Scan, Korrektur und Layout Leseratten 01.08.2003
Das Buch Durch Edgar Allan Poe fand das Genre der phantastischen Grus...
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Scan, Korrektur und Layout Leseratten 01.08.2003
Das Buch Durch Edgar Allan Poe fand das Genre der phantastischen Gruselgeschichte auch literarische Anerkennung. George Langelaan hat diese Kunstform in unseren Tagen um wesentliche Dimensionen bereichert. Seine Erzählung >Die Fliege< gilt zu Recht als eine der schaurigsten Geschichten unseres Jahrhunderts: Einem Forscher gelingt es, Gegenstände und Lebewesen in Atome aufzulösen und ihnen dann ihre ursprüngliche Gestalt zurückzugeben. Doch bei einem Selbstversuch gerät eine Fliege in die Versuchskabine und beeinflußt in unheimlicher Weise den Ausgang des Experiments . . . Neben dieser und anderen Science-fiction-Geschichten stehen solche, in denen geheime Wünsche plötzlich in Erfüllung gehen, böse Gedanken erschreckende Wirklichkeit werden. Langelaan erzählt sachlich, fast unterkühlt und nicht ohne Humor. Aber gerade deswegen wird der Leser das Unmögliche für möglich halten und sich bisweilen einer wohlig-schaurigen Gänsehaut nicht erwehren können.
Der Autor George Langelaan, 1908 in Paris geboren, begann seine berufliche Laufbahn als Lokalreporter in einer amerikanischen Kleinstadt, stieg zum Korrespondenten der >New York Times< auf und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg Chef eines großen Pressebüros in Paris. Vom Journalismus führte ihn der Weg zur Literatur. Seine Novelle >Die Fliege< trug ihm einen amerikanischen Literaturpreis ein und wurde als erste von mehreren seiner Geschichten verfilmt.
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George Langelaan: Die Fliege und andere Erzählungen aus der phantastischen Wirklichkeit Deutsch von Karl Rauch
Deutscher Taschenbuch Verlag
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1. Auflage Juli 1965 4. Auflage Juni 1980: 43. bis 52. Tausend Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Scherz Verlags, Bern und München; die Erzählung >Tote Zeit< wurde in die vorliegende Taschenbuchausgabe nicht aufgenommen ©1962 George Langelaan Titel der Originalausgabe: >Nouvelles de l'Anti-Monde < (Robert Laffont, Paris) ©1963 der deutschsprachigen Ausgabe: Scherz Verlag, Bern und München Umschlaggestaltung: Celestino Piatti Gesamtherstellung: C. H. Beck'sche Buchdruckerei, NördlingenPrinted in Gemany • ISBN 3-423-01858-5 4
Inhalt
Die Fliege 6 Der Sturz ins Vergessen 34 Gang zurück 45 Das Mädchen aus Nirgendwo 58 Der störrische Tiger 78 Das Wunder 86 Die andere Hand 99 Die Runde für den Teufel 115 Denkende Roboter 125 Der letzte Überseeflug 157
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Die Fliege Für Jean Rostand, der mit mir einmal ausführlich über Mutationen gesprochen hat Vorm Klingeln habe ich immer Angst gehabt. Selbst bei Tage, am Schreibtisch, nehme ich den Hörer immer mit einem gewissen Unbehagen ab. Aber nachts, besonders wenn ich im tiefen Schlafe davon überrascht werde, löst das Klingeln des Telefons in mir eine geradezu tierische Panik aus, die ich bezwingen muß, bevor ich meine Bewegungen hinreichend koordinieren kann, um Licht zu machen, aufzustehen, hinzugehen und den Hörer abzunehmen. Es bedeutet für mich eine weitere Anstrengung, mit ruhiger Stimme zu sagen: »Hier spricht Arthur Browning«; aber normal werde ich erst dann wieder, wenn ich die Stimme am anderen Ende des Drahts erkenne, und ich bin nicht eher wirklich beruhigt, als bis ich schließlich weiß, worum es sich handelt. Dennoch fragte ich mit großer Ruhe meine Schwägerin, wie und weshalb sie meinen Bruder getötet habe, als sie mich eines Morgens um zwei Uhr anrief, um mir den Tod ihres Mannes durch ihre Hand mitzuteilen und mich zu bitten, doch rasch die Polizei zu rufen. »Ich kann dir das am Telefon nicht alles erklären, Arthur! Ruf die Polizei, und dann komm rasch her!« »Vielleicht wäre es besser, wenn ich dich vorher sprechen könnte.« »Nein, ich glaube, es ist besser, zunächst die Polizei zu verständigen. Sonst kommen sie nur auf falsche Gedanken und stellen dir wer weiß welche Fragen . . . Es wird ihnen sowieso schwerfallen, zu glauben, daß ich es ganz allein getan habe. Vor allem muß man ihnen sagen, daß Bobs Leiche sich in der Fabrik befindet. Vielleicht wollen sie dorthin, ehe sie kommen, mich zu holen.« »Du sagst, Bob liegt in der Fabrik?« »Ja, unter dem Preßlufthammer.« »Hast du gesagt . . . Preßlufthammer?« »Ja, aber stell nicht so viele Fragen! Komm, komm schnell, bevor ich die Nerven verliere! Ich habe Angst, Arthur; versteh doch, ich habe Angst!« Und erst nachdem sie aufgelegt hatte, bekam ich meinerseits Angst. Ich hatte zugehört und geantwortet, als handelte es sich um eine einfache geschäftliche Angelegenheit, und nun erst begann ich zu verstehen und mir klarzumachen, was ich gehört hatte. Wie vor den Kopf geschlagen warf ich die Zigarette weg, die ich mir hatte anzünden müssen, während ich mit Anne sprach, und mit 6
klappernden Zähnen wählte ich die Nummer der Polizei. Befanden Sie sich je in der Lage, einem schläfrigen Polizisten klarmachen zu müssen, daß Ihre Schwägerin Ihnen soeben angezeigt hat, sie habe Ihren Bruder mit Hilfe eines Preßlufthammers umgebracht ? »Jawohl, mein Herr, ich verstehe Sie genau. Aber wer sind Sie denn? Ihr Name? Ihre Anschrift?« In dem Augenblick ergriff am anderen Ende der Leitung Inspektor Twinker den Hörer und nahm die Sache in die Hand. Er wenigstens schien begriffen zu haben. Er bat mich, ihn zu erwarten. Ja, er würde mich zu meinem Bruder begleiten. Ich hatte gerade noch Zeit gehabt, in eine Hose und einen Pullover zu schlüpfen, mir ein altes Jackett überzuziehen und eine Mütze aufzusetzen, als ein Wagen vor der Tür hielt. »Sie haben einen Nachtwächter in der Fabrik, Mr. Browning ? « fragte mich der Inspektor beim Anfahren. »Hat er Sie nicht angerufen?« »Ja . . . Nein. Das ist wirklich merkwürdig. Zwar konnte mein Bruder durch sein Labor in die Fabrik kommen, wo er oft noch sehr spät abends arbeitete, zuweilen die ganze Nacht hindurch. « »Sir Robert Browning arbeitete aber nicht mit Ihnen zusammen?« »Nein, mein Bruder führte Forschungsarbeiten fürs Luftfahrtministerium durch. Da er Ruhe brauchte und ein Labor haben wollte, das dicht bei einem Ort lag, wo man ihm allerlei Gegenstände zusammenbasteln konnte, große und kleine, hatte er sich in dem ersten Haus eingerichtet, das unser Großvater auf dem kleinen Hügel neben der Fabrik hatte bauen lassen. Ich hatte ihm eine der alten Werkstätten geschenkt, die wir nicht mehr benützen, und genau nach seinen Anweisungen hatten sie meine Arbeiter in ein Labor umgebaut.« »Wissen Sie genau, worin die Forschungen von Sir Robert bestanden haben?« »Er sprach nur sehr wenig über seine Arbeiten; sie sind geheim, aber das Luftfahrtministerium muß darüber Bescheid wissen. Ich weiß nur, daß er im Begriff war, einen Versuch abzuschließen, dem seit mehreren Jahren sein ganz besonderes Interesse galt. Ich glaube verstanden zu haben, daß es sich um den Zerfall und die Wiederzusammensetzung von Materie handelte.« Ohne die Geschwindigkeit wesentlich herabzusetzen, fuhr der Inspektor in den Hof der Fabrik hinein und hielt neben dem Polizisten an, der ihn bereits zu erwarten schien. Ich brauchte die Bestätigung des Polizisten nicht abzuwarten. Ich wußte – seit Jahren, schien es mir – daß mein Bruder tot war, und ich stieg mit wackeligen Beinen, wie ein Genesender bei seinem ersten Ausgang, aus dem Wagen des Polizeiinspektors. Aus dem Dunkel heraustretend, kam ein weiterer Polizist auf uns zu und führte uns in eine hell erleuchtete Werkstatt. Andere Polizisten 7
standen um den Preßlufthammer herum, bei welchem drei Männer in Zivil kleine Scheinwerfer aufstellten. Ich sah den Fotoapparat gegen den Boden gerichtet und mußte mich bemühen, meine Augen ebenfalls dorthin zu richten. Es war viel weniger schlimm, als ich gedacht hatte. Mein Bruder lag auf dem Bauch und schien zu schlafen. Sein Körper lag etwas quer über den beiden Schienen, auf denen die Stücke entlanggeschoben wurden, die unter den Hammer sollten. Man hätte denken können, sein Kopf und sein rechter Arm seien in die Metallmasse des Hammers eingedrungen; es erschien unmöglich, daß sie zerdrückt, daß sie darunter plattgedrückt wären. Nachdem sich Inspektor Twinker einige Augenblicke mit seinen Kollegen besprochen hatte, kam er zu mir zurück. »Wie kann man den Hammer heben, Mr. Browning?« »Ich werde ihn betätigen.« »Wollen Sie, daß wir einen Ihrer Arbeiter holen?« »Nein, es geht auch so. Sehen Sie, hier ist der Schalttisch! Der Hammer war auf 50 Tonnen eingestellt, und sein Fall auf Null.« »Auf Null?« »Ja, auf Fußbodenhöhe, wenn Sie so wollen. Schließlich war er noch auf getrennte Schläge eingestellt, das heißt, er mußte nach jedem Schlag neu gehoben werden. Ich weiß nicht, was Lady Anne Ihnen sagen wird, aber ich bin sicher, daß sie nicht gewußt hat, wie man den Hammer so einstellt.« »Vielleicht war er gestern abend schon so eingestellt.« »Bestimmt nicht. In der Praxis stellt man den Aufschlag nie auf Null ein.« »Kann man ihn langsam hochheben?« »Nein, man kann die Hebegeschwindigkeit nicht einstellen. Sie ist jedoch bei getrennten Schlägen nicht so schnell wie bei wiederholten Schlägen.« »Gut. Wollen Sie den Hammer jetzt heben? Es wird nicht gerade schön anzusehen sein.« »Nein, Herr Inspektor. Aber es wird schon gehen.« »Fertig?« fragte der Inspektor die andern. »Wenn Sie es jetzt tun wollten, Mr. Browning, bitte!« Die Augen auf den Rücken meines Bruders geheftet, drückte ich den dicken schwarzen Knopf ganz durch, der den Hammer wieder hochgehen ließ. Dem langen Pfeifen, das mich immer an einen Riesen denken ließ, der vor einer Anstrengung tief Luft schöpft, folgte das weiche elastische Hochgehen der Stahlmasse. Ich hörte das Sauggeräusch, das beim Abheben entstand, und hatte für einen Augenblick panische Angst, als ich den Körper meines Bruders sich nach vorne bewegen sah, während ein Blutschwall den bräunlichen Brei überströmte, den der Hammer 8
freigegeben hatte. »Besteht keine Gefahr, daß der Hammer zurückfällt, Mr. Browning?« »Nein, gar keine!« sagte ich, indem ich den Sicherungsriegel vorschob. Und während ich mich umwandte, spie ich das ganze Abendessen wieder aus, einem jungen Polizisten vor die Füße, der das gleiche tat. Während mehrerer Wochen und hernach noch monatelang erforschte Inspektor Twinker zäh und vergeblich den Tod meines Bruders. Später gestand er mir, daß er mich lange Zeit in Verdacht gehabt hätte, aber er hatte nie auch nur die mindeste Bestätigung seines Verdachtes finden können, nicht das kleinste Indiz, nicht einmal ein Motiv. Obwohl sie bemerkenswert ruhig war, wurde Anne für wahnsinnig erklärt, und es gab keinen Prozeß. Meine Schwägerin hatte sich des Mordes an ihrem Manne angeklagt und hatte bewiesen, daß sie den Preßlufthammer tadellos bedienen konnte. Sie hatte sich jedoch geweigert zu sagen, weshalb sie ihren Mann getötet hatte und wie er von allein dazugekommen war, sich unter den Hammer zu legen. Der Nachtwächter hatte den Hammer deutlich arbeiten hören; er hatte ihn sogar zweimal niedergehen hören. Der Zähler, der nach jedem Arbeitsgang auf Null zurückgestellt wurde, zeigte tatsächlich an, daß er zweimal gearbeitet hatte. Meine Schwägerin hatte jedoch behauptet, ihn nur einmal bedient zu haben. Inspektor Twinker hatte sich vor allem gefragt, ob das Opfer auch wirklich mein Bruder war, aber verschiedene Narben, darunter diejenige einer Kriegsverletzung am Schenkel, und die Fingerabdrücke der linken Hand ließen keinen Zweifel zu. Die Autopsie zeigte hernach, daß er vor seinem Tode keinerlei Drogen eingenommen hatte. Was seine Arbeit betrifft, kamen Fachleute des Luftfahrtministeriums, durchsuchten seine Papiere und nahmen einige Instrumente aus seinem Labor mit. Sie hatten lange Unterredungen mit Inspektor Twinker und sagten ihm, mein Bruder habe alle seine Papiere und die interessantesten Instrumente selber vernichtet. Die Fachleute des Polizeilaboratoriums erklärten, daß Bobs Kopf im Augenblick seines Todes umwickelt gewesen sei, und Twinker brachte eines Tages ein zerfetztes Stück Stoff, das ich als die ehemalige Decke eines Tisches in seinem Labor erkannte. Anne war in die Anstalt von Broadmoore überführt worden, wohin man alle kriminellen Irren zu bringen pflegte. Ihr Sohn Harry, der sechs Jahre alt war, war mir übergeben worden, und es wurde verfügt, daß ich ihn behalten und erziehen sollte. Ich konnte Anne jeden Samstag besuchen. Zwei- oder dreimal begleitete mich Inspektor Twinker, und ich hörte, daß er sogar allein bei ihr gewesen war. Aber man konnte nie etwas aus meiner Schwägerin 9
herausbringen, sie schien gegen alles gleichgültig geworden zu sein. Sie antwortete sehr selten auf meine Fragen und fast niemals auf die von Twinker. Sie tat ein wenig Näharbeit, aber ihre Lieblingsbeschäftigung schien es zu sein, Fliegen zu fangen, die sie sorgfältig betrachtete, bevor sie sie wieder freiließ. Sie hatte nur einen wirklichen Anfall – einen Nervenzusammenbruch eher als einen Wahnsinnsanfall – an dem Tage, als sie sah, wie eine Krankenschwester eine Fliege mit einem Taschentuch tötete. Man hatte ihr sogar Morphium geben müssen, um sie zu beruhigen. Man hatte mehrfach Harry zu ihr geführt. Sie sprach sehr freundlich mit ihm, aber sie zeigte ihm gegenüber nicht die mindeste Zuneigung. Sie interessierte sich für ihn, wie man sich für einen kleinen unbekannten Buben interessiert. An dem Tage, da Anne den Zusammenbruch wegen der umgebrachten Fliege gehabt hatte, kam Inspektor Twinker mich besuchen. »Ich bin überzeugt, daß wir hier den Schlüssel zu dem Geheimnis haben.« »Ich sehe keinerlei Zusammenhang. Die arme Lady Anne hätte sich genausogut für etwas anderes interessieren können. Ihr Wahnsinn konzentriert sich nun einmal auf Fliegen.« »Glauben Sie, daß sie wirklich wahnsinnig ist?« »Wie können Sie daran zweifeln, Twinker?« »Schauen Sie, trotz allem, was die Ärzte sagen, habe ich den Eindruck, daß Lady Browning völlig klar im Kopf ist, sogar dann, wenn sie eine Fliege sieht.« »Wenn man dies annimmt, wie soll man sich dann die Haltung gegenüber ihrem Sohn erklären?« »Dafür gibt es zwei Möglichkeiten; entweder will sie ihn schützen oder sie fürchtet ihn. Vielleicht verabscheut sie ihn auch.« »Das verstehe ich nicht.« »Haben Sie bemerkt, daß sie niemals Fliegen fängt, wenn er da ist?« »Das stimmt tatsächlich – sehr merkwürdig. Aber ich gestehe, daß ich immer noch nichts begreife.« »Ich auch nicht, Mr. Browning. Und ich fürchte sehr, wir werden nie etwas erfahren, solange Lady Browning nicht gesund wird.« »Die Ärzte haben keinerlei Hoffnung, sie zu heilen.« »Ja, das weiß ich. Ist Ihnen bekannt, ob Ihr Bruder jemals Versuche mit Fliegen gemacht hat?« »Ich glaube nicht. Haben Sie diese Frage den Fachleuten vom Luftfahrtministerium gestellt?« »Ja. Sie haben mir ins Gesicht gelacht.« »Das kann ich mir denken.« »Sag mal, Onkel Arthur, leben Fliegen lange?« 10
Wir saßen beim Frühstück, und mein Neffe unterbrach mit seiner Frage ein langes Schweigen. Ich schaute über meine >Times<, die ich gegen die Teekanne gelehnt hatte, zu ihm hin. Wie die meisten Kinder seines Alters hatte Harry die Sucht, fast möchte ich sagen die Begabung, Fragen zu stellen, auf die Erwachsene nie genaue Antworten geben können. Harry stellte mir viele solcher Fragen, immer im Augenblick, da ich sie am wenigsten erwartete, und wenn ich zuweilen das Pech hatte, eine seiner Fragen richtig beantworten zu können, folgte ihr sofort eine nächste, dann wieder eine und noch eine, bis zu dem Augenblick, wo ich mich geschlagen geben und erklären mußte, daß ich es nicht wüßte. Dann sagte er wie ein großer Tennisspieler, der seinen Ball über das Netz schmettert: »Warum weißt du es nicht, Onkel?« Dies war jedoch das erste Mal, daß er mit mir von Fliegen sprach, und ich schauderte bei dem Gedanken, daß Inspektor Twinker hier gewesen sein könnte. Ich stellte mir genau den Blick vor, den er mir dabei zugeworfen hätte, und sagte nicht ohne ein gewisses Unbehagen die Worte vor mich hin, die er bestimmt ausgesprochen haben würde. »Ich weiß es einfach nicht, Harry. Weshalb fragst du mich das?« »Weil ich die Fliege gesehen habe, die Mama suchte.« »Deine Mutter suchte eine Fliege?« »Ja, sie ist größer geworden, aber ich hab sie genau wiedererkannt.« »Wo hast du diese Fliege gesehen, und was ist denn Besonderes an ihr?« »Auf deinem Schreibtisch, Onkel Arthur. Sie hat einen weißen Kopf statt eines schwarzen Kopfes, und so ein komisches Bein.« »Wann hast du diese Fliege das erste Mal gesehen, Harry?« »An dem Tage, als Papa abreiste. Sie war in seinem Zimmer, und ich hatte sie gefangen, doch Mama kam und sagte, ich müsse sie freilassen. Aber nachher wollte sie, daß ich sie wiederfinde. Ich glaube, sie hatte sich anders besonnen und wollte sie sehen.« »Ich denke, die muß doch schon lange tot sein«, sagte ich, während ich mich erhob, um langsam zur Tür hinauszugehen. Aber sobald ich sie hinter mir geschlossen hatte, war ich mit einem Satz bei meinem Schreibtisch, wo ich vergeblich nach der Spur einer Fliege suchte. Die Äußerungen meines Neffen und die Sicherheit, mit der Inspektor Twinker behauptete, daß die Fliegen mit dem Tode meines Bruders in einem Zusammenhang stunden, hatten mich zutiefst verwirrt. Zum ersten Male fragte ich mich, ob er nicht mehr wußte, als er vermuten ließ. Und ebenfalls zum ersten Male fragte ich mich, ob meine Schwägerin wirklich wahnsinnig sei. Ein unerklärliches Wahnsinnsdrama, so unerklärlich und gräßlich es sein mochte, war wenigstens denkbar – der Gedanke aber, daß meine Schwägerin in 11
vollem Besitz ihrer Geisteskräfte meinen Bruder auf eine so furchtbare Art hatte umbringen können – mit oder ohne seine Zustimmung – ließ mir den kalten Schweiß ausbrechen. Was konnte bloß der schreckliche Grund zu diesem ungeheuerlichen Verbrechen sein? Wie hatte es sich tatsächlich abgespielt ? Ich überdachte noch einmal alle Antworten Annes auf die Fragen von Inspektor Twinker. Er hatte ihr Hunderte von Fragen gestellt. Anne hatte in völliger Klarheit auf alle Fragen geantwortet, die sich auf ihr Zusammenleben mit meinem Bruder bezogen – ein glückliches Zusammenleben, ohne irgendwelche Komplikationen, schien es. Als feinfühliger Psychologe war Twinker sehr erfahren und hatte die Gewohnheit, Lügen geradezu zu riechen, sie zu ahnen. Wie ich selber, war er sicher gewesen, daß Anne auf Fragen, die sie beantworten wollte, ehrlich geantwortet hatte. Aber es gab eine Reihe von Fragen, auf welche sie keine Antwort gegeben und welche sie immer mit den gleichen Worten abgewiesen hatte. »Ich kann diese Frage nicht beantworten«, sagte sie einfach und stets vollkommen ruhig. Die Wiederholung der gleichen Frage schien ihr niemals lästig zu sein. Nicht ein einziges Mal im Verlauf zahlreicher Befragungen hatte sie dem Inspektor gegenüber bemerkt, daß er ihr eine Frage bereits einmal gestellt hatte. Sie begnügte sich damit, zu erklären: »Ich kann diese Frage nicht beantworten.« Diese Formel war zur großen Mauer geworden, die zu durchbrechen Twinker nicht gelungen war. Er konnte sich lange Mühe geben, das Thema zu wechseln, Fragen zu stellen, die mit dem Drama in keinerlei Zusammenhang standen – ohne jemals nervös zu werden, hatte Anne stets ruhig und höflich geantwortet. Aber sobald eine Frage auch nur von ungefähr das furchtbare Ereignis streifte, stieß er auf die Mauer dieses: »Ich kann diese Frage nicht beantworten.« Zweifellos in der Absicht, daß niemand außer ihr in Verdacht käme, hatte Anne selbst den Nachweis erbracht, wie sie den Preßlufthammer betätigt hatte. Sie hatte uns bewiesen, daß sie ihn sehr wohl in Betrieb setzen, seine Stärke und die beabsichtigte Schlaghöhe einstellen konnte, und als der Inspektor bemerkte, daß dies alles nicht als Beweis dafür ausreiche, daß sie es war, die ihren Mann getötet hatte, hatte sie uns genau erklärt, wo sie ihre linke Hand aufgestützt hatte, nämlich gegen einen Pfosten am Schalttisch, während sie die Knöpfe mit der rechten Hand bediente. »Ihre Fachleute müssen dort meine Fingerabdrücke finden«, hatte sie einfach hinzugefügt. Und ihre Abdrücke wurden tatsächlich an der bezeichneten Stelle gefunden. Twinker hatte unter ihren Antworten keine einzige Lüge entdecken 12
können. Anne behauptete, daß sie den Hammer nur ein einziges Mal betätigt habe, während der Wächter erklärt hatte, ihn zweimal gehört zu haben, und der Zähler, der am Tagesende auf Null gestellt worden war, zeigte nach dem Unglück »2« an. Twinker hatte einen Augenblick gehofft, die Sperre ihres Schweigens auf Grund dieses ihres Irrtums brechen zu können. Aber mit der größten Ruhe der Welt hatte Anne eines schönen Tages dieses Loch in der von ihr errichteten Mauer gestopft und erklärt: »Ja, ich habe gelogen, ich weiß nicht, weshalb ich gelogen habe.« »Und dies ist Ihre einzige Lüge?« hatte Twinker sofort weitergefragt, wobei er glaubte, sie unsicher zu machen. Aber anstatt mit ihrer üblichen Formel hatte Anne geantwortet: »Ja, es ist meine einzige Lüge.« Und Twinker war sich bewußt, daß Anne den einzigen Riß in ihrer Verteidigungsmauer auf sehr geschickte Art geschlossen hatte. Ich empfand ein zunehmendes Entsetzen vor meiner Schwägerin. Wenn sie nicht wahnsinnig war, so simulierte sie den Wahnsinn, um einer Strafe zu entgehen, die sie hundertfach verdient hatte. Twinker hatte recht, die Fliegen hatten etwas mit dem Unglück zu tun – zumindest dies, daß sie als Vorwand zu dem simulierten Wahnsinn dienten. Wenn sie aber wirklich wahnsinnig war, mußte Twinker doch wieder recht haben, denn die Fliegen mußten der Schlüssel sein, der vielleicht einem Psychiater gestatten würde, die anfängliche Ursache, die zu der Tat geführt hatte, zu entdecken. Da ich mir sagte, daß Twinker diese Dinge sicher besser als ich entwirren könne, hatte ich einen Augenblick daran gedacht ihm alles zu erzählen. Aber der Gedanke, daß er nicht zögern würde, sich auf Harry zu stürzen, um ihn mit Fragen zu quälen, hatte mich zurückgehalten. Und noch ein weiterer Grund hielt mich zurück, ein Grund, über den ich mir vorher nie klargeworden war: ich hatte Angst, daß er die Fliege suchen und finden könnte, von welcher der Junge gesprochen hatte. Aber dieser letztere Gedanke ärgerte mich, denn ich konnte nicht begreifen, warum ich Angst hatte, daß man die Fliege fände. Ich dachte an alle die Kriminalromane, die ich zu verschiedenen Zeiten meines Lebens gelesen hatte. Selbst in ihren verwickeltsten Geheimnissen sind diese – trotz allem – logisch. Hier jedoch gab es keine Logik, nichts, das zueinander gepaßt hätte. Alles war von bemerkenswerter Einfachheit, und doch war alles Geheimnis. Es gab keinen Schuldigen zu entlarven; Anne hatte ihren Mann getötet, sie hatte es niemals verhohlen und sogar bewiesen, wie sie ihn getötet hatte. Natürlich kann man nicht hoffen, in einer Wahnsinnstat Logik zu entdecken, aber wenn man annahm, daß es sich um eine Wahnsinnstat handelte, wie konnte dann die so außerordentlich passive Haltung des Opfers erklärt werden ? 13
Mein Bruder war ein Gelehrter, der sich nur auf die Vernunft stützte und die Intuition verabscheute. Manche Gelehrte arbeiten Theorien aus, die sie hinterher durch Beweise zu belegen bemüht sind; sie stürzen sich ins Unbekannte, auf die Gefahr hin, eine vorgeschobene Position für eine andere aufgeben zu müssen, wenn die zusammengetragenen Versuche hernach nicht darauf hinauslaufen, die gewählte Position zu festigen. Mein Bruder dagegen war genau der Typ des mißtrauischen Gelehrten, der immer von feststehenden, durch und durch bewiesenen Tatsachen ausgeht. Er war in seinen Forschungen gedanklich einem zu führenden Beweis, einem Versuch selten voraus. Er hatte nichts von dem zerstreuten Gelehrten an sich, der sich vom Regen durchnässen läßt, während er doch einen zusammengerollten Schirm bei sich trägt; er war im Gegenteil sehr menschlich, liebte Kinder und Tiere und zögerte nie, seine Arbeiten warten zu lassen, um mit den Kindern der Nachbarschaft in den Zirkus zu gehen. Er liebte die Spiele, welche Logik und Präzision erfordern, wie Billard, Tennis, Bridge und Schach. Wie war dann sein Tod zu erklären ? Wie und warum sollte er dazu gekommen sein, sich unter den Preßlufthammer zu legen ? Es war ausgeschlossen, daß es sich um eine stupide Wette gehandelt haben sollte, um eine Herausforderung seines Mutes. Er ging niemals Wetten ein und zeigte sich immer unwillig gegenüber Leuten, die wetteten. Auf die Gefahr hin, sie zu ärgern, pflegte er zu bemerken, daß eine Wette stets eine Angelegenheit zwischen einem Dummkopf und einem Dieb sei. Es gab nur zwei mögliche Erklärungen: Entweder war er verrückt geworden, oder er hatte einen Grund gehabt, sich von seiner Frau auf solch merkwürdige Weise töten zu lassen. Nachdem ich lange überlegt hatte, beschloß ich, Inspektor Twinker nichts über mein Gespräch mit Harry zu berichten, sondern selbst zu versuchen, Anne erneut zu befragen. Es war Samstag, Besuchstag, und da meine Schwägerin eine sehr ruhige Kranke war, hatte man mir seit einiger Zeit erlaubt, mit ihr einen Rundgang durch den großen Garten zu machen, wo man ihr einen kleinen Fleck zugewiesen hatte, den sie nach eigenem Geschmack pflegen durfte. Sie hatte hier die Rosenstöcke eingepflanzt, die ich ihr aus meinem Garten zugeschickt hatte. Sie erwartete meinen Besuch offenbar schon, denn sie kam sehr schnell zum Sprechzimmer. Es war kühl draußen, und sie hatte – unseren üblichen Spaziergang voraussehend – einen Mantel angezogen. Sie fragte mich nach Neuigkeiten über ihren Sohn, dann führte sie mich ganz dicht an ihr kleines Stück Land, wo sie mich aufforderte, mich neben sie auf eine Bank aus rohem Holz zu setzen, die in der Tischlerei der Anstalt von einem der Kranken, der gern bastelte, gezimmert worden war. 14
Ich zeichnete mit der Spitze meines Regenschirms Muster in den Sand des Weges und suchte nach Worten, um die Unterhaltung auf den Tod meines Bruders zu bringen. Aber sie war es, die als erste sprach. »Arthur, ich möchte dich gern etwas fragen.« »Ja bitte, Anne.« »Weißt du, ob Fliegen lange leben?« Ich sah sie bestürzt an und war bereits im Begriff, ihr zu sagen, daß ihr Sohn mir kürzlich die gleiche Frage gestellt habe, als mir bewußt wurde, daß es in dem Moment möglich sei, einen entscheidenden Schlag gegen ihre bewußte oder unbewußte Verteidigung zu führen. Sie schien meine Antwort ruhig abzuwarten, vermutlich dachte sie, ich versuchte, mir aus der Schule stammende Kenntnisse über die Lebensdauer der Fliegen ins Gedächtnis zurückzurufen. Ohne sie aus den Augen zu lassen, antwortete ich: »Ich weiß es nicht genau, Anne, aber die Fliege, die du suchst, war heute morgen in meinem Büro.« Der Schlag hatte gesessen. Sie wandte mir mit einem Ruck den Kopf zu. Sie öffnete den Mund, als wolle sie zu schreien beginnen, aber sie schwieg – nur ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Es gelang mir, ein unbewegtes Gesicht zu bewahren; ich spürte, daß ich endlich im Vorteil war und daß ich diesen nicht anders halten konnte als hinter der Maske des Wissenden, der weder Groll noch Mitleid kennt und der sich nicht einmal ein Urteil erlaubt. Sie schöpfte tief Atem und verbarg schließlich ihr Gesicht in den Händen: »Arthur, hast du sie getötet?« fragte sie leise. »Nein.« »Du hast sie aber!« schrie sie, indem sie den Kopf hob. »Du hast sie bei dir! Gib sie mir!« Und ich spürte, daß sie beinahe meine Tasche durchwühlt hätte. »Nein, Anne, ich hab sie nicht bei mir.« »Aber du weißt alles! Du hast es herausbekommen!« »Nein, Anne, ich weiß nichts, außer daß du nicht wahnsinnig bist. Aber ich werde auf irgendeine Weise alles erfahren. Entweder sagst du es mir, und ich entscheide hinterher, was weiter geschehen soll, oder . . .« »Oder was, sag es!« »Ich bin ja schon dabei, Anne . . .! Oder ich schwöre dir, daß Inspektor Twinker binnen 24 Stunden diese Fliege in Händen hat.« Meine Schwägerin blieb lange Zeit unbeweglich sitzen und betrachtete starr ihre langen weißen Hände, die sie auf ihren Knien ausgestreckt hielt. Ohne die Augen zu erheben, sagte sie schließlich: »Wenn ich dir alles sage, schwörst du, diese Fliege zu zerstören, bevor du irgend etwas unternimmst?« »Nein, Anne! Ich kann dir nichts versprechen, bevor ich alles weiß.« 15
»Arthur, versteh doch . . . Ich habe Bob versprochen, daß diese Fliege zerstört wird . . . Dieses Versprechen muß gehalten werden. Wenn du es nicht halten willst, kann ich dir nichts sagen.« Ich fühlte, wie unser Gespräch ins Stocken geriet: Anne bekam sich wieder in die Hand. Es mußte sofort ein neues Argument gefunden werden, eines, das sie aus ihren letzten Verschanzungen trieb, das sie endlich kapitulieren ließ. Da mir nichts Besseres einfiel, sagte ich auf gut Glück: »Anne, du mußt dir darüber klar sein, daß, sobald die Fliege in den Laboratorien der Polizei untersucht worden ist, sie dort den Beweis haben, daß du nicht wahnsinnig bist, und dann . . .« »Arthur, nein! Das darf nicht sein, wegen Harry, das darf nicht sein . . . Sieh, ich wartete auf diese Fliege; ich dachte, daß sie mich schließlich finden würde. Wahrscheinlich konnte sie das nicht, und so ist sie zu dir gekommen.« Ich betrachtete meine Schwägerin aufmerksam und fragte mich, ob sie noch immer Wahnsinn simuliere oder ob sie am Ende wirklich wahnsinnig sei. Indessen – wahnsinnig oder nicht – ich hatte deutlich den Eindruck, daß es mir nahezu gelungen war, sie zur Kapitulation zu bringen. Nun blieb nur noch der letzte Widerstand zu brechen, und da sie offenbar Angst hatte um ihren Sohn, sagte ich: »Erzähl mir alles, Anne, auf diese Weise kann ich Harry besser schützen.« »Gegen was willst du meinen Sohn denn schützen ? Verstehst du nicht, daß ich nur hier bin, um zu vermeiden, daß Harry der Sohn einer zum Tode Verurteilten ist – einer, die aufgehängt wurde wegen Mordes an seinem Vater? Glaube mir, ich wäre hundertmal lieber tot, als hier im Irrenhaus lebendig begraben zu sein!« »Anne, ich möchte genauso gerne wie du, daß der Sohn meines Bruders geschont wird. Ich verspreche dir, daß, wenn du mir alles sagst, ich das Unmögliche möglich machen werde, um Harry zu schützen. Wenn du dich aber weigerst zu sprechen, wird Inspektor Twinker die Fliege bekommen. Ich werde darnach trachten, Harry trotzdem zu schützen, aber du mußt verstehen, daß ich dann nicht mehr Herr der Situation bin.« »Weshalb aber mußt du alles wissen ?« fragte sie und warf mir einen merkwürdig haßerfüllten Blick zu. »Anne, das Schicksal deines Sohnes liegt in deiner Hand, wie entscheidest du dich jetzt?« »Laß uns hineingehen! Ich will dir die Geschichte vom Tode meines lieben Bob geben.« »Du hast sie aufgeschrieben?!« »Ja, das habe ich. Nicht für dich, sondern für deinen verdammten Inspektor. Ich habe vorausgesehen, daß er früher oder später an die 16
Wahrheit herankommen würde.« »Dann dürfte ich sie ihm zeigen?« »Tu, was dir recht erscheint, Arthur!« Anne ließ mich einen Augenblick warten, so lange, wie sie brauchte, um in ihr Zimmer hinaufzugehen. Sie kam fast sofort zurück und hielt einen dicken gelben Umschlag in der Hand, den sie mir mit den Worten aushändigte: »Sieh zu, daß du allein bist und daß du nicht gestört wirst, wenn du den Bericht liest!« »Abgemacht, Anne, ich will ihn lesen, sobald ich heimkomme. Morgen werde ich dich wieder besuchen.« »Gut, wie du willst.« Sie verließ das Sprechzimmer, ohne meinen Gruß zu erwidern. Erst als ich heimkam, sah ich die Aufschrift auf dem Umschlag: Für denjenigen, den es angebt. Vermutlich für Inspektor Twinker. Nachdem ich Anweisung gegeben hatte, daß ich nicht gestört werden wolle und nicht zu Abend essen würde, und darum gebeten hatte, mir einfach ein wenig Tee und einige Kekse zu bringen, stieg ich rasch in mein Büro hinauf. Ich hatte Wände, Decke, Tapeten und Möbel genau untersucht – ich fand nicht die kleinste Spur einer Fliege. Dann, als das Mädchen, das mir meinen Tee brachte, Kohlen nachgelegt hatte, schloß ich die Fenster und zog die doppelten Vorhänge zu. Als sie endlich das Zimmer verlassen hatte, schob ich den Riegel vor die Tür, und, nachdem ich den Telefonhörer abgehängt hatte – ich hängte ihn seit dem Tode meines Bruders nachts immer ab – löschte ich alle Lichter außer der Lampe auf meinem Schreibtisch, vor dem ich mich niederließ und den großen gelben Umschlag öffnete. Ich goß mir eine Tasse Tee ein und las auf dem ersten Blatt: »Dies ist keine Beichte, denn obwohl ich meinen Mann tötete, was ich nie verschwiegen habe, bin ich keine Verbrecherin. Ich habe nur seinen letzten Willen befolgt, indem ich ihm den Kopf und den rechten Unterarm in der Fabrik seines Bruders unter dem Preßlufthammer zerschmetterte.« Ohne auch nur einen Schluck von dem Tee zu nehmen, wandte ich das Blatt um. »Von einem bestimmten Zeitpunkt vor seinem Verschwinden an hatte mein Mann mich in einige seiner Experimente eingeweiht. Er wußte, daß das Ministerium ihm diese als allzu gefährlich verboten hätte; deshalb wollte er erst positive Ergebnisse haben, bevor er das Ministerium von den Versuchen in Kenntnis setzte. Während es bis dahin nur gelungen war, mit Hilfe des Radios und des Fernsehens Töne und Bilder durch den Raum zu übertragen, behauptete Bob, das Mittel gefunden zu haben, auch Materie zu übertragen. Materie, 17
d. h. ein fester Körper, der in einen Sendeapparat gebracht wird, sollte augenblicklich zerfallen und sich sogleich in einem Empfangsapparat wieder zusammensetzen. Bob betrachtete seine Entdeckung als die wichtigste seit der Erfindung des Rades. Er war der Überzeugung, daß die Übertragung von Materie durch Zerfall und sofortiges Wiederzusammensetzen für die Entwicklung der Menschheit eine beispiellose Revolution darstellte. Sie würde das Ende allen Transports bedeuten, nicht nur von Waren und verderblichen Verbrauchsgütern, sondern auch von Personen. Er, der Praktiker, der niemals träumte, sah bereits den Augenblick voraus, da es keine Flugzeuge, keine Züge und Autos mehr geben würde, keine Straßen oder Schienenwege. Die Transportmittel würden ersetzt werden durch Sendeund Empfangsstationen an allen Enden der Welt. Reisende oder Güter, die zu befördern wären, brauchten nur noch zu einer Sendestation gebracht, aufgelöst und fast unmittelbar hernach im Empfänger wieder zusammengesetzt zu werden. Mein Mann hatte mit seinen Versuchen anfangs einige Schwierigkeiten. Sein Empfänger war von dem Sender nur durch eine Mauer getrennt. Sein erster erfolgreicher Versuch wurde mit einem Aschenbecher durchgeführt, den wir einmal als Souvenir von einer Reise nach Frankreich mitgebracht hatten. Er hatte mich über seine Versuche noch nicht unterrichtet, und ich verstand zunächst gar nicht, wovon er sprach, als er mir den Aschenbecher triumphierend brachte und sagte: >Anne, schau, dieser Aschenbecher ist völlig aufgelöst worden, innerhalb einer Zehntausendstelsekunde. Einen Moment lang existierte er nicht mehr. Er war fort, war nicht mehr da, völlig verschwunden. Nur die Atome bewegten sich mit Lichtgeschwindigkeit zwischen den beiden Apparaten. Und einen Augenblick später haben sie sich wieder zusammengefunden und bildeten erneut den Aschenbecher.< >Bob, ich bitte dich . . . Wovon sprichst du denn da? Erkläre es mir doch!< Damals eröffnete er mir zum ersten Male Einzelheiten seiner Forschungen, und als ich ihn nicht verstand, machte er kleine Skizzen mit Zahlen; aber ich begriff immer noch nicht. >Sei mir nicht böse, Anne<, sagte er gutmütig lachend, als er merkte, daß ich immer weniger verstand. >Erinnerst du dich, daß ich einmal einen Artikel gelesen habe über die geheimnisvollen fliegenden Steine, die mit Wucht in manche Häuser in Indien eindringen, während Fenster und Türen verschlossen sind?< >Ja, ich erinnere mich sehr gut daran. Professor Downing, der übers Wochenende zu uns gekommen war, sagte, wenn nicht irgendein Schwindel dabei sei, so ließe sich das Phänomen nur dadurch erklären, daß die von außen geworfenen Steine sich außerhalb des Hauses 18
desintegrieren und im Hause reintegrieren, bevor sie niederfallen.< >Genau das meine ich! Der Professor fügte auch noch hinzu: Wenn das Phänomen nicht sogar dadurch hervorgerufen wird, daß sich die Mauer für einen Augenblick an der Stelle desintegriert, wo die Steine hindurchkommen.< >Nun ja, das ist alles sehr schön, aber ich verstehe immer noch nichts. Wie können die Steine denn, selbst wenn sie desintegriert sind, in aller Ruhe durch eine Mauer oder eine Tür dringen?< >Doch, Anne, das ist möglich, denn die Atome, welche die Materie bilden, berühren sich nicht, sie sind voneinander durch riesige Zwischenräume getrennt.< >Wie kann es riesige Zwischenräume geben, wie du sagst, zwischen den Atomen, die eine Tür bilden ?< >Mißversteh mich nicht, die Räume zwischen den Atomen sind verhältnismäßig riesig; sie sind riesig im Vergleich zu dem Umfang der Atome. So würdest zum Beispiel du, mit deinen hundert Pfund und kaum einem Meter sechzig Größe – wenn all die Atome, die deinen Körper bilden, plötzlich aufeinandergeschichtet wären, ohne daß zwischen ihnen Raum bliebe – zwar immer noch hundert Pfund wiegen, aber eine ganz kleine Kugel bilden, die leicht in einen Stecknadelkopf paßte.< >Wenn ich dich recht verstanden habe, so behauptest du also, den Aschenbecher auf den Umfang eines Stecknadelkopfes verringert zu haben?< >Nein, Anne. Zunächst wurde dieser Aschenbecher, der kaum zweihundert Gramm wiegt, nur eine Masse bilden, die im Mikroskop gerade noch sichtbar wäre, wenn die Atome, aus denen er zusammengesetzt ist, plötzlich aufeinandergeschichtet wären. Und außerdem ist das alles doch nur ein Bild. Trotzdem kann dieser Aschenbecher, wenn er erst einmal desintegriert ist, jeden undurchsichtigen und festen Körper durchdringen, dich zum Beispiel, ohne alle Schwierigkeit, denn seine getrennten Atome können durch die Masse deiner durch Zwischenräume voneinander entfernten Atome ohne alle Schwierigkeit hindurchdringen.< >So hast du also diesen Aschenbecher zersetzt, um ihn ein wenig später wieder zusammenzusetzen, nachdem du ihn hast durch einen anderen Körper hindurchgehen lassen?< >Sehr richtig, Anne, durch die Mauer, die meinen Sendeapparat von meinem Empfänger trennt.< >Und darf man erfahren, welchen Nutzen es haben soll, Aschenbecher durch den Raum zu schicken?< Bob reagierte auf die Frage mit einer ungeduldigen Bewegung. Als er sich klarwurde, daß ich mich ein klein wenig über ihn lustig machte, erläuterte er mir einige der Möglichkeiten seiner Entdeckung. >Nun – ich hoffe nur, Bob, daß du mich nicht eines Tages auf diese 19
Weise beförderst. Ich hätte zuviel Angst, am anderen Ende wieder herauszukommen wie dieser Aschenbecher.< >Was willst du damit sagen, Anne?< > Weißt du nicht mehr, was auf dem Aschenbecher stand ?< >Doch, natürlich. Es stand darauf: Made in France, das steht auch sicher jetzt noch dort.< >Tatsächlich, hier, aber schau doch, Bob!< Er nahm mir den Aschenbecher aus den Händen und lächelte, aber er wurde bleich, und sein Lächeln erstarrte, als er sah, was ich bemerkt hatte, und das bewies mir, daß ihm tatsächlich ein sehr seltsamer Versuch gelungen war. Die drei Wörter erschienen noch immer, aber umgekehrt, und man konnte jetzt lesen: ecnarFniedaM. >Das ist unerhört<, flüsterte er, und ohne seinen Tee auszutrinken, stürzte er in sein Labor, aus dem er erst am folgenden Morgen nach einer durcharbeiteten Nacht wieder auftauchte. Ein paar Tage später hatte Bob einen neuen Rückschlag, der ihn für einige Wochen in sehr schlechte Laune versetzte. Von Problemen bedrängt, gestand er mir schließlich, daß sein erster Versuch mit einem lebenden Wesen ein völliger Fehlschlag gewesen sei. >Bob, du hast diesen Versuch mit Dandelo gemacht, nicht wahr?< >Ja<, gab er beschämt zu. >Dandelo hat sich tadellos desintegriert, aber sie hat sich im Empfänger niemals reintegriert.< >Und jetzt?< >Jetzt? Jetzt gibt es Dandelo nicht mehr. Es gibt jetzt nur noch Dandelos zerstreute Atome, die Gott weiß wo im All herumschwirren.< Dandelo war eine kleine weiße Katze, die unsere Köchin eines Tages im Garten gefunden hatte. Eines Morgens war sie verschwunden gewesen, niemand wußte wohin. Ich jedenfalls wußte jetzt, wie sie verschwunden war. Nach einer Reihe neuer Versuche und durchwachter Nächte verkündete Bob mir eines Tages, sein Apparat arbeite jetzt tadellos, und er lud mich ein, ihn zu besichtigen. Ich ließ ein Tablett mit Champagner und zwei Gläsern herrichten, um seinen Erfolg würdig feiern zu können, denn ich wußte, wenn er mich einlud, seine Erfindung zu besichtigen, so war sie tatsächlich soweit. >Prächtige Idee!< erklärte er und nahm das Tablett aus meinen Händen. >Wir werden das Gelingen mit reintegriertem Champagner feiern.< >Hoffentlich kommt er genauso gut wieder heraus, wie er vor seiner Desintegration war, Bob! < >Da brauchst du keine Angst zu haben, Anne. Du wirst selbst sehen.< Er öffnete die Tür einer Kabine, die nichts anderes war als eine alte Telefonkabine, die er umgebaut hatte. 20
>Das ist der Apparat zur Desintegration und Übertragung <, erklärte er und setzte das Tablett auf einen Schemel im Innern der Kabine. Er schloß die Tür, dann gab er mir eine Sonnenbrille und placierte mich vor die Glastür der Kabine. Nachdem er selbst eine schwarze Brille aufgesetzt hatte, betätigte er verschiedene Knöpfe, die sich außen an der Kabine befanden, und ich hörte das sanfte Dröhnen eines Elektromotors. >Bereit?< fragte er, während er die Lampe in der Kabine löschte und einen anderen Schalter betätigte, der den Apparat in ein bläuliches Licht tauchte. >Jetzt paß gut auf! < Er drückte einen Hebel nieder, und das ganze Labor wurde strahlend hell erleuchtet von einem unerträglich hellen orangefarbenen Blitz. Im Innern der Kabine hatte ich etwas wie eine Feuerkugel gesehen, die einen Augenblick knisterte. Ich hatte die Hitze einen Augenblick später auf meinem Gesicht und Hals gespürt und sah dann nichts mehr als schwarze, grünumrandete Löcher, so als ob ich einen Augenblick in die Sonne geschaut hätte. >Du kannst deine Brille absetzen, Anne. Es ist vorbei.< Mit einer etwas theatralischen Geste öffnete mein Mann die Tür zu der Kabine, und obwohl ich es erwartet hatte, verschlug es mir doch den Atem, als ich sah, daß der Schemel, das Tablett, die Gläser und die Champagnerflasche verschwunden waren. Bob forderte mich mit viel Zeremoniell auf, in den benachbarten Raum zu gehen, wo sich eine in allen Einzelheiten gleiche Kabine befand, aus der er triumphierend das Tablett mit dem Champagner herausnahm, den er sofort entkorkte. Der Pfropfen sprang fröhlich, und der Champagner perlte in den Gläsern. >Bist du auch sicher, daß es nicht gefährlich ist, ihn zu trinken?< >Ganz sicher<, erklärte er, indem er mir ein Glas reichte. >Und jetzt wollen wir einen neuen Versuch machen. Willst du ihm beiwohnen? Gehen wir in den Raum, wo der Desintegrationsapparat steht.< >O Bob, denk an die arme Dandelo!< >Es ist nur ein Meerschweinchen diesmal, Anne. Aber ich bin sicher, daß es unversehrt durchkommen wird. < Er setzte das kleine Tier auf den Metallboden der Kabine, dann ließ er mich wieder die schwarze Brille aufsetzen. Ich hörte das Dröhnen des Motors, sah den blendenden Blitz, stürzte aber diesmal, ohne zu warten, in den benachbarten Raum. Durch die Glastür der Empfängerkabine sah ich das Meerschweinchen, wie es hin- und herlief. >Bob, Liebling, tatsächlich! Es ist gelungen!< >Geduld, Anne! Das wissen wir erst nach einiger Zeit.< >Aber es geht ihm gut, und es ist so lebendig wie vorher.< >Schon, aber man muß erst wissen, ob all seine Organe intakt sind, und 21
das können wir erst nach einiger Zeit feststellen. Wenn es in einem Monat auch noch gesund ist, können wir weitere Versuche unternehmen.< Dieser Monat schien mir lang wie ein Jahrhundert. Jeden Tag ging ich nach dem Meerschweinchen schauen. Es schien ihm wunderbar zu gehen. Am Ende dieses Monats tat Bob Pickles, unsern Hund, in die Kabine. Er hatte mir nichts vorher gesagt, denn ich hätte in einen derartigen Versuch mit Pickles niemals eingewilligt. Der Hund fand aber sichtlich Gefallen daran. Während eines einzigen Nachmittags wurde er ein dutzendmal des- und reintegriert, und sobald er aus der Empfängerkabine herauskam, sprang er kläffend vor den Sender, um das gleiche noch einmal zu erleben. Ich erwartete, daß Bob einige Gelehrte und Spezialisten des Ministeriums zusammenrufen würde, wie er es immer machte, wenn er eine Arbeit beendet hatte, um ihnen das Resultat bekanntzugeben und ihnen einige praktische Vorführungen zu machen. Nach einigen Tagen erwähnte ich es ihm gegenüber. >Nein, Anne, diese Entdeckung ist zu wichtig, als daß man sie bereits bekanntgeben könnte! Es gibt noch einige Vorgänge, die ich bis jetzt selber nicht verstehe. Ich habe noch viel Arbeit und zahlreiche Versuche vor mir.< Er erzählte mir einige Male, nicht immer, von seinen verschiedenen Versuchen. Nie war mir der Gedanke gekommen, er könnte den ersten Versuch mit dem Menschen an seiner eigenen Person durchführen, und erst nach der Katastrophe habe ich erfahren, daß er ein zweites Schaltbrett in der Sendekabine eingebaut hatte. An dem Morgen, als Bob seinen entsetzlichen Versuch durchführte, kam er nicht zum Frühstück. An die Tür seines Labors fand ich die Worte hingekritzelt: Bitte auf keinen Fall stören. Ich arbeite. Bitte auf keinen Fall stören . . . diesen Wunsch äußerte er manchmal, und ich hatte nicht weiter darauf geachtet, wie riesengroß diesmal die an die Tür geheftete Aufschrift war. Ein bißchen später, beim Mittagessen, kam Harry gesprungen und sagte mir, er habe eine Fliege mit weißem Kopf gefangen, und ohne sie sehen zu wollen, ersuchte ich ihn, sie sofort freizulassen. Wie Bob ließ auch ich niemals zu, daß einem Tier irgendein Leid geschehe. Ich wußte, daß Harry diese Fliege nur gefangen hatte, weil sie seltsam aussah, aber ich wußte auch, daß sein Vater sogar dies mißbilligt hätte. Zur Teestunde war Bob noch nicht aus seinem Labor gekommen, und die Aufschrift befand sich immer noch an der Tür. Zum Abendessen erschien er auch nicht; ich klopfte ein wenig beunruhigt an die Tür und rief ihn. Ich hörte, wie er sich in dem Raum bewegte, und einen Augenblick 22
später ließ er einen Zettel unter der Tür hindurchgleiten. Ich entfaltete den Zettel und las:
Ich habe Schwierigkeiten, Anne, bring den Kleinen ins Bett und komm in einer Stunde wieder! B. Ich konnte klopfen und rufen, Bob antwortete nicht. Nach einer Weile hörte ich, daß er auf seiner Schreibmaschine tippte, und ein wenig beruhigt durch das vertraute Geräusch ging ich zum Haus zurück. Nachdem ich Harry zu Bett gebracht hatte, kehrte ich zurück zum Labor und fand ein weiteres Blatt unter der Tür durchgeschoben. Diesmal las ich mit Entsetzen:
Anne, ich verlasse mich auf deinen klaren Verstand, daß du nicht erschrickst; denn nur du kannst mir helfen. Mir ist eine ernstliche Panne passiert. Mein Leben ist im Moment nicht in Gefahr, aber es ist trotzdem eine Frage auf Leben und Tod. Ich kann nicht sprechen: es ist also zwecklos, zu rufen oder mir durch die Tür hindurch Fragen zu stellen. Du mußt jetzt ganz genau tun, was ich dir auftrage. Wenn du dreimal angeklopft hast, um mir deine Zustimmung ansteigen, lauf und bring mir eine Schale Milch, in die du ein großes Glas Rum schüttest. Ich habe seit gestern abend weder gegessen noch getrunken und habe eine Verpflegung dringend nötig. Ich verlasse mich auf dich. B. Mit zitterndem Herzen klopfte ich dreimal an die Tür, wie er es verlangt hatte, und stürzte zurück ins Haus, um ihm zu bringen, worum er mich bat. Als ich ins Labor zurückkehrte, fand ich wieder einen Zettel unter die Tür geschoben:
Anne, befolge genau meine Anweisungen: Sobald du klopfst, werde ich die Tür öffnen. Stelle die Schale mit Milch auf meinen Schreibtisch, ohne mir Fragen zu stellen, und geh dann in den Raum, wo sich die Empfängerkabine befindet. Schau dich genau in dem Raum um! Du mußt unbedingt eine Fliege finden, die dort sein muß, nach der ich aber vergeblich gesucht habe. Ich bin leider gehandikapt und sehe kleine Gegenstände schlecht. Vorher aber mußt du mir schwören, daß du alles tust, worum ich dich bitte, und vor allem, daß du nicht verlangst, mich zu sehen. Ich kann nicht 23
sprechen. Drei Schläge an die Tür bestätigen mir, daß du mir versprichst, mir blind zu gehorchen. Mein Leben hängt von der Hilfe ab, die du mir geben kannst. B. Ich bezwang meine innere Bewegung und klopfte dreimal in kurzen Abständen an die Tür. Ich hörte Bob zur Tür kommen. Seine Hand suchte den Riegel und zog ihn zurück. Ich trat ein, mit der Schale Milch in der Hand, und ich spürte, daß er hinter der offenen Tür geblieben war. Ich widerstand dem Verlangen, mich umzudrehen, und sagte nur: >Du kannst dich auf mich verlassen, Liebling.< Nachdem ich die Schale auf den Schreibtisch gestellt hatte, unter die einzige Lampe, die im Zimmer brannte, ging ich in den anderen Teil des Labors, der hell erleuchtet war. Dort herrschte ein großes Durcheinander: Akten und zerbrochene Gefäße lagen verstreut am Fußboden zwischen umgeworfenen Stühlen. Aus einer großen Emailleschale, in der halbvernichtete Papiere lagen, stieg ein ätzender Geruch. Ich wußte genau, daß ich die Fliege nicht finden würde: mein Instinkt sagte mir, daß die Fliege, welche mein Mann suchte, nur diejenige sein konnte, welche Harry gefangen und auf meine Anweisung hin wieder freigelassen hatte. Ich hörte, wie Bob in dem Raum nebenan an seinen Schreibtisch trat, und einen Augenblick später vernahm ich ein seltsames saugendes Geräusch, als ob er Mühe habe zu trinken. >Bob, hier ist keine Fliege. Kannst du mir keine näheren Angaben machen? Wenn du nicht sprechen kannst, klopfe auf deinen Schreibtisch. Ein Schlag: ja, zwei Schläge: nein.< Ich hatte versucht, meiner Stimme einen normalen Klang zu geben, und bemühte mich, ein Schluchzen zu unterdrücken, als er zweimal kurz auf seinen Schreibtisch klopfte. >Darf ich in den Raum zurückkehren, in dem du bist? Ich verstehe nicht, was geschehen ist, aber was immer es sei, ich werde mutig sein.< Einen Moment herrschte Schweigen, dann klopfte er einmal auf seinen Schreibtisch. An der Tür, welche die beiden Räume voneinander trennte, blieb ich vor Entsetzen wie angenagelt stehen. Bob hatte seinen Kopf mit einem goldfarbenen Samttuch bedeckt, das sich für gewöhnlich auf dem Tisch befand, an dem er aß, wenn er von seiner Arbeit nicht fortwollte. >Bob, wir suchen morgen weiter, bei Tage. Kannst du dich nicht schlafen legen? Wenn du willst, führe ich dich ins Fremdenzimmer zum Übernachten und sorge dafür, daß dich niemand sieht.< Seine linke Hand kam unter dem Tuch hervor, das ihn bis zum Bauch 24
bedeckte, und er klopfte zweimal. >Brauchst du einen Arzt?< Nein. >Willst du, daß ich Professor Moore anrufe? Vielleicht ist er dir nützlicher als ich!< Zweimal klopfte er schnell mit der Hand. Ich wußte nicht mehr, was ich tun noch sagen sollte. Ein Gedanke kreiste unablässig in meinem Kopfe, und ich sagte: >Harry hat heute morgen eine Fliege gefunden, die ich ihn freilassen hieß. War es etwa diejenige, welche du suchst? Harry hat gesagt, sie habe einen weißen Kopf gehabt.< Bob ließ einen seltsam rauhen Seufzer hören, mir schien, er klinge gleichsam metallisch. Ich biß mich in die Hand, bis das Blut kam, um nicht laut aufzuschreien. Er hatte seinen rechten Arm unter dem Tuch hervorgleiten lassen, und anstelle seiner Hand und seines Handgelenks sah ich eine Art grauen Stabs mit kleinen Häkchen, die über seinen Ärmel hinausragten. >Bob, mein Liebster, erklär mir doch bloß, was passiert ist! Ich kann dir doch vielleicht leichter helfen, wenn ich weiß, worum es sich handelt . . . O Bob, das ist entsetzlich!< sagte ich und versuchte vergeblich, mein Schluchzen zu unterdrücken. Seine linke Hand kam unter der Decke hervor, und nachdem er einmal auf den Schreibtisch geklopft hatte, zeigte er auf die Tür. Ich ging hinaus und brach im Gang in Schluchzen aus, als er den Riegel an der Tür vorschob. Ich hörte ihn hin- und hergehen und wieder auf der Schreibmaschine schreiben. Schließlich schob er ein Blatt unter der Tür durch, und ich las:
Komm morgen wieder, Anne! Ich werde dir eine Erklärung tippen. Nimm ein Schlafmittel und geh zu Bett! Ich werde all deine Kraft brauchen, meine Liebste! B. >Brauchst du nichts für die Nacht, Bob?< schrie ich durch die Tür, nachdem ich mein Schluchzen unterdrücken konnte. Er klopfte zweimal schnell, und ein wenig später hörte ich, wie er wieder zu tippen anfing. Die Sonne schien mir in die Augen, als ich erwachte. Ich hatte den Wecker auf fünf Uhr gestellt, aber durch das Schlafmittel hatte ich ihn nicht rasseln hören. Es war sieben Uhr, und ich stand völlig verzweifelt auf. Ich hatte geschlafen wie auf dem Grunde eines schwarzen Loches, vollkommen traumlos. Jetzt, als ich wieder in den lebendigen Alptraum zurückversetzt war und an Bobs Arm denken mußte, brach ich in Weinen aus. Ich stürzte in die Küche, wo ich vor den verdutzten Leuten hastig ein Tablett mit Tee und Toast zurechtmachte, das ich schnell zum Labor 25
trug. Bob öffnete mir nach einigen Sekunden die Tür und schloß sie hinter mir. Zitternd sah ich, daß er immer noch die Decke über dem Kopf trug. An seinem aufgeschlagenen Feldbett, seinem völlig zerknitterten Anzug sah ich, daß er zumindest versucht hatte, ein wenig Schlaf zu finden. Auf seinem Schreibtisch, wo ich das Tablett absetzte, erwartete mich ein Blatt Papier, das mit der Maschine beschrieben war. Er war an die Tür des benachbarten Zimmers gegangen, und ich begriff, daß er allein sein wollte. So trug ich seine Mitteilung in den anderen Raum, und während ich las, hörte ich, wie er von dem Tee trank.
Entsinnst du dich an den Aschenbecher? Mit mir selbst ist ein ähnliches Unglück geschehen, nur, leider, ein viel ernsteres! Ich hatte mich selbst ein erstes Mal erfolgreich des- und reintegriert. Während eines zweiten Versuches habe ich nicht bemerkt, daß eine Fliege in die Übertragungskabine eingedrungen war. Meine einzige Hoffnung ist, diese Fliege wiederzufinden und mit ihr zusammen den Prozeß noch einmal durchzumachen. Such überall, denn wenn du sie nicht findest, muß ich sehen, daß ich spurlos verschwinde. Ich hatte eine ins einzelne gehende Erklärung gewünscht, aber Bob hatte wohl einen Grund, sie mir nicht zu geben. Sicherlich mußte er entstellt sein, und ich zitterte bei der Vorstellung, sein Gesicht könne umgekehrt sein wie die Inschrift auf dem Aschenbecher. Ich stellte es mir vor, mit den Augen an der Stelle des Mundes oder der Ohren. Aber es hieß ruhig bleiben und ihn retten. Das Wichtigste, was getan werden mußte, war, die Fliege wiederzufinden – um jeden Preis. >Bob, kann ich hereinkommen?< Er öffnete die Tür zwischen den beiden Laborräumen. >Bob, verzweifle nicht! Ich werde diese Fliege finden. Sie ist nicht mehr im Labor, aber sie kann nicht weit sein. Ich ahne, daß du entstellt bist, aber davon, daß du verschwindest, kann keine Rede sein. Das werde ich niemals zulassen. Wenn du nicht gesehen werden willst, mache ich dir eine Maske, eine Kapuze, und du fährst mit deinen Forschungen fort, bis du wieder normal werden kannst. Wenn nötig, werde ich sogar an Professor Moore oder andere Gelehrte, die mit dir befreundet sind, herantreten. Wir werden dich retten, Bob.< Er klopfte heftig auf seinen Schreibtisch, und wieder hörte ich diesen rauhen, metallischen Seufzer unter der Decke hervorkommen, die seinen Kopf umhüllte. >Verlier nicht die Nerven, Bob! Ich werde nichts tun, ohne es dich vorher wissen zu lassen, das verspreche ich dir. Hab Vertrauen zu mir und laß mich dir helfen. Du bist entstellt, nicht wahr? Wahrscheinlich 26
furchtbar. Willst du mich nicht dein Gesicht sehen lassen? Ich habe keine Angst. Ich bin deine Frau, Bob.< Er schlug zornig zweimal auf seinen Schreibtisch und bedeutete mir zu gehen. >Gut. Ich gehe jetzt auf die Suche nach dieser Fliege, aber schwöre mir, daß du keine Torheiten machst; schwöre mir, daß du nichts tust, ohne es mich vorher wissen zu lassen, ohne dich vorher mit mir beraten zu haben.< Er streckte langsam seine linke Hand aus, und ich begriff, daß er mir damit sein Versprechen gab. Ich werde nie diesen schrecklichen Tag der Jagd auf die Fliege vergessen. Ich stellte das ganze Haus auf den Kopf und ließ die Bedienten an meiner Suche teilnehmen. Ich konnte ihnen lange erklären, daß es sich um eine aus dem Labor meines Mannes entkommene Fliege handelte, mit welcher er ein Experiment gemacht hatte und die er unter allen Umständen lebend wiederhaben mußte – ich bin sicher, daß sie glaubten, ich sei wahnsinnig geworden. Das war es übrigens, was mich später vor der Schande rettete, gehängt zu werden. Ich befragte Harry. Als er nicht sofort begriff, schüttelte ich ihn, und er fing an zu weinen. Ich mußte mich also mit Geduld wappnen. Ja, er erinnerte sich. Er hatte die Fliege auf dem Fenstersims in der Küche gefunden, aber er hatte sie gleich wieder freigelassen, wie ich es ihm befohlen hatte. Selbst mitten im Sommer haben wir nur wenig Fliegen, denn unser Haus liegt hoch auf einem Hügel ohne Gebüsch noch Gestrüpp. Trotzdem fing ich Hunderte von Fliegen an dem Tag. Überall auf den Fenstersimsen und im Garten hatte ich Untertassen mit Milch aufstellen lassen, Süßigkeiten und Zucker, um sie anzulocken. Keine entsprach der von Harry gelieferten Beschreibung. Ich konnte sie unter der Lupe betrachten, soviel ich wollte, sie waren einander alle gleich. Keine hatte einen weißen Kopf. Zu Mittag trug ich Milch und Kartoffelpüree zu meinem Mann. Ich brachte ihm auch einige Fliegen, die ich auf gut Glück gefangen hatte, aber er gab mir zu verstehen, daß sie ihm nicht das mindeste nützten. >Wenn wir die Fliege nicht bis heute abend finden, Bob, überlegen wir, was zu tun ist. Am besten ist, ich quartiere mich in dem Nebenzimmer ein, die Tür machen wir zu. Wenn du nicht mit dem Signal Ja oder Nein antworten kannst, schreibst du mir deine Antworten auf der Maschine und schiebst sie wie bisher unter der Tür durch. Bist du einverstanden?< >Ja<, klopfte Bob mit seiner gesunden Hand. Am Abend hatten wir die Fliege noch immer nicht gefunden. Bevor ich Bob etwas zu essen brachte, ging ich zögernd zum Telefon. Ohne jeden Zweifel war es für meinen Mann eine Frage auf Leben oder Tod. Ob ich stark genug sein würde, gegen seinen Willen anzukämpfen und ihn zu 27
hindern, seinem Leben ein Ende zu setzen ? Er würde mir wahrscheinlich niemals verzeihen, wenn ich mein Versprechen bräche, aber ich dachte, dies wäre immer noch nicht so schlimm, als wenn er verschwände. So nahm ich zitternd den Hörer ab und wählte die Nummer von Professor Moore, seinem engsten Freund. >Der Professor ist verreist, er wird erst Ende der Woche zurückkommen<, erklärte mir eine gleichgültige Stimme höflich am ändern Ende der Leitung. So war also das Los gefallen. Nun, dann würde ich eben allein kämpfen und allein Bob retten. Ich war fast ruhig, als ich in das Labor kam, und ließ mich wie vereinbart im Nachbarraum nieder, um die mühsame Unterhaltung zu beginnen, die einen guten Teil der Nacht dauern sollte. >Bob, kannst du mir genau sagen, was geschehen ist? Was ist dir tatsächlich passiert?< Ich hörte eine Zeitlang das Klappern der Maschine, dann wurde seine Antwort unter der Tür durchgeschoben:
Anne, ich will lieber, daß du dich meiner erinnerst, wie ich vorher war. Ich muß mich vernichten. Ich habe lange nachgedacht und sehe nur ein sicheres Mittel, und du allein kannst mir helfen. Ich habe an Desintegration in meinem Apparat gedacht, aber das geht nicht, denn ich riskiere, eines Tages durch einen anderen Gelehrten reintegriert zu werden. Und das darf um keinen Preis geschehen. Ich fragte mich einen Moment, ob mein Mann wahnsinnig geworden sei. >Du magst vorschlagen, was du willst, ich stimme einer solchen Lösung niemals zu, mein Liebster. Das Ergebnis deines Versuches mag schrecklich sein, aber du bist am Leben, du bist ein Mann, du hast einen Geist, eine Seele. Du hast nicht das Recht, dich selbst zu zerstören.< Die Antwort wurde wieder auf der Maschine geschrieben und dann unter der Tür durchgeschoben.
Ich bin am Leben, aber ich bin kein Mensch mehr. Meine geistigen Fähigkeiten können von einem Augenblick zum andern verschwinden. Sie haben übrigens schon stark nachgelassen. Und ohne Geist kann es keine Seele geben. >So müssen andere Gelehrte über deine Versuche unterrichtet werden. Sie werden dich schließlich retten!< Bob ließ mich zusammenfahren, indem er nervös, fast wütend zweimal 28
gegen die Tür klopfte. >Bob, weshalb denn nicht? Warum lehnst du ihre Hilfe ab, die sie dir sicher von ganzem Herzen gern gewähren würden?< Darauf erschütterte mein Mann die Tür mit einem Dutzend wilder Schläge, und ich begriff, daß ich nicht weiter auf diesem Vorschlag bestehen durfte. Darauf sprach ich von mir, von seinem Sohn, von seiner Familie. Er antwortete mir nicht einmal mehr. Ich wußte nicht mehr, was ich denken sollte. Schließlich fiel mir etwas ein, und ich fragte: >Bob . . . hörst du mich?< Er schlug einmal, viel sanfter. >Du hast auf den Aschenbecher deines ersten Versuches hingewiesen, Bob. Glaubst du, daß, wenn du ihn noch einmal durch deinen Apparat geschickt hättest, wenn du ihn noch einmal des-und reintegriert hättest, die Buchstaben ihren richtigen Platz wieder eingenommen hätten?< Einige Minuten später las ich auf dem Blatt Papier, das er unter der Tür durchgeschoben hatte:
Ich weiß, worauf du hinauswillst, Anne. Ich habe über diese Möglichkeit nachgedacht, und deshalb brauche ich die Fliege. Sie muß mit mir zusammen zurückübertragen werden – sonst ist alles hoffnungslos. >Versuch es doch auf gut Glück! Man weiß doch nie . . .< Ich habe es bereits versucht, war diesmal die Antwort. >Bob, versuch es noch einmal! < Bobs Antwort gab mir ein klein wenig Hoffnung, denn keine Frau hat je verstanden oder wird verstehen, daß ein Mann noch scherzen kann, wenn er weiß, daß er sterben muß. Eine Minute später las ich also:
Ich bewundere deine reizende weibliche Logik. Wir könnten das Spiel hundert Jahre und länger treiben . . . Aber um dir die Freude zu machen, welche zweifellos die letzte ist, werde ich mich nochmals dem Prozeß unterziehen. Wenn du keine schwarze Brille findest, dreh der Empfängerkabine den Rücken zu und bedecke deine Augen mit den Händen! Sag mir, wenn du bereit bist! >Also gut, Bob!< Ohne auch nur nach der Brille zu suchen, hatte ich seinen Anweisungen gehorcht, ich hörte, wie die Tür der Übertragungskabine sich öffnete und wieder schloß. Einen Augenblick, der mir endlos erschien, mußte ich warten, dann hörte ich ein heftiges Krachen und gewahrte einen hellen Schein, der zwischen den Fingern hindurchdrang, die ich vor die Augen 29
gelegt hatte. Ich drehte mich und schaute mich nach Bob um. Bob, mit seinem Samttuch über dem Kopf, kam langsam aus der Empfängerkabine heraus. >Hat sich nichts geändert, Bob?< fragte ich leise, indem ich ihn am Arm berührte. Bei dieser Berührung fuhr er zurück und stieß gegen einen umgekippten Schemel, den ich nicht aufgehoben hatte. Er machte heftige Anstrengungen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, aber er fiel nach hinten, wobei ihm das Tuch langsam vom Kopf glitt. Nie werde ich diese Schreckensvision vergessen. Ich schrie auf vor Angst, und je mehr ich schrie, um so mehr Angst bekam ich. Ich stopfte meine Fäuste in den Mund, um meine Schreie zu unterdrücken, und nachdem ich sie bis zum Bluten aufgebissen hatte, schrie ich nur noch stärker. Ich wußte und fühlte, daß, wenn es mir nicht gelang, meinen Blick von ihm abzuwenden und die Augen zu schließen, ich nie würde aufhören können zu schreien. Langsam bedeckte das Ungeheuer, zu dem mein Mann geworden war, wieder seinen Kopf, bevor er sich tastend aufs neue zur Tür begab, und ich konnte endlich meine Augen schließen. Ich, die an eine bessere Welt glaubte, an ein ewiges Leben, die niemals Angst vorm Tode gehabt hatte, mir blieb nur noch die eine Hoffnung: das Nichts nach dem Tod. Denn selbst in einem Leben nach dem Tode würde ich niemals vergessen können. Niemals würde ich das Bild dieses Alptraums von einem Kopf aus meiner Erinnerung löschen können, dieses weißen behaarten Kopfes mit flachem Schädel, mit Katzenohren, mit Augen, die von zwei braunen Scheiben bedeckt waren, groß wie Teller und bis zu den spitzigen Ohren reichend. Rosig war die Schnauze, die ebenfalls an eine Katze erinnerte, aber an der Stelle des Mundes befand sich ein senkrechter Schlitz, umgeben von langen roten Haaren, von dem eine Art schwarzen, behaarten Rüssels herabhing, der sich trompetenförmig erweiterte. Ich mußte in Ohnmacht gefallen sein, denn ich befand mich ausgestreckt auf den kalten Fliesen des Labors, als ich wieder zu mir kam. Hinter der Tür hörte ich das Geräusch von Bobs Schreibmaschine. Ich war betäubt, wie man es nach einem schweren Unfall sein muß, wenn man noch nicht ganz begreift, was geschehen ist, und noch keine eigentlichen Schmerzen verspürt. Ich mußte an einen Mann denken, den ich einmal auf einem Bahnhof gesehen hatte. Er saß, völlig bei Bewußtsein, am Rande des Bahnsteigs und blickte mit einer Art gleichgültiger Bestürzung auf sein Bein, das noch auf dem Schienenstrang lag, über den soeben der Zug gefahren war. Der Hals tat mir furchtbar weh, und ich fragte mich, ob ich mir nicht die Stimmbänder zerrissen hatte beim Schreien. Nebenan hatte das 30
Tippen aufgehört, und einen Augenblick später wurde ein Blatt unter der Tür durchgeschoben. Zitternd vor Ekel ergriff ich es mit den Fingerspitzen und las:
Nun wirst du begreifen. Dieser letzte Versuch war ein weiteres Unheil, meine arme Anne. Du hast sicherlich einen Teil von Dandelos Kopf wiedererkannt. Bei meiner letzten Übertragung war mein Kopf der einer Fliege. Jetzt hab ich davon nur noch die Augen und den Mund: der Rest ist ersetzt durch den reintegrierten Teil des Kopfes der Katze, die verschwunden war. Du verstehst jetzt, daß es nur noch einen möglichen Ausweg gibt, nicht wahr, Anne ? Ich muß verschwinden. Klopfe dreimal an die Tür, um mir dein Einverständnis anzuzeigen, und ich werde dir erklären, was wir tun. Ja, er hatte recht, er mußte verschwinden, für immer. Ich begriff, daß es ein Fehler von mir gewesen war, einen weiteren Versuch vorzuschlagen, und fühlte unklar, daß mehr Versuche nur noch furchtbarere Veränderungen ergeben konnten. Ich näherte mich der Tür und versuchte zu sprechen, aber es kam kein Ton aus meiner Kehle, die wie Feuer brannte. Ich tat also die drei gewünschten Schläge. Den Rest können Sie nun erraten. Er erklärte mir seinen Plan, indem er ihn mit der Maschine niederschrieb. Ich nahm ihn an. Mir war eiskalt, und ich zitterte, als ich ihm wie ein Automat, in einem gewissen Abstand, bis zur Fabrik folgte. In der Hand hielt ich eine ganze Seite voller Anweisungen über die Bedienung des Preßlufthammers. Als er vor dem Hammer stand, hüllte er sich den Kopf wieder ein, streckte sich, ohne sich umzuwenden, ohne eine Geste des Abschieds, auf dem Boden aus und legte seinen Kopf genau auf den Platz, wo die große Metallmasse des Hammers aufschlagen mußte. Meine Aufgabe zu verrichten war nicht schwer, denn es war nicht mein Mann, sondern ein Ungeheuer, das ich zu töten hatte. Bob war schon tot. Ich führte nur noch seinen letzten Willen aus. Die Augen auf den unbeweglich daliegenden Körper gerichtet, drückte ich auf den roten Knopf. Die Metallmasse senkte sich schweigend und langsamer, als ich gedacht hatte. Der dumpfe Aufschlag des Hammers am Boden mischte sich mit einem einzigen trockenen Knacken. Den Körper meines . . . des Ungeheuers durchlief ein Schauer, dann bewegte er sich nicht mehr. Ich näherte mich ihm und sah, daß Bob vergessen hatte, seinen rechten Arm, das Fliegenbein, auch unter den Hammer zu legen. Meinen Ekel, meine Furcht überwindend und eilig – denn ich dachte, das Geräusch des Hammers werde vielleicht den Nachtwächter herbeirufen – drückte ich auf den Knopf zum Heben des Hammers. 31
Mit klappernden Zähnen und weinend vor Angst mußte ich von neuem meinen Ekel überwinden, um seinen seltsam leichten rechten Arm zu heben und vorwärtszubewegen. Zum zweitenmal ließ ich den Hammer fallen; darauf verließ ich rennend die Fabrik.« Am nächsten Tag kam Inspektor Twinker zu mir zum Tee. »Ich habe eben erfahren, daß Lady Browning gestorben ist, und da ich mich mit dem Tode Ihres Bruders befaßt hatte, hat man mich mit der diesbezüglichen Untersuchung ebenfalls betraut.« »Und liegen schon Befunde vor, Herr Inspektor?« »Der Arzt ist ganz sicher. Lady Browning.hat sich mit einer Zyanidkapsel selbst den Tod gegeben. Sie muß sie seit . . . langer Zeit schon bei sich gehabt haben.« »Kommen Sie zu mir ins Büro, Herr Inspektor! Ich möchte Ihnen ein merkwürdiges Dokument zu lesen geben, bevor ich es vernichte.« Twinker setzte sich an meinen Schreibtisch und las bedächtig und scheinbar ruhig das lange »Bekenntnis« meiner Schwägerin, während ich am Kamin meine Pfeife rauchte. Schließlich wendete er die letzte Seite um, fügte die Blätter sorgfältig wieder zusammen und gab sie mir. »Was halten Sie davon?« fragte ich ihn, indem ich die Blätter leise dem Feuer übergab. Er antwortete nicht gleich, sondern wartete schweigend, bis die Flammen die weißen Blätter aufgezehrt hatten, die sich im Feuer krümmten. »Ich glaube, daß dieses Schriftstück tatsächlich bewiesen hat, daß Lady Browning wahnsinnig war«, sagte er schließlich, indem er mich mit seinen klaren Augen ansah. »Ja, ohne Zweifel!« sagte ich, während ich meine Pfeife wieder ansteckte. Eine ganze Weile schauten wir beide stumm ins Feuer. »Ich habe heute morgen etwas Merkwürdiges getan, Herr Inspektor. Ich bin zum Friedhof gegangen, zum Grab meines Bruders. Niemand war dort.« »Doch, ich war dort, Mr. Browning. Ich wollte Sie bei Ihrer . . . Arbeit nicht stören.« »Sie haben mich gesehen . . .?« »Ja, ich habe gesehen, wie Sie eine Streichholzschachtel begraben haben.« »Wissen Sie, was drin war?« »Vermutlich eine Fliege.« »Ja, ich habe sie heute früh gefunden. Sie war in einem Spinnennetz im Garten gefangen.« 32
»War sie tot?« »Noch nicht ganz. Ich hab sie genommen . . . und hab sie zwischen zwei Steinen zerdrückt. Sie hatte einen . . . ganz weißen Kopf.«
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Der Sturz ins Vergessen
Für die charmante Edna, die mich dadurch, daß sie einen anderen Mann heiratete, vor diesem Absturz bewahrt hat Dieser Sturz – dieser schwindelerregende, endlose Absturz meiner Alpträume! Es ist nur ein Traum, ich weiß es, aber dieses rein abstrakte Wissen nimmt meinem Sturz ins Leere nichts von seinem Schrecken und seiner Qual. Ich weiß, daß ich träume und daß ich erst nach dem widerwärtigen Langsamerwerden und dem jähen Anhalten aufwachen und mich keuchend unter meinen Decken wiederfinden werde, wo ich anschließend – von neuem unbegreiflichem Schrecken erfaßt – wie ein Rasender um mich schlagen und kämpfen werde, um davon freizukommen. Diese kurzen Augenblicke panischer Angst sind möglicherweise noch furchtbarer und schrecklicher als der Sturz im Traum, denn ich vergesse dann nicht nur alles, sondern bin mir auch plötzlich nichts anderen mehr bewußt als der Angst, jener tiefen, schwarzen, entsetzlichen Angst, die vom tiefsten Grunde her auf mich zukriecht. Mein Selbsterhaltungstrieb ist dann immer derart stark, daß es schon passiert ist, daß ich eine dicke Wolldecke, in die ich eingehüllt war, regelrecht zerrissen habe. Ich weiß sehr genau, daß die Psychiater so etwas einen Wiederholungstraum nennen. Als Kind hatte ich diese Art Traum noch viel häufiger. Meine arme Mutter mußte, aufgeweckt von meinem erstickten Schreien, öfters aufstehen, mich aus meinem zerwühlten Bett herausnehmen und in ihren Armen wieder zum Schlafen bringen. Ich weiß sehr wohl, was mein Arzt dazu sagen würde; und da ich Freud, Adler, Jung und auch andere gelesen habe, kann ich mich nicht entschließen, einen Psychiater aufzusuchen; ich würde ihn von allem Anfang an doch nur an der Nase herumführen. Vielleicht ist mein Traum eine Art Erinnerung an den Vorgang meiner Geburt, was manche Wissenschaftler bestätigen würden, aber es kommt noch etwas anderes hinzu: Plötzlich setzt in mir vorübergehend das Bewußtsein aus; es kehrt zurück, sobald ich das Bett verlassen habe, aber es könnte auch einen ganzen Tag lang wegbleiben; wenn mein Herz dann weiterschlagen würde, wäre ich nichts anderes als eine sich bewegende Larve, nahezu ohne Bewußtsein. Seitdem ich das fünfzehnte Lebensjahr überschritten habe, hat dieser Alptraum viel von seiner Heftigkeit eingebüßt. Er suchte mich nur noch 34
selten heim. Völlig verschwunden war er, als ich Edna heiratete. Dann brach der Krieg aus, und beim ersten Absprung mit dem Fallschirm fand ich meinen Angsttraum als Wirklichkeit wieder: diesen furchtbaren, schwindelerregenden Sturz im Wind der Propeller, der mir den Atem raubte und mich erstickte, genau wie das meine Bettdecken getan hatten, als ich noch klein war. Ich schrie, bis ich völlig atemlos war; hinterher aber, am Boden, erfuhr ich wieder das Schreckliche: ich wußte einfach nichts mehr, ich fühlte nur noch eine völlige Leere um mich herum. Ich muß trotzdem normal reagiert haben, denn meine Trainer haben nie etwas beanstandet, und meine Ausbildung ging weiter. Jeder Absprung aber bedeutete denselben Alptraum. Erst nach dem Kriege jedoch, nach unseren zweiten Flitterwochen – wie gräßlich sind doch zweite Flitterwochen! – suchte mein Alptraum mich wieder heim. Jetzt werde ich ihn nicht mehr los, ich träume ihn fast jede Nacht. In letzter Zeit kommt jedoch noch etwas Entsetzliches hinzu, etwas, dessen ich mich nie genau entsinnen kann, das in keinerlei Zusammenhang mit meinem Alptraum steht, das aber, so scheint mir, diesem sehr wohl ein Ende setzen könnte. Ich weiß, daß es sich um etwas handelt, das mit dem Tode von Edna zusammenhängt. Während des ganzen Prozesses habe ich all die Zeit über vergeblich versucht, mich zu erinnern. Gewiß, es steht fest, daß ich Edna getötet habe, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, wie. Und das ist schrecklich, denn ich bin unschuldig. Übrigens hatte ich den Eindruck, daß zumindest einer der Schöffen sich dessen bewußt war – wahrscheinlich ein Mann, der eine Frau gehabt hat, die Edna ähnlich war. Die andern . . . ? Es genügte völlig, ihre Gesichter zu sehen, während sie Ednas Tonband abhörten. Sie alle, die Polizei, der Richter, die Anwälte, die Geschworenen konnten bloß zuhören; ich aber brauchte nur die Augen zu schließen, um mir alles zu vergegenwärtigen, die Ausstattung des Raumes, das Licht, die behagliche Wärme des Feuers, jede unserer Bewegungen, das harte Auf leuchten von Ednas bleichem, rätselhaftem Gesicht, als sie mich mit kaltem Ton aufforderte, meine Drohung zu wiederholen, mein albernes Gerede über Florence. Ich sah alles noch einmal, den metallischen Glanz ihrer tiefliegenden grünen Augen, den Rauch ihrer Zigarette, der in bläulichen Schwaden im Zimmer stand wie langgestreckte, unbewegliche Wolken am Sommerhimmel. Was aber ist es bloß, was die Geschworenen nicht wissen, was die Polizei nicht weiß, was niemand weiß und woran ich mich unter allen Umständen erinnern muß? Was haben sie mir Fragen gestellt! Dutzende, Hunderte von Fragen über Edna, ihre Vergangenheit, meine Vergangenheit, unsere Vergangenheit! Aber nie hat mich einer etwas gefragt, das mich auf das kleine Geheimnis gebracht hätte, jene kleine unumstößliche Tatsache, die dem Prozeß binnen weniger Minuten ein Ende gesetzt hätte. 35
Obwohl meine Anwälte ganz offen die Ansicht vertraten, daß damit nicht das geringste zu erreichen sei, hatte ich mich für unschuldig erklärt. Tatsache ist, daß alles gegen mich spricht – alles, sogar meine eigenen Aussagen. Jawohl, ich beweise mein Verbrechen selbst, ich erläutere es in allen Einzelheiten auf diesem verdammten Tonband. Nur waren meine Erklärungen für Edna bestimmt und nicht für einen Gerichtshof und eine Handvoll Narren. Hier liegt der große Unterschied, und genau an dieser Stelle setzt mein Erinnerungsvermögen aus. Ich habe sie darauf hingewiesen, daß ich mich früher oder später an den wichtigen Punkt würde erinnern können. Meine Anwälte haben alles verdorben, indem sie meine Erklärung als Vorwand benutzten, mich für unzurechnungsfähig zu erklären. Aber das verfing nicht, glücklicherweise übrigens, denn ich bin völlig normal. Es wurden Ärzte zugezogen; sie stimmten mir zu. Nur einer bekundete den Mut zu sagen, er sei tatsächlich der Meinung, daß mein Erinnerungsvermögen mir einen schlechten Streich spiele. Man sah, daß er spürte, wie wichtig dieser Punkt war, und ich empfand deutlich, welches Mitgefühl er für mich hatte. Was aber vermag ein bloßer Zweifel schon für Gewicht zu besitzen in der Schale von Justitias Waage, wenn sich in der anderen Schale die schwere Last meiner eigenen klaren, sauberen und genau ins Detail gehenden Selbstanklage befindet! Ich habe Edna getötet, aber ich bin trotzdem unschuldig. Genauer gesagt, es handelt sich um mehr als ein perfektes Verbrechen, denn es gab gar kein Verbrechen, und ich bin unschuldig. Es ist ganz einfach das Nonplusultra eines Mordes. Es war mir aber doch nicht gleichgültig, als ich sah, wie der Richter seine schwarze Kappe aufsetzte, um mich zum Tode zu verurteilen – ich war jedoch ganz ruhig, denn ich wußte genau, daß mein Erinnerungsvermögen zu einer Zeit wiederkehren würde, da sich ein Justizirrtum noch rechtzeitig verhindern ließe. Ich erbat die Erlaubnis, das berühmte Tonband noch einmal abhören zu dürfen; doch lehnte der Richter dies ab. Es ist auch nicht sehr wichtig; ich habe es während des Prozesses zweimal gehört und kann es nahezu auswendig. Meine Anwälte meinten, ich solle gegen die Verwendung des Tonbandes protestieren; aber ich habe mich gehütet, dies zu tun; schließlich mußte ich doch beweisen, daß ich nichts fürchtete. Ein Unschuldiger darf das Gericht nicht fürchten, und es wird sich bestimmt noch zu meinem Vorteil auswirken, daß ich es nicht tat, wenn ich erst einmal den Beweis für meine Unschuld erbringen werde. Während die Mehrzahl der Verurteilten die Nerven verlieren, so daß sie nicht mehr essen, nicht mehr schlafen können, ohne Schlafmittel zu nehmen, habe ich guten Appetit und schlafe prächtig, vor allem dann, wenn ich spüre, daß mein Alptraum wiederkehren wird. Beim erstenmal packte meine Wächter, die mich Tag und Nacht überwachen, natürlich die blasse Furcht, und sie weckten mich schonungslos. Jetzt wissen sie, 36
daß ich dabei die meiste Aussicht habe, mich wieder erinnern zu können, wieder auf jene kleine Einzelheit zu kommen, auf die winzige Tatsache, mit der sie anschließend zur Direktion laufen werden, um dort zu berichten, daß ich imstande bin, meine Unschuld zu beweisen – und sie lassen mich in Ruhe. Anfangs glaubte ich fest daran, daß Edna eine reinkarnierte Katze sei, aber das war nur ein Spiel oder vielmehr ein Täuschungsmanöver ihrerseits. Ihre Augen, die sie am Abend ganz weit öffnete, um sie leuchtender erscheinen zu lassen, ihre Art zu lächeln, ihre einstudierte Geschmeidigkeit, ihre katzenartige Behendigkeit – ihre Eltern hatten sie als Ballett-Tänzerin ausbilden lassen wollen – die Leichtigkeit, mit der sie durch eine nur ganz leicht geöffnete Tür hindurchgleiten, mit der sie leise vom Sofa herabspringen konnte, um sich auf dem Teppich nahe beim Feuer zusammenzurollen: all das war falsch und gekünstelt. Und ich gebe zu, daß genau diese ihre Art es war, die mich so entzückt, in die ich mich verliebt hatte und auf die ich zunächst hereingefallen war! Ohne den Krieg hätte ich mich höchstwahrscheinlich mit ihrem Wesen abgefunden; aber die zweiten Flitterwochen waren ihr Unglück, denn sie beging die Riesenungeschicklichkeit, ihr Spiel noch einmal von vorn zu beginnen, als ob ich nicht gewußt hätte, wer sie wirklich war: eine Pseudointellektuelle, die mit Fleiß die Nonchalance und das Sichgehenlassen kultivierte, um eine Faulheit zu verbergen, die mitunter über die Grenzen dessen hinausging, was üblicherweise durch die bloße Sauberkeit gefordert wird. Edna war zu Recht von ihrer Faszinationskraft überzeugt, und dieser hatte sie sich bedient, sooft sie nur konnte. Später hat sie dann die Katze gespielt, weil sie gemerkt hatte, daß mich das verdroß, und darin bestand zweifellos ihre einzige wirkliche Ähnlichkeit mit diesem abscheulichen Tier. Geradeso wie bei einer Katze, die mit der Maus spielt, steigerte sich in ihr die Ruhe und der Hochmut in eben dem Maße wie in mir die Aufregung. Dabei mochte sie Katzen im Grunde gar nicht, genausowenig wie andere Tiere. Nur knapp einen Monat nach unserer ersten Hochzeitsreise hatte sie mich zwischen sich und meinem Hund wählen lassen. Wie feige ich war! Welch wunderbare Gelegenheit hatte ich vorbeigehen lassen! Meine einzige Entschuldigung ist, daß ich damals noch geradezu wahnsinnig verliebt war . . . nicht in sie – ich spürte bereits ihre wahre Natur – aber in die Rolle, die sie spielte. Als mein Alptraum nach dem Kriege zum erstenmal wiederkam, erhob sich Edna, nahm die Daunendecke und verbrachte den Rest der Nacht auf dem Diwan im Wohnzimmer. Am nächsten Abend fand ich, als ich vom Büro heimkam, die Ehebetten auseinandergestellt. Ich hätte, glaube ich, daraufhin die Scheidung bewirken können, aber ich hätte deswegen mit so vielen Leuten reden, ihnen meinen Traum erklären und, noch schlimmer, ihnen auch darlegen müssen, auf welche Weise Edna 37
beschlossen hatte, dem ein Ende zu machen. Immer dann, wenn ich, unter den Decken verstrickt, zu schreien begann und freizukommen suchte, zog sie eine lange Rute unter ihrem Kopfpolster hervor und, ohne sich auch nur die Mühe zu nehmen, sich dazu aus ihrem Bett zu erheben, schlug sie auf mich ein, bis ich mit Schreien aufhörte. Es war der Anfang vom Ende, als sie eines Tages neue Vorhänge im Hinterzimmer anbrachte. Sie liebte es ungemein, Anlauf zu nehmen und richtig wie eine Katze in einem Satz auf einen Hocker zu springen. Weil aber Edna keine echte Katze war, nicht einmal eine reinkarnierte Katze, glitt sie diesmal aus, stürzte und stieß sich an einer Kommode. Wütend erhob sie sich alsbald. Weil es aber schien, daß ihr das Atmen Mühe machte, und ich nur allzu froh war, ihr nachweisen zu können, daß sie weder die Beweglichkeit noch die Geschmeidigkeit einer Katze besitze, telefonierte ich dem nächsten Arzt. Auf diese Art lernten wir Barnley kennen, einen jungen Arzt, erst frisch von der Klinik, voller Schwung und Begeisterung, der den »Katzenmanieren« meiner Frau jedoch sehr rasch verfiel, ihren Augen voller Licht, ihrem dreieckigen Lächeln und auch ihrer Art, sich auf dem Teppich im Wohnzimmer niederzulassen; später, sobald ihre Gesundheit sich wieder besserte, verfiel er der geräuschlosen Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen. Jetzt, da Edna ihre Nummer einem anderen vorspielte, fand ich mich ein wenig in der Rolle des Maschinisten, der hinter den Kulissen alle Tricks, all die Kunstgriffe des Metiers beobachtet – wie sie zum Beispiel auf eine verlockende Art ihre ausgestreckten Hände auf die Knie legte, wie sie mit einem Klaps an den Kopf eine widerspenstige Locke bändigte oder die Hand über das Ohr führte und dabei das Haar mit einer runden Bewegung streifte, die ganz an die einer Katze erinnerte. Nie aß sie wirklich ein Stück Kuchen, sie knabberte zierlich mit kleinen Bissen und geschürzten Lippen daran, und wenn sie von ihrem Tee trank, hatte man den Eindruck, als schlappe sie ihn in kleinen Schlucken und mit rosiger, spitzer Zunge aus. Die Aufzeichnungen des Tonbandes waren gar nicht typisch für unsere Zänkereien und die Szenen, bei denen ihre Worte immer gehässig, giftig, voller Anspielungen und verschleierter Drohungen waren und bei denen sie falsche Argumente anbrachte. An jenem Tage nun hatte sie ein Ziel im Auge und demzufolge eine bestimmte Rolle zu spielen. Sie konnte mich nicht mehr belügen. Dr. Barnley besaß ein sehr schönes Haus mitten in einem riesigen Garten, das er allein mit seiner Mutter bewohnte, die alt und gebrechlich war. Er besaß auch zwei herrliche Hunde, aber ich würde ohne weiteres wetten, daß er sie zu gegebener Zeit gerne für Ednas Glück geopfert hätte. Sie hütete sich, mit ihm von ihren Herzbeschwerden oder ihrer Leber zu sprechen. Sie wollte für ihn ein vollendetes Beispiel an Gesundheit und Lebensfreude sein, an unwiderstehlicher, katzenhafter Schönheit und lächelnder Sanftheit – wenigstens während der Zeit, da er da war. Und um ihn ins Haus zu 38
ziehen, fiel ihr nichts Passenderes ein, als ihn für mich zu konsultieren. Sie besaß sogar die Unverfrorenheit, ihm von meinem Alptraum zu erzählen. Barnley muß trotz allem ein sehr anständiger Mensch gewesen sein, denn obwohl sie versuchte, ihn zu bewegen, mich in ein Irrenhaus zu überweisen, verharrte er dabei, nichts ernsthaft Bedenkliches an mir zu finden. Ich fühlte mich übrigens durchaus wohl und sogar verhältnismäßig glücklich, viel glücklicher als während der letzten Jahre, denn ich war mir endlich darüber klargeworden, daß ich Edna haßte. Ich haßte alles an ihr, und wenn ich in der Untergrundbahn zu meinem Büro in die City oder nach Hause fuhr, summte ich ein kleines Lied vor mich hin mit einem Kehrreim, der genau ins Stoßen der Räder paßte, wenn sie über die Schienen glitten: »Ich ver-ab-scheu-e dei-ne Katzen-haf-tig-keit! Ich ver-ab-scheu-e dei-ne Katzen-haf-tig-keit . . . ich ver-ab-scheu-e deine Katzen-haf-tig-keit !« Oh, dieser Sturz, dieser gräßliche Sturz ins Nichts! Weshalb konnte ich mich niemals wachbekommen vor seinem widerwärtigen Ende, und weshalb konnte ich, wenn ich wach war, nur wie ein Tier schreien bis zu dem Augenblick, in dem es mir schließlich gelang, meinen Kopf unter der Decke hervorzubringen ? Wo waren wir also? Beim Prozeß doch wohl? Natürlich. Ich habe nicht über Dr. Barnley gesprochen, aber ich weiß, daß wir seinetwegen, ich müßte sagen dank ihm, jeder für sich, beschlossen hatten, unserer Verbindung ein Ende zu setzen. Edna, oder vielleicht auch Barnley, hatte den Gedanken mit dem Tonband gehabt. Ich hatte ganz andere Ideen, vielleicht, weil ich eine gewisse Sympathie, sicher aber Mitleid mit Dr. Barnley empfand. Sie mußte alles während des Nachmittags vorbereitet haben, und ich nehme an, daß sie das Tonband mitten in einer unserer endlosen Zänkereien einschaltete, wahrscheinlich als sie gerade im Zimmer herumlief, um sämtliche Lampen zu löschen außer der einen am Kamin, vor der sie sich mit einer jähen, aber seltsam weichen Bewegung erhob. »Sag was du willst, James Faller, ich werde immer Geduld haben mit dir!« Edna hatte sich angewöhnt, mich mit dem vollen Namen anzureden, schon von Beginn unserer Ehe an, als sie besonders stolz auf mich war, und vor allem vor anderen Leuten. Nach und nach war dies seltsamerweise zu einem Ausdruck der Verachtung geworden, und in diesem Falle nun gestattete es ihr, den Gesprächspartner in dieser häuslichen Szene genau zu identifizieren. »Sag was du willst«, waren die ersten Worte, die das Tonband aufgezeichnet hatte; was aber die Angehörigen des Gerichtshofes nicht hören konnten, war genau das, was ich sagen wollte und was ich bereits gesagt hatte. Ich hätte es ihnen natürlich wiederholen können, doch das alles war sehr viel weniger von Bedeutung als das, woran ich mich immer 39
noch zu erinnern versuche. »Gewiß, geduldig wie eine Katze!« hatte ich schneidend erwidert, und schon aus den Gesichtern der Geschworenen war zu schließen, daß Edna hier einen ersten Punkt gewonnen hatte. »Du verachtest mich, James, nicht wahr?« »Du bist mir ein Brechmittel, Edna.« »Und du tätest alles, was in deiner Macht steht, um dich meiner zu entledigen?« »Gewiß, meine Teuerste!« »Nein! Geh jetzt nicht fort! Wir müssen ein für allemal zu einem Ende kommen.« »Ich gehe bloß den Tee holen.« Hier hätte ich erklären müssen, daß ich daran gewöhnt war, jeden Abend den Tee zu bereiten, bevor wir zu Bett gingen. Ich hätte hinzufügen können, daß die kleine Szene mit dem »ein für allemal zu einem Ende kommen« fast schon alltäglich geworden war, aber auch das war im Grunde unwichtig. Edna hatte das Tonband nicht gestoppt, und etwa drei oder vier Minuten lang hörte man nichts weiter als das behagliche leise Knistern des Feuers und schließlich noch, wie die Tür sich öffnete, als ich mit dem Teetablett zurückkam. »Und diese Frau – diese . . . Florence? Bist du immer noch entschlossen, James?« »Was willst du damit sagen?« »Das weißt du sehr genau. Du sagst mir immer wieder, daß du mich verlassen willst, um mit ihr zusammenzuleben. Ich habe genug davon und warne dich; ich kann das nicht mehr lange mitmachen.« Natürlich hatten sie wissen wollen, wer Florence sei. Auch die Polizei, gleich zu Anfang, lange vor dem Gericht. Sie hatten Florence nicht gefunden, und im Prozeß hatte ich es abgelehnt, über sie zu sprechen. Selbst wenn ich ihnen die Wahrheit gesagt hätte, nämlich daß Florence gar nicht existierte, daß es sie niemals gegeben hatte, daß sie lediglich eine erfundene Person war, rein zu dem Zwecke, die Liebschaft zwischen Edna und Dr. Barnley, die ich als nahe bevorstehend vermutete, zu »kontern« – sie hätten es mir doch nicht geglaubt. »Ich werde sie heiraten und werde dann endlich, statt einer Katze, eine wirkliche Frau haben.« »Du willst dich also scheiden lassen, um diese . . . Person zu heiraten? Ist es das?« »Nein, Edna.« »Wie soll sie denn sonst deine Frau werden?« »Halt mal ein, trink deinen Tee!« Hinterher, viel später erst, entdeckte ich das Mikrophon unter dem Kissen, auf dem sie sich wie eine Katze niedergelassen hatte. Daraus erklärt sich auch, mit welcher Deutlichkeit man hören konnte, wie die 40
Tasse auf die Untertasse aufgesetzt wurde. »Puh! Du hast Zucker hineingetan?« »Verzeihung, ich vergaß. Schenk dir neuen ein!« »Warum hast du auf meine Frage nicht geantwortet, James?« »Sei jetzt still und trink erst deinen Tee, Edna! Du gehst mir auf die Nerven.« »Trink du! Der Tee ist ja abscheulicher als je. Ich hab noch nie einen so widerlichen Tee getrunken. Worin hast du ihn denn bloß aufgegossen?« »Mein hübsches Kätzchen, gib mir deine Tasse! Danke! So, und meinen Tee schütte ich jetzt ins Feuer!« Im Tonband hörte man ganz deutlich, wie der Tee ins Feuer gegossen wurde. »Jim . . . ! Du machst mir Angst.« »Wirklich? Dann um so besser. Und jetzt kann ich auch deine Frage beantworten, mein Kätzchen.« »Wegen deiner . . . deiner Geliebten?« »Du wirst recht höflich. Sonst bedienst du dich ganz anderer Ausdrücke. Nun, ja – es handelt sich um Florence. Heute in zwei Monaten werden wir verheiratet sein.« »Glaubst du denn, daß du so rasch eine Scheidung durchsetzen wirst?« »Von einer toten Katze braucht man sich nicht scheiden zu lassen, Edna.« »Du bist ja verrückt. Weshalb willst du denn nicht ganz einfach mit. . . mit deiner Florence zusammenleben?« »Das ist unmöglich, mein Schatz. Es würde sich so kurz nach deiner Beerdigung schlecht machen.« »Meiner Beerdigung?« »Ja. So aber, richtig verheiratet, könnten Florence und ich hier leben. Und außerdem, weißt du, Florence liebt Hunde so sehr. Sie ist das genaue Gegenteil von dir. Schaun wir mal – eine Katze hat neun Leben, sagt man. Nun, ich habe so viel hineingetan, daß es reichen würde, fünfzig Menschen umzubringen, das heißt, mehr als zehn Katzen.« »James Faller, rede ernsthaft, bitte! Wovon sprichst du?« »Von Gift, liebe Edna. Von gutem altem Gift. Ja, ich weiß schon, du kannst es schon spüren, es brennt bereits tief in deinem Magen, in deinen Eingeweiden und in deinem Katzendarm. Ja, meine Liebe, das ist der Grund, weshalb ich von diesem hübschen kleinen Tee nicht getrunken habe, der so scharf schmeckt, und das ist der Grund, weshalb ich, wenn dein kurzer Todeskampf erst vorüber sein wird, hinausgehen und Tassen und Teekanne sehr sorgsam von allen Spuren reinigen werde.« »Jim . . . nein!«. Ednas Schrei war ungeheuer. Zweimal hatte er die gleiche starke Wirkung auf die Geschworenen. Ihre Gesichter wurden hart, hart wie 41
Stein, fahl und bleich. »Doch, Edna . . . ein prächtiges Gift, das keinerlei Spur hinterläßt, das aber sehr rasch tötet . . . Vielleicht ein wenig grausam, aber ich weiß ja genau, daß Katzen Schmerzen weit besser aushalten als alle anderen Tiere. Ihr leidet doch längst nicht so stark wie ein menschliches Wesen, nicht wahr, Edna?« Das Schreien, das aus ihrem Munde kam, unser kurzer Kampf, als ich sie auf den Diwan zurückwarf, da sie versuchte, sich zu meinem Schreibtisch mit dem Telefon zu retten, all das war deutlich zu hören und so klar auf dem Tonband, daß es eine Radiosendung hätte sein können. Alles, bis zu ihren letzten Worten, während sie sich vom Sofa gleiten ließ – ohne jeden Zweifel, um dem Tonbandgerät näher zu kommen – alles war mit voller Klarheit auf dem Band registriert. »James Faller . . . mein Mann . . . hat . . . hat mich vergiftet!« stöhnte sie. Der lange, klagende Schrei, der unmittelbar folgte und in dem Geräusch eines Keuchens endete, gab der Szene die letzte Färbung. Hinterher, als das Gericht es zum zweiten Male abgehört hatte, wußte ich, daß meine einzige Hoffnung, die einzige Chance, am Leben zu bleiben, darin bestand, mich zu entsinnen, wie ich meine Unschuld beweisen konnte . . . denn ich bin unschuldig. Dr. Barnley hätte mich belasten können; er vermied es, von mir zu sprechen, er erwähnte mit keinem Wort, daß Edna ihn meinethalben konsultiert hatte, und erklärte, in den Zeugenstand gerufen, einfach, daß ich ihn spät an dem bewußten Abend herbeigerufen habe und daß er, wenige Minuten hernach bei mir angekommen, Edna vorgefunden habe, wie sie tot ausgestreckt vor dem Kamin lag. Er beschrieb sehr genau den Ausdruck von Entsetzen, den die Tote gehabt hatte, und erklärte, wie er, aufmerksam geworden, kurz darauf das Tonbandgerät in einem kleinen Wandschrank neben dem Kamin versteckt gefunden habe. Er fand es auffallend schnell, so schnell, daß ich fast überzeugt bin, daß er und Edna diese Falle gemeinsam aufgestellt hatten in der Annahme, auf diese Weise etwas in die Hand zu bekommen, was eine Scheidung rechtfertigen würde – nicht ahnend freilich, daß so alle Einzelheiten des Todes dieser Menschenkatze festgehalten würden. Sie hätten bedenken müssen, daß auch ich fähig war, irgend etwas zu tun. Die Geschworenen erkannten natürlich auf schuldig. Das war gar nicht anders zu erwarten; sie konnten nicht wissen, daß ich Edna gar nicht vergiftet hatte. Gewiß, getötet hatte ich sie schon, aber auf durchaus legale Weise. Und nun fühle ich, daß ich aufwachen werde, in meine Decken verwickelt! Es ist entsetzlich, denn wenn ich erst wieder wach bin, werde ich mich an nichts mehr erinnern . . . Vielleicht, wenn ich die Augen ganz fest schließe und gut darauf achtgebe, daß ich mich im Bett nicht bewege, daß der Sturz noch ein 42
wenig andauert, bevor ich schreiend erwache. Nur ein ganz klein wenig. . . Leider fühle ich, wie mein Herz klopft, daß es wie rasend klopft, ein Zeichen dafür, daß ich bald aus meinem Traum aufwache. Mein Herz . . . Ednas Herz! Wohl bin ich es, der es zum Stehen brachte, aber durch einen Bluff . . . durch einen Bluff, jawohl. .. und es klappte. Sie glaubte die ganze Geschichte mit dem geheimnisvollen Gift. Und es ist wahr, daß ein Löffel Senfpulver in einer Kanne Tee einen fürchterlichen Geschmack erzeugen muß. Sie hatte tatsächlich geglaubt, vergiftet zu sein, und ist rein vor Angst gestorben. Eine andere Frau wäre vielleicht nicht gestorben, aber Edna besaß so viel Einbildungskraft; ihr Herz hat viel zu dem schnellen Tod beigetragen, denn sie hatte einen Herzfehler. Wie aber kann ich das beweisen? Ach – ich hab's! Ein Herzspezialist aus der Harley Street muß zugezogen werden. Das war's! Jetzt entsinne ich mich! Sofort lasse ich den Direktor des Gefängnisses kommen. Zu einem zum Tode Verurteilten kommt er immer. Eine weitere Sektion wird sehr rasch beweisen, daß ich nichts erfinde, daß meine Frau an einem Herzanfall gestorben ist. Ich weiß, daß sie Edna bereits seziert haben, zerlegt in kleine Stücke, aber an ihr Herz haben sie nicht gedacht; sie haben lediglich ihre Eingeweide untersucht, ihre abscheulichen Katzendärme, wo sie auch nicht die Spur eines Giftes entdeckt haben – natürlich nicht. Mit wieviel Aufwand sie aus mir herauszubringen versuchten, welches Gift ich benutzt hätte! Einige suggerierten mir förmlich die Namen einiger Gifte. Sie hätten mir wahrscheinlich kaum geglaubt, wenn ich ihnen gesagt hätte, daß mein berühmtes Gift lediglich in ein wenig Senf und nicht zuletzt in meiner Überzeugungskraft bestanden hat. Jetzt, wenn sie Edna jetzt exhumieren – und das müssen sie, sie müssen sie jetzt exhumieren! – werden sie ohne weiteres feststellen, daß nur die Angst, die schiere Todesangst den Stillstand oder das Zerspringen ihres Herzens herbeigeführt hat . . . eines von beiden . . . was eben ein Herz tut, wenn einer vor Angst stirbt. Und dann werde ich frei sein. Schließlich kann man einen Mann doch nicht aufhängen, weil seine Frau sich plötzlich dazu entschlossen hat, aus Angst zu sterben! Endlich weiß ich es wieder. Jetzt kann der Traum enden. Ich werde unaufhörlich das Wort »Senf« wiederholen. Es wäre zu schrecklich, wenn ich beim Aufwachen wieder alles vergessen hätte und unfähig wäre, meine Unschuld zu beweisen. Ich wette, sie werden feststellen, daß sie ein ganz kleines Herz hatte, ein Katzenherz, fast schwarz, und sehr hart. Oh! Das gräßliche Ende dieses Sturzes . . . ! Nie werde ich mich daran gewöhnen, bestimmt nie . . . ! Auf der anderen Seite der Straße warteten Hunderte von schweigenden Menschen. Vielleicht zwanzig waren niedergekniet und begannen, vom Regen gepeitscht, das Vaterunser zu beten. Da öffnete sich die kleine 43
Seitentür, ein barhäuptiger Wärter trat heraus und befestigte die übliche kleine, mit Maschine geschriebene Bekanntmachung an der Wand, deren Inhalt besagte, daß James Faller gehängt worden sei und daß der Gefängnisarzt, Dr. Barnley, um 9 Uhr 12 Minuten seinen Tod festgestellt habe.
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Gang zurück Dem Andenken meines Vaters, der diese Geschichte vielleicht lesen wird, ohne zu wissen, daß ihre Verfasser seine Söhne sind Der Tod ist nur ein Zurückgehen . . . »Wer hat das gesagt?« fragte ich, indem ich mich mit einem Ruck in meinem Krankenhausbett aufsetzte, das zwar schmal und hart war, aber trotzdem nicht unbequem. Ich keuchte, mein Atem ging rauh, und ich blinzelte. Meine Augen würden sich aber bald wieder ganz schließen und das Dunkel erneut auf mich hereinbrechen – das gelbliche Licht der schwachen Lampe, die auf Grund irgendeiner Sparsamkeitsmaßnahme mein Zimmer nur unvollkommen erhellte, vermochte es nicht zu durchdringen. »Wer hat was gesagt?« fragte mit leiser Stimme die Schwester. Gleichzeitig trocknete sie mir die Stirn und rückte die gräßliche Sauerstoffsonde in meinem rechten Nasenloch vorsichtig wieder zurecht. »Sicher ganz vernünftig . . .« murmelte ich und dachte an das Telefon neben meinem Bett, in dem ich vielleicht noch die Stimmen meiner Söhne würde hören können, bevor . . . »Wer ist vernünftig?« fragte die Schwester und versuchte, mir den Puls zu fühlen. »Sie natürlich . . . Sie müßten es wissen . . . eine Krankenschwester ist immer vernünftig.« Jetzt wußte ich, daß ich im Sterben lag. Ich hatte natürlich schon seit einiger Zeit geahnt, daß der Tod nahe sei, aber die Sicherheit darüber hatte vorläufig erst in meinem Unterbewußtsein bestanden. Es waren nicht die Schmerzen, auch nicht die Müdigkeit, und es war auch nicht die Mühe, die mir zeitweilig das Atemholen machte. All das war schließlich normal für einen Mann von achtzig Jahren. Nein, da war etwas anderes gewesen, ein seltsames Gefühl, das in dem Verlangen bestand, fortzugehen, und gleichzeitig in dem Wunsch, alle Menschen wiederzusehen, die ich liebte, sie so lange zu sehen wie möglich. »Ich störe dich nicht gerne, mein Sohn, aber es geht abwärts mit mir, du weißt es, und ich lebe nicht ewig . . .« So lautete gewöhnlich der Vorwand, unter dem ich einen meiner Söhne oder auch beide zu mir kommen ließ. In meinem bewußten Denken war das eine reine Lüge, denn ich sehnte mich lediglich nach ihrer Gesellschaft, aber in meinem Innersten wußte ich, daß es die Wahrheit war. Die gleiche Situation war schon an jenem Tage eingetreten, als meine 45
beiden Söhne, nachdem ich einige Wochen zu Hause im Bett zugebracht hatte, einen sehr bekannten Arzt zugezogen hatten. Er war höflich, tüchtig, beruhigend gewesen, aber das Unterbewußtsein eines Greises liest alle Gedanken, auch die eines Spezialisten. Meine Söhne hatten mich behandelt wie einen König. Sie waren gute Söhne. Sie hatten mich in eine ausgezeichnete Klinik gebracht, mit vielen Blumen und schönen, gepflegten Rasenplätzen; die Tagschwester war hübsch, sogar sehr hübsch; das Personal ebenso freundlich wie tüchtig. Alles, was mich umgab, war so unerwartet, mein Zimmer strahlte eine solche Fröhlichkeit aus, daß ich für einen Augenblick dachte, meine bösen Träume seien nun vorbei und ich würde sehr rasch wieder auf die Beine kommen. Ich fühlte mich so wohl, daß mich die Gegenwart der Krankenschwester, die mich mit flinken, kräftigen Händen entkleidet hatte, sogar ein wenig ärgerte. Ich war wohl krank, aber ich war weder ein Invalide noch ein Kind. »Ich behalte meine Socken an, Schwester!« hatte ich ihr mit ruhiger, aber sehr entschlossener Stimme gesagt. »Wie Sie wollen, Monsieur!« Ihre sofortige Zustimmung hatte mich durcheinandergebracht. Ich hatte immer gemeint, daß Kliniken, Krankenhäuser und Altersheime – selbst die teuersten – sehr strenge Vorschriften hätten. Die verblüffende Ungezwungenheit, mit der die Schwester mir einen frischen Pyjama übergezogen hatte, ihr zögerndes Lächeln, bevor sie sich entschied, den obersten Knopf offen zu lassen, und vor allem die Bewegung, mit der sie die Aufschläge meiner Pyjamajacke zurechtgestrichen hatte, als wäre ich ein kleiner Junge, dem man allzu spät seinen ersten Matrosenanzug anzog: all das hatte mich wütend gemacht. Fast hätte ich ihr in meinem Zorn erklärt, daß ich tagsüber meine Weste und nachts meinen steifen Hut trüge. Aber da es fast sicher war, daß sie darauf erwidert hätte: »Ganz wie Sie wollen, Monsieur!« stieg ich wortlos in mein Bett und war nur froh, daß sie mir nicht während dieser mühsamen Prozedur einen Klaps auf den Hintern gegeben hatte. Ich war fest entschlossen, sie niemals sehen zu lassen, dass einer meiner Zehennägel aus einem unerklärbaren Grund vor einigen Jahren schwarz geworden war. In dem uneingestandenen Bestreben, meinem Unterbewußtsein nicht zuwiderzuhandeln, hatte ich mir selbst gegenüber eine neue Haltung eingenommen: diese bestand darin, so zu tun, als wären meine Tage gezählt, und dies auch in einem unbeteiligten Ton zu sagen – ohne mir jedoch den Anschein zu geben, allzusehr daran zu glauben, gerade so sehr, um meine Zuhörer zu beunruhigen. Leider gibt es Menschen, die Scherze selten wirklich verstehen: ihr Sinn für Humor beschränkt sich auf die simpelsten Plumpheiten und aufs Augenfällige. Der Arzt der Klinik gehörte zu ihnen und knurrte mich grob an, so als wäre ich 46
wirklich davon überzeugt, daß mein Ende nahe sei: »Seien Sie doch nicht töricht!« sagte er und warf einen Blick auf meine Fieberkurve, die bereits über meinem Bett aufgehängt worden war . . . »Ihre Temperatur sinkt doch schon ganz rapide!« »Ja, aber sie sinkt nicht so schnell, wie es mit mir abwärts geht«, antwortete ich mit einem leichten Lachen, das in einem Hustenanfall endete. Die Schwester lächelte, aber der Arzt runzelte die Stirn und fühlte mir den Puls. »Ihr Puls schlägt kräftig und regelmäßig . . . Er verbessert sich bereits.« »Weil er noch nicht weiß, daß mein Zustand sich verschlimmert.« Diesmal schaute er mir in die Augen und begriff sofort . . . seine Erkenntnis drang brutal in mein Unterbewußtsein ein. »Der Tod ist nur ein Zurückgehen . . .« Wo hatte ich das bloß gehört oder gelesen? Das Hirn eines alten Mannes, und vor allem eines alten Mannes, der viel gelesen hat, ist derart vollgestopft mit Worten, Sätzen, Geschichten, Zweifeln und Gewißheiten in allen Ecken und Winkels, daß es ihm zuweilen schwerfällt oder sogar unmöglich ist, den Ausgangspunkt eines Gedankens zu finden. »Der Tod ist nur ein Zurückgehen . . .« War das der Widerhall einer Menschenstimme, die ich gehört hatte ? Auf alle Fälle hatte ich diesmal die Worte ganz deutlich gehört. . . . Aber nein, ich hatte bestimmt nur geträumt. Die Krankenschwester? Unmöglich. Keine Krankenschwester konnte so etwas sagen, nicht einmal die Nachtschwester. Wer also? Shakespeare? Die Bibel? La Rochefoucauld? Nein, La Rochefoucauld bestimmt nicht. Bossuet? Arnold Bennet? Hemingway? Es half mir gar nichts, auf diese Weise weiterzuforschen, das führte zu nichts, ich wußte es. Der Tod ist nur ein Gang zurück! Das schien in Übereinstimmung mit den Lehren der meisten Religionen zu stehen – wenn nicht gar allen, so zumindest allen, die ich kannte. Und außerdem hatte dieser Satz nicht viel Sinn, und irgendein Anhänger irgendeiner Religion hätte ihn gesagt haben können. Ich konnte mir sehr gut einen asketischen Padre mit knochigen Fingern vorstellen, der diesen Satz mit ernster Stimme aussprach, ebenso aber einen wohlgenährten Priester mit fetten Händen, der ihn in einer Kathedrale von der Kanzel herabdonnerte. »Der Tod ist nur ein Gang zurück . . .« Geradesogut konnte ich mir einen Orientalen vorstellen, wie er, seinen Tee schlürfend, diese Worte murmelte. Warum aber hatten diese Worte gerade jetzt einen anderen Sinn für mich? War es, um mir anzuzeigen, daß ich besser daran täte, mein Unterbewußtsein in mein Gehirn eindringen zu lassen? War es, um mich erkennen zu lassen, daß mein Ende bereits näher war, als ich dachte? War es eine Mitteilung? Ein Zeichen? Eine Tröstung? »Schwester, verstehen Sie, weshalb der Tod ein Rückgang sein soll und 47
kein Ende oder ein Schritt voran?« fragte ich die Schwester, während sie die Bandage um meinen Arm legte, um den Blutdruck zu messen. »Nicht bewegen, bitte!« sagte sie höflich. Sie setzte das Stethoskop an ihre Ohren und knipste die Leselampe an. Ich mußte einen Moment geschlafen haben, denn ich hatte nicht bemerkt, wie sie den Raum verlassen hatte, aber als ich gewahrte, daß alle Lampen im Zimmer erhellt waren und mein Bett, von dem man, während ich schlief, die Kopfkissen entfernt hatte, von Ärzten in weißen Kitteln umgeben war, brach die Wahrheit aus meinem Unterbewußtsein aus und trat ins Bewußtsein: Ich wußte, daß ich starb und daß dies nun das Ende war. »Der Tod ist nur ein Zurückgehen«, sagte die Stimme in meinem Kopfe immer noch. »Sehr schön, Sie wiederholen sich!« sagte ich zwischen den Zähnen. »Und dieser Satz sagt nicht eben viel, nicht wahr?« »Was möchten Sie?« fragte mich einer der Ärzte, der sich ganz tief zu mir herunterbeugte, während ein anderer eine brennend heiße Spritze in meinen Arm stieß. »O nichts, wäre es nicht ratsam zu telefonieren?« »Ach wo, machen Sie sich doch bloß keine Sorgen! Entspannen Sie sich, und haben Sie Vertrauen in uns!« sagte er, und gleichzeitig bekam ich noch eine Spritze in den anderen Arm. Das Klappern der Instrumente auf den Metalltellern war sehr unangenehm. Aber abgesehen davon erinnerten mich ihre Stimmen an diejenigen, die ich als kleiner Junge am Teetisch gehört hatte; ich hatte die Gewohnheit, die Arme um den Hals meiner Mutter zu legen und an ihrer weichen, warmen Brust einzuschlafen, darin ich sie atmen hören konnte, sprechen und leben. Mein Herz tat zwei oder drei Extraschläge, die mich in die Wirklichkeit zurückbrachten. Irgend jemand hielt mir das Kinn und beugte sich über mich – man hatte mir wieder einen Schlauch in den Mund eingeführt. Die Stimmen und das Geräusch der verschiedenen Instrumente zu beiden Seiten des Bettes wurden schwächer und schwächer. Ich hätte denken können, ich befände mich in der Mitte eines langen Korridors, und von beiden Enden desselben drängen genau die gleichen Töne bis zu mir. Und genau über meinem Kopf brenne zuoberst an einem Schornstein, der gut hundert Meter hoch war, eine helle Lampe, die ganz jener über meinem Bett glich. Das war es! Der Gang zurück, die Umkehr nach hinten! Ich zog mich zurück – von den Tönen und dem Licht . . . das hieß: vom Leben. Ein überraschendes, interessantes Erlebnis – ganz anders, als ich es erwartet hatte. Ich verließ nicht das Leben, vielmehr zog dieses sich von mir zurück. Sehr deutlich drang eine Stimme durch den langen Korridor zu mir. Es 48
war die Stimme meines älteren Sohnes: »Ist er noch bei Bewußtsein?« fragte er. »Nein . . . nicht mehr so richtig . . . Er ist bereits sehr weit fort, sehen Sie!« »Ich bin da, Papa!« kam die Stimme meines Sohnes den Korridor entlang. »Danke, mein Junge!« antwortete ich und fragte mich, ob meine Stimme auch durch all die Korridore hindurchdringen würde, die mir jetzt metallbeschlagen zu sein schienen. Die beiden Seiten des Korridors waren schon merklich zusammengeschrumpft, als mein zweiter Sohn mir mit ruhiger Stimme ankündigte, daß er bei mir sei. Es waren nur noch zwei enge Kupferrohre, auf jeder Seite von mir eines, zwei Röhren, die schlecht an meinem Trommelfell angebracht waren und die – nach den Tönen zu urteilen, die in die Rohre eintraten – gut einen Kilometer lang sein mußten. Auch der senkrechte Schacht des Kamins über meinem Kopf war nur noch eine ganz enge Röhre, an deren Ende, ungefähr einen Kilometer höher, ich undeutlich einen winzigen Lichtpunkt sehen konnte, der unablässig hin- und hertanzte. »Der Tod ist nur ein Rückgang«, sagte ich und lachte leise. Aber diesmal blieben die Worte bei mir und entfernten sich nicht durch die Röhren. Das Licht über mir erlosch immer mehr. Der Tod nahte. Ich wußte, daß mit dem Augenblick, da mein Herz stillstand, oder zumindest einen Augenblick darauf, ich nichts mehr hören noch sehen noch fühlen würde. Übrigens, sagte ich mir plötzlich, habe ich schon seit einiger Zeit nichts mehr gespürt. Schließlich hatten sich mir Licht und Töne völlig entzogen, aber ich brauchte noch einige Augenblicke, bis ich die wissenschaftliche Tatsache meines Todes begriffen hatte. Alte Leute diskutieren gern und bringen gern verwirrende Argumente vor. Ich sagte mir zum Beispiel, daß, da ich noch immer denken könne, mein Gehirn auch noch funktionieren und folglich mit Blut versorgt sein müsse, der Beweis dafür, daß auch mein Herz noch nicht zu schlagen aufgehört habe. Logischerweise befand ich mich also in einer Art Koma, und der Tod würde erst später eintreten. Sehr viel später jedoch fühlte ich, daß mein Körper tatsächlich tot war, daß mein Gehirn aufgehört hatte zu arbeiten; und was mir blieb, was noch weiterarbeitete, konnte nichts anderes sein als mein Ich, meine Seele, oder doch wenigstens jener unbekannte Teil von mir, der nicht vergänglich war. Ja, so war es. Etwas, das nicht vergehen konnte, das nicht vergehen würde. Was mich aber am meisten überraschte, war, daß ich, während ich mich weiterhin erinnerte und denken konnte, über meine Lage nicht Bescheid wußte! Ich fragte mich, ob ich innerhalb oder außerhalb meines Körpers sei. Aus meinen letzten Empfindungen zu schließen, hatte ich das Gefühl, das sehr unangenehme Gefühl, daß . . . 49
mein Ich sich mitten in meinem Kopf befände, vielleicht in der Hypophyse. In diesem Falle brauchte ich wahrscheinlich mehrere Monate, wenn nicht Jahre, bis ich mich befreien konnte . . . wenn nicht ein intelligenter Arzt eine Sektion anordnete. Diese Möglichkeit war jedoch sehr gering in der Klinik, in welche meine Söhne mich für meine letzten Tage gebracht hatten: Im Gegenteil konnte ich mir vorstellen, wie man meinen Körper in einer luxuriösen Leichenhalle auf einem Kühltisch aufgebahrt hatte. Oder vielleicht war ich bereits begraben? Keine Empfindungen, keine Möglichkeit, die Zeit zu messen, es war abscheulich. Wie sollte ich wissen, ob ich erst seit einigen Minuten tot war oder vielleicht schon seit zehn Jahren? Ich versuchte willentlich, mir Angst zu machen: Da war ich nun in einem völlig dunklen, völlig stillen Gefängnis eingeschlossen, ohne je schlafen zu können, ohne mich bewegen zu können, ohne handeln zu können wie sonst, meines Wissens eingeschlossen nur mit einem: der Ewigkeit. Leider ist es völlig unmöglich, Schrecken zu empfinden mit einem Herzen, das nicht mit Adrenalin verrückt gemacht worden ist – ohne einen Mund, der vor Entsetzen schreien kann, ohne Augen, die man wild rollen, und ohne Finger, ohne Nägel, mit denen man sich an etwas festkrallen könnte. Wenn ich bloß schlafen könnte! Aber ich brauchte schon gar nicht damit zu rechnen, mich selbst vergessen zu können. Ich versuchte Schafe zu zählen, langsam und ruhig, ohne Hast. Ich zählte Millionen Schafe, was eine Art Vergessen hätte hervorrufen können, aber meine Seele, oder mein Ich, konnte ganz schnell andere Dinge denken, während ich weiterhin Schafe zählte – mehr als Noah oder ganz Australien sich je geträumt hätten. Dann versuchte ich zu schätzen, wieviel Zeit ich gebraucht hatte, um meine Schafe zu zählen, denn ohne anzuhalten, war ich bei der überwältigenden Zahl von neunhundertachtundneunzig Millionen Schafen angelangt, Schafen, die ich mir alle lebendig vorgestellt und die ich eins nach dem andern gezählt hatte, wie sie über ein sonnenüberflutetes Gatter sprangen. Nur ganz wenige waren zu zweit gesprungen, und soweit ich das beurteilen konnte, hatte jedes mindestens eine Sekunde für den Sprung über das Gatter gebraucht. Folglich – wenn man sechzig Schafe pro Minute rechnete, oder dreitausendsechshundert Schafe pro Stunde, so machte das sechsundachtzigtausendvierhundert Schafe am Tag. Für eine Million Schafe hätte ich fast zwölf Tage zählen müssen und für eine Milliarde, eine Zahl, die ich praktisch erreicht hatte, hätte ich ungefähr Zwölftausend Tage gebraucht. Ein Jahr hatte dreihundertfünfundsechzig Tage, das machte . . . großer Gott! mehr als dreißig Jahre. Dreimal zehn Jahre! Einstein kam mir zu Hilfe. Wie konnte ich wissen, ob die Zeit, die ich jedem Schaf zum Springen zuerkannte, diese Sekunde, den geringsten 50
Zusammenhang mit einer Sekunde mitteleuropäischer Zeitrechnung hatte? In der völligen Abgeschlossenheit, in der ich mich befand, hätte ich mir geradeso gut vorstellen können, daß ein Schaf ein Tausendstel, ein Millionstel oder sogar ein Milliardstel einer Sekunde zum Springen brauchte. Es schien mir klar, daß ich vor einer schrecklichen Alternative stand: eine andere Beschäftigung zu finden oder wahnsinnig zu werden . . . Aber da war ich ja auf eine großartige Idee gekommen. War der Wahnsinn nicht eine Art Vergessen? Doch auch in dieser Richtung scheiterte ich gänzlich. Wie kann man wahnsinnig werden, ohne ein benebeltes Gehirn zu haben, ohne Nerven, die schwach weiden können, ohne Körper, der schaudern, ohne Mund, der schäumen oder delirieren könnte ? Es war einfach unmöglich. Im Wachtraum, beim Zählen meiner Schafe, kam ich dem Schlafe oder dem echten Traum noch am nächsten. Dabei wäre ein echter Traum so erfrischend gewesen! Träume sind immer voll unerwarteter Dinge; sie sind eine Form des Lebens, eine Zerstreuung, die man sich unfreiwillig selbst bietet. Ich aber war nicht nur gezwungen, alle meine Gedanken und Vorstellungen selber hervorzubringen; ich konnte nicht einmal aufhören, sie hervorzubringen, Tag und Nacht, wenn Tag und Nacht für mich überhaupt noch existierten. War ich begraben? Und seit wie langer Zeit? Hatten sich schon Würmer in meine Leiche eingefressen? Was würde geschehen, wenn sie mein inneres Ich erreichten ? Dieser Gedanke machte mir nicht einmal Spaß, er erschreckte mich aber auch nicht; er erweckte einfach eine Art leichte Neugier in mir. Und wenn ich mein ganzes Leben in Gedanken noch einmal lebte? Es gibt viele Leute, die ihre Memoiren schreiben. Alle sind sie Lügner, dachte ich, Jean-Jacques Rousseau an der Spitze. Da ich weder Leser noch Zuhörer hatte, konnte ich mir das Vergnügen einer aufrichtigen Autobiographie leisten. Ich begann bei meinen allerersten Erinnerungen und versuchte noch weiter zurückzugehen, wie Jung oder Adler oder irgendein anderer vorgeschlagen hatte, aber vergebens. Zum Rückerinnern meines Lebens schien ich viel weniger Zeit zu brauchen, als ich benötigt hatte, um eine Milliarde Schafe zu zählen, was folglich bedeutete, daß ich über verhältnismäßig wenig Erinnerungen verfügte. Ich wußte, daß Priester und Mönche sich durch wiederholte Gebete in einen ekstatischen Zustand versetzen können. Ich hatte das Vaterunser nicht vergessen, so versuchte ich es mit Beten. Ich fügte auch noch ein Gebet an, das ich für meinen Sonderfall formuliert hatte, der vielleicht gar kein Sonderfall war. Es gab sicherlich eine stattliche Reihe anderer, Hunderte, vielleicht sogar Tausende um mich herum, die gefangen waren, wie ich an dem Ort, wo ich begraben lag. Oder war mein Fall ein Einzelfall? Vielleicht war ich bloß ohnmächtig geworden oder befand 51
mich im Koma und würde meine Sinne früher oder später wiedererlangen, oder – noch schlimmer – ich würde in meinem Sarg erwachen und innerhalb weniger Minuten wahnsinnig werden. Aber ich hatte an all diese Möglichkeiten schon gedacht – keine war ausgeschlossen . . . Die Geschichte fesselte mich einen Augenblick lang. In meinem Gefängnis störte mich niemand, und ich konnte mich weit besser konzentrieren als irgendein Lebender. Mit meinen Kenntnissen über die Französische Revolution konnte ich möglicherweise das Rätsel um den Dauphin lösen. Aber ich kam sehr bald zu dem Schluß, daß es mit meinen Kenntnissen über diesen Teil der französischen Geschichte, so umfassend sie zu meinen Lebzeiten auch gewesen sein mochten, nicht weit her sei, und gab den Gedanken auf. Dann beschäftigte ich mich mit der Malerei. Unter meinen Vorfahren war mindestens ein berühmter Maler gewesen, und mein jüngerer Sohn verdiente seinen Lebensunterhalt mit Zeichnen. Ich konnte mir mühelos Landschaften vorstellen, Stilleben, Leinwand, Palette und Pinsel, aber ich war unfähig, besser zu malen als zu meinen Lebzeiten. Dann verlegte ich mich aufs Schachspielen, aber trotz aller Konzentration, die ich auf die verschiedenen Schachzüge verwandte, geriet ich bald in Verwirrung. Zudem ist es ohnehin nicht amüsant, ganz für sich allein Schach zu spielen. Nachdem ich versucht hatte, mir all die Bücher ins Gedächtnis zurückzurufen, die ich gelesen hatte (ich erreichte dieses Ziel bei weitem nicht), verlegte ich mich auf amouröse Erinnerungen. Versuchen Sie es einmal, Vergnügen dabei zu empfinden, ohne Körper und ohne einen Tropfen Blut darin, der in Wallung geraten könnte! Der Gedanke, mit anderen Gefangenen oder mit Lebenden in Verbindung zu treten, lockte mich sehr, nur wußte ich nicht, wie ich das anstellen sollte. Ich fragte mich, ob es wohl die Herstellung einer solchen Verbindung sei, die das eigentliche Ziel der spiritistischen Sitzungen wäre. Ich schuf mit meiner Phantasie solche Sitzungen und ließ, um es echter zu machen, meine Familienangehörigen daran teilnehmen, aber es wirkte nicht überzeugend. Dann befaßte ich mich einige Zeit mit Gedankenübertragung. Aber auch in diesem Falle wäre der einzige Gedanke, den es sich gelohnt hätte zu übertragen, der gewesen, mich zu exhumieren und meinen Sarg zu öffnen bis zu dem Augenblick, da meine Seele, mein Ich, sich befreien konnte. Aber hätte ich, körperlos wie ich war, überhaupt Verbindung aufnehmen können mit den Menschen? Überhaupt waren diese Erwägungen unwichtig. Wichtig war allein, daß ich meiner selbst und sonst nichts anderen bewußt war und daß ich gefangen war im vollkommensten Gefängnis, das je von Gott oder den Menschen erfunden wurde. Man kann sich vorstellen, daß man aus einem Burgverlies, aus einem Zimmer, aus einer Flasche, sogar aus 52
einem Sarg fliehen könnte, aber niemand kann dem Nichts entfliehen, einem Raum, der keine Dimensionen hat, dem Atom eines Atoms, wenn nicht dem Anti-Raum. Ein Intellekt (was war ich denn anderes als ein Intellekt?) kann keine Tunnels graben. Folglich war meine einzige Chance zu entweichen eine Flucht durch den Intellekt. Aber die Möglichkeiten des Verstandes sind unendlich viel beschränkter, als man im allgemeinen annimmt. Sich erinnern, Probleme zu lösen versuchen, das Vergangene so rekonstruieren, daß man selbst am besten dabei wegkommt, schaffen . . . das war schließlich alles, was man tun konnte, und sonst nichts. Das Schaffen war natürlich der interessanteste meiner Zeitvertreibe, derjenige, dem mein ganzer Eifer galt. So schrieb ich im Kopf einen schlechten Roman, dessen Held ein unmöglicher Gefangener war, unfähig, aus seinem Gefängnis zu entkommen, und ebenso unfähig, seiner Vergangenheit zu entfliehen wie sich selbst. Dann versuchte ich, wie ein Kind, Dinge zu erfinden, die es nicht gab: neue Formen, neue Farben und Wörter, was mir nicht besser gelang, als es Joyce oder Picasso gelungen war. Viel mehr Spaß machte es mir jedoch, eine Brücke über den Ärmelkanal zu konstruieren. Ohne eine Ahnung von Architektur und ohne handwerkliche Kenntnisse zu haben, ging ich mutig ans Werk; ich entwarf, machte Pläne, Berechnungen; ich mußte sogar noch einmal ganz von vorn anfangen, weil ich vergessen hatte, an die Gezeiten zu denken und an die Beschaffenheit des Grundes, in den ich die Pfeiler meiner Brücke setzen wollte. Ich widerstand der Versuchung, die Schwierigkeiten durch Magie oder durch den Eingriff eines Übermenschen zu überwinden; im Gegenteil, ich quälte mich redlich und verrichtete unzählige verschiedene Arbeiten selbst. An einem Tage, da ich mich als Taucher betätigen mußte, ließ ich meinen Sauerstoffschlauch brechen und wäre fast ertrunken; da aber mein Ende auch dasjenige der Brücke gewesen wäre, ließ ich mich im letzten Augenblick durch einen Froschmann retten. Die Beschäftigung mit dieser Brücke war die erste, die mir wirkliche Freude machte, wahrscheinlich weil der Geist nur zufrieden ist, wenn er schaffen kann. Ich mußte folglich weiterhin schöpferisch tätig sein. So führte ich die Konstruktion eines riesigen Ozeandampfers bis zum Stapellauf durch. Dann baute ich eine von Grund auf neue Stadt, die im Vergleich mit Brasilia nur ein kleines Ausstellungsdorf für Baukonstruktionen war. Mit der Ewigkeit vor mir und weder der Aussicht auf Ruhe noch dem Bedürfnis darnach, konnte ich das ganze Programm verwirklichen, ohne mir selbst etwas vorzumachen, und indem ich mein Bestes darangab. Nach der Vollendung des Ozeandampfers und der Stadt kannte mein Ehrgeiz keine Grenzen mehr, und ich machte mich mit vollen Kräften an den Bau einer riesenhaften Talsperre. 53
Ich hatte jedoch bald genug davon, eine Tonne Beton nach der anderen zu meiner Talsperre zu verarbeiten, obwohl ich zu dieser Aufgabe mit den technisch vollkommensten Hilfsmitteln ausgerüstet war. Ich brachte das Werk trotzdem zu Ende, denn ich fand es unwürdig, es unvollendet zu lassen. Und gerade als ich zusah, wie das Wasser hinter meiner Talsperre anstieg – es brauchte fünf Jahre, um das Tal zu füllen, in dem eine Stadt und ein Dutzend Dörfer hatten geopfert werden müssen, selbstverständlich um anderswo wieder aufgebaut zu werden – überkam mich eine neue Idee, die meine Aufmerksamkeit fesselte: Die Erschaffung von Leben! Um ein lebendiges Wesen zu schaffen, mußte ich damit beginnen, eine Zelle zu erschaffen, was mir in Anbetracht meiner dürftigen wissenschaftlichen Kenntnisse unmöglich war. Aber die Lösung kam mir ganz plötzlich in den Sinn, mitten in der Eröffnungszeremonie meiner Talsperre, gerade im Augenblick, als der neue Generalsekretär der Vereinten Nationen sich anschickte, die ungeheure, achthundert Meter breite Mauer im Auto abzufahren . . . Es war ja leicht, kinderleicht! Ich war die erste Zelle! Meine Kenntnisse über Embryologie waren äußerst beschränkt, noch bescheidener als die über Architektur. Bei meinen vorangegangenen großen Arbeiten hatte ich anderen Anweisung gegeben, auszuführen, was ich selbst nicht machen konnte. Ich hatte dazu Maschinen verwendet, die ich selber niemals hätte herstellen oder zusammensetzen können, aber um Leben zu schaffen, mußte ich alles selbst, ohne Hilfsmittel, tun. Ich wußte lediglich, daß eine Zelle sich in zwei neue Zellen teilen müßte, die sich wiederum in zwei teilten und so fort, bis schließlich die Ansammlung von Zellen eine im Mikroskop sichtbare Größe erreichen würde. Indem ich mich also daranmachte, das System der fortlaufenden Zweiteilung zu praktizieren, konnte ich vielleicht zu einem Resultat kommen. Aber was dann? Selbst wenn es mir glücklich gelang, einen Berg solcher seifenblasenartiger Gebilde zu erhalten, wann und wie würde das Leben in diese eintreten ? Ich mußte mit einer Zelle beginnen, die Leben gab, aber ich war nicht sicher, daß die Zellen irgend etwas mit dem Leben selbst zu tun hatten. Es gab nur ein einziges Mittel: meiner Einbildungskraft die Zügel schießen zu lassen. Es fiel mir nicht leicht, mich in eine Zelle zu verwandeln, denn ich war sicher, daß, was von mir existierte, sehr viel kleiner war als eine Zelle. Mein gefangenes Ich war also gezwungen, sich zu konzentrieren, eine entsetzliche Anstrengung auf sich zu nehmen, um millionenfach zu wachsen und dadurch zu einer mikroskopischen Zelle zu werden. Da ich meiner Einbildungskraft Vollmacht gegeben hatte, war ich gezwungen, zu akzeptieren, was sie hervorbrachte: ich hatte mit einer fast kugelförmigen Zelle begonnen, aber zu meiner Überraschung teilte sie sich in zwei längliche Zellen, die sich wiederum teilten. Nach einer 54
kurzen Zeitspanne teilte sich eine längliche Zelle, die ich war, wieder, und da ich mich nur in einer Zelle befinden konnte, wählte ich kurz vor der Teilung diejenige Zelle, welche die größere von beiden zu werden versprach. In diesem Augenblick warf ein unerwarteter Wechsel meine Pläne über den Haufen. Ich begann zu wachsen, und hinter mir wuchs ein Körper, vielleicht war es auch ein Schwanz. Wäre ich . . . ? Könnte ich . . . ? Ich war mir keiner Umgebung bewußt, auch keiner Bewegung. Was immer ich geworden war, ich konnte weder hören noch sehen noch fühlen, und doch hatte ich ein seltsames Verlangen, mich zu bewegen, mich zu vollenden, es war wie das Endstadium eines Neubeginns . . . Alles ereignete sich blitzschnell. Sie war da, ganz nahe. Es war meine Mutter, die Erde, und ich war ein Astronaut, der nach einer langen Reise in den Raum zu ihr zurückkehrt. Wenn ich sie doch nur erreichen könnte! Ich wußte, daß sie da war, vor mir, herrlich und rund, während ich mich verzweifelt bemühte, vorwärts zu kommen. Wenn ich doch nur die Dichte der Atmosphäre durchdringen könnte, ohne zerstört zu werden . . . ach, wenn ich doch landen könnte! Es war gelungen! Ich war durchgedrungen . . . und hineingelangt. Ich schrie, brüllte, hörte nicht auf zu lachen und . . . ich aß! Ich hatte solchen Hunger, und ich war so glücklich! Ich wußte, daß die, welche ich liebte, mich erwartete, dort – irgendwo in der warmen Dunkelheit! Nachdem ich meinen Körper verloren hatte, meinen Schwanz, meinen Astronautenanzug, war ich wieder eine Zelle geworden, oder ein Zellkern. Ich war immer noch gefangen, aber der glücklichste Gefangene, den es in einer nach innen gekehrten Welt geben konnte! Ja, ich war im Innern der Welt, ich hatte das Spiel gewonnen, auf eine immer noch unerklärliche Weise. Und die, die ich liebte, erwartete mich, ja – sie erwartete mich! Wie wir uns vermischten, zerstörten, schufen und wiederschufen, eins das andere, das hat noch kein Dichter besungen. Ich weiß nur, daß wir ich sind und daß ich wir bin . . . denn wir haben begonnen, uns aufs neue zu teilen, mit einem Unterschied: ich gehe nicht mehr von einer der sich teilenden Zellen zur anderen, ich bleibe in den meisten, in allen, die ich sind. Es gibt andere Zellen, die mir geneigt scheinen, die aber nicht ich sind. Und noch eine erstaunliche Tatsache: zum erstenmal seit meinem . . . meinem Rückgang habe ich wieder Momente, da ich mich wirklich ausruhen kann! Mein Ich, meine Seele erfährt ebenfalls eine wichtige Wandlung. Ich beginne, mich ebenso als Hirn zu fühlen wie als Seele, und außerhalb meines Gehirns, das lang und gewunden ist, völlig anders als das Gehirn, welches mich vor nun schon so langer Zeit verlassen hat, gewahre ich eine Masse – eine hirnlose Masse, die ebenfalls ich ist. Schlafen! Ja, ich habe herrlich geschlafen. Habe ich eine Minute oder 55
ein Jahrhundert geschlafen? Das ist kaum wichtig. Es war ein guter Schlaf, ein Schlaf in einem Paradies aus Gold und Purpur. Und bei meinem Erwachen erfuhr ich einen schweren Schock. Ich bin ein leibhaftiges Wesen geworden, ich habe einen Schwanz! Jetzt habe ich begriffen. Ich habe ein echtes Wunder vollbracht, ein Wunder an Vorstellungskraft, meiner Talsperre oder meinem Ozeandampfer weit überlegen. Ohne die notwendigen wissenschaftlichen Kenntnisse zu haben, ist es mir gelungen, rein durch die Einbildungskraft Leben zu schaffen, und indem ich dies tat, fand ich den Schlaf. Ja, ich bin ein der Imagination entsprungener Embryo, und ich weiß, daß diese warme Masse außerhalb meines riesigen Gehirns ein Herz ist, das bereit ist zu leben. Ich weiß auch, daß ich das Mittel finden muß, es in mich einzusetzen. Bin ich ein Küken in einem Ei oder ein eben empfangenes Kalb? Was auch immer aus mir entsteht, ich werde ganz und gar das Leben der Kreatur leben, die ich dann eben sein werde. Und hernach ? Da ich nun weiß, wie ich es anstellen muß, kann ich leicht mit einem anderen Tier wieder beginnen. Welcher Erfolg! Welch wunderbarer Erfolg! Ob Sie es glauben oder nicht, ich bin ein Baby, ein Junge. Ich wurde mir dessen bewußt, als ich begann, mit den Füßen zu stoßen, zweifellos etwa im fünften Monat. Aber welchen wunderbaren Schlaf ich nun habe! Während meines Menschenlebens habe ich niemals so gut geschlafen. Der Augenblick ist gekommen, es wird wohl nur eine Sache von einigen Minuten sein. Ich hatte große Angst, als die warme Hülle, die mich umgab, plötzlich barst und ich von allen Seiten den Druck harten Fleisches spürte. Ich kam mir vor wie ein Mensch in einem Unterseeboot, das plötzlich auf den Meeresgrund absinkt. Meine einzige Hoffnung ist, mir mit allen Mitteln einen Weg zur Oberfläche zu bahnen. Ich kämpfe schon eine ganze Weile, ich werde ohnmächtig! Herr im Himmel, ist dieser Tunnel lang . . . ein Tunnel, der an einem klebt, der einen zurückhält und quetscht! Jetzt weiß ich, warum so viele Menschen furchtbare Alpträume haben, in denen sie sich vor ungeheuren Abgründen befinden, am Fuße hoher Felswände, vor Mauern oder eingeengt in Tunnels, die zu eng für sie sind. Ach, welch entsetzlicher Stahlring um meinen Kopf! Bestimmt eine Geburtszange. He, passen Sie auf mein Ohr auf, mein Ohr! Welcher Lärm, welcher Lärm nur! Und diese Eiseskälte, die auf einen zukommt . . . Ich bin draußen. Ich sehe noch nicht mit meinen Augen, aber mein Ich sieht ganz genau, was vorgeht. Eine Klinik erster Klasse, noch luxuriöser als die, in der ich gestorben bin . . . Handschuhe, Ärzte mit Masken vor dem Gesicht, Chirurgen, Krankenschwestern . . . was für ein Schauspiel! Aber ich mag ihre Art, mich in alle Richtungen zu drehen, ganz und gar nicht. Sie scheinen alle ihren Spaß daran zu haben, mich an den Fersen zu nehmen und mich wie einen Ball herumzuwerfen. 56
So. Man hat mich angezogen und mich in ein Zimmer gefahren, das ganz voll Blumen ist. Nicht schlecht, diese junge Frau im Bett! Meine Mutter. Mein Gott, sie ist wirklich schön. Und dieser Mann, dieser lange Kerl mit dem gräßlichen Schnurrbart, der mich mit hochgezogenen Brauen ansieht? Nein, es ist nicht möglich: er ist mein Vater. Er ist ein Lügner, ein abgründiger Lügner. Er hat noch nie etwas so Häßliches gesehen wie mich, und trotzdem weint er und küßt die Dame im Bett und sagt ihr, ich sei sehr schön. Ich werde weitere Leben leben, ich weiß jetzt, wie man es anstellt. Der Schlaf, das völlige Vergessen, das der Schlaf bringt, ist die Mühe wert. Vielleicht ist dies das Mittel, völliges Vergessen zu erlangen . . . Nein, ich verwirre mich, aber der Schlaf . . . herrlich. ». . . und wir haben beschlossen, ihn Eduard zu nennen, wie seinen Großvater. Er ist erst fünf Tage alt, aber er ist wunderschön. Ich weiß nicht weshalb, aber bis heute morgen waren sein Schädel und sein Gesicht wie Schädel und Gesicht eines alten Mannes. Jetzt ist er ganz plötzlich ein wunderhübsches Baby geworden. Wir grüßen Euch alle herzlich Peggy.«
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Das Mädchen aus Nirgendwo Für den Dichter Jean Cocteau, derer mich zu dieser Eurydike inspirierte Später fanden es alle ganz in Ordnung, daß ich es unternommen hatte, meine Nase in Bernards persönliche Angelegenheiten zu stecken. Ich besaß auf zweifache Weise das Recht dazu: ich war sein einziger Verwandter, und ich war verantwortlich für die Sicherheit und Überwachung des Gebietes, in dem er wohnte. Ich war in sein Häuschen am See gezogen. Es war ein Unfall gewesen, davon war ich überzeugt, aber nennen Sie es, wie Sie wollen: Intuition, Instinkt oder – was der Wahrheit am nächsten kommen dürfte – ein in dreißig Berufsjahren erworbenes Ahnungsvermögen, ich wußte sofort, nachdem ich nur eben sein Wohnzimmer betreten hatte, daß Berny einen Teil der Verantwortung daran trug. Wenn ein Hund einen Knochen verstecken will, scharrt er ein Loch, vergräbt ihn darin und bedeckt ihn mit Erde; ein Mensch, der andere daran hindern will, ein Geheimnis zu entdecken, das er auf ein Stück Papier aufgeschrieben hat, verbrennt das Papier und verstreut die Asche in alle vier Winde. Die Asche befand sich im Kamin. Viel Asche. Die Aschenreste zu sammeln hätte nichts genützt, denn mein Bruder war offensichtlich mit dem Fuß darin herumgefahren, um sie zu zerdrücken. Und trotzdem war ganz unten in dem Aschenhaufen (also dort, wo das Papier am ehesten noch hätte brennen müssen) ein Papierfetzen übriggeblieben. Ich konnte folgende mit Maschine geschriebenen Worte entziffern: . . . 1 Uhr 15, morgen. Ich liebe Sie . . . Meiner Gewohnheit gemäß tippte ich diese Wörter auf Bernys Schreibmaschine, um die beiden Texte zu vergleichen, aber ich war überzeugt davon, daß nur er der Verfasser sein konnte. Genau um 13 Uhr 16 war es eingetreten, was ja fast 1 Uhr 15 war! Und dabei erfuhr ich gleichzeitig, daß Berny offenbar ein Liebesabenteuer gehabt hatte . . . »Los, Junge, mach dich an die Arbeit! Such diese Frau!« sagte ich zu mir selber, zündete meine Pfeife wieder an und durchwühlte noch einmal die Asche im Kamin, die längst hart geworden war. Die Frau fand ich nicht, aber ich stieß auf etwas, das der Rest einer Fotografie sein mußte. Ein leerer Rahmen, der auf dem Fernsehapparat stand, brachte mich darauf: das war »ihr« Rahmen. Und fast gleichzeitig bemerkte ich das Mikrophon in der Nähe des leeren Rahmens. Es war mit dem Fernsehapparat gekoppelt; ich schaltete diesen ein, ließ ihn warm werden, und als ich in das Mikrophon sprach, hörte ich meine Stimme, durch den Lautsprecher des Fernsehempfängers verstärkt. Es war mit keinem anderen Gerät 58
gekoppelt. Auf Bernys Schreibtisch fand ich vier Blatt Papier unter einem Stoß technischer Unterlagen vergraben. Auf die Mitte jedes dieser Blätter waren mit Maschine einige Worte – fast alles Fragen – geschrieben. Hatte Bernard diese Botschaften empfangen oder hatte er sie selbst geschrieben? Ich versuchte, sie zeitlich zu ordnen. Drei schienen zusammenzugehören, aber die vierte verblüffte mich. Es war die kürzeste von allen; nur drei Worte: Sind Sie glücklich? Auf den drei anderen Blättern las ich: Was wissen Sie von mir? Ich möchte gern zu euch kommen. Angenommen, daß ich Ihnen Glauben schenke, was soll ich dann tun? Nach und nach fand ich die Antwort auf diese Fragen. Ich habe zwei volle Jahre damit zugebracht. Offen gesagt, ohne meine Frau wäre ich bestimmt noch am Suchen. Anfangs wollte ich ihren Entdeckungen keinen Glauben schenken, aber sie hatte mir bald unwiderlegliche Beweise erbracht, und als ich schließlich alle Einzelheiten der Geschichte beisammen hatte, bestand für mich kein Zweifel mehr: aber niemand würde mir glauben. Und was noch schlimmer war: wenn ich mich wirklich entschloß, einen offiziellen Bericht zu machen, so stand die Chance 50 zu 100, daß man mich ins nächste Irrenhaus sperren würde. Aber nun, da ich eine Erzählung daraus gemacht habe, riskiere ich nichts mehr; wenn sie eines Tages gedruckt wird, könnte ich immer noch sagen, es sei halt so eine erfundene Geschichte, nichts weiter. Meine Frau und vielleicht noch ein kleiner Kreis von Gelehrten werden die einzigen sein, die wissen, daß es eine wahre Geschichte ist. Man war sich allgemein darüber einig, daß mein Bruder Bernard der Gescheiteste unserer Familie war. Ich war nie überrascht, wenn ich hörte, daß er wieder ein Diplom oder eine Auszeichnung erhalten hatte. Er sammelte solche Dokumente, wie andere Schmetterlinge und Briefmarken sammeln. Und ich war begreiflicherweise sehr glücklich, als er mit dem Doktortitel nach Ray Falls zurückkam. Noch glücklicher war ich, als er mir beim Aussteigen aus dem Zuge sagte, daß man ihn für einen wichtigen Posten im Kernforschungsinstitut ernannt habe. Bernard wohnte am See, oberhalb des Steilufers, in einem sehr gemütlichen kleinen Haus. Eine alte Frau aus der Nachbarschaft kam jeden Morgen, um ihm sein Frühstück zu bereiten und das Haus in Ordnung zu bringen. Abends kochte er sich selber. Er war nicht sportlich veranlagt, wenn man von seinem täglichen Morgenbad im See absah, das er bei jedem Wetter nahm. Auf jeden Fall aber hatte er den kräftigen Körperbau der Marsden geerbt, auch ihre blauen Augen. Ich hatte von meinem Beruf als Polizeibeamter her viel Erfahrung bezüglich Handgemengen, aber ich glaube, daß er mich dank seiner Konstitution 59
jederzeit leicht niedergeschlagen hätte. Folgendes muß sich zugetragen haben: Eines Abends, als er bis in die Nacht hinein gearbeitet hatte, um Formeln für das Elektronenhirn zu chiffrieren, gähnte Berny, streckte sich und sagte sich schließlich, daß es hohe Zeit sei, zu Bett zu gehen. Aber er wußte aus Erfahrung: wenn es ihm nicht gelang, seine Arbeit sogleich zu vergessen, würde er die ganze Nacht nicht schlafen. Deshalb hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, bis zum Seeufer hinunterzugehen und dabei seine Pfeife zu rauchen; aber an dem Abend regnete es so stark, daß er sich entschloß, den Fernseher einzuschalten. Der Schirm wurde hell, zwei Männer erschienen darauf; sie begannen, sich miteinander zu unterhalten, aber er konnte nichts hören, und das Bild war unscharf. Er versuchte nun, den Ton genau und das Bild klar einzustellen, gab es aber schließlich auf und sagte sich, daß sein Empfänger oder die örtliche Übertragungsstation nicht richtig funktionierten. Er schaltete ab. Einige Tage später, nachdem er einen Bericht zu Ende getippt hatte, schaltete er den Fernseher wieder ein. Nach einer Minute hörte er unklar und undeutlich eine Männerstimme, und als der Bildschirm sich erhellte, konnte er nur ungenaue Schatten erkennen, die sich in allen Richtungen bewegten. »Muß kaputt sein«, sagte sich Berny und drehte an den verschiedenen Knöpfen, durch die der Apparat einzustellen war. Er war im Begriff, wieder abzuschalten, als eine Hand über den Bildschirm ging, ganz deutlich und klar; tastend schien sie nach etwas zu suchen. Gleich darauf trat an ihre Stelle der Kopf eines sehr alten Mannes, der Berny zublinzelte und sich gleich wieder abwandte, während er etwas sagte, was Berny nicht verstehen konnte. Daraufhin verschwand der Männerkopf vom Bildschirm. Undeutliche Geräusche, flüchtige Schatten folgten, sonst nichts. Berny sah auf die Uhr und griff zur Abendzeitung. Die letzte Sendung sollte die Wiedergabe der Tagesschau um 23 Uhr 35 sein. Unmöglich konnte diese bis nach ein Uhr morgens gedauert haben! Irgend etwas stimmte nicht. Er mußte seinen Fernseher reparieren lassen . . . Oder vielleicht experimentierte die örtliche Station mit farbigen Bildern oder einem neuen Übertragungsverfahren. Ein solches Experiment würde natürlich die mangelnde Klarheit der Bilder und den schlechten Klang erklären . . . Am nächsten Morgen rief er Dick Rowlands an, einen der Ingenieure der örtlichen Sendestation. »Nein, Berny, wir machen zur Zeit keine Versuche. Um welche Zeit, sagten Sie, soll es gewesen sein?« »Um ein Uhr, oder ein paar Minuten später. Und vor zwei Tagen auch schon, aber noch später.« »Vorgestern . . . Nein, auch nicht. Über welchen Kanal hören Sie?« 60
»Den zweiten.« »Ja, das sind wir. Vielleicht haben Sie eine entfernte Sendung aufgefangen infolge irgendeiner technischen Unregelmäßigkeit. Das kommt schon mal vor. Was für eine Antenne haben Sie denn?« »Eine Innenantenne.« »Dann ist die Sache schon mehr als merkwürdig. Würden Sie mich bitte in Kenntnis setzen, wenn es noch einmal passiert? Ich komme dann sofort zu Ihnen.« Zwei Tage später erschienen die gleichen Menschen mit den verschwommenen Umrissen wieder auf dem Schirm, und wieder sprachen sie in kaum hörbaren Kehllauten. »Ihr Apparat läuft tadellos, Berny«, sagte Dick Rowlands am nächsten Morgen. »Was Sie auf dem Schirm gesehen haben, muß ein ganz entferntes Programm sein, das durch die Stratosphäre reflektiert wird. Es kommt manchmal vor, daß solche Programme durch gewöhnliche Empfänger aufgefangen werden, ohne daß man diesen Vorgang erklären könnte.« »Und von wo kann die Sendung in dem bestimmten Fall herkommen? Aus Rußland oder Australien?« »Ich glaube nicht, daß sie von so weit herkommt, aber das kann man nicht genau wissen. Sie haben die Sprache nicht erkannt, in der gesprochen wurde?« »Nein.« An dem Tage, als er sich meinen tragbaren Fernseher auslieh, erlangte Berny die Gewißheit, daß er es mit einem sehr seltsamen Phänomen zu tun hatte. Die Schatten waren wieder auf seinem Schirm erschienen, und er wollte feststellen, ob sie auch bei einem andern Gerät erscheinen konnten. Er schaltete beide nach dem »Gute Nacht« ein, mit dem unser Ortssender seine Übertragungen beendet. Zwei Minuten später begannen auf beiden Apparaten Schatten zu erscheinen. Plötzlich sprang Berny mit Staunen auf. Es waren genau die gleichen Schatten und Gesichter, die er bereits gesehen hatte, aber sie waren auf beiden Bildschirmen verschieden! Dies schloß die Möglichkeit aus, daß er ein entferntes Programm empfing, oder ließ zumindest annehmen, daß es zwei verschiedene Programme waren. Als die Schatten verschwanden und der Ton nach und nach schwächer wurde, schaltete er aus und zündete sich eine Pfeife an. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Versuche, in der Nähe oder entfernt, von denen Dick nichts wußte, oder . . . etwas ganz anderes. Er würde die erste Möglichkeit sehr sorgfältig prüfen. Wenn es sich um Versuche handelte, so waren sie bestimmt nicht besonders geheim, denn jeder Beliebige hätte sie empfangen können. Aber Berny hatte sich gründlich getäuscht. Ein paar Tage später bemerkte er nämlich, daß der Ton ihm stärker erschien als gewöhnlich. 61
Er wollte gerade die Lautstärke vermindern, als er ganz deutlich eine seltsame Stimme sprechen hörte. Unmittelbar darauf antwortete ihr eine andere, noch lautere Stimme. Eine Sekunde später wurde der Schirm hell, und er sah ganz deutlich zwei Männer, die miteinander sprachen. Es waren offensichtlich Japaner. Einer von ihnen wandte sich um, zeigte mit dem Finger auf den Bildschirm, und beide bewegten sich auf Berny zu. So hatte Dick also doch recht, überlegte Berny . . . Eine einfache technische Unregelmäßigkeit hatte ihm gestattet, ein japanisches Programm zu empfangen. Die beiden Männer auf dem Schirm hatten inzwischen aufgehört zu sprechen und blickten in die Kamera. Einer von ihnen sagte etwas und deutete auf Berny. Dann machte der gleiche Mann eine Bewegung, als erfasse er ein unsichtbares Glas und trinke daraus. Purer Zufall, dachte Berny, warf einen Blick auf das Glas Milch, das neben ihm stand, und suchte in seiner Tasche nach Zündhölzern; aber der kleine Mann auf dem Bildschirm durchsuchte die seinigen, und als Berny seine Streichhölzer gefunden hatte und sich mit gerunzelter Stirn daranmachte, seine Pfeife in Brand zu setzen, äffte der kleine Mann seine Bewegungen nach. Der andere Japaner, der bei der Szene Zuschauer geblieben war, fing an zu lachen und sagte etwas; sogleich erschienen drei oder vier Personen, von denen eine oder zwei sehr einfach gekleidet waren, füllten den Bildschirm vollkommen aus und richteten die Augen auf Berny. Das Glas Milch, die Pfeife, ihre Art, ihn anzuschauen und von ihm zu sprechen, all das konnte nur eines bedeuten: er war der Mittelpunkt eines höchst phantastischen Versuches. Zweifellos hatte er es mit Ingenieuren zu tun, augenscheinlich mit Japanern, die ein Verfahren gefunden hatten, das ihnen gestattete, ein einfaches FernsehEmpfangsgerät in ein Sende- und zugleich Empfangsgerät zu verwandeln. Aber er konnte sich nicht mit der bloßen Hypothese zufriedengeben. Ohne die Augen vom Bildschirm zu wenden, löste er langsam seine Krawatte; sofort, mit einer kleinen Geste, die von einem Lächeln begleitet war, schien der kleine Mann in der Mitte des Bildschirmes ihn nachzuahmen. Es war kein Zweifel mehr möglich. »Hören Sie mich?« fragte Berny, der vor dem Ton seiner eigenen Stimme erschrak. Sie sahen ihn starr an, dann sagte einer von ihnen ganz schnell etwas, und ein alter Mann, der eine Brille trug, trat in die Mitte des Bildschirms und fragte deutlich: »Sie Englisch sprechen?« »Ja«, sagte Berny, übermäßig erregt. »Können Sie mich hören?« Sie begannen wieder sehr rasch untereinander zu sprechen, und jener, der seine Bewegungen und Gesten nachgeahmt hatte, sagte etwas zu dem alten Mann, der den Kopf schüttelte. Die Unterhaltung ging noch einige Augenblicke weiter, und der alte Mann sah auf Berny und sagte langsam: 62
»Warten Sie bitte . . . ja . . . verstanden?« »Sie wollen, daß ich warte?« fragte Berny, indem er mit dem Finger auf sich zeigte. Da machten alle eine kleine Geste der Zustimmung. Er brauchte nicht lange zu warten. Seine Verblüffung wuchs, als er vor sich auf dem Bildschirm ein junges, hübsches Mädchen erscheinen sah, das ein sehr einfaches weißes Gewand trug und sich nach vorne bewegte, wahrend es sein langes Haar auf die eine Seite des Kopfes zurückwarf. Sie streifte die sie umgebenden Herren mit einem kurzen Blick und trat so weit nach vorn, daß ihre beiden schmalen Hände den Bildschirm fast schon zu berühren schienen. Sie hatte die ganze Unterhaltung sicherlich gehört, denn sie schaute auf Berny. Die Herren hatten sich um sie versammelt und fuhren fort, sich miteinander zu unterhalten. Sie wartete geduldig, bis sie fertig waren, dann sagte sie, die Augen fest auf Berny geheftet, in einwandfreiem Englisch: »Bitte, sprechen Sie Englisch?« »Ja. Hören Sie mich? Wer sind Sie? Wo sind Sie?« Sie schaute ihn traurig an, und alle begannen sie jetzt zu gleicher Zeit zu reden. »Sie hören uns offenbar, wir aber hören Sie nicht. Haben Sie verstanden?« »Ja, sicher«, sagte Berny, indem er mit dem Kopf nickte. Er stürzte an seinen Schreibtisch, nahm einen Füllfederhalter mit roter Tinte und schrieb in großen Buchstaben auf ein Blatt Papier: Können Sie das lesen? Wer sind Sie? »Ja, wir können sehr gut lesen, was Sie schreiben«, antwortete sie, als er seine Botschaft vor den Bildschirm gebracht hatte. »Wir . . .« Aber sie wurde durch das lebhafte Durcheinander einer ganzen Anzahl von Stimmen unterbrochen, die sich äußerst erregt um sie herum erhoben. Ihre Augen zu Berny wendend, sagte sie: »Man sagt mir, daß wir auf Ihre Fragen antworten werden, sobald der Augenblick dafür gekommen ist. Zunächst möchten wir wissen, wer Sie sind und wo Sie sich befinden.« Berny nickte zustimmend und beeilte sich, einen kleinen Tisch mitsamt seiner Schreibmaschine herbeizutragen, den er vor den Fernsehapparat setzte. Er legte ein Blatt Papier in die Maschine ein und schrieb in großen Buchstaben: Mein Name ist Bernard Marsden! Ich bin zu Hause, in Ray Falls. Wer sind Sie ? Wo sind Sie ? Er hob das Blatt in die Höhe des Bildschirms. Sich vorbeugend, konnte das junge Mädchen lesen und übersetzen. »Wo ist Ray Falls? Ist das nicht das Kernforschungszentrum?« fragte sie einen Augenblick darauf. Während er mit dem Finger auf seine letzte Frage zeigte, gab er ein Zeichen der Zustimmung für Ray Falls. »Warten Sie, ich muß fragen«, sagte sie und wandte sich an ihre 63
Begleiter. Sind Sie gefangen? schrieb er rasch auf, während sie sich mit den anderen beriet. Das junge Mädchen las die Frage und lächelte. »Nein. Diese Herren sind Gelehrte, sie sind sehr intelligent. Ihnen ist es zu danken, daß wir mit Ihnen in Verbindung treten konnten. Es ist schwierig für mich, Ihnen zu sagen, wo wir uns befinden, denn eigentlich sind wir nirgendwo.« Berny spannte ein neues Blatt in die Schreibmaschine ein. Unter den neugierigen Blicken der Herren und des jungen Mädchens schrieb er sehr rasch: Ich bin durchaus bereit zu glauben, daß dies ein phantastisches Experiment ist. Aber ich will nicht, daß man mich an der Nase herumführt. Sagen Sie diesen Leuten, sie sollen mit offenen Karten spielen, wenn sie meine Mitarbeit wünschen. Ich wiederhole: Wer sind Sie? Und wo sind Sie? Er hielt das Blatt eine Zeitlang vor den Bildschirm, während das junge Mädchen den Text übersetzte. Ihre Gefährten blickten ihr über die Schulter. Sie sagten etwas, und sofort wandte sie sich Berny zu und redete zu ihm: »Sie müssen sich einig werden über die Antwort, die sie Ihnen geben wollen. Haben Sie doch bitte einige Minuten Geduld!« Berny stimmte mit einem Kopfnicken zu. Sie sagte weiter: »Während Sie warten, kann ich Ihnen meinen Namen sagen, Mr. Marsden.« Sie warf einen Blick über die Schulter zurück. »Ich heiße Mary Seymour und bin in Hull in Yorkshire geboren. « Sie wurde durch die Rückkehr der Gruppe von Herren, die sie wieder umgaben, unterbrochen. Der älteste von ihnen, der mit der Brille, redete jetzt eine ganze Weile. Schließlich wandte sie sich lächelnd wieder Berny zu: »Zunächst möchten sie Ihnen versichern, daß dies keineswegs ein Scherz ist. Sie wollen versuchen, Ihnen ein Verständnis zu ermöglichen, was aber nicht einfach ist. Sie müssen Geduld haben. Wir gehören Ihrer Welt nicht mehr an . . . Nein, Mr. Marsden, ich schwöre Ihnen, daß ich die Wahrheit sage, und bitte Sie, mir zuzuhören . . . Von Ihnen aus gesehen sind wir tot. Nein, wir sind keine Gespenster. Ich bitte Sie, haben Sie doch Geduld!« Berny hatte mit den Achseln gezuckt, um seinen Zweifel deutlich zu machen. Alsbald versammelten sich die Herren und schienen aufs neue zu beraten. Sie redeten sehr schnell. »Sie sagen, wenn Sie mir nicht bis zu Ende zuhören wollen, werden wir Ihren Bildschirm verlassen und versuchen, mit jemand anders in Verbindung zu treten.« Einverstanden. Ich höre Sie bis zu Ende an! tippte Berny, so schnell er nur konnte. 64
»Danke. Wo war ich stehengeblieben . . .? Ach ja, die mich umgebenden Herren sind Japaner. Einige von ihnen sind bei der Explosion der Nagasaki-Atombombe getötet worden. Ich war auch in Nagasaki, als die Bombe niederfiel, und wurde – um in Ihrer Sprache zu sprechen – unter den gleichen Umständen getötet wie sie.« Sie lügen, kritzelte Berny auf eines der bereits gebrauchten Blätter. »Um Himmels willen!« flehte das junge Mädchen. »Es gibt unter uns nur einen einzigen Menschen, der Ihnen eine Erklärung abgeben kann, das ist Professor Kizoki. Ich persönlich verstehe von diesen wissenschaftlichen Dingen nichts, aber ich will mein Bestes tun, zu übersetzen, was er mir sagt. Er besteht übrigens vor allem darauf, daß ich Ihnen sage, daß wir nicht getötet worden sind. Und zwar sind wir deshalb nicht getötet worden, weil wir uns im eigentlichen Zentrum des molekularen und atomaren Zerfalls befanden. Die Kettenreaktion, die diesen Zerfall bewirkte, fand mit einer ungeheuren Geschwindigkeit statt, einer Geschwindigkeit, welche die Lichtgeschwindigkeit weit übertrifft.« Mit welcher Geschwindigkeit? tippte Berny mit ironischem Lächeln. Sie stellte eine Frage, wartete die Antwort des Professors ab und wandte sich wieder zu Berny. »Mit einer Geschwindigkeit, die für Sie undenkbar ist. Aber um Ihnen eine Vorstellung zu geben, schlägt der Professor folgendes vor: nehmen Sie an, der Zerfall habe mit einer Geschwindigkeit stattgefunden, die schon rein gemäß der Relativitätstheorie bewirkt hätte, daß der Zerfall vollständig gewesen wäre, noch bevor oder doch fast bevor der Zerfallsprozeß überhaupt begonnen hätte. Hören Sie mir zu, ich bitte Sie! Der Professor sagt, anders könne er Ihnen keine Vorstellung geben oder es Ihnen möglich machen, den Vorgang zu verstehen.« Berny nickte mehrere Male zustimmend mit dem Kopf, und sie fuhr fort: »Die Folge dieses Zerfalls ist mindestens ebenso schwierig zu erklären wie der Prozeß selbst, aber der Professor schlägt dazu zwei Bilder vor: aus einem dreidimensionalen Zustand in einem vierdimensionalen Universum wurden wir in einen vierdimensionalen Zustand verwandelt in einem All, das fünf Dimensionen hat. Oder, wenn Sie wollen: wir haben die Form der Anti-Materie angenommen, was auf das gleiche hinausläuft, sagt der Professor. Erscheint Ihnen das verständlich?« Berny tippte rasch auf seiner Maschine: Theoretisch ist das möglich, aber ich glaube es nicht. Können Sie mir Beweise geben? »Ich glaube, sie könnten Ihnen welche geben«, sagte sie, bevor sie übersetzte. Glauben Sie ihnen denn? tippte Berny, während das Mädchen dem Professor zuhörte. 65
»Ja, denn es ist keine andere Erklärung möglich.« Wie kann ich Sicherheit gewinnen, daß Sie nicht irgendwo in einem Studio sind und sich den köstlichsten Studentenwitz Ihres ganzen Lebens leisten? »Nein, Mr. Marsden. Ich versichere Ihnen, daß dies das erste Mal ist, daß ich mich sehe, seit . . . seit ich aus Nagasaki verschwunden bin. Aber hören Sie mir gut zu: der Professor sagt, daß er Ihnen einen Beweis geben kann. Sie können zum Beispiel leicht die tatsächliche Existenz zweier der hier Anwesenden nachprüfen, da diese in Nagasaki sehr bekannt waren. Der Professor sagt, Sie könnten Fotos von ihm in zahlreichen Büchern finden, die in Tokio verwahrt werden, und er stand auch auf der Liste der Opfer von Nagasaki. Er sagt, er sei unter Wissenschaftlern sehr bekannt gewesen durch seine Arbeiten über das Auge. Er sagt noch, wenn Sie die Angaben nachgeprüft hätten, was sehr schnell ginge, wäre die einfache Tatsache, daß Sie mit uns über Ihr Fernsehgerät sprechen konnten, ein weiterer Beweis, und ein noch überzeugenderer.« Und Sie, Miss Seymour? Kann ich von Ihnen auch irgendwo ein Foto finden und Einzelheiten über Ihr Leben erfahren? »Ja, ich habe eine Tante in Hull, die noch lebt. Ich weiß, daß sie ein Foto von mir hat, auf dem ich als Krankenschwester abgebildet bin; es wurde zu Anfang meiner Tätigkeit im Krankenhaus in Hull gemacht. Sie dürften meine Spur sehr leicht finden. Sie werden entdecken, daß ich nach Singapur geschickt wurde und bei Ankunft der japanischen Truppen dort verschwand. Ich wurde nach Japan gebracht, zusammen mit anderen Schwestern. Eine von ihnen lebt übrigens noch, ich kann Ihnen ihren Namen und ihre Anschrift geben, sie wird bestätigen, was ich Ihnen gesagt habe. Wir sind in Yokohama auseinandergcgangen.« Woher können Sie wissen, daß sie noch lebt? »Ich habe sie häufig gesehen. Zu Ihrer Erläuterung muß ich Ihnen noch sagen, daß wir uns sehr rasch und ohne jede Schwierigkeit von einem Ort zum andern bewegen.« Sind Sie auf dem Bildschirm dieser andern Schwester ebenfalls erschienen? »Es ist das erste Mal, daß ich auf einem Schirm erscheine. Der Professor hat eine ganze Anzahl von Apparaten erfolglos durchprobiert; denn es finden sich selten alle günstigen Voraussetzungen vereinigt. Wir können nur ein Bild von uns in den Elektronenstrom bringen, wenn ein Empfänger erleuchtet, aber frei ist, das heißt außerhalb der Sendezeiten. Wenn wir mit einem fernübertragenen Bild zusammentreffen, stehen wir in schwerer Gefahr. Und Sie können sich ja denken, daß die Leute nicht die Gewohnheit haben, ihre Empfänger erleuchtet stehen zu lassen, wenn es nichts zu sehen gibt. Sie sind ganz einfach die erste Person, deren Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen uns gelungen ist.«
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Angenommen, daß ich Ihnen Glauben schenke, was soll ich dann tun? »Sie sollen für den Professor Verbindung mit einigen Gelehrten herstellen.« Sind Sie viele? Treffen Sie mit Leuten zusammen, die in der gleichen Lage sind? »Ja, mit vielen Wesen, die von anderen Welten kommen und die wir nur schwer verstehen.« Wie sehen diese Wesen aus? »Ich weiß wirklich nicht . . . Diese Wesen lassen sich nicht erklären mit Begriffen, die aus unserer Dimension stammen.« Das Bild auf dem Schirm zitterte plötzlich: Trompetengeschmetter und ein kurzer Paukenschlag begleiteten das Erscheinen der Rathausuhr von Ray Falls auf dem Bildschirm. Berny warf überrascht einen Blick auf seine Armbanduhr und lief ans Fenster. Ein wenig unter ihm, von dem unbewegten Wasser des Sees gespiegelt, bestätigte ihm ein Streifen rosigen Himmels, daß es bereits sechs Uhr war und soeben ein neuer Tag begann. Berny entschloß sich, niemandem von dieser »Vision« zu erzählen, wenigstens nicht gleich. Beim Kernforschungsinstitut angekommen, ging er sofort in die Bibliothek und verbrachte einen Teil des Vormittags damit, Bücher durchzusehen, die er jahrelang nicht mehr aufgeschlagen hatte. Theoretisch schien es fast unmöglich, daß Atome, die einen Gegenstand oder ein Tier bildeten, in etwas völlig anderes verwandelt werden und dabei eine in sich geschlossene Einheit bleiben können. Berny blieb die ganze Nacht auf, aber aus dem zitternden Licht seines Bildschirms bildete sich keine Gestalt. Der Lautsprecher dröhnte und krachte, bis um sechs Uhr am nächsten Morgen das Bild der Uhr mit der üblichen Musikbegleitung erschien. Eine ganze Woche lang verbrachte Berny die Nächte vor dem Fernseher und wartete vergebens, daß Mary wieder erschiene. Ohne sich vorstellen zu können, wie, war er sich nicht ganz sicher, ob man ihn nicht zum besten gehabt hatte. Übrigens hätte in dem Falle irgendwer eine erstaunliche wissenschaftliche Entdeckung gemacht. Indessen bezweifelte er, daß jemand die Rolle der Mary Seymour so gut hätte spielen können; der Ausdruck ihres Gesichts hatte ihren Worten höchste Glaubwürdigkeit verliehen. Verliebte er sich etwa in ein Gesicht, in einen Schatten, der ein einziges Mal auf seinem Bildschirm erschienen war? Gab es Mary oder gab es sie nicht? Sie hatte ihm gesagt, daß sie kein Gespenst sei, doch zugleich hatte sie ihm zu verstehen gegeben, daß sie kein menschliches Wesen mehr sei. Drei Wochen später besaß Berny eine Gewißheit: Es hatte Mary Seymour tatsächlich gegeben. Berny hatte sich Urlaub geben lassen und war nach Hull gefahren. Dort hatte ihm die Leiterin des Krankenhauses 67
bestätigt, daß Mary Seymour in demselben Krankenschwester gewesen war. Ohne auch nur in den Akten nachzuschlagen, hatte sie ihm gesagt, daß Miss Seymour mit einer Gruppe von Ärzten und Schwestern ganz zu Anfang des Krieges nach Singapur abgereist wäre. Der erste Name im Telefonbuch, der auf A. Seymour lautete, hatte ihn auf die richtige Nummer verwiesen: Jawohl, Mrs. Anne Seymour hatte eine Nichte gehabt, die seit dem Krieg verschollen war. Ob er vorbeikommen dürfe? Sehr gerne. Die alte Dame hatte ihm alles bestätigt, was er bereits wußte. Unter dem Vorwand, die Liste der zu Anfang des Krieges in Singapur anwesenden Engländer prüfen zu wollen, war er schließlich mit dem Beweis davongegangen, daß er durchaus nicht geträumt hatte. Dieser Beweis war ein Foto von Mary Seymour im Alter von zwanzig Jahren – es war genau das gleiche junge Mädchen, das mit ihm über seinen Bildschirm gesprochen hatte. Bevor er auch nur die Koffer ausgepackt hatte, setzte sich Berny an den Schreibtisch, um seine Aufzeichnungen zu ordnen. Er zögerte jetzt keinen Augenblick mehr, einen möglichst genauen und vollständigen Bericht zu schreiben. Er würde diesen Mr. Holmes, dem Generaldirektor des Instituts, vorlegen, Berny war sicher, daß Holmes ihm glauben würde, aber selbst wenn er ihm abriete, den Bericht zu veröffentlichen, mit dem Hinweis, er sei zu phantastisch, war Berny zu einer Veröffentlichung entschlossen. Er würde seinen Bericht publizieren, und wenn er ihn in der Lokalzeitung drucken lassen müßte. Er betrachtete das Foto Mary Seymours, nahm aus einem Rahmen auf einem Regal ein altes Foto heraus und steckte das von Mary hinein. Er stellte den Rahmen nicht wieder auf das Regal zurück, sondern placierte ihn auf den Fernsehapparat. Dann schaute er auf seine Uhr, schaltete den Apparat ein, und noch bevor der Schirm richtig hell war, entnahm er den Geräuschen, dem Quietschen von Reifen, der Polizeisirene und Revolverschüssen, daß ein Kriminalfilm lief. Er schaltete den Ton schwächer und ging zu seinem Schreibtisch zurück. Er mußte eine ganze Weile gearbeitet haben, denn in dem Augenblick, als er müde und gähnend sich reckte und den Kopf wandte, war Mary auf dem Schirm. »Mary!« hauchte er. Er sprang zum Apparat hin und stellte ihn auf volle Lautstärke. ». . . will nicht.« Wiederholen Sie bitte, tippte er sehr rasch auf seiner Maschine. »Wir wissen, daß Sie einen Bericht über uns vorbereiten, aber wir bitten Sie dringend, von diesem Plan abzusehen.« Mary, ich weiß jetzt, daß alles wahr ist. Wo sind die andern? »Sie wollen nicht auf Ihrem Schirm erscheinen. Es ist traurig . . . zwei unserer Freunde wurden letztes Mal zerstört.«
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Hoffentlich haben Sie selbst nicht allzuviel ausstehen müssen? »Nein, aber versprechen Sie mir, diesen Bericht zu unterlassen?« Warum? schrieb er sehr schnell mit der Feder. »Die anderen haben entschieden, daß selbst wenn wir wieder zur Erde kommen könnten, wir es nicht wollten. Und die Mehrheit hat sich dafür ausgesprochen, keinerlei Verbindung mehr aufzunehmen mit . . . mit den Leuten auf der Erde.« Berny hielt ihr wiederum das Papier vor die Augen, auf das er geschrieben hatte: Warum? »Die Menschen . . . die Leute auf der Erde sind böse.« Er nahm Marys Foto und zeigte es ihr. »Ja, ich weiß. Ich war dabei«, sagte Mary lächelnd. »Mary! Sind Sie mir überallhin gefolgt?« »Ich kann Sie nicht verstehen . . . Berny!« Er tippte die Frage mit der Maschine und zeigte sie ihr. »Ja, wir können ohne Schwierigkeit zu jedem beliebigen Ort gelangen, und ich war gerade in Hull, als Sie ankamen.« Sind Sie glücklich? »Hier ist es so anders . . . so ganz anders. Ja, Berny, ich bin glücklich, aber es ist ein Glück, das Sie nicht verstehen können.« Wie leben Sie denn? Was tun Sie? »Das ist unmöglich zu beschreiben. Sehen Sie, alles, was für Sie Sinn und Bedeutung hat, gibt es hier gar nicht. Wir haben zum Beispiel keine Gestalt. Wir sind ganz einfach.« Wie können Sie einander dann sehen? »Wir sehen uns nicht. Wir spüren aber unsere gegenseitige Gegenwart. Übrigens ist es hier viel besser. Wie soll ich es Ihnen nur begreiflich machen? Wenn Sie mich ansehen, sehen Sie nur mein Gesicht. Wenn wir einander hier treffen – übrigens ohne uns zu treffen – sehen wir weder die äußere Erscheinung noch die Seele der andern: wir kennen einander einfach. Stellen Sie sich vor, alle Ihre Kenntnisse über andere Menschen würden sich in Visionen verwandeln – Sie könnten dann die anderen gleichzeitig unter jedem Aspekt sehen.« Können Sie die Gedanken anderer lesen? »Nein, das habe ich nicht gesagt. Wir haben es nicht nötig, Gedanken zu lesen . . . Wir kennen sie einfach.« Wie treten Sie dann miteinander in Verbindung? »Das haben wir niemals nötig. Wir wissen . . . aber es ist sinnlos, Sie können das nicht verstehen.« Ich könnte es doch versuchen. »Ja, Berny, gewiß . . . aber . . . ich glaube, ich könnte es Ihnen niemals verständlich machen.« Können Sie in der gleichen Weise auch uns sehen und in unseren Ge69
danken lesen? »Nein, denn ihr habt ja nur drei Dimensionen. Aber wir können uns unter euch aufhalten, euch sehen und hören.« Weshalb hören Sie mich denn jetzt nicht? »Weil, um Ihnen zu ermöglichen, mich zu sehen und zu hören, ich – oder sagen wir besser, meine Atome sich in Ihre Kathodenröhre hineinbegeben müssen, falls diese Bezeichnung richtig ist.« Was wissen Sie von mir? »Ich glaube, daß ich alles von Ihnen weiß, Berny. Ich bin Ihnen schon lange nahe, besonders seit Sie meine Tante in Hull besucht haben.« Er wurde rot, und nachdem er einen Augenblick gezögert hatte, tippte er schließlich: Ich glaube, Sie wissen, daß ich Sie liebe? »Ja, Berny, ich habe es wohl schon früher gewußt als Sie selbst.« Kennen Sie auch die Zukunft? »Nicht in der Weise, wie Sie sie kennen.« Bedeute ich Ihnen etwas, Mary? »Ja, wenn auch auf eine andere Weise, als Sie glauben.« Da kann es nur eine Weise geben! »O nein«, sagte sie und lachte. »Aber auch in dieser Beziehung können Sie mich nicht verstehen.« Aber ich bedeute Ihnen doch etwas? »Ja. Um ehrlich zu sein, ich glaube, Berny, daß ich . . . nach Ihren Maßstäben . . . Sie . . . auch, nun, ich glaube, daß ich Sie dann auch liebe, Berny.« Ich möchte gern zu euch kommen. »Das hätte für Sie keinerlei Sinn, Berny. Aber ich werde mich noch verspäten, ich muß weg. Ist es schon spät? Wir haben hier kein Zeitbewußtsein mehr.« Berny nickte mit dem Kopf und zeigte ihr die Uhr. »Oh! Es ist schon so spät. Guten Abend, Berny! Auf Wiedersehen!« Sie warf ihm einen Handkuß zu und glitt aus dem Bildschirm, der weiterhin blinkte, nun aber ganz weiß. Aus dem Apparat drang keinerlei Geräusch mehr. Für den Rest der Nacht blieb Berny wach und arbeitete. Er überdachte alles genau und schrieb viel. Unter anderem hatte er am nächsten Morgen einen mit Schreibmaschine geschriebenen, drei Seiten langen Brief für Mary Seymour fertig. Am Morgen ging er, statt an seinem Bericht weiterzuschreiben, zu seinem Elektriker und kaufte sich ein Mikrophon. Er brachte es so an, daß seine Stimme, wenn er davor sprach, durch den Lautsprecher des Fernsehgerätes verstärkt wurde. Auf einem weiteren mit Schreibmaschine beschriebenen Blatt Papier verfaßte er eine Erklärung: Er hoffe, daß Mary ihn durch diese Vorrichtung werde hören können und 70
er sich nicht mehr mit Hilfe der Schreibmaschine verständlich zu machen brauche. Sorgfältig brachte er dieses Blatt, zusammen mit seinem dreiseitigen Brief, vor dem Bildschirm an und ließ am späten Abend, als die Übertragungen des Ortssenders beendet waren, den Apparat erleuchtet. Er war gerade in der Küche, um sich Milch und Biskuits zu holen, als er Mary hörte, die ihn rief: »Berny, bitte benützen Sie dieses Mikrophon nicht gleich! Ich fürchte, es könnte die gleichen Folgen haben wie ein fernübertragenes Bild. Es kann gefährlich sein, glauben Sie nicht?« Berny schlug die Tür seines Eisschranks zu und rannte, das Mikrophon auszuschalten. »Berny, es funktioniert, es funktioniert herrlich«, sagte Mary mit bewegter Stimme. »Ich habe die Tür ganz deutlich zuschlagen hören, und es hat mir nichts getan. Versuchen Sie bitte, etwas zu sagen . . . zu Anfang mit leiser Stimme!« Zitternd vor Erregung flüsterte Berny: »Mary, ich liebe Sie.« »Danke, Berny. Das weiß ich bereits. Ich weiß auch alles, was Sie aufgeschrieben haben, denn sobald ich meinen anderen >Zustand< wieder annehme, bin ich Ihnen nahe und kann alles sehen, was Sie tun.« »Und so haben Sie mir über die Schulter gesehen, während ich schrieb?« »Nicht gerade, aber ich war gleichzeitig in Ihren Fingern, im Papier, auf das Sie schrieben . . . aber wie soll ich Ihnen das nun wieder verständlich machen?« »Eins verstehe ich, Mary – daß Sie mich lieben . . . und wir müssen unbedingt eine Lösung finden.« »Was für eine Lösung?« »Liebste, Sie sind ja schließlich kein Gespenst! Sie leben, sehr intensiv sogar. Der Beweis dafür ist, daß Sie auf einem Fernsehschirm erscheinen, sprechen und mit Verstand sich unterhalten können. Daraus schließe ich, daß Sie lebendig sind, folglich gibt es auch Hoffnung.« »Was für eine Hoffnung denn, Berny?« »Ich weiß auch nicht, aber wenn eine Atombombe Sie hat dorthin bringen können, wo Sie jetzt sind, und zwar unversehrt, müssen wir auch ein Mittel finden, diesen Vorgang umzukehren. Deshalb muß ich sofort meinen Bericht machen und so den fähigsten Wissenschaftlern am Institut die Möglichkeit geben, an dem Problem zu arbeiten.« »Berny, Sie sind zu lieb, aber Sie können Ihr Vorhaben unmöglich durchführen«, antwortete Mary mit Tränen in den Augen. »Mary, es muß doch ein Mittel geben, Sie . . . Sie zu retten?« »Wir müssen gar nicht gerettet werden, Berny. Und auf alle Fälle wollen die anderen gar nicht gerettet werden . . . Berny, wenn Sie zu 71
irgend jemandem auch nur ein Wort über unser Erlebnis sagen, wer immer es sei, so sehen Sie mich nie wieder.« »Wie können Sie mir so etwas sagen!« »Sie haben die Wahl, Berny. Ich komme morgen abend wieder hierher, wenn unser Geheimnis noch gewahrt ist. Wenn nicht . . . schalten Sie Ihren Apparat in Zukunft umsonst an.« »Nein, gehen Sie noch nicht weg!« Aber ihr lächelndes Gesicht war bereits verschwunden. Sie erschien weder am folgenden Abend noch am Abend darauf. Am dritten Abend, gleich nach Ende der üblichen Übertragungen, befand sie sich plötzlich auf dem Bildschirm. Eine Seite ihres Gesichts bedeckte sie mit einem Gegenstand, der an einen Schal erinnerte. »Mary, was ist geschehen? Sehen Sie mich an!« sagte Berny, während er sich dem Bildschirm näherte. »Berny, mein Liebling . . . Ich hätte nicht wiederkommen sollen! Ich beginne die Wirkung meines ständigen Erscheinens auf dem Fernsehschirm zu spüren, und man fürchtet, daß ich mich langsam desintegriere, wenn ich damit fortfahre.« »Oh, mein Liebling. Wie konnte das nur geschehen? Zeigen Sie mir Ihr Gesicht!« »Ich möchte lieber, daß Sie die Mary auf dem Foto in Erinnerung behalten. Ich muß fort, Berny. Sie verstehen mich doch, nicht wahr? Und denken Sie daran, daß ich Ihnen nahe bin, denn – mit einem irdischen Begriff ausgedrückt – ich liebe Sie.« »Aber, Mary, warten Sie doch! Wie werden wir uns denn verständigen?« »Ich werde bei Ihnen sein, Berny. Wenn ich zu lange bliebe, so würde aus unserer Trennung wirklich eine endgültige. Vergessen Sie nie: ich bin nicht tot! Auf Wiedersehen, mein . . . Auf Wiedersehen, Berny!« Berny beugte sich vor zum Bildschirm, sie kam ganz nahe, küßte die Glasscheibe und verschwand. Berny vernachlässigte in den folgenden Wochen seine Arbeit im Forschungsinstitut, was nicht unbemerkt blieb. Direktor Holmes rief ihn zu sich in sein Büro und fragte ihn, ob er etwa Ärger habe. »Ja und nein, Herr Präsident. Ich arbeite an einem Bericht, an einer Sache, die . . . und . . .« »Gut, Marsden, sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie damit fertig sind! Ich werde mich freuen, dann von Ihnen mehr darüber zu erfahren.« Er hatte Marys Foto reproduzieren lassen und heftete eines an seinen Bericht, nachdem er diesen beendet hatte. Er las ihn sorgfältig noch einmal durch, zögerte noch eine Woche, und nachdem er sich endgültig entschlossen hatte, schrieb er für Mary eine Nachricht auf der Maschine. Mary, ich werde versuchen, Sie weder auf die Erde zurückzubringen. Damit dies möglich ist, muß ich mit den besten Gelehrten Kontakt 72
aufnehmen, und darum habe ich, wie Sie bestimmt wissen, einen vollständigen Bericht über unser Zusammentreffen verfaßt. Ich weiß, daß Sie nicht damit einverstanden sind, aber ich bin auch sicher, daß Sie mich eines Tages verstehen und mir vielleicht dankbar sein werden. Er unterschrieb das Blatt und ließ es offen auf seinem Schreibtisch liegen. Er griff nach seinem Hut . . . da läutete das Telefon. »Ja, hier spricht Dr. Marsden.« »Ich heiße Perkins. Herr Doktor, ich habe Ihre Nummer im Telefonbuch gefunden. Haben Sie vor wenigen Augenblicken das Radio gehört?« »Es tut mir leid, nein. Verzeihen Sie, ich habe gar keine Zeit!« »Warten Sie, Herr Doktor, ich scherze nicht! Ich habe über das Radio eine Nachricht für Sie gehört.« »Was für eine Nachricht?« »Sie wurde als Sondermeldung durchgegeben zwischen den Sportberichten und dem Symphoniekonzert.« »Aber wieso wissen Sie denn, daß die Nachricht für mich ist? Wie lautete sie überhaupt?« »Sie war ganz kurz. Sie lautete bloß: Dr. Marsden von Ray Falls möchte sich heute abend unbedingt mit Miss Seymour in Verbindung setzen.« »Und wer hat sie vorgelesen?« »Das weiß ich nicht. Sicher doch der Sprecher.« »War es ein Herr oder eine Dame?« »Bitte, Herr Doktor, ich mache keine Witze! Rufen Sie den Sender doch selber an! Sie werden sicher alle Auskünfte erhalten, die Sie wünschen. Ich habe Ihnen lediglich einen Gefallen tun wollen.« »Und ich bin Ihnen unendlich dankbar dafür.« Er hatte kaum aufgelegt, als das Telefon wieder läutete. »Spricht dort Dr. Marsden? Man hat eine Nachricht für Sie durch das Radio bekanntgegeben, vor fünf Minuten.« »Ich weiß es bereits. Vielen Dank!« Er legte wieder auf, und als es wieder läutete, hängte er den Hörer ab, zog seinen Mantel an, setzte den Hut auf und verließ das Haus. Vor dem Eingang seiner Garage hielt ein Polizeiauto. »Sind Sie Doktor Marsden?« Aus dem Wagen war ein Polizist ausgestiegen, ließ eine Taschenlampe aufleuchten und richtete sie auf Berny. »Jawohl. Warum?« »Es ist eine dringende Nachricht für Sie durchs Radio gekommen. Wir haben mehrere Anrufe von Leuten erhalten, die sie gehört haben.« »Danke. Ich habe sie auch gehört und werde ihr Folge leisten.« Berny schaltete seinen Fernseher um 23 Uhr 30 ein. Er sah geduldig einen Film bis zu Ende an, dann noch die letzten Nachrichten, die letzte Wettervorhersage und schließlich den Abschiedsgruß der Sprecherin für 73
die Nacht. Erst eine Stunde nach Sendeschluß zitterte das Licht stärker, und er befand sich einem kahlköpfigen Mann gegenüber, den er noch nie gesehen hatte. »Doktor Marsden, ich habe mich freiwillig gemeldet, heute abend hier zu erscheinen, und man hat mich genommen, weil ich Englisch spreche.« »Wo ist Miss Seymour? Warum ist sie nicht gekommen?« »Ganz einfach deshalb, weil auch nur ein einziges weiteres Erscheinen höchst gefährlich für sie sein könnte.« »Und für Sie ist es nicht gefährlich?« »Es wäre gefährlich, wenn ich lange bliebe oder wenn ich öfter wiederkehrte – genauso gefährlich wie für Sie etwa radioaktive Strahlen. Ich habe also nur wenig Zeit und bitte Sie, mir aufmerksam zuzuhören.« »Wie geht es Miss Seymour?« »Es geht ihr gut, vorausgesetzt, daß sie sich nicht weiter . . .« »Kann ich sie sprechen? Vielleicht ohne sie zu sehen?« »Nein, aber unterbrechen Sie mich jetzt nicht mehr, bitte! Ich habe Ihnen etwas Wichtiges zu sagen, und die Zeit, während der ich ohne Gefahr mit Ihnen sprechen kann, ist schon fast abgelaufen. « »Gut, sprechen Sie!« »Miss Seymour hat uns von Ihren Plänen berichtet. Wir sind nicht damit einverstanden. Aus zwei Gründen: erstens wollen wir unsere frühere Gestalt nicht wieder annehmen, und zweitens können die Versuche, die Sie vorhaben, für uns höchst gefährlich sein.« »Und was ist Miss Seymours Ansicht?« »Sie haben mir versprochen, mich nicht zu unterbrechen. Miss Seymour ist mit uns einer Meinung. Wir wissen, daß Sie keinen Erfolg haben können, und warnen Sie. Aber um ganz offen zu sein, wir haben Angst vor Ihren geplanten Versuchen. Wir haben uns daher entschlossen, Ihnen etwas als Gegenleistung für Ihr Schweigen anzubieten. Sie können ohne allzu große Schwierigkeiten zu uns gelangen, wenn Sie wollen. Und Miss Seymour ist es, die mich bittet, Ihnen mitzuteilen, daß sie gegen einen Entschluß von Ihnen, zu uns zu kommen, nichts einzuwenden hätte. Sie sagt zwar, sie sähe es lieber, wenn Sie Ihre gegenwärtige Gestalt beibehielten.« »Und . . . würde sie mich heiraten?« »Wenn Sie wollen, ja . . . Aber das hätte keinen Sinn. Sie können das nicht verstehen.« »Was hätte ich zu tun?« »Es dürfte Ihnen keine wesentlichen Schwierigkeiten bereiten. Stellen Sie sich in das Zentrum einer Atomexplosion. Wir wissen, daß Sie nicht mit Atomexplosionen beschäftigt sind, aber Sie können es sicher einrichten, einem der kommenden Versuche beizuwohnen.« »Das ist lächerlich«, stöhnte Berny. »Vielleicht – ja! Ich muß jetzt fort. Leider zählt die Zeit, wenn wir auf 74
diese Weise erscheinen. Lassen Sie es Miss Seymour wissen, wie Sie sich entscheiden! Wir werden Vorkehrungen treffen, daß sie Sie wiederfindet.« »Halt, eine Minute noch!« Aber der Mann war bereits weg. Berny war nicht jemand, der sich selber das Leben genommen hätte. Aber es handelte sich ja nicht eigentlich um Selbstmord. Er würde sich bloß einer Verwandlung unterziehen, die mit dem Tode gar nichts zu tun hatte. Was auch geschehen würde, er hatte für niemanden zu sorgen, und sein Verschwinden würde niemandem Unannehmlichkeiten bereiten. Er hatte sich jedoch sehr rasch davon überzeugt, daß die verschiedenen Sicherheitsvorkehrungen es praktisch unmöglich machten, an eine explodierende Bombe heranzukommen. Sie zufällig zur Explosion zu bringen, schien noch schwieriger, zudem hätte er eine Menge Menschenleben in Gefahr gebracht. Er gab diesen Gedanken daher schnell auf. Es war bei weitem nicht so leicht, wie der Mann auf dem Bildschirm es sich vorgestellt hatte. Trotzdem fand er eines Morgens ein Mittel. Aus Papieren, die irrtümlich auf seinen Schreibtisch im Institut geraten waren, war ersichtlich, daß einer seiner Kollegen, Herr Brenden, gerade dabei war, die versuchsweise Explosion einer Granate vorzubereiten. Es handelte sich um eine Handgranate, die laut ihrem Erfinder eine Kernexplosion en miniature hervorrufen und imstande sein sollte, alles Leben im Umkreis von einigen Metern zu zerstören. Sie sollte außerdem den Vorteil haben, keine radioaktiven Rückstände zu hinterlassen, und demzufolge war es möglich, wenige Sekunden nach der Explosion den Zerstörungsbereich der Granate zu betreten, ohne dabei zu riskieren, sich Strahlungen auszusetzen. Im Unterschied zu gewöhnlichen Granaten besaß sie keine brennende Zündung, sondern jeder Schlag, der über zwei Kilo Stärke hinausging, sollte sie nach Entfernung des Sicherungssplints zur Explosion bringen. Berny wußte, daß, zeigte er ein allzu deutliches Interesse an Brendens Arbeiten, die Sicherheitsmaßregeln innerhalb des Instituts verlangten, daß er befragt würde. Eine interne Untersuchung würde eingeleitet, in deren Verlauf sein Geheimnis enthüllt werden könnte. Nachdem Berny diese Möglichkeit erwogen hatte, entwarf er einen Bericht über die Mittel, Explosionen sehr beschränkten Umfangs durchzuführen, wobei die Kernladung in einer gewohnlichen Gewehrkugel enthalten sein sollte. Eine solche Explosion wäre bis auf einen Umkreis von einigen zehn Zentimetern durchaus ungefährlich. Er war sich der Schwierigkeiten sehr wohl bewußt, die seinem Projekt im Wege standen, legte aber in diesem Vorbericht in großen Zügen alle Möglichkeiten dar, mit deren Hilfe die Hindernisse zu überwinden wären. Als der Bericht fertig und seinen Vorgesetzten übergeben war, brauchte Berny nicht mehr lange zu warten. Direktor Holmes kam eines Morgens zu ihm ins Büro: 75
»Ihre Ideen sind interessant, Marsden. Sie scheinen sogar weiter zu sein als Brenden. Was halten Sie von einer vorübergehenden Zusammenarbeit mit Brenden? Er beginnt gerade mit seinen ersten Versuchen. Sie könnten ihm dabei viel helfen.« Innerhalb weniger Tage wußte Berny alles, was er brauchte, und plante, wie er vorgehen würde. Er würde eine von Brendens Granaten in einen unterirdischen Speziallagerraum bringen, die Panzertür schließen und die Granate vor seinen Füßen explodieren lassen. Er hätte sie zwar lieber im Freien zur Explosion gebracht, aber er wußte, daß es ihm nicht gelingen würde, die Registrierapparate und Geigerzähler, die an allen Ausgängen des Instituts angebracht waren, zu täuschen. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß er nur noch den richtigen Augenblick abwarten mußte, ging Berny nach Hause und schrieb einen Brief an Mary. Er erklärte ihr, wie er sich zu verhalten gedächte, und bat sie, ihm an diesem Abend eine Nachricht über den Fernseher zu geben. Eine Viertelstunde nach Mitternacht, genau dreizehn Stunden, bevor er das beabsichtigte Experiment durchführen wollte, erschien wieder der kahle Mann auf dem Bildschirm. »Miss Seymour bittet Sie immer noch, darauf zu verzichten. Aber sie hat mir gesagt, ich solle Ihnen versichern, daß sie Sie erwartet, falls Sie Ihren Versuch doch durchführen.« Und schon war er verschwunden. Berny beging einen tragischen Irrtum. Er hätte auch einen Blick auf die übrigen unterirdischen Lager werfen sollen. In einem von ihnen waren drei Kampfbomben mittlerer Sprengkraft untergebracht. Zum Glück explodierte nur eine einzige; sie lag vermutlich der von Berny ausgelösten Granate am nächsten. Trotz der relativen Schwäche dieser Bombe wurde Ray Falls schwer beschädigt. 6083 Menschen starben sofort. Und von den 122349 Personen, die den radioaktiven Strahlen ausgesetzt waren, haben nur acht Prozent Chancen, am Leben zu bleiben. Der Ostteil der Stadt wurde durch die Explosion wie auch durch die ungeheure Feuersbrunst, die darauf folgte, völlig zerstört. Wie ich erfahren habe, was Berny geschehen war? Meine Frau hat es mir erzählt! Ich lernte sie kurz nach der Katastrophe kennen; sie galt lange Zeit als Hauptverdächtige. Ich persönlich war überzeugt, daß es ein Unfall gewesen war. Man hatte sie zwischen den Ruinen des Forschungsinstituts gefunden. Die erste Rettungsmannschaft hatte sie entdeckt. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht und dort gepflegt, denn sie hatte eine schwere Brandwunde an der rechten Wange. Die junge Frau hatte einen schweren Schock erlitten und das Gedächtnis völlig verloren. Sie glaubte, sie hieße Mary, aber sie war sich dessen nicht sicher, und trotz aller Bemühungen konnten wir sie niemals 76
identifizieren. Was die Ärzte vor allem wunderte, war mehr noch als das Fehlen jeglicher Erinnerung die Tatsache, daß sie unter der intensiven radioaktiven Bestrahlung, die so vielen Menschen das Leben kostete und noch jeden Tag kostet, überhaupt nicht gelitten hatte. Als für die Wahrung der öffentlichen Sicherheit Verantwortlicher sah ich sie jeden Tag, und sie schien mich liebzugewinnen. (Sie sagte, daß ich sie an jemanden erinnere.) Als ich schließlich eines Abends fragte, ob sie mich heiraten wolle, nahm sie den Antrag ohne Umstände an. Nach unserer Hochzeitsreise ließ ich mich mit ihr in dem kleinen Haus am Seeufer nieder, das ich von meinem Bruder Berny geerbt hatte. Wir kamen eines Abends dort an, und am nächsten Morgen, beim Frühstück, bemerkte sie plötzlich den Fernseher. Ich glaubte, sie würde ohnmächtig. Sie erlangte sofort ihr Erinnerungsvermögen zurück. Wir leben jetzt sehr zurückgezogen, und wir sind sehr glücklich. Ich habe den Fernseher wegbringen lassen, denn er beunruhigte sie. Wir vermeiden es übrigens, uns in der Nähe von Fernsehgeräten aufzuhalten. Ich glaube zu wissen, was ihr Furcht einflößt. Und ich habe selber Angst davor.
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Der störrische Tiger Allen kleinen Männern, die große Frauen lieben Die Hände tief in die Hosentaschen vergraben, den Kopf nach hinten geworfen, schaukelte Herr Darbon beim Sprechen vor und zurück. Traurig wurde er sich bewußt, daß die charmant lächelnde Frau Gassade ihn trotz seiner Bemühungen immer noch von ihrer vollen Höhe herab ansah, während sie ihren Kaffee schlürfte. Wenn sie sich doch bloß setzen wollte! Dann wäre es ihm ein leichtes, seine Persönlichkeit wirken zu lassen und sogar Eindruck auf sie zu machen. Er stellte sich vor, wie er dann lächeln, wie er sich über sie beugen und mit den Fingerspitzen ihre Schulter berühren würde; sie müßte, um ihn anzusehen, ihre schönen blauen Augen zu ihm erheben, die blauen, etwas hervortretenden Augen, welche ihn an ein bestimmtes Porträt der Madame de Pompadour erinnerten. Allerdings glich Helene Gassade nur bis zu einem gewissen Grade der Pompadour; denn sie verfügte nicht über die zarten, sanften Rundungen der Marquise. »Und glauben Sie mir«, fuhr er fort, indem er jenes ganz besondere Lächeln spielen ließ, das seine Zähne so gut zur Geltung brachte, Zähne von einer Weiße, die das seidige Schwarz seines Bärtchens noch hervorhob. »Glauben Sie mir! Die erste Giraffe, die nach Paris kam, zog im Triumph die Champs-Elysees hinauf, begleitet von der Musik der kaiserlichen Garde und einer Abteilung leichter Reiterei. Der festliche Zug durchquerte den Bois de Boulogne und bewegte sich dann weiter bis zum Schloß von Saint-Cloud, wo der Kaiser und der ganze Hof die Giraffe mit dem Zeremoniell empfingen, das sonst nur Botschaftern vorbehalten ist.« »Nein! Es ist unglaublich! Marcel, hast du das gehört?« rief Frau Gassade aus. »Jawohl«, antwortete Marcel, während er vom Balkon zurücktrat, der auf den Bois de Vincennes hinausging. »Ja, wahrhaftig, was für eine gute Idee, führen wir unsere Freunde zum Zoo! Frau Darbon sagt, sie sei noch nie dort gewesen.« Marcel Gassade war noch größer als seine Frau, aber das war natürlich sehr viel weniger wichtig. Für einen Turnlehrer war es nur natürlich, groß und breitschulterig zu sein. Es war auch völlig natürlich, daß er seine Freunde am Sonntagnachmittag in Sporthosen und mit offenem Hemdkragen empfing. Herr Darbon konnte es sich nicht vorstellen, daß er sich selber anders als korrekt gekleidet hätte. Und eine korrekte Kleidung, die man wochentags ab sieben und sonntags ab acht Uhr zu 78
tragen hatte, schloß für ihn steifen Kragen und Krawatte ein. Seine kleine Statur war freilich in vieler Hinsicht bedauerlich, ohne jedoch mit seinem Beruf völlig unvereinbar zu sein. Herr Darbon hatte eine erstaunlich lange Liste von berühmten Männern mit kleiner Statur aufgestellt, darunter Napoleon, den sein Wuchs nicht bekümmerte, und Ludwig der Vierzehnte, dem seine Figur schweren Kummer bereitete und der sich selbst größer machte, indem er sehr hohe Absätze und eine noch viel höhere Perücke trug. Es bestanden einige Ähnlichkeiten zwischen dem Sonnenkönig und dem Professor Louis Darbon: beide hatten den Vornamen Louis, beide fühlten sich stets angezogen von hochgewachsenen Frauen und haßten es, in deren Gegenwart zu stehen, und beide hatten die gleiche Statur. Louis Darbon, bescheidener, trug keine Perücke, ließ sich jedoch niemals vom Friseur das Haar zu sehr an den Kopf drücken; und wenn er auch keine hohen Absätze trug, so legte er doch in seine Schuhe dicke Sohlen ein, die seinem Gang eine eigenartige Elastizität verliehen: sein Spitzname »der Sektpfropfen« rührte daher. Im Gymnasium Louis-le-Grand nannte man ihn auch »Louis le Petit«. Herr Darbon war gar nicht begeistert von dem Ausflug in den Zoo. Er konnte den schornsteinartigen Hut nicht ausstehen, den seine Frau trug, denn dieser ließ sie noch größer wirken, als sie war. Er konnte nicht begreifen, was ihn dazu getrieben hatte, sie zu heiraten, die doch eine so abstoßende Frau war. Gewiß, Frau Gassade war genauso groß oder doch fast so groß, aber sie besaß Charme, und sie hörte ihm immer so interessiert zu, so interessiert, sagte er sich zuweilen, als ob sie verzaubert wäre. Vielleicht wäre sie leicht zu hypnotisieren, dachte Herr Darbon, während er sehr sorgfältig – und möglichst wenig schief – den hohen Panamahut aufsetzte, den er jeden Sommer vom 1. Juni bis zum 15. September trug. Seit er antiquarisch eine Geschichte der Stadt Paris in acht Bänden gekauft hatte, in deren siebentem Band das Leben von berühmten Magiern, Zauberern und Hypnotiseuren erzählt wurde, von Nicolas Flamel, Ruggieri, Cagliostro, vom Grafen von Saint-Germain, hatte Louis Darbon beständig daran denken müssen, welche Macht das Hypnotisieren verschaffen kann. Er hatte andere Bücher über das gleiche Thema erworben, und spätabends, in der Stille seines Arbeitszimmers, hatte er eine ganze Anzahl Versuche gemacht. Er war zu der Erkenntnis gekommen, daß der Wille allein noch keinen guten Hypnotiseur ausmachte. Der Blick war wichtig, dessen Stetigkeit und Bestimmtheit. Wenn Herr Darbon seine Brauen zusammenzog, war sein Blick wirklich eindrucksvoll, und nachdem er ein wenig vor dem Spiegel geübt hatte, hatte er entdeckt, daß er diese Pose ziemlich lange beibehalten konnte, ohne auch nur mit den Augen zu blinzeln. Eines Morgens hatte er seine Macht an Frau Darbon erproben wollen, aber keinem Mann dürfte es gelingen, auf diese Weise seinen Willen einer Frau aufzuerlegen, mit der 79
er seit zwanzig Jahren zusammenlebt. »Hast du Zahnweh?« hatte Frau Darbon ihn alsbald gefragt. Er war zu dem Entschluß gelangt, daß er sich für den Anfang ein geeigneteres Objekt suchen müsse, einen einfachen, gefühlsbetonten Menschen. Er hatte seine Übungen vor dem Spiegel fortgeführt und hatte erkannt, daß er, um das Versuchsobjekt nicht zu erschrecken, durch ein kaum angedeutetes sanftes Lächeln die verwirrende Strenge seines Blickes mildern müsse. Auf der Straße angekommen, bot Herr Darbon Frau Gassade feierlich den Arm. Beim Gehen hielt er sich so aufrecht wie möglich, aber es nützte nichts: er spürte Helenes Schulter einige Zentimeter über der seinen. Das war wirklich schade, denn sonst war sie sehr anziehend, sogar schön, und verstand sich so gut aufs Zuhören. »Glauben Sie an hypnotische Kräfte?« fragte er, indem er den Hut lüftete und sich leicht gegen eine Dame verbeugte, die Frau Gassade im Vorbeigehen lächelnd gegrüßt hatte. »Nein. Warum?« »Wissen Sie«, erklärte Herr Darbon mit gesenkter Stimme, »es gibt im Leben eigenartige, ja geheimnisvolle Affinitäten. Und Sie scheinen mir gerade der verfeinerte, feinfühlige Mensch zu sein, der sich hervorragend zur Versuchsperson eignet.« Er hoffte, seine Begleiterin werde ihn sofort fragen, ob er andere Menschen hypnotisieren könne. Deshalb war er überrascht, als sie ihn fragte: »Wozu soll man die Leute hypnotisieren?« ». . . Nun, heutzutage bedient man sich der Hypnose zum Beispiel auch zur Heilung einer ganzen Anzahl von seelischen Erkrankungen.« »Ach so . . . die Leute sollen glauben, daß sie von einer Krankheit geheilt sind, ob sie gesund oder krank sind. Damit ist ihnen dann geholfen. Das wollten Sie doch sagen?« »In gewisser Weise, ja . . . Man bringt sie dazu, zu verstehen, was sie sonst nicht verstehen könnten.« »Die Psychotherapeuten wenden die Hypnose an, nicht wahr?« »Ja . . . ich glaube es«, sagte Herr Darbon mit einem leichten Lächeln. Er träumte davon, Frau Gassade in seine Macht zu bekommen. Er würde ihr begreiflich machen, daß sie einen verfeinerten Mann brauchte, der sanft war, sie aber doch beherrschte, einen gutgekleideten Intellektuellen anstelle eines ungeschickten Muskelmenschen, der in Gesellschaft einschlief, sobald die Unterhaltung interessant wurde. Nachdem er sich bei ihr entschuldigt hatte, ging er voraus, um vier Eintrittskarten zu lösen. Frau Darbon, neben Herrn Gassade gehend, näherte sich ihrem Mann und warf ihm einen Blick zu, der, wie er nach zwanzig Jahren Erfahrung wußte, zu bedeuten hatte, daß sie ihn allein sprechen wolle. Vielleicht mißbilligte sie die Art, wie er Frau Gassade den Arm geboten hatte ? Aber während er ihr die Eintrittskarte hinstreckte, beugte sie sich zu ihm hinab und stützte sich auf seine Schulter, um einen 80
kleinen Stein aus ihrem Schuh zu entfernen. »Schlag bloß nicht etwa vor, im Zoo einzukehren! Du hast schon mehr bezahlt als nötig«, sagte sie ihm ins Ohr. Verärgert, aber beruhigt sah er sie durch das Drehkreuz gehen. Sie lächelte über die Schulter Herrn Gassade zu, der schon wieder im Begriff stand, seine ekelhafte Pfeife anzustecken. Sie schrak zusammen, als ein mit Kindern beladenes Kamel so nahe an ihr vorbeiging, daß das Tier sie streifte. Wenn das Kamel doch nur ihren Hut fressen würde! dachte Herr Darbon. »Achtung!« schrie ein Wächter. Aber es war bereits zu spät. Das Kamel hatte, ohne stillzustehen, den Kopf gedreht und mit seinen langen, gelben, von Geifer schaumigen Zähnen den Hut von Frau Darbon gepackt, zerdrückt und davongetragen. »Können Sie denn nicht aufpassen! Weshalb legen Sie ihm denn keinen Maulkorb an?« schrie Herr Gassade, indem er dem Kamel einen kräftigen Fausthieb aufs Maul versetzte, worauf es seine Beute fallen ließ. Ein wenig erschrocken betrachtete Frau Darbon die traurigen Überreste ihres Hutes. »Machen Sie sich keine Sorgen, es war ein alter Hut, und ich habe ihn nie sehr gern gehabt!« sagte sie mit einem tapferen Lächeln zu Herrn Gassade. Sie warf den Hut in eine Abfallkiste. Dann schaute sie verstohlen zu ihrem Mann hinüber – er lächelte nicht einmal, im Gegenteil, er schien fast betrübt zu sein, was sie nicht ohne Vergnügen bemerkte. Er war nicht betrübt, sondern sehr besorgt und fragte sich, ob ein solches Zusammentreffen wohl zufällig sei oder ob . . . Als sie bei den Löwen angekommen waren, hatte er die Gewißheit: er besaß tatsächlich eine geheimnisvolle, wunderbare Macht über die Tiere! Er mußte sich nur eine Handlung denken, und das Tier, das er zufällig ansah, ganz gleich welches, führte sie sofort aus. So hatte er ohne die kleinste Anstrengung bereits einen Seehund veranlaßt, zu schwimmen und zu tauchen; er hatte ihn dazu gebracht, mühsam den Zementrand zu erklimmen, der das Becken umgab, und dabei zu japsen – fast wie ein Hund, dachte er. Als sie beim Nashorn angekommen waren, brauchte er dem schläfrigen Tier nur in Gedanken zu befehlen, aufzustehen, und schon erwachte es und hob seinen schweren Körper auf die kurzen fleischigen Beine. Den Willen von Herrn Darbon befolgend, patschte das Tier ins Wasser und öffnete sein ungeheures Maul, wie in einem Dokumentarfilm. Mit einem befriedigten Schauder stellte er fest, daß er auch über die Vögel Macht besaß. In der Voliere stieß ein großer blaugold-roter Ara ein paar Schreie aus, schlug mit den Flügeln und verließ mit einem Sprung seine Stange. Wenn ihn die Kette, welche um sein Bein gelegt war, nicht zu Fall gebracht hätte, wäre er – dessen war sich Herr 81
Darbon sicher – bestimmt auf Gassades Schulter geflogen und hätte diesem die Pfeife aus dem Mund genommen. Herr Darbon wollte gerade etwas sagen, als ihm plötzlich der Gedanke durch den Kopf fuhr, daß die verschiedenen Tiere ja nur Handlungen ausgeführt hatten, die ihnen vertraut waren, und daß, so seltsam es zwar schien, eine Reihe von Zufällen alles erklären könnte. War es sicher, daß die Tiere nicht ihre Absichten auf ihn übertragen hatten, ihm suggeriert hatten, was sie jetzt tun würden? Er brauchte einen sicheren Beweis, den er nur erhalten konnte, indem er eines der Tiere zwang, etwas zu tun, was ihm ungewohnt war oder sogar gegen seinen Instinkt ging. Er schaute einen Grislybär an, der aufrecht auf den Hinterpfoten stand und bettelte, wie nur ein Bär betteln kann, als ihm plötzlich der Einfall kam, wie er einen echten Beweis erhalten könnte. Da Bären ja immer stehen, wenn sie betteln, müßte sich dieser auf den Kopf stellen. Aber nein, das war sicher zuviel verlangt, sagte er sich und folgte seiner Frau und seinen Freunden, die den Rundgang bereits fortgesetzt hatten. »Mutter, sieh doch bloß!« rief plötzlich ein kleines Mädchen. Die Leute, die den Bärengraben umstanden, fingen an zu lachen. Ein leichtes Zittern nur mit Mühe unterdrückend, lief Herr Darbon zurück und blickte in den Graben. Der braune Bär strengte sich verzweifelt an, einen Kopfstand zu machen. Der Zoo von Vincennes, dessen Anlage bemerkenswert ist, hat wenig Gitter und Käfige. Tiefe Gräben und Einschnitte trennen das Publikum von den gefährlichen wilden Tieren, die man so im Freien beobachten kann, in einer Umgebung, die an ihre Heimatländer erinnert. Die Löwen können sich zwischen Felsen und Bäumen bewegen, und gleich neben ihnen, durch eine senkrechte Mauer abgetrennt, befinden sich die Tiger. Vom Publikum sind die Raubtiere durch einen tiefen, breiten Graben abgeschlossen. Zwei Tiger, zwei riesige Tiere, räkelten sich in der Sonne. »Versuchen sie manchmal den Graben zu überspringen?« fragte Frau Darbon. »Sie könnten nie so weit springen, und sie wissen es«, antwortete Herr Gassade, »sie sind intelligent und können Zeit und Entfernung sehr genau einschätzen.« »Intelligent!« brummte Louis Darbon für sich und mußte bei dem Gedanken, der ihm durch den Kopf fuhr, hämisch lachen. »Noch einen Beweis mehr!« murmelte er halblaut, während er den Blick mit einem der Tiger kreuzte, der mindestens fünfzehn Meter entfernt von ihm lag. Steh auf! dachte er und sah zu, wie das Tier sich langsam erhob und seine beiden gelben Augen auf ihn heftete. Er dachte: Jetzt geh zurück, nimm Anlauf und spring! Er war ein wenig enttäuscht, denn diesmal schien er keinen Erfolg zu haben. Der Tiger ging sehr langsam bis zum Rand des Grabens, ohne die 82
Augen von dem kleinen Professor zu lassen; er brummte, schüttelte sich, kehrte um und ging mit kleinen Schritten zum Felsen hin, auf dem sein Gefährte ausgestreckt lag. Aber plötzlich wandte sich das Tier schweifschlagend um, fing an zu laufen und sprang mit zunehmender Geschwindigkeit auf den Graben zu. »Guter Gott!« schrie Marcel Gassade. Mit einem mächtigen Satz sprang der Tiger hoch über den Graben, fiel aber, mindestens drei Meter vor dem Geländer, knurrend hinein. Hinter ihnen stieß eine Frau einen Schreckensschrei aus. »Sie haben gesagt, die Tiger könnten die Entfernung schätzen«, konnte sich Herr Darbon jetzt nicht enthalten zu sagen, indem er die Augen auf den Grund des Grabens heftete, wo der Tiger sich erhob und wie eine ungeheure Katze mit einem einzigen Satz die Zementmauer bis zur Hälfte hochsprang. Er krallte sich an der Mauer fest und versuchte, noch höher zu kommen, fiel aber brüllend wieder in den Graben. Herr Darbon war vorsichtigerweise etwas zurückgetreten. »Ich frage mich nur, was ihn dazu getrieben hat, das zu tun«, sagte Helene in einem Ton, der keine eigentliche Frage enthielt. Sie merkte, wie sie Herrn Darbons Arm umklammert hielt. »Ich glaube, ich bin schuld an dem Vorfall, und ich bitte um Verzeihung, daß ich Ihnen Angst gemacht habe!« sagte dieser, indem er sich sehr gerade hielt und mit einem Lächeln auf den Lippen sehr aufmerksam Frau Gassades Gesicht beobachtete. Weil sie aber nichts sagte und ihn nur ganz überrascht ansah, fügte er hinzu: »Ich besitze eine Art hypnotischer Macht über die Tiere.« »Louis, rede doch keinen Blödsinn!« sagte Frau Darbon mit einem erstickten Lachen. »Du kannst nicht einmal einen Esel zum Schreien bringen!« Louis sah soeben einen kleinen, von einem Esel gezogenen Karren näher kommen. »Was sagtest du eben, meine Liebe!« fragte er lächelnd, gerade als das kräftige Schreien des Esels hinter ihnen ertönte. »Einfach großartig«, rief Marcel Gassade, indem er aus vollem Halse lachte. »Das ist ein einfacher Zufall! Das arme Vieh muß dich wiedererkannt haben«, meinte Frau Darbon. Diesmal klang ihr Lachen ein wenig gequält. »Nein, ich glaube, daß er wirklich eine seltsame Macht besitzt«, sagte Helene Gassade, die den Arm des Professors nicht losgelassen hatte. »Ich will Ihnen gern glauben«, sagte Herr Gassade, »wenn Sie den Tiger wieder aus dem Graben steigen und es ihn noch ein zweites Mal versuchen lassen! Lassen Sie ihn noch ein zweites Mal springen!« »Er steigt bereits auf seinen Felsen, und es würde ihm auch nichts 83
nützen zu springen. Er könnte es sein ganzes Leben lang versuchen und hätte doch keinen Erfolg«, erklärte Frau Darbon höhnisch lachend. »Ja, Sie müssen recht haben«, erklärte Gassade und klopfte seine Pfeife auf dem Absatz seines Schuhs aus. »Denk dir etwas anderes aus, Helene!« »Befehlen Sie ihm, mit dem Schwanz zu wedeln wie ein Hund und sich am Ohr zu kratzen!« sagte Helene und lachte einfältig. »An welchem Ohr?« wollte der Professor wissen. »An beiden, zuerst am einen, dann am andern«, antwortete nun Gassade. Herr Darbon tat einen Schritt nach vorn, verschränkte die Arme und schaute den Tiger an, der bis zum Rande des Grabens gekommen war, sich schüttelte und sich langsam auf die Hinterhand setzte. Jetzt, dachte Herr Darbon, muß ich versuchen, den Blick des Tigers zu fangen . . . Aber als ihm dies gelungen war, duckte sich der Tiger, anstatt sich zu kratzen oder seinen Schwanz zu bewegen, brüllte und sah verächtlich zu ihm hin. »Ich glaube, er hat es auf Ihr Bärtchen abgesehen, mein Guter!« rief Herr Gassade und zündete ein Streichholz an der Schuhsohle an. Herr Darbon wurde puterrot. Noch nie hatte sein ungebildeter Kollege (schließlich war er bloß ein Assistent, der mit den Schülern spielte und den man niemals hätte Professor nennen dürfen), noch nie hatte dieser Analphabet sich derartige Vertraulichkeiten herausgenommen – mit keinem der Professoren des Gymnasiums Louis-le-Grand. Für wen hielt er ihn? Er beachtete das törichte, gackernde Lachen seiner Frau nicht, biß die Zähne zusammen und konzentrierte sich. Man mußte es ihnen einfach zeigen! »Kratz dich!« murmelte er zwischen aufeinandergepreßten Lippen und versuchte mit größter Willensanstrengung einen bezwingenden Blick zu erreichen. Und der Tiger, immer noch geduckt, schlug mit dem Schwanz um sich und brüllte. »Schaut, er bewegt den Schwanz!« sagte Helene Gassade ganz aufgeregt. Aber Louis Darbon wußte genau, daß der Tiger es nicht tat, weil er es gewollt hatte. Kratz dich! dachte er unausgesetzt. »Ich habe den Eindruck, Sie wären für ihn nur ein dürftiger Happen, mein Freund, wenn er Sie erreichen könnte!« sagte Herr Gassade unschuldig und zog zufrieden an seiner Pfeife. »Er könnte mich erreichen, wenn er bloß wüßte, wie er es anstellen soll!« meinte der Professor und lächelte bissig. »Er hat's ja bereits versucht, oder nicht?« »Ja, aber dieser Versuch hat seinen Mangel an Intelligenz bewiesen. Wenn er auch nur ein wenig überlegen könnte, hätte er längst herausgefunden, wie er über den Graben gelangen kann.« 84
»Louis, du bist einfach lächerlich. Die Leute schauen schon auf dich«, sagte Frau Darbon über die Schulter. »Aber haben denn Sie herausgefunden, wie er es anstellen müßte, mein lieber Darbon?« fragte Herr Gassade. »Jawohl. Wenn der Tiger den Graben entlangliefe und in einem Winkel von neunzig Grad auf das äußerste Ende der Mauer spränge, dann brauchte er diese sozusagen nur als Sprungbrett zu benützen und würde leicht unsere Seite erreichen.« Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als er auch schon wußte, was kommen würde . . . Er war sich bewußt, daß der Tiger seine Gedanken lesen konnte. »Gehen wir«, murmelte er, und sein Gesicht wurde blaß, als er sah, wie der Tiger sich erhob, den Graben entlang und dann auf die Mauer blickte, die diesem folgte. »Kommt schnell!« sagte Herr Darbon, und zur Überraschung seiner Frau und seiner Freunde begann er zu rennen. Aber er wußte, daß es bereits zu spät war. Auf der anderen Seite des Grabens hatte der Tiger begonnen, sich in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen, auf die Mauer zu. Die Leute sahen es, es amüsierte sie, festzustellen, wie er immer schneller lief. Sie waren bestürzt, als sie sahen, wie er sehr hoch sprang, geradewegs auf die Zementmauer zu, die senkrecht zum Graben lief. Jemand stieß einen Schrei aus, die Leute begannen in alle Richtungen zu laufen, während der Tiger, alle vier Tatzen voraus, die Mauer berührte, großartig darauf landete und dann mit einem mächtigen Sprung, brüllend vor Wut, gegen das Geländer abschnellte, das er sichtlich in großer Höhe übersprang. Herr Darbon wandte sich mit der Kraft der Verzweiflung noch ein letztes Mal um. Er hatte gerade noch Zeit, mitten in die gelben hervortretenden Augen zu schauen; eine scharfe Pranke zerriß ihm den Arm von der Schulter bis zum Ellbogen und warf ihn kopfüber auf einen vorbeifahrenden Karren voller Kinder, die vor Angst laut aufschrien. Man hörte Pfeifensignale; zwei Wächter mit Gewehren kamen angelaufen. Ein Polizist war bereits vor ihnen da; er zog seinen Revolver, lief auf den Tiger zu und schoß dem Tier eine Kugel in den Kopf in dem Augenblick, als dieses wieder in den Graben springen wollte, Herrn Darbon mit der Schnauze forttragend, als wäre er nichts als ein erbeutetes Huhn. Leider war Herr Darbon schon tot.
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Das Wunder Für Bernadette — sie kennt die Geschichte schon Irgendwo, weit vorn, zerriß das Pfeifen der Lokomotive die Nacht; kurz darauf hämmerten die Räder über eine Reihe von Weichen und unterbrachen damit das federnde, rhythmische Tak-tak-tak der Schienen. Fest in seine Ecke geschmiegt, die Stirn gegen die Scheibe gestützt, versuchte Herr Jadant vergeblich, das samtene Schwarz der Nacht zu durchdringen, das den Zug umgab. Ein weiterer Pfiff, eine Kurve, und wahrend die Zentrifugalkraft Herrn Jadants Nase gegen die hell erleuchtete Scheibe drückte, glitt ein kleiner Bahnhof rasch an seinen Augen vorüber. Ein Mann mit einer Laterne, ein kreischendes Klingeln, das verflog, und wieder die schwarze Nacht und neue Weichen, welche die Schenkel und Hüften der schläfrigen Reisenden heftig durcheinanderrüttelten . . . danach geräuschloses Ansteigen. Ja, es war kein Zweifel möglich, der Wagen hob sich, er hob sich . . .! »Da haben wir's!« sagte Herr Jadant ganz laut, indem er die Knie unters Kinn zog und gerade noch rechtzeitig die Stirn darauflegte . . . rechtzeitig, um nach vorne zu schießen wie eine Kanonenkugel. Das kleine Mädchen in der Ecke ihm gegenüber, das nicht hatte umhinkönnen, loszuprusten, als er seine Hausschuhe anzog und seine Schuhe in das Gepäcknetz tat, hatte nichts begriffen und reagierte überhaupt nicht. Herr Jadant fühlte, wie seine Knie sich in den kleinen weichen Körper hineinbohrten, während sein kahler Schädel schmerzhaft genau in das Gesicht gedrückt wurde, dessen Knochen mit dem gleichen trockenen Knacken zerbrachen wie die Kekse, die er eben noch gegessen hatte. Bei jedem Stoß keuchte und grunzte er wie ein alter Boxer, mit aufeinandergebissenen Zähnen, wobei er sich möglichst rund machte. Es gab Hunderte, Tausende von Stößen und Erschütterungen, die einander endlos folgten. All die achtundzwanzig Jahre, die er nun als Reisevertreter unterwegs war und in denen er gut die Hälfte seiner Zeit im Zuge zubrachte, hatte Herr Jadant an diesen Augenblick gedacht. Seit Jahren hatte er sich nie in den ersten oder den letzten Wagen eines Zuges gesetzt : denn sie waren im Fall eines Unglücks am gefährdetsten; seit Jahren hatte er alles bedacht, alles berechnet, alles vorgesehen. Darum hatte er auch jetzt, wie ein durchexerzierter Soldat, beim ersten Alarmzeichen die Beine hochgezogen, bevor die Bänke zusammengedrückt würden, sich dann zur Kugel zusammengerollt – der 86
günstigsten Stellung, um eine Chance zu haben, davonzukommen. Eines aber hatte er nicht vorausgesehen – nämlich wie lange das dauerte; er hätte nie gedacht, daß eine Zugentgleisung so lange dauern könnte! Er hätte auch nie gedacht, daß sie so wenig Lärm machen würde. Es krachte wohl, dumpfes Gedröhn ertönte, ein Reißen, der Klang von splitternden Scheiben, das Brechen von Holz, aber doch gab es nichts, das dem infernalischen Krach vergleichbar gewesen wäre, der eine Zugentgleisung zum Beispiel im Kino begleitete. Ein weiteres Krachen und darauf das rauhe Knirschen reißenden Metalls, eine Garbe von Funken und – unter seinem jählings hochgehobenen linken Ellenbogen spürte Herr Jadant plötzlich eine brennende Schlange sich durch seine Kleider fressen und seine Seiten eindrücken. Eine letzte Erschütterung, ein leichtes Schwanken, und schließlich blieb alles unbeweglich, und es herrschte ein seltsames Schweigen. Herr Jadant hörte ganz nahe, im Nachbarabteil, ein undeutliches Flüstern, wie es entsteht, wenn ein Zug in der Nacht auf freier Strecke anhält. Dann waren eilige Schritte auf dem Kies entlang den Schienen zu vernehmen, ein kleines Kind begann zu weinen, und gleichzeitig stieß eine Frau einen Schrei aus, so furchtbar und ungeheuerlich, wie ihn nur eine Frau ausstoßen kann, die plötzlich entdeckt, daß sie keine Beine mehr hat. Herr Jadant hatte vor lauter Erschütterungen und Stößen von allen Richtungen keinerlei Vorstellung mehr von seiner Lage inmitten der Trümmer. Er war nicht mehr zusammengerollt; sein rechter Arm war unter ihn gedreht, aber an dessen Ende konnte er seine Hand im leeren Raum bewegen, und er hielt das für ein gutes Zeichen. Sein linker Ellenbogen befand sich auf der Höhe des Kopfes, und die Finger an seiner linken Hand konnten einen schuhlosen Fuß berühren, der im Leeren zu schweben schien. Etwas sehr Hartes verdrehte ihm den Hals und drückte ihm den Kopf auf die rechte Schulter. Ohne allzu große Schwierigkeiten gelang es ihm, seine linke Hand zum Kopf zu führen, und bei der Berührung merkte er, daß er unter einem großen Koffer steckte. Es schien ihm, daß er, wenn er den Koffer nach rechts zu schieben vermöchte, schließlich seinen Kopf freibekommen könnte. Langsam, Zentimeter um Zentimeter, indem er mit Widerständen aller Art kämpfte, gelang es ihm endlich, den Koffer wegzuschieben; kaum aber hatte er den Kopf freibekommen, als eine weiche, warme, feuchte Masse auf ihn schlug. »Herr im Himmel!« stöhnte er, während er versuchte, sich aus dieser neuen Falle zu befreien. »Herr im Himmel!« wiederholte er, als sich seine Finger in die weiche Masse eines geborstenen Schädels gruben. Ganz nahe um sich herum hörte er jetzt Leute sich bewegen und fluchend miteinander reden oder sich beklagen. Die Frau, die zuerst geschrien hatte, war nun still, aber etwas weiter entfernt brüllte ein 87
Mann. »Meine Beine . . .! Ich fühle meine Beine nicht mehr . . .!« stammelte Herr Jadant plötzlich entsetzt. Aber ja doch, sie waren noch da, ausgestreckt, fast gerade. Er zog sie vorsichtig und langsam wieder an, dann suchte er nach einer Stelle, wo er sich aufstützen konnte, um sich vielleicht ein wenig zu erheben und sich zu befreien. Als er schließlich einen Platz gefunden hatte, wohin er seinen Fuß stützen wollte, hörte er einen Schrei. »Ihr Fuß! Nehmen Sie Ihren Fuß weg!« schrie eine Frau dicht unter ihm. »Ich kann doch nichts dafür, Herrschaft noch mal!« schrie Herr Jadant zurück . . . und stemmte seine beiden Füße mit aller Kraft auf die heulende Frau. Aber anstatt sich aufrichten zu können, wie er gehofft hatte, lastete er nur noch stärker auf der Frau unter sich. Inwischen hörte er ganz nahe auf dem Kies Schritte und Stimmen, dann schrie er um Hilfe, ohne sich klarzuwerden, daß um ihn herum andere ebenfalls um Hilfe riefen. Erst nach langer Zeit hörte er unmittelbar über sich ein Rücken. Er mußte ein wenig gedöst oder doch wenigstens die Augen geschlossen haben, denn die Dunkelheit war einem fahlen Licht gewichen, das er unter seinen Armen wahrnahm und das wer weiß woher kam. »Zu Hilfe!« schrie Herr Jadant mit einer ganz fremden Stimme. »Hierher, hier lebt einer!« sagte eine Stimme ganz nahe. »Hier, ich glaube hier! Geben Sie mir einen Heber herüber!« Mehrere Gestalten beugten sich gerade über ihn. »Das ist ein kleines Mädchen . . . aber es ist tot.« »Darunter, gerade darunter . . . ein Mann . . . ich sehe seinen Arm. Vorsichtig!« Und plötzlich machten das blendende Tageslicht und ein Schwall kalter Luft Herrn Jadant völlig munter. »Mut, wir kommen!« sagte ein Mann, der sich über ihn beugte, während ein anderer die Koffer einen nach dem andern hochhob, dann eine aufgerissene Bank, die den Mann verbarg, dessen entkleideten Fuß er berührt hatte und der mit gebrochenem Genick am Gepäcknetz baumelte wie an einem Galgen. Ein anderer Mann, dessen Hemd blutbefleckt war, wendete sich zu Herrn Jadant und ließ seine Hände an ihm entlanggleiten. »Er ist in irgend etwas eingeklemmt, ich weiß nicht, in was. Tut Ihnen was weh?« »Nein . . . ich weiß nicht.« »Geben Sie mir eine Spritze!« sagte der Mann zu jemandem, der gebeugt hinter ihm stand; dann, während er Herrn Jadants Ärmel hochschob, stach er ein. »So – nun wird es nicht mehr lange dauern.« 88
»Nicht lange, nicht lange! Das werden sie mir bezahlen!« brummte Herr Jadant, der sich nun Luft machen mußte. Noch lange machten sich die Männer um ihn zu schaffen, aber er wartete mit geschlossenen Augen, denn jedesmal, wenn er versuchte, etwas zu sehen, drehte ihm eine entsetzliche Übelkeit den Magen um. Unter sich, ganz nahe, sah er inzwischen die lange Funkengarbe eines Schneidbrenners. »Vorsichtig!« stöhnte Herr Jadant, als kräftige Hände ihm schließlich unter die Arme faßten. »Nein, nicht ziehen! Sehen Sie dort die Schiene, sie ist durch seine Kleider hindurchgedrungen. Geben Sie mir den Meißel, damit ich das Zeug entfernen kann!« Herr Jadant fühlte sich schließlich ins Freie gehoben, dann durch viele Hände herabgelassen auf eine Segeltuchbahre, wo ein Mann in weißer Jacke ihm noch eine Spritze gab, bevor er in eine graue Decke eingeschlagen wurde. Vier Mann hoben die Tragbahre vorsichtig hoch und bewegten sich zwischen zwei Reihen von Leuten vorwärts, die sich über ihn beugten. Manche verzogen das Gesicht. »Nein, das ist er nicht«, sagte eine Frau, an der er vorbeigetragen wurde, dann, als begriffe sie plötzlich, fügte sie hinzu: »Oh, der Arme!« Ich muß komisch ausschauen, dachte Herr Jadant, der nicht wußte, daß er völlig durchtränkt war vom Blut des kleinen Mädchens, gegen das er geschleudert worden war. Die Tragbahre wurde schließlich in einen Ambulanzwagen geschoben unter eine andere, die schwer beladen war und von der ständig Blut herabtropfte. Die Tür schlug zu, der Motor dröhnte auf, und während die Frau über ihm bei jedem Stoß schrie, sagte er vor sich hin: »Das werden sie mir bezahlen . . . das wird sie teuer zu stehen kommen!« »Sie sollten nicht weinen, Frau Jadant, vor allem nicht vor Ihrem Mann!« sagte die Schwester. »Wie geht es ihm, dem Armen ?« fragte Frau Jadant, während sie mit der Nase hochzog und vergebens an ihrem schwarzen Kostüm herumzupfte, das von der langen Nachtfahrt völlig zerknittert war. Es war kaum erst Tag geworden, als ihr Zug ankam. Mit dem Köfferchen in der Hand, nach der Hitze im Abteil mit den Zähnen klappernd, war sie die engen Straßen der kleinen Stadt entlangmarschiert, die noch ganz verlassen dalagen, und hielt nur einmal vor einem Café an, um sich nach dem Weg zum Krankenhaus zu erkundigen. Sie war vor dem verschlossenen Tor des stillen Krankenhauses stehengeblieben; dann, nachdem sie ihr Gepäck einen Augenblick abgestellt hatte, um die langen grauen Locken, die ihr in den Nacken hingen, unter ihrem kleinen Hut zurechtdrücken zu können, 89
hatte sie an dem großen Kupfergriff der Glocke gezogen. »Er ist sehr tapfer und hält sich prächtig. Schwester Cecile wird Sie zu ihm führen, Frau Jadant. Aber Sie dürfen nicht lange bleiben, denn es ist keine Besuchsstunde.« »Oh, ich verstehe schon, Schwester. Kann ich den Arzt heute noch sprechen?« »Ja, gewiß. Sie kommen nachher hierher zurück, und ich richte es ein, daß er Sie gleich bei seiner Ankunft empfängt, noch vor den Untersuchungen um neun Uhr.« Von weitem sah Frau Jadant ihren Mann, ganz am Ende des Saales, wo gerade zwei Schwestern Kaffeetassen verteilten, die sie von einem Wagen herunternahmen, der langsam zwischen den Betten hindurchgeschoben wurde. »Mein armer Louis!« sagte sie, als sie bei ihm ankam, und riß die Augen auf, als sie den Rosenkranz zwischen seinen bandagierten Fingern sah, die brav auf der weißen Decke gefaltet lagen. »Es ist Gottes Wille, meine Liebe!« antwortete Herr Jadant, als sie sich über ihn beugte, um ihn zu küssen. Dabei verdeckte sie vollständig Schwester Cecile, und er zwinkerte ihr lebhaft zu. » Hast du große Schmerzen ? « fragte ihn Frau Jadant verwirrt. »Nein . . . das heißt, jetzt nicht mehr. Ich fühle nichts mehr in den Beinen – gar nichts mehr. Es ist mir, als hätte ich keine mehr.« »O mein Gott . . . und wie ist es denn passiert?« »Ich weiß nicht. Ich hatte eine ungeheure Last auf dem Rücken, stundenlang . . . schließlich, sobald ich konnte, habe ich mich auf eine arme Frau gestützt, die unter der Last der Trümmer schrie. Und vielleicht ist so meine Wirbelsäule . . . denk ich mir. . .« »Er ist sehr tapfer und hat viel gebetet. Er ist ein frommer Mann!« meinte Schwester Cecile etwas später, als sie Frau Jadant hinausbegleitete. »Ja . . . glauben Sie?« sagte diese sorgenvoll, während sie sich fragte, ob etwa die Lähmung der Beine nicht vielmehr von einem tüchtigen Schlag auf seinen Kopf herrühre. Erst am übernächsten Tage, bei ihrem letzten Besuch vor ihrer Abreise, fand Frau Jadant den Mut, ihn zu fragen: »Was werden wir tun? Was wird aus uns, mein armer Louis, wenn du gelähmt bleibst?« »Gott wird uns beistehen, meine Gute!« antwortete er mit lauter Stimme, als Schwester Cecile zwischen den Reihen der Betten vorbeiging, und leiser fügte er hinzu: »Vor allem ist da die Versicherung, und dann auch die Eisenbahn, die zahlen müssen . . . das kostet sie viel, Lähmung der Beine«, fuhr er noch leiser fort, indem er seiner Frau zuzwinkerte. Als Schwester Cecile sich über ein benachbartes Bett beugte, beendete er seine Rede mit wieder lauter Stimme: »Und mit Gottes Hilfe werde ich 90
einen anderen Beruf erlernen. Schau, ich werde doch mit meinen zehn Fingern etwas anfangen können!« »Ja, glaubst du ?« fragte Frau Jadant und dachte an das einzige Bild, das er einmal aufzuhängen versucht und dessen Scheibe er zerbrochen hatte, weil er den Hammer darauffallen ließ. Die Eisenbahn hatte ihr Bestes getan. Herr Jadant war nicht nur in einem Luxussanitätswagen nach Hause gefahren worden, sondern eine Woche vorher waren Herren gekommen, die Breite des Korridors zu messen und die Höhe der Stufen in der Küche; darauf waren Arbeiter erschienen, um die beiden Stufen, die in den Garten führten, durch eine lange geneigte Ebene zu ersetzen. Schließlich war einen Tag vor der Heimkehr Jadants ein herrlicher, ganz neuer Rollstuhl, schwarz emailliert, Sitz und Rückenlehne aus gelbem Leder, mit viel Umstand angeliefert worden. Die Nachbarn hatten kommen können, um ihn anzusehen und die verschiedenen Zubehörteile zu bewundern, die ihn vervollständigten: ein schräges kleines Brett zum Lesen, den großen drehbaren Tisch zum Essen oder Arbeiten, und schließlich alles, was außerdem zum Wohlbefinden eines Gelähmten erforderlich war. Aber die Verwunderung der Nachbarn erreichte ihren Höhepunkt, als schließlich der Krankenwagen vor der Tür hielt und Frau Jadant aus dem Haus kam, um ihren Mann in Empfang zu nehmen. Anstatt des kranken, bleichen, mitgenommenen Mannes, den sie erwartet hatten, sahen sie Herrn Jadant, frisch und lächelnd, mit lebhaften Augen, aus dem Krankenwagen kommen, und während er geschickt mit den herrlichen verchromten Krücken hüpfte, nahm er keinerlei Hilfe an außer zum Ersteigen der Stufen der großen Freitreppe. Dort mußte er sich freilich von den beiden Krankenwärtern die Krücken wegnehmen und sich ins Haus tragen lassen. Schließlich fand sich Herr Jadant in seinem schönen Rollstuhl sitzend, er thronte mitten in seinem neuen Zimmer, dem kleinen Salon zu ebener Erde, wo Frau Jadant ein Bett hatte hineinstellen lassen, nachdem das Zimmer von verschiedenen kleinen runden Tischen sowie von drei vergoldeten Stühlen und der großen Topfpflanze befreit worden war. Ohne den runden Tisch, der unter der Decke von goldgelbem Samt mit goldener Litze verborgen war und der dem riesigen Nähkasten aus Muscheln mit der Aufschrift Souvenir de Cabourg als Sockel gedient hatte, hätte das Zimmer fast einen gemütlichen Eindruck gemacht. In dieses Zimmer wurden, nachdem der Krankenwagen fort war, die Nachbarn geführt; sie kamen einer nach dem andern oder in kleinen Gruppen, um dem armen Herrn Jadant die Hand zu schütteln. Alle hofften, aus seinem Munde eine detaillierte Schilderung der Katastrophe zu hören, der Schreckensnacht, von der sie zwar alle Einzelheiten bereits aus den Zeitungen kannten, die sie sich sorgfaltig aufgehoben hatten (es 91
kommt ja schließlich nicht alle Tage vor, daß man eines der Opfer persönlich kennt); zu allen aber sprach er von Gott, dessen Barmherzigkeit und Güte. Einige der Besucher waren sichtlich verlegen, sie wußten nicht recht, was sie sagen sollten, und begnügten sich, Frau Jadant forschend anzusehen; andere stimmten ihm zu, während sie seufzten oder den Kopf schüttelten. »Er hat eins abgekriegt«, sagte der Weinhändler zu seiner Frau, als er hinter seinen Ladentisch zurückkehrte, und tippte sich mit der Fingerspitze an die Stirn. »Der Mann hat einen Fuß im Grabe«, sagte der Metzger, während er sich auf die Theke stützte, und als ihm der Wirt seinen Weißwein brachte, fügte er hinzu: »Man muß wohl mit einem Fuß schon im Grabe gestanden haben oder selber Pfarrer sein, um so zu reden.« »Und jetzt schließ bitte die Läden und das Gartentor! Ich habe dir etwas vorzuführen«, sagte Herr Jadant zu seiner Frau, als endlich der letzte Besucher weggegangen war. »Aber mein armer Louis, das Essen wird ja kalt. Ich hatte dir ein schönes Hühnchen gebraten . . .« »Das macht nichts, tu, was ich dir sage!« beharrte Herr Jadant. »Aber was soll das denn?« sagte Frau Jadant, zuckte die Achseln und ging, um das Gartentor zu schließen. Als sie endlich die Läden geschlossen, auch die doppelten Vorhänge aus grünem und violettem Samt zugezogen hatte und, sich umdrehend, ihren Mann aufrecht neben seinem Rollstuhl stehen sah, gerade wie eine Eins, konnte sie nur noch stottern: »Nein, aber so was!« Die Hände leicht in die Hüften gestützt, mit geraden Schultern, den Bauch schön eingezogen, mit einem leichten Lächeln, stellte sich Herr Jadant auf die Fußspitzen und machte langsam eine Kniebeuge, mit völlig geradem Oberkörper und gespreizten Knien. »Da, schau her!« sagte er, ein wenig rot, aber sehr stolz, nachdem er eine dritte und letzte Beugung durchgeführt hatte. »Sie haben dich also geheilt?« »Mein armes Kind, wie du nur so dumm sein kannst! Ich bin natürlich nicht geheilt. Ich bin unheilbar, hörst du? Ich habe einen doppelten Bruch des . . . des Dingsda – es steht alles auf dem Schein, den mir der Professor ausgestellt hat, den sie den großen Boß nannten und welchen die Eisenbahn extra von Bordeaux hingeschickt hatte. Hast du das begriffen?« »Aber . . . bist du etwa ganz von alleine gesund geworden?« »Ich, ganz alleine gesund geworden? Nie im Leben! Ich gebe mir alle Mühe, dir zu erklären, daß ich unheilbar bin. Und ich bleibe unheilbar, bis die Eisenbahn bezahlt hat. Hinterher werde ich geheilt sein, und zwar wird das dank der Gnade Gottes geschehen. Plötzlich und ganz!« »Louis, erklär mir das! Ich verstehe nichts. Was willst du tun? Du wirst 92
uns Unannehmlichkeiten bereiten, das spüre ich schon«, sagte Frau Jadant und war nahe daran zu weinen. »So sind die Frauen! Du hast nie geweint, als du mich gelähmt gesehen hast, und jetzt, wo du weißt, daß ich es nicht bin, weinst du! Du verstehst also wirklich nicht, daß ich sie alle bloß angeführt habe, alle, die Ärzte, die Professoren, die Fachleute und all die anderen, die gekommen sind, um mich zu sehen und mich zu betasten, mich zu befühlen und mich zu zwacken, den ganzen langen Tag! Wir haben gewonnenes Spiel! Wir brauchen nur noch zu warten, bis uns die gebratenen Tauben in den Mund fliegen . . . Das kann nun nicht mehr lange dauern.« Und es dauerte tatsächlich nicht lange. Wiederholt hatte Herr Jadant die verlockende einmalige Abfindungssumme zurückgewiesen, welche die Eisenbahn ihm anbot. Es ist üblich, daß ein Verkrüppelter, der nicht mehr arbeiten kann, die Sicherheit einer kleinen Pension vorzieht, die zwar zweifellos niedrig ist, ihn aber so weit sichert, daß er nicht Hungers sterben muß. Aber die Beauftragten waren wiedergekommen, und an dem Tage, als ihm das letzte Angebot in Höhe von fünfzigtausend Francs zur endgültigen Regelung gemacht wurde, hatte er zugestimmt. Am nächsten Tage schon war alles unterschrieben. »Du bist vorangekommen, mein armer Louis!« sagte seine Frau, als sie den Scheck betrachtete, den die Herren auf dem Tische gelassen hatten. »Was willst du nun mit dem Geld machen ? Wir dürfen es nicht anrühren, denn an dem Tage, an dem sie erfahren werden, daß du laufen kannst, müssen wir es zurückgeben.« »Ach – meinst du ? Nun, du wirst schon sehen. Mit diesen fünfzigtausend Francs werde ich mir zunächst einmal einen Wagen kaufen.« »Was willst du denn damit anfangen, mein Guter?« »Die Kundschaft besuchen, natürlich! Ich bringe mein Leben nicht mehr im Zuge zu. Mit einem guten Wagen könnte ich sehr viel mehr Geschäfte machen als vorher. Und ich bin am Ort gut bekannt, ich . . .« »Du bist ja verrückt, Louis, ich sage dir, sie werden ihn dir nehmen, deinen Wagen. Und du kannst von Glück reden, wenn sie dich nicht ins Gefängnis stecken!« »Nicht so hitzig, meine Liebe! Sieh lieber nach, wer an der Gartentür läutet!« sagte Herr Jadant, indem er sich in seinen Rollstuhl warf. »Da . . . es ist der Pfarrer!« »Ausgezeichnet, laß ihn bitte hereinkommen! Warte! Gib mir meinen Rosenkranz! Dort in der Anzugtasche! Gib her, nun geh doch, öffne ihm jetzt!« Der Pfarrer kam öfter. Er war voll aufrichtiger Bewunderung für diesen Mann, der, in der Blüte seiner Jahre vom Unglück geschlagen, wieder zu Gott gefunden hatte und ihm fast dafür dankte, daß er den Gebrauch 93
seiner Beine verloren hatte. Der Herr Pfarrer hatte im Laufe seines Lebens schon Kranke aller Art gesehen; solche, die aufbegehrten und andere, die ihre Krankheit ruhig und resigniert trugen, aber noch niemals hatte er einen gesehen, der so fröhlich war, so offensichtlich glücklich trotz allem Unglück. Sie hatten gemeinsam und zuweilen unter Lachen die verschiedenen Tätigkeiten erwogen, die einem Mann wie Herrn Jadant noch möglich sein würden. Es gab am Ort eine junge Gelähmte, die eine Strickmaschine erworben hatte und damit Pullover anfertigte und Schals; nach und nach hatte sie sich unter den Ladeninhabern ihres Viertels eine ganz hübsche Kundschaft geschaffen. Herr Jadant könnte sie vielleicht eines Tages besuchen, schlug der Pfarrer vor, der meinte, das herzliche Lachen des Herrn Jadant würde der kleinen Raymonde wohl guttun. Sie war auch tapfer, aber es war eine doch sehr viel resigniertere Tapferkeit; sie hatte nicht diese Herzenswärme, dieses flammende Vertrauen, das in Herrn Jadants Augen strahlte. Herrn Jadants erste Ausfahrt war eine große Sache. Der Pfarrer war gekommen, ihn abzuholen, und hatte darauf bestanden, selber den schönen Rollstuhl zu schieben, während Frau Jadant in ihrem schwarzen Kostüm nebenher ging. Den ganzen Weg entlang drehten sich die Leute nach ihnen um, und als sie am Café de la Mairie vorbeikamen, legten die Skatspieler ihre Karten beiseite. »Ich hab es euch ja gesagt, er ist vollkommen übergeschnappt, der arme Jadant!« sagte der Wirt und tippte sich mit dem Finger an die Stirn. »So, hier sind wir; es ist das Eckhaus dort unten«, sagte der Priester. »Und sehen Sie, dort ist Raymonde, die uns an ihrem Fenster erwartet!« »Wo denn?« »Das Fenster im ersten Stock, das erste links über dem Farbengeschäft!« Herr Jadant sah das bleiche Gesicht eines traurigen Kindes, und mit breitem Lächeln schwenkte er den Hut gegen sie. Der Rollstuhl erwies sich als viel zu groß für die enge Treppe, aber der Farbenhändler holte rasch einen Stuhl herbei, und mit Hilfe seines Kommis und des Pfarrers, der heftig schnaufte, setzte er Herrn Jadant schließlich neben der jungen Gelähmten ab, die sichtlich verwirrt zugeschaut hatte, wie dieser Mann in ihr Zimmer gebracht wurde, der laut sprach, über die Anstrengung seiner Träger lachte und sich gleichzeitig bei ihnen bedankte. »Er ist sich gar nicht bewußt, daß er gelähmt ist; man könnte sagen, er weiß nicht, was es heißt, gelähmt zu sein«, sagte Raymonde sanft nach dem ebenso lärmenden Abschied von ihrem Besucher. »Aber Louis, das ist die reinste Tollheit! Du wirst doch nicht dreitausend Francs für eine Strickmaschine ausgeben, die dir nie etwas 94
nützen wird!« sagte Frau Jadant, nachdem sie die Läden heruntergelassen hatte. Ohne zu antworten, wartete Herr Jadant, bis die Vorhänge zugezogen waren; dann zog er seine neuen Schuhe aus – vor allem mußten die Sohlen neu und glänzend bleiben – hob sich auf die Fußspitzen, stemmte die Hände in die Seite und machte ein Halbdutzend Kniebeugen, bevor er auf der Stelle hüpfte, wie er es bei trainierenden Boxern gesehen hatte. Er durfte doch nicht zu steif werden. »Du willst diese Maschine tatsächlich kaufen?« bohrte seine Frau weiter. »Ja, und ich werde sogar lernen, sie zu bedienen und Schals zu machen, die du an eine Adresse tragen wirst, die mir die kleine Raymonde gestern gegeben hat. Man darf nichts dem Zufall überlassen, es darf nicht dazu kommen, daß sie eines Tages versuchen, uns das Geld wieder wegzunehmen.« »Aber, Louis, was hast du nun eigentlich vor ? Willst du mir das nicht endlich sagen?« »Ich kann es dir schließlich sagen, du kannst sogar schon anfangen, hier und da davon zu reden, in den Läden etwa, als von einem noch unbestimmten zukünftigen Plan. Ja, es wäre sogar gut, wenn man glaubte, daß die Idee von dir kommt.« »Aber welche Idee nur, Louis?« »Wir werden eine kleine Reise machen, du und ich, oder vielmehr eine Pilgerfahrt. Wir reisen in den ersten schönen Tagen.« »Wo willst du denn hin? Alle werden genau wissen, wo du bist.« »Du hast es immer noch nicht begriffen, meine Gute. Wir wollen uns doch gar nicht verstecken, ganz im Gegenteil, jeder kann wissen, daß wir nach Lourdes reisen. Und wenn ich erst einmal in Lourdes bin, werde ich gesund. Ein Wunder!« »Nein, aber so was!« war alles, was Frau Jadant darauf sagen konnte. Gut eingehüllt und bequem saß Herr Jadant in seinem Rollstuhl in einer sonnigen Ecke des Gartens, der zu dem stattlichen Hotel gehörte, wo sie am Vorabend angekommen waren. Er war mit sich selbst sehr zufrieden. Seine Arme schmerzten ein wenig, denn am Abend wie auch heute morgen in der Grotte hatte er es für richtig erachtet, es einigen der Gläubigen gleichzutun und mit über der Brust gekreuzten Armen zu beten. Natürlich blieb er beim Beten in seinem Stuhl sitzen, aber die gekreuzten Arme waren nicht ohne Wirkung geblieben: denn sogar ein Priester war gekommen, um neben ihm zu knien. Zum zwanzigsten oder dreißigsten Male ließ Herr Jadant die Ereignisse der letzten Monate Revue passieren. Er fand nicht den kleinsten Fehler; nichts, aber auch gar nichts in seinen Worten oder Taten ließ den Gedanken aufkommen, daß er nicht tatsächlich gelähmt wäre. Frau 95
Jadant hatte so vortrefflich von dem Gedanken an eine Pilgerfahrt nach Lourdes gesprochen, daß der brave Pfarrer schließlich selbst erschienen war, um ihn zu bitten, diese Reise zu unternehmen, sei es auch nur, um seiner armen Frau die Freude zu machen. Die Augen eisern auf seine Strickmaschine geheftet, hatte er geantwortet: »Aber ich beklage mich ja gar nicht, Herr Pfarrer! Gott hat es so gewollt, und jetzt beginne ich bereits, mit Hilfe dieser Maschine ein wenig zu verdienen. Vorige Woche habe ich meine ersten Schals verkauft. Für meine arme Frau kann es am Ende nur eine Enttäuschung werden, denn ich sehe weder einen Grund noch eine Möglichkeit zu einem Wunder an mir. Nein, es hat keinen Sinn!« hatte er lächelnd hinzugefügt. Und ohne den wahren Grund dieses Lächelns zu ahnen, hatte der Pfarrer protestiert: »Seien Sie doch vernünftig, mein Sohn! Sie haben keinerlei Recht, so zu reden!« Am Abend vor ihrer Abreise hatte er plötzlich beschlossen, die kleine Gelähmte noch einmal zu besuchen. »Ich werde auch für Sie bitten und Ihnen ein wenig Wasser aus der Grotte mitbringen, Fräulein Raymonde!« sagte er, als er sich wieder zum Erdgeschoß hinuntertragen ließ. »Danke, Herr Jadant! Ich werde auch für Sie bitten. Ich spare jetzt und hoffe, die Pilgerfahrt nach Lourdes in zwei oder drei Jahren auch machen zu können.« »Verstehst du!« hatte er am gleichen Abend seiner Frau erklärt, »wenn ich wiederkomme, könnte ich ihr meinen Rollstuhl schenken – das kann ich gut, er hat mich ja nichts gekostet – und gleichzeitig werde ich ihr meine Strickmaschine zu einem guten Preis verkaufen. Sie kann sie nach und nach abzahlen.« Die Reise war gut vonstatten gegangen. Es war nicht leicht gewesen, ihn bei der Abfahrt in den Zug zu bringen, und er hatte schlecht geschlafen, denn er hatte an dem Abend seine Beine nicht üben können. Aber bei der Ankunft war alles prächtig verlaufen; die erfahrenen freiwilligen Träger hatten ihn ohne Schwierigkeit aus seinem Abteil gehoben, während sein Rollstuhl aus dem Gepäckwagen geladen wurde. Es waren erst wenig Pilger da. Herr Jadant hatte sich überlegt, daß es klüger sei, ein stilles kleines Wunder zu haben als ein großes Wunder mitten in einer riesigen Pilgerschar, wo er riskierte, auf Neugierige zu treffen, auf Journalisten und sogar Fotografen. Er hatte auch auf den Gedanken verzichtet, das Wunder an sich während der Morgenmesse geschehen zu lassen, denn auch da lief er Gefahr, allzuviel Aufmerksamkeit zu erregen. Er hatte nämlich gelesen, wie die Priester zuweilen mit aller Kraft gegen die aufgeregte Masse der Gläubigen kämpfen mußten, die herankommen wollten, um den Geheilten zu sehen und zu berühren. Nein, alles mußte so still wie möglich vor sich gehen, 96
wenn auch vor einigen Zeugen und mindestens einem Priester. Die Grotte, am Ende des Frühgottesdienstes, in ein oder zwei Tagen, das wäre das Richtige. Es eilte ja gar nicht. Frau Jadant wurde immer unruhiger. Und an dem Tage, als er sich zu handeln entschloß, versuchte sie noch, es ihm auszureden. »Glaubst du nicht, es wäre besser, erst hinterher geheilt zu werden? Viele werden erst hinterher geheilt, wenn sie wieder daheim sind.« »Nein, nein und nein! Wir müssen da ganze Sache machen. Es muß ein Wunder sein, das vielleicht unverständlich ist, aber unbestreitbar. Gehen wir jetzt! Es ist schönes Wetter, wir können ganz langsam gehen, und wenn nicht viele Leute da sind, werde ich mit einem kleinen Wunder auch ganz zufrieden sein.« »Louis, ich habe Angst . . .!« »Ach was! Jetzt ist nicht der Moment dazu. Überhaupt hast du dabei nichts zu tun, und du darfst sogar ein bißchen weinen, das wirkt sehr natürlich und kann nur nützen. Wenn du merkst, daß gerade niemand hinschaut, wenn ich aufstehe, brauchst du nur loszuweinen, um die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Dann laß mich nur machen, aber hab ja keine Angst, wenn ich hinfalle! Das ist völlig normal, verstehst du? Ein Geheilter kann nicht gleich auf der Stelle wieder richtig laufen. Gehen wir also, los jetzt!« Zitternd wie Espenlaub schob Frau Jadant ihren Mann bis zum Gatter am Eingang der Grotte. »Bleiben wir hier stehen! Laß mich nur machen!« flüsterte er. Um sie herum gingen und kamen die Menschen. Manche beteten, einige sogar laut. Scheinbar ohne sich um jemand zu kümmern, betete Herr Jadant immer wieder seinen Rosenkranz; schließlich betete er lange mit gekreuzten Armen. Alles geschah genau, wie er es vorgesehen hatte, und Frau Jadant hatte nicht mehr allzuviel Angst, als sie sah, wie ihr Mann sich langsam aufrichtete, die Arme immer noch gekreuzt. Sie wollte gerade zu weinen anfangen, als sie sah, wie ein Soldat sich mit offenem Munde umwandte. »Er geht, er geht!« schrie eine kniende Frau genau in dem Augenblick, als Herr Jadant langsam drei zögernde Schritte gegen das Gitter tat. »Ein Wunder, ein Wunder!« schrie ein Mann, während ein Priester sich zu Herrn Jadant durchdrängte, der am Gitter zusammenzubrechen drohte. »Ich gehe . . . ich . . . gehe!« stammelte er, als der Soldat und der Priester ihn aufrichteten. »Lassen Sie mich, ich kann wieder gehen, ich sage es Ihnen doch!« Und als sie gehorchten, stürzte er aufs neue hin. Frau Jadant erfaßte die furchtbare Wahrheit erst ein wenig später, im Krankenhaus, als ein Arzt ihn untersuchte. »Beten Sie, beten Sie doch!« schrie der Priester sie fast an. »Es ist ja 97
unmöglich, daß das Wunder sich nicht wiederholt!« Der Arzt zuckte hilflos die Achseln, während Herr Jadant wutschäumend, das Gesicht von Tränen überströmt, wiederholte: »Aber so tut doch bloß etwas, Herr im Himmel! Ich sage euch doch, ich kann gehen!« Herr Jadant bot ein Bild des Jammers, als die Krankenwärter ihn diesmal aus der Ambulanz hinaustrugen, die ihn heimbrachte. Genau in dem Augenblick, als sie Frau Jadant halfen, ihren Mann wieder in den Rollstuhl zu setzen, neben seine schöne Strickmaschine, klopfte der Pfarrer bei Raymonde an, die ihn zu sich gebeten hatte. »Ich muß Ihnen etwas sagen, Herr Pfarrer!« begann sie und richtete ihre großen, klaren Augen auf ihn. »Ich bin ganz Ohr, mein Kind!« sagte der Priester und zog sich einen Stuhl neben denjenigen, in dem die Kranke saß. »Ich weiß, daß Sie mir nicht glauben werden, aber hören Sie mich bis zum Schluß an!« »Jawohl, Raymonde!« Indem sie unentwegt auf ihre kleinen weißen Hände sah, die nervös verkrampft auf der alten Decke lagen, welche ihre Beine umhüllte, erzählte Raymonde ihre seltsame Geschichte. »Folgendes hat sich vorgestern morgen zugetragen. Ich war allein hier; Mama war auf dem Markt. Ich hatte eben einen Pullover fertiggemacht, träumte so vor mich hin und sah dabei auf die Leute, die auf der Straße vorbeigingen. Plötzlich hatte ich das Gefühl, das Zimmer hinter mir werde ganz dunkel, und als ich über meine Schulter blickte, hatte ich Furcht, denn es war wahr. In der Ecke, dort, wo das Bett steht und der Lehnstuhl, war es ganz schwarz geworden. Und in derselben Ecke, ein wenig über der Decke, ist mir in dem Augenblick strahlend die Jungfrau erschienen! Ja, sagen Sie nichts, ich weiß genau, daß es die Jungfrau war. Sie sagte etwas Merkwürdiges zu mir, ich gebe zu, daß es ein wenig dumm klingt, aber ich wiederhole Ihnen, was sie zu mir sagte: >Raymonde, ich habe zwei Beine gefunden, die nutzlos geworden waren. Hier bring ich sie dir!< Und als ich sie stumm anschaute, fügte sie hinzu: >Komm, steh auf und gehe! < Und als ich auf sie zuging, verschwand sie still und lächelnd.« »War das ein Traum?« »Nein, Herr Pfarrer, sehen Sie! Sie sind der erste, der es sieht«, sagte darauf Raymonde, schlug die alte Decke zurück und erhob sich langsam. Einen Augenblick blieb sie bewegungslos stehen, dann schob sie die ausgestreckte Hand des Priesters beiseite und schritt ganz langsam durchs Zimmer.
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Die andere Hand Ohne alle Bitterkeit dem Gedanken jenes Lehrers, der mich immer so derb auf die Finger geschlagen hat, wenn er mich dabei ertappte, wie ich mit der linken Hand schrieb »Herr Doktor, könnten Sie mir bitte die rechte Hand abnehmen?« Über den Rand meiner Brille hinweg schaute ich den schlanken, kräftigen Mann an, der vor meinem Schreibtisch stand, und traf einen Augenblick lang seinen Blick, der Angst und Entschlossenheit zugleich ausdrückte. Ich griff nach einem Blatt Papier. »Ihr Name, bitte?« »Manoque . . . hier ist meine Karte . . . Jean-Claude Manoque.« »Wie alt sind Sie?« »Zweiunddreißig.« »Ihre genaue Adresse?« Bei jeder Frage sah ich ihn an. Trotz seinem seltsamen Anliegen wirkte er durchaus gelöst. Er war gut gekleidet und hatte das Auftreten eines Mannes von Welt, und seine Anschrift ließ erkennen, daß er ziemlich vermögend sein mußte. Nur seine Augen verrieten Nervosität, was nichts besagte, denn Menschen, die vor einer Operation stehen, sind immer nervös. »Hat Ihnen Ihr Arzt zu dieser Operation geraten?« Ich legte die Feder hin und lehnte mich in meinem Stuhl zurück, als er mir erklärte, er habe keinen anderen Arzt konsultiert und sei lediglich deshalb zu mir gekommen, weil ich Chirurg sei und weil ich gerade neben ihm wohne. »Zeigen Sie mir bitte einmal Ihre Hand, Herr Manoque!« Er beugte sich vor und legte die Hand auf meinen Schreibtisch, mit der Handfläche nach oben. Es war die starke, wohlgeformte Hand eines Tatmenschen, mit langen, eckig auslaufenden, kräftigen Fingern. Unterhalb des Daumens und auf der Handfläche bemerkte ich zwei Schwielen, die ich mit der Fingerspitze berührte. »Das kommt vom Tennisspielen«, erklärte er mir lächelnd. Als ich die Hand umdrehte, sah ich tadellos manikürte Fingernägel. Eine leichte Behaarung, die vom Handgelenk bis zu den Fingern ging, sprach für physische Kraft, und zwei alte Narben auf den Gelenken mochten von einer gewissen Aggressivität zeugen. »Die andere Hand, bitte!« Die beiden Hände waren einander sehr ähnlich. Nur ein Unterschied 99
war wahrzunehmen: die rechte Hand zitterte leicht; aber auch das konnte vom Tennisspielen kommen. »Danke, Herr Manoque. Wollen Sie mir jetzt bitte erklären . . . « »Muß das wirklich sein?« »Ich fürchte, ja. Was haben Sie gegen Ihre Hand?« »Sie gehört mir nicht mehr, Herr Doktor«, sagte er langsam, wobei er mir offen in die Augen sah. »Ach so – wem gehört sie denn?« fragte ich ihn, nahm ein Notizblatt und begann zu schreiben. Lange Erfahrung hat mich gelehrt, niemals Erstaunen zu zeigen und jedes Lächeln zu unterdrücken, wenn meine Patienten mir Erklärungen abgeben. »Das weiß ich nicht, und es ist mir auch völlig gleichgültig – ich will sie loswerden.« »Herr Manoque, ich fürchte, daß ich nichts für Sie tun kann. Hier haben Sie die Anschrift eines Kollegen, der Ihnen sehr wahrscheinlich helfen kann.« »Vermutlich ein Psychiater. Danke, Herr Doktor, aber ich brauche einen Chirurgen. Verzeihen Sie, daß ich Sie aufgehalten habe«, fügte er hinzu und erhob sich, »ich werde mir anderswie helfen.« »Es ist die Anschrift eines Psychiaters, Herr Manoque, Sie haben recht, aber Sie täuschen sich, wenn Sie meinen, er könne Ihnen nicht helfen. Ich rate Ihnen sehr, zu ihm zu gehen.« »Nein danke, ich werde wieder zu Ihnen kommen«, sagte er, machte eine leichte Verbeugung und ging zur Tür. »Ich kann Sie nicht wieder empfangen.« »Doch, ich bin davon überzeugt, daß Sie es tun werden.« Meine Sprechstundenhilfe führte ihn zur Tür. Während ich auf den nächsten Patienten wartete, sah ich mir noch einmal das Blatt an, das ich ausgefüllt hatte, zögerte einen Augenblick, zerriß es dann und warf es in den Papierkorb. Ein Gähnen unterdrückend, machte ich mich daran, eine Reihe von Röntgenaufnahmen vom Magen der Gattin eines berühmten Antiquars zu betrachten, einer völlig gesunden Frau, die fest davon überzeugt war, daß sie an einem Magengeschwür operiert werden müsse, das lediglich in ihrer Einbildung existierte. Meine Sprechstundenhilfe klopfte an die Tür und öffnete diese ganz gegen ihre Gewohnheit. »Verzeihen Sie,ein ganz dringender Fall!« stotterte sie und sah auf meine Patientin, die abwechslungsweise mich und die Sprechstundenhilfe anschaute. »Worum handelt es sich denn?« fragte ich, indem ich zur Tür hinausging und sie hinter mir schloß. »Der junge Herr, der gerade hinausging . . . er ist im zweiten Behandlungszimmer.« »Wollen Sie etwa sagen, daß er das Haus noch nicht verlassen hat?« 100
»Nein, er ist gegangen, aber er ist bereits wieder da . . . Er hatte einen Unfall.« »Einen Unfall?« »Seine Hand, Herr Doktor . . .« Er stöhnte und kam wieder zu Bewußtsein, als ich an seinem verstümmelten Handgelenk eine feine Naht anlegte. »Können Sie sich noch eine Minute ruhig verhalten oder wollen Sie, daß ich Ihnen eine Narkose gebe?« »Ich . . . ich werde mich nicht bewegen«, flüsterte er. »So . . .« sagte ich fünf Minuten später. Ich zündete eine Zigarette an und steckte sie ihm in den Mund, während meine Gehilfin dabei war, ihm eine Morphiumspritze zu geben. »So . . . Die Ambulanz wird jeden Augenblick kommen.« »Danke!« sagte er und zog an der Zigarette. »Ich glaube, Sie wollen jetzt . . .« »Nein, nicht jetzt – ich sehe Sie später wieder, in der Klinik.« »Wie Sie wollen«, antwortete er lächelnd. »Ach, übrigens, ich habe gedacht, daß Sie oder die Polizei oder sonst jemand sie haben wollten . . . ich habe sie in meine Tasche gesteckt. In meine rechte Jackentasche.« »Was denn, Herr Manoque?« »Meine Hand natürlich«, sagte er langgezogen und schloß unter der Wirkung des Morphiums halb seine Augen. Am gleichen Abend besuchte mich der Polizeiwachtmeister unseres Quartiers und erzählte mir, daß der Schreiner an der Ecke meiner Straße gesehen habe, wie Herr Manoque in seine Werkstatt trat, sich unmittelbar an einen der Arbeiter wandte, der gerade die Füße eines Stuhls abschnitt, sich vorbeugte und sein Handgelenk genau an die Schneide der Kreissäge legte, die auf vollen Touren lief. »Der Schreiner ist sicher, daß er es mit voller Absicht tat, sein Gehilfe ist weniger sicher. Hat er Ihnen gegenüber irgendwelche Andeutungen gemacht, Herr Doktor?« »Er hat mir nur gesagt, er hätte für den Fall, daß die Polizei sie sehen wolle, seine Hand aufgehoben und in die Jackentasche gesteckt. Sie liegt jetzt dort auf der Schale, wenn Sie sie brauchen.« »Nein, nicht nötig, Herr Doktor, vielen Dank!« Ich zögerte, von dem ersten Besuch des Herrn Manoque zu sprechen, und entschloß mich schließlich, darüber zu schweigen. Selbst wenn er wahnsinnig sein sollte, hatte er sich mir doch völlig freiwillig anvertraut, und ich fühlte mich nicht ermächtigt, sein Geheimnis aufzudecken. Am nächsten Morgen in der Klinik traf ich den Wachtmeister bereits wieder. Er verließ gerade das Zimmer meines Patienten. Herr Manoque schien ihn restlos beruhigt zu haben. Er hatte ausgesagt, es handle sich 101
um einen Unglücksfall, den er selbst, keinesfalls aber der Schreiner, verschuldet habe. »Ich bin Ihnen dankbar, Doktor, daß Sie der Polizei gegenüber nichts von meinem ersten Besuch gestern erwähnt haben«, sagte er, während ich seine Temperaturkurve betrachtete, die auf einer Tafel über dem Bett eingezeichnet war. »Sonst hätten sie mich wahrscheinlich als verrückt einsperren lassen.« »Ich diskutiere nie über die Krankheiten meiner Patienten, Herr Manoque, nicht einmal mit der Polizei.« »Sie.glauben wahrscheinlich immer noch, ich brauchte einen Psychiater?« »Davon bin ich allerdings überzeugt.« »Aber . . . Herr Doktor, wenn es nun eine Erklärung gäbe?« »Eine Erklärung gibt es immer.« »Jawohl. Wollen Sie meine hören?« »In einigen Tagen, ja. Wenn es Ihnen wieder gut genug geht und Sie zu mir in die Sprechstunde kommen können. Und wenn es Ihnen nicht gerade unangenehm ist: ich hätte einen Freund, den Ihre Geschichte sehr interessieren würde. Ein Arzt natürlich.« »Sie wollen mir gegen meinen Willen helfen«, antwortete er mit breitem Lächeln. »Schön. Aber ich sage Ihnen gleich – Ihr Freund wird es mit einem außergewöhnlich rebellischen Patienten zu tun bekommen.« »Wieso?« »Weil mein Kopf in Ordnung ist.« »Ja, natürlich.« Den Arm in der Schlinge, vielleicht leicht abgemagert, aber mit einem Lächeln auf dem Gesicht, erschien Herr Manoque eine Woche darauf bei mir in der Sprechstunde, und ich stellte ihn meinem Kollegen und Freund, Professor Boucet, vor, der wenige Minuten vor ihm gekommen war. »Ich möchte nicht, Herr Manoque, daß Sie sich verpflichtet fühlen, hier von sich sprechen oder Erklärungen abgeben zu müssen. Wenn Sie jedoch immer noch Wert darauf legen, und wirklich nur in dem Fall, glaube ich, daß der Herr Professor etwas für Sie tun könnte. Übrigens lasse ich Sie, wenn Sie wünschen, jetzt mit ihm allein.« »Nein, Herr Doktor. Ich bin Ihnen diese Erklärung schuldig.« »Eine Frage noch, Herr Manoque. Gestatten Sie, daß ich das Tonband benütze?« »Wenn Sie mir versprechen, es nicht gegen mich zu gebrauchen!« »Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.« »Dann habe ich nichts dagegen, Herr Doktor.« Es folgt nun die Geschichte des Jean-Claude Manoque, wie ich sie von der Tonbandaufnahme selbst in die Maschine geschrieben habe. 102
Es begann an dem Tage, als ich das goldene Feuerzeug meines Schwagers nahm und es in meine Tasche gleiten ließ. Ein- oder zweimal vorher hatte ich schon bemerkt, wie meine rechte Hand leicht zitterte und sehr heiß wurde, aber dieses Detail kam mir erst viel später wieder in den Sinn. Als ich Ludos Feuerzeug nahm, hatte ich mir nicht einmal sehr viel dabei gedacht. Es war mir peinlich, natürlich, und kaum hatte ich das Zimmer verlassen, kehrte ich auch schon um, entschuldigte mich und gab ihm sein Feuerzeug zurück. Er lachte nur und maß der Sache offenbar keine Bedeutung bei. Er sagte, er habe auch die Gewohnheit, zuweilen Füllfederhalter oder Zigaretten an sich zu nehmen, und hinterher sei es ihm sehr peinlich, wenn er die Gegenstände in seinen Taschen fände. Was mich trotzdem beunruhigte, war die Tatsache, daß meine Handlung nicht zufällig gewesen war. Ich strengte mich an, darüber nachzudenken. Ich bin kein Dieb, auch kein Kleptomane. Es handelte sich auch nicht um einen Scherz, ich hatte Ludo keineswegs necken wollen. Ich necke überhaupt nie jemanden, und überdies ist Ludo bestimmt nicht der Mensch, den zu necken man Lust hat. Später, viel später, nach weiteren ähnlichen »Unfällen«, wurde es mir bewußt, daß nicht ich es war, der handelte, sondern meine Hand, ohne sich vor mir zu verbergen, aber völlig unabhängig von meinem Willen. Gleichzeitig spürte ich die Verbindung zwischen den seltsamen Handlungen meiner Hand und der Hitze und dem Zittern, das ihnen vorausging. Eines Abends beispielsweise, als ich mit meiner Frau und Ludo die Champs-Elysees hinunterging, benahm ich mich ganz und gar unmöglich. Die Gegenwart meiner Frau bewies, daß es sehr wohl meine Hand war, die handelte, daß sie aber in keiner Weise mehr von meinem Willen gelenkt wurde. Suzon ging zwischen uns beiden und hatte, um sich bei mir einhängen zu können, mir eine Modenzeitschrift zum Tragen gegeben. Ich hielt diese zusammengerollt in meiner rechten Hand. Vor uns gingen zwei junge Mädchen. Es waren Mädchen von der Art, welche die Fremden aus unerfindlichen Gründen für typisch pariserisch halten, obwohl es natürlich keine Pariserinnen sind – Mädchen, die eine Kleinigkeit zu adrett angezogen sind: die Absätze sind zwei Zentimeter zu hoch und die Röcke zwei Zentimeter zu kurz und außerdem zu eng über den Hüften. Ludo schnitt eine Grimasse und zwinkerte mir zu; ich zwinkerte zurück, und Suzon zuckte die Achseln, als wir einen Bogen machten, um die Mädchen zu überholen. In diesem Augenblick hob ich den Arm, in dem ich die Zeitschrift hielt, und versetzte dem Mädchen, das mir am nächsten ging, einen schallenden Klaps auf sein üppiges Hinterteil. Ich selbst war noch verblüffter und erschrockener als das Mädchen, das sich, bleich vor Zorn, umdrehte und mir eine Ohrfeige verabreichen wollte. Ihre Begleiterin zog sie rasch am Arm fort und sagte 103
zu ihr: »Siehst du nicht, daß er betrunken ist?« Ich schwieg, und Suzon redete zwei Tage lang kein Wort mit mir. Eine Woche später geschah ein weiterer Vorfall. Ludo war gekommen, um mich zum Essen abzuholen, und anschließend wollten wir zu unserem Klub gehen, um Tennis zu spielen. Als wir das kleine Restaurant verließen, in dem ich gewöhnlich zu Mittag esse, ergriff meine Hand ohne jedes Zögern einen fremden Hut, der am Garderobenständer hing, und setzte ihn mir auf. Es war ein abscheulicher grüner Samthut, übrigens viel zu klein für mich, und obwohl ich Angst hatte, daß sein Besitzer mir nachrennen werde, verließ ich das Lokal ohne jede Eile mit dem Hut auf dem Kopf. Reagieren konnte ich erst, als ich auf der Straße war: Ludo blieb plötzlich stehen und sah mich überrascht an, worauf es mir schließlich gelang, den Hut mit der linken Hand abzunehmen, in das Restaurant zurückzugehen und ihn wieder dorthin zu hängen, wo ich ihn hergenommen hatte. Niemand schien mich zu bemerken, und ich konnte nur die schäbige Ausrede gebrauchen, ich habe ihn mit dem meinigen verwechselt. Mir fiel nichts Besseres ein, und als ich diese Ausrede auch meinem Schwager gegenüber gebrauchte, hatte er die Liebenswürdigkeit, so zu tun, als glaubte er mir. Er lachte aus vollem Halse. »Aber Jean-Claude, du hast auch gar keinen Schönheitssinn mehr! Suzon bekäme glatt eine Nervenkrise, wenn sie dich mit so was Scheußlichem auf dem Kopf sähe!« sagte er lustig. Auf dem Rückweg vom Klub, als wir gerade mit dem Auto durch den Bois de Boulogne fuhren, wurde meine Hand wieder ganz heiß und fing an zu zittern. Ich machte mich steif und bereit, dem entgegenzuwirken, war aber nicht weiter beunruhigt. Es konnte nicht viel passieren, denn wir saßen allein in meinem Wagen. Ich wartete also, daß plötzlich ein starkes Begehren sich einstellte, irgend etwas zu tun, und war sicher, es rasch und ohne Schwierigkeiten unterdrücken zu können. Ludos Taschentuch war der einzige Gegenstand, den meine Hand hätte erreichen können, es sei denn, das Begehren wäre teuflischer: etwa, ihm die Krawatte abzunehmen oder ihn in die Nase zu kneifen. Ich fuhr langsamer, als ich vor uns eine Krankenschwester die Straße überqueren sah, die einen Kinderwagen vor sich herschob. Sie hatte schon fast den gegenüberliegenden Gehsteig erreicht, als plötzlich meine Hand das Lenkrad herumdrehte – zu meinem Erstaunen besaß ich weder die Kraft noch das Verlangen, darauf zu reagieren. Erst später – es kam mir wenigstens vor, als sei es später gewesen, in Wirklichkeit war es jedoch nur der Bruchteil einer Sekunde später – versuchte ich vergebens, mit der linken Hand das Lenkrad wieder zurückzudrehen. Der Wagen fuhr mit beschleunigter Geschwindigkeit direkt auf die Schwester zu, die jetzt schon auf dem Gehsteig lief. Da gelang es mir endlich, auf die Bremse zu treten und den Motor zum Stehen zu bringen. »Mein Gott!« sagte ich aufatmend. 104
»Was ist denn mit dir los?« fragte Ludo. »Ich hatte einen Augenblick lang das Gefühl, du wolltest das Mädchen umfahren«. »Ich hatte eine . . . eine Art Krampf in meiner Hand«, antwortete ich, während ich auf den Anlasser drückte. »Aber jetzt ist es vorbei, und wir sind ja auch gleich da.« »Erst schlägst du mit Zeitschriften um dich wie mit einem Knüppel, dann fährst du mit dem Wagen wie ein Wilder! Paß mir bloß auf, das nächste Mal wirst du bei einem unbewachten Bahnübergang mit einer Lokomotive zusammenstoßen!« sagte er lachend, während ich den Wagen in meine Garage fuhr. Zufällig hatte Suzon gerade einige Freunde bei sich zu Gast, und Ludo sprach nicht mehr von den Vorfällen mit dem Hut und dem Wagen. Ich stammelte eine Entschuldigung und nahm nicht an der Teerunde teil, sondern ging ins Herrenzimmer, wo sich meine Bücher befinden, mein Schreibtisch und bequeme Lehnstühle, solche, die nicht an Marterwerkzeuge eines nächsten Krieges erinnern. »Jean-Claude, kannst du mir ein paar Zigaretten geben?« fragte Ludo, der ohne anzuklopfen hereingekommen war. »Im rechten Schubfach meines Schreibtisches«, antwortete ich und gab vor, in die Lektüre eines Briefes vertieft zu sein. »Sag mal, du, das ist ja eine richtige Artilleriewaffe!« »Hm, es ist ein Andenken an den Widerstandskampf, ein Colt 45, vollautomatisch.« »Ist er geladen?« »Ja, faß ihn ja nicht an!« »Gespannt?« »Ja, aber gesichert.« »Ist das hier der Abzug?« »Ja«, sagte ich, leicht verärgert. Ich stand auf und ging zum Schreibtisch, um den Revolver in ein anderes Schubfach zu tun. »Wie funktioniert er? Erklär ihn mir!« »Laß das doch jetzt«, antwortete ich, während mein Daumen den Revolver entsicherte. Mit einer plötzlichen Bewegung richtete ich die Waffe auf den Kopf von Suzon, die ich durch die offenstehende Tür sehen konnte, und drückte ab. Es passierte nichts, der Abzug bewegte sich überhaupt nicht. Ich setzte mich rasch, mir war speiübel und schwindelig. Wäre der Revolver wirklich gespannt gewesen, hätte ich meine Frau glatt in den Kopf geschossen, denn im Magazin war eine Patrone. »Jean-Claude, aber um Gottes willen . . . warum machst du denn so was?« fragte Ludo stotternd, weiß wie ein Leintuch. »Du wußtest, daß er nicht geladen war, aber . . . du hast mir höllische Angst eingejagt, weißt du?« »Er ist geladen, oder vielmehr er war es«, antwortete ich ernst, während ich das Magazin herauszog und ihm die nicht abgefeuerte 105
Patrone mit einer raschen Handbewegung entnahm. »Wieso ist er denn nicht losgegangen?« »Weil er nicht gespannt war . . . und davon wußte meine Hand nichts.« »Das wußte sie nicht! Was willst du damit sagen? Jean-Claude . . . fühlst du dich nicht ganz wohl? Ich meine . . .« »Doch, ich . . . ich fühle mich wieder ganz wohl«, sagte ich und warf den leeren Revolver in das Fach. Das Magazin und das Geschoß tat ich für sich ins untere Schubfach. »Dies wenigstens wird nicht wieder passieren«, fügte ich noch hinzu. Ich hatte den Eindruck, daß meine Hand mich diesmal nicht gewarnt hatte – sie hatte vorher nicht gezittert. In der Nacht, als ich keinen Schlaf finden konnte, erschauerte ich von neuem bei dem Gedanken, daß ich, wäre der Revolver gespannt gewesen, meine Frau glatt erschossen hätte, vor einem Dutzend fremder Menschen. Mit der Erklärung, daß meine Hand mir nicht mehr gehörte, daß sie bereits versucht hatte, eine Krankenschwester zu überfahren, wäre ich weder bei der Polizei und noch viel weniger bei einem Geschworenengericht angekommen. Ich schaltete das Licht an, betrachtete meine Hand, berührte sie, umfaßte sie mit der anderen. Es war ganz und gar meine Hand, ihre Bewegungen waren jenen der anderen Hand vollkommen gleich; und trotzdem handelte sie ohne meinen Willen – ich hatte den Eindruck, daß eine andere Hand in die meine gefahren sei und ihr Gewalt antat. Aber ich konnte nicht begreifen, weshalb ich so passiv blieb, als beobachtete ich einen anderen Menschen. Meine linke Hand hatte nicht reagiert oder erst, als es zu spät war. Hatte sie wirklich versucht, den Wagen zurückzureißen, als meine rechte Hand ihn auf den Fußsteig zugesteuert hatte, auf die Schwester mit dem Kinderwagen? Das war schwer festzustellen. Gott sei Dank war mein Fuß noch rechtzeitig auf die Bremse getreten! So gab es, ohne daß ich es erklären konnte, Augenblicke, da meine rechte Hand mir nicht mehr gehörte, aber ich wußte, daß es nichts genutzt hätte, mich mit jemandem darüber auszusprechen. Ein Arzt hätte selbstverständlich gesagt, es liege eine versteckte Form von Schizophrenie oder ein typischer Fall von Bewußtseinsspaltung vor. Bevor ich zu einem Arzt ging – oder zur Polizei, die sicher einen Arzt zugezogen hätte – mußte ich also den sicheren Beweis haben, daß meine Hand mir nicht mehr gehörte. Dieser Beweis wurde mir am nächsten Morgen mit aller wünschenswerten Deutlichkeit geliefert. Ich saß im Büro und wollte mir gerade eine Telefonnummer notieren, als ich plötzlich bemerkte, daß ich die Sechs, statt sie wie gewöhnlich von oben nach unten zu schreiben, mit der Schleife begann, von unten nach oben. Gefesselt von dieser Erscheinung, setzte ich mich an den Schreibtisch und versuchte, einige Wörter auf einen Block zu schreiben. In dem Moment wurde meine Hand ganz heiß und begann zu zittern; ich 106
bemerkte, daß ich meinen Füllfederhalter auf ganz ungewohnte Weise hielt, nämlich zwischen dem Mittelfinger und dem Zeigefinger, und daß die Schrift nicht die meine war, sondern die eines anderen. Verblüfft nahm ich ein weißes Blatt, ließ meiner Hand freien Lauf und sah zu, wie sie schrieb. Ich fühlte mich merkwürdig unbeteiligt. Das seltsamste aber war – und es bewies, daß ich nicht mehr Herr meiner selbst, sondern einfach eine Maschine war –: ich wußte gar nicht, was meine Hand schrieb. Ich las die Wörter eins nach dem andern, in der Reihenfolge, in der sie auf dem Papier erschienen, Buchstabe für Buchstabe, gerade, als schaute ich jemandem über die Schulter. Meine Hand, die in diesem Augenblick ganz gewiß einem anderen gehörte, hielt mitten in einem Satz inne und wurde wieder meine eigene Hand. Vor mir, auf dem Papier, standen etwa fünfzehn Zeilen, scheinbar von jemandem geschrieben, der ein Theaterstück gesehen hatte, von dem ich noch nie gehört hatte! Wurde dieses Stück überhaupt aufgeführt? fragte ich mich und schlug die Zeitung auf, um die Seite mit den Theateranzeigen zu suchen. Es wurde tatsächlich gegeben – und der wichtigste Artikel der ganzen Seite war eine Kritik darüber. Die Kritik war schlechter als jene, die meine Hand geschrieben hatte, aber es handelte sich ohne Zweifel um das gleiche Stück. Ich las den handgeschriebenen Text mehrere Male durch. Einer plötzlichen Eingebung folgend, schickte ich den Laufjungen, mir alle erreichbaren Morgen-Zeitungen zu holen. Ich hatte recht: das vierte Blatt, das ich aufschlug, eine Zeitung, die ich sonst niemals lese, enthielt Wort für Wort den Text, den meine Hand geschrieben hatte! Wieder wollte ich zur nächsten Polizeiwache gehen; aber nein, es hätte doch nichts genützt. Ich stellte mir vor, wie ich versuchen würde, den Leuten zu erklären, daß ich die Hand eines anderen hätte oder daß sich ein anderer meiner Hand bediente. Dann entsann ich mich einer Freundin von Suzon, die von der Polizei als Graphologin beschäftigt wird. Ich fand ihre Nummer ohne Schwierigkeiten im Telefonbuch. Ob sie die Liebenswürdigkeit haben wolle, mir ihre Ansicht über eine halbe handgeschriebene Seite mitzuteilen? Ja – es sei dringend. »Weshalb wollen Sie ein Urteil über diese Schrift, Herr Manoque?« fragte sie mich eine Stunde später. »Es ist die Schrift eines Mannes . . . der sich heute vormittag um eine Anstellung beworben hat, und . . .« »Und er hat Ihnen nicht gefallen. Es ist tatsächlich die Schrift eines Mannes . . . Sie hatten völlig recht. Es ist die Schrift eines schlechten Menschen, vielleicht sogar eines gefährlichen Menschen, eines Mannes, der vor nichts zurückschrecken wird, um zu erreichen, was er sich vorgenommen hat. Ein grausamer und gieriger Mensch. Es ist eine der abstoßendsten Schriften, die mir in meiner Praxis je begegnet ist.« »Gut – dasselbe habe ich über. . . über diesen Menschen auch gedacht. Vielen Dank!« 107
Als ich in meiner Tasche nach den Wagenschlüsseln suchte, um nach Hause zurückzufahren, sah ich eine kleine Brieftasche aus Leder am Straßenrand liegen. Sie enthielt ein Scheckheft, das einem gewissen Ch. Ralingue gehörte, und weil die Schecks zahlbar waren beim Credit Lyonnais an der Avenue Victor-Hugo, einer Straße, die an meinem Wege lag, steckte ich es zu mir und fuhr los. Suzon war nicht zu Hause, als ich zurückkam, und als ich meinen Mantel auszog, erinnerte ich mich wieder an das Scheckbuch. Ich zögerte, dann entschloß ich mich, am nächsten Morgen auf dem Weg ins Büro bei der Bank vorbeizugehen; um es aber nicht zu vergessen, legte ich das Scheckbuch mitten auf meinen Schreibtisch. Als ich mich umwandte, wurde meine rechte Hand plötzlich rot und schwer, als wäre sie voll heißen Wassers. Sie zitterte, als ich mich hinsetzte. Ich ließ sie meinen Federhalter ergreifen und die Hülse abschrauben, das Scheckbuch öffnen und ein Scheckformular herauslösen. Sie schien zu zögern, dann füllte sie mit sicherer, aber mir völlig unbekannter Schrift den Scheck aus: zehntausend Neue Francs, zahlbar an mich. Sie datierte den Scheck und unterschrieb dann mit einem schwerfälligen Schnörkel mit dem Namen Ralingue. Als der Federhalter wieder in meiner Tasche steckte, war die Tinte getrocknet, und die Hand faltete den Scheck, holte mein Portefeuille aus der Tasche und legte den Scheck sorgfältig hinein. Das überraschendste war, daß ich meine Hand alles tun ließ, daß ich mich ihren Handlungen nicht widersetzte. Es überkam mich das schreckliche Gefühl, daß meine Hand über mich zu herrschen begann. Es war nicht nur die Hand, sondern bereits der Arm, der mir nicht mehr gehörte. Mich schauderte noch aus einem anderen Grunde: meine linke Hand gehorte mir zwar noch, aber sie paßte sich jetzt den Bewegungen der rechten an, ohne daß ich dagegen ankämpfen konnte! Ich hatte beide Hände gebraucht, um den Scheck in meine Brieftasche zu stecken. Ich konnte mit einem solchen Scheck natürlich nichts anfangen, aber allein die Tatsache, daß ich ihn ausgeschrieben und eingesteckt hatte, war erschreckend. Als ich am nächsten Morgen die Räume des Credit Lyonnais betrat, war ich entschlossen, das Scheckbuch einfach einem der Angestellten auszuhändigen und nichts von dem Scheck zu sagen, den ich daraus entnommen hatte. Statt dessen ging ich, ohne das Scheckbuch aus der Tasche zu nehmen, zur Kasse, öffnete meine Brieftasche, nahm den gefälschten Scheck heraus, drehte ihn um, indossierte ruhig mit meiner eigenen Schrift und schob ihn zusammen mit meinem Fahrausweis durch den Schalter. Der Kassierer sah mich kaum an und gab den Scheck nach hinten weiter. Ich wartete genauso ruhig, als würde ich einen meiner eigenen Schecks in meiner Bank einlösen; und als mein Name aufgerufen wurde, ging ich langsam wieder zum Schalter und nahm die Summe entgegen. Zehntausend Neue Francs – eine ganz schöne Summe! 108
Die Scheine hatten nicht einmal in der Brieftasche Platz; drei davon mußte ich in die Tasche stopfen. Kaum war ich draußen, fühlte ich mich schwach und krank. Meine Hand – die Hand hatte die Unterschrift von Herrn Ralingue so perfekt gefälscht, daß sein Scheck ohne die geringste Schwierigkeit honoriert worden war. »Was hast du bloß?« fragte mich Suzon überrascht, als sie mich wieder heimkommen sah. »Jean-Claude, du siehst krank aus. Soll ich einen Arzt rufen?« »Nein, danke, es wird schon vorbeigehen. Ich will mich nur ein wenig ausruhen, mein Liebes!« Am Nachmittag ging ich gleich nochmals zur Bank und zahlte auf das Konto von Herrn Ralingue die zehntausend Francs wieder ein, die ich immer noch in meiner Tasche hatte. Ich hatte das Scheckbuch zerrissen und die Stücke in einen Rinnstein geworfen. Von diesem Tage an wurde mein Leben zur Hölle. Ich schrieb immer mehr, manchmal mit meiner eigenen Schrift, aber oft mit der von anderen Menschen. So schrieb ich zum Beispiel verschiedene Liebesbriefe, die an meine Frau gerichtet waren und die meine Hand mit »André« unterzeichnete. Ich war nie wegen Suzon auf jemanden eifersüchtig gewesen und bin ganz sicher, daß sie mich niemals mit einem anderen Mann betrogen hatte. Aber dieses mechanische Briefschreiben hatte, wie alle Handlungen meiner Hand, keinerlei Beziehung zu meinen Wünschen, meinen Gefühlen oder Empfindungen. Und noch quälender als das Schreiben der Briefe war die Tatsache, daß ich mich unfähig fühlte, sie zu vernichten, als ich nicht mehr unter dem Einfluß der Hand stand. Ich war mir durchaus bewußt, welche Gefahr sie darstellten, und wollte mich ihrer entledigen, aber es gab einen Willen, der stärker war als der meine, einen Willen, der von Vernunft geleitet zu sein schien, der nach einem Plan handelte, welchen diese widerwärtige Hand mir früher oder später enthüllen würde. Mit der Zeit begann ich zu begreifen, wohin ich nach und nach getrieben wurde, und ich leistete immer weniger Widerstand – je besser ich begriff, um so mehr ließ ich mich gehen. An dem Abend, da ich an meinen Schwager geschrieben hatte, um ihm mitzuteilen, daß ich Suzon töten wolle, weil sie einen Liebhaber habe, machte ich einen verzweifelten Versuch, wieder ich selbst zu werden. Zunächst versuchte ich einfach zu fliehen. Ich ging aus dem Hause, kehrte jedoch zurück, nachdem meine kriminelle Hand den Brief an Ludo aufgegeben hatte. Dann ging ich wie im Traum an das Schreibtischfach, in dem mein Revolver lag, und sah zu, wie meine Hand ihn wieder lud – wobei ich mit Schrecken beobachtete, daß meine linke Hand dabei half. Es gelang mir zweimal, den Revolver bis zur Schläfe zu heben, aber 109
jedesmal zog ihn meine rechte Hand, als wäre sie aus Blei und wöge eine Tonne, wieder nach unten. Verzweifelt versuchte ich, ihn mit der linken Hand zu ergreifen, und es wäre mir fast gelungen, wenn nicht Suzon schnell hereingerannt gekommen wäre und die Waffe an sich genommen hätte. »Jean-Claude, Liebster, was ist denn nur los ? Du mußt es mir sagen!« »Nichts - nimm den Revolver, versteck ihn! Nein, wirf ihn weg . . . ich will ihn nie wiedersehen!« sagte ich und fing an zu schluchzen. »Du bist ja wahnsinnig, mein Liebster! Weshalb willst du dich denn umbringen, wenn . . .« »Nimm ihn fort, geh hinaus!« schrie ich, da ich meine Hand heiß werden und zittern fühlte. »Aber Jean-Claude . . .!« »Um Gottes willen, geh!!!« An dem Abend ging ich an dem Seine-Ufer entlang bis zur Brücke von Charenton. Ich lief über die Brücke und folgte dem linken Ufer bis zum Viadukt von Auteuil. Als ich endlich völlig erschöpft wieder nach Hause kam, stellte ich erleichtert fest, daß Suzon nicht daheim war. Ich war froh, denn solange ich sie nicht sah, war sie wenigstens sicher. Am nächsten Morgen hatte ich endlich einen Entschluß gefaßt. Da ich nicht gegen das Übel ankämpfen konnte, würde ich einen Psychiater konsultieren. Und um noch sicherer zu gehen und keine kostbare Zeit damit zu verlieren, daß ein Arzt versuchte, mich in einen bestimmten inneren Zustand zu versetzen oder daraus zu befreien, würde ich direkt ins Sainte-Anne-Krankenhaus gehen und mich dort für einige Zeit zur Beobachtung aufnehmen lassen. Nachdem ich mir einen starken Kaffee gemacht hatte, nahm ich eine kalte Dusche, rasierte mich sorgfältig, zog mich an und verließ das Haus. Was geschah auf der Straße? Ich weiß nicht. Ich fühlte mich durchaus wohl, aber anstatt zur Garage zu gehen, meinen Wagen Zu holen und ins Krankenhaus zu fahren, ging ich zu Fuß, sprang auf einen Bus, der zur Börse fuhr; gegen neun Uhr spazierte ich die Rue Vivienne entlang in Richtung der Boulevards. Um mich herum hasteten die Leute zur Arbeit. Ich betrachtete die Auslagen und blieb vor einer Waffenhandlung stehen. Starr vor Schreck sah ich, wie meine rechte Hand die Tür öffnete, und einen Augenblick später befand ich mich im Laden. Ein Luftgewehr, eine auf kurze Distanz tödliche Waffe, die man in Paris noch immer ohne Waffenschein erhält, unter dem Arm, verließ ich den Laden. Ich hatte nicht vergessen, daß ich das Krankenhaus aufsuchen wollte, und beabsichtigte nach wie vor, dorthin zu gehen – aber statt dessen lief ich nach Hause zurück. Ich weiß nicht, weshalb die Polizei mich nicht verhaftete. Mehrfach drehten sich Passanten nach mir um und beobachteten mich – sie hielten mich sicher für betrunken. Sie kamen nicht im entferntesten auf die Idee, daß ich mich verzweifelt 110
wehrte, nach Hause zu gehen. Schließlich erreichte ich den Bois de Boulogne, wo ich mich im Gras niederließ und eine gute Weile schlief, denn es war schon drei Uhr, als ich erwachte. Ich glaube, in dem Moment faßte ich den Entschluß, mich von meiner rechten Hand zu befreien . . . Ich entsann mich, daß es in unserer Straße einen Chirurgen gab. Kaum aber hatte ich den Arzt gebeten, mir die Hand abzunehmen, als ich einsah, daß die Bitte absurd war, daß ich nur seine und meine Zeit vergeudete. Die meine war zudem noch kostbarer, denn die Hand, dessen war ich sicher, konnte jeden Augenblick wieder die Leitung meiner Handlungen übernehmen. So bestand ich nicht weiter auf meiner Bitte, sondern ging, so rasch ich konnte, weg. Als ich auf der Straße das Kreischen einer Säge hörte, blieb ich abrupt stehen. Endlich lag greifbar vor mir die radikale Lösung – ob des Einfalles mußte ich lächeln. Ich betrat die altmodische Werkstatt des Schreiners, murmelte etwas Unverständliches, lächelte den Mann an, der die Säge bediente, und hielt, bevor ich in meinem Entschluß wanken konnte, rasch mein Handgelenk gegen die Schneide der Säge. Ich empfand einen brennenden, aber nicht zu heftigen Schmerz. Der Anblick meines Blutes, das in Strömen floß, betäubte mich leicht, ich hob aber ruhig die Hand auf, ließ sie in meine Jackentasche gleiten und setzte mich etwas benommen und schwerfällig nieder. Ich wurde erst später ohnmächtig, während mir der Schreiner mit Bindfaden den Arm abband. »Ihr Fall steht nicht allein da, Herr Manoque«, sagte Professor Boucet, als er den Bericht angehört hatte. »Das wissen Sie wohl?« »Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Herr Professor! Sie glauben, daß es sich um eine Schizophrenie handelt, die vorübergehend oder sogar endgültig geheilt ist durch eine Art Selbstbestrafung. Sie meinen, daß ich mich nun, da ich meine Hand verloren habe, auf dem Wege der Heilung befinde?« »Das ist in groben Zügen, was ich denke, Herr Manoque. Und welcher Ansicht sind Sie?« Ich war durchaus seiner Ansicht bis zu dem Moment, da der Wachtmeister mich am Abend des gleichen Tages besuchte. »Was Herrn Manoque betrifft, Herr Doktor, sind Sie sicher, daß es sich wirklich um einen Unfall handelte?« »Die Frage wird Ihnen der Schreiner, der den Unfall aus nächster Nähe gesehen hat, sicherlich weit besser beantworten können als ich.« »Er schwört, es sei ein Unfall gewesen.« »Und wenn er sich auch getäuscht hätte – was würde es schon ändern?« »Ich weiß nicht, ich weiß wirklich nicht, ich frage mich . . .« sagte der Polizeibeamte und steckte sich eine Zigarette an. »Ich habe keinerlei 111
Beweis, Herr Doktor, ich stelle nur eine Koinzidenz fest, die so überaus seltsam ist, daß sie zum Indiz werden könnte.« »Was für eine Koinzidenz – wenn man fragen darf?« »Es handelt sich um folgendes: Ein ganz normaler Mensch und ein äußerst gefährlicher Mensch treffen sich unter dem Einfluß irgendeiner Anziehungskraft, und beide lassen sich die rechte Hand abtrennen, am gleichen Tag, zur gleichen Stunde, wenn auch auf verschiedene Art und an verschiedenen Stellen. Nach dem zu schließen, was ich von diesem gefährlichen Menschen weiß, ist diese Koinzidenz verdächtig . . . aber wieso? Das frage ich mich.« »Ich glaube Sie so zu verstehen, daß der normale Mensch unser JeanClaude Manoque ist. Könnte womöglich der gefährliche Mann sein Schwager sein?« »Was wissen Sie über Herrn Ludo Billet-Doux, Herr Doktor?« »Heißt er so ?« »Ludovic Couralin bekam diesen Spitznamen, weil er Spezialist im Verfassen sehr überzeugender gefälschter Liebesbriefe ist.« »Gefälschte Liebesbriefe!« entfuhr es mir. »Ja, für gewöhnlich, um Leute zu erpressen. Aber das war nur eine seiner Spezialitäten. Sagen Sie mir bitte, was Sie über diese Briefe wissen.« »Einen Augenblick bitte, gehörten vielleicht Scheckfälschungen auch zu seinen . . . Manien?« »Ja, er hat schon einmal fünf Jahre deshalb gesessen. Er wurde vor drei Jahren entlassen und hat sich gut gehalten, offenbar seit seine Schwester ihm eine Stellung in der Firma ihres Mannes verschafft hatte. Sie scheinen aber zu wissen, daß er noch immer verbrecherisch tätig ist?« »Sie täuschen sich nicht, Herr Wachtmeister. Ich weiß einiges, aber es handelt sich um Dinge, die Sie niemals werden beweisen können.« »Tatsächlich? Sie wissen doch, daß ich dafür bezahlt bin, Dinge zu beweisen . . .« »Sie werden sehen. Ich will Ihnen zeigen, daß etwas nicht stimmt, ich werde Ihnen sogar den Beweis liefern; Sie werden auch überzeugt sein ... Aber Sie werden niemals weiter als bis zum Untersuchungsrichter kommen. Können Sie morgen früh genau um neun Uhr wieder hier sein?« Wir hatten keine Schwierigkeiten, Herrn Charles Ralingue aufzufinden. Jawohl, es stimmte, daß er sein Scheckbuch verloren hatte, und er hatte seine Bank davon benachrichtigt. In der Tat war angeblich ein Scheck über zehntausend Francs präsentiert worden, aber das war offenbar nur ein Irrtum gewesen, denn die Bank hatte ihm gleich darauf die gleiche Summe wieder gutgeschrieben. Auf der Bank jedoch machte Herr Ralingue große Augen, als man ihm den Scheck über zehntausend Neue Francs vorwies. 112
»Nein, das ist unfaßbar!« rief er aus. »Das ist meine Unterschrift, natürlich. Wer aber ist dieser Herr Manoque? Ich verstehe überhaupt nicht . . . Ich weiß ganz genau, daß ich weder einen solchen Scheck ausgestellt noch unterschrieben habe.« »Beunruhigen Sie sich nicht, Herr Ralingue, es wird nie wieder vorkommen.« Im Boucicaut-Krankenhaus lernte ich Ludovic Couralm kennen, einen sonnengebräunten Mann mit durchdringendem Blick, einer Hakennase und einern Vollbart. Das Lächeln, mit dem er uns begrüßte, war zu meinem Erstaunen recht anziehend. Er war bereits angekleidet und erwartete die Rückkehr der Schwester, die seine Entlassungspapiere zur Unterschrift gebracht hatte. »Ludo, ich stelle Ihnen hier einen meiner Freunde vor«, sagte der Wachtmeister und bot ihm eine Zigarette an. »Wir wissen über alle Ihre neuesten Machenschaften genau Bescheid.« »Die Polente ist doch überall gleich«, sagte er lachend, indem er mich aufmerksam musterte. »Von Machenschaften ist keine Rede. Ich sage Ihnen doch, ich habe mehr als hundert Zeugen. Die U-Bahn-Station war voller Menschen, die sahen, wie ich vor den Zug fiel.« »Was hat Sie denn zum Fallen gebracht, Ludo?« fragte ich ihn, indem ich versuchte, mit ebenso sanfter Stimme zu sprechen wie der Polizeibeamte. »Irgend jemand packte mich am rechten Arm und stieß mich, aber kein Mensch hat sehen können, wer es war. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken; es ist mir aber nicht gelungen, die Hand rechtzeitig zurückzuziehen. Das Rad hat sie abgefahren.« »Und wenn ich Ihnen jetzt sage, wer Ihnen einen Stoß gegeben hat?« »Wer denn?« »Der Mann, dessen Hand Sie benützten, Ludo!« sagte ich langsam. »Los, gestehen Sie schon!« sagte der Wachtmeister barsch, als er sah, wie Ludo sich langsam auf den Rand seines Bettes setzte. »Gestehen? Was denn? Ich . . . ich weiß nicht, wovon Sie Sprechen«, sagte er keuchend und wischte sich die Stirn mit seinem bandagierten Arm ab. »O doch, Ludo, Sie wissen sehr gut, wovon wir sprechen«, sagte ich ganz ruhig. »Wenn Jean-Claude seine Frau getötet hätte, wie Sie sich das ausgerechnet hatten, so hätte es keine Kinder gegeben, keine Angehörigen außer Ihnen. Sie hätten ein ganz schönes Vermögen geerbt, und wenn Ihr Schwager wegen dieses Verbrechens lebenslänglich ins Zuchthaus gekommen wäre, so wären Sie Chef einer recht gutgehenden Firma geworden.« »Armer Jean-Claude, das denkt er also«, sagte Ludo achselzuckend und lachte. »Aber selbst wenn es stimmen würde, so könnte er doch nichts beweisen, denn es gibt nichts zu beweisen.« 113
»Seien Sie sich dessen nicht gar so sicher! Jean-Claude weiß noch von nichts. Wir sind ganz allein daraufgekommen, Ludo.« »Zum letztenmal, Herr Doktor, wollen Sie mir jetzt eine Erklärung geben?« sagte der Wachtmeister, als wir das Krankenhaus verließen. »Kommen Sie in meine Praxis! Dort können Sie selbst hören, was JeanClaude sagt, und werden alle Antworten erhalten, die Sie wünschen.« Ich bot ihm einen bequemen Stuhl an, mixte ihm einen Cocktail und ließ das Tonband laufen. Er blieb, nachdem das Band abgelaufen war, eine ganze Weile schweigend sitzen. »Das kann doch nicht wahr sein, Herr Doktor, oder etwa doch?« »Haben Sie eine andere Erklärung, Herr Wachtmeister? Oder sind Sie überzeugt?« »Ja und nein«, sagte er, während er sein Glas leerte. »Ich komme mir vor wie ein kleiner Junge, der zum erstenmal eine Giraffe sieht und nicht glaubt, daß es so etwas geben könne. Aber wenn man annimmt, daß es stimmt, wie hat Manoque seinen Schwager unter die U-Bahn stoßen können, Herr Doktor?« »Wie hat Ludo es angestellt, ihn dazuzubringen, daß er eine Unterschrift fälschte; daß er versuchte, seine Frau zu töten? Es gibt in der Natur und in uns selber so viele Kräfte, die wir nicht verstehen können. Kräfte, deren Wirkung von uns als >sonderbare, erstaunliche Zufälle< bezeichnet werden.« In dem Augenblick, als der Wachtmeister mein Haus verließ, fiel ein großer Blumentopf auf den Gehsteig und zerbrach. Es gelang ihm nicht, festzustellen, von welchem Fenster er gefallen war, und trotz all meiner Bemühungen ist es mir nicht gelungen, dem Polizeibeamten zu erklären, daß, als er wegging, meine linke Hand plötzlich heiß geworden war und zu zittern begonnen hatte, daß ich wie ein Automat plötzlich meiner Hand bis zum Fenster gefolgt war und zuschaute, wie sie einen Blumentopf hinabstieß, den größten, den sie hatte finden können . . .
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Die Runde für den Teufel Meinem Freunde, dem Teufel Der Fuchs hielt den Kopf zwischen den Pfoten, seine großen, leuchtenden Augen aber sprachen mit dem Manne, der vor seinem Käfig stehengeblieben war. Der Fuchs wußte, daß dieser Mann ihn verstehen konnte. Er hatte es begriffen, sobald sich ihre Blicke kreuzten, nämlich, als der Mann nach dem Verlassen des überlaufenen Strandes plötzlich vor dem alten Wohnwagen mit der verblichenen roten Bemalung stehengeblieben war, vor der alten Zigeunerin, die früher einmal verlockend schön gewesen sein mußte, und vor dem Käfig, der aus dem Holzgestell eines ehedem soliden, großen, altmodischen Koffers bestand. In der anderen Ecke dieses improvisierten Käfigs kratzte sich nachdenklich ein Affe mit schwarzen, intelligenten, fast menschlich wirkenden Augen. Ein gefangener Fuchs kann auf sehr beschränktem Raum leben. Der Affe erschütterte beim Kratzen den ganzen Kasten, aber den Fuchs schien das nicht zu berühren. All seine Aufmerksamkeit war auf den Mann gerichtet, und dieser konnte in den Augen des Fuchses den Himmel, den Wind, die Bäume, die Felder, die Bäche und Seen erkennen, die für das Tier die Freiheit bedeuteten. »Zeigen Sie mir Ihre Hand . . .« sagte da plötzlich die Zigeunerin und beugte sich über den Käfig. »Nein, danke!« erwiderte der Mann. »Zeigen Sie mir Ihre Hand! Ich werde Ihnen nicht Ihre Zukunft voraussagen und werde Sie auch nicht um Geld bitten. Sie sind ein Tierfreund, und ich möchte aus Ihrer Hand bloß etwas ersehen.« Sie hatte recht. Er war ein Tierfreund, und das in einem solchen Maße, daß er Tiere nicht nur sehr liebte, sondern sie auch Verstand und sich ihnen verständlich machen konnte. Als er noch ein kleiner Junge war, damals, als es noch viele Pferdefuhrwerke gab, war es ihm stets gelungen, ein auf einer glatten Straße gefallenes Pferd wieder zum Aufstehen zu bringen – immer hatte er die richtigen Worte gefunden und diese so sanft ausgesprochen, daß der Schrecken aus den Augen des Tieres verschwunden war und das Zittern seiner Glieder aufgehört hatte. »Woher wissen Sie das? Sind Sie etwa auch eine Tierfreundin?« »Natürlich. Wäre ich es nicht, wie sollte ich dann erkennen, was für eine Art Mensch Sie sind, und wie in Ihren Gedanken lesen können?« »In was für Gedanken?« »Über diesen Fuchs. Und jetzt zeigen Sie mir Ihre Hand!« »Was möchten Sie denn wissen?« 115
»Etwas, das ich an Ihnen spüre, das ich mir aber noch nicht recht erklären kann«, sagte die alte Zigeunerin. Sie ergriff seine Hand und zog sie, mit der Fläche nach oben, an sich, fast bis zur Höhe ihres Kinns. Sie warf scheinbar nur einen Blick darauf, dann ließ sie sie fallen und warf zur gleichen Zeit ihren Zigarettenstummel fort. »Wissen Sie nun mehr?« »Ja, Sie haben Ihren Hund getötet.« »Er war krank und mußte sehr leiden.« »Sie haben ihn aus einem anderen Grunde umgebracht.« »Vielleicht. Ja, und?« »Nun, es ist betrüblich, weil Sie ein Tierfreund sind und weil es ein völlig nutzloser Mord war.« »Es war kein Mord!« »Nennen Sie es, wie Sie wollen; ein Mord von Ihrer Hand ist auch vor Ihrem Herzen Mord.« Ist es denn ein Mord, wenn man einen alten, kranken Hund einschläfert? Für einen Menschen, der Tiere liebt, vielleicht. Aber da war schließlich auch noch Angela gewesen, die blonde, zarte Angela, die immerfort klagte, daß sie in einem Haus umkomme, das voller Hundehaare sei. Der Arzt hatte kategorisch erklärt: nie wieder Katzen oder Hunde, nie wieder Tiere mit einem Fell. Ein Rückfall würde tödlich sein. Als man Angela ins Krankenhaus gebracht hatte, ging er zur Stadtbibliothek und las Bücher über Asthmaleiden und deren Ursachen. Die arme Angela hatte Schlimmes durchgemacht. Eines Nachts hatte man ihn sogar aus dem Bett geholt: eine oder zwei Stunden lang stand das Ärgste zu befürchten. Am nächsten Tage hatte Angela ihn angelächelt, noch reichlich schwach, und seine Hand gedrückt, als er ihr mitgeteilt hatte, daß der Tierarzt den alten Tom für immer eingeschläfert habe. Es war schrecklich gewesen. Tom hatte gewußt, daß der Tierarzt gekommen war, um ihn zu töten, aber dann war er in den Armen seines Herrn so sanft gestorben, wie man das von ihm erwartet hatte. Am selben Abend noch hatte man ihn dringend ins Krankenhaus gerufen, aber der Tod war schon eingetreten, als er dort ankam. Angela war etwas blasser als sonst, sie erschien auch kleiner, aber er hatte sie noch nie so glücklich gesehen. Er hatte geweint wie ein Kind. Die Krankenschwester hatte ihn sanft von ihr weggeführt und ihn zu trösten versucht. Sie hätte sich sicher ganz anders verhalten, wenn sie gewußt hätte, daß er den Tod von Tom, seinem alten Hund, beweinte. »Woher wissen Sie das alles?« fragte er schließlich, während er der Zigeunerin ins Gesicht schaute. »Der Teufel weiß immer, wo das Böse ist.« »Das sagt gar nichts. Und außerdem sind Sie nicht der Teufel.« »Sind Sie denn so sicher, daß der Böse ein Mann ist? Ihr Männer seid 116
von einer solchen Überheblichkeit, daß ihr sogar noch wollt, daß die Verkörperung des Allerbösesten ein Mann sei. Woher wollen Sie wissen, ob ich nicht da bin, Sie zu versuchen?« »Und auf welche Art wohl, wenn ich bitten darf?« Sie sah ihn einen Augenblick an, bevor sie antwortete. »Indem wir einen Pakt schließen, natürlich. Indem ich Ihnen noch einmal eine Chance biete und Sie mir dafür Ihre Seele geben.« »Was wollen Sie sagen mit >noch einmal eine Chance« »Sie dachten doch gerade daran, meinem Fuchs eine Chance zu geben, oder nicht?« »Vielleicht.« »Er hat es nicht nötig. Er hat schon etliche Chancen gehabt. Sie haben es auch nicht nötig, aber Sie denken, daß Sie ganz anders handeln würden, wenn man Ihnen eine bieten würde, nicht, wahr? Also, ich gebe Ihnen noch eine Chance – gegen Ihre Seele.« »Tut mir leid, aber ich glaube nicht an den Teufel.« »Famos! Das macht den Abschluß unseres Geschäfts noch einfacher. Ich gebe Ihnen eine Chance, und Sie glauben, mir nicht einmal etwas als Gegenleistung geben zu müssen.« »Und woher weiß ich, daß Sie mir wirklich eine weitere Chance geben?« »Machen Sie sich darum keine Sorgen! Wenn ich Ihnen nichts gebe, ist unser Vertrag einfach ungültig.« Er sah sie eine ganze Weile schweigend an. Sie zündete sich eine frische Zigarette an und rauchte sie durch die Nase, statt durch den Mund. »Schön also, einverstanden!« erklärte er schließlich und lachte albern. »Sagen Sie mir jetzt, wo ich unterschreiben muß! Nur so zum Spaß werde ich es tun.« »Hier«, sagte die alte Zigeunerin und öffnete die Hintertür ihres verlotterten Wohnwagens. Sie stieg ein, ohne sich auch nur umzuschauen, ob er ihr folge. Man konnte gerade aufrecht darin stehen, zwischen dem Klapptisch, dem Ofen und dem großen Bett. Die Zigeunerin wühlte mit ihren wie Krallen gekrümmten Fingern in einem Korb voller Bänder und Wollknäuel herum, in dem sich auch ein Gegenstand befand, der an ein Schildkrötenskelett erinnerte; schließlich zog sie eine Gänsefeder und ein kleines Taschenmesser mit schartiger Klinge heraus, mit dem sie die Feder zurechtschnitt und spitzte. »Unterzeichnen Sie hier!« sagte sie und hielt ihm die Feder hin. Sie hatte das untere Ende einer Pergamentrolle, die sie aus ihrer Schürze gezogen haben mochte, entrollt. »Und mit was für einer Tinte?« Sie zuckte mit den Achseln und zog eine lange Nadel aus dem roten Seidentuch, das sie auf dem Kopfe trug. Mit einer boshaften Grimasse 117
stach sie ihn tief, grausam tief, in die Spitze des linken Daumens. Er fuhr hoch und unterdrückte einen Schrei, als er das Blut hervorschießen sah. Er wurde wütend und kam sich mit einemmal lächerlich vor, als er die Feder in sein Blut tauchte, um zu unterschreiben. »Sind Sie getauft?« fragte sie ihn. »Nein. Sie sehen, mich kann sowieso nichts mehr retten . . .« Er lachte höhnisch und fügte noch hinzu: »Und was geschieht jetzt?« »Nichts. Gehen Sie in Ihr Hotel, und fangen Sie noch einmal neu an!« »Neu anfangen? Womit?« »Gehen Sie jetzt! Sie werden schon bald begreifen«, antwortete sie und öffnete die Tür. Er sprang aus dem alten Wohnwagen. Beim Fortgehen sah er, daß der Fuchs zwar unbeweglich geblieben war, aber breit zu lachen schien. Er ging mit großen Schritten davon. Drei Monate waren seit Toms und Angelas Tod vergangen. Er hatte daran gedacht, um Versetzung zu bitten, aber er hatte es einfach nicht fertiggebracht, die kleine Pariser Wohnung aufzugeben. Als die Zeit seines Urlaubs gekommen war, hatte er sich einfach in den Wagen gesetzt und war an den kleinen bretonischen Badeort gefahren, wo sie seit fünf Jahren zusammen ihre Ferien verbracht hatten. Er war in dasselbe Hotel gegangen und hatte nach demselben Zimmer, Nummer 37, gefragt. »Ihre Frau Gemahlin kommt nach?« hatte ihn der Patron gefragt, ohne auf seine schwarze Krawatte zu achten. Er hatte ihm nicht geantwortet. Noch am Abend seiner Ankunft, nach dem Essen, hatte er einen kleinen Spaziergang gemacht, und erst da wurde ihm klar, was ihn eigentlich hierhergezogen hatte. Tom. Er hätte sich das denken können. Er sah Toms glückliches Schattenbild vor sich herlaufen. Tom fehlte ihm weit mehr als Angela. Als er nachher ins Hotel zurückkam, hatte er sich in sein Bett beim Fenster gelegt und einen kurzen Blick auf dasjenige geworfen, welches Angela sonst immer gehört hatte. Er hatte keine besondere Gemütsbewegung verspürt. Aber als er den Teppich zwischen den beiden Betten anschaute, fühlte er, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Es war der Teppich, auf dem Tom geschlafen und geräuschvoll geschnarcht hatte nach jedem glücklichen Tag, den sie am Strande miteinander getollt hatten. »Der Schlüssel ist nicht da, mein Herr!« sagte der Portier, als er ins Hotel zurückkam. »Na so was . . .! Nun, dann habe ich ihn sicher im Schloß stecken lassen«, sagte er, während er zum Lift ging. Im Korridor der zweiten Etage hörte er in der Nähe seines Zimmers ein leises Knurren. Es erinnerte ihn an die Art, wie Tom immer ungeduldig 118
an der Tür geknurrt hatte, sobald er den Schritt seines Herrn hörte. Der Schlüssel steckte nicht im Schloß, aber ein Winseln und aufgeregtes Kratzen an der Tür war zu vernehmen. Weiß wie ein Leintuch, mit heftig klopfendem Herzen, drückte er auf die Klinke und öffnete die Tür. Wie der Blitz sprang Tom japsend auf ihn zu und an ihm hoch. »Tom . . .! Tom? Mein Hund!« sagte er mit fast versagender Stimme und ließ sich in einen Sessel fallen. »O John! Laß ihn das nicht tun! Er verdirbt dir ja den Anzug!« »Angela . . .!« »Was hast du denn? Sieh mich doch nicht so an! Man könnte meinen, du sähest ein Gespenst. Sag mir lieber, weshalb du mich nicht in SaintMalo abgeholt hast. Ich mußte ein Taxi nehmen, es hat mich ein Vermögen gekostet.« »Aber Angela, Liebling . . .!« »John! Laß ihn doch los! Du machst mich krank. Laß dich mal anschauen! Hast du etwa getrunken? Weshalb prägst du denn eine schwarze Krawatte? Sie ist ja abscheulich. Und was hast du denn mit deiner Hand gemacht? Schau, dein Taschentuch ist ganz voll Blut!« »Natürlich . . . Nein, ich wollte nur sagen, es ist nichts weiter. Die Krawatte? Ich hab wohl gerade keine andere gefunden.« Tom sprang seinem Herrn aufs neue an den Arm. »Und dieser Hund! Ich hab dir eben dein Bett gemacht. Du warst sicher kaum weggegangen, als er hinauf gesprungen ist, wie er das immer tut. Das Bett ist voller Hundehaare. Wo bist du denn bloß hingegangen, daß du Tom hier so allein gelassen hast?« »Ach, ich hab nur einen kleinen Spaziergang gemacht . . . Sag mal, Angela, wie geht es denn deinem Asthma?« »Meinem was ? Du weißt doch genau, daß ich mit der Leber zu tun habe und daß mein Herz schwach ist. Wie kommst du auf Asthma?« »Enschuldige, Liebes, aber ich war so besorgt, als du im Krankenhaus lagst . . .« »Ach, geh! Damals, vor sechs Jahren, bei meiner Blinddarmentzündung! Und du warst ganz und gar nicht besorgt. Im Gegenteil, ich entsinne mich, daß dich nur eines beunruhigte: daß Tom plötzlich anfing, sich zu kratzen. Du wußtest ganz genau warum, nicht wahr? Weil ihr beide nur von Dosenhummer gelebt hattet.« Er gab keine Antwort. Er sah sie lange an und schien unfähig, zu begreifen. Aber er hatte doch noch nie an Halluzinationen gelitten! Daß so etwas geschehen konnte, war doch einfach unmöglich. Er merkte, daß er Tom in die Augen sah. Ja, Tom wußte und verstand, das war sicher. Er verspürte plötzlich Sehnsucht, mit Tom wegzugehen, irgendwohin, wo sie allein wären. Er befestigte die lange Lederleine, die er mit Verblüffung in der Tasche seines Regenmantels gefunden hatte, an Toms Halsband. 119
»Gut so, du gehst mit Tom zum Strand, und ich packe aus, ziehe mich rasch um und komme euch dann gleich nach.« »Gut. Ich gehe.« Er wandte Angela den Rücken, öffnete die Garderobe und nahm seinen Paß aus der Tasche des anderen Anzugs. Tom würde schon ein paar Minuten warten. Er erinnerte sich, daß er die beiden amtlichen Papiere in seinen Paß gelegt hatte. Jetzt würde er gleich erfahren, ob er verrückt war oder nicht. Der Schweiß rann ihm in den Kragen, als er die Todesurkunde Angelas und die Krankenhausrechnung auseinanderfaltete. Beide waren vom 13. April datiert. Und heute war ohne allen Zweifel der 18. Juli! Er hatte sich so lange als möglich gesträubt, daran zu denken, aber schließlich mußte er sich doch eingestehen, daß sein Abenteuer bei der Zigeunerin einen Scherz bei weitem überstieg. Er mußte wohl oder übel annehmen, daß . . . Herrgott! Nein, daran wollte er nicht denken. Er mußte möglichst rasch wieder zu ihr hin. Er legte die Papiere wieder an Ort und Stelle und verließ dann schnell das Hotel. Der weite gewellte Küstenstreifen war leer. Dort, wo der Wagen gestanden hatte, war das Gras zertreten und niedergedrückt. Tom machte knurrend einen Kreis um eine Stelle, wo das Gras verbrannt war. John ging bis zum Strand und setzte sich; er sah zu, wie sein Hund am Wasser entlanglief. Tom tobte im Sande herum, schüttelte sich, kam schließlich zu seinemHerrn zurück und legte den Kopf auf sein Knie. »Wo bist du denn hingelaufen?« fragte ihn Angela, als sie ein wenig später nachkam. »Ich weiß natürlich, daß dein Hund allem anderen vorgeht, aber –« »Entschuldige, Liebes! Ich habe nicht daran gedacht, daß –« »Du denkst nie an die anderen«, sagte Angela und steckte sich eine Zigarette an. Er antwortete nicht. Er dachte über Angelas Worte nach. Sie waren nicht zum erstenmal gefallen. Gewöhnlich leugnete er, daß Tom in seinem Leben eine große Rolle spiele, sogar wenn er wußte, daß sie es aus Trotz sagte. Sie hatte offenbar nicht bemerkt, daß er nicht, wie sonst, protestiert hatte. Aber er zweifelte, daß sein Schweigen genügte. Wenn er wirklich noch einmal eine Chance hatte, so mußte er unter allen Umständen etwas unternehmen, sonst würde er den Hund ein zweites Mal opfern müssen. »Du hast natürlich völlig recht, Angela«, sagte er schließlich. »Natürlich . . . Was? Recht, womit denn?« »Mit Tom. Du hast recht, er geht bei mir allem anderen vor, Angela. Daran kannst du nicht viel ändern.« »Siehst du, ich hatte also schon immer recht?« »Ja.« »Du bist brutal.« 120
»Ich war brutal . . . aber heute bin ich es nicht mehr.« Er liebkoste seinen Hund, während Angela ihre Zigarette ausdrückte und mit großen Schritten davonging. Als er am Abend ins Hotel zurückkam, zog Angela sich gerade zum Essen um. Sie ignorierte seine Gegenwart vollständig. Er verstand sofort, daß es der Anfang dessen war, was er als ein »Gewitter ohne Donner« bezeichnete. Meist dauerte dieser Zustand zwei oder drei Tage und endete mit einer schrecklichen Auseinandersetzung. Diesmal aber machte er gar keine Anstrengung, erst liebenswürdig zu sein. Er versuchte auch nicht zu sprechen, als wäre nichts geschehen, ein Verfahren, das zuweilen diesem Zustand hatte abhelfen können. Er benahm sich einfach, als wäre Angela nicht da. Angela wartete an der Tür auf ihn, während er Tom am Fußende des Bettes unterbrachte, denn Hunde durften nicht mit in den Speisesaal. Als sie das Zimmer verlassen hatten, setzte Angela wohlweislich ihr bezauberndes, unwiderstehliches Lächeln auf, und sie boten allen anderen den Anblick eines jungen, glücklichen Ehepaares. Er versuchte mitzuspielen und ein gleichgültiges Gesicht aufzusetzen, aber er wußte sehr wohl, daß ihm das nicht gelang. Kaum saßen sie an ihrem gewohnten Tisch in der Nähe eines Fensters mit Blick auf das Meer, als eine Freundin von Angela den Raum durchschritt. »Welche Freude, dich wiederzusehen, Angela!« sagte sie mit erhobener Stimme. Sie nickte John kaum zu. »Ich habe deinen Mann gestern schon hier gesehen, aber ich war sicher, daß du bald nachkommen würdest. Ich weiß, daß er ohne dich unglücklich ist.« »Aber nein! Die Männer kommen sehr gut ohne uns aus, du weißt ja. Außerdem hat er seinen Hund. Ich bin eben von einem dreimonatigen Aufenthalt bei meiner Mutter zurückgekommen und bin gar nicht sicher, ob er sich freut, mich wiederzusehen«, erklärte Angela mit einem süßen Lächeln zu ihrem Mann hin, der sehr genau wußte, daß es falsch war. Ein solches in der Öffentlichkeit gezeigtes Lächeln zählte niemals bei Gewittern ohne Donner. »Und wie geht es deiner lieben Mutter?« fragte die Freundin. »Sie ist leider immer noch am Leben«, sagte John. »O John! Du darfst so etwas Abscheuliches nicht sagen«, antwortete Angela lachend; aber er wußte, ohne sie erst anzusehen, daß sie wütend war. Als er am Ende der Mahlzeit seine Pfeife ansteckte, nahm Angela leise ihre Handtasche und ihren Schal, lächelte ihn noch einmal zärtlich an und entfernte sich. Fünf Minuten später ging er in die Küche und holte dort den Napf voll Suppe und das Fleisch für Toms Fressen. Aber er fand den Hund nicht 121
im Zimmer. Er fragte sich einen Augenblick, was vorgefallen sein könnte. Dann stellte er den Napf mit dem Futter zu Boden und lief zur Treppe. Jawohl, der Portier hatte Madame vor wenigen Minuten mit dem Hund hinausgehen sehen. Sie setzt also ihr Spielchen fort, dachte er sich. Die Leute sollten wissen, daß der Hund unmöglich und sie zu seiner Sklavin geworden war, erstens, weil sie die Tiere liebte und dann, weil es der Hund ihres lieben Mannes war. Verärgert stopfte er sich noch eine Pfeife, steckte sie an und wartete auf der Hoteltreppe. Er stand noch dort, als er sie am Ende der Straße auftauchen sah. Sie war allein. Sie ging ungeschickt in diesen Schuhen mit den lächerlich hohen Absätzen. »Tom . . . Tom ist von der Klippe gestürzt!« Ohne ein Wort, ohne auch nur zu sehen, ob sie ihm folgte, lief er ans Meer. Außer Atem kletterte er über die Felsen am Strand. Die Nacht brach ein. Schon bald würde man nichts mehr sehen. Als er Tom endlich fand, in einer Sandkuhle zwischen zwei Felsen, waren seine Hosen zerrissen und völlig verschmutzt, und das eine Knie war aufgestoßen und blutete. Der Hund schien zu schlafen, lag ausgestreckt auf der Seite, aber als er ihn anrührte, sah er, wie ein Blutstropfen aus seiner Schnauze rann . . . genau wie vor drei Monaten beim Tierarzt, als er seinen letzten Atemzug getan hatte. Tom war kalt und schwer und ganz starr in seinen Armen, als er ihn ins Hotel zurücktrug. »O John! Ist er . . . ?« »Ja, Tom ist tot«, sagte er und legte den Kadaver des Hundes auf den Tisch des empörten Portiers. »Lassen Sie ihn bitte in eine Kiste tun! Ich werde ihn selber begraben.« »Ja, mein Herr«, antwortete der Portier und rief nach dem Liftboy. »John! Rühr mich nicht an . . .! Du bist voller Blut und Schmutz und voller Hundehaare . . .« »Gut, gut«, sagte er, »jetzt zeigst du mir aber bitte, wie das passiert ist!« Er zog sie am Handgelenk zum Parkplatz. Ohne ein Wort zu sagen, öffnete er die Tür des Wagens, hieß sie einsteigen und ließ den Motor an. Er fuhr langsam durch das Dorf und dann plötzlich schneller, als er die Straße erreicht hatte, die in Kehren zu den Klippen hinaufführte. Er stellte den Wagen ab, packte Angela wieder am Handgelenk und zog sie hinter sich den Klippenpfad hinab. Sie gingen fast im Laufschritt. Andere Leute spazierten auf dem Pfad; sie genossen die abendliche Kühle und freuten sich am Anblick der Lichter, die in der Bucht schimmerten. »Wo ist es geschehen? Zeig's mir!« sagte er ruhig. »Dort, am Ende des Weges.« »Wo?« »Dort!« antwortete sie und ging bis zum Rande der in den Felsen 122
gehauenen Plattform vor, von der ein grasbewachsener Abhang jäh drei Meter gegen den Strand abfiel. »Und was genau hat sich zugetragen?« »Das weiß ich nicht . . . Tom lief vor mir her, er muß sich wohl zu nahe an die Kante gewagt haben, gerade dort, und wahrscheinlich ist er nicht wieder hochgekommen.« »Warum hast du ihn nicht an der Leine geführt, Angela?« »Weil er mich wie immer in alle Richtungen fortzog.« »Und wo hast du die Leine losgemacht?« »Kurz vor dem Parkplatz oben an der Klippe.« »Und was hast du mit der Leine gemacht?« »Ich . . . ich weiß nicht. Ich muß sie verloren haben, ich war so erregt, weißt du . . .« »Angela, du lügst.« »John! Wie wagst du . . .« »Die Leine war noch an Toms Halsband, als ich ihn zwischen den Felsen fand. Und außerdem lag Toms Kadaver auf der anderen Seite der Klippen. Er kann gar nicht hier hinuntergefallen sein.« »Und er ist doch von hier hinuntergefallen . . . Und jetzt hab ich genug! Ich gehe nach Hause.« »Nein, du wirst nicht so heimgehen«, sagte er leise und packte sie wieder am Arm . . . »Angela, du hast Tom getötet, du hast das arme Tier umgebracht!« »John! Du tust mir weh!« »Und ich sage dir, daß du ihn auf deinen Armen bis zu der Stelle gebracht hast, wo der Weg eng wird, und daß du ihn mit voller Absicht in die Tiefe geworfen hast!« »John! Du bist verrückt! Aber wenn es dich freut, ja, ja, ich habe deinen ekelhaften Köter über die Klippen hinuntergeworfen! Und jetzt laß mich endlich in Ruhe!« John antwortete nichts. Aber er drehte ihr den Arm um, hob sie trotz ihrer Schreckensschreie über das Geländer und nötigte sie, auf den Grasabhang zuzulaufen . . . Einer nach dem anderen erklärten die fünf Zeugen, die sich auf dem Weg befunden hatten, den Polizisten, daß der Engländer an der Stelle, wo der Abhang plötzlich steil wird, seine Frau sehr heftig gestoßen habe, so daß sie schreiend vorwärts getaumelt, gestürzt und schließlich in der Tiefe verschwunden sei. »Sie war eine Mörderin«, hatte er den entsetzten Zeugen erklärt. Ohne sich zu beeilen, war er dann in seinem Wagen wieder zum Hotel gefahren, wo er eine Stunde später verhaftet wurde. »Versuchen Sie doch bloß nicht, einer französischen Jury zu erzählen, daß Sie ein Gespenst getötet haben!« rief der Anwalt, ein unbedeutender Mann, indem er in der kalten Zelle des großen Provinzgefängnisses, in 123
der ein modriger Geruch in der Luft hing, auf- und abschritt. »Wir können beweisen, daß Ihre Frau seit drei Monaten tot ist. Darin stimme ich Ihnen zu. Dann haben Sie eben Ihre Geliebte getötet. Wir werden dem Gericht sagen, daß Sie sie geliebt haben, daß Sie eifersüchtig waren, weil sie Sie nicht mehr liebte und im Begriff war, mit einem anderen durchzugehen. In dieser Richtung können Sie alles vorbringen, was Ihnen einfällt – man wird Ihnen mit Nachsicht zuhören. Natürlich wird das Gericht wissen wollen, weshalb sie versucht hat, sich als Ihre Frau auszugeben, und wie es ihr gelungen ist, einen Paß zu erhalten, aus dem hervorgeht, daß sie wirklich Ihre Frau ist. Das wird bestimmt nicht leicht zu erklären sein, aber es ließe sich schon machen. Wenn Sie aber versuchen, den Geschworenen zu erzählen, daß Sie eine Person getötet haben, die bereits tot und begraben war, werden sie nur denken, Sie versuchten, sie hereinzulegen.« »Das ist mir völlig gleichgültig. Sie mögen denken, was sie wollen!« antwortete sein Klient. »Und diese alte Zigeunerin? Ist es Ihnen gelungen, sie ausfindig zu machen?« »Nein. Das würde Ihren Fall nur noch verschlimmern.« Und bringen Sie um Himmels willen den Hund nicht mit in diese Geschichte hinein! Das wäre katastrophal für Sie . . .« Fast anderthalb Jahre später – die Kriminalverfahren in Frankreich sind langsam, sie gehören wohl mit zu den langsamsten der ganzen Welt – an einem kalten, feuchten Novembermorgen, traten ein Priester, der Anwalt und der britische Konsul, der am Vorabend von Brest gekommen war, aus dem Gefängnis der Provinzhauptstadt. An dem Morgen war im großen Hof des Gefängnisses ein Mann guillotiniert worden. Als sie die Straße hinuntergingen, die um diese Stunde ganz still war, sprachen die drei Männer kein Wort. Der Priester hielt noch immer das kleine Holzkreuz in der Hand, das der Gefangene geküßt hatte. »Verzeihen Sie!« sagte er zu seinen beiden Begleitern, »ich muß, wie die Engländer zu sagen pflegen, noch dem Teufel seine Runde bezahlen.« Er überquerte die Straße und ging auf eine alte Zigeunerin zu, die an eine Hauswand gelehnt stand. Sie zog an einer Zigarette, die sie ins linke Nasenloch gesteckt hatte. »Sie wollen etwas über den Engländer hören, nicht wahr?« fragte der Priester und blieb vor ihr stehen. »Er ist tapfer gestorben.« »Das will ich nicht wissen. Was haben Sie mit ihm gemacht?« »Ich habe ihn heute morgen getauft.« »So ein Schwindler!« knurrte die alte Frau zwischen den Zähnen. Dann zog sie heftig an ihrer Zigarette und entfernte sich. Die Mauern trieften von Feuchtigkeit, und die Straße war voller Schlamm. Aber der Platz, wo die alte Zigeunerin gestanden hatte, war trocken, und dicht daneben entdeckte der Priester einen kleinen Aschenhaufen, wie ihn vielleicht ein verbranntes Stück Pergament hinterlassen würde. 124
Denkende Roboter Alexis Carrel zum Gedenken Mitten in der Nacht eine Mauer von drei Meter Höhe zu ersteigen, läßt das Herz viel rascher schlagen als eine weit größere Anstrengung bei Tag; und wenn man den Vierzig bereits näher ist als den Dreißig und auf der anderen Seite der Mauer ein Friedhof liegt, so darf das Herz wohl ein paar zusätzliche Schläge tun. Lewis Armeigh kam sich regelrecht lächerlich vor, außer Atem und derart bange, wie er war, und er zögerte einen Moment, bevor er sich auf einen Haufen Laub fallen ließ oder zumindest auf etwas, das an dergleichen erinnerte. Er landete mit einem dumpfen Ton auf einem Erdhügel und fröstelte, als er entdeckte, daß bloß dreißig Zentimeter fehlten, und er wäre in ein frisch geschaufeltes Grab hineingefallen. Ein kurzes Brecheisen und einen starken Schraubenzieher hatte er stets an einem Bein befestigt – diese Gewohnheit hatte er aus dem Dienst bei den Fallschirmjägern beibehalten – und in der Tasche seines Regenmantels tastete er nach dem in sein Taschentuch eingewickelten Schlüssel sowie nach seiner Taschenlampe. Er stellte seinen Kragen wieder hoch, ging vorsichtig vorwärts, stieg über zwei oder drei Gräber und erreichte die Allee, die zum Denkmal für die Gefallenen des Krieges von 1914-1918 führen mußte. Von dort aus kannte er seinen Weg und hätte ihn mit geschlossenen Augen gehen können. Am Mahnmal entlang, den zweiten Weg rechts einschlagen, zuerst fünf Gräber, dann eine Reihe von Grabkammern abzählen. Er erreichte die Bäume des Hauptweges und sah, vielmehr erriet die sich vom nächtlichen, rötlich schimmernden Pariser Himmel abhebende Steinfigur mit dem bronzenen Soldaten auf den Armen. Er wußte, daß das Metall von Jahr zu Jahr grünlicher Wurde. Lewis lauschte konzentriert einige Sekunden lang und ging dann mit schnellen Schritten auf das Denkmal zu. Er war schon fast daran vorbei, als sein Fuß an einen Gegenstand stieß und eine blecherne Gießkanne mit gewaltigem Geschepper auf den gepflasterten Weg rollte. Sein Herz schlug zum Zerspringen. Lewis Armeigh drückte sich an den Baum, den er mit zwei Sprüngen erreicht hatte, und rührte sich nicht. Vor dem Friedhof befanden sich einige Häuser, aber sie blieben dunkel. Außer dem fernen Geräusch der Wagen auf der großen Autostraße unterbrach kein Laut die Stille. Trotzdem wartete er noch ein wenig. Wenn er sich erwischen ließ, würde die Polizei rasch ermitteln, daß er dem Personal der britischen Botschaft in Paris angehörte. In wenigen Minuten – er mußte lächeln bei dem Gedanken – würde der ganze Quai d'Orsay in Aufregung geraten, und die Surete Nationale würde sich mit 125
geradezu gieriger Freude in Bewegung setzen. In jedem Fall nähme Seine Exzellenz der Herr Botschafter die Sache sehr übel auf und das Außenministerium in London sicher noch übler. Lewis Armeigh machte sich schließlich auf und erreichte den Weg, den er suchte. Er zählte die Grabkammern ab und blieb vor der vierten stehen. Er zog den Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Schloß der Metalltür, die in die winzige Kapelle in gotischem Stil führte. Der Schlüssel drehte sich geräuschlos – Penny mußte das Schloß geölt haben, wie sie es versprochen hatte – aber die Tür kreischte entsetzlich, als er sie aufstieß. Lewis trat keuchend ein, und wieder kreischte die Tür, als er sie Zentimeter um Zentimeter hinter sich schloß. Er knöpfte den Regenmantel auf und streifte den Pullover hoch, um das schwarze Stück Tuch hervorzuziehen, das Penny ihm gegeben hatte. Tastend fand er beiderseits der Tür die Haken, von denen sie gesprochen hatte. Er bohrte sie in den Stoff, so daß dieser die Glasscheibe in der Tür ganz bedeckte. Jetzt brauchte er nicht mehr zu fürchten, daß man das Licht seiner Taschenlampe sah. Trotzdem wickelte er sein Taschentuch um die Lampe, ehe er sie anzündete. Wie abgemacht, waren alle Gefäße aus der kleinen Kapelle entfernt worden, und der kleine Altar war ganz leer. Unter dem Altar waren Namen und Daten in den Stein gehauen. Er las: Antoine Tournon 1887-1946
Marie-Jeanne Tournon geb. Falbert 1888-1953
Robert Tournon 1921-1961
Ein Platz war noch freigelassen für Penny, die nun Frau Tournon hieße, wäre Robert nicht bei diesem dummen Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Armer, lieber Robert, wenn er mich sehen könnte, würde er mich reichlich komisch finden, dachte Lewis. Er legte seine Taschenlampe in eine Ecke, zog seinen Regenmantel aus, faltete ihn sorgfältig zusammen, dann löste er den Riemen, der die Werkzeuge zusammenhielt, und legte diese vorsichtig auf die Steinplatte, welche die Gruft bedeckte. Auf allen vieren untersuchte er diese Platte beim Schein seiner Lampe. »Zum Glück ist sie nicht zementiert«, murmelte er vor sich hin. Mit Hilfe des Brecheisens ließ sich die Platte ganz leicht drehen. Schon nach sehr kurzer Zeit konnte er die Finger unter die Platte schieben, sie einige Zentimeter aufheben und zur Seite rücken. Die Lampe erhellte jetzt das Innere der Gruft . . . Vier abgeteilte Grabstätten befanden sich darin, zwei auf jeder Seite. In drei dieser Abteilungen befanden sich Särge, und es ließ sich leicht erkennen, daß der zuletzt hinzugekommene jener links auf der unteren Seite war. Diesem Sarg gegenüber war die noch leere Grabstelle, deren Bestimmung ihn unwillkürlich schaudern ließ. Die Gruft schien völlig trocken zu sein, und obwohl er mit einigem Unbehagen schnupperte, konnte er nichts als den kalten, erdigen Geruch eines sauberen, leeren Kellers wahrnehmen. Er 126
hob die Platte ganz zur Seite und stieg in die Gruft. Undeutlich blitzte im Lichtbündel seiner Taschenlampe etwas auf. Ein Schlüssel vermutlich, dachte er. Es war aber kein Schlüssel, sondern eine ziemlich große Schraube, an der stellenweise Rost haftete. Er bückte sich, erleuchtete Roberts Grab und sah auf den ersten Blick das Loch, aus dem die Schraube stammen mochte. Erschrocken berührte Lewis den Sargdeckel, der sich mühelos bewegen ließ. Nach einem kurzen Zögern richtete er seine Taschenlampe direkt auf den Sarg und hob den Deckel hoch. Außer einer dicken schwarzen Spinne, die ihre langen, haarigen Beine steif machte, bereit, sich ihres Lebens zu wehren, war in dem mit Satin ausgeschlagenen Sarg nichts. Lewis stieß den Deckel mit einem Schauder des Abscheus zurück und stieg in die Grabkapelle hinauf. Er riß den Behelfsvorhang herunter, wickelte sein Werkzeug hinein und warf das Bündel in die Gruft, bevor er die schwere Platte wieder an ihren Platz gleiten ließ. Zehn Minuten später rollte ein kleiner englischer Sportwagen auf die Hauptstraße zu, die knapp einen Kilometer vom Friedhof entfernt war, und fuhr nach Paris zurück. Er würde die französischen Behörden informieren müssen, vorher aber war es nötig, mit Penny zu sprechen, dachte Lewis und steigerte sein Tempo, um einen mit Kohlköpfen beladenen Lastwagen zu überholen. Sie mußte ihm alles sagen, wirklich alles. Vielleicht war ihre Geschichte gar nicht so phantastisch, wie sie ihm vorgekommen war; auf jeden Fall aber mußte sie ihm mitteilen, was sie wußte, und nicht, was sie nur vermutete. Penny hatte wohl mit Bestimmtheit gewußt, daß er den Sarg leer finden würde, und dieser Gedanke machte ihn wütend. Lewis drehte sich im Bett um, als seine französische Haushälterin Amélie ihm am nächsten Morgen das Frühstück brachte, und bei der Bewegung fühlte er sich wie gerädert. Er stöhnte beim Gedanken, wie gut ihm weitere sechs Stunden Schlaf getan hätten. »Monsieur, haben Sie sich Ihren Anzug angeschaut?« fragte Amélie, als sie das Tablett neben dem Bett abstellte. Dann hob sie eine seiner Socken vom Boden auf und hielt sie weit von sich: ein untrügliches Zeichen ihres Mißfallens. »Nein . . . nicht seit ich zu Bett gegangen bin«, antwortete Lewis gähnend. »Er ist gestern erst aus der Reinigung gekommen, Monsieur! Und schon machen Sie darin wieder Kletterübungen!« »Also . . . entschuldigen Sie bitte!« »Und Ihr Regenmantel, Monsieur! Haben Sie die Tasche gesehen? Sie ist völlig abgerissen!« »Tut mir schrecklich leid, Amélie! Haben Sie nicht vielleicht in der abgerissenen Tasche Zigaretten gefunden ? Eine Zigarette wäre jetzt die 127
reinste Wohltat.« Amélie gehörte zu der Art Menschen, die niemals altern. Sie hatte dichte Brauen, einen Bart wie ein pensionierter Oberst und kaum mehr Haare auf dem Kopf als ein solcher. Bevor Amélie zu dem geworden war, was Lewis die Frau Diktatorin nannte, war sie offenbar lange Zeit Haushälterin eines Pfarrers gewesen, der wohl weniger an Altersschwäche als an Amélies hervorragender Kochkunst gestorben war. Lewis goß sich eine Tasse schwarzen Kaffee ein, trank sie in einem Zuge leer und steckte sich eine der Zigaretten an, die die alte Dienerin mit einer halb geöffneten Schachtel Zündhölzer auf einem Tablett gebracht hatte. Er streckte sich behaglich aus und versuchte nachzudenken. Wenn Robert vor einigen Monaten nicht getötet worden wäre, wäre Penny jetzt Frau Tournon; natürlich hätte sie, wäre Robert nicht sein bester Freund gewesen, geradesogut Frau Armeigh werden können. Schließlich hatte keiner den anderen im Kampf um Penny wirklich ausstechen können. Er war mit Robert zusammen auf der Gartenparty der Botschaft gewesen, als sie Penny kennengelernt hatten. Sie war die Tochter eines amerikanischen Diplomaten. Sie sprach fließend Französisch mit einem lustigen kleinen Elsässer Akzent. Im Gegensatz zu den Amerikanerinnen, die sie sonst kennengelernt hatten, schien Penny von den Männern nicht zu erwarten, daß sie ihr die Türen aufhielten oder ihr den Stuhl zurechtschoben, und noch weniger, daß sie im nächsten Augenblick Wange an Wange mit ihr tanzten. Außerdem war sie sehr hübsch, und ihr ansteckendes Lachen hatte die echte Frische kindlicher Freude bewahrt. Sie hatte sich mit den beiden Männern befreundet; aber erst als Lewis entdeckte, daß Robert genauso verliebt war wie er selber, hatte er sich entschlossen, seine Ferien in England zu verbringen, und darauf verzichtet, zusammen mit seinem Freund nach Saint-Tropez zu gehen. Von dort aus hatten Robert und Penny kurz darauf ihre Verlobung angezeigt. Roberts plötzlicher Tod hatte ihr sicher einen schweren Schlag versetzt. Sie war jedoch nicht der Mensch, makabre Geschichten auszuspinnen, und als sie ihm kaum eine Woche nach Roberts Tod sagte, sie sei fest überzeugt, daß er gar nicht tot sei, obwohl sie es nicht beweisen könne, war Lewis von seinem Sitz hochgefahren und hatte ihr aufgeregt geantwortet: »Aber Penny, Sie glauben doch nicht, daß . . .« »Ich weiß, Lewis, wir haben ihn nach dem Unfall im Krankenhaus gesehen, und wir sind beide bei seinem Begräbnis gewesen, aber . . . es könnte durchaus sein, daß er gar nicht verunglückt ist.« »Aber Penny . . .!« »Haben Sie seinen Leichnam gesehen? Nein. Ich auch nicht . . . und ich weiß, daß er noch lebt. Ich bin sogar davon überzeugt. « 128
»Haben Sie irgendwelche Beweise?« Sie zögerte natürlich bei dieser Frage, aber nachdem sie ihm erklärt hatte, daß das Vorhandensein eines anderen Leichnams in Roberts Sarg ein unwiderlegbarer Beweis wäre, wußte Lewis, Was er zu tun hatte. Außerdem hatte sie so sicher gewirkt, obwohl sie sich geweigert hatte, nähere Angaben zu machen, daß Lewis in seiner Überzeugung erschüttert war. Falls sie nun recht hatte? Außerdem hatten Pennys flehende Augen, diese braungoldenen, klaren Augen, jeden Mann dazu gebracht, jede Mauer zu jeder Stunde zu übersteigen. Er schaltete den elektrischen Apparat aus, mit dem er sich allmorgendlich im Bett rasierte – Amélie fand, daß das eine schlechte Gewohnheit sei – und ging ins Bad. Dort drehte er den Kaltwasserhahn auf – was nach Ansicht der Frau Diktatorin wiederum eine äußerst schlechte Gewohnheit war. Für sie bestand ein Bad notwendigerweise aus einer Menge sehr heißen Wassers. Lewis war überzeugt, daß sein Vorgänger sich jeden Morgen für die Dauer eines Bades fühlen mußte wie ein gebrühter Hummer in seinem letzten Viertelstündchen – zumindest, wenn er nicht ebenfalls kalte Bäder vorgezogen hatte. Es war bereits neun Uhr, als Lewis seine Uhr aufzog und sie anlegte, bevor er Pennys Telefonnummer wählte. »Hallo, Penny ? Habe ich Sie geweckt . . . ? Bereits aufgestanden! Schön! Sagen Sie, hätten Sie Lust, mit mir zu Mittag zu essen?« »Nein, tut mir schrecklich leid, Lewis, was ist denn los mit Ihnen?« »Oh, nichts Besonderes . . . Ich habe letzte Nacht nur Ihren Auftrag ausgeführt . . .« »Oh, Lewis! Und . . .?« »Nichts. Ich habe das gefunden, was Sie erwarteten: nämlich nichts.« Am anderen Ende der Leitung hörte er einen erstickten Schrei. »Penny, sind Sie noch da?« »Ja, Lewis.« »Schön. Ich muß mit Ihnen darüber sprechen, aber so was kann man nicht gut am Telefon erledigen . . .« »Nein, Lewis, heute kann ich Sie leider nicht gut zum Lunch treffen; ich muß mit Papa und Mama beim >Shape< essen, aber Sie könnten mich gleich dort abholen. Haben Sie Ihren Wagen?« »Ja, warum?« »Haben Sie den ganzen Tag Zeit?« »Es ließe sich einrichten. Weshalb?« »Sie werden von mir Erklärungen wollen, nicht?« »Das versteht sich.« »Nun, wenn Sie Zeit haben, kann ich Ihnen einen Beweis liefern.« »Wo?« »In Rouen.« »Weshalb nicht in Sansibar? Nun gut, ich werde um halb drei Uhr am 129
Haupteingang des >Shape< warten.« Weshalb denn ausgerechnet in Rouen? fragte sich Lewis, als er einige Stunden später seinen Wagen in Gang setzte, nachdem Penny eingestiegen war. »Sagen Sie mir, was Sie gefunden haben, Lewis!« »Nichts – ich habe es Ihnen doch bereits gesagt.« »Wollen Sie damit sagen . . . daß sein Sarg leer war?« »Ja, Penny. Er war leer. Jetzt sagen Sie mir bitte, was Sie wissen, aber alles, und sagen Sie mir auch, weshalb wir nach Rouen fahren!« »Ich hatte schon Angst, ich hätte mir irgend etwas Phantastisches eingebildet, aber jetzt weiß ich, daß ich recht hatte. Wie lange braucht man bis Rouen?« »Zwei Stunden; etwas weniger, wenn es eilt; aber wollen Sie jetzt bitte von Anfang an erzählen?« fragte Lewis, indem er mehrere Lastwagen überholte. »Lewis, haben Sie jemals mit Robert Schach gespielt?« Ohne zu antworten bremste Lewis, lenkte seinen Wagen an den Straßenrand, schaltete den Motor ab und zündete sich eine Zigarette an. »Jetzt hören Sie mir einmal gut zu, Penny! Ich empfinde aufrichtige Freundschaft für Sie . . . Ich wurde alles für Sie tun und habe es Ihnen auch bewiesen, aber wir werden nicht weiterfahren, bevor Sie mir nicht ernsthaft erklart haben, was diese ganze Geschichte soll.« »Könnte ich bitte auch eine Zigarette haben?« fragte Penny mit leiser, bescheidener Stimme. Und als Lewis ihr Feuer gegeben hatte, sprach sie so ruhig, wie ihr das möglich war, von dem Schachroboter, den sie gesehen hatte und von dem sie überzeugt war, daß er ihr Verlobter wäre. »Penny, Sie spaßen doch wohl nur?« fragte Lewis, aber er merkte deutlich, daß es ihr gar nicht ums Scherzen war. »Mein Gott! Wollen Sie sagen, daß Sie mich dieses Grab öffnen ließen, Weil Sie einen Roboter gesehen haben, der Sie an Robert erinnert . . . ?« »Aber er war doch nicht in seinem Sarg, nicht wahr?« fragte sie resigniert. »Wenn Sie mir jetzt doch endlich alles sagen würden, was Sie Wissen! Die Geschichte, die Sie mir erzählen, ist eine ganz große Schwindelei . . . Penny, haben Sie Vertrauen zu mir oder nicht? Was ist wirklich geschehen?« »Nichts weiter, Lewis, ich schwöre es Ihnen.« »Penny, seien Sie doch vernünftig! Sie glauben doch selber nicht, daß sich Robert zu solch makabrer Spielerei hergegeben hätte. Nein, die Tatsache, daß sein Sarg leer ist, hat mit dem Roboter nichts zu tun. Warum sagen Sie nicht die Wahrheit?« »Lewis, ich bitte Sie, glauben Sie mir!« antwortete Penny, der plötzlich 130
Tränen in den Augen standen. »Aber Penny, Liebste . . . was hat denn nun Rouen mit all dem zu tun?« »Der Roboter gibt heute abend eine Vorstellung in Rouen. Folglich wird Robert auch dort sein.« »Also gut, Sie sollen Ihren Willen haben!« antwortete Lewis und ließ den Motor an. Penny hielt ihre Hände auf den Knien und schaute starr geradeaus auf die Straße, während Lewis rasch und gut fuhr. Er sprach erst wieder auf der Anhöhe hinter Pontoise, von wo die Straße geradeaus weiter nach Rouen fuhrt. Dort fragte er: »Vielleicht könnten Sie mir sagen, was Sie von dem schachspielenden Automaten wissen?« »Ich habe ihn zum erstenmal auf einem Empfang gesehen.« »Was für einem Empfang?« »Bei einem hochvornehmen Empfang, den die Herzogin von Delombelle gab. Der Spieler wird als Roboter vorgestellt, und der Vorführer läßt sich Graf von Saint-Germain nennen.« »Penny, der Graf von Saint-Germain! Das ist doch der Name eines verrufenen Scharlatans, der . . .!« »Der sich Cagliostro nannte und vorgab, Jahrhunderte lang gelebt zu haben, ich weiß. Und ich glaube nicht, daß es ein Automat ist, sondern bin überzeugt, daß Robert die Rolle des Automaten spielt, wenigstens ab und zu.« »Ach so. Und dieser Automat erinnert Sie an Robert?« »Nein, er sieht aus wie ein Mensch von kleiner Statur, ist gekleidet wie ein orientalischer Prinz und sitzt im Schneidersitz auf einer großen länglichen Holzkiste.« »Aber das klingt ganz wie die Beschreibung des Schachautomaten des Barons von Kempelen, über den E. A. Poe in seinen Geschichten schrieb und der bei einer Feuersbrunst zerstört wurde. Poe hatte ihn spielen sehen und hatte mit Recht angenommen, daß ein Mensch darin stecke.« »Ja, ich habe die Geschichten gelesen. Sie waren seinerzeit weltbekannt.« »Und Sie glauben also, daß Robert in dieser modernen Kopie verborgen ist?« »Ja.« »Aber wie sind Sie bloß auf den Gedanken gekommen, daß es Robert sein könnte?« »Der Automat spielt auf die gleiche Art Schach wie Robert.« »Haben Sie je mit Robert gespielt, Penny?« »Nein, ich kann nicht Schach spielen, aber er spielte hin und wieder eine Partie mit Papa, und ich habe dabei zugesehen. Und dieser . . . dieser Automat setzt die Figuren genau wie Robert. Er hatte eine Art, eine Figur vom Brett zu nehmen und sie zwischen den Fingern zu drehen, bevor er 131
sie neu setzte, die mich sehr amüsierte, weil sie Papa so ungeduldig machte.« »Sie wissen doch wohl, daß dies zwar eine unschöne, aber unter Schachspielern weit verbreitete Manier ist?« »Aber Papa, der sich für einen sehr guten Spieler hält und es wohl auch ist, hat mit diesem Roboter gespielt und hat auch gesagt, es sei schon überaus merkwürdig, nicht nur wegen dieser Gewohnheit, sondern auch darum, weil der Automat eine Eröffnung anwendet, die Robert ganz besonders liebte.« »Millionen Schachspieler wenden klassische Eröffnungen an, Kind. Haben Sie sonst noch etwas zu sagen?« »Nein.« »Und das hat genügt, Sie zu überzeugen?« »Nein.« »Was also noch?« »Ich weiß nicht. Ich kann es nicht erklären, Lewis, aber ich habe das bestimmte Gefühl, daß es Robert selbst ist, der spielt, wirklich und wahrhaftig er. Seit Sie auf dem Friedhof waren, bin ich noch fester davon überzeugt. Ich bin sicher, wenn Sie diesen Automaten spielen sehen und selber eine Partie mit ihm spielen, werden Sie besser verstehen, was ich meine.« »Ich habe ganz und gar nicht die Absicht, mich mit ihm einzulassen, mein Kind! Außerdem bin ich nur ein recht mittelmäßiger Spieler, und ich wußte nicht einmal, daß Robert spielen konnte. Hat der Automat übrigens immer gewonnen?« »Ja. Gegen Papa und einen anderen Mann, aber er hat auch verloren – gegen einen jungen Herrn Dupont Soundso.« »Wenn Sie Dupont-Tillac meinen, er ist der derzeitige französische Meister.« Sie brauchten einige Zeit, bis sie das Café gefunden hatten, in dem der Automat an dem Abend vorgeführt werden sollte. »Ja, Sie sind am rechten Ort«, sagte der Besitzer des Lokals. Die Vorführung werde im ersten Stock stattfinden, in dem Saal über dem Cafe, wo die wöchentlichen Zusammenkünfte des lokalen Schachklubs seien. Nein, er bedaure sehr, die Tür sei abgeschlossen, man könne den Roboter erst gegen neun Uhr abends sehen, kurz vor der Vorstellung. Die Stunden wurden Lewis und Penny lang. Sie spazierten am Hafen herum und aßen schließlich in einer alten Wirtschaft am Markt zu Abend. Sie gehörten mit zu den ersten, die sich zur Vorstellung im Café einfanden. »Wie oft haben Sie ihn spielen sehen?« fragte Lewis noch. »Nur zweimal.« »Kennt Sie der Schausteller? Glauben Sie, daß er Sie wiedererkennen 132
könnte?« »Ich weiß nicht, es wäre wohl möglich. Vorsicht, da kommt er!« Ein kleiner, rundlicher Mann in einem weiten, mit rotem Satin gefütterten Umhang, im übrigen recht dürftig angezogen, durchquerte das Cafe und stieg in den ersten Stock hinauf, nachdem er einige Worte mit dem Besitzer gewechselt hatte. Fünf Minuten darauf erschien er oben an der Treppe und kündigte mit einem kurzen Gruß an, er sei bereit. Die Leute, die zur Vorführung gehen wollten, standen auf und stiegen nach oben. Lewis und Penny folgten ihnen und entrichteten eine geringe Eintrittsgebühr an einem Tisch dicht bei der Tür zu dem rechteckigen Raum, in welchem einige Reihen Stühle vor dem Automaten aufgestellt waren. Als die dreißig bis vierzig Personen sich niedergelassen hatten und offensichtlich niemand mehr kommen würde, stellte sich der kleine Schausteller in seinem rotgefütterten Umhang vor den Automaten in den Lichtkegel eines kleinen Scheinwerfers, den er angeschaltet hatte. »Meine Damen und Herren«, sagte er, »erlauben Sie mir, daß ich Ihnen meinen Automaten zunächst vorstelle. Sie werden fast alle leidenschaftliche Schachspieler sein, und sicher kennen einige von Ihnen die Geschichte des berühmten Schachspielers des Barons von Kempelen. Wie Sie wahrscheinlich wissen, war in Wirklichkeit ein hervorragender Schachspieler in der Maschine versteckt. Mein Automat, scheinbar eine genaue Kopie desjenigen des Barons, ist ein ganz echter Roboter. Was vor einem Jahrhundert noch vollkommen unmöglich war, läßt sich heute dank der ungeheuren Fortschritte der Wissenschaft verwirklichen. Sie werden verstehen, daß ich Ihnen nicht erklären kann, wie mein Roboter arbeitet, aber ich werde Ihnen beweisen, daß niemand darin oder darunter ist. Sie können alle in das Innere der Maschine schauen, und außerdem werde ich zwei Herren, die sich freiwillig melden, darum bitten, sie von nahem anzusehen, um sich zu vergewissern, daß keine Spiegel oder sonstige Tricks vorhanden sind.« Ohne zu zögern stand Lewis auf und ging vor. Die anderen Zuschauer sahen ihn neugierig an und fragten sich offensichtlich, ob er nicht unter einer Decke mit dem Schausteller stecke. Der kleine Mann rief: »Noch ein Freiwilliger, bitte!« Ein junger Mann ging langsam nach vorn, und der Schausteller zeigte den Anwesenden, daß die Kiste, auf die eine Figur montiert war, auf Rädern angebracht war. Er drehte sie hin und her und verschob sie, um zu beweisen, daß sie den Boden nicht berührte und auf keine Art damit verbunden war. Alsdann öffnete er die Türen auf allen vier Seiten der Kiste. »Wie Sie sehen, meine Damen und Herren«, erklärte er, »schließe ich diese Türen nicht, bevor ich jene geöffnet habe, die sich in Brust und Rücken meines Roboters befinden. Dadurch wird die Möglichkeit 133
ausgeschlossen, daß ein beweglicher Mensch oder ein Zwerg, der in dem Körper verborgen wäre, in die Kiste schlüpfte, wenn ich den Körper aufklappe – und umgekehrt, wie das beim Automaten meines berühmten Vorgängers der Fall gewesen ist. Schauen Sie her, jetzt ist alles offen. Es sind natürlich Mechanismen darin, und sie sind geheim, aber Sie können sehen, daß ich meine Hand dazwischenschiebe; und um Ihnen zu beweisen, daß Sie nicht Opfer einer optischen Täuschung sind, bitte ich einen der Herren, diesen Stock hier ins Innere des Automaten zu stecken, vorsichtig natürlich – aber wo immer Sie wollen!« Lewis nahm den Stab, den er ihm hinreichte, und steckte ihn vorsichtig in verschiedene Teile der Figur, ebenso in die Kiste, auf welcher die Figur saß. Er erblickte Röhren, Drähte, Kondensatoren, ganz ähnlich wie man sie im Inneren eines Radios oder eines Fernsehgeräts sieht. Auch eine Menge mechanischer Bestandteile waren vorhanden, Wellen, Zahnräder, Federn, Hebel, kleine Getrieberäder und Ketten, Kabel und verschiedene Glasröhren, die mit einer grünlichen Flüssigkeit gefüllt waren. »Meine Damen und Herren, jetzt, da Sie überzeugt sein können, daß sich niemand in meinem Automaten befindet, werde ich Ihnen beweisen, daß diese Maschine tatsächlich funktioniert, indem ich sie laufen lasse, bevor ich die Türen und Öffnungen schließe«, sagte der Graf. Er zog einen Draht hervor, den er in eine gewöhnliche Steckdose einführte, drückte auf einen Knopf, der sich auf einer Seite der Kiste befand, und die Räder begannen sich mit dem üblichen Geräusch eines Elektromotors zu drehen; die kleinen Lämpchen glühten auf und in der Flüssigkeit erschienen Luftblasen. Lewis trat zurück, um sich hinzusetzen; er war fest überzeugt, daß die Röhren, Zahnräder und Lichter nichts als Bluff waren, ebenso überzeugt jedoch, daß sich weder in dem Leib des Automaten noch in der Kiste darunter ein lebendiges Wesen befand. Nachdem der Graf sämtliche Öffnungen des Roboters geschlossen hatte, bat er, es möge ein Spieler bestimmt werden, und ein kleiner, bärtiger Mann erhob sich schüchtern lächelnd von seinem Platz. Der Graf öffnete ein sehr kostbares Stauntonschach, entnahm ihm mit einer Hand einen weißen und mit der anderen einen schwarzen Bauern und hielt die Figuren einige Sekunden hinter seinen Rücken, dann zeigte er seine geschlossenen Fäuste vor. »Das ist völlig unüblich«, flüsterte Lewis in Pennys Ohr, die sehr bewegt den Roboter musterte. »Die von Kempelensche Maschine spielte immer nur Weiß.« Der Schachspieler aus dem Ort zog Weiß und wurde gebeten, sich ans andere Ende der Kiste zu setzen, dem Automaten gegenüber. Dann wurde er aufgefordert, seine Figuren zu setzen, während der Schausteller selber die des Roboters aufstellte. »Vergessen Sie nicht, daß Sie genau nach den Regeln spielen müssen!« erinnerte ihn der Graf. »Jede Figur, die einmal berührt wird, muß 134
gezogen werden, und jede gezogene Figur gilt als gespielt.« Er drückte auf einen anderen Knopf, worauf die Maschine in einem helleren Ton zu surren begann, und fügte noch hinzu: »Weiß eröffnet, Monsieur. Bitte schön!« Der Spieler des Rouener Schachklubs nahm vorsichtig den Bauern vor der Königin und schob ihn zwei Felder vor. Keine Sekunde später hob sich die Hand des Automaten von rechts über das Schachbrett, ging bis zur Mitte des Brettes herunter und setzte den schwarzen Königinnenbauern. Aber plötzlich, während der mechanische Arm sich wieder auf die rechte Seite des Schachbretts legte, hoben sich langsam die Augenlider der Figur, und für eine oder zwei Sekunden zeigten ihre Augen einen lebhaften roten Schimmer. Alle Anwesenden begannen nervös zu lachen, als sich die Lider wieder senkten. »Tut er das jedesmal? Ich nehme an.« »Ja«, flüsterte Penny. »Seine ersten Züge wirken völlig mechanisch, erst später beginnt er zu spielen wie ein Mensch . . . eben wie Robert.« »Das werden wir noch sehen. Vorläufig kann ich Ihnen eines mit aller Sicherheit sagen: in der Kiste ist niemand.« Der Roboter spielte rasch, und Lewis kamen seine Armbewegungen völlig mechanisch vor. Außerdem war er eindeutig der bessere Spieler – sein Gegner machte wegen der sehr verständlichen Nervosität, in der er sich befand, einen schweren Fehler und mußte einen Turm preisgeben. Fast alle Zuschauer, die etwas vom Schachspiel verstanden, bemerkten es und flüsterten leise miteinander, als fürchteten sie, daß sie von dem Roboter gehört würden. Da fuhr Lewis zusammen. Sekundenlang benahm sich der Roboter genauso, wie sich ein lebendiger Schachspieler verhalten hätte. Er wartete ein wenig, bevor er seinerseits wieder zog; er schien zu zögern und sich zu fragen, ob sein Gegner die Figur nicht etwa freiwillig geopfert habe, um ihm eine Falle zu stellen. Als seine künstliche Hand schließlich die nächste Figur ergriff, hob sie diese und drehte sie leicht zwischen Daumen und Zeigefinger, als ob sie auch jetzt noch zögere, sie an die Stelle des weißen Turms zu setzen. »Da, haben Sie das gesehen ?« flüsterte Penny und drückte den Arm ihres Freundes, während der Schausteller sorgfältig den weißen Turm ergriff und ihn neben das Schachbrett setzte. »Ja, so handelt kein Automat, jemand muß ihn von fern bewegen.« »Oh, Lewis, es ist Robert, ich bin ganz sicher. Ich habe ihn das so oft tun sehen. Und jetzt, wo wir wissen, daß er nicht –« »Still!« flüsterte Lewis und nahm ihre Hand. »Derjenige, Welcher den Automaten lenkt, tut es von fern. Ich versichere Ihnen, es ist niemand in der Maschine.« »Es ist aber jemand drin, Lewis. Robert ist drin . . . Ich. . . ich spüre es. Schauen Sie, sehen Sie doch!« sagte Penny aufgeregt, so daß sich die Leute nach ihr umdrehten. 135
»Kommen Sie mit mir, ich habe eine Idee!« antwortete Lewis, der nicht die Aufmerksamkeit des Schaustellers auf sich ziehen wollte. Unten im Cafe forderte er Penny auf, sich hinzusetzen, und bestellte zwei Kognaks. »Hören Sie, Penny, eins steht fest: in dem Roboter ist niemand. Weiterhin wissen wir, daß der Roboter sich nicht wie eine Maschine benimmt. Folglich, da es nicht der Graf von Saint-Germain ist, der ihn bewegt, muß es unbedingt jemand anders sein, jemand, der sich in dem Raum befindet.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Vielleicht . . . Bleiben Sie einen Augenblick hier, ich hab eine Idee!« Lewis stieg wieder die Treppe hinauf, ging unbemerkt an der Tür des Raumes, in dem der Roboter noch immer zu spielen schien, vorbei und stieg noch ein Stockwerk höher. Er befand sich in einem Gang mit drei Türen. Er zögerte einen Augenblick und öffnete dann die erste Tür. Er drehte das Licht an und sah, daß er sich in einem ganz gewöhnlichen Schlafzimmer befand – wahrscheinlich das Zimmer des Besitzers des Cafes. Er löschte das Licht aus, schloß die Tür leise und öffnete die nächste: es war ein Zimmer, in dem nur ein Schreibtisch und zwei Stühle standen und Dutzende von leeren Flaschen in einer Ecke. Die dritte Tür führte in einen kleinen, schmutzigen Baderaum. »Wo sind Sie gewesen?« fragte ihn Penny, als er zurückkam. »Ich hab mir das Haus angesehen.« »Haben Sie irgend etwas gefunden?« »Nein«, antwortete Lewis, gab dem Kellner einen Zehnfrancsschein und sagte, er könne den Rest behalten. »Aber, Monsieur, ich bekomme von Ihnen nur vier Francs!« »Ich weiß, aber ich möchte gern etwas von Ihnen erfahren, es handelt sich um diesen Roboter . . .« »Ich bedaure, ich weiß selber nicht, wie er funktioniert.« »Das will ich auch gar nicht wissen. Ist der kleine Herr ganz allein angekommen?« »Ganz allein? Ja, ich glaube schon.« »Sind Sie sicher?« »Ich habe gesehen, wie er heute morgen den Roboter aufgestellt hat. Wir haben ihm geholfen, die Kiste und die Figur zu transportieren.« »Hat er lange gebraucht, bis die Maschine lief?« »Nein. Er hat nur den Stecker probiert, um sich zu vergewissern, daß er in die Dose paßt, dann ist er essen gegangen. Er ist erst am Abend wiedergekommen.« »Und ist er allein wiedergekommen?« »Ja.« »Sie wissen nicht zufällig, wo er wohnt?« »Nein, Monsieur. Ich habe nur gehört, wie er sagte, er werde heute abend noch mit dem Wagen wieder abreisen, gleich nach der 136
Vorstellung, aber ich weiß nicht wohin.« »Danke, das genügt.« »Sie sehen, Lewis, ich habe recht. Robert ist in dieser entsetzlichen Maschine. Wir wollen die Polizei verständigen«, sagte Penny flehend. »Er oder ein anderer sind im Spiel, ja. Aber auf keinen Fall in der Maschine. Die Polizei zu verständigen wäre der helle Wahnsinn. Nein, Penny, das müssen wir geschickter anstellen.« »Aber wie?« »Wir warten draußen und sehen, was bei seiner Abfahrt geschieht«, meinte Lewis und erhob sich. Es regnete, aber zum Parkplatz war es nicht weit. Lewis half Penny in den niedrigen kleinen Sportwagen hinein und bestand darauf, daß sie sich eine Decke, welche er unterm Sitz hervorzog, über die Knie legte. »Es ist kalt und feucht, und wir müssen vielleicht eine ganze Weile warten.« Als Lewis den Wagen an der Ecke einer kleinen Seitenstraße gegenüber dem Cafe parkte, kamen die ersten Leute gerade heraus. »Von hier aus sehen wir alles«, sagte Lewis und löschte die Lichter. »Woher wußten Sie übrigens, daß er seinen Roboter heute hier vorführen würde?« »Ich kenne einen seiner Freunde, der mir von seinen Tourneen erzählte.« »Ach so. Dort kommt unser Mann. Bleiben Sie hier, Penny! Ich will sehen, wohin er geht«, sagte Lewis und schlüpfte aus dem Wagen hinaus. Er lief schnell bis zur Ecke der Straße, um die er den Grafen hatte verschwinden sehen, und kam eine Minute darauf zurück. »Er ist auf dem Parkplatz und holt einen kleinen Lastwagen. Da kommt er schon gefahren; bewegen Sie sich nicht, ich will einen Blick hineinwerfen!« Der Wagen fuhr dicht bei ihnen vorbei, kehrte um und hielt vor dem Café. Lewis überquerte die Straße und öffnete die Hintertür des Wagens. Es befand sich nichts darin. »Was haben Sie zu finden erwartet ?« fragte Penny und steckte sich eine Zigarette an, als Lewis wieder neben ihr saß. »Auf keinen Fall Robert. Aber vielleicht einen Kurzwellensender – jedenfalls hatte mich das nicht überrascht.« Der Kellner erschien mit dem Grafen vor dem Café. Sie trugen zusammen die Kiste, aber die Figur war nicht mehr darauf. Sie ließen die Kiste ohne Schwierigkeit in den Wagen gleiten. Der Graf ließ die Tür offen, ging schnell ins Haus zurück und kam mit dem Schachspieler auf dem Arm wieder. Er setzte die Figur neben die Kiste. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, gab er dem Kellner ein Trinkgeld, setzte sich ans Steuer und fuhr los. Lewis warf seine Zigarette fort und fuhr hinter dem Wagen her. »Und jetzt?« fragte Penny. 137
»Hm, irgendwo muß er einen Helfershelfer haben, und höchstwahrscheinlich wird er ihn aufsuchen.« »Und wenn Sie sich täuschen?« »Dann wissen wir wenigstens, wo er seinen Roboter abstellt.« »Er besitzt Dutzende von Robotern. In der Nähe von Enghien hat er ein Haus, das voller Roboter ist. Es ist ganz nahe am See.« »Ach, Penny, warum sagen Sie mir das jetzt erst? Was für Roboter?« »Ganz verschiedene. Singende Vögel, einen Hund, der bellen kann, wenn jemand an der Tür läutet, einen kleinen Jungen, der Flöte spielt, einen Trommler und noch einige andere.« »Woher wissen Sie denn das alles? Woher kennen Sie den Grafen von Saint-Germain, Penny?« »Robert kannte ihn. Er muß ihn in seinem Schachklub kennengelernt haben.« »Dann hatte er also schon vorher einen Schachroboter . . .« »Vor Roberts Verschwinden? Das weiß ich nicht, aber es würde mich wundern, denn Robert hat nie davon gesprochen.« »Wenn nicht Robert . . . Nein, das ist unmöglich«, sagte Lewis kurz und heftete die Augen auf die Rückseite des kleinen Lastwagens, der die Stadt offensichtlich in Richtung der Autostraße nach Paris durchquerte. Es war fast zwei Uhr morgens, als Lewis, nachdem er Penny nach Hause gebracht hatte, heimkam und sich schlafen legte. Als sie sich versichert hatten, daß der Schausteller weder in Rouen noch Umgebung anhielt, um jemand mitzunehmen, hatte Lewis den Wagen überholt, ohne sich bemerkbar zu machen. Entweder hatte der Graf seinen Helfer in Rouen gelassen, oder . . . aber dieser Gedanke war lächerlich . . . Ein junger Rechtsanwalt wie Robert Tournon, der eine glänzende Karriere vor sich hatte, war bestimmt nicht der Typ, sich für tot erklären zu lassen und seinen Beruf, seine Verlobte, dazu alle seine Freunde und Kollegen aufzugeben, um Helfershelfer eines ganz gewöhnlichen Betrügers zu werden. Lewis zog an der alten Kette neben dem Gitter, und sogleich begann ein Hund wie wild zu bellen. Der Mann, der sich Graf von Saint-Germain nennen ließ, blickte von dem Rosenstrauch auf, den er gerade verschnitt, ging zur Hundehütte, brachte den Hund zum Schweigen und kam zum Gitter. »Guten Tag . . . Sie . . . kennen mich?« fragte Lewis, der fühlte, daß er sehr eingehend mit halbgeschlossenen Augen, die unter der breiten Krempe des Gärtnerhutes kaum zu sehen waren, gemustert wurde. »Jawohl. Sie waren neulich in Rouen. Sie sind mir gefolgt, ich erkenne Ihren Wagen wieder«, sagte er und warf einen Blick auf die Straße, ohne jedoch das Gartentor zu öffnen. »Ich bin gekommen, um mit Ihnen über –« »Über meinen Roboter zu sprechen, meinen Schachautomaten ? Sie 138
sind nicht der erste, Monsieur. Aber er ist unverkäuflich, und das Herstellungsverfahren ist geheim.« »Ich will ihn nicht kaufen, und Ihr Geheimnis interessiert mich nur indirekt.« Der Graf betrachtete ihn immer noch, öffnete aber dann unwillig das Gitter. »Kommen Sie herein; wenn Sie mit mir über meinen Beruf sprechen wollen, werde ich so frei sein, Sie in meiner Werkstatt zu empfangen«, sagte er und führte seinen Besucher hinters Haus zu einem Schuppen, von wo man den See von Enghien bis zum anderen Ufer überblicken konnte, auf dem das weiße Gebäude des Casinos sichtbar war. Es war die seltsamste Werkstatt, die Lewis jemals gesehen hatte. Eine Drehbank war darin und eine Hobelbank, und eine der Wände war von einem riesigen Werkzeugregal bedeckt. Stühle standen herum, ein Sofa, ein Flügel, an dem ein junges Mädchen saß, das sie offenbar nicht hatte eintreten hören. »Verzeihen Sie, könnte ich Sie wohl allein sprechen?« »Wir sind allein«, erklärte der Graf lächelnd. Er ging zu der Klavierspielerin hin und zog den Reißverschluß am Rücken ihres Kleides hinunter. Unter dem Kleid befand sich nur ein Metallgerüst, das einen ähnlichen Mechanismus barg wie jener, den er im Körper des Schachspielers gesehen hatte. »Meine Hochachtung, Herr Graf!« sagte Lewis. »Er spielt noch nicht so, wie ich es wünsche, aber ich bringe ihn schon noch dahin«, sagte der kleine Mann. »Aber Sie sind doch sicher nicht wegen der Klavierspielerin gekommen.« »Nein. Ich bin überzeugt, daß Sie, im Gegensatz zu von Kempelen, keinen Menschen in Ihrem Roboter verstecken. Aber es muß einen Spieler aus Fleisch und Blut geben, der sich irgendwo befindet, ganz einfach, weil ein schachspielender Roboter nicht herstellbar ist.« »Und weshalb sollte ein solcher Roboter nicht herstellbar sein, Monsieur . . .?« »Lewis Armeigh, verzeihen Sie! Sie wissen genausogut wie ich, daß ein Roboter nur unter einer bestimmten Anzahl von Möglichkeiten wählen kann, die von Anfang an feststehen und nach denen sein Kopf, sein Elektronenhirn, gebaut ist.« »Bis jetzt stimmt alles, was Sie sagen. Aber fahren Sie bitte fort!« sagte der Graf und setzte seinen Strohhut ab. »Wenn Sie selber Schachspieler sind, müssen Sie wissen, daß die sozusagen unendlichen Kombinationen, die bei Schachspielen entstehen, einem Roboter nicht von einem Mann >eingegeben< werden können, auch nicht von mehreren, selbst wenn sie ihr ganzes Leben damit zubrächten. Als Konstrukteur von Robotern müssen Sie auch wissen, daß, sollte es einmal gelingen, einen solchen Roboter herzustellen, es 139
kein gewöhnlicher Roboter mehr wäre, sondern ein künstlicher Mensch oder ein künstliches Gehirn.« »Und folglich«, sagte der Graf, »ist mein Schachspieler ein Betrug, eine Attrappe, und ich habe irgendwo einen verborgenen Partner.« »Ja, außer Sie bewegen ihn selbst auf irgendeine Weise.« »Monsieur Armeigh, ich kann Ihnen nur sagen, daß ich selber nichts von alledem kann, was meine Roboter tun; ich beherrsche keines ihrer Spiele, und einen Partner habe ich auch nicht. Es handelt sich keineswegs um Betrug. Ich habe ganz einfach einen Roboter geschaffen, der Schach spielt.« »Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich Ihnen erwidere, daß dies zu unwahrscheinlich klingt, um wahr zu sein.« »Ich fasse es sogar als Kompliment auf«, lächelte der kleine Mann und verbeugte sich. »Sehen Sie sich diese Pianistin hier an! Im Augenblick arbeitet sie nicht, aber sie spielt sonst eine gewisse Anzahl Stücke auf jedem beliebigen Klavier, wodurch übrigens bewiesen ist, daß kein elektrisches Klavier im Spiel ist. Ich arbeite gerade an ihr und hoffe, daß sie bald jedes Musikstück spielen kann, das man ihr vorlegt.« »Das wäre erstaunlich, läge aber theoretisch durchaus im Bereich der Möglichkeiten eines Roboters, obwohl viele Menschen eine klavierspielende Puppe vermutlich viel erstaunlicher finden würden als eine schachspielende. Ich wiederhole, daß ein klavierspielender Automat theoretisch möglich ist, nicht aber einer, der Schach spielt.« »Heute ist es aber möglich, Monsieur.« »Wäre es möglich, mit Ihrem Schachspieler zu spielen, auch wenn Sie nicht dabei sind?« »Gewiß. Aber ich kann ein solches Risiko nicht eingehen. Ich würde mich dazu bereit erklären, wenn ich ganz sicher wäre, daß niemand in das Innere der Maschine schaut. In dem Fall würde ich in einem anderen Zimmer bleiben, während jemand gegen ihn spielt. Aber Sie werden begreifen, daß ich das nicht irgendwo tun würde.« »Das ist selbstverständlich. Wir haben einen Schachklub auf der Botschaft«, sagte Lewis und gab dem Grafen seine Karte, »und ich kann Ihnen alle Garantien geben, die Sie wünschen, auch eine genaue Liste der Personen, die bei der Vorführung zugegen sein würden. Wäre es . . . sehr teuer?« »Tausend . . .?« »Einverstanden, Herr Graf. Weshalb haben Sie übrigens den Namen eines Grafen von Saint-Germain angenommen und nicht den Namen von Kempelen?« »Weil das zufällig mein wahrer Name ist, Monsieur Armeigh.« »Dann . . . dann entschuldigen Sie bitte!« sagte Lewis und wurde rot. Er verabschiedete sich. »Nur noch eine Frage, bitte! Was wollen Sie herausfinden?« 140
»Den Namen Ihres Partners.« »Aber ich habe keinen Partner.« »Das sagen Sie. Auf Wiedersehen, Herr Graf!« Während der zwei Wochen vor dem Abend der Vorführung beschäftigte sich Lewis eifrig damit, alle erreichbaren Auskünfte zu sammeln über die Art, wie Robert Schach zu spielen pflegte. Beim Schachklub »Bastille« entdeckte er, daß Robert einmal Pariser Schachmeister gewesen und daß er drei- oder viermal Anwärter auf den französischen Meistertitel gewesen war. Er führte lange Gespräche mit allen Mitgliedern dieses Klubs, die Robert persönlich gekannt hatten. Sie alle bestätigten ihm, daß Robert die Angewohnheit hatte, die Figuren zwischen Daumen und Zeigefinger zu drehen, bevor er sie setzte, wenn er zögerte oder wenn er verärgert war. Man bezeichnete ihn als einen aggressiven Spieler, obwohl seine Lieblingseröffnung das Giuoco piano war, und er hatte es nie verfehlt, die Greco-Variante anzuwenden, wenn es ihm möglich war. Viele der Spieler hatten bei ihm eine Abneigung gegen die AleckinVerteidigung bemerkt, auf die er sich nicht einließ. Man entsann sich endlich auch noch, daß er nie ein Königsgambit abgelehnt hatte, wodurch er öfter als nötig verlor. Wie er es versprochen hatte, und um zu beweisen, daß sein Automat wirklich unabhängig war, war der Graf von Saint-Germain in ein Nebenzimmer gegangen, nachdem er seine Maschine den Freunden von Lewis vorgestellt hatte, die dieser zur Vorführung geladen hatte. Ein junger Marineattaché, der sehr gerne Schach spielte und ein guter Spieler war, hatte sich freiwillig erboten, gegen den Roboter zu spielen. Lewis hatte ihm das Experiment erklärt, das ihm vorschwebte, und sie waren übereingekommen, daß er, wenn er Weiß zöge, die Gambiteröffnung anwenden sollte. Wenn er Schwarz ziehen und der Roboter mit dem Bauern ez-e4 eröffnen würde, sollte er die Aleckin-Verteidigung wählen. Es kam zu einer Aleckin-Verteidigung, und Lewis war verblüfft, mit welcher Geschwindigkeit und Sicherheit der Automat sein Spiel entwickelte, anstatt in der Verfolgung des schwarzen Springers mit dem Königsbauern vorzurücken. Der Marineattaché spielte gut, aber das Spiel dauerte nicht lange. Die nächste Partie mit dem Roboter spielte Lewis selbst. Der Automat gewann wieder den ersten Zug und eröffnete mit dem Bauern ez-e4. Wie zahlreiche Spieler die Eröffnungen anwenden, die sie auswendig können, ohne sie recht zu verstehen, ließ sich Lewis zu einem Giuoco piano verleiten und fiel beim neunten Zug auf die Falle der Greco-Variante herein. Nachdem er lange Zeit gezögert hatte, als wäre er tatsächlich verwirrt, nahm er den Verlust des Turmes an. Anschließend spielte der Automat wie eine echte Maschine die zehn folgenden Züge bis zum Schach und zum endgültigen Matt.
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»Penny, es ist unglaublich! Dieser Roboter hat nicht nur Roberts Angewohnheiten, er spielt auch genau wie er Schach, mit deutlicher Abneigung gegen bestimmte Eröffnungen und sichtlicher Bevorzugung von anderen«, sagte Lewis, als Penny ihm eine Tasse Tee einschenkte. »Deshalb also haben Sie mich die ganze Zeit über nicht besucht! Nicht einmal angerufen haben Sie.« Sie sah ihn vorwurfsvoll an. »Ja, Penny. Ich war in Enghien, bei dem Grafen.« »Ja, ich weiß.« »Woher können Sie das wissen?« »Ich war an dem Tag, als Sie ihn besuchten, auch dort«, antwortete sie und hielt ihm die Zuckerdose hin. »Er war mit Gartenarbeit beschäftigt, als ich kam, und es war niemand weiter da«, erklärte Lewis, sichtlich verdrossen. »Ich weiß schon, ich habe Sie vom Hause aus gesehen.« »Und darf ich fragen, was Sie in dem Hause taten?« »Ich habe Klavier gespielt, und einige Stücke sind aufgenommen worden. Unser gemeinsamer Bekannter braucht die Aufnahmen für einen Roboter, an dem er neuerdings arbeitet, eine Pianistin.« »Ja, er hat sie mir gezeigt, aber . . .« »Aber was, Lewis?« fragte Penny und sah ihn lächelnd an. »Nichts, ich . . . habe nur nachgedacht.« »Weshalb fragen Sie mich nicht, wie ich hineingekommen bin?« »Verzeihen Sie mir, Penny, wie also sind Sie hineingekommen? Übrigens, glauben Sie ja nicht, daß er Sie nicht wiedererkannt hat!« »Lewis!« »Sie meinen wirklich, er habe Sie nicht erkannt?« »Ich bin ganz sicher.« »Ich nicht. Mich hat er nämlich sofort wiedererkannt. Aber lassen wir das beiseite! Was er mir über den neuen Roboter erzählt hat, paßt ganz und gar nicht zu den Aufnahmen, die Sie für ihn machen. Dieser Roboter soll jedes beliebige Stück spielen können, das man ihm vorlegt. Sind Sie eine sehr gute Klavierspielerin, Penny?« »Zwei Jahre Pariser Konservatorium und ein erster Preis.« »Oh . . .! Penny, etwas an unserem Grafen gefällt mir ganz und gar nicht – mir wäre lieber, Sie hätten nichts mit ihm zu tun. Weiß er, wer Sie sind?« »Ja, aber . . . er weiß nichts von Robert und mir . . . und . . . ich habe jetzt Zugang zu seinem Haus, mache die Augen auf und – zuweilen auch die Türen.« »Und was haben Sie gesehen?« »Bis jetzt nichts. Aber wenn er etwas über Robert weiß, werde ich es früher oder später herausfinden. Einmal habe ich Roberts Namen wie zufällig erwähnt, so als kennte ich ihn flüchtig, und deutete an, er sei gar nicht tot – da hat er nicht mal mit der Wimper gezuckt.« 142
»Trotzdem, Penny, das gefällt mir nicht!« Lewis war von der Idee abgekommen, zur Polizei zu gehen. Man hätte ihn nur ausgelacht. Oder aber, wenn man ihn ernst genommen hätte, wäre wohl das Familiengrab der Tournons geöffnet worden, aber man hatte abgelehnt, das Verschwinden eines Leichnams mit dem Roboter eines Schaustellers in Verbindung zu bringen, den alle Welt sehen konnte. Er war inzwischen davon überzeugt, daß Robert, ob tot oder lebendig, etwas mit dem Automaten zu tun hatte – aber inwiefern?! Wenn er noch lebte, stand er bestimmt in Verbindung mit dem Roboter, sobald dieser arbeitete . . . vielleicht per Funk. Oder war etwa eine versteckte Fernsehkamera in der Figur? Jemand, der am anderen Ende des Relais säße, könnte die Bewegungen der Figur durch Fernsteuerung dirigieren. Lewis hätte sich wahrscheinlich noch länger diesen Wachträumen hingegeben, hätte ihn nicht ein Anruf von Pennys Mutter daraus geweckt. »Monsieur Armeigh, verzeihen Sie, wenn ich Sie störe, aber ich bin wegen Penny ziemlich in Sorge! Wir haben sie seit gestern nicht gesehen. Sie sagte, sie ginge zu Ihnen zum Tee. Wissen Sie wohl, wo sie ist?« »Aber . . . Madame, ich habe Penny gestern nicht gesehen.« »Was . . .? Sie hat mir gesagt . . . Aber . . . wo kann sie bloß sein?« »Was hat sie Ihnen gesagt, Madame?« »Sie hat mir gesagt, daß sie . . . wie fast jeden Nachmittag bei Ihnen Tee trinken würde. Sie bewundert Sie sehr, glaube ich, und ich weiß, daß Sie beide sehr gut befreundet sind. Haben Sie keine Ahnung, wo sie sein könnte?« »Penny trinkt oft Tee bei mir, das stimmt«, log Lewis, »aber sie ist gestern nicht gekommen. Sie ist sicher bei Freunden.« »Aber bei wem wohl? Sind es Leute, die Sie kennen?« fragte die plötzlich mißtrauisch klingende Stimme. »Nein, aber ich werde alle Leute anrufen, die mir in den Sinn kommen, und . . . und ich bin sicher, daß Penny bald heimkehrt, Madame. Ich werde Sie auf jeden Fall gleich anrufen, wenn ich etwas erfahren habe. Vielleicht verbringt sie einen oder zwei Tage bei Freunden«, sagte Lewis aus Verzweiflung. »Ja, glauben Sie ? Sie ist zwar schon einmal nach Nizza zum Karneval gefahren, ohne uns etwas davon gesagt zu haben, aber sie hat von ihrem Vater solche Vorhaltungen bekommen, daß sie sich sicher nichts dergleichen mehr erlauben würde. Jedenfalls gebe ich Ihnen Bescheid, wenn ich Näheres weiß.« »Vielen Dank, MadameI Ich rufe am Abend nochmals an.« Lewis hängte auf, riß seinen Mantel vom Kleiderhaken und stürzte aus dem Haus, ohne auch nur den Hut aufzusetzen. Eine Minute später 143
schlängelte sich sein kleiner Sportwagen schon durch den Verkehr des Faubourg Saint-Honoré. Keine halbe Stunde später bremste er scharf vor der Villa des Grafen. Ohne darüber nachgedacht zu haben, was er sagen sollte, zog Lewis die Türglocke, und der Hund begann zu bellen, genau wie beim erstenmal. Der Diener, der hinter dem Hause hervorkam, bückte sich, um etwas an der einen Seitenwand der Hundehütte zu berühren, und Lewis begriff sofort, daß es sich nicht um einen richtigen Hund handelte, sondern um einen Roboter. »Ich bedaure, Monsieur, der Herr Graf sind nicht da.« »Ach, und wann wird er zurück sein?« »Nicht vor Ende der Woche, Monsieur.« »Wissen Sie, wo ich ihn erreichen kann?« »Der Herr Graf sind in die Schweiz gereist, aber ohne eine Anschrift zu hinterlassen.« »Hat er seinen Schachspieler mitgenommen?« »Nein, Monsieur. Der Herr Graf haben nur einen Handkoffer mitgenommen.« »Dann ist der Schachspieler hier?« »Jawohl, Monsieur, aber ich bin nicht ermächtigt, ihn besichtigen zu lassen, während –« »Ich will ihn gar nicht sehen. Wissen Sie, wo die junge Dame ist, die immer hierher kommt, um Klavier zu spielen ? Ist sie mit Ihrem Herrn in die Schweiz gereist?« »Nein, Monsieur, sie . . . sie ist weder gestern noch heute hiergewesen.« »Aha, danke«, sagte Lewis, stieg wieder in den Wagen und fuhr ab. Ob der Diener die Wahrheit gesagt hatte oder nicht, war nicht so wichtig. Wichtig war, daß er gesehen hatte, wie sich ein Vorhang an einem der Fenster im Erdgeschoß des Hauses bewegt hatte, und kurze Zeit später hatte sich der geschlossene Laden eines Fensters im ersten Stock ein wenig geöffnet. Befand sich etwa Penny hinter dem Fensterladen? überlegte er. Als er wieder daheim ankam, hatte er einen Entschluß gefaßt. »Ich esse heute nicht zu Hause zu Abend, Amélie«, sagte er zu der alten Dienerin. Zu welcher Stunde des Tages oder der Nacht er heimkehrte, meistens war Amélie auf dem Posten, um ihn zu mustern, als ob sie geradezu darauf warte, ihn stockbetrunken zu sehen oder in Begleitung einer »leichtlebigen Frau«, unter welchen Begriff sie alle diejenigen seiner Besucherinnen einordnete, welche rauchten oder keinen Hut trugen. »Aber Monsieur, Sie haben mir nichts gesagt, und ich habe Ihnen bereits einen Eintopf zubereitet!« »Sie können ihn allein essen, Amélie, außer Sie möchten den Postboten einladen.« 144
»Monsieur!« versetzte Amélie schockiert. »Entschuldigung! Können Sie mir verzeihen?« »Schon gut; ich nehme an, Sie möchten vor dem Ausgehen noch baden, Monsieur?« »Wie haben Sie das gleich erraten, Amélie?« »Ach, ich kenne doch Ihre Manien, Monsieur. Es ist aber ganz und gar nicht gesund, sich ständig derart naß zu machen und anschließend sofort auszugehen.« »Das ist eine englische Manie, Amélie, da läßt sich nichts ändern«, lachte Lewis. Er wühlte in einem Schubfach herum und suchte nach seinen Manschettenknöpfen. »Ich weiß schon – weil Sie immer so naß sind, müssen Sie das wieder ausgleichen durch viel Alkohol«, sagte Amélie und schlurfte zum Badezimmer. Während sie ihm das Bad einließ, telefonierte Lewis mit einem Freund. »Bertie, kann ich für heute abend wohl deinen Wagen haben?« »Ist deiner kaputt?« fragte eine träge Stimme am andern Ende der Leitung. »Nein. Er ist nur ein wenig zu oft dort gesehen worden, wo ich heute abend hinmöchte.« »Sag schon, was du wieder anstellst!« »Ach, das ist meine Sache, Bertie! Wie steht's mit dem Wagen?« »Du kannst ihn gern haben, aber nur, wenn du mich mitnimmst, Lewis. Ich hab gerade nichts vor, und dein Fährtchen scheint interessant zu werden.« »Schön, einverstanden!« sagte Lewis, ganz gegen seinen Willen. »Zieh einen Smoking an und komm, sobald du fertig bist!« »Soll ich volltanken?« »Das wäre gut. Und wenn du einen Revolver hast und Schuhe mit Kreppsohlen, so bring sie mit!« »Schuhe mit Kreppsohlen? Die passen doch nicht zum Smoking! Aber ich spüre schon, es wird amüsant.« »Hoffentlich. Bis gleich!« Lewis hängte auf. Schließlich war Bertie ein durchaus zuverlässiger, guter Freund, kaltblütig in jeder Situation und fähig, seine scheinbar so zarten kleinen Hände recht nützlich zu gebrauchen, wenn es darauf ankam. »Du bist doch wohl nicht von heute auf morgen zum Spieler geworden?« fragte Bertie, als sie vor dem Casino von Enghien hielten, das zwar nicht so bekannt ist wie das von Monte Carlo, in dem aber zuweilen mit ziemlich hohen Einsätzen gespielt wird. »Nein, das Spielen kann ich mir nicht erlauben«, sagte Lewis lachend, »aber zu einem Abendessen kann ich dich doch einladen. Das Restaurant soll recht gut sein.« 145
Die Mahlzeit, die ihnen auf der Terrasse überm See serviert wurde, war ausgezeichnet. Das Wasser von samtigem Schwarz mit den Lichtreflexen der Lampen, die entlang der alten Promenade angebracht waren, war prächtig anzuschauen. »Und wann beginnt die Unterhaltung?« wollte Bertie wissen, während er sich mit Kennermiene eine Zigarre aussuchte. »Siehst du die Schiffe, gerade unter uns?« »Lewis, du glaubst doch hoffentlich nicht, daß ich um den ganzen See herumrudern werde?« »Nein, aber du wirst über den See rudern, und dabei so wenig Geräusch wie möglich machen.« »Und nachher?« »Nachher machen wir einen Überraschungsbesuch, und zwar einen illegalen.« »Prächtig! Ich bin noch nie in ein Haus eingebrochen.« »Nur in die Konditorei, vor fünfundzwanzig oder dreißig Jahren, entsinnst du dich?« »Stimmt! Aber heute tun wir's hoffentlich nicht zum Spaß. Möglicherweise wird man wilde Hunde auf uns hetzen?« »Nein, es ist nur ein Hund aus Pappe dort, und der kann nicht rennen. Aber daß auf uns geschossen wird, ist nicht ganz ausgeschlossen. Hast du etwa Angst?« »Wann fahren wir los?« »Es ist vielleicht noch ein wenig zu früh«, sagte Lewis und schaute auf seine Uhr. »Schön. Soll ich dir inzwischen mal zeigen, wie man sich leicht seinen Lebensunterhalt beim Roulett verdienen kann?« Es war nach Mitternacht, als Lewis Bertie aus dem Spielsaal schleppte. »Aber ich dachte doch, wir wollten ein bißchen rudern«, sagte Bertie, als Lewis auf den Parkplatz zuging. »Schon, aber erst nachher«, flüsterte Lewis und gab dem Parkwächter ein Trinkgeld, bevor er sich in den Wagen setzte. Zwei Minuten später hielten sie in einer kleinen Straße, schlossen den Wagen ab und gingen zu Fuß zurück zum Kasino. »Und wie sollen wir mit diesen Bergstiefeln beim Portier vorbeikommen?« fragte Bertie. »Wir gehen nicht bei ihm vorbei. Ich habe ein Boot in einem Winkel ausgemacht, wo wir nicht riskieren, gesehen zu werden. Siehst du die Gartenmauer neben dem Kasino?« »Du meinst doch nicht, daß ich darübersteigen soll?« »Genau das meine ich. Komm, es ist gerade günstig, niemand ist in Sicht!« Wenige Augenblicke später überquerten sie den See. Sie ruderten lautlos. 146
Das Boot glitt unter einige Bäume und stieß ohne zu schwanken an einen grasigen Abhang. Lewis sprang an Land und befestigte es an einer Trauerweide, die ein gutes Versteck bot. »Wir sind nicht im richtigen Garten, aber das ist vielleicht gerade gut so«, flüsterte Lewis, der seinem Freund half, aus dem Boot herauszuklettern. Die beiden Schatten überstiegen geduckt eine Hecke, und Lewis erkannte das Haus des Grafen wieder. Ein wenig weiter weg hob sich, entlang der Hecke, von der sie kamen, deutlich der abgelegene Schuppen ab, in dem der Graf seine Werkstatt eingerichtet hatte. Im Schutz der Hecke erreichten sie die verschlossene Eingangstür. Ein kleines Fenster neben der Tür ließ sich leicht eindrücken. »Augenblick! Bevor wir hineinklettern, hätte ich ganz gerne einen Blick auf diesen Papphund geworfen. Warte eine Minute hier und rühr dich nicht, auch wenn der Hund anfängt zu bellen!« Im Schutze der Bäume, und ohne daß man seine Schritte auf dem weichen Rasen gehört hätte, ging Lewis zur Hundehütte. Er vermied es, an der Vorderseite der Hütte vorbeizugehen, tastete mit der Hand die Seitenwand ab und fand auch den Knopf. Aber statt daraufzudrücken (der Hund hätte ja zu bellen anfangen können), suchte er die Drähte und zerriß sie. »So, von der Seite hätten wir nichts mehr zu fürchten«, sagte er leise, als er zu dem offenen Fenster zurückgekehrt war. »Ich war schon einmal hier, da ist es wohl besser, wenn ich zuerst einsteige.« »Auf der Innenseite steht eine Bank am Fenster. Eine Alarmanlage habe ich nicht entdeckt«, erklärte Bertie, der seinerseits die Zeit genutzt hatte. Lewis stieg durchs Fenster, und Bertie folgte ihm. Die Taschenlampe unterm Regenmantel verbergend, leuchtete er langsam den Raum ab. Er löschte sie aus, als Bertie ihn am Arm berührte. »Es sitzt jemand dort in der Ecke«, flüsterte ihm Bertie ins Ohr. »Völlig ungefährlich – es ist eine Dame aus Metall, die Klavier spielt«, erklärte Lewis beruhigt. Er zog seinen Mantel aus und hängte ihn vors Fenster. »Wir können jetzt ohne weiteres Licht machen. Ich glaube, daß uns das Schwerste erst im Haus selber bevorsteht, aber vorher möchte ich hier noch etwas nachsehen.« Er ging durch den Raum und hob ein Tuch hoch, das eine andere Figur verdeckte; es war der kleine Schachspieler auf seiner Kiste. »Bertie, es muß hier an der Wand ganz in der Nähe einen Stecker geben, sei so gut und stecke diese Schnur ein!« »Was wird dann passieren?« »Wahrscheinlich nichts, weil ja der Helfershelfer nicht da ist!« »Wie bitte? Ah, hier«, sagte Bertie und kniete nieder. Ohne zu antworten, fing Lewis gleich an, die Figuren aufzustellen, die er in einem 147
Schubfach unter dem Roboter gefunden hatte. »Lewis? Du hast mich doch nicht hierhergeführt, um . . .?« »Stilll Horch!« »Ich höre nur ein leichtes Surren.« »Ja, im Innern des Roboters. Schaun wir mal zu, ob er läuft!« meinte Lewis und zog einen Bauern. »Herr im Himmel, er läuft!« flüsterte er eine Sekunde später, als er sah, wie sich die rechte Hand des Roboters über das Schachbrett hob, um eine Figur zu ergreifen . . . »Aber das ist unmöglich!« »Du redest wie mein kleiner Neffe, wenn er seinen Großvater in der Badehose sieht!« äußerte sich Bertie. »Ich sage dir, daß es keinen Roboter gibt, der Schach spielen kann! Es ist unmöglich!« »Der hier kann es aber recht gut«, antwortete Bertie fasziniert. »Warte eine Minute . . . Such mir mal ein Blatt Papier!« sagte Lewis und nahm sämtliche Figuren vom Schachbrett weg. »Hier ist ein Stück Karton. Geht das?« »Ja, rasch!« Lewis riß seinem Freund den Karton aus den Händen, legte ihn auf das Schachbrett, zog seinen Füller heraus und schrieb in großen Buchstaben darauf: KÖNNEN SIE LESEN? Dann drehte er das Blatt um, damit es der Roboter vor Augen hatte. »Können Sie lesen?« wiederholte Bertie ironisch. Aber er erstarrte, als der Arm des Roboters sich langsam hob und über das Schachbrett kreiste, als wollte er eine Figur setzen. Daumen und Zeigefinger öffneten sich und ergriffen Lewis' Füller. Dann, ohne die Spitze der Feder auf den Karton zu bringen, begann die Hand sich ungeschickt zu bewegen, als schriebe sie. Lewis hob den Karton rasch genau in die Höhe der Feder. Sie sahen keuchend vor Erregung zu, wie die Hand des Automaten mit einer plötzlichen, linkischen Bewegung den Karton mit der Feder durchstach und dann in der Luft stehenblieb. »Er ist stehengeblieben«, stellte Lewis fest. »Ja. Jetzt hast du ihn, scheint's, kaputtgemacht, mein alter Junge.« Lewis kniete sich hin und sah sich den Stecker an. »Kein Strom. Er ist abgestellt worden.« »Pech gehabt, mein Lieber. Schau, er hat was zu schreiben angefangen.« »Zeig!« sagte Lewis und war mit einem Sprung wieder auf den Füßen. Er blickte aufmerksam auf das Stück Karton, auf das die Hand des Roboters geschrieben oder vielmehr folgende Buchstaben ungeschickt gezeichnet hatte: NGERLACA. »Das heißt nichts«, sagte Bertie. »Entsinne dich doch, ich habe ihm den Karton erst unter die Feder gehoben, als er schon begonnen hatte, in die Luft zu schreiben, und ich 148
wette, die beiden fehlenden Buchstaben heißen D und A.« »D und A? Aber natürlich. Danger (Gefahr)! Aber der Rest? LACA? Verstehst du, was das heißen soll?« »Man hat den Strom unterbrochen, bevor er zu Ende war, also muß man den Rest erraten . . . Ich hab's! La cave . . .! La cave (der Keller)!« »Welcher Keller?« »Weiß ich nicht, aber das werden wir gleich feststellen«, sagte Lewis und löschte seine Lampe. Dann zog er seinen Regenmantel wieder an und schlüpfte aus dem Fenster. Bertie folgte ihm. In etwa dreißig Meter Entfernung befand sich das Haus, es war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. »Lewis, die Sache gefällt mir gar nicht«, erklärte Bertie leise. »Derjenige, welcher den Strom abgestellt hat, erwartet uns bestimmt mit einer Büchse oder Flinte. Komm, machen wir lieber, daß wir fortkommen!« »Vielleicht ist auch bloß eine Sicherung durchgebrannt, weil wir dem Roboter zuviel zugemutet haben . . .« Und ohne abzuwarten, ob Bertie ihm folge, lief Lewis bis zu einem Baum, der fast die Hausecke berührte. »Geh du nach dieser Seite ums Haus rum!« sagte Lewis, als Bertie ihm nachgekommen war. »Schau, ob du eine Tür oder ein Fenster findest, die leicht zu offnen sind! Ich gehe andersrum.« »Und wenn . . .?« »Pfeif, wenn du jemand siehst, und schrei, wenn du gepackt wirst! Los!« Bertie sah, wie Lewis der Mauer entlang auf die Vorderseite des Hauses zulief, und setzte sich widerwillig in entgegengesetzter Richtung in Marsch. »Überall sind Fensterläden aus Metall«, sagte Lewis, als sie sich wieder trafen. »Es gibt wohl eine Tür unter der Treppe, aber sie ist auch aus Metall und abgeschlossen. Hast du irgendwas gefunden?« »Eine Küchentür mit einem Oberlicht, das man einschlagen könnte. Aber das beste scheint mir immer noch ein schmales Fenster im ersten Stock zu sein, das offensteht.« »Muß man fliegen können, um hinaufzugelangen, oder genügt ein Sprung?« »Weniger als sechzig Zentimeter vom Fenster weg läuft die Dachrinne... aber ich weiß nicht, ob sie dich tragen wird.« »Und wenn nicht?« »Fang ich dich auf und trag dich zum Boot«, flüsterte Bertie und lachte. »Es ist vielleicht ein Flurfenster«, sagte Lewis einen Augenblick später, als er das Fenster betrachtete, das keinen halben Meter breit, aber leicht von der Dachrinne aus zu erreichen war. »Schön, versuchen wir's!« Er kletterte ohne Schwierigkeit an der Dachrinne hoch, und Bertie sah, 149
bevor er ihm folgte, wie er einen Klimmzug machte, seinen Fuß aufs Fenstersims setzte und dann im Fenster verschwand. »Es ist ein Badezimmer«, erklärte ihm Lewis, als er im Hausinnern zu Boden gesprungen war. »Es hat zwei Türen, die wahrscheinlich in zwei verschiedene Zimmer führen. Verhalt dich ja still!« Er drehte den Knauf der nächstgelegenen Tür mit großer Vorsicht, hörte jedoch nur das Ticken eines Weckers. Er öffnete die Tür ein wenig weiter und konnte ein Bett erkennen. Er horchte noch einmal, dann schaltete er seine Lampe an. Das Zimmer war leer und das Bett unbenutzt. »Ich glaube bald, daß gar niemand im Hause ist«, sagte er, als er wieder in das Bad eintrat. »Schauen wir, wohin die andere Tür führt!« Sie durchschritten eine kleine Garderobe und gelangten auf einen Treppenabsatz. »Schön, gehen wir hinunter!« erklärte Lewis. Er setzte den Fuß auf die erste Stufe und blieb plötzlich stehen. Ein schweres Stöhnen, das wie ein Gurgelgeräusch klang, kam von oben. »Ein Diener, der einen Alptraum hat!« flüsterte Lewis, ohne das Geländer loszulassen, aber er spürte, wie sich ihm die Haare sträubten, als das schwere Stöhnen jetzt jäh in einen schrillen Schrei überging. »Zum Teufel mit dem Keller!« sagte Bertie, kehrte um und stürzte in die obere Etage. Gefolgt von Lewis, ging er auf die Tür zu, unter der ein schwacher Lichtschein durchdrang . . . Er öffnete sie mit einem Stoß, und sie befanden sich in einem weißgestrichenen Zimmer, in dem nichts als ein schmales Krankenhausbett stand, auf dem Penny lag und den Kopf hin und her wälzte. »Penny!« schrie Lewis und stürzte auf sie zu. »Penny, haben Sie Schmerzen? Antworten Sie mir!« »Wenn du meine Ansicht hören willst, alter Junge, diese Dame hier deliriert«, sagte Bertie und stellte sich auf die andere Seite des Bettes. »Wahrscheinlich hat man ihr irgendeine infernalische Droge eingegeben! Such ihre Kleider! Wir müssen sie sofort von hier wegbringen!« »Und wenn sie sehr krank ist? Nur langsam, mein Lieber! Laß uns in Ruhe nachdenken!« »Such ihre Kleider, sag ich dir! Oder nein, wickeln wir sie gleich in diese Decken. Verflucht, sie ist an das Bett gefesselt. Ich weiß nicht, welche Manöver dieser alte Schurke in Gang gesetzt hat, aber das soll ihm teuer zu stehen kommen!« knurrte Lewis mit zusammengebissenen Zähnen und versuchte, die Riemen zu lösen. »Penny, hören Sie mich, Liebes? Penny, sehen Sie mich an!« Die Augen des jungen Mädchens öffneten sich, und sie seufzte gequält. Das Licht in dem Zimmer wurde immer schwächer, und sie sagte 150
stöhnend: »Die Dame kommt . . .! die Dame . . . Lewis! Verstecken Sie mich! Sie schaut mich die ganze Zeit an!« »Machen Sie sich nichts draus, Penny! Sie bleiben hier nicht mehr lange.« »Die Dame in Weiß! Lewis, schauen Sie . . . Achtung . . . sie . . . sie kommt, sobald das Licht ausgeht«, sagte Penny schluchzend, während Bertie den letzten Riemen um ihre Knöchel zerschnitt. »Haben Sie keine Angst, Penny! Wir sind bei Ihnen. Alles wird jetzt gut.« »Lewis! Da . . . bei der Tür . . . wenn das Licht draußen brennt, steht sie davor . . . und im nächsten Moment schaut sie herein. Es ist . . . es ist entsetzlich . . .!« und mit einem heftigen Aufschluchzen vergrub sie ihr Gesicht an Lewis' Schulter. Das Licht ging ganz aus, und ein oder zwei Sekunden befanden sie sich in völliger Finsternis. Dann begann ein anderes Licht hinter einer Tür zu leuchten, die sich genau gegenüber dem Bett befand, und ein Fensterchen, ähnlich der Öffnung in einer Gefängnistür, ging langsam auf. Instinktiv verdeckte Lewis Pennys Gesicht mit der Hand, und Bertie stieß einen Schrei aus, als der Schleier einer Krankenschwester erschien, der hinter dem Guckfenster hochstieg. Durch den Schleier hindurch sahen sie den Schädel, ohne Nase und fast ohne Fleisch, um den ein paar schwarze Locken hingen. Das rechte Auge des Ungeheuers, ein Auge ohne Lid, aus dem Blut tropfte, sah sie starr an, und Lewis fühlte, wie ihm das Blut in den Adern stockte, als eine haarige Spinne aus der blutenden Augenhöhle des linken Auges hervorkroch. Die Spinne schien sie anzusehen, dann krabbelte sie über die Kieferknochen auf den Hals und verschwand im Nacken. Penny schrie auf, als hinter dem Bett ein Knall ertönte. Im Lärm von splitterndem Glas zerbarst der Kopf und zerfiel in tausend Stücke. »Tut mir schrecklich leid . . . aber ich hab mich einfach nicht mehr halten können«, sagte Bertie. Die Pistole, die er in der Hand hielt, rauchte noch . . . »Und jetzt wird mir, glaube ich, schlecht.« »Du hast nur einen Roboter abgeschossen, Bertie!« beruhigte ihn Lewis. Er ging zu der Tür und öffnete sie mit einem Ruck. Dahinter befand sich ein Schrank, in dem der zerstörte Mechanismus des Ungeheuers zu erkennen war, und die Schiene, auf welcher dieses entlangglitt, sobald sich das Fensterchen öffnete und das Licht über ihm immer stärker wurde. »Und jetzt schaun wir zu, daß wir hier rauskommen! Wir werden uns zweifellos zum Ausgang durchkämpfen müssen. So, nimm die Lampe, ich werde Penny tragen!« »Warte, ein neuer Roboter kommt die Treppe herauf.« 151
»Soll er nur kommen!« sagte Lewis. Er wickelte Penny schnell in die Decke, die auf dem Bett lag, nahm sie auf die Arme und stellte sich hinter die offene Tür . . . »Geh auf die andere Seite, Bertie, aber schieß nicht, wenn du nicht unbedingt mußt!« »Es ist ein Mann in Weiß!« flüsterte Bertie, der einen Blick übers Geländer geworfen hatte. Die Schritte näherten sich rasch, und der Graf von Saint-Germain erschien in der Tür, murmelte ein ersticktes »Verflucht!« und betrat das Zimmer. Aber Bertie schlug ihn auf den ersten Hieb mit dem Revolverlauf nieder. »Schade, daß ich ihn nicht totgeschlagen habe! Das war kein Roboter«, sagte Bertie, über den Körper gebeugt, der ausgestreckt am Boden lag. »Los, stoß ihn unters Bett, machen wir, daß wir schnell fortkommen. Versuch die Tür abzuschließen, und geh voraus! Es sind sicher noch mehr Leute im Haus.« Sie gelangten ohne Zwischenfall ins Erdgeschoß. Die Haustüren waren alle verschlossen, aber sie kümmerten sich nicht darum, sondern öffneten eines der Fenster im Salon, durch welches sie leicht hinausgelangen konnten. »Ich glaube, wir sehen jetzt am besten zu, daß wir so schnell wie möglich zum Boot kommen«, sagte Bertie, als sie an der Hecke hinter der Werkstatt des Grafen angelangt waren. »Nein, Bertie, ich habe eine bessere Idee. Geh du allein und mach soviel Lärm, wie du kannst, aber sei vorsichtig, daß du nicht gefaßt wirst! Fahr mit dem Boot über den See, nimm den Wagen, komm um den See herum und hol uns hier vor dem Tor ab!« »Wie willst du denn über das Gitter kommen, du Schlaukopf?« »Das ist nicht schwer. Schau doch, das Gitter des Nachbarhauses steht weit offen! Ich warte dort, bis du kommst.« »Gut. Aber . . . behalte du den Revolver, man kann nie wissen«, sagte Bertie, als er eine Tür sich öffnen und Schritte hinter dem Haus hörte. »Bis gleich!« Lewis stieg über die Hecke mit Penny auf dem Arm, Bertie rannte über den Rasen. Kaum war er verschwunden, als eine weiße Gestalt, die eine Lampe in der Hand hielt, ihm vom Haus her folgte. Lewis mußte acht Stockwerke hoch steigen, um zu Amélies Kammer zu kommen (diesmal war sie vor seiner Rückkehr zu Bett gegangen), und er mußte sehr lange klopfen, bis sie ihm endlich öffnete. Sie hielt den Regenschirm wie einen Knüppel in der Hand und schaute ihren Herrn mit äußerster Verwunderung an. »Amélie, bitte, könnten Sie gleich in die Wohnung herunterkommen? In meinem Bett liegt ein Kranker. Bertie . . . ich meine, einer meiner Freunde ist fortgegangen, einen Arzt zu rufen, und wir werden Ihre Hilfe 152
dringend brauchen.« »Wenn Monsieur betrunken sind, bitte ich sofort um meine Entlassung.« »Nein, Amélie, ich hab nicht getrunken, aber in meinem Bett liegt ein sehr krankes junges Mädchen . . .« »Monsieur! Wie können Monsieur es wagen . . .?« »Nein, Amélie, nein! Ein sehr anständiges junges Mädchen, und wenn Sie nicht kommen, hat sie niemanden, der sie pflegen kann.« »Ich komme, Monsieur. Ich komme sofort, aber ich warne Sie – wenn es eine leichtlebige Frau ist . . .« Der Arzt traf sehr schnell ein und wurde zu Penny geführt. In dem Zimmer hatte Amélie bereits die Leitung der Operationen übernommen, wie ein General inmitten der Schlacht. Bertie und Lewis warteten draußen. Der Arzt kam endlich heraus und sagte zu Amélie gewandt: »Sehr viel sehr starken schwarzen Kaffee, dann wird sie bis gegen Mittag wieder auf den Beinen sein.« »Und ist sie dann wieder ganz hergestellt?« fragte Bertie. »Ja, aber was ist ihr denn eigentlich passiert? Sie steht unter dem Einfluß einer starken Droge.« »Wir wissen es selber noch nicht«, erklärte Bertie und begleitete den Arzt bis zum Lift. Am späten Vormittag richtete Amélie Lewis aus, daß »Mademoiselle« ihn zu sprechen wünsche, daß er das arme junge Mädchen aber nicht ermüden dürfe. Sie fügte hinzu, sie werde der Unterhaltung nicht zuhören, aber sie werde das Zimmer nicht verlassen, solange Monsieur darin wären. Nachgiebig willigte Lewis ein. »O Lewis!« sagte Penny, noch ganz blaß, aber sehr hübsch in einem von Amelies mysteriösen Nachthemden. Es war an den Handgelenken und am Hals fest zugezogen; vermutlich auch um die Knöchel, dachte Lewis. »Was ist bloß mit mir geschehen? Wie bin ich denn aus diesem . . . diesem . . . herausgekommen?« »Das ist jetzt alles vorbei, denken Sie nicht mehr daran!« beruhigte sie Lewis. »Wie lange war ich . . . Haben Sie meine Eltern benachrichtigt?« »Ja, ich habe Ihren Vater angerufen und habe ihm eine entsetzliche Geschichte erzählt. Ich hab ihm gesagt, Sie seien bei Freunden auf einer Jacht auf der Seine gewesen und hätten ein Gläschen getrunken und die hätten Sie auf eine kleine Kreuzfahrt bis nach Le Havre mitgenommen.« »Aber Lewis . . . ich kenne doch niemand . . .« »Das weiß ich, aber ich kenne jemanden, der eine Jacht hat. Einer meiner Vettern und seine Frau. Sie haben vorgestern abend Paris verlassen. Es ist mir gelungen, sie telefonisch zu erreichen, und ich habe ihnen auseinandergesetzt, daß Sie mit ihnen gefahren sind . . . und daß Sie auf der Brücke ausgeglitten und in ein ziemlich schmutziges Dock 153
gefallen sind. Sie haben ihren Chauffeur nach Kleidern für Sie geschickt... Er wird jeden Augenblick hier sein.« »Lewis, Sie sind einfach großartig.« »Ich habe Ihrem Vater gesagt, daß Sie heute oder morgen zurück sein werden; wenn Sie sich aber noch nicht völlig wohl fühlen, wird Amélie begeistert sein, Sie weiterhin zu pflegen. (Obwohl Amélie natürlich kein einziges Wort verstanden hatte, nickte sie mit dem Kopf.) Und jetzt, Penny, sagen Sie mir, was eigentlich vorgegangen ist!« »Das weiß ich nicht genau. Vorgestern . . . oder gestern? Ja, es muß gestern gewesen sein ...« »Es war vorgestern, Penny, aber das ist nicht so wichtig. Sagen Sie mir nur alles, woran Sie sich erinnern!« »Also. Ich hatte ein bißchen Musik aufgenommen, wie gewöhnlich, und der Graf ließ mir hinterher Kuchen und Wein bringen und . . . als ich aufwachte, war ich an das Bett gefesselt und fühlte mich ganz krank. Er kam herein und sagte mir allerlei Dinge, die ich nicht genau gehört habe. Ein wenig später sagte er mir, ich würde nun bald ein Roboter werden, aber es brauche einen oder zwei Tage zur Vorbereitung . . . nur bin ich nicht ganz sicher, ob er es wirklich gesagt hat, ich kann es auch geträumt haben.« »Versuchen Sie sich zu erinnern, Penny! An alles, an die Träume und alles andere!« »Nun also, sehen Sie . . . ich muß lange geschlafen haben. Ich hatte auch Alpträume. Eine Krankenschwester war da, und ich träumte immerfort, sie sei eine Leiche, die bloß als Krankenschwester angezogen war.« »Ja, ich weiß. Aber was hat der Graf von Saint-Germain gesagt? Versuchen Sie, sich daran zu erinnern, Penny! Es ist wichtig.« »Einmal bin ich aufgewacht, da lächelte er freundlich und sagte mir, ich würde nun für immer glücklich sein. Auch, daß ich nie mehr Nahrungsoder Kleidersorgen haben würde und daß meine einzige Freude dann wäre, Klavier zu spielen. Aber Sie sehen doch ein, daß das alles Unsinn ist, nicht wahr?« »Es wäre mir wahrhaftig lieber, es wäre Unsinn, aber denken Sie genau nach, Penny! Hat er . . . etwas über Robert gesagt?« »Nein. Er hat, glaube ich, von anderen Robotern gesprochen. Aber wie lange hat er mich denn gefangengehalten?« »Nur zwei Tage. Hören Sie, Penny, ich muß jetzt gehen. Daß Sie auch den ganzen Kaffee trinken! Ja? Der Arzt wird bald wiederkommen.« »Ich will es versuchen, Lewis. Danke . . . für alles, was Sie getan haben.« In dem kleinen Büro, das er als Wohnzimmer benützte, fand Lewis seinen Freund auf dem Diwan zusammengerollt, selig schnarchend. »Komm, altes Haus, wach auf!« Er schüttelte ihn heftig. 154
»W . . . wie spät ist es denn?« murmelte Bertie und richtete sich plötzlich auf, wobei er voller Entsetzen eine Picasso-Reproduktion vor sich an der Wand anstarrte. »Ich will unserm Freund in Enghien einen Besuch abstatten. Hast du Lust, mitzukommen?« »Wie bitte? Lewis, meinst du nicht, daß es besser wäre, zunächst zur Polizei zu gehen und ihnen alles zu sagen? Ich habe diese Art Abenteuer nicht so gerne . . .« »Zieh deine Schuhe an, und komm in die Garage runter!« antwortete Lewis lächelnd und ging hinaus. Vor dem Haus des Grafen von Saint-Germain hatte sich eine kleine Menschenansammlung gebildet. Auch Feuerwehrautos standen davor, und als sie langsam mit dem Wagen vorbeifuhren, sah Lewis, daß von dem Haus nicht mehr viel übriggeblieben war. Sie stellten den Wagen ein wenig vom Haus entfernt ab und gingen zu Fuß zurück, wurden jedoch von einem Polizeibeamten am Gitter aufgehalten. »Da kommt man nicht einfach so hinein«, sagte Bertie und zog Lewis am Ärmel. »Sag mir, was du in diesen Trümmern tun willst, ich tue es für dich.« »Du? Wieso?« »Das ist meine Sache. Was willst du wissen?« »Etwas über den Keller natürlich!« »Schön, bewahre nur ruhig Blut und laß deinen alten Bertie nicht aus den Augen! Wenn noch ein Keller da ist, werde ich in fünf Minuten drin sein. Ich gehe jetzt.« Er ging um die Menschen herum, schritt auf den Polizisten zu, als käme er soeben an, und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Geradeaus, Monsieur!« sagte dieser und berührte seine Mütze. Bertie ging mit einem Lächeln auf dem Gesicht auf die rauchenden Trümmer des Hauses zu. »Jetzt sag mir erst, wie du es fertiggebracht hast, hineinzukommen!« fragte ihn Lewis zehn Minuten später im Wagen. »Ohne alle Schwierigkeit, mein Lieber! Meine Visage, meine Melone, mein Akzent und die magischen Worte: >Inspektor der LloydVersicherung< waren das Sesam-öffne-dich, mit dem man hierzulande bei allen Katastrophen sofort Zugang erhält, bei kleinen wie großen.« »Ach so .. .! Und der Keller?« »Nichts davon übrig . . . außer den verbogenen Resten einer Art Operationstisch, einer Tonne zerbrochenen Glases, Ruß und Asche.« »Und . . . unser Freund?« »Die Feuerwehrleute suchen ihn, aber ich bezweifle sehr, daß sie ihn finden werden. Ich glaube, er hat gemerkt, daß sein Spielchen nun zu Ende ist . . . Du weißt, was ich sagen will, aber ich frage dich nach nichts . 155
. . Als er das kommen sah, hat er einfach Feuer an das Haus gelegt und sich davongemacht.« »Du mußt recht haben, Bertie. Aber etwas ist noch erhalten geblieben, und ich werde es bis heute abend in der Hand haben.« »Lewis, sei doch vernünftig!« »Er hat vergessen, seinen bellenden Hund zu zerstören, in der Hundehütte am Eingang, und den werde ich mir aneignen.« »Aber mein Bester, du kannst doch einen richtigen Hund kriegen, einen lebendigen, für nichts. Die Gesellschaft . . .« »Ich will aber gerade diesen haben.« »Dann hol ihn dir selber! Ich habe genug.« Aber Bertie begleitete seinen Freund wieder, als dieser am gleichen Abend seinen Wagen vor den Trümmern des Hauses stoppte. Kein Mensch stand mehr vor dem Gitter, und es stand weit offen, seit die Feuerwehrleute abgefahren waren. Die Hundehütte war klein, und sie hatten keinerlei Mühe, sie hinten in Berties Wagen zu stellen. Einige Monate später, als Penny und Lewis von ihrer Hochzeitsreise zurückgekommen waren, kam Bertie eines Abends zum Essen zu ihnen und fragte plötzlich: »Und dieser Papphund, Lewis . . . ? Hast du ihn zum Bellen gebracht?« »Nein. Ich hab ihn weggeworfen . . . Noch ein Glas gefällig ?« fragte Lewis und runzelte die Brauen. »Gerne, alter Junge«, sagte Bertie und streckte ihm sein Glas hin. Lewis hatte nicht gelogen; er hatte den Hund weggeworfen. Aber zuvor hatte er ihn vollkommen auseinandergenommen. Und er hatte in seinem Innern die gleiche Art Pumpe gefunden wie in dem Schachspieler, die gleichen, mit einer grünlichen Flüssigkeit gefüllten Röhren. Schmälere Röhren liefen durch zwei kleine Metallschachteln, an die mehr als dreißig elektrische Leitungsdrähte festgemacht waren. Er hatte die Schachteln geöffnet, und in einer von ihnen hatte er eine graue, klebrige und übelriechende Masse gefunden. In der anderen befanden sich Überreste von Fleisch und Knochen, die auf einer Unterlage befestigt waren. Nachdem er die Drähte entfernt hatte, war er mit den beiden Schachteln zu einem befreundeten Arzt gegangen, der den Inhalt untersuchte und ihm lächelnd sagte: »Du glaubtest tatsächlich, es liege ein Verbrechen vor ? Was ich in der einen Schachtel gefunden habe, ist mit aller Sicherheit ein Hundehirn, vielleicht auch das Gehirn eines Schafes, und wenn ich mich nicht schwer täusche, so ist einer der Reste in der anderen ein Stück einer tierischen Kehle. Siehst du, hier sind die Stimmbänder!« »Ich seh's, danke«, hatte Lewis erwidert und plötzlich das dringende Bedürfnis nach einem starken Kognak empfunden.
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Der letzte Überseeflug Für Lady Anne »Sind die Lichter schon gelöscht, Anne?« fragte der Flugkapitän Donald Parkson. Er schaute auf die Uhr und knöpfte seine Uniformjacke zu. »Was wird denn heute befördert? Ein Wohltätigkeitsverein auf einem Europa-Trip?« »Nein«, gab ihm die Hostess lachend zur Antwort und schloß die Tür der Kabine. »Es sind Leute, die von einem Kongreß heimkehren; es ist immer das gleiche: etliche hatten Mühe, ins Flugzeug einzusteigen, und die Hälfte von ihnen schnarcht bereits. Morgen werden sie ihren Frauen erzählen, daß sie einen sehr schlechten Rückflug hatten und nachts kein Auge zutun konnten.« »Ich will trotzdem meine Runde machen. Morgen früh habe ich vielleicht keine Zeit dazu«, sagte Parkson. Er klemmte seine Chefpilotenmütze unter den Arm und ging durch den langen Passagierraum des Flugzeugs New York-London. Er begrüßte seine Fluggäste immer gern, bevor sie es sich für die Nacht bequem gemacht hatten, aber fast stets wurde er durch diese oder jene Beschäftigung davon abgehalten. Er ging durch den schwacherleuchteten Raum bis zum hinteren Ende der Maschine. Die Hälfte der Sitze war leer, und sämtliche Passagiere außer einem hatten ihre kleinen Lampen schon gelöscht. Sie schliefen oder dösten vor sich hin. »Man sieht kein einziges Licht. Wo sind wir denn eigentlich ?« brummte ein kleiner kahlköpfiger Mann. »Wir sind bereits über dem Ozean. Da das Wetter günstig ist, fliegen wir geradewegs auf Europa zu.« »So! Die Fluggesellschaft riskiert also unser Fell, um ein Frühstück zu sparen«, murrte der Gast. »Nein, Ihr Frühstück bekommen Sie auf jeden Fall«, antwortete Parkson lächelnd, ohne herauszubekommen, ob der Mann scherzte oder nicht. »Ich glaube auch, Anne, daß Sie eine sehr ruhige Nacht haben Werden«, erklärte Parkson einige Minuten später, während er seine Uniformjacke auszog und in eine bequeme Weste mit Reißverschluß schlüpfte. »Ja«, sagte die Hostess, die damit beschäftigt war, Tassen auf einem Tablett bereitzustellen. Der Navigator steckte die Nase durch die Tür der winzigen Küche: »Gibt es Kaffee, Herzogin Anne?« »In fünf Minuten, Tom!« Der Kopf verschwand. 157
»Weshalb sagen sie alle Herzogin zu Ihnen, Anne?« »Vielleicht, weil ich bei aller Liebenswürdigkeit zu den Passagieren doch stets Distanz halte. Und Sie, weshalb werden Sie Lucky genannt?« »Weshalb meinen Sie wohl?« »Vermutlich, weil Sie immer Glück haben. Weshalb sollte ich also keine Herzogin sein?« sagte die Hostess und lachte. »Wissen Sie, Don, es ist tatsächlich zu schade, daß dies Ihr letzter Transatlantik-Flug ist.« »Ich finde auch, aber es gibt jemand, der darüber sehr froh ist.« »Peggy? Ja, ich verstehe sie. Ich würde nie einen Piloten heiraten.« »Es würde sich auch kein Pilot herausnehmen, um Ihre Hand anzuhalten, Herzogin Anne«, unterbrach sie der Mechaniker und schüttete den gesamten Inhalt einer Zuckerdose in seine Tasse. »Ist es tatsächlich Ihr letzter Flug, Parkson?« »O ja, Al. Ich habe die Altersgrenze sehr schnell erreicht!« »Wie oft sind Sie über den Ozean geflogen?« »Auf dieser Linie ist es heute genau mein tausend-und-erster Flug.« »Und wie oft waren Sie dem Tode nahe?« »Ob Sie's glauben oder nicht: kein einziges Mal.« »Bei der Zivilluftfahrt vielleicht nicht. Aber im Krieg?« »Da gerade hab ich meinen Spitznamen bekommen. Ich fliege jetzt fünfundzwanzig Jahre. Zuerst bin ich für die Royal Air Force geflogen und dann für zivile Gesellschaften, und zwar in jeden Winkel der Erde. Ich habe nie auch nur den kleinsten Unfall gehabt.« Es ertönte ein längeres Klingelzeichen, und auf Annes Kontrolltisch glühte eine kleine rote Lampe auf. »Nummer 21. Das ist der Alte, der beunruhigt war, weil er keine Lichter sah. Nachdem ich ihm gesagt habe, daß wir über dem Ozean fliegen, ist er sicher ängstlich, weil er plötzlich welche sieht. Gehen Sie hin, und sagen Sie ihm, daß es Schiffe sind! Ich werde das Tablett herumreichen!« sagte Parkson und nahm es von dem Tischchen. Der Mechaniker saß vor seinem Schaltbrett und las einen Kriminalroman. Seine vier Motoren drehten sich seit einer Stunde mit voller Geschwindigkeit, sie dröhnten regelmäßig und stießen bläuliche Kondenswolken in die eisige Dunkelheit. Es gab nichts weiter zu tun, als in knapp zwei Stunden die Reservetanks anzuschließen, zu horchen und von Zeit zu Zeit einen Blick auf die Meßgeräte zu werfen – nur um das Gewissen zu beruhigen; denn seine Ohren zeigten ihm jede kleine Unregelmäßigkeit an, ehe die Nadeln auszuschlagen begannen. Der Navigator in seiner Ecke zog mit einem Blaustift eine Linie über eine Karte, die genau eine zweite Linie deckte, die vorher mit Tinte gezogen worden war. Der Telegraf vor ihm schrieb auf einen Notizblock. »Das Wetter?« fragte Parkson und stellte eine Tasse Kaffee vor ihn. »Nicht schlecht; ein paar Wolkenformationen vor uns, aber nichts 158
Beunruhigendes.« »Danke«, sagte lächelnd Walker, der Kopilot, als er das Tablett sah. »Geht alles in Ordnung?« »Alles in Ordnung, Don«, sagte Walker, während er mit dem Löffel in der Tasse herumrührte und der Steuerknüppel sich sacht zwischen seinen Knien drehte. »Wollen Sie nicht ein bißchen schlafen?« »Heute nacht nicht, John. Es ist mein letzter Flug, ich habe später genug Zeit, mich bei langweiligen Essen mit Geschäftsleuten auszuruhen. Ich werde viel Ruhe haben, wenn ich erst einmal in einem Büro sitze und einer Sekretärin belangloses Zeug diktiere.« »Genau das hat sich meine Frau immer für mich erträumt. Ich soll morgens im steifen Hut und mit dem Regenschirm das Haus zu der Zeit verlassen, daß ich den Achtuhrsechzehnzug gerade noch verpasse.« »Ach, das kenn ich. Wenn Sie einmal soweit sind, bin ich schon bei der vorletzten Etappe angelangt – pensioniert – und mache meinen täglichen Ausflug ins Café um die Ecke. Dann werden sicher unsere Kinder bereits auf der zweimal täglich verkehrenden Linie Mars-Erde und Venus-Erde fliegen.« Er trank seinen Kaffee aus und brachte Anne das Tablett zurück. Dann streckte er sich, kletterte auf seinen Sitz, zog den Sicherheitsgurt über seinen Schultern zu und setzte eine alte Wollkappe auf, bevor er sich die Hörer des Bordtelefons über die Ohren zog. Er prüfte einen der Chronometer nach dem anderen, dann den Kompaß und jedes der über siebzig Meßgeräte, die vor ihm waren. Schließlich machte er es sich bequem. »Sie können schlafen gehen, John, ich rufe Sie, wenn's nötig ist!« »Nein danke, Don. Ich werde hier ein bißchen schlafen, wenn Sie das nicht stört«, sagte Walker und wickelte sich einen Kaschmirschal um die Ohren. Der Chefpilot Donald Parkson, genannt Lucky, ruhte sich während eines Fluges nur selten aus. Er hatte lediglich eine Gewohnheit: er schlief eine Stunde, wenn sie weit von der Erde entfernt und außerhalb vielbeflogener Strecken waren, und dies nur bei gutem Wetter. Stets war er auf dem Posten bei Morgendämmerung, wenn die Mannschaft müde war. Er ließ seinen Kopiloten selten starten oder landen. Nicht, weil er kein Vertrauen in ihn gehabt hätte, im Gegenteil, er wußte, daß Walker genauso zuverlässig war wie er selber – sondern weil er es als seine Pflicht betrachtete, diese Manöver selbst auszuführen. Unglaublich, daß er immer dieses Glück gehabt hatte während der vier Kriegsjahre und der zwanzig übrigen Jahre fast ununterbrochenen Fliegens. Man konnte es nicht einmal Glück nennen, es war eher ein Fehlen jeglichen Pechs. Mit Ausnahme von neun Malen war er nie mit feindlichen Maschinen in Kampf geraten. Und auch bei diesen neun Kämpfen waren die feindlichen Flugzeuge niemals so nahe an ihm 159
gewesen, daß sie ihn hätten anvisieren können. Sein Bruder Bill und er selbst waren unter dem Namen »Gebrüder Lucky« bekannt. Aber Bills Glück war von anderer Art gewesen als seines, zumindest solange es gedauert hatte. An einem Tage war Bill mit einer Maschine zurückgekommen, an der ein Teil fehlte und deren einer Flügel brannte. Nachdem es einige Hecken abgemäht hatte, hatte sich sein Flugzeug in den Schlamm gebohrt, gerade so tief, daß das Feuer erlosch, ohne daß Bill ertrank. Ein anderes Mal war er über der Straße von Dover abgeschossen worden und in das Schleppnetz eines Fischkutters aus Grimsby gefallen, das gerade eingezogen wurde – übrigens hätte der Fischkutter dort eigentlich gar nicht fischen dürfen – und er war schreiend in einem Netz voller Fische aufs Trockene gezogen worden. Sie waren gern zusammen geflogen. Beim Starten und während des Fluges brauchte Donald nur über seine Schulter zu blicken, um zu sehen, wie Bill mit dem Kopf nickte oder ihm zuzwinkerte. Sie verständigten sich durch solche Zeichen, wenn immer eine Verständigung nötig war und wenn sie nicht per Funk miteinander sprachen. Auf mehreren Flügen hatte er Bill gewarnt, daß er verfolgt würde. »Danke, lieber Bruder!« hatte Bill dann jeweils per Funk geantwortet und mit einem Augenzwinkern plötzlich die Richtung der Maschine geändert, um seinem Gegner zu entkommen. Bestimmt hätte keiner von ihnen Peggy geheiratet, wenn das Glück ihnen treu geblieben wäre. Sie waren beide auf einem Ball, als sie sie kennenlernten. Sie flirteten beide mit ihr, aber Peggy hatte sich nie entschließen können zu sagen, welchem sie den Vorzug gab. Sie wußten beide voneinander, daß der andere sehr verliebt war, aber ihre Verehrung für Peggy hatte einen bloßen Flirt nie überstiegen. Lucky Parkson hatte sich oft an den sonnigen Herbstmorgen erinnert, da das Glück Bill verließ und er vom Tode gepackt wurde. Bills Führerstand aus Plexiglas war ganz gelb gefärbt gewesen von der Ölflut, die ihn bedeckt hatte. »Bill, ist was passiert?« hatte er ins Mikrophon geschrien. »Ja. Mit mir ist's aus, mein Lieber«, hatte Bill ganz ruhig geantwortet und mit seinem letzten Augenzwinkern und dem üblichen Kopfnicken zum Sturzflug angesetzt. Seine brennende Maschine war wie ein Pfeil auf einen Wald zugestürzt, der rostrot und golden durch den herbstlichen Morgennebel schimmerte. Donald hatte lange Zeit um die dichte Rauchsäule gekreist, die als schwärzlicher Trichter hochstieg. Schließlich war er nach Westen abgeflogen in Richtung England und hatte wegen Benzinmangels auf einer Felsenklippe an der Küste notlanden müssen. Später, sehr viel später, hatte er Peggy geheiratet. Es wurde eine glückliche Ehe. Sie hatten zwei Kinder, auf die sie sehr stolz waren. Aber 160
es ist nicht sehr angenehm, die Frau eines Piloten zu sein, und er wußte genau, daß Peggy, obwohl sie nie etwas gesagt hatte, ganz froh war, daß er zu fliegen aufhörte. »Möchte noch jemand Kaffee?« fragte Anne. »Nein danke«, sagte Parkson lächelnd. Walker schnarchte leise. Vor der Windschutzscheibe wurde es grau. Es konnte unmöglich schon die Morgendämmerung sein! Tropfen begannen die Scheibe mit feinen Streifen zu bedecken, und Parkson sagte sich, daß sie das Tief schneller als vorausgesehen erreicht hatten. Er prüfte alle Instrumente und schaute dann wieder durch die Scheibe. Da bemerkte er vor ihr etwas Weißes. Eine Wolke? Er setzte die mächtigen Scheibenwischer des Flugzeugs in Gang, denn er hatte es höchst ungern, nicht zu sehen, was sich vor ihm befand, selbst wenn er wußte, daß es gar nichts zu sehen gab – und wieder leuchtete undeutlich etwas Weißes auf. Er rieb sich die Augen, löschte die Kabinenlampe und prüfte genau den Zeigerstand der Meßgeräte. Sie schimmerten in schwachem Blau. Langsam richtete er die Augen dorthin, wo die Scheibenwischer das Glas am besten freihielten. Klar, es war etwas Weißes vor dem Flugzeug. Schon hatte er den Fuß auf die Pedale gesetzt und wollte Walker an der Schulter rütteln. Aber es konnte nichts anderes als bloß eine Wolke sein! Er beugte sich vor, um sein Fernglas zu nehmen, und versuchte, noch deutlicher zu sehen. Er glaubte einen großen Vogel zu erkennen, dessen Flügel sich regelmäßig hoben und senkten, als flöge er mit der gleichen Geschwindigkeit wie das Flugzeug vor diesem her, in gleicher Höhe und in derselben Richtung. Donald wußte, daß es lächerlich war, tat es aber trotzdem: während er das Fernglas wieder verstaute, langte seine linke Hand nach dem Schalter des Flugscheinwerfers. Er würde Millionen von Diamanten auf sich zufliegen sehen, funkelnde Wassertropfen, .und er zögerte, denn er wußte genau, daß seine geblendeten Augen nachher nur mit Mühe in der Dunkelheit sehen könnten. Er beugte sich vor, hielt den Schalter zwischen Daumen und Zeigefinger, wartete noch einige Sekunden und schaltete dann erst ein. Mitten zwischen den Millionen Tropfen sah er genau vor dem Flugzeug einen großen weißen Vogel. Das war unmöglich, völlig unmöglich! Er war zwar kein Ornithologe – aber selbst wenn es einen Vogel gab, der den Atlantik in solcher Höhe überfliegen konnte, so doch nie und nimmer mit solcher Geschwindigkeit! Das Flugzeug hätte ihn mit aller Sicherheit getötet oder überholt, bevor er Zeit gehabt hätte, es auch nur herankommen zu hören. Er schaute immer noch. Es war kein Zweifel möglich. Ein weißer Vogel flog mit starken Flügelschlägen vor dem Flugzeug her. »Walker!« Er drückte auf den Knopf, der die automatische Steuerung 161
einschaltete. »Was ist los?« fragte Walker, der sich rasch aufrichtete, seine Kopfhörer zurechtschob und versuchte, Parksons Blick zu folgen. »Der Vogel! Sehen Sie doch!« »Wo? Um Gottes willen!« rief Walker in einem Atemzug, als er den Vogel plötzlich senkrecht nach unten fliegen sah, während Parkson, steif wie eine Statue, den Steuerknüppel langsam aber sicher nach vorn zog, um dem Vogel in seinem Sturzflug zu folgen. »He!«schrie Walker. Er ergriff das Steuer und riß es kräftig hoch. »Don, sind Sie verrückt?« Die Maschine schlingerte stark, und gleichzeitig erlitt der Schwanz einen heftigen Stoß, so heftig, daß es ihn abzureißen schien. Parkson fing jetzt mit großer Ruhe das Schwanken auf, das die Maschine nach Steuerbord abtrieb; er saß in seinem Sessel zurückgelehnt. Hinter ihnen waren Gegenstände zerbrochen. Der Mechaniker überwachte, beide Hände auf den Tisch gestützt, an seinem Schaltbrett mit ängstlichem Blick seine vier Lieblinge, die Motoren, die sich prächtig hielten. »Soll ich auf Empfang gehen, Kapitän?« fragte der Funker, während er sich mühsam aufrichtete. »Ja, aber keinen Ruf, bevor ich das Zeichen gebe!« »Jawohl, Kapitän.« »Walker, er fliegt. Schauen Sie nach, was passiert ist! Irgendwas ist an den Schwanz angestoßen. Sagen Sie Anne, sie soll sich auf eine Notwasserung vorbereiten!« Er drückte auf den Knopf für die Leuchtschrift: »Löschen Sie Ihre Zigaretten aus. Legen Sie Ihre Sicherheitsgurte an.« »Kapitän?« »Ja?« fragte Parkson in sein Mikrophon hinein. »Ich bin in Funkverbindung mit dem Frachtflugzeug X-eins-eins-drei, das westlich fliegt. Sie sagen, daß sie ein Linienflugzeug berührt haben, welches soeben einen frontalen Zusammenstoß durch Sturzflug vermieden habe.« »Haben sie Schäden?« »Sie glauben nicht. Sie stellen uns die gleiche Frage.« »Geben Sie ihnen die gleiche Antwort, aber bitten Sie sie, einen oder zwei Kreise mit verminderter Geschwindigkeit zu fliegen! Ich werde dasselbe tun. Geben Sie ihnen unsere Höhe, 6000 m, und vergewissern Sie sich, daß sie mindestens 180 m über oder unter uns fliegen! Wir sind mit knapper Not davongekommen, und es wäre töricht, sich noch einmal in Gefahr zu begeben.« Eine Minute später konnte Lucky Parkson die Lichter des Frachtflugzeugs sehen. 162
»Wenigstens sind wir nicht ganz allein, wenn wir in den Teich runtermüssen«, sagte er zu Walker und deutete mit dem Finger nach unten. »Keine sichtbare Havarie, Don. Anne hat die Lage gut in der Hand. Die Leute haben sich beruhigt.« »Sehr gut. Haben wir Verwundete?« »Nur Anne. Sie hat einen leichten Schnitt auf der Nase.« »Chef!« rief Parkson in sein Mikrophon hinein. »Ist alles in Ordnung?« »Alles in Ordnung, Kapitän.« »Tom! Wo sind wir?« fragte er den Navigator. »Siebenhundert Meilen westlich Shannon.« »Ist unser Gegner O. K.?« rief er dem Funker zu. »Jawohl.« »Schön! Sagen Sie ihm, daß wir unsere Richtung jetzt wiederaufnehmen, wenn er einverstanden ist! Dann melden Sie den Vorfall nach Shannon, und sagen Sie, man solle sich dort auf eine Notlandung gefaßt machen – etwa in eindreiviertel Stunden, wenn alles gut geht!« Alles, was die Passagiere aus Anne herausbekamen, war, daß sie ein besonders schlimmes Luftloch hinter sich hätten, das nur kleinere Schäden verursacht habe. Nein, nein, sie hätten keinen Berggipfel gestreift. Ja, sie hätten einen unerwarteten Sturzflug gemacht. Ja, sie flögen jetzt geradewegs auf London zu. Leider hätten sie tatsächlich ein wenig Verspätung. Nein, nicht mehr als eine Stunde. Jawohl, das Frühstück würde gleich serviert werden. Statt gleich nach den üblichen Formalitäten auseinanderzugehen, führte die Besatzung Lucky Parkson in ein Büro der Fluggesellschaft, wo etwa zwanzig Personen bei mehreren Flaschen Champagner versammelt waren. Sie wollten seinen letzten Flug als Chefpilot feiern und – wenigstens diejenigen, die Bescheid wußten – ihm noch einmal zu seinem Glück gratulieren. »Nun sagen Sie mir, Don«, bat ihn der junge Walker, indem er sich eine Zigarette anzündete, »was hat Sie veranlaßt, genau zur rechten Zeit diesen Sturzflug zu machen ? Eine Sekunde vorher hatten Sie mich geweckt, ich glaubte einen Vogel zu sehen, und dann . . . dann hatten wir ja anderes zu tun.« »Hm . . . ich glaubte auch einen Vogel zu sehen.« »Gehn Sie doch! Schwindeln Sie jetzt nicht! Erfinden Sie was anderes!« »Dann hab ich eben wieder mal nichts als Glück gehabt«, sagte Parkson und lächelte etwas verlegen. Drei Stunden später hupte Parkson in seinem kleinen Sportwagen auf der Straße, die dem Meeresufer entlang führt. Er sah seinen Sohn und sein Töchterchen aus dem Haus kommen, um ihm das Tor zu öffnen und wieder zu schließen, sobald er den Wagen in der kleinen Garage neben der Küche abgestellt haben würde. 163
Erst nach dem Tee, als die Kinder mit ihren Kameraden weggegangen waren, setzte er sich in seinen Lieblingssessel, zündete seine Pfeife an, warf einen Blick auf das sonnenüberflutete Meer, dessen Wellen weiße Schaumkronen trugen, und sagte zwischen zwei Zügen an der Pfeife: »Weißt du, Peggy, letzte Nacht wäre es fast so weit gewesen, es fehlte gar nicht viel.« »O Don! Was ist passiert? Ich dachte, du wärest heute morgen durch das schlechte Wetter zurückgehalten worden. So sagte man mir am Telefon.« »Ich weiß schon. Tatsächlich hatten wir einen Zusammenstoß mit einem Frachtflugzeug, und mein Steuer war etwas beschädigt.« »Nein!« »Doch. Und wenn ich nicht einen Sturzflug gemacht hätte, wäre es ein Frontalzusammenstoß geworden. Aber . . . woher kommt denn der Vogel dort?« »Merkwürdig. Ich habe ihn seit zwei Tagen nicht gesehen. Seit einer Woche kommt er jeden Abend her, und die Kinder geben ihm zu fressen. Oberst Brandham meinte, es sei ein Albatros.« »Ein Albatros ?« »Ja, die Kinder nennen ihn Bill. Oh! Das ist dir doch nicht etwa unangenehm, Liebster? Ich hätte es ihnen vielleicht verbieten sollen.« »Sei nicht töricht, Peggy! Es ist mir natürlich völlig gleich.« Er erhob sich von seinem Sessel und ging langsam auf den großen weißen Vogel zu, der ihm mit dem Kopf ein Zeichen machte, einmal kurz mit seinem lebhaften gelben Auge zwinkerte und dann mit mächtigen Flügelschlägen davonflog.
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