GABRIEL BARYLLI FOLGE DEM GELBEN STEINWEG ... ROMAN
BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 14433 Erste Auflage: November 2000
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GABRIEL BARYLLI FOLGE DEM GELBEN STEINWEG ... ROMAN
BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 14433 Erste Auflage: November 2000
Vollständige Taschenbuchausgabe Bastei Lübbe ist ein Imprint der Verlagsgruppe Lübbe © 1991 by Nymphenburger Verlag Lizenzausgabe: Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Umschlaggestaltung: Klütsch, Köln Titelillustration: Premium Satz: hanseatenSatz-bremen, Bremen Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Fleche Printed in France ISBN 3-404-14433-3 Sie finden uns im Internet unter http://www.luebbe.de Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Für Dich
»Der Weg ins Freie führt durch die Tür warum nimmt niemand diesen Weg?« LAO-TSE
Als ich von allem genug hatte, beschloß ich zu gehen.
Ich verkaufte meine Wohnung, meinen Wagen, meine liebsten Kleinigkeiten und ließ alles hinter mir. Weit mußte es sein, weit weit weg mußte es sein, wohin ich wollte, und keiner sollte mich kennen oder grüßen oder mich sinnloserweise zu einer Wochenendpartie einladen und dabei hoffen, daß ich ohnehin absagen würde. Also kaufte ich mir ein Ticket nach Kairo, flog von dort nach Mittelägypten, vermied es, einsam stehengebliebene Kulturzitate einer vergangenen Zeit in Form hoher Steinsäulen zu bestaunen - sondern schiffte mich nach Assuan ein. Vier Tage kämpfte sich das Schiff den Nil hinauf, legte an, ließ mich von Bord, fuhr weiter und sah nicht mehr, daß ich eine Pferdekutsche bestieg, die mich auf dem schnellsten Weg ins »Old Cataract«-Hotel brachte, das heute noch dort steht, wo die Engländer es im Jahre 1903 vernünftigerweise hingebaut hatten.
Ein seltsames Volk, dachte ich mir, immer mit viel zu weißer Haut und unerotisch kurzen Khakihosen in viel zu heißen Ländern unterwegs und dabei alles unterjocht, was sich bewegt, aber die Hotels eben doch auf die schönsten Plätze hingeworfen, mit dem Ausblick ins Idyll des besetzten Landes, den Rücken den Sklaven zugekehrt, denen nichts anderes übrigbleibt, als so lange zu dienen, bis ein Gandhi geboren wird. Na ja - was soll's - fehlgeleitete Libido und zu enge Mieder der Frauen der oberen Führungsschicht, dachte ich, als ich durch die Schwingtüre trat, die auf die alte holzgeschnitzte Terrasse führt, von der man den einzigen wirklich imperialen Blick auf die Stromschnellen des heiligen Nil hat und setzte mich in einen Stuhl. Natürlich ist das auf dieser Terrasse nicht irgendein Stuhl, sondern ein kunstvoll gebogener, kunstvoll geflochtener Weidenholzstuhl, der beim Zurücklehnen leise seufzt und jeden Zeitfluß weise relativiert. Man sinkt zurück in diesen Stuhl,. hört ihn seufzen und kommt gleichzeitig mit ihm zu einer Ruhe, von der man gar nicht wußte, wie viele Kilometer man laufen muß, um sie zu schätzen. Ja - so ist das Tausende Kilometer muß man weg von dem Ort der Üblichkeiten, in die man hineingeboren ist, nur um in Ruhe einen Kaffee zu trinken, der einem ohne Hast serviert wird, ohne Ungeduld eines überlasteten Kellners, der nicht weiß, wie er die Ratenzahlungen für das viel zu
teure Sportkabriolett bezahlen soll, das er glaubt steuern zu müssen, um dem Serienhelden im Fernsehen noch ähnlicher zu sein, von dem alle sagen, er sei sein Zwillingsbruder. Nein - hier ist das nicht so - hier ist es anders, hier ist es still. Eine halbe Stunde mindestens kann man sitzen und erst einmal ankommen, bevor ein Mensch das Wort an einen richtet, ein Mensch, dessen Aufgabe es ist, ruhig einen Kaffee zu servieren, dessen Bohnen noch gemahlen worden sind, unmittelbar bevor das kochende Wasser aufgeschüttet wurde. Hier ist der Blick über die dunkelgrün gestrichene Holzbalustrade der Auftakt zu einer Muße, die erst einmal eine Generalpause macht, bevor die Violinen der Entspannung leise ihr Lied erzählen. Bin ich zu schwärmerisch-? Vielleicht - aber was soll man machen, besser gesagt, was soll ich machen, damit habe ich ja gerechnet, daß es nicht so schnell gehen wird - daß es nicht so einfach sein wird, ein halbes Leben voller falscher Taten, falscher Ziele und falscher Entscheidungen hinter sich zu lassen. Mein Atem braucht seinen Auslauf, mein Blick sucht sich seinen Nullpunkt, mein Herz nimmt erst Abschied, bevor meine Seele das Wort »Anfang« über die Lippen bringt. Also Ruhe also Stille -also ... Pause ... also Geduld, also Geduld, also Geduld und Geduld...
Dulden - hm... ... dulden tu' ich nichts mehr, soviel steht fest. Erduldet ist genug. Der Karotte des Zweckoptimismus ist genug hinterhergehechelt worden. Ich bin es müde, meinen Rechtfertigungen zuzuhören, die ich mir selbst ein Leben lang ins Ohr gemurmelt habe, um weiter zu funktionieren, weiter zu dienen, weiter zu schlucken, was ausgespuckt werden sollte. Lange genug war ich unterjochende Besatzungsmacht meiner wahren Sehnsüchte und meiner wahren Möglichkeit, der Mensch zu sein, der ich bin. Jetzt ist der Tag gekommen, ins Freie zu treten, ohne erst furchtsam zum Himmel zu blicken, ob dort eine Wetterwolke der Existenzangst die Sonne verdunkelt. Jetzt ist der Wendepunkt erreicht, an dem der Tatsache ins Auge geblickt werden muß, daß ich eines Tages sterben werde und angesichts dieser Premiere sollte ich doch zumindest die letzten zehn Minuten meines Lebens ohne Lügen gelebt haben. Diese zehn Minuten können aber jederzeit »jetzt« beginnen. Daher gibt es keine Ausreden mehr, sondern nur noch das Handeln. Der Leidensdruck. Der Leidensdruck ist es - warum muß der Leidensdruck immer erst an die Grenze des Unerträglichen gehen, bevor man handelt? Wieso ist das System der menschlichen Unzulänglichkeit so simpel konstruiert wie eine Dampflok, die sich auch erst dann widerwillig in Bewegung setzt, wenn der Kessel kurz vor dem Platzen steht? Ich weiß es nicht... die Trägheit des
Herzens ist es, die sich jeder Veränderung widersetzen will, bis die Unbewegtheit der Seele nur mehr in der Revolution einen Rundumschlag zu tun vermag, der befreit und niederreißt und mit einem Steppenbrand der Veränderung die alten Gewohnheiten hinwegfegt. Jeder hat seinen »Point of no return« und bis der nicht erreicht ist, verharrt man seltsamerweise lieber im Niemandsland der Unentschlossenheit, als die Diktatoren von den Balustraden der seelischen Parteitage hinwegzufegen. Mein »Point of no return« war der Abend, an dem ich Desdemona mit einer Kettensäge zerfetzen mußte. Ich weiß, es klingt seltsam, aber an dem Abend, als ich mir wieder einmal dabei zusah, wie ich als Othello in schwarzem Smoking eine Strohpuppe mit blonder Perücke mit einer kanadischen Kettensäge der Marke »Oaktree« verstümmelte und dabei »Hast du zur Nacht gebetet, Desdemona?« schrie - hatte ich plötzlich genug. Das Stroh flog mir um die Ohren, ich hatte höllische Angst mit dem Ding abzurutschen und mir ins Bein zu schneiden und das Theater war außerdem halb leer. Ist es das, Stefan - zuckte es mir plötzlich durch den Kopf, ich frage dich - Stefan Kowalski-, ist das das Ergebnis deiner Sehnsucht, etwas über die Welt zu erfahren und das Gesehene an die Menschen weiterzugeben, die man das Publikum nennt?! Wo ist der offene
Blick geblieben, mit dem ich vor vielen Jahren eines Abends an einem See gesessen bin und zugesehen habe, wie ein Fisch in unerkennbarem, aber doch vorhandenem Gesetz des Kosmos an die Oberfläche stößt und den Spiegel des Sees mit sich weitenden Ringen überzieht... Ich bin dagesessen und habe geschaut und habe gefühlt, einen leisen, warmen Wind auf den Wangen und das Licht der tiefstehenden Sonne, die erlaubt, daß man ihr ins Herz blickt, bevor sie versinkt - ich habe den Wind gesehen, wie eine Frau, die mit zarten Fingern in die Birken greift und die Zweige bewegt - die Gedanken der Vögel... das Lächeln der Stille ... Das war der Abend, an dem ich zum ersten Mal gewußt habe, daß ich das erzählen will - dieses Hineinstaunen in die Webmuster des Unendlichen, das sich als springender Fisch tarnt, der Wellenkreise zaubert. Ich wollte das weitersagen - unheimlich und heimlich-, wie einem lieben Freund weitersagen, und so bin ich zum Theater. Ich bin kein Maler und kein Schreiber und kein Bildhauer und kein Tonsetzer - ich kann nur sein, der ich bin und als der, der ich bin, habe ich gesehen, daß es Plätze gibt in der Wildnis der Unverschämtheit, auf denen sich zu schämen noch eine Tugend ist, und dort bin ich hin. Und für mich war dieser Platz das Theater.
Andeutungen von Ahnungen habe ich gesucht, aber meine Hauptsorge wollte nie sein, ob genügend Benzin in der Kettensäge ist, wenn ich zur Schlußszene schreite. Was soll's - der Regisseur war ein junger Mensch, der ganz einfach erkannt hat, daß er niemals auffallen würde, wenn er die letzte Szene zwischen Othello und Desdemona als Tragödie eines verirrten Herzens inszenieren würde. So einfach ist die Erkenntnis, die er hatte und danach hat er gehandelt. Es ist nämlich ganz einfach so, daß es mehr Aufsehen erregt, Omas Lieblingsvase aus der Ming-Dynastie vom Kaminsims zu stupsen, als sich in ihrer Schönheit zu verträumen. Wir sind nicht mehr in der Epoche, in er es um das Wahre, Gute und Schöne geht, sondern wir suchen die Scherben unserer besten Möglichkeiten, um sie - wahrscheinlich waren wir es auch nie - ich meine, in der Epoche des Wahren, Guten und Schönen -und jetzt wird uns das nur schlicht und einfach bewußt, und nur hoffnungslose Romantiker, wie ich einer bin, entdecken Zusammenhänge zwischen dem Jadegrün der alten Tempellöwen auf Burma und dem Schwirren der Schwungfedern des Paradiesvogels, der eben jetzt an meiner Terrasse in Assuan vorbeigeflogen ist. »Your coffee - Sir-«... Wo war ich - wo bin ich - ah ja - typisch - wieder einmal verloren in den keltischen Labyrinthen auf dem Fußboden der Kathedrale meiner überspitzten Sehn-
Süchte. Wann werde ich es lernen, dort zu sein, wo ich bin und der zu sein, der ich sein könnte? »Your coffee, Sir.« - das ist es, was zählt. Diese ruhige, ruhige Stimme dieses dunklen Herrn, der ein Messingkännchen vor mich hinstellt, eine Schale voll Zukkerstückchen, einen Teller mit gesüßten Pistazien und ein Glas Wasser. Natürlich ist es Mineralwasser, aber es kommt in einem Glas und stört auf diese Weise nicht das Ensemble, das er auf meinem Tisch aufbaut. Ein geflochtener Korbtisch mit Messingplatte obendrauf, mit Gravuren innendrin und Silbereinlagen noch dazu. Jedes, in den Städten so übliche Herzeigen, welche Mineralwassermarke derzeit wichtig zu sein hat, verbietet sich hier auf das Selbstverständlichste. Hier geht es nämlich nicht um die Abgrenzung zum Nebentisch-nachbar, der vielleicht so verspätet ist, noch Perrier zu trinken oder gar San Pellegrino, hier geht es darum, ein Wasser zum Kaffee zu bekommen, um den Magen zu schonen, die Gesundheit zu schonen, den Durst zu löschen, um den Blick frei zu haben. In der Wüste ist Wasser ein Zeichen, an Wert so mächtig wie Gold. Es ist Gastfreundschaft und Vertrauen, mir dieses Glas Wasser zu geben. Vielleicht lerne ich es hier, spricht eine Stimme in meinem Kopf, vielleicht wird eine Kette von Tagen eine Kette der Übungen werden, die alle nur einen Sinn haben, zu schauen, wo ich bin, zu fühlen, was ich erlebe und zu erkennen, wo die Lüge beginnt, die ver-
hindert, daß die Fenster zwischen mir und der Welt so geputzt sind, wie sie von »ihm« geplant worden sind, als er alles erschuf, was ist, war oder sein wird. Jetzt wird auf jeden Fall gleich ein Zuckerstück in meiner Tasse sein, vielleicht auch ein zweites oder ein drittes und dann, dann werde ich langsam den Kaffee über den Zucker rinnen lassen, nachdem ich ihn geklopft habe, so wie es hier üblich ist. Kann man Kaffee klopfen? - o ja, man kann - vor allem dann, wenn es ein richtiger, ein türkischer Kaffee ist, den man in einem Kännchen aus Messing serviert bekommt, in dem der Kaffee, etwas Zucker und Wasser zum Kochen gebracht worden sind, bis die Mischung zu steigen beginnt und auf diese Weise ankündigt, daß das Fest eröffnet wird. Von diesem Steigen bleibt eine Insel gestockten Kaffeepuddings an der schlanken oberen Öffnung des Kännchens zurück und das hat zur Folge, daß derjenige, der in den Genuß des Kaffees kommen möchte, das Kännchen an seinem waagrecht abstehenden Holzgriff nehmen muß und es einige Male sacht auf den Tisch klopfen wird, um diesen Kaffeepulverdamm aufzulösen und zum Sinken zu bringen. Dann allerdings - dann steht nichts mehr im Wege, um das schwarze, süße Gift in die Tasse fließen zu lassen, in der einige Zuckerstücke darauf warten, diese Essenz noch sündiger zu machen. Ach ja — die tägliche Sünde als Erinnerung, wie schön das Leben sein könnte, wenn es nicht so wäre, wie es ist. Ich nahm einige der
süßen, gerösteten Pistazienkerne und vermischte ihren Geschmack mit dem Kaffee und blickte auf das gegenüberliegende Nilufer, an dem einige Ziegen weideten und mit den nächstliegenden Dingen in ihrem Leben, dem Essen und Trinken, überhaupt keine Probleme hatten. Wo könnten wir sein, dachte ich, wenn wir die einfachsten Dinge gelernt hätten, auf unserer Laufbahn über diesen Planeten. Aber nichts, nichts, nicht einmal das ABC des täglichen Lebens haben wir gelehrt bekommen und staunen trotzdem, daß wir die Enzyklopädie unseres Daseins nicht entziffern können. Wann werden wir aufwachen und einen neuen Nullpunkt vereinbaren? Wann werden wir von ihm ausgehend gemeinsam ein neues Koordinatensystem entwerfen können, das uns ein Wegweiser ist, unsere wirklichen Bedürfnisse zu leben und vor allem zu erleben -wann?! Noch die Generation unserer Väter hat im Erschlagen des Nächsten die einzige Lösung der selbstgemachten Probleme gesehen, und von denen geht eine nahtlose Traditionskette zurück, bis zu Lucy, der Urmenschin, die irgendwann einmal vor Millionen von Jahren beschlossen hat, den Schritt aus dem Paradies hinein in die Kette von Irrtümern zu tun, die als logisches Endglied zur Folge hat, daß der Papst ein Waffenhändler ist. Gibt es ein Entkommen?! Wie weit muß die Reise sein, die man antritt, um die Endstation Sehnsucht hinter sich zu lassen? Wer hat die Antwort ... irr-
lichternde Ausflüchte, sagte ich zu mir und sah einem jungen Araber zu, der sein Segelboot gegen den Wind kreuzte und keine andere Sorge kannte, als daß sein Kollege nicht vor ihm am Landungssteg sein möge, an dem zwei erlebnishungrige Ausländer darauf warteten, auf die andere Seite des Nils übergesetzt zu werden, auf der das Abenteuer eines Kamelrittes in das absolute Nirgendwo wartete. Wahrscheinlich werde ich noch viele Tassen Kaffee und viele übersetzende Segelboote an mir vorbeiziehen lassen, um den Motor der inneren Unrast zum Abkühlen zu bringen, dachte ich und dehnte meine Arme nach beiden Seiten, beugte den Kopf zurück und versank in dem Anblick des alten weißgeflügelten Ventilators, der sich an der Decke der Terrasse drehte und mit gütiger Geduld über die heißgedachte Stirne des Gastes strich, der sich unter ihm zu entspannen begann. Ein ähnliches Ding hatte ich zuletzt auf der Schauspielschule gesehen, die der erste Markierungspunkt auf der Rennstrecke war, auf die ich mich eingelassen hatte, als ich Menschendarsteller werden wollte. Interessant ist das, was man für Projektionen laufen hat, wenn man in einer Sache noch nicht drinnen ist, noch nicht weiß, daß jedes Aufnehmen des Fadens zur Folge hat, daß man sich darin verstricken wird. So eine blödsinnige, überschäumende, alle Ängste zerschmelzende Freude hatte ich nie zuvor in meinem Leben gekannt, und auch nach dem Tag, als ich als Schüler der Schauspielkunst angenommen war, war je-
des »Hurra« angesichts meines Triumphes nur das synchronisierte Echo dieses Jubelschreis, den ich ausstieß, als ich genommen wurde. Diese Aufnahmeprüfung, die als Ergebnis hatte, daß ich mit elf anderen in einer Reihe auf einer Bühne stand und der Direktor uns mitteilte, daß wir der neue Jahrgang seien - diese Aufnahmeprüfung war der Beginn zu einem Leben, in dem so viele eines Tages sagen werden: »Hätte ich nur was Anständiges gelernt.« Haben sie aber nicht und darum müssen sie weiter Schauspieler bleiben und sich und dem Zuschauer die Zeit stehlen, die sie in einem anderen Beruf schwänzen. »Ihr seid der neue Jahrgang. Seid wie guter Wein - reifet in Würde«, hatte der Leiter der Schauspielschule gerufen, und an diesem Tag verwandelte ich sein hohles Pathos in meinen Ohren zu Engelschören der Hoffnung auf ein Leben in Würde und Dienst an der Kunst. Wozu - wozu das alles, frage ich mich im nachhinein. Was ist los in einer Welt, die Menschen braucht, die anderen Menschen etwas vorspielen, was ohnehin keiner glaubt. Ich habe einmal einen klugen Satz gesagt, von dem ich im ersten Moment überhaupt nicht wußte, wie klug er wirklich ist. Dieser Satz lautet: »Ich möchte in einer Welt leben, die meinen Beruf nicht nötig hat.« Furchtbar - ich meine, es ist furchtbar, wenn man sich Dinge sagen hört, die eine Konsequenz in sich tragen. Dieser Satz hat die Konsequenz, daß ich jetzt in einem
Wüstenhotel sitze und nicht genau weiß, wie lange meine Ersparnisse reichen werden, obwohl ich gehört habe, daß das Fladenbrot hier sehr billig sein soll. »Eine Welt, die meinen Beruf nicht nötig hat...« Eine Welt, in der nicht fünfhundert bis siebenhundert Menschen abends in einen Raum gehen und in zu engen Sesselreihen sitzend, einer Handvoll Leuten zusehen, die ihnen Leben vorspielen. Wozu?! Zum Zeitvertreib?! Grausamer Gedanke wo doch die Zeit das Kostbarste ist, was es in dieser Form der Existenz im Angebot gibt - um Gefühle mitzuerleben, die nicht die eigenen sind?! Noch grausamerer Gedanke - das wäre ja so, als würde man versuchen, Zahnpasta in eine Tube zurückzuquetschen, die an allen Enden verlötet ist noch dazu, wo man ja weiß, daß jeder da oben, daß jedes da oben auf der Bühne vorgespielte Gefühl ohnehin nur schaumgebremst im Parkett ankommen darf — weil ja der wirklich vehemente Aufruf zur Lebendigkeit Lebendigkeit zur Folge hätte - was wiederum nach sich ziehen müßte, die Theater zu schließen. Also bleibt es bei der Behauptung der Bewegung, der Übereinkunft zwischen denen da oben und denen im Zuschauerraum, daß Langeweile herrschen darf, ja herrschen muß, damit die Dinge nur ja nicht wirklich explodieren. Es ist - um es auf den Punkt zu bringen - wie bei der Fernsehpredigt am Samstagabend vor dem Hauptfilm, da sagen zwar die Worte des Pfarrers, man möge seinem Nächsten vergeben - der Klang der Stimme aber gibt das Signal an die
Zuschauer, jetzt endlich in die Küche zu gehen und das Bier aus dem Eis zu holen. Man stelle sich vor, an einem einzigen Abend würde die Aussage mit der Art, wie es gesagt wird, identisch sein. Unser Wirtschaftssystem würde kollabieren, weil die Menschenherzen und -hirne eröffnet worden wären und nach anderen Dingen Sehnsucht erleben würden, als nach Diät-Coke. Um das zu verhindern, bleibt alles so, wie es besprochen ist. Die Bühne - ganz egal, welche - bleibt der Hort der Lüge und die, die zuhören, wärmen sich an der Übereinkunft zur Mittelmäßigkeit, die die Dinge so beläßt, wie sie zur Zeit sind. Schief, verfahren, engherzig, kalt und grausam, lieblos, unbarmherzig, verletzend, ordinär, plump und dumm, häßlich, zerstörerisch, verhindernd, niederdrükkend und von lügnerischer, vereinbarter Politur, die sich nicht einmal die Mühe macht, die Lüge, die sie darstellt, mit Können zu verbergen, sondern das Grauen der Mittelmäßigkeit zur Methode erhebt. Ja, das Grauen - denn anders kann man diesen Einheitsbrei an Verbrechen an der Zärtlichkeit nicht nennen, der von früh bis spät in unsere Augen und Ohren und Herzen gekippt wird und einen Berg an Mauern um die Möglichkeit schließt, wirklich zu leben. Man stelle sich vor, was geschehen würde, wenn es eines Tages jemandem tatsächlich gelingen sollte, Othello so darzustellen, wie es gemeint ist. Die Menschen müßten von ihren Sitzen aufspringen und versuchen, das Entsetzliche abzuwenden, das auf Desdemona wartet. Sie
müßten in Tränen ausbrechen, weil sie nicht mit ansehen können, wie bestialisch Jago seine Intrigen spinnt, und müßten dem Mohren zurufen: »Halt - glaub ihm nicht - dieses Schwein belügt dich und bringt dich um das wertvollste Gut deines Lebens - die Liebe zu deiner Frau ...!« Ja natürlich - natürlich kennen wir diesen Impuls. Wir kennen ihn von den Kindern, die wir zur Kasperl-bühne begleitet haben, und wir sehen, daß diese Kinderherzen es nicht ertragen, daß sich das böse Krokodil in liebloser Absicht von hinten nähert, und wir sehen, daß sie vor Verzweiflung aufschreien, weil Kasperl ihre Warnrufe so lange nicht hört, bis es fast zu spät ist. Das ist der Sinn des Theaters, dieses wirkliche, hervorbrechende Mitfühlen zu provozieren, die wirkliche Katharsis, die aus der Fähigkeit herrührt, wirklich noch auf den zartesten Saiten unserer Seele berührt zu werden und nicht abgestumpft darüber zu resümieren, ob jetzt die Interpretation des Herrn Y effizienter war, der Othello als Buren zeigt, oder die des Herrn X, der einen Werbevertrag mit »Oaktree«-Kettensägenherstellern geschlossen hat. »Kasperltheater als Kulturvorbild unserer Gesellschaft« -mokieren sich jetzt einige zurückgelehnt am Leben Vorbeigehende, »jetzt reicht's aber-.«
Nein, jetzt fängt es erst an - denn dort - in diesem Kasperltheater, in diesem Brennpunkt der seelischen Möglichkeiten, sitzen ja diejenigen, die so sind, wie wir alle sein wollen - »wie die Kinder...«, so mögen wir doch werden - oder? Wie?! Was? Bitte?! Hat er etwa nicht gesagt »Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder...«? Was also ist so befremdlich an diesem Vergleich? Entweder baut unsere gesamte gesellschaftliche Ethik auf diesen Kindern auf, oder sie tut es nicht. Und da beginnt es auch schon. Weil sie es nicht tut, sondern nur behauptet, daß sie es tut, ist dieser Vergleich, ist diese Aufforderung auch wirklich lachhaft, so lachhaft und lächerlich wie der Glaube, man könne aus Wasser Wein machen oder vom Kreuz heruntersteigen. Nein, nein - da nennen wir lieber einen Atomunterseebootkreuzer »Corpus Christi«, um unsere wahre Gesinnung zu zeigen, und hoffen, daß den Kindern das Lachen und Weinen schon eines Tages vergehen möge. Und wenn es ihnen nicht von selbst vergeht, dann werfen wir sie eben oben in einen Trichter und als intellektuell gebildete Oberschichtbürger haben wir dann angesichts der grauen Würste, die unten wieder rauskommen, wenigstens guten Grund, die Vereinheitlichung unserer Gesellschaft zu beklagen. Ja - und das ist es, wozu ich keine Lust mehr habe. So schwer es auch ist, die liebgewordenen Süßigkeiten der Verlogenheit hinter sich zu lassen, sie machen dick und träge und dazu, denke ich, sind wir nicht auf
diese Welt gekommen. Sicher gibt es hundert Erklärungen, warum wir da sind, aber keine einzige von ihnen darf zum Ziel haben, uns das Lügen als Lebensziel zu verherrlichen und die Abgestumpftheit als Tugend zu verbrämen. Immer noch drehte sich der Propeller des Ventilators über meinem Kopf, und eines der dreieckigen Segel, das den Nil überquerte, war schon fast am anderen Ufer angekommen. Strohhutgedeckte Passagiere an Bord, denen bald klarwerden wird, warum die Einwohner dieser Länder die Wüste als etwas betrachten, das man vermeiden muß. Was suchen die wohl -dachte ich mir, als ich die beiden hellgekleideten Punkte beobachtete, die jetzt den Hügelkamm erkletterten und sich dort oben von einer, nur auf solche Idioten wartenden Horde von Eseltreibern auf zwei dieser Tiere setzen ließen, um anschließend durch den Sand zu reiten. Was suchen die? Na ja - die kulturelle Begegnung mit den Zeugen der Vergangenheit - war eine der Antworten, die ich auf Band hatte. Da drüben hinter den Sanddünen lag nämlich ein altes, verfallenes Kloster, in dem man noch die unendlich kleinen Zellen der Gottessucher bestaunen konnte, mit ihren kargen, aus dem rohen Fels geschlagenen Schlafstellen. Das wird sie wahrscheinlich anziehen — dachte ich mir — magisch ... magisch anziehen und ein Schauer der Ehr-
furcht wird sie oder ihn sagen lassen: »Was für eine Entbehrung - nicht - was für eine Entbehrung ...«, und er oder sie wird antworten: »Ja, unglaublich... diese Entbehrung...«, dann werden sie durch die kleinen Fensterchen der eingestürzten Kapelle blicken und beschließen, wieder zum Boot zurückzureiten. An Bord wird ihnen leicht übel werden, weil die Sonne auch am Nachmittag hier immer noch kräftiger ist, als bei uns im August, aber das macht ihnen nichts, weil schon der nächste Kontakt mit dem Unfaßbaren auf dem Terminkalender steht, in dem für jede Begegnung mit dem kulturellen Erbe ein kleiner Punkt mit rotem Filzstift zweimal angekreuzt ist. Seltsames Spiel - dachte ich. Was steckt dahinter? Woher kommt dieser Trieb, sich Dingen zu nähern, die im tiefsten Inneren eine Sprengkraft tragen, die man mit Tonnenangaben von TNT überhaupt nicht beschreiben kann, und gleichzeitig mit dieser Näherung eine Absicherungsschaltung zu aktivieren, die jede wirkliche Nähe verhindert. Ich weiß, wovon ich rede - ich war nämlich auch einmal in diesem verfallenen Wüstenkloster dort drüben, und ich staune, daß ich von dort jemals wieder weggekommen bin. Das war vor vielen Jahren, als ich zum ersten Mal hierher an diesen eigenartigen Weltpunkt geführt worden bin. Natürlich auch auf Eselsrücken über Sanddünen gewogt bin und auch durch die kleinen Fensterchen der verfallenen Kapelle geblickt habe.
Vielleicht war mein Vorteil, daß ich diesen Ritt erst am frühen Abend angetreten habe - zu einem Zeitpunkt, an dem die Sonne schon eine Handbreit über dem Horizont steht und einen nicht mehr dafür bestraft, daß man den Schatten verlassen hat, sondern eine Aufforderung darstellt, sich ... - ja ... ja, was was für eine Aufforderung war das, in diesem Moment? Ich fühle es noch heute in meiner Haut. Ich saß auf dieser schmalen, aus dem Fels gehauenen Liegestatt eines Mönches, der vor tausend Jahren hier die Sonne versinken gesehen hat, und es war still, lebensstill war es und atmend. Die Mauer, an der mein Rücken lehnte, strahlte die gesammelte Sonnenkraft in meinen Körper, der schon zu viele Verspannungen in zu vielen nordischen Herbsten und Wintern angesammelt hatte und nur langsam bereit war, sich dieser erlösenden Wärme zu öffnen. Meine Hände lagen auf dem Granit dieses ehemaligen Bettes, auf dem nicht nur einer, sondern zwei, drei, siebenundfünfzig einsame Mönche gelegen hatten, und langsam umarmte mich der Abendwind, der sich in diesen Momenten zu drehen beginnt, wenn die Nacht ihr Violett aufzieht und das Purpur des sinkenden Gottes über dem Bindestrich zwischen heute und morgen langsam zerfließt. Still war es in der Zelle, die aufhörte klein und eng zu sein und mit jedem Blick weiter, breiter, reicher und ewiger wurde. Ich versank in die Kleinigkeit, die die
Realität meiner Existenz war, die nur eine Weltsekunde lang auf der Anzeigetafel der Ewigkeit aufleuchtete, und Schweigen war alles, was statthaft war. Je länger aber das Wachsen des kleinen Raumes um mich herum andauerte und je länger der Seelenmittelpunkt meines Ichs auf seine wirkliche Kleinheit verdeutlicht wurde, um so glücklicher und erlöster wurde ich von den sinnlosen Anforderungen meiner Prägung, mehr zu sein, als ich bin. Wahrscheinlich habe ich bloß einen Sonnenstich mit dazupassender Kreislaufschwäche, sagte ich zu mir und sprang kurz vor dem Augenblick auf, in dem die Wand, an der ich lehnte, die Reste meines Ichbewußtseins zur Gänze aufgelöst hätte. Ich atmete tief durch und kam »wieder zu mir —« Die Haut über den Wangenknochen spannte ein wenig von dem austrocknenden Wind, die Beine taten mir weh vom Sitzen auf dem harten Stein, und außerdem hatte ich Durst und Hunger und wollte in mein Hotel zurück, in dem das Abendbuffet sicher schon unter silbernen Warmhaltekuppeln auf mich wartete. »Erst duschen, dann kämmen, dann parfümieren, dann ein Aperitif, dann das Essen, dann ein Digestiv, dann die Kapelle in der Halle, dann ein Blick in die Sterne, dann zu Bett - so, das war's.«
Das ist der Ablauf eines Tagesausklangs eines erwachsenen Bildungsbürgers und nicht das sinnlose Versinken im alten Gemäuer, das nur als Bakschischfalle für kulturmüde Gruppenreisende dient, die im Sog des Wertewandels in jedem erkalteten Lavabrocken das Echo des Urknalls singen hören. Ich riß mich los, eilte zu meinem Führer, der mit Goldzahn lächelnd bei seinen Eseln saß und seine Zigarette in den Sand drückte, als er mich herbeieilen sah und mir auf den Esel half und mich zum Boot brachte, mit dem ich zu meiner Rettung zurückfuhr, ohne mich umzudrehen. Tja — was wäre wohl geschehen, wenn ich mich umgedreht hätte ...?! Wäre eine Salzsäule am anderen Ufer im Boot gelegen, die dem Mann am Steuer unseres Schiffes einige Erklärungsschwierigkeiten gebracht hätte? Hätte ich ihm vielleicht gesagt, er möge doch wieder umkehren - ich möchte gar nicht duschen und wieder brav sein, ich möchte viel lieber dort bleiben, wo »Dasein genügt<<, werde ich es je erfahren, wie das gewesen wäre - das, von dem ich mich losreißen mußte, um zurückzukehren zur Pflicht - zur ordentlichen Aufgabenstellung eines ordentlichen Lebens? Wer weiß... Ich saß da und erinnerte mich an diese Überfahrt und erinnerte mich, daß ich damals nicht wußte, ob dieser Fährmann mich vom Totenreich zurück ans Ufer des Lebens brachte - oder
umgekehrt. Na ja - damals hatte ich ja auch noch Ziele und eines dieser Ziele war der Hamlet, der auf mich wartete, wenn ich von dieser Reise zurückgekehrt war, die ja nur dem Ausspannen dienen sollte ... dem Ausspannen... einmal noch dieses Wort gesagt und langsam gesagt und es ist alles gesagt... ausspannen ... Aber auch das ist ja so eine Sache. Wir hören uns selbst nicht zu, denn sonst müßten wir Konsequenzen ziehen, und das tun wir besser nicht, denn sonst würde ja niemand mehr die Samstagabend-hauptfamilienprogrammsendung im Fernsehen einschalten. Jetzt haben sie wieder festen Boden unter den Füßen, dachte ich und beobachtete, wie die zwei Touristen aus dem Boot sprangen, das in der kleinen, gefällig mit Natursteinen ausgelegten Hotelbucht angelegt hatte, und die Treppe zur Terrasse hochstapften. »Gehen wir erst duschen?« sagte sie zu ihm, als sie ohne sich umzudrehen an der Bar vorbeigingen und die Schwingtüre aufstießen, die in das Reservat führte, das Hotelhalle hieß. »Ja, ist gut, Liebes«, antwortete er, »ich hab' auch schon einen Mordshunger...« »Ich auch!«, kam es von ihr zurück »ein Aperitif wird uns guttun... -« Der Rest war nicht mehr zu vernehmen, weil sich der Zaun wieder hinter ihnen zugependelt hatte und weil ich gelernt hatte, daß man nicht lauschen soll. Tja,
was soll man da noch sagen? Warum - warum ... warum waren die beiden jetzt eigentlich dort drüben? Warum ... um dem Nachbarn die Bilder zu zeigen, die er mit der neuen, handlichen Pocketvideokamera gemacht hat? Die Zeiten, wo einfaches Fotografieren genügt hat, sind ja Gott sei Dank vorbei, jetzt haben wir das Zeitalter, in dem vor dem statischen Hintergrund der Ewigkeit abwechselnd lächelnde Ehepartner ins Bild treten und auf den Horizont zeigen oder auf eine Jahreszahl, neben der sie sich aufgebaut haben. Ist das Motivation genug? Warum - warum aber dann diese Schizophrenie -? Ich meine - wenn ich schon den Lebenspartner beim Grinsen aufnehmen möchte, dann kann ich das doch viel besser vor der Garagenwand machen, an der ich Efeu gepflanzt habe - »damit mehr Grün ums Haus herum ist« - oder...?! Warum ... warum nur - ist es die Hoffnung, mit dem Kulturwert des Bauwerkes im Hintergrund in Verbindung gebracht zu werden und somit unsere eigene Belanglosigkeit zu tarnen? — ich weiß es nicht. Was geht in unseren Herzen vor, wenn wir neben einer Explosion stehen und dabei nicht einmal zusammenzucken und unser Leben zu verändern beginnen, sondern auch noch lächeln und hinzeigen - hinzeigen, ohne daß uns der Zeigefinger zu schmelzen beginnt. Ich denke, der Schutzpanzer ist so dick, daß nur mehr Atombomben der Wahrheit ein Loch in ihn reißen können. - So geschehen in Florenz - fiel mir ein, als ich dar-
über nachdachte, ob sie schon unter der Dusche stehen würden. In der Zeitung habe ich gelesen, daß es sich häufende Fälle von Nervenzusammenbrüchen, Psychosen und sonstigen Verrücktheitserscheinungen in Florenz gibt, die die Psychiater auf das »Überangebot von Schönheit« zurückführen. Nein - das ist kein Witz - ich habe die Zeitung sogar noch, aber das ist ja egal - worauf ich hinaus will, ist folgendes: dort ist offensichtlich das Epizentrum der Aufforderung zur Schönheit und Harmonie stark genug, um die Abwehrforts unserer Engherzigkeit zu überwinden. Die Impulse der Lebendigkeit, der Farbigkeit, der Erotik, der Sexualität, der Spiritualität sind dort offensichtlich derartig trommelfeuerartig auf den Zwölfer in unserer Herzzielscheibe konzentriert, daß ihnen ein Durchbruch gelingt. Fürchterlich ist nur, daß das Entsetzen hervorruft, anstatt Jubel, denn das - dieser Zusammenbruch der Lebenslüge -, dieses Niederreißen der Härte und Kälte, die wir glauben tragen zu müssen -das ist ja die ursprünglichste, eigentlichste, göttlichste Absicht jeder Äußerung, die wir Kunst nennen. In dieser Welt, in der kein Sperling vom Dach fällt, ohne daß es gewußt wird, in dieser Welt, in der jeder innerste Kreis eines Atoms um den innersten Kreis eines anderen Atoms Bescheid weiß, das Lichtjahre entfernt ist - in dieser Welt, in der der Schlag eines Schmetterlingsflügels genügt, um einen Orkan auszulösen - in dieser Welt gibt es so viele Aufforderungen, nicht zu erstarren, zu vertrocknen, zu verengen - die Liebes-
kraft nicht zu verlieren - und was tun wir? Wir blinzeln kurz aus dem Augenwinkel hinüber und gehen duschen. Soll man dafür Verständnis haben, dafür Mitleid aufbringen, soll man keinen Efeu mehr an die Garagenwand pflanzen? Ich würde es so gerne wissen, was man tun soll - ich, der ich so leicht reden habe, dachte ich mir, ich, der ich abgesichert an meinen türkischen Kaffee geklammert dasitze und sicher nicht so schnell hinter die Sanddünen meiner Sehnsucht reiten werde, weil ich ahne, daß das ein Ritt werden könnte auf Nimmerwiedersehen. Ja, aber - was tue ich denn hier, fragte ich mich plötzlich überrascht, von den Folgen meiner Kulturkritik aufgescheucht wie ein Huhn, dem der Bauer zum zweiten Mal am Tag das nicht gelegte Ei wegnehmen möchte ... »Du läßt dir Zeit« - sprach mein Schutzengel mit leiser, aber fester Stimme zu mir und augenblicklich entspannte mich der Klang seiner Worte wieder so sehr, daß ich meinen Rücken, der sich schon zu irgendeiner Tat aufgerichtet hatte, wieder in den seufzenden Holzstuhl zurücksinken lassen konnte. »Ich lasse mir Zeit?« fragte ich mit geschlossenen Augen und hoffte, daß er, wie schon so oft, Geduld mit mir haben möge.
»Ja, du läßt dir Zeit« - antwortete er und verwandelte sich in die Wahrnehmung des Duftes jener Oleanderbäume, die um die Terrasse herumwuchsen und warmrot durch die Abendsonne glühten. Ich lasse mir Zeit... wiederholte ich, bis mein Körper den Sinn der Worte angenommen hatte und die Anspannung aus den Händen verflogen war, die die Kaffeetasse etwas zu hart umfaßt hatten. Ich lasse mir Zeit... Ich lasse mir Zeit... dachte ich und trank langsam einen Schluck meines schwarzsüßen Kaffees, der die wunderbare Eigenschaft hatte, in diesem alten, leicht zerbeulten, oft benutzten Messingkännchen heiß zu bleiben, wie das Herz eines jungen Arabers, der die Augen seiner Liebsten wiedererkennt, wenn sie am Marktplatz in Begleitung ihrer Mutter an ihm vorbeigeht. Heiß und süß und voller Versprechungen war dieser Geschmack, den ich in mich hineintrank und der bedeutsamer wurde, je länger ich stillsaß und Zeit hatte, Zeit hatte und auslassen konnte ... auslassen ... Auslassen - vor vielen, vielen Jahren Übung Nummer eins in der Schauspielschule, an die ich jetzt wieder denken mußte - weil nämlich im Umkleideraum zum Tanzsaal, wie gesagt, ein ähnlicher Ventilator seine Runden drehte, wie der an der Decke hier im - na ja, was soll's - wie viele Dinge sind einander ähnlich und wecken Vergangenes - schön ist dieses Aufwekken dann, wenn man auf der zurückgelegten Weg-
strecke ein wenig gelernt hat... auslassen ... es ist wirklich seltsam - der Versuch, sich zu entspannen, ist ein ununterbrochenes Bemerken, daß dort, wo man schon längst geglaubt hat, aufgelockert zu sein, erst die Schwelle zum wirklichen Loslassen, zum wirklichen Entspannen, zum Auslassen, liegt. Jedes Festhalten im Körper ist ja nur ein Angstreflex, der zum Schutzversuch wird gegen die Welt der anderen, die nicht respektieren wollen, daß man zart ist und verwundbar. Andererseits - nicht immer darf man alles auf das Außen, die anderen, das Böse im Fremden schieben, allzuoft ist nur die Unerfahrenheit dafür verantwortlich, daß wir in den Anfangsjahren des Lebens eine Bewegung zu schnell machen, uns anschlagen, zurückzucken und diese Reaktion speichern, wie ein japanischer Megabytespeicher, der sich alles merkt, auch Nichtigkeiten des Daseins, die im falschen Moment aus einem Sandkorn im Auge die Erkenntnis wachsen lassen, am Strand zu liegen, sei Sünde. Das nenne ich die falschen Programmierungen, oder besser gesagt - aus der wertfreien Information »Strand ist Sand« ein Schuld- und Sühnegefälle zu machen, das sich zur Neurose auswächst und zu ausschließlichen Buchungen von Grönlandreisen führt. Dort aber schneit es öfter, wie man weiß, und eine Schneeflocke - genug - man weiß, worauf ich hinaus will. Was helfen könnte, ist Zärtlichkeit. Zärtlichkeit, die voller Wärme umarmt und uns den Mut gibt, die Tränen der Trauer aus uns herauszuwei-
nen, die wir zwischen den Schultern angesammelt haben und im Bücken und im Becken und in den Beinen und in den harten Lippen, die nicht mehr wirklich küssen können, weil sie zu oft zuviel Zynismus als einzige Waffe gegen das Verletztwerden formuliert haben. Nur die Zärtlichkeit eines verstehenden Menschen ist es, die uns den Mut geben kann, aus dieser Sackgasse der unerfüllten Sehnsucht herauszufinden, auszulassen und wieder zu versuchen, der zu sein, als der wir geplant sind. Einmal bin ich so einem Menschen vor vielen Jahren begegnet. Dieser Mensch war eine Frau - eine ältere Frau - und lehrte die Kunst des Fechtens. Natürlich ist das für einen Jüngling etwas Aufregendes und rückt die Träumereien, die man am Beginn dieses Berufes hat, noch mehr in Richtung »Wiederverfilmung der -Drei Musketiere«- - aber wie auch immer, diese Frau hatte ein langes Leben hinter sich, in dem es hauptsächlich um Hauen und Stechen ging, und das ist ja nun wirklich die treffendste Parallele zum realen Leben eines Erdenbürgers in unserer Zeitrechnung. Dreimal in der Woche versammelten sich die Mitglieder eines Jahrgangs - manche in Würde reifend -andere schon längst gebrochen, überzuckert oder ganz einfach gekippt - im Tanzsaal, um mit Florett und Degen aufeinander loszugehen, und jedesmal war ein eigenartiges Phänomen zu beobachten. Wir waren nun wirklich ein Haufen toller junger Hunde
und Hündinnen - kräftig, vital, schnell und siegessicher - jeder gegen jeden und keiner für alle — und nach einem Jahr der Übung beherrschten wir auch wirklich alle Finten und Ausfälle, und in unzähligen Duellen gegeneinander gewann bald der und bald jener. Wenn es aber darum ging, gegen unsere Meisterin zu kämpfen, waren wir hilflos wie junge Katzen, die man in einen Wildbach wirft, der auf einen Wasserfall zuführt. Alle Kraft und aller Wille, aller Mut und alle Verbissenheit führten bei ihr nicht zu dem Ziel, das wir anstrebten — zu treffen. So tollkühn konnte man einen eingesprungenen Ausfall gar nicht vortragen, als daß sie nicht, nahezu bewegungslos, mit einer kleinen Veränderung ihres Degens, unseren Stoß ins Nichts abgeleitet hätte. Die einzige Reaktion in ihrem Gesicht war ein Lächeln, das wie das Lächeln eines Mädchens war, das erkennt, daß sie am ersten Tanzabend ihres Lebens kein Mauerblümchen ist. »Verflucht - wie macht sie das?« - dachte ich mir eines Tages zum hundertsten Mal, als ich mühsam von der Matte aufstand und mein Florett einsammelte, mit dem ich in unbedingter Trefferlust auf sie losgegangen war. Kopfschüttelnd wanderte ich zu meinem Ausgangspunkt zurück und bog dabei meine Klinge wieder gerade, als mich zwei Worte trafen, die sie ganz leise im Vorbeigehen sagte: »Laß aus-«
Ich stand da und rückte meine Fechtmaske zurecht und sah sie an. Sie lächelte mir zu und ging in Position. Ich hob meine Klinge und zeigte in ihre Richtung. Ich eröffnete das Spiel - wie das so schön heißt. Ihre Reaktion war ein Öffnen ihrer Verteidigung - die Einladung-, der nun mein Angriff folgen mußte ... Fechten ist ja überhaupt eine lustige Sache - obwohl es darum geht einander abzustechen, ist es gleichzeitig ein Spiel der ritualisierten Höflichkeit und der festen Gesetze. Sie stand mir gegenüber und lud mich ein anzugreifen. Es klingt so einfach und ist so unendlich kompliziert zugleich. Gibt es doch eine Billion Möglichkeiten, ans Ziel zu kommen - das heißt, die Klinge des Partners zu umgehen. Ist man schnell genug -kommt man auf dem direkten Weg ins Ziel, das heißt, es gelingt dem anderen nicht, das angreifende Florett wegzuschlagen und zum Gegenstoß anzusetzen. Ist man aber zu langsam und sieht man, daß dem anderen die Abwehr des direkten Stoßes gelingt, kann man mit einer Umgehung seiner Bewegung doch noch den Treffer landen. So weit, so gut. Schon nach der ersten Übungsstunde ist man also theoretisch so weit, zu fünfzig Prozent einen Treffer zu landen - auf einen Sandsack zum Beispiel. Steht man aber jemandem gegenüber, der auch eine Anfängerstunde absolviert hat - ein Mitglied der Garde Richelieus zum Beispiel -, ist schon wieder alles aus, dann gibt es nämlich die Möglichkeit einer soge-
nannten »Finte«, man kann auch List dazu sagen oder »übler Trick«. Das heißt - man tut nur so, als würde man direkt stoßen, weicht dann aber im Ansatz der Reaktion des Gegners aus und umgeht ihn, ohne abgewehrt zu werden. Allein aus dieser Situation, die so oder so laufen kann, erwachsen unendliche Möglichkeiten, da man nie vorher wissen kann, ob die Kugel des anderen auf Rot oder Schwarz fallen wird, und allein die Einleitung zu einem Kampf umfaßt so unzählige Variationen - die alle wiederum direkt oder mit Finte vorgebracht werden können, daß man mit Denken überhaupt nicht erst anfangen darf, weil der Weg vom Denken zur Hand viel zu lang ist und das Überlegen, wie man am besten angreifen soll, damit endet, daß man erstaunt an sich herabblickt und sieht, daß die Spitze der feindlichen Klinge rot von Blut aus der eigenen Herzgegend wieder Abschied nimmt - früher zumindest war das so-, darum sind die Gegner auch dazu übergegangen, in tiefe Bunker zu verschwinden und dort Schlüssel umzudrehen, die dem tausende Kilometer entfernten Kollegen nur zwanzig Minuten Zeit lassen zu überlegen, ob die Punkte auf dem Radar ein Vogelschwarm sind, oder - gut, das führt zu weit-, aber damals in dieser Stunde blickte ich in ihr Lächeln und sah meinen ausgestreckten Arm zittern, weil ich immer noch nicht gelernt hatte, das Denken abzuschalten. Die 793 verschiedenen Möglichkeiten meinen Angriff vorzutragen, stauten sich in den Muskeln meines Armes und ließen ihn zittern wie einen Staudamm, bei
dem die Notschleusen verklemmt waren. Verdammt -dachte ich-, es muß doch möglich sein, dieses Weib zu treffen - wenn ich also jetzt zuerst mit einer Finte beginne, auf die sie vielleicht mit einer kreisförmigen Abwehr antwortet, und dann versuche ich meinen Ausfall — »Laß aus -«, sagte sie in diesem Moment, in meine verknäuelten gordischen Gedankenverrenkungen hinein, und im selben Moment riß es mich fließend wie heiße Lava nach vorne, meine Beine bewegten sich fliegend nach vorne, mein Arm streckte sich auf ihren Körper zu meine Brust öffnete sich im Ausatmen, der Atem strömte wie eine weite, kräftige Woge aus mir heraus - ich konnte zusehen, wie er durch meinen Arm floß, der plötzlich lebendig geworden war, durch meinen Oberarm in den Unterarm weiterrann, durch die Hand strömte, durch die Finger, die den französischen Griff meines Floretts plötzlich mit einer eigenartigen Mischung aus Zärtlichkeit und Wollen hielten, führten, bewegten - er strömte in den langen, dünnen Stahl meiner Klinge, erreichte die Spitze und wurde dort zu einem lauten, klaren Schrei, der aus meinem Körper kam, der nach vorne gezogen wurde wie eine Katze, die endlich springt und weiß, daß sie fangen wird. In diesem Moment sah ich mit seltsamer Verzögerung, wie ihre Klinge sich zu einer Abwehr bewegte, mehr noch - ich sah die Bewegung in ihrem Körper entstehen, bevor sie selbst noch wußte, was ihre Hand als Antwort auf meinen Angriff tun wollte, und als ich dieses erste Vorbeben erahnte, fühlte, kommen sah,
veränderte meine Hand mit einer leichten, runden Kreisbewegung die Bahn meiner Spitze, von der ich keine Ahnung hatte, was ich mit ihr wollte. Sie umging ganz einfach die andere Klinge, die mich von meiner Bahn abbringen wollte und führ weiter in Richtung auf ihr Ziel, das schon feststand, bevor ich an diesem Tag den Tanzsaal betreten hatte. Immer langsamer sah ich die schneller werdende Bewegung meines Körpers, der als Ganzes zu diesem Stoß geworden war und von dem Punkt, an dem er landen mußte, angezogen wurde. Ich sah auch noch wie ihre Hand, als selbständiges Wesen, den Irrtum ihrer Abwehr erkannte und versuchte, den Fehler wieder gutzumachen. Aber in diesem zweiten Impuls landete auch schon mein Stoß auf ihrem Brustpanzer, den sie für den seltenen Fall trug, daß doch einmal eine Attacke ans Ziel kommen sollte. Ich lief noch ein paar Schritte aus, um meinen Schwung abzufangen, der mich vorwärts gerissen hatte, drehte mich um und nahm meine Maske ab. Sie stand da und blickte mir entgegen und mit ihrem unsterblichen Lächeln, das sich durch diesen Vorgang nicht im geringsten verändert hatte, sagte sie: »Das war's...« Dann kam sie auf mich zu und legte mir ihre Hand auf die Stirne. Ihre Augen sahen tief in mich hinein und lächelten immer noch über mein grenzenloses Erstaunen über diesem Moment, auf den ich über ein Jahr gewartet hatte.
»Und jetzt merkst du dir nicht hier, was du gesehen hast - sondern hier« Mit diesen Worten legte sie mir ihre Hand auf die Brust und ich spürte durch meine wattierte Weste hindurch die Wärme, die aus ihrer Hand in mich hineinströmte. Das war verwirrend. Das war mehr, als ich in diesem Moment in mir zulassen konnte, in mir zulassen wollte. Ich hatte plötzlich Lust, mich auf den Boden zu legen und für den Rest meines Lebens nichts mehr zu tun, als liegenzubleiben und zu fühlen, wie die Jahreszeiten den Himmel über mir in vier Teile zerlegten, und das ohne Ende und ohne Anfang. Das war aber schwer möglich, weil die Stunde schon um war und die nächsten Kinder vor der Tür schon darauf warteten, mit Metallstäben aufeinander loszuschlagen, ohne den Schimmer einer Ahnung, worum es dabei eigentlich gingIch sagte daher ganz mechanisch: »Jaja« klemmte meine Maske unter den Arm und ging mich umziehen. Ich saß auf der schmalen Holzbank und blickte eine Viertelstunde lang auf meinen linken Schuh und überlegte mir, wozu diese Bänder wohl gut sind, die so seltsam kreuzweise über das Leder hingen und durch kleine, runde Löcher gezogen waren. Auf jeder Seite drei davon und — »zubinden« - sprach eine innere Stimme zu mir und meine Augen beobachteten in der Folge, wie meine Hände mit diesen Schnüren herummachten und Schlinge über Schlinge legten, bis eine
Masche entstanden war. »Schuhe zubinden«, sagte ich halblaut zu mir und blieb mit dieser Erkenntnis wieder eine halbe Stunde lang sitzen. Nein nein — ich war kein Trinker in dieser Zeit, auch Opium hatten wir nicht in dem Maße zur Verfügung, wie wir es uns aus künstlerischen Gründen gewünscht hätten. Ich war ganz einfach so ohne Wirkstoffe von außen, ganz woanders und sah jedes Ding, jeden Türgriff aus der Position eines Wolkenkratzerfensterfrontputzers, der in seinem Korb an der Außenseite des Gebäudes hängend, jedes Detail in jedem Stockwerk seines Hochhauses überblicken kann. »Ich sitze« - sagte ich zu mir und blickte auf die lange, schmale, honigfarbene Bank, unter der neun Paar Schuhe standen. Alles Schuhe mit seltsamen Bändern, die kreuzweise - genug - sagte ich zu mir, genug, das ist nicht die Verfassung, in der ich sein müßte, um jetzt an einem Monolog weiter zuüben, den ich meinem Repertoire einverleiben wollte. »Mein Repertoire«, dieses fürchterliche MG-Magazin an »Können«, mit dem junge Schauspieler im Anschluß an ihre Ausbildung von Theater zu Theater eilen, um vorzusprechen, um ihre glühenden Kugeln der Begabung in dunkle Parkette zu schmettern, in denen gelangweilte Assistenten sitzen, Salzgurken schmatzen und anschließend feststellen, daß es sie sehr gefreut habe. Momente grenzenloser Wichtigkeit für diese
Nichtstuer, in denen sie einmal im Monat den Autoritätsdruck weitergeben können, der auf ihre Schultern vom jeweiligen Intendanten getürmt wird. Hoffnungsfroh fährt man mit diesen Sätzen zum nächsten Theater, stellt dort fest, daß die Vorliebe des Assistenten doch mehr auf roten Paprikaschoten liegt und kehrt mit dem Geräusch von zermatschten, zerkauten, hinuntergeschluckten Peperoni, Charlottenzwiebeln und Essigmaiskölbchen im Ohr an die Schauspielschule zurück und wartet dort dann auf den erlösenden Brief, der ein Angebot für ein Engagement enthalten soll. Dieser Brief kommt aber in achtundneunzig Prozent aller Fälle nie, und so bleibt man eben noch ein Jahr und dann noch eines - dann heiraten die Mädchen und die Jungen fangen an Hörspiele zu machen, und höchstens einer oder eine von hundert erreicht je die Rampe einer wirklichen Bühne - um dort festzustellen, daß in der Hierarchie des jeweiligen Theaters mindestens fünfzehn andere begabte Künstler vor ihm darauf warten, von den Zweisatzrollen zu den Fünfsatzrollen aufzusteigen. Als Folge davon nimmt der Essiggurkenumsatz in der Kantine wieder zu, denn urplötzlich versteht der junge Künstler, warum alle, außer dem Intendanten, der ja an der Macht ist und daher stets guter Dinge - saures Zeug schmatzen und mampfen, denn irgend etwas muß ja der Rettungsanker bleiben, um lustig zu sein - und sauer macht ja angeblich lustig, nicht?
Nun gut - all das war mir in diesem seltsam verlorenen Moment in der Umkleidekammer in seiner ganzen Tragweite wirklich nicht bewußt. Ich erkannte nur, daß ich jetzt keinen Lehrsaal ertragen konnte, sondern wanderte durch den Wintergarten hinaus in den Park, der die Schule zärtlich umschloß, steuerte meinen Lieblingsbaum an, in den ich mich am Tage der bestandenen Aufnahmeprüfung verliebt hatte. Eine Ameisenstraße führte rund um die Wurzeln des alten Riesen. Wenn man aber ganz dicht an den Stamm gelehnt saß und die Beine anzog, war man wie von einer unsichtbaren Mauer geschützt und konnte auch noch in Ruhe dem Kreisverkehr zuschauen, der in ununterbrochenem Strom Zweige schleppte, Käferleichen abtransportierte, Signale weitergab, die die Richtung enthielten, in der einem Studenten ein Stück Ei aus dem Jausenbrot gefallen war, und hundert andere Wichtigkeiten mehr. An diesen alten Freund also setzte ich mich und schloß meine Augen. Die Sonne wärmte mein Gesicht und holte die Erinnerung an die vergangene Fechtstunde hervor. »Laß aus-«, flüsterte es in meinem Ohr, und nichts anderes blieb in mir liegen als diese zwei Worte, von denen ich bemerkte, daß sie zu einer Sturmflut werden wollten, die mein gesamtes Lebensgebäude erschüttern konnte. Wie war das möglich? Wie konnte so ein kleiner Satz eine solch umstürzende Wirkung erreichen? Wie konnte diese kurze Aufforderung all das hervorbringen, das ich mit Energie und Fleiß und
Willen nicht erreicht hatte? Wieso, dachte ich, wieso versuche ich klar zu werden? Es ist doch alles klar. Ich sah die letzten Jahre an mir vorbeilaufen, in denen alles darauf hingesteuert hatte, daß ich jetzt hier saß und nicht in einem vollklimatisierten Großraumbüro, in dem auf Betriebsratsintervention hin endlich eine kleine Grünzone in der Mitte eingerichtet worden ist. Alles war darauf ausgerichtet gewesen, den anderen Weg zu gehen, den ich immer als die große Freiheit erträumt hatte und die trotzdem bis heute nur die Fortsetzung der großen Unterdrückung mit anderen Mitteln gewesen war. War ich naiv... tatsächlich daran glaubend, daß die Freiheit der Kunst auch die Kunst der Freiheit sein könnte und das Leben im Kreise Gleichgesinnter die Antwort auf den breiten Wahnsinn der üblichen Welt darstellen könnte. Ich nichtsahnender Tor - warum sollten Künstler etwas anderes sein als alle anderen Menschen? Warum weniger machtgierig, eitel, hinterhältig und ausgebrannt? Nur weil Liz Taylor so schön gemalte Lippen hat, ist sie doch auch eine vasenschmeißende alte Vettel und Richards weitgeblähte Nasenflügel beben genauso im Entzug, wie die eines normalen Spiegeltrinkers, der seiner Alten ein paar donnert. Fürchterlich ist nur die Hoffnung, die diese Kristallisationen unserer Sehnsüchte in uns erwecken. Die Hoffnung, daß sie wenigstens ein wenig so sein würden, wie die wunder-
baren Großaufnahmen voller Erotik und Sinnlichkeit uns einreden. Sie sind es nicht. Ganz schlicht und einfach — sie sind es nicht. Es ist alles eine große Lüge, ein großes - So-tun-als-ob, und das - das ist, wenn man ganz genau und ehrlich sein möchte, Zeitvergeudung. Es ist Zeitvergeudung, darauf zu hoffen, daß der wunderbare Monolog des Juden Shylock im Kaufmann von Venedig den Rassenhaß in gütige Menschenliebe verwandeln könnte. Es ist Zeitvergeudung, den »Kirschgarten« voller Tränen in den Augen zu genießen und zu hoffen, daß er ein Signal sein könnte für alle Kirschgartenzerstörer, ihre Kirschgärten nicht zu zerstören. Warum im Theater sitzen und hoffen, anstatt im täglichen Leben dazu überzugehen, die fremden Rassen nicht zu hassen und Kirschgärten nicht umzusägen? »Weil - so lautet die Antwort - diese kulturellen Vorbilder Leuchttürme sind auf dem Weg der Menschheit, die sich von Stufe zu Stufe mühsam emporarbeitet, um eines Tages—« Alles Quatsch, alles Zeitvergeudung. Hunderte Jahre ist der »Kaufmann von Venedig« gespielt worden und diejenigen, die die Gaskammertüren verriegelt haben, hatten sicher in ihrem Bewußtsein eines mitteleuropäischen Bürgers, daß Shakespeare einer unserer Titanen war. Also wozu - diese Ausreden und diese beengt sitzenden Abende? Diejenigen, die es erreichen müßte,
die ungebildete, rohe, hin und her wogende Masse, von der die Klugen und Feinen sich ja so gerne distanzieren, bebt lieber in Fußballstadien hin und her, und wenn's bunt wird, zertrampelt man mal kurz dreiundsiebzig Leute von Sektor C, die dummerweise einen blauen Schal tragen, anstatt den richtigen - den roten -den liebevoll in Handarbeit hergestellten - und die, die es angeblich gar nicht nötig hätten - weil der gute Humanist und Bildungsbürger ja nicht aus dem direkten Zertrampeln des anderen Sektors seine Lust bezieht, die guten Humanisten steigen nach dem »Kirschgarten« mit elegischer Lust aufs Gaspedal, um in die Stadtrandvilla zu gleiten, die ein Hort des Friedens ist, der einem die Kraft gibt, die große Revolution, die auch unseren freien Westen bald erschüttern wird, noch ein wenig aufzuschieben. Wozu also diese Zeitvergeudung? Gut - es gibt eine Erklärung und ich kann sie auch tatsächlich nachvollziehen. Für den, der es tut - der den »Kirschgarten« schreibt, ist es eine Erlösung - ist das Hinbrennen der Sätze, für die man ihm in einem Gespräch unter Generaldirektoren eines Chemiekonzerns eine aufs Maul hauen würde - für den, dem das Papier nicht widerspricht, ist es eine Erlösung, wenigstens in der Stille formulieren zu können, was nötig ist. Es ist eine Aqualunge der Verzweiflung, die dem Schreibenden, zumindest solange sich die Feder bewegt, Momente der Erleichterung schenkt. Die Auswirkung aber, von der man hofft, daß sie die Wirkung
hat, von Sätzen wie »Nimm dein Bett und geh«, von dieser Auswirkung habe ich noch nie gehört - noch nie. Wer einen Fabrikbesitzer - der sich das Theaterstück »Der Volksfeind« von Ibsen ansieht, in dem es um die Umweltzerstörung geht, und nach diesem Theaterstück in seine Abwässerkanäle Kläranlagen einbaut, anstatt wie üblich am Wochenende Schwermetall in den Fluß zu schütten, wer diesen Fall kennt, nur einen einzigen - der soll sich bitte bei mir melden. Das wird sehr, sehr schwer werden, weil unauffindbarer als hier in Ägypten, war ich selten in meinem Leben gewesen. Ich trank einen Schluck Mineralwasser, das von der alles umfassenden Wärme schon fast heiß geworden war. Das soll ja besonders gesund sein, dachte ich, während ich trank, wie Tee, aber ohne Geschmack. Übertreib' es nicht — sagte ich zu mir und bestellte mir ein neues Wasser und nützte den Moment, aufzublik-ken und mich umzusehen. Ich war allein auf der Terrasse und das war unglaublich angenehm. Wahrscheinlich saßen achtzig Prozent der anderen Hotelgäste soeben auf Kamelrücken oder umgestürzten Obelisken, schütteten den Sand wieder aus dem rechten Schuh oder erneuerten den Sonnencremefilm auf ihrem Nacken, der durch seine hellrote Farbe anzeigen wollte, daß es für heute eigentlich genug sei. »Egal - wir haben hier nur drei Tage - ausruhen können wir wieder daheim - schließlich sind wir ja heuer
hierher gekommen, um etwas von der Kultur hier mitzubekommen und nicht um im Lehnstuhl zu sitzen« und je mehr, je besser »wer weiß, wann in diesem Gebiet wieder ein Krieg ausbricht und dann können wir auf Jahre hinaus nicht mehr hierher« O Gott - nein nein nein - das nicht - so nicht - lieber ein zweites Glas gut gekühltes Mineralwasser bekommen und es langsam austrinken, als mit Hitzekolik im Grab von Thutmosis dem Dritten zusammenbrechen und vergessen werden, weil man der Letzte in der Reihe gewesen ist. Schön war diese leere Terrasse mit ihren stillen Tischen, um die die alten Holzstühle standen. Leise plaudernd standen zwei Ober an der Bar hinter ihren Gläsern und hatten überhaupt keine Eile, als sich die Schwingtüre öffnete und ein Liebespaar über die Terrasse schlenderte und gemächlich auf den Swimmingpool zusteuerte. »Daß es das noch gibt«, dachte ich mir und sah ihnen nach. Ein schönes Paar und noch dazu ein kluges Paar, bemerkte ich, denn auch das Bad war völlig leer, und so konnten sie lachen und sich umarmen, ohne zerstörerische Blicke haß- und neiderfüllter Gruppenreisender zu ernten, die auch lieber verliebt wären, als mit dem unterdrückten oder unterdrückenden Ehepartner von ihrem Elend auch im fernen Afrika nicht abgelenkt zu werden.
Viel Glück - dachte ich und sah den beiden hübschen jungen Menschen zu, die alles rund um sich herum vergaßen. Viel Glück auf eurem Weg, der vielleicht ein Ausweg sein kann, wenn ihr es richtig macht. Ich lächelte und schloß wieder die Augen und war im selben Moment wieder an dem Gefühlspunkt, der mich vor vielen Jahren an meinen Baum gelehnt hatte. »Laß aus —«, hatte sie gesagt und mit diesen zwei Worten mehr erreicht als alle Bücher und Filme und Vorbilder jemals auch nur annähernd erreicht hatten. Aber es waren nicht die zwei Worte, die mich erreicht hatten -es war die Stimme, der Klang ihrer Stimme, deren Schwingungen meinen Körper so getroffen hatten, daß ihm gar nichts anderes übrigblieb, als auszulassen, als all den dummen Stolz, die Angst, die Zurückgezogenheit in dieser einen Sekunde zu vergessen. Was für ein Leben mußte jemand gelebt haben, um so eine Wärme, so ein Wissen, so ein Verzeihen in seiner Stimme zu haben, so eine unendliche Geduld, die auffordern konnte, ohne zu verlangen. Jedes Festhaltenwollen ist im Augenblick des Wunsches schon der Sieg des Todes, der nur darauf wartet, daß wir in unserer Angst vor Lebendigkeit Dämme errichten, die uns den Wasservorrat an Sicherheit bewahren sollen, den der Fluß des Lebens mit sich bringt.
Dieses Gefühl der Sicherheit, am Leben zu sein, können wir aber nur in der Mitte des Stromes erleben, der fließen muß und jede Behinderung mit Stromschnellen oder Dammbruch bestraft. Und ihre Hand - es war ja nicht nur die Stimme, die mich weiterbewegt hatte, es war ja dann letztendlich auch noch ihre Hand gewesen, die wie ein Sonnenstrahl aus Freundlichkeit den Schutzschild durchglüht hatte, mit dem ich wieder in die Erdanziehungskraft meiner gewohnten Verteidigung gegen die Spontaneität eintauchen wollte. Mehr - dachte ich-, mehr davon, ich möchte mehr davon erfahren, bitte. Wie balanciert man auf dieses Messers Schneide, zwischen dem Ballast aus Erfahrung, der unser Rückgrat verbiegt, und dem freien Feld des natürlichen Daseins, das vor der Haustüre darauf wartet, betreten zu werden. Ich mußte tief atmen, als ich mich an die heiße Welle der Lebensenergie erinnerte, die durch mich hindurchgeflossen war und lachend gerufen hatte: »Alles ist erlaubt ...!« Ja - alles ist erlaubt —, war das wirklich wahr? War wirklich alles erlaubt - wirklich alles ... ich meine, Gefühle zu haben, die einem sagen: »Bleib' am Boden liegen, solange du magst, und springe nicht gleich in vorauseilendem Gehorsam auf die Füße, wenn die
Uniformmütze deiner sinnlosen Disziplin Schatten auf dein entspanntes Gesicht wirft.«
ihre
Ich hatte Angst. Ganz plötzlich schlicht und einfach Angst, weil ich in mir eine Hochrechnung anstellte, die mich zu einem möglichen Ziel brachte, von dem ich damals noch nichts wissen wollte - dieses Ziel hieß Freiheit. Freiheit, der zu sein, der ich war, ein lebender, atmender Mensch, der ißt, wenn er hungrig ist und trinkt, wenn er durstig ist. Ein Mensch, dem sein Dasein genügt, der es nicht nötig hat, vor fünfhundert Menschen zu treten und auswendig gelernte Sätze von sich zu geben, deren Inhalt an den Schallschützern abprallen muß, die jene fünfhundert dort im dunklen Saal über die Ohren ihrer Herzen gezogen haben. Ein Mensch, der keinen Applaus nötig hat, der ihm ja letzten Endes doch nur erzählen muß, daß er wieder einmal einen Abend lang falsch gelebt hat und seine Zeit und die Zeit der anderen vergeudet hat, in einer Welt, die unsere Taten braucht, um sie vor dem Untergang zu bewahren, und nicht die grüblerische Frage - »Ob's edler im Gemüt sei, die Schleudern des wütenden Geschicks zu erdulden oder sich wappnend gegen eine See von Plagen durch Widerstand sie enden« - was soll die blöde Frage in einer Zeit, in der drei Viertel der Menschheit am Verhungern und
Verdursten sind und der fortschrittlichere Teil versucht, den Nahrungsüberfluß, den er besitzt, so kalorienarm wie möglich zu gestalten. Was soll die sinnlose Frage nach »Sein oder NichtSein« angesichts einer Kosmetikindustrie, die mittlerweile den Schutzfaktor 20 auf den Markt wirft, um den Strahlenschäden zu begegnen, die in den Mantel unseres Planeten Krebslöcher fressen? Wir leben an der Zeitenwende zu einer Kultur, die es auf diesem Erdball noch nie gegeben hat, und all unsere Energie muß darauf ausgerichtet sein, diese neue Kultur neu mitzugestalten und für sie Ausdrucksformen zu erfinden, für die es in unserer gesamten Geschichte noch kein Beispiel gibt. Jede Stunde, die wir vor den Bildnissen, den Tönen, den Schriften aus den Epochen verharren, die unsere Probleme noch nicht einmal geahnt haben, ist eine unterlassene Hilfeleistung an unserem »Jetzt und hier und heute«. Wir haben keine Zeit mehr für Sentimentalitäten, die uns Konservenfutter aus Zeiten in den Magen drükken, in denen ein Wahnsinniger zwanzig oder dreißig Millionen Tote zu verantworten hatte. Auch diese beklemmenden Zahlen sind nur eine lächerliche Fußnote auf der Liste der Treppenwitze, die unsere Geschichte darstellt - angesichts der demokratisch gewählten Massenmörder, die in pluralistischer Klein-
arbeit den Lebensnerv nicht nur unserer gesamten Art, sondern vor allem unserer Basis, dieser Erde, vernichten. Nicht beschädigen - oder ankratzen, oder vorübergehend aus der Balance bringen, wie es bisher üblich war, um im Geschichtsbuch Einzug zu finden, als Figur, die Schrecken erregen kann. Nein - heute geht es um das Ende, das Aus — und — Vorbei für immer, und das heißt, daß es niemanden mehr geben wird, der Billigtarife buchen wird, um den verrotteten Stumpf des Eiffelturms zu besichtigen - das heißt, daß es vorbei sein wird - vorbei. Ich sage ja nicht, daß die Frage, ob es die Lerche oder die Nachtigall war, einer gewissen Poesie entbehrt. Was es zu bekämpfen gilt, ist die Tradition, in der diese Frage ein ums andere Jahr gestellt wird und in dieser scheinbaren Kontinuität der äußeren Form verschleiert, daß die Lungen der Fragenden sich zu zersetzen beginnen und über zwanzig Prozent der Frauen und Männer in unserer Kulturgesellschaft keine Kinder mehr zeugen können, angesichts der Müllhalden, die ihre verpesteten und verseuchten Körper in Wirklichkeit darstellen. Mag da über den Balkon klettern, wer will. Die Naivität ist dahin - ein für allemal - und das Fürchterlichste an der Sache ist, daß die Beschäftigung mit Themen, die
nicht ausschließlich unserer Rettung dienen, Mitbeschäftigung an unserer Ausrottung darstellt. Wir sind wie ein TV-Gerät, wir haben vielleicht sogar mehr als fünfundsechzig programmierte Kanäle, auf denen wir Sendungen empfangen dürfen, aber trotz dieser Überkapazität können wir ganz simpel immer nur ein Bild auf einmal auf den Bildschirm unseres Bewußtseins lassen, und das heißt wiederum, daß die Jupitersymphonie zwar wirklich toll ist - wir aber allen Menschen, die sie hören, für mindestens fünfunddreißig Minuten die Möglichkeit rauben, die Aufrufe wahrzunehmen, die die sterbenden Bäume an uns richten - deren Tonart noch nie notiert worden ist. Und ich kann den kultivierten Einwand nicht mehr hören, daß uns das Beispiel Mozartscher Harmonie eben die Seelenkraft geben soll, diesen Mißständen zu begegnen undScheißdreck - alles, alles Scheißdreck -Lügen und Ausreden - zu seiner Zeit konnten kleine Kinder noch zu Mittag in der Sonne spielen und mußten nicht wie heute eingesperrt werden, um nicht von der Sonne verbrannt und von den Atemgiften gelähmt zu werden. Nie - niemals - nie hat ein sogenanntes Kunstwerk irgendeine Wand aufrichten können, die sich der Lawine des Wahnsinns entgegenstellt, zu deren Beschleuni-
gung wir jede Minute beitragen, in der wir uns »eine Weile entspannen«. Die Tragödie ist, daß wir keinen Zeitraffer haben, der uns bemerken läßt, in welchen Sog wir geraten sind. Wir sinken zu langsam, um Panik auszulösen, und das ist mit Sicherheit unser Untergang. Wenn die Titanic schneller gesunken wäre, offensichtlich vom Moment des Zusammenstoßes mit dem Eisberg an Schlagseite gehabt hätte, hätte die Kapelle mit Sicherheit das blöde Musizieren eingestellt und sich daran beteiligt, die Passagiere zu wecken, die »nur einen dumpfen Stoß« gespürt haben wollen, um ruhig weiterzuschlafen. Jedermann würde rufen: »Sperrt den Verrückten ein«, wenn uns die Wochenschaubilder einen Feuerwehrmann zeigten, der angesichts eines mit siebzig Kilometer Geschwindigkeit sich ausbreitenden Springfeuers in den Rocky Mountains, erst mal ein Querflötensolo übt, um anschließend in völliger Harmonie und voll innerer Ruhe - aus der Mitte heraus sozusagen - zur Feuerpatsche zu greifen. »Recht geschieht ihm«, würde die Fernsehgemeinde denken, angesichts seines verkohlten Gerippes, das noch die geschmolzene Flöte in der Linken hält. Die Falle, die uns gestellt wird, ist das unmerkliche Tempo unseres Versinkens, der Schwelbrand, der im Moos
und den Verflechtungen unserer Notwendigkeiten zu unseren Füßen uns schon längst umkreist hat. Diese alles zerstörende Glut, die nur das Ergebnis unserer auf die falschen Ziele gerichteten Wünsche ist, hat es nicht einmal nötig, in Stichflammen aufzulodern -nein -, langsam und würgend produziert sie einen unsichtbaren Dunst, der nur hie und da hüsteln läßt, leise, mit vorgehaltener Hand, versteht sich, um den Nachbarn nicht zu inkommodieren. Ein abwartendes »Nicht einmal zusehen« ist es, in dem wir gefangen sind. Hirne - eingegossen in Polyester, als letzte Worte »ich sehe ohnehin noch klar und deutlich« auf den Lippen, bis der langsam steigende Unrat unseres Seelenmülls auch diesen dummen Spruch ablösen wird, durch ein Todeswinseln. Viel mehr wird es nicht sein. Die Weltgeschichte hat vom Pathos, das sich in Schreien äußert, Abschied genommen. Der große Vernichter hat die Taktik gewechselt und kommt als parfümierte Kosten-Nutzen-Rechnung daher, die uns weismachen soll, daß ein Wachstum ohne Ende das erstrebenswerteste Ziel auf Erden sei. »Schrecklich, diese Übertreibungen«, äußern pikierte Fünf-Uhr-Tee-Genießer angesichts solcher Bemerkungen über den wahren Stand der Dinge. »Außerdem -ich kann es wirklich nicht mehr hören, dieses Jammern
über den Untergang - unlängst erst hab' ich einen Bericht gelesen, daß viertausend neue Tannenbäume gepflanzt worden sind, in — in - na ist ja egal, auf jeden Fall, gepflanzt sind sie worden.« Leise schmilzt der Süßstoff im Earl Grey, dezent klimpern die Löffel an der Tasse. Am Puls des Geschehens wechselt man den Kanal und stellt fest, daß die neue Saison tatsächlich noch mehr Skandale auf Lager hat als die letzte. Ist es das? Kann es das sein? Wo führt das alles hin?! »Zum Tode«, würde mein Freund Garcia sagen - »zum Tode.« Die Frage ist nur, wie wir uns auf den letzten Metern verhalten. Besitzen wir die Würde, aufrecht stehend ihm in die Augen zu blicken, wenn er die Hand auf unser Herz legt, aufrecht stehend und sein Lied singend? Das Lied des Todes - so wie es die Indianer früher getan haben, wenn sie gespürt haben, daß ihr letzter Kampf an sie herangetragen wird? Aufrecht sollen sie ihn erwartet haben - den stärksten, härtesten aller Krieger, dessen Sieg schon beim
ersten Atemzug feststand, den sie in diesem Leben getan haben. Ein letzter Kampf steht bevor, ein letztes Lied wird gesungen. Es ist kein Lied von der Jagd, es ist kein Lied von der reichen Ernte, es ist kein Lied, das man den jungen Mädchen erzählt, die die Fortsetzung allen Lebens in sich tragen. Es ist das Todeslied, das ihm erzählen soll, daß das Leben in Furchtlosigkeit und Tapferkeit geführt wurde, und das erzählt, daß der Krieger weiß, daß er Abschied nehmen muß-, daß er Abschied nehmen muß, aber daß er keine Furcht hat vor diesem letzten Kampf, von dem er weiß, wer ihn gewinnen wird - und der Krieger hat keine Furcht, weil er ein Leben gelebt hat, für das er sich nicht schämen muß. Nein - ich glaube nicht, daß wir so enden dürfen, weil wir ihm nicht in die Augen blicken können voller Stolz, ein Leben gelebt zu haben, das frei war von Feigheit und Berechnung. Todesangst werden wir haben, weil Todesangst nichts anderes ist als Lebensangst und diese Lebensangst bedeutet, daß wir nie gelebt haben, sondern uns mit der Ablenkung, mit dem Anschein von Lebendigkeit haben betäuben lassen. Nie haben wir auf unserem Weg den Verzicht gewählt, der uns reicher macht, nie die Tapferkeit besessen, die Zärtlichkeit in uns zuzulassen. All das wird uns in den letzten Augenblicken vorgeführt wer-
den, wie in einem großen Spiegel, der sich all unsere Grimassen gemerkt hat, mit denen wir unser wahres Gesicht belügen konnten, solange es ging. Ein Gesicht, das wir verloren haben. Ein Gesicht, das niemand mehr sehen will. Ich stand auf, weil die Ameisen plötzlich ihre Marschroute änderten und auf den Schokoladefleck zusteuerten, den ich auf meinem linken Hosenbein hatte. Jetzt wollte ich es wissen, ob es nicht doch eine kleine Möglichkeit gäbe, der ganzen Unbill einen Haken zu schlagen und sich auf und davon zu machen, in die Wälder der Hoffnung, die an diesem Tag meiner Kindheit noch grüner waren, als sie es heute sind. Ich ging zurück in den Saal und trat auf meine Lehrerin zu. »Ich habe eine Frage«, sagte ich und sah ihr in die Augen. »Ja, bitte« »Wie macht man das?« »Wie macht man was?!« »Auslassen —« Sie lächelte wieder dieses zärtliche Lächeln, das jenseits des Punktes begann, an dem Beziehungen zwischen Mann und Frau aufhörten und die Verbindung zwischen Menschen beginnen konnte. Diese ruhige Wärme, die in ihrem Gesicht stand und unerschütterlich war, so unerschütterlich, wie man es nur sein
konnte, wenn man tausendmal gefallen war und tausendeinmal wieder zurückgefunden hatte, auf den Platz, den das Schicksal für uns bereithält. Diese Wärme war voll von heiterem Verständnis für diesen jungen Mann, der da vor ihr stand und mit angespannter Stirn wissen wollte, warum die Sonne heiß war und der Mond kalt. Sie nickte und sagte: »Ja, ja - das möchtest du können, nicht wahr?« »Jawohl«, antwortete ich und vergaß in diesem Augenblick völlig, daß Oskar Werner in einem Film auf dem Sterbebett einmal gesagt hatte: »Sagt nie wieder jawohl« - tja, so leicht vergißt man die Vorbilder, die man hat, wenn man glaubt, das Zielband des persönlichen Ehrgeizes zerreißen zu können. »Na gut - stehst du gerne früh auf?« fragte sie und begann wie absichtslos die Degen und Säbel wieder in den Waffenkorb zu verstauen. »Was ist früh?« fragte ich vorsichtig und ahnte, daß es mit dem Zu — Bett — Gehen um drei Uhr morgens bald vorbei sein würde - drei Uhr morgens - die einzige Zeit, zu der man als aufgewühlter Künstler ins Bett gehen konnte, durfte, mußte, um sich von den Lemmingen zu unterscheiden, die um sechs Uhr morgens verzweifelt ins Büro strömen, wie auf der Suche nach der Küste, die der Allmächtige für ihren kollektiven Selbstmord bereitgestellt hatte, an dem Tag, an dem alles begann.
»Na ja - ist dir fünf Uhr zu früh?« fragte sie mich und ließ diesen Blitzschlag wirken, wie der Hornist in Beethovens »Fidelio« sein Hornsignal wirken läßt, das einsam, entrückt und ungestört von begleitenden Streicherakkorden alles überragt, was es im »Fidelio« zu überragen gibt.
»•Nein, wieso?« - antwortete ich und wunderte mich über die Leichtigkeit, mit der mir diese Lüge von den Lippen flog.
»Interessant - also für mich ist das zu früh«, sagte sie, »aber wenn du es möchtest -« »Was für eine Zeit haben Sie sich denn vorgestellt?« »Ach — für mich würde sechs Uhr völlig reichen.« »Gut, also sechs Uhr-« »Änderst du deine Meinung immer so schnell?« »Nein nein, ich äh ...« »Du wolltest es mir nur recht machen - nicht wahr?« »Nun ja, ich - äh.« »Fang gar nicht erst an damit - wie sollen dir die anderen glauben, wenn du dir selbst nicht glaubst?« »Aha — ja -« »Jede Lüge sieht jeder - jeder -, auch wenn nicht jeder weiß, daß er es sieht - jeder sieht jede Lüge -, also fang gar nicht erst damit an.« »Gut.« »Und sag' nicht immer - ja - und gut —« »Okay.«
Sie mußte lachen und ich fragte mich, was diese alte Hexe an sich hatte, daß es ihr so mühelos gelingen konnte, aus dem selbstsichersten Anwärter auf den Oscar, der je geboren worden war, den hilflosesten Osterhasen zu machen, der nicht einmal zwischen harten und weichen Eiern unterscheiden konnte. »Furchtbar - nicht?« sagte sie und nickte mir zu. »Was denn?« »Kaum erlaubt man jemandem Autorität zu sein, schon ist das gesamte Rückgrat beim Teufel, das man hat, wenn man so frech ist, wie man sein muß, um in dieser Welt zu überleben.« »Ja« - sagte ich und mußte lachen, weil ich mich daran zu gewöhnen begann, daß sie immer einen Gedanken schneller war als ich. - »Wahrscheinlich ist das nur so, weil ich etwas von Ihnen lernen möchte.« »Aha.« »Ja.« »Und dafür bist du sofort bereit, dich aufzugeben -« »Nein, das nicht, aber—« »Aber -?!« Ich stockte und mußte eine Pause machen, weil ich den Satz, den ich jetzt als nächstes sagen wollte, noch nie zu jemandem gesagt hatte. »Aber - Sie - Sie können so viel mehr als ich, daß ich mir denke —« »Laß es —«, unterbrach sie mich und hörte plötzlich zu lächeln auf - »laß es -, Demut ist wichtig um zu lernen, aber Demut bedeutet nicht, daß du dich aufgeben sollst - auch deine Fehler gehören zu dir. Es gibt keinen
Grund, sich für sie zu schämen. Nimm sie an wie einen Bekannten, von dem du beschließt, daß du ihn nicht mehr wiedersehen willst, aber hör auf, dich für ihn zu schämen. Es hat mit Sicherheit eine Zeit gegeben, in der es wichtig für dich war, diesem Bekannten zu begegnen und mit ihm eine Strecke deines Weges zu gehen. Wenn der Augenblick gekommen ist, wo sich eure Wege trennen, gehe weiter, ohne dich umzudrehen und ohne etwas zu bereuen, sonst siehst du nicht, wo du hinsteigst, und das wäre schon der nächste Fehler.« »Ja.« »Also sechs Uhr früh.« »Ja, sechs Uhr früh.« »Gut - du stehst um sechs Uhr auf und bist um halb sieben hier im Saal. Du fängst an dich aufzuwärmen und um sieben Uhr beginnen wir. Ist das gut so?« »Ja, das ist gut.« »Und iß nicht zuviel, bevor du herkommst.« »Ja.« »Und trink am Vorabend nicht zuviel.« »Ja.« »Könntest du mir vielleicht jetzt einen Gefallen tun?« »Ja.« »Ich würde dich gerne einmal >nein< sagen hören.« »Vielleicht morgen«, antwortete es aus mir heraus und meine Augen bohrten sich wie in einem Ausfall in ihre schönen, dunklen Pupillen, die vor Spaß vibrierten. »Das war ein guter Anfang«, sagte sie und verließ den Saal.
Am nächsten Morgen war in unserem Tanzsaal der dicke, alte Ofen, den wir hatten, schon angeheizt worden, und durch die kleinen Glasscheiben in seiner Metalltüre konnte man die rote Glut sehen, die die bauchigen Wände wärmte, die ihre Strahlen in den Raum weitergaben und eine stille Geborgenheit verbreiteten. Ein Jahr — dachte ich, genau ein Jahr lang bin ich jetzt schon hier und nehme Abschied von meinem bisherigen Leben. Ein eigenartiges Jahr, eigenartige Begegnungen mit eigenartigen Ergebnissen. Zwanzig verschiedene Schicksalswege aus zwanzig verschiedenen Richtungen kommend, um plötzlich die Gemeinschaft eines Jahrganges zu bilden, eine Herausforderung für zwanzig Egoisten, plötzlich zu erkennen, daß neunzehn genauso große Egoisten neben ihnen standen, und alle wollten sie durch denselben schmalen Flaschenhals. Ein Leben lang war es jeder von uns gewohnt gewesen, mehr oder weniger der Mittelpunkt zu sein, in einem üblichen Schulsystem, das den jungen Menschen
jeden Aufschrei der Individualität niederknüppelt. Wir waren es gewohnt gewesen, entweder der Pausentrottel zu sein, der so gut Witze erzählen konnte, oder im besten aller Fälle derjenige, der Schillers »Räuber« zum Jahresende im Festsaal vortragen durfte, weil »er so eine schöne Stimme« hatte. Wie auch immer - eines hatten wir alle gemeinsam, das Gefühl, einzigartig zu sein in unserem Wunsch, uns herzuzeigen, uns zu produzieren, die Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Plötzlich war das alles anders. Plötzlich war da ein Haufen genau solcher Magnete, die es als selbstverständlich ansahen, die Eisenspänchen der Zuwendung aller anderen einzig und allein an sich heranzuziehen. Und auch in dieser Horde begannen sich die Rollen sehr schnell herauszukristallisieren, die vom Regisseur des Schicksals verteilt wurden. Auch wir hatten in diesem Individualistenhaufen sehr schnell die Zonen abgesteckt, in denen die Außenseiter saßen, die Mauerblümchen, die Opportunisten, die Stars. Fast konnte einem ein wenig unheimlich zumute werden, wenn man beobachtete, wie schnell diese Rollenverteilung vor sich ging. Einige Tage genügten schon, um Sitzordnungen ein für allemal festzulegen, Liebschaften zu etablieren, Mimosentum für alle anderen zum Prüfstein werden zu lassen. War das wirklich alles nur ein Rudel von Spielern, die gar nicht bemerkten, wie schnell und wider-
spruchslos sie die Chargen übernahmen, die ihnen die Kräfteverteilung innerhalb unserer Grenzen zugewiesen hatte? War wirklich jedes Zusammenkommen von Menschen nur von zwei Hauptfarben abhängig, Schwarz und Weiß - die wiederum nur hießen »ich bin stärker oder schwächer als du«? Es war so simpel und durchschaubar, daß es mir schwerfiel zu akzeptieren, daß nach Millionen von Jahren der Menschheitsgeschichte wirklich nichts anders geworden war - daß jedes Zusammentreffen von Menschen nach wie vor nur vom Zähnefletschen gesteuert war, das schon vor fünfundvierzigtausend Jahren geklärt hatte, wer nahe beim Feuer sitzen durfte und wer dem kalten Schneesturm am Höhleneingang standhalten mußte. War es wirklich nicht möglich, aus diesem »Janein«-Rhythmus ein einziges Mal auszubrechen, nicht einmal hier in dieser Schule, einer Schule, die den Menschen doch ihre Spiele vor Augen führen sollte, um ihnen zu helfen, sie hinter sich zu lassen? Und wenn das schon nicht von heute auf morgen möglich sein sollte - dann könnte doch zumindest der Blick für diese Zusammenhänge geschult werden? Um sie darzustellen, muß man doch mit diesen Formen spielen können, hatte ich vor einem Jahr gedacht und sehr schnell gelernt, daß der Ansatz zu dieser philosophischen Spekulation nur mißverstanden wurde als Furcht, in das Rudel hineinzuspringen und die Zähne zu fletschen.
Oh, wie langweilig ist das alles - dachte ich mir -, wie langweilig und sich wiederholend ... Schmelzende Schneeflocken auf einer Lebensbahn, die doch dazu dienen könnte, sich aus diesen Umklammerungen zu lösen und frei zu werden, frei zu sein von Überlebensinstinkten, die mich zum Kämpfer machen, der jederzeit bereit ist, zum Killer zu werden, obwohl das angesichts der gefüllten Supermarktkühltruhen ja wirklich mehr als lächerlich ist. Aber nein - so weit sind wir noch nicht auf diesem Planeten, auf dem ein geordneter Rückzug in Stärke nur mißverstanden wird als Aufgabe der zu verteidigenden Position. Dieses dumme Mißverständnis ist ja auch Marschall Ney bei Waterloo passiert, der beobachten konnte, wie der kluge Wellington seine schottischen Infanterieregimenter hinter einen Hügelkamm zurückzog, um sie nicht mehr im Artilleriefeuer der Franzosen abknallen zu lassen wie Holzenten auf dem Jahrmarkt. Die dumme Soldatenehre gebot aber eigentlich, daß man dort, wo man einmal stand, stehenbleiben mußte, bis man fiel. So vertrottelt das auch war, ein intelligentes Ausweichen vor der Gefahr erschossen zu werden, war in den Köpfen der Heerführer einfach nicht eingeplant. Nun - man weiß, was geschehen ist - Ney sieht diesen Rückzug der Engländer, sein Hirn spuckt nur eine einzige Möglichkeit aus und die heißt: »Die Engländer fliehen!« - daraufhin startet er eine Kavalle-
rieattacke ohne Unterstützung der Infanterie, so wie man es eigentlich lernt - und prompt läuft seine Attacke in die geordneten Karrees, die die Engländer hinter dem Hügelkamm gebildet hatten, um die unterstützungslos heranreitenden Franzosen aufzureiben. Tja -und dann wurde es Nacht und die Preußen waren auch noch gekommen. Und all das wegen eines Mißverständnisses, ein Mißverständnis, das nicht bereit ist zu akzeptieren, daß alle Regeln nur eine Aufforderung darstellen - sie zu brechen, um frei zu sein, frei zu sein von Prägungen, die so überholt sind, wie die bunten Uniformen früherer Jahrhunderte, die bestens geeignet waren, für den Gegner eine Zielscheibe darzustellen. Wird das alles jemals anders werden, fragte ich mich, als mich eine Stimme einholte »Das nennst du aufwärmen?!« Ertappt - nun gut, dachte ich mir - das erste Mal ist es vielleicht erlaubt - die frühe Stunde mag manches entschuldigen und - nichts, nichts entschuldigte sie. Kein Lächeln, kein mädchenhaftes, keine Auflockerung durch leicht hingeworfene Scherzworte, ja nicht einmal - und das war das Schlimmste -, nicht einmal eine wirkliche Zurechtweisung, sondern nur der ruhige Satz: »Also gut, dann fangen wir eben gemeinsam an - geh los.« »Wieso«, fragte ich - »wie soll ich losgehen - wohin soll ich gehen, auf welche Art und warum -?!«
»Geh einfach im Kreis und denk nicht soviel«, sagte sie und setzte sich auf einen alten Stuhl, der an der Wand stand - abwartend, schlicht und stiller Mittelpunkt eines Raumes, in dem ansonsten nie gesessen wurde -es sei denn vor Erschöpfung, nach langen Trainingsstunden - und dann war dieses Sitzen auch mehr ein Herumliegen am Boden und - »Geh schon -«, sagte sie noch einmal, also setzte ich mich in Bewegung. Fünf Minuten, zehn Minuten, zwanzig Minuten lang ging ich in dem Saal auf und ab und kreuz und quer, wortlos, schweigend, ein lebendig gewordenes Fragezeichen auf der Suche nach einem Satz, den niemand aussprechen wollte. Sie saß die ganze Zeit über da und sah mir stumm zu, wie ich so von links nach rechts ging, an einer Wand ankam, eine Kurve nach rechts nahm, eine Ellipse nach links zog, den Fußboden mit unsichtbaren Diagonalen überspannte und mir auf diese Weise ziemlich blöd vorkam, bis ich bemerkte, daß ich anfing, mir ihres Zuschauens bewußt zu werden. Ich fing an, ihren Blick, der mir überallhin folgte, zu meinem Blick werden zu lassen, der meinen Körper mit Röntgenaugen durchleuchtete, bis ich anfing, mich für ihn zu schämen, weil er so - so - so stur war ... Ja -mein guter alter Körper war irgendwie stur. Er zog dauernd eine Schulter hoch und versuchte aus dem Gehen etwas Besonderes zu machen. Ich hatte das Gefühl, als wäre das einfache Gehen zu wenig, zu dürftig, zu dünn, also begann ich fast unmerklich in
einem Rhythmus zu gehen, der mich nach fünf Minuten aber schon wieder zu langweilen begann und den ich daraufhin durch einen anderen Takt ersetzen wollte. Ich bemerkte auch, daß ich auf seltsame Weise außer Atem geriet, obwohl ich überhaupt nicht rannte, sondern sogar hie und da versuchte, ostentativ langsam zu schreiten, dann wieder ertappte ich mich bei einer Art des Tänzeins, die wirklich mehr als lächerlich war, und das ich sofort durch trotzig aufstampfendes Marschieren vergessen machen wollte. »Kannst du nicht ganz einfach gehen?« fragte sie nach einer guten halben Stunde, was zur Folge hatte, daß ich abrupt stehenblieb. »Wie - was - wie ... wie soll ich gehen?!« »So, wie du gehst-«, sagte sie und diese Antwort brachte mich wirklich keinen Millimeter weiter. »Ich gehe doch«, sagte ich so widerborstig wie möglich und begann mich zu fragen, ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, gestern schon um zwölf Uhr im Bett zu liegen und nicht ein einziges Glas südlichen Rotweins getrunken zu haben. »Geh in diese Ecke dort«, sagte sie, stand auf und begab sich in die diagonal gegenüberliegende Seite des Saals. »So, und jetzt geh auf mich zu —« Ich folgte wie ein dressierter bengalischer Tiger, schlich in meine Ecke und begann auf sie zuzugehen —
»Halt! - schau nicht auf deine Füße, schau mir in die Augen —< Ich hielt meinen Blick gebannt auf ihre Stirn gerichtet und setzte zögernd Schritt für Schritt, und als ich in der Saalmitte und damit am Höhepunkt ihres unerträglich gewordenen Schweigens und ihres unerträglich gewordenen Blicks angekommen war, blieb ich stehen und fühlte, wie meine Hände zitterten und in meinem Bauch ein hohles Gefühl pulsierte und in meinem Kopf nur ein einziger Gedanke Platz hatte, der da lautete: »So geht kein Mensch-« Ich stand da und wiederholte diesen Gedanken immer wieder und konnte ihr auch nicht in die Augen schauen, sondern mußte meinen Blick zu Boden senken und still sein. Ich spürte, wie sie sich nach einer langen Pause aus ihrer Ecke löste und langsam auf mich zukam. Ich fühlte ihre Annäherung, bevor ich ihre Schritte hörte oder eine Bewegung aus ihrer Richtung sehen konnte. Sie war schon bei mir gewesen, noch bevor sie begonnen hatte, zu mir zu kommen, und dann stand sie an meiner Seite und legte mir die Hand um die Schulter. »So geht kein Mensch - nicht wahr?« sagte sie leise und zog mir mit diesen Worten den letzten Rest an aufgeblasener Selbstsicherheit unter den Füßen weg, die nicht einmal imstande waren, ganz einfach zu gehen. »Warum kann ich es nicht...« »Was möchtest du tun?« fragte sie mich, anstatt mir eine Antwort zu geben. »Ich möchte mich hinlegen«,
sagte ich und dann gab sie nach und ich legte mich auf den Boden, legte mich auf den Rücken und hatte die Augen geschlossen, damit sie nicht sehen konnte, daß mir zum Heulen war. Sie setzte sich neben mich und sagte eine Weile kein einziges Wort. Ich konnte irgendwie nicht richtig atmen vor Wut, daß ich nach zwanzig Lebensjahren noch nicht einmal an dem Punkt war, an dem alle vor ebendieser Zeit gerufen hatten: »Er geht -er geht - schau doch - er kann gehen.« Quatsch - ich kann nicht gehen, dachte ich mir. Ich tue nur so, als würde ich gehen. Ich kann auch nicht sprechen. Ich spreche wie ein Schauspieler oder wie ein Autoverkäufer oder wenn ich verführen möchte, wie ein in Honig getauchtes Cello - weil das so erotisch klingt -, aber ich ... ich - habe ich schon jemals einen Schritt getan oder einen Ton von mir gegeben, der von mir war?! Von mir und nicht das Ergebnis, daß ich Gary Cooper so bewunderte in »High Noon« - wie er die Straßen entlangschreitet und Sorgen hat... Alles in mir und an mir schien mir plötzlich wie das Echo auf alle anderen, denen ich in meinem Leben begegnet war - aber nichts - kein einziger Hauch aus meiner Brust, schien mir in diesem Moment von mir zu kommen. Eine halbe Stunde Fußmarsches unter der Beobachtung von einem Paar Augen, dem man nichts mehr vormachen konnte, hatte mir gezeigt, daß alles das, wozu ich »ich« sagen konnte, nur leere Platzpatronen waren, die ich am Truppenübungsplatz anderer
Individuen gesammelt hatte. Ich wollte weg und woanders sein. Ich wollte nicht nur woanders sein, sondern vielleicht nie wieder in diese Schule kommen, nie wieder meinen Mund aufmachen, nie wieder — »Laß aus-«, sagte sie leise und nahm meine Hand. Ich mußte tief aufatmen, als sie mich berührte, dann legte sie ihre andere Hand auf meine Stirn und flüsterte wie die beste aller Freundinnen, die in diesem Universum möglich ist: »Weine ruhig - es ist niemand da -du kannst ruhig weinen ...«, und als ich sie diese Worte sagen hörte, spürte ich, wie sich der Knoten in meinem Bauch zu bewegen begann und mir die Brust hinaufstieg und in meinem Hals ankam und dort einen Damm aufbauen wollte, da strich sie mir noch einmal wortlos über meinen Kopf, und die Faust um meinen Hals löste ihren Griff und ließ mich weinen wie noch nie zuvor in meinem Leben. Wir blieben beisammen in diesem leeren, seltsamen Saal, vor dessen Fenster die ersten Schneeflocken ruhig und ohne Ablenkung auf die Erde fielen. Ich spürte die Wärme ihrer Hände, und ich fühlte, daß das die Möglichkeit für mein Leben war, auszusteigen aus dem Schiff, dessen Name »die Pflichterfüllung« lautet. Die Pflichterfüllung, die aus uns Menschen so seltsame Roboter macht, die alle im Dienste eines fremden Herrn funktionieren und nie die Chance erhalten, eines Tages ihren eigenen Weg zu gehen, ihren wahren Wünschen zuzuhören und dem Ruf ihres Herzens zu folgen.
Dieser Ruf sagt: »Sei, der du bist, und mach kein Theater - für nichts und für niemanden. Das Leben ist zu kurz, um es mit eingelernten Phrasen auszufüllen, von denen wir sogar schon vergessen haben, wer sie uns in den Mund gelegt hat.« Nichts und niemand hat das Recht, uns zu sagen, in welche Richtung der Wegweiser unserer Wünsche zeigen soll, und selbst wenn wir eine Zeitlang in die Irre gegangen sind, gibt es doch die Möglichkeit, die Richtung zu ändern — ans Ufer zu rudern - und erst einmal auszuruhen. »Na —«, sagte sie und sah mich an. Mir war so unendlich egal, was sie von mir dachte, daß ich keine Scheu hatte, ihr in die Augen zu sehen, obwohl tapfere Krieger ja nicht weinen dürfen, und dann sagte ich: »Verdammt viel Scheiße am Dampfen - was?!« »Üben«, nickte sie und lächelte wieder so schön, daß man sich verlieben mußte. »Was soll ich denn machen?« fragte ich und begann mich langsam aufzurichten. »Komm-«, sagte sie und stand auf, »komm hoch-.« Ich stand auf und fühlte mich seltsam leicht und schwer zugleich. Mir war, als hätte mein Weinen all die verrosteten Scharniere gelockert, die mich zusammenhielten und meine eigentliche Grundausstattung waren, die man mir vor vielen Jahren mitgegeben hatte, um ich selbst zu werden. »Komm, ich gehe mit dir.« Sie legte mir ihren Arm um die Schultern, und ich legte meinen Arm um ihre Hüften und so wanderten wir langsam und schweigend durch den Saal, langsam und schwei-
gend über den Boden, der manchmal knisterte und damit nur die Stille unterstrich, die eine angenehme Melodie war, die ohne Anfang und Ende die Atmosphäre zwischen uns und um uns auszufüllen begann. Ich fühlte ihren Körper neben mir, der so viele Geschichten erlebt hatte und der jeden Vulkanausbruch nur dazu benutzt hatte, um auf der Lava wieder neues Grün wachsen zu lassen, und versuchte zu lernen. Mein Schweigen hielt seinen Mund und ich tat nichts anderes, als Schritt für Schritt wegzukommen von meiner Vorstellung, die ich davon hatte, wie ein Mann in meinem Alter, mit meinem Aussehen und meinem Namen zu sein hat. Es war eine Weichheit in diesen Augenblicken, die mich süchtig gemacht hat nach der Wahrheit, die sich überall verbirgt. Ich ließ meine Beobachtung durch meinen Körper rinnen und fühlte, daß sie auf viel weniger Stromschnellen der Verspannung stieß, als noch vor einer halben Stunde. Da ging ein Mensch durch diesen Saal, der gute Aussichten hatte, ich zu sein, und neben ihm ging ein zweiter, der voller Freude zusah, daß die Gespenster der Vergangenheit zumindest einmal erkannt worden waren. Dieses Erkennen allein ist ja auch schon die Einleitung zu der Zauberformel, deren Bannkraft die dunklen Tiere der fremden Einflüsse in ihre Schranken weist und uns lächeln läßt. Eine schöne junge Frau, dachte ich mir, und ein schöner junger Mann - ... Das Liebespaar, das zuvor zum Schwimmen gegangen war, kam die Treppen zur
Terrasse herauf und setzte sich drei Tische von mir entfernt an die Brüstung. Sie hielten einander an der Hand und plauderten leise in voller, heiterer Zärtlichkeit miteinander. Sie hatte langes, dunkles Haar mit dicken, schweren Locken, und ihre Augen zeigten ihm, daß er der einzige war, den es lohnte anzulächeln auf dieser Welt. Er hatte seinen Arm leicht um ihre Schulter gelegt und sagte ihr etwas ins Ohr, das sie zum Lachen brachte, ein wunderschönes Lachen, das ihn so verzauberte, daß er sie küssen mußte -. Hm, dachte ich - darum geht es und um sonst gar nichts. Um Zärtlichkeit und um Heiterkeit, um das sich gegenseitig Beschützen in einer Welt, die eigentlich wie gemacht dafür scheint, glücklich zu sein und gesund in ihr zu leben. Aber es funktioniert nicht. Es funktioniert nicht, weil wir die Betriebsanleitung nicht lesen können, die aufgeschlagen vor unseren Augen liegt und die nur darauf wartet, daß wir uns über sie beugen und sie entziffern und uns in der Folge an ihre Gesetze halten. Die einzige Freiheit, die wir auf unseren Weg mitbekommen haben, ist die Freiheit, uns anzufreunden mit dem Vorschlag, den die Welt uns macht, in ihrer Mitte zu leben und mit ihren Gewalten, die unendlich, unendlich, unendlich stärker sind als wir und sich erst leise zu räuspern beginnen, um uns zu warnen, weil wir sie pausenlos übersehen wollen.
Es gibt keine Freiheit außer der Freiheit, sich dem Gesetz zu fügen. Das Gesetz, das uns müde sein läßt, wenn der Neumond alle Energien zum Ruhen bringt. Das Gesetz, das uns vor Kraft platzen läßt, wenn der gute alte Freund zwei Wochen später rund und voll und grenzenlos auffordernd die Nacht zum Tag werden läßt. Das Gesetz, das uns vorschlägt, die Einteilung des Jahres als einen großen Wechsel zwischen Schlafen und Wachen, zwischen Kraft sammeln und Kraft weitergeben zu verstehen. Das Gesetz, das uns ein ums andere Mal vorführt, daß im Frühjahr gesät werden muß, um im Herbst ernten zu können. Dieses Gesetz ist es, dem wir zum Freund werden müssen, weil wir auf diesem Planeten reinkarniert sind und nicht auf dem Pluto, der in seiner Eiseskälte andere Gesetze bereithält, auf die ich mich jetzt nicht einmal in der Phantasie einlassen möchte. Was wir brauchen, ist eine klare Absage an jede sogenannte Kulturleistung, die als Endergebnis ein Mißachten der ewigen Gesetze mit sich bringt. Was wir brauchen, ist ein Wiederfinden der Erfüllung, die es bedeutet, im Rhythmus mit der Takteinteilung zu leben, die die Melodie des Lebens auf diesem Erdball bestimmt und ordnet.
Ein Hinter — uns — Lassen aller Überflüssigkeiten, wie Macht, Reichtum und der Möglichkeit, in fünf Sekunden im neuen Ferrari von Null auf Hundert zu sein, ist es, das uns die Tür zum Paradies vielleicht wieder öffnen könnte, die wir so mutwillig hinter uns zugeschlagen haben. Ach Gott, ach Gott, ach Gott, wie oft noch - wie oft noch werde ich mich dabei ertappen, wie meine Phantasie gegen die Windmühlenflügel der sogenannten Realität anreitet, nur um zum traurigen Helden zu werden, auf dessen Fahne man lesen kann: »Idealismus ist der Beginn jedes sozialen Abstieges.« Umwege - alles Umwege - alles, alles Umwege, um uns vor der Wahrheit zu drücken, die da heißt: »Wir haben Sehnsucht nach Liebe - nach Liebe und nichts als nach Liebe« - nach der Hitze und dem Vulkan einer Umarmung, eines Ineinanderversinkens, das uns unsere verdammten, armseligen Gedankenverkrümmungen aus unseren jämmerlichen Hirnen brennt. Ich mag nicht mehr. Ich mag nicht mehr erkennen müssen, daß die Hälfte des Lebens zu nichts anderem dient, als draufzukommen, mit welchem Mist sie uns vollgestopft und uns voller Angst zurückgelassen haben, die da heißt: •Wenn du deine Hand erhebst um aufzustehen, wirst du büßen mit ewigem Entzug der gesellschaftlichen Anerkennung« - eine Anerkennung, die sich in Rang und Würde niederschlägt und der ewigen Unfähigkeit, einen anderen Menschen in Liebe zu umarmen und
ihm die Einsamkeit aus dem Körper zu nehmen, in die man uns hineingetrieben hat, im Kampf jeder gegen jeden. Ich habe den wohltemperierten Tonfall der Würde so unendlich satt, den es anzustreben gilt, um ein Mitglied der Vereinigung der Bewegungslosen zu werden, die an unserer Spitze stehen und ihren letzten, wirklichen Orgasmus vielleicht beim Onanieren in der Pubertät hinter sich gebracht haben. Ich habe die ekligen Lügen satt, die uns einreden, daß es irgend etwas Wichtigeres gibt als die Güte und das Verständnis für die Liebessehnsucht des Nächsten, der neben uns in die Knie geht, weil er den unbarmherzigen Druck nicht mehr erträgt, der auf jeder Lebendigkeit lastet wie zentnerschweres Blei. Ich muß dem Haß ins Gesicht schauen, der sich im Lauf der Jahrzehnte in mir angestaut hat, weil jedes Erwachen zur Hoffnung auf Zärtlichkeit nur begleitet war von der Erkenntnis, daß es keine Chance gibt daß es keinen Beichtstuhl gibt, in dem wir niederknien können, um erlöst zu werden von der Todesgefahr, die über uns ausgegossen wird wie stinkende Jauche. Wir brauchen nicht mehr als das tägliche Essen, ein Bett, um zu schlafen und Luft, um zu atmen. Alles andere ist maßlose Gier, die nur das Ergebnis hat, unseren Bruder zu verdrängen und den Fluß des Lebens versiegen zu lassen. Ich habe nicht so viele Messer in meiner Hand, wie ich brauchen würde, um alle niederzustechen, die sich fettwanstig in unseren Blick stellen, der bis zum
Horizont reichen könnte. Das Wasser unserer fehlgeleiteten Lebensenergie steht uns bis zum Hals und was wir tun, ist vor dem Fernseher zu hocken und zuzusehen, wie sie einander die Hand schütteln, weil wieder einmal hundert Milliarden in die gemeinschaftliche Entwicklung eines multinationalen Projekts zur Zerstörung unserer Welt gesteckt worden sind, und jedes Projekt ist ein Projekt zur Zerstörung unserer Welt, das nicht ausschließlich dazu dient, den Lebensraum zu beschützen und wieder aufzurichten, den wir in dem letzten Jahrhundert so zerstört haben, wie nie ein Geschlecht zuvor. An den Rand gedrängte Minderheiten sind es, denen einige von uns voll romantischer Sehnsucht zuhören, wenn sie zu den Tönen einer Indianertrommel vom großen Geist berichten, der unser aller Vater ist... Umsonst, Freunde - ich sage euch, es ist umsonst, sich in kleinen Gruppen voller Harmonie am Waldesrand zu treffen und zu versuchen, die Schwingung des Bruders Baum zu fühlen, solange das Land, auf dem dieser Bruder steht, nicht in eurem Besitz ist und ihr seine Gesetze bestimmt. Das Land ist nicht in eurem Besitz. Es gehört den Gewaltverbrechern, die sogar so mächtig sind, eure sehnsüchtigen Kinderspielchen zu dulden, die sich um die Harmonie mit der Natur bemühen. Früher - als sie sich ihrer Macht noch nicht ganz sicher waren, hat man sogar noch Gedichte verboten, weil Sie genau wußten, was ein Wort anrichten kann. Ein Wort hat die
Kraft, die Sonnengluten aller Herzen dieser Welt auf den Weg zu schicken oder zu verhindern, und darum haben sie früher noch Dichter geächtet und ihren Mund zerschnitten und zerhackt. Jetzt aber ist es schon fast vollbracht. Sein Werk steht unmittelbar vor der Vollendung, denn das Meisterstück des Teufels ist ihm in unseren Tagen gelungen, in denen niemand mehr an ihn glaubt. Heute lassen sie euch singen und in kleinen Gruppen auf Trommeln schlagen und auf Vollmond beschienenen Wiesen tanzen, weil ihr ihnen die Macht nicht mehr wegnehmen könnt, die sie an sich gezogen haben. An sich gezogen und nicht einmal mehr an sich gerissen, so wie früher, wo es noch Millionen von Toten brauchte, um eine Bastion zu besetzen. Heute sind wir aber Milliarden von toten Herzen, die sogar schon zu glauben beginnen, daß ihr Kerker ihre Freiheit ist. Es ist keine Freiheit. Es ist keine Freiheit, in den Supermarkt gehen zu können, um zwischen Leichtmilch oder Fettmilch zu wählen. Es ist keine Freiheit, nicht mehr angeschossen zu werden, wenn man von Ost nach West reisen kann, »so wie wir wollen«. Es ist die großartigste Maske der Unterdrückung, die je geschnitzt worden ist. Die Maske des »freien Willens eines freien Menschen«, der nicht einmal sagen darf, daß er mit der ganzen Scheiße nichts zu tun haben will, die unsere wahre Natur mit
einem Giftgas zerfrißt, das endlich nach Rosenwasser duftet. Wir gehen zugrunde und genießen unseren Untergang auch noch als Ferienfahrt, weil es endlich gelungen ist, die Kabinenfenster des sinkenden Schiffs so weit zu entspiegeln, daß wir nicht mehr unserem wahren Gesicht in die Augen schauen müssen, den Augen unserer Herzen, die einmal lachende Kinderaugen waren und in denen wir die Todesangst sehen müßten - wenn wir noch Augen hätten zu sehen und Ohren, um zu hören. Sie haben uns aber alles genommen, was wir noch nie richtig besessen hatten, und mittlerweile ist jeder Widerspruch sinnlos geworden, weil diese Gesellschaft von Massenmördern nicht einmal mehr die Erschießung des einzelnen nötig hat. Der Widerspruch allein ist schon das Todesurteil. Ausgestoßen vegetieren diejenigen am Rande dahin, die sich nicht kollektiv vergnügen wollen oder zu Tode arbeiten wollen für unsere leistungsorientierte Gesellschaft, für die sich alles endlich am Lust- und Freizeitprinzip orientiert. Lüge, Lüge und nochmals Lüge, nichts können wir - gar nichts können wir, außer an den Fäden der neuesten Farbkombinationen von der Herbst- zur Frühlingskollektion zu taumeln, und im Grunde unseres Herzens erschrecken wir zu Tode, wenn uns wirklich einmal ein Augenpaar begegnen sollte, das uns auf den Grund unseres Herzens zu schauen vermag. Liebesunfähige, Zärtlichkeitsunfähige, einander zu Objekten degradierende Seelenkrüppel sind wir alle-
samt geworden, und wenn wir schon ins ferne Negerland fahren, weil diese Schwarzen unter dieser afrikanischen Sonne ja noch so geil - lebensecht sind, dann aber nur in umzäunten Feriencamps, in denen uns die Animateure in jede freie Minute hineinspringen und uns die Ohren vollplärren, um uns nur ja nicht eine Sekunde zu gönnen, in der uns vielleicht bewußt werden könnte, daß es noch eine andere Welt gibt, eine Welt, die voller Kraft ist, voller Stille und voll wirklicher Zärtlichkeit. Voller Zärtlichkeit, die unsere Seelen erschüttert und sich nicht mit den Fünf-Minuten-Nummern begnügt, die mit der Suche nach den erogenen Tasten auf der Klaviatur des anderen Körpers verbracht werden. Eine einzige Nacht in wirklicher Nähe, voll wirklicher Nähe und tierhaftem Erleben der eigenen Urkraft würde nämlich vielleicht genügen, um all dem Dreck eine Absage zu erteilen, der uns umwabert wie eine Giftbrühe aus Ablenkung und Sinnlosigkeit und Ablenkung und Sinnlosigkeit und Sinnlosigkeit und und... Müde ... ich bin so müde - müde bin ich, geh' zur Ruh', und schließe meine Augen zu ... Der Wind streicht leise meine Augen, und der ewige Nil fließt weiter und weiter und die Einsamkeit, in der ich sitze, diese Einsamkeit ist auch nur eine Attitüde eines Mannes, der es sich leisten kann, nach Assuan zu fliegen, um dort seinen Kaffee zu trinken, ohne zu wissen, ob er morgen noch leben wird ... Ich mußte lachen - solange mein Sinn für Dramatik mich nicht verläßt, ist alles halb so
schlimm, dachte ich und atmete tief durch und blickte zu meinem Schutzengel, der mir in den letzten Minuten mit hellblauer Ausdauer zugehört hatte und weiterhin ewig an meiner Seite war. Was soll ich tun, mein Freund, fragte ich ihn und verstand sein Schweigen als Aufforderung, mir einen Whisky mit Eis zu bestellen. »On a clear day you can see forever«, sang Frank Sinatra plötzlich, und ich dachte mir - Junge, du hast verdammt recht... Die Zeit war vorgerückt, die Sonne fast am Horizont angekommen, und das war das Signal für den Mann an der Bar, leise Musik über den Lautsprecher zu schicken, der über seinen Flaschen angebracht war. Herrlich, dachte ich mir und trank ganz langsam einen Schluck von dem alten schottischen Whisky, in dem einige Eiswürfel schwammen und leise gegenein anderstießen, wenn ich das Glas in meiner Hand hin und her schwenkte. Herrlich, diese alte Musik - mit diesem alten Herzen gesungen - an diesem alten, vergessenen Platz, der noch Zeit hat und sich vielleicht auch nie beeilen wird. Völlig aus der Mode - dachte ich mir, während die Platte leise rauschend weiterlief»It never rains in Southern California«, bemerkte Frank als nächstes, und ich mußte ihm recht geben. Aber wer spielt heute noch diese alten Platten, dachte ich mir - muß man wirklich so weit reisen, um überrascht zu werden von Klängen, die noch wirkliche
Geigen im Hintergrund haben und Sentimentalität im Reservat der beschützenswerten Gefühle? Der junge Mann und seine Frau lehnten sich ebenfalls zurück und hörten voll stiller Verwunderung auf den Gesang, der vielleicht bis zum Ufer schwebte, weil auch die Segler mit dem Aufrollen ihrer Leinen aufhörten und sich eine Zigarette gönnten. »My fickle friend, the summerwind...«, nein, nein, nein - nicht diese Nummer, dachte ich und mußte lachen. Das letzte Mal hörte ich sie vor — mein Gott, ist das lange her — also ich hatte sie vor sehr langer Zeit das letzte Mal gehört, als ich mit meinem ersten Wagen durch einen Augustvollmond führ, langsam über Landstraßen treibend, mit halbabgeblendeten Scheinwerfern, um die anderen Gleiter nicht zu irritieren, die verliebt durch die Gegend schwebten. Mann, war ich verliebt! Neben mir saß das schönste Mädchen der ganzen Welt, und ich hielt im Fahren ihre Hand. Wenn man es kann, ist es keine Kunst - man muß nur hie und da das Lenkrad loslassen, um mit der Linken zur Gangschaltung zu kommen -, aber wenn man verliebt ist, ist alles möglich. Das Autoradio leuchtete matt durch die Dunkelheit und der Sender spielte um diese späte Zeit fast ausschließlich die Lieder von »Old Blue Eyes«. Ich wußte das natürlich und hatte die Zeit so eingeteilt, daß wir auf unserer Fahrt von ihrer Wohnung zum Hotel, in dem wir das Wochenende verbringen wollten, fast nur mit Franks Hilfe unterwegs
waren. Sie hielt meine Hand und ich verschaltete mich kein einziges Mal, bis wir auf dem leise knirschenden Kies anhielten, der um unsere Insel aufgeschüttet war. Wir blieben eine Zeitlang sitzen und sagten kein Wort. Als die Sendung zu Ende war und der Nachrichtensprecher überflüssigerweise wieder einmal darauf hinweisen wollte, wie spät es sei, drehten wir ab und gingen auf unser Zimmer. Der Raum hatte eine Balkontüre mit Lamellenflügeln, die halb offenstanden und die Vorhänge bewegten sich die ganze Nacht lang im milden Sommerwind, während wir im Bett lagen und erst einschliefen, als die ersten Vögel ans Erwachen dachten. Als ich die Augen wieder öffnete, lag sie neben mir in meinem Arm und atmete tief und ruhig. Ihre Augen waren ganz still und ihr Atem ging tief und leise. Das altmodische weiße Bettzeug duftete nach frischer Wäsche und nach ihrem Parfüm, das wie abendlicher Oleander klang. Nachdem ich sie lange angeschaut hatte, fühlte sie meine Gedanken in ihre Träume steigen und schlug die Augen auf. >Ja«, sagte sie und zog mich zu einer warmen, weichen, halb schlafenden Umarmung zu sich, in die ich hineinversank und auch wieder einschlief, um nach zwei Stunden in ihre zärtlichen Augen hinein aufzuwachen. Ihre Lippen waren ganz nahe vor meinem Mund und wir küßten uns langsam und ohne Hast und ohne Absicht. Dann lagen wir beisammen und hörten dem Summen einer Fliege zu, die sich in das Zimmer
verirrt hatte und eine halbe Stunde brauchte, um wieder hinauszufinden. Hm - dachte ich, als ich dieser Erinnerung nachging, die durch diese unverschämt alte Platte und den Oleander ausgelöst worden war. Dieser Oleander, der sich im Südwind beugte und wiegte und ganz genau um seine Verzauberungskraft wußte. Hm ... warum ist das nicht so geblieben - warum haben wir nicht erkannt, daß wir den Fuß in die Türe des Paradieses gestellt hatten und nur mehr ein kleiner Schubs genügt hätte, um einzutreten. Wahrscheinlich, weil wir zu jung waren, dachte ich mir und trank meinen Whisky aus, der eigentlich nach einem zweiten rief. Vorsicht, Vorsicht — sagte meine Erfahrung mit diesen heißen Ländern. Lieber erst später, sonst beginnst du zu schwanken und lächerlich zu sein. Ist ja gut - sagte ich zu mir und griff zu meinem Wasserglas, das in guter, alter Manier neben meinen Whisky gestellt worden war. Ja - wir waren zu jung gewesen und hatten gedacht, so eine Zärtlichkeit sei selbstverständlich und daher müßte man sich nicht um sie bemühen, sondern müßte sich den wirklich wichtigen Dingen zuwenden, die da sind - Ratenzahlungen für Eigentumswohnungen, Kreditkartensplitting und Schauspieler des Jahres zu werden. Natürlich verloren wir uns aus den Augen, weil dieser Schwachsinn hundert Prozent unserer Zeit auffrißt, und mit den Jahren saß ich da, und als ich wieder einmal Kies unter meinen Reifen knirschen hörte, ver-
weigerte ich mir, mich daran zu erinnern, wie glücklich ich an jenem Abend gewesen war, als die Liebe noch bei mir zu Hause war. Es war eine andere Straße, auf der der Kies knirschte, und sie brachte meinen Wagen zu einem ganz wichtigen Termin. Ich sollte eine Auszeichnung erhalten, für meine gelungene Darstellung eines vom Schicksal getriebenen Mannes, der seine Liebste verloren hat und akzeptieren muß, daß das Leben eine unbarmherzige Sache ist. So oder so ähnlich war der Inhalt dieses wichtigen Filmes, den ich gedreht hatte und von dem alle meinten, daß es mir mit der Verkörperung der Hauptfigur gelungen sei, die Verlorenheit des Individuums in einer sinnentleerten Welt auf eine Weise darzustellen, die keine Konkurrenz kennt. Ich sagte in meiner Dankesrede nicht, wie einfach das gewesen war — ich brauchte ja nichts anderes zu tun, als genauso sinnentleert verloren zu sein, wie ich es wirklich war, und diesen Zustand bloß nicht zu verbergen, wenn die Kamera lief - das war's - und dafür erhielt ich dann eine Wertschätzung, die ich einsam auf meinen Schreibtisch stellte, und als ich dann in meinem Bett lag, war mir gar nicht mehr zum Lachen zumute. Wir tun wirklich alles, um die Liebe, die wir am Anfang unseres Lebens leben können, zu verspielen, mit der Behauptung, sie erst finden zu müssen. Da gibt es noch diese schöne Geschichte, in der ein junger Fischer in die Welt zieht, um reich zu werden, und Jahr um Jahr seines Lebens damit verbringt, rei-
eher und reicher zu werden, und Haus um Haus und Gut um Gut anhäuft, um es sich am Schluß des Lebens leisten zu können, am Ufer zu sitzen und zu fischen. An diesem ersten Abend trifft er einen alten Mann, der mit stillem Lächeln an der Bucht sitzt, in der er seine Leinen auswerfen will. Er geht zu dem Alten und sieht so ein eigenartiges Lächeln in dessen Gesicht. »Was hast du dein Leben lang gemacht?« fragt der Altgewordene den Junggebliebenen - und der antwortet: »Ich habe gefischt...« Tja — nun, was soll's — solche Geschichten haben wir zu Hunderten und jeder nickt und spricht - ja, ja das ist es-, aber keiner bleibt einfach sitzen, zieht seine Lehre und fischt. Vielleicht sollte ich essen gehen - sagte ich zu mir, als ich an diesem Punkt angekommen war, und stellte gleich darauf fest, daß dies eine der besten Ideen des Abends gewesen war. Im Hotel bleiben und sich feige an der internationalen Küche festhalten, kam überhaupt nicht in Frage, also beschloß ich, auf den Bazar zu gehen und dort mein Glück zu versuchen. Vielleicht in Öl gebratene Auberginen und gegrillte Zucchini, dachte ich mir und etwas Sesammus auf heißem, frischem Fladenbrot oder - vielleicht ein Stück Hammelbraten mit Ingwer, der - nein - sagte ich mir - zu fett, zu schwer, zu heiß, dann schläfst du schlecht und hast wieder deinen Lieblingsalptraum, in dem du auf der
Bühne stehst, deinen Text vergessen hast und deswegen einen Lachkrampf bekommst. Nein - etwas Gemüse wird das Beste sein, sagte ich zu mir, stand mit diesem Beschluß auf und ging zur Ausgangstüre. Die beiden Verliebten sahen mir zu, und kurz bevor ich die Terrasse verließ, trafen sich unsere Blicke, und ein Moment ewiger Heiterkeit klang kurz durch den Abend. Schön - dachte ich mir, als ich mich in meinem Zimmer umzog, schön, daß es so was noch gibt. Eine Übereinkunft, die in einem Blick liegt, über den man ein siebenhundert Seiten starkes Buch schreiben könnte, um ihn zu analysieren. Wozu - wozu analysieren? Er war vorhanden — gemeinsam im selben Abendwind gesessen und dieselbe Musik gehört, einander angesehen und weitergelebt. Wer das nicht begreift, hat nichts begriffen, sagte ich zu mir, als ich die Türe hinter mir versperrte und die alte Holztreppe hinunterging, die zur Halle führte. Ich fühlte mich angenehm leicht und sorgenfrei und hatte nichts dagegen, daß es so aussah, als würde dieses Gefühl eine Weile bei mir zu Hause bleiben. Ich gab meinen altmodischen Schlüssel ab, an dem auf einem dicken Messingknauf meine Zimmernummer hing und trat vor das Portal des Hotels. Zu Fuß gehen oder fahren - fragte ich mich - und beschloß, mich zu verwöhnen. Ich ging zu einer der wartenden Kutschen und als der Mann auf dem Kutschbock zwanzig Pfund
für die Fahrt zum Bazar verlangte, wußte ich, was es zu tun galt, da ich ja nicht zum ersten Mal in meinem Leben auf diesem Weltpunkt zu Gast war. Ich lauschte und wanderte auf der Straße los, die vom Hotel wegführte, um innerhalb einer Minute von ihm eingeholt zu werden. »Okay — for you ten pounds - best price!« sagte er und erkannte, daß ich wußte, worum es ging -als ich letzten Endes für vier Pfund mit ihm zum Bazar fuhr und dieser Preis immer noch mindestens dreihundert Prozent über der Summe lag, die die Fahrt tatsächlich wert war.
Ich stieg aus der einspännigen schwarzen Kutsche und ging durch die Hauptstraße. Ich war das letzte Mal vor fünf Jahren hier gewesen und mußte hie und da stehenbleiben und atmen. Es war derselbe andere Rhythmus wie damals, dieselben Gerüche, Klänge und Farben, dieselben nackten Glühbirnen, die in den kleinen Läden hingen und arbeitende Menschen beleuchteten, denen das Wort »Sperrstunde« noch immer nichts bedeutete. Ich blieb vor einem Geschäft stehen, das Zuckerrohrsaft produzierte, bestellte mir ein Glas und sah mit halbscharfem Blick über die Menschen, die kreuz und quer von unsichtbaren Notwendigkeiten geführt, den Bazar zum Pulsieren brachten. Der halbscharfe Blick ist es, der einen die Dinge so klar wahrnehmen läßt, wie es eine zielgerichtete Fokussierung des Auges nie erreichen kann. Eigenartig, nicht' - aber das erleben wir ja häufig, daß der Kosmos uns zeigen möchte, daß wir den Dingen erst dann wirklich nahe kommen, wenn wir sie bereits aufgege-
ben haben, wenn wir unseren leistungsorientierten Zugriff lockern und uns abwenden, dann erst legt sich die kleine Bauernkatze auf den Rücken und läßt sich streicheln - dieselbe Katze, die eine halbe Stunde lang mit weit aufgerissenen Augen in Fluchtbereitschaft an der Wand entlang unserer gierigen Hand ausgewichen ist. Einer Hand, aus deren elektromagnetischem Aurafeld scharfgelbe Blitze der Überspannung ausgetreten sind, die mit der Zärtlichkeit, die wir angeblich austeilen wollten, überhaupt nichts zu tun hat und die sich erst dann in ein mildes Orange der gelassenen Wärme verwandeln, wenn unsere schweratmende Begierde entspannter Gleichgültigkeit gewichen ist. Einfacher gesagt - Druck erzeugt Gegendruck-, aber das, was wir zehn Jahre lang in der Schule reingeprügelt bekommen haben, trägt ja schon den Keim in sich, daß man es so schnell wie möglich vergessen will. Also sind diese ganzen Jahre ja völlig nutzlos, wie wir wissen, und dienen nur dazu, das Menschenmaterial aus der Erwerbsspirale rauszuhalten, das noch zu jung ist, um Steuerzahler sein zu dürfen. Wenn es noch Kinderarbeit gäbe, wäre das Staunen groß über den Umstand, wie wenig es in Wirklichkeit zu lernen gibt, um im Leben zu bestehen. Nun gut - aber das ist eine andere Geschichte. Halbscharf blickend stand ich also da und atmete. Pferdewiehern, Kassettenrecorder, aus denen rasende arabische Rhythmen brüllten, tief verschleierte Frauen, die trotzdem kicherten, wenn sie an dem Aus-
länder vorbeikamen, Fahrradklingeln, umgestürzte Kisten mit Kartoffeln, Plastiksandalen auf langen Tischen, abgewetzte Tiefkühlboxen mit der Aufschrift »Coca-Cola« - mit einem Wort: die Fremde - und ich mittendrin. Der Händler stellte mein Glas mit Zuckerrohrsaft vor mich hin und begann für den nächsten Kunden Zuckerrohr zu zerquetschen. Der Raum, in dem er arbeitete, war höchstens vier Quadratmeter groß, aber das reichte für seinen Betrieb, mit dem er seine gesamte Familie ernähren konnte. An den Wänden standen die dicken Bündel mit Zuckerrohr, das eigentlich wie Bambus aussieht und sich auf diese Weise zu tarnen versucht. Das nützt ihm aber nichts - weil der Mensch immer jede Tarnung durchschaut, die sich die wertvollen Dinge zulegen, um nicht ausgequetscht zu werden, und im Falle dieser eigenartigen Pflanze, muß ich leider sagen, lohnt es sich wirklich, diese Tarnung zu ignorieren. Ich hielt mein Glas und roch an der wasserklaren Flüssigkeit, die frisch und leicht duftete, ein bißchen nach Vanille, und ohne den Druck, den das Wort Zucker in unserer Erfahrungswelt auslöst. Ich blickte über das Treiben rund um mich, sog langsam den Duft aus meinem Glas und sah, wie der nächste Becher zubereitet wurde. Der alte Mann - es war ein alter Mann, der in diesem Laden arbeitete -, der alte Mann nahm immer nur eine der langen, grünen Stangen und schob sie zwischen die beiden Walzen einer Rollpresse, mit der er den
Stab zerquetschte, den seine Kinder wahrscheinlich erst an diesem Nachmittag auf den Feldern geerntet hatten. Er schob ihn mit der linken Hand zwischen die beiden Holzwalzen und mit der rechten Hand drehte er eine Kurbel, die die beiden Rollen dazu bewegte, das Zuckerrohr zwischen ihrem harten Holz bis auf papierdünne Fasern zu zerdrücken, um ihm auf diese Weise den Saft zu entlocken, der durch eine schmale Rinne in das Glas floß, in dem ungefähr ein Viertelliter Platz hatte. Zerquetschen, Fließen, Zahlen, Trinken, eine Sache von Minuten, eine Ewigkeit an Genuß. Ich stellte fest, daß ich mich jetzt lange genug im »Zeit haben« geübt hatte, und trank mein Glas ohne Hast, aber doch ohne abzusetzen, leer. Mit dem Aufenthalt in diesem Laden und mit dem Trinken dieses Saftes war ich wieder einen Zentimeter weiter in den allgemeinen Rhythmus gerutscht, der auf diesem Markt herrschte, und konnte es mir in der Folge erlauben, in der Mitte der Straße unter all den Einheimischen zu gehen, ohne anzuecken. Es herrscht dort nämlich ein anderes Konzert der Körper als auf einer unserer Haupteinkaufsstraßen. Wir sind es ja doch nur gewohnt, vornübergebeugt, von zwei Taschen beschwert, mit verkrampften Oberarmen und Oberschenkeln im Zickzack den anderen Plastiktaschenträgern auszuweichen, die im ähnlichen Zickzack mit halbgesenktem Blick und der »Aus-dem-Weg-mir-istalles-egal«-Ausstrahlung, noch vor achtzehn Uhr ein Stück Seife ergattern wollen.
Das geht hier nicht. Erstens ist es allen egal, ob es achtzehn Uhr ist, oder zwanzig Uhr, oder Viertel nach Zwölf, und allein, daß dieser Druck wegfällt, ermöglicht schon sehr viel an Gelassenheit, die sich darin äußert, daß hier einfach niemand Zickzack läuft. Natürlich bietet man jetzt als Fremder ein eigenartiges Bild, wenn man sich dem Fluß der normal gehenden Menschen anvertraut, der hier auf den Straßen fließt — ein im Zickzack fallender Regentropfen würde ja auch großes Staunen unter seinen Kollegen hervorrufen, die den einfachen, nämlich geraden Weg vom Himmel zum Boden fallen. Gott sei Dank ist unser Körper aber ein Resonanzboden für die Tonart, die hauptsächlich um ihn herum vorherrscht, und in der Folge gelang es mir ziemlich schnell, den Gang der Einheimischen zu übernehmen und aufrecht, mit entspannten Schultern und frei schwingenden Armen über die Straße zu wandern. Gott sei Dank hatte ich vor vielen Jahren dieses Exerzitium des Gehens mit meiner gütigen Lehrerin durchlebt, was mir ersparte, vor Erleichterung über die Möglichkeit, mich wie ein Mensch zu bewegen, weinend zusammenzubrechen. Es ist leider so, daß man mit diesen Explosionen der inneren Wahrheit sehr ökonomisch umgehen muß, um nicht durch das verständliche Befremden der Umwelt gezwungen zu werden, nach dem einen Schritt vorwärts wieder drei Schritte zurück zu machen, und die Vorstellung, von einer Mauer von staunenden Ägyp-
tern umringt zu werden, läßt sicher sehr viele Touristen lieber im Hotel bleiben und Sicherheitsessen zu sich nehmen — denn es könnte ja passieren, daß man auf so einem Bummel plötzlich Veränderungen an sich bemerkt, die es einem unmöglich machen, nach der Rückreise wieder so zu funktionieren wie vorher. Ein Fortschritt in der Verschanzung gegen das Fremde in diesen heißen, lebendigen Ländern sind Gott sei Dank wirklich endlich die langersehnten Mini-Videokameras, die man jetzt nicht einmal mehr vom Auge nehmen muß und die gleich einen Mini-TV-Schirm eingeblendet haben, der schon während der Aufnahme zeigt, wie es dann zu Hause aussehen wird, wenn man den Reisebericht den Nachbarn zeigt - deretwegen man ja gefahren ist — um sie zu beeindrucken — diese Angeber - die letztes Jahr nach Kaschmir gefahren sind und - wie auch immer - auf diese Weise bewahrt einen das Filmen des Fremden davor, es aufzunehmen und vielleicht mit Bildung nach Hause zu kommen, mit Neu-Bildung ... Umbildung vorhandener Vorstellungen, wie wir zu funktionieren haben. Damit das aber nicht eintritt und auf den Straßen unseres Wirtschaftssystems plötzlich entspannte Menschen schreiten, die keine Notwendigkeit mehr darin sehen, sich zu hetzen und Psychopharmaka zu schlucken - damit diese Infizierung mit der anderen Kultur nicht stattfindet, schiebt man eben eine schwarze Box dazwischen, die einen, laut Werbung —
ganz dicht ins Geschehen rückt. Das wäre ja auch noch schöner, wenn man tatsächlich etwas von diesen fremden Sitten mitbringen würde ins heimatliche Nest, in dem jeder jeden belauert und argwöhnisch nach Spuren der Veränderung schnüffelt, die nach einer Reise in die weite Welt ja auftreten könnten. Unsere geballte Freiheit hat nämlich nur den Zweck, die Rituale der gegenseitigen Unterdrückung mit den uniformen Farben der Kauffreiheit zu bemalen, die sorgfältig abgestimmt an alle ausgegeben werden, um eine kollektive Stimmung zu erzielen, die es nicht dulden darf, daß plötzlich wirklich einer frei ist und vielleicht plötzlich um fünfzehn Uhr ein Gebet nach Osten einlegt, weil ihm das so gefallen hat auf der letzten Reise. Ich meine — niemand hat doch die Szene vergessen, in der Lawrence von Arabien den Offiziersclub der englischen Armee betritt und aus Sympathie mit den Arabern, deren Leben er zu teilen begonnen hat, einen weißen Kaftan trägt. Sicher - Peter O'Toole sieht traumhaft aus in dem Ding, lebendig - fließend - sexy-, aber erinnern wir uns doch an die Blicke seiner Offizierskollegen. Ablehnung, Abscheu - ja Ekel ist in ihren Blicken zu finden, die es nicht glauben können, daß einer der Ihren sich tatsächlich herabgelassen hat und den Aufzug dieser Wilden an seinem Körper duldet. Er - ein Offizier und Gentleman. Genug - das ist nur eines der Beispiele, in denen uns unsere Kulturindustrie vor Augen führt, mit welcher
Achtung wir zu rechnen haben, wenn wir uns fremden Einflüssen hingeben - anstatt die Fremde zu unserer Kolonie zu machen - zu unterjochen und auszubeuten. Da ich aber mit dem ganzen Schwachsinn nichts mehr zu tun hatte, war es mir ein leichtes, unbeschwert von Taschen, Fernrohren und Kreditkarten über diese Straße zu gehen, in der der Nachtwind hie und da kleine Staubwolken aufwühlte, wenn ein altes Taxi ohne Hintertüren einem Eseltreiber ausgewichen war. Langsam wanderte ich an den Touristenfallen vorbei, in denen es garantiert echte Fälschungen von Grabbeigaben zu kaufen gab, Büchsen mit Trockenmilch neben Pharaonenmasken um Käufer wetteiferten, und näherte mich einem Restaurant, das genau in der Mitte des Bazars lag - in dem Teil, in den sich die Fremden normalerweise nicht wagten, weil die Straßenkreuzungen einander so zum Verwechseln ähnlich waren, daß es unmöglich schien, den Weg zum parkenden Bus zurückzufinden, in dem die Picknickpakete aus der Hotelküche darauf warteten, nach ermüdendem Einkaufsbummel aufgerissen zu werden. Ich setzte mich an einen kleinen Holztisch, bestellte frisch gebackenes Brot und heißes, fettes Hammelfleisch mit Ingwer und Zwiebeln und ließ mich gehen. Was soll's - dachte ich mir, das, was einmal Heimat war, ist Lichtjahre entfernt. Erkennen wird mich hier
keiner, und wenn ich Glück habe, weiß ich nach ein paar Wochen ohnehin nicht mehr, wer ich mal war und kann getrost im Meer der Namenlosen untergehen, die in diesem Land an die Küste ihrer eigenen Übervölkerung branden. Zum Essen trank ich »Stella-Beer«, und zum süßen, klebrigen Pistazienkuchen, der mit heißem Honig übergössen war, bestellte ich mir eine Flasche Rotwein »Omar Kayjham«. Nein - ich ließ mich nicht »vollaufen«, wie man jetzt vielleicht annehmen könnte, ich saß nur da und sah den Hunden zu, die sich unter meinem Tisch um die Knochen balgten, die zufällig von meinem Teller gefallen waren und tränk ein bißchen Wein. Niemand konnte mich antreiben, niemand mit scheelen Blicken daran erinnern, daß morgen ein Tag sei, an dem die Pflicht ruft, niemand meine Lust auf Vergessen mit erhobenem Zeigefinger geraderücken, in die Selbstbeherrschung des westlichen Kulturmenschen, dem die Herrschaft, die die Umstände über ihn haben, nicht genug ist und der sich daher auch noch selbst beherrschen muß. Auf dein Wohl, dachte ich, trank mein Glas leer und bestellte eine zweite Flasche, was meinen Schutzengel sehr zu amüsieren schien. Was gibt's zu grinsen? - fragte ich und nachdem er ausgelacht hatte, sagte er: »Bitte - genieß dein Leben ...« •Ja, mein Guter - das tue ich — endlich tu' ich's ...«, nickte ich in seine Richtung, und als mir die zweite
Flasche auf den Tisch gestellt wurde, mußte ich wieder einmal daran denken, unter welch seltsamen Umständen er mir zum ersten Mal bewußt begegnet war. Neun - nein - zehn Jahre, genau zehn Jahre ist das jetzt her, und es war einer von den Tagen, die man am liebsten vergessen würde, wenn nicht das Schmerzkonzentrat, das diese Art von Tagen enthält, wie ein Teebeutel seine Aufforderung, das eigene Leben zu ändern, so lange abgibt, bis der volle Geschmack erreicht ist. Ein Geschmack, der in seiner Bitterkeit belebend ist und keine Umkehr duldet. Ich habe einen Film gedreht, na gut - so was macht man eben, und damals hat es mir großen Spaß gemacht, in Verkleidung so zu tun, als wäre ich nicht der, der ich bin. An diesem Tag bestand meine Verkleidung aus einem dicken, grünlichen Biedermeieranzug, weil unser Film im Biedermeier spielte und die Leute im Biedermeier eben so gekleidet waren, wie man es in Filmen über das Biedermeier sieht. Das wäre ja alles noch in Ordnung gewesen, wenn da nicht diese Fähre gewesen wäre, auf der ich mit einigen ähnlich gekleideten Damen und Herrn fröhlich über einen Teich hätte fahren sollen. Man fuhr im Biedermeier eben fröhlich über Teiche und machte Landpartien, weil die Revolution im Jahre achtundvierzig doch nicht so durchschlagenden Erfolg hatte und in der Folge eben der Rückzug ins Private angetreten wurde.
Eigentlich war es wie heute, nur daß sie damals noch keine Pocketkameras bei sich trugen, um ihre Mode und ihre Fröhlichkeit zu dokumentieren, die sie alle hatten, wenn sie auf einer Fähre über einen kleinen Teich fuhren. Macht ja nichts - dieses Manko wird ja von uns Heutigen ausgeglichen, indem wir eben Filme über damals machen, anstatt uns mit wirklichen Problemen zu beschäftigen, die uns vielleicht die Fröhlichkeit trüben könnten. Wir fahren also fröhlich und bieder über den Teich und ich muß feststellen, daß diese verdammte Fähre, die an einem Seil von Ufer zu Ufer gezogen wird, zu kippen beginnt. Es war so eine Floßfähre - zirka zwei mal drei Meter - mit einem hüfthohen Geländer, an dem man sich festhalten konnte, falls einem vor lauter Fröhlichkeit schwindlig werden sollte. Diese Fröhlichkeit war wohl auch schuld daran, daß wir vor laufender Kamera kenterten, weil jeder von den Darstellern, wie bei Schauspielern üblich, auf völlig denaturierte Weise, seine Fröhlichkeit auslebte, anstatt sie einfach zu haben, wie ein normaler Mensch. Normale Menschen würden aber nie danach trachten, dauernd den anderen zu verdecken, damit er nicht im Bild ist und in der Folge unentdeckt durch die Szene schlittern muß. Weil aber nun jeder auf dem Floß versuchte, mit fest-gegrinster Fröhlichkeit dem anderen die Schau zu stehlen und dabei immer mehr in Richtung der Kamera zu taumeln begann, versammelten sich zwölf Hornochsen auf einem Quadratmeter des Floßes, das
seinem Herrn - dem physikalischen Gesetz - gehorchte und umkippte. Das wäre ja auch noch nicht schlecht gewesen, weil die plötzliche Abkühlung aus der kostümierten Gruppe tatsächlich für Momente normal reagierende Menschen machte, die erschraken, schrien, dann erleichtert lachten und sich auf das um einhundertachtzig Grad gedrehte Floß setzten. Schlecht war nur, daß ich mich zu diesem Zeitpunkt genau unter der gekippten Fähre befand, deren Geländer mich wie in einem Käfig auf den Grund des Teiches drückte. Das war alles so schnell geschehen, daß ich es kaum glauben konnte, wie dünn der Faden war, an dem unsere Gewißheit baumelt, in der nächsten Sekunde noch am Leben zu sein. Das Eigenartige an dem Erlebnis war, sich zurückblickend daran zu erinnern, daß Gedanken und Blicke, die ganz real nicht länger als Sekunden dauern, wie in Zeitlupe gefilmt, gespeichert werden. Ich weiß noch ganz genau, wie ich ins Wasser rutschte und die Nässe die Hosenbeine hochstieg, in die Weste kroch, den Gehrock vollsaugte und mir den Schlips, den man damals trug, vor die Augen schwemmte. Im selben Moment fühlte ich, wie der Boden sich drehte und auf mich stürzte und mich unter sich begrub. Auch das wäre bis dahin noch kein Problem gewesen, wenn wir in einem richtigen See unterwegs gewesen wären und nicht in einem Teich, der nur einen Meter tief war. Als ich nämlich unter der Last des Floßes, das immer mehr
nach unten sank, wegtauchen wollte, stieß ich an den schlammigen Grund des Teiches, der mich nicht weiterließ. Das ist blöd, dachte ich und versuchte, nach vorne zu krabbeln, um an der Schmalseite aufzutauchen, als ich an das Geländer stieß, das die Seiten der Fähre umschloß und jetzt wie eine Gefängniswand jeden Ausweg versperrte. Ich weiß noch ganz genau, wie in dieser Sekunde der Ausweglosigkeit mein ganzer Körper für einen Moment glühendheiß wurde, als die Todesangst sich in mir ausbreitete, die durch den Satz ausgelöst worden war, der da hieß: »Jetzt stirbst du«, nein nein - es ist schon so - man sagt wirklich zu sich selbst »Jetzt stirbst du« und nicht »Jetzt sterbe ich« - ich mochte es auch nie glauben, diese Berichte von Leuten, die noch einmal davongekommen sind-, aber es ist die Wahrheit -ganz ruhig sagt eine Stimme im Innern »Jetzt stirbst du«, und man fühlt in jeder Zelle, daß das eine große Wahrheit ist, die so wahr ist, daß man auf der Stelle gelähmt wird von ihrer Allmacht. Ich war auch gelähmt und weiß noch, wie ich diesen Satz dachte und vor mir in das trübe, aufgewühlte, schlammige Wasser starrte und dumpf das Lachen der anderen hörte, die auf meinem Käfig saßen und damit, ohne es zu wissen, die Riegel vor dem Tor zur Ewigkeit aufstießen. Mit der Todesangst, die sich jetzt in jede Ecke des Körpers auszubreiten begann, liefen seltsam klare Gedanken parallel - die sich aber alle im Kreis drehten,
weil aus der Spirale nur ein Weg hinein, aber keiner heraus führte. »Beweg' dich nicht« - sagte etwas in mir-, »sonst verbrauchst du zuviel Luft.« • Ein schöner Gedanke - aber sehr sinnlos, weil der Schmerz in der Lunge immer rasender wurde, der Druck im Kopf immer zerquetschender, die Zuckungen meines Körpers, der einatmen wollte, immer heftiger. »Nein, bitte nicht« - dachte ich, »bitte nicht, ich will nicht sterben, ich will nicht so sterben - nicht so -bitte -«, dachte ich und sah mir zu, wie ich versuchte, eine Lücke in dem Gitter zu finden, das sich vor mir in den Boden grub. Umsonst - da war keine Lücke, da war keine Chance - keine einzige. Jetzt wurde auch das explosive Reißen in meinem Zwerchfell, das unbedingt und automatisch nach Luft ausbrechen wollte, immer stärker und stärker und mein Gegenimpuls, den Mund zuzupressen, konnte diesen Urreflex nicht mehr zähmen, und nach einer Weile, in der der Sauerstoff in meinem Blut immer weniger geworden war, weil ich doch sinnlos und verzweifelt an den Holzstäben rüttelte, brach mir mein Körper den Mund auf, um Luft zu holen, und riß damit Schlamm und Sand in sich hinein und ließ mich daraufhin unter Wasser schreien wie ein Tier. Es war ein Schrei, den ich nicht vergessen kann. Er legte sich um mein Gesicht und meine Augen und kroch in meine Finger, die jetzt schon wie mein ganzer Körper zu zerbersten schienen, und in diesem Augen-
blick packte mich eine so ungeheure Wut über das Lächerliche, das in diesem Moment lag, und eine solche Wut auf die Kraft, die mir fehlte, um auszubrechen, daß ich sie plötzlich hatte. Da war jemand, der mich um die Schultern nahm und vorwärts stieß - unter Wasser vor Angst und Wut brüllend, zerstieß, zerbiß, zertrat ich die Holzstäbe, wurde hochgezogen und kam brüllend an die Oberfläche. Ich stand eine Zeitlang brüllend im hüfthohen Morast, bis mich einige Leute ans Ufer zogen. Ich stieß das Wasser aus, das in mir war und hörte einen Assistenten sagen: »Du warst fast zwei Minuten da unten — <. Ach was - dachte es in mir und ignorierte, daß ich es mit diesem Rekord fast mit japanischen Perlentaucherinnen aufnehmen konnte, die drei Minuten unten bleiben. In diesem Moment war mir das aber egal, weil ich an das Gefühl denken mußte, das ich um die Schultern gehabt hatte, als mich etwas nach vorne stieß und stärker machte, als ich je geplant war. »Heute war es wohl noch nicht soweit«, fragte ich vor mich hin und jemand sagte »Nein - heute noch nicht«. Ich mußte mich nicht umdrehen, um ihn an meiner Seite zu fühlen. Jemand Zweiter, den ich so noch nie zuvor bemerkt hatte, hielt mich umfangen und verhinderte, daß ich auf den Rücken fiel. Ein Gefühl, das nicht in mir war, sondern sich tatsächlich als etwas anderes - als eine andere Form außer mir - außerhalb meines Körpers darstellte, war bei mir und hatte mir das Leben gerettet. »Bist du mein
Schutzengel-?« fragte ich und das zärtliche, heitere Lachen, das ich als Antwort bekam, hat mich seit damals immer öfter in meinem Leben begleitet. Gott sei Dank höre ich dieses Lachen manchmal bei ganz alltäglichen Gelegenheiten, wie es zum Beispiel eine zweite Flasche Rotwein darstellt. Ich saß also damals an diesem Ufer und staunte - als plötzlich der Regisseur dieses Filmes, der von der Fröhlichkeit des Biedermeiers handelte, unangenehm nahe hinter meinem Rücken stand. »Also los los — umziehen, und wir drehen noch mal...« Ich drehte mich um und stand langsam auf. Noch nie hatte ich in meinem Leben eine so unaufhaltbare Lust gehabt, jemandem meine Faust ins Gesicht zu schlagen, wie in diesem Augenblick. Ich stand da und sah diesem jämmerlichen Idioten ins Gesicht, aus dem zwei leere, kalte Schweinsaugen herausglotzten, denen er in so vielen Intrigengesprächen in den Intendantenbüros jeden Rest an Leben herausgelogen, herausgebuckelt und herausgesabbert hatte, bis sie so hohl und fischig glotzen konnten, wie jetzt. Das heißt also, daß ich die Schweinsaugen zurücknehme, weil jeder Schweineblick so unendlich mehr Zärtlichkeit und Neugier enthält, als dieser Wurm jemals ahnen konnte, daß - auch über die Fische könnte man jetzt streiten-, aber ich denke, es ist klar, worauf ich hinaus möchte. Ich stand also da und fühlte, wie mir übel wurde, mir wurde übel, weil ich sah, daß er ja eigentlich gar nichts dafür-
konnte, für den Schwachsinn, den sein Leben darstellte. Er war ja nur ein typischer Vertreter unserer Kultur-produkthersteller, denen die Grausamkeit gegenüber anderen nur die Grausamkeit verlängert, die sie sich selber antun. Wenn er ein Mensch gewesen wäre, der gesagt hätte: »Um Gottes Willen was für ein Wunder, daß du noch lebst - bleib' sitzen, ich hole dir einen Wagen, der dich hier wegbringt...« Wenn er zu diesem Satz fähig gewesen wäre, hätte er es ja nie zu dem Befehlshaberposten bringen können, auf dem er saß. Wir halten es nämlich immer noch für eine Tugend, sich selbst gegenüber grausam zu sein, und diese Grausamkeit auf die Menschen, die wir von uns abhängig machen, zu übertragen. Was gibt es nicht für gänsehautfördernde Erzählungen über die Tyrannen der Kunst, die für einen Ausdruck oder einen Ton oder eine Farbe bis zum Äußersten gehen? Als Erster verletzen, um nicht verletzt zu werden, ist die oberste Tugend in unserer Welt, und interessanterweise gilt dieser Satz zweifach unterstrichen in der Welt der Kunst -die doch das Wahre, Gute und Edle fördern sollte?! Bin ich zu naiv - egal -, dieses Autoritätsgefälle ist das Schmieröl unserer Kulturfabriken, und solange der Satz »In der Kunst ist Demokratie unmöglich« unwidersprochen bleibt, wird sich daran auch nichts ändern. Warum sollte sich auch etwas ändern, solange das System von Gewalt und Unterwerfung so allumfassend in unserer Gesellschaft akzeptiert wird? Es gibt nirgends einen Hinweis darauf, daß das ein verabscheuungs-
würdiges, faschistoides Verhalten ist, das die allgemeine Ächtung verdient - sondern es gibt ja nur Aufforderungen, auf dem Weg der Seelenzerstörung weiterzumachen. Jedes unserer Medien ist gerammelt vollgestopft mit Berichten über Selbstverstümmler, die durch den unkritischen Bericht über ihre perversen Orgien zum Volkshelden hochstilisiert werden. Entweder wandert einer vier Monate lang, nur mit zehn Kilogramm Trockenfieisch ausgerüstet, über den eisigen Nordpol und verkauft die Bilder seiner brandigen Zehenstümpfe exklusiv an das Fernsehen - oder ein wichtiger einzelgängerischer Bergsteiger ist bei einer seiner Touren, »auf der es nur einen Gegner gab - mich selbst« -, abgestürzt und liegt daraufhin hohlwangig und irre glotzend im Krankenbett, was mir bildfüllend in der Morgenzeitung serviert wird, natürlich mit dem Nebensatz untermalt, daß er »trotz stärkster Schmerzen nicht ans Aufgeben denkt und schon wieder erste Muskelübungen macht«. Ein Theaterleiter darf unwidersprochen den Satz von sich geben, daß er »Schauspieler aufbrechen müsse, um an ihre Leistung zu kommen« - so wie man ja auch gesottene Krabben aufbrechen muß, um sie ausschlürfen zu können... Sehr beliebt sind auch halbverkohlte Rennfahrer, die sich Spezialsitze bauen lassen, um ihre Beinstümpfchen trotz heftiger Aschenpartikelbildung doch wieder nach nur zwei Wochen Krankenhausaufenthalt aufs Gaspedal zu stemmen. Jaja - da lodert unser Herz vor Lust und Freude, was
für Helden unsere Gesellschaft hervorbringen kann, denen es nachzueifern gilt, weil niemand am Ende dieser Nachrichten sagt, daß im Anschluß an das jeweilige Interview ein Klinikwagen vorgefahren ist, um diese Irren abzutransportieren. Ich fürchte nur, es gibt nicht genügend Personal, um all diese Wahnsinnigen aus dem Verkehr zu ziehen, die unsere Herzen täglich mit Senfgas einnebeln, um jeden zarten Trieb zu zerstören, der uns vielleicht zum Menschen machen könnte. Es mag schon sein, daß vielleicht einmal der Impuls gemeint war, sich aufzuraffen, um kein Fett anzusetzen, der hinter diesen Selbstgeißelungen steht - aber so schnell kann auf unserer Welt gar kein edler Gedanke geboren werden - als daß nicht schon sein Todesschütze mit Giftpfeilen auf ihn lauerte, die ihn zur Abartigkeit verdammen. Unser gesamter Kunst- und Kulturbetrieb ist zur offenen Anstalt verkommen, in der kreative Geister für das Unwirksammachen ihrer gesellschaftsverändernden Phantasien mit dem Lohn öffentlichen Prestiges bezahlt werden. Was mich früher so erstaunt hat, war der Umstand, wie geduldig wir uns das alles gefallen lassen, wie wichtig es war, daß der Bote von Marathon nach dem Satz »Wir haben gesiegt« - tot umgefallen ist, und nicht seine Botschaft. Ich glaube fast, er hat geahnt, daß seine freudige Nachricht allein nicht sensationell genug gewesen wäre, und ist deshalb tot umgefallen, um auf diesem Wege zum Idol zu werden. Man stelle sich vor,
der Mann hätte gemeldet - geduscht - gegessen - getrunken und wäre daraufhin mit einem hübschen Mädchen ins Bett gegangen. Das ein Vorbild für unsere Jugend?! Nie und nimmer. So aber hat das Zerplatzen seiner Lungen gezeigt, daß er sich wirklich engagiert hat, und Schmerzen sind seit damals der einzige Beweis, daß man sich ehrlich für etwas eingesetzt hat. Vorbild sein heißt Schmerzensmann sein, und um diese Vorbildstellung nicht zu verlieren, ist noch keiner vom Kreuz heruntergestiegen, um lieber wieder mit Maria Magdalena zu bumsen. Martin Scorsese hat diesen Gedanken einmal in seinem Film über den Herrn ausgebreitet - daß es vielleicht auch für Gott angenehmer sein könnte, sein Haupt an einen schönen, großen, weichen Busen zu legen, als diese unangenehme Dornenkrone zu tragen. Ein schöner Gedanke - aber was hat es ihm gebracht? Die Gemeinden derjenigen, die immer behaupten, daß sie ihren Nächsten so gerne verzeihen würden, haben Bomben in die Kinos geschmissen, in denen gezeigt wurde, daß bumsen besser ist, als am Kreuz zu sterben, und da erhoffe ich mir eine Wende in der Werteskala unserer Zielvorstellungen. Nein nein - das wird nicht so bald sein - weil sie uns diese faschistoiden Denkmuster vom Aufbrechen der Seelen und der Leidenssehnsucht schon in die Muttermilch gegossen haben. Es wird noch eine ganze
Weile lang wichtiger sein, nachzulesen, daß es einer Farmerin aus Visconsin gelungen ist, achtundvierzig Tage ohne Schlaf auf ihrem Scheunendach zu sitzen, als die Meldung, daß zwei Menschen sich eine Nacht lang liebgehabt haben. Stellen wir uns doch einmal vor, es gäbe eine Tageszeitung — die auflagenstarkste natürlich - und auf der Titelseite sähen wir zwei Menschen, sagen wir, einen Mann und eine Frau — und die Überschrift lautete: »Sie lieben einander immer mehr.« Wenn wir umblättern, lesen wir folgendes: Die Frau -nennen wir sie Anna - berichtet: »Diese letzte Nacht mit ihm war eine der schönsten meines ganzen Lebens. Wir haben Liebe gemacht und ich weiß überhaupt nicht mehr, wie oft es mir gekommen ist - so herrlich und wunderbar war es mit ihm.« Und er - nennen wir ihn Josef - sagt zu unseren Lesern: »Wenn wir uns berühren, fühle ich eine Verbindung unserer Energien, die mich mit jedem Orgasmus mehr ausfüllt - sie ist die Frau, die ich liebe.« Na gute Nacht, sage ich nur - und das in der auflagenstärksten Zeitung?! Die Erstickungsanfälle im Eigentumswohnungsdurchschnittshaushalt möchte ich nicht erleben. Zusammenbrüche, Herzinfarkte, Atemlähmungen wären das Ergebnis. Das wollen wir lieber nicht riskieren, sondern verbannen diese Phantasie ganz schnell wieder und genießen statt dessen die Bildberichte von iranischen Jugendlichen, die in den Minenfeldern zerfetzt
worden sind, in die sie ihr Glaube an das Himmelreich hat hineinlaufen lassen. Aha - Moment - was höre ich da? »Das ist ja aber auch wirklich Wahnsinn« - sagt da jemand in der vorletzten Reihe...? Sie haben völlig recht, antworte ich, völlig recht. Das Traurige ist nur, daß wir gerade noch erkennen, daß zersplitternde Schädel, aus denen das Hirn austritt, ein Wahnsinn sind, auf dem Weg, der uns zur Seligkeit bringen soll. Dieses Bild ist so stark, daß wir es gerade noch als Wahnsinn erkennen. Ich aber sage euch, unsere zersplitterten und zerfetzten Seelen und Herzen sind genauso Wahnsinn. Unsere zerschlagenen Möglichkeiten, in Liebe miteinander zu leben, die in den Minenfeldern unserer lebensfeindlichen Idole in die Luft gejagt werden, sind genauso ein teuflischer Wahnsinn wie das Blutbad, das auf der Suche nach Gott in jedem Jahrzehnt auf einem anderen Punkt dieses Erdballs veranstaltet wird. Solange wir nicht angewidert aufschreien, wenn
man uns Vergewaltigungen unserer Zärtlichkeitssehnsucht als höchstes Gut hochjubelt, solange haben wir kein Recht, auf diejenigen zu zeigen, die ihre Körper ohne Umwege in den Rachen des Todes schmeißen, weil ihnen ihre Führer einreden können, daß der Klang ihrer Todesschreie in Wahrheit Engelschöre sind. Abhauen ist die Lösung - oder sagen wir, eine der
Lösungen, wenn man von der inneren Emigration die Schnauze voll hat und die Scheuklappen nicht mehr ausreichen, die man sich aufsetzt, um durch unsere Kulturgesellschaft zu traben, die links und rechts in Agonie zusammenbricht und ihren Todestaumel für den neuesten Tanzschritt hält. Jeder, wie er mag - und an dem Tag, als ich nun, wie gesagt, in das Flundergesicht dieses Vollidioten blickte, der so gerne »weiterdrehen« wollte, mochte ich das erste Mal nicht mehr. Rückblickend gesehen, muß ich herzlich lachen über das Trägheitsmoment, das ich, wie alle anderen auch mit mir herumschleppe, das Trägheitsmoment, das den Satz produziert: »Ich habe nur meine Pflicht getan.« Ich war damals noch zu träge, um ihm für seine Erbarmungslosigkeit ins Gesicht zu spucken und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Ich sagte nur »Nein — und ging ins Hotel, nahm eine heiße Dusche und trank allein einen Cognac. Der Assistent arrangierte alles so, daß man ohne mich weiterdrehen konnte, und ich glaube, er hat den Produzenten von Sanktionen mit der Erklärung abhalten können - »daß ich ja immerhin fast ums Leben gekommen wäre«. So hatte man also einen Tag lang Geduld mit mir, und das einzige Ergebnis war, daß ich bei den restlichen Dreharbeiten als derjenige galt, der keine Disziplin hatte. Eigenartig, nicht? - ich meine, daß es so
läuft, ist nicht eigenartig - eigenartig ist, wie lange man braucht, um lesen zu lernen, ich meine das Lesen in den Hinweisen, die man auf dem Lebensweg bekommt und die alle nur einen Inhalt haben, der da heißt: »Folge dem gelben Steinweg ...« Wie bitte?! Ich meine, der da heißt: »Ändere dein Leben, solange es noch Zeit ist - ändere das Ziel deiner Wünsche, bevor dich deine falschen Ziele zerstören.« Mein Ziel war im Moment, den zweiten Pistazienkuchen, den ich mir bestellt hatte, noch langsamer zu essen als den ersten. Ich kann mich verstehen. Sicher ist es vernünftig, wenn man aus der Wüste gerettet worden ist, das Wasser aus dem Oasenbrunnen langsam und Schluck für Schluck zu trinken, um keinen Magenschock zu bekommen, aber - Hand aufs Herz - wer von uns hat diese Kraft, der Gier zu begegnen, die uns befällt, wenn wir etwas zu lange entbehrt haben, das uns Lust bereitet? Ich habe sie nicht, und ehrlich, ich will sie auch nicht haben. Wenn ich vor fünf Jahren das letzte Mal Pistazienkuchen mit heißem Honig bekommen habe, verstehe ich mich sehr gut, wenn ich den ersten, den man mir wieder gibt, verschlinge, wie ein Wolf das junge Lamm, das auf den Schafspelz hereingefallen ist. Dann - anschließend an den Rausch der Gier, kann man mit mir darüber reden, ob ich nicht das zweite Stück »Bissen für Bissen« genie-
ßen möchte - wie mein Freund Inka an dieser Stelle sagen würde. Überhaupt ist jede Kasteiung ja nur der Anlaß, in zügelloses Zerbrechen der Regel zu verfallen, die uns davor zurückhalten möchte, einfach normale Menschen zu sein. Aber das ist eben auch so eine altkatholische Geninformation, die alles Schöne, Wahre, Gute, Heitere und Zärtliche zerstören möchte und auf diesem Weg ja tatsächlich ein schlechtes Stück vorangekommen ist. Diese Bande, die mit ihrem knochigen Altmännergriff alles mit Seuche und Pest überzieht, was ihnen in den letzten zweitausend Jahren unter die Finger gekommen ist. Es ist schon eigenartig, daß eine Organisation, die millionenfachen Massenmord zu verantworten hat, immer noch ungestraft Sendezeit im Fernsehen bekommt, anstatt ganz einfach verboten zu werden. Diese alten Männer, die es zulassen und fördern, daß die Millionen Menschen, die an sie glauben, sich vermehren wie die Karnickel, statt endlich aufzuwachen und die Pille als die eigentliche Hostie unserer Zeit zu erleben, die es verhindert, daß Tausende von Gotteskindern am Straßenrand der vierten, fünften und sechsten Welt elend sterben. Heuchlerische, menschenfeindliche, böswillig zerstörende Horden sind das, die in Seminaren lernen, wie man so unnatürlich wie möglich spricht, um nicht durch Umgangssprache mit Menschen umzugehen, sondern sie zu unterjochen.
Natürlich ist es ihrem Gruppenführer egal, welche Blutspur er und seine Vorgänger durch die Geschichte gezogen haben und weiterhin ziehen, weil der Gestank der Verwesung ja noch nicht in die kühlen Gärten des Vatikans gedrungen ist oder in die Frühstücksküche seiner Heiligkeit, in der polnische Frauenhände das einzige tun, wozu Gott sie ihnen gegeben hat — nämlich Frühstück machen. So gestärkt, ist es dann natürlich ein leichtes, südamerikanischen Drogenbaronen die Hand zu schütteln, weil diese ja zumindest ein Goldkreuzchen um den Hals tragen. Ist es nicht interessant, daß auch die andere, weltumspannende Verbrecherorganisation sich den Ringfinger von den Befehlsempfängern küssen läßt, um Oben und Unten zu signalisieren und vor allem die Unverrückbarkeit der ewigen Gesetze, die dieses Oben und Unten für alle Zeiten einzementieren sollen? Alles in allem ist mir die richtige Mafia aber immer noch sympathischer, weil sie zumindest klar und deutlich zeigt, daß es um Macht und Geld geht und um sonst gar nichts. So direkt möchten das unsere Hirten natürlich nicht ausgesprochen wissen - weil sie ja selbst auch dem Gesetz der widernatürlichen Schizophrenie huldigen, die sie ihren Anhängern verordnen. Oder ist es etwa nicht schizophren, wenn man in einem kugelsicheren Wagen durch die Länder fährt, um nicht von einem Kugelhagel weggefegt zu werden?
Ich habe immer geglaubt, daß Gott seine schützende Hand über seine Kinder hält und alles, was geschieht, sein Wille sei und diese Welt ohnehin nur eine lästige Übergangsstufe nach »Drüben« darstellt. Wozu also eine Kugel fürchten, die das Einreiseticket darstellen könnte in jenes ewige Land, mit dessen Farben ja hier dauernd geworben wird. Verstehe ich nicht. Na - ist ja egal - ich bin ja auch nicht hier, um alles zu verstehen, sondern um täglich mehr zu staunen — wie Einstein es einmal formuliert hat. »Ja, aber die unvergänglichen Kunstschätze, die ohne unsere heilige Mutter Kirche nie entstanden wären«, murmelt das Kulturbewußtsein des fassungslosen Bürgers, der die Dinge nicht so unwidersprochen stehenlassen möchte, wie wir sie eben aufgestellt haben. Ich pfeife drauf - ist meine kurze und energiesparende Antwort-. Es sind Hektoliter an Blut und Leid, die aus den Menschen herausgeschunden wurden, um sicherzustellen, daß das Oben und Unten so festgeschrieben bleibt, wie es nicht »Er«, sondern die perversen Zerstörer seines himmlischen Vorschlags, in Frieden zu leben, festgeschrieben haben. Jedes Gemälde, jede Freske, jeder silberne Pokal aus den Schätzen der Mutter Kirche ist nur ein sichtbarer Beweis dafür, daß die Mittel, um sie herzustellen, nicht dafür ausgegeben worden sind, eine Kultur zu bauen,
die es als oberstes Ziel ansieht, allen Menschen ein Leben in Gesundheit und Wohlstand zu ermöglichen. Eine Sache, die jederzeit und an jedem Platz in der Geschichte dieses Planeten möglich gewesen wäre und nach wie vor möglich wäre, wenn wir nicht gelernt hätten, den Satan anzubeten, der sich immer noch darüber ausschüttet vor Lachen, endlich die perfekteste aller Verkleidungen gefunden zu haben. Liebesfeindlichkeit, Lustfeindlichkeit, Körperfeindlichkeit, das ist die Dreifaltigkeit, die sie wie eine Brandfackel in unsere Herzen gestoßen haben, um den verzweifelten Druck, der sich daraufhin aufgebaut hat, für ihr Zerstörungswerk zu nutzen. Na, na - mokiert sich der aufgeklärte Intellektuelle in uns, der das alles in Vergleich mit Ruhe! - Ruhe, sage ich dem aufgeklärten Intellektuellen in mir, der noch immer nicht begriffen hat, daß er nur ein Furz ist in der Kulturgeschichte unseres Gemeinwesens. Der Körper und die Innereien sind nämlich die sogenannten einfachen Menschen, die die Maschinen betätigen und die Bergtäler beackern und die neunundneunzigkommaneun Prozent unserer Welt ausmachen und auf deren Hirne diese Verbrecher immer noch einen Einfluß haben, einen Einfluß, der sie in der Folge ganz unaufgeklärt zur Hacke greifen läßt und den Überdruck an Schuldgefühlen, der sie angesichts körperlicher Lust überkommt, auf den Schädel ihres Nächsten ablassen.
Millionen und Abermilliarden sind es, die sich täglich schmutzig fühlen und »befleckt«, wenn es ihnen Gott behüte einmal gekommen ist, in der verkrampften Fünf-Minuten-Nummer, die der traurige Rest ist von der unendlichen Woge der Freude, die die Liebe zu verschenken hat. Aber diese Brandung und diese immer wiederkehrenden Wogen der Göttlichkeit, die wir erleben könnten, haben sie uns ja schon in der Kindheit mit Mauern umstellt, weil sie wissen, daß wahre liebe und Zärtlichkeit der einzige wirkliche Gottesdienst auf dieser Erde ist und uns die Kathedrale des Glücks, die der Körper des geliebten Menschen darstellt, unabhängig machen würde von den Steinhäusern, in denen wir »ihn« angeblich finden. Alles Wahnsinn, ich war ihm nie näher, als in dem Gefühl der Angstfreiheit, wenn mich die zärtliche Hand des geliebten Menschen umfaßt hat, die mir gezeigt hat, daß ich nicht allein bin in dieser Unendlichkeit des Universums. Nie war ich geborgener in der Ewigkeit eines Atemzugs, als wenn ich einen Menschen geliebt habe und seine Fremdheit zu der Nähe und Vertrautheit meines eigenen Selbst geworden ist und mir gezeigt hat, daß wir alle aus dem Einen sind und selber daran schuld, wenn wir uns von ihm trennen lassen. Hitler hat unter anderem einen schweren Fehler gemacht - obwohl im Massenmord ähnlich potent, hat er sich doch letzten Endes zu selten als »Sein« Diener zu erkennen gegeben - sonst hätten seine Nachfolger
vielleicht auch noch fünf Sendeminuten zur Verfügung -vielleicht als Wort zum Donnerstag. Na ja — es ist schon blöd, wenn man den Krieg verliert - das relativiert so manches - das führt sogar dazu, daß liberale Künstler öffentlich immer noch bekennen dürfen, Kommunisten zu sein und — »an diese Idee zu glauben«, obwohl auch dieses Schweinesystem endlich in die Knie geht. Aber was soll's - als Künstler hat man eben links zu sein und da ist es dann auch schon entschuldbar, daß diese »Idee« Abermillionen von Toten zur Folge hatte. Das Herz schlägt links, und darum heult auch niemand auf, wenn Herr und Frau Künstler sich nach wie vor ungebremst zur »Idee« eines Mördersystems bekennen dürfen. Wie lange wird dieses Spiel noch gehen? Wie lange werden wir noch diese erdrückende Last an Lüge und Doppelbödigkeit mit uns schleppen? »Gut - seine Vertreter haben vielleicht Fehler gemacht-, aber das ändert nichts daran, daß die Idee eines nationalen Sozialismus etwas Wertvolles an sich hat. Ja - ich bin trotz verlorener Schlacht im Herzen immer noch ein überzeugter Nationalsozialist - die Geschichte wird zeigen, wer letzten Endes auf der Seite der Wahrheit gestanden hat...« Na hallo - das Echo auf dieses Statement eines Dichters in der abendlichen Kultursendung würde ich gerne erleben.
Ich glaube kaum, daß er weiterhin mit staatlicher Subvention rechnen darf, die ihm Sorgenfreiheit ermöglicht. Vertauschen wir aber das Wort Nationalsozialismus durch das Wort Kommunismus, darf man immer noch ungestraft zur besten Sendezeit verkünden, ein überzeugter Anhänger dieses Vernichtungsunternehmens zu sein. Ist das nicht zweierlei Maß? Ist das nicht seltsam? Machen wir da nicht einen Fehler? Ist das alles richtig so? Warum ist denn das so? Sollten wir alle feige Lügner sein, die kein Rückgrat haben - was? Schon mal was von Opportunismus gehört, ihr feigen Kröten, die ihr um den Tümpel eurer künstlerischen Immunität hockt und Steuergelder verschwendet, die besser im Gesundheitswesen angebracht wären, hm! Na? Wie haben wir es denn?! Ach, ist das herrlich, die ersten tausend Kilometer Distanz zwischen sich und diesen verblödeten Schwachsinn gebracht zu haben. Ach, ist es herrlich, in Ruhe und Muße dem Lärm der Schachspieler zu lauschen, für die dieses Spiel hier, in der afrikanischen Nacht, nichts Heiliges ist, das mit Maulsperre absolviert werden muß. Ich bestellte mir zwei Flaschen Mineralwasser, um meine Nieren zu entlasten. Ich blickte zu meinem Schutzengel, der mir mit ru-
higer Anteilnahme gelauscht hatte und die Summe meiner Gedanken langsam in den Abendwind entließ, der sich anschickte, das zu tun, wozu er in diesem Klima bestimmt war - er kühlte. Er kühlte meine heiße Brust und meine Arme, die doch etwas Farbe bekommen hatten, obwohl ich den ganzen Nachmittag über wirklich nur auf der Terrasse gesessen hatte. »Noch vorsichtiger sein -», sagte ich mir und lächelte zu ihm hinüber. Tja - dachte ich - das war der Tag, an dem wir einander begegnet sind. Wer hätte sich damals träumen lassen, daß wir jemals gemeinsam in Assuan auf dem nächtlichen Bazar sitzen würden, um den Schachspielern zu lauschen. »Tu immer nur das, was du wirklich willst«, sagte er zu mir in seiner ruhigen Art, die seine Gattung so an sich hat. »Was ich wirklich will...«, leicht gesagt und aus Engelsmund ein wunderbarer Vorschlag, aber wie oft haben wir schon die Möglichkeit, das zu tun, was wir wirklich wollen und - weitergefragt - wie oft wissen wir denn wirklich, ob das, was wir wollen, auch wirklich unser Wunsch ist und nicht das Ergebnis des Werbefernsehens. »Laß aus —, sagte er in diesem Moment zu mir, und da lachten wir eine Weile gemeinsam und schwiegen das Schweigen der großen Freundschaft.
Eine seltene Sache, die große Freundschaft, dachte ich und sah ihn von der Seite an, wie er da so neben mir war und hoffentlich für immer bleiben würde. Oft weiß man gar nicht, wie nahe so ein Freund schon steht, den man erst viele Jahre später wahrnimmt, und wenn man ihn zum ersten Mal wahrnimmt, dann meistens in einer Situation der Not, in der man die Hand plötzlich sieht, die er einem entgegenhält. Eine Hand, die ja immer schon da war, die wir nur, früher noch nicht gebraucht haben, und weil Freundschaft eine Sache ist, die ohne Gier auskommt, hat diese Hand viel Geduld und Verständnis dafür, daß man sie erst später ergreifen wird. Natürlich hatte ich auch diesen Freund schon seit dem Beginn meines Lebens, hier auf dieser Durchgangsebene, die wir Erde nennen - aber die Momente, in denen ich mich an ihn erinnere, in denen es nicht um Leben und Tod ging, sind eben doch nicht so tief eingeprägt wie — halt! — Moment - was heißt denn das? Da war doch dieser Winter im Jahre ... oh Gott, ich werde alt, egal - und wie sehr es an diesem Abend um Leben und Tod ging -nur nicht so offensichtlich und akut, wie es nun einmal unter Wasser zu sein pflegt. Es war einer dieser Abende, an denen man einen Stempel für das ganze Leben erhält. Es war mein erster Abend in einem Theater. Ich meine, allein in einem Theater und nicht in Begleitung von
doppelt so hohen Menschen, wie man selber einer ist im Alter von neun Jahren. Es war ein Winterabend von der Sorte, wie der Winter ist, wenn ein guter, alter Hollywoodfilm Doris Day in einer einsamen Berghütte eingeschneit sitzen läßt und niemand anderer den Weg findet als Rock Hudson ... Also, wie gesagt - es hat in dichten Flocken geschneit und ich durfte allein in das große Theater gehen, das in unserer Stadt lag, wie eine Bienenkönigin in ihrem Korb. Alles strömte zu ihm, wenn der Abend gekommen war, und füllte es mit Licht und Glanz und Wärme. So groß war dieses Abenteuer ohnehin nicht — ich meine, allein in das Theater gehen zu dürfen, weil wir auf dem Platz, an dem es lag, unsere Wohnung hatten, genau gegenüber nämlich, mit einem kleinen Balkon, von dem aus ich immer zusehen konnte, wie sich die Menschen versammelten, um einen Abend lang in Träumen zu versinken, von Mut und Heldentum und wahrer Liebe. In dieser weißgepunkteten Winternacht nun, durfte ich alleine mit der rosa Karte in der Hand den Platz überqueren und ganz erwachsen sein. Ich weiß es noch ganz genau, so wie man ja alles ganz genau weiß, was man jemals erlebt hat — nur hat man fast nie die Chance, zu erkennen, was man schon alles weiß, weil sich immer etwas angeblich Wichtigeres darüberlegt und uns die Ohren volldröhnt. Im Grunde gibt es nur zwei bis drei wichtige Erfahrungen, die wir am Anfang unseres Lebens machen und mit denen wir
spielend den Dschungel des Daseins durchqueren könnten. Nur reden wir uns ein, daß das nicht genügt - daß wir mehr Erfahrungen brauchen. Das ist aber ein schwerer Fehler, weil diese ersten Erkenntnisse doch immer der unbewußte Maßstab bleiben, an dem wir uns orientieren. Die vierundneunzigste Apfelsorte, die wir im Hindukusch entdecken, auf der Suche nach dem Paradies, wird immer nur an einem einzigen Geschmack gemessen, und das ist der Geschmack, den der erste Apfel hatte, in den wir an einem Herbstabend gebissen haben, als wir zum ersten Mal mit Bewußtsein einen Apfel - genug - dieser Abend damals war mein erster Biß in eine Welt voller Gefühle, von denen ich noch nicht wußte, wie sehr sie die Sehnsucht meines ganzen Lebens bestimmen sollten. Es war ein völlig unverständliches Stück mit ewigem Hin und Her und es ging eigentlich nur um eine Frage: »Liebt sie ihn, oder liebt sie ihn nicht?« Am Ende des Dramas spitzte sich alles auf die Beantwortung dieser Frage zu, und ich erinnere mich noch, wie plötzlich das ganze Haus mit all den Menschen wie von einer unsichtbaren Hand nach vorne gedrückt wurde, weil alle in sich diese Spannung fühlten, diese Spannung und diese Sehnsucht nach der Antwort auf die wichtigste aller Fragen - ist es Liebe oder nicht? Ich saß da und blickte nach vorne auf die Bühne, und mir wurde ganz heiß. Die Holzreihen mit den rot-
gepolsterten Stühlen knisterten vor Erwartung, und das helle Viereck des Bühnenportals begann sich immer mehr um die beiden Menschen zu schließen, die dort auf der Mitte der Bühne zum Brennpunkt wurden für die Hoffnungen aller, die ihnen in diesem Augenblick zusahen. In die völlige Stille hinein, geschah nun etwas auf dieser Bühne, das mich zutiefst bewegte. Die Frau, um die es ging, saß auf einer Bank, und der Mann, der einen Abend lang nicht gewußt hatte, ob er und sie in Zukunft - ... dieser Mann also saß jetzt zu ihren Füßen, umarmte sie, und im selben Moment legte diese Frau ihre Hand mit einer leichten, weichen Bewegung auf seinen Kopf, und so blieben sie gemeinsam verbunden in völliger Stille, bis der Vorhang sich leise und unendlich langsam über ihre Gemeinsamkeit senkte. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich saß da und fühlte, daß ich in eine Welt geblickt hatte, in die selbst die Erwachsenen, die rund um mich herum saßen, fast nie blicken durften. Es war die Welt einer Zärtlichkeit zwischen Mann und Frau, wie ich sie nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Dieses Mitein — ander — verbunden — Sein - diese kurze, ewige Bewegung des Zusammenseins, die zwischen den beiden auf der Bühne vor sich gegangen war, sank wie ein schwerer Anker auf den Grund meines Herzens, um das Expeditionsschiff meiner Liebessuche für immer an diesem Punkt zu verankern.
Nein, nein - ich weiß schon, daß das Leben nicht aus dieser einen allumfassenden Bewegung besteht, die an diesem Abend vielleicht vier Sekunden gedauert hatte, aber der Gedanke, der hinter dieser Bewegung stand, die DNS dieses Gefühls war es, um die es ging. Da war nichts von Oben und Unten, vom ewigen Kampf der Geschlechter, dem es nur um Sieg oder Unterwerfung geht. Da war ein ewiger Gleichklang und Verständnis für unsere Einsamkeit, die uns alle ein Leben lang zu Suchenden macht. Da war - ja, da war die Möglichkeit zu sehen, die wir in uns tragen, und gleichzeitig die Aufforderung, nicht zu vergessen, wie der erste Apfel geschmeckt hatte. Was an diesem Abend auf dieser Bühne geschehen war, das ist es, was Theater eigentlich soll. Es soll die ewige Aufforderung sein, uns an das zu erinnern, was zutiefst in unserem Herzen angelegt ist und nur darauf wartet, daß wir ihm die Chance geben, ans Licht zu kommen und stark zu werden. Die Aufforderung alles zu geben, was wir besitzen, und zu wissen, daß uns nichts anderes reich machen wird als dieser Entschluß - alles zu geben, was wir besitzen, voller Vertrauen, daß wir aufgefangen werden von der Kraft der Liebe, die um so größer wird, je mehr wir zugeben, daß wir ohne sie nichts sind. Nur das Öffnen unserer Angst, die uns zuflüstert »Gib nicht alles - sei vernünftig —<, nur das Öffnen und Loslassen dieser Angst ist es, das uns anfüllt mit der Le-
benskraft, die wir alle ununterbrochen in jeder Sekunde verzweifelt suchen und in unserer Gier völlig übersehen, daß die Erlösung von unserer Angst neben uns darauf wartet, daß wir ihre ausgestreckte Hand endlich ergreifen. Ich weiß genau, daß ich an diesem Abend gesehen habe, worum es eigentlich geht, und ich weiß, daß es den alten Menschen rund um mich genauso zumute war, weil sie, nach einem Moment der Stille, zu rufen anfingen und zu schreien vor Begeisterung. Es waren Schreie der Erleichterung, daß es wenigstens auf dieser Bühne noch ein Reservat gab, für das, wozu sie alle schon längst nicht mehr den Mut hatten. Für den Mut, zuzugeben, daß sie sich nach Liebe sehnen und nach sonst gar nichts. Wenigstens in diesen drei Minuten konnten sie über diese zwei Menschen all das miterleben, wozu sie selbst in dieses Leben gekommen waren und das zu tun sie immer noch nicht den Mut gefunden hatten. Ich stand auf und ging durch die Reihen nach vorne zur Bühne. Ich konnte nicht rufen und schreien, weil ich noch keinen Druck loswerden mußte, so wie die anderen, die mit ihren Befreiungsschreien denen auf der Bühne dafür dankten, daß sie sich das zugetraut hatten, was sie sich gerne selbst erlaubt hätten. Auf mir lastete damals aber noch nicht das Gewicht lebenslanger Frustration, das ich mit Schreien und
Trampeln entweichen lassen wollte. Für mich war es ein Augenblick der völligen Stille in all dem Lärm, weil ich noch gar nicht wußte, daß man das, was ich da eben gesehen hatte und von dem ich wußte, daß es der Sinn des Lebens war - weil ich noch nicht ahnte, daß man das jemals wieder verlieren konnte, stand ich ganz still an der Rampe und sah zu den beiden hinauf. Sie hielten sich an der Hand und verbeugten sich. Es war eine seltsame Vielfalt von Gefühlen in ihrem Blick, der sich den Menschen stellte, die in dem hellerleuchteten Theater mit einem Mal zu einem Menschen geworden waren, mit einem einzigen Herzen, das ihnen zuflog und das sie auffingen, wie einen Sterntaler, der im Vorübergehen zur Erde gefallen war. Ein Teil in ihnen wußte ganz genau, daß nicht sie gemeint waren, denen der Jubel galt. Es war nicht ihre persönliche Geschichte, die die Geschichte eines Schauspielers und seiner Kollegin ist - nein - es war so, daß sie für einen kurzen Augenblick mehr geworden waren, als ihre persönliche Biographie umfaßte. Sie waren der Brennpunkt geworden für all die Hoffnungen, die diejenigen auf sie gerichtet hatten, die ihnen zusahen. Ihr Seelenmittelpunkt hatte nur so hell zu strahlen begonnen, weil Hunderte von anderen Seelenmittelpunkten ihren Lichtstrahl der Zuversicht auf ihn gerichtet und weil Hunderte Gedanken ihnen zuriefen: »Ja - habt Mut - seid so, wie wir alle sein könnten - habt Mut, eure Wärme herzugeben, euer Zittern
nicht zu verbergen, eure Fassungslosigkeit nicht zu beherrschen.« Über ihre Berührung hinweg und durch sie hindurch, hatten einander all die Menschen in diesem Raum berührt und erlöst von der Kälte der persönlichen Geschichte, die nur mehr den Kampf um Macht und Härte kannte. In diesem Augenblick waren sie zu Helfern geworden, zu Geburtshelfern einer Wahrheit, die ständig in uns schweigt, weil sie ununterbrochen zu hören bekommt, daß es im Leben Wichtigeres gibt. Plötzlich begegneten sich unsere Blicke. Plötzlich spürte ich, daß sie meinen Blick fühlte, der in ihrem Gesicht fragte, und dann sah sie mir direkt in die Augen. StillGanz still wurde es in dieser Sekunde, und wir hörten nicht mehr das Toben um uns herum und sahen nicht mehr die Bewegung, die das gesamte Haus erfaßt hatte. Unsere Augen wurden umhüllt von einem Tunnel des Schweigens, der wußte, wußte, wußte, wußte und schwieg. Sie sah in meine Augen und sah in mein Herz mit ihrem Blick, der für diesen Moment erlöst war von ihrer
Geschichte und ihrer Erfahrung. Die Zeitlosigkeit unserer Seelen war es, die sich selbst ins Gesicht schaute und uns mit der Frage zurückließ, warum es nicht immer so sein konnte. Dann war es wieder vorbei. Eine Bewegung ihres Partners hatte sie in »die Realität« zurückgeholt, und sie lächelte mir wieder als Mensch zu, und ihr Lachen wurde zum Lachen einer Schauspielerin, die sich wohlfühlt in der Bewunderung der Menschen, und trotzdem war immer noch etwas von der Ewigkeit um ihren Mund, und ich sah, daß sie immer noch zu mir blickte, obwohl unsere Augen sich nicht mehr trafen. Die Erinnerung an sich selbst war in ihrem Gesicht gestanden, und ich wußte in diesem Augenblick, daß es das war, was ich auch wollte. Ich wollte auf so einer Bühne stehen, um die Möglichkeit zu haben, den zu beschützen, der ich war. »Tu es«, sagte mein Freund zu mir an diesem Abend, und jetzt, wo ich mich daran erinnere, weiß ich nicht, wieso ich seine Stimme wieder vergessen konnte. Er war mir so selbstverständlich, daß ich erst, als ich verlernt hatte, ihn zu sehen, erkannt hatte, wer er war. An diesem Abend jedoch war er noch bei mir und führte mich in die Richtung, in die ich wollte.
Seltsam, den Tag, an dem ich ihn nicht mehr sehen konnte - diesen Tag aber habe ich vergessen ... Warum? Warum verlieren wir das Sehen? Warum verlieren wir die Möglichkeit, den Fangreusen auszuweichen, die in unserem Lebensfluß eingebaut sind und aus denen es fast nie ein Entkommen gibt, wenn wir uns einmal von den glitzernden Trugbildern haben anziehen lassen, die am Ende jeder Sackgasse auf uns warten. Warum glauben wir diesen Spiegelungen, die uns einreden, daß wir in ihnen unser Glück finden werden, obwohl wir doch mit dem Glück in der Hand geboren werden? Ich weiß es nicht - aber vielleicht fällt es mir heute nacht ein, vielleicht bringt mir ein Lachen, das zu mir herüberfliegt, an meinen kleinen Holztisch, die Erinnerung zurück, an den Moment des Abschieds von dem Wissen um die Wahrheit, das ich genauso leicht in meinen Händen gehalten habe, wie alle anderen Menschen es leicht in ihrer Hand halten, solange in ihren Augen noch das Wissen der Kindheit lacht, das aus der Ewigkeit kommt. Ist es eine Frage der Zeit? Ich meine - ist es die Frage, ob man die Zeit hat, sich selbst zuzuhören?
Liegt es daran, daß uns die Zeit genommen wird, einfach stillzusitzen und zu schauen? Einfach vor uns hin zu schauen und aus uns heraus die Wahrheit zu erkennen, die da heißt: »Da sein genügt.« »Und wovon wollen Sie bitte leben und die Miete zahlen und die Kraftfahrzeugsteuer?!« Radikaler Einriß in die dünne Papierwand der Poesie, die uns von der endgültigen Antwort auf alle Fragen dieser Welt trennt — nicht wahr?! Liegt es daran, daß wir Dinge zu wollen beginnen, die wir nicht brauchen? Sicher ist es das - aber wo liegt der Anfang für dieses Haben-Wollen - wenn wir doch bis zu diesem Anfang glücklich waren und weich? Es kann doch nicht wirklich nur das Wetter sein, dessen Kälte im Winter uns dazu zwingt, Häuser mit Heizungen zu bauen, die unser ganzes Geld verschlingen, das wir mühsam erkämpft haben? Ich fühle mich hilflos auf der Suche nach einer Antwort. Sind es die Frauen? Sind es die Männer?
Was ist es?! Warum berühren sich die Menschen ab einem gewissen Moment nicht mehr, sondern lassen nur mehr ihre Masken, in der Kampfbahn der Alltäglichkeit, gegeneinander antreten? Aber wenn das schon so ist — warum werden wir ab einem gewissen Zeitpunkt zu Masken und verlieren das Pulsieren in unseren Gliedern? Sicher - weil wir verletzt werden, von denen, die schon hart geworden sind - aber warum sind sie vor uns hart geworden, statt lebendig zu bleiben, wie junge Tiere? Warum?! Warum machen Väter aus ihren Töchtern kleine Puppen, die sie mit allem ausstaffieren, was sie nicht brauchen, diese alten Männer, die ihren kleinen Frauen einreden, daß sie etwas Besonderes seien - nämlich Mädchen, die nicht raufen dürfen und sich schmutzig machen, sich nicht schmutzig machen dürfen im grünen Gras oder an den bösen anderen Männern, die ihnen nur weh tun wollen, und eines Tages stehen diese jungen Wesen dann da und sind hart geworden und berechnend und kalt. Sie sind gewohnt, daß sie nichts tun müssen, als dazustehen und zu warten, daß der Papa kommt und sie verwöhnt.
Sie warten, wer am meisten zu bieten hat, wer sogar den Papa überbieten kann, um sich dann von demjenigen kaufen zu lassen, der die größten Taschen hat, in denen das glitzerndste Spielzeug steckt. Schnelle Autos, große Wohnungen, weite Ferienreisen und nie ein wirklicher Orgasmus Unlängst hat ein Verhaltensforscher im Fernsehen gesagt, es sei ganz normal, daß Frauen auf dieses Angebot eingehen, weil ihre Genetik ihnen vorgibt, daß derjenige mit den größten Taschen der zuverlässigste Ernährer der zu erwartenden Brut sei. Aha - dachte ich mir und wechselte den Kanal, weil ich nicht zuhören wollte und vielleicht am Ende erkennen, daß er recht hat mit seiner Behauptung, daß wir alle immer noch Hirne hätten wie die Neandertaler und mit unserer wirtschaftlichen Entwicklung einfach überfordert seien, die Faustkeile auf den Kopf des Nebenbuhlers überflüssig machten. Also gut - denke ich mir —, da werden sie also zu Prostituierten erzogen und identifizieren sich tatsächlich mit dieser Rolle der zu fütternden Henne - aber wo bleibt ihre Sehnsucht nach Liebe? Wo bleibt der Impuls, sich voller Wärme zu öffnen und ganz einfach zu geben, ohne darauf zu achten, was dafür unter dem Strich übrigbleibt. Keine Hure darf ein Gefühl für ihren Kunden ent-
wickeln, also geht diese Sehnsucht nach Zärtlichkeit nicht zu ihren Männern, von denen sie ihre Kinder bekommen haben - sondern zu den Kindern, am liebsten zu den kleinen Söhnen, die dann mit all der aufgestauten Libido überschüttet werden, die man eigentlich mit dem eigenen Mann teilen sollte. Und unter dieser alles niederwalzenden Gefühlslawine steht dann der kleine Mann und muß miterleben, wie seine Normalität zu Tode gestreichelt wird. All die verlorenen, nie erlebten Umarmungen, die mit dem zahlenden Freier, der Gatte genannt wird, nie wirklich erlebt worden sind, muß jetzt der junge Ersatzpartner ausbaden, bis er einerseits das unsinnige Gefühl bekommt, etwas Besonderes zu sein und andererseits einen völlig logischen Ekel vor diesem Zuviel an mütterlicher Zuwendung entwickelt, bis ihm nichts anderes übrigbleibt, als zuzumachen und Panik vor jeder wirklichen Zärtlichkeit zu entwickeln. Panik — weil sie ihn an die Erdrückung erinnert, die er erdulden mußte, weil seine leibliche Mutter lieber mit ihm ins Bett gegangen wäre, als mit dem zweibeinigen Kontoauszug, der die Heizkosten begleicht. Und so erlebt er eines Tages, daß er in einer Sackgasse der Gefühlsarmut gelandet ist, aus der es kein Entrinnen gibt. Immer noch leben aber auch in ihm die fünffach verspiegelten Sehnsuchtsimpulse nach Weiblichkeit, und gleichzeitig weiß er ganz genau, daß er völlig unfähig geworden ist, seine Männlichkeit - seine natürliche, angeborene Männlichkeit in
die Waagschale zu werfen, die sich die Balance halten kann mit der angeborenen Weiblichkeit, die unsere Frauen als Chance mitbekommen haben und nie nutzen durften. Was tut er in der Folge? Er greift zu den äußeren Zeichen von Männlichkeit, wie Macht, Prestige, Erfolg und der Summe dieser drei Dinge -dem Geld-, um mit seiner Hilfe den Abgrund zu überspringen, der sich zwischen ihm und dem anderen Geschlecht aufgetan hat, wie der Rachen der Hölle. Ein schlechter Zuhälter ist er mit der Zeit geworden, der sich keine Frau, sondern ein Herzeigemodell aussucht, denn wenn es schon daheim kein Glück geben wird mit der Edelnutte, die er sich angelt, dann sollen wenigstens die anderen sehen, was er sich leisten kann. Die mit den größten Titten und den längsten Beinen, und wenn sie dann endlich wirft, dann hat Papa sein kleines Prinzeßchen, das er über alles liebt und vergöttert und beschützt, vor dem nassen Gras und den Schweinen, die alle Männer sind, bis dann eines Tages ein noch größerer Eber daherkommt und ihm seinen einzigen Schatz wegnimmt und zwischen ihre Beine hineindrückt, was er selbst, aus sittlichen Gründen, nie durfte. Haßerfüllt bleiben Herr und Frau Biedermeier dann in der leeren Wohnung zurück und sitzen schweigend vor dem Fernseher, in dem fröhliche Filme laufen, die meistens davon handeln, wie schön es ist, verliebt zu sein.
Ist das nicht beschämend? Ist das nicht ekelig? •Wäre es nicht besser, wenn das alles anders wäre?« •Was?« Wann kommt endlich der große Erleuchtungssprung, von dem alle Philosophen aller Zeiten sehnsüchtig faseln? Wann kommt der Kulminationspunkt, an dem sich die Amplituden unserer Sinnlosigkeiten so aufschaukeln, daß sie uns kollektiv in ein neues, ein goldenes Zeitalter schießen? Wann?! »Ich weiß es nicht —*, sagte mein Engel und sah durch mich hindurch... Und ob er es weiß - dieser Schuft-, dachte ich mir und glaubte zu bemerken, daß sich sein Strahlen während dieser Sätze ein klein wenig verstärkt hatte. Sollte ich einer Einbildung unterliegen?! Los sag schon - wann ist es soweit -, versuchte ich in ihn zu dringen, was aber leider keinen Erfolg hatte,
weil Engel aus dem Stoff gemacht sind, in den man nicht dringen kann. Auch so einer der offensichtlich versteckten Hinweise, daß mit unbeherrschtem Zugriff überhaupt nichts zu erreichen ist, außer dem Umstand, daß sich das Objekt der Begierde zurückzieht und unerreichbar wird. Gut, gut - ich laß ja schon aus - sagte ich zu ihm und stellte erleichtert fest, daß er wieder für meine Augen sichtbar wurde. Lassen wir das Thema - schlug ich vor und beschloß, mich umzusehen. Der Bazar war in der letzten Stunde noch etwas lebendiger geworden, und all die Menschen, die sich tagsüber vernünftigerweise vor der Sonne in ihren Häusern schützten, flogen jetzt in die Nacht hinaus, um zu handeln, zu essen, Schach zu spielen oder Haschisch zu rauchen. Vernünftigerweise rauchen diese Leute hier nämlich Haschisch, statt zu trinken. Nur Ungläubige wie ich tranken in dieser Hitze Alkohol, was der Koran klugerweise verbietet. Was er sonst noch alles verbietet, würde jetzt zu weit führen, ist aber bei weitem nicht so vernünftig wie das Alkoholverbot bei glühender Hitze. Mir war aber alles egal an diesem ersten Tag, in der Entfernung von zu Hause, also füllte ich wieder mein Glas und stellte dabei fest, daß sich auch die zweite Flasche Rotwein langsam dem Ende näherte.
•Das ist aber bestimmt die letzte« - sagte ich zu mir und fügte hinzu: »Außerdem trinke ich ohnehin doppelt soviel Mineralwasser wie Rotwein. Das gleicht das Ganze wieder aus, und ich muß mich nicht schämen - nicht wahr? Nicht wahr?« Eigenartig - immer noch dieses Schuldgefühlsyndrom -wenn man sich einmal wohlfühlt, immer noch dieser Reflex, in der Sünde zu leben, wenn man das tut, was man will - schuldfrei genießen. Diese Bestien haben wirklich ein Erbe in uns hinterlassen - dachte ich mir und sah den jungen Araberbuben zu, die Arm in Arm über die Straßen wanderten. Auch nur eine scheinbare Freiheit - dachte ich mir, auch nur eine relative Ungestörtheit im Ausleben der Homosexualität. Auch nur ein notwendiges Ergebnis, weil die Mädchen hier noch radikaler weggesperrt werden, als bei uns. Hier ruft zwar keiner: »Schwule Sau-«, wenn zwei Männer sich umarmen -, das heißt aber noch lange nicht, daß hier irgend etwas liberaler
ist oder offener als bei uns. Im Gegenteil, wir sind nur geneigt, in diesen heißen Ländern alles zu glorifizieren, was uns anders erscheint als bei uns. Ein richtiges Armutszeugnis, nicht?! Jeder Neger, der aufrecht daherkommt, ist uns ein geiles Vorbild für sexuelles Ausleben, und unsere verkrampften Sekretärinnen flippen aus, wenn sie so einer im Single-Urlaub als das behandelt, was sie in seinen Augen sind - nämlich Nutten. Kein einziger auf-
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rechter Eingeborener würde seine Frau wie Bratfische auf dem Grill herumliegen lassen, die nur darauf warten, am Spieß zu landen - sondern würde sie nach guter alter Moslemart auspeitschen und zu Hause einsperren. Oh - nicht enden wollender Wahnsinn. Ist denn überall nur Irrsinn beheimatet, auf diesem Fegefeuerplaneten?! Eine hoffnungsvolle Alternative scheint Hawaii gewesen zu sein, bis dieser bleiche Cook angesegelt gekommen ist. Typisch Abendländer - mit der gesamten Mannschaft alles niederficken, was sich bewegt, und dann hinterher eine Kirche bauen, in der den Paradieskindern dann das Bereuen beigebracht wird, das Bereuen und die Angst vor dem Verlust des Himmelreiches, das völlig intakt war, bis wir ihnen die Syphilis gebracht haben. Also wieder nichts Wieder einmal eine kulturgeschichtliche Chance vertan. Wäre das nicht toll gewesen, wenn es anders gelaufen wäre? Man stelle sich vor - der ganze Haufen verspannter Engländer stößt sich in den Tropen gesund - wirft sein Aberglaubensbekenntnis über Bord und segelt frei von hierarchischem Denken nach London zurück. Dort verbreitet die Mannschaft mit ihrer ansteckenden Heiterkeit derart viel Lebensfreude und ihre Berichte von der Zärtlichkeit, die sie erlebt haben, fegen alle Panzer hinweg, die um die kalten Herzen der Bürger Britanniens liegen, und ein neues Zeitalter geht von dieser Entdeckung aus ...
O Gott, o Gott, o Gott... Warum bin ich mit der Phantasie geschlagen zu wissen, wie es sein könnte, ohne gleichzeitig die entsprechende Zeitmaschine zu besitzen, die mich urplötzlich neben Cook auftauchen und ihm zuflüstern läßt: »Folge dem gelben Steinweg...«. Na ja - jeder hat nur die Weichen seines Schicksalsweges vor sich und steht täglich vor seinen eigenen Entscheidungen, nach links oder rechts zu fahren. Wie soll man da auch noch Verantwortung für die anderen übernehmen, oder gar für die Geschichte? Oft ist man ja schon mit der Frage überfordert, welches Hemd man zum dunklen Sakko auswählen soll, und da verlangt die höhere Macht auch noch von uns, den Lauf der Welt zu verändern?! Das ist ein bißchen viel verlangt, nicht? - und das hat dann auch zur Folge, daß wer anderer diesen Lauf der Welt bestimmt als wir selbst und das Ergebnis sehen wir ja. Lauter korrekt gekleidete Leute, mit passenden Hemden zum Anzug, auf dem Weg in die Sackgasse Richtung Endstation. Gnade uns Gott, wenn wir doch einmal den Mut aufbringen, aus den Schienen zu springen und abzubiegen. Blitzschneller Ausschluß aus dem Spiel ist die Folge, und das überlegt man sich ein Leben lang zweimal - ob man das wirklich möchte. Ich habe es mir zweimal überlegt und trotzdem gehandelt. Kann sein, daß dieser Heldenmut in mir herangereift ist, weil ich zu oft
den Hamlet gespielt habe und diese ewige Zauderei nicht mehr mit anhören konnte. Kann mir einer sagen, wo das Problem von dem Knaben eigentlich liegt? Den Alten wegräumen, die Mutter ruhigstellen und mit Ophelia ins Bett springen -das ist hier die Lösung. Vielleicht auch noch eine Messe für den Geist des Vaters lesen lassen, damit der aufhören kann, um Mitternacht auf der höchsten Zinne von Helsingör herumzubalancieren und damit die Wachen zu verunsichern. Was soll denn das - ich meine, da werden Wichtigkeiten aufgeschaukelt, die mit einfachen Entschlüssen zu lösen wären. Aber nein — hin und her und das fünf Stunden lang, bis auch der letzte der zaudernden Sekretäre im Parkett sich mit diesem wankelmütigen Jungen da auf der Bühne identifiziert hat. Ein Sekretärsstück, für die Leute aus der zweiten Reihe geschrieben, die auch nie wissen, ob sie dem Chef endlich die Meinung sagen sollen oder nicht — besser nicht - angesichts der Ratenzahlungen für den Zweitwagen und des angezahlten Kluburlaubs in Singapur - denken sie und klatschen erleichtert auf, wenn es am Schluß wieder einmal heißt, daß der Rest Schweigen sei. Für eine Gesellschaft der Sekretäre geschrieben - dieses Stück - darum wahrscheinlich auch der jahrhundertelange Erfolg. Ist das der Sinn der Kunst - jahrhundertelang auf etwas hinzuweisen - dafür beklatscht und benickt zu werden — und jahrhundertelang doch nichts zu verändern?! Ich weiß nicht.
Warum springt nie jemand im Zuschauerraum auf und brüllt: »Los - mach ihn alle, die blöde Sau -«, warum nicht? Weil wir kultiviert sind? Weil wir wissen, daß wir nur Zeuge eines Spiels sind, das uns eine Metapher sein soll und nicht mehrWarum eigentlich nicht mehr? Warum ziehen wir keine Schlüsse aus dem, was wir sehen, sondern überlegen nur im zweiten Akt schon, wohin wir nach dem fünften Akt essen gehen und ob die Kleine, die wir mit einem Kulturabend beeindrucken wollten, sich im Anschluß an das Zitronensorbet, im Chambre separee, flachlegen läßt? Fürchterlicher Gedanke. Wenn ich das gewußt hätte, bevor ich mich diesem Beruf mit Haut und Haar verschrieben habe, hätte ich nur eine Perücke geopfert, aber doch nie mein Herzblut. So blöd war ich noch, bis vor zwei Wochen, als der entscheidende Moment immer näher gerückt ist, an dem es heißt: »Stirb oder werde —« Ich habe mich entschlossen, zuerst zu sterben und dann zu werden, aber das ist ein langer Weg, der letztendlich dazu geführt hat - zärtlich auf den Auslöser zu
drücken, der die Sprengladung zur Explosion bringt, die man am Stützpfeiler des eigenen Lebens angebracht hat. Es braucht eine lange Kette von Auslösern, die die ruhige Meeresbrandung der Alltäglichkeiten so aufschaukelt, bis daraus eine Sturmflut entsteht. Und das, obwohl ich so viel Glück hatte - dachte ich und staunte über die zwei Knaben, die in ihrem gestreiften Kaftan auf einem ungesattelten Pferd an meinem Tisch vorbeiritten und lachten. Die haben gut lachen - dachte ich und zündete mir eine Zigarette an, die ich von einem der Schachspieler am Nebentisch geschenkt bekommen hatte. Die Marke hieß doch tatsächlich »Kleo-patra«, was einen angesichts von Schokoladekugeln, die nach Mozart benannt sind, auch nicht mehr erschüttern kann. Das ist der Geist dieses Jahrhunderts - dachte ich und mußte husten, weil diese Kleopatra eine ziemlich umwerfende Sache war. Das ist der Geist, der nie das Große will und stets das Kleine schafft. Das Verkleinernde, das Beschwich-tigende, das Entheiligende. Man kann ein Wort so lange wiederholen, bis es seinen Sinn verloren hat, und genausogut kann man eine Musik, einen Gedanken, eine bemalte Fläche so lange zwischen den Händen hin- und herwälzen, bis Schokoladekugeln übrigbleiben, die nichts anderes hinterlassen als Verstopfung. Wie tief müssen wir noch sinken, um am Meeresgrund in zwei Teile zu zerbrechen, wie die gute alte Titanic?
Wieviel Entwürdigung wird noch geschehen müssen, um uns zu einem Aufschrei der Entrüstung anzustacheln, der da heißt: »Es ist genug - Die Musik Mozarts ist ein heiliges Fest und keine Vorlage, um auf ihr Murmeln zu spielen mit klebrigen Süßigkeiten, die uns den Blick und den Sinn verstellen auf die Aufforderung, unser Leben zu verändern, die in diesen Tönen liegt.« NieIch befürchte, es wird nie dazu kommen, weil unsere Welt auf fürchterliche Weise gelernt hat, dem Ansturm der Revolution mit Judo zu begegnen. Kaum nähert sich uns die Bewegung einer Herausforderung, ducken wir uns und lassen den Ansturm des Gefühls, den eine richtig gespielte »Zauberflöte« auslösen müßte, ins Leere laufen. Wir haben gelernt, die Tretminen, die ein wahrhaft geschaffenes Kunstwerk darstellen kann, mit einem Frühwarnsystem zu erkennen und zu entschärfen, bevor der Fuß unserer Gewohnheiten auf den Auslöser tritt. Zusätzlich zur Schokoladisierung, die wir mit ewigen Werten betreiben, sind auch diejenigen, die sie produzieren, dazu übergegangen, ihre Arbeit gleich in Stanniolpapier abzuliefern, weil sie erkannt haben, daß sich einerseits ohnehin nichts verändern läßt und andererseits mit dieser Erkenntnis zumindest Kohle gemacht werden kann. So schaut's aus, und das ist wirklich keine neue Erkenntnis, neu war für mich nur die Möglich-
keit, sich aus diesem ganzen seltsamen Backstubenklima auf- und davonzumachen und die Türe ganz fest hinter sich zuzuschmeißen. Ungefährlich - das ist das Wort -, ungefährlich ist es geworden, ein Künstler zu sein, genauso wie es ungefährlich geworden ist, eine Reise zu machen in die sogenannte Fremde. In wattierte Kätzchenkisten gepackt, wird man durch das Unheimliche, das uns begegnen könnte, hindurchgeschleust, und das einzige Ergebnis ist, daß man in Zukunft erkennt, daß der Besuch im städtischen Solarium eigentlich denselben Effekt hat wie eine Fahrt unter die Sonne Indonesiens. Billiger ist es, das ist alles - aber eingeschachtelt ist man sowohl dort als auch da - also wozu das Großraumflugzeug betreten, mit der ewigen Unsicherheit, ob es am fremden Strand die heimatliche Tageszeitung geben würde. Mein Gott, waren das Epochen, als man in China als Musiker noch hingerichtet wurde, wenn man die festgelegte göttliche Ordnung der Tonreihen verlassen hatte, die seit Generationen überliefert wurden. Die Leute damals wußten nämlich noch darum Bescheid, daß sich die Gesetze des Himmels in den Gesetzen der Erde widerspiegeln, und Kunst zu machen - Musik zu machen, war nicht bloß ein Vergnügen für gelangweilte Söhne und Töchter der urbanen Bevölkerung, nein -Musik war das Bewahren der göttlichen Ordnung, die allen Menschen das richtige Maß für die Belange des
Lebens vorgab. Eine Veränderung der festgelegten göttlichen Tonreihen bedeutete logischerweise die Veränderung der himmlischen Ordnung, und diese Blasphemie mußte mit dem Tode bezahlt werden. Das waren Zeiten. Natürlich kann man sagen, das sei alles Quatsch und nur dazu dagewesen, um das Feudalsystem dieser Schlitzaugen aufrechtzuerhalten - aber auch in unserer Geschichte finden wir ein ähnliches Beispiel. Beethoven, sage ich, Beethoven war der erste, der die »teuflische Sekund« in einer seiner Kompositionen verwendet hatte, und die Auswirkungen waren ähnlich, als wenn jemand auf eine Monstranz spucken würde: Aufruhr, Verunsicherung, Aufbrechen alter Traditionen - ja, fast Lebendigkeit. Worauf läuft das alles hinaus? Auf die Erkenntnis, daß es früher noch genügte, einen Akkord im richtigen Moment einer gesellschaftlichen Verkrustung ins hartgewordene Herz zu spielen und schon konnte man eine Revolution auslösen, eine Revolution der Gefühle, die ganz richtig erkannte, daß man sich alles erlauben darf. Die Kunst ist ja nur ein Spiegel dessen, was wir uns heimlich wünschen und nur darauf warten, bis einer vorprescht und sagt - »Mir reicht's - ich pfeife auf die göttliche Ordnung und spiele jetzt die teuflische Sekund«, denn spielen dürfen, was verboten ist, heißt hören dürfen, was verbo-
ten ist und in der Folge davon, fühlen, was verboten ist. So gesehen kann eine Maultrommel zu einem gefährlicheren Instrument werden, als eine ganze waffenklirrende Armee, und weil das wirklich so ist, sind wir dazu übergegangen, uns alles zu erlauben, um auf diese Weise erst gar keine Möglichkeit aufkommen zu lassen, daß etwas explodiert. Da sitzen wir nun und dürfen spielen und malen und reden und schreiben und bildhauern, was wir wollen, weil es weder eine göttliche noch sonst irgendeine andere unnatürliche Ordnung gibt, die durch unsere Taten ins Wanken kommen würde, und das Ergebnis sind Schokoladekugeln mit Nougat und Pistazienkernen. Ist es das? War das das Ziel? Ein schwammiger, undifferenzierter Brei der allgemeinen Unmöglichkeit, weil alles möglich geworden ist? Künstliche Hysterien schaukeln sich hie und da noch empor, wenn irgendwer irgendwo noch so tut, als sei die Kunst etwas Revolutionäres. Hie und da zitiert jemand den umstürzlerischen Sinn, den die Kunst einmal hatte, und erntet auch Erregung von der Statisterie
des Publikums, das zwei Leitartikel lang das Für und Wider beplappert, wenn zum Beispiel ein Dichter auf offener Bühne bemerkt — »die ganze Regierung sei für ihn ein Haufen Scheiße - und alle, die mit ihr zu tun haben, ebendasselbe-« Kurz erfolgt daraufhin die Erklärung, daß es fürchterlich sei, wo wir hingeraten wären - was zur Folge hat, daß einige Verteidiger der Freiheit der Kunst aufspringen und melden, daß das Sache des Künstlers sei, was er über die Regierung denke, und nach einigem Hin und Her ist der Rest wieder einmal Schweigen, in das hinein alle Seiten brummelnd überlegen, womit man das nächste Mal künstliche Aufregung provozieren könne. Am besten ist es, wenn man ein Thema wählt, mit dem man beinahe zum Helden geworden wäre, wenn man es im richtigen Moment zur Sprache gebracht hätte. Jetzt aber bestätigt man nur die Wahrheit, daß tote Hunde nicht beißen können, wenn man sie prügelt. Äußerst beliebt ist es zum Beispiel, den Zweiten Weltkrieg zum vierundfünfzigsten Mal zu gewinnen und sich dafür als Sieger hochleben zu lassen. Ich weiß nicht, in wieviel Theaterstücken ich über die Bühne schreiten durfte und die unglaubliche Erkenntnis zu verbreiten hatte, daß der Nationalsozialismus etwas ganz Böses gewesen war ... -
Nein?!! Dieser Mut dieses Schriftstellers, dessen Uraufführungen die Hakenkreuzfahne auf den Müllhaufen der Geschichte werfen!! Unglaublich, nicht? - dieses Vorpreschen durch sperrangelweite Türen der Kritiklosigkeit. Die Wahl dieses Themas hat nämlich auch noch einen wunderbaren, vergoldeten Pferdefuß - es gibt keine Kritik. Ich meine - es verbietet sich in unseren Kulturabmachungen, über die Qualität eines Werkes zu urteilen, wenn nur der Inhalt deutlich genug lautet: »Nieder mit den schwarzen Horden der SS.« Plötzlich hat man als Verkünder dieses Satzes etwas ganz Wunderbares erreicht. Man ist unantastbar geworden. Eine köstlich komische Beißhemmung hindert die Leute daran, zu sagen - »Na, das wissen wir doch schon längst. Nun ist es ja auch schon gut, nicht? Gibt es nicht Wichtigeres?!« Das wird ja sofort vor Begeisterung heulend aufgegriffen und als Wiederbetätigung im Sinne des Dritten Reiches gewertet, und weil wir ja alle gewohnt sind, einander nicht mehr mit den Mitteln der Diktatur zu unterdrücken, sondern mit den Mitteln der öffentlichen Meinung, herrscht seltsames Schweigen. Keiner steht auf und sagt die Wahrheit, die da lautet: »Diese Zeit ist
Gott sei Dank vorbei, und das Gesicht des Teufels hat mittlerweile eine ganz andere Maske angenommen, die es gilt, herunterzureißen — Weil dieses Aufstehen vielleicht der letzte Impuls wäre, den derjenige, im Licht der Öffentlichkeit, tut. Denn dieses Aufstehen würde ja die herrliche Ruhe stören, in der wir es uns gemütlich gemacht haben. Im Abonnentensystem erklären wir uns um fünfzig Jahre verspätet zu Antifaschisten, denen die Betroffenheit das tägliche Brot ist, und verhindern damit gleichzeitig, ein wirkliches Risiko einzugehen. Wo sehe ich jemanden stehen und seine staatliche Subvention riskieren, indem er aufzeigt, daß unsere derzeitigen Regierungen nicht besser sind als das klassische Feindbild längst überwundener Diktaturen. Sie sind um nichts besser, nur haben sie die Millionen von Toten, die sie auf ihrem Weg zurücklassen, so weit auf der Erdkarte verschoben, daß sie nur bei genauer Betrachtung mit unseren demokratisch gewählten Volksvertretern in Verbindung gebracht werden können. Diese Herren sind aber leider dafür verantwortlich, daß zur Zeit ein Völkermord auf diesem Planeten inszeniert wird, gegen den der Holocaust Hitlers und die Massenvernichtung Stalins nur wie eine mißglückte Generalprobe aussehen. Unser gesamtes Wirtschafts- und Sozialgefüge baut nämlich auf dem Ausrauben der Lebensgrundlage der armen Völker dieser Welt auf, denen wir mit unserer demokratischen Wohlstandsmaschinerie
jede Grundlage zerstören, sich selbst zu freien Menschen aufzubauen. Ganz egal, ob wir die Infrastrukturen der armen Länder mit der Schuldenspirale zerquetschen, in die wir sie getrieben haben, oder aber die Vernichtung ihres Lebensraumes dadurch vorantreiben, daß wir ihnen Bedürfnisse liefern, die sie nie zu haben brauchen und für die sie ihr Land, ihr Leben und ihre Gesellschaft zerstören müssen - ganz egal - unter dem dezenten, feinen Tuch, aus dem die Uniformen unserer Heerführer seit neuestem geschnitten sind, schlägt nach wie vor die Totenrassel, die die Führer vor einem halben Jahrhundert noch so dumm waren, öffentlich zu tragen. Aber das könnte ja nun wirklich existenzgefährdend sein, darauf hinzuweisen, wie die Verflechtungen von Korruption und Machtverteilung funktionieren, und dann darf man nicht mehr als aufrechter, antifaschistischer Mahnmalaufsteller am Millionentopf naschen, der für die späten Sieger von Stalingrad immer wieder nachgefüllt wird. Zu Pausenclowns sind wir Künstler verkommen, die sich bereitwillig auf den Sommerfesten der herrschenden Clique hin- und herschieben lassen und ohne zu erröten, darüber Auskunft geben, um wieviel der Quadratzentimeterpreis eines unserer Bilder gestiegen ist. Ich muß das wiederholen: »Der Quadratzentimeterpreis eines Bildes ...«
Jede Bahnhofsnutte ist keuscher als diejenigen, deren Aufgabe es doch sein sollte, die Wegbereiter für eine bessere Zukunft der Menschheit zu sein - koste es, was es wolle und sei es das eigene Leben. Aber diesen Unsinn hat uns die freie Marktwirtschaft schon ausgetrieben, die uns zu Tode füttert mit gesellschaftlichem Prestige, Kohle und tatsächlicher Bedeutungslosigkeit, in die wir uns zurücklehnen wie Opiumraucher in ihre Korbstühle in einer Shanghaier Rotlichtbar. Hohle, äußere Merkmale des Künstlertums tragen wir vor uns her wie Britische Kurzhaarkatzen ihren Wettkampfdrill. Deutlich erkennbar sind wir Künstler an unserem Nonkonformismus, der die mittelalterlichen Bürgerdamen wohlig erschreckt, wenn wir uns wieder einmal in einer siebenstündigen Performance mit dem Blut frisch geschlachteter Karnickel übergössen haben. Hektisch atmend berühren sie dann unsere verwilderten Gesichter, in denen wohltemperiertes Unausgeschlafensein und überhöhter Drogenkonsum abzulesen ist, und fast - fast kommt es ihnen, wenn wir uns so verhalten, wie sie es sich schon immer gedacht haben und im Interview verkünden, daß viel zu wenig gefickt wird. Wo aber ist die wirkliche Gefahr, die darin besteht, unsere Gesellschaft auf ihre tatsächliche Lebenslüge hinzuweisen, die durch fünffache Verspiegelung begonnen hat, sich nicht nur für die Wahrheit, sondern auch noch für schön zu halten?
Warum nennt es keiner beim Namen, daß die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen das gleiche faschistoide Grundmuster ist, wie es vor einigen Jahren noch geherrscht hat - nur in besserer Tarnung. Ein Regierungschef, dem man vorwirft, er sei ein Verbrecher, ist bei uns ja sogar noch geschmeichelt, daß es der Herr Künstler tatsächlich so bemerkenswert fand, was er für krumme Dinger gedreht hat. Gesetzt lächelnd antwortet er in die Reportermikrophone, die ihn zu einer Stellungnahme zu diesem »Skandal« auffordern, daß er zwar nicht dafür sei, was sein Gegner sagt, daß er aber immer dafür eintreten werde, daß er es sagen dürfe. »Nein, dieser Mann - auch seinen Voltaire hat er offensichtlich studiert« - und diese Souveränität, mit der er die Künstlergarderoben besucht und schmunzelnd registriert, daß doch jeder seiner aufrechten Kritiker mit ihm ins Bild kommen möchte. Warum auch nicht - ob sie jetzt mit ihm ins Bild kommen oder mit dem Vertreter der demokratisch gewählten Opposition, ist ja ohnehin egal, von der Industrie werden ja doch beide geschmiert, und deren Vertreter sind viel zu klug, sich ins Rampenlicht zu begeben, das den Zuschauern daheim vorgaukelt, wir wären ein freies Volk. Wir sind aber kein freies Volk. Wir sind ein an der Infusion hängender lebender Leichnam, in den immer gerade soviel Konsumgüter und Kreditwürdigkeit hineingepumpt werden, daß das
Herz der Massenproduktion weiterschlägt - nie zu schnell, aber auch nie zu langsam — schön gleichmäßig, mit wohleinstudierten Erregungen, die das Adrenalin im Volkskörper ein bißchen zum Köcheln bringen. Wie die gutgeölten Zahnräder eines Walzwerkes greifen die Termine von vierjährigen, zweijährigen, fünfjährigen Veranstaltungen ineinander, die uns mal auf den Olympiakanal umschalten lassen, dann das Freistilringen, dann zwischendurch ein Wahlkampf, und um das Bewußtsein zu pflegen, ein aufrechter Demokrat zu sein, hie und da ein Werk gegen die Sünden der Vergangenheit. Unlängst erst habe ich eine köstliche Erklärung von einem Dichter gehört, den ich gefragt habe, warum er seinen Blick immer nach hinten, statt auf das »Jetzt« richtet. »Es ist das Spiegelbild der heutigen Situation, das ich mit dem Damals beleuchte —«, hat er gesagt und nicht verstanden, warum ich das Gespräch abgebrochen habe. So weit haben wir es also schon gebracht, dachte ich mir, so weit, daß wir nicht einmal mehr zum Heute -heute sagen können, sondern Spiegelbilder der Geschichte meinen, die eigentlich das »Heute« sind ... So ein Wahnsinn. Aber das hat ja auch eine begründete Tradition - das Um — die — Ecke — Schreiben in der Dichtung, meine ich.
Früher, als es noch Zensur gab, mußte man das, was man sagen wollte, zweifach verspiegeln und wie eine Billardkugel über die Bande schießen - aber warum lebt diese sinnlose Tradition heute noch? Warum greift keine einzige Fernsehserie die Verstrickungen aller demokratischen Regierungen in Waffengeschäfte auf, sondern läßt zum elften Mal einen schlechten Schauspieler so tun, als wäre er Heinrich Himmler?! »Na ja - wer Augen hat, zu sehen, daß eigentlich unsere jetzige politische Situation gemeint ist—, windet sich dann der befragte Autor - »der kann ja Parallelen ziehen...« Warum?! Wozu?! Wieso?! Warum muß ich Parallelen ziehen und Billard spielen, wenn ich doch in einer Demokratie lebe?! Lächerlicher Idiot - antwortet der Teil meines Kopfes, der für Realismus verantwortlich ist -, weil das Fernsehen oder das Theater oder die bildende Kunst kein Geld dafür bekommen, die Realität zu kritisieren, sondern dafür bezahlt werden, so zu tun, als würden
sie kritisch sein, indem sie zur allgemeinen Belustigung Eulen nach Athen tragen und auch das nur schaumgebremst, weil es sogar in der hundertfünfundsiebzigsten Aufarbeitung der Greuel des Nationalsozialismus, auch für unsere »Dallas«-gewohnten Sinne, Tabuthemen gibt. Homosexuelle und Zigeuner sind nämlich genauso vergast worden wie Kommunisten, Sozialisten und Juden - aber irgendwie sind diese Randgruppen doch etwas zu sehr am Rand, als daß sie die familiengerecht aufbereitete achtteilige Serie inhaltlich erfassen könnte. Nicht?! Also lassen wir diese schwule Bande und diese Vagabunden, wo sie hingehören - in ihrem Getto, aus dem sie uns mit Aids und Flamencoklängen beschmeißen. Jesus — zu dumm, daß damals welche übriggeblieben sind... Genug - mich ekelt. Lieber Merryl Streep zuschauen, wie man sie zwingt, zwischen links und rechts zu wählen, oder Lawrence, der böse, wie es nur ein Nazi sein kann, Dustin den Bohrer auf den Zahnnerv legt.
Das ist doch wenigstens was Richtiges, da weiß man, auf welcher Seite man stehen soll, und kann am nächsten Tag beruhigt in den Gruppenurlaub fahren und das geschmacksechte Kondom ausprobieren, das ein Gratisgeschenk des Afrikareiseveranstalters ist. Diese Negerweiber sollen ja wirklich blasen können wie die Weltmeister, und da darf es auch schon mal nach Erdbeere schmecken, nicht?! Spottbillig, diese Schwestern, und kein Vergleich mit unseren Nordmädels, denen vor lauter Emanzipationsgeschwafel die Kinnlade verrenkt ist haha ... Na ja, die können sich ja dann von so einem RastaBoy die Auster öffnen lassen - diese Halbaffen bringen ja alles auf — wie man so hört ... ha ha ha ... Nein nein - o nein-, das ist keine geschmacklose Übertreibung - das ist die Alltagsrealität unserer derzeitigen Gesellschaft, die sich wie ein Krebsgeschwür auszubreiten beginnt und an allen Stellen der Erde Metastasen bildet, mit eigenen Klubkarten natürlich - mit Magnetstreifen hintendrauf, die bei der Einfahrt ins Krankenzentrum in den Automaten einzuführen sind. Schönen Urlaub, nicht?! Ja - und viel Spaß -, keiner wird euch stören mit dem großen Fragezeichen und den Hilferufen, die vor eurem Palisadenzaun der Gemütlichkeit in den Himmel geschickt werden.
Ja — das ist die Realität und die sollte man eigentlich beim Namen nennen, aber ob man dafür einen Orden bekommt, ist mehr als fraglich. Lieber die Ohren zustopfen und die Augen verhängen, mit den Scheuklappen des kurzzeitigen Ruhmes, nicht mehr wie früher als Künstler vor den Stadtmauern begraben zu werden. Voll integriert im Freizeitangebot, tapsen wir zwischen den Wäschestücken der alltäglichen Langeweile herum, die nicht mehr von der Leine genommen werden, wenn sich das fahrende Volk nähert. Hofnarren sind wir geworden, zu den Füßen der Mächtigen, und haben für diesen Ehrenplatz auch noch das verbriefte Recht des Narren weggeworfen, die Wahrheit sagen zu dürfen. Endlich ist unsere Welt dicht geworden, endlich gibt es keine Lücke mehr, durch die eine Irritation hereinbrechen könnte, die uns aus der Lethargie aufscheucht, in die die freie westliche Welt hineinexpandiert und endlich auch dem östlichen Bruder die Hand der Autobahnverbindung reichen kann, auf der noch mehr Millionen von vierrädrigen Gaskammern auf-und abrollen werden, die viel bunter und langlebiger sind als ihre plumpen Vorgänger. Wie könnte man uns aufwecken? Wie aus der Selbstgefälligkeit aufschrecken? Die größte Katastrophe wäre es, wenn das Fernsehprogramm ausfallen würde - wenn in all den vielen, vielen Einfamilienzellen plötzlich die Ecke, in der immer
so viel Abwechslung herrscht, schwarz und tot bleiben würde, weil ein gütiger Zufall die Leitungen unterbrochen hat und uns jetzt zwingt, mit unserer Zeit etwas anderes anzufangen, als zuzusehen, wie Anthony Perkins in der vierundzwanzigsten Wiederholung von Psycho so tut, als wäre er seine tote Mutter. Es fehlt der Gegner. Das ist es. Es fehlt der offensichtliche Gegner, der uns zwingt, unsere Seelen zu verändern. Es gibt keine Feinde mehr an den äußeren Grenzen, und die Lebensbedrohung, die sich unserer Seele schon bis an die Wurzel genähert hat, tarnt sich so perfekt, daß das Trojanische Pferd vor Freude wiehern würde, daß sein Prinzip endlich verstanden wurde. Die breite Lawine an Gleichgültigkeit, die über unsere Köpfe jeden Tag ausgeschüttet wird und wie süßlich riechendes Nervengas alle Teile in uns lahmt, ist der getarnte Feind unserer Lebendigkeit. Sogar die atomare Bedrohung hat gelernt und erkannt, daß wir uns vor zu hellem Licht und zwei Kilometer hohen Pilzen am Horizont fürchten, und weil uns das Bild geschmolzener Uhren, die im Augenblick des Ereignisses stehengeblieben sind, tief beunruhigt, hat sie sich in Störfälle verwandelt. So ein Störfall, der dann tausend Quadratkilometer große Gebiete der Welt unbewohnbar macht und dessen strahlende Teile sich so fein in unsere Nahrungskette einschleusen, daß sie darauf verzichten können, ein zwei Kilometer hoher
Pilz zu sein, der uns zeigt, wo der Teufel wohnt. Das Ergebnis ist sogar viel effizienter als eine offensichtliche Machtdemonstration, weil nämlich auf Generationen hinaus unsere Zeugungsfähigkeit zerstört wird und jeder Bissen, den wir schlucken, unsere Zellmembranen mehr und mehr durchlöchert. Nach zwei Jahren haben wir es dann vergessen und lassen uns wieder die Haselnüsse schmecken und die gute Milch und all die anderen Dinge, die nie wieder so sein werden, wie sie sein sollten. Nie wieder. Und die Zehntausende von Krebstoten, die jetzt bald auf uns zukommen werden, nehmen wir gerne in Kauf, weil sie ja die Bestattungsinstitute nicht durch ein massiertes Hinscheiden an ihre Leistungsgrenze bringen - sondern Schritt für Schritt die Erde räumen für die, die nach ihnen nicht mehr kommen werden. All diese Gedanken haben zwar nicht unmittelbar etwas mit Othello zu tun - aber sie gingen mir trotzdem nicht aus dem Sinn, als ich zur letzten Premiere meines Lebens angetreten war. Plötzlich stand dieser Abend wieder vor mir, als wäre es gestern gewesen, und die Erinnerung an ihn war so erleichternd, daß ich laut auflachen mußte. Wie schön war es, in diesem Moment dieses Lachens, in der Fremde zu sein.
Wie schön war es, an diesem kleinen Holztisch auf dem Bazar von Assuan zu sitzen und nicht zu wissen, wie das eigene Leben weitergehen werde. Ich saß da und lachte und nach einiger Zeit lachten die Schachspieler an den Nebentischen mit, obwohl sie keine Ahnung hatten, was den lustigen Ausländer so erheiterte, aber das war ja letzten Endes auch egal, angesichts eines Lebens, das man am besten lachend ertragen kann. •Othello« - dachte ich und mein Lachen wurde wieder zu einem ordnungsgemäßen Lächeln eines Erwachsenen, der weiß, wie man sich in der Öffentlichkeit zu benehmen hat. Othello - dieser Mohr also war meine letzte Herausforderung gewesen, auf den Brettern ... Drei Monate lang hatte ich mich dem Kern dieser Rolle genähert - behutsam, wie ein zärtlicher Liebhaber, der das Objekt seiner Sehnsucht nicht verschrecken möchte durch täppischen Zugriff, behutsam tastend, aber doch mit dem Wissenwollen eines Süchtigen, der nur Befriedigung erfährt, wenn die Droge sein ganzes Blut ausfüllt und ihn zum Gott seiner Möglichkeiten macht. Jesus - wie oft hatte ich einen scheuen Bogen um diese Rolle gemacht, bis ich mich reif genug fühlte, mich der ganzen Tragweite dieses Gefühlssturmes zu stellen, der in diesem Herzen angefacht wird. Wie viele Enttäuschungen hatte ich auf dem sogenannten priva-
ten Lebensweg gesammelt, getrocknet, gepreßt und ihren Saft in ein kleines Fläschchen gefüllt, auf dessen Etikett das Wort »Erfahrung« stand. »Eifersucht« Was für ein Wort. Was für ein Gefühl. Was für eine Welt. Was für ein Irrtum. Und diesen Irrtum sollte ich also jetzt in eine Figur kleiden, mit den Worten Shakespeares einen Umriß zeichnen, der uns allen zu verstehen gibt, daß das Material, aus dem unsere Wünsche gemacht sind, aus ein und demselben Stoff ist und uns letzten Endes alle Brüder sein läßt. Ganz tief bin ich zu dem Schatz meiner Erinnerungen getaucht, um mich zu erinnern, was Eifersucht bedeutet. Da war zum Beispiel das erste Mal, ich meine, das erste Mal im Leben, wo man erkennen muß, daß es noch einen anderen gibt einen Zweiten gibt, der den Zugang zum Herzen der Person entdeckt hat, die man liebt, für die man verglüht, für die man sterben möchte.
Es war ganz kurz nach der Ausbildung und die Fingerspitzen meiner Liebe waren noch hell und zart und unabgegriffen. Keine Hornhaut der Alltäglichkeit und der Gewohnheit hatte sich auf ihnen gebildet, und mein Atem wurde tiefer und schneller, wenn ich nur ihren Namen hörte. Stundenlang saßen wir da und waren nur nebeneinander, weil allein die Gegenwart des anderen genügte, um uns den Kopf zu zerreißen und den Atem des Kosmos durch unseren Liebestaumel wehen zu lassen. Dann riß man uns auseinander. Tja - so schnell geht das, und auch dieses Auseinanderreißen hatte noch eine ungeahnte Qualität, weil wir uns schwören konnten, einander nie zu verlassen und wenn alle Distanzen der Ewigkeit zwischen uns ausgerollt würden. Man könnte jetzt natürlich sagen, daß wir etwas überdreht waren, aber in der Jugend muß man immer noch den Turbo einschalten, wenn man nur die zweihundert Meter von der Haustüre bis zum Postkasten zurücklegt, und diesen Turbo schaltet man so gerne ein und so verschwenderisch, weil man sich noch nicht vorstellen kann, daß das Leben weiter und länger ist, als der junge Blick zum Horizont. Egal - außerdem mußte ich schnell beim Postkasten sein, nachdem zweimal geklingelt wurde, weil
jeden Tag - ich betone, jeden Tag - ein Brief von »ihr« darinnen lag. Man hatte ihr nämlich ein Engagement an einer Bühne angeboten, die so weit weg lag, daß man nicht täglich in den Zug steigen konnte, aber andererseits nahe genug war, um einen Brief innerhalb eines Tages vom Schreiber zum Empfänger kommen zu lassen. Natürlich beantwortete ich jeden ihrer Briefe mit zwei Antwortbriefen, weil ich noch nicht wußte, daß Quantität nicht gleich Qualität ist. Spüren mußte sie, wie sehr es in meinem Herzen brannte, wenn meine Feder über das Papier flog und alles das niederschrieb, was ich nur denken, aber nicht tun konnte. Rasende Leidenschaft zwang mich jeden Tag bis in die Nacht hinein, das Briefpapier vollzupumpen, mit allen noch nie erdachten, noch nie beschworenen Kometenstreifen der Sehnsucht, die durch den Abendhimmel meiner Ungeduld ihren langen Silberschweif zogen. Genug — Eines Tages beschloß ich, sie zu überraschen, und an diesem Tag habe ich ein für allemal gelernt, mich in Zukunft sogar bei mir selbst anzukündigen, wenn ich mich auf ein Eis einladen möchte. Es macht so heiß, wenn man plötzlich weiß, was man nie hätte wissen sollen - und wenn noch Sechzigjährige durchdrehen und zum Eispickel greifen, angesichts einer Konkurrenz, wieviel mehr Recht hat dazu
ein Zwanzigjähriger, der erkennen muß, daß er betrogen wurde. Lange Zeit hatte niemand ihre Türe geöffnet, an der ich dreimal geläutet hatte, dreimal geläutet und das völlig außer Atem, weil ich den Weg vom Bahnhof zu ihrer Wohnung natürlich gelaufen war. Taxifahrern fehlt es ja bekanntlich immer an der nötigen Sensibilität, wenn es darum geht, zwei Menschen zu ihrem Glück zu verhelfen und wählen mit tödlicher Sicherheit die Route, auf der es den dicksten Stau gibt. Hätte ich nur im Stau gesessen, hätte ich nur lieber fünfmal geschrien: »Nun fahren Sie doch schon« - als mitzuerleben, daß ihre Türe nach dem dritten Klingeln geöffnet wurde. Sie wurde geöffnet - aber nicht von ihr, sondern von einem seltsamen, ekelerregenden, viel zu dicht behaarten Halbgorilla, der noch dazu ihren rosa Bademantel trug, den ich ihr geschenkt hatte, damit sie immer etwas von mir um sich ... Er öffnete, immer noch verschwitzt und mit zerwühlten Haaren, und hinter der zoologischen Rarität erschien sie selbst - mit roten Wangen, zerkratztem Busen und den unglaublichen Worten auf den Lippen: »Was machst du denn da?!« Was ich da machte, war ganz klar - ich versuchte, ihn umzubringen - was aber daran scheiterte, daß er ganz einfach stärker war als ich und die Türe wieder zuwarf, nachdem er mich die Treppe hinuntergestoßen hatte.
Zwei müde Schläge konnte ich in seinen Teil setzen, wo bei anderen Menschen das Gesicht ist, dann lag ich da, und links hinten fehlt mir immer noch der eine Splitter am Zahn, den ich, mit etwas Blut vermischt, ausspuckte. Würgende Ohnmacht trieb mich aus dem Haus und weil ihre Türe versperrt blieb, richtete ich meinen Haß gegen den einzigen, den ich finden konnte - gegen mich selbst. Stöhnend vor Wut und Haß und Verzweiflung wollte ich nichts als sterben, und weil ich keinen Revolver bei der Hand hatte, rannte ich kurzerhand in eine Straßenbahn, um festzustellen, wer der Stärkere sei. Zwei Dinge retteten mir das Leben, die Notbremsung des Fahrers und — wenn ich ehrlich bin — mein Wunsch, am Leben zu bleiben. Im Moment nämlich, als ich losrannte, um in den Wagen der Linie 5 zu donnern, sagte eine Stimme zu mir: »Ist schon gut - jetzt hast du bewiesen, wie groß deine Verzweiflung ist -du solltest am Leben bleiben ...« Wir wissen, wem diese Stimme gehörte und ich folgte ihm wie immer, wenn er recht hatte. Dieses Überleben an jenem fernen Tage meiner Jugend hatte zur Folge, daß ich älter wurde und mit den Proben zu »Othello« beginnen konnte. Tief hinunter wühlte ich, in die Schätze der abrufbaren Erinnerungen, die so lange darauf gewartet hatten, ei-
nes Tages um ihren Rat gefragt zu werden, und ließ sie Gestalt annehmen. Irgendwie war es aber so, daß ich mir fehl am Platze vorkam. Ich entdeckte immer öfter eine schleichende Ungeduld in meinen Nervenenden, die mich fragten, ob das denn wirklich einen Sinn hätte, was ich da auf der Bühne trieb. Es war eine zeitgerechte Inszenierung, das heißt, es war eine Inszenierung, der es in erster Linie darauf ankam, ihren Regisseur berühmt zu machen für den Skandal, den er bereit war, dem überreizten Publikum zu bieten, das schon so viele schwarz geschminkte Mitteleuropäer in dieser Rolle zu sehen bekommen hatte. So viele hatten schon vor mir versucht, »pantherhaft« über die Bühne zu gleiten und die tierhafte Sexualität dieses Schwarzen über die Rampe zu bringen, daß einem angst und bang werden konnte vor dem Vergleich mit der Vergangenheit. Ein Vergleich mit der Vergangenheit - das ist die Kurzformel, auf die man sämtliche Bemühungen unserer Kulturschaffenden bringen kann. Es gibt ja nichts Neues mehr unter der Sonne, und selbst wenn man Brahms noch so übertrieben schnell spielen läßt wer es wirklich darauf anlegt, findet garantiert eine frühe Schallplatte von Karajan, auf der es noch schneller zu hören ist. Kein Satz, kein Beistrich unserer Weltliteratur, der nicht schon bis zum Erbrechen zitiert, umgewandelt und zum fünfzigsten Mal aufgegossen wurde,
um leer und immer leerer zu werden. Was soll da noch das Bemühen um die glaubhafte Darstellung von rasender Eifersucht, wenn fünfundneunzig Vorgänger auf exakt dieselben Gefühlstasten gedrückt haben, die das Abonnentenpublikum auf dem Smoking aufgenäht hat, um dahinter in Ruhe weiter dem Spiel des Betrügens und Betrogenwerdens nachzugehen. Hat eine einzige »Othello«-Vorstellung der Welt verhindert, daß die Sekretärin auf der nächsten Auslandsreise das Hotelzimmer nehmen muß, das direkt an das Zimmer ihres Chefs angrenzt - na eben- ... Was uns übrigbleibt, ist zu versuchen, aus dem schon tausendmal gesehenen Stück etwas herauszutrotzen, das die Vorgänger übersehen haben. So wie in Obdachlosenküchen eine Rindersuppe zum fünften Mal aufgekocht wird, um das Abwaschwasser mit Geschmacklosigkeit zu imprägnieren - so sind die Versuche auf unseren Bühnen, die leeren Hülsen der Weltliteratur noch einmal zu zerfasern, auf der Suche nach übersehenen Möglichkeiten, unverwechselbar zu sein. Unser Einfall war, die Figur der Desdemona zu streichen und statt dessen eine Strohpuppe agieren zu lassen, die, an blutroten Fäden gezogen, zur Marionette wird, ein Opfer unserer grausamen Männerwelt, wie man auf den ersten Blick erkennen konnte. Ihre Texte wurden über Tonband eingespielt und auch diese Zei-
len waren keine Frauenstimme, sondern die Stimmlage Othellos und Jagos, was zum Ausdruck brachte, daß diese ohnmächtige Frauenpuppe ja letztlich doch nur der Spielplatz von lüsternen Männerprojektionen ist. So weit, so gut. Was hatte ich nicht schon alles mitgemacht, in den letzten Jahren, wie viele Toilettenschüsseln schon zum Thron umfunktioniert und in wie viele Kerkertüren die Sätze: »Habe nun - ach —< mit einem Bunsenbrenner eingebrannt, um das Gefängnis zu symbolisieren, in dem sich Fausts Bewußtsein befindet. Warum also nicht mit einer Kettensäge Marke »Oaktree« eine Strohpuppe zerfetzen, die den Spielplatz meiner inneren Perversionen darstellt - dachte ich mir. Drei Monate lang legte ich mir jeden Morgen Erklärungen zurecht, warum ich diesen Schwachsinn mitmachen mußte, um damit weiterhin an der Spitze der Darstellerelite zu bleiben, an die ich in den letzten Jahren vorgestoßen war. Ein seltsamer, langer Weg war das gewesen, von der ersten Übungsstunde im Fechtsaal, in der ich gehen gelernt hatte, bis zu diesem holzfällerischen Moment. Ich hatte an fast allen bedeutenden Bühnen gespielt, die man im Lauf eines Formel-Eins-Rennfahrer-Lebens der Kunstszene erreichen muß, um den Marktwert zu steigern. Viele Preise säumten meinen Weg, und so manche Sprachlosigkeit war das Ergebnis meiner hemmungslosen
Bemühungen, unverwechselbar zu sein - kaum zu vergleichen mit den Vorgängern, die in früheren Jahren Staub aufgewirbelt hatten. Ja - das ist Ruhm, und ich muß dankbar sein, an dieser Spitze gestanden zu haben. Hätte ich nicht ihre klare, einsame Luft geatmet, wäre das Verlassen dieser Spitze vielleicht nachtragend geworden. Ich meine - ich selbst hätte es mir vielleicht ein Leben lang nachgetragen, »es« nicht geschafft zu haben. Ein Leben lang hätte ich mir heimlich zugeflüstert: »Du bist ja nur abgehauen, weil du es nicht geschafft hast -Süßer, hm?! Lieber ein Abgang, der oscarverdächtig ist, als ein Leben lang auf einen Preis für den besten Nachwuchsschauspieler zu warten?!« Ja, das hätte es heißen können, in meinen inneren Stimmen, und ich war froh, daß ich mir alles von mir anhören mußte, aber nicht den Vorwurf, vom Basislager umgekehrt zu sein, ohne auch nur versucht zu haben, den Gipfel zu erstürmen. So aber erreichte mich die Wende meines Lebens auf dem Höhepunkt dessen, was es anzustreben gilt. Sie erreichte mich mitten in der Schlußszene der Premiere von »Othello«. Ich stand da - hatte meine Kettensäge auf »full speedgeschaltet und überschrie den Höllenlärm, den sie verbreitete, mit der allbekannten Frage, ob Desdemona wohl schon zur Nacht gebetet hätte. Vom Tonband her antwortete meine eigene Stimme: >Ja, mein Gemahl« —
und aus den Augenwinkeln erkannte ich, daß auch diese völlig neue Interpretation des Geschehens das Publikum nicht erreichte. Es ist eine eigenartige Sache, auf einer Bühne zu stehen. Man sitzt wie auf einer Schaukel und auf der anderen Seite sitzt das Publikum. Es sitzt dort als Ganzes, wie eine große, runde Kaugummiblase, die sich aufbläht oder in sich zusammenfällt. Die versammelten Einzelauren all dieser Menschen, die da im Dunkeln darauf warten, endlich wieder nach Hause gehen zu dürfen, sind wie eine große Gruppenseele, die bei Interesse rosafarben und rund aufblüht und zur Bühne drängt, oder aber sie platzt und wird ein Klatsch zähen Breis, der zwischen den Stuhlreihen versickert. Letzteres war an diesem Abend der Fall, und ich bemerkte, daß ich dieses Phänomen in den letzten Jahren fast ausschließlich empfunden hatte. Es gab kein Aufblühen mehr, wie ich es in Erinnerung hatte, an dem Abend, an dem ich als kleiner Junge ... Es gab kein Vibrieren, kein Wissenwollen mehr - keine Hoffnung, kein-. Hie und da gelang es durch geschickte Medienpolitik, Erregungen zu schüren und Trupps von Claqueuren zu Bravo- und Buhrufen zu animieren, aber dieses Feuerwerk, das nur dazu diente, dem Intendanten das nächste Engagement zu sichern, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß das, was wir da trieben, Leichenschändung war. Nichts be-
wegte unsere Herzen auf der Bühne, weil wir ohnmächtig geworden waren, und in der Folge blühte uns auch nichts entgegen, forderte uns auch nichts mehr auf, das Äußerste zu verschenken, was es zu verschenken gibt - unsere Wahrheit. Ich schaltete meine Motorsäge ab und ging zur Rampe. Auf diesem kurzen Weg liefen all die Bilder durch meinen Kopf, die zu den Grundmauern meines Lebens gehörten, und machten mir Mut, das zu tun, was zu tun war. Ich sah den Winterabend meines ersten Theaterbesuches vor mir - sah den Blick jener Schauspielerin, der der erste Kuß meines Lebens geworden war — sah das Lächeln meiner Lehrerin, die mir die Hand voller Wärme auf meinen Körper legte, ich sah den Tod, der mir in einem kurzen Moment von zwei Minuten gezeigt hatte, was uns alle eines Tages zwingen wird, die Wahrheit zu sagen, ich sah die Verzweiflung meiner ersten Liebe, die Hoffnung meiner ersten Nacht voller Zärtlichkeit, die ich im jugendlichen Übermut gegen Karriere eingetauscht hatte, ich hörte, wie es »Laß aus —« in mir sagte und fühlte meinen Freund neben mir, der lächelnd an meiner Seite stand, weil er wußte, was ich vorhatte. Ich stand da und blickte in den Zuschauerraum und es war ganz still.
»Meine Damen und Herren«, sagte ich in diese Stille, die wußte, daß endlich einmal etwas geschehen würde, das man nicht mehr so bald wiederholen könnte. »Meine sehr verehrten Damen und Herren - ich danke Ihnen, daß Sie mir helfen, die Vorstellung jetzt abzubrechen. Wissen Sie - ich stehe hier oben und ich fühle, daß wir Sie mit dem, was wir hier tun, nicht erreichen. Sie hören uns nicht zu und Sie haben völlig recht damit - wir haben Ihnen nämlich auch nichts zu sagen. Ich wollte eine Bühne immer nur betreten, um Ihnen mein Herz zu zeigen, aber mit dem, was ich hier tue und wie ich es tue - damit geht es nicht. Ich habe keine Geschichte zur Verfügung, die ich Ihnen erzählen will, und es gibt auch wirklich Wichtigeres zu tun, als unsere Zeit mit Märchen totzuschlagen. Jetzt, in diesem Augenblick, ist die Hälfte der Menschheit am Verhungern und wartet auf unsere Hilfe. Wie aber sollen wir helfen, wenn wir unsere Zeit und unsere Kraft in sinnlose Ablenkungen verschwenden, in sinnlose Ablenkungen, wie es diese Premiere heute abend ist. Alles, was unser Leben lebenswert macht, ist in diesem Moment dabei, zugrunde zu gehen, und wir treiben diesen Untergang mit jedem Tag voran, indem wir etwas anderes tun, als unser Leben zu ändern und endlich aufzuwachen. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen, daß Sie mir jetzt zugehört haben, und jetzt werde ich gehen.«
Dann habe ich vorsichtig meine Säge auf den Boden gelegt und bin gegangen. Interessant war, daß mich niemand aufgehalten hat, weil die Überraschung doch recht groß war, über diesen Auftritt. Einige dachten, es sei ein neuer Regieeinfall, aber nachdem der Vorhang endlich gefallen war und der Assistent des Regisseurs, der einen Nervenzusammenbruch bekommen hatte, vor dem Vorhang erklärt hatte, daß ich der Anspannung nicht gewachsen war und daß hiermit Schluß sei, erkannten die Leute im Publikum, daß ich es ernst gemeint hatte. Man wußte nicht so recht, was zu tun war - einige klatschten halbherzig, um dann genauso wie die anderen zur Garderobe zu eilen, um eben schon etwas früher beim Abendessen zu sitzen. Tja - das war das Ende einer wunderbaren Karriere. Aber ist es nicht Gott sei Dank so, daß der Tod eines Zustandes nur die Geburt einer Erweiterung darstellt? Leicht gesagt, wo wir doch alle so eine tiefe Angst vor Abschied haben, so eine tiefe Angst, den Sprung durch den Reifen zu wagen, den das Schicksal uns vorhält. Garantie gibt es keine, daß die Ziegel, die auf das Papier dieses Reifens aufgemalt sind, nicht doch vielleicht echte Ziegel sind. Aber was soll's angesichts der Tatsache, daß wir nur einmal leben, scheißen wir
uns viel zu oft in die Hose. Nur wer aufbricht, kann ankommen, dachte ich mir, zahlte mein Essen und machte mich auf den Heimweg. Die Straßen des Bazars waren noch immer so belebt wie der Markusplatz während der Taubenfütterungszeit, aber ich war schon wieder einen kleinen Schritt weiter in den Rhythmus dieses Landes eingetaucht und hatte keine großen Schwierigkeiten, den Wettbewerb des Einanderausweichens mit einer guten Plazierung zu bestreiten. Ich näherte mich dem Standplatz der Kutschen, unter deren Fahrern sich offenbar herumgesprochen hatte, daß ich die Spielregeln kannte, weil es nicht die geringste Mühe kostete, für drei Pfund zum Hotel gefahren zu werden. Ich hatte keine Lust, gleich aufs Zimmer zu gehen, und so wanderte ich über die Terrasse, über die in den Fels gehauenen Treppen, die zum Ufer führten, über die Seile der fest angebundenen Segelboote, die auf den neuen Morgen warteten, und setzte mich ans Wasser.
Der Nil zog langsam an mir vorbei und auf dem gegenüberliegenden Ufer brannten ein paar offene Feuer, an denen sich die Schiffer wärmten, die Tag für Tag über alle Stromschnellen kreuzten, um den staunenden Ausländern das Erlebnis zu verschaffen, sich samt dem Boot ein paarmal im Kreis zu drehen. Eine Pulsbeschleunigung war das Ergebnis - eine schaurige Erzählung und zwei oder drei Fotos mehr, wenn man wieder daheim war, um von der Ferne zu berichten. Daheim... Langsam kam ich zu der Einsicht, daß es das lange Zeit nicht mehr für mich geben würde. Daheim Eine Burg mit hohen Mauern der Gewohnheiten, das warme Feuer der Überraschungslosigkeit, die be-
schützende Decke des Nichtwissenwollens, was außerhalb der Schutzzone für wilde Tiere ihre Kreise zogen. Daheim Der Ort, wo der Wasserhahn funktionierte und der Strom aus der Steckdose kam. Was sind wir nicht alle bereit, für dieses Wort zu opfern, all die Beweglichkeit, die wir als Kinder hatten, verschenken wir beidhändig auf der verzweifelten Suche nach dem Zustand, den wir von Anfang an geschenkt bekommen haben. Alles ist falsch. Auf diesen einfachen Nenner kann man sämtliche unserer Bemühungen bringen. Alles, was wir tun, ist von Grund auf falsch und hat keine Zukunft. Wir sind abgekoppelt von der Wahrheit, die das Leben in jeder einzelnen Blume an uns heranträgt und zappeln wie taumlig gewordene Nachtfalter in die Flammen unserer fehlgeleiteten Lebensenergie. Warum sitze ich jetzt hier in Ägypten? Warum sitze ich, mitten in der Nacht am langsam flie-
ßenden Nil und habe keine Lust, ins Bett zu gehen und weiß nicht genau, wohin mit mir? Warum bin ich überhaupt hier, in diesem Land und nicht zum Beispiel in Kaschmir? Ich hatte plötzlich das Gefühl, daß der Boden unter mir eine große Wellenbewegung machte und mich durch die Luft wirbeln wollte. Was bleibt von uns, wenn wir uns von all dem lösen, was unsere Identität ausmacht? Wenn wir die Eckpunkte unserer Persönlichkeit auf dem Koordinatennetz der heimatlichen Gesellschaft ausradieren - was bleibt dann noch? Was bin ich hier in diesem Land, an diesem Ufer dieses langsam fließenden Flusses ohne den gewohnten Boden meiner Verkleidungen? Verflucht - habe ich mich zu weit vorgewagt - dachte ich plötzlich, bin ich wieder einmal zu schnell gewesen - zu unüberlegt, bin ich sicher, daß ich auf der Suche nach der Wahrheit nicht angefangen habe, mir selbst die größte und letzte aller meiner Rollen vorzuspielen, ist alles, was ich tue, vielleicht eine gigantische Sünde, für die mir die Rechnung schon noch präsentiert werden "wird?
Was mache ich mit der eitlen Selbstherrlichkeit, mit der ich hier aus dem Flugzeug gestiegen bin und Pistazienkuchen bestellt habe, wenn mir ganz schlicht und einfach das Geld ausgehen wird? Und es muß mir ja eines Tages ausgehen, weil es hier kein Publikum für mich gibt, dem ich im Notfall Gedichte vorlesen kann, weil hier keiner meine Sprache spricht und weil die hier sicher eine Gewerkschaft haben, die Ausländern das Betreiben eines Ein — Mann — Theaters verbietet. Absturz - Panik - Krise - Furcht... Jetzt schon - dachte ich mir - eben erst angekommen und den heißen Wüstenwind gefühlt und schon sitzt die Faust der Existenzangst mit knochigem Griff an meinem Nacken, die beginnen wollte, das Wort Freiheit zu buchstabieren? Na vielen Dank - das kann ja heiter werden, dachte ich mir und hielt mich an dem Felsen fest, der sich in einen Strudel verwandelte, in den all meine Hybris hineingezogen wurde wie lau gewordenes Badewasser. Ruhig bleiben - sagte ich zu mir - nur ruhig bleiben. Das ist der Kreislauf, der eine Zeitlang braucht, um den Klimawechsel zu verkraften ... Aber tief drinnen wußte ich ganz genau, daß das eine Lüge war. Ich belog mich so jämmerlich, um nicht einer Wahrheit ins Auge zu
schauen, die da heißt: »Wenn du das tust, was du willst, schicken wir dir die Programmierung der Todesangst auf den Hals und ins Herz.« Die Programmierung, die die Umstände unseres gewohnten Lebens um unsere Seelen gelegt haben wie rostige Fangeisen, in denen sich jeder Fluchtreflex zu Tode zucken soll. Angst vor Lebendigkeit, Angst vor der Freiheit, Angst davor, der zu werden, der wir sein könnten. Das ist die Ernte, die uns zuteil wird, wenn wir aufstehen und sagen wollen: »Ich will nicht mehr-ich will nicht mehr mitspielen, in dem Spiel, in dem es darum geht, der Stärkere zu sein. Ich will nicht mehr mitspielen, wenn es darum geht, das Mitleid aus meinem Herzen zu verbannen, weil es meine Wettbewerbsfähigkeit schmälert. Ich will nicht mehr dabeisein, bei der Platzverteilung in der Arena, in der unsere Sehnsucht den Löwen der täglichen Umstände vorgeworfen wird.« Ich konnte kaum atmen und mein Hals wurde ganz trocken. Das hatte aber überhaupt nichts mit dem Klima zu tun, sondern mit der plötzlichen Formlosigkeit meines Lebens, in die ich mich selbst gestoßen hatte. Ich war dabei, den Gummizug zu zerschneiden, der mich an die Wichtigkeiten der seelischen Provinz festbinden wollte, die unser aller Heimat darstellt und die jedes Erwachsenwerden verhindern möchte. Wir dür-
fen nämlich nicht wirklich wählen, ab unserem achtzehnten Lebensjahr, wir dürfen nur vollziehen, was uns einprogrammiert wurde, und dieses Programm heißt: »Zerstöre dich und deine Seele mit all den Perversionen, die wir angehäuft haben, um dir den Abschied von dir selbst so süß wie -möglich zu machen.« Es gibt keine Freiheit in unserer freien Welt, es gibt nur die Wahl zwischen den unterschiedlichsten Methoden, uns selbst zu zerstören. Die wirkliche Macht liegt in den Händen der Freizeitgestalter, die immer neue Methoden erfinden, um unsere Augen und Ohren zu verschmieren. Sich lächerlich machen - das ist die größte Angst, die wir haben. Sich lächerlich machen mit dem Bekenntnis, etwas anderes zu wollen, Liebe zu wollen, Nähe zu wollen, Zärtlichkeit zu wollen, Gott zu wollen, Wahrheit zu wollen. Welche Wahrheit gibt es denn noch, außer dem Spiel, das wir uns gegenseitig vorspielen und dessen Text lautet: »Es geht mir gut - es geht mir gut ...« LügeDas ist alles Lüge -
Es geht uns nicht gut. Es geht uns nicht gut und wir haben nicht den Mut, es zu sagen, wir haben nicht den Mut, den Satz auszusprechen: »Es geht mir nicht gut und ich will nicht mehr.« Mit dem Mund wagen wir es nicht, diesen Satz zu sagen, obwohl alles an uns diesen Satz pausenlos hinausschreit. Die verzweifelten Blicke der Menschen auf den Straßen unserer Städte, ihre zerstörten, eingesperrten Stimmen, die nicht aus ihnen herausfinden, ihre panzerartigen Körper, die an den Schultern, im Rücken, im Bauch, in den Beinen, in den Geschlechtsorganen ihre Angst einzementieren ... alles das ist der verzweifelt geschriene Satz: »Ich habe Angst.« »Es geht mir nicht gut —« »Ich sehne mich nach Liebe.« »Ich möchte lieben und geliebt werden.« »Ich möchte so weich sein und so stark, wie mich mein Gott geplant hat, und ich brauche Hilfe ...« Lächerlich, nicht? - Furchtbar lächerlich und viel zuwenig cool - aber der Damm, hinter dem wir uns alle
aufstauen, fängt schon an zu knistern und die Springflut, die dahinter wartet, wird eine Revolution in Gang setzen, die die Welt noch nicht erlebt hat. Mut! Mut brauchen wir, um uns aus der abwartenden Haltung loszulösen, in die wir uns mit verschränkten Armen geflüchtet haben und darauf warten, wer so lächerlich ist und der Erste sein wird, der zusammenbricht. Ich meine, offen zusammenbricht, offen weinend zusammenbricht und bekennt, falsch gelebt zu haben. Die Krankenhäuser werden immer voller, obwohl wir doch angeblich immer weiter fortschreiten im Kampf gegen alles Ungesunde. In diesen geschlossenen Anstalten wird der verspiegelte, offene Zusammenbruch unserer Lügen immer weiter fortschreiten, bis uns die Krankheiten, die nur das Ergebnis unseres falschen Lebens sind, zwingen werden, in die Knie zu gehen. Als Ganzes werden wir in die Knie gezwungen werden, um unsere Sünden zu bereuen. Die Sünde der Lustfeindlichkeit. Die Sünde der Selbstbeherrschung. Die Sünde des Kampfes der Geschlechter.
Die Sünde, den Schrei nach Zärtlichkeit der Lächerlichkeit preiszugeben. All diese Sünden werden uns unaufhaltsam hinunterdrücken, bis wir am Boden liegen und um Gnade flehen. Ja - um Gnade flehen-, auch wenn wir diesen Ausdruck schon gar nicht mehr kennen, werden wir ihn kennenlernen müssen, weil sich die Natur rächen wird. Es wird eine große Rache geben, an unserem Irrtum, stärker zu sein als der Strom des Lebens, der ungehindert in uns fließen möchte. Es wird eine große Rache geben, weil wir geglaubt haben, die Vergewaltigung, mit der wir leben, würde ohne Folgen bleiben. Eine Rache wird es sein, die uns zerbricht und unsere Formen zerstört, bis wir erkennen müssen, daß kein Damm der Welt das Fließen des Lebens aufhalten kann. Die Worte, für die wir uns jetzt noch schämen, werden wir aussprechen müssen, um nicht zu ersticken, und aus den Worten, die wir hinausschreien werden, wird vielleicht ein Echo entstehen, das uns zur Hoffnung werden kann - aber noch ist es lange nicht so weit.
Noch ist der Höhepunkt nicht erreicht. Der Leidensdruck, den wir täglich erhöhen, ist noch immer nicht unerträglich genug, um unsere Panzerungen zu zerquetschen - und bevor wir nicht das Gewicht auf ein unerträgliches Maß erhöht haben, wird es uns noch nicht völlig zu Boden zerren. Noch wird es eine Zeit geben, in der wir glauben, die Stärkeren zu sein - und diese Zeit wird die letzte aller Masken zu sehen bekommen, die wir uns aufsetzen können, die Maske der Zuversicht, aus der Sackgasse wieder herauszufinden, in die wir uns selber hineingetrieben haben. Wir werden auf den Spiegel, der am Ende der Sackgasse aufgestellt ist, zurasen und jeder wird versuchen, der Erste zu sein. Wir werden unseren Schrei noch hören, bevor die Woge der Veränderung über uns zusammenschlagen wird, und dann wird 'wieder Stille herrschen. Ich saß da und hatte die Augen geschlossen. Hart trafen mich die Schläge all der nicht gesagten Worte, die ich in den Jahren meines Lebens hinuntergeschluckt hatte, hart schlug es mich auf den Kopf, daß ich zu feig gewesen war, schon früher aufzubrechen, zu feig, früher schon den Verrat zu beenden, zu feig, zuzugeben, daß ich mich nach Liebe, Ruhe und Zärtlichkeit sehne. Wie oft habe ich die Chance ge-
habt, die Richtung zu ändern und wie oft habe ich mich weitergetrieben ohne die Bereitschaft, still zu werden und voller Demut zu bekennen, daß ich nichts weiß und nichts kann? Es wird uns nicht leichtgemacht. Wo soll man Gleichgesinnte finden, wenn einem an allen Ecken entgegengeschrien wird, daß man verrückt ist, wenn man eine Frage stellt, eine Frage die da heißt: »Wollen wir nicht aufhören?!« »Wollen wir nicht aufhören, alles zu zerstören, was die Wurzel unseres Lebens darstellt und uns beschützen könnte vor unserem irrsinnigen Todestrieb?!« Ich saß da und wußte, daß ich jetzt kämpfen mußte. Ich mußte den größten Kampf meines Lebens führen -größer, als es der Kampf gegen das Ertrinken gewesen war, größer, als es der Kampf um den ersten Atemzug auf dieser Welt gewesen war. Ich mußte den Kampf aufnehmen gegen den Feind in meinem Inneren, der mich zwingen wollte umzukehren, der Feind, der mir die Sicherheit des monatlichen Bankauszuges, auf dem meine Gage ausgewiesen wurde, verlockender darstellen konnte als das Nicht-
wissen, ob mein Leben noch einen Sinn finden würde. Der Feind kam nicht in Gestalt von Erklärungen und Gedanken, er kam in der Gestalt der sprachlosen Angst vor der Freiheit. Er schlug mir in den Bauch und ließ meine Hände zittern. Ausgesetzt - ausgesetzt fühlte ich mich plötzlich in diesem fremden Land, in diesem stillen Erwachen, in dem noch keine Blume zu finden war, nachdem ich den König meiner Vergangenheit getötet hatte. Das ist die größte Falle, die wir für uns selber bereithalten. Die Unsicherheit, ob wir auf einer neuen Ebene etwas finden werden, für das es sich lohnt, das Bekannte unseres Daseins zu verlassen. Wer garantiert mir denn, daß ich Verständnis finden werde für das Wegwerfen aller Errungenschaften meines Erfolges? Wer garantiert mir denn, daß sich die Hand der Freundschaft auf meine Schulter legen wird und ich die Worte hören werde: »Ich verstehe dich - ich verstehe, was du getan hast und warum du es getan hast -hier ist deine neue Heimat, deine neue Freundschaft, deine neue Liebe ...« Wer garantiert mir, daß ich mich selbst wiederfinden
werde, wenn ich die Brücken abgebrochen habe zu den gewohnten Tagesabläufen? Das ist es, dachte ich mir, das ist die große Bremse, die jeden Aufbruch verhindert, die Sehnsucht nach Gemeinsamkeit, die Sehnsucht, verstanden und geliebt zu werden, läßt uns bleiben, wo wir sind, und wenn die Berührungen, die wir erleben, Schläge sind und keine Zärtlichkeit, ist uns die gewohnte Enge immer noch lieber als die beängstigende Weite des Alleinseins, wenn wir uns an die Geburt unserer wahren Natur wagen. Applaus brauchen wir. Applaus für die Sicherheiten, die wir einander um den Hals hängen, bis wir vor lauter Lebensversicherungspolicen keine Luft mehr bekommen und jämmerlich absaufen im Morast unserer Wohlstandsverwahrlosung. Wir alle sind mitschuldig am Untergang unserer Art, der schon längst begonnen hat, obwohl die Geburtenrate das Gegenteil auszudrücken scheint. Aber auch Lemminge brauchen erst den Overkill an überflüssigen Geburten, bis sich der Selbstzerstörungsmechanismus, für alle erkennbar, in Gang setzt. Hilfe!
Hilfe schrie es in mir und die Strafe war, keine Antwort zu erhalten. Der innere Zuschauer, der mich bewundert hatte für meinen Mut, öffentlich zuzugeben, daß ich auf die Suche nach der Wahrheit gehen wollte, war verschwunden. Ruhig bleiben - sagte ich zu mir - ruhig bleiben und langsam werden. Das ist es - sprach ich in die Nacht hinein, das ist es -langsam werden... Und als ich meine Stimme hörte, fing ich an, einen ersten kleinen Ruhepunkt zu finden, um den ich mich wieder sammeln konnte. Langsam werden - sprach ich zu mir und wußte, daß es genau das war, was mich in die Panik getrieben hatte. Mein Fuß hatte das seelische Gaspedal bis zum Anschlag durchgetreten, um den Schwung zu bekommen, sich aus der Trägheit der Unkündbarkeit zu lösen, und plötzlich hatte meine Tat, mein Entschluß, wirklich zu gehen, die Gänge meiner Lebensroutine ausgekuppelt. Mein innerer Motor heulte auf, weil es plötzlich keinen Berg mehr gab, auf dessen Gipfel ich vorstoßen wollte, und dieses Aufheulen der überflüssigen Energie ließ mich zusammenzucken. Langsam werden- den Fuß vom Gaspedal nehmen ... runter schalten ... auslaufen ... langsamer werden ... ankommen ...
Ich sprach zu mir wie zu einem kleinen Kind, das sich im großen Wald verlaufen hatte und schon den ersten Schimmer einer Lichtung sieht. Loslaufen ist der erste Gedanke, den man hat — und dann passiert es — stolpern, hinfallen, Schlüsselbeinbruch, daher - langsam werden ... ausatmen. Tatsachen sammeln ... den Kopf ausleeren ... die Realität wahrnehmen ... Ich atmete noch etwas tiefer und legte meine verspannten Finger auf den warmen Fels, der jetzt zurückzugeben begann, was ihm die Sonne einen Tag lang geschenkt hatte. Ich legte meine Hände flach auf den heißen Stein und ließ seine Wärme in meine Arme steigen — ich entspannte meine Augen und hielt mich mit ihnen an einem umgestürzten Baum fest, der in der Mitte des Flusses nach Norden trieb und wußte, daß ich keine Eile mehr nötig hatte. Jedesmal, nachdem ich ausgeatmet hatte, wartete ich eine Weile, und in diese Pause hinein hörte ich, wie mein Herz sich zu beruhigen begann und einen weichen Rhythmus schlug, der mich ruhiger und ruhiger machte. Nach einer Zeit, in der ich nur dasaß und schaute und die Wärme des Bodens unter mir spürte, sagte mein Engel leise: »Das wirst du noch oft erleben...« Ich nickte und wußte, daß er recht hatte. Das Gespenst
der Freiheit ist mindestens genauso stark, wie die Geister der Vergangenheit, und Geduld und Zeit sind die einzigen Helfer in diesem Kampf, der der einzige Kampf ist, den es sich lohnt zu bestehen. Kein Lob mehr zu brauchen, für das, was man tut, keine Bestätigung, daß die Handlungen, die man setzt, richtig sind und voller Sinn, das ist das Ziel dieses Kampfes um Unabhängigkeit. Unabhängigkeit, auch von den eigenen, liebgewordenen Kleidern, die man eintauschen muß für eine Zeit der Nacktheit, in der es keine Tarnung gibt für unsere wirkliche Nacktheit, Nacktheit, die die eigentliche, die wahre Natur unseres Lebens auf diesem Planeten darstellt. Nacktheit, die wir nicht verbergen können durch die Felle unserer sinnlosen Verpflichtungen, die wir uns aufbürden, weil man uns eingeredet hat, daß das sinnvolle Leben eines sinnvollen Erwachsenen vollgefüllt zu sein hat mit sinnvollen Verpflichtungen. Es gibt aber in Wahrheit nur eine einzige Verpflichtung, der wir nachkommen müssen. Das ist die Verpflichtung, in Ruhe und Frieden und Lebendigkeit unserer Gesundheit zu dienen und mit den anderen in Ruhe und Lebendigkeit unsere Gesundheit zu teilen. Seltsame Worte - die in unseren Ohren nur die falschen Assoziationen lostreten, weil wir nicht einmal mehr eine Sprache haben, die uns die Wahrheit sagen läßt. Die Aufforderung, in Ruhe, Gesundheit und Liebe zu leben, wird nur mehr mit Langweile verwechselt und
mit der rasenden Hast der Turnübungen vertauscht, die unser Leben zu Tode hampeln. Je weiter man vorstößt, in dem Versuch, ein einziges Wort zu sagen, das uns im Innersten aufrütteln sollte, um so mehr werden wir von den tödlichen Verwechslungen zurückgestoßen, die diejenigen vollbracht haben, die uns die Worte und ihren Sinn geraubt haben, uns unsere Wahrheiten gestohlen haben, weil unsere heiligen Worte in ihrem Mund so lange verdreht worden sind, bis wir verlernt haben, das zu hören, was eigentlich gemeint ist. Demut. Liebe. Treue. Freundschaft, Tapferkeit, Mut. Hingabe, Lust, Freude, Gott, Ewigkeit. Alles, alles ist von den Katholiken, den Nationalsozialisten, den Kommunisten, den Moslems, den Buddhisten, den Sozialisten, den Bürgerlichen, den Parteien, den Showmastern, den Vätern, den Müttern, der Kaufhauswerbung, den Schlagertextern, den Dichtern, den Malern, den Künstlern, den Theisten und Atheisten, ist von uns allen so lange pervertiert, zerstört, beschmutzt und so lange verdreht worden, bis es uns unmöglich
geworden ist, ein einziges dieser Worte auszusprechen, ohne lächerlich zu werden. Eines weiß der ganz normale Mensch von der Straße nämlich seltsamerweise immer noch, das ist, wenn mit den höchsten unserer Wörter gelogen wird. Gerne und leicht glauben wir, daß das neue Streichfett gut sei für unsere Abmagerungssucht - die Bagatellügen stützen wir noch immer mit unserem Kaufverhalten, aber bei den großen Lügen wissen wir noch immer sofort Bescheid und wechseln den Kanal, wenn die Lüge zum Sonntag beginnt. Vielleicht ist das eine unserer Hoffnungen, daß wir es noch erkennen, wie der süßliche Duft der Lüge aus diesen Sätzen trieft, die uns Gott oder dem Parteiziel nahebringen sollen. Aber was sollen wir machen, wenn wir uns darüber verständigen wollen, daß es wirklich um das geht, was diese Worte eigentlich meinen, es geht ja nur um Liebe und die Tatsache, daß es Gott ist, was wir suchen und anstreben. Wie sollen wir ihn beim Namen nennen, wenn wir bei seinem Namen nur an Hexenverbrennung und Kollektivschuld denken können? Wie sollen wir neu anfangen und wieder sprechen lernen? Vielleicht indem wir zum ersten Mal anfangen fühlen zu lernen? Keine schlechte Idee, dachte ich und streichelte den Felsen, auf dem ich saß. Er war glatt und seine Kanten waren eher Kurven als Risse, und während ich so dasaß und ihn berührte, begann ich mich abgrundtief zu schämen. Da sitze ich nun, dachte ich, und übe Felsen
zu streicheln, um in der Wortlosigkeit Augenblicks mein Vergessen zu üben.
des
»Selbstvergessen« heißt dieses schöne Wort - »ich bin selbstvergessen«. Selbstvergessen - sagte ich laut vor mich hin und wiederholte es so lange, bis es keinen Sinn mehr hatte und nur ein Satz übrigblieb: »Ich schäme mich.« Ich schäme mich, geflohen zu sein und mir das zu leisten, was sich vielleicht alle leisten möchten, aber nie die Möglichkeit dazu bekommen. Einfach aufstehen und weggehen - dem alten System nicht einmal einen Gruß zuwinken und sich auf die Reise machen. Ja, wer kann sich denn das leisten, dachte ich und blickte hinaus in die mattblaue Nacht, in der die Sterne glühten, als gelte es, den jüngsten Tag einzuleuchten. Das Los des sogenannten normalen Bürgers ist es, daheim zu bleiben, den Wegen zu folgen, die ihm seine Urlaubsberater empfehlen, wenn es im Arbeitsjahr eine Lücke von vierzehn Tagen gibt, und ansonsten ruhig zu sein. In diesen vierzehn Tagen muß dann alles so perfekt verdrängt werden, worauf man sich den Rest des Jahres gefreut hat, so perfekt muß es niederamüsiert werden, das wirkliche Bedürfnis nach dem großen Ausstieg, daß es keine Probleme gibt, wenn am Montag die Arbeit wieder beginnt.
•Na - wo waren wir denn heuer?« fragt es dann vom benachbarten Arbeitsplatz, und die Antwort wird wie immer lauten: »Im Stau« - dann lacht man ein wenig und weiter geht's. Das ist die Realität. Kein grenzenloses Sich — Fallenlassen - kein Treiben in den Möglichkeiten der Seele, von denen wir noch nie etwas gehört haben - weil sie sich vor Clubanimateuren verstecken, wie tanzende Feen vor lautstarken Wanderern - kein Sich — Vergessen während man Felsen streichelt, an denen schon Kleopatra vorbeigesegelt ist. Die Perfektion der. Selbstvergewaltigung umklammert selbstverständlich auch diesen winzigen Freiraum, der uns vom Gesetz her zusteht. Mit der Taucherausrüstung unserer Alltäglichkeit begeben wir uns in die fernen Länder, deren Wein so berauschend sein könnte, daß wir erleichtert registrieren, daß der neu eröffnete Supermarkt, der im Vorjahr noch nicht da war, endlich auch unser, aus der Heimat gewohntes Flaschenbier führt. Nur ja keine Berührung mit einem anderen Rhythmus, der etwas in uns aufbrechen könnte, das sich nicht mehr in die Flasche der Disziplin zurückdrängen läßt. Ich saß da und dachte an meine Kindheit, in der so ein •Wochenendurlaub« beinahe einmal zur Atomexplosion geführt hätte. Beinahe wäre die kritische Masse er-
reicht gewesen und der Flaschenhals wäre unpassierbar geworden. Ich war siebzehn Jahre alt, und das ist das Alter, in dem sich alles entscheidet. Die Kraft eines Menschen würde schon ausreichen, um aufzustehen und zu sagen: »Mit mir nicht diesen Schwachsinn ich werde euer Lügensystem nicht bedienen - ich gehe euch nicht in die Falle des lebenslangen Gefängnisses, das mich zum Automaten verbiegen wird.« Ja — diese Kraft hätte man schon und aus dem unbewußten Gefühl, welche Gefahr in der Welt der Erwachsenen auf das eigene Leben lauert, können sich auch schon erste, deutlich formulierte Sätze bilden, die ein Aufruf an sich selber sind. Früher war es ganz einfach. Wenn diese Altersstufe erreicht wurde, schickte man die jungen Menschen in den Krieg, damit sie sich verbluten und ihre Kraft nicht daheim dazu verwenden, ihre Väter vom Thron der Unterdrückung zu stürzen. Das ist heute etwas differenzierter geworden, heute kanalisieren wir die Kraft unserer Jugend in Massensportveranstaltungen, in denen sie sich gediegene Feindbilder und Helden zurecht-johlen können und ihre Kraft nicht gewinnbringend in eine Veränderung unserer Gesellschaft stecken. Mit vierundzwanzig Stunden Werbung machen wir ihnen klar, welche Prestigeobjekte dem richtigen Mann so
gut zu Gesicht stehen, daß er sich damit ohne weiteres das neueste Prostituiertenmodell leisten kann, dessen perfektes Styling in dreihundertteiligen Serien so lange auf die Hirnrinde getrommelt wird, bis alle von dieser Norm abweichenden Typen zu Auslaufmodellen degradiert werden, die keinen sexuellen Reizwert mehr haben. Um diese »Sehen — wollen — kaufen«-Spirale in Gang zu halten, wird die Ansaugöffnung unseres Geldsystems ganz nahe an den jungen Menschen herangeführt, damit nicht einmal ein Millimeter bleibt, zwischen der Schulzeit, in der Ansätze selbständigen Denkens rechtzeitig eliminiert worden sind, und dem Kreditsystem, in das er mit dem ersten Arbeitstag eingefügt wird wie ein Stück Brennholz. Na ja - aber das ist ja alles bekannt - bekannt ist jedoch nicht, daß dieser Ablauf ein einziges Mal beinahe schiefgelaufen wäre. Für zwanzig Menschen hatten sich beinahe einmal die Gravitationsgesetze ins Gegenteil verkehrt, und dieses Erlebnis ist mir so sehr im Gedächtnis geblieben, weil ich aus der Erinnerung daran die Kraft schöpfen kann, die Hoffnung nicht zu verlieren. Wir waren eine Klasse von zwanzig jungen Menschen und es kam die Zeit, in der das Schuljahr wieder einmal durch eine Woche intensiver körperlicher Betätigung unterbrochen werden sollte. Manchmal lag diese Woche in der Winterzeit, und dann führ man acht
Stunden am Tag lang auf seinen zwei Brettern, von der Spitze eines Berges zum Fuß eines Berges, dann wieder lag sie in der Sommerzeit und man wanderte von dem Fuß dieses Berges auf seine Spitze. Kontinuität ist eben alles, ob's stürmt oder schneit. In diesem Jahr nun, in dem alles etwas anders war, hatten wir einen neuen Psychologieprofessor bekommen. Er war ein relativ junger Mann und dieser Jugend ist wahrscheinlich auch der Umstand zuzuschreiben, daß er nicht so genau wußte, was er tat. Er fuhr nämlich mit uns auf diese elende Schilaufwoche und fragte uns am ersten Abend in unserem abgelegenen Bergdorf, in dem unsere Quartiere lagen - was wir am nächsten Tag machen wollten. »Wer nicht schifahren will, kann ruhig hierbleiben und ausschlafen«, sagte er, und das hatte zum Ergebnis, daß sich zwanzig Menschen eine Nacht lang wohl fühlten, weil sie wußten, daß am nächsten Morgen kein eisiger Schneesturm von sieben Uhr früh an ihre Muskeln verspannen würde. So saßen wir also einen Abend und eine Nacht lang beisammen und redeten. Dieser eigenartige Mensch brachte uns immer mehr dazu, Geschichten von Momenten zu erzählen, die in unserem Leben eine bedeutende Stufe gewesen waren. Er erzählte von seinem Beginn als Lehrer, von seinen Hoffnungen, jungen Menschen Kraft zu geben, sie selbst zu werden und keine Abziehbilder der Scheinrealität des Fernsehens. Er erzählte uns von sei-
nen Sicherheiten, seinen Anläufen, seinen Irrtümern und legte die Maske der professionellen Autorität dabei gänzlich zur Seite. Wir waren eine Zeitlang völlig verwirrt, wie junge Löwen, die in der Arena mitansehen müssen, daß Daniel anfängt, ihnen Dornen aus den Tatzen zu ziehen, und begannen erstaunt zu schnurren. Ich erfuhr zum ersten Mal, seit ich in meine Schule gekommen war, wie es dem Mädchen, neben dem ich seit vier Jahren saß, wirklich ging, weil sie plötzlich den Mut bekommen hatte, von ihren Träumen zu erzählen, die überhaupt nichts mit Seereisen auf weißen Schiffen zu tun hatten, sondern Träume waren von Wärme und Geborgenheit, Träume waren von der Sehnsucht nach einem freien Lachen und nicht nach dem Grinsen der allzeit bereiten Verführer, in deren Taschen das nötige Kleingeld klingelt. Ich erfuhr von meinem Freund, mit dem ich in den Pausen immer auf die Toilette zum Rauchen gegangen war, daß er schon seit Monaten in ein Mädchen verliebt war, die davon keine Ahnung hatte und nun zum ersten Mal mit ihm schlafen gehen konnte, so wie sie es schon immer tun wollte. Jaja - auch das war erlaubt auf dieser Woche, weil unser Anführer uns am zweiten Abend gesagt hatte: »Bevor ihr dabei abstürzt, wie ihr versucht, durch ein Fenster zu steigen, geht doch lieber gleich gerneinsam schlafen.« Mein Gott, das war neu -
Irgendwie tat es mir leid, daß ich damals nicht verliebt war, weil sich so eine entspannte Chance wirklich nicht oft anbietet. Aber eigentlich war es mir ohnehin lieber, allein in meinem Bett zu liegen und mich gut zu fühlen. Ich fühlte mich so unendlich gut, wie wir uns alle unendlich gut fühlten in dieser Woche, in der zum ersten Mal, seit wir denken konnten, der Versuch unternommen wurde, uns wie Menschen zu behandeln. Ich lag lange wach in der Nacht und fühlte die warme, weiche Vibration der Freiheit und der Zärtlichkeit, die über diesen vier bis fünf Häusern lag, in denen wir unsere Ferienwoche verbrachten. Wir fingen an zusammenzuwachsen, zu einer kleinen Zelle der Wirklichkeit unserer Bedürfnisse. Wir schliefen, aßen, tranken, spazierten, spielten, sprachen, dachten, so wie wir es wollten, und nach kurzer Zeit leuchteten unsere Augen, weil wir nicht mehr gezwungen waren, sie zu schließen, um die Lügen der Welt besser zu überleben. Unser Lehrer war zu einem Freund geworden, der lachen konnte, wenn er ein Glas Wein getrunken hatte, und der von einer staunenden Zärtlichkeit erfüllt war, wenn ihn das Mädchen küßte, mit dem er die Nächte in diesem Tal verbrachte, das so etwas sicher noch nie erlebt hatte. Jaja - wir lebten in Sünde - weil auch das große Gebot, daß nämlich ein Lehrer seine Schülerin nicht begehren darf, nichts mehr galt. Es wäre auch zu blöd von ihm gewesen, diesen Blicken und diesem schönen runden Busen zu widerstehen, der ihm so viel
Wärme angeboten hatte, und am nächsten Morgen waren ihre Gesichter, aus denen man das Lachen nicht mehr vertreiben konnte, die beste Bestätigung, daß Liebe keine Sünde sein kann, nicht? Die Rechnung wurde uns sehr schnell präsentiert. Als wir nach dieser Woche zurückkamen, waren wir alle verändert. Was heißt - verändert - wir waren einen Schritt weit auf den Weg gegangen, der uns zu uns selber hätte führen können, und das war Sünde. Sünde gegen ein System, das für lachende Verliebte, die Raum in der kleinsten Hütte finden, keinen Platz hat. Wir wollten nicht mehr funktionieren. Wir konnten nicht mehr funktionieren. Wir mußten lachen, wenn man uns die Frage stellte, wann die punischen Kriege stattgefunden hatten und auch der Religionsunterricht brach aus allen Fugen, weil der Priester, der uns belehren sollte, völlig überfordert war, als wir ihm erklärten, er solle sich ein Beispiel an den Vögeln nehmen - die würden nicht säen und nicht ernten und der Herr würde sich trotzdem über sie freuen. Ganz im allgemeinen verbreiteten wir durch unser angstfreies Auftreten eine solche Irritation, daß man Nachforschungen anzustellen be-
gann, woher diese plötzliche Lebensfreude kam, die sich zur Systembedrohung ausweiten konnte. Das Ergebnis war zu erwarten. Der Lehrer wurde strafversetzt, unsere Gruppe getrennt und auf vier verschiedene Klassen aufgeteilt. Einige Disziplinarverfahren, Androhungen auf Wiederholung des Jahres bei nachlassender Leistung und verschärfte Strafauflagen im Fall unbegründeter Heiterkeit während einer Schulstunde genügten, um innerhalb eines Monats die Uhr wieder zurückzudrehen und die Ordnung wiederherzustellen. Ja, was denn auch sonst, soll etwa alles zusammenbrechen, was wir uns mühsam nach dem Krieg wiederaufgebaut haben? Die Frage - ob es überhaupt zu einem Krieg gekommen wäre, wenn statt Haß die Liebe regiert hätte, steht auf einem anderen Blatt, das ich aber seit dieser einen Woche immer noch bei mir trage und das mir eine Orientierungshilfe ist, wenn die Seriosität des Erwachsenenlebens mich ordentlich machen möchte. Und darum sitze ich jetzt hier und schäme mich. Weil das nämlich ganz genau die Aufgabe ist, die die Kunst eigentlich hat und die wir nicht wahrnehmen. Wir haben uns auf das Abstellgleis der Bedeutungslosigkeit drängen lassen, indem wir der Versuchung erle-
gen sind, das Kind in uns zu töten, um Mitglieder in einer Gesellschaft zu werden, die sich das Lieben verbietet. Quadratzentimeterpreise haben von uns Besitz ergriffen und alles ausgerottet, was einmal die Aufgabe des Künstlers gewesen ist. Die Verbindung zu Gott nicht abreißen zu lassen. Die Verbindung zur Ahnung nicht abreißen zu lassen, daß wir noch andere Möglichkeiten haben, außer dem Kampf um Geld und Macht. Die Verbindung nicht abreißen zu lassen, zu der Lebenskraft, die die Ordnung der Autoritäten immer wieder zerstören muß, um einem neuen Frühling der Angstfreiheit Platz zu machen. Je mehr wir ohne Zensur in die Hauptabendprogramme vorgelassen wurden, um so deutlicher hätten wir sehen müssen, daß das nur ein Zeichen dafür ist, daß wir keine Gefahr mehr darstellen. Nur verboten zu werden, ist die Garantieerklärung dafür, daß man den Finger auf eine wunde Stelle gelegt hat. Das aber — diese Sehnsucht nach dem Hinzeigen auf den Sinn des Lebens, haben wir der Parteidisziplin geopfert. Jede Gruppierung in dieser Gesellschaft hält sich ihren Lieblingsnarren, dessen Aufgabe es geworden ist, die an-
deren Gruppierungen im Auftrag der Freiheit der Kunst anzugreifen und dafür subventioniert zu werden. Es gibt keine Verweigerung mehr vor der großen, erstickenden Umarmung der öffentlichen Meinung, und selbst die künstliche Aufregung angesichts einer sogenannten Blasphemie gehört nur mehr zu hohlen Zitaten, die ablaufen wie die vorhergeplante Sprengung eines schon lange stillgelegten Industriekomplexes. Wir haben aufgehört, uns der Lächerlichkeit preiszugeben, weil wir nicht die einzigen sein wollen, die in unserer ausgepolsterten Welt neben einem kalten Blechofen sitzen, während alle anderen an der Fernwärme teilhaben dürfen, die das soziale Netz verbreitet. Aber wo ist die Sehnsucht hin - wo ist das »Nein«sagen hin, wo ist der Aufstand hin, gegen die alles zerquetschenden Symbole der Gleichschaltung, die schon nach unseren Kindern greift? Wie Roboter, die sich zu vorprogrammierten Kurzschlüssen drehen, bewegen wir uns auf dem Kunstmarkt im Kreis, und der Zenit unseres Schaffens wird nur mehr sichtbar an den Prestigeobjekten, die wir in die Kassenhallen der Banken stellen dürfen, die sich dafür das Etikett der Kunstförderung umhängen. Die Kunst ist tot. Die Kunst hat sich von den wahren Bedürfnissen der Menschen so weit entfernt, wie sich die ehemaligen
Parteizentralen im kommunistischen Osten von den Bedürfnissen der Menschen entfernt hatten. Wie kann es dazu kommen, daß die einzige, hauptsächliche Äußerung unserer Künstler darin besteht, zu verlautbaren, daß es nichts mehr zu sagen gäbe -nichts mehr zu schreiben, zu malen, zu dichten. Diese Hilflosigkeit und diese Sinnlosigkeit einzugestehen, ist ja nur das Eingeständnis, daß die Macht der Korruption alle Bereiche unseres Lebens endgültig durchdrungen hat. Wie kann man sagen, daß es nichts mehr zu äußern gäbe, als den Bericht einer Ohnmacht, wo es doch nie zuvor eine Epoche gab, in der der Aufruhr zur Revolution wichtiger war als heute. Heute - wo wir glauben, gesiegt zu haben, nur weil das menschenverachtende System des Kapitalismus das menschenverachtende System des Kommunismus in die Knie gezwungen hat, ist nichts wichtiger, als diesen sogenannten Sieg als das zu deklarieren, was er ist. Dieser Sieg ist nichts anderes als die Niederlage der Menschlichkeit vor den heiteren Symbolen der Ausbeutung der Erde und der Menschen, die nur nicht so plump agieren, wie der ehemalige Gegner im Osten.
Der Preis, den wir für diesen Sieg der freien Marktwirtschaft zahlen, die als alleinseligmachende Kraft jeden Kritiker besiegt zu haben glaubt, wird uns in spätestens zehn Jahren präsentiert werden. Wir sind im Sterben begriffen und halten unser Todesächzen für den Triumphschrei der Freiheit. Das einzige, das wir erreicht haben, ist, daß unsere Produktionskapazitäten noch einige Jahre länger Verdopplungsraten erleben werden, weil die Menschen im Osten nach den Fehlern des Kommunismus nun auch noch die Fehler des Kapitalismus wiederholen müssen. Wir aber starren nur auf die Prozente der Wirtschaftssteigerung und leben weiter nach dem Grundsatz, daß Expandieren der Sinn des Lebens sei, und verkünden dabei lautstark, daß es uns gut gehe. Das ist eine Lüge. Es geht uns nicht gut. Wir sind im Grunde unseres Herzens zutiefst verzweifelte, hilflose, alleingelassene Wesen, deren einzige Orientierungshilfe das Fernsehen geworden ist, das uns jeden Abend dazu anstachelt, mehr von den Dingen zu kaufen, deren Produktion unsere Welt zerstört
hat, nicht zerstören wird oder zerstört, sondern schon zerstört hat. Nur wer so dumm ist und erst das Aufschlagen eines Baumes als seinen Tod erkennt und nicht den Moment, in dem sein Stamm durchgeschnitten ist, kann glauben, daß wir nicht schon längst untergegangen sind. Unser Lebensnerv ist durchtrennt und wir sind fallende Riesen und halten den Luftzug, der unseren Sturz begleitet, für die Bewegung einer neuen Zeit. Und da sitzen wir Künstler mittendrin in dieser Baumkrone und bestätigen die Mächtigen in ihrer Zerstörungswut, indem wir verkünden, es gäbe nichts mehr zu sagen. Sinnloses Ausbeuten alter Formen, deren hundertzwanzigste Ausradierung das Bild nur noch schmutziger macht, ist alles, was wir uns noch erlauben. Aufrufe zur Revolution sämtlicher Lebensbereiche sind es, die wir ununterbrochen hinausschreien müßten, bis wir auf ein Echo in den Seelen der Menschen stoßen und uns die Mächtigen die Sendezeit wieder wegnehmen. Dann hätten wir geschafft, wozu es die Kunst gibt. Die Kunst ist der einzige Bereich in der Gesellschaft, der die Pflicht hätte, den Menschen den Leuchtturm zu bieten, den alle anderen verraten haben.
Die Religionen, die politischen Richtungen, die Freizeitindustrie - alle ziehen sie an dem gemeinsamen Strick, der sich um unseren Hals gelegt hat und der sich mit jeder Minute enger zieht. Es geht uns nicht gut. Es geht uns nicht gut, auch wenn wir noch so bunt gekleidet über die Waldwanderwege hopsen — und der Tag wird kommen, an dem die Natur diese Revolution erzwingen wird, die die Kunst anbieten müßte, solange noch Zeit dazu ist. Es wird der Tag kommen, an dem die Minderheit der geschädigten Menschen, die keine Luft mehr bekommen, die vergiftet und verseucht in Arbeits- und Lebensunfähigkeit sich in ihren Betten winden, eine Mehrheit sein wird, die Todesangst hat. Wenn nicht mehr zwanzig Prozent unfruchtbar sein werden, sondern fünfundzwanzig, dreißig, fünfundvierzig, siebzig Prozent aller Menschen keine Kinder mehr auf die Welt bringen können und wenn die wenigen Geburten, die es dann noch geben wird, mit nicht mehr gutzumachenden Schäden auf die Welt kommen - wenn ihr Geborenwerden ein Sterben ist -, dann wird es eine Revolution geben, von all denen, die jetzt noch so klaglos funktionieren und in dem Heer der Werktätigen mitmarschieren, deren Industrieproduktionen nur überleben können, weil wir die Erde zerstören.
Noch sind die heiligen Indianerreden, in denen zu lesen steht, daß man Geld nicht essen kann, entzückende Zeigefinger, die konkurrenzunfähige Eingeborene in die Luft gehalten haben - aber bald werden ihre Prophezeiungen über unseren Untergang zum Tatsachenbericht mutieren, der aber auch zu spät kommen wird. Warum - warum haben wir uns kaufen lassen und die Sehnsucht in uns belegen, dachte ich und schämte mich, jemals dazugehört zu haben. Ich schämte mich, Künstler genannt worden zu sein, weil diese Splittergruppe die verlogenste aller Abteilungen des Vernichtungsheeres geworden ist, die in der Öffentlichkeit daran arbeitet, unsere Katastrophe mit Parfüm zu bestäuben. Jeder Waffenhändler, dessen Geschäft der perfektionierte Tod ist, ist ehrlicher mit dem, was er tut, als ein sogenannter zeitgenössischer Künstler. Das einzige Interesse so eines Menschen ist nur mehr, durch das noch nicht Dagewesene seines Auftrittes, darüber hinwegzutäuschen, daß in seinem Auftritt kein Inhalt mehr zu finden ist. Theater wird auf Berggipfel gezerrt und in Katakomben wird Poetisches gehaucht, nur um darüber hinwegzubluffen, daß es keine Aussage gibt, die unsere Welt zu dem treibt, was sie braucht -zur Veränderung.
Die Veränderung sämtlicher gesellschaftlicher Ziele ist die einzige, kleine Chance, die uns vielleicht noch bleibt, und diese Veränderung hat die Kunst auszulösen, weil niemand anderer dazu die Fähigkeit hat. Ich meine, rechtzeitig die Veränderung auszulösen, ist die Aufgabe der Kunst, weil nämlich sonst der Strom der Geschichte diese Aufgabe übernehmen wird und in unsere Siegerparty hinein den kollektiven Untergang schicken wird, um alles wegzufegen, das die Zerstörung unseres Lebens vorantreibt. Ja - ich schäme mich, mein gesamtes Erwachsenenleben damit verschwendet zu haben, auf dieser Party Witze zu erzählen. Ich bitte meine Chancen, die ich gehabt habe, etwas zu verändern - und nicht genutzt habe -, demütig um Verzeihung. Ich bitte die Hoffnung, die das Kind in mir gehabt hat, als es zu staunen begonnen hat, um Verzeihung. Ich bitte die Sentimentalität, die Zärtlichkeit, die Lächerlichkeit in mir um Verzeihung, daß ich erwachsen geworden bin im Ungeist einer Welt, die mich für den Verrat an meinen Möglichkeiten mit Applaus überschüttet hat.
Ich bitte das Nichtkönnen um Verzeihung, das Nichtwissen, und ich bitte das Wissen um Verzeihung, das Wissen, daß wir aufstehen müssen und sagen: »Es ist genug, wir haben nur dieses eine Leben, und ich will nicht teilhaben an dem Massenmord, der uns durch sein Zeitlupentempo vorgaukelt, er sei eine neue Form der Lustbarkeit.« Ich bitte die Kraft zur Verweigerung um Verzeihung, die ich betrogen habe. Ich habe die Anerkennung für die Lüge gewählt, statt mich auf die Seite des Lebens zu stellen und meine Brüder und Schwestern zum Kampf aufzurufen, und ich bitte das Leben um Verzeihung, das in mir jeden Tag darauf gewartet hat, daß ich mich zu ihm bekenne. Es ist soweit. Es ist schon längst soweit, aus der schillernden Isolation unserer Elfenbeintürme auszubrechen und deutlich zu werden. Wir müssen die Unangreifbarkeit unserer ästhetischen Spielereien vertauschen für das klare Bekenntnis, die Welt verändern zu wollen. Was sonst?! Was sonst kann die Triebkraft für unser Leben sein, als die Welt zu verbessern?
Wir aber ducken uns feige in die Errungenschaften unseres sinnlosen Lebens, weil auch dieses Wort in unserer Zeit zum Schimpfwort geworden ist. »Weltverbesserer« Das sind doch diejenigen, die die Absprache stören wollen, die wir getroffen haben, die Absprache, die da lautet: »Laßt uns das Volk ausplündern und die Quadratzentimeterpreise für unsere Überflüssigkeiten vervierfachen. Laßt uns weiter mit gespreizten Fingern kleine Häppchen schlucken und kichernd aus den Fenstern unserer Vernissagen auf die Dummköpfe zeigen, die müde von der Arbeit nach Hause kommen und nicht wissen, wie sie die Raten für ihre Sitzgruppe bezahlen sollen. Diese dummen Bauern, die die Einschaltquoten der Volksmusiksendungen in die Höhe treiben, während wir eben noch aus dem Flugzeug steigen, das uns von einer Ausstellung in New York zurückgebracht hat, wo eine neue Übereinkunft stattgefunden hat, wer in dieser Saison der Trendsetter unserer Langeweile sein wird.« Es ist genug. Es wird nicht mehr lange so weitergehen, weil diese Welt eine Verbesserung braucht und sie sich holen wird.
»Sind Sie etwa ein Weltverbesserer-?!« wird mit zynischem Grinsen gefragt, wenn irgendwo irgendeiner nicht mehr mitspielen will und sich mit dem Pöbel solidarisiert, der noch nicht einmal Kandinsky von Miró unterscheiden kann. Es ist genug. Es ist genug, und wer nicht hinweggefegt werden will, soll, so schnell es geht, aufhören mit diesem Wahnsinn. Nein - es ist nicht schick, zu sagen, daß man Fehler gemacht hat und seine Zeit vergeudet hat. Es ist nicht schick, den Pinsel hinzulegen und eine Arbeit aufzunehmen, die unserer Rettung dienen könnte. Es ist nicht schick, aber es ist notwendig. Es muß die Not wenden, in der wir bis zum Hals stecken und unseren Mund immer noch plappern hören, daß der Sinn der Kunst nicht darin liegt, politisch zu sein oder unpolitisch oder realistisch oder futuristisch oder Es ist soweit, daß der totale Krieg gegen unsere Lebensgrundlage begonnen hat, und wir können nichts anderes tun, als mit dem totalen Widerstand zu antworten. Wir müssen Widerstand leisten, bis zum letzten Atemzug, ohne Furcht vor dem zynischen Zeigefinger unse-
rer Gegner, die das Grollen des Untergangs zu überschreien versuchen. Der erste Schritt unseres Widerstandes wird ein Abschied sein. Wir werden Abschied nehmen von allen Dingen, allen Tönen, allen Farben, die wir kennen. Alles das, was unser Leben und unsere Kultur geformt hat, ist zu Ende. Wir werden den Mut haben, alles hinter uns zu lassen, was uns voneinander trennt. Alles, woran wir glaubten, war falsch, weil es uns von unserem Weg abgebracht hat. Wir haben an den falschen Gott geglaubt, und der Widerstand gegen unseren Irrtum wird ein Erwachen sein. Die Zeit der Trennungen wird zu Ende sein. Es wird keine Kultur mehr geben, die darauf aufbaut, uns voneinander zu trennen, keinen Glauben geben, der uns strafen kann für unsere Liebe zu unserem Leben, keine Politik, die uns sagt, wo unsere Feinde stehen. All unsere Kräfte, all unser Können wird nur ein einziges Ziel vor sich sehen - die Heilung dieses Planeten Erde. Die neue Kultur, die wir begründen werden, wird
eine Kultur der Heilung sein. Jedes Ding, jeder Ton, jeder Gedanke, der nicht dazu dient, unsere Fehler wiedergutzumachen, wird untergehen. Wir werden uns loslösen von dem Glauben an Parteien, loslösen von dem Glauben, Gott in den Kirchen oder den Moscheen zu finden, loslösen von unserer Kunst, die nicht dem Leben dient. Alle unsere Kräfte werden ausschließlich darauf gerichtet sein, unseren Besitz mit denjenigen zu teilen, die nichts haben. All unsere Energien werden lernen, das Verzichten zu ertragen. Wir werden lernen zu verzichten, weil unser Habenwollen der Tod unseres Nächsten ist. Unser Ziel wird es sein, die Wahrheit zu erleben. Diese Wahrheit heißt, daß wir nichts mehr zum Leben brauchen als Essen, Schlafen, Trinken und Zärtlichkeit. Alles, was mehr verlangt, ist maßlos und führt zur Verdrängung des Nächsten auf dieser Welt. Wir werden eine Weltkultur begründen, die alle Zivilisationen, die jetzt noch nebeneinander und gegeneinander leben, vereint. Es wird eine Vereinigung aller intellektuellen, politischen, spirituellen, kulturellen Kräfte geben, die das, was wir heute Grenzen nennen, niederreißen wird. Der Irrtum einer Grenze ist nichts anderes als die Aufforderung, ihn hinter sich zu lassen.
Wir werden diese Grenzüberschreitung gemeinsam tun und wir werden uns nicht aufhalten lassen von dem sterbenden Irrtum der Vergangenheit. Unser Gott wird die gemeinsame Heilung des Lebewesens Erde sein, und dieser Gott wird der erste sein, der alle Menschen verbindet, weil er ein Gott ist, ohne den wir nicht leben können. Das, was wir jetzt noch Individualität nennen, wird es nicht mehr geben. Die Todesstunde der hemmungslosen Rücksichtslosigkeit den anderen gegenüber, dem Wasser, der Luft, den Tieren, der Erde gegenüber, wird die Geburtsstunde der wahren Freiheit jeder einzelnen Seele sein, die das Ausbeuten und Zerstören der vergangenen Epochen hinter sich lassen wird. Das Dienen an einer einzigen, alles umfassenden Erneuerung wird die Freiheit sein, für die wir alle geboren sind. Wir kommen von einer langen Reise und haben das Tor erreicht, das am Anfang eines neuen Weges steht -wir werden hindurchgehen. Anfang