Die fliegende Insel von Manly Wade Wellman (ISLAND IN THE SKY) Aus dem Amerikanischen übertragen von Arnold G. Ludwig 1...
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Die fliegende Insel von Manly Wade Wellman (ISLAND IN THE SKY) Aus dem Amerikanischen übertragen von Arnold G. Ludwig 1. Kapitel Es war Abend. Die abgearbeiteten graugekleideten Häftlinge in der Grube wußten es, denn der Aufseher rief: „Werkzeuge niederlegen! Zum Essenempfang weggetreten!“ Wie alte Soldaten formierten sie sich in Reih und Glied. Alle waren sie Mörder und Totschläger, bleich, doch kräftig von der Schwerarbeit an den Maschinen in diesem Atomzertrümmerungswerk. Hinter ihnen brummte und dröhnte unter dunkelgelbem Licht die lange Reihe der Kraftmaschinen. Vor ihnen marschierten die Männer der Nachtschicht ein. Die Luft war schwer und stickig, wie es fünfzehn Kilometer unter der Erde nicht anders sein konnte – auf der tiefsten Sohle der New Yorker Gefängnisse. Die abgelöste Schicht marschierte in einen dunklen Gang ein, der sofort vom Glühen erleuchtet war, das von ihren Händen und Gesichtern ausging. Wenige Jahre Aufenthalt in dieser Anlage ließen eine gespenstisch aussehende, in Wirklichkeit harmlose Strahlung in ihrem Körper entstehen. Dahinter lag die Kantinenhalle, wo Fleisch und Kaffee warteten, die mit Vitaminkonzentraten angereichert waren, wie es für Menschen erforderlich war, die fünfzehn Kilometer vom 3
Sonnenlicht entfernt lebten und arbeiteten. Hinter der Halle erstreckten sich die langen Reihen der Zellen, alle mit Hängematten und vergitterten Türen, aus denen der Geruch eines Insektenvertilgungsmittels drang. Am Eingang der Halle stand ein stämmiger Wachtposten mit Feldwebelstreifen. „Ich suche den Häftling Peyton!“ verkündete er. „Nummer 688-549 J!“ Die Kolonne hielt an. Eine andere Wache holte einen Mann heraus. „Treten Sie heraus, Häftling Peyton! Die anderen vorwärts marsch!“ Sie setzten sich in Richtung auf die Kantine in Marsch und ließen den Feldwebel mit seinem Sträfling allein. Pierce Peyton, alias Blackie, Häftling Nr. 688-549 J, war mittelgroß und kräftig gewachsen. Er trug einen dunklen, buschigen Bart, der einen großen Teil seines vom Gefängnisaufenthalt gebleichten Gesichtes bedeckte. Seine Augen waren bitter und lagen in scharf gezeichneten Höhlen; die Augen eines Kämpfers. In seiner aufs Schlimmste gefaßten Seele erwartete er nur Tadel und Strafe. „Der Vorsteher will Sie oben sehen“, kündete der Wachtmeister an. Er führte ihn zu einer Stahltür am Ende des Korridors, auf der stand: „Dekompressionskammer“. Sie traten in einen Metallkasten. Der Wachtmeister drehte ein Handrad, das die Luft langsam entweichen ließ. „Wir werden dreißig Minuten lang den Druck verringern“, sagte er. „Wollen Sie dort in der Ecke duschen?“ Peyton sah zu der Brausekabine hinüber, und seine Augen glühten. Was ihm auch widerfahren mochte – er würde den Luxus genießen, wieder sauber zu sein. Wohlweislich sah er davon ab, seinen Führer auszufragen. Er zog seinen unförmigen, grauen Arbeitsanzug aus, seifte sich ein und spülte den Schmutz ab. 4
Ausgezogen sah er weiß wie ein Fischbauch aus, doch die Arbeit an den Atomspaltungsmaschinen hatte seine Muskeln kräftig entwickelt. Sie verließen die Kammer, stiegen in einen Aufzug, dann wieder in eine höher gelegene Dekompressionskammer, eine dritte und eine vierte. Hier stand ein Stuhl und ein Mann in weißem Kittel. „Rasieren, Peyton!“ befahl der Wachtmeister. Der Mann gehorchte, und Peyton – noch immer mißtrauisch – versuchte, nicht zu zeigen, wie sehr er sich darüber freute. Sein Gesicht zeigte danach eingefallene Wangen und einen harten Mund mit verächtlich aufeinandergepreßten Lippen. Als er in die Anlage gekommen war, war er jung gewesen. Wann war das gewesen? Vor zwanzig Jahren? Es schien ihm eine Ewigkeit her zu sein. Sie fuhren weiter aufwärts, passierten auch im fünften, sechsten und siebten Stock Dekompressionskammern. Ein Mann, der an die komprimierte Grubenluft gewöhnt war, brauchte Zeit, um sich auf den normalen Luftdruck umzustellen. In der neunten Kammer wartete wieder ein Mann mit Stapeln von Hemden, Socken und billigen Anzügen. Bald hatte Peyton, der weder besonders mager noch besonders breit war, etwas Passendes gefunden. Der Wachtmeister händigte ihm eine Krawatte aus, die Peyton sogleich wiedererkannte. „Die habe ich an dem Tag getragen, an dem ich hier hereinkam“, sagte er. „Wo sind meine anderen Sachen?“ „Die Mode hat gewechselt“, erinnerte ihn der Wachtmeister. „Wir haben 1980, und Sie waren zwanzig Jahre im Knast.“ So waren es also wirklich nur zwanzig Jahre gewesen. Peyton stellte sich vor einen Spiegel, um sich den Knoten zu binden. Er betrachtete das eckige, weiße Gesicht, in dem er den jungen Mann, der er früher gewesen war, nicht mehr wiedererkannte. 5
„Stehen Sie nicht da und himmeln sich an!“ bellte der Wachtmeister. „Der Chef wartet auf Sie. Wir haben schon fast die ganze Nacht in diesen Kammern totgeschlagen.“ Sie passierten noch mehrere Lifts und Druckkammern, bis sie endlich das Direktionsbüro erreichten. Es war ein geschäftsmäßig aussehender Raum, in dem ein plumpgebauter blonder Mann hinter einem schweren Schreibtisch saß. Er sah von einem großen, rotgesiegelten Schriftstück auf. „Pierce Peyton“, begrüßte er den Häftling, „alias Blackie Peyton, unser dritt- oder viertunverbesserlicher Insasse.“ Peyton verhielt sich schweigend. Die meisten Wachen bezeichneten ihn als schlimmsten Häftling. „Sie sind als sechzehnjähriger Junge wegen Mordes verurteilt zu uns gekommen“, fuhr der Leiter der Anstalt fort. Wieder entgegnete Peyton nichts. Wozu würde es gut sein, hervorzuheben, daß er weder die Waffe berührt noch den Drücker betätigt hatte? Als verrücktes Waisenkind war er mit zwei Verbrechern zusammengekommen, die er für schneidig und unüberwindlich gehalten hatte, und war dann beim Versuch der Beraubung eines Lohnbüros dabeigewesen. Ein Bote leistete Widerstand und wurde erschossen. Seine Gefährten waren geflohen, und ihn, der vor Entsetzen wie festgenagelt stehenblieb, hatte die Polizei gepackt. Wütend darüber, daß er die Schande und Strafe für seine Gefährten tragen mußte, hatte er gegen die Gefängnisordnung rebelliert und somit alle Privilegien eingebüßt. „Sie wurden in das tiefste Stockwerk geschickt, um dort die Atomzertrümmerungsmaschinen betreiben zu helfen, die Kraft für unsere Zivilisation liefern. Nur in dieser großen Tiefe kann die Maschine unter den notwendigen Druckbedingungen funktionieren. Das Gesetz bestimmt, daß rebellische und gefährliche Sträflinge an den Maschinen arbeiten müssen. Sie haben fast ununterbrochen von 1960 bis 1980 Atome zertrümmert.“ 6
„Ich weiß das alles, Direktor. Aber deswegen haben Sie mich doch nicht heraufkommen lassen.“ Ein herbes Lächeln erschien auf dem Gesicht des Vorstehers. „Ich möchte Ihnen einen Gefallen tun.“ Er vertiefte sich in seine Papiere. „Vor drei Wochen ist ein Neuling unter den Wärtern in die Walze einer Maschine in der Grube geraten. Sie hat ihn beim Rand seines Umhanges ergriffen, und er konnte sich nicht mehr losreißen. Er stand dicht davor und wäre hineingezogen und zerschmettert worden. Aber Sie sahen ihn und kamen zu Hilfe. Sie stemmten die Walzenrollen mit den bloßen Händen auseinander – ein Beweis Ihrer beträchtlichen Kraft!“ Peyton lächelte spöttisch. Der Wärter hatte also doch gesprochen! Peyton hatte bei diesem Zwischenfall spontan gehandelt. Die anderen Unverbesserlichen in der Grube hätten ihn halb totgeschlagen dafür, daß er einer der verhaßten Wachen geholfen hatte. Er hatte den Jungen gebeten, darüber zu schweigen. Aber offensichtlich war die Geschichte dennoch herausgekommen. Was würde nun geschehen, wenn er in die Grube zurückkehrte? „Daran habe ich nicht gedacht“, knurrte er. „Die gesamte Anstalt ist Ihnen dankbar, Peyton“, sagte der Direktor. Er händigte ihm ein Schriftstück aus. Es war ein formelles Schreiben, unterzeichnet von der Appellationskammer für Gnadenerlasse, das besagte, daß Pierce Peyton, Nr. 688-549 J, bedingungslos zu entlassen sei. Peyton las es durch und setzte sich in den schweren Armstuhl. „Sie sind frei, Peyton“, erklärte ihm der Direktor. „Sie können wieder in die Welt hinausgehen.“ In die Welt hinaus! Was bedeutete das nach zwanzig Jahren? Peyton furchte die Stirn. „Die Welt muß sich geändert haben“, murmelte er. „Das hat sie auch, Peyton. Sie hat sich sehr geändert, und zwar in jeder Hinsicht.“ Der Direktor streckte seine Hand aus. 7
„Nehmen Sie diese Brille. Sie werden die dunklen Gläser noch brauchen. Und das nehmen Sie auch.“ Er nahm fünf Scheine aus einem Geldfach und steckte sie in Peytons Jackentasche. Peyton sah, noch immer erstaunt, auf. „Was soll ich draußen anfangen? Als ich hierherkam, war ich fast ein Kind. Keine Angehörigen. Kein Geld. Das einzige, was ich kann, ist Atome zertrümmern.“ „Auch darum haben wir uns gekümmert“, beruhigte ihn der Anstaltsleiter und händigte ihm eine Karte aus. „Nehmen Sie die U-Bahn gerade vor dem Tor. In New York stellen Sie sich im Büro der Appellationskammer für Gnadenerlasse vor. Die haben Arbeit für Sie. Alles Gute!“ Er bot ihm seine Hand. Peyton, dessen Gedanken durcheinanderwirbelten, bemerkte es nicht. Fast blind tappte er durch die Tür nach außen. In dem geschlossenen Vorhof blickte eine Wache auf seinen Entlassungsbefehl und öffnete das Tor. Peyton rannte fast hinaus. Die Sonne stieg gerade auf. „Die Sonne!“ schrie er. Er kehrte ihr sein weißes Gesicht zu. Das Licht blendete seine Augen, und er zog eine schmerzliche Grimasse. Es war, als hätte man ihm Säure ins Antlitz gegossen. Eilig setzte er die dunkle Brille auf. Eine tiefe, durchdringende Stimme ertönte, die aus der Nähe zu kommen schien: „Hier Eingang zur U-Bahn! Hier Eingang zur U-Bahn!“ Blackie Peyton schritt zum Büro des Appellationsgerichtes – auf einem jener überdachten Wege, der eine Straße in den Tagen gewesen war, da New York noch aus vielen großen Gebäuden, anstatt wie heute aus einem einzigen riesigen Block bestand. Ein gut aussehendes Mädchen nahm seine Karte in Empfang und verschwand. Peyton beobachtete sie interessiert, denn er hatte seit zwanzig Jahren kein Mädchen mehr gesehen. Er bemühte sich, seine Neugierde zu verbergen. 8
Sie kehrte in Begleitung eines geschniegelten jungen Mannes zurück, der einen kleinen, lustigen Schnurrbart trug. „Ah, Peyton!“ säuselte er und gab dem Besucher eine schlaffe, feuchte Hand. „Man hat uns schon von Ihrem Kommen benachrichtigt. Alles ist vorbereitet. Setzen Sie sich doch.“ Sie nahmen einander gegenüber Platz. „Soviel ich weiß, haben Sie Erfahrung mit Maschinenarbeit.“ Peyton setzte seine dunkle Brille ab und blinzelte in das gedämpfte Licht. „Ja, mit Atomzertrümmerung“, erwiderte er. „Atomzer… – ach, du lieber Himmel!“ Das schien den Beamten zu bekümmern. Er zwirbelte seinen Schnurrbart. „Wie unangenehm.“ „Unangenehm?“ entgegnete Peyton verwirrt. „Wieso denn? Ich war eine gute Arbeitskraft.“ Offensichtlich machte seine Behauptung die Sache noch unangenehmer. „Sehen Sie, Peyton, die Arbeit mit Atomenergie ist – äh – ein Regierungsmonopol. Alle diesbezüglichen Kenntnisse sind gesetzlich von der Öffentlichkeit ausgeschlossen. Verstehen Sie – äh – etwas von der Produktion?“ „In Umrissen, ja. Ich habe die Maschinen bedient, manchmal bei der Aufbereitung der Mineralien geholfen, die in der Grube gefördert werden, und mich bei der Herstellung der Inertongefäße beteiligt.“ „Sprechen Sie nicht weiter, Peyton!“ bat der Beamte jetzt. „Sie waren zu lange in Haft. Ich fürchte, Sie wissen nicht, welche Fragen zu gefährlich sind, um darüber zu sprechen. Was die Arbeit für Sie angeht, so habe ich beschlossen, Sie in die Gruben nördlich von …“ „Gruben? Hören Sie, wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich lieber im Freien leben, denn ich war lange genug unter Tage.“ 9
„Bitte“, sagte der Beamte, „es ist meine Sache, Ihnen die Arbeit zuzuweisen, von der ich glaube, daß Sie dafür geeignet sind.“ „Habe ich denn dabei gar nichts zu sagen?“ „Sie sind unvernünftig, Peyton. Wir wollen Ihnen doch eine Chance geben, sich zu bewähren.“ „Ich habe niemanden um einen Vormund gebeten!“ Peyton stieß seinen Stuhl zurück. „Ich kann selbst für mich sorgen. Lassen Sie einen anderen sich bewähren.“ „Nein!“ Der Beamte erhob sich aufgeregt. „Sie können nicht so einfach gehen.“ „Ich kann nicht?“ „Sie sind ein entlassener Sträfling, ohne Unterstützung“, schnatterte der Angestellte. „Wenn man Sie einfach auf die Gesellschaft losläßt, werden Sie unzweifelhaft wieder auf die schiefe Bahn kommen. Halt, Peyton! Bleiben Sie stehen!“ Als der Beamte die Stimme hob, öffnete sich eine Tür, und ein vierschrötiger Mann in blauer Uniform trat herein. „Arretieren Sie diesen Mann!“ befahl der Beamte. Peyton stieß den Tisch weg, rannte gegen den Uniformierten an und schlug ihn nieder. Auch das hübsche Mädchen war in den Raum zurückgekommen und schrie ängstlich auf. Der Beamte sprang zu einem mit Schaltknöpfen bedeckten Tisch, doch Peyton war vor ihm da. „Setz dich, Liebling!“ befahl er. „So ist’s brav. Wenn du dich rührst, bevor ich draußen bin, liegst du sofort auf dem Boden neben dem Fettkloß, den du auf mich gehetzt hast.“ Der Beamte schien an seinem Stuhl angewachsen zu sein. Mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der er zum Angriff übergegangen war, stürmte Peyton durch die Tür. Bei der Flucht atmete er heftig – alles in ihm war in Aufruhr. War er nicht vom Direktor bedingungslos freigelassen worden? Was sollte das für ein schmutziger Trick sein, mit dem man ihn praktisch zu einer anderen Art Schwerarbeit verurteilen wollte? 10
2. Kapitel Die U-Bahn hatte Peyton vor der Tür des hohen Gebäudes abgesetzt, das den Appellationshof beherbergte. Er hatte sich beeilt, um die versprochene Arbeit zu bekommen, und stand nun in ohnmächtigem Zorn mit schmerzenden Knöcheln davor und sah sich zum ersten Mal die Straße genauer an. Es war eine Passage – viele Meter breit, unzählige Kilometer lang, von glatten Wänden eingeschlossen und fest überdacht, dazu von riesigen Glaskugeln hell erleuchtet. Zu beiden Seiten verlief der mit Menschen überfüllte Bürgersteig. In der Mitte waren vier Fahrbahnen. Die Wagen waren kleiner als die Modelle, an die sich Peyton erinnerte, und tendierten zu einer Olivenform. Dazu waren sie leuchtend hell gespritzt. Zum größten Teil waren es Lieferwagen, die keinerlei Geräusche von sich gaben, die lauter als ein Summen gewesen wären. „So einen möchte ich haben“, seufzte Peyton. Er fuhr zusammen, als plötzlich ein lauter Befehl die Luft erfüllte. „Kaue Cardomint! Kaue Cardomint!“ Das war die Reklame des Jahres 1980. Es waren keine Transparente, Schilder und Neonröhren mehr zu sehen, wie er sie gekannt hatte. Der Appell ging ins Ohr. Peyton ging einen Block weiter und überquerte die Straße auf einer Überführung. Eine andere Stimme warb: „Sie brauchen Aufwecker!“ Dazwischen waren Stimmen näher liegender Geschäfte zu hören: „Trink Limex – du bist ein neuer Mensch! Bei Brumagen ist es noch gemütlicher! Hurry-Rub für das Haar!“ Was nun? überlegte Peyton. Der Zwist auf dem Büro hatte ihm die einzige Anstellungschance geraubt. Er mußte versuchen, nach Rochester zu kommen, wo er gelebt hatte. Vielleicht fand er noch Freunde seines verstorbenen Vaters, die ihm wei11
terhelfen würden. Aber vor allem brauchte er etwas zu essen. Seit gestern hatte er nichts mehr bekommen. Er blieb vor einer bescheidenen Auslage stehen, hinter der ein weißbemützter Mann Pfannkuchen buk. „Iß billig!“ forderte der Lautsprecher über der Tür auf. „Iß billig!“ Peyton trat ein. An einer glänzend schwarzen Theke saßen vier Männer und aßen. Peyton sah keine Speisekarte, doch ein anderer Lautsprecher schwatzte: „Pfannkuchen, Eier, Schinken, Haferflocken!“ „Geben Sie mir von diesen Pfannkuchen“, sagte Peyton zum Barmann. „Dazu Schinken und Eier. Und Kaffee.“ „Es gibt keinen Kaffee“, erklärte der Mann, der sichtlich überrascht war, diese Auskunft geben zu müssen. „Wollen Sie Cafeno? Dixie Blen? Brazillo?“ „Was am meisten wie Kaffee schmeckt.“ Das Essen kam sofort; die Teller rollten auf einem Fließband hinter der Theke an. Peyton aß und trank mit Genuß, nur bei dem Kaffee-Ersatz zog er eine Grimasse. Das Reklamegeschwätz verstummte, und eine kultivierte Stimme verkündete: „Achtung, New York! Hier ist die Fliegende Insel!“ Peyton sah auf. Ein Rechteck hinter der Theke leuchtete auf – Fernsehen, und zwar besser, als es 1960 gewesen war. In leuchtenden Farben erschien das Bild eines Mannes in Khakiuniform und Schirmmütze. „Achtung!“ sagte das Bild wieder. „Eine Botschaft von Marschall Torridge. Sondermeldung!“ Das Gesicht wechselte. Der neue Sprecher war mittelgroß, trug eine elegante, blau-goldene Uniform und wies die feinen Züge und die erhabene, stolze Miene eines Mannes von königlichem Geblüt auf. „Bürger von New York!“ ertönte seine leise, tiefe Stimme. „In meiner Eigenschaft als Marschall der Luftwaffe ernenne ich einen neuen Gouverneur. General D. D. Argyle wird sofort den 12
Oberbefehl über alle Abteilungen und Dienststellen der Luftwaffe übernehmen.“ „Was soll denn das heißen?“ fragte Peyton seinen nächsten Nachbarn, der ihn erstaunt ob seiner Unwissenheit anstarrte. „Und nun werden wir die Macht der Luftwaffe vorführen“, sagte der Uniformierte. Plötzlich war der Bildschirm von schimmernden, dahinrasenden Flugzeugen erfüllt, die schmal und schnittig wie Torpedos und ebenso todbringend aussahen. Sie manövrierten unter einem strahlenden Nachmittagshimmel, der ihnen einen blenden Silberschein verlieh. Das Bild wechselte und zeigte uniformierte Männer, die in Reih und Glied standen und gewehrähnliche Waffen trugen. Dann erklang Musik, und schließlich war wieder Marschall Torridge zu sehen. „Das ist alles, was ich zu sagen habe“, sagte er. „Tut weiter eure Pflicht als Bürger von New York!“ Der Bildschirm erlosch. Peyton, der wenig oder nichts verstanden hatte, zog Geld heraus, um zu zahlen. Er starrte auf die Banknoten, die ihm der Gefängnisdirektor gegeben hatte. Es waren nur Tausenddollarscheine. „Fünf Große!“ wisperte er. Er stammelte zu dem Barmann hin: „Ich habe es nicht kleiner als …“ „Schon gut“, brummte der Mann ungerührt. Er gab einen kleineren grünen Schein zurück, auf dem „Fünfhundert“ stand, und ein gestanztes Metallstück: 100 Dollar. Peyton besah beides verwirrt – schließlich argwöhnisch. „Mehr bekomme ich nicht?“ Der Barmann wies auf die leeren Teller. „Pfannkuchen hundertfünfzig. Eier und Speck zweihundert. Cofeno fünfzig. Tausend weniger vierhundert macht sechshundert.“ Er starrte ihn an. „Was haben Sie für vierhundert Piepen erwartet? Vielleicht das ‚Ritz’?“ „Ich bin eben Ausländer – verstehen Sie?“ erklärte Peyton. 13
„Ich bin nicht auf dem laufenden. Ist das Geld hier so wenig wert?“ Andere Gäste gaben freiwillig Auskunft. Vierhundert Dollar für ein kräftiges Essen war ein sehr vernünftiger Preis, sagten sie. Peyton zuckte die Achseln und steckte das Geld achtlos in die Hosentasche. Er ging hinaus. Ein großes Rechteck parkähnlichen Rasens lag offen zwischen den glatten Wänden und Dachkanten unter einem wolkenlosen Himmel. Bäume und Sträucher standen in Gruppen zusammen. Peyton fand eine Bank in der Nähe eines Zierteiches und setzte sich nieder. Seine Augen hinter den dunklen Gläsern blickten verstört umher. Er war seit sechs Stunden in New York und hatte mehr erlebt, als er fassen konnte. Häuserreihen, Galerien, Arkaden, Passagen, ausgerufene oder – besser – ausgeschriene Reklame, lautlos dahinrasende Fahrzeuge und merkwürdige Menschen, die das alles verstanden, während er nichts verstand. Der Direktor hatte recht gehabt, doch ihm damit in keiner Weise geholfen, als er sagte, alles habe sich verändert. Wer würde ihm weiterhelfen? Peyton schüttelte den Kopf. Jemand setzte sich ans andere. Ende der Bank. Der Neuankömmling war ein hagerer, zerlumpter Mann mit grauem Backenbart und einem zerknitterten, rosigen Gesicht. Seine alten Augen funkelten und leuchteten von Leben und Humor. Peyton betrachtete das Gesicht – es gefiel ihm. Er hatte einen Einfall. „Wollen Sie sich etwas verdienen?“ fragte er. Der alte Mann wandte sich zu ihm. „Was soll ich tun?“ Peyton zog seine Geldscheine heraus und nahm einen Tausender weg. „Nehmen Sie das und erzählen Sie mir alles, was Sie von dem wissen, was in den letzten zwanzig Jahren passiert ist.“ Der Alte rührte sich nicht. 14
„Was wem passiert ist?“ „Allen.“ Peyton steckte ihm den Schein in die Hand. Er überlegte sich eine Erklärung und entschloß sich für die Wahrheit. „Ich habe seit Herbst 1960 im Gefängnis gesessen. Heute wurde ich entlassen.“ „Meine Glückwünsche!“ „Danke! Fangen Sie mit 1960 an. Der dritte Weltkrieg brach gerade aus, als ich festgenommen wurde. Wer hat gesiegt?“ „Niemand“, erwiderte der alte Mann. „Er dauerte über ein Jahr. Flotten wurden versenkt, die Armeen zusammengeschossen. Nur die Luftwaffe überstand alles und bombardierte sämtliche Städte. Nach dem Sommer von 1960 waren nicht mehr viele Menschen übriggeblieben.“ Er schob die Banknote zurück. „Behalten Sie das! Ich habe heute schon gegessen.“ „Also brannte der Krieg von allein aus?“ Der Grauhaarige nickte. „Als die Luftwaffe alles zerbombt hatte, war sie noch allein übriggeblieben, so daß sie Frieden machten. Auf beiden Seiten nahmen sie alles Weitere in die Hand und behielten den Oberbefehl. So ist es heute noch.“ Peyton fielen einzelne Szenen der Fernsehsendung ein. „Wie kann die Luftwaffe alles leiten?“ „Ich werde es kurz machen, Mister … .“ „Blackie Peyton.“ „Ich bin Joe Hooker. Sie nennen mich Gramp (Opa), obwohl ich nie eine Familie hatte. Ja, die Luftwaffenleute waren geblieben und mußten die Welt wieder aufbauen. Alles andere war tot, verbrannt oder verwüstet. New York ist ganz neu erbaut, wie Sie sehen.“ „Ja, es ist ganz anders, als ich es im Gedächtnis habe“, gestand Peyton. „Lassen Sie mich weitererzählen“, unterbrach ihn Hooker. „Ich sagte, daß die Flieger alles in die Hand nahmen und wieder 15
aufbauten. Soviel ich weiß, liegt um die Erde ein Ring von Städten. New York, London, Berlin, Moskau, Tokio, Frisko, Chikago und ein paar andere. Sie wurden von Fliegern gebaut, oder besser, die Flieger veranlaßten die Überlebenden, sie zu bauen. Hier und da liegen im Norden und Süden noch andere große Zentren, aber ich weiß nicht, wie sie heißen. Ich nehme an, daß es aussieht wie hier. New York ist eine große, riesige Masse von Gebäuden, Tunnel und Räumen, die ineinandergeschachtelt sind. Das Ganze ist ein Viertelkilometer hoch und fünf oder sechs im Quadrat. Es gibt Löcher darin, die bis auf den Boden gehen, wie dieser Park, damit wir Licht und Luft bekommen. Aber das meiste sind Geschäfte, Büros, Schlafsäle und so weiter. Außerhalb ist eine Menge von Feldern und Farmen, die von der Stadt betrieben werden, um uns zu ernähren. Fabriken liegen darunter: Frühere Bergwerke, die man jetzt aber kilometertief weitergegraben hat – dicht bei der Stadt.“ „Ich weiß“, sagte Peyton. „Ich war dort unten.“ Wieder war Schweigen. Von der nächstgelegenen hohen Wand kam eine gerade noch vernehmbare Stimme, die einen künstlichen Tabak anpries. „Was ist aus den Transparenten geworden?“ „Heute können nicht mehr viele lesen. Nur noch alte Knochen wie ich. Es ist aus der Mode gekommen. Deshalb werden Bekanntmachungen und Reklame ausgerufen, nicht gedruckt. Daran werden Sie sich aber schon gewöhnen.“ „Ich weiß nicht“, murmelte Peyton. Gramp schüttelte den Kopf und fuhr fort: „Wir ackern und machen Grubenarbeit in unmittelbarer Stadtnähe. Es gibt nicht viel Handel und Reisen. Schon ein Stück von hier ist das Land wieder bewaldet. Bäume und Büsche sind dort gewachsen, wo früher Städte und Farmen waren. Und Tiere – zum Beispiel Bären in großer Zahl – sind von den Adirondack-Bergen heruntergekommen. In zwanzig Jahren können schon einige Ge16
nerationen von Bären aufwachsen. Auch etwas, das die Leute Wölfe nennen – aber ich glaube, daß es nur verwilderte Hunde sind. Da müßte es gut zu jagen sein, wenn man ein Gewehr hätte.“ Er schaute versonnen drein. „Aber Gewehre sind nicht erlaubt.“ „Und kein echter Kaffee“, fügte Peyton in der gleichen Stimmung hinzu. „Ich wette, die Luftwaffenleute haben auch echten Kaffee und Gewehre.“ „Das nehme ich auch an“, stimmte Gramp zu. „Aber das können wir und auch Leute in anderen Städten nicht wissen; denn wir erfahren nur, was sie uns freiwillig erzählen. Und da wir gerade von den Fliegern sprechen – da kommen sie.“ Es war fast gegen Mittag, doch ein Schatten fiel über den hellbeschienenen Park. Peyton sah die Sonne hinter etwas verschwinden, das den Himmel auslöschte. Nachtdunkel senkte sich über sie. Dann bewegte sich das Ding wieder von der Sonne weg und verschwand am Horizont. „Das ist die Fliegende Insel“, sagte Gramp. „Was ist denn das?“ platzte Peyton heraus. „Was ich sage. Eine fliegende Insel, die etwa einen Kilometer Durchmesser hat. Sie steht zwölf oder fünfzehn Kilometer hoch und geht ständig mit der Sonne. In diesem Teil der Welt bewegt sie sich mit etwa siebenhundert Kilometer je Stunde. Die Flieger leben darauf, und für sie ist es immer Mittag. Sie halten so die ganze Welt unter Kontrolle, denn sie kommen einmal am Tag über jede Stadt.“ „Halten sie das Ding ständig in der Luft, mit der ganzen Welt darunter und allen Waffen, Flugzeugen und Atombomben darauf?“ „Man spricht besser nicht von Atomkraft“, warnte Gramp. „Das ist ihr gehütetes Heiligtum. Wir dürfen nicht nur nicht damit in Berührung kommen, sondern sollen auch nicht daran denken.“ 17
Peyton erinnerte sich der Erregung des Beamten des Appellationsgerichts und entschloß sich, diesen Gesprächsgegenstand sofort fallenzulassen. „Weiß niemand, wozu die Flieger diesen ganzen Rummel mit dem Ding veranstalten?“ „Um den Ring von Städten zu überwachen. Die Städte ernähren und versorgen sie, zahlen Steuern und unterhalten sie.“ „Unterhalten sie?“ „Sicher, in den großen Zirkussen oben auf dem Dach der Stadt. Alle gehen hin: Flieger, Bodenmenschen, Reiche und Arme. Es sind öffentliche Veranstaltungen. Die Leute wüßten gar nicht, was sie ohne den wöchentlich stattfindenden Zirkus anfangen sollten.“ „Eines Tages werde ich auf die Fliegende Insel kommen“, murmelte Peyton. „Niemand außer Fliegern kommt jemals hinauf“, schnaubte Hooker. „Ich sage Ihnen doch, sie ist fünfzehn Kilometer hoch in der Stratosphäre.“ Fünfzehn Kilometer hoch. Peyton wandte diese Worte geistig um und um. Es war ein langer Aufstieg, doch er hatte ihn auch unterirdisch gemacht. Er konnte ihn auch von der Erdoberfläche aus leisten. Plötzlich hatte er das Gefühl, als habe er seinen Lebenszweck gefunden – den Fuß auf die Fliegende Insel zu setzen, die den Globus umkreiste. „Wenn Sie mein Geld nicht wollen“, sagte er, „lassen Sie mich ein Essen für uns beide leisten.“ „Wieviel haben Sie noch, Blackie? Viertausendsechshundert? Das reicht Ihnen keine Woche. Am besten dafür gleich ein Sandwich. Heute abend zeige ich Ihnen eine Örtlichkeit, wo Sie für nur zweihundert schlafen können. Kommen Sie.“ Peyton stand auf und folgte ihm, doch er konnte den schwarzen, mächtigen Fleck nicht vergessen, der stetig über die glatten Gebäude von New York flog. 18
3. Kapitel Der Übernachtungsraum war so lang wie ein Reitsaal und schmal wie ein Bürgersteig. Früher war es einmal eine öffentliche Allee gewesen. Jetzt war es vorn und hinten mit Wänden umschlossen und mit einer langen Reihe offener, stallähnlicher Abteilungen eingerichtet, von denen jede ein Feldbett oder eine Hängematte enthielt. Viele davon waren von schmierig und jämmerlich aussehenden Männern belegt. „Ich habe schon schlimmer als hier übernachtet“, sagte Peyton, als sie eintraten. Er erinnerte sich an die engen, dumpfen Zellen in der Grube, die vergittert waren und nach Chlor rochen. „Was starren Sie mich so an?“ „Sie leuchten irgendwie von selbst“, bemerkte Gramp. „Sicher“, sagte Peyton, „das Grubenleuchten. Das bleibt bei der Atomzertrümmerung hängen.“ „Halts Maul, ich will schlafen!“ knurrte der Insasse der Nachbarzelle. Die beiden suchten zwei aneinanderstoßende Abteilungen auf. Peyton zog die Schuhe aus und streckte sich auf den Decken aus. Zwei Stunden später riß Lärm und Schreien die Schläfer hoch. Peyton erwachte und setzte sich auf. Andere Insassen der Übernachtungsstätte rannten eilig davon. „Luftwaffenleute!“ schrie einer. „Eine Suchstreife!“ Peyton fuhr in die Schuhe und trat vor die Zelle. Gramp stand schon da und packte ihn beim Arm. „Komm, Blackie, ich habe gewartet – laß gut sein. Zu spät!“ Die Eingangstür wurde eingetreten. Männer mit elektrischen Lampen umringten sie. Es waren sechs in khakifarbene Umhänge, flatternde Hosen und glänzende Stiefel gekleidete Männer. Sie trugen Lederhelme und hatten Pistolen in der Hand. Sie 19
sahen sauber und gut gepflegt aus und trugen eine spöttische Miene zur Schau. „Na ja, ihr beide seid nicht weggelaufen“, sagte der größte von ihnen, der offensichtlich der Anführer war. „Wir brauchen Leute, die nicht davonlaufen. Argyle hat heute den Oberbefehl übernommen und will nächste Woche eine große Veranstaltung vorführen.“ „Warum sollte ich weglaufen?“ fragte Peyton. „Sie machen mir keine Angst.“ „Ausweise!“ befahl der Anführer. Gramp zog seine Papiere heraus, und der andere prüfte sie. „Aha, Fürsorgeempfänger, täglich fünfhundert Dollar. Wir können Sie mitnehmen. Jeder, der nicht in regelmäßiger Arbeit steht, kann zu öffentlichen Arbeiten kommandiert werden. Und der Zirkus gehört dazu.“ Er wandte sich zu Peyton. „Ihre Papiere?“ „Wenn ich welche hätte, würde ich sie Ihnen nicht geben“, schnappte Peyton. Im Licht der Lampen leuchtete seine Haut nicht mehr. Seine dunklen Augen gaben den Blick des Ausfragers gleichmütig zurück. „Er versteht nicht“, kam ihm Gramp zu Hilfe. „Er kommt gerade aus …“ „Schweigen Sie!“ schrie der Anführer. „Selbst wenn Sie Papiere hätten, können Sie nicht viel Arbeit haben, wenn Sie hier übernachten. Jedenfalls keine ständige und feste Arbeit. Und Sie sehen mir wie ein Kämpfer aus.“ Peyton zuckte die Schultern. „Versuchen Sie es doch. Sie werden es schon feststellen.“ „Bleiben Sie ja friedlich!“ warnte der andere scharf. „Versuchen Sie Gewalt anzuwenden, und Sie leben nicht mehr lange genug, um es zu bedauern. Ich bin von der Luftwaffe, Sie verrückter Idiot.“ „Wirklich?“ fragte Peyton unbeeindruckt. „Das habe ich mir doch gleich gedacht.“ 20
Der Anführer machte eine ungeduldige Kopfbewegung. „Wir haben einen Sonderauftrag. General Argyle braucht Hackblöcke für die Zirkuskämpfer. Kommt beide mit!“ Peyton fand sich in einem Park unter sternbedecktem Himmel wieder. Rasenfläche, Gebüschgruppen, Blumenbeete, Freilichttheater und Spielplätze. Anfänglich kam ihm alles wie früher vor. Dann bemerkte er, daß sich alles auf dem weiten Dach der Stadt befand, das viele Quadratkilometer weit und einen Viertelkilometer hoch über dem Boden lag. Schon wieder der Fliegenden Insel näher, war seine zufriedene Überlegung. Selbst ohne Mond war das Gebiet taghell erleuchtet. Gramp ging neben Peyton und erklärte ihm, daß hier die Reichen New Yorks ihre Mußezeit verbrachten. „Gibt es Reiche außer den Luftwaffenleuten?“ fragte Peyton. „Sicher. Selbst Luftwaffenleute haben Verwandte. Und das ist der Zirkus.“ Sie überquerten eine Rasenfläche und kamen zu einem großen Stahlzylinder, der gut fünfhundert Meter im Querschnitt maß und sich achtzig Meter über das Dach erhob. „Innen ist alles schräg gebaut, und in der Mitte ist eine flache Arena, wie ein Mondkrater.“ Sie wurden hineingebracht und in enge Räume unter den gestaffelt angeordneten Sitzreihen geführt. In einer Garderobe trafen ihre Begleiter andere Luftwaffenleute. „Was gefangen?“ fragte ein Soldat. „Wir haben kein Glück gehabt. Sie sind wie Mäuse in ihre Löcher geflohen. Die wollen lieber zusehen, als mitarbeiten.“ „Wir haben zwei.“ Der Anführer von Peyton wies mit dem Daumen über die Schulter. „Der eine ist alt, aber er hat noch Feuer in den Augen. Kann vielleicht noch eine Weile durchhalten. Der andere kann mehr.“ „Versuchen Sie es nur“, forderte ihn Peyton grimmig auf. 21
„Jeder von euch – mit bloßen Händen. Von eurer Sorte nehme ich es noch mit zweien auf einmal auf.“ „Sehen Sie!“ schrie ein Wärter, als bereite ihm Peytons Herausforderung das größte Vergnügen. Sie gelangten nun in einen großen Raum, der wie ein Ringsaal aussah. Zweidrittel des Bodens waren mit Sägemehl bedeckt. An der Wand hing eine Reihe von Punchbällen, an denen ein stämmiger plumpaussehender junger Mann arbeitete. Ein Luftwaffenmann von etwa vierzig und ein blendend aussehendes junges Mädchen beobachteten das Spiel der Muskeln des Athleten. „Die beiden haben wir gefunden“, sagte Peytons Fänger. „Einer davon sieht brauchbar aus.“ Der ältere Luftwaffenmann betrachtete Peyton. Er hatte ein braunes, rechteckiges Gesicht, mit einem kurzen, pfefferfarbenen Schnurrbart. Seine Uniform sah kostbar aus und war mit Gold an Aufschlägen und Schultern bedeckt. „Sieht wild genug aus“, bemerkte er. „Meinen Sie nicht, Archbold?“ Der junge Mann wandte sich von seinen Punchbällen ab. „Etwas kurz und gedrungen, aber hart und wahrscheinlich aktiv“, sagte er mit der Miene des Kenners. Peyton beachtete die Anpreisung nicht, denn er sah das Mädchen an. Sie war eine prachtvolle Blonde – zehn Jahre jünger als er. Ihr sorgfältig gelegtes Haar glänzte wie Eis, und ihr Gesicht war fast ebenso bleich wie das seine. Sie hatte hohe Backenknochen, und die Winkel ihrer grünen Augen hoben sich leicht. Nase und Mund waren klein und gut geformt. Sie sah wie eine hochgezüchtete, gefährliche Katze aus. „Da Sie mich nun ausgiebig betrachtet haben – wie gefalle ich Ihnen?“ fragte sie. „Und wie heißen Sie?“ „Blackie Peyton“, erklärte er. „Und ob Sie mir gefallen – ja.“ Der Luftwaffenmann mit den Goldtressen schlug mit der 22
flachen Hand nach ihm. Peyton duckte sich unter dem Schlag und wollte zurückschlagen. Andere Luftwaffenleute warfen sich auf ihn und drehten ihm die Arme auf den Rücken. „Verletzt ihn nicht!“ sagte der Athlet Archbold schnell. „Er ist ein Kämpfer, und ich will mit ihm arbeiten.“ „Paßt mir“, knurrte Peyton. Sie schoben ihn an den Rand der bestreuten Fläche. Aus einer Seitentür kam ein stämmiger Neger in Kniehosen und Sandalen. Er sah braunschwarz aus wie eine Robbe, hatte jedoch ein offenes, sympathisches Gesicht. „Lassen Sie Willie nur machen“, sagte er. Mit gewandten Händen zog er Peyton Jacke, Hemd und Unterhemd aus. Unterdessen hatte Archbold für kurze Zeit den Raum verlassen und kam jetzt mit einem Arm voll klappernden Metalls zurück. Es war ein Visierhelm, ein fester Brustpanzer mit Kettenhemdsärmeln und Beinschienen. Peyton hatte die Ahnung einer bevorstehenden Gefahr. Hatten sie nicht von Kämpfen gesprochen? Hieß das vielleicht, daß er boxen mußte? Archbold nahm einen runden Schild und ein schmales, langes Schwert mit einem Kreuzgriff auf. Der große Neger gab Peyton einen ähnlichen Schild und ein Schwert, das jedoch beidseitig stumpf war. Als er beides entgegennahm, trat ein als Polizist gekennzeichneter Luftwaffenmann ein und wies auf Peyton. „Ich muß diesen Mann mitnehmen“, erklärte er. „Er verweigerte die Arbeitszuweisung durch das Appellationsgericht, überfiel eine Wache …“ Da sah der Polizist den goldgeschmückten Flieger und straffte sich zum Gruß. „General Argyle!“ Peyton sah auf. Das also war Argyle, der im Fernsehen als neuer Gouverneur von New York genannt worden war, der Menschen fangen ließ, um sie in einem Zirkus zu benutzen! 23
„Warten Sie einen Augenblick und sehen Sie sich das an“, sagte Argyle. „Ich werde meinen Stargladiator etwas schwitzen lassen. Peyton soll sein Partner sein. Sie können Ihren Mann später mitnehmen.“ Peyton sah seinem Gegner entgegen, der nun auch mit Schwert und Schild bewaffnet war. Plötzlich wurde es in seinem Kopf klar. Der Zirkus, über den alle sprachen, war von der gleichen Art wie im alten Rom; mit Schwertern, Blut und Tod! Archbold nahm eine steif scheinende Pose ein und stieß dann das Schwert vorwärts. Es ritzte Peytons Wange. „Eins!“ zählte ein Luftwaffenmann. Archbold war wieder in Abwehrstellung und wies Peytons schwerfällige Gegenschläge zurück. „Schlag ihn, Blackie!“ schrie Gramp. Archbold machte wieder eine Angriffsbewegung. Ein Geräusch wie ein Peitschenschlag, und Peyton wich mit einem weiteren Striemen zurück. Der große Neger gab ein aufmunterndes Geräusch von sich. „Zwei!“ zählte Argyle. „Heute sind Sie tadellos in Form, Archbold.“ „Ich fange an, zu verstehen“, knurrte Peyton seinem Gegner zu. „Vielleicht geht es von jetzt an nicht mehr so einfach.“ Archbold schlug zu. „Drei!“ Argyle zählte automatisch und sagte plötzlich: „Was denken Sie sich eigentlich, Archbold? Lassen Sie sich doch nicht schlagen!“ Peyton hatte seinen Schild dazwischengeworfen, Archbolds Klinge wenige Zentimeter vor seiner Wange aufgehalten und zurückgeschlagen. Es gab einen klirrenden Klang auf Archbolds Kettenpanzer. Bevor der Gladiator sein Schwert aufs neue vorwärtsstoßen konnte, schlug Peyton den Metallschild hart gegen Archbolds Kopf. Der Helm flog zurück, und Archbold flog das Schwert aus der Hand. 24
Peyton ließ seine eigenen Waffen ebenfalls fallen, schlug mit beiden Fäusten zu, und fluchte, als seine Knöchel auf die Rüstung trafen. Archbold versuchte, mit dem Schildrand nach ihm zu schlagen, doch Peyton kam an ihn heran und packte ihn am Handgelenk. Mit einen schnellen Fersentritt in Archbolds Waden brachte er ihn schwer zu Fall. „Bringt sie auseinander!“ schrie jemand. Doch Peyton hatte bereits das Visier aufgerissen und bearbeitete Archbolds verzerrte Züge mit blitzschnellen Faustschlägen. Inzwischen waren die Luftwaffenleute herangestürzt und hatten ihn gepackt – doch er hatte schon beide Hände um Archbolds Kehle und spannte seinen Griff an. Die Flieger zogen aus vollen Kräften und hatten Peyton schließlich in ihrer Gewalt. Die große, gepanzerte Gestalt Archbolds lag bewegungslos dort, wo sie zu Boden gefallen war. Willie, der Neger, nahm sie auf und lehnte sie gegen die Wand. „Bringt Wasser!“ sagte er ängstlich. „Mr. Archbold ist schwer getroffen.“ Der Gladiator kam langsam wieder zu sich. Sein Blick war haßerfüllt. „Haltet ihn ab“, murmelte er heiser, „er bringt mich um!“ „Er hätte dich umbringen sollen“, brummte Argyle. „Zieh’ den Panzer aus, Archbold, und geh’ wieder zu deinem Lieferwagen. Du bist durchgefallen.“ Der Polizist bewegte sich auf Peyton zu. „Soll ich den Mann jetzt mitnehmen, General?“ „Das werden Sie sicher nicht tun!“ antwortete Argyle. „Nehmen Sie Ihren Befehl wieder mit zum Hauptquartier und sagen Sie, daß General Argyle ihn widerruft. Dieser Peyton ist ein Kerl, und wir schicken ihn nicht weg, um ihn verkommen zu lassen. Ich werde einen Stargladiator aus ihm machen!“ 25
4. Kapitel Ein kleiner Raum neben der Ringhalle war mit einem Feldbett, einem Operationsstuhl, Instrumenten und medizinischem Bedarf ausgestattet. Peyton lehnte gegen die Wand und täuschte Gleichgültigkeit vor, während der Neger mit sauberen Nähten eine klaffende Wunde zwischen seinen Rippen schloß. Gramp saß in einer Ecke und sah zu. „Ich weiß nicht, wie ich diesen Schnitt erhalten habe“, sagte Peyton. „Mr. Archbold schwang sein Schwert, und die eine Schneide war scharf“, erklärte der Neger. „Sie haben Glück gehabt, daß Sie so schnell mit ihm fertig geworden sind, Mr. Blackie.“ „Lassen Sie den ‚Mister’ weg. Ich bin nur Blackie Peyton. Ich versuche immer, schnell mit den Leuten fertig zu werden. Was hat dieser verrückte Argyle gemeint, als er sagte, er würde einen Stargladiator aus mir machen?“ „Er hat gemeint, was er sagte. Über ihn kann man viel sagen, aber verrückt ist er nicht.“ „Ich habe von ihm gehört“, fiel Gramp ein, „er ist töricht wie ein alter Grauwolf. Man sagt, er könnte vielleicht eines Tages der oberste Chef aller Luftwaffenleute werden, statt nur von New York. Blackie, ich habe noch nie jemanden gesehen, der so gut im Angriff war wie Sie. Sie werden einen prachtvollen Gladiator abgeben.“ „Sie müßten auch ein guter Gladiator sein, Willie. Sie sind doch ein Mordskerl.“ Zum ersten Mal sah Willie Burgoynes braunes Gesicht nicht freundlich aus. „General Argyle fing an, mich zu trainieren. Aber ich sagte, ich würde gegen keinen Menschen kämpfen, der mir keinen Anlaß dazu gibt.“ Peyton kam dies seltsam vor. Ein Gladiator konnte doch be26
rühmt, ja sogar populär werden. Es konnte ein Schritt näher zu der Fliegenden Insel sein, wohin zu kommen er fest entschlossen war. „Ich bin anders eingestellt“, sagte er deshalb. „Ich kämpfe gegen jeden, der es wünscht. Aber dieser Argyle führt sich auf, als wäre er gewöhnt, daß ihm alle gehorchen. Was geschah, als Sie das sagten?“ „Er schickte mich mit einem Grasrock und einem Speer in die Manege, um gegen einen Löwen zu kämpfen.“ Gramp pfiff durch die Zähne. „Ich habe zugesehen. Argyle war damals nur Zirkusbefehlshaber. Er wollte, daß Sie dabei umkamen, nicht? Aber statt dessen töteten Sie den Löwen.“ „Ja“, nickte Willie einfach. „Seitdem haben sie mich gegen viele Tiere kämpfen lassen, aber nie gegen Menschen. Darauf bestehe ich noch heute. In ein paar Tagen sind Sie in Ordnung, Mr. Blackie.“ „Sie sollen den ‚Mister’ weglassen. – Gramp, Sie haben mir nicht alles erzählt. Sie sagten nicht viel über die Luftwaffenleute, und überhaupt nichts über den Zirkus hier.“ Gramp hatte eine Flasche medizinischen Likörs gefunden. Er goß davon in drei Becher. „Trinkt“, lud er sie ein. „Blackie, der Zirkus ist hart. Mann gegen Mann, Mann gegen Tier – einzeln oder in Rudeln. Nicht wie früher, als Sie ein Kind waren – Boxkämpfe und Ringkämpfe.“ „Das mag schon sein“, ließ sich Willies sanfte Stimme vernehmen. „Die Leute sind nicht mehr mit dem Leben zufrieden. Sie wollen etwas erleben. Vielleicht tun sie das, wenn sie bei Zirkuskämpfen zusehen.“ „Sicher“, stimmte Peyton zu. „Das war auch im alten Rom das Wichtigste. Brot und Zirkusspiele, wenn das Volk nervös wurde oder unbequeme Fragen stellte. Klingt, als hätten die Luftwaffenleute Unannehmlichkeiten mit den Bodenleuten und müßten ihnen etwas vorführen, um sie zu besänftigen.“ 27
„Wenn General Argyle Sie so sprechen hören würde …“, begann Gramp zu warnen. „Sie nennen Argyle einen General, aber ich hörte, daß jemand Marschall Torridge so nannte“, sagte Peyton. „Er ist der oberste Chef der Fliegerleute und kommt nie von der Fliegenden Insel herunter. Es gibt viele Generale – ich glaube, für jede Stadt einen. Jeder Luftwaffenmann ist bei seiner Geburt gleich Kapitän. Dann wächst er auf und wird Major oder Oberst. Das ist so die Regel.“ Wieder kam Peyton die Fliegende Insel in den Sinn. „Und auf der Insel sind sie zu Hause?“ „Hauptquartier“, erwiderte Gramp. „Fragen Sie mich nicht weiter, was auf der Fliegenden Insel vorgeht. Luftwaffenleute vertrauen mir nichts an.“ „Sie vertrauen niemand“, fuhr Willie fort. „Alles, was wir am Boden zu tun haben, ist, den Befehlen zu gehorchen, ihnen zu geben, was sie zum Leben als Könige brauchen, sie zu grüßen, wenn sie uns begegnen. Wenn man das nicht tut, Mr. Blackie, bringt man sie zur Raserei.“ Er machte ein grimmiges Gesicht. „Es braucht viele Ehrenbezeigungen, um zwanzigtausend Luftwaffenleute zufriedenzustellen!“ Peyton hielt beim Krawattenbinden inne. „Zwanzigtausend?“ wiederholte er. „Es müssen doch Millionen gewöhnliche Menschen hier in der Stadt sein, und weitere Millionen in den anderen Städten. Das muß doch genügen, um zwanzigtausend zum Frühstück zu schlucken und den ganzen Unfug abzustellen.“ „Nicht, wenn die zwanzigtausend sämtliche Waffen und Flugzeuge haben“, gab Gramp ihm zu bedenken. Eine Tür öffnete sich, bevor Peyton antworten konnte. General Argyle kam herein. Das blonde Mädchen sah über seine Schulter. „Wie geht es ihm?“ fragte Argyle Willie. 28
„In einer Woche ist er in Ordnung, General.“ „Gerade richtig für den übernächsten Zirkus“, entschied Argyle. „Kommen Sie mit, Peyton. Ein Schneider wartet auf Sie.“ Er folgte dem General in einen anderen Raum. Er verstand noch weniger, als ein kleiner, unscheinbarer Mann ihm rasch Maß nahm und zum Abend die Lieferung verschiedener kompletter Garderoben versprach. „Was soll das?“ protestierte Peyton beim General. „Ich habe die Kleider nicht bestellt, und ich besitze nicht viel Geld.“ „Überlassen Sie das mir“, meinte der General. „Ich kann Sie nicht als Tramp umherlaufen lassen.“ „Was kümmert Sie, wie ich aussehe?“ forderte ihn Peyton derb heraus. Argyle erwiderte nichts. Das Mädchen lächelte tigerhaft. „Sie sind jetzt eine Berühmtheit, Blackie.“ Er nickte stumm. Sie gaben ihm ein Sprungbrett – aber konnte er etwas damit anfangen? „Die Propaganda ist schon gestartet“, erklärte General Argyle. „Sie müssen sich in der Öffentlichkeit zeigen. Ich werde Sie heute abend mit den neuen Kleidern mitnehmen – auch Thora.“ „Sie?“ Peyton wandte sich um und sah die Blondine an. Sie lächelte. „Sicher. Ich bin dazu da, um dabei mitzuhelfen, aus Ihnen eine stadtbekannte Persönlichkeit zu machen. Ich wurde so auch mit Archbold gesehen, und jetzt eben mit Ihnen. Rein geschäftsmäßig.“ „Wie könnte es auch anders als rein geschäftlich sein?“ fragte Argyle. Ein amüsiertes Lächeln bewegte Peytons wildes Gesicht. „Sicher, was sonst?“ stimmte er zu. Das Vergnügungslokal unterschied sich nicht allzusehr von den Nachtklubs, wie sie vor zwanzig Jahren aussahen. Seine Beliebtheit rührte zum großen Teil daher, daß es eine altertüm29
liche Atmosphäre an sich hatte. Tische und Stühle hatten silberüberzogene Metallbeine, Sitze und Platten wiesen eine rote und grüne Emailglasur auf. Eine Bar aus imitiertem Mahagoni war ebenfalls vorhanden, hinter der Barmänner in altmodischen weißen Mänteln standen. Hinter der Bar befand sich ein Spiegel, vor dem Reihen von Flaschen standen. Doch diese und die imitierten Bierzapfhähne dienten nur zur Dekoration. Die bestellten Getränke wurden auf Transportfließbändern unter dem Bartisch herangeschafft. An einem der besten Tische in der Nähe der Kapelle und der Attraktionen saß General Argyle und glänzte in einer weißgoldenen Uniform. Er trug ein Monokel und ein Platinarmband. Zahlreiche Menschen. Stadtbewohner im Abendanzug und rangniedrigere Luftwaffenleute in Uniform kamen bei ihm vorbei und umschmeichelten ihn. „Lernen Sie Blackie Peyton kennen“, sagte er immer wieder, und wies auf seinen Begleiter, der in einem wunderbar geschneiderten, nachtblauen Abendanzug neben ihm saß. „Der größte natürliche Gladiator der Geschichte. Sehen Sie ihn übernächste Woche im Zirkus! Er wird Sie verblüffen.“ Peyton grüßte einen Fremden nach dem anderen mit der größten Herzlichkeit, die er aufbringen konnte. „Freut mich, Sie kennenzulernen. Schön, daß Sie kommen wollen.“ Thora, die Blonde, lächelte ihm während einer besucherlosen, kurzen Pause über einen blauen, aus Glas gesponnenen Fächer zu. „Ich muß sagen, daß Sie sich doch noch als Gentleman zeigen“, meinte sie. „Ich war immer ein guter Schauspieler“, erwiderte er. „Aber seien Sie nicht enttäuscht.“ „Wie wäre es mit einem Rundflug über die Stadt?“ fragte Argyle die beiden. Thora lächelte höflich. Peyton nickte und versuchte seine Vorfreude und Spannung zu verbergen. 30
Sie verließen das Lokal und begaben sich zu einem Flugplatz. Ein Flugzeug, das einem geflügelten Torpedo glich, wurde herbeigebracht. Es war etwa vier Meter lang, drei Meter im Querschnitt und enthielt zwei Sitze für Passagiere außer dem Piloten. „Ich werde selbst fliegen“, teilte Argyle mit, als er die Glaskanzel schloß. „Ich muß euch befehlen, nur die Aussicht zu betrachten, die sehr interessant ist. Außerdem haben nur Luftwaffenleute mit Luftoperationen zu tun. Ist das klar, Peyton?“ „Ja. Sir.“ Argyle begab sich an seinen Platz. Der Atommotor summte leise. Sie starteten wie ein Geschoß. Der volle Mond war inzwischen aufgegangen. Sie rasten gen Himmel, als wollten sie mit ihm zusammenstoßen. Unter ihnen ähnelte die Stadt New York einem riesigen, weitläufigen Haus mit Anbauten und Seitenflügeln. Die oberen Stockwerke waren hier und da offengelegt und enthüllten so Bruchstücke von Straßen und Plätzen. Erleuchtete Luken und Fenster sah man an den Außenwänden. Die Parkflächen auf dem weiträumigen Dach glühten mit Lichtern wie von Juwelen besetzt. Es war ein so herrliches und grandioses Schauspiel, daß Peyton wünschte, New York ganz kennenzulernen. Von Mondlicht übergossen erstreckten sich weite, ebene Flächen, die zum größten Teil angebaut und nur hin und wieder von Häusern und Schuppen unterbrochen waren. Silberne Flüsse – Hudson und East River – schlängelten sich ruhig unter den mächtigen Fundamenten der Stadt her. Weiter entfernt umschlossen dunkle Waldflächen das kultivierte Land. Irgendwo im Norden mußten die Trümmer der Stadt liegen, aus der Peyton gekommen war, und die Gebeine all der Menschen, die er gekannt hatte. Nun. er hatte einen Freund in Opa Hooker. Er hatte Argyle gebeten, Gramp Arbeit als Gladiatorenhelfer zu geben. Da war auch noch Willie. Peyton mochte den Neger gut leiden, der so 31
freundlich und doch so selbstsicher war, der der beste Helfer und gefährlichste Gegner sein würde, den er sich vorstellen konnte. Ja, und dann war da noch Thora. „Sind sie nicht gespannt?“ unterbrach sie seine Gedanken. Er lächelte. Seine Mundwinkel zogen sich diesmal nach oben, ließen sein Gesicht fröhlich und ganz jung erscheinen. „Ich muß ja ein hohes Tier spielen“, sagte er. Sie lachten beide. General Argyle hörte es über das schwache Summen des Motors und wandte sich um, wobei er sie in unsympathischer Weise ansah. 5. Kapitel Gramp und Willie halfen Peyton in sein Gladiatorenkostüm. Sie befanden sich in einem kleinen Ankleideraum, der am Durchgang zur Zirkusarena gelegen war. Durch die geschlossene Tür drang gedämpft die verwirrende Erregung von Stimmen, trampelnde Füße und Orchestermusik. „Die Schau fängt gleich an“, verkündete Gramp, während er die vergoldeten Sandalen noch einmal polierte. „Blackie, ich weiß wirklich nicht, wie ich dir dafür danken soll, daß du mir eine Beschäftigung als Kammerdiener verschafft hast. Vorher bekam ich fünfhundert pro Tag Wohlfahrtsunterstützung, weil ich zu alt zum Arbeiten war.“ „Bist du das wirklich?“ fragte Peyton. Zu Willie sagte er: „Ich hätte lieber nicht diese rote Schärpe an. Ich komme mir damit wie Lord Fauntleroy vor.“ „Es sieht gut aus, und Sie schlagen keineswegs wie Lord Fauntleroy zu, Mr. Blackie. Sie haben mich gestern ganz schön schachmatt gesetzt.“ „Du sollst den ‚Mister’ fallenlassen, das habe ich dir schon hundertmal gesagt, Gramp, was hast du eigentlich gearbeitet, bevor du ausrangiert wurdest?“ 32
„Ich war bei den Fliegern. Ja, wirklich. Einer der ganz alten Hasen. Ein As im ersten Weltkrieg, Instrukteur in Montreal im zweiten. Natürlich zu alt für den dritten, sonst wäre ich heute einer von den Affen auf der Fliegenden Insel. Ich bin jetzt gerade 84 Jahre alt und fühle mich keinen Tag älter.“ Peyton sah in einen großen Spiegel, während Willie ihm einer federgeschmückten Helm aufsetzte und ihm einen flammenroten Mantel um die Schultern legte. Seine bloßen Beine waren mit Riemen umschnürt, und er trug einen juwelenbesetzten Gürtel. Seine bleiche Haut war an den sichtbaren Stellen mit einem gesunden Braun sorgsam getönt. „Was für ein wunderbarer Aufputz – fast männlich“, bemerkte er grinsend. „Das ist kein eigentliches Fechtkostüm“, stimmte Willie zu, während er ihm ein Schwert umschnallte. „Aber Sie kommen sofort zum Paradezug, um vorgestellt zu werden. Passen Sie auf, wenn ich drankomme. Sie haben irgendein neues Tier gefunden, gegen das ich kämpfen muß. Ich überlege, was das wohl sein könnte.“ Er schwang einen Köcher mit Pfeilen über seine bloße Schulter und langte nach einem langen Hickorybogen. „Ich werde aufpassen“, versprach Peyton. „Nach der Einführung sitze ich in der Loge des Generals mit Thora und ein paar anderen großen Tieren.“ „Richtig!“ warf Gramp ein. „Ich war im Dachpark und sah Sie mit diesem Mädchen. Wenn ich dreißig Jahre jünger wäre, würde ich sie Ihnen wegschnappen“, grinste er hinter dem Bart hervor. „Alles nur Geschäft“, sagte Peyton. „Das sagt sie auch immer wieder.“ Jemand klopfte an die Tür. „Noch drei Minuten, dann fängt die Parade an!“ Willie und Peyton tauchten Seite an Seite draußen auf. In 33
dem großen, vorhangverdeckten Zugang zur Arena wurden die Teilnehmer zu einem Zug zusammengestellt. Auf den knappen Befehl eines Luftwaffenmannes gesellte sich Willie neben einen baumlangen, blonden Gladiator, der einen mit Löwenfell besetzten Mantel trug. Andere schlossen sich hinter ihnen an, und tanzende Mädchen bildeten unter Lachen und Schwenken ihrer fliegenden Kostüme eine reizvolle Umrahmung, um den Zug. Traktoren zogen Käfige voll wilder Tiere vorbei. „Hierher, Peyton!“ rief der Aufseher. Man führte ihn zu einem riesigen Elefanten mit leuchtenden Schabracken. Die Musik wurde lauter, die Vorhänge gingen auf, und Applaus scholl zum Mittagshimmel, als die Parade ins Freie trat. Peyton gefiel der schaukelnde Ritt auf dem Elefanten. Er blickte über die weitgezogenen, steigenden Tribünen des Stadions hinweg, auf denen sich dreihunderttausend Menschen drängten. Die Gesichter, die er erkennen konnte, sahen hingerissen, ja gierig vor Erregung und Erwartung aus. Hinter der niedrigen, geschützten Brüstung saßen die Reichen von New York, unter ihnen auch viele Luftwaffenleute. Er erblickte General Argyle, Thora und andere in einer Sonderloge. Sie applaudierten ihm, als der Elefant vorbeikam. Der Paradezug, angeführt von einem Reiter auf einem Schimmel, zog einmal ganz um die Arena und hielt schließlich an, wobei alle beim Ertönen einer Fanfare salutierten. Ein Mikrophon tauchte aus einer Falltür auf. Der anführende Reiter begrüßte die Menge, sagte das Programm an und verhieß erregende Erlebnisse. Schließlich endete er: „Zu meiner Freude kann ich Ihnen heute einen Mann vorstellen, der nächste Woche auftritt. Blackie Peyton, die persönliche Entdeckung General Argyles!“ „Stehen Sie auf!“ forderte der Aufseher in der Haudah Peyton auf. Peyton tat es. Ein Suchscheinwerfer ruhte blendend auf ihm. 34
Impulsiv winkte er der Menge mit den Fäusten nach Boxerart zu. Donnernder Beifall folgte. Er setzte sich, schwindlig vom starken Licht, nieder. Der Paradezug verschwand wieder hinter dem Haupteingang. Peyton stieg ab und folgte einem Mann zu einer kleinen Tür, von der aus er in General Argyles Loge schlüpfte. Der General schüttelte ihm mit theatralischer Herzlichkeit die Hände und stellte ihn einem Dutzend auserwählter Gäste vor. Dann hielt er inne, denn der Mittag stand bevor. Gegen die Sonne kam der große, kissenartige Umriß der Fliegenden Insel in Sicht. „In diesem Kostüm sehen Sie großartig aus“, sagte Thora neben ihm. „Wie fühlen Sie sich?“ „Albern.“ Der Mann, der an ihrer anderen Seite saß, mischte sich in die Unterhaltung. „Sie und ich – wir sind beide Künstler. Sie des Schwertes, ich des Wortes.“ Peyton wandte sich um und sah ihn an. Er war ein paar Jahre jünger als Peyton, schlank, und schokoladenbraun gekleidet. Sein lohfarbenes Haar schien kunstvoll gelockt zu sein. „Mein Name ist Bengali“, sagte er. „Ich bin Dichter und rezitiere jede Woche zweimal im Rundfunk. Vielleicht werden Sie mich zu einigen schönen Versen inspirieren.“ Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und fixierte das blaue Himmelsgewölbe. Langsam und akzentuiert begann er zu sprechen, als läse er Worte, die dort oben geschrieben standen. Dann begann die Schau. Die tanzenden Mädchen entfernten sich in gefälligen Ballettschritten. Ein riesiges Rhinozeros galoppierte, angestachelt von seiner langen Haft, in rasender Wut über den Sand. Sein Dinosaurierkopf, Zeuge einer vergangenen Zeit, schwankte hin und her. Es quäkte und schnaubte wie ein rasender Hengst. Eine andere Tür öffnete sich – und Willie Burgoyne er35
schien. Er wurde mit Zurufen von den Zuschauern begrüßt, von denen ihn viele beim Namen riefen. Auch das Rhinozeros wandte sich ihm zu. Willie ging ihm langsam entgegen, den gespannten Bogen in der Linken, auf dem ein Pfeil lag. Das Tier nahm ihn, schnell wie eine Antilope, an. Willie stand still. Ein mit tödlicher Wucht niedersausender Stoß traf fast seine Füße, als er einen weiten, geschmeidigen Schritt nach links tat. Als die Masse seines Gegners an ihm vorbeiraste, setzte er den Pfeil ein und ließ die Sehne los. Das ganze Stadion hörte, plötzlich schweigend erstarrt, das Schwirren. Willie strebte mit langen Schritten wieder der Mitte der Arena zu, während das getroffene Rhinozeros ungeschickt und schmerzvoll zurücksprang. Wieder kam es, diesmal jedoch langsamer als zuvor, auf ihn zu. „Wunderbar!“ murmelte Bengali, der Dichter. „Die Legende von der Jagd auf das Einhorn wird hier vor Ihren Augen aufgeführt. Aber natürlich kann nur eine keusche, schöne, schneeweiße Jungfrau das Einhorn töten“, fuhr er in pedantischer Überlegung fort. „Wirklich?“ fragte Peyton. „Nun, ich setze mein Geld darauf, daß der schwarze Bursche da siegt. Wollen wir wetten?“ Bengali kümmerte sich nicht um die Aufforderung. Als sich das Rhinozeros zum zweiten Mal näherte, trat Willie wieder beiseite. Er setzte seine schnelle, schwarze Hand auf den Höcker des Tieres und sprang leicht über seinen Rücken. Das Rhinozeros blieb stehen, als hätten es machtvolle Bremsen zum Halten gebracht. Willie ließ seinen Bogen fallen und zog sein Schwert. Seine freie Hand berührte eine Stelle hinter der linken Schulter, dann stieß er die Waffe bis zum Heft hinein. Er sprang ab, lief einige Schritte weg, wandte ihm den Rücken und verbeugte sich graziös. Begeisterungsschreie brachen aus. Willie verließ die Arena, und ein kleiner Traktor schleppte den Leichnam des Tieres hin36
weg. Ein Reiter kam herein, der wie ein Cowboy des frühen zwanzigsten Jahrhunderts gekleidet war. Er winkte der applaudierenden Menge zu und griff in die Zügel, während er nach seinem Gegner Ausschau hielt. Dieser erschien aus der gegenüberliegenden Tür – ein Bisonbulle, der fast so mächtig wie das Rhinozeros und ebenso auf Zerstörung bedacht war. Mit gesenktem Kopf und zottigem, erhobenem Rücken stürzte er sich auf den Cowboy. „Ich dachte, diese Tiere seien ausgerottet“, meinte Peyton. „Im Westen sollen sich große Herden befinden“, erklärte Bengali. Er schlug sich mit der beringten Rechten auf die Wange und richtete sich auf. „Oh, das ist prachtvoll!“ Sein Beifall galt dem plötzlichen Sieg des Bisonbullen. Der Cowboy hatte geschickt und kunstgerecht ein Lasso um seinen Kopf gewirbelt. Er warf es nach dem entgegenstürmenden Bison, streifte es über dessen unförmigen, massigen, schwarzen Körper und bäumte sich blitzschnell zurück. Das Lasso hätte in diesem Augenblick ohne weiteres das Tier festhalten können. Doch der Bison sprang gerade in diesem Augenblick in die Höhe, so daß die Lassoschlinge nicht fassen konnte. Einen Augenblick später fuhren zwei gekrümmte Hörner unter den Pferdebauch, hoben das Pferd und schleuderten es zehn Meter weit weg. Die Menge schrie auf, doch nicht laut genug, um den schrillen Schrei des verletzten Pferdes zu übertönen. Der Mann fiel neben seinem Pferd herunter und schlug mit dem Gesicht im Sand auf. Er raffte sich auf und rannte schwankend weg, so schnell ihn die Beine trugen. Eine andere Gestalt eilte heran, ein Gladiator im Kostüm ein Clowns. Als der Bison nach dem gestürzten Cowboy stieß, faßte der Neuankömmling den korkenzieherförmigen Schwanz und zog daran. Das Tier ließ von sein Opfer ab, und der in lustige Farben gekleidete Clown rannte komisch vor ihm weg. Lautes Gelächter ertönte von allen Seiten. 37
Eine weitere Tür öffnete sich. Willie Burgoyne trat heraus und schoß einen schnellen Pfeil ab. Der Bison überschlug sich und lag um sich schlagend am Boden. Donnernder Applaus begleitete die Szene. „Manche erschrecken sich sehr beim ersten Mal im Zirkus“, sagte Argyle. „Ich nicht“, sagte Peyton. „Nur schwach im Magen.“ Alle in der Loge wandten sich um und starrten ihn an. Peyton kümmerte das nicht. Er hatte die Wahrheit gesagt. Kostbare Zurüstung, verschwenderische Vergnügungen, ein dekadent-raffiniertes Blutvergießen und Gemetzel als Nervenkitzel für diese New Yorker, die in ihrer riesigen Schachtel von Stadt eingepfercht gehalten wurden! Die Luftwaffenleute konnten mit ihren Flugzeugen Rhinozeros und Büffel herbeischaffen, aber nicht Kaffee und Tabak. Die Grube war ein besseres Gefängnis gewesen, weil es nicht vorgab, etwas anderes sein zu wollen. Der Direktor hatte gesagt, die Welt habe sich verändert. Er hätte sagen sollen, daß die Welt in die Barbarei zurückgefallen war. Doch die Fliegende Insel mochte anders aussehen. 6. Kapitel Gramp erwartete Peyton im Ankleideraum. Willie hatte sich schon umgekleidet und suchte seine Wohnräume auf. „Sie sehen wie ein Vertreter mit Vorkasse auf den vierten Weltkrieg aus“, sagte Gramp. „Was ist denn in Sie gefahren?“ Peyton blickte noch finsterer. „Es hat sich alles zum Bösen gewendet.“ Er warf seinen Mantel auf den Tisch. „Ich sollte weggehen und mich betrinken.“ Gramp, der ihm gerade die Sandalen schnürte, sah auf. 38
„Können Sie von dieser blonden Gefahr einen freien Tag ergattern?“ „Thora? Sicherlich. Jedenfalls ist das auch ein Teil meiner Arbeit.“ „Wäre schön, wenn das ginge“, meinte Gramp trocken. „Kommen Sie heute nacht unter die Erde.“ „Unter die Erde?“ wiederholte Peyton erstaunt. „Was man sonst Slums nannte. Wir werden uns amüsieren.“ „General Argyle hat mir gestern aber nur dreißigtausend Dollar als Spesengeld gegeben.“ „Das ist dort unten ein Vermögen. Waschen Sie die Schminke ab und ziehen Sie Ihre alten Kleider an.“ Die überdachten, gedämpft beleuchteten Straßen, durch die sie kamen, waren mit mächtigen Betonpfeilern statt Häusern bebaut. Bei einem genaueren Blick sah Peyton andere Pfeiler aus Holz, Plastik und Zement, die wie Stämme eines schaurigen Waldes emporragten. Nur wenige Gebäude säumten die Straßen. Der Straßenverkehr bestand nur aus meist schwerbeladenen Fußgängern. Manche trugen riesige Packen. Andere balancierten Körbe an Stöcken, wie chinesische Kulis. Peyton sah überhaupt keine Fahrzeuge. „Und Sie sagen, hier leben viele Menschen?“ fragte er Gramp. „Warum?“ „Weil sie müssen. Jemand muß sich um all diese Pfeiler und Stützen kümmern.“ Peyton starrte in das anscheinend endlose Dickicht aufstrebender Säulen. „Das ist das Fundament von New York“, fuhr Gramp fort. „Mit all diesem Gewicht darauf müssen die Stützen ständig repariert, ersetzt oder verstärkt werden. So lebt der größte Teil der Armen wie ich früher, bevor ich zu alt dafür wurde, um daran zu arbeiten.“ „Warum leben Sie denn auch hier unten?“ 39
Gramp grinste wild in seinen Bart. „Auch ein Trick, den sich die Luftwaffenleute ausgedacht haben. Wenn diese Leute hier unten hausen müssen, tun sie ihre Arbeit gut, denn sie würden von jedem Rutsch zuerst zerschmettert. – Hier hinein, Blackie!“ Zwischen den Pfeilern stand eine halbverfallene Bude. Sie durchquerten den mit Rauch von synthetischem Tabak erfüllten Vorraum, erreichten eine Bar mit fliegenbeschmutztem Spiegel, an der zerlumpte, meist ältere Männer, saßen. Alle tranken fleißig. Einer oder zwei riefen Gramp bei Namen. Er grüßte zurück und steuerte mit Peyton auf einen freien Platz an der Bar zu. „Tony“, sagte er zum Barmann, „mein Freund Blackie will Bier bestellen.“ Peyton legte einen Fünfhundert-Dollar-Schein auf die Theke. „Schenken Sie sich auch einen ein“, lud er den Barmann ein. Er hob sein Glas. „Hier gefällt es mir. Keine Besoffenen und keine Luftwaffenleute.“ „Die meisten von den Leuten hier arbeiten daran, die Stadt aufrechtzuerhalten“, erklärte Gramp. „Die Älteren sind Wohlfahrtsunterstützte, wie ich. Meistens sind das gute Kerle, die ihr ganzes Leben geschuftet haben.“ „Das haben wir“, versicherte ein in der Nähe sitzender Alter mit einer gewaltigen Hakennase. „Ich war als Junge Matrose. Ach ja, und wer segelt heute noch?“ „Die Luftwaffenleute“, erwiderte Peyton. „Sie segeln durch die Luft mit dem größten Trubel aller Zeiten. Ein Bier, alter Seemann.“ Die alte Teerjacke trank mit. „Keiner von uns mag die Luftwaffenleute hier unten, und sie gehen uns auch aus dem Weg. Schnüfflern sollen schon Stützpfeiler auf die Nase gefallen sein.“ Peyton lachte und trank. „Dieses Bier ist jedenfalls nicht synthetisch. Leute, das klingt, wie wenn ihr gegen die Luftwaffenleute zu Felde ziehen und kämpfen wolltet.“ 40
Er überlegte, ob er wohl unvorsichtig war. Doch Gramps Antwort war klar genug. „Es ist jedermanns Kampf, Blackie. Alle leiden darunter. Sie besteuern die Reichen und plagen die Armen. Es hat wirklich niemand viel zu verlieren.“ „Wenn das General Argyle hören würde …“, brummte Peyton. „Wenn er es täte“, unterbrach der Seemann, „würde Ihnen jemand ein Messer in den Rücken stecken. Denken Sie daran, bevor Sie den Luftwaffenleuten etwas verpfeifen.“ „Kein Wort davon!“ beruhigte ihn Gramp. „Blackie ist zuverlässig. Ich würde nicht mit ihm trainieren, wenn er das nicht wäre.“ „Mehr Bier!“ sagte Peyton. Als die zweite Runde kam, sagte Gramp Peyton leise ins Ohr: „Folgen Sie mir!“ Er führte ihn zu einer Tür im Hintergrund des Raumes, an der „Küche“ geschrieben stand. Sie betraten den Raum, in dem ein rotgesichtiger Koch Schinken und Kohl kochte. Sie gingen einen dunklen Korridor entlang. Peytons Grubenglühen leuchtete ihnen zu einer weiteren Tür, an der Gramp viermal anklopfte. „Joe Hooker!“ rief er. Ein automatisches Schloß summte, und die Tür ging auf. Sie traten in einen kleinen, kahlen, fensterlosen Raum. Ein Mann sah hinter einem abgenutzten Schreibtisch auf. Er war schlank und hatte lohfarbenes Haar, das künstlich gekräuselt war. „Sagen Sie“, rief Peyton und blieb überrascht stehen, „sind Sie nicht Bengali, der Rundfunkdichter?“ „Erschrecken Sie nicht“, bat Bengali mit einer Stimme, die seinem affektierten Gehabe im Zirkus in keiner Weise entsprach. „Die Luftwaffenleute halten mich für einen Verrückten. Das will ich auch. Aber ich wollte Sie beobachten, um zu sehen, ob Gramp Hooker recht hatte, als er sagte, daß Sie uns nützlich sein könnten.“ 41
Peyton ließ seine Hände auf der Tischplatte ruhen. „Was sind Sie?“ „Präsident des Ausschusses der Bewegung gegen die Luftwaffenleute.“ Peyton entspannte sich. „Aha, eine Revolution.“ „Nicht ganz. Eine Revolution bedeutet Neuerungen. Wir wollen nur das Frühere. Die Zeit vor 1960 war nicht vollkommen, aber freier, besser als jetzt. Das werden Sie zugeben. Sie mögen die Duftwaffenleute auch nicht?“ „Einer von ihnen zu sein, heißt ein Spezialist auf einem bestimmten Gebiet zu sein“, sagte Peyton. „Ich will gegen keinen etwas sagen, der seine Arbeit sauber tut. Aber wenn eine Menge von hochqualifizierten Mechanikern sich über alle zum Herrn aufspielt und darauf beharrt, als ob sie Götter wären.“ Er brach ab. Wieder fürchtete er, daß er zuviel gesagt hatte. „Das klärt die Lage“, stellte Bengali fest. „Der Krieg endete mit einem Frieden, der in den Händen der Luftwaffenleute auf der gesamten Erde liegt. Sie organisierten alles, hatten die Waffen und sämtliche Machtbefugnisse inne. Niemand konnte ein Wort dagegen einwenden. Die Bedingungen klangen wunderbar. Kein Krieg mehr, alle Waffen in den Händen einer internationalen Führungskaste. Unterstützung für die Alten und Armen. Steuern und Abgaben für die Reichen. Produktion und andere Tätigkeiten werden überwacht. Alles wird durch die geeignetsten und tüchtigsten, für die Führung geschulten Leute geleitet. Wie klingt das?“ „Vollkommen“, erwiderte Peyton. „Aber es klappt nicht.“ Bengali nickte. „Eben. Wenn die Luftwaffenleute das Spiel ehrlich gespielt hätten, hätten wir den Himmel auf Erden. Sie spielten es hinterlistig, um Macht und Gewinn zu bekommen; dabei sind sie selbst nicht glücklich.“ „Nicht glücklich?“ platzte Peyton heraus. „Das ist doch kaum zu verstehen.“ 42
Bengali begann zu erklären. „Sie sind nur wenige, und wir viele. Sie brauchen die große Fliegende Insel, um die Erde zu umkreisen und überall wachsam zu sein. Städte, wie diese, wo alle Menschen zusammengepfercht leben, ohne Vorstädte, verstreute Landgemeinden und offenes Land, wohin Verbrecher flüchten können, vereinfachen, natürlich das Problem, aber doch nicht allzusehr. Zwanzigtausend Luftwaffenleute müssen ständig auf der Hut sein. Die meisten sind in den verschiedenen Städten stationiert, wo sie Verwaltung und Aufsicht durchführen. Und diejenigen, die vor zwanzig Jahren damit anfingen, sind heute nicht mehr so jung und energisch wie früher. Sie wollen sich ausruhen, Urlaub nehmen. Sie wagen es nicht. Die Jüngeren unter ihnen warten nur darauf, ihre Plätze einzunehmen – sie würden die Macht an sich reißen.“ „Sie sprechen sehr sicher“, bemerkte Peyton. „Ich könnte Ihnen sogar Namen nennen. General Argyle, ein wirklich fähiger Mann, hat den Befehl über New York inne. Er ist nicht damit zufrieden. Er will Luftmarschall, Herr über alle und alles an Stelle von Torridge oben auf der Insel sein.“ Bengali lächelte wieder. „Wenn die Luftwaffenleute übereinander herfallen, dann können wir, die wir gegen sie sind, etwas unternehmen.“ „Lassen Sie mich einen Augenblick überlegen“, bat Peyton. Er zweifelte nicht daran, daß Bengali, der in hohen wie niederen Bevölkerungskreisen verkehrte, seiner Sache sicher sein konnte. Die Luftwaffenleute hatten nur eine Aufgabe: die Welt zu leiten. Eine Spaltung würde Abtrünnigkeit, Mangel an Übereinstimmung und Ablenkung der Aufmerksamkeit bedeuten. Eine starke Bewegung von Seiten der Bodenbevölkerung könnte wirksam werden, doch wenn nur Arme, Alte und Ausgebeutete ihn angehörten … Bengali las in seinen Gedanken. 43
„Ich habe hier mein Hauptquartier und meine Verbündeten, weil diese Leute verzweifelter sind und mehr Hoffnung auf Besserung hegen als sonst wer. Ich traue vielen Reichen nicht. Meine Organisation dort ist nur ein Skelett.“ Peyton spürte, daß Bengali, so gerissen er auch sein mochte, sich auf unsicherem Boden bewegte. Wie konnte dieser Kellerbewohner gegen die Luftwaffenleute angehen – die bewaffnet waren, sämtliche Flugzeuge und eine Fliegende Insel besaßen? Atomenergie als Treibstoff und Kampfmittel war entscheidend. Damit konnte man ganz New York ausradieren. Wahrscheinlich war es ein Glück, daß er, Peyton, das herausfand. Gramp beteiligte sich an dem Gespräch und sagte: „Sie sehen, Blackie, ich bin nicht nur ein hungriger, alter Knochen. Niemand kümmert sich um mich, und ich komme herum. Ich kann Leute wie Sie kennenlernen – die stark, schlau, unzufrieden sind und Spezialkenntnisse haben – und sich eine Möglichkeit ausdenken können, sie zu benutzen.“ „Spezialkenntnisse?“ wiederholte Peyton. „Sie meinen Atomenergie? Ich weiß nur wenig davon.“ „Das Wenige ist mehr, als wir darüber wissen“, sagte Bengali. „Ich habe eben nur die Maschinen bedient. Natürlich weiß ich, wie man damit umgeht, wie die Inerton- oder SchwerelosBehälter hergestellt werden.“ „Inerton!“ rief Bengali aus. „Wird das dort unten auch gewonnen? Aha, jetzt sehe ich, daß unsere Mechaniker auf der richtigen Spur sind, wenn sie Motoren herstellen, die mit Atomkraft betrieben sind! Sie haben unrecht, Peyton! Sie können uns viel helfen. Das Gefängnis wird von den zuverlässigsten Handlangern der Luftwaffenleute betrieben. Niemals kommen Informationen über Atomzertrümmerung oder sonstiges heraus. Schlagen Sie sich zu uns, Peyton?“ „Natürlich.“ Peyton lächelte fröhlich, und seine Mundwinkel 44
zogen sich wieder einmal auf- statt abwärts. „Wenn ich nein gesagt hätte – was wäre dann passiert?“ Niemand gab Antwort, doch Gramp klappte ein großes Klappmesser mit lautem Schnappen zu. Peyton wandte sich um. „Das habe ich gar nicht gesehen.“ „Natürlich nicht“, stimmte Gramp zu. „Ich hielt es hinter Ihrem Rücken, die Spitze direkt vor der Stelle, wo die Schultern zusammentreffen. Nur ein kleiner Stoß, und Sie wären nie mehr lebend zu Tonys Bar gekommen, um das auszutrinken, was Sie bezahlt hatten.“ 7. Kapitel Im Mittelpunkt des großen, ebenen Daches, abseits der Parkflächen, waren lange Reihen von offenen Mulden und Röhren, die mit Wasser gefüllt waren, das langsam aus anderen Röhren nachtropfte – und zwar im gleichen Maße, wie die Verdunstung anhielt. Wieder andere Röhren gaben sorgfältig abgemessene Lösungen verschiedener Mineralsalze hinzu. Die Tröge und Röhren waren mit groben Drahtschirmen abgedeckt, die dicht gesetzte Tomaten, Bohnen, Erbsen und andere Pflanzen trugen. Das war New Yorks Gemüsegarten. Mit dieser intensiven, künstlichen Anbaumethode produzierten Fachleute große Mengen von Gemüse für die Bevölkerung. Ein Tank, ein paar Eimer voll Chemikalien brachten Mengen hervor, die früher Quadratkilometer an Boden verlangt hätten. „Badewannenfarmen“, 1957 noch ein Witz, waren im Jahr 1980 ein Riesenunternehmen geworden. Blackie Peyton saß zwischen blühenden Büschen am Rand des chemischen Gartens und lehnte sich zurück, während er das Gesicht zum Himmel wandte. Seine Haut hatte inzwischen ganz schwach Farbe angenommen, und er brauchte keine dunklen Gläser mehr zu tragen. Seine Kleider waren teuer und von guter 45
Machart. Nur seine Gedanken unterschieden ihn von den Scharen umherwandernder Bodenbewohner auf dem Dache New Yorks. Er dachte an Thora. Ob sie ihn wirklich mochte? War ihre Freundlichkeit nicht nur geschäftlicher Natur? Als habe er sie mit seinen Gedanken herbeigerufen, drang ihre Stimme an sein Ohr. „Sie hier, Mr. Peyton? Sie nehmen ja wunderbar Farbe an!“ Thora setzte sich neben ihn. Sie trug weite Hosen und einen metallisch glänzenden Pullover, wie es bei Frauen gerade die Mode war. Die Fliegende Insel rückte immer weiter von der Sonne weg. Beide blickten ihr nach. „Ich versuche, mir vorzustellen, wie es da oben aussieht“, murmelte Peyton. „Waren Sie schon einmal oben, Thora?“ „Ich? Nein. Frauen bekommen keine Erlaubnis. Nicht einmal die Frauen der Luftwaffenleute, die immer in reiche oder einflußreiche Bodenfamilien heiraten. Aber die Luftwaffenfrauen, wie manche sie nennen, leben hier in reichen Wohnsitzen.“ „Ich nehme an, daß Sie viele Chancen hätten, Luftwaffenleute zu heiraten.“ „Nicht ich.“ Sie lachte laut heraus. „Ich habe kein Geld. Sie haben das richtige Gefühl, daß sie so nahe wie möglich an die Bodenaristokratie herankommen müssen.“ „Nur aus diesem Grunde?“ fragte Peyton. „Oder wollen sie Mitglieder dieser Familien als Geiseln für den Fall, daß etwas schiefgeht?“ „Sie stellen gefährliche Fragen, Mr. Peyton. Wie kommen Sie darauf, daß etwas derartiges passieren könnte?“ Er sah ein, daß er fast einen Fehler begangen hätte, und beeilte sich, das Thema zu wechseln. „Ich lasse mich auch von Willie Burgoye nicht mit ‚Mister’ anreden. Tun Sie es bitte auch nicht. Meine Freunde nennen mich Blackie.“ „Danke!“ Thora lächelte ihm zu. „Ich möchte, daß wir 46
Freunde werden. Aber Blackie klingt so – so schrecklich. Wie heißen Sie wirklich?“ „Pierce.“ „Das klingt scharf.“ Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. „Pierce, ich möchte Sie warnen. Fragen Sie die Luftwaffenleute nicht zu neugierig und stoßen Sie sie nicht vor den Kopf. Man wird Sie sofort töten, und das möchte ich nicht erleben.“ „Das klingt sehr nett, wie Sie das so sagen. Ich dachte, Sie gehörten praktisch dazu.“ Wieder schüttelte sie den blonden Kopf. „Ich arbeite nur für sie. General Argyle, der eine Stellung bekleidet, die Repräsentation und Propaganda erfordert, betrachtet mich als gutes Aushängeschild für bestimmte Gelegenheiten. Natürlich verhalte ich mich loyal meinen Arbeitgebern gegenüber, aber ich wurde als armer Leute Kind in der Nähe New Yorks geboren. Ich gehöre hierher. Wahrscheinlich werde ich hier auch wohnen bleiben. Und ich will Sie mit meinen Warnungen auch nicht erschrecken, sondern Ihnen helfen.“ „Das glaube ich“, lächelte Peyton mit emporgezogenen Mundwinkeln. „Sie wissen, ich sagte, daß es mir hier nicht allzugut gefällt. Dabei sind Sie aber nicht inbegriffen, Thora.“ „Danke. Sollen wir nicht ein bißchen Spazierengehen? Die Leute werden Sie gern sehen wollen, und es ist gute Reklame für den nächsten Zirkus.“ * Willi Burgoyne und Peyton arbeiteten zusammen in der Kampfhalle. Nur Gramp war als Zuschauer da. Ungepanzert, nur mit Schild und stumpfen Schwertern fochten die beiden Gladiatoren eifrig. Einmal schrie Willie auf, als ihn Peytons stumpfe Klinge am Ellbogen traf. Schließlich zählte Gramp sie aus, und sie 47
standen sich ein wenig keuchend gegenüber. Willie legte Schwert und Schild nieder. „Sie sind zu gut für mich, Mr. Blackie.“ „Lassen Sie den Mister und machen Sie sich nicht über mich lustig. Sie halten ja die Schläge zurück.“ „Sie tun das. Sie nehmen es nicht ernst.“ „Niemand kann es tödlich ernst nehmen, wenn es kein Kampf auf Leben und Tod ist“, erklärte Peyton. Die drei verließen die Sporthalle und begaben sich in ihre Wohnungen. Als sie an einem Büro vorbeikamen, öffnete sich die Tür. Ein Luftwaffenmann kam heraus. Am Arm führte er einen schäbigen, grauen Mann mit Hakennase. Der Gefangene wandte das Gesicht schnell ab, doch Gramp fuhr zusammen und fluchte in seinen Bart. Als sie in genügender Entfernung von den beiden waren, flüsterte Gramp Peyton zu, so daß Willie es nicht hören konnte: „Kennen Sie den alten Knaben neben dem Flieger, Blackie? Es war der Seemann, mit dem wir an der Bar tranken.“ „Wirklich?“ Peyton wandte sich um und sah dem Paar nach, beschloß jedoch, sein Gesicht nicht zu zeigen. Er ging mit Willie und Gramp zu einem Duschraum. Dort zog Peyton Gramp beiseite. „Sie scheinen Willie nicht zu trauen.“ Gramp wiegte den Kopf hin und her. „Das ist es nicht. Man kennt ihn zu gut und weiß, daß er immer mit uns zusammen ist. Ich fragte Sie danach, als Sie noch unbekannt waren. Wir hoffen, schnell etwas unternehmen zu können.“ „Wenn überhaupt, muß es allerdings schnell gehen“, stellte Peyton fest. „Wenn dieser Seemann den Fliegern ein Garn gesponnen hat. dann sitzen wir wahrscheinlich tief in der Tinte.“ Gramps Augen wurden hart und ernst. „Ich sorge mich nicht um mich. Ich bin alt und leicht zu vergessen. Aber Ihnen, Blackie, kann vieles passieren – man könnte Sie umbringen, ganz einfach.“ Er schnippte mit den Fingern. 48
„Sie haben auch Willie einmal umzubringen versucht“, erinnerte Peyton. „Und doch erfreut er sich bester Gesundheit.“ Willie sang unter der Dusche. Er hatte eine volle Baßstimme, und sein Lied war eine alte, traurige Ballade von einem Gefängnis in Birmingham. Er trat heraus und glänzte wie eine Statue aus poliertem Basalt. „Warum laßt ihr denn die Köpfe so hängen?“ fragte er. „Ihr seht aus, als wäre euch jemand weggestorben.“ „Willie, ich hoffe, Sie sind nicht plötzlich zu einem Wahrsager geworden“, sagte Gramp. 8. Kapitel Der Lärm aus dem gedrängt vollen Stadion drang bis zu den Ankleideräumen, wohin Peyton und Willie in reichgeschmücktem Halbpanzer nach einer besonders blendenden Parade geeilt waren. Beide waren guter Laune. „Gegen wen kämpfen Sie heute, Mr. Blackie?“ „Ich weiß nicht – eine Überraschung. Und wie oft soll ich …“ „Auch ich muß mich heute von einem unbekannten Gegner überraschen lassen“, unterbrach ihn Willie. „Aber ich glaube, ich ahne richtig, was sie sein werden.“ „Sein werden?“ „Erinnern Sie sich an die neuen Tierverschiffungen? Wir sahen sie doch heute morgen.“ „Ich sah ein paar Schweine“, sagte Peyton langsam. „Die grau und schwarz aussahen, nicht sehr groß, schlank, mit menschenähnlichen Augen und feuchten, rosafarbenen Nasen? Die kommen aus Südamerika und heißen Pekaris.“ „Pekaris? Davon habe ich nie gehört. Was können sie denn?“ „Nichts, außer daß sie sehr ungemütliche Kämpfer sind.“ Willie grinste behaglich. „Ich habe gehört, daß sie mit Menschen, Pferden, sogar mit Bären und Panthern fertig werden.“ 49
„Sie scheinen nicht beunruhigt zu sein, Willie.“ „Warum sollte ich auch? Sie werden mich zusammentrampeln wollen, und ich werde über sie springen. Bevor sie sich umdrehen können, mache ich zwei oder drei unschädlich. Wenn sie dann wieder angreifen, springe ich wieder und so fort.“ Sie kamen zur Tür des Ankleideraums. Ein Flieger stand dort. „Ziehen Sie sich anderswo um“, sagte er zu Willie. „Ihre Sachen haben wir schon aus dem Raum entfernt. General Argyle will Peyton allein sprechen.“ Willie nahm Peytons Hand und wünschte ihm alles Gute. Dann verschwand er. Peyton öffnete die Tür und trat ein. Argyle und Thora saßen auf den Stühlen. Thora lächelte. Argyle nickte. Peyton versuchte, nicht erschreckt auszusehen, als er sagte: „Nett, euch zu sehen. Was habt ihr vor?“ Argyle nahm seine Zigarettenspitze aus dem Mund. „Kennen Sie einen Mann namens Bengali, einen sogenannten Dichter?“ Die Wahrheit wäre im Augenblick wohl das Beste. „Natürlich kenne ich ihn, General. Warum?“ „Ich stelle die Fragen. Ich höre, daß Sie und er irgend etwas Dummes auskochen. Erzählen Sie mir alles, und zwar sofort!“ Peyton lächelte heimlich und wandte sich zum Schminktisch. Um Zeit zu gewinnen, nahm er verschiedene Rüstungsstücke auf. „Wo ist Gramp Hooker? Er sollte doch hier sein, um mir zu helfen.“ „Sie verweigern die Antwort!“ beschuldigte ihn Argyle. Denk schnell, Blackie, du sitzt in der Patsche, warnte ihn eine Innere Stimme. Er bückte sich, schnallte ein Stück an, eine Beinschiene, einen Eisenschuh, und machte die Schnallen fest. Da kam ihm eine Erleuchtung. „Sie verdächtigen mich aus irgendeinem Grund, General, und ich weiß nicht, warum. Ich könnte jetzt alles ableugnen, aber Sie würden mir nicht glauben. Sollten wir nicht lieber mit 50
kühlem Kopf in Ruhe die Beschuldigungen durchgehen? Das können wir doch nach der Schau besprechen.“ „Vielleicht gibt es für Sie kein ‚hinterher’ mehr“, sagte Argyle. Peyton legte eine weitere Beinschiene an. „Gladiatoren müssen das riskieren. Ich konzentriere mich jetzt nur auf die Schau und was damit zusammenhängt.“ „Lassen Sie mich mit ihm sprechen“, sagte Thora. Argyle nickte steif und ging hinaus. Peyton sah Thora in die Augen und versuchte in ihrer Miene zu lesen. „Pierce“, sagte sie, „Sie können mir vertrauen. Bitte, sagen Sie mir alles. Sie sitzen in der Klemme, aber ich will versuchen, Ihnen herauszuhelfen.“ Er wünschte, er hätte ihr trauen können, denn er hatte manches zu sagen. „Es würde mir nichts nützen, wenn ich Argyles Verdächtigungen bestätigen würde.“ Thora. kam näher und legte eine Hand auf seine gepanzerte Schulter. „Die Luftwaffenleute haben Beweise, daß Sie in etwas verwickelt sind, was sich ‚Ausschuß gegen die Luftwaffenleute’ nennt und eine Art von Rebellion unternehmen will. Wenn Sie wirklich dazu gehören, sind Sie gefährlich, wegen Ihrer Kenntnisse über Atomkraft.“ Es wurde ihm klar, daß sie die Wahrheit sprach. Wenn man die Dinge in die einfachste Form brachte, war es die Atomkraft, die die Luftwaffenleute in der Luft hielt und über die Bodenbewohner herrschen ließ. Bengali hatte von Experimentiermotoren gesprochen, und Peytons Kenntnisse würden solche Versuche abrunden. Wieder versuchte er Zeit zu gewinnen. „Die anderen und auch Sie glauben, daß ich zu so etwas gehöre, nachdem ich gerade aus dem Gefängnis komme?“ „Die anderen sind ganz sicher, und ich weiß es“, sagte sie einfach. „Sie haben sich verraten, als Sie zu mir im Park sagten, die Frauen der Luftwaffenleute seien wohl Geiseln, falls etwas 51
schiefgeht. Ich sagte Ihnen damals, daß Sie gefährliche Reden führen, doch ich wußte nicht, wie tief Sie verwickelt waren. Argyle und seine Leute nehmen die Behauptung eines Aufstandes sehr ernst.“ „Ich fange geradezu an, mich wichtig zu fühlen“, antwortete er so beiläufig wie er konnte. „Aber wenn alle so sicher sind, daß ich damit zu tun habe, warum handelte man dann nicht einfach, ohne Fragen zu stellen?“ „Weil sie Informationen von Ihnen wollen“, sagte Thora. „Das wird dazu beitragen, die anderen Teilnehmer der Verschwörung zu überführen.“ Peytons verstecktes Lächeln erschien wieder offen. Er nahm einen Helm, der mit Federn und Visier versehen war, setzte ihn jedoch nicht auf. Er machte einen letzten Versuch, zu bluffen. „Ich sollte den Luftwaffenleuten für die hohe Meinung danken, die sie von mir haben, aber wenn – hören Sie, ich sage wenn – ich zu einem solchen Ausschuß gehören würde, oder was es auch immer sei, und ich würde meine Leute verraten, was würde dann aus mir? Ich wäre so schuldig wie zuvor und noch mehr, den ich hätte Informationen gegeben, und alles wäre nutzlos. Erzählen Sie das General Argyle.“ Thora ging zur Tür und legte die Hand auf die Klinke. Sie blieb stehen und wandte sich noch einmal um. „Verstehen Sie nicht, warum ich Sie retten möchte. Pierce?“ „Sie halten den Zirkus auf, Mädchen. Ich muß in die Schau. Die Leute erwarten, daß ich sie amüsiere.“ „Das gehört doch dazu!“ schrie sie. „Eben jetzt hat General Argyle jede Hoffnung aufgegeben, von Ihnen Informationen zu bekommen. Er wird Befehle gegeben haben, die schon vorbereitet waren. Er wird Ihnen Gegner entgegenstellen, die Sie nicht besiegen können!“ „Ich hörte, daß man etwas Ähnliches bei Willie Burgoyne versuchte und keinen Erfolg damit hatte.“ Er atmete tief. „Ich 52
glaube, Sie verschwenden nur Zeit, wenn Sie versuchen, nett zu mir zu sein.“ „Wieso?“ „Soll ich Ihnen meine Lebensgeschichte erzählen, Thora? Ich wurde als armer Teufel geboren. Meine Eltern starben, als ich noch ein Kind war. Ich kam mit ein paar Schuften zusammen und landete mit viel Pech als Mörder im Gefängnis. Ich galt als unverbesserlicher Sträfling. Sie steckten mich in die Grube. Wie ich sehe, wissen Sie, was das ist.“ Sie starrte ihn an. „Wie kommen Sie darauf?“ „Weil Sie zusammenfuhren, als Sie den Namen hörten. In der Grube muß man Atome zertrümmern, um Energie für die Luftwaffenleute zu gewinnen. Es ist eine harte, schmutzige, mörderische Arbeit. Die meisten brechen dabei zusammen, werden verrückt, krank, oder sterben. Bei mir war es anders. Ich stand zwanzig harte, lange Jahre durch. Und daran ließen sie mich hinaus, weil ich einem Wärter das Leben rettete. Ich bin ein entlassener Sträfling, Thora. Seien Sie sich darüber klar.“ „Pierce, dort über dem Ankleidetisch ist ein Lichtschalter“, sagte sie. „Gehen Sie hin und drehen Sie das Licht aus. Behalten Sie mich im Auge.“ „Wozu?“ fragte er. Er ging jedoch hin und tat, was sie verlangt hatte. Der fensterlose Raum war in Dunkelheit getaucht, doch in dieser Schwärze erschienen zwei Gesichter. Das leuchtende Antlitz von Peyton starrte Thoras leuchtendes Antlitz an. Die glühenden Masken bewegten sich in der Dunkelheit aufeinander zu. „Was ist das?“ fragte Peyton hastig. „Ist es nicht klar?“ „Es gibt nur eines, das Ihr Gesicht so glühen lassen kann: Grubenleuchten.“ „Ich habe es genau wie Sie. Dort unten habe ich drei Jahre 53
lang in der Frauenabteilung gearbeitet, von der Sie wahrscheinlich nie gehört haben. Ich war wegen Ermordung eines Fliegers verurteilt.“ „Wieso?“ „Er war vor Argyle Zirkusleiter und sah mich bei einer Veranstaltung. Er war betrunken und wurde mir zu freundlich. Ich gab ihm einen Stoß. Er fiel in die Arena, und ein Tiger packte ihn. Natürlich wurde es Mord genannt.“ „Wie brachten Sie es fertig, wieder herauszukommen?“ „General Argyle besichtigte eines Tages die Grube. Ich wurde ihm aus Anlaß seiner Beförderung gezeigt. Ich trug grobe Kleider, war ungepflegt und hager. Doch er dachte, er könnte etwas aus mir machen. Er brauchte eine attraktive Frau für die Reklame, die ich jetzt mache. Er brauchte auch einen Spion, jemanden, der Männer anziehen konnte, um ihre Gespräche zu belauschen, und ihn und andere Luftwaffenleute darüber auf dem laufenden zu halten, was in der Stadt vorgeht.“ „Ich verstehe, warum Sie eine treue Angestellte sein wollen.“ „Aber, Pierce, mein Herz strebt zu jemandem, der in derselben Grube gearbeitet hat!“ Peyton drehte die Lichter an und nahm seinen Helm. „Gehen Sie zu Argyle“, sagte er. „Sagen Sie ihm, daß ich geschwiegen habe. Ich werde gegen alles und alle kämpfen, die er mir entgegenschickt, und versuchen, das zu tun, was Willie tat. Wenn ich das hinter mir habe …“ „Eben!“ stöhnte Thora. „Das Publikum wird Ihnen enthusiastisch zujubeln – zu begeistert, als daß er Sie töten lassen könnte. Danach kommen wieder neue Fragen.“ „Hinterher spreche ich mit Argyle“, versprach Peyton. „Wenn ich weiß, daß er mich nicht töten kann, werde ich eine Art Kuhhandel um die Informationen machen und entwischen. Drücken Sie mir die Daumen, ja?“ Sie standen nahe beieinander. Thora hob sich plötzlich auf 54
die Zehenspitzen und küßte seinen wilden Mund. Sie wandte sich und rannte hinaus. Peyton setzte den Helm auf und befestigte ihn an seiner Schulterpanzerung. Er zog das Visier vor. Einen Augenblick betrachtete er sich im Spiegel. Er sah wie die Verkörperung kämpfenden Mannestumes aus. Nun, er würde eben versuchen, gerissen zu sein, um die Luftwaffenleute und die Leute hinter Bengali zu überrunden. Er hatte sich eklig in die Nesseln gesetzt. Jetzt war es an ihm, sich herauszuschlagen. Er war davon überzeugt, daß es ihm gelingen würde. Als er auf den Gang trat, wartete ein Bediensteter auf ihn. „Schnell, Peyton! Sie sind in der Arena dran. Das Publikum schreit sich den Hals nach Ihnen wund.“ „Ich komme schon“, erwiderte Peyton. Er stieß den Vorhang beiseite und trat ins Freie. Thoras Kuß zitterte noch auf seinen Lippen, als sie sich vor Kampfesmut spannten. 9. Kapitel Peyton winkte der schreienden Masse mit der Faust zu und faßte die Tür ins Auge, aus der sein ihm unbekannter Gegner kommen mußte. Ein dumpfer Dunst schien vor den Käfigen zu lagern. Die Gesichter im Stadion wurden undeutlich. Das vielfältige Schreien und Zurufen wurde zu einem meergleichen Murmeln. Peyton zog sein Schwert. Hinter dem Visier grinste er sich selbst zu. Er fühlte nicht den leisesten Zweifel an seinem Sieg. Die ihm gegenüberliegende Tür öffnete sich. Eine bewaffnete, gepanzerte Gestalt trat hervor, viel größer als er, bewegte sich mit langsamen, sicheren Schritten auf ihn zu. Der Panzer seines Gegners hätte aus einem Museum gestohlen sein können. Starre, vergoldete Platten bedeckten den mächtigen Rumpf. Der geschlossene Helm mit einem Kamm darauf 55
war durch einen Stahlkragen und ein Kettenhemd mit den Schulterpanzern verbunden. Arme und Gelenke waren durch meisterhaft ineinandergefügte Panzerteile ebensogut geschützt. Selbst die Kettenhandschuhe waren goldpatiniert. Solche Arbeit gab es heute nicht mehr, sagte sich Peyton anerkennend. Die längst verblichenen Hersteller mußten auf jeden Hammerschlag daran stolz gewesen sein. Die Beine waren mit anliegenden, ledernen Breeches bekleidet, die vorn von gebogenen Stahlschienen bedeckt waren. Alles in allem war es eine ebenso gute, vielleicht auch bessere Rüstung als Peytons eigene. Der große Mann lief leicht und sicher heran, trotz der schweren Rüstung. Doch als er näher kam, hielt er inne. Er schien irgendwie unentschlossen. Peyton spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Ich weiß nicht, wer du bist, redete er den anderen innerlich an, aber ich werde dir die Lust am Gladiatorenspiel verleiden. Auch er bewegte sich nun angespannt vorwärts. Wenn die Menge lauter wurde, tat er, als bemerkte er es nicht. Peyton schlug zu, und fühlte den Stoß auf den rasch dazwischengehaltenen Schild des großen Gladiators. Er machte sich auf den Gegenschlag gefaßt, doch er kam nicht. Sein Gegner war zurückgewichen. Jetzt hörte Peyton auch wieder das Publikum. Es raste. „Vorwärts, in den Kampf!“ spottete Peyton. Im Helm klang seine Stimme rauh und dumpf. „Ich spreche sonst nicht zu Fremden, aber wir müssen eine Schau vorführen.“ Er stieß spielerisch seine Spitze nach vorn und suchte an dem Schild vorbeizukommen. Zum Gegenschlag gezwungen, wehrte ihn der andere ab, jedoch ohne Überzeugungskraft. Peyton selbst schlug ihn mit einer Schildwendung leicht zurück und antwortete mit einem gewaltigen Hieb, der die Parade des anderen fast durchschlug und eine Kerbe in die Helmverzierung hieb. 56
„Sind Sie gekommen, um zu kämpfen oder zu spielen?“ höhnte Peyton. „Ich kann nicht für uns beide arbeiten.“ Er schlug den Schild des anderen beiseite, stieß zu und traf den linken Arm an einer Stelle, wo der Schulterschutz einen Augenblick weggeglitten war. Ein sich immer mehr vergrößernder Fleck erschien auf dem leuchtend hellen Panzer. Peyton sah, daß das Zurückweichen seines Gegners sie hart an die Umfassungswand der Arena gebracht hatte – in die Nähe von Argyles Loge. Peyton fühlte sein Blut rasen. Er würde siegen. Er wurde von der schönsten Frau zum Siege angespornt, die er je gesehen hatte. Wenn nur dieser wacklige Held einmal zuschlagen würde und ihm eine Chance gäbe, ihnen einen wirklichen Sieg zu zeigen, wäre er ein Held! Tausend Generale Argyle würden es nicht wagen, ihn beiseite zu schaffen. Das war nicht schwer, dachte Peyton grinsend. Die Füße wurden ihm in den Eisenschuhen leichter statt schwerer. Das Knirschen und Klingen der Panzerung ergab so etwas wie eine Melodie. Die Hände taten, was er ihnen befahl, noch bevor er einen bestimmten Entschluß gefaßt hatte. Er bewegte und schlug sich geschickt und wagte es, Risiken einzugehen, weil sein großer, schwerfälliger Gegner stumpfsinnig, ängstlich, krank oder alles zusammen war. Schild gegen Schild. Er fühlte die Kraft des anderen. Er besaß sie, schien sie jedoch nicht zu benutzen. Es war besser, gegen diesen Fleischkloß nicht anzustürmen und heftig vorzugehen. Halte dich zurück, Blackie! Reize ihn, verwirre ihn! Mach’ ihn lächerlich! Ha! Wieder ein Treffer in die Fuge, wo die Vorderund Hinterstücke des Panzers zusammenstoßen. Mehr Blut. Und endlich griff der Große an, weil ihm nichts anderes übrigblieb. Peyton wartete, bis der riesige, eisenbewehrte Körper fast über ihm war, und tat dann einen großen Sprung. Einen Augenblick konnte sein Gegner sich nicht wenden. Peyton führte mit 57
seinem Schwert einen harten, schlimmen, weitausholenden Schlag aus. Die Klinge fraß sich in einer Helmkante fest. Die große Gestalt schmetterte zu Boden, wie ein gefällter Baum. Sie bebte, rollte auf den Rücken, Schwert und Schild fielen nieder. Sie stand nicht auf. Was tun? Der gestürzte Riese atmete heftig, schüttelte und bewegte sich noch etwas, doch er mußte schwer getroffen sein. Peyton schob ihn mit der Spitze seines Eisenschuhs auf den Sand zurück. Die Schwertspitze auf den Boden gestützt, kreuzte er die Hände über dem Griff. So blieb er stehen. Er blickte zu General Argyles Loge hinüber, um zu sehen, was die Menge wünschte. Über ihren Willen bestand kein Zweifel. Die Fäuste waren hoch erhoben, die Daumen wiesen abwärts. Tod für den am Boden liegenden Mann. Argyle führte die Bewegung gebieterisch aus. Thora tat nichts. Mit verkrampften Händen lächelte sie Peyton zu. Kein menschliches Wesen tötet gern kaltblütig. Peyton runzelte die Brauen. Wer war sein Gegner? Impulsiv stieß er dessen Visier weg. „Willie!“ Willies flaches, dunkles Gesicht wurde seltsam blutlos, leer. Peyton fühlte sich schwanken wie in einem Nebel, der ihn fast erblinden ließ. Er fiel auf die Knie, spürte den Sand unter seinem Panzer knirschen. „Sie waren es also, Mr. Blackie – ich wollte nicht kämpfen …“ Wieder ganz anders sah das Gesicht jetzt aus. Nicht zu Tode getroffen; noch freundlich. Es war einfach leer. So sah der Freund aus, den du getötet hast, durchzuckte Peyton die Erkenntnis. Geschlossen die starren Augen! Blut an deinem Handschuh. Blut deines Freundes! Du hast Willie Burgoyne getötet! Rasch wieder auf die Füße, schnell. Bedienstete kommen mit 58
einer großen Bahre, um Willie wegzutragen. Wirble dein Schwert! „Zurück, ihr Ratten! Niemand berührt ihn! Niemand, hört ihr?“ Die Clowns rennen weg. Sie sehen spaßig aus. Alle im Stadion lachen, doch die Clowns kommen sich gar nicht spaßig vor, das kannst du wetten! Was ist denn das für ein Schreien ringsumher? Dreh’ dich um, Blackie! Sie haben dir etwas anderes entgegengestellt. „Unghh!“ Welches Tier gibt diesen Laut von sich? Was für eine Bestie! Von solchen Wesen hast du nur Bilder gesehen, Geschichten gehört. Es ist ein großer, dick-muskeliger Gorilla. Mit dunklem Gesicht wie Willie. Vielleicht hättest du dich früher mit ihm anfreunden können. Jetzt ist keine Gelegenheit mehr dazu. Er kommt mit seinen kurzen, krummen Beinen auf dich zu, trommelt sich auf die Brust, die hart wie Holz sein muß. Gorillas werden nicht böse geboren. Aber dieser hier war Monate lang eingesperrt, und Männer hänselten und quälten ihn. Alles, wonach er strebt, ist, in Reichweite eines Mannes zu kommen. Und du bist ein Mann, Blackie! Er wird gleich in deiner Nähe sein. Nimm Schild und Schwert auf! Du kämpfst um dein Leben! So schnell? Hat er dich schon umgebracht, bevor du es bemerkt hast? Nein, du stehst noch. Der Gorilla liegt am Boden, ein paar Meter von Willie entfernt, mit deinem Schwert in der Brust. Als er dich angriff, rannte er in dein entgegengehaltenes Schwert. Noch ein dunkles, totes Gesicht. Doch da kommt schon der nächste Angriff. Eine galoppierende, mausgraue Herde von Schweinen. Schweinen? Das sind die Pekaris, die Willie für sich als Gegner erwartete. Üble Gegner das. Wenn sie dir ihre spitzen Hauer ins Fleisch rennen, werfen sie dich zu Boden. Dein Panzer kann dich dann nicht retten. Tue, was Willie 59
tun wollte! Halte dich bereit, mit gebogenen Knien. Hier kommen sie gerade auf dich zu, zwölf oder dreizehn … Spring, Blackie! Du stehst hinter ihnen. Drei mit drei Schlägen. Während sie sich wieder zusammenrotten, springst du wieder, dann tötest du zwei. Nur ein halbes Dutzend ist übrig. Sie halten sich etwas zurück. Warte nicht, bis sie wieder losstürmen, greife selbst an! Sechs kannst du umbringen, bevor sie deine Beinschienen mit den Hauern bearbeiten. Sie liegen alle am Boden. Pekaris, die mit großen Mühen und Unkosten aus den Tropen herbeigeschafft wurden. Du hast sie in neunzig Sekunden niedergestreckt. Hörst du, wie die Menge ihre häßlichen Schreie wieder ertönen läßt? Sie haben einen Elefanten losgelassen. Kein Schmuck, keine Stoßzähne, und die einzigen grausamen Augen, die du je bei einem Elefanten gesehen hast. Du hast von ihm gehört. Man hat ihn dazu abgerichtet, einen Mann niederzuschlagen und sich auf ihn zu knien. Warum solltest du weglaufen? Nimm es mit ihm auf! Doch das Ungeheuer ist bei Willies Leiche stehengeblieben. „Los, laß ihn gehen!“ Der Elefant kniet auf Willie. Er hebt seinen Rüssel. Schlage – schlage hart zu! Hunderte von Muskeln gibt es in einem Elefantenrüssel, keine Knochen. Du kannst ihn mit einem Schlag abtrennen. Der Elefant ist wieder auf den Füßen, speit Blut. Er stirbt, bricht in die Knie, liegt am Boden. Du hast einen Elefanten mit dem Schwert getötet. Und jetzt betäubt dich die Menge. Sieh, sie heben die Hände in die Höhe, Handfläche nach oben! Das Gnadenzeichen – General Argyle kann dich jetzt nicht mehr töten. Das Volk wird dich nicht sterben lassen. Sie wollen dich für eine andere Schau retten. Argyle erkennt die Stimme des Volkes an, selbst, wenn es 60
nicht nur Flieger sind. Auch er macht das Gnadenzeichen. Plötzliches Schweigen. Man kann es förmlich hören. Eine Falltür öffnet sich im Sand. Ein Mikrophon kommt hervor. Du sollst sprechen! Also sprich! Tritt vor, Blackie, öffne dein Visier! Du hast etwas zu sagen. „Sie hätten mich getötet, wenn sich eine Möglichkeit geboten hätte. Sie ließen meinen Freund sterben. Doch sein Tod ist Ihr Ende! Ich lebe noch immer, bin noch immer Ihr Feind, der Feind des Zirkus, der Flieger, die ihn betreiben. Aller überhaupt, die sich ihnen beugen. Jetzt verlasse ich die Arena. Wer es wagt, soll versuchen, mich aufzuhalten. Ich bin von Tod erfüllt, und etwas davon wird den ersten vernichten, der mich berührt!“ Immer noch Schweigen, das wie Sumpfwasser über deinem Haupt steht. Schreite zum Ausgang, Blackie! Deine Füße in den Eisenschuhen sind jetzt nicht leicht, sie sind schwer wie Blei. Irgend jemand könnte dir in den Rücken schießen, wenn du den Zirkus verläßt. Was kümmert es dich? 10. Kapitel Als Peyton in den Ankleideraum wankte, stand Gramp auf und kam auf ihn zu. Peyton hob einen Fechthandschuh. „Faß mich nicht an, Gramp! Ordentliche Männer sollten sich nicht die Finger mit Ratten beschmutzen.“ „Ich habe alles gesehen, Blackie. Sie wußten nicht, daß es Willie war, bis –“ „Nein, ich wußte es nicht.“ Peyton nahm den Helm ab und warf ihn in eine Ecke, daß es rasselte. Er nahm einen Wasserkrug vom Tisch, schüttete sich den Inhalt über den Kopf und in den Panzer. „Er wußte auch nicht, daß ich es war. Aber ich war darauf gefaßt, einen Fremden zu töten, und er war es. Das ist der Unterschied.“ 61
„Sie sind keine Ratte“, sagte Gramp und half ihm den Panzer aufzuschnallen. „Ich kam mit Ihnen, um den Präsidenten des Ausschusses kennenzulernen, Bengali. Ich erklärte mich zum Beitritt bereit. Jetzt habe ich im Zirkus eine Bombe detonieren lassen. Ich wollte auf beide Pferde setzen, um zu sehen, welches das beste für mich war.“ Gramp schwieg. Endlich sagte er: „Sie haben sich für uns entschieden. Das weiß ich, denn Sie würden sonst nicht soviel zugeben.“ Peyton stieß die Eisenschuhe von sich. Er griff nach einem Handtuch. „Hören Sie, Gramp. Ich spüre, daß ein Unwetter über uns heraufzieht. Auch über Bengali. Ich werde versuchen, ihn herauszuschlagen. Aber Sie sind draußen. Bleiben Sie dabei.“ „Ich habe keine Angst!“ versicherte Gramp mit gesträubtem Bart. „Nein, aber Sie können mehr für uns tun, wenn Sie nicht entdeckt werden.“ Er zog sich wieder an. „Ich bin eine Ratte, sagte ich, aber ich habe das richtige Blut in mir, glaube ich. Und diese Luftwaffenleute sind nicht einmal Ratten. Sie sind Wanzen.“ Die Tür öffnete sich. „So, wir sind Wanzen?“ schnappte General Argyle. Er trat ein. Vier Flieger, alle groß und wild aussehend, folgten ihm. Als letzter folgte Bengali mit verzerrtem Gesicht. „Verlassen Sie den Raum!“ befahl er Gramp. Dieser folgte dem Befehl, und Argyle schloß die Tür hinter ihm. „Sind wir Wanzen?“ fragte General Argyle wieder. Peyton bleckte die Zähne in einem überlegenen Lächeln. „Das seid ihr. Alle Flügel der Welt machen keine Schmetterlinge aus euch.“ Ein Flieger ballte die Faust wie ein Zwölf-Pfund-Geschoß, doch Argyle hielt ihn mit einer Bewegung zurück. 62
„Peyton, ich fragte Sie vor der Schau, ob Sie Bengali kennen.“ „Ich sagte ja. Er saß letzte Woche mit mir in Ihrer Loge.“ „Und Sie haben ihn seither nicht gesehen?“ „Wozu sollte ich ihn sehen?“ Peytons Blicke beleidigten Bengali. „Ich bin mit Männern zusammen, nicht mit Orchideen.“ „Bringt den anderen Gefangenen herein!“ befahl Argyle. Einer der Flieger öffnete die Tür und winkte. Der hakennasige Mann, den Peyton in der Unterweltsbar getroffen hatte, kam herein. Argyle wies auf Peyton und sagte zu ihm: „Ist das der Mann, der mit Ihnen getrunken und gegen die Luftwaffenleute gesprochen hat?“ „Ja.“ Argyle wies auf Bengali. „Und dieser hier?“ Der Seemann betrachtete Bengali und schüttelte den Kopf. „Ist das nicht der Mann, der manchmal im Büro hinter der Bar ist?“ „Ich war nie in diesem Büro.“ „Sie können gehen“, sagte Argyle. „Auch Sie, Bengali. Aber Sie bleiben beide in meiner Reichweite.“ Nachdem sie hinausgegangen waren, verschloß Argyle die Tür. „Peyton, Sie stecken in einem faulen Komplott. Ich versuchte heute in der Schau, Ihnen einen leichten Ausweg zu ermöglichen, aber …“ „Ja“, fiel ihm Peyton barsch ins Wort, „nur habe ich alles umgebracht, was mich umbringen sollte. Die Menge gab mir Leben. Man kann mich nicht töten, nicht wahr?“ „Ja“, stimmte der General zu. „Aber wir können Sie halb totschlagen.“ Er setzte sich auf die Tischecke. Die vier Flieger rückten etwas zusammen und beobachteten Peyton. „Sprechen Sie, sonst …“ „Ich habe gesprochen“, sagte Peyton. „Wanzen sind zu langweilig für Gespräche. Also – versuchen Sie das ‚sonst’.“ 63
Argyle zuckte die Schultern. Zwei von ihnen traten an Peytons Seite und schwangen im gleichen Augenblick ihre Fäuste. Er duckte sich schnell. Beide Schwinger gingen fehl. Peyton traf einen der Angreifer in den Magen, trat dem anderen ins Schienbein und sprang weg. Als der nächststehende Mann sich ihm zuwandte, holte Peyton mit der Linken aus. Der sich wendende Kopf schlug hart gegen seine Knöchel, und der Mann ging mit einem Grunzen zu Boden. Blitzartig sprang Peyton den anderen an; seine beiden Fäuste wirbelten so schnell durch die Luft, daß sie nicht mehr zu unterscheiden waren. Er versetzte ihm acht Schläge auf den Rumpf und zwei ins Gesicht. Der zweite Angreifer torkelte gegen den ersten, der sich gerade schwerfällig zu erheben versuchte. Peyton stellte sich mit dem Rücken zu einer Zimmerecke und lachte. Jetzt war er froh, daß der Kampf entbrannt war. „Ich forderte schon einmal zwei Flieger auf, mit mir zu kämpfen!“ keuchte er. „Es sind noch zwei andere da“, sagte Argyle. Die Niedergeschlagenen waren wieder aufgestanden, und alle vier stürzten sich auf Peyton. Er schlug den vordersten aufs Kinn, schnellte an ihm vorbei, versetzte dem nächsten zwei Hiebe ins Gesicht, und schlug den einen, den er gerade erst behandelt hatte, mit einem weiteren Schlag zu Boden. Beide gingen im gleichen Augenblick auf die Bretter, doch ihre Kameraden fielen ihm in den Rücken und schlugen auf ihn los. Sein Kopf dröhnte vor Schlägen. Er duckte sich unter den schützend hochgehobenen Armen weg, wie ein Mann, der sich vor einem Steinregen aus einer Ruine zu decken versucht. Er wandte sich, und beide bearbeiteten sein Gesicht. Unter dem Gewicht der zahlreichen Schläge brach er zusammen. Seine Nase und Wangen waren blutbedeckt, doch sein heimliches Lächeln brach trotzdem durch. 64
Alle vier waren nun schlagend und tretend über ihm. General Argyle hatte sich nicht von seinem Sitz auf der Tischecke wegbewegt. Er zog seinen langen Halter aus einer Brusttasche, steckte sorgfältig eine Zigarette hinein und zündete sie an. Drei oder vier Minuten, die lang wie eine Ewigkeit waren, gingen vorüber. Wie von ferne klang General Argyles Stimme: „Aufhören!“ Sie fielen von allen Seiten von ihm ab. Er ging zu Boden. Er wußte, daß er sich nur auf den Füßen halten konnte, weil die von allen Seiten auf ihn zufliegenden Fäuste ihn aufrecht erhalten hatten. Jetzt brach er schwer zusammen. Er hatte das Gefühl, daß er aus allen Angeln ginge. Einer der Luftwaffenleute drehte ihn mit der Stiefelspitze so, daß er das Gesicht aufwärts kehrte. Argyle stand über ihm – er sah gigantisch aus. „Werden Sie nun sprechen?“ fragte er. Es klang, als sei er weit weg und spräche aus einem schadhaften Telefon. Peyton brachte es fertig, den Kopf zu schütteln. „Sie hatten recht damit, als Sie behaupteten, daß ich Sie nicht töten würde, Peyton. Das Publikum hätte es nicht gutgeheißen. Aber Sie brauchen deshalb nicht von mir wegzukommen. Sagen Sie mir, was ich wissen will, und ich schicke Sie ins Gefängnishospital, Danach bekommen Sie nur leichte Haft.“ „Und – wenn – wenn – ich es nicht tue?“ Argyle wandte den Daumen abwärts, wie er es im Zirkus getan hatte, um Willie Burgoynes Tod zu befehlen. „Zurück in die Grube!“ Atomkraft wurde dort erzeugt. Wenn er davon bekommen und entfliehen konnte, war es Bengalis Ausschuß möglich, mit den Fliegern auf gleicher Ebene zu kämpfen … „Unter der Grube“, sagte Argyle, „ist ein noch tieferes, schlimmeres Loch für die Gefangenen, die selbst für die Atomfabrik zu hart sind. Einmal am Tag wird Essen hinuntergeworfen. Kein Licht. Keine Betten. Man gewinnt dort Inertonerz, um 65
aus diesem schwerelosen Metall Atombehälter herzustellen. Wenn sie nicht ihr Soll abliefern, ist es noch unerträglicher. Jetzt sprechen Sie endlich, sonst kommen Sie dorthin.“ Peyton suchte Worte der Verachtung zu bilden, doch seine aufgeschwollenen Lippen versagten ihm den Dienst. Alles was er tun konnte war, die Zunge herauszustrecken und ein unangenehmes, verächtliches Geräusch von sich zu geben. Argyle wandte sich um und öffnete den Mund, um einen Befehl zu geben. In diesem Augenblick erwachte ein Rest von Kraft in Peytons mißhandeltem Körper. Er riß sich auf und schlug Argyle unter das Ohr. Argyle flog durch den Raum und prallte gegen die Wand. Zugleich verließ auch der Funke von Energie Peytons Glieder, und er fiel noch schlaffer als zuvor zu Boden. Er wußte nicht mehr, wie sie ihn weggebracht hatten. Er erinnerte sich an nichts mehr; außer an einen Traum von der Fliegenden Insel, bei dem er sie mit einer Handvoll Atompulver in kleinste Teile auflöste. * Das Loch unter der Grubensohle war schwärzer als der Weltraum ohne Sterne. Nichts war in dem hohlen Gang zu sehen oder zu hören, bis eine Falltür hoch oben quietschte und ein Flecken gelben Lichtes sie erreichte. „Hallo!“ schrie der Wärter. Die Tür zum Grubengang öffnete sich. Ein phosphoreszierendes Gesicht erschien und wandte sich aufwärts. „Was ist los?“ fragte das Gesicht. „Ihr habt gestern eine Dreivierteltonne zu wenig abgeliefert.“ „Leider.“ „Keine Entschuldigung! Wenn ihr heute nicht acht Tonnen schafft, bekommt ihr heute abend nichts zu essen, sondern statt dessen Tränengas. Sag’ das den anderen.“ 66
Die Falltür schlug zu. Das gelbe Licht erlosch. Der Sprecher der Sträflinge ging in den Schacht zurück. Gesicht, Hände und Arme strahlten genug Grubenleuchten aus, um einen rußfarbenen Felstunnel zu enthüllen, der von Adern und Einsprengöl durchzogen war. Sechs Sträflinge lehnten auf Brechstangen und Schaufeln, während der Sprecher erzählte, was der Wärter gesagt hatte. „Zu sechst können wir acht Tonnen fördern“, brummte der größte unter ihnen. „Aber nicht zu fünft. Der Neue, der im Korb herunterkam, macht uns die Rechnung kaputt.“ Er wies mit der Brechstange auf das Etwas, das Blackie Peytons Gesicht darstellte. „Hör’ mal, Junge, wenn du heute dein Gewicht nicht schaffst, dann werden wir dich mal anstoßen.“ „Mich haben schon Fachleute angestoßen“, gab Peyton zurück. „Ich glaube nicht, daß ihr das besser hinkriegt. Und ich habe soviel wie jeder andere hier gefördert.“ „Das ist gelogen!“ „Das ist die Wahrheit. Ich habe neue Inertonadern gefunden und habe genug davon in den fünf oder sechs Tagen gefördert, die ich hier bin, um uns alle aus diesem Loch herauszubringen.“ „Wenn wir noch mehr Zeit verlieren, und unser Soll nicht erreichen, müssen wir ohne Essen schuften und bekommen Tränengas als Schlafmittel.“ „Tränengas?“ wiederholte Peyton. „Hat der Wärter oben Tränengas?“ „Wir haben es schon einmal zu schmecken bekommen.“ „Großartig!“ rief Peyton. Er ging zu einem Winkel im Tunnel und zog etwas heraus, das wie ein großes, grobes Megaphon aussah. Es war über zwei Meter lang und lief von einem fingerbreiten Trichter aus. Es war kohlschwarz, und er hatte Mühe, es zu heben. „Das habe ich mit dem Inerton gemacht, das ich gefunden habe.“ „Wenn wir das Ding aufbrechen, und mit Felsbrocken und 67
Schmutz vermischen“, sagte ein Sträfling rasch, „gibt es vielleicht genug Erz, um …“ „Keiner bricht es auf“, stellte Peyton fest. „Es ist eine Flugmaschine. Es ist roh, aber es ist Inerton und kann fliegen, wenn es Atomantrieb hat.“ Er nahm einen dunklen Zylinder aus seiner Hosentasche, der ebenfalls aus Inerton bestand, und etwa so breit war wir eine Pistolenpatrone. Als sie ihn sahen, schraken die anderen Sträflinge zurück. „Sei ja vorsichtig!“ warnte einer. „Ich weiß, was ich tue“, sagte Peyton. „Deshalb kam ich hierher. Ich ließ mich hierher stecken, um Inerton und Atomkraft zu bekommen und mitnehmen zu können. Ich wurde auf einer Tragbahre hierhergebracht, aber ich hatte doch die Kraft, die Hand auszustrecken und das zu stehlen, als wir daran vorbeikamen.“ Er steckte den Zylinder in das schmale Ende seines Kegels. „Jetzt kann es fliegen. Wer kommt mit mir? Ich habe den Ausbruch schon bis ins letzte vorbereitet.“ „Nichts zu machen“, brummte der Große. „Wir hätten nicht die geringste Chance. Sie würden uns alle umbringen.“ „Ihr wollt also für immer hier unten bleiben?“ „Nein, aber …“ „Ihr andern seid derselben Ansicht?“ Es erfolgte keine Antwort, nur eine allgemeine Unruhe. „Dann gehe ich allein. Warum sollte ich auch Ballast mitschleppen?“ Die anderen Sträflinge rotteten sich zusammen. Einer meinte, Peytons Flucht würde gegen sie gewendet mit daraus resultierender Bestrafung. Peyton sprengte die Diskussion. „Ihr scheint zu glauben, daß selbst hier das Leben noch schön ist. Ich nicht. Seht her!“ Er nahm die Atompatrone aus dem Zylinder. „Es ist gerade so gesichert, daß es nicht explodiert, wenn es sorgsam behandelt wird. Wenn ihr mit mir Hän68
del anfangen wollt, lasse ich es fallen, und wir sind mitsamt unseren Sorgen aufgehoben.“ Niemand sagte ein Wort. Peyton ging mit seinem Gerät an die Tür, die zu dem Schacht unter der Falltür führte. Er öffnete sie, schritt hinaus und schloß sie hinter sich. Das Leuchten auf seinem Gesicht reichte kaum zum Sehen, doch er kam durch. Er setzte den Kegel auf den Boden, so daß er mit der Spitze nach oben wies, wo die Klappe liegen mußte. Peyton zündete die Patrone und befestigte sie am oberen Ende. Dann schlang er die Arme um den oberen Teil des Kegels. Etwas zischte wie entweichende Luft. Das Gerät bewegte und hob sich. Er klammerte sich mit aller Kraft daran fest und wäre doch fast abgeschüttelt worden. Die Aufstiegsgeschwindigkeit war etwas geringer als die eines Geschosses. Peyton sah die Falltür über sich, zog den Kopf ein und ließ die Kegelspitze die Klappe aufstoßen. Wie ein Vogel stieg er auf und gelangte in einen engen, gelb erleuchteten Raum. Als der Kegel ihn aus der Falltür getragen hatte, ließ Peyton los und fiel schwer auf die Füße. Er erblickte einen Wärter, dessen maßloses Erstaunen ihn hilflos dastehen ließ. Peyton versetzte ihm einen Schlag, und er brach auf dem Boden zusammen. 11. Kapitel Peyton kniete in fliegender Hast zu Boden und riß ihm einige runde Gegenstände vom Gürtel. Es waren Tränengasbehälter. Er stand auf und ging zu einem Sprechgerät, das den Raum mit den oberen Stockwerken verband. Ein Tritt machte es gebrauchsunfähig. Schnell schritt er zu einer Tür, die mit „Dekompressionskammer“ gekennzeichnet war. Er setzte den Mechanismus in Bewegung und nahm wie da69
mals eine Dusche. Dann trat er völlig nackt zur anderen Seite hinaus, wobei er nur noch die Gasbomben mit sich trug. Bevor er die Türen hinter sich schloß, warf er eine Bombe hinein. Sie explodierte in der Dekompressionskammer. Er lächelte. Niemand würde Jagd auf ihn machen, solange das Tränengas ausströmte. Er ging zum Aufzug des nächsten Stockwerks und zertrümmerte eine weitere Sprechanlage. Ein uniformierter Wärter stieß einen Ruf des Erstaunens aus. Peyton wog eine Gasbombe in der Hand und sah ihn an. „Bewegen Sie sich nicht!“ warnte er mit tödlich ernster Stimme. „Kommen Sie her und ziehen Sie die Uniform aus.“ Der Mann gehorchte. Peyton nahm die Uniform, betrat den Lift und ließ ihn nach oben gehen. Während er aufstieg, zog er sich an. Die Uniform paßte ihm wundervoll. Alles, was er noch brauchte, war ein entsprechend grobes und überhebliches Auftreten, um seine Verkleidung als kleiner Gefängnisangestellter zu vervollständigen. Auf jedem Stockwerk passierte er eine Dekompressionskammer und bestieg den Aufzug zum nächsten Stockwerk. Jede Kammer verwandelte er in ein Hindernis, indem er eine Gasbombe hineinwarf; jedes Sprechgerät zerstörte er. Ein oder zwei Wärter, an denen er vorbeikam, nickten, forderten jedoch keinen Ausweis. Er fühlte sich etwas erleichtert. Die einzigen Wärter, die wußten, daß ein Häftling entfloh, waren unten. Die zerstörten Geräte raubten ihnen jede Verständigungsmöglichkeit. Das Tränengas in den Dekompressionskammern machte es ihnen unmöglich, ihn zu verfolgen. Im elften Stockwerk hielt er inne. Hier wurde, wie er wußte, ein Lastenaufzug ständig mit Atompatronen beladen. Er suchte ihn und gesellte sich unaufdringlich zu der Gruppe von Wärtern und Sträflingen, die Metallkästen voll Inertonzylindern von einem großen Stapel zu einem Wagen transportierten. Sie arbeite70
ten so sorgsam und aufmerksam, daß er keine Mühe hatte, seine Taschen mit kleinen Patronen zu füllen, die von Pistolenmunitionsgröße bis zum Ausmaß von Halbliterflaschen reichten. Gleichgültig ging er weiter zu einem Aufzug, auf dem zu lesen war: „Außengelände“. Dieser Aufzug brachte ihn geradewegs zur Oberfläche. Der Druckunterschied war zwar etwas unangenehm, aber nicht schmerzvoll. Außen war es Nacht, etwas frostig, und der Himmel stand voller Sterne. In seiner Nähe hörte er die Stimme des U-Bahn-Kiosks: „Hier U-Bahn New York“. Er lenkte seine Schritte in diese Richtung. Gramp Hooker kam aus der Tür eines schäbigen Lokals zwischen den Pfeilern der Unterwelt hervor und trug einen Krug Bier. Er starrte durch das trübe Licht auf den Mann in Uniform, der dort stand. „Suchen Sie mich?“ fragte Gramp. „Wollen Sie mich festnehmen? Sie …“ Der Uniformierte zog seine tief ins Gesicht gezogene Mütze ab. Gramp ließ den Krug fallen. „Blackie! Ziehen Sie die Mütze wieder auf. Alle Luftwaffenleute und ihre Helfershelfer sind hinter Ihnen her. Sie wissen bereits, daß Sie heute nacht ausgebrochen sind, und es wimmelt von Spitzeln. Ich bin unwichtig, ein verrückter alter Mann. Aber …“ „Führen Sie mich in Bengalis Büro“, sagte Peyton. „Er ist nicht hier. Kommen Sie mit.“ Gramp führte ihn zu einer Seitenstraße, die wenig mehr als ein Pfad zwischen den unzähligen Pfeilern war. Dann trat er einfach in das Gewirr der Pfeiler, und Peyton sah rohe Markierungen an manchen Pfeilern. Gramp erhob seine Stimme zu einem quäkenden Heulen, das wie der Ruf einer Eule klang. Er erhielt Antwort. Gramp schritt vorwärts, auf eine grabenähnliche Vertiefung zwischen den Pfeilern zu, wo Bengali saß – nicht mehr elegant und makellos. 71
In einer Blechbüchse brannte ein kleines Feuerchen. Er sprang auf und schüttelte Peytons Hand. „Sie haben genau das getan, was wir hofften – Sie haben Gramp in der Bar getroffen!“ rief er aus. „Wie kamen Sie aus dem Gefängnis?“ „Zu lang, um es hier zu erzählen. Haben Sie noch eine Möglichkeit, die Flieger zu schlagen?“ „Jetzt oder nie! Argyle begibt sich um Mittag auf die Fliegende Insel, um gegen Torridge eine Kraftprobe zu veranstalten. Er weiß, daß ein Aufstand ausbrechen wird, und will gesattelt sein, bevor es losgeht. Andernfalls muß er als New Yorks Oberbefehlshaber hierbleiben und ihn niederschlagen. Wenn er erst alles in der Hand hat, wird er auch damit fertig. Und wenn er scheitert, wenn also Torridge siegt, dann wird Torridge sorgsam und hart genug vorgehen, um uns bei der ersten Bewegung niederzuzwingen. Jetzt oder nie, aber ich glaube – nie.“ „Schlag’ dir das aus dem Kopf!“ meinte Gramp. „Blackie ist da, und er wird schon etwas aufstellen. Nicht wahr, Blackie?“ „Ja. Bengali, Sie sagten doch einmal, Sie hätten Versuchsmotoren, die mit Atomkraft fliegen können?“ „Ich habe ein Dutzend, aber wir haben keine Flugzeuge – nur die Luftwaffenleute haben welche. Aber auf einem der oberen Stockwerke ist ein Museum mit ein paar alten Modellen, die noch in gutem Zustand sind. Wir könnten die Motoren hineinbauen.“ „Und Piloten? Die einzigen, die fliegen können, sind doch Luftwaffenleute.“ „Der Teufel soll Sie holen!“ schnarrte Gramp, „Im ersten Weltkrieg kämpfte ich gegen Richthofen, später in China, Äthiopien, Spanien und Griechenland.“ „Ich glaube, das erledigt diese Frage“, lachte Peyton. „Aber was uns fehlt, ist Atomkraft“, brummte Bengali. „Sehen Sie, was ich aus dem Loch mitgebracht habe!“ Vorsichtig begann Peyton seine Taschen zu leeren. 72
* Die aeronautische Abteilung des Museums war weiträumig angelegt und voll altertümlicher Flugzeuge. Die eine Seitenwand bestand nur aus Glas, das jetzt die Nachtschwärze zeigte. Von der Decke hing eine Maschine aus Hickoryholz und Seide, die Gramp „Fliegende Mottenkiste“ nannte. Darunter stand ein bleifarbenes Flugzeug mit stahlüberzogenen Flügeln und Leitwerk. An einer anderen Wand waren schnittige Jäger längst vergangener Kriege zu sehen. Kein Stück dieser Ausstellung war jünger als aus dem Jahre 1948. Auf der Schwelle lag der Nachtwächter ausgestreckt und ächzte leise. Ein Schlag von Peyton hatte ihn unsanft dort hinbefördert. Die Motoren wurden zusammengebaut. Bengali hatte auch eine Tasche, die er jetzt öffnete und ein schwarzes Pulver zeigte. „Das habe ich selbst gemacht“, erklärte er. „Ein paar von euch gehen jetzt zum Waffensaal und bringen alle alten Vorderlader, bei denen das Schloß noch in gutem Zustand ist. Wir haben keine Zündhütchen, Peyton, ich dachte, ich hätte gute Nachrichten für Sie, aber es sind schlechte.“ „Schlechte?“ wiederholte Peyton. „Wieso?“ Bengali winkte ihn von den anderen weg. „Wegen Ihrer Freundin Thora. Ich hoffte, sie herbringen zu können. Ich wußte, daß Sie und sie …“ „Woher wußten Sie …?“ „Sie erzählte es mir – und noch mehr. Nachdem man Sie ins Gefängnis gebracht hatte, kam sie und gab mir Informationen. Auf das, was sie erzählte, habe ich den größten Teil meiner Feststellungen über Argyles geplanten Handstreich aufgebaut. Argyle will mit allen bewaffneten Flugzeugen morgen um Mittag in die Stratosphäre aufsteigen und die Insel entern. Die Luftwaffenleute, die hier Dienst tun, stehen hinter ihm.“ 73
„Sie wollten von Thora sprechen“, erinnerte ihn Peyton barsch. „Sie gehört jetzt zu uns. Ich wollte sie mitnehmen, bevor ich mich mit Ihnen traf. Aber sie ist weg.“ Peytons Augen zogen sich zusammen. „Sie gehört zu uns, sagen Sie. Sie ist an einem Ort, den weder Sie noch Argyle kennen. Das bedeutet, daß sie ihr eigenes Spiel spielt, das irgendwie mit dem Aufstand zusammenhängt, etwas, das sie allein tut. Alles ist in Ordnung, Bengali. Ich bin dessen völlig gewiß. Ich werde unsere kostbare Zeit nicht mit Sorgen vertrödeln.“ Gramp gesellte sich ihnen zu. „Diese Flugzeuge sind gut erhalten, aber ich traue den Atommotoren nicht, das heißt, ich weiß nicht, ob die Flugzeuge das noch aushalten. Es kommen dafür nur zwei kleinere Jagdmaschinen in Frage. Das gibt keine große Flotte.“ „Es genügt, um zwei oder drei von uns auf die Fliegende Insel zu bringen“, sagte Peyton. Seine Gefährten starrten ihn erstaunt an. „Wollen Sie mir nicht eine Andeutung geben?“ bat Bengali. „Nur soviel: Sie schaffen es, wenn ich Ihnen verspreche, daß Argyle und Torridge und ihre Nachfolger unschädlich gemacht und kampfunfähig dort sein werden. Auf diese Chance warten Sie doch. Brechen Sie auf, solange Sie noch Zeit haben. Diese Karte und ein Kompaß wird Ihnen gute Dienste leisten. Wir sehen uns dort!“ Er gab Bengali einen Stoß, um ihn zum Gehen zu bewegen, und begab sich dann zu Gramp, der den Motorenwechsel überwachte. Ein anderer graubärtiger Mann namens Wertz war als Pilot für das zweite Flugzeug ausgewählt worden. Andere hatten Sauerstofftanks und -masken gebracht. „Genau was wir brauchen“, stimmte Peyton zu. „Ist auch ein Fallschirm im Haus?“ Es fand sich einer. 74
„Ziehen Sie ihn an, Wertz. Ich lade alle Extraatomgranaten in Ihre Maschine. Sie soll abstürzen“, erklärte Peyton. „Sie werden das Flugzeug auf das Ziel lenken, das ich Ihnen zeige und dann aussteigen. Sie haben die leichteste Aufgabe.“ Er erhob die Stimme. „Wertz und Gramp Hookes bleiben bei ihren Flugzeugen! Der Rest geht mit Bengali. Er wird euch zum schönsten Kampf führen, den ihr je gesehen habt!“ 12. Kapitel Fern oben in der Stratosphäre, den blauen Himmel über sich und eine wolkenverhüllte Erde unter sich, bewegte sich die Fliegende Insel vorwärts. Sie war aus den leichtesten und härtesten Metallen hergestellt. Eine schalenartige Aluminiumbasis, die einen Kilometer im Durchmesser und viele Meter in der Stärke maß, bildete die tragende Schicht. Darauf standen, wie Masten auf einem Schiff, unzählige hohle Türme und Masten aus einer LeichtmetallLegierung, die mit Blattgold besetzt waren, um den Rost abzuhalten und gut sichtbar zu sein. Alles war aufgetakelt und versteift mit Streben, Stützen und Drähten. Zwischen ihnen schwebten wie große Blasen Glaskammern aller Größen und Ausmaße. Sie erzeugten regenbogenfarben aufblitzende Strahlen, wenn das Sonnenlicht sich darin brach. Die größten Kammern waren zentral gelagert und enthielten die mächtigen Atommaschinen, die die Insel in der Luft hielten und sie vorwärts trieben. Andere enthielten die Kompressionspumpen, die unter großem Aufwand die Stratosphäre in atembare Luft verwandelten. Lagerräume für Vorräte aller Art waren, ebenfalls vorhanden, und in den äußersten Reihen auch Hangars für die Flugzeuge. Anderswo lagen die Räume der Insassen, doch diese waren weniger besetzt als alle anderen Räume. 1980 waren es 20 000 Flieger gewesen, die die Welt lenkten. 75
Doch nicht einmal zwanzigtausend Männer können überall zugleich sein. Die meisten davon arbeiteten als Polizisten und Verwaltungsstäbe im Ring der Städte rund um die Erde. Dreitausend jedoch wurden immer auf der Fliegenden Insel gebraucht, um die Welt zu lenken und zu überwachen, die Phantasie der unterworfenen Millionen zu hemmen und einzuschüchtern, mußte sie die Erde jeden Tag einmal umkreisen. Sie war ein Symbol, eine Drohung, doch zugleich war sie das kostspieligste Instrument in der gesamten Geschichte der despotischen Regierungen. Die Türme waren mit Wächtern angefüllt. Eine Spur Unaufmerksamkeit bei einem einzigen Mann konnte die ganze ungefüge Masse das Gleichgewicht verlieren, kippen und abstürzen lassen. Ohne die Schminkmaske, die er während Fernsehsendungen trug, war Marschall Torridge ein Mann mit grauen Schläfen, bleichem Gesicht und zusammengekniffenen Brauen. Sein magerer Körper war gebrechlich in der prächtigen Uniform. Er stand in einem der größten zentralen Wachttürme und spähte durch ein Fernglas auf eine große Pfortluke. Er biß sich auf die Lippen. „Flugzeuge sind im Anflug“, sagte er zu seinen Adjutanten. „Ganze Staffeln. Alle Maschinen des New Yorker Kontingents. Das Mädchen hat die Wahrheit gesagt.“ „Ist das Argyle, der uns angreift?“ „Natürlich ist er es. Wer sollte es sonst sein? Und es muß ein Angriff sein, wie sie sagte. Wir haben keine Flugzeuge, außer Bombern, hier, wie?“ Die Adjutanten schüttelten die Köpfe. Seit zwanzig Jahren hätte sich niemand einen Konflikt mit anderen Flugzeugen träumen lassen. „Rufen Sie alle Leute zusammen, die keinen Dienst haben und bewaffnen Sie sie. Laßt die Rebellen an Bord kommen. 76
Wir wollen uns nicht von ihnen bombardieren lassen. Laßt sie ihre Karten aufdecken. Sie nehmen an, uns überraschen zu können, aber sie sollen sich geirrt haben.“ Schnell begaben ich die Adjutanten weg. Torridge befragte ein Chronometer. In einer halben Stunde würden die silberglänzenden Wespen landen. Dann wären sie gerade über New York. Bis dahin konnte noch manches geschehen. Er trat an einen Glastisch und legte den Schalter eines Sprechgerätes um. „Bringen Sie die Gefangene herein.“ Ein Flieger in Kapitänsuniform brachte Thora. Sie war bleicher denn je, doch nicht ängstlich. Stolz stand sie vor ihm. Ihr wie von Frost glänzendes Haar war etwas verwirrt. „Junge Frau, als Sie gestern mit dem Nachschubflugzeug von New York als blinder Passagier heraufkamen, und mit dieser bizarren Geschichte von Gefahr und drohendem Umsturz hier landeten, war ich zu erregt über die Unklugheit, hierherzukommen. Ich nannte Sie eine Verrückte und eine Lügnerin und nahm Sie gefangen.“ Seine müden Augen wandten sich wieder in die Richtung, aus der Argyles Wespenschwarm herannahte. „Ich stelle jetzt fest, daß ich unrecht hatte. Warum stahlen Sie sich zu mir herauf und riskierten Ihr Leben, um mich zu warnen?“ „Da Sie mir jetzt glauben, will ich es erklären“, erwiderte sie. „General Argyle will an Ihrer Stelle Weltbeherrscher, werden. Er hat einen bestimmten Mann ins Gefängnis geworfen. Meine Hoffnung ist, daß Sie diesen Dienst mit der Freilassung dieses Mannes vergelten.“ „Sie appellieren an meine Dankbarkeit“, bemerkte Torridge. „Sie geht mir völlig ab. Führer können sich solchen Luxus nicht leisten. Ich sollte eigentlich eine Falltür öffnen und Sie von der Insel hinabwerfen.“ Er blickte wieder auf Argyles Flotte. „Sie sind ein ungewöhnlicher Mensch. Sie wissen, was Sie wollen, und sind vernünftig.“ 77
„Ich wünschte“, sagte Thora, „ich könnte dasselbe von Ihnen und den anderen Luftwaffenleuten sagen.“ Torridge starrte sie in einer Art an, die ihre Lippen hätten gefrieren lassen sollen, doch er hatte keinen Erfolg. „Meinen Sie nicht“, brach es aus ihr hervor, „es wüßte nicht jeder, was für eine Farce diese Fliegende Insel ist? Sie sind verzweifelt, überlastet. Die Last der Weltherrschaft ist zu schwer für Sie. Marschall Torridge, Sie sind ein alter Mann!“ „Alt?“ schrie der größte Mann der Erde. „Ich war dreißig Jahre alt, als der Krieg endete. Ich war mit vierzig schon alt, als mein Vorgänger an Herzschwäche starb und ich ihn ersetzte. Jetzt bin ich fünfzig und geradezu prähistorisch. Wenn Sie das gern hören – ich wünsche mir nichts so sehr, wie von hier loszukommen.“ „An was hängen Sie hier?“ fragte Thora dagegen. „Sie mißtrauen und fürchten Ihre Untergebenen, also müssen Sie sie mit blutigen Schauspielen unterhalten. Sie müssen fremde Tiere zum Abschlachten herbeischleppen, wenn der gewöhnliche Komfort nicht zu bekommen ist. Sie pressen Millionen in Städte wie in Gefängnisse, und schweben als der Kerkermeister darüber. Sie reiten auf einem wilden Roß. Sie wollen herunter, wagen es aber nicht, aus Angst, daß es Ihnen die Rippen einschlägt. Und das muß eines Tages geschehen. Argyle ist schon über Ihnen! Ich kann seine Flugzeuge gut sehen.“ „Meine Herrschaft mag wanken“, stimmte Torridge zu. „Bleiben Sie hier und beobachten Sie, wie ich versuche, sie wieder aufzurichten.“ Der Wespenschwarm von Argyles Flugzeugen näherte sich der Fliegenden Insel. Argyle sprach über das Radio. „Hallo! Flugplatz! Hier spricht General Argyle! Bereitet unsere Landung vor!“ . Es erfolgte keine Antwort, doch die Hangars öffneten sich – große, flaschenähnliche Klammern. Die Flugzeuge flogen ein. 78
Kein Bodenpersonal stand da. Die Piloten mußten alle Handreichungen selbst besorgen. Argyle, dessen Plan ursprünglich darin bestanden hatte, das Hangarpersonal gefangenzunehmen, mußte jetzt seine Absichten ändern. Er versammelte seine Männer auf einer kristallumwandeten Terrasse. Fünfhundert Flugzeuge hatten zweitausend Mann heraufgebracht. Alle waren sie bewaffnet, was Torridges Leute nicht sein würden. Er beriet sich mit einer Gruppe Leutnants. „Argyle!“ hallte Torridges Stimme. Vom anderen Ende des Korridors, wo mehrere Glaswände etwas wie einen Schatten erscheinen ließen, tönte die Stimme zu der sich ständig vergrößernden Gruppe heran. Argyle sah hin, erblickte eine schlanke, reich uniformierte Gestalt. Er und seine Gruppe bewegte sich auf den Marschall zu. „Es freut mich, daß Sie sich selbst bemühen, Sir. Woher wußten Sie, daß ich komme?“ „Ein Lastschiff kam gestern von New York herauf“, sagte Torridge. „Ein blondes, bleiches Mädchen war dabei, das mir eine phantastische Geschichte erzählte, daß Sie planten, mich zu stürzen.“ „Ich kenne das Mädchen, Sir“, erklärte Argyle rasch. „Sie ist irre. Schon die Tatsache, daß sie als blinder Passagier hierherkam, beweist das. Sie weiß, was der Bodenbevölkerung bevorsteht, wenn sie Befehle mißachtet.“ „Aha!“ keuchte Torridge. „Sie beabsichtigen, mich zu stürzen und meinen Platz einzunehmen, Argyle! Ich stimme Ihnen nicht darin zu, daß das Mädchen irre ist. Ich halte sie für sehr gesund und habe mich auf Sie vorbereitet.“ „Ziehen Sie Ihre Pistolen!“ krächzte Argyle. „Zielt auf ihn!“ Die Waffen fuhren aus ihren Taschen und richteten sich auf Marschall Torridge. Er fuhr nicht zurück, wich nicht und leistete keinen Widerstand. „Sie erheben die Hand gegen mich, Argyle“, 79
warnte er. „Das freut mich. Meine Vorbereitungen waren nicht umsonst. Ich kann Sie mit ruhigem Gewissen töten.“ „Feuer!“ brüllte Argyle. Die Pistolen krachten alle zusammen. Jede Kugel mußte ihr Ziel getroffen haben, doch Torridge lächelte nur. Er zuckte die Achseln. „Ich sehe, ein einfacher Trick verwirrt Sie, Argyle.“ „Dann nimm das!“ Argyle warf eine Handgranate, die mit Atompulver gefüllt war. Als sie durch die Luft wirbelte, fielen alle aufs Gesicht, um sich zu schützen. Die Explosion erschütterte die Glaskammer und ließ sie erdröhnen. Stille, und dann Torridges ruhiges Lachen. Argyle raffte sich auf. Torridge stand, wo er zuvor gestanden hatte – überhaupt nicht berührt. „Ich stehe nicht wirklich hier, Argyle, sondern in der Kommandozentrale. Ein Fernsehzielstrahl benutzt die Luftmolekülbewegung als Schirm und projiziert mich dahin, wo Sie hingeschossen haben, und ich kann Sie ebenfalls durch Fernsehen beobachten. Sie haben mich auf diese Weise schon oft im Zirkus und anderswo gesehen, doch in Ihrem wahnsinnigen Machtrausch haben Sie niemals darüber nachgedacht.“ In Torridges Stimme schwang Grimm. „Wenn Sie jetzt kämpfen wollen, bin ich dazu bereit. Der Sieger übernimmt die Insel, die Macht und den Ruhm. Der Verlierer hat einen langen Fall und tiefe, sehr tiefe Ruhe.“ „Bereitet euch zum Kampf vor!“ bellte Argyle. „Lauft zurück zu den anderen – mindestens einige von euch. Zieht euch auseinander, haltet die äußere Kammer und die Gänge …“ Eine weitere Explosion schien die große Glashalle zerschmettern zu wollen. Argyle hörte das Brausen der entweichenden Luft, rannte, um sich in Sicherheit zu bringen. Einen Augenblick später brach er keuchend zusammen. Sein schwin80
dendes Bewußtsein bot ihm eine seltsame Vision – das Gesicht Blackie Peytons. Dann sank er in Dunkelheit. 13. Kapitel Hoch oben beobachteten Gramp und Peyton aus ihrer Kanzel gegen die Strahlenflut der Sonne, wie Wertz die Befehle ausführte. Die Fliegende Insel, die von Osten heranschwamm, war von Argyles fliegender Legion überflutet. So sehr war Argyle nur auf seinen Triumph bedacht, daß er überhaupt nicht die dritte Gruppe in der Luft gewahrte. Die beiden Behelfsmaschinen kamen ungesehen vorwärts, als die Fliegende Insel nur noch wenige Minuten von New York entfernt war. Dann setzte Wertz schneidig zum Sturzflug an. Gramp und Peyton sahen ihn mit dem Fallschirm hinausspringen – nicht größer als eine Spinne. Das Flugzeug schlug zwischen den regenbogenfarbenen Kugelkammern auf, und die Insel schwankte bei der mächtigen Explosion seiner Ladung von Atomgranaten. Zwischen den Türmen erschien ein zackiges Loch. Gramp setzte ebenfalls zum Abwärtsflug an. So schnell bewegte sich die Fliegende Insel, daß sie schon unter Wertz an seinem Fallschirm hinweggeglitten war. „Er wird irgendwo auf Long Island landen“, bemerkte Gramp am Steuer. „Bis er seinen Weg nach Hause gefunden hat, ist alles vorbei.“ Peyton sagte nichts und rückte seine Sauerstoffmaske an ihren Platz. Die Umrisse der Insel verschwanden aus dem Blickfeld unter ihrer Maschine. Gramp landete sanft in dem Explosionstrichter. Sie standen auf dem gefährlich gespaltenen und geborstenen Boden eines halben Korridors von etwas, das einmal ein Hangar gewesen war. Um sie herum lagen die Wracks und Trümmer vieler Metallflugzeuge verstreut. Peyton fühlte sich außer Atem. Seine Ohren dröhnten. Zwan81
zig Jahre lang hatte er unter dem Druck der Grube gelebt. Jetzt bewegte er sich schwerfällig über Glasscherben unter dem geringen Druck der Stratosphäre vorwärts. Gramp war neben ihm, drückte seine Ellbogen und wies vorwärts. Der zerstörte Korridor war voll von kämpfenden, erstickenden Fliegern, die sich den Weg durch die durchsichtigen Türen zum Innern mit atembarer Luft zu erkämpfen suchten. Viele fielen und brachen zusammen. Gramp blieb stehen und zog seine Pistole. Peyton tat das gleiche. Sie rannten den Korridor entlang. Man konnte das Innere der Insel durch viele Glaswände sehen. Die Männer zogen sich dorthin zurück. Peyton, der sich trotz seiner Sauerstoffmaske schwach fühlte, erreichte einen Eingang und griff nach der Türklinke. Doch Gramp packte ihn beim Arm und wies auf eine am Boden liegende Gestalt. Es war General Argyle. Sie bückten sich, hoben ihn auf und schleppten ihn mit sich durch die Tür. Der Innendruck schlug sie hinter ihnen fest ins Schloß. Argyle atmete schwer und kam wieder etwas zu Bewußtsein. Er versuchte, vom Boden aufzustehen, doch Peyton hielt ihn mit einem Fuß nieder. Er und Gramp rissen ihre Masken ab. „Wir haben keine Zeit zu verlieren“, keuchte Peyton. „Wo ist die Steueranlage?“ Argyle sah zu ihm auf. „Das ist doch Wahnsinn. Sie können nicht Peyton sein. Sie …“ Peyton riß ihn hoch und setzte ihm die Pistole in den Leib. „Die Steuerung – wo ist sie?“ „Erschießen Sie mich!“ erfrechte sich Argyle. „Bodenbewohner können Flieger nicht herumkommandieren.“ Peyton und Gramp hatten denselben Einfall. Sie schleppten Argyle den Korridor entlang, an den feindlichen Fliegergruppen vorbei, die sich gegenseitig abschossen. Irgendwo ertönten die Arbeitsgeräusche eines mächtigen Atommotors. Sie hielten dar82
auf zu, glitten aus und rutschten alle drei eine Rampe hinunter. Argyle versuchte, ihnen eine Waffe zu entreißen, doch Gramp beruhigte ihn mit einem Schlag. Gerade vor dem größten Raum kamen sie wieder auf die Füße. Vor ihnen stand ein kuppelförmiges Gebäude, das so groß wie eine altertümliche U-Bahn-Station war. Reihe über Reihe türmten sich die Maschinen, die das gigantische Flugwerk in der Luft hielten und antrieben. Die Tür war verschlossen. Sie schossen sie auf und eilten hindurch. „Hier ist, was wir suchen“, sagte Gramp. Er richtete seine Waffe auf einen bleichen Flieger. „Hände hoch, oder …“ „Das können Sie doch nicht“, protestierte dieser, „ich steuere! Das Fernsehgerät.“ Gramp starrte auf den kleinen Bildschirm und schob den Mann weg. Peyton, der den bestürzten Argyle mit einer Hand festhielt, packte den Television-Steuermann mit der anderen. Gramp legte seine Hände auf zwei Hebel, die wie eine Fahrradlenkstange aussahen. Sie reagierten überaus empfindlich auf seine Berührung. „Die müssen das Gleichgewicht halten“, entschied er. „Ich sehe New York auf dem Schirm. Sind wir schon darüber?“ „Natürlich“, schwatzte ihr neuer Gefangener. „Wer sind Sie? Was ist überhaupt los?“ „Argyle und seine Strohmänner versuchen, euch die Insel wegzunehmen“, teilte ihm Peyton mit. „Keiner wird sie bekommen. Wir landen euch jetzt.“ „Landen?“ wiederholte der Steuermann entsetzt. „Aber das – das können Sie doch nicht!“ Er erhob die Stimme. „Hilfe! Hilfe!“ Peyton sah, daß der Saal und die von Maschinen besetzten Gänge von Fliegern wimmelten. Mehrere sahen auf. Doch keiner antwortete. Sie wagten nicht, ihren Arbeitsbereich zu verlassen. 83
„Sechs Minuten von New York entfernt, sagen Sie, Blackie?“ fragte Gramp. „Hier ist eine Karte mit eingezeichnetem Kurs. Dieser See …“ „Das ist er“, sagte Peyton. „Meinen Sie, Sie können diesen weißen Elefanten dort zum Landen bringen?“ „Ich kann ihn am Weiterfliegen hindern“, erwiderte Gramp. „Das reicht doch, nicht?“ Der Steuermann griff nach Peytons Pistole. Dieser schoß nach ihm, und er fiel stöhnend zu Boden. Dann zwang Peyton Argyle nieder auf eine Bank. Das Kampfgetöse draußen wurde schwächer. Jemand stürzte herein. Peyton erkannte Marschall Torridge. „Was ist denn hier los?“ brach es aus ihm hervor. „Wer sind Sie?“ „Setzen Sie sich hier neben Argyle“, befahl Peyton. „Wir landen jetzt auf der Erde.“ Gramp zog an einem großen Hebel. „Vorsichtig!“ schrie Marschall Torridge. „Das ist der Energiehauptschalter! Wenn Sie ihn nach unten ziehen …“ „Das ist alles, was ich wissen wollte“, sagte Gramp. Eine Wasserfläche erschien auf dem Schirm. Er riß den Hebel aus seiner Befestigung und zwang ihn hinunter. Augenblicklich lagen alle Maschinen still. Die Fliegende Insel flog nicht mehr. Sie sank wie ein fallendes Blatt hinab. „Drehen Sie dieses Rad!“ donnerte Torridge Gramp an. „Oder wollen Sie uns alle zerschmettern lassen?“ Gramp setzte es in Bewegung. „Heißt das, daß wir so besser zu Boden kommen? Eine Art Bremsstrahl, wie?“ Ihr Fall verlangsamte sich. Die Männer, die an den Maschinen gearbeitet hatten, verließen nun ihre Plätze und sammelten sich in einer kleinen Gruppe. Ihre Gesichter waren totenbleich. Aus ihrer Mitte erhob sich eine Stimme. „Marschall Torridge, sagen Sie ein Wort, und wir machen diese Piraten unschädlich!“ 84
„Niemand wird unschädlich gemacht“, erwiderte Torridge, indem er sich auf der Bank neben Argyle ausstreckte. „Meine Herren, ich glaube, wir erleben das Ende eines Zeitalters. Unsere Sicherheitsvorrichtungen werden uns vorm Zerschmettern bewahren, aber wenn sie erst gelandet ist, kann die Insel nie mehr fliegen. Das bedeutet das Ende der Flieger.“ „Es freut mich, daß Sie das einsehen“, sagte Gramp. „Das gebe ich niemals zu!“ bellte Argyle. „Torridge, wir haben noch eine Chance. Lassen Sie uns gemeinsame Sache machen. Wenn wir gelandet sind, marschieren wir nach New York und schlagen die alberne Revolution nieder, die diese beiden verkörpern.“ „Wie denn?“ fragte Torridge freundlich. „Wie ich verstanden habe, kamen alle Ihre Flugzeuge beim Aufstand gegen mich mit. Sie werden nicht alle beschädigt sein, aber der Aufprall bei der Landung wird sicher den Rest von Atomenergie freisetzen, den sie noch gespeichert haben. Sie sind also nutzlos, bis wir wieder Energie haben. Ich bin sicher, daß wir New York ohne Flugzeuge nicht unterwerfen können.“ „Sie geben sich in der Hand von Bodenwürmern geschlagen?“ explodierte Argyle. Als Antwort wies Torridge auf Peyton und Gramp. „Hier sind zwei von denen, die unsere Macht zunichte gemacht haben“, sagte er. Wieder gähnte er und sagte zu Peyton: „Werden Sie erstaunt sein, wenn ich Ihnen sage, daß ich mich erleichtert fühle?“ Peyton schüttelte den Kopf. „Sie sehen müde und verbraucht aus. Da Sie jetzt wissen, daß Sie die Fliegende Insel nicht mehr leiten, möchten Sie sich vielleicht ausstrecken und ein kleines Nickerchen machen.“ „Ich möchte lieber wachbleiben und das Ende miterleben. Für den Sieger wird es ein großer Spaß sein. Es wäre albern, nicht zuzugeben, daß nun unsere Herrschaft zu Ende ist. Sie 85
müssen die Tragweite dieser Tatsache verstehen. Die Insel war eine Nadel, die täglich einen Faden durch die Kette der Erdenstädte zog. Jetzt sind es ebenso viele verstreute Perlen. Jede beherbergt Massen und ein Kontingent von Fliegern, die nicht wissen, was anderswo geschieht. Manche unserer Flugzeuge könnten die Entfernung zwischen den Städten überbrücken, doch ich zweifle, ob wir Piloten haben, die dazu geschult sind. Alle sind voneinander abgeschnitten.“ „Das gilt nur für euch Flieger“, brummte Gramp. „Wer sagt, daß sonst niemand fliegen kann? Ich kann ein Flugzeug überallhin fliegen, wenn ich eine Karte und Instrumente habe, Vor fünfzig Jahren …“ „Wirklich?“ Torridge wies auf Argyle. „Da haben Sie es! Unser Herrschaftssystem hat uns einseitig werden lassen. Wir haben Fähigkeiten und Talente verlorengehen lassen und vergessen, daß erfahrene alte Leute, wie er, noch am Leben sind.“ Argyle dachte über etwas anderes nach. Peytons Pistolenmündung war gesunken. Argyle rückte seine Füße zusammen und sprang. Die Taktik hatte er Peyton abgesehen. Seine Linke umspannte Peytons rechtes Handgelenk. Seine rechte Hand ballte sich und fuhr Peyton ins Gesicht. Einen Augenblick später entwand er ihm die Waffe und schlug Peyton damit über den Kopf. „Ich siege!“ schrie er durch die zerbrochene Tür. „Hier ist Argyle! Kommt und helft mir, Rebellen!“ Jemand stürzte herein – eine schlanke Gestalt mit blondem Haar. Thora hatte man im Gefängnis alleingelassen, und sie war entflohen. Von hinten faßte sie Argyle beim Hals. Einen Augenblick später hatte Peyton sich freigerungen und stürzte sich auf den General. Argyle hing schlaff zwischen Thoras Armen. Sie ließ bestürzte Blicke von einem zum anderen gehen. „Was geht denn hier vor?“ stammelte sie. „Draußen brachen 86
Kämpfe aus. Flieger, die überall fragten: ‚Für Torridge oder Argyle?’ Dann schossen sie. Jetzt haben sich alle hinter Einrichtungsstücken verkrochen und spähen nur hervor.“ „Sie wissen, was Ihnen noch nicht klar ist“, teilte ihr Torridge mit. „Die Fliegende Insel hat ihren Flug beendet. Sie geht nieder wie ein müder Käfer.“ Er blickte auf ein Armaturenbrett. „Wir landen gleich.“ Und sie landeten – mit einem heftigen Stoß und starkem Krachen und Splittern, im seichten Wasser des Lake Hopatcong. Wenige konnten sich auf den Beinen halten. Peyton und Thora wurden plötzlich zu Boden geworfen, wobei sie sich aneinanderklammerten. Gramp hielt sich an den Hebeln fest und blieb so im Gleichgewicht. Peyton stand auf. „Draußen stehen meine Leute“, warnte er für alle vernehmlich, „in großer Zahl, bewaffnet und angriffslustig. Wenn Sie tun, was ich Ihnen sage, wird keinem etwas geschehen. Werfen Sie hier Ihre Waffen weg, und gehen Sie mit erhobenen Händen hinaus. Waten Sie zum Strand und ergeben Sie sich.“ Bleiche Gesichter starrten ihn von allen Seiten an. Marschall Torridge sprach – zum ersten Mal sichtbar lebendig. „Hören Sie nicht, was Ihr neuer Befehlshaber sagt? Tun Sie es! Die Waffen weg, die Hände hoch – vorwärts marsch!“ 14. Kapitel Bengali entließ bleich und übernächtig den letzten Arbeitsausschuß aus seinem Büro. Es war ein vornehmes Büro im gleichen Gebäude, das den Appellationsgerichtshof beherbergte – sehr verschieden von dem versteckten Raum hinter der Bar, oder dem grabähnlichen Versteck zwischen den Pfeilern. Noch eine Person trat ein. Bengali seufzte und lächelte. „Kommen Sie herein, Blackie“, sagte er. „Sie sind der erste 87
Mensch, den ich heute wirklich gern sehe. Die Schlacht ist vorbei, aber alles andere fängt erst an.“ „Die Schlacht war eine Enttäuschung“, bemerkte Peyton und setzte sich. „Da steht man etwas Riesigem, Steinhartem gegenüber und meint, man muß dabei das Leben lassen, und nach ein paar Schlägen kippt es um. Es war wie ein Traum.“ „Richtig. Und die Planung jetzt ist eine andere Art von Traum. Man sieht etwas Kleines, Harmloses vor sich, und mit einem Schlag schwillt es zu einem furchtbaren Wirbel an. Ich glaube, ich würde alles über Bord werfen, wenn man mich ließe, Blackie.“ Er warf einen Blick auf seine Notizen. „Unsere Vertretung in anderen Städten zum Beispiel. Ich habe das in die Hände von Gramp Hooker gelegt. Er wird in einem Flugzeug den Weg um die Erde befliegen, den früher die Fliegende Insel als Kurs hatte. Torridge – Gott sei Dank haben wir ihn lebend geborgen – wird mit den Verwaltern in den einzelnen Städten verhandeln. Ich kann mir vorstellen, wie schwer ihm das fallen wird, was er zu sagen hat.“ „Da wir gerade von Torridge sprechen – Sie sehen allmählich fast genauso müde und nervös aus wie er.“ „Er haßte die Regierungsgeschäfte. Jeder, der so denkt, ist nicht schlecht von Grund auf, ganz gleich, wessen Uniform er trägt. Es sind die Männer, die Ruhm und Macht lieben, wie Argyle, die man fürchten und bekämpfen muß. Die Bevölkerung der anderen Städte wird froh sein über die Veränderungen, sobald diese einmal durchgesickert sind. Langsam können wir dann die Freiheit wieder einführen. Besser langsam als überhaupt nie. Übrigens, dieses Mädchen, Thora, hat sich um eine Arbeit beworben.“ Peyton nahm die Zigarette wieder aus dem Mund. „Arbeit? Was für eine Arbeit?“ 88
„Wir wollen die Wildnis wieder urbar machen. Schon haben Leute beantragt, aufs Land zurück zu dürfen. Ich organisiere eine Gruppe, die ich nach Jersey schicken will. Wir werden die niedergegangene Fliegende Insel als Feldquartier und Vorratsmagazin benutzen, um das herum Land gerodet und bepflanzt wird. Zuerst werden wir Fallschirmjäger mit Äxten absetzen, um einen Flugplatz anzulegen. Später …“ „Und Thora will dorthin? Dieses Mädchen? Sie versteht doch nicht das geringste von Landwirtschaft!“ „Danke für diese freundlichen Worte, Mr. Peyton!“ sagte Thora, die vom Nebenraum hereinkam. „Bengali“, sagte Peyton zu dem Mann am Tisch. „Streichen Sie sie von der Liste und geben Sie mir die Teilliste. Ich kann das erledigen. Sie wissen, ich kann mit Arbeitern umgehen, und auf mich ist Verlaß.“ „Als ob ich nicht mit Arbeitern umgehen könnte oder auf mich kein Verlaß wäre!“ sagte Thora eisig. Bengali sah von einem zum anderen. „Ich werde Sie beide dorthin schicken“, sagte er schließlich. „Frische Luft und harte Arbeit werden Ihnen gut tun. Ich möchte nicht, daß Sie sich hier streiten, oder einer den Kopf hängen läßt. Jetzt diskutiert anderswo weiter. Ich habe Tag- und Nachtschicht.“ Thora eilte in den anstoßenden Raum, Peyton hinter ihr her. Er hielt sie vor der Tür fest. „Wer hat denn behauptet, daß kein Verlaß auf dich wäre?“ schrie er. „Thora, wir werden eine Zukunft bauen, auf die Verlaß ist – unsere eigene!“ „Lassen Sie mich gehen, Mr. Peyton“, bat Thora mit erstickter Stimme. „So fängt man keine Farmpartnerschaft an. Laß los, Pierce! Gramp, wo sind Sie? Warum legen Sie nicht Hand an und befreien mich aus den Klauen dieses Wilden?“ Gramp, der an einem papierübersäten Tisch saß, glotzte sie wie eine bärtige Eule an, und gluckste dann: 89
„Weil ich fast fünfundachtzig bin – der Kuckuck soll euch holen!“ – Ende –
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