Urs Widmer
Die gelben Männer Roman
Diogenes
Kurt Vonnegut jr. gewidmet
Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1976 by ...
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Urs Widmer
Die gelben Männer Roman
Diogenes
Kurt Vonnegut jr. gewidmet
Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1976 by Diogenes Verlag AG Zürich 40/76/E/I ISBN 3 257 01538 0
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Es regnete, als unser Zug aus dem Bahnhof von Frankfurt rollte, es regnete in Darmstadt, in Karlsruhe, in Offenburg, in Freiburg, und als wir, immer langsamer, über die Weichen und Kreuzungen des Badischen Bahnhofs von Basel fuhren, wirbelten zwischen Regentropfen graue Schneeflocken über Geleise, Güterwagen und Signallampen. Ich stand neben Karl, der unbewegt in den Schnee hinaussah. Eine Sekunde lang berührte ich seine Hand, dann schaute auch ich in die Schneeflocken, die vor hohen Bürohäusern herunterfielen, auf nasse Straßen, in denen Autos mit eingeschalteten Scheinwerfern fuhren. Hinter der beleuchteten Glasfront eines großen Bürohauses saßen junge Frauen mit Stöpseln in den Ohren und schrieben auf Schreibmaschinen, an kleinen Schreibtischen, die zwischen Zimmerpalmen standen. Eine Frau in einer weißen Bluse steckte eine Münze in den Schlitz eines Colaautomaten. Sie bückte sich und schlug mit der Hand dagegen. Dann fuhren wir in die dunkle Bahnhofshalle ein. Der Zug hielt. Ich sah Karl an und lachte. »Endlich!« sagte ich. Karl lächelte. Er stippte sich ein Stäubchen von seinem hellgrauen Flanellanzug und prüfte in dem kleinen Spiegel des Abteils den Sitz seines blaßblauen Hemds, seiner weinroten Krawatte, seiner roten Nelke im Knopfloch und seiner Schiebermütze. Er sah auf seine weißschwarzen Lackschuhe herunter. Mit dem Daumen der rechten Hand kontrollierte er die Knöpfe des Hosenschlitzes. Ich haute ihn auf die Schulter und holte meine Reisetasche aus grünem Segeltuch aus dem Gepäcknetz herunter. Karl packte seine Schreibmaschine, die Manuskriptkiste und den Schweinslederkoffer. Ich zog meinen Wintermantel an, stellte den Kragen hoch und sagte: »Los.« Wir stiegen aus dem Zug und gingen durch einen langen, schlecht beleuchteten Korridor. Vor uns gingen andere Reisende, mit Koffern, Taschen und Tüten in der Hand. Es windete. Wir warteten vor dem Zollamt, wie die andern Reisenden, die
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in die Schweiz wollten. Langsam rückten wir zum Abfertigungsschalter vor. »Bei meinen letzten beiden Reisen war ich besser ausgerüstet«, sagte ich zu Karl, der mit hochgerecktem Hals über die Reisenden nach vorn sah. »Das erste Mal hatte ich Notraketen, das zweite Mal sogar einen Ballon. Aber dafür sind wir diesmal zu zweit.« Karl sah mich an und nickte. Ich holte meinen Paß aus der Innentasche des Mantels. Er war rot und an den Ecken ausgefranst. »Zehn Jahre lang habe ich jetzt in Frankfurt gewohnt«, sagte ich und kicherte. Ich streckte meinen Paß einem Beamten hin, der eine blaue Uniform trug. Ich lächelte. Der Beamte sah mich an, dann das Paßfoto, dann wieder mich. Er sagte etwas, was ich nicht verstand. »Soll ich den Kragen herunterschlagen?« sagte ich. Der Beamte schüttelte den Kopf und gab mir den Paß zurück. Ich ging an einer niedern Rampe entlang. Ein anderer Beamter, einer in einer grünen Uniform, sah mich an und sagte: »Haben Sie etwas zur Verzollung anzumelden?« »Nein«, sagte ich. Der Beamte sah auf meine Reisetasche. »Zu welchem Verwendungszweck führen Sie diese Tasche mit sich?« sagte er. »Reisegepäck«, sagte ich. Der Beamte nickte. Er machte eine Handbewegung und wandte sich Karl zu. Ich nahm meine Reisetasche und sah, während ich zum Ausgang ging, wie der Beamte Karls Manuskriptkiste aufschnürte. Er wühlte in ihr herum, hob Papiere hoch und ließ sie wieder fallen. Karl sah ihm unbewegt zu. Sein Schnurrbart zitterte. Der Beamte nickte, wandte sich ab und schneuzte sich in ein großes rotes Taschentuch. Karl schnürte die Kiste zu, mit ruckartigen Bewegungen. Er schlug den Kragen seines Sakkos hoch, packte die Kiste, die Schreibmaschine und den Schweinslederkoffer und kam auf mich zu, mit einem steinernen Gesicht. Er zwinkerte mit den Augen. Nebeneinander standen wir unter der Säulenhalle des Bahn-
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hofsausgangs und sahen in das Schneetreiben hinaus. Ich fror. Taxis fuhren mit laufenden Scheibenwischern durch den Schneenebel. Eine grün gestrichene Straßenbahn fuhr um eine Kurve und verschwand hinter einem hohen Bauzaun. »Früher kannte ich die Seriennummern der Tramwagen auswendig«, murmelte ich. »Ich habe lange hier gelebt. Ich bin von hier. Aber ich kann mich an diesen Platz nicht erinnern.« »Wir haben noch genau fünfundsechzig Mark«, sagte Karl. »Damit halten wir ein Jahr durch, hier«, sagte ich. »Ein Bier kostet dreißig Rappen. Und in Japan gibt es inzwischen Menschen, die ausschließlich von Quecksilber und Schwefel leben, das sie mit Melittafiltern aus dem Grundwasser herausholen.«
2 Jetzt, wo ich den Anfang unserer Reise beschrieben habe, stehe ich vom Schreibtisch auf. Ich lege die ersten vier Seiten in einen Klarsichtschuber. Ich lache und reibe mir die Hände. »Klasse«, murmle ich. Ich sehe auf die Fotos, die, meinem Schreibtisch gegenüber, an der Wand hängen: auf einen hagern Mann mit einer Narbe auf der Wange und eine junge schöne Frau, die im Schnee zwischen dürren Tomatenstauden stehen. Auf Anna, die eine Pelzmütze trägt und sich an eine Birke lehnt. Auf ein von Moosen und Efeu zugewuchertes Haus. Auf Karl, der lachend in einer Küche steht und einen Fuß auf ein totes Wildschwein gestellt hat. Sein anderer Fuß steht in einer Blutlache. Ich nicke den Fotos zu und gehe durch unsern Korridor in die Küche, wo Anna am Spülstein steht und Kartoffeln schält. Ich patsche sie auf den Hintern. »Alles klar«, sage ich, nehme ein Messer, eine Zeitung und eine Kartoffel und setze mich an den Tisch. Ich schäle die Kartoffel und sehe dazu zum Fenster hinaus, in die Abenddämmerung, ins Büro5
haus gegenüber, in dem Männer um einen ovalen Tisch herum sitzen und reden. Sie haben Mineralwasserflaschen vor sich, und Aktenordner. In einem andern Büro steht ein Mann hinter einer Frau, die an einer Schreibmaschine sitzt und weint. Anna tritt neben mich ans Fenster, sie krault meinen Hals und küßt mich auf die Wange. Ich lächle und streichle ihre Hand. Zusammen sehen wir auf die Straße hinunter. Die Kinder eines Kindergartens gehen in einer Zweierkolonne über die Straße. Die Kindergärtnerin breitet ihre Arme wie ein Verkehrspolizist aus. Ein Auto bremst. Ich sehe, daß die Kinder runde gelbe Gesichter haben. Ich lege meinen Arm um Annas Hüfte. »Na«, sage ich. »Tja«, sagt Anna. »Wenn ich denke«, sage ich, »mit welcher Leichtigkeit Karl schrieb, und wieviel. Er hatte mindestens zweihundert Romane in seiner Kiste.« »Verrückt«, sagt Anna. »Was er jetzt wohl macht?« »Er ist tot«, sage ich. Wir schweigen. Hinter den Dächern der Stadt sehen wir die Kamine der Farbwerke, aus denen brennendroter Rauch quillt. Er kriecht waagrecht durch die Luft, in dichten Schwaden. Ein Flugzeug startet durch ihn hindurch. Ich beiße auf meine Unterlippe. Auf der Straße unten fährt, mit heulender Sirene und Blaulicht, ein Krankenwagen vorbei. Ich sehe Anna an, die ein gelbes T-Shirt und Blue Jeans trägt. »In einer Zeitschrift habe ich einen Aufsatz über schöpferisches Schaffen gelesen«, sage ich. »Es findet, stand da, in einem Taumel statt, in dem der schöpferische Mensch völlig bewußtlos wird. Ein ungeheures Glücksgefühl durchrauscht ihn.«
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»Wenn meine Erinnerung stimmt«, sagte ich zu Karl, »liegen die einsamen Gegenden mit den verlassenen Häusern auf der andern Seite der Stadt. Mühlräder drehen sich in Bächen, und Feldhasen lieben Stallhasen, durch die Gitter hindurch.« Ich packte die Reisetasche, hob sie auf meine rechte Schulter und trat in den Schnee hinaus. Er quatschte unter meinen Schuhen. Ich leckte Schneeflocken von meinen Lippen. Auf dem Bahnhofvorplatz standen Betonmischmaschinen, Bulldozer und Preßluftbohrer, von einer feinen Schneeschicht überzogen. Riesige beleuchtete Wegweiser zeigten den Autos den Weg nach Basel Nord, Basel Süd, Basel City, Bern, Zürich, Delémont. Fußgänger warteten an einer roten Ampel. Eine Stadtautobahn, auf der zugeschneite Baumaschinen standen, verschwand über eine geschwungene Brücke mit hohen Lichtmasten, im schneeweißen Horizont. Ich hustete. »Meine Heimat ist Österreich«, sagte Karl hinter mir. »Wir haben nie so ein Sauwetter.« Ich zuckte mit den Schultern und ging in eine lange Straße mit grauen Häusern hinein. Ein Mann mit Hosenträgern und einem Stumpen im Mund sah mich durch ein geschlossenes Fenster an. Vor der Einfahrt eines großen Verwaltungsgebäudes wartete ein schwarzes Auto mit getönten Scheiben. Ein Chauffeur hauchte darauf. Ich sah Karl an, der vor sich auf den Boden starrte. Wir gingen quer über eine Tankstelle. Eine Straßenbahn fuhr an uns vorbei. Leute gingen, mit nach oben gesogenen Haaren, durch die Luftschleuse eines Warenhauses. Eine Politesse in einem weißen Plasticmantel mit einem Wappen auf der Brust steckte einen Zettel unter den Scheibenwischer eines Autos. Wir sahen, während wir durch den immer dichteren Schnee gingen, ein Do-it-yourself-Geschäft, eine Buchhandlung mit einem Holzchristus im Schaufenster, einen Nachtklub, mehrere Pubs, ein Kleidergeschäft mit Schaufensterdamen, die Abendkleider trugen. Als der Wind noch wilder wurde, starrte
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auch ich nur noch vor mich auf den Boden. Ich schleifte meine Reisetasche wie einen Schlitten durch den Schnee. Als ich später einmal den Kopf hob, gingen wir, auf einer Brücke, an einer leeren Kapelle vorbei. »Ah ja«, rief ich über meine Schulter zurück. »Ich erinnere mich. Seit meiner Kindheit geht der Streit darum, was man hineinstellt, eine Maria, einen Christophorus, einen Harlekin oder einen Colaautomaten.« Dann gingen wir, nun schon in einem hohen Schnee, über einen Platz, auf dem Verkaufsstände mit Kohlköpfen, Tannästen, Salaten, Käsen standen. Dahinter standen alte Frauen mit blauen Gesichtern. Ich grüßte. »Morgen habt ihr die Grippe oder seid tot«, sagte eine zu mir und lachte. Ich lächelte sie an. Meine Hände waren eiskalt. Karl, hinter mir, stöhnte. Dann, nach einiger Zeit, stieg die Straße an. Wir stiegen, indem wir die Füße wie Enten breitstellten. Das Schneetreiben war nun sehr heftig. Plötzlich hörte die Straße auf, und wir standen vor steilen, zackigen Felsen, auf denen, zusammengeduckt, Möwen saßen. Ich stellte meine Reisetasche in den Schnee. »Was jetzt?« sagte ich und hauchte in meine blauen Hände. Karl setzte sich auf die Manuskriptkiste. Er keuchte. An seinem Schnurrbart hingen Eiszapfen, und sein Flanellanzug war naß. Die Nelke war zerfetzt. Von seinen Lackschuhen lösten sich die Sohlen. »Ich hab dir ja gesagt, wir sollten nach Rom oder nach Irland«, sagte er. »In dieser Gegend wird mir bestimmt nie eine Zeile einfallen.« »Schau«, flüsterte ich und deutete in die Nacht hinein. Ein alter Mann kam auf einem Fußweg die Felsen heruntergestiegen. Er schob die Möwen, die sich kaum bewegten, mit dem Fuß weg. Er trug einen Schlapphut, der voller Schnee war, einen Soldatenmantel und hohe Schuhe. Er war unrasiert und hatte eine blaue Nase. Er atmete heftig. Er rief etwas, mit einer krächzenden Stimme, während er schnell auf uns zukam. »Bitte?« sagte ich. »Ich habe Mühe, Ihre Sprache zu verste-
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hen.« Ein heißes Gefühl durchfuhr mich. »Wo wollen Sie denn hin?« sagte der Mann und blieb vor mir stehen. »Hier, durch die Felsen, kommen kaum je Leute, und schon gar nicht bei Schnee und Nacht.« »Wir suchen ein Haus«, sagte ich. »Es muß verlassen, einsam und gratis sein.« »Ach so«, sagte der Mann. Er kratzte sich am Kopf. Er brummelte in sich hinein. Ich sah, daß er um einen nackten Hals eine schwarze Krawatte gebunden hatte. Auf seiner Nase trug er eine Stahlrahmenbrille. Er drehte sich um und deutete auf den Fußweg, der in die Felsen hinaufführte. »Da oben ist so ein Haus. Es ist seit einunddreißig Jahren unbewohnt. Früher wohnte ich einmal darin, aber das ist schon lang her.« »Ah ja?« sagte ich. »Der Hausbesitzer von damals«, sagte der alte Mann und lachte, »hatte nicht alle Tassen im Schrank. Wenn ihm das Essen nicht schmeckte, warf er das Geschirr zum Fenster hinaus, die Pfannen, die Teller, die Gläser. Einmal kaufte er acht Autos an einem einzigen Nachmittag, einen Jaguar, einen Lancia, einen Rolls-Royce und fünf Hispano Suizas. Er wurde in eine Anstalt eingeliefert.« »Aha«, sagte ich und sah die steilen Felsen hinauf. Der Wind trieb Schneefahnen durch die kahlen Gebüsche, die aus Felsnischen hervorwucherten. »Er war ein Professor gegen kriminelle Buben und Mädchen«, sagte der alte Mann. »Ihm gehörten alle Kindergefängnisse der Schweiz. Er konnte alle Kinder verhaften, wann immer er wollte.« Er deutete auf den Weg. »Sie können das Haus nicht verfehlen.« »Woher kennen Sie den Hausbesitzer so gut?« sagte ich. »Ich?« sagte der alte Mann. Er sah mich an. »Ich lebe hier in den Felsen. Ich warte, bis jemand den Weg heraufkommt.« Er öffnete einen Augenblick lang seinen Soldatenmantel, und ich
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sah seinen nackten, blaugefrorenen Körper, über dem die schwarze Krawatte baumelte. »Der Winter ist eine schlechte Zeit, meine Herren«, sagte er. »Früher hatte ich ein Fahrrad. Da bin ich in der ganzen Stadt herumgekommen.« Ich schulterte die Reisetasche. »Herzlichen Dank«, sagte ich. Der alte Mann lüftete den Hut. Dann ging er, durch den kniehohen Schnee, die Straße hinunter. Karl sah mich an. Er zuckte die Schultern und hob den Schweinslederkoffer, die Schreibmaschine und die Manuskriptkiste hoch. Wir stiegen den Felsweg hinauf. Oben, auf den Klippen, tobte der Sturm mit aller Kraft. Ich drehte mich um und sah nach unten und sah den alten Mann, der wie eine flatternde Fledermaus auf eine Frau zuhüpfte. Die Frau kreischte und fuhr dem alten Mann mit ihren Fingernägeln ins Gesicht. Wir lachten, mit klappernden Zähnen. Jetzt sanken wir bei jedem Schritt bis zu den Hüften ein. Schneenadeln stachen uns ins Gesicht. Stumm, schnaufend stolperten wir über eisharte Ackerschollen und umgestürzte Baumstämme. Ich lehnte mich in den Sturmwind hinein. Karl ging hinter mir in meinen Fußstapfen. Er schimpfte vor sich hin. Plötzlich sah ich das Haus. Schwarz stand es in der Nacht, wie ein Ungeheuer. Ich blieb stehen. Ich starrte darauf. Mein Herz schlug wild. »Da!« schrie ich. »Da ist es!« Ich rannte los. Die Reisetasche schlug bei jedem Schritt gegen meine Beine. Schnee wirbelte hoch. »Wart doch, wart!« rief Karl, schon weit hinter mir. Ich rannte. Ich konnte keinen Blick von dem uralten Gemäuer wenden. Brombeerranken waren über das Gartentor gewachsen. Über die Hausmauern wucherten Efeu und Moos. Auf dem Weg, der zur Haustür führte, stand meterhohes Unkraut, weiß im Schnee. Ich rüttelte an der rostigen Gartentür. Der Schnee rauschte von den Gittermaschen. Ich fühlte das kalte Metall. Ich hauchte in meine glühenden Hände. Ich holte
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meine Schnapsflasche aus der Gesäßtasche und trank. Der Schnaps fuhr mir wie ein heißer Blitz in die Gedärme. »Harr.« Ich atmete aus. Ich stellte die Flasche in meine letzte Fußspur, für Karl, dann stemmte ich mich gegen die Gartentür. Ächzend gaben die Brombeerranken nach, und ich drückte einen hohen Schneewall gegen den Stamm eines japanischen Zierapfelbaums. Ich sah die kleinen erfrorenen Äpfel. Durch unberührten Schnee stapfte ich zur Haustür. Ich rieb ein Streichholz an und sah, daß die Namensschilder unlesbar und die Klingelknöpfe festgerostet waren.
4 Ich beugte mich vor und roch am Türschloß. Langsam fuhr ich mit einem Finger über die Rillen des Sekuritglases der Tür, das, in der linken untern Ecke, einen spinnwebartigen Sprung hatte. Ich richtete mich auf und wischte mir die Tränen aus den Augen, bevor sie mir zu Eiskugeln gefroren. Ich sah Karl, eine hagere Silhouette in der Nacht, am Gartentor stehen, mit nach hinten gebeugtem Kopf, mit der Flasche am Mund, ein meterhoher Gnom. Ich trat die Haustür mit einem kräftigen Tritt ein. Ich holte eine Butangaslampe aus der Reisetasche und zündete sie an. Ihr Licht fiel auf eine Treppe mit einem abgetretenen blauroten Teppich. Langsam stieg ich die Stufen hinauf. »Hausbesitzer wohnen immer oben«, dachte ich. Ich klingelte an der obern Wohnungstür. Einen Augenblick lang glaubte ich, eine ferne Musik zu hören. Ich trat auch diese Tür ein. Sie zersplitterte unter meinen Nagelschuhen. Wie ein Hase witternd betrat ich die Wohnung, mit der vor mich hingestreckten Butangaslampe. Es roch nach Moder, Staub und Schimmel. Aufatmend ließ ich die Reisetasche auf den Boden fallen. Ich stand in einem leeren Korridor. Tapetenfetzen hingen von den 11
Wänden herunter. Überall waren Spinnweben. Auf dem Fußboden lag zentimetertiefer Staub. Ich schlurfte hustend in ein Zimmer, rechts von der Tür, in dem ein Fauteuil mit durchgebrochenen Sprungfedern, ein Bett und ein Tisch aus braunem Holz standen. In einer Küche standen ein Besen, ein Eimer, ein Tisch, drei Hocker und ein Büffet, das, statt auf Beinen, auf Telefonbüchern stand und dessen weißer Lack abblätterte. In einem dritten Raum, einer kleinen Kammer, lag ein Korb mit alten Zeitungen. Im vierten Zimmer standen ein Ofen und ein Stuhl. Ich öffnete ein Fenster und beugte mich hinaus. Es schneite nicht mehr, und es war windstill. Karl stand bewegungslos unter dem Gartentor. Er hatte einen Fuß auf die Manuskriptkiste gestellt und sah, wie ich jetzt auch, über unsre Fußspuren zurück nach den Lichtern der Stadt. Er hob die Flasche und trank, dann sah er sie an und warf sie in den Schnee. Er spuckte aus. »Komm«, rief ich. »Wir haben es geschafft.« Karl drehte sich um und sah zu mir herauf. Er tippte sich an die Stirn. »Was ich wirklich brauche«, rief er, »ist ein gutes Essen, ein saftiges Buch und eine schöne Frau.« Er packte die Schreibmaschine, die Manuskriptkiste und den Schweinslederkoffer und stampfte durch den Schnee zur Haustür. Ich hörte, wie er die Treppe heraufkam. Dann betrat er die Wohnung, mit kräftigen Schritten, als gehöre sie ihm seit Jahren.
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Als ich am nächsten Morgen aufwachte, schien mir eine warme Sonne ins Gesicht. Ich blinzelte und rieb mir die Augen. Ich lag auf alten Zeitungen und war mit meinem Mantel zugedeckt. Mein Kopf lag auf meinen Unterhosen. Mein Hemd, mein Sakko und meine Hosen lagen, sorgfältig gefaltet, neben
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mir in einem Korb. Neben meinem Kopf lagen mit einer sauberen Maschinenschrift beschriebene Manuskriptseiten. Ich setzte mich auf. Die Sonne schien durch eine milchige Fensterscheibe voller Spinnweben. »Auf!« rief ich und sprang auf. Ich zog mich an. Ich riß ein Fenster auf. Warme Luft strömte ins Zimmer. Auf einer weiten Ebene unter mir lag glitzernder Schnee, bis hinüber zu einem großen Wald. Ein Hase saß in einer Ackerfurche. Am Horizont stand ein Wasserturm. Ich atmete tief ein. Ich zerhackte den Stuhl zu Kleinholz, steckte ihn in den Ofen und zündete ihn an. Mit dem Besen wischte ich den Dreck aus der Wohnung. Ich holte mit dem Eimer Schnee aus dem Garten und schmolz ihn auf dem Ofen. Ich schrubbte die Fußböden. Ich putzte die Fenster. In der Küche baute ich aus Steinen einen Herd, um den ich Brennholz schichtete, zu dem ich einen Teil des Gartenzauns zerhackt hatte. Ich bestrich Ruten mit Leim und legte sie aus, unter Birken. Ich zimmerte Regale und packte die Reisetasche aus: Streichhölzer, Hosen und Hemden, Nescafe, Beutelsuppen, Ovosport. »Ich habe immer eine Notration bei mir«, rief ich durch die Tür ins andre Zimmer hinüber, als ich hörte, daß Karl sich auf seinem Bett herumwälzte. »Während, du läßt dich von einer Not so sehr überraschen, daß du sie gar nicht bemerkst.« Ich hauchte auf eine Fensterscheibe, auf der noch ein Stäubchen gewesen war. »Hast du etwas gesagt?« rief Karl und gähnte. Ich zimmerte ein Bett aus den Brettern eines Schuppens, der im Garten stand. Ich nähte Jutesäcke zusammen und füllte sie mit Laub. Im Garten grub ich ein Loch, bis ich auf Lehmboden stieß. Ich formte Teller und Töpfe und brannte sie in einem riesigen Feuer. Aus Kastanienholz schnitzte ich Löffel und Gabeln. Ich grub Kartoffeln aus, und aus den eisigen japanischen Zieräpfeln brannte ich, in der Küche, einen Schnaps. Er duftete durchs ganze Haus. Schließlich grub ich das Loch tie-
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fer, bis ich auf das Grundwasser stieß. Ich ließ einen Kessel an einer langen Kordel hinunter. Mit schrägem Oberkörper, mit meinem Wasserkessel, stieg ich die Treppe hinauf und ließ mich auf einen Küchenhocker fallen. Ich keuchte. Karl saß am Tisch vor einem Holzrahmen, über den er Drähte gespannt hatte. Er hatte eine Zange in der Hand, beugte sein Ohr nieder, zupfte an den Drähten und lauschte. Er lächelte. Er legte die Zange weg, bewegte alle zehn Finger wie ein Pianist vor einem Soloabend, dann packte er die Drähte und spielte eine klirrende, swingende Melodie. Ich machte ein Feuer und stellte einen der neuen Töpfe darauf. Ich leerte den Inhalt einer Beutelsuppe ins Wasser. »Morgen mache ich mich auf die Suche nach Hopfen und Malz«, sagte ich. »Dann brauen wir uns ein gutes Bier.« Karl spielte einen zarten Akkord. Ich legte ein Scheit ins Feuer, das aufloderte. Es wurde warm in der Küche. Ich rieb mir die Hände und goß mir, entgegen meinem Vorsatz, schon vor dem Essen einen Schnaps ein. »Was ist denn das?« sagte ich. »Das ist eine Harfe«, sagte Karl.
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Karl saß, während er auf seiner Harfe spielte, auf der Kiste, in der seine Romane lagen. Ich hatte die meisten von ihnen schon gelesen, in Frankfurt noch, im Zug, am ersten Abend hier. Die Manuskripte, die unten in der Kiste lagen, waren vergilbte Blätter mit einer blassen Schreibmaschinenschrift, die obersten waren blütenweiß und gestochen scharf getippt. Nie gab es einen Tippfehler, nie eine Korrektur. Ich hatte Karl nie schreiben sehen, die Manuskripte waren einfach da. Karl sagte, er schreibe, wenn er schreibe, sehr schnell. Er sagte, er schreibe
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am liebsten Geschichten von Uberlebenskämpfen von zwei liebenden Menschen in eisigen Bergen oder schäumenden Meeren, trotzdem aber handelten alle Romane, die ich gelesen hatte, von einer fernen Zukunft, im Andromedanebel, auf der Venus, hinter dem Mond. Alle Manuskripte hatten eine Titelseite mit einem Titel und Karls Pseudonym: Sam Hawkins. In der letzten Geschichte, der, die zuoberst in der Kiste lag, landete eine Expedition aus dem Andromedanebel auf Cape Cod, Massachusetts, USA. Die Andromedawissenschaftler trugen, um auf der Erde nicht aufzufallen, Japanermasken. Ihre Expedition diente dem Zweck, das Verhalten des irdischen Menschen, den sie seit langem mit Fernrohren und Radiosonden beobachteten, zu studieren. Aufs Geratewohl fingen sie einen Mann ein. Es war einer, der gerade mit seinem Hund auf seine Terrasse getreten war und stumm in den Mond hinaufsah. Sie hauten ihm einen Hammer auf den Kopf. Zu Hause untersuchten sie den eingefangenen Erdling von oben bis unten. Sie maßen seine Glieder, zeichneten seinen Kopf und seinen Hintern, starrten in seinen Bauchnabel und sahen fassungslos zu, als er sich niederhockte und eine braune Wurst aus ihm herauskam. Sie zeichneten das Phänomen. Zufällig hatten sie einen Schriftsteller erwischt, der sich ein Leben lang damit beschäftigt hatte, Geschichten über die Bewohner des Andromedanebels zu erfinden. Er war darum völlig aus dem Häuschen. Er sagte zu den Wissenschaftlern, er habe in seinem vorletzten Buch geschrieben, die Bewohner des Andromedanebels hätten ein Mittel gegen Krebs, und ob das stimme. Er erinnerte sich auch daran, geschrieben zu haben, daß die Andromedaner im Jahre 2045 den Menschen wieder beibringen mußten, wie man Kinder kriegt. Die Andromedaleute allerdings hatten, anders als in den Büchern, die der Schriftsteller geschrieben hatte, keine Maschinen, in die man auf der einen Seite irdisch hineinreden konnte, und auf der andern Seite kamen andromedanische Sät-
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ze heraus. So glotzten sie ihn nur aus ihren meterlangen Stielaugen an und tippten sich mit den Tentakeln an die Schädel. Am Schluß des Romans setzten sie den Schriftsteller wieder am Strand von Cape Cod, Massachusetts, USA, ab, und als dieser sein Haus betrat und sein Hund noch immer auf der Terrasse stand und seine Frau sich noch nicht einmal nach ihm umdrehte, begriff er, daß er nach Erdenmaßstäben kaum eine Hundertstelsekunde weg gewesen war. Er allerdings war, weil er so lange allein gewesen war, sehr scharf auf seine Frau. Er küßte sie. Während sie beide auf dem Teppich unter dem Küchentisch lagen, sagte er zu ihr: Übrigens, ich komme grad eben aus dem Andromedanebel zurück. Seine Frau, die ein erhitztes Gesicht hatte, lachte. Vor dem Fenster, die Wissenschaftler von Andromeda, in ihren Japanermasken, sahen sich ratlos an. Sie verstanden nun gar nichts mehr. Sie ahnten, daß sie bei ihren Versuchen etwas falsch gemacht hatten. Aber was? Sie fuhren zu ihrem kalten Planeten zurück. Noch jahrhundertelang wollten ihnen die beiden glücklichen Menschen unter dem Küchentisch nicht aus dem Kopf, der Schriftsteller und seine hübsche Frau. Karl nannte sich Sam Hawkins wegen einer Figur aus den Büchern von Karl May, die er in seiner Jugend geliebt hatte wie nichts anderes. Sam Hawkins war ein gnomenartiger Trapper, der für jeden abgeschossenen Indianer eine Kerbe in seinen Flintenschaft schnitt.
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In einer andern Geschichte Karls hielten es die Andromedawesen einfach nicht mehr aus, zuzusehen, wie sich die Menschen zugrunde richteten. Zu dieser Zeit wurden, wegen dem Schwefel in der Luft und den undichten Kernkraftwerken,
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die Menschen nur noch etwa dreißig Jahre alt, und sie starben alle an der gleichen Krankheit. So rüsteten die Andromedaner eine Expedition aus und schickten einen von ihnen, in einer Japanermaske, ins Weiße Haus. Er ging die breite weite Treppe hinauf, durchs Hauptportal. Er rief, er habe ein Mittel gegen jede Art von Krebs hier. Ein Sicherheitsbeamter schlug ihn mit einem Schlagring zusammen. Er nahm den Zettel, den der Mann aus dem Andromedanebel in der Hand hielt, zerriß ihn in tausend Schnipsel und sagte: Da kannst du sehen, du Arsch, was wir mit deinem Heilmittel machen. Sein Lachen wurde verzerrt, denn gerade in diesem Augenblick meldete sich der Schmerz seiner eigenen Krankheit.
8 Als ich am zweiten Tag um vier Uhr früh den Fensterladen aufstieß und hinaussah, färbte sich der Horizont hinter dem Wald langsam rot. Krähen gingen über den Acker. Der ferne Wasserturm glänzte im ersten Sonnenlicht. Ich atmete tief ein und trommelte mit meinen Fäusten gegen meinen Brustkorb. Aus der Reisetasche nahm ich ein Baumwollhemd, einen Pullover, Knickerbocker, Wollstrümpfe, eine Mütze mit Ohrenklappen, eine Patronentasche. Ich zog mich an. Ich schraubte mein Jagdgewehr zusammen, sah durch den Lauf, lud es durch und hängte es an meine Schulter. Leise ging ich durch den Korridor, die Wohnungstür, die Treppe hinunter, durch die Haustür in den Schnee hinaus. Er knirschte unter meinen Gummisohlen. Mein Atem machte weiße Wolken. Ich legte die Hand schützend über die Augen und sah über den Acker, auf dem jetzt die Schneekristalle in der Sonne leuchteten. Ich streckte meinen nassen Zeigefinger in die Luft. »Der Wind muß vom Hasen zu mir und nicht von mir zum Hasen wehen«, murmelte ich. Mit 17
stetigen Schritten ging ich über den eisharten Acker, von Scholle zu Scholle. Die Sonne schien mir ins Gesicht. Der Himmel war blau. »Ach«, sagte ich. »Warum stehe ich nicht jeden Tag um vier Uhr auf, warum?« Plötzlich sah ich einen Hasen. Er saß aufrecht im Schnee. Seine Ohren leuchteten im Sonnenlicht. Ich starrte ihn an. Ich warf mich in den Schnee, legte das Jagdgewehr vor mich hin, entsicherte es und brachte, auf meiner aufgestützten Hand, das Korn zwischen die Kimme. Dann richtete ich Korn und Kimme auf den Hasen. Ich zitterte und suchte mit meinem rechten Zeigefinger langsam nach dem Druckpunkt. Der Schuß krachte, und der Kolben schlug mir gegen die Wange. Meine Ohren dröhnten. Als die Sterne vor meinen Augen verschwunden waren, sah ich den Hasen, der im Schnee herumtorkelte. »Ich habe getroffen!« schrie ich. Ich rannte über die Ackerfurchen zum Hasen, der sich im Schnee hin und her warf. Er blutete. Ich packte ihn an den Ohren. Er zappelte. »Nein«, schrie ich ihn an, »an den Beinen, an den Beinen!« Ich faßte mit der anderen Hand nach seinen Beinen und schlug seinen Kopf gegen die Ackerschollen, immer wieder, bis er sich nicht mehr bewegte. Ich legte ihn neben mich in den roten Schnee und nahm mein Taschenmesser aus der Hosentasche. Keuchend schnitt ich eine Kerbe in den Schaft meiner Flinte.
9 Jetzt, nachdem ich meine erste Jagd beschrieben habe, höre ich Annas Stimme. Sie ruft. Ich stehe vom Schreibtisch auf, wische mir mit der Hand über die Stirn und gehe in die Küche und, durch sie hindurch, zur Terrasse, auf der Anna unser Essen bereitgestellt hat. Ich setze mich auf einen Hocker, Anna gegenüber. Sie trägt jetzt eine durchsichtige Bluse und 18
einen kurzen Rock aus gelbem Wildleder. Wir haben ein Plastictischchen zwischen uns, auf dem zwei Biergläser, zwei Bierflaschen und zwei Teller mit belegten Broten, Schnittlauchquark und Käsescheiben stehen. Das Licht der Frühlingssonne spiegelt sich in den Fensterscheiben des Bürohauses. Autos donnern über das Kopfsteinpflaster unter uns. »Hast du gehört«, schreie ich, »daß das Kultusministerium eine Studie über die Sinnlichkeit in der Großstadt veröffentlicht hat?« Anna schüttelt den Kopf. Sie beißt in ein belegtes Brot. »Ich würde gern einmal in eine von diesen alten Kneipen gehen«, ruft sie, mit vollem Mund. »In so eine mit alten Schiffsmodellen an der Wand oder mit Gutsherrenatmosphäre.« »Wenn du meinst«, sage ich und schenke mir ein Bier ein. »In einem Teich in der Innenstadt hat man Strontium 90 gefunden.« »Was?« sagt Anna. »Strontium 90«, sage ich. »Wer mit Strontium 90 in Berührung kommt, stirbt. Von den sechzig Kindern, die in dem Teich gebadet haben, sind siebenundfünfzig wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden, gesund.« »Ja«, sagt Anna. Sie sieht auf die Straße hinunter. Ein Autobus fährt langsam vorbei. Neben dem Fahrer sitzt eine junge Frau und spricht durch ein Mikrofon zu den Touristen. Es sind Japaner. Alle fotografieren uns. »Gestern ist ein Mann gestorben«, sagt Anna, »der hundertdrei Jahre alt war. Er hatte sein ganzes Leben im gleichen Haus gewohnt.« Ich nicke. »Es muß einmal eine Zeit gegeben haben«, sage ich, »in der die Menschen schneller alt wurden als die Städte.« Anna beugt sich über das Plastictischchen und streichelt meine Wange. Ich sehe in ihrer offenen Bluse ihre weißen Brüste, und darüber ihre langen rotbraunen Haare. Ich nehme eine Strähne in die Hand und lächle. Ich trinke mein Glas aus.
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»Meine Freundinnen von früher sind jetzt nicht mehr 18, sondern 38«, sage ich. »Vielleicht wohnen sie in Rom oder in Vancouver. Vielleicht sind sie tot. Vielleicht lesen sie einmal mein Buch.« Bierschaum spritzt mir in die Augen. Ich wische ihn mit dem Handrücken weg. »Vielleicht haben sie heute einen Hund, den sie abends auf die Terrasse lassen und zu dem sie sagen: Gell, wir haben uns lieb.« Anna lächelt. Sie drückt auf die Taste des Transistorradios. Eine Hammondorgel spielt den Gefangenenchor aus Nabucco. Anna stellt den Ton laut. »Vor ein paar Tagen habe ich einen Papagei auf einem Autodach sitzen sehen«, sage ich. »Dem gebe ich keine großen Überlebenschancen«, sagt Anna. Ich nicke und sehe auf die Straße hinunter. Der Portier des Bürohauses steht auf der Straße und plaudert mit einer Frau. Sein Revolver baumelt an seinem Gürtel hin und her. »Unser Trinkwasser wird aus dem Grundwasser hochgepumpt«, sage ich. »Es gibt eine Behörde, die die Qualität des Trinkwassers laufend überprüft, jeden Monat. Wenn eine Verschmutzung festgestellt wird, wird nach dem Verursacher gefahndet.« Ich nehme das Glas und trinke. Anna starrt auf die Straße hinunter. Ich gieße mir Bier nach. »Nachts liege ich wach im Bett«, murmle ich. »Du schläfst wie ein Paket. Ich gehe im dunkeln Haus auf und ab und esse Bananen. Gegen Morgen schlafe ich ein. Ich wache auf, wenn ich höre, wie du aus dem Zimmer schleichst.« »Was?« sagt Anna und hebt den Kopf. »Karl sagte einmal zu mir«, sage ich, »er habe bei jedem Buch, das er schrieb, gedacht, es sei sein letztes. Er schrieb in einem panischen Tempo, wie auf der Flucht.«
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Karl saß am Küchentisch und sah mir zu, wie ich den Hasen aus dem Rucksack nahm, auf den Küchentisch legte, ein großes Messer und eine Schüssel holte, dünnes Holz in der Feuerstelle aufschichtete und dickes bereitlegte. Ich krempelte meine Ärmel hoch. Durch die Fenster schien eine helle warme Sonne. »Unser Hausbesitzer, in Wien, war ein Böhm«, sagte Karl und sah mit großen Augen auf den Hasen. »Er schlich die Treppen auf und ab und lauschte an den Türen, ob er keinen üblen Nachtlärm feststellen konnte. Als ich ihm einmal sagte, er sei ein Depp, sagte er, ich sei verrückt. Später dann vermietete er mein Zimmer an vierzehn verschiedene Personen, zur gleichen Zeit. Sie standen lärmend vor der Wohnungstür. Er schoß auf sie. Die Polizei kam und lud die Wohnungssuchenden in eine grüne Minna.« Ich riß mir ein Haar aus, warf es in die Luft, nahm das Messer und hieb es entzwei, während es dem Boden entgegenschwebte. Karl lachte. Ich nahm den Hasen an den Ohren, legte ihn auf ein Brett und schnitt ihm den Kopf vom Rumpf. Blut spritzte über den Tisch. Karl rückte seinen Stuhl nach hinten und sah mich an. Ich schnitt den Bauch des Hasen auf und griff hinein. Ich holte die Leber, den Magen, das Herz, die Milz heraus und warf alles in eine Schüssel. Meine Hände tropften. »Man sagt, daß alle Menschen gleich sind«, sagte Karl und nahm eine Niele aus seiner Sakkotasche, steckte sie in den Mund und hielt ein brennendes Streichholz daran. Er paffte. Sein Kopf verschwand in einem dicken Rauch. »Aber der Hausbesitzer war einsfünfundneunzig groß, und ich bin einsneunundsiebzig. Der Hausbesitzer saß jeden Abend im Keller und überwachte die Kohlenvorräte, während ich auf einen Vorortsball ging und mit Dienstmädchen tanzte.« Er hustete und wedelte mit den Händen in der Luft herum. Ich riß den Balg des Hasen vom Fleisch und warf ihn in eine
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Kiste. Dann nahm ich das Messer und schnitt das Fleisch in kleine Stücke. Ich legte sie in einen Teller aus gebranntem Ton. Der Nielenrauch kratzte mich im Hals. »1936 sind wir mit dem Motorrad nach Spanien gefahren, ein Freund und ich«, sagte Karl. »Ich war noch zu jung für einen Führerschein, ich war überhaupt noch zu jung. Mein Freund bekam ein Gewehr, mir gaben die spanischen Bauern eine Tüte voll Orangen und schickten mich wieder heim, nach Wien.« Er räusperte sich und sah auf die halb gerauchte Niele. Ich ging zum Fenster und öffnete es. Die Sonne schien auf den Küchentisch und auf das Brett mit dem Hasen in seinem Blut. Ich rieb eine große Schüssel mit Hasenfett aus und stellte sie auf den Rost, unter dem das Holz war. Ich nahm Karl die glühende Niele aus dem Mund und zündete das Holz an. Es brannte mit lodernden Flammen. »In den nächsten Krieg mußte ich dann«, sagte Karl und steckte sich die Niele wieder in den Mund. »In Italien marschierten wir durch Alleen, an deren Bäumen Partisanen hingen. Nachts hörten wir ihre fernen Gesänge. Sie schossen auf uns. Trotzdem ging ich ihren Lauten nie nach, nie.« Er lehnte sich zurück, öffnete sein Flanellgilet und legte ein Bein übers andere. Er lockerte den Knoten seiner Krawatte. Ich nickte. Ich legte die Hasenstücke in die Pfanne. Das Fett zischte. Ich schnitt Kräuter klein und warf sie darüber, Knoblauch, ein großes Glas Schnaps. Dann nahm ich ein Scheit, legte es ins Feuer und wendete die Fleischstücke mit einer Holzkelle. »Später dann bin ich abgehauen«, sagte Karl. »Ich ging in einem eiskalten Bach. Ich versteckte mich unter Weidenästen. Ich hörte die Hunde der Suchmannschaften. Sie bellten.« Er stand auf, warf die Nielenkippe zum Fenster hinaus und goß sich einen Schnaps ein. Er trank ihn mit einem Ruck. Er atmete heftig ein und aus, rieb sich die Hände, goß sich ein zweites Glas ein, stellte es vor sich auf den Tisch und setzte
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sich wieder. »Einmal habe ich einen Fuß gesehen«, sagte er. »Er stand mitten auf einer Straße, in einem Schuh, mit einer blutigen, violetten Socke.«
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Nachdem wir das Hasengulasch gegessen und jeder einen Schnaps getrunken hatten, stiegen wir aufs Dach. Rittlings auf dem First sitzend schoben wir uns vorwärts, in einem warmen Wind. Unsre Haare flatterten. Karl, der hinter mir saß, legte seine Arme um meine Schultern. Wir lachten. Unter uns lagen der Garten, schneeglitzernde Äcker, dann, weiter vorn, die Klippen, über denen die Möwen kreisten, und die rauchenden Kamine der Stadt. Ich rutschte bis zum Giebel vor und sah in den Garten hinunter: auf ein Beet mit verdorrten Tomatenstauden, die mit Bast an grüne Stangen gebunden waren. Auf den Schuppen, dem mehrere Bretter fehlten. Auf eine rostige Wassertonne. Auf mein Wasserloch. Auf die Kartoffeln. Auf Fußspuren, unzählige, überall. Auf einen riesenhaften Nußbaum, in dessen kahlen Ästen Dohlen saßen. Ein Hundezwinger stand in einer Ecke des Gartens, mit zerrissenen Gittern, ohne Hund. Ich blinzelte in die Sonne. Sie blendete mich, aber trotzdem sah ich die Hochhäuser der Stadt, einen Fernsehturm, Gaskessel, die Silos des Hafens. Gelber Rauch zog waagrecht über die Häuser dahin. »Basel ist eine Stadt, in der die Schuster mit Handwagen durch die Straßen ziehen«, sagte ich über meine Schultern hinweg zu Karl. »Die Straßenbahnen kreischen in den Kurven. Man darf in ihnen nicht auf den Boden spucken. In den Stadtparks weiden Schafe. Die Männer sitzen abends am Rheinufer und trinken Bier aus Flaschen. Sie öffnen die Bügel mit einem
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Handkantenschlag. Wenn sich Fahrradhändler im Keller aufhängen, dann nicht, weil niemand hier Fahrrad fährt.« »Toll«, sagte Karl. »Und was sind das für Kamine dort?« »Chemie«, sagte ich. »Im Stadtzentrum stehen Kirschbäume, in denen Millionen von Spatzen sitzen. Es ist furchtbar. Die Besitzer hängen Katzenköpfe aus Blech in die Äste, oder Radioapparate, oder sie hocken selber in den Baumkronen und brüllen. Es gibt Kioske, die verkaufen für fünf Rappen Tüten, von denen weder der Käufer noch der Verkäufer weiß, was drin ist.« »Nicht schlecht«, sagte Karl und lachte. Er nahm seine Hände von meinen Schultern, und ich sah, daß er sie zu zwei Röhren formte, wie einen Feldstecher. Sein Schnurrbart wehte im Wind. »Unheimlich viele Fußspuren hier«, sagte er. »Ich bin das nicht gewesen. Mich bringen keine zehn Pferde in einen Schnee.« »Ja«, sagte ich und sah in den zertrampelten Schnee hinunter. »Verblüffend. In den Biergärten der Stadt sitzen die Leute unter Kastanienbäumen. Über das Bahnhofsgelände führt ein eiserner Steg. Junge Frauen und Knaben stehen darauf und starren auf den Simplon-Orient-Expreß hinunter, in eine schwarze Wolke gehüllt, hustend und glücklich.« »Warum gehen wir nicht mal hin?« sagte Karl. Ich drehte mich mit einer so heftigen Bewegung um, daß ich vom First glitt. Meine Schuhe schepperten über die Ziegel. Ich griff mit meinen Händen nach oben und spürte, daß Karl mich an den Handgelenken packte. Er zog mich zu sich hinauf. Keuchend saß ich auf dem First, mit Sternen vor den Augen. »Gefällt es dir hier nicht?« sagte ich leise. »Komm, gehn wir hinein«, sagte Karl und begann, über die Firstziegel zu rutschen, rückwärts, auf die Einstiegluke zu.
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In einem dritten Roman Karls war die Erde von Andromedavölkern unterjocht worden. Nur ein paar hundert Techniker einer Raumschiffwerft in Cleveland, Ohio, hatten sich retten können, mit einem schnellen Start. Sie siedelten jetzt auf einem öden Planeten am Rand der Galaxis, voller Angst, entdeckt zu werden. Nachts zogen sie Verdunkelungsvorhänge vor ihre Fenster. Jeder Funkverkehr war verboten. Ihre Raumschiffe fuhren nur im Radarschatten der Feinde. Sie bauten sich eine neue Zivilisation auf. Da sie alle nur etwas vom Raumschiffbau verstanden, lebten sie in Lehmhütten und aßen mit den Händen, aber ihre Autos fuhren mit Batterien, die durch Sonnenenergie aufgeladen wurden. Sie waren fleißig und fortschrittlich. Sie bauten Büros, Behörden und Fabriken, und bald roch auch ihre Luft nach Schwefel und Chrom. Zwar war seit hundert Jahren kein fremdes Raumschiff gesichtet worden, trotzdem aber wuchs in der Bevölkerung ein Gefühl der Unsicherheit. In den politischen Magazinen des Fernsehens wurde begründet, warum die Freiheit des Einzelnen eingeschränkt werden mußte. Blumen verdorrten in Parks. Vögel fielen vom Himmel. Die Telefone knackten. Liebende, die sich an Flußufern küßten, stürzten eng umschlungen die Klippen hinunter. Es waren aber nicht die Andromedavölker, die die Panik schürten, sondern eine Organisation, deren heimlicher Anführer ein Professor für Biologie an der Universität der Hauptstadt war. Auf seinen Versammlungen sagte er, daß erstens nur der gesunde Mensch ein Anrecht auf Leben habe, daß zweitens die Gesunden sich einem besonders Gesunden unterordnen müßten und daß drittens, wer den Kampf gegen die Andromedavölker scheue, ein Feigling sei. Zwar seien sie auch jetzt, in der vierten Generation seit der Erdflucht, noch immer nur ein paar hundert, aber auch ihre Urahnen hätten, als sie Amerika besiedelten, der Übermacht der Indianer getrotzt und sie schließlich besiegt.
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Heimlich hatte der Professor in seinem Labor metergroße Bienen gezüchtet. Sie waren sehr aggressiv und konnten einen Menschen mit einem einzigen Stich töten. In den Zeitungen war immer häufiger zu lesen, daß die Zahl der Geburten abnehme, daß es mehr Scheidungen als Verlobungen gebe, daß der Fettgehalt der Trinkmilch ständig sinke und daß immer mehr Kinder von Wassertürmen sprängen. Es gab auch eine Zeitung, die behauptete, das Einatmen von Chrom und Schwefel sei gefährlich. Das Krankenhaus der Hauptstadt war voll von Krebskranken. In diesem Krankenhaus hörte ein junger Mediziner, der gerade ein Heilmittel gegen den Krebs erfunden hatte, plötzlich gellende Schreie. Er steckte die Formel in die Tasche und rannte zum Fenster. Er sah, daß Männer und Frauen von metergroßen Bienen angegriffen wurden. Sie fielen tot um. Entsetzt sah er, wie eine Biene auf ihn zuraste. Er stürzte zur Tür hinaus. Hinter sich hörte er das Klirren der zersplitternden Fensterscheibe. Panzerglas, dachte er, sie durchschlagen Panzerglas. Schweiß brach ihm aus allen Poren, als er sah, daß die Metallhalterungen der Labortür sich zu verbiegen begannen. In seinem unterirdischen Bunker beobachtete der Professor das Wüten der Bienen durch ein großes Periskop. Er lachte zischend. Er wollte warten, bis alle Untertanen tot waren. Dann wollte er ein Zeitalter der Zucht, der Disziplin und der Gesundheit beginnen lassen. Er saß zwischen Schäferhunden und spielte mit seinen Anhängern Monopoly. Alle trugen jetzt Uniformen. Wenn er ein Hotel oder ein Kraftwerk kaufte, applaudierten alle. Der Professor war glücklich. Der junge Mediziner fuhr, so schnell er konnte, mit seinem Auto zur Wohnung seiner Freundin. Der Himmel war schwarz von Kampfbienen. Er wich ihnen mit wilden Manövern aus. Sie krachten in Brückenpfeiler oder auf Tankstellendächer. Überall lagen tote Menschen. Er hielt mit kreischenden Reifen.
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Er sah, wie seine Freundin durch den Garten gerannt kam, von einer Biene verfolgt. Die Biene stach zu. Während der Motor aufheulte, sahen beide die Biene, deren Stachel zolltief im Asphalt steckte. Wie rasend schlug sie mit ihren Flügeln. Der Professor sah die beiden Flüchtenden durch sein Periskop. Sie stiegen in ein zweisitziges Raumschiff. Verhaften! schrie er seine Anhänger an. Herbringen! Er hatte Schaum vor dem Mund. Aber, flüsterten seine Anhänger mit weißen Gesichtern, die Bienen! Sie werden auch uns nicht verschonen! Der Professor hetzte seine Hunde gegen die Anhänger. Sie zerfleischten einen, die andern stürzten ins Freie hinaus. Ihre Maschinenpistolen schlugen gegen die Lederkoppel. Ihre Stiefel klapperten auf dem Asphalt. Sie feuerten wilde Salven auf die angreifenden Bienen. Der Führer lauschte dem Waffenlärm. Immer seltener hörte er ihre Schüsse. Dann war es still, völlig still. Stundenlang saß der Professor an seinem Befehlstisch, den Kopf in die Hände gestützt. Ein Hund leckte sein Bein. Dann ging er zum Kurzwellensender. Mit zitternden Händen schaltete er auf die Frequenz der Andromedavölker. Hier spricht ein Freund, sagte er zitternd ins Mikrofon, kommen. Die Zentrale in Houston, Texas, meldete sich sofort und fragte in sachlichem Ton nach der Position des Sprechers. Der Professor gab sie durch. Dann brach die Verbindung ab. Auf seinem Radarschirm sah der Professor, wie eine Interplanetarrakete, eine mit einem atomaren Sprengkopf, näher kam, immer näher. Er schrie ins Mikrofon, daß alles ein Mißverständnis sei. Niemand antwortete. Der junge Mediziner und seine Freundin sahen die Explosion ihres Planeten aus einer Distanz von 400 000 Meilen. Sie starrten auf den Feuerball, in dem ihre Eltern verglühten. Sie flogen wochenlang. Sie landeten auf einem Planeten, der zehn Kilometer Durchmesser hatte. Ein Tag auf ihm war drei Minuten lang. Sie lachten. Sie lebten drei Minuten in der
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Sonne, drei Minuten in der Nacht. Sie lasen ihre Bücher anders als früher, alle drei Minuten dachten sie über das Gelesene nach. Sie schliefen nicht mehr jede Nacht miteinander, aber wenn sie es taten, dann ging die Sonne mehrmals über ihnen auf und unter. Weil die Samen des jungen Mediziners vom Chromeinatmen auf dem alten Planeten zu langsam geworden waren, hatten sie keine Kinder zusammen. Oft standen sie auf einem Hügel aus grauem Schottergestein und starrten in den schwarzen Weltraum. Sie hielten sich bei den Händen. Nach zehn Jahren wurde der Mann krank. Er wußte, was seine Krankheit war. Er suchte in den Taschen seines uralten Paletots nach den Notizen über seine Erfindung. Er las sie. Er zerriß das Papier langsam in kleine Schnipsel. Er setzte sich neben seine Frau vor die Hütte. Sie sahen, wie die Sonne hinter dem Planetenhorizont verschwand, während auf der andern Seite, in ihrem Rücken, schon das erste Morgenrot sichtbar wurde.
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Als wir unten in der Wohnung ankamen, spürte ich, daß meine Beine zitterten. »Fast wäre ich abgestürzt«, sagte ich leise. »Dabei kann ich gar nicht fliegen.« Karl legte seine Hand auf meine Schulter, einen Augenblick lang, dann ging er in die Küche. Er schloß die Tür. Ich ging in mein Zimmer und legte mich aufs Bett. Ich starrte zur Decke hinauf. In der Küche spielte Karl auf seiner Harfe eine nachdenkliche Melodie. Ich schlief ein. Als ich wieder aufwachte, wehte vor dem Fenster draußen ein kräftiger Wind. Schwarze Äste schlugen gegen die Scheiben. Hinter ihnen stand ein fahler Mond in wäßrigen Wolken. Ich setzte mich auf und hustete. Ich hatte Sand im Mund. Ich spuckte aus und wischte mir über die Stirn. Meine Hand war weiß. Jetzt sah ich, daß der Fußboden mit einer dün-
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nen Schicht Gips oder Kalk bedeckt war. Ich hob den Kopf und starrte zur Decke hinauf, von der weißer Staub auf mich niederrieselte. »Sonst, wenn Häuser einstürzen, zerbersten sie mit einem einzigen Knall«, dachte ich und sprang auf. Ich zündete die Butangaslampe an und leuchtete nach oben. Weiße Hände griffen durch ein kleines Loch in der Decke und rissen an den Holzlatten der Isolation herum. Ich hörte Hammerschläge. Die Risse wurden größer und länger. Mit einem kräftigen Knirschen drang der Kopf eines Vorschlaghammers durch den Verputz. Ich war weiß wie ein Bäcker. Ich hustete. »Wahnsinn«, flüsterte ich, »völliger Wahnsinn.« Ich packte einen Stuhl und hielt ihn vor mich hin. Nun stürzten ganze Verputzbrocken herunter. Staub senkte sich langsam auf mein Bett herab. Das Loch über mir wurde groß und schwarz. Ein bleiches Gesicht starrte ernst auf mich herunter. Dann lächelte es. Es verschwand. »He!« rief ich. »He. Sie.« Eine Stimme sagte: »Sehen Sie nicht, daß ich auf dem Weg zu Ihnen bin?« Ich sah die Sohlen von Pantoffeln, braune Socken, Hosenbeine aus braunem Samt, dann ein graues Hemd, dann den schwarzhaarigen Kopf eines jungen Mannes. Wie ein Turner hing er mit baumelnden Beinen über meinem Bett. Dann ließ er sich fallen, wippte einmal auf und ab und sprang auf den Fußboden. Er verbeugte sich höflich. Ich stellte langsam meinen Stuhl vor mich hin und starrte ihn an. »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte der junge Mann. Er war bleich. Seine Haare waren zerrauft, und Schweiß stand auf seiner Stirn. Er lächelte schwach und zitterte. Ich schob ihm den Stuhl hin, und er setzte sich. »Ich habe gedacht, da oben ist das Dach«, sagte ich. »Ah ja?« sagte der junge Mann. »Nein. Da ist eine Wohnung.
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Wir wohnen schon lange hier. Wir haben Sie gesehen, als Sie durch den Schneesturm kamen, mit Ihrem Gepäck. Wir schauen viel zum Fenster hinaus. Es hat sich so vieles verändert hier.« »Wirklich?« sagte ich. »Aha. Ich muß jeden Tag auf die Jagd. Wir stellen Fallen und legen Leimruten aus. Ich fange das Großwild in Sturzgruben, die ich mit Laub tarne. Wir sammeln Beeren, Wurzeln und Pilze. Wir haben ein sehr freies Leben. Blöd ist nur, daß Karl immer in der Küche sitzt und nie mitkommt ins Holz.« Der junge Mann schwankte. Er steckte einen Finger in den Mund und biß darauf. »Trinken Sie ein Bier?« sagte ich. »Nein, danke«, sagte der junge Mann. »Mein Vater ist gerade dabei zu sterben. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Er liegt im Badezimmer auf dem Boden und atmet sehr unregelmäßig.« Ich griff nach der Lehne des Stuhls, auf dem der junge Mann saß. Ich sah ihn an, seine dunklen Augen, seine wirren Haare, seinen buschigen Schnurrbart. »Ja dann«, sagte ich, »dann also.« Der junge Mann machte eine Handbewegung, wie um sich zu entschuldigen. Ich nickte ihm zu, richtete mich auf, schluckte, stieg auf das Bett und stellte mich mit breiten Beinen hin. Mit meinen gefalteten Händen machte ich eine Treppenstufe, von der aus der junge Mann auf meine Schultern steigen konnte. Er stellte einen Fuß hinein und packte meine Schulterblätter. Dann stand er in meinen Händen, mit einem Knie auf meiner linken Schulter. Ich keuchte und pendelte das Gewicht aus. Der junge Mann preßte seinen Körper gegen mein Gesicht. Ich roch ihn. Dann wurde das Gewicht in meinen Händen kleiner, ich spürte einen kräftigen Stoß auf meinen Schultern, und dann sah ich den jungen Mann, wie er sich durch das Loch hinaufhangelte. Er strampelte mit den Beinen. Ich drückte seine Füße nach oben. Sie verschwanden, und es war still.
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Dann sah ich seine beiden Hände. Ich faßte sie, und er zog mich nach oben. Ich packte den Rand des Fußbodens, zog mich hinauf, hing schnaufend auf meinen Ellbogen und starrte, über einen Teller mit einem halbgegessenen Spiegelei hinweg, der vor mir auf einem Teppich stand, in einen hohen Wandspiegel. Mein Gesicht, an seinem untern Rand, war voll Gips. Ich strampelte mit den Beinen. »Schnell«, flüsterte der junge Mann. »Machen Sie schnell.« Ich wuchtete mich hoch und stand auf. Ich stand in einem niedrigen Raum mit schrägen Wänden. Durch kleine Oberlichter kam ein dämmriges Mondlicht. Überall auf dem Fußboden lagen Bücher, Zeitungen, Notenblätter. In einer Ecke stand ein ungemachtes Bett. Ein Elektrostrahler war auf das Bett gerichtet. Daneben stand ein Plattenspieler aus rotem Plastic, um den herum Schallplatten lagen, ohne Hüllen. Ich wischte mir mit meinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Kommen Sie«, sagte der junge Mann. Ich ging hinter ihm drein in ein Zimmer, in dem ein großer Tisch voller Flaschen, Reagenzgläser, Papiere, Bunsenbrenner und Bleistifte stand. Neben einer schwarzen Reiseschreibmaschine stand eine kleine Waage mit mikroskopischen Gewichtssteinen. In Konfitürengläsern lagerten farbige Pulver. An den Wänden standen schwere Holzregale mit Büchern. Auf dem Tisch standen Fotos in Rähmchen, eine lachende junge Frau, die einen Sonnenschirm über einen Jungen hielt, der mit heruntergelassenen Hosen an einer Böschung kauerte. Der junge Mann, der ernst auf seinem Bett saß. Ein Mädchen mit schönen langen Haaren, mit einem Bunsenbrenner in der Hand. In einer Zimmerecke stand eine Couch. Daneben war eine Tür, aus der zwei nackte Füße herausragten. Ich starrte darauf. Dann rannte ich zur Tür. Mein Atem stockte. Ein Mann lag auf dem Plattenboden eines Badezimmers, ein-
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geklemmt zwischen der Badewanne und dem Waschbecken. Sein Kopf war gegen die Wand gelehnt. Er trug einen grünen Pyjama mit weißen Streifen. Er atmete keuchend, mit plötzlichen Stößen. Er hatte ein graues, faltiges, unrasiertes Gesicht und eine Glatze. Er war alt. Ich wußte, daß er starb. Ich kniete neben ihm nieder und faßte nach seiner Hand und sagte: »He. He, Sie.« Ich ließ seine Hand los. Sie fiel auf den Steinboden. Ich wischte meine Hand an meiner Hose ab. »Hat der Mann die Augen zu oder offen?« dachte ich. Ich zitterte. Der Mann sog die Luft mit pfeifenden, unregelmäßigen Atemzügen an. Auf der Glatze hatte er eine blutende Wunde. Ich nahm ein Handtuch, das über dem Badewannenrand hing, und schob es ihm unter den Kopf. Ich stützte mich mit einer Hand auf dem Plattenboden auf. Er war eiskalt. »Mein Gott«, murmelte ich. »Er wird erfrieren.« Ich drehte mich um. Der junge Mann stand unter der Tür und sah auf mich hinunter. Seine Lippen bebten. >Soll ich ihn küssen?< dachte ich. Ich richtete mich auf. »Er ist gegen den Badewannenrand gestürzt«, flüsterte der junge Mann. »Ich habe seit Jahren darauf gewartet. Er war immer kleiner geworden. Ich schlafe im Nebenzimmer. Ich habe ihn gehört. So schnell bin ich noch nie auf den Beinen gewesen.« Der alte Mann hatte in seinem Gesicht eine tiefe Stirnfalte. Er atmete nicht mehr, er war still, ganz still. Er war tot. >Man muß den Toten die Augen schließen< dachte ich. Ich sprang auf und ging ins andere Zimmer. »Telefon?« sagte ich. »Nein«, sagte der junge Mann. Er starrte, unbeweglich unter der Tür stehend, ins Badezimmer hinein. Ich räusperte mich und sagte: »Wir können ihn nicht hier liegen lassen. Der Fußboden ist kalt.« Ich schob den jungen Mann beiseite und versuchte, den alten
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toten Mann unter den Achseln zu fassen. Ich zerrte an ihm. Er bewegte sich nicht. Ich packte ihn an den Füßen. Ich schleifte ihn einen Meter vorwärts. Als ich sah, daß sein Kopf über den Fußboden glitt, ließ ich die Füße los und packte ihn wieder unter den Achseln, von hinten. Ich drehte ihn um und trug ihn, rückwärts gehend, durch die Tür. Er hing tonnenschwer in meinen Armen. Ich schnaufte. Mit breiten Schritten ging ich zur Couch und wälzte ihn darauf. Er hatte die Pyjamahose verloren, und ich sah seinen schrumpeligen Schwanz. Auch der junge Mann konnte seinen Blick nicht davon wenden. Sein Mund war offen. Ich hob die Pyjamahose auf und versuchte, sie dem alten Mann wieder anzuziehen. Ich legte sie ihm über die Beine. Ich atmete. Der junge Mann biß sich auf die Lippen. Ich sah ihn an, zuckte mit den Schultern und ging hinaus, in den Raum mit dem Loch im Fußboden. Ich gab dem Teller mit dem halben Spiegelei einen Fußtritt. Er zerklirrte an der Zimmerwand. Ich sah mich im Wandspiegel, mein Gesicht war grau, meine Haare waren zerrauft. »Wenn jemand gestorben ist, weiß ich sofort, was ich ihm sagen wollte, als er noch lebte«, sagte ich. Mein Mund bewegte sich. Meine Stimme war heiser. Ich ließ mich durch das Loch hinunter und sprang auf mein Bett. Weil darauf alles voller Gips und Kalk war, ging ich in die kleine Kammer neben der Wohnungstür und rollte mich auf den alten Zeitungen zusammen. Der Mond schien mir ins Gesicht. Ich schloß die Augen. Über mir sah ich ein bleiches weißes Gesicht. Ich preßte die Augen fester zu und wälzte mich auf die andere Seite.
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Als ich die Augen öffnete, am dritten Morgen, sah ich auf den Fensterscheiben über mir Eisblumen, die in der Sonne leuchteten. Ich blinzelte. Ich lag auf alten Zeitungen. Ich setzte mich auf, hauchte auf die Eisblumen und sah durch das Guckloch auf rosa Dunstschleier, die über den sonnenglänzenden Äckern lagen. Hasen hoppelten in Wildschweinspuren auf den fernen Wald zu. Ich gähnte. Ich stand auf, fuhr mit meinen Fingern durch die Haare und massierte meine Kopfhaut. Ich rieb mir die Augen. Ich öffnete die Tür und tappte durch den Korridor, zu meinem Zimmer. Dort stand der junge Mann mit einem Besen und wischte. Weiße Staubwolken hüllten ihn ein. Er lächelte mich durch den Staub hindurch an. Sein Gesicht leuchtete rot in der Morgensonne. »Wie geht es Ihrem Vater?« murmelte ich. »Er ist tot«, sagte er und schwang den Besen heftiger. »Ich bin noch nicht wach«, sagte ich. »Ich habe geträumt.« Der junge Mann schob weißen Schutt, der unter meinem Bett lag, auf eine Schaufel. Mit der linken Hand hielt er einen Jutesack, während er mit der rechten die Schaufel darüber hob. Er zitterte so heftig, daß er den Dreck daneben schüttete. Ich drehte mich um und ging in die Küche. Karl saß am Küchentisch, in langen Flanellunterhosen und einem Ruderleibchen. In der linken Hand hielt er ein Bündel Manuskriptblätter, in der rechten einen Löffel, mit dem er in einer Tasse rührte. Er las. Vor ihm stand ein dampfender Topf. Ein Feuer brannte in der Feuerstelle. Getrocknete Kamillenblüten waren über den ganzen Tisch verstreut. Karl hob langsam den Kopf und sah mich an. Er hatte eine tiefe Stirnfalte. Dann lächelte er. »Gehst du ins Bett oder stehst du auf?« sagte er. Er klopfte mit dem Löffel gegen den Tassenrand, legte ihn auf die Untertasse und trank. »Ich habe mir den Arsch abgefroren«, sagte ich. Karl lachte, strich sich mit der Hand über die Stirn, stellte seine Tasse auf
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den Tisch und sagte: »Willst du auch eine?« »Zwei«, sagte ich. »In meinem Zimmer ist ein junger Mann. Er wohnt über uns. Er wischt den Dreck zusammen, den er gemacht hat, und sieht aus wie ein Gespenst.« »Ein junger Mann?« sagte Karl. »Sein Vater ist gestern gestorben«, sagte ich. »Ich habe nicht gewußt, daß über uns Leute wohnen«, sagte Karl. »Du?« Ich schüttelte den Kopf. Karl stand auf und ging zur Tür hinaus. Ich sah die baumelnden Unterhosenbeine über seinen weißen, behaarten Waden. »Er wird ihn gern haben«, dachte ich. Ich lauschte. Ich hörte ein Rumpeln und Scharren, und dann, unverständlich, Karls Stimme. Dann hörte ich Schritte. Der junge Mann trat in die Küche, weiß. Er machte eine Art Bückling. Er hatte Haare wie ein Urwaldmensch. Karl, der hinter ihm ging, hatte einen roten Kopf. Er sagte: »Setzen Sie sich.« Ich atmete aus. Der junge Mann setzte sich auf die Vorderkante der Manuskriptkiste und legte die Hände in seinen Schoß. Karl schenkte ihm Tee ein. Ich schob meine Tasse hinüber und sah zu, wie Karl auch diese vollschenkte. Ich nickte dem jungen Mann zu. Wir tranken. »Warum ist Ihr Vater gestorben?« fragte Karl. »Ich weiß nicht«, sagte der junge Mann. »Er ist nicht krank gewesen, und doch. Ich meine, er ist nie im Bett geblieben. Er schaute nur so merkwürdig. Tag und Nacht saß er in seinem Laboratorium.« »Laboratorium?« sagte Karl. »Er ist ein Erfinder«, sagte der junge Mann. »Ich meine, er war. Er versuchte, seine Erfindungen zu verkaufen, verstehen Sie.« Karl nickte. Er brach sich eine Niele von dem langen Nielenast ab, der am Fenster hing, und zündete sie sich an. Er hustete.
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»Wir leben seit vielen Jahren hier«, sagte der junge Mann. »Seit immer. Seit das Haus gebaut worden ist. Mein Vater konnte nicht ohne mich. Ich ging nie von ihm fort. Ich sah ihn wochenlang nicht, aber ich hörte ihn durch die Wand. Wir liebten uns. Ich kochte unser Essen. Mein Vater aß nur Emmentaler Käse, Quark, Konfitüre und Schabziger. Dazu trank er Kakao. Natürlich aß er auch Brot.« »Natürlich«, sagte Karl. »Haben Sie keine Mutter?« sagte ich. »Nein«, sagte der junge Mann. »Das heißt, schon. Mein Vater trank drei Liter Kaffee pro Tag und rauchte vierzig Zigaretten. Er spielte den ganzen Tag Kantaten von Bach auf dem Grammofon. Haben Sie ihn nie gehört?« »Nein«, sagten Karl und ich gleichzeitig. »Er las immer in Büchern mit wissenschaftlichen Tabellen. Er hatte einen Schrank, den er abschloß. Es sind Alben mit vergilbten Fotos von nackten Frauen drin, die jetzt auch tot sind.« Der junge Mann sah vor sich hin. Er rieb seine Hände gegeneinander. »Ich hätte das nicht sagen sollen«, sagte er dann. »Es ist mir so herausgerutscht.« Er nahm seine Tasse, trank und spuckte den Tee über den Tisch. Karl und ich starrten ihn an. Die Morgensonne schien auf sein weißes Gesicht. »Verzeihung«, murmelte er und wischte den Tee mit seinem Jackenärmel weg. »Wenn ich in die Stadt ging«, sagte er, »stand mein Vater oben am Fenster und sah mir nach. Sein Blick war wie ein Seil, das mich zurückhielt. Auch wenn ich ihn nicht mehr sah, spürte ich seine Augen. Er stand hinter seinem Vorhang, bis er mich zurückkommen sah. Dann ging er schnell vom Fenster weg, ohne mir zu winken. Wenn ich in die Wohnung trat, saß er am Tisch und hob noch nicht einmal den Kopf.« »Komisch, daß wir Sie nie getroffen haben«, sagte Karl. »Mein Vater«, sagte der junge Mann, »war wie ein offenes
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Hirn. Jede Berührung schmerzte ihn.« Ich schüttelte den Kopf und stand auf. Durch das Fenster sah ich Fasane durch den Schnee schreiten. Ich riß das Fenster auf, und die Fasane flogen donnernd auf. Ich sah ihnen nach, wie sie sich durch die Luft arbeiteten und hinter einem dichten Gebüsch verschwanden. In meinem Rücken sagte der junge Mann: »Mein Vater tat alles schnell und heftig. Er rannte die Treppen hinauf. Er spaltete Holz, bis ihm die Adern platzten. Er schrie, wenn er redete. Er zündete sich eine Zigarette an, wenn er noch eine im Mund hatte. Er schaltete das Radio an, während eine Platte lief.« »Was hat er denn erfunden?« sagte Karl. »Verstehen Sie«, sagte der junge Mann. »Er hatte keine Ahnung von Patentrechten. Er erfand einfach. Er bekam Briefe von Firmen, die dasselbe auch schon erfunden hatten. Dann warf er Flaschen an die Wände.« »Sie wissen nicht, was er erfunden hat?« sagte ich vom Fenster aus. Draußen, im Wind, bewegten sich die dürren Stauden der Tomaten. Spatzen flatterten um sie herum. »Doch«, sagte der junge Mann. »Eine Klingel, die klingelt, wenn der Briefträger einen Brief in den Kasten wirft. Einen Verkehrspolizisten aus Plastic. Er stoppt den Verkehr, wenn ein Fußgänger ihm ein Kennwort zuruft. Einen Toaster für alle Brotformate.« »Aha«, sagte Karl. Er sah den jungen Mann an, der auf seine Hände blickte. Ich hielt den Atem an. »Warum sind Sie durch die Decke gekommen?« sagte Karl. »Warum nicht durch die Tür?« Der junge Mann hob den Kopf und sah mir in die Augen. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich war plötzlich bei Ihnen, ich weiß nicht wie.« Ich lächelte, langte über den Tisch und streichelte seine Hand, eine Sekunde lang. Ich nickte.
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»Als ich klein war«, sagte der junge Mann, »trug mich mein Vater im Rucksack mit sich herum, wie eine Eskimomutter.« Ich stand auf, ging durch den Korridor ins Badezimmer, nahm die Gießkanne mit der Brause und hielt meinen Kopf so lange unter das kalte Wasser, bis meine Ohren rauschten.
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Ohne mich abzutrocknen, ging ich in mein Zimmer. Ich setzte mich an den Tisch und trommelte mit den Fäusten darauf. Ich schlug sie gegen meinen Schädel. »Ich wäre gern auf einem hohen Berg mit wilden Winden«, schrie ich in mich hinein. »Da säße ich und schaute über die Gletscher hin, im Abendlicht spränge ich über Abgründe, Schlünde und Spalten. Der heulende Sturm wäre mein Freund, und die kalte Sonne meine Geliebte.« Ich sah hoch und lachte. Ich ging zur Reisetasche und holte einen zerknitterten, staubigen Papierbogen heraus. »Ich werde das aufschreiben«, murmelte ich. Ich öffnete das Tintenfaß und tunkte die Feder hinein. »Meine Mutter ist tot, wie mein Vater«, schrieb ich. »Ich lebe zur Zeit mit einem Bekannten in einem Haus. Er ist Schriftsteller. In einer seiner Geschichten öffnen ein Mann und eine Frau versehentlich eine Ausstiegsluke eines Raumschiffs. Sie stürzen in den Weltraum hinaus. Nebeneinander rasen sie durch das eiskalte Nichts. Sie wissen, sie sind verloren. Sie kennen sich nicht, aber sie klammern sich aneinander und lieben sich, mit 780 km/h, mit einer Leidenschaft, wie sie nur ein Abschied möglich macht. Sie stürzen als ein in sich verknoteter Knäuel in die Sonne hinein. Vom Raumschiff aus sehen alle, wie sie klein und kleiner werden und schließlich, weit, weit unten, verglühen, ein ferner roter Punkt.« Ich hustete, tunkte die Feder ins Faß und lauschte. »Liebes Fräulein«, schrieb ich. »Mein
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Großvater ist ein Leben lang nicht beim Zahnarzt gewesen, weil er nur uraltes Brot aß. Werden wir später einmal mit Augenkrebs am Bahndamm sitzen und schreien?« Ich schrak auf, als plötzlich die Tür aufging und Karl vor mir stand. Er sah mich an. Tinte spritzte über meinen Tisch. »Hast du Streichhölzer?« sagte Karl. »Nein«, sagte ich. »Sie sind alle. Ab jetzt müssen wir Moos und Reibestäbchen nehmen, oder eine Lupe und die Sonne.« »Hm«, sagte Karl und kratzte sich am Kopf. Er biß auf einen krummen Nielenstengel. Vor sich hinbrummelnd ging er durch den Korridor davon. Ich stand auf und schloß leise die Tür. Meine Hände zitterten. »Liebes Fräulein«, schrieb ich weiter. »Der Totenstrom ist breit, aber wir wissen nicht, wo seine Ufer anfangen. Ich meine damit, wir wandern vor uns hin, und wenn wir einen Fluß sehen, denken wir, das ist aber ein friedliches Gewässer.« Ich hob den Kopf und starrte auf das Fell des Hasen, das ich mit großen Nägeln an die Wand genagelt hatte. »So um die dreißig herum, wenn wir zufällig nach vorn schauen, sehen wir plötzlich den Tod über den Horizont lugen. Wir haben ihn vorher noch nie gesehen. Er hat eine Sense mit Zielfernrohr, Er legt auf uns an. Er drückt nicht ab, noch nicht, aber er treibt uns zu Handlungen, die Lachstürme in ihm auslösen. Meine Großmutter stank aus dem Mund und dachte sich nicht viel dabei. Dann war sie tot. Mein Großvater wußte, das ist das Ende, es wird qualvoll sein. Er setzte sich in die Badewanne und schnitt sich die Pulsadern auf. Nichts ist eine Lösung, das Drandenken nicht und nicht das Nichtdrandenken.« Ich stand auf und warf Holz in den Ofen. Ich stocherte in der Glut und wischte die schwarzen Hände an den Hosen sauber. »Im Fernsehen«, schrieb ich, »verfolgte ich bis vor kurzem jede Todesfahrt von Franz Klammer und Roland Collombin.« Ich atmete heftig. Ich lauschte. Aus der Küche hörte ich Karls
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Harfe. Ich lachte und sah auf mein Papier. »Ich habe ja einen richtigen Brief geschrieben«, sagte ich laut. »Aber wem nur?« Ich zerriß das Papier in kleine Stücke und warf es in meinen aus Schilf geflochtenen Papierkorb. Ich ging zum Bett und legte mich darauf. Die Sonne schien mir ins Gesicht. »Im Mittelalter nämlich«, sagte ich vor mich hin, »hat man den Frauen ganz anders gehuldigt. Da sagte die angebetete Frau, ich will, lieber Freund, daß Sie mir einen Span vom Kreuze Christi holen. Und schon war man auf dem Weg nach Jerusalem. Das war schön.« Ich legte meine Hände unter meinen Nacken, sah zur Decke hinauf und lächelte. »Oder aber, der legitime Graf war auf einem jahrelangen Plünderzug. Man fand langsam, durch Liedersingen und Gedichterezitieren, Zugang zum Herzen seiner Gemahlin. Nach Monaten der Prüfung durfte man unter ihre Röcke kriechen und sich, Küsse murmelnd, daran machen, ihren Gürtel durchzufeilen. Immer wieder beteuerte man, während der Arbeit, seine Liebe.« Ich atmete langsam ein und aus. »Die Geliebte, die man durch die Röcke hindurch sprechen hörte, wie einen fernen Wind, schwor einem ewige Treue. Ihr Duft war wie ein Versprechen. Nach einer Weile war man, glühend vor Erregung, durch den Metallgurt hindurch. Nachtigallen schlugen. Zitherspieler spielten unter dem Burgfenster. Der Hofnarr machte anzügliche Bemerkungen während des Essens, aber nicht allzu anzügliche, weil er nicht in die eiserne Jungfrau wollte. Jede Nacht sang und liebte man, unter dem Schutz Gottes.« Ich schloß die Augen. »Es war schwierig, den Moment des Zulötens zu bestimmen«, dachte ich dann und gähnte. »Mit Tränen in den Augen sah einem die Geliebte dabei zu, diesmal unbekleidet, während im Hof unten schon die Pferde des zurückkommenden Gatten trappelten. Schnell warf sie sich eine Samtrobe über, küßte einen zum letzten Mal mit wilder Inbrunst, und während sie dem Gatten entgegenstürzte, floh man über Holzwehren und
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durch Geheimgänge, auf Nimmerwiedersehen.« Ich seufzte tief und schlief ein.
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Am späten Abend, ich war längst wieder aufgewacht, saßen Karl und ich am Küchentisch. Hasenfett, das in einem Tongefäß brannte, leuchtete uns. Ich rührte in einem großen Krug, in dem ich Bier angesetzt hatte. Schließlich goß ich uns das erste Glas ein. Schaum schäumte über die Glasränder. »Hopfen und Wasser findet man hier leicht«, sagte ich. »Statt Malz habe ich das Ovosport aus der Notration genommen.« »Das was?« sagte Karl und hielt sein Glas gegen das Licht. Ich sah ihm zu, wie er den ersten Schluck trank. »Hm«, sagte er und wischte sich mit dem Ärmel über den Schnurrbart. Ich trank meinen ersten Schluck. »Tja«, sagte ich. Wir sahen uns an. Karl nickte lächelnd. Ich goß uns die Gläser wieder voll. Ich stand auf, warf ein Scheit ins Feuer und stocherte in der Glut herum, bis die Hölzer donnerten. »Prost!« rief ich. »Prost!« rief Karl, stand auf und trank, mit einem angewinkelten Arm. »Das ist eine klare Sache«, sagte er und setzte sich wieder. »Was?« sagte ich. »Das mit dem jungen Mann«, sagte Karl. Ich goß uns die Gläser zum dritten Mal voll. Wir tranken schweigend. Das Bier schmeckte süß. »Man mordet aus vielen Gründen«, sagte Karl. »Eifersucht. Haß. Gier. Wut. Enttäuschung. Taxifahrgäste erschießen den Fahrer, einfach so. Frauen erdrosseln ihren Mann nach zwanzig Jahren Ehe. Männer, die zum Einkaufen fahren, schlitzen Autostopperinnen den Bauch auf. Es gibt das verrückteste Zeug. Ein Rentner hat einen Postboten in die Speisekammer gelockt
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und ihn darin eingeschlossen, bis er verhungert war. Ein Arbeiter hat seinen Vorarbeiter mit einem Vorschlaghammer erschlagen.« »Blödsinn«, sagte ich. »Was soll das.« Ich goß Karl ein neues Bier ein und machte mit einem Filzstift vier Striche auf seinen Bierdeckel. Ich goß Fett in die Lampe. Sie loderte auf und beleuchtete Karls rotes Gesicht. Sein riesiger Schatten stand hinter ihm an der Küchenwand. »Vielleicht hat der Vater etwas irrsinnig Wichtiges erfunden«, sagte Karl. Ich schüttelte den Kopf. »Das ist deine fixe Idee«, sagte ich. »Schreib du lieber eine Geschichte, etwas über die Werwölfe im Weltall, oder so.« »Werwölfe, Werwölfe«, sagte Karl. Ich stand auf, öffnete die Manuskriptkiste, griff ganz nach unten und holte ein völlig vergilbtes Exemplar hervor. Eine rostige Büroklammer hielt die Blätter zusammen. Die Schreibmaschinenschrift war schon ganz blaß. Ich lachte. »Heute nacht lese ich eines deiner Frühwerke«, sagte ich und ging hinaus, in mein Zimmer.
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Der Roman, den ich in dieser Nacht las, mit einem Bier neben mir, handelte von einem Piloten, der mit seinem Raumschiff auf einem unbekannten Planeten landete. Er freute sich über die unverhoffte Ruhe. Ein Leben lang hatte er davon geträumt, einmal keine Aufklärungsflüge fliegen zu müssen und nur an einem sanften Strand zu liegen, mit einem nußbraunen Mädchen. Dann aber entdeckte er, daß sein Landeort der Planet der Toten war. Er erschrak furchtbar. Er war von Toten umzingelt. Er tat wie tot. Er versteckte sich in einem Gebüsch.
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Stundenlang lugte er hinaus. Die Toten trugen alle die Kleider, die sie im Augenblick ihres Tods getragen hatten: einen zerfetzten Maßanzug, ein hinten offenes Krankenhausnachthemd, eine Infanterieuniform, nichts. Der Planet sah aus wie die Erde, beinahe, aber die Toten hier benahmen sich anders als die Lebenden dort. Viele standen leer und grau an den Straßenrändern und glotzten vor sich hin. Andre saßen kichernd in Bäumen und aßen Kirschen, oder sie schlugen mit Äxten auf andere ein, oder sie nagten Menschenknochen ab, oder sie fuhren in unendlich gewaltigen goldenen Autos, mit glänzenden Sonnenbrillen auf den Nasen, auf palmenbewachsenen Boulevards auf und ab. Als der Forscher merkte, daß die Toten sich nicht um ihn kümmerten, überhaupt nicht, wagte er sich aus seinem Gebüsch hervor. Er ging den breiten Boulevard hinunter, einem rauschenden Meer entlang. Als ihm ein kleiner Toter in einem abgewetzten Cowboyanzug mit einem Schußloch entgegenkam, fragte er ihn, wie dieses Staatswesen hier denn funktioniere. Well, sagte dieser, das ist so: all das, was der Tote auf Erden besessen hat, hat er hier nicht mehr. Hier hat er statt dessen all das, wovon er auf Erden geträumt hat. Ich zum Beispiel, sagte der kleine Tote, habe jetzt ein Gartenhäuschen mit Hekkenrosen, und zuweilen werde ich von meinem alten Vater geohrfeigt. Niemand kümmert sich um meine Schreie, wenn ich mich nicht irre, hihihi. Sam Hawkins! schrie der Pilot. Sind Sie es? Ja, sagte Sam Hawkins. Kennen Sie mich? Aber klar, rief der Pilot. Und wo sind Dick Stone und Will Parker? Die sind auch hier, sagte Sam Hawkins. Jeder von uns hat sich nach den Gesetzen von hier etwas anders entwickelt als man das erwartet hätte. Ich zum Beispiel muß jeden Tag einmal in die Kneipe gehen, in der Old Shatterhand sitzt, sich vollsäuft und dreckige Witze erzählt. Ich haue ihm eine runter.
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Oh, rief der Pilot. Leider bin ich auch das Opfer ähnlicher Wüte, sagte Sam Hawkins. Dick Stone und Will Parker treten mich in die Magengrube. Und Winnetou? fragte der Pilot. Tja, brummte Sam Hawkins und zog den Trapperhut vom Kopf und kratzte sich. Winnetou ist zwar als Christ gestorben, aber davon ist nun wirklich wenig übriggeblieben. Er berät eine Erdölfirma. Er zeigt ihr, wie man die Indianer am besten bescheißen kann, wenn man ihre Reservate braucht. Zudem muß er jeden Tag die wilden Zungenküsse Old Shatterhands ertragen. Also wenn ich das recht verstehe, sagte der Pilot, ist man nicht nur das Subjekt von Träumen, sondern auch das Objekt. Falls man in den Träumen vieler anderer vorkommt, ist das doch nicht auszuhalten. Nun ja, sagte Sam Hawkins. Manche haben schon einen recht lebhaften Tod. Nehmen Sie zum Beispiel diesen Hitler. Was der Tag für Tag getreten wird, das ist schon hart. Oder die Großindustriellen. Ständig haut ihnen irgendein Mann mit einer Schiebermütze seine Schaufel auf den Kopf. Schrecklich, sagte der Pilot. Wir sind ja tot, sagte Sam Hawkins. Ich meine, wir können nicht daran sterben. Weh tut es schon. In einigen begründeten Fällen werden synthetische Opfer hergestellt. Von wem? fragte der Forscher. Keine Ahnung, sagte Sam Hawkins. ALLES weiß ich ja nun auch wieder nicht. Manchen Männern werden von ihren Frauen so oft die Eier abgebissen, daß ihre eigenen Träume zu kurz kämen. Da gibt es dann eine Kopie, mit demselben Gesicht, demselben Geruch, denselben Schreien. Sam Hawkins, sagte der Pilot und faßte nach Sam Hawkins Händen. Ich bin entzückt, Ihnen begegnet zu sein. Ich habe ihr
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früheres Leben mit so viel Spannung verfolgt. So? sagte Sam Hawkins. Ich kann mich nicht entsinnen, Ihnen begegnet zu sein. Ich habe Ihr Leben sozusagen von außen verfolgt, sagte der Pilot. Wie Sie für jeden abgeschossenen Indianer eine Kerbe in den Flintenschaft geschnitzt haben. Wie Sie in einer Felsspalte standen und, während Sie in einem verzweifelten Uberlebenskampf Schuß um Schuß abfeuerten, über die Schultern hinweg mit ihren toten Kameraden scherzten. Wie Sie nie Angst hatten. Na ja, sagte Sam Hawkins. Es gibt, sagte der Forscher, auf der Erde kenne ich einen Schriftsteller, der Ihren Namen als Pseudonym verwendet. Er schreibt Romane über die Zukunft. So? sagte Sam Hawkins. Der Pilot nickte. Dann schwiegen beide eine Weile. Dieses Träumen auf Erden ist jedenfalls im Jenseits dann ziemlich anstrengend, sagte Sam Hawkins schließlich. Als ich damals auf meinem Pferd durch die Prärie ritt, dachte ich oft an Frauen, an Fässer voll Bier, oder daß ich ein gescheiter Professor an der Universität von Santa Fé sein könnte. Jetzt habe ich kein Pferd mehr, aber jeden Tag muß ich auf eine Frau drauf, acht Liter Bier trinken, und ich halte ein Seminar über die Rassenfrage. Interessant, sagte der Pilot. Wieder standen sie eine Weile stumm nebeneinander. Die ferne kalte Sonne näherte sich dem Planetenhorizont, und der Pilot wußte, daß die Nacht kalt werden würde, minus 230 Grad. Er hielt Sam Hawkins die Hand hin und sagte: Ja, dann will ich mal. Ich muß noch zu meinem Raumschiff zurück. Leben Sie wohl. Er lächelte und sah Sam Hawkins in die Augen. Er sah, daß diese starr in die Ferne gerichtet waren.
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Was ist? sagte er. Sam Hawkins deutete mit dem Kinn auf einen Mann mit einem buschigen Schnurrbart, der gestikulierend auf sie zugerannt kam. Er trug einen weinroten Morgenrock und eine Art Turban, und in der Hand hatte er eine Flinte mit Silbernägeln auf dem Schaft. Der kommt einmal im Monat, flüsterte Sam Hawkins. Ein Irrer, ein schwuler Irrer. Er behauptet auch, ein Schriftsteller zu sein, aber ich habe noch nie eins von seinen Büchern gesehen. Irgendwie bin ich in seinen irdischen Träumen vorgekommen, obwohl ich keinen Dunst habe, woher er mich gekannt hat. Dann stand der Pilot da, im Licht der untergehenden Sonne, und sah den beiden nach, wie sie langsam davongingen. Der Mann mit dem Turban hatte den Arm um die Schultern von Sam Hawkins gelegt und redete auf ihn ein. Sam Hawkins hinkte ein bißchen. Sie gingen und gingen, bis sie hinter einer Baumgruppe verschwanden. Der Forscher drehte sich um und machte sich auf den Weg zu seinem Raumschiff. Er ging schnell. Es war kalt geworden. Er rannte. Als er sein Raumschiff erreichte, war es schon dunkel. Alles tat ihm weh vor Kälte. Er drückte die Türklinke nach unten und merkte, daß sie eingefroren war. Verzweifelt zerrte er an ihr. Es wurde immer kälter, und bei minus 100 brach er zusammen und war tot. Am nächsten Morgen erwachte er. Seine Raumausrüstung war mit einer Eisschicht überzogen. Er lag an einem sanften Sandstrand neben einem nußbraunen Mädchen, das ihn anlächelte. Durch die Eisblumen der Glasscheibe seines Helms lächelte er zurück.
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Am frühen Morgen des vierten Tags standen Karl und ich fröstelnd vor unsern Koffern, in Unterhosen, und wühlten in unsern Flanellanzügen, Blue jeans, Knickerbockers, Anoraks, Pullovern, Ringelsocken und Regenhüten. »So können wir nicht zu einem Begräbnis gehen«, sagte ich und trat, auf dem kalten Boden, von einem Fuß auf den andern. Karl brummte etwas und zog sich rote Socken, ein cremefarbenes Hemd, eine hellgraue Hose und einen hellgrauen Sakko, schwarze Schuhe mit grauen Gamaschen und eine Schmetterlingskrawatte aus rotem Samt an. Er setzte sich einen Strohhut auf, bückte sich und holte einen Spazierstock mit einem silbernen Knauf aus dem Koffer. Er wirbelte ihn herum. Schließlich befestigte er ein an einer Schnur hängendes Monokel am Knopfloch seines Revers. »Olè«, sagte er. Ich biß mir auf die Lippen und schlug mit meinen Händen gegen meinen kalten Körper. Dann zog ich blitzschnell meine Skisocken an, Knickerbocker aus grünem Loden, ein oranges T-Shirt und eine braune Wolljacke. »Wir sind nicht richtig auf Todesfälle vorbereitet«, sagte ich. »Wir sind aber in einem Alter, wo wir sollten, besonders du.« Ich zog meine Schuhe an. Karl biß sich auf seinen Schnurrbart. Er nahm einen Ast mit schwarzen Vogelbeeren aus einer Vase und steckte ihn in ein Knopfloch. »Mein Interesse an diesem Begräbnis ist rein kriminalistisch«, sagte er. Ich nickte. »Der Tod ist ein Raubtier«, sagte ich und sah, durch die Eisblumen am Fenster, in den hellen Sonnenschein hinaus. »Eigentlich verstehe ich nicht, wie man in diesem Klima hier umkommen kann.« Als wir durch die Gartentür kamen, sahen wir auf dem Akker, etwa dort, wo ich den Hasen erschossen hatte, zwei schwarze Menschen stehen. Ein Wind trieb Schneeschlieren vor uns her. Wir gingen langsam auf die beiden zu, und jetzt
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sahen wir, daß sie bei einem schneebedeckten Erdhügel standen, neben einem Sarg aus dunklem Holz. Wir stolperten über Ackerschollen. Karls Hosen wurden lehmverschmiert, und meine Schuhe waren nun braune Klumpen. Karl schwang den Spazierstock mit eckigen Bewegungen. Er hatte ein starres Gesicht. Wir gingen auf den jungen Mann zu, der, verschwitzt und mit roten Händen, mit einem Spaten in der Hand, am Rand einer Grube stand. Seine Krawatte war verrutscht, sein Kragen halb offen. Neben ihm stand eine Frau in schwarzen Schleiern. Ich sah sie an. Sie senkte den Kopf. Ein Windstoß fuhr in ihre Schleier, und ich sah, eine Sekunde lang, ihr bleiches Gesicht und ihre langen rotbraunen Haare. Schwarze Wolken standen über dem Wald hinter dem Acker. Krähen krächzten. Ich blickte in das Grab hinein. Wurzeln ragten aus in den Lehm gestochenen Spatenstichen. Auf dem Grubenboden war Wasser. Ich fröstelte. Ich sah den jungen Mann an. Er hatte Bartstoppeln im Gesicht und starrte durch mich hindurch. Die junge Frau stand hinter ihm und bewegte sich nicht. Nur ihr Gesichtsschleier wehte hin und zurück. Ich sah auf den Sarg. Ich hustete. Plötzlich trat Karl einen Schritt vor und sagte: »Ja. Also.« Er sah in die Grube hinunter und nahm seinen Hut ab. »Wir haben alle Angst vor dem Tod«, sagte er. »Wir springen vor seinen Axthieben davon, und manchmal springen wir mitten in einen ungezielten Hackschlag hinein.« Er klemmte sich das Monokel ins rechte Auge und sah den jungen Mann an. »Ich will damit sagen«, sagte er etwas lauter, »ich habe die Fotos von Menschen, die nackt am Rand einer Grube stehen, nicht vergessen. Andere Menschen, bekleidete, mit Gewehren, standen hinter ihnen. Als ich ein Kind war, hatte ich ein Buch, in dem ich blätterte, weil es darin ein Foto von einem jungen Mädchen in einem Sarg gab. Es war unglaublich schön. Seine Augen waren
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geschlossen und sein Gesicht kreideweiß. Hinter dem Sarg standen kleine Männer mit Sensen, und noch weiter hinten waren Schneeberge. Ich erschrak immer, wenn ich an dem Foto vorbeiblätterte. Eigentlich suchte ich nach dem Foto von einer nackten Frau, die auf einer Seidendecke auf dem Rücken lag. Aber irgendwie geriet mir, ich weiß nicht wie, immer das Foto mit der Toten dazwischen.« Karl sah auf den Sarg. »Tja«, sagte er dann. »Das war's so etwa. Amen.« Er trat einen Schritt zurück und sah auf seine Gamaschen. »Danke«, sagte der junge Mann leise. Er ging zum Sarg, packte ihn an einem Ende und ruckte daran. Ich sah seinen hochgereckten Hintern. Er keuchte, aber der Sarg bewegte sich kaum. Ich nickte Karl zu. Wir gingen zum Sarg, schoben den jungen Mann weg, hoben den Sarg hoch und trugen ihn zur Grube. Er war aus den Brettern des Schuppens im Garten zusammengenagelt, und durch die Lücken zwischen den Brettern sah ich den grünen Pyjama des toten Vaters. Wir stellten uns mit einem Spreizschritt über die Grube. Wir sahen uns an. »Los«, sagte Karl, und wir ließen den Sarg fallen. Er krachte auf dem Grubenboden auf und brach auseinander. Ich schloß die Augen. »Herrgott«, dachte ich. »Ich habe ihn gesehen. Immer werde ich daran denken müssen.« Blind trat ich vom Grubenrand zurück. Dann öffnete ich die Augen. Die Sonne blendete mich. Der junge Mann schaufelte die Erde vom Erdhügel in die Grube hinein. Er arbeitete schnell. Sein Atem machte weiße Wolken. Es windete jetzt stärker, und eisharter Schnee wehte uns ins Gesicht. Die Frau drehte sich um und ging langsam über den Acker davon. Ihr Schleier wehte im Sturm. Ich sah ihr nach, wie sie klein und kleiner wurde. Als ich meinen Blick von ihr löste, hatte der junge Mann seinen Grabhügel fertig. Er steckte den Spaten hinein, holte eine Fotografie aus seiner Rocktasche und befestigte sie mit einem Reißnagel am Spaten-
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stiel. Ich beugte mich vor und sah einen Mann, den Vater, vor einem Berghaus stehend, mit einer wilden Grimasse und einem aufgerissenen Mund. Karl nahm seine Vogelbeere aus dem Knopfloch und legte sie auf den Grabhügel. Er sah das Foto an, dann den jungen Mann. »Er macht Hitler nach«, sagte dieser leise. »Er war immer ein Clown.« Er wischte sich übers Gesicht, es war nun voller Lehm. Ich lächelte. Seine Haare wehten im Schneewind. Seine Lippen waren blau. »Dann wollen wir mal«, sagte ich und faßte ihn am Ellbogen. Wir gingen über die Ackerfurchen zurück, in den Spuren der Frau. Ich fror. Ich spürte, wie mir Schneewasser den Rücken hinunterlief. Als wir beim Gartentor waren, sah mich der junge Mann an und bewegte die Lippen. »Was?« sagte ich. »Warum ist ein Toter so klein?« sagte er. Ich zuckte mit den Schultern. »Kommen Sie«, sagte Karl. »Wir trinken ein Glas auf das Wohl Ihres Vaters. Sicher war er ein guter Erfinder.« Er ging vor uns über den zugeschneiten Gartenweg, durch die Haustür, die Treppe hinauf, in unsre Wohnung. Wir gingen hinter ihm drein.
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mit haarigen Beinen, einem weißen Hintern und einem muskulösen Rücken, vor dem Faß mit dem Schnaps aus den japanischen Äpfeln. Er goß drei Gläser voll. »Er ist noch zu jung«, sagte er. »Er schmeckt, als würde man auf der Stelle blind davon.« Er drehte sich um, hob sein Glas, setzte es an die Lippen und trank es aus. Der junge Mann, der, als er von seinem Stuhl aufstand, eine Hand vor sich hin hielt, trank mit kleinen Schlucken. Er hustete. Ich lachte und warf ein riesiges Scheit ins Feuer. Funken sprühten in der Küche herum. Ich sprang von der Feuerstelle zurück. »Irgendwie ist alles schiefgegangen«, sagte der junge Mann. »Irgendwann einmal sah alles so richtig aus.« Ich setzte mich an den Tisch, trank und sah, daß Karl mit einem Filzstift etwas auf einen seiner Oberschenkel schrieb. Der junge Mann trank sein Glas aus. Er hatte Tränen in den Augen. Ich schenkte ihm das Glas voll, und diesmal trank er es mit einem Ruck leer. Er keuchte. »Es ist meine erste Beerdigung«, sagte er. »Man kann alles lernen«, sagte ich. »Mein Vater badete in siedendheißem Wasser«, sagte er. »Er schloß die Tür hinter sich zu. Ich lauschte. Ich hörte, wie er plätscherte, und ich roch seinen heißen Dampf.« Karl sah von seinen Oberschenkeln auf und sagte: »Haben Sie keine Mutter?« »Nein«, sagte der junge Mann. »Sie fiel von einem Wasserturm, als ich ein Kind war. Ich habe ein Foto von ihr. Mein Vater sagte, ihr Vater habe sie immer in Luxushotels mitgenommen, wenn er auf Reisen war, in sein Doppelzimmer.« Ich lachte. »In Griechenland gab es einen Mann«, sagte ich, »der war unsterblich gemacht worden von den Göttern. Er hüpfte herum und freute sich. Er verwechselte sein Privileg und meinte, er kann fliegen. Er sprang von der Akropolis herunter. Man fand ihn mit zerschmetterten Knochen, einen versplitter-
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ten Bluthaufen. Er lebte dann in einem Blechkasten, er war nicht umzubringen, er lebt heute noch. Er schreit und schreit, aber nur einmal in der Woche kommt jemand und kippt das Wasser aus dem Blechkasten und spritzt ihn mit kaltem Wasser ab.« Der junge Mann nickte. Sein dem Feuer zugewandter Arm war rot vor Hitze. Ich goß ihm das Glas voll. »Trink«, sagte ich. »Trinken Sie.« Der junge Mann nahm das Glas. Ich hob meines. Karl zwinkerte mir zu. Ich sah, daß er, im Schutz der Tischplatte, beide Oberschenkel vollgeschrieben hatte. Ich tippte mit dem Zeigefinger gegen meine Stirn. »Meine Vorfahren starben so«, sagte ich zum jungen Mann. »Meine erste Großmutter schaute den Vögeln im Futterhäuschen vor ihrem Fenster zu, wie sie hüpften und pickten. Sie hätte sie gern gestreichelt, aber sie konnte sich nicht vorbeugen. Als sie starb, hörten die Vögel nicht auf zu picken und hüpfen.« Ich kratzte mich zwischen den Beinen. »Meine zweite Großmutter schrie tagelang. Man gab ihr Spritzen und schloß sie hinter Doppeltüren ein. Mein erster Großvater spazierte, als alter Mann, durch denselben Park, durch den er als Kind mit einer im Hals querstehenden Fischgräte gerannt war. Plötzlich dachte er wieder daran. Er griff sich an den Hals, stürzte um und war tot. Mein zweiter Großvater wäre an Lungenkrebs gestorben, wenn er nicht eine zu starke Dosis Morphium genommen hätte.« »Die Überlebenden von Pompeji sprachen nie von ihren Toten«, sagte Karl und trank sein Glas aus. Er stand auf und ging zum Faß. »Sie tanzten nackt auf der erkalteten Lava herum. Die Frauen waren die schärfsten der römischen Welt, und die Männer die wildesten.« »Was haben Sie da auf den Beinen?« sagte der junge Mann. Karl sah an sich hinunter. »Das?« sagte er. »Das ist eine alte
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Tätowierung. Ich ließ mir meine erste Story in die Haut einbrennen, verstehen Sie.« »Oh«, sagte der junge Mann. Karl nickte und sagte: »Ich bin einmal im Winter zusammen mit einer Frau in einem zugefrorenen See eingebrochen. Wir verschwanden unter berstenden Eisschollen. Wir krochen an Land. Auf dem Heimweg wurden wir immer kälter und steifer. Wir bewegten uns wie Ritter in Rüstungen. Zu Hause stellten wir uns unter eine heiße Dusche, und es hat uns gar nichts gemacht.« »Wirklich?« sagte der junge Mann und starrte Karl an, der sich, mit einem vollen Glas in der Hand, an die Drahtharfe setzte. Er spielte wilde Akkorde, stampfte mit den Beinen den Takt und sang. In den Gesangspausen trank er. »Es ist gut, daß man die Zukunft nicht kennt«, rief ich dem jungen Mann ins Ohr. Er nickte. »In Nagasaki«, rief er, »fuhr an jenem Tag ein Mann mit einem Auto 200 Kilometer nach Norden, geschäftlich. Er hörte dort oben davon. Seine Frau, sein Kind, sein Vater, seine Mutter, seine Schwester und alle seine Freunde, tot. Er hatte von niemandem ein Foto. Die Fotos waren verglüht.« Ich nickte. Karl riß an seinen Saiten. Sein Mund stand offen. Das Glas, das auf dem Holzrahmen der Harfe stand, zitterte. Ich hob mein Glas und lachte. Unsre Kleider dampften. »Prost«, rief ich. »Prost«, sagte der junge Mann und nahm sein Glas in die Hand. »Ich meine, der Mann aus Nagasaki vergaß, wie seine Frau und sein Kind aussahen. Er konnte sich nicht mehr an ihre Stimmen erinnern. Er versuchte es, stundenlang. Nur manchmal, wie ein Blitz, hörte er sie, deutlich, nah und heftig. Das ist alles wahr.« Ich stand auf, ging schwankend durch die Küche zum Faß und goß mir mein Glas voll. »In Japan werden jetzt Japaner
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gebaut«, rief ich, »die haben ihren Fotoapparat nicht mehr über dem Bauch hängen. Sie haben ihn in sich eingebaut. Wenn sie mit den Augen zwinkern, gibt es ein Bild. Jeden Abend ziehen sie sich den belichteten Film aus dem Arschloch und schauen, wie der Tag gewesen ist.« Ich ging, mich an den Wänden abstützend, zum Fenster und sah, daß die Sonne hinter dem Horizont unterging. Sie beleuchtete den fernen Grabhügel, über dem Vögel kreisten. Der Spaten glänzte, ein roter Dorn. Langsam verschwand die Sonne, und der Schnee über der Ebene wurde blau. »Ich«, sagte ich und wandte mich dem jungen Mann zu. Da sah ich, daß dieser mit Karl durch die Küche tanzte, wie eine argentinische Tangopartnerin. Beide sangen, Karl tief, der junge Mann hoch, sie machten langbeinige Schritte, und zuweilen beugte sich der junge Mann nach hinten, bis fast zum Boden. Mit zackigen Schritten stelzten sie weiter. Ich lachte und sah ihnen zu. Ich trank mein Glas leer. Dann ging ich zur Tür hinaus, in mein Zimmer. Ich warf die Tür hinter mir zu. Leise hörte ich das Tangogebrüll der beiden. Ich hielt mir die Ohren zu.
20 Ich sah in die dunkle Nacht hinaus. Ich hämmerte mit den Fäusten gegen die Fensterrahmen. Die Adern an meinen Schläfen pochten, und ich wackelte mit meinem Kopf hin und her, bis meine Nackengelenke knackten. »Rrr«, sagte ich, riß den Reißverschluß der Reisetasche auf und holte meinen Anorak heraus. Er war zerrissen und roch nach Schimmel. Die Kletterhosen hatten ein zerfetztes Bein. Die Bergschuhe waren blutverschmiert. Das rote Seil faserte an mehreren Stellen, und aus den heizbaren Socken ragten Heizdrähte. >Meine ganze Ausrüstung ist verrottet<, dachte ich. >Ich bin unfähig, meine 54
Sachen so zu pflegen, wie es sich gehört.< Ich zog mich um. Über einem Talglicht schwärzte ich ein Glas, kratzte den Ruß ab und schmierte ihn mir ins Gesicht. Ich beugte mich wieder über die Reisetasche und wühlte meine Hände durch Socken, Hemden und Taschentücher, bis sie den Eispickel spürten. Ich zog ihn hervor. Er war rostig. Ich sah ihn zärtlich an. Dann hieb ich ihn mit einem wilden Schlag ins Parkett. Das Holz zersplitterte. »Ha!« rief ich, packte ein Parkettbrett und riß es heraus. Staub wirbelte auf. Ich schlug wie wild auf den Fußboden ein. Als ich spürte, daß die Pickelspitze durch den Boden gedrungen war, warf ich mich auf den Boden, preßte die Nase auf das augengroße Loch und sog die Luft ein. Was für Gerüche! Ich stand schnell auf, packte den Pickel und schlug auf den Boden ein, bis ich ein großes Loch herausgewuchtet hatte. Ich schnaufte. Ich ließ mich in das dunkle Loch hineingleiten. Auf meine Ellbogen aufgestützt hing ich darin, baumelte mit den Beinen und sah in das vor mir brennende Talglicht hinein. »Hoffentlich ist das kein Sodbrunnen«, murmelte ich und ließ mich los. Ich krachte auf einem harten Fußboden auf. Unbeweglich, ohne zu atmen, stand ich da und lauschte. Alles war still, von ganz fern nur hörte ich Karl und den jungen Mann, wie sie ein neues Lied sangen. Ich holte tief Luft, tastete alle meine Knochen ab und massierte die Knöchel. Alles war dunkel um mich herum. >Ich hätte das Licht mitnehmen sollen<, dachte ich. Ich machte schmale Augenschlitze, tastete mich die Wände entlang, und als ich eine Tür spürte, öffnete ich sie. Auch draußen war alles dunkel. Ich tastete mich nach links, eine Wand entlang, bis ich eine zweite Tür spürte. Vorsichtig drückte ich die Klinke nach unten und drückte die Tür auf. Sie quietschte, und ein heftiger Geruch fuhr mir in die Nase. >Das sind<, dachte ich, >das sind Tomaten.< Ich starrte mit klopfendem Herzen in die Dunkelheit hinein, während ich mit vorge-
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streckten Armen vorwärtsschlich. Ich hörte ein Stöhnen. Ich erstarrte und lauschte. Nun hörte ich leise, regelmäßige Atemzüge. Zentimeterweise tastete ich mich vorwärts, bis ich gegen ein Bettlaken stieß und die warme Haut eines schlafenden Menschen. Minutenlang stand ich unbeweglich da. Dann fuhr ich mit meinen Fingern die Haut entlang aufwärts, ein haariges Bein entlang, eine Hüfte, eine Brust, bis zu einem Kopf mit kurzgeschorenen Haaren und einer Glatze. Es war ein Mann. Ich roch seinen Geruch. Ich streckte meine Hand weiter aus und spürte, neben seinem Kopf, die langen Haare einer schlafenden Frau. Ihre Stirn war heiß und naß. Sie atmete mit langen Atemzügen. Mein Herz klopfte. Unendlich vorsichtig fuhr ich mit einem zarten Finger über ihre weiche Wange, über ihr Kinn, ihren Hals, ihre heiße Brust, die sich, während sie atmete, hob und senkte. Dann richtete ich mich auf und schlich zum Zimmer hinaus. Ich huschte unter mein Loch, hangelte mich hinauf, deckte es mit den Brettern und dem Teppich zu und setzte mich auf mein Bett. Ich zitterte. Langsam zog ich meine Ausrüstung aus, rieb mit einem Taschentuch mein Gesicht sauber und lauschte. In der Küche sangen Karl und der junge Mann. Ich legte mich aufs Bett. Während ich einschlief, hörte ich das rhythmische Schlurfen der Tangoschritte meiner Freunde in der Küche.
21 >Gottseidank habe ich das alles hinter mir<, denke ich jetzt, nachdem ich geschrieben habe, wie, während ich einschlief, Karl und der junge Mann durch die Küche tanzten. Ich schüttle den Kopf, reiße das Papier aus der Schreibmaschine, lege es in den Klarsichtschuber, in dem die andern Manuskriptseiten liegen, und stehe vom Schreibtisch auf. Ich stelle den 56
Transistorradio mit der Hitparade ab. Ich nehme eine Traubenzuckertablette und stecke sie in den Mund. Ich sehe zum Fenster hinaus. Mein Rücken schmerzt mich, und ich mache ein paar wippende Bewegungen. Ich drehe meinen Nacken hin und her, bis die Wirbel knacken. Dann gehe ich in die Küche. Anna steht, mit einem roten Tuch über den Haaren, auf einem Küchenhocker und sprayt Fliegen tot. Ich huste, und meine Augen beginnen zu tränen. Schnell gehe ich zum Fenster und öffne es. Ich niese. »Das Gute am Leben in der Stadt ist, daß es hier keinen Heuschnupfen gibt«, sage ich. »Auf dem Land herrscht ein ständiger Existenzkampf. Hier kommt die Post jeden Morgen, aus dem Wasserhahn strömt immer heißes Wasser, die Heizung heizt, es gibt keine Tiere, und irgendwie ist es ein schönes Gefühl, seine Steuern bezahlt zu haben.« »Das stimmt«, sagt Anna und steigt vom Hocker herunter und stellt die Spraydose auf den Tisch, neben einen Zwetschgenkuchen. Sie nimmt das Tuch vom Kopf. »Im Büro bin ich mit Freundinnen zusammen. Natürlich haben wir meistens die Stöpsel der Diktiergeräte im Ohr. Aber wenn wir gleichzeitig das Band wechseln, reden wir miteinander.« Ich streichle Annas Wange. Sie nimmt mit Daumen und Zeigefinger eine Fliege vom Zwetschgenkuchen, holt ein Messer aus der Tischschublade und schneidet zwei Stücke ab. Sie legt sie auf zwei Teller. »Danke«, sage ich. Ich esse. Ich spüre ein Prickeln im Gaumen. Ich schlucke und sehe Anna zu, wie sie sich ein Stück Kuchen in den Mund steckt und kaut. Ich streichle ihre Hand. Mein Rücken schmerzt mich. »Ich mag das, einen klaren Rhythmus in meinem Tag«, sage ich. »Ich stehe früh auf, esse mittags einen Quark, trinke um fünf einen Tee, und schreibe mein Buch.« »Was hat es denn für einen Titel?« sagt Anna mit vollem
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Mund. »Keinen, bis jetzt«, sage ich. »Wenn ich eine Tochter hätte, würde ich sie Fanny taufen.« »Fanny ist ein schöner Name«, sagt Anna. Sie nimmt eine Zeitung, faltet sie zusammen und schlägt nach einer durch die Luft torkelnden Fliege. Diese fällt in ihren Teller. Ich atme tief ein. »Meinst du, es gibt Leben auf dem Mars?« sage ich. »Die Amerikaner glauben, daß sie dort Lanzettfischchen oder Moose finden.« »Ich habe eben daran gedacht«, sagt Anna und löst ihren Blick von der toten Fliege, »daß ich vor älteren Männern immer wie ein kleines Mädchen werde.« »Du?« sage ich. Anna schiebt die Teller zusammen und geht zum Spülstein. Sie läßt Wasser über sie laufen und wäscht sie mit dem Handballen ab. Ich setze mich auf die Fensterbrüstung und sehe auf die Straße hinunter. »Ist dir auch schon aufgefallen«, sage ich, »wieviele Japaner es in Frankfurt gibt? Jeden Tag sind es ein paar mehr. Sie stehen hinter allen Bankschaltern und lächeln. Sogar im Hallenbad ist ein schlitzäugiger Bademeister.« »Wirklich?« sagt Anna. »Sie sind unheimlich gut geschult«, sage ich. »Sie können Skat spielen. Sie sagen Gedichte von Johann Peter Hebel auf, akzentfrei. Sie kennen alle Wechselkurse auswendig. In Japan gibt es sicher nicht so viele Deutsche.« Ich beuge mich zum Fenster hinaus und sehe in das Bürohaus gegenüber, in dem Putzfrauen durch Korridore gehen, mit Staubsaugern, die so groß wie Traktoren sind. »In den Romanen Karls gab es Menschen«, sage ich, »die waren synthetisch hergestellt. In einem Roman gab es eine ganze synthetische Erdbevölkerung, weil die wirklichen Menschen ihre Weltraumfeinde täuschen wollten. Die synthetischen Menschen taten die verschiedenartigsten
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Dinge, arbeiten, lieben, Bier trinken. Daß sie vorprogrammiert waren, merkte nur, wer am nächsten Tag zur selben Zeit am selben Ort war. Dann kamen die gleichen Menschen wieder daher und sagten und taten das gleiche wie am Tag zuvor. Jeden Tag. Völlig irrsinnig.«
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Tatsächlich war in einem Roman Karls die Erde eines Tags so schwer geworden, daß sie langsam aus ihrer Umlaufbahn um die Sonne getrieben wurde. Die Menschen merkten es daran, daß es immer kälter wurde, die Wissenschaftler sahen es auf ihren Instrumenten. Die Tragödie hing damit zusammen, daß die Ernten weltweit größer wurden, so daß überall gleichzeitig aus hauchleichten Samenkörnern tonnenschwere Maise, Sonnenblumen, Gurken, Melonen wuchsen. Als der Anziehungskontakt zur Sonne riß, raste die Erde steuerlos ins schwarze Weltall hinaus. Die entsetzten Menschen sahen, wie die Sonne klein und kleiner wurde, ein glühender Teller zuerst, dann ein leuchtender Ball, schließlich ein gelber Stecknadelkopf. Die Menschen klammerten sich aneinander und sahen, wie die Sonne erlosch, weit hinten am Horizont. Die Erde überzog sich sofort mit einer meterdicken Eisschicht. Millionen von Menschen erfroren. Alle Flugzeuge stürzten ab. Die Menschen in den Häusern schalteten ihre Heizungen auf volle Kraft, und einigen gelang es, den Wettlauf mit der Kälte zu gewinnen. Sie gruben sich durch ihre Keller nach unten, auf das Magma zu, bis sie so nahe drauf waren, daß ihre Wohnhöhlen von unten her erwärmt wurden. Sie kochten in Löchern, die so dicht über dem Magma lagen, daß der Boden glühte. Hin und wieder rüsteten sie eine Expedition aus, deren Mitglieder, in Pelze gehüllt, durch die Abstiegsstollen nach
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oben stiegen, die alten Treppen hinauf, in die Keller. Ihre Herzen erschauerten, wenn sie die von blauem Eis überzogenen Urgroßeltern sahen, die sich an Heizwände krallten. Sie packten dann alles Eßbare in große Säcke, die Inhalte alter Eisschränke, die Reste aus Betriebskantinen, erfrorene Hasen und Katzen. Durch gläserne Dachluken sahen sie nach oben in meterdickes Eis, über dem das tödliche Schwarz des Weltallhimmels war, durch den die Erde raste, ohne Ziel, ohne Bahn, ohne Licht. Die Menschen bauten ein Grottensystem, hautnah über dem Magma. Zuweilen brach jemand ein. Feuerfahnen schossen dann in die Höhlen hinein, und die Überlebenden sahen die hochgereckten Hände des schreienden Freunds in der glühenden Lava verschwinden. Mit angesengten Augenbrauen flohen sie aus der Unglückshöhle. Sie hatten jetzt alle Häute wie Grottenolme. Nie mehr stieg jemand jemals nach oben, in das fürchterliche Eis. Dann, nach Jahrhunderten, fanden Kinder in einer Ecke einer dunklen Vorratshöhle staubige Pelze, Handschuhe, Fellstiefel. Sie konnten sich nicht erklären, was das war. Sie zogen alles an. Sie sahen jetzt aus wie die Wesen auf den Bildern ihrer Märchenbücher. In diesen standen alte Sagen von Treppen, die aus ihrer Welt in eine andre führten, in eine Hölle aus Tod, Eis und Nichts. Es gab aber auch Legenden von Licht, Sonne und Hainen. Die Kinder begannen stumm und wild Kisten und Schränke wegzuräumen. Sie fanden das Aufstiegsloch, von Spinnweben verhängt. Ihre Herzen klopften. Sie fühlten einen leisen Lufthauch auf den Gesichtern. Mit starr nach oben gerichteten Augen stiegen sie die Gänge hinauf. Sie hielten die Gesichtstücher bereit, für wenn der Überfall der kalten Luftströme käme. Sie schwitzten. Nach Stunden setzten sie sich auf eine Treppenstufe und sahen sich an. »Es ist heiß hier oben«, sagten sie leise, »nicht kalt.«
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Sie öffneten die Pelzkragen. Trotz allen innern Warnungen zogen sie die Handschuhe aus. Sie stiegen weiter, bis sie in einen Raum kamen, in dem, von einer Staubschicht überzogen, große Metallschränke standen. Auf diesen standen verrostete Buchstaben in einer uralten Schrift, wie in ihren ältesten Historiendrucken: ein D, ein e, ein u, ein t, ein s, ein c, ein h, ein e, ein B, ein a, ein n, ein k. Die Kinder sahen sich an. »Deutsche Bank?« sagten sie. »Was ist denn das?« Sie stiegen eine Treppe hinauf. Plötzlich sahen sie, daß gleißendes Licht auf die oberste Treppenstufe fiel. Sie schrien auf. Sie hatten so etwas noch nie gesehen. Geblendet hielten sie die Arme vor die Augen. Sie wimmerten. Dann wagten sie es, durch ihre Fingerlücken zu spähen. Sie standen in einer großen Halle, in der, vor und hinter langen Schalterreihen, Skelette lagen. Die Halle war von einer Glaswand umgeben, und eine große Glastür, auf der stand, führte ins Freie. Die Kinder warfen ihre Pelze fort. Nackt wälzten sie sich im Gras. Sie starrten auf Bäume und Büsche und eine glühende rote Sonne. Sie wußten nicht, daß die Erde in ein anderes Sonnensystem hineingeraten war. Sie atmeten, schwammen, aßen und schliefen. Dann, nach drei Tagen, sagte eines: »Ich möchte zu meiner Mami und zu meinem Papi.« Alle Kinder standen auf und gingen zum Abstiegsloch im Tresorraum der Deutschen Bank. Unterwegs zogen sie die Fellkleider wieder an. Still ließen sie das Donnerwetter der Eltern über sich ergehen. »Aber da oben«, sagten sie dann leise, »ist gar kein Eis. Schaut doch unsre Haut an.« Die Eltern fuhren hoch vor Zorn. Sie preßten den Kindern das Versprechen ab, nie mehr, nie mehr so etwas zu tun. Die Kinder dachten oft an die rote Sonne. Sie wurden erwachsen. Immer öfter dachten sie, sie hätten sich alles nur eingebildet. In ihren Träumen sahen sie zuweilen die Welt von oben wieder. Sie wälzten sich in ihren Betten herum, schwitzend, zehn Zentimeter über dem brodelnden Magma.
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Am späten Morgen des fünften Tags saß ich am Boden meines Zimmers und nähte die Risse meines Anoraks zusammen. Eine warme Sonne schien durchs Fenster. Ich sah meinen riesenhaften Schatten an der Wand, meine weitausholenden Armbewegungen, wenn ich den Faden durch den Segeltuchstoff zog. Ich machte einen Knoten und biß den Faden ab. Vor mir lagen das verstärkte Notseil, eine Strickleiter, die geputzten Kletterschuhe, ein Notizblock und ein Filzstift, mein Fotoapparat, drei Filme, eine Gesichtsmaske aus einem Strumpf, in den ich Sehschlitze geschnitten hatte, Handschuhe gegen Fingerabdrücke. >Gestern bin ich schon fast zu weit gegangen< dachte ich. Ich zog mich an, schob den Teppich und die Holzbohlen vom Loch, ließ die Strickleiter hinunter und kletterte in die untere Wohnung. Ich lauschte. Alles war ruhig. Ich stand in einem Zimmer mit einer cremefarbenen Wickelkommode, einem weißen Gitterbett, von dessen Metall die Farbe abblätterte, einem Wandteppich, der zerschnitten war. Auf einem Fensterbrett standen die Blechwaggons einer Spieleisenbahn, und in einer Zimmerecke stand ein braunes Schucoauto. Ich lächelte. Ich ging durch die Tür und öffnete sie leise. Ich schnupperte. Der Korridor vor mir war leer. Ich hielt die Hände waagrecht vor mich hin, und als sie nicht zitterten, trat ich hinein. Schnell öffnete ich die Tür links von mir. Ich huschte ins Zimmer hinein. Vor mir stand ein gefaserter Nußbaumschrank, und ich sah mich in einem mannshohen Spiegel: einen vermummten Zwerg mit Maske, in einem zu kleinen Anorak und Schuhen, deren Spitzen nach oben schauten. Ich riß meine Maske vom Gesicht, steckte sie in die Tasche, schnitt eine Grimasse und sah zu dem Bett von gestern hinüber. Es war leer. Die Leintücher waren zerknittert. Ich legte die Hände darauf und spürte die Wärme. Ich roch an den Leintüchern. Ich drehte mich um und sah auf den Fensterbrettern auf hellen Holzrosten halbrote Tomaten. »Riechen schlafende Menschen
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so?« dachte ich. Langsam ging ich in den Korridor zurück, durch ihn hindurch bis zu einer halboffenen Tür. Ich hörte einen Knall. Ich spähte durch den Türspalt. Sonnenlicht stach mich in die Augen. Gelbe Schwefelwolken zogen durch das Zimmer, und eine Männerstimme fluchte vor sich hin. Sie hustete, und als mich die Schwefelwolke erreichte, versuchte ich, im gleichen Rhythmus wie der Mann zu husten. >Nicht jeder Versuch kann gelingen<, dachte ich. >Hoffentlich hat er sich keinen Körperteil abgesprengte Ich sah einen großen Perserteppich, ein riesenhaftes Grammofon mit drei Lautsprechern, eine lange Reihe schwarzer Schallplatten und einen kleinen Plattenreiniger aus grünem Samt. Vor einem großen Fenster standen Polstersessel mit Chromstahlbeinen, eine Couch mit einer marokkanischen Decke, ein schwarzer runder Tisch. Darauf standen eine Glaskugel voller Kaffee und eine Tasse aus weißem Porzellan. In einem Aschenbecher rauchte ein Zigarettenstummel. Daneben lag eine gelbe Schachtel mit Zigaretten. Ich hustete. Aus einer Nische hörte ich ein Hämmern. Ich sah den Rücken eines Mannes, der an einem mit Flaschen übersäten Labortisch saß. Er schlug mit einem Hammer auf ein Metallstück. Gelber Dampf lag in der Luft über seiner Glatze. >Das ist der Mann aus dem Bett<, dachte ich. Ich nahm die Kamera, legte einen Film ein, zog den Balg heraus, stellte die Hebel auf 1:25 und vier Meter, spannte den Verschluß, zielte, drückte ab und schob den Balg wieder zurück. Ohne den Mann aus den Augen zu lassen, ging ich rückwärts zum Tisch. Ohne einen Blick von ihm zu wenden, tunkte ich einen Zuckerwürfel in den Kaffee und aß ihn. Ich stöhnte in mich hinein. Ich huschte zu einer Tür, die auf eine Terrasse hinausführte. Der Schnee glänzte im Mittagslicht der Sonne. Ich bückte mich und fühlte, nachdem ich den Schnee weggekratzt hatte, die feinen Körner der Steine des Terrassenbodens. Witternd ging
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ich einige Stufen bis in den Garten hinunter. Vor mir wuchsen Birken, und als ich an ihnen hochsah, sah ich die Fenster unsrer Wohnung. >Vielleicht steht Karl am Fenster und sieht mir nach<, dachte ich und winkte. Ich schlich im frischen Schnee die Terrasse entlang bis zu einer Rabatte mit dürren Dahlienstauden. Vor mir lag der Garten: die aus dem Schnee ragenden Kartoffeln, die vertrockneten Tomaten, der Schuppen, die Wassertonne, der Hundezwinger, und ganz hinten der riesenhafte kahle Nußbaum, auf dem auch jetzt schwarze Krähen hockten. Plötzlich sah ich neben dem Schuppen eine Frau, und neben ihr einen Mann. Die Frau hatte rotbraune, lange Haare und trug, über einem braunen Rock, eine grüne Gärtnerschürze. Der Mann war groß und schlaksig, er trug eine Brille und eine blaue Arbeitshose. Auf einer Wange hatte er ein Pflaster. Die beiden schrien sich an, mit roten Gesichtern. In den Händen hielten sie dürre Tomatenstauden. Ich huschte von Busch zu Busch. Ich fotografierte die beiden durch die Blätter hindurch, mit Blende 11, einem Hundertstel und ∞. Ich kroch zwischen den Holzstangen, an denen, mit gelbem Bast, die Tomatenstauden angebunden waren. Meine Ellbogen und Kniee lagen in einem kalten Schneematsch. Kreischende Sperlinge flogen über mir. Als ich den Kopf hob, sah ich, daß der Mann die Frau an der Hand in den Schuppen zog. Er schloß die Brettertür. Ich stand auf und rannte, gebückt, über den Schnee zur Schuppenwand. Ich drückte mein Ohr gegen die Bretter. Ich hörte tuschelnde Stimmen. Die Frau lachte leise. Ich preßte mein Auge an eine Lücke zwischen den Brettern, dann nahm ich schnell den Fotoapparat und hielt ihn vor das Loch. Ich öffnete die Blende ganz weit und stellte die Distanz auf einen Meter. Ich schoß eine Aufnahme nach der andern. In meinen Ohren hörte ich ein Sausen. Nach Stunden sah ich den Mann aus dem Schuppen kommen, mit der Brille in
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der Hand, und hinter ihm die Frau. Sie hatte zerzauste Haare und ein ernstes Gesicht. Langsam gingen beide zu den Tomatenstauden und begannen, die Stangen und Stauden aus dem harten Boden zu reißen. Beide hatten rote Gesichter, während sie an dem Kraut rissen. Ich rannte durch den Schnee davon, ohne Deckung, durch die Kartoffeln, über die Dahlienrabatte, an den Birken vorbei, die Terrassentreppe hinauf, durch das Zimmer mit dem Mann am Labortisch, in den Korridor und das Zimmer mit der Strickleiter. Ich hangelte mich hinauf, zog die Strickleiter hoch, deckte das Loch zu, riß mir meine Kleider vom Leib und warf sie in die Reisetasche. Weinend stand ich im Zimmer. Die Sonne stand über dem Horizont. Ich wischte meine Tränen weg und ging in die Küche, wo Karl am Tisch saß, über einen Stadtplan gebeugt, mit einem spitzen Bleistift in der Hand. Ich hob den Wassereimer hoch und goß mir Wasser über den Kopf. Blind tappte ich durch die Küche, zum Haken mit dem Handtuch.
24 Ich rieb mir mein Gesicht trocken, und als ich ruhiger atmete, stellte ich mich neben Karl an den Küchentisch und blickte auf den Stadtplan, auf dem Karl mit dem Bleistift die Straßen entlangfuhr, langsam und sorgfältig. »Ohne mich verirrst du dich«, sagte ich. »Wir könnten getrennt werden«, sagte Karl. »Wieso denn das?« sagte ich und sah ihn an. Ich ging zum Küchenbuffet, nahm die Entwicklerbüchse und drei Tonschalen heraus, stellte sie auf den Tisch und nahm den Entwickler und das Fixiersalz aus der Fototasche. Ich präparierte das Entwicklerbad, die Fixierlösung und eine Schale mit reinem Wasser. Ich deckte das Talglicht mit rotem Zellophanpapier ab. Ich 65
zog die Vorhänge vor die Fenster. »Ich habe auf der Jagd ein paar Tieraufnahmen gemacht«, sagte ich. »Es stört dich doch nicht, wenn ich sie entwickle?« »Nein«, sagte Karl und sah vom Stadtplan hoch. Er schob ihn näher ans rote Licht heran. »Ich beobachte den jungen Mann. Er geht jeden Tag mit dicken, versiegelten Paketen in die Stadt hinunter. Am Abend kommt er mit vollen Einkaufstüten zurück.« »Und?« sagte ich. »Tun wir das etwa?« sagte Karl und klemmte sich das Monokel ins Auge. Er beugte sich tief über den Tisch. Ich öffnete meinen Fotoapparat und holte den belichteten Film heraus. Ich legte ihn in die Entwicklerbüchse. Ich schüttelte sie und zählte leise bis dreißig. Dann zog ich den Film heraus, hielt ihn gegen das rote Licht und sah die Negative an. Meine Hand zitterte. Karl brummelte vor sich hin. »Weißt du, warum deine Bücher so gut sind?« sagte ich. »Weil du genau weißt, was du willst.« Ich starrte die Schattenbilder auf dem Film an. Ich hatte Sterne vor den Augen. »Was?« sagte Karl. »Du hast gelebt, Elend, Krieg, Not«, sagte ich und wischte mir mit der Hand über die Stirn. »Deine Romane sind das Tollste, was ich kenne. Zum Beispiel die Geschichte, wo ein Amerikaner sich auf einem fremden Planeten in ein gallertartiges Mädchen verliebt. Er überzeugt sie, daß sie mit ihm zur Erde fliegen muß, um seinen Eltern und Freunden zu zeigen, wie gut man mit einem Körper und Gehirn aus Gelee leben kann.« »Ich erinnere mich«, sagte Karl, legte den Bleistift auf den Stadtplan und sah mich an. »Ein Dichter, der das Leben nicht mag, ist kein Dichter«, sagte ich und nahm das Fotopapier aus der Kodakschachtel. Ich schnitt das erste Negativ vom Film, legte es auf das Fotopapier, stellte das Talglicht daneben, nahm den roten Zellophanschutz
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ab und zählte bis zwanzig. Dann stülpte ich das Zellophan wieder darüber und legte das Papier in den Entwickler. Das Talglicht rauchte. »Meine Sachen gefallen dir?« sagte Karl. Ich starrte auf das Fotopapier im Entwicklerbad, auf dem langsam undeutliche Konturen sichtbar wurden. Mein Herz schlug wild. Ich spürte den Schweiß auf meiner Stirn. Als ich das Bild genau sah, nahm ich es heraus, legte es ins Fixierbad und dann in die Schale mit dem Wasser. »Du bist mein einziger Leser«, sagte Karl. Ich nahm das zweite Negativ und belichtete es. Ich konnte den Blick nicht vom ersten Bild wenden. Ich spürte, daß meine Knie bebten. Das Bild wurde langsam sichtbar, die Köpfe des Mannes und der Frau im Schuppen. »Alles hilft nichts«, sagte Karl. »Oder wenig.« Sorgfältig, mit unsicheren Händen, legte ich die fertig entwickelten Bilder nebeneinander auf den Tisch, in der richtigen Reihenfolge. Ich starrte darauf. Karl stand auf, kam um den Tisch herum und stellte sich neben mich. Er kratzte sich in den Haaren. Ich sah ihn von der Seite an. >Ich liebe ihn<, dachte ich. >Ich will immer bei ihm bleiben.< Ich hustete. Karl lachte und sah mich an. »Was sind denn das für Tiere?« sagte er.
25 Karl und ich lagen hinter einem Gebüsch im Schnee und sahen, über sonnenbeschienene Ackerfurchen, zum Haus hinüber. Karl hatte ein Fernrohr durch die Blätter geschoben und drehte an der Optik herum. Krähen hüpften im Schnee herum, und in der Ferne, jenseits des Hauses, kreisten die Möwen über den Felsen. »Achtung«, murmelte Karl und 67
nahm das Fernrohr vom Auge, um besser sehen zu können. Ich sah den jungen Mann, der aus der Haustür trat und über den Plattenweg zum Gartentor ging. Er trug einen grauen Anzug, einen Hut und einen kleinen schwarzen Koffer in der rechten Hand. Er schlug das Gatter hinter sich zu und ging mit langen, sicheren Schritten über den schneeweißen Acker davon. »Er geht zu den Felsen«, flüsterte ich. »Er kennt den Weg in die Stadt.« Karl nickte. Er stand auf. Er trug eine grüne Jägerjacke, einen Filzhut mit einem Rehbockbart, Lodenknickerbocker, rote Wandersocken und hohe Schuhe. In der Hand hielt er einen Stock. Das Fernrohr hing an einer Lederschlaufe um seinen Hals. Ich trug meinen Anorak, Cordhosen, die Militärschuhe mit den Nagelsohlen und einen Rucksack. Auch ich hatte einen Spazierstock. Wir huschten den Spuren des jungen Mannes nach, immer bereit, uns in den hohen Schnee zu werfen. Der junge Mann ging weit vor uns über die Ebene, unbeirrbar. Wir sahen, wie er unter den Bäumen am Rand der Felsabbrüche verschwand. Wir hörten das Schreien der Möwen. Wir rannten jetzt. Unsre Schuhe dröhnten. »Was, wenn er unter den Bäumen steht und auf uns schießt?« keuchte Karl. »Blödsinn«, rief ich, mit angewinkelten Armen laufend. »Er denkt nicht an uns. Er geht in die Stadt und freut sich auf die Trams mit den luftigen Vorhängen, die Autos mit den großen Kübeln am Heck, die Zauberläden, die Frauen, die überall auf Parkbänken sitzen.« Ich blieb außer Atem stehen. Wir kletterten, uns an Ästen und Nagelfluhbrocken haltend, die Felsen hinunter. Die Vögel kreischten. Äste schlugen uns ins Gesicht. Unter uns hörten wir, immer näher, Verkehrslärm. Auf dem Hintern glitten wir eine lange Runse hinunter und stürzten auf eine breite asphaltierte Straße. Zwei Schulkinder,
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die Schulranzen mit Streifen aus oranger Leuchtfarbe trugen, sahen uns mit großen Augen an. Wir klopften unsre Hosen sauber. Dann rannten wir die Straße hinunter. Meine Nagelschuhe donnerten. Der junge Mann stand weit unten an einer Ampel und wartete. Wir gingen gebückt hinter zwei Frauen mit Einkaufstaschen. Als die Ampel auf Grün wechselte, überquerten wir die Straße. Wir gingen, immer hinter dem jungen Mann, durch eine breite Straße, auf der ein Lastzug nach dem andern fuhr, an einem Hochhaus vorbei, auf dessen Terrassen Kinderwagen und Wäschehalter standen, über einen Parkplatz voller Autos, durch eine Unterführung, auf deren Betonwänden Inschriften aufgesprayt waren, an einer Bank vorbei, vor der zwei Polizisten mit Maschinenpistolen patrouillierten, vorbei an einem Restaurant, in dem ein Mann aus einer tomatenförmigen roten Plastikflasche Ketchup über ein Hühnerbein drückte. Schließlich ging der junge Mann eine breite Treppe zu einem hohen Gebäude aus Glas hinauf. Er ging durch eine große Glastür. Wir kauerten uns hinter eine Zementschale, in der Reste von Stiefmütterchen aus dem Schnee ragten. »Was ist das für ein Haus?« flüsterte Karl. »Hoffmann-La Roche«, sagte ich. »Chemie. Sie stellen Beruhigungsmittel her, und Rasierschaum, und Babynahrung, und Vitamine.« Karl legte das Fernrohr auf den Rand der Zementschale, räumte mit einer Hand den Schnee vor der Linse weg und sah hindurch. »Er steht an einem Empfangspult und spricht mit einer Dame«, sagte er. Ich sah über eine breite Straße zum Gebäude hinüber, aber ich konnte hinter dem spiegelnden Glas nichts erkennen. »Sie telefoniert«, sagte Karl. »Jetzt geht er weg, zu einem Lift. Er geht hinein. Die Lifttür geht zu. Weg.« Er setzte das Fernrohr ab und sah mich an. »Los«, sagte er und
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stand auf. Wir rückten unsre Kleider zurecht. Ich nahm ein trockenes Blatt von Karls Jägerjacke und rieb einen Dreckfleck weg. Ich rückte seinen Hut gerade. Er ruckte an meinem Anorak und klopfte auf meine Cordhosen. »Wir haben halt dreckige Hintern und verklumpte Schuhe, da kann man nichts machen«, sagte er. Wir gingen, die Stöcke schwingend, über die Straße, die breite Treppe hinauf, durch die Glastür und die weite große Halle zum Empfangspult. Ich stellte mich hinter Karl. Karl kreuzte die Beine übereinander, lehnte sich ans Pult und schlug mit dem Knauf des Stocks auf die Glasplatte des Pults. »Bitte?« sagte die Dame dahinter und hob den Kopf. Sie trug eine weiße Bluse, durch deren Stoff ich die Träger eines weißen Büstenhalters sah. Auf ihrer Brust steckte ein Schildchen aus Plastic mit einem farbigen Foto von ihr, ihrem Namen und viereckigen Löchern. Sie sah Karl an. »Ich«, sagte Karl. »Wo ist der junge Mann da eben hingegangen, bitte?« Er klemmte sich sein Monokel ins Auge. Seine Hand zitterte. Die Dame schloß den Mund. Sie bekam einen roten Kopf und schob mit einem Ruck ihre Haare aus der Stirn. Dann sagte sie: »Von wem kommen Sie?« »Von wem?« sagte Karl. »Von uns.« Die Lippen der Dame wurden wie ein Strich. »Ich bin leider nicht befugt, über die Besucher unsres Hauses Auskunft zu geben«, sagte sie. »Warum nicht?« sagte Karl. »Bitte«, sagte die Dame. »Ich -«, sagte Karl. Die Dame nahm den Hörer eines Telefons in die Hand, wählte eine einzige Ziffer und sagte sofort: »Empfang. Ich habe hier zwei Besucher, die sich nicht abweisen lassen wollen. Sie fragen mich nach einem Besucher von Dr. Moser.« Sie schwieg und nickte. Sie sah uns an. »Sie tra-
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gen Berghosen und Wanderstöcke«, sagte sie. Sie wurde rot. »Wanderstöcke«, sagte sie laut. Sie beugte sich vor. »Alles klar«, sagte sie. »Danke.« Sie hängte ein. »Ich dachte nur -«, sagte Karl. Ich faßte ihn am Ärmel und zog ihn durch die Halle. Während wir durch die Glastür gingen, drehte ich mich um und sah, daß die Dame mit zwei großen breitschultrigen Männern in grauen Anzügen sprach. Alle drei sahen uns nach. Wir gingen die breite Treppe hinunter, schnell, die Stöcke schwingend.
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Zwei Stunden später sahen wir, von den Fenstern unsrer Wohnung aus, den jungen Mann zurückkommen. Er pflügte eine breite Spur durch den Schnee und trug seine Aktentasche und zwei Plastictüten in den Händen. Er sah müde aus. Wir hörten, wie er die Treppe hinauf ging. Wir nickten uns zu, zogen die Schuhe aus und schlichen die Stufen hinauf. Oben preßte ich mein Ohr an die Wohnungstür. Ich schrak zusammen. Ich packte Karls Ohr und zog es an meinen Mund. »Er ist nicht allein«, hauchte ich. »Er spricht.« Karl sah mich mit großen Augen an, dann preßte er sein Ohr an die Tür. Er bohrte sich mit dem Zeigefinger im andern Ohr. Er lauschte. »Er hat einen Komplizen«, flüsterte er. Ich nickte. Karl boxte mit der Faust seiner rechten Hand gegen die Handfläche seiner linken. Wir gingen zwei Meter von der Tür weg und ließen uns, die Schultern voran, gegen sie krachen. Sie fiel wie ein Brett nach innen. Mit donnernden Köpfen lagen wir darauf. Durch die Sterne vor meinen Augen hindurch sah ich die schwarzen Schuhe des jungen Mannes vor mir. Ich sah nach oben und lächelte. Karl, neben mir, stöhnte.
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Seine Nase blutete. »Warum klopfen Sie nicht?« sagte der junge Mann. »Wir haben Stimmen gehört«, sagte ich und stand auf. »Wir dachten, Sie brauchen Hilfe.« Ich rieb meine Schulter. Karl humpelte ächzend im Zimmer herum und preßte ein Taschentuch auf seine Nase. »Ach so«, sagte der junge Mann. Er ging durch eine Tür in das Zimmer, in dem ich den toten Vater auf die Couch gelegt hatte. Ich ging hinter ihm drein. An den großen Arbeitstisch gelehnt stand eine Frau. Sie war jung, klein, ein bißchen dick und trug über einem dünnen Nachthemd einen roten Bademantel, der vorn offen stand. Sie hatte lange rotbraune Haare. Ich starrte sie an. »Guten Tag«, sagte sie. »Sie sind die Frau vom Begräbnis«, sagte ich. Sie nickte. Meine Nerven surrten, und ich hörte, daß Karl im andern Zimmer Kästen und Schubladen öffnete und zuschlug. Er brummte vor sich hin. »Das ist meine Schwester«, sagte der junge Mann. Karl kam mit einem Glas mit einer gelben Flüssigkeit in der Hand ins Zimmer. Er sah uns an. »Das ist seine Schwester«, sagte ich. Karl sagte: »Ist das auch eine Erfindung von Ihrem Vater?« Die junge Frau sah Karl an, zog ihren Morgenmantel zu und hielt ihn mit beiden Händen oben am Halsausschnitt fest. Sie hatte ein ernstes Gesicht. »Das meiste, was mein Vater erfunden hat«, sagte der junge Mann, »ist längst irgendwo von irgendwem erfunden worden.« Karl schüttelte das Glas mit der Flüssigkeit und sah hindurch. »Als Einstein seinem Sohn erklärte, warum man hinter sich selber herrennt, wenn man sich schneller als das Licht bewegt, dachte der Sohn auch, der Alte spinnt«, sagte er. Er nahm sein
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von Blutflecken übersätes Taschentuch hervor, wickelte das Glas hinein und steckte beides in seine Rocktasche. Er sah die Frau an, dann sagte er: »Entschuldigen Sie bitte die Störung.« Er drehte sich um und ging durch die Tür. Wir hörten, wie er die Treppe hinunterging, mit kräftigen Schritten. »Wir könnten einmal zusammen auf die Jagd gehen«, sagte ich zur Frau und lächelte. »Das wäre praktisch, und schön.« Ich sah, daß sie, unter dem Morgenmantel, große Brüste und breite Hüften hatte. Ihre Füße waren nackt. »Gern«, sagte sie und sah mir in die Augen. »Morgen früh?« sagte ich. »Ja«, sagte sie. »Um vier?« »Um vier.« »Also bis dann«, sagte ich, drehte mich um und ging, mit einem heißen Kopf, über die zersplitterte Tür zur Wohnung hinaus, die Treppe hinunter, in die Küche. Ich setzte mich an den Tisch und goß mir ein Glas Brombeersirup ein. Vor dem Fenster schien eine helle Sonne. Ich lachte. »Das ist ein toller Tag gewesen«, sagte ich zu Karl, der jetzt in einem Matrosenleibchen und Jeans am Kochherd stand und den Inhalt des Glases in einem Wasserbad erhitzte. Mit der linken Hand blätterte er in einem Buch. Er beugte sich darüber und las. Die gelbe Flüssigkeit blubberte. Er tunkte den Finger hinein und leckte ihn ab. Ich trank mein Glas leer. Ich sang vor mich hin. »Arsenik?« sagte ich. »Orangensaft«, sagte Karl. »Jetzt müssen wir wissen, wer Dr. Moser ist.«
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Am sehr frühen Morgen des sechsten Tags lag über dem schneebedeckten Acker vor uns ein weißer Dunst, durch den die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne drangen. Es war kalt. Schwarz stand der Wald am Horizont. Rehe rannten, weit weg, durch den Schnee, mit weißen Schwanzstummeln. Unsre Schuhe knirschten auf den harten Schneekörnern. Ich hatte mein Gewehr an einem Riemen über die Schulter gehängt. Über meiner andern Schulter hing das rote Notseil, das ich zu einem Lasso geknüpft hatte. Am Gürtel hatte ich ein großes Messer. Auf meinem Rücken hing der Rucksack mit einem Frühstück und dem Locksalz. Mein Atem machte weiße Wolken. Raben flogen vor uns auf. Der Schnee war voller Spuren. Ich kniff die Augen zusammen, sah zum Wald hinüber und machte ein Gesicht, dem kein Wild entgehen konnte, kein großes, kein kleines. Ich hörte das Schlurfen der Schuhe der Frau hinter mir, und manchmal ging ich in ihren Atemwolken. »Ich war in Ihrer Wohnung, als Ihr Vater starb«, sagte ich über meine Schulter. »Und Sie?« »Ich«, sagte sie hinter mir. »Ich dachte, ich bringe das Sterben allein hinter mich.« Ich drehte mich nach ihr um, rückwärts gehend. Ihre Augen waren ernst. Sie hatte rote Wangen. Ihre Haare waren unter einem braunen Kopftuch. Sie trug einen blauen Rollkragenpullover, eine weiße Strickjacke, Blue jeans und Halbschuhe. Ihre Füße steckten in dicken Wollsocken. »Ich liebe meinen Vater«, sagte sie. Sie nahm die Hände aus den Jackentaschen und rieb sich die Wangen. Sie lächelte. »Natürlich«, sagte ich. Ich stolperte über einen Maulwurfshügel und fiel rückwärts in den Schnee. Der Schaft des Gewehrs schlug gegen meinen rechten Oberschenkel. Ich lachte mit einem schiefen Mund, während ich mich wieder aufrappelte. Der Wald war jetzt nahe. Ich machte
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große Schritte, sprang über einen Bach, reichte der Frau die Hand und zog sie mit einem kräftigen Ruck an mein Ufer. Einen Augenblick lang lag ihr Gesicht auf meiner Schulter. Wir sahen uns an. »Jetzt müssen wir still sein«, flüsterte ich. Sie nickte. Ich nahm mein Gewehr in die Hand und drang in das Unterholz des Walds ein. Wir schlichen zwischen Buchenstämmen hindurch, durch Laub, Brombeerranken, Vogelbeeren, über umgestürzte Ahorne. Ich roch alte Pilze. Ich lauschte. Vögel hüpften durch die braunen Blätter, und in der Ferne keuchten Hirsche. Ich deutete auf die Astgabel einer Eiche. Die Frau nickte. Sie faßte nach dem Ast, ich stemmte meine Handflächen gegen ihre Hinterbacken und hob sie nach oben. Ich sah ihr nach, wie sie, immer höher, hinaufkletterte. Dann schwang ich mich in die Astgabel hinauf. Mein Gewehr verhedderte sich. An einem Bein und einer Hand hängend ruckte ich daran. Schließlich saß ich neben der Frau, hoch über dem Waldboden, schnaufend. Durch die Bäume schien eine waagrechte, helle Sonne. Wildtauben gurrten. Ich blies in meine Hände. »Karl würde sterben, wenn ich wegginge«, flüsterte ich. »Ich auch. Er ist ein phantastischer Dichter.« »Ich lese wahnsinnig gern Romane«, flüsterte die Frau und berührte meine Hand. »Zum Beispiel wenn eine junge Frau einem eisgrauen Guerillero hilft, ein einsames Fort der Regierungstruppen in die Luft zu sprengen.« »Ja«, sagte ich. »In einem Roman von Karl trifft eine junge Studentin aus Knoxville, Alabama, auf einem Sonntagsspaziergang einen alten Bauern, der gerade Zuckerrüben ausmacht. Sie verlieben sich so ineinander, daß der alte Bauer in ihrem Tropenregen stark wie ein Bär wird und sie unter seinen Stürmen aufblüht wie eine Rose.« »So etwa«, sagte die Frau und sah mich an. »Wochenlang leben die junge Studentin und der alte Bauer in
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einer Hütte auf einer Waldlichtung, von Beeren und Pilzen lebend. Sie lieben sich Tag und Nacht. Nie hat der Mann eine so weiche Wonne gespürt, und nie die Frau eine so starke Kraft. Sie merken nicht, daß inzwischen ein Krieg zwischen den Menschen und Eindringlingen aus dem Andromedanebel ausgebrochen ist.« »Sicher trennt jetzt der Krieg die beiden Liebenden«, sagte die Frau. Ihre Nase glänzte in der Morgensonne, und sie lächelte. »Klar«, sagte ich. »Der alte Bauer zieht nämlich doch einmal seine Hose an und geht bis zum Waldrand, um seine Felder wenigstens von ferne zu überwachen. Da wird er von Wesen mit Tentakeln und quallenartigen Flossen gepackt und in ein Raumschiff geschleppt. Die junge Studentin sieht alles, hinter einen Eichenstamm gekauert. Sie merkt sich das Nummernschild des Raumschiffs. Dieses fliegt zum Andromedanebel, wo der Bauer in einer Fabrik arbeitet, die Viren zur Vernichtung der Erdbevölkerung herstellt. Er denkt ununterbrochen daran, wie er wieder auf die Erde zurückkommen, und die Studentin, wie sie ihren Geliebten befreien könnte.« »Phantastisch«, sagte die Frau. »Nach unendlich langen Jahren hat der alte Bauer eine Verkleidung aus Gelee, Plastic und Karton fertig und fliegt als andromedanischer Steward zur Erde zurück. Die Andromedaleute haben den Krieg längst gewonnen, und in den Kneipen von Chicago, Casablanca und Neapel sitzen jetzt überall Gäste mit grünen Köpfen und acht Armen. Der Mann geht zur Waldlichtung zurück, aber seine Geliebte ist nicht mehr da. Er sieht die Spuren ihrer Liebe, verdorrte Blumen, eine alte Zahnpastatube, den Kochtopf mit alter Pilzsuppe. Er lebt von Beeren und Wurzeln. Er frißt den Gelee seiner Verkleidung. Nachts schleicht er durch die Städte, auf der Suche nach ihr. Er ist jetzt sehr alt. Er hat einen struppigen Bart und wunde Füße. Da, an einem Früh-
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lingsabend, sieht er seine Frau plötzlich.« »Woran erkennt er sie?« sagte die Frau. »Am Gefühl eines Blitzes, das in ihn einschlägt«, sagte ich. Plötzlich packte mich die Frau am Arm und zeigte in den Wald hinein. Ihr Mund war offen. Ich sah durch die in der Sonne glänzenden Blätter und lauschte. Ich hörte ein Stampfen und Schnauben, dann sah ich, zwischen Brombeergebüschen und Baumstämmen, eine graue Haut. »Verdammt«, dachte ich, griff nach dem Gewehr und lud es durch. Die Frau hielt sich die Ohren zu, während ich den Lauf auf die grauen Borsten richtete, die ich durch das Unterholz sah. Ich legte den Finger an den Abzug. Es knallte. Ich spürte einen wilden Schmerz im Gesicht und hörte quiekende Schreie. »Ich habe schon wieder getroffen«, stammelte ich. Ich faßte nach meinem Ohr und sah, daß meine Hand voll Blut war. »Und jetzt?« sagte ich und sah die Frau an. Unter uns tobte das angeschossene Wildschwein brüllend im Kreis herum. Es schlug seine Hauer gegen die Stämme. Es blutete. »Los«, rief die Frau und glitt den Baum hinunter. »Es haut sonst ab.« Sie rannte durch das Unterholz. Ich stieg, von Ast zu Ast, zum Boden hinab. Mein Gewehr blieb in den Zweigen hängen, ich ruckelte daran, und als ich sah, daß es sich immer mehr verhedderte, ließ ich es hängen. Ich stand keuchend am Fuß der Eiche. Die Frau saß inzwischen rittlings auf dem tobenden Ungeheuer und stach mit einem großen Messer auf es ein, bis es unter ihren Hieben zusammenbrach. Ich starrte auf die beiden. Die Frau kletterte von ihrem Opfer, mit dem blutigen Messer in der Hand. Langsam steckte sie es in die Scheide zurück. »Ich hatte Schwierigkeiten mit dem Gewehr«, rief ich. Ich gab dem Wildschwein einen Tritt. Es bewegte sich, und ich sprang zurück. »Es lebt noch«, stammelte ich. »Wir schleifen es mit Ihrem Lasso nach Hause«, sagte die
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Frau. Sie wickelte das Seil um die Vorderbeine des Wildschweins und warf mir ein Ende zu. Vorgebeugt wie Wolgaschiffer gingen wir durch den Wald und zerrten unsre Beute durchs Unterholz. Wir schwitzten. In einer warmen Sonne schleiften wir sie durch den Schnee auf dem Acker, der sich hinter uns rot färbte. Ich spürte, daß mein Hemd auf meiner Haut klebte. Die Frau neben mir schnaufte und hatte ihre Augen auf das Haus vor uns gerichtet. »Und wie geht die Geschichte aus?« sagte sie. »Das weiß ich eben nicht«, sagte ich, nach Atem ringend. »Entweder, die Frau, die er sieht, ist genau so jung wie seine Geliebte damals gewesen ist, und er merkt es im letzten Augenblick und stammelt eine Entschuldigung. Oder sie ist es wirklich und begleitet ihren Mann auf die Waldlichtung von früher. Fröstelnd hockt sie auf einem Baumstrunk und sieht auf die alte Aussicht, während ihr Mann einen Kräutertee braut. Sie hat nasse Füße. Sie sagt zum Mann, daß sie jetzt in einem Reisebüro arbeitet, und es sei eine interessante Aufgabe. Die beiden sehen sich an. Die Frau hat jetzt scharfe Falten um den Mund und graue Haare. Dann steht sie auf und sagt: Ich muß jetzt wohl. Es war nett, dich wieder einmal zu sehen.« Ich spürte, daß sich meine Augen mit Tränen füllten. Ich zerrte heftig am Seil. »Jedenfalls«, sagte ich, »ich hätte die Frau trotz ihren Falten geküßt, und sie wäre hingeschmolzen in meinen Armen gelegen.« Vor uns lag, von der Sonne beleuchtet, das Haus. Die Vorhänge vor Karls Fenster bewegten sich im Wind. Aus dem Kamin stieg senkrechter Rauch. Die Blätter der Birken flimmerten im Sonnenlicht. Sperlinge saßen im japanischen Zierapfelbaum. »Jeden Sonntagmorgen lagen mein Vater und ich im Bett und aßen Gebäcke und Marmelade«, sagte die Frau. »Er erzählte aus seinem Leben, und ich hörte ihm zu. Er erzählte wie ein
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Wasserfall, und sein Gesicht wurde rot vor Erinnerung. Aber dann weinte er immer häufiger. Schließlich lag ich nur noch neben ihm und streichelte ihn.« Wir zerrten das Wildschwein durch das Gartengatter, über den Plattenweg, bis vor die Haustür. Schnaufend blieben wir stehen. Ich setzte mich auf das Schwein und sah auf die Blutstriemen im Schnee zurück. »Ich muß jetzt gehen«, sagte die Frau und streckte mir die Hand hin. Ich drückte sie und sagte: »Was hat Ihr Vater erfunden?« »Ein Mittel gegen Krebs«, sagte sie.
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»Karl«, rief ich, während ich das Wildschwein durch die Wohnungstür zerrte, »Karl!« Ich ließ das Seil fallen, zog den Rucksack aus und warf den Hut und den Anorak auf einen Küchenhocker. Ich spuckte aus. Ich setzte mich auf das Schwein und roch unter meiner rechten Achselhöhle. Ich stank. Um mich herum bildete sich eine Blutlache. Als ich zur Wohnungstür hinaussah, sah ich rote Striemen im Korridor und auf dem Treppenteppich. Über mir hörte ich das Knarren von Bodenbrettern. Ich lächelte und sah nach oben. Ich faßte mich ans Ohr, das schmerzte. Karl kam in einem roten, zerknitterten Schlafanzug, dessen Knöpfe abgerissen waren, aus seinem Zimmer. Er war ungekämmt und unrasiert, hatte ein graues Gesicht und eine tiefe Falte in der Stirn. Er starrte auf mich und das Wildschwein. »Nanu«, sagte er, gähnte und ging zum Herd, zündete Holz an, stellte Wasser auf den Rost und öffnete die Teetüte. »Wenn wir es einsalzen«, sagte ich, »hält es ein Jahr lang.« Karl knurrte, hielt einen Finger ins Wasser, zog ihn heraus
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und blies ihn an. »Wenn ich dann noch lebe«, sagte er. Er schüttete das kochende Wasser in die Teekanne. »Manchmal bin ich wie ein geschältes Ei.« Er goß zwei Tassen voll Tee und reichte mir eine. Er setzte sich auf den Tisch und baumelte mit den Beinen. Ich trank, dann stellte ich die Tasse neben mich auf die graue Haut des Schweins. »Ja«, sagte ich. »Findest du wirklich, daß meine Romane gut sind?« sagte Karl, während er mit einem Holzlöffel im Tee rührte. »Ja«, sagte ich. Wir schwiegen. Eine Fliege surrte an der Fensterscheibe. Draußen krächzten Dohlen, und ein Schneebrett rutschte vom Dach. Schnee staubte vor dem Fenster vorbei. »Diese Jagd hättest du sehen müssen«, sagte ich dann. »Ich schlich durchs Unterholz, mit dem entsicherten Gewehr im Anschlag. Plötzlich stürzte sich die Sau auf mich, aus einem Hinterhalt. Ich schoß sofort. Der Gewehrlauf zersplitterte. Die Sau schrie und senkte die Hauer. Ich packte das Messer und tötete sie im letzten Augenblick, mit letzter Kraft.« Karl sah mich an. »Wildschweine sind gefährlich, wenn man allein ist«, sagte er. Ich trank. »Ja«, sagte ich. »Das nächste Mal nehme ich dich mit.« Ich stand auf und holte die Waage hinter dem Küchenschrank hervor. Ich hängte den Querbalken an eine Öse in der Küchendecke. Dann stemmte ich das Wildschwein auf eines der beiden Bretter. Es krachte auf den Fußboden, während das andere in die Höhe fuhr. Der Balken stand schräg. »Einmal in meinem Leben«, sagte Karl, »möchte ich in der Straßenbahn fahren, und darin sitzt jemand, der einen meiner Romane liest, mit glühenden Augen.« »Ja«, sagte ich und öffnete die Tür zur Küchenterrasse. Ich ging hinaus, packte die Kiste mit den Gewichtssteinen und kam
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breitbeinig in die Küche zurück. »Ein Wort hinschreiben«, sagte Karl, »und Berge zerbersten.« Ich stellte die Gewichtssteine, auf denen mit roter Farbe die Kilobezeichnungen standen, neben die Waage. Ich schichtete sie auf das in der Luft schwebende Brett. »Als ich so alt wie du jetzt war«, sagte Karl, »hatte ich eine Freundin bei mir. Als ich sie um vier Uhr früh nach Hause begleiten wollte, stand meine Mutter vor der Haustür und wischte das Trottoir.« »Nein«, sagte ich und lachte. »Meine Mutter kommt in meinen Romanen nicht ein einziges Mal vor. Aber ständig denke ich an sie. Sie trug ein weißes Kleid und hatte ein ernstes Gesicht.« Ich wuchtete einen Zehnkilostein auf das Brett und sah, daß das Wildschwein auf dem andern Brett zu schweben anfing. »Hunderteinundsechzig Kilo«, sagte ich. »Sie hörte immer Platten mit italienischen Tenören«, sagte Karl. »Dann starb sie.« Er sprang vom Küchentisch herunter, ruckte die Pyjamahose zurecht und nahm einen Krautbüschel aus dem Heilkräuterkästchen. Er biß hinein. »Sie ist aus dem Badezimmerfenster gesprungen«, sagte er mit vollem Mund. Er spuckte das Kraut aus. »Ich habe Kopfweh.« Ich sah ihn an. »Komm«, sagte ich. »Ich mache ein Foto von dir, mit dem Schwein.« Ich nahm ihn bei der Hand, stellte ihn neben das Schwein, nahm den Fotoapparat, legte einen Film ein, zog den Balg heraus und wählte Blende 5,6, ein Fünfzigstel und drei Meter. Karl stellte einen Fuß auf das Schwein und lachte. Ich drückte auf den Auslöser. »Ich habe euch kommen sehen«, sagte Karl. »Ich bin froh, daß du eine Hilfe gehabt hast.« Ich sah ihn an. Mein Herz
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klopfte. Ich nickte. »Ja«, sagte ich. »Tunk den Kopf in kaltes Wasser. Das hilft.«
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Ich pökelte das Schwein ein, während Karl am Küchentisch saß und in einem alten Manuskript las. Als die Sonne langsam hinter dem Wald unterging, schleppte ich die Fässer in die Vorratskammer, seufzte, ging ins Badezimmer, zog mich aus und stellte mich unter den Holzzuber, der an einem Metallhaken an der Decke hing. Ich kippte ihn, indem ich an dem an ihm angebundenen Hanfseil zog. Rauschend floß Wasser über meinen Körper. Ich dachte, in sekundenschnellen Bildern, an hitzige Sportkämpfer, Ringer, Boxer, Schläger. Ich seifte mich ein, goß mich sauber, trocknete mich ab und ging nackt in mein Zimmer. Lange stand ich vor der Reisetasche. Dann öffnete ich sie plötzlich und zog mich an: ein schwarzes Helancatrikot, Handschuhe, Kletterschuhe, ein Kopftuch. Ich rieb mir Asche ins Gesicht und steckte die Fotos ins elastische Band der Hose. Mit sicheren Griffen räumte ich die Bretter über dem Abstiegsloch beiseite, ganz ruhig jetzt, und sprang ins Zimmer untendran. Sofort hörte ich eine laute Musik. Ich öffnete die Tür und sah in den Korridor, auf einen Lichtstreifen, der aus der Tür des hintersten Zimmers fiel, voll wirbelndem Zigarettenrauch. Ich ging zu ihm hin. Ich lehnte mich an den Türpfosten und sah Männer und Frauen. Die Männer trugen Sakkos mit wattierten Schultern und Hosen mit Aufschlägen. Die Frauen hatten fransige Röcke, lachsfarbene, graue, silberne, stahlblaue. Alle hatten Gläser in der Hand und lachten. Sie rauchten aus langen Zigarettenspitzen. Die Musik kam aus dem großen Grammofon, dessen Dekkel jetzt offen stand. Eine Frau, die eine Stimme wie eine
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Berufssängerin hatte, stand an den hageren Mann aus den Tomaten gelehnt da und sang. Er trug eine weiße Jacke mit einer Rose im Knopfloch. Er hatte den Arm um die Schultern der Sängerin gelegt, und seine niederbaumelnde Hand lag auf einer ihrer Brüste. Er lächelte, während er ihrem Gesang zuhörte. Auf seiner Wange hatte er eine vernarbte Wunde. In einem der Fauteuils mit den Chromstahlbeinen saß der Mann mit der Glatze. Er rauchte eine Zigarette, die in einem schwarzen Halter steckte. Auf der Couch, neben ihm, saß die Frau aus den Tomaten. Beide sahen auf die Sängerin und ihren Freund. Die andern Gäste tanzten einen wilden Tanz, nach einer wilden Melodie. Ich lächelte und kroch ins Zimmer hinein und versteckte mich hinter einem großen Aquarium. Durch das Wasser hindurch sah ich, hinter Fischen, das ganze Fest sehr gut. In einer Ecke saßen ein alter Herr und eine alte Dame. Er trug einen schwarzen Anzug mit einem steifen Kragen und hatte einen eisgrauen Bart, sie hatte einen Fächer in der Hand und einen Spitzenkragen um ihren faltigen Hals. Sie hielten sich an den Händen, lächelten und sahen auf die jungen Frauen, die Netzstrümpfe und Blusen mit hauchigen Büstenhaltern trugen. Sie tanzten leidenschaftlich. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Ich wippte mit den Kletterschuhen. Eine Frau trank Wein aus einer Flasche, ohne mit dem Tanzen aufzuhören. Ein älterer Mann saß auf einem Hocker und spielte auf einer Oboe. Er hatte einen roten Kopf. »Richtig«, dachte ich, »Oboisten verblöden alle wegen dem Luftdruck im Kopf.« Vor mir lagen auf einem niedrigen Rauchtischchen Zigarettenpackungen: Laurens, Turkish Special, Boston, Parisiennes und Alaska Filter. Ich langte vorsichtig neben dem Aquarium vorbei und nahm eine Alaska. Ich starrte auf den Eisbären auf der Packung. Ich sog an einer Zigarette und roch einen Pfefferminzgeschmack. Ich bebte. Der Mann mit der Glatze schrieb jetzt etwas in das Buch mit
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einem grauen Ledereinband. Eine junge Frau sah ihm über die Schultern und lachte. Er grinste in sich hinein, und sie gab ihm einen Kuß auf die Glatze. Die Frau aus den Tomaten stand auf, nahm eine Weinflasche und goß dem Oboisten das Glas voll. Er lächelte sie an, ohne die Oboe aus dem Mund zu nehmen. Der Mann mit der Narbe auf der Wange küßte die Sängerin. Sie lag hingegossen an seiner Brust, ihr Hintern füllte den enggeschnittenen Goldstoff ihres Kleids aus. Die Frau aus den Tomaten lächelte mit einem roten Kopf. Zwei Frauen, die vor mir tanzten, hatten eine Marzipanbanane in den Mündern und aßen sich nach innen, kichernd. Ich kroch hinter eine Vase mit einem riesigen Dahlienstrauß. Ein Hund fuhr unter einem Tisch hervor und bellte. Er war groß wie ein Kalb, eine Dogge. Ich sprang auf. Die Vase fiel um. Die tanzenden Frauen schrien auf. Dann, als sie mich sahen, lachten sie. Sie kreischten. Der Hund stand vor mir. Der Mann mit der Glatze sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Seine Zigarette fiel ihm auf die Hose. Die Frau stellte ihr Glas auf den Tisch. Der Mann mit der Narbe auf der Wange löste sich langsam von der Sängerin. Der Hund leckte meine Hand. »Verzeihung«, sagte ich. »Ich muß mich in der Tür geirrt haben.« »Kenne ich Sie?« sagte der Mann mit der Glatze. »Wie sehen Sie denn aus?« Er sprang auf, weil seine Hose brannte, und schlug sich mit der flachen Hand darauf. »Ich wohne über Ihnen«, sagte ich. »Über uns?« sagte der Mann mit der Glatze. »Aber da ist doch die Wohnung des Hausbesitzers.« Er sah den hagern Mann mit der Kratzwunde auf der Wange an, der näher kam. Alle Gäste standen in einem Halbkreis um mich herum, sie schwiegen und sahen mich an. Der Hund knurrte. »Der Hund«, sagte ich. »Ich —« »Tu den Hund weg«, sagte der Mann mit der Glatze zum ha-
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geren Mann. Dieser sah mich an und sagte: »Platz, Astor. Platz!« Die Dogge trottete unter den Tisch zurück und legte sich nieder. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und sah, daß meine Hände voll Asche waren. Ich lächelte. »Wir können die Polizei holen«, sagte der hagere Mann. »Laß das«, sagte der Mann mit der Glatze und zeigte auf einen Stuhl neben sich. Ich setzte mich. Die Frau gab mir ein Taschentuch, und ich wischte mein Gesicht sauber. Alle sahen mich aufmerksam an. Die Frau strich mir mit den Fingerspitzen übers Gesicht. »Seit wann wohnen Sie denn da oben?« sagte der Mann mit der Glatze. »Seit sechs Tagen«, sagte ich. »Über uns wohnt noch jemand. Ein junger Mann und seine Schwester, deren Vater kürzlich gestorben ist.« »Verrückt, was man im eigenen Haus alles nicht sieht«, sagte der Mann mit der Glatze. »So eigen ist das Haus auch wieder nicht«, sagte die Frau. Der Mann mit der Glatze biß sich auf die Lippen, und der Mann mit der Narbe gab der Sängerin ein Zeichen. Sie legte eine Platte auf und sang dazu in einem wilden Rhythmus. Sofort tanzten alle. Wir schwiegen und sahen auf die herumtobenden Gäste. Der Oboist stand jetzt und blies, von einem Fuß auf den andern tanzend. Eine Frau warf die Beine nach oben, immer wieder. Ich sah ihre roten Slips. Ich lachte. »Toll«, sagte ich zum Mann mit der Glatze. Ich griff in meine Hose und holte die Fotos heraus. Ich gab sie dem Mann mit der Glatze. Er starrte darauf. Sein Gesicht wurde schweißnaß. Schließlich schob er die Fotos der Frau aus den Tomaten hin. Sie sah sie an, bleich. Der hagere Mann nahm sie ihr aus der Hand, blickte sekundenschnell darauf und warf sie auf den Tisch. Er sah mich an.
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»Ich weiß nicht, was das für Fotos sind«, sagte ich schnell. »Ich dachte, es könnte eine Landung von Wesen aus dem Weltall gewesen sein. Karl, mit dem ich in der Wohnung über Ihnen wohne, schreibt immer von solchen Erfahrungen. Hinter der Welt, die wir sehen, befindet sich noch eine zweite, schreibt er.« »Schon möglich«, sagte der Mann mit der Glatze und nickte. »Ich habe vom Hausbesitzer geträumt«, sagte ich. »Er war groß. Er hatte ein Auto. Er schrie. Er hatte einen irren Blick. Er schnitt alle Rosen in seinem Garten ab. Überall hingen Drähte von Alarmanlagen.« Der Mann mit der Glatze lachte und klopfte mir auf die Schultern. Der hagere Mann biß sich auf die Lippen, und die Frau stand plötzlich auf. Der Mann mit der Glatze sah sie an. »Schon?« sagte er. Sie nickte. Er stand auf, strich mir über den Kopf und ging mit ihr davon. Ich sah ihnen nach, wie sie zur Tür gingen, an den Tanzenden vorbei, von denen jetzt keiner mehr Schuhe trug, und kaum jemand ein Hemd. Der hagere Mann mit der Narbe packte die Sängerin, zog sie aufs Parkett und tanzte mit ihr, mit beiden Händen auf ihrem Hintern. Ich hatte Tränen in den Augen. Ich nahm das Buch mit dem grauen Ledereinband und schlug es auf. Ich sah Zeichnungen und Fotos und Eintragungen in Schriften, die ich nicht entziffern konnte. Ich nahm einen Bleistift und schrieb auf eine leere Seite: »Als der erste Andromedaner eine irdische Werkskantine erforschte, machte er alles wie die Menschen darin. Zitternd schob er sich in der Kolonne der hungrigen Arbeiter vorwärts. Schließlich saß er vor einem Tablett mit Kasseler und Erbsmus an einem Tisch. Da er keinen Mund hatte, konnte er nicht essen. Er starrte auf die Kauenden. In einer wilden Panik stürzte er auf die Straße hinaus, unter eine Straßenbahn, die ihn zermalmte. Schauernd starrten die Passanten auf sein gelbes Blut. Mit herzlichem Dank für alles.«
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Ein Schatten fiel auf das Papier. Ich sah nach oben. Vor mir stand, groß und hager, der Mann aus den Tomaten. »Wenn ich Sie noch einmal erwische«, sagte er leise, »erzähle ich es meinem Hund.« Ich stand auf und ging zwischen den Tanzenden hindurch. Sie waren jetzt fast nackt und hielten sich an den Händen. Sie brüllten und lachten. Die Dogge kam in großen Sätzen hinter mir hergerannt, schnüffelte an mir, wandte sich ab und trottete unter den Tisch zurück. Ich nickte dem alten Herrn und der alten Dame zu, die zurücklächelten. Ich öffnete die Tür zum Korridor und schloß sie hinter mir. Die Musik wurde leiser, als ich über den Teppich ging. Lange stand ich vor der Tür am Ende des Korridors, dann öffnete ich sie mit einem heftigen Ruck und sah, auf dem Bett, den Mann mit der Glatze und die Frau. Sie waren nackt und rangen miteinander. Sie schrien. Ich starrte sie an, machte rechtsumkehrt und rannte davon, zu meinem Aufstiegsloch.
30 Als ich den Kopf durch das Loch in meinem Fußboden steckte, sah ich, daß über mir die Beine des jungen Mannes im Loch an der Decke hingen. Ich hievte mich ins Zimmer. Der junge Mann ließ sich fallen. Geräuschlos wippte er den Sprung aus. Er trug ein schwarzes T-Shirt, eine Trainingshose, Turnschuhe und eine schwarze Zipfelmütze. Er huschte zur Tür. »Abend«, sagte ich. Er wirbelte herum und starrte mich an. »Sie?« sagte er. »Eben war Ihr Zimmer leer.« Ich nickte, zog meine Handschuhe aus, warf sie aufs Bett und lächelte. Ich deutete auf einen Stuhl. »Trinken Sie ein Bier?« »Danke«, sagte der junge Mann und setzte sich. »Eigentlich 87
bin ich froh, daß ich mit jemandem reden kann.« Er zog seine Zipfelmütze aus und legte sie auf den Tisch. Ich schnürte meine Kletterschuhe auf, zog sie aus und zerrte den Pullover über meinen Kopf. Dann langte ich unters Bett, holte zwei Flaschen Bier hervor, öffnete sie am Fensterrahmen und reichte eine dem jungen Mann. Wir nickten uns zu und tranken. »Ich habe das ganze Begräbnis vergessen«, sagte er. Er starrte auf seine Bierflasche und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Ich kann mich an nichts erinnern.« »Nein«, sagte ich. »Wirklich«, sagte er. »Karls Vater war Schuhmacher«, sagte ich. »Aber er hatte seine geschäftlichen Erfolge mit Frauen, die er mit seinen Ahlen operierte. Er glühte sie in einer Spiritusflamme aus und sterilisierte seine Hände und die Frauen mit Obstler.« »Ja?« sagte der junge Mann. Wir tranken schweigend. Dann sagte er: »Ich denke oft, ich bin in einer Dünenlandschaft. Es ist Abend. Ein heftiger Wind weht. Vor mir liegt ein Meer. Ich schlage den Kragen meines Regenmantels hoch und lecke mir die salzigen Lippen. Ich steige die Treppen meines Leuchtturms hinauf. Alles ist naß und versalzen. Im Wächterraum sind alle Instrumente zertrümmert. Oben, auf der Plattform, dreht sich das Fernlicht in einem wilden Wind. Möwen fliegen um meinen Kopf. Sie haben Fleischstücke in den Mäulern.« »Und dann?« sagte ich. »Ich muß weg von hier«, sagte er. »Ich muß hier weg.« »Sie verkaufen doch schon die Erfindungen Ihres Vaters«, sagte ich. »Bitte?« sagte er. »Ich weiß es von Ihrer Schwester«, sagte ich. »Das ist es nicht«, sagte er. »Ich starre stundenlang auf den Grabhügel. Ich muß mich daran hindern, nicht einen Spaten zu nehmen und mich hinunterzugraben. Wenn ich weit genug weg
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bin, werde ich das Grab vergessen, und das Graben.« »Sie brauchen eine Frau«, sagte ich. »Das ist es. Es war das Geniale an Noah, daß er, als er die Arche voll hatte mit seinen Tierpaaren, plötzlich den Einfall hatte, auch für sich eine Frau mitzunehmen. Nach dem Füttern liebten sie sich in Noahs Kabine, zwischen dem Quieken der Affen und dem Brüllen der Löwen.« Der junge Mann trank aus der Flasche und sah mich an. »Ich kann doch nichts dafür«, sagte er. »Oder?« »Wofür?« sagte ich. »Maulwürfe sind das Sturste, was es gibt«, sagte er. »Sie graben sich durch die Erde vorwärts, diese Arschlöcher, durch alles hindurch, einfach geradeaus. Nie wird ihnen schlecht. Sie machen keine Ausnahme. Wenn sie fliegen könnten, ergäben ihre Haufen ein Muster, nach dem sie sich orientieren könnten.« »Wie heißt eigentlich Ihre Schwester?« sagte ich. »Ich bin schließlich kein Regenwurm«, sagte der junge Mann, trank die Flasche leer und stellte sie neben sich auf den Boden. »Der Beweis ist, wenn man mich entzweihackt, wächst meinem Kopf kein neuer Schwanz nach und meinem Schwanz kein neuer Kopf.« Er lächelte und stand auf. Er sah zur Decke hinauf. »Ich muß jetzt gehen«, sagte er. »Gute Nacht.« Mit einem sportlichen Sprung packte er den Rand des Lochs. Er zog sich hinauf. Seine Beine strampelten über mir. Dann verschwanden sie. Bretter wurden über das Loch gelegt. Es war still jetzt. Ich saß da und sah in das Talglicht. Ein leiser Wind wehte vor dem Fenster.
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Ich stehe von meiner Schreibmaschine auf. Ich bin erschöpft. Ich möchte ein Bier trinken, oder einen Liter Rotwein. Ich nehme die schon beschriebenen Seiten meiner Geschichte in die Hand, blättere in ihnen und sehe sie an. Ich spüre ein warmes Gefühl, werfe sie auf das Bett, in dem Anna und ich schlafen, und gehe ins Wohnzimmer hinüber. Ich zünde alle Lampen an, beiße in einen Apfel, schalte den Fernseher ein, sehe einige Augenblicke lang auf einen lächelnden Mann, der mit ausgestreckten Händen die Gangway eines Flugzeugs hinuntergeht und unten eine Gruppe von Japanern begrüßt, schalte den Fernseher aus und gehe zum Fenster. Ein startendes Flugzeug zieht vier lange Abgasfahnen hinter sich her. Ich huste, gehe zum Kaffeetischchen, nehme den >Spiegel< und blättere darin, bis ich das Hitlerbild dieser Woche gefunden habe. Dann gehe ich in die Küche und öffne eine Chiantiflasche. Ich trinke. Der Chianti schmeckt nach Lack oder Terpentin. Ich stecke mir ein Stück Schokolade in den Mund. Im Badezimmer surrt die Waschmaschine, und ich höre, daß Anna duscht. Ich setze mich mit der Chiantiflasche auf die Fensterbank und sehe, auf der Straße unten, schnauzbärtige Müllmänner, deren braune Arbeitskleider mit orangen Sicherheitsstreifen beklebt sind. Sie rollen schwarze Mülltonnen über die Trottoirs und hängen sie an die Greifvorrichtung des Müllwagens, an dessen Steuerrad ein Mann sitzt, der in einer Zeitung liest. »Irgendwann einmal schneide ich so einen Japaner auf, darauf kannst du dich verlassen«, rufe ich ins Badezimmer hinüber. Ich trinke. »Was?« ruft Anna und stellt die Dusche ab. Die Waschmaschine stellt auf Spülen um. Sie rumpelt. »Erinnerst du dich noch an Karl?« rufe ich. »Sam Hawkins. Bei ihm wurde die Erde von einem numerisch weit unterlegenen Volk aus dem Andromedanebel dadurch erobert, daß diese zuerst Roboter zu uns schickten. Die Roboter sahen alle wie
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Japaner aus, weil, für Erdfremde, Japaner am leichtesten zu programmieren sind. Die Roboter konnten Fische mit Stäbchen essen und Mandarinenwein trinken, obwohl sie mit einem Dezi Schmieröl im Jahr auskamen. Sie arbeiteten sich in alle Schlüsselpositionen der Industrie hinauf. Zwei Generationen später wurde die Weltwirtschaft von ihnen beherrscht, und dann erst fielen die wirklichen Andromedaner mit ihren Raumschiffen auf der Erde ein. Die Menschen leisteten kaum Widerstand. Die Roboter standen jubelnd auf den Flugfeldern, sie waren so programmiert. Sie wurden sofort ausgeschaltet und verschrottet. Die Menschen wurden in Gasanlagen umgebracht.« »Na hör mal, natürlich erinnere ich mich an Karl«, sagt Anna, die aus dem Bad kommt. Sie ist naß und reibt sich mit einem roten Frotteetuch trocken. Ihre Haare tropfen. Sie hat ein zerfetztes schwarzes Tricot, einen zerrissenen Strumpf mit zwei Schlitzlöchern und verkohlte Seidenhandschuhe in der Hand. »Brauchst du das noch?« sagt sie. Ich starre darauf und sage: »Das? Nein. Wirfs weg.« Ich trinke und spüre ein Surren in mir. »Die Frauen müssen ihm nur so aus der Hand gefressen haben«, sagt Anna, während sie die Sachen in den Mülleimer wirft. »Wem?« sage ich. »Karl«, sagt sie. »Ich kann mich nicht daran erinnern«, sage ich, »daß er jemals etwas mit einer Frau gehabt hätte.« »Wirklich nicht?« sagt Anna und geht kopfschüttelnd ins Badezimmer zurück. Ich sehe ihr nach. »Sie ist schön«, denke ich. Ich seufze. Dann sehe ich, draußen auf der Straße, daß der Fahrer sein Müllauto steuert, ohne von der Zeitung aufzusehen. Er biegt in die Myliusstraße ein und bremst. Mit der rechten Hand holt er eine Bierflasche aus dem Handschuhfach, öffnet sie an den Rippen der Innenraumkühlung und trinkt, ohne den Blick
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zu heben. Die Mechanik des Müllwagens rattert. »Weißt du noch, den Brief, den du mir geschrieben hast?« ruft Anna. »Ich?« rufe ich. »Ich habe dir einen Brief geschrieben?« »Liebes Fräulein«, ruft Anna. »Nie werde ich unsern Jagdausflug vergessen können, Ihre zarte Haut, Ihren lieben Blick, Ihren schönen Körper.« Sie kommt, jetzt in Blue jeans und einer gelben Bluse, in die Küche zurück. Sie zieht den Reißverschluß der Jeans hoch und lacht. »Ich habe nie gelernt, wie man mit Frauen umgeht«, sage ich. »Nein«, sagt Anna. »Als ich ein Kind war«, sage ich, »sah ich, wie der Wildhüter einen Hasen anschoß und ihn an den Beinen packte und ihn stundenlang auf die eisharten Ackerschollen schlug.« Ich trinke und reiche Anna die Flasche. Sie setzt sie an die Lippen, trinkt und spuckt den Wein in den Spülstein. »Terpentin«, sagt sie. »Oder Lack.« Ich nicke. »In Karls Roman«, sage ich, »gab es dann noch eine Nebenhandlung. Ein junger Mann war mit einer von den Japanerinnen verlobt. Er liebte sie. Er merkte, daß sie nie auf seine Gefühle, sondern nur auf Handlungen, die Gefühle signalisierten, reagierte. Wie ein Schreck durchfuhr ihn die Erkenntnis der Wahrheit. Nach jeder Liebesnacht wollte er das Verteidigungsministerium informieren, aber wenn dann seine Freundin nackt, entspannt, lächelnd neben ihm lag und ihn streichelte, verschob er es immer wieder auf das nächste Mal. Sie war sehr gut programmiert.« »Und dann?« sagt Anna. Ich sehe auf die Straße hinunter, auf den sich entfernenden Müllwagen, die arbeitenden Frauen im Schreibsaal des Bürohauses, die Autos, zwei Kinder, die zwischen ihnen hervorlugen und jetzt über die Straße rennen. Sie lachen. Türken oder Griechen sitzen auf einer kleinen Mauer vor der Trinkhalle, sie haben Bierflaschen auf den Knien und
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zeigen sich Klappmesser und die Spielzeuge, die sie damit geschnitzt haben. »Eines Tages werden sie uns packen und in Raumschiffe schleppen, und nie mehr werden wir uns sehen«, murmle ich.
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Nachdem der junge Mann durch sein Loch verschwunden war, ging ich ans Fenster und sah hinaus. Fledermäuse flogen um den weißen Grabhügel, Wolken fegten über den Himmel. Ein fast voller Mond beleuchtete die Ebene. Ich fröstelte plötzlich, ging zu meinem Tisch, setzte mich, nahm ein Papier und tunkte die Feder in die Tinte. »Liebes Fräulein«, schrieb ich. »Nie werde ich unsern Jagdausflug vergessen können, Ihre zarte Haut, Ihren lieben Blick, Ihren schönen Körper. Ich habe einmal von einem Astronauten gehört, der liebte eine Frau so sehr, daß er sie in seinen Weltraumaufklärer schmuggelte. Sie landeten auf einem zauberhaften Planeten voller Palmen, Teichen und Orangen. Sie wanderten los, immer auf den Horizont zu. Unterwegs bekamen sie ein Kind. Die Frau hatte das Baby an der Brust, während der Mann, der einen Bart hatte, in einem Bach mit der Hand Forellen fischte. Einmal liebten sie sich darin unter Wasser, sie drückten dabei das Baby an sich, so daß es sich nicht einsam fühlte. Später gerieten sie in einen Bürgerkrieg, in dem sie auf der Seite der Freiheitsliebenden kämpften. Die Frau wurde erschossen. Der Mann starb in einem Gefängnis. Das war aber viel später und ist der traurige Teil ihres Lebens. Ich weiß nicht, was aus dem Baby geworden ist.« Ich faltete das Papier in ein Briefformat und zeichnete eine Briefmarke und einen Poststempel darauf. »Wie heißt sie?« dachte ich. »Suzanne? Griseldis? Margherita?« Ich zuckte die Schultern. Ich ging durch den Korridor zur Woh-
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nungstür, die Treppe hinauf, bis zur Tür der obern Wohnung, die gegen den Türrahmen gelehnt dastand. Ich schob den Brief unter ihr durch und ging in mein Zimmer zurück.
33 Kurze Zeit später prasselten Kieselsteine gegen mein Fenster. Ich öffnete es und sah hinaus. Der Mond stand hoch am Himmel und beleuchtete den blaßblauen Garten. »Psst«, flüsterte eine Stimme. »Ja?« flüsterte ich. »Ich bins«, flüsterte die Stimme. Ich erkannte die Frau. Sie stand unter einer Birke. Mondlicht leuchtete auf ihrem Gesicht. »Kommen Sie herunter?« flüsterte sie. »Aber klar«, schrie ich flüsternd und schloß das Fenster. Ich warf alles Holz, das ich im Zimmer hatte, in den Ofen, zog mein Leintuch gerade, klopfte die Krümel heraus, schob die Bierflaschen unters Bett, zog den dicken Mantel an und rannte auf Zehenspitzen durch den Korridor. Unten im Garten saß sie, an eine Birke gelehnt, in einem Pelzmantel und mit Stiefeln. Sie sah mich ernst an, während ich durch den knirschenden Schnee auf sie zu ging. Ich setzte mich neben sie. »Guten Abend«, flüsterte ich. »Guten Abend«, sagte sie und legte ihre linke Hand auf meine rechte. Ich sah zum Haus hinüber. In Karls Zimmer brannte Licht. Nachtvögel kreisten über dem Dach, in einem blauen Sternenhimmel. Die Blätter der Birke rauschten. »Danke für den Brief«, sagte die Frau. »Ah, bitte«, sagte ich. »Ich, ich wußte noch nicht einmal, wie Sie heißen.« »Anna«, sagte sie. Der Mond wanderte über den Himmel. Die Frau zog ihre 94
Pelzkapuze über den Kopf und legte sich auf den Rücken in den Schnee. Mein Herz klopfte. Ich stützte mich auf meinen Ellbogen auf und sah sie an. Ich spürte ihren Atem. »Anna ist ein hübscher Name«, sagte ich. »Finden Sie?« sagte sie. »Ja«, sagte ich. Ich setzte mich auf und sah auf das Haus. »Wir müssen warten, bis Karl das Licht gelöscht hat«, murmelte ich. »Wir können nicht einfach so ins Haus, oder?« »Nicht?« sagte Anna und setzte sich auf. Wir saßen schweigend nebeneinander. Ich wurde langsam steif vor Kälte. Anna hustete. Endlich erlosch das Licht im ersten Stock. Ich nahm Annas Hand und half ihr beim Aufstehen. Wir schlichen durch den Schnee, die Treppen hinauf, durch die Wohnungstür. Ich zündete eine Lampe an. Als wir durch den Korridor gingen, kam Karl aus seinem Zimmer, mit einer Kerze in der Hand. Er trug ein langes weißes Nachthemd. Er starrte uns an. »Das«, sagte ich, »das ist Anna. Das heißt, du kennst sie ja.« »Ja«, sagte Karl. »Ich kann nicht schlafen. Ich habe Nackenschmerzen.« Er rieb sich seinen Hals. Dann ging er in die Küche. Ich sah Anna an. Sie lächelte. »Komm«, flüsterte sie. Wir gingen in mein Zimmer. Ich stellte das Licht auf den Tisch. Der Ofen donnerte. Wir standen da und sahen uns an. Anna zog ihren Pelzmantel aus, dann ihren Pullover. Blitzschnell riß ich mir den Mantel vom Leib, die Wollmütze, das Hemd, das Unterleibchen, die Hosen, die langen Unterhosen, die Gelenkwärmer, die Stiefel, die Kniestrümpfe. Ich sah Anna an und schloß die Augen. Wir preßten uns aneinander und küßten uns. Anna legte ihre Arme um mich und strich mit ihren Händen über meinen Rücken. Ihre Beine waren gegen meine gedrückt. Ich atmete tief ein. »Ich muß das Bier in den Korridor hinausstellen«, sagte ich. »Es könnte sein, daß Karl Durst hat.«
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»Mitten in der Nacht?« sagte Anna. »Er hat immer Kopfweh«, sagte ich. »Es ist schrecklich.« »Wir haben ja kein Kopfweh«, sagte Anna und lachte. »Ich habe Angst, er fällt einfach um«, flüsterte ich. »Ich bin gleich wieder da.« Ich zog meine Unterhose an, holte eine Bierflasche unter dem Bett hervor und rannte in die Küche. Karl saß am Tisch, las in einem von seinen Manuskripten und trank Tee. Auf dem Fußboden lagen Dutzende von Manuskriptseiten. Um Karls Nacken war ein nasser Lappen gebunden. Er sah mich an. Ich setzte mich auf einen Hocker. Ich fror. »Gehts?« fragte ich. »Es wird schon«, sagte er. »Irgendwie wirds schon.« Ich stand auf, nahm ein Glas, öffnete die Flasche und goß mir ein Bier ein. Ich trank mit kleinen Schlucken. »Die erste Frau in meinem Leben«, sagte Karl, »war meine Tante. Ich war zwölf und hatte Grippe. Als sie sah, daß ich einen Steifen hatte unter der Bettdecke, setzte sie sich wie der Blitz auf mich. Ich bin dann jeden Donnerstagnachmittag zu meiner Tante gegangen, jahrelang.« »Die eigene Tante?« sagte ich. Ich hörte Schritte im Korridor. Die Tür fiel ins Schloß. Ich schnellte von meinem Hocker hoch und rannte in mein Zimmer. Ich starrte auf das leere, weiße Bett. Ich ging in die Küche zurück. Während ich mir ein zweites Bier eingoß, sagte Karl: »Soll ich dir mal vorlesen, was ich hier geschrieben habe, vor Jahren?« »Ja«, sagte ich. Meine rechte Hand, in der ich das Bierglas hielt, zitterte.
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»Erstes Kapitel«, sagte Karl. »Glühendrot versank die Sonne hinter einem großen Gebäude aus Sichtbeton, das am Rand einer Autobahn zwischen Ginsterbüschen stand und aus dessen Kamin ein friedlicher Rauch stieg.« »Schön«, sagte ich. »Ich erzähls dir lieber«, sagte Karl und sah von seinen verwitterten Manuskriptseiten hoch. »Also, dieses Haus, wenn ich mich recht erinnere, war eine Art Heim für alt gewordene amerikanische Astronauten. Der Staat gewährte ihnen hier, wenn sie mindestens 300 Millionen Flugkilometer hinter sich hatten, einen schönen Lebensabend, auf der Erde, in der Nähe von Boston, Massachusetts. Die Astronauten und Astronautinnen saßen in weißen Plasticsesseln in ihrem Livingroom, sie hatten Bier- und Colabüchsen vor sich und tauschten Erinnerungen an den Mars und den Andromedanebel aus. Sie sprachen von den Urzeiten des Weltraumfliegens, da wo die zurückkommenden Astronauten noch kopfüber in den Pazifik purzelten und mit Netzen aus dem Wasser gefischt werden mußten. Die Männer grinsten. Die Damen kreischten und spuckten sich in die Hände. Eine hatte ein vergilbtes Foto von Wernher von Braun vor sich und stach in einen Stickrahmen. Sie stickte ein Porträt von ihm.« »Wer ist Werner von Braun?« sagte ich. »Draußen, vor dem offenen Fenster, ging der Gärtner vorbei. Er rülpste, brummelte vor sich hin und gab einer Tulpe einen Fußtritt. Auch er war ein ehemaliger Astronaut. Erst als die Küchenhilfe über den Gartenweg kam, strahlte er übers ganze Gesicht. Er machte eine Handbewegung, die man in seiner Kindheit den Kutschergriff genannt hatte. Die Küchenhilfe, ein Kind mit blonden Zöpfen und kleinen Brüstchen unter Dirndlspitzen, lachte.« »Prima«, sagte ich. »Eines Tages kam ein neuer alter Astronaut ins Heim. Er war
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sehr elegant, hatte einen flackernden Blick und eine unglaublich sonore Stimme. Alle starrten ihn an. Er ging von Astronautin zu Astronautin und gab ihnen Handküsse. Auf seinen Sturzhelmen klebten Etiketten vom Mars, vom Uranos, von der Venus. Er zeigte die Narben, die er in Lasergewehrgefechten davongetragen hatte. Die Astronautinnen waren entzückt. Die Astronauten starrten ihn mißtrauisch an, während er zu den Astronautinnen sagte, er habe in der Milchstraße jahrelange Triumphe erlebt. Da kam die Küchenhilfe mit neuen SchlitzBieren und Cokes in den Livingroom. Wie gebannt blieb sie stehen und sah den neuen Gast an. Auch der neue Gast stand aufrecht da, auf seinen Stock gestützt, und blickte mit glühenden Augen auf das junge Mädchen. Er machte eine galante Verbeugung. Die Küchenhilfe, die Cindy hieß, rannte aus dem Salon. Der neue Gast ging zum Cassettenrecorder, schob eine Cassette hinein und sagte: Chopin. Chopin ist mein Lieblingskomponist. Einmal, meine Damen und Herren, ließen sich Liszt und Chopin ihre Pianos in ein Hochgebirgstal hinauftragen. Dort spielten sie. Der Abendwind trug ihre Improvisationen über die dunklen Talgründe zu den gegenüberliegenden Felswänden hinüber, und dann saßen Liszt und Chopin mit den Händen im Schoß da und lauschten auf ihre Echos. Zu ihren Füßen lagen ihre bleichen Geliebten in weißen, durchsichtigen Gewändern. Sie fröstelten, weil sie auf 1300 Meter Höhe waren. Dann sahen sie schnell auf die Hände der Meister und glühten wieder. Bullshit, sagten die Astronauten zueinander, aber die Astronautinnen waren ganz weg.« »Klar«, sagte ich. »Und dann?« »Dann, später, lag der Gast mit Cindy im nassen Gras, im Mondschein. Er sprach mit einem irren Blick auf sie ein. An der Art, wie der Gärtner durch die Fliederbüsche schlich, sah man, daß auch er Cindy liebte.« »Ja«, sagte ich.
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»Dann beschlossen die greisen Bewohner des Astronautenheims, noch einmal, heimlich, einen Flug zu wagen. Sie wollten alle zusammen auf die dunkle Seite des Monds. Das war nicht weit weg und konnte gemacht werden, bevor ihnen die Weltraumbehörde in Houston, Texas, auf die Schliche kam. Schließlich hatten sie, alle zusammen, ein gewaltiges Knowhow. Sie begannen mit den Vorbereitungen. Sie freuten sich. Sie fanden in verstaubten Almanachen alte Apollopläne. Wochenlang werkelten sie in ihren Heimwerkstätten. Jeder wollte Kommandant sein. Ein Flug zur schwarzen Seite des Monds, meine Damen und Herren, sagte der neue Gast, ist eine Aufgabe nur für Kommandanten. Ich werde das Raumschiff steuern.« »Natürlich«, sagte ich. »Der Gärtner wurde Kommandant der Bordküche«, sagte Karl. »Ja«, sagte ich. »Zweiter Pilot wurde die Astronautin, die das Porträt Wernher von Brauns stickte. Auch die andern Rollen wurden adäquat besetzt. Immer wieder traf sich, hinter den Raketendüsen oder am Fluß unten, der neue Gast mit Cindy. Aufrecht wie ein Stock saß er neben ihr. Cindy küßte seine Hände und sah mit nassen Augen zu ihm auf, und ihre Lippen warteten auf einen brennenden Kuß. Aber der neue Gast küßte sie nicht. Der Gärtner ahnte etwas, er schlich herum, während er seine Vorratslisten komplettierte. Er kroch durch die im Garten herumliegenden Raketenteile. Dann sah er sie. Cindy hatte ihren Kopf in den Schoß des Manns gewühlt. Sie weinte.« »Arme Sau«, sagte ich. »Dann kam der Abend des Starts. Alle stiegen in das Raumschiff. Der Gärtner benahm sich immer seltsamer. Er spuckte in seine Vorratslisten. Er sprach mit sich selber. Er schlich vor der Kommandokanzel des neuen Gasts herum, des Kommandanten. Dann klopfte er und trat ein. Ja, sagte der neue Gast,
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der die Checkliste auf den Knien hatte, bitte? Der Gärtner stand da wie ein alter Bär, mit zitternden Wangen und nassen Lippen. Es ist, stammelte er, ich muß Sie um etwas bitten. Seine Stimme versagte ihm beinahe. Machen Sies kurz, sagte der Kommandant und hakte einen Punkt in der Checkliste ab. Wir sind mitten im Countdown. Der Gärtner fing an zu weinen. Die Sache ist die, sagte er. Ich habe Sie belogen, alle. Ich bin kein berühmter Astronaut. Ich bin überhaupt nie geflogen, nicht ein einziges Mal. Ich bin der Ersatzmann für einen berühmten Astronauten gewesen, ich konnte alle seine Programme, alle, ich war genau gleich groß wie er. Aber nie ist er ausgefallen, kein einziges Mal. Ich bin nie geflogen. Bitte, lassen Sie mich die Rakete steuern, nur den Start. Ich habe so oft einen Mondstart steuern wollen, ich habe ihn so oft am Monitor in der Zentrale erlebt und jeden Handgriff mitgemacht.« »Wenn das gutgeht«, sagte ich. »Sind Sie verrückt? sagte der neue Gast, der Kommandant«, sagte Karl. »Was sag ich«, sagte ich. »Bitte, sagte der Gärtner. Hinaus, rief der neue Gast. Er überprüfte die Seitenruder und hakte sie auf der Liste ab. Da nahm der Gärtner den Feuerlöscher und schlug ihn dem neuen Gast über den Schädel. Krachend stürzte dieser unters Armaturenbrett. In fliegender Hast zog ihm der Gärtner die Kommandantenmontur aus, bebend. Er zog sie sich an. Er klebte sich einen Schnurrbart auf. Er versteckte sein Opfer im Küchenabteil. Mit donnerndem Herzen schritt er durch die Korridore der Rakete, den Mitastronauten zunickend. Er hörte ihr erwartungsvolles Murmeln. Er ging vornübergebeugt, ein uralter Kommandant, ein Mann im Mond. Er sagte die nächsten Handgriffe des Countdowns vor sich hin. Wie oft hatte er sie beobachtet. Er hatte sie nachts geträumt. Er hatte sie im Vergeß zu Straßenbahnschaffnern gesagt. Die zweite Pilotin setzte sich
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neben ihn, auch sie im Raumanzug, ernst. Wo ist Cindy, sagte jemand hinter ihm, sie sollte sich um die Bordtür kümmern.« »Ah«, sagte ich. »Der Gärtner setzte den Countdown fort. Er starrte auf die kleiner werdenden Ziffern des Zählwerks. Er spürte das Vibrieren der Vorwärmdüsen und sah das gleißende Licht der Scheinwerfer, die in den Himmel hineinstrahlten. Über ihnen stand ein voller gelber Mond. Eine Hitzewelle durchströmte ihn. Sein Herz schlug wie wild. Er öffnete den Mund. He, sagte die zweite Pilotin. Der Gärtner hörte sie nicht. Er hatte Tränen in den Augen. Er hob die Arme, wie um Verzeihung bittend. Ein Geräusch kam aus seinem Mund, etwa wie: Öhhbb.« »Oh«, sagte ich. »Im letzten Moment, bei acht, stoppte die zweite Pilotin den Countdown. Der Gärtner erhob sich aus seinem Kommandositz, wankte in den Fahrgastraum und brach zusammen. Man öffnete seinen Kragen. Er sah zu den alten Astronauten hinauf, die alle in völlig unmodern gewordenen Raumanzügen steckten, und flüsterte: Cindy, er hat irgend etwas mit Cindy vor, am Fluß unten. Dann wurden seine Augen starr, und seine rechte Hand fiel auf den Kabinenboden.« »O Gott«, sagte ich. »Warum ist der Gärtner der Kommandant und nicht der neue Gast, wie in den Proben? flüsterte einer der Astronauten schließlich. Sie fanden den toten neuen Gast in der Küche, in einer Blutlache. In seinem zertrümmerten Schädel sahen sie Drähte und in Serie geschaltete Transistoren. Sie sahen sich an. Dann stürzten alle aus dem Raumschiff, zum Fluß hinunter. Sie sahen Cindy im Wasser, an einer Weidenwurzel hängend. Sie war bleich und schön. Die nassen Haare klebten an ihren Wangen. In ihrer Dirndlbrust steckte ein Brief. Der älteste von den Astronauten las ihn mit zittriger Stimme vor. Ich liebe dich, las er. Nur der Tod kann uns vereinen. Glück, was ist Glück? Dei-
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ne Cindy.« »Hm«, sagte ich. »Tränenüberströmt gingen alle zur Rakete zurück. Sie trugen die beiden Toten heraus und legten sie neben Cindy. Sie schlossen die Luken. Die zweite Pilotin übernahm das Kommando, und als die letzten acht Countdown-Sekunden vorbei waren, hob das Raumschiff donnernd ab. Wie eine glühende Feuersäule verschwand es im Nachthimmel. Die greisen Astronauten johlten vor Vergnügen. Sie hatten das Drama vergessen. Über Funk machten sie mit der Weltraumzentrale in Houston blöde und kenntnisreiche Witze, die diese, weil sie aus diesem nicht angemeldeten Flug immer weniger klug wurden, immer nervöser werden ließen. Sie gossen sich Champagner ein in der Bordküche. Sie kicherten. Den ersten Abfangraketen wichen sie mit eleganten Schlenkern aus. In einem Affenzahn bogen sie auf die Nachtseite des Monds ein, und es war der Besoffenheit aller Bordmitglieder zuzuschreiben, daß sie allzu heftig landeten. Grölend saßen sie in den Trümmern ihrer Apollorakete, auf der Nachtseite des Monds, in einer eisigen Kälte. Sie gossen das Kerosin aus den Treibstofftanks um sich herum und zündeten es an. Sie rieben sich die Hände. Das war ein großer Schritt für uns, sagte die Kommandantin, und ein kleiner für die Menschheit. Als aller Alkohol getrunken und aller Sprit verbrannt war, erfroren sie, die alten Astronauten, glücklich in den schwarzen Weltraum starrend.« »Fertig?« sagte ich. »Fertig«, sagte Karl. »Gehn wir schlafen. Ich habe keine Schmerzen mehr, weder am Nacken noch im Kopf.«
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In einer andern Geschichte Karls ging es darum, daß sich auf der Erde herausstellte, daß ein Verpackungsmaterial für Nahrungsmittel namens PVC krebserregend wirkte. Da inzwischen alle Nahrungsmittel in PVC abgepackt waren, Wein, Essig, Tomaten, Fleisch, gab es auf der ganzen Erde niemanden, der nicht damit in Berührung gekommen war. Überall erkrankten Menschen gleichzeitig. Ärzte schrieben in Zeitungen darüber. Zuerst glaubte es niemand. Dann, als jeder die eigenen Geschwüre spürte, brach die gesamte soziale Ordnung auseinander. Arbeiter tranken Bier am Fließband. Taxifahrer erschossen Fahrgäste. Väter schliefen mit ihren Töchtern. Niemand kümmerte sich um die Sperrstunde in Gaststätten, und niemand bezahlte. Vermummte Menschen tanzten um Brunnen herum und versprachen sich und andern ein besseres Leben in einer bessern Welt. Schreiend starb die Menschheit aus, innerhalb von zwei Monaten. Am 8. August 1981, einem Montag, gab es keinen Menschen mehr auf der Erde. Straßenbahnen standen leer in den Straßen, in Zoos brüllten hungrige Elefanten, die Ampeln wechselten von grün auf rot und von rot auf grün, die Kraftwerke produzierten Elektrizität, bis die Kondensatoren durchglühten. Das heißt, in einem Gebirgstal in Nepal gab es Bauern, die nie mit PVC in Berührung gekommen waren, und nie mit der Zivilisation. Sie merkten nichts vom Aussterben der Menschheit, sie hatten ihren Ackerbau seit Jahrtausenden, sie zeugten Kinder und starben, ihre Kinder zeugten Kinder und starben, und nie kam jemand auf die Idee, kein Mann, keine Frau, kein Kind, über die hohen weißen Berge zu steigen, in die unbekannten Ebenen. In ihnen hätten sie verfallene, leere Städte gefunden, Straßen voller Skelette, denen Farnkräuter aus den Augen wuchsen. Die rostigen Straßenbahnen wucherten mit Gras zu. Farblose Fensterläden klapperten im Wind.
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Als, Jahrhunderte später, die ersten Völker aus dem Andromedanebel in Houston, Texas, landeten, fanden sie eine grüne stille Steppenlandschaft. Kaninchen hoppelten durch das Gras und verschwanden in Höhlen, die innen, als die Andromedawesen hinter ihnen drein krochen, aussahen wie ihre Raumschiffe von früher, und genau so rostig. Die Andromedaner krochen wieder ins Freie. Sie standen da im stoppeligen grünen Gras und sahen nachdenklich zu den weißen Bergen hinauf.
36 Später in dieser Nacht wachte ich auf. Ich lag im Dunkeln. Ich hörte ein knirschendes Geräusch irgendwo in meinem Zimmer. Atemlos starrte ich in die dunkle Nacht hinein. Ich hörte leise Schritte und einen Atem. Mein Herz schlug heftig. Ich kroch unter die Decke und preßte die Augen zu. Die Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Nun war es still im Zimmer. Ich schob die Decke von meinem Kopf weg und zündete das Talglicht an. Auf dem Fußboden lag Gips, in dem Fußspuren waren. Das Loch in der Decke war offen. »Will er nicht zu mir?« murmelte ich. »Wohin will er dann?« Ich setzte mich auf den Rand des Betts. Auf den Armen spürte ich eine Gänsehaut. Ich stand auf, nahm das Talglicht und öffnete die Tür. »Schließlich ist das meine Welt«, dachte ich. Ich schlich den Gipstappen im Korridor nach, gebückt, das Talglicht dicht über dem Boden. Die Spuren führten zu Karls Zimmer. Ich preßte ein Ohr an die Tür. Ich hörte Stimmen. Im Korridorspiegel sah ich meinen Körper, meine weiße Haut. »Was tun sie nur?« dachte ich. Ich huschte in die Küche, holte den Handbohrer und bohrte ein Loch in die Türfüllung, auf Augenhöhe, langsam 104
und leise. Ich preßte mein Auge an das Loch. Ich sah die nackten Füße des jungen Mannes. Sie bewegten sich hin und her. Sie schimmerten im Schein einer Kerze. »Ist ihm schlecht?« dachte ich. »Ist Karl schlecht?« Ich schluckte, drückte die Türklinke leise nach unten und öffnete die Tür einen Spalt breit. Ich atmete ganz vorsichtig. »Wenn man tief genug gräbt«, sagte der junge Mann, und ich hörte, daß er weinte, »kommt man auf der andern Seite im Pazifischen Ozean heraus.« »Ja«, sagte Karl. »In Friedhöfen, die an einem abschüssigen Hang angelegt sind, fließen die Toten, wenn sie sich auflösen, langsam den Hang hinunter.« »So ist das Leben«, sagte Karl. »Im Krieg habe ich gesehen, wie Menschen sich an die Flügel startender Flugzeuge krallten. Sie stürzten auf eisharte Ackerschollen ab. Aber spreche ich jemals vom Tod?« »Bei jeder Gartenarbeit sticht man in Urahnen herum. Jede Tomate wächst aus einem Toten heraus.« »Hör mal«, sagte Karl. »Du solltest Pilot werden. Die fliegen in die Sonne hinein und genießen ihr Leben.« Der junge Mann schüttelte sich nun vor Schluchzen. »Nein«, schluchzte er. »Vielleicht ist es ein Genuß, in den Krater des Vesuvs zu springen.« »Aufhören«, schrie ich. Ich preßte meine Hand auf meinen Mund, mit stehendem Herzen. Ich lehnte unbeweglich am Türpfosten, hinter der angelehnten Tür. »Was war das?« sagte der junge Mann. »Nichts«, sagte Karl. »Das sind Käuze und Uhus.« Ich stieß die Tür auf. Karl saß in seinem roten Pyjama auf der Couch und streichelte den Kopf des jungen Manns, der in seinem Schoß lag. Der junge Mann hatte verweinte Augen und trug einen schwarzen Pullover, eine Turnhose und Seidenhand-
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schuhe. Er war barfuß. Beide, Karl und der junge Mann, sahen mich an. »Entschuldigt«, sagte ich. »Ich glaube, mir ist schlecht. Ich habe geträumt, daß ein Tiger von einem Baum auf mich herunterspringt. Ich drehte mich um und sah in seine glühenden Augen. Ich hörte meinen eigenen Schrei.« Karl lächelte. »Setz dich«, sagte er. Ich sah in seine Augen. Ich setzte mich auf einen Stuhl, dem jungen Mann gegenüber. Jetzt merkte ich, daß ich nackt war. Ich wickelte mich in Karls Couchdecke. Ich fröstelte. Wir schwiegen.
37 »Bevor der Hausbesitzer aus dem Haus verschwand«, sagte der junge Mann nach einer Weile, »war auch meine Mutter noch da. Alles war ganz anders. Der Hausbesitzer und meine Mutter staken unter einer Decke, das heißt, sie fraß ihm aus der Hand. Sie las ihm jeden Wunsch von den Lippen ab. Sie dachte, er setzt uns auf die Straße.« »Hm«, sagte Karl. »Hausbesitzer«, sagte der junge Mann, »können Bäume umsägen und Kinder einsperren und Hunde auf Spaziergänger loslassen und den ganzen Tag Witze reißen, und wenn ihnen dann ein Mieter eine schmiert, holen sie die Polizei.« »Na ja«, sagte Karl und kraulte den Kopf des jungen Manns. »Ein Beispiel«, sagte dieser. »Mein Vater war wirklich ein guter Erfinder. Aber ein Leben lang wollte ich ein Auto wie der Hausbesitzer, eine Frau wie er, und die mächtige Armbewegung, mit der er am frühen Morgen die Terrassentüren aufstieß.« »Ja«, sagte Karl und lächelte. »Als der Hausbesitzer zu spinnen anfing«, sagte der junge 106
Mann, »sagte er, ich spinne. Ich hatte ihm die Zunge herausgestreckt. Mein Vater fuhr mit mir in eine psychiatrische Anstalt und ließ mich bis zehn zählen. Ein weißer Doktor sah mir zu. Ich wurde noch einmal laufen gelassen, auf Bewährung.« »Wir könnten etwas trinken«, sagte Karl, »oder?« Der junge Mann setzte sich auf und wischte sich die Tränen aus den Augen. Ich lachte. Ich stand auf, ging in die Küche und holte drei Flaschen Bier. Ich öffnete sie und gab jedem eine. »Der Hausbesitzer riß schreiend alle Tomaten aus, er schlug die Hunde, er brüllte den Briefträger an, er sagte den Dienstmädchen obszöne Wörter, er schimpfte über die Juden und kaufte kistenweise Porzellangeschirr«, sagte der junge Mann. »Er hatte einen flackernden Blick, wenn er meinem Vater auseinandersetzte, daß es nicht mehr so weitergehe. Aber immer hatte ich das Gefühl, daß er irgendwie recht hatte.«
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Der junge Mann sah vor sich hin, trank einen Schluck und wischte sich mit der Hand den Bierschaum vom Mund. Er sah auf den Boden. Dann sagte er: »Sie wollen es nicht.« »Wer? Was?« sagte Karl. »Hoffmann-La Roche«, sagte der junge Mann, »will das Krebsmittel meines Vaters nicht. Sie glauben nicht, daß es wirkt.« »Wirkt es denn?« sagte Karl. »Ja«, sagte der junge Mann. Er holte einen Briefumschlag aus der Hosentasche und legte ihn auf den Tisch. Karl riß ihn auf, nahm ein zerknittertes Stück Papier heraus, strich es glatt und las es. »Tja«, sagte er, schob es in den Umschlag zurück und steckte
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diesen in die Tasche. Der junge Mann stand auf. »Ich muß jetzt gehen«, sagte er. Ich stand schnell auf und sagte: »Ich kann Sie begleiten, oder?« Der junge Mann sah mich an, dann schüttelte er den Kopf. Er ging zur Tür hinaus, durch den Korridor, durch die Wohnungstür. Wir hörten, wie er die Treppe hinunterrannte, mit wilden Sprüngen. Karl saß aufrecht wie ein Stock auf seiner Couch, dann sprang er auf, riß die Wohnungstür auf und rief: »He. Mach keinen Blödsinn.« Dann rannte auch er die Treppe hinunter. Ich biß mir auf die Lippen und wippte mit dem Fuß. Dann stand auch ich auf und ging langsam nach unten. Es schneite. Spuren führten in den hohen Schnee hinaus. Weit vorne stand eine schwarze Silhouette in der Nacht, Karl. Er starrte bewegungslos ins Schneetreiben hinein. Ich ging, in den Spuren der beiden, zu ihm hin. Wir sahen auf die Spuren des jungen Manns, die schnurgerade in die schwarze Ebene hineinführten und sich, während wir so dastanden, langsam mit frischem Schnee anfüllten. Schließlich waren sie nicht mehr zu sehen. Wir schüttelten uns und gingen, in einem heulenden Wind, zum Haus zurück, die Treppe hinauf, in die Küche. Wir klopften uns den Schnee von den Kleidern. Karl setzte sich an den Tisch und sah schweigend vor sich hin. »Man muß das Recht haben wegzugehen, auch wenn es schneit«, sagte ich schließlich. »Ich habe viele Geschichten von endgültigen Trennungen gehört. Plötzlich einmal sind es keine Geschichten mehr.« »Was?« sagte Karl. Er sah hoch. In seinen Augen waren Tränen. »Was hast du grad eben gesagt?« »Nichts«, sagte ich. »Wir hatten früher blutige Hände«, sagte Karl, »aber wir waren nicht so ernst wie heute. Wir haben uns über die Chinesen lustig gemacht.« Ich nickte. Dann sagte ich: »Das Krebsmittel wirkt nicht,
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nicht wahr.« »Doch«, sagte Karl.
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Am Morgen des siebenten Tages stapften Karl und ich durch tiefen Neuschnee auf die Felsen zu. Unsre Spuren hinter uns waren Schneisen. Ein Wind wehte. Ich sah über die Ebene. Kein Hase, kein Wildschwein, nichts. Der Grabhügel war im Schnee verschwunden, nur der Spatenstiel mit dem Foto ragte aus ihm heraus. Wir stiegen den Weg in die Stadt herunter, zwischen Möwen hindurch, die sich mit aufgeplusterten Federn in den Schnee hineinwühlten. Wir gingen, in braunem Matsch, über Fußgängerstreifen, an dem Hochhaus mit den Kinderwagen auf den Terrassen vorbei, durch die Unterführung, in der immer noch dieselben Inschriften aufgesprayt waren, über den Parkplatz, an der Bank und am Restaurant vorbei. Dann stiegen wir die Treppe des Verwaltungsgebäudes der Hoffmann-La Roche hinauf, gingen durch die Glastür und die Empfangshalle zum Pult, hinter dem die Dame saß, die heute ein blaues Jackenkleid trug. Ich sah auf das Schildchen auf ihrer Brust. »Sie?« sagte sie. »Wir möchten Herrn Dr. Moser sprechen«, sagte Karl. Er stand hochaufgerichtet da und schaute der Dame in die Augen. »Sind Sie angemeldet?« sagte diese. »Wir haben ein Mittel gegen Krebs«, sagte Karl. »Hier.« Er nahm den Briefumschlag aus der Tasche seines Sakkos und legte ihn aufs Pult. Die Dame sah ihn an. »Und was soll ich damit?« sagte sie. »Nichts«, sagte Karl. »Ich will Ihnen nur zeigen, daß ich Sie nicht anlüge.«
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Jemand packte mich an den Schultern und drehte mich um. Vor mir stand ein breitschultriger Mann in einem grauen Maßanzug. Er hatte ein sportgebräuntes Gesicht und sah mich an. Ich lächelte. Vor Karl, der jetzt auch mit dem Rücken zum Empfangspult stand, stand ein zweiter breitschultriger Mann mit einem grauen Maßanzug. Beide hatten gelochte weiße Plasticschildchen mit einem Farbfoto von sich auf den Rockaufschlägen. »Kommen Sie bitte mit«, sagte der eine und machte eine Bewegung mit der Kinnlade. Er nahm den Briefumschlag vom Empfangspult und steckte ihn in seine Rocktasche. Ich drehte mich um und sah, daß die Dame am Empfangspult auf ihre rot lackierten Fingernägel hauchte. Wir gingen durch einen hellgrün gestrichenen Korridor, auf einem hellgrünen Spannteppich. Rechts und links waren graue Türen mit Namensschildchen. Der eine breitschultrige Mann steckte sein gelochtes Schildchen in einen Schlitz neben einer Tür, drückte auf einen Knopf und wies mit dem Kinn durch die nun offene Tür ins Zimmer hinein. Wir traten ein. Hinter einem großen Schreibtisch saß ein Mann. Er trug einen grauen Maßanzug und sah uns mit einem unbewegten Gesicht an. An seinem Rockaufschlag steckte ein gelochtes Schildchen mit seinem Farbfoto. Einer der Männer trat vor ihn hin und gab ihm den Briefumschlag. Der Mann hinter dem Schreibtisch öffnete ihn, nahm das zerknitterte Papier heraus, strich es glatt und las es. Er hatte einen Bürstenschnitt und einen kräftigen Nacken. Seine Lippen bewegten sich beim Lesen. Auf seinem Schreibtisch standen ein Telefon, eine Gegensprechanlage und ein Monitor, auf dem wir, flimmernd, die Empfangshalle mit dem Empfangspult sahen. Die Dame, ein kleiner grauer Fleck, sprach mit einem Mann, der ein schwarzes Köfferchen trug. Jetzt nahm sie den Telefonhörer in die Hand und sprach hinein. »Setzen Sie sich«, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch.
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Wir setzten uns in zwei Sessel mit weißen Plasticpolstern. Der Mann schrieb etwas auf einen Notizblock. Hinter ihm, an der Wand, hing ein modernes Bild, ein grünes. Durch das Fenster sahen wir die Stadt, Kamine, Hochhäuser, und in der Ferne die beiden Münstertürme. »Dr. Moser?« sagte Karl. »Nein«, sagte der Mann und sah von seinem Notizblock hoch. »Jetzt sagen Sie mir einmal, was wollen Sie eigentlich von uns?« »Nun«, sagte Karl. »Das ist so. Wir haben ein Mittel, das Krebs heilen kann. Ein Freund von uns, der jetzt tot ist, hat schon versucht, es Ihrer Firma zu geben. Es könnte den Menschen helfen. Sie haben es grad eben gelesen.« »Verstehe«, sagte der Mann. »Personalien.« »Verzeihung?« sagte Karl. »Wie heißen Sie?« sagte der Mann. »Ach so«, sagte Karl, griff in seine Tasche und schob seinen Paß über den Schreibtisch. Der Mann blätterte darin und schrieb etwas auf seinen Notizblock. Dann sah er mich an, und ich gab ihm meinen Paß. Er nickte. Er bewegte die Lippen, während er schrieb. Er hob den Kopf und gab uns die Pässe zurück. »Schön, meine Herren«, sagte er dann. »Jetzt hören Sie einmal zu. Diese Firma produziert 812 verschiedene pharmazeutische Produkte. Sie hat, in absoluten Zahlen, die viertgrößte Forschungsabteilung der Branche. Für uns arbeiten zwei Nobelpreisträger. Wir haben keine Zeit und keine Lust und keine Veranlassung, uns mit den -« er zögerte und sah aus dem Fenster, »- skurrilen Einfällen Außenstehender zu befassen. Trotzdem möchte ich mich bedanken. Für einmal lassen wir Sie laufen.« Er warf Karl den Briefumschlag in den Schoß, lehnte sich zurück und drückte auf einen Knopf. Die Tür sprang auf.
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»Jetzt hören Sie doch zuerst einmal genau zu«, sagte Karl. »Bitte«, sagte der Mann am Schreibtisch zu den beiden Männern in den grauen Maßanzügen und wies mit seiner Kinnlade auf uns. Die beiden Männer wiesen mit ihren Kinnladen auf die offene Tür. Wir standen auf und gingen durch den hellgrünen Korridor zurück in die Eingangshalle. Ich nickte der Dame zu, die mich regungslos ansah. Die Männer begleiteten uns höflich bis zur Glastür. Als ich hindurchging, gab mir der eine der Männer einen Stoß, so daß ich die breite Treppe hinunterrannte. Ich sah, daß Karl neben mir herrannte. Am Fuß der Treppe blieben wir stehen, drehten uns um und sahen auf das aus braun gefärbtem Glas gebaute Haus. »In meinem nächsten Leben werde ich Fensterputzer«, sagte Karl. Wir drehten uns um und gingen, im Gleichschritt, durch den Schneematsch. Wir stiegen die Felsen hinauf, zwischen den steif gefrorenen Vögeln hindurch. Oben, auf der Ebene, schien die Sonne, und der Schnee knirschte unter unsern Schuhen. Unser Atem machte Wolken. »Dort!« schrie ich plötzlich und rannte zu einem Schneehaufen. Ich wischte in fieberhafter Eile den Schnee weg und sah in das blaugefrorene Gesicht des jungen Manns. Er war tot. Wir zogen die Mützen aus. Da lag er, jung, rosig, mit geschlossenen Augen, mit Eisklumpen in seinem Schnurrbart. Karl seufzte. Er nahm den Briefumschlag aus der Tasche, zog das zerknitterte Papier heraus, zerriß es in kleine Schnipsel und warf sie über den Toten. Dann schaufelten wir Schnee über ihn, mit den Händen. Karl steckte seinen Stock in den Grabhügel, ich band meinen mit meinem Gürtel als Querbalken daran. Dann gingen wir auf das Haus zu. Immer wieder wandte ich mich um und sah auf den kleinen weißen Hügel im Schnee.
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Als es dunkel geworden war, zog ich das schwarze Tricot an, die Kletterhosen, die Schuhe, die Seidenhandschuhe und steckte die Gesichtsmaske in die Gesäßtasche. Ich zündete eine Fackel an, schob die Bretter über dem Loch weg, ließ das rote Seil hinunter und hangelte mich ins Zimmer hinab. Ich pfiff vor mich hin. Die Fackel rauchte, aber sie beleuchtete den Raum so hell wie noch nie. Sie blendete mich. Ich ging pfeifend durch die Tür in den Korridor, die Fackel hoch über mich haltend. Überall lagen umgestürzte Tische und Stühle. Ein aufgerollter Teppich lag bei der Wohnungstür. »Sie haben es eilig gehabt«, dachte ich. »Vielleicht haben sie mit dem Hausbesitzer Krach gekriegt.« Im Badezimmer hing ein cremefarbenes Medizinkästchen mit einer zertrümmerten Milchglasscheibe. Am Boden lagen ein länglicher elektrischer Rasierapparat mit einem verstaubten Scherkopf und eine Frauendusche aus orangem Gummi, mit einem schwarzen Bakelitrohr. Ich hob sie auf und roch an ihr. Dann ging ich ins Zimmer des Manns mit der Glatze und der Frau aus den Tomaten. Das Bett war verschwunden, aber ich roch den Duft der Tomaten. An den Fenstern hingen schwere schwarze Verdunklungsvorhänge. In einer Ecke lagen Tannennadeln auf dem Fußboden. Ich seufzte. Ich ging in die Küche. Ich hielt die Fackel vor mich hin, um besser sehen zu können. Links war ein Kasten mit Schubladen aus Glas: Majoran, Thymian, Basilikum und ein bißchen Salbei. Ich roch daran. Daneben stand ein Kochherd, mit schwarzen Platten und Schaltern, die wie Zigarren aussahen und wie Kanonenschüsse knallten, als ich sie betätigte. Auf der rechten Seite der Küche sah ich nichts, das heißt, ich war von meiner Fackel geblendet. Ich kam in ein Zimmer, in dem ich noch nie gewesen war. Es war völlig leer. Ich schob eine Schiebetür auf und kam, auf einem andern Weg als die letzten Male, in das große Zimmer. Links von mir stand der Grammofon. Diesmal schaute ich ihn mir genau an. Ich sah den braunen Samt, mit
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dem er innen ausgelegt war, und strich mit den Fingern über ihn hin. Auf dem Plattenteller lag eine Platte mit einem HisMasters-Voice-Hund. Ich stellte sie an und ging schnell in die Nische, in der der Mann mit der Glatze seine Versuche gemacht hatte. Der Tisch hatte eine rote, von Säuren verätzte Linoleumplatte. Leere Reagenzgläser standen in Holzhaltern. Jetzt hörte ich, aus dem Grammofon, eine heftige italienische Arie, von einem Tenor gesungen. Ich summte mit. Dann sah ich die Bücherregale: schwere braune Ungetüme. Sie waren beinahe leer. Ich nahm eines der Bücher, ein dickes, und öffnete es. Ich blätterte zielsicher darin, bis ich auf das Bild einer nackten Frau stieß. Sie war sorgfältig gezeichnet, in Farbe, sie hatte blonde Haare, ein ernstes Gesicht, ziemlich große Brüste und ein breites Becken. Sie war schön. Ich blätterte eine Seite weiter und sah nun ihr Skelett, ihre Leber, ihr Herz, ihre Därme, ihre Eierstöcke, ihre Blase. Ich lächelte und stellte das Buch ins Regal zurück. Ich hustete, wegen dem Qualm meiner Fackel. Die Platte war zu Ende, und der Tonarm ruckte in seine Ruheposition zurück. Ich nahm eine Tube Pelikanol in die Hand und roch an ihr. Ein Wonnegefühl durchschauerte mich. In einer Schublade lagen große Bonbons. Ich steckte eins in den Mund. Ich bekam Tränen in die Augen, vom Rauch. Zwei Negerstatuen aus Holz, eine Frau mit einem gewaltigen weißen Strich zwischen den Beinen und ein Mann, dessen Stummelschwanzende knallrot bemalt war, standen nebeneinander in einer Ecke. Flüchtig ging mein Blick über einen grünen chinesischen Porzellanhund, über Schachteln mit Denicoteakapseln, weiße Pfeifenputzer. Ich riß mich los und ging durchs Zimmer zurück in den Korridor. »Unglaublich«, murmelte ich. »Eines Tages sind alle einfach weg, man weiß nicht wohin.« Ich wischte mir die Tränen weg, kletterte am Notseil in mein Zimmer zurück und trampelte die Fackel aus. Als ich hochsah, sah ich, daß Anna auf meinem Bett saß.
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»Guten Abend«, sagte ich. »Mein Bruder ist nicht nach Hause gekommen«, sagte sie. »Wissen Sie, wo er ist?« »Ja«, sagte ich. »Er liegt draußen im Schnee, tot.« Sie nickte. »Kann ich«, sagte sie leise, »kann ich etwas zu trinken haben?« Ich nahm sie an der Hand und zog sie in die Küche, wo ich ihr einen Schnaps einschenkte. Sie kippte ihn herunter. »Irgend etwas läuft nicht wie es sollte«, sagte sie. »Aber was?«
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Stunden später saßen wir, immer noch trinkend, am Küchentisch. Karl saß uns in einem braunseidenen Morgenmantel gegenüber und schenkte sich ein Glas nach dem andern voll. In seinem Knopfloch steckte eine weiße Christrose. Ein heftiger Schneesturm tobte vor dem Fenster. Schneefetzen prallten gegen die Scheiben. Im Herd brannte ein Feuer, dessen rote Flammen unsre Gesichter erleuchteten. Schmelzwasser floß durch die Fensterritzen. Anna, die den Schnaps mit großen Schlucken trank, hatte glänzende Augen. Karl saß aufrecht am Tisch und hielt die Hände auf der Tischplatte. Ich trank mein Glas leer. »Jetzt ist es richtig schön bei uns«, sagte ich. »Herrgott, das war etwas, wenn der Vater auf der andern Wandseite herumrumorte«, sagte Anna und hob den Kopf. »Schluß jetzt«, rief Karl und trank sein Glas mit einem Ruck leer. »Rede ich jemals von meinem Vater?« »Nein«, sagte Anna. »Du bist aber auch älter.« Der Sturm heulte auf, und einen Augenblick lang schien er die Fenster eindrücken zu können. Wir sahen auf die ächzenden Fensterrahmen.
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»Mein Vater«, sagte Karl, »lag jeden Samstagabend mit zwei oder drei jungen Frauen an der dunklen Bahnböschung, und wenn meine Mutter über sie stolperte, beruhigte er sie mit wilden Komplimenten.« »Ha!« sagte ich. Ich nahm meinen Schnaps und goß ihn ins Feuer. Es loderte auf, bis fast zur Decke. Der Schneewind drückte den Rauch durch den Kamin nach unten. Grinsend ging ich zum Fenster und sah hinaus. Eisige Luft fuhr durch die Fensterritzen in mein Gesicht. Weiße Schneefahnen fegten über eine weiße Landschaft. Hirsche kauerten, zusammengeduckt, unter schrägen Bäumen. Der Himmel war weiß. »Vielleicht sterbe ich bald«, sagte Karl. »Manche Leute, die sowas sagen, sterben dann wirklich«, sagte Anna. Ich drehte mich um. Anna küßte Karl auf die Wange. Karl lachte, griff an seinen Rockaufschlag und gab ihr die Christrose. Anna wurde rot. »Hurra«, schrie Karl. »Hurra.« Er stand auf und sah nun aus wie ein Fähnrich, der eine Anhöhe erobert hat. Er prostete Anna zu und trank. Diese sah ihn an, dann lachte sie. Sie hob ihr Glas und schrie: »Sehr zum Wohle!« Ich lachte. Ich sah, wie die beiden ihre Gläser austranken. Sie setzten sich wieder. »Harr«, sagte Karl. »Als ich ein Kind war, sind wir vor dem Bäckerladen Schlange gestanden, mit einer Million Schilling in der Tasche. Zu Weihnachten haben wir für unsre Eltern Kartoffeln gestohlen.« Anna sah ihn an und trank langsam ihr Glas leer. Ich drehte mich um und sah wieder zum Fenster hinaus, während in meinem Rücken Anna und Karl ein Lied sangen, das von der Liebe der Matrosen handelte. »Das ist eine ungeheuerliche Gegend«, dachte ich. »Die paar Klippenbewohner sind entweder verrückt, oder sie bringen sich um, oder beides.« Ich sah zu den beiden Grabhügeln hinüber, die hinter den Schneewirbeln kaum zu sehen waren. Plötzlich schrie ich auf.
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»Dort!« schrie ich. Ich zeigte in die dunkle Nacht hinaus. Anna und Karl rannten zu mir zum Fenster und starrten in die Nacht hinein. Ein riesenhafter, schwarzer, gebeugter Mann kam durch den Schnee gestapft. Er trug einen Baumstamm auf den Schultern. Mein Herz klopfte. Ohne Müdigkeit trat er den Schnee nieder. Er stemmte das Gartentor mit einer Hand auf, ging, eine breite Spur hinterlassend, über den Plattenweg, bis zum Haustor. Er warf den Baumstamm in den Schnee. Er schloß das Tor mit einem Schlüssel auf, und jetzt hörten wir seine steinernen Schritte auf der Treppe. Wir sahen uns an. Unsre Wohnungstür krachte auf. Wir krallten uns an die Tischplatte. Der Mann stand schnaufend vor uns in der Küche und zog seine Pelzmütze. Schnee fiel auf den Boden. »Wer sind Sie?« sagte er. »Wir wohnen hier«, sagte Karl. »Wer sind Sie?« »Das ist mein Haus«, sagte der Mann. Er schüttelte den Schnee von seinem weiten Mantel und zog ihn aus. Er trug nur eine schwarze Krawatte darunter. Jetzt erkannte ich ihn. Ich sah die Narbe auf seiner Wange. »Der alte Mann aus den Felsen«, rief ich. Dieser sah mich mit brennenden Augen an. »Der bin ich, wenn ich mich nicht irre«, sagte er und kicherte. »Einunddreißig Jahre lang bin ich unterwegs gewesen, aber das ist immer noch mein Haus.« Wir sahen uns an. Das langsam niederbrennende Feuer beleuchtete unsre Gesichter. Karl goß, aus dem Faß, ein Glas mit Schnaps voll und hielt es dem fremden Mann hin. Dieser beachtete ihn nicht. Er ging brummelnd in der Küche auf und ab und sah sich alles an, die Harfe, die Gewürze, die Nielen, das Bierfaß, das Schnapsfaß, das eingepökelte Schwein, die Manuskriptkiste, die Marmelade, die aufgebahrten Zieräpfel, die Töpfe aus gebranntem Ton, die Kerzen, das Feuer im Herd. Sein Schwanz baumelte hin und her. Er schüttelte den Kopf. »Immer habe ich gedacht, was kann mir passieren, ich habe ja
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mein Haus«, sagte er. »Ich war einmal ein Professor. Mir gehörten die Kindergefängnisse der ganzen Schweiz. Ich hatte die irrsten Autos.« Er atmete jetzt heftig. Seine Haut war voller roter Flecken. »Hinaus!« schrie er. »Hinaus!« Wir sahen uns an. »Aber«, sagte Karl, »der Schneesturm. Draußen ist ein Schneesturm. Er wird uns umbringen.« Der Mann rannte zur Küchentür hinaus. Wir hörten ihn durchs Haus rumoren, polternd und vor sich hinbrüllend. Mit krachenden Schritten ging er durch alle Zimmer. Plötzlich stand er wieder unter der Tür. In der linken Hand hielt er eine meiner Fackeln, in der rechten einen Kanister mit Benzin. »Verbrecher!« schrie er. »Saubande!« Er goß Benzin über den Küchenboden, in den Korridor und, mit einem wilden Schwung, über uns. »Sind Sie verrückt geworden?« schrie Karl, aber da hatte der alte Mann schon die Fackel übers Herdfeuer gehalten und zündete das Benzin an. Wie ein Blitz brannte sich das Feuer den Benzin entlang, von der Küchentür über den Küchenboden, die Beine des Küchentischs hinauf, über die Tischplatte, über uns. Wir brannten. Wir schrien wie die Wahnsinnigen. Ich sprang auf, stürzte mit den Händen um mich schlagend zum Fenster, sprang brüllend hindurch und wälzte mich, nach einem tiefen Sturz, im Schnee, bis das Benzin ausgelöscht war. Keuchend lag ich auf dem Rücken. Über mir schlugen Flammen aus dem Küchenfenster. Auf dem Balkon davor stand der alte Mann, eine schwarze Silhouette vor den Flammen. Er lachte. Ich rappelte mich hoch. Neben mir lag Anna, weiß, mit einer verkohlten Bluse und einem angebrannten Rock. Ihre nackten Beine lagen im Schnee. »Oh, Gott«, murmelte ich und rieb ihre Wangen, die Arme, die Brust, die Beine, die Füße. Ich drückte meinen Mund auf ihren und bewegte ihre Arme. Ich küßte sie von oben bis unten.
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Ich zählte auf hundert. »Gott«, dachte ich. »Wie soll ich ohne sie überleben?« Ein eiskalter Wind fuhr in mein Hemd, das in schwarzen Fetzen an mir herunter hing. Schnee pappte sich auf meine Augen. Ich bewegte Annas Arme immer schneller. Endlich schlug sie die Augen auf. »Anna«, sagte ich. »Was, was ist?« sagte sie. »Warum brennt das Haus?« Sie setzte sich auf. Ich drehte mich um und sah, daß das ganze Dachgeschoß in Flammen stand. Ich stand auf. Glühende Holzbalken flogen durch die Luft. Der alte Mann tanzte auf seiner Terrasse herum und sang. Anna starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. »Wo ist Karl?« sagte sie dann. Ich löste meine Augen vom tobenden alten Mann und sah sie an. »Ja«, sagte ich. »Wo ist Karl?« Wir rannten im tiefen Schnee hin und her, ums brennende Haus herum, überallhin. Wir hielten uns an den Händen. Nie ließen wir uns los. »Karl«, rief ich. »Karl, Karl.« Wir blieben stehen und lauschten in das laute Toben des Schneesturms hinein. Wir sahen unsre ausgestreckten Hände vor uns nicht mehr. Das Haus brannte donnernd. Wir standen da, wo die Schneegrenze war, mit nackten Beinen, in unsern zerfetzten Kleidern, mit nassen Füßen. »Was tun wir jetzt?« sagte Anna. »Komm«, sagte ich. Ich nahm sie an der Hand, und wir gingen in die schwarze Winternacht hinein. Wir gingen ohne zu atmen, ohne die Kälte an unsre Herzen kommen zu lassen, durch den metertiefen Schnee. Wind fegte um unsre Hälse. Anna stolperte. »Das ist dein Vater«, sagte ich, »oder dein Bruder.« Ohne anzuhalten ging ich weiter. Als wir bei den Felsen ankamen, wandte ich mich ein letztes Mal um. Das brennende Haus war ein heller Punkt im tobenden Schnee. Anna, die sich nicht umgedreht hatte, hatte eisblaue
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Lippen und ein bewegungsloses Gesicht. Eisklumpen hingen in ihren Haaren, und auf ihren Armen lag Schnee. Wir rannten. Wir ließen uns die Felsen hinunterfallen. Wir rannten durch die weißen Straßen der Stadt, auf denen, mit sich drehenden gelben Warnlampen, Streufahrzeuge der Stadtreinigung fuhren und Sand streuten. Wie verzweifeltes Vieh rannten wir durch die Unterführung des Bahnhofs. Im Wartesaal brachen wir zusammen, weinend klammerten wir uns an die Zentralheizung. Stundenlang preßten wir uns dagegen, bis ein erstes Leben in unsre Glieder zurückkam. Dann sahen wir uns an, ich Anna in ihrer klatschnassen verkohlten Bluse und dem zerfetzten Minirock, sie mich in meinem schwarzen Tricot und dem, was von meiner Kletterhose übriggeblieben war. »Und jetzt?« sagte sie. »Jetzt fahren wir nach Frankfurt«, sagte ich. Wir gingen Hand in Hand in die große Schalterhalle. Durch die Glastür des Zollamts sahen wir, wie die Beamten miteinander redeten. Sie spielten mit ihren Revolvern und lachten. Ich öffnete schnell die Tür, dann krochen wir, eng an die Rampe für die Koffer und Taschen gepreßt, an den Beamten vorbei. Wir hörten ihre Stimmen. Am Ende der Rampe standen wir auf und rannten durch einen langen, schlecht beleuchteten Korridor. An seinem Ende wandte ich mich um. Alles war leer, nur unsre schwarzen Fußtappen führten bis zum Zollamt, weit hinten. Ich legte meinen Arm um Annas Schultern. »Siehst du«, sagte ich. »Wir schaffen es.« Sie sah mich an und lächelte. Wir stiegen die Treppe zu den Bahnsteigen hinauf. Der Zug nach Frankfurt stand bereit, mit hell erleuchteten Waggons. Wir stiegen ein und gingen, Hand in Hand, durch die Zugskorridore, bis wir ein leeres Abteil fanden. Wir schlossen die Tür und krochen unter eine Sitzbank. Eng aneinandergepreßt lagen wir da, die Füße an der Heizung. »Andere Menschen sind von Sibirien nach Paris an Zugachsen hängend gereist«, sagte ich. Ich
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lachte. »Karl ist tot«, murmelte ich. »Es ist unmöglich, daß er den Sturz, den Brand, den Schnee und die Trennung überlebt hat.« Anna wandte den Kopf und sah mich an. Dann lagen wir stumm da, aneinandergepreßt, mein Bauch an ihrem Rücken. Unsre Füße scharrten auf der Heizung herum. Endlich spürten wir eine erste Wärme in uns.
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Endlich stehe ich von der Schreibmaschine auf. Der Schneesturm hat mich angestrengt. Ich gehe in die Küche, wo Anna am Tisch steht und Fleisch für ein Gulasch zurechtschneidet. Ich rieche am Paprika. »Mmm«, sage ich. »Und?« sagt Anna. »Ich bin sozusagen fertig«, sage ich. Anna wirft das zerschnittene Fleisch in eine Gußeisenpfanne. Das Schmalz zischt. Anna holt Gewürze vom Regal. »Was geschieht denn in deinem Buch?« sagt sie. »Das weißt du doch«, sage ich. »Ich und Karl fahren von Frankfurt nach Basel. Es schneit. Wir klettern auf ein Klippengebirge jenseits der Stadt hinauf und kommen zu einem moosüberwachsenen Haus. Karl hat alle seine Romane in einer großen Kiste bei sich.« »Ich habe sie nie gesehen«, sagt Anna. »Du bist am letzten Abend draufgesessen«, sage ich. »Jedenfalls, wir machen alles selber: die Möbel, das Feuer, die Würste, die Getränke, die Musik. Wir ernten alte Kartoffeln. Ein junger Mann tritt auf, durch ein Loch in der Decke. Sein Vater stirbt. Der junge Mann geht in die Stadt. Er hat ein Mittel gegen Krebs und will es einer chemischen Fabrik schenken.« »Man konnte keine Pillen draus herstellen oder es in eine
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Vene spritzen«, sagt Anna. »Es war eher eine Beschreibung, wie man anders leben könnte.« »Dann«, sage ich, »reiße ich die Bretter aus meinem Fußboden und steige in die Wohnung untendran.« »Warum?« »Weil, unten an uns wohnen ein Mann mit einer Glatze, ein hagerer Mann mit einer Kratzwunde auf der Wange und eine Frau. Ich erforsche ihre Wohnung.« »Hm«, sagt Anna. »Und dann?« »Dann lerne ich eine junge Frau kennen, dich«, sage ich. »Beim Begräbnis«, sagt Anna. »Ihr kamt beide viel zu spät. Du hattest einen viel zu kurzen Konfirmationsanzug an, und Karl einen ausgeliehenen Frack. Du hast beim Singen geweint.« »Ich habe gesungen?« sage ich. »Jedenfalls, wir gehen auf die Jagd, du und ich. Ich erzähle dir eine Geschichte von Karl. Wir schießen ein Wildschwein und schleppen es heim.« »Ich hatte Angst«, sagt Anna. »Du?« sage ich. »Ich dachte, du hast keinerlei Empfindungen.« Anna lacht. Sie schüttet Rotwein über das Gulasch. Er zischt in der heißen Pfanne auf, mit einer heißen Wolke. Ich rieche den Duft. Anna sagt: »Dann wollte ich mit dir schlafen, aber du hast dich wie ein Esel benommen.« »Ich?« sage ich. Ich sehe zum Fenster hinaus. Mehrere Japaner in blauen Blazers gehen auf dem Trottoir gegenüber auf und ab und reden miteinander. »Als wir gerade eine Woche weg sind von Frankfurt, bringt sich dein Bruder um«, sage ich. »Es geht jetzt alles drunter und drüber. Der Besitzer des Hauses kommt und zündet das Haus an. Karl stirbt im Schneesturm. Wir rennen zum Bahnhof und fahren nach Frankfurt zurück.«
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»Was für eine Geschichte«, sagt Anna. Ich nicke. Die Japaner auf dem Trottoir stehen nun in einem Halbkreis um einen älteren, etwas dicken Japaner herum. Alle haben ein schwarzes Köfferchen in der rechten Hand. Der ältere Japaner deutet auf unser Haus. Die Japaner lächeln und fotografieren es. »Wie heißt das Buch?« sagt Anna. »Die gelben Männer«, sage ich. Anna sieht mich an und zieht die Augenbrauen hoch. Sie rührt in der Pfanne. »Na ja«, sagt sie. »Und wie geht es aus?« »Daß wir beide zusammen ein Gulasch kochen«, sage ich. »Daß wir es zusammen essen und bis zu unserm Lebensende zusammen bleiben. Unser Kind heißt Fanny.« Es klingelt. Wir rennen beide zur Tür und reißen sie auf. Ein Mann in einer Pelzkleidung steht davor. Er schüttelt sich Schnee von den Schultern. Er zieht eine Pelzmütze aus und lächelt. »Karl!« schreien wir beide gleichzeitig. Wir stürzen uns auf ihn. Wir küssen ihn. Wir zerren ihn in die Wohnung und in die Küche. Wir setzen ihn auf einen Stuhl und stellen ihm ein Weinglas auf den Tisch. Wir hauen ihm lachend auf die Schultern. »Wie hast du denn den Schneesturm überlebt?« sage ich schließlich. Karl lacht. »Das hättest du nicht gedacht«, sagt er. »Nein«, sage ich. »Wirklich nicht.«
43 »Ich habe gebrannt wie eine Fackel«, sagt Karl und krempelt einen Ärmel hoch. Wir sehen auf seine Brandwunden. »Ich bin schreiend durch den Schnee gerannt. Ich bin zusammengebrochen. Am nächsten Morgen bin ich aufgewacht, ein weißer Schneehaufen. Eure Spuren führten über mich hinweg.« »Nein«, sage ich. 123
»Ich lag direkt neben dem Grabhügel. Ich rappelte mich auf. Vor mir waren die verkohlten Reste des Hauses. Ich durchsuchte alles. Alle meine Manuskripte sind verbrannt. Auch der Hausbesitzer lag in den Trümmern, verkohlt.« »O Gott«, sagte ich. »Ich ging dann, in einer warmen Morgensonne, durch den Schnee in die Stadt hinunter. Ich arbeitete zwei Monate lang als Kellner in einem Restaurant, bis ich genug Geld hatte, um euch zu suchen.« »Toll«, sagt Anna. »Und ihr?« sagt Karl. »Ich war direkt glücklich über den Auftritt des verrückten Hausbesitzers«, sagt Anna. »Wir lieben uns«, sage ich. »Ihr?« sagt Karl. Er sieht Anna an, die den Blick senkt und rot wird. Mein Herz klopft.
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»Eine von meinen Geschichten weiß ich noch auswendig«, sagt Karl, während wir am Tisch sitzen und das Gulasch essen. »Ein Schriftsteller, der immer nur Geschichten von Weltraumflügen schreibt, sitzt in seiner Kammer und schreibt und schreibt, und plötzlich kommt seine längst tote Mutter zur Tür herein und sagt, wann ist das Buch denn fertig, ich habe das letzte längst ausgelesen.« Er verstummt und ißt, auf seinen Teller schauend. Ich sehe ihn an. »Ich schreibe gerade unsre Geschichte«, sage ich. »Ich bin auf der fünftletzten Seite.« »Du?« sagt Karl und sieht auf. Er lacht. »Ich würde unsre Geschichte so schreiben: ein Schriftsteller, der ein Leben lang nur Geschichten aus dem Andromedanebel geschrieben hat,
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ohne jemals dort gewesen zu sein, wird eines Abends, als er auf die Terrasse seines Hauses tritt, von fremden Wesen entführt. Sie tragen Japanermasken. Sie schleppen ihn auf einen Andromedaplaneten, zusammen mit seinem jungen Freund, und beide müssen dort alles machen wie auf der Erde: die Möbel, das Feuer, die Musik, die Getränke, das Essen. Die Andromedaner notieren sich jeden Handgriff. Schließlich haben die beiden ein Haus gebaut, einen Garten eingerichtet, und der Schriftsteller hat eine ganze Kiste voll Manuskripte geschrieben, harte Fakten aus dem Andromedaleben. Da gibt es einen Regierungswechsel im Andromedastaat, oder so was, und die Andromedapolizei zündet das Haus an und verwüstet den Garten. Alle Manuskripte verbrennen. Die beiden Menschen, der Schriftsteller und sein junger Freund, werden wieder auf der Erde abgesetzt, in Frankfurt. Sie verabschieden sich voneinander. Der junge Freund geht in seine Bude zurück und heizt, vor sich hinbrummend, den kalt gewordenen Ofen ein. Der Schriftsteller legt sich mit seiner Frau, die seine Abwesenheit gar nicht bemerkt hat, unter den Küchentisch. Sie freut sich über seine unerwartete Leidenschaft. Weißt du, sagt er ihr, während sie sich lieben, ins Ohr, jetzt habe ich wieder Kraft für zwei. Ich werde alle meine Romane neu schreiben, und anders.« Karl und Anna lachen. Sie essen. Hastig trinke ich einen Schluck Wein. Ich sehe auf die Straße hinunter, in das leere Bürohaus. Ein Auto hinter dem andern fährt durch die Straße, mit dröhnenden Reifen. Ein leichter Nieselregen fällt. »Ich weiß nicht, ob dir aufgefallen ist, wie die Japaner sich vermehrt haben«, sage ich und drehe mich wieder um. »Ich will dir etwas sagen.« Ich beuge mich vor und fasse Karl am Ohr. »Das sind keine Japaner. Es sind Roboter aus dem Andromedanebel.« Ich schaue in Karls Augen. »Sie werden kein Pardon geben«, sage ich. »Sie werden uns auseinanderreißen. Sie packen uns in ihre Raumschiffe und fliegen uns in den Andro-
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medanebel, in ihre eiskalte Heimat. Wir werden in sibirischen Lagern sein, ohne Liebe.« Ich stehe auf und gehe in der Küche auf und ab. Ich atme erregt. Ich sehe, daß Karl und Anna miteinander reden. »Redet nur miteinander«, schreie ich. »Redet nur miteinander. Wenn sie dann da sind, werdet ihr schon sehen. Sie sind gut getarnt, aber für mich nicht gut genug.« »Wer?« sagt Anna und sieht mich an. Ich packe die Gulaschpfanne und werfe sie zum Fenster hinaus, die Teller, die Löffel, die Gabeln, die Messer, die Gläser. Anna starrt mich an. Sie steht auf und rennt schluchzend durch den Korridor. Ich höre, daß sie telefoniert. »Ist ja schon gut«, sagt Karl. »Nichts ist gut«, schreie ich. »Du hast es doch selber geschrieben.« Es klingelt. Anna öffnet die Tür. »Er ist in der Küche«, sagt sie. »Er ist sehr erregt.« Ich höre Schritte im Korridor. »Ich bin überhaupt nicht erregt«, schreie ich. Ich starre auf die Tür, unter der zwei Japaner in weißen Kitteln stehen. Dahinter ist Annas Gesicht. Die Roboter sehen mich an. Sie kommen auf mich zu. Anna geht um den Tisch herum, zu Karl, der ihre Hand streichelt. Beide sehen mich an. »Was habe ich gesagt?« murmle ich. »Gehn wir, junger Mann«, sagt einer der Roboter und faßt mich am Arm. Ich sehe Anna an, mit aufgerissenen Augen. »Ich komme dich besuchen«, sagt sie mit Tränen in den Augen und streichelt meinen Arm. »Wie denn?« sage ich. »Wie willst du denn bis in den Andromedanebel kommen?« Dann gehe ich zwischen den beiden Robotern durch den Korridor. Sie sind beide weiß gekleidet und haben rosige Gesichter. Sie lächeln. Sie halten mich mit eisernen Klauen an den Armen. Unten, vor der Tür, steht ihr Raumschiff. Es ist weiß, und eine blaue Signallampe dreht sich auf seinem Dach. Schau-
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lustige haben sich angesammelt. Sie starren mich an. »Ihr werdet auch drankommen«, schreie ich. Im Cockpit des Raumschiffs sitzt ein Pilot, ebenfalls in einem weißen Raumanzug, an einer Art Steuerrad. Ich steige durch eine Luke ein und werde, für den Start, auf einer Liege festgebunden. Die Roboter setzen sich neben mich. »Sie halten den Startdruck auch im Sitzen aus, gell«, sage ich zu ihnen. »Natürlich, natürlich«, sagt einer von den beiden. Der andere schweigt. Am Vibrieren meiner Liege spüre ich, daß die Düsen gezündet worden sind. Eine Sirene heult. Dann starten wir.
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