Jules Verne Die geheimnisvolle Insel Jules Verne, der unübertroffene Meister des phantastischen, abenteuerlichen Romans...
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Jules Verne Die geheimnisvolle Insel Jules Verne, der unübertroffene Meister des phantastischen, abenteuerlichen Romans. Seine Utopien sind teils Wirklichkeit geworden, teils auch heute noch unerreichbar. Immer aber bleibt er der fesselnde, abenteuerliche Erzähler. Fünf Menschen sind auf der Flucht. Ein Orkan verschlägt sie auf eine unbekannte Insel. Mehrmals ist ihre Lage verzweifelt, aber eine rätselhafte, überlegene Kraft rettet sie. Haben sie einen unsichtbaren Beschützer? Wie sie immer wieder versuchen, den mächtigen Beherrscher der Insel aufzuspüren, wie er sich ihnen endlich zu erkennen gibt, das ist so mitreißend erzählt, daß der Leser wirklich auf einer geheimnisvollen Insel lebt - bis zur letzten Seite. Für Jungen ab 12 Jahren Best.-Nr. 517
JULES VERNE
Die geheimnisvolle Insel
NEUER JUGENDSCHRIFTEN-VERLAG Aus dem Französischen übersetzt und zeitgemäß bearbeitet von Walter Heichen.
Einbandbild: Ollver Textzeichnungen: Walter Kellermann. sämtliche Rechte, einschließlich der für Bild und Ton, vom Verlag vorbehalten Printed In Germany. (c) Neuer Jugendscnriften-Verlag 1358. Satz und Druck: Göttinger Druckerei- und Verlagsgesellschaft m. b. H.
1. Über der aufgewühlten Wasserwüste des Stillen Ozeans trieb ein Luftballon. Der Orkan hetzte ihn vor sich her. Das Wetter wütete schon seit vier Tagen. Wie kam es, daß ein Luftballon sich in diesen Sturm hineingewagt hatte? Wo war er abgeflogen? Wen trug er in seiner Gondel? Welchem Ziel galt die tollkühne Fahrt? Zu welchem Zweck war sie unternommen worden? Es war der furchtbarste Sturm, den die Wetterstatistik seit Jahren zu verzeichnen hatte. Er richtete in vielen Städten Amerikas, Asiens und Europas schweren Schaden an, legte ganze Wälder nieder, warf Schiffe an die Küsten, brachte Tausende von Menschen ums Leben, machte Hunderttausende obdachlos. Ein niedliches Spielzeug war für ihn dieser Ballon, und die fünf Menschen in der Gondel sollten die Vermessenheit büßen, sich so wenig vor ihm zu fürchten. Lange genug war das armselige Ding vor ihm hergeflüchtet, hatten die Verwegenen ihm getrotzt. Schluß jetzt! Als der Ballon noch in den höheren Luftschichten schwebte, brauchten die Männer in der Gondel den Sturm nicht zu
fürchten. Er konnte ihnen nichts anhaben. Sie sahen weder Land noch Meer. Das dichte Gewölk unter ihnen gab keinen Durchblick frei. Sie hörten nicht das Brüllen des Orkans, noch das Brausen der Flut. Sie wurden erst unruhig, als sie plötzlich merkten, daß aus der Hülle Gas zu entweichen begann. Sie konnten sich nicht erklären, wie das zuging; aber sie konnten auch nichts dagegen tun. Sie warteten ab. Und dann gerieten sie in den Bereich des Sturmes, der sich mit wildem Zorn über sie warf. Nun wußten sie, woran sie waren. Sie zauderten keinen Augenblick, allen Ballast auszuwerfen, der sich an Bord befand. Der Ballon stieg wieder in die Höhe, der Sturm schoß hinter ihm her, aber über 4500 Fuß kam er nicht hinauf. Der Ballon war ihm entronnen. Es war nur eine kurze Gnadenfrist. Der Riß in der Hülle, mochte er noch so winzig sein, ließ sich nicht schließen, das Entweichen des Gases nicht abstellen; unaufhaltsam begann der Ballon wieder zu sinken. Das Letzte, was es an Ballast noch gab, flog über Bord: die Waffen, die Munition, eine kleine Kiste mit Geld, Messer, Gebrauchsgegenstände, Proviant, alles, was irgendwie Gewicht hatte. „Steigen wir wieder?“ „Im Gegenteil, wir fallen weiter. Mir ist, als hörte ich Wellenschlag.“ „Wie tief unter uns?“ „Höchstens 3000 Fuß, schätze ich.“ Über Nacht ließ der Sturm nach. Das Gewölk löste sich allmählich auf. Zwischen den treibenden Dunstfetzen wurde der Himmel sichtbar. Die See in der Tiefe ging noch immer hoch. „Der Ballon fängt an, sich in die Länge zu ziehen.“ „Wie soll das anders sein, wenn Gas ausströmt? Bald wird er wie ein Ei aussehen, und schließlich wird die leere Hülle wie ein Segel in der Luft flattern. Wenn der Wind uns nicht an ein
Land treibt, sind wir verloren.“ „Von Land keine Spur zu sehen. Nichts als Wasser !“ „Auch kein Schiff?“ „Bei dem Sturm?!“ Der Ballon fiel immer tiefer. Mittags um 13 Uhr schwebte er kaum noch 400 Fuß über den Wogen. Sie konnten den Augenblick errechnen, an dem das grausame Spiel ein Ende nehmen mußte. Schon dröhnte das Brausen der Flut wie Triumphgebrüll zu ihnen empor. Da schrie einer: „Land! Land!“ Sie sahen alle den dunklen Streifen am fernen Horizont. Der Ballon trieb gerade darauf zu. Sollten sie elend ertrinken angesichts einer rettenden Küste? .Nichts mehr abzuwerfen?“ .Nichts !“ .Doch! Die Gondel. Wir halten uns am Netz fest!* „Weg mit der Gondel!“ Fünf Arme sägten mit Messern an den Tauen. Mit dumpfem Klatschen schlug der Korb aufs Wasser, über den festgeklammerten Menschen hob sich mit dem spärlichen Rest an Gas die Hülle noch einmal, ein riesiger leerer Sack, verschrumpft und kraftlos. Dann sank sie wieder unaufhaltsam, die Brandung flutete über sie hinweg. Die Unglücklichen hatten den Tod vor Augen. Dann war es, als wenn ihr Lebenswille diesem ausgepumpten Gewebe einen letzten Auftrieb gäbe. Mit einem Sprunge schien es sich der mörderischen See zu entreißen, warf sich in den Wind und erreichte den Strand. Auf einer Düne, wenige Meter über der Meeresfläche, sank es zusammen. Aber es lag nur minutenlang still, dann packte der Wind es von neuem, hob es auf und riß es mit sich weg. Fünf Männer hatte es getragen, nur vier ließ es zurück. Wie ging das zu? Wo war der fünfte? Zermürbt von der
Sturmfahrt, die sie überstanden hatten, halb betäubt von dem Aufschlag auf die Küste, geblendet vom Gischt, vom Wasser überschwemmt, waren sie erst nach einer Weile imstande, sich aufzurichten, und dann erst sahen sie, daß einer von ihnen fehlte. Die Augen noch verschleiert und verklebt vom Brandungsschaum, suchten sie ringsum den Vermißten. Er konnte doch nicht weit sein! Er war ja mit ihnen ans Land geworfen worden. Sie stolperten mit taumelnden Schritten nach allen Seiten hin. Sie fanden ihn nicht.
2. In Nordamerika gab es um die Mitte des vorigen Jahrhunderts noch die Sklavenwirtschaft. In den Staaten des Nordens bestand sie nicht allgemein; in den Südstaaten aber gab es überhaupt kein Haus ohne Sklaven. Dort saßen die großen, schwerreichen Grundbesitzer, und das hauptsächliche Erzeugnis ihrer Pflanzungen war Baumwolle. Nun ist Baumwollpflücken in dem subtropischen Klima, das dort herrscht, keine Sache für weiße Menschen. Dazu mußte man Neger anstellen. Zudem arbeiteten die „Nigger“ billiger,' man brauchte ihnen nämlich keinen Lohn zu zahlen, und mit ihrer Unterbringung, Bekleidung und Beköstigung konnte man es halten, wie man wollte. Alle Welt wußte um diese Zustände, aber niemand kümmerte sich darum. Eines Tages wurde ein Mann zum Präsidenten gewählt, der es sich zur Lebensaufgabe gesetzt hatte, diese Kulturschande zu beseitigen. Abraham Lincoln, der neue Präsident, war ein Bauernsohn, der sich erst als junger Mann einige Bildung aneignen konnte, ein ehrlicher, lauterer Mensch, von gütigem,
doch festem Charakter, menschlich denkend und fühlend, fromm und von der Gerechtigkeit seiner Sache zutiefst überzeugt. Sowie seine Wahl bekannt wurde, wußte in den Vereinigten Staaten jedermann, was zu erwarten war. Die Staaten des Südens zogen sofort die einzige für sie brauchbare Folgerung. Sie traten aus der Union aus, schlössen sich zu einem selbständigen Bund zusammen und stellten ihren eigenen Präsidenten auf. Gegen diesen lange gehegten Wunsch, die Vorherrschaft der Nordstaaten zu brechen, trat fast die Angelegenheit der Sklaverei zurück. Daß kein Farmer daran dachte, auf die billigen Arbeitskräfte zu verzichten, den „Niggern“ einen vorgeschriebenen Lohn zu zahlen und sie als freie Menschen zu behandeln, das war sowieso selbstverständlich. Die Feindseligkeiten begannen im Jahre 1861. Eine Zeitlang schien es, als ob der Norden unterliegen würde. Aber er hatte doch den längeren Atem. Und er hatte die gerechte Sache für sich. Zuletzt neigte sich ihm der endgültige Sieg zu. Der Regierungssitz der südstaatlichen Union war Richmond, die Hauptstadt des Staates Virginia und zu der Zeit, da unsere Erzählung spielt, ihr letzter Stützpunkt. Sie liegt am St. Jamesfluß, 200 km von dessen Mündung in die ChesapeakeBay entfernt, die wir an der Ostküste finden, nur 125 deutsche Meilen südlich von Washington, das bis dahin Regierungssitz der gesamten Union und während des Bürgerkrieges Hauptstadt der Nordstaaten war. Und um eben diese Zeit, im Jahre 1865, war Richmond eingeschlossen von den Truppen der Nordstaaten. Es wartete auf Entsatz, und General Grant, der Oberbefehlshaber der Nordarmeen, wartete auf die Kapitulation. Im Verlauf der Belagerung waren fünf Nordstaatler in Gefangenschaft geraten, zwei zur gleichen Zeit und bei demselben Unternehmen, zwei bei einer ändern Gelegenheit. Sie durften sich frei in der Stadt bewegen; denn man brauchte
nicht zu befürchten, daß sie entwischen könnten; es gab keine Möglichkeit zur Flucht. So wenigstens glaubte der Kommandant. Er kam auch nicht auf den Gedanken, daß er seinen Gefangenen ein Mittel zur Flucht in die Hand spielte, als er einen Luftballon herstellen ließ, der eine Botschaft an den Generalstab der eigenen Truppe befördern sollte. Der Luftballon war schon seit kurzer Zeit da, aber er konnte nicht abfliegen, denn gerade in diesen kritischen Tagen brach plötzlich ein ungeheurer Sturm los, wie man ihn noch nie erlebt hatte. Welcher normale Mensch hätte auf die Idee verfallen können, in einem Luftballon bei solchem Wetter das Weite zu suchen?
3. Zwei Menschen aber kamen auf diesen Einfall und verwirklichten ihn. Einer von ihnen, Ingenieur, Pionieroffizier in General Grants Armee, Cyrus Smith, ging am Nachmittag des 20. März in dem Zimmer, das man ihm zur Wohnung angewiesen hatte, auf und nieder. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und blickte nach Westen aus, wo er die Truppen wußte, die im Halbkreis die Stadt umklammerten. Er erwartete, endlich die Kanonenschüsse zu hören, die der Erstürmung von Richmond vorhergehen würden. Er setzte keinen Fuß auf die Straße, nicht weil er sich als Unionsoffizier etwa vor dem Pöbel der Rebellen gefürchtet hätte, sondern weil er sich des blöden Zufalls schämte, dem er die Gefangenschaft verdankte. Diesem Manne hatte die Regierung als erprobtem Ingenieur und Gelehrten von Rang die Aufsicht über das Eisenbahnwesen übertragen, das in strategischer Beziehung eine große Rolle im
Kriege spielte. Er war gebürtiger Nordamerikaner und ein glühender Patriot, 45 Jahre alt, hager und sehnig, Haar und Schnurrbart kurz geschoren. Seinem Gesicht sah man die Beschäftigung mit großen Entwürfen an. Er hatte nicht nur studiert, sondern auch praktisch gearbeitet, und so verfügte er sowohl über ein gründliches Wissen wie auch über eine große handwerkliche Fertigkeit. Die Hochschule hatte ihn zum unermüdlichen Grübler und Erfinder, die Werkstatt zum eisernen Manne der Tat gemacht. Da er dem Generalstab angehörte, hatte er bis zum Tage seiner Gefangennahme fast alle großen Unternehmungen des Krieges miterlebt. Von der letzten entscheidenden Wendung wußte er nichts. Er konnte nicht ahnen, daß von dem Tage ab, da er den schicksalsschweren Entschluß zu einem Fluchtversuch faßte und ausführte, bis zur Kapitulation der Stadt nur drei Wochen noch ins Land gehen sollten. Hätte er es gewußt, so würde er sicherlich diese kurze Frist noch ausgeharrt haben, statt in einem Luftballon bei schwerem Sturm eine Fahrt ins Ungewisse zu wagen. Während Cyrus Smith auf und niederging, saß in einem Stuhle sein Freund und Schicksalsgenosse Gideon Spilett. Das waren die beiden, die zusammen bei einem SpähtruppUnternehmen von den Südstaatlern geschnappt wurden. Spilett gehörte der Truppe als Kriegsberichterstatter einer großen New Yorker Zeitung an Er gehörte zu den wenigen Männern seines Faches, die im Kugelregen schreiben, aus dem Schützengraben heraus eine Schlacht schildern, mitten im Kanonenfeuer von einem Artilleriekampf erzählen. Die Leser der Zeitung bewunderten seinen Mut nicht minder als seine Feder. Die Nummern mit den Schlagzeilen von Gideon Spilett wurden den Verkäufern aus der Hand gerissen. Er war damals 40 Jahre alt, hochgewachsen von Gestalt, drahtig und beweglich wie ein Jüngling, ein Quirlwind an Körper und Geist. Als Teilnehmer an zahlreichen Expeditionen
hatte er die Eiswüsten der Pole, die Dschungeln des Äquators, die Inselwelten der Ozeane durchstreift, und er schreckte auch jetzt vor nichts zurück, was ihn zu Neuem, Unbekanntem zu führen versprach. Zur Zeit hatten die beiden Männer nur ein Ziel vor Augen: Hinaus aus Richmond, zurück zu Grant! Das war der Inhalt all ihrer Gespräche, das Problem, über das sie sich unermüdlich den Kopf zerbrachen. Es klopfte an die Tür. „Herein!“ sagte Cyrus Smith und drehte sich am Fenster um, ohne seinen Platz zu verlassen., Gideon Spilett sah gleichgültig auf. Beiden schwante in diesem Augenblick nicht, daß in den nächsten Minuten über Jahre ihrer Zukunft entschieden werden sollte. Herein trat ein Mann, dem man auf den ersten Blick, auch wenn er nicht Marineuniform getragen hätte, die Teerjacke ansah. „Guten Tag, Mr. Smith! Entschuldigen Sie bitte, daß ich zu so später Stunde bei Ihnen eindringe. Mein Name ist Pencroff. Ich bin Bootsmann bei der nordamerikanischen Flotte und Kriegsgefangener wie Sie. Ich habe ihnen einen Vorschlag zu machen. * Ein Hüne von Gestalt, eine rotblonde Schifferkrause um Backen und Kehle, kleine, scharfe, flinke Augen, eine Haut wie Leder. Er roch förmlich nach Wind und Wetter. Er schien Spannkraft und Unternehmungslust aus jeder Pore zu atmen. Bei seinen Worten hatte er einen fragenden Blick auf den Gast des Ingenieurs geworfen. „Dies ist mein Freund, Gideon Spilett, Zeitungsreporter“, erklärte Smith. „Der kann alles hören, was Sie zu sagen haben. Sie brauchen kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Was haben Sie denn vorzuschlagen? Lassen Sie hören!“ Pencroff: „Ich meine, Mr. Smith, Sie haben die Gefangenschaft genau so satt wie ich.“ Smith: „Das dürfen Sie getrost behaupten.“
Pencroff: „Also hegen Sie ebenso sehr wie ich den Wunsch auszureißen.“ Smith: „Das steht genau so fest. Aber Sie sprachen von einem Vorschlag. Wir beide grübeln fortwährend über Mittel und Wege zur Flucht. Wissen Sie einen?“ Pencroff trat zu ihm ans Fenster und wies hinaus. „Sehen Sie das?“ „Den Luftballon?“ Und Smith fuhr herum. „Mann, Sie meinen doch nicht etwa - -?“ „Genau das meine ich“, antwortete der Bootsmann gelassen. Smith: „Bei dem Wetter? Heller Wahnsinn!“ Pencroff: „Mein lieber Sir, sobald wieder schönes Wetter ist, fliegen die Leute selber ab, und wir können ihnen nachgucken.“ Spilett mischte sich ein. Die Verwegenheit des Vorschlags imponierte ihm. „Da hat Mr. Pencroff allerdings recht. Die lauern bloß noch darauf.“ Pencroff: „Es ist die einzige Chance, die einzige und die letzte.“ Spilett: „Und in ein paar Tagen kann sie verspielt sein. Der Sturm hält bestimmt nicht mehr lange an.“ Smith: „Wer weiß, wo man da hingerät.“ Pencroff: „Bestimmt raus aus Richmond und bestimmt in die Freiheit.“ Smith: „Außer uns beiden müßte noch einer mit. Mein Diener, ein Neger. Heißt Nebuchadonossor. Ich nenne ihn der Kürze halber Nab. Ist gerade unterwegs, um etwas für mich zu besorgen. Der würde eingehen, wenn ich ohne ihn verschwände. Und dann ist da noch mein Hund.“ Pencroff: „Der zählt nicht mit. Und ich bin auch nicht allein. Ich muß meinen Pflegling mitnehmen. Einen Jungen von 16 Jahren, Harbert Brown aus New York, Vollwaise. Sein Vater war Kapitän. Unter dem hab' ich jahrelang gedient. Den Jungen liebe ich wie meinen eigenen Sohn. Er war als Schiffsjunge mit mir auf dem gleichen Schiff. Blockadebrecher, Sie wissen ja,
Sir.“ Smith: „Da wären wir also unser 5. Und wie kommen wir in die Gondel?“ Pencroff: „Kinderspiel! Bei dem Sauwetter steht da keine Wache. Ob der Sturm den Ballon zerfetzen wird oder nicht, darauf müssen sie's ankommen lassen. Daß es ein paar Kriegsgefangenen einfallen könnte, mit ihm auszureißen, das läßt sich niemand träumen. Und wir schwirren einfach ab. Winke, winke! Adjö, Sie!“ Smith: „Man müßte es riskieren.“ Spilett: „Ich bin dabei.“ Smith: „Und wann?“ Pencroff: „Paßt's Ihnen heute abend? Um 22 Uhr?“ Smith: „Gemacht!“ Als sie sich in der Nähe des Ballons wiedertrafen, war der Platz, wo er verankert stand, menschenleer. Es war stockfinster und bitterkalt. In der Tat hatte man es nicht für nötig gehalten, Wachposten hinzustellen. Ein Wunder, daß der Sturm den Ballon noch nicht zerfetzt hatte, daß er unversehrt geblieben war. Niemand hatte die fünf Männer gesehen. Smith, Spilett und Harbert kletterten in die Gondel. Pencroff und Nab schleppten die Ballastsäcke heran. Dann hieb der Bootsmann die Haltetaue los. Der Ballon stieg auf. Die tollkühne Reise hatte begonnen. Wie sie verlief und ausging und wie zuletzt Cyrus Smith von seinen Gefährten abkam, wissen wir bereits.
4. War Cyrus Smith ertrunken? Lebte er noch? Die bange Frage peitschte sie auf. Sie suchten weiter. Sie schrien und horchten. Keine Antwort. Es war fast 18 Uhr. Nebel stieg auf und hüllte alles in Zwielicht Die Männer konnten nur einen Raum von wenigen Metern vor ihren Augen überblicken. Sie wußten nur das eine: sie waren an einer Ostküste gelandet - ob auf einem Kontinent oder auf einer Insel, das blieb unklar. Aber damit beschäftigten sie sich jetzt auch nicht; vorläufig galt es nur, den Vermißten zu finden, Gewißheit über sein Schicksal zu gewinnen. „Norden ist da hinaus“, sagte Pencroff. „Wenn Smith nicht ertrunken ist, muß er dort gestrandet sein.“ Sie mochten 5 km gelaufen sein, da endete die etwa 100 Meter hohe Granitwand, die sich zu ihrer Linken hinzog, in einem Vorgebirge, gegen das die Brandung schlug. Kehrt! Zurück nach Süden! Wieder wanderten sie stundenlang, die Wand jetzt zur Rechten, zur Linken die Flut. Der Wind war abgeflaut.
Da sie oben im Norden Smith nicht gefunden hatten, wie sollten sie ihn am südlichen Strande finden? Dahin konnte er ja gar nicht geraten sein. Trotzdem suchten sie weiter. Als sie dann keine Steilküste mehr neben sich sahen, sondern nur flaches Land, wo gleich darauf die See ihnen wiederum Einhalt gebot, gaben sie es auf. .Es hat keinen Zweck, mehr“, entschied Spilett. „Wir müssen den Tag abwarten.“ Sie streckten sich im weichen Sande nieder. Es war eine bitterkalte Nacht, aber sie waren so todmüde, daß sie trotzdem schliefen. Gegen 5 Uhr früh hob sich der Nebel. Die Sonne kam, ihre warmen Strahlen weckten sie. Zum ersten Male wieder spürten sie Hunger und Durst. Zum Essen fanden sie Muscheln und Krebse, in Löchern an der Steinwand Vogeleier. In kleinen Mulden am Boden stand Regenwasser vom letzten Unwetter. Scharen von Vögeln schwirrten auf und erfüllten die Luft mit schrillem Gekreisch. Ringsum wuchs kein Baum, kein Strauch. Da war nur gelber Sand und schwarzgrauer Stein. Nachdem die Schiffbrüchigen Hunger und Durst gestillt hatten, hielten sie Umschau. Die See zog von Osten nach Westen einen Halbkreis um die Landspitze, auf der sie sich befanden. Gen Osten war nichts als eine unermeßliche, unabsehbare Wasserfläche - blauer, spiegelglatter Ozean, im Sonnenlichte schimmernd. Im Westen, über einen etwa 500 Meter breiten Strom hinweg, stieg eine Steilküste auf. Nach Süden hin erweiterte sich der Strom zu einer breiten Bucht. Auf den ersten Blick sah da drüben alles wüst und leer aus. Hohe Felsen endeten in einer scharfen Spitze. Im Norden rundete sich das Ufer der Bucht, seinen Abschluß bildete ein schmales Kap. Die Entfernung zwischen dem Kap und der steilen Spitze schätzte Pencroff auf 8 englische Meilen. Zunächst hatten sie eins wenigstens feststellen können: sie befanden sich auf einem Eiland, das kaum mehr war als eine felsige Klippe, etwa 400 Meter breit und höchstens doppelt so
lang. Ob jenseits ein Festland oder wieder nur eine Insel lag, die allerdings beträchtlich größer zu sein schien, das konnten sie nicht wissen. „Hier haben wir Smith nicht gefunden“, sagte Spilett.“ Also müssen wir ihn da drüben suchen.“ „Die Flut ist schon im Zurückgehn“, sagte Pencroff. „Bei Ebbe werden wir ohne Schwierigkeit hinüberkommen. Ich fürchte nur ...“ „Sie meinen, er ist ertrunken“, fiel der Reporter ihm ins Wort. »Kann freilich sein. Aber daran glaub' ich nicht eher, als bis wir alles abgesucht haben, ohne eine Spur zu entdecken.“ Während der Suche nach Muscheln hatten sie sich zerstreut. Sie merkten erst jetzt, daß Nab nicht mehr bei ihnen war. Der Neger hatte sich, ohne ihnen ein Wort zu sagen, ins Wasser geworfen und war über den Strom geschwommen, beseelt von der Zuversicht, da drüben seinen Herrn wiederzusehen. Die starke Strömung mußte ihn weit abgetrieben haben; sie spähten vergeblich nach ihm aus. Eine halbe Stunde später standen auch die ändern am jenseitigen Ufer. Spilett machte sich sofort auf den Weg nach Norden hin. Aber der Bootsmann meinte, es würde ja doch keinen Zweck haben, und blieb mit seinem Schützling zurück. „Man muß sich mit dem Unabwendbaren abfinden“, erklärte er. „Ich seh' mich hier in der Nähe um, ob es irgendwo einen Unterschlupf gibt, wo wir nächtigen können. Ich habe keine Lust, noch einmal im Freien zu schlafen. Halten Sie sich nicht allzu lange auf! Und schau'n Sie zu, daß Sie wenigstens den Schwarzen wieder mitbringen. Komm, Harbert!“ Das klang hart. Aber Pencroff war Seemann und daran gewöhnt, einem, der bei hoher See über Bord ging, nicht lange nachzutrauern. Der Gedanke, den Ingenieur verloren zu haben, schmerzte ihn tief; aber wenn die See ihn einmal verschlungen hatte, so war eben nicht» mehr zu machen. Mit Harbert ging er an der Steilküste entlang. Nach einer
Viertelstunde kamen sie zu einem Spalt. Es sah aus, als hätten hier unterirdische Kräfte die Felswand auseinandergerissen. Sie gingen hinein. Schon nach wenigen Schritten sahen sie sich vor einer breiten Kluft, durch die ein Bächlein dem Meere zufloß. Der Bootsmann bückte sich und kostete. Süßwasser! Nachdem sie ihren Durst gestillt hatten, folgten sie dem kleinen Wasserlauf und fanden mehrere tief in die Wand eingeschnittene Kamine. Der Bootsmann meinte, der eine oder andere würde sich als Wohnstätte herrichten lassen. Es sei für sie nicht ratsam, auf gut Glück loszupilgern; sie täten besser, sich einen sicheren Stützpunkt zu schaffen, ein Quartier, wohin sie nach aussichtslosem Vorstoß zurückkehren könnten. „Wer weiß, wie es weiter drin in diesem fragwürdigen Stück Erde aussieht“, sagte er. „Viel versprech' ich mir nicht. Und hier haben wir etwas zu essen und Trinkwasser. Und da stehn auch Bäume. Holz zum Feuermachen ist also ebenfalls da. Was kann man auf so weltfernem Boden mehr verlangen!“ Es waren nicht nur einzelne Bäume, es war ein ganzer Wald. An seinem Ende öffnete sich wieder der Blick aufs Meer. Sie konnten im Osten den Strand erkennen, wo der Ballon gescheitert war. Hierher, wo sie jetzt standen, hatte der Sturm ihn weitergetrieben. Unwillkürlich sahen sie sich um, ob vielleicht Reste von ihm irgendwo lägen. Nichts! Und auch Spilett und Nab waren nicht zu sehen. Pencroffs Augen schweiften nach allen Seiten. Rechts von der Mündung des Baches ein breiter Sandstreifen, von Klippen gesäumt, die zum Teil unter Wasser lagen. Im Westen, 6 bis 7 Meilen entfernt, ein mächtiger Berg mit einer weißen Kappe, die wie Schnee aussah. An seinem Fuße Wald mit lichten Rasenflächen. Sie kehrten zu den Kaminen zurück. Was meinst du, mein Junge“, sagte Pencroff, „sollten wir nicht gleich an die Arbeit gehn? Hier könnten wir uns hübsch für die erste Zeit einrichten. Mir sagt - wie soll ich mich
ausdrücken -, mir sagt eine innere Stimme, wir sind auf einer Insel und werden hier bleiben müssen -, wer weiß, auf wie lange Zeit. Bis wir so weit sind, daß wir uns eine richtige Wohnung bauen können, wird sich's hier erträglich hausen lassen.“ „Ich bin ganz deiner Meinung, Onkel Pencroff“, stimmte der junge Mann bei. „Und was wollen mir machen?“ „Vor allem Holz zum Heizen 'ranschaffen. Dicht bei gibt's 'ne Masse Äste und Reisig. Hast du gesehen, was für eine Menge von Vögeln in der Felswand nistet? Da finden wir unterwegs Eier in Hülle und Fülle und genehmigen ein prima zweites Frühstück. Und nachher holen wir Steine und bauen uns eine Feuerstätte. Ich habe von der letzten kalten Nacht die Nase voll. Spilett und Nab werden sich auch freuen, wenn sie hier ein warmes Nest finden.“ „Hoffentlich bringen sie Mr. Smith mit.“ „Das hoff ich auch“, sagte Pencroff. Er wollte seinen Liebling nicht traurig stimmen. Nachdem sie Arme voll Holz herangeschafft hatten, bauten sie aus flachen Steinen einen Herd auf. „Hast du Streichhölzer?“ fragte Harbert. Pencroff: „Gewiß doch. Sonst wären wir schlimm daran.“ Harbert: „Wieso? Die Wilden haben keine und machen doch Feuer an. Sie reiben bloß zwei trockene Stücken Holz aneinander.“ Pencroff: „Na du! Probier's lieber nicht! Dir würden bald die Arms lahm werden. Ich hab's selber schon mehrmals versucht, es ist mir nie gelungen. Wo hab' ich denn die Schachtel?“ Er suchte vergeblich in allen Taschen. Sie war nicht zu finden. „Hast du sie etwa aus der Gondel geworfen?“ fragte Harbert. Pencroff: „Iwo! So ein kleines Ding wiegt doch nichts. Ist das ein Pech!“ Harbert: „Ärgere dich nicht! Mr. Spilett wird schon
Streichhölzer haben, oder Mr. Smith oder Nab.“ Pencroff: .Und wenn sie Nichtraucher sind? Als ich zum ersten Mal mit Mr. Smith zusammen war, war Mr. Spilett bei ihm. Da haben jedenfalls beide nicht geraucht. Und vorläufig sind sie ja nicht hier. Und in der Nacht wird's bestimmt wieder lausig kalt.“ Harbert: „Es rauchen viele nicht und haben doch Zündhölzer. Und wenn auch nicht. Irgendwie wird Mr. Smith schon Rat wissen.“ Pencroff: »Du meinst, weil er Ingenieur von Beruf ist? Schön, warten wir's ab!“ Weiter sagte er nichts. Aber im stillen dachte er: Smith und immer wieder Smith! Den hab' ich schon abgeschrieben. Ich werde froh sein, wenn sich die beiden anderen wieder einfinden. .Laß uns die Zeit ausnützen“, sagte er zu seinem Schützling. Wir wollen Moos und Laub sammeln und Lagerstätten herrichten. Auf nacktem Stein liegt sich's ein bißchen hart. Man möchte sich's doch gern so gemütlich machen, wie 's möglich ist. Mit Moos können wir auch die Ritzen und Spalten verstopfen, damit 's nicht so happig zieht.“ In dieser Weise nahmen sie die Stunden wahr bis zum Abend. Bis 5 Uhr hatten sie zu tun. Die Sonne schien nicht mehr zu ihnen herein. Es fing an, schummrig zu werden. .Jetzt müßten wir uns aufmachen, um nach den ändern auszuschauen“, sagte Harbert. „Richtig!“ Pencroff schlug sich vor die Stirn. Woher sollen sie wissen, wo wir stecken! Es ist die höchste Zeit!“ Als sie hinaustraten, sahen sie Spilett und Nab durch die Schlucht auf sie zukommen. Allein und ohne Smith. In ihrer Enttäuschung vergaßen sie ganz, sich darüber zu wundern, daß die beiden zu ihnen gefunden hatten. Keiner sprach ein Wort. Keine Frage wurde gestellt. Der Bootsmann nickte nur mit dem Kopf, und Harbert schluckte mühsam die
Tränen herunter. Nab setzte sich auf das Moos und starrte vor sich nieder. Dann fing der Reporter zu erzählen an. Ich habe 8 Meilen weit die Küste abgesucht. Alles öde und leer. Keine Fußspur - nichts! Hier ist sicherlich seit Ewigkeiten kein Mensch gewesen. Immer wieder hab' ich gerufen. Endlich kam Antwort. Es war Nab.* Der Neger hob den Kopf und fing zu heulen an. „Aber er ist nicht tot! Nein, er ist nicht tot! Er lebt noch! Mein armer gnädiger Herr!“ „Morgen werden wir weitersehn“, sagte Pencroff. „Wir beide, Harbert und ich, haben hier eine notdürftige Unterkunft aufgemacht. Komisch übrigens, daß Sie so direkt hergefunden haben.* Der Reporter sah sich um. „Ein Zufall, dem ich dankbar bin. Gemütlicher als draußen im Freien.“ »Komischer Zufall!“ wiederholte der Bootsmann. „Aber ich hätte uns gern eine warme Bude gemacht. Und Eier zum Abendessen gekocht. Bloß - ich hab' meine Schachtel mit den Streichhölzern verloren. Haben Sie welche? Oder sind Sie etwa Nichtraucher?“ „Natürlich rauch' ich. Wo gibt's denn einen Reporter ohne Pfeife! Warten Sie mal!“ Er griff in alle Taschen und fand nichts. „Aber Sie müssen doch Streichhölzer haben“, sagte Harbert. Und wenn's bloß ein einziges wäre!“ „Wir haben in der Gondel doch alles wegwerfen müssen“, antwortete Spilett. „Vielleicht haben Sie nicht richtig nachgesucht. Suchen Sie noch mal - systematisch“, bat der junge Mann. Spilett durchwühlte alle Taschen - Jackentaschen, Westentaschen, Manteltaschen. Endlich machte die rechte Hand halt. Sie hatte etwas entdeckt, das sich wie ein Hölzchen anfühlte. Er bemühte sich umsonst, es herauszuholen.
„Vorsicht!“ rief Harbert. Um Himmelswillen, Vorsicht! Wenn's bloß eins ist und Sie weiter keins haben -, daß es nur nicht kaputt bricht!“ Behutsam brachten seine Finger das einzige und doch so kostbare Ding zum Vorschein. Er hielt es hoch, damit alle sehen konnten, daß die Kuppe mit dem Zündstoff unversehrt geblieben war. Ein Streichholz! Was war ein Streichholz daheim wert gewesen! Für einen Cent gab's eine ganze Schachtel voll. Und hier? Ihre Augen strahlten es an, als hätten sie einen unschätzbaren Edelstein vor sich. Pencroffs Bootsmannsfinger hätten ein hauchdünnes Glasstäbchen nicht zarter angefaßt. Spantrocken! stellte er glückselig fest. Ob jemand ein Stück Papier hätte? Selbstverständlich! Der Reporter riß ein Blatt aus seinem Notizbuch. Pencroff drehte es zu einem Fidibus, hockte an der Feuerstelle nieder, knüllte ein paar Händevoll Blätter, Moos und dürre Zweige zusammen, schob das Papier zur Hälfte hinein und rieb das Hölzchen an einem rauhen Kieselstein. „Geht nicht!“ brummte er. „Mir zittern die Finger. So ein Herzklopfen! Mach' du's, Harbert!“ Der junge Mann war in seinem Leben gewiß noch nie so aufgeregt gewesen wie in diesem Augenblick. Er fühlte die große Verantwortung, die auf ihm lag. Auch ihm schlug das Herz in den Hals hinein. Er holte tief Luft - und dann Das Hölzchen fing Feuer. Es knisterte leise. Eine bläuliche Flamme sprühte auf. Pencroff hatte zu dicht hingeguckt, der Rauch stieg ihm in die Nase, er mußte husten. Jetzt brannte der Fidibus, und in der nächsten Sekunde prasselte das Moos und das Reisig. Sie bliesen alle fünf hinein. „Endlich!“ rief Pencroff. „Noch nie ist mir irgendetwas so an die Nerven gegangen!“ Nun wurde Holz aufgeschüttet, und bald entwickelte sich eine behagliche Wärme. Der Vorrat an Eiern, den der Bootsmann
und sein Schützling gesammelt hatten, gab ein reichliches Mahl. Dann streckten sie sich auf ihren dürftigen Lagerstätten aus und lagen bald in tiefem Schlafe. Sie hörten die Brandung nicht, die an die nahe Küste schlug. Sie hörten nicht einmal, wie mitten in der Nacht der Neger leise aufstand und hinauslief. Er hatte keine Ruhe gefunden. Es trieb ihn fort, seinen Herrn zu suchen. Wie hätte er die vielen, vielen Stunden bis zum Morgen untätig ausharren sollen! Der Morgen graute noch nicht, da richtete sich Spilett auf und lauschte in die Nacht hinein. „Legen Sie sich ruhig wieder hin“, knurrte Pencroff. „Das ist nur der Sturm!“ „Nein“, behauptete Spilett. „Da bellt ein Hund!“ „Sie haben geträumt“, aber gleich darauf sprang Pencroff auch auf. „Wahrhaftig, es kommt näher! Das kann doch bloß Top sein!“ Sie eilten hinaus. Daß Nab fehlte, merkten sie nicht in ihrer Aufregung. Draußen war es stockfinster. Da kam der Hund angerannt und sprang an dem Reporter in die Höhe. „Top! Top, wo ist Herrchen?“ Der Hund lief zum Ausgang der Schlucht hin. „Er will uns führen“, sagte Spilett, „wir müssen ihm folgen.“ Der Bootsmann schüttete nur noch frisches Holz auf die Glut und deckte sie mit Asche zu. Der Hund rannte in die Nacht hinein. Nicht so schnell, Top! Wir können nicht so laufen wie du, und wir dürfen dich nicht verlieren. Sein nie verstummendes Bellen zeigte ihnen die Richtung. Nach Norden. Zu der steil abfallenden Felswand und um sie herum zu dem Hochland über der Küste. Sie hörten den Donner der Flut. Sie schätzten die Zeit auf 4 Uhr, die zurückgelegte Entfernung auf 6 Kilometer, als sie zum ersten
Mal haltmachten, um sich zu verschnaufen. Der Hund lief noch immer weiter. 5 Uhr. Es begann zu dämmern. Um 6 Uhr war es Tag, aber die Sonne kam nicht zum Vorschein. Hier mußten sie mindestens 9 km von den Kaminen weg sein. Den flachen Strand begrenzte eine Kette von Klippen, von kräuselndem Gischt überzogen. Disteln wuchsen auf den bleichen Dünen. Weit drüben im Südwesten erkannte man den äußersten Saum der Waldungen. Top war stehengeblieben und wartete. Als sie herankamen, lief er vorwärts, sein Bellen ging in freudiges Geheul über. Sie rannten ihm nach, aber noch gewahrten sie kein lebendes Wesen. Nach kurzem Lauf über die Sandhügel machte Top halt und jaulte gen Himmel. Im Nu waren sie bei ihm. Da kniete Nah, der Neger, und vor ihm lag ein anscheinend lebloser Körper: Cyrus Smith, der Ingenieur. „Tot!“ sagte Pencroff leise, „ich hab's doch gewußt.“ Spilett hatte den Kopf auf die Brust des Mannes gelegt. „Er lebt!“ „Ja“, flüsterte der Neger. „Er lebt, und keine Wunde, nicht einmal eine Quetschung, keine Schramme, kein Blut an den Händen!“ „Merkwürdig! Wie bist du hierher gekommen?“ „Weiß selber nicht. Bin auf gut Glück die Küste lang gelaufen, bis dicht ans Meer. Da, wo die Klippen stehn. Und da sah ich Spuren. Deutliche Spuren. Gegen die Dünen zu. Mir war, als müßt' ich den Verstand verlieren. Ich bin ihnen nachgegangen, und dann hab ich Top bellen hören. Und dann kam ich hierher.“ „Was denn?“ fragte Spilett. „Also du hast deinen Herrn nicht hierhergeschleppt?“ „I wo!“ „Dann müßte er allein hierhergekommen sein“, sagte Spilett. „Und das scheint mir unglaubhaft!“ Aber es war jetzt keine Zeit, sich darüber den Kopf zu
zerbrechen. „Faß zu, Nab!“ rief Spilett. „Und Sie, Pencroff, helfen Sie ihm! Nach einer Weile lösen wir andern euch ab.“ So trugen sie ihn fort. Als sie ihn zum ersten Mal auf den Sand niederlegten, schlug er schon die Augen auf. Er erkannte seine Gefährten und sah um sich. „Insel oder Festland?“ das waren die ersten Worte, die über seine Lippen kamen. Pencroff lächelte ihn an. „War auch meine erste Frage, Chef! Ist aber jetzt schnuppe. Hauptsache, Sie sind am Leben und bleiben am Leben! Alles weitere wird sich finden.“ Smith verlor wieder die Besinnung. Er wachte auch im Kamin nicht auf, und sie ließen ihn schlafen bis in den Morgen hinein. Als er zu sich kam, hielt er schweigend Umschau in der Höhle. Hab war zu ihm geeilt. „Junge, hast du mich dahingeschleppt, wo ihr mich fandet?“ fragte er ihn. - „Nein.“ - „Und ihr?“ „Auch nicht“, antwortete Spilett. „Uns hat erst der Hund hingeführt. Den Neger vor uns, der hat ihn zuerst bellen hören.“ „Sonderbar. Allein bin ich nicht dahingegangen. Weiß wenigstens nichts davon. Erzähl' doch, Spilett !“ Der Reporter berichtete alles: wie der Ballon mit ihnen gestürzt war - wie sie Smith vermißt hatten - wie sie die Kamine gefunden - wie sie umsonst nach ihm gesucht - wie der Hund sie zu ihm gebracht - und wie sie bisher noch nicht feststellen konnten, ob sie sich auf einem Festland oder auf einer Insel befänden. „Und ihr habt am Strande keine Menschen gesehen?“ fragte Smith. „Nein. Nur Fußspuren, und die sind von dir selber. Deine Schuhe passen genau hinein. Das haben wir schon festgestellt.“
„Dann muß ich da als Nachtwandler herumgelaufen sein“, sagte der Ingenieur. „Und das will mir nicht in den Kopf. Mich hat der Sturm ins Wasser geschleudert, mitsamt meinem Hunde; der war mir nachgesprungen“ - er zog das Tier zu sich heran und streichelte es. „Den Ballon sah ich nicht mehr, aber ich sah die Küste, vielleicht 500 Meter vor mir. Ich wollte schwimmen, die Brandung riß mich immer wieder zurück. Und dann hat mich ein Strudel gepackt, ich versank in einen Abgrund - mehr weiß ich nicht.“ Wenn es schon merkwürdig erscheinen mußte, daß Spilett und Nab gleich zu dem Kamin fanden, wo Pencroff und Harbert weilten - daß der Hund dorthin fand -, völlig rätselhaft war es, wie Smith an die Stelle gekommen sein mochte, wo sie ihn entdeckten. Sie ahnten nicht, daß dies nur das erste von vielen unerklärlichen Geschehnissen war, die ihnen auf der geheimnisvollen Insel bevorstanden. Insel oder Festland? Es gab noch immer keine Antwort auf diese schicksalsschwere Frage. „Wir hatten Oststurm“, erklärte Simth, „der kann uns nur über den Stillen Ozean getragen haben. Also können wir auch nur an einer der Küsten dieses Meeres gestrandet sein. Ist es die Küste eines Kontinents, so müssen wir irgendwo auf Menschen stoßen, und dann werden wir wohl auch zurück in die Heimat kommen können. Ist es die Küste einer der vielen kleinen und verlassenen Inseln des Stillen Ozeans, dann müssen wir uns nach besten Kräften behelfen, sei es auch auf Lebenszeit.* „Schöne Aussichten!“ murmelte Spilett. „Warum nicht?“ lachte Pencroff. „Wir bauen uns ein Haus, wir haben Wasser, wir haben Feuer, wir haben zu essen genug. Da halten wir's schon eine Weile aus. Wir sind nicht allein wie Robinson, wir sind unser fünf.“ „Wir müssen auf den Berg da drüben“, sagte Smith. „Dann werden wir Bescheid wissen.“ „Auf den mit der Schneehaube?“
„Schnee? Das glaube ich nicht. Ich meine, es ist Rauch, weißer Rauch. Der Berg ist ein Vulkan.“ „Nu wenn schon!“ sagte der Bootsmann. „Einstweilen qualmt er ja bloß.“ „Wenn's euch allen recht ist, machen wir uns morgen auf den Weg“, schlug Smith vor. „Was heißt hier, wenn's uns recht ist“, rief der Bootsmann. „Sie sind der Chef, Mr. Smith, Sie haben nur zu befehlen, wir andern zu gehorchen. So gehört sich das. Wir sitzen hier sozusagen alle in einem Boot, da darf es nur einen Kommandanten geben.“ Damit waren alle einverstanden. Die Zurüstungen zu dem Erkundungsmarsch wurden, getroffen. Es galt, sich auf mindestens 3 Tage einzurichten. Am andern Morgen brachen sie in aller Frühe auf, bewaffnet nur mit Knütteln, aber ausreichend versorgt mit Korn, Muscheln, eßbaren Kräutern und Wurzeln. Jenseits des Waldes waren sie auf unbekanntem, bisher noch nicht betretenem Gebiet. Der Berg, dem sie sich mehr und mehr näherten, bestand aus zwei Kegeln. Den ersten bildeten übereinandergeschobene Terrassen, zerspalten in zahlreiche Risse und Schluchten, von Bäumen bestanden. Der zweite stieg schräg in die Höhe und trug eine Kuppe, die wie ein auf ein Ohr gestülpter Hut aussah. Der weiße Rauch war nicht mehr zu sehen. Sie schritten durch ein Gewirr von Blöcken. Basalt und Bimsstein. Nadelbäume. Dickichte von Farnkraut. Am Boden hie und da Spuren von Tieren. Raubzeug, Affen oder was sonst? Sie wußten es nicht. Jetzt ging es steil bergan. Abgrundtiefe Klüfte zwangen zu großen Umwegen. Der Weg war schwierig, stellenweise sogar gefährlich. Als sie sich neben einem kleinen Wasserfall zur Mittagsrast niederließen, war kaum erst die Hälfte des unteren Kegels bezwungen. Die Aussicht war beschränkt: ein Stück See, sonst nur weitere Teile des Berges.
Dann kam Wald. Zahlreiche fasanenartige Vögel. Offenkundig vulkanischer Boden. Bergschafe zeigten sich und verschwanden in weiten Sprüngen zwischen dem Geklüft. Es ging einen steilen Hang hinauf. Es roch nach Schwefel. Da und dort zeigte sich weißliche, körnige Asche. Zwei Stunden später lag die Baumgrenze hinter ihnen. Nur noch vereinzelt standen Latschen da wie vorgeschickte Posten. Den ganzen Rest des Nachmittags mühten sich die Steiger an den letzten 500 Metern ab, die sie noch von der Höhe des ersten Plateaus trennten. Sie waren erschöpft. Zudem brach die Dämmerung herein. Sie entschlossen sich zum Biwak. Sieben volle Stunden anstrengender Bergfahrt hatten sie hinter sich. Am andern Morgen versuchten sie an beiden Seiten die Hochfläche zu umschreiten; sie brach hüben und drüben in prallen Schroffen ab und endete an lotrechten Wänden. Aber in gerader Richtung verlief eine breite Schlucht mitten in den Berg hinein. Sie zeigte den Auslauf, den die Lavamassen genommen hatten, als der Vulkan noch in Tätigkeit gewesen war. Es gab keinen andern Weg. Noch ungefähr 300 Meter waren zu durchklettern. Zu ihrer freudigen Überraschung bildeten Steinblöcke eine Art schraubenförmig gebogener Treppe. So erreichten sie ohne sonderliche Schwierigkeiten den Gipfel. Es war noch nicht einmal 8 Uhr, als sie vor dem Krater standen. Herrliches Wetter, klarer sonniger Himmel. Meer! Meer! Nach allen Seiten hin das Meer! Kein Land, soweit der Blick reichte. Und kein Segel auf der unermeßlichen Wasserfläche! „Also eine Insel!“ Das Wort war von allen Lippen gekommen. Dann fragte Spilett: „Flächenraum?“ „Schwer zu schätzen“, antwortete Smith. „Etwa so groß wie Malta, wenn euch das ein Begriff ist.“
„Absonderliche Form“, meinte der Reporter. „Sieht fast aus wie ein Seeungetüm, mit Riesenflossen, das mitten auf dem Ozean eingeschlafen ist.“ Die Küste im Osten, wo sie gestrandet waren, umschloß in weitem Bogen eine Bucht, die im Südosten in ein spitzes Kap auslief. Im Norden sperrten Vorberge sie ab, zwischen denen sich ein schmaler Golf auftat; er sah aus wie ein halbgeöffneter Haifischrachen. Von Nordost nach Nordwest beschrieb die Küste einen großen Halbkreis, der sich zu etwa zwei Dritteln seines Durchmessers landwärts einbuchtete. Nach Süden hinaus schwang sich ein schmaler Landrücken bis zu einer zierlichen Spitze ins Meer hinaus, dem Schweife eines Riesenkrokodils vergleichbar. Die geringste Weite der Insel, nämlich zwischen den Kaminen und der Bucht im Westen, betrug nicht mehr als 10 englische Meilen, der Riesenschweif erstreckte sich 30 Meilen weit. Die größte Breite, von dem Haifischrachen im Nordosten bis zur Schwanzspitze im Südwesten, ebenfalls 30. Das Innere? Im Süden Wald vom Gestade bis zum Gebirge. Im Norden leere Sandwüste. Zwischen Vulkan und Ostküste ein von Bäumen umstandener See etwa 300 Meter über dem Meeresspiegel. „Süßwasser?“ fragte Pencroff. „Vermutlich“, antwortete Smith. „Er kriegt sein Wasser ja von den Bergen her.“ „Da mündet auch ein Bach in ihn“, rief Harbert. „Richtig. Den seh ich jetzt auch. Da gibt es sicherlich einen Abfluß zum Meere. Der eine Teil der Insel ist also fruchtbar und gut bewässert, der andere kahl und steril. Seltsame Gegensätze auf so kleinem Räume!“ Der Vulkan stand nicht genau im Mittelpunkt des Eilandes; er lag mehr im Nordwesten und schien die Scheide zwischen den beiden so verschiedenen Inselteilen zu bilden. Er trug im Süden Bäume, Farne und Rasen, im Norden bis in die Dünen hinab
nur kahles Gestein. War die Insel bewohnt? Nirgends sah man Häuser, Hütten, Gehöfte, rauchende Schornsteine, nirgends menschliche Gestalten. Nicht einmal an den Küsten, wo doch im allgemeinen zuerst Ansiedlungen oder Niederlassungen zu suchen sind. Man schickte sich zum Rückmarsch an. „Einen Augenblick noch!“ sprach der Ingenieur. „Wir können von hier aus die Insel, unsern Aufenthaltsraum für wahrscheinlich lange Zeit, überschauen. Damit wir uns in Zukunft hier zurechtfinden, halte ich es für nötig, nicht nur der ganzen Insel, sondern auch den markantesten Örtlichkeiten einen Namen zu geben. Ich bitte um Vorschläge.“ Das Ergebnis: Man taufte die Insel „Lincoln-Insel“, die große Bai Im Osten „Unions-Bai“, die Bucht im Süden „WashingtonBai“, den Berg „Franklin-Berg“, den großen See „UlyssesGrant-See“, die Halbinsel im Süden „Serpentine“, das schwanzartige Vorgebirge „Reptilienkap“, den einem Fischmaul ähnlichen Golf „Haifisch“, die beiden Knnladenteile „Nord- und Süd-Mandibel-Kap“, die Südostspitze der UnionsBai „Kap Klaue“, den Bach, der den Gestrandeten das erste Trinkwasser gespendet hatte, „Gnadenbach“, das winzige Eiland, auf das die Brandung sie geworfen hatte, „Rettungseiland“, die ersten Wohnstätten „Die Kamine“, die Stellen, die für die weitere Besiedlung ins Auge gefaßt wurden, „Bai Vorsehung“, „Pottfisch-Spitze“, „Kap der getäuschten Hoffnung“, die Granitwand oberhalb der Kamine „Schöne Aussicht“, die undurchdringlichen Waldungen an der „Serpentine“ „Wälder des fernen Westens“. „Ei, ei“, lachte zuletzt Pencroff, „das ist eine schöne Reihe von Namen! Ich fürchte, es wird eine Weile dauern, bis wir uns die alle eingeprägt haben und sie richtig anwenden können, ohne Verwechslung.“ „Wir haben Zeit genug zum Lernen“, sagte Harbert. „Ich
mach's, wie du mich's gelehrt hast, Onkel Pencroff. Ich lege eine Karte an, da schreib' ich alle Namen ein, wo sie hingehören. Da können alle studieren, bis es sitzt. Auch du, Nab.“ „Bei mir wird's wohl am längsten dauern“, seufzte der Neger. Die Namen Lincoln, Washington, Franklin, Ulysses Grant führten sie zu dem Kriege zurück, dem sie die Gefangenschaft und ihre tollkühne Flucht verdankten. Sie waren alle der Hoffnung, die letzten Erfolge der Nordstaatler würden den Feindseligkeiten bald ein Ende machen. Aber hier auf ihrer Insel konnten sie nichts erfahren.
5. Nun beginnt das Robinson-Leben der fünf Insulaner. Aber dabei brauchen wir uns nicht lange aufzuhalten. Bau eines Hauses und Herdes, Herstellung von Gerätschaften, Anfertigung von Pfeil und Bogen, Bau eines Kahnes, Anlage von Gehegen für Schafe und Ziegen, Jagdausflüge, Erkundungsmärsche, Ackerbau, Saat und Ernte, Töpferarbeiten. Das alles kennen wir von Juan-Fernandez her. Es ist hier nur insofern ein wenig anders, als gleich fünf Männer ans Werk gehen, darunter obendrein ein Ingenieur mit erfinderischem Geist und ein gelernter Seemann mit flinken Händen. Die packen von vornherein alles herzhafter und glücklicher an. Selbstverständlich gibt es nicht nur Muscheln und Möwen und allerlei See- und Strandvögel, sondern auch, wie es von einer Südseeinsel zu erwarten ist, Papageien, Kasuare, Schildkröten, Schlangen, Wasserschweine, Affen, Känguruhs, Wildenten, Pelikane, Leierschwänze, und in den Gewässern wimmelt es von Fischen.
Es gab also eine sehr reiche Fauna auf der Insel. Die Flora war nicht minder prächtig. In den Karen an den Abhängen des Vulkans fand der Ingenieur Tonerde, Kalk, Kohle und Eisen, auf den Rasenflächen Lehm. Die Natur lieferte hier den Einsiedlern alles, was sie sich wünschen konnten, und sie waren die Männer danach, es sinnvoll zu verwerten. Beobachtungen der Sonnenbahn am Tage, der Sternbilder bei Nacht, Höhenmessungen am Plateau und an der Küste führten den Ingenieur zu der Feststellung, daß die Lincoln-Insel auf gleichem Breitengrade mit Neuseeland im Westen und Chile im Osten lag. Nachdem er mit der Uhr in der Hand am Schattenwurf einer in den Strand gesteckten Stange die Mittagszeit gefunden hatte, war nach einer für einen Gelehrten wie ihn nicht besonders schwierigen mathematischen Berechnung auch der Längengrad ermittelt. Er kannte den Zeitpunkt, zu dem die Sonne in der Stadt Washington den Zenit erreicht, er wußte, auf welchem Längen- und Breitengrade westlich von Greenwich diese Stadt liegt, und daß die Sonne in ihrer scheinbaren Bewegung um die Erde in der Stunde 15 Grad durchläuft. Also brauchte er nur noch den Zeitunterschied zwischen der Mittagsstunde in Washington und der Mittagsstunde auf der Insel auszurechnen, und das Ergebnis lag fest, soweit es sich mit seinen behelfsmäßigen Mitteln feststellen ließ: zwischen dem 32. und dem 37. Breitengrade und dem 150. und 155. Längengrade war die Lincoln-Insel zu suchen. Bei den Folgerungen, die hieraus zu ziehen waren, spielte ein Irrtum, der nicht mehr als 300 englische Meilen in Breite und Länge ausmachen konnte, keine Rolle. Es unterlag jedenfalls keinem Zweifel, daß sie von Neuseeland im Westen mehr als 1800 englische Meilen, von Chile im Osten nicht weniger als 4500 entfernt war. Eine Fahrt übers Meer kam also nicht in Betracht. Und welche der zahllosen Inseln im Stillen Ozean lag auf dem errechneten Punkte? Eine Karte hatte Cyrus Smith nicht zur Hand.
Gedächtnis und Kenntnisse verhalfen ihm nicht zur Antwort auf diese Frage. Der Robinson mit Namen Cyrus Smith brachte noch andere Kunststücke fertig, wozu sein Vorbild nicht imstande war. Er hatte nicht nur Kohlenlager entdeckt, er nutzte diesen Fund auch aus, um Gußeisen herzustellen. Am nordöstlichen Vorberge des Franklinberges war er auf ein Erzlager gestoßen. Eines Tages gelang es, am Strande zwei Robben zu fangen. Man hatte das Halsband des Hundes zerbrochen, die Bruchstücke dienten als Messer, mit denen man nun die Robbenfelle bearbeitete. Sie wurden auf Holzrahmen gespannt, mit Pflanzenfasern vernäht, und fertig war der Blasebalg, den man zum Anfachen des Feuers brauchte. An Ort und Stelle des Eisenlagers wurde eine Hütte gebaut, als Unterkunft für die Zeit der Schmiedearbeit; denn das war eine langwierige und mühselige Arbeit. Das Kohlenlager befand sich ganz in der Nähe. Smith kannte das Verfahren, das die ersten Eisenschmiede der Menschheit angewendet haben. Er ging nach ihrer Weise vor. Die Metallbrocken wurden zerkleinert, gesäubert, in getrennten Haufen aufgeschichtet, der Blasebalg mit einem Mundstück aus feuerfester Erde versehen und neben dem Eisenerz angebracht. Die ganze Geduld der Männer, die ganze Findigkeit des Ingenieurs waren notwendig, um eine sogenannte Luppe aus Schwammeisen zu gewinnen. Ein Granitblock bildete den Amboß die erste Luppe diente als Hammer für die zweite, und so kam man schließlich nach vielen Tagen großer Anstrengung und Mühsal zu mehreren Barren eines groben, doch brauchbaren Eisens. Allein damit war noch nicht alles getan. Es galt, das Material noch zu härten, und das erreichte Smith, indem er es in einem Schmelztiegel aus feuerfester Erde mit Kohlenstaub erhitzte. Das Endergebnis war Werkzeug aller Art: Beile, Äxte, Schaufeln, Spaten, Meißel, Hämmer und so weiter.
Seit Tagen schon beschäftigte den Ingenieur die Frage, wo und wohin das Wasser des Ulysses-Grant-Sees abflösse. Irgendwo mußte, so meinte er, die Natur selbst für einen solchen Abfluß gesorgt haben. War es ein Wasserfall, so würde sich dessen Kraft vielleicht ausnützen lassen. Die Insulaner gingen auf die Suche und umschritten zunächst das Kap im Nordosten. Die Mündung des Baches in den See war bald erreicht, und Cyrus sah, daß dieser Bach dem See eine beträchtliche Menge an Wasser zuführte. Hier grenzte der See fast an den Saum des Plateaus, aber ein Wasserfall war da nicht. Sie gingen noch ein Stück weiter am Strande entlang; dann beschlossen sie, es aufzugeben und zurückzukehren. Da schlug plötzlich der Hund an, lief zum Ufer und sprang ins Wasser. Zwanzig Fuß weit war er geschwommen, als ein mächtiger Kopf aus der Flut emportauchte. Harbert erkannte das Tier auf den ersten Blick. „Eine Seekuh! Ein Dugong!“ Das Untier packte den Hund und verschwand mit ihm in der Tiefe. Man konnte nichts zu seiner Rettung unternehmen. Aber der Aufruhr, der plötzlich im Wasser entstand, konnte nicht von einem Kampfe zwischen dem riesigen Dugong und dem im Verhältnis zu ihm so kleinen Hunde herrühren. Smith hatte sich denn auch schon darein geschickt, ihn nicht wiederzusehen. Da wurde mit einem Male Top wie durch eine unsichtbare Kraft aus der Flut heraus und auf den Strand zurückgeschleudert. Wie ging das zu? Sie sahen den Hund an, sie sahen aufs Meer, sie konnten es sich nicht erklären. War ein noch größeres Untier über die Seekuh hergefallen, hatte sie den Hund losgelassen, um sich des stärkeren Gegners zu erwehren? Rot färbte sich die Flut, eine purpurne Schleppe ziehend, trieb der Körper des Dugongs ab. Sie eilten zu der Stelle, wo er im Stauwasser liegenblieb. An seinem Halse klaffte eine tiefe, breite Wunde wie von einer scharfen Klinge. „Das muß ja ein gewaltiges Biest sein, das solch einen Hieb
versetzen kann“, meinte Pencroff. „Ob man das Fleisch essen kann, scheint mir fraglich, aber das Fett können wir gut gebrauchen. Das Vieh hat bestimmt seine 40 Zentner.“ „Die Wunde ist merkwürdig genug“, sagte Smith, „aber noch merkwürdiger scheint mir's, mit welcher Wucht mein Top so hoch aus dem Wasser herausgeschleudert worden ist. Ein neuer rätselhafter Vorgang! Erinnerst du dich, Spilett, wie ich nach dem Absturz ins Meer von euch auf den Dünen gefunden wurde? Wir haben bis heute noch nicht herausbekommen, wie das zugegangen ist. Wer weiß, was noch geschieht! Mir scheint, wir sind hier auf einer wahren Insel der Geheimnisse!“ „Hauptsache ist fürs erste, daß du deinen Top wieder hast“, meinte Spilett. „Um die Geheimnisse ist mir im Grunde nicht bange, die werden sich mit der Zeit klären. Willst du noch weiter nach dem Abfluß suchen?“ „Ja! Ich wittere auch hier so etwas wie ein Geheimnis. Es läßt mir keine Ruhe. Sieh da, Gideon“, rief er, als sie nach ein paar Schritten das Staubecken hinter sich hatten, „hier ist wieder ziemlich starke Strömung!“ Er warf ein paar Holzstückchen ins Wasser, sie trieben schnell nach Süden. Er bückte sich nieder, lauschte und glaubte das Brausen eines unterirdischen Wasserfalls zu hören. Dann ging er einige Meter weiter, brach einen Zweig von einem Busche ab und tauchte ihn ein; der Zweig wurde ihm aus der Hand gerissen und verschwand in der Tiefe. „Hier ist die Stelle!“ rief Smith. „Hier entleert sich der See durch einen ins Granitmassiv geschlagenen Graben. Und meine nächste Aufgabe soll es sein, die Mündung dieses Abflußbeckens freizulegen.“ Spilett: „Wie willst du das bewerkstelligen?“ Smith: „Indem ich das Niveau des Sees um 3 Fuß tiefer lege.“ Spilett: „Und wo?“ Smith: „An demjenigen Teile des Ufers, der der Küste am nächsten liegt.“
Spilett: „Da ist doch alles Granit!“ An dieser Stelle des Gesprächs mischte sich der Bootsmann ein, der mit wachsender Spannung zugehört hatte. Er hielt große Stücke auf den Erfindungsgeist des Ingenieurs. „Was heißt Granit“, rief er. „Da wird eben gesprengt. Pulver herzustellen wird unserm Chef nicht schwerfallen.“ Auf dem Rückweg sprach Cyrus in einem fort von seinem Vorhaben. „Die Dicke des Granitblocks, auf dem das Plateau zur Schönen Aussicht liegt, kenne ich noch nicht. Ich vermute aber, darunter ist eine Höhle, und zu der möchte ich gelangen. Sie könnte uns vorzüglich als Wohnung oder Vorratsraum dienen. Es gilt also, ein großes Loch in die Granitwand zu schlagen. Sie haben recht, Pencroff, dazu brauche ich Sprengstoff, und Sie haben weiterhin recht, den werde ich herstellen; das Material dazu ist vorhanden. Vorerst aber, lieber Freund, schaffen Sie das Dugongfett heran und räuchern Sie, was an Fleisch brauchbar ist. Nab mag Ihnen helfen.“ Aber es war nicht Pulver, was Cyrus Smith gewinnen wollte! Ihm war um einen stärkeren Explosivstoff zu tun, um NitroGlyzerin. Bei den Vorrichtungen durften Spilett und Harbert ihm zur Hand gehen. Schieferpyrit heranschaffen, der beim Kohlelager in Menge zu finden war, ihn kleinschlagen, ihn auf einer Unterlage von Holz und Reisig zu einem Meiler aufschichten, das Ausbraten des Dugongfettes - aus dem nebenbei auch Seife hergestellt wurde -, das Sammeln von allerlei Tangarten, deren Asche Soda lieferte, der Transport von Salpeter, der sich am Franklinberg in natürlichem Zustande vorfand, Ausgraben eines Wasserbeckens, Mischen, Rühren, Abschäumen, dies alles waren Arbeiten, die Smith zusammen mit seinen Gefährten ausführte. Was zuletzt noch getan werden mußte, besorgte er allein. Endlich konnte er den andern ein in der Insulaner-Töpferei hergestelltes Gefäß voll einer gelblichen öligen Flüssigkeit zeigen, mit den stolzen Worten:
»Ich hab's geschafft!“ .Und damit …?“ begann Pencroff. „Na, Sie müssen's ja wissen.“ „Nitro-Glyzerin - das hat die zehnfache Sprengkraft des gewöhnlichen Schießpulvers.“ „Und wann soll's losgehn?“ fragte Spilett. „Morgen, sobald das Loch gegraben ist.“ Am folgenden Tage, an einer etwa 500 Schritte von der Küste entfernten Spitze des Grantsees, wo der Fels beinahe an das Wasser heranreichte, ging man ans Werk. Bis 16 Uhr hatten Pencroff und Nab schwer zu arbeiten. Dann war endlich ein schräg unter die Oberfläche des Wassers verlaufendes Loch von ausreichender Breite und Tiefe geschlagen, um die 10 Liter Explosivstoff, die Smith hergestellt hatte, aufzunehmen. „Und nun?“ fragte der wißbegierige Harbert. „Braucht man's jetzt bloß anzuzünden?“ „Oh nein, ja nicht!“ erklärte Smith. „Dann würde es einfach abbrennen, ohne zu explodieren. Man löst die Explosion mit einem Hammerschlag aus. Natürlich darf man nicht selber zuschlagen, sonst fliegt man mit in die Luft. Gewöhnlich löst man die Explosion mit einer Knallpatrone aus, die könnte ich mir herstellen, ich habe ja Salpetersäure. Aber ich will's erst mal mit einem Hammerschlag probieren.“ „Bin neugierig, wie Sie das anstellen wollen.“ „Du kannst mir helfen. Wir hängen über dem Bohrloch ein mehrere Pfund schweres Stück Eisen auf. An die Schnur, das heißt an die Pflanzenfaser, denn Strippe haben wir ja nicht, knüpfen wir eine zweite Faser, die wir reichlich mit Schwefel tränken. Das Ende kommt mehrere Fuß weit vom Bohrloch weg auf den Boden zu liegen. Das stecken wir an. Wenn es die erste Faser erreicht, reißt sie, und das Stück Eisen fällt wie ein Hammer auf den Sprengstoff. Peng!“ „Wie einfach, und doch sinnreich!“ „Man muß sich zu helfen wissen.“
„Nicht ganz eine halbe Stunde wird diese Lunte brauchen. Wir haben also Zeit, uns in Sicherheit zu bringen.“ Seine Rechnung stimmte. Sie standen im Kamin und zählten die Sekunden. Dann kam ein ungeheurer Knall, die Insel erbebte, prasselnder Donner knatterte ringsum. Man hörte einen wahren Regen von Steinen niedergehn. Der mächtige Luftdruck warf die Männer beinah zu Boden. Sie eilten hinaus und zu der Sprengstelle. Das Gestein war auf eine weite Strecke hin weggerissen. Das Wasser strömte rauschend über das Plateau und stürzte vom Rande der Granitwand aus einer Höhe von 300 Fuß auf den Strand hinunter. Sie schritten vom Plateau aus zu der Spitze des Sees und sahen nun, nachdem infolge der Explosion der Wasserspiegel sich gesenkt hatte, an der jetzt bloßliegenden Wand die so lange gesuchte Abflußstelle, ein ungefähr 20 Fuß breites, aber nur 2 Fuß hohes Loch, zu dem, wie ein bequemer Steig, ein Wehr hinführte. Der Bootsmann und der Neger griffen zu den Äxten und erweiterten es mit wuchtigen Schlägen, bis es so hoch war, daß ein Mensch hindurchkriechen konnte. Drinnen ging es in einem Gefalle von etwa 25 Grad bergab. Wenn der Schacht nicht steiler wurde, konnte es nicht schwer sein, zum Meeresspiegel hinunterzukommen. Harbert holte aus dem nahen Walde Tannenäste herbei, die als Fackeln dienen sollten; denn es war da drinnen im Berge stockfinster. Nun drangen sie in dem jetzt trockengelegten Graben Schritt für Schritt vor. Nach kurzer Strecke erlaubte seine Höhe ihnen, aufrecht zu gehen. Die Schlüpfrigkeit des Gesteins verlangte größte Vorsicht. Spuren vulkanischer Tätigkeit waren an den Wänden deutlich zu erkennen. Hundert Fuß mochten sie hinuntergestiegen sein, da machte Smith halt. Sie standen in einer Höhle. „Schade!“ sagte Cyrus nach raschem Überblick. „Zu klein und zu finster. Zum Wohnen ungeeignet.“
„Wo ist Top?“ fragte der Neger. Der Hund war nicht mehr bei ihnen. Sie hörten ihn bellen. „Vorausgelaufen“, meinte Spilett. „Weiter hinunter. Er wittert irgendetwas. Er kläfft ja schrecklich.“ Fünfzig Meter tiefer sahen sie ihn wieder, in einer zweiten, weit größeren Höhle. Sie war leer, und doch hörte Top nicht auf zu bellen. „Irgendwo muß hier ein Ausgang sein, durch den das Wasser vor unserer Sprengung zum Meere abfloß“, meinte Smith. Er hatte recht. Am Ende der Höhle gebot ihnen ein Schacht, senkrecht abstürzend, Einhalt. Der Ingenieur ließ einen brennenden Zweig hinunterfallen. Mit dem Blick folgte er dem Licht, zählte die Sekunden und lauschte, bis der Funke mit leisem Zischen erlosch. „Also sind wir hier etwa 90 Fuß über der Meeresfläche. Hier können wir uns häuslich einrichten. Wasser kommt nie mehr hierher. Aber Licht müssen wir schaffen.“ An der dem Meere zugekehrten Seite schlugen der Bootsmann und Nab ein Loch, das sie dann zu einem kleinen Fenster erweiterten. Diese Arbeit dauerte zwei Stunden; der Ausguck lag 80 Fuß über dem Meere. Das hereinflutende Licht erhellte die ganze Höhle, sie glich dem riesigen Schiff einer Kathedrale. Nischen an den Seitenwänden boten Raum für Vorratskammern, Küche und Schlafstätten. Das Innere war ein ovaler Saal, dessen 80 Fuß hohe Wölbung auf granitenen Säulen ruhte. Der Ingenieur entriß seine Gefährten ihrem Staunen. „Die Fackeln gehen aus, wir müssen zurück. Das nächste Mal steigen wir auf Strickleitern zum Fenster herein.“ Einen letzten Blick warf er nach draußen, auf den Saum des Strandes, die weite See, einen letzten Blick hinab in den Schacht; ein letztes Mal lauschte er in die Tiefe, ohne noch ein Wort zu sprechen. Woran mochte er denken? Der Hund lief hinter ihnen her; er knurrte noch immer.
6. Die Wohnung im Felsen erhielt den Namen „Granitpalast“. Bis zu der oberen, kleineren Höhle blieb der Gang frei. Von dort aber ließ Smith ihn zumauern. Von außen konnte kein Fremder herein. Teils durch Sprengung, teils mit Axt und Pickel schlug man vier weitere Fenster aus. Die Strickleiter, die den Zugang herstellte, ließ sich jederzeit einziehen. Sie rasch und mit Sicherheit zu benutzen, mußten die Insulaner erst lernen. Nur Pencroff und Harbert, die ja das Klettern im Takelwerk gewöhnt waren, verstanden die Kunst von vornherein. Für den Hund war es ein richtiges Akrobatenstück, das ihm nur mit großer Mühe und Geduld beizubringen war. Aber Geduld und Mühe kostete hier ja schließlich alles. Sieben Monate waren nun seit der Strandung des Luftballons verflossen. Auf ihren Erkundungsmärschen nach allen Richtungen hin hatte sich den Insulanern bisher noch nie ein menschliches Wesen gezeigt, nirgends waren sie auf irgendwelche Anzeichen menschlicher Tätigkeit gestoßen.
Die Insel war, so schien es, unbewohnt - wahrscheinlich war sie niemals bewohnt gewesen. Es kam ein Winter mit beträchtlichen Kältegraden. Schnee fiel. Der Gnadenbach und der Grantsee froren zu. Aber man hatte ja Kohle und Holz genug; man konnte immer noch auf Jagd gehen, man konnte Fallen stellen, man brauchte nie zu hungern. Herd und Ofen, Abzug für den Rauch, warme Felle zum Zudecken - es fehlte an nichts. Langeweile gab es dank der steten Arbeit nie. Da galt es Möbel zu zimmern, Körbe zu flechten, Geschirr herzustellen, Kleider zu machen - mit einem Wort, sie führten das richtige Robinsonleben, wie wir es schon längst kennen. Nur dem Hunde wurde die Zeit lang in diesen Tagen, wo allzu starker Frost und allzu hoher Schnee sie im Innern des Granitpalastes festhielt. Tops Verhalten erregte schließlich die Aufmerksamkeit seines Herrn. Immer wieder umkreiste er die Öffnung des tiefen, senkrechten Schachtes, die man mit Bohlen zugedeckt hatte. Es war, als wollte er mit den Pfoten die Balken wegschieben oder hochheben, wobei er sonderbar unwirsch und zornig knurrte. Was witterte er da in der Tiefe? Gab es da noch andere Gänge zum Meere hinunter? Smith wußte nicht, was er von diesem Benehmen seines Hundes halten sollte. Absonderliche Gedanken und Vorstellungen gingen ihm durch den Kopf. Eines Tages brachte Spilett, sobald die Witterung einen Jagdausflug zuließ, ein junges Pekari mit. Am Abend stand der willkommene Braten auf dem Tische; man aß mit Behagen. Da rief plötzlich der Bootsmann: „Alle Wetter, jetzt hätt' ich mir beinah einen Zahn weggebissen!“ Und was brachte er zwischen den Lippen vor? Ein Schrotkorn ! Sie betrachteten es mit einem an Schreck grenzenden Erstaunen. Und alle stellten sich die gleiche Frage, ohne daß einer sprach. Dann sagte Spilett: „Das Tier war kaum ein halbes Jahr
alt.“ Smith: „Und wer mag geschossen haben? Von uns hat keiner eine Schußwaffe.“ Pencroff: „Und von uns hat hier keiner jemals einen Schuß fallen hören !“ Smith: „Das steht fest.“ Und sie starrten wieder das Schrotkorn an. In der Gestalt dieses winzigen Dinges lag ein neues Geheimnis vor ihnen. Sie schwiegen geraume Zeit, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Der Ingenieur nahm zuerst von neuem das Wort: „Was folgt daraus für uns? Entweder ist die Insel vor uns bewohnt gewesen, oder es sind hier vor einigen Monaten Menschen gelandet. Freiwillig oder infolge eines Schiffbruchs? Europäer oder Malaien? Freunde oder Feinde? Sind sie noch hier? Sind sie wieder weg? Das können wir nicht wissen. Aber wir müssen diesem Rätsel auf den Grund gehn.“ Spilett: „Jedenfalls sollten wir uns von jetzt ab sehr vorsichtig verhalten.“ Smith: „Selbstverständlich. Wachen stellen, und du darfst deine Jagdausflüge nicht über die nächste Umgebung ausdehnen.“ Pencroff: „Man müßte ein Boot bauen, den Fluß befahren, auch die Küste.“ Smith: „Ein Boot? Das dauert mindestens fünf Wochen. So lange können wir nicht warten.“ Pencroff: „Dann eine Piroge nach Art der Südsee-Insulaner. Damit kann ich in fünf Tagen fertig sein.“ Smith: „Meinetwegen. Gehen Sie gleich mit Nab und Harbert an die Arbeit! Wir haben ja wieder mildes Wetter.“ Im Stillen beschäftigte das Schrotkorn sie alle die ganze Zeit über, bis der Bootsmann mit seinem Werk fertig war. Am 29. Oktober konnte man das kleine Fahrzeug vom Stapel lassen. Es war 12 Fuß lang und hatte drei Bänke, eine hinten, eine in der
Mitte, eine vorn. An einem kleinen Mast hing als Segel ein Stück Leinwand. Die kurze Probefahrt verlief glücklich. Zu einer Umschiffung der Insel durfte man sich diesem Behelfsboote ohne Bedenken anvertrauen. Am folgenden Tage stach man in See. Der Winter hatte sich endgültig verabschiedet, es war herrliches Wetter. Nab und Harbert ruderten, Pencroff steuerte. Zunächst ging es über den Kanal weg der Südspitze des Eilandes zu. Das Meer war glatt wie ein Spiegel. Nicht weit vom Gestade ab folgte man den Krümmungen des Ufers. Geschickt wich der erfahrene Steuermann den zahlreichen kleinen Riffen und Klippen aus. Von der See her boten Granitwand und Plateau ein wildes Bild. An den nadelscharfen Vorsprüngen bis hin zu den 2 Meilen entfernten Waldungen war keine Spur von Pflanzenwuchs zu sehen. Je weiter man nach Süden kam, desto enger schienen die beiden MandibelKaps die Unionsbai zu umspannen. Nach einer Fahrt von drei Viertelstunden schickte Pencroff sich an, um die Spitze herumzusteuern, da rief Harbert: „Was liegt denn dort auf dem Strande?“ Alle sahen hin. „Fässer! Tonnen!“ Ein paar Ruderschläge trieben die Piroge in eine kleine Bucht. Die Männer sprangen an Land. Da lagen zwei Fässer im Sande, die an eine große Kiste angekettet waren. „Also doch ein Schiffbruch“, sagte Pencroff. „Was mag in der Kiste sein? Sie ist verschlossen. Mit einem Stein könnte man den Deckel aufbrechen.“ Aber Smith hielt ihn zurück. „Nicht doch! Ein bißchen Geduld, Mann. Warum die Kiste kaputt machen? Die können wir gut gebrauchen. Wir nehmen sie im Schlepptau zum Granitpalast mit.“ Woher mochte dieses Strandgut stammen? Sie hielten nach allen Seiten Umschau, nichts war zu sehen. Leere See bis zum
Horizont! Und doch mußte hier ein Schiffbruch vor sich gegangen sein. Hing der vielleicht mit dem Schrotkorn zusammen? Waren Fremde gelandet? Waren sie noch da? Oder in Booten weitergefahren? Die Kiste schien auf Europäer oder Amerikaner zu deuten; sie war aus Eichenholz, mit Fell überzogen und mit Kupfernägeln beschlagen. Die zwei Fässer waren an den Seiten mit Schifferknoten festgemacht. Sie schien unversehrt und war offenbar nicht lange im Wasser getrieben. Vermutlich war sie von Leuten eines dem Untergang geweihten Schiffes über Bord geworfen worden in der Hoffnung, sie nach dem Schiffbruch dort wiederzufinden. Sobald man zu dem Ufer vorm Granitpalast zurückgekehrt war, wurde sie vorsichtig geöffnet, die zum Schutz des Inhalts eingesetzte Zinkhülle entfernt. Was kam da alles zum Vorschein! Verschiedene Messer, Beile, Bohrer, Säcke voll Nägel und Schrauben, aufgerollter Draht, Sägen und Feilen. Gewehre, Pistolen, Fäßchen voll Pulver, Schachteln voll Patronen, Streichhölzer, Fernrohre, Kompasse, Barometer und Thermometer, Kleidung und Wäsche, Kessel, Pfannen, Schüsseln und Gefäße aus Blech und Aluminium, Messer, Löffel und Gabeln. Endlich auch Bücher, Papier und Schreibhefte. Aber nirgends ein Hinweis auf den oder die früheren Eigentümer, nirgends ein Monogramm oder ein Namenszug. Jeder Gegenstand wurde mit Jubel begrüßt. Eine Fülle von unschätzbaren Kostbarkeiten war hier den Verschollenen in die Hände gefallen. Mit einem Schlage sahen sie sich jedem Mangel und aller Not enthoben. Als sich unter den Büchern eine Bibel fand, falteten sie unwillkürlich die Hände. »Einsamkeit macht fromm“, sagte Smith leise. „Laßt uns die Heilige Schrift aufschlagen. Dies ist ein Zeichen dafür, daß Gott uns nicht verlassen hat und auch in Zukunft nicht
verlassen wird. Laßt uns den ersten Vers lesen, auf den mein Auge fällt, wenn ich sie jetzt aufschlage.“ „Evangelium Matthäi, Kapitel 7, Vers 8: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden.“ Ein paar Tage vergingen über dem Ordnen und Bestaunen des vielfältigen Schatzes. »Fraglos hat dies alles einem oder mehreren Menschen unserer Rasse gehört“, erklärte der Ingenieur. „Wir können nur annehmen, daß ein Schiff an unserer Küste gescheitert ist. Wir müssen von neuem auf die Suche gehen.“ Es war der 30. Oktober, als man sich zur Wiederaufnahme und zur Fortsetzung der Bootsfahrt aufmachte. In dem herrlichen Walde, der das westliche Gestade säumte, war offensichtlich noch nie die Axt eines Holzfällers am Werke gewesen; das fast undurchdringliche Dickicht hatte noch kein Buschmesser gelichtet. Zum ersten Mal seit unerdenklichen Zeiten, so schien es, zerriß an diesem Tage der Knall von Schüssen den tiefen Frieden dieser grünen Wildnis. Spilett und Pencroff konnten es sich nicht versagen, ein paar Stunden der Jagd zu widmen, während man zur Mittagszeit Rast machte. Scharen von Vögeln schwirrten vor ihnen auf. Ein halbes Dutzend Wildtauben konnte Nab zum Abendbrot zurichten. Smith und Harbert waren an diesem Tage zweimal auf einen der Felsen gestiegen, die sich am Rande der Küste erhoben. So weit sie auch die Blicke über das Meer schweifen ließen, sie sahen kein Segel, kein Schiff, keine Mastspitze. Und auch an diesem Tage hatten sie am Strande nichts von angespülten Trümmerstücken entdeckt, die auf einen Schiffbruch gedeutet hätten. Am zweiten Tage kamen sie bis zu der Landspitze, der sie den Namen „Reptilienkap“ gegeben hatten. Man war an mehreren Bächen vorübergekommen, die zwischen den Felsen ins Meer mündeten; aber sie waren zu schmal für das Boot. Zu
Wasser konnte man da nicht in das Innere der Insel vorstoßen. Am dritten Tage erreichten die Reisenden die WashingtonBai. Vom Kap an bot das Ufer wieder das gewöhnliche Bild einer Küste. Baumloser Sand, meterhohe Dünen, dann wieder Felsen, wilder als zuvor, geschlossener, ohne breite Schluchten, abschreckend zerklüftet und nur von einzelnen Höhlen und Kaminen unterbrochen. Bis weit in die See hinein sprangen Riffe und Klippen vor. „Hier kann kein Seemann, wenn er noch seine fünf Sinne beisammen hatte, auf den Gedanken gekommen sein, eine Landung zu versuchen“, sagte Pencroff. „Und jedes Schiff, das etwa vom Sturme hierhergetrieben worden ist, hätte rettungslos zerschellen müssen?“ fragte Smith. .Sehen Sie irgendwelche Trümmerstücke? Keine Spur.“ „Wenn das ominöse Schrotkorn nicht wäre“, meinte Spilett, „so würde ich mir keine Gedanken weiter machen und auch nicht länger auf die Suche gehen.“ „Es bleibt uns noch die Südküste“, fuhr Smith fort .Für heute nacht kriechen wir in einer der zahlreichen Höhlen unter.“ Um die Mittagszeit des nächsten Tages kamen sie an eine umfangreiche Rasenfläche, auf der vereinzelte Bäume standen. Da rief Spilett: »Herrschaften, wir gucken uns die Augen aus übers Meer nach Zeichen eines Schiffsbruchs, und was hängt da drüben auf einem Baume? Takelwerk!' Sie liefen hin, aber schon auf halbem Wege rief der Bootsmann: „Das ist kein Segelzeug. Wißt ihr, was das ist? Erkennt ihr's nicht? Das sind die Überbleibsel unsers Ballons.“ So war es auch. „Den hat ja der Wind arg zerzaust“, sagte Pencroff. Smith: „Wenn auch, was noch übrig ist, können wir allemal gebrauchen.“ Pencroff: „Stimmt. Seile, Stricke, Schnüre, und vor allem den
Anker.“ Harbert: „Wie sollen wir das mit der Piroge wegbringen? So viel Last trägt sie nicht.“ Spilett: „Ich schlage vor, wir schaffen erstmal alles vom Baum herunter und decken es mit Sand und Reisig zu. Dann kann nichts mehr passieren.“ Pencroff: „Ich habe gar keine Lust, mich noch lange mit der lächerlichen Piroge zu behelfen. Es ist längst mein fester Vorsatz, ein Boot zu bauen, ein richtiges, mit dem wir uns auch ein paar Meilen weit in die See hinauswagen können. Wenn wir die Zeit rechnen, die wir mit der Piroge brauchen würden derweil bin ich mit dem Boot fertig. Dann holen wir das Zeug mit einer Fahrt zum Granitpalast.“ Inzwischen hatte alles zugefaßt, die Reste des Ballons lagen auf dem Boden. Dann sagte Smith: „Suchen Sie so viel aus, Pencroff, wie der Kahn außer uns tragen kann, ohne daß wir Gefahr laufen zu kentern. Das nehmen wir gleich mit.“ Pencroff: „Was denn? Fahren wir nicht weiter?“ Smith: „Nein, ich meine, wir kehren um. Es hat ja doch keinen Zweck. Wenn wir bis jetzt nichts gefunden haben, finden wir auch da unten im Süden nichts. Ich glaube überhaupt nicht mehr an einen Schiffbruch.“ „Pencroff: „Und das Schrottkorn, das mich beinah einen Backenzahn gekostet hätte?“ Smith: „Ja doch. Leute sind hier auf Jagd gegangen, aber die haben sich nur vorübergehend aufgehalten und sind wieder weggefahren. Leute, die Appetit auf frisches Fleisch hatten. Daß wir sie nicht gesehen und keine Schüsse gehört haben, das besagt gar nichts, dafür gibt es mehr als eine Erklärung. Das ist jedenfalls meine feste Überzeugung.“ Spilett: „Und die Kiste?“ Smith: „Das ist eine andre Sache. Da steht für mich nur folgendes fest: Zwischen dem Schrotkorn und der Kiste besteht
kein Zusammenhang. Darüber seid ihr euch wohl schon selber klar geworden. Die Leute, die hier auf Jagd gegangen sind, haben sie bestimmt nicht ans Ufer gebracht, um sie da liegenzulassen. Und wie soll sie aus einem gestrandeten Schiff hergekommen sein? Wir hatten vermutet, die Schiffbrüchigen hätten sie ausgesetzt, um sie später wiederzufinden. Aber daran glaube ich auch nicht mehr, nachdem wir am ganzen Strande nicht mehr das geringste gefunden haben. Wo ist das Schiff geblieben? Sollte es so völlig spurlos versunken sein? Und wenn man die Kiste in einem Boote hergeschafft hat, wo ist das Boot geblieben, wo die Leute? Können Sie das erklären, Pencroff? Nein! Na also! Ich auch nicht. So wenig, wie ich mir meine Rettung erklären kann und die meines Hundes bei dem Kampf mit dem Dugong. Das alles bleibt ein Geheimnis. Wir müssen es der Zukunft überlassen, den Schleier zu lüften.“
7. Nun sind wir wieder mitten im Robinson-Leben. Die Arbeit am Bootsbau konnte nicht ohne Unterbrechung betrieben werden. Es gab zuviel anderes noch zu tun. Seitdem die Insulaner sich in ihrem Granitpalast häuslich eingerichtet hatten, dienten die Felskamine als Vorratskammern, die mit Kohle und Holz, mit Heu und Getreide gefüllt werden sollten; ein Blockhaus war der Mittelpunkt eines umfangreichen Viehgeheges, in dem sich Schafe, Ziegen und Hühner tummelten. Die Getreide- und Maisfelder mußten abgeerntet und zu neuer Ernte bereitet werden; eine Brücke über den Gnadenbach war auch seit langem fällig; der Bestand an Kleidung mußte vervollständigt werden, vor allem waren warme Sachen für die Wintermonate nötig. Brot backen, Butter machen, auf Jagd gehen, um den täglichen Tisch zu versorgen, den Überschuß an frischem Fleisch dörren, Kerzen anfertigen (der Dugong hatte Fett genug geliefert), einen tiefen Graben ausschachten, um das nach drei Seiten durch Wasser geschützte Plateau, unter dem der Granitpalast lag, an der
vierten freien Seite gegen wilde Tiere oder feindselige Menschen zu sichern (man mußte mit allem rechnen): Das kostete Zeit und wie schon einmal gesagt, unsägliche Mühe und Geduld. Wir lassen uns an dieser Zusammenfassung genügen, ohne auf die Einzelheiten ausführlich einzugehen. Wir hatten uns vorgenommen, nur von besonderen Geschehnissen oder Arbeiten Kenntnis zu nehmen, die über das bekannte Robinson-Dasein hinausgehen, und dabei wollen wir bleiben. Da ist noch allerlei zu erzählen, was sich auf Juan-Fernandez niemals ereignet hat. Eines Tages auf Jagd schoß Harbert auf einen Albatros und ärgerte sich, daß er ihn nur an einem Fuße getroffen hatte. Man konnte ihn einfangen, ehe er imstande war weiterzufliegen. „Tröste dich, Junge“, sagte Spilett. „Den schlachten wir nicht, den nehmen wir lebendig mit.“ „Was willst du denn mit ihm anfangen? Etwa in den Hühnerhof stecken?“ Sie hatten sich längst angewöhnt, einander zu duzen. Nur Nab machte davon eine Ausnahme; er redete seinen Gebieter immer noch mit Sie an und nannte ihn „Gnädiger Herr“. Zu Hause rückte der Reporter mit seiner Idee heraus. „Bootsmann, du weißt doch, daß diese Seevögel weite Strecken überfliegen können. Vielleicht hast du's auch schon mal erlebt, daß so ein Albatros sich auf deinem Schiff niedergelassen hat, um auszuruhen. Na also! Wir binden ihm ein wasserdichtes Beutelchen um den Hals, und da hinein tun wir einen Zettel, auf dem wir über uns berichten, und wo wir uns befinden. Warum soll man das nicht versuchen? Gott hat uns so viel geholfen. Am Ende verhilft er uns auch dazu, von hier wegzukommen.“ Der Gedanke fand allseitigen Beifall Sie ließen den Albatros fliegen und sahen ihm voll Ergriffenheit nach. „Wohin mag seine Reise gehen?“ fragte der Neger.
„Auf Neuseeland zu“, sagte Smith. „Wenigstens liegt das in dieser Richtung.“ „Na, dann Hals- und Beinbruch!“ grinste Pencroff. Er schien aber trotz allem Spiletts Einfall für ziemlich absurd zu halten. „Ich würde mir von einer Flaschenpost mehr versprechen.“ „Können wir auch noch versuchen“, meinte Spilett. „Doppelt hält besser.“ So wurde denn eine Botschaft auch den Fluten der See anvertraut. Das Boot war fertig. Man taufte es auf den Namen „Bonaventura“. Diesmal fuhren nur Spilett, Pencroff und Harbert ab. Der Ingenieur blieb mit dem Neger zurück. Er hatte sich etwas Besonderes vorgenommen. Weshalb benahm sich der Hund immer so merkwürdig vor der Öffnung des zugedeckten Schachtes? Weshalb umkreiste er sie fortwährend mit zornigem Geknurr? Führte vom Grunde des Schachtes etwa ein Gang weiter zum Meere hin oder zu anderen Teilen der Insel? Darüber wollte er Gewißheit haben, und zwar zunächst für sich allein. Mit Revolver und Jagdmesser versehen, eine brennende Laterne vor der Brust, ließ er sich an einem Strick hinunter. Die Wand zeigte keinen Spalt, ja nicht einmal schmale Risse. In Abständen traten Buckel und Zacken vor, an denen ein einigermaßen gewandter Kletterer ohne sonderliche Schwierigkeit zur Mündung hätte hinaufklimmen können. Unten angelangt, fühlte er Wasser unter den Füßen. Unbewegtes Wasser! Und darunter immer noch festes Gestein Wohin er mit dem Pistolenknauf pochte, überall Granit. Wohin der Kanal führte, der sicherlich mit dem Meere in Verbindung stand, an welchem Punkte der Küste er endete, bis zu welcher Tiefe unter der Meeresfläche er verlief, darüber konnte Smith keine Klarheit gewinnen. Er kehrte zurück, deckte die Öffnung wieder zu und blieb eine Weile sinnend davor stehen.
„Nichts gefunden!“ sagte er zu sich selbst. „Und doch steckt irgendetwas da unten!“ Am vierten Tage nach der Abfahrt des Bootes ging er an den Strand. Er begann sich um seine Gefährten zu ängstigen. Sie hätten schon tags zuvor zurück sein müssen. Gegen Mittag kam die „Bonaventura“ endlich in Sicht. Pencroff ließ sie auf den Strand laufen. Spilett sprang heraus. „Na, da seid ihr ja glücklich alle drei wieder!“ begrüßte sie Smith. „Irrtum, Cyrus!“ lachte der Reporter. „Nicht bloß drei. Wir sind unser vier! Faßt zu, ihr beiden, und helft ihm heraus!“ Pencroff und Harbert hoben einen Menschen aus dem Boote. Er schien nicht imstande, sich auf den Füßen zu halten. Wie die Mähne eines wilden Tieres umrahmten Haar und Bart das lederfarbene Gesicht, aus dem sich scheue, halb erloschene Augen auf den Mann am Strande richteten. Die Kleidung bestand nur aus ein paar Fetzen, die den abgemagerten Körper kaum noch bedeckten. „Wo habt ihr denn den aufgegriffen?“ fragte Smith. Pencroff grinste. „Sozusagen mit dem Brotkanten aus dem Urwald gelockt.“ Smith: „Also hat's doch einen Schiffbruch gegeben?“ Pencroff: „Glauben wir nicht, haben wieder nichts gesehen.“ Smith, im Weggehn: „Erzählt doch!“ Spilett berichtete: „Als wir die Hülle im Boot hatten - die Stelle an der kleinen Bucht haben wir Ballonhafen getauft - da konnt' ich der Versuchung nicht widerstehen, um das Kap herum noch ein Stück nach Süden zu fahren. Ich hatte mich auf einen Braten zum Abendbrot gespitzt. Da ist wieder eine ganz andere Landschaft. Man ist mit einemmal in einem herrlichen Park. Lichte Wiesen mit prächtigen Bäumen. In der Mitte ein kleiner, kristallklarer Bach. Mit Harbert hatten wir Signalschüsse verabredet. Wir waren kaum einen halben Kilometer weit
landeinwärts, da sahen wir den Mann vor einem kleinen Erdhügel sitzen, sah aus wie ein primitives Grab, stand ein Kreuz aus zwei Ästen drauf. Der Mann hörte uns erst kommen, als wir dicht bei ihm waren. ,Er raffte sich auf, glotzte uns an, Todesangst in den Augen, dann war's, als erkenne er Freunde in uns, beruhigte sich und ließ sich ohne Widerstand zum Boot hinführen. Wir hatten uns zuvor in der Nähe umgeschaut und mitten in einer kleinen Baumgruppe dicht am Bache so etwas wie eine Hütte bemerkt, ein jämmerliches Ding, aus Ästen, Gestrüpp und Blättern. Auf der ganzen Fahrt hierher hat der Mensch kein Wort gesprochen, nur manchmal vor sich hingebrabbelt, das klang wie: „Mein Kapitän, mein Kapitän!“ Die beiden Träger fühlten, wie der Mann zitterte; er hob bei den letzten Worten ein wenig den Kopf. Der da unter der Erde scheint also sein Kapitän gewesen zu sein, und vermutlich sind die beiden von meuternden Matrosen ausgesetzt worden. Die immer wiederkehrende Tragödie der Meere.“ „Wir wollen den armen Kerl auch jetzt noch in Ruhe lassen, das tut ihm am meisten not. Wir bringen ihn in den am nächsten gelegenen Kamin. Harbert und du, Nab, ihr sollt Krankenwärter spielen. Paßt gut auf ihn auf und pflegt ihn sorglich! Gebt ihm nur Fleischbrühe, ein paar Häppchen gekochtes Huhn, zwischendurch mal ein Schnäpschen. Ich denke, wir kriegen ihn wieder hin - ein Schwächling scheint er nicht zu sein.“ Die Weisungen wurden befolgt. Die beiden Wärter brachten täglich Meldung aus der improvisierten Krankenstube. Der Findling erholte sich zusehends. Die Erlösung aus ewiger Angst schien am meisten zu seiner Genesung beizutragen. Noch war keine volle Woche verstrichen, da konnte er schon ohne Hilfe den beiden Pflegern in den Granitpalast folgen. Smith begrüßte ihn mit einem herzlichen Händedruck. „Nab“, rief er dem Neger zu, „da der Mann wieder auf den Beinen stehn kann, rasier' ihn doch, damit er vollends
menschlich aussieht. Derweil kann er drüber nachdenken, was er uns zu erzählen hat.“ Als diese Prozedur vollzogen war, ließen sie ihn an ihrem Tische niedersitzen. „Ich heiße Tom Deer und bin geborener Amerikaner. Ich war Matrose auf der Brigg ,Adler' und dem Kapitän zum persönlichen Dienst zugeteilt. Mein Kapitän war streng, aber gerecht, manchmal konnte er sogar grausam sein, und das hat ihn bei den Leuten verhaßt gemacht. Mit dem Zweiten Offizier stand er sich gar nicht gut. Mich hat er lieb gehabt wie ein Vater seinen Sohn, und ich ihn auch wie ein Sohn den Vater. Deshalb hatten's die Matrosen auch auf mich abgesehen. Ich war in ihren Augen ein Abtrünniger. Die Leute wußten, daß er Rum hatte, viel Rum, aber er rückte nie was davon heraus, und das war ihr größter Ärger. Darüber ist es denn auch zum Klappen gekommen. Nur der Erste Offizier und der Steuermann hielten noch zu ihm und blieben an seiner Seite, als die Mannschaft den Gehorsam verweigerte. Ihr Oberhaupt war der Zweite, der hatte ihnen Pistolen zugesteckt. Als sie drauflos knallten, waren zwei gleich tot, der Erste und der Steuermann. Der Kapitän schwer verwundet. Sie packten ihn und so -“ er bewegte schaukelnd beide Arme, während sein Gesicht sich schrecklich verzerrte. Man sah an der Bewegung das Bild förmlich vor sich, wie die Matrosen den Kapitän über Bord geworfen hatten, „und so schleuderten sie ihn ins Meer. Ich bin ihm nachgestürzt, und ehe einer von ihnen mich halten konnte, bin ich ins Wasser gesprungen und hab' meinen Kapitän schwimmend ans Land geschleppt. Sie haben hinter mir hergeschossen, verfolgt haben sie mich nicht. Sie sind wohl froh gewesen, daß ich auch weg war. Es war ganz in der Nähe des Ufers, und das Wasser am Strande war flach und hatte keine Brandung. Aber das viele Blut, meine Herren, das viele Blut, ich hab' ihm nicht helfen können. Keine Stunde hat's gedauert, da ist er tot gewesen. Mit
Muschelschalen hab' ich ein Grab gescharrt.“ Smith unterbrach ihn. „Einen Augenblick! Wann war das?“ „Kann's nicht sagen“, war die Antwort. „Weiß nichts mehr von Zeit. Viele Tage, vielleicht Monate oder gar Jahre. Kann's nicht sagen.“ „Haben Sie seitdem Ihr Schiff wiedergesehen?“ „Nein. Bloß immer Angst gehabt, sie könnten wiederkommen, mich finden, mich totschlagen. Da war' ich am liebsten auch gestorben. Aber der Hunger, meine Herren, der grausame Hunger. Ich hab' Muscheln gegessen, Beeren, Wurzeln, Eier, was ich so gefunden habe.“ „Na, inzwischen sind Sie einigermaßen wieder zu Kräften gekommen. Wird schon alles wieder werden. Und Sie brauchen jetzt keine Angst mehr zu haben. Sie sind bei fünf gut bewaffneten Männern, die alle keine Feiglinge sind. Hoffentlich sind Sie keiner?“ „Gewiß nicht, meine Herren. Werd's Ihnen beweisen, wenn's nötig wird.“ „Schön! Frühstücken Sie mit. Jetzt können Sie ja wohl alles essen, wie?“ „Glaub´ schon - und nach den knappen Rationen bisher -.“ „Tun Sie sich keinen Zwang an, wir haben hier keine Rationierung nötig.“ Tom Deer griff zu und ließ sich's schmecken. „Noch eins“, sagte der Ingenieur. „Ich bin der Kommandant unserer kleinen Truppe. Das hier ist mein Freund, Mr. Spilett das ein Berufskollege von Ihnen, Oberbootsmann Pencroff, der junge Herr heißt Harbert, und der Neger ist Nab, mein Diener. Und zuletzt ist da noch mein Hund, Top. Sie haben hier volle Freiheit, Tom Deer. Bleiben Sie einstweilen noch in Ihrem Quartier mit Nab und Harbert zusammen. Wenn Sie ausgehn wollen, so bleiben Sie in der Nähe - entfernen Sie sich nicht über Rufweite hinaus.“
Neu eingekleidet, begab sich Tom Deer in seine Behausung. Von Stunde an nahm er an allen Arbeiten teil und verrichtete, was ihm zugewiesen wurde, fleißig und ordentlich. Smith beschäftigte ihn am liebsten oben auf dem Plateau der Schönen Aussicht. Dort konnte der Findling ständig das Meer im Auge behalten. Man sah ihn denn auch fortwährend auf Augenblicke den Kopf heben und Ausschau halten. Von Tag zu Tag schien Ruhe und Zuversicht in ihn fester einzukehren. Die Angst, von der er gesprochen, sich mehr und mehr zu verlieren. Ein neues Jahr begann, das Jahr 1867. Auf der Lincoln-Insel war es um diese Zeit Sommer und heißes Wetter. Nur in den Nächten kühlte es sich stark ab. Der neue Insulaner hatte sich inzwischen im Corral - so nannten sie das Blockhaus mit den Ställen und den Hürden - sein eigenes Heim eingerichtet und die Versorgung des Viehbestandes übernommen. Harbert und Nab gingen ihm dabei abwechselnd zur Hand. Manche Stunde auch brachte er im Granitpalast im Kreise der anderen zu, und fast regelmäßig an zwei Tagen in der Woche suchte Smith ihn im Corral auf. Dabei kam Smith auf den Gedanken, zwischen dem Granitpalast und dem Corral eine telegraphische Verbindung herzustellen. Das nötige Material hatte er ja zur Verfügung. Der in der Kiste gefundene Draht reichte für die Entfernung aus. Gläserne Flaschen waren da und brauchten nur mit Salpetersäure gefüllt zu werden. Die Flaschen verschloß er mit Pfropfen, und durch die Pfropfen führte er Tonröhren, die bis in die Säure hinunterreichten und am unteren Ende mit Tonstöpseln versehen wurden. Diese Glasröhren füllte er mit einer Lösung von Pottasche, so daß Säure und Pottasche durch den Ton aufeinander wirken konnten. Ein Zinkstück steckte er in die Säure, ein zweites in die Pottaschenlösung. Der so erzeugte Strom ging von dem Zink in der Flasche auf den Zink in der Pottasche über, und nachdem beide Platten durch einen metallenen Draht verbunden waren, wirkte die Platte im Rohr
als der positive, die Platte in der Flasche als der negative Pol der Batterie. Smith stellte zwei solche Batterien her, ließ Stangen aufstellen, die mit tönernen Isolatoren versehen wurden, und nachdem man den Draht über die Stangen gespannt hatte, war die kleine Anlage fertig. Sie funktionierte vom ersten Versuch an. Auf die Frage, ob im Corral alles in Ordnung sei, kam eine deutliche Antwort vom Granitpalast herüber. Dann kam der 26. März heran. Zwei Jahre waren ins Land gegangen seit der Strandung auf der Lincoln-Insel. Der Plan, mit dem Boote die ganze Insel zu umfahren, war noch nicht aufgegeben worden. Mitte April faßten sie ihn wieder ins Auge und beschlossen, ihn endlich auszuführen. Spilett, Pencroff und Harbert gingen an Bord, Smith blieb mit Deer und Nab zurück. Wohl gewannen die Reisenden Klarheit über den ihnen noch nicht bekannten Charakter der Südküste aber Trümmer eines Schiffsbruchs fanden sie auch dort an keiner Stelle. Auf der Rückfahrt brach ein furchtbarer Sturm aus und trieb das Boot weit nach Norden hin in die offene See. Das diesige Wetter erschwerte die Orientierung. Pencroff war nahe daran, zu verzweifeln. Er kreuzte hin und her und wußte sich schließlich keinen Rat, bis endlich in höchster Not ein Lichtschein ihm die Richtung wies. Als sie dann glücklich zu später Stunde wieder im Granitpalast saßen, schüttelte er dem Ingenieur mit einem Ungestüm die Hand, als wollte er ihm den Arm aus den Gelenken reißen. „Wir wären ganz böse in den Wurstkessel geraten, Cyrus, wenn du nicht auf den Einfall gekommen wärst, da oben auf dem Plateau ein Feuer anzustecken.“ Smith sah ihn groß an. „Ein Feuer? Von uns hat keiner da oben Feuer gemacht. Wir sind am Abend gar nicht draußen gewesen!“ Ein neues Geheimnis, das niemand erklären konnte!
8. Der Sommer verging, der Winter kam und verging. Es geschah nichts Besonderes. Der letzte rätselhafte Vorgang brachte die Insulaner zu dem Entschlüsse, nun, nachdem sie die Küsten erkundet hatten, auch das Innere ihres Ländchens nach allen Richtungen hin zu erforschen und abzusuchen. Der Gedanke, die Hilfe, die ihnen schon mehrmals auf unbegreifliche Weise zuteil geworden war, müsse doch von einem verborgenen, mysteriösen Schutzgeist gekommen sein, ließ ihnen keine Ruhe. Als sie den Entschluß faßten, ahnten sie nicht, daß es ihnen in der Tat beschieden war, diesen Schutzgeist aufzuspüren, ihm zu begegnen und den Schleier all der Geheimnisse zu lüften. Die Kette der Rätsel war noch nicht zu Ende - das letzte Glied sollte allem, was vorher geschehen war, die Krone aufsetzen. Schluß und Lösung sollte über ihre kühnsten Vorstellungen weit hinausgehen. Es verging kein Tag klaren Wetters, an dem nicht Cyrus Smith zu irgendeiner Stunde vom Fenster des Granitpalastes aus mit dem Fernrohr den ganzen Horizont absuchte. Die Luft war am 17. Oktober außergewöhnlich klar. Von der
Unionsbai bis herum zum Kap Klaue spannte sich die weite Fläche des Meeres aus, still und glatt wie ein Binnensee. An einem bestimmten Punkte blieb das Fernrohr stehen, so lange, daß schließlich die anderen erwartungsvoll aufsahen. „Gibt's was Besonderes?“ fragte Spilett. Cyrus antwortete nicht gleich, dann sagte er: „Ja, ich hab's erst nicht glauben wollen. Es ist ein Schiff!“ Alle umringten ihn. Von allen Lippen kam die eine Frage: „Hält es auf uns zu?“ „Noch nicht zu erkennen. Sind bloß erst die Mastspitzen zu sehen.“ Das Fernrohr ging von Hand zu Hand. Nur Tom Deer setzte es nicht ans Auge. Hoffnung und zugleich Befürchtung erfüllte die Gemüter. Wenn es landete, würde es Rettung bringen oder Kampf und am Ende den Tod? Nach einer Weile rief Pencroff: „Jetzt seh' ich den Rumpf. Alle Wetter, ein schnittiges Ding! Eine Brigg - 400 Tonnen, schätz' ich - scheint ein sehr schneller Segler zu sein, ein richtiger Renner. Und es kommt geradewegs auf die Insel zu.“ „Kannst du eine Flagge erkennen?“ „Wartet mall Ja! Da weht die schwarze Flagge!“ Tom Deer seufzte tief auf. Aber das hörten die andern nicht. „Seeräuber!“ sagte Smith. „Da steht uns nichts Gutes bevor.“ Jetzt streckte Tom die Hand aus. „Gebt her!“ Das Fernrohr zitterte zwischen seinen Fingern. Er riß sich zusammen. Dann: „Unsre Brigg! Die Brigg meines Kapitäns! Deshalb also haben sie sie an sich gebracht. Um Seeraub zu treiben. Und jetzt kommen sie mich holen!“ „Unsinn!“ rief Smith ihm fast ärgerlich zu. „Hier geht's nicht um dich. Nach dir fragen die nicht mehr. Sie sind verfolgt worden und auf der Flucht. Oder sie suchen einen sicheren
Bergungsplatz für ihre Beute. Wahrscheinlich haben sie schon bei ihrem ersten Aufenthalt erkannt, daß dieses unbekannte Stückchen Erde gerade das ist, was sie brauchen. Wir müssen auf alles gefaßt sein. Auf Angriff und Verteidigung, auf einen Kampf bis zur letzten Patrone. Laßt uns sprechen wie Nelson bei Trafalgar: Die Lincoln-Insel erwartet, daß jedermann seine Pflicht tut!“ Eine halbe Stunde später konnte man nicht mehr daran zweifeln, daß die Brigg die Absicht hatte, vor der Insel zu landen oder, da sie jetzt Kurs auf den Kanal zwischen der großen und der kleineren Insel nahm, dort Anker zu werfen. Smith sprach weiter: „Nach Pencroffs Schätzung haben wir mit einem mindestens 40 Mann starken Gegner zu rechnen. Wir sind unser 6. Das dürfen wir ihn nicht wissen lassen, er muß vermuten, wir wären hier weit mehr. Darum wollen wir ihm von mehreren Punkten aus Widerstand bieten. Wir haben 6 Flinten und ebensoviel Pistolen. Munition ist genug da. Wir brauchen damit nicht zu geizen. Trotzdem muß natürlich jeder so gut schießen, wie er eben kann. Es sollte möglichst kein Schuß fehlgehen. Denkt immer daran, es steht l zu 7. Verluste müssen wir vermeiden, also laßt euch möglichst wenig sehen. Ihr beide, Pencroff und Deer, habt euern Posten jenseits des Kanals auf dem Eiland. Am besten und klügsten würde es sein, ihr bezieht zwei voneinander getrennte Stellen. Spilett, du nimmst mit Nab Deckung zwischen den Felsen an der Mündung des Gnadenbachs. Die Brücke räumen wir morgen in aller Frühe ab. Ich selbst bleibe mit Harbert im Hinterhalt bei den Kaminen. Von dort aus können wir mit unsern Gewehren einen ziemlich weiten Strandabschnitt bestreichen. Bootsmann, wenn der Feind im Kanal landet und ihr in Gefahr kommt, abgeschnitten zu werden, so zieht ihr euch rechtzeitig zurück, postiert euch am Strande oder eilt zu einem Punkte, wo eurer Meinung nach die Luft am dicksten ist.
Sammelpunkt ist in jedem Falle der Zugang zum Granitpalast. Alles klar?“ Es kam die Nacht, man ging zur Ruhe. In der Dunkelheit konnte der „Adler“ nichts unternehmen, er durfte sich weder den Klippen nähern noch den Versuch machen, in die Mündung des Kanals einzufahren. Mit dem Grauen des Tages war man auf den Beinen. Nach einem kräftigen Frühstück schüttelten sie einander noch einmal die Hand. Dann wurde die Brücke beseitigt, die eingeteilten kleinen Gruppen bezogen ihre Plätze. Die Sonne ging auf, der Nebel stieg, die Brigg ward sichtbar. Die schwarze Flagge flatterte in der Morgenluft. Die Piraten schienen es eilig zu haben, man sah sie schon auf Deck hin und herlaufen. Sie setzten ein Boot aus; 7 Mann, mit Flinten bewaffnet, stiegen ein. Sie steuerten direkt auf das der LincolnInsel vorgelagerte Eiland zu. Tom Deer hatte alle Bangigkeit abgeschüttelt. Jetzt freute es ihn, daß er Gelegenheit erhielt, seinen Kapitän an den Meuterern zu rächen und seine eigne Rechnung mit ihnen abzuschließen. Sobald sie in Schußweite waren, drückte er ab, zu gleicher Zeit schoß auch Pencroff. Zwei Piraten brachen zusammen. Aber wider Erwarten machte das Boot nicht kehrt, es fuhr weiter, nur mit erhöhter Kraft, und war gleich darauf nach Süden hin außer dem Bereich der Gewehre. Als es im Kanal bis zur Mündung des Gnadenbachs gelangt war, fielen wider zwei Schüsse, und wieder waren zwei Piraten kampfunfähig. Diesmal waren Spilett und Nab die Schützen gewesen. Die starke Strömung riß das Boot so schnell an Smith und Harbert vorbei, die bei den Kaminen standen, daß sie nicht zum Schuß kamen. Das Boot entschwand ihren Blicken. Eine Stunde später ließ ein Wutgeheul vom ,Adler´ her seine Rückkehr erraten. Von den 7 Mann waren nur 3 noch unverletzt Die Brigg brachte ein zweites Boot mit 8 Mann zu Wasser. Sie selbst setzte sich ebenfalls in Bewegung. Und
beide hielten unmittelbar auf den Kanal zu. Es war unter diesen Umständen für Pencroff und Deer geboten, sich über den Kanal hinüber zu den Kaminen zurückzuziehen. Sie warteten nur, bis die im Boote an Land stiegen, dann streckten sie abermals zwei nieder. Diesmal machten die anderen kehrt, liefen zum Boote zurück und beeilten sich, die Brigg zu erreichen, bevor sie in die Mündung des Kanals eingefahren wäre. Aber es hatte für Pencroff und Deer doch keinen Zweck mehr, ihren Posten länger zu behalten; denn die Brigg änderte ihren Kurs nicht und lenkte gleich darauf in den Kanal ein. Die beiden gelangten unversehrt zu den Kameraden. »Ich hätte nie geglaubt“, sagte Pencroff, „daß der Kommandant des ,Adlers´ es wagen würde, sich in so ein schmales Gewässer wie den Kanal hineinzuwagen. Was machen wir nun, Cyrus? Wenn die an Land geh'n, haben wir's mit 30 Mann zu tun.“ »Zurück zum Granitpalast!“ entschied Smith. „Weiter bleibt nichts übrig. Da sind wir geborgen und können's eine gute Weile mit ansehen.“ Spilett und Nab warteten schon auf sie. Der Reporter war angesichts der Lage zu dem gleichen Entschluß gekommen wie der Ingenieur. Als sie dann im Granitpalast wieder beisammen waren, stand allen die eine unabweisbare Gewißheit vor Augen: das Ende einer Belagerung, mochten sie ihr auch noch so lange widerstehen, konnte nur der Hungertod sein. «Oder siehst du einen Ausweg?“ fragte Spilett den Kommandanten. Cyrus antwortete nicht. Er wies nur gen Himmel. Spilett nickte. „Als ihr zuletzt geschossen habt“, wandte er sich an den Bootsmann, „wie stand es da bei euch?“ „Ein Boot mit 8 Piraten; 2 sind hin, zum mindesten fürs erste kampfunfähig. Die anderen sind zu ihrem Boot zurückgelau-
fen. Ich glaube nicht, daß sie die Brigg noch erreicht haben. Wir werden ja gleich sehen, ob sie ihr in den Kanal hinein nachgefahren sind.“ „Jedenfalls müssen wir damit rechnen, daß wir's mit mehr als 30 hanebüchenen Burschen zu tun haben“, schloß Spilett Sie saßen alle an den Fenstern und beobachteten den „Adler“. Ein Blitz an Bord, ein dumpfer Knall, ein Krach gegen die Granitwand - die Korsaren hatten den Zufluchtsort der Insulaner entdeckt und beschossen ihn mit ihren Haubitzen. Aber kaum war die erste Kugel am Gestein abgeprallt, da hob sich plötzlich die Brigg aus dem Wasser empor, schaukelte sekundenlang auf einer ungeheuren Woge hin und her, stürzte nieder und versank in der Tiefe. Ein vielstimmiger Schrei des Schreckens scholl zu den Eingeschlossenen herüber. Die Männer starrten einander fassungslos an. Von der Brigg war nur noch eine Mastspitze zu sehen, die gleich darauf auch zusammenknickte. Nach einer kleinen Weile tauchten Fässer herauf, Tonnen, Kisten, doch kam kein Stück Planke, kein Rest von Bordwänden zum Vorschein. Dann ein paar Leichen. Alles trieb mit der Strömung dem Meere zu. Endlich fand Spilett die Sprache wieder. »Auf eine Klippe gefahren! Gott sei Dank!“ Aber der Bootsmann drehte sich unwirsch zu ihm herum. „Unsinn! In dem Kanal gibt's keine Klippen. Außerdem ist er bloß 20 Fuß tief.“ „Aber wie soll man sich diesen Untergang erklären?“ warf Harbert ein. Nab: „Vielleicht die Pulverkammer?“ Deer: „Die Explosion hätten wir hören müssen.“ So rieten sie hin und her. Nur Cyrus Smith sprach kein Wort. Dann sagte Pencroff: „Bei der geringen Wassertiefe wird die Flut die Brigg wieder heben, dann können wir an Bord und werden ja sehen, was da los war.“
Spilett: „Aber das Boot mit den übriggebliebenen?“ Pencroff: „Die sind wahrscheinlich auf und davon. Denen ist der Schreck in die Glieder gefahren. Ich vermute, sie werden jenseits der Nordspitze irgendwo im Innern der Insel einen Unterschlupf suchen. Und im Notfall können zwei von uns sie im Schach halten, während wir zur Brigg fahren.“ Deer: „Da komm' ich mit. O du lieber Himmel, nun sind sie alle hin, die verdammten Banditen!“ Sie warteten die Flut nicht ab. Pencroff holte die kleine Schaluppe heran, und sie sammelten alles, was sie an Trümmern erreichen konnten. Dann geschah, was er vorausgesagt hatte. Die Flut kam und hob den Rumpf der Brigg zur Oberfläche. Sie fuhren hinüber. Durch das kristallklare Wasser hindurch sahen sie, daß der Kiel in voller Länge auseinandergerissen war. Sie stiegen hinauf und fanden das Deck fast unversehrt. Ins Innere war Wasser gedrungen. Aber es gab da noch Kisten genug, die sie rechtzeitig bergen konnten. In der Pulverkammer war nichts geschehen, sie brachten die vollen Fässer in Sicherheit. So arbeiteten sie stundenlang unermüdlich, erst die Nacht gebot ihnen Einhalt. So arbeiteten sie auch an den nächsten Tagen weiter, bis sie aus dem Wrack alles herausgeholt hatten, was irgendwie zu brauchen war - und das war viel, das war ein neuer Reichtum für die Insulaner. Fast eine Woche verging, dann machte das Wasser ein Ende, und nichts blieb mehr übrig von der Brigg, nichts war mehr zu sehen, weder bei Ebbe noch bei Flut. Und die ganze Zeit hindurch hatte sich vom Rest ihrer Mannschaft kein einziger gezeigt. Dann kam wieder die Rede auf das unbegreifliche Geschehnis. „Wie ist das alles zugegangen?“ fragte Spilett. „Keine Explosion, keine Riffe!“ „Ich weiß es nicht“, antwortete Pencroff. „Der Chef weiß es nicht, keiner weiß es, und wahrscheinlich werden wir es nie
erfahren.“ Dabei wäre es wohl auch geblieben, hätten sie nicht bei einer letzten Suche am Ufer ein zylinderförmiges Stück Eisen gefunden, dessen Ränder aufgerissen waren. „Wißt ihr, was das ist?“ rief Smith. „Der Überrest eines Torpedos !“ Mit diesem Fund war der Untergang der Brigg erklärt. Wie aber war ein Torpedo in den Kanal gekommen?
9. »Hört mich an!“ sprach Cyrus, als sie alle im Granitpalast beisammen waren. „Nach allem, was wir erlebt haben, besteht kein Zweifel mehr: es gibt auf unserer Insel ein geheimnisvolles Wesen, dem offenbar übernatürliche Kräfte zu Gebote stehen. Ihm verdanke ich meine Rettung nach dem Sturz ins Meer, ihm verdankt mein Hund das Leben, ihm verdankst du, Pencroff, den Lichtschein, der dir aus Seenot geholfen hat, ihm verdanken wir den Sieg über die Meuterer. Was das für ein Mensch ist, wo er sich aufhält, welchen Grund er hat, uns wieder und wieder beizustehen, ich weiß es nicht. Ich glaube auch nicht, daß wir ihn finden würden, wenn wir auch die Insel bis auf den letzten Winkel absuchen. Wir müssen es ihm selbst überlassen, sich zu offenbaren.“ Wir werden sehen, wie recht er mit diesen Worten hatte. Die Ereignisse jagen sich. Mit den zwei letzten Gliedern wird die Kette der Wunder abschließen, der Schleier sich lüften. Wir werden klar sehen. Das Robinson-Leben nahm wieder seinen alltäglichen Verlauf. Die versprengten Piraten hatten sich nicht gezeigt. Die
Insulaner blieben wohl auf der Hut, aber sie ließen sich in ihrer Arbeit nicht stören. Tom Deer war wieder ins Blockhaus gezogen. Vom Granitpalast fragten sie regelmäßig bei ihm an, wie es drüben ginge. Und eines Morgens kam keine Antwort „Leitung kaputt“, sagte der Ingenieur. „Wahrscheinlich vom Wetter beschädigt, ist ja nur eine ganz einfache Anlage. Kann aber auch was Anderes sein.“ „Wir müssen hin und nach ihm schauen“ meinte Spilett. „Selbstverständlich. Nab mag mit dem Hunde hierbleiben. Die sind hier sicher. Wir werden uns ja wohl auch nicht lange aufzuhalten brauchen.“ Was war mit Tom Deer geschehen? Er hatte auf die Felder gehen und den Hühnern ein paar Hände voll Körner streuen wollen. Auf diesem kurzen Gang nahm er kein Gewehr mit. Plötzlich knallte es hinter ihm. Eine Kugel riß ihm den Hut vom Kopf. Wie mit einem Schlage stürzte die schreckliche Angst wieder über ihn her. Waren denn die Banditen nicht alle tot? Lebten noch welche? Wer sonst konnte geschossen haben? Er rannte blindlings drauflos und sah sich mit wirren Blicken nach Deckung um. Er lief um sein Leben. Da knallte es noch einmal. Er fühlte einen kurzen schneidenden Schmerz an der linken Schulter. Der nächste Schuß ist der Tod, dachte er und warf sich unwillkürlich nieder. Dann schwand ihm das Bewußtsein. Aber die zweite Kugel hatte ihn nur gestreift; was ihm die Sinne raubte, das war nur die Angst, die schreckliche Angst, sie war mit einem Male wieder dagewesen. Er wäre gewiß ruhig geblieben, wenn er gehört hätte, was da am Blockhaus gesprochen wurde. „Hin zu dem Kerl!“ sagte einer der sechs Banditen. „Wozu?“ brummte ein anderer. „Der steht nicht wieder auf. Ich kenne meine Schüsse,“ Ein dritter: „Na, dann ins Haus! Wenn noch andere drin wären außer dem, der da liegt, die hätten uns längst Zunder
gegeben!“ Ein vierter: „Sicherlich! Und die Bude ist grade das, was wir brauchen. Da sind Felder, da ist Vieh zum Schlachten! Hoffentlich finden wir auch was zum Saufen, und nicht bloß Wasser!“ Drinnen im Hause sah einer, der etwas von Technik verstand, auf den ersten Blick den Telegraphendraht. „Da schau her!“ rief er. „Eine Leitung. Die führt bestimmt zu irgendeinem ändern Aufenthaltsort, wo die ganze andere Sippschaft steckt Hui! Das ist gut!“ Er schlug den Draht entzwei. „Warum machst du denn das gleich kaputt?“ fragten die andern. „Köpfchen, Jungs!“ Er klopfte sich an die Stirn. „Wenn nämlich die am ändern Ende anrufen und keine Antwort kriegen, dann werden sie herkommen, um nachzusehen, was hier los ist. Wir brauchen uns nur auf die Lauer zu legen und können sie abknallen, sobald sie auf der Bildfläche erscheinen.“ „Gut!“ Tom Deer kam bald wieder zu sich. Da es still um ihn her blieb, kroch er zu dem am nächsten gelegenen Kamin. So kam es, daß die Insulaner, als sie sich dem Corral näherten, mit Schüssen empfangen wurden. Harbert brach zusammen. Eine Kugel hatte ihm die Hüfte durchschlagen. „Hinlegen!“ rief Smith. Aber für Pencroff gab es keine Gefahr. Er hob seinen Schützling auf, nahm ihn auf die Schulter und lief mit ihm davon. Die andern brachten sich, kriechend, laufend, von einem Strauch zum anderen Deckung nehmend, in Sicherheit. In demselben Kamin, wo Deer Unterschlupf gefunden hatte, waren sie wieder beisammen. Er berichtete kurz, wie es ihm ergangen war. Seine Streifwunde blutete nicht mehr. Nur den
linken Arm konnte er noch nicht recht bewegen. Pencroff untersuchte Harberts Verletzung und legte ihm einen Notverband an. An der Hüfte, sagte er, glatter Durchschuß. Scheint nicht allzu schlimm, wenn kein Fieber käme. So traf es sich denn, daß die beiden feindlichen Parteien einander, knapp über Schußweite hinaus, gegenüberlagen. Aber die Korsaren hatten die stärkere Stellung. Ihnen gebrach es an nichts, den Männern im Kamin fehlte es an allem. Und Fieber kam am Abend, starkes Fieber. Smith war in großer Sorge. „Wenn wir nur Medikamente hätten!“ sagte er. „Vor allem Chinin. Im Blockhaus ist eine Apotheke.“ „Ich hab' noch nichts draus gebraucht“, sagte Deer. „Aber wie kriegen wir sie her?“ „Das besorge ich“, erklärte der Bootsmann. „Deer, ist auch Schnaps da?“ „Freilich. Für ein paar Flaschen habe ich immer gesorgt. Und ich selbst trinke ja nur wenig.“ „Dann ist's gut“, meinte Pencroff. „Wie ich solches Gelichter kenne - die werden sich erst mal vollaufen lassen. Da hol' ich die Apotheke her.“ In der Nacht wurde Harberts Zustand bedenklich. Das Fieber steigerte sich zum Delirium. Es schüttelte seine Glieder, es pfiff in seinem Atem, es brach in Schweiß von seiner Stirn. Spilett, der etwas von Medizin verstand, befürchtete das Ärgste. „Er wird uns unter den Händen draufgeh'n“, sagte er leise. Aber Pencroff hatte das gehört. Er war wütend. „Wir können ihn doch nicht sterben lassen! Ich hol' die Apotheke!“ „Und wenn sie dich abknallen? Darauf dürfen wir's nicht ankommen lassen.“ „Wir können ihn doch nicht sterben lassen!“ „Gescheiter ist's, du schaffst Wasser her. Kühle Umschläge
helfen noch für eine Weile.“ Der Bootsmann griff einen Krug und ging hinaus. Als er zurückkehrte, trug er außer dem Krug eine Schachtel in der Hand. „Die hab' ich vor der Tür gefunden“, und er reichte sie Smith. Der las bei der brennenden Kerze das Etikett: „Chinin!“ Ein neues Geheimnis! Wieder der Schutzgeist, der ihnen so oft schon in höchster Not geholfen hatte. Wie war er hergekommen? Wohin war er verschwunden? Die nächsten Tage galten der Pflege des Verwundeten. Nur bei Nacht verließen die Männer ihr Versteck, um immer wieder Wasser zu holen - sie mußten ja auch selber den Durst löschen -, um ein Huhn oder ein Lamm heranzuschaffen. Für Harbert mußte kräftige Brühe da sein, und sie selbst wollten Fleisch haben, um bei Kräften zu bleiben für den Kampf, der schließlich nicht zu umgehen war. Solange Harbert nicht wiederhergestellt war, konnten sie an einen Rückzug zum Granitpalast nicht denken. Es widerstrebte ihnen auch, den Corral mit all seinem Zubehör den Piraten zu überlassen, über kurz oder lang würden doch die Gewehre das letzte Wort zu sprechen haben, wem die Insel gehören sollte ihnen, den rechtmäßigen Besitzern oder diesen verbrecherischen Eindringlingen. Sie konnten Feuer anmachen; Brennholz war genug vorhanden. Wenn es den Piraten nicht in den Sinn kam, die Nächte unsicher zu machen, war alles noch gut. Und Harberts Zustand besserte sich mit jedem Tage. Er hatte kein Fieber mehr, er nahm zu an Kräften, die Wunde begann zu verheilen. Warum blieben die Banditen unsichtbar? Nicht einmal an den Fenstern, nicht einmal vor dem Tore ließen sie sich sehen. Die ganze Zeit über kam kein einziger zum Vorschein. So konnte es auf die Dauer nicht weitergehen. Ein Entschluß mußte gefaßt werden. Eines Tages sagte Smith: „Wenn der Berg nicht zum
Propheten kommt, so muß der Prophet zum Berge kommen. Was meint ihr?“ Spilett: „Dasselbe. Die ganze Sache kommt mir nicht geheuer vor. Das sieht ja fast aus, als wenn das Blockhaus ein Totenhaus wäre.“ Pencroff: „Ich glaube eher, die Burschen sind zu feige. Aus dem Hinterhalt einen abknallen, darauf verstehen sie sich. Zu einem ehrlichen Kampfe haben sie keine Traute.“ Smith: „Ich meine, wir haben den Stellungskrieg satt. Wollen wir's riskieren?“ Alle waren dafür. „Also Sturmangriff!“ rief der Bootsmann. „Wir werden dem Gesindel zeigen, wo Bartel Most holt! Wann geht's los?“ „Morgen in aller Frühe“, entschied der Chef. „Wir schwärmen in Schützenlinie aus, jeder nimmt Deckung, wo sich's bietet. Und Deckung ist genug ringsum. Obacht geben nach rechts und links, damit keiner abkommt. Feuer geben, sobald sich was an den Fenstern oder zwischen der Umzäunung blicken läßt. Kaltes Blut und sichere Hand und scharfes Auge! Gebe Gott, daß es gut geht!“ Und ob es gut ging. Es ging über alles Erwarten gut. Sie hatten sich bis dicht an die Palisaden herangepirscht, und noch war aus dem Blockhaus kein Schuß gefallen. Sie drangen weiter vor - nichts regte sich. Sie sprangen durch die Umzäunung - alles blieb still. Endlich stießen sie die Tür ein und stürmten ins Innere. Da lagen sechs Menschen am Boden und regten sich nicht. Tot! Alle hatten sie den gleichen Gedanken und standen wie versteinert. Endlich sprach Smith: „Der geheimnisvolle Gerichtsherr der Insel hat hier sein Urteil vollstreckt.“ Spilett: „Aber wie ist das zugegangen?“ Smith: „Ich weiß es nicht.“ Pencroff: „Wieder dasselbe! Der Chef weiß es nicht, wir
wissen es nicht, und keiner wird es je erfahren!“ Die Toten sahen aus wie vom Blitz getroffen. Diesen Eindruck bestätigte schon eine flüchtige Untersuchung. Alle wiesen einen kleinen roten Fleck auf, der eine an der Stirn, der andere auf der Brust, der wieder auf dem Rücken, an der Schulter; eine Wunde fand man bei keinem. „Nichts zu sehen als diese winzigen Flecke“, sagte Spilett kopfschüttelnd. „Von was für einer Waffe können sie herrühren?“ „Von einer Waffe, die wir uns nicht vorstellen können“, antwortete der Ingenieur. Sie trifft und tötet wie ein Blitz. Und niemand anders besitzt sie, niemand anders hat sie hier angewendet als unser Schutzgeist, der unbekannte, unsichtbare Herr der Insel - derselbe, der mich, meinen Hund, euch, Pencroff und Harbert, vom Tode errettet, dem wir den Schatz in der Kiste verdanken, der die Brigg mitsamt ihrer Mannschaft vernichtet und nun auch hier unsere letzten Feinde geschlagen hat. Immer wieder ist er uns in höchster Not beigesprungen und immer wieder verschwindet er, ohne eine Spur zurückzulassen.“ „Wir müssen ihn suchen!“ riefen alle wie aus einem Munde. „Meint ihr?“ versetzte Smith. „Darüber reden wir noch. Ich will vorerst den Telegraphen wieder instandsetzen. Nab soll mit dem Hunde herüberkommen. Derweil befaßt ihr euch mit den Toten.“ Nachdem sie die Leichen, weitab von den Hürden, begraben hatten, nahm Cyrus das unterbrochene Gespräch wieder auf. Inzwischen hatten sich auch Nab und Top eingefunden. „Ihr habt also vor, nach unserm geheimnisvollen Wohltäter zu forschen?“ Spilett: „Ich vermute, Smith, dir wird ebensoviel daran liegen wie uns, ihm Dank zu sagen.“ Smith: „Selbstverständlich. Aber ich bleibe bei meiner Überzeugung, wir werden ihn nicht finden.“
Pencroff: „Ich bin gewiß nicht neugierig. Ich nehme das Gute hin, woher's auch kommen mag, und finde mich mit dem Bösen ab, wenn's nicht zu ändern ist. Aber was hier geschieht, das bringt auch mich aus dem Konzept. Dieser Unbekannte muß doch irgendwo stecken - also muß er auch zu finden sein, wenn man systematisch sucht.“ Harbert: „Ich meine, er muß sogar hier gewesen sein. Wie wäre sonst die Schachtel mit dem Chinin hierher gekommen? Soll sie etwa aus der Luft hergeflogen sein?“ Deer: „Und die toten Banditen? Sind sie etwa von irgendeiner verborgenen Höhle her oder aus wer weiß welcher Entfernung erschlagen worden - wenn auch mit einer Waffe, die wie der Blitz wirkt?“ Smith: „Das alles klingt einleuchtend. Ich wiederhole trotzdem, wir werden den Geheimnisvollen erst zu Gesicht bekommen, wenn es ihm beliebt, sich uns zu zeigen.“ Spilett: „Also meinst du, wir sollten von allen Nachforschungen absehen?“ Smith: „Das will ich damit nicht gesagt haben. Es empfiehlt sich nämlich noch aus einem anderen Grunde, die Insel gründlich abzusuchen. Ich sprach vorhin von letzten Feinden. Aber wissen wir denn genau, ob es wirklich die letzten gewesen sind? Diese sechs waren ja schon weg vom ,Adler', als er unterging. Es müssen da aber noch etwa 20 Mann an Bord gewesen sein. So viele Leichen haben wir nicht gefunden. Also besteht die Möglichkeit, daß einige der Katastrophe entronnen sind. Ist dies der Fall, so können sich die Überlebenden nur auf die Insel geflüchtet haben. Ob sie sich hier einzeln oder in kleinen Gruppen herumtreiben, das wissen wir nicht. Und so lange wir das nicht festgestellt haben, können wir uns nicht alleinige Herren der Insel nennen. Aus diesem Grunde begrüße ich euer Vorhaben und nehme gern daran teil. Ich bin sogar der Meinung, wir sollten es nicht auf die lange Bank schieben. Von mir aus können wir uns schon morgen auf den Weg machen.
Harbert und Deer würden hierbleiben und sich ums Vieh kümmern!“ Pencroff: „Erst nehmen wir uns die nähere Umgebung gründlich vor, und dann fahren wir mit der ,Bonaventura' den Gnadenbach hinunter.“ Da meldete sich Nab: „Die ist kaputt, Bootsmann.“ „Was?“ schrie Pencroff. „Meine Schaluppe kaputt? Wie denn?“ Nab: „Die Banditen haben sie gefunden. Es waren ihrer sechs. Ich habe sie vom Fenster aus beobachten können, während ihr hier im Corral wart. Sie sind zur Nordspitze hin weggefahren. Als sie auf der ändern Seite wieder vorkamen, sind sie gegen eine Klippe gerannt, da ist der Kahn zerschellt.“ Pencroff: „Die Hundsbrut! Und nun kann ich ihnen die Schandtat nicht einmal heimzahlen.“ Smith: „Tröste dich! Ich habe mich längst schon mit dem Gedanken befaßt, ein richtiges Schiff zu bauen - sagen wir, 400 Tonnen -, mit dem wir eine Seefahrt, etwa bis Neuseeland, wagen könnten. Wie lange ungefähr würde das dauern?“ Pencroff: „Mindestens drei Vierteljahre.“ Smith: „Zeit haben wir genug. Und Material auch.“ Pencroff: „Großartig, Chef! Da freu' ich mich drauf.“
10. Cyrus Smith teilte die stürmische Freude seiner Gefährten, sich von den Feinden befreit zu wissen; er empfand wie sie das innige Verlangen, dem Unsichtbaren Dank abzustatten. Aber bei ihm mischte sich in diese Gefühle ein leises Unbehagen. Er war sich seines Wissens und Könnens immer voller Stolz bewußt gewesen. Hier sah er sich in so hohem Maße übertroffen, daß er sich selbst winzig klein vorkam. Und das wurmte ihn. Wenn der Großmächtige sich gezeigt hätte, wenn er ihm die Gnade erwiesen hätte, seine Danksagung entgegenzunehmen, ihn eines Empfangs zu würdigen, sich zu einer Unterredung herabzulassen, so wäre Cyrus Smith vielleicht zufrieden, vielleicht glücklich gewesen. Daß der Unbekannte hartnäckig unsichtbar blieb, empfand er als Geringschätzung. Man darf annehmen, daß diese Gedanken bei seinen Plänen für die nächste Zukunft mitsprachen; denn er plante nicht nur den Bau eines Schiffes; er hatte sich auch vorgenommen, eine Mühle, ein Sägewerk, einen hydraulischen Aufzug zum Granitpalast hinauf zu bauen, Straßen nach allen Seiten hin
anzulegen, durch umfangreiche Sprengungen die Berge und Felsen zugängig zu machen, kurz die Insel zu einer überall bewohnbaren Kolonie umzugestalten. Durch all diese Werke gedachte er, dem Herrn und Meister zu zeigen, was ein weit Geringerer zu leisten vermochte. Der Ingenieur Cyrus Smith war entschlossen, sein Wissen und Können zu beweisen und Achtung und Anerkennung zu gewinnen. Bisher hatte das Verhalten seines Hundes vor der zugedeckten Öffnung des Schachtes ihn bewogen, da unten in der Tiefe eine Höhle zu vermuten, in der vielleicht der Aufenthaltsort des Unsichtbaren zu suchen sei. Davon war er abgekommen. Denn Top schnüffelte jetzt nicht mehr an den Bohlen und Brettern herum. Sie hatten offenbar keinen Reiz mehr für ihn. Er lief gleichgültig darüber hin, er schien nichts mehr unter ihnen zu wittern. Wenn Smith an der geplanten Nachforschung teilnahm, so nur aus dem Grunde, den er seinen Gefährten dargelegt hatte. Er glaubte nicht daran, daß man irgendwo zwischen den Felsen oder in den Wäldern der Insel die Behausung des Geheimnisvollen entdecken könne. Die Werkstatt der märchenhaften Kräfte, deren Proben sie erlebt hatten, konnte seiner Überzeugung nach nicht an der Oberfläche liegen. Schon zu Beginn ihrer Reise sahen die Insulaner sich genötigt, sie zu unterbrechen. Sie fanden am Seeufer einen gestrandeten Walfisch, in dessen Seite eine Harpune steckte. Die Vermutung lag nahe, hier sei abermals die Hand des Schutzgeistes im Spiele. Aber Pencroff erklärte, getroffene Walfische schwämmen oft noch meilenweit, bevor sie verendeten, ja man brauche nicht einmal anzunehmen, daß ein Fangschiff in die Nähe der Insel gekommen sei. »Grämt euch nicht etwa“, tröstete er seine Gefährten, die sehnsüchtig aufs Meer hinausblickten, „als wäre da eine schöne Gelegenheit zur Heimkehr in die Brüche gegangen! Freut euch lieber über diesen Fund! Eine Masse Tran, eine Menge
Fischbein - das können wir herrlich gebrauchen. Und ich versteh' mich drauf, bin selber mal eine Zeitlang auf einem Walfischfahrer gewesen.“ Pencroff spannte alle zur Mitarbeit ein, und es war eine garstige Arbeit. Wäre nicht Eile geboten gewesen, so hätte ein jeder sich gern gedrückt. Drei Tage waren vonnöten, bis man Fett und Fischbein geborgen hatte. Den Kadaver überließ man den Raubvögeln, die dem treibenden Ungetüm bis zur LincolnInsel gefolgt waren und nun das Fleisch bis auf den letzten Fetzen vertilgten. Bei herrlichem Wetter brachen die Insulaner zu ihrer Forschungsreise auf. Bisher kannten sie von ihrer Insel die Ostküste vom Kap Klaue bis zu den beiden Mandibel- oder Kinnbackenkaps, die in deren Nähe gelegenen Sümpfe, die Gegend um den Grant-See und die Wälder zwischen dem Wege zum Corral und dem Gnadenbach, den Lauf dieses Baches und eines kleinen Nebenbaches, dem sie den Namen „roter Creek“ gegeben hatten, und endlich die Erhebungen des Franklin-Berges. Dem Küstengebiet an der Washington-Bai vom Kap Klaue bis zum Reptilien-Vorgebirge, den Wäldern und Sümpfen an der Westküste und dem Haifischgolf hatten sie nur einen flüchtigen Besuch gemacht. Die Waldungen auf der Serpentine-Halbinsel, das rechte Ufer des Gnadenbachs, wo ebenfalls ein Nebenwasser mündete - es hieß bei ihnen der „Wasserfall-Bach“ -, die Hänge und Täler im Norden, Westen und Osten des Franklin-Berges waren ihnen unbekannt. So wartete noch immer ein ansehnlicher Teil ihres Reiches auf Erforschung. Die Ausrüstung - Waffen und Munition, Zelte und Zubehör, Proviant und Werkzeug - war in einzelne Lasten aufgeteilt. Sie wanderten am linken Ufer des Gnadenbaches entlang, überschritten die Brücke, an der der Pfad zum Ballonhafen
endete, den sie links liegen ließen, und wandten sich den Wäldern der Westseite zu. Der erste Marschtag bot keine Hindernisse. Aber je weiter sie dann vordrangen, desto schwieriger gestaltete sich der Weg in der Richtung, für die sie sich entschieden hatten. Das Gehölz wurde zum Urwald. Wenn eine Lichtung kam, flatterten Vögel in Scharen auf. Agutis, Känguruhs, Pekaris und andere Vierfüßler flüchteten durch das hohe Gras. Alles erinnerte hier an die ersten Ausflüge, die sie nach der Ankunft auf der Insel unternommen hatten. Bald mußten sie sich mit den Buschmessern Bahn brechen. Sie kamen nicht so rasch, nicht so leicht vorwärts, wie sie wünschten und auch erwartet hatten. Sie hatten am ersten Tage nur 9 Meilen vom Granitpalast aus zurückgelegt, als sie am Abend haltmachten. Hier nahm der Gnadenbach einen winzigen Zufluß auf, von dessen Vorhandensein sie bis dahin keine Ahnung gehabt hatten. Der erste Tag war ohne jedes Ergebnis verlaufen. Kein Steig, kein Pfad kreuzte das Dickicht; nirgends deutete ein Anzeichen an, daß jemals die Hand eines Menschen die Bäume berührt, sein Fuß den Rasen betreten habe. Keine Lichtung wies Spuren menschlicher Anwesenheit auf. Selbst hohle Stämme, Buchten im Gesträuch schienen nie zu flüchtigem Unterschlupf gedient zu haben. Nur Tierspuren liefen über die Lichtungen. Auch wo die Reisenden an Stellen, die einen Anbau begünstigt hätten, Wald und Grasflächen mit besonderer Sorgfalt durchstöberten, blieb ihre Mühe ohne Erfolg. Wo sich Abdrücke von Schuhen oder Stiefeln erkennen ließen, konnten sie nur von den sechs Korsaren, aber nicht von einem Einzelgänger herrühren. Die tiefe Einsamkeit der Wildnis blieb ungestört. Zu zahlreichen zeitraubenden und mühseligen Umwegen gezwungen, kamen sie am nächsten Tage nur um 6 Meilen weiter. Als man sich am Wasserfall-Bach entlang dem Reptilien-Vorgebirge näherte, nahm der Urwald noch immer kein Ende. Cyrus Smith fühlte sich in die unermeßlichen
Forsten seiner amerikanischen Heimat versetzt. Spilett erinnerte sich mit Wehmut an abenteuerliche Jagden im Dschungel des Mississippi. Sie arbeiteten nur mit den Buschmessern. Bäume umzulegen hätte zu viel Mühe, zu langen Aufenthalt gekostet. Aber wenn noch irgendwo Seeräuber von der Brigg umherstreunten, so hätte man Stellen finden müssen, wo sie gelagert und erlegtes Wild verzehrt hätten. Wenn irgendwo in den Felslabyrinthen die Werkstatt des Schutzgeistes lag, man hätte sie entdeckt. Denn keine Höhle blieb unbeachtet. In jede Schlucht drang man ein; jedes Tal wurde abgesucht. Der Mißerfolg entmutigte die Reisenden nicht; er steigerte vielmehr ihren Eifer, bestärkte sie in ihrer hartnäckigen Entschlossenheit. An der ganzen Westküste - nichts! Am Lauf des WasserfallBaches - nichts! - In den Tälern zwischen den Gipfeln des Franklin-Berges - nichts! Der Berg selbst war ihre letzte Hoffnung. Der Grundstock des Massivs zwischen den einzelnen Gipfeln und zahlreichen Verzweigungen bildete einen wahren Irrgarten von kleinen und größeren Tälern und Schluchten. Keine Gegend der Insel schien geeigneter, einen Menschen zu beherbergen, der verborgen bleiben wollte. Um sich in diesen Felsen und Klüften nicht zu verirren, mußte man planmäßig vorgehen. Vor einer tiefen und großen Höhle in dem nach Süden verlaufenden Tale glaubten sie schon am Ziel zu sein, aber die Höhle war leer. Man fand nur Reste von Proviant und Spuren von Lagerstätten; die Piraten schienen hier einige Tage zugebracht zu haben. Zwielicht herrschte unter den hohen, weit ausgreifenden Nadelbäumen. Es stieg sich leicht bergan auf dem weichen Moos des Bodens. In einem zweiten engeren Tale begann der Baumwuchs spärlicher, die Steigung stärker zu werden. Die letzten Rasenflächen verliefen in nacktem Fels. Wilde Ziegen und Schafe sprangen zwischen den Steinblöcken umher.
Plätschernd rieselte nach allen Seiten Gewässer nieder. Hier war der Ursprung des „Roten Creeks“ und des „WasserfallBaches“. Als die Männer sich der Nordseite zuwandten, sahen sie sich vor der schwersten Aufgabe ihrer ganzen Reise. Die steilen Täler waren völlig ohne Strauch und Baum. Zwischen den Steinblöcken der Geröllhalden gähnten zahllose Höhlen, von denen manche kaum zugänglich waren. Unheimliches Schweigen umgab die Wanderer. Doch plötzlich - halbwegs in einer dieser finsteren Grotten vernahmen sie unter ihren Füßen etwas wie ein dumpfes Grollen. „Das klingt ja, als sei der Vulkan noch nicht völlig erloschen, oder als wache er wieder auf“, sagte Spilett. „Schon möglich“, antwortete Smith. „Es ist lange her, seitdem wir das erste Mal auf dem Berge waren, übrigens haben wir ja auch schon mal Rauch am Gipfel beobachtet. Wenn das Feuer im Innern keinen Auspuff findet, kann ein Erdbeben unsere ganze Insel umgestalten, ja völlig vernichten. Wir haben keinen Einblick in diese Vorgänge und können nicht wissen, wozu sie schließlich führen werden.“ Pencroff blieb guten Mutes. „Der Brummbär da unten“, lachte er, „wird sich ruhig verhalten müssen. Unser Schutzgeist wird ihn schon an die Kandare nehmen.“ Sie suchten die ganze Nordseite ab. Hier, wo die Urgewalten der Erde sich den Augen und Ohren deutlich offenbarten, glaubten sie in der Tat die Örtlichkeit gefunden zu haben, die sich mehr als jede andere für den Aufenthalt und die Arbeit eines Hephästos in Menschengestalt eignete. Doch all ihr Suchen war vergeblich. Als sie sich endlich zur Heimkehr entschlossen, hatten sie das Eine wenigstens festgestellt: Es gab auf ihrer Insel außer ihnen nur noch einen Bewohner: den Schutzgeist. Aber wo hielt er
sich auf? An der Oberfläche hatten sie ihn nicht gefunden. Wo anders mochte er hausen? In den Kratern des Vulkans? Unter dem Meere? Das Geheimnis blieb ungeklärt.
11. Die nächste Zeit stand im Zeichen des Ingenieurs Cyrus Smith und seiner großen Pläne. Der Bau einer Mühle eröffnete die Reihe. Die telegraphische Leitung wurde vervollkommnet. Nachdem auf einem Jagdausflug Spilett und Nab zwei Wildesel gefangen hatten, ging die Herstellung eines zweirädrigen Karrens nebenher. Das Fahrzeug leistete gute Dienste beim Transport der zu den geplanten Anlagen und Bauten notwendigen Materialien, bei der Arbeit auf den Feldern, beim Verkehr zwischen Granitpalast und Corral. Auch die Erhöhung und Verstärkung der Palisaden, Durchstiche für Bewässerungsgräben, Errichtung eines zweiten kleineren Blockhauses - all das waren sozusagen Einlagen, die wir nicht an die große Glocke hängen. Der Bau eines Schiffes lag dem Ingenieur vor allem am Herzen. Aber ehe ein solches Werk ernsthaft in Angriff genommen werden konnte, waren eingehende Vorarbeiten nötig. Die Frage, wie groß das Schiff werden sollte, hing von der genauen Feststellung ab, was für Material, und wieviel
alles in allem vorhanden war, und wie und wo etwa fehlender Baustoff zu beschaffen sei. Erst dann konnte der Bootsmann sich entscheiden, der Ingenieur an den Entwurf gehen. Tagelang besprachen die zwei Fachmänner ihr Vorhaben. Schließlich einigten sie sich über ein Fahrzeug von 300 Tonnen, und Pencroff machte sich anheischig, es binnen drei Vierteljahren fertig zustellen. Das hatte er ja schon einmal gesprächsweise zugesagt „Aber bis dahin“, gab Smith zu bedenken, „wird es Winter. Wenn starker Frost kommt, kannst du nicht weiter. Und ohne frisches Holz kommst du nicht aus, und das will seine Zeit haben zum Trocknen. Also bin ich dafür, daß wir erst mit dem nächsten Frühjahr anfangen und einiges andere vornehmen, womit wir vor Wintersanfang zu Rande kommen können.“ So entstanden inzwischen neben der Getreidemühle eine Schneidemühle, ein Fahrstuhl zum Granitpalast, eine Walkmaschine: alles - eins wie das andere - behelfsmäßige Vorrichtungen, die an Urwüchsigkeit nichts zu wünschen ließen, die aber, - wenn auch primitiv, so kunstvoll ausgeklügelt waren, daß sie ihren Zweck erfüllten. Hätten Techniker aus Betrieben der zivilisierten Welt sie besichtigen können, sie würden gestaunt haben über die geniale Weise, in der hier ein Ingenieur die ihm zur Verfügung stehende Wasserkraft ausgenutzt hatte. Der Fahrstuhl, nichts weiter als ein einfacher Aufzug, bestand aus einem Schaufelrad, das durch eine Stromschnelle in Bewegung gesetzt wurde, einer Welle, um die ein starkes Tau lief, einem an dieses Tau befestigten Korbe; das war der ganze Apparat, mit dessen Hilfe die Kolonisten sich selbst, Brennmaterial und Proviant zum Eingang in ihre Behausung befördern konnten. Mit der Walkmaschine wurde aus der Schaf- und Ziegenwolle Filz hergestellt und aus dem Filz die notwendige wärmende Kleidung. Ein mit Hebearmen versehener Baum, ein Trog, der die auf die jahrhundertealte Methode entfettete Wolle aufnahm, Schlegel, die sie
bearbeiteten, ein Holzrahmen, der das Ganze zusammenhielt: das war der ebenfalls nach uraltem Muster hergestellte Walkapparat. Die aus dem so gewonnenen Filz angefertigten Wämser und Decken sollten sich schon im kommenden Winter bewähren. Und dann war es so weit. Der Frühling kam, der Schiffsbau begann. Die anderen staunten, als Smith ihnen die Entwürfe zeigte. Freudiger Eifer beseelte alle. Der Wald hallte Tag für Tag wider von Axtschlägen, vom prasselnden Sturz der Wipfel. Der Gnadenbach flößte die Stämme zur Schneidemühle, der Eselskarren schaffte das Reisig zum Granitpalast und zum Corral. Die Witterung blieb Ihnen hold. Hoffnungsvolle Stimmung ließ sie schon das fertige Schiff sehen. Alle träumten von einer nahe bevorstehenden Rückkehr in die Welt. Wenn sie des Abends beisammensaßen, flogen ihre Gedanken hinüber zur Heimat, ihr Gespräch umkreiste die Stätten, die Angehörigen, von denen sie seit drei Jahren getrennt waren. Ob der furchtbare Bürgerkrieg beendet war? Sie glaubten es zuversichtlich. Denn schon zur Zeit ihrer Flucht hatte niemand mehr am Siege der Nordstaatler gezweifelt. In ihrer Mitte gab es nur einen, den diese Frage nicht aufregte. Wohl freute sich Nab, daß dann allen Menschen seiner Farbe die Freiheit beschert sein sollte; aber er war ja eigentlich niemals Sklave gewesen und würde, so sagte er mit unbekümmerter Miene, nach wie vor der treue Diener seines Herrn bleiben. Wenn in den Gemütern dann und wann, je weiter das Werk voranging, die leise Befürchtung aufstieg, eine neue Landung von Seeräubern oder sonst ein unerwartetes Geschehnis könne zu guter Letzt alles zunichte machen, so erinnerte Pencroff sie an den hilfreichen Schutzgeist der Insel, der sie nicht im Stich lassen würde. „Aus seinem unauffindbaren Versteck heraus“, das war des Bootsmannes feste Überzeugung, „behält er uns im Auge, und
seine Hand wird sich heben, wann immer uns Gefahr droht.“ Der gute Pencroff konnte nicht ahnen, daß es ihm nicht vergönnt sein sollte, den Fuß jemals auf die Planken seines Schiffes zu setzen, daß ihrer Insel Umwälzungen bevorstanden, vor denen auch die Macht des Unsichtbaren versagen mußte. Keiner konnte es ahnen, bis eines Tages - es war der 7. September ihres vierten Inseljahres - Cyrus Smith an der Spitze des Franklin-Berges über einem der Krater eine dünne, kerzengerade Rauchwolke stehen sah, die langsam in der Luft verwehte. Einstweilen aber war noch der März nicht zu Ende. Die Arbeit ging ohne Störung weiter. Sie wurde nur unterbrochen, weil darüber die anderen Obliegenheiten, das Vieh, die Felder, die Jagd, nicht außer Acht bleiben durften. Um Mitte Mai konnte man sich schon von dem Kiel des Schiffes eine deutliche Vorstellung machen. Die Anlage von 110 Fuß Länge ließ auf eine Breite von 25 Fuß schließen. Aber dann schlug am 10. Juni das Wetter um. Schneidender Ostwind fegte mit orkanartigen Böen über die Insel hin. Der Winter meldete sich früher als sonst an und brachte über Nacht eine bis dahin noch nie auf der Insel beobachtete Kälte. Der strenge Frost zwang die Kolonisten zur Einstellung jeglicher Außenarbeit. Drückender als je zuvor empfanden sie die Langeweile, die Eintönigkeit der drei Monate Juni, Juli und August, die zum ersten Male nicht durch gelindere Tage unterbrochen wurde. Die Durchschnittstemperatur stieg aber nicht über 13 Grad minus. Sie durften sich Glück wünschen, daß sie für wärmere Kleidung gesorgt hatten. „Allmählich fällt einem hier die Decke auf den Kopf, seufzte der Bootsmann fast an jedem Tage. „Wenn's wieder losgeht, werden Überstunden gemacht, das laßt euch gesagt sein.“ „Dazu wirst du uns nicht aufzufordern brauchen“, versicherte Spilett. „Ich sehne die Stunde herbei, wo wir an Bord gehen und in See stechen können.“
„Aber nicht auf Nimmerwiedersehn“, sagte Harbert. „Ich hab' unsre Insel liebgewonnen. Könntest du sie auf alle Zeit verlassen, Onkel Pencroff?“ „Nein und abermals nein!“ rief der Bootsmann ungestüm. „Nicht einmal, wenn wir sie zur richtigen Kolonie ausgebaut haben. Dann erst recht nicht! Ich kehre bestimmt wieder zurück, und ich denke, mein Junge, du bringst später deine Frau mit her und läßt deine Kinder hier aufwachsen. Ich will schon tüchtige Kerlchen aus ihnen machen! Und du, Cyrus, du sollst der Gouverneur des neuen amerikanischen Kleinstaats sein! Wieviel Einwohner wird er ernähren können? 10000 mindestens!“ „Deine Gedanken schweifen weit“, antwortete der Ingenieur. „Hoffentlich gehen sie in Erfüllung.“ „Nun, dir wird selbst unser Schutzgeist Titel und Würde nicht streitig machten“, sagte Pencroff. „Und auch mir nicht“, lachte Spilett, „wenn ich meine Inselzeitung gründe und den Chefredakteur mache!“ Der Geheimnisvolle blieb verborgen. Er hatte in dieser Zeit ja auch keinen Anlaß, sich bemerkbar zu machen. Wenn er auch nicht vergessen war, so erwähnte man ihn doch nicht in den Gesprächen. Top, der Hund, ließ seit kurzem die Öffnung des zugedeckten Schachtes unbeachtet. Endlich konnte an den letzten Tagen des Augusts die Arbeit wieder aufgenommen werden. Durch die lange, aufgezwungene Ruhezeit gestärkt und zugleich erbost, gingen alle mit doppeltem Eifer ans Werk, als wollten sie an der ungnädigen Natur ihr Mütchen kühlen. So kam der 7. September, und der Ingenieur machte die andern auf das Rauchwölkchen am Franklin-Berg aufmerksam. Alle fragten ihn, was er davon halte, und ob ihnen etwa Gefahr drohe. „Eins steht fest“, war seine Antwort, „der Vulkan ist erwacht. Wir wissen nicht, wie lange er sich still verhalten hat. Wir
können auch nicht wissen, ob sein Ausbruch nahe bevorsteht. Zunächst deutet diese Rauchfahne nur darauf hin, daß die unterirdischen Gase die Gesteinsschicht, die sich auf dem Grunde des Kraters gebildet hatte, durchstoßen haben. Sollte sich die im Innern gärende Glut einen Weg nach außen bahnen, so ist uns jedenfalls keine Macht gegeben, etwas dagegen zu unternehmen.“ Pencroff: „Ich bleibe dabei, der Schutzgeist unsrer Insel wird Mittel und Wege finden, den Brummbär da unten im Zaume zu halten.“ Spilett: „Mein Lieber, da spielen doch wohl Kräfte mit, gegen die auch er nichts ausrichten kann.“ Smith: „Selbst wenn ein Ausbruch geschieht, so brauchen wir nicht gleich zu befürchten, daß die Insel in ihrer Gesamtheit davon betroffen wird. Sie hat schon einmal einen Ausbruch überlebt. Das beweisen uns die Lavamassen, die wir an den Nordhängen des Berges gesehen haben.“ Harbert: „Und wenn's diesmal über die andere Seite hergeht?“ Smith: „Man kann natürlich nicht aus der Vergangenheit auf die Zukunft schließen. Manchmal bleiben an den Gipfeln von Vulkanen alte Krater geschlossen, und neue bilden sich. Das ist in beiden Teilen unserer Erde geschehen, am Ätna, am Popacatepetl, am Orizaba. Wir haben ja auch schon einmal Rauch bemerkt und ihn zuerst für Schnee gehalten. Trotzdem ist bis heute nichts passiert. Hier steht eben alles zu befürchten und alles zu hoffen.“ Pencroff: „Und wir wollen das Beste hoffen! Oder wollt ihr etwa aufhören zu arbeiten?“ Smith: „Selbstverständlich nicht! Im Gegenteil. Wir machen weiter, und zwar mit möglichster Beschleunigung. Mit gesteigerten Kräften. Ich erinnere noch einmal an Admiral Nelsons Worte: Der Kommandant erwartet, daß jeder seine Pflicht tut.“ Spilett: „Noch eins, Cyrus. Mit einem Vulkanausbruch geht
oft ein Erdbeben einher. Wie denkst du darüber?“ Smith: „Ein Erdbeben? Wenn es nicht außerordentlich stark ist, sind wir im Granitpalast nicht gefährdet. Unsere Anlagen würden allerdings zugrunde gehen.“ Pencroff: „Nun, dann fangen wir eben von vorn an!“ Die Auseinandersetzung war damit beendet. Sie wurde auch an den nächsten Tagen nicht wieder aufgenommen. Wohl sah niemand der Zukunft ohne Besorgnis entgegen, aber man ließ sich im Arbeitswillen, im Arbeitseifer nicht beeinträchtigen. Gegen Ende September stand das äußere Gerippe des Schiffsrumpfes fast fertig da. Jetzt mußten wieder drei Mann ausscheiden, es galt, die Ernte unter Dach zu bringen. Wenn der Abend kam, waren alle rechtschaffen müde. Um Zeit zu sparen, hatte man die Mahlzeiten anders gelegt Man aß Um 12 Uhr zu Mittag, zu Abend erst, wenn die Dunkelheit kam. Um dieselbe Zeit begann die Rauchfahne am Berge höher zu steigen und sich zu einer Wolke auszubreiten; Flammen zeigten sich noch nicht. Auch blieb die Erscheinung auf einen, den mittleren, Krater beschränkt. Sie sahen es alle, sie wußten, was es zu bedeuten hatte - sie arbeiteten weiter, mit verbissenem Ungestüm. Jeder gab bis zum äußersten her, was er in den Knochen hatte. Wann immer einer das Werkzeug aus der Hand legte, um zu verschnaufen, irrte sein Blick zu dem Berge hinüber, den die Gedanken eines jeden umkreisten. Sie waren von Tag zu Tag auf eine Katastrophe gefaßt, und doch wurde nicht darüber gesprochen, als wollte niemand den anderen in seiner Unruhe bestärken. Die sechs Männer lebten im Banne derselben Spannung, die manchmal in Zeiten schwerer Krisen ganze Völker befällt, so daß man einen jeden, der von Gefahr spricht oder zu verzweifeln scheint, als einen Verräter brandmarkt. Es kam öfters vor, daß sie trotz aller Müdigkeit am Abend noch bis in die Nacht hinein wach blieben, wie wenn sie sich
schon nicht mehr getrauten, schlafen zu gehen. Wenn sie sich niederlegten, lagen sie stundenlang, ohne Ruhe zu finden. Die Ungewißheit zerrte an ihren Nerven; die Verschwiegenheit, die sie sich auferlegten, begann sie zu zermürben. So war es auch am 15. Oktober, zur Zeit des Neumonds. Draußen Sturm und pechschwarze Nacht. Die Männer im Granitpalast gähnten einander an und blieben doch sitzen, bis endlich Pencroff sich anschickte, sein Bett aufzusuchen. Da schrillte die Alarmglocke der telegraphischen Anlage. Sie zuckten zusammen und starrten sich an. Was denn? Sie waren doch alle da. Smith, Spilett, Pencroff, Harbert, Deer und Nab. Keiner fehlte - im Corral war niemand! Und doch klingelte es vom Corral her! „Waren wir etwa schon halb eingeschlafen?“ fragte der Ingenieur. »Habt ihr's wirklich alle gehört?“ Sie hatten es alle gehört - ganz deutlich hatten es alle gehört. Da gab es keinen Zweifel. „Aber wie ist das zugegangen?“ rief Nab. Niemand antwortete. Dann sagte Harbert: „Draußen stürmt es heftig. Ob's mit der Elektrizität zu tun hat?“ Alle sahen den Ingenieur an. Der aber schüttelte nur den Kopf. Ein paar Minuten vergingen in gespanntem Schweigen Unwillkürlich erwarteten alle einen zweiten Anruf. „Wer mag sich denn dort aufhalten?“ flüsterte Pencroff, so leise, als fürchtete er, sogar im Corral gehört zu werden. „Wir müssen hin!“ rief Deer und sprang auf. Er schien an eine zweite Bande von Seeräubern zu denken. „Geduld!“ mahnte Smith. „Wenn es ein Signal ist und irgendetwas zu bedeuten hat oder uns wissen lassen will, so wird wahrscheinlich die Glocke noch einmal anschlagen.“ Er hatte kaum gesprochen, da klingelte es wieder.
Smith stand auf, trat an den Apparat und schaltete den Strom ein. „Wer ist da und was wollen Sie?“ telegraphierte er hinüber. Nach ein paar Augenblicken bewegte sich der Zeiger des Telegraphen auf der alphabetischen Buchstabentafel. Smith bekam Antwort auf seine Frage. Die Antwort lautete: „Kommt sofort zum Corral!!! „Endlich!“ rief er aus.“
12. „Endlich?“ wiederholte der Reporter. „Was willst du damit sagen?“ Der Ingenieur hatte den Ausruf getan, als gelte er nur ihm selbst. Jetzt wandte er sich an alle: „Jawohl, endlich! Die Stunde ist gekommen. Endlich wird der Schutzgeist sich zeigen und das Geheimnis offenbaren. Er ruft uns zu sich. Ich hatte recht, als ich euch sagte, wir würden ihn aufspüren, sobald es ihm beliebt, sich zu zeigen. Was wir eben gehört haben, ist ein Befehl. Wir müssen gehorchen, und zwar auf der Stelle!“ Alle Müdigkeit war vergessen, niemand dachte mehr an Schlaf. Sie machten sich fertig und traten hinaus in die Nacht. Dichtes Gewölk hing schwer und niedrig am Himmel. Das Laub der Bäume schien mit seinem dumpfen Rauschen sich gegen den unbarmherzigen Sturm zu verwahren, der es schüttelte und niederbeugte. Fernes Wetterleuchten erhellte, gespenstisch zuckend, die Dunkelheit.
Jeder kannte den Weg, und doch kam er ihnen jetzt fremd vor, unheimlich und gefährlich. Von Stunde zu Stunde erwarteten sie den Ausbruch des Gewitters. Sie folgten dem linken Ufer des Gnadenbaches, erreichten das Plateau und schritten über die Brücke in den Wald hinein. Die Gewißheit, das Wesen kennenzulernen, das in ihrem Leben eine so bedeutsame Rolle gespielt, auf so unbegreifliche Weise immer im entscheidenden Augenblick eingegriffen und eine so weitreichende Macht zu besitzen schien, beflügelte ihre Schritte und erregte heftig ihre Gemüter. Es war nicht leicht, in der undurchdringlichen Finsternis den Weg zu erkennen und nicht von ihm abzukommen. In dieser Schwärze schien die Welt umher ausgestorben. Kein Tier gab Laut. Es war, als lebten nur noch Baum und Strauch. „Hat jemand sich die Zeit gemerkt, wann wir aufgebrochen sind?“ fragte Smith. „Ein Viertel nach 9“, antwortete Spilett. „Jetzt ist's ein Viertel vor 10. Mir ist, als wären wir schon viel länger unterwegs.“ „Und doch haben wir in dieser halben Stunde 3 Meilen geschafft“, stellte der Bootsmann fest. „Von hier aus sind's noch zwei.“ Der erste Blitz blendete sie fast. Vom krachenden Donner vorwärtsgestoßen, stürmten sie weiter. Nun folgte Schlag auf Schlag, der Wald schien in Flammen zu stehen. „Da sind schon die Palisaden“, rief einer, „wir sind gleich am Tor!“ Ein Blitz schleuderte einen breiten, lodernden Schein zwischen sie und ihr Ziel. Ein erschreckender Donner brüllte ihnen entgegen. Dana war es wieder stockfinster um sie her. „Sonderbar!“ sagte Smith. „Kein Licht im Blockhaus.“ „Wir hätten doch eine Fackel mitnehmen sollen“, meinte Pencroff. , „Drinnen finden wir eine“, sagte Deer, „und Kerzen sind auch da.“ Dann standen sie vor dem Hause.
Der Ingenieur klopfte an die Tür. Nichts regte sich. Sie blieben unschlüssig stehen. Selbst Smith wagte nicht, ohne weiteres hineinzugehen. „Unbegreiflich!“ sagte er. „Der Anruf kam doch vom Corral. Er muß doch drin sein.“ „Mich wundert das gar nicht“, murmelte Pencroff. „Er will eben bis zum letzten Augenblick der Unsichtbare bleiben. Wer weiß, was kommt!“ Cyrus klopfte noch einmal an. Wieder keine Antwort. „Mach´ schon auf !“ sagte der Reporter. „Wir brauchen doch vor unserm Schutzgeist keine Angst zu haben.“ Smith stieß die Tür auf, sie traten ein. Der Raum war finster und leer. Mit einer Kerze leuchteten sie in alle Ecken und Winkel. Niemand war da. Alles lag und stand noch genau so, wie sie es nach ihrem letzten Aufenthalt zurückgelassen hatten. „Sollten wir etwa den Anruf falsch ausgelegt haben?“ fragte Spilett. „Ausgeschlossen!“ versicherte Smith. .Ihr habt doch alle mitgelesen.“ „Gewiß!“ bestätigten sie. „Und es hat bestimmt so gelautet: Kommt sofort zum Corral!“ „Und nun sind wir hier, und er ist nicht da“, kicherte der Bootsmann. „Ich sage ja, das sieht ihm ähnlich!“ Smith trat an den Tisch, auf dem der Telegraf stand. Alles befand sich am gewohnten Platze: die Säule, die Glocke, die Buchstabentafel mit dem Zeiger. „Wer ist zum letztenmal hier gewesen?“ Deer: „Ich.“ Smith: „Wann?“ Deer: „Vor vier Tagen!“ Smith: „Hast du da irgendetwas Verdächtiges bemerkt?“ Deer: „Nichts.“ Smith: „Sieh mich nicht so fassungslos an. Von einem neuen
Überfall kann keine Rede sein. Und doch -“ Harbert war zu ihnen getreten und rief: „Da liegt ein Zettel!“ Der Ingenieur sah erst jetzt das kleine Stück Papier. Er nahm es auf und las: „Folgt dem neuen Draht!“ Spilett: „Was soll denn das wieder bedeuten?“ Smith: „Daß irgendwo an unsere Leitung eine Abzweigung geknüpft ist. Die müssen wir finden, die wird uns zu ihm führen!“ Pencroff: „Na, dann los!“ Beim Schein der Fackel, die der Neger vorantrug, fanden sie gleich vor dem Blockhaus die Stelle, wo die beiden Drähte zusammenliefen. Von einem Isolator hing der reue bis zur Erde herunter. Das Gewitter tobte noch immer in unverminderter Heftigkeit. Ein Blitz folgte dem anderen. Der Donner rollte unaufhörlich. Im flammenden Lichtschein bot der deutlich sichtbare Berg mit der Rauchwolke über seinem Krater ein schauerliches Bild, Der neue Draht zog sich am Erdboden hin. Er war von einer isolierenden Masse umgeben und sah aus wie ein UnterseeKabel. Nach seiner Richtung zu schließen, mußte er die Kolonisten quer durch den Wald und über den Gebirgskamm hinweg zur Westküste führen. Der Schein der Blitze ließ ihn zwischen Gras und Gestrüpp deutlich erkennen. In den kurzen Zwischenpausen half ihnen die Fackel weiter. Es fiel niemand ein, zu murren, so ungemütlich und beschwerlich auch Sturm und Gewitter diesen nächtlichen Ausflug machten. Keiner sprach ein Wort. Sie hätten bei dem fortwährenden Donnergekrach einander auch nicht verstehen können. Ein Austausch von Meinungen war hier nicht am Platze. Es galt zu handeln. Sie stiegen zu dem Gebirgszug auf, der die Talfläche des Corrals von dem Wasserfall-Bache trennte. Jeder bemühte sich, den Draht, der bald über niedrigen Zweigen hing, bald sich zwischen Gras und Moos hinzog, nicht aus den Augen zu
verlieren. Smith hatte vermutet, das Kabel würde im jenseitigen Talgrund enden; die geheime Zufluchtstätte des Unbekannten würde dort liegen. Aber sie mußten noch den südwestlichen Höhenzug überschreiten und zu dem öden Hochkar absteigen, dessen Ostseite mit seltsam geformten Basaltsäulen abschloß. Von Zeit zu Zeit bückte sich einer und nahm den Draht in die Hand, wie um sich zu vergewissern, daß man noch auf dem richtigen Wege sei. Mehr und mehr wurde es zur Gewißheit, daß er schnurstracks zum Meer hinführte, zu der von dem Vulkan und seinen Vorbergen überragten Küste. Noch immer blitzte es in einem fort. Der Himmel stand in Glut. Es war, als nähere man sich dem Ursprungsort dieses Loderns und Rollens. Wären die Blitze nicht aus der Höhe herniedergefahren, man hätte glauben können, sie schössen aus den Kratern des Vulkans hervor. Kurz vor 22 Uhr standen die nächtlichen Wanderer auf der Höhe, die bei klarem Wetter einen Blick über die ganze Weite des westlichen Meeres gewährte. Jetzt sahen sie nichts als die schwarze Wand der Finsternis und hörten nur das Rauschen der 500 Fuß unter ihnen gegen die Felsen prallenden Brandung. Von hier aus lief der Draht zwischen Zacken und Klippen an dem jähen Hange einer schmalen Schlucht hinunter und auf die Steilküste zu. Von Schritt zu Schritt schwebten sie in Gefahr abzustürzen. Mehr als einmal löste sich unter ihren Füßen ein Block und polterte in die See. Aber sie waren nicht mehr ihre eigenen Herren; eine geheime Macht, der sie nicht widerstehen konnten, zog sie zu sich hin. Jetzt konnte nichts mehr sie zurückhalten. Selbst bei hellem Tage wäre dieser Abstieg ein Wagnis gewesen; sie bewegten sich mit der Sicherheit von Schlafwandlern. Sie glitten über die Schroffen, rutschten ein paarmal einige Meter ab und setzten doch immer wieder den unheimlichen Weg fort, bis der Draht sie an den Fuß der
Basaltmauer geleitet hatte, die da unten der See Einhalt gebot. Er lief noch eine Strecke weit an ihr entlang und verlor sich dann im Wasser. Hier ging es nicht weiter. Sie blieben stehen. Ihr einstimmiger Schrei der Enttäuschung, fast der Verzweiflung, übertönte das Rauschen der Brandung. Cyrus Smith gewann als erster die Fassung wieder. ,Er hätte uns nicht gerufen, wenn es keinen Weg zu ihm gäbe.“ „Man kann doch von uns nicht verlangen, daß wir uns ins Meer stürzen!“ rief Spilett. „Ihr seid alle wie vor den Kopf gestoßen“, versetzte der Ingenieur ruhig. „Ich war's auch im ersten Augenblick. Aber“, fuhr er in zuversichtlichem Tone fort, „seht ihr denn nicht, daß eben jetzt die Flut Ihren höchsten Stand erreicht hat? Bei Ebbe werden wir wieder dem Drahte folgen können!“ „Du glaubst, daß der Herr unsrer Insel unter dem Meere seine Wohnung hat?“ fragte der Bootsmann. „Ich bin fest davon überzeugt!“ antwortete Smith. „Warten wir!“ Sein Hinweis leuchtete allen ein. Niemand widersprach. Warum sollte nicht wirklich, wenn das Meer von der Steilküste zurückwich, ein Tor sich auftun, durch das der Draht weiterführte? Das Gewölk war endlich aufgebrochen und schüttete strömenden Regen aus. Sie suchten Unterschlupf in einer tiefen Felsennische. Das Gewitter tobte noch immer. Geisterhaft weiß leuchtete der Brandungsgischt im Schein der Blitze. Die Männer in der dunklen Höhle fröstelten. Das Unheimliche ihrer Lage ließ sie erschauern. Die fieberhafte Spannung, in die der Anruf vom Corral sie versetzt hatte, war während der gefährlichen Wanderung von Stunde zu Stunde gestiegen; die Wartezeit, zu der sie nun verurteilt waren, wurde ihnen zur Marter. Ihre überreizten Nerven verstiegen sich zu
übernatürlichen Gedanken und Vorstellungen. Nacht und Gewitter, Sturzregen und Flut - sie waren fast geneigt, das alles dem geheimnisvollen Wesen zuzuschreiben, das sich ihnen offenbaren sollte. Was würden sie noch erleben nach diesem ungeheuerlichen Vorspiel? Um Mitternacht ließ der Regen nach. Die Flut war schon im Zurückgehen. Cyrus Smith ging zum Strande hinaus, um nach dem Draht zu sehen. Als er zurückkam, bestürmten sie ihn mit Fragen. „Es ist so, wie ich gesagt habe“, antwortete er. „In einer Stunde wird der Eingang frei sein!“ „Aber wenn der Draht in eine Höhle hinunterführt“, gab Spilett zu bedenken, „so wird sie auch bei Ebbe unter Wasser stehn.“ „Vielleicht - vielleicht auch nicht“, antwortete der Ingenieur. „Finden wir die Höhle oder den Schacht, wohin der Draht weitergeht, trocken vor, so laufen wir einfach durch. Finden wir Wasser drin, so wird es gewiß nicht an Mitteln und Wegen fehlen, weiterzukommen.“ Endlich konnten sie die Felsennische verlassen und eilten durch den noch immer strömenden Regen zu der Stellung zurück, wo sie Halt gemacht hatten. Innerhalb der letzten drei Stunden war die Flut um 15 Fuß gefallen. Im Schein eines Blitzes sahen sie sich vor einer dunklen Wölbung, deren oberer Bogen die Meeresfläche um etwa 8 Fuß überragte. Smith neigte sich vor. „Was treibt da im Wasser?“ Er watete hinein. Pencroff folgte ihm. Sie griffen nach dem schwarzen Gegenstand, der an der Oberfläche schwamm, und zogen einen Kahn heran, der an einem Steinzacken mit einem Seile festgemacht war. Zwei Ruder lagen unter den Bänken. „Einsteigen!“ rief Smith. Keiner zögerte. Deer und Nab nahmen die Ruder auf. Pencroff setzte sich ans Steuer, Cyrus an den Bug. Spilett zündete eine neue Fackel an.
Das Gewölbe war schmal, die Wände stiegen zu beiden Seiten steil auf. Das Licht der Fackel reichte nicht aus, die Länge, Breite und Höhe des Schachtes zu erkennen. Kein Geräusch von draußen unterbrach die drückende Stille. Der Draht war an der rechten Wand weitergeführt. Nach einer Viertelstunde nahm der Gang noch immer kein Ende. Erstreckte er sich etwa bis unter die Mitte der Insel? Nab und Deer hielten unwillkürlich im Rudern inne. „Weiter!“ befahl Smith. Die Blätter tauchten wieder in das schwarze Wasser. Abermals verging eine Viertelstunde. Von der Mündung aus war man jetzt etwa eine halbe Meile entfernt. „Halt!“ Licht schimmerte ihnen entgegen. Sie befanden sich in einer 100 Fuß hohen Felsenhalle, deren Wände auf Basaltsäulen ruhten. Das Wasser, das ihren Boden bedeckte, war spiegelglatt und unbewegt. Der Lichtschein überzog es wie mit flüssigem Silber und bestrahlte glitzernd die dunklen Mauern. Das kalte Weiß dieses Lichtes ließ keinen Zweifel an seinem Ursprung; es konnte nur aus einer elektrischen Quelle kommen. Das Wasser tropfte in schillernden Perlen von den Rudern herab, als sie den Kahn langsam vorwärts trieben. Eine feierliche Stimmung ergriff die Männer. Sie fühlten sich unmittelbar vor einer unvorstellbaren Enthüllung. Wie verzaubert blickten ihre Augen aus nach der unterirdischen Sonne, die ihre Strahlen ihnen entgegensandte. Die Wasserfläche maß hier eine Breite von 350 Fuß. Im Hintergrunde des leuchtenden Mittelpunktes war eine gewaltige Basaltmauer zu erkennen, an der keine Öffnung, kein Riß, kein Durchgang sichtbar wurde. In der Mitte dieses kleinen unterirdischen Sees schwamm auf der Oberfläche ein langer, spindelförmiger Gegenstand, ohne
sich von der Stelle zu bewegen. Von seinen Flanken, wie aus den Öffnungen eines Herdes, kam das Licht. Das Ganze sah aus wie ein riesiges Ungetüm der See, etwa 250 Fuß lang und 10 bis 12 Fuß hoch über dem Wasser. Langsam fuhr der Kahn näher heran. Am Bug hatte Smith sich aufgerichtet. Bis ins Innerste erregt, griff er mit zitternder Hand nach dem Arme des Reporters. „Er ist es !“ rief er. „Nur er kann es sein!“ Und noch einmal: „Nur er! Kein andrer als er!“ Dann sank er zurück, und seine Lippen flüsterten einen Namen, den nur Spilett hören konnte. Der Reporter schien diesen Namen zu kennen. „Er?“ fragte er im Tone fassungslosen Erstaunens. „Ein Mann in Acht und Bann!“ Der Kahn steuerte zur linken Seite des fremdartigen Apparates hin und hielt vor einer hell erleuchteten dicken Glasscheibe. Hinter Smith her schwangen sie sich auf eine Plattform. Eine Leiter führte ins Innere. Ein Gang endete an einer Tür. Smith stieß sie auf. Sie traten In einen großen, reich ausgestatteten Raum und dann durch eine zweite Tür in einen Saal, der auf den ersten Blick wie eine von Kostbarkeiten aller Art angefüllte Museumshalle wirkte. Sie glaubten sich in eine Traumwelt entrückt. Auf einem Diwan lag ein Mann, der von ihrer Anwesenheit nichts tu merken schien.
13. Smith trat heran und redete ihn zum Erstaunen seiner Gefährten wie einen Bekannten an: „Kapitän Nemo, Sie haben uns gerufen, wir sind hier.“ Bei diesen Worten richtete der Mann sich auf. Das Licht fiel voll auf sein Gesicht. Ein majestätischer Kopf, eine mächtige Stirn, unter dunklen, stolz geschwungenen Brauen ein Augenpaar, denen das elektrische Licht den eigenen Glanz nicht nahm, eine Hakennase, die auf Kühnheit und Starrsinn deutete, und schmale Lippen, von einem silbrigen Seemannsbart umgeben. Zu diesem Antlitz des Helden und Denkers fügten ein kraftvoller Nacken, breite Schultern und eine herkulische Brust die athletische Form des geborenen Kämpfers. Auch seine Stimme, als er jetzt in reinem, akzentlosen Englisch antwortete, hatte den Klang ungeschwächter Kraft; dem scharfen Blick des Ingenieurs blieben trotz allem die Anzeichen einer Krankheit nicht verborgen, die, so schien es ihm, diese robuste Natur schon seit längerer Zeit angriff und
allmählich zu untergraben begann. „Wie sagten Sie eben, mein Herr? Ich habe keinen Namen.“ Cyrus Smith hatte die ihm eigene Ruhe wiedergewonnen. Er sah sich dem Manne gegenüber, in dem er seit geraumer Zeit schon den geheimnisvollen Herrn der Insel vermutet hatte. Jetzt, da sich seine Ahnung bestätigte, waren all die rätselhaften Geschehnisse, die ihn und seine Gefährten in banges Erstaunen versetzt hatten, keine Probleme mehr. Die Genugtuung, daß er nun von diesem Manne Rede und Antwort erwarten, ihm selber Rede und Antwort stehen durfte, gab ihm die kühle Sicherheit zurück, die ihm schon so oft in seinem Leben die Achtung gewichtiger Persönlichkeiten eingetragen hatte. „Sie hören doch, ich kenne Sie!“ erwiderte er. Kapitän Nemo warf ihm einen flammenden Blick zu, als wollte er ihn niederschmettern. Dann sank er auf den Diwan zurück. „Was tut es auch. Meine Stunden sind ja doch gezählt.“ Seine Stimme klang so traurig, so erlöschend, daß Spilett sich ein Herz faßte, hinzutrat und die Hand des Mannes ergriff, um ihm den Puls zu fühlen. Die andern blieben im Hintergrunde stehen; sie wagten nicht näherzukommen. Das Zauberhafte alles dessen, was sie vor sich sahen, hielt sie gefangen. Sie warteten gespannt auf den Fortgang dieses Gespräches, das so sonderbar begonnen hatte. War dies der Mann, den sie den „Schutzgeist der Insel“ nannten? Von ihm also war die geheimnisvolle Macht ausgegangen, die sie aus höchsten Nöten errettet hatte! Von diesem Manne, der auch nur ein Mensch war, und dieser Mensch lag im Sterben? Und wie kam es denn, daß Smith ihn kannte? Wenn Smith früher das Geheimnis erraten oder doch die Wahrheit geahnt hatte, warum hatte er nie zu ihnen darüber gesprochen? Woher wußte er den Namen, von dem jener doch annahm, es wisse ihn
niemand auf der Welt? Kapitän Nemo entzog dem Reporter seine Hand und forderte durch einen Wink die beiden auf, sich zu setzen. Er hatte sich wieder aufgerichtet und musterte den vor ihm auf einem Sessel sitzenden Fremden. „Sie kennen also den Namen, unter dem ich gelebt habe?“ „Den Ihrigen und auch den des wundersamen Unterseebootes, mit dem -“ Der Kapitän fiel ihm ins Wort: „Sie meinen den Nautilus? Merkwürdig! Seit vielen Jahren bin ich ohne Verbindung mit der Welt, lebe ich in der Tiefe des Meeres, in dem einzigen Gebiete, wo ich Freiheit und Unabhängigkeit finde. Wer kann mein Geheimnis verraten haben?“ Smith: „Ein Mann, der niemals in Ihrem Dienste gestanden hat, der Ihnen in keiner Weise verpflichtet war. Dieser Mann, Kapitän Nemo, kann also nicht eines Verrats bezichtigt werden.“ Nemo: „Ist es der Franzose, den vor Jahren ein Zufall auf meinen Nautilus führte?“ Smith: „Derselbe!“ Nemo: „Also ist dieser Mann mit seinen zwei Gefährten nicht in dem Malstrom untergegangen, in den der Nautilus geraten war?“ Smith: „Nein, die drei sind gerettet worden, und der Franzose hat ein Werk geschrieben und erscheinen lassen, das die Geschichte Ihres Lebens erzählt. Es heißt: ,20000 Meilen unter dem Meere'.“ Nemo (mit einem Lächeln der Geringschätzigkeit): „Der Mann hat nur ein paar Monate bei mir zugebracht.“ Smith: „Gewiß. Aber diese wenigen Monate eines seltsamen Lebens genügen, Sie als …“ Nemo: „… mich als großen Sünder erscheinen zu lassen, wollen Sie sagen. Als Umstürzler, den der Bannfluch der
ganzen Menschheit getroffen hat,“ Smith antwortete nicht. Nemo: „Nun, mein Herr, sprechen Sie sich ruhig aus!“ Smith: „Es kommt mir nicht zu, über einen Mann wie Kapitän Nemo ein Urteil zu fällen. Zum mindesten nicht über seine Vergangenheit. Mir sind wie aller Welt die Beweggründe unbekannt, die zu diesem einzigartigen, rätselhaften Dasein geführt haben. Ich kann nicht über Wirkungen entscheiden, wenn ich die Ursachen nicht kenne. Ich kann nur über die Gegenwart sprechen. Und da weiß ich nur das eine: Seit unserer Strandung auf der Lincoln-Insel hat beständig ein Wohltäter seine Hand über uns gehalten, mehr als einmal hat er uns aus höchster Not geholfen, uns vom Tode errettet. Und dieser gütige, edelmütige, mächtige Helfer und Retter sind Sie! Sie, Kapitän Nemo!“ Nemo: „Ja - ich bin es!“ Bei diesem in schlichtem Tone gesprochenen Eingeständnis standen Smith und Spilett auf, die andern traten herzu, alle waren im Begriff, ihren Dank darzubringen. Aber Kapitän Nemo machte eine abwehrende Handbewegung und sagte mit vor Erregung zitternder Stimme: „Bitte nicht! Hören Sie mich erst an!“ Und Kapitän Nemo erzählte ihnen die Geschichte seines Lebens. Es wurde ihm offensichtlich schwer, nicht weil es ihm widerstrebte, so ausführlich von sich selbst zu sprechen, sondern weil seine körperlichen Kräfte wahrnehmbar im Absinken waren. Man sah, wie er mehrmals gegen Anfälle von Schwäche kämpfte; aber immer, wenn Smith ihn bat, sich Ruhe zu gönnen, schüttelte er den Kopf, wie wenn er fürchtete, daß ihm kein neuer Tag mehr zur Verfügung stehen würde. Wenn Spilett ihm Hilfe und Pflege anbot, wies er ihn zurück mit den Worten: „Es hat keinen Zweck. Mein Tod steht nahe bevor.“ Und dies ist seine Geschichte:
Er war von Geburt ein Hindu und hieß Prinz Dakkar, Sohn des Herrschers von Bandelkhand, das damals noch ein unabhängiges Reich war, und Neffe des berühmten Helden von Indien, Tippu Sahib. Als er 10 Jahre alt war, schickte sein Vater ihn nach Europa, und zwar nach Großbritannien, um ihn nach englischem Muster erziehen und ausbilden zu lassen. Der Vater hegte dabei die geheime Absicht, der Sohn solle zu seiner Zeit fähig sein, den Briten, in denen er die Todfeinde seiner Heimat sah, mit ihren eigenen Waffen gegenüberzutreten und sie zu schlagen. Prinz Dakkar zeigte als Knabe außerordentliche Gaben. Auch als junger Mann blieb er hochherzig, edelmütig, und bestrebt, sich gründliche Kenntnisse der Künste, der Literatur und der Wissenschaften anzueignen, sich über technische und militärische Dinge eingehend zu unterrichten. Seine Geburt, sein Wesen, sein Vermögen machten ihn zu einer Persönlichkeit, der die Gesellschaft überall bereitwillig entgegenkam. Was die Alte Welt an Genüssen und Verlockungen zu bieten hatte, reizte ihn nicht. Schön von Ansehen, blieb er ernst, finster und verschlossen. Als er seinen Wissensdurst gestillt hatte, begann er allmählich anderen Sinnes zu werden. Haß bemächtigte sich seines Herzens. Ein wilder, unversöhnlicher Haß überströmte jedes andere Gefühl. Er haßte das einzige Land, das er niemals hätte betreten sollen - die einzige Nation, deren Übermacht, deren gewaltsamer Fortschritt und Anspruch ihm ein Abscheu war - England! und er haßte es um so glühender, als es ihm in vielen Punkten Anlaß gab, es zu bewundern. All den grimmen Haß des Besiegten gegen den Sieger trug dieser Hindu in seinem Herzen. Der Eroberer hatte im Gemüt des Unterjochten alle Liebe ausgerottet und keinen Funken von Rücksicht, Gnade und Erbarmen zurückgelassen. Wohl gehörte damals das Reich seines Vaters nur dem Namen nach zu dem
sogenannten Britischindien, aber er sah den Tag voraus, an dem es zum Vasallenstaat werden müßte, in Ketten gelegt würde wie so viele Teile schon seiner herrlichen Heimat, Nein! Ein Abkömmling der Familie Tippu-Sahibs hätte niemals England besuchen sollen, dieses verhaßte Land, dem Indien die Knechtschaft verdankte! Niemand ahnte, was in ihm vorging. Man hörte ihn die Werke der abendländischen Malerei, der Plastik und der Architektur lobend oder tadelnd beurteilen; man entdeckte in ihm einen Gelehrten, dem kein Gebiet des Wissens fremd war; er hatte etwas von einem Staatsmann, wenn er sich über europäische Höfe und Regierungen äußerte. Oberflächliche Betrachter hielten ihn vielleicht nur für einen Globetrotter, der sich den Wind fremder Länder um die Nase wehen ließ, der reich genug war, einem grundsätzlichen Nichtstun zu huldigen, und überhaupt keine Heimat hatte. Aber Prinz Dakkar war und blieb Hindu von Leib und Seele erfüllt von Haß und Rachedurst -, beseelt nur von der einen Hoffnung, daß ihm das Schicksal vergönnen möge, seinem Vaterland Recht und Freiheit zurückzugewinnen und die Eindringlinge zu verjagen. Im Jahre 1849 kehrte Prinz Dakkar nach Bandelkhand zurück. Er heiratete eine Inderin von edler Geburt, die das Schicksal ihrer Heimat nicht minder tief als er beklagte. Sie schenkte ihm zwei Kinder, die er über alles liebte. Aber das häusliche Glück ließ ihn nicht das Ziel vergessen, das ihm vor Augen stand. Er wartete nur auf die Gelegenheit, das Schwert gegen England zu erheben, und die Gelegenheit bot sich. In den nächsten Jahren zog der Feind die Fesseln immer fester an; Indien trug schwer an dem Joch. Prinz Dakkar fand aufnahmefreudigen Boden für die Saat des Hasses und streute sie überall aus. Er besuchte nicht nur die noch unabhängigen Gebiete der indischen Halbinsel, er wagte sich auch in die der britischen Oberherrschaft schon unterworfenen Bezirke. Seine
feurige Beredsamkeit wirkte wie der Funke am Pulverfaß. Ganz Indien fühlte sich zurückversetzt in die großen Tage des Tippu-Sahib, der für sein Vaterland den Heldentod gestorben war. Im Jahre 1857 brach der Aufstand der Sipahi aus. Prinz Dakkar war die Seele dieser blutigen Bewegung; er hatte sie entfesselt; er organisierte sie. Alle seine Fähigkeiten, seinen ganzen Reichtum stellte er in den Dienst des Unternehmens. Zuletzt setzte er das eigene Leben ein. Er kämpfte in den vordersten Reihen; in 20 Gefechten wurde er mehrmals verwundet; aber der Tod ging ihm aus dem Wege - auch noch an dem Tage, da die letzten Freiheitskämpfer unter den britischen Kugeln fielen. Noch nie zuvor hatte Englands Macht in so schwerer Gefahr geschwebt wie damals in Indien. In allen unfreien Ländern bewunderte und verehrte man Prinz Dakkar wie einen Halbgott. Ein Preis war auf seinen Kopf gesetzt. Es fand sich kein Verräter. Nur an seinen Angehörigen - Vater, Mutter, Frau und Kindern - konnten die Briten Vergeltung üben. Er selbst war in die Berge von Bandelkhand geflüchtet, erfüllt von einem ungeheuerlichen Abscheu gegen alles, was Mensch hieß, gegen die ganze Welt, die eine solche Menschheit ertrug. Er sammelte den Rest seines Vermögens und 20 seiner getreuesten Anhänger und verschwand. In der Tiefe des Meeres suchte er die Freiheit, die es auf Erden nicht gab. Dorthin konnte niemand ihm folgen. Der Mann des Krieges verwandelte sich in den Mann der Technik. Auf einer einsamen Insel des Stillen Ozeans, die auf keiner Karte verzeichnet war, erstanden seine Werkstätten. Nach seinen Plänen wurde ein Untersee-Boot gebaut. Die Entwicklung der Elektrizität stand damals noch in ihren Anfängen; man wußte vorerst nur wenig von ihrer unberechenbaren, unversieglichen Kraft. Prinz Dakkar ersann und fand Mittel, sie zu einem hohen Ausmaß zu entwickeln und sie
zum treibenden Faktor, zum eigentlichen Lebenselement seines Werkes zu machen. Durch Elektrizität wurde das Unterseeboot bewegt, geheizt, erleuchtet. Sie lieferte ihm die tödlichen Strahlen, die, als er sie zum ersten Male spielen ließ, die Welt mit Entsetzen erfüllten, die Wissenschaftler vor ein unlösbares Rätsel stellten. Das Meer mit seinen unerschöpflichen Reichtümern, mit allem, was die Menschen in seiner Tiefe verloren haben, spendete ihm alles, was er für sich und seine Mannschaft brauchte, und setzte ihn instand, an seinem Vorsatz, keinen Verkehr mehr mit der Welt zu pflegen, ohne Einschränkung festzuhalten. Er gab seinem Unterseeboot den Namen „Nautilus“, sich selbst nannte er fortab „Kapitän Nemo“. Er verschwand unter den Meeren. Während mehrerer Jahre befuhr er alle Ozeane von einem Pol zum anderen, erprobte, vervollständigte die Apparatur seines Nautilus. Er fand die 1702 in der Vigo-Bai mit spanischen Schiffen untergegangenen Millionen; seine UnterwasserReisen führten ihn zu zahllosen versunkenen Schätzen. Er nutzte sie nicht nur für seine eigenen Zwecke aus; er war für alle geknechteten Völker der unbekannte Helfer und Förderer, der sie in ihrem Kampfe um Recht und Freiheit unterstützte. In einer aufregenden Nacht warf die See drei Männer auf das Deck seines Nautilus: einen französischen Professor mit seinem Diener und einen kanadischen Fischer. Sie waren bei dem Zusammenstoß des Untersee-Bootes mit dem Kreuzer „Abraham Lincoln“ der Vereinigten Staaten von Amerika, der es verfolgte, über Bord gefallen. Von diesem Professor erfuhr Kapitän Nemo, daß sein Fahrzeug bald für ein Riesenexemplar der Meeressäugetiere, bald für ein Untersee-Boot gehalten und von allen Flotten, auf allen Meeren gejagt wurde. Kapitän Nemo hätte die drei Männer, die aus einem feindselig gegen ihn operierenden Schiffe kamen, den Fluten überantworten können.
Er tat es nicht. Er behielt sie bei sich als Gefangene und ließ sie an seinem geheimnisvollen Leben teilnehmen. Sieben Monate lang gab er ihnen die Möglichkeit, die Wunder einer Reise zu genießen, die sich über 20 000 Meilen unter dem Meere erstreckte. Dann kam ein Tag, an dem es ihnen gelang, das im Nautilus vorhandene Boot an sich zu bringen und auf ihm zu entfliehen. Damals befand sich der Nautilus an der norwegischen Küste und geriet in die Strudel des Malstroms. Kapitän Nemo mußte glauben, die drei seien ertrunken. Aber die Flut warf sie auf den Strand, Fischer von den Lofoten fanden sie. Nach seiner Rückkehr in die Heimat veröffentlichte der französische Gelehrte ein Buch, worin er die 7 Monate seiner Reise an Bord des Nautilus schilderte. Das Vorleben Kapitän Nemos war ihm nicht bekannt, und Kapitän Nemo erfuhr nichts von diesem Buche. Noch lange Zeit hindurch setzte er die Fahrten unter dem Meere und das einsame Leben fort. Seine Gefährten starben einer nach dem anderen. Der für sie ausgewählte Friedhof lag tief unter dem Pazifik zwischen Korallenriffen. Immer leerer wurde es auf dem Nautilus, und endlich blieb Kapitän Nemo allein zurück. Alle, die mit ihm die Welt verlassen hatten, waren für immer von ihm gegangen. Nach dem Tode seines letzten Matrosen zog er sich nach einem der unterseeischen Häfen zurück, die ihm von Zeit zu Zeit als Zufluchtsstätten dienten. Der Hafen, für den er sich diesmal entschied, lag unterhalb einer kleinen einsamen Insel im Stillen Ozean, die noch auf keiner Karte verzeichnet war. Es war eben die Insel, der später ihre ersten Bewohner den Namen „Lincoln-Insel“ gaben. Kapitän Nemo zählte zu dieser Zeit 60 Jahre und weilte nun dort seit sechs Jahren. Die See befuhr er nicht mehr. Er wartete auf seine letzte Stunde. Da ließ der Zufall ihn die Strandung eines Luftballons
mitansehen, der 5 Männer auf seine Insel brachte. Der Kapitän hatte in seinem Taucheranzug einen Spaziergang unter Wasser gemacht und befand sich in der Nähe der Küste, als einer dieser 5 vom Sturm ins Meer geschleudert wurde. Es waren seit langer Zeit die ersten Menschen, denen er begegnete. Eine Regung des Mitgefühls überkam ihn - und Kapitän Nemo rettete den Ingenieur Cyrus Smith. Damit aber sollte es sein Bewenden haben. Er nahm sich vor, diesen Ankömmlingen aus dem Wege zu gehen. Am liebsten hätte er ihnen den Rücken gekehrt und einen anderen Hafen aufgesucht; aber vulkanische Vorgänge hatten seine Zufluchtsstätte gegen die See hin abgesperrt - er konnte nicht mehr hinaus. Für einen kleinen Kahn war noch Raum zur Ausfahrt geblieben, für den Nautilus nicht. Kapitän Nemo mußte also bleiben. Er entschloß sich, die Leute da oben gewähren zu lassen, ohne sich zu zeigen. Er wußte, daß ihnen alle Hilfsmittel fehlten, und war neugierig zu sehen, was sie beginnen würden. Bald konnte er sich davon überzeugen, daß es brave, tatkräftige Männer waren, die brüderlich zueinander hielten und einträchtig ihr trostloses Schicksal zu meistern suchten. Er fand Gefallen an ihrem Leben und Treiben; ihre Unverdrossenheit, ihre redlichen Anstrengungen flößten ihm Achtung ein. In seinem Taucheranzug war es ihm möglich, zu dem Grunde des tiefen Schachtes zu kommen, der vor ihrem Felsennest endete. An den Zacken der Wände kletterte er hinauf. Dort hörte er nicht nur das Knurren des Hundes, der den Kamin schnuppernd umkreiste, er vernahm auch alles, was die Männer miteinander besprachen, erfuhr von ihren Plänen, Sorgen, Nöten und Gefahren, von ihrer Vergangenheit und ihren Hoffnungen auf die Zukunft. Durch sie erhielt er Kenntnis von dem Bruderkrieg der Amerikaner, der den Greueln der Sklaverei ein Ende machen sollte. Er fand in den Verschollenen die gleiche Gesinnung, die ihn sein Leben lang beseelt hatte. Sie hatten
teilgenommen an einem Kampfe gegen Knechtschaft; als Streiter für Recht und Freiheit waren sie in Gefangenschaft geraten. Ihr, so durfte er sich sagen, seid meines Beistandes würdig! Er hatte Cyrus Smith vom Ertrinken gerettet und in Sicherheit gebracht - er hatte den Hund zu den Kaminen geführt - ihn aus dem Kampfe mit dem Dugong befreit - die Kiste mit dem für die Insulaner so wertvollen Inhalt an den Strand gebracht - die Brigg der Piraten torpediert - den kranken Harbert dem sicheren Tode entrissen - und endlich die letzten Seeräuber durch die elektrischen Strahlen aus dem Wege geräumt, deren Geheimnis er besaß, die er auf seinen Untersee-Fahrten oft angewendet. So erklärten sich all die Geschehnisse, die als übernatürlich erscheinen mußten und in ihrem Urheber ein Wesen von unfaßbarer Macht vermuten ließen. Jetzt fühlte er sich dem Tode nahe. Seine Schützlinge hatten ihn mit der Menschheit ausgesöhnt. Er wollte ihnen noch so viel Gutes erweisen, wie in seinen letzten Kräften stand. Deshalb verband er den Telegrafen, den sie zwischen dem Granitpalast und dem Corral angelegt hatten, mit einem Kabel vom Nautilus aus, der mit einem gleichen, nur vollkommeneren Apparat ausgestattet war. Deshalb forderte er sie auf, zu ihm zu kommen. Vielleicht würde er es nicht getan haben, wenn er gewußt hätte, daß unter ihnen ein Mann war, der seinen Namen und einen Teil seines Geheimnisses kannte. „Nun, meine Herren“, schloß Kapitän Nemo, „Sie kennen jetzt mein Leben. Fällen Sie Ihr Urteil über mich!“ „Unser Urteil?“ antwortete Smith für sich und seine Gefährten. „Sie haben es bereits vernommen. Sie waren unser Helfer und Retter aus vielen Nöten und Gefahren. Wahrscheinlich wären wir ohne Sie verloren gewesen. Wir danken Ihnen von Herzen für alles, was Sie an uns getan
haben.“ Nemo lächelte, doch gleich darauf verfinsterte sich sein Gesicht. „Das betrifft nur die Jahre, die wir zusammen auf dieser Insel zugebracht haben. Ich habe Sie als charakterfeste, menschlich denkende und handelnde Männer kennen gelernt. Mir ist darum zu tun, Ihr Urteil über mein früheres Leben zu hören.“ Mit diesen Worten deutete der Kapitän des Nautilus offenbar auf ein Ereignis hin, dessen Zeugen die drei auf sein UnterseeBoot verschlagenen Schiffbrüchigen gewesen waren und das der französische Gelehrte in seinem Buche natürlich geschildert hatte. Er schien zu vermuten, daß gerade dieses Ereignis in aller Welt Entrüstung und Abscheu ausgelöst haben müsse. Wie es in jenem Buche beschrieben und besprochen war, das wollte er wissen, das sollten die Männer, die das Buch kannten, ohne Umschweife wiedergeben. Wie verhielt es sich mit diesem Vorgang? Ein paar Tage vor der Flucht des Franzosen und seiner beiden Gefährten war der Nautilus im Norden des Atlantischen Ozeans von einem Kriegsschiff verfolgt worden und hatte es ohne Gnade und Barmherzigkeit mit Mann und Maus in den Grund gebohrt Cyrus Smith begriff, worauf der Kapitän des Nautilus anspielte. Er schwieg. „Mein Herr!“ rief Nemo - und er war in diesem Augenblick wieder der Hindu Prinz Dakkar - „es war eine englische Fregatte, verstehen Sie wohl! Eine englische Fregatte! Sie setzte mir nach - sie griff mich an - ich mußte mich ihrer erwehren. Ich war eingeschlossen in einer schmalen, seichten Bucht. Ich mußte vorbei und hinaus - es blieb mir nichts anderes übrig!“ Dann setzte er in ruhigerem Tone hinzu: „Es war mein gutes Recht. Ich habe in der Welt so viel Gutes getan, wie in meinen Kräften stand - und so viel Böses, wie ich mußte.“
Ein kurzes Schweigen folgte dieser Erklärung. Kapitän Nemo wiederholte seine Frage: „Meine Herren, wie urteilen Sie über mich?“ Smith reichte ihm die Hand. „Kapitän! Sie haben den Versuch gewagt, das Rad der Geschichte aufzuhalten und zurückzudrehen. Sie haben sich einem Fortschritt entgegengestellt, der sich nicht aufhalten läßt Das ist Ihr Unrecht. Aber es ist einer jener Irrtümer, die von dem einen Teil der Menschheit getadelt, vom anderen bewundert werden. Nur Gott hat darüber zu entscheiden, ihm allein steht Freispruch oder Verurteilung zu. Wenn ein Mensch in seinen Plänen und Taten, die er für gut hält, sich auf falschem Wege befindet, so kann man ihn bekämpfen, aber man wird nicht aufhören, ihn zu achten. Wir, die wir hier vor Ihnen stehen, gehören zu denen, die Ihre Verirrung bewundern. In unserer Erinnerung, in unserm Andenken wird auch nicht der leiseste Tadel jemals Ihr Bild trüben können.“
14. Es war Tag geworden. In die unterseeische Höhle fiel kein Sonnenstrahl. Zu dieser Stunde stand der Zugang unter Flut. Aber das elektrische Licht leuchtete aus den Glasscheiben des Nautilus, das Wasser um ihn her flimmerte. Kapitän Nemo schien erschöpft. Seine Gäste konnten nicht daran denken, ihn zum Granitpalast zu bringen. Er hatte mit aller Bestimmtheit den Willen geäußert, inmitten der Wunder seines Werkes den Tod zu erwarten. Im Laufe des Vormittags verfiel er in einen Zustand der Erstarrung. Er war ohne Bewußtsein. Smith und Spilett erkannten, daß er der Auflösung entgegenging. Alle Kraft entwich dem einst so starken Körper. Nur Herz und Hirn waren in ihm noch lebendig. Die beiden Männer berieten sich mit leiser Stimme. Gab es eine Möglichkeit, ihm zu helfen, das unaufhaltsam zur Neige gehende Leben wenigstens um ein paar Tage zu erhalten? Aber er hatte ja selbst mit voller Überzeugung erklärt, es gebe
für ihn keine Heilung mehr. Er wollte sterben. Er erwartete mit Ruhe das Ende, vor dem ihm nicht bangte. „Wir können nichts tun“, erklärte Spilett. Pencroff: „Aber seine Krankheit? Was fehlt ihm eigentlich? Woran stirbt er?“ Spilett: „Er verlischt.“ Pencroff: „Was heißt das? Wenn er auch gesagt hat, er will hierbleiben, darauf sollte man nicht hören. Die Seeluft wirkt Wunder. Wir sollten ihn hinausbringen, in die Sonne, an den Strand.“ Smith: „Nein, Pencroff! Das schlag“ dir aus dem Sinn! Kapitän Nemo wird sich bis zum letzten Hauch weigern, seinen Nautilus zu verlassen. Seit 30 Jahren wohnt er in ihm, auf dem Nautilus will er sterben.“ Nemo hatte diese Antwort des Ingenieurs gehört; er richtete sich auf, und mit schwacher, aber noch verständlicher Stimme sagte er: „Sie haben recht, mein Herr. Hier will ich sterben. Zuvor aber habe ich noch eine Frage an Sie zu stellen.“ Smith war wieder an den Diwan herangetreten und richtete dem Kranken die Kissen zurecht. Der Blick des Kapitäns wanderte zwischen den Kostbarkeiten dieses Saales umher, die das elektrische Licht bestrahlte. Es fiel von der mit Arabesken verzierten Decke herab und erhöhte den Glanz und die Schönheit jedes Gegenstandes. Eines nach dem ändern betrachtete Nemo die an den Wänden hängenden Gemälde: Meisterwerke der italienischen, französischen, niederländischen Malerei. Da standen auf edlen Sockeln Marmor- und Bronzebüsten. Im Hintergrunde sah man ein Harmonium, in Glasschränken und in einem großen Aquarium seltene Tiere und Pflanzen des Meeres. Auf diesen Raritäten, zwischen denen eine Reihe von noch in den Muscheln ruhenden, haselnußgroßen Perlen schimmerte, ruhte sein Auge am längsten, als wolle er sich auf
den Fundort jeder einzelnen Perle besinnen. Niemand unterbrach das lange Schweigen. Dann wanderte der Blick des Sterbenden zu den sechs Männern. „Sie meinen, mir Dank zu schulden? Versprechen Sie mir, meine letzten Wünsche und Anordnungen gewissenhaft zu erfüllen, und Sie werden mir vollauf gelohnt haben, was ich für sie getan habe.“ Wieder sprach Smith für alle: „Das geloben wir!“ „Gut!“ sprach Nemo. „Morgen werde ich nicht mehr unter den Lebenden sein.“ Harbert schien Einspruch erheben zu wollen, aber Nemo wehrte mit einer Handbewegung ab. „Morgen werde ich nicht mehr unter den Lebenden sein“, wiederholte er. „Ich will im Nautilus ruhen, ein anderes Grab wünsche ich nicht. Alle meine Freunde sind in der Meerestiefe zum letzten Schlaf gebettet. So soll es auch mit mir geschehen... Der Nautilus liegt in dieser Grotte eingesperrt. Er kann aus seinem Kerker nicht hinaus. Aber er kann in den Abgrund hinuntertauchen, über dem er schwimmt, und meine sterblichen Überreste mit sich nehmen.“ Die sechs Männer verharrten in ehrfürchtigem Schweigen. „Mr. Smith“, fuhr der Sterbende fort, „morgen, wenn ich das Zeitliche gesegnet habe, werden Sie und Ihre Gefährten den Nautilus verlassen, ohne das Geringste hinauszuschaffen. Alle Schätze, die er enthält, sollen mit ihm und mit mir verschwinden. Ein einziges Erinnerungsstück soll übrigbleiben und an den Prinzen Dakkar gemahnen, dessen Geschichte Sie nun kennen. Dieses Kästchen hier! Darin liegen Diamanten, die viele Millionen wert sind - sie stammen aus der Hinterlassenschaft meines Vaters und meiner Frau -, außerdem eine noch wertvollere Sammlung von Perlen, die meine Freunde für mich auf dem Grunde der Meere
gesammelt haben. Im Besitz dieses Reichtums werden Sie eines Tages viel Gutes tun können. In Händen wie den Ihren, Mr. Smith, und denen Ihrer Gefährten wird Geld kein Unheil stiften.“ Diese Erklärung schien seine Kräfte überstiegen zu haben. Er schwieg lange. Endlich sprach er wieder: „Morgen also nehmen Sie dieses Kästchen, verlassen diesen Raum und schließen die Tür hinter sich zu. Sie steigen auf Deck, schlagen die Klappe der Plattform zu und machen Sie mit Bolzen und Riegeln fest. Werden Sie das tun?“ „Wir werden es tun, Kapitän!“ „Sehr wohl! Dann kehren Sie zu dem Kahne zurück, der Sie hergebracht hat. Doch - hören Sie bitte aufmerksam zu! - bevor Sie vom Nautilus abstoßen, fahren Sie zum Heck, dort werden Sie zwei große Hähne sehen - sie liegen über der Wasserlinie. Diese Hähne drehen Sie auf. Das Wasser wird dann in die Außenbehälter des Nautilus dringen, er wird langsam sinken, bis er auf dem Grunde des Meeres angekommen ist. Smith und die ändern machten unwillkürlich eine Gebärde des Schreckens. Harbert konnte einen leisen Schrei nicht unterdrücken. „Seien Sie ohne Sorge!“ sagte Kapitän Nemo mit einem matten Lächeln. „Der Nautilus wird nur einen Toten mit sich nehmen.“ Niemand sprach ein Wort. Nemo hatte ihnen seinen letzten Willen kundgetan. Sie hatten sich verpflichtet, ihn zu erfüllen. Das war alles. Der Kapitän wiederholte zum Schluß seine Frage: „Versprechen Sir mir das?“ Und Smith gab dieselbe Antwort. Nemo machte eine Gebärde des Dankes. „Lassen Sie mich bitte ein paar Stunden allein!“ „Dürfen wir in Ihrer Nähe bleiben, falls Ihnen etwas zustoßen
sollte?“ fragte Spilett. „Sie können beruhigt sein. Bis morgen werde ich am Leben bleiben.“ Sie gingen hinaus. Durch eine Bibliothek und ein Eßzimmer kamen sie zum Vorderschiff und in den Maschinenraum, wo die elektrische Apparatur untergebracht war, deren einzelne Bestandteile dem Untersee-Boot Licht, Wärme und Bewegung gaben. Der Ingenieur brauchte nur einen Blick auf diese Anlage zu tun, um zu erkennen, was für ein Meisterwerk der Technik dieses Fahrzeug war. Jämmerlich klein erschienen ihm seine eigenen Leistungen angesichts dieser Zeugnisse eines überragenden Genies. Die Männer stiegen auf die Plattform, die etwa 7 Fuß über dem Wasser lag. Hinter einer Glaslinse befand sich hier ein Leuchtkörper, der wie ein großes Auge aussah und dem eine Garbe von Licht entströmte. Die Kabine, die sich hinter ihm öffnete, enthielt die Steuerräder. Dies war der Platz des Erfinders gewesen, als er noch sein Wunderwerk durch die Fluten lenkte, die von hier aus durch elektrische Strahlen weithin erleuchtet wurden. Dies alles betrachteten die Männer in ehrfürchtigem Schweigen. Der Gedanke, daß der Mann, der es geschaffen, der Schutzgeist, der ihnen so oft geholfen, der geheimnisvolle Freund, den sie erst seit einigen Stunden kannten, ihnen nun so bald durch den Tod entrissen werden sollte, schnürte ihnen das Herz zusammen. Sie hatten die Geschichte seines Lebens gehört, und er hatte sie gefragt, welches Urteil sie über ihn, den Außenseiter, sprächen. Es gab für sie nur eine Antwort: Prinz Dakkar und Kapitän Nemo würde in ihrer Erinnerung weiterleben als ein Mensch, dem sie nur Verehrung und Dankbarkeit schuldeten. Immer wieder schüttelte Pencroff den Kopf. Ihm erschien es unfaßbar, daß jemand ein Leben in der Tiefe des Meeres so
viele Jahre hindurch hatte führen können, ohne auch dort die Ruhe und den Frieden zu finden, die er in der Oberwelt vergeblich suchte. „Hat er uns nicht erzählt, wie sehr man seinen Nautilus gefürchtet und verfolgt hat?“ sagte Tom Deer. „Also ist er auch oben gewesen und oftmals aufgetaucht gefahren. Könnten wir nicht versuchen, mit diesem Fahrzeug von unserer Insel wegzukommen? Wie denkst du darüber, Bootsmann?“ „Ohne midi!“ rief Pencroff und hob abwehrend beide Hände. „Auf so einem Schiff möchte ich nicht Steuermann sein! Auf dem Wasser fahren, ja, das laß ich mir gefallen, aber unter Wasser - auf keinen Fall!“ „Aber, lieber Freund“, hielt ihm Spilett vor, „das sieht alles gewiß sehr kompliziert aus. Schau dir's nur genau an! Wenn du erst mal dahinter gekommen bist und dich hineingefunden hast, wirst du den Nautilus genau so gut und so sicher lenken können wir irgend ein anderes Schiff. Gegen Stürme ist er gefeit, scheitern kann er auch nicht, und schon ein paar Fuß unterhalb der Oberfläche ist das Meer ruhig wie ein Binnensee.“ „Redet meinethalben, was ihr wollt“, versetzte der Seemann. „Ich habe lieber ein regelrechtes Deck unter den Füßen und ein regelrechtes Takelwerk über mir! Dann mag's still sein oder stürmen, ich bin in meinem Element. Ein Schiff gehört aufs Wasser, nicht unter's Wasser!“ „Regt euch nicht unnütz auf!“ mischte Smith sich ein. „Wir haben ja über den Nautilus nicht zu verfügen, er ist nicht unser Eigentum. Überdies haben, wie ihr nun wißt, unterirdische Bewegungen den Ausgang dieser Höhle zur See hin verschlossen. Der Nautilus kann nicht hinaus. Und abgesehen davon, Kapitän Nemo hat den Wunsch geäußert und uns das Versprechen abgenommen, seine Leiche mit dem Unterseeboot zu versenken. Das ist sein letzter Wille, wir müssen und werden danach handeln.“
Eine Weile ging das Gespräch noch hin und her, dann stiegen sie wieder hinunter, ließen sich zu einem Imbiß nieder und kehrten hiernach in die Halle zurück. Kapitän Nemo hatte inzwischen die Erstarrung überwunden, in die er verfallen war. Er sah ihnen mit offenen und klaren Augen entgegen, auf seinen Lippen lag etwas wie ein Lächeln. „Meine Herren“, begrüßte er sie, „ich sagte vorhin schon, wie sehr es mich gefreut hat, in Ihnen redliche, tapfere, zu gemeinsamer Arbeit einträchtig verbundene Männer erkannt zu haben. Deshalb bin ich Ihr Freund geworden, deshalb habe ich nicht aufgehört, Sie mit Teilnahme zu beobachten und Ihnen zu helfen. Ihre Hand, Mr. Smith!“ Nach kurzem, herzlichen Händedruck fuhr Nemo fort: „Genug von mir! Ich habe noch über Sie selber und über die Lincoln-Insel, auf der Sie Zuflucht gefunden haben, etwas zu sagen. Sie tragen sich mit der Absicht, die Insel zu verlassen?“ „Nicht für immer, Kapitän!“ rief Pencroff. „Nur vorübergehend. Wir kommen bestimmt zurück!“ „Zurück?“ antwortete Nemo in spürbar bedenklichem Tone. »Ich zweifle nicht daran, daß es Ihr Ernst ist. Ich weiß, wie sehr Sie die Insel liebgewonnen haben. Unter Ihren Händen hat sie sich umgestaltet. Beinahe jeder Fußbreit, möchte ich sagen, trägt die Spuren Ihrer Arbeit. Sie gehört Ihnen.“ „Es schwebt uns vor“, unterbrach ihn der Ingenieur, „hier einen Hafen anzulegen, der bei seiner vorzüglichen Lage in diesem Teile des Stillen Ozeans ein sicherer Stützpunkt für unsere Marine wäre. Wir wollten Insel und Hafen den Vereinigten Staaten von Amerika zum Geschenk machen.“ Nemo: „Sie denken an Ihr Vaterland. Für seine Wohlfahrt, für seinen Ruhm arbeiten Sie. Das ist recht. Vaterland, Heimat! Dorthin soll man zurückkehren. Dort soll man sein Leben beschließen. Und ich? Ich sterbe fern von allem, was mir lieb und teuer war!“ Smith: „Haben Sie uns einen Auftrag mitzugeben an Freunde,
die Sie in den Bergen Indiens zurückgelassen haben - ein Andenken, eine Botschaft?“ Nemo: „Nein, ich habe keine Freunde mehr, ich bin der letzte meines Geschlechts. Für alle, die ich gekannt habe, bin ich seit langem tot. Doch wir wollten ja nicht mehr von mir reden. Befassen wir uns wieder mit Ihnen! Es ist ein bitteres Los, einsam zu sein, getrennt von der Welt. Wer wüßte das besser als ich! Ich habe geglaubt, man könnte so leben, nun sterbe ich daran. Nein, Sie müssen alles aufbieten, von hier wegzukommen, das Land wiederzusehen, wo Sie geboren sind. Aber das Fahrzeug, das Sie hergestellt hatten, ist Ihnen geraubt worden.“ Pencroff: „Wir sind dabei, ein Schiff zu bauen, ein richtiges Schiff, mit dem wir das nächstgelegene Land erreichen können. Es ist schon halb fertig. Aber wenn wir die Insel verlassen, sei's früher oder später, nochmals, Kapitän, wir kommen wieder!“ Spilett: „Die Insel bleibt für uns immer die Stätte, wo wir Kapitän Nemo kennengelernt haben.“ Harbert: „Und hier wird alles uns immer an Sie erinnern!“ Nemo: „Und hier werde ich den Schlaf der Ewigkeit schlafen, wenn ...“ Er hielt inne, ohne den Satz zu beenden, und sich an den Ingenieur wendend, setzte er nach kurzem Schweigen hinzu: „Herr Smith, ich möchte mit Ihnen unter vier Augen sprechen.“ Die ändern zogen sich zurück. Smith blieb ein paar Minuten lang mit dem Kapitän allein. Dann ließ er seine Gefährten wieder eintreten, aber er teilte ihnen nicht mit, was der Sterbende nur ihm hatte anvertrauen wollen. Nur eine innere Kraft schien Nemo noch aufrecht zu erhalten. Man konnte nicht daran zweifeln, daß sie ihm nicht mehr lange zu Gebote stehen würde. Spilett widmete sich ihm mit gespannter Aufmerksamkeit. Von Stunde zu Stunde erwartete
er den Zusammenbruch. Indessen ging der Tag hin, ohne daß eine sichtbare Veränderung eintrat. Die Insulaner dachten nicht daran, den Nautilus zu verlassen. In dem Saale blieb es hell. Nur die Uhr zeigte ihnen, daß die Nacht anbrach, verging und ein neuer Tag im Kommen war. Kapitän Nemo schien keine Schmerzen zu leiden, aber die Auflösung schritt weiter. Die Nähe des Todes nahm seinem Gesicht alle Farbe; die Züge behielten ihren ruhigen Ausdruck. Hin und wieder kamen ein paar Worte von seinen Lippen. Man konnte sie nicht verstehen; sie galten wohl Geschehnissen seines merkwürdigen Lebens. Mehr und mehr sank er zusammen, Hände und Füße waren schon kalt und ohne Blut. Noch einmal tat er den Mund auf, doch war er anscheinend nicht mehr imstande zu sprechen. Endlich machte er eine letzte Bewegung, indem er die Arme über der Brust kreuzte, als wollte er in dieser Stellung sterben. Gegen Morgen, ehe noch der Außenwelt ein neuer Tag dämmerte, schien sich der Rest seiner erlöschenden Kräfte in den Augen zu sammeln. Sie leuchteten noch einmal flüchtig auf in der alten Glut. Dann sprach er leise die Worte: „Gott und Vaterland“, und verschied. Smith beugte sich über den Toten, der einst Prinz Dakkar gewesen und nicht mehr Kapitän Nemo war, und drückte ihm die Augen zu. „Er ist von uns gegangen. Laßt uns für ihn beten.“ Nach einigen Stunden vollzogen sie seinen letzten Willen. Mit dem Kästchen, das er ihnen vermacht hatte, verließen sie den Nautilus. Bevor sie aus der Halle traten, umfaßte ihr Blick ein letztes Mal dieses Museum des Untersee-Königs. Obwohl keiner daran dachte, gegen seinen Willen zu verstoßen, tat ihnen doch das Herz weh, die Prachtstücke, die sein hoher Geist hier gesammelt hatte, zurücklassen zu müssen, den Toten selbst nicht mitnehmen zu dürfen, der ihnen lieb und teuer geworden war. Es war grausam zu denken, daß diese ganze
märchenhafte Herrlichkeit nichts weiter sein sollte als ein riesiger Sarg, unzugänglich für alle Zeit, dem Abgrund der Fluten überliefert. Sie schritten durch die Bibliothek, wo in Regalen, die bis zur Decke reichten, Buch an Buch stand, und Cyrus Smith konnte sich nicht enthalten, von den Rücken einiger umfangreicher Bände die Titel abzulesen und wehmütig mit dem Kopf zu schütteln. Welch ein Verlust für die Wissenschaft, daß so viele wertvolle und seltene Werke aus Spezialgebieten nicht gerettet werden durften! Und auch hier hingen Gemälde-Bildnisse berühmter Gelehrten, Seestücke und Landschaften aus aller Welt. Sie nahmen noch einmal den Anblick der kunstvollen Apparatur in sich auf, in der am deutlichsten, am greifbarsten das einmalige Genie des Erfinders in Erscheinung trat. Von diesem Werke Abschied zu nehmen, ohne sich mit den Einzelheiten befassen zu dürfen, erschütterte den Ingenieur am tiefsten. Gewiß, er würde nie vergessen, was er hier gesehen hatte -, doch das Bewußtsein, nichts davon nachahmen zu können, drückte ihn nieder. Alle Türen verschlossen und verriegelten sie sorgsam, wie es ihnen aufgetragen war. Endlich standen sie wieder auf der Plattform und ließen die Kappe herab, die nach unten führte. Kein Tropfen Wasser würde jemals in die inneren Räume des Nautilus dringen können. Es blieb ihnen noch das Letzte zu tun. Sie stiegen zurück in den Kahn und ruderten zum Heck. Hier fanden sie die zwei großen Hähne, von denen der Kapitän gesprochen hatte. Sie drehten sie auf, seinem Befehl gemäß, und sahen zu, wie das Wasser in die Außenbehälter rauschte und wie der Nautilus langsam zu sinken begann. Sie hielten an seiner Seite, bis er unterging. Aber noch immer konnten sie ihn in der klaren Tiefe erkennen, denn aus dem Innern drang Licht
durch die Glasscheiben und erhellte den Meeresgrund, auf dem er endlich regungslos liegenblieb.
15. Es war die Zeit der Ebbe. Am Ausgang des Felsenschachtes dämmerte ihnen der Morgen entgegen. Für immer nahmen sie Abschied von der „Krypta Dakkar“ - diesen Namen hatten sie zur Erinnerung an den Bewohner seinem Untersee-Palast gegeben. Den Kahn zogen sie auf den Strand und ließen ihn an einer Stelle zurück, wo ihn auch die Flut nicht erreichen konnte. Das Gewitter war zu Ende gegangen; nur in weiter Ferne hörten sie noch dumpfes Donnerrollen, und fahles Wetterleuchten erhellte das Zwielicht. Es regnete auch nicht mehr. Ein paar Minuten lang verweilten sie noch, den Blick auf die dunkle Öffnung gerichtet, die ihnen den Weg zu unvergeßlichen Wundern aufgetan hatte. Wer jetzt hier eindrang, würde von all dem nichts mehr erblicken. Sein Weg unter der Erde würde in einer finsteren, leeren Felsenhöhle enden. Kein Zeichen würde das Geheimnis ihrer nackten, schwarzen Wände und des dunklen Wassers verraten, das sie
plätschernd erfüllte. Sie nahmen denselben Weg, den sie hergekommen waren. Der Ingenieur ließ den Draht, der sie geführt hatte, beseitigen. Sie konnten ihn anderweitig gut gebrauchen. Gesprochen wurde wenig. Jeder beschäftigte sich Im Geiste noch mit den Erlebnissen der letzten Nacht. Der Verlust des Mannes, den sie ihren Schutzgeist genannt, bedrückte die Gemüter. Sie dachten an die vielen Male, da er ihnen geholfen hatte. Was würde nun geschehen, wenn sie wieder in so schlimme Lage gerieten, ohne auf seinen Beistand rechnen zu können? Trotz allem, was sie bisher geleistet und geschafft hatten, kamen sie sich plötzlich verlassen und hilflos vor, wie in den ersten Tagen nach der Strandung. Das Wetter, noch immer zwischen Sturm und Schwüle schwankend, war nicht dazu angetan, die düstere Stimmung zu vertreiben. Um 9 Uhr langten sie am Granitpalast an. Sie sammelten sich um ihren Chef zu einer Besprechung der Lage. „Wir haben in den letzten Stunden“, sagte er, „so Schweres und Trauriges erlebt, daß es angebracht erscheint, sich mit der Zukunft zu befassen. Jeder von uns hegt wohl jetzt dringender als zuvor den Wunsch, die Insel, wenigstens für einige Zeit, zu verlassen. Deshalb muß es unser aller Bestreben sein, mit dem Bau des Schiffes so schnell wie möglich fertig zu werden. Wir müssen in der Lage sein, eine Seefahrt anzutreten, die, wenn nötig, von längerer Dauer sein darf, und auf der wir auch schlimmes Wetter nicht zu befürchten brauchen. Meine Pläne nehmen darauf Rücksicht, und unser Freund Pencroff hat mir versprochen, nach diesen Plänen gewissenhaft zu arbeiten. Ihr alle habt mir versprochen, ihm dabei zu helfen bis - wie sagt man doch - bis zum letzten Hauch von Mann und Roß. Laßt uns also unverzüglich ans Werk gehn!“ Die Arbeit wurde wieder aufgenommen und mit aller Kraft betrieben. Smith, Spilett und Harbert blieben ohne
Unterbrechung dabei. Nab und Deer schieden nur aus, wenn wie schon zuvor - andere unaufschiebbare Beschäftigungen zwischendurch erledigt werden mußten. Pencroff war als Meister ein unermüdlicher Antreiber, der seinen Gesellen das beste Vorbild gab und ihnen bei jedem Handgriff scharf auf die Finger sah. Unter seiner Leitung verließ nichts die Werkstatt, was einer nachträglichen Ausbesserung bedurft hätte. In 5 Monaten - also in den ersten Tagen des Monats März - sollte das Schiff zum Stapellauf bereitstehen, das hatte er sich vorgenommen. Sogar Spilett mußte dem immer wieder erwachenden Gelüst entsagen, auf Jagd zu gehen. Wenn man ihn trotzdem dann und wann zur Pirsch beurlaubte, so mühte sich der Bootsmann mit doppeltem Eifer, die fehlenden Hände zu ersetzen. Er sah schließlich ein, daß es von Zeit zu Zeit nötig war, den Vorrat an Fleisch aufzufüllen. Der Sommer war keine reine Freude. Tagelang herrschte drückende Schwüle. Schwere Gewitter kamen. Wenn sie nicht unmittelbar über der Insel niedergingen, so hörte man in der Ferne dumpfen, langandauernden Donner. Ein solches Gewitter von außergewöhnlicher Heftigkeit umkreiste sie eines Tages stundenlang. Blitze schlugen in ihrer Nähe ein. Bäume wurden zerschmettert. Es war, als stände der Boden in Gefahr, sich zu spalten und auseinander zubrechen. Cyrus Smith machte sich seine eigenen Gedanken, wenn er dann zu dem Vulkan hinüberblickte. Er neigte zu der Vermutung, daß dieser atmosphärische Aufruhr mit unterirdischen Vorgängen in Verbindung stehen könne. Aber noch immer schwieg der Vulkan; an seinem Gipfel zeigte sich wie früher nur eine dünne Rauchfahne. Am 3. Januar war Harbert mit dem Eselwagen zum Plateau der Schönen Aussicht gefahren, um eine Ladung Holz herzuschaffen. Was er bei seiner Rückkehr als Neuigkeit mitzubringen glaubte, wußten die andern schon. Auch sie
hatten die gewaltige Rauchwolke gesehen, die an diesem Tage über dem mittleren Krater hing. Eine Wolke von solcher Größe und von so bedrohlicher Färbung hatten sie bisher noch niemals wahrgenommen. Daß der Vulkan erwacht war, wußten sie seit einem Vierteljahr. Aber er hatte in dieser Zeit nur spärlichen Rauch von sich gegeben, weißen Rauch, der, wie Smith erklärte, auf einen im Innern entstandenen Brand mineralischer Stoffe deutete. Jetzt sahen sie dicken, grauen Qualm in einer Säule aufsteigen, die unten einen Umfang von 300 Fuß haben mochte und sich, 700 bis 800 Fuß über dem Gipfel, zu einem ungeheuren Pilz ausbreitete. „Das pustet da oben ja wie aus einem Schiffsschlot, wenn die Kessel auf Volldampf geheizt werden“, meinte der Bootsmann. „Ja, da unten scheint ein tolles Feuer ausgebrochen zu sein“, sagte Spilett. Harbert: „Und wir können es nicht löschen!“ Nab: „Ei was! Diese ekligen Qualmnester müßten mal gründlich ausgefegt werden.“ Pencroff: „Na, Junge, möchtest du da den Schornsteinfeger spielen?“ Smith: „Da drinnen im Franklin-Berge hat sich eine Wandlung vollzogen, das steht jetzt fest. Eine Wandlung, die uns wahrscheinlich böse Tage bescheren wird. Die vulkanischen Stoffe haben aufgehört, bloß zu schmoren und zu sieden, sie sind in Brand geraten. Ich fürchte, ein Ausbruch steht nahe bevor,“ Pencroff: .Na ja, dann wird's ein Schauspiel geben, das noch keiner von uns gesehen hat. Wenn es gut verläuft, werden wir Beifall klatschen. Warum sollte uns davor bange sein?“ Smith: „Hoffentlich läuft es gut ab, mein lieber Freund. Kann sein, du behältst recht. Die alten Lavastraßen liegen noch immer offen, und dank seiner Lage haben die Krater des Berges die Lavamassen stets nur nach Norden ausgeworfen. Es
kann aber auch anders kommen.“ Spilett: „Jedenfalls wäre es für uns besser, wir blieben von einem Ausbruch verschont.“ Pencroff: „Wer weiß? Vielleicht steckt in diesem Vulkan irgendein Stoff, den er los sein will, den wir aber gut gebrauchen könnten! Vorläufig wollen wir uns nicht von der Arbeit abhalten lassen!“ Während sie wieder ans Werk gingen, spähte Smith immer wieder nach dem Berge aus. Er schien sogar die Ohren zu spitzen, wie wenn er auf ein fernes Murren über oder unter der Erde lauschen wollte. Er war nicht so guten Mutes wie der Bootsmann. Die Naturerscheinung machte ihm große Sorge. Einen günstigen Verlauf und Ausgang einer Eruption wagte er nicht zu erhoffen. Wenn auch die Lava die Waldungen und die Bauten und Anlagen nicht unmittelbar bedrohte, so ließen sich doch die Folgen eines Erdbebens nicht absehen, und Vulkanausbrüche pflegten fast immer von mehr oder weniger heftigen Erdbeben begleitet zu sein. Bei der Beschaffenheit der LincolnInsel aber, die aus ganz verschiedenen, miteinander nicht verbundenen Gesteinsarten bestand, konnte schon eine geringe Erschütterung des Bodens verheerend wirken. Darüber sann er in stillem nach, als Deer sich auf die Erde legte, das Ohr in den Sand drückte und dann aufblickend sagte: „Das hört sich ganz so an, als ratterte da unten ein Wagen mit Eisenstangen über Steinpflaster.“ Jetzt legten sich auch die ändern nieder und horchten. Das unterirdische Rattern steigerte sich zum Getöse. Es klang, als ob in der Tiefe ein Sturm ausgebrochen wäre, eine Art Gewitter, das sich plötzlich verzog. Den Ingenieur schien indessen diese Wahrnehmung nicht sonderlich zu beängstigen. „Den Dunstmassen“, antwortete er, als sie ihn mit Fragen bestürmten, „steht der Weg durch den mittleren Krater offen, und dieser Auspuff ist offenbar groß genug. Eine Verschiebung
der brennenden Massen wird unter diesen Umständen kaum eintreten. Ich möchte beinahe annehmen, daß es infolgedessen nicht zu einer Eruption kommen wird.“ „Na also!“ rief Pencroff. „Da können wir ja weiter arbeiten. Laßt den Berg qualmen und brüllen und Flammen spucken nach Herzenslust, wir brauchen darum nicht die Hände in den Schoß zu legen, Vorwärts! Jetzt kommen die Wanten unseres Schiffes an die Reihe. Da müssen alle Hände zupacken.“ Die letzten Worte des Ingenieurs hatten sie beruhigt, der Frohmut des Bootsmanns wirkte ansteckend, sie kümmerten sich nicht weiter um den Vulkan. Es störte sie nicht bei ihrer Arbeit, wenn die Rauchwolke sich vor die Sonne schob und Schatten auf den Zimmerplatz warf. Wenn wirklich ein Ausbruch geschähe, dachten sie, dann würden sie inzwischen ihr Schiff fertig haben und auf ihm aus dem Bereich aller Gefahr flüchten können. Am Abend, nach dem Essen, stiegen Smith, Spilett und Harbert zum Plateau der Schönen Aussicht hinauf. Der Vorschlag zu diesem späten Ausflug war von dem Ingenieur gemacht worden. Er sagte, es sei ihm darum zu tun, in der Dunkelheit der Nacht zu beobachten, ob in den Rauchmassen, die dem Krater entquollen, Flammen oder weißglühende Stoffe zu erkennen wären. Harbert war als erster oben. „Der ganze Berg steht in Brand!“ schrie er ihnen zu. Der Vulkan, der von hier etwa 6 Meilen entfernt war, sah aus wie eine riesige, lodernde Fackel. Schauerliche Flammen züngelten um seine Spitze. Aber die Fackel brannte nicht hell. Mengen von Rauch, Schlacke und Asche dämpften ihren Schein. Sie ergoß nur einen fahlen Schimmer in die Nacht. Die Wolke wälzte sich gen Himmel. Nur ein paar Sterne waren sichtbar. Minutenlang betrachteten sie schweigend das drohende Bild. Dann begann Smith:
„Jetzt geht es bestürzend schnell vorwärts.“ Spilett: „Mich wundert das eigentlich nicht. Der Vulkan ist ja schon seit geraumer Zeit wieder tätig. Die ersten bedrohlichen Anzeichen haben wir wahrgenommen, als wir die Bergwände durchstreiften auf der Suche nach der Wohnung unseres Schutzgeistes. Erinnerst du dich? Das war um Mitte Oktober herum.“ Smith: „Stimmt! Das ist nun schon ein Vierteljahr her.“ Spilett: „Und so lange glimmt das Feuer unter der Erde. Daß es jetzt mit aller Gewalt zum Ausbruch drängt, ist nicht erstaunlich.“ Smith: „Spürst du auch ein Zittern des Bodens?“ Spilett: „Allerdings, aber von da bis zu einem Erdbeben...“ Smith: „Ich meine ja auch nicht, daß wir von einem Erdbeben bedroht sind. Davor möge Gott uns bewahren! Aber dieses Zittern hat seine Ursache im Brodeln des Zentralfeuers. Die Erdkruste ist ja nichts weiter als die Wand eines Kessels. Unter dem Druck von Gasen vibriert die Kesselwand.“ In diesem Augenblick rief Harbert: „Seht nur, welche grandiosen Feuergarben!“ Aus dem Krater schoß ein Lichtbündel hervor, das frei schien von Qualm und Asche. Wie ein riesiger Feuerwerkskörper platzte es auseinander und streute leuchtende Funken nach allen Seiten. Einige zogen einen weißglühenden Schweif hinter sich her; einige zersprangen mit lautem Knall. Es hörte sich an wie das Geknatter eines Schnellfeuergeschützes. Als es erloschen und wieder Ruhe eingetreten war, kehrten sie zum Granitpalast zurück. Unterwegs fragte Spilett: „Droht uns Gefahr in allernächster Zeit?“ Smith: „Ja und nein. Es läßt sich noch immer nichts Bestimmtes sagen.“ Spilett: „Das Schlimmste würden wir wohl von einem Erdbeben zu befürchten haben, das die Insel zerschmettern
könnte. Und daran glaube ich nicht, weil die Lavamassen einen freien Weg nach außen gefunden haben.“ Smith: „Ich kann nur wiederholen, Gideon, auch ich glaube nicht daran, wenigstens nicht an die Form von krampfhaften Zuckungen des Bodens, die man Erdbeben nennt. Es gibt noch andere Katastrophen.“ Spilett: „Und welche zum Beispiel?“ Smith: „Ich weiß nicht recht - ich muß mir den Berg noch einmal aus größerer Nähe ansehn. In einigen Tagen werde ich mich deutlicher aussprechen können.“ Der Reporter drang nicht weiter in ihn. Obwohl der Vulkan noch immer polterte und knallte und der Widerhall die nächtliche Stille unterbrach, lagen bald darauf die Insulaner in tiefem Schlaf.
16. Drei Tage vergingen, der 4., 5. und 6. Januar des Jahres 1869. Sie hatten an ihrem Schiffe fleißig gearbeitet. Jetzt trieb auch Smith die Männer zur Eile an. Aus der Wolke, die den Franklin-Berg dicht einhüllte, flogen glühende Steinbrocken empor, von denen einige in den Krater zurückstürzten. Der Bootsmann, der noch immer dabei blieb, das Phänomen nur von der spaßhaften Seite anzusehen, rief bei diesem neuen. Schauspiel: „Guckt euch das an, der Riese jongliert mit Feuerkugeln!“ In der Tat, die meisten dieser funkelnden Bälle sanken wieder in den Abgrund, aus dem sie kamen. Es hatte den Anschein, als ob die Lavamassen nicht im Begriff ständen, zu der Kratermündung aufzusteigen. Bis jetzt ergossen sich aus den gegen Nordosten gelegenen Öffnungen, die man zum Teil sehen konnte, noch keine Ströme. Aber so dringend auch die Beschleunigung des Schiffsbaus geboten war, so ließen sich doch andere notwendige
Verrichtungen nicht ganz aufschieben. Die Ziegen und Schafe mußten mit frischem Futter versorgt werden. Pencroff konnte nichts dagegen einwenden, daß Deer beurlaubt wurde. Der junge Mann bedurfte dazu keiner Hilfe; er verstand sich darauf und hatte es schon mehr als einmal allein besorgt. Um so mehr verwunderte es den Bootsmann, als der Ingenieur die Absicht kundtat, ihn zu begleiten. „Nanu, Chef, warum denn? Unsere Arbeitstage sind gezählt. Wenn du mitgehst, fehlen mir vier Arme.“ „Wir sind morgen zurück“, antwortet Smith. „Und ich muß hin! Ich möchte versuchen festzustellen, wo, wenn's dazu kommen sollte, eine Eruption auftreten könnte.“ „Eruption! Eruption!“ ereiferte sich Pencroff. „Wenn ich das bloß höre! Als wenn da wunder was herauskäme! Ich mache mir keine Sorgen!“ Aber Smith blieb dabei. Am ändern Morgen spannten er und Deer die Esel vor den Karren und fuhren zum Corral. Dicke Wolken zogen über dem Walde hin. Sie kamen vom Franklin-Berge her, und ihre schwarzgraue Farbe ließ erkennen, daß der Krater ihnen Ruß und Asche zuführte. „Die sehen ja zum Gruseln aus“, sagte der junge Mann. „Das kommt von dem Bimssteintuff, den der Berg ausspeit“, antwortete der Ingenieur. „Das Zeug ist fein wie feinstes Mehl, feiner noch als Wüstensand, zu Pulver verriebene Schlacke, und unglaublich zäh. Man hat beobachtet, daß es sich manchmal monatelang in der Luft hält. Nach einer Eruption auf Island ist fast ein Jahr lang die Atmosphäre von vulkanischem Staub verseucht gewesen.“ „Hier scheint es 'runterzukommen“, bemerkte Deer. „Man könnte glauben, es schneit, wenn's weißer aussähe.“ In der Tat begann der Boden sich mit grauem Staube zu bedecken, unter dem im Handumdrehen Gras, Gesträuch und das Laub der Bäume fast verschwanden. Zum Glück wehte der Wind aus Nordost und trieb das Gewölk weg. Es entlud sich
mehr über der See. „Wie merkwürdig!“ sagte Deer. „Und bedenklich! Sehr bedenklich!“ seufzte der Ingenieur. „Dieser mineralische Staub deutet nämlich darauf hin, daß die Bewegung in einer beträchtlichen Tiefe vor sich geht.“ „Und man ist dagegen völlig ohnmächtig?“ „Leider. Es läßt sich nichts tun. Man kann nur drauf acht geben, wie sich alles weiterentwickelt. Nimm du dich der Tiere an, Tom. Ich will bis über die Quellen des Roten Creek aufsteigen und der Nordseite des Berges nochmal einen Besuch machen. Dann -“ „Was dann, Chef?“ „Dann fahren wir zur Krypta Dakkar - da möchte ich einen Blick werfen auf - na ja - also in ein paar Stunden bin ich wieder da.“ Er stürmte davon. Deer ging zu den Hürden und nahm sich der Ziegen, der Schafe und des Geflügels an. Die Tiere schienen sich zu ängstigen, als ob ihr Instinkt sie eine nahe Gefahr wittern ließe. Smith stieg zum Kamm der nach Osten hin gelegenen Bergeshänge hinauf und begab sich zu der Stelle, wo er auf einer früheren Wanderung eine schwefelhaltige Quelle gefunden hatte. Die ganze Umgebung war völlig verändert. Aus 13 Löchern schoß ringsum Rauch, wie von Kolben herausgestoßen. Die Luft war voll von Schwefelgas, Wasserstoffgas, Sauerstoff. Der Boden war mit vulkanischen Gesteinsbrocken übersät; aber sie mochten schon seit geraumer Zeit hier liegen, denn sie waren schon zu hartem Stein geworden. Lava jedoch sah er nirgends austreten. Er wanderte hinüber zur Nordseite des Franklin-Berges und fand auch dort keine Spur von Lava. Rauch und Flammen wirbelten aus dem Krater; ein wahrer Hagel von Schlacke ging nieder; doch keinerlei glühende Masse entströmte dem
Schlunde. Wie er vermutet hatte, war das vulkanische Gemenge noch nicht bis zum Ausgang heraufgedrungen. „Das wäre mir eigentlich lieber“, sprach er vor sich hin. „Dann wüßte ich wenigstens, nach welcher Seite sich die Lava ergießt. Ich würde beruhigt sein, wenn ich feststellen könnte, daß sie den gewöhnlichen Weg nimmt. Jetzt bleibt die garstige Frage, ob sie am Ende zu einem neuen Ventil herauskommt. Aber am Ende hat Kapitän Nemo doch recht, vielleicht hat seine Ahnung ihn das Richtige erraten lassen, und die Gefahr kommt von ganz woanders her.“ Er schlug die Richtung auf den Haifisch-Golf ein. Auf dieser Seite lieferten alte Lavaströme, die dem Gelände das Aussehen eines riesigen Zebrafelles gaben, ihm den Beweis, daß der letzte Ausbruch sich in ferner Zeit ereignet haben mußte. Er machte kehrt. Dann und wann blieb er stehen und lauschte auf das unterirdische Grollen, das hier überall zu vernehmen war. Bisweilen puffte es dumpf, wie wenn in einiger Entfernung Kanonen abgeschossen würden. Im Corral erwartete ihn Deer. „Die Tiere sind versorgt, Chef“, meldete der junge Mann, „sie sind sehr unruhig.“ „Kein Wunder! Das Vieh merkt manches eher als wir Menschen. Ich will nur schnell etwas essen. Mach derweil eine Fackel zurecht. Wir fahren zur Krypta Dakkar.“ Die Wildesel hatte Deer zuvor schon abgeschirrt und in die Hürden laufen lassen. Er schloß die Tore zum Blockhaus und zu den Palisaden, und beide wanderten in westlicher Richtung auf dem schmalen Pfade, den Nemos neuer Draht gezeichnet hatte, dem Strande zu. Der Boden unter ihren Füßen war dick bedeckt mit der aus den Rauchwolken gefallenen Asche. Jeder Schritt wirbelte feinen Staub auf. Zwischen den Baumstämmen ließ sich kein Tier sehen; alles - selbst die Vögel - war geflüchtet aus dieser so plötzlich zur Ödnis verwandelten Welt. Wenn ein Windstoß
kam, stob es auf wie ein Nebelschwaden, so dicht, daß sie einander nicht mehr sehen konnten. Sie mußten ein Tuch vor Augen und Mund pressen, um nicht geblendet zu werden oder zu ersticken. So kamen sie nur langsam vorwärts. Auch das Atmen wurde ihnen schwer. Es war, als sei der Sauerstoff zum Teil ausgebrannt und die Luft für die Lungen nicht mehr brauchbar. Immer wieder nach 100 Schritten mußten sie stehen bleiben und sich verschnaufen. Sie brauchten volle 10 Stunden, um den Kamm der Basaltmauer zu erreichen, die den nordwestlichen Strand der Insel bildete. Der Abstieg war nicht so gefährlich wie in jener stürmischen Nacht. Die Asche, die die schlüpfrigen und schrägen Felsplatten bedeckte, gab den Füßen Halt und Stand. Der Grat, der sich in mäßiger Neigung bis zum Meeresspiegel senkte, war bald durchklettert. Das Wasser überspülte den ganzen Strand, obwohl die Flut schon im Absinken war. Die von den vulkanischen Stoffen geschwärzte Brandung schlug noch gegen die Basaltblöcke des Gestades. „Der Kahn?“ fragte Smith.“Da liegt er!“ Sie zogen ihn zum Strand und stiegen ein. Ohne lange suchen zu müssen, fanden sie den Bogen, der sich über dem Eingang zur Krypta Dakkar wölbte. Deer schlug Feuer und zündete die Fackel an. Er machte sie am Bug fest, so daß ihr Licht auf die Wasserfläche vor dem Kahn fiel. Smith setzte sich ans Steuer, der junge Mann nahm die Ruder auf. Smith lenkte den Bug mitten hinein in die Dunkelheit der Gruft. Der „Nautilus“ fehlte, um die finstere Höhle zu erhellen. Wenn das elektrische Licht noch immer unten in der Tiefe brannte, gespeist von seinen starken Batterien, so drang doch sein Schein nicht mehr zur Oberfläche hinauf.
Indessen genügte dem Ingenieur der Fackelschein, um den Kahn an der rechten Wand der Krypta entlangzusteuern. Im vorderen Teil der riesigen Höhle herrschte Todesschweigen. Bald aber vernahm man das deutliche Grollen, das unten im Berge dröhnte. „Das ist der Vulkan!“ sagte Smith leise. Nun zeigte sich auch die chemische Zusammensetzung der in der Tiefe gärenden Masse an. Ein starker Geruch nach Schwefel drang den beiden in Nase und Kehle. „Das ist's, was Kapitän Nemo befürchtet hat“, sprach Cyrus wie zu sich selbst. Sein Gesicht verlor die Farbe. „Und doch müssen wir versuchen, bis zum Schluß vorzudringen.“ „Also weiter!“ sagte Deer und tauchte wieder die Ruder ein. Smith hielt den Kahn dicht am Felsenrand. Eine halbe Stunde war verstrichen, seit sie das Fahrzeug bestiegen hatten. Der Abschluß der Wand war erreicht. Der Ingenieur ließ halten. Er stieg auf die Bank und leuchtete mit der Fackel nach allen Seiten hin. Wie dick mochte diese Wand sein? 100 Fuß - 10 Fuß? Es ließ sich nicht sagen. Sehr dick konnte sie sicherlich nicht sein. Das unterirdische Getöse war hier gar zu deutlich zu hören. Nachdem Smith die Mauer in horizontaler Richtung nach rechts und links gemustert hatte, befestigte er die Fackel am Ende eines Ruders und ließ ihr Licht nach oben gleiten. Und da oben, aus kaum sichtbaren Spalten, drang ein beißender, die Luft verpestender Qualm. Hellere Streifen zogen sich am Gestein hin, brüchige Stellen andeutend; einige traten schärfer hervor und reichten bis auf wenige Fuß an den Wasserstand der Krypta hinunter. Es dauerte lange, bis der Ingenieur die Fackel vom Ruder löste und an ihren alten Platz stellte. Dann sagte er leise, als spräche er wieder nur zu sich selbst: „Ja, hier sitzt die Gefahr! Hier! Eine furchtbare Gefahr! Uns
steht Entsetzliches bevor!“ Deer sagte nichts. Auf einen stummen Wink des Ingenieurs griff er wieder zu den Rudern. Eine halbe Stunde später glitt der Kahn aus der Krypta.
17. Am anderen Morgen, dem 8. Januar, nachdem sie noch einmal im Corral nach dem Rechten gesehen hatten, kehrten die beiden Männer zum Granitpalast zurück. Sogleich versammelte Smith seine Gefährten um sich und ließ sie wissen, von welcher schweren Gefahr ihre Insel bedroht war. „Kameraden“, begann er, und aus seiner Stimme klang tiefe Erregung, „die Lincoln-Insel gehört nicht zu den Inseln und Kontinenten, denen ein so langer Bestand gesichert ist wie dem Erdball selbst. Ihr ist ein früheres Ende bestimmt, dessen Ursache sie in ihrem eigenen Schoße trägt und vor dem nichts sie bewahren kann. Ich darf jetzt nicht mehr mit der Wahrheit hinterm Berge halten, und deshalb sage ich euch offen, ich befürchte, dieses Ende steht unmittelbar bevor.“ Die Männer sahen einander entgeistert an. Sie konnten nicht fassen, was sie eben vernommen hatten. „Sprich deutlicher“, sagte Spilett. „Von was für einem Ende redest du?“
„Das werde ich tun“, antwortete Smith. „Ich brauche euch nur sagen, was Kapitän Nemo mir in unserm letzten Zwiegespräch mitgeteilt hat.“ „Kapitän Nemo?“ riefen die anderen wie aus einem Munde. „Ja, und es war der letzte Dienst, den er uns erweisen konnte, bevor er von uns ging.“ Pencroff: „Der letzte Dienst? Glaub' ich nicht! Er wird uns noch ganz andere Dienste leisten, wenn er auch tot ist!“ Spilett: „Und was hat dir Kapitän Nemo gesagt?“ Smith: „Folgendes: Die Lincoln-Insel weist nicht die gleichen Daseinsgrundlagen auf wie die andern Inseln des Stillen Ozeans. Die ihr eigentümliche Beschaffenheit, über die mich der Kapitän eingehend aufgeklärt hat, muß über kurz oder lang zu einer Verschiebung ihres unterseeischen Gefüges führen.“ Pencroff: »Was soll das nun wieder heißen? Verschiebung? Die Lincoln-Insel soll sich verschieben? Daß ich nicht lache!“ Smith: „Hör´ zu, Bootsmann! Hier hat wirklich aller Spaß ein Ende, das laß dir gesagt sein. Kapitän Nemo hat mich auf den eigentlichen Gefahrenherd aufmerksam gemacht. Ich bin daraufhin gestern zur Krypta Dakkar zurückgekehrt und habe seine Feststellung bestätigt gefunden. Die gewaltige Höhle, der wir den Namen Krypta Dakkar gegeben haben, erstreckt sich unterhalb der Insel bis zum Vulkan und wird vom mittleren Krater nur durch die Wand getrennt, die ihren Abschluß bildet. Diese Wand weist Bruchstellen, Risse, Löcher auf, durch die schon jetzt die im Innern des Vulkans angesammelten schwefligen Gase herausstoßen. Unter dem Druck von unten her fangen diese Öffnungen im Gestein an sich zu erweitern, die Wand wird auseinanderreißen und der Flut, von der die Höhle angefüllt, ist der Weg freigegeben.“ Pencroff: „Na, wunderbar! Dann wird das Meer den Vulkan löschen, und alles ist gemacht. Happy-End!“ „Smith: „Ja, dann wird alles zu Ende sein! Aber es wird ein Ende mit Schrecken sein, mein lieber Pencroff. Der Tag steht
bevor, an dem das Meer durch den Mittelschacht bis ins Innere der Insel dringt, bis in den Schoß der vulkanischen Stoffe, die da unten wallen und sieden, und dann wird die Lincoln-Insel in die Luft fliegen, wie zum Beispiel Sizilien in die Luft fliegen würde, wenn das Mittelmeer sich in den Ätna ergösse.“ Diese mit Überzeugung gegebene Erklärung verschlug dem Bootsmann die Sprache. Auch die anderen schwiegen. Sie hatten begriffen. „Übrigens“, setzte der Ingenieur hinzu, „hat es tatsächlich Schwarmgeister gegeben, die den absurden Vorschlag gemacht haben, die Vulkane, die sich ja zum größten Teil gerade an den Küsten von Meeren oder Seen befinden, mit Wasser zu löschen, indem man ihm einen Weg zu den Ausbruchsherden bahnt. Nur ist bei diesen Hirngespinsten eins nicht bedacht worden. Wenn nämlich Wasser in einen geschlossenen Behälter dringt - und mit einem solchen Behälter wäre ja der Eruptionsherd zu vergleichen -, in einen Behälter also, in dem eine Temperatur von einigen Tausend Graden herrscht, dann wird es sich im Nu zu Dampf verwandeln, dem keine Außenhülle widerstehen könnte. - Der ungeheuerliche Druck würde die Erdkruste wie einen Kessel zerreißen.“ „Die letzte Folgerung aus deinen Ausführungen“, sagte nun Spilett, „wäre die, daß unsere Insel nicht mehr lange bestehen kann. Es handelt sich dabei nicht einmal mehr um Monate, ja nicht einmal um Wochen. Die Katastrophe kann in den nächsten Tagen, sie kann in jeder Stunde über uns hereinbrechen.“ Smith nickte. Sie sahen einander an. Pencroff rang die Hände. Harbert weinte. „Unsre schöne Insel! Solange ist sie unsere Heimat gewesen, hat uns genährt und erfreut, ist unter unsern Händen zum blühenden Garten geworden, sollte eine Kolonie werden. Wir haben sie liebgewonnen. Und dies soll das Ende all unserer Anstrengungen sein!“
„Es ist ein Jammer, und ich kann's nicht fassen, ich mag' s trotz allem auch nicht glauben“, knurrte der Bootsmann. „Aber wie dem auch sei, mein Schluß ist: wenn keine Stunde mehr verloren werden darf, dann 'ran an die Arbeit, mit Caracho! Das Schiff muß fertig werden, ehe die Bombe platzt!“ „Da hast du recht“, rief Deer, „Ernte, Jagd, Fischfang, Vorräte sammeln - das alles kommt nicht mehr in Frage! Ist Nebensache! Nur das Schiff kann uns noch retten.“ „Sieh mich nicht so an!“ fügte Spilett hinzu. „Ich nehme gewiß keine Büchse mehr zur Hand, sondern nur noch Beil und Säge.“ „Du brauchst dir auch keine Sorgen zu machen“, schloß Smith das Gespräch ab. „Die Speicher sind gefüllt. Wir werden reichlich mit Proviant versehen sein, selbst für eine lange Seefahrt.“ Tag für Tag arbeiteten sie, bis zur Erschöpfung. Erst spät am Abend gingen sie zur Ruhe, ohne Murren, ohne einen Laut der Klage. Am 23. Januar war der Bord des Schiffes schon zur Hälfte fertig. Inzwischen änderte sich nichts am Franklin-Berge. Noch immer umhüllte ihn dicker Qualm, den Flammen durchzuckten. Unaufhörlich warf der Krater einen Regen von Steinen aus. Aber in der Nacht zum 24, gegen 2 Uhr morgens, wurden die Männer im Granitpalast durch einen furchtbaren Krach aus dem Schlaf geschreckt. Zum ersten Male zeigte sich die Gewalt an, mit der die Lavamassen aus der Tiefe nach oben drängten. Der ganze Himmel schien zu brennen. Unter dem ungeheuerlichen Druck des unterirdischen Feuers barst der oberste Kegel, der den Vulkan wie eine Haube bedeckte. Das tausend Fuß hohe Massiv stürzte mit seiner milliardenschweren Last von Pfunden auf die Insel nieder, die in allen Fugen zitterte. Glücklicherweise lag dieser Kegel nach Norden. Er fiel
auf die weite Sandfläche zwischen Meer und Vulkan. Der nun weit aufgebrochene Mund des Kraters strömte eine so gewaltige Lichtfülle aus, daß die Luft ringsum in Weißglut erstrahlte. Zu gleicher Zeit brach aus ihm ein Lavastrom wie Wasser, das aus einem zu vollen Becken spritzt, und rann in langen, feurigen Kaskaden an den Hängen des Berges nieder. „Der Corral! Der Corral!“ rief Deer. In der Tat wälzte sich infolge der Lage, die der Absturz des Gipfels dem neuen, großen Krater gegeben hatte, die Lava auf die Hürden zu. Den Feldern, den Gehegen, dem Blockhaus, den Scheunen und Schuppen drohte Vernichtung. Sie eilten zu dem Stalle, wo die Esel untergebracht waren. Dort stand der Karren. Sie hatten alle nur den einen Gedanken: Zum Corral! Das Vieh mußte freigelassen werden! In wilder Jagd fuhren sie hin. Kurz nach 3 Uhr waren sie dort. Schon von weitem scholl ihnen das Angstgeheul der Ziegen und Schafe entgegen. Eine weißglühende Masse flüssigen Gesteins hatte bereits den Nordrand des Weidelandes erreicht und näherte sich den Palisaden. Sie rissen die Tore auf. Die vor Schreck wahnsinnigen Tiere stürzten heraus und stoben nach allen Windrichtungen auseinander. Die Männer - ohnmächtige Zuschauer - blieben und sahen, erschüttert, von dem gräßlichen Anblick gefesselt, das Werk ihrer Hände untergehen. Kochende Lava überflutete das Gelände, das Wasser des kleinen Baches, der es durchfloß, dampfte auf, die Palisaden loderten wie Fackeln, die Bauwerke verbrannten wie Zunder. Nach einer Stunde war von dem Corral nichts mehr zu sehen. Aber Smith wollte nicht sogleich zum Granitpalast zurückkehren. Es war ihm darum zu tun, die endgültige Richtung des Lavastromes festzustellen. Die Bodensenkung verlief vom Franklin-Berge aus im allgemeinen nach Osten. Man mußte befürchten, daß auch die
dichten Waldungen die Lavamassen nicht auf dem Wege zum Plateau der Schönen Aussicht aufhalten würden. „Dann wird das Wasser uns überfluten“, bemerkte Spilett „Das hoffe ich sogar“, antwortete der Ingenieur. Weiter sagte er nichts, und die ändern wußten nicht, was sie aus dieser Erwiderung machen sollten. Smith wäre gern bis zu dem Teil der Küste vorgedrungen, auf den der Kegel des Franklin-Berges gestürzt war; aber die Lava versperrte den Weg. Sie wälzte sich durch das Tal des Roten Creeks. Es war nicht möglich hinüber zukommen ja man mußte zurückweichen. Der seiner Haube beraubte Vulkan war nicht wiederzuerkennen. Was ihn jetzt bedeckte, sah aus wie eine Tischplatte. Zwei neue Schlünde, einer am Südrande, einer am Ostrande, schütteten ohne Unterlaß Lavamassen aus, die nun zwei verschiedene Ströme bildeten und nach zwei verschiedenen Richtungen abflossen. Oberhalb des neuen Kraters verschmolz eine Wolke aus Qualm und Asche mit den Dünsten am Himmel, die über der ganzen Insel hingen. Donner krachte und mischte sein Getöse in den grollenden Lärm des Berges, über die Lavaglut wirbelten feurige Steinblöcke, die in der Wolke zerplatzten und wie ein Hagel von Gewehrkugeln herunterprasselten. Zuckende Blitze gaben der schauerlichen Szenerie ein gespenstisches Oberlicht. Die Männer hatten sich in den Wald geflüchtet. Aber gegen 7 Uhr in der Frühe mußten sie einsehen, daß sie dort nicht länger bleiben konnten. Der Steinschlag, die den Roten Creek überflutende Lava drohten ihnen den Rückweg abzuschneiden. Schon fingen die ersten Bäume des Waldes Feuer. Das Gezweig knisterte und knackte wie springende Raketen. Sie kamen nur langsam vorwärts. Immer wieder sahen sie sich zu zeitraubenden Umwegen gezwungen. Erst am Ufer des eine Meile vom Roten Creek entfernten
Grant-Sees machten sie halt. Cyrus Smith hatte inzwischen über den Ernst der Lage volle Klarheit gewonnen. Er zauderte keinen Augenblick, den andern das Ergebnis seiner Beobachtungen mitzuteilen, wußte er doch, daß er zu Männern sprechen würde, denen man auch die bitterste Wahrheit nicht zu verhehlen brauchte. „Entweder wird der See die Lava aufhalten, dann bleibt ein Teil der Insel von völliger Vernichtung verschont - oder die Lava gelangt bis zu den Waldungen im Westen, und dann bleibt kein Baum, kein Strauch übrig. Wir werden uns dann auf einem kahlen Felsen befinden, wo uns nichts anderes erwartet als der Tod.“ Pencroff schlug die Arme über der Brust zusammen und stampfte auf den Boden. „Na schön! Dann brauchen wir uns also auch mit dem Schiff nicht mehr abzuplagen. Oder …?“ ,Bootsmann!“ versetzte der Ingenieur. „Man muß seine Pflicht bis zur letzten Stunde tun.“ Der Lavastrom hatte jetzt den Baumbestand überrannt und das Seeufer erreicht. Aber vor dem Ufer stieg der Boden um einige Meter an. Diesen natürlichen Damm konnte man höher machen! vielleicht würde er dann dem Unheil Widerstand leisten. „Ans Werk!“ rief Cyrus Smith. Alle begriffen sofort, woran er dachte. Ein paar begannen Steine, Baumstämme, Reisig und Sand heranzuschleppen, ein paar liefen zum Zimmerplatz und holten Spaten, Beile und Schaufeln. Nach einigen Stunden fieberhafter Arbeit hatten sie einen 100 Schritt langen und 3 Fuß hohen Wall gebaut Es war ihnen zumute, als hätten sie dazu nur ein paar Minuten gebraucht. Der Lavastrom stieg an wie ein Fluß, wenn er bei Hochwasser über die Ufer treten will. Er drohte das letzte Hindernis zu überfluten, das ihn noch vom Westen der Insel zurückzuhalten vermochte.
Aber der Damm hielt stand. Und nach einer Minute banger Ungewißheit - einer entsetzlichen Minute - stürzte die glühende Masse hinab in den See. Ohne ein Glied zu rühren, ohne ein Wort zu sprechen, standen die Männer atemlos da und sahen dem Kampfe zwischen Feuer und Wasser zu. Welch ein Schauspiel! Grausig und schön zugleich! Pfeifend und zischend dampfte die Flut empor, prasselnd warf sich der Brand über sie. Wie ein Sturzbach, der statt in die Tiefe in die Höhe wirbelte, schoß flüssiger Staub in die Luft, dichter Nebel wogte über dem See. Aber das verdunstende Wasser erschöpfte sich, es blieb ohne Ersatz, während das Feuer aus unerschöpflicher Quelle gespeist, immer neue Mengen weißglühender Magma nachschob. Die ersten Lavawellen, die in ihn stürzten, löschte der See aus. Sie wurden zu Stein. Aber bald begannen sie über dem Wasserspiegel aufzusteigen und sich nach der Mitte des Sees zu verbreiten. Abgelöste Brocken schwammen eine Weile umher wie treibende Klippen, schlossen sich zusammen, schoben sich übereinander und bildeten einen immer mehr sich verlängernden Damm. Brandungsgischt stieg gegen ihn auf. Das Wasser sammelte seine letzten Kräfte. Hier aber mußte es dem Feuer erliegen. Indessen war es ein Glück für die Kolonisten, daß die Lava zum See abgelenkt worden war. Dieser Umstand verschaffte ihnen eine Gnadenfrist von einigen Tagen, die sie ausnutzen konnten, um an ihrem Schiffe weiterzuarbeiten.
18. Vom 25. bis zum 30. Januar blieben sie am Werke und schafften in dieser Zeit mehr als 20 Mann im gewöhnlichen Arbeitstempo hätten bewältigen können. Sie gönnten sich kaum einen Augenblick Ruhe, sie aßen sozusagen mit dem Beil in der Faust. Dank dem Lichtschein, den die glühende Lava verbreitete, brauchten sie auch des Nachts nicht müßig zu sein. Denn die Lava floß noch immer, doch nicht mehr in derselben Fülle wie zuvor. Und das war wiederum ein Glücksumstand für sie. Der See war bis zum Überlaufen gefüllt. Wäre neue Lava auf die alte gefallen, so würde sie inzwischen bis zum Plateau der Schönen Aussicht aufgestiegen sein und hätte den Strand überflutet. Nach dieser Seite hin blieb die Insel zum Teil geschützt, nicht aber nach der westlichen Seite, wie Cyrus Smith gehofft hatte. Er wußte noch nicht, daß der zweite der beiden Lavaströme sich durch das Tal des Wasserfall-Baches ergoß, das sich nach Westen senkte und nicht das geringste Hindernis bot. Dort waren die glühenden Massen durch den Wald gerast und hatten
ihn verheert. Die durch die Hitze ausgedörrten Bäume fingen im Nu Feuer und brannten bis zu den Wipfeln hinauf. Es sah fast so aus, als wenn die Flammen oben im Gezweig schneller um sich griffen als unten am Boden. Alles Getier war nach dem Gnadenbach zu geflüchtet und suchte Rettung in dem sumpfigen Gelände jenseits des Pfades, der zum Ballonhafen führte. Aber die Kolonisten waren so sehr in ihre Arbeit vertieft, daß sie von diesen Vorgängen nichts wahrgenommen hatten. Sie gingen nicht einmal in den Granitpalast, auch die Kamine benutzten sie nicht als Unterkunft, sie nächtigten in einem Zelt auf dem Zimmerplatz. Täglich stieg Cyrus zum Plateau der Schönen Aussicht hinauf, um den Verlauf der Katastrophe zu beobachten. Manchmal begleitete ihn Spilett, manchmal Harbert. Nur Pencroff ging nie mit; er wollte nichts sehen und wissen von der Zerstörung seiner geliebten Insel. Sie bot in der Tat einen jammervollen Anblick. Der ganze bewaldete Teil war zu einer einzigen kahlen Brandstätte geworden. Nur eine kleine Gruppe von Bäumen stand noch am äußersten Zipfel der Serpentine-Halbinsel. Genau so trostlos, so öde sah es in dem Sumpfgebiet aus. Aus dem WasserfallBach, aus dem Gnadenbach floß kein Wasser mehr in die See. Wäre auch der Grant-See völlig ausgetrocknet, so hätten die Kolonisten nicht einmal ihren Durst löschen können. Zum Glück war die Südspitze des Sees verschont geblieben. Sie bildete einen kleinen Teich, und das war alles, was an Trinkwasser auf der Insel noch vorhanden war. Nach Nordwesten hin erhob sich mit neuen, scharfen Zacken der Berg des Unheils, gleich einem schwarzen Ungetüm, das an den Boden gefesselt war. Wie schmerzlich für die Kolonisten, dieses kleine Paradies, reich an fruchtbarem Boden, durchströmt von kristallklarem Süßwasser, belebt von Tieren aller Art, verheert, entstellt,
verwandelt zu sehen in eine Felsenwüste, in der jeder Mensch, wenn er keine Vorräte besaß, dem Hungertode ausgeliefert war. „Das kann einem das Herz brechen!“ stöhnte der Reporter. „Das darf man wohl sagen“, stimmte Smith bei. „Möge der Himmel uns Zeit geben, das Schiff fertigzustellen, das jetzt unsere letzte und einzige Zuflucht ist!“ „Und doch scheint mir“, sprach Spilett weiter, „der Vulkan fängt an sich zu beruhigen. Er wirft freilich noch immer Lava aus, doch nicht mehr so häufig und auch nicht mehr so viel.“ „Das kommt mir auch so vor und mag sehr wohl zutreffen“, erklärte der Ingenieur. „Es hat eine eigene Bewandtnis mit diesem feuerspeienden Berge. Die unterirdischen Gänge, Schächte und Kamine, die zu ihren Herden und Auspuffen führen, scheinen über riesige Entfernungen hinweg miteinander in Verbindung zu stehen. Ein Vulkan schweigt tausend Jahre, gilt für erloschen und bricht eines Tages doch wieder aus, während ein anderer zu gleicher Zeit seine seit langem anhaltende Tätigkeit plötzlich einstellt. Wie merkwürdig diese Vorgänge sind, hat uns die Tatsache gezeigt, daß zum Beispiel ein Vulkan in Südamerika, der ein Vierteljahr lang eine mächtige Rauchwolke ausstieß, in demselben Augenblick zu qualmen aufhörte, als 60 Meilen von ihm entfernt ein Erdbeben 40.000 Menschen das Leben kostete. Während des schrecklichen Erdbebens von Lissabon gerieten die schweizerischen Seen in heftige Unruhe, an der schwedischen Küste steigerte sich die Brandung zu einer Art Springflut, und der Wasserstand an der Küste der Antillen, der sonst nie über 28 Zoll maß, stieg plötzlich auf 28 Fuß. Das beweist doch wohl, daß die vulkanischen Kräfte nicht etwa dicht unter der Erdoberfläche schmoren, sondern tief im Innern unseres Planeten nach den entferntesten Punkten ausstrahlen. Wenn jetzt unsere Insel versinkt, so sind wiederum anderswo Inseln ebenso plötzlich aufgetaucht. Kurz bevor 1811 die Mitte
Nordamerikas und Teile von Südamerika unter schweren Erdbeben zu leiden hatten, erschien in der Nähe der Azoren eine neue Insel. Ein Vulkan auf den Antillen hatte jahrelang geruht. Als er mit einem Male wieder Feuer spie, wurde in Südamerika auf einem Gebiet von 2200 Quadratmeilen ein schreckenerregendes unterirdisches Getöse vernommen, das wie schwerer Geschützdonner beschrieben wurde. Es war in der unmittelbaren Nähe des Vulkans nicht stärker als in der Entfernung von 170 geographischen Meilen. Bei einem Ausbruch in den Anden glaubte die Bevölkerung eines Tages, der Vulkan stoße heißes Wasser aus. Es war eine optische Täuschung; nicht Wasser, sondern weiße Asche quoll wie Treibsand aus einer Kluft am oberen Rande des Kraters. Man hat beobachtet, daß am Fuße von Vulkanen sich unterirdische Seen gebildet haben, die offenbar in Verbindung mit den Bächen der Alpen standen.“ „Du meinst also, daß unser Franklin-Berg kein permanenter Vulkan ist“, sagte daraufhin Spilett. „Wir haben es einem unglücklichen Zufall, sozusagen einer Laune des unterirdischen Feuers, zu verdanken, daß es sich ausgerechnet diesem wahrscheinlich noch nicht einmal lange vorhandenen Auspuff zugewendet hat. Könnte es ihm am Ende einfallen, über Nacht wieder einen der altgewohnten Wege einzuschlagen?“ „Ich wage nicht, dir irgendwelche Hoffnung zu machen“, antwortete Smith, „Aber bei einem Vulkanausbruch ist manchmal, wie man so sagt, alles drin. Es geht plötzlich los, es zeigt sich wochenlang vorher an, es dauert tagelang, es hört unvermittelt auf, es folgt ein Erdbeben, es bleibt jede Erschütterung des Bodens aus. Man tappt im Dunkeln. Aber selbst wenn der böse Feind da unten sich eines andern besänne, es würde für uns ja doch schon zu spät sein. Illusionen haben hier keinen Sinn mehr. Das Feuer brennt im Innern noch immer fort. Die Flut kann sich zu jeder Stunde in den Krater ergießen.
Wir sind in der Lage von Passagieren, die sich auf einem brennenden Schiffe befinden und nicht löschen können. Und sie wissen, über kurz oder lang müssen die Flammen in die Pulverkammer schlagen. Komm, Gideon! Wir wollen nicht länger Zeit vertrödeln. Es hat keinen Zweck.“ Noch acht Tage lang, bis zum 7. Februar, floß Lava aus, aber der Strom ließ in dieser Zeit allmählich nach. Trotzdem bestand weiterhin die Gefahr, daß die glühenden Massen sich über den Strand ergießen und dann auch den Zimmerplatz erreichen würden. An diesem Tage jagte eine andere Erscheinung ihnen Schreck ein. Sie verspürten während der Arbeit ein Zittern des Erdbodens. Er hielt an, hörte auf, kam wieder, verblieb aber stets in der gleichen unheimlichen Schwebe zwischen Stärke und Schwäche, so daß man nie wußte, ob man sich beruhigen dürfe oder das Ärgste befürchten müßte. So kam der 20. Februar heran. Sie brauchten noch 4 Wochen Zeit, um das Schiff bis zum Stapellauf fertigzustellen. Würde die Insel solange aushalten? Würden die Elemente ihnen noch diese letzte Spanne Arbeit vergönnen? Smith und Pencroff waren sich darüber einig geworden, daß man nur noch die Wände ausreichend verpichen und dann getrost wagen sollte, in See zu gehen. Die Ausrüstung des Innern, das Takelwerk und was sonst noch fehlte, das alles würde man vorerst aufschieben. Vor allem müsse man versuchen, irgendwo an den Küsten der Insel einen einigermaßen geschützten und vom Zentrum der Katastrophe möglichst weit entfernten Platz zu erreichen. Sie arbeiteten mit unvermindertem Eifer weiter. Am 3. März durften sie endlich darauf rechnen, daß sie in 12 Tagen das Schiff vom Stapel lassen könnten. Sie schöpften wieder Hoffnung. Nach den furchtbaren
Erlebnissen dieses vierten Jahres auf ihrer Insel begannen sie aufzuatmen. Der Bootsmann gewann seine alte Fröhlichkeit wieder. Er sah sein Schiff so gut wie vollendet, sich selbst schon auf Deck und am Steuer. „Wir schaffen's, Kinder! Wir schaffen's!“ rief er immer wieder. „Es ist auch wahrlich die höchste Zeit. Die Tag- und Nachtgleiche steht nahe bevor.“ „Er hat recht“, sagte der Ingenieur. „Wir müssen uns sputen.“ „Gnädiger Herr“, fragte Nab, „glauben Sie, daß dies alles geschehen wäre, wenn Kapitän Nemo noch lebte?“ „Selbstverständlich, Junge! Daran hätte auch er nichts ändern können.“ „Ah bah“, murmelte der Bootsmann, „ich bin anderer Meinung.“ In der ersten Märzwoche nahm der Franklin-Berg wieder ein bedrohliches Aussehen an. Was jetzt geschah, glich dem Rückfall eines Fieberkranken, der schon zu genesen schien. Der Krater füllte sich, von neuem mit Lava und ließ breite Ströme an den jenseitigen Hängen niederfließen. Sie nahmen die Richtung auf das südwestliche Ufer des Grantsees und begannen, das Plateau zur Schönen Aussicht zu verwüsten. Dieser Schlag zerstörte alles, was von den Anlagen und Bauten der Kolonisten bisher noch stehengeblieben war. Der letzte Rest der Felder und Gehege verschwand von der Oberfläche. Die Mühle sank in Asche. Das Walkwerk, das Sägewerk gingen in Flammen auf. Hätten sie jetzt noch in den Granitpalast zurückkehren wollen, es wäre ihnen nicht mehr möglich gewesen. Er mußte aufgegeben werden mit allem, was er enthielt. Das Getier war längst auf und davon. Top war der einzige Vierfüßler, der seinen Herrn noch nicht verlassen hatte. Es kam noch schlimmer. Wenige Tage später quoll der Lavastrom über die Granitmau-
er weg und flutete zum Strand hinab - ein Niagarafall flüssigen Eisens. Nun war es aus mit der Arbeit auf dem Zimmerplatze. Die höchste Eile tat not, wenn man das Schiff überhaupt noch aufs Wasser bringen wollte. Das Schiff war ihre letzte Zuflucht. Es gab auf der Insel keinen Aufenthalt mehr für sie. Im Sturmtempo wurden die Vorbereitungen zum Stapellauf getroffen. Am 9. März sollte er vor sich gehen - das war der äußerste Termin. Sie ließen auch in der Nacht die Hände nicht ruhen. Aber in dieser Nacht - der Nacht zum 9. März - blies der Krater eine ungeheure Rauchwolke aus, die unter furchtbarem Krachen und Knallen 3000 Fuß hoch stieg. Diese Erscheinung ließ vermuten, daß die Außenwand der Krypta Dakkar unter dem Druck der Gase geborsten und das Meer, jäh verdampfend, durch den mittleren Kamin in den feuerspeienden Schlund gestürzt sei. Für diese Unmasse Dampf gab es in dem Krater keinen Ausweg. Eine auf Hunderte von Meilen hörbare Explosion erschütterte die Luft. Ganze Bergstücke brachen zusammen und polterten in die Flut des Stillen Ozeans. Binnen weniger Minuten war die Lincoln-Insel versunken. Ein riesiger Haufen von Steinklötzen ragte aus der See empor und zeigte allein noch die Stelle an, wo sie einst gelegen hatte.
19. Eine Felsenmasse, 30 Fuß lang, 15 Fuß breit, kaum 10 Fuß über dem Wasser - das war alles, was die Fluten des Stillen Ozeans nicht überschwemmt hatten. Alles, was von der Insel noch übriggeblieben war. Alles, was vom Massiv des Granitpalastes die Katastrophe überlebte. Das Wasser hatte die Mauer unterspült und umgewälzt, Blöcke der ehemaligen Halle übereinandergestülpt und diesen letzten Rest stehenlassen, den die Wogen nicht erreichen konnten. Und dieser eine nackte Steinklotz war die letzte Zuflucht für sechs Menschen und einen Hund. Wenn sie überhaupt noch am Leben waren, so verdankten sie es nur dem glücklichen Zufall, daß sie in einem Zelt auf ihrem Zimmerplatz genächtigt und in dem Augenblick allesamt ins Meer geschleudert wurden, als die Trümmer der Insel nach allen Seiten hin zusammenbrachen. Als sie auftauchten, sahen sie nahebei den einsamen Felsen, schwammen hin und kletterten hinauf.
Eine Woche war seitdem verflossen. Acht Tage schon lebten sie auf der vom Ozean umspülten Klippe. Als sie noch im Geschwindtempo an ihrem Schiffe arbeiteten, hatten sie sich angewöhnt, Brot und Speck in der Tasche bei sich zu führen, damit sie keine Essenspause einzulegen brauchten; auch eine Flasche voll Tee, wohl auch Schnaps, hatten sie zu sich gesteckt, und so waren sie mit einem spärlichen Vorrat an Proviant versehen, als die Katastrophe hereinbrach. Von diesem Vorrat zehrten sie seitdem. Ein gnadenreicher Regen hatte sie mit Trinkwasser versorgt; den Durst konnten sie stillen; es stand in den kleinen Löchern und Mulden auf der Klippe Wasser genug vom letzten Unwetter her. Aber wie sollten sie den Hunger stillen? Einige Tage noch - dann würde es nichts mehr geben. Der letzte Rest an Dörrfleisch, die letzte Krume Brot würde dann verzehrt sein. Und wo etwas finden, um dieses langsame Sterben zu verlängern? Es kam schon vor, daß ein halb irrer Blick den Hund streifte. Aber es konnte doch im Ernst niemand daran denken, diesen treuen Gefährten ihrer Freuden und Leiden zu schlachten! Die Natur hatte ihr Opfer - die Insel - verschlungen; ihr Wutanfall war vorüber. Das Meer plätscherte mit gelindem Wellenschlag an dem Steinklotz, den sie übriggelassen hatte. In friedlichem Blau strahlte der Himmel. Wo er sich einst über Wäldern und Feldern wölbte, glitzerte jetzt spiegelglatte See im Sonnenschein. Am 18. März legten sie zusammen, was sie noch an Lebensmitteln besaßen. Das Elend machte Inventur. Sie berechneten, wieviel ein jeder essen dürfte, wenn sie noch über ein paar Tage hinwegkommen wollten. Das war das Letzte und Einzige, worauf sie ihre Willenskraft, ihre Klugheit, ihren Verstand oder was ein jeder von ihnen an Gaben in sich trug, verwenden konnten. Mehr zu tun, lag nicht in ihrer Macht. Der Ingenieur blieb gefaßt. Der Reporter gebot nicht über
Nerven von gleicher Stärke und begann einer immer heftiger sich äußernden Reizbarkeit zu verfallen. Der Bootsmann lief in wildem Grimme hin und her. Er konnte es nicht verwinden, daß sein Schiff nicht fertig geworden war. Harbert dämmerte still vor sich hin, Deer und Nab schienen sich in ihr Schicksal zu ergeben. Sie hegten keine Hoffnung mehr. Sie wußten, wie selten einmal ein Schiff sich in dieses von allen Verkehrslinien abgelegene Meeresgebiet verirrte. Die ganzen Jahre über seit ihrer Strandung auf der Lincoln-Insel war kein Schiff in Sicht gekommen. Wie sollte das jetzt geschehen? Sie erinnerten sich des Albatros, dem sie eine Botschaft, einen Ruf um Hilfe mitgegeben hatten - längst hätte ein Schiff kommen müssen dieser Versuch war vergeblich geblieben. Und die Flaschenpost? Wie wenig Aussicht bestand, daß solch ein winziger Gegenstand vom Deck eines Schiffes aus wahrgenommen würde! Nein! Sie waren rettungslos verloren. Hier konnte nur Gott ihnen noch helfen. An ihn wandte sich ihre Verzweiflung. Ein paar Tage lang richteten sie sich auf das kärglichste ein. Der Schutzgeist lag ja tot in der Tiefe. Und sicherlich hätte auch er das Unglück nicht abwenden können. Sie beneideten ihn um den Frieden, in den er eingegangen war, um den sanften Tod, der ihm vergönnt gewesen. Der Hund kam zuerst an die Reihe. Das Wetter war stürmisch geworden, die Wellen schlugen höher, er mochte wohl einen Fisch erspäht haben, schnappte nach ihm und verlor das Gleichgewicht. Eine Zeitlang schwamm er am Rande auf und nieder, versuchte irgendwo Fuß zu fassen und heraufzuklettern. Es gelang ihm nicht. Die Kräfte verließen ihn, er ging unter. Die Vorräte waren bis zum letzten Rest aufgezehrt, das Wasser aus den Steinlöchern ausgetrunken. Hunger und Durst raubten ihnen alle Kraft. Apathisch hockten und lagen sie da, vom Fieber nahenden Wahnsinns geschüttelt. Der Wind flaute
wieder ab, die Sonne brannte unbarmherzig auf den nackten Felsen nieder, stach durch ihre zerschlitzten Kleider und versengte die ausgedörrten Glieder. Wozu leuchtete sie noch diesen Verlöschenden? Ihre Strahlen konnten die Nacht nicht mehr erhellen, die sich unabwehrbar auf sie herabsenkte. Das Meer leckte zu ihnen herauf, umspielte sie schmeichlerisch und sang sein lockendes Lied. Worauf wartet ihr noch? In meiner unermeßlichen Tiefe ist Raum für Tausende. Ihr gehört mir. Mit einer einzigen Welle kann ich euch an mich reißen. Warum zaudert ihr? Worauf wartet ihr noch? Ja, worauf warteten sie? Warum zauderten sie? Ein Sprung, ein taumelnder Schritt - es konnte kein schwerer Tod sein! Sie waren ja schon so gut wie tot! Da stieß Pencroff einen heiseren Schrei aus. Es war in der Frühe des 24. März. Nur Smith hörte ihn noch. Die anderen hoben nicht einmal den Kopf. Dann richteten die beiden sich mühsam auf und winkten in die Luft hinein. Da standen sie und winkten mit der letzten Kraft der gelähmten Arme. Mit der letzten Kraft der erlöschenden Augen starrten sie ins Sonnenlicht, das sie zu blenden drohte. Ein Schiff? War das Wirklichkeit oder nur ein gaukelndes Trugbild? Sie wollten schreien, aber nur ein heiseres Röcheln kam aus ihren trockenen Kehlen. Es war ein Schiff - es konnte nichts anderes sein! Und es fuhr nicht so, als käme es nur zufällig in die Nähe und würde vorüberfahren, ohne diesen Felsklotz mit dem Häuflein von Sterbenden zu beachten. Es steuerte gerade auf sie zu. Mit Volldampf steuerte es auf sie zu. Diesmal verdankten sie die Rettung nicht dem Schutzgeist der Insel. Ein Höherer hatte sich ihrer angenommen. Als sie das Bewußtsein wiedererlangten, lagen sie in den Hängematten einer Kabine. Sorgsame Pflege hatte ihnen das Leben erhalten. Nur Harbert blieb noch längere Zeit in einer Art Dämmerzustand. Sie erfuhren, daß ihre Flaschenpost aufgefischt worden war und das Schiff sofort Kurs zu der
angegebenen Örtlichkeit genommen hatte. Man erwartete an Bord, eine Insel zu erblicken und stand einen gefährlichen Augenblick lang tatsächlich im Begriff, die Suche aufzugeben, da von einer Insel nichts zu sehen war. Aber der mächtige Felsblock, der über der Flut aufragte, genau an dem Punkte, den man ansteuern mußte, bewog den Kapitän in letzter Minute doch, näher heranzufahren. „Was ist mit diesem Kästchen?“ fragte der Kapitän den Ingenieur, sobald er mit ihm sprechen konnte. „Wir fanden es neben Ihnen, als wir Sie von dem Felsen herunterholten.“ Cyrus Srnith sah es erstaunt an. „Das hatte ich ganz vergessen“, antwortete er. „Es gehört uns allen, es ist unser letztes Hab und Gut. Seien Sie bedankt, Kapitän!“ Ja, sie hatten das Geschenk Kapitän Nemos vergessen. Was nützten ihnen in ihrer Not Gold und Geschmeide? Im Augenblick der Rettung waren sie zu kraftlos gewesen, daran zu denken. Der kostbare Inhalt verhalf ihnen zum Aufbau eines neuen Lebens. In der Heimat hatte der furchtbare Krieg ein Ende genommen. Es herrschte Friede. Ganz Nordamerika vereinigte sich in dem Bemühen, die Wunden zu heilen, an denen nach den blutigen Jahren alle Staaten krankten. Die gemeinsame Not hatte die sechs Männer zu einem festen Bunde zusammengeschweißt. Sie trennten sich nicht. Sie kauften sich im nordamerikanischen Staat lowa an, und hier entstand, was sie auf der Lincoln-Insel erträumt hatten: eine neue große Kolonie. Sie konnten unter weit günstigeren Bedingungen arbeiten als in der Weltverlorenheit des Stillen Ozeans. Und sie waren nicht allein. Eine Schar von Arbeitern folgte dem Rufe des Ingenieurs Cyrus Smith, der vielfache Gelegenheit fand, sein Wissen und Können in die Tat umzusetzen. Nab blieb in alter Treue sein persönlicher Diener. Harbert verheiratete sich, und Pencroff widmete sich seinen
Kindern, um, wie er einmal versichert hatte, tüchtige Menschen aus ihnen zu machen. Aber als sie dann wohlhabende Grundbesitzer geworden waren, vergaßen sie doch nie die Insel, auf der sie nackt und arm gestrandet waren, wo sie Jahre unsäglicher Mühe, Jahre voller Not und Gefahr überstanden hatten - die Insel, von der zuletzt nichts als ein Felsklotz übriggeblieben war. Und niemals vergaßen sie den Mann, den sie da unten in der Krypta Dakkar mit seinem Unterseeboot bestattet hatten - ihren Schutzgeist Kapitän Nemo. Ende Von der faszinierenden Gestalt de« unsichtbaren Inselbeherrschers Kapitän Nemo und seinem geheimnisvollen U-Boot erfahren wir mehr in Jules Vernes phantastischer Erzählung: „20.000 Meilen unter dem Meere“.