW IV 125). Nach Fichte gehört die Sonderungsform des Als hingegen nicht zum wirklichen Dasein absoluter Indifferenz, sondern zur reflektierten Besinnung des sich als Dasein des Absoluten wissenden Wissens. Nach Schelling ermöglicht die quantitative Differenz aber gerade auch die Differenz der Erkenntnisgröße in den Wirklichkeiten des Naturhaften wie des Geisthaften. Der Zweite Hauptsatz, der die Systementfaltung klarmacht, lautet: »Die absolute Identität ist nur unter der Form aller Potenzen« (§ 43; W III 31 = SW IV 135). Es ist Schellings Potenzenlehre, welche den Systemcharakter der Identität als absolute wie als relative Totalität von Potenzen schematisch zur Darstellung bringt. Und es ist deren abschließende Erläuterung, welche die Entfaltung des Systems ins Ganze der beiden philosophischen Grundwissenschaften der Natur wie des Geistes als Aufeinanderfolge der Potenzen so vorzeichnet, daß das Überwiegen des Subjektiven reell wird. »Da das oben verzeichnete Schema aus dem Begriff der Potenz überhaupt (A=B) abgeleitet ist, so ist es nothwendig Schema aller Potenzen, und da ferner die absolute Totalität nur durch ein Reellwerden des Subjektiven in allen Potenzen, wie die relative durch ein Reellwerden in der bestimmten Potenz, construirt wird, so wird diesem Schema auch wieder die Aufeinanderfolge der Potenzen selbst sich unterwerfen müssen« (§ 60, Erläuterung 3; W III 38 = SW IV 142). ›Potenz‹ wird hier der Titel für die Stufen und Arten des Identischen (A-A) in der quantitativen Differenz von Subjektivität (Idealität, Erkennen = B) und Objektivität (Realität, Sein = A) im Schema A-B. Jede bestimmte
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Potenz enthält somit die Dreiheit der unauflöslichen Indifferenz in der quantitativen Differenz von Realität und Idealität, d.h. im Übergewicht des einen über das andere. Potenzen als Abstufungen der Indifferenz haben aufgrund einer artbildenden Differenz Ideencharakter. Also tritt am Ende der Potenzenreihe die Potenz mit dem größen Übergewicht an Subjektivität als Idee hervor, in der sich die absolute Vernunft selbst erfüllt und selbst erkennt. Insgesamt bilden nun alle schlechthin gleichzeitigen Potenzen den Systemcharakter der Totalität. Dabei formiert sich eine absolute Totalität als Inbegriff aller Potenzen, sowie eine relative Totalität jeder einzelnen Potenz in der Totalität seiner dreieinigen Struktur von Indifferenz, differenter Realität, differenter Idealität, sofern sie auf das Gesamt der Potenzenreihe bezogen ist. Nun aber entscheidet eine Schellingsche Zentraleinsicht die gesamte Entfaltung der Vernunftwissenschaft in die Grundwissenschaft der Naturwie der Transzendentalphilosophie: Die Aufeinanderfolge der Potenzen in der Explikation des Systems absoluter Totalität ordnet sich nach dem Schema, wonach in der je bestimmten Potenzart die Subjektivität reell wird, abgestuft vom Pol der Materie als jener Potenz in relativer Totalität, da ein Minimum an Subjektivität bei einem Maximum an Objektivität reell ist, bis zum Gegenpol, der Potenz des Kunstwerkes, da ein Maximum an Subjektivität und Idealität (die Idee der Schönheit) bei einem Minimum an Objektivität (materieller Schwerkraft) Wirklichkeit gewinnt, und zwar im schöpferischen Produzieren eines genialen Geistes, der ›wie die Natur‹ schafft. Auf solchen Grundlagen läßt sich der Ausbau des Identitätssystems in seinem vorherrschenden Grundschema überblicken. Für eine Wiedereinholung mag ein skizzierender Ausblick genügen, zumal die Darstellung von 1801 ja nur den ersten Teil als durchgegliederte Zusammenfassung der schon vorgetragenen Naturphilosophie liefert.6 Dieser Systemteil hebt an
6 Die genauere Unterscheidung einer transzendentalphilosophischen, naturphilosophischen und identitätsphilosophischen Begründung der Naturphilosophie ist von W. Neuser: Die Methoden der Naturwissenschaften im Spiegel der frühen Naturphilosophie Schellings, 1997 ebenso angezeigt worden wie deren Verhältnis zur Methodik einer empirischen und experimentellen Bestätigung von Theorie und Spekulation. – Philosophisch ergiebiger ist die Studie von H. Zeltner: Gleichgewicht als Seinsprinzip. Schellings Philosophie des Gleichgewichts, 1961. Hier werden die ver-
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bei einem äußersten Pol, der Materie, und entwickelt die philosophische Naturansicht bis zum Organischen in den Abstufungen von drei Potenzen des realen Alls: der Schwere und Materialität (A 1), dem Licht (A 2) und dem Organismus (A 3). Dieser Ansatz unterstellt: In jeder Naturerscheinung vereinigen sich quantitativ differenziert und potenziert abgestuft alle drei Potenzen von Naturkräften. Folglich ist die Annahme einer toten, unorganischen Materie falsch und der Standpunkt einer mechanistischen, die Kausalität auf das Verhältnis von Ursache und Wirkung präzisierenden Naturerklärung unter mathematischen Gesetzen zwar nicht verkehrt und fruchtlos, wohl aber oberflächlich. Alle Naturphänomene sind im Grunde organisch, und ihr Sinn enthüllt sich, wenn aufgedeckt wird, wie sich die Subjektivität in der Abfolge der objektiven Naturerscheinungen durchringt. Das eröffnet neue Sinngebungen für die Struktur der Materie, für das Phänomen des Magnetismus, für Elektrizität bis zum Organismus von Pflanze und Tier. Dabei kommt es im Umkreis der Schellingschen Naturphilosophie unbestreitbar zu phantastischen Analogien, z.B. wenn die Kohäsion des Magneten – angesichts der zeitgenössischen Unterordnung der Physik unter die Elementarwissenschaft der Chemie – polar so erklärt wird, daß der Stickstoff den Südpol, der Kohlenstoff den Nordpol, das Eisen den Indifferenzpunkt bildet. Und selbstverständlich ist Schellings Naturteleologie vom beschränkten Forschungsstand der zeitgenössischen Naturwissenschaften abhängig, so daß einzelne Konstruktionen wissenschaftlich überholt und künstlich schematisiert erscheinen. Gleichwohl hält Schelling ingeniös eine Naturansicht überhaupt offen, welche, gleichsam Goethisch morphologisierend und wohl auch von Goethes Polaritätsdenken inspiriert, die Formenverwandtschaft der organischen Welt und ihren teleologischen Aufbau systematisch zur Darstellung bringt. Danach ringt sich eben in der Natur die objektive Vernunft von den Potenzen der Materie bis zur Potenz subjektiver Empfindung bei Pflanze und Tier durch, und die Mechanik als defiziente Form der Natur wird in Richtung einer sich selbst organisierenden Natur überschritten, welche die Gesetze der
schiedenen Etappen der Naturphilosophie Schellings bis zum Identitätssystem unter die Leitthese gestellt, Schelling habe Welt und Sein unter dem Prinzip des Gleichgewichts gedacht, und zwar bis in seine Spätphilosophie hinein – das widerstreitet freilich Schellings Erklärung: »Absolute Identität des Subjektiven und Objektiven kann nicht bloßes Gleichgewicht sein« (W IV 88 = SW VII 154).
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Intelligenz selbst realisiert. So kommt Schelling dem ›neuen Denken der Natur‹ unter dem Paradigma von Selbstorganisation und Autopoiesie entgegen.7 Nach demselben Schema ist eine Philosophie des Geistes (und die Geschichte des Bewußtseins) als ideelle Reihe von Potenzen entworfen. In quantitativer Differenzierung der Größe des Übergewichts überwiegt hier im Unterschied zur realen Potenzenreihe der subjektive Faktor in den Abstufungen Anschauung – Verstand – Vernunft. Und das hebt Schellings Vernunftsystem von Spinozas Explikation der einzig-einen Substanz in die Attribute des idealen Denkens und der realen Ausdehnung ab. Während das reale All in den drei Potenzen Materie/Schwere – Licht – Organismus abgestuft erscheint, kommt das ideale All in den Potenzen Moralität/Religion – Wissenschaft – Kunst zur Erscheinung. In dieser idealen Potenzenreihe steigt die Größe beim Übergewicht des Idealen so an, daß am Ende die Potenzidee als solche hervortritt: als urplatonische Idee der Wahrheit und der Schönheit. So zeigt Schellings Darstellung von 1801 ein System der absoluten Vernunftwissenschaft von eindrucksvoller Geschlossenheit, umfassender Totalität und idealistischen Sinngebungen vor. Offen bleiben Grundfragen. Löst die Einrechnung einer quantitativen Differenz wirklich das Problem des Übergangs von der Unendlichkeit zum Endlichen? Kommt es so aus absoluter Einheit zu wirklicher Vielheit? Kann die Wahrheit des Absoluten überhaupt zur Erscheinung der Welt übergehen?
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Die intensive zeitgenössische Diskussion einer romantischen Naturphilosophie im Bannkreis von Schellings Ideen ist dokumentiert durch W. Ch. Zimmerli u.a.(Hg.): ›Fessellos durch die Systeme‹. Frühromantisches Naturdenken im Umfeld von Arnim, Ritter und Schelling, 1997. – Zur Aktualität der geschmähten Naturspekulation Schelling vgl. M.-L. Heuser-Keßler, Die Produktivität der Natur. Schellings Naturphilosophie und das neue Paradigma der Selbstorganisation in den Naturwissenschaften, 1986. – Dabei gewinnt Schellings Naturphilosophie nicht nur archetypische Bedeutung für die neue Theorie der Selbstorganisation, sondern überdies für die Strukturbildung der determinierten, nicht stochastischen Chaostheorie im Sinne von I. Prigogine und B. B. Mandelbrot, für die Zirkularität des Weltprozesses oder für das kosmologische Problem der Initialsingularität. Vgl. R. E. Zimmermann: Freiheit als Grund des Wirklichen – Zur Entwurfsstruktur Schellingscher Ontologie, 1996, 334ff.
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2. Abschnitt: Platonisch-theogonische Vertiefungen 1802 – 1804 1. Kapitel: Der Gott der Philosophie und der Religion (Philosophie und Religion 1804, Einleitung) Für die anschließende Erörterung des Identitätssystems wie für die Eröffnung einer umgestaltenden transzendentalen Theogonie gleichermaßen bedeutsam ist eine kleine, 1804 erschienene Abhandlung Schellings über Philosophie und Religion. Sie hat gerade auch ihrer eigentümlichen Zwischenstellung wegen in der Forschung Diskussionen ausgelöst.8 Hier werden ihre Thesen und Problemkomplexe eingebracht, nicht nur, weil ihre Konzeption durch Fichtes Kommentar kritisch auseinandergenommen worden ist, sondern auch, weil Schelling in dieser Schrift eine religionsphilosophisch vervollständigte Vernunftwissenschaft zur Geltung bringt, welche wiederum Fichtes Wissenschaftslehre ein- und unterordnet.9 Anlaß für diesen erweiterten Systementwurf ist bekanntlich eine Einlassung des Arztes Adam Carl August Eschenmayer (1768-1832), eines Landsmannes und anregenden Anhängers der Naturphilosophie Schellings: Die Philosophie in ihrem Uebergang zur Nichtphilosophie, 1803. In dieser Schrift wird in kritischer Zuwendung zu Schellings Identitätssystem das Verhältnis von Philosophie und Religion unter der Leitthese thematisiert, Philosophie als Vernunfterkenntnis könne die Gegenstände der Religion nicht erfassen, da deren Zugang nicht-philosophisch sei: der Glaube und die Ahnung der
8 Eine knappe, aber klärende Erläuterung des Gedankengangs mit Rücksicht auf den Forschungsstand bietet J. Hennigfeld: Schellings Philosophische Untersuchungen über die Lehre der menschlichen Freiheit, 2001, 23-32. – Die Entwicklungsgeschichtliche Kontroverse können zwei Urteile beleuchten: K. Fischer: Schelling, 1872, 869 bestimmt diese Abhandlung, insoweit sie das beabsichtigte 2. Gespräch im Bruno aufnimmt, als Endpunkt in der Entwicklung des Identitätssystems. H. Zeltner: Schellings philosophische Idee, 1931, 90-91 hält die Schrift für einen Fremdkörper in der Epoche der Identitätsphilosophie und für eine Erweiterung des Problemkreises, der den Rahmen des alten Systems sprengt. 9 Hinsichtlich der Intention dieser Abhandlung ist dem treffenden Urteil R. Lauths zuzustimmen: »Was Schelling jedoch mit keinem Wort erwähnt, ist der wesentliche Zweck von Philosophie und Religion, nämlich seine ihm eigene Philosophie in einer vollendeten wissenschaftlichen Form darzubieten, um der Transzendentalphilosophie gegenüber den Vorrang und die Oberhand zu behalten« (Kann Schellings Philosophie von 1804 als System bestehen?, 1994, 265).
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Seligen. Gesetzt, die Philosophie erkenne und anerkenne darin ihre Schranke, so gehe sie in Fragen der Religion in die Nicht-Philosophie über. Das nimmt Schelling zum Anlaß, Thesen des religiösen Gottesverständnisses für sein Vernunftsystem zu »vindiciren«: Fragen nach dem Verhältnis des Absoluten zur Gottheit, nach der »heiligen Freiheit« Gottes und der menschlichen Freiheit, nach der Wurzel des Bösen in der Welt, nach dem Abfall des Menschen von Gott, nach seiner Erlösung und nach einer Anweisung zum seligen Leben. Dabei würdigt Schelling seinen Gefährten auf dem Wege einer apriorischen Erklärung von Naturphänomenen als »edlen und scharfsinnigen Geist«, ohne ihm, dem späteren Professor der Philosophie und Medizin in Tübingen, ein spekulatives Organ für die Religion und deren Gegenstände zuzubilligen. Immerhin sollte konzediert werden: Eschenmayer war durchaus mit Kant und Fichtes Transzendentalphilosophie vertraut. In einem Brief aus Kirchheim vom 21. Juli 1801 hatte er Schelling vorgehalten: Dessen Identitätsprinzip A=A vergesse Fichtes zweiten Grundsatz -A nicht = A und leide darunter, kein ursprüngliches Positives und Negatives zu besitzen und Zuflucht zu einer quantitativen Differenz zu nehmen. »Ich gestehe, daß ich bisher mit Fichte das A=B in einem ursprünglichen Gegensatz und der Form nach wenigstens ebenso unbedingt annehme als das A=A, etwa wie der Dynamiker, welcher die unendliche Mannigfaltigkeit der Richtungen im Raum schlechthin nicht in Eine Richtung, sondern nur in zwei entgegengesetzte auflösen kann« (FG III 63-64). Was gleichwohl nach Schellings Urteil Eschenmayer abgehe, ist das spekulative Organ für die Idee des Absoluten als wahre Anschauung Gottes. Davon handelt die Einleitung. Sie setzt die These außer Kraft, neben und über dem Absoluten als Prinzip der Vernunfterkenntnis gebe es den Gott religiösen Glaubens und religiöser Andacht. Das widerspreche zunächst offenkundig dem Ansehen eines Absoluten. Ein Absolutes, das den Gott der Religion außer und über sich hätte, wäre nicht absolut. Versteckter sodann aber ist der Grund, der zum Irrtum verleitet, die philosophische Idee vom Absoluten als ein Nicht-Absolutes zu beurteilen. Schelling deckt die Herkunft dieses beirrenden Scheins auf, die übrigens auch Fichte deutlich herausgestellt hatte. Das ist der verstockte Standpunkt der Reflexion. Es sei die Reflexion, welche das Absolute durch Gegensätze zum Nicht-Absoluten negativ vermittelt. Das drücke sich in allen drei Urteilsmodi aus. Kategorisch: das Absolute ist weder Subjekt noch Objekt. Hypothetisch: unter der Bedingung, daß ein Subjekt und Objekt ist, ist das Absolute das gleiche Wesen bei-
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der, nämlich Subjekt-Objekt. Disjunktiv: das Absolute kann entweder als real oder als ideal betrachtet werden. »Alle möglichen Formen, das Absolute auszudrücken, sind doch nur Erscheinungsweisen desselben in der Reflexion« (W IV 15 = SW VI 29). So aber werde die Idee des Absoluten verfehlt; denn deren Idee beeinhalte nicht eine vermittelte, sondern die unmittelbare, nicht eine äußere, sondern die innere Identität des Idealen und Realen. Und sie sei niemals durch vermittelnde Reflexion, sondern allein unmittelbar, nämlich durch das Organ einer intellektuellen Anschauung zugänglich. Das erhärtet den Anspruch Schellings, als erster und einziger ein Vernunftsystem des Absoluten vollendet zu haben. »In allen dogmatischen Systemen, ebenso wie im Criticismus und Idealismus der Wissenschaftslehre ist von der Realität des Absoluten die Rede, die außer und unabhängig von der Idealität wäre. In diesen allen ist daher eine unmittelbare Erkenntnis des Absoluten unmöglich« (W IV 17 = SW VI 27). Diese Ein- und Abschätzung weist nicht nur den dogmatischen Spinozismus, sondern auch den Kantischen Kritizismus und die Wissenschaftslehre als unvollkommene Vernunftlehren vom Absoluten ab. Sie kennten nicht eine unmittelbare Erkenntis des Absoluten im Licht der intellektuellen Anschauung. Nun hatte Kants Kritizismus das Wissen von Gott aus reiner theoretischer Vernunft eingeschränkt, um dem Glauben Platz zu machen, um eine Theologie moral-theologisch auf dem Boden der Moralität zu gründen. Darum gibt es nach Schellings Diktum im Kritizismus keine unmittelbar Erkenntnis und wahre Evidenz des lebendigen Absoluten. Das dafür zu belebende Organ, die intellektuelle Anschauung, findet sich durch Kant kritisch abgewiesen. Kants Einspruch lautet: Unserer endlichmenschlichen Erkenntnis in ihrer Gebundenheit an Zeitlichkeit und Rezeptivität von Sinnesdaten kommt ein intuitus originarius, ein schöpferisches Anschauen nicht zu. Eine Visions- und Gefühlsphilosophie, welche einfach eine nicht-sinnliche Anschauung des unmittelbaren Sehens intelligibler Dinge an sich unterstellt, enthebt sich von vornherein der mühsamen Arbeit einer transzendentalen Analytik und gerät in heillose Schwärmerei. Kants Grenzziehung klärt darüber auf: Wir endliche Vernunftwesen besitzen nicht Gottes schöpferischen Blick. Für uns gibt es keine intellektuelle Anschauung; denn unser Anschauen ist rezeptiv und intuitiv. Und uns kommt kein intuitiver Intellekt zu, denn unser Bewußtsein ist diskursiv. Fichte hingegen führt das Vermögen intellektueller Anschauung wieder ein, freilich so, daß er weder mit Kant streitet noch in Schwärmerei verfällt. »Die intellektuelle An-
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schauung, von welcher die Wissenschaftslehre redet, geht gar nicht auf ein Seyn, sondern auf ein Handeln« (Versuch einer neuen Darstellung; GA I/4, 225). Unbestreitbar sei sich doch der Mensch des Handlungsvollzugs seiner reinen Selbsttätigkeit bewußt, und zwar unmittelbar und nicht sinnlich fühlend. Mithin ist ein unmittelbares Bewußtsein von Selbstsetzung und moralischem Handeln nach dem Gebot des Sittengesetzes »gerade das, was ich intellectuelle Anschauung nenne« (GA I/4, 225). Und das ist für den frühen Fichte der einzig feste Standpunkt für alle Philosophie. In ihm vereinigen sich Spekulation und Sittengesetz, nicht aber die Anschauung vom Gott der Philosophie und vom Gott der Religion.10 Im Unterschied dazu beansprucht Schelling das Vermögen der intellektuellen Anschauung nicht als das unmittelbare geistige Sehen, in welchem das menschliche Vernunftwesen seines ursprünglichen Handelns und seiner Selbstsetzung inne wird. Intellektuelle Anschauung ist das Organ, durch welches das philosophische Ingenium das Ewige und Göttliche einsieht. Solche Art Anschauung sieht Gott in Gott im Lichte unvermittelter Evidenz selber an. Das ereignet sich, wenn sich das sterbliche Auge schließt und das ewige Sehen in uns unverstellt hell wird. Erst auf diesem Wege wird uns die Idee des Absoluten lebendig. »Und alles Philosophiren beginnt und hat begonnen mit der lebendig gewordenen Idee des Absoluten« (W IV 17 = SW VI 27). Die lebendige Idee des Absoluten aber ist in eins und zumal die Gottheit der Philosophie und der Gott der Religion. 2. Kapitel: Platonischer Pantheismus. Zwischenbemerkungen zum Gespräch Bruno oder Über das göttliche und natürliche Princip der Dinge, 1802 Augenscheinlich gehört diese Eschenmayer-Replik zeitlich und sachlich zu den Schriften über das Identitätssystem. Das bezeugt die Berufung auf die
10 Eine umfassende Darstellung der Entwicklungsgeschichte des Begriffs der intellektuellen Anschauung bei Fichte von 1793/94 an und eine genaue Nachkonstruktion ihrer Selbstkonstruktion in WL 1801 bietet J. Stolzenberg: Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung, 1986; auf die versponnene Begriffsgeschichte der intellektuellen Anschauung bei Novalis, Schlegel und Hölderlin, vorzüglich aber bei Schelling weist X. Tilliette hin: Erste Fichte-Rezeption. Mit besonderer Berücksichtigung der intellektuellen Anschauung, 1981. – In Auseinandersetzung mit Tilliette und M. Gueroult hat A. Philonenko: Die intellektuelle Anschauung bei Fichte, 1981 das Problem der intellektuellen Anschauung in seiner kontinuierlichen Ausarbeitung bis zur WL 1804 vorgetragen.
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Idee des Absoluten als unvermittelte Identität des Idealen und Realen im einleitenden Teil. Die Ausarbeitung dieser Grundlage indessen stellt die Philosophie als Vernunft- und Ideenwissenschaft auf einen umgestalteten Grund und Boden. Damit weitet sich der Anspruch, den Idealismus zu vollenden, bis auf den Anfang der abendländischen Philosophie bei Plato aus. Allein diese Umstellung sollte ein Rückblick auf Schellings Dialog Bruno von 1802 erhellen. In der Kunstform des Platonischen Dialogs führt der Hauptunterredner Bruno (Giordano Bruno, der auch von Jacobi in Anspruch genommene Rennaissance-Platoniker im pantheistischen Geist) siegreich die Sache Schellings. Einer der Mitunterredner, Lukian (der die alten Mythen parodierende, moralisch um Wahrheit bemühte Schau- und Prunkredner, zwischen 120 bis 180 n.Chr.), repräsentiert unterliegend die Sache Fichtes. In diesem Gespräch erfährt die Grundlagendiskussion eine Platonische Wende. Das gegensatzlose Eine, aus dessen Indifferenz alle Gegensätze hervorgehen, ist der angeschaute Begriff oder die Idee aller Ideen. Was mythischtheogonisch der ›heilige Abgrund‹ (Chaos) war, aus dem alles hervorgeht und in den alles zurückkehrt, kommt philosophisch als Anfangsgrund der absoluten Idee, der Idee von Wahrheit und Schönheit, ins Offene. So rückt die höchste Potenz in der ideellen Reihe des linear-waagerechten, polaren Identitätssystems platonisch an die höchste Spitze eioner vertikalen Seinsordnung. Und in dieser Perspektive bildet sich ein Ideenkosmos aus, da das Unendliche und das Endliche, das Einzelne und das Ganze im Stande einer ewigen, von Zeitfolge und Kausalnexus losgelösten ab-solvierten Endlichkeit eins sind. So kommt im Bruno Platos Lehre von der Verflechtung (symploke) der Ideen in Analogie zur Einheit des Organischen zum Ausdruck, da die einzelne, endliche Idee als Glied des Ganzen vom Ganzen her verlebendigt ist. Nicht von ungefähr wird in diesem platonisierenden Dialog die Demiurgie des Timaios zum Vorbild einer Weltkonstruktion und Weltentstehungslehre, da ein göttlicher Demiurg die ›Materie‹ unter dem leitenden Vorblick der Ideen aufs Beste und Schönste neidlos, Götterneid und Polytheismus enthoben, zum göttlichen Kunstwerk durchgestaltet. Zudem hat die im Bruno durchgesprochene Kosmoskonstruktion Platos Theorie der Weltseele ebenso integriert wie die Mathematisierung der Kosmogonie durch den Pythagoräer Plato (mithilfe der Keplerschen Gesetze). Überdies werden die Gestirne als sichtbar gewordene Götter angesehen und die so entstandene Körperwelt überhaupt als sichtbar gewordene Ideenwelt gedeutet. Damit
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tritt in Schellings Bruno-Gespräch die Naturphilosophie, wie sie in ihrer reellen Potenzenreihe als eine spezielle Vernunftwissenschaft durchkonstruiert war, hinter eine Platonische, dem Timaios abgesehene Weltkonstruktion zurück.11 Das alles scheint eine hyperbolische, die Schranken des Bewußtseins weit überfliegende Schwärmerei zu sein. Schellings früher Timaios-Kommentar hat dagegen den gegen die hypostasierten Ideen des »erhabenen Plato« gerichteten Begriff der Schwärmerei dazu verwendet, Plato vor diesem Vorwurf in Schutz zu nehmen. Bei Plato habe es hypostasierte Ideen substantieller Urbilder einzelner Gegenstände gar nicht gegeben. Lukian/Fichte aber wiederholt dieses Bedenken. »Allein wie du zu dem Bewußtseyn zurückkehrtest, nachdem du es soweit überflogen, verlangt mich zu sehen.« Und Lukian fährt fort: Besinnt sich die Philosophie darauf, daß wir uns doch der absoluten Einheit als solcher bewußt geworden sind, dann hört jene Einheit auf, »Princip des Wissens zu seyn, und eben dadurch auch, wie mir scheint, Princip der Philosophie, welche die Wissenschaft des Wissens ist« (W III 148 = SW IV 252). Die Entgegenung Brunos/Schellings läuft darauf hinaus: Fichtes absolutes Wissen sei ein untergeordnetes Prinzip von bloß relativer Absolutheit. Dieses absolute Wissen sei nicht das Absolute. In Wahrheit aber drücke das Wissensprinzip dieselbe Einheit aus, die das Absolute ist. Es komme eben darauf an, diese Einheit in intellektueller Anschauung zu ersehen und das sterbliche Auge von der Relation auf das Bewußtsein freizuhalten. Das rennt nun bei Lukian offene Türen ein. »Hierüber möchten wir uns nun wohl verstehen, o Freund, denn auch wir haben die Philosophie an das Bewußtseyn zurückgewiesen nur der Einsicht wegen, daß jene Gegensätze des Wissens und Seyns oder wie wir sie sonst ausdrücken wollen, außerhalb des Bewußtseins keine Wahrheit haben« (W III 153 = SW IV 257). Trotz dieses Verständigungsangebots fordert der Noch-Freund Lukian/Fichte von Schellings
11 Daß und wie Schelling schon früh mit Platos Kosmogonie vertraut wurde, dokumentiert der Timaios-Kommentar des 18jährigen, gegen Orthodoxie und Despotismus aufgebrachten Studenten Schelling im theologischen Klima des Tübinger Stifts: die gewaltsame Interpretation des Timaios und der Platonischen Weltauslegung überhaupt aus dem Standpunkte der Reinholdschen Philosophie, die nach dem Übergang Schellings vom Vorläufer Reinhold zum Vollender Fichte obsolet geworden ist, vgl. F. W. J. Schelling: Timäus (1794), 1994. – Dazu M. Baum, Die Anfänge der Schellingschen Naturphilosophie, 2000.
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pantheistischem Platonismus Aufklärung des mysterium magnum, wie die Kluft (chorismos) zwischen Ideenwelt und Sinnenwelt, zwischen dem angeschauten Ewigen und dem zeit-kausal gebundenen Bewußtsein aus dem All-Einen entstehe. »Allein, o Freund, daß jene Trennung in Ansehung der höchsten Idee ohne Wahrheit sey, darüber sind wir zwar einig, allein eben wie jenes Heraustreten aus dem Ewigen, mit dem das Bewußtseyn verknüpft ist, selbst nicht nur als möglich, sondern als nothwendig eingesehen werden könne, dieses hast du noch keineswegs dargethan, sondern völlig unberührt gelassen«, und dem wird von Bruno zugestimmt: »Mit Recht forderst du, daß ich hiervon rede« (W III 153 = SW IV 257). Solche Anfrage läßt sich im Rahmen dieses Platonischen Pantheismus platonisch formulieren. Wodurch fallen der eine Ideenkosmos und die raum-zeitliche Sinnenwelt auseinander? Wie kommt die Seele aus ihrem Gewahren der ewigen Ideen zum sinnlichen Wahrnehmen der endlich-vergänglichen Erscheinungen herab? Hier wird im Bruno-Gespräch auch ein Platonischer Bescheid eingeflochten. Er wird als Kundgebung geheimster Mysterien ausgegeben und ist Platos Beweis für die Präexistenz der Seele (im Anamnesis-Beweis des Phaidon) entnommen. Sonach ist die Seele im Unterschied zum Körper unwandelbar, unteilbar, eingestaltig und darum den Göttlichen, den ›Unsterblichen‹ am ähnlichsten. Der Körper dagegen ist vielgestaltig, teilbar, immerfort veränderlich. Nun nimmt die Seele die Dinge leibhaft als Abbilder wahr, die sich an wiedererinnerte Urbilder angleichen. Folglich muß der Seele Präexistenz zukommen, da sie eine unmittelbare Anschauung der Ideen und Urbilder zwar besessen, aber durch ihre Verleiblichung in der Wiedergeburt verloren haben. Nach Bruno/Schelling ist der Platonische Anfang des Idealismus eingetaucht in die Weisheit der Mysterien, da die Kunde der Mysterien in der Sophia der Philosophie auftaucht. »Die Lehre der Mysterien ist nichts anderes als die erhabenste, heiligste und vortrefflichste, aus dem äußersten Alterthum überlieferte Philosophie« (W III 130 = SW IV 234). Lukians/Fichtes Frage nach der Absonderung und Trennung der zeiträumlichen, kausalbedingten vergänglichen Dinge als Frage nach dem Ursprung des wirklichen, endlichen Bewußtseins aus der Allvernunft ist aber nicht schon durch die geheiligte Antwort der Mysterien und die Konsequenzen der Platonischen Anamnesis-Lehre beantwortet. Sie ist im Horizont eines Pantheismus auf dem Boden der Indifferenz zu lösen. Denn das aufgeregte Problem, wie und wodurch das Bewußtsein der Endlichkeit aus dem Ewigen hervortritt, bildet nur einen Sonderfall der Frage nach der Ab-
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kunft des Endlichen überhaupt aus dem Unendlichen. Nun sind in der höchsten Einheit das absolut Unendliche und Endliche der Sache nach vollkommen eins. Insofern ist im Ewigen das Endliche nicht als endlich seiend in relativer Verschiedenheit zum Unendlichen enthalten. Das Endliche ist reell der Seinsvollkommenheit nach im Reiche des Ewigen dem Unendlichen völlig gleich. Gleichwohl hört das Endliche ideell dem Begriffe nach nicht auf, endlich zu sein. Und so ist doch, wenn auch ungetrennt von der Indifferenz, eine Differenz enthalten. Und das ist nun nicht mehr ein quantitativer Größenunterschied als Übergewicht des je Idealen und Realen, sondern eine Differenz des Reellen und Ideellen im Ideenkosmos, die jedes Endliche betrifft. Diese Differenz ist in der absoluten Einheit »so enthalten, daß für sich selbst jedes aus ihr sich ein eigenes Leben nehmen, und, ideell zwar, in ein unterschiedenes Daseyn übergehen kann« (W III 154 = SW IV 258). Also hat die Idee des Endlichen, wenngleich reell vom absolut Unendlichen ununterschieden, die Wesensmächtigkeit der relativen Differenz des Idealen und Realen, und als organischer Teil des lebendigen Ganzen besitzt sie die Lebensmacht, »erstens sich selbst und seine Zeit, hiernach auch die Wirklichkeit aller Dinge« zu setzen (W III 155 = SW IV 259). So klärt Schellings Darstellung eines Platonischen Pantheismus als vollendete Vernunftwissenschaft das große Geheimnis auf, wie das Endliche aus der Einheit des göttlichen Lebens heraustritt und wie sich das Bewußtseinsleben vom Leben des Absoluten wirklich absondern kann. So also erweitert sich der Vollendungsanspruch des Identitätssystems zur Aussicht, philosophische Menschheitsfragen gelöst zu haben, die seit Plato den denkenden Menschen in Unruhe versetzen. 3. Kapitel: »Transzendentale Theogonie«. Geschichtliche und systematische Erörterung Die Selbsterzeugung und Selbstrepräsentation des göttlichen Uranfangs ist in Philosophie und Religion mit der Aufgabenstellung verbunden, die »Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten und ihr Verhältniß zu ihm« zu erhellen (W IV 18 = SW VI 28). Die Eigenart dieser Erörterung und Ortsanweisung spricht sich in der Spezifizierung der zuständigen Wissensart aus. »Dieses ist die wahre transscendentale Theogonie« (W IV 25 = SW VI 35). Eine problemoffene Gegenüberstellung von Schellings Identitätssystem und Fichtes Jenaer Grundlage kann durch eine Interpretation dieser Formel die zweideutige Einordnung und Verwandlung des Prinzips von Tathand-
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lung und Freiheit in Schellings absoluter Vernunftwissenschaft, dessen Anfangsgrund sich theogonisch entfaltet, sichtbar machen. Diese Themenstellung erregt zwei Vorfragen. Worin besteht das Vorverständnis von Theogonie? Worin liegt, vorläufig gesagt, die Eigenart einer transzendentalen Theogonie? Nun unterscheidet sich die auf dem umgestalteten Grund und Boden des Identitätssystems bedachte Theogonie von der mythisch poetischen Theogonie der Alten Welt ausdrücklich dadurch, daß sie das, was jene sinnlich in Bildern von der Zeugung ausdrückte, philosophisch im Urbild und Gegenbild der Idee offenbar macht. Die Vorstellung der göttlichen Zeugung beherrscht in der Tat mythische Theogonien. Das bezeugt deren einziges vollständig erhaltenes Werk, die Theogonie Hesiods. Da verkündet der von den Musen in das, was einst war, eingeweihte Dichter vom Urgrund des Chaos und vom Gott der Zeugung, Eros, von der heiligen Hochzeit von Gaia und Uranos, von der Erzeugung und Fortpflanzung des Göttergeschlechts und vom grausigen Sukzessionsmythos in der Abfolge Uranos – Kronos – Zeus, da am Ende Zeus, der Vater der Götter und Menschen, die Herrschaft über Himmel und Erde gewann. Von der unendlichen Gebärung der Geburt des Ewigen Wesens spricht übrigens auch Jacob Böhme, auf den Schelling durch den befreundetem Theosophen und Arzt Franz Baader hingewiesen wurde. Aber in Philosophie und Religion wird der Prozeß der Selbstgegenwärtigung Gottes nicht in Bildern der Zeugung und Gebärung versinnbildlicht, sondern – in Auseinandersetzung mit platonistischer Kosmogonie – vom schlechthin Idealen aus folgerichtig zur Vollendung gebracht. Darin werden sowohl die demiurgische Kosmogonie des Timaios wie die emanative Theogonie der neuplatonischen Schulen einer Überprüfung unterzogen, wobei am Ende die Endabsicht der Geschichte, die vollendete Offenbarung Gottes, aber auch Platos Glaube an die Neidlosigkeit der Götter spekulativ klar werden (vgl. W IV 53 = SW VI 63). Die spezifische Differenz der Schellingschen Theogonie besteht in seiner Theorie des Abfalls von Gott, dessen Verwirklichung der Selbständigkeit, Freiheit und Tathandlung der Ichheit geschuldet ist. Hier wird Fichtes Grundlegung des absoluten Subjekts mit vernichtendem Lob und spekulativer Umdeutung der Schellingschen Theogonie ein- und untergeordnet. »Fichte sagt: die Ichheit ist nur ihre eigene That, ihr eigens Handeln, sie ist nichts abgesehen von diesem Handeln, wird nur für sich selbst, nicht an sich selbst. Bestimmter konnte der Grund der ganzen Endlichkeit als ein nicht im Absoluten, sondern lediglich in ihr selbst liegender wohl nicht ausgedrückt werden« (W IV 33 = SW VI 43). Im Lichte dieser Vorklärung ist nun zunächst die ab-
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solut idealistische Theogonie auszufalten, um sodann die Wende zur Fichteschen Tathandlung und deren Umwertung zu erörtern. Schellings Theogonie hat zum Ur- und Anfangsgrund den Gott der Philosophen in der Absolutheit eines schlechthin Idealen. Dessen Selbsterzeugung geschieht durch Umwandlung der reinen Idealität in Realität. Solche Umwandlung ist der ewige Prozeß einer stillen Folge, in welcher das Absolute sich im Gegenbild des Ideenkosmos in Form einer Selbsterkenntnis repräsentiert. »Das selbstständige sich-selbst-Erkennen des schlechthin Idealen ist eine ewige Umwandlung der reinen Idealität in Realität: in diesem und keinem andern Sinne werden wir nun in der Folge von jener Selbstrepräsentation des Absoluten handeln« (W IV 24 = SW VI 34). Die so angelegte Theogonie als Selbstoffenbarung des Gottes läßt sich durch Analyse ihrer Hauptmomente durchsichtig machen. Der Urgrund Gottes ist dabei präsent als das schlechthin Ideale. Das ist das Absolute der verabsolutierten intellektuellen Anschauung, anders formuliert: das Absolute, dem sein Sein allein durch seinen Begriff zukommt. Das verändert offenkundig die Grundstellung des Absoluten als unvermittelte Indifferenz des Idealen und Realen, wie sie noch die Einleitung in Philosophie und Religion eingeführt hatte, und zwar nicht nur terminologisch. Nun ist zu bedenken: Der Anfang beim schlechthin Idealen ist Erbe des Bruno-Dialogs, da die absolute Vernunftidee als »angeschauter Begriff« zur Darstellung kam; und diese Fassung des Gottes eröffnet die Aussicht, den ewigen theogonischen Prozeß einer Realisierung des schlechthin Idealen evident zu machen. Das leistet die Ausfaltung der absoluten Einheit an ihr selbst, die freilich keine Vielheit als Nicht-Einheit impliziert, sondern eine Mehrheit von Momenten in der zeitlosen Folge der Selbstoffenbarung Gottes in sich hat. So gehört zum theogonischen Prozeß außer dem Ausgang des schlechthin Idealen die ewige Form einer Selbstrepräsentation, die so vor sich geht, daß das schlechthin Ideale, ohne aus seiner Idealität herauszutreten, auch als ein Reales sei. Dabei ist festzuhalten: das Absolute geht in der Form des Erkennens nicht aus sich heraus; es bleibt, weil es sich repräsentiert, bei sich. Die erfolgende Umwandlung des Idealen in das Reale ist eben keine Tat hybrider Freiheit, die sich von Gott losreißt, sondern stille und ruhige Folge. Natürlich ist bei diesem Folgeverhältnis von der Ansicht einer Abfolge als Nacheinander in der Zeit ebenso abzusehen wie von der Auseinanderfolge von Wirkung und Ursache. Das Erfolgen der formalen Vermittlungskraft der Erkenntnisform ist auch kein entschlossenes Her-
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ausgehen ins absolute Anderssein, sondern ein stilles Übergehen des absoluten Anfangsgrundes in sein reales Gegenbild. Das ins Reale umgewandelte Ideale und Gegen-Bildliche ist, platonisch ausgelegt, der Kosmos der Ideen. Als Gegenbild bleibt dieses Reich im Medium des Ewigen und ist der Zeit, der Vergänglichkeit und aller Nichtigkeit enthoben. Das Universum der Idee ist eben nicht eine abkünftige Wahrnehmungswelt, sondern eine reine intellektuale Welt. Soweit sind die Strukturmomente des ewigen theogonischen Prozesses herausgegliedert und zur Evidenz gebracht: das schlechthin Ideale als unmittelbarer Anfang und Grund, die ewige Form der Selbst-Repräsentation als ein Vermittelndes und das Gegenbild des ins Reale verwandelten Kosmos der Ideen. »Die Grundwahrheit ist: daß kein Reales an sich, sondern nur ein durch Ideales bestimmtes Reales, das Ideale also als schlechthin erstes sey. So gewiß es also das Erste ist, so gewiß ist die Form der Bestimmheit des Realen durch das Ideale das zweyte, so wie das Reale selbst das Dritte« (W IV 20 = SW VI 30). Angesichts dieses Ergebnisses aber bleibt noch das Ausgangsproblem offen, welches denn der Grund für die Abkunft der endlichen Dinge in unserer raum-zeitlichen Sinnenwelt ist, die wir doch objektiv erfahren. Wie ist das theogonisch zu ergründen, wenn doch das göttlich Ewige das Absolute ist, außer dem nichts wahrhaft seiend ist? Dieses Problem löst Schellings transzendentale Theogonie in Konkurrenz mit der emanativen und demiurgischen Theogonie platonistischer Einschulungen. Die in den Schulen des Neuplatonismus wirkungsgeschichtlich machtvoll entwickelte Theogonie ist am Ende eine gefährliche Mißdeutung. Sie konstruieren ein System, da das Absolute, Gott oder das schlechthin einfache Eine (Hen), an Licht- und Einigungskraft überfließt und sich stetig vom Ur- und Lichtquell entfernend abfließt, bis es in der ›Materie‹, dem Bezirk der abkünftigen Dinge, einheits- und darum seinslos erlischt. Das ist auch in den Augen Schellings eine bemerkenswerte Lösung. Einerseits ist der Neuplatonismus als Systementfaltung des einfachhin Einen vom Licht des Idealismus erleuchtet, dergestalt, daß er die Materie und die materielle Welt als ein nichtiges, als das schlechthin einheitslose, in Vielheit zerstiebende Nichts versteht und daß er ein reales Verhältnis des Materialen zum geistigen Lichte Gottes nicht zuläßt. Andererseits wird die neuplatonische Urfrage »Woher das Böse?« drückend. Bleibt nämlich alles Seiende in die Ausflüsse des göttlichen Lichts einbehalten und ist das Böse in vielfacher Weise seiend, wird dann nicht Gott zum Urheber des Bösen? Gibt es andererseits das Böse manichäisch als eigenmächtiges dunkles Prinzip im Wider-
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streit mit dem Guten, wie läßt sich dieser Dualismus mit dem theogonischen Prozeß der Einheit vereinbaren? Schellings Negation der neuplatonisch-emanativen Theogonie hat einen positiven Ertrag. Wird die Abkunft der an sich nichtigen Dinge durch Emanation des Hen als kontinuierliches Überfließen in stetiger Verminderung von Sein und Licht grundlos und für das Problem des Bösen zur Sackgasse, dann ist die Herkunft der abkünftigen Dinge theogonisch anders zu bedenken: als Entfernung im Modus von Abbruch und Sprung. Der roheste Versuch solchen Abbruchs ist nun aus der Sicht einer transzendentalen Theogonie die Demiurgie des Timaios. Schelling kennzeichnet diese theogonische Erzeugung der materiellen Welt verkürzend so. Sie sei der roheste Versuch einer Kosmogonie, welche »der Gottheit eine Materie, einen regel- und ordnungslosen Stoff unterlegt, der durch die von ihr ausgehende Wirkung mit den Urbildern der Dinge geschwängert, diese gebirt und eine gesetzmäßige Verfassung erhält« (W IV 26 = SW VI 36). Solche Darstellung im Blick auf das Wirken der Vernunftideen mit Metaphern der Zeugung und Geburt erscheint nun als »Vermählung des platonischen Intellektualismus mit den roheren kosmogonischen Begriffen« (W IV 26 = SW VI 36). Eine solche Mixtur »Plato, dem Haupt und Vater der wahren Philosophie« zuzuschreiben, heißt, seinen Namen entweihen. Schelling, der eben noch zur Zeit des Bruno-Dialogs die Herleitung des Kosmos als des demiurgischen Kunstwerks der besten aller möglichen Welten gefeiert hatte, erklärt plötzlich den Timaios für unecht und für ein unplatonisches Machwerk, nicht aus philologischen, sondern aus taktischen Gründen, um die Sicht auf eine neue transzendentale Theogonie freizumachen. »Insbesondere was die gewöhnliche Darstellung der Platonischen Lehre über diesen Punkt betrifft, welcher zufolge auch Plato jene von Gott unabhängige Materie als wirklich voraussetzt, die erst durch den göttlichen Verstand zur Ordnung und Harmonie des sichtbaren Universum gebracht worden, so ist unbegreiflich, wie sich diese Darstellung bis auf die neuesten Zeiten hat erhalten können« (W IV 102 = SW VII 192). Die Abgrenzungen von der emanativen wie der demiurgischen Theogonie grenzen das Abkunftproblem in der Wahrnehmungswelt ihrer Wirklichkeit auf das Prinzip eines vollkommmenen Abbrechens durch einen Sprung im Sinne unseres Abfalls von Gott ein. »Vom Absoluten zum Wirklichen gibt es keinen stetigen Uebergang, der Ursprung der Sinnenwelt ist nur als ein vollkommenes Abbrechen von der Absolutheit, durch einen Sprung, denkbar« (W IV 28 = SW VI 38). Also geschieht ein Prozeß
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der Entfernung nicht als stetige Vergrößerung der Distanz bzw. als quantitative Verminderung der Nähe, sondern als Bruch und qualitativer Sprung. Dieses totale Abbrechen wird, auf die Selbst-Repräsentation des Absoluten angewendet, als Abfall von Gott gedeutet. Nun ist die Geschichte vom Abfall als hybrider, titanischer Aufstand gegen die Götter altes mythisches Erzählgut. Und christlich ist der Abfall von Gott als Sündenfall im Schöpfungsbericht der Genesis wie in der Creatio-Metaphysik tief und tiefsinnig verwurzelt. Aber davon nimmt Schellings transzendentale Theogonie Abstand. Der Terminus Abfall und Sündenfall hat zum Mißverständnis geführt, Schellings Einsetzung des Abfalls versuche, die Glaubenslehre vom Sündenfall einschließlich der Erbsündenlehre im genauen christlichen Sinne in ein Vernunftsystem zu integrieren, obwohl Schelling offenkundig nicht auf dem Boden der jüdisch-christlichen Schöpfungslehre steht und sich sogar die Gefahr abzeichnet, die christliche Lehre im Spannungsfeld von Pantheismus und Theismus zu verunstalten. Darum hat Schelling den Terminus Abfall als unbequem und überflüssig später für den wissenschaftlichen Vortrag fallen lassen (vgl. den Brief Schellings an Windischmann vom 5. September 1805).12 Aufgegeben wird im Grunde auch die Platonische Methexis-Lehre, wonach die endlichen Dinge der Sinnenwelt zur Ideenwelt im Verhältnis der Teilhabe stehen. Zugleich ist das Teilungs- und Disjunktionsprinzip des Identitätssystems, die quantitative Differenz, überholt. Nicht stetige quantitative Differenzierung, sondern Abbruch, Sprung und plötzlicher Abfall werden als Grund für die Abkunft der endlichen Dinge in ihrer Nichtigkeit eingesetzt. Und diese Lösung versperrt auch den Weg einer spekulativen Theogonie, welche die Entstehung der raum-zeitlichen Natur als Herausgehen des Absoluten an sich durch einen freien Entschluß, ins absolute Anderssein überzugehen, mißdeutet.
12 Zur Sache vgl. H. Wimmershoff: Die Lehre vom Sündenfall in der Philosophie Schellings, Baaders und Friedrich Schlegels, 1934. – Dazu die Kontroverse L. van Bladel: Die Funktion der Abfallslehre in der Gesamtbewegung der Schellingschen Philosophie, 1965 mit H. Fuhrmans: Schellings Philosophie der Weltalter, 1954. Während Fuhrmans die Abfallslehre eliminiert, um seine Interpretationslinie eines explikativen Theismus durchzuhalten, hebt van Bladel die Schlüsselfunktion der Abfallstheorie sogar für die Gesamtentwicklung der Schellingschen Philosophie heraus.
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Die wahre spekulative Lösung des theogonischen Mysteriums, wie unsere Welt gegenständlicher Dinge geboren wurde und wie deren Verhältnis zum Absoluten sich darstellt, trägt zweierlei vor: die notwendige Bedingung für die Möglichkeit und die notwendige Bedingung für die Wirklichkeit eines Abfalls vom Absoluten. Das ist die absolute bzw. endliche Freiheit. Dabei kommt die Möglichkeit einer autonomen, in sich selbst stehenden Freiheit innerhalb der theogonischen Gegenbildung des Absoluten auf. »Das ausschließende eigenthümliche der Absolutheit ist, daß sie ihrem Gegenbild mit dem Wesen von ihr selbst auch die Selbstständigkeit verleiht. Dieses insich-selbst-Sein, diese eigentliche und wahre Realität des ersten Angeschauten, ist Freiheit« (W IV 29 = SW VI 39). Dank dieser Freiheit kommt das Absolute zur Möglichkeit und Macht, sich als Gegenbild, als das andere Absolute in seiner Selbstheit zu ergreifen. Nun aber gehört solche Freiheit unabtrennlich zur Selbstobjektivierung des Absoluten und bleibt in diesem Verhältnis im Modus der Notwendigkeit. »Es ist absolut = frei nur in der absoluten Nothwendigkeit« (W IV 30 = SW VI 40). Freiheit als Grund für die Wirklichkeit des Abfalls vom Absoluten kann sonach nicht von der Art solcher Wesensnotwendigkeit sein. Folglich ist eine Freiheitstat zu suchen, die nicht im Absoluten, sondern im Abgefallenen liegt und vom Absoluten getrennt ist. Mithin ist zu scheiden: »Der Grund der Möglichkeit des Abfalls liegt in der Freiheit und inwiefern diese durch die Einbildung des absolutIdealen ins Reale gesetzt ist, allerdings in der Form, und dadurch im Absoluten; der Grund der Wirklichkeit aber einzig im Abgefallenen selbst« (W IV 30 = SW VI 40). Das sieht logisch wie ein fehlerhafter Zirkel aus. Der Abfall vom Absoluten setzt die Wirksamkeit einer nicht-absoluten, endlichen Freiheit voraus – die Tat endlicher Freiheit setzt ein Abgefallenes, mithin Trennung und Abfall voraus. Und das hört sich geschichtlich doch wie eine Wiederholung der schon verworfenen emanativen Theogonie des Ausfließens an: »Von jener ersten Selbstständigkeit des Gegenbildes fließt aus, was in der Erscheinungswelt als Freiheit wieder auftritt« (W IV 29 = SW VI 39). Am Ende weist Schelling alle Erklärungen ab, indem er das Ereignis des Abfalls zu einem Unerklärlichen erklärt; denn es geschehe nicht in einem faßbaren Moment der Zeit, es sei ewig und außer der Zeit und darum bar jeder Erklärung eines Vor und Nach, einer Folge von Ursache und Wirkung. »Der Abfall kann auch nicht (was man so nennt) erklärt werden, denn er ist absolut und kommt aus der Absolutheit« (W IV 32 = SW VI 42).
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Wohl auszudeuten aber sei der Abfall der Seele wie ihre Strafe für diesen ›Sündenfall‹. Die dreifache Strafe bestehe darin, das Nichts der sinnlichen Dinge produzieren zu müssen, ins Endliche verwickelt zu sein und ein unmittelbares Verhältnis zum Absoluten zu unterbrechen. Ist das Reale von der Seinseinheit mit der Idealität getrennt, dann muß es nichthaft, als Nicht-Absolutes, als ein Bedingtes und als Sinnliches erscheinen. Die Seele, welche sich in diesem Nichtigen objektiviert, schaut sich selbst in einem bloßen Scheinbilde an. Und die scheinhaften endlichen Dinge können, verwickelt in einen unendlichen Kausalnexus, nicht mehr unmittelbar auf das Absolute zurückgeführt werden. Die Selbständigkeit und Freiheit der abgefallenen Seele produziert also durch und für sich selbst das Nichts einer sinnlichen Welt. An dieser Stelle nun ordnet Schelling Fichtes Prinzip der Tathandlung ein. »Klarer hat wohl auf dieses Verhältniß von allen neueren Philosophen keiner gedeutet als Fichte, wenn er das Princip des endlichen Bewußtseyns nicht in einer That-Sache, sondern in einer That-Handlung gesetzt will« (W IV 32 = SW VI 42). Dabei akzentuiert Schelling Fichtes Ichheit als bloß für sich seiendes Wesen, das nichts anderes ist als ein Sich-Setzen, da Handlung und deren Produkt, die Tat, ein und dasselbe sind: das Ich=Ich ohne jedes Verhältnis zu Gott oder dem Absoluten. Solch reflexiver, von Gott losgerissener Freiheitsvollzug als Grund der ganzen nicht-ichhaften Endlichkeit gegenständlicher Dinge drückt den transzendentalen Sündenfall unübertrefflich aus. »Fichte sagt: die Ichheit ist ihre eigene That, ihr eigenes Handeln, sie ist nichts abgesehen von diesem Handeln und nur für sich selbst, nicht an sich selbst. Bestimmter konnte der Grund der ganzen Endlichkeit als ein nicht im Absoluten, sondern lediglich in ihr selbst liegender wohl nicht ausgedrückt werden« (W IV 33 = SW VI 43). Nun ist schwerlich zu übersehen, wie tiefgreifend sich Fichtes Freiheitsund Ich-Prinzip in diesem Kontext verwandelt. Die Jenaer Grundlage beginnt mit der schlechthin unbedingten Freiheit des absoluten Subjekts, da Handeln und das Ergebnis der Handlung, die Tat, ein und dasselbe sind, und endet mit dem freien Streben, alles Vernunftlose, das Nicht-Ichhafte und Unfreie der entgegengestellten Welt, der Vernunft anzugleichen. Wie eben die Französische Revolution die Idee der Freiheit im Gebiete des Politischen, so hat Fichte die Tat des Freiheit im Reiche des Geistes gestiftet. Nach Friedrich Schlegels berühmtem Wort seien die Französische Revolution und Fichtes Wissenschaftslehre die großen Tendenzen des Zeitalters. In den Augen Schellings aber ist solche Eigenmächtigkeit der Freiheit Ver-
2. Abschnitt: Platonisch-theogonische Vertiefungen
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fall der göttlichen Freiheit als Sündenfall. So kennzeichnet er die ›Tathandlung‹ paradoxerweise als unbewußt eingesetztes Prinzip des Abfalls und Fichtes Freiheitsdoktrin als eine »Philosophie, welche das Princip des Sündenfalls in der höchsten Allgemeinheit ausgesprochen, wenn auch unbewußt, zu ihrem eigenen Princip gemacht« (W IV 33 = SW VI 43). Scharf zugespitzt: Im Zuge der transzendentalen Theogonie wird die Tathandlung Fichtes als Prinzip des Abfalls zum Urakt der Unfreiheit. Durch ihre ichhafte Verwirklichung verendlicht sich die absolute Freiheit derart, daß deren Wesenseinheit von Notwendigkeit und Freiheit auseinanderfällt und die Eigenmächtigkeit des abgefallenen Ich ihre mögliche Göttlichkeit abstößt, um sich unfrei an die Welt zu verlieren. Die Freiheit des Ich erscheint so als Ausgang eines Freiheitsverfalls, in dem das Ich verleiblicht an das Endliche so gebunden wird, daß der leibhafte Mensch unfähig wird, sich selbst aus der Unfreiheit zu lösen und seine göttliche Freiheit und Wesensnotwendigkeit wiederzugewinnen. Das aber schließt eine positive Sinngebung des Sündenfalls menschlicher Freiheit nicht aus. Theogonisch erklärt Schelling den Abfall zum Mittel, um die Endabsicht der Geschichte zu verwirklichen und um zur vollendeten Offenbarung Gottes zu gelangen.13 So wird der Freiheitsverfall des Menschen in seiner Leib- und Weltgebundenheit als ›Opfer‹ gerechtfertigt. Gott opfert sein Gegenbild, damit die Idee fähig werde, als unabhängig existierend wieder in der Absolutheit zu sein. »Die Vernunft und die Ichheit in ihrer wahren Absolutheit, sind ein und dasselbe, und ist diese der Punkt des höchsten für-sich-selbst-Seyns des Abgebildeten, so ist sie zugleich der Punkt, wo in der gefallenen Welt selbst wieder die urbildliche sich herstellt, jene überirdischen Mächte, die Ideen, versöhnt werden, in Wissenschaft, Kunst und sittlichem Thun der Menschen sich herablassen in die Zeitlichkeit. Die große Absicht des Universum und seiner Geschichte ist keine ande-
13 Darauf hat L. van Bladel seine Auslegung abgestellt: Schellings Theogonie des Abfalls komme eine Schlüsselfunktion im Durchblick durch die Gesamtbewegung seines Systemdenkens zu. Die ontologische Aufhebung der ursprünglichen Indifferenz im Bewußtwerden der raum-zeitlichen Welt sei notwendig, damit die Indifferenz als solche bewußt wiederhergestellt werden könne. Das gelte nicht nur für die Wende vom horizontalen Ideal-Realismus zum vertikalen Real-Idealismus der 2. Periode (1802-1821), sondern auch für die letzte Periode (1821-1854), da es durch den Abfall (Ekstasis) zum Bewußtsein der vollendeten Selbstverwirklichung der negativen und positiven Vernunft kommt.
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re als die vollendete Versöhnung und seine Auflösung in die Absolutheit« (W IV 33 = SW VI 43). Damit ist Fichtes moralisch-praktische Freiheit als Potenz in eine ideale Reihe des Identitätssystems eingerückt und die Selbstmacht der Freiheit als Umschlagspunkt gedeutet, da die gefallene Welt wieder auf den Weg der Versöhnung gebracht und die göttliche Absicht der Weltgeschichte erfüllt werde. Mit dieser Sinngebung des Abfalls schließt die so beziehungsreiche Streitschrift Philosophie und Religion gleichsam christlich theogonisch ab. »Indem Gott, kraft der ewigen Nothwendigkeit seiner Natur, dem Angeschauten die Selbstheit verleiht, gibt er es selbst dahin in die Endlichkeit, und opfert es gleichsam, damit die Ideen, welche in ihm ohne selbstgegebenes Leben waren, ins Leben gerufen, eben dadurch aber fähig werden, als unabhängig existierende wieder in der Absolutheit zu seyn« (W IV 53 = SW VI 63). Unübersehbar markiert Philosophie und Religion einen Wendepunkt, da das Identitätssystem zurückgelassen wird und die Odyssee eines Denkens in der Weite der Freiheitsschrift und Weltalterlehre beginnt.14
14 So A. Denker: Three Men standing over a Dead Dog, 2000 – drei große Systemdenker, die auf dreifache Weise den Geist Spinozas wiedererweckten, von dem man zuvor ›wie von einem toten Hunde‹ redete. – Strittig ist, ob sich Philosophie und Religion zum großen Entwurf der Freiheitsschrift von 1809 öffne oder sich ihm verweigere. Einerseits ist deutlich: Die Kritik der Emanationslehre, die Frage nach der Herkunft des Bösen, das Verhältnis der absoluten und menschlichen Freiheit sind in der Freiheitsschrift aufgenommen. Andererseits sind die Auffassung der menschlichen Freiheit als Vermögen des Guten und Bösen, die Konzeption einer Grund-Existenzontologie, der oberste Grundsatz »Urseyn ist Wille« in der Spannung von Eigen- und Universalwille noch nicht im Blick. Daher hat R. F. Brown die Frage: Is much of Schelling’s Freiheitsschrift already present in his Philosophie and Religion?, 1996 negativ beantwortet und beide Schriften grundsätzlich getrennt, übrigens auch darum, weil die Freiheitsschrift eine Auseinandersetzung mit Spinoza und Leibniz, Philosophie und Religion die Auseinandersetzung mit Plato und dem Neuplatonismus thematisch verfolgt.
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3. Abschnitt: Einsprüche: Das Identitätssystem und seine Weiterungen. Überprüfung der Schellingkritik Fichtes 1804 – 1806 1. Kapitel: Erinnerung an eine schriftstellerische Zurechtweisung Unter den von I. H. Fichte 1835 herausgegebenen Nachgelassenen Werken Fichtes findet sich eine ins Jahr 1806 datierte Abhandlung, die als Einleitung einer geplanten philosophischen Zeitschrift abgefaßt war und durch die Kriegswirren nicht zur Veröffentlichung kam. Sie ist unter dem nicht recht passenden Titel Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre und die bisherigen Schicksale derselben bekannt geworden. Für Fichtes Gegenstellung gegen Schelling in diesem Zeitraum ist das 2. Kapitel des 2. Abschnitts mit dem herausfordernden Titel von Interesse: »Ein Beispiel insbesondere von den philosophischen Beurtheilungs-Vermögen des Zeitalters« (GA II/10, 43-45). Hier wird jener Mangel an Beurteilungskraft beklagt, welcher das Irrlicht der grassierenden Antiphilosophie nicht durchschaut und so »einem der verworrensten Köpfe« in die Verwirrung unserer Tage folgen: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Solche Verwirrung in Sachen der Philosophie entstand nicht zuletzt durch eine dreifache Verdunklung der Wissenschaftslehre. Sie sei das Gespenst eines Subjektivismus, das Schellings objektiver Idealismus vorgibt, vertrieben zu haben; dieser Subjektivismus könne durch eine Annäherung an Methode und Substanz des Spinozismus überwunden werden; der transzendentale Gedanke sei so zu integrieren, daß die wahre Platonische und neuplatonische Ideenlehre spekulativ vollendet würden. Dadurch würden jene, welche doch durch Kants Vernunftkritik und die Wissenschaftslehre aus ihrem dogmatischen Schlummer geweckt worden waren, zu Spinoza und Plato »zurückgescheucht«, in ihrem Urteilsvermögen durch die Autorität, die dialektischen Künste, das schriftstellerische Talent und den sophistischen Witz eines Mannes verwirrt, der absolut dessen unkundig sei, was wahre und besonnene Spekulation wirklich vermag und nicht vermag. Im Grunde ist es eben der Streit um die Vollendung der Philosophie als Vernunftsystem, der Fichte zu dieser ingrimmigen Schellingkritik bewegt. Das belegt der Brief an K. F. Beyme, Geheimer Kabinettsrat in Berlin, vom 10. Mai 1806, Fichtes Berufung an die damals Preußische Universität Erlangen betreffend: »Den nachgesuchten Urlaub für dieses Semester habe ich erhalten und gedenke diese Zeit zu einer schriftstellerischen Zurechtweisung Schellings in seinem Vorgeben, daß er mein System übertroffen habe, wel-
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cher für meinen Auftritt in Erlangen von Folgen seyn muß, zu gebrauchen« (GA III/5, 357). Dabei rückt eine Schrift ins Zentrum der Zurechtweisung, die Fichte tatsächlich in der Erlanger Wissenschaftslehre 1805 in der Hinterhand hielt und 1806 in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung stellte, Schellings Eschenmayer-Replik Philosophie und Religion von 1804. Mithin stehen Schellings Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre vom Herbst 1806 und Fichtes Ausarbeitungen Zur Darstellung von Schellings Identitätssystem von 1801 nicht mehr im Brennpunkt der Fichte-Schelling-Krise von 1804 – 1806. Im Grunde hält Fichte dafür, daß sich das sogenannte Identitätssystem von 1801 eigentlich von selbst als künstlicher und täuschender Schein enthüllen sollte, der zu haltlosen Irrtümern über Grundlegung und Ausfaltung eines philosophischen Vernunftsystems verleitet. Gleichwohl faßt Fichte seine eigentliche Analyse zu dieser Schelling-Schrift (vgl. GA II/5, 487-508) zu einer schlagenden Kritik »im Vorbeigehen« zusammen.15 Zuerst wird mit vier Schlägen die Grundlage des Identitätssystems zertrümmert, die Erklärung von § 1: »Ich nenne Vernunft die absolute Vernunft oder die Vernunft, in sofern sie als totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven gedacht wird.« Vor allem und zuerst bleibt offen, wie derlei grundsätzliche Behauptungen genetisch hergeleitet sind; denn Schellings Spekulieren verschließt sich einer absoluten Reflexion, d.i. dem Sich-Besinnen auf sich im Gedanken des Absoluten. Diese transzendentale Blindheit ist das Hauptgebrechen, an welchem Schellings bodenlose Grundlegung krankt. Sodann sollte mit Händen zu greifen sein, daß einer absoluten Vernunft nicht nur die Indifferenz, sondern in eins die Differenz des Subjektiven und Objektiven zuzuschreiben ist. Damit kreidet Fichte dieselbe Einseitigkeit an, die auch Hegel vermerkt und aufgehoben hat, ohne daß dieser seinerseits freilich zur transzendentalen Besonnenheit zurückgefunden hät-
15 Einschlägig ist die Stellungnahme von J. Hennigfeld: Schellings Identitätssystem von 1801 und Fichtes Wissenschaftslehre, 1997. Schellings Systementwurf lasse sich auf Anknüpfungspunkte an Fichtes Grundlage von 1794 – vorzüglich auf den Grundsatz Ich=Ich, da das Ich mit sich selbst gleichgesetzt ist – zurückführen; so trete die Abgrenzung umso schärfer heraus, und die Ansicht eines kontinuierlichen Übergangs von der W.L. zu Schellings absolutem Idealismus erweise sich als Bruch; das bezeuge die Grundsatz-Kritik von Fichtes »Bericht«, die im Einspruch kulminiere, Schelling verdecke die Differenz zwischen dem Absoluten und dem absoluten Wissen.
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te. Ob Fichte hier auf die Differenzschrift anspielt, ist fraglich; thematisiert hat er den möglichen Seitenblick auf Hegel jedenfalls nicht. Zudem: ist die absolute Vernunft schlechthin Indifferenz, dann ist sie tot und ohne Organ, sich lebendig aus sich in differente Bestimmungen zu entwickeln. Nun bestimmt das Identitätssystem aber das Absolute in den Folgesätzen weiter durch, indem es ihm Prädikate wie Nichts, Einheit, Sichselbstgleichheit zuspricht. Das ist die vierte Verirrung: Diese Seinsbestimmungen sind willkürlich und auf gut Glück in das Absolute hineindemonstriert. Dieser geballte Einspruch bringt zwei Corrigenda auf. Was eine haltbare Vernunftwissenschaft zu meiden hat, ist eine blinde Nichtbesinnung auf sich im Denken des Absoluten sowie das Hineindemonstrieren von Wissensprädikaten in das absolute Sein. Resultat solcher Nichtbesinnung ist auch der 2. oberste Grundsatz des Identitätssystems: »§ 2 Ausser der Vernunft ist nichts und in ihr ist Alles.« Diese logisch erschlichene Grundlegung einer All-Einheit übersieht, daß etwas außer dem Absoluten ist, aus dem Alles, die unendliche Vielheit des Endlichen, folgt, nämlich das absolute Wissen. Richtiggestellt ergibt dieser Ausschluß des Nichts aus der Absolutheit der Vernunft nicht die Verkündung einer pantheistischen, sondern die Vollendung einer negativen Theologie: »In der Vernunft, und für die Vernunft ist schlechthin nichts« (GA II/10, 48). Vom Absoluten ist allein zu sagen: Es ist – nichts weiter und kein einziges Wort mehr. Diese Korrektur erstreckt sich auch auf den Ansatz von § 3: »Die Vernunft ist schlechthin eine und schlechthin sich selbst gleich.« Abgesehen davon, daß Schelling zum Beweis den Satz vom Grunde einschmuggelt, ist solche Eintragung von Seinsprädikaten ins Absolute eben unstatthaft und sollte im Sinne einer negativen Theologie korrigiert werden. »Die Vernunft ist weder eines, noch sich selbst gleich« (GA II/10, 49). Endgültig entkräftet wird der oberste Grundsatz der Indifferenz durch die Hauptthese der Systementfaltung, das Absolute entfalte sich polar durch die Kräfte der quantitativen Differenz als Übergewicht an Objektivität bzw. Subjektivität. Den Widerspruch beider leeren Hypothesen spricht Fichtes Schlußbemerkung im Vorübergehen aus: »Ist die Vernunft die absolute Indifferenz des Subjektiven und Objektiven, und giebt es gar kein anderes Seyn außer das der Vernunft, so kann in keinem Seyn diese Indifferenz aufgehoben werden, und eine quantitative Differenz an ihre Stelle treten« (GA II/10, 50). So schlagend nun diese korrigierende Kritik auch immer noch ist, im Urteil Fichtes sind die Sünden dieser Darstellung des Identitätssystems
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von 1801 verjährt. Darum konzentriert sich die erneute Auseinandersetzung mit dem Urheber philosophischer Verwirrung um das Jahr 1804 auf jene Abhandlung, »die den Anschein des Denkens wirklich an sich nimmt, und über die dermalen höchsten Principien dieses Philosophen Auskunft zu geben verspricht« (GA II/10, 51), nämlich auf die 1804 bei Cotta in Tübingen erschienene Schrift Philosophie und Religion. 2. Kapitel: Nachrechnung von Schellings zehnfacher Blindheit aus Nichtbesinnung in Fichtes Analyse von Philosophie und Religion Im 2. Abschnitt des Berichts über den Begriff der Wissenschaftslehre und die bisherigen Schicksale derselben findet sich zum Abschluß eine Auseinandersetzung mit der Schrift Schellings, welche Fichte so charakterisiert hat: »die beste, d.h. die noch am wenigsten stümperhafte unter den zahlreichen Produkten seiner Feder [...], Religion und Philosophie betitelt« (GA II/10, 51). Für die Nachrechnung der Fichteschen Einsprüche gegen diesen stümperhaften spekulativen Versuch, die Einheit des absoluten Seins mit der Wirklichkeit darzustellen, ist die am Ende herausgestellte Grundmaxime Schellings leitend: »Er haßet und fliehet die Besonnenheit, in welcher allein das Heilmittel von Irrthümern liegt, mit gutem Bedachte, und hält sie für leere Klarheit; und macht die Unbesonnenheit zur ausdrücklichen GrundMaxime alles Realismus, erwartend von einer blinden Natur die Heilung« (GA II/10, 65). Der Unterton dieses Generalangriffs ist ironisch. Er parodiert Schellings Invektive, Fichte hasse und fliehe die Natur aus unheilbarer Naturblindheit, »da alle Heilkraft nur in der Natur ist« (vgl. Schellings Rezension von Fichtes Über das Wesen des Gelehrten vom 27. Juni 1806). Im Ernst markiert diese Anti-Formel Fichtes den Grundmangel der Schellingschen Spekulation. Sie folge der Maxime einer Nicht-Besinnung, welche sich im Denken und Begreifen des Absoluten nicht auf dessen Gedacht- und Begriffensein im absoluten Wissen außer dem Absoluten besinnt und darum eben Grundbestimmungen, die dem Wissen und dessen Ichform geschuldet sind, dem Absoluten zusprechen. So ist das Heilmittel gegen die großen Irrtümer im Bedenken des Absoluten aus Blindheit übersehen worden.16 Mithilfe die-
16 Die Untersuchung von R. Lauth: Kann Schellings Philosophie von 1804 als System bestehen? – Fichtes Kritik, 1994 insistiert nicht nur auf Unstimmigkeiten von Philosophie und Religion mit den Voraussetzungen der »Darstellung«, sie hebt auch die Kri-
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ser kritischen Sonde einer mangelhaften transzendentalen Besonnenheit nun konzentriert sich Fichtes Untersuchung auf denjenigen Abschnitt von Philosophie und Religion, der am ehesten kritische Beachtung verdient, nämlich von der Ableitung der endlichen Dinge aus dem Absoluten und der Darstellung ihres Verhältnisses zum Absoluten. Solche Theogonie leide an einer zehnfachen Blindheit. Die erste Blindheit verleitet einen reinen Willlkürakt dazu, die Absolutheit des obersten Einheitsgrundes als ein ›schlechthin Ideales‹ aufzustellen – unter Berufung auf die intellektuelle Anschauung als Selbstbeobachtung des absoluten Wesens und mithilfe eines apagogischen ›Beweises‹. Der stützt sich auf den aus Spinozas Ethik entlehnten Satz: Dem Absoluten kann kein Sein zukommen, als das durch seinen Begriff; sonst wäre es durch etwas anderes außer ihm bestimmt, was unmöglich ist. Das ist blind und gedankenlos. Abgesehen davon, daß kein Grund dafür angegeben ist, warum ein schlechthin Ideales überhaupt durch etwas bestimmt sein muß, ist diese Grundlegung blind dagegen, daß so das schlechthin einfache Eine in eine formale und materiale Zweiheit zerrissen wäre: in die formale Zweiheit von Schauen und Angeschautem (dem objektivierten Wesen) und in die materiale Zweiheit eines Bestimmenden und eines Bestimmten. Überdies und vor allem: In dieser Wurzel schon erwächst der Zweifel, ob der Anfangsgrund von Philosophie und Religion mit der Grundlegung des Identitätssystems überhaupt noch kompatibel sei; denn ein schlechthin Ideales, das ausdrücklich nicht real ist, ist schwerlich mit dem vormals unterstellten obersten Prinzip einer unvermittelten Identität des Idealen und Realen vereinbar. Die zweite Blindheit besteht darin: Der Blick verschließt sich davor, daß die Beschreibung der Form des Absoluten nicht in das Absolute selbst hineinführt. Das ist einschneidend. Fichtes Einspruch rekurriert auf den auch durch Spinoza aufgekommenen Begriff des Absoluten, »daß er sey von sich, aus sich, durch sich« (GA II/10, 52): Einheit der Substantialität (des Bestehens in sich und durch sich) und Subjektivität (geistige Leben
senpunkte der Debatte heraus. Als Antwort der Frage ergibt sich: Schellings System kann nicht bestehen; sein Prinzip ist nicht evident, seine Ableitung ist nicht wahr. »Das Fazit von allem Gesagten ist, daß von einem System im strikten Sinne bei Schellings Position von 1804 nicht die Rede sein kann. [...] Da Schelling den transzendentalen Standpunkt des logologischen Bildens (das Bilden des Bildes in seinen konstitutiven Akten) nicht erreicht, setzt er bei einem, wie Fichte es nennt, ›toten‹ Absoluten an und kann nun von diesem nicht ableiten« (295).
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von und aus sich). Und nun wendet Fichte ein: Begrifflich zu fassen ist dieses Schema des Absoluten nur durch die Gegensatzrelation zum NichtAbsoluten. Absolut heißt das, was von aller Relation abgetrennt und losgelöst ist, was mithin nicht von, aus und durch ein Anderes besteht und begreifbar ist. Steht es so, dann führt diese Besinnung zu den Bewußtseinsrelationen und Ichformierungen zurück, aber nicht in eine Offenbarung des göttlichen Absoluten von sich und aus sich hinein. Die dritte bis fünfte Blindheit führt zu drei Unterlassungssünden: nämlich das Denken, welches die Unrichtigkeit der Fremdbestimmung denkt, nicht zu berücksichtigen; das willkürlich vorausgesetzte reale Bestimmtsein des Absoluten durch einen Begriff nicht zu hinterfragen; und vor allem die Besinnung auf den Begriff des Begriffs vom Absoluten zu unterlaufen und daher den wahren Sitz und Mittelpunkt der Mannigfaltigkeit und ›Fünffachheit‹ der beiden Relata der Ich-Einheit zu verfehlen. Das ist Nichtbesinnung. »Daß ich mich ja nicht besinne, daß zulezt ich doch selber es sey, der jenen Begriff von einem Begriffe des Absoluten von sich selbst, habe« (GA II/10, 54). Eine sechste und siebte Blindheit wird für die Behauptung Schellings diagnostiziert, ewig gleich mit dem schlechthin Idealen sei die ewige Form. Hier fehlt eine Reflexion auf zweierlei: wie, nach welchem genetischen Gesetz, uns dieser Gedanke einer ewigen Form entstehe und wie das Ewige überhaupt zu begreifen sei. Und im Rückblick auf das Identitätssystem wird die Frage drückend: Gesetzt, die ewige Form des Selbst-Erkennens vermittelt wirklich das Ideale mit dem Realen, indem es das Ideale ins Reale verwandelt, wie stimmt das mit dem Ansehen der vormals verkündeten unmittelbaren Identität des Idealen und Realen zusammen? Einschneidender noch als solche Einforderungen einer widerspruchsfreien genetischen Evidenz ist die achte aufgedeckte Blindheit. Die vertieft die Nichtbesinnung, indem diese übersieht, »daß die innere Grundform des Begriffs des Absoluten von sich selbst die Ichform ist« (GA II/10, 55). Diese erste Form des Absoluten bleibt unbenutzt liegen, und darum wird eine zweite ewige Form ohne den Schatten eines Beweises herbeigeredet, einzig deswegen, um den Zweck der Spekulation zu erfüllen, nämlich die Realität aus dem Absoluten zu erklären. Nun aber ist doch der Begriff des Realen auch nur als Gegenbegriff des Idealen zu erfassen, mithin als Sein an sich, das außer dem Fürsichsein und so losgelöst von der Bewußtseinsrelation und dessen Konstituierung der Erscheinungswelt besteht; »das Reale muss daher seyn ein Seyn, das keines andern Seyns fähig ist, also
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nur des ausser dem Begriffe, die absolute Bewusstlosigkeit« (GA II/10, 57). Sonach wird die Einsetzung einer zweiten ewigen Form dafür gebraucht, um die mögliche Herleitung des realen Seins an sich aus dem Absoluten wirklich zu vollziehen, nicht nur, um den Ideenkosmos als Gegenbild des Absoluten zu bilden. Damit stürzt der Grundpfeiler des Schellingschen Systembaus ein. Der oberste Grundsatz drückt gar nicht die Wahrheit und Gewißheit einer absoluten Indifferenz des Idealen und Realen aus, das unzweifelhaft Gewisse enthüllt sich als an sich seiende Realität. Der Anfang und Grund des ganzen Systemgebildes ist nicht die intellektuell angeschaute Absolutheit Gottes, »der Ausgangspunkt deßelben ist daher der allerblindeste, und stockgläubige Empirismus, und ein Absolutes wird lediglich der Welt zu Liebe angenommen« (GA II/10, 56). Die neunte Blindheit zeigt sich darin, daß nicht bemerkt wird, wie der erste Fortgang in der Selbstoffenbarung des Absoluten genau genommen sogleich wieder zurückgenommen wird. Der erste Schritt der Ableitung bringt es dahin zu erklären: Die ewige Form der Selbsterkenntnis sei eins mit dem schlechthin Idealen. Der darauf folgende Satz nimmt das zurück: Das schlechthin Ideale sei selbst außer aller Form, da das Absolute ja von jeglicher Bestimmtheit absolviert sei. So aber verwirrt sich die Schellingsche Rede vom Absoluten vollends. In Rede steht das schlechthin Ideale, das selbst außer aller Form ist, aber auch ein zweites Absolutes, da das schlechthin Ideale untrennbar in der ewigen Form sei. Um dem Unsinn von zwei Absoluta zu entgehen, werde eingeredet: Es sei doch das Absolute selbst, das in der Form ist, ohne doch selbst in der ewigen Form zu sein: »Alles ein Selbst, das zugleich auch Nichtselbst, eine Identität, die zugleich auch Nichtidentität ist?« (GA II/10, 57). Das ganze unvermerkte Dilemma, die zehnte Blindheit, steckt in der Absurdität folgender Antithese: Entweder sei das Absolute ganz und ungeteilt in jedem Sich-Formieren oder nicht. Im ersten Falle gebe es nichts, das außer dieser ungeteilten All-Einheit wäre, auch nicht die Selbsttätigkeit und Freiheit des Menschen in seiner je eigenen Individualität – was Schelling selbst verwirft. Im zweiten Falle aber zerteilte sich das Absolute in zwei halbe Absoluta, nämlich in ein Absolutes in der Form und ein anderes außer der Form, was absurd ist. Schellings blindes Spekulieren ist Antiphilosophie, die sich das Ansehen einer vollendeten Vernunftlehre zu geben weiß. »Ein so über alle Maaßen ungeschikter und stümperhafter Sophist, wie wir es ihm nachgewiesen haben, ist also der Mann, dem es ge-
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lungen ist, die Philosophen dieses Zeitalters irre zu machen« (GA II/10, 62). 3. Kapitel: Die logische Auflösung von Schellings Einfall vom Abfall des Absoluten Schellings Systembau ist durch die Aufrechnung der vielfachen Blindheit aus dogmatischer Nichtbesinnung eingestürzt. Gleichwohl kann eine Betrachtung, die bei transzendentaler Besonnenheit im Denken des Absoluten bleibt, einen Haltepunkt retten, der die Aufgabe wahrer Spekulation, die objektive reale Welt herzuleiten, zu lösen verspricht. Fichte zitiert Philosophie und Religion: »Das Absolute würde in dem Realen nicht wahrhaft objectiv, theilte es ihm nicht die Macht mit, gleich ihm, seine Idealität in Realität umzuwandeln und sie in besonderen Formen zu objectiviren« (GA II/10, 58). Auf dem Boden dieses indirekten Beweises zeichnet sich eine Möglichkeit ab, die Systementwürfe Fichtes und Schellings doch noch zu koordinieren, freilich dadurch, daß Schellings transzendentale Theogonie zur unverfälschten Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre zurückkehrt. Jedenfalls sieht Fichte an dieser Stelle eine Gelegenheit, Schelling doch noch die Augen zu öffnen. Es müsse nur dreierlei genetisch evident gemacht werden: daß das einzig Reale, in welchem das Absolute wahrhaft objektiv geworden sei, die Realität unseres absoluten Wissens als Dasein und Existenz des Absoluten ist, daß dem absoluten Wissen die Macht vermittelt ist, seine Idealität und Ichform in die objektive Realität der Welt zu verwandeln und daß dadurch das Absolute in uns objektiv geworden sei. Die Aussicht auf diese transzendentale Rückbesinnung in Schellings ansonsten blinder Spekulation stellt Fichte mit übertriebener Freundlichkeit hin. »Nun, da ist ja mit Einemmale alles gewonnen, und die Aufgabe der Speculation in unermesslicher Klarheit und Leichtigkeit, zu allgemeinem Vergnügen und Bequemlichkeit, gelöst!« (GA II/10, 58). Indessen begräbt Fichte sogleich solche Hoffnung auf Versöhnung. Schelling habe jene glückliche Wendung verspielt, und zwar durch seine merkwürdige und unerwartete Rede: Beim Übergang des Absoluten zum Wirklichen gebe es keinen stetigen Übergang, sondern nur einen Abbrechen des Absoluten durch einen Sprung. Anders gesagt: der Grund der endlichen Dinge liege nur in einer Entfernung, einem Abfall vom Absoluten. Bei dieser Wendung sollte durchsichtig sein: Einen stetigen Übergang der Idealität und Realität gebe es in der ewigen Form des Selbsterkennens;
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er werde als stille und ruhige Folge (ohne rechten Beweis) unterstellt, um den Akt eines schlechthin unbedingten Sichsetzens abzuhalten. So werden die Freiheit der Tathandlung dafür einsetzbar, den möglichen Abfall vom Absoluten zur wirklichen Wirklichkeit zu verwirklichen, wobei Freiheit eben als Fall in leiblich-endliche Gebundenheit umgedeutet werde. Fichte hat Schellings Lehre vom Abfall und Sündenfall nachdrücklich zurückgewiesen. Die Zurechtweisung beginnt damit, Schellings Berufung auf Plato und die griechischen Mysterien als Autoritätsbeweis im Namen des Selbstdenkens abzuweisen. Sie hat ihre Mitte darin, die Absurdität der Abfall-Hypothese nachzuweisen. Und sie endet damit, die Einheitsspekulation Schellings als Dualismus und die Erkenntnishaltung als primitiven Empirismus zu demaskieren. Im einschlägigen Abschnitt seines Berichts über Begriff und Schicksal der Wissenschaftslehre weist Fichte, logisch haltbare Beweise und genetische Evidenzen fordernd, zuerst eine Berufung auf historische Traditionsbestände ab. Seine Lehre vom Abfall der Seele findet Schelling ja eben in der »wahrhaft Platonischen Lehre« der Dialoge Phaidon und Phaidros vorgeprägt und in griechischen Mysterien geweissagt. Für Fichte dagegen ist diese geschichtlich-faktische Anknüpfung ein Argument ex autoritate ohne gedankliche Kraft und auf dem Sand ehrfurchtsgebietender Überlieferung gebaut. »Nun, wenn Plato und die griechischen Mysterien das annahmen, so werden wir andern wohl Respekt haben, und es uns gleichfals gefallen laßen müßen; sollt es sich auch finden, daß in der ganzen Lehre durchaus kein Sinn und Verstand sey« (GA II/10, 59). Historisch nachgerechnet, hat der Schelling des Identitätssystems es durchaus unternommen, den Idealismus in Platonischem und neuplatonischem Verstande zur Vollendung zu bringen. Bemerkenswerterweise hat auch Fichte, wenn auch viel vager, Plato an seine Vernunft- und Ideenlehre historisch nahegerückt. So vermerkt die erste Stunde des vierten Vortrages der Wissenschaftslehre in Erlangen am 18. Juni 1805: »Historisch: kein philosophisches System vor Kant hat deutlich das Wissen, als solches zum ausschließenden Objekt seiner Betrachtung gemacht. Am nächsten war, so viel wir das beurtheilen können, Plato« (GA II/9, 181). Gleichzeitig aber hat Fichte Plato zu den religiös Begeisterten in der Menschheitsgeschichte gezählt und unter die Repräsentanten der ›Höheren Moralität‹ vor und unterhalb der Vernunftwissenschaft eingereiht. So sei Plato unter den Griechen auf dem Wege, ohne indessen zur Klarheit über die wahren Prinzipien der Ideenwissenschaft zu kommen. »Wir sind die eigentlichen Nachfolger der Al-
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ten, nur daß wir klar einsehen, was für sie dunkel blieb« (GA I/9, 74). 17 Und im Vortrag Das System der Sittenlehre 1812 macht Fichte die »Historische Anmerkung. – Meine Seynslehre. Als reine Theoria. – Bei Plato: die Dinge Abspiegelungen der Ideen, der Gesichte. [...] Platoniker; – Ich glaube wohl mehr zu seyn« (GA II/13, 338). Und ein Rückblick auf Plato und die griechischen Mysterien läßt eine Theorie des Abfalls im Dunkeln. Beim Wort genommen enthüllt sie sich als ein gedankenloses Gerede, verstrickt in die Unlogik eines Dilemmas. Das bringt eine einfache Nachfrage heraus. »Denn was soll dann dasjenige seyn, das da abfällt vom Absoluten?« (GA II/10, 59). Es wären zwei Fälle und nur diese möglich. Entweder ist es das Absolute selbst, das abfällt, oder das Abfallende ist nicht das Absolute selbst. Keines von beiden kann sein. Ist das Abgefallene das Absolute selbst, dann müßte es sich selbst als solches vernichtet haben, was absurd ist. Ist das Abgefallene nicht das Absolute selbst, dann ist es ein anderes Absolutes; denn ihm käme die Seinsdignität zu, von sich und durch sich zu sein. So aber wären zwei Absoluta anzunehmen, was gleichfalls absurd ist. Fichte variiert dieses Argument auf eine kosmotheologische Hypothese des Timaios, die Schelling inkonsequenterweise gutheißt und in seine Theogonie integriert: Der neidlos-gute demiurgische Gott formt aus der aufnahmebereiten ›Materie‹ die beste aller möglichen Welten. Fichte verkürzt diese Aufhebung des Götterneides in der Idee des Guten zur Aussage, das Absolute habe das andere, den materialen Kosmos, gut gemacht, und höhlt sie als Grundlage einer Abfalltheorie logisch aus. »Es geht nicht, daß man sage: das Absolute habe jenes andere gemacht, und es gut gemacht, und es sei nur nachher abgefallen« (GA II/10, 59); das münde wiederum in die Absurdität eines Dilemmas. Entweder ist das Vermögen abzufallen vom Absoluten erteilt worden, oder das Abgefallene müßte eben von sich und aus sich selbst abfallen. Beides ist, wie schon gezeigt, undenkbar, nämlich sowohl, daß das Absolute von sich selbst abfalle (»die erste Absurdität«), als auch, daß dem gut Geschaffenen als einem anderen Absoluten
17 Eine kritische Auseinandersetzung Fichtes mit Platonischen Dialogen ist ausgeblieben. So ist die These von M. Wundt: Fichte-Forschungen, 1929, 357, vom Erscheinungsjahr des ersten Bandes von Schleiermachers Plato-Übersetzung 1804 an wurde Fichte in einem neuen Sinne Platoniker, überzogen. Fichte erinnert wohl an Platos ahnungsvolle Gesichte, aber er weiß sich im vollen Besitze des transzendentalen Gedankensystems dem überlegen. Zum Verhältnis Fichte-Plato vgl. Vf.: Von der Erfahrung des Seins in Fichtes Vollendung des Platonischen Idealismus, 2001.
3. Abschnitt: Einsprüche: Das Identitätssystem und seine Weiterungen.
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das Vonsichsein schlechthin zukomme (»die zweite Absurdität«; GA II/10, 60). Abgesehen von solchem Dilemma aber hebt die Erfindung eines Abbrechens eine Spekulation auf, die eigentlich einen stetigen Übergang vom Absoluten zum Wirklichen verheißt. Schelling erkläre doch, daß das Absolute dank seiner Macht, seine Idealität in Realität umzuwandeln, in stiller und ruhiger Folge objektiv und so zum Wirklichen werde. Auf einmal aber nehme Schelling solche Erklärung zurück, indem er solchen Übergang für ein Unerklärbares erkläre. Damit aber werde doch alle Spekulation unterhöhlt und für unwahr erklärt. Zum Systemabschluß findet sich der Systemanfang durchstrichen. Solcher Inkonsistenz im Systembau geht Fichte auf den Grund, indem er die äquivoke Seinsbedeutung von Wirklichkeit entdeckt. Zuerst, in der stetigen Herleitung des ›Wirklichen‹ aus dem schlechthin Idealen, geht es um die Wirklichkeit der Idee. Für die anschließende Theorie des Abfalls dagegen wird ein anderer Begriff von Wirklichkeit unterstellt; das zur Erscheinung gebrachte Wirkliche sei »nicht das rechte Wirkliche, nicht das wirkliche Wirkliche« (GA II/10, 60). Das rechte, wirkliche Wirkliche ist die materielle, in sinnlichen Empfindungsgehalten sich bekundende, an sich bestehende Realität der Außenwelt. Das leuchtet dem gesunden Menschenverstand und einem »pöbelhaften Empirismus« ein. Logischerweise aber wäre die an sich bestehende Wirklichkeit als ein anderes Absolutes zu denken. »Und so ist bei diesem philosophischen Heros, wo es ernst wird nichts mehr zu finden, als der alte und wohlbekannte Spaß eines materialistischen Dualismus. Nicht Wissenschaftslehre, nicht Kant, sondern Du, Heiliger Leibnitz, bitte für ihn!« (GA II/10, 61). Am ehesten vermag, da solcher Unverstand den transzendentalen Gedanken doch nicht faßt, ein Leibniz als Nothelfer einzuspringen. Der hatte überzeugend die Ansicht von Dingen an sich aufgehoben und die Prinzipien der Identität und des zureichenden Grundes ins System einer prästabilierten Harmonie hineingebildet und die Hypothese der besten aller möglichen Welten herausgebildet. Damit schließt die Zurechtweisung, welche Schellings Anspruch, das Einheitsprinzip einer allen Dualismus aufhebenden Vernunftwissenschaft zu konstruieren, widerlegt. Also bietet der Schelling des Identitätssystems und der Autor von Philosophie und Religion ein hervorstechendes Beispiel für die geistige Konfusion der Zeit. In den Auslassungen Fichteschen Unmuts steht es mit Schellings Genie am Ende nicht besser als mit der unsäglichen seichten Aufklärerei eines Friedrich Nicolai. Diese Charakterisierung Schellings als einen »zweiten
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Nicolai« hat eine paradoxe Geschichte. Schon die Erlanger Wissenschaftslehre 1805 ist weithin als Zurechtweisung Schellings und seiner Behauptungen in Philosophie und Religion eingerichtet. Hier bereits kommen die beiden Haupteinwendungen zur Sprache, nämlich einmal die Blindheit gegenüber dem Denken des Absoluten aus Nichtbesinnung und zum anderen die ›Nicolaitische Verwachsenheit‹. Fichte beschließt die 7. Stunde damit, im Namen des Transzendentalismus, alle blinden Projektionen, vorzüglich beim Zweiten Nicolai Schelling zu verwerfen. »Der Sch. ist nicht nur inintellectuell, Nicolai sondern sogar irrational, nicht bloß unvernünftig, sondern sogar unverständig; nicht daran fehlts, daß er das absolute Licht nicht von dem sich nur nicht intelligirenden hinausschiede: er kann sogar das Seyn nicht von dem Existenten los kriegen, was eine Nikolaitische Verwachsenheit« ist (GA II/9, 213). Und es ist durchaus auf Schelling gemünzt, wenn Fichte sich in diesem Vortrag vom 4. Juli 1805 gegen die Antiphilosophie in Würzburg, gegen das »Abstraktum der Blindheit« wendet. Philipp Konrad Marheineke, Universitätsprediger und Professor in Erlangen, berichtet an Schleiermacher am 9. August 1805: »Ich höre mit unsern Professoren die Wissenschaftslehre bei ihm in einer Privatvorlesung, der Platon tritt in jeder Stunde unverkennbar bei ihm hervor. Schelling verkennt er durchaus; er polemisirt sehr heftig gegen ihn; unter dem Abstraktum der Blindheit ist immer der Würzburger Philosoph gemeint« (FG III 360). Die Gleichstellung von Schelling mit Nicolai hat freilich eine ironische Pointe. Friedrich Nicolai ist nicht nur scharfzüngig popularisierend gegen Fichtes »plumpen, schwärmerischen Idealismus« zu Felde gezogen, sondern gegen die »modische apriori- und Absolutheitsphilosophie« insgesamt einschließlich des »nun nahe ganz vergessenen Schelling-Schülers Hegel«. Die neuesten Fichte-Schellingschen Inhaber der reinen Wissenschaft kämen auf transzendentalen Stelzen daher und möchten auf papierenem Flügel ins Absolute hineinfliegen; Fichte und Schelling verhießen, eine Philosophie zu liefern, die nicht nur dem gesunden Menschenverstande widerspreche, sondern auch zum Absoluten führe, worin alles Widersprechende, selbst Sein und Nichtsein, zusammenstehen könnten (vgl. F. Nicolai: Philosophische Abhandlungen, 1808, vornehmlich Ueber die nothwendigen Unvollkommenheiten der Abstraktion und ueber ihren öfteren Mißbrauch, 1802). Paradoxerweise also zählt Fichte am Ende seiner schriftstellerischen Zurückweisungen Schelling zu einem der verworrensten Köpfe des Zeitalters, der auf das Niveau eines Nicolai herabgesunken sei. Mithin ergibt sich der Schluß: Ein Dialog mit der Wissenschaftslehre ist unmöglich, solange Schellings Blindheit,
3. Abschnitt: Einsprüche: Das Identitätssystem und seine Weiterungen.
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Nichtbesinnung, pöbelhafter Empirismus und Nicolaitische Verwachsenheit den zur Wahrheit strebenden Geist des Zeitalters mit autoritärem Gehabe irre macht. 4. Abschnitt: Ende oder Vollendung? Schellings Spätphilosophie im Widerstreit Für die wiedererweckte Frage nach der dreifachen Vollendung des Deutschen Idealismus ist kaum eine Verlautbarung sprechender als Schellings Stellungnahme auf dem Standpunkt seiner Spätphilosophie anläßlich seiner Antrittsrede am 15. November 1841 in Berlin. Da spricht sich das Sendungsbewußtsein eines Erzürnten aus, dessen Ingrimm in langen Phasen des Schweigens über verfälschende Aneignungen seiner Grundgedanken ungebrochen geblieben war. Er, Schelling, habe ruhig geschwiegen, als der Hervorgang der neueren Philosophie, die mit Kant begann und in seiner Systembegründung endete, verfälscht und die Tragfähigkeit seines Identitätssystems ausgebeutet wurde. Das zielt nicht nur auf den vollendeten Eklektizismus Fichtes ab. Es richtet sich auch auf die Übernahme der absoluten Identitätsidee in die überspannten Allesvermittlungen der Enzyklopädie durch den in Berlin zum Hegemon wahrer Philosophie emporgestiegenen, einstigen Geistesbruder Hegel. Nun sei es an der Zeit zu bekennen: Er, Schelling, allein sei im Besitze der so »dringend verlangten, wirkliche Aufklärung gewährleistenden, das menschliche Bewußtsein über seine gegenwärtige Grenze erweiternden Philosophie« (W VI 752 = SW XIV 360). Und nur er, Schelling, fühle sich berufen, eine Philosophie, die er einst selber begründet habe, in ihren wahren Grundlagen wieder zu befestigen und vor Tendenzen zu beschützen, die sie zerstören, kurz »eine Burg zu gründen, in der die Philosophie von nun an sicher wohnen soll« (W VI 752 = SW XIV 366). Am Ende seines langen, Fichte und Hegel überlebenden Denk- und Lebensweges beruft sich Schelling noch immer auf die frühe, bahnbrechende Darstellung seines Systems einer allumfassenden Vernunftwissenschaft. Sie sei der wahre Anfang einer vollendeten Grundlegung einer neueren Philosophie gewesen. Mithin ist hier keine Rede davon, daß Schelling sein eigenes Identitätssystem als Sündenfall gegenüber dem Positiven und existent Wirklichen verwirft. Er entlarvt allerdings nach vornehmem Schweigen über nachhaltige polemische Attacken die Entlehnung seiner obersten Grundsätze und deren Einmischung ins Reflektiersystem durch die popu-
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lären Schriften Fichtes. Und er deckt Hegels Überspannungen des Identitätsprinzips in einer Logik der absoluten Idee auf, welche den Übergang aus der negativen in die positive Philosophie heillos verfehlt. Nach einer Zeit des Schweigens also ist Schelling seit 1827 in München, von 1841 an in Berlin in öffentlichen Vorlesungen hervorgetreten, ohne freilich deren Publikation nach dem unerquicklichen Prozeß gegen die unerlaubte Veröffentlichung einer Vorlesungsnachschrift durch H. E. G. Paulus, zu erlauben. Deren verlautbartes Programm ist es, das einst begonnene Vollendungswerk durch den Übergang zur positiven Philosophie einzigartig zu Ende zu bringen und dieses Vollendungswerk auch philosophiegeschichtlich gegen Fichtes und Hegels Irrmeinungen abzuschirmen. Um diese Perspektive neu zu verfolgen, ist der Problem- und Forschungsstand der Schellingschen Spätphilosophie auf drei Durchblicke zu konzentrieren: auf die Klärung des neuangelegten Fundierungsverhältnisses positiver und negativer Philosophie, auf die Erinnerung an die philosophiehistorische Streitsache über Ende oder Vollendung des Deutschen Idealismus im Spätwerk Schellings und letztlich auf die Einholung von Schellings Zerstörung des Hegelianismus als heilloser Irrweg und traurige Episode neuzeitlicher Philosophiegeschichte. 1. Kapitel: Grundsätzliche Vorgaben. Über Differenz und Korrelation der positiven und negativen Philosophie Die Frage nach Ende oder Vollendung des Deutschen Idealismus im Spätwerk Schellings ist immer noch offen. Der Schlüssel, der Aufschluß darüber zu geben vermag, ist die Unterscheidung und Zusammenfügung von positiver und negativer Philosophie, die in den ›Weltaltern‹ noch unbekannt ist und eben erst in den Münchener und Berliner Vorlesungen Schellings unveröffentlichter Lehre zum Austrag kommt. Daher sollte zuerst darüber Klarheit geschaffen werden.18 Um darüber grundsätzlich vorbereitend Einsichten zu verschaffen, ist zunächst das Vorverständnis darüber einzugrenzen. Worin besteht über-
18 Wegweisend sind die schon im Vortrag von 1954 vorgetragenen Thesen von W. Schulz, diese Unterscheidung sei nicht aus der Differenz von Daßsein und Wassein herzuleiten, sie breche allein am Gottesproblem auf. – Diesem Zentralgedanken hat H. Fuhrmans: Der Ausgangspunkt der Schellingschen Spätphilosophie, 1956/57 in seinen Forschungen zu den Münchener Vorlesungen, die er streng von den späteren
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haupt das Positive? Und worin liegt das genuin Positive einer positiven Philosophie? Das Positive ist seinsmäßig und gnoseologisch eigensinnig vorverstanden als das konkrete Sein des Wirklichen und Existierenden in dem Eigengewicht eines reinen Daß. In bloßer Existenz ist das Daßsein für den sondernden Verstand und die Vernunft als Vermögen der Ideen unfaßlich; denn die Ratio ist auf den Begriff, auf die Erkenntnis des wesentlichen Wasseins fixiert. Dieser Abstand nötigt, eine eingehende Besinnung auf das reine Daß, die unvordenkliche Existenz vor dem Einwand zu schützen, Schellings Lehre vom Positiven führe aus der Helle rationaler Wesenserkenntnis ins Dunkel abgründiger Existenz. Die Zukehr zum Positiven erfolgt vielmehr in der Helle philosophischer Ursprungsforschung. Im kritisch besonnenen Eingehen auf den Ersten Anfangsgrund der offenbaren Welt, seiner Geschichte als Bewußtwerdung Gottes wird deutlich: Der Vernunftidee eines absoluten Geistes ist uneinholbar vorauszusetzen, daß er Geist ist. Dieses reine Daß ist ursprüngliches Suppositum und ›unvordenklich‹. Ihm kann die Vernunft als Vermögen der Ideen und Wasbestimmtheiten nichts vorausdenken. Der Gott der positiven Philosophie ist reiner Akt in ewiger Freiheit. Schelling nennt ihn den Herrn des Seins. Er habe Macht über alle Möglichkeiten (potentia potentiarum). Dieser Ursatz, der Erste Anfangsgrund sei, philosophisch entdeckt, das gegen das Sein Freie, beseitigt den Irrtum, Gottes Offenbarung und Weltschöpfung geschehe aus blinder Notwendigkeit. Und er eröffnet die Einsicht: Der einzige Erklärungsgrund für die Welt ist die Freiheit Gottes, sich offenbaren zu können oder verborgen zu bleiben. Gott, das Überseiende, ist nicht immer schon wirklich, er wird wirklich, damit er als das Allerfreieste geschichtlich erscheine. Dieser Ansatz einer unbedingten Willensoffenbarung macht Schelling nicht, was eine Schulmeinung meint, zum Ausläufer des Idealismus und zum Überläufer zu einer Willensmetaphysik, etwa im Stile Schopenhauers. Freilich finden sich gleichlautende Grundbestimmungen des Willens als Ursein sowohl in Schellings Freiheitsschrift wie bei Schopenhauer, mit dem gravierenden Unterschied, daß Schellings Willensprinzip onto-theologisch
Berliner Texten trennt, ebenso entschieden zugestimmt, wie er den Ansatz beim Gegensatz von Wesen und Existenz verwarf, um an deren Stelle den Kampf zwischen logischer und religiös-geschichtlicher Philosophie herauszuarbeiten.
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im Göttlich-Absoluten, Schopenhauers Willensmetaphysik ontologisch-anthropologisch im Menschen fundiert ist.19 Bei diesem Prius der Willensoffenbarung fängt positive Philosophie an: Daß die unvordenkliche, schlechthin freie Willensverwirklichung dem Herrn des Seins zukommt. Das Ziel ihrer Arbeit besteht darin, das unbegreifliche Daßsein a posteriori, schärfer gesprochen: per posterius als Gott zu erfahren. Das kann nur durch eine Erfahrung von Freiheitsakten gelingen, in denen sich Gott geschichtlich offenbart. Daher sucht Schellings positive Philosophie die Wahrheit über das göttliche Ursein im Logos der Mythen und in der christlichen Offenbarung mittels der Folge eines Drei-Potenzen-Schemas zu enthüllen. So zeichnet sich die Wahrheit über Gott, Schöpfung, Vorsehung in der Geschichte eines gewaltigen theogonischen Prozesses ewiger Selbstentwicklung ab. Diese Offenbarungsgeschichte verbindet sich mit einer Mythologie, welche im Durchgang durch die archaische Naturreligion, polytheistische Mythologie und der eigentlichen Offenbarungsreligion, dem christlichen Monotheismus, jenen geistigen Prozeß darlegt, durch den Gott im Bewußtsein der Menschen geschichtlich wirklich und wahr geworden ist.20 So enthüllt sich das Positive der positiven Philosophie als etwas ganz anderes denn das Positive empirisch versicherbarer Tatsachen des Wissenschaftspositivismus, der behauptet, über alle Erkenntnisstadien von Mythologie und Metaphysik unumkehrbar fortschrittlich hinaus zu sein. Und es ist auch nicht auf die Analogie von Möglichkeit und Wirklichkeit, Daßsein und Wassein innerhalb der Vernunftontologie einzuschränken. Es geht vielmehr um das vom Herrn des Seins frei gewollte, faktisch vorhandene und sich vollziehende Wirkliche, erfahrbar in den Urkunden der positiven Religion und aller Offenbarung durch eine Philosophie, welche die
19 Vgl. E. von Hartmann: Schellings positive Philosophie als Einheit von Hegel und Schopenhauer, 1869. – J. Hennigfeld: Metaphysik und Anthropologie des Willens. Methodische Anmerkungen zur Freiheitsschrift und zu Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung, 2006. 20 Das ist der Ansatz der Untersuchung von K. H. Volkmann-Schluck: Mythos und Logos. Interpretationen zu Schellings Philosophie der Mythologie, 1969. Danach sei Mythologie bei Schelling eine philosophische Erfahrung des geschichtlichen Bewußtseinsprozesses im Lichte einer eigenen Wahrheit – im Unterschied zu den vorherrschenden Auffassungen des Mythos als eines bloß Erdichteten, Ausgedachten, von uns willkürlich Hergestellten.
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Menschheitsgeschichte durchdringt und so die Wahrheitssicherung der Ersten Philosophie mit einer Erforschung der Wahrheit von Religion, Mythologie und Geschichtlichkeit zusammenfügt. Dabei erweist sich das unvordenkliche Prius eben per posterius auf dem Wege eines Empirismus des Apriorischen als erfahrbar. Dazu verhilft allein die geschichtliche Erfassung jenes Offenbarungsgeschehens, welche Handlungen Gottes in der Welt als Abfolge göttlicher Potenzverwirklichungen zum Ausdruck bringt. So gewinnt die positive Philosophie das paradoxe Ansehen eines empirischen Apriorismus. Ihr ist es darum zu tun, »das a priori Unbegreifliche a posteriori in ein Begreifliches zu verwandeln« (Philosophie der Offenbarung; W XII 165 = SW XIII 165). Von diesem Methoden- und Prinzipienstand aus erscheint alle Vernunft- und Ideenwissenschaft als eine negative Philosophie. Sie ist nicht frei für das reine Daß und ist nicht offen gegenüber dem gegen das Sein freien Herrn. Ihr Vermögen beschränkt sich auf das Vernehmen der Ideen, d.i. auf die Umgrenzungen apriorischer Wesensmöglichkeiten. Daher denkt sie auch den Ersten Anfangsgrund von Sein und Wissen seit Platos Aufstieg zur ›Idee des Guten‹ als Idee. Sie denkt Gott nicht in seiner Wirklichkeit, nicht in der Freiheit des reinen Daß, nicht in seiner wirklichen Offenbarung in der Welt, nicht in der geschichtlichen Faktizität des ewigen Prozesses. Diese Schranke der negativen Vernunftphilosophie hatte schon Kants Kritizismus aufgerichtet. Die grundlose Notwendigkeit der Existenz in Gott sei der Abgrund für die menschliche Vernunft. Dem nur Existierenden gegenüber vermag die Vernunft nichts mehr. Sie beschäftigt sich lediglich mit dem a priori Begreiflichen. Das macht den Unterschied zur positiven Philosophie aus, die sich mit dem a priori Unbegreiflichen so beschäftigt, daß sie es a posteriori in ein Begreifliches verwandelt. Also vollzieht die negative Vernunftwissenschaft zwar eine apriorische Reflexion kraft eines Wissens, welches das Wißbare dadurch begreift, daß sie es in seiner Essenz, d.h. als Seinkönnendes darlegt. Aber sie gerät in die Krise, wenn sie sich darauf besinnt, daß dem von ihr ergründeten ersten Anfangsgrund, dem göttlichen Geist-Wesen, ein Uneinholbares vorausgesetzt ist, nämlich daß Gott frei und unvordenklich Herr gegen Sein und Wesensmöglichkeit ist. Das erfordert eine neue und tiefergehende Selbstkritik der Vernunft. Sie muß nämlich zur Einsicht kommen, daß sie, solange sie sich selbst verabsolutierend zum Objekt macht, nur die unendliche Potenz und Wesensmöglichkeit des Seins findet, aber nicht zum ewigen und wirklichen Sein gelangt.
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Die Vernunft kommt zu ihrem wahren Inhalt nur, indem sie sich dem Überseienden unterwirft, für das ihr Denken keinen Wirklichkeitsgrund findet. »Wenn die Vernunft sich selbst Gegenstand ist, wenn das Denken sich auf den Inhalt der Vernunft richtet, wie in der negativen Philosophie, so ist dieß etwas Zufälliges, die Vernunft ist dabei nicht in ihrer reinen Substantialität und Wesentlichkeit. Ist sie aber in dieser (zieht sie sich also nicht auf sich selbst zurück, sucht sie nicht in sich selbst das Objekt), so kann ihr als unendliche Potenz des Erkennens nur der unendliche Actus entsprechen. Ihrer bloßen Natur nach setzt sie nur das unendlich Seyende; umgekehrt also ist sie im Setzen desselben wie regungslos, wie erstarrt, quasi attonita, aber sie erstarrt dem alles überwältigenden Seyn nur, um durch diese Unterwerfung zu einem wahren und ewigen Inhalt [...] als einem wirklich erkannten zu gelangen« (W XII 165 = SW XIII 165). Also liegt alles daran, mit der Auseinanderstzung von positiver und negativer Philosophie sogleich ihre Zusammensetzung zur Vollständigkeit eines Systems vorklärend zu verdeutlichen. Die negative Philosophie als klassische Ideen- und Vernunftwissenschaft beginnt damit, das Wißbare und Begreifbare auf seine apriorischen Wesensbedingungen hin zu übersteigen, um so die notwendigen Bedingungen für die Möglichkeit von Sein, Werden und Erkennen freizulegen. Sie hat damit zu enden, sich selbst kritisch vor der Unvordenklichkeit des absoluten Prius, des reinen Daß, des Herrn gegen das Sein, zu beugen. Die positive Philosophie ihrerseits beginnt damit, den absoluten Begriff des Begriffs – und die durch Hegel beendete Tradition des ontologischen Gottesbeweises – fallen zu lassen und mit dem bloß Existierenden ernst zu machen. Und sie endet damit, die negative Philosophie wieder aufzurichten, indem sie den Rechtsanspruch des Denkens auf Erfassung der Wesensmöglichkeiten im Blick auf die Wirklichkeit des geschichtlich offenbarten und theogonisch manifestierten Seins und Bewußtseins bestätigt. Diese umrißhafte Wiedereinholung mag genügen, um Schellings Scheidung von positiver und negativer Philosophie zu verdeutlichen und deren komplementäre Zusammenführung zur Sprache zu bringen. Das sollte in den Stand versetzen, die aufgebrachte Streitfrage nach dem Ende bzw. der Vollendung des Deutschen Idealismus sachgerecht neu aufzurollen.
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2. Kapitel: Verfolgen der Streitfrage: Umbruch zum theistischen Spätidealismus oder Vollendung des kritischen Anfangs? Quellenmäßig erfaßt, kontrovers diskutiert und philosophiegeschichtlich neu eingeordnet ist Schellings bis dahin fast resonanzloses Spätwerk eigentlich erst seit dem Jahre 1929 (H. Heimsoeth, H. Knittermeyer 1929; H. Fuhrmans 1940; W. Schulz 1955; X. Tiliette 1970). Zunächst wird es als Basis eines spekulativen, konkreten Theismus in die Sammelbewegung des Spätidealismus eingeordnet und als Epocheneinschnitt angesehen. Es evoziere den Bruch mit der dialektischen Vernunftwissenschaft und eröffne einen postidealistischen, antipantheistischen, vom Panlogismus abgewandten Neuanfang. Andererseits tritt eine Auslegung hervor, welche Schellings Spätphilosophie als Vollendung des Deutschen Idealismus versteht. Sie vollende voll-endlich die genuine Intention des neuzeitlichen Idealismus. Die eine, frühere Position behauptet, Schelling prangere den Idealismus einschließlich des von ihm selbst inaugurierten Identitätssystems als bloß negative Philosophie an und erkläre diese zum Sündenfalls philosophischen Denkens gegenüber der Wirklichkeit. Dieses Urteil enthält die Auflage, apriorische Systemkonstruktionen ganz fallen zu lassen, um für das Geschichtliche und Kontingente, am Ende für die ewige Freiheit und Nicht-Notwendigkeit des handelnden Gottes offen zu werden. Das verlangt die Hinwendung zu einem an den Fakten der Schöpfung, an Sündenfall und soteriologischer Erlösung orientierten christlichen Theismus. Der hat Gott undialektisch zum Anfang; er beendet damit den idealistischen Pantheismus der von Spinoza inaugurierten Einheitssysteme. Und diese epochale Wende öffne sich wieder jenen Themen und Grundfragen, welche der spekulative Idealismus ausläßt oder in ihrer Tragweite verkennt und die Schellings ungeheure Freiheitsschrift und seine Weltalter-Philosophie tiefsinnig thematisiert hatten: die schlechthinnige Freiheit Gottes, die zerstörerische Realität und das Eigenprinzip des Bösen, den Schreckensgrund der Welt, die Schwermut in der Tiefe der Natur und des Gemüts, den Abfall der Kreatur als eine urzufällige Geschichte, Sündenfall, Rückkehr, Erlösung des partikulären Willens, endlich: die unabsehbaren Wirklichkeiten in Zeit und Geschichte, in Mythos und Offenbarung. Um all dem philosophisch angemessen gerecht zu werden und endlich wieder zu einer nicht a priori vorkonstruierten Wirklichkeit (und zum Faktum des Christentums) zurückzukehren, fordere Schelling rigoros den Ausbruch aus dem idealistischen Vernunftsystem, ver-
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künde das Ende der idealistischen Blütezeit und ermögliche den Neuanfang eines ›nachhegelianischen Spätidealismus‹. Der sogenannte Spätidealismus setzt also den Bemühungen einer Gedankenarbeit, die reine Subjektivität ins Absolute zu gründen und vollständig systematisch zu entfalten, ein Ende. Er erklärt diesen Hochidealismus für unvereinbar mit dem Christentum. Er löst den dialektischen Pantheismus durch einen ›spekulativen Theismus‹ ab, der einen abstrakten Deismus und eine philosophieleere Orthodoxie hinter sich läßt. Und er richtet sich nach der maßgeblichen geschichtlichen Wirklichkeit aus: nach der Welterscheinung des Christentums und dessen personaler, theistischer Gottesvorstellung. Gedanklich führend für diese philosophiegeschichtliche Bewegung sei die positive Philosophie des späten Schelling.21 Dagegen erklärt eine Gegenposition: Schellings Spätphilosophie breche nicht mit dem Deutschen Idealismus, sondern vollende ihn.22 Diese Epochenthese blendet weitgehend die religionsphilosophischen Gedankenmassen, aber auch Schellings religiöse Existenz aus. Sie konzentriert sich ganz auf den Vorgang einer kritischen Vernunftreflexion auf sich selbst. Somit komme die negative Philosophie ins Ansehen, selbst die Negation der Vernunft angesichts des Positiven, der unfaßlich freien Wirklichkeit Gottes zu vollbringen. Dabei modifiziert diese These die Ansicht dessen, was vollendeter Idealismus eigentlich sei. Im Namen des absoluten Idealismus leistet die philosophische Wissenschaft die Gedankenarbeit einer dialektischen Allesvermittlung und systematischen Versöhnung. Im Licht der negativen Philosophie dagegen erscheint der genuine Idealismus als kritische Selbstbegren-
21 Diese Sicht auf den geschichtlichen Umbau der neuzeitlichen Philosophie nach Hegel hat K. Leese eröffnet: Philosophie und Theologie im Spätidealismus, 1929. – Als postidealistische Epoche ist der Spätidealismus gleichsam kanonisiert worden durch H. Heimsoeth: Metaphysik der Neuzeit, 1929. – H. Fuhrmans endlich hat den späten Schelling ausdrücklich als geistigen Führer dieser epochalen Bewegung namhaft gemacht: Schellings letzte Philosophie. Die negative und positive Philosophie im Einsatz des Spätidealismus, 1940. 22 Eindrucksvoll sind die Thesen von W. Schulz: Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, 1955 ausgearbeitet worden. Sie holen die positive Philosophie in den Raum des Deutschen Idealismus so zurück, daß das geläufige Fortschrittsschema revidiert wird. Das Grundgeschehen der Epoche sei eben die Selbstbegrenzung der unbedingten Vernunft, da diese die Unerkennbarkeit des Absoluten, das reine Daß, erkennt. – Schelling als geistiger Urheber eines Spätidealismus wird als Legendenbildung durchstrichen.
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zung der reinen Vernunft. Das sei doch das Grundgeschehen in der Epoche der neueren Philosophie. In Erfüllung dieses Programms bilden negative und positive Philosophie zwei genuine modi progrediendi, welche zur Einheit einer philosophischen Wissenschaft von Gott gehören. Erst in solcher Ergänzung zu einem Ganzen scheint der Prozeß des transzendental-kritischen Idealismus wirklich als Wissenschaft vom Absoluten vollendet. Recht besehen ist die Essenzwissenschaft gar nicht falsch und kein Weg, der nur in die Irre führt. Sie ist unvollständig. In die Irre führt sie, wenn sie auf dem Grund und Boden einer negativen Philosophie behauptet, positive Wirklichkeits- und Offenbarungslehre zu sein. Das ist eben der Fall Hegels. Er betreibt negative Philosophie mit dem Anspruch der positiven. Dagegen erwachse die Wahrheit des Ganzen – und das Ganze ist wirklich die Wahrheit – erst aus der Unterscheidung und wechselseitigen Beziehung von negativer und positiver Philosophie. Daher trägt die Essenzwissenschaft mit Recht immer noch den alten Namen der »Ersten Philosophie«, freilich nicht mit der Aristotelischen Dignität einer grundgebenden Prinzipienwissenschaft. Aristotelische Arche-Forschung ist autark; sie erweist ontologisch das Sein des höchsten Seienden, nämlich Gott im Wesensanblick reiner Energeia/actus purus, und sie beweist onto-kosmologisch die Existenz dieses Gottes. Demgegenüber meint ›Erste Philosophie‹ im Vollendungssystem Schellings eine erste, vorläufige Wissenschaft, die einer grundlegenden zweiten bedarf. Erst in der Aufstellung einer »Zweiten Philosophie«, nämlich der positiven, vollendet sich das systembildende Geschäft des kritischen Idealismus. Dabei summieren sich erste und zweite Philosophie nicht nachträglich als Bestandteile, welche einander äußerlich sind, zur additiven Einheit. Die negative Philosophie ist, indem sie die positive setzt, deren Bewußtseinsmachung, und die positive wird, indem sie die negative einholt, deren Bestätigung im Wirklichen. So wird deutlich: in diesem Vollendungsstadium des Deutschen Idealismus findet keine Konversion zum Irrationalen statt. Für die Systembildungen der negativen Philosophie wird durch Schelling kein Bankrott angemeldet. Zwar mag man in Frage stellen, ob Schelling sein Ziel, den Übergang zwischen negativer und positiver Philosophie vollkommen klarzumachen, erreicht und die Aufgabe einer ›philosophischen Religion‹ bewältigt hat23,
23 Der eigentümliche Denkweg der positiven Philosophie findet sich in zwei großen Untersuchungen dargestellt, X. Tilliette: Schelling. Une philosophie en devenir,
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gleichwohl hat Schellings Spätphilosophie die Zweiheit der Philosophie aufgehoben und den Mangel eines Dualismus vermieden. »Denn die negative Philosophie für sich ist noch nicht Philosophie, sondern erst in Beziehung zur positiven. Immer wird sie der positiven Wissenschaft gegenüber sich mit dem Namen der ersten Wissenschaft (prote episteme) begnügen. Dagegen wenn sie sich für sich selbst mit dem Namen der ersten Wissenschaft begnügt (die sie als Wissenschaft aller Wissenschaften ist), wird sie der positiven den Namen der höchsten Wissenschaft zuerkennen. [...] Die Philosophie, wenn sie als negative allem vorausgeht, ist ebenso als positive die alles beschließende« (W XII 151 = SW XIII 151). Diese Einsicht in den Fortgang zur positiven Philosophie sollte deutlich machen: Die Annahme, negative wie positive Wissenschaft seien Philosophie, ist einzuschränken. Für sich und auf sich selbst gestellt, ist die negative Wissenschaft nicht wahre Philosophie. Entkräftet ist auch die Gegenposition, negative Philosophie sei der Sündenfall des Denkens. Erst in ihrem Fortgang zur positiven, höchsten Philosophie wird die erste Wissenschaft ein eigentliches Philosophieren. Darum ist sie nicht ganz und gar fallenzulassen. Wie aber ist dieser Fort- und Übergang systematisch und methodisch einzuholen? Das ist fragwürdig. Einerseits sieht sich doch eine Wissenschaft, die sich prinzipiell auf absolute Freiheit, Kontingenz und geschichtliche Zeitlichkeit, die nicht antizipierbar ist, einläßt, wie ein unabschließbarer Erkenntnisprozeß an. Sofern nun Abgeschlossenheit zum Kriterium des neuzeitlichen Systembegriffs gehört und seitdem die Einsicht gewachsen ist, daß es von Dasein und Existenz kein System geben kann, scheint die Rede von einer systematischen Vollendung des kritischen Idealismus durch Schelling mißlich. Und hat nicht die Gedankenarbeit des späten Schelling den stolzen Namen Philosophie als Vernunftwissenschaft und Vernunftsystem abgelegt und den Namen Weisheitsliebe (philo-sophia) angenommen? Andererseits gibt es durchaus ein systematisches Gefüge, das sich auf das absolute Sein in seiner durchgehenden Abfolge anwenden läßt. Daran muß zu
1970. – M. Vetö: De Kant à Schelling. Les deux voies de l’idéalisme allemand, 1998/2000. Tilliette macht deutlich: Schellings bald durchsichtige, bald undurchsichtige Lösungsversuche bleiben zweideutig, insofern sie bald von der Ekstatik der negativen, bald von der Nurexistenz der positiven Philosophie her unternommen werden. Zudem habe Schelling die Gedankenmassen der religionsphilosophischen Themen nicht bewältigt. – Einen ausgewogenen Bericht über diesen Forschungsstand bietet H. Zeltner: Schelling-Forschung seit 1954, 1976.
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Recht erinnert werden. So läßt sich eine Abfolge in der Seinsannäherung des Höchsten ausmachen. Sie entspricht genau der sich vollenden Dreiheit der Prinzipien oder Potenzen in der ewigen Natur. Diese sind in der Sprache der Weltalterlehre ausgesprochen: 1. der bejahende, reine Wille der Liebe, 2. der verneinende, seinsannehmende Wille, 3. der bewußte und im höchsten Grade Geist gewordenen Wille. Das eben ermöglicht eine folgerichtige Ansicht des grundsätzlich vollendeten Prozesses. »Wir können daher auch diese Folge der Offenbarung als eine Folge der Potenzen ansehen, die das Sein zu seiner Vollendung durchgeht« (Die Weltalter. Bruchstück, 1813; SW VIII 309). Am Ende kommt alles auf eine methodologische Bewährung und Festigung des Vollendungsprozesses an. Dafür ist in Anschlag zu bringen: Die Methode bahnt den Weg der negativen Philosophie von der Immanenz zur Transzendenz. Ihr Instrument ist die Selbstnegation der Vernunft. Diese setzt Gott als das »absolute Urständige« und »das eigentlich Transzendente« ekstatisch aus sich heraus. Dieser Vorgang geschieht nicht willkürlich und regellos, er vollzieht sich unausweichlich, insofern das Vernehmen Gottes in eine allseitige Krise gerät. Auf Beihilfe der Erfahrung muß solche Methode verzichten. Das gilt für die äußere Erfahrung der zweckmäßigen Errichtung der Welt als Ausgang physiko-kosmologischer Gottesbeweise wie für eine innere, schwärmerische Erfahrung mystischer Erleuchtungen; denn Gott selbst ist in keinem Modus der Erfahrung anzutreffen. Aber eben auch die reine, von Erfahrung unabhängige Vernunft als Vermögen folgerichtigen Schließens kann das Urständige denkend nicht erreichen; denn unser unverwandt objektivierendes Begreifen verdinglicht Gott. Das ist bekannte, transzendentale Kritik. Das Neue aber besteht in folgendem Schritt: Die darüber ent-setzte Vernunft setzt sich Gott als das Transzendente und Nichtwißbare voraus. Das einzige, was vom Anfang und Seinsgrund positiv zu wissen übrigbleibt, ist, daß sich Gott qua potentia existendi immer schon existent gemacht hat. Durch den Methodenschritt der Ekstasis also formiert sich aufs Neue der kritische Geist des von Kant methodisch gründlich angelegten Idealismus, und zwar mit der Radikalität einer ekstatischen Selbstnegation. Aber das ist nicht Ende oder Vollendung des Kritizismus. Mit dem kritischen Grundsatz, die reine Selbstvermittlung Gottes sei ihr unverfügbarer Anfang und Grund, gewinnt die Vernunft das Vermögen, die Welt und ihre Geschichte zu konstituieren, zurück. Die positive Philosophie entfaltet sich als erinnernder Nachvollzug des unvordenklichen Geschehens, in welchem sich das Transzendente immanent gemacht hat. Sie nimmt die DreiPotenzen-Lehre so in sich auf, daß die Geschichte der mythologischen und
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der christlichen Zeit sowie der Anbruch einer Religion des Geistes und der Freiheit verstehbar wird. Darin nun steht die äußerste Möglichkeit einer philosophischen Wissenschaft von Gott offen. In ihr vermittelt sich die Vernunft so weit mit sich selbst, wie sie durch das unvordenkliche Wirken Gottes vermittelt ist. 3. Kapitel: Beleuchtung der Schlußapotheose: Schelling, der Vollender Schelling hat das Vollendungsprivileg für seine systematische Grundlegung wahrer Philosphie in der Geschichte der Neuzeit gerade auch in den späteren Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie behauptet. Mit solchen Vorträgen leitet er seine Münchener Vorlesungstätigkeit 1827 ein. Ein Zielpunkt darin ist die Abrechnung mit Hegel und dessen Anspruch, alle Gegensätze der Seinsauslegungen endgültig vermittelt zu haben. Indem Schelling solchen Hegemonieanspruch des Hegelianismus systematisch wie philosophiegeschichtlich entkräftet, stellt er seine zweifache Heilstat, die Entdeckung des Identitätssystems und den kritischen Übergang zur positiven Philosophie, in ihrer Einzigartigkeit öffentlich heraus. Mithin kreist auch diese Wegphase Schellingschen Denkens immer noch unentwegt um die philosophische Auflösung der Ursprungsforschung des Unbedingten, um die Wahrheit und Unverborgenheit des Absoluten, nunmehr aber von der Aufgabe angetrieben, die Besinnung auf das Absolute einem in sich befangenen logisch-dialektischen Denken zu entwinden, um zur wahren Wirklichkeit des geschichtlich offenbaren Gottes durchzustoßen. Darum ist der Abschnitt über Hegel in den Münchener Vorlesungen zur Geschichte der neueren Philosophie für die Spätphilosophie signifikant.24
24 T. Rockmore: On Schelling’s Critique of Hegel, 2000 holt für seine Erörterung dieses Abschnittes der Münchener Philosophiegeschichte die komplexe Auseinandersetzung dieser beiden großen Geister ein, beurteilt die Kritik der Hegelschen Logik durch Schelling als Mißverständnis und führt den Konflikt eigenwillig auf die Differenz zwischen Schellings religiösem Intuitionismus und Hegels säkularisiertem Rationalismus zurück. – Die Abhandlung von J.-M. Vaysse: Schelling contra Hegel, 2000 hat auch diese Auseinandersetzung im Blick, stellt aber Bezüge zum Einfluß Hölderlins, zu Aristoteles, zu Schellings Weltalter- und Freiheitsschrift her, um schließlich Schellings Frage nach der Existenz an die Philosophie Heideggers zu verweisen.
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Dabei kulminiert die Hegel-Kritik in der These: Hegels große Logik ist nicht einmal die Vollendung der negativen Philosophie. Sie überschreitet illegal deren Selbstbegrenzung und verfehlt den Übergang zur positiven Philosophie, welche den Ursprung der reinen Existenz, des Nur-Daßseins, in die unvordenkliche Freiheit Gottes setzt, und zwar durch eine notwendige Unterwerfung der Vernunft. Das demonstriert Schelling insbesondere im Blick auf den Grundriß von Hegels Logik. »Seine Meinung ist: Gott ist nichts anderes, als der Begriff, der stufenweise zur selbstbewußten Idee wird, als selbstbewußte Idee sich zur Natur entläßt, aus dieser in sich zurückkehrend zum absoluten Geist wird« (W V 197 = SW X 127). Dieser Grundriß beansprucht zugleich, vollkommene Erkenntnis der christlichen Trinitätslehre zu sein. Schelling faßt Hegels Darstellung des Dogmas komprimiert zusammen. »Gott der Vater, vor der Schöpfung ist der reine logische Begriff, der in den reinen Kategorien des Seyns sich verläuft. Der Gott aber muß sich [...] offenbaren, und diese Offenbarung oder Entäußerung seiner ist die Welt, und ist Gott, der Sohn. [...] Gott muß auch diese Entäußerung, diese Negation seines bloß logischen Seyns wieder aufheben und zu sich zurückkehren, welches durch den Menschengeist geschieht in der Kunst, in der Religion und vollständig in der Philosophie, und dieser Menschengeist ist zugleich der heilige Geist, wodurch Gott erst zum vollkommenen Bewußtseyn seiner selbst kommt« (W V 198 = SW X 128). Schellings Einspruch richtet sich auf zwei Bruchstellen dieses ontotheologischen Kreisganges, nämlich auf die Vergöttlichung des Begriffs wie auf den fragwürdigen Übergang von der Logik zur Naturphilosophie, d.i. auf die Vermischung Gottes im Stande der absoluten Idee mit dem existierenden Gott als effizientem Ursprung der Weltwirklichkeit. Das proton pseudos ist die Überhebung des Begriffs zum Gedanken, der zugleich Realität und die Sache in ihrer Wahrheit selbst ist, und nichts außer sich als ihm äußerlich zurückläßt. So wird transzendentale Logik ontotheologisch. Sie übersteigert die reinen apriorischen Formen des Denkens zu Wesensgedanken Gottes vor der Schöpfung. Kritisch betrachtet bleibt Hegels Logik zwar die reichste, dichteste, umfänglich abgestufteste Kategorienlehre, welche die abendländische Philosophie kennt, aber sie geht nicht in einer Selbstbewegung aus dem unmittelbaren unbestimmten Sein zum konkreten Gedanken des Werdens fort und über die Stufen der Wesens- und Begriffslogik bis zur Vollendung im Gedanken der absoluten Idee fort. Der Reichtum und die Fülle kategorialen Seins entfaltet sich, kritisch reflektiert, durch das Andenken des philosophierenden Bewußtseins
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und hat seine Notwendigkeit darin, daß der Andenkende ein so reiches Sein in einer Erinnerung hält, die ihn nicht bei jeder leeren Abstraktion stehen und anhalten läßt. Weil Hegels Vergöttlichung des Begriffs die Schranken einer selbstkritischen Vernunftwissenschaft überfliegt und im Übergang zur Position des Existenten außer dem logischen Reich der Ideen und Wesensmöglichkeiten verfehlt, verfällt Hegels Systemvermittlung auf einen fatalen Ausweg. Sie erklärt das Ende der Logik, die absolute Idee, zum freien Ursprung eines Übergangs, der von der Logik zur Naturphilosophie führt. Schelling zitiert den einschlägigen Schlüsselsatz von Hegels Enzyklopädie § 191: »Die Idee in der unendlichen Freiheit, in der Wahrheit ihrer selbst, entschließt sich, sich als Natur oder in der Form des Andersseyns aus sich zu entlassen« (W V 223 = SW X 153). Das ist vom Standpunkt der positiven Philosophie aus ganz und gar schief. Mißlich ist die Ansicht der Natur als Außersichsein und Abfall der Idee von sich, fragwürdig ist der Fortgang der absoluten Idee im Status freien Sichentschließens und undurchdringlich bleibt das Warum dieser Entschließung. Zuerst: die aus dem Logischen herausgesetzte Natur ist konsequentermaßen unlogisch; die vom Logischen entblößte Welt, die anfängt, wo das Logische aufhört, das ist die Natur überhaupt als Agonie des Begriffs. Hegel selbst eben hat die Natur als Abfall der Idee von sich selbst als ein Zerfallen in die Äußerlichkeit von Raum und Zeit bestimmt. Daher sei von der Natur nur Abfälliges zu sagen. »In ihr sei der Begriff seiner Herrlichkeit entkleidet, ohnmächtig, sich selbst untreu geworden« (W V 222 = SW X 152). Das ist für Schelling unerträglich. Unüberhörbar desavouiert diese Entheiligung der Natur als Idee in ihrem absoluten Anderssein Schellings Identitätssystem. Dieses enthält doch gerade die logische Entwicklung der Natur in sich, so daß ein Übergang zur Natur außer sich, gar als Übergang ins Alogische, unverständlich ist. So mißlich die Unterbestimmung der von der Idee abgestoßenen Natur ist, so rätselhaft ist das Abfallen der absoluten Idee von sich und durch sich selbst. Undurchsichtig ist die Notwendigkeit der Idee, sich überhaupt weiterzubewegen; denn im Reiche der Logik kann sie gar nicht fortschreiten, sie bildet ja das Endziel und den vollständigen Reichtum aller Seins-, Wesensund Begriffsbestimmungen. Und ein Abbruch ins Anderssein bringt sie erst recht nicht weiter. In der Idee liegt gar kein Beweggrund, sich weiterzubewegen oder anders zu werden. Und auch die geläufige Hegelianische Antwort führt nicht weiter. Die in sich durchbestimmte Idee sei das Wahre, das aber
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aus sich herausgehen muß, um die Macht ihrer Wahrheit zu bewähren. Das sind Vorspiegelungen. Unmöglich braucht die Idee sich für sich selbst zu bewähren. Sie weiß sich ja bereits als die Macht gesichert, die auch im Anderssein bei sich bleibt. Vielmehr ist die Bewährungsprobe allein für eine Philosophie wünschbar, welche die Natur, die geistige Welt, die Weltgeschichte zu Bewährungen der absoluten Vernunft in allem erklärt. »Denn man würde einer Philosophie lachen, die bloß Logik im Hegelschen Sinne wäre, und von der wirklichen Welt gar nichts wüßte [...]. In der Logik liegt nichts Weltveränderndes. Hegel muß zur Wirklichkeit kommen« (W V 223 = SW X 153). Es bleibt die Hegelsche Auskunft, die Idee habe sich in ihrer unendlichen Freiheit entschlossen, sich aus sich als Natur zu entlassen. Das könnte man bestenfalls theosophisch gutheißen. »Jacob Böhme sagt: die göttliche Freiheit erbricht sich in die Natur« (W V 223 = SW X 153). Wörtlich genommen aber setzt sich der Einspruch durch: Ein bloßer Begriff kann sich überhaupt nicht entschließen. Für einen freien Entschluß aus Freiheit braucht es ein wirklich Existierendes. Und das ist der Gott der positiven Philosophie. Aber davon ist Hegels Vernunftdialektik durch einen Graben getrennt. »Wer übrigens noch hätte zweifeln können, daß die Idee am Ende der Logik als die wirklich existirende gemeint sey, müßte sich jetzt davon überzeugen: ein bloßer Begriff kann sich nicht entschließen. Es ist ein böser Punkt, bei welchem die Hegelsche Philosophie hier angekommen ist, [...] ein garstiger breiter Graben« (W V 223-224 = SW X 154). Das alles ergibt ein verheerendes Urteil über die Schlüssigkeit und Reichweite des Hegelschen Denkweges. Er mache nicht an einer Selbstbegrenzung der Ideen- und Vernunftwissenschaft Halt, sondern führe zu einer Überspanntheit, indem er das Logisch-Mögliche in das Real-Wirkliche übergehen und von sich abfallen lasse. Hegels Philosophie ist daher eben durch die Prätension auf objektive, reale Bedeutung »um ein gut Theil monströser geworden, als die vorhergehende je war, und daß ich daher dieser Philosophie nicht Unrecht gethan habe, wenn ich sie – eine Episode nannte« (W V 198 = SW X 128). In seinem Brief an Christian H. Weiße vom 6. September 1832 schreibt Schelling noch ungeschminkter. »Die sogenannte hegelsche Philosophie kann ich in dem, was ihr eigen ist, nur als eine Episode in der Geschichte der neueren Philosophie betrachten, und zwar als eine traurige. Nicht sie fortsetzen, sondern ganz von ihr abbrechen, sie als nicht vorhanden betrach-
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ten muß man, um wieder in die Linie des wahren Fortschritts zu kommen.«25 5. Abschnitt: Schellings Lehre von der Wahrheit als Unverborgenheit. Wiedereinholung einer Gegenstellung 1. Kapitel: Über die Umstellung der Wahrheitsoffenbarung in der Wirklichkeitserfahrung positiver Philosophie Die erste Vorlesung zur Einleitung in die Philosophie der Offenbarung (W XII 3-17) führt zur positiven Philosophie als jener vollendeten Lehre von der Wahrheit hin, deren unser Zeitalter am dringlichsten bedürfe. Ihr nämlich komme es zu, die schon von Leibniz aufgeworfene Frage aufzulöse, welche den Menschen am tiefsten beunruhige: Warum ist und wozu geschieht überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Darauf stößt die Sinnfrage nach dem freien Handeln des Menschen in geschichtlicher Welt. Wohin führt die unermüdliche Arbeit und Mühe des Menschengeschlechts? Der Anblick der Welt und ihrer Geschichte ist anscheinend trostlos. Geschlechter kommen, um zu vergehen. Jegliches Geschehen versinkt in Vergangenheit. Alles geschieht umsonst. Diese nihilistische, zu allen Zeiten erhobene Klage des ewigen Umsonst macht menschliches Tun unbegreiflich. »Weit entfernt also, daß der Mensch und sein Thun die Welt begreiflich mache, ist er selbst das unbegreiflichste [...]. Gerade er, der Mensch, treibt mich zur letzten verzweiflungsvollen Frage: warum ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?« (W XII 7). Darauf eine zureichende Antwort zu finden, ist Aufgabe einer unentbehrlichen philosophischen Wahrheitslehre. Vom Philosophen ist zu verlangen, den Menschen seiner Verzweiflung und Angst vor dem Nichts zu ent-
25 Der Widerstreit mit Hegel bringt Schellings Spätphilosophie in eine vergleichbare Position mit Fichtes ungeschriebener Lehre. So arbeitet P. Baumanns: Fichtes und Schellings Spätphilosophie, 1989 im Hinblick auf Schellings theokosmische Spekulationen in den Weltalter-Entwürfen und deren Modifikation durch die Zweiphasigkeit von negativer und positiver Philosophie Ansatzpunkte für einen Vergleich heraus: in der Selbstoffenbarung des Absoluten, zu dem sich die unterschiedliche Substruktur (Fichtes Reflexionsgewölbe – Schellings trinitarische Heilsgeschichte) gleichermaßen wie Identität zu Indifferenz verhalten. Übereinstimmend gelte aber auch für beide Spätphilosophien, daß zwischen dem Absoluten und seiner Offenbarkeit eine Verbindungslücke klaffe.
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reißen. »Kann ich jene letzte Frage nicht beantworten, so sinkt alles andere für mich in den Abgrund eines bodenlosen Nichts« (W XII 8). Nun ist der Anblick der gegenwärtigen Philosophie zweideutig. Nie gab es eine Epoche, da nicht mehr bloß ein gewisses logisches und dialektisch-eristisches Argumentieren eingeübt, sondern die großen Fragen und Themen – die Freiheit des Menschen, der Sinn von Existenz, Grund und Wirklichkeit, das Geschehnis der Wahrheit – eindringlich in Angriff genommen wurden. Und es gab zugleich kein Zeitalter, das vom Ziel, dem Begreifen der Wahrheit, dem Verstehen des Sinnes von Sein weiter abgekommen wäre. Dieses Urteil Schellings gilt wohl immer noch, zumal in unserer geschichtlich total präzisierten, sinnentstellten Welt. Also ist es immer noch Bedürfnis unseres Weltalters, den Grundsatz zu restituieren, »daß die Wahrheit um jeden Preis, auch um den schmerzlichsten, gewollt werde« (W XII 10). Daher ist Kants Vernunftkritik und das daraus resultierende begeisterte und strittige Ringen um das wahre Fundament alles Wissens und um die Grundlegung menschlichen Daseins und Lebens aufzunehmen, in der Absicht, den Standpunkt der Wahrheit zu erreichen, da das Wissen des Wissens fest gegründet ist und die Verzweiflung des Menschen an der Wirklichkeit und die Angst vor dem drohenden Nichts zur Ruhe kommen. Dieses Ziel aber sei nur dadurch zu erreichen, daß die Wahrheitstheorien der tradierten und etablierten negativen Philosophie auf die Wirklichkeitserfahrung einer positiven Philosophie umgestellt werden. Nur dadurch könne eine zureichende Lehre von der Wahrheit ihr Ziel und ihren Abschluß finden. Nun ist diese Wahrheitsrevolution weithin vergessen. Um sie wieder einzuholen, ist zuerst und vor allem die Gegenstellung der positiven Philosophie in dieser Frage in Erinnerung zu bringen. Positive Philosophie nämlich streitet mit einem Wahrheitswesen, das auf der gründlich begriffenen Subjekt-Objekt-Einheit beruht. Das sei immer nur der Anfangsgrund für das Wahrseinkönnende und lasse die Frage nach der wahren Wirklichkeit und Existenz aus. Sie verfehle damit die ganze Wahrheit als Wahrheit des Ganzen. Schellings kritische Gegenstellung läßt sich auf einer einfachen Überlegung aufbauen. Jeder Begriff, sei es der empirische, der reine oder der spekulative, faßt das in Gedanken, was eine Sache ermöglicht, wesenhaft diese Sache an sich zu sein. Der Begriff ist das gedachte wesenhafte Wassein (quid est). Ist ein Sachwesen nur in seinem Begriff anwesend wie bei mathematischem Wissen oder wie in Hegels Gedanken-Logik, dann bildet der Begriff die Anwesenheit der Sache selbst vor, aber eben nur im Sinne essentiellen Seinkönnens und nicht in der Seinsbedeutung der Wirklichkeit. Das
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Existieren hier und jetzt im Modus geschichtlicher Kontingenz entzieht sich offenkundig der reinen Vernunft. Es ist nur auf dem Wege der Erfahrung zugänglich. Bedeutet nun wahres Wirklichsein primär ein Daßsein (quod est), dann begreift der Begriff nicht mehr als ein seinsloses Seinkönnendes bzw., modal abgewandelt, ein Seinmüssendes bzw. etwas Seinsollendes. Dieses Defizit gilt total für das Begreifen des absoluten Prius, sofern dieses das »rein Existierende« ist. Es ist begrifflos und unbegreiflich. Es ist derjenige Abgrund, den die Sprache des Begreifens niemals überbrückt. Konsequenterweise läßt die positive Philosophie an ihrem Anfang den Begriff fallen. Sie verläßt damit endgültig den klassischen Weg des ontologischen Gottesbeweises, der vom Begriff aus zur Existenz Gottes führen will, den Kants These vom Wirklichsein »Sein ist kein reales Prädikat« zerstört und den Hegels Begriffslogik wiederaufgebaut hat. Dadurch nun, daß der Erste Anfangsgrund zu einem Unbegreiflichen und der Vernunft Verborgenen wird, wandelt sich die Wahrheitserfassung zu einem übervernünftigen, nicht etwa widervernünftigen, irrationalen Wahrheitsgeschehen. Das Ereignis der Wahrheit ist Offenbarung, dergestalt, daß zur Bewegung des Offenbarmachens das Durchbrechen einer Verborgenheit gehört. Das stellt die Lichtmetaphysik und deren Wahrheit als Aufspringen des Lichtes um. Die Basis der Lichthelligkeit ist das Dunkel. Die Manifestation des Lichtes und der Wahrheit geschieht im Gegenzug von Offenbarung und Verbergung. Diesen Wahrheitsursprung stellt eine Leitthese von Schellings Philosophie der Offenbarung fest (W XII 187): »Überhaupt setzt schon der Begriff der Offenbarung oder eines sich Offenbarenden eine ursprüngliche Verdunkelung voraus. Sich offenbaren kann nur, was einst verborgen worden.« Existenzontologisch heißt das: Gott als das bloß Existierende hält anfänglich mit sich zurück. Indessen, der Gott der positiven Philosophie ist kein Deus absconditus totaler Verborgenheit. Dagegen spricht »das alleinige, das höchste und über allem schwebende Weltgesetz« (W XII 8). Es besagt, daß nichts verborgen bleibe, daß alles offenbar werde, daß alles klar, bestimmt und entschieden sei. Dieses neue Gesetz der Wahrheit wiederholt nicht etwa bloß die Platonische und Cartesianische Wahrheitsbestimmung, beide komplementär zusammenfassend: das Offenbarwerden der Ideenwelt im Lichte der Vernunft und die zur Gewißheit gewordene, vom unentschiedenen Zweifel gelöste Offenheit und Klarheit der Vorstellung. Schellings höchstes Weltgesetz spricht vom Wahrheitsereignis in neuer Weise, nämlich als Vorgang
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eines Geschehens, in welchem ein anfänglich Verborgenes und Unbegreifliches als Basis der Lichtung zu entschiedener Offenheit durchbricht. 2. Kapitel: Der Weg zur Wahrheit von der intellektuellen Anschauung zur entsetzenden Ekstasis Ist Wahrheit ein Ereignis unvordenklichen Entbergens, wie sind dann unser selbstbezügliches Wissen und unser endlich-sterbliches Sehen diesem Wahrheitsgeschehen zugeordnet? Das ist eine unabweisbare Frage kritischer Selbstbesinnung. Sie ist im Blick auf Schellings Entdeckung der Wahrheit als Un-Verborgenheit zu skizzieren. Dieser Weg führt von der intellektuellen Anschauung zur ent-setzenden Ekstasis. Das Schlüsselwort für die anfängliche Auffassung, welche Wahrheit als Evidenz der absoluten Einheit von Denken und Sein versteht, heißt intellektuelle Anschauung. »Die Einheit des Denkens und Seyns nicht in dieser oder jener Beziehung, sondern schlechthin an und für sich selbst, mithin als die Evidenz in aller Evidenz, die Wahrheit in aller Wahrheit, das rein Gewußte in allem Gewußten erblicken, heißt, sich zu der Anschauung der absoluten Einheit und dadurch überhaupt zur intellektuellen Anschauung erheben« (Fernere Darstellungen, 1802; W VII 416 = SW IV 364). Also vermag es unser Sehen in den Schranken endlicher Erkenntnis, die Wahrheit in aller Wahrheit zu erblicken. Das fragt nach der Evidenzerfahrung des Wahrheitsgrundes, der allem Gewußten in der Übereinstimmung von Denken und Sein, von Subjekt und Objekt, von Idealem und Realem vor- und zugrundeliegt. Das eben ist die schlechthinnige Einheit von Denken und Sein; denn allein die Indifferenz von Subjekt und Objekt ermöglicht und verbürgt einheitlich, daß in unserem gegenständlichen Wissen Denken und Sein, Subjekt und Objekt richtiggehend übereinstimmen. Wie aber kann dieser ewige Wahrheitsgrund uns evident werden? Nun kann der Grund alles objektiv Gewußten unmöglich selbst Objekt unserer Erkenntnis sein und sinnlich, zeitlich, räumlich angeschaut werden. Gleichwohl kommt der Wahrheitsgrund zur Evidenz – dank des Organs der intellektuellen Anschauung (das für Kant noch ein hölzernes Eisen war). Das Auge intellektuellen Anschauens öffnet sich, indem sich das Auge einer objektivierenden Weltanschauung schließt. Menschliches Einsehen wird durch die Grenzbesinnung der Ersten Philosophie zum Ort, an welchem die göttliche Vernunft sich selbst erkennt. »Nur in der höchsten Wissenschaft schließt sich das sterbliche Auge, wo
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nicht mehr der Mensch sieht, sondern das ewige Sehen selber in ihm sehend geworden ist« (Kritische Fragmente; W IV 182 = SW VII 248). Solcher Aufstieg der höchsten Wissenschaft zum Ersehen des Wahrheitsgrundes erfordert es, alles gegenständliche Erkennen zu übersteigen und das endlich-menschliche Ich als Ort der Wahrheit zu verlassen. Das beschränkte Ich und dessen gegenständlicher Weltbezug muß am Ende als Gründungsstätte aller Wahrheit und Gewißheit nihiliert werden. Das ist eine frühe Einsicht Schellings. »Der letzte Endzweck des endlichen Ich sowohl als des Nicht-Ich, d.h. der Endzweck der Welt, ist ihre Zernichtung, als einer Welt, d.h. als eines Inbegriffs der Endlichkeit« (Vom Ich 1795 § 14; W I 124-25 = SW I 200-201). Wird nun auf diesen vermittelnden Prozeß kritischer Selbstaufhebung geachtet, dann greift Hegels dreifacher Einspruch ins Leere. Die intellektuelle Anschauung sei ein Unmittelbares; sie werde einfachhin gefordert; sie sei bloß zufällig, da sie zur einzigen Bedingung philosophisches Talent oder gar Genie mache. Dagegen ist die Erhebung zum intellektuellen Anschauen ein ebenso vermittelter wie notwendiger Prozeß. Er bestimmt den Gang des Wissens, das sich zum Wahrheitsgrund des Absoluten erhebt; denn er führt weg von der Bodenlosigkeit eines verabsolutierten menschlichen Subjekts und löst sich von dessen vergeblicher Bemühung, das Urständige vergegenständlichen zu wollen. Der Eingang in das Licht der intellektuellen Anschauung bricht zum Wissensstande durch, in welchem nicht nur das Ewige im Ich, sondern das sich im Ich sehende Ewige selbst zu erblicken ist. Solche das Ich negierende positive Wendung verstärkt der Erlanger Vortrag von 1821 Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft. Er setzt anstelle des Problemwortes ›intellektuelle Anschauung‹ den sprechenderen Ausdruck ›Ekstase‹.26
26 Die gedankenreiche, zumal Schellings Spätphilosophie beziehungsreich einbeziehende Darstellung von L. Hühn: Fichte und Schelling. Oder: Über die Grenze menschlichen Wissens, 1994 verfolgt die These, im Idealismus sei von Beginn an die Tendenz einer Selbstaufhebung am Werk, insofern aller Grundlegung einer reinen Subjektivität von Anfang an die Erfahrung der Grenze und Ohnmacht eingewurzelt sei. Solch frühe Einsicht trete in Fichtes Spätphilosophie in der Gestalt einer negativen Theologie heraus, welche die Absolutsetzung neuzeitlicher Subjektivität negiert. Am dramatischsten aber ziehe Schelling die Konsequenz in der Ortsanweisung der Ekstasis; denn sie verlange eine ›Selbstaufgabe‹, da der Mensch von allem ›lasse‹, was ihn in seinem ›Selbstbesitz‹ auszeichne, so daß sich das Selbst in der Ekstasis kathartisch verwandle.
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»Nämlich unser Ich wird außer sich, d.h. außer seiner Stelle gesetzt. Seine Stelle ist die, Subjekt zu sein. Nun kann es aber gegen das absolute Subjekt nicht Subjekt sein, denn dieses kann sich nicht als Objekt verhalten. Also es muß den Ort verlassen, es muß außer sich selbst gesetzt werden, als ein gar nicht mehr Daseyendes. Nur in der Selbstaufgegebenheit kann ihm das absolute Subjekt aufgehen, in der Selbstaufgegebenheit, wie wir sie auch in dem Erstaunen erblicken« (W V 23 = SW IX 229). Ekstasis meint eben wörtlich: Entsetzung von einer Stelle. Das ist dann unheilvoll und führt zu einem bedingungslosen Außersichsein, wenn etwas aus seinem Ort gestoßen und entrückt wird, der ihm wesensgemäß zukommt. Die entsetzend-verrückende Ekstase ist heilsam und führt zur Besinnung zurück, wenn etwas aus einem Ort entfernt wird, der ihm nicht gebührt. Die kritisch besonnene Ekstasis nun entsetzt das Subjekt einer Vernunftwissenschaft, das am falschen Orte steht. Das ist ein Ich auf dem eigenen Grund und Boden der Wahrheit. Dessen Entsetzung geschieht als Selbstabdankung. Das seiner Beschränktheit, Grenze und Ohnmacht bewußt gewordene Ich gibt seine oberste Prinzipienstellung selbst auf. Die ekstatische Selbstaufgabe gewinnt innerhalb der Scheidung von negativer und positiver Philosophie an Radikalität. Weil das absolute Prius und bloß Existierende allem Ideendenken unerreichbar, unvordenklich vorausgeht, muß die Vernunftwissenschaft ihren Standpunkt als festen Ort der Wahrheit aufgeben. »Das bloß – das nur Existierende ist gerade das, wodurch alles, was vom Denken herkommen möchte, niedergeschlagen wird, das, vor dem das Denken verstummt, vor dem die Vernunft selbst sich beugt; denn das Denken hat eben nur mit der Möglichkeit, der Potenz zu thun« (Philosophie der Offenbarung I 8. Vorl.; W XII 161). Die ekstatische Selbstaufgegebenheit aber beugt nicht nur nieder und entsetzt, sie befördert den Vollzug negativer wie positiver Freiheit. Durch sie wird die Vernunft frei davon, sich selbst Objekt sein zu wollen und darin immer nur die unendliche Potenz des Seins finden zu können. Kommt die Vernunft davon los, dann wird sie staunend dazu frei, sich wesensnotwendig das unendlich Existierende vorauszusetzen. So aus sich herausgesetzt erstarrt sie gleichsam vor Staunen. (Stupor, thambos – das ist das Staunen als Anfang und Ende des Philosophierens.) »Aber sie erstarrt dem alles überwältigenden Seyn nur, um durch diese Unterwerfung zu ihrem wahren und ewigen Inhalt, den sie in der Sinnenwelt nicht finden kann, als einer wirklich erkannten zu gelangen« (W XII 165).
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Am Ende kehrt die Anfangsfrage nach dem obersten Wahrheitsgrund zur Unruhe eines metaphysischen Zweifels zurück. Das initiale Anfangsproblem stellt sich im Horizont von Schellings positiv-philosophischer, ekstatischer Besinnung auf die Unverborgenheit des Nur-Existenten so: Wie kommt es zu jener Krise, in welcher die Vernunftwissenschaft ihren usurpierten Ort räumt, um für das Offenbarungs- und Entbergungsgeschehen Platz zu machen? »Wie kann aber der Mensch zu dieser Ekstase gebracht werden, welches so viel heißt als: wie wird der Mensch zur Besinnung gebracht?« (W V 24 = SW IX 230). Schellings Bescheid lautet: Es ist der zerreißendste Zweifel, welcher zur Besinnung über das Ordnungs- und Fundierungsverhältnis von Vernunft und Wahrheit führt; dieser Zweifel zerreißt den Zustand der Spannungslosigkeit und Gleichgültigkeit, da ihm die gedachte Wesensmöglichkeit und das existierende Wirkliche gleichviel gilt, und erzeugt die gespannte Unruhe, den Grund des Wirklichen und Wahren – unter den Namen absolutes Subjekt, ewige Freiheit, lauterer Wille – sich ausdenken zu wollen und es nicht zu können. So findet sich das vernünftigste Lebewesen umgetrieben, ein Urständiges zu suchen, das alle Vergegenständlichung flieht. »Dieser innere Umtrieb ist der Zustand des zerreißendsten Zweifels, der ewigen Unruhe« (W V 25 = SW IX 231). So führt Schelling den metaphysischen Zweifel Descartes’ auf die ewige Unruhe menschlichen Existierens und Wahrheitsuchens zurück. Er löst den Prozeß der ekstatischen Selbstentsetzung und eröffnet eine Freiheit, welche für das Ereignis der Entbergung frei wird. Im Ganzen erfaßt Schellings Spätphilosophie das Wahrheitsgeschehen der Unverborgenheit, indem sich die positive Philosophie vorzüglich auf drei notwendige Bedingungen ihrer Erfahrung besinnt: daß unser sterbliches Auge sich schließt, daß unser Ich ekstatisch außer sich gesetzt und in starrem Staunen entsetzt wird, daß ein zerreißender Zweifel unser Existieren in ewige Unruhe versetzt. Erst eine Besinnung auf eine solche Selbstaufgabe des Ich vermag es, das Ereignis der Unverborgenheit als Offenbarungsgeschehen des Wahrheitsgrundes durchsichtig zu machen. Damit rückt Schellings Spätphilosophie am nächsten an Fichtes ungeschriebene Lehre heran und weicht am weitesten von ihr ab.
Teil II: Hegel Schellings philosophiegeschichtliches Todesurteil ist niemals exekutiert worden. Zwar hat die Reszendenzbewegung der großen Revolutionäre des 19. Jahrhunderts, Kierkegaard und Marx, Hegels Grundlegung des absoluten Geistes existenztheologisch wie politisch-ökonomisch als illusionäre Transzendenz entwurzelt. Die eindrucksvolle Hegel-Renaissance der neueren Idealismusforschung aber hat es verhindert, Hegels Denkweg als traurige Episode und heillosen Irrgang zu verlassen. Stattdessen ist Hegels genialer Systementwurf als Vollendung der Metaphysik durchsichtig gemacht und als systematische Entfaltung der platonischen Hypothesis des Eidos wieder ernsthaft zur Diskussion gestellt worden, und zwar unter weitgehender Abblendung der beiden anderen, in der neueren Forschung ebenfalls in den Mittelpunkt gerückten Vollendungsgestalten des Deutschen Idealismus, eben der Spätphilosophie Schellings seit seiner Freiheitsschrift und der Darstellung der Fichteschen Wissenschaftslehre in den Vorträgen seiner ungeschriebenen Lehre. Im restitutiven Vorgriff auf die Blütezeit des Deutschen Idealismus im Stadium seiner dreifachen Vollendung ist Hegels grandioser, geistvoller Systementwurf in seinen Eckpunkten zu problematisieren. Das sind der Endstand der Phänomenologie des Geistes, der Anfang der Seinslogik sowie der Übergang der absoluten Idee einer Ontotheologik zur Realphilosophie. Und es ist der Widerstreit Hegels gegen den Vollendungsanspruch von Fichtes Wissenschaftslehre zu verfolgen. Das gelingt vorzüglich auf dem problematischen Wege einer metaphysischen Sollenskritik. 1. Abschnitt: Vollendung der Vernunftwissenschaft als System? Nachfragen 1. Kapitel: Hegels Zusammenschluß von Wissenschaft und System. Wiederholung eines Vollendungspostulats Ein fester Maßstab, an dem die Vollendung der Philosophie als Wissenschaft in der Neuzeit gemessen wird, ist ihr Systemcharakter. Hegel macht
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es nachdrücklich klar, »daß das Wissen nur als Wissenschaft oder als System wirklich ist und dargestellt werden kann« (TWA 3, 27). Wissenschaft und System sind Synonyme. Eine Philosophie ohne systematische Abgeschlossenheit und Kohärenz kann nicht wissenschaftlich heißen. Unsystematisches Philosophieren verfährt zufällig und bleibt fragmentarisch. Was sich zumal nach dem ›Zusammenbruch‹ des Hegelschen Systems ausbreitet, ist belletristische Essayistik und eine Aphoristik von Geistesblitzen. Diese Darstellungsart legitimiert sich dadurch, daß sie die Möglichkeit einer in sich geschlossenen Systembildung aus einem Stück durchstreicht. Sie gibt der Philosophie als strenger Wissenschaft den Abschied. Nach Hegels Votum aber bringt sie es nicht zur Einsicht ins absolute und totale Selbsterkennen der Vernunft und bleibt unvermögend, ein absolutes Wissen dialektisch als Vermittlung der Wahrheit, die doch das Ganze ist, darzustellen. Die Systemanforderung beleuchtet eine Philosophiegeschichte, die nicht zusammenhanglos, sondern die Arbeit eines Geistes und das Werk von Jahrtausenden ist. Seit dem Aufbruch der Metaphysik durch Platos und Aristoteles’ Ideenlehre bietet philosophisches Denken ein System in geschichtlicher Entwicklung dar. Dabei nimmt die dem geschichtlichen Zeitalter nach spätere Systementfaltung stets das Resultat der vorhergehenden Grundgedanken, sie ergänzend, in sich auf. Ein System kann so zur gedankenreichsten und aufgeschlossensten Darstellung gelangen, weil es alle »in düsterer Unmittelbarkeit« aufgetretenen Vorstufen aufhebt und vermittelt. So kommt am Ende der weltgeschichtlichen Arbeit des Begriffs die Wahrheit des Ganzen vollständig und evident zu Tage: als Totalität aller Wissensbezüge, deren lebendiges Gesetz die Idee der Vernunft und deren Subjekt das Absolute ist. Nun hat auch Fichtes ungeschriebene Lehre eine evidente und vollendete Systembegründung eingefordert. Das Proömium der W.L. 1804-II gibt diese Aufgabe vor. Die Wahrheit darzustellen verlangt, alles Mannigfaltige auf absolute Einheit in die Einfachheit eines Einheitsgrundes zurückzuführen. Das zeichnet den Umriß einer vollendeten Systembildung vor und gibt ein Kriterium an die Hand, um unfertige Systemkonzeptionen zu widerlegen. »Wo noch irgend die Möglichkeit einer Unterscheidung deutlich, oder stillschweigend eintritt, ist die Aufgabe nicht gelöst. Wer in oder an dem, was ein philosophisches Ssytem als sein Höchstes setzt, irgend eine Distinktion als möglich nachweisen kann, der hat dieses System widerlegt« (GA II/8, 8). Und offenkundig geht das Streitgespräch zwischen Fichte und Schelling
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nicht zuletzt um das Gelingen eines Systemkonzepts. Schon im Brief vom 31. Mai 1801 hat Fichte gegen Schellings Darstellung meines Systems eingewendet, diese Systemform habe ohne stillschweigende Erläuterung aus der Wissenschaftslehre keine Evidenz. Solcher Systemanspruch wird im kritischen Zwielicht der Spätphilosophie Schellings umgekehrt. Er erweist sich als das Kriterium einer beschränkten, von Wirklichkeit und Existenz abgehobenen negativen neueren Philosophie, die im Falle Hegel überspannt verunglückt. Eine positive Philosophie, welche auf geschichtliche Offenbarungserfahrung setzt, gibt sehenden Auges den Systemanspruch auf. Und Schellings Hörer in Berlin, Sören Kierkegaard, sieht im Eingehen auf die Wirklichkeit des existierenden Geistes die Existenz- und Wirklichkeitsvergessenheit der logisches Systemvermittlung Hegels und dessen phantastischem Prinzip eines Subjekt-Objekts ein. Ist das Subjekt gar nicht das unwirkliche Absolute, sondern der ›existierende Geist‹, der ›Einzelne‹ unmittelbar vor Gott, dann ist der Systemanspruch völlig unberechtigt. Vom existierenden Geist und dem Dasein des Einzelnen gibt es kein System für die Stadien auf dem Lebensweg, sondern am Ende allein den Sprung in das ontologische und christologische Paradox. Und endlich ist das Vertrauen auf die spekulative Wahrheit der Philosophie als System und Wissenschaft nihilistischem Mißtrauen gewichen. Nietzsches Credo lautet: »Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit« (Götzendämmerung, Sprüche 26; KSA 6, 63). Angesichts solcher vielstimmiger Ablehnung der Philosophie als umfassende Grundlagenwissenschaft liegt viel daran, den Systemcharakter der Hegelschen Dialektik zurechtzurücken. Dabei kann die flache Worterklärung geschenkt werden, wonach System die Zusammenstellung von Teilen zu einem von unserem Verstande konstruierten Ganzen bedeutet, welches durch Totalität, inneren Zusammenhang und allumschließende Geschlossenheit ausgezeichnet ist. Systemgrund des vollendeten Idealismus ist eben das Absolute, das sich dadurch mit sich selbst zusammenstellt, daß es sich ins Anderssein als Natur frei entläßt, um in die Einfachheit seines Seins zurückzukehren. Mithin gehört zur Geschlossenheit und Totalität eines Systems, dessen Subjekt das Absolute ist, eine Offenheit des Sichhingebens, indem sich der Geist ins Anderssein entäußert, so zwar, daß zum Sichöffnen das Beisichbleiben und ein Sich-mit-sich-Zusammenschließen gehört. Im Bilde versinnlicht: Die fortgehende Linie des sich öffnenden Geistes schließt sich zu einem Kreis von Kreisen zusammen, da der Fortgang vom Anfang in
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eins Rückkehr ist und der unmittelbare Anfang in einem Kreisgange vermittelt wird. So stellt sich die Idee des Systems an die Stelle der metaphysischen Transzendenzbewegung.1 An solcher Systemforderung also ist Hegels Wissenschaft des absoluten Wissens selber zu messen, um die Behauptung zu erwägen, hier vollende sich die abendländische Metaphysik als Wissenschaft. Hegels erste programmatische Abhandlung, das Vorwort zur Phänomenologie des Geistes hat dafür den Grundsatz vorgegeben: Das Wahre ist nur als System wirklich. Dieser Satz impliziert, daß das Wahre als das Ganze erfaßt und methodisch vermittelt dargestellt werden kann, und ferner, daß das Absolute als Geist, d.h. als Substanz auszusprechen ist, die wesentlich Subjekt ist. Wird das bruchlos ausgeführt, dann allerdings scheinen alle konkurrierenden Vernunftwissenschaften als unvollendete Vorstufen in einem endgültig zur Vollendung und strikter wissenschaftlicher Systematik aufgestiegenen Idealismus aufgehoben zu sein. 2. Kapitel: Zweiteiliger Systembau oder dreiteilige Enzyklopädie? Eine Vorfrage Offensichtlich folgt Hegels Ausarbeitung der Philosophie im Ganzen als systemorientierte Wissenschaft einem verändert erscheinenden Vorentwurf und Ziel. Anfangs kündigt sich ein zweiteiliges System der Wissenschaften an, späterhin wird eine dreiteilige Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriß vorgelegt. Von daher stellt sich, werden die Titel streng genommen, die Vorfrage nach einer Veränderung im Systemausbau und der Einlösung des Vollendungspostulats. Ist die Vollendung des Deutschen Idealismus als vollständiger Systembau nun abgeschlossen worden oder als Enzyklopädie offengeblieben? Ausdrücklich hatte Hegel seine Phänomenologieschrift als »System der Wissenschaft. Erster Theil« angekündigt. Das ließ erwarten, daß das Ganze der Vernunftwissenschaft als einan-
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J. Hyppolite: Anmerkungen zur Vorrede der Phänomenologie des Geistes, 1969 betont das Sichöffnen und Sichhingeben des Absoluten als Subjekt des Systems, zumal im Eingehen in die Zeitgeschichte der Weltalter. Sonach sei die Geschlossenheit des Ganzen und die Sicherheit des Beisichbleibens nur die eine Seite; sie verbinde sich untrennbar mit Offenheit, einem Abenteuer des Geistes. Das Bild des in sich kreisenden Kreises stimme so paradoxerweise mit dem Bilde der fortschreitenden Linie zusammen.
1. Abschnitt: Vollendung der Vernunftwissenschaft als System?
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der ergänzende Zusammenstellung von zwei Teilen zur Darstellung gelangt, in der Verbindung einer einleitenden Wissenschaft vom erscheinenden Geist in seinem Erscheinen mit einer abschließenden Wissenschaft des sich vollbringenden Geistes in seinem Sichbegreifen. Nun aber hat Hegel nicht dieses zweiteilige ›System‹, sondern eine dreiteilige ›Enzyklopädie‹ (zuerst in Heidelberg 1817) ausgearbeitet, bis 1830 in zwei weiteren Auflagen dem Umfange nach verdoppelt und der Sache nach ergänzt. Das erregt Fragen, zumal der vormals reiche Erste Teil des Systems, die Phänomenologie, unter der Rubrik ›Bewußtsein‹ auf wenige Seiten ärmlich reduziert, innerhalb der Enzyklopädie in die Lehre vom subjektiven Geist eingeordnet worden ist.2 Eine das System lockernde Fragestellung ist die: Zeigt der Titel ›Enzyklopädie‹ an, daß zwar das Gesamt aller philosophischen Wissenschaften im Grundriß zusammengestellt ist, der strenge Anspruch eines Systems aber aufgegeben oder nur annäherungsweise erfüllt und die Wissenschaft des erscheinenden Geistes als erster Systemteil durchstrichen ist? Oder hat Hegel den Systemanspruch niemals aufgegeben, sondern nur in der Darstellungsform, etwa in der Form eines Vorlesungskompendiums, variiert? Nun hätte Hegel mit seinem Systemgedanken auch den Wahrheitsanspruch seines Gesamtwerkes preisgegeben, sofern ein unsystematisches Denken eben wissenschaftlich unfertig und imperfekt ist. Und in der Tat: Die Enzyklopädie stellt die philosophischen Wissenschaften nach dem dialektischen Gesetz der Idee triplizitär in systematischer Ordnung vor, und sie gibt am Ende die Zusammenschlüsse einer allseitigen Vermittlung an. Daran ist stichworthaft zu erinnern. Die Enzyklopädie stellt ihre drei Teile Logik – Naturphilosophie – Philosophie des Geistes durchaus systematisch triplizitär unter dem Prozeßgesetz der Idee dar. Die Logik (des Seins – Wesens – Begriff) folgt der Idee an und für sich, die Naturphilosophie (Mechanik – Physik – Organik) folgt der Idee in ihrem Anderssein, die Philosophie des Geistes folgt der Idee in ihrer Rückkehr zu sich selbst, und zwar im Dreischritt des subjekti-
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Die Abhandlung von K.-H. Volkmann-Schluck: Metaphysik und Geschichte, 1963 bedenkt diese Umgestaltung des zweiteiligen Systems zur dreiteiligen Enzyklopädie als Indiz dafür, daß Hegel den strengen Systemanspruch aufgegeben habe. In einer Enzyklopädie komme das System nicht mehr zum Austrag, weil es in ihr keinen Ort für die Phänomenologie im Ganzen gebe. Tiefer gedacht: weil sich die Wahrheit in ihrem Wesenszug, dem Sichentziehen, dem Denken als Vergewisserung eines unbedingten Sichwissens versagt.
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ven Geistes (Seele – Bewußtsein – Geist) über den objektiven Geist (Recht – Moralität – Sittlichkeit) empor zum absoluten Geist (Kunst – Religion – Philosophie). Am Ende der ausgearbeiteten Enzyklopädie von 1830 (§§ 575-577) findet sich der Systemschlüssel hinterlegt; denn die drei Teile sind nicht für sich besondert einfach nebeneinandergestellt, sie sind so zusammengeschlossen, daß das Ganze sich in seinen Momenten mit sich vermittelt. Das erwirkt ein Schluß von drei Schlüssen, in denen jedes der drei Momente, die Natur, das Logische, der Geist, zur Mitte wird. So hat der Erste Schluß (§ 575) die Natur als das Mittlere, welche den Geist mit dem Anfangspunkt, dem Logischen, vermittelt und zusammenschließt. Das vermag die Natur ja, sofern sie als Idee in ihrem Anderssein angesetzt ist. Der Zweite Schluß (§ 576) hat den Standpunkt des erkennenden, sich frei hervorbringenden Geistes zur Mitte, welcher die vorausgesetzte Natur im Erkennen ihrer Gesetzlichkeiten mit dem Allgemein-Logischen zusammenschließt. Der Dritte Schluß (§ 577) hat das Logische, die an und für sich seiende Idee zur Mitte, die sich ur-teilend in Natur und Geist entzweit, dergestalt, daß es den Geist voraussetzt und mit der Natur, der äußersten Existenz der ewigen Idee, zusammenschließt. Hier zeigt sich die Systematisierung auf der Höhe eines Zusammenschlusses, da sich »die ewig an und für sich seiende Idee sich ewig als absoluter Geist betätigt, erzeugt und genießt« (TWA 10, 394). Offenbar hängt die Systemerfüllung in der Vermittlung der drei Momente im Dritten Schluß von der Integrität des Logische als vermittelnde Mitte ab. Die schlüssige Vermittlungskraft des Logischen auf der spekulativen Höhe der Hegelschen Logik aber ist von Anfang bis Ende in Frage gestellt worden: in Betreff des Anfangs, dem Übergang von Sein und Nichts ins Werden, und in Betreff des Entstandes, des Übergangs der absoluten Idee ins Anderssein als Natur. Diese Kritik an Anfang und Ende der Hegelschen Logik hatte bereits die letzte große Vollendungsgestalt des Deutschen Idealismus, Schellings Spätphilosophie, erhoben. In dieser Perspektive stellt sich eine äußerste Streitsache ein. Stellt Hegel den Endzustand einer Jahrtausende währenden Systementwicklung vor oder nur, mit Schellings letzten Wort, eine traurige Episode in der Geschichte der abendländischen Philosophie?
2. Abschnitt: Wege zum absoluten Wissen. Ein synoptischer Überblick
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2. Abschnitt: Wege zum absoluten Wissen. Ein synoptischer Überblick Art und Höhe spekulativer Systementfaltung hängen von der Art und Höhe derjenigen Wege ab, die zum absoluten Wissen über die Stufen von Reflexion und Selbstgewißheit des Ich hinführen. Dieser Methodos leitet das natürliche Bewußtsein zwingend an, sich in das spekulative Sehen einzuüben, um dialektisch vermittelnd zum philosophischen Bewußtsein aufzusteigen. Ein philosophisches Bewußtsein im Hegelschen Verstande bricht eben nicht als Ingenium intellektuellen Anschauens des Ewigen unmittelbar bei Auserwählten auf. Es arbeitet sich auf dem Wege aufzuhebender Widersprüche bis zu einem spekulativen Niveau hinauf. Das ist im Geiste absoluten Wissens erreicht. Genau an diesem Punkte aber tritt der Widerstreit zwischen Hegelscher Dialektik des Geistes und Fichtes Wissenschaft absoluten Wissens zu Tage. Für eine Kurzanzeige dieses Hinführungsproblems sind lediglich drei Gesichtspunkte einzunehmen: die Erhebung von der sinnlichen Gewißheit zur Endgestalt der Geistesphänomenologie, eben dem Wissen in seiner Absolutheit, sodann der Einsatz des absoluten Wissens als Element der Selbstverwirklichung der absoluten Idee und schließlich synoptisch eine vorläufige Aussicht auf die Differenz zwischen Hegelscher und Fichtescher Systembildung auf dem Grund und Boden absoluten Wissens. 1. Kapitel: Der Weg der Erfahrung im Erfassen des absoluten Wissens Hegel hat als junger, außerordentlicher Professor der seit Fichtes Weggang abgeblühten Jenaer Universität mit einem jährlichen Salär von 100 Talern unter beträchtlichem finanziellen Druck sein Riesenwerk einer Phänomenologie des Geistes an jenen Tagen zu Ende gebracht, da er den bewunderten Napoleon, die Weltseele, den Geist, der über die Welt übergreift und sie beherrscht, zum Rekognoszieren durch die Stadt hinausreiten sah und da – aus Hegels Sicht – in der Schicksalsschlacht Preußens von Jena und Auerstädt die Bildung über die Rohheit, der Geist über die Geistlosigkeit siegte. »Von seiner Wohnung aus sieht Hegel um 11 Uhr nachts auf dem Markt die Feuer der französischen Bataillone, vor sich das letzte noch übrige Manuskript der Phänomenologie« (K. Fischer: Hegels Leben, 1897, Bd. 1, 71). Aus dieser biographischen Notlage ist das notdürftig zusammengearbeitete Werk abgeschätzt worden. Die eigentliche Einleitung und der erste Teil die-
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ses Vernunftsystems seien ein geniales Notprodukt mit reichem Inhalt von Gedanken, aber ohne zulängliche systematische Durcharbeitung.3 Solche Oberflächenbetrachtung findet einen gewissen Anhalt in Hegels Brief vom 1. Mai 1807, da er Schelling das Erscheinen des Werkes ankündigte. »Ich bin neugierig, was Du zur Idee dieses ersten Theils, der eigentlich die Einleitung ist – denn über das Einleiten hinaus, in mediam rem, bin ich noch nicht gekommen – sagst. Das Hineinarbeiten in das Detail hat, wie ich fühle, dem Ueberblick des Ganzen geschadet; dies aber selbst ist, seiner Natur nach, ein so verschränktes Herüber- und Hinübergehen, daß es [...] mich zuviel Zeit kosten würde, bis es klar und fertiger dastünde. [...] Die größere Unform der letztern Partie [betreffend] halte Deine Nachsicht auch dem zugute, daß ich die Redaktion in der Mitternacht vor der Schlacht bei Jena geendigt habe« (Hegel Br. I 161-162). Hegels Einleitung und Vorentwurf seiner auf systematische Vollendung der Wahrheit abzielenden Vernunftwissenschaft liegt gleichwohl in einem der grandiosesten Werke der philosophischen Weltliteratur vor. Dessen Titel und Untertitel kündigen zugleich eine Lehre vom erscheinenden Geist in seinem Erscheinen und den ersten Teil eines Systems der Wissenschaft an. Die verfolgte Methode bahnt den Weg eines Stufenganges, der vom Bewußtsein über das Selbstbewußtsein zur Höhe der Vernunft aufsteigt. Wie umstritten und vielfach immer noch ungeklärt dieses gewaltige Frühwerk in seiner Stellung, seiner Entstehungsgeschichte, seiner Komposition im einzelnen auch sei, im Ganzen gesehen ergibt sich ein teleologischer Weg philosophischer Erfahrung, da das Bewußtsein aufsteigend erfährt, wie sich alle Gegenstandsverhältnisse in immer konkretere, reicher und freier werdende Selbstverhältnisse verwandeln. Daher kommt diese Erfahrung nicht etwa empirisch, sondern dialektisch zustande. Das geschieht in einer Prozeßbewegung, welche das Bewußtsein sowohl an seinem Wissen wie an seinem Gegenstande vollbringt. In diesem negierend-bewahrend-höherhebenden Prozeß widerlegt sich jede niedere Position selbst, um zu einem stets neuen Gegenstand höherer Wahrheits-
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Vgl. Th. Haering: Die Entstehungsgeschichte der Phänomenologie des Geistes, 1934. – O. Pöggeler: Die Komposition der Phänomenologie, 1966, 334ff. Die ursprüngliche Komposition der Phänomenologie sollte bis zum Vernunft-Kapitel gehen, die ganze voluminöse zweite Hälfte gehörte nicht zum ursprünglichen Plan einer Einleitung.
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erfahrung aufzusteigen. Solcher Erfahrungsweg führt von der sinnlichen Gewißheit unseres natürlichen Bewußtseins über die Freiheit des Selbstbewußtseins zur Gewißheit der Vernunft, alle Realität zu sein. Diese Erscheinungslehre des erscheinenden Geistes übt in die Wahrheit eines absoluten Wissens ein. Daß eine einleitende Einübung, ein sich bemühendes Erlernen der philosophischen Wissenschaft selbstverständlich sein sollte, verdeutlicht ein Wort aus Hegels Vorrede. »Von allen Wissenschaften, Künsten, Geschicklichkeiten, Handwerken gilt die Überzeugung, daß, um sie zu besitzen, eine vielfache Bemühung des Erlernens und Übens desselben nötig sei. In Ansehung der Philosophie dagegen scheint jetzt das Vorurteil zu herrschen, wenn zwar jeder Augen und Finger hat, und wenn er Leder und Werkzeug bekommt, er darum nicht im Stande ist Schuhe zu machen, jeder doch unmittelbar zu philosophieren und die Philosophie zu beurteilen verstehe, weil er den Maßstab an seiner natürlichen Vernunft dazu besitzt – als ob er den Maßstab eines Schuhes nicht an seinem Fuße ebenfalls besäße« (TWA 3, 62-63). Unzweifelhaft besitzt der Mensch als Vernunftwesen einen Maßstab zu Ermessung der Vernunftwissenschaft, aber eben nur als Anlage seiner metaphysischen, Sein verstehenden Natur. Wie der Handwerker die Begabung der Fingerfertigkeit und das Organ der Hand (das Werkzeuge der Werkzeuge) besitzt und gleichwohl eine lange Lehr- und Übungszeit mit zunehmender Erfahrung braucht, um sein Metier zu meistern, so muß das natürliche zum philosophischen Bewußtsein in langer Lehrzeit gebildet werden. Diese Einübung, Lehre und Erfahrung beginnt eben damit, unser natürliches Bewußtsein der sinnlichen Gewißheit, die dogmatische Wahrnehmung von an sich bestehenden Dingen, aufzuheben. Sie endet mit der Erfahrung des absoluten Wissens. »Diese letzte Gestalt des Geistes, der Geist, der seinem vollständigen und wahren Inhalte zugleich die Form des Selbst gibt und dadurch seinen Begriff ebenso realisiert, als er in dieser Realisierung in seinem Begriffe bleibt, ist das absolute Wissen« (TWA 3, 582). Kommt man nun am Ende der Philosophie in den Stand des absoluten Wissens und bildet dieses das Element für den Geist, der sich sowohl dem Inhalt wie der Form nach begreift und realisiert, dann stellt die Phänomenologie des Geistes eine unumgängliche und adäquate Einleitung in die philosophische Wissenschaft dar. Hier nun wird der lange, schon in der Hegelschule ausbrechende, inzwischen argumentativ wie philologisch subtil ausgetragene Streit über Sinn
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und Funktion, über Komposition und Entwicklungsgeschichte der Phänomenologie nicht thematisch behandelt.4 Es geht hier im Kontext der Vollendungsproblematik eines Systembaus von Einleitung und Grundlegung der Vernunftwissenschaft allein darum, den Endstand der dialektischen Phänomenologie einzuholen und dieses Werden des Wissens von einer Systembegründung abzuheben, »die wie aus der Pistole mit dem absoluten Wissen unmittelbar anfängt« (TWA 3, 31). Um diese Hinführung zur Vollendung der philosophischen Wissenschaft wieder einzuholen, bietet sich der letzte Abschnitt der Phänomenologie an: »Das absolute Wissen« (TWA 3, 575-591). Dabei mag es genügen, wegweisende Auskünfte Hegels herauszuheben. Aufgenommen wird die Erfahrung des absoluten Wissens auf einem Stande, da das religiöse Bewußtsein die geistige Höhe der offenbaren (christlichen) Religion erreicht hat. Freilich ist, philosophisch betrachtet, zu konstatieren: »Der Geist der offenbaren Religion hat sein Bewußtsein als solches noch nicht überwunden, oder, was dasselbe ist, sein wirkliches Selbstbewußtsein ist nicht der Gegenstand seines Bewußtseins; er selbst überhaupt und die in ihm sich unterscheidenden Momente fallen in das Vorstellen und in die Form der Gegenständlichkeit. Der Inhalt des Vorstellens ist der absolute Geist; und es ist allein noch um das Aufheben dieser bloßen Form zu tun« (TWA 3, 575). Der Geist der Religion bringt die Gottesidee in die Welt. Es ist die offenbare Religion, welche die natürliche Religion wie den Kult der Kunstreligion in sich aufgehoben hat. Die Erhebung der offenbaren, christlich geoffenbarten Religion bildet dem Inhalte nach die höchste und vollendete Phase in Hegels Erscheinungslehre des erscheinenden Geistes. Der Inhalt besteht darin, daß Gott als absoluter Geist gewärtig geworden ist. Das ist unüberbietbar. Allein die Form dieses Bewußtseins ist philosophisch zu überbieten. Religiöses Bewußtsein nämlich findet seine Form in einem bildlichen Vorstel-
4 Grundlegend für diesen systematisch, philologisch, historisch komplizierten Fragekomplex sind immer noch zwei Untersuchungen, H. F. Fulda: Das Problem einer Einleitung in Hegels Wissenschaft der Logik, 1965, da das Problem einer Einleitung als Grundproblem der Philosophie im Blick auf Funktion und Notwendigkeit einer Phänomenologie wiedergewonnen wird; O. Pöggeler, Die Komposition der Phänomenologie, 1966, da der Ansatz der Phänomenologie aus der Entwicklung der Jenaer Logik und Metaphysik verständlich gemacht wird, und zwar im Gegenzug gegen jene Zweige der Hegel-Forschung, welche den Weg von den Jugendschriften zur Phänomenologie an der Logik und Metaphysik vorbeilaufen sehen.
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len, das innerlich bleibt und das Göttliche andächtig in Gestalten vorstellt. Dieser Form eines vorstellenden Bewußtseins fehlt die Vereinigung mit dem Selbstbewußtsein in der Klarheit absoluten Wissens. Das ist nun freilich kein Mangel oder Versäumnis der Religion als solcher. Keineswegs ist es Sache des religiösen Glaubens, aus einem philosophischen Wissen und Begreifen her zu leben. Lange bevor die Vernunftwissenschaft ihre Form des Selbstbewußtseins entwickelt hat, ist Religion in der Weltgeschichte vorhanden. (Und es wird religiöses Bewußtsein geben, auch dann, wenn nihilistische Weltanschauungen den Gott der Philosophen umbringen.) Philosophische Wissenschaft ist ein Späteres und auf das Erscheinen des Weltgeistes als Religion angewiesen. Ist es nun allein die Sache der Wissenschaft, den an sich seienden Geist in seinem Fürsichsein, der Form des Sichwissens, zu fassen, so gilt: »Ehe daher der Geist nicht an sich, nicht als Weltgeist sich vollendet, kann er nicht als selbstbewußter Geist seine Vollendung erreichen. Der Inhalt der Religion spricht darum früher in der Zeit als die Wissenschaft es aus, was der Geist ist; aber diese ist allein sein wahres Wissen von ihm selbst« (TWA 3, 585-586). In diesem Fundierungsverhältnis erhalten das ›Früher‹ und ›Später‹ geschichtlich-geschickhafte Bedeutung. So ist Zeit noch etwas anderes als das Maß der Bewegung (des Himmelsumschwungs/Kyklophora) von einem früheren Jetzt (dem Sonnenaufgang) bis zu einem späteren Jetzt (dem Moment, da die Sonne untergeht). Das ist die Zeit der Aristotelischen Physik. Und die Zeit ist auch noch etwas anderes als das reine Nacheinander als apriorische Form unserer endlich-sinnlichen Anschauung. Das ist die Zeit gemäß Kants transzendentaler Ästhetik. Aber sie ist letztlich auch Ordnungsform des Weltgeistes in seiner Arbeit, die Form seines Wissens von sich als wirkliche Geschichte hervorzubringen. »Die Zeit erscheint daher als das Schicksal und die Notwendigkeit des Geistes, der nicht in sich vollendet ist« (TWA 3, 588). Vollendet ist der Geist in sich, der sich als absolute Idee in der Sphäre der Ewigkeit vollbracht hat. Also ist es auch geschichtlich an der Zeit, den Inhalt der offenbar gewordenen Religion in die wissenschaftliche Form des Erkennens zu bringen. »Der Inhalt des [religiösen] Vorstellens ist der absolute Geist, und es ist allein noch um das Aufheben der bloßen Form zu tun« (TWA 3, 575). Dem Inhalte nach also sind der Geist der offenbaren Religion und der Geist der sich vollendenden philosophischen Wissensschaft gleich. »Sie unterscheiden sich beide so voneinander, daß jene diese Versöhnung in der Form des Ansichseins, diese in der Form des Fürsichseins ist« (TWA 3, 579). Zwar wider-
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streiten im Geist der offenbaren Religion die Momente des Bewußtseins Gottes und des Selbstbewußtseins einander nicht. Sie sind versöhnt, aber eben nur in einem Vorstellen, das Gott in gegenständlicher Gestalt als an ihm selbst Seiendes im Bewußtsein hält. Die philosophisch-wissenschaftliche Versöhnung von Bewußtsein und Selbstbewußtsein auf der Höhe des offenbaren Geistes gelingt, indem das Bewußtsein aus der Vorstellung von Gestalten des Absoluten in die Bewegung seines Selbstbegreifens überführt wird. Noch tiefer und systematischer bedacht, ist die christliche Religion von der Vorstellung einer Versöhnung ergriffen, daß durch die geschehene Menschwerdung des Gottessohnes und seinen Tod das göttliche Wesen mit seinem Dasein versöhnt ist. Auch das sucht Hegels Wissenschaftssystem auf den Begriff zu bringen. Mithin gleicht das absolute Wissen die noch ungleichen Seiten des Bewußtseins und der religiösen Offenbarungsinhalte aus. In Hegelschen Grundworten festgehalten: Es vereinigt das substantiale Ansichsein mit dem subjektiven Fürsichsein zum Ganzen und Wahren des an und für sich seienden Geistes. Dabei ist es entscheidend herauszuheben: Zwar kehrt hier das Wissen aus dem gegenständlichen Vorstellen endgültig in die Form des Sichselberwissens und Fürsichseins zurück. Aber auch dieses Fürsichsein ist nur eine Seite, mithin einseitig und abstrakt; denn im Stande des Selbstbewußtseins zieht sich ja der Geist in seine Innerlichkeit zurück. Konkret aber wird das absolute Wissen erst dadurch, daß es sich als Prozeß der totalen Einigung von Bewußtsein und Gegenstand erfahren und vollbracht hat. Im Lebenselement des absoluten Wissens »kommt der Geist dazu, sich zu wissen, nicht nur, wie er an sich ist oder nach seinem absoluten Inhalte, noch nur, wie er für sich ist nach seiner inhaltlosen Form oder nach der Seite des Selbstbewußtseins, sondern wie er an und für sich ist« (TWA 3, 579). 2. Kapitel: Bedenken des absoluten Wissens als Äther lebendigen Insich-Kreisens Zum Abschluß dieser Anzeige der einleitenden Hinführung und Einübung des natürlichen Bewußtseins in den lebendigen Vernunftstatus absoluten Wissens ist noch ein Vorblick auf die folgende Systembegründung zu werfen, nämlich darauf, wohin diese Einführung führt. Das dürfte einen Ausblick darauf eröffnen, wie sich Hegels phänomenologische Einleitung von Fichtes späterer Einleitung einer faktisch-historischen Phänomenologie unterscheidet.
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Wohin Hegels einleitende Wissenschaft des erscheinenden Geistes hinleitet, ist der 1807 angekündigte zweite Teil im System der Wissenschaft: die Wissenschaft des seienden und sich als Geist vollendenden Geistes. Im ersten Teil kommt es, wie erfahren, zu einem absoluten Wissen, das sich in seiner Selbstbewegung als sich wissende Einheit von Bewußtsein und Gegenstand, von Ansichsein und Fürsichsein, von Substantialität und Subjektivität erfaßt. Dabei ist festzuhalten: Dieser erste Teil ist nicht als vorwissenschaftliche Propädeutik annonciert, er ist Wissenschaft des erscheinenden Geistes in seinem Erscheinen und nicht überflüssig und beliebig, sondern notwendig, um das Bewußtsein auf die Höhe absoluten Wissens zu heben. So erst scheint das philosophische Bewußtsein gerüstet, das seiende Absolute systematisch als absolute Idee auszuarbeiten und als sich entäußernder und aus der Entäußerung zu sich zurückkehrender Geist zu verstehen. Nun nämlich erweisen sich die Momente der Bewegung des absoluten Wissens nicht mehr nur als Bewußtseinsformen des erscheinenden Geistes, sondern als Begriffe, die nicht abgezogene Allgemeinvorstellungen sondern Gestalten des Absoluten bilden, die sich als Einheit von Gedanke und Realität ergriffen haben. »Indem aber der Geist den Begriff gewonnen, entfaltet er das Dasein und Bewegung in diesem Äther seines Lebens und ist Wissenschaft« (TWA 3, 589). Die Entfaltung dieser sich als Einheit von Gedanke und Realität erfaßten Begriffe ist die Wissenschaft der Logik. Der Äther, in dem sich das unmittelbare Sein zur absoluten Idee entfaltet und sich als Kreis mit seinem Anfang vermittelt, das ist natürlich nicht der Äther als materielles Element der irdischen und die Lebenskraft der organischen Natur und schon gar nicht die Quintessenz, das fünfte Element der siderischen Welt gemäß der Aristotelischen Naturphilosophie, sondern Element und Lebenskraft des absoluten Geistes. Dessen Element und Äther ist die Einigungs- und Versöhnungskraft absoluten Wissens. Der so auf die Höhe des Bewußtseinslebens gehobene zweite Teil der Vernunftwissenschaft gestaltet sich als ein Kreis von Kreisen aus. Die absolute Idee sowohl wie der absolute Geist gehen aus eigenem Anfange und Entschluß zu ihrer Vollendung und vollen Wirklichkeit, im Anderen bei sich bleibend, fort und zyklisch in ihren Anfang zurück. Das scheint den Aufwand einer anfänglichen Einleitung überflüssig und sinnlos zu machen. Dafür spricht das Resumee von Hegels Vorrede »Vom wissenschaftlichen Erkennen«. Da erscheinen der Anfang und alle Stadien wissenschaftlichen Erkennens vom Ende und Telos, dem erreichten Ziel und erfüllten Zweck her, durch eine Rückkehr durchbestimmt.
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Die Methode des Geistes auf der Höhe des absoluten Wissens und spekulativen Begriffs zeichnet sich als Kreisgang ab. »Es ist das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfange hat und nur durch die Ausführung und sein Ende wirklich ist« (TWA 3, 23). Hat aber so die Wissenschaft ihren Anfang als vorausgesetztes Ende dank ihres Kreisganges in sich selbst, dann scheint eine vorangehende, äußere Einleitung außerwissenschaftlich, bestenfalls als Teil einer philosophischen Propädeutik, schlimmstenfalls als ein Frühwerk, das nicht mehr zum in sich vollendeten zyklischen Werk Hegels paßt. Dazu ist folgendes zu bemerken. Hegels Vorrede hat ihren Ort gar nicht innerhalb der Phänomenologie als einleitende Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins. Sie stellt eine eigenständige Abhandlung dar. Sie wurde später, nach glücklichem Abschluß der Phänomenologie, entworfen und bietet einen Vorblick ins Ganze, indem sie den Ertrag der Phänomenologie als Ausgang für den zweiten Teil der Wissenschaft in spekulativen Grundbegriffen und Grundsätzen bereitstellt. Das nun macht eine Wissenschaft vom erscheinenden Geist in seinem Erscheinen keineswegs überflüssig und sinnlos. Sie wird gebraucht als hinaufleitende Leiter, auf der der Geist über die Stufen Bewußtsein – Selbstbewußtsein – Vernunft bis zur Gipfelhöhe des absoluten Wissens als vollendete Form des Geistes der offenbaren, ›absoluten‹ Religion hinaufsteigt. Ohne diese dialektisch gebaute Leiter wären das System einer spekulativen Logik und der Kreisgang des absoluten Geistes verstiegen. Dem steht nicht entgegen, daß diese Leiter wie jedes Leitergestell beiseitegestellt werden kann, nachdem sie ihre Funktion erfüllt hat. Hat eine phänomenologische Wissenschaft das Bewußtsein auf die Höhen des spekulativen Gedankes gebracht, ist sie nicht mehr notwendig. Dabei muß die Wissenschaft dessen eingedenk sein: Ohne die hinleitende Einleitung der Phänomenologie ertönen die Anfangssätze der Logik »wie aus der Pistole« geschossen.5 Der anfängliche Entschluß, rein denken zu wollen, kann den
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Den teleologisch-zyklischen Kreisgang der Wissenschaft hat die Interpretation der Vorrede durch W. Marx: Hegels Phänomenologie des Geistes, 1971 hervorgehoben. – Eine die einschlägigen Grundbegriffe klärende Erläuterung der Vorrede bietet K.-H. Volkmann-Schluck: Hegel. Die Vollendung der abendländischen Metaphysik, 1998, 73-89. – Die Herabstufung der Phänomenologie zur bloßen Propädeutik angesichts des zyklischen Methodenganges vertritt u.a. H. Glockner: Der Begriff in Hegels Philosophie, 1924, da Hegels Enzyklopädie überhaupt zum toten System erklärt wird.
2. Abschnitt: Wege zum absoluten Wissen. Ein synoptischer Überblick
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langen, zum konkreten Denken hinführenden Weg von Hegels Phänomenologie nicht ersetzen. 3. Kapitel: Vorschau auf die Konfrontation Hegels mit Fichtes Hinführung zum Standpunkte absoluten Wissens Mit dem Resultat der Hegelschen Phänomenologie, der Erhebung zum absoluten Wissen, geht der erste Teil des Systems in den zweiten Teil, der Wissenschaft vom alles vermittelnden Geist im Äther der Logik ein. An diesem Eingangspunkt kreuzen sich die Denkwege Fichtes und Hegels. Das ist vorbereitend für eine ausführlichere Gegenüberstellung anzuzeigen. Dabei gilt für Hegels erreichten Standpunkt: Das Wahre ist nur als System wirklich. Das aber gründet im absoluten Geist, dessen Substanz wesentlich Subjekt ist, »der erhabenste Begriff und der der neueren Zeit und ihrer Religion angehört« (TWA 3, 28). Dabei ist der Geist eben erst vollständig begriffen, wenn seine drei Lebenselemente – Ansichsein/Substantialität, Fürsichsein/Subjektivität und deren Einheit, das Anundfürsichsein/Beisichbleiben im Anderssein – immanenter Gegenstand des Wissens des Geistes selber sind und nicht etwa nur Gegenstand unseres Wissens in äußerer Reflexion. Das markiert scharf Hegels Vorbehalt gegen alle äußerlich bleibenden Auffassungen vom absoluten Wissen. Daher erhebt Hegel von der Grunderfahrung seiner Phänomenologie her Einwände gegen Lehren, welche das Wahre nur als Substanz im Ansichsein und nicht ebenso als Subjekt, also nur einseitig und äußerlich fassen. Das trifft die Substanzlehre Spinozas ebenso wie Schellings Indifferenzsystem. Mitgängig ist aber auch Fichtes Position betroffen. Der so weitreichende Vorbehalt gegen alles unvollendete Andenken des absoluten und wahren Systemgrundes erhebt sich am Ende der Phänomenologie. »Die Substanz gelte nur insofern als das Absolute als sie als die absolute Einheit gedacht oder angeschaut wäre, und aller Inhalt müßte nach seiner Verschiedenheit außer ihr in die Reflexion fallen, die ihr nicht angehört, weil sie nicht Subjekt, nicht das über sich und sich in sich Reflektierende oder nicht als Geist begriffen wäre« (TWA 3, 587). Nun ist solche von Hegels Spekulation abgewiesene Position die Grundstellung von Fichtes ungeschriebener Lehre. Diese stellt das absolute Wissen, nicht aber sogleich die Reflexionsform des Ich als vermittelnde Mitte auf. Das absolute Wissen sei das einzige Dasein, das außer dem Absoluten, außer dem nichts ist, in Wahrheit und Lebendigkeit da ist und die
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Vielheit wie die Fünffachheit der Welterscheinung vermittelt. So gedacht ist das absolute Wissen als Äther der lebendigen Selbstentfaltung des an und für sich seienden Absoluten ein hyperbolischer Ungedanke. Zur kritischen Besinnung auf das absolute Wissen als höchster Tatsache des Bewußtseins führen Fichtes Einleitungsvorlesungen von 1810/1811 hin. Daher ist Fichte von Hegels Polemik auszunehmen. Die Wissenschaftslehre gehört nicht zu jenen Gestalten des Idealismus, die oberste Grundsätze und Erste Prinzipien unvermittelt und ohne Einleitung aufstellten, ergriffen von einer Begeisterung, »die wie aus der Pistole mit dem absoluten Wissen unmittelbar anfängt und mit anderen Standpunkten dadurch schon fertig ist, daß sie keine Notiz davon zu nehmen erklären« (TWA 3, 31). Gleichwohl erklärt Hegels Logik, auf Kants und Fichtes vorspekulative Wissenschaft zielend, deren Erhebung auf den Standpunkt des reinen Wissens sei unmittelbar gefordert und so nichts weiter als ein bloß subjektives Postulat. Für solche Auseinandersetzung mit Hegels Verabsolutierung des absoluten Wissens sollte eben Fichtes ›faktische Phänomenologie‹ herangezogen werden. Diese bringt durchaus einleitend die höchste Tatsache des Bewußtseins ins Reine. Für eine Überprüfung des vollständigen, dialektisch alles vermittelnden, enzyklopädischen Systems Hegels ist die Mittlerfunktion der Großen Logik maßgebend. Sie hat, alle formale und kategoriale Ontologie überbietend, die Überform einer Onto-theo-Logik auf der Höhe des absoluten Wissens als Resultat einer vollendeten Phänomenologie gewonnen, ihren Anfangsgrund in immer reicher werdender Selbstentwicklung als absolute Idee dargestellt und die Systemvermittlung als Selbstentäußerung der göttlichen Idee proklamiert, die aus dem absoluten Anderssein als Natur und im Dreischritt des subjektiven, objektiven, absoluten Geistes, bei sich selbst bleibend, in sich zurückkehrt. Das alles wird fragwürdig, wenn Fichtes Vorbehalt Recht behält, wonach das absolute Wissen gar nicht der Äther des Absoluten selbst, sondern das Dasein des an ihm selbst ungreifbaren, in sich geschlossenen Seins und Lebens wäre. 3. Abschnitt: Problematisierung des Anfangs der Onto-theo-Logik 1. Kapitel: Wiederholung des Einsatzes der Logik als Onto-theo-Logik Hegels Logik ist das therapeutische Unternehmen, dem seltsamen und unglücklichen Schauspiel eines gebildeten Volkes ohne Metaphysik, das keine
3. Abschnitt: Problematisierung des Anfangs der Onto-theo-Logik
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Grundfragen von der Art »Was ist das Sein? Was ist das Nichts? Was ist Wesen? Was ist die Idee? Was ist Geist?« mehr stellt, ein logisches Gebilde vollendeter Metaphysik entgegenzustellen. Das schließt systematisch Logik, Ontologie, Theologie sowie die Geschichte der Philosophie in eins zusammen. Hegels Logik ist keine formale Lehre rationaler Denkregeln, sondern Onto-theo-historico-Logik. Das ist vor aller Auseinandersetzung wiedereinzuholen. Hegels ›Große Logik‹ wie die ›Enzyklopädische Logik‹ stellen sich als Ontologie unter Grundbegriffen der Kategorienlehre auf. Sie durchlaufen die obersten Seinsbestimmungen Qualität, Quantität, Wesen und leiten unter dem Titel Qualität die Kategorien Sein, Nichts, Werden, Dasein, Endlichkeit, Unendlichkeit, Grenze, Schranke usf., unter der Kategorie des Wesens Reflexionsbestimmungen wie Identität, Unterschied, Widerspruch, Grund, Existenz, Wirklichkeit usf. dialektisch fortschreitend zu einem unerhörten Reichtum hin. Während Hegel in Jena noch Logik und Metaphysik trennte, erhebt sich die Wissenschaft der Logik zur Theo-Logik. Sie denkt, indem sie das Absolute ausdenkt, Darstellungen Gottes. Im Deutschen Idealismus sind eben ›das Absolute‹, ›das Unbedingte‹ Namen für den Gott der Philosophen, genauer: für den sich begreifenden Begriff des Gottes, der im offenbaren religiösen Glauben zur Vorstellung gekommen war. So erklärt die Logik der Enzyklopädie gleich anfangs programmatisch: »Das Sein selbst sowie die folgenden Bestimmungen nicht nur des Seins, sondern die logischen Bestimmungen überhaupt können als Definitionen des Absoluten, als die metaphysischen Definitionen Gottes angesehen werden« (§ 83; TWA 8, 181). Freilich reicht dafür eine Definition, welche das nächsthöchste Genus aufzusuchen und die artbildende Differenz zu treffen hat, nicht zu. Die metaphysische Definition ist keine logisch umgrenzende Abgrenzung von etwas gegen alles andere, sie ist (die nicht eigens erörterte) definitive Selbstaussage des durchgeistigten Absoluten. Gott sagt: Ich bin das Sein, ich bin das Nichts, ich bin das Wesen, der Grund, die Identität und der Unterschied, ich bin die Wirklichkeit, der Sinn, ich bin das Leben und die Wahrheit. Nun entfaltet sich solche Onto-theo-Logik im Element des absoluten Wissens, das sich, wie erfahren, als Einheit von Bewußtsein und Gegenstand, von Gedanke und Realität weiß, überzeitlich im Äther der Ewigkeit und insofern ungeschichtlich. Indessen entspricht dem Fortgang der ›Gedanken‹ die Geschichte der Philosophie vom ersten kühnen Seinsgedanken des Parmenides bis zur Vollendung des Ideensystems auf der Höhe des absoluten Idealismus. Das ist Hegels historico-logische Unterstellung im Glau-
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ben an die Selbstentäußerung der absoluten Idee und an die sich erhebende Kraft des Weltgeistes. Das Erste in der Wissenschaft der Logik muß sich auch historisch als das Erste in der Geschichte der Philosophie zeigen. So entsprechen der Seinslogik die Grundgedanken der Vorsokratiker, der Wesenslogik die Grundgedanken eines Plato und Aristoteles, der Begriffslogik die Grundsätze der neuzeitlichen Philosophie seit dem großen Aufbruch der Vernunftwissenschaft im Gefolge von Descartes, Spinoza und Kant bis eben zum Dreigestirn des Deutschen Idealismus. Also bietet Hegels Logik kein Unterrichtswerk formallogischen Denkens, zumal sie auch die Syllogistik, die klassische Lehre vom Schluß, spekulativ umbildet. Damit stellt sie, systematisch wie historisch betrachtet, ein Ärgernis für alles rational unterscheidende Verstandesdenken und einen anstößigen Anstoß für unser metaphysikfeindliches, idealismusfernes, materialistisches, gottentfremdetes Zeitalter dar.6 Darum ist es ebenso unzeitgemäß wie notwendend, sich überhaupt erst wieder auf ein Andenken des Absoluten einzulassen und das Richtmaß des natürlichen Bewußtseins für unzuständig zu erklären; denn der Mensch ist in seiner Wurzel philosophisches Bewußtsein mit einem Elevationspotential, das über die materiale Welt und animalische Natur hinaus und in eine geistige Welt göttlichen Ursprungs hinaufreicht. Neuzeitlich-idealistisch betrachtet ist der Mensch ein Anfang in der Natur wie ein Anfang in der Welt des Geistes. Das ist im Vorblick auf die Scheidung von Hegels und Fichtes Bestimmung des Menschen zur Anzeige zu bringen, um überhaupt einen Einstieg in die Hegelsche Logik zu rechtfertigen. Der Mensch ist ein Tier, das Selbstbewußtsein hat – und darum kein Tier. Menschliches Selbstbewußtsein ist ein Anfang – und kein Ende der Evolution. Es entsteht nicht durch unfaßlichen Zufall aus der materiellen Natur – es ordnet sich in die Natur, sie verwandelnd, ein. Die Genesis der Ichheit ist Tat und Tathandlung, ein schlechthinniges Sichselbstsetzen. Diese Thesen Hegels tragen die Unterschrift Fichtes.
6 Die Konfrontation des dialektischen Materialismus, der den ›Monismus‹ der Idee und Hegels Dialektik der Logik zugunsten einer Dialektikkonzeption aufgibt, die im Programm als Monismus der Materie monistisch, in der Durchführung als Dualismus von Sein und Denken dualistisch ist, problematisiert die Nachfrage von H. F. Fulda: Dialektik in Konfrontation mit Hegel, 1986.
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Nun ist die Tat der Selbstsetzung unabtrennlich mit der Handlung der Entgegensetzung verknüpft. Daher ist der Mensch gerade auch in Hegels Augen das Bewußtseinswesen der Entzweiung, das zur Aufhebung der endlichen Zweiheit von Ich und Nichtich in der Einheit des Ich=Ich bestimmt ist. Diese Bestimmung und Aufgabe des Menschen erfüllt sich geschichtlich als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, so daß die Unfreiheit und Unvernunft in der Welt zu Vernunft und Freiheit umgewandelt werden. Auch darin besteht zwischen Hegels und Fichtes Ansatz keine gravierende Differenz. Die Geister scheiden sich am Kreuzweg der Onto-theo-Logik. Nach Fichte ist der Mensch bestimmt als Selbstbewußtsein, und sein Selbstbewußtsein ist endlich-menschlich bestimmt. Sein Wissen hat allein die Auszeichnung, sich als Dasein des Absoluten zu wissen und als das einzige zu sein, was außer dem Absoluten wahrhaft und lebendig ist. Nach Hegelscher Logik dagegen ist der Mensch zwar auch das Wesen, das Selbstbewußtsein hat, aber das Selbstbewußtsein ist seinem Ursprung nach nicht menschlich-endlich, sondern göttlich-vernunfthaft. Indem sich unser Selbstbewußtsein über seine Entzweiungen hinaus zu seinem einfachen Ursprung erhebt, ist es reines Zusehen, wie sich das Absolute selber in dem Reichtum seiner Gedanken als absolute Idee ganz begreift. Dieser Methodengang ist in seinem ersten Anfang wie in seinem vollendeten Ende seit Schellings rigorosen Einwändungen in Frage gestellt worden. Das ist im Vorblick auf die Auseinandersetzung der drei Vollendungsgestalten des deutschen Idealismus aufs neue zu überdenken. 2. Kapitel: Durchlaufen des Anfangs der Seinslogik. »Das Werden ist der erste konkrete Gedanke« Im weitgespannten Systemrahmen der Enzyklopädie von 1830 findet sich im ersten Teil der Logik, in der Lehre vom Sein, ein Zusatz, welcher recht besehen die Schlüssel- und Problemthese über den Anfang und Grund des ganzen Systembaus ausspricht. »Das Werden ist der erste konkrete Gedanke und damit der erste Begriff, wohingegen Sein und Nichts leere Abstraktionen sind. Sprechen wir vom Begriff des Seins, so kann derselbe nur darin bestehen, Werden zu sein, denn als das Sein ist es das leere Nichts, als dieses aber das leere Sein. Im Sein also haben wir das Nichts und in diesem das Sein; dieses Sein aber, welches im Nichts bei sich bleibt, ist das Werden« (TWA 8, 192). Dieser Schlüsselsatz ist in seiner begrifflichen
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Schlüssigkeit, aber ebenso in seiner angreifbaren Fraglichkeit zu überdenken. Dabei kann die Fülle der einfallenden Anmerkungen im einschlägigen Abschnitt der ›Großen Logik‹ – etwa über den metaphysischen Satz »ex nihilo nihil fit« oder über Kants Kritik des ontologischen Gottesbeweises »Sein ist kein reales Prädikat« oder auch über das Verhältnis von logischer Urteilsform im Ist-Sagen und spekulativem Inhalt – nicht thematisiert, geschweige denn ausgeschöpft werden. Und unberücksichtigt bleibt auch die Ausarbeitung des historico-ontologischen Postulats, der Anfang der Logik sei dasselbe wie der Anfang der eigentlichen Philosophiegeschichte – zumal gleich anfangs der Fortgang vom Sein zum Werden als philosophiegeschichtliches Fortschreiten von Parmenides zu Heraklit chronologisch wie sachlich mehr als problematisch ist. Verfolgt wird durchgehend allein das Resultat im Dreischritt des Anfangsgedankens: Das Sein ist das leere Nichts, das Nichts ist das leere Sein, das Sein, welches im Nichts bei sich bleibt, ist das Werden. Und das Werden sei der erste konkrete, Weg weisende Gedanke. Wie also kommt die Einsicht zustande, der Gedanke des Seins ist das leere Nichts? Das hängt an der These: »Das reine Sein macht den Anfang, weil es sowohl reiner Gedanke als auch das unbestimmte, einfache Unmittelbare ist« (TWA 8, 182). Das reine Sein ist reiner Gedanke, d.i. wahre Realität des Seienden, aber nicht etwa das Sein hier und jetzt sinnlich vergewisserter Dinge und auch nicht das Sein von etwas Bestimmtem im Verstandesbezug zu einem anderen. Zur Frage steht der Gedanke des Seins als Anfang und Grund der Vernunftwissenschaft, und zwar nicht nur im Rückblick auf den begeisterten Urgedanken der Eleaten »Nur das Sein ist, und das Nichts ist gar nicht«, sondern auch im Vorblick auf den Prinzipienstreit um die Vollendung des Idealismus, auf den Gedanken des Seins als reine Identität bzw. als reine Indifferenz der Konstruktionen von Fichte und Schelling. »Aber indem innerhalb jeder dieser Formen bereits Vermittlung ist, so sind sie nicht wahrhaft die ersten« (TWA 8, 183). Identität und Indifferenz sind zwar reine Gedanken, aber nicht als das einfache Unmittelbare, und darum auch nicht als Erstes und voraussetzungslos Unbedingtes. Identität und Indifferenz sind ja als einigende Einheit von Unterschiedenem bzw. Differentem, als Subjekt-Objekt-Einheit durch das Vorausgesetzte vermittelt, das sie zur einfachen, von aller Zweiheit absolvierten Einheit bringen. Kein Vermitteltes aber taugt zum Ersten und ist Anfang und Grund im Stande der Unmittel-
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barkeit. Also ist die ontotheologische Reinheit der Hegelschen These vom reinen Sein einzuhalten. Das ist in der vorbereitenden Überlegung »Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?« thematisch abgehandelt (zitiert nach Logik 1812, hg. von H.-J. Gawoll, 35-46). Gesucht wird ein Anfang, welcher eben der Forderung einfacher Unmittelbarkeit genügt. Dafür bietet sich eben die zur Wahrheit gewordene Gewißheit des reinen Wissens an. In ihrer Einheit von Bewußtsein und Gegenstand ist alle Gegenstandsbeziehung und jede Vermittlung aufgehoben. Das reine Wissen stellt sich dar als einfache Unmittelbarkeit, und deren waherer Ausdruck ist nicht der Reflexionsausdruck des Nicht-Vermitteltseins als Gegensatz zur Vermittlung, sondern das reine Sein. »Sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung.« Da das in der Natur des Anfangs liegt, sind anderweitige Anknüpfungspunkte überflüssig. Diese Auskunft wendet sich, ohne Namen zu nennen, nicht nur gegen den Anfang der Neuzeit, das sum cogitans Descartes’, sondern näherhin gegen die Anfangsgründe bei Schelling und Fichte. Da nehme die philosophische Wissenschaft ihren Anfang beim unvermittelten Willkürakt einer intellektuellen Anschauung. »Die intellektuelle Anschauung ist selbst die gewaltsame Zurückweisung des Vermittelns und der beweisenden, äußerlichen Reflexion, was sie aber mehr ausspricht als einfache Unmittelbarkeit, ist ein Konkretes, ein in sich verschiedene Bestimmungen Enthaltendes« (Logik 1812, 43). Das betrifft Schellings Ansatz, da der Gegenstand der intellektuellen Anschauung das Ewige und Göttliche selber ist, aber auch Fichtes Auslegung, da das unmittelbar intellektuell Angeschaute das Tathandeln des Ich ist. Indessen, diese Abweisung durch Hegel von 1812 trifft nicht den Anfang, mit dem die ungeschriebene Lehre 1804 begonnen hat: die Unmittelbarkeit des einfach einen Seins, in dem keine Disjunktion und Vermittlung ist. 7 Indessen bleibt bei Fichte das einfache Sein, in welchem Substantialität und Subjektivität ununterscheidbar in sich aufgegangen sind, verschlossen und
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Die subtile, sich tiefer auf die philosophische Anfangsfrage einlassende Untersuchung von L. de Vos: Die Rezeption der Wissenschaftslehre Fichtes in der Version der Hegelschen Wissenschaft der Logik, 1997 konzentriert sich auf die zweite Fassung der Anfangsüberlegung von 1831, da nicht mehr das Ich als unmittelbar zugängliche Bestimmung des Absoluten, sondern das Ich selbst so von Hegel diskutiert werde, daß sich eher eine Übereinstimmung als eine Differenz zwischen Hegel und Fichte herauslesen lasse.
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unbegreiflich, während in Hegels Onto-Logik sich der Anfang des Seins lebendig-dialektisch in der Reichtum des Begriffs entfaltet. »Wird Sein als Prädikat des Absoluten aufgefaßt, so gibt dies die erste Definition desselben: das Absolute ist das Sein« (TWA 8, 183). Nun ergibt das, wie gesagt, natürlich keine regelrechte Verstandesdefinition per genus proximum et differentiam specificam; denn vom obersten Sein gibt es kein höheres Genus, und vom rein Unbestimmten keinen artbestimmenden Unterschied. Die ›metaphysische Definition‹ ist eine Selbstprädikation des Absoluten, die über den Verstand geht: »Ich, das Absolute, bin das Sein.« Darin drückt sich die Wahrheit des Seins auf der Höhe des göttlichen Nous aus. Das formuliert Hegel im Wiederholen des höchsten Standpunktes der Aristotelischen Theologie – »man kann nichts Tieferes erkennen wollen« – so: »Die gewöhnliche Definition von Wahrheit ist: Wahrheit ist Übereinstimmung der Vorstellung mit dem Gegenstande. Also ist die Vorstellung selbst nicht nur eine Vorstellung, ich bin mit meiner Vorstellung (ihrem Inhalte) noch gar nicht in Übereinstimmung. Nur im Denken ist wahre Übereinstimmung des Objektiven und Subjektiven vorhanden; das bin ich« (TWA 19, 165). Und dieses Ich ist nicht das Ich-denke des reinen menschlichen Selbstbewußtseins, sondern das göttliche Denken, das sich selbst denkt. Dessen definitive Wahrheit spricht sich eben so aus: Ich, das Absolute, bin nicht etwas Reales, sondern das Realsein aller Realität. Soweit ist vorgegeben, inwiefern das reine Sein als reiner Gedanke den Anfang und Anfangsgrund von allem machen könnte. Es bleibt weiterhin zu verdeutlichen, inwiefern das Sein auch als das unbestimmte Unmittelbare den Anfang macht. Wird nämlich das Unmittelbare negativ bloß als das Nicht-Vermittelte verstanden, dann bildet es den Anfang eines Gegenweges (via negationis), aber nicht einen anderes ausschließenden Anfangsgrund. Dafür ist zu sehen: Methodisch wie sachlich ist ›das Unmittelbare‹ gar kein negativer Ausdruck. Unmittelbar zu sein besagt nicht dasselbe wie nicht vermittelt zu sein. Und der Sache nach ist wohl das Vermittelte ein Nicht-Unmittelbares und so untauglich zum Ersten und Weganfang, das Unmittelbare aber schließt exklusiv alle Formen der Vermittlung von sich aus und ist frei von jeglicher Vermittlungsund Reflexionsbeziehung. Dadurch eignet allein dem Unmittelbaren die Auszeichnung, ein Erstes, Voraussetzungsloses, Unbedingtes und frei und losgelöst von Voraussetzungen und Bedingungen zu sein. Ebenso exklusiv ist die hier anschließende Bestimmung des Unbestimmtseins zu hören und zuzugestehen, es sei »nur mit sich gleich«. Das Absolute schließt allen
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Vergleich mit anderem aus. Das, was den Anfang macht, das Unmittelbare und Erste, ist ein Unvergleichliches. Wie aber kommt es durch Weiterbestimmung dieses Anfangsgedankens zur These »Das Sein ist das leere Nichts«? Nun ist es der Grundzug dieser Gedankenbewegung, das, was als Wahres im Prädikat ausgesprochen ist (»Der Anfang ist das unbestimmte, unmittelbare Sein«), als Subjekt weiterzubestimmen. (»Das unbestimmte, unmittelbare Sein ist das leere Nichts.«) Diese logische Grundoperation bleibt im Dunkel, solange die metaphysische Definition nicht herausgehoben und vom Subjekt-Prädikatsverhältnis eines logischen Wesenssatzes unterschieden wird. Die spekulative Weiterführung, welche das Sein als Vor- und Zugrundeliegendes aufnimmt, kommt zum definitiven Resultat: Das Sein ist das Nichts. Das, was schlechthin unbestimmt ist, ist leer an Bestimmungen und darum nicht Etwas, das alles andere nicht ist, sondern ein bestimmungsleeres Nichts. Und das, was in dieser Bestimmungslosigkeit nur mit sich selbst gleich ist und so weder in sich noch im Vergleich zu anderem Verschiedenheit an sich hat, ist ununterscheidbares Nichts. Damit beginnt die Weiterbestimmung des anfänglichen Seins. »Sein, reines – ohne alle weitere Bestimmung. In seiner unbestimmten Unmittelbarkeit ist es nur sich selbst gleich und auch nicht ungleich gegen Anderes, hat keine Verschiedenheit innerhalb seiner noch nach außen« (TWA 5, 82). Das Nichts ist die Leere. Es ist gleichsam mit nichts gefüllt. In ihm ist nichts anzuschauen und nichts zu denken. Es ist nur das leere Anschauen und leere Denken selbst. Dabei läßt sich das leere Anschauen nicht etwa als ein sinnliches Anschauen ohne Empfindungsgehalte und das leere Denken keineswegs als begriffliches Denken ohne Gegenstand bestimmen. Und es kommt auch nicht als intellektuelles Anschauen im Sinne Fichtes oder Schellings in Betracht. Hegel läßt den hier anfallenden Modus des Seinsverstehens unbestimmt offen, weil das zu Verstehende selbst völlig unbestimmt ist. Gleichwohl tritt der himmelweite Unterschied zu Fichtes und Schellings Einsetzung der intellektuellen Anschauung heraus. Nach Fichte ist sie im Anfange das unmittelbare Innesein von Tathandlung und Sittengesetz, nach Schelling das geistige Anschauen des Ewigen selbst, im Anfang der Hegelschen Logik das unvermittelte Innewerden des unmittelbaren, leeren, absoluten Nichts. Dahin führt die Weiterführung des definitiv prädizierten Seinsgedankens. »Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare, ist in der Tat Nichts und nicht mehr noch weniger als Nichts« (TWA 5, 83). Und es kommt ein dialektischer Umschlag zu Tage, »daß das Sein als solches nicht ein Festes und
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Letztes, sondern vielmehr als dialektisch in sein Entgegengesetztes umschlägt, welches, gleichfalls unmittelbar genommen, das Nichts ist« (TWA 8, 185). Nun ist wiederum das Prädikat dieses Resultats »Das Sein ist das Nichts« vorzunehmen, um die Antithese ins Klare zubringen »Das Nichts ist das leere Sein«. Und das muß gleichfalls im Element des absoluten Wissens auf der Höhe einer Onto-theo-Logik geschehen. Nur so läßt sich das Nichts als »die zweite Definition des Absoluten« (TWA 8, 168) verstehen. Es ist nicht das leere Nichts im Verhältnis von Denken und Anschauen zum Gegenstand. Davon hat Kant bekanntlich das Schema einer vierfachen Bedeutung des Nichts aufgestellt: als ens rationis, den leeren Begriff ohne Gegenstand, als nihil privativum, den leeren Gegenstand ohne Begriff, als ens imaginarium, die leere Anschauung ohne Gegenstand, als nihil negativum, den leeren Gegenstand ohne Anschauung. Gott oder das Absolute aber spricht sich definitiv so aus: ich bin das höchste Wesen und sonst nichts. Ich bin »das Unsagbare« (TWA 8, 188). Das ist die Grundstellung aller negativen Theologie. Gott ist das Unaussprechliche, schlechthin Unbegreifliche; denn er ist für ein rationales Bestimmen die Leere und Nicht-Bestimmtheit. Nun hat das Prinzip der Leere und des Nichts nicht nur als Arrheton der negativen Theologie im Abendland eine lange, wirkmächtige Geschichte bis eben in die Spätphilosophie Fichtes hinein. Es wird auch als Nirwana in buddhistischer Welt lebensbestimmend. Hegels Wissenschaft der Logik hat das, allerdings mithilfe der abendländischen Grundwörter ›System‹, ›Absolutes‹, ›Prinzip‹ formuliert. »In orientalischen Systemen, wesentlich im Buddhismus, ist bekanntlich das Nichts, die Leere, das absolute Prinzip« (TWA 5, 84). Hegels Enzyklopädie fügt hinzu: »Das Nichts, das die Buddhisten zum Prinzip von allem wie zum letzten Endzweck und Ziel von allem machen, ist dieselbe Abstraktion« (TWA 8, 186), nämlich die Negation und Sichbefreiung von allen Bezügen und Inhalten endlichen Bewußtseins. Insoweit ist die ›Definition‹ der Buddhisten, Gott sei das Nichts, ebenso berechtigt wie die negative Theologie, und ihr Endziel menschlichen Strebens, durch erlösende Selbstvernichtung zu Gott zu werden, ist konsequent. Warum aber in aller Welt ist diese so wirkungsvolle und weitverbreitete Rede vom absolut seienden Nichts keine contradictio in adiecto, ein ›hölzernes Eisen‹ und so das nihil negativum, ein leerer Gegenstand ohne Begriff? Darum, weil dem leeren Nichts doch ein Seinsprädikat zukommt. Es ist, es existiert im geistigen Anschauen, im unmittelbaren Aufnehmen der unvermittelten Leerheit, nicht freilich im eigentlichen Denken und Begreifen, das zur Wesens- und Begriffslogik gehört. Das Sein des Anschauens eines Nichts
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ist dessen Dasein und Existenz. Das faßt Hegel so zusammen: »So ist (existiert) Nichts in unserem Anschauen oder Denken; oder vielmehr ist es das leere Anschauen oder Denken selbst und dasselbe leere Anschauen oder Denken als das reine Sein« (TWA 5, 83). Daraus resultiert nun ein neuer, anstößiger Anfangs- und Grundsatz spekulativer Logik. Das einzige Prädikat, das dem reinen Sein zugesprochen werden kann, ist das Nichts. Andererseits ist das einzige Prädikat, welches dem Nichts zugesprochen werden kann, das Sein. Das Sein enthüllt sich als Nichts, das Nichts als Sein: Sein und Nichts sind dasselbe. Dieser Grundsatz ist das Härteste, was unserem formallogischen Denken und gesundem Menschenverstand zugemutet wird. Im streng unterscheidenden Verstande bilden Sein und Nichts äußerste Gegensätze, kontradiktorische Opposita. Diese schließen einander nicht ein, sie schließen einander aus. Die Existenz des einen ist die Nichtexistenz des anderen. Und unserem allgemeinen, gesunden, nicht dialektisch verrückten Menschenverstand leuchtet schon gar nicht ein, daß Sein und Nichts dasselbe seien. Ist es dasselbe, um auf Kants berühmtes Beispiel anzuspielen, ob 100 Taler in meinem Vermögenszustande sind oder nicht sind? Aber so wie es leicht ist, Hegels Behauptung lächerlich zu machen, ist es ebenso unschwer, die Verstandesoppostion in Verlegenheit zu bringen. Das kann einfach durch die Aufforderung geschehen, für Sein und Nichts Unterschiede und eine spezifische Differenz beizubringen, was unmöglich sein dürfte, da beide doch völlig leer und beide in gleicher Weise das Unbestimmte sind. Und ebenso unmöglich dürfte es sein, irgendetwas im Himmel und auf Erden vorzuweisen, das nicht Sein und Nichts in sich enthalte. Zudem sprechen gerade auch »populäre, besonders orientalische Sprüche« (TWA 5, 84) für die Einheit von Sein und Nichts eindrucksvoll im Falle von Tod und Leben. Wie die Geburt den Keim des Todes in sich habe, so sei der Tod ein Gang in ein neues Leben. Entscheidend für diese Auseinandersetzung von Verstandeslogik und Vernunftdialektik ist der spekulative Ausgang. Der unterstellte Grundsatz ist nicht ein Satz, der für vermittelte Bestimmungen gilt und auf endlich bestimmte Verhältnisse anzuwenden wäre. Er ist onto-theologisch zu hören: Ich, Gott, bin das Sein und das Nichts. Ich bin nicht nur das Positive des reinen Seins, sondern in eins das Negative, das Hervorbringen des Anderen. Ich bin der Schöpfer von Welt und Natur. Das schlägt einen gedankenlosen Pantheismus nieder. Zu Gott gehört die Welt als das andere seiner selbst. So bewährt sich der Sinn des spekulativen Satzgefüges: Das reine Sein und das reine Nichts ist dasselbe und in eins nicht-dasselbe.
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Dieser Grundsatz nun bedeutet nicht etwa ein Endresultat, sondern ein Zwischenergebnis für die Klärung der Wahrheit über das reine Sein. Daher ist dessen weiterentwickeltes Prädikat »Dasselbe-Sein« von Sein und Nichts, der logischen Grundoperation zufolge, aufzunehmen: Was ist dieses »Dasselbe-Sein«? Nachweislich nicht Identität bzw. Indifferenz, wohl aber ein Beisichbleiben im Übergegangensein von Nichts in Sein. Das aber ist das Werden. Das Werden ist mithin absolut und perfektisch, im Perfekt des ›Übergegangenseins‹ zu nehmen. Darum sind alle Vorstellungen endlichen Werdens, z.B. das Altwerden eines Menschen, von ihm fernzuhalten. Zum Altwerden als Übergehen von einem Woher, dem Jungsein, zu einem entgegengesetzten Wohin, dem Altsein, braucht es ein Substrat, dieser Mensch da, ebenso wie eine Phasenfolge des Früher und Später in der Zeit. Das absolute Werden und perfektische Übergegangensein dagegen geschieht ohne Zwischenphase zeitlos mit einem Schlag ohne ein Zugrundeliegendes und ein Beharrendes im Wechsel, sei es die Materie, sei es ein Ich-Subjekt. Aber warum bleibt dieses Werden im Anderssein? Warum sinkt es nicht in der Ununterschiedenheit von Sein und Nichts zusammen? Für die Auflösung dieser Frage nach der beständigen Lebendigkeit des Geistes sind zwei Momente des Werdens dialektisch zusammenzudenken, nämlich Ununterschiedenheit und Verschiedenheit. Dieses Werden ist die Lebensweise, wie Sein und Nichts verschieden und ununterschieden zugleich sind, dergestalt, daß dieses absolute Werden nur seiend ist in der ständigen Auflösung des Gegensatzes. Wäre nur der Unterschied konstitutiv, dann bliebe es beim unaufgelösten Gegensatz, wäre kein Unterschied, käme es am Ende zu einem erstarrten Einerlei. Indem aber das Sein in Nichts übergeht, ist in der Bewegung der Unterschied, und indem das Nichts als das hervorkommt, was das Sein selber ist, ist in der Bewegung der Unterschied aufgelöst. So bewährt sich das Werden als Element der Lebendigkeit des Geistes. Von hier aus wird Hegels Schlüsselsatz durchsichtiger, das Werden sei der erste konkrete Gedanke, wohingegen Sein und Nichts leere Abstraktionen seien. Dabei ist festzuhalten: Abstrakt heißt soviel wie einseitig und konkret soviel wie: zu einem Ganzen, dem Wahren zusammengewachsen. Das reine Sein ist in diesem Sinne abstrakt, weil es einseitig ins leere Nichts verschwindet. Das reine Nichts ist, indem es einseitig ins leere Sein verschwindet, ebenso abstrakt. Und beides ist nicht wahrhaft begriffen,
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sondern nur gemeint; denn Wahrheit kommt nur dem zu, was beständig anwesend bleibt und nicht haltlos weggeht. Das Werden dagegen ist konkret. In ihm verschwinden Sein und Nichts so ineinander, daß sie nicht aus dem Gedankenkreis fortgehen, sondern in eins auseinander erscheinen. So ist das Werden wahr und beständig bleibend: die beständige, bleibende Unruhe des Erscheinens und Verschwindens im gegenteiligen Anderen. Darin spricht sich eine grundlegende Wahrheit erstmals und anfänglich aus. Das Wahre ist das Leben des werdenden Geistes als Beisichbleiben im Anderssein. Dieser tragfähige Anfangssatz lautet, ontotheologisch, d.h. als Verkündigung Gottes formuliert: Ich bin das Werden, der lebendige Geist, der in seiner Äußerung bei sich selbst bleibt. – Ich bin die Wahrheit und das Leben. 3. Kapitel: Vorbehalte gegenüber der Logik des Anfangs. Eine Problemskizze Alles Suchen der philosophischen Wissenschaft im Abendland beginnt als Arche-Forschung, als Aufsuchen des Ersten Ursprunges und beherrschenden Anfangsgrundes, dem als Ersten nichts vorausgeht, das als autarkes Unbedingtes nicht durch anderes bedingt ist und das als absoluter Wahrheitsgrund von allem Meinen und Scheinen losgelöst ist. Parmenides hat weltgeschichtlich solchen wahren Ursprung bei seinem philosophischen Namen genannt: Sein (on – einai); und er hat die Wege des Seins und des Nichts geschieden und gelehrt, daß der Weg des Seins im Vernehmen besteht, daß es einfachhin ist und nicht nichtsein kann. Hegels Seinslogik nimmt das auf, bemerkenswerterweise in einem Anakoluth: »Sein, reines Sein – ohne alle weitere Bestimmung« (TWA 5, 82). Nun aber ist dieser abstrakte Anfang in den ersten konkreten Gedanken, das Werden, übergegangen. (Philosophiegeschichtlich erinnert: Die Wahrheit des Parmenides sei Heraklit!) Dieser zweifache Anfang weckt Fragen und erregt Vorbehalte: Das Sein sei als Unmittelbares das Erste, aber es erweist sich als leer, abstrakt, bloß gemeint. Das Werden dagegen bewährt sich konkret und ist das Bleibende und Wahre, aber es ist vermittelt und damit gar nicht das Erste. Nun war der Anfang der Logik bereits kurz nach Hegels Ableben zur philosophischen Streitfrage ersten Ranges geworden. Dazu hat nicht nur die scheinbare Einfachheit, lakonische Kürze und archaische Großartigkeit der ersten Gedankenschritte eingeladen, sondern vor allem dessen Schwergewicht als Initium und Prinzipium des ontologischen Gedankenganges. Was damit auf dem Spiel steht, ist die Wahrheit und Verbindlichkeit des abend-
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ländischen Idealismus und Seinsverständnisses in seiner spekulativen Vollendung. Dabei widerstreiten zwei kritische Stellungnahmen einander. Freunde des Verewigten geben den Anfang der Logik preis, um das spekulative System zu retten, Hegelfeinde wiederlegen den Anfang, um das spekulative System umzustürzen.8 Für die Auflösung der Hegelschen Logik und damit des spekulativen Systems war das Auftreten eines weithin vergessenen Mannes mitverantwortlich: Adolf Trendelenburg, vorzüglich durch sein 1840 erschienenes Hauptwerk Logische Untersuchungen und Die logische Frage in Hegels System, 1843. Der Aristoteles-Forscher Trendelenburg war 1833 nach Berlin berufen worden. Er hat über eine Generation, auch als Rektor, die philosophischen Studien auf der Berliner Universität dirigiert. Dieser Totengräber des spekulativen Geistes hat in seinen anachronistischen, aristotelischen Einsprüchen nicht nur in der Hegel-Schule aufmerksame Berücksichtigung gefunden, seine radikale Hegelkritik ist auch vom Spätidealismus, von Christian H. Weiße und Immanuel Hermann Fichte, zustimmend aufgenommen worden. S. Kierkegaard hat Trendelenburgs Einwände gegen den Anfang der Wissenschaft der Logik – Kierkegaard hat sich zwischen 1841 und 1845 dreimal in Berlin aufgehalten – ironisch-humoristisch zugespitzt.9 Exemplarisch für Trendelenburgs robustes Vorgehen ist der Einspruch gegen Hegels Anfangsthese: »Das reine Sein ist nun die reine Abstraktion« (Enz. § 87. – LU I 94f.). Setzt der Begriff der Abstraktion nicht dasjenige voraus, wovon abstrahiert wird? Ist nun das reine Sein die äußerste Abstraktion von der Mannigfaltigkeit des in der Anschauung Gegebenen, dann setzt das diese Anschauung voraus. Folglich beginne die Logik gar nicht mit dem Denken des reinen Seins. Diesem platten Argument ist entgegenzuhalten:
8 Diese zwei Grundgestalten der Kritik und die drei einzig möglichen Hauptargumente hat die Studie von D. Henrich: Anfang und Methode der Logik, 1967 sachlich und philosophiehistorisch systematisiert und eine These vorgelegt, welche die gesamte Kritik prinzipiell widerlegt: Die Logik des reinen Seins lasse sich nur via negationis in Unterscheidung von der Logik der Reflexion explizieren. 9 Die Untersuchung von J. Schmidt: Hegels Wissenschaft der Logik und ihre Kritik durch Adolf Trendelenburg, 1973 verteidigt Hegel, indem die Fehler nachgerechnet werden, die Trendelenburg selbst beim Aufrechnen der Fehler Hegels begeht, vorzüglich dadurch, daß Trendelenburg für Hegels Logik die formale Logik, die einfache Prädikation des Urteils, die empirische Abstraktion wie die sinnliche Anschauung, die raum-zeitliche Bewegtheit in Rechnung stellt.
3. Abschnitt: Problematisierung des Anfangs der Onto-theo-Logik
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Hegelsche Logik bewegt sich im Äther des absoluten Wissens und beginnt mit dem Sein als absoluten Gedanken. Der ist von der formalen Allgemeingültigkeit empirischer Begriffe, die durch Abstraktion des Verstandes von Einzelanschauungen entstehen, himmelweit unterschieden. Hier geht es nicht um die Entstehung empirischer Begriffe durch comparatio – abstractio – reflexio, sondern um die spekulative Entwicklung des absoluten Begriffs. Ähnlich inadäquat hat sich die Hegelkritik am Übergang zum Werden festgebissen. Wie kommt die Bewegung des Werdens in die Seinslogik? Warum überhaupt sind Sein und Nichts dasselbe? Was einleuchtet, sei doch allein der Befund, daß man Werden in seiner Gegenbewegung von Entstehen und Vergehen niemals ohne den Bezug zu Sein und Nichts denken kann; denn Entstehen ist immer Übergang aus dem Nichtsein in Sein und Vergehen Übergang von Sein in Nichtsein. Aber müsse man Werden denken, wenn man ein absolutes Sein denkt, welches dasselbe ist wie das absolute, leere Nichts? Wie kommt, gar mit Notwendigkeit, der Gedanke einer Bewegung auf, wenn man das Nichts als die Leere des Seins rein anschaut? Beides, das Dasselbesein von Sein und Nichts wie die Bewegung des wechselseitigen Übergegangensein von Sein und Nichts, erscheinen als Unerklärliches und nur durch logische Fehlschlüsse demonstriert. Jedenfalls hat das Trendelenburg von der Gültigkeit der Aristotelischen Syllogistik aus vorgeführt. Er schließt Hegels Argumentation in folgende Schlußfigur zusammen. 1. Prämisse: Sein ist unbestimmte Unmittelbarkeit. 2. Prämisse: Nichts ist unbestimmte Unmittelbarkeit. Konklusion: Also sind Sein und Nichts dasselbe. Das aber ist ein Fehlschluß und so, als ob man aus den Vordersätzen »A ist ein Buchstabe« und »B ist ein Buchstabe« folgerte »A und B sind dasselbe«. Der Fehler besteht darin, die Regel der Syllogistik über die 2. Figur des Aristoteles nicht zu beachten. Sie lautet: Aus positiven Vordersätzen ergibt sich stets nur eine negative Folgerung. Das bedeutet hier die Konklusion: »Sein und Nichts sind nicht ein Vermitteltes.« Gegen diese Argumentation verschlagen immerhin zwei naheliegende Entgegnungen nichts. Sie operiere in gewöhnlichen Sätzen (S ist P); die aber seien nach Hegels bekanntem Wort unfähig, die spekulative Wahrheit auszudrücken. Gleichwohl hat doch auch das spekulative Satzgefüge die Form gewöhnlicher Sätze an sich. Außerdem: Hegels höhere Logik gehe über die
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formale Logik hinaus, insofern es dieser in verstandesmäßiger Unterscheidung von Inhalt und Form um die folgerichtige Verbindung von Denkformen unter Abstraktionen der Inhaltsbestimmungen, einer höheren Logik dagegen zugleich um die apriorischen Inhalte gehe, indem die formalen Glieder (Ober-, Mittel-, Unterbegriff) zu Inhalten des Wissens (Allgemeines – Besonderes – Einzelnes) werden. Gleichwohl setzt diese höhere Logik die traditionelle Aristotelische Logik und Syllogistik keineswegs außer Kraft. Hegels spekulative wie Kants und Fichtes transzendentale Logik haben keine Regel der formalen Logik widerrufen.10 Auf der anderen Seite aber ist klarzustellen: Der Anfang der Logik ist weder nach Regeln der formalen Syllogistik noch in der Form eines spekulativen Beweises konstruiert. Für dessen Gültigkeit sind doch in jedem Falle wahre Vordersätze und gültige Termini erforderlich. Der Auftakt der Seinslogik »Sein, reines Sein – ohne alle weitere Bestimmung« aber ist überhaupt keine vollständige Prädikation. Die unterstellten Prämissen, nämlich die Bestimmungen des unbestimmten Seins und Nichts, sind nur gemeint. Die einschlägigen Termini, nämlich Sein, Nichts, Dasselbesein, sind nicht vollgültig, sondern einseitig unvollständig. Mithin kommt die Methode des Schließens und Beweisens für den Ausgang und Fortgang der Onto-Logik gar nicht in Betracht. Folgerichtig sind daher andere methodische Operationsverfahren in Vorschlag gebracht worden, etwa der Weg via negationis in Verneinung der Reflexionsbestimmungen oder eine Exhaustionsmethode, die alle Bestimmungssätze eines in Wahrheit Unbestimmbaren in der Form ihrer unvermeidlichen Inkonsistenz so ausschöpfen, daß einsichtig wird: Dem Sein kann strenggenommen kein Prädikat zugesprochen werden.11 Ebenso läuft der Einspruch Trendelenburgs ins Leere, der den Kardinalfehler im Anfange der Logik darin sieht, daß der Gedanke des Werdens erschlichen wird (LU I 38). Allein in empirischer Anschauung sei es einsichtig zu sagen, im Werden schließen sich Sein und Nichts zusammen. Im anbrechenden Werden des Tages ist der Tag einerseits schon da, andererseits noch nicht da. Als abstrakter Schluß dagegen komme das Werden als
10 Demgegenüber kommt der sprachanalytische Vorbehalt nicht zum Zuge: Die Position »das Sein« und die Negation »das Nichts« ließen sich überhaupt nicht als Einfaches in einer Quasi-Anschauung einführen; sie seien Strukturmomente des Satzes als der primären logischen und ontologischen Einheit, hinter die niemand zurück könne (vgl. E. Tugendhat: Das Sein und das Nichts, 1970). 11 Vgl. dazu W. Wieland: Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik, 1973.
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Konklusion von Sein und Nichts nicht zustande; denn das reine Sein und das reine Nichts seien doch im Stande einer sich selbst gleichen Ruhe. Ein darauf bauender Syllogismus komme nur zur folgenden Konsequenz: 1. Prämisse: Das reine Sein ist sich selbst gleiche Ruhe. 2. Prämisse: Das reine Nichts ist sich selbst gleiche Ruhe. Konklusion: Das reine Sein und das reine Nichts sind nichts anderes als ruhende Einheit. Anders, aus dem Gegensatz von abstraktem Gedanken und konkreter Anschuung formuliert: »Aus dem reinen Sein, einer zugestandenen Abstraktion, und aus dem Nichts, ebenfalls einer zugestandenen Abstraktion, kann nicht urplötzlich das Werden entstehen, diese concrete, Leben und Tod beherrschende Anschauung« (LU I 38). Kierkegaard hat 1841 in Berlin nicht nur die Hegels Logik vernichtende Berufung von Schellings positiver Philosophie auf die ›Wirklichkeit‹ begeistert aufgenommen und Hegels Grundlegung einer absoluten Subjekt-Objekt-Einheit in der Gleichung Ich=Ich Existenzvergessenheit attestiert, er hat Trendelenburg das Verdienst zugerechnet, in Hegels Logik die unberechtigte Unterstellung des Werdens und damit aller Mediationsbewegung aufgedeckt zu haben. Daher wird Kierkegaard erklären: Hegels Unternehmung, Bewegung, Übergang, Vermittlung in die Logik hineinzubringen, ist phantastische Spiegelfechterei. »Die Mediation ist eine Lufterscheinung wie das Ich=Ich. Abstrakt gesehen, ist alles, und es wird nichts. Also kann in der Abstraktion die Mediation unmöglich ihren Platz finden, da sie Bewegung als ihre Voraussetzung hat« (Unwissenschaftliche Nachschrift I; 16. Abt. 188). Und nadelspitz wird Kiekegaard, ›die Nadel‹, hinzufügen, Hegel habe alles vermittelt außer der Vermittlung selbst.12 Dagegen läßt sich eine apologetische Richtigstellung hören. Solche Fragen »Wie kommt Bewegung in das absolute Sein?« seien falsch gestellt. In das Sein komme gar nicht die Bewegung des Werdens, es stehe umgekehrt. Sein und Nichts kämen überhaupt erst in der Bewegung des Denkes vor. Als Erste Anfangsgründe und wahre Prinzipien sind sie ja entleert und dem bloßen Meinen zugewiesen. Sie blieben als einseitig-leere Abstraktionen des
12 Zu Kierkegaards Hegelkritik vgl. N. Thulstrup: Kierkegaards Verhältnis zu Hegel und zum spekulativen Idealismus, 1972. – Vgl. Vf.: Das Phantastische und die Phantasie bei Hegel und Fichte im Lichte von Kierkegaards pseudonymen Schriften, 1993.
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Denkens zurück, dessen Grundgedanke da noch nicht lebendig und konkret sei. Mithin sind Sein und Nichts ihrer Wahrheit nach nur als Momente im Begriff des Werdens analytisch herauszugliedern. Erst im Werden, Entstehen, Vergehen gewinnen sie Realität und unterscheidbare Bestimmtheit, nämlich im Entstehen als Übergang von Nichts zum Sein, im Vergehen als Übergang von Sein zu Nichts. Ihre Ununterschiedenheit tritt hier als Gleichheit der Gerichtetheit ›Von-Zu‹ heraus.13 Gleichwohl ist das Anfangsdilemma schwerlich zu übersehen. Entweder gilt: Das reine Sein kann sich gar nicht als Anfangsgrund bewähren und halten, es muß als Meinung preisgegeben werden; dann beginnt die Logik nicht mit einem Ersten, dem unbestimmten Unmittelbaren, und dann wird auch die Auskunft nichtssagend, das unmittelbare Sein wird vom Ende her im Kreisgang spekulativer Logik vermittelt. Ein fälschlich Gemeintes ist nicht in die Wahrheit des Ganzen zu heben. Oder es gilt: Der wahre, konkrete Anfang ist das Werden; dann aber ist der Anfang nicht ein Erstes, sondern durch Sein und Nichts vermittelt, in sich unterschieden und bestimmt. Jedenfalls kann dieses ontotheologische Dilemma nicht unterschlagen werden. Entweder ist der Anfang das reine Sein; dann wäre er zwar unmittelbar und Erster Anfang, aber bloß gemeint, leer, satzlos und ohne Prädikat. Oder der Anfang ist erst das absolute Werden; dann ist er zwar wahr und konkret, aber nicht unmittelbar und kein Erstes. Freilich dürfte erst der Vollendungsstand der Logik endgültigen Aufschluß über das Anfangsproblem von Unmittelbarkeit und Vermittlung geben; denn am Ende erklärt die absolut begriffene, alles vermittelnde, in sich aufhebende Idee, methodisch analytisch-synthetisch in das Sein zurückzulaufen. Indessen sieht sich auch Hegels Lehre von der absoluten Idee einem noch gravierenderen Vorbehalt ausgesetzt. Wie, wenn der Geist der absoluten Idee gar nicht zum Parmenideischen Sein zurückläuft, sondern sich, schwer erklärlich, ins Sein als Natur entäußert?
13 Prominenter Anwalt dieser apologetischen Entkräftung des seit Trendelenburg üblichen Haupteinwandes gegen den Anfang der Hegelschen Logik, Werden und Bewegung kämen zu Unrecht in die Logik, ist H.-G. Gadamer: Hegels Dialektik, 1971, 59-63.
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4. Abschnitt: Fragen nach der End- und Vermittlungsfunktion der Ideenlogik 1. Kapitel: Wiederholung des Endstandes der Logik: die absolute Idee Der erste Abschnitt von Hegels Ausprägung der absoluten Idee in der Wissenschaft der Logik legt fest: »Die absolute Idee allein ist Sein, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit und ist alle Wahrheit.« »Alles Übrige ist Irrtum, Trübheit, Meinung, Streben, Willkür und Vergänglichkeit« (TWA 6, 549). Hiermit spricht sich die absolute Idee als ›reine Persönlichkeit‹ unüberhörbar ontotheologisch aus: Ich bin das Sein, die Wahrheit und das Leben. Gleich anfangs also weist die Wissenschaft der Logik der absoluten Idee eine vierfache Hauptstellung zu, sie allein sei Sein, Leben, sich wissende Wahrheit und alle Wahrheit. Sie ist Sein: offenkundig nicht mehr im Anfangs-, sondern im Vollendungsstadium. War der Anfang das Sein in der Leere eines unbestimmten Unmittelbaren und ein einseitig-abstrakter Gedanke, so ist die Idee Sein im letzten und höchsten Vollendungsstand: konkretes Sein in der Fülle und im Reichtum aller in ihr aufgehobenen Seinsbestimmungen. Die absolute Idee ist somit keine zusätzliche Kategorie der Onto-Logik, sie ist nichts anderes als die Totalität aller obersten Seinsbestimmungen. Ihr Inhalt ist das System der Logik selbst. Alle Seinsbehauptung außerhalb dieser Konkretion – alle Thesen vom Sein von Parmenides bis Kant, Fichte und Schelling – ist und bleibt einseitig und ein abstraktes Meinen. »Alles Übrige ist Meinung.« Unverhüllter ist der Alleinvertretungsanspruch der Wahrheit kaum auszudrücken. Die absolute Idee ist unvergängliches Leben. Das meint offenkundig nicht das Leben der Natur, da das Naturwüchsige von sich her in sein arthaftes Aussehen, seine Wesensgestalt, die Idee, aufgeht; denn das Naturleben kreist in Entstehen und Vergehen und ist vergängliches Leben. Die absolute Idee ist Leben im Modus der Unvergänglichkeit. Schon Aristoteles nennt die göttliche Noesis Noeseos ewiges, geistiges Leben (Zoe). Hegel erklärt genauer: Wie die absolute Idee ihrem Inhalte nach konkretes Sein ist, so ist sie ihrer Form nach Leben, nämlich die lebendige Methode einer Selbstentwicklung in der Form fortschreitend-zurückkehrenden Vorgehens, der Dialektik. »Alles Übrige ist Vergänglichkeit« – und gerade auch das in neuzeitlichen ›Lebensphilosophien‹ behauptete Leben. Überdies: die absolute Idee ist sich wissende Wahrheit. Sie ist noch anderes, mehr und umfassender als die Gewißheit des Selbstbewußtseins. Das
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Selbstbewußtsein ist für sich selbst dadurch bewußt und seiner gewiß, daß es sich von anderem, dem entgegenstehenden Gegenstand, unterscheidet. Selbstgewißheit des sich wissenden Wissens ist daher ein Moment, aber nicht das Ganze der Wahrheit. Auf der Stufe der Vernunft, da das Selbstbewußtsein aufgehoben ist, stellt sich die Wahrheit der absoluten Idee als der sich absolut begreifende Begriff dar: »die absolute Idee als der vernünftige Begriff, der in seiner Realität nur mit sich selbst zusammengeht« (TWA 6, 549). Nun ist seit Plato die immerseiende Idee an sich als das vielgültig Allgemeine dialektisch-dihairetisch durch Abgrenzung umgrenzt worden, das nicht sinnlicher Wahrnehmung, sondern allein der Vernunft zugänglich ist. Noch Kant bestimmt Idee als notwendig regulativen Vernunftbegriff, dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann. Hegels Begriff des Begriffs auf der Höchststufe der absoluten, an und für sich seienden Idee ist absolut: ein Denken, das sich als Identität von Denkendem und Gedachtem denkt (Noesis Noeseos im Sinne der Aristotelischen Theologie).14 Erst diese Theoria des sich ganz begreifenden Begriffs ist Grund der Wahrheit. »Alles Übrige ist Irrtum, Trübheit.« Und schließlich gebührt es der absoluten Idee allein, alle Wahrheit zu sein. Sie hebt nicht nur die Wahrheit der theoretischen, sondern auch die der praktischen Idee in sich auf. »Die absolute Idee, wie sie sich ergeben hat, ist die Identität der theoretischen und der praktischen, welche jede für sich noch einseitig, die Idee selbst nur als ein gesuchtes Jenseits und unsicheres Ziel in sich hat« (TWA 6, 548-549). So angesehen stellt sich die absolute Idee im dreistufigen Gange der abschließenden Ideenlogik als Vollendung und Konkretion von theoretischer und praktischer Idee auf. Während die theoretische Idee in ihrer Tätigkeit das Erkennen des Wahren betreibt, prägt die praktische Idee das Wollen des wahrhaft Guten. In abstrakter Einseitigkeit aber hat sowohl die theoretische Erkenntnismetaphysik wie die praktische Vernunftwissenschaft die Idee selbst nur als Jenseits der Erkenntnis bzw. als unerreichbares Ziel des Wollens in sich.
14 K. Düsing: Noesis Noeseos und absoluter Geist in Hegels Bestimmung der Philosophie, 2004 hat die Aristotelische mit der Plotinischen Nous-Lehre in Verbindung gesetzt (so daß der göttliche Nous, indem er sich selbst denkt, das Gesamt der Ideen als seine Momente denkt), und Hegels subjektivitätstheoretische Umformungen aufgezeigt (wonach das absolute Denken zum spontanen Erzeugen des Gedachten werde).
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Die Idee auf ihrer theoretischen Bahn sucht das Wahre als Übereinstimmung und Adäquation von Vorstellung und Ding oder von Subjekt und Objekt zu gründlicher Erkenntnis zu bringen. Das Erkennen bleibt im Wechsel einseitiger idealistischer Positionen inadäquat und unangemessen, wo das Ich-denke nur als Subjekt des Bewußseins und nicht auch als das Reale vorkommt. Und in transzendentaler Position, da dem gegenständlichen Ding als Erscheinung, das so ist, wie das endlich-menschliche Subjekt es zur Erscheinung bringt, ein unbekanntes Ding an sich zugeschrieben wird, ist das Wahre in der Tat als ein absolutes Jenseits für unser Erkennen betrachtet. Unausgesprochen hat Hegels historico-logische Betrachtung der Idee des Wahren im Status der Einseitigkeit eben ihre Spitze gegen Fichtes theoretische Wissenschaftslehre. Da bleibe das Verhältnis des Gegenstandes in ihrem Anstoß-Charakter zum subjektiven Wissen, das sich weiß als vom Gegenstande bestimmt, unangemessen. Erst der absolute Begriff, d.i. die Einheit seiner mit sich selbst in seinem Gegenstande oder seiner Realität, hebt das abstrakt bleibende Erkennen der theoretischen Idee in konkreter Wahrheit auf. Das Ungenügen der einseitigen theoretischen Idee wie ihrer ungenügenden Erkenntnismethode macht den Fortgang zur praktischen Idee und die geläufige Rede vom Primat der praktischen Vernunft verständlich. Ist das Absolute theoretisch nicht als solches adäquat zu erkennen, dann sollte es eben im Wollen verwirklicht werden; denn das Wollen oder die praktische Vernunft stellt etwas als ein zu Verwirklichendes vor. Im Werk der praktischen Vernunft wird das Subjektive objektiv, freilich nur einseitig als objektive Subjekt-Objekt-Einheit. So aber hat die praktische Idee das Absolute eben immer nur als unerreichbares Ziel, als eine Synthese des Strebens vor sich. Auch das hat seine historico-logische Entsprechung in der praktischen Wissenschaftslehre Fichtes. Da kommt das Absolute als das immerfort Erstrebte des Sollens und als ein niemals ganz Erreichbares vor. Das bleibt Hegels unverrückbare Ansicht von der Logik der Fichteschen Vernunftwissenschaft. Dieses Ungenügen sei erst in der absoluten Idee getilgt, da das Absolute sagt: Ich bin der Wille, der nicht so ohnmächtig ist, endlos zu streben, sondern der die Macht hat, das Gutsein der Welt durchgefertigt ins Werk zu setzen. Die Welt, in ihrem Wesen gedacht, ist gut, d.h. von Vernunft ›durchgefertigt‹; das Unvernünftige an ihr ist Oberfläche und Schein. »Alles Übrige ist Streben, Willkür.« In der absoluten Idee also ist alle Wahrheit, die Wahrheit der theoretischen wie der praktischen Vernunftidee, gleichermaßen aufgehoben. Ihre
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methodische Tätigkeit vollbringt beides, das Begreifen der Erkenntniswahrheit und das Ins-Werk-Setzen des wahren Zwecks des Wollens in eins und in vollkommener Konkretion. Dieses Resultat Hegelscher Logik macht das vieldiskutierte Theorie-Praxis-Problem hinfällig und zumal die Auffassung dubios, der Deutsche und zumal der Hegelsche Idealismus habe sich damit begnügt, die Welt theoretisch auszulegen, und es sei nun an der Zeit, sie praktisch zu verändern. 2. Kapitel: Zur Restituierung der freiesten Persönlichkeit Gottes Nun sind im Überdenken des Endstandes der Logik und im Vorblick auf den Gesamtentwurf des Systems zwei Hegelsche Eingaben im Anfangsabschnitt der Lehre von der absoluten Idee bedeutungsvoll. Das ist außer der Rückkehr des Begriffs zum Leben eine Wiederherstellung des Gottes der Philosophie als Persönlichkeit und Person. Der einschlägige Passus lautet: »Der Begriff ist nicht nur Seele, sondern freier subjektiver Begriff, der für sich ist und daher die Persönlichkeit hat, – der praktische, an und für sich bestimmte, objektive Begriff, der als Person undurchdringliche, atome Subjektivität ist, der aber ebensosehr nicht ausschließende Einzelheit, sondern für sich Allgemeinheit und Erkennen ist und in seinem Anderen seine eigene Objektivität zum Gegenstande hat« (TWA 6, 549). Zuerst ist die Rückkehr zum Leben, sodann die Erörterung der Persönlichkeit hervorzuheben. Nun ist ja die absolute Idee ein Begriff, der sich selbst als die unmittelbare, durch nichts außer ihr vermittelte Identität von subjektivem Gedanken und objektiver Realität begreift. Das ist durchaus ein Grundzug des Lebens, nämlich einfach nur mit sich selbst zusammenzusein und in sich aufzugehen. Mithin kommt es dem Begriff der absoluten Idee, sofern er der Form seiner Unmittelbarkeit innewird, zu, zum Leben zurückzukehren. Dabei bleibt im Vorblick auf die Vollendung des Systems offen: Vermittelt diese Rückkehr zum Leben das Ende der Logik, die absolute Idee, mit ihrem Anfange, dem nur sich selbst gleichen Sein und Werden, oder kündigt sie eine Einkehr in das Leben der zeit-raumhaften Natur und des geschichtlichen Geisteslebens an, da doch die logische Idee in ihrem Anderen ihre eigene Objektivität zum Gegenstande habe? Zugleich aber ist einzusehen: Die absolute Idee setzt nicht nur die Form der gegensatzlosen, einfachen Unmittelbarkeit hin, sie hebt diese ebensosehr auf; denn sie hat einen äußersten Gegensatz in sich, nämlich zwischen dem subjektiven Begriff, dem Fürsichsein freier Persönlichkeit,
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und dem objektiven, an und für sich seienden Begriff, die praktische, aufgehobene ›atome‹ Person. Danach kommt der absoluten Idee einerseits Persönlichkeit freien Fürsichseins im Stande ausschließender Einzelheit zu; denn der absolute Begriff ist eben mehr als denkende Seele (anima intellectiva, nach Plato und Aristoteles: der Ort möglicher Anwesenheit an sich bestehender Ideen). Er vollzieht die Freiheit des Fürsichseins eines sich wissenden und sich wollenden Bewußtseins und besitzt darin Persönlichkeit, die sagt: Ich und niemand und nichts anderes. Zufolge dieser Begriffsform ist die absolute Idee als Person undurchdringliche, atome Subjektivität. Dem widersetzt sich ein entgegengesetzter Grundzug. Die absolute Idee hat auch die Form der praktischen Idee. Die ist nicht nur für sich und sich wissend, sondern an und für sich verwirklicht und real ins Werk gesetzt. Hier verbleibt die Persönlichkeit nicht im Stande ausschließlicher Einzelheit; die praktische Idee nötigt das Ich, sich als Allgemeines zu erkennen und ermächtigt dazu, die Selbigkeit von Gedanke und Realität vernunfthaft zu verwirklichen. Nun ist die Eingliederung der Persönlichkeit auf der Höhe der absoluten Idee eigentlich nicht überraschend. Hegel hat ja des öfteren gegen die Lehre Spinozas vom Absoluten im Stande substantialer All-Einheit auch das eingewendet: Da fehlen Persönlichkeit und Person des Gottes der philosophischen Wissenschaft. Während Fichte im Atheismusstreit eine selbstbewußte Personhaftigkeit göttlichen Seins als Verendlichung und Vermenschlichung ausschloß, hält Hegel im Geiste der offenbaren (christlichen) Religion an der trinitarischen Personhaftigkeit Gottes fest. So kommt nicht von ungefähr in der ontotheologischen Darlegung der Idee das Problem von Persönlichkeit in der Idee Gottes zur Sprache. Einen Vorverweis auf die geistige Persönlichkeit des einzig-einen Gottes mag das letzte Wort der Aristotelischen Theologie geben. Es richtet sich zwar nicht gegen den religiösen Polytheismus, sondern gegen die Idealzahlenlehre der Akademie (Speusipp), aber es stellt doch mit einem Homer-Zitat (Il. II, 204) die reine Persönlichkeit des Gottes in absoluter Geisttätigkeit heraus. »Nicht gut ist Vielherrschaft – nur Einer sei Herrscher« (Met. XII 10; 1076a4). Wie aber steht es nun angesichts dieser Grundbestimmungen, einer Rückkehr der Idee zum Leben und dem Walten der personhaften Freiheit Gottes, mit der Vollendung der Logik und mit dem Zusammenschluß des ganzen Systems? Das Ende der Logik stellt das Reichste und Konkreteste, das Mächtigste und Übergreifendste dar. Und wieder fällt hier der Begriff
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der Persönlichkeit in seiner ganzen Reinheit an. »Die höchste, zugeschärfteste Spitze ist die reine Persönlichkeit, die allein durch die absolute Dialektik, die ihre Natur ist, ebensosehr alles in sich befaßt und hält, weil sie sich zum Freiesten macht, – zu Einfachheit, welche die erste Unmittelbarkeit und Allgemeinheit ist« (TWA 6, 570). Die alles in sich vermittelnde absolute Idee also ist auf ihrem Höhepunkt reine Persönlichkeit. Sie stellt den Reichtum aller Seinsbestimmungen her und kehrt zur ersten Unmittelbarkeit zurück, so daß die Wissenschaft der Logik sich als in sich geschlossener Kreis darstellt. So angesehen legt sich die These nahe, die lebendige Begriffsnatur der reinen Persönlichkeit sei absolute Dialektik. Dialektik meint hier eine Methode der Ideenerfassung, in welcher der Fortgang vom Anfang und die Rückkehr zu ihm ebenso dasselbe ist wie begründender Rückgang und weiterbestimmender Fortgang. Die analytische, schrittweise begründende Vertiefung in den noch unentwickelten Anfang, in das einfache unbestimmte Sein, ist in sich die vorwärtsgerichtete, synthetische Erhebung bis zum Ziel, zu einer Idee, die nichts fallen läßt, sondern alles Durchbestimmte verdichtet in sich trägt. Die Einheit der analytisch rückwärts zergliedernden und synthetisch fortschreitenden Methode ist dialektische Methode. Deren vorzüglichstes Beispiel ist die ganze Logik. So sollte verständlicher werden: Allein dadurch, daß die Methode absoluter Dialektik die Natur der reinen Persönlichkeit ist, kehrt diese, alles in sich befassend, zum ersten Unmittelbaren und zum ersten allgemeinen Gedanken zurück. So macht sich die reine Persönlichkeit der Gottheit, nicht etwa des Menschen, zum Freiesten. Indem sie sich aus sich zum Einfachen, nur mit sich selbst Gleichen, zum Unmittelbaren macht, ist sie von jeder unmittelbaren Voraussetzung und Abhängigkeit frei. Ist es diese Freiheit, in der sich die absolute Idee frei entschließt, sich frei als Natur zu entlassen? 3. Kapitel: Nachfragen zu Hegels Andeutungen eines Übergangs von der Ideenlogik zur Realphilosophie Die abgerundete ontotheologische Bewahrheitung der absoluten Ideescheint die weitere Ausführung des Systembaus, den Übergang von der Logik zur Natur- und Realphilosophie, plausibel zu machen. Sie nimmt die Persönlichkeit und Freiheit der absoluten Idee in Anspruch, indem sie andeutungsweise erklärt: »Die absolute Freiheit der Idee aber ist, daß sie [...] in
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der absoluten Wahrheit sich entschließt, [...] sich als Natur aus sich zu entlassen« (Enz. § 244; TWA 8, 393). Dem ist ein ebenso aufschlußreicher wie zweideutiger Zusatz angehängt. »Wir sind zum Begriff der Idee, mit welcher wir angefangen haben, zurückgekehrt. Zugleich ist diese Rückkehr zum Anfang ein Fortgang. Das, womit wir anfingen, war das Sein, das abstrakte Sein, und numehr haben wir die Idee als Sein: diese seiende Idee aber ist die Natur« (TWA 8, 393). In diesen berühmten, bloß angedeuteten Schluß- und Übergangssätzen ist die vollendete Wahrheit der Ideenlogik als vermittelnder Rückgang in das abstrakte Sein ebenso behauptet wie ihre entschlossene Selbstentäußerung als Natur in deren Ansichsein. Offenbar steht mit diesen Behauptungen der Kreisgang der Logik ebenso auf dem Spiel wie der Anfang im Kreisen des absoluten Geistes. Das ist in Konzentration auf die zitierten Schlüsselstellen zu befragen. Allein es bleibt das Vorbedenken: Kann die Idee überhaupt den Gedanken des einseitigen und unmittelbaren Seins in sich aufnehmen, wenn doch alles, was im rückwärts vertiefenden Fortgehen zum Ziel aufgenommen wird, als Moment der höheren Wahrheit bewahrt (konserviert) und höher gehoben (eleviert) wird? War denn nicht ausdrücklich das abstrakte, nur sich selbst gleiche Sein als leere Unmittelbarkeit fallengelassen und in die Unwahrheit bloßen Meinens verwiesen worden? Wäre dann nicht die Vermittlung des konkreten Anfangs, des Werdens, die Ermittlung eines schon Vermittelten? Ist dann nicht, mit Kierkegaards Nadelstich formuliert, im Hegelschen System alles Logische immer schon vermittelt – außer der Vermittlung selber? Und zweideutig bleibt auch die Tat der Freiheit, der Idee in ihrer reinen Persönlichkeit. Sie steht an der Gelenkstelle des Systems, welches Logik und Realphilosophie vermittelt. Dabei sollte einleuchten: Die Logik der absoluten Idee bildet zwar eine Grundlage, aber nicht das Ganze der Vernunftwissenschaft. »Diese Idee ist noch logisch, sie ist in den reinen Gedanken eingeschlossen, die Wissenschaft nur des göttlichen Begriffs« (TWA 6, 572). Die Wissenschaft der Logik ist eben ontologische Theologik. Sie stellt nach dem berühmten Einleitungswort Hegels das Reich der reinen Gedanken, der unverhüllten, an und für sich seienden Wahrheit dar. »Man kann sich deswegen ausdrücken, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist« (TWA 5, 44). Wie aber kommt es vom Reich ewiger göttlicher Gedanken zur geschaffenen Welt der Natur und zur Welt der Menschen? Weiter gefragt: Wie gelangt das tragende System der Logik als Natur und Geist zum Aus-
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trag, gar so, daß ein absoluter Geist in den modi cogitandi des subjektiven Geistes (Anschauen – Vorstellen – Denken) und objektiv in den Gestalten des Gemeinschaftsleben, weltgeschichtlich als Weltgeist in Völkern und Heroen offenbar wird? Offenkundig steht so mit dem Übergang von der Logik zu den Wissenschaften der Natur und des Geistes das Gesamtgefüge des Hegelschen Systems auf dem Prüfstand. Das drückende Problem wird in der Frage manifest, wie sich die absolute Idee als Natur darstellt und nicht etwa zur materiellen, körperhaften, zerteilten Natur übergeht, in das absolute Anderssein von Raum und Zeit als dem Außereinander des Nebeneinander und Nacheinander. Hegel nimmt das Wort vom Übergang zurück. Es sei weder begrifflich noch zeitlich haltbar; denn begrifflich bliebe das Übergehende innerhalb der Sphäre der Gedanken und zeitlich wäre es außerhalb seiner Sphäre des Ewigen. Den wahren Prozeß dieses ›Übergangs‹ hat Hegel nur angedeutet und so selbst gravierenden Bedenken Tür und Tor geöffnet. Außer Frage steht doch: Die absolute Idee hat sich als das Absolute vollendet ausgesprochen. Am Ende sagt die höchste metaphysische Definition Gottes: Ich bin die Fülle der Seinsrealität im Fürsichsein des reinen Begriffs. Paradoxerweise wird ihr zum Ausklang der Wissenschaft der Logik ein doppeltes Ungenügen attestiert. Die absolute Idee sei trotz ihres Vollendungscharakters noch nicht vollendet. Und sie sei trotz ihrer totalen Einheit von Sein und Realität in sich, in die Sphäre des reinen Gedankens, eingeschlossen. »Die systematische Ausführung ist zwar selbst eine Realisation, aber innerhalb derselben Sphäre gehalten« (TWA 6, 572). So angesehen zeigt sich das Ideen-Absolute von der Sphäre dessen, was sie nicht selber denkt, dem Sein und Leben der Natur als dem anderen ihrer selbst, ausgeschlossen. Dann aber enthüllte sich doch am Ende das Absolute der Logik als ein Nicht-Absolutes. Soll aber das wahre Ganze um Gottes Willen nicht dualistisch in zwei Sphären von Geist und Natur disjungiert sein, dann muß die absolute Idee selbst den Übergang in die andere Sphäre als ihre eigene Wirklichkeit vollbringen. Steht es so, bewegt sich dieser Übergang dann aber nicht nach dem Gebote eines Soll – dann muß? Und, vorbereitend gefragt: Wendet sich dann nicht Hegels auf Fichte gerichtete Waffe der Sollenskritik gegen ihn selbst? Das führt zu einer weiteren fraglichen Unterstellung. Soll die absolute Idee ihre Seinswürde und Totalität, alles in allem zu sein, bewahren und bewähren, dann muß in ihr selbst das Sein der Natur angelegt sein. »Indem die Idee sich nämlich als absolute Einheit des reinen Begriffs und seiner Realität
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setzt, somit in die Unmittelbarkeit des Seins zusammennimmt, so ist sie als die Totalität in dieser Form – Natur« (TWA 6, 573). Aber ist das haltbar? Gewiß ist die absolute Idee Totalität aller Seinsgedanken in der Form des reinen Begriffs, aber ist nicht die Natur von dieser Form ausgeschlossen und so in der Einheit der Ideensphäre nirgends enthalten? Und liegt hier nicht ein anzukreidender Fehlschluß vor, der aus Maior und Minor der Vordersätze »Die Idee ist lebendige Unmittelbarkeit« – »Die Natur ist lebendige Unmittelbarkeit« die positive Konklusion folgert: »Also sind Idee und Natur dasselbe«, anstatt richtiger negativ zu schließen: »Also sind beide, Idee und Natur, nicht im Stande des Vermitteltseins«? Vor allem aber: So ist das Gesollte, die Differenz und den Abstand der Sphären aufzuheben, nicht vollbracht. Eine Revision der Logik kann nur konstatieren: Die Idee ist wie die Natur lebendige Unmittelbarkeit, aber in der Form des Fürsichseins; die Natur ist wie die Idee lebendige Unmittelbarkeit, aber doch in der Form des bloßen Ansichseins. Hegel selbst hat bemerkenswerterweise die Konstruktion eines notwendigen Übergangs revidiert. »Das Übergehen ist also hier vielmehr so zu fassen, daß die Idee sich selbst frei entläßt, ihrer absolut sicher und in sich ruhend« (TWA 6, 573). Aber gerade auch hier ist nachzufragen. Folgt diese Lösung nicht eben der gerügten Unterstellung eines Soll – dann muß? Soll die absolute Idee aus ihrem Eingeschlossensein in sich heraustreten und versagt hier die Übergangsrelation von Möglichkeit zu Wirklichkeit, dann muß die Idee sich immer schon entschlossen haben, sich aus sich in das Anderssein als Natur zu entlassen. So würde sich die Idee tatsächlich als das zuhöchst Freie bewähren. Und es war ja doch der Idee eine reine Persönlichkeit und reine Freiheit zugedacht worden, sofern sie die praktische Idee des freien Willens, der das Gute und Vernunfthafte in der Welt immer schon verwirklicht, als Moment in ihr aufgehoben hat. Aber hat das nicht ausschließlich mit der Welt zu tun, wie sie innerhalb der Sphäre der reinen Gedanken vernunfthaft ausgeprägt ist? Und tritt der Gott der Freiheit, der die Idee als Welt walten läßt, nicht eher wie ein Deus ex machina auf, der das Reich Gottes und die reale Natur und Menschenwelt miteinander versöhnt? Warum denn muß sich überhaupt ein absolut Freies von sich selbst befreien und aus dem Eingeschlossensein in sich entlassen? Und kann sich die Idee überhaupt zu einem schlechthinnigen Anderssein entschließen, wo sie doch längst zur Gewißheit der Vernunft gekommen ist, im Anderssein bei sich selbst zu bleiben? Und zuletzt gefragt: Macht die absolute
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Idee wirklich damit ernst, erst im Durchgang durch Anderssein und Negation wie durch Erschütterungen der Vergänglichkeit – denn erst das Naturleben bringt Vergänglichkeit und Tod wirklich mit sich – ganz das zu werden, was sie ist, wenn sie doch ihres unerschütterlichen Bleibens bei sich selbst versichert ist? Solches Nachfragen, sollte es nicht ganz abwegig sein, treibt den Vollendungsanspruch des Hegelschen Idealismus in die Krise.15 Das Gesamtsystem droht auseinanderzuklaffen. Die Wissenschaft der Logik und die Wissenschaften des Geistes finden nicht bruchlos und ohne Sprung zueinander. Erweist sich der Weg der geistvollsten Systemvollendung am Ende als ungangbarer Irrweg? Bedeuten Hegel wie der orthodoxe Hegelianismus etwa nichts weiter als eine hybride, existenzvergessene Phantasterei? Ist diese Epoche der Menschheits- und Philosophiegeschichte, die ebenso glänzend wie flüchtig, ebenso wirkmächtig wie wirkungslos, ebenso spekulativ wie unbesonnen war, nicht mit Recht versunken und verschwunden? Dieses Urteil der Geschichte kann sich auf Kierkegaards ›unwissenschaftliche‹ Nachschriften und eben auch auf Schellings vernichtendes Anathema stützen. Einträglicher für die Abschätzung einer Vernunftwissenschaft im Stadium ihrer dreifachen Vollendung aber mag es sein, Hegels Dialektik in ihrem unausgetragenen Widerstreit mit dem Stand der ungeschriebenen Wissenschaftslehre zu betrachten, da diese sich eben auch in reiner und vollendeter Gestalt zur Darstellung gebracht hat. 5. Abschnitt: Wege und Wesen der Wahrheit. Bereitstellungen zum Widerstreit Es ist das Bestreben aller Philosophie, das Wahre selbst zu erkennen und in eins damit vom Unwahren zu scheiden, die Gewißheit zu fundieren und so den schwanken machenden Zweifel stillzustellen. Dazu ist es notwendig, daß unser Wissen den Grund und Quell der Wahrheit erfaßt. Ausdrücklich hat Hegel die Erfassung des Wahren im Wissen als Endabsicht philosophi-
15 Das Auseinanderbrechen von Transzendentalität und Erfahrung in Ausarbeitung des Anfangs stellt die Untersuchung von K. Schrader-Klebert: Das Problem des Anfangs in Hegels Philosophie, 1969 überscharf heraus. Indem Hegel den Anfang zum System aller möglichen, immanent vermittelten Bestimmungen entwickle, reduziere er die Wirklichkeit auf Null, so daß der Willkür einer absoluten Apriorität die Unvermittelbarkeit einer absoluten Aposteriorität entgegenstehe.
5. Abschnitt: Wege und Wesen der Wahrheit.
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scher Prinzipienforschung ausgemacht. »Die Philosophie beabsichtigt, das zu erkennen, was unvergänglich, ewig, an und für sich ist, ihr Ziel ist die Wahrheit« (TWA 18, 24). Und Fichte, »der Priester der Wahrheit«, hat unentwegt erklärt, man wisse nichts, wenn man nicht den Grund der Wahrheit kenne. Alle Philosophie, die nicht Skeptizismus sein will und die gegen Nichtwissen, Schein und Unwahrheit streitet, muß zu diesem Ziel kommen. Erst eine Philosophie, welche die Wahrheit ergründet, kann es überhaupt unternehmen, ein System der Vernunftwissenschaft auf sicherem Grund vollständig und in vollendeter Darstellung aufzustellen. Das ist in der Hochzeit des Idealismus eben auf drei Wegen unternommen worden. Daher ist es unumgänglich, Hegels Weg zur Wahrheit sowie deren Grundbegriff zu rekapitulieren, um Hegels System für den Widerstreit um das Erreichen des Ziels aller Philosophie bereitzustellen. 1. Kapitel: Hegels Wege zur Wahrheit Hegels Logik nimmt durchaus die Wahrheit der abendländischen Tradition gemäß als Übereinstimmung des Begriffs mit seiner Realität im Erkennen der Vernunft auf. Aber sie gibt der Entsprechung von Begriff und Realität innerhalb der Selbsterkenntnis der Vernunft auf der Höhe absoluten Wissens ein neues Gepräge. Wahrheit sei Übereinstimmung der Gedanken der absoluten Idee mit ihrer eigenen Wesenswirklichkeit. »Die Vernunft erkennt die Wahrheit, indem die Wahrheit die Übereinstimmung des Begriffs mit dem Dasein ist, die Bestimmungen der Vernunft aber ebensosehr eigene Gedanken sind als Bestimmungen des Wesens der Dinge« (Logik für die Mittelklasse, 1809 § 33; TWA 4, 85). Auf welchem Wege nun gelangt die Adäquationstheorie in die Zuständigkeit einer spekulativen Logik? Offenbar wird die Wahrheitslehre aus der Zuständigkeit der formalen Logik über die transzendentale Logik der Vernunftkritik hinaus in die wissenschaftliche Kompetenz einer spekulativen, ›objektiven‹ Logik delegiert. Auf diesem Wege vertieft sich die Wahrheitsprüfung von den bloß negativen Kriterien des Satzes vom Widerspruch und des Satzes der Identität über das transzendentale Prinzip der synthetischen Einheit des Ich-denke bis in den Ursprung der absoluten Subjekt-Objekt-Identität. Solchen Tiefgang hatte schon die Journal-Abhandlung Glauben und Wissen angekündigt. Die Stufen, auf denen der Geist bis zur Höhe des absoluten, sich als Einheit von Bewußtsein und Gegenstand wissenden Wissens aufsteigt, hatte die Phänomenologie des Geistes durchlaufen. Sie fungiert als Lehre der erscheinenden
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Wahrheit in ihrem Erscheinen. Das sich so öffnende Reich der Wahrheit der Idee hat Hegel in seiner Logik, zumal im dritten Teil, der Begriffslogik, begründet und ausgebreitet. Nun stellt die mit Schelling zusammen herausgegebene Abhandlung von 1802 Glauben und Wissen die Wahrheitsauffassung der transzendentalen Logik Kants heraus und programmatisch auf einen neuen Grund und Boden: das wahre Ich als absolute, ursprünglich synthetische Identität. Bekanntlich hat Kant die Frage nach der Übereinstimmung von reinen, apriorischen Verstandesbegriffen mit der objektiven Realität des sinnlich in den reinen Anschauungsforman von Raum und Zeit gegebenen Mannigfaltigen als Grundfrage einer transzendentalen Urteilswahrheit neu und eigenartig gestellt: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Diese Frage wurde gelöst durch Aufstellung der einigenden Einheit des Ich-denke als ursprünglich synthetische Identität. Das aber ist vom sich abzeichnenden Standpunkt Hegels und Schellings her angesehen die absolute Identität des Subjektiven und Objektiven. Der Grund der Wahrheit wäre so eigentlich ein Unbedingtes, und das Unbedingte ist ein anderer Name für das Absolute. Das Absolute ist mithin die ursprüngliche Synthesis, aus der sich erst das Ich als denkendes Subjekt und das ungleichartige Mannigfaltige ausscheiden. Der dahin tendierende Schlußsatz lautet: »So hat Kant in Wahrheit seine Frage: wie sind synthetische Urteile a priori möglich? gelöst. Sie sind möglich durch die ursprünglich absolute Identität von Ungleichartigem, aus welchem als dem Unbedingten sie selbst [...] erst sich sondern« (TWA 2, 307). Zwischen den Zeilen dieser Kantauslegung ist eine Wende im Wege zum Wesen und Grund der Wahrheit herauszulesen. Das Erste Prinzip der Wahrheit ist nicht die bedingte Ichheit der transzendentalen Apperzeption, sondern die unbedingte Identität des Idealen und Realen. Wahrheits- und Gewißheitsgrund ist nicht mehr das cogito me cogitare, das Ich-denke, die Tathandlung des absoluten Subjekts, sondern die Absolutheit der Vernunftidee. Darin steckt eine weittragende Kritik. Kant habe zwar durchaus das Unbedingte als Prinzip und Wahrheitsgrund ergriffen, aber nicht festhalten können und seinen dualistischen Vorgaben zufolge aufgeben müssen.16 Das ist
16 Die problemeröffnende Studie von M. Baum: Wahrheit bei Kant und Hegel, 1981 stellt zuerst prägnant Kants Konzeption der absoluten Wahrheit dar, verfolgt sonach Hegels Kritik daran, um in Hegels eigener Wahrheitskonzeption weitergeführte Momente transzendentaler Wahrheit nach- und einzutragen.
5. Abschnitt: Wege und Wesen der Wahrheit.
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Programm. Dessen Durchführung erhält Fülle und Profil auf den Wegen von Hegels Phänomenologie, als Lehre von der aufsteigend erscheinenden Wahrheit gelesen. Dabei entwickelt sich die Wahrheitserfahrung des Bewußtseins als dialektische Aufwärtsbewegung auf dem Wege einer Selbstprüfung des Geistes in seinen Wahrheitsansprüchen. So wird auf jeder Stufe geprüft, ob der Begriff dem Gegenstand und umgekehrt, ob der Gegenstand dem Bewußtsein entspricht oder nicht entspricht. In diesem Selbstprüfungsverfahren heben sich Positionen mit dem Resultat einer Nichtentsprechung selber auf, bis die volle Entsprechung und damit »das einheimische Reich der Wahrheit« (TWA 3, 138) erreicht ist.17 Was auf dem Wege zu diesem Ziel hin überstiegen wird, ist dreierlei: die bloß formelle Wahrheit des Bewußtseins, die Einschließung der Wahrheit in die Selbstgewißheit des Ich und alle Verendlichung der Wahrheit durch den Verstand. Bloß formell bleibt die Wahrheit, soweit und solange sie in die Beziehung auf das Bewußtsein gesetzt wird. Auf der Stufe gegenständlichen Bewußtseins herrscht das rechthaberische Pochen auf Richtigkeiten. Abstrakt bleibt die Wahrheit, wenn der Geist sich mit der Gewißheit seiner selbst auf der Stufe des freien Selbstbewußtseins begnügt und sich nicht zur Einsicht erhebt, die Idee sei die Wahrheit. Gewißheit von sich hat noch keine Wahrheit. Und die Wahrheit bleibt endlich, wann immer eine als Verstand tätige Vernunft die unendliche Wahrheit des Begriffs als ein Jenseits fixiert. So verblaßt die Wahrheit zum nur an sich seienden Ziel. Sie wäre so eben nur das bloß Gesollte und niemals das wirklich Vollbrachte. Hegels Phänomenologie verfolgt dagegen das Endziel, die abstrakte Gewißheit des Geistes zur konkreten Wahrheit zu erheben. Das scheint geglückt, wenn die formelle Identität des Subjektiven und Objektiven sich zum wirklichen Unterschied fortentwickelt, dergestalt, daß die Subjekt-Objekt-Einheit als Wahrheitsgrund sich zur Identität ihrer selbst und ihres Unterschieds gemacht hat. Die Wahrheit ist nur in der Einheit der Identität mit der Verschiedenheit vollständig. So erst hebt sich Hegelsche Logik unter dem Titel einer »objektiven Logik« ausdrücklich von der formalen Logik ab, welche das Subjektive des Denkens festhält und untersucht, indem sie von allem Objektiven abstrahiert. Wahre Logik besitzt das absolute Wissen zum Inhalt und eröffnet
17 Vgl. dazu die einschlägigen Untersuchungen von M. Theunissen: Begriff und Realität, 1978. – R. Aschenbach: Der Wahrheitsbegriff in Hegels Phänomenologie des Geistes, 1976.
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das Reich der reinen Gedanken, welche die wesenhafte Realität an sich selbst sind. Und das hebt Kants Restriktionen total auf, welche die Wahrheit als Erkennntnis des Ansichseins der Dinge für unzugänglich erklärt und lediglich die Wahrheit der sich sinnlich bekundenden gegenständlichen Erscheinung zuläßt. Und Hegels Konzept übersteigt auch die Jenaer Wissenschaftslehre, sofern diese von der unbedingten Tathandlung der Subjektivität her in absoluter Gewißheit die Übereinstimmung von Ich und Nicht-Ich herstellen soll, ohne es je zu einer vollständigen Adäquation zu bringen. 2. Kapitel: Begreifen der Wahrheit auf der Höhe spekulativer Logik Hegels Onto-theo-Logik bringt die konkret zusammengewachsene Wahrheit im Äther absoluten Wissens auf den Begriff. So enthüllt sich das durch Verstandesrelationen verhüllte Reich der Wahrheit ganz. »Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist« (TWA 5, 44). In spekulativer Logik nämlich gehen die lebendige Realität der Idee und der absolute, sich mit sich vermittelnde Begriff ineinander auf. Das Schlußstück der subjektiven Logik hebt daher mit der These an: »Die Idee ist der adäquate Begriff, das objektive Wahre oder das Wahre als solches« (TWA 6, 462). Der vollendete positive Begriff nämlich ist nicht etwa bloß das abstrakte Allgemeine der Verstandeslogik, welche den Gegensatz von Form und Inhalt festhält. Er bildet das Wahre aus der Einheit von Sein und Wesen, indem er sich als das schlechthin Konkrete begreift. Das aber schließt die Fülle allen Inhalts so in sich ein, daß es diese zugleich aus sich entläßt. Der so lebendige Begriff ist das Element des Wahren, und solches Begreifen der Wahrheit ist das Endziel der Philosophie. Endet mithin Hegels Logik mit dem absoluten, konkreten Begriff des Wahren, dann ist seine Systembildung in der Tat am Ziel und die Vernunftwissenschaft unüberholbar vollendet. Das ist ein Korrektiv. Seit alters hat die Philosophie den Grund der Wahrheit in das Absolute, in Gott, gesetzt. Aber solcher Wahrheitsgrund ist nicht im subjektiven Denken erfaßbar. Vielmehr ist zu erweisen: Grund der Wahrheit und Enthüllung des göttlichen Wesens ist erst der spekulative Begriff. Darum drückt alles Reden von der Unbegreiflichkeit Gottes, sei es vom Standpunkt der Reflexion, sei es vom Standpunkt der Gefühlsphilosophie (Fichte, Jacobi) aus nur einen schlechten Subjektivismus aus. Das Göttliche ist lebendiger Geist und weder jenseitig noch verborgen, schon gar nicht aber das Unerkennbare und Inhaltslose des abstrakten Verstandes. Im spe-
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kulativen Begreifen ist Gott offenbar und in gehöriger Wahrheitslehre zur vollständigen Klarheit gebracht. »Die Lehre der Wahrheit ist ganz nur dieses, Lehre von Gott zu sein und dessen Natur und Geschäfte geoffenbart zu haben« (Vorrede zu Hinrichs Religionsphilosophie, 1822; TWA 11, 49). Wahrheit besagt demnach vollkommenes Sichoffenbaren des sich dirimierenden und versöhnenden göttlichen Begriffs. Anders, vom Prozeßcharakter der Wahrheitsoffenbarung her gesagt: Das Wahrheitsgeschehen vollzieht sich im ewigen, allgemeinen Vorgang eines Sichunterscheidens und Insichzurücknehmens des sich offenbarenden Geistes als des schlechthin begreifbaren Anfangsgrundes alles wahrhaft Wirklichen. So aufgebaut bleibt Hegels Wahrheitskonzeption gegenüber Einsprüchen unangreifbar, welche sich auf eine vortranszendentale Adäquationstheorie oder moderner auf eine antimetaphysische Kohärenztheorie stützen. Hegel nämlich hat beides, Adäquation und Kohärenz, in seine Wahrheitslehre integriert. Und unter Niveau sind Angriffe im Namen der Richtigkeit, sofern diese allein vom gegenständlichen oder gar vom sinnlichen Bewußtsein festgestellt wird. Hegels Phänomenologie des zum Wahrheitsgrund aufsteigenden Geistes hat solche Positionen schlagend in den Selbstwiderspruch getrieben und bekanntlich auch die Wahrheit als Gewißheit und unmittelbare Evidenz auf der Stufe des Selbstbewußtseins zur Selbstaufgabe gezwungen. Wo allerdings die aufsteigende, spekulative Transzendenz im idealistischen Überstieg zu einem göttlichen Wahrheitsgrund reszendiert und materialistisch vom Himmel auf die Erde zurückgeholt wird, da gerät Hegels Dialektik ins Zwielicht. So hat die wissenschaftliche Wahrheit des MarxismusLeninismus eine ›fortschrittliche‹ Rezeption angeboten.18 Einerseits wird Hegel als Schöpfer der Dialektik gefeiert, andererseits als Logiker der absoluten Idee verdammt. Die absolute Idee Hegels fasse nach Lenins Urteilsspruch alle Widersprüche des Kantischen Idealismus und alle Schwächen des Fichteanismus in sich zusammen (vgl. LW 14, 230). Die Wissenschaft der Logik und ihre dialektische Wahrheit sei höchste Errungenschaft der Hegel-
18 Solche Lösung sei weder vom transzendentalen noch vom absoluten Idealismus zu erwarten. Sie werde erst möglich »vom Standpunkte einer wissenschaftlich-philosophischen Weltanschauung, die die großen Errungenschaften der vorhergehenden Philosophie – den Materialismus und die Dialektik – geerbt und verbunden hat [...]: die Philosophie des Marxismus« (vgl. T. Oisermann: G. W. F. Hegel und das Erbe I. Kants, 1981, 304).
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schen Philosophie und eine bloße Voraussetzung des dialektischen Materialismus als die ganze, nämlich wissenschaftliche Wahrheit. Indessen dürfte klar sein: Der Marxismus-Leninismus gehört zur nihilistischen, weltweit ausgebreiteten Reszendenzbewegung (Nietzsche: »Brüder, bleibt der Erde treu!«). Da sind alle Organe für Transzendenzprozesse aus dem Leib und Leben der Philosophie herausgeschnitten. Die Auseinandersetzung mit Hegels Weg und Begriff der Wahrheit kann schlechterdings nicht von Positionen ausgeführt werden, die noch immer oder schon wieder im dogmatischen Schlummer versunken sind. Grundfragen, ob das absolute Wissen wirklich als das Absolute aufzufassen sei oder ob eine Logik des Begriffs, der die Realität in und aus sich bildet, das konkrete Wahre darstellt, sind nur auf gleichem Niveau transzendentaler Transzendenz- und Wahrheitserhebungen zu erörtern. Der Widerstreit um die Wahrheit, die alte Riesenschlacht um das Sein, sollte somit auf dem Niveau des Deutschen Idealismus selbst im Stadium seiner dreifachen Vollendung ausgetragen werden. 6. Abschnitt: Hegel im Widerstreit 1. Kapitel: Hegels Bloßstellung des unvermittelten, schlechten, leeren und unvollständigen Idealismus (Kant – Fichte) Für eine restituierende Untersuchung des Deutschen Idealismus, welche die großen Ausarbeitungen der Systeme aus dem Widerstreit einer dreifachen Grundstellung mti einem je eigenen Vollendungsanspruch thematisch behandelt, ist es wohl unumgänglich, Hegels Abschätzungen zu erwägen, mit denen er die Vernunftkritik Kants wie die frühe Wissenschaftslehre Fichtes in ihren Unzulänglichkeiten bloßstellt. Das sollte den Anstoß geben für eine Gegendarstellung im Systemrahmen von Fichtes ungeschriebener Lehre, vorzüglich von 1804 – 1807; sie ist von Hegel ignoriert worden. Dafür ist ein einschlägiger, kurzer, aber prägnant polemischer Abschnitt der Phänomenologie des Geistes zu überdenken. Er findet sich da, wo die dritte Hauptstufe des erscheinenden Geistes erreicht ist, im Abschnitt »Gewißheit und Wahrheit der Vernunft«.19 »Die Vernunft ist die Gewißheit des Bewußtseins, alle
19 Einer der Erträge der phänomenologischen Interpretation der Hegelschen Phänomenologie des Geistes durch E. Fink: Hegel, 1977 besteht darin, diesen Abschnitt ausdrücklich als Kant- und Fichtekritik herausgestellt zu haben. Freilich liegt die hier
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Realität zu sein; so spricht der Idealismus ihren Begriff aus« (TWA 3, 179). Dieser sich auf dieser Höhe aussprechende Idealismusbegriff beansprucht nun, die Grundsätze zu korrigieren und zu überbieten, in denen sich der Idealismus anfangs in Kants Kritik und in Fichtes Jenaer Grundlegung ausgesprochen hat. Geschichtlich hervorgetreten war der Idealismus eben als Vernunftkritik und Vernunftwissenschaft mit den Grundsätzen »Das Ichdenke muß alle meine Vorstellungen begleiten können« (Kant) und »Ich bin Ich« (Fichte). Beiden Gestalten des Idealismus spricht Hegel pauschal und unterschiedslos ab, ihre Grundsätze erfüllt und die Vernunftwissenschaft abgeschlossen zu haben. Er rechnet ihnen vielmehr ein fünffaches Defizit vor. Sie treten unvermittelt unmittelbar auf; sie drücken sich in reinen Versicherungen aus; sie verfehlen – eine Schmach der Wissenschaft – die vernunftgemäße Kategorienlehre; sie fallen in den Empirismus zurück; und sie proklamieren am Ende eine bloß gesollte absolute Vernunfteinheit. Der erste Einwand lautet: Der unmittelbare Idealismus trete unerwiesen, wie aus der Pistole geschossen, auf. Er erweist und beweist sich nicht in seinem Gewordensein auf dem Wege des erscheinenden Geistes. Er hat die notwendige dialektische Bewegung im Überwinden der in sich widersprüchlichen Wahrheitsstufen des Bewußtseins wie des Selbstbewußtseins nicht vollbracht. Das unvermittelte Bewußtsein von der Wahrheit und Selbstgewißheit des Ich hat diese unerläßliche Vermittlung vergessen. »Das Bewußtsein, welches diese Wahrheit ist, hat diesen Weg im Rücken und vergessen, indem es unmittelbar als Vernunft auftritt« (TWA 3, 180). – Freilich rechnet Hegel Fichtes berühmte, frühe Einleitungen nicht als Vermittlungen an, und er wird auch Fichtes spätere faktisch-historische Phänomenologie der Tatsachen des Bewußtseins seit 1810 ignorieren. Aufgrund der Unvermitteltheit folgert Hegel ein zweites Ungenügen. Ihr zufolge ist die These eines solchen Idealismus, alle Realität zu sein (Ich=Alles), eine bloße Versicherung. Ein bloßes Versichern aber bleibt für sich wie für andere unbegreiflich, weil es keinerlei Rechenschaft aus Gründen gibt, sondern nur der eigenen Überzeugung Ausdruck verleiht: Das ist so. Ein bloßes Versichern aber ist gegen andere, gegensätzliche Versicherungen wehrlos, vor allem für die Behauptung: Es ist anderes für mich. »Mit gleichem Recht stellen daher neben der Versicherung jener Gewißheit sich auch
aufgenommene Metakritik nicht in der Richtung von Finks denkwürdiger kosmoontologischer Betrachtungsweise.
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die Versicherungen dieser anderen Gewißheiten« (TWA 3, 187). – Freilich hat Hegel in der im Philosophischen Journal 1797 erschienenen Ersten Einleitung bei Fichte lesen können: Allein der Dogmatismus, der den Übergang vom Sein zum Vorstellen nicht zu erklären vermag, beläßt es bei ohnmächtigen Behauptungen und bloßen Versicherungen. In Einseitigkeiten befangen vergibt der schlechte Idealismus nach Hegel die Ausarbeitung einer Kategorienlehre auf der Höhe der Vernunft. Dieser dritte Einwand fällt böse auf Kants transzendentale Logik zurück. Das »ist in der Tat als eine Schmach der Wissenschaft anzusehen« (TWA 3, 182). Vergeben werde die Aufstellung kategorialen Seins in Einheit und Vielheit. Der schlechte Idealismus verstehe die Kategorien als apriorische Formen unseres Denkens und nicht als Einheiten von Denkbestimmung und Wirklichkeit. Und er klaubt ihre Vielheit als Fund in der Vielzahl der Kategorientafel auf, ohne sie entwickeln zu können. – Freilich hat Fichte seinerseits erklärt: Ein unvollständiger Idealismus etwa im Sinne des Kantschülers Siegmund Beck nehme die Kategorien aus ihrer Anwendung auf Objekte und insofern empirisch auf. Ein vollständiger Idealismus entwickle sie vollständig als Handlungsgesetze der Intelligenz und rechtfertige sie als Seinsgesetze in einer systematischen transzendentalen Deduktion. Gleichwohl schlägt Hegels Einwand der nicht vollbrachten absoluten Einheit der Vernunft und ihrer Kategorien am Ende auch Fichtes Vernunftwissenschaft nieder. Auch diese versichere nur unvermittelt in einem schlechthin unbedingten Grundsatz, alle Realität zu sein, obwohl in ihr doch durch Beschränkung und »Anstoß« des Nicht-Ich eine Realität entstehe, die nicht die Realität der Tathandlung sei. Daher verlege sich die Wissenschaftslehre am Ende auf den Grundsatz »Ich soll = Ich sein«. Solchem Vernunftentwurf aber hängt ein Mangel an. Er »bleibt ein unruhiges Suchen, welches in dem Suchen selbst die Befriedigung des Fundes für schlechthin unmöglich erklärt« (TWA 3, 185). So spricht sich Hegels Sollenskritik am Ende ausdrücklich gegen den Abschluß der Jenaer Wissenschaftslehre aus und macht den da versäumten Übergang deutlich, der unumgänglich ist, um den Wahrheitsanspruch der Vernunftgewißheit, nämlich alle Realität zu sein, wirklich vollständig zu erfüllen und nicht in den Inkonsequenzen des leeren und schlechten Idealismus stecken zu bleiben. »So inkonsequent aber ist die wirkliche Vernunft nicht; sondern nur in der Gewißheit, alle Realität zu sein, ist sie in diesem Begriffe sich bewußt, als Gewißheit, als Ich noch nicht die Realität in Wahr-
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heit zu sein, und ist getrieben, ihre Gewißheit zur Wahrheit zu erheben und das leere Meinen zu erfüllen« (TWA 3, 185). So scheint Fichtes Ausarbeitung von Kants Vernunftkritik zur vollendeten Vernunftwissenschaft im vorhinein gegenüber dem Aufschwung Hegelschen Denkens zurückzubleiben und eine Vollendung des Deutschen Idealismus allein dem methodischen Aufstieg und dem ontotheologischen Aufschluß Hegelscher Dialektik zuzukommen. 2. Kapitel: Herausstellung von Hegels vielseitigem Widerstreit gegen das Prinzip des Sollens In Hegels Logik von 1812 findet sich folgende historische Anmerkung zur Dialektik von Schranke und Sollen: »Das Sollen hat neuerlich eine große Rolle in der Philosophie, vornehmlich in Beziehung auf Moralität und [1832: metaphysisch] überhaupt auch als der letzte und absolute Begriff von der Identität der Gleichheit mit sich selbst und der Bestimmtheit [1832: oder der Grenze] gespielt« (Gawoll 1986, 86). Hegels Anmerkung zielt verweisendwiderstreitend auf das neuzeitliche Gepräge der Philosophie seit Kants Primat der praktischen Vernunft, seit Fichtes Gebot absoluter Einheit, aber auch auf Schillers ästhetischen Humanismus. Diese Phase der Neuzeit sei geprägt durch die vielseitige, wachsende Rolle des Sollens als Seinsprinzip: Die Unbedingtheit des Seins ist ein unbedingt Gesolltes. So hat sich wirkmächtig im Gebiete der moralisch-praktischen Vernunft das Sollen als Imperativ Gehör verschafft. Es gebietet das Handeln aus Pflicht. Fichte hat, weniger durchschlagend, das Sollensgebot in der Formel ausgedrückt »Handle wie keiner!«: Du sollst Deiner, ausschließlich Dir und keinem anderen als moralische Person und einzigartigem Individuum zukommenden Aufgabe in der Gesamtordnung menschlicher Vernunftwesen nachkommen. Dabei geht Fichtes lakonischer Satz »Du kannst denn Du sollst« von der Vernünftigkeit des Sollensgebotes aus. Das kann der Mensch als Vernunftwesen befolgen, ohne daß es im Endlichen komplett erfüllt werden muß. Dem Menschen als Wesen der Vervollkommnung kommt das Gesollte eben nicht als ein Gegebenes und immer schon Erreichtes zu, sondern als ein Aufgegebenes und in unentwegter Annäherung zu Erstrebendes. Zudem hat das Sollen auch, etwa in Fichtes Naturrechtslehre, eine beträchtliche Rolle als Vernunftgebot gespielt, das die Rechtssubjekte auffordert, unter der Bedingung der Wechselseitigkeit auf der Basis gegenseitiger
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Anerkennung ihre äußere Willkür im Gemeinschaftsleben einzuschränken. Sollen Menschen miteinander bestehen können, muß jeder seine rechtliche Freiheit so einschränken, daß auch die Freiheit des anderen legitim gewährleistet wird. Rechtssicherheit aber steht unter Bedingungen. Soll sie wirklich Bestand haben, bedarf es eines Zwangssgesetzes, das jede rechtswidrige Handlung in das Gegenteil ihres Zwecks verwandelt und so die Verhinderung von Freiheit verhindert. Und das Sollen hat schließlich auch den ästhetischen Humanismus Schillers nach Anregungen der Wissenschaftslehre geprägt. Schillers Schlüsselsatz im 15. Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen lautet: »Sobald sie [die Vernunft] demnach den Ausspruch thut: es soll eine Menschheit existieren, so hat sie eben dadurch das Gesetz aufgestellt: es soll eine Schönheit seyn« (NA 20, 356). Soll nicht die Humanität in Barbarei umschlagen und in Wildheit zurückfallen – wie die Ideale der Französischen Revolution im Ausbruch des Terrors –, dann müssen das Schöne und die Kunst einen freien Spielraum für die Erziehung des Menschengeschlechts haben und dürfen niemals parteilich, ideologisch instrumentalisiert werden. Und im Jena der Fichtezeit und Revolutionsbegeisterung ist etwa in Fichtes öffentlicher Vorlesung Von den Pflichten der Gelehrten ein politischgesellschaftliches Sollen proklamiert worden. Die revolutionäre Forderung nach Égalité sei eine zwar unerreichbare, aber ins Unendliche zu erstrebende Aufgabe des Menschen in der Gesellschaft, »so lange der Mensch nicht aufhören soll, Mensch zu seyn und nicht Gott werden soll« (GA I/3, 40). Also spielt nach dem Urteil Hegels, der ja von 1801 bis 1807 in Jena lehrte, ›neuerlich‹ das Sollen in vielgestaltiger Weise eine prägende Rolle in der Philosophie.20 Im Blick auf die Einheit und Systembildung der Ersten Philosophie aber ragt der metaphysische Sinn heraus: die gesollte Identität von Subjekt und Objekt gemäß der Schlußgleichung »Ich soll = Ich sein«. Danach soll die Bestimmtheit des Endlichen gemäß dem Grundsatz entgrenzt werden, das Endliche solle in das wahrhaft Unendliche aufgehoben werden. In Hegels
20 Gewicht und Sinn des Sollen-Arguments hat O. Marquardt: Hegel und das Sollen, 1982 differenziert aufgezeigt. Allerdings dürfte die Hauptthese, Hegels Kritik treffe angesichts der Weigerung der Transzendentalphilosophie zu, das Sollen an die Wirklichkeit zu halten, indem sie sich nicht an den geschichtlichen Stand der Vermittlung halte und die Herrschaftsformen des Rechts und des Politischen übergehe, angesichts der Quellenlage kaum haltbar sein.
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dialektischem Gehör behalte so das Sollen das letzte Wort in der Systemfrage der neuzeitlichen Philosophie, ob und wie eine absolute Einheit erreicht werden könne. Unter der Ägide des Sollens bleiben das wahre Sein und unzerteilte Eine ein bloß gesolltes Absolutes. Das aber ist und bleibt das Hauptargument der Hegelschen Sollenskritik an Fichtes Grundlegungen der gesamten Wissenschaftslehre. Sie konzentriert sich also auf die metaphysische Rolle des Sollens, sofern es als letztes und zusammenschließendes Prinzip für die Einheit eines Vernunftsystems beansprucht wird; denn so bleibt das wahre Sein und zerteilte Eine immerfort gesollt. Dem widerspricht Hegels Hauptargument: Die Vernunft ist absolute Macht und keineswegs so ohnmächtig, immer nur wirklich sein zu sollen und niemals ganz wirklich zu sein. Dabei erkennt Hegel das Sollen durchaus an, wo es das Wesentliche gegen das Nichtige behauptet, und er fordert eine Korrelation von Sollen und Sein. Das bloße Sein ohne den Begriff des Seinsollens sei ebenso geistlos wie das bloße Soll ohne Sein. Allein, das Sollen, das seine Realisierung wirklich erreicht, ist die Wahrheit. Zumal das höhere Sollen, das Sollen der Idee, ist das wahrhaft Realisierbare gemäß der Grundgleichung: Alles Vernünftige ist wirklich, und alles in Wahrheit Wirkliche ist vernünftig. Die Angemessenheit des Seins zum Sollen ist daher Grundlage des Praktischen, und die Seinsstruktur des Übels besteht in der Diskrepanz von Sollen und Sein. »Das Übel ist nichts anderes als die Unangemessenheit des Seins zu dem Sollen« (TWA 10, 292). Von daher fällt jede Sollensauffassung, die das Sollen als ein letztlich Unerreichbares und als unerfüllbares Ideal vorstellt, auf die Seite der Unwahrheit. Aus solchem Vorgriff heraus durchstreicht Hegel schon früh das anthropologische, naturgesetzliche, ästhetische Sollen, das ein unerreichbares Ziel vorgibt. Die Einigung zwischen meinem Ich und dem Fremd-Ich (alter ego) ist nicht bloß aufgegeben, sie ist im dialektischen Wunder der Liebe wirklich lebensvoll da. Ein freies Gemeinwesen bleibt nicht ewig unerreichbar und nur annäherungsweise in wechselseitiger Willkürbeschränkung zu erreichen, es wird Wirklichkeit im Stande einer ›schönen Gesellschaft‹, welche Zwangsgesetze entbehrlich macht. Im Falle Schillers wird der Makel des Sollens milde toleriert, obwohl Hegel in seinen späteren Vorlesungen über Ästhetik vermerkt: Ästhetische Erziehung soll den Gegensatz zwischen der Vernunft, die das Gattungsmäßige, und der Natur, welche Mannigfaltigkeit und Individualität erstrebe, vermitteln und versöhnen. Sie soll »die Forderung ihrer Vermittlung und Versöhnung verwirklichen« (TWA 13, 91) – nach Schillers fichtenaher Vorstellung durch
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unendliche Annäherung an ein Unerreichbares im Laufe der Zeit und im Fortschreiten der Geschichte. Auf dem Boden der spekulativen Logik nun heißt der Gegner Fichte, sofern dieser eben den obersten Grundsatz metaphysischen Sollens verfechte. Das läßt sich schon aus Hegels rudimentärer Jenaer Logik 1804/1805 herauslesen. Diese findet bezeichnenderweise in der Erörterung der Grenze (als Negation der anderen in Beziehung auf sich selbst) ihr eigentümlich dialektisches Gefüge. Das stellt in eins den Fichteschen Idealismus in Frage; denn der ist statt der wahren Einheit nur qualitative Einheit, »indem das absolute Einswerden immer nur ein Sollen bleibe« (Jenaer Logik, 1967, 2). So zieht Hegel die Fichtesche Position auf das Prinzip des Sollens, mithin auf die Forderung, Grenze oder Endlichkeit mit Unendlichkeit zu vereinigen, zusammen. In Glauben und Wissen ist diese Sollensforderung schon als Gipfelsatz des Fichteschen Systems herausgestellt. »Die Forderung ist der Kulminationspunkt des Systems: Ich soll = Nicht-Ich sein; aber es ist kein Indifferenzpunkt in ihm zu erkennen« (TWA 2, 394). Hegel erhebt somit von Anfang bis Ende vorzüglich drei Einwände gegen die Haltbarkeit der Wissenschaftslehre. Sie sei Reflexionsphilosophie der Subjektivität und daher abstrakt, d.h. einseitige subjektive Subjekt-ObjektEinheit; sie sei dogmatisch im unmittelbaren Entgegensetzen eines unvermittelten Ansich, dem Anstoß, und sie sei bloß formell, leeres Selbstbewußtsein und daher am Ende empirisch.21 Diese drei tragenden Einwände münden in den Einspruch ein, Fichte unternehme den untauglichen Versuch, die Aufgabe der Ersten Philosophie mithilfe der Kategorie des Sollens zu lösen. Daß das Sollen im Fichteschen Sinne als das Höchste und Letzte übrigbleibt, ist nach Hegelscher Logik zwingend; denn ein perennierendes Sollen, welches ja endlich bleibt, weil es das Absolute als unerreichbar immer jenseits des Erreichten hat, ist Resultat und Ausdruck des unaufgehobenen Widerspruchs zwischen einem abstrakten Setzen und einem schlechthinnigen Entgegensetzen. Lapidar erklärt Hegels Fichtekritik in Über Friedrich Heinrich Jacobis Werke, 1817: Weil dem Fichteschen System der unvermittelte Ge-
21 Hegels penetrante Einreden, die Wissenschaftslehre stelle sich auf den Standpunkt der Entzweiung, sie sei subjektivistisch, formal, letztlich empirisch und ende bei Prinzipien des Glaubens und des Sollens, bestimmt das Fichte-Bild bis in die jüngere Forschung selbst auf dem hohen Niveau eines Nicolai Hartmann, Richard Kroner, Martial Gueroult, Jean Vuillemin. Vgl. dazu P. Baumanns: Fichtes ursprüngliches System. Sein Standort zwischen Kant und Hegel, 1972.
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gensatz zugrundeliegt, komme es zu nichts weiter als zu einem einseitigen, mit einem Jenseits behafteten Sollen und Streben. Und am Ende ergänzt Hegels Logik 1832 die Anmerkung der Logik 1812 über das metaphysische Sollen: »Die Kantische und Fichtesche Philosophie gibt als den höchsten Punkt der Auflösung der Widersprüche der Vernunft das Sollen an, was aber vielmehr nur der Standpunkt des Beharrens in der Endlichkeit und damit im Widerspruche ist« (TWA 5, 148). 3. Kapitel: Analyse von Sollen und Schranke als Fichtekritik in Hegels Seinslogik Hegels Fichtekritik gewinnt in der »Großen Logik« ihre gedankliche Prägnanz. Angelpunkt ist der Fortgang des Gedankens des Endlichen zur widersprüchlichen Korrelation von Sollen und Schranke. Daran hängt in Hegels Sicht auf Fichtes Jenaer Grundlegung das Mißlingen der Anstrengung, den Widerspruch zwischen der Unendlichkeit des sich schlechthin setzenden Ich und der Endlichkeit des durch den Anstoß begrenzten Ich aufzulösen. Wird das Sollen zum Prinzip erhoben, die Widersprüche der Vernunft aufzulösen, dann bleibt das philosophische Bewußtsein wirklich in dem Standpunkt der Endlichkeit und schlechten Unendlichkeit befangen. Folgerichtig wird im Seitenblick auf Fichtes Wissenschaftslehre der aufzuhebende Gedanke der ›schlechten Unendlichkeit‹ auf Fichtes Position bezogen. Sein Sollensprinzip fordere, über die Grenze der Endlichkeit in eine schlechte Unendlichkeit hinauszugehen, so daß das Ziel einer Vernunftwissenschaft, vollendete Einheit zu erreichen, ins Unerreichbare und Unwahre verschoben werde. Das fassen Hegels Berliner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie schlagend zusammen: »Die Forderung, diesen Widerstand aufzulösen, hat nun bei Fichte die Stellung, daß sie nur eine geforderte Auflösung ist, daß ich die Schranke immerfort aufzuheben, über die Grenze immer fortzugehen habe ins Unendliche, in die schlechte Unendlichkeit hinaus. Dies ist der Standpunkt Fichtes in Rücksicht des Theoretischen« (TWA 20, 403). Diesen kritischen Durchgängen der Hegelschen Logik ist vor jeder Metakritik nachdenkend nachzugehen. Eine wenigstens umrißhafte Repetition setzt beim Gedanken der Endlichkeit an. Das führt nun nicht sogleich zu einem Andenken an die Vergänglichkeit aller Dinge und an das Ende unseres Daseins in den subjektiven Stimmungen von Furcht und Angst, Wehmut und Trauer. Ist der Gedanke auf der Höhe absoluten Wissens Idee und Wesen der Dinge zumal
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und eine Kategorie des Absoluten, so spricht sich hiermit eben der Gott der Philosophen so aus: »Ich bin unvergänglich das Vergehen aller Dinge; was wahrhaft endlich ist, ist Negation, Grenze, Veränderung, Untergang und Tod in einer Trauer, die alles durchstimmt.« Um die Kategorie der Endlichkeit im Durchgang der Hegelschen Seinslogik zu erörtern, sind diese drei Seinsbestimmungen der Negation (Bestimmtheit), Grenze und Veränderung zu entwickeln. Der erste Vorschein der Endlichkeit fällt mit dem Gedanken der Negation ein. Negation fungiert hier als klassische Kategorie der Qualität, des Soseins und der Bestimmtheit des Daseins; denn alles Bestimmte ist nicht nur als seiend, sondern immer auch als nicht-seiend denkend aufzunehmen. Omnis determinatio est negatio. Nun geht diese Negation zur Andersheit von etwas Daseiendem über, das so und nicht anders ist. Die Härte des Endlichen aber erscheint erst in der dialektischen Verflechtung von Grenze und Veränderung. Dabei ist hier folgerichtig von der qualitativen Grenze die Rede. Die quantitative Grenze, etwa die Abgrenzung von drei Morgen, bestimmt ja nicht das Umgrenzte in seinem Sosein. In den Grenzen von drei Morgen können ein Feld, eine Wiese, ein Wald vorliegen. Die qualitative Grenze legt zwar auch fest, wo etwas aufhört, aber sie schließt in eins das Eigene zu fest bestimmter Einheit zusammen. Darum entgeht jeder, der Umgrenzungen verabscheut, seiner Bestimmung, und verliert sich im Grenzenlosen und Unbestimmten. Erst in der Negation des Aufhörens an ihrer Grenze gewinnen die Dinge festen Bestand als ein sicher Umgrenztes. Aber das Endliche geht nicht darin auf, sicher Umgrenztes zu sein: es bleibt nicht. Endlich Begrenztes verändert sich und vergeht. In der Macht einer Negation, die nichts bleiben läßt, wird Veränderung als Manifestation der Endlichkeit erfahren, am härtesten in der Veränderung, in der etwas zu Ende geht, im Vergehen. »Das Endliche verändert sich nicht nur, wie Etwas überhaupt, es vergeht. [...] Das Sein der endlichen Dinge als solches ist, den Keim des Vergehens als ihr Insichsein zu haben; die Stunde ihrer Geburt ist die Stunde ihres Todes« (TWA 5, 145). Vergehen ist der einzige Charakter der Endlichkeit. Was schlechthin und unaufhaltsam geschieht, ist das zu Ende gehen von allem, was ist. »Die Bestimmung der endlichen Dinge ist nicht eine weitere als ihr Ende« (TWA 5, 140).22
22 Über die existentiale Tiefe und Untiefe der hier angelegten Metaphysik der Endlichkeit vgl. Vf.: Die Trauer des Endlichen, 1992, 83-100.
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Nun besteht spekulative Logik darauf, das Sein von der Negation und Endlichkeit zur Unendlichkeit und Affirmation fortzuentwickeln. Der fragliche Übergang geschieht durch Einfügung der Kategorie von Schranke und Sollen. Bemerkenswerterweise resultieren beide nicht aus dem Widerspruch des Endlichseins; denn das Zuendegehen ins Nichts wird leichtfertig als bloß Gemeintes und Vergangenes beiseitegeschoben. Beide, Schranke und Sollen, folgen aus dem Begrenztsein des Daseienden. Die Schranke macht sich bemerkbar als verschärfte Grenze. An seiner Grenze hört etwas auf. Dieses Aufhören wird gleichsam gebieterisch, sobald eine Schranke dem Überschreiten der Grenze Einhalt gebietet: ›Bis hierher und nicht weiter!‹. Schranke ist demnach die qualitative Grenze mit dem Charakter des Aufhaltens. (Fichte denkt die Endlichkeit der durch den Anstoß aufgehaltenen Tätigkeit und Realität des Ich nicht als Begrenztsein und Vergehen, sondern als Schranke unter der Kategorie der Einschränkung oder Limitation.) Hegelscher Logik zufolge tritt in eins das Sollen hervor. Schranken zu haben ist eine Qualität des Daseienden, d.i. des in sich reflektierten Etwas. Dank dieser Reflexion sucht Daseiendes die Negation seines Beschränktseins zu negieren. Das so erforderliche Negieren der Schranken kraft einer Selbsthaftigkeit und Reflexion heißt Sollen. Schranke und Sollen gehen aus dem aufzuhebenden Widerspruch von Begrenzung und Entgrenzung des Daseins hervor und in einen eigenen Widerspruch von Untrennbarem ein. Beides ist untrennbar miteinander verbunden. Kein Sollen ohne Schranke, keine Schranke ohne Sollen. Schranken gibt es ja nur als Widerstand eines Strebens, das über sie hinaus soll, und Sollen gibt es nur als Nötigung, Schranken zu überwinden. Nun widersprechen aber offenkundig ihre Tendenzen einander. Gebietet die Schranke Einhalt: Zurück – nicht weiter, so fordert das Sollen: Darüberhinaus! Da nun aber Schranke und Sollen Aufbaumomente des Endlichen sind, kann dialektische Logik weiterhin erklären: »Das Endliche ist so der Widerspruch seiner in sich; es hebt sich auf, vergeht« (TWA 5, 148). Wie und wohin aber vergeht denn nun unter dem Druck des Widerspruchs von Sollen und Schranke das Vergängliche? Unmöglich kann das Vergehen des Begrenzten in die Leere des Nichts zurücksinken; denn das unbestimmte, unmittelbare Nichts ist längst systematisch wie historisch aufgehoben und im Werden, dem Übergegangensein von Sein und Nichts, vermittelt. Ebensowenig kann das Endliche in den Kreisgang einer Unendlichkeit eingehen, welche die Negation des Endlichen negiert; denn der Über-
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gang im Sollen verharrt im Endlichen. Mithin bleibt der gerade Weg ins Endlose. Auf ihm geht ein Endliches in ein anderes Endliches fort. Indem es fortschreitend ein anderes wird, vergeht es und bleibt es zugleich. Jedesmal nämlich, wenn das Sollen eine Schranke überwindet, stellt sich ihm eine weitere Schranke entgegen, die, überwunden, wiederum weitere Schranken von etwas hervortreten läßt. So erhebt sich aus dem Widerspruch von Schranke und Sollen die endlose, nie erlahmende Abwechslung von beidem. An diesen systematischen Ort stellt Hegels Logik seit Jena eben die Kantische Philosophie und deren ›Vollendung‹ durch Fichte. Beide bleiben bei der Kategorie der Endlichkeit und darum mitten im Widerspruch stehen. In Hegels Seinslogik wird die Auflösung von Schranke und Sollen eben so offenkundig, daß sie in eins die Kantische und Fichtesche Grundstellung aufhebt. Versteckter ist die philosophiegeschichtliche Verweisung auf Fichtes Standpunkt in Hegels fortentwickelter Dialektik von Endlichkeit und Unendlichkeit. Um das freizulegen, ist der bisher gewonnene Gedanke der Unendlichkeit als einer gesollten, erstrebten, ersehnten zu betrachten. Was damit eigentlich als Unendliches vorkommt, ist immer nur ein Jenseits dessen, was das Sollen jeweils erreicht, das ja, unerlöst von der Schranke überhaupt, an neue, lediglich erweiterte Schranken stößt. So aber wird das Endliche niemals mit dem Unendlichen versöhnt und völlig verbunden. Als Jenseitiges bleibt das Unendliche vom Endlichen getrennt. Als das Jenseits eines Diesseits wächst es nie zum Wahren, Konkreten zusammen. »Es ist aber damit in Wechselbestimmung mit dem Endlichen und ist das abstrakte, einseitige Unendliche« (TWA 5, 149). Das ergibt die schlechte Unendlichkeit eines regressus in infinitum. Zwar ist das Endliche im jenseitig Unendlichen getilgt, außerhalb und diesseits des Unendlichen aber bleibt es real bestehen. Damit wird die Unendlichkeit gerade dadurch, daß sie das Endliche von sich fernhält, verendlicht, nämlich durch ein anderes außer ihr begrenzt. Das negierte Endliche tritt so immer wieder an der Unendlichkeit als ihr anderes hervor, solange es nur halbherzig negiert, nämlich einfachhin abgegrenzt, und nicht affirmativ aufgehoben ist. Das ergibt einen progressus in infinitum, in welchem abwechselnd das Unendliche am Endlichen und das Endliche am Unendlichen hervortritt. Hier erhebt sich der Einwand einer schlechten Unendlichkeit, der Fichtes Grundlage unterhöhlt. Er ist daher seinslogisch einzuschärfen. Der Gedanke der Endlichkeit geht, wie gesagt, haltlos über Schranke und Sollen in ein unendliches Jenseits des Sollens hinaus. Bleibt aber nun
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das Unendliche als ein Jenseitiges entschieden von Diesseitigen getrennt und abgegrenzt, dann paßt es sich ja wieder in Bestimmtheit, Grenze und Schranke endlichen So-und-nicht-Andersseins ein. Das verendlichte Unendliche zeigt sich so wieder im Stande von Bestimmtheit und Begrenztheit. Es ist so und nicht anders, nämlich un-endlich und das heißt nicht endlich. Damit wiederholt sich der Prozeß abstrakter, einseitiger Verunendlichung. Kein Bestimmtes und Begrenztes kann sich halten, es verändert sich und vergeht. Ist nun das Vergehen des Endlichen durch einfache Negation ein Entgehen in ein Unendliches, das jenseits des Endlichen ist und sich daran begrenzt und so wiederum verendlicht, dann ergibt sich ein endloser Progreß. In ihm entflieht das Unendliche in ein immer unerreichbareres Jenseits. Es entrückt gleichsam in eine geheimnisvolle Ferne, dem das Streben und Sehnen nachgeht. Ontotheologisch gesprochen: Gott entzieht sich in ferne Unbegreiflichkeiten. Hegel hatte das Wort von der schlechten Unendlichkeit in der Jenaer Logik gefunden.23 Es hat zumal im Lichte der spekulativ begriffenen affirmativen Unendlichkeit nicht nur einen pejorativen Beiklang, sondern auch polemisches Schwergewicht. Die Endlosigkeit eines perennierenden Progresses ist schlecht. Sie stellt ein einseitiges, jenseitiges Unendliches in den Trennungen und Abgrenzungen vom diesseitig Endlichen vor und erreicht ein Versöhnendes nie, sondern drückt immer wieder nur den Widerspruch zwischen Endlich- und Unendlichsein und deren absoluter Einheit lediglich als bloß gesollt aus. »Die schlechte Unendlichkeit ist an sich dasselbe, was das perennierende Sollen; sie ist zwar die Negation des Endlichen, aber sie vermag sich nicht in Wahrheit davon zu befreien« (TWA 5, 155). Dialektisch durchschaut endet der Weg des perennierenden Soll in einer Sackgasse, die den Weg zur Wahrheit einer affirmativen Unendlichkeit verbaut. Die Beseitigung des Ungedankens der schlechten, einfach-negativen Unendlichkeit geschieht im Namen der affirmativen Unendlichkeit und im Bilde eines Kreisganges der Negation der Negation. Ihr Gedanke negiert jene Negation, die sich im Endlichen als bloßes Zuendegehen und
23 Der Terminus wird zum ersten Mal in den Systementwürfen II eingeführt (Abschnitt »Die Unendlichkeit«), vgl. M. Baum: Die Entstehung der Hegelschen Dialektik, 1986, 248ff. Sie habe darin ihr Wesen, der vorhandene Widerspruch zu sein, dergestalt, daß die Bestimmtheit nicht ist, indem sie ist, und ist, indem sie nicht ist. Dagegen stellt Hegel die ›absolute Unendlichkeit‹: die absolute Rückkehr der einfachen Bewegung in sich.
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Vergehen eingehaust hat. Und er negiert in eins jene Unendlichkeit, die sich im unerreichbaren Jenseits vom Endlichen rein und frei erhält. Wie nun im Anfange der Seinslogik Sein und Nichts sich als Momente des Werdens herausstellten, so sind Endliches und Unendliches in Wahrheit nichts Selbständiges, das getrennt gegeneinander besteht, sondern Momente eines einheitlichen Prozesses. In ihm heben beide einander so auf, daß das Werden in sich zurückkehrt und das Sein vollständiger Präsenz und begreifbarer Wahrheit erzeugt. Auf der Höhe affirmativer Unendlichkeit verlautet die frohe Botschaft der spekulativen Vernunft vom Absoluten: »Ich bin auch das Endliche, die Vergänglichkeit, der Tod, aber als Vergehen der Vergänglichkeit, als Negation der endlichen Negation.« Und: »Ich bin auch das Erstrebenswerte, das Ersehnte, aber als Negation der Unerreichbarkeit und als Aufhebung der Unbegreiflichkeit und des bloß Gesollten.« Im Gedanken der affirmativen Unendlichkeit ist seinslogisch eine vollendete Wahrheit erreicht und spekulativ zureichend begriffen. Der Schatten einer schlechten Unendlichkeit im Sinne eines perennierenden Soll fällt zwar voll auf Anfang und Ende der Jenaer Wissenschaftslehre, aber auch noch auf Fichtes ›neugebildete Lehre‹. So erscheint der Anfang der Grundlage von 1794 grundsätzlich als ein unendlich schrankenloses Sich-setzen, das an ein unbedingtes Entgegensetzen gebunden und dadurch verendlicht in Schranken gesetzt ist. Und das Ziel, die vollendete Vereinigung von Unendlichem und Endlichem, ist ein unerreichbares Ziel als Ideal des Strebens und so ein bloß gesolltes Absolutes. Auf diesem Wege aber verläuft sich solche Grundlegung in einem infiniten Progreß, der das erstrebte Ziel nie erreicht. Und dieses Verdikt trifft auch die späteren Auslassungen der Philosophie Fichtes, soweit Hegels geringe Kenntnis und spekulatives Interesse daran noch reicht. So findet sich in Glauben und Wissen die Erklärung im Bedenken des 2. Buches von Fichtes Bestimmung des Menschen: Fichtes Idealismus enthülle sich als das System eines ganz leeren Wissens, das es zuhöchst zur Anerkennung seines Nichts und seines Sollens bringt. »Aber weil es sich nicht wahrhaft aufgibt, ist das Sollen perennierend; es ist ein bleibendes Wollen, das nichts kann, als nur bis zur Unendlichkeit und zum Nichts, aber nicht durch dasselbe hindurch zur positiven vernünftigen Erkenntnis durchbrechen« (TWA 2, 406). Und im Blick auf das 3. Buch fällt das Pauschalurteil: Da in Fichtes System das Endliche (Natur, Sinnenwelt) und das Unendliche (die Geisterwelt) nicht zusammenstimmten, rücke das Unendliche als Nichts des Wissens in ein Jenseits des Glaubens, wobei der Glaube
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die geforderte, aber im Wissen unerreichbare Identität ausdrücke. Und weil die Reinerhaltung des jenseitig Unendlichen dem Übel der Endlichkeit und der Verendlichung des perennierenden Soll anheimgegeben sei, entlarve sich Fichtes Erhebung zum Glauben als fortwährende Flucht in eine trübe Ferne. Nun vermerkt Hegels Abriß von ›Fichtes neugebildeter Lehre‹ wohl, daß nicht mehr das Ich, sondern die göttliche Idee zum obersten Seins-, Lebens- und Einheitsgrund erhoben ist, aber es bleibt bei einer bornierten Kritik. Fichte lasse in seiner neuen Lehre den alten Dualismus bestehen. »Diese Philosophie enthält nichts Spekulatives, aber sie fordert das Spekulative« (TWA 20, 414). »Das Letzte sei nur ein Sollen, Bestreben, Sehnen« (TWA 20, 399). Hegels ontotheologische Feier der affirmativen Unendlichkeit zieht ein Anathema über das Übel der schlechten Unendlichkeit und damit eben auch über den infiniten Progreß als Herzstück aller Ausbildungen der Wissenschaftslehre nach sich. Hier erscheint im Gegensatz zur konkreten, affirmativen Unendlichkeit, welche gegenwärtig da ist, weil sie die Negation negiert und so das Negative und die Bestimmtheit überhaupt in sich hat, das Unendliche als ein Jenseits, das unerreichbar sein soll. »Diese Unerreichbarkeit ist aber nicht seine Hoheit, sondern sein Mangel, welcher seinen letzten Grund darin hat, daß das Endliche als solches als seiend festgehalten wird. Das Unwahre ist das Unerreichbare; und es ist einzusehen, daß solches Unendliche das Unwahre ist« (TWA 5, 164). 4. Kapitel: Vorblick auf Fichtes Rechtfertigung des Soll – Umkehr des Widerstreits Hegels Sollenskritik als schärfste Waffe gegen Fichtes Wissenschaftslehre in ihrem Anspruch, vollendete All-Einheitslehre zu sein, orientiert sich vornehmlich an dem Schlußgedanken der Jenaer Grundlage: an dem Gebot der nach Absolutheit strebenden Vernunft, die unerreichbare Gleichsetzung von Ich und Nicht-Ich in der absoluten Identität Ich=Ich ins Werk zu setzen, dergestalt, daß das Streben eben die Schranke des Nicht-Ich immer weiter entschränken und das Unvernünftige im geschichtlichen Fortschritt des Lebens aus Freiheit in allen Institutionen – dem Perfektibilitätsideal der Aufklärung gemäß – immer mehr zur Vernunft bringen soll. Das hat Fichte in der Tat im Anhang zum ersten Grundsatz ausdrücklich gemacht, und zwar im Rangstreit mit Spinozas Grundsatz vom Absoluten
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als der All-Einheit der einzig-einen, unendlichen Substanz. »Seine höchste Einheit werden wir in der Wissenschaftslehre wieder finden; aber nicht als etwas, das ist, sondern als etwas, das durch uns hervorgebracht werden soll, aber nicht kann« (GA I/2, 264). Es ist dieses Sollensgebot des transzendentalen Idealismus unter dem Primat der praktischen Vernunft in ihrem Einheitsstreben, gegen das sich die Polemik Hegels zeit seines Lebens gerichtet hat. Hegels Widerwille gegen den metaphysischen Anspruch des Sollensprinzips spricht im Namen der Vernunftgewißheit. Diese ist sich sicher, die von Spinoza inaugurierte All-Einheit unter der Losung Hen kai Pan spekulativ ermittelt und ausgefaltet zu haben, vollständiger als Schelling und höherstufiger als Fichte. Indessen, der eigentliche Prinzipienstreit darüber hat gar nicht stattgefunden. Ein Widerstreit etwa zwischen der Ausarbeitung der Hegelschen Jenaer Logik 1804/1805 mit der Ausarbeitung von Fichtes Berliner Wissenschaftslehre desselben Jahres ist nicht ausgetragen worden. Die eigentliche, zentrale und vielgestaltige Rolle des Sollens in Fichtes ungeschriebener Lehre blieb für Hegel im Dunkeln. Dabei kann allein in einem unvoreingenommenen Blick auf die Darstellung der Wissenschaftslehre 1804-II deutlich genug werden: Das »Soll« formiert das Grundgesetz alles Wissens. »Soll es zu diesen [Vf.: reinen Licht und Leben absoluten Wissens] wirklich kommen, so muß der Begriff gesetzt und vernichtet, und ein an sich unbegriffenes Sein gesetzt werden« (GA II/8, 60). Die Formel dieses Grundgesetzes fängt mit einem ernergischen Soll an. Es soll wirklich zu einem wahren Sein und Leben kommen und nicht beim endlosen Streben und Sehnen nach einem Unerreichbaren bleiben. Das verlangt eine notwendige Bedingung der Möglichkeit in der Relation Soll – dann muß. Soll das einfach-eine, in sich ununterscheidbare, unbegreifbare Sein und Leben einleuchten, dann muß der Begriff sich vernichten. Wohl nirgends klafft die Kluft zu Hegels spekulativem Begriff tiefer auf als in diesem Grundgesetz. Das mag eine vorbereitende Erläuterung verdeutlichen. Fichte drückt den Begriff des Begriffs in der Wortart einer substantivierten Präposition aus: Der Begriff ist das Durch. Im Sichbegreifen geht das Denken ja durch das Denken des Anderssein, sich von ihm losreißend und auf sich zurückwendend, hindurch. Die Form eines solchen Hin und Zurück hat den Charakter einer reinen Relation, die sich präpositional als Durcheinander terminologisch ausdrückt. Was nun jedoch dem Begriff in der Form des Durch eignet, ist allein die Anlage, das Schema des Durcheinandergehens, nicht aber der aktuose Vollzug, das (verbale) Wesen und Leben. Lebt somit das Durch nicht aus sich selbst, dann muß es, soll
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es zu diesem Leben kommen, ein Leben als Wirklichkeitsgrund voraussetzen, das nicht im Begriff, sondern in einem unbegreiflich Absoluten gründet. Fichtes transzendentale Lebenslehre versteht somit das Ich nicht mehr als das sich selbst Setzende, sondern als ein sich notwendig Übersteigendes, eben unter dem Gebot des Sollens.24 Dieser Grundzug des Sollens kann das ›aletheuische Soll‹ genannt werden. Es überbietet mithin jenes Sollen, welches das Vernunftstreben auffordert, alle Gegensätze approximativ aufzuheben. Das aletheuische Soll bringt die notwendige Bedingung für die Lichtung der Wahrheit (Aletheia) und für das Dasein absoluten Lebens auf, nämlich die Selbstvernichtung und Absetzung von Begriffs- und Ichform wie die Voraussetzung eines in sich geschlossenen (inkludenten) Singulum von Sein und Leben, den unbegreiflichen und unsagbaren Gott. Das kehrt die Stärken in der ›Gigantomachie‹ um die Wahrheit des Seins um. Hegels spekulativer Begriff im Begreifen der ganzen Wahrheit des Absoluten stellt die gesamte, große Tradition der negativen Theologie auf die Seite der Unwahrheit. So hat sich z.B. der Proklos-Kenner Hegel schon gegen die negative Theologie eines Proklos im Namen der Negation der Negation gewendet. Im Namen des aletheuischen Soll und in Besinnung auf die Endlichkeit des begreifenden Wissens aber mußte dem Anfang der Hegelschen Logik kritisch nachgegangen werden. Und es konnte gezeigt werden, wie eine Spekulation, welche zum Absoluten und Göttlichen aufsteigt, indem es das Selbstbewußtsein eleviert, sich versteigt. Unmöglich kann das Absolute im Bewußtsein konstruiert werden. Noch schärfer gesagt: Solche Vernunftgewißheit ist blind und taub, weil sie das Einleuchten der sich lichtend-verbergenden Aletheia nicht sieht und nicht auf das Gesetz höchster transzendentaler Besinnung hört, nämlich auf das Sollensgebot einer Selbstvernichtung des durchkonstruierenden, alles vermittelnden Begriffs. Diese Frontstellung wendet den Widerstreit gegen Hegel um. Wie also steht es mit dem Rangstreit der Vernunftsysteme, wenn die Berliner Neufassung der Wissenschaftslehre Hegels Selbstentfal-
24 Die Studie von A. Sell: Aspekte des Lebens. Fichtes Wissenschaftslehre von 1804 und Hegels Phänomenologie des Geistes von 1807, 1997 stellt die Lebensbegriffe Fichtes und Hegels gegenüber und will in dieser Gegenüberstellung anregen, unterschiedliche Deutungs- und Denkmöglichkeiten des Lebensbegriffs in eine offene Diskussion einzubringen.
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tung der absoluten Idee zur Illusion macht und eine eigene Wahrheitsund Erscheinungslehre nach Gesetzen des Sollens entwickelt?
Teil III: Fichte 1. Hauptstück: Fichte im Widerstreit 1. Abschnitt: Beiträge zum Streit über die veränderte, ungeschriebene Lehre und die populären Schriften 1. Kapitel: Stellungnahme zur Diskussion über die ›veränderte Lehre‹ In seinem Programm-Brief an »seinen geliebten Freund« Schelling vom 27. Dezember 1800 kündigt Fichte an: Wozu das Zeitbedürfnis uns dringend auffordere, sei »eine noch weitere Ausbildung der TransscendentalPhilosophie selbst in ihren Principien« (GA III/4, 406). Das ist dreifach im Vorblick auf Umfang, Prinzip und Grundsätze ernstzunehmen. Demzufolge dehnt sich die Wissenschaftslehre auf die Religionslehre und Gottesfrage aus. In ihrer Ursprungsuche vertieft sie sich vom Ich zum Wir der Interpersonalität, von der Theorie des Selbstbewußtseins geht sie zur Besinnung auf den Ursprung der Geisterwelt als einem unendlichen Willen, einer lebendigen Ordnung (ordo ordinans), der Liebe Gottes weiter. Und das System der gesamten theoretischen, praktischen, religiösen Wissenschaftslehre stellt sich nicht mehr auf die drei unbedingten Grundsätze des Ich, sondern auf Grundsätze über das Licht und Leben des Absoluten im Dasein absoluten Wissens. Im nämlichen Brief fährt Fichte fort: »Ich habe diese ausgedehnteren Principien noch nicht wissenschaftlich bearbeiten können; die deutlichsten Winke darüber finden sich im dritten Buche meiner Bestimmung des Menschen. [...] Mit einem Worte: es fehlt noch an einem transscendentalen Systeme der intelligiblen Welt« (GA I/4, 406). Indessen sind die wissenschaftlichen Ausarbeitungen in den nicht veröffentlichten Berliner Vorträgen unbekannt geblieben und die Winke in der populären Bestimmung des Menschen verkannt worden. Gerade das dritte Buch ist weithin und lange von Mißdeutungen überdeckt: als ein mystischer Theismus, der die Willensfreiheit aufhebt, als religiöser Determinismus, als Annäherung an einen verworrenen Spinozismus, als Flucht aus dem leeren Reflexionswissen (des
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2. Buches) in den Glauben, der in wissenschaftlichen Beweisgängen nichts zu suchen habe. Dabei hätten Winke aufgefangen werden können, die auf eine Ausarbeitung der Ersten Philosophie in ihrer Fundierung als Lebensund Lichtmetaphysik hinzeigen, nämlich auf ein tiefer angelegtes Verhältnis von erscheinendem Leben und göttlichem Licht, von dem sich wissenden und sich wollenden Wissen und göttlichem Sein. »Es ist sein Licht, durch welches wir das Licht und alles, was in seinem Licht uns erscheint, erblicken. [...] Alles unser Leben ist Sein Leben« (GA I/6, 296). Nun hat Fichte fünf Jahre lang in äußerster, stiller Konzentration und mit staunenswerter Arbeitskraft an einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre gearbeitet. Das hat nun nicht nur den prinzipiellen Gehalt der Wissenschaftslehre ausgedehnt, sondern auch die methodische Form erweitert. Dieser Befund sollte dem alten Streit um ›die veränderte Lehre‹ – noch heute eine Gretchenfrage der Fichte-Forschung – eine neue Richtung geben. Das sei programmatisch angekündigt. In den Stellungnahmen zu dieser Frage gibt es klassische Gegenpositionen: die These von der Methodenkonstanz bei veränderter Weltanschauung (Windelband-Rickert-Schule) – die Antithese von der bloß formalen Veränderung bei gleichem Inhalt (FischerWundt-Schule). Beide können durch Selbstauslegungen Fichtes ebenso befestigt wie ins Wanken gebracht werden. Die Aussagen Fichtes in dieser Sache scheinen widersprüchlich und sich einmal für die Unveränderlichkeit und Unverrückbarkeit der Wissenschaftslehre seit ihrem großen Jenaer Anfang, ein andermal für eine Veränderung, Ausdehnung und Vertiefung auszusprechen. Für die Beibehaltung der Grundlage ist stets Fichtes Erklärung in der Vorrede zur Anweisung zum seligen Leben herangezogen worden. Eine unablässige Selbstbildung habe zwar manches an ihm, Fichte, selbst, die Grundansicht der Jenaer Wissenschaftslehre in keinem Stück geändert (GA I/9, 87). Und der Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre und bisherige Schicksale derselben hat erklärt: Der Charakter der ehemaligen Wissenschaftslehre finde sich in den ferneren Fassungen unverändert wieder (GA II/10, 29). Andererseits hat Fichte eben gegenüber Schelling von einer weiteren Ausbildung und Ausdehnung seiner Transzendentalphilosophie nicht nur in der Methode, sondern auch in den Prinzipien seines Seinsund Weltverständnisses gesprochen, eine Erklärung, die Schelling mit der Bemerkung quittiert: »Dieß verändert die ganze Sache Ihrer Philosophie um ein Beträchtliches« (GA III/9, 83). Tiefer als der Streit um die veränderte Lehre geht ein andersgerichteter, an dieser Stelle aufbrechender Widerstreit, nämlich der um Vollendung
1. Abschnitt: Beiträge zum Streit
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oder Scheitern bzw. Abbruch der anfänglichen Systemkonzeption. Nun besagt die hier verfolgte Leitthese, Fichtes Weg des Denkens gehe von Anfang an auf eine vollendete, d.i. systematisch umfassende Darstellung des Wissens der Wahrheit und des Wahrheitsgrundes, der absoluten Einheit und des Einheitsgrundes des lebendigen Seins und des Seins- und Lebensgrundes aus, und zwar im unverrückbaren Geiste transzendentaler Besonnenheit. Dieser Denkweg gelangt um 1800 in ein Stadium, da der transzendentale Gedanke auf der Höhenstufe einer absoluten Reflexion ins Ziel und zur Vollendung kommt: im Sichbesinnen auf sich im Begreifen des Absoluten als eines Unbegreiflichen, des in sich geschlossenen Singulum von Sein und Leben. Das ergibt keine nachträgliche Zusammenstückung der frühen Ich-Philosophie in ihrer Theorie des reinen Selbstbewußtseins mit einer Wissenschaft vom absoluten Wissen als Dasein des Absoluten, gar in der mangelhaften Form einer Synthesis post factum. Und es kommt auch nicht zu einem unauflösbaren, im Wesen Fichtes wurzelnden Zwiespalt seines Denkens.1 Vielmehr kommt es zur reinen und kohärenten Darstellung in einer Wissenschaft aus einem Guß, welche der gesamten theoretischen, praktischen, naturrechtlichen, sittlichen und religionsphilosophischen Wissenschaft einheitlich und vollständig im Lichte genetischer Evidenz den Grund legt. 2. Kapitel: Wiederentdeckung von Fichtes ›ungeschriebener Lehre‹ Dieser Anspruch auf Vollendung des Vernunftsystems in erweiternden Fortbildungen des Anfangs entsteht geistesgeschichtlich in und durch einen Widerstreit mit Konkurrenten in der Hochzeit der philosophischen Spekulation wie Reinhold, Bardili oder nicht zuletzt Jacobi. Im Kontext der dreifachen Vollendung des Deutschen Idealismus wird lediglich auf das Ringen Fichtes mit Schelling genauer eingegangen. Schellings vernichtendes Urteil
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Im Blick auf die veränderte Lehre konstatiert W. Weischedel: Der Zwiespalt im Denken Fichtes, 1962, es gebe einen Zwiespalt zwischen der frühen radikalen Philosophie des absoluten Ich unter der Idee der Selbstmächtigkeit des Subjekts und der späteren Philosophie des Absoluten im Sichversenken in Gott als dem Urgrund von Selbstmächtigkeit und Freiheit, und dieser Zwiespalt wurzele im Wesen Fichtes, in seiner Zwiespältigkeit zwischen dem Drang nach Gestaltung der Welt und der Sehnsucht nach Stille im Sichversenken des Geistes.
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lautet eben: Fichtes seit 1800 »verbesserte Lehre« ist nichts als eine Verschlimmbesserung. Dieser vollendete Eklektizismus ist ein einziges Stückwerk, das an seiner inneren Widersprüchlichkeit scheitert.2 Nun leidet Schellings Angriff an einer unverschuldeten Schwäche. Er greift Fichtes vertiefte Grundsätze lediglich in ihrem Zusammenhang mit der Trias der populären Schriften dieser Zeit an. Hier aber sind sie ausdrücklich lediglich historisch-faktisch, nicht aber spekulativ-wissenschaftlich und mit der Klarheit genetischer Evidenz vorgetragen. Von den monumentalen Vortragszyklen der Wissenschaftslehre, etwa von den Fassungen des Jahres 1804, hat Schelling keine Kenntnis genommen. Und Hegel hat Fichte so gut wie ausschließlich als Schöpfer der Jenaer Wissenschaftslehre gewürdigt und ›aufgehoben‹. Die späteren Auslassungen Fichtes haben für ihn nach oberflächlichster Kenntnisnahme der populären Schriften keinerlei spekulativen Wert. Das hat einen äußeren Grund. Die vertiefte Wissenschaftslehre hat Fichte nicht in die Form der Schriftlichkeit gegeben und publiziert, sondern allein mündlich mit dazwischengeschalteten Kolloquien öffentlich gemacht. Fichtes ›ungeschriebene Lehre‹ ist allzu lange wissenschaftlich inediert und unerforscht geblieben. Erst die mit der Vollendung der Akademieausgabe rapide fortschreitende Erforschung des Gesamtwerkes macht es möglich, den Widerstreit um die systematische Vollendung des Vernunftsystems vom unverkürzten und einem wiederentdeckten Standpunkt der Wissenschaftslehre auszutragen. Das hat philosophiegeschichtlich für den Prioritätsanspruch des Hegelschen Systems wie für das Schlußwort der Spätphilosophie Schellings Bedeutung. Es hat auch wirkungsgeschichtliches Gewicht für ein bis heute andauerndes metaphysikfeindliches Zeitalter, das Fichte als Geschichtszeit der vollendeten Sündhaftigkeit gebrandmarkt hat. Nun gehört die ungeschriebene Lehre zur ›mittleren Periode‹ als Mittel- und Höhepunkt auf dem Wege zur Vollendung der Vernunftwissenschaft. Das mag jene Einschätzungen entkräften, welche die geistige Ent-
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Das Scheitern der Systemkonzeption verfolgt P. Baumanns: J. G. Fichte. Kritische Gesamtdarstellung seiner Philosophie, 1990. – Das Scheitern von Fichtes philosophisch-theologischen Denken sieht W. Weischedel: Der Gott der Philosophen, 1971 darin, daß Fichte Gott am Ende nur noch in der Existenz des religiösen Menschen verwurzelt. – Eine Auseinandersetzung mit diesen drei Thesen des Scheiterns (Schelling, Baumanns, Weischedel) findet sich bei P. L. Oesterreich/H. Traub: Der ganze Fichte, 2006, 115ff.
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wicklung Fichtes in der mittleren Periode als Abfall vom Kritizismus und Übergang zum Mystizismus schildern, wonach Fichte nach dem ›Glaubensdurchbruch‹ um 1800 und in der ›johanneischen Periode‹ nach 1804 zu einem transzendenten Dogmatismus übergeht und das Entspringen von Leben und Wissen in ein mystisches Dunkel hüllt, das philosophischer Aufklärung nicht mehr zugänglich ist und weder der spekulativen Logik noch dem gesunden Menschenverstand standhält. Nun hat Fichte im Lauf des Jahres 1804 die Grundlagen der Ersten Philosophie wie die Prinzipien der Natur-, Rechts-, Sitten- und Religionslehre mehrmals in jeweils erneuerter Durchklärung 1805 in Erlangen, 1807 in Königsberg vorgetragen. Eine Veröffentlichung dieser fundamentalen Gedankengänge in der Form endgültiger Schriftlichkeit hat er zurückgehalten. Das geschah wohl, um nicht noch diese Vollendungsgestalt der Vernunftwissenschaft dem allgemeinen Mißverstehen preiszugeben, möglicherweise auch, um sich vor Intrigen des Nicolai-Kreises zu schützen. Fichte hat sich auf mündliche Mitteilungen beschränkt, weil in zwischengeschalteten Kolloquien aufkommende Mißverständnisse auf der Stelle behoben werden konnten, was die Schriftlichkeit ja nicht zuläßt. Das Lesepublikum, des Selbstdenkens entwöhnt, ist nach Fichtes Einschätzung weitgehend unfähig, das geistige Licht der Wissenschaftslehre im gegenwärtigen »Zeitalter der absoluten Verwesung aller Ideen« unverstellt aufzunehmen (vgl. den Brief vom 31. März 1804 an seinen »sehr verehrten Freund« Friedrich Heinrich Jacobi; GA III/5, 236). So hat Fichte in jenem Pro-Memoria vom 3. Januar 1804, da er die vollendete Klarheit der bislang dunkel gebliebenen Wissenschaft vermeldete, von sich, dem Erfinder des vollendeten Vernunftsystems, die Erklärung abgegeben: »Der Erfinder, durch seine vieljährige Beobachtung des sogenannten literarischen Publikum sattsam überzeugt, daß durch die bisherige Weise des Studiums die Bedingungen des Verständnißes eines solchen Systems größtentheils verlohren gegangen, auch daß gerade jetzo eine größere Menge Irrungsstoff sich im allgemeinen Umlauf befinde, als vielleicht je – ist nicht gesonnen, seine Entdeckung in ihrer dermaligen Form durch den Druck dem allgemeinen Mißverständniß und Verdrehung Preiß zu geben. Er will sich auf mündliche Mittheilung beschränken, indem hiebei das Mißverständniß auf der Stelle erscheinen und gehoben werden kann« (GA III/5, 223). Diese Argumentation Fichtes ist derjenigen nicht unähnlich, die für Platos ›ungeschriebene Lehre‹ in Anschlag gebracht wurde. Tatsächlich aber hat sich Fichtes Hoffnung, durch mündliche Mitteilung unverfälschter Ideen eine
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blühende Schule zu gründen und dem dogmatisch verkommenen Schulstreit siegreich ein Ende zu bereiten, nicht erfüllt. Seine ungeschriebene Lehre ist, skandalös in Königsberg 1807, nicht mal zu Ende gehört, ansonsten verdrängt und verschwiegen worden. Zumal im harschen Ringen der sich vollendenden Vernunftsysteme ist Fichtes stilles Jahrzehnt mit seinen epochalen, grundlegenden, aber eben nicht publizierten Vorträgen als peinliches Schweigen ausgelegt worden. In diesem Schweigen drücke sich das Unvermögen des Wissenschaftslehrers aus, die weithin anerkannte Naturphilosophie und die Identitätssysteme auf der Höhe des Absoluten zu überbieten. Diese historische Weiterund Höherentwicklung der Wissenschaft habe Fichte nach Schellings ironischer Einschätzung während seiner Berliner Klausur wohl verschlafen: »Hat denn Hr. Fichte die vier oder fünf Jahre, die er nicht geschrieben, durchgeschlafen, daß er so gar nicht wissen will, was um ihn herum vorgegangen?« (W III 629 = SW VII 35). Und sachnäher erklärt Schelling zu Anfang seiner öffentlichen Streitschrift von 1806: Fichtes alte Grundsätze, das Göttliche könne nur geglaubt, nicht erkannt werden, die Natur sei wesentlich vernunftlos, unheilig und tot, müßten mit dem Fortschritt der Wahrheit im Identitätssystem entweder als Irrtum ausgeräumt oder beweiskräftig vorgeführt werden. »Das Letzte konnte, das Erste wollte er nicht. – Es blieb aber nur das Schweigen« (W III 616 = SW VII 22). Jedenfalls habe Fichte seine angekündigte neue Darstellung nicht durchgeführt. Das nun sei weder Ausdruck »edler Verachtung aller Mißdeutungen« noch eine fruchtbare und furchtbare Gewitterstille, sondern Konsequenz einer verzweifelten Einsicht. Die verschlimmbesserte Lehre verfange sich heillos in Widersprüche. »Es hatte also bei dem Schweigen sein Bewenden« (W III 617 = SW VII 23). So ist die ungeheure Arbeit des Begriffs in der ungeschriebenen Lehre fast bis auf den heutigen Tag verdeckt geblieben. Ihre Entdeckung ist an der Tagesordnung, nicht nur als Revision der Philosophiegeschichte des Deutschen Idealismus, sondern auch als Restituierung der Wahrheit in unserem Zeitalter positivistischer Wissenschaftsgläubigkeit und nihilistischer Metaphysikfeindlichkeit. Diese Arbeit, unser Zeitalter wieder in Gedanken tiefster transzendentaler Besonnenheit zu fassen, ermöglicht eben das fast beendete Jahrhundertwerk der Bayerischen Akademie-Ausgabe. Darin finden sich die einschlägigen Berliner, Erlanger, Königsberger Vorlesungen erstmals mustergültig ediert. Zudem hat sich die Fortschrittsdebatte inzwischen weltweit den Grundstellungen, Hauptproblemen, Entfaltungsbezügen und An-
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wendungsdisziplinen der Wissenschaftslehre seit 1801 zugewendet und die Hegelschen und Schellingschen Abblendungen der epochalen Bedeutung Fichtes durchbrochen.3 3. Kapitel: Die ungeschriebene Lehre im Spiegel der populären Schriften. Eine Erklärung von Schellings und Hegels Abschätzungen Im Horizont der neuen Grundlegung und in der Phase derselben Schaffenszeit sind drei vielbeachtete populäre Schriften – Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Über das Wesen des Gelehrten, Die Anweisung zum seligen Leben – erschienen. Schelling hat sie nach Dantes Divina Commedia geistreich ironisch »die Hölle, das Fegefeuer, das Paradies der Fichteschen Philosophie« genannt (W III 681 = SW VII 87). Ihnen sind Resultate der ungeschriebenen Lehre als philosophische Grundstellungen vorangestellt, an denen sich eine Auseinandersetzung mit Fichtes ›verbesserter Lehre‹ orientieren konnte.4 Um deren Tragweite zu verdeutlichen, ist es förderlich, vorab den Charakter von Fichtes populären Schriften hervorzuheben und zu allererst die Trennlinie anzugeben, die Fichte schon in Jena gegenüber »den verrufenen Popular-Philosophen« (GA I/2, 396) gezogen hatte. So ist Fichte bekanntlich zeit seines Lebens gegen Friedrich Nicolai und dessen Organ, die Neue Allgemeine Bibliothek, als dem »Mittelpunkt der Seichtigkeit, der Popularität, des leeren Geschwätzes, einer flachen breiten Schreiberei« (GA I/7, 453), sar-
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Über den Stand der Fichte-Forschung in den letzten Jahrzehnten unterrichten die Sammelbände und Tagungsberichte: K. Hammacher (Hg.): Der transzendentale Gedanke, 1981. – A. Mues (Hg.): Transzendentalphilosophie als System, 1989. – E. Fuchs, M. Ivaldo, G. Moretto (Hgg.): Der transzendentale Zugang zur Wirklichkeit. Beiträge zur aktuellen Fichte-Forschung, 2001. – K. Hammacher, R. Schottky, W. H. Schrader (Hgg.): Fichte-Studien, 1990 ff. (bisher 31 Bde.), darunter die Tagungsberichte der Kongresse in Rammenau: Realität und Gewißheit (Bd. 6); in Jena: 200 Jahre Wissenschaftslehre (Bde. 9-13); in Schulpforta: Die Spätphilosophie Fichtes (Bde. 17-18); in Berlin (Bde. 19-24); in München: Das Gesamtwerk 1810 – 1814 und das Lebenswerk (Bde. 28-31). 4 Es ist ein fruchtbarer Ansatz der Untersuchung von H. Traub: Johann Gottlieb Fichtes Populärphilosophie 1804 – 1806, 1992, diese Triade nicht einfach wie üblich auf die Gebiete der Geschichts-, Erziehungs- und Religionslehre aufzuteilen, sondern erstmalig in ihrer systematischen Konzeption und wissenschaftlichen Tragweite erörtert zu haben.
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kastisch zu Felde gezogen. Solche Popularphilosophie sei mit Recht verrufen, eben als der Fall seichten, oberflächlichen Denkens. Fichtes Neuformierung einer Popularphilosophie geht auch über die herkömmliche Diskussion, die um die Auseinandersetzung Kant – Christian Garve kreist und sich in Beiträgen Über Popularität in der Philosophie von August Wilhelm Hülsen wie von Johann Christoph Greiling in Fichtes und Niethammers Philosophischem Journal 1797 und 1798 niederschlägt, dadurch hinaus, daß er Wissenschaft und Popularität, Philosophie und Leben aufeinander bezieht. Das verlangt, die philosophisch geklärten Grundlagen für ein allgemeines, natürliches Verständnis lebensnah einzubringen.5 Nun hat solche Popularisierung eine vielfache didaktische, methodische, appellative und applikative Intention. Didaktisch sollen einem größeren Publikum Resultate philosophischer Deduktionen allgemein faßlich nahegebracht werden; dabei wird methodisch keineswegs unwissenschaftlich simplifiziert, sondern einführend vorgegangen, nämlich historisch beschreibend, faktische Evidenz erzeugend, auf genetische Evidenz verweisend. Zugleich geht diese Popularisierung auf historisch-geschichtliche Bedingungen des gegenwärtigen Zeitalters ein, um vom Hintergrund einer apriorischen Geschichtsphilosophie das Zwielicht geistiger, moralischer, religiöser Verdunklungen aufzuklären. Zudem haben die populären Schriften eine systembildende Bedeutung. Sie leiten eigentlich nicht wie Fichtes berühmte Einleitung in die Wissenschaftslehre in Einstellungen des philosophischen Bewußtseins ein, sie stellen vielmehr Resultate der Prinzipienwissenschaften für Gebiete zur Verfügung, welche zum Gesamtsystem der Vernunftwissenschaften gehören: die philosophische Natur-, Geschichts-, Rechts-, Sitten- und Religionslehre. So kommen apriorische Prinzipien und Grundsätze der absoluten All-Einheit applikativ in Seinsbereichen wie der Natur oder Historie zur Sprache – mit dem kritischen
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Ch. Asmuth: Begreifen des Unbegreiflichen, 1999, 48-67 hat Fichtes Programm gegenüber der herkömmlichen Diskussion über Popularität in der Philosophie verdeutlicht. Bemerkenswert ist der Hinweis, daß die W.L. 1804-II eigens den Unterschied wie den Zusammenhang von gewöhnlichem und transzendentalem Wissen begründet. Fraglich ist die These, wonach Fichtes populäre Philosophie von der natürlichen Wahrheit und vom Leben ausgeht, um zur Wissenschaft zu kommen – und nicht von der philosophischen Besinnung auf das Leben und das Sein des Absoluten. Zugespitzt ist wohl die Einschätzung, die populären Vorträge stellten den bündigsten Ausdruck von Fichtes Philosophie dar.
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Vorbehalt, alles empirisch Faktische lediglich empirisch ermitteln, aber niemals a priori deduzieren zu können. Und offenkundig hat die populäre Darstellungsart bei Fichte unüberhörbar einen appellativen, ja rhetorisch persuasiven Grundzug, zumal in der Religionslehre. Diese wird als Anweisung zu einem Handeln empfohlen, durch das sich die je eigene Bestimmung des Menschen in seinem individuellen Existenzentwurf, gelingendem Leben und in erfüllender Liebe erfüllt. Für den Rangstreit des Zeitalters um die wahre Philosophie und um das vollendete, allumfassende System der Vernunftwissenschaften aber wurden auch wirkungsgeschichtlich jene apriorischen Prinzipien und Grundsätze von Bedeutung, welche den Vorträgen Über das Wesen des Gelehrten und Die Anweisung zum seligen Leben voraus- und zugrundegelegt waren. Nur hier traten Resultate der ungeschriebenen Lehre in geschriebener Form an die Öffentlichkeit. So vermochte Schelling als weithin anerkante Koryphäe einer apriorischen Naturphilosophie und eines umgreifenden Identitätssystems auf dem Grund und Boden des Absoluten, der indifferenten Einheit des Realen und Idealen, Fichtes Grundsätze der ›verbesserten Lehre‹ zwar in Betracht zu ziehen, aber nur als Vorspann der populären Schriften. Das hat zu verheerenden Mißverständnissen geführt. Die Wurzel dieser Mißverständnisse besteht eben darin, daß Fichtes ausdrücklicher Vorbehalt, die in den populären Schriften vorgestellten Grundsätze seien lediglich Resultate und von bloß faktischer Evidenz, ignoriert wurde. Daß sehr wohl eine deutliche Differenz zwischen den faktisch-evidenten Voraussetzungen der populären Schriften und den wissenschaftlich durchdringenden Erhebungen der Grundlagen-Darstellung ersichtlich war, bezeugt das Urteil von Heinrich Luden in seiner Rezension der populären Schrift Über das Wesen des Gelehrten: »Die neue Darstellung der Wissenschaftslehre, die Hr. Fichte vor langer Zeit selber ankündigte ist, zum Bedauern aller Denker nicht erschienen und diese Vorlesungen, die für jenen Verlust nicht entschädigen können, werden dieß Bedauern nicht vermindern« (GA I/8, 42 Anm.). Schelling bleiben die gewaltigen Denkleistungen der ungeschriebenen Lehre nicht nur unbekannt, ihr Ertrag erscheint ihm zeitlebens als unzusammenhängender und widersprüchlicher Synkretismus.6
6 Darauf macht die Studie von W. G. Jacobs: Fichtes Wissenschaftslehre in Schellings Spätphilosophie, 2006 aufmerksam. Die Crux der populären Schriften sei auch heute noch, daß man sie kaum versteht, wenn man nicht die zeitgleichen Wissen-
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Die Verdeckung der Spätphilosophie Fichtes hat Schelling in allen Wandlungen seiner eigenen Systementfaltungen durchgehalten. Noch die letzte Fassung seiner Einleitung in Die Philosophie der Offenbarung spricht eine solche Verkennung aus. »In noch späteren Schriften suchte er gewisse ihm anfänglich fremde Ideen mit seinen ursprünglichen in Verbindung zu setzen. Aber wie war es möglich, mit dem absoluten göttlichen Seyn, von dem er jetzt lehrte, es sei das einzig Reale, noch jenen Idealismus in Verbindung zu bringen, dessen Grundlage vielmehr gewesen war, eines jeden Ich sey die einzige Substanz? Fichte hätte in der That besser gethan, sein Er selbst zu bleiben, da mit jenem Synkretismus seine Philosophie nur ins Unbestimmte, aus dem Charaktervollen, wodurch sie zuerst ausgezeichnet war, nur ins Charakterlose sich verlor« (W XII 53-54). Solche Charakterlosigkeit zeige sich auch darin, daß Fichte den Kampf um die Wahrheit hinterrücks geführt habe. »Wir haben im ehrlichen offenen Kampfe gegen ihn gestanden, mit wissenschaftlichen Waffen und in wissenschaftlicher Form, im Angesicht der denkenden Männer unserer Nation. Er – führt seine Streiche gegen uns vor Berliner Weibern, Kabinettsräthen, Kaufleuten und dergl.; er streut im Dunkel einer Privatvorlesung Verleumdungen gegen die aus, die sich nicht verantworten können, bis ihm – ich weiß nicht was – den Muth gibt, auch öffentlich mit ihnen hervorzutreten« (W III 719). In Wahrheit war es ein öffentliches Großereignis, daß der in Jena Amtsenthobene die Repräsentanten des preußischen Staates, Diplomaten, Gelehrte, Künstler, bedeutende Frauen in privaten Vorlesungen an sich zog.7 Parallel zu solch prinzipieller Degradierung wie persönlicher Denunzierung hat Hegel Fichtes spätere Gedankenarbeit nicht nur aufgehoben, sondern annihiliert. An G. E. A. Mehmel, den Redakteur der Erlanger Litteratur-Zeitung, schreibt er anläßlich einer gewünschten Mitarbeit schon An-
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schaftslehren kennt; verständlicherweise habe Schelling sie nicht verstanden. Sogreife er, lediglich Fichtes erste Idee einer vollkommenen apriorischen Wissenschaft anerkennend, auf zwei Thesen Kants zurück: auf die Lehren vom transzendentalen Ideal und von der Freiheit als unzeitlicher Tat. Vgl. R. Lauth: Über Fichtes Lehrtätigkeit in Berlin 1799 bis Anfang 1805 und seine Zuhörerschaft, 1990, 224. »Es ist meines Wissens ein einmalige Ereignis der Weltgeschichte, daß ein Philosoph in seinen privaten Vorlesungen einen Prinzen, sieben Minister, sechs zukünftige Minister und fünf Gesandte neben zahlreichen Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern zu seinen Hörern hatte« (vergleichbar am ehesten wohl mit Plotins Lehrtätigkeit im kaiserlichen Rom).
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fang August 1801: Fichtes Sachen seien im Unterschied zu Schellings Schriften wissenschaftlich eigentlich völlig uninteressant geworden; so sei sein Sonnenklarer Bericht ein unseliger subjektiver Versuch, die Spekulation zu popularisieren (FG III 69). Späterhin hat Hegel Fichtes ungeschriebene Lehre überhaupt nicht und die »neuverbesserte Lehre« allein im Lichte von Schellings ›Anti-Fichte‹ zur Kenntnis genommen. Als Schelling ihm die sarkastische Streitschrift über die »verbesserte Lehre« Fichtes zusandte, hat er die persönliche Abwehr von Fichtes »Niederträchtigkeiten« und Eigendünkel als Alleinbesitzer der Wahrheit ebenso begrüßt wie die philosophische Polemik gegen dessen »Synkretismus der alten Härte und der neuen Liebe«, die widerspruchsvolle Vermischung der alten Prinzipien der Pflichterfüllung mit der neuen, aufgelesenen Rede von der Liebe Gottes. Das spielt auf Schellings Unvereinbarkeitsformel an (vgl. W III 622 = SW VII 28). Hegel selbst räumt ein, lediglich »eine der Popularitäten«, die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters angelesen und darin Lächerlichkeiten populärer Kundgebungen zuhauf gefunden zu haben. Am 3. Juni 1807 schreibt er aus Jena an den entfernten Freund: »Daß ich mich an Deiner Auseinandersetzung des neuerlichen Fichte’schen Synkretismus ›der alten Härte mit dieser neuen Liebe‹ und seiner steifsinnigen Originalität mit dem stillschweigenden Auflesen neuer Ideen, recht ergötzt habe, brauche ich Dir nicht zu sagen. [...] Denn wenigstens das Eine der Popularitäten, der Geist der Zeiten, das ich allein gesehen, enthält Lächerlichkeiten genug, die eine ebenso populäre Handhabung zulassen und fast dazu einladen. Dergleichen Zeug mit solchem Eigendünkel vorzubringen, – ohne ihn aber würde es ganz unmöglich sein, – kann allein durch sein Publikum begreiflich sein, das wie sonst aus Leuten bestand, die noch gar nicht orientiert waren, so jetzt aus solchen, die ganz desorientiert sind und alle Substanz verloren haben« (FG IV 15-16). In seinen einflußreichen Berliner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, die Hegel ab Sommer 1819 immer wieder abhält und die 1833 im Druck erscheinen, hat der Geistesfürst in einem ebenso kenntnislosen wie niederträchtigen Abschnitt, Schellings Perspektiven folgend, »Fichtes neugebildetes System« diskreditiert. Das gilt für die angebliche rhetorische wie spekulative Popularisierung eines philosophischen Systembaus und dessen Grundlegung. »In seinen späteren, populären Schriften hat Fichte Glaube, Liebe, Hoffnung, Religion aufgestellt, ohne philosophisches Interesse, für ein allgemeines Publikum, eine Philosophie für aufgeklärte Juden und Jüdinnen, Staatsräte, Kotzebue« (TWA 20, 413). Es folgt die verdekkende Mißdeutung der obersten Grundsätze, welche Fichte ausdrücklich
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als Resultat einer tieferen, nicht der Schriftlichkeit preisgegebenen Untersuchung vorgetragen hatte: hier sei alles populär gesagt. »Nicht das endliche Ich ist, sondern die göttliche Idee ist der Grund aller Philosophie; alles, was der Mensch aus sich selbst tut, ist nichtig. Alles Sein ist lebendig und in sich selbst tätig, und es gibt kein anderes Leben als das Sein und kein anderes Sein als Gott; Gott ist also absolutes Sein und Leben. Das göttliche Wesen tritt aus sich hervor, offenbart und äußert sich, – die Welt. Diese Philosophie enthält nichts Spekulatives« (TWA 20, 414). 4. Kapitel: Ein Vorbericht über die Polemik gegen Fichtes Rede vom absoluten Sein und göttlichen Leben (Schellings Rezension von Über das Wesen des Gelehrten) Fichtes Erlanger Erneuerung seiner Vorlesung Über das Wesen des Gelehrten und seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit wendet Grundsätze der philosophischen Wissenschaft auf das Leben im Zuge der Pädagogik als Anwendungswissenschaft an. Sie ist im Sommerhalbjahr 1805 und im Februar 1806 publiziert worden. Schelling hat diese Schrift nach der Besprechung durch Heinrich Luden als zweiter Rezensent in der Jenaer Allgemeinen Litteratur-Zeitung einer voreilig vernichtenden Kritik im Kampf um die wahre Philosophie unterzogen. Dabei hält er sich thematisch konzentriert an jene obersten Grundsätze, die Fichte in der Zweiten Vorlesung auf- und vorangestellt hatte. In dieser Grundstellung begrüßt Schelling mit Recht einen Niederschlag von spekulativen Erträgen, welche das fünfjährige Schweigen Fichtes über seine neue Darstellung der prima philosophia erbracht haben. »Die gegenwärtige Schrift hat außer ihrem allgemeinen Interesse noch das besondere der spekulativen Aeußerungen, durch welche Fichte ein mehrjähriges Stillschweigen über seine philosophischen Ansichten unterbricht« (W III 598 = SW VII 4). In ihnen trete das Bleibende und Wesentliche der Philosophie ans Licht. Mit dieser zunächst freundlich zustimmenden Zuwendung trennt sich Schelling ausdrücklich von jener Aufnahme der Fichteschen neuen Grundstellung durch den Zeitgeist. Der Zeitgeist unterstellt, das oberste Prinzip der Philosophie sei im Ich-Subjekt gefunden, und er hört nun befremdet von Fichte, dem Heros der Tathandlung, nicht das Ich, sondern die göttliche Idee, das Absolute, der Gott der Philosophen und des Johannes-Prologs sei der Grund aller Wahrheit und Realität. So der Zeitgeist. »Wir im Gegentheil wollen mit aufrichtiger Freude die ersten Grundsätze
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hinnehmen, welche Fichte in der Zweiten Vorlesung hinstellt.« Diese sind in der Nachzählung Schellings: »Alles Seyn ist lebendig und in sich thätig und es gibt kein anderes Seyn als das Leben. 2) Das Absolute oder Gott ist das Leben selbst, und umgekehrt, das Leben selbst ist das Absolute. 3) Dieses göttliche Leben ist an und für sich rein in sich selber verborgen, es hat seinen Sitz in sich selbst und bleibt in sich selber, rein aufgehend in sich selbst, zugänglich nur sich selbst. Es ist alles Seyn und außer ihm ist kein Seyn« (W III 600 = SW VII 6). Darin begrüßt nun Schelling eine Enttabuisierung des Seinsgedankens. Die Auffassung von Sein erschöpft sich nicht mehr im negativen Sinn des Nichttätigseins, wie in der Reduktion des Gegenständlichseins des NichtIch als reine Negation des Tätigseins des Ich. ›Sein‹ bedeutet nun das lebendige Tätigsein des Absoluten (die reine Energeia/actus purus Gottes), außer dem es kein wahres und lebendiges Sein gibt. Mit solchen Grundsätzen dieser Vorlesung sei Fichte in den ernsthaften Streit um Sein und Nichtsein des Absoluten eingetreten. So hoch Schelling mithin diese drei verlautbarten Grundsätze einer veränderten Lehre Fichtes einschätzt, so tief stürzt er ihre leichtfertige, dogmatische Aufstellung als Systemgrund hinab. Sie zeige mit keinem Wort wirklich verbindlich auf, »wie in oder aus diesem göttlichen Leben und Allseyn zumal das besondere Seyn erkannt wird« (W III 601 = SW VII 7). Und sie verwickle sich zuletzt da in Widersprüche, wo die sogenannte Natur als starres und totes Dasein, als bloße Schranke zum Zwecke ihrer Überwindung – gegen den Geist einer lebensvollen Naturphilosophie – seinsmäßig herabgesetzt wird. Was Schellings ganze polemische Kraft und Wucht aufrüttelt, ist der öffentliche Aufruf Fichtes, sich nicht von einer Naturphilosophie in die Irre führen zu lassen, welche sich anmaßt, die Wissenschaftslehre dadurch zu übertreffen, daß sie die Natur verabsolutiere und vergöttliche. Konfrontiert mit dieser wiederholten Kampfansage Fichtes erklärt Schelling, es gebe gar nicht eine bessere Philosophie, welche die schlechtere übertreffe. »Es gibt nur eine wahre, und es gibt nichtwahre, diese werde von jener nicht übertroffen, denn sie stehe nicht auf der gleichen Linie mit ihr« (W VI 606 = SW VII 12). Das verschärft das Ringen um die wahre Philosophie zur kontradiktorischen Gegenstellung. Ist die veränderte Wissenschaftslehre in ihren Grundsätzen und Folgerungen wahr, dann ist die Naturphilosophie auf dem Grund und Boden eines Identitätssystems nicht wahr und umgekehrt. Schellings Rezension ist darauf aus, nachzuweisen, die neue Wissenschaftslehre ist
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grundfalsch. Aus den drei obersten Grundsätzen folgen unzusammenhängend unbewiesene, ja widersprüchliche Thesen. Die vorangestellten Prinzipien entwähren sich. Sie sind fremdartige Prämissen. Schelling zeigt hauptsächlich zwei Hauptwidersprüche an. Zunächst: im Grundsatz gehe das göttliche Leben rein in sich selbst auf – im Folgesatz äußere es sich, indem es unmittelbar und ohne Beweis als Dasein und äußere Existenz der Welt heraustrete und sich in ein unendliches Zeitleben entwickle. »Fichte hat die Subjekt-Objektivierung des Absoluten aufgenommen als Selbstdarstellung, unmittelbar gleich mit dem Mißverstand eines Hinausgehens aus sich selbst behaftet« (W III 609 = SW VII 15). Zudem: Im Grundsatz sei alles Sein lebendig, und es gebe kein anderes Sein als das Leben – die Folgesätze erklärten das Sein der Natur für tot und erstarrt, als an ihm selbst nichtig und nur als absolute Schranke der Freiheit zu denken. »Nach diesem Princip ist auch alles, was in der Natur Seyn ist, und soweit es nur Seyn ist, alles Positive mit Einem Worte, gleich dem Leben Gottes. Von dem Nichtseyn aber in ihr, das Fichte allein kennt, kann gar nicht die Rede sein, eben weil es ein völliges Nichtseyn ist« (W III 606-607 = SW VII 13). Schellings Kritik ist voreilig und taub. Sie ist voreilig, weil sie eine ausgereifte Darstellung von Fichtes neuer Grundlegung nicht abwartet, von der für Schelling fraglich sei, ob sie überhaupt noch erscheine und tiefere Ansichten erbringe. Und Schelling stellt sich taub, weil er von den inzwischen ausgebreiteten, großen Berliner und Erlanger Vortragszyklen nichts hören will.8 So überhört Schelling einfach den ausdrücklichen Vorbehalt der Zweiten Vorlesung über die Hypothesis der göttlichen Idee. Fichte hat ausdrücklich erklärt: »Wir stellen folgende Sätze auf, welche für uns zwar Resultate einer angestellten tiefern Untersuchung, und vollkommen erweislich sind, die wir aber Ihnen hier nur historisch mittheilen können; höchstens rechnend auf Ihr eignes Wahrheitsgefühl, das uns auch ohne Einsicht in die
8 Dagegen hat der erste Rezensent Heinrich Luden, ab 1806 Professor der Geschichte in Jena und profunder Kenner der idealistischen Systembildungen, richtiggestellt: Die fragliche Schrift Fichtes stelle eben keineswegs die seit Jahren erwartete neue Systemgestalt selbst, sondern allein deren abgerissene Resultate dar. Luden – er war Erzieher im Hause Hufelands, eines der Mittelpunkte des geistigen Berlins – hatte Fichtes wissenschaftliche Vorträge mit ihren Klarstellungen genetischer Evidenz von 1804 bis 1805 gehört (FG III 210). Schelling hätte von ihm Auskunft darüber einholen können.
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Gründe bestimme« (GA I/8, 71). Mithin bleibt es hier im Vorspann der populären Schrift einer angewandten Wissenschaft bei bloß historischen Vorgaben der obersten Grundsätze in faktischer, nicht aber in zureichender genetischer Evidenz. Den Hörern wird lediglich das Faktum zugemutet, daß es sich so mit dem absoluten Sein verhält, nicht aber, wie und nach welchen ineinandergreifenden Gesetzen des Wissens dieses Sein in höchster kritischer Besonnenheit zum Bewußtsein kommt. Nun ist es an der Stelle dieses Vorberichts nicht der Ort, die Fichtekritik Schellings Punkt für Punkt mit den ingeniösen Grundlegungen der Berliner Wissenschaftslehren zu konfrontieren. Immerhin sollte folgendes zugebilligt werden. In den Berliner Vorträgen hat Fichte mit intensiven Denkanstrengungen (und keinesfalls leichthin) mit genetischer Evidenz (und keineswegs bloß historisch-faktisch) im Lichte der intellektuellen Anschauung die Gesetze und Schematismen der Ichform lebendigen absoluten Wissens als dem einzig wahren Dasein und Existieren des in sich geschlossenen Absoluten entwickelt, demzufolge evidentermaßen und erwiesen alles Mannigfaltige und die unendliche Vielheit der Welterscheinungen auf absolute Einheit zurückgeführt und auch wieder methodisch hergeleitet werden. Und das erhellt mit demselben Schlag auch die Prinzipien der Sonderung der zusammenhängenden fünffachen Welteinstellung der menschlichen Vernunft in Recht, Sittlichkeit, höherer Moralität, Religion und Wissenschaft. Das klärt auch die Sinngebung der an ihr selbst sinnlosen Natur unter Bedingungen des Sollens auf. Diese vertiefte Grundlegung ist in den öffentlichen Auseinandersetzungen um den Begriff des Absoluten, um Sein und Sinn der Natur, um das Band der göttlichen Liebe kenntnislos übergangen worden. 2. Abschnitt: Richtigstellungen. Fichtes populäre Grundsätze über die Natur und das Göttliche unter Anklage 1. Kapitel. Austragen des Grundkonflikts. Fichtes und Schellings Auffassung der Natur Es gibt ein untrügliches Kriterium, das die »entlehnten«, verbesserten Grundsätze vom Absoluten in Fichtes neuer Lehre auf ihre Tragfähigkeit und Systemtauglichkeit hin überprüft: die ontologische Auffassung von Sein oder Nichtsein der Natur und die Einordnung einer kohärenten Naturphilosophie ins Ganze des systematischen Vernunftwissenschaft. Dieser Prüfstein zeigt der Scheidekraft Schellings an: Fichtes Sinngebung der Na-
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tur sei ein schreiender Widerspruch; seine Naturerklärung bleibe bloß mechanisch und äußerlich teleologisch. Tatsächlich hat eine ›romantische‹ Naturphilosophie auf dem Stande der Schellingzeit, etwa die Erklärungen der beseelten Materie im Ermessen von Repulsion und Attraktion, von Schwere und Licht oder die Ergründung des dynamischen Lebens aus magnetischen, elektrischen, chemischen Prozessen, schließlich die Darstellung des organischen Lebens durch Reproduktion, Irritabilität, Sensibilität, wie sie Schellings einschlägige Untersuchungen von 1803-1807 befruchtend anregten, in Fichtes Gedankenwelt keinen Platz. Jedenfalls findet sich im Gesamtwerk Fichtes, wie wir es heute überblicken können, keine geschlossene Abhandlung einer Naturphilosophie nach Prinzipien der Wissenschaftslehre. Und Fichte hat selbst seine mangelnden Kenntnisse und auch ein fehlendes Interesse an den Problemen einer speziellen Naturphilosophie bekundet. Das schließt freilich nicht aus, daß Fichte eine allgemeine Naturphilosophie von erstaunlicher Konsequenz und Geschlossenheit innerhalb seines Gesamtwerkes ausgearbeitet hat, welche das Grundgerüst der Natur aus transzendentalen Prinzipien a priori errichtete und zugleich den Freiraum anzeigte, in welchem die Induktion ihre Forschungsarbeit zu verrichten hat. So schränkt Fichte einen Apriorismus, der Einsichten in die Realentwicklung der Natur vorgibt, besonnen ein. Freilich kommt dabei der Widerstreit zutage. Während nach Schelling die Verfassung der Natur die lebendige Vernunft erzeugt, erzeugt nach transzendental-kritischer Einsicht die Vernunft die Verfassung der Natur.9 Dabei ist für den Stand dieser Auseinandersetzung zu konstatieren: Beide Kontrahenten gehen über Kant hinaus. Für Kant ist Natur Gegenstand der mathematisierten Wissenschaft auf dem Forschungsstand der Newtonschen Physik, dergestalt, daß die speziellen Gesetze unter generelle Naturgesetze einzuordnen sind, als ob ein göttlicher Verstand sie den Bedingungen unseres Erkenntnisvermögens gemäß eingerichtet habe. In Kantischem Respekt ist der Begriff Gottes regulatives Prinzip der Natureinheit. Nun ist es, trotz der über Kant hinausgehenden Gemeinsamkeit, ein polemischer Angriff Schellings, der das Fehlen einer speziellen Naturphilosophie bei Fichte dafür haftbar
9 Vgl. die klärende und informative Untersuchung von R. Lauth: Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, 1984. – Dazu der programmatische Bericht: ders.: Fichtes Wissenschaftslehre – Veränderungen in der Fichte-Rezeption und im Fichte-Bild, 1984, 135-151.
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macht, daß der Systemaufbau der Wissenschaftslehre unvollständig und lückenhaft geblieben ist. Schärfer noch notiert Schellings ›Anti-Fichte‹ von 1806 die Differenz in der geistigen Auffassung der Natur überhaupt. Für den wahren Naturforscher sei die Natur ein lebendiges, organisches, produktives Ganzes. Da ist die Scheindifferenz zwischen Organischem und Anorganischem aufgehoben. Natur enthüllt sich einem religiösen Sinn ›als ewiges, lebendiges Allhier‹, als göttliches All. Davon spricht Schelling in feierlich erhabener Sprache. »Was ist der wahre Geist des Naturforschers? – Er ist Andacht, Frömmigkeit gegen die Natur, Religion, unbedingte Unterwerfung unter die Wirklichkeit und die Wahrheit, wie sie in der Natur ausgesprochen und mit der Natur selbst eins ist« (W III 703 = SW VII 109). Solcher religiös demütiger, spekulativ Gott geöffneter Ansicht der Natur enthüllt sich im All das göttliche, lebensvolle Band. Daher ist diese Betrachtungsweise erfüllt von der Erhabenheit der Natur. Solche Erhabenheit war in »älteren Systemen«, welche den Urzweck der Natur in der Offenbarung von Güte, Weisheit und Macht des ewigen Wesens ansahen, noch (physiko-teleologisch) erhalten. »Im Fichteschen System hat sie den letzten Rest von Erhabenheit verloren, und ihr ganzes Daseyn läuft auf den Zweck ihrer Bearbeitung und Bewirthschaftung für den Menschen hinaus« (W III 704 = SW VII 110). In Fichtes ökonomisch-technisch-ästhetischer und teleologischer Ansicht der Natur sind die Naturkräfte da, um durch den Menschen unterworfen, gezähmt und nutzbar gemacht zu werden. Naturstoffe wie Erz und Gehölz haben darin ihren Zweck, als Werkzeuge oder Hausgeräte uns zur Hand zu gehen. Und die landschaftliche Umgebung gewinnt Wert durch Umwandlungen der Wildnis in annehmliche Gärten, kultivierte Landgüter, schöne Wohnung. Romantisch andachtsvolle Naturverklärung fragt rhetorisch: »Was ist dem ächten Naturforscher in innigster Seele widriger als die teleologische Ansicht und Betrachtung der Dinge?« (W III 104 = SW VII 110). Vom Gesichtspunkt einer spekulativen Naturandacht verbirgt sich in einer Auffassung, welche der Natur, dem Nicht-Ich, reales Sein und positiven Sinn allein durch Beziehungen auf das Ich in seinem wirtschaftlich zweckmäßigen, technisch und moralisch praktischem Handeln zubilligt, blinde Nichtachtung und feindseliger Naturhaß. Solcher Haß schwärzt eine tiefergehende Naturauffassung als Schwärmerei und falsche Vergöttlichung an. In der Tat hat Fichte in der 8. Vorlesung seiner Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters die Schwärmerei der Naturphilosophen von der echten Spekulation auch dadurch unterschieden, »daß sie niemals Moral- oder Religionsphilosophie
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ist, welche beide sie vielmehr in ihrer wahren Gestalt inniglich hasset: was sie Religion nennt, ist allemal eine Vergöttlichung der Natur« (GA I/8, 289). Dabei erliegt Fichtes verbesserte Lehre in ihrer Naturauffassung nach Schellings Abschätzungen einem dreifachen pantheistischen, ontologischen, religiösen Widerspruch. Was die verschlimmbesserte Lehre annektiert hat, ist das Axiom des Hen kai Pan. Allein das Absolute ist, und außer ihm ist nichts. Wovor sie zurückschreckt, sind die Konsequenzen. »Ist also Philosophie Wissenschaft des Göttlichen als des allein=Positiven, so ist sie Wissenschaft des Göttlichen als des allein=Wirklichen in der wirklichen oder Natur=Welt, d.h. sie ist wesentlich Naturphilosophie« (W III 624 = SW VII 30). In Fichteschem Verstande dagegen bleibt die Natur philosophisch eine vom Göttlichen entleerte und Gott entfremdete Reflexionswelt – im Widerspruch zum angeeigneten Grundsatz des Hen kai Pan. Außer diesem pantheistischen Widerspruch hat der zweite Teil der Schelling-Rezension über die populäre Erlanger Schrift auch schon einen ontologischen Widerspruch konstatiert. Die negative Seite der Fichteschen Spekulation handle »von dem, was da nicht ist aber doch daseyn muß, von der Natur« (W III 603 = SW VII 9). Das rekurriert auf den von Fichte verkündeten Grundsatz: Allein das menschliche Geschlecht ist da und lebendig. Steht es so, dann wäre alles andere, das Universum der Natur, nicht da und nicht lebendig. Folglich ist die Natur, an ihr selbst genommen, tot und starr. Darin besteht ein niemals völlig aufzuhebender Gegensatz zum göttlichen Leben. Das Leben der Natur sei bestimmt durch das Sein der Schranke; es sei beschränkt und darum noch nicht zum Leben durchgedrungen und insoweit tot. Tatsächlich hat sich Fichte eindringlich an seine Schelling nahen Hörer in Erlangen gewandt: »Sie haben an dem soeben aufgestellten Begriff der Schranken, wenn Sie denselben recht scharf ins Auge fassen und erwägen, den Begriff der objektiven und materiellen Welt; oder der sogenannten Natur. Diese ist nicht lebendig, sondern todt, ein starres und in sich beschlossenes Daseyn« (GA I/8, 73). Und anzüglich mahnend fährt Fichte fort: »Lassen Sie sich darum nicht blenden oder irre machen durch eine Philosophie, die sich selbst den Namen der Natur=Philosophie beilegt, und wohl alle bisherige Philosophie dadurch zu übertreffen glaubt, daß sie die Natur zum Absoluten zu machen, und sie zu vergöttern strebt« (GA I/8, 73). Nach Grundsätzen zumal der praktischen Wissenschaftlehre ist die Natur seins- und sinnlos. Gleichwohl erklärt Fichte die Natur für etwas Sei-
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endes, nämlich als Schranke für ein Fortschreiten der Weltkultivierung, als Mittel für menschliche wirtschaftliche Zwecke, schließlich als »Material der Pflichterfüllung«. Ist nun aber schon ein »totes Dasein« eine contradictio in adiecto, so ist eine Schranke ohne Realität ein Begriff von gar nichts. Damit fällt offenkundig in den Augen Schellings auch der Einspruch Fichtes dahin, die Naturphilosophie vergöttliche, dem Irrlicht des Dogmatismus von einer an sich seinenden Natur folgend, die an ihr selbst nichtige Natur. Wäre sie überhaupt seinslos, dann könne sie auch nicht etwas Ungöttliches sein. »Ohne ein Ungöttliches gibt es wohl keine Vergöttlichung« (W III 606 = SW VII 12). Und gegen eine Position, welche das Sein im Sinne der Natur an das absolute Ich-Bewußtsein bindet, schleudert Schelling das Verdammungsurteil: »Wenn es Religion ist, alles, in Gott und somit gleich dem Leben Gottes zu schauen, so ist das absolute Bewußtseyn das wahre Princip der Irreligion, alles Argen und Ungöttlichen im Menschen« (W III 625 = SW VII 88). 2. Kapitel: Versuch einer Schlichtung im Grundsatzstreit um Sein und Sinn der Natur Es ist wohl längst an der Zeit, das Hin und Her einer wahren Ansicht der Natur, den Streit um deren Wesen und Unwesen, deren Sinn und Sinnlosigkeit, deren objektive Erstarrung und göttliche Lebendigkeit, der um 1806 inmitten der Hochzeit des Deutschen Idealismus so unversöhnlich ausgebrochen war, zurechtzurücken und den Versuch zu unternehmen, solche Gegenpositionen widerspruchsfrei zu vereinigen. Das mag auch darum geboten sein, weil jede von beiden Auffassungen die anderslautende als Ausdruck des Zeitalters vollendeter Sündhaftigkeit charakterisiert und weil wir heute noch immer in dieser von Fichte phänomenologisch beschriebenen Verfalls- und Krisenzeit stecken. Für solche Korrektur wird hier ausdrücklich nicht auf die fünf deduzierten Vernunftansichten in ihren prinzipiellen Einstellungen zur Wirklichkeit (als Natur, Recht, höhere Moralität, Religion und philosophische Wissenschaft) eingegangen, welche jeweils eine ihnen eigentümliche Naturauffassung enthalten (Natur etwa als Material der bürgerlichen Industrie, als Sphäre pflichtgemäßen Handelns, als Hülle göttlichen Lebens).10 Hier wird lediglich die Kompatibilität von Auffassungen
10 So hat die Untersuchung von H. Girndt: Die fünffache Sicht der Natur im Denken
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darzulegen versucht, die in eine praktisch-technische und religiös-spekulative Grundansicht unverträglich auseinandergebrochen scheinen. Einzugehen ist auf eine Tatsache des Bewußtseins. Die Natur erscheint uns zugleich als das Unheilvolle und das Ungeheure, das uns bedrohlich herausfordert, wie als Ausdruck oder Hülle des Heiligen und Göttlichen, das uns zur andächtigen Selbstbesinnung bewegt. Beides geht uns zugleich, aber nicht widersprüchlich in derselben, sondern in unterschiedlicher Seinsbeziehung an. In Bezug auf unser religiös-numinoses Dasein enthüllt sich unversehrbares Leben aus der Hülle der Natur, in Bezug auf unser leibhaftes Sein in einer gegenständlichen Welt fordert die physisch übermächtige Natur unser technisches Vermögen sowie unsere moralische Kraft heraus. Nun hat Schelling wie übrigens auch Hegel Fichte angekreidet, die Natur als etwas Häßliches, Unreines, Unheiliges anzusehen, das einen Haß erregt, der die Natur vernichten will. So sieht es Schelling noch im Blick auf die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters: »Noch immer will sich bei Hrn. Fichte keine umfassendere Kenntnis der Natur verrathen als die nun schon oft gezeigte: daß annoch mehrere Striche des Erdbodens mit faulenden Morästen in undurchdringlichen Waldungen bedeckt liegen, deren kalte und dumpfe Atmosphäre giftige Insekte erzeugt und verheerende Seuchen aushaucht« (W III 697 = SW VII 103). Das nährt in religiös-andächtiger Forschungsperspektive eine Entheiligung und Verhäßlichung der einheitslosen Natur ohne göttliches Band und Leben. »Allgemein aber war die Natur etwas absolut Häßliches und Unheiliges, ohne einwohnende Einheit: etwas, das nicht seyn sollte und nur war, damit es nicht wäre, nämlich damit es aufgehoben werden könnte« (W III 686 = SW VII 92). Diese Ansicht verrate nicht nur die Befindlichkeit eines Naturgefühls, das sich an der Unheimlichkeit der ungeheuren Natur weide, es dokumentiere den Hochmut, ja den wahnsinnigen Dünkel, in welchem sich der Mensch über die göttliche Natur erhebe, um sich deren Kräfte zu unterwerfen und sie menschlichen Zwekken dienstbar zu machen. Hegel, der die Charakterisierung der Natur im 3.
Fichtes, 1990 im Blick auf die 28. Vorlesung der W.L. 1804-II und die einschlägigen Passus der Religionslehre die scheinbaren Widersprüche der Naturauffassung aufgelöst und das vorherrschende Bild einer einseitigen teleologischen Bewertung der Natur durch Fichtes Transzendentalphilosophie auf dem Stande der Berliner Vorlesungen korrigiert.
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Buch von Fichtes Bestimmung des Menschen als populäre Litanei über das Übel der Welt schurigelt (vgl. TWA II, 417-422), stimmt in Schellings Abschätzung ein. Fichte erkläre die Natur als ein zu Vernichtendes, an dem der Vernunftzweck ewig erst zu realisieren sei. Solche Natur sei »von Wahrheit entblößt, das Gesetz der Häßlichkeit und Vernunftwidrigkeit an sich tragend« (TWA II, 420). Das ist im Durchgang auf die existentiale Verfassung des Daseins richtigzustellen. Dabei ist primär nicht das Leiden der unschuldigen Natur an der sie verunstaltenden, entfremdenden, entgötternden modernen Maschinentechnik in den Blick zu fassen. Ausgangspunkt ist vielmehr das Leiden des Menschengeschlechts durch die Natur in ihrer elementaren Gewalt und ihren unberechenbaren Ausbrüchen. Dieser Angang einer unbändigen Naturgewalt ist conditio humana, auch heute noch im Zeitalter des ›Gestells‹ moderner Technik.11 Auch für äußerst präzisierte mathematisch-technische Berechnungen bleibt die Natur in ihrem katastrophalen Übermaß und tödlichem Entzug unberechenbar. Oder sind etwa Fichtes Schilderungen einer Länder verheerenden, Seuchen erregenden, Hunger, Zerstörung, Chaos und Tod verbreitenden Naturgewalt anachronistisch? Um solchem Doppelangriff der Natur, ihrem Überfluß in Überflutungen und Orkanen wie ihrem Entzug in verdorrender Dürre und wachsenden Wüsten, zu entkommen, tut es not, »den feindseeligen Dunstkreis der ewigen Wälder, der Wüsten und Sümpfe« aufzuheben, das Unwirtliche bewohnbar zu machen, Katastrophen durch Maßnahmen der Technik und Wissenschaft einzudämmen. Offenkundig ist das selbstbewußter Geist vom Geiste eines Francis Bacon: »Die menschliche Gewalt über die Körperwelt beruht einzig auf Kunst und Wissenschaft« (Novum Organum Nr. 129). Aber letztes Ziel ist es, ein freies Verhältnis zur Macht der Technik wie zur Gewalt der Natur zu gewinnen. Zwar ist und bleibt die Abwehr der wilden, zerstörerischen Naturkräfte ein
11 Die kennntnisreiche, die Entwicklung der Beziehung Fichte – Schelling insgesamt umfassende Untersuchung von W. Schmied-Kowarzik: Das Problem der Natur. Nähe und Differenz Fichtes und Schellings, 1997 hat ihren Schwerpunkt im geschichtsphilosophischen Aspekt der Naturphilosophie. Sie trägt die paradoxe These vor, Fichte werde mit seiner Auffassung der Natur als Mittel und Material für menschliche Zwecksetzungen mitsamt ihren verheerenden technisch-industriellen Folgen zum Wortführer des immer noch gegenwärtigen Zeitalters vollendeter Sündhaftigkeit, während Schellings Freiheitsschrift das Böse gerade im Zerschneiden unseres kreatürlichen Zusammenhangs mit der lebendigen Natur aufdeckt.
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Kampf, aber dabei soll die Natur überhaupt nicht verknechtet und ausbeuterisch entstellt werden. Als Wohnstatt eines ihrer Krise entwachsenden Menschentums, das alle seine Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichtet, kommt die Natur in ihr Eigenes, als frei und schön gestaltete Umwelt in befriedeter Mitwelt. Fichte hat eben die Unterwerfung der zu kultivierenden Natur an die Prinzipien der Anwendbarkeit von Vernunft, Freiheit und Sittlichkeit gebunden und am Ende der Sichtbarmachung göttlichen DaSeins anheimgegeben. Mithin widerstreiten die entgegengesetzten technisch-wirtschaftlichen und religiös-andächtigen Bezüge zum Walten der Natur einander nicht. Für den teleologisch-ökonomischen Umgang ist der Wald primär Gehölz und so Stoff zum Bauen oder Beheizen menschlicher Wohngebäude sowie Material zur Herstellung von Werkzeug und industriellem Gerät. Für den religiösen Sinn ist und bleibt der Wald heiliger Hain, da ein Göttliches verehrungswürdig anwest. Nun löst sich die Gleichzeitigkeit dieser Zweiheit in präzisierter Welteinstellung freilich weitgehend auf, so daß der heilige Hain zum vielfach verwendbaren Gehölz wird. Aber sie ist in rechter Besinnung sowohl auf die Naturauffassung Schellings wie auf den Natursinn Fichtes zu restituieren. Daß Fichte eine religiöse Ansicht von der Natur weder ausklammert noch problemisch als Naturvergötzung desavouiert, belegt seine populäre Religionslehre. Danach gibt es einen Weg, die transzendentale Verhüllung der Natur als objektivierte Welt im Status des Nicht-Ich aufzuheben. Erhebt sich nämlich das absolute Wissen wirklich auf den Standpunkt der Religion, dann vergeht die gegenständliche Natur-Welt in ihrem toten Prinzip. Die Wahrheit und das Leben sind nicht mehr verhüllt als anorganisches, vegetatives, animalisches Naturding – »als Stein, Kraut, Thier« – vor Augen. Andernfalls bliebe Gott, der hinter all diesen Gestalten lebt, unsichtbar und verborgen. Geht aber religiöse Lebenshaltung in das göttliche Leben und diese ins religiöse Existieren ein, dann ist die reflexive Naturerfassung als verhüllende Objektivation enthüllt. Schelling hat solche Anweisung zum seligen Leben in seinem ›Anti-Fichte‹ zitiert. Die erlösende Anweisung lautet: »Erhebe dich nur in den Standpunkt der Religion, und alle Hüllen schwinden, die Welt vergeht dir mit ihrem todten Princip und die Gottheit selbst tritt wieder ein, in ihrer ersten ursprünglichen Form, als Leben, als dein eigenes Leben, das du leben sollst und leben wirst« (W III 679 = SW VII 85). Also gehen in Fichtes deduzierter Abstufung unserer Weltansichten beide strittigen Naturauffassungen widerspruchslos zusammen. Die bedrohli-
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che, menschlichen Zwecken zu unterwerfende Gewalt der Natur geht uns in unserem alles theoretisch objektivierenden und praktisch projektierenden Dasein an. Die als Gott zu enthüllende Erhabenheit der Natur trifft unsere lebendige, religiös numinose Existenz. Und es ließe sich hinzufügen: Die Herrlichkeit, wunderbare Schönheit, der aufstrahlende Glanz des Kosmos wird uns aufgetan im Stande einer »höheren Moralität« – aufgrund der mythisch-poetischen Existenz menschlichen Geistes.12 3. Kapitel: Revision von Schellings Anklage und Aburteilung der Grundsätze in Fichtes Die Anweisung zum seligen Leben Nun sitzt der naturphilosophische Grundkonflikt sicherlich wie ein tiefsitzender Stachel fest. Die eigentliche Auseinandersetzung aber dreht sich um jene Grundsätze, welche das ganze System tragen. Da Schelling die ungeschriebene Lehre unbekannt blieb, sind jene Formulierungen in Betracht zu ziehen, die Fichte seinen populären Schriften voranstellte und gegen die sich Schellings Einreden wenden. Dabei nimmt die im April 1806 erschienene Schrift Die Anweisung zum seeligen Leben, oder auch die Religionslehre eine Schlüsselstellung ein. Denn Schelling hat die Grundlagen dieser Religionsphilosophie nach Prinzipien der Wissenschaftslehre einer vernichtenden Kritik unterzogen. Der sarkastische Ton – ein Stil, den Fichte zuletzt auch gegenüber Schellings Naturphilosophie pflegte – täuscht. Es geht in vollem Ernst um die Stimmigkeit eines philosophischen Systems im Lichte der Wahrheit. So stehen ausführliche Grundsätze der prima philosophia auf dem Prüfstand. Darum kann der seichte Spott gegenüber dem Titel (Wilhelm Traugott Krug, Professor der Philosophie in Königsberg: »Anweisung zum seligen Leben – für einen Friedrichsd’or – Neidenswerthe Berliner!«) ebenso beiseite bleiben wie die Parodie von J. Fries, seit 1805 Professor in Heidelberg: Fichtes und Schellings neueste Lehre von Gott und Welt, 1807. Dem polemischen Vorblick entsprechend konzentriert sich Schellings Kritik
12 Die Durchsicht von Naturinterpretationen durch Kant, Fichte und Schelling vom Problem des Dinges an sich aus bei K. Gloy: Die Naturauffassung bei Kant, Fichte und Schelling, 1994 hat zum Resultat, keines der drei Paradigmen sei einwandsimmun, alle drei scheiterten an ihrer Einseitigkeit. Das lege ein Programm nahe, ein Ansichsein der Natur als Ermöglichungsgrund von drei konfliktfreien Naturkonzeptionen anzunehmen, nämlich der wissenschaftlichen, mythischen und theologischen Ansicht des Kosmos.
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an Fichtes Religionsphilosophie eben auf jene philosophischen Grundlagen, die Fichtes ungeschriebener Lehre entnommen sind.13 Das Ziel dieser Untersuchung besteht allein darin, jene strittigen Problemfelder zu eröffnen, auf denen sich der Wahrheitsanspruch der Vernunftwissenschaft im Stadium ihrer dreifachen Vollendung entscheiden wird. Schelling sah Hauptthesen und Vordersätze der Anweisung, zumal der 3. und 4. wie der 8. und 10. Vorlesung als gebrechliche, zusammenhanglose und illegitime Stützen von Fichtes verschlimmbesserter Lehre an. Von diesem Vorurteil her sind zuerst die Anklage, danach das Urteil und schließlich die Urteilsbegründung Schellings zu hören. Die Anklage ist bekannt. Sie lautet: Fichte erfülle den Tatbestand des geistigen Diebstahls. Er habe sich unrechtmäßig eine höhere Ansicht der Philosophie angeeignet, nämlich den Blickpunkt einer vollendeten Wissenschaft des Absoluten und eine Betrachtung der Welt aus solchem Standpunkt des Göttlichen. Das war durch die Naturphilosophie auf dem Grunde des Identitätssystems ausgebildet und vom Geiste des Zeitalters aufgenommen worden. Fichte nehme von einem Teil des neuen Reiches der Wahrheit Besitz und spiegele vor, als erster dieses aufbrechende Licht der Wahrheit begrüßt zu haben. Der Vorwurf geistigen Diebstahls ist eine fixe Idee Schellings, die sich am Ende auch gegen Hegel kehrt. Fichte bringe die höhere Ansicht der religiösen Idee an sich, soweit er dazu fähig sei, um sie volkstümlich mitzuteilen. In der Jenaer Grundlage jedenfalls finde sich nicht die geringste Erwähnung von Gott und den göttlichen Dingen. »Nunmehr aber soll alles Philosophiren beginnen von der göttlichen Idee, und die Liebe, der Grund und Anfang seyn aller Wissenschaft« (W III 619 = SW VII 25). Und hinweisend auf die Gottesliebe als Quelle aller Realität und auf die behauptete Übereinstimmung mit der Lo-
13 Zur Gesamtdeutung vgl. H. Verweyen: Fichtes Religionsphilosophie – Versuch eines Gesamtüberblicks, 1995. – Ch. Asmuth, Wissenschaft und Religion. Perspektivität und Absolutes in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes, 1995. – Ders.: Das Begreifen des Unbegreiflichen. Philosophie und Religion bei Johann Gottlieb Fichte. 1800-1806, 1999, 67-122. – H. Traub: Johann Gottlieb Fichtes Populärphilosophie 1804-1806, 1992, 163-287. – Zur zeitgenössischen Rezeption in der Fichtezeit vgl. die Rezensionen des Geistlichen Rates Thanner 1806 (mit dem Resümee: in der Anweisung sei das Wahre nicht neu und das Neue nicht wahr), von Jacob Salat, katholischer Moral- und Pastoraltheologe in München, von Friedrich Schlegel und von Schleiermacher. Eine ausführliche Dokumentation dieser Rezeptionslage bietet das Vorwort zu GA I/9, 3-44.
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gos-Verkündigung des Johannesevangeliums: »Jetzt spricht er von Liebe und dem Apostel Johannes, und die in Gott sich selbst vernichtende Reflexion ist das höchste« (W III 620 = SW VII 26). Theologisch strittig diskutiert wird dabei Fichtes These, seine Religionsphilosophie und Gotteslehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre stimme mit der echtesten Urkunde des Christentums, dem Johannesevangelium, völlig überein. Hier steht Schleiermachers Abwehr im Hintergrund. Fichte bestätige mit seiner Berufung auf den Johannesprolog nichts als den Allgemeinbegriff einer religiösen Gesinnung; er schwäche das paulinische Christentum, während er doch paulinisch vom Leben, Wirken und Sein in Gott spreche. Die katholische Seite tadelt, daß Fichte den Standpunkt der Vernunftwissenschaft über den der Religion stelle. Und psychologisch wird Fichte unterstellt, sich nach dem Atheismusverdacht als philosophischer Apostel der christlichen Botschaft salvieren zu wollen.14 Jedenfalls liege nach Schelling ein Bruch mit dem früheren Lehrstand vor. Erst vertrat Fichte einen moral-theologischen Standpunkt, wonach der Glaube an ein Göttliches im Grunde Glaube an eine moralische Weltordnung bedeute; jetzt habe er sich einen heterogenen Standpunkt angeeignet, welcher die Moral und Sittlichkeit tief unter die Grundstellung der Religion stelle, so daß die Religion nicht mehr in der Moral fundiert werden könne. Das Urteil Schellings unterscheidet kritisch. Die von Fichte widerrechtlich angeeigneten Grundsätze von der göttlichen Idee, vom seligen Leben und dem Urquell der Liebe sind nicht unwahr. Sie legen, wenigstens äußerlich, Zeugnis für die Kraft einer Wahrheit ab, welche das Götzenbild der Subjektivität und die moralische Säule bloßer Pflichtmäßigkeit umstürzt. Fichte gestehe damit eine Wahrheit zu, die er vorher verwarf. Aber er vermag sie nicht vollständig und konsequent zu durchdringen. Letztlich nehme er die höhere Wahrheit an, um die Mängel der eigenen Systembildung zu verdecken. Das sei eine Schmach der philosophischen Wissenschaft Fichtes, »daß die Liebe, das selige Leben und alles Himmlische, das
14 Zur tieferen Durchdringung vgl. Ch. Danz: Im Anfang war das Wort. Zur Interpretation des Johannesprologs bei Schelling und Fichte, 1995. Diese Untersuchung durchdenkt die strittige Interpretation des Johannesprologs von den miteinander unvereinbaren Grundentscheidungen ihrer Theoriegestalten her, wobei sich Schellings Interpretation als kritische Korrektur von Fichtes auf dem Hintergrund der Wissenschaftslehre 1804=II zu rekonstruierenden Auslegung erweisen lasse.
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er sich aneignet, nur die Larve seyn sollen, den Grundfehler, die ursprüngliche Mißgestalt seines Systems zu verbergen« (W III 622 = SW VII 28). Schellings Urteilsbegründung geht eben auf jene philosophischen Grundlagen der Religionslehre ein, die Fichte als Resultate seiner mündlichen neuen Darstellungen der Wissenschaftslehre mit der Einschränkung bloß faktischer Evidenz hier zur Anwendung bringt, die von Schelling als Mißgestalten geschmäht und verurteilt werden. Das betrifft alle Haupttheoreme Fichtes. Ein Vorbericht über diese prinzipielle Auseinandersetzung soll lediglich einen Problemaufriß geben. Für Schelling ist der klarste Punkt, der das Irrlicht der neuen Fichteschen Seinsthese erkennen läßt, die Formel: »Das Bewußtseyn des Seyns ist die einzig mögliche Form oder Weise des Daseyns des Seyns« (W III 659 = SW VII 65). Das ist für Fichte Resultat transzendentaler Besonnenheit, für Schelling eine Ungereimtheit. Hier sei unsinnigerweise eben von zwei Absoluta die Rede, einem Sein als dem Absoluten, von dem Wissen negiert ist, und einem Wissen als Absolutem, von dem das Sein negiert ist. In Wahrheit aber sei doch das lebendige Sein nichts anderes als absolutes Wissen in der Form der Selbstbejahung. Und das Sichfassen und Sichbejahen sei nachweisbar überall da, wo wirkliches Sein ein wahres Sein ist. Hier scheiden sich die Geister. Dabei erklärt Fichtes Wissenschaftslehre als Wissenschaft vom absoluten Wissen: Die Bewußtseinsform des absoluten Wissens sei das einzig mögliche Dasein des Absoluten, populär ausgedrückt: Allein das menschliche Geschlecht ist da. Der ontologische Rang von Dasein, Existenz, aktual-realer Wirklichkeit kommt allein dem menschlichen Vernunftwesen zu. Existenz ist kein universalontologischer Seinsmodus mehr – eine Entscheidung, die auch Schellings Grund-Existenz-Ontologie fällen wird. Damit hat das Identitätssystem Schellings gründlich gebrochen. Ein SelbstBejahen lebt im ganzen Universum. Das Wissen in beschränkter Reflexionsform sei nichts anderes als eine besondere Potenz dieser Selbstbejahung mit einem quantitativen Übergewicht der Idealität. Zudem erklärt Fichtes Religionslehre zum Entsetzen der Naturphilosophen die Begriffsform des absoluten Wissens zum Schöpfer der Sinnenund Erscheinungswelt, die uns eben so erscheint, wie wir sie in unseren Wissensformen und Vorstellungsgesetzen zur Erscheinung bringen. Dabei wird grundsätzlich behauptet: Das Prinzip der Spaltung in die Mannigfaltigkeit, in eine Fünffachheit und unendliche Vielheit der Erscheinung ist der Begriff. Diese These, das Begreifen des absoluten Ich verwandle das le-
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bendige, urreale Sein in Gegenständlichkeit und erschaffe so den Anblick der Sinnenwelt und Natur, fordert Schellings inquisitorische Anklage heraus. »Wenn das an sich lebendige Seyn nur durch den todten Blick des todten Beschauens in Tod verkehrt wird, so ist ja das absolute Ich der Grund alles Todes und selbst todt; es ist daher das wahre böse Princip im Universum, der Gott dieser Welt, aber nicht der wahre Gott; der böse Weltschöpfer der Gnostiker, nicht der Welterlöser und Sohn Gottes« (W III 682 = SW VII 88). Überhaupt erklärt Schelling Fichtes Frage nach der Vielheit als solcher zum Scheinproblem. Fichtes Vorstellung einer Spaltung der ursprünglichen Einheit folgte der Meinung, daß die Vielheit und Mannigfaltigkeit als solche wirklich seiend sei. Das ist ein Irrtum. In Wahrheit bleibt mit der Vielheit immer auch Einheit. Nichts ist wirklich gespalten, »welches eben den wesentlichen Unterschied macht von allen Reflexionstheorien, die das Problem so fassen, als hätten sie eine Spaltung zu erklären, da es doch gar keine solche gibt, und mit der Vielheit immer die Einheit besteht« (W III 652 = SW VII 58). Und noch bedenklicher ist aus Schellings Sicht folgende Konsequenz: Gesetzt, die Formen der Vielheit sind Schemata des sich intuierenden und reflektierenden absoluten Wissens, dieses aber sei das Dasein des Göttlichen und Absoluten, dann beginge Fichtes Deduktion der Mannigfaltigkeit eine metabasis eis allo genos, ein fehlerhaftes Übertragen aus dem Herkunftsbereich der Reflexion in den des Göttlichen; denn solches, was doch bloß Beschaffenheit der endlichen individuellen Reflexion ist, wird so in Gott hinübergetragen und zu dessen Daseinsform gemacht. Wie aber, wenn es vom Standpunkt der ungeschriebenen Lehre aus gerade umgekehrt steht, wenn eine unbesonnene Rede vom Absoluten jene Formen und Gesetze, welche zum Wissen gehören und die Sinnenwelt konstituieren, fehlerhaft ins Absolute hinüberträgt? An diesem Streitpunkt sind die Denkwege am weitesten voneinander entfernt. Im Vorbeigehen setzt Schellings Anklage auch jenes Grundgesetz außer Kraft, das in der ungeschriebenen Lehre eine bedeutende Übergangsfunktion sichert, das Gesetz der Sichvernichtung des Wissens, d.h. die Absetzung des absoluten Ich-Subjekts als oberstes Prinzip von Erkennen und Sein. Einen solchen Prozeß, in welchem sich das Wissen zum Bild des Absoluten herabsetzt, kann es laut Schellings Urteilsbegründung nicht geben. Entweder nämlich werde dadurch das Bild eines Seins im Sinne des vorund entgegengestellten Gegen-Standes, des Objekts, erzeugt, dann ist dieses Wissen nicht Dasein des Absoluten, sondern die untergeordnetste und
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gemeinste Reflexion. Oder diese Reflexion ist Gottes ewige Form und Dasein; dann bedeutete deren Vernichtung die Nichtung göttlichen Daseins. »Gott würde daher, wenn etwa diese Reflexion niemals aufgehoben würde, oder, wie Hr. Fichte späterhin angibt, sich selbst vernichtete, gefahrlaufen, auf einmal gar nicht mehr dazusein« (W III 662 = SW VII 68). Die Urteilsbegründung von Schellings Anklage zieht die Haupt- und Grundsätze von Fichtes Religionsschrift Die Anweisung zum seligen Leben also in den Dreisatz zusammen: »Das Seyn ist gleich dem Daseyn; das Daseyn ist gleich dem Wissen oder absolutem Bewußtseyn; dieses ist das, das göttliche Leben, in das todte, vernunftlose Verwandelnde« (W III 262 = SW VII 88). 3. Abschnitt: Ausblicke auf die strittige Über-, Unter- und Gleichordnung der Gottesliebe (Amor Dei intellectualis) Fichtes Religionslehre in der Form einer Anweisung zum Leben wurde durch popularisierte Prinzipien der ungeschriebenen Lehre unterbaut und entwickelt. Ihr Gipfelsatz ist in den Strudel eines gezielten, aber auch eines unthematisierten Widerstreites geraten. Der strittige Satz lautet: »Die Liebe daher ist höher, denn alle Vernunft, und sie ist selbst die Quelle der Vernunft und die Wurzel der Realität und die einzige Schöpferin des Lebens« (GA I/9, 167). Dieser philosophisch-religiöse Schlußsatz ist von Schelling einer ironischen Kritik unterzogen worden. Bemerkenswerterweise aber hat Schellings Freiheitsschrift 1809 eine konkurrierende These aufgestellt. Sie lautet: »Auch der Geist ist noch nicht das Höchste; er ist nur der Geist, oder der Hauch der Liebe. Die Liebe aber ist das Höchste« (W IV 297 = SW VII 405). Und ein davon abzuhebender Grundsatz der Gottesliebe auf dem Boden einer dialektischen Phänomenologie Hegels lautet: »Das wahrhafte Wesen der Liebe besteht darin, das Bewußtsein seiner selbst aufzugeben, sich in einem anderen Selbst zu vergessen, doch in diesem Vergehen und Vergessen sich erst selber zu haben und zu besitzen. Diese Vermittlung des Geistes mit sich und Erfüllung seiner zur Totalität ist das Absolute« (TWA 14, 155). In Rücksicht auf diese drei Grundsätze kann man mit philosophiegeschichtlicher Vorsicht konstatieren: Hier geht es um einen Wider- und Wettstreit, in welchem um die Vollendung jener Proposition gerungen wird, die Spinoza auf dem Boden einer absoluten Substanzmetaphysik am Ende seiner Ethik als Basis menschlicher Freiheit aufgestellt hat. »Mentis erga Deum Amor intel-
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lectualis pars est infiniti amoris, quo Deus se ipsum amat« – Fichte nahe übersetzt: Die Liebe des menschlich-endlichen Gemüts auf der Stufe höchsten adäquaten Wissens ist Teil der unendlichen Liebe, in der Gott sich selbst liebt in uns (Eth. V prop. 36). Nun hat Fichte seinen gleich klingenden Grundsatz vom Amor Dei nirgends mit Spinozas Schlußsatz konfrontiert. Und ein Jacobi erklärt in seinem Vorbericht 1819: Eine Freiheit im Gefühl der Gottesliebe, d.h. der Liebe zur allein wahrhaft seienden Substanz in ihrer gedankenlosen Aktuosität, widerspricht nicht nur dem Spinozistischen Fatalismus, sie vernichtet das wesenhafte Sein im Menschen – »eine Wahrheit, welche ihn tödtet, kann der Mensch weder suchen noch leben« (JW IV/1, 17; vgl. JW IV/1, 71). Vorzüglich der ›romantische Spinozismus‹ der deutschen Frühromantik (Schleiermacher, Friedrich Schlegel, Novalis) vollzieht im Zeitraum von 1793-1800 eine Wende: weg vom substanzmetaphysischen Ausgang einer All-Einheit mit der Folge des Fatalismus und hin zum Beschluß der Spinozistischen Liebesphilosophie mit der Folge einer selbstlosen menschlichen Freiheit. Formelhaft ausgedrückt: weg von der Losung Deus sive natura, hin zum Gegenwort Amor sive libertas.15 Und Schellings Streitschrift Philosophie und Religion von 1804 wird sich in ihrer Lehre von Abfall und Versöhnung auf Spinozas Satz berufen. »Mit dieser Ansicht vollendet sich das Bild jener Indifferenz oder Neidlosigkeit des Absoluten gegen das Gegenbild, welches Spinoza trefflich in dem Satz ausdrückt: Daß Gott sich selbst in intellektueller Liebe unendlich liebt« (W IV 53 = SW VI 63). 1. Kapitel: Schellings Angriff auf den Gipfelsatz von Fichtes Religionslehre »Die Liebe ist höher denn alle Vernunft« Im Kontext von Widerstreit und Konkurrenz um das höchste Prinzip einer vollendeten Religions- und Vernunftphilosophie sei zunächst die Kritik Schellings an Fichtes Satz vom Amor Dei vorgenommen, um sodann den
15 Die Wirkungsgeschichte des Spinozismus im Kreise der Romantik bildete lange eine Forschungslücke. Sie ist durch die Studien von H. Timm ausgefüllt worden: Amor Dei intellectualis. Die teleologische Systemidee des romantischen Spinozismus, 1977. – Ders.: Gott und die Freiheit. Bd. 1: Die Spinoza-Renaissance, 1974. – Zur dreifachen, konkurrierenden Aufnahme der Amor-Dei-These in der Hochzeit des Deutschen Idealismus vgl. Vf.: Amor Dei intellectualis. Vernunft und Gottesliebe in Gipfelsätzen neuzeitlicher Systembildungen, 1994.
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Wettstreit um die drei Entwürde der Gottesliebe zu skizzieren. Schelling streitet wider den »hellsten Lichtpunkt und Gipfel Fichtischer Verklärung« im Aufbau der populären Die Anweisung zum seligen Leben. Deren Anspruch geht dahin, die offene Frage nach dem Zusammenhang von Sein (Gott) und dem Dasein des Seins (dem absoluten Wissen) zu klären. Das ist unzweifelhaft ebenso dringlich wie schwierig, da beides nicht dasselbe, aber auch nicht voneinander getrennt ist. Fichtes Bescheid in der 10. Vorlesung hat Schelling zitiert: »Es gibt schlechthin ein solches Band, welches höher ist denn alle Reflexion, aus keiner Reflexion quellend und keiner Reflexion Richterstuhl anerkennend.« – »Diese Band ist die Liebe; in dieser Liebe ist Gott und der Mensch eins und völlig verschmolzen« (W III 666 = SW VII 72. – GA I/9, 166). So ist die Gottesliebe weder genetisch noch faktisch, weder als Tatsache noch als Gesetz des Bewußtseins evident zu machen, sondern allein in der Liebe zum göttlichen Sein selig zu leben; denn diese Grundbefindlichkeit übersteigt alle Reflexion und treibt sie an, sich selbst zu vernichten, d.h. als höchste ursprünglich einigende Synthesis zu erniedrigen. Schelling erklärt diese Aufgipfelung für inkonsequent und eklektisch. Sie sei inkonsequent; folgerichtig hätte Fichte diesen höchsten und hellsten Grundsatz als oberstes Prinzip an den Anfang seiner Vernunftwissenschaft stellen müssen; dann wäre das Wissen wirklich in die absolute Identität von Wesen und Form, von Realität und Idealität eingegangen. Daß das inkonsequenterweise unterblieb und dieser oberste Grundsatz gleichsam nachträglich angehängt wurde, erkläre sich aus der eklektischen Zusammenstellung der gesamten verbesserten Lehre. Fichtes Grundsatz der Gottesliebe klärt zwar die Identität von Sein und Da-Sein, er löst aber unmittelbar und mit demselben Schlag keineswegs das Problem von Sein und Vielheit des Endlichen und dessen Zusammenhang und innige Verbindung mit dem Unendlichen. Dafür setzt die Wissenschaftslehre eben die vermittelnde Mittlerfunktion der Reflexion ein. So aber gerät der propagierte Anfangsgrund als bloßer Zusatz ans Ende. »Nachdem die endliche Welt erklärt und herbeigeschafft ist, mag jene immerhin in den Flammen der göttlichen Liebe versengen und verbrennen; solange, bis man diese hinter sich hat, muß sie in Ehren erhalten werden« (W III 667 = SW VII 73). Dieser Befund zeigt den Mangel an systematischem Zusammenhang und die halbherzige Aneignung von Grundsätzen der fatalen Naturphilosophie im vermeintlichen System eines vollendeten Eklektizismus an. »Jener organische Einheitspunkt der Spekulation, in welchem die fatale Naturphilosophie sich gleich vornherein festsetzt, ist in
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der bei weitem reineren und besonneneren Fichteschen Lehre nur eklektisch vereinigt« (W III 667 = SW VII 73). Der Widerstreit um das wahre Band der Liebe verstärkt sich in Schellings Bestimmung der ›wesentlichen Liebe‹. Schellings Einlassung lautet: »Dieses ewige Band der Selbstoffenbarung Gottes, dadurch das Unendliche in das Endliche, und hinwiederum dieses in jenem aufgelöst ist, ist das Wunder aller Wunder, nämlich das Wunder der wesentlichen Liebe (welche allein durch den Gegensatz zur Einheit mit sich selbst dringt), oder das Wunder der Lebendigkeit und Wirklichkeit Gottes« (W III 653 = SW VII 59). Grundsätzlich dreht es sich hier um die Doppelfrage: Wie steht es mit der Selbstoffenbarung Gottes, insofern er unverhüllt in der Natur existiert? Und worin besteht das ewige Band zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen? Schellings Bescheid verweist auf das Wunder der wesentlichen Liebe. Wesentlich ist eine Liebe im Gegensatz zur nicht wesentlichen, die ewig und göttlich, nicht bloß zeitlich begrenzt und kontingentendlich ist. Wesentliche Liebe ist das ewige Wunder aller Wunder. Das Wunderbare der Liebe überhaupt besteht in einem für den trennenden Verstand unfaßlichen Vorgang, worin der Liebende dadurch zur wahren Existenz durchdringt, daß er sich durch den Gegensatz, die liebende Hingabe an einen Anderen, zur umfassenden Einheit mit sich selbst erhebt. Die wesentliche Liebe nun ist das Ereignis, in welchem Gott oder das Absolute im Anderssein der Natur lebt, offenbar wird und so als das All-Eine zur Wirklichkeit kommt. Das löst die von Leibniz erneuerte Grundfrage auf, welche das Staunen und Sichverwundern der Philosophen umtreibt: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht Nichts? »Sie erstaunen recht eigentlich darüber, daß nicht nichts ist« (W III 653 = SW VII 59). Das Wunder der wesentlichen Liebe ist das Wunder der Wirklichkeit Gottes. Es löst das staunende Nichtbegreifen in taghelle, sonnenklare Evidenz auf; denn es macht klar, wie Gott wesentlich das All ist. Zu dieser Klarheit bringt es eine Reflexionsphilosophie niemals. Darum ist auch Fichtes eklektischer Gipfelsatz und Lichtpunkt der Gottesliebe dunkel. Reflexionsphilosophen bleiben blind gegenüber der vollendeten Gottesliebe im System einer All-Einheit. »Da meinen sie dann, weil sie nicht begreifen können, wie Gott das All begreife und selbst wesentlich das All sey, ihn zu ehren dadurch, daß sie alle Existenz von ihm hinwegnehmen, ihn zur reinen Einheit läutern, in der ja kein Gegensatz seyn darf, weil Gott sich etwa nicht dagegen retten könnte und getrübt werden möchte; und halten es
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für Philosophie und Frömmigkeit, wenn sie ihm nachher mühselig zur Existenz verhelfen, und ihn aus seiner traurigen Einförmigkeit durch ihre Reflexion oder ihr absolutes Bewußtsein heraustreten lassen« (W III 653 = SW VII 59). Es ist Schellings Ansatz der Selbstoffenbarung göttlicher All-Einheit, der zu einer vertieften Fundierung von Grund und Existenz und zur Erhöhung des Ungrundes der Liebe über den Geist in der Freiheitsschrift von 1809 geführt hat. Dem zuvor aber war Fichtes ›populärer‹ Gipfelsatz der Liebe im Umkreis der Frühromantik in Grund und Boden rezensiert worden. 2. Kapitel: Exkurs. Friedrich Schlegels Kritik an Fichtes Prinzip der Liebe (Heidelberger Jahrbücher für Litteratur 1808) Friedrich Schlegels thesen- und geistesgeschichtlich aufschlußreiche Rezension von Fichtes drei populären Hauptwerken des Jahres 1806 geht am Ende auf die wichtigste und reichhaltigste Schrift über das selige Leben ein und greift deren religionsphilosophischen Höhepunkt an: die Aufstellung der Liebe als erstes und höchstes Prinzip auf der höchsten der fünf unterschiedenen Weltansichten. Allein daran ist hier in einem Ausblick auf Gegenstellungen der Frühromantik zu erinnern (SSA III 109-125). Fichtes Konstruktion der Liebe als oberster Anfangsgrund und innigstes Verknüpfungsband von Sein und Dasein evoziert die Anfrage: Was ist eigentlich diese Liebe selbst? Die mögliche Antwort kann offenbar nur lauten: entweder eine Form des Daseins oder das Sein selbst. Beides ist unmöglich. Als Form des Daseins wäre die Liebe zwar ein Vermögen, welches im unmittelbaren Begreifen der Identität dasjenige, was die Reflexion trennt, wieder zu vereinigen vermöchte. Aber das kann nicht sein, wenn anders es außer dem Sein nur eine Form des Daseins gibt, nämlich das reflektierend-trennende Bewußtsein. Kann Liebe mithin nicht Daseinsform sein, so müßte es das Sein selbst sein, wenn anders außer dem absoluten Sein nichts sei außer dem Dasein, dessen Form die Liebe nicht ist. Aber auch das hat seine Schwierigkeiten und Widersprüche. Abgesehen davon, daß sonach die Liebe Identität von Identität (Sein) und Nicht-Identität (Bewußtsein) wäre und somit mit jenem System übereinkäme, von dem sich die Wissenschaftslehre doch gerade unterscheiden will, und abgesehen davon, daß Fichtes Beweisweg vom reinen Wissen ausgehe und nicht von der Liebe als dem Ersten und Höchsten, entscheidend sei das Einge-
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ständnis: Von einer Liebe über aller Vernunft und jenseits aller Reflexion könne es kein Wissen geben. »Das ist es, worauf es eigentlich ankommt, und woran wir uns halten. Kam denn Fichte auf dem Wege des Wissens zu der Grundidee seines Systems? Gewiß nicht, seinen eigenen deutlichen Äußerungen zufolge; und so wird es ihm auch in Ewigkeit nicht gelingen, was nicht auf diesem Wege gefunden war, in der Form des Wissens an andere zu bringen« (SSA III 124). Also konnte es Fichte all seiner Argumentationskunst zum Trotz nicht glücken, das innere Prinzip seiner Denkart zu vermitteln, so daß lediglich äußere Resultate eines leeren Vernunftsystems das Zeitalter erreichen. In den Augen Friedrich Schlegels ließ sich eben auch Fichtes Transzendentalismus von der verhängnisvollen Tendenz des Zeitalters der Neuzeit fortreißen, den Geist der Philosophie in falscher, mißleitender Analogie zur Mathematik als strenge Wissenschaft mit mathematischer Evidenz und dialektisch-geometrischen Ableitungen einzurichten. Jegliche mathematisch-dialektische Durchformung aber habe den spekulativen Geist mehr niedergedrückt als beflügelt, mehr verarmt als bereichert. Am Schluß stellt Schlegels Rezension Fichtes Verkündigung der Liebe, die in der Frage »Was ist die Liebe selbst?« in ein Dilemma gerät, vor die Alternative, entweder in Skeptizismus zu enden oder zu einer Darstellung überzugehen, die jenseits der Vernunftwissenschaft und deren Methodik liegt. Gibt es nämlich überhaupt kein Wissen von der Liebe selbst, dann siegt die Skepsis. Philosophische Wissenschaft könne dieses Phänomen als oberstes Prinzip weder bejahen noch verneinen, sie müßte sich des Urteils darüber enthalten. Gibt es dagegen doch Wissen davon, dann darf es keine mathematisch-dialektische Einsicht ermitteln. Es muß eine höhere Evidenz eröffnen. »Dies wird gewiß der Fall sein müssen, wenn uns im höchsten Wissen nicht bloß die Geschichte von der Selbstvernichtung der Reflexion als dem Prinzip der Spaltung und Trennung vorkonstruiert, sondern die Liebe selbst, als Schöpferin des Lebens und ›Quelle der Vernunft‹ wirklich dargestellt werden soll« (SSA III 125). – Das erregt freilich die Gegenfrage: Hat nicht Fichte genau diese Forderung in seinen ungeschriebenen Neufassungen der Grundlegung aller, auch der religiösen Wissenschaftslehre erfüllt? Schlegel hat sie nicht gekannt. Er hätte sie auch kaum anerkannt. Im ganzen verfährt diese kritische Erörterung der Fichteschen Philosophie in der Phase von 1806 ebenso schonend wie verletzend. Sie verschont die Wissenschaftslehre mit dem Bannspruch, auch in diesem Stadium der
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populären Religionslehre im Grunde Atheismus zu sein. Sie erklärt gleichwohl radikal verurteilend Fichtes Spekulation für ein leeres Formelwissen. Das alles sei metaphysische Verirrung, ergehe sich in dialektischem Leerlauf und führe zur gemeinsamen Quelle der neueren Vernunftwissenschaft des Absoluten zurück, dem ewig leeren Nichts.16 3. Kapitel: »Auch der Geist ist noch nichts das Höchste – die Liebe aber ist das Höchste«. Zur Überhöhung der Liebe in Schellings Freiheitsschrift 1809 Geistesgeschichtlich ist der widerstreitende Einspruch gegen die Tragfähigkeit und gegen die wissenschaftliche Erklärung von Fichtes Grundsatz der Gottesliebe in einen Wettstreit um die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus übergangen. Das bringt ein kaum beachtetes Ringen um die Wahrheit eines Systems des Geistes an den Tag. Für solche Überprüfung einer dreifach fortgeführten Amor-Dei-Spekulation auf den Gipfeln des Deutschen Idealismus ist vorzüglich Schellings Freiheitsschrift heranzuziehen. Dafür mag es genügen, an die eigentümliche ontologische Zweiteilung von Grund und Existenz und an deren einigendes Band, den Ungrund der Liebe, zu erinnern, um die kreuzenden Denkwege von Hegels Phänomenologie der Liebe wie von Fichtes transzendentalem Weg zum religiösen Quellgrund der Liebe in ihren Einordnungen abzuschätzen. Nicht verfolgt wird eine Perspektive, in welcher die Freiheitsschrift nicht zuletzt das Interesse der gegenwärtigen Philosophie geweckt hatte: die Vorwegnahme von Existenz, Faktizität, Geschichtlichkeit, abgründiger Freiheit des Menschen. Beiseite bleiben auch die Geschichte der Willensmetaphysik und die Leitthese von Heideggers Kommentar Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit, 1971: Die Freiheitsschrift erschüttere das idealistische System und vertiefe es in das Ursein absoluten Wissens. Was aber bedeuten hier Grund und Existenz? Grund meint nicht eine Art Ursprung mit dem Prädikat des Sichäußerns, sondern ›Basis‹ mit dem Grundzug des Insichgeschlossenseins. Existenz dagegen meint dem Wort
16 Diese Gemeinsamkeit in der grundsätzlichen Tendenz der Philosophien Fichtes, Schellings und Hegels aus der Sicht Friedrich Schlegels hat die Forschungsarbeit von E. Jaeschke, welche über den durch O. Rothermel repräsentierten Forschungsstand: Friedrich Schlegel und Fichte, 1934 hinausgeht, deutlich herausgestellt: Die hohle Nuß der Subjektivität, 1989.
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und der Sache nach ein Herausgehen ins Offene im Stande des Sichoffenbarmachens. Was sich in dieser außergewöhnlichen Unterscheidung von Wesen und Existenz entzweit, ist das Ursein. Und Ursein, ausgezeichnet durch die vier Prädikate Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbjahung, ist Wille. Das Ursein des Willens liegt mithin der Zweiheit von Grund und Existenz zuvor und geht in diese ein. Existenz erscheint als Wille zur Selbstoffenbarung, so daß allein Gott und der Mensch existieren. Grund dagegen bestimmt sich als das Vonwoher der Offenbarkeit in der Form eines sich verschließenden Willens. Damit verdoppelt sich das Ursein wesenhaft in einen blinden Willen (Grund) und einen sich wissen wollenden Willen (Existenz). Ist nun das absolute Sein willenhaft, dann kann die ontologische Differenzierung in die Zweiheit von Grund und Existenz nur ein wesensnotwendig Gewolltes sein. Die alte Frage, wozu sich das schlechthin Eine in Zweiheit zerteile, nimmt die Gestalt an: Warum will der absolute Wille gerade diese Aufspaltung? Die Antwort weist auf den Willen der Liebe als unvordenkliches Einheits- und Spaltungsprinzip. Er waltet als Urgund, genauer: als ›Ungrund‹, vor aller Trennung. Schellings Satz vom Ungrund der Liebe ist ein Gipfelsatz seiner Grund-Existenz-Ontologie sowie ein Schlüsselsatz, der das Problem des Bösen und der menschlichen Freiheit aufschließt. Er lautet: »Die Liebe aber ist das Höchste. Sie ist das, was da war, ehe denn der Grund und ehe das Existierende (als getrennte) waren, aber noch nicht war als Liebe – [...] wie können wir es anders nennen als den Urgrund oder vielmehr Ungrund« (W IV 298 = SW VII 406). Ungrund nennt mithin die unvordenkliche, noch nicht als solche gedachte Ununterschiedenheit der Gegensätze von verschlossener Basis und dem sich offenbarenden Existierenden. Es ist wie das Licht, das noch nicht als Aufhellendes ist, im Zusammenfall mit einem Dunkel, das noch nicht als Verschließendes wirkt. So steht es mit der absoluten Liebe, da sie noch nicht als das Scheidende und noch nicht als das Einende waltet. Darum ist der Ungrund weder als Indifferenz noch als Identität von Grund und Existenz des absoluten Geistes aufzustellen. Der Ungrund ist als absolute Liebe, als alles durchstimmendes ›Wohlwollen‹ (Eunoia) voran und über den Geist zu stellen. »Über dem Geist ist der anfängliche Ungrund, der nicht mehr Indifferenz (Gleichgültigkeit) ist, und doch nicht Identität beider Principien, sondern die allgemeine, gegen alles gleiche und doch von nichts ergriffene Einheit, das von allem freie und doch alles durchwirkende Wohlwollen, mit einem Worte die Liebe, die Alles in Allem ist« (W IV 300 = SW VII 408).
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Daraus nun kann der Sinn des Ur-Teilens geschöpft werden. »Der Ungrund theilt sich aber in die zwei ewig gleichen Anfänge, und damit die zwei, die in ihm, dem Ungrund, nicht zugleich oder Eines seyn konnten, durch Liebe eins werden, d.h. er theilt sich nur, damit Leben und Lieben sey« (W IV 300 = SW VII 408). Das sollte evident sein. Ist der Wille als Wirken nach Begriffen wirklich im Modus der Wirksamkeit, so ist auch der Wille der Liebe erst dann wirklich, wenn er in seiner einigenden und bindenden Kraft wirkt. Das kann er aber nur, wenn es Entgegengesetztes gibt, das für sich sein könnte, aber doch ohne das andere nicht ganz zu sein vermag. Ohne solche Zertrenntheit gäbe es das Wunder der Liebe in Wirklichkeit nicht wirklich. So enthüllt sich deren Geheimnis. »Dieß ist das Geheimniß der Liebe, daß sie solches verbindet, deren jedes für sich seyn könnte und doch nicht ist, und nicht seyn kann ohne das andere. Darum so wie im Ungrund die Dualität wird, wird auch die Liebe, welche das Existierende (Ideale) mit dem Grund zur Existenz verbindet« (W IV 300 = SW VII 408). Also will der Wille der Liebe nicht einfach vorhandene Einheit, sondern zuerst die Scheidung in Entgegengesetztes als Sphäre, in welcher die einigende Kraft der Liebe wirken und so wirklich dasein kann. Schärfer zugespitzt: Die Liebe will, daß die Verschiedenen, die für sich sein könnten, auch verschieden sind und sich sogar radikal gegeneinander wenden; denn erst da, wo die Entgegensetzung ins Äußerste kommt, erscheint auch die bindende und einigende Liebe in ihrer höchsten Kraft. Der abgründige Tiefsinn dieser Überhöhung der Liebeskraft über die Klarheit des willenhaften Geistes und dessen Selbstoffenbarung tritt da heraus, wo die Zweiheit von Grund und Existenz sich zum Bösen verkehrt. Das Böse nämlich ist Geist. Der will, daß der Wille des Grundes (der Eigen- und Partikularwille) über den Willen des Verstandes (den Universalund Zentralwillen) Oberhand gewinnt. Das Böse findet seinen gefährlichen Spielraum im Freiheitsvermögen des Menschen. Gott ist vom Bösen frei; denn in Gott sind ja Grund und Existenz unzertrennbar und daher nicht ins Böse verkehrbar. Das Wesen menschlicher Freiheit dagegen ist ein Vermögen zum Guten und Bösen. Da kann es geschehen, daß Partikularwille und Universalwille sich verkehren. Durch unsere Freiheit entfesselt, bringt das Böse den Geist der Aufruhr und des Zwiespaltes in das Ganze der Welt. Und in der Versöhnung des Aufruhrs bezeugen sich der Ungrund, der Wille der Liebe und das alles durchdringende Wohlwollen wirklich. Also ist die Liebe höher als der Geist; denn auch das Böse ist Geist in seiner ganzen Gefährlichkeit, der Geist der Entzweiung und der
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Verkehrung des Ganzen. Ein Geist versöhnender Einheit weht eben nur da, wo der Wille der Liebe wahrhaftig und wirklich ist. So erhebt Schellings Freiheitsschrift auf dem Grund und Boden einer neuen Ontologie, das Identitätssystem überbietend, die Liebe zum höchsten Prinzip. »Auch der Geist ist noch nicht das Höchste; er ist nur der Geist, oder der Hauch der Liebe. Die Liebe aber ist das Höchste« (W IV 297-298 = SW VII 406). Nach Fichtes transzendentalphilosophischer Methodenregel unaufhebbarer und unübergehbarer Besonnenheit ist Schellings Spekulation unberechtigt. Sie überfliegt die Besinnung einer absoluten Reflexion, die sich im Sagen und Denken des Absoluten und der göttlichen Liebe auf ihr eigenes, endlich beschränktes Denken und Sagen besinnt. Nun widerspricht aber doch in Schellings Spekulation das Sagen des Ungrundes dem Sein des Gesagten; denn ausgesagt wird von ihm ein Weder-Noch, indem gesagt ist: Im Ungrunde der Liebe habe weder der Grund als sich verschließendes Band noch die Existenz als sich offenbarendes Heraustreten Wirklichkeit. Indessen: Kommt diese Aussage wirklich dem unsagbaren Absoluten oder doch eher unserer Einsicht vom Absoluten als solchem zu? Von einem Wirken der Liebe als Ungrund zu sprechen, bleibt für ein triftiges Sichbesinnen ein Unaussprechliches. 4. Kapitel: Hegels dialektische Unterordnung des Wunders der Liebe im System der Vernunftwissenschaft Hegel hat seine dialektischen Einsichten in die Struktur lebendigen Geistes am Phänomen der Liebe gewonnen. Das Wunder der Liebe erhellt sich ihm als ein dialektischer Prozeß, den er auf den Vorgang der Selbstoffenbarung des Absoluten überträgt. Aber er beharrt für alle Stufen der Liebe, auch im Falle religiöser Gottesliebe, auf dem sinnlichen Empfindungsmodus des innigen Liebesgefühls. Darum kehrt sich in seiner Seinsordnung Schellings Gipfelsatz um: Der Geist der Vernunft und Wissenschaft ist höher als die andächtige Gottesliebe der Religion. Hegels dialektischer Leitsatz schließt zuvor das Wunder der Liebe, die Selbstvermittlung des Geistes und die Erfüllung des Absoluten zusammen. »Das wahrhafte Wesen der Liebe besteht darin, das Bewußtsein seiner selbst aufzugeben, sich in einem anderen Selbst zu vergessen, doch in diesem Vergehen und Vergessen sich selbst zu haben und zu besitzen. Diese Vermittlung des Geistes mit sich und Erfüllung seiner zur Totalität ist das Absolute« (TWA 14, 155). Von dem für den Verstand unbegreiflichen Wunder der Liebe
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sprechen schon Hegels Entwürfe über Religion und Liebe 1797/1798. »Der Geliebte ist uns nicht entgegengesetzt, er ist eins mit unserem Wesen; wir sehen immer uns in ihm, und dann ist er doch wieder nicht wir – ein Wunder, das wir nicht zu fassen vermögen« (TWA 1, 244). Für unseren Verstand, der eben im Element des Unterscheidens und eines einfachen Negierens seine Aufklärungen betreibt, ist das ein unaufhebbarer Widerspruch. Für den spekulativen Geist dagegen vertieft sich die Liebe zur Lebensmacht und zum dialektischen Lebensprinzip des aufzuhebenden Widerspruchs. Er versteht diese Koinzidenz von Sichverlieren und Sichgewinnen des Einen im Anderen als den »ungeheuersten Widerspruch, den der Verstand nicht lösen kann« (TWA 7, 308). Hegels ›Theologische Jugendschriften‹ erklären die Form des Bewußtseins, die höher ist denn alle Verstandesrefexion, als Grundgefühl religiöser Gottesliebe. Dabei meint Liebe nicht eine Weise des Gefühls neben und außer anderen, sondern jene Grundempfindung und Grundbefindlichkeit, in welcher das Leben im geglückten Lebensgefühl zu sich selber findet. »In ihr findet sich das Leben selbst, als eine Verdopplung seiner selbst, und Einigkeit desselben« (TWA 1, 246). Ist Leben ein anderes Grundwort für wahres Sein und nennt Leben die absolute Lebendigkeit und geistige Wirklichkeit Gottes, dann kommt im Gefühl der Liebe das Göttliche zur Vorstellung. »Diese Liebe, von der Einbildungskraft zum Wesen gemacht, ist die Gottheit« (TWA 1, 242). Nun erklärt Hegels Gipfelsatz seiner Amor-Dei-Lehre den dialektischen Prozeß der Liebe, die sich im anderen verliert und eben dadurch erfüllend gewinnt, als jene Vermittlung, durch welche das Absolute sich mit sich selbst vermittelt und so Totalität des All-Einen erfüllt. Spekulativ entfaltet hat die Liebe Aufbaumomente zum Inhalt, welche die Methode und das Leben der absoluten Idee konstituieren, nämlich »die versöhnte Rückkehr aus einem anderen zu sich selbst« (TWA 14, 155). Das Beisichbleiben im absoluten Anderssein während der Dialektik eines Lebensprozesses, in welchem ein Selbständiges zu sich selbst zu kommen trachtet (Thesis), sich aus Freiheit ganz ins Anderssein entäußert (Antithesis) und gerade dadurch bewährt zu sich selbst findet (Synthesis), hat und behält einen fundamentalen Ausweis im Urphänomen der Liebe. Wie aber steht es mit Eigenart und Rang religiöser Gottesliebe? Darüber gibt jener Passus von Hegels Religionsphilosophie Auskunft, der Liebe und Seligkeit als Hauptformen religiösen Bewußtseins durchmustert. »Die höhere Einigkeit meines Selbstbewußtseins überhaupt mit dem Allgemeinen, die Gewißheit, Sicherheit und das Gefühl dieser Identität ist Liebe, Seligkeit«
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(TWA 16, 127). Seligkeit macht ein Erlösungsgefühl aus, das die Schmerzen der Reue und den Schrecken vor dem numinosen Tremendum abgestreift hat. Darin fühlt sich mein vereinzeltes Selbstbewußtsein zu einer höheren Einigkeit erhoben. Selige Liebe überwindet religiösen Zweifel und ungläubige Ungewißheiten. Reine Gottesliebe macht die Seligkeit, in die Heiligkeit Gottes aufgehoben zu sein, fühlbar und die Identität mit dem ›Ganz-Anderen‹ gewiß. Liebe schließt eine äußerste Gewißheit über die Identität meiner geistigen Existenz mit dem göttlichen Geist auf. Indessen, religiöse Gewißheit bedeutet nicht schon absolute Wahrheit. Und die dem Schein der Sinnlichkeit verhaftete Innigkeit der Liebesempfindung ist nicht höher als die Klarheit des göttlichen Begriffs. Selbstverständlich sind Gottesliebe, Gottesfurcht, Reue, Dankbarkeit gegenüber einer rettenden, soteriologischen Macht echte Gefühle, und notwendig soll Religion in das Herz des Menschen einkehren. Als bloße Form der Gewißheit aber ist auch das religiöse Gefühl neutral gegen den Inhalt. Entgegengesetztes, Gott als das Furchtbarste wie das Gnadenvollste, aber auch Zufälliges, Partikulares können in dieselbe Form gefühlshafter Überzeugung eintreten. Im Gottesgefühl, zuhöchst in der Seligkeit und Freude religiöser Liebesempfindung, ist der Inhalt eben bloß zuständlich, aber nicht gegenständlich. Dessen wahrer Sachverhalt wird erst durch den Geist vermittelt. Erst der Geist bildet den wahren und vollen Gottesgedanken. Also ist die Liebe in ihrer seligen Gewißheit zwar höher als alle Reflexion des unterscheidenden und trennenden Verstandes. Aber der Geist ist höher als die Liebe. Das reine Wunder der Liebe ist der Dialektik des göttlichen Begriffs an Klarheit, Reichweite und Tiefgang unterlegen. Zugespitzt kann das Ende der Religion – analog zum Ende der Kunst – vermeldet werden. Mit der Religion und der Seligkeit der Gottesliebe ist es nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung als Gipfel der Spekulation zu Ende. Wir brauchen sie nicht mehr – wir haben die Wissenschaft des absoluten Geistes. 5. Kapitel: Bewährung von Fichtes religions-philosophischer Gleichordnung der Liebe als Quellgrund und Band im Widerstreit Fichtes Religionslehre ist nicht nur von einer orthodoxen Theologie und Dogmatik angegriffen und öffentlich verrufen worden. Sie konkurriert auch im unausgetragenen Widerstreit mit Schellings später Aufgipfelung und Hegels früher Subordination der Liebe. Nun aber läßt sich Fichtes Religionsphilosophie und ihr Quellgrund der Liebe gegenüber dieser großar-
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tigen Konkurrenz abgrenzen und rechtfertigen. Dabei kommt gegenüber Schelling das besonnene Schauen der Gottesliebe in der religiösen Empfindung zum Zuge. Und gegenüber Hegel kommt eine Gleichordnung von Religion und Philosophie zum Austrag. Dabei wird die religiöse Liebesempfindung gegenüber der schauenden Vernunfterkenntnis weder übernoch untergeordnet, sondern gleichgeordnet in eins gesehen. In diesem Respekt bewährt sich Fichtes Schlußsatz von der Liebe als Quelle aller Gewißheit, Wahrheit und Realität nach Vordersätzen der ungeschriebenen Lehre auch im Widerstreit mit Schellings und Hegels Erhebungen des Amor Dei. Es mag für einen komparativen Überblick genügen, Stellung und Tragweite des Fichteschen Satzes als Bescheid auf philosophische Fragen herauszustellen. Die Grundfrage problematisiert eben den Zusammenhang von Sein und Dasein, von allrealem Inhalt und reflexiver Form absoluten Wissens. »Wie hängt denn nun das, in die Form schlechthin nicht rein eintretende Seyn dennoch mit der Form zusammen?« (GA I/9, 166). Diese Frage erwächst aus dem Befund jenes Widerspruchs, in den sich die obersten Grundsätze über Sein und Reflexion heillos zu verwickeln scheinen. Der Satz vom Dasein des Seins besagt ja: Das in sich geschlossene, absolute, schlechthin einfache und unzerteilte Sein, außer dem nichts ist, ist einzig und allein da in der Lebendigkeit absoluten Wissens außer dem Absoluten. Der Satz der Reflexion besagt: Das Sein ist da in der Form der Reflexion und erscheint damit unter jenen Spaltungsgesetzen, mit denen unser reines Bewußtsein die Welt und Natur zur Erscheinung bringt. Beides stößt auf einen Widerspruch. Einerseits tritt das Sein in die Form reflexiven Wissens ein, sonst würde das Wissen als leere Selbstbespiegelung ins Nichts versinken. Andererseits tritt das Sein zugleich nicht in die Form der Reflexion ein; denn dann wäre das einfach Eine an ihm selbst in die Entzweiung dieser Bewußtseinsform und die unendliche Vielheit seiner Erscheinungen in Raum und Zeit zersplittert. Sind also zwei Bedeutungen von Sein und der Widerspruch von zwei Absoluta ohne inneren Zusammenhang unterstellt? »Antwort: Setze nur statt Wie ein bloßes Daß. Sie hängt schlechthin zusammen: es giebt schlechthin ein solches Band, welches, höher denn alle Reflexion, aus keiner Reflexion quellend, und keiner Reflexion Richterstuhl anerkennend« (GA I/9, 166). Daß es ein Band gibt, welches absolutes Sein und reine Wissensform verbindet, ist faktisch evident. Wie, nach welchem Gesetz dieses Band einer Verbindung mit dem eintretenden Absoluten entsteht, das ist genetisch unbegreiflich. Wohl aber läßt es sich in seinem Verhältnis zur Refle-
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xion bestimmen. Weil das faktisch evidente Band die Reflexionsform des Weltbewußtseins allererst mit dem Lebensursprung reinen Wissens verbindet, überragt es die Reflexion dem Seinsrange und Ursprunge nach. Weil es die Reflexionsform allererst dazu befähigt, sich auf reales Wissen und Sein zu beziehen, untersteht es nicht dem Richterstuhl der Reflexion. Was aber ist das für eine Bewußtseinsart, die Tieferes erschließt als die Verstandesform und die mit dieser mitgeht, ohne deren Spaltungen und Entzweiungen zu unterliegen? Fichtes komprimierte Antwort lautet: »In dieser Begleitung der Reflexion ist dieses Band – Empfindung: und, da es ein Band ist, Liebe, und, da es das Band des reinen Seyns ist und der Reflexion, die Liebe Gottes« (GA I/9, 166). Empfindung meint in diesem Kontext nicht etwa das sinnliche Gefühl empfundener Sinnesdaten, wie etwa die Rotempfindung unseres Augensinnes. Es handelt sich nicht um eine ästhetische, sondern um die Grundbefindlichkeit religiöser Empfindung. Deren Tiefe reicht in die innigste Bindung menschlichen Daseins, ins göttliche Sein als Amor Dei, einer Liebe, mit der Gott sich selbst liebt in uns. »Die Liebe daher ist höher denn alle Vernunft und sie ist selbst die Quelle der Vernunft, und die Wurzel der Realität und die einzige Schöpferin des Lebens, und der Zeit; und ich habe dadurch, E.V. [Ehrwürdige Versammlung] den höchsten realen Gesichtspunkt einer Seyns- und Lebens- und Seligkeitslehre, d.i. der wahren Spekulation, zu welchem wir bis jetzt hinaufstiegen, endlich klar ausgesprochen« (GA I/9, 167-168). Das hat Hegel nicht abgehalten zu verbreiten, der spätere Fichte habe populär über Religion und Liebe geredet ohne jeden spekulativen Wert. Und Schelling ist bei seinem Vorurteil geblieben, Mittelpunkt der Religionslehre Fichtes sei das absolute Bewußtsein, welche den Menschen zum Schöpfer der Welt und Natur macht – Ausdruck des Irreligiösen, alles Argen und Ungöttlichen im Menschen. Unparteiisch angesehen kehrt Fichtes verrufene und böse angeklagte Religionslehre die Anklage um. Das ergibt sich aus der Grundstellung und Gleichordnung von religiöser und philosophischer Wahrheit angesichts seines Gipfelsatzes vom Amor Dei. Hegel ordnet das religiöse Gefühl inniger Gottesliebe und Gottesfurcht der geistigen Helle spekulativer Wissenschaft unter. Schelling setzt den Geist und Hauch der Liebe über den Grund und die Existenz der Vernunftfreiheit. Beide sind vor dem Urteil Fichtes irrige Anordnungen. Vielmehr gilt es, eine Gleichordnung auszumachen. Der Unterschied ist lediglich der: Im Standpunkt religiöser Liebe wird das Wahre, die innige Einheit von Gott und menschlichem Dasein, gelebt, im Stand-
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punkt der Wissenschaft ist diese Wahrheit in den notwendigen Bedingungen ihrer Möglichkeit formal erschaut. Die Wissenschaft steht nicht über der Religion. Sie klärt lediglich den von der Religion auch weltgeschichtlich vorgegebenen göttlichen Wahrheits- und Lebensgrund auf. 4. Abschnitt: Apologien zu zwei verrufenen populären Schriften in ihrem Zusammenhang Schellings vernichtendes Urteil über Fichtes verbesserte Lehre als Vorspiegelung verworrener Grundbegriffe, demagogischer Rhetorik, künstlicher Vorstellungen und einer halbherzigen Religion schlägt auch staatspolitisch und zeitgeschichtlich durch. Fichtes philosophische Ansichten erniedrigten die deutsche Nation und förderten den verheerenden Zustand, welcher der deutschen Nation mit hoher Wahrscheinlichkeit bevorstünde. In einem Brief vom November 1806 aus dem von Kriegsnot verschonten und mit Napoleon verbündeten Bayern schrieb Schelling an Josef Hieronymus Windischmann (1775-1834), Arzt und Professor der Philosophie und Geschichte in Aschaffenburg: »Fichtesche Philosophie, Staatsansicht und halbherzige Religionslehre wäre der Weg zur vollkommenen Niedrigkeit der deutschen Nation in den Zustand, der ihr wahrscheinlich bevorstehe. Was wollte man wohl mit solchen Begriffen und verworrenen künstlichen Vorstellungen noch ausrichten und wirken?« (FG IV 2). Und am 11. Juni 1807 berichtet Schelling an Hegel von seinem Plan, einen zweiten Anti-Fichte zu verfassen, und zwar über die Fichteschen Ansichten vom Leben wie vom Staat. »Denn man kann sagen, daß sein blindes Wehren gegen das Zeitalter der Instinkt ist, der ihm selbst sage, daß er demselben ganz gleich und homogen ist« (FG IV 17). Schon der erste Anti-Fichte hatte Fichtes weltgeschichtliche Diagnose des Zeitalters der vollendeten Sündhaftigkeit gegen ihn selbst verkehrt. »Wir hatten ihm nachgewiesen, daß er das eigentliche Princip der Sünde, die Ichheit, zum Princip der Philosophie gemacht [...]; nun erklärt er eben dieses Zeitalter für das Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit« (W III 620 = SW VII 20). Das bezieht sich auf Fichtes geschichtsphilosophische Schrift Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, vorgetragen im Winter 1804/1805, und erstreckt sich letztlich auch auf die politischen Reden an die deutsche Nation, die erst 1808 veröffentlicht wurden. Die philosophiegeschichtlichen Grundzüge nämlich stellen die politische und historische Analyse unseres Zeitalters in ihre Voraussetzungen, die Epochengliederung eines apriorischen Weltplans,
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ein. Darum konnten Fichtes Reden, sofern und soweit sie isoliert beurteilt und verurteilt wurden, verkannt und mißverstanden werden. Das wiegt darum schwer, weil sowohl die Geschichtslehre der epochalen Grundzüge ebenso wie die politischen Anweisungen der Reden an die Nation Anwendungsdisziplinen sind, in denen der philosophische Geist und seine Freiheit auf das geschichtliche Leben und politische Handeln zur Anwendung kommen. So liegt viel daran, die Wahrheitsansprüche auch dieser populären Schriften im Widerstreit gegen ungerechte Anklagen und gegen verheerende Mißbräuche zu verteidigen. 1. Kapitel: Korrigierender Bericht über die Wirkungsgeschichte der Reden an die deutsche Nation 1807/1808 Eine Apologie Fichteschen Geistes hat vor allem diese politischen Reden gegen vielfältige Anklagen und schändliche Denuntiationen in Schutz zu nehmen. Im Laufe einer verfehlten Wirkungsgeschichte wurde Fichte als Theoretiker des preußischen Nationalismus herausgestellt, als Heros einer Weltkriegsphilosophie im Jahre 1914 ausgerufen, als Vorläufer des völkischen Nationalismus gleichgeschaltet und am Ende als fanatischer Antisemit, der den Holocaust vorgeplant habe, an den Pranger gestellt. Solche Entstellungen sind immer noch im Schwange. Mithin sind vorzüglich jene angezeigten vier Vorurteile zu untersuchen, welche den Redner an die deutsche Nation zum großpreußischen Chauvinisten machten, als geistigen Führer der Weltkriegsbegeisterung anläßlich seines 100. Todestages 1914 beschworen, zum Vorläufer des Nationalsozialismus abstempelten und als radikalen Antisemiten denunzierten, der den Mord an allen Juden in einer Nacht in Vorschlag brachte. Träfe das wirklich zu, dann wäre der Ungeist der Fichteschen Philosophie in seinen Untaten entlarvt, da er hier eben in seiner Anwendung auf die geschichtliche Zeit und auf das politisch-nationale Leben zur Rede steht. Revidiert werden kann zuerst das eingebürgerte, hartnäckige Pauschalurteil, welches die vierzehn Reden, mit denen Fichte im französisch besetzten Berlin unerschrocken die deutsche Nation aufruft, sich durch eine geistige Reform in Besinnung auf ureigene Kräfte vom machtbesessenen Napoleonischen Ungeist zu befreien, als preußisch-nationalistische Proklamation versteht, welche das Ideal des politischen Universalismus ins Deutsch-Nationale ummünzt, die Staatsform der Republik aufgibt und den großpreußischen Nationalismus des Kaiserreiches hervorruft. Dagegen spricht allein
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schon die Stellungnahme einer Zentraluntersuchungskommission zu Mainz aus dem Jahr 1825 im Zuge der Restauration: In den Reden an die deutsche Nation finde ein Hinstreben zur Republik als dem vollkommensten Stande Ausdruck; daher sei sie in die Liste von Schriften und Personen aufzunehmen, die verdächtig seien, demagogische Umtriebe zu befördern.17 Daraufhin ist in Berlin der Neudruck dieser Reden verboten worden. – Von Wilhelm II. ist das markige kaiserliche Wort überliefert: »In meinem Reiche ist für Kerle wie Hegel oder Fichte kein Platz.« Unstreitig wurde Fichte andererseits als Theoretiker des preußischen Nationalstaates gepriesen, etwa durch Heinrich von Treitschke, dessen Traktat Fichte und die nationale Idee, 1865 zwar rhetorisch glanzvoll, philosophisch aber ahnungslos ist. Genauer zugesehen und quellenmäßig belegbar war Fichte niemals Preuße als reiner Preuße. In Der Patriotismus und sein Gegentheil, 1806 hat er niedergelegt, daß jener »dunkle und verworrene Begriff eines besonderen Preußischen Patriotismus eine Ausgeburt der Lüge [...] sey« (GA II/9, 404).18 Fichte zufolge ist Patriotismus überhaupt der Wille, der den Zweck des Daseins des Menschengeschlechts über das ganze Geschlecht verbreitet, ohne daß dadurch die Begriffe ›Nation‹ und ›Vaterland‹ entleert und weggeworfen werden. Zudem hat Fichte, was übersehen zu werden pflegt, die Idee ›Europa‹ – anders als Novalis – vorgedacht. Das wahre Vaterland der Deutschen sei das gemeinsame Europa (nicht etwa ein pangermanisches Großdeutschland). Das christliche Europa sei in seinem Wesen ein gemeinsamer Kulturstaat von Recht und Freiheit, »da die christlichen Europäer im Wesen, alle nur Ein Volk sind, das gemeinsame Europa für das Eine wahre Vaterland anerkennen [...]. Sie suchen persönliche Freiheit, Recht und Gesetz, das allen gleich sey [...]. Sie suchen die Freiheit, nach ihren religiösen und wissenschaftlichen Principien zu denken« (Grundzüge 14. Vortrag; GA I/8, 358). Ferner gehört zur unglückseligen Überlieferungsgeschichte auch, daß und wie Fichte beim Ausbruch des Weltkrieges im August 1914, dem 100jährigen Todesjahr des Redners an die deutsche Nation, als Weltkriegs-
17 Zu diesem Komplex vgl. H. Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland, 1974. – W. H. Schrader: Nation, Weltbürgertum und Synthesis der Geisterwelt, 1990. 18 Vgl. R. Lauth: Der letzte Grund von Fichtes Reden an die deutsche Nation, 1992. – E. Fuchs: Spuren Fichteschen Denkens in der Deutschen Nationalbewegung 18131871, 1996.
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philosoph im Klima bildungsbürgerlicher, kaiserlicher Nationalbegeisterung gefeiert und für den deutschen Opfer- und Siegeswillen beschworen wurde. So tönte die Rostocker Universitätsrede des Historikers Hermann ReinckeBloch Fichte und der deutsche Geist von 1914: In diesem Kriege, dem Ringen um die Weltkultur, herrsche der deutsche Geist Fichtes, ein Geist der Opferbereitschaft, ein Geist zu siegen und zu sterben für die Gesittung der Menschheit. Der Pädagoge und verirrte Philosoph Ernst Bergmann erklärte in Der Erzieher zum Deutschtum, 1915: Das Deutschtum sei nach Fichte als einziger Stamm der verwahrlosten Menschheit zur Veredelung der Bildung und zur Organisation schöpferischer Kräfte fähig; so werde das »bestorganisierte Volke der Erde« das heilige Ringen wider eine Welt von Feinden bestehen und als unerschütterliche Macht über den Europäischen Frieden und Fortschritt walten. Selbst ein Paul Natorp schließt sich als Kulturkriegsideologe in Der Tag der Deutschen, 1915 an Fichtes angeblichen Gedanken vom Kampf des deutschen Volkes für das Ganze der Menschheit in einem Geiste an, sich für ein Unsichtbares aufzuopfern. Schließlich hängt sich auch Werner Sombart in seinem Pamphlet Händler und Helden, 1915 für das heldische Deutsche gegen das händlerisch Englische an Fichte, der die reinigende und erhebende Wirkung des Krieges als Opfergang für Volk und Staat erkannt habe. Und diese nationalistische Fichte-Verfälschung von 1914 konnte nicht nur auf die Vorkriegsrezeption im Geiste der Kaiser-Einheits-Nationalbewegung, etwa im Aufruf von Rudolf Eucken Sammlung der Geister, 1913 zurückgreifen, sie wirkte auch weiter, etwa durch die weitflächig organisierte Fichte-Gesellschaft von 1914, die in die Zeit nach 1918 hineinwirkte und sich in Schlagworten wie ›Volksgemeinschaft‹, ›positive Auslese der Besten des Volkes‹, ›Primat der Tat‹, ›Volkserziehung‹ und ›Gesinnungsgemeinschaft‹, aber auch ›völkische Arbeit der Deutschkämpfer‹ oder ›Weltführung der Deutschen‹ niederschlug: »Fichte unser Führer!«19
19 Belege für diese Quellen sind in den lehr- und perspektivenreichen Abhandlungen zu finden: J. Nordalm: Fichte und der ›Geist von 1914‹, 1999. – K.-M. Kodalle: Der Stellenwert der Historiographie in Fichtes Geschichtsdenken, 1997.
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2. Kapitel: Exkurs. Verteidigungen gegen die Anklagen des Antisemitismus und des Judenmordes Noch unerträglicher ist die schreckliche Simplifizierung, welche den Redner Fichte, insofern er doch den Glauben an den völkischen Geist zur Neugestaltung des deutschen Volkes propagiere, zum Vorgänger des fanatischen Demagogen Hitler stilisierte (so Paul Menzer 1934). Und noch immer zählt man Fichte zu den Vordenkern des Nationalsozialismus, welcher die Idee von Blut, Boden und Rasse ins allgemeine Bewußtsein einpflanzte.20 Dagegen spricht deutlich genug Fichtes 4. Rede. Diese stellt rassische Reinheit als unwichtiges Moment ausdrücklich beiseite und entzieht sich einem biologischen Rassismus vollständig, indem sie ein Volk als Sprachnation zu definieren sucht. Es ist diese Stunde der Reden vom 3. Januar 1808, welche die geistvolle Jüdin Rahel Levin als »meinen einzigen Trost, meine Hoffnung, kurz meinen Reichthum« aufgenommen hat (FG IV 102). Und Hannah Arendt stellt in ihrer berühmten Untersuchung über die Ursprünge totalitärer Herrschaft klar: Im Werke Fichtes sei von völkischen Vorstellungen im Sinne spezifischer Rassenelemente nichts zu finden; Fichte sei zu Unrecht so vielfach für die Entstehung der Rassenideologie verantwortlich gemacht worden.21 Gleichwohl hat sich bis heute die Denunziation durchgehalten, der Antisemit Fichte habe zum Judenmord aufgerufen. Da verweist man auf Fichtes im Gedenken an den Holocaust wirklich fürchterlich klingenden Satz: »Den Juden Bürgerrecht zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei« (GA I/1, 293). Das ist, aus dem Argumentationszusammenhang gerissen, als Dokument dafür ausgestellt worden, daß die staatspolitische Philosophie Fichtes radikal antisemitische Züge trägt, mehr noch, daß sich der völkische Redner als Vorläufer der Nazigreuel, einer ›Nacht der langen Messer‹ und als Wortführer für die Vertilgung und Vertreibung der Juden entlarvt.
20 Vgl. P. Menzer: Deutsche Philosophie als Ausdruck der deutschen Seele, 1934. – Und neuerdings D. Mendlewitsch: Volk und Heil. Vordenker des Nationalsozialismus, 1988. 21 H. Arendt: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, 1962, 256. – R. Pesch: Die politische Philosophie Fichtes und ihre Rezeption im Nationalsozialismus, 1982; diese Studie geht der nationalsozialistischen Umdeutung Fichtes im einzelnen nach.
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Dagegen ist vieles einzuwenden und alles richtigzustellen. Zum einen: dieser verrufene Satz resultiert nicht aus Prinzipien der Wissenschaftslehre, er steht in Fichtes Beytrag zur Berechtigung der Urteile über die Französische Revolution. Diese ist im Winter 1792/93 vor der Aufstellung des philosophischen Systems niedergeschrieben worden. Nun deduziert Fichte in seinen frühen Revolutionsschriften bekanntlich, von der idealen Sache der französischen Freiheitsbewegung bewegt, das unveräußerliche Recht auf Denkfreiheit und deren rechtmäßige Frucht, die Revolution, und zwar unter dem Gesichtspunkt von Staatsordnung und Sittengesetz. In diesem Zusammenhang stellt sich die zeitgenössische ›Judenfrage‹ als Problem eines Staates im Staate. Das betrifft jegliche sich aussondernde Gemeinschaft, etwa auch den Adel oder das Militär, aber auch andere Religionsgemeinschaften. Wie schief Fichte hierbei auch »das auserwählte Volk«, den falschen Gott der »zum Kleinhandel verdammten« Juden charakterisiert, er erblickt in ihrer Heraussonderung eben einen Staat im Staate. Dessen Mitgliedern komme kein Bürgerrecht zu, wohl aber alle Menschenrechte; denn sie sind Menschen. So ist die erschreckende Rede vom Abschneiden und Auswechseln der Köpfe keine Anstiftung zur Ausrottung einer Rasse, sondern eine drastische Metapher für die völlige Umwendung der Ideen des Bewußtseins zum Bürgersinn und allgemeinen Menschenrechten. Dazu gehören in diesem Kontext Fichtes Vordersätze: »Menschenrechte müssen sie haben [...]. Zwinge keinen Juden wider seinen Willen und leide nicht, daß es geschehe, wo du der nächste bist, der es hindern kann; das bist du ihm schlechterdings schuldig« (GA I/1, 293). Zum anderen: daß Fichte in seinem Leben und Handeln selbst diese Maxime befolgt hat, bezeugen etwa seine »grenzenlose Achtung« gegen den jüdischen Philosophen Salomon Maimon (vgl. GA III/2, 282), seinen geistigen Kontakt mit bedeutenden Juden in Berlin, sein rückhaltloses Eintreten für den mißhandelten jüdischen Medizinstudenten Joseph Leyser Brogi als Rektor gegen den Senat der Universität oder die Trauer von Rahel Levin über Fichtes Tod: »Deutschland hat sein eines Auge zugethan [...]. Nun kann jeder Unverstand, Lüge, Irrthum auf den ganzen Grund und Boden der Erde umherwuchern [...]; keiner rottet es mehr aus« (An Varnhagen, 14. Februar 1914).22
22 Vgl. dazu die aufklärenden, neues Material beibringenden Studien von E. Fuchs: Fichtes Stellung zum Judentum, 1990. – H.-J. Becker: Fichtes Idee der Nation und
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Also sind die fortlaufenden Vereinseitigungen und Verdächtigungen von Fichtes Reden maß- und bodenlos. Sie entbehren jeder historischen wie gedanklichen Grundlage. Opportunistisch ausgeschlachtet werden bestimmte Sätze quellenmäßig isoliert, aus ihren geistigen Zusammenhängen und systematischen Fundierungen herausgerissen. Nicht zuletzt ignorieren die schroffen Anklagen und böswilligen Schmähungen den Umstand, daß Fichte seine Reden über die politisch-militärisch-geistige Situation einer Krise der deutschen Nation als Fortsetzung der vorangegangenen Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, der unter großem Beifall aufgenommenen Vorträge vom 4. November 1804 bis 17. März 1805, angekündigt hat. Demnach sind die Reden in den Horizont einer eigenen Geschichtsphilosophie einzuordnen und sogar, was noch weniger bedacht wird, in einen religionsphilosophischen Kontext zu stellen. Fichtes geschichtsphilosophische Konstruktion eines ›Weltplans‹ sieht ja nicht die Weltherrschaft eines Volkes über alle anderen Völker vor. Vielmehr erklärt Fichte: Jede Nation sei Hülle des Göttlichen und stehe unter einem besonderen Gesetz der Entwicklung. Es sei dieses nie ganz zu enthüllende Gesetz, welches den Nationalcharakter bestimmt. »Jenes Gesetz bestimmt durchaus und vollendet das, was man den Nationalcharakter eines Volkes genannt hat; jenes Gesetz der Entwicklung des ursprünglichen und göttlichen« (GA I/10, 201). Daher ist es ein Widerspruch, die Republik von Völkern, die einen Nationalcharakter haben, auf die deutsche Nation zu reduzieren; denn alle sind ein Widerschein des Göttlichen.23 3. Kapitel: Epochale Kennzeichnung unserer Krisenzeit durch den Weltalterentwurf. Vorgaben der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters 1804-1805 Um die weltgeschichtliche Stunde der deutschen Sprachnation, von der die Reden an die deutsche Nation handeln, nicht zu mißdeuten, ist es also unumgänglich, sie in die geschichtsphilosophische Perspektive zurückzustel-
des Judentums, 2000. – H. Traub: J.G. Fichte, der König der Juden spekulativer Vernunft, 2003. 23 I. Radrizzani: Ist Fichtes Modell des Kosmopolitismus pluralistisch?, 1990. Untersucht wird die Tragfähigkeit der Synthese von Nationalismus und Kosmopolitismus, von Patriotismus und Weltbürgertum, und es wird nachgewiesen, daß Fichtes pluralistisches Modell des Kosmopolitismus eine religiöse Grundlage besitzt.
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len, welche Fichtes Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters in den Wintervorträgen 1804 bis 1805 eröffnet hatten. Diese spezielle Aufgabe kann sich darauf konzentrieren, die politischen Reden in einer Zeit der Not und Unfreiheit von Einsichten in den Geist und Ungeist des gegenwärtigen Zeitalters her zu beleuchten. Hierbei bleibt die relativ spät einsetzende Entwicklung des Fichteschen Geschichtsdenkens – von den Berliner Logen-Vorträgen, den sogenannten Briefen an Konstant von 1799/1800 bis zur Grundfrage »Was ist Geschichte überhaupt?« als Grundlage für eine Deduktion des Gegenstandes der Menschheitsgeschichte im 9.-15. Vortrag der Staatslehre 1813 – abgeblendet.24 Ebenfalls beiseite bleibt auch der kontroverse Zusammenhang von geschichtsphilosophischer und religionsgeschichtlicher Deutung des berühmt-berüchtigten ›Weltplans‹, insbesondere das problematische und in der Forschung umstrittene Verhältnis der Konstruktion von fünf Zeitaltern in fünf Geschichtsperioden und einem anderen Schema von zwei Hauptepochen, nämlich der Alten und der Neuen Welt, deren Zeitenwende Jesus bildet, durch welchen die wahre Religion in die Geschichte eintritt.25 Wohl aber verdienen die transzendentale Reflexion auf die apriorischen Grundmomente der Geschichtserkenntnis wie eine kritische Besinnung auf die Grenze philosophischer Geschichtskonstruktion Beachtung. Dadurch sollten Einwände, welche Fichtes Geschichtsauffassung als heillose Vermischung von Spekulation und Empirie abtun, etwa Schleiermachers Rezensionen dieser Schrift, in sich zusammenfallen. Kritisch zugesehen, hat die Geschichtserkenntnis eine apriorische Struktur und ein empirisches Feld. Der Geschichtsschreiber und Historiker ist autonom, sofern und soweit er zeitgeschichtliche Fakten aufsucht, sicherstellt und in ihren Zusammenhängen und Aufeinanderfolgen verständlich macht. Aber er nimmt, sei es thematisch oder unthematisch, Bezug auf Grundfragen der Art »Was ist Geschichte? Was ist ihr Anfang und was ist ihr Ziel? Gibt es Vernunft, Einheit, Vollendung in der fortfließenden geschichtlichen Zeitreihe?« Mithin ist es das Ge-
24 Vgl. dazu die grundlegenden Studien von K. Hammacher: Comment Fichte accède à l’histoire, 1962. – R. Lauth: Der Begriff der Geschichte nach Fichte, 1965. 25 Ein Konkurrenzverhältnis von zwei Schemata in Fichtes Geschichtskonzeption hat W. Metz: Die Weltgeschichte beim späten Fichte, 1990 herausgestellt. – Gegen diese These einer doppelten Geschichtskonzeption hat J. Heinrichs ausgleichend argumentiert: Die Mitte der Zeit als Tiefpunkt einer Parabel. Fichtes Geschichtskonstruktion und Gründzüge des gegenwärtigen Zeitalters, 2003.
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schäft des Historikers, empirisch faktisch die Umstände, Orte, Datierungen, Anlässe und Hintergründe, Täter und Opfer des jeweiligen Geschehnisses fest- und zusammenzustellen. Beruf des philosophischen Gelehrten ist es, Sinn und Ziel der Menschheitsgeschichte und von da die Grundzüge auch unseres Zeitalters apriori einsichtig zu machen. Von dieser Vorklärung aus ist der apriorische Entwurf des Weltplans und damit die Konstellation des gegenwärtigen Zeitalters in Rücksicht auf die geschichtliche Situation von Fichtes Aufruf an die deutsche Nation zu beachten. Niemand kann die Grundzüge eines besonderen Zeitalters erfassen, der nicht einen Einheitsbegriff der Geschichte besitzt, aus dem sich die Vielheit der Epochen herleiten läßt. Dieser Einheitsbegriff beruht auf Fichtes vielzitiertem Grundsatz: »Der Zweck des Erdenlebens der Menschen ist der, daß sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichten« (GA I/8, 198).26 Dieser Satz der Weltgeschichte aus Prinzipien einer Vernunftwissenschaft betrifft die Menschheit in ihrem Gattungsleben, dergestalt, daß die persönliche Geschichte jedes Individuums sich mit der Geschichte aller anderen zur Gemeinsamkeit einer Aufgabe verknüpft. Die Menschheit insgesamt also – und erst dadurch vermittelt die Völker, Nationen und weltgeschichtlichen Individuen – fungiert als Subjekt der Weltgeschichte. Nun fächert sich nach Prinzipien der ungeschriebenen Lehre die materiale Korrelation alles menschlichen Bewußtseins vernunftgemäß fünffach auf, nämlich in die Relation zur Natur (einschließlich der Verhältnisse von Technik und Kultur), in die bürgerlichen Verhältnisse des Rechts und des Staates (einschließlich der von Not- und Vernunftstaat), in die sittlichen Verhältnisse (einschließlich der Abstufung in niedere und höhere Morali-
26 M. Ivaldo: Zur Geschichtserkenntnis der Transzendentalphilosophie, 1994 hat die begrifflichen Mittel, mithilfe derer die Geschichtserkenntnis im Rahmen der transzendentalen Geschichtslehre erfaßt werden kann, ebenso deutlich gemacht wie die unterschiedlichen Bahnen, auf denen empirische und philosophische Geschichtserkennntnis verlaufen. Zudem ist die Mittelstellung Fichtes erhärtet, die sich sowohl gegen eine historisierende Reduktion des philosophischen Geschichtswissens als auch gegen eine spekulative Übermächtigung der empirischen Geschichtswissenschaft wendet. – Die Thesen von K.-M. Kodalle: Der Stellenwert der Historiographie im Kontext des Fichteschen Geschichtsdenkens, 1997 stellen solche Vermittlung in Frage. Fichte mute dem Apriorismus zuviel zu, mit der Folge, daß die konkrete, unberechenbare geschichtliche Freiheit des Individuums abhanden komme. Daher könne Fichte eine überzeugende Aufgabenverteilung zwischen Geschichtsphilosophie und Historiographie nicht liefern.
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tät), in die religiösen und kirchlichen Verhältnisse und schließlich in die der Wissenschaft (einschließlich aller Erziehungseinrichtungen). Wie alle diese Verhältnisse nun eingerichtet sind, daran bemessen sich Zustand, Verfall und Fortschritt der menschlichen Gattung in den geschichtlichen Zeitläufen des Erdenlebens. Dabei sollen die Menschen alle diese Verhältnisse mit Freiheit einrichten. In Fichtes Vernunftsystem ist auch die Geschichtsphilosophie Analyse der Freiheit. Das schließt jede Art von Geschichtsdeterminismus und Prädetermination ebenso aus wie den Gedanken einer organischen Entfaltung, als wäre die Weltgeschichte eine große Pflanze, welche duch die zeitlich-kontinuierliche Entwicklung von selber blühe und welke. Geschichte ist eine Reihe konkreter Freiheitsmöglichkeiten und eine Kette von Aufgaben in der gesellschaftlichen Mitwelt als Auswirkung von Freiheitszentren mit einer sozialen Dimension.27 Mithin ist die Konkretisierung des apriorischen Weltplans der Freiheit anheimgegeben. Die vernunftbestimmte Erscheinung der geschichtlichen Wirklichkeit ist Sache einer Selbstbestimmung unter dem Gebot eines ›historiologischen Soll‹: Soll die Vernunftidee in allen zwischenmenschlichen Verhältnissen faktisch historisch wirklich werden, dann muß unsere unableitbare Freiheit zur Tat schreiten. Dabei ist auf Neufassungen der ungeschriebenen Lehre zu achten. Freiheit kommt nicht mehr schlechthin als absoluter, aus sich selbst lebender Selbstvollzug autarken menschlichen Willens zu Wort, der sich in autonomem Handeln auswirkt, alle Widerstände sukzessive überwindet und alles in gesellschaftlich-geschichtlicher Welt unter das Gesetz seiner freien Selbstbestimmung stellt. Freiheit ist, tiefer gesehen, die Entsprechung zu einem geschichtlich auffordernden Soll. Das Ich und ›Wir‹ sollen sich selbst zu dem machen, was wir sind, nämlich Bild und Ausdruck göttlichen Vernunftlebens. Solches Sichmachen als Manifestation und Äußerung ursprünglicher Freiheit gewinnt eine geschichtliche Dimension, wenn das Zurückkommen auf sich auf solches zurückkommt, was schon aus Freiheit gesetzt und entworfen war. Mithin kann und soll der absolute
27 Zur Erschließung des Zusammenschlusses von gesellschaftlicher Welt und Geschichte vgl. H. Heimsoeth: J. G. Fichtes Aufschließung der gesellschaftsgeschichtlichen Welt, 1962. – Zur transzendentalen Herleitung von Zeitlichkeit, Geschichtlichkeit, Interpersonalität in gehöriger Abhebung gegen die Historie und das Historische vgl. R. Lauth: Der Begriff der Geschichte nach Fichte, 1964/65.
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Vernunftgehalt der Geschichte in die Freiheitsform treten. Unter den Anspruch dieses Soll stellt Fichte den Anspruch der Menschheitsgeschichte. »Diese Freiheit soll in dem Gesammtbewußtseyn der Gattung erscheinen« (GA I/8, 198). Auf diesen Grundzügen beruht die Fünffachheit des Weltplans im Schema eines historiologischen Soll. Soll eine humane Welt aus Freiheit als Ausdruck ewiger Vernunftwerdung im Erdenleben des Menschengeschlechts eingerichtet werden, dann muß es fünf Geschichtsepochen geben können. Notwendig zu denken ist zuerst eine Hauptepoche, in welcher die Vernunft noch ohne emanzipierte Freiheit herrscht. Und soll es zu solcher Emanzipation kommen, dann muß sich die erste Epoche über zwei Perioden ausdehnen. Anfangs nämlich erscheint die Vernunft im Bewußtsein unseres schlichten Gefühls für das Wahre und Rechte. Der paradiesische status naturalis aber ist für Fichte – gegen Rousseaus Auffassung – Welt der Dunkelheit im Schatten der Selbstlosigkeit. Darauf muß eine Periode folgen, in welcher die Vernunft als äußere Autorität erscheint und auf Völker und Menschen Zwang ausübt. Dem erst folgt das Weltalter der Klarheit und Freiheit. Aber auch hier heben sich zwei Perioden voneinander ab. Zuerst blüht die Vernunftwissenschaft auf, und zwar mit dem Einsetzen der Vernunftkritik im Anfange der Neuzeit. Diese Epoche war und ist der Welttag der Philosophie. Erst wenn sich diese wahre Aufklärung einmal durchgesetzt haben sollte, kann das vollendete Ende der Geschichte anfangen. Da kehrt die Menschheit mit Freiheit in ihren integren Anfang zurück. Das wäre das Zeitalter einer Vernunftkunst, d.i. einer Wissenschaft weltumschaffender Praxis. Durch sie werden alle sozialen, rechtlichstaatlichen, sittlichen und religiösen Verhältnisse im Zurückdrängen von Barbarei und Diktatur menschenwürdig nach der Vernunft von Menschenrechten und Menschenpflichten eingerichtet sein. Solches Zeitalter im Durchringen der Freiheit wird nach Fichtes Überzeugung heraufkommen, und mag das Jahrtausende dauern. Nach bisheriger Deduktion folgen vier Epochen im Weltplan einer apriorischen Vernunftgeschichte aufeinander: die Epochen des Vernunftinstinktes, der Vernunftautorität, der Vernunftwissenschaft und der Vernunftkunst. Aber es muß ein fünftes Weltalter geben, eine Zwischen- und Krisenzeit, welche die einander ausschließenden Epochen der Nichtfreiheit und Freiheit miteinander verbindet. Da lebt die Freiheit aus dem Pathos einer Erhebung gegen Zwangsherrschaften. Aber dieser Befreiungswille ist zweideutig. Unmittelbar reißt sich die Menschheit einer halben
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Aufklärung vom blinden Gehorsam gegenüber repressiven Autoritäten los. Mittelbar aber weigert sie sich, fortan überhaupt zu gehorchen, d.h. überhaupt noch auf die Stimme des ›autoritären‹ Vernunftgebotes zu hören. Was so zur Vorherrschaft kommt, ist die formale Freiheit der sich selbst auslassenden Willkür. Der Zeitgeist dieser dritten Mittelperiode spricht sich in der Maxime aus, »durchaus nichts als seyend und bindend gelten zu lassen, als dasjenige, was man verstehe und klärlich begreife« (GA I/8, 209). Auch diese Maxime ist zweideutig. Einerseits klingt sie wie der Wahlspruch der Aufklärung im Aufbruch der Vernunftwissenschaft. Sie scheint Kants Übersetzung des Horazschen ›sapere aude‹: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! zu folgen. Andererseits führt sie gar nicht aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit heraus. Das Richtmaß dessen, was ›man‹ begreift und was ›man‹ sein und gelten läßt, setzt der ›gesunde‹, der nivellierende Menschenverstand fest. Der platte Menschenverstand aber hält alles Übersinnliche, ›Metaphysische‹ seinsmäßig für abstrakt und leer, theoretisch für unausweisbar, praktisch für unerreichbar und sprachlich für sinnlos. Folgerichtig führt auf dem Markte der Meinung ein rücksichtsloser Individualismus das Wort, da ja alles Allgemein-Ideenhafte pseudokritisch verrufen und beseitigt ist. Es ist diese zweideutige Geisteshaltung, in welcher die eigentliche Not des gegenwärtigen Zeitalters wurzelt und welche Fichtes Reden im Vorblick auf die anbrechenden Epoche der freiheitlich wirkenden Vernunft unter den Leitungen einer Vernunftwissenschaft und Vernunftkunst wenden will. 4. Kapitel: Die Reden an die deutsche Nation in ihrer geschichtlichen Zeit. Zur Diagnose und Therapie unserer Epoche »vollendeter Sündhaftigkeit« Der Weltplan Fichtes gibt einen Blick auf den epochalen Charakter des gegenwärtigen Zeitalters frei. Das sei der Krisenzustand »vollendeter Sündhaftigkeit«, beseelt von einer radikalisierten Aufklärung, welche auf die Kraft der Kritik schwört, die sich zu Recht gegen eine durch äußerliche Gewalt aufgezwungene despotische Autorität auflehnt. Das ist heilsgeschichtlich gesprochen sündhaft, sofern es sich auf das Prinzip individueller Selbstsucht und Selbstverwirklichung unter den Maßstab persönlichen Wohlstandes als dem höchsten Gut stellt. Dabei hat solch kümmerliche Weltsicht einer flachen Aufklärung und bornierten Rationalität eine irrationale Rückseite, eine utopische Schwärmerei als Flucht ins Unklare. Aus dieser Farbenmischung von rationaler Aufklärung und irrationalem Utopismus hat Fichte das Ge-
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mälde unserer Mitwelt ausgemalt. In ihm sind Züge der Gedankenlosigkeit, einer uneigentlichen Langeweile, des bösen Spottes und eines schalen Witzes, der denkfaulen Lesegier, der schrankenlosen Meinungsfreiheit, die einer wahren Denkfreiheit spottet, eingezeichnet. Liegt es etwa angesichts von Heideggers Phänomenologie unseres in Gerede und Öffentlichkeit, Neugier und Zerstreuung, Zweideutigkeit und Betriebsamkeit, Verfallen und Entfremdung, Einebnung und Abständigkeit aufgehenden, modernen, selbstsüchtig nivellierten, ins Man führenden, uneigentlichen Dasein (Sein und Zeit §§ 35-38) nicht nahe, unsere Zeit immer noch als Weltalter vollendeter Sündhaftigkeit zu verstehen? Von hier aus kann eine Besinnung auf Fichtes Geschichtsauffassung als Fortschreiten im Bewußtsein der Freiheit durch die Krisenzeit der in Zweideutigkeiten verfallenen Vernunftaufklärung hindurch den Beweggrund von Fichtes Reden an die deutsche Nation in geschichtlicher Krisenzeit beleuchten. Ihr Grund und Zweck liegt nicht darin, in pathetischem, demagogischem Aufruf den preußischen Nationalismus zu erwecken oder völkisch Urkräfte des deutschen ›Urvolkes‹ zu verherrlichen und schon gar nicht in einer antisemitischen Hetze, allen Juden in einer Nacht die Köpfe abzuschneiden. Die eigentlich tragende Absicht dieser Reden besteht darin, Einsicht in die tieferen Ursachen der Niederlage und des Niedergangs eines Volkes zu geben, um das Menschengeschlecht überhaupt vor Herabwürdigung zu wahren, zugleich aber auch, um auf Bedingungen für eine geschichtliche Zukunft hinzuweisen, in welcher die Nöte äußersten Verfallens überwunden sein werden. Der letzte Grund für den Ruin eines Volkes ist eben die Heraufkunft des Ungeistes totaler Selbstsucht des egoistischen Individuums, das gegen die Zwecke der Menschheit gleichgültig geworden ist und im Zuge antiautoritärer Aufklärung einzig und allein um das je eigene Wohlsein besorgt ist. Die sittliche Verderbtheit einer ganzen Nation an Haupt und Gliedern also ist der tiefere Grund ihres geschichtlichen Unterganges. Im selben Atemzug aber wird auch eingedenk des Krisencharakters unserer Übergangsepoche darauf hingewiesen: Dieses Reich der Selbstsucht ist zerstört, da die deutsche Nation unter das Joch einer fremden Gewaltherrschaft geraten ist, die es nicht zuläßt, daß überhaupt noch eigene Zwecke eigenmächtig gefaßt und verfolgt werden können, so daß der Geist der Solidarität stark wird. Darin waltet gleichsam eine ›List der Vernunft‹. Damit ist eine Aussicht eröffnet, wahre Freiheit wiederherzustellen und dem Weltplan zufolge in das Zeitalter beginnender Rechtfertigung einzu-
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treten. Wenn die eigentliche Ursache für den gesellschaftlich-politischen Untergang die sittliche Verderbtheit im Zwielicht einer zweideutigen Aufklärung ist, so ist das sicherste Heilmittel einer nationalen und menschheitlichen Wiedergeburt eine sittliche Erneuerung auf dem Grund und Boden der vollendeten Vernunftwissenschaft und angewendeten Vernunftkunst. Das aber ist die spezifische, weltgeschichtliche Bestimmung der deutschen Nation im Zeitalter der seit Kant vielfältig zur systematischen Vollendung strebenden Philosophie, die Kräfte der Wahrheit zu entwickeln und dadurch die Menschheit umzubilden. Darum erklärt Fichte Erziehung und Bildung zum besten Instrument der politisch-geschichtlichen Wiedergeburt, und dafür ist es bitter nötig, die Bildungsinstitutionen aus Freiheit nach philosophischer Vernunft einzurichten, dergestalt, daß die Paideia die gänzliche Umschaffung des Menschengeschlechts, mit Plato gesprochen: die Umwendung der ganzen Seele zur Sicht der Ideen aus Vernunft, verwirklicht. Da solche Menschenbildung immer nur als nationale Bildung zu verwirklichen ist, hat die einzurichtende nationale Erziehung immer die Menschenbildung zu ihrem Endzweck. Freilich sind Fichtes Anweisungen auch in Betracht der Bildung und Erziehung in die Grauzone pathetisch-rhetorischer Ausschweifungen verwiesen worden. Seine Erziehungsmaximen beseitigten wahre Freiheit in jedem sinnvollen Verstande und beanspruchten Erziehung als terroristisches Zwangssystem. 28 Vorurteilsfrei gesehen, proklamiert Fichte ein Erziehungskonzept, welches eindeutig zum Ziel hat, das lebendige Gefühl der Liebe zu einer sittlichen Weltordnung einzupflanzen, da die Selbstsucht wie welkes Laub abfalle und der Egoismus des Individuums ausgewurzelt werde. Freilich bleiben bei solcher Einbeziehung der geschichtsphilosophischen und religionsphilosophischen Zusammenhänge andere, vielleicht bedenkliche Züge abgeblendet. Das betrifft insbesondere den sprachphilosophischen und rhetorischen Problemkomplex des ›völkischen‹ Sendungsbewußtseins Fichtes. Dabei sollte apologetisch wenigstens angemerkt werden: Daß die deutsche Sprachnation als Urvolk Mittel- und Westeuropas mit einer lebendigen, unversehrten Sprache, einer Ursprache wie das Griechische ohne Bruch seiner geistigen Sinn- und Anschauungstradition im Unterschied zu fremden Zivilisationen mit einer toten (neulateinischen) Sprache und einer
28 Diese Kritik hat B. Willms: Die totale Freiheit. Politische Philosophie, 1967, 155 vorgetragen.
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entfremdeten Bildung existiert, hat wohl eine Spitze gegen das von Frankreich beanspruchte Kulturmonopol, aber es dient nicht als Argument zur Niederdrückung unterlegener Kulturen. Es weist vielmehr allein auf eine weltgeschichtliche Stunde und den historischen Auftrag des deutschen philosophischen Geistes hin. So denunziert Fichte auch nicht etwa die Fremdwörter ›Humanität‹, ›Liberalität‹, ›Popularität‹ in ihrem Wesensgehalt, er verwahrt ihren Sinn vielmehr gegen eine Aushöhlung, Entleerung, Entwürdigung, und zwar aus weltbürgerlicher Verantwortung.29 Der polemischen These, in den politischen Reden gehe Fichtes Kosmopolitismus und Patriotismus in eine Vergötzung des Deutschtums bei Abschätzung der romanischen Kulturwelt über, steht die schon von Friedrich Meinecke vertretene Antithese gegenüber, Fichtes Patriotismus sei stets weltbürgerlich fundiert und die von ihm geforderte Nationalbildung ziele auf eine höchste Menschenbildung überhaupt. So vereinigt der wahre Patriotismus Vaterlandsliebe und Weltbürgersinn unter völligem Ausschluß eines jeglichen fanatischen Rassismus. Vom wahren Patrioten wird erklärt: »Vaterlandsliebe ist seine That, Weltbürgertum ist sein Gedanke; die erste die Erscheinung, die zweite der innere Geist dieser Erscheinung, das Unsichtbare in dem Sichtbaren« (Briefe an Konstant; GA I/8, 450). Werden nun solche Korrekturen der immer noch vereinseitigenden und entstellenden Auslegungen von Fichtes Reden an die deutsche Nation zur Kenntnis genommen, dann sollte sich die Frage stellen, ob eine solche Rückbesinnung nicht auch für unser krisengeschütteltes Zeitalter notwendend sei. Ist nicht unsere Welteinstellung entschieden dogmatisch-wissenschaftsgläubig, utilitaristisch-pragmatistisch, individualistisch-eudämonistisch,
29 Zu diesem Problemkomplex vgl. vorzüglich P. Oesterreich: Politische Philosophie und Demagogie, 1990; hier wird Fichtes Rhetorikkonzept als Versuch angesehen, die Niederlage der spekulativen deutschen Philosophie mit der politisch-militärischen Katastrophe Preußens zu verbinden und in einen gemeinsamen geistigen und sprachlich-kulturellen Sieg zu verwandeln. Dabei bewegten sich die Reden im Hell-Dunkel genialer Philosophie und unheilvoller Demagogie. – J. Heinrichs: Nationalsprache und Sprachnation. Zur Gegenwartsbedeutung von Fichtes Reden an die deutsche Nation, 1990; hier wird der Begriff der Nationalsprache in seiner Begründungsfunktion für den sozialphilosophischen Begriff der Sprachnation untersucht, gerade auch in seiner Relevanz für unser gegenwärtiges Zeitalter der Sprachzerstörung durch unnötigen Fremdwörtergebrauch und ein substanzloses, pseudogeistreiches Gerede, das nicht harmlos, sondern denk- und lebenszerstörerisch ist.
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skeptisch-nihilistisch geprägt? Herrschen nicht weithin Überzeugungen einer Naturvergötzung, des Immoralismus, der Rechtsbeugung, der Religionsabkehr und einer empiristisch-flachen Metaphysikfeindlichkeit vor? Täte mithin nicht eine Besinnung not, welche die fünffache Einheit unseres Verhältnisses zu Natur, Recht, Sittlichkeit, Religion und Wissenschaft nach Gesetzen und Grundsätzen einer vollendeten Vernunft- und Freiheitswissenschaft im Ringen um die wahre ›Weltanschauung‹ ins Offene zu bringen.30 Steht es so, dann zeichnet sich die Bedeutung der Fichteschen Philosophie gerade im Stadium ihrer systematischen Vollendung ab. Sie vermag es, einem entfremdeten Zeitalter wieder Halt und Orientierung zu geben, gesetzt, ihre Grundlegung, Entfaltung und Anwendbarkeit sei haltbar, in sich stimmig und geeignet, die Welt ins Rechte zu verändern.
2. Hauptstück Das vollendete System der Wissenschaftslehre: Einleitung – Grundlegung – Ausfaltung. Nachkonstruktion der ungeschriebenen Lehre Die Wahrheit philosophischer Prinzipienforschung im konkurrierenden Widerstreit des Hochidealismus hat sich am Kriterium einer vollständig umfassenden, tragfähigen Systemgründung und Systementfaltung zu erweisen. Fichte hat für deren Demonstration einen dreifachen Vorlesungszyklus vorgesehen und entwickelt. Er beginnt mit Einleitungen, welche zu einer gründlichen philosophischen Ansicht der Dinge hinführen und zu deren Selbstkonstruktion anleiten. Das hat methodisch zum Ziel, unser natürliches Bewußtsein zu einem philosophischen umzuschaffen. Und es nimmt historisch zum Anlaß, philosophisch vorgebildete, aber unzureichende Vorstellungen in den wahren Standpunkt einer Vernunftwissenschaft einzuüben. Erst wenn dieser Zugang gebahnt und der wahre Begriff
30 Vgl. dazu R. Lauth: Die Bedeutung der Fichteschen Philosophie für die Gegenwart, 1963. Unsere Gegenwart sei gezeichnet durch eine Krise der Einzelwissenschaften, die Untiefe ›wissenschaftlicher‹ Weltbilder, den Rückfall in Dogmatismus bei Aufkündigung des Systemanspruchs. Verwirrt sei unser persönliches, gesellschaftliches und religiöses Leben in einem Jahrhundert, das eine geistige Orientierung verloren habe. Von Kommunismus, Nationalismus, Positivismus überflutet, taumle es in immer neue politische Umwälzungen und Katastrophen hinein.
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Teil III: Fichte
der Philosophie als Wissenschaft reinen Wissens gewonnen ist, kann eine Grundlegung zur Einsicht gebracht werden. Diese soll das Fundament für ein System legen, das die gesamte Vernunftwissenschaft trägt. Das erfordert eine Forschung, die immer reiner und klarer in den Ersten Ursprung und Anfangsgrund des reinen Wissens, in das Leben und Licht der absoluten Subjektivität, eindringt und immer subtiler und kohärenter die Folge der Gesetze entwickelt, unter welchen das Wissen in den Formen und Schemata des Ich theoretisch die Sinnenwelt objektiviert und praktisch die übersinnliche Welt projiziert. Und das System ist vollständig ausgefaltet, wenn sich einheitlich alle speziellen Vernunftwissenschaften, eben die philosophische Lehre der Natur, des Rechts, der Sittlichkeit, der Religion und der Wissenschaft als integrale Teile der gesamten Wissenschaftslehre in genere erweisen. Solche Dreiteilung von Einleitung, Grundlegung und Ausfaltung hat sich in allen Perioden der Systemdarstellung durchgehalten. Sie kann auf der Höhe der ungeschriebenen Lehre in ihrer reifsten Form nachkonstruiert werden. Dafür sind für die beiden Aufgaben einer methodischen Hinführung zwei Fassungen der oftmals vorgetragenen Tatsachen des Bewußtseins von 1810/1811 und von 1813 heranzuziehen, die in gewisser Weise mit Hegels Phänomenologie des Geistes konkurrieren. Für die historische Anknüpfung bietet sich hier Spinozas All-Einheitslehre und nicht mehr ausschließlich Kants Vernunftkritik an. Solche Anknüpfung tragen die Einleitungsvorlesungen der Königsberger Wissenschaftslehre 1807 sowie der Wissenschaftslehre 1812 vor. Die Aufgabe einer Grundlegung sodann wird in einem Aufsteigen zum Prinzip der Wahrheit auf der vierstufigen Leiter idealistischer und realistischer Standpunkte durchgeführt und in einem Absteigen dargestellt, welches die fünffache Unendlichkeit der Erscheinungswelt und unserer Weltansichten schrittweise einsichtig macht. Solcher Aufbau einer Wahrheitsund Erscheinungslehre ist wohl am konsequentesten im zweiten Vortragszyklus von 1804 ausgearbeitet worden. Deren Abschluß eröffnet die Aussicht auf eine einheitliche Ausfaltung der speziellen Vernunftwissenschaften in der Fünffachheit ihrer Teilgebiete. Das Gesetz ihrer Durchordnung hat Fichte in seiner Gottes-, Sitten- und Rechtslehre von 1805 entdeckt und in einer Teleologie des Sollens expliziert. Diese Restituierung der Gesamtkonzeption von Fichtes ungeschriebener Lehre in ihrer Systemerfüllung kann nicht den Anspruch erheben, der Totalansicht der Fichteschen Philosophie und dem ›ganzen Fichte‹ voll gerecht
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zu werden. Zur Gesamtkonzeption und Zielvorstellung seines philosophischen Wirkens gehört unübersehbar und ganz entscheidend der Kreisgang, der vom Leben zur Philosophie übergeht, um am Ende von der Philosophie mithilfe von Anwendungswissenschaften zum Leben zurückzukehren. Diese Programm erfüllt die Wissenschaftslehre als ›angewandte Philosophie‹. So wird nicht zuletzt der philosophische Begriff der Geschichtlichkeit auf die Faktizität des geschichtlich lebenden Menschengeschlechts angewendet, oder es wird der apriorische Rechtsbegriff zur Anwendung auf positives Recht und positive Rechtszustände gebracht. Nicht zuletzt erfüllt sich solche Vermittlung und Applikation von philosophischem Wissen und Leben in der pädagogischen Anwendung auf die Praxis der Bildung und Erziehung. Darum sind Fragen nach dem Wesen und den Obliegenheiten des Gelehrten ein Schlüsselthema für die Gesamtkonzeption der Fichteschen Philosophie.31 Hier dagegen stehen vorerst die drei Teile der Einleitung, Grundlegung und ausfaltenden Durchordnung im System der Vernunftwissenschaft auf dem Prüfstand, und zwar in der Phase der ungeschriebenen Lehre im Blick auf die Konkurrenz mit den wirkungsgeschichtlich erfolgreicheren Konstruktionen Schellings und Hegels. Wie es mit der geschichtlichen Applikation auf die faktische geistige Situation unseres Zeitalters bestellt ist, mag sich am Ende herausstellen. 1. Abschnitt: Einleitende Hinführungen : faktische Phänomenologie – genetische Prolegomena Die immer weiter zur Vollendung gebrachte und rein abgeschlossene Darstellung der Philosophie als Wissenschaftslehre umfaßt also drei integrale Bestandteile, außer der Grundlegung und Explikation der Prinzipien auch
31 Den Begriff der ›angewandten Wissenschaftslehre‹ hat R. Lauth: Zur Idee der Transzendentalphilosophie, 1965, Teil 3, 73-124 für Fichtes Gesamtidee der Philosophie zum Einsatz gebracht und programmatisch ausgeführt. – Ähnlich umfassend ist das kühne, zur Diskussion herausfordernde Projekt einer Gesamteinsicht, welche neben der Welterschließung des transzendentalen Systems eine neu zu entdeckende, gleichberechtigte Dimension der Popularphilosophie zur Geltung bringt sowie eine Metaphilosophie, welche Idee und Kunst der Philosophie reflektiert – mit dem Schwergewicht auf einer rhetorischen Rekonstruktion von Fichtes angewandter Philosophie: P. L. Oesterreich/H. Traub: Der ganze Fichte. Die populäre, wissenschaftliche und metaphilosophische Erschließung der Welt, 2006.
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gehörige Einleitungen. Daher sind zuerst im Hinblick auf die von Fichte ausgeprägten Einleitungen in die Philosophie und in die rechte Einstellung unseres philosophischen Bewußtseins zwei Gattungen zu unterscheiden. Es gibt selbständige Einleitungen der Spätzeit, welche in die Tatsachen des Bewußtseins einführen, mit dem Vorbehalt einer bloß faktischen Erscheinungslehre. Das sind eben Einübungen, welche ein vorphilosophisches Bewußtsein für die philosophische Aufgabe einer Wahrheitslehre vorschulen. Dagegen führen Einleitungen innerhalb der Systementfaltung weiter. Sie bringen das Wissen nicht nur zur faktischen Evidenz von der Art: Das Sehen des Sehens habe ich vollzogen, die Unwandelbarkeit des reinen absoluten Wissens sehe ich ein – das ist mir unmittelbar einleuchtend und evident und damit gut. Eine genetisierende Einleitung führt, weiter auffordernd, dazu, solch faktische zur genetischen Evidenz zu vertiefen. Das soll die Sicht unseres geistigen Auges verändern. Das blickt jetzt nicht mehr bloß auf das Daßsein einer evidenten Bewußtseinstatsache, sondern wendet sich dem Wassein, dem Entstehungsgrund und Wissensgesetz der aufgefundenen Tatsache zu. Und darin liegt nach den lichtvollen Prolegomena der zentralen Fassung der W.L. 1804=II die Differenz der Wissenschaftslehre zu allen anderen Philosophien, welche ihrerseits darauf aus sind, Wahrheit zu ergründen. »Und dadurch haben wir den tiefsten charakteristischen Unterschied der W.L. von allen anderen Philosophien, und insbesondere auch von iher nächsten, der Kantischen, angegeben« (3. Vortrag; GA II/8, 42). – »Kants Evidenz ist faktisch, wir selber stehen dermalen gleichfalls noch in der Fakticität, und, setze ich hinzu, es ist überall in der Welt der Wissenschaften, ausser in der W.L., gar keine andere Evidenz anzutreffen, als die faktische; nämlich in den ersten Principien« (GA II/8, 46). Die ersten Prinzipien sind nun nicht mehr unmittelbar eingeführt als Triade der obersten Grundsätze des schlechthin setzenden, entgegensetzenden, in sich zusammensetzenden Ich. Sie legen den Grund und Boden des sich als Dasein des Absoluten wissenden absoluten Wissens. Darum führt der Denkweg einer wahren Prizipienlehre nicht mehr von Kant zu Hegel, sondern von Spinoza zu Fichte. Mithin dienen die neuen Einleitungen dazu, tiefer in die Prinzipienforschung einzudringen als alle Philosophie von Plato bis Kant, von dem Verschlimmbesser der Transzendentalphilosophie und Wissenschaftslehre nicht zu reden.
1. Abschnitt: Einleitende Hinführungen
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1. Kapitel: Zur methodischen Funktion von Fichtes historisch-faktischer Phänomenologie des Geistes (Die Tatsachen des Bewußtseins) Es gibt wohl kein Werk Fichtes, das Hegels Phänomenologie des Geistes so nahe ist wie der erste der Vortragszyklen Die Tatsachen des Bewußtseins als Lehre von den Erscheinungen des absoluten Wissens zur Einleitung und Einübung in die philosophische Wissenschaft. Er wurde im Winterhalbjahr 1810/1811 vorgetragen und 1817 bei Cotta gedruckt, drei Jahre nach Fichtes Tod. Dieser Sachverhalt widerlegt die geläufige Ansicht, Fichtes Wissenschaftlehre fange unmittelbar mit einer intellektuellen Anschauung an, während allein Hegels Phänomenologie den Nachweis liefere, daß und wie eine Erhebung vom vorwissenschaftlichen Bewußtsein zum absoluten Wissen möglich und dialektisch notwendig sei. Das sei – gegenüber der isolierten Stellung, welche Fichte und Schelling der Philosophie angewiesen hätten – das Verdienst von Hegels Phänomenologie. Diese enthalte daher nicht nur eine Einleitung in die Philosophie oder eine psychologische Begründung derselben, sie zeige, daß und wie das Bewußtsein des Einzelnen und der Geist der Menschheit durch die Stufen des bloßen Bewußtseins, des Selbstbewußtseins, der Vernunft, des sittlichen Geistes und der Religion hindurchgehen müssen, um sich auf den Standpunkt des absoluten Wissens zu erheben.32 Freilich bezieht sich Fichtes Erscheinungslehre mit keinem Wort auf Hegels gewaltiges Frühwerk von 1806. Seine polemische Gegenstellung ist gegen andere gerichtet. Namentlich, wenn auch beiläufig, behandelt Fichte drei Mißdeutungen des erscheinenden Wissens in seinem Erscheinen, nämlich den Bewußtseinsstand eines dogmatischen Materialismus, eines egoistischindividualistischen Idealismus und natürlich den Mißstand der Naturphilosophen. Zumal die Reduktion der Wissenschaftslehre auf ein Reflektiersystem durch die Naturphilosophie Schellingscher Prägung wird abgewiesen. »Ihr Eifer entbrennt eigentlich dagegen, daß, da wir die Natur nicht als Absolutes wollen gelten lassen, wir drum das Ich zu demselben machten; darin aber irren sie sich« (TB, 5. Kap.; GA II/12, 81). Obwohl also die Konkurrenz von Hegels Phänomenologie nicht im Visier steht, sollte ein unscheinbarer Umstand doch vermerkt werden. Name und Sache einer Phänomenologie
32 Vgl. J. E. Erdmann: Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neueren Philosophie, 1834-1853, Bd. 7, 413ff.
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Teil III: Fichte
des reinen Wissens sind von Fichte vor dem Erscheinen von Hegels hypertroph ausgewachsener Einleitung geprägt worden. Es ist die W.L. 1804-II, welche den zweiten Teil der Vernunftwissenschaft als »Phänomenologie« in den Gesamtbau der Wahrheits- und Erscheinungslehre einordnet (13. Vorl.; GA II/8, 206). Nun aber ist bei Fichtes Einrichtung einer Phänomenologie des Bewußtseins eine gravierende, gleichwohl aber zumeist übersehene Differenz zu beachten. Fichte stellt eine Phänomenologie des geistigen Lebens zweifach dar, einmal als Wissenschaftslehre in specie, das andere Mal als historische Phänomenologie, eben als Einleitung und Propädeutik der Wissenschaft. Sie macht historisch-faktisch mit jenen feststehenden Tatsachen des Bewußtseins bekannt, welche die Wissenschaft genetisch herzuleiten hat.33 Fichte hat die bloß hinführende Funktion seiner historischen Phänomenologie deutlich genug kenntlich gemacht. Sie ist Phänomenologie dergestalt, daß das Phänomen, das sie beschreibt, beobachtet und diskutiert, nichts anderes als das lebendige, energisch tätige Bewußtsein ist. Dabei kommt mit Hegels Phänomenologie die Aufgabe überein, den Gesamtprozeß des erscheinenden Wissens zu durchlaufen und methodisch vor Augen zu stellen. Das lehrt, das gesamte Bewußtseinsphänomen zu sehen, indem nicht einzelne Erkenntnisvermögen und Handlungskräfte unverbunden nebeneinander aufgeführt, sondern in ihrem sich notwendig entwickelnden, tatsächlichen Zusammenhang dargestellt werden. Daher lautet ihre Methodenregel: »Das Bewußtseyn nicht fassen als eine Sammlung abgerissener Phänomene, sondern als Ein in sich selbst zusammenhängendes Phänomen« (GA II/12, 89). Demzufolge gibt es für die formale Darstellung des Phänomenzusammenhanges eine gewisse Vollendung der Phänomenologie als methodisches Kunstwerk. Aber das bleibt vorwissenschaftlich, eben bloß historisch-faktisch. »In diesem faktischen Wissen ist es Thatsache, daß das Wissen ist; es ist, denn ich weiß es eben, daß es ist und damit gut« (TB 1813; NW I 404). Ich weiß eben unzweifelhaft, daß ich die sich sinnlich bekundenden Dinge als außer mir bestehend wahrnehme. Ich weiß ebenso sicher, daß ich als leiblich organisiertes Individuum mich zur Natur und zu
33 Den besten Überblick über die Tatsachen des Bewußtseins in einem System, das ausgehend vom Leben zur Vernunftwissenschaft hinleitet, um in Anwendung der Wissenschaft auf das Leben zum Leben zurückzukehren, bietet H. G. von Manz: Die Funktion der ›Tatsachen des Bewußtseins‹ im Blick auf die Wissenschaftlehre, 2001.
1. Abschnitt: Einleitende Hinführungen
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anderen Individuen verhalte. Ich bin mir als freies Vernunftwesen des Faktums bewußt, vom Sittengesetz genötigt zu sein, auch wenn ich die Funktion der intellektuellen Anschauung für die Entstehung eines solchen Bewußtseins nicht einsehe. Auf dem Stande bloßer Faktizität bleibt die vollständige Synthesis des Bewußtseinsphänomens, so gut geordnet, so scharf und genau die Beobachtung und Beschreibung auch sei, lediglich Einleitung, Vorübung, Werkzeug und Organon für den Aufbau der eigentlichen Wissenschaft. Diese erst liefert die genetische Durchklärung des ganzen Wissenszusammenhanges von seinem Einheits- und Disjunktionsprinzip aus. Also steht eine faktische Phänomenologie unter dem Vorbehalt, nützliche, aber nicht unerläßliche Hinführung zu sein; denn sie verfährt eben nicht genetisch, sondern historisch. Dabei meint ›historisch‹ nicht: bezeugt durch geschichtliche Zeugnisse und verwertbare Quellen, sondern bezeugt durch das Zeugnis des Bewußtseins. Daher geht Fichtes historische Phänomenologie auch nicht auf geschichtliche Bewußtseinspositionen ein wie Hegels geistesgeschichtlich ausladende Phänomenologie, die auf der Stufe des Selbstbewußtseins zum Exempel Stoizismus und Skeptizismus, auf der Stufe des Geistes den Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben heranzieht. Fichtes faktische Phänomenologie ist nicht mehr und nicht weniger als Einübung des natürlichen Bewußtseins in die philosophische Grundstellung der tranzendentalen Reflexion. Zumal die Einleitung von 1810/1811 hat diese didaktische Absicht. Wie die Erste Einleitung von 1797 rechnet sie mit keiner philosophischen Vorbildung des Hörerkreises, sondern geht vom dogmatischen Seinsverständnis unseres durchschnittlichen Bewußtseins aus. Darum beginnt sie beim untersten Faktum, der sinnlichen Wahrnehmung äußerer Dinge. So beginnt ja auch Hegels Phänomenologie mit der Selbstwiderlegung unserer sinnlichen Gewißheiten, in welcher Hegel freilich voreilig das zeithafte Jetzt und das räumliche Hier einmischt. Zugleich aber ist eine differenzierte Einübung der Bewußtseinstatsachen in Fichtes Einleitungen nicht zu übersehen. In der einleitenden Tatsachen-Phänomenologie von 1813 nämlich ist die didaktische Ausgangssituation anders. Da rechnet der Wissenschaftslehrer wie bei der Zweiten Einleitung 1797 mit einem Hörerkreis, der durch die vorangegangenen Vorträge der Transzendentalen Logik schon philosophisch eingestellt worden ist, nämlich eingeübt in ein Sehen des Sehens, ins Sichverstehen des Verstandes. Diese Vorlesungen Fichtes über das Verhältnis der Logik zur Philosopie bieten eigentlich keine thematische Behandlung oder Vertiefung der traditionellen, formalen Logik als
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Teil III: Fichte
Regellehre von Begriff, Urteil und Schluß. Sie schärfen eine Kritik der dogmatischen Voraussetzungen des Denkens als Vermögen der Begriffe ein. Fichtes Logik ist daher nicht wie Hegels Onto-Theologie Fundament des Systems, sondern eine eigene Vorbereitung und Einleitung in das System der Vernunftwissenschaft. Darum beginnt die Einleitung von 1813 mit der Tatsache eines Sichverstehens der Erscheinung, und sie beobachtet dieses Phänomen als Darstellung des Absoluten wie als Sichverstehen im Begriff, um von da faktisch die Spaltung in die niedere Erkenntnis (eines Systems der Iche in ihrer Vereinigung in der Sinnenwelt) und einer höheren Erkenntnis (der sittlichen Welt und des göttlichen Lebensgrundes) beschreibend bekanntzumachen. Die Phänomenologie von 1810/1811 dagegen beobachtet und deskribiert das Bewußtseinsleben fortschreitend von der Gebundenheit äußerer Wahrnehmung zum Bewußtsein sittlicher Freiheit, von der Einbildungskraft der Dinge zum intelligierten Bild Gottes, vom leibhaften Einzel-Ich zum System der Iche, vom untersten, dogmatischen bis zum höchsten, transzendentalen Verstehen von Sein. 2. Kapitel: Feststellung von Hauptphänomenen absoluten Wissens in Fichtes faktischer Phänomenologie (Tatsachen des Bewußtseins 1810/1811 3. Hauptabschnitt 4. Kapitel) Wie es faktisch phänomenologisch mit absolutem Sein und absolutem Wissen steht, kommt auf der höchsten Stufe der vorbereitenden Feststellung und Ordnung der Bewußtseinstatsachen zur Sprache. Und an diesem Punkt wird auch die endgültige Differenz von Fichtes und Hegels Systemaufbau noch einmal deutlich. Sicherlich wirkt Fichtes Phänomenologie gegenüber Hegels überreich entwickelter und mit einer Fülle geschichtlicher Entwicklungsphasen des Geistes versehener Erscheinungslehre des Geistes streng und nüchtern (vgl. W. Wundt), wodurch diese sich freilich ein zweideutiges Aussehen gibt. Bis zur Stufe der Vernunft bietet sie eine Analyse des Bewußtseins und einen transzendentalen Beweis des sich bildenden Wissens, danach liefert sie Deutungen geschichtlicher Gestalten als Belege, welche die Heraufkunft des absoluten Wissens historisch rechtfertigen (vgl. R. Haym). Fichte dagegen stellt vieles von dem, was Hegel ebenso geistvoll wie konfus
1. Abschnitt: Einleitende Hinführungen
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in seine Phänomenologie einordnet, in seinen Ausfaltungen von Recht, Moralität und Religion dar.34 Hegels methodischem Anspruch vergleichbar aber steigt auch Fichtes Phänomenologie nicht beliebig, sondern zwangsläufig bis zum höchsten Punkt auf; denn die Beobachtung und Aufklärung eines früheren Faktums führt unausweichlich zur Annahme eines späteren, höheren, reineren Bewußtseinsphänomens. Der Durchgang unseres energisch tätigen Bewußtseins, unseres Lebens, zum höchsten Seins- und Selbstverständnis verläuft in drei Hauptphasen. Auf der untersten und ersten Stufe wird unser theoretisches Bewußtsein der Sinnenwelt (im Wahrnehmen der Dinge, Einbilden des Bildes und im Zeitbilden des Erinnerns) zusammenhängend deskribiert. Auf der zweiten, höheren Stufe werden die Tatsachen unseres praktischen Triebbewußtseins in objektiver Weltvorstellung (in drei Hauptstücken als ein System von Ichen, als ein System von organisierten Trieben und als die Eine Sinnenwelt) zusammenhängend beschrieben. Auf der dritten und höchsten Stufe ist die Selbsterfahrung des Bewußtseins zum Phänomenbereich der moralisch-religiösen Anschauung der sittlichen Welt und zum intelligiblen Bild Gottes aufgestiegen. Dieser Stufe ist die Verfassung des absoluten Wissens als Resultat eines phänomenologischen Aufstiegs zu entnehmen. Aufschluß darüber gibt der Schlußabschnitt. Er erörtert den Endpunkt dieser eigentümlichen Erfahrung unseres Bewußtseins, den wir immer noch faktisch in uns selbst finden. Er wird im 3. Hauptabschnitt erörtert und trägt die Überschrift »Die Anschauung Gottes als Princip des Sittengesetzes oder des Endzwecks, und dieser als Äußerung des erstern« (GA II/12, 128-133). Diese letzte Feststellung geht von einer eingesehenen Tatsache des Bewußtseins, nämlich vom Sittengesetz als Endzweck des Lebens auf der Stufe des moralischen Nexus der individuellen Iche aus. »Wir haben gesehen, das Leben, der Form nach, d.i. als bloße innere Selbstbestimmung und Selbstthätigkeit, sey keinesweges absolut, sondern es sey um eines andern willen, damit nemlich der Endzweck angeschaut werde« (GA II/12, 128). Leben ist hier immer der Name für die Form des Bewußtseins, die, absolviert vom Bewußtseinsinhalt, unmittelbarer, in sich selbstständiger geistiger Lebensvollzug ist. Unter die Erscheinungsformen des Einen Lebens gehört das individuelle Ich im Zustand unbegrenzter Freiheit und
34 Vgl. M. Wundt: Die Wissenschaftslehre als Phänomenologie des Geistes. In: ders., Fichte-Forschungen 1929, 226-235. – R. Haym: Hegel und seine Zeit, 1857.
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Selbstbestimmung. Die schrankenlose Selbstbestimmung und rücksichtslose Selbstverwirklichung des eigenen, individuellen Selbst gilt in der Phase eines bindungslosen Immoralismus als absolut. Sie wird um ihrer selbst und nicht um eines anderen willen ausgelebt. Aber bereits eine faktische Phänomenologie kommt zu höheren Einsichten. Als individuelles Ich befinde ich mich ja nicht isoliert und auch nicht bloß in einem physischen, sondern in einem moralischen Nexus zu anderen individuierten Ichen. Dieser Nexus, die Verbindung zwischen der Sichbestimmung des einen individuellen Ich und der Bestimmung eines anderen kommt als Anspruch eines Sollens zum Bewußtsein. Jeder Einzelne soll seine schrankenlose Freiheit im Bewußtsein der Freiheit des anderen beschränken. »Er soll zufolge jenes Bewußtseins seine ohne allen Zweifel vorhandene Freiheit durch eigene Freiheit beschränken« (GA II/12, 96). Faktisch kommt das Bewußtsein auf, daß jeder Einzelne Glied einer sittlichen Weltordnung ist und seine Individualität und Einzigartigkeit gar nicht in körperhaft-materiellen Eigenheiten (der Aristotelischen materia signata) und selbst nicht im unvertretbaren Standpunkt der eigenen theoretischen Weltansicht (Leibniz’ point de vue), sondern darin besteht, inmitten einer moralischen Weltordnung seine ganz bestimmte, keinem anderen zukommende Aufgabe sittlichen und gesellschaftlichen Handelns zu haben. So eingesehen ist das Leben der Form nach nicht ziel- und sinnlos. Es hat einen Endzweck, nämlich die Erfüllung des Sittengesetzes »Handle wie keiner!«. Daraus folgt Entscheidendes. »Ist das Leben nicht um sein selbst willen da, so ist es auch nicht durch sich selbst da, d.h. es hat nicht in sich den Grund seines Daseyns, sondern es hat ihn in einem anderen, eben in jenem Endzwecke« (GA II/12, 111). Und es ist einzusehen: Das äußerste, was unsere individuelle Freiheit und Selbsttätigkeit dabei vermag, ist, die bornierte egoistische Selbstverwirklichung als Endzweck zu vernichten. Tatsächlich nämlich schwebt unser Freiheitsbewußtsein zwischen dem Naturtrieb und unserer sittlichen Bestimmung. Aus Freiheit können wir uns von der sinnlichen zur geistigen Weltordnung erheben. Das glückt, wenn sich die egoistische Willkür in einem Willen aufgibt, der danach strebt, den Endzweck, das Sittengesetz, zu verwirklichen. Auf diesem Stande phänomenologischer Einsicht kommt die anschließende Fragestellung zur thematischen Behandlung. »Gehen wir drum an die Untersuchung, ob der Endzweck absolut seyn möge, oder, falls er es nicht sey, was ihm zu Grunde liegen, und in ihm sichtbar werden möge?« (GA II/12, 129). Diese Fragestellung zielt auf die Anschauung Gottes, d.h. auf
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das Dasein des absoluten Seins und auf das Faktum von Sittengesetz und Endzweck im Bewußtsein als Äußerung absoluten Lebens. Daher geht Fichtes Phänomenologie am Ende auf die Seinsfrage ein.35 Dabei erklärt Fichte sein Verständnis von Sein zunächst aus dem Gegensatz zum Werden und innerhalb der Vereinigung mit ihm. Danach bewährt sich das Sein als das Bestand und Endzweck Gebende im unbeständigen Werden und unaufhörlichen Wandel des Bewußtseinsstromes. In eins bewährt sich das Wollen des Endzwecks als Äußerung des sichtbar in Erscheinung tretenden Seins. »Seyend nenne ich dasjenige, was durchaus nicht wird und nie geworden ist, und von dem man eben schlechtweg nichts anderes sagen kann denn, es ist« (GA II/12, 129). Das faßt den Begriff des Seins mit geradezu parmenideischer Strenge auf. Sein ist das vom Werden absolvierte Unentstandene, von dem lediglich gesagt werden kann, das ständig anwesende Sein ist andauernd anwesend, es ist nicht wandelbar, es ist nicht veränderlich. Nun beschränkt Fichtes Phänomenologie das Sein und unveränderlich Eine aber hier nicht in der kühnen Abstraktion des Parmenides und erklärt es nicht als Selbigkeit von Noein und Einai oder als Anfang der Hegelschen Logik. Er beachtet es als Tatsache des menschlichen Bewußtseinslebens. »Nun rede ich hier von dem Seyn des Lebens, d.i. eines absoluten Werdens [...]. Das Seyn in ihm ist drum das Eine und durchaus Einsbleibende im Wandel« (GA II/12, 129). Aufgrund der Form unseres Lebens, d.i. der unaufhörlichen Tätigkeit unseres Bewußtseins, erfahren wir ein fortwährendes Werden, nämlich als Übergehen von einer Vorstellung zur anderen ohne Halt und Bestand und ohne dauerndes Anwesen bis zum Tode, da unser Bewußtseinsleben und Vorstellungsstrom erlischt. Gleichwohl erfahren wir die im endlosen Bewußtseinsstrom abfließende Vorstellung selbst als dauerhaft anwesend: als seiend. Das verdankt sich der Vereinigung des Werdens im Sinne eines unaufhörlichen Werdens und Anderswerdens mit dem Sein als dem Einen, das unwandelbar einfachhin im
35 In seiner kenntnis- und beziehungsreichen Untersuchung geht W. G. Jacobs: Der Gottesbegriff in den ›Tatsachen des Bewußtseins‹ von 1810/11 als Übergang zur Wissenschaftslehre in specie, 2006 auf Kants berühmtes Argument »Sein ist kein reales Prädikat« zurück. Indessen sieht Kants These vom Sein die Modalkategorie von Wirklichsein und Existenz als reine Form des Verstandes. Fichtes These vom Sein dagegen besinnt sich auf das Sein des Absoluten, das »parmenideisch« nicht wird und nicht entsteht und das »spinozistisch« das Hen kai Pan ist, außer dem nichts ist als das Wissen davon.
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Wandel bleibt. Das ist nun weit entfernt vom Sein der Hegelschen Logik im Vollendungsstadium als absolute Idee, die auch im absoluten Anderssein, im zeit-räumlichen Wandel der Natur bei sich selbst (bei der Vernunfthaftigkeit der Naturgesetze) bleibt. Fichtes Phänomenologie zeigt, daß unser Bewußtseinsleben faktisch ohne die Einheit des sich selbst gleichbleibenden Seins nicht zu denken ist. Ohne Einheit und Halt des Seins würde es in nichts zerfließen. Ohne Zusammenhang ergäbe sich nicht das eine, sondern unendliche, verschiedene Leben. Ohne dies käme es nie zu einer Anschauung, zu einem vollkommenen Bild des Bewußtseinsphänomens. Mithin läßt sich das Sein als notwendige Bedingung dafür feststellen, daß Leben überhaupt gedacht und angeschaut werden kann. »Resultat: Die Voraussetzung eines Seyns schlechtweg im Leben, wie dieses Seyn so eben beschrieben worden, ist Bedingung der Anschaubarkeit des Lebens« (GA II/12, 129-130). Nun legt sich eine höhere Erfahrung unseres Bewußtseinslebens nahe. Diese sieht ein, daß das so beschriebene Sein mit dem schon beobachteten Endzweck eins ist. Bewußtseinsleben ist allenthalbem ein Seiend-Werden, keineswegs ein sinnloses Zerfließen ins Nichts. Jede Äußerung der Bewußtseinsäußerung ist Seinsordnung; und diese ist tatsächlich als Absicht und Endzweck wirklich. »Resultat: Der Endzweck ist also durchaus die Aeußerung des Seyns im Werden, um dieses Seyn sichtbar zu machen, also mittelbar Sichtbarkeit des Seyns des Lebens« (GA II/12, 130). Damit ist die Ankündigung näher geklärt. Das Sittengesetz als Endzweck ist nicht oberstes Prinzip. Es ist da als Mittel, um das Sein oder das Absolute und Gott zur Anschauung und zur Erscheinung zu bringen. Wegweisend für die Grundstellung einer Vernunftwissenschaft im Widerstreit ihrer Vollendung sind nun die ferneren Beobachtungen des Ursprungsverhältnisses von Leben, Sein und absolutem Wissen. Sie heben an mit der Frage: »Was ist dieses Seyn des Lebens, läßt es sich weiter bestimmen?« (GA II/12, 130). Es läßt sich weiter bestimmen, nämlich als Bild. Grund nämlich für das Sein als beständiges Anwesen der Bewußtseinsfolgen ist die Form des Bildseins. Ein Bild bietet ja zunächst eine feste, in sich geschlossene Erscheinungsform. Es ist absolviert und losgelöst vom endlos unabschließbaren Werden des Bewußtseinslebens. »Das bis jezt als Leben betrachtete ist seinem absoluten Seyn nach Anschauung, Bild, Erscheinung« (GA II/12, 131). Nun aber ist das Bild als solches nicht selbst das Sein, das in ihm und seiner Form gebildet und zur Sichtbarkeit gebracht wird. Indem diesem Verhältnis nachgefragt wird, wird die Seinsfrage zur
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Ursprungsfrage. »Was ist das für ein Seyn?« (GA II/12, 131). Es ist nicht das Sein des Lebens, das ja als Bildsein beschrieben war. Jenseits des Bewußtseinslebens ist ein erster Ursprung, welcher nicht durch ein anderes, sondern schlechthin von sich seiend ist. »Jenes Seyn aber, das zu der absoluten Anschauung das Seyn ist, ist schlechtweg aus sich, von sich, durch sich. Es ist Gott« (GA II/12, 131). Damit findet sich eine Theorie des absoluten Wissens an einen Kreuzweg gestellt. Was ist von diesem absoluten Sein, von Gott oder dem Absoluten, jenseits der Bilder unseres Bewußtseins zu sagen und zu begreifen? Die Antwort schon der Fichteschen Phänomenologie lautet: »Weiter nun, als daß es sey das absolute, und daß es nicht sei Anschauung [...], läßt sich von demselben in diesem seinem bloßen Begriffe nichts aussagen« (GA II/ 12, 131). Das hat zur Konsequenz: Die Vernunftwissenschaft kann nur Lehre vom absoluten Wissen, nicht vom absoluten Sein, vom Gott der Philosophen, werden. »Die Theorie des Begreiflichen kann daher, da Gott unbegreiflich ist, durchaus nur seyn die Theorie des Wissens oder die Wissenschaftslehre, in dem es außer Gott nichts giebt denn das Wissen« (GA II/12, 132). Dafür hat eine faktische Beobachtung ins Klare gebracht: Das Grundphänomen des lebendigen, tätigen Wissens ist nicht eine leere, ins Nichts zerfließende Reflexion, es ist Wissen des absoluten Seins in der Gestalt des Bildes, welches das Sein darstellt, ohne es selber zu sein. »Und so haben wir denn den letzten und vollkommenen Aufschluß erhalten über den Gegenstand unserer Untersuchung, das Leben oder auch das Wissen« (GA II/12, 132). Diese Vollendung der Phänomenologie ist ein Weg des Bewußtseins, den die Vernunftwissenschaft Fichtes nicht, wie Hegel tadelt, im Rücken und Vergessen, sondern vor sich und vergegenwärtigt hat. Darum kann die Wissenschaftslehre 1812 mitten in der Sache beginnen. »Also – ausser dem absoluten ist da, weil es nun einmal da ist, sein Bild. Ist der absolut bejahende Satz der W.L., von dem sie ausgeht: ihre eigentl. Seele« (GA II/13, 58). Und der 1. Vortrag der W.L. 1813 beginnt scheinbar unvermittelt mit der Scheidung von Seins- und Erscheinungslehre, welche Fichtes Phänomenologie der Bewußtseinstatsachen einführend beschrieben hatte. Das Sein im Überschwang einer Substanzlehre Spinozas ist nicht Thema einer Vernunftwissenschaft. »Mit diesem also hat es die W.L. nicht zu thun, sie ist nicht Seinslehre [...]. Die berühmteste unter den Seinslehren, diejenige, welche wenigstens den Begriff des Seins richtig auffaßt, ist die des Spinoza. Aber auch er
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hat sich nicht besonnen auf das Bild des Seins, auf sein Denken desselben« (NW II, 3). 3. Kapitel: Genetische Phänomenologie. Ermittlung des Grundgesetzes allen Wissens in den Prolegomena der W.L. 1804-II Die faktisch-historische Phänomenologie der zur philosophischen Wissenschaft vom reinen Wissen einleitenden Bewußtseinstatsachen wird abgelöst und überboten durch eine genetische Phänomenologie als Prolegomenon auf der Höhe und im Systemaufbau der prima philosophia selbst. Sie findet sich prägnant dargestellt in der zweiten Vortragsreihe von 1804. Zumal der 4. Vortrag am 20. April vor erlauchten Repräsentanten des geistigen Berlins bietet die dichteste und wahrhaft lichtvolle Einführung in eine zur äußersten Besinnung gebrachten Ersten Philosophie. Dieses Prolegomenon ermittelt methodisch vorbereitend den Mittelpunkt einer Grundlegung, welcher einer vollendeten Wahrheits- und Erscheinungslehre den Boden bereitet. Eine Genetisierung des lebendigen Bewußtseinsphänomens begnügt sich nun nicht mehr damit, dessen Zusammenhang faktisch-historisch zu beschreiben und lediglich zu konstatieren, daß es so ist, wie es sich zeigt. Sie sieht darauf, nach welchem Gesetz dieser Bewußtseinsstand erreicht ist. So ist der Methodengang der Wissenschaft vom Wissen 1804 vordemonstriert worden. Ausgang ist stets der Vorgang, wonach eine Einsicht so vollzogen wird, daß wir unmittelbar in der Evidenz dieser Einsicht aufgehen. So ist vom Anfänger in der philosophischen Wissenschaft eben die Einsicht in die Unwandelbarkeit des reinen, von jeder Subjekt- und Objektrelation absolvierten Wissens zu vollbringen. Das aber »ist doch noch Faktizität« (GA II/8, 76). Nun sind wir in diesem Akt der Konstruktion zweifellos von einem Vernunftgesetz geleitet, das aber unreflektiert lediglich mechanisch in uns tätig ist. Folglich hat eine Wissenschaft, welche auf die Entstehungsgesetze des Wissens abzielt, dieses Gesetz selber zu erforschen. Das gelingt, wenn das unmittelbar faktisch in seinem Sosein Eingesehene in seinem Wodurch und Wodurchsein, in seiner Genesis, dem Entstehungsgesetz entdeckt wird. Damit zeichnet sich ein Aufstieg von faktischen zu immer höheren genetischen Gliedern ab, sofern und solange jedes genetische Glied der absoluten Wissenseinheit noch faktische Momente an sich hat und eine weitere Genetisierung erforderlich macht. Das Ziel ist eine absolute Genesis. Da leuchtet das Entstehungsgesetz unseres absoluten Wissens im Lichte wissenschaftli-
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cher Evidenz ein. »Auf diese Weise nun werden wir von faktischen Gliedern aufsteigen zu genetischem; welches Genetische denn doch wieder in einer andern Ansicht faktisch sein kann, wo wir daher gedrungen sein werden, wieder zu dem, in Beziehung auf diese Facticität, Genetischen aufzusteigen, so lange, bis wir zur absoluten Genesis, zur Genesis der W.L. hinaufkommen« (GA II/8, 76). Die methodische Vorerörterung dieses Aufstiegs kommt zum wahren Standpunkt der Wissenschaftslehre hinauf und führt in den Mittelpunkt einer Evidenz ein, wenn die Genesis von Einheit und Mannigfaltigkeit mit einem Schlage einleuchtet. Das Resultat solcher Genetisierung läßt sich in einem Grundgesetz allen Wissens zusammenfassen. »Der Mittelpunkt von allem war das reine Licht. Soll es zu diesem wirklich kommen, so muß der Begriff gesetzt und vernichtet, und ein an sich unbegreifliches Seyn gesetzt werden« (GA II/8, 61). Realer Ausgangspunkt für das Einleuchten dieser reinen Evidenz ist die Einsicht, daß das absolute Wissen (A) den Charakter ungesonderter Einheit in sich hat. Dafür ist dieses primäre, absolute Wissen deutlich vom sekundären, relativen Wissen oder vom Bewußtsein abzuheben. Das Bewußtsein ist intentional und relativ. In ihm bezieht sich ein vorstellendes Subjekt auf ein vorgestelltes Objekt im Schema: Ich stelle etwas vor. Nun ist diese Form reinen Wissens wandelbar, insofern sie sich auf wandelbare Gegenstände bezieht. Das absolute Wissen dagegen bleibt unwandelbar und immer sich selbst gleich, sofern es das eine und selbe Wissen in jeglichem Wissen von etwas ist. So verschieden, mannigfaltig und wandelbar relatives Wissen auch ist, eines ist unwandelbar, nämlich daß das alles Wissen ist. Und dieses eine und selbe Wissen entsteht und vergeht nicht mit dem gegenständlich Wißbaren in den mannigfaltigen Modi des Vorstellens. Es ruht unveränderlich in sich. Und offenkundig läßt sich diese Einsicht nicht auf dem Wege der Erfahrung finden; denn es ist doch wohl unmöglich, die endlose Vielheit unseres gegenständlichen Wissens in den mannigfaltigen modi cogitandi zu durchlaufen, um die darin unwandelbare Selbigkeit reinen Wissens zu erproben. Das bringt schon der 3. Vortrag dem Auditorium nahe. »Schlechthin apriori, leuchtet dieses Wissen durch sich selber ein, als unabhängig von aller Subjektivität und Objektivität, für sich bestehend und sich selber gleich« (GA II/8, 38). Allein dieser Ausgang sollte es verbieten, Fichtes Wissenschaftslehre als einseitiges System der Subjektivität und als leeres Reflektiersystem zu degradieren. Aber dieser genetisierte Ausgang verweigert sich auch der An-
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maßung, Systembildung des Absoluten im Äther eines spekulativen Wissens zu sein. Solche Hybris hält Fichtes Wissenschaft des Wissens (= A) von Anfang an fern. »A für sich ist objektiv und darum innerlich todt« (GA II/8, 52). Es ist objektiv, d.h. nur faktisch als Tatsache von uns hingestellt. Es ist innerlich tot, d.h. ohne Lebendigkeit, ohne Wandel, ohne die äußere Aufspaltung des Mannigfaltigen in Denken und Sein in sinnliche Welt und übersinnliche Welten. Also muß das unwandelbare Wissen als lebendiges Prinzip der Einheit so konstruiert werden, daß in eins das sekundäre, relative Wissen mitkonstruiert wird. Und das darf nicht in einer Synthesis post factum, welche zwei faktisch vorfindliche Glieder nachträglich zusammenbindet, geschehen. Es bedarf einer ›organischen‹ Synthesis. In dieser geht mit der Einsicht in die Unwandelbarkeit des reinen Wissens zugleich und unabtrennlich die Einsicht in die Wandelbarkeit des Bewußtseins auf, und mit der Einsicht in das Prinzip der Sonderung leuchtet in eins und untrennbar die Einsicht in das Prinzip der Einheit ein. So kommt es zur Evidenz. Die von der Ersten Philosophie immer schon gesuchte ursprüngliche Einheit von Einheit und Mannigfaltigkeit ist die organische Vereinigung des unwandelbaren, primären Wissens als Einheitsgrund mit dem wandelbaren Wissen oder dem Bewußtsein als Vielheitsgrund. Auch damit kommt eine spezifische Differenz zu anderen Systembildungen zur Sprache. »So ist der Standpunkt der bei Besinnung bleibenden W.L. durchaus keine Synthesis post factum, sondern eine Synthesis apriori: weder Sonderung noch Einheit findend, sondern beide erzeugend in demselben Schlage« (GA II/8, 56). Systembildungen dagegen, die sich nicht auf solche organische Einheit und auf die Vermittlungskraft des ›Plötzlichen‹ (Plato: exaiphnes) und des ›mit einem Schlag‹ (Leibniz: tout d’un coup) besinnen, konstruieren ein Unkonstruierbares. Das ist die nachträgliche Vereinigung der Zweiheit von Subjektivität und Objektivität, von Denken und Sein, von Natur und Geist mit dem Defizit einer Synthesis post factum. Fichtes 4. Vortrag fordert zur Besinnung auf. Wie und wodurch ist uns die Evidenz dieser organischen Einheit mit einem Schlage aufgegangen? Schärfer gefragt: hat uns diese Evidenz ergriffen, oder haben wir sie uns begreiflich gemacht? Die Antwort läßt sich in einer vorläufigen Formel fassen. »Soll das absolut Unbegreifliche, als allein für sich bestehend, einleuchten, so muß der Begriff vernichtet, und damit er vernichtet werden könne, gesetzt werden; denn nur an der Vernichtung des Begriffs leuchtet das Unbegreifliche ein« (GA II/8, 56). Nun ist das Begreifen seit Platos Entdeckung des Begriffs ein dihairetisches Umgrenzen dessen, was und
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wodurch etwas ist, durch Abgrenzen von allem, was es nicht ist. So wird das wandellose, reine Wissen begreifbar durch Abstrahieren von allem wandelbaren Bewußtsein. Mithin verfährt unser Begreifen mittelbar als Erfassen des Einen vermittels des entgegengesetzten Anderen. Hier nun kommt ein absolutes Begreifen zum Austrag, das begreift, daß das Absolute in seiner organischen, unmittelbaren Einheit nicht durch abgrenzendes Umgrenzen zu begreifen und lediglich als Unbegreifliches nachzukonstruieren ist. Damit kommt ein aufschlußreiches Entstehungsgesetz ins Klare. Ist die organisch-lebendige Einheit des Wandellosen (des reinen Wissens) und des Wandelbaren (in seinem genetischen Ursprunge) organisch, untrennbar, mit einem Schlage da, dann ist deren durchgehendes, begriffliches Beschreiben lediglich Nachkonstruktion einer Vorkonstruktion, verbunden mit der Einsicht, ein Unbegreifliches als solches zu begreifen. Was so für das absolute Wissen evident ist, gilt auch für das sekundäre Wissen oder das Bewußtsein im Hinblick auf die Sonderungen von Denken und Sein wie von sinnlicher Welt und intelligibler Welt. Diese Spaltungen ins Mannigfaltige erfolgen organisch, mit einem Schlage. Auch sie sind nur nachzukonstruieren. Und diese Disjunktion des Bewußtseins ist organisch mit der Erleuchtung absoluter Einheit verbunden; »ausserdem würde es ja bei der Einheit bleiben, und wir nie zu einem Wandel hinauskommen. (Dies ist, daß ich es im Vorbeigehen bemerke, ein wichtiger Charakterzug der W.L. und unterscheidet sie z.B. von Spinoza’s System)« (GA II/8, 54). Systematisch erwogen bringt diese Evidenz eine weittragende Einsicht in die notwendige Bedingung für die Möglichkeit des reinen Wissenslebens mit sich. Soll die organische Einheit des Absoluten als Unbegreifliches einleuchten, dann muß der absolute Begriff vernichtet werden, und damit er vernichtet werden kann, soll er gesetzt werden. Dabei bedeutet »vernichten« nicht etwa Auslöschung des Bewußtseins und Begreifens, um mystisch im Absoluten zu versinken, sondern: als absoluten Anfangsgrund absetzen und als abgeleitetes Moment einsetzen. »Nur an der Vernichtung des Begriffs leuchtet das Unbegreifliche ein« (GA II/8, 56). Das versperrt eben evidenterweise den Weg der Spekulation zu einem Begreifen des Absoluten, da sich das Absolute selbst begreift. Natürlich ist auch da der spekulative Begriff des Begriffs nicht bloß Vorstellung eines Allgemeinen als die Form eines Gedachten. Nach Hegel hat der absolute Begriff selbst die Form des Absoluten, insofern das sich denkende Denken (das Subjektive) zugleich die einigende Einheit seiner und des Objektiven be-
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greift. Dadurch erst sind beide, Subjekt und Objekt, überhaupt das, was sie sind. Fichtes Prolegomena 1804 führen indessen den absoluten Begriff als Konzept ein, welches die Vereinigung des Begriffs mit dem Unbegreiflichen in der Gesetzmäßigkeit eines »Soll – dann muß« erfaßt. Damit verschließt sich der Weg, das Absolute spekulativ in der Selbstkonstruktion einer Gedankenentwicklung vom Sein bis zur absoluten Idee zu explizieren. Dieser absoluten Einheit kommt eben lediglich das Merkmal der Unbegreiflichkeit zu, das es wiederum allein dem sich vernichtenden Begriff verdankt. Wird von dieser Relation abstrahiert, »bleibt Nichts von der Einheit übrig, als die Absolutheit, oder das reine Bestehen für sich« (GA II/8, 58). Das eröffnet den Weg zu einer negativen Theologie im Stadium transzendental besonnener Vollendung; denn das Absolute ist nur in Negation seiner Begreiflichkeit und Sagbarkeit als das Unbegreifbare und Unsägliche sagbar. Und selbst dieses Prädikat der Unbegreiflichkeit und Unsagbarkeit ist dem Absoluten, Gott, streng gedacht, abzusprechen. »Es, das Absolute, ist nicht an sich unbegreiflich; denn dies hat keinen Sinn; es ist nur unbegreiflich, wenn der Begriff an ihm sich versucht« (GA II/5, 58). Darum sind alle positiven Reden und begriffliche Spekulationen vom Absoluten zu verabschieden. Mit solchen Besinnungen auf notwendige Bedingungen für die Möglichkeit der wahren Einheit von Einheit (des absoluten Wissens) und Mannigfaltigkeit (des reinen Bewußtseins) kommt das Licht einer Evidenz auf, die wir nicht konstruieren, sondern die uns ergreift und erleuchtet. Diese Licht erhellt den Mittelpunkt allen Wissens. Solche Helle (lumen) und solcher Aufstrahl (lux) dieses Lichts bringt eben plötzlich und mit einem Schlag beides, das Prinzip reiner Einheit und das Prinzip der Sonderung, ins Klare. Damit haben die Prolegomena von 1804 ein Gesetz vorgegeben, das für die systematische Ausarbeitung der Grundlage wegweisend werden soll. »Der Mittelpunkt von allem war das reine Licht. Soll es zu diesem wirklich kommen, so muß der Begriff gesetzt und vernichtet, und ein an sich unbegreifliches Seyn gesetzt werden; gesetzt, das Licht solle seyn, so ist durch diesen Satz alles das Gesagte gesetzt. Das haben wir nun eingesehen. Es ist wahr und drückt das Grundgesetz alles Wissens aus; und als solches können wir es uns merken« (GA II/8, 61). Dieses Grundgesetz macht ein Prinzip der All-Einheit evident. Das mag verständlich machen, warum Fichtes späte Systembegründungen ihren klassischen Ausgangspunkt beim Kritizismus Kants verlassen, um an die Einheitsmetaphysik Spinozas anzuknüpfen.
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2. Abschnitt: Markierung des veränderten historischen Anknüpfungspunktes 1. Kapitel: »Bester Anknüpfungspunkt: das System des Spinoza« (W.L. 1812). Bemerkungen über den Rückgang vom kritischen Kant zum ›heiligen Spinoza‹ Die Wissenschaftslehre 1812 wird mit einer zweiteiligen Einleitung in elf Vorlesungen vom 6. bis 20. Januar eröffnet. Der erste Teil bringt den genauen Begriff der Wissenschaftslehre, der »zum Theil ganz unbekannt« ist, ins Klare, um »die Mißverständnisse und falschen Ansichten« darüber auszuräumen (GA II/13, 43). »Die W-L ist das schlechthin sich selbst machende aporiorische Bild des Wissens in seiner absoluten Einheit und Gesetzmässigkeit: mithin auch Eins« (GA II/13, 47). Nur dieser Vorbegriff einer Vernunftwissenschaft könne es zur systematischen Vollendung in Darstellungsform und Prinzipienklarheit bringen, nämlich »ein vollkommenes System des Mannigfaltigen« aufzubauen, das aus der allgemeinen Gesetzmäßigkeit reinen Wissens resultiert. Die Vollendung dieser Aufgabe vollende die ganze Sichtbarkeit des Systems. Der Vortrag des zweiten, historischen Teils der Einleitung beginnt am 13. Januar. Er knüpft philosophiegeschichtlich an die Grundfrage nach der Einheit von Einheit und Vielheit, von Sein und Denken, Wissen und Welt an, die im Grundbuch der Ethik Spinozas (De Deo) eine epochale Ausgangslage gefunden hat. »Bester Anknüpfungspunkt: das System des Spinoza« (GA II/13, 51).36 Dieser philosophiegeschichtliche Ausgang bedeutet eine Traditionserweiterung. Noch das Prolegomenon der Wissenschaftslehre 1804 hatte eindrücklich und ausschließlich einen anderen aussichtsreichen und förderlichen Ausgangspunkt für die Systemvollendung des Idealismus namhaft gemacht, nämlich Kants Darstellung der drei Vernunftkritiken nach dem
36 Führend in den neueren Untersuchungen zu Fichtes Spinozabild sind die Studien von R. Lauth: Fichtes Sicht der Philosophie Spinozas, 1989. – K. Hammacher: Fichte und Spinoza, 1992. – M. Ivaldo: Transzendentalphilosophie und ›realistische Metaphysik‹. Das Fichtesche Spinoza-Verständnis, 1992. – G. Zöller: Fichte als Spinoza, Spinoza als Fichte. Jacobi über den Spinozismus der Wissenschaftslehre, 2004. – Das schließt nicht aus, die in der W.L. 1812 aufgenommene Seinsfrage bis auf das Lehrgedicht des Parmenides und die problematische Scheidung von Sein und Nichtsein, von Existenz und Bild zurückzuführen. Vgl. A. A. Ivanenko: Der zweideutige Begriff des Seins im Vortrag der Wissenschaftslehre 1812, 2006.
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Grundsatz von der einigenden Einheit der transzendentalen Apperzeption. Dieses transzendentale Prinzip ist nicht identisch mit dem intentionalen Bewußtsein von etwas. Es steht weder auf der Seite des Denkens (D) noch auf der Seite des dinghaften Seins (S), es bildet das rein für sich bestehende Band (A) von beidem (D-S). Zudem eröffnen die drei Kritiken der reinen theoretischen, der reinen praktischen Vernunft und der Urteilskraft den Weg, den Zusammenhang von sinnlicher und übersinnlicher Welt von einem Ursprung her zu erfassen; denn die Kritik der reinen theoretischen Vernunft hatte die Erfahrung der sinnlichen Welt (x), die Kritik der reinen praktischen Vernunft die moralische Welt (z) als Absoluta angesetzt und die schwierige Einleitung von Kants Kritik der Urteilskraft hatte ein drittes Absolutes (y), die unerforschliche Wurzel beider Welten, in Anschlag gebracht. Das aber bildet keine abgeschlossene Vorgabe, sondern die zu vollendende Aufgabe einer philosophischen Systembildung. Diese Aufgabe prägt die Eigenart und den Vorzug der Wissenschaftslehre. »Daß ich nun die W.L. an diesem historischen Punkte, von welchem denn auch meine von Kant ganz unabhängige Spekulation ehemals ausgegangen, charakterisire – eben in der für Kant unerforschlichen Wurzel, in welcher die sinnliche und die übersinnliche Welt zusammenhängen, denn in der wirklichen und begreiflichen Ableitung beider Welten aus Einem Princip besteht ihr Wesen« (GA II/8, 32). Dafür muß sich eine wahrhaft systembildende Transzendentalphilosophie auf ein Einheits- und Disjunktionsprinzip besinnen, das sich mit Einem Schlag in Sein und Denken wie in sinnliche und übersinnliche Welt (mundus sensibilis – mundus intelligibilis) spaltet. »So viel zur historischen Charakteristik der W.-L., ihrem einzigen Nächsten gegenüber, dem sie unmittelbar entgegengesetzt, und daran charakterisirt werden kann, der Kantischen Philosophie« (GA II/8, 34). Offenkundig hat nun die Wissenschaftslehre auf dem Stande der Berliner Vorlesungen, indem sie das von Kant lediglich angedeutete, aber nicht bewiesene und nicht zur Darstellung gebrachte Einheitssystem des Vernunftwissens auf eigenen Wegen ausarbeitet, einen anderen historischen Anknüpfungspunkt gefunden: das System Spinozas. Das kündigt sich schon im 4. Vortrag (GA II/8, 54) an. Spinozas System wolle auch absolute Einheit, komme aber weder von der Einheit zur Mannigfaltigkeit noch von der Mannigfaltigkeit zur Einheit. Nun ist es unübersehbar, daß die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus maßgeblich einer je eigenen Spinoza-Rezeption geschuldet war. Daher ist wenigstens ein kurzer Rückblick auf den geistesgeschichtlichen Wandel des Spinozabildes kein Abweg, sondern ein aufschlußreicher Zu-
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gang. In der Herder- und Goethezeit redet man von Spinoza nicht mehr – nach dem von Jacobi überlieferten Lessingwort – »wie von einem toten Hunde« (JW IV/1, 68). Lange waren ja die Schriften Spinozas verschrieen, zumal der 1670 erschienene Tractatus Theologico-politicus entfachte einen europäischen Skandal. Er wurde als das unerhörteste Buch der Gottlosigkeit angeklagt, das es seit dem Beginn der Welt gegeben habe, und als Werk der Atheisterei und Religionsverachtung gebrandmarkt. Das ergab das verzerrte Bild Spinozas als Judaeus und Atheista. Und selbst Mendelssohn und Jacobi, welche einen achtungsvolleren Ton im so folgenreichen Streit über die Lehre Spinozas anschlugen, wollten beileibe keine Spinozisten sein. Aber man sprach nun ehrfurchtsvoll vom »heiligen Spinoza«, vom »gottestrunkenen Denker« und segnete gar den »den großen, ja heiligen Benedictus«, der in der Liebe des höchsten Wesens lebte.37 Philosophisch kann Schelling auf seinem Wege zum Unbedingten unbefangen erklären: Keiner könne hoffen, zum Wahren und Vollendeten in der Philosophie fortzugehen, der sich nicht einmal in den Abgrund des Spinozismus versetzt habe. Und Hegel formuliert analog: Wenn man anfange zu philosophieren, müsse man zuerst Spinozist sein; denn die große Anschauung der Spinozistischen Substanz befreie vom endlichen Fürsichsein. Herausfordernd formuliert Hegel: Entweder Spinozismus oder gar keine Philosophie. So betrachtet ist es durchaus nicht eigenwillig, sondern gehört zum Zuge einer dreifachen Vollendung eines All-Einheitssystems, daß Fichte seinen Ausgang nicht mehr nur bei den Vernunftkritiken Kants nimmt, sondern an den »heiligen Spinoza« anknüpft. Worin aber geht er mit Spinoza einig, und wodurch geht er über ihn hinaus? 2. Kapitel: Ein Zwischenschritt. Der zweideutige historische Rückgang zu Spinoza in der Einleitung zur Königsberger Wissenschaftslehre 1807 Wie Spinozas System historisch zum besten, fruchtbarsten und anstößigsten Ausgangs- und Anknüpfungspunkt geworden ist, zeigt schon die Einleitung der Königsberger Wissenschaftslehre von 1807. Diese zweideutige Anknüpfung war indessen hier noch dadurch belastet, daß Spinozas und
37 Zur Umwendung von der Verfluchung zur Verehrung Spinozas seit Herder und Goethe vgl. D. Baumgardt: Spinoza und der deutsche Spinozismus, 1927. – Zum Ereignis von Jacobis Spinoza-Schrift vgl. H. Timm: Die Bedeutung der Spinozabriefe Jacobis für die Entwicklung der idealistischen Religionsphilosophie, 1971.
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Schellings Konstruktion des Absoluten zusammengebündelt wurden. Jedenfalls provozierte Fichte in seiner 1. Vorlesung am 5. Januar 1807 das empört scharrende Auditorium, das durch den fichtefeindlichen Kantnachfolger Traugott Krug kantianisch geprägt war, mit der philosophiegeschichtlichen Diagnose: »Historisch. Bis auf Kant [Vf.: von Plato an bis Kant einschließlich] war alles Philosophiren ein blindes Tappen: der konsequenteste unter den blinden Tappern war Spinoza, u. so wie von der Einen Seite in der Form der beste, in Rücksicht der Wahrheit des Gehaltes der schlimmste« (GA II/10, 113). Das negative Urteil überwiegt. Dem Wahrheitsgehalte nach hätten Spinoza und die Spinozisten der Zeit (Schelling und seine Anhänger) das Zeitalter in tiefste Finsternis gestoßen, die erst die zur höchsten Klarheit gebrachte Wissenschaftslehre zu erleuchten verspreche. »Aus der Finsterniß zum Lichte. Aus der absoluten: dem Seyn im Spinozismus« (GA II/10, 116). Eine wissenschaftliche Ansicht vom Absoluten, wonach das wahre Sein, Leben, Licht Gottes nicht in sich geschlossen bleibe, sondern zu einem mannigfaltigen, veränderlichen Sein modifiziert werde, verunstalte die Wahrheit. »(Modifikation). Spinoza« (GA II/10, 167). Spinoza lasse das Eine, das Unveränderliche widersprüchlicherweise in die Veränderlichkeit der Welt mit hinabsteigen, so daß das Unveränderliche veränderlich werde und die große Seins- und Einheitsanschauung dem Widerspruch verfällt. Solche Verdunkelung des Lichtes der Wahrheit betreiben »auch die Spinozisten unter unseren Zeitgenossen«; sie lassen »das göttliche Seyn selbst in die Erscheinung der Welt, u. mit ihr in das Mannigfaltige eintreten« (GA II/10, 189). Das zielt auf Schellings Identitätssystem ab, das sonach die schlimme Seite des Spinozismus an sich habe. In seinem letzten Brief an Schelling vom 15. Januar 1802 hat Fichte dieses Defizit von Spinozas Lehre auf Schelling übertragen. »Wie das Eine zu Allem und das All zu Einem werde – den Uebergangs-Wende- und realen Identitätspunkt desselben kann er [Spinoza] uns nicht angeben, daher hat er das Eine verlohren, wenn er aus dem All greift, und das All, wenn er das Eine faßt. Darum stellt er auch die beiden GrundFormen des Absoluten, Seyn, und Denken eben ohne weiteren Beweiß hin, wie Sie eben auch« (GA II/5, 112). Nach Seiten der Form einer Systembildung dagegen spricht Fichte dem Werk Spinozas einen Vorrang gegenüber allen früheren Systemversuchen zu. Spinozas Philosophie dringe auf einen einheitlichen Aufbau von Wissen und Sein aus einem Stück. Das sollte die Gestalt einer All-Einheit garantieren und allen Dualismus von Gott und Welt, Geist und Natur, Denken und
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Ausdehnung, unendlicher und endlicher Substanz überwinden. So behaupte der Spinozismus (fälschlicherweise), den Dualismus aus der Welt gebracht zu haben. »Der Sp. will Einheit, und glaubt er habe sie; der Dualismus thut Verzicht auf dieselbe u. läßt sich die Zweiheit gefallen« (GA II/10, 122). Die gewollte, wenn auch nicht erreichte Überwindung des Dualismus in der Systembegründung der Einheit unter der Losung Hen kai Pan ist wie für Hölderlin, Schelling, Hegel so auch für Fichte der Anknüpfungs- und Ausgangspunkt, seinen Denkweg zu vollenden. Das wägt die Wissenschaftslehre 1812 einleitend deutlicher ab. 3. Kapitel: »So Spinoza, so wir – So wir. Anders Spinoza«. Genaue Markierung des philosophiegeschichtlichen Ausgangs in der Wissenschaftslehre 1812 Fichtes Anknüpfung an Spinozas Vorgaben im Buche De Deo in der Wissenschaftslehre 1812 ist kritisch. Wahre Kritik scheidet und macht durch Unterscheidung etwas sichtbar. (Das griechische Wort krisis bedeutet Scheidung und Erprobung.) So zermalmt Fichtes Spinozakritik nicht eine dogmatische Substanzmetaphysik, sie macht unterscheidend klar, was die Wissenschaftslehre mit Spinoza gemeinsam hat (»So Spinoza, so wir«) und was sie von Spinoza trennt (»So wir. Anders Spinoza«). Die zustimmende Rezeption ist hier vorangestellt: »Seyn: Charakter absolute Negation des Werdens. In ihm, dem Einen, alles, in ihm keins. – Selbstständigkeit, eine Negation. Wandellosigkeit gleichfals: hieraus Einheit, u. die anderen Sätze. So Spinoza, so wir« (GA II/13, 51). Aufgenommen wird Spinozas großer Gedanke vom absoluten, göttlichen Sein. Das Absolute ist im Stande der Selbständigkeit, d.i. der einzig-einen Substanz (substantia unica qua causa sui) als reines Bestehen von und durch sich selbst, begreifbar in der Negation, nicht von anderen und durch ein anderes außer ihm verursacht zu sein. Und das absolute Sein negiert schlechtin das Werden. Es kann unmöglich nicht sein und existiert ewig, losgelöst von Zeit und Dauer, von Entstehen und Vergehen, von Werden und Wandel. Außer Gott gibt es keine anderes, wahres, von sich, durch sich, in sich bestehendes, aus sich existierendes Sein. Das substantiale, sich selbst vorstellende Ich (substantia cogitans) ebenso wie das substantiale, ausgedehnte Naturwesen (substantia extensa) sind als Attribute der substantia unica aufgehoben. Was in Wirklichkeit und Wahrheit ist, ist der Substanzozean Gottes, eine absolute All-Einheit: Deus sive natura – Hen kai Pan. »In ihm, dem Einen, alles.«
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Somit knüpft diese historische Einleitung nicht mehr wie der Eingang der Jenaer Grundlegung an das logische (Leibnizsche) Prinzip der formalen Identität A=A an. Sie geht auch nicht wie die Prolegomena 1804 vom transzendentalen Prinzip der drei Vernunftkritiken Kants aus, sie geht auf Spinozas Definition allrealer Einheit des Eins=Alles zurück. »Praeter Deum nulla dari neque cogitari potest substantia« – außer Gott kann ein von sich bestehendes Sein weder gegeben sein noch gedacht werden (Eth. I prop. XIV). »Quicquid est, a Deo est, et nihil sine Deo esse neque concipi potest« – was auch ist, ist seiend durch Gott, und nichts kann ohne Gott sein und gedacht werden (Eth. I prop. XV). Dieselbe Losung, welche die Tübinger Hegel und Schelling auf die Bahn ihres Denkens rief, bildet den Initialsatz einer vertieften historischen Einleitung bei Fichte. »Eins u. Alles daßelbe. hen kai pan. Alles in dem Einen, alles Eins« (GA II/13, 60). Das nimmt Fichte als unverrückbares Fundament auf. »Eins ist, ausser diesem nichts. – Alles andere ist nicht, stehe unveränderlich, u. ewig fest« (GA II/13, 56). Die Hallesche Kolleg-Nachschrift notiert: »Nennt man das Absolute Gott, so sagt die Wissenschaftslehre: Nur Gott ist und ausser ihm kann nichts sein; denn Er hat alles Seyn in sich. Alles Seyn bleibt ewig bei ihm. Diesem Satz soll nie widersprochen werden« (GA IV/4, 269). »So Spinoza, so wir.« Aber dieser Generalhypothese folgt die kritische Auseinandersetzung auf dem Fuße. »So wir. Anders Spinoza« (GA II/13, 52). Hier kommt eine transzendentale, absolute Reflexion, das Sichbesinnen auf sich im Gedanken des Absoluten, zum Einsatz, welche die Rede vom Nihilismus der Wissenschaftslehre widerlegt. Sie folgt der Maxime, unsere Reflexion nicht willkürlich abzubrechen, sondern zu Ende reflektieren. »Die Reflexion; als vernichtend die Realität trägt in sich ihr Heilmittel. Die Realität des Wissens eben selbst« (GA II/13, 51). Zu Ende reflektieren heißt eben, sich auf die faktische Realität des Denkens zu besinnen, welches das Absolute denkt. 38 In eins widerlegt diese absolute Reflexion die Systembildungen Spinozas und Schel-
38 B. Sandkaulen: Spinoza zur Einführung. Fichtes Wissenschaftslehre 1812, 2006 hebt dieses Korrektiv heraus. Fichte gebrauche die Anknüpfung an Spinoza, um die Polemik Jacobis und Schellings zu entkräften, die Wissenschaftslehre sei der Nihilismus eines leeren Reflektiersystems, das eine Welt aus sich heraus spinne: ein Nichts an Realität. Die daran orientierte Richtigstellung durch Fichte aber wird im Sinne Jacobis problematisiert. Sie löse weder den wiederaufbrechenden Dualismus von Sein und Wissen noch entlaste sie von Spinozistischem Fatalismus.
2. Abschnitt: Markierung des veränderten historischen Anknüpfungspunktes 253
lings, unausgesprochen auch die Hegels. Sie zeigten sich als Irrwege der Nichtbesinnung. Nur das ist hier im Kontext des dreifachen Anlaufs zur Vollendung der Vernunftwissenschaft in Anknüpfung an Spinozas großen Gedanken vom Absoluten herauszustellen. Was Spinozas These vom Sein fehle, sei die Besonnenheit absoluter Reflexion. »Spinoza hat sich nicht besonnen und hat das Seyn; wir reflectiren [...]. Außer dem Seyn ist nichts und doch ist der Begriff außer dem Seyn, das Sagen von dem Seyn« (Nachschrift Halle; GA IV/4, 263). Um den Folgen solcher philosophischer Unbesonnenheit zu entgehen, hat sich eine Grundlegung eben auf diesen Widerspruch einzulassen: Außer dem Absoluten ist kein Sein – außer dem Sagen und Denken des Seins. »Indem gesagt wird: es sey nichts ausser ihm, ist etwas, eben dieses Sagen ausser ihm« (GA II/13, 52). Es ist unerläßliche Aufgabe, diesen Widerspruch zu lösen, um nicht zwei Absolute stehenzulassen. »Die Philosophie, die ihn wirklich löst, ist die wahre« (GA II/13, 53). Spinoza habe das nicht lösen können, weil es für ihn das Denken als Glied des Gegensatzes nicht gibt, Schelling nicht, weil er im unmittelbaren Anschauen des absoluten und ewigen Selbst aller Reflexion widerstreite. Das hatte Fichte ja schon in der Jenaer Grundlegung gegen das Verschwinden des Ich-Subjekts eingewendet. Spinoza verfehle das Urphänomen des sich denkenden Denkens, indem er einerseits das Prinzip der Ichheit zum finiten Modus des empirischen Ich herabsetzt, andererseits zum reinen Bewußtsein der göttlichen Substanz übersteigert, die aber zufolge ihrer schrankenlosen Unendlichkeit ohne Selbstbewußtsein ist, sofern zum reinen Selbstbewußtsein die Reflexion als Rückkehr zu sich an der Schranke seiner Endlichkeit gehört. »Er trennt das reine und das empirische Bewußtseyn. Das erstere sezt er in Gott, der seiner nie bewußt wird, da das reine Bewußtseyn nie zu Bewußtseyn gelangt; das lezte in die besonderen Modificationen der Gottheit« (GA I/2, 263).39 Dagegen hat wiederum Schelling Einspruch erhoben: Spinoza habe reines und empirisches Bewußtsein durchaus ungetrennt im absoluten Bewußtsein vereinigt gesetzt. Und grundsätzlich habe Spinoza darin Recht. Das Bewußtsein sei in das Absolute und Unbe-
39 Diese Spinozakritik Fichtes hat J. Brachtendorf: Substanz, Subjekt, Sein – Die Spinoza-Rezeption der frühen und späten Wissenschaftslehre, 2006 in ihrer subjektivitätstheoretischen Bedeutung herausgestellt und mit Schellings Gegenargument konfrontiert.
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dingte hineinzuziehen und nicht in ein beschränktes Ich-Subjekt zu versetzen. Transzendentale Besonnenheit aber achtet in kritischem Unterscheiden auf das Faktum, daß das Absolute von unserem Wissen gedacht ist, das außer dem Absoluten da und nicht in dessen Abgrund versunken ist. Und sie schickt sich an, diesen Widerspruch zwischen dem absoluten Sein, außer dem nichts ist, und dem Wissen des Seins, das außer dem Absoluten ist, zu lösen, dergestalt, daß sich auch der zweite Widerspruch löst, der Spinozas Einheitsdemonstration anhängt. Dieser entsteht aus den Gegensätzen: Außer dem Absoluten ist nichts – außer dem Absoluten ist wahrnehmbar die Welt. »Nichts ausser dem Einen, wie dann also eine Welt?« (GA II/13, 53). Das ist ein weites Feld. So hat Hegels Auskunft bekanntlich Spinoza einen Akosmisten genannt, sofern in der Einheit Gottes, der starren Substanz, welcher die Rückkehr in sich selbst fehlt, Welt und Natur verschwunden sind. Hier nun sind einleitend allein die Lösungen einzuholen, die Fichte als Korrektiv der All-Einheitslehre historisch-kritisch vorgetragen hat. Läßt man die Widersprüche ungelöst, so breitet sich eine irrationale Welteinstellung aus, die Fichtes ›veränderter Lehre‹ nach dem ›Glaubensdurchbruch‹ nach 1800 attestiert worden ist: eine Mystifizierung im Abfall vom Kritizismus. Gegen solche Fehletikettierung genügt es, Fichtes Einschätzung des Mystizismus zu zitieren: »Mysticismus: Alles in Gott. Nur er ist. Haben viele gesagt. Giebt ein andächtiges Schwärmen« (GA II/13, 54).40 Fichtes kritische Auflösung des ersten Widerspruchs läßt den Grundsatz gelten: »Eins ist, und außer diesem Einen ist schlechthin nichts« (GA II/13, 56). Der Gegensatz »Außer dem Einen ist etwas« wird negiert und seinsmäßig modifiziert. Zwar gibt es etwas, was faktisch außer dem Absoluten da ist, nämlich das Denken, was den Gedanken des Absoluten denkt, aber solches Denken hat nicht den Seinsmodus des wahren, von sich seienden und aus sich lebenden Seins. Ihm kommt die formale Bedeutung zu, Bild, Schema, Erscheinung des Seins zu sein, das sich unmittelbar als Bild des Bildes intelligiert und zur Darstellung bringt. Wahre Philosophie steht in diesem Reflexionsstand, da sich das absolute Wissen auf sich als Dasein, Bild und Schema des absoluten, in sich geschlossenen Seins und Lebens besinnt.
40 Vgl. Vf.: Religion und Mystik. Fichtes Abwehr des Mystizismus, 1993.
2. Abschnitt: Markierung des veränderten historischen Anknüpfungspunktes 255
Daraus resultiert in eins die Auflösung des Widerspruchs zwischen Gott und Welt, zwischen der wandellosen Einheit des Seins und der Mannigfaltigkeit und Vielheit der sich wandelnden Welt. Transzendental zu Ende reflektiert, spaltet sich gar nicht die einfache, ununterscheidbare Einheit göttlichen Seins und Lebens auf, indem sie selbst zerteilt und vervielfältigt wird. Das Sein bleibt ewig in sich verborgen, und ohne alle Beziehung mit dem Wandel. Das Da-Sein aber ist »nicht etwa das absolute selbst [...]. Nur sein Bild« (GA II/13, 58). Mithin betrifft alle Sonderung, Disjunktion, Aufspaltung in die Mannigfaltigkeit und Vielheit der gegenständlichen Welt nicht das Sein selbst, sondern die Erscheinung des Seins, das absolute Wissen, das sich intelligierende Dasein als Bild, da die Welt in ihren apriorischen Formen der Mannigfaltigkeit zur Erscheinung gebracht wird. Das legt den Finger in den wunden Punkt des Spinozismus und dessen spekulative, unbesonnene Rezeption durch Schelling und Hegel. Im Nichtbesinnen des absoluten Wissens auf sich konstruieren dogmatische Systeme die Entfaltung des Einen ins Viele innerhalb des absoluten Seins, anstatt sie innerhalb der Erscheinung im Schematismus des Wissens durchsichtig und vollständig abzuleiten. Die historische Einleitung der Wissenschaftslehre 1812 nimmt also Spinozas Grundgedanken auf, um ihn kritisch besonnen zu transformieren: »In diesem Sinne sind nun auch in der W.L. wahr und passen Sätze des Sp. Systems: Die wahre Parallele. Eins u. alles daßelbe. Hen kai Pan. Alles in dem Einen, alles Eins. – Allerdings, nemlich in der Einen Erscheinung. – In ihm leben, weben, sind wir: ja, in seiner Erscheinung: nimmer in seinem absoluten Seyn« (GA II/13, 60). Werden diese kritische Scheidung der Bedeutungen von Sein und die Funktion der absoluten Reflexion und Sich-Besinnung in Fichtes Ausgang von Spinoza im Auge behalten, dann werden Einwendungen fraglich, welche diese letzte vollkommene Fassung der W.L. 1812 in ihrem Gesamtaufbau in Frage stellen. Das gilt für den Einspruch gegen die Struktur einer dreifachen Hierarchie von Gott, Erscheinung (Ich) und Gegenstandswelt, der Fichte eine Vermischung der metaphysischen Bedeutung von Sein, dem Einssein des höchsten und eigentlich Seienden (Gott) mit dem ontologischen Sinn von Sein, der das Sein alles existierend vorfindlichen Seienden bedeutet, unterstellt (J. Brachtendorf). Und das dürfte mit dem Einspruch streiten, die W.L. 1812 leide darunter, daß sie Fichtes Wissenschaftslehre als Theorie des Selbstbewußtseins übergehe und die Problematik einer reinen
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sich wissenden Selbstbeziehung verkürze (P. Falk).41 Da aber nun die Tragfähigkeit der W.L. 1812 auf jenen Grundlagen des Verständnisses von Sein und Dasein, von absolutem Wissen und Selbstbewußtsein aufruht, die in der Wahrheits- und Erscheinungslehre von 1804 aufgerichtet worden waren, seien vorerst diese Fassungen der ungeschriebenen Lehre auf ihre Haltbarkeit hin untersucht. 3. Abschnitt: Grundlegung der aufsteigenden Einheits- und Vernunftlehre. Eine Durchsicht (W.L: 1804-II, 10.-15. Vortrag) 1. Kapitel: Überblick über den Aufstieg zum Ursprung wahrer Einheit. Vorbemerkungen zur Abstufung von Idealismus und Realismus Die Grundlegung eines Systems der gesamten, d.i. der theoretischen, praktischen und religiösen Wissenschaft ist Aufgabe der Ersten Philosophie als Prinzipienforschung seit Plato. Sie war in der Jenaer Grundlegung epochal und wirkungsgeschichtlich blitzartig einschlagend angelegt worden. Und sie erreicht im 2. Vortragszyklus der Berliner Vorträge der ungeschriebenen Lehre einen Höhepunkt. Diese reife Fassung übernimmt in transzendentaler Besonnenheit die alte Aufgabe, die metaphysische Frage nach der Einheit von Einheit und Vielheit des Seins zu lösen. Dafür bahnt sie aufsteigend einen Weg zur absoluten Einheit, auf dem alles Mannigfaltige auf einen schlechthinnigen Einheits- und Seinsgrund zurückgeführt werden kann. Das eröffnet zugleich den Weg zur Wahrheit, die von allem täuschenden Schein, aber auch von der Mannigfaltigkeit gegenständlicher Erscheinung geschieden ist. Dieser Gedankengang geht über die Fassung der Wissenschaftslehre 1801-02 hinaus. Diese hatte eine Wissenschaft vom reinen Wissen, das in intellektueller Anschauung das Wie ihrer Hervorbringung zur Einsicht bringt, entfaltet. Jetzt aber reicht die Grundlegung tiefer. Das geschieht dadurch, daß reines, absolutes Wissen als Erscheinung des in seiner Genesis undurchdringlichen Absoluten begriffen wird. Das setzt ein absolutes Sein voraus, das seinem eigenen Da-Sein als Wissen einleuchtet. Und es läßt sich zeigen: Die ausgereifte zweite Berliner Vortragsreihe liegt noch der
41 Vgl. J. Brachtendorf: Fichtes Lehre vom Sein, 1995. – P. Falk: Fichtes späte Wissenschaftslehre, 2006.
3. Abschnitt: Grundlegung der aufsteigenden Einheits- und Vernunftlehre.
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letzten durchformulierten Fassung der Wissenschaftslehre von 1812 grundlegend voraus. Dieses nun freilich nicht leicht zugängliche, wiewohl ebenso folgerichtig wie komplex durchkomponierte Werk der philosophischen Weltliteratur ist inzwischen in neuerer Forschung gründlich erschlossen und diskutiert worden (vgl. M. Gueroult 1930. – Vf. 1966, 1970, 1993. – L. Siep 1970. – G. Meckenstock 1973. – J. Widmann 1977. – M. Brüggen 1979. – U. Schlösser 2000 u.a.m.). Um für den Gedankengang der ungeschriebenen Lehre Fichtes in der Fassung dieses Aufstiegs zu Einheit, Wahrheit und Sein eine leitende Durchsicht zu gewinnen, ist er förderlich, dem Methodenweg zu folgen, den die Prolegomena vorgezeichnet hatten. Er führt folgerichtig von faktischen Einsichten aus zu höheren genetischen Einsichten hinauf, die sich in bestimmter Hinsicht wiederum als faktisch und somit als widersprüchlich erweisen, bis in einer höchsten Genesis der Ursprung von Einheit und Mannigfaltigkeit zu hellster Klarheit kommt. Diese Verfahren hat der 12. Vortrag nun für einander übersteigende Standpunkte idealistischer und realistischer Ansichten vorgeführt: »So sind wir daher, unserm wissenschaftlichen Grundgesetze nach, stets zur höheren Genesis aufgestiegen, bis wir uns ganz in dieselbe verlieren werden« (GA II/8, 178). Dabei kommen vier philosophische Positionen zum Zuge: je eine des unteren Idealismus und Realismus wie je eine des höheren Idealismus und Realismus. Diese vier Standpunkte sind nicht willkürlich historisch zusammengeklaubt, sie folgen notwendig der Generalregel, faktische Grundtatsachen immer weiter fort in ihrem Entstehungsund Konstruktionsgesetz zu erforschen. Sie bilden Stufen einer Leiter, auf der eine methodisch geregelte Vernunftwissenschaft bis zum obersten Ursprunge aufsteigt. »Mit einem Worte, deren Ansichten sind unsre dermalige Leiter, bis wir zu ihrem Einheitsprincip kommen und dann ihrer unmittelbar entbehren können« (13. Vortrag; GA II/8, 190). Solcher Stufengang durchläuft also vier unterschiedliche Formierungen von Idealismus und Realismus in ihrem sich übersteigenden Fortgang systematisch unter dem eigenen wissenschaftlichen Grundgesetz. Dem entspricht keineswegs wie in Hegels geistesgeschichtlicher Ideenlogik der Fortgang der Philosophiegeschichte. Zwar weist Fichtes Vortrag auf jeder einzelnen Stufe auf neuere konkurrierende Systembildungen hin – auf die Ansichten von Reinhold und Bardili, auf die Ergüsse Jacobis und natürlich auf die Verschlimmbesserungen durch Schelling –, aber das geschieht in Nebenbemerkungen, die nicht zur Sache selbst gehören. Sie beabsichtigen lediglich, sich gegen Einwendungen und Verunstaltungen inferiorer philosophischer
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Schriftsteller zu verwahren, welche nicht von der Wissenschaftslehre, sondern nur von einem Gespenst der Wissenschaftslehre sprechen. Die wahre Wissenschaftslehre und die eigentlichen Grundprobleme kenne man gar nicht (vgl. 11. Vortrag gegen Reinhold; GA II/8, 166). So verwandle Bardilis gegen Fichte gewendeter Realismus im Handumdrehen ein Urdenken in ein Ursein und ignoriere das Problem, wie denn Ursein und Urdenken verbunden seien (vgl. Brief an Reinhold vom 4. Juli 1800; GA III/4, 242). Jedenfalls erschöpft sich Fichtes Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen idealistischen und realistischen Standpunkten nicht in einer Polemik gegen zeitgenössische Konfusionen. In Rechnung zu stellen sind natürlich auch die provozierenden Streitpunkte im Briefwechsel mit Schelling, die in die Ausarbeitung der WL 1804-II eingewirkt haben.42 Zudem ist es eine schwierige Frage, ob und wieweit Fichtes Vorträge von 1804 indirekt und ohne Namensnennung Entgegnungen zu Hegelschen Ein- und Abschätzungen der Wissenschaftslehre oder auch Angriffe gegen Hegels überschwengliche Grundlegung eines Identitätssystems enthalten. Daß Fichte auch die Kritik an Hegel im Blick hat und sich so nicht nur mit Schelling, sondern auch mit Hegel und dessen eigenständiger Position auseinandersetzt, mag sich aus Fichtes Lektüre der ›Differenzschrift‹, aber auch aus einer Kenntnis von Glauben und Wissen erklären (R. Lauth). Immerhin ist es doch eben wahrscheinlich, daß Fichte Hegels Gegen- und Grundstellung, wie sie sich früh abzeichnen, zur Kenntnis genommen hat. Schelling hatte Fichte ja auf das Erscheinen dieses Werkes aufmerksam gemacht. So lassen sich Fichtes Einwände gegen eine Synthesis post factum, gegen die Widersprüchlichkeit eines sich selbst entzweienden Absoluten, gegen den spekulativen Begriff einer absoluten Identität als Argumente herauslesen, welche die Hegelsche Position meinen. Einleuchtender noch für die Gegenstellung zu Hegel ist die Ansicht, daß Fichte aufgrund von Überlegungen, die mit den Argumenten Hegels gegen die frühe Wissenschaftslehre im we-
42 Vgl. dazu H. Traub: Schellings Einfluß auf die Wissenschaftslehre 1804, 2000. Dieses monumentale Hauptwerk Fichtes habe sich geistesgeschichtlich in und durch die Konkurrenz mit Schelling herausgebildet. Dabei könne als Anregung Schellings notiert werden: die Lösung des Idealismus-Realismus-Problems, die Darstellungsform von Aufstieg und Abstieg, die Ergänzung der Genesis des Sehens durch eine Genesis des Seins. Allerdings dürfte die These, die W.L. 1804 sei nichts anderes als ein zu lang geratener Brief an Schelling, allzu pointiert sein.
3. Abschnitt: Grundlegung der aufsteigenden Einheits- und Vernunftlehre.
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sentlichen übereinstimmen, 1804 eine Position erreicht, die sich der Hegelkritik entzieht (L. Siep).43 Indessen sind Fichtes philosophiegeschichtliche Seitenblicke eher beiläufig und okkasionell eingestreut. Fichte durchdenkt den Geist des Realismus und Idealismus, wie er sich systematisch überzeitlich in einander überbietenden Einstellungen aufrichtet. Dabei gewinnen Positionen des Realismus durchaus eine förderliche, eigene Erschließungskraft. Schon das macht es zweifelhaft, Fichtes überlegene Grundstellung mit einer Form desjenigen Idealismus zu identifizieren, die als leerer Reflexionsstandpunkt einem Realismus entgegensteht. Das hatte bereits der Einbau eines unteren, qualitativen und eines höheren, quantitativen Realismus in die Entfaltung der Jenaer Grundlage erwiesen. Daran ist wenigstens stichworthaft zu erinnern.44 Im Anfange des Ausbaus der theoretischen Wissenschaftslehre stuft Fichte einen qualitativen Realismus als jene Bewußtseinseinstellung ein, welche dogmatisch vom Bestehen an sich seiender Dinge außer uns ausgeht. Solcher Realismus erhebt die qualitative Realität des Ansichseins der vorgestellten Dinge zum obersten Prinzip von Erkenntnis und Sein. Das wird idealistisch durch Reflexion auf die Gesetze unserer Denktätigkeit aufgehoben. Auf höherer Wissensstufe aber gewinnt ein quantitativer Realismus wieder die Oberhand. Dieser erhebt ein Ansichsein des Nicht-Ich, das vom Fürsichsein des Denkens unabhängig ist, zum letzten Erkenntnisgrund unseres theoretischen Weltbewußtseins. Dieses Ansich ist der Anfang und Anstoß dafür, daß die ins Unendliche gehende absolute Tätigkeit des Ich an einer Schranke auf sich zurückgeworfen wird und so eine teilweise, quantitative Einschränkung erleidet. Damit findet sich die Grundlegung der reinen theoretischen Vernunft am Ende
43 Vgl. R. Lauth: Hegel vor der Wissenschaftslehre, 1987, 135-174. – L. Siep: Hegels Fichte-Kritik und die Wissenschaftslehre 1804, 1970. – Dazu J. Heinrichs: Fichte, Hegel und der Dialog, 1972. – Das Verdienst, die Fichtekritik der ›Differenzschrift‹ kritisch analysiert und damit eine Betrachtung der Streitsache auch von Fichtes Seite initiiert zu haben, gebührt H. Girndt: Differenz des Fichteschen und Hegelschen Systems in der Hegelschen Differenzschrift, 1965. 44 Es ist ein Vorzug der Untersuchung von I. Schüßler: Die Auseinandersetzung von Idealismus und Realismus in Fichtes Wissenschaftslehre, 1972, die systematische Entwicklung der Durchgestaltungen von Idealismus und Realismus sowohl in der Jenaer Fassung wie in den Berliner Vorträgen klar und deutlich herausgestellt zu haben.
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mit der Erfüllung ihres Leitsatzes ab: Das Ich bestimme sich selbst als bestimmt durch das Nicht-Ich. Es ist der ethische Idealismus der praktischen Grundlegung, welcher diesen quantitativen Realismus aufhebt, indem er sich unter den Leitsatz stellt: Das Ich bestimme sich selbst als bestimmend das Nicht-Ich. Und diese Entschränkung eröffnet zum Schluß die Aussicht auf eine absolute Einheit, die zwar nicht wie in Spinozas System schlechthinnige All-Einheit ist, wohl aber im Streben, alles Unvernünftige unter Gesetze der Vernunft zu stellen, sein soll. Mit dieser Stufe eines ethischen Idealismus hat Hegel die Wissenschaftslehre alle Zeit seines Lebens identifiziert und ›aufgehoben‹. Sie ist in der Grundlegung 1804 weit überschritten worden. Hier wird die idealistische wie die realistische Denkart als in der Wurzel faktisch und daher als untauglich charakterisiert, das oberste Prinzip in absoluter Genesis aufzuklären. Der Idealismus stellt sich auf den Standpunkt der Reflexion, der alles reale Ansich auf das Denken des für sich seienden Bewußtseins zurückstellt. Dieser hartnäckige Reflexionsstandpunkt, der faktisch immerzu möglich ist, bleibt in der Wurzel dunkel; denn er beläßt es bei dieser seiner einzigen Gewißheit, ohne weiter darüber Rechenschaft zu geben. Nicht anders steht es mit der realistischen Denkart. Sie setzt den realen Inhalt unter Abstraktion von der Relation auf das faktische Fürunssein als das schlechthinnige, an sich seiende Wahre. Das ist selber bloßes Faktum, da der Realist keine weitere Rechenschaft darüber ablegt, warum und nach welchem Entstehungsgesetz das Reale die Wahrheit reinen Wissens ist. Also ist die Wissenschaftslehre weder Idealismus noch Realismus. »Beide sind daher in der Wurzel faktisch, und noch ganz abgesehen davon, daß sie, einseitig aufgestellt, jedes das andere aufheben, tragen sie an sich das Zeichen ihrer Untauglichkeit zum höchsten Princip der W.L. schon in ihrer Facticität« (12. Vortrag; GA II/8, 180). Gleichwohl sind die vier hervortretenden Positionen von Idealismus und Realismus nicht gänzlich zu durchstreichen. Sie behalten in ihrer eingeschränkten und zu Bewußtseinsmomenten abgesetzten Wahrheit eine zweifache Funktion. Einer Wahrheitslehre dienen sie als Stufen einer Leiter im Aufsteigen zum obersten Prinzip
3. Abschnitt: Grundlegung der aufsteigenden Einheits- und Vernunftlehre.
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der Einheit, einer Erscheinungslehre dienen sie im Absteigen zur Vielheit als Bewußtseinseinstellungen, in welchen sich das Mannigfaltige konstituiert.45 2. Kapitel: Einblick in die Formierung der Gegenpositionen: das »lebendige Durch« Der neue Ausgang, der zu den weiterführenden Gegenstellungen von Idealismus und Realismus hinleitet, ist das problematische Resultat einer genetischen Klärung. In ihr kommt jenes Fundierungsverhältnis, welches Begriff und Leben aufbaut, zur genaueren Ansicht. Das stellt der 11. Vortrag fest. »Es ist daraus klar, daß das Leben als Leben nicht im Durch liegen könne, obwohl die Form, welche hier das Leben annimmt, als ein Uebergehen von Einem zum Andern, im Durch liegt« (GA II/8, 160). Faktisch liegen das Durch und das Leben zusammen vor. Das ist evident, und jedermann kann es, bei genügender Aufmerksamkeit, in seinem Bewußtseinsvollzug finden. Dabei benennt die befremdlich wirkende substantivierte Präposition ›das Durch‹ sachgerecht das dia-lektische In-Beziehung-Setzen unseres Begriffsvermögens. Seit Platos Entdeckung des Begrifflichen kommt die vielgültige Einheit einer Idee eben dadurch zustande, daß Eines in seinem wesenhaften Sein an sich (eidos) durch eine durchgängige Ansonderung von allem anderen, das es nicht ist, umgrenzt, definiert, wird. Das gilt in der neuzeitlichen Wende von der Platonischen Idee zur Cartesischen Vorstellung, zur idea qua perceptio, auch für den Durchgang der Fichteschen Grundbegriffe. In den Erhebungen der Jenaer Grundlegungen wird das Ich ja dadurch definiert, daß es nicht Nicht-Ich ist, und das Nicht-Ich dadurch, daß es nicht Ich ist. Mithin geht der Begriff von Einem, es in seinem Eigenwesen erfassend, abgrenzend, durchnehmend, zum Anderen über. In dieser Form des fort- und zurückgehenden Übergehens vom einem zum anderen lebt die Wirklichkeit, der aktuose Vollzug, die Energie unserer Vernunftnatur. Also kommt faktisch das Leben geistiger Tätigkeit und reiner Aktuosität in der Form dialektischen Durch-Nehmens zum Vollzug. Aber lebt unsere Vernunfttätigkeit
45 Zur Textkommentierung vgl. Vf.: Fichte. Sein und Reflexion, 1970. – Eindrücklich hat der verdienstvolle japanische Fichteforscher und Fichteübersetzer Ch. Kumamoto: Sein – Bewußtsein – Relation beim späten Fichte, 1979 den Weg des Bewußtseins zur absoluten Einheit als Weg der Reflexion auf seinen Ursprung, der zugleich der Weg der Negation desselben ist, erläutert und den Mittelpunkt im Gesetz ermittelt: Das Wissen soll sich sehen als Schema göttlichen Lebens.
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ursprünglich aus sich selbst? Anders, Kant näher gefragt: Ist die einigendsondernde Einheit des reinen Selbstbewußtseins ein Urakt der Spontaneität? Die Wissenschaftslehre 1804 fällt über die Dynamis des Durch ein Urteil, das für den Prinzipienanspruch der idealistischen Subjekt-Metaphysik wortwörtlich tödlich ist. »Es hat, bei aller Anlage des Lebens, dennoch in sich selber nur den Tod« (GA II/8, 160). Es besitzt die Anlage zum Leben. Das ist ein alter, Platonisch-Aristotelischer Grundsatz über unsere denken könnende Seele. Sie ist Anlage, Möglichkeit, Ideen wirklich vernehmen zu können. Nach Plato heißt ja die Seele Ort der möglichen Anwesenheit von Ideen. Das besagt in neuzeitlicher Transformation: Unser Bewußtsein hat die Fähigkeit, sondernd einigend die Dinge durchnehmend zu begreifen. Gleichwohl ist es in sich selbst tot, »eben weil es keinen Grund in sich hat, zur Verwirklichung zu kommen« (10. Vortrag; GA II/8, 154). Dem Akt des Bewußtseins eignet die Bewegungsform eines In-Beziehung-Setzens im Hin- und Hergang vom einen zum anderen, aber es bewegt sich anfänglich und ursprünglich nicht von sich selbst. Mithin ist zu unterscheiden: Daß eins nur durch das andere begreifbar wird, schuldet es der Form des Durcheinander; daß dagegen die Anlage der Vernunftform zu wirklichem Leben kommt, ist nicht der Durchheit geschuldet. Das hat Folgen für die Lebendigkeit der Ichheit. Ist das begreifende Durchnehmen Verfassung des Ich-denke und ist das nur Anlage und Vermögen, aber nicht lebendiger Ursprung, dann ist eben das Durch an ihm selbst tot. Damit ist ersichtlich: Das von sich lebende geistige Leben, mit Fichte zu sprechen: das sich selbst effizierende Licht, kommt nicht dem Durch als einem solchen zu. Das nötigt zur Frage: »Wie soll es denn mit diesem [...] in sich todtem, eben weil es keinen Grund in sich hat, zur Verwirklichung zu kommen, wie soll es, sage ich, mit diesem also beschaffenen Durch, jemals zum Leben kommen?« (GA II/8, 154). Faktisch ist dabei evident: Ist das Durch in allen Vernunftvollzügen da und lebendig und lebt es nicht aus sich selbst, dann lebt es aus einem Leben, das aus sich selbst lebt. Mithin vollzieht das sich begreifende Wissen der Vernunft nicht sein eigenes Leben. Es ist in Wirklichkeit und Wahrheit das Leben des Absoluten, das in ihm lebt und immer actu da ist. Die faktisch evidente Existenz des Durch, des dia-lektischen Begreifens, setzt ein Leben jenseits seiner voraus. »Resultat: Existenz eines Durch setzt ein ursprüngliches, an sich gar nicht im Durch, sondern in sich selbst begründetes Leben voraus« (11. Vortrag; GA II/8, 160). Das entspricht ja auch der Aristotelischen Vernunftlehre, welche dem Nous pathetikos die Anlage und Möglichkeit, dem Nous poietikos die aus sich lebende
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Wirklichkeit zuwies und diesen lichtenden Nous »das Göttliche in uns« nannte. Genetisch unklar aber ist noch der Vorgang, wie es zur Einsicht in das Gründungsverhältnis von Begriffsform und dem geistigen aus sich lebenden Leben kommt. Hier kommt ein Gesetz zum Austrag, welches das Bedingungsverhältnis eines Soll – dann muß aufstellt. »Soll es wirklich zu einem Durch kommen, so wird ein inneres, an sich vom Durch unabhängiges, auf sich selber ruhendes Leben als Bedingung der Möglichkeit vorausgesetzt« (12. Vortrag; GA II/8, 176). Wie aber dieses transzendentale Verhältnis der notwendigen Bedingung einer bedingten Möglichkeit ausgelebt wird, hängt vom Geist und von der Maxime philosophischer Stellungnahmen ab. Hieran scheiden sich die Geister der Idealisten und Realisten. So besteht der Idealist hartnäckig auf dem Primat der Form dieser Einsicht. Er hält daran fest, daß ein vorauszusetzendes Absolutes doch von uns gesetzt sei und daher im Wissen um dessen freie Operation seinen Ursprung habe. Der Realist dagegen hält sich seiner Geistesart gemäß prinzipiell an Inhalt und Realität des Unbedingten. Er besteht darauf, daß wir endliche Vernunftwesen die Wahrheit nicht erzeugen, sondern daß die Wahrheit, uns ergreifend, das Licht in uns erzeugt. Ihm gilt das geduldige Sichhingeben an das reale Licht der Wahrheit und des Lebens an sich als die angemessene Tugend und Tüchtigkeit eines denkenden Vernunftwesens. So lehrt der Realismus, daß das Wahre und das absolute Ansichsein eines aus und von sich lebenden Lebens uns dann ergreift, wenn wir nur davon ablassen, die Spontaneität des Ich-denke als Quelle und Bedingung zu feiern, die alle unsere Vorstellungen begleiten und verwirklichen muß. Es wird sich zeigen, daß beide Standpunkte nicht nur einseitig sind und faktisch befangen bleiben, sondern einem archaischen Widerstreit in der Riesenschlacht um das Sein zwischen Ideen- und Materiefreunden verfallen. 3. Kapitel: Entfaltung der archaischen Antinomie Im Kantischen Verstande liegt eine Antinomie und Widergesetzlichkeit gerichtlich da vor, wo zwei Parteien für ihre entgegengesetzten Ansprüche das eine und selbe Gesetz in Anspruch nehmen. Solche Antinomie liegt nun im uralten Widerstreit zwischen den Parteien der Ideen- und Materiefreunden um die Wahrheit und Prinzipien ihrer obersten Grundsätze, der Archai, vor. Sie kann daher ›archaische Antinomie‹ heißen und läßt
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sich im Aufsteigen der Wissenschaftslehre als Prozeß der Idealisten mit den Realisten entfalten. Das geht tiefer auf die Antinomie ein als die weltanschaulich verkommenen Parolen: Das Bewußtsein bestimmt das Sein – das Sein bestimmt das Bewußtsein. Genauer zugesehen erhebt der Idealist vor dem Gerichtshof der Vernunft den Anspruch, das Recht und Gesetz von Einheit und Wahrheit auf seiner Seite zu haben, nämlich die Satzung und Energie des sich wissenden und wollenden Wissens. Dem widerspricht der Realist. Der behauptet das Recht und die Befugnis eines Ansich und der Allrealität, wahrer Grund und Anfang von allem zu sein. Er beruft sich am Ende auf das aus sich lebende und durch sich selbst bestehende Leben. Beide Parteien berufen sich für ihre entgegengesetzten Ansprüche auf dasselbe Gesetz: Soll es zum wirklichen Lebens- und Lichtakt des Durch kommen, so ist als notwendige Bedingung dieser Möglichkeit ein absolutes Leben vorauszusetzen. Paradigma eines archaischen Widerstreits ist natürlich Platos Eingehen auf die immer wieder ausbrechende Riesenschlacht oder die Gigantomachie um Wesen und Sein (Sophistes 246c). Diese Schlacht entbrennt immer neu zwischen Ideen- und Materiefreunden. Plato läßt sich auf diese archaische Antinomie ein mit dem Ziel, den einseitigen Idealismus besser zu machen, ihn zu vollenden und dadurch den Streit um die Wahrheit und Einheit des Seins siegreich zu Ende zu bringen. Für eine Explikation der neuentfesselten Antinomie sind zuerst die idealistischen, sodann die realistischen Argumente zu hören, um endlich den Widerstreit aus dem Geist und Charakter noch einseitiger Grundstellungen herzuleiten und in einem Standpunkt aufzuheben, der einer realistischen All-Einheitslehre und einem formalisierten Reflektiersystem die Vorsicht und Disjunktionskraft transzendentaler Besonnenheit voraushat. Der Rechtsanspruch des Idealismus im Blick auf den Bedingungszusammenhang von Begriff und Sein bzw. von Durch und Leben lautet: Die Operation, mit welcher das absolute Wissen seiner Voraussetzung, eines ursprunghaften Lebens und Lichtens, bewußt werden soll, beginnt doch damit, daß wir den Begriff des ›lebendigen Durch‹ energisch denken. Wovon sonach die Einsicht in die Unabtrennbarkeit von Durch und Leben ausgeht, ist die Energie und die freie Anstrengung des Bewußtseins. Nicht das allreale Leben eines Unbegreiflichen außer und über uns, sondern der innere Akt eines Denkens ist Anfang und Grund dieser Evidenz. »Das innere Leben dieses Begriffes sei Princip der uns ergreifenden energischen Einsicht eines Lebens jenseits« (12. Vortrag; GA II/8, 176). Das schlägt eine realistische Positi-
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on mit der Behauptung nieder, die Hypothesis eines bewußtseinsunabhängigen, göttlich-absoluten Lebens an sich sei nichts als ein notwendiger Gedanke. Und der Idealismus beharrt auf dem inneren Leben des Begriffs und beansprucht nach wie vor den Aktus der Spontaneität des Ich-denke als den Mittelpunkt, von dem aus die Vorstellung allrealen Lebens ausgeht. »Somit ist der wahre Mittelpunkt, das eigentlich ideale prius, nicht einmal mehr der Begriff, sondern das inwendige Leben, dessen posterius erst der Begriff ist« (11. Vortrag; GA II/8, 162). Und dieser idealistische Prinzipienanspruch beruft sich eben auf das Grundgesetz allen Wissens: Soll das Absolute als solches einleuchten, dann muß der Begriff ein absolutes Ansich voraussetzen. Dieses problematische Soll legt der Verteidiger des Idealismus so aus: Das unbedingte, an sich selbst bestehende und von sich aus lebende Licht und Leben ist unter eine Bedingung seiner Möglichkeit gesetzt, nämlich daß es zum inneren Leben durchnehmenden Begreifens komme. Das Sollensgebot ergeht zuerst an die Selbständigkeit und Spontaneität des immanenten Wissensvollzugs. »Das Soll ist eben der unmittelbare Ausdruck seiner Selbstständigkeit; aber ist seine innere Form und Wesen selbstständig, so ist auch sein Inhalt selbstständig« (GA II/8, 162). An der freien Selbständigkeit und Energie des inneren Bewußtseins hängt der tiefere Zusammenhang von Begriffsform und Allrealität, von Ansichsein und Fürunssein, von Durch und Leben. »Dies, sage ich, wäre idealistisch argumentiert« (11. Vortrag; GA II/8, 164). Diesen Arche-Anspruch bestreitet der Realist. Dessen Grundüberzeugung lautet: Anfang und Realgrund ist das vorauszusetzende, aus sich selbst lebende, alles belebende Leben und das sich selbst effizierende, alles erhellende geistige Licht; und dieses allreale Wesen ist nicht für uns und schon gar nicht durch uns erzeugt, sondern schlechthin an sich. Das hat selbst ein naiver Realismus erklärt. Das Wahre ist das Sein an sich; das Sein bestimmt unser Bewußtsein. Im Andenken an die Konfundierung von dialektischem Begreifen und urrealem Leben erhebt sich der Realismus zu einer kritischeren Einstellung. Wovon dieser Zusammenhang ausgehe und worin er gründe, sei nicht die formale Tätigkeit und das innere Leben des durchgehenden Bewußtseins, sondern das Ergriffensein vom absoluten Inhalt. Es ist ein sich selbst effizierendes Licht, das uns einleuchtet, nicht unser Licht, welches das Absolute erleuchtet. Daher schreibt die Generalregel des Realismus vor, »daß man nur nicht hartnäckig auf dem Princip des Idealismus, der Energie der Reflexion, beharre, sondern sich nur geduldig jener gegenüberstehenden Einsicht hingebe. Realistische Ansicht« (12. Vortrag; GA II/8, 178).
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Teil III: Fichte
Nun beruft sich auch dieser Arche-Anspruch auf das nämliche Grundgesetz: Soll es zur Existenz des Durch kommen, so muß ein aus sich lebendes und an sich bestehendes urreales Leben sein. Realistische Auslegung aber negiert das innere Leben im Bewußtsein als Anfang, um das Bedingungsverhältnis umzukehren. Nicht steht das absolute Leben unter der Bedingung, als notwendiger Gedanke von uns vorausgesetzt zu werden. Unsere Form des reflektierenden Wissens und des durchlaufenden Begriffs steht unter der Bedingung, sich vom Absoluten ergreifen zu lassen, ohne das Gesetz des Einleuchtens fassen und diktieren zu können. Soll das Absolute einleuchtend da sein, dann muß der Begriff sich setzen und sich vernichten, und das heißt jetzt: dem idealistischen Prinzipienanspruch entsagen. »Dieses so eben geführte und näher charakterisirte Räsonnement ist nun das realistische« (11. Vortrag; GA II/8, 168). Soweit ist die archaische Antinomie expliziert. Sie wird nun dadurch entkräftet, daß der Geist beider Gegenparteien in seiner Beschränktheit bloßgestellt und in seiner bloß faktischen Radikalität entlarvt wird. Der Geist des Idealismus ist borniert. Er begnügt sich ja einseitig mit der reinen Form aller Vorstellungen, hält diese für das Erste und Unbedingte und erklärt den realen Inhalt zum ableitbaren, objektivierbaren Zweiten und Bedingten. Außerdem ist er hartnäckig, da er in keinem Fall und auf keiner Stufe davon abläßt, alles Sein an sich als ein von uns vorgestelltes Bestehen außer uns zu erklären. So erscheint eben selbst das allreale Leben des Absoluten als ein von uns notwendig zu denkender und als solches zu reflektierender Gedanke. Diese Einseitigkeit idealistischer Reflektiersysteme rührt von der Faktizität dieser Denkart her. »Sie war daher in ihrer Wurzel faktisch, nicht etwa in Beziehung auf etwas Anderes ausser ihr (z.B. der Kantische höchste Satz), sondern in Beziehung auf sich selbst. Sie setzt sich eben schlechthin, woraus nun alles Uebrige von selbst folgt; und über dieses absolute Setzen entbindet sie sich der weiteren Rechenschaft« (12. Vortrag; GA II/8, 178-180). Das evidente Faktum des Idealismus besteht in der Einsicht, daß das Denken ist, sofern und solange es sich selber setzt – nicht nur in Kants Grundsatz, daß das Ich-denke alle meine Vorstellungen von anderem muß begleiten können. Der unvollendete Idealismus baut auf diesem Grunde. Das ist zwar evident, aber eben nur faktisch und ohne genetisch ausgewiesene Klarheit. Nun steht es aber mit dem Geist des Realismus nicht besser. Dessen Überprüfung ergibt, daß auch er einseitig, beschränkt und faktisch ist, indem er sich mit Tatsachen begnügt und daher an einem Mangel an Selbstaufklärung und Selbstdurchdringung leidet. Seine Maxime ist einseitig auf
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einen an sich bestehenden Inhalt unserer Einsicht fixiert. Sie leitet dazu an, von der hartnäckigen Reflexion ganz abzulassen und nicht zählebig zu wiederholen, daß jegliches Sein an sich doch nur als solches, also in sondernder Wissensform erscheint. So aber verabsolutiert der Realist die inhaltliche Seite und gibt die Form preis. Im Streite um das Einheits- und Wissensprinzip bedeutet das: Der Geist des Realismus gewinnt zwar ungesonderte Einheit und ursprüngliches Leben, aber er verliert die Mannigfaltigkeit und Vielheit aus den Augen, wenn denn das Prinzip aller Spaltung in den reinen Formen unseres Selbstbewußtseins liegt. Deren Erzeugungsgesetze und Schematismen sieht der einseitige Blick des Realisten nicht. Und auch im Falle realistischer Rechtsansprüche ist deutlich: Deren blinde Einseitigkeit gründet in einer bloß faktischen Evidenz. Der Realist stützt sich auf den vorfindlichen Inhalt eines Seins, das an sich und außer uns besteht und von sich lebt, ohne das Gesetz seiner Genesis zu bedenken. »Dieses Beruhen im Inhalte aber ist selber ein absolutes Faktum, das sich eben, ohne weitere Rechenschaft über sich geben zu wollen, absolut macht« (12. Vortrag; GA II/8, 180). Der realistische Geist glaubt sich der Einsicht vergewissert zu haben, daß ein an sich seiendes, auf sich beruhendes und von sich lebendes Sein ist. Er enthebt sich der Aufgabe, sich darauf zu besinnen, wie ihm dieser Inhalt entstanden ist und ihn ergreifen konnte. Mithin hängt auch dem realistischen Prinzipienanspruch der Mangel bloß faktischer Evidenz an. Beide im archaischen Streit liegende Seinsansichten sind also gleichermaßen in der Wurzel faktisch. Dieser Urteilsspruch löst die archaische Antinomie und die über 2000jährige Riesenschlacht um Scheinprobleme auf und bereitet eine absolute Synthesis von Wissen und Leben vor, welche sich von den Relationen sowohl eines höheren Idealismus als auch eines höheren Realismus absolviert. 4. Kapitel: Überstieg über die Standpunkte des höheren Idealismus und höheren Realismus Um den adäquaten Standpunkt eines philosophisch haltbaren Selbst- und Seinsverständnisses zu gewinnen, ist es nötig, über die faktischen Restbestände eines aufsteigenden Idealismus und Realismus hinauszudringen. Das erfordert, auch die Abstufungen dieser Gegenpositionen ins Auge zu fassen, eben auch darum, um gängige Identifizierungen der Wissenschaftslehre mit Idealismen zu durchstreichen, welche die ungeschriebene Lehre gründlich aufgehoben hat. Worin also liegt, zuerst gefragt, der behauptete
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Niveauunterschied zwischen einem unteren und höheren Idealismus? Ein unterer Idealismus hält sich auch im Gewahren des Lebendigen durchaus an die unaufhebbare Tatsache, daß das energisch vollzogene Sehen und Denken von etwas sich evidentermaßen seines Sehens und Denkens bewußt ist. Das ist der Haltepunkt für die Einsicht, daß der Begriffsform des dialektischen Durch und entzweienden Als die Urrealität des durch sich bestehenden und von sich lebenden Lebens vorauszusetzen ist. Es sei eben der Vollzug des sich sehenden Sehens, welcher den Begriff in seiner durchnehmenden Formalität durchdenkt und ein ursprüngliches Leben voraussetzt. Freilich kommt solch ein Reflexionsstandpunkt des unteren Idealismus nie zu einem Unbedingten. Er läßt keinen schlechthin an sich seienden Ursprung zu, da er ihn ja als seine eigene notwendige Bedingung ausdenkt. Dagegen steigt der höhere Idealismus zur Anerkennung eines Unbedingten auf. Er wendet sein energisches Denken direkt auf ein absolutes Ansich, dergestalt, daß er sich einer lebendigen Sichkonstruktion des Absoluten hingibt. So leuchtet dem absoluten Wissen das sich selbst effizierende Licht ein, »welches einen neuen, jedoch höher liegenden Idealismus gäbe« (12. Vortrag; GA II/8, 186). Dieser Standpunkt ist den Versicherungen eines unablässig auf die Reflexionsform pochenden Idealismus überlegen, der jegliches Ansichsein abstreitet und selbst die Selbstkonstruktion des Absoluten als einen von uns konstruierten Gedanken behauptet. Der höhere idealistische Standpunkt leugnet die Selbstkonstruktion des Absoluten nicht, aber er bleibt idealistisch-faktisch. Der zentrale Mittelpunkt im Aufstieg zur Selbstkonstruktion des Absoluten durch Vernichtung der Reflexionsform ist die Freiheit eines energischen Denkens. Sie ist es, die dem Soll entspricht. Soll es zum Absoluten in Vernichtung des Begriffs kommen, dann muß der Begriff energisch intuiert werden. »Also, ungeachtet wir nicht läugnen können, daß es sich selber construirt und mit sich das Licht, war doch dieses Alles bedingt durch unsere energische Reflexion, diese sonach das höchste Glied von Allem« (18. Vortrag; GA II/8, 192). Wie der Idealismus hat sich auch der Realismus auf ein höheres Wissensniveau begeben. Der niedere und naive Realismus, besteht, wie gesagt, auf dem einseitigen Faktum, daß unser Bewußtsein ein an sich bestehendes Reales außer sich so vorstellt, daß es durch das reale Ansichsein richtiggehend bestimmt ist, und erklärt eben dogmatisch, das Sein bestimme das Bewußtsein. Ein höherer Realismus nimmt zur Kenntnis, daß das Sein an sich den Sinn enthält, Negation des Fürunsseins zu sein und daher nur negativ begriffen werden kann. Zugleich erklärt dieser höhere Realismus, diese Sinn-
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gebung bedeute, die positive Konstruktion des urrealen Seins durch uns abzuschreiben und die Selbstkonstruktion des Absoluten einzuräumen. Mit dieser Sichtkonstruktion gehe unabtrennlich das sich selbst effizierende Licht geistigen Lebens und Intuierens auf. Und diese Ursprungsgeschehen sei unbedingt. Es sei nicht auf die Reflexionsform unseres endlichen Bewußtseins angewiesen. »Unmittelbar mit dieser seiner Construction war nun die Intuition, das absolute Entsprechen des Lichtes und der Einsicht verknüpft. Dieses wollen wir jedoch nicht erzeugt haben, indem es offenbar sich selber erzeugt und uns mit sich fortreißt. – Also die absolute Sichconstruction des Absoluten, und das ursprüngliche Licht, sind ganz und gar das Eine, Unzertrennliche, und das Licht geht selber aus dieser Sichconstruction, so wie diese wieder aus dem absoluten Lichte hervor. Es bleibt demnach hier von einem vorgegebenen Uns Nichts übrig: – und dies wäre höhere realistische Ansicht« (12. Vortrag; GA II/8, 186). Diese Ansicht scheint zuhöchst dem Anspruch gerecht zu werden, die Ursprungsverhältnisse von Licht und Leben zu klären. Und sie macht denn auch evident, wie die Selbstkonstruktion des sich selbst erzeugenden Lichtes uns zum Bewußtsein kommt, nämlich durch Vernichtung des Begriffs als dem Ersten Ursprunge und durch Absetzung des Ich-denke als ursprünglich einigenden Anfangsgrund. Nun aber ist auch das schon deutlich geworden: Das unterstellte Ansichsein, das aus sich lebende und lichtende Leben, ergibt keineswegs einen begreifbaren Einheitsgrund, auf den alle Zweiheit, Mannigfaltigkeit, Vielheit zurückzuführen ist; denn es enthält Zweiheit und Relation, sofern es allein in der Korrelation zum Fürunssein Bedeutung gewinnt. An sich zu sein bedeutet, nicht für uns zu sein. Hier stößt der Realismus an seine Grenze. Er sollte zu einer unentzweiten ursprünglichen Einheit aufsteigen, er bringt es aber nur zur relativen Einheit, die erst durch die Zweiheit von Ansich und Füruns zu fassen ist. »Mit Einem Worte, das Ansich, tiefer erwogen, ist kein Ansich, kein Absolutes; denn es ist keine wahre Einheit, und sogar unser Realismus ist nicht zum Absoluten durchgedrungen« (14. Vortrag; GA II/8, 222). Was er bietet, ist die Projektion einer Einheit allein durch Zusammensetzung zweier vorgegebener Glieder. Folgenreicher noch für die Vollendung von Einheits- und Identitätssystemen ist die Grundregel einer undurchschauten proiectio per hiatum. »Ferner geschieht dies Projektion schlechthin unmittelbar, per hiatum, ohne gehörige Rechenschaft von sich ablegen zu können« (GA II/8, 224). Seit Plato verlangt philosophisches Forschen Rechenschaft aus Gründen zu geben (logon didonai), und auch der philosophische Geist des Realis-
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mus fordert, Rechenschaft über das Faktische aus zuständigen Entstehungsgesetzen zu geben und keine irrationale, durch keine ratio vermittelte Kluft zuzulassen. Gleichwohl klafft in der Systembildung des höheren Realismus solche irrationale Kluft auf. »Denn wie aus der Einheit, als bloßer reiner Einheit, ein Ansich und Nichtansich folge, läßt sich nicht erklären« (GA II/8, 224). Wenn die Grundstellung des höchsten Realismus keine genetische Evidenz auf ihrer Seite hat, so behält es lediglich das Faktum unmittelbaren Bewußtseins zum Unterpfand. Sie stützt sich allein auf die Möglichkeit, das Ansich zu denken und als Selbstkonstruktion zu unterstellen. Mithin baut der Realismus auch auf höchster Stufe undurchschaut auf die Möglichkeit und Anlage des Bewußtseins. Das aber zwingt zu einem überraschenden Eingeständnis. Der höhere Realismus sei ein sich selbst nicht kennender Idealismus. »Unser höchster Realismus daher, d.h. der höchste Standpunkt unserer eigenen Spekulation, ist hier selber als ein bisher nur in seiner Wurzel verborgen gebliebener Idealismus aufgedeckt; er ist im Grunde faktisch, und proiectum per hiatum, besteht nicht vor seinem eigenen Gericht, und ist nach der Regel, die er selbst aufstellt, aufzugeben« (GA II/8, 224). Dieses Resultat gibt nun dem leitenden Grundgesetz allen Wissens für den Aufstieg zum Absoluten seine äußerste Zuständigkeit frei. Das Gesetz verfügt: Soll das Absolute von sich einleuchten, dann muß der Begriff gesetzt und vernichtet werden. Nun verurteilt dieses Gesetz nicht nur den Idealismus, sofern und solange er auf der Bewußtseinsrelation, dem Fürunssein des Ansich, und auf der sondernd-vereinigenden Reflexionsform, dem Durch und dem Als, besteht. Es zwingt auch den höheren Realismus zur Aufgabe, sofern dieser am Ende doch an der Bewußtseinsbeziehung hängt. Das fördert die für eine vollendete Systemgründung entscheidende Frage zutage. Sie lautet nunmehr: Wie kommt ein Aufstieg zum absoluten Einheits- und Wahrheitsgrund über solche realistische und idealistische Befangenheit in Bewußtseinsrelationen hinaus? 5. Kapitel: Einsicht in Fichtes These vom Sein Wie also kommt es am Ende des Aufstiegs zu einer Grundlegung, welche dem Methodenplan zufolge alles Mannigfaltige auf absolute Einheit zurückführt? Näherhin gefragt: Durch welche methodische Operation lassen sich alle Abstufungen unserer Bewußtseinsrelationen fortbringen, um zu einem einfachen, relationslosen Absoluten zu kommen, welches das Sys-
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tem einer vollendeten Vernunftwissenschaft trägt? Fichtes weithin übersehener Bescheid lautet: Das geschieht im besonnenen Verfahren einer absoluten Abstraktion. Solche Abstraktion geht radikal so vor, daß sie von allen Relationen des Ansichseins und Fürunsseins absieht, in denen die lichtvolle Lebendigkeit des Seins idealistisch wie realistisch befangen bleibt. Zwar können wir die Bezüge der Reflexion und die Relationen des Selbstbewußtseins und Weltbewußtseins niemals vom Sagen und Denken des Absoluten in seiner einfachen, ungesonderten Einheit abhalten. Aber wir können sie als inadäquat in Rechnung stellen und gleichsam vom Resultat abziehen. Dabei erweist sich die absolute Abstraktion als ein positives Wegsehen. Sie vollbringt ein hinwegsehendes Zusehen, welches zusieht, was nach Abzug aller Bewußtseinsrelationen und nach Absehen von der dialektischen Begriffsform an Sein, Licht und Leben übrigbleibt. Der Einwand (Hegels), das Wegnehmen dessen, was das Werkzeug des Begriffs am Absoluten getan hat, lasse das Absolute, wie es war, trifft Fichtes Standpunkt kritisch abstrahierender Besonnenheit nicht. Nach Hegel ist die Arbeit des absoluten Begriffs die Selbstentfaltung des einfach-einen Seins und Wesens zur Fülle der absoluten Idee. Für kritische Besonnenheit ist die formale Schematisierungsleistung des Begriffs dagegen die Entfaltung des Seins als vergegenständlichte Erscheinung. Und das wird zum Schein, wenn die Entstehung der Erscheinungsmannigfaltigkeit mit der Selbstentfaltung des Absoluten vermischt wird, wie es in den Identitätssystemen Schellings und Hegels geschieht. Für das Verfahren der Wissenschaftslehre 1804 jedenfalls ist diese Vollendungstendenz festzustellen. Das Vorgehen der absoluten Abstraktion überbietet dabei die Methode relativen Abstrahierens, wie sie die frühe Einleitung vorgeführt hatte. Die frühe Auseinandersetzung mit allem Dogmatismus hatte argumentiert: Das, was in aller Erfahrung vorliegt, ist eine Verbindung von Ding und Intelligenz; wird nun angesichts des vorgestellten Dinges davon abstrahiert, daß es ein von uns Vorgestelltes ist, dann bleibt das Ding an sich übrig, und der Dogmatismus hat durch Wegsehen sein Prinzip ersehen. Wird umgekehrt vom vorgestellten Ding abstrahiert, daß es als reales Ding und an sich bestehend seiend ist, dann bleibt die Intelligenz, d.i. das sich vorstellende Vorstellen als idealistisches Prinzip der Dinge als Erscheinung übrig. Einer Durchdringung der Standpunkte eines höheren Idealismus wie des höheren Realismus ist klar geworden: Beide Prinzipienansprüche verfahren einseitig abstrahierend und bleiben im Faktum der SubjektObjekt-Relation hängen. Erst eine absolute Abstraktion läßt die beidseitige
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Relation des Ansichseins und Fürunsseins fallen, um das reine, einfache, eine Sein übrig zu behalten. Dieses absehende Sehen sieht zu, was das von allen Relationen absolvierte Absolute in seiner Wahrheit ist. »Was ist nun in dieser Abstraktion von der Relation dieses reine Sein?« (15. Vortrag; GA II/8, 228). Fichtes These vom Sein als Resultat einer absoluten Abstraktion lautet: »Das Sein ist durchaus ein in sich geschlossenes Singulum des Lebens und Seins, das nie aus sich herauskann« (16. Vortrag; GA II/8, 242). Und die Lesart der ›Copia‹ lautet: »Das Seyn ist durchaus ein in sich geschlossenes Singulum des unmittelbaren lebendigen Seins, das nie aus sich heraus kann« (GA II/8, 243).46 Dabei spricht diese These vom Sein des Absoluten unter dem Vorbehalt der Besonnenheit aus, es sei objektiv unfaßlich. Um es überhaupt ins Auge zu fassen, ist eben die methodische Anstrengung unerläßlich, alle Bewußtseinsrelationen in bisher ungeübter absoluter Abstraktion davon abzuziehen. Nur so komme es zur kritisch durchreflektierten Aussage, das Absolute sei alles Licht und Leben, aktivisches Wesen – esse in mero actu – ohne jedes weiter bestimmendes Prädikat. Es öffnet sich nicht dem Auge unseres sich intelligierenden Sehens, es bleibt in sich geschlossen. Dieses Geschlossensein in sich kann ›Inkludenz‹ heißen. Und diese Inkludenz hebt sich ebenso streng von der Immanenz des Alls in der Einheit der einzig-einen Substanz (Spinozas »Deus sive natura«) ab wie von der Differenz-Lehre Schellings oder der Rede von der Identität und Nicht-Identität bei Hegel. Ihr ist eine absolute Identität, die sich selbst entzweit und das heißt: sich selbst paralysiert, fremd. Und ihr kommt schon gar nicht das merkwürdige Ansehen einer sich quantitativ differenzierenden Indifferenz zu. Und Fichtes These vom Sein verabschiedet auch die geometrische Methode eines Schlußfolgerns aus substanzmetaphysischen Axiomen. Spinozas mos geometricus, aber auch die spekulative Methodik des Identitätssystems
46 Ausgehend von dieser Seinsthese hat H. Minobe: Die Stellung des Seins bei Fichte, Schelling und Nishida, 2002 die Frage nach dem absoluten Sein neu zur Diskussion gestellt, und zwar in Betracht von Schellings Wendung gegen das Insichgeschlossensein des Absoluten für das göttliche Sein als unverborgene Wirklichkeit, sowie unter Einbeziehung von Nishidas ›reiner Erfahrung‹ vom ›Ort des Nichts‹ her. – Vgl. ders.; das Absolute in der Wissenschaftslehre 1804, 2000. – Den parallelen Übergang vom Handeln zum Sehen bei Nishida und Fichte und die Differenz in der Transzendenz von Ort (Basho) und Licht hat A. Omine bedacht: Theorie des Bewußtseins bei Fichte und Nishida, 1989.
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sind auf Ab- und Irrwegen transzendentaler Nicht-Besinnung. Da steige eben das Eine und Unveränderliche selbst in das Veränderliche und Viele hinab und verfalle damit dem eigenen, inneren Widerspruch. Solch unbesonnenes Seinsverständnis und Systementfalten beirre eben »auch die Spinozisten unter unseren Zeitgenossen« (GA II/10, 188). Nicht zuletzt trennt sich Fichtes Denkweg auf der Höhe seiner methodisch erworbenen These vom Sein auch deutlich von der Glaubensphilosophie Friedrich Heinrich Jacobis. Sicherlich war dessen Briefabhandlung Jacobi an Fichte, 1799 von beträchtlichem Einfluß. Da waren ja ebenfalls das Ich als das sich selbst Übersteigende und Gott als das Unbegreifliche angesehen. Jacobi beteuert: »Mit unwiderstehlicher Gewalt weist das Höchste in mir auf das Allerhöchste über und außer mir; es zwingt mich, das Unbegreifliche – ja das im Begriff Unmögliche zu glauben« (JW III 35). Während aber Jacobi auf den »Instinkt der Vernunft« und auf das Glaubensgefühl, das unsere Nichtigkeit erschließt, setzt, dringt Fichte auf wissenschaftliche Evidenz. Und während Jacobi einen lebendigen Gott außer uns postuliert, deduziert Fichte das göttliche Leben, das, in sich geschlossen, in uns und nur in uns da ist und lebt. Fichtes Satz vom Sein bedenkt das Absolute in seinem vollständigen Ineinanderaufgehen von Leben und Bestand, von Subjektivität und Substantialität. Diese einfach-eine, ununterscheidbare, durch keine Reflexion aufteilbare Einheit bleibt in sich. Es ist ein Singulum über aller Dualität und ganz und gar inwendiges Leben. Dessen Einheit hat, nochmals gegen Schelling und Hegel eingeschärft, weder die Eignung sich dialektisch äußernder Identität noch die einer differenzierbaren Indifferenz. Sie ist radikale, mit keinem Wort weiter bestimmbare, unsägliche Inkludenz. Diese Fassung des inkludenten Seins faßt den Lebensgrund einer transzendentalkritischen negativen Theologie. Sie erklärt: Nichts ist außer dem Einen, dem in sich unzugänglichen, undurchdringlichen Sein und Leben wahrhaft seiend – außer dem absoluten Wissen als dessen Dasein, Bild und sich durchbildende Erscheinung.47 So formieren wir zwar mittelbar unsere Erscheinungswelt, wir
47 K. Düsing: Vernunfteinheit und unvordenkliches Daßsein. Konzeptionen der Überwindung negativer Theologie bei Schelling und Hegel, 1987 entwickelt gründlich und problemoffen Hegels Theorie der absoluten Subjektivität und Schellings Konzept der positiven Philosophie aus den Anfängen des Identitätssystems als Modelle, die negative Theologie (des Neuplatonismus) metaphysisch zu überwinden, und als paradigmatische Möglichkeiten, über eine negative Theologie hinaus zu einer spekulativen
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leben und existieren aber unmittelbar im Lebensvollzug des niemals objektivierbaren und durch uns zu vermittelnden Dasein des Absoluten. Diese Klärung bringt die Vernunft- und Wahrheitslehre zur Vollendung. Auf der Höhe der Wissenschaftslehre 1804, im 15. Vortrag, faßt Fichte diese Vollendung in drei Hauptsätzen zusammen (GA II/8, 230). (1) »Dieses einige Seyn und Leben kann nun durchaus nicht außer ihm selbst seyn, oder aufgesucht werden und kann außer ihm Nichts seyn.« (2) »Es ist nur ein verbales Seyn, denn das ganze substantive Seyn ist Objektivität, die durchaus nicht gilt: und nur dadurch daß man diese Substantialität und Objektivität, nicht blos dem Vorgeben nach, sondern in der That und Wahrheit der Ansicht aufgiebt, kommt man zur Vernunft.« (3) »Wir leben, aber unmittelbar im Lebensakte selber [...] das an sich selber lebende Wir an sich, welches wir begreifen lediglich durch unsere eigene kräftige Vernichtung des Begreifens.« Der Anfang des 16. Vortrags wiederholt die aufgestellten Grundsätze von Sein, Inkludenz und Existenz (Dasein) als Vollendung kritisch-idealistischer Wahrheits- und Vernunftlehre. »Er enthält, sagte ich, und vollendete, was man als einen ersten Theil der W.-L. aufstellen könnte, die reine Wahrheitsund Vernunftlehre« (GA II/8, 242). 4. Abschnitt: Grundlegung der Wahrheitslehre Unablässig hat Fichte es unternommen, die Gestalt einer Vernunftlehre als Wissenschaft vom Wissen durch eine systematische Grundlegung sowie deren Ausfaltung in alle Gebiete der Vernunftwissenschaften und deren Anwendung auf das geschichtliche Leben und die persönlichen Lebensentwürfe der Menschen in höchster Klarheit der Darstellung zur Vollendung zu bringen. Dafür war es unausweichlich, die Grundfrage der Philosophie nach der Wahrheit zu lösen; denn erst eine zureichende Wahrheitsergründung legt das Fundament für eine Vernunftkritik, die darauf aus ist, den Schein und das Blendwerk eines sich selbst bespiegelnden Reflektier-
bzw. ›positiven‹ philosophischen Theologie zu kommen. Die hier aufgezeigten Probleme aber dürften sich verschärfen, wenn sie mit Fichtes transzendental-kritischer Vollendung der negativen Theologie im Beachten der Inkludenz konfrontiert werden.
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systems aufzulösen und die Welt der Erscheinung als Scheinen und Sichtbarwerden wahren Seins aus den Verhüllungen einer vergegenständlichten Welt aufzuklären. 1. Kapitel: Rückgang zur Wahrheitskehre vom Wissen zum Glauben (Die Bestimmung des Menschen, 1800) Es ist die erste exoterische Schrift aus der ersten Berliner Zeit, Die Bestimmung des Menschen von 1800, welche das Wahrheitsproblem aus dem Gebiet der theoretischen Reflexion und der reinen Erkennntnisbegriffe des Wissens in das Gebiet der praktischen Vernunft und der Zweckbegriffe des Willens überführt. Diese Wendung durchläuft in der Meditation des 1. Buches die Cartesianische Bahn vom Zweifel zur Gewißheit selbstbewußten Wissens und liquidiert den Anspruch des Ich-stelle-vor, die Übereinstimmung der Vorstellung mit der aktualen Realität der Dinge zu gewährleisten. Der Fichtesche Dialog des Ich (ego cogitans) mit einem »verruchten Geist« (genius malignus) im 2. Buch hat eine Kehre zum Resultat. Das Ich-denke kann keine Wahrheit als Übereinstimmung unseres Vorstellens mit der Wirklichkeit geben. Es ist und bleibt Traum eines Traumes. Diese Einsicht zwingt dazu, sich einem anderen Wahrheitsgrunde zuzukehren, dem unmittelbaren, innerlich überzeugten Glauben. Diese Kehre wendet sich vom theoretischen Wissen als Vorstellen leerer Nachbilder ab und praktischem Wollen im freien Entwerfen von Vorbildern und Zweckbegriffen zu. »Jene Begriffe, Zweckbegriffe genannt, sollen nicht wie die Erkenntnisbegriffe Nachbilder eines Gegebenen, sondern vielmehr Vorbilder eines Hervorzubringenden seyn« (GA I/6, 255). Glauben nun, der Wahrheit gründet, besteht in der Überzeugung, daß die Handlung des Willens mit dem Vorbild und guten Zweck übereinstimmt. Diese angeborene Glaubensgewißheit baut nicht auf Folgerichtigkeiten des Verstandes im Einsehen von Gründen, sie hört auf die Stimme des Gewissens bei Entscheidungen unseres Handelns. Auf solcher Gewißheit beruht die dreifache Überzeugung einer Übereinstimmung von freiem Handeln mit der irdischen Welt, der Zusammenstimmung der überirdischen Geisterwelt, der religiösen Gewißheit göttlicher Weltregierung. Ihren Ausgang nimmt diese Kehre im 1. Buch, das in seiner Form eines Selbstgesprächs eben an Descartes’ Meditationen erinnert, anläßlich der Qual und Unruhe eines uns zerreißenden Zweifels. Darin findet sich der Mensch hin- und hergerissen zwischen seiner Bestimmung, ein Naturwe-
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sen, d.i. ein Glied in der unendlichen Kette von Ursache und Wirkung zu sein, und der Bestimmung, ein Freiheitswesen, mithin unabhängig von der Kausalgesetzlichkeit der Natur zu sein und autonom zu handeln. Die eine, naturalistische Ansicht befriedigt den Ursachen erforschenden Verstand, die andere, idealistische, folgt der Forderung des Herzens. Nun beruhigt das im 2. Buch hervortretende Wissen diesen fundamentalen Zweifel, der Herz und Verstand des Menschen zerstückt. Es enthebt den Menschen des Zweifels, in welchem er zwischen den Wünschen nach Freiheit und der Verstandeseinsicht in seine Determiniertheit hin- und herschwankt. Davon erlöst das Wissen, daß nicht die Dinge an sich uns determinierend bedingen, sondern daß sie durch uns bedingt sind. Indessen, dieses Wissen des Wissens ist als Wahrheitsgrund unzureichend. Es rettet zwar vor dem Schwanken machenden Zweifel, aber es gibt keinen unbedingten Halt, und zwar aus zwei Gründen. Unbedingt zu sein, bedeutet dem Worte und der Sache nach, kein real bestimmtes Ding und an ihm selbst unbestimmt zu sein. Demnach ist das Wissen an ihm selbst ohne Bestimmtheit und das heißt auch: ohne Halt und feststellende Grenze. Mithin ist das bloße sich wissende Wissen in seiner Nichtbestimmtheit halt- und grenzenlos. Zudem ist der Zusammenhang von drei einschlägigen Grundsätzen bedenklich. Wissen erzeugt immer nur Wissen, Wissen ist und bleibt ein Abbilden, der Seinsstatus des Bildes ist nicht Sein dessen, was es bloß abbildet. Demzufolge ist das Ich als sich wissendes Wissen ein seinsloses Bild von Bildern. »Ich selbst weiß überhaupt nicht und bin nicht. Bilder sind [...]. Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja ich bin selbst dieses nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern« (GA I/6, 251). So tritt ein zweifaches Ungenügen jener Wahrheitssicherung hervor, die das Ich-bin als Fundament eines Reflektiersystems und vom Zweifel nicht zu erschütterndes Fundament aufstellt. Es ist an sich die Leere grenzenloser Unbestimmtheit sowie ein Spiegel, der sich selbst bespiegelt. Die Vorstellung des Ich ist nicht Wahrung der Wirklichkeit, sondern Hinträumen von Bildern und nichtigen Schatten. So lautet das letzte Wort, das der »ruchlose Geist« an das stolze Ich richtet: »Die Realität, die du schon erblickt zu haben glaubtest, eine unabhängig von dir vorhandene Sinnenwelt, deren Sclav du zu werden fürchtetest, ist dir verschwunden; denn diese ganze Sinnenwelt entsteht nur durch das Wissen, und ist selbst unser Wissen; aber Wissen ist nicht Realität, eben darum, weil es Wissen ist. Du hast die Täuschung eingesehen und kannst, ohne deine bessere Einsicht zu verläugnen, dich nie derselben wieder hingeben. Und dies ist denn das ei-
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nige Verdienst, das ich in dem Systeme, das wir so eben mit einander gefunden, rühme: es zerstört und vernichtet den Irrthum. Wahrheit geben kann es nicht; denn es ist in sich selbst absolut leer« (GA I/6, 252). Angesichts der Leere des ich-befangenen Reflektiersystems kehrt sich der Weg zu einem haltbareren Unbedingten als Grund der Wahrheit, nämlich dem Glauben, zu. Dabei bietet der Glaube nicht einfach, wie Schellings und Hegels Abschätzungen suggerieren, eine Zuflucht aus Sehnsucht nach Gott für ein Ich, das seine Leere fühlt. Und Meinungen des Glaubens öffnen auch nicht das weite Feld bloß subjektiven Fürwahrhaltens, in welchem das Spekulative, das dem Wissen entgleitet, verkehrt eingepflanzt wird. Vielmehr erzeugt der Urakt des Glaubens einen Haltepunkt, der sich über die haltlosen Wahrheitsbilder der Reflexion erhebt und deren Wahrheitsanspruch durchstreicht. So sieht es der Meditierende im 3. Buch. »Ich weiß, daß jede vorgebliche Wahrheit, die durch das bloße Denken hervorgebracht, nicht aber auf den Glauben gegründet sein soll, sicherlich falsch und erschlichen ist, indem das durchaus durchgeführte, bloße und reine Wissen lediglich zu einer Erkenntnis führt, daß wir nichts wissen können« (GA I/6, 258). Das dokumentiert unübersehbar Fichtes große Nähe zu Jacobis Glaubensphilosophie, freilich mit dem gravierenden Unterschied, daß Jacobi den Glauben als unmittelbare Instanz unserer theoretischen Wahrheitserkenntnis beansprucht, Fichte dagegen als Wahrheitsorgan unseres praktisch-moralischen Handelns. Dessen Prüfstein ist das Gewissen. »Aus dem Gewissen allein stammt die Wahrheit: Was diesem, und der Möglichkeit, und dem Entschlusse, ihm Folge zu leisten, widerspricht, ist sicher falsch, und es ist keine Ueberzeugung davon möglich« (GA I/6, 258). Glauben im strikten Sinne bedeutet, im Stande einer unmittelbaren, ursprünglichen, eingeborenen Überzeugtheit von dem zu sein, was wirklich für wahr zu halten ist. Dieser Zustand kann als ›aletheuischer Glaube‹ charakterisiert werden. Er unterscheidet sich eben durch seine Wahrheitsüberzeugung und durch sein Wahrheitskriterium, die Stimme des Gewissens, von den drei in Kants Methodenlehre (KrV A 820-831) beschriebenen Einstellungen eines pragmatischen, doktrinalen und moralischen Glaubens. Aletheuischer Glaube ist überzeugt von der Übereinstimmung unseres willenhaften Handelns und dessen frei entworfenen Vorbildes oder Zweckbegriffs mit der realen Wirklichkeit der irdischen Sinnenwelt wie mit der Realität der überirdischen ›Geisterwelt‹. Dieser Glaube hat es nicht als subjektives Meinen ohne objektives Wissen mit der Welt verwor-
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rener Abbilder zu tun. Glaubensgewißheit ist zutiefst von Weltordnungen erfüllbarer Vorbilder und realisierbarer Zweckbegriffe im Handeln als elementare Bestimmung des Menschen überzeugt. Die Tragweite solcher Glaubensüberzeugung hängt davon ab, welche Welten sie in ihrem wahren Sein und unverbrüchlichem Sinn entdeckt. Worauf sich nun der Wille zur Übereinstimmung von Zweckbegriff und Wirklichkeit richtet, ist nicht nur die naturhafte Umwelt, sondern auch und vor allem die interpersonale Mitwelt. Sie erhalten ihre Realität erst als Sphäre des Handelns unserer praktischen Vernunft, in der sich der vom Gewissen gebilligt Zweck erfüllen soll, nämlich die Welt zum Guten zu verändern und nicht nur theoretisch auszulegen. Die Feuerbach-Thesen von Karl Marx kommen zu spät; denn die Welt ist Sphäre unseres Handelns und nicht des Anschauens um des Anschauens willen. Also kehrt schon Fichte die alte Überordnung der vita contemplativa über die vita activa um. Das geschieht sowohl durch Kultivierung der noch nicht zivilisierten Natur wie durch Zivilisierung im Rechtsstaat und Moralisierung der Gesinnung in der durch Krieg und Ungerechtigkeit verunstalteten bürgerlichen Mitwelt in den Umtrieben egoistischer Selbstsucht. Dieser Zweck der Kultivierung, Zivilisierung, Moralisierung der irdischen Welt solle erreicht werden. Und er werde zu irgendeiner Zeit erreicht und realisiert sein. Der Fortschritt verläuft nicht in eine schlechte Unendlichkeit des immerfort Gesollten. Die Vernunft ist nicht so unvernünftig, Zwecke zu setzen und Ziele vorzubilden, die in Wahrheit unerreichbar und utopisch sind. Unser Erdenleben ist nicht dazu bestimmt, unaufhörlich um eine bessere Welt zu ringen als ein Ziel, das uns unaufhörlich entflieht. Unaufhörlich und nicht ohne rhetorisches Pathos erklärt Fichte: »Dieses ist der Zweck unsers irdischen Lebens, den uns die Vernunft aufstellt, und für dessen unfehlbare Erreichung sie bürgt. Es ist dies kein Ziel, nach dem wir nur zu streben hätten, um unsre Kräfte an etwas Großen zu üben, dessen Wirklichkeit aber wir etwa aufgeben müßten: es soll, es muß wirklich werden, es muß in irgend einer Zeit erreicht seyn sollen dieses Ziel; so gewiß eine Sinnenwelt ist, und ein vernünftiges Geschlecht in der Zeit« (GA I/6, 276). Weil nun aber diese Zweckbestimmung des Menschen einst Realität und wahre Wirklichkeit geworden sein wird, kann dieses Ziel nicht der einzige und letzte Endzweck sein – wie es die Reszendenzbewegung des Positivismus, Marxismus, Nihilismus behauptet. So würde die Menschheit auf ihrer Bahn untätig stillstehen! Mithin liegt die ganze Absicht unseres Daseins
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nicht allein darin, einen irdischen Vollendungsstatus des Menschengeschlechts, etwa das größte Glück der größten Zahl, aus eigener Vollmacht in einem weltverändernden, revolutionären Handeln zu erkämpfen. Tiefer gesehen trachtet der dem menschlichen Vernunftwesen angeborene aletheuische Glaube nach einer höheren Bestimmung und Wahrheit. Danach erschöpft sich die Bestimmung unseres Handelns nicht ausschließlich in der Realisierung einer freiheitlich irdischen Ordnung. Eine höherer Wahrheitssinn wurzelt im Glauben, daß unsere vom Gewissen geleitete Gesinnung mit der ewigen Ordnung einer übersinnlichen Welt (der Synthesis der Geisterwelt) übereinstimmt und harmonisch zusammenstimmt. Mein gutgesinnter Wille hat in dieser moralischen Ordnung ewige Folgen, so folgenlos und erfolglos er auch in der Sinnenwelt, zumal in unserem Zeitalter vollendeter Sündhaftigkeit, sein mag. Das aber liegt offenkundig nicht in der Macht unseres endlichen, sondern in der Seinskraft eines unendlichen oder göttlichen Willens als dem ordo ordinans der Geisterwelt.48 Mithin gibt es ein Unbedingtes, Absolutes, Göttliches, welches das Ich als Fundament und Schöpfer unserer Selbst-, Welt- und Gottesvorstellung überragt, als oberstes Prinzip entsetzt und die Wahrheit als Übereinstimmung und ›prästabilierte Harmonie‹ der Geisterwelt gründet. Solcher Glaube erhebt sich auf der Stufe religiösen Gottesglaubens zur Quelle der Wahrheit, die nicht nur den zerreißenden Zweifel, sondern auch die Ich-Reflexion aufhebt und eine Wiedergeburt der Seele erzeugt. »Dies ist das einzig Wahre und Unvergängliche, nach welchem hin meine Seele aus ihrer innersten Tiefe sich bewegt; alles Andere ist bloße Erscheinung, und schwindet und kehrt in einem neuen Scheine zurück« (GA I/6, 293). Diese Wahrheitsergründung aus der Kraft religiöser Glaubensüberzeugung ist für eine systematische philosophische Wahrheitstheorie ein bedeu-
48 Diese sich in der Übergangsschrift von 1800 abzeichnende Kehre von der Frühzur Spätphilosophie Fichtes auf dem Wege zur Wahrheit hat die umfang- und beziehungsreiche Auslegung von H. Rosenau: Allversöhnung. Ein transzendentaltheologischer Grundlegungsversuch, 1993, 226-399 unter die Leitthese gestellt und so theologisch fruchtbar gemacht: Die anfängliche These von der ›soteriologischen Macht‹ des Ich in Verwirklichung absoluter Selbstvergewisserung als Tathandlung erweist sich als unhaltbar und verkehrt sich aus inneren, philosophischen Gründen – nicht durch äußeren Druck des Atheismusstreites – in ihr Gegenteil, die ›soteriologische Ohnmacht‹ des Menschen.
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tender Vorgang.49 Ohne die Klarheit und Überzeugungskraft des aletheuischen Glaubens bliebe der Schein einer totalitären Reflexion ebenso in Geltung wie eine bloß auf irdische Ziele gerichtete Bestimmung des Menschen. Der Akt des Glaubens ist der Schlußpunkt einer Wahrheitsanalyse, welche bis zum Absoluten als Wahrheitsgrund im Übersteigen des Ich-Prinzips aufsteigen sollte. So bildet der Glaube zumal in seiner religiösen Erschließungskraft eine notwendige Durchgangsphase auf dem Wege zu einer vollendeten philosophischen Wahrheits- und Erscheinungslehre. Die Erlanger Wissenschaftslehre von 1805 hat das klargestellt: »Es ist eben der Glaube, durch welchen allein die W.L. zum Absoluten kommt und selber wird« (GA II/9, 238).50 2. Kapitel: Fichtes Aufstieg zum Wahrheitsgrund in der Wissenschaftslehre 1804-II Eine Wahrheitsbegründung auf dem Grund und Boden der Ersten Philosophie, welche die Bestimmung des Menschen in das Sichtbarmachen des wahren göttlichen Seins setzt, liefert die zweite Fassung der Berliner Vortragszyklen. Da wird die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre in
49 Auf eigem Wege hat der religiöse Schriftsteller Kierkegaard, der sich mit Fichtes Bestimmung des Menschen auseinandergesetzt hat, existenztheologisch den Glauben als Wahrheitsgrund des existierenden Geistes, des Einzelnen unmittelbar vor Gott, aufgestellt – im Gegenzug gegen die Allesvermittlung des Hegelschen Systems und im Verwerfen des phantastischen, existenzvergessenen Prinzips des Subjekt-Objekt oder eines Ich=Ich. Die halbanonyme Schrift Die Krankheit zum Tode von 1849 jedenfalls schließt mit dem alle Verzweiflung überwindenden Sprung in den Glauben. Im Glauben zu sein, heißt, sich durchsichtig, angst- und sprungbereit in der göttlichen Macht zu gründen, welche das existierende Selbst gesetzt hat, »eine Formel, die [...] Definition ist für Glaube« (24./25. Abt., 134). 50 Im ›ungeschriebenen‹ Vortrag der W.L. 1805 an der damals noch preußischen Universität Erlangen hat Fichte den Glauben als Durchgangsphase auf dem Wege zur Wahrheit analysiert: als negativen Glauben, d.i. als Unglauben, der die leere Reflexion als oberstes Prinzip der Wahrheit im Sicherkennen nicht gelten läßt, als positiven Glauben, d.i. als Überzeugung von einer absoluten Reflexion, welche die Rückbesinnung auf sich im Andenken des Absoluten geltend macht, und, polemisch auf Schelling gezielt, als den blinden Glauben, d.i. die Überzeugung von einer unmittelbaren Evidenz des Ewigen und Unbedingten, ohne ein Auge für die mehrdeutigen Verhältnisse der Reflexion zu haben. Vgl. Vf.: Glauben und Wissen. Ein Beitrag zur Schelling-Kontroverse in Fichtes Erlanger Wissenschaftslehre 1805, 2000.
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zwei Hauptteile aufgeteilt: »dem, daß sie eine Vernunft- und Wahrheitslehre, zweitens daß sie sey eine zwar wahre, und auf Wahrheit gegründete Erscheinungs- und Scheinlehre« (15. Vortrag; GA II/8, 228). Nun fügt Fichte dieser Aufgliederung hinzu: »Der erste Theil besteht in einer einzigen Einsicht, und wird mit dem Einen Punkte, den ich sogleich hinstellen werde, anheben und beschließen« (GA II/8, 228). Das legt die Auslegung nahe, Fichte habe die vorgegebene Hauptteilung zurückgenommen und der Wahrheitslehre eine Sonderstellung zugewiesen, die lediglich in Fichtes These vom Sein besteht, im Satz vom in sich geschlossenen Singulum von Leben und Sein, von Subjektivität und Substantialität.51 Indessen ist zu merken: Es ist ein langer Weg der erscheinenden Wahrheit und eine harte Arbeit des Begriffs, die Beirrung der Vernunft durch den Schein zu beseitigen, bis endlich die Einsicht in den Grund der Wahrheit erreicht ist. Dieser Weg benötigt einen vielstufigen Aufstieg, um unzureichende Wahrheitslehren einseitig-faktischer philosophischer Grundlegungen aufzuheben. Das aber gehört methodisch zur Wahrheitslehre als Überstieg über Grundlegungen des Scheins im Aufsteigen zur rechten Quelle des Lichts und zum Anfangsgrunde der Wahrheit. Das braucht Entscheidungen einer ontologischen, Sein verstehenden (nicht bloß der kosmologischen, moralischen oder politischen) Freiheit, die dem aletheuischen Soll entspricht. Es soll Wahrheit ins Offene kommen, das Absolute soll einleuchten. Das, was in Wahrheit geistig real und aktual lebendig ist, soll in uns leben und wir in ihm. Die gebotene Erfüllung dieses Wahrheitsgebotes aber geschieht nicht wesensnotwendig als Sichäußern des Absoluten, sei es in Spinozistischer, sei es in Hegelscher Manier. Das verlangt eine Freiheit, welche dem Anspruch des Soll entsprechen kann oder auch nicht. Dabei ist kritisch besonnen einzuschränken: Diese unsere ontologische Freiheit unter dem aletheuischen Soll erschafft nicht die Wahrheit, sie befreit lediglich unsere Vernunft von Beirrungen des Scheins. Mithin wirkt sie nicht affirmativ, indem sie Wahrheit richtiggehend nach methodischen Regeln zur deutlichen Klarheit bringt, sie ope-
51 So sieht es die große Strukturanalyse dieser Wissenschaftslehre von J. Widmann. Danach falle die Wahrheitsthese aus der Strukturordnung, sie bilde kein synthetisches Moment, etwa die fünfte Synthesis des 2. Standpunktes nach der Zählung des bedeutenden Kommentars von M. Guéroult. Die Vorträge 3-15 gehören zur Erscheinungslehre.
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riert lediglich negativ, indem sie den täuschenden Schein abhält. Und das ist kein nebensächliches Geschäft einer gegen sich selbst kritischen Vernunftwissenschaft. Erst, wenn der beirrende Schein bis in die Wurzel durchdrungen ist, eröffnet sich das Licht der Wahrheit. Nun breiten sich überall da Schein- und Halbwahrheiten aus, wo unzureichende philosophische Grundstellungen vorherrschen. So finden sie einen Rückhalt eben in den einseitigen und bloß faktisch evidenten Standpunkten des Realismus und Idealismus. Der naive Realist vertritt eben die These: Wahrheit ist Richtigkeit des Urteils, da sich unser Vorstellen adäquat nach dem vorliegenden Sachverhalt richtet. In solcher Adäquationstheorie avanciert das Urteil zum exklusiven Ort eines Wahrheitswesen, dessen Maßstab die Übereinstimmung unseres Vorstellens mit einem realen, an sich selbst bestehenden Sachverhalt ist. Das ist zwar wahr, aber nicht die ganze Wahrheit. Diese Wesensbestimmung der Wahrheit als Übereinstimmung (adaequatio) von Vorstellung (intellectus) und Sache (res) kann daher mit Kant als eine Worterklärung geschenkt werden. Sie wird grund- und bodenlos, wenn sie sich nicht auf ihren Wahrheitsgrund, den Ursprung dieser Übereinstimmung besinnt. Der höhere Realismus erhebt sich zu einer gründlicheren Einsicht. Zwar richtet er sich in seinem Ergründen der Wahrheit auch nach einem in und durch sich bestehenden Ansich, aber auf der Abstraktionshöhe eines urrealen, sich selbst konstruierenden Absoluten. Und er folgt der Maxime, sich bedingungslos dem an sich seienden Wahren hinzugeben und die Vorstellungen des Subjekts abzublenden. Hier setzt sich die Einsicht durch: Nicht wir erzeugen das Licht der Wahrheit, es erzeugt sich in uns. Somit hat ein Realismus, der sich dem Absoluten als Grund der Wahrheit zuwendet, durchaus Recht, und das erklärt eine gewissen Vorliebe Fichtes für den realistischen Standpunkt. »Der Geist der Wahrheit, als Wahrheit, liegt doch wohl nicht in dem Bewußtsein, sondern durchaus in der Wahrheit selber. Von der Wahrheit mußt du also immer das Bewußtsein abziehen. [...] Wenn du aber glaubtest, in diesem Bewußtsein liege der Grund, daß Wahrheit Wahrheit ist, so verfielest du in den Schein« (13. Vortrag; GA II/8, 204). Die Frage ist nur, wie ein absolutes Wissen zu jenem Standpunkt gelangt, in welchem die Wahrheit von sich einleuchtet und nicht von uns nach Regeln der Bewußtseinsklärung methodisch verdeutlicht und gesichert wird. Darüber, auf welche Weise der oberste Wahrheitsgrund sich offenbart und entbirgt, gibt auch der höhere Realismus keine Rechenschaft.
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Als einseitig erweist sich auch die Wahrheitshypothese des faktisch bornierten Idealismus. Sie baut auf den Grundsatz: Wahr ist das klar und deutlich Vorgestellte auf dem Fundament des Selbstbewußtseins in Selbstgewißheit und Selbstbestimmung. Diese Fundierung beseitigt allen Zweifel, welcher sich gegenüber der sinnlichen Gewißheit und der bloßen Versicherung einer wahren Realität der Außenwelt erhebt. Und sie gewinnt auch den Standpunkt einer Freiheit, die sich vom gegenständlichen Bewußtsein und seinen Beirrungen losreißt und die Klarheit des Selbstbewußtseins zum Richtmaß und Gewißheitsgrund der Wahrheit erhebt. Aber jeder Weg zum Grunde der Wahrheit – auch der Schellings und Hegels – führt über die Stufe endlicher Selbstgewißheit und Selbstbestimmung hinaus. Das mahnt Fichte eindringlich an. Das seiner selbst gewisse Sich-Vorstellen der Ichheit in allem Vorstellen gegenständlichen Seins stellt sich vor die Wahrheit des Seins. Es ist kein Enthüllen, sondern ein Verhüllen des Wahrheitsgrundes. In den Formen und Schemata der Ichheit kommt Sein eben nur als relatives, von uns theoretisch objektiviertes und praktisch projektiertes Sein vor. Das nährt einen täuschenden Schein, der dazu verleitet, das vergegenständlichte Sein für das wahre und absolute Sein zu halten. Nimmt man beide Vorbehalte zusammen, so ergibt sich die einschneidende Revision der Wahrheitstheorie. Das Urteil des Verstandes ist gar nicht der ursprüngliche Ort der Wahrheit, und die Richtigkeit in der Übereinstimmung von Vorstellung und Ding ist nicht deren Grund und Maß. Aber auch das Selbstbewußtsein ist nicht das unerschütterliche Fundament der Wahrheit und die Selbstgewißheit des Ich nicht deren Grund und Maß. Fichtes Überstieg über die Stufe von Selbstbewußtsein und Selbstgewißheit gelangt zu einer Einsicht, da der Grund der Wahrheit als ein Urakt des Entbergens und Lichtens des sich selbst effizierenden Lichtes zum Vorschein kommt. Das ist ein Wahrheitsgeschehen, in welchem sich das allreale Leben und Licht in höchster Klarheit lichtet und in eins in tiefster Verborgenheit sich verschlossen entzieht, und zwar plötzlich, mit einem Schlage und jenseits aller objektiv geklärten Richtigkeit und subjektiven Klarheit und Gewißheit. Fichte faßt dies Ereignis im Paradox als »das Allerklarste und zugleich das Allerverborgenste, da wo keine Klarheit ist« (GA II/8, 228). Das ist ein unausweichliches Paradox und nicht die Feststellung des Widerspruchs, die Einsicht in das wahre Sein sei zugleich völlig klar und völlig unklar. Das Aufscheinen der Wahrheit aus ihrem Lichtquell ist das Allerklarste; denn als Grund aller Klarheit und geistigen Evidenz ist sie das, was sie begründet, am
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meisten, also das Allerklarste. Und der Wahrheitsgrund ist das Allerverborgenste; denn wir sehen in seiner Helle nur das Scheinen des sich selbst effizierenden Lichts, nicht aber den Aufstrahl der Lichtquelle selbst. Das lehrt schon der Wahrheitssatz des Platonischen Sonnengleichnisses (Politeia 506b): Der Grund der Wahrheit und des Lichtes, die Idee des Guten, ist jenseits klarer Wesenserfassung unserem Einsehen und Begreifen verborgen.52 Mithin ist der Standpunkt einer gründlichen Wahrheitslehre die Ansicht eines begrifflich unfaßlichen und sprachlich unsäglichen Geschehens: das Ereignis der Entbergung eines an ihm selbst Verborgenen. Nun aber bringt Fichtes Wissenschaftslehre den Gipfelsatz der Wahrheit nicht bloß in der Analogie einer Platonischen Licht-Metaphysik zur Evidenz, sondern in transzendentaler Besonnenheit. Die aber scheidet. Ursprung der Wahrheit ist die Entbergung des in seinem ursprünglichen Sein und Leben verborgen bleibenden, in sich geschlossenen Absoluten. Ursprung der Erscheinung einer gegenständlichen Welt und Mitwelt und eines Scheins, der das absolute, göttliche Sein dadurch verhüllt, daß unser Bewußtsein es unausweichlich in ein gegenständliches Sein verwandelt, ist das absolute, sich intelligibel intuierende Wissen menschlicher Vernunft als einziges unmittelbares Dasein und als wahre Existenz des Absoluten im Lichte absoluter Gewißheit und uns ergreifender Evidenz des uns einleuchtenden Lichtes. 3. Kapitel: Von einem Vorrang der Fichteschen Konzeption im Rangstreit der dreifachen idealistischen Wahrheitsbegründung Alle Denkwege des Deutschen Idealismus suchen ihr Ziel und ihr vollendetes Ende darin, die Frage nach Bedeutung und Grund des Seins im Sinne des Wahrseins methodisch hinreichend und geschichtlich abschließend zu lösen. Dabei gehen die drei großen Vorhaben eines zu vollendenden Vernunftsystems einmütig vor. Sie übersteigen, freilich auf getrennten Wegen zur Wahrheit, alle das Gewißheitsfundament des reinen Selbstbewußtseins, um zu einem Absoluten aufzusteigen, das als absoluter Quellgrund die Lichtung des Seins, die Evidenz der Selbstgewißheit, die Übereinstimmung von
52 So scheint es ratsamer, Fichtes These von der Wahrheit des Seins auf der Höhe von Platos Epekeina-Satz zu halten, als ihn als performativen Selbstwiderspruch der Sprechakttheorie am trivialen Beispiel »Ich sage nichts« zu problematisieren, und sei es so scharfsinnig wie in der kritischen Überholung von W. Lütterfelds: Fichtes Konzept absoluter Einheit (1804) – ein performativer Selbstwiderspruch?, 1994.
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Subjekt und Objekt gewährleistet. Insoweit bieten alle drei Höhenwege zum Wahrheitsprinzip Aussichten, die vorherrschende metaphysik-abstinente, präzisierte Wahrheitsdiskussion wieder als Menschheitsfrage in integrum zu restituieren, d.h. in ihr angestammtes ontologisches Urrecht wiedereinzusetzen. Gerade auch dadurch bietet die spekulative Kraft aller drei Vernunftsysteme ein Heilmittel gegen das Elend von Ideologien, denen es nicht um die Wahrheit, sondern um Machtergreifungen mit Hilfe von ›parteilich-wissenschaftlichen‹ Weltanschauungen geht. Freilich sind ebenso deutlich ihre Differenzen ins Auge zu fassen und abzuwägen, die sich sowohl in der Methode des Transzendierens als auch im Blick auf das erreichte Ziel abgezeichnet haben, um das Problem einer dreifachen Wahrheit zu lösen.53 Methodisch sind vorzüglich drei Wege zur Wahrheit eröffnet worden. Sie sind durch die Methode der Dialektik (Hegel), der intellektuellen Anschauung/ Ekstase (Schelling), der genetisierenden Evidenz (Fichte) unterschiedlich gebahnt. Das ist noch einmal, jetzt vergleichend, einzuholen. 1. Hegels Weg des erscheinenden Geistes im Erscheinen seiner Wahrheit läßt die Wahrheitsbehauptungen von der Stufe sinnlicher Gewißheit bis zur Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins durch ein dialektisches Verfahren unter sich, durch das sich jedwede abstrakte, d.h. einseitige Wahrheitsposition in einen Widerspruch mit sich verwickelt und sich selber aufhebt, um sich im absoluten, konkreten Wissen, das sich als Einheit von Vorstellung und Gegenstand weiß, zu beschließen. Diese Dialektik der Phänomenologie bereitet die Dialektik der Logik vor. Jene entfaltet die Wahrheit der absoluten Idee im Durchgang von Sein, Wesen und Begriff in den vollständigen Reichtum konkreter Gedanken (Gottes vor Erschaffung der Welt). Und die Dialektik des Geistes bewährt die währende Wahrheit des Beisichbleibens im Anderssein durch den Kreisgang des subjektiven, objektiven und absoluten Geistes. Das stellt immer noch alle prä-
53 Zur Problemgeschichte von Wahrheit und Wahrheitsgrund außerhalb des dreifachen Widerstreits im Deutschen Idealismus sei verwiesen auf M. Fleischer: Wahrheit und Wahrheitsgrund. Zum Wahrheitsproblem und seiner Geschichte, 1984. Da ist in sechs Hauptstationen (Plato – Aristoteles – Thomas von Aquin – Descartes – Kant – Nietzsche) die Korrespondenztheorie mit dem Reichtum ihrer Bezüge in den ihr eigenen Problemdimensionen wieder zur Geltung gebracht worden, mit der systematischen Absicht, die Korrespondenztheorie mit der Frage nach der Wahrheitsermächtigung zu überschreiten. Genau darum geht es im dreifachen Ringen um die Wahrheit im Deutschen Idealismus.
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zisierte Methodik des Positivismus und jede Pseudodialektik weltanschaulicher Wahrheitsversicherungen in den Schatten. 2. Schellings Weg zur Wahrheit führte vom intellektuellen Anschauen des Ewigen und Absoluten als Ermöglichungsgrund der Übereinstimmung von Vorstellung und Gegenstand zur entsetzenden Ekstase, der Herausstellung des Ich aus seinem Ort vermeintlicher Wahrheitssicherung. Das gilt als notwendige Bedingung für das mögliche Gewahren der Unverborgenheit und die Unverborgenheit als das Wahrheitsgeschehen, da das unvordenkliche Nur-Existierende qua potentia existendi sich in ewiger Freiheit in der Entwicklung von Mythos und Offenbarung geschichtlich gänzlich entbirgt. 3. Fichtes Weg zur Wahrheit in der W.L. 1804-II durchläuft Besinnungen auf jene Gesetze, nach denen Wahrheitsbehauptungen entstehen. Er steigt in genetischer Evidenz über einen naiven Realismus, der die Adäquationstheorie der Richtigkeit als Sichrichten der Vorstellung nach dem an sich vorliegenden Sachverhalt verabsolutiert, hinaus und über einen Idealismus, der gänzlich auf die Selbstgewißheit des sich auf sich zurückbeziehenden Ich und so auf eine leere, gespenstische Selbstbespiegelung setzt, hinweg. Er führt zur Urquelle der Wahrheit göttlichen Seins, Lichtes und Lebens, die, in sich geschlossen und uns verborgen bleibend, sich im Wissen des Menschengeschlechts entbirgt, um da objektiviert und dadurch verhüllt zu werden. Diesen drei unterschiedlichen Wegen zur Wahrheit entspricht die Differenz des erreichten Ziels, die Seinsverfassung des Wahrheitsgrundes. Deren Unterschied war mit den Merkworten Indifferenz/Nur-Existenz (Schelling), Identität von Identität und Nicht-Identität (Hegel), Inkludenz (Fichte) zur Anzeige gebracht worden. 1. Die Struktur des Wahrheitsgrundes, zu dem Schellings Identitätssystem hinleitet, ist die Indifferenz von Subjektivität und Objektivität. Diese Identitätseinheit schließt die Differenzen des Idealen und Realen darum von sich aus, weil diese erst durch quantitative Differenzierung systematisch herzuleiten sind. Und solche Indifferenz ist keine Vorstellung, die als Übereinstimmung mit ihrem Gegenstande identifiziert werden könnte, weil sie alle Übereinstimmung von Subjekt (Vorstellung) und Objekt (Gegenstand) allererst ermöglicht. Das hat Schelling im System des transzendentalen Idealismus 1801 schlagend formuliert. »Wie Vorstellung und Gegenstand übereinstimmen können, ist schlechthin unerklärlich, wenn nicht im Wissen selbst ein Punkt ist, wo beide ursprünglich Eins oder wo die vollkommenste Identi-
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tät des Seyns und des Vorstellens ist« (W II 364 = SW III 364). Im Fortgang der Spätphilosophie rückt das unvordenklich Nur-Existierende in die Stellung eines wirklichen Wahrheitsgrundes ein, dessen Entbergung erst Wahrheit als Unverborgenheit der Wirklichkeit verbürgt. 2. Hegels Weg zur Wahrheit führt schon früh zu einem Wahrheitsgrund, dem die Verfassung von Identität und Nicht-Identität eignet; denn ein Wahrheitsgrund der einfachen Einheit von Nicht-Identischem, von Vorstellung und Gegenstand, bringt es allein zu Richtigkeiten des Verstandes. Das Fundament einfacher Identitätseinheit sichert alle unbezweifelbare Gewißheiten des Selbstbewußtseins. Die Indifferenz von Realem und Idealem erbringt nicht die Helle erfüllter Wahrheit, sondern eine Leere des Unbestimmten – eben die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind. Erst die Einheit von Identität und Nicht-Identität, da Affirmation und Negativität urprünglich eins und lebendig sind, begründet Wahrheit in lebendigen Prozessen des aufzuhebenden Widerspruchs. 3. Die Verfassung des Wahrheitsgrundes, zu dem Fichtes Weg in der Wissenschaftslehre 1804 hinführt, läßt sich in Abhebung zur absoluten Indifferenz (Schelling) und absoluten Identität (Hegel) als absolute Inkludenz (das In-sich-Geschlossensein des Absoluten) benennen. Diese Verfassung schließt aus, daß der allreale Ursprung der Wahrheit sich selbst entäußert und die Urkraft des Lichtes aus Überfülle emanativ überfließt. Der Ursprung der Wahrheit bleibt in sich geschlossen. Da und existent ist er allein im menschlichen Wissen als einzigem Dasein, das außer dem Absoluten wahrhaft lebendig und lichtvoll existiert und das nun seinerseits Entstehungsgrund von Selbstgewißheit und objektiver Adäquation ist. Solche Inkludenz erklärt, warum der Quelle der Wahrheit das Allerklarste ist, da wo keine Klarheit ist. Soweit sind unter den Leitworten Dialektik, Ekstase, Genetisierung drei Methodenwege zum Anfangsgrund der Wahrheit und mit den Stichworten absolute Indifferenz, absolute Identität, absolute Inkludenz die Verfassung des erreichten Wahrheitsgrundes nochmals eingeholt. Und damit schärft sich das Problem der dreifachen Vollendung des Deutschen Idealismus zu. Die Frage ist: Müssen sich die drei Wahrheits- und Systemgründungen gegenseitig vertilgen, oder können sie irgendwie zusammen bestehen? Auf diese Alternative hat Schelling mitten im Widerstreit im Erlanger Vortrag Über die Natur der Philosophie hingewiesen. »Im ersten Falle würde man statt des Systems nur einen bodenlosen Abgrund vor sich sehen, in dem alles versinkt, und in dem sich nichts mehr unterscheiden läßt. Nicht getilgt
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werden sollen die Systeme, sondern zusammen bestehen« (W V 7 = SW IX 213). Diese Problemstellung des Deutschen Idealismus im Stadium seiner dreifachen Vollendung läßt sich zumal angesichts der Wiederherstellung von Fichtes ungeschriebener Lehre kaum umgehen. Die methodische Sicherung einer dreifachen selbigen philosophischen Wahrheit wie die Behauptung dreier Absolute sind offenkundig unhaltbar. Philosophiegeschichtliche Forschung, welche sich auf die Erkundung und Erörterung eines der drei großen Gesamtentwürfe spezialisiert und die beiden anderen ruhig daneben bestehen läßt, endet bei allen antiquarischen Forschungserfolgen in einem Skeptizismus, der die Pilatusfrage beiseitestellt oder aufgibt. Philosophische Einstellungen, welche sich auf den Widerstreit der Systeme im Behaupten der einzig-einen Wahrheit einlassen, sind immer noch überwiegend gewohnt, Fichtes System der Wissenschaftslehre mit den anderen zusammen bestehen zu lassen: durch Ein- und Unterordnung eines transzendentalen Idealismus ins Ganze des Identitätssystems bzw. durch Hegels Aufhebungen im Geiste des absoluten Idealismus. Das beruht weitgehend auf Unkenntnis und Abschätzung von Fichtes ungeschriebener Lehre. Dafür haben Hegel und Schelling selbst zum guten Teil gesorgt. Hegel hatte ja ebenso ignorant wie arrogant Fichtes späterer Lehre jeden spekulativen Wert abgesprochen, und Schelling hatte, ebenso gekränkt wie feindselig, die späteren Grundsätze der populären Schriften als eklektisch und synkretistisch abqualifiziert. Werden diese oberflächlichen Stellungnahmen ernsthaft revidiert, dann stellt sich das Problem der drei Wahrheiten unausweichlich und in aller Schärfe. Alle drei können nicht zusammen bestehen, aber sie dürfen sich auch nicht gegenseitig ganz und gar vertilgen. Sonst verschwinden die noch einmal großartig geweckten Menschheitsfragen der Philosophie endgültig im Abgrund einer halben Aufklärung und eines unvollkommenen Nihilismus aus dem allgemeinen Bewußtsein unserer Zeit. An dieser Stelle der wiedereingeholten Wahrheitslehre Fichtes von 1804 wäre nun ein Vorrang der Fichteschen Konzeption herauszustellen: Sie ist die einzige Grundlegung von Wahrheit, Sein und Leben, die bei transzendentaler Besinnung bleibt.54 Ihr Aufstieg war durch eine absolute Abstrakti-
54 Die ebenso dichte wie luzide Untersuchung von R. Barth: Wahrheit als Sein von Einheit. Die gewißheitstheoretische Reformulierung des absoluten Wahrheitsbe-
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on von allen Bewußtseinsrelationen ermöglicht. Damit vollendete sich die große Tradition der negativen Theologie im Geiste transzendental-kritischer Besonnenheit. Von Gott ist eben in philosophischen Kategorien und in verständiger Urteilssprache nichts weiter zu denken und zu sagen als: Er ist. In Differenz zu Hegels und Schellings hyperbolischen Durchbestimmungen göttlichen Seins, Denkens und Offenbarens gebietet kritische Besonnenheit: Gott oder das Absolute ist begrifflich nur als Unbegreifliches zu begreifen und sprachlich nur als Unaussprechliches auszusprechen. Und das bedeutet eben nicht, daß Fichtes ungeschriebene Lehre in der mittleren Periode nach dem Glaubensdurchbruch die Anweisung erteilt, mystisch schweigend im göttlichen Licht zu versinken und den durch Kant eingepflanzten Kritizismus hinzugeben. Ihr Vorzug besteht im Vollzug äußerster kritischer Selbstbesinnung. Um von den Bewußtseinsrelationen im Einleuchten des Absoluten zu abstrahieren, muß unser Denken sich auf diese Bezüge besinnen. Solche Besonnenheit nennt die ungeschriebene Lehre »absolute Reflexion«: das Sich-Besinnen auf sich im Andenken der absoluten Wahrheit als Wahrheit des Absoluten. Das ergibt den von Schelling und Hegel übersehenen Mittelpunkt zwischen dem in sich geschlossenen Sein und der entgegengesetzten objektiven Erscheinung der Welt in ihrem verhüllenden Schein. Er vermittelt das Absolute und das absolute Wissen oder das Sein und das Dasein, und er vermittelt das Dasein des Seins mit dem Erscheinen der Welt. So aber sind die Grundsätze über das wahre Sein und der Welt konstituierende Standpunkt der Reflexion nicht, wie Schelling urteilt, unpassend zusammengestückt, sondern in transzendentaler Besinnung aus einem Mittelpunkt einheitlich kohärent zusammengefügt. Daraus resultiert tatsächlich ein Vorrang der ungeschriebenen Lehre Fichtes gegenüber den konkurrierenden Wahrheitslehren und Systembildungen. Diese erheben sich aus Nichtbesinnung im Ausfall von absoluter Abstraktion und absoluter Reflexion zu metaphysischen bzw. positiven Theologien. Und die überschreiten die
griffs in Fichtes Phänomenologie von 1804-II, 2007 überprüft die systematischen Probleme, die sich aus der absolutheitstheoretischen Fassung des Wahrheitsbegriffs in seiner Verschränkung mit einer Prinzipientheorie des Wissens für die Differenzierung des Einheits- wie des Seinsgedankens ergeben, um die Erscheinung der absoluten Wahrheit im Stande einer zuletzt faktisch evidenten Gewißheit zu reformulieren.
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Grenze, welche Fichtes bei Besinnung bleibende Lehre von der Wahrheit des inkludenten Seins besonnen zieht. 5. Abschnitt: Grundlegung und Grundzüge der Erscheinungslehre 1. Kapitel: Reine Gewißheit. Vergewisserung von Licht und Evidenz der Erscheinungseinsicht (W.L. 1804-II, 23. Vortrag) Die Darstellung der Wahrheitslehre hat die erste Hälfte der These vom Sein als Wahrheitsgrund zur Einsicht gebracht: Das Sein ist ein absolut in sich geschlossenes, durchaus nicht aus sich herauskommendes, lebendiges Von-sich. Die zweite Hälfte dieses obersten Grundsatzes aber fügt hinzu: Das Sein »ist nach aussen erst die Bedingung und der Träger des Was« (GA II/8, 346). Das erlegt die Aufgabe auf, die Erscheinungen in ihren Was-Bestimmungen aus notwendigen Bedingungen einsichtig zu machen und die genetische Evidenz solcher Herleitungen zu vergewissern. Erst dadurch erweist sich der aufgestellte Satz des esse in mero actu vollständig als Grundsatz von Wahrheit des Seins und Gewißheit der Erscheinung. Die neugestellte Aufgabe besteht mithin darin, die genetische Evidenz der gesamten Erscheinungslehre in ihren Gewißheitsgrund zu sichern. Das innere Licht nämlich, das uns ergreift und evident einleuchtet, ist »die Gewißheit, rein und für sich, und als solche« (GA II/8, 346). Reine Gewißheit, das ist eine uns unmittelbar ergreifende Evidenz als solche oder in der Sprache der Lichtmetaphysik das uns einleuchtende Licht der Wahrheit. Solch reine Gewißheit als Wahrheitsgrund der Erscheinung hat Fichte in seinem 23. Vortrag grundlegend erörtert.55 Für eine Besinnung auf diesen Ansatz von Gewißheit, Evidenz und einleuchtendem, uns ergreifendem Licht ist vorab klarzustellen: Er liegt höher als der Cartesianische Ansatz einer Wahrheitssicherung im faktischen Fundament der Selbstgewißheit der Ich-Apperzeption. Da ist zwar zweifelsfrei die Untrennbarkeit von Bewußtseinsvollzug und wirklicher Existenz faktisch evident, aber eben nur als unerschütterliche Tatsache. Man
55 Eine umsichtige Exegese dieses Vortrags hat U. Schlösser: Entzogenes Sein und unbedingte Evidenz in Fichtes Wissenschaftslehre 1804 (2), 2003 vorgelegt. Da wird der Ansatz bei der Evidenz in seiner systematischen Funktion und in Rücksicht auf die ›Entzogenheitsproblematik‹ von Sein und Leben fruchtbar eruiert. – Vgl. ders.: Das Erfassen des Einleuchtens. Fichtes Wissenschaftslehre von 1804, 2000.
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kann tatsächlich unmöglich wirklich denken, ohne im Stande des Bewußtseins zu sein. Und man kann tatsächlich umgekehrt unmöglich sich seines Denkens bewußt sein, ohne wirklich zu denken. Aber solche Versicherung baut auf dem faktischen Zusammenhang von Bewußtsein und Sein im sich vorstellenden Vorstellen, ohne diese Evidenz in ihrer Genesis, dem Entstehungsgesetz, herzuleiten (vgl. 14. Vortrag; GA II/8, 218). Mithin gilt es, einen Gewißheitsgrund jenseits der subjektiven Existenzvergewisserung scharf und rein zu denken. Dazu bedarf es vor allem eines Abstraktionsverfahrens, in welchem von aller Gewißheit weggesehen wird, welche aus dem stammt, wessen man sich gewiß ist. Erst das läßt uns hinsehen auf die reine Gewißheit, die auf sich selber beruht, »mit aller Abstraktion von etwas« (GA II/8, 344). Das schließt Gewißheiten von der Art aus, wie wir in der Erfahrung der ›Aufforderung‹ uns eines alter ego außer uns gewiß werden oder wie wir an der Lauterkeit eines heiligen Willens nicht zweifeln oder eben wie wir uns unserer eigenen Existenz im Vorstellungsakt gewiß sind. Zu abstrahieren ist aber auch jene Evidenz, die auf dem sich selbst effizierenden Licht das Absoluten beruht. Sowohl vom Einleuchten der Selbstgewißheit des Ich wie vom Aufleuchten des Absoluten ist zu abstrahieren. Das sind Gewißheiten von etwas. Wie aber läßt sich eine reine, für sich seiende, auf sich beruhende Gewißheit näher beschreiben und deutlicher machen? Nun gehört zum Charakter der Gewißheit als solcher der Grundzug der Unerschütterlichkeit und Unwandelbarkeit ohne Wanken und Wandel. Folglich ist die reine Gewißheit als unerschütterliches Bestehen, als unwandelbare, unveränderliche Einheit zu beschreiben. Das ist ihre Qualität oder ihr Wassein, die Negation der Wandelbarkeit und die Negation der Vermannigfaltigung. Das schon eröffnet eine weittragende Einsicht in die Herleitung der Erscheinung. Bedeutet die Qualität der Gewißheit Negation der Wandelbarkeit, dann erhält das Negierte, das Wandelbare den Charakter der Quantitabilität oder einer unendlich veränderbaren Bestimmbarkeit. Somit erscheint die Welt der Erscheinung im Lichte eines Wechselverhältnisses von unwandelbar gewisser qualitativer Einheit und unendlich bestimmbarer Quantitabilität. Somit ist die reine Gewißheit näher beschrieben. Wie aber sind wir dabei verfahren? Wir haben davon abstrahiert, daß die Gewißheit als Grund der Erscheinungswelt identisch ist mit der Wahrheit des sich selbst effizierenden Lichtes des Absoluten. Im transzendentalen Transzensus der Wahrheitslehre war ja vom Bezug der Selbstvergewisserung abstrahiert
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worden. Diese immanente Selbstgewißheit aber ist jetzt, wo es sich um die Aufklärung von Schein und Erscheinung dreht, in den Blick zu fassen. »Es ist daher klar, daß wir bei Aufsuchung des Absoluten hiervon abstrahiren, und sie lediglich in dem suchen müssen, was sich als Immanenz, als Ich oder Wir, offenbarte« (GA II/8, 350). Das besagt noch einmal: Das uns einleuchtende, unmittelbar evidente Licht reiner Gewißheit beruht nicht auf dem Faktum des seiner selbst gewissen Ich oder Wir, der zur Evidenz gebrachten Synthesis der Geisterwelt. Es steht umgekehrt. Die Selbstbezüglichkeiten des Ich oder Wir werden offenbar im Lichte der immanenten Gewißheit. Und es ist diese Einsicht in das Offenbarungsverhältnis von absoluter Evidenzgewißheit und der Selbstbezüglichkeit des Ich oder Wir, welche die Erscheinungslehre vom großen beirrenden Schein befreit. Das glückt dadurch, daß die Möglichkeit von Schein und Irrtum in ihrer Wurzel aufgedeckt wird. Der Schein nämlich, der zum Irrtum über das, was ist, verleitet, wurzelt darin, daß wir das Aufsichberuhen und Insichgründen der reinen Evidenz für etwas halten, das uns zugänglich und durch uns begreifbar ist. Zwar war von dem Insichgründen und einer unwandelbar in sich geschlossenen Qualität des Gewißheitslichtes, es objektivierend und beschreibend, die Rede, aber von solcher Objektivierung und Entäußerung ist in Besinnung auf die Unzugänglichkeit der Lichtquelle zu abstrahieren. Geschieht das nicht, dann scheint ein Unzugängliches uns zugänglich und objektivierbar. Das ist der Quellgrund des Scheins, der das menschliche Bewußtsein zum Irrtum verleitet, der Ursprung der Wahrheit sei ihm verfügbar. »Daß wir jetzt wirklich davon reden, also es entäussern, davon eben ist, zufolge der obigen Einsicht, zu abstrahiren; und es ist dieser Schein, der, als der Wahrheit widersprechend, nur Schein ist und Irrthum, seiner Möglichkeit nach aus dem Systeme der Erscheinung abzuleiten« (GA II/8, 350). Also vermag eine Besinnung auf das Licht der reinen Gewißheit die Erscheinungslehre vom beirrenden Schein fernzuhalten. Wie aber gelingt es der Wissenschaftslehre, die absolute, immanent in sich begründete Gewißheit als Wahrheitsgrund der Erscheinung sich klarzumachen? Dazu ist es unumgänglich, auf das Verfahren achtzugeben, in welchem die absolute Gewißheit sich selber in uns, der Ichform, unmittelbar und lebendig äußert. Dieses Verfahren ist der Vollzug eines Prinzipiierens, Projizierens und intellektuellen Intuierens (und entfaltet so das Schlüssel- und Problemwort des Deutschen Idealismus, die intellektuelle Anschauung,
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neu). Diesen Aufschluß gibt Fichte im 23. Vortrag vor. »Drängen wir uns heran zur Klarheit, so weit wir es hier vermögen. Unmittelbar lebendiges, und immanentes Principsein, mit Licht und mit Intuition, mit innerer Nothwendigkeit – ich sage: Pricipsein, darum eben Projiciren und Intuiren. Ich sage: unmittelbar lebendiges und immanentes, schlechthin im Intuiren, vom Intuiren und aus dem Intuiren ist das Projektum, und das Projiciren ist eben das Leben des Lichtes als Principiiren. Ich sage: mit innerer Nothwendigkeit, und so, daß die Nothwendigkeit durchaus sich ausdrücken müsse; denn es ist eben Principiiren, als Principiiren« (GA II/8, 350). Es geht darum, die innere Gewißheit im gelichteten Ich anzuschauen. Sie wird erblickbar in der Einheit eines Verfahrens, das unmittelbar und lebendig ist. Es ist ja lebendiges Licht, das uns ergreift und einleuchtet. Daher eignet dieser Lichtung in uns der Grundzug eines Prinzips, das sich in und aus sich selbst gründet. Daraus entspringt das immanente Projizieren, ein Sich-Projizieren, welches sich, selbst sehend machend, sieht. Damit erscheint das Projektum des Sich-Projizierens, das lebendig sehend gemachte Ich, als selbständig und auf sich beruhend. Hierbei kommt alles darauf an, soll der täuschende Schein falscher Subjektivität vermieden werden, einzusehen: Solches Sich-Projizieren ist eine proiectio per hiatum. Es verdankt sich einem Hiat, einer unüberbrückbaren Kluft, nämlich zwischen dem in sich geschlossenen, unzugänglichen Lebensvollzug des absoluten Seins und dessen äußerer Darstellung. Wo aber solche Unzugänglichkeit übersehen und wo solche proiectio per hiatum nicht beachtet wird, da nimmt das Projektum die täuschende Gestalt des in sich selbst gründenden Ich-Subjekts an. Nun ist solches Sich-Projizieren und Sich-sehend-Machen unmittelbar anschaubar und gewiß. Ein unmittelbar anschauendes Wahrnehmen heißt Intuieren (intuitus) und als übersinnliches Anschauen eines geistigen Vollzugs Intelligieren, so daß Intelligieren und Intuieren mit demselben Schlag geschehen: »Sich zum formalen Intuiren machend, unmittelbar durch das immer lebendige Principsein, also intelligirend und intuirend, schlechthin in Einem Schlage« (GA II/8, 352). Soweit ist die eigentümliche Gewißheit der Erscheinungs- und Scheinlehre in ihrer Wesensherkunft durchsichtig gemacht: Der Wahrheitsgrund der Erscheinungslehre ist das uns einleuchtende Licht und Leben im Verfahren des prinzipiierenden, sich projizierenden und intelligibel machenden Sehens im Ich, und zwar im Modus einer unerschütterlichen, schlechthin notwendigen, unverwandelbaren Gewißheit. »Aber, es ist nicht bloß Leben, sondern es ist Leben seiner selbst, und
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als solches ist es Sichprojiciren. Das so eben abgeleitete Leben als construirendes Verfahren ist daher Construktion seiner selber, in der Projektion, daher eben in der Gewißheit [...]. Die Gewißheit ist ursprünglicher in uns in der lebendigen Beschreibung« (GA II/8, 352). Somit ist einer vom Schein befreiten, im Lichte der Gewißheit erscheinenden Erscheinungslehre der Grund gelegt. Es ist sonach klarzumachen, worin näherhin die Aufgabe einer Entfaltung ihrer Einheit in die Vielheit und Mannigfaltigkeit unserer Erscheinungswelt besteht. 2. Kapitel: Angabe der Aufgabenstellung (Wissenschaftslehre Königsberg, 23. Vortrag) Seit Plato kreist eine Hauptaufgabe der prima philosophia im Aristotelischen Verstande um das Eine (hen) und Viele (polla) mit dem Ziel, die Einheit von Einheit und Vielheit ein- und auszufalten. Und es ist neuplatonische Tradition, die wirkungsgeschichtlich zumeist latent oder wie im Falle Hegels bewußt in die Systembildungen des Deutschen Idealismus hineinreicht. Der Neuplatonismus ist der alten Aufgabenstellung der Metaphysik auf einem doppelten Wege intensiv und extensiv in vordialektischem Geiste (etwa bei Proklos, dem ›Hegel der Antike‹) nachgegangen: in einem stufenweisen Aufstieg von der ins Nichts zerstiebenden Vielheit zum lichterfüllten Sein des göttlichen Hen und in einem Abstieg, da das an Einigungskraft überfließende Eine sich in den ›Hypostasen‹ von Vernunft, Seele, materieller Raum- und Erscheinungswelt bis zum einheitslosen Nichts abstufte. Solche Aufgabenstellung kehrt im Lichte transzendentaler, absoluter Reflexion und in Anknüpfung an die All-Einheitslehre Spinozas in Fichtes ungeschriebener Lehre wieder. Die neugestaltete Wissenschaftslehre legt diejenigen Gesetze des Bewußtseins frei, nach denen alles Mannigfaltige in absoluter Einheit eingeht und aufgeht, und zwar auf dem Wege einer aufsteigenden Wahrheitslehre. Und eine Erscheinungslehre durchdringt jene Prinzipien, nach denen alles Mannigfaltige auf absteigendem Wege aus der absoluten Einheit des schlechthin einfachen Einen in seinem unmittelbaren Dasein entsteht. Das verlangt vom Prinzipienforscher keineswegs, plotinisch in einer unio mystica mit dem lichtvollen Einen selber Licht zu werden, sondern in transzendentaler Besinnung auf das absolute Wissen zu setzen und die Prinzipien einer Erscheinungslehre komplett zu erfassen, »d.h. daß ihm die Einheit = A als Princip einleuchtet solcher Mannigfaltigen; und umgekehrt, daß ihm die Mannigfaltigen ih-
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rem Seinsgrunde nach nur begriffen werden können, als Principiate von A« (1. Vortrag; GA II/8, 8). Diesen Aufgabenstand dokumentiert der 23. Vortrag der Wissenschaftslehre Königsberg 1807. »Noch immer bleibt unsere Aufgabe dieselbe, die Mannigfaltigkeit, die wir als fünffache Unendlichkeit kennen, aus absoluter Einheit abzuleiten: welche Aufgabe selbst, jetzt, da wir ihrer Lösung immer näher rücken, wir noch schärfer betrachten wollen« (GA II/10, 179). Diese Themenstellung wiederholt einleitend die weder von Kant noch von Spinoza gelöste Aufgabe, alles Mannigfaltige im Wissen rein a priori aus absoluter Einheit herzuleiten, um sie im Vorblick auf die ins Auge gefaßte Lösung schärfer zu betrachten.56 Die schon deutlicher entwickelte Aufgabe einer prima philosophia besteht, komprimiert formuliert, darin, die Mannigfaltigkeit als »fünffache Unendlichkeit« herzuleiten. Das verlangt keineswegs, gegenüber populären Mißverständnissen warnend eingeschärft, alle kontingenten Einzeldinge und Gegebenheiten in ihrer realen Vorfindlichkeit aus einem Absoluten zu deduzieren. Das hatte bekanntlich der popularisierende Kant-Nachfolger Wilhelm Traugott Krug in seiner Streitschrift Briefe über den neuesten Idealismus. Eine Fortsetzung der Briefe über die Wissenschaftslehre eingefordert. Schelling wie Hegel haben im gemeinsam herausgegebenen Kritischen Journal der Philosophie 1802 diesen Unsinn bloßgestellt. »Herr Krug kann sich nicht enthalten, die Sache wie der gemeinste Plebs zu verstehen und zu fordern, es solle jeder Hund und Katze, ja sogar Herrn Krugs Schreibfeder deduziert werden, und da das nicht geschieht, so meint er [...], man hätte sich nicht sollen das Ansehen geben als ob man das ganze System der Vorstellungen deduzieren wolle« (TWA 2, 194). Die ›Schreibfeder des Herrn Krug‹ tut Fichte mit der ersten einleitenden Bemerkung in der Wissenschaftslehre 1812 ab. »Alberne Menschen verlangen, man solle ihnen deduciren ihre Feder und die Albernheiten, die sie schreibt« (GA II/13, 43). Dieser Vorbehalt stellt eine bedeutsame kritische Schranke auf. Sache der Philosophie, selbst in ihrer systematischen Vollständigkeit, ist es nicht, all das Ungefähre und Zufällige und auch nicht das je Einzelne in seinem realen Inhalt und seiner empirischen Wirklichkeit genetisch herzulei-
56 Zum Aufbau der Königsberger Wissenschaftslehre vgl. die vielfach klärende Studie von G. Rametta: Einleitende Bemerkungen über die W.L. von 1807, 2006. – Ders.: Le strutture speculative della dottrina della scienza. Il pensiero di Fichte negli anni 1801-1807, 1995.
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ten; denn das liegt unterhalb der Schwelle und außerhalb der Reichweite der Gesetze unseres Bewußtseins. »Wie das Ungefähre, Zufällige (Gesetzlose) wird, kann man nicht sagen« (GA II/13, 43). Wohl aber ist genetisch die Fünffachheit und die Unendlichkeit unserer Bewußtseinsverhältnisse und unserer Welteinstellungen durchsichtig zu machen. Diese entfaltet sich formal in der synthetischen Fünffachheit von fünf Gliedern. Diese sind 1. das tätige Setzen, 2. das gegenständliche Sein, 3. das Anschauen einer Sinnenwelt, 4. das Denken der übersinnlichen Welt und 5. der lebendige Wechsel eines Durcheinanders. Und sie besondert sich materiell in den fünf Bewußtseinsstufen unserer Weltansichten. Diese sind 1. der Naturglaube, 2. das Bauen auf das Recht, 3. die Einforderung von Sittlichkeit, 4. die Liebe der Religion und 5. die Wissenschaft als Weltweisheit. Das systematisch zu vervollständigende Faktum dieser fünffachen Aufspaltung oder Pentatomie hatte Fichte schon in einem Zusatz zum AppiaBrief (vermutlich an Paul Joseph Appia, reformierter Prediger in Frankfurt am Main) vom 23. Juni 1804 in Aussicht gestellt. Danach spaltet sich das absolute Wissen in seiner Bewußtseinsform »zuförderst in ein sinnliches und übersinnliches Bewußtseyn, was auf das Seyn angewendet ein sinnliches und übersinnliches Seyn geben muß. Das Übersinnliche spaltet sich hinwiederum, nach einem hier nicht anzuführenden Gesetz, in religiöses und moralisches Bewußtsein, was auf das Seyn angewendet einen Gott giebt und ein sittliches Gesetz; das Sinnliche spaltet sich wiederum in ein Sociales und in ein NaturBewußtsein, was auf das Sein angewendet ein Rechtsgesetz und eine Natur giebt« (GA III/5, 247-248). Fichtes materielles Gesetz der ›Pentatomie‹ vervollständigt die unvollständige Trichotomie Kants und erst recht natürlich die Platonische Dichotomie. »Grundgesetz der Pentatomie, keinesweges Trichotomie:... Kant 3 Kritiken, 3 Welten. Sollten 5 seyn, welche fehlt: die eigentl. reale moralische, die religiöse, die wissenschaftliche« (GA II/10, 153). Nun sind Übergänge und Aufstiege auf den fünf Stufen der Weltansichten ein Akt der Freiheit, und dieser in seinem Vollzug eines freien Hinsehens ist unendlich. Mithin verlangt die Aufgabe wahrer Philosophie, alles Mannigfaltige in seiner fünffachen Unendlichkeit a priori aus einem Spaltungsprinzip einsichtig zu machen. Sie wäre gelöst, wenn die fünffache Unendlichkeit in der Fünffachheit der Freiheit aus einem Stück dargestellt würde. »Also Schematisiren d.i. freies hinsehen eines Etwas ins Unendliche, nach dem Gesetze der Unendlichkeit, u. einer bestimmten Fünffachheit, ist das Grundgesetz des zu Sehen gewordenen Lebens« (GA II/10, 159).
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Um in diesen »Grundpunkt« hineinzuführen, hat Fichte eine »feste schematische Formel« mitgeteilt: »x = A + F + U + 5« (GA II/10, 159). X steht für die zu suchende, von Kant für unerforschlich gehaltene Einsicht in die absolute Genesis, in das Entstehungsgesetz eines Ursprungs, der zugleich Einheits- und Sonderungsursprung alles Mannigfaltigen ist. Dazu sind folgende Glieder in Rechnung zu stellen: die Ich-Erscheinung als Dasein, Schema, Bild absoluten Lebens (A), die Freiheit (F), welche das gesollte Intelligieren des Ich-Bildes vollzieht, das Unendliche (U), in welches sich das erscheinende Leben in Zeit und Geschichte der Weltwirklichkeit schematisiert, nicht zuletzt die Fünffachheit (5), in welcher sich fünf Grundmomente des Selbstbewußtseins konsitutieren und mit demselben Schlag in fünf Einstellungen des Welt- und Seinsverständnisses sondern.57 Somit ist die Aufgabe einer genetisch evidenten Erscheinungslehre gestellt. Aufzusuchen sei das Entstehungsgesetz, nach welchem dieses höchste Faktum des Bewußtseins, die »fünffache Unendlichkeit« und die »Fünffachheit der Freiheit«, entsteht; denn auch die Einstellung der fünf Weltansichten und der mögliche Aufstieg vom Naturglauben bis zum Religionsgefühl ist Sache der Freiheit und nicht des Zufalls oder einer dialektischen Notwendigkeit. Zur Lösung dieser Aufgabe stellt die Einleitung der 23. Vorlesung drei Prinzipien bereit. 1. Der erste Anfangsgrund ist die reale All-Einheit göttlichen Wesens und Lebens. »Wir bedürfen daher zuvörderst einer Einheit, u. zwar keinesweges, was fast aller philosophischen Systeme Einheit ist, eine aus der Mannigfaltigkeit zusammengesetzte, die sonach erst wird, sondern eine, die in u. durch sich selbst Einheit ist, u. aus der, weil sie ohne Wandel ist, nie ein anderes hervorgehen kann. Diese Einheit muß ferner [...] absolut Real seyn, d.i. dem allein wir Realität zuschreiben [...], u. das göttliche Wesen selbst seyn« (GA II/10, 179). Um den Prinzipienanspruch solcher Einheit zu genügen, welche als Einigungsgrund über der synthetischen Einheit des Wissens oder der transzendentalen Apperzeption ›west‹, sind drei notwendige Bedingungen zu erfüllen. Die umfassende Einheit darf nicht nachträglich aus vorliegendem Mannigfaltigen zusammengestückt werden. Sie muß
57 Der förderliche Durchgang durch die Königsberger W.L. in der Abhandlung von M. Ivaldo: Transzendentale Lebenslehre. Zur Königsberger Wissenschaftslehre 1807, 1996, 174 hat diese Formel trefflich transponiert: »Ich-Erscheinung erweist sich als Schema des Lebens (A), das durch Freiheit (F) ins Unendliche (U) schematisierbar ist und prinzipiell nach den fünf Stufen (5) des Bewußtseins (als Nicht-Ich Ich-Beziehung) gestaltet wird.«
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in und durch sich selbst geeint sein. Ferner darf ein genügender Einheitsgrund nicht ein anderes ›emanativ‹ hervorgehen lassen, er muß seine AllEinheit bewahren, so daß allein diese ist und nichts außer ihr. Und sie muß schließlich wahrhaft real und göttlichen Wesens sein. Wird nun das wahrhaft reale Wesen grammatikalisch als verbum activum bestimmt, dann ist es Leben, das nicht substantivisch besteht, sondern aktivisch weset. Das wesende Leben ist nach dem Ausdruck der W.L. 1804-II: esse in mero actu. Die durch sich lebende Wesenseinheit ist daher nicht einseitig als absolute Substanz denkbar. Das wahre, real-wesende Leben können wir nur leben. Das erste in seiner Verborgenheit zu entbergende Prinzip ist also die Einheit göttlich tätigen Wesens und Lebens selbst. 2. »Zweitens bedürfen wir ein Princip der Mannigfaltigkeit, d.i. [...] eine zweite Einheit, welche schlechthin durch sich selbst, zufolge ihres von uns darzulegenden Wesens nothwendig sich spalte in: p.p. [die Mannigfaltigkeit fünffacher Unendlichkeit]« (GA II/10, 179). Außer dem Ursprung absoluten Einheitslebens ist ein Prinzip der Spaltung und Disjunktion anzusetzen, sofern das wandellose, inkludente Sein und Leben des Absoluten sich nicht in sich selbst spaltet und in unendliche Modi einer Substanz modifiziert. Die Durchdringung und Entfaltung dieses zweiten Prinzips ist die genuine Aufgabe einer transzendentalphilosophischen Besinnung, welche sich auf die Grundelemente und Hauptstrukturen der Erscheinungswelt besinnt. Das vollbringt die Wissenschaftslehre und nur sie als höchste synthetisch-analytische Kunst des Sehens, das sich von sich als solches sieht und sichtbar macht. Solches absolute Sehen und Wissen drückt sich in den substantivierten Präpositionen des Von, Durch und Als aus. Eine Sichtbarmachung des sich von sich als solches sehenden, durchgängigen Sehens bildet die Grundform, das Schema, welchem alle Spaltungsgesetze des Bewußtseins einheitlich folgen. Das Sich-Sehen in den reinen Bezügen des Von, des Als und des Durch spaltet sich notwendig und gesetzhaft in ein Sehen (das Ich-Subjekt) und in ein Gesehenes (das NichtIch-Objekt), in eine theoretisches Einsehen und den praktischen Vollzug eines Strebens ins Unendliche, in die Differenz von unmittelbarem Hinschauen des Sinnlichen und das Denken des Übersinnlichen vermittelst des Als. Die vollständige Entfaltung dieser höchsten synthetisch-analytischen Kunst des Sehens in alle ihre Mittelglieder vollendet die Form der Vernunftwissenschaft, die in den Ausarbeitungen der Jenaer Grundlage noch nicht durchgeführt war. Und sie wehrt den Nihilismusverdacht Jacobis ausdrücklich ab, indem sie es nicht bei der Reflexion, der Schematisierung eines Schemas be-
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wenden läßt, sondern bis zum Realgrund der Reflexion zu Ende reflektiert und das Prinzip einer Vereinigung mit der wahren Einheit und Urrealität beibringt. Fichtes Anti-Nihilismus-Formel erklärt: Das Nichts im Sinne des sich schematisierenden leeren Schemas eines sich selbst sehenden Sehens und sich spiegelnden Spiegels ist, sofern es doch real ist, nicht Nichts (vgl. GA II/10, 176 u. 194-195). 3. Beim Ansatz von zwei getrennten, zusammenhanglosen Prinzipien, der wandellosen-realen Einheit (A) und dem formalen Spaltungsgrund der Mannigfaltigkeit (B), kann es nicht bleiben. »Wodurch wir einen, nie zu vereinigenden Dualismus hätten. Daher wir denn 3. ein Princip der Einheit u. des Zusammenhanges der beiden ersten Principe aufzeigen müssen, worin sich finde, daß A selbst, jedoch ohne seine Einheit zu verlieren, eintrete in B u. wiederum B ohne doch die in ihm liegende absolute Spaltung zu verlieren sey A« (GA II/10, 179). Damit eröffnet sich die letzte und entscheidende Aufgabe einer Philosophie, welche nicht Dualismus sein will, der unbesehen zwei Prinzipien, Gott oder das Absolute und das Ich oder das absolute Subjekt, zusammenhanglos nebeneinander bestehen läßt. Darin, den Dualismus aufzuheben, muß, nochmals formuliert, die höchste Aufgabe der Vernunftwissenschaft bestehen. »Wie die absolute Einheit u. Unveränderlichkeit Gottes u. die unendliche Veränderlichkeit im Wißen als seine Erscheinung nebeneinander bestehen u. wohl gar die leztere aus der ersten nothwendig folgen, u. sich erheben möge, ist die eigentliche u. lezte Aufgabe aller Philosophie« (GA II/10, 188). Und Fichte fügt historisch an: Die wenigsten Systeme seien bis zu dieser Aufgabenstellung durchgedrungen; andere, wie Spinoza oder der verklärte Spinozist Schelling, hätten diese Aufgabe erfaßt, aber nicht gelöst. 3. Kapitel: Feststellung des Mittelpunktes der fünffachen Vernunftstruktur (W.L. 1804-II, 28. Vortrag) Um die Aufgabe der prima philosophia als Erscheinungslehre mit den Methodenansprüchen der vollendeten Wissenschaftslehre zu erfüllen, müssen die unendliche Vielheit des Vorgestellten überhaupt und die Fünffachheit der Bewußtseinsstruktur und Welteinstellung genetisch evident werden. Dafür ist es zu allererst nötig, einen Mittelpunkt aufzusuchen, der die Erscheinungen der Vielheit als Vorschein des schlechthin Einen vermittelt. Und es sollte ein Prinzip der Sonderung und Disjunktion einsichtig werden, welches die Fünffachheit in sich enthält. In welchen Mittelpunkt nun
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kommt eine Vernunftwissenschaft zu stehen, welche in eins und mit einem Schlag die unendliche Mannigfaltigkeit der in unserem Bewußtsein erscheinenden Welt und die Fünffachheit unserer Weltansicht ursprünglich klärt? Diese Frage schärft sich zu. Steht die Philosophie im Standpunkt der absoluten, sich selbst machenden und sich im Bewußtsein konstruierenden göttlichen Vernunft oder im Standpunkt einer selbstbewußtichhaften nachmachend-nachkonstruierenden Vernunft? Nun war ein Sitz der Wahrheitslehre schon einsichtig geworden: »das unmittelbar in sich selber aufgegangene und von sich selber durchdrungene Eine Vernunftleben« (GA II/8, 406). Mit diesem nur scheinbar unscheinbaren Resultat beginnt Fichte seinen alles abschließenden 28. Vortrag. »So standen wir: die Vernunft ist schlechthin Grund ihres eigenen Daseins, in eigner Objektivität, für sich selber, und darin besteht eben ihr ursprüngliches Leben« (GA II/8, 410). Das ist das sich selbst effizierende Licht. Dieses Leben macht sich selber intuieren, d.h. sie geht ununterscheidbar in der reinen Tätigkeit des Intuierens auf. Das kommt auf neuzeitlichem, transzendentalem Wege mit der Nous- und Vernunftlehre der Aristotelischen ›Theologie‹ in Metaphysik Lambda überein. Nun ist in transzendentaler Besonnenheit längst entschieden: Von dieser Urtätigkeit göttlichen Vernunftlebens ist weiter nichts prädizierbar und begrifflich zu erfassen. Es ist nur als Unbegreifliches begreifbar und nur als Unaussprechliches auszusprechen. Im geistigen Leben des Absoluten selbst findet eine philosophische Vernunftwissenschaft keinen Stand, mag sie noch so fortschrittlich vom Absoluten reden. Dagegen ist ein für allemal zu behalten: Außer diesem all-einen Leben der Urtätigkeit der absoluten Vernunft gibt es nichts, was wahrhaft tätig ist und lebt, außer dem Wissen, das vom Licht der unbegreiflichen Urtätigkeit ergriffen ist. Damit entsteht unabtrennlich ein Zweifaches, das Sichmachen der absoluten Urtätigkeit und dessen Nachmachen als Bild. »Es entsteht hier zugleich eine absolute Urthätigkeit und Bewegung, als an sich; und das Machen oder Nachmachen dieser Urthätigkeit, als ihr Bild« (GA II/8, 410). Aber auch im sich als Bild bildenden Nachmachen kann der gesuchte Mittelpunkt nicht liegen; denn so wie ein Stehen im Absoluten lediglich zu einer unzerteilten Einheit ohne Vielheit und Mannigfaltigkeit des Bewußtseins kommt, so kann ein Stehen im sich selbst reflektierenden Bilde es nur zur aufgespaltenen Vielheit ohne wahre Einheit, ohne aktuale Realität bringen. Mithin ist von einem Vernunftstandpunkt, der auf das sich bildende Subjekt als Prinzip des Gedankens vom Absoluten besteht, ebenso
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zu abstrahieren wie von dem Vernunftstandpunkt, der auf der Selbstkonstruktion absoluten Licht und Lebens besteht. Vielmehr bezieht die Wissenschaftslehre ihren Standpunkt dazwischen. »Wir oder die Vernunft stehen nicht mehr, weder in jener objektivirten Vernunft, noch in der subjektivirten; – denn davon gerade ist ja zu abstrahiren, – sondern rein im Mittelpunkte des schlechthin effektiven sich Machens; die Vernunft ist durchaus lebendig in sich selber aufgegangen und zu einem inneren Ich, Umkreise und Mittelpunkte geworden in der W.L.« (GA II/8, 412). Also steht die Wissenschaftslehre weder im sich selbst machenden Absoluten und im lebendigen Geiste Gottes selbst noch im nachmachenden Dasein des Ich, sondern in dem Mittelpunkte zwischen beiden. Dafür ist ein unmittelbares, aber inneres Sich-intuierend-Machen zu durchdringen, und zwar eben vom Mittelpunkt einer Vernunftwisenschaft aus, die besonnen zwischen der Urtätigkeit göttlichen Sich-intuierend-Machens und dem Nachmachen des daseienden Wissens schwebt. »Die Vernunft [...] zerfällt in dem Leben dieses Machens in Sein und Machen: und Machen des Seins als gemachtem und nicht gemachtem, und des Machens als gleichfalls ursprünglichem und nicht ursprünglichem, d.h. nachgebildeten: und diese Disjunktion, also ausgedrückt, wie wir sie eben ausdrückten, ist die absolute und ursprüngliche« (GA II/8, 412). Im Eingehen auf diese Grunddisjunktion der absoluten Vernunft in ihrem Sein (Leben, Tätigsein) und Machen (Sich-intuierend-Machen) gliedern sich vier Glieder heraus, die in einem fünften Glied, der vereinigenden Einheit, in der Wurzel zusammenhängen: (1) ein ursprüngliches Machen: die Selbstkonstruktion der absoluten Vernunft, die das Dasein des reinen Wissens innerlich ergreift, (2) ein nicht ursprüngliches Machen: als Nachkonstruieren des nachmachenden reinen Wissens, (3) das nicht gemachte Sein an sich: die sich selbst effizierende Urtätigkeit, (4) das gemachte Sein: die für sich seiende Tätigkeit des sich durchbildenden Bildes, (5) der Mittelpunkt von Sein und Machen: das sich auf sich besinnende Sehen von Machen und Sein. Von dieser Fünffachheit aus lassen sich nunmehr die Aufspaltungen des faktischen Bewußtseins der Erscheinungswelt genetisch herleiten.
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4. Kapitel: Genetische Herleitung der unendlichen Vielheit und Veränderlichkeit Zunächst also ist von diesem Mittelpunkte aus das Faktum der absoluten Mannigfaltigkeit und unendlichen Veränderung der in unserem Bewußtsein erscheinenden körperhaft gegenständlichen Umwelt und interpersonalen Mitwelt aus einem Grundgesetz herzuleiten. Dafür ist der Bewußtseinszustand der Erscheinung als solcher, ihr Urgrund und ihre Urbedingung hervorzuheben, nämlich das innere Ich. Das innere Ich ist Tätigkeit, ein entgegensetzendes Sich-Setzen. Aber als schlechthin absolutes Subjekt und als schrankenlose Urtätigkeit der Tathandlung, welches die Realität der Welt ursprünglich zur Erscheinung bringt, ist es abgesetzt und vernichtet. Vielmehr gilt es näherhin einzusehen: Die Erscheinung selber ist »ursprünglicher Vernunft-Effekt, und zwar als Ich« (GA II/8, 414). Sonach wird das Ich zwar nicht empirisch durch Selbsterfahrung erfahren, aber es ist auch nicht die sich intuierend machende Urtätigkeit selbst. Es ist da als Resultat und Effekt, und nurmehr ein schlechthinniges Sich-Machen. Das Ich ist, mit einem Wort, nicht oberstes Prinzip von Leben und Realität, von Einheit und Sein, es ist absolutes Prinzipiat und lediglich formales, schematisierendes Prinzip der Sonderung. Als Urgrund und oberste Bedingung kommt es nur in Betracht, wenn vom wahren Sein, der Urtätigkeit des Absoluten, weggesehen wird. Das innere Ich ist lediglich einigende Einheit, welche das Seiende als Erscheinung konstituiert. Für die Struktur dieses Ich und seiner Freiheit als eigener »Sitz der Sehe« ist nun die anschließende Analyse entscheidend. »Rein in der Erscheinung aber = dem nur in seinem Princip unzugänglichen Vernunfteffekt liegt, 1) daß ich schlechthin abstrahiren müsse, falls es zu jenem Bewußtsein kommen soll, 2) daß ich dieses könne oder auch nicht, also daß ich frei sei« (GA II/8, 414). Mithin kommt in der Erscheinung ein Sollen auf, welches an die Bewußtseinsbildung ergeht, sich abstrahierend in einem Freiheitsakt von dem loszureißen, was es immer schon ist, um sich als Erscheinung im Gegensatz zum Absoluten zu fassen. So kommen Freiheit, das Gesetz des Soll und das Ich als Sitz der Sehe auf.58
58 Entsprechend hat P. Falk 2006 in einer eindrücklichen Analyse der W.L. 1812 die Sich-Form des Ich an diesem Punkte, nämlich der Rede vom Absoluten und seiner Erscheinung, die sich als sich erscheinend erscheinen soll, abgeleitet und die Konkretisierung des Soll als Sittengesetz verfolgt. Im ganzen zeige eben auch diese letzte Fassung der Wissenschaftslehre: Was so erscheint, ist nicht mehr der Triumph
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Von daher erst stellt sich die Frage nach dem Wie der Entstehung und Genesis der Welt. »Was entsteht mir, laut der Aussage der Erscheinung, durch die Abstraktion?« (GA II/8, 414). Es entsteht, in gedrängter Kürze erklärt, die Vernunft als entstehend und erscheinend aus ihrem Gegenteil. Alles Entstehen erscheint ja als solches nur an seinem Gegenteil, wie das Altsein aus dem Jungsein und eine Einheit aus der Einigung einer Vielheit entsteht. »Das Gegentheil der absoluten Einheit, die in diesem Gegensatze wiederum qualitative Einheit wird, ist absolute Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit« (GA II/8, 416). Welt erscheint als ein Entstandenes, nicht aber als Schöpfungswerk göttlicher creatio ex nihilo. Als Erscheinung, unter Bedingungen des Ich, erscheint es als Gegenbild absoluter Einheit. Das ergibt eine »qualitative Einheit« und macht erklärlich, warum unser Bewußtsein als Bilder der einen und selben Welt entsteht. Nun erscheint uns eben diese qualitative Einheit in unendlicher Zerteiltheit durch Veränderlichkeit und Mannigfaltigkeit bestimmt. Es ist die freie Reflexion des Ich, die dazu frei ist, von Reflexion zu Reflexion ins Unendliche fortzugehen und jegliches in der Form des Als zu vereinzeln. So erscheint uns dieses-da als nicht jenes, als hier und nicht dort, als gegenwärtig und nicht vergangen bzw. zukünftig, als so und nicht anders beschaffen. Geschieht das wirklich, »so muß jeder neuen Reflexion die Welt in einer neuen Gestalt heraustreten und so, in einer unendlichen Zeit, welche gleichfalls nur durch die absolute Freiheit der Reflexion erzeugt wird, ins unendliche fort sich verändern, und gestalten, und hinfließen, als ein unendliches Mannigfaltige« (Anweisung, 4. Vortrag; GA I/9, 99). Die Freiheit der Reflexion mit der Trennkraft des Als erweist sich somit als Erzeuger des unendlich Mannigfaltigen als solches in der Welt. Und diese Entstehung der unendlich mannigfaltigen und veränderlichen Welt ist sinnvoll und nicht etwa wie in nihilistischer Präzisierung endlos, zwecklos, sinnlos. Sie bildet den Ausgang für eine absolute Abstraktion, die zur wandellosen, schlechthin einfachen, göttlichen Einheit der Vernunft kommt. Soll es zu solcher Vernunfteinheit kommen, dann muß genetisch das Gegenbild im Bewußtsein erscheinen, »welches das erste Grundgesetz wäre« (GA II/8, 416).
autarker Subjektivität, sondern die Göttlichkeit des Absoluten in einer Erscheinung, die sich wissend auf sich und seine gesollte Freiheit besinnt.
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Teil III: Fichte
5. Kapitel. Schematisierung der fünf Standpunkte menschlichen Seins- und Weltverstehens Der ersten Anwendung der methodischen Generalregel, die faktischen Tatsachen des Bewußtseins in den Zusammenhang ihrer Genesis einzustellen, folgt eine zweite Anwendung. Die richtet sich auf das Faktum unserer immer noch und unentwegt im Streite liegenden fünf vorherrschenden Welt- und Seinsansichten. Auch in diesem Falle wird die Mannigfaltigkeit der Standpunkte von Prinzipien für das Verstehen der Erscheinungswelt her als notwendige Bedingung und Ausgang deduziert. Und das folgt eben dem Grundgesetz: Soll die Einsicht in die durchgegliederte Einheit von Sein und Dasein des absoluten Vernunftlebens entstehen, dann muß sie als entstanden aus ihrem Gegensatz, den gesonderten Prinzipien, im Seinsverständnis der Erscheinung deduziert werden. Das ist die Anwendung des Sollengesetzes: »Soll die W.-L. eben ein Sichmachen, eine Genesis sein, so muß ein solches und solches Bewußtsein gesetzt werden« (GA II/8, 416). Dafür liegt bereits das Lösungsziel bereit, nämlich die in ihrer Fünffachheit durchdrungene Vernunfteinheit von vier, in einem fünften zusammengehaltenen Gliedern. Das waren, nochmals repetiert, ein ursprüngliches wie ein nicht ursprüngliches Machen, ein nichtgemachtes wie ein gemachtes Sein. Das wiederholt nur die Analyse der Grundform des Wissens, nun, da die zweite Anwendung der Genetisierungsvorschrift erfolgt. »Nun haben wir diese vier Glieder insgesammt aufgestellt, nur inwiefern wir die Vernunft als innere Einheit durchdrangen« (GA II/8, 416). Dabei ist die innere Einheit vorausgesetzt, in welcher die vier Glieder nicht auseinanderfallen und als selbständige Prinzipien heraustreten. Sie bleiben unzertrennbare Momente eben im Fünften, einer Einheit, in welcher Sein und Machen durcheinander aufgehen. Nun ist diese Fünffachheit als entstanden genetisch durch Abstraktion von ihrem Gegenteil entstanden. Das erzwingt einen Ausgang in der Erscheinung, welche diese Fünffachheit gesondert und zusammenhanglos aufstellt. Sind nun aber die Dinge als Erscheinung an das Ich-denke gebunden, dann verwandeln die vier Disjunktionsglieder ihren Stand und Standesnamen. Das Sein erscheint als Objektsein, das Machen als Subjektsein, das nachgemachte Sein als stehendes (an sich entgegenstehendes) Objekt der Sinnenwelt, das sich machende Machen als Bild eines übersinnlichen (intelligibel angeschauten) Unbedingten, das sich machende Sein erscheint
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als absolutes (göttliches) Objekt, das in uns lebt. Das ergibt vier Standpunkte, die auf ihren je besonderen Grundprinzipien bestehen und die in unserem Zeitalter feindseliger denn je in ideologische Weltanschauungsparteien auseinanderfallen. 1. Die nächstliegende Weltanschauung hält sich an das »stehende Objekt«. Sie erklärt: Was wahrhaft ist, ist das wandelbare Sein an sich, das sich in seinem materialen Empfindungsgehalt durch sinnliche Wahrnehmung mit sinnlicher Gewißheit bekundet. Das ist der erste und niedrigste Modus, das Sein der Welt unter dem Grundsatz zu verstehen, wahr und wirklich sei das, was wir im Wahrnehmen der Sinne mit Händen greifen und mit eigenen Augen sehen können. Und dieser Sensualismus erklärt ebenso eigensinnig wie unsinnig: Die Dinge, wie sie sich sinnlich zweifelsfrei bekunden, bestehen an sich selber außer und ohne uns. Selbst eine Schellingsche Einstellung, welche die Natur abgetrennt von ihrer transzendentalen Vergegenständlichung (als Nicht-Ich) und Sinngebung (als Material der Pflichterfüllung) zugrundelegt, fällt auf diesen oberflächlichen dogmatischen Standpunkt zurück. Inzwischen erklärt der unvollkommene, materialistische Nihilismus: Nur die Sinnenwelt ist wahr und wirklich – eine übersinnliche Ideenwelt ist von ›Idealisten‹ hinzugesetzt und hinzugelogen. Das ist für Fichte die erste und unterste, freilich weit verbreitete Weltanschauung: »Princip der Wirklichkeit, Glaube an die Natur, Materialismus« (GA II/8, 416). 2. Die zweite, höhere und geistigere, aber immer noch an die Sinnenwelt gebundene Weise, die Welt auszulegen und sich auf wahres Sein zu verstehen, hält sich an das »stehende Subjekt«. Das Wirkliche, um das es geht, ist hier das empirische Einzelsubjekt als Rechtsperson und die Gleichheit aller vor Gericht durch die Kraft des Gesetzes: »Princip der Legalität« (GA II/8, 416). Danach ist der erste Ursprung, aus dem die Weltordnung entsteht und worin sie sicher besteht, das Rechtsgesetz. Weil das Rechtsgesetz als Gebot eine wechselseitige Einschränkung schrankenloser Freiheit fordert und ein gedeihliches Leben des Menschengeschlechtes einrichtet, erscheint die Sinnenwelt in dieser Weltansicht als Sphäre des freien rechtlichen Handelns der Menschen zwischen Personen allgemeinen und gleichen Rechts. Nun ist das totale Bestehen auf bloßer Legalität, die notwendig durch Zwangsgesetze Ordnung und Sicherheit schafft, nicht nur borniert, sondern gefährlich. Wird das Bewußtsein der Legalität aus ihrem Zusammenhange mit Sittlichkeit und Moralität, mit Religion und Vernunftwissenschaft gerissen, dann kommt ein Weltalter herauf, da Machtergreifungen,
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Massenmorde, ›ethnische Säuberungen‹ im Namen der Legalität unter Zwangsgesetzen des positiven Rechts legalistisch durchorganisiert werden. Darum liegt viel daran, unser Rechtsbewußtsein nicht im Standpunkt der Legalität zu isolieren, sondern in ihrem Zusammenhange mit den Geboten der Sittlichkeit, der Menschenrechte, der ungeschriebenen göttlichen Gesetze zu verbinden. 3. Die Weltansicht der Legalität wird durch den Standpunkt der Moralität überboten und als oberstes Prinzip herabgestuft. Dieser Standpunkt verläßt nun die Sphäre der Sinnlichkeit und der Mannigfaltigkeit egoistischer Einzel-Iche, indem er sich ins absolute reale Bilden des Subjekts stellt. Da erscheint die Realität im Bewußtsein des intellektuell angeschauten Sittengesetzes, welches allgemein und kategorisch für alle Subjekte als moralische Personen gilt, unangesehen der zeitlichen und geschichtlichen Situationen und der positiven Gesetzlichkeiten: »Standpunkt der Moralität« (GA II/8, 416). Diese Schematisierung hat in der Religionsschrift Fichtes eine weitere Differenzierung gewonnen. Freilich ist hierfür auf die methodische Wende von der 28. Vorlesung der Wissenschaftslehre 1804 zur 5. Vorlesung der Religionslehre zu achten. Während die Wissenschaftslehre die Aufspaltung dieser Fünffachheit in ihrem Mangel, der zusammenhanglosen Absonderung, und in ihrem Eigensinn artikuliert, zeigt die Religionsschrift die Übergänge und den Zusammenhang dieser Abstufungen an. Das hat zumal für die Mittelstufe der Moralität Folgen. Danach steigt die Weltansicht zur Moralität auf, wenn sich das Sittengesetz im Inneren des Rechtssystems offenbart. Das aber stuft die Religionsschrift lediglich als »Sphäre der niederen Sittlichkeit« ein. Dazu gehört die gewöhnliche Sittenlehre unter der Klugheitsregel »Tue niemandem Unrecht!«, aber auch die von Kant inaugurierte moralische Gesinnung pflichtgemäßen Handelns aus Achtung vor der Gesetzlichkeit des Sittengebotes. Davon hebt sich der dem Zeitalter gänzlich verborgene – in der Erlanger Vorlesung 1805 nähergebrachte – »Standpunkt der wahren und höheren Moralität« ab. Diese Weltansicht erhebt sich zu einem Grundsatz, der ein neues Seinsverständnis und eine neue, geheiligte Seinsverherrlichung stiftet. »Das wahrhaft reale und selbstständige ist das Heilige, Gute, Schöne; das Zweite in ihr ist die Menschheit, als bestimmt, jenes in sich darzustellen; das ordnende Gesetz in derselben, als das Dritte, ist ihr lediglich das Mittel, um, für ihre wahre Bestimmung, sie in innere und äußere Ruhe zu bringen« (GA I/9, 109). Demzufolge ist die Urrealität dieser Ideen christlich-platonischer Tradition das Erste, ursprünglicher und sinnträch-
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tiger als das bloß ordnende und normierende Gesetz der niederen Moralität. Diese bricht die Kraft der Neigungen, schränkt die sich auslassende Willkür ein, befriedet den Bürgerkrieg aller gegen alle, untersagt kategorisch, den anderen in seiner Würde zu lädieren. Dagegen stellt das Prinzip der höheren Moralität ein »erschaffendes Gesetz« heraus. Das sieht vor, die Ideen des Heiligen, Guten und Schönen in die Welt zu tragen. Diese Aufgabe vertieft die Bestimmung des Menschen. Zugleich nimmt sie die ordnende Kraft formal-gesetzlicher Sittlichkeit als Mittel in Gebrauch, um die wahren Ideen in Ruhe und Frieden verwirklichen zu können. So bringt diese Weltansicht eine vom Heiligen, Guten, Schönen beseelte Welt zu Gesicht, in der Gottes inneres Wesen und Sein heraustritt. 4. Eine innigere Ansicht des übersinnlichen Seins und Lebens übersteigt die untere und höhere Moralität. Sie hält sich an das wahre Leben »des absoluten Objekts« in uns. Das ist Gott und das ewige Leben, in dem und aus dem wir leben, und zwar in dem unwandelbaren Glauben des homo religiosus: »Standpunkt der Religion, als Glaube an einen in allem Zeitleben allein wahrhaft, und innerlich allein lebenden Gott« (GA II/8, 418). Auf diesem Standpunkt enthüllt sich die Zuwendung zur Welt als haltlos und das In-der-Welt-Sein als in der Wurzel tot, die Hinwendung zu Gott dagegen als das einzig haltgebende wahre Leben. Das erfährt der Religiöse im Glauben, in und aus dem er lebt, existiert und ein Leben lang wirkt und handelt. Der Standpunkt des religiösen Glaubens ist inhaltlich und real unüberbietbar, aber er kann formal ins Schauen verwandelt werden. 5. Die fünfte und alles von Grund auf durchschauende Weltansicht ist der Standpunkt der Vernunftwissenschaft, und diese ist vollendet, wenn sie sich in den Mittelpunkt stellt, da alles Mannigfaltige aus reiner Einheit genetisch hergeleitet ist und da die vier auf sich vereinzelten und sich verabsolutierenden obersten Seinsauslegungen, nämlich Dogmatismus einschließlich Sensualismus, Materialismus, Naturvergötzung, Legalismus, Rigorismus und selbst höherer, platonistischer Moralismus in ihrem Prinzipienanspruch vernichtet und als Momente in einem organischen Sinnzusammenhang aufgehoben sind. 6. Kapitel. Ausblick auf die 25 Grundformen vernunftbestimmten Wissens Nun hat der 28. Vortrag zusätzlich diese Fünffachheit in 25 Hauptmomente ausgefächert und als ursprüngliche Grundbestimmungen des Bewußt-
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seins auf den Standpunkten von Natur und Recht, Sittlichkeit und Religion, Gott und Sein freigelegt. Das leuchtet ein, sofern jeder dieser faktischen Standpunkte ein freilich nicht durchschauter Effekt der Vernunft in ihrer Fünffachheit ist. Somit stellen sich auf jeder Stufe die vier anderen Seinsbezüge ein, »nur eben tingirt im Geiste des herrschenden Grundprincips« (GA II/8, 418). Diese Anzeige Fichte ist unschwer zu rekonstruieren. So finden sich selbst in der geistlosen Sphäre unter dem Prinzip der Sinnlichkeit ein: (1) das sensualistische Seinsverständnis, (2) die Vorstellung eines Gottes: der uns das tägliche Brot gibt, (3) Regeln der Klugheit, nämlich sich im Genuß zu mäßigen und es mit Gott als dem Geber der Gaben nicht zu verderben, (4) eine Art geistiger Reflexion: im bedachten Genießen des Genießens, (5) ein vereinigendes Prinzip, nämlich die totale Liebe zur sinnlichen, an ihr selbst nichtigen und vergänglichen Welt in der Tradition des Hedonismus. Entsprechend sind alle fünf Weltanschauungen im Geiste des Rechtsbewußtseins eingefärbt und zusammengeschlossen: (1) das Pochen auf das Heil der Legalität, (2) die Vorstellung eines Gottes als »höhere Polizei«, die den Schuldigen ergreift, auch wenn menschliche Polizei ihn nicht verhaftet, (3) eine Moralität, die mit der äußeren Rechtlichkeit zusammenfällt und sich am positiven Recht orientiert, (4) eine spezifische Anerkennung der Sinnenwelt »zum Behuf der bürgerlichen Industrie«, gleichsam als Material der Arbeitskraft des Menschen und der Vorschriften der bürgerlichen Gesellschaft, (5) ein vereinigendes Prinzip, eben die totalitäre Herrschaft des Rechtsgesetzes. Und fünf Hauptmomente konstituieren auch den Standpunkt der Moralität: (1) das Vorverständnis des Seins als Sollen, (2) ein Vernunftglaube an Gott, der lediglich postuliert ist, um die Verwirklichung des Sittengesetzes moral-theologisch zu garantieren, (3) eine Rechtsgemeinschaft als Vorbedingung einer von Zwangsrecht und Staatsrecht freien und sittlichen Menschenwelt, (4) die Sinngebung der Natur- und Sinnenwelt als Material der Pflichterfüllung,
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(5) ein einigendes Prinzip, die Freiheit der Selbstunterwerfung unter das Sittengesetz. Und natürlich lassen sich auch fünf Hauptmomente vom Standpunkt der Religion ausmachen: (1) der religiöse Glaube an Gott als die Wahrheit und das Leben, (2) eine Moralität, die nicht die Existenz eines gerechten Gottes postuliert, sondern als göttliches Werk offenbar wird, (3) eine von ewigen, göttlichen Gesetzen durchwaltete Rechtswelt, (4) eine Sinnenwelt als Ausfluß göttlichen Lebens, (5) ein vereinigendes Prinzip, nämlich die Gottesliebe, die höher ist denn alle Vernunft. Vor allem der Standpunkt der Philosophie hat sich fünffach zu entfalten, nämlich als philosophisches Verständnis der Natur, als philosophische Grundlegung des Rechts, als Herleitung der unteren und höheren Moral, als Aufstieg zum Standpunkt der Religion und dies in einer Vernunftwissenschaft, die alle vier anderen Vernunftwissenschaften hierarchisch durchordnet und in ihrem Sinn erhellt. Also entschlüsselt der Schlußvortrag die Fünffachheit in 25 genuine Hauptmomente des Wissens vom Sein der Welt. »In jedem Standpunkte sind daher vier und wenn Sie das vereinigende Prinzip wiederum dazu nehmen, fünf Grundmomente, welches ihrer zusammen 20 und wenn sie die eben von uns vollzogene Synthesis der W.L. in ihrer aufgezeigten Fünffachheit dazunehmen, fünf und zwanzig Hauptmomente und ursprüngliche Hauptbestimmungen des Wissens giebt« (GA II/8, 418). Am Ende stellt sich im Blick auf die Vollendung eines vollständig abgeschlossenen Vernunftsystems die Frage: Sind die evident gemachte Zerspaltung in 25 Hauptformen unseres Wissens und der zuvor zur Einsicht gebrachte Zerfall des Realen in die unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinung nacheinander entstanden und deren Zusammennahme etwa doch eine mangelhafte Synthesis post factum? Oder geschehen beide Disjunktionen mit einem Schlag und nach einem und demselben Grundgesetz der Vernunft? Diese Frage ist bereits entschieden und der Anspruch einer Synthesis mit einem Schlage eingelöst. Beide Disjunktionen fallen zusammen. Die Mannigfaltigkeit überhaupt entsteht ja aus der Reflexion auf die Einheit der Vernunft als ein Sich-intuierend-Machen, und diese Reflexion läßt unmittelbar das Schema der Fünffachheit entstehen. Die materiale, unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt und die
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Fünffachheit der Prinzipien von 25 Wissensformen entstehen zugleich und in eins nach demselben Vernunftgesetz. Somit ist die Aufgabe der Prinzipienforschung auch als Erscheinungslehre gelöst, vollendet und systematisch abgeschlossen. Fichte jedenfalls hat 1804 öffentlich auf dem Forum des geistigen Berlins die Wissenschaftslehre als Vollendung des mit Kant anhebenden, durch Spinoza herausgeforderten, durch Schellings und Hegels Spekulation aus der Bahn geworfenen Idealismus verkündet. »Unsere unternommene Aufgabe ist daher vollkommen gelöst, und unsere Wissenschaft geschlossen. Die Principien sind, in der höchst möglichen Klarheit und Bestimmtheit hingestellt« (GA II/8, 420). Die ausgereiften Grundlegungen der Seins- und Erscheinungslehre von 1804 liegen den weiteren Ausformungen der Wissenschaftslehre zuvor und zugrunde. Das ist für die Abgrenzung und Kritik der Spätphilosophie von Belang. Werden die 1804 gewonnenen und zur Evidenz gebrachten Entstehungsgesetze unseres reinen Wissens von Gott, Dasein und Welt abgeblendet oder mit Schellings Augen schief angesehen, dann geraten spätere Fassungen ins Zwielicht. So ist nicht zuletzt die Wissenschaftslehre 1812 einer kritischen Analyse unterzogen worden.59 Sie sei das System einer von Ontotheologie umrahmten Reflexionswissenschaft; von ihrem metaphysischen Rande aus dringen Dunkelheiten in den transzendentalen Mittelteil wie in den Schlußteil ein; da werden Freiheit und Ergriffenwerden gleichgesetzt. Vor allem aber würde die Differenz von Sein und Erscheinung mit der Differenz zweier Seinsformen des Absoluten, dem Leben durch sich und dem Dasein als Bild, identifiziert. Das führe zu einem unausgereiften Komplex eines doppelten Absoluten und einer doppelten Erscheinung und verschließe am Ende den Ort für ein frei wählendes Wollen, das im Sichlosreißen vom Widerschein seiner selbst das Licht einer absoluten Reflexion sichtbar mache. Solcher Freiheitsschwund sei eben der methodischen Uneindeutigkeit der beiden Seinsformen des Absoluten geschuldet. Solche ernstzunehmende Kritik unterstellt: Der Begriff Gottes sei in Dunkelheit gehüllt, die Rede von der Selbstvernichtung des Begriffs sei ein ungeklärtes Paradox, eine höhere Reflexion sei Prinzip einer bloß scheinbaren, höheren Welt, und schließlich: In Fichtes Spätphilosophie sei die
59 Vgl. die scharfsinnige Kritik der W.L. 1812 in ihrer Gesamtanlage durch P. Baumanns: Fichtes und Schellings Spätphilosophie, 1989.
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Freiheit verschwunden. Spätestens seit den Grundlegungen von 1804 aber war in voller Klarheit und Bestimmtheit herausgestellt: Gott ist nicht ins Dunkel gehüllt, sondern als Unbegreifliches begriffen und als absolutes Leben in unserem religiösen Dasein in Tat und Wirklichkeit gelebt. Die Selbstvernichtung des Ich ist kein ungeklärtes Paradox, sondern durch die Erfüllung des Gesetzes geklärt: Soll das Absolute einleuchten, dann muß sich der Begriff vernichten. Eine absolute Reflexion spiegelt nicht den Schein einer höheren Welt vor, sie vollbringt eine transzendentale Besinnung auf sich im Denken des Absoluten. Und schließlich: In Fichtes ungeschriebener Lehre ist die Freiheit nicht verschwunden, vielmehr wird die Freiheit so aufgegeben, daß sie in den absoluten Freiheitsgrund übergeht. Es sind eben Problemlösungen im Vollendungsstadium der Wissenschaftslehre von 1804, welche unveränderliche Grundlagen der Vernunftwissenschaft freigelegt haben: die transzendentale Vollendung einer negativen Theologie im Aufstieg zur einfachen, in sich geschlossenen Einheit des Hen, die Selbstvernichtung des Ich in seiner Selbstmächtigkeit unter dem Gebot des aletheuischen Soll, die intuierende Durchdringung des reinen Wissens in seinen Reflexionsformen als Schöpfer der Welt, die Erschließung der Fünffachheit im Aufbau des Selbst- und Seinsverstehens wie der fünf Weltansichten in ihren 25 Grundeinstellungen. Und von diesem Grund und Boden aus kann Fichte zum Abschluß der 28. Vorlesung eine Ausfaltung ankündigen, welche die Prinzipien der Wissenschaftslehre eigens auf die speziellen Vernunftstandpunkte des Rechts, der Sittlichkeit, der Religion anwenden: »Zur Anwendung dieser Principien auf besondere Standpunkte, z.B. den der Religion, welche wohl immer, nur nicht in der Einseitigkeit und Versinnlichkeit, in der sie oben gefaßt wurde, sondern im inwohnenden Geiste der W.-L. das Höchste bleiben dürfte, von ihr auch der Sittenlehre, und der des Rechts, dürfte vielleicht künftigen Winter sich Zeit und Gelegenheit finden« (GA II/8, 420). Dem zuvor aber läßt sich die wissenschaftlich deduzierte Fünffachheit in ihrer Anwendung auf das gelingende, selige Leben anzeigen. 7. Kapitel: Anweisungen für die fünffache Erscheinungsform der Liebe im Leben (Anweisung zum seligen Leben, 7.-9. Vorlesung) Zum Programm einer ganz abgeschlossenen Erscheinungslehre gehört entscheidend die Anwendung ihrer Grundlegungen auf das Leben. Das betrifft den Lebensentwurf jedes Einzelnen. Solchen Lebensbezug thema-
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tisiert die Religionsschrift durch Anweisungen zu einem geglückten, seligen Leben. Und das geschieht auf der Grundlage der ausgearbeiteten Fünffachheit unserer Weltansichten, zumal durch zwei Aufschlüsse: durch die Klärung des Fundierungsverhältnisses von Leben und Liebe, Selbstliebe und »Wohlsein« (Zufriedenheit, Freude, Seligkeit) wie durch die Zuordnung von Leben und Liebe zum fünffach gestuften Modus menschlichen Seinsverständnisses. Nun ist das Grundverhältnis von Leben und Liebe schon in der 1. Vorlesung vorbereitend formuliert worden. »Das Leben ist Liebe, und die ganze Form und Kraft des Lebens besteht in der Liebe, und entsteht aus der Liebe« (GA I/9, 55). Liebe ist das, woraus das Bewußtseinsleben ursprünglich entsteht und worin es besteht. Offenbar besteht ja die Lebendigkeit des Bewußtseins in jener einigenden Tätigkeit, welche die ewig bleibende Zweiheit des sehenden Ich und des gesehenen Ich im Vollzug des Sich-Sehens als eines solchen ursprünglich vereinigt. Mithin ist es eine Selbst-Liebe, welche diese zerteilte Zweiheit innigst verbindet. Nun bringt die Liebe da, wo sie das Selbst mit sich glücklich vereinigt, ›Wohlsein‹ in den Modi der Zufriedenheit, Freude, Seligkeit unmittelbar auf. »So ist klar, daß Leben, Liebe und Seligkeit, schlechthin Eins sind und Dasselbe« (GA I/9, 56). Mithin bildet die Liebe die Wurzel und den Mittelpunkt aller Regungen unseres individuellen Lebens in seinen Möglichkeiten, selig oder unselig zu werden. Das, woran ein Mensch sein Herz und sein Sehnen hängt, macht seine Denkart und Geistesbeschaffenheit aus. »Offenbare mir, was du wahrhaft liebst [...] – und du hast mir dadurch dein Leben gedeutet. Was du liebst, das lebst du« (GA I/9, 57). Nun hat die Erscheinungslehre fünf Stufen unserer Weltansicht herausgegliedert. Ihnen ist in Anwendung auf unser Leben eine fünffache Auffassung der Liebe zuzuordnen. (1) Mit dem zureichenden Vorverständnis von Leben, Liebe und Sein und mithilfe des Leitfadens der Fünffachheit läßt sich die unterste Stufe der Weltliebe beschreiben. Hier erschöpft sich das Wohlsein von Liebe und Selbstliebe im Genießen weltlicher Dinge und Güter, zumal im Sinnengeschmack des Angenehmen, etwa im Wohlgeschmack von solchem, das mundet, oder im Wohlgeruch von solchem, das duftet. So sagen wir genießerisch: »Ich liebe Rosen« oder »Ich liebe Wein« oder »Ich liebe schlesische
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Würstchen«. Und dazu gehört die Leidenschaft, die sich an der Wohlgestalt eines Menschen entzündet, welche den Liebestrieb reizt.60 Nun aber kann sich diese Weltliebe nicht durchhalten. Darum ist sie nicht wahr, sondern eine Scheinliebe. Einerseits sind die geliebten Dinge vergänglich und im unaufhörlichen Wandel. Daher erweist sich unsere Scheinliebe als unseliger Versuch, Vergängliches in seiner Vergänglichkeit festzuhalten. Andererseits unterliegt auch der Liebende als persona psychologica einer fortwährenden Entwicklung, selbst in Veränderungen seines Sinnengeschmacks, so daß er das zeitweise bevorzugte Objekt seiner Begierde eines Tages verschmäht und sich anderem zuwendet. Also erfüllt sich unsere Weltliebe lediglich in Momenten des Wohlseins flüchtiger Zufriedenheiten. Sie wirft sich von einem Gegenstande der Lust zum anderen, von keinem Hinfälligen gänzlich und für immer zutiefst befriedigt. Solches Hinleben und Lieben bleibt ein Leben lang unselig. Sofern nun aber das Menschenleben doch in einer Liebe zum Wahren, Unveränderlichen, Bleibenden wurzelt, erweckt die unerfüllte Weltlust Sehnsucht nach dem Unerreichten. Das gaukelt auf der untersten Stufe eines naiv realistischen und beschränkt sensualistischen Seinsverständnisses die Erfüllung aller Sinnengelüste ohne Schranke und Ende im ›Paradies‹ vor: einem Zustand, da alle Schmerzen, alle Mühe und Arbeit verschwunden und alle Bedürfnisse extensiv und alle Lust intensiv und durativ zuhöchst erfüllt sind. Weltanschauungen, für die es nur das Diesseits und kein Jenseits gibt, versprechen, die ungestillte Sehnsucht der Weltliebe ausnutzend, das Paradies vom Himmel aus dem Jenseits auf die Erde in geschichtlicher Zeit zu holen. (2) Geistiger, wenn auch noch auf unterer Stufe der Ideensicht, stellt sich die Liebe des Gesetzesmenschen dar. Diese hängt am Standpunkt einer rigoro-
60 In diese Region gehört die ›pathognomische‹ Liebe, jene Leidenschaft, die unser Naturtrieb entfacht. Eine Liebe aus Leidenschaft mit der blinden Gewalt des Naturtriebs entzieht sich einer höheren, rechtlich-sittlichen Lebensführung. Sie kennt kein Gebot, und sie kann nicht geboten werden (vgl. Collegium über die Moral, 1796; GA IV/1, 137). – Zu einer mittleren Sphäre gehört die interpersonale Liebe in der Mitwelt, z.B. die Liebe der Mutter zu ihrem Kind. Sie folgt einem Vernunftinstinkt und ist vollkommen zu billigen; denn sie bricht den härtesten Egoismus und bereitet einer Liebe zu den Ideen, nämlich zur Idee der Menschheit, den Boden (vgl. Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters; GA I/8, 221).
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sen Gesetzlichkeit. Hier herrscht der Glaube an das sich tragende und sich selbst genügende autarke Sein des Rechtsgesetzes. Das ist ideenhaft und steht darum höher als ein geistloser und naiver Naturglaube. Da fungiert das Gesetz nicht mehr nur wie in der Ordnung der Weltliebe als Mittel und Instrument, um einen Freiraum ungestörten Sinnengenusses zu schaffen. Das Gesetz wird um seiner selbst, um der für alle gleichen Gesetzlichkeit willen, gewürdigt. Es wird zum Endzweck und zur höchsten Ordnungsmacht erhoben. Ohne das Gesetz des Rechts versinke alles in Willkür, Krieg, Chaos. Aber diese strikte Lebenshaltung zahlt einen hohen Preis: die Absenz der Liebe.61 Auf diesem Stande einer unteren Moralität gebietet das Gesetz von Recht und Sitte in der Befehlsform eines kategorischen Imperativs. Das weist jegliche Zuneigung und Liebe zu dem, was das Sittengesetz befiehlt, als Beweggrund für unser Tun und Lassen, Erstreben und Meiden in einer rechtlich-sittlich geordneten Gemeinschaft ab. Selbst das Vernunftgefühl der Achtung erscheint hier in negativer Definition. Achtung sei Abwesenheit der Selbstverachtung. Der Mann des Gesetzes handelt rechtlich, um sich nichts vorwerfen zu lassen und um sich nicht verachten zu müssen. Gravierend aber ist die Absenz der Liebe im Leben des rechtlich gesinnten, aber gefühllosen Menschen. Das kennzeichnet Fichte als stoische Denkart. Dabei kann außer Betracht bleiben, welche Stoiker oder stoische Schulen Fichte genau vor Augen hat. Generell wird Stoizismus im Kontext der Affektenlehre als Lebensform einer genußfernen Apathie und gleichgültigen Bedürfnislosigkeit im Blick auf Glückseligkeit charakterisiert. Stoisch ist kalte Unempfänglichkeit für jeglichen Lebensgenuß. Nach stoischer Lehre sind eben Affekte und Leidenschaften Verwirrungen, ja Krankheiten der Seele. So mag stoische Apathie die Seele im Gleichgewicht halten, vor den Irrungen und Wirrungen, dem tiefen Schmerz und Leid der Liebe schützen, aber sie hält auch die Liebesseligkeiten ab. Dank seiner stoischen Haltung erhebt sich der Legalist in negativer Freiheit zur
61 Leben und Liebe im Rechtsstande der Ehe steht nach Fichte unter dem Gesetz der Scham: als Hingebung der Frau an den Mann, letztlich nicht, um des Geschlechtstriebes willen, sondern um das Herz zu befriedigen, so daß die Vereinigung der Geschlechter im zärtlichen Austausch von Herzen – nicht in der Leidenschaft des Naturtriebs – ihre Vollendung findet.
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Stufe gleich-gültiger Allgemeingültigkeit des Gesetzes, aber in einer Lebenshaltung, der es an Liebe fehlt. (3) Vor dem Übergang zum dritten Standpunkt von Liebe und Sein auf der Stufe der höheren Moralität ergeht die wohl bedeutungsvollste Anweisung zum seligen Leben: die Weisung zur Selbstvernichtung der Selbstliebe. Nur solcher Umwandlungsakt eröffnet das bis dato verschlossene Tor in ein höheres Leben. »Diese Selbstvernichtung ist der Eintritt in das höhere, dem niedern, durch das Daseyn eines Selbst, bestimmten, Leben, durchaus entgegengesetzte Leben« (GA I/9, 149-150). Und die Weisung, einseitig ich-besessenen und selbst-befangenen Weltansichten aufzukündigen, ist nicht anachronistisch, sondern durchaus für unser reszendentes Weltbewußtsein im Zustande einer selbstsicheren, wissenschaftsgläubigen Ideenfeindlichkeit und religionskritischen Gottlosigkeit aktuell. Was also dem Zugang zur wahren, unverstellten Ideen- und Gottesliebe im Wege steht, ist die Selbstbezüglichkeit einer Weltliebe ebenso wie die Selbstgerechtigkeit formalen Gesetzesglaubens. Eudämonistisch regiert die Selbstliebe als Trieb nach Seligkeit in und durch das Genießen bestimmter Objekte im Wandel der Sinnenwelt. Legalistisch stoisch regiert eine Selbstermächtigung und Gottunabhängigkeit, da der Mann des Gesetzes seiner Freiheit der Indifferenz, dem Gesetz zu gehorchen oder auch nicht, inne ist und daher einen Imperativ einsetzt, da alle Neigung, Zuneigung, Liebe als Beweggrund pflichtgemäßen Handelns in kalter Apathie und Gleichgültigkeit beseitigt sind. Und auch in ihrem Gottesverständnis kommt diese Selbsthaftigkeit des Menschen auf sich selbst zurück, blind gegenüber der Einsicht, daß der Mensch nur so zu Gott kommt, indem Gott unmittelbar zu ihm kommt. Also weist die Religionsschrift eine Umkehr an, da sich die Ichvergöttlichung zur Ichvernichtung umkehrt. »So lange der Mensch noch irgend etwas selbst zu seyn begehrt, kommt Gott nicht zu ihm; denn kein Mensch kann Gott werden. Sobald er sich aber rein, ganz und bis in die Wurzel vernichtet, bleibet allein Gott übrig, und ist Alles in Allem. Der Mensch kann sich keinen Gott erzeugen; aber sich selbst, als die eigentliche Negation, kann er vernichten, und sodann versinkt er in Gott« (GA I/9, 145). (Das hatte die Erscheinungslehre als Gesetz der Selbstvernichtung ins Klare gebracht.) Und der Mensch ist frei, seine eigene indifferente Freiheit und Selbstgesetzgebung aufzuheben, darin besteht die höchste Freiheit. Diese er-
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schöpft sich nicht in der moralisch-praktischen und politischen Freiheit der Selbstbestimmung und versteift sich schon gar nicht auf eine stoische Befreiung von Affekten und Leidenschaften. Es ist die Freiheit religiösen Lebens, welche von der Selbstliebe befreit und freimacht zur Gottesliebe. Solches Sichlosreißen aber führt zunächst seiner Potenz nach zu einer dritten Stufe. Das ist der Standpunkt einer höheren und eigentlichen Moralität. Er überragt den Standpunkt einer bloß formalen Gesetzmäßigleit eben darum, weil er das Selbst und die Welt neu erschafft. Es ist sowohl die Ansicht der Welt, die im Lichte von Ideen so erscheint, wie sie das gewöhnliche, gegenständliche Bewußtsein nie sieht, aber auch die Ansicht der eigenen Person, die in der Kehre der Selbst- zur Gottesliebe einen unerhörten Sinn gewinnt. Diese Erschaffung eines ungewöhnlichen Weltanblicks läßt sich am ehesten beschreiben und faktisch-historisch evident machen im Hinblick auf die Uridee der Schönheit. Im sinnlichen Scheinen des Schönen leuchtet die Wirklichkeit als Spiegel der Herrlichkeit Gotts auf, seligen Genuß erzeugend. Das schützt davor, das Schönsein auf der Stufe des ästhetisch-sensualistischen Seinsverständnisses zum Angenehmen herabzustufen, das sinnliche Lust bereitet. Und die Ansicht der Schönheitsidee überragt auch eine Ästhetik, die jedermann ein interesseloses Wohlgefallen des Geschmacksurteils anmutet, eine Interesselosigkeit, der nichts an der Wirklichkeit, sondern alles am schönen Schein gelegen ist. Fichte erweckt eine geradezu platonische Schönheitsbegeisterung, da nach Platos Urwort im Phaidros (250d 6-8) das Schöne-selbst von so göttlicher Art ist, daß es am strahlendsten hervorleuchtet und am mächtigsten zur Liebe zwingt. Und nicht von ungefährt bietet Fichte als Beispiel ein verklärtes Madonnenbild auf (für Hegel der Höhepunkt der romantischen Kunst). In der verklärten Schönheit des Madonnenbildes erscheint Wirkliches beglückend neu, als sinnliche Erscheinung übersinnlich göttlichen Wesens, als Durchscheinen eines Überwirklichen im Wirklichen. Ebenso gravierend ist die Umschaffung des personalen Wesens, wenn die Selbstliebe abfällt. Das Selbst als für sich bestehende, in der Sinnenwelt lebende Person kommt zur Einsicht, Mittel für einen höheren Zweck zu sein, nämlich den Willen Gottes zu verwirklichen, wie er sich in mir offenbart. Das wird zum Grundsatz einer höheren Moralität und zur näheren Anweisung eines seligen Lebens. Verwirkliche das, was Du gemäß Deines eigentümlichen Anteils am höheren, übersinnlichen Sein sein sollst. (Das hatte ein weiteres Spaltungsgesetz der Erscheinungslehre genetisch evident
5. Abschnitt: Grundlegung und Grundzüge der Erscheinungslehre
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gemacht.) Geht der so neugeborenen Person (persona vere moralis) diese ihre individuelle Bestimmung auf, so ergreift sie diese in reinem Wohlsein und mit unaussprechlicher Liebe. Freilich ist auch die Beschränktheit dieses Standpunktes zu markieren. Hier weist die Anweisung ein Handeln an, das ein glückliches Gelingen am äußeren Erfolg in der Sinnenwelt bemißt. Das aber ist jederzeit dem Mißlingen ausgesetzt, so daß die Zufriedenheit in Unzufriedenheit umschlägt und Liebe wie Seligkeit getrübt werden. Das bewegt dazu, sich einem noch höheren Standpunkt, einer tieferen Selbstdurchdringung und reineren Liebe zuzuwenden. (4) Indem sich unsere Weltansicht zur Stufe der Religion erhebt, steigt sie zur höchsten Bestimmung des Menschen auf, die der religiös empfindende Mensch mit ganzer und ungeteilter Liebe umfaßt. Im Stande der Gottesliebe ist ihm klar, daß es göttliche Liebe ist, die in seiner Individualität sich entwickelt, und zwar ohne Schwanken, Mißlingen und Eintrübungen. Dabei begnügt sich der wahrhaft Gläubige nicht etwa mit inniger Andacht und mystischer Versenkung, er arbeitet tatkräftig am Erfolg seines Liebeshandelns in der Glaubensgewißheit, daß nichts mächtiger und allgegenwärtiger ist als die Liebe Gottes. Das Handeln des Religiösen in der Mitwelt vernunftbegabter Individuen wird von einem Vertrauen darauf getragen, daß diese Geisterwelt intelligibler Wesen in Wahrheit unverbrüchlich und unzerstörbar vorgeordnet ist, wie elend auch die Scheinwelt von Zerstörung, Tod und Untergang betroffen ist. Es ist dieses Reich der Freiheit von Tod und Selbstzerstörung, ein von Gottes Liebe durchstimmtes Reich – nicht das Reich politisch-ökonomischen Wohlseins –, was religiöses Handeln betend erbittet: »Dein Reich komme!« (5) Zu einem höheren, seligeren Leben im Element der Liebe kann es auch die geistvollste philosophische Wissenschaft nicht bringen. Aber sie vermag es, schauend die teleologische Ordnung der Welten vom Endzweck erscheinender Gottesliebe her zu lichten. So enthüllt sich die objektiv verhüllte Welt am Ende als Offenbarung, da das absolute Sein und Leben in der einigenden Einheit absoluter Liebe in sich einkehrt. In dieser Weltordnung ist die Sinnenwelt nichts als Sphäre der Geisterwelt, die Geisterwelt Erscheinung göttlicher Ordnungskraft und die erscheinende Ordnung Bild und Dasein des urrealen Lebens. Gott ist da und lebt in uns und in unserer Liebe zu Gott. Solche Liebe ist nicht mehr selbsthaft und nicht von uns selbst erzeugbar. Diese philosophisch von Spinoza geweckte An-
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sicht vom Amor Dei intellectualis kommt in Fichtes Anweisungen zur Anwendung auf unser Leben. 6. Abschnitt: Ausfaltung der Grundlagen (Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre, 1805) Zur Vollendung eines Vernunftsystems gehört es endlich, die Vernunftwissenschaften der Natur, des Rechts, der Sittlichkeit (unterer und höherer Moralität), der Religion wie der Wissenschaft einheitlich und durchgeordnet unter Prinzipien der Ersten Philosophie aufzustellen und zusammenzufügen. Auf dem Grund und Boden der ungeschriebenen Lehre ist dieser Ordo der speziellen Vernunftlehren im Schema der Fünffachheit teleologisch neu durchgegliedert worden. Die fünf Weltansichten, welche die spezifisch zuständigen Vernunftwissenschaften anleiten, sind an Wahrheit und Seinsdignität nicht gleichrangig. Die niederen bestehen nicht selbständig mit gleichem Rang neben höheren, sie erscheinen abgestuft einund untergeordnet, aufgehoben in der je höheren. Das folgt einer Dialektik des Aufhebens, da die je niedere Vernunftwissenschaft in ihrer Selbständigkeit negiert, in ihrer Vernunfthaftigkeit konserviert und durch die höhere Weltansicht eleviert wird. Für solche Durchordnung kommen die an die Grundlagen der Wahrheits- und Erscheinungslehre von 1804 anschließenden Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre in Frage. Vom 6. Februar bis 30. März 1805 hat Fichte in Berlin 23 einschlägige öffentliche Vorträge gehalten. In ihnen wurden die 1804 zur genetischen Evidenz gebrachten Prinzipien auf untergeordnete Gebiete der Vernunftwissenschaften angewendet, vorzüglich auf die Gotteslehre der Religionsphilosophie, in eins aber auch auf die Sittenlehre wie auf das Naturrecht. Auch diese mündlichen Vorträge sind nicht schriftlich fixiert im Druck erschienen. Sie wurden erstmals 1986 durch R. Lauth aus dem Fichte-Nachlaß ediert und 1989 in die Akademie-Ausgabe aufgenommen (GA II/7, 369-489). Mit dieser einheitlich zusammenschließenden Explikation von obersten Prinzipien auf die besonderen Vernunftwissenschaften schließt der Systembau ab, der Einleitung, Grundlegung und spezi-
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alisierende Ausfaltung der obersten Gesetze des absoluten Wissens umschließt.62 Diese Anlagen der Rechts-, Sitten- und Gotteslehre gehören somit zur Hochperiode der ungeschriebenen Lehre und legen den Ordo der einzuordnenden speziellen Vernunftwissenschaften offen. Das ermittelte Gesetz der Genesis, welches Sinn und Zweck der fünf Weltansichten eröffnet, ist eine mehrfach gestufte Folge des Seins als Sollen. Vereinfachend ausgedrückt ergibt das eine hierarchisch-teleologische Zuordnung: Soll die Sittlichkeit in der Sinnenwelt und materialen Natur Fuß fassen, dann muß die Natur sinn- und seinsgemäß als Material der Pflichterfüllung verstanden werden. Soll die Moralität unter Menschen zur freien Herrschaft kommen, dann muß die Mitwelt durch das Recht und seine zwingenden Gesetze vom Recht des Stärkeren entbunden werden. Soll die lebendige Wahrheit des absoluten Seins Gottes überhaupt in der Welt Dasein gewinnen und sichtbar werden, dann muß das stolze Ich sich in seiner Autarkie demütigen, um in der Liebe Gottes zu leben und zu weben. Dabei ist zu beachten: Diese Aufgliederung findet ihr Recht in jener Deduktion, welche im Aufbau der W.L. 1804-II das aletheuische Soll nachgewiesen hatte. 1. Kapitel: Erörterung des Programms der explikativen Prinzipienforschung Das Programm dieser auf Sitte, Recht, Religion eingehenden Prinzipienforschung legt die 1. Vorlesung vor. Das geschieht zunächst in Worterklärungen. So benennt das Grundwort »Sitte« die absolute Sittlichkeit aus Vernunft, nicht etwa empirisch aufgelesene Gewohnheiten und Gebräuche des Alltagslebens. »Sittenlehre« benennt demnach die Theorie dessen, was schlechthin alle, d.i. alle Iche ohne individuelle Spaltung und Besonderung schlechthin unter Vernunftgesetzen tun sollten. Für eine Rechtslehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre ist »Recht« ebenfalls ein erfahrungsunabhängiger, rein apriorischer Begriff. Er stammt mithin nicht aus der Erfahrung tatsächlichen Zusammenlebens von Menschen unter positiven Gesetzen, er geht untrennbar mit der Vernunftnatur des Menschen einher. Dabei hält der Rechtsbegriff einen besonderen Gegenstandsbereich offen, und
62 Zu Recht ist dieser Systembau von R. Lauth als eindrucksvolles Zeugnis der Denkleistung Fichtes in den Umbruchsjahren 1802-1805 gewürdigt worden. »Kein Philosoph vor und nach ihm kann etwas Derartiges in so kurzem Zeitraum Vollbrachtes aufweisen« (Edition 1986, Einleitung XVIII).
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zwar durch ein spezifisches Wechselverhältnis zwischen naturkräftigen Vernunftwesen. Fichte erfaßt es als »das stehende Verhältniß von mehrern vernünftigen Individuen, als Naturkräfte, zu einander« (GA II/7, 379). Daher gehört zur Grundlegung von Rechtsverhältnissen die Disjunktion einer Vielheit individueller Iche in der Mitwelt wie die Konstituierung der Zeit im Raum der Geschichte. Dabei ist von vornherein zu beachten: Obwohl die Rechtslehre lediglich bestehende Verhältnisse zwischen Menschen in der Zeit erörtert, ist das Rechtsverhältnis als Vollzug wechselseitiger Anerkennung ein von der Vernunft gefordertes. Es ist nicht gegeben, sondern aufgegeben und gesollt. So hatte Kant bekanntlich Grund und Wesen des Rechts klassisch definiert als den Inbegriff von Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach dem Gesetz freier gegenseitiger Einschränkung und Rücksicht zusammen bestehen soll und kann. Zeitlich früher – in seiner Grundlage des Naturrechts 1796 – hat Fichte die Theorie des Rechts auf die Wechselbestimmung der »Anerkennung« gegründet. Erst solche Wechselwirkung löst das Gegeneinander willkürlicher Naturkräfte in ein Rechtsverhältnis zwischen Rechtssubjekten ein. Dazu finde ich mich nicht durch ein alter ego genötigt, aus Achtung vor dem Sittengesetz zu handeln. Ich finde mich dazu herausgefordert, handelnd, nicht bloß in Worten, durch wechselseitiges Anerkennen eine rechtliche Welt zu konstituieren. In ihr ist die schrankenlose Willkür mit dem Recht des Stärkeren und dem Recht auf alles (ius in omnia) eingeschränkt, indem der eine den Begriff der möglichen Freiheit des anderen faktisch anerkennt. Solche Forderung rechtlicher Anerkennung ist schon rechtlich, nicht erst moralisch gesollt. Ihre Erfüllung ist notwendige, wenngleich nicht hinreichende Bedingung von Moral und Sittlichkeit. Das Sittengesetz soll dasein und in der Welt erscheinen; es kann erst unter der Bedingung erscheinen, daß die von der Natur auferlegten Zwecke, nämlich Selbsterhaltung durch Sicherung von Arbeit, Eigentum, sozialem Frieden, erfüllt und die Kräfte enthemmter Willkür gebrochen sind. Ebenso einleitend ist das Gottesverhältnis der Religion und das Gebiet einer Religionsphilosophie zu umgrenzen. »Gott« ist hier nicht der Name für den personalen Schöpfer des Himmels und der Erde. Für Fichte ist die Schöpfungslehre ein Grundirrtum der Metaphysik. Gott ist vorverstanden als das Absolute, als Ens a se, als Träger alles Seins und Lebens. Das nennen alle Gott. Gotteslehre wäre demnach Theorie des wahren Seins- und Lebensgrundes. In ihrem ersten Schritt ist die Wissenschaftslehre als pri-
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ma philosophia mit der Theologie und Gotteslehre verbunden, sofern sich eben ihr Standpunkt, das absolute Wissen, als Dasein und Existenz des Absoluten enthüllt. Und mit der vernunftkritischen Gotteslehre der transzendental besonnenen negativen Theologie kommen Grundlagen der religiösen Gottesansicht und Prinzipien der Religionslehre zur Sprache; denn die Gotteslehre der Ersten Philosophie und der Gottesbegriff der Religionslehre sind dem Inhalt nach nicht different. Sie unterscheiden sich methodisch, und zwar eben dadurch, daß die prima philosophia als Lehre vom Absoluten das lebensvolle Dasein Gottes theoretisch zur Klarheit und existentiell als Anweisung für unser Leben und Lieben zur Anwendung bringt. Diese Vorerörterungen haben ein erstes, nicht unbedeutendes Ergebnis. In ihren Prinzipien besondern sich die Theorien von Gott und Religion, Sitte, Recht und Natur nicht in selbständige, voneinander getrennte Wissenschaften mit je eigenen Axiomen. Die in Frage stehenden Disziplinen bilden nicht selbständige Wissenschaftsgebiete mit einer je eigenen Verfassung, sie sind einander bedingende Entfaltungsbereiche von Gesetzen des absoluten Wissens. »Resultat: 1.) an sich (im Standpunkte des absoluten Wissens) giebt es keine Sitten, oder Rechtslehre als besondre u. selbstständige Wissenschaften. 2.) Die Erscheinung dieser Wissenschaften oder ihrer Begriffe, oder die absolute Herrschaft dieser Begriffe im Leben entsteht daher, daß das Wissen sich selber noch nicht durchaus klar geworden u. in seinen Urquell zurückgekehrt« (GA II/7, 381). Offenkundig haben sich, radikal nach dem ›Zusammenbruch‹ der Systembildungen des Deutschen Idealismus, die Wissenschaften von Gott, Sitte, Recht – vorab die Naturwissenschaft und Soziologie, aber auch die Staatswissenschaft – verselbständigt von einer spekulativen Ersten Philosophie geschieden und die Grundlagenforschung selbst übernommen, was auch einen Bruch der »zwei Kulturen«, einer natur- und einer geisteswissenschaftlichen Kultur, merklich macht. Der Grund für solche präzisierenden Zerklüftungen liegt darin, daß das Wissen der Wissenschaften nur noch verunklärt und abgerissen aufgefaßt ist. Dies aber, die Durchklärung des absoluten Wissens bis auf seinen Urquell, wollten die Vorträge von 1805 mit dem Resultat leisten, die Einheit und Ordnung der Prinzipien von Gott, Sitte, Recht und Natur offenzulegen.
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2. Kapitel: Wiederholende Klärung der Aufgabenstellung, den Hauptgegensatz von Gott und Welt zu verknüpfen Der Weg für eine explikative Spezialisierung im Aufbau der Lehren von Gott, Sitte und Recht ist in der 14. Vorlesung gebahnt. Er führt noch einmal tief in den Mittelpunkt zwischen absolutem Leben und reflexiver Ichform hinein. Aber diese Besinnungen zielen jetzt darauf ab, die Prinzipien der theologisch-religiösen Gottestheorie wie einer mitweltlichen Theorie von Sittlichkeit und Recht aus einem Mittelpunkt einheitlich zu entfalten. Dafür wird der Hauptgegensatz vorgestellt, um dessen wahre Verknüpfung einzufordern. »Hauptgegensatz. Absolute Intelligenz = Daseyn, Existenz, der Gottheit. Rückblick derselben auf sich selbst: – Absolute Anschauung; als bedingend die erstere, weil sie lebendig ist, nicht todt. (Alle Philosophie tödtet irgendwo, die Spinozische, auch die Kantische, wie sich heute im Vorbeigehn zeigen wird, u. das ist das proton pseudos) -. Nächste Aufgabe. In den Mittelpunkt dieses Gegensatzes einzutreten; u. besonders den Grund der Bedingtheit der absoluten Intelligenz, eben durch ihr Leben aufzuzeigen: so Gott, u. Welt absolut verknüpfen« (GA II/7, 433). Für ein leichteres Verständnis des hier kurz und scharf skizzierten Hauptgegensatzes sind Ergebnisse des zuvor Vorgetragenen einzuholen. Der angezeigte Gegensatz ist nicht an sich bestehend vorhanden, er bricht in Form und Inhalt eines absoluten Wissens auf, das sich auf sich im Denken von Sein besinnt. Dabei tritt eben das neue Grundwort »absolutes Wissen« an die Stelle des Ich der Tathandlung. Es kommt als die sich selbst tragende Einheit des Wissens überhaupt zur Evidenz, die von jeder modalen und intentionalen Bestimmung unseres Vorstellens losgelöst ist. So liegt das reine Wissen allen besonderen modi cogitandi – sinnlicher Anschauung, reproduktiver Einbildungskraft, begreifendem Verstand, schlußfolgernder Vernunft – zuvor und den intentionalen Einstellungen zugrunde, in denen ich etwas vorstelle. Und auch das war mit Bedacht sichergestellt: Das absolute Wissen ist nicht das Absolute selbst, und es kann nicht ontotheologisch entfaltet werden. Es ist Dasein und Existenz der Gottheit. Der Gott der Philosophen ist eben seins- und erkenntnismäßig das unaussprechlich-unbegreifliche Ens a se. Die geisthafte Lebendigkeit reinen Wissens ist Ek-sistenz, das Außen des Absoluten. Das hat die einschneidende Folge: Einzig der Mensch existiert. Allein der Mensch ist das verstehende Da des unvordenklichen Seins. Alles andere, weltlich Seiende existiert nicht. Es ist gegenständlich vorhan-
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den, ohne das Da des Seins lebendig vollziehen zu können. (Einzig der Mensch ist »Hirte des Seins«.) Im Hinblick auf seine Form heißt das absolute Wissen »absolute Intelligenz«, ein Intelligieren im »Rückblick auf sich selbst«. »Was ist nun dieses Intelligiren: offenbar das als, das Aeussern, zum absoluten Wissen der Form nach« (GA II/7, 427). Demnach sieht das Intelligieren als Form reinen Wissens auf sich als Dasein des Absoluten zurück. Auch das ist folgenreich. Zur Form reinen Wissens gehört ein Blick, da das Wissen auf sich als solches, als geschieden vom Absoluten, zurücksieht. Das ist die Grundform der Reflexion. Und aus dieser folgt die Form der Ichheit in der Freiheit des Sichsetzens, wohlgemerkt nicht als Erster Anfangsgrund, sondern als herleitbares Ergebnis. »Giebt Ich: selbstständig, aus sich von sich durch sich« (GA II/7, 396). Hier kommt noch einmal die Hauptabsicht der Wissenschaftslehre auf dem Höhepunkt der mittleren Periode zur Sprache. Sie zielt nicht darauf ab, die gesamte theoretische und praktische Vernunftwissenschaft aus dem Grundsatz der Ichheit zu entwickeln, sie sucht vielmehr die Ichheit und deren Freiheit aus einem höheren Ursprunge verstehbar zu machen. »Unsere Hauptabsicht ist: Ich, u. Freiheit desselben, beides unabtrennlich, in seinem tiefsten Ursprunge kennen zu lernen, ist sichtbar. Die Absicht davon klar: Ich = Welt. Vernichtung des Ich = Gott, in eins« (GA II/7, 403). Damit aber öffnet sich ein Gegensatz zwischen der Ichform des absoluten Wissens, welche von und durch sich selbst das gegenständliche Sein, die Welt als Umwelt und Mitwelt, konstituiert, und dem absoluten Wissen seinem Inhalte nach, da das allreale Sein des lebendigen Gottes in Vernichtung des Ich einleuchtet. Also stehen sich Form und Inhalt der absoluten Intelligenz unverbunden gegenüber, und das macht den Hauptgegensatz von Gott und Welt aus. Das ist eben kein beiläufiger Gegensatz von Nebengliedern des absoluten Wissens. Sie bilden den Hauptgegensatz nicht nur von Welt und Gott, sondern auch von mitweltlicher Moral und religiöser Zuwendung zu Gott. Und das bezieht den Gegensatz von Zeit und Ewigkeit ein; denn die Moral gebietet ein Handeln aus Pflicht zu aller Zeit und unter allen Bedingungen der Weltsituation, die religiöse Zuwendung zu Gott ist dem Ewigen zugewendet. »Standpunkt der Moral [...]. Diese bedarf der Zeit... Dagegen Gott schlechthin ausser aller Zeit liegt« (GA II/7, 432). Der Eingang in die 14. Lektion nimmt also die schon in der 5. Stunde vorgesehene Aufgabe auf, um sie einer auch schon vorbereiteten Lösung zuzuführen, die alle Philosophien bisher verfehlt haben. »Die Aufgabe ist
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von Bedeutung; die Einheit, u. die Verschiedenheit Gottes u. der Welt einzusehen, welche, unsers Erachtens, durch keine bisherige Philosophie gelöst ist« (GA II/7, 394). Diese Aufgabe konnten Spinoza und die Spinozisten der neueren Zeit nicht bewältigen; deren Systemdarstellung gewinnt allein die All-Einheit Gottes (qua causa immanens) und verliert so die entgegengesetzte Welt. Und selbst Kants Kritiken machten vor dieser Aufgabe halt. Sie entwickeln die Weltvorstellungen aus der Einheit des Ich-denke in den Schranken endlich zeithafter Erfahrung und wehren die Rede vom Intelligieren eines Göttlich-Absoluten als Schwärmerei ab. Und Schellings Identitätssystem tut sich eben damit groß, in intellektueller Anschauung ingeniös das Ewige und Absolute selbst zu gewärtigen. Einzig die Wissenschaftslehre fordert dazu auf, in einen Mittelpunkt zwischen unserem Welt- und Gottesbezug einzutreten, der die Gegensätze ursprünglich so miteinander verknüpft, daß ein einheitliches Prinzip für die sittliche und rechtliche Welt wie für die religiös empfundene Gottheit ersichtlich wird. 3. Kapitel: Einsetzung des kategorischen Soll als Anfangsgrund der Gottes- und Religionslehre Eine neue und bisher in keiner Philosophie einsichtig besonnen gelöste Aufgabe ist gestellt. Die Auflösung des Hauptgegensatzes von Gott und Welt glückt dadurch, daß die verschieden abgestuften Standpunkte des Rechtsbewußtseins, der Sittlichkeit, der Religion einschließlich einer sinnerfüllten Naturansicht auf ein Grundverhältnis zurückgeführt werden: Soll – dann muß. Dazu verhilft eine Erweiterung, Differenzierung und Vertiefung des Seins als Sollen. Hatte die frühe Jenaer Grundlage mit dem Sollen als unendliche Aufgabe des Strebens geendet, den Gegensatz von Ich und Welt aufzuheben, so hebt die ungeschriebene Lehre das Prinzip des Sollens nicht etwa auf, sondern vertieft es, dergestalt, daß das Soll in seiner eigentlichen Gestalt und in seiner vielfachen Funktion zum Austrag kommt: als Soll der Sichtbarkeit, in welcher das Wissen als Schema Gottes hell wird, und zwar in Besinnung darauf, daß das Wissen solche Sichtbarkeit nicht nur einsehen kann, sondern willentlich vollziehen soll. Und eben darin verknüpft sich der Hauptgegensatz von Gott und Welt.63
63 Das wird in der Durchsicht des allgemeinen Grundrisses der W.L. 1810 durch K. Nagasawa: Gott und Wissen in der Wissenschaftslehre von 1810, 2006 klargemacht
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Dieses Prinzip kommt nun auf die speziellen Gebiete der Vernunftwissenschaft zur Anwendung, vorzüglich, um die Gottes- und Religionslehre grundlegend zu entfalten, überhaupt aber, um die teleologischen Abstufungen der Sinnauffassungen von Natur, Recht und Moralität aufzubauen. Zuerst also bringt die Einsicht in das kategorische Soll den Standpunkt der Religion ins Klare. Soll Gott selbst im Glauben und Handeln des homo religiosus in der Welt lebendig werden, dann muß sich menschliches Wissen als Dasein einsehen, das nicht nur in und aus Gott leben kann, sondern leben soll. Das kommt im Fortgange des 14. Vortrags zur Sprache. Diese Lektion ist dicht und durchschlagend und erfordert ein besonders konzentriertes Nachkonstruieren. Der erste Passus durchläuft eine vorläufige »Erklärung« der Struktur des einschlägigen Sollens, um in einem zweiten Passus zur »Hauptsache« zu kommen, der Einsetzung des kategorischen Soll als Grund für den inneren Zusammenhang von Weltbewußtsein und Gott und so als Prinzip einer Gotteslehre und Religionsphänomenologie. Die hinführende formale Klärung des Soll beginnt damit, die Folgerung »Soll das eine, dann muß das andere« als Zusammenhang unseres Bewußtseins mit dem Dasein des Absoluten zu problematisieren. Dafür ist die Maxime zu erörtern: Soll das Absolute als solches sein, dann muß es Bewußtsein geben. Dabei meint Bewußtsein hier ein Wissen des Wissens, das sich als Wissen weiß. »Wissen = Wissen des Wissens = Bewußtsein. Kein Wissen ohne Bewußtsein u. vice versa« (GA II/7, 385). Das gilt auch für das absolute Wissen als Dasein des Absoluten. Indem es sich als solches intelligiert, ist es mittelbar im Stande des Bewußtseins. Freilich ist dieser Bedingungszusammenhang dem Geist und der Maxime der Neuzeit nach problematisch. Seit Descartes setzt neuzeitliche Philosophie auf das seiner selbst gewisse Ich, das seiner Existenz unmittelbar bewußt ist, ohne eines fundamentaleren Existenzialprinzips zu bedürfen. In der Cartesianischen Grundstellung des absoluten Bewußtseins kommt die Folgerung »Soll – dann muß« und damit ein fundamentaler Zusammenhang von Gottes- und Selbstbewußtsein nicht zum Zuge. Das wird im Status des sich intelligierenden Wissens anders. In dessen Vollzug herrscht die Maxime, für das Bewußtsein einen höheren Ursprung zu finden, da sonst der Grund für die Verknüpfung des Weltbewußtseins mit dem Dasein des Absoluten im Dunkel bleibt. »1.) Resultat: Absolu-
und im Kommentar von G. Schulte: Die Wissenschaftslehre 1810, 1976 übersichtlich dargestellt.
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te Intelligenz, u. absolutes Bewußtseyn sind wesentlich verschieden in Absicht der Maxime: die erste dem Bewußtseyn ein Prinzip zu suchen, die zweite nicht« (GA II/7, 434). Nach Prinzipien und Maximen der Wissenschaftslehre also ist die Schlußfolgerung »Soll – dann muß« anzunehmen und durchzuklären. Und das kann offenbar auf zweierlei Weise geschehen, nämlich einmal so: Gibt es Bewußtsein, dann soll das Absolute als solches sein, zum anderen so: Soll das Absolute schlechthin dasein, so muß das Bewußtsein sein; auf beiderlei Weise aber leuchtet die Evidenz auf, daß das Absolute als solches sein solle. Daß das Absolute im Bewußtsein dasein soll, ist ein kategorisches Soll. Es macht dem geistigen Schwanken der Neuzeit ein Ende, ob für die Existenz des reinen Selbstbewußtseins ein höheres Prinzip aufzusuchen sei oder nicht. Und es wächst über ein hypothetisches Soll hinaus. Das hypothetische Soll stellt das Dasein des Absoluten unter die Bedingung des zu sich kommenden Wissens. Das kategorische Soll ist unbedingtes Existenzialprinzip und für die Reflexionsform ein Fremdes. Daher gilt: »Das absolute kommt nicht aus dem Wissen, als seinem Schöpfer, sondern es kommt schlechthin aus sich selber« (GA II/7, 435). Damit ist das Soll als ein Anfangsgrund erklärt und in eins verdeutlicht, daß alle Philosophien ohne den Geist und die Maxime des kategorischen Soll – Skeptizismus, Spinozismus, Kritizismus – blind und tot sind. Diese »Erklärungen« des Soll haben die »Hauptsache« vorbereitet, nämlich den ursprünglichen Geburtsort für die apriorische Synthesis von Intelligieren und Gott aufzufinden. Das Intelligieren soll schlechthin sein, so gewiß das Absolute dasein soll. Die Wurzel dieses Zusammenhanges ist das Soll als Existenzial- und Lebensprinzip reinen Wissens. Dazu muß sich eine philosophische Ursprungsforschung eben auf den Standpunkt stellen: Das Absolute entsteht nicht aus dem Wissen. Das Wissen in seinem ursprünglichen einigenden Vermögen des Vorstellens ist zwar Schöpfer der Welt, niemals aber Schöpfer Gottes. Das kategorische, bedingungslose, unvermittelte Soll macht klar: Soll das sich intelligierende, weltschöpferische Wissen nicht tot, sondern lebenskräftig tätig sein, dann muß Gott in ihm sein und leben. »Gott daher ist absoluter Grund der Facticität des Intelligirens, hier schlechthin unmittelbar: u. so ist es ganz richtig: die absolute Intelligenz in ihrer Wurzel [...] ist selber das göttliche Seyn, u. Leben, und der lebendige Rückblick auf sich selber. Soll schlechthin seyn, so gewiß Gott als solcher seyn soll« (GA II/7, 436).
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Das nimmt frühere Klärungen auf. So schließt die 16. Vorlesung der W.L. 1804-II mit zwei Bemerkungen: »1. Das Soll trägt durchaus alle Kennzeichen des im Grundsatz eingesehenen Seyns an sich, ein innerlich lebendiges von sich, durch sich, in sich, schaffend und tragend sich selber, reines Ich u.s.f. und zwar innerlich organisiert und zusammenhaltend durchaus als solches« (GA II/8, 253). Und der ontologischen Auszeichnung folgt der methodologische Primat: »2. Dieses Soll hat nun immerfort, nur unbeachtet, in allen unseren bisherigen Untersuchungen die erste Rolle gespielt. Soll es zu dem und dem, zu einer Realisation des Durch u.s.f. kommen, so muß pp. In dieser Form ging unsere Einsicht immer einher« (GA II/8, 255). Und diese Schlußbemerkung stellt das aletheuische Soll als das heraus, was übrig bleibt, wenn alle anderen Anfangsgründe fallengelassen sind. Es steht noch ein letzter Schritt transzendentaler Besinnung aus, der zum Standpunkt der Religion und zur Lebensweise des Religiösen hinführt. Diese Rückbesinnung sieht darauf, daß das kategorische Sollensverhältnis doch von einem Ich-Bewußtsein gesetzt ist. Indessen soll dieses setzende Ich zwar aufgrund einer Besonnenheit unverloren sein, »aber nicht als Wesen, sondern als vor dem Wesen vernichtetes, und zergehendes seyn« (GA II/7, 437). Damit erst ist jener Standpunkt erreicht, welcher die religiöse Lebensweise klarmacht. Der homo religiosus setzt sein ganzes Leben und Lieben in den Glauben, daß unser menschliches Weltbewußtsein in der Wurzel mit Gott zusammenhängt. Im religiösen Grundgefühl ist die Nichtigkeit des stolzen Ich, der Tod und die Leere reflektiven Wissens, manifest. Daher soll ein kategorisches Soll unser Dasein dazu freimachen, in Gott als Dasein Gottes zu leben, zu lieben und das Göttliche in der Welt sichtbar zu machen. Das ist die Maxime, durch die sich das Sollensprinzip der Wissenschaftslehre im Gebiet der Religions- und Gotteslehre entfaltet. 4. Kapitel: »Das absolute Soll des Soll als Soll«: Durchdringen zum Mittel- und Ableitungspunkt für die sinnliche und sittliche Welt Der religiöse Lebens- und Gottesbezug und damit der Ausgang für eine Gottes- und Religionslehre ist hergeleitet. Das gelang dadurch, daß der Hauptgegensatz von Gott und Welt aus dem Mittelpunkt des Sichintelligierens unter dem Gesetz des kategorischen Sollens miteinander verknüpft wurden. Was jetzt noch aussteht, ist die angekündigte Herleitung der Sitten- und Rechtslehre. Und da wird die Verknüpfung der zeiterfüll-
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ten Sinnenwelt mit der sittlichen Welt geradezu zur Hauptaufgabe. »Was aber Welt eigentlich heisse, da wir nun vorläufig noch übrig behielten drei Welten, die sittliche, rechtliche u. sinnliche, ist die Frage« (GA II/7, 438). Dabei kommt alles darauf an, den Einheitspunkt für die Einrichtung aller drei Gebiete der ausgefalteten Wissenschaftslehre zu finden, ohne die Religionslehre mit der Sittenlehre und die Sittenlehre mit der Rechtslehre zu vermischen. Es muß vermieden werden, Standpunkte der Gotteslehre moraltheologisch als Bedingung der Moralität zu postulieren, so daß die Theologie moralisch fundiert wird. Und man darf nicht den Standpunkt der Legalität mit dem der Moralität verquicken. Und das reine Verhältnis der Welten ist nicht ein positiv gegebenes, sondern ein aufgegebenes. Ihr Sein ist ein gesolltes. Das Sein ist Sollen. Nun führt die erweiternde Wiederholung der Sollensanalyse in der Mitte der 15. Lektion zu einem Grundmittelpunkt. »Das Wissen in seiner Einen, wesentlichen, und unwandelbaren Einheit ist gefunden, u. läßt sich definieren: es ist das absolute Soll des Soll als Soll« (GA II/7, 440). Hier findet sich das Wissen in seiner Bestimmung und Destination definiert, d.h. in dem, wozu es wesentlich sein soll. Nun ist es schlechthin zu einem einzigen Endzweck bestimmt, nämlich daß Gott in ihm dasein und in der Welt zur Sichtbarkeit kommen soll. Das ist ein unbedingtes Soll. Sonst ist das Wissen zu nichts da. Wissen ist nicht Macht, sich der Welt technisch-wissenschaftlich zu bemächtigen. Wissen ist schon gar nicht Instrument eines Willens zur Macht, um den Andrang des end-, sinn-, ziellosen Werdens zu bewältigen. Freilich ist das Wissen als Dasein göttlichen Wesens und Waltens in keiner Weltzeit abgeschlossen, fertig und seiend. Es ist ein Sein, das sein soll, kein substantes, perfektes, sondern ein perfektibles Sein. Im Seinsollen des sich intelligierenden Wissens ist aber nun das absolute Soll als solches gewußt. Es bewährt sich als umfassende Sphäre, welche das nichtige und zerfließende, bloß formale und seinslose Wissen zusammenhält. »In dem Vereinigungs, u. Gegenseitigen Bestimmungspunkte dieses Soll, nicht als soll, und dieses Soll als Soll = Ich liegt nun unser gesuchter fester Mittelpunkt« (GA II/7, 440). Hier sind zwei gegensätzliche Bestimmungen zu vereinigen, nämlich das absolute Soll und das Soll als Soll. Das absolute Soll weist das Als ab und ›vernichtet‹ dadurch das Ich-soll, das Soll als Soll dagegen ist ein Ich-soll. Das absolute, kategorische Soll bildet, wie angezeigt, den Anknüpfungspunkt für die freie Erhebung des Welt-Wissens zu Gott und für das selige, der Zeit und Sinnenwelt enthobene Leben. Das Soll als Soll dagegen ist bezogen auf das Ich, die Zeit und die Welt. Es soll unserem ansonsten nichtig zerfließenden
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Wissen Zusammenhalt und Halt geben. »Das absolute Soll des Soll als Soll« ist die ungewöhnliche Formel einer Synthesis, in welcher das kategorische Soll und das Soll als Soll mit einem Schlage vereinigt vorkommen. Das Wissen vermag das Sollen als Bestimmung seines Seins klar einzusehen, aber so bleibt das Soll ein Vermögen, das eigens vollzogen werden soll. Der Vollzug obliegt dem Willen oder der praktischen Vernunft im Stande des Soll als Soll. Er erfüllt seine Bestimmung, wenn er das vollbringt, was das kategorische Soll fordert, nämlich das Göttliche in den Weltbezügen des Ich sichtbar zu machen. Nur unter Voraussetzung dieser apriorischen Synthesis kann eine Analyse beider Glieder getrennt durchgeführt werden. Das ist im zweiten Teil der 15. und im Kontext der 16. Lektion vorgeführt. Dabei liegt das Hauptaugenmerk der Zergliederung auf der Herleitung der Sinnenwelt aus den sie konstituierenden Vermögen von Seinsgefühl, Trieb und Wahrnehmung unter dem Grundverhältnis »Soll – dann muß«. Die Schöpfung der übersinnlichen Welt nach dem Sollensgebot des kategorischen Imperativs wird dagegen als bekannt vorausgesetzt. Ziel der Analyse ist es jedenfalls, das Verhältnis der wahrnehmbaren und der sittlichen Welt aufzuklären als ein Verhältnis, in welchem das eine sein muß, wenn denn das andere sein soll. Für die Sinngebung der Sinnenwelt lassen sich vier notwendige Bedingungen des Sollens darlegen: (1) ein Zusammenhalten des Nichts zum Sein, (2) das Seinsgefühl, (3) das Triebgefühl und (4) die Wahrnehmung. (1) Grund dafür, daß wir überhaupt Seiendes finden und nicht Nichts, ist das kategorische Soll. Diese These erbringt einen transzendentalen Aufschluß der metaphysischen, von Leibniz formulierten und von Schelling wieder aufgenommenen Grundfrage: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts? Fichte trägt zur Lösung dieser Frage einen apagogischen Beweis vor. Grund dafür, daß das Nichts zum Sein und Bestehen kommt und zusammengehalten wird, ist das absolute Soll in seinem notwendigen Folgeverhältnis. Soll das Nichts, das bestand- und haltlose Vergehen und Zerfließen unserer Vorstellungen im Schema der leeren Zeit ins Sein gehalten und als Bestand zusammengehalten werden, dann muß das Absolute, das allreale und ursprüngliche Leben und Tätigsein dasein. Sonst verginge eben alles, was zur Vorstellung kommt, ins endlose, ziellose, seinslose Nichts. Solche Seinsbindung ist unsichtbar. Nur das Soll als Soll macht den Vorgang von Vergehen und Binden sichtbar. Dieser bloßen
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Sichtbarmachung durch das Als aber geht die reale Seinsbindung des kategorischen Soll voraus. (2) Mit diesem fundamentalen Seinsglauben verbindet sich ein Seinsgefühl. Hierbei meint Gefühl das unzertrennbare Ineinanderaufgehen eines Inneren und Äußeren. Das Innere ist hiernach die Immanenz des lebendig in sich bleibenden Seins, das Äußere die Emanenz. Emanent ist das, was der Sollensforderung gemäß außer dem in sich geschlossenen Sein gesondert da ist. Was im Seinsgefühl empfunden wird, ist demnach das emanente und immanente Sein als eines. (3) Mit demselben Schlag entsteht das Triebgefühl. Für dessen Genetisierung ist darauf zu achten, daß das bloße Soll ein seiendes Soll und tätig ist: Antrieb, das an sich zerfließende Nichts zusammenzuhalten, und zwar absichtslos, ohne sich das Zusammenhalten als Zweck (causa finalis) zu setzen. Trieb ist so nach Fichtes gebräuchlicher Formel eine Kausalität, die nicht Kausalität ist. Nun kann das Zusammenhalten nicht immer schon sein, es soll in der Tat werden. Das betrifft das Schema des Nichts, ins Nichts zu zerfließen: die Linie der leeren Zeit. In solchem Zusammenhange der Glieder Trieb, Schema der Zeit, Zusammengehaltenwerden breitet Fichte die Konstituierung der Zeit als solcher noch einmal aus. Im Rückblick auf das mit dem Seinsgefühl zugleich aufkommende Triebgefühl ist hier nur das Resultat zu vermerken. Der elementare Antrieb, das Zerfließen in Nichts im Sein zusammenzuhalten, vollzieht sich als Zeiterfüllung. Da kommt das Triebgefühl als je erfüllter Punkt in der Leere der Zeit zutage. (4) Das Gefühl, als bloßes, selbstloses Bewußtsein eines Antriebs zu sein, ist schlechthin notwendige Bedingung für das Wissen, freilich so, daß dieses Vorstellen keine Rechenschaft von sich und seiner Genesis zu geben vermag. Erst wenn der Trieb in der Wahrnehmung von einzelnen Objekten aufgeht, tritt Wissen ins Licht des Ich-Bewußtseins, freilich ohne sich im Wahrnehmen als Ich zu begreifen. Das liegt an der Konfundierung des ersten, kategorischen Soll mit dem zweiten, als solchem gelichteten Soll. Dadurch gehen das reine Triebgefühl und unser Seinsglaube in einer Wahrnehmung auf. Da nimmt ein vorstellendes Ich in erfüllter Zeitreihe einzelne Objekte sinnlich wahr. Soweit ist aus Voraussetzungen des Sollens das Wissen als Wahrnehmen der Sinnenwelt hergeleitet.
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Seinsgefühl, Triebgefühl, Wahrnehmungsempfindung müssen im Vollzug sein, soll die Sinnenwelt in Zeit und Werden bestehen und nicht ins Nichts zerfließen. Allerdings sind diese Vermögen konstituiert durch das Licht des Soll, aber nicht in ihm. Ein Soll im Lichte steht dagegen in der Helle und Klarheit unseres Ich-Bewußtseins vor Augen. Diese Grundstellung ergibt eine neue, höhere, aber auch spezifischere Vereinigung von Sollen und Ich. Das ergibt eine andere, übersinnliche Weltansicht. »Neue Synthesis des Ich, und Vereinigung derselben, bekannt aus der W.L. Also der bekannte kategorische Imperativ: der Schöpfer der sittlichen Welt, sowie des Soll, nicht als der Schöpfer der sinnlichen« (GA II/7, 448). Fichtes ›Schöpfungslehre‹ der sittlichen Welt verweist auf Einsichten, welche denen, die mit der Transzendentalphilosophie vertraut sind, einsichtig sind. Das weist natürlich auf Kant zurück und teilt die Überzeugung mit, der kategorische Imperativ sei der Angel- und Mittelpunkt aller theoretischen und praktischen Philosophie. Nun spricht sich der kategorische Imperativ bekanntermaßen als Sollensgebot aus, welches kategorisch und bedingungslos, nicht etwa hypothetisch unter Bedingungen, gebietet, sittlich zu handeln. Der Mensch soll unter allen Bedingungen zu aller Zeit aus Pflicht handeln, und das heißt aus dem Vernunftgefühl der Achtung vor dem Sittengesetz. Das zeichnet das menschlich-endliche Vernunftwesen als Bürger der zweiten, der Ideenwelt aus. Die Wissenschaftslehre beläßt es ebenso bekanntermaßen nicht beim Faktum des kategorischen Imperativs und einem spezifisch sittlichen Leben, das unser Handeln aus Pflicht einfordert. Sie unternimmt es, die sich hierdurch eröffnende sittliche Welt aus einem Einheits- und Sonderungspunkt herzuleiten. In der frühen Wissenschaftslehre ist dieser Mittelpunkt die Ichheit, da das Vernunftlose mit dem Vernunfthaften, das Nicht-Ich mit dem Ich, vereinigt werden soll, ohne je ganz eins werden zu können. In der mittleren Wissenschaftslehre dagegen liegen Gegensatz und Vereinigung höher. Nunmehr geht es um den Gegensatz von Gott und Welt und um deren Verknüpfung wie um das Fundierungsverhältnis der sinnlichen, sittlichen und religiösen Weltansichten aus der Synthesis eines absoluten Sollens mit dem Soll als Soll.
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5. Kapitel: Erforschung der teleologischen Verhältnisse der sinnlichen zur rechtlichen wie der sittlichen zur religiösen Weltansicht Die Aufgliederung in die Zweiheit von wahrnehmbarer Sinnenwelt und kategorisch gebotener sittlicher Welt bereitet die Hauptuntersuchung vor. »Die Hauptsache ist nun, das Verhältniß dieser zwei Welten zueinander zu erforschen« (17. Stunde; GA II/7, 448). Dabei wird sich wie beiläufig die Sphäre der Rechtswelt in das Prinzip dieses Verhältnisses einordnen lassen. Und es wird sich so am Ende der Hauptgegensatz von Gott und Welt im Ausblick auf die religiöse Weltsicht und Lebensweise auflösen. Die nächstliegende Aufgabe aber zeichnet sich darin ab, den Widerspruch zwischen den richtig abgeleiteten Sollensprinzipien zu vereinigen. So kann die Thesis behaupten: »Soll das zweite u. in specie das dritte, das Soll als Soll seyn, dann muß das erste seyn« (GA II/7, 448-449). Diese Position setzt des erste Sollen, das kategorische Zusammenhalten des Nichts im Seinsgefühl, als Prinzip für das zweite Soll des Trieb- und Wahrheitsgefühls wie für das dritte Soll des kategorischen Imperativs. Die Antithese kann mit demselben Recht das Gegenteil behaupten. Das zweite und dritte Soll sei Prinzip des ersten. Soll das erste Soll notwendig werden, dann muß das zweite und dritte Soll sein. »Beides ist wahr: wie vereinigen wir den Widerspruch?« (GA II/7, 449). Diese Frage ergeht an die Wissenschaftslehre als Prinzipienforschung. Indem sie sich auf das Widerspruchsverhältnis besinnt, kommt der Erklärungsgrund ins Offene, durch den das Licht, die Helle geistigen Sehens, in sich selber sein Sein in der sinnlichen, rechtlichen, sittlichen Welt intelligiert. Das sprechende Wort für dieses Prinzip ist »Absicht«: ein Sehen, das die Grundverhältnisse seines In-der-Welt-Seins absieht. Das seit Aristoteles eingeführte philosophische Grundwort ist Zweck (telos) und dessen Verhältnis zweckmäßig oder teleologisch. Dabei bedeutet nach Kant der hypothetische Zweck das Mittel für etwas anderes, um dessentwillen es ist, und kategorischer Zweck bedeutet den Endzweck, der um seiner selbst willen ist und sein soll. Und Kants Vernunftkritik stellt die Idee der Zwecke als das Vornehmste aller Einheitsprinzipien unter der Regierung der Vernunft fest; denn Zweckmäßigkeit ist das Prinzip der Natur überhaupt, und deren letzte Absicht ist eigentlich die moralische Welt, das Reich der kategorischen Zwecke. Kant hat das Zweckprizip faktisch aufgestellt, nicht aber genetisch hergeleitet. Woher es kommt, verfolgt dieser Schritt der Fichteschen Prinzipienlehre: das Intelligieren jenes Prinzips, das den Widerspruch im gegensätzlichen Sollensverhältnis von Natur
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und Moral vereinigt. Das geschieht durch die Klarstellung des teleologischen Verhältnisses, da das eine um willen des anderen ist. »Die Sache steht nun so: Der kategorische Imperativ oder die sittliche Welt soll selbst seyn, absolute seyn; aber er kann nicht seyn, wenn nicht die Wahrnehmung der sinnlichen Welt ist: darum, darum aber allein soll diese gleichfals seyn: Erklärung aus dem Grunde, die Wurzel des Daseyn umfassend, des Soll« (GA II/7, 449). Diese teleologische Erklärung des hypothetischen Zwecks der Natur hat Fichte in allen Gestalten und Wendungen seiner Wissenschaftslehre vorgetragen. »Die Sinnenwelt ist durchaus nichts weiter, als die Sphäre der sittlichen, und hat keine Fülle Realität-Gültigkeit in sich, als die, welche sie von daher erhält« (GA II/7, 450). Hier schließt sich naheliegend die teleologische Einordnung der Rechtssphäre an. Sie bildet das Mittelglied zwischen Natur und Freiheit. Das Recht konstituiert die Sphäre von Rechtspersonen als »naturfreien und naturkräftigen Ichen« und ist als apriorischer und erfahrungsunabhängiger Begriff notwendig für den Gesamtzusammenhang eines Vernunftsystems. Darum ist das Recht ein aus Vernunftgründen Gesolltes. Recht soll sein. Das fordert nicht ein Handeln aus Pflicht in Achtung vor dem Sittengesetz, es verlangt die vertraglich vereinbarte, kontraktualistische wechselseitige Beschränkung von Rechtspersonen durch Rechtsgesetze. Das Rechtsgesetz grenzt das Recht auf alles wie das Recht des Stärkeren unter Sanktionen des legitimen Zwangsrechts der Staatsmacht ein. Fichte hat bei allen Wendungen der Verhältnisse von Naturrecht und Staatsrecht, von Recht und Sittlichkeit die Sollensprinzipien von Rechts- und Sittenlehre immer streng unterschieden. Gleichwohl sind Recht und Sittlichkeit, Legalität und Moralität positiv aufeinander angewiesen und teleologisch verortet. Dafür hat Fichte die Sphäre des Rechts zwischen die sinnliche und die sittliche Welt gestellt und die Rechtslehre als Band der Vereinigung gekennzeichnet. »Noch dies beiläufig. – Sphäre der Sittlichkeit. Nun dürfte aber etwa das Naturgesetz diese Sphäre nicht vollendet haben, u. es hat sie sicher nicht vollendet, wo dies Reich der naturfreien u. naturkräftigen Iche angeht. Da nun, also zwischen der sittlichen und der sinnlichen Welt u. als ihr Vereinigungsband dürfte die Rechtslehre liegen als Naturlehre von der menschlichen Gattung, als Sphäre der Sittlichkeit« (17. Stunde; GA II/7, 450). Das Recht bewährt sich als notwendige Bedingung für das unendliche wie vollendete Werden eines Zustandes der Menschheit, in dem das gesamte Handeln aller Subjekte nicht mehr von Naturkräften, sondern ausschließlich vom Sittengesetz bestimmt sein werde. Und der Rechts-
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zustand bildet die notwendige Stufe im geschichtlichen Fortschreiten allgemeiner Sittlichkeit. Das ergibt einen teleologischen Sinnzusammenhang von Recht und Sittlichkeit. Rechtsverhältnisse sind lediglich notwendig gesollt um willen der Sittlichkeit. Mithin sind rechtskonformes Verhalten, rechtliche Friedensverträge, Rechtsstaatlichkeit nicht selber von sittlichem Wert, wohl aber doch notwendige Mittel, um Ideen der Sittlichkeit durch Überwindung des Rechts der Stärkeren Wirklichkeit werden zu lassen. Dieses teleologische Verhältnis des »Soll – dann muß« hat noch die Rechtslehre 1812 durchgehalten. Soll die Sittlichkeit in der Welt der Erscheinungen ungestört vorherrschen können, dann muß es ein verbindliches, legales Zwangsmittel geben, das Störungen der Freiheit abhält, damit das Prinzip der Sittlichkeit in Erscheinungen der Sinnenwelt wirklich werde. »Es muß drum ein von der Sittlichkeit unabhängiges Mittel geben, um die Freiheit aller, durch die die Sittlichkeit in ihnen als Erscheinung, u. in der Reihe der Erscheinungen bedingt ist, zu sichern« (Rechtslehre 1812; GA II/13, 24). Nun können solche, die einen Naturstand ohne Rechtsgewalt und ohne Zwangsrecht, nämlich den Kampf ums Dasein aller gegen alle, bejahen, sagen: »Wir wollen nun aber uns unter einander fressen u. aufreiben: daß wir darüber alle zu Grunde gehen werden, mag wohl wahr sein [...]; aber wem überhaupt verschlägts etwas, ob ein solches Geschlecht wie wir sind, da sey, oder nicht?« (GA II/13, 228). Fichtes gegen Hobbes gerichtete antinihilistische Antwort lautet: »Ihr sollt aber da seyn, erhalten werden, weil schlechthin seyn soll nur Sittlichkeit, die Realisation des göttlichen Bildes, und es zu dieser nicht kommen kann außer durch euch. Ist aber dieses der lezte Zweck der Rechtsverbindung, so muß er auch erreicht werden können durch sie« (GA II/13, 228). Damit ist eine weitere, vierte und höhere Stufe angekündigt. Hierbei erscheint die Versittlichung nicht als Endzweck und höchstes Gut, sondern als Zweck des Zweckes. Sie soll geschichtlich institutionell, nicht zuletzt durch Bildung und Erziehung ins Werk gesetzt werden, damit das göttliche Bild, die Erscheinung des Absoluten, in der Reihe der Erscheinungen realisiert werde. Das wehrt jede Verselbständigung und Separierung der Ethik als Disziplin der praktischen Vernunft ab und entkräftet die alte Sokratische und Aristotelische Tendenz. Sokrates hatte ja dem tragisch-religiösen Weltalter durch die Aufstellung des Gesetzes »Wissen = tugendgerechtes Handeln = Endzweck und Glück menschlichen Lebens« ein Ende bereitet. Und Aristoteles stellt im Grundbuch der abendländischen Ethik,
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der ›Nikomachischen Ethik‹, den Anfangs- und Grundsatz auf, das letzte ›Worumwillen‹ menschlichen Strebens und unser höchstes Gut ist sittliches Handeln um der Sittlichkeit willen. In Fichtes systematischer Deduktion von fünf Weltansichten und Lebensformen aber bildet die Sittlichkeit unter dem Soll des kategorischen Imperativs nur eine Vorstufe, die durch eine höhere Daseins- und Gotteserscheinung überboten wird. Der Religiöse handelt aus einer Glaubensgewißheit heraus, für ewig in und aus der unbeschreiblichen Lebenskraft und unaussprechlichen Liebe der Gottheit zu leben. Nun dürfen einerseits Religion und Sittlichkeit nicht ineinandergemischt und vermischt werden. Dieser Vorwurf betrifft Kants Moraltheologie, wo Gott als Garant für das proportionale Verhältnis von sittlicher Glückswürdigkeit und sinnlicher Glückseligkeit als totaler Befriedigung aller Bedürfnisse postuliert wird. In der 17. Stunde erklärt Fichte öffentlich: Kants System entbehre eigentlich vollständig eines Gottes; unsicher tappend, nicht methodisch intelligierend, gründe er das Wesen Gottes auf ein Bedürfnis der sinnlichen Natur. Andererseits ist das positive Verhältnis »Soll – dann muß« zu durchdenken. Soll es zur Erscheinung der Religiosität in der Welt kommen, dann muß die Idee der Sittlichkeit der Menschheit den Sinn für eine intelligible Welt, für die göttlich durchgeordnete Synthesis der Geisterwelt geöffnet haben. So erfüllt sich der Systemanspruch, die vier Standpunkte von Sinnlichkeit, Recht, Moral, Religion einheitlich zu ermöglichen: »alle die von uns aufgestellten Standpunkte sollen innerhalb des wirklichen, eben absolute seyenden Wissens mögliche seyn; in specie der höchste, der der Religion« (18. Stunde; GA II/7, 453). Den letzten Aufschluß darüber gibt die Vernunftwissenschaft auf der Höhe der Wissenschaftslehre. Das ist eigentlich kein eigener materieller Standpunkt, sondern allein das formale Intelligieren, das durchdringende Herleiten der Erscheinungen von Natur, Recht, Sittlichkeit und Religion. Dafür ist das Soll in der höchsten Potenz in seinen notwendigen Bedingungen einsichtig. »Es soll zum daseyn des absoluten, als solchen kommen. Drum pp.« (GA II/7, 454). Hier kommt das bekannte aletheuische, kategorische Soll zum Zuge. Soll es zum Dasein des Absoluten als solchen kommen, dann muß das Licht des sich wissenden Wissens als Ursprungsprinzip abgesetzt und in eins als Erzeugungsprinzip der Erscheinung in ihrer grundsätzlichen Einheit und notwendigen Sonderung eingesetzt werden; »nicht durch das Licht sonach, sondern nur durch das absolute selbst kann das absolute daseyn« (GA II/7, 454). Dasselbe vom absoluten Wissen
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her eingeprägt (und gegen Feuerbachs religiöse Entfremdungstheorie gehalten): »Nun kann, wie gesagt, das Wissen sich nie aus sich selbst das absolute erzeugen, weder mittelbar, noch unmittelbar, sondern dasselbe muß durch sich selbst u. eigene Kraft sich in ihm erzeugen« (GA II/7, 454). Lassen sich nun Religion, Recht, Sittlichkeit als Erscheinungen des Absoluten aus dem Mittelpunkt des absoluten Wissens ableiten und ist das Absolute in sich wie außer sich ein Eines, dann bilden die Weltansichten von Sinnlichkeit, Recht, Sitte, Religion und Wissenschaft eine systematische Einheit, die im teleologischen Einheitsverhältnis des Sollens nachweisbar ist. Also stellen die einschlägigen Vorträge 13-18 das Soll in seiner Priorität und prinzipiellen Funktion für die Systematisierung der hierarchisch eingeordneten Vernunftwissenschaft der Gottes- und Religionslehre, der Sitten- und Rechtslehre einschließlich der Naturlehre genetisch evident dar. Damit schließt die Systembildung der gesamten Wissenschaftslehre auf dem Höchststand der ungeschriebenen Lehre grundsätzlich ab. Ihre Bestimmungen von Wissen und Sein, Einheit und Vielheit, Wahrheit und Erscheinung sind nun durch phänomenologische Einleitungen faktisch zugänglich gemacht. Der stufenweise Aufstieg zum Seins-, Einheits- und Wahrheitsgrund ist in absoluter Reflexion und Abstraktion genetisch vollbracht worden. Der Abstieg von der Einheit zu aller Mannigfaltigkeit, im Übergang von Gott zur Welt in der Fünffachheit und Unendlichkeit der Erscheinungen des Bewußtseins und unserer Weltansichten ist in aller Klarheit hergeleitet. Und schließlich hat eine Teleologie des Sollens die Vernunftwissenschaften der Natur, des Rechts, der Sittlichkeit und der Religions- und Gotteslehre ausgefaltet. Somit dürfte sich der Vollendungsanspruch von Fichtes Wissenschaft des Wissens erfüllen, welcher durchaus mit dem Systembau Hegels und den vielgestaltigen Entwürfen Schellings konkurrieren kann. Und es sollten sich sogar Perspektiven abzeichnen, in welchen ein gewisser Vorrang der Wissenschaftslehre ersichtlich wird, nämlich sowohl in Respekt auf die kritische Besonnenheit im Andenken des Absoluten wie in Respekt auf die Anwendung der philosophischen Wissenschaften auf das Leben. Das jedenfalls ist das eigentliche Geschäft, das Wesen und Walten des Gelehrten. Auftrag und Aufgabe des Philosophen besteht nicht darin, die Unmengen von Detailwissen eines Fachgebietes zu sammeln, so erstaunlich umfänglich und Kenntnis vermittelnd eine quantitative Gelehrtheit auch sei. Philosophisches Wissen besteht in der Tiefe genetischer Einsichten in den Ursprung der Ideen, der
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›Gesichte‹ des Übersinnlichen. Und seine eigentliche Aufgabe liegt darin, solche Gelehrtheit auf das Leben anzuwenden. So steht der rechte Eruditus unter der Forderung eines ›eruditiven Soll‹. Dessen Nötigung ergeht an die Bestimmung des Gelehrten (officium eruditorum). Das haben Fichtes letzte Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten von 1811 zur Sprache gebracht. Das eruditive Soll ist »eigentlich die Forderung der steten Fortentwicklung des göttlichen Bildes« (GA I/10, 386) durch die Gemeinde der Gelehrten. Soll das göttliche Bild in der Sinnenwelt sich im Bewußtsein eines Volkes bilden, dann muß das Wissen des Gelehrten praktisch werden und die Welt nicht nur theoretisch auslegen, sondern geschichtlich verändern. Der Gelehrte »soll sie anders machen um Gottes willen, soll sie bilden nach Gottes Bilde« (GA I/10, 386) – zumal in einem halb aufgeklärten Zeitalter, das sich nicht mehr von der Gottesbegeisterung der Seher und Dichter ergreifen lasse.64
64 Auf diese Funktion des Sollens in der ›populärwissenschaftlichen‹ Bestimmung des Gelehrten von 1811 hat F. Gilli: Die Präsenz der ›Populärphilosophie‹ im Spätwerk Fichtes, 2007 aufmerksam gemacht. Weitergehende Analysen des Sollensprinzips in der Gesamtsystematik haben 2001 M. Ivaldo: Die konstitutive Funktion des Sollens in der Wissenschaftslehre und Y. Kumamoto: Moralische Freiheit und problematisches Soll beim späten Fichte vorgelegt.
Nachschriften . Ausführungen über die Bedeutung des kritisch vollendeten Idealismus für das gegenwärtige Zeitalter 1. Abschnitt: Vom Vorrang der ungeschriebenen Lehre (Zu Grundsätzen der Erlanger Wissenschaftslehre 1805) 1. Kapitel: Hervorhebung des Behauptens einer absoluten Reflexion in transzendentaler Besonnenheit Schellings erster eigenständiger Gedanke über das Unbedingte und Absolute resultiert aus der Maxime: Die Philosophie habe sich völlig vom Standpunkt der Reflexion zu entfernen, ansonsten verfehle sie auf ihrem Wege das Ziel, das Prinzip der Alleinheit und Wahrheit, die totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven, verbindlich darzustellen; denn alle Reflexion gehe von Gegensätzen aus und beruhe auf Gegensätzen. Und Schelling fügt polemisch hinzu: Anstatt dieses Ziel zu erreichen, sei Fichtes vielversprechender Denkweg auf dem Standpunkte eines einseitigen, formellen, leeren, nichtigen Reflektiersystems stehengeblieben und erstarrt. So lautet vielstimmig und bis heute das Urteil der Geschichte. Fichtes spekulatives Denken dringe nicht zur Grundlage eines Unbedingten, bis zur wahrhaft seienden, nicht bloß gesollten Einheit der Gegensätze von Ich und Nicht-Ich durch, weil es am Trennenden der Verstandesreflexion festhält. Nun soll die verwickelte Geschichte dieser von Nicolai, Reinhold, Bardili, Jacobi, Schelling und Hegel mit unterschiedlicher Intensität vorgetragene Polemik hier nicht noch einmal thematisch behandelt und ausgebreitet werden. Zur Erinnerung seien lediglich drei prominente Einlassungen zitiert. Reinhold bemerkt zu Fichtes einleitender Aufforderung, von allem Objektiven zu abstrahieren und auf das reine Ich zu reflektieren: »Die Willkühr [...] abstrahiert nun vom Abstrahieren selber, um über das Reflektieren – zu reflektieren« (Beyträge I 101). Solches Reflektiergespinst sei schuld daran, daß die wahre Identität des Idealen und Realen vergessen werde. Gleichzeitig hatte Schelling in der Vorerinnerung der Darstellung seines Systems erklärt: Fichte könnte sich mit dem Idealismus auf dem Standpunkt der Reflexion halten, während er,
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Schelling, sich mit dem Prinzip des Idealismus ganz auf den Standpunkt der Produktion gestellt habe. Und Jacobi hat das Reflektieren der Wissenschaftslehre als Ursache für ihren ›Nihilismus‹ entdeckt. Sein ›Nihilismusbrief‹ vom 3. März 1799 erklärt: »Wahrlich, mein lieber Fichte, es soll auch nicht verdrießen, wenn Sie, oder wer es sey, Chimärismus nennen wollen, was ich dem Idealismus, den ich Nihilismus schelte, entgegensetze« (JW IV 44). Und noch Heideggers Idealismus-Vorlesung aus dem Jahre 1929 hält an Abschätzungen fest, die sich an der unvollendeten Jenaer Grundlage und am Reflexionsstandpunkt des Ich orientieren: Sie bauen eben auf die Selbstgewißheit des sich reflektierenden Ich (und verschließen sich so der Aletheia), sie geben dem weltentwerfenden Subjekt des Wissens den Primat (und verkennen den ›geworfenen Entwurf‹ des Daseins), sie verwandeln die Natur zum Nicht-Ich und verkürzen sie zur bloßen Schranke des Ich (und verfehlen so das volle In-der-Welt-Sein). Solche Einsprüche, zumal der Nihilismusvorwurf gegen Fichtes vermeintliches Reflektiersystem, beschäftigen Fichte bis zuletzt. Noch die Wissenschaftslehre 1812 greift das auf. »Das Reflektieren der Wissenschaftslehre sei der Grund unseres vermeintlichen Nihilismus« (NW II 325). Und die Einleitungsvorlesungen in der Wissenschaftslehre 1813 entgegnen solchen Gegnern: »Ihr sagt ferner: Idealismus und Nihilismus. Wie Ihr entzückt seid, ein Wort gefunden zu haben, von dem Ihr hofft, daß wir darüber erschrekken werden! Wie denn, wenn wir, nicht so blöde, uns dessen rühmten, und das eben als das Vollendete und Durchgreifende unserer Ansicht, daß sie eben Nihilismus sei, eben Nachweisung des absoluten Nichts, außer dem Einen, unsichtbaren Leben, Gott genannt« (NW I 39). Nun hat Fichte niemals gewankt, den Akt transzendentaler Reflexion aufzugeben, der bei jedem Gedachten auf das Denken und dessen Entstehungsgesetze sieht. Er hat vor dem Grundfehler gewarnt, die Reflexionseinstellung irgendwo blindlings abzubrechen, und gefordert, sie besonnen zu Ende zu bringen. Das gilt zuhöchst für den Gedanken des Absoluten. Eine Besinnung auf sich im Gedanken des Absoluten heißt absolute Reflexion. Sie ist transzendentale Reflexion, sofern sie sich vom Gedanken auf sich als den Denkenden zurückbezieht, der das Absolute denkt. Sie ist absolute Reflexion, sofern sie sich vom Gedanken des Absoluten auf sich als Bild und einziges Dasein des Absoluten außer dem, nihilistisch gedacht, Nichts wahrhaft seiend ist, besinnt. Es ist die ungeschriebene Lehre in der Fassung der Erlanger Wissenschaftslehre 1805, welche solche transzendentale Transzendenz einer vollendeten Vernunftwissenschaft behauptet. Sie steigt zum transzendenten Gedanken
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des Absoluten im Vollzug der Selbstvernichtung des Begriffs auf und bleibt gleichwohl als einzige der drei Vollendungsgestalten des Deutschen Idealismus bei transzendentaler Besinnung. Sie bricht die Reflexion eben nicht irgendwo ab, sondern führt sie konsequent in absoluter Reflexion zu Ende. »Jenes besinnen auf sich heißt Reflexion; und das sich besinnen auf sich selbst im Gedanken des Absoluten heißt absolute Reflexion« (GA II/9, 231). 2. Kapitel: Sich-Besinnen auf sich. Vorlage der Wort- und Sacherklärung Die exklusive Behauptung der Besonnenheit absoluten Reflektierens evoziert Hauptfragen. Welche Generalregel dirigiert diese Methode? Inwiefern führt das zur einzigen Einheitslehre des Deutschen Idealismus, die transzendental besonnen bleibt? Und weiterhin: Warum in aller Welt hat solche philosophische Besinnung und Besonnenheit Bedeutung für unser gegenwärtiges Zeitalter? Dem zuvor aber ist wohl der Vorfrage nachzugehen: Was heißt überhaupt Reflexion im Wortsinne von Besonnenheit wie im Sachsinne neuzeitlicher Selbstbesinnung? Reflexion wird von Fichte, die Herkunft aus der Optik übergehend, dem Worte nach ausgedrückt als Sich-Besinnen auf sich. Und tatsächlich sagen wir umgangssprachlich »Jemand verliert die Besinnung« und »Jemand kommt wieder zur Besinnung« und meinen »Jemand verliert das Bewußtsein« und »Er kommt wieder zu sich selbst« und so in den Zustand eigener Vorstellungen. Wir sagen auch »Jemand besinnt sich eines anderen oder eines besseren« und meinen, er vollziehe eine besonnene Änderung und Umkehr seiner Einstellung. Und wir fordern auf »Besinne dich!« und meinen, er solle aus eigener Freiheit erinnernd in sich selbst gehen. So prägt sich das Wort Besinnung/Besonnenheit umgangsprachlich als personal vollziehbare und interpersonal eingeforderte Rückkehr klaren Bewußtseins in sich selbst aus Freiheit ein. In philosophischem Sprachgebrauch konnte das Wort bei Herder die Stelle von Reflexion einnehmen. Das belegt Herders Überlegung zur Entstehung der Sprache in der ›Preisschrift‹ von 1772. Dort heißt der Mensch das besonnene Geschöpf. »In den Zustand der Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum ersten Mal frei wirkend, hat Sprache erfunden« (Sprachphilosophische Schriften, 1960, 23). »Das erste Merkmal der Besonnenheit war Wort der Seele« (ebd. 24). Fichtes Verwendung des Wortes Besonnenheit für Reflexion nun wird zumal für die Markierung der philosophischen Sonderstellung der Wissen-
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schaftslehre sprechen, die als leeres Reflektiersystem gänzlich vernichtet schien. Das Wort dient als Scheidewort für die tiefe Differenz zwischen einem besonnenen Andenken des Gedankens vom Absoluten und aller Nichtbesinnung. Alle Seinslehren im großen Stil des Spinoza, in den Ausmaßen des Hen kai Pan, der absoluten Indifferenz und spekulativen Identität bleiben im Ausfall einer Nichtbesinnung befangen. Allein die Wissenschaftslehre beherrscht die Kunst der absoluten Reflexion und bleibt besonnen. Diese Sonderstellung hebt noch der späte Vortrag der Wissenschaftslehre 1813 heraus: »Die Besinnung wird uns zu einer Kunst nach Regeln« (NW II 3). Diese Worterklärung bedarf zur Vertiefung einer Sacherklärung, dergestalt, daß der Akt der Reflexion und Besinnung auf sich als Grundzug neuzeitlichen Geistes überhaupt wie als Grundlage der Wissenschaftslehre im besonderen deutlich wird. Daß die Reflexion zur Sache der Ersten Philosophie wird, bedeutet den Eintritt in ein neues Zeitalter. Hegel hat diese Epoche Zeit der Reflexionskultur genannt. Worin aber besteht das Neue, da doch Prinzip und Struktur der Reflexion längst bekannt waren und ihre Beschreibung mit der Unterscheidung von intentio recta und intentio obliqua Schule gemacht hatte? Danach richtet sich meine Aufmerksamkeit in der Intention der intentio recta auf solches, was uns umgibt, sei es Wand oder Ofen, Stein, Kraut, Tier oder Mensch. Diese natürliche Einstellung des Bewußtseins zielt ab und erstreckt sich auf innerweltliche Dinge außer mir. Aber ich kann auch jederzeit mein Sehen und Besprechen der Dinge zum Gegenstand meiner Vorstellung machen. Dann wendet sich eben unsere Aufmerksamkeit von den Dingen an ihnen selber ab und biegt sich auf unser eigenes Sehen und Wissen zurück. Indessen ist für die Tragweite dieses Sachverhaltes anzumerken: Die scholastische Distinktion bleibt vortranszendental, sofern und solange die intentio recta nicht nur der Zeit, sondern auch der Erkenntnis und dem Sein nach das Frühere und die intentio obliqua das in jeder der drei Hinsichten Spätere ist. Gewiß hat schon Augustinische Tradition die Reflexion (reditio, conversio) als ein Sich-Besinnen auf sich unter das Gebot einer Umkehr aus äußerlichem Treiben ins eigene Innere gestellt: Noli foras ire – in teipsum redi (De civitate Dei XI 26). Und der große, so einflußreiche Kirchenvater hat solche Selbstbezüglichkeit auch als unmittelbares und zweifelsfreies Wissen von sich selbst privilegiert. Aber erst mit der Cartesianischen Wende gewinnt die intentio obliqua einen systembildenden Primat. Der bestimmt den Rang der Erkenntnis. Das zuerst und unmittelbar Erkannte ist der seiner selbst bewußte Geist. Und er be-
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stimmt die Wahrheit (veritas) als Gewißheit (certitudo) gegenüber dem radikalsten Zweifel (dubitatio); denn das selbstgewisse Sein des Zweifelns widerlegt alles Bezweifeln des Seins. Solcher Primat der Reflexion verwandelt die Grundbestimmung der denkenden Seele. Griechisch verstanden ist die Seele in ihrem Denkvermögen definiert als möglicher Ort der Anwesenheit von Ideen (topos eidon). Der Mensch denkt wirklich, wenn ihm Gedanken einleuchten, indem sich die Ideen lichten. Cartesianisch genommen ist die denkende Seele Bewußtsein auf dem Grunde und in der einigenden Einheit des Selbst-Bewußtseins (ad-perceptio) von Ideen, die meine Vorstellungen (perceptiones) sind. Der Mensch denkt dadurch, daß er sich auf sich selbst als das denkende Subjekt aller Ideen als seiner Perzeptionen besinnt. Kant erklärt: Das Ich-denke muß alle meine Vorstellungen begleiten können. In dieser Wende kommt die Reflexion als transzendentale Methode, welche das Sein vom Sehen der Dinge auf das Sehen des Sehens zurückbiegt, zum Austrag und als Subjekttheorie in die Krise. Auch daran ist zusammenfassend lediglich stichworthaft zu erinnern. Seit Kant schreibt die Methode der Vernunftkritik vor, sich nicht mehr geradehin auf die Gegenstände unserer endlich-menschlichen Erkenntnis zu richten, sondern sich auf unsere Vorstellungsart von Gegenständen der Erfahrung zu besinnen, sofern diese apriori möglich ist. Kants Name für Reflexion heißt ›Überlegung‹. In ihrem Vollzug überlege ich vergleichend unterscheidend, ob unsere Begriffe zum Vermögen des reinen Verstandes oder zur sinnlichen Anschauung gehören. Fichtes frühe Wissenschaftslehre hat den Übergang von solcher Vermögenslehre zur Reflexions- bzw. Produktionstheorie der Tathandlung vollzogen. Das verlangt die freie Kunst einer Besinnung, die auf die Struktur des reinen Reflexionsvollzugs als in sich zurückkehrende Tätigkeit und auf die Gesetze des sich denkenden Denkens schaut. Am Anfang steht die Methodenregel des Wissenschaftslehrers: »Denke Dich, und bemerke, wie du das machst, war meine erste Forderung« (Versuch einer neuen Darstellung; GA I/4, 274). Zur philosophischen Besinnung gehört eben nicht nur, die in sich zurückkehrende Tätigkeit energisch zu vollziehen. Besonnenheit hat intellektuell zuzusehen, wie diese Bewegung geschieht. Dabei fällt ein unbedingtes Unterscheiden, Trennen und Entgegensetzen in den Blick. Das Ich findet zur Identität mit sich selbst, indem es das setzende und gesetzte Ich der Stellung im Reflexionsvollzug gemäß auseinanderhält und in eins setzt. Aber taugt diese Beschreibung dazu, die Reflexion im Sinne der neuzeitlichen Subjektund Selbstbewußtseinstheorie zu erklären und vor Simplifizierungen und Verunstaltungen zu bewahren?
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Nicht zuletzt sind jene Simplifizierungen zu revidieren, welche Fichte zum Vertreter des modernen Geistes stempeln, der im steigenden Fieber des Subjektivismus nach der Gleichung Selbstbewußtsein = Selbstmacht mit der Verkündung eines reinen Willens zur Macht endet. Nach Fichte sei die Welt Produkt des Ich und das Ich die Macht, über die Welt der Erscheinungen zu gebieten, weil seine reflexive Tätigkeit sich selbst schlechthin autark ermächtigt. Aber das geht an Fichtes Theorie einer Selbstbesinnung vorbei. Das einfache ›Reflexionsmodell‹ ist – nach Jacobis Einspruch und durch Fichtes Revision im zweiten Buch der Bestimmung des Menschen – für untauglich befunden, um die Einheitsstruktur des Ich-Subjekts und die Lebensform des absoluten sich wissenden Wissens zu fundieren. Damit löst sich die Wissenschaftslehre von Descartes’ und Kants Reflexionstheorie, die fraglos voraussetzt, daß das Ich durch die Rückwendung auf sich selbst entsteht, ohne zu entdecken, daß sich solche Reflexionshypothese in drei Probleme verstrickt. Der erste Defekt ist eine mangelnde Selbstidentifikation. Ein zweites Bedenken besteht in der Iteration eines Denkens, das nicht nur einmal sein Denken, sondern endlos wieder das Denken des Denkens denkt. Ich weiß, daß ich weiß, daß ich das Wissen des Wissens weiß usf. Der dritte Fehler liegt in dem vitiösen Zirkel, der das voraussetzt, was Resultat sein soll, nämlich den Ich-Akt. Aus solchen Schwierigkeiten einer Selbstbewußtseinstheorie, welche ein Ich-Subjekt voraussetzt, ohne es je in Stand zu setzen, sucht die Wissenschaftslehre den neuzeitlichen Geist zu lösen. Darauf hat die Forschung (vorzüglich D. Henrich) aufmerksam gemacht. Die Einsicht in die Problemverstrickungen des Reflexionsmodells sei die ursprüngliche Entdeckung Fichtes und die Überwindung der ersten Epoche in der Entwicklung der Selbstbewußtseinsphilosophie von Descartes bis Kant gewesen. Fichtes spätere Philosophie ab 1801 sei nichts anderes als eine neue Lösung der anfänglichen Problementdeckung, indem der Tathandlungsformel das Als eingefügt und metaphorisch ein Auge hinzugesetzt werde. Das Setzen des Ich setzt sich selbst als setzend, so daß es sich sieht als Bild und Dasein des Absoluten.1 Eine darüber hinausgehende neue Problemlösung aber bietet der Grundsatz einer absoluten Reflexion von 1805, in welcher das Denken sich darauf besinnt, als absolutes Wissen nichts als das einzige Dasein zu sein, das außer dem Absoluten da ist, und das sich in absoluter Evidenz und Ge-
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Vgl. D. Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht, 1967. – Ders.: Fichtes ›Ich‹. In: ders., Selbstverhältnisse, 1982.
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wißheit als dessen Bild versteht. So erst bewährt sich Fichts vollendete Vernunftwissenschaft als die einzige Position, in welcher das Selbstbewußtsein im Dasein absoluten Wissens über sich in ein absolutes Sein und Leben hinausweist, das hell wird, indem es sich im Lichte der Gewißheit in allen Formen und Schemata der Ich-Struktur repräsentiert. Diese höchste Besinnung des Vernunftwissens auf sich im Gedenken des Absoluten blieb für Hegel und Schelling unbekannt. Beide billigen der Wissenschaftslehre lediglich den Status der Verstandesreflexion zu. Weil das Element des Verstandes das Unterscheiden, Entgegensetzen, Trennen ist, verharre die Wissenschaftslehre in der Sphäre der Entzweiung von Ich und Nicht-Ich, von absolutem Wissen und Absolutem. In einer einseitigen Reflexion, die ein trennender Verstand vollzieht, könne sich die Identität unmöglich als Totalität erfüllen und vollenden. So aber bleibt das SelbstBewußtsein unaufhebbar vom Anderssein abgetrennt und die durch den Grundsatz der Entgegensetzung entzweite Ureinheit des Ich=Ich uneinholbar aufgegeben; denn die leitende Verstandesreflexion sei ja das Entgegensetzende, Trennende, Beschränkende, Bestimmende an ihr selbst. Und das Heilmittel, das Streben der praktischen Vernunft, bringe es nur zu einem gesollten Absoluten. Über Fichtes Lebenslehre des Absoluten auf der Höhe der absoluten Reflexion und im Lichte vollendeter Besonnenheit hängt so das Damoklesschwert der enthauptenden Sollenskritik. Das Streben nach absoluter, Spinozistischer All-Einheit als letztes Wort der Wissenschaftslehre soll die Nichtidentität von Ich und Nicht-Ich, von Geist und Natur, von absolutem Wissen und Absolutem überwinden, ohne das vollkommen vollbringen zu können. Geht man entgegen solcher Vorurteile ernsthaft auf die Eigenart der Fichteschen Lehre vom Absoluten ein, dann wird deutlich: Das absolute Wissen ist über die Form der Ichheit und über die Verstandesreflexion eines leeren Reflektiersystems hinaus zur absoluten Reflexion und zur Synthese von reiner Gewißheit und allrealer Wahrheit aufgestiegen. 3. Kapitel: Problemanzeige der absoluten Reflexion Nun kann aufgrund der Fichteschen Definition einer absoluten Reflexion alles Bedenken gegen ein Reflektiersystem nicht einfach fallengelassen und fraglos eine tiefere Besinnung auf den Anfangs- und Systemgrund angenommen werden. Man muß vielmehr auf die Ausweglosigkeit eingehen, die sich auch auf dieser höchsten Stufe in den Weg einer Reflexionstheorie stellt.
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Da ist noch einmal der Problemstand zu vergegenwärtigen. Die Erlanger Formel lautet: »Das Sich-Besinnen auf sich selbst im Gedanken des Absoluten ist eine absolute Reflexion.« Das übersteigt unstreitig die Verstandesreflexion. Eine verständige, mundane Reflexion folgt der Aufforderung an solche, die noch im dogmatischen Schlummer befangen sind: »Denken Sie die Wand! – Denken Sie den, der die Wand denkt!« Der Ausgang für solches Sich-Besinnen auf unser Sehen des Sehens ist das gegenständlich hingeschaute Vorhandensein innerweltlicher, mundaner Dinge wie Wand oder Ofen. Eine absolute Reflexion mutet dagegen eine höhere Stufe der Selbstbesinnung an. »Denken Sie das Seyn schlechthin an sich, als Seyn [...]. Nun aber geben Sie auf Ihr Denken selber Acht« (GA II/9, 186). Hier geht die Sich-Besinnung auf den Gedanken des Seins schlechthin. Das ist das von aller Mannigfaltigkeit und Unterscheidbarkeit absolvierte, in sich aufgehende, von sich bestehende Eine, der kühne Gedanke des Parmenideischen Hen und Spinozas substantiales Hen kai Pan im Verfahren eines transzendentalen Transzensus. Die Kunst der Besinnung verlangt, sich auf unser Denken zurückzuwenden und darauf achtzugeben, wie und unter welchen Gesetzen uns dieser Gedanke des Absoluten entstanden ist. Dabei kommen nicht mehr unmittelbar das selbstgewisse Ich und das Gesetz der Tathandlung in Betracht, sondern ein absolutes Wissen in der Gewißheit des Sich-Intelligierens. Besinnt sich das absolute Wissen so auf den Gedanken des absoluten Seins und des lebendigen Einen, dann leuchtet die Einsicht ein: »Das Wissen an sich ist die absolute oder [...] des Absoluten Existenz« (GA II/9, 185). Das ist der Scheidesatz, der Fichtes Systembegründung von Spinozas Pantheismus, von Schellings Identitätssystem, von Hegels Onto-theo-Logik trennt. Fichte beharrt auf einer transzendentalen Besonnenheit, in welcher das absolute Wissen im Andenken des Seins schlechthin auf sich als Mittel- und Durchströmungspunkt von Sein und Erscheinung zurücksieht. Aber es bleibt die drückende Frage: Ist das Beharren auf Reflexion und Sich-Besinnung nicht aporetisch? Auf dieses Problem ist Fichte selbst im Zuge der Erlanger Grundlegung 1805 eingegangen. »Wirklich immer reflektiren, und nichts anderes thun denn reflektiren, können wir weder relativ noch absolut, weil wir ausserdem zu gar nichts pp. Aber die absolute Reflektirbarkeit steht uns fest, u. diese zu läugnen, wollen wir uns ja nie verleiten lassen. – Aus Verzweiflung das Auge zuthun, damit man das verhaßte ewige Leben nicht sehe« (GA II/9, 231). Die Sache der absoluten Reflexion scheint ebenso ausweglos wie die der relativen Reflexion, die vom vorgestellten Ding auf das Vorstellen der Dinge als Grundoperation des Ich und Genesis des Selbstbe-
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wußtseins zurückgeht. Bleibt die Reflektierbarkeit überhaupt unablässig als Grundoperation in Geltung, so kommt es zu gar nichts, nicht zum Stande des Selbstbewußtseins, nicht zur Realität des Wissens, nicht zum Gedanken des Seins von sich. Das ist schon Fichtes früheste Einsicht. Die Bewegung der Reflexion führe zu nichts; denn sie verlaufe in einen progressus in infinitum. Wir seien uns äußerer Objekte nur dadurch bewußt, daß wir uns unserer selbst bewußt würden. Nun werden wir unserer selbst dadurch bewußt, daß wir das Subjektive zum Objekt eines reflektierenden Sich-Wissens machen, das wiederum nur so zum Bewußtsein kommt, daß es seinerseits zum Objekt eines Wissens, welches das Sich-Wissen weiß, wird und so iterativ fort ins Unendliche. Immer wieder verwandelt sich das unterstellte Subjektive zum Objektiven. So aber läßt sich das allem Objektwissen vorausgesetzte Ich-Subjekt niemals auffinden und mit sich identisch feststellen. Näher zum Punkte der absoluten Reflektierbarkeit als solche Bedenken der W.L. nova methodo führt die Argumentation, die Fichte im zweiten Buche der Bestimmung des Menschen 1800 vorgeführt hatte: Wissen erzeugt immer nur Wissen; alles Wissen ist Abbilden; der Seinsmodus des Bildseins ist Nichtsein im Sinne des Nicht-Präsentseins dessen selbst, was das Bild nur repräsentiert. Mithin kommt es in einer Reflexion des Wissens auf sich zu einem sich als Bild bildenden Bilde in gespenstischer, endloser Selbstbespiegelung des Bewußtseins, in der es keine Grenze, keine Bestimmung, keine Realität gibt. Beide Einsichten in die gespenstische Leere eines Reflektiersystems, nämlich haltlose Iteration und leere Selbstbespiegelung, wenden sich nun auch gegen die Aufstellung der absoluten Reflektierbarkeit absoluten Wissens. Nichts tun als reflektieren und sich objektivieren führt zu nichts. Andererseits aber muß die absolute Reflektierbarkeit in Geltung bleiben. Es ist zu simpel, sie einfach zu leugnen. Dazu will und soll sich eine Philosophie auf der Höhe der Wissenschaftslehre nicht verleiten lassen. Dazu werden allein Systemgründungen verführt, die das Absolute als Sein an und für sich denken, ohne auf die Bedingungen des Fürsich- und Gedachtseins zu reflektieren. Und dieses Defizit führt dazu, das Absolute zu verdinglichen und seine Lebendigkeit zu ertöten. Faktisch aber bleibt es doch auf jeder Stufe aufsteigender Einsicht in das Wahre selbst nicht nur möglich, sondern notwendig, sich darauf zu besinnen, daß und wie, nach welchem Verfahren und unter welchen Gesetzen das Eingesehene Objekt und Projekt unseres sich anschauenden, sich projizierenden und intelligibel intuierenden Sehens ist. Das ist methodisch bis zum Ende auszuarbeiten. Sonst bleiben eben die Gesetze und
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Verfahrensweisen, nach denen uns das Gesehene und evident Einleuchtende entstanden ist, im Dunkel. Und solche Genetisierung gilt auch und gerade für den höchsten uns evident einleuchtenden Gedanken des Absoluten. Also fordert die absolute Reflexion unerläßlich, sich darauf transzendental zu besinnen, unter welchen notwendigen Bedingungen das transzendentale Absolute als solches da und einsichtig ist. Gleichwohl bleibt das hartnäckige Bedenken: Der Reflexionsstandpunkt scheint doch unhaltbar und ausweglos. Leugnet oder ignoriert man die absolute Reflektierbarkeit, so wird das Wissen des Wissens blind. Behauptet man die fortwährende Reflexion auf sich als unerläßlich, dann wird das Wissen leer. Anders, als Widerstreit formuliert: Einerseits muß die absolute Reflektierbarkeit zu Recht nihiliert werden; sonst komme es zum leeren Reflektiersystem. Andererseits muß die absolute Reflektierbarkeit zu Recht in Geltung bleiben; sonst komme es bloß zu einem blinden, hochfahrenden Spekulieren über das sogenannte Absolute. 4. Kapitel: Auflösung des Problems einer absoluten Reflexion. Anzeige des Vorzugs von Fichtes ungeschriebener Lehre In der Lösung dieses ausweglos scheinenden Widerstreits scheiden sich die Wege der drei zur Frage stehenden Systemgründungen. So postuliert Schelling eine intellektuelle Anschauung, in welcher sich das sterbliche Auge der Reflexion schließt und das Ewige an sich und nicht mehr nur das Ewige in uns zu Gesicht kommt. Aber es ist unzulässig, vor dem Faktum der absoluten Reflektierbarkeit einfach das sterbliche Auge zu schließen und ein ewiges Sehen in uns zu postulieren, um das Absolute durch eine überspannte, ingeniöse Intuition beliebig als Unbedingtes und als Anfangsgrund anzusetzen. Und es ist nicht weniger hypertroph, mit Hegel die Schranken des Selbstbewußtseins aufzuheben und das Absolute im Bewußtsein zu konstruieren. Diese Operation schneidet im Begreifen des absoluten Begriffs jeden Reflexionsbezug ab. Dagegen steht von Anfang der ungeschriebenen Lehre Fichtes an das Haupttheorem, das absolute Wissen sei nicht das Absolute, sondern dessen Dasein und Existenz. Hier steht ein Sich-Besinnen auf sich im Konfundierungsverhältnis von absolutem Sein und ichhaftem Wissen im Mittelpunkt. Dabei ist Fichtes Lösung der Reflexionsaporie limitativ einschränkend. Der Anspruch auf Reflektierbarkeit ist berechtigt und auch faktisch immer vollziehbar. Aber er gilt nicht uneingeschränkt. Das absolute Sein
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kommt als Unbegreifliches zur Einsicht, wenn die absolute Reflexion sich so auf sich besinnt, daß sie von ihrem Resultat abstrahiert. Das Sich-Besinnen auf sich im Gedanken des Absoluten schließt so eine einschränkende Selbstnegation ein. Das macht den Weg frei für die Aussicht auf eine Wechselbestimmung von absolutem Sein und absolutem Wissen in der Lebendigkeit einer absoluten Repräsentation. Die Relation der absoluten Reflexion fällt nicht in den Vollzug des absoluten Besinnens auf sich und in ein Nicht-mehr-Vollziehen der Reflexion auseinander. Es stellt sich in der Einheit eines inversen Repräsentationsverhältnisses auf, in welchem das reflektierende Wissen einsieht, daß es nur Repräsentation, nicht aber ein Repräsentierendes ist, das Gott präsentiert. »Nicht das Ich repräsentiert ihn, sondern er selbst repräsentiert sich im Ich« (GA II/9, 249). So faßt die Erlanger Wissenschaftslehre das innere Wesen des Ich als Rückkehr göttlichen Existierens in sich selber auf. Das Ich sei unmittelbar das ›Als‹ Gottes: »das unmittelbare repraesentans, u. die Repräsentation Gottes. Wiederum ist es nur diese Repräsentation Gottes, keinesweges aber Gott selbst« (GA II/9, 249). Das eröffnet eine Wechselbeziehung. Gott oder das absolute Sein, sich selbst effizierende Licht und aus sich lebende Leben geht in das Anders- und Außersichsein, in die Existenz oder das DaSein ichhaften reinen Wissens ein, so daß dieses wesenhaft präsent ist, d.h. unvergänglich lebt. Umgekehrt repräsentiert sich das Absolute im Ich so, daß es selbst im anderen zu sich kommt. In solcher höchsten Wechselbestimmung von Sein und Ich wird die an sich leere Reflexionsform lebensvoll und das an sich undurchdringliche göttliche Leben hell und bewußt. Im Prozeß der absoluten Repräsentation geht das Absolute so in das andere außer ihm – das absolute Wissen, nicht die raum-zeitliche Natur – über, daß es im Anderssein bei sich selber bleibt. Dabei verdankt sich das repräsente Beisichbleiben im Anderssein nicht – wie in Hegelscher Logik – der dialektischen Werdestruktur der absoluten Idee, sondern der ›Inversion‹ des Repräsentanten. Das ist das in sich gekehrte, bei sich wohnende Ich. ›Wohnen‹ als Sein bei sich ist eine Metapher Fichtes für das ›Gekehrtsein des Wissens in sich‹. Diese repräsentative Wohnstätte des Absoluten im Ich bildet den Mittel- und Durchströmungspunkt, da Entgegengesetztes zusammentreffen kann. Das so vermittelte Entgegengesetzte ist eben absolutes Leben und absolutes Wissen, anders gefaßt: das in sich geschlossene Sein und das Fürsichsein des Daseins. Das daseiende Wissen im Schema des in sich gekehrten Ich weiß, daß es nur Repräsentant Gottes ist, nicht etwa Explikati-
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on oder Emanation des göttlichen Urquells und Geistes selber. Das wahrt die Nicht-Identität von Wissen und absolutem Sein. Zugleich aber gewärtigt sich das Ich als Ort, in welchem das Absolute sich selbst lichtet und repräsentiert. Das wahrt ursprüngliche Identität von absolutem Wissen und absolutem Leben. Also führt das Sich-Besinnen auf sich im Gedanken des Absoluten zu einer Repräsentationseinheit von Identität und Nicht-Identität. Dabei bleibt einerseits die Nicht-Identität in Identität führend, nämlich in der Aufspaltung der einen und selben Welt in die Fünffachheit und Vielheit ihrer Bewußtseinsformen. Andererseits bleibt die Identität in Nicht-Identität gesichert, nämlich in der vollzogenen Besinnung darauf, daß Gott selber im Leben und Lichte der Ichheit wohnt. Diese Formel einer Identität von Identität und Nicht-Identität kommt aus keiner äußerlichen Einmischung Hegelscher Einflüsse zustande. Sie ist Resultat Fichtescher Besonnenheit. »In Summa: Gott selber unmittelbar ist im Ich; u. er ist das Ich; und das Ich ist der gesuchte und unmittelbare Berührungspunkt seiner selbst und seines Existirens« (GA II/9, 249-50). Diese Wiedereinholung der Position von Fichtes ungeschriebener Lehre nach Grundsätzen der W.L. 1805 sollte die Leitthese befestigen, Fichtes Vernunftsystem sei die einzige Vollendungsgestalt des Deutschen Idealismus, die im Systemrausch der Jahrhundertwende transzendental besonnen bleibe. Dagegen hängt an den großen konkurrierenden Systembildungen der Makel der ›Nicht-Besinnung‹. So zählt der Schelling des Identitätssystems nach Fichtes schneidender Abgrenzung zu jenen »neueren Stümpern im Gebiete der Spekulation, die denken, sie hätten recht absolut geredet, und man würde rechten Respekt haben, wenn sie das Wort Absolut recht oft vorbringen. Diesen Dünkel verdanken sie bloß ihrer Nichtbesinnung« (GA II/9, 195). Und das Verdikt der Unbesonnenheit trifft auch die Spekulation Hegels. Das absolute Wissen nämlich ist, kritisch besonnen gedacht, gar nicht Äther und Lebendigkeit, Prozeß und Methode des Absoluten selber, sondern nur repräsentierende Existenz, die sich als solche auf die Nicht-Identität in der Identität von Sein und Bild besinnt. Das mag die Frage nach dem Primat in der Gigantomachie, der Riesenschlacht um Wahrheit und Sein, um absolutes Wissen und Ich-Reflexion in der Hochzeit des Deutschen Idealismus entscheiden. Drückend aber bleibt die Frage: Hat das alles für unser Zeitalter des Wissenschaftspositivismus und des pathologischen Nihilismus mehr als ein antiquarisch-historisches Interesse? Dem wäre im Lichte der vollendeten Wissenschafts-
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lehre und in Beachtung kritischer Besonnenheit die Frage entgegenzuhalten: Ist unser Zeitalter etwa die Epoche vollendeter Nichtbesinnung und erst als solche zureichend philosophisch in Gedanken gefaßt? 2. Abschnitt: Einsichten in das gegenwärtige Zeitalter vollendeter Nicht-Besinnung Unser Zeitalter ist immer noch durchdrungen und beherrscht vom Geist des Positivismus und von Geistern des unvollkommenen, pathologischen Nihilismus. Beide Weltansichten lassen sich durch eine gemeinsame Tendenz charakterisieren. Die richtet sich darauf, eine philosophische Besinnung auf Sein und Einheit des Absoluten abzuschneiden und jedes metaphysische, fundamentalistische ›Gerede‹ dem Sinnlosigkeitsverdacht auszusetzen. Das sollte eigentlich eine Not bemerkbar machen, welche eine Restituierung gründlichen Sich-Besinnens – unter den Bedingungen wachsender Seins-, Welt- und Selbstentfremdung – zu wenden hätte. Dafür ist die vollständige Unbesonnenheit in den Methoden des klassisch-soziologischen und des logischen Positivismus wie in den Gestalten des pathologischen Nihilismus und Antifundamentalismus zur Anzeige zu bringen, um eine ganz und gar unzeitgemäße Untersuchung in Gang zu setzen. 1. Kapitel: Die Besinnungs- und Wahrheitskrise im Geiste des Positivismus Der Geist des Positivismus im Sinne des großen Methodologen Auguste Comte versteht sich als Vollendungsstadium menschlicher Erkenntnis. Dieser Erkenntnisstand ist überzeugt, alle religiösen und metaphysischen Besinnungen auf Gott oder das Absolute unwiederholbar hinter sich zu haben; denn religiöse Erkenntnis sei fiktiv und metaphysische Erkenntnis abstrakt. Konkret seien allein Erkenntnisse, die sich an das positiv Gegebene und präzise Faßbare unserer Welt halten. Das ist im Zeitalter unbesonnener Wissenschaftsgläubigkeit allgemeines Bewußtsein geworden: Unsere Welt ist nichts anderes als das Korrelat der vollendet gedachten positiven Einzelwissenschaften. Und es sind die positiven Wissenschaften, welche ewigen Frieden unter Menschen zu stiften vermögen – mit der Soziologie als ›physique sociale‹ an der Spitze. Und der logische Positivismus sucht die Verwirrungen einer metaphysischen Besinnung auf Sein, Ichheit, Subjekt zu heilen. Er sieht die thera-
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peutische Aufgabe heutigen Philosophierens darin, das Denken strenger positiver Wissenschaften und deren adäquate sprachliche Ausdrücke von metaphysischen Selbstverblendungen und Sprachverwirrungen zu heilen. Das hat Schule gemacht. Das Jahrtausende lang währende Gerede über ›Sein‹ und ›Seiendes‹, ›Nichts‹ und ›Gott‹ entstamme einer Verhexung des Verstandes durch die Sprache und ende mit deren Aufklärung. So bedeuten die Grundwörter ›Gott‹ oder ›das Absolute‹ nicht mehr als die sinnlose Buchstabenfolge ›babig‹. Aussagen darüber können nicht in Protokoll-, Beobachtungs-, Basissätzen untergebracht werden. Gegen Hegels spekulative Logik gewendet: Der ›Gedanke‹ »Das reine Sein und das reine Nichts ist dasselbe« bilde einen Scheinsatz der Art: »Cäsar ist eine Primzahl«. Die verfehlte Anstrengung des philosophischen Begriffs, Sein und Wesen der Dinge auszudrücken anstatt Sinn und Meinung von Sätzen zu klären, falle dahin, und zwar nicht darum, weil solche Aufgabe nicht lösbar wäre, sondern weil es sie überhaupt nicht gibt. Folgerichtig sind auch Sätze wie »Das Sein ist das in sich geschlossene Singulum von Sein und Leben« oder »Absolute Reflexion ist das Sich-Besinnen auf sich im Gedanken des Absoluten« dem Sinnlosigkeitsverdacht zu überliefern und als unkontrollierbar zu beseitigen. Auch die Grundsätze der Wissenschaftslehre seien weder verifizierbar noch falsifizierbar. So erscheint wohl gerade auch die spätere Wissenschaftslehre Fichtes in ihrer variablen Sinnbildsprache, die vom ›Licht‹ oder ›Gesicht‹ oder der ›Sehe‹ eines absoluten Wissens redet und mit ihren merkwürdigen Substantivierungen, die sich sprachlich als das Als, das Durch, das Soll des Soll, das Von des Von ausdrücken, völlig blind gegenüber dem empirischen Sinnkriterium und taub gegenüber einer logisch und grammatisch korrekten Sprache. Solche Spekulation hebe sich selbst auf. Sie sei ahnungslos, begriffsgefangen gegenüber den semantischen Regeln der Sprache in ihrem pragmatischen Sinn und uninteressiert daran, in die Analogie von Sprachgebrauch und ›Sprachspiel‹ einzudringen. Näher zugesehen allerdings hat sich Fichte ausdrücklich gegen solche Berufung auf den gesunden Menschenverstand und auf die Alltagssprache im Kampf gegen jede Art Nicolaitischer Verwachsenheit mit sarkastischem Ernst verwahrt. Er hat sehr wohl das Fundierungsverhältnis von Begriff und Wörtersprache, zumal im Achten auf die symbolisch-metaphorischen Operationen der Sprache, reflektiert. Vor allem aber: seine ›Spekulation‹ hat sich in aller Deutlichkeit auf die Schranken der Sagbarkeit des Seins im thetischen Satz und attributiven Wort besonnen.
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Hartnäckig aber fragt der logische Positivismus weiter: Gebricht es einem metaphysischen Wahrheitsverständnis nicht überhaupt an einer Besinnung auf Wahrheitskriterien, die sowohl notwendig wie hinreichend sind? Das ist im Lichte der drei führenden Wahrheitstheorien des logischen Positivismus – der Konsens-, Diskurs- und Redundanztheorie – wenigstens stichworthaft zu diskutieren. Die Wahrheitsdefinition der Konsenstheorie lautet: »Wahrheit ist ein Geltungsanspruch, den wir mit Aussagen verbinden, indem wir sie behaupten« (J. Habermas, Wahrheitstheorien, 1973, 212). Diese Bestimmung stellt absichtsvoll den Anspruch auf Sein bzw. Wahrsein und Nichtsein bzw. Falschsein des Sachverhaltes, über den etwas ausgesagt wird, beiseite. Damit ist die metaphysische Zweifelsfrage, ob der als wahr behauptete Gegenstand wirklich in der Welt ist oder nicht, abgeblendet. Bei einer Wahrheitsbehauptung geht es definitiv nicht um die Richtigkeit in Urteilen über Gegenstände und objektive Begebenheiten und damit um deren Bewährung bzw. Entwährung durch Erfahrung, die sich in Protokollsätzen oder ›sauberen Atomsätzen‹ ausspricht und auch durch einzel-ichliche Evidenzgewißheit erhärtet. In der Konsenstheorie geht es allein um die Anerkennung der Geltungsansprüche von Behauptungen als solchen durch Austausch triftiger Argumente in idealer Sprechsituation, der einen Konsens über die Berechtigung von Geltungsansprüchen herstellt. Damit schränkt sich das philosophische Wahrheitsproblem auf die Frage ein: Wie kann der Geltungsanspruch von Wahrheitsbehauptungen eingelöst werden? Ausdrücklicher durchstreicht die Kohärenztheorie die metaphysischen Adäquationsprobleme in der Wahrheitsbestimmung. Das gilt insbesondere für die neopositivistische Variante im Rahmen des logischen Empirismus und speziell im Gebiete des Physikalismus des Wiener Kreises. Repräsentativ dafür ist die Definition, die Otto Neurath anbietet: »Richtig heißt eine Aussage dann, wenn man sie eingliedern kann. Was man nicht eingliedern kann, wird als unrichtig abgelehnt« (Physikalismus, 1931, 403). Der Prüfstein für Wahrheit ist die Kohärenz (Eingliederbarkeit) aufgrund der Konsistenz (Widerspruchsfreiheit), Systemkonformität (Kompatibilität mit einem Gesamtzusammenhang) und Komprehensität (Passen in eine umfassende, angeschlossene Einheit). Damit scheidet jede Korrespondenzproblematik aus, welche das Übereinstimmungs- und Entsprechungsverhältnis von Aussage und Tatsache (dem positiven Sachverhalt an sich) betrifft. Zur Frage steht allein die Zusammenstimmung verträglicher bzw. unverträglicher Aussagen in Durchformung wissenschaftlicher Aussagesysteme. Die metaphysikabsti-
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nente Folgerung ist radikal. Alle Wahrheitstheorien außer der Kohärenzhypothese sind Metaphysik. Metaphysik ist sinnlos. Also sind sie samt und sonders ohne Sinn. Noch radikaler im Angriff auf die Feindbegriffe ›Metaphysik‹, ›Spekulation‹, ›Idealismus‹ ist die Redundanztheorie. Die Initialthese von F. P. Ramsay 1927 lautet: »Es gibt in Wirklichkeit kein gesondertes Wahrheitsproblem, sondern nur eine sprachliche Verwirrung (linguistic muddle)« (Facts 16). Das wird 1970 durch das einflußreiche Werk von A. J. Ayer über Sprache, Wahrheit, Logik bestätigt. »In allen Sätzen der Art ›p ist wahr‹ ist die Wendung ›ist wahr‹ logisch überflüssig« (16). Festgestellt wird, daß die metaphysische Aussage »Es ist wahr« keine inhaltliche Weiterung ergibt, sondern sprachanalytisch einen bloß stilistischen Zusatz darstellt, welcher der Aussage pathetisch oder argumentativ Nachdruck verleihen will. Für das Ausgesagte selbst ist der Zusatz »ist wahr« redundant. Das alles läuft auf dieselbe Konsequenz heraus: Die philosophische, transzendentale, spekulative Frage nach Sein und Wahrsein ist schief. Sprachanalytisch umgestellt darf sie nur lauten: Was ergibt die Analyse des Satzes »p ist wahr«? Diese Wende kehrt sich von einer Ersten Philosophie, welche nach dem Wissen des Seins und dem Primat des Wahrseins sucht, ab. Es gebe solches Wahrheitsproblem tatsächlich nicht. Angesichts dieser Präzisierung legt sich die Frage nahe: Fällt der Einwand nicht auf den logischen Positivismus zurück? Der klammert sich an ontisch überprüfbare, logisch konkrete Aussagen, ohne sich auf jene ontologischen Grundsätze und apriorischen Wissensbedingungen zu besinnen, die seiner eigenen Position zuvor- und zugrundeliegen. Stattdessen versteift sich seine kritische Intention darauf, ihnen zuvorliegende Grundbegriffe wie Wissen, Ich, Gegenstand von ihrem angeblich leeren Sprachgebrauch wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurückzuführen. Das ist Therapie ohne zureichende Diagnose. Sie trachtet eben danach, unser Zeitalter endlich von jenen Problemverwirrungen zu heilen, die entstehen, wenn die Alltagssprache feiert (vgl. Wittgenstein: PU 116). Wie aber, wenn dadurch eine transzendental besonnene Ursprungsforschung in der Wurzel abgeschnitten, präzisiert wurde? Wird einer Wissenschaft vom reinen Wissen damit nicht einfach die Zunge abgeschnitten, die nicht in der Alltagssprache des gesunden Menschenverstandes, sondern in einer selbstkritischen Sprache reiner, apriorischer Begriffskonstruktionen spricht? Wird am Ende nicht der Mensch in seiner Vernunftnatur als ein metaphysisches Wesen, das sich einzigartig auf Wahrheit und Sein versteht, verstümmelt?
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Und wie steht es heute, da wir das merkwürdige Schauspiel einer Zeit ohne Metaphysik erleben, die positivistisch wissenschaftsgläubig, metaphysikfeindlich, autoritätskritisch im Zustande halber Aufklärung verharrt, mit der Aufgabe der Philosophie, das Wahre als das Bleibende zu erfassen und das wahrhaft Erfaßte auf das Leben anzuwenden? Wie, wenn für diesen Zeitgeist vollendeter Nichtbesinnung eine Besinnung auf Grundfragen der Menschheit in der Klarheit und mit der Energie der ungeschriebenen Lehre Fichtes doch und durchaus heilsam wäre? 2. Kapitel: Philosophische Besonnenheit wider die Idealismuskritik des pathologischen Nihilismus. Eine unzeitgemäße Betrachtung Offenkundig lassen sich der soziologische, erkenntniskritische Positivismus wie der logische Positivismus und Neopositivismus, so vielseitig sich diese Strömung auch entfaltet hat, als eine Erscheinungsform des unvollkommenen Nihilismus verstehen; denn sie wertet alle platonisch-christlichen Werte nur partiell um. Zwar werden der christliche Platonismus und die von Descartes ausgehende Metaphysik des Idealismus grundsätzlich abgewertet, unvermerkt jedoch und ohne sich darauf zu besinnen, werden zahlreiche überkommene Werte durchaus verwertet. Die polemische Energie solch partieller Umwertung nährt sich von einem ›pathologischen Nihilismus‹. Nietzsche hat dessen Heraufkunft in Europa als beherrschendes Ereignis unserer Jahrhunderte diagnostiziert. Danach ist der pathologische Nihilismus krankhaft unbesonnen. Er ist geradezu darauf fixiert, das System idealistischer Selbstbesinnung als Lug und Trug zu entlarven. Es ist solch krankhafte Fixierung, die den Wahrsagegeist Nietzsches verstört, verrückt und zerstört hat. So wird vor allem das Ich-Subjekt des neuzeitlichen Idealismus als lebensdienliche Fiktion destruiert, die dem Lebe- und Leibwesen Mensch, dem listigsten Tier, hilft, das endlose, zweck-, ziel-, ideen-, seinslose Werden zu bestehen. Präzisierende, die Ideenmetaphysik in ihrer Wurzel abschneidende Nihilisten erklären: »Wir haben nicht das geringste Recht, ein Jenseits oder ein Ansich der Dinge anzusetzen, das ›göttlich‹, das leibhafte Moral sei« (Nachgelassene Fragmente 1877; KSA 12, 571). Damit fallen die Ideen Wahrheit, die Wahrheit als Übereinstimmung von Idee und Ding, ebenso fort wie ein apriorisches Sittengesetz oder der christliche Jenseitsglaube. Nicht zuletzt verschwindet Gott oder das absolute Sein und Leben. Die Fiktion ist abgeschafft, daß Gott die Wahrheit und die Wahrheit gött-
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lich sei. Gott ist für uns tot. »Was geht uns Gott, der Glaube an Gott noch an! ›Gott‹ heut bloß ein verblichenes Wort, nicht einmal mehr ein Begriff!« (Nachgelassene Fragmente 1887; KSA 12, 346). Aber dieser Anschlag Nietzsches auf die Prinzipien des Idealismus ist im Lichte der vollendeten Wissenschaftslehre dreifach zu entkräften. Nietzsche will berichtigen. Das Subjekt im Sinne des cogito (me cogitare), des Ich-denke, des Ich=Ich sei gar nichts Gewisses und unmittelbar Evidentes, sondern etwas Hinzugedichtetes und Dahintergestecktes. Es folge unserer grammatischen Gewöhnung, zu einem Tun einen Täter zu setzen. Wir werden Gott nicht los, weil wir an die Grammatik glauben. – In der Tat: Das ›Subjekt‹ ist kein Tätiges, das als substantia cogitans hinter dem Tun des Vorstellens steckt. Mit der Abwehr der Cartesianischen Folgerung ›Es wird gedacht, folglich gibt es ein Denkendes‹ aber beginnt nicht eine nihilistische Antimetaphysik, sondern die Wissenschaftslehre der Tathandlung. Und diese vollendet sich im Aufstieg zur absolut aktuosen Quelle von Licht und Leben, zu Gott als dem esse in mero actu und als dem unbegreiflich Unsagbaren, da der Glaube an die Grammatik in Besinnung auf das thetische Urteil ›Ich bin‹ aufgekündigt ist. Nietzsche kommt zu spät. Nietzsche will entlarven. Das ›Ich-Subjekt‹ sei wohl notwendige Bedingung für die Möglichkeit gegenständlicher Erkenntnis, gegenständliche Erkenntnis aber sei ihrerseits notwendig für die Möglichkeit der Selbstbehauptung einer bestimmten Lebewesenart, des Menschen. – In der Tat, das Ich-denke ermöglicht objektive Erkenntnis, aber nicht, weil es dem leibhaften Lebewesen Mensch eine Überlebenschance gibt, sondern weil die Gesetze der Ichhandlungen in eins Gesetze der Dinge als Erscheinungen sind und weil die Welt gar nicht Andrang des sinn- und zwecklosen Werdens an sich, sondern sinnbegabte Schöpfung unseres ichhaften Da-Seins und, zu Ende gedacht, Versichtbarung des göttlichen Seins ist. Nietzsche hat den Gedanken der transzendentalen Deduktion nicht durchdrungen und den Schematismus der vollendeten Weltkonstitution im Elemente reinen Wissens als dem einzig-einen Dasein des Seins – wie alle seine Zeitgenossen – gar nicht gekannt. Nietzsche will umwerten. Das sich wissende und wollende Ich sei nicht autonomer Freiheitsgrund, sondern Ausdruck des Lebens. Erkenntnis und Selbsterkenntnis arbeiten überhaupt nicht um einer theoretischen Wahrheit willen, sie seien Werkzeuge der Macht und Organe eines Willens, der die Beständigung des Werdens will, um seiner selbst mächtig zu werden.
2. Abschnitt: Einsichten in das gegenwärtige Zeitalter
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Dieser Wille zur Macht und nichts anderes sei das Wesen des Lebens selbst. – In der Tat, das Streben des Ich-Subjekts ist Ausdruck des Lebens, aber gerade nicht als Vielheit von Trieben, die unaufhörlich dazu antreiben, die Werdewelt zu bewältigen, um sie einem sich selbst ermächtigenden Willen verfügbar zu machen. Der Wille als interpersonaler, geistigsittlicher Aktvollzug weiß, daß er das werden soll, was er immer schon war, nämlich Dasein göttlichen Lebens. Nietzsches radikale Umwertung von Subjektivität und Leben ist blind. Im Grunde manifestiert sich in ihr, mit Kierkegaard zu reden, eine Verzweiflung des Trotzes. Die weigert sich im Trotz des Übermenschen gegen Gott und wider die ›Hinterwelt‹ der Ideen, sich auf das Ursprungsverhältnis von göttlichem Leben und menschlichem Dasein zu besinnen. Solche Verweigerung kennzeichnet wohl auch den Antifundamentalismus, welcher Fundamentalwissenschaften im Stile Descartes’ oder Kants als Flucht aus der Geschichte in ein zeitloses System a priori eruierbarer Bedingungen jeglicher menschlichen Erkenntnis destruiert (vgl. Rorty: Philosophy and the Mirror of Nature, 1979). Und gegenwärtig verbreitete Wendungen gegen eine ›Letztbegründung‹ erklären, es sei weder möglich noch gar notwendig, unsere alltägliche Erfahrung auf ein vernunftbestimmtes Erstes Prinzip zurückzuführen und daraus zu begründen. Indessen, solche Annihilierungen lassen sich im Ernst auf den transzendentalen Gedanken, gar in der Durchdrungenheit und Ausgestaltung von Fichtes ungeschriebener Lehre, gar nicht ein. Und doch ist da die Spiegelmetaphorik des Bewußtseins aufgehoben, und die Prinzipien der Ersten Philosophie sind durchaus auf die Geschichtlichkeit unseres Lebens in Anwendung gebracht.2 Alles in allem dürfte es kaum überflüssig und anachronistisch sein, unser Zeitalter des wissenschaftsgläubigen Positivismus und des unvollkommenen, pathologischen Nihilismus als Zeitalter philosophischer Nichtbesinnung zu überdenken und den Weg eines transzendentalen
2
Vgl. den programmatischen Beitrag von D. Breazeale: Zurück zur Zukunft. Über die Relevanz der Wissenschaftslehre für das Einundzwanzigste Jahrhundert, 2000, der sich mit dem anglo-amerikanischen Antifundamentalismus auseinandersetzt. – M. Gerten: Fichtes Wissenschaftslehre vor der aktuellen Diskussion um die Letztbegründung, 2000; da wird Fichtes Systemgedanke als ein tieferer und konsequenterer Grundansatz in der Diskussion um die Letztbegründung zwischen dem KritischenRationalismus (K. Popper, H. Albert) und der Transzendentalpragmatik (K. O. Apel, W. Kuhlmann) eingebracht.
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Nachschriften
Transzensus zum Ursprunge von Wahrheit, Einheit und Sein wieder begehbar zu machen. Dafür ist nicht nur eine philosophiegeschichtliche Wiedereinholung des Idealismus im Stadium seiner dreifachen Vollendung förderlich, es legt sich eine systematische Anknüpfung an jene Ausarbeitung des Vernunftsystems nahe, welche als einzige die kritische Besonnenheit vorzüglich in vollendeter Reflexion wahrt. Solchen Ansatz energisch weiterzudenken, stellt eine wahrhaft unzeitgemäße Untersuchung in Aussicht: die Ergründung unserer Weltentfremdung (Rousseau – Marx), der Weltentzauberung (Max Weber), der Weltentgötterung (durch unser gottloses, dankloses Geschlecht: Hölderlin), der Entstellung der Erde im ›Gestell‹ moderner Technik (Heidegger) als Symptome philosophischer Nichtbesinnung. Wie nämlich steht es, wenn der Grundzug unseres gegenwärtigen, vom Sein verlassenen, gottverlassenen Zeitalters philosophische Nichtbesinnung wäre? Stünde dann nicht die weiterführende Aufnahme jener geistigen, wissenschaftlichen Grundlegung des reinen Wissens von Sein und Erscheinung, Gott und Welt, Wahrheit und Schein, Einheit und Vielheit auf der Tagesordnung, welche ganz und gar bei transzendental-kritischer Besonnenheit bleibt? Jedenfalls hat Fichte noch am Ende, im Frühjahr 1813, das radikale Sich-Besinnen als bleibender Zustand unseres philosophischen Wissens der Wahrheit gegen alle pseudowissenschaftlichen Weltanschauungen der Nichtbesinnung eingefordert. »Für die Wissenschaftslehre ist dagegen die Besonnenheit [...] der eigentliche – der Eine und der bleibende Zustand« (NW II 3).
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Namenverzeichnis Arendt, H...........................................218, 361 Aristoteles....3, 98, 110, 126, 136, 137, 141, 145, 285, 332, 334 Aschenbach, R...................................153, 361 Asmuth, Ch.. 52, 180, 196, 360, 361, 362, 366, 368, 369 Ayer, A. J.............................................354, 361 Bardili, Ch. G..........24, 46, 175, 257, 258, 339 Barth, R..............................................288, 361 Baum, M................................63, 152, 167, 362 Baumanns, P................102, 162, 176, 310, 362 Baumgardt, D...................................249, 362 Baumgartner, M...............360, 362, 369, 370 Becker, H. J................................................219 Behler, E....................................................360 Beißner, F...................................................359 Bergmann, E......................................217, 362 Beyme, K. F.................................................75 Biemel, W.............................................15, 362 Bladel, L. van.................................70, 73, 362 Boehme, J..................................................362 Brachtendorf, J...................253, 255, 256, 362 Breazeale, D........................................357, 362 Brentano, F. von............................................3 Brown, R. F. ................................................74 Brüggen, M........................................257, 362 Bubner, R..................................................369 Buchner, H...............................................360 Colli, G......................................................360 Comte, A................................................4, 351 Danz, Ch.......................................34, 197, 362 Denker, A.....................................74, 360, 362 Descartes, R........108, 126, 129, 275, 285, 325, 344, 355, 357, 366 Dietzsch, St................................360, 363, 365 Dilthey, W......................................................7 Dostojewski, F..........................................366 Drechsler, J................................................362
Düsing, K...................................142, 273, 363 Ehrhardt, W. E.......................................2, 363 Eichner, H.................................................360 Erdmann, J. E.....................................233, 363 Eschenmayer, C. A...............45, 58, 59, 61, 76 Eucken, R............................................217, 363 Falk, P.........................................256, 302, 363 Feick, H.....................................................359 Fichte, I. H...........................................75, 359 Fink, E..........................................156, 157, 363 Fischer, K................................58, 115, 174, 363 Fleischer, M.......................................285, 363 Frigo, G. F..........................................360, 363 Fuchs, E.......179, 216, 219, 359, 360, 362, 363, 365, 366, 370 Fuhrmans, H........31, 70, 88, 93, 94, 360, 363 Fulda, H. F............118, 126, 360, 363, 365, 367 Gawoll, H.-J................................129, 159, 359 Gerhardt, C. J............................................359 Gerten, M..................................................363 Gilli, F.........................................................337 Giordano Bruno........................................62 Girndt, H....................................191, 259, 363 Gliwitzky, H..............................................359 Glockner, H............................7, 122, 363, 364 Gloy, K........................................195, 363, 364 Goethe, J. W. von........................56, 249, 369 Görland, I............................................26, 364 Götze, M.............................................361, 363 Grätzel, St..................................................366 Greiling, J. Ch...........................................180 Gueroult, M..........................61, 162, 257, 364 Gurwitsch, G............................................364 Habermas, J.......................................353, 364 Haering, Th.......................................116, 364 Hammacher, K....179, 221, 247, 359, 361, 364, 366, 367, 369 Hartmann, E. von..............................90, 364
372
Namenverzeichnis
Haym, R.....................................236, 237, 364 Heidegger, M...3, 5, 8, 13, 14, 15, 98, 206, 226, 340, 358, 359, 361, 362, 364, 369 Heimsoeth, H........................93, 94, 223, 364 Heinrichs, J.........................221, 228, 259, 364 Heintel, E...................................................359 Hennigfeld, J...........................58, 76, 90, 364 Henrich, D.. 136, 344, 360, 361, 362, 363, 364, 367 Herder, J. G................................249, 341, 359 Herrmann, F.-W. von .................14, 359, 364 Heuser-Keßler, M.-L..........................57, 364 Hitler, A.....................................................218 Höffe, O.............................................361, 369 Hoffmeister, J............................................359 Hölderlin, F.......2, 35, 38, 61, 98, 251, 358, 359 Horstmann, R.-P......................................369 Hösle, V................................................13, 364 Hühn, L......................................106, 364, 365 Hülsen, A. W.............................................180 Hyppolite, J.........................................112, 365 Ivaldo, M. 23, 179, 216, 219, 222, 247, 297, 337, 359, 360, 362, 363, 365, 366, 370 Ivanenko, A. A...................................247, 365 Jacobi, F. H..24, 29, 62, 154, 162, 175, 177, 201, 247, 249, 252, 257, 273, 277, 298, 339, 340, 344, 359, 361, 369, 370 Jacobs, W. G........239, 360, 362, 365, 369, 370 Kotzebue, A. von.......................................183 Luden, H.............................................181, 184 Mehmel, G. E. A........................................182 Niethammer, F. I........181, 239, 360, 362, 365, 369, 370 Jaeschke, W.........................359, 361, 365, 370 Jain, E........................................................366 Janke, W.....7, 84, 139, 164, 170, 201, 250, 254, 257, 261, 280, 365 Jean Paul, d. i. J. P. F. Richter...............29, 44 Jürgensen, S........................................48, 366 Kant, I....3, 4, 5, 7, 8, 9, 10, 12, 13, 15, 19, 23, 25, 30, 59, 60, 75, 83, 85, 87, 91, 96, 97, 98, 103, 104, 105, 119, 124, 126, 128, 132, 133, 138, 141, 142, 152, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 162, 163, 166, 180, 181, 182, 188, 195, 225, 227, 230, 232, 239, 246, 247, 248, 249,
250, 252, 262, 263, 266, 277, 282, 285, 289, 295, 296, 297, 306, 310, 320, 322, 324, 331, 332, 335, 343, 344, 357, 359, 361, 362, 363, 364, 366, 367, 369 Kierkegaard, S.....6, 18, 109, 111, 136, 139, 147, 150, 280, 357, 365, 369 Klein, H.-D................................................363 Knittermeyer, H.........................................93 Kodalle, K.-M............................217, 222, 366 Koktanek, A. M.................................361, 362 Köppen, F..................................................359 Krings.......................................................360 Kroner, R......................................13, 162, 366 Krug, T........................................195, 250, 295 Kumamoto, Ch.................................261, 366 Kumamoto, Y.....................................337, 366 Land, J. P. W.. 132, 135, 189, 216, 219, 228, 360, 366 Lasson, G...................................................359 Lauth, R........ 26, 36, 46, 58, 78, 182, 188, 216, 221, 223, 229, 231, 247, 258, 259, 318, 319, 359, 366 Leese, K...............................................94, 366 Leibniz, G. W....51, 74, 85, 102, 203, 238, 244, 252, 329, 359 Lenin, W. I...............................4, 155, 156, 359 Leyser Brogi, J...........................................219 Loewe, J. H................................................366 Lübbe, H............................................216, 366 Lucas, H.-Ch......................................361, 363 Luden, H...................................................186 Lütterfelds, W....................................284, 367 Marheineke, Ph. K.....................................86 Marquard, O.....................................160, 367 Marx, K.......6, 18, 366, 109, 155, 156, 278, 358 Marx, W. ............................................122, 367 Meckenstock, G.................................257, 367 Medicus, F.................................................367 Meier, F................................................26, 367 Mendlewitsch, D...............................218, 367 Menzer, P............................................218, 367 Metz, W..............................................221, 367 Michel, K. M.............................................359 Minobe, H.........................................272, 367 Moldenhauer, E........................................359
Namenverzeichnis Montinari, M............................................360 Moretto, G.........................................179, 360 Mues, A.........179, 361, 362, 365, 366, 367, 369 Nagasawa, K..............................324, 359, 367 Natorp, P.............................................217, 367 Neurath, O.........................................353, 367 Neuser, W.............................................55, 367 Nicolai, F.....21, 27, 28, 29, 85, 86, 87, 177, 179, 339, 352, 360 Niethammer, F. I.................................38, 180 Nietzsche, F..3, 4, 5, 6, 8, 18, 111, 156, 285, 355, 356, 357, 360 Nordalm, J..........................................217, 367 Novalis, d. i. F. von Hardenberg....2, 61, 201, 216 Oesterreich, P. L.................176, 228, 231, 367 Oiserman, T.......................................155, 367 Okada, K.............................................30, 367 Omine, A...........................................272, 367 Paulus, H. E. G............................................88 Pesch, R..............................................218, 367 Philonenko, A.....................................61, 367 Pieper, A....................................................361 Platon.3, 4, 6, 12, 48, 49, 51, 58, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 69, 70, 74, 75, 83, 84, 86, 91, 104, 110, 126, 142, 145, 177, 227, 232, 244, 250, 256, 261, 262, 264, 269, 284, 285, 294, 296, 316, 355, 366 Pöggeler, O........................7, 116, 118, 361, 367 Radrizzani, I.....................................220, 368 Rametta, G........................................295, 368 Reinhold, C. L.....24, 25, 46, 63, 175, 257, 258, 339, 360 Rockmore, T.......................................98, 368 Rorty, R..............................................357, 368 Rosenau, H........................................279, 368 Roth, F........................................................359 Rothermel, O....................................206, 368 Rousseau, J. J..............................224, 358, 365 Salat, J........................................................196 Sandkaulen, B...............30, 252, 361, 368, 370 Schad, J. B.........................................27, 28, 29 Schelling, K. F. A......................................360 Schieche, W...............................................359 Schlegel, A. W...............................................2
373
Schlegel, F.....2, 8, 28, 29, 61, 70, 72, 196, 201, 204, 205, 206, 360, 368, 370 Schlösser, U................................257, 290, 368 Schmidt, J...........................................136, 368 Schmied-Kowarzik, W......................193, 368 Schopenhauer, A......................6, 89, 90, 364 Schottky, R.........................................179, 359 Schrader-Klebert, K.........................150, 368 Schrader, W. H....................179, 216, 359, 368 Schröter, M........................................360, 361 Schulte, G...........................................325, 368 Schulz, W..........31, 33, 34, 88, 93, 94, 359, 368 Schurr, A...............................................11, 368 Schüßler, I.....................................6, 259, 368 Sell, A..................................................171, 368 Seubert, H..........................................361, 369 Siemek, M. J................................................30 Siep, L.........................................257, 259, 369 Sombart, W........................................217, 369 Spinoza, B.. .8, 10, 12, 23, 25, 28, 32, 33, 45, 47, 48, 49, 50, 57, 74, 75, 79, 93, 123, 126, 145, 169, 170, 200, 201, 230, 232, 241, 245, 246, 247, 248, 249, 250, 251, 252, 253, 254, 255, 260, 272, 294, 295, 299, 310, 317, 324, 342, 346, 360, 361, 362, 364, 365, 366, 368, 369, 370 Stolzenberg, J.................................14, 61, 369 Strube, C......................................14, 359, 369 Theunissen, M...................................153, 369 Thulstrup, N......................................139, 369 Tilliette, X...........................18, 46, 61, 95, 369 Timm, H....................................201, 249, 369 Traub, H......176, 179, 196, 220, 231, 258, 360, 367, 369 Treitschke, H. von............................216, 360 Trendelenburg, A........136, 137, 138, 139, 140, 360, 368 Tugendhat, E.....................................138, 369 Vater, M...........66, 69, 99, 216, 228, 342, 360 Vaysse, J.-M........................................98, 369 Verweyen, H.....................................196, 369 Vetö, M................................................96, 369 Vloten, J. van............................................360 Volkmann-Schluck, K. H....90, 113, 122, 369 Vos, L. de............................................129, 370
374
Namenverzeichnis
Wagner, R..................................................5, 6 Walther, M.................................361, 364, 365 Widmann, J...........................36, 257, 281, 370 Wieland, W........................................138, 370 Wild, Ch..............................................26, 370 Willms, B...........................................227, 370 Wimmershoff, H................................70, 370 Windelband, W.................................174, 370
Wittgenstein, L.................................354, 360 Wundt, M.....................................84, 237, 370 Wundt, W...........................................174, 236 Zeltner, H...........................48, 55, 58, 96, 370 Zimmerli, W. Ch..........................57, 367, 370 Zimmermann, R. E.............................57, 370 Zöller, G.......................................23, 247, 370