PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK
Benedetto Croce Die Geschichte auf den allgemeinen Begriff der Kunst gebracht
FELIX MEINER VE...
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PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK
Benedetto Croce Die Geschichte auf den allgemeinen Begriff der Kunst gebracht
FELIX MEINER VERLAG
BENEDETTO CROCE
Die Geschichte auf den allgemeinen Begriff der Kunst gebracht Aus dem Italienischen übersetzt und eingeleitet von Ferdinand Fellmann
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 371
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Croce, Benedetto: Die Geschichte auf den allgemeinen Begriff der Kunst gebracht / Benedetto Croce. Aus d. Ital. übers. u. eingel. von Ferdinand Fellmann. – Hamburg: Meiner, 1984. (Philosophische Bibliothek ; Bd. 371) Einheitssacht.: La storia ridotta sotto il concetto generale dell’ arte ‹ dt. › ISBN 3-7873-0621-8 NE: GT
Titel der Originalausgabe: La storia ridotta sotto il concetto generale dell’ arte (1893), aus: Benedetto Croce, Scritti varii I, Primi saggi, Bari 3 1951, 1–72. © Erben Benedetto Croce, Neapel. © Felix Meiner Verlag, Hamburg 1984 für die deutsche Ausgabe. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Königshausen & Neumann, Würzburg. Druck: Proff, Bad Honnef. Einband: Himmelheber, Hamburg. Printed in Germany.
INHALT
Einleitung: Die Unvergänglichkeit der narrativen Geschichte. Von Ferdinand Fellmann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Biographische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVII Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIX
BENEDETTO CROCE Die Geschichte auf den allgemeinen Begriff der Kunst gebracht [1893] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1 I. Der Begriff der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 II. Der Begriff der Wissenschaft und die Geschichte . . . . . . . . 15 III. Der Begriff der Kunst und die Geschichte . . . . . . . . . . . . . . 22 IV. Die Kunst im engen Sinne und die Geschichte . . . . . . . . . . 26 V. Der Begriff der Geschichte und der Geschichtsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Illustrationen und Diskussionen [1893–1895] . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die historischen Romane [1893] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Polemische Anmerkungen [1894] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Über die Klassifikation des Wissens [1895] . . . . . . . . . . . . . . . IV. Über die Geschichtsphilosophie [1895] . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40 40 43 58 66
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Sachregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
EINLEITUNG DIE UNVERGÄNGLICHKEIT DER NARRATIVEN GESCHICHTE La Storia narra – Die Geschichte erzählt: so lautet das ebenso schlichte wie unvergängliche Thema der ersten philosophischen Abhandlung, die Benedetto Croce im Jahre 1893 vor der Akademie der Wissenschaften zu Neapel vorgetragen hat. Wenn die Akademieabhandlung fast hundert Jahre später nun erstmals in deutscher Sprache erscheint, so wird damit ein zentraler Text der neueren Geschichtstheorie zugänglich gemacht, dem ein ebenbürtiger Platz neben Windelbands berühmter Rektoratsrede »Geschichte und Naturwissenschaft« aus dem Jahre 1894 gebührt. Erst beide Texte zusammen vermitteln einen vollständigen Begriff von der erkenntnistheoretischen Wende, die die Geschichtsphilosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts im Spannungsfeld von Idealismus und Positivismus vollzogen hat. Die im Kreis Windelband-Rickert vorherrschende Frage der historischen Begriffsbildung wird von Croce ergänzt durch die Frage der Veranschaulichung des Individuellen, mit der das Problem der historischen Erkenntnis allererst vollständig wird. Diesen immer wieder vernachlässigten und weiterer Vertiefung bedürftigen Aspekt in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt zu haben, macht den bleibenden Wert der Akademieabhandlung aus, die endlich auch in Deutschland in den Kanon der geschichtsphilosophischen Klassiker der Moderne aufgenommen zu werden verdient. I. Die von Croce selbst schon bald als paradox empfundene Formulierung seiner These, nämlich die Subsumtion der Geschichte unter den allgemeinen Begriff der Kunst, war freilich nicht dazu angetan, ihre Rezeption im Zeitalter der Wissenschaften zu fördern. Hatte doch schon seit längerem die »Historik« Droysens einen scharfen Trennungsstrich zwischen der Kunst und der Methode des historischen Forschens gezogen, ganz zu schweigen von den positivistischen Versuchen, die Geschichtsschreibung in den Rang
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einer Wissenschaft zu erheben. So konnte es nicht überraschen, daß das 1894 in zweiter Auflage erschienene »Lehrbuch der Historischen Methode« von Ernst Bernheim, das in Deutschland über lange Zeit den Historikern der Zunft als maßgebliches Kompendium diente, Croces Vorstoß eine Absage erteilt. 1 Auch Rickerts »Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung« (1902) streifen zwar neben der Erörterung der historischen Definition das Problem der anschaulichen Darstellung des Individuellen in der Geschichtserzählung, weigern sich aber, mit Croce daraus den Schluß zu ziehen, daß die Geschichte nicht Wissenschaft, sondern Kunst sei. 2 Diese Frage schien endgültig zugunsten der Wissenschaftlichkeit der Geschichte entschieden zu sein. Im 20. Jahrhundert haben sich die Rezeptionsbedingungen der Akademieabhandlung nicht gerade verbessert. Im Gegenteil. Das Publikum hat sich rapide an die Verwissenschaftlichung der Geschichte gewöhnt. Während Croce in seinen Anfängen geschichtliche Wirklichkeit noch ganz pragmatisch als Zusammenhang menschlichen Tuns und Leidens auffaßt, in dem das Anekdotische ein tragendes Element darstellt, verwandelte sich für die Geschichtswissenschaft insbesondere unter dem Einfluß der Soziologie die geschichtliche Welt in ein Gefüge abstrakter Faktoren, hinter deren Zusammenspiel der geschichtliche Mensch immer mehr verschwand. Anonyme Funktionsabläufe und Automatismen mit den sie bestimmenden Faktoren wie Mehrwert, Ideologie und Entfremdung sind an die Stelle der handelnden Individuen und ihrer individualpsychologischen Motive getreten. Damit aber wurde die geschichtliche Wirklichkeit in zunehmendem Maße unerzähl1 Ernst Bernheim, Lehrbuch der Historischen Methode, 2. Aufl. Leipzig 1894, 599 f. 2 Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Tübingen u. Leipzig 1902, 386: »Wohl aber scheint die anschauliche Seite der historischen Darstellung für Viele die Linie unkenntlich gemacht zu haben, welche die Geschichte gegen eine andere menschliche Betätigung abgrenzt, denn sie hat zu der Behauptung Veranlassung gegeben, daß jede Darstellung des Individuellen, also auch die Geschichte, nicht Wissenschaft sondern Kunst sei …«. In einer Replik hat Croce später mitgeteilt, Rickert habe ihm geschrieben, er habe damit auf seine Akademieabhandlung Bezug genommen: Benedetto Croce, Primi Saggi, Bari 31951, 187.
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bar. Die Analyse der Strukturen rückte zum zentralen Problem der Historik auf. Aber auch im Rahmen der primär geisteswissenschaftlich orientierten Geschichtstheorie konnte Croces Ansatz keine Fortune mehr machen. Seine erzähltheoretischen Überlegungen gehen davon aus, daß Geschichte nicht nur von Menschen handelt, sondern auch für Menschen geschrieben ist. Sein methodologisches Problem lautet daher, wie der Historiker aus »toten« Vergangenheiten ein für die Gegenwart »lebendiges« Geschehen machen kann. Der im Anschluß an Dilthey entwickelte hermeneutische Ansatz dagegen sieht hierin nur eine sekundäre Frage der Darstellung. Das zentrale Problem der Geschichte nimmt für ihn rein theoretische Gestalt an. Es geht der Hermeneutik darum, wie unverständlich Gewordenes entschlüsselt werden kann. Die Rekonstruktion des Entschlüsselungsprozesses bedient sich einer komplizierten Logik von Frage und Antwort, über deren Subtilität der historische Sinn des 19. Jahrhunderts nicht schlecht gestaunt hätte. Diese Entwicklung spiegelt das wissenschaftliche Interesse der Moderne, das auch vor der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik nicht halt gemacht hat. Seither ist die Geschichtswissenschaft zu einem Feld geworden, auf dem Probleme gelöst werden, sie ist ganz in die Hände der Argumentierer übergegangen, der Logokraten, denen es gelingt, alles und jedes in einen verschlüsselten Text zu verwandeln, um daran die ausgefeiltesten Interpretationsmethoden erproben zu können. Aber auch die neben Historik und Hermeneutik heute beliebte analytische Geschichtstheorie ist der erzählenden Geschichtsauffassung Croces nicht sonderlich günstig gesinnt. Zwar erfährt in der analytischen Geschichtstheorie die Bedeutung des Erzählens für die Geschichte erstmals wieder eine umfassende Würdigung, doch hat auch hier der Logismus seine deutlichen Spuren hinterlassen. Während für Croce Erzählung noch primär symbolische Form der Anschauung menschlichen Geschehens ist, begreift die Analytik die Erzählung primär als erklärendes Genus und macht sie damit zu einem ontologisch indifferenten wissenschaftlichen Instrument. 3 Vgl. H. Lübbe, Was sind Geschichten und wozu werden sie erzählt? Rekonstruktion der Antwort des Historismus, in: Erzählforschung, hg. v. E. Lämmert, Stuttgart 1983, 620–629. 3
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Croce hätte wohl kaum in dem heute viel zitierten sogenannten »narrativen Schema« das wiedererkannt, was er für das Wesen der Geschichtserzählung hielt. So scheint die Theorie der Geschichte in Historik, Hermeneutik und Analytik endgültig über den von Croce in der Akademieabhandlung vertretenen Standpunkt hinausgegangen zu sein. II. Und dennoch: Die Geschichte erzählt! Dieses Motiv hat gerade angesichts des hochgeschraubten Intellektualismus der Geschichtsmethodologien nichts von seiner Anziehungskraft eingebüßt. Man spürt, daß in ihm eine Wahrheit steckt, die auf ihre philosophische Formulierung wartet und die dazu beitragen könnte, die Geschichtswissenschaft den Interessen des geschichtlichen Menschen wieder anzunähern. Croces Akademieabhandlung enthält diese Wahrheit, die freilich nur dann verständlich wird, wenn man sie von der paradoxen Formulierung befreit, die ihr Croce, bedingt durch die geistesgeschichtliche Konstellation seiner Zeit, gegeben hat. Das betrifft insbesondere die Subsumtion der Geschichte unter den allgemeinen Begriff der Kunst. Um die hierin liegenden Hindernisse zu beseitigen, ist es erforderlich, Klarheit über den Begriff von Kunst zu gewinnen, den Croce seinen Überlegungen zugrunde legt. Denn es leuchtet ein, daß die idealistische Kunstmetaphysik des 19. Jahrhunderts die Bedingungen nicht erfüllte, die eine Annäherung von Kunst und Geschichte allererst denkbar erscheinen lassen. Wenn geklärt ist, was demgegenüber Croce unter Kunst versteht, verliert seine These vom Kunstcharakter der Geschichtswissenschaft ihre scheinbare Paradoxie. Obwohl es sehr reizvoll und historisch aufschlußreich wäre, an Hand der Abschnitte über den Begriff der Kunst die Genese der ästhetischen Theorien Croces zu verfolgen, seien hier nur die Momente herausgehoben, die im Hinblick auf die Theorie der Geschichte von Belang sind. Wenn Croce sich auch in noch tastenden Formulierungen an der idealistischen Kunstmetaphysik Hegelscher Provenienz orientiert und sich zum Programm des »konkreten Idealismus« Eduard von Hartmanns bekennt (8), so ist doch der Einfluß der realistischen Strömungen des ausgehenden Jahr-
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hunderts unverkennbar. Die Definition der Kunst als »Darstellung der Wirklichkeit«, als »Vorstellung des Gegenstandes in seiner Konkretheit« (22) zeigt den Bruch mit dem normativen Schönheitsideal der idealistischen Ästhetik, die das »Reich der schönen Kunst« mit dem »Reich des absoluten Geistes« in eins setzt. Croce partizipiert an der ästhetischen Revolution der Subjektivierung der Kunst im 19. Jahrhundert, die zu einer reinen »Wahrnehmungskategorie« erklärt wird (13). Das hat eine ungeahnte Erweiterung des Gegenstandsbereichs künstlerischer Darstellung zur Folge. Alle Wirklichkeiten werden kunstfähig, nichts ist vorab als ästhetisches Objekt ausgezeichnet. Damit büßt die Form ihre Absolutheit ein, sie fungiert als Funktion verschiedener Inhalte: »gleichsam eine Projektion des Inhalts selbst« (12). Croce verdeutlicht das am Prinzip der Stilmischung des realistischen Romans, der, wie beispielsweise bei Flaubert, das Vokabular den Erfordernissen der dargestellten Gegenstände oder Situationen anpaßt. Das klingt sehr nach Naturalismus bzw. Verismus. Aber an einem Punkte hält Croce doch am Idealismus fest, indem er die Darstellung der Wirklichkeit als »Ausdruck« interpretiert. Damit taucht erstmals der zentrale Terminus seiner späteren ästhetischen Theorie auf, hier noch als Übersetzung der Hegelschen Bestimmung des Kunstschönen als »sinnliches Scheinen der Idee« (8). Durch die Ausdrucksqualität transzendiert die künstlerische Darstellung die bloße Reproduktion der konkreten Wirklichkeit, künstlerische Darstellung impliziert stets den Bezug des besonderen Gegenstandes auf eine »Wirklichkeit im allgemeinen, die nach vollkommenem Ausdruck drängt« (14). Sieht man einmal von den Schwierigkeiten ab, die die teleologische Formulierung dieses Passus der Interpretation bereitet, so steht doch so viel fest, daß die subjektivistische Wende der Kunst nicht im Sinne der Erlebnistheorie zu verstehen ist. »Ausdruck« bleibt ein kognitiver Prozeß, dem gegenständliche Bedeutung zukommt. Die Kunst hat den besonderen Inhalt der Wirklichkeit so darzustellen, daß er seine Zufälligkeit verliert und zum Sinnbild eines Typus wird. Der Bezug auf das Allgemeine im Sinne des Typischen rechtfertigt allererst die Ausgestaltung des Besonderen. In diesem Sinne vermag die Kunst das in der Wirklichkeit Häßliche in Schönheit zu verwandeln, wie Croce am Beispiel Kalibans demonstriert (14). Die perspektivische Intensivierung der Prägnanz
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des Gegebenen macht die Kunst zu einer Form der Erkenntnis des Allgemeinen im Besonderen, der Croce einen der mit Begriffen arbeitenden Wissenschaft ebenbürtigen kognitiven Rang zuerkennt (22). Diese Andeutungen zur kognitiven Kunstauffassung mögen genügen, um die von Croce gezogenen Verbindungslinien zur Historik plausibel erscheinen zu lassen. Mit der Deutung der Kunst als Wahrnehmungskategorie und der daraus folgenden Öffnung der Kunst für alle Gegenstände ist sowohl die formale als auch die materiale Voraussetzung dafür erfüllt, den Kunst begriff auf die Geschichte anzuwenden. Das Bindeglied bildet die Erzählung als Kunstform der historischen Darstellung: »Die erste Bedingung für eine wahre Geschichte besteht in der Möglichkeit, eine Erzählung zu konstruieren« (36). Wenn Croce somit die Erzählung zum Probierstein der Wahrheit der Geschichte macht, so bleibt zu klären, welcher Begriff von Erzählung dieser Auffassung zugrunde liegt. Der Text selbst enthält nur spärliche Äußerungen zur Erzählstruktur. Es ist daher der Interpret aufgefordert, aus dem Kontext Croces Begriff von Erzählung zu rekonstruieren. Vielleicht geschieht das am besten in Ergänzung der These, die die Erzählung als Form der Sinnstiftung auffaßt. 4 Diese Betrachtungsweise stellt das konzeptuelle Moment heraus, das in der Erzählung steckt und diese über die Aufgabe der Reproduktion des Geschehens hinaushebt. Was mit dem konzeptuellen Moment gemeint ist, läßt sich daran verdeutlichen, daß man jeder Erzählung eines besonderen Vorganges eine allgemeine Überschrift geben kann, z. B. der Erzählung eines glimpflich verlaufenen Unfalls die Überschrift »Glück im Unglück«. Der Erzähler muß vorab einen derartigen Begriff gebildet haben, um die Einzelheiten richtig auswählen und zusammenstellen zu können. Noch deutlicher tritt das bei prägnanten Formen der Erzählung hervor, wie z. B. beim Witz, den richtig zu erzählen nur derjenige imstande ist, der seine Pointe begriffen hat. In diesem Sinne läßt sich die Erzählung tatsächlich als Form der Sinnstiftung begreifen – eine Auffassung, die zur neukantianischen Theorie der historischen Begriffsbildung paßt, derzufolge Vgl. K. Stierle, Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte, in: Text als Handlung, München 1975, 14–48. 4
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nur ein Wertgesichtspunkt im historischen Urteil das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheidbar macht. Die Originalität des ästhetischen Ansatzes bei Croce besteht nun darin, daß seine Konstruktion der Erzählung das konzeptuelle Moment durch das der Anschaulichkeit ergänzt. Anschaulichkeit ist dabei im ganz wörtlichen Sinne gemeint, wie sich dadurch belegen läßt, daß Croce im Erstdruck der Akademieabhandlung von Sehen (vedere) statt von Betrachten (contemplare) spricht (22). 5 Erzählung läßt sich demzufolge nicht nur als sinnstiftendes, sondern auch und in erster Linie als veranschaulichendes Genus verstehen. Was ist damit gemeint? Zunächst sieht es so aus, als sei Erzählung als Beschreibung eines Nacheinanders (23) die bloße Reproduktion des Geschehens. Aber diese Auffassung verkennt, daß sich die naturgetreue Wiedergabe ins Grenzenlose verlieren würde. Die Anschauung, welche die Erzählung vermittelt, bleibt durchaus auf den Begriff bezogen, und zwar auf den individuellen Begriff eines konstruierten Gegenstandes, der vollständig nie in der Anschauung gegeben sein kann, auch den unmittelbar Beteiligten nicht. Das trifft für alle komplexen Vorgänge zu, die Gegenstand historischer Darstellung werden. Die Französische Revolution im allgemeinen oder die Schlacht bei Waterloo im besonderen z. B. sind nicht abbildbare begriffliche Vorstellungen, die durch die Erzählung lediglich symbolisch veranschaulicht werden können. Die Erzählung leistet das dadurch, daß sie Feststellungen verschiedenen Abstraktionsgrades perspektivisch zu einem geschlossenen Ereigniszusammenhang montiert, der in der Vorstellung den Eindruck eines in Anfang, Mitte und Ende gegliederten Geschehnisablaufs hervorruft, ohne daß die »ganze Wirklichkeit« zur Abbildung gelangen würde. Nicht ohne Grund und durchaus zutreffend spricht Croce daher hinsichtlich der Erzählung von Konstruktion, als deren Hauptfunktionen »Verdichtung« und »Vertretung« genannt werden (23). Die Theorie der Erzählung als Form der Veranschaulichung eines individuellen Begriffs, der in Wirklichkeit nie Gegenstand unmittelbarer Anschauung sein kann, läßt Croces auf den ersten Blick paradox anmutende Subsumtion der Geschichte unter den allgemeinen Begriff der Kunst konkludent werden. Denn seine 5
Vgl. V. Sainati, L’ estetica di Benedetto Croce, Firenze 1953, 44.
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Kunstkonzeption ist ja, wie wir gesehen haben, nichts weniger als naturalistisch. Im Sinne des »konkreten Idealismus« transzendiert sie den Naturalismus in Richtung auf Vergegenwärtigung eines Allgemeinen, das die Vielfalt der Erscheinungen zu erlebbaren Einheiten zusammenfaßt. Das besagt die Definition der Kunst als »symbolischer Ausdruck eines bestimmten Inhalts« (12), und genau dieser Kunstdefinition entspricht die Funktion, die Croce der Erzählung in der Geschichte zuerkennt. Demnach läßt sich die Geschichtserzählung vielleicht am treffendsten als »symbolische Form« vergangener Wirklichkeiten kennzeichnen. III. Von den Implikationen dieses erzähltheoretischen Ansatzes seien nur zwei wenigstens angedeutet. Das von Croce vertretene Ideal einer Geschichtsschreibung, die ihr Erkenntnisziel in der Wiederbelebung vergangener Zeiten sieht (23), hat oft genug den Verdacht eines unwissenschaftlichen Intuitionismus erzeugt, und Croces späterer großzügiger Umgang mit dem Begriff »Intuition« ist an diesem Eindruck nicht ganz unschuldig. Aber seine Auffassung der Erzählung als symbolische Form läßt keinen Zweifel daran, was in Wirklichkeit gemeint ist. Nicht visionäre Einfühlung, sondern anschauliche Vergegenwärtigung, die begriffliche Geschichte erst in begriffene Geschichte verwandelt. Es spricht für Croces realistischen Geschichtssinn, daß er Gundolf, den Repräsentanten der das Gestaltbild erfühlenden und erdichtenden Literaturgeschichtsschreibung des George-Kreises, ablehnt. Noch bedeutsamer ist die Folgerung, die sich aus Croces narrativer Geschichtstheorie für das Verhältnis von Forschung und Darstellung ergibt. Die Akademieabhandlung könnte den Eindruck erwecken, als hinge Croce dem Ideal einer vorwissenschaftlichen Geschichtsauffassung nach. Das würde ihn attraktiv machen für gegenwärtige Tendenzen der Alltagsgeschichte, die sich gerne des hochabstrakten Instrumentariums der akademischen Geschichtsforschung entledigen möchte. Aber nichts läge Croce ferner als das. Sein narrativer Geschichtsbegriff läßt dem wissenschaftlichen Fortschritt in der Feststellung der Fakten einschließlich ihrer Erklärung freien Raum (17). Nur trennt Croce die Forschung als
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Kritik, Interpretation usw. (35) von der Konstruktion der Erzählung, in der die Logik der Forschung Wirklichkeit annimmt. Das hat nichts mit einem sentimentalen Erlebnisbegriff zu tun. Vielmehr geschieht die Abtrennung der Erzählung von der Forschung als einer bloß vorbereitenden Tätigkeit im Sinne der Objektivität, insofern die Erzählung als Form der symbolischen Anschauung die begriffliche Arbeit des Historikers abschließt. In diesem Punkte hätte sich Croce auf Droysen berufen können, für den die Erzählung die Form der Darstellung bildet, in der die Forschung verschwindet »und die Dinge sozusagen zu ihrem Recht kommen«. 6 Wer wollte leugnen, daß auch und gerade angesichts der Forschungsmethoden der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft die narrative Geschichte ihr unvergängliches Recht behält? An ihr hängt das bleibende Interesse an der Geschichte, da nur sie die Teilnahme hervorruft, die erforderlich ist, um die Rekonstruktion einer abstrakten Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Sind doch die epochemachenden Werke der Geschichtsschreibung immer diejenigen gewesen, die die Spezialforschungen zu einer narrativen Synthese bringen! Schreitet die Geschichtsforschung in den diskussiven Monographien auch beständig fort, die Geschichtserzählung ist ewig. Damit ist das Thema Erzählung und Geschichte sicherlich noch keineswegs erschöpft. Aber die Akademieabhandlung hat dem Problem die Formulierung gegeben, die für die Theorie der Geschichtserzählung maßgeblich bleiben sollte. Eine Weiterführung seines frühen Ansatzes hat Croce in der »Logik« (1905) versucht, in der der Begriff der Erzählung im Rahmen der Theorie des Individualurteils entwickelt wird: »Außerhalb des Individualurteils gibt es weder Subjekt noch Prädikat, und außerhalb der Erzählung, die Vorstellung und Begriff verbindet …, gibt es keine Geschichte«. 7 Der am Problem der Erzählung Interessierte sollte sich 6 Johann Gustav Droysen, Historik, hg. v. R. Hübner, Darmstadt 1974, 274. Zur Erkenntnisfunktion ästhetischer Strukturen in der erzählenden Historiographie nach Droysen vgl. H. R. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1982, 328 ff. Die Rückführung des »Fiktionalen« (wie Jauß sich ausdrückt) auf »elementare Anschauungsformen« kommt dem ästhetischen Ansatz Croces sehr nahe. 7 Benedetto Croce, Logik als Wissenschaft vom reinen Begriff, Tübingen 1930, 197 (mit Änderungen der Übersetzung vom Vf.).
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aber nicht allein an die Theorie des Philosophen halten. Mindestens ebenso aufschlußreich sind die unter dem Einfluß Croces stehenden Ausführungen des Dichters Cesare Pavese, der in seinen Aufsätzen immer wieder auf das Thema Erzählen zurückkommt. Bereichert um die Erfahrungen mit der Psychoanalyse vertieft Pavese die veranschaulichende Funktion der Erzählung in Richtung auf den Mythos. Aber immer bleibt der Grundgedanke der Erzählkonzeption Croces erhalten, nämlich die kognitive Funktion des Bildes: »Der letzte und eigentliche Grund, warum wir uns veranlaßt fühlen, eine Erzählung zu verfassen, ist die Besessenheit, mit der wir das unbestimmt Irrationale, das auf dem Grunde unserer Erfahrungen lauert, in Klarheit umwandeln wollen«. 8 Mit der Psychologie des Erzählens klingt ein weiteres Themenfeld der Akademieabhandlung an, die Frage nämlich nach dem Interesse an der Geschichte, die bis heute zu den immer wieder umgewälzten Problemen der Historik gehört. Croce entwickelt das Problem des historischen Interesses aus dem Begriff des Interessanten, um daraus den Gegenwartsbezug der Geschichte abzuleiten. Für die nähere Ausgestaltung seiner Theorie des historischen Interesses knüpft er an »Die Probleme der Geschichtsphilosophie« seines Lehrers A. Labriola (1887) und an G. Simmel (1892) an. 9 So psychologisierend Croce auch verfahren mag, das kognitive Moment gewinnt auch hier gegenüber dem affektiven schließlich die Oberhand. Das historische Interesse ist immer »Interesse des Gedankens«, wie Croce später in seiner »Theorie und Geschichte der Historiographie« (1915) prägnant formuliert. 10
Cesare Pavese, Erzählen ist eintönig, in: Schriften zur Literatur, Düsseldorf 1977, 362. 9 Eine deutsche Übersetzung der Vorlesung von Antonio Labriola erschien 1888 in Leipzig unter dem Titel »Die Probleme einer Philosophie der Geschichte«. Labriola steht damit am Anfang einer ganzen Reihe von gleichlautenden Abhandlungen über die erneuerte Geschichtsphilosophie, deren Probleme hauptsächlich in ihrer eigenen Problematik liegen. 10 Benedetto Croce, Theorie und Geschichte der Historiographie, Tübingen 1930, 23. 8
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IV. Damit sind die systematischen Schwerpunkte der Akademieabhandlung wenigstens insoweit gekennzeichnet, daß weiterführenden Interpretationen der Weg geebnet ist. Aber nicht nur in systematischer, sondern auch in geistesgeschichtlicher Hinsicht ist Croces Akademieabhandlung für den deutschen Leser von bleibendem Interesse. Ist sie doch in Anlehnung an und Auseinandersetzung mit den Philosophen des deutschen Idealismus entstanden, und gehört sie doch zu jenen Umbruchstexten, die das 19. Jahrhundert über sich selbst hinausgeführt haben und die sich grosso modo mit den Schlagworten Logik versus Psychologie, Idealismus versus Naturalismus usw. kennzeichnen lassen. Es erscheint daher angebracht, einige Markierungspunkte zur geistesgeschichtlichen Konstellation anzugeben, in der die Akademieabhandlung gesehen werden muß. Croce selbst hat die Akademieabhandlung immer als ersten Sieg im Kampf gegen den Positivismus gefeiert. Seine Autobiographie stilisiert die Entstehung der Schrift als Durchbruchserlebnis: »Nach langem Schwanken und manchen vorläufigen Lösungen entwarf ich, im Februar oder März 1893, als ich einen ganzen Tag angestrengt nachgedacht hatte, des abends eine Abhandlung unter dem Titel: Die Geschichte auf den allgemeinen Begriff der Kunst gebracht; diese Abhandlung war für mich wie eine Offenbarung meiner selbst …« 11 Aber so total war der Bruch, den Croce mit dem Positivismus vollzogen zu haben glaubte, auch wieder nicht. Aus heutiger Sicht erscheint seine Geschichtsabhandlung eher als ein Stück jener radikalen Selbstkritik, die das vielgeschmähte Jahrhundert der Wissenschaften von Anfang an begleitet hat. So gesehen rückt Croces Text wenn auch nicht im Ton, so doch in der Gedankenbewegung in die Nähe von Nietzsches zweiter »Unzeitgemäßer Betrachtung« (1874), die eine der großen Etappen auf dem Selbstbewußtwerdungsprozeß des Historismus darstellt. Es fällt uns heute schwer, den Eindruck zu rekonstruieren, den der inzwischen zerlesene Text auf die Zeitgenossen gemacht haben Benedetto Croce, Beitrag zur Kritik meiner selbst (1915), in: Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. v. R. Schmidt, Bd. 4, Leipzig 1923, 16. 11
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muß. »Sie schlug wie ein Blitz unter uns hinein«, formuliert Fritz Mauthner 1918 in seinen Erinnerungen, und er führt die Erschütterung auf das Leiden zurück, »das nun plötzlich bei seinem Namen gerufen wurde: die historische Krankheit oder der Historismus, hatte uns unsere wissenschaftliche Jugend geraubt. Er lag über den Vorträgen unserer Lehrer ebensosehr wie über dem öffentlichen Leben. Wenn man den Historismus als die herrschende Macht oder die herrschende Krankheit des 19. Jahrhunderts auf die kürzeste Formel bringen will, so kann man sagen: der Historismus war die romantische Reaktion gegen die Tendenzen der großen Französischen Revolution von 1789«. 12 Auch Croces Subsumtion der Geschichte unter den Kunstbegriff ist eine Reaktion auf die historische Krankheit des 19. Jahrhunderts, als deren Symptom Nietzsche die Forderung erkannt hatte, »daß die Historie Wissenschaft sein soll«. 13 Nicht dem historischen Sinn überhaupt, sondern dem kalten Objektivismus historiographischer Gelehrsamkeit hat Nietzsche den Kampf angesagt: »Scheint es doch fast, als wäre es die Aufgabe, die Geschichte zu bewachen, daß nichts aus ihr herauskäme als eben Geschichten, aber ja kein Geschehen«. 14 Um »aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen«, hält er für erforderlich »eine große künstlerische Potenz, ein schaffendes Darüberschweben, ein liebendes Versenktsein in die empirischen Data, ein Weiterdichten an gegebenen Typen – dazu gehört allerdings Objektivität, aber als positive Eigenschaft«. 15 Croce empfindet angesichts der Geschichtswissenschaften seiner Zeit ganz ähnlich, freilich ohne den lebensphilosophischen Hintergrund, der Nietzsches zweite »Unzeitgemäße« so vielen Mißverständnissen ausgesetzt hat. Die Nähe der Akademieabhandlung Croces zu Nietzsches Geschichtsauffassung findet indirekt ihre Bestätigung darin, daß Croce Jacob Burckhardts Ideal der Geschichtsschreibung von einem überhistorischen Standpunkt aus im Namen des Gegenwartsinteresses ablehnt. 16 12 13
127.
Fritz Mauthner, Prager Jugendjahre, Frankfurt a. M. 1969, 209 f. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen, Stuttgart 1964,
A. a. O. 137. A. a. O. 106, 149 f. 16 Benedetto Croce, Die Geschichte als Gedanke und Tat, Hamburg 1944, 96. 14
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Erst vor diesem Hintergrund wird Croces Rechtfertigung der erzählenden Geschichtsschreibung historisch verständlich. Denn die Krankheit des Historismus brach erst in dem Moment aus, als der philosophische Rahmen zersprungen war, der die historische Forschungsarbeit zusammenhielt, nämlich die idealistische Geschichtsteleologie Hegels. Sobald der Glaube an die Einheit des Weltprozesses zusammengebrochen war, türmten sich die im 19. Jahrhundert ins Unermeßliche angewachsenen historischen Studien zu einer nicht mehr integrierbaren Masse auf, die das Gegenwartsbewußtsein zu erdrücken drohte. Nur ein verschwindend kleiner Teil des historisch Erschlossenen ließ sich noch als Kontinuität der eigenen Tradition begreifen. So wurde der historische »Schulsack«, über dessen Gewicht schon Kant angefangen hatte zu klagen, für das 19. Jahrhundert zu einer unerträglichen Last toter Information über Zeiten und Zustände, mit denen man für die Gegenwart nichts anfangen konnte. An diesem Punkt tritt die Erzählung von Geschichten in ihr Recht. Was nicht mehr zu der einen Geschichte der Menschheit integriert werden kann, muß wenigstens so gestaltet werden, daß eine vergangene Lebenswirklichkeit wiederersteht, auch wenn es sich um Materialien handelt, die außerhalb der eigenen Traditionslinie liegen. Nur in der Prägnanz der Erzählung transzendiert die Geschichte die Beliebigkeit ihres Stoffes, indem sie das vergangene Geschehen zu Sinnbildern menschlicher Möglichkeiten kristallisiert. Der Gegenwartsaspekt des Geschichtlichen ist es, der Croces spätere Integration der Geschichtstheorie in eine umfassende Philosophie des Geistes bestimmt. Daraus ergibt sich die systemgeschichtlich lohnende Aufgabe, den geistesphilosophischen Geschichtsbegriff, der uns den idealistischen Croce heute so fern gerückt hat, aus der Perspektive seiner realistischen Anfänge zu beleuchten. Dem seit 1915 in dem Buch »Theorie und Geschichte der Historiographie« verfochtenen Programm der Geschichtsschreibung als Gegenwartsgeschichte gehen innersystematische Verschiebungen des Geschichtsbegriffs voraus, die sich kurz folgendermaßen zusammenfassen lassen. Die Akademieabhandlung definiert Geschichte als anschauliche Vergegenwärtigung des Vergangenen. Entsprechend tritt das Begriffliche hinter die Erzählung als symbolische Form zurück. Noch 1902 wendet sich Croce ge-
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gen Rickerts Standpunkt der »intellektualistischen Logik«. 17 Bald darauf hat Croce dann den Spieß umgedreht. Das begriffliche Moment erhält den Primat gegenüber der Anschauung. Das führt zur Trennung von Kunst und Geschichte und zur Gleichsetzung von Geschichte und Philosophie. 18 Die Implikationen dieser Verschiebung sind zu vielfältig, als daß sie hier erörtert werden könnten. Die endgültige Ausformulierung seiner Position gibt Croce in seiner »Theorie und Geschichte der Historiographie« (1915), die er 1917 den drei Bänden seiner »Philosophie als Wissenschaft des Geistes« als vierten Band hinzugefügt hat. Der geistesphilosophische Geschichtsbegriff tendiert dazu, die geschichtliche Wirklichkeit in den reinen Begriff zu verwandeln und die Unterschiede zwischen Handeln und Erkennen aufzugeben. So wird Geschichte schließlich zur Selbsterkenntnis des Geistes, der mit dem stolzen Anspruch auftritt, »es nie nötig zu haben, sich auf etwas ihm Fremdes zu stützen, um sich selbst zu verstehen«. 19 Die Folgen dieser geschichtsphilosophischen Absolutsetzung des Geistes haben sich sehr deutlich an der Entwicklung von Croces historiographischem Werk gezeigt. Die Entwicklung von der »Geschichte des Königreichs Neapel« (1925) über die »Geschichte Italiens« (1928) bis zur »Geschichte Europas« (1932) ist gekennzeichnet durch die verstärkte Konstruktion des Gedanklichen. 20 Dadurch büßt die Darstellung zunehmend an Lebendigkeit ein, so daß auch auf diesem Gebiete der Vorwurf der Entzeitlichung der Geschichte nicht ausbleiben konnte, der zuvor schon gegen Croces ästhetische Theorie gerichtet worden war. V. Es erübrigt sich, auf die Merkwürdigkeiten, die dem geistesphilosophischen Geschichtsbegriff des ganz in aktualistisches FahrwasBenedetto Croce, Primi Saggi, Bari 3 1951, 188. Logik, a. a. O. 204 ff. 19 Theorie und Geschichte der Historiographie, a. a. O. 80. 20 Vgl. die vorzügliche Darstellung von Wolfgang Mager, Benedetto Croces literarisches und politisches Interesse an der Geschichte, Köln, Graz, 1965 (3. Kap.). 17 18
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ser geratenen Croce anhaften, im einzelnen einzugehen. Hier soll stattdessen eine Interpretationsperspektive eröffnet werden, die es gestattet, die idealistische Auffassung von Geschichte als Begriff von der Akademieabhandlung her historisch verständlich zu machen. Zwar kann nicht geleugnet werden, daß den späteren Croce eine tiefe Kluft von seinen Anfängen trennt, doch gibt es auch Kontinuität. In einer 1909 der »Logik« hinzugefügten Anmerkung, die die systematischen Verschiebungen des Geschichtsbegriffs seit der Akademieabhandlung registriert, bemüht sich Croce, die Kontinuität seiner Gedankenentwicklung zu verdeutlichen. 21 Man sollte das nicht nur als einen nachträglichen Rationalisierungsversuch lesen, sondern darin die Aufforderung und Aufgabe erkennen, Croces geistesphilosophische Theorie der Gegenwartsgeschichte als Variante seines ursprünglich ästhetischen Ansatzes zu interpretieren. 22 Der Grundgedanke der Akademieabhandlung, daß Geschichte immer Vergegenwärtigung von Vergangenem ist, bleibt erhalten. Nur findet Croce die Vergegenwärtigung nicht mehr in der Anschauung, sondern im Begriff selbst. Dabei geht es allerdings nicht um die Begriffe der empirischen Wissenschaften, zu der ja auch die historische Forschung zählt, sondern um die Kategorien einer rein rationalen Geschichtskonstruktion, wie Kultur, Gesellschaft und Fortschrift im allgemeinen, Renaissance und Reformation im besonderen. Es erhebt sich hier natürlich die Frage, wieso gerade eine derartige Begrifflichkeit die Vergegenwärtigung soll leisten können. Ist es nicht geradezu paradox, daß die »Konkretheit der Geschichte«, die nach der Anmerkung zur »Logik« das durchgängige Motiv der Überlegungen Croces bildet, gerade durch die Konstruktion historischer Grundbegriffe hergestellt werden soll? Was steckt hinter der von Croce behaupteten Koinzidenz der »Konkretheit der Geschichte« mit der »Konkretheit der Philosophie«, die eintreten soll, sobald sich die Philosophie vom falschen Bewußtsein der wissenschaftlichen Rationalität emanzipiert habe? 21 Benedetto Croce, Logica come scienza del concetto puro, Bari 7 1947, 210 f. (Die deutsche Übersetzung der Logik enthält diesen Zusatz nicht.) 22 Vgl. vom Vf. La dissoluzione della filosofia della storia attraverso l’arte, in: Benedetto Croce, Trent’ anni dopo, hg. v. A. Bruno, Bari 1983, 99–114.
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Um diese Fragen systemgeschichtlich zu beantworten, bedürfte es der Erörterung des von Croce an der Kritik der Wissenschaften gewonnenen Begriffs von Philosophie. Denn insbesondere beim deutschen Leser wird die Rede von der »Konkretheit« leicht ungute Erinnerungen an die Pseudokonkretheit der Fundamentalontologie und die damit verbundenen Verführungen wachrufen. Aber in dieser Hinsicht war Croce immun. Seine Wendung zum Begriff ist kein Indiz für Ontologismus. Er deutet die Konstruktion der Geschichte als Prozeß der vernünftigen Selbst bewußt werdung: »Im historischen Bewußtsein macht sich der Geist selbst durchsichtig als Gedanke«. 23 Dieser Gedanke läßt sich fast psychoanalytisch interpretieren. Die rationale Geschichtskonstruktion verwandelt die unbewußte Abhängigkeit des Geistes von der unbegriffenen Geschichte in Erkenntnis und stellt somit zugleich einen moralischen Akt der Selbstbefreiung des Geistes dar. Diese bewußtseinsanalytische Interpretation der Wendung zum Gedanken, die Croces Geschichtstheorie vollzieht, verhindert Fehleinschätzungen, die in Croce nichts anderes als eine Neuauflage der Geschichtsmetaphysik Hegels erblicken wollen. Natürlich war Croce nicht so realitätsfremd, um den absoluten Geist für die eigentlich geschichtliche Wirklichkeit zu halten und diese überdies noch als. Entwicklung des Guten zum Besseren anzusehen. Croce hat die spekulative Geschichtsphilosophie Hegels stets als sich selbst mißverstehenden Naturalismus kritisiert. 24 Wenn er selbst zunehmend zu rein rationalen Geschichtskonstruktionen neigt, so sind diese nicht im ontologischen Sinne zu lesen. Die Geschichte dient ihm nur noch als Material für den Akt der Selbstvergegenwärtigung des Geistes, die im Gelingen der rationalen Konstruktion des Vergangenen liegt. Geschichte wird damit zu einer reinen, vom Gegenwartsinteresse bestimmten Bewußtseinskategorie: »Der Geist selbst ist Geschichte und in jedem seiner Momente Hervorbringer von Geschichte und zugleich Resultat der gesamten vorhergehenden Geschichte«. 25 Und wo bleibt die Erzählung? Die Verwandlung der Geschichte in Geistesgeschichte, die Konstruktion reiner Epochenbegriffe 23 24 25
Theorie und Geschichte der Historiographie, a. a. O. 24. A. a. O. 48 ff. A. a. O. 15.
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scheint für das Erzählerische keinen Platz mehr zu lassen. Doch sieht man genauer zu, so findet man, daß sich das Erzählerische bei Croce ins Anekdotische zurückgezogen und in dieser Form bis zuletzt erhalten hat. Selbst in seinen großen Konstruktionsgeschichten finden sich immer wieder anekdotische Einlagen, die die Konstruktion des Begriffs blitzartig in Anschauung verwandeln. Noch in seinem letzten geschichtstheoretischen Werk »Die Geschichte als Gedanke und als Tat« (1938) widmet Croce ein ganzes Kapitel dem Anekdotischen. So beweist die erzählende Geschichte ihre Unvergänglichkeit. Die Wendung von der Anschauung zum Gedanken, von der Erzählung zur Konstruktion hat nicht nur innersystematische Gründe, die in der Logik der Philosophie des Geistes liegen. Sie muß auch geistespolitisch als Reaktion gegen den nach der Jahrhundertwende mächtig aufsteigenden Irrationalismus gelesen werden, dem Croce feindlich gegenüberstand. In der anfänglichen Betonung der Anschauung muß Croce zunehmend die Gefahr erkannt haben, die Geschichte könne einem falschen Intuitionismus abstrakter Gefühle ausgeliefert werden. Daher betrachtete er ja die Form, die die Geistesgeschichte in Deutschland im George-Kreis annahm, mit höchstem Unbehagen. Er sah in ihr nichts anderes als historische Exaltationen einer Dekadenz, die sich der durch die Geschichte gestellten Aufgabe begrifflicher Arbeit auf dichtende Weise zu entziehen trachtete. Angesichts dieser Entwicklung ist Croce schließlich daran gelegen, eine scharfe Trennungslinie zwischen Dichtung und Geschichte zu ziehen. Nicht das Gefühl, sondern die »Subjektivität des Gedankens« macht die Gegenwärtigkeit des Vergangenen aus. 26 VI. Damit sind wir von den systemgeschichtlichen Aspekten der Geschichtstheorie Croces zu ihren geistespolitischen Implikationen gelangt, die abschließend noch einige Vertiefung verdienen. Für Croce heißt Philosophieren immer zugleich politisch Stellung nehmen. Das gilt auch und insbesondere für seine Geschichtstheo26
A. a. O. 25.
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rie, die mehr sein will als eine bloße Methodologie der historischen Forschung. Sie will sich als Rechtfertigung der historischen Denkweise verstanden wissen, die für Croce den Inbegriff der europäischen Kultur und zugleich die Bedingungen ihrer politischen Selbsterhaltung darstellt. Ein eindrucksvolles Dokument der geistespolitischen Dimension des Historismus Croces stellt sein auf dem Philosophenkongreß in Oxford 1930 gehaltener Vortrag dar, der den »Antihistorismus« seiner Zeit zum Thema macht. 27 Croce beschreibt die Geschichtsfeindschaft des revolutionären Anarchismus und des reaktionären Dezisionismus seiner Zeit, die auf dem Gebiete der Kunst im Futurismus und Klassizismus, auf dem Gebiete der Philosophie im Irrationalismus und abstrakten Rationalismus ihr Pendant haben. In beiden Zeiterscheinungen erblickt Croce nur verschiedene Seiten ein und derselben Geistesfeindschaft, die in der Zerstörung des geschichtlichen Bewußtseins liegt. Geschichtlichkeit und Liberalismus gehören für Croce zusammen, und er hält »die Geschichte der Freiheit« für die beste Definition von Geschichte. Das sieht auf den ersten Blick nur nach idealistischem Historismus aus, der den ohnmächtigen Geschichtsglauben der untergehenden Bildungswelt Croces wiederspiegelt. Dieser Glaube beinhaltet aber auch noch etwas anderes als das Dogma von der Vernünftigkeit des Wirklichen, und darin liegt seine Stärke. Das geht aus Croces Gleichsetzung von »historischem Sinn« und »liberalem Sinn« hervor. 28 Das ist keine politische Definition der Geschichte, sondern will sagen, daß die Anerkennung der konkreten Bedingtheit allen Denkens durch die Geschichte den Geist davor bewahren kann, in den Radikalismus des absoluten Standpunktes zu verfallen. Liberalismus beinhaltet bei Croce demnach nicht so sehr eine politische Doktrin als vielmehr eine Form der Rationalität, die die geschichtlich vermittelte Einheit von Kritik und Konstruktion zum Prinzip ihrer Selbsterhaltung macht. 29 Benedetto Croce, Antistoricismo, in: Ultimi Saggi, Bari 1948, 246– 258. Karl Löwith hat diesen Vortrag Croces in der Zeitschrift für Sozialforschung, 1936, 267 besprochen und als Beweis für Croces »Vertrauen in den Prozeß der Geschichte« gewürdigt. 28 A. a. O. 255. 29 A. a. O. 258. 27
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Diese geistespolitische Dimension des »absoluten Historismus« Croces wird in der Regel von denjenigen übersehen, die seiner Theorie der Geschichte vorhalten, sie idealisiere die Wirklichkeit. Man sollte endlich damit aufhören, Croces Geschichtskonstruktionen ontologisch zu lesen. Eine derartige Lesart widerspricht seinem Begriff von Philosophie. Seine hohe Wertschätzung der Philosophie resultiert aus der Herabsetzung ihres überzogenen Anspruchs, theoretische und praktische Inhalte aus sich selbst hervorbringen zu können. Croces Historismus betont den bloß instrumentalen Charakter der Philosophie, er nimmt sie als Mittel der geschichtlichen Selbstbesinnung des Geistes. Als »Methodologie der Geschichtsschreibung« hat es die Philosophie niemals mit der großen Frage des Seins zu tun, über das sich keine Geschichten erzählen lassen, sondern immer nur mit partiellen Problemen, die aus den wechselnden Konstellationen der geschichtlichen Bewegung des Geistes resultieren. Croce hat dem ontologischen Sündenfall der Philosophie Ausdruck verliehen in einem kleinen Porträt des von ihm verabscheuten Typus des »Philosophen«, der in unserem Jahrhundert noch weitgehend das akademische Berufsbild bestimmt: »In der Tat gibt es noch den Philosophen, der seit Jahr und Tag an seinem Schreibtisch sitzt, das Tintenfaß betrachtet und die Frage stellt: Ist dieses Tintenfaß in meinem Bewußtsein oder außerhalb? Es gibt den Philosophen, der die Intensität und Unendlichkeit des Fragens ohne Antwort feiert und sie die ,Tragödie des Philosophen‘ nennt, dazu bestimmt, niemals das gestellte Problem zu lösen. Seine Einstellung ist die einer tragikomischen Figur, oder, wenn man so will, einer komisch-tragischen, und mit dieser Einstellung begibt er sich ans Katheder … in der Hoffnung, um sich herum und nach sich andere ähnlich tragikomische und widersprüchliche Figuren zu erzeugen. Das ist der Philosoph, der keine Ahnung hat von Geschichte, Kunst und Poesie, von Politik, Recht, menschlichen Leidenschaften, der weder den Roman des Lebens liest noch die Romane, die über das Leben geschrieben werden«. 30 Dieses Porträt, das auch und gerade beim deutschen Leser Assoziationen wecken dürfte, sollte nicht dahingehend verstanden werden, als gehe es um die Differenz zwischen dem welterfahrenen 30
Il »Filosofo«, in: Ultimi Saggi, Bari 1948, 390 (übers. v. Vf.).
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Praktiker und dem weltfremden Theoretiker. Obwohl Croce nie an einer Universität lehrte und wiederholt als Kulturpolitiker tätig war, so gehört er doch nicht zu dem heute dominierenden Typ des kulturpolitischen »Machers«, der leicht vergessen läßt, daß die einzige und eigentliche Praxis des Philosophen die Theorie ist. Auch Croce hat zeit seines Lebens am Schreibtisch gesessen, er war ein gewaltiger Leser; wie kaum ein anderer im 20. Jahrhundert repräsentiert er noch einmal den humanistischen Gelehrten europäischen Zuschnitts. So hat Croce stets Sympathie gezeigt für die stille Gelehrsamkeit des »trockenen Schleichers« Wagner in Goethes »Faust«. Der Kontrast, der in seinem Porträt des falschen Philosophen zum Ausdruck kommt, liegt auf anderer Ebene. Croce wendet sich gegen das angeblich an den Sachen orientierte, direkt auf das Sein im Bewußtsein zielende Denken des absoluten Subjektivismus, das sich über das Erzählen von Geschichten erhaben dünkt. Croce hingegen erkennt in der Geschichte des Geistes die einzige Quelle philosophischen Wissens. Nur muß man die Geschichten, die keineswegs, wie die Hermeneutiker wollen, nur in geheimer Chiffreschrift vorliegen, sondern die so lesbar sind wie die Romane des Lebens, auch wirklich lesen. Das konnte auch im größeren Rahmen der Philosophie des Geistes zum Beweis der Unvergänglichkeit der narrativen Geschichte dienen.
BIOGRAPHISCHE NOTIZ
Benedetto Croce wurde 1866 als Sohn wohlhabender Eltern im abruzzischen Dorf Pescasseroli geboren. Er lebte überwiegend in Neapel, das erst 1860 Anschluß an das neue Königreich Italien gefunden hatte. Neben historischen und literarischen Studien rezipierte Croce intensiv die Philosophie des 19. Jahrhunderts, insbesondere den deutschen Idealismus, aber auch, vermittelt durch Antonio Labriola, den historischen Materialismus. Sein philosophisches Hauptwerk, die vier Bände der Philosophie als Wissenschaft vom Geiste, erschienen in den Jahren 1902–1917: »Ästhetik«, 1902; »Logik«, 1905; »Praktik«, 1908; »Historiographie«, 1917. Daneben erschienen bahnbrechende philosophiegeschichtliche Werke, 1906 über Hegel, 1911 über Vico. Seit 1903 gab Croce zusammen mit Gentile die Zeitschrift »Critica« heraus, ein literarisches und philosophisches Rezensionsorgan von europäischem Zuschnitt. In Zusammenarbeit mit dem Verleger Laterza in Bari betreute Croce mehrere Reiheneditionen, die über lange Zeit den literarischen Bildungshorizont Italiens geprägt haben. Croces kulturphilosophische Aktivitäten reichten über Italien hinaus. Von seiner engen Verbindung mit dem geistigen Leben Deutschlands zeugt der Briefwechsel mit dem Sprachwissenschaftler und Romanisten Karl Vossler. Die Zeit bis 1915 schildert Croces autobiographischer Beitrag »Zur Kritik meiner selbst«, der 1923 in die »Selbstdarstellungen der Philosophie der Gegenwart« (im Verlag Felix Meiner) aufgenommen wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg verlagerten sich Croces Interessen von der Philosophie auf die Geschichte. Er hat mehrere bedeutende Zeitgeschichten geschrieben, von der »Geschichte des Königreichs Neapel« (1925) bis zur »Geschichte Europas im 19. Jahrhundert« (1932). Um 1920 erschienen mehrere literarhistorische Monographien, darunter die über Dante, Shakespeare und Goethe. Zu dieser Zeit verstärkten sich Croces politische Aktivitäten. Als Anhänger des Liberalismus trat er 1920 / 21 als Erziehungsminister in das letzte Kabinett Giolittis ein. Nach anfänglichen Sympathien für die Faschisten ging Croce 1925 in Opposition. Trotz starker
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Biographische Notiz
Anfeindungen und gelegentlicher Repressionen konnte Croce in Italien weiter publizieren. 1938 erschien das einflußreiche Buch »Die Geschichte als Gedanke und Tat«. 1943 wurde Croce Mitbegründer der neuen Liberalen Partei Italiens. Nach zeitweiser Tätigkeit als Minister gründete Croce 1947 das Istituto per gli Studi Storici in Neapel, ein Lehr- und Forschungsinstitut mit einer immensen Privatbücherei, an dem er bis zu seinem Tode im Jahre 1952 tätig war. Der italienische Originaltitel der mit dieser Ausgabe erstmals in deutscher Übersetzung vorgelegten Abhandlung »Die Geschichte auf den allgemeinen Begriff der Kunst gebracht« lautet: »La storia ridotta sotto il concetto generale dell’ arte«. Der Text der Erstveröffentlichung von 1893 in den Akten der Akademie Pontaniana, Neapel, wurde gelegentlich des Wiederabdrucks in der Werkausgabe, Opere di Benedetto Croce, Scritti varii I, Primi saggi, Bari 1918, um vier Exkurse aus den Jahren 1893 bis 1895 erweitert. Die vorliegende Übersetzung fußt auf der 3. Auflage Bari 1951, S. 1–72, und umfaßt neben dem Text der Akademierede auch die unter dem Titel »Illustrationen und Diskussionen« der Ausgabe von 1918 beigegebenen Exkurse. Die Entstehungsdaten der einzelnen Texte sind jeweils in eckigen Klammern im Anschluß an die Textüberschriften angegeben.
LITERATURHINWEISE
Werke Croces Opere di Benedetto Croce in vier Abteilungen (Filosofia dello spirito; Saggi filosofici; Scritti di storia letteraria e politica; Scritti vari) im Verlag Laterza, Bari 1945 ff. (alle Bände in mehreren Auflagen). Einzelne Werke sind im selben Verlag als »edizione economica« erschienen. Werke Croces in deutscher Übersetzung Gesammelte philosophische Schriften in deutscher Übertragung, 7 Bde. hrsg. von H. Feist, Tübingen 1927–30 (Bd. 1–4: Philosophie des Geistes; Bd. 5: Die Philosophie Giambattista Vicos; Bd. 6 und 7: Kleine Schriften zur Ästhetik). Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie, übers. von K. Büchler, Heidelberg 1909. Grundriß der Ästhetik, übers. von T. Poppe, Leipzig 1913. Zur Theorie und Geschichte der Historiographie, übers. von E. Pizzo, Tübingen 1915. Goethe, übers. von J. Schlosser, Zürich-Leipzig-Wien 1920. Dantes Dichtung, übers. von J. Schlosser, Zürich-Leipzig-Wien 1921. Ariost, Shakespeare, Corneille, übers. von J. Schlosser, Zürich-LeipzigWien 1922. Randbemerkungen eines Philosophen zum Weltkriege, übers. von J. Schlosser, Zürich-Leipzig-Wien 1922. Beitrag zur Kritik meiner selbst, übers. von J. Schlosser, in: Schmidt, R. (Hg.), Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen IV, Leipzig 1923, 1–46. Fragmente zur Ethik, übers. von J. Schlosser, Zürich-Leipzig-Wien 1923. Grundlagen der Politik, übers. von H. Feist, München 1924. Poesie und Nichtpoesie, übers. von J. Schlosser, Zürich-Leipzig-Wien 1925. Der Begriff des Barock. Die Gegenreform. Zwei Essays, übers. von B. Fenigstein, Zürich 1925. Geschichte Italiens 1871–1915, übers. von E. Wilmersdoerffer, Berlin 1928.
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Literaturhinweise
Die Geschichte als Gedanke und Tat, übers. von F. Bondy, Bern 1944. Briefwechsel Benedetto Croce und Karl Vossler, übers. von O. Vossler, Frankfurt a. M. 1955. Die Dichtung, übers. von W. Eitel, Tübingen 1970. Geschichte Europas im 19. Jahrhundert, übers. von K. Vossler und R. Peters, Frankfurt a. M. 1979. Eine unbekannte Seite aus den letzten Lebensmonaten Hegels, übers. von S. Bianchi, in: Merkur 1982, 61–80. Bibliographien der Werke Croces E. Cione, Bibliografia crociana, Milano 1956. F. Nicolini, L’ »editio ne varietur« delle opere di Benedetto Croce, Napoli 1960. S. Borsari, L’ opera di Benedetto Croce, Napoli 1964. Seit 1964 erscheint die Rivista di studi crociani, hrsg. von Alfredo Parente. Biographien F. Nicolini, Benedetto Croce, Torino 1962. –, Il Croce minore, Milano-Napoli 1963. Bibliographien der Werke über Croce G. Castellano, L’ opera filosofica, storica e letteraria di Benedetto Croce. Saggi di scrittori italiani e stranieri e bibliografia dal 1920 al 1941, Bari 1942. Benedetto Croce, hg. von Francesco Flora, Milano 1953, 575–615: Bibliografia intorno alle opere di Benedetto Croce dal 1941 al 1953. Schriften über Croce Aus dem umfangreichen Schrifttum über Croce in italienischer Sprache sei hier nur auf den neueren Sammelband verwiesen, der Croces Werk aus dem kulturellen Erfahrungshorizont der achtziger Jahre beleuchtet: Antonino Bruno (hg.), Benedetto Croce. Trent’anni dopo, Bari (Laterza) 1983 (Mit Beiträgen von: A. Bausola, A. Bruno, D. Corradini, G. Cotroneo, F. Fellmann, R. Franchini, C. Muscetta, G. Pugliese Caratelli,
Literaturhinweise
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G. Cacciatore, S. Cirrone, G. Gembillo, P. Manganaro, A. Masullo, S. Nicolosi, G. Pezzino, F. Rizzo Celona, G. Sava, F. Tessitore). Speziell zum vorliegenden Text M. Corsi, Le origini del pensiero di Benedetto Croce, Napoli 2 1974. F. Chabod, Croce storico, in: Rivista storica italiana 64, 1952, 473–530. Arbeiten in deutscher Sprache Acham, K., Benedetto Croce. Die Grundprobleme des Historismus, in: Die Großen der Weltgeschichte XI, Zürich 1978, 541–557. Bäumler, A., Benedetto Croce und die Ästhetik, in: Zeitschr. f. Ästh. u. allgem. Kunstwiss. XVI, 1922, 308 ff. Bernheim, E. und Steinhausen, G., Ein neuer Gegner der Kulturgeschichte, in: Zeitschr. f. Kulturgeschichte IV, 1896, 318–324. Borchart, R., Benedetto Croce (1925), in: Prosa I, Stuttgart 1955, 10–27. Buck, A., Benedetto Croces Literaturkritik, in: Romanistisches Jahrbuch 5, 1953 / 4, 322–335. Castellano, G., Benedetto Croce, übers. von J. Schlosser, Zürich-LeipzigWien 1925. Ebbinghaus, J., Benedetto Croces Hegel, in: Kant-Studien 16, 1911, 54–84. Fraenkel, A. M., Die Philosophie Benedetto Croces und das Problem der Naturerkenntnis, Tübingen 1929. Gramsci, A., Philosophie der Praxis. Eine Auswahl, Frankfurt a. M. 1967. Koppen, E., Benedetto Croce als Theoretiker der Dichtungskritik und Literaturgeschichte, in: Die Neueren Sprachen, 1963, 241–252, 289–302. Kuhn, H., Die ästhetische Autonomie als Problem der Philosophie der Gegenwart, in: Logos XVII, 1928, 301–322. Lönne, K. E., Benedetto Croce als Kritiker seiner Zeit, Tübingen 1967. Mager, W., Benedetto Croces literarisches und politisches Interesse an der Geschichte. Köln, Graz 1965. de Simone, C., Die Sprachphilosophie von Benedetto Croce, in: Kratylos 12, 1967, 1–32. Vossler, K., Italienische Literatur der Gegenwart. Von der Romantik zum Futurismus. Heidelberg 1914.
BENEDETTO CROCE DIE GESCHICHTE AUF DEN ALLGEMEINEN BEGRIFF DER KUNST GEBRACHT 1 [1893]
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An der Akademie Pontaniana gehaltene Rede, Neapel, 5. März 1893.
Es war notwendig, erst einen unbeschränkten Begriff … aufzustellen, um alle willkürlichen Bestimmungen zu entfernen und das eigentliche Wesen … zu finden. Aber je unbeschränkter der Begriff ist, desto mehr ist die Beschränkung in der Ausführung geboten. A. Boeckh, Encyklop. u. Method. d. philologisch. Wissensch. Leipzig, 1877, pp. 20–1.
Ist die Geschichte Wissenschaft oder Kunst? – Diese Frage ist häufig behandelt worden, aber man zählt sie gewöhnlich zu denjenigen Fragen, die nur die allgemeine Begriffsverwirrung zu stellen und schlecht zu beantworten pflegt. In der Tat haben jene, die diese Frage behandeln, entweder selbst keine feste Vorstellung davon, oder aber, wenn sie gezwungen werden, sich eine zu machen, so beschränken sie sich darauf, unter ihr nichts anderes als das Problem zu verstehen, ob die Geschichte, außer daß sie sich um Genauigkeit bemühen müsse, auch noch lebendig dargestellt und kunstvoll geschrieben sein müsse. Der unbestimmten Bedeutung der Frage entspricht die ebenso unbestimmte der Antworten, von denen die verbreitetste die ist, daß die Geschichte Wissenschaft und Kunst zugleich sei. Eine andere Antwort, ungleich ernsteren Zuschnitts, ist von den gelehrtesten Geschichtsforschern formuliert worden, besonders in Deutschland, wo die Historiker aufgrund einer dort sehr weit verbreiteten Geisteshaltung häufig das Bedürfnis verspüren, über ihre Disziplin zu philosophieren. 2 Zu dieser Antwort hat ein gewisser natürlicher Stolz beigetragen, der sich bei ihnen aus dem starken Gefühl für die Bedeutung, den Ernst und die Schwierigkeit ihres 2 Über die Geschichtsschreibung gibt es in Deutschland eine äußerst reiche Literatur, im Vergleich zu der die der anderen Länder wenig bietet. Auch das Buch des englischen Historikers E. A. Freemann, The methods of historical study (London, Macmillan 1886), das sich in den letzten Jahren einigen Ansehens erfreut hat, ist eine mittelmäßige Arbeit.
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Schaffens gebildet hat. Wahrhaftig, es gibt wohl niemanden, der die bewundernswerten Fortschritte verkennen würde, die die historischen Studien seit einem Jahrhundert sowohl in den Methoden der Forschung und der Kritik, als auch in denen der Interpretation und des Verstehens erzielt haben. Ganze, früher völlig unbekannte Kulturgeschichten sind entdeckt und die schon bekannten sind auf neue Weise verstanden worden. Die Geschichtsforscher haben also ihre Disziplin von der alten goldenen Kette, die sie mit der schönen Literatur verband, gelöst und ihren streng wissenschaftlichen Charakter behauptet. – Vielleicht hat niemand einen solchen Standpunkt mit größerer Klarheit vertreten als Johann Gustav Droysen, der Autor der »Geschichte der Preußischen Politik«, in einem bedeutenden und einfallsreichen Büchlein mit dem Titel »Grundriss der Historik«. Für Droysen ist die Geschichte Wissenschaft und keine Kunst; die Aufgaben der Wissenschaft und der Kunst sind einander entgegengesetzt und unvereinbar; das künstlerische Anliegen schadet der Geschichte; die sogenannten künstlerischen Geschichten, von denen die englische und französische Literatur nur so wimmelt, sind nichts anderes als rhetorische Arbeiten, rhetorische Kunst. 3 In etwa solche Vorstellungen sind vorherrschend, und man findet sie in dem umfangreichen und ausgezeichneten »Lehrbuch der historischen Methode« dargelegt, das vor nunmehr einigen Jahren von Ernst Bernheim, Professor an der Universität Greifswald, veröffentlicht wurde. In diesem Buch wird auf präzise Art die bei den deutschen Historikern über ihre Disziplin vorherrschende Meinung zusammengefaßt. Das Buch Bernheims bietet uns ein erschöpfendes Spektrum aller Meinungen, so daß wir auf weitere Zitate verzichten können, die anzuführen ebenso leicht wie nutzlos wäre. 4 Zusammengefaßt behauptet Bernheim: 1) daß die Geschichte eine Wissenschaft ist und keine Kunst, weil sie nicht auf den ästhetischen Genuß, sondern auf eine Erkenntnis abzielt; 3 Johann Gustav Droysen, Grundriss der Historik (3. überarbeitete Auflage, Leipzig 1882), S. 81 ff. 4 Bernheim stützt sich besonders auf eine Schrift von Ullmann, Über die wissenschaftliche Geschichtsdarstellung, veröffentlicht in von Sybels Historischer Zeitschrift, 1885, Heft 4.
Die Geschichte
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2) daß zweifellos die Ergebnisse der Geschichtswissenschaft, insofern sie in Prosa verfaßt sind, in dieser Hinsicht dem Bereich der Kunst zuzurechnen sind, weil die Prosa eine Kunstgattung ist; aber hiermit ist noch nichts Besonderes über die Geschichte im Verhältnis zu allen anderen wissenschaftlichen Darlegungen gesagt; 3) daß es manchmal vorkommen kann, daß ein Geschichtswerk zugleich ein Kunstwerk ist; aber dieser Fall ist selten und auf jeden Fall ein rein zufälliges Zusammentreffen. 5 Sind diese Antworten nicht wahrhaft überzeugend, klar und einleuchtend? Jemandem, der fragen würde, ob Chemie und Physik Wissenschaft oder Kunst seien, würde man genau das Gleiche antworten. Es sieht so aus, als sei die Frage damit abgeschlossen. Schon bei dem Versuch, sie wieder aufzuwerfen, muß man fürchten, sich dem Vorwurf jener Begriffsverwirrung auszusetzen, von der Bernheim sagt, sie hätte ihren Höhepunkt in dem Moment erreicht, als behauptet wurde, die Geschichte sei Kunst oder Wissenschaft und Kunst zugleich. 6 Aber wenn zwei Begriffe häufig miteinander in Verbindung gebracht werden, so gibt es fast immer einen wirklichen Grund für diese Verbindung. Wenn eine Frage immer wieder auftaucht, mag sie auch noch so schlecht und verworren formuliert sein, so sollte man sich vor den leichten Antworten hüten, die den Knoten durchzuhauen scheinen. Der schlecht gestellten Frage muß eine Schwierigkeit zugrundeliegen, die ihre wahre, wenn auch unbewußte Ursache ist. Wenn man sich also gefragt hat und immer noch fragt, ob die Geschichte Wissenschaft oder Kunst sei, so trägt die Antwort, daß die Geschichte, insofern sie eine Wissenschaft ist, die gleiche Beziehung zur Kunst hat wie alle anderen Wissenschaften, nichts zur Lösung bei und kommt fast einer petitio principii gleich. Wenn die Frage in Bezug auf die Geschichte gestellt wird und nicht in Bezug auf die anderen Wissenschaften, so bedeutet das einerseits, daß die Geschichte keine Wissenschaft wie die 5 Ernst Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode (Leipzig 1889) Kap. I, § V, S. 81–90: Das Verhältnis der Geschichte zur Kunst. 6 »Es bezeichnet den Höhepunkt der Begriffsverwirrung, die auf unserem Gebiete herrscht, daß man vielfach die Geschichte eine Kunst nennt, etc.« (Bernheim, loc. cit.).
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anderen zu sein scheint, und andererseits, daß ihre Beziehung zur Kunst stärker und von der der anderen Wissenschaften zur Kunst verschieden ist. Diese beiden Punkte gilt es fest im Auge zu behalten und zu klären. Es ist jedoch bemerkenswert festzustellen, wie selbst Droysen sich am Ende seiner oben referierten eindeutigen Behauptungen über den wissenschaftlichen Charakter der Geschichte zu folgender Äußerung hinreißen läßt: »Es wäre nicht ohne Interesse, zu untersuchen, welchen inneren Grund es hat, daß von allen Wissenschaften allein der Historie das zweideutige Glück zuteil geworden ist, zugleich auch Kunst sein zu sollen; ein Glück, das nicht einmal die Philosophie trotz der platonischen Dialoge mit ihr teilt«. 7 Und er bemerkt gar nicht, daß die Streitfrage genau an dem Punkt wieder einsetzt, an dem er sie gelöst zu haben glaubt. Wenn man die inneren Gründe für die Verbindung zwischen Geschichte und Kunst, die sich nach Meinung einiger erkennen läßt, erforschen und bestimmen will, welcher Art diese Verbindung oder dieses Verhältnis nun wirklich sei, so muß man zunächst den Inhalt der drei zur Diskussion stehenden Begriffe Wissenschaft, Kunst und Geschichte neu bestimmen. Für diese drei Begriffe trifft der seltsame, aber nicht seltene Umstand zu, daß man glaubt, über ihren Inhalt herrsche Übereinstimmung, was in Wirklichkeit aber nicht so ist. Daher kommt das ewige Mißverständnis, das für die einen die Frage absolut gegenstandslos erscheinen läßt und die anderen daran hindert, auszumachen, worin das Problem nun wirklich besteht. Die Geschichtsforscher beispielsweise gehen gewöhnlich von einem zu engen Kunst- und einem zu weiten Wissenschaftsbegriff aus, während der Irrtum der populären Meinung darin besteht, alle drei Begriffe in ungenauer und widersprüchlicher Form zu verwenden. Aber nichtsdestotrotz stehen wir mit unserer Untersuchung zufällig der populären Meinung, daß die Geschichte an der Natur der Kunst teilhabe, näher als der Behauptung jener, die sie ohne weiteres zu den Wissenschaften zählen. Darüber braucht man sich nicht zu wundern. Denn das allgemeine Bewußtsein hat sich ein echtes Gespür, mag es auch noch so unbestimmt zum Ausdruck kommen, für die wahre Natur der Wissenschaft, der Kunst und der Geschichte erhalten, das im Laufe der ge1
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Begriff der Kunst
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lehrten Auseinandersetzungen – wie das so zu gehen pflegt – gänzlich verloren gegangen ist. Beginnen wir also damit, die Grundbegriffe zu bestimmen. Ich hoffe, daß die Leser nicht mehr erschrocken sein werden, sobald sie feststellen, daß wir bei der Lösung der Frage nicht allzu weit ausholen wollen, sondern daß wir sie im Gegenteil auf ihren Kern zurückführen werden, wo sie allein schnell und leicht gelöst werden kann. 8 I. Der Begriff der Kunst Ich sagte schon, daß über den Begriff der Kunst und im allgemeinen über die ästhetische Betrachtung der Dinge, zu der die Kunst zählt, Übereinstimmung zu herrschen scheint. Zweifellos würde die Antwort auf die Frage, was die ästhetische Welt im allgemeinen und die Welt der Kunst im besonderen ist, in scheinbarer Übereinstimmung lauten: »Die Welt der Ästhetik ist die Welt des Schönen, und die Kunst ist eine Tätigkeit, die darauf ausgerichtet ist, das Schöne hervorzubringen.« Aber die Schwierigkeiten entstehen bei der Bedeutung des Wortes »schön«. Ich habe hier gewiß nicht die Absicht, mich auf die endlosen und feinsinnigen Auseinandersetzungen einzulassen, die Gegenstand der Ästhetik sind, einer Wissenschaft, die in Deutschland entstanden und entwickelt worden ist und dort bewundernswerte Ergebnisse erzielt hat, während sie in anderen Ländern stets wenig Ich hatte keine Gelegenheit, die Schrift B. Gebhardts, Geschichtswerk und Kunstwerk (Breslau 1885) einzusehen, auf die Villari in seiner Untersuchung: La storia e una scienza? (Ist die Geschichte eine Wissenschaft?) einen kurzen Hinweis gibt (veröffentlicht in der Nuova Antologia, 1. Februar, 16. April, 16. Juli 1891, im Separatdruck S. 5–6). Mit dieser Schrift Villaris (obwohl sie dem Titel und dem Ansatz nach meiner Schrift vergleichbar zu sein scheint) konnte ich jedoch wenig anfangen; denn zwischen den vielfältigen und verschiedenartigen Fragen der historischen und geschichtsphilosophischen Methode, die sie behandelt, geht sie nur flüchtig und nebenbei auf unsere Frage ein und kommt nie dazu, sich ausdrücklich damit auseinanderzusetzen. Die Abhandlung von Menendez y Pelayo, De la historia como obra artistica (in: Estudios de critica literaria, Madrid 1884, S. 73–127), behandelt den künstlerischen Wert der Geschichte, aber nicht das Verhältnis der Geschichte zur Wissenschaft. 8
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und schlecht betrieben worden ist und besonders in Italien, wo man sie jetzt ganz vernachlässigt. Ich beschränke mich darauf, dieses Versäumnis zu bedauern und gehe weiter. Für unseren Zweck genügt es, auf die Hauptzüge der Auffassung vom Schönen und von der Kunst hinzuweisen, die mir annehmbar zu sein scheinen. Was ist das Schöne? – Soviel ich weiß, sind auf diese Frage bis jetzt vier hauptsächliche Antworten gegeben worden. Die erste ist die des Sensualismus, der das Schöne zur Klasse des Angenehmen rechnet. Die zweite ist die des Rationalismus, der das Schöne mit dem Wahren und Guten gleichsetzt. Die dritte ist die des Formalismus, der das Schöne in unbedingt gefälligen formalen Verhältnissen bestehen läßt. Die vierte Antwort ist die des konkreten Idealismus, wie ein zeitgenössischer Historiker der Ästhetik ihn nennt 9, der seine wirkungsvollste und bekannteste Ausprägung in der Hegelschen Ästhetik gefunden hat und der das Schöne in der Darstellung oder dem sinnlichen Scheinen der Idee bestehen läßt. Was die beiden ersten Antworten angeht, so leiden sie noch an den Schlägen, die ihnen die mächtige Kritik Kants versetzt hat. Es wird niemandem in den Sinn kommen, noch einmal das Schöne mit dem Angenehmen zu verwechseln, es sei denn einem jener englischen oder französischen Pseudophilosophen, die ihr Geschwätz Philosophie nennen, so wie das einfache Volk von Florenz Beatrice die Geliebte Dantes nannte: »Denn sie wußten nicht, wie anders sie sie hätten nennen sollen.« 10 9 Eduard von Hartmann, Die deutsche Ästhetik seit Kant (Berlin, Duncker 1886). 10 Spencer, der vielleicht das Symbol für die philosophische Mittelmäßigkeit unserer Zeit bleiben wird, vertritt geradezu kindische ästhetische Theorien und Beobachtungen. Um zu beweisen, wie dürftig seine literarische und philosophische Bildung ist, möge die Mitteilung genügen, daß er die Erklärung der ästhetischen Tatsachen hauptsächlich im Begriff des Spiels sucht, von dem er sagt, daß er auf einen deutschen Autor zurückgehe »an dessen Namen er sich aber nicht mehr erinnert«. Der so obskure oder so leicht vergessene Autor ist Friedrich Schiller, und das nur indirekt gekannte Buch sind die berühmten Briefe über die ästhetische Erziehung, wo zum ersten Mal bei der Analyse der Kunst mit dem Begriff des Spiels operiert wird, der dann unzählige Male von den nachfolgenden Ästhetikern erörtert oder diskutiert worden ist. Als Beispiele für die positivistische Ästhetik vgl. auch L’ Esthetique von Véron (2. Aufl. Paris 1883) und
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Ebenso würde niemand mehr darauf kommen, das Schöne im Bereich der Wissenschaft oder der Ethik anzusiedeln, mag dieser Gedanke auch unvergleichlich tiefsinniger sein; denn ein unbezwingbarer Drang unserer Seele treibt uns dazu, die Beziehungen aufzuspüren, die die höchsten Ideale des menschlichen Geistes, das Wahre, das Gute und das Schöne, miteinander verbinden. 11 Die formalästhetische Theorie ist in erster Linie eine kuriose Episode der Philosophiegeschichte. Ich werde kurz darauf eingehen, besonders weil sie bei uns fast unbekannt geblieben ist. Herbart, der die Ästhetik nicht den phantasievollen Abhandlungen und vagen Intuitionen überlassen, sondern sie zu einer exakten Wissenschaft machen wollte, – wie er es schon erfolgreich mit der Ethik, der Psychologie, der Pädagogik und anderen Disziplinen gemacht hatte, bei denen er tiefe Spuren hinterlassen hat –, verlangte zu Recht, daß man mit der Analyse einzelner Fälle von Schönheit begänne. Indem Herbart nämlich die einfachsten ästhetischen Tatsachen in der Musik analysierte und dabei feststellte, daß ein Ton für sich genommen weder schön noch häßlich ist und daß das ästhetische Urteil immer nur über ein Verhältnis von zumindest zwei Tönen gefällt werden kann, und daß zwei Töne in einer bestimmten Anordnung gefallen, in einer anderen hingegen mißfallen, kam er aufgrund dieser und ähnlicher Beobachtungen zu der Theorie, daß das Schöne allein in gefälligen formalen Verhältnissen bestehe und daß deshalb jeder ästhetische Genuß aus der Form, unabhängig vom Inhalt, entstehe. Herbart fiel es schwer, eine vollständige Theorie der Ästhetik aufzustellen. Nur einige wenige Beobachtungen zu diesem Thema finden sich in seiLes problèmes de l’ Esthét. contem. von Guyau (2. Aufl. Paris 1891). Beide Bücher verbinden größte Ungeschicklichkeit mit größter Unbesonnenheit. Was Véron angeht, so verliert auch der gelehrte Spanier Menéndez y Pelayo (in seiner Historia de las ideas estéticas, Madrid 1889, Bd. IV, Teil II) die Geduld und schreibt gegen ihn Seiten von ungewöhnlicher Heftigkeit (S. 351–356). 11 Um die Wahrheit zu sagen, ist es eine Trilogie, die eines komischen Anstrichs nicht entbehrt, seitdem sie in Italien mehreren Büchern Augusto Contis die Titel geliefert hat; aber nichtsdestotrotz habe ich den Mut, sie zu wiederholen, da ich mich nicht damit abfinden kann, daß die akademischen Philosophen sogar das Wahre, das Gute und das Schöne in Verruf bringen müssen.
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nen Werken verstreut, so daß unter seinen Schülern ein Streit über die Interpretation der Gedanken des Meisters ausbrach, wobei einige glaubten, daß Herbart nicht die Absicht gehabt habe, den Ausdruck des Inhalts vom Schönen auszuschließen. 12 Aber Robert Zimmermann, Verfechter einer streng formalistischen Interpretation, unternahm es, nach unvollkommenen Versuchen anderer, die hier zu erinnern sich nicht verlohnt, mit den Prinzipien Herbarts ein vollständiges System der Ästhetik zu erstellen. Nach einer bedeutenden kritischen Geschichte dieser Disziplin veröffentlichte er im Jahre 1865 seine »Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft« 13, in der alle Arten des Schönen durch reine formalgefällige Verhältnisse erklärt werden. So würde zum Beispiel nach der Theorie Zimmermanns in einem Werk der Dichtung das, was man gewöhnlich »poetischen Inhalt« nennt, wegen der formalen Verhältnisse der Charaktere, der Leidenschaften und der Handlungen der Personen gefallen; das, was man »Ausdruck« nennt, würde durch den formalen Bezug der Entsprechung zwischen Inhalt und Form gefallen; das schließlich, was man das »Äußere« der Form (Vers, Strophe usw.) nennt, würde ebenso durch gefällige formale Verhältnisse gefallen. All diese verschiedenen Verhältnisse, deren »Summe« das Kunstwerk sein würde, ordnet er einigen höchsten Prinzipien unter, nämlich fünf ästhetischen Ideen, die das Gegenstück zu den fünf praktischen Ideen der Herbartschen Ethik bilden. Aber nach Zimmermann, der ihr einziger Verfechter geblieben ist, hat sich niemand mehr nach der formalistischen Ästhetik gerichtet. 14 Und wir stimmen mit Hartmanns Urteil völlig überEine solche Polemik, namentlich zwischen Nahlowski und Zimmermann, findet sich in der Zeitschrift für exakte Philosophie, Bd. II (1862), S. 309 ff. Bd. III (1863), S. 384 ff. Bd. IV (1863), S. 26 ff. 199 ff. 300 ff. 13 Allgemeine Ästhetik als Formwissenschaft (Wien, Braumüller 1865). 14 Versuche einer Versöhnung zwischen dem Formalismus und der idealistischen Ästhetik sind die von Köstlin und Siebeck. Was Köstlin angeht, so stimmen Neudecker (Studien zur Geschichte der deutschen Ästhetik seit Kant, Würzburg 1878, S. 72) und Hartmann (op. cit. S. 317) darin überein, daß sein Werk dazu beiträgt, die Leere und die Unhaltbarkeit der formalistischen Ästhetik zu beweisen, und daß es als »eine unwillkürlich glänzend durchgeführte Selbstironisierung des prinzipiell vorangestellten ästhetischen Formalismus« betrachtet werden kann. Siebeck dagegen nähert sich schon so stark dem Idealismus an, daß bei ihm vom Formalismus 12
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ein: »Das verkünstelte Gebäude eines völlig unfruchtbaren Scharfsinns.« 15 Festbegründet bleibt allein die von mir zuletzt erwähnte Theorie, die eine äußerst reiche ästhetische Literatur hervorgebracht hat, und sie ist es auch, die bei den Sachverständigen fast am meisten Anklang findet. In ihr wird das Schöne wieder in den Ausdruck verlegt, in das »sinnliche Scheinen des Ideals«, um den Hegelschen Terminus zu verwenden. Ich kann diese Behauptung nicht begründen, die auf den ersten Blick befremdlich zu sein scheint und die doch die einzige ist, die alle ästhetischen Tatsachen erklärt. Ich muß hierzu auf Spezialuntersuchungen verweisen, von denen die zuletzt veröffentlichte »Philosophie des Schönen« von Hartmann in vieler Hinsicht bemerkenswert ist. 16 Ich kann auch nicht darlegen, in welcher Weise sich der Vorgang des Ausdrucks vollzieht, ist doch gerade diese Beschreibung einer der gelungensten Teile der Hartmannschen Abhandlungen, der den Titel trägt: »Theorie der Konkretionsstufen des Schönen«. 17 Es mag genügen, zu behaupten, daß der Ausdruck eines Inhalts bei den Erscheinungen des Schönen offenbar bestimmend ist, auch in den einfachsten und, fast möchte es scheinen, körperlichsten Fällen von Schönheit. Herbart täuschte sich in dem Glauben, daß es die reine Form sei, die an dem Verhältnis oder Akkord zweier nicht mehr als eine gewisse Schulprägung übriggeblieben ist, da er Schüler Herbarts war. 13 »Das verkünstelte Gebäude eines völlig unfruchtbaren Scharfsinns« (Die deutsche Ästhetik seit Kant, S. 304). Auch sind die Beobachtungen Hartmanns (S. 282–283) äußerst zutreffend, die den naiven Leser vor der Zweideutigkeit warnen, die aus dem Wort »Formalismus« entsteht: als ob der Formalismus gegenüber dem Idealismus die Rechte der ästhetischen Form vor dem abstrakten Inhalt verteidigte oder aber die Freiheit der Kunst gegenüber den Vorurteilen über den Wert des Inhalts, während es sich in Wirklichkeit genau andersherum verhält. Während nämlich die idealistische Ästhetik in Italien die Kritik eines De Sanctis hervorgebracht hat, die die wirkungsvollste Bestätigung der Freiheit der Kunst ist, würde jener Formalismus logischerweise zu einer beschränkten und akademischen Kunstkritik führen. 16 Philosophie des Schönen (Leipzig, Friedrich 1887). 17 Buch I, Kap. II, S. 72–207.
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Töne gefalle. Leibniz hatte ungleich tieferen Einblick in die Natur des Gefallens, den musikalische Akkorde erzeugen, als er sie mit der bekannten seltsamen Formel beschrieb: »Exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi.« Und man darf wohl behaupten, daß das, was den angenehmen Eindrücken der Sinne, mögen sie durch musikalische Akkorde, durch Farben oder die anderen sogenannten niederen Sinne erzeugt worden sein, ästhetischen Charakter verleiht, immer, mag es auch unbewußt sein, der (symbolische?) Ausdruck eines bestimmten Inhalts ist. 18 Es scheint, als ob das Gefallen allein durch den physiologischen Reiz erzeugt wird, aber so ist es nicht. Fast möchte man mit Leopardi sagen: Nicht dieses ist es, was umarmend er ersehnt, Doch jenes, was er ferne liebend wähnt. Nicht der physiologische Reiz ist es, sondern die Bedeutung, deren Träger er ist, die Idee, deren Künder er ist. So werden sogar, wenden wir uns einmal dem anderen Extrem zu, die scharfsinnigsten Erzeugnisse des Geistes, des abstraktesten Gedankens, nämlich die mathematischen Sätze oder die philosophischen Begriffe allein dadurch, daß sie mit Worten und anderen Ausdrucksmitteln dargestellt werden, zum Gegenstand ästhetischer Betrachtung. Und sie sind nur insoweit schön, wie ihr Ausdruck in jeder Beziehung angemessen und wirkungsvoll ist. Die ästhetische Form besitzt nicht, wie einige glauben, einen ästhetischen Wert für sich, und ist auch nicht auf bestimmte Inhalte anwendbar und andere nicht, wie ein buntes Gewand oder ein funkelndes Diadem, sondern sie ist gleichsam die Projektion des Inhalts selbst. Auch die technische Sprache ist ästhetisch, wenn sie von der Sache her gefordert wird. In diesem Fall ist sie sogar – wenn sie erforderlich ist – ästhetischer als jede andere Sprache. 19 18 Siehe hierzu die scharfsinnige Diskussion Hartmanns, op. cit. unter anderem auf den Seiten 82–86. 19 Es gibt überhaupt nichts ästhetisch Gleichgültiges, mag man auch beim Betrachten eines Gegenstandes vom ästhetischen Aspekt absehen können, was geschieht, wenn Interessen anderer Natur vorherrschen. So kann man vom ästhetischen Aspekt eines Physik- oder eines Anatomiebuches absehen, und man kann im geläufigen Sinne sagen, daß es sich um Werke der Wissenschaft handelt, bei denen das Schöne keine Rolle spielt.
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Wenn man von einem solchen Begriff des Schönen ausgeht, d. h. wenn man das Schöne als Ausdruck eines Inhalts betrachtet, so kann man sich die zustimmenden oder ablehnenden Urteile erklären, die der ästhetische Sinn über Natur- und Kunstgegenstände zu fällen pflegt. Ebenso erklärt sich die Relativität des Urteils, je nachdem ob ein Gegenstand, wie man sagt, von einem oder von einem anderen Standpunkt betrachtet wird, d. h. ob er als Ausdruck eines oder eines anderen Inhalts angesehen wird. Zum Beispiel kann ein Exemplar einer Tierart häßlich sein, wenn es als Ausdruck des Tieres im allgemeinen betrachtet wird, da in diesem gegebenen Exemplar (Form) sich das tierische Leben (Inhalt) vielleicht nicht in seiner ganzen Fülle widerspiegelt. Es kann dagegen schön sein, wenn man es als typischen Ausdruck einer besonderen Tierart betrachtet, da es in einem solchen Falle als Ausdruck oder Form eines anderen Inhalts betrachtet wird. 20 Kurzum, ein Gegenstand ist schön oder häßlich, je nach der Kategorie, unter der man ihn wahrnimmt. 21 Eine Wahrnehmungskategorie ist gewiß die Kunst. 22 In der Kunst wird die ganze natürliche und menschliche Wirklichkeit – die schön oder häßlich ist je nach den verschiedenen Aspekten – schön, weil sie als Wirklichkeit im allgemeinen wahrgenommen 20 In der Ästhetik sind, wie Hartmann erklärt, »Inhalt« und »Form« relative Begriffe: der gleiche Gegenstand kann in Bezug auf einen anderen im Verhältnis von Form zum Inhalt und in Bezug auf einen dritten im Verhältnis von Inhalt zur Form stehen (Philosophie des Schönen, S. 33). 21 Deshalb dürfte das bekannte Motto des Epigramms »Für einen Buckligen bist du gut geraten« nicht allzu seltsam sein. Imbriani referiert in seiner Abhandlung über Vito Fornari estetico (Giornale napoletano di filosofia e lettere, 1872) die Stelle aus einer deutschen Komödie, wo eine Person, die eine alte Frau sieht, zu dieser sagt: »Oh du Schöne. – Vielleicht vor vielen Jahren! – antwortet die Alte –, aber jetzt mit all diesen Falten … – Gerade deshalb bist du schön; denn du bist einzigartig alt, und du würdest noch schöner sein, wenn du noch einige Falten mehr hättest.« 22 Hegel und die Hegelianer beachten bei ihrer Herabsetzung des Naturschönen im Vergleich zum Kunstschönen nicht genug, daß bei der Betrachtung des Naturschönen eine Art von künstlerischer Schöpfung vor sich geht. Das Naturschöne ist nicht, wie sie behaupten, »unbeseelt«, sondern es ist vielmehr von dem Geist des Betrachters beseelt, der deshalb schöpferisch ist.
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wird, die vollendet ausgedrückt sein will. Alle Personen, alle Handlungen, alle Gegenstände verlieren (künstlerisch gesprochen), sobald sie in das Reich der Kunst eintreten, die Bestimmungen, die sie im wirklichen Leben aus den verschiedensten Gründen zu haben pflegen, und sie werden einzig und allein nach der größeren oder geringeren Vollkommenheit beurteilt, mit der die Kunst sie darstellt. Kaliban ist in der Wirklichkeit ein Ungeheuer, aber als Figur der Kunst ist er kein Ungeheuer mehr. Hieraus kann man ersehen, wie abwegig der Glaube ist, der Satz, »die Kunst stelle das Schöne dar«, bedeute, daß die Kunst jene Gegenstände zum Inhalt habe, die unter manchen natürlichen Blickwinkeln schön erscheinen. »Das Schöne! – schrieb einmal De Sanctis – Sagt mir doch, ob es etwas Schöneres gibt als Jago, eine Form, den tiefsten Tiefen des wirklichen Lebens entstiegen, so voll, so konkret, so vollendet in allen seinen Teilen, in allen seinen Schattierungen, eine der schönsten Schöpfungen der Welt der Dichtung.« 23 Der Begriff des Schönen ist somit sicherlich der gleiche in der Kunst wie in der Natur, aber in der Kunst ist das Ideal, das man vor Augen hat – nämlich der Inhalt, der dargestellt werden soll – einfach die Wirklichkeit im allgemeinen, während in der Natur Einzelfälle der Wirklichkeit die Ideale sind. Deshalb fällt die Unterscheidung, so berechtigt sie auch ist, nicht leicht. Wenn wir uns also eng an diesen Begriff der Kunst halten, d. h. wenn wir sie als Darstellung der Wirklichkeit betrachten, so liegt es auf der Hand, daß der größte Teil der Gründe hinfällig wird, aus denen heraus viele sich entsetzt dagegen wehren, zuzugestehen, daß die Geschichtsschreibung eine künstlerische Hervorbringung ist. Eine solche Empörung ist durchaus gerechtfertigt, wenn man von einer der drei Theorien über das Schöne und über die Kunst ausgeht, die wir ausgeschieden haben, d. h. wenn man glaubt, daß die Kunst zum Ziele habe, entweder 1) das den Sinnen oder der Phantasie Angenehme zu gestalten oder 2) das Wahre und das Gute darzustellen oder aber 3) eine Summe von gefälligen formalen Verhältnissen zu bilden. Das Ziel der Geschichtsschreibung ist unvereinbar mit den drei oben genannten Zwecksetzungen oder höchstens ausnahmsweise 23 In der Abhandlung La critica del Petrarca, in: Nuovi saggi critici (2. Aufl. Neapel 1879), S. 276.
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und zufällig. Wenn man aber besagte Definition, daß die Kunst die Darstellung der Wirklichkeit ist, akzeptiert, dann verhält es sich anders. Ist nicht etwa auch die Geschichte selbst Darstellung der Wirklichkeit? Doch die Gegner der Gleichsetzung von Kunst und Wissenschaft werden sagen: »Ihr irrt euch, die Geschichte stellt die Wirklichkeit nicht so dar wie die Kunst, sondern sie erforscht diese Wirklichkeit wissenschaftlich. Das ist aber etwas ganz anderes. Deshalb ist das Einzige, was die Geschichtsschreibung mit der Kunst gemein haben könnte, das, was man von jeder beliebigen Rede verlangen kann, nämlich in guter Prosa verfaßt zu sein. Die Geschichte ist Wissenschaft.« Untersuchen wir also, was die Wissenschaft ist. II. Der Begriff der Wissenschaft und die Geschichte Über den Begriff der Wissenschaft gibt es sicher nicht so viele Unstimmigkeiten wie über den Begriff der Kunst. Aber trotzdem darf man nicht glauben, daß hier Einstimmigkeit herrscht. Einige oder vielmehr viele verwechseln die Wissenschaft mit der Erkenntnis oder dem Wissen im allgemeinen, so daß für jene jeder Satz, der eine Wahrheit ausdrückt, schon ein wissenschaftlicher Satz ist. Auf diese Weise gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln, daß, wenn ich sage: »Heute habe ich einen Spaziergang gemacht«, ich einen wissenschaftlichen Satz ausspreche. Ein solcher Begriff ist so weit gefaßt, daß ihm die Unterscheidungsmerkmale der Wissenschaft fehlen. Wer aber der wissenschaftlichen Funktion einen präzisen Sinn geben möchte, wird mit denen übereinstimmen, die Wissenschaft von Erkenntnis im allgemeinen unterscheiden, indem sie nämlich behaupten, daß erstere immer das Allgemeine erforscht und mit Begriffen arbeitet. Wo es keine Begriffsbildung gibt, gibt es auch keine Wissenschaft. Die Philosophie selbst, die höchste unter den Wissenschaften – wenn es unter den Wissenschaften überhaupt eine Hierarchie gibt –, ist nach der schönen Herbartschen Definition nur die Bearbeitung der Begriffe, die in den Einzelwissenschaften verworren und widersprüchlich bleiben. Wenn wir also von diesem Begriff der Wissenschaft – welcher
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der einzig zutreffende ist – ausgehen, können wir mit Recht fragen: Wovon ist die Geschichte eine Wissenschaft? Welche Begriffe bildet sie? Bernheim liefert sofort eine Antwort auf unsere Frage (aus den schon erwähnten Gründen fahre ich fort, aus seinem Buch zu zitieren): »Die Geschichte, sagt er, ist die Wissenschaft von der Entwicklung der Menschen in ihrer Betätigung als soziale Wesen.« 24 Wenn ein kurzes Nachdenken über diese Formulierung uns nicht sogleich zu der Einsicht führen würde, daß die Definition, die dort von der Geschichte als Wissenschaft gegeben wird, nur eine scheinbare ist, dann hätten wir jetzt also erfahren, wovon die Geschichte eine Wissenschaft ist. Die Geschichte ist nicht die Wissenschaft von der Entwicklung. Sie bestimmt nicht, worin die Entwicklung besteht. Die Geschichte stellt die Tatsachen der Entwicklung dar, d. h. sie erzählt sie. Die Bestimmung des Entwicklungsbegriffs ist Gegenstand des Teils der Philosophie, der von den Grundsätzen des Seins oder der Wirklichkeit handelt. Niemandem würde es daher in den Sinn kommen, eine Untersuchung über den Entwicklungsbegriff zu den Geschichtsbüchern zu zählen. Man wird höchstens von »Philosophie der Geschichte« reden, wenn man sich auf das bezieht, was im besonderen als historische Entwicklung betrachtet wird. Auf einigen Seiten seines Hauptwerks hat Schopenhauer mit gewohnter Heftigkeit den wissenschaftlichen Charakter der Geschichte bestritten. »Der Geschichte fehlt der Grundcharakter der Wissenschaft, die Subordination des Gewußten, statt deren sie bloße Koordination desselben aufzuweisen hat. Daher gibt es kein System der Geschichte, wie doch jeder anderen Wissenschaft … Die Wissenschaften, da sie Systeme von Begriffen sind, reden stets von Gattungen; die Geschichte von Individuen. Sie wäre demnach eine Wissenschaft von Individuen; welches einen Widerspruch besagt.« 25 Diesen Gegensatz von Wissenschaft und Geschichte bringt auch 24 »Die Geschichte ist die Wissenschaft von der Entwicklung der Menschen in ihrer Betätigung als soziale Wesen« Bernheim, op. cit. Kap. I, § I, Begriff der Geschichtswissenschaft. 25 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung (3. Aufl. Leipzig, Brockhaus 1859) Bd. II, Buch III, Kap. 38, Über Geschichte, S. 499–509.
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Lazarus in einer sehr schönen Abhandlung zum Ausdruck, an die häufig in diesem Zusammenhang erinnert wird. 26 Die Geschichte handelt von den individuellen und konkreten Tatsachen. Gewiß setzt sie das Einzelne mit dem Ganzen in Beziehung, aber dadurch erhält sie noch keinen wissenschaftlichen Charakter. Das »Ganze« ist etwas anderes als das »Allgemeine«, der eigentliche Gegenstand der Wissenschaft. »Für die Wissenschaft ist es nicht das einzelne Faktum, sondern das Gesetz, das sich in jedem Faktum ausdrückt; für die Geschichte ist jedes einzelne Faktum und die Gesamtheit derselben das Ziel ihrer Forschung. Die Geschichte hat es nie mit Tatsachen, Ereignissen, Handlungen und Personen überhaupt, sondern immer mit bestimmten Tatsachen, bestimmten Personen usw. zu tun; der Wissenschaft ist umgekehrt diese Bestimmtheit durchaus gleichgültig, nur das Allgemeine, d. h. was allen einzelnen Gegenständen gemeinsam ist, interessiert sie. Also kurz: hier logische Abstraktion, dort psychologische Verdichtung; hier allgemeine Begriffe, dort konkrete verdichtete (wenn nicht gar individuelle) Vorstellung; hier das Einzelne als abstraktes Exemplar, dort das Einzelne als konkrete Individualität; hier das allgemeine Gesetz und dort der individuelle Prozeß die Aufgabe der Forschung.« 27 Die Wahrheit dieser Beobachtungen kann nicht bestritten werden. Die Geschichte hat nur eine Aufgabe: Tatsachen erzählen. Und wenn man sagt, Tatsachen erzählen, so versteht man darunter, daß diese Tatsachen sorgfältig gesammelt und so dargelegt werden müssen, wie sie sich wirklich ereignet haben, d. h. sie müssen auf ihre Ursachen zurückgeführt und nicht nur so dargestellt werden, wie sie von außen dem unerfahrenen Auge erscheinen. Dies ist schon immer das Ideal der guten Geschichtsschreibung aller Zeiten gewesen. Mögen sich inzwischen auch die Untersuchungsmethoden entwickelt haben, mag die Interpretation der historisch überlieferten Daten auch Fortschritte gemacht haben, so hat sich Über die Ideen in der Geschichte, Rektoratsrede in der Aula der Hochschule zu Bern am 14. November 1863, gehalten von Prof. Dr. M. Lazarus (2. Aufl. Berlin, Dümmler 1872). Sie wurde zum ersten Male in der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft veröffentlicht, deren Mitherausgeber Lazarus war. 27 Lazarus, op. cit. S. 21 ff. 26
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das Ideal der Geschichtsschreibung nicht geändert, da es sich nicht ändern kann. Die Geschichte erzählt.28 Ein Theoretiker über Fragen der Geschichte hat einmal, als er nicht mehr wußte, wie er sich den oben genannten Argumenten entziehen sollte, gesagt: Die Geschichte ist keine Wissenschaft wie die anderen, aber sie ist Wissenschaft. Sie ist keine erklärende, sondern eine beschreibende Wissenschaft, so wie die Geographie. Aber was soll dann »beschreibende Wissenschaft« bedeuten? 29 Der Charakter Don Abbondios besteht in rerum natura. Ist also die so vollkommene Beschreibung, die Manzoni uns von diesem Charakter gibt, eine Wissenschaft? Was nun das Beispiel der Geographie betrifft, so ist auch sie, wenn sie sich in derselben Lage wie die Geschichte befindet, keine Wissenschaft. Aber bleiben wir bei unserem Thema und machen es nicht noch schwieriger. Aus dem lebhaften Gefühl, daß die Geschichte keine Wissenschaft ist, aus dem Vergleich zwischen ihr und den anderen Wissenschaften im eigentlichen Sinne sind in neuerer Zeit die zahlreichen Schriften über die Nutzlosigkeit und Ungewißheit der Geschichte hervorgegangen. Ich möchte nur an die des aus den Abruzzen stammenden Melchior Delfico erinnern. 30 Den gleichen Ursprung hatte die große Unternehmung Buckles, die vor ungefähr 30 Jahren die wissenschaftliche Welt in Aufruhr versetzte und von der ich nicht weiß, ob man ihr Ende komisch oder tragisch nennen soll. 31 Buckle, dessen Durst nach Wissenschaft von den 28 »All die Tendenzen und all die wissenschaftlichen Studien, die schon seit einiger Zeit die althergebrachte Historiographie verjüngt haben, treiben sie mehr und mehr darauf hin, eine durchdachte Darstellung der im Einzelnen und im Zusammenhang in einer bestimmten Periode wirkenden Ursachen zu werden. Aber soweit sie sich der Wissenschaft als Stütze und Voraussetzung bedient, ist ihr Amt stets nur das des Erzählens und Darstellens.« Labriola, I problemi della filosofia della storia (Rom 1887), S. 45. 29 Wundt (Über Ziele und Wege der Völkerpsychologie, in: Philos. Stud. Bd. IV, Separatdruck S. 4–5) zweifelt an der Zweckmäßigkeit dieser Unterscheidung in der Naturwissenschaft, die, wie er sagt, »von keinem Naturforscher mehr angenommen wird«. 30 Pensieri sulla storia e sulla incertezza ed inutilità della medesima von Melchiorre Delfico (3. Aufl. Neapel 1814, bei Agnello Nobile). 31 Zu bemerken ist die Übereinstimmung der ersten Seiten der History
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Geschichtserzählungen nicht gelöscht wurde, nahm es sich vor, aus der Geschichte eine Wissenschaft zu machen, indem er aus der Tatsachenhäufung die Gesetze herauszufinden suchte, nach denen die Tatsachen eintreten, so wie die Wissenschaft es erfordert. 32 Aber das so berühmte Werk Buckles geriet schnell in Vergessenheit, und heute ist es ziemlich leicht, festzustellen, daß er einen großen Irrtum beging; denn selbst wenn man einmal von den vielen Einwänden absieht, die man gegen die Vorstellung »historischer Gesetze« vorbringen könnte 33, so würden diese Gesetze in jedem Fall eine andere Disziplin auf den Plan rufen, sie könnten die Geschichte im eigentlichen Sinne aber nicht abschaffen, die keine Gesetze formuliert, sondern die das, was geschehen ist, erzählt. 34 of civilisation in England mit dem kleinen Werk Delficos: ein Zeichen für die Ähnlichkeit der Geisteshaltung, aus der beide Werke hervorgegangen sind. 32 Buckle übrigens gelangte niemals zum klaren Verständnis dessen, was er eigentlich wollte. Seine Kritik richtete sich teilweise gegen die Anhäufung nutzlosen gelehrten Materials, teilweise gegen die erzählende Geschichte, und sie intendierte eine Wissenschaft der historischen Gesetze. Praktisch besteht sein Buch aber aus einer Reihe von Geschichten Spaniens, Schottlands, Englands, Frankreichs usw. die auf allgemeine Ursachen zurückgeführt werden, die er in ziemlich oberflächlicher und paradoxer Weise ausgetüftelt hat. 33 Vgl. Georg Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie (Leipzig 1892), Kap. II, Von den historischen Gesetzen, und besonders S. 36–38, wo er die Unmöglichkeit, Gesetze für komplexe Zustände aufzustellen (Unmöglichkeit von Gesetzen über Gesamtzustände), erörtert. Man wird sich daran erinnern, welches die vier berühmten Gesetze Buckles waren: Erstens, der Fortschritt der Menschheit besteht in der sukzessiven Erweiterung der Erkenntnis der Gesetze der Tatsachen; zweitens, jeder Phase des Fortschritts geht der Geist des Skeptizismus voraus; drittens, die wissenschaftlichen Entdeckungen vergrößern die Wirksamkeit der intellektuellen Fähigkeiten und entsprechend verkleinern sie die der moralischen Kräfte; viertens, der Hauptfeind der Fortschrittsbewegung ist der Geist der Bevormundung. Gesetze, die diesen ähnlich sind – sagte Droysen zu Recht – findet man jeden Tag dutzendweise; und mehr als jedes andere gelte jenes großartige, »daß der Verbrauch an Seife der Maßstab für die Kultur eines Volkes ist«. 34 Das scheint mir der wesentliche Punkt der Kritik an Buckle. Berühmt ist die scharfe Kritik, die Droysen an ihm übt (Erhebung der Ge-
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Denn wenn man den wissenschaftlichen Charakter der Geschichte bestreitet, so muß man sich jedoch davor hüten, mit dieser Bestreitung ein negatives Werturteil zu verbinden. Schopenhauer übertreibt hier mal wieder wie gewöhnlich 35, wenn das auch mehr den Ton und das Kolorit als die Substanz betrifft. Buckle ist von dem gleichen Gefühl der Abwertung beherrscht, ganz zu schweigen von Delfico, der geradezu davon besessen ist. 36 Die Geschichte ist keine Wissenschaft (auch die Poesie ist keine Wissenschaft); aber das soll und kann auch nicht heißen, daß sie nicht eine Sache von großer Bedeutung und großem Wen sei, daß es nicht nötig sei, sie weiter so zu betreiben, wie man es bisher gemacht hat, und sie in den Schulen zu lehren und ihr den Platz zu geben, der ihr im Geistesleben zusteht. Neben der Geschichte, d. h. neben der Geschichtsschreibung, hat sich eine andere Wissenschaft entwickelt, die den Namen »Geschichtsphilosophie« angenommen hat. Sie präsentierte sich zunächst als Erforschung der Gesetze und der Bedeutung der Geschichte (Vico, Herder). 37 In der idealistischen Philosophie beschichte zum Rang einer Wissenschaft, im Anhang zum Grundriss, S. 49 ff.), wo die Verneinung der menschlichen Freiheit als Folge der Theorien Buckles besonders hervorgehoben wird. Daraus entstand in Deutschland ein nicht nur wissenschaftlicher, sondern auch moralischer Aufstand gegen das Werk des Engländers, und es gab – wie Lorenz berichtet – in jenen Tagen sogar einen berühmten Historiker, der die Meinung vertrat, daß, wer die Ansichten Buckles akzeptiere, nur »ein ganz unsittlicher und verworfener Mensch« sein könne (Die Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen und Aufgaben, Berlin 1886, I, 184). 35 Schopenhauer gibt schließlich zu, daß die Geschichte, wenn sie nicht Wissenschaft ist, sicherlich das Selbstbewußtsein des menschlichen Geschlechts ist und daß sie die gleiche Aufgabe erfüllt wie die Vernunft im Leben der Einzelnen (loc. cit. S. 507). 36 Die Verurteilung der Geschichte wiederholt sich in neuen Werken, wie in dem Buch von L. Gumplovicz (Professor an der Universität Graz), La lutte des races, Recherches sociologiques (franz. Übers. Paris, Guillaumin, 1893), vgl. besonders Buch IV, § XXVII, S. 165–167 und Anhang C, S. 363–378. 37 Ich verweise nicht auf noch frühere Vorgänger. Über die Geschichte der Geschichtsphilosophie gibt es eine reiche Literatur. Ich erinere an die Werke Rocholls, Mayrs, Festers, und an das des Engländers Flint, The philosophy of history in Europe, 1874, Bd. I, France und Germany, und in
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schränkte sie ihre Spekulationen fast ausschließlich auf die Erforschung der Bedeutung der Geschichte und verschmolz dann mit der philosophisch erzählten Universalgeschichte. 38 Das klassische Werk dieser Art und Mutter vieler anderer ähnlicher ist die »Philosophie der Geschichte« von Hegel. In Mißkredit geraten und »endgültig« totgesagt, hat sie in den letzten Jahren doch wieder von sich reden gemacht in Form der Behandlung einer Reihe von Problemen, die durch die kritische Betrachtung der Geschichte und der Geschichtsschreibung ausgelöst worden sind, wie z. B. die Probleme, die sich auf die erkenntnismäßige Ausarbeitung der geschichtlichen Tatsache, auf die Realfaktoren der Geschichte und auf die Bedeutung und den Wert des Laufs der Geschichte beziehen. 39 Und bei allen Vorbehalten in Bezug auf die Möglichkeit, eine einheitliche Spezialwissenschaft für Probleme verschiedenster Natur ins Leben zu rufen, so besteht doch gar kein Zweifel daran, daß nur Forschungen dieser Art den Namen Philosophie oder, besser gesagt, Wissenschaft der Geschichte verdienen. 40 So kann man abschließend sagen, daß der Stoff der Geschichte sicherlich Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen sein kann, welche die Geschichtsphilosophie in dem oben definierten Sinne der 2. Aufl. außerordentlich erweitert, an den Teil, der Frankreich und die französischsprachigen Länder betrifft: Historical philosophy in France, and French Belgium and Switzerland (Edinburg 1893). Siehe auch das vortreffliche Werkchen von Ettore Pais, Della storiografia e della filosofia della storia presso i Greci (Livorno, Giusti 1889), eine äußerst materialreiche Abhandlung zu dem Thema und eine der wenigen Schriften dieser Art, die die italienische Literatur besitzt. 38 Hegel macht keinen Unterschied zwischen beiden Ausdrücken. Für ihn ist die Philosophie der Geschichte die Weltgeschichte selbst (Philosophie der Geschichte, Einleitung, § c, Berlin 1848, S. 11 ff.). 39 Außer Bernheim, op. cit. siehe auch die oben angeführte scharfsinnige Schrift Georg Simmels und die ebenfalls zitierte von Labriola, I problemi della filosofia della storia. 40 An dieser Stelle ist es angezeigt, aus der Einleitung zu einem der bemerkenswerten neuen Versuche historischer Wissenschaft, Prinzipien der Sprachegeschichte von Hermann Paul (2. Aufl. Halle, Niemeyer 1886), zu zitieren. Paul sagt, er wolle den Ausdruck »Sprachphilosophie« vermeiden, denn »unser unphilosophisches Zeitalter wittert darunter leicht metaphysische Spekulationen … In Wahrheit aber ist das, was wir im Sinne haben, nicht minder Philosophie als die Physik oder die Physiologie«.
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bilden, aber für sich genommen, ist die Geschichte keine Wissenschaft. Nur, wenn die Geschichte keine Wissenschaft ist – und wenn sie im ganzen auch nicht jene kindische und absurde Tätigkeit ist, für die andere sie halten –, was ist sie dann? III. Der Begriff der Kunst und die Geschichte In Bezug auf einen beliebigen Gegenstand – sei es eine Person, eine Handlung oder ein Ereignis – kann der menschliche Geist nur zwei erkenntnismäßige Tätigkeiten ausüben. Er kann sich fragen: Was ist dieser Gegenstand? Und er kann sich diesen Gegenstand in seiner Konkretheit vorstellen. Er kann ihn verstehen oder ganz einfach betrachten wollen. Kurz und gut, er kann ihn einer wissenschaftlichen Bearbeitung unterziehen oder aber, wie man zu sagen pflegt, einer künstlerischen. Ein psychologischer Fall (ein Gefühl, eine Leidenschaft, eine beliebige Handlung), ein Beispiel an Güte oder Bosheit, an Liebe, an Ehrgeiz oder ähnlichem, kann einen Künstler dazu bringen, diesen Fall mit den Mitteln seiner Kunst dazustellen, und kann einen Wissenschaftler dazu bringen, ihn in eine Kategorie der wissenschaftlichen Psychologie einzuordnen. Macbeth und Richard III. so dargestellt, wie sie der Einbildungskraft des Dichters erschienen, sind zwei künstlerische Schöpfungen. Wenn man diese Gestalten aber hinsichtlich ihres inneren Handlungsmechanismus untersucht, fügen sie der »Kriminologie« eine Seite hinzu, wie man die Wissenschaft von den Verbrechen neuerdings getauft hat. Eine Blume auf der Leinwand des Malers ist eine künstlerische Vision; der Botaniker beschreibt ihre Eigenschaften und gibt ihr einen Platz in seiner Systematik. Man betreibt also entweder Wissenschaft oder man macht Kunst. Immer, wenn man das Besondere unter das Allgemeine subsumiert, betreibt man Wissenschaft; immer, wenn man das Besondere als solches darstellt, macht man Kunst. 41 41 Von den vielen und schönsten Stellen Giambattista Vicos, an denen auf diese Unterscheidung hingewiesen wird, möge die folgende genügen: »Die Metaphysik zieht den Geist von den Sinnen fort, die poetische Kraft muß den ganzen Geist in die Sinne eintauchen lassen; die Metaphysik er-
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Wir haben nun gesehen, daß die Geschichtsschreibung keine Begriffe ausarbeitet, sondern daß sie das Besondere in seiner Konkretheit wiedergibt, und deshalb haben wir auch bestritten, daß die Geschichte den Charakter einer Wissenschaft hat. Daher die leichte Schlußfolgerung in Form eines regelrechten Syllogismus, daß die Geschichte, wenn sie keine Wissenschaft ist, Kunst sein muß. Bernheim behauptet, daß die Geschichte die Wissenschaft von der Entwicklung ist. Aber er hätte sagen müssen, daß sie ihre Darstellung ist, nämlich die Darstellung der menschlichen Angelegenheiten in ihrem zeitlichen Ablauf, und als solche ist sie ein Werk der Kunst. Die psychologischen Verfahren, die Lazarus als typisch für die Geschichte beschreibt, sind hingegen genau die, welche bei jeder beliebigen künstlerischen Wiedergabe angewandt zu werden pflegen. Sie beschränken sich auf die zwei Hauptverfahren, das der Verdichtung und das der Vertretung. Mit Hilfe des ersten werden viele und lange Darstellungsreihen in wenige und kurze verwandelt, ungefähr so, wie man ein Orchesterstück für das Klavier umschreibt. Mit Hilfe des zweiten Verfahrens werden viele Darstellungen oder ganze Gruppen davon in einer einzigen zusammengefaßt, die stellvertretend für alle ändern ist. Außerdem möge man bedenken, daß es keinen Grund dafür gibt, daß die historische Darstellung nur mit Hilfe der Kunst des Wortes ausgeführt werden muß. Denn, wenn auch die Architektur oder die Musik oder die dekorativen Künste das historisch Wahre nicht mit Bestimmtheit wiedergeben können 42, so trifft das nicht auf die Malerei und hebt sich zu den Universalien, die dichterische Kraft muß sich in die Einzelheiten vertiefen« (Neue Wissenschaft, Buch III, Philosophische Beweise XI; vgl. auch Buch I, Von den Elementen LIII, etc.). 42 Aber wenn wir in einer Architektur oder an einem Schmuck antike Motive verwenden, versuchen wir dann etwa nicht, gewisse Gefühle, gewisse Eindrücke der Vergangenheit wieder aufleben zu lassen? Was sind die modernen gotischen Kirchen anderes als Mittel, das religiöse Gefühl des Christentums wieder zu erwecken, wie es die historische Interpretation der Romantik im Mittelalter wiederfand? Was sind die Darstellungen von Barock- oder Rokokomotiven anderes als ein Symbol, das uns die von der Geschichte bezeugten ausgelassenen Bilder des gesellschaftlichen Lebens im 18. Jahrhundert vor der Katastrophe der Revolution wieder ins Gedächtnis rufen soll?
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die Bildhauerei zu. Stehen denn z. B. die Gemälde Lelys, die man in den Museen von Bethnal-Green und Hampton-Court sehen kann, in denen eine höchst lebendige Erinnerung an die Damen, die Kavaliere und die Sitten jener Zeit bewahrt ist, nicht etwa gleichberechtigt neben den Erinnerungen, welche die Zeitgenossen und Hamilton in seinen »Memoiren« uns über das Leben am Hofe des Stuarts Charles II. hinterlassen haben? Haben die Bilder Louis Davids, auf denen er die römische Geschichte darstellt, nicht etwa den gleichen »historiographischen« Wert wie die römische Geschichte Rollins? 43 Die Zurückführung der Geschichte auf den allgemeinen Begriff der Kunst scheint, hat man diesen Begriff erst einmal richtig begründet, fast eine Selbstverständlichkeit zu sein. Es ließen sich Zeugnisse in großer Zahl dafür anführen, die beweisen, wie sich diese Vorstellung ganz von selbst der allgemeinen Meinung empfohlen hat. 44 Die Einwände, die man gegen sie vorgebracht hat und die man gegen sie vorbringen kann, sind allesamt unbegründet oder beruhen auf Mißverständnissen. In der Absicht, die Geschichte abzuwerten, schließt Schopenhauer auf den schon zitierten Seiten die Geschichte, nachdem er »Die Historiker schreiben die großen Dinge für die Gelehrten, und die Maler malen sie fürs Volk an die Wände« – so sprachen und handelten unsere Alten (vgl. Paolo Giovio, Lettere, Venedig 1560, S. 10). 44 In der schon zitierten Schrift Villaris (La storia è una scienza?), in der die Fragen meistens auf herkömmliche Weise behandelt werden, finde ich (S. 28–29) die folgenden Bemerkungen: »In der Tat, wenn ich eine wahre und lebendige Beschreibung einer Ketzerverbrennung in Spanien oder von einem dieser grausamen Gemetzel lese, die sich während der Schreckensherrschaft in den Pariser Gefängnissen abspielten, so bewundere ich die Kraft des Historikers, ohne irgendein Bedürfnis zu verspüren, von ihm eine Abhandlung über Moral und Politik zu hören. Aber dann fragen wir uns von neuem: Welchen Zweck hat das alles? Zu welchem Zweck bemühen wir uns so sehr, Menschen und Völker, die nicht mehr existieren, aus dem Grabe auferstehen zu lassen?« (Und hier möchte ich mit De Sanctis sagen, daß, wer so fragt, jenen gleicht, die fragen: Wozu dient die Poesie? Was lehrt sie uns?). Villari schließt mit der Frage: »Aber wie kann die Geschichte mit ganz anderen Mitteln als die Poesie in uns so ähnliche Wirkungen hervorrufen?« Methodisch besser zieht Simmel beständig Vergleiche mit der Kunst, op. cit. S. 82, 83 n., 84. Vgl. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Leipzig 1883), I, 49–50, 114. 43
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sie schon aus dem Bereich der Wissenschaft ausgeschlossen hat, auch aus dem der Kunst aus: »Sofern nun also der Stoff der Kunst die Idee, der Stoff der Wissenschaft der Begriff ist, sehen wir beide mit dem beschäftigt, was immer da ist und stets auf gleiche Weise, nicht aber jetzt ist und jetzt nicht, jetzt so und jetzt anders: daher eben haben beide es mit dem zu tun, was Plato ausschließlich als den Gegenstand wirklichen Wissens aufstellt. Der Stoff der Geschichte hingegen ist das Einzelne in seiner Einzelheit und Zufälligkeit, was ein Mal ist und dann auf immer nicht mehr ist, die vorübergehenden Verflechtungen einer wie Wolken im Winde beweglichen Menschenwelt, welche oft durch den geringfügigsten Zufall ganz umgestaltet werden.« 45 Aber ein solcher Einwand geht aus einer der Kunstlehren hervor, die wir zu Anfang verworfen haben; denn in ästhetischen Fragen verfällt Schopenhauer dem Rationalismus oder abstrakten Idealismus. 46 Es ist nicht wahr, daß die Kunst die Idee der Dinge wiedergibt, oder aber es ist in dem Sinne wahr, in dem dasselbe auch für die Geschichte gilt. 47 Droysen hingegen führt von den Hauptunterscheidungsmerkmalen oder Gegensätzen von Kunst und Geschichte den an, daß die Kunst Gegenstände darstellt, die in allen Teilen vollendet sind, während der Inhalt der Geschichte oft fragmentarisch, ungewiß und unvollendet ist. Aber das würde den Defekt und nicht das Wesen der Geschichte ausmachen. Der Historiker ist bemüht, seinen Gegenstand ebenso vollständig darzustellen wie der Künstler, und wenn ihm das nicht immer gelingt, so geschieht das aus zufälligen Gründen (fehlende Dokumente, Dunkelheit usw.) und nicht aus einer inneren Unmöglichkeit der Aufgabe. Es wäre seltsam, den Mangel der Geschichte in die Definition von Geschichte mit hineinzunehmen. Auf die andere Bemerkung Droysens, daß der Künstler immer Schopenhauer, loc. cit. S. 553. Es ist leicht, in dieser Betrachtungsweise der Kunst den alten aristotelischen Gedanken wiederzuerkennen, daß »die Dichtung philosophischer ist als die Geschichte« (Poet. IX), worauf sich Schopenhauer selbst ausdrücklich bezieht. 46 In der Tat ordnet ihn Hartmann in seiner Geschichte der Ästhetik auch in den Abschnitt »Der abstrakte Idealismus« ein. 47 Wenn man mit dieser Behauptung sagen will, daß der Künstler das Rohmaterial seiner Beobachtungen einem Idealisierungsprozeß unterwirft, so praktiziert auch der Historiker dieses Verfahren. 45
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nur das letzte Ergebnis seiner Mühen darbietet, während der Historiker auch noch den Weg aufzeigen muß, auf dem er dort hingelangt ist 48, werden wir später noch zurückkommen. Aber vorerst wollen wir einmal feststellen, daß die Geschichte eine Sache ist, eine andere sind die historische Untersuchung oder Beweisführung. Viel verbreiteter ist der Einwand, daß die Geschichte es nicht nur mit Ereignissen und Persönlichkeiten zu tun habe, sondern auch mit Ideen, Meinungen und ähnlichem, und deshalb sei Geschichte auch die Geschichte der Mathematik oder Leckys »Geschichte des Aufstiegs und der Ausbreitung des Rationalismus in Europa«. 49 Sind dem Inhalt der Kunst etwa irgendwelche Grenzen gesetzt? Kann nicht auch die Darstellung einer Reihe von Gedanken Inhalt der Kunst sein? Gibt es nicht den psychologischen Roman und philosophische Lyrik? Möge man doch nur einen Augenblick ein Buch betrachten, das z. B. die Geschichte der philosophischen Wissenschaften in Italien wie einen psychologischen Roman behandelt. Diese Analogie wird helfen, mit den Vorurteilen aufzuräumen, die es immer noch in Bezug auf die künstlerische Natur jedweder Geschichte geben kann. Wahrhaftig, welcher psychologische Roman ist interessanter als die Geschichte der Philosophie? 50 IV. Die Kunst im engen Sinne und die Geschichte Aber, so wird man fragen, wenn die Geschichte Kunst ist, welche Stelle nimmt sie dann unter den anderen Werken der Kunst ein? Welche Ähnlichkeiten und welche Unterschiede gibt es zwischen Grundriß der Historik, S. 85. History of the rise and influence of the spirit of rationalism in Europe, 1865, mehrere Male wiederaufgelegt. 50 Der hervorragende Historiker der spanischen Literatur, Ferdinand Wolf, schildert in einem schönen Vergleich die künstlerische Natur der Literaturgeschichte: »Er (der Historiker) muß, wenn dieser Vergleich erlaubt ist, die lyrische Erregtheit seiner eigenen Geschmacksrichtung der epischen Einlebung in die Erscheinung und ihre Seinsberechtigung unterordnen, um eine dramatischkünstlerische Darstellung davon geben zu können« (Studien zur Gesch. der span. und portug. Literatur, Berlin 1859, S. 557). Was die Analogien zwischen den Formen der Geschichte und der Kunst angeht, so ist an die Einteilungen von Gervinus zu erinnern. 48 49
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der »Göttlichen Komödie« Dantes und den »Florentinischen Geschichten« Machiavellis, zwischen Goethes »Faust« und Mommsens »Römischer Geschichte«? – Wir müssen auf diese durchaus legitime Frage eine Antwort geben. Ohne auf die zahlreichen Klassifikationsversuche der Künste einzugehen – berühmt ist jene historisch-ideale Einteilung Hegels in symbolische, klassische und romantische Künste –, sind wir geneigt, das einzig zuverlässige Klassifikationskriterium der verschiedenen Künste in dem jeweiligen Mittel zu sehen, dessen sich die einzelnen Künste bedienen und das jeder Kunst ein besonderes Darstellungsfeld zuweist. 51 Einem solchen Klassifikationsschema folgend, würde die Geschichtsschreibung zur Klasse der sprachlichen Künste gerechnet werden (zur Prosa und zur Poesie; denn es gibt auch zahlreiche Beispiele für Geschichtsschreibung in Versen, und diese sind sowohl historisch als auch ästhetisch durchaus zulässig). Aber man darf auch nicht vergessen, daß bei dem strengen Vorgehen, wie es hier nötig ist, die Geschichtsschreibung ebensogut die figurativen Künste als Ausdrucksmittel benutzen kann, worauf wir oben hingewiesen haben, und daß sie dann entweder zur Malerei (Porträt, historisches Gemälde) oder zur Bildhauerkunst (Monumentalskulptur und ähnliches) gerechnet werden müßte. Auf diese Weise gelingt es also nicht, einen Unterschied zwischen der Geschichte und den anderen Hervorbringungen der Kunst festzustellen, und man sieht vielmehr deutlich, daß die Geschichte, vom rein ästhetischen Standpunkt, d. h. von der Art der Darstellung her, keine Gattung bildet, sondern daß sie eine Tätigkeit ist, die in verschiedenen Gattungen einen Inhalt darstellt, der mit verschiedenen Mitteln ausgedrückt werden kann. Hartmann besteht entschieden auf einer Zweiteilung der Künste (die übrigens ein Hegelsches Erbe ist) in unfreie und freie, wobei er zu den ersten all jene rechnet, die nicht auf den bloßen Schein abzielen, sondern auf die Wirklichkeit selber, was genau auf die historische Erzählung zuträfe, auf den oratorischen Diskurs, auf alle Prosa schließlich, die ein reales Ziel verfolgt, wie auch auf die Architektur, die er zu den unfreien Künsten zählt, da sie einen nützli-
51 Ein besonders aufschlußreiches Werk in dieser Hinsicht ist Lessings Laokoon.
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chen und außerästhetischen Zweck verfolgt. Aber, wenn ich recht verstehe, ist diese Zweiteilung wissenschaftlich unhaltbar und, um ehrlich zu sein, oberflächlich. Die Künste, die einen realen Zweck verfolgen, haben doch als Künste nur gerade den Schein dieses Zweckes im Auge, und dem rein ästhetischen Betrachter reicht dieser Schein. Ein Tempel ist ein Kunstwerk, insofern er in den Linien seiner Architektur wirkungsvoll ein besonderes religiöses Gefühl zum Ausdruck bringt. Der ästhetische Betrachter begnügt sich mit diesem Bezug und es gelingt ihm, in gleicher Weise einen griechischen Tempel und eine gotische Kathedrale, eine arabische Moschee und eine barocke Kirche zu bewundern, ohne jeweils Heide und Christ, Mohammedaner und Jesuit zu sein; und vielleicht teilt er in Wirklichkeit keine dieser Glaubensempfindungen. Der religiöse Mensch dagegen nimmt, während er seinen Glauben praktiziert, einen Tempel einfach als Ausdrucksmittel für sein wirkliches Seelenbedürfnis wahr, er betrachtet ihn als einen Kultgegenstand. Aber wie soll man auf dieser verschiedenen psychologischen Wahrnehmung eine objektive Klassifikation gründen? Auch ein Liebesgedicht kann sowohl rein ästhetischer Betrachtung dienen als auch für einen Verliebten Ausdruck wirklicher Gefühle sein, von denen sein Herz voll ist. Deshalb kann man von der Klassifikation der Künste nach ihren Ausdrucksmitteln nicht auf das Verhältnis der Geschichte zu den anderen Erzeugnissen der Kunst schließen; denn die Geschichte hat kein Ausdrucksmittel, das ihr eigen ist und ihr einen Gegenstand zuweist. Man kann auch nicht nach der Klassifikation Hanmanns dieses Verhältnis bestimmen, da sie unannehmbar ist. Ein ganz anderes Kriterium muß für eine solche Bestimmung entscheidend sein, nicht das rein ästhetische der Darstellungsweise, sondern das andere, außerästhetische, das man aus dem Inhalt, dem Stoff oder dem Thema, oder wie immer man das auch bezeichnen mag, gewinnt, das sich die Geschichte, im Unterschied zu den anderen künstlerischen Tätigkeiten, zu untersuchen zur Aufgabe macht. Hier müssen wir kurz eine ernsthafte Frage streifen, nämlich die nach dem Inhalt der Kunst. In der Wissenschaft kann alles zum Inhalt werden: die Wissenschaft hat es sich zum Ziel gesetzt, alle Erscheinungen der Wirklichkeit in die für sie zutreffenden Kategorien einzuordnen. Das Ganze auf Begriffe gebracht, ist der Bereich
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der Wissenschaft. 52 Aber hat die Kunst einen ebenso umfassenden Bereich? Kann die Kunst alles darstellen? Grundsätzlich oder abstrakt gesprochen handelt es sich um ein Kunstwerk, wenn eine Sache vollständig dargestellt wird. Aber im wirklichen Leben erfüllt und verfolgt die Kunst ihre Aufgabe je nach den verschiedenen Bedingungen, unter denen sie sich entwickelt, während die reine Wissenschaft ihren Weg der Erforschung des Allgemeinen fortsetzt. Für uns ist es wichtig, die Gesetze der Wirklichkeit zu erkennen; aber es ist nicht wichtig für uns, ja es widerstrebt uns sogar, alle Tatsachen und jede beliebige Tatsache der Wirklichkeit zu kennen. Welches ist also das Prinzip dieser Bestimmung und Auswahl? Mit anderen Worten: welchen Inhalt hat die Kunst? Von den Ästhetikern oder einfach von den Kunstsachverständigen sind die verschiedensten Theorien zu diesem Punkte aufgestellt worden. Aber die meisten von ihnen lassen sich nicht halten, da sie auf jenen ästhetischen Theorien beruhen, die wir anfangs erwähnt und zurückgewiesen haben. So stellen für die sensualistische Ästhetik notwendigerweise die angenehmen Gegenstände den Inhalt der Kunst dar. 53 Die rationalistische Ästhetik siedelt ihn in der moralischen Idealität oder in der typischen Darstellung an. Und wir haben gesehen, daß schon Schopenhauer aufgrund 52 Ich spreche von dem rein wissenschaftlichen Interesse und beabsichtige nicht, was wohl klar ist, zu bestreiten, daß auch die Entwicklung der Wissenschaft den Anregungen des praktischen Lebens folgt und daß manche Fragen zu einer Zeit mehr oder weniger interessieren als zu einer ändern und daß sie folglich mehr oder weniger behandelt werden. So interessierten im Mittelalter die theologischen Fragen wegen ihrer Zusammenhänge mit dem sozialen und politischen Leben, und die Hydrostatik, die sich, wie schon häufig bemerkt worden ist, in Norditalien im 16. und 17. Jahrhundert durch das Bedürfnis, die Läufe der Flüsse zu regulieren, entwickelt hat, wäre sicher nicht im »dürstenden« Apulien entdeckt worden. 53 Hier eine kleine Probe einer solchen Ästhetik: »Diese Gesetze (der Kunst) gebieten ihr, zu gefallen, zu verzaubern, zu entzücken, und um diese beglückenden Wirkungen hervorzubringen, muß sie das respektieren, was die Menschen respektieren, sie muß sich für die schönen Gefühle begeistern und die schlechten geißeln, so wie es alle machen«, usw. Diesen kleinen Satz entnehme ich einer Schrift La moralité dans l’ art, in C. Martha, La delicatesse dans l’ art (Paris, Hachette 1884), S. 201.
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dieser Lehre die Idee zum Gegenstand der Kunst macht, und für Schiller war schon das Allgemeine Gegenstand der Kunst. Für die formalistische Ästhetik schließlich gibt es keinen Inhalt der Kunst; denn für sie ist immer ein formalschönes Verhältnis Gegenstand der Kunst. 34 Auf diese verschiedenen Theorien beziehen sich auch, ohne es zu wissen, jene Kunstkenner und Kritiker, die unaufhörlich urteilen und behaupten: dieser Inhalt ist ästhetisch, jener nicht. Daraus entstehen sinnlose Streitereien, die eine Weile andauern und schließlich wieder verschwinden, nicht weil sie auf irgendeine Weise gelöst wurden, sondern einfach, weil man es leid ist, sich vergeblich damit abzugeben. Wie z. B. jene, die uns zwei oder drei Jahre lang in Italien bedrückte, als die »Barbarischen Oden« von Carducci (die immer noch leben und gedeihen) und die »Posthuma« von Stecchetti (die schon tot und vergessen sind) veröffentlicht wurden: die sogenannte Frage des Idealismus und des Verismus. Die Frage: was der Inhalt der Kunst sein muß, kann nur von der Ästhetik des konkreten Idealismus gestellt werden, von der Ästhetik, die hauptsächlich von Hegel vertreten wird. De Sanctis – dessen bewundernswürdige Kritik, ganz unter dem Bann idealistischer Prinzipien stehend, der beste Beweis für die fruchtbare Wahrheit dieser Lehre ist – schrieb einmal: »Die Wissenschaft (der Kunst) ist an dem Tag entstanden, als man den Inhalt nicht einfach beiseiteschob oder für gleichgültig erklärte …, sondern als man ihm den ihm zustehenden Platz einräumte, d. h. als man ihn als eine Voraussetzung oder als eine Vorgabe des künstlerischen Problems betrachtete. Jede Wissenschaft hat ihre Annahmen und ihre Voraussetzungen. Die Voraussetzung der Ästhetik ist unter anderem der abstrakte Inhalt. Und die Wissenschaft beginnt in dem Augenblick, in dem der Inhalt im Kopf des Künstlers zu leben und zu wirken beginnt und Form wird, die deshalb der Inhalt selbst ist, insofern er Kunst ist.« 35 Deshalb bezeichnet sie sich als Formästhetik, im Gegensatz zu allen anderen, die sie unter dem Namen Gehaltsästhetik zusammenfaßt. 55 De Sanctis, Nuovi saggi critici (Neapel 1879), in der Abhandlung: L. Settembrini e i suoi critici, S. 239–240. Man achte auf den Sinn, den De Sanctis dem Wort »Form« verleiht, der sich von dem gewöhnlichen (Form als Verkleidung) und auch von dem Herbartschen unterscheidet. Vgl. hier54
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Wenn man nun dem Inhalt seinen festen Platz als Voraussetzung für den ästhetischen Prozeß angewiesen hat und zu gleicher Zeit behauptet hat, daß er »nicht gleichgültig ist«, so muß man noch näher bestimmen, in Bezug auf was er nicht gleichgültig ist; denn in Bezug auf den ästhetischen Prozeß ist er sicherlich gleichgültig. Koestlin, ein deutscher Ästhetiker, der nach der eklektischen Methode eine Abhandlung über die Ästhetik verfaßt hat, entwickelt einen Begriff vom ästhetischen Inhalt, der mir der Wahrheit am nächsten zu kommen scheint. Nach Koestlin ist der ästhetische Inhalt das Interessante, nämlich das, was den Menschen als Menschen interessiert, sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht, der Gedanke in gleicher Weise wie das Gefühl und der Wille, das, was wir kennen und das, was wir nicht kennen, das, was uns erheitert und das, was uns betrübt, kurz und gut, die ganze Welt des menschlichen Interesses. Der Wert des ästhetischen Inhalts ist umso größer, je allgemeiner das Interesse daran ist. So stehen an erster Stelle die Inhalte, die den Menschen als Menschen angehen; dann kommen die Inhalte, die den Menschen als einer besonderen Rasse, Nation oder Religion zugehörig betreffen; dann folgen die, welche den Menschen einer bestimmten Klasse interessieren, und so geht es immer weiter hinunter bis zu dem, was den Menschen nur als Individuum interessiert. 56 Wenn man einmal von einigen gedanklichen Ungenauigkeiten und terminologischen Unzulässigkeiten absieht, ist dieser Begriff durchaus annehmbar. 57 Inhalt der Kunst ist zweifellos die Wirkzu die Beobachtungen Hartmanns sowohl in dem Werk Die deutsche Ästhetik seit Kant, S. 311–312, als auch in der Philosophie des Schönen, S. 29–33. 56 K. Köstlin, Ästhetik (Tübingen 1869), Teil I, Kap. II, § 2, S. 53–62. 57 Siehe auch G. Neudeckers Kritik hieran, Studien zur Geschichte der deutschen Ästhetik seit Kant, loc. cit. S. 62 ff. »Im Grunde – sagt Neudecker – wäre also ästhetisch interessant, was theoretisch oder praktisch interessant ist. Einen spezifischen Inhalt, der ihm eigentümlich wäre, hätte also das ästhetische Gebiet nicht«. Daß der ästhetische Inhalt das Leben ist, bleibt zu ungenau, denn das Leben ist Inhalt jeder menschlichen Aktivität. »Allein dieser gemeinsame Inhalt ist ein anderer als Inhalt des auf die Erkenntnis gerichteten Denkens, als gedachtes Leben, als wissenschaftlich begriffene Wahrheit, und ist ein anderer als Inhalt des sozusagen auf die ästhetische Erkenntnis gerichteten ästhetischen Empfindens und Produ-
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lichkeit im allgemeinen, insofern sie unter den verschiedenen Aspekten Interesse hervorruft, nämlich den verstandesmäßigen, den moralischen, den religiösen, den politischen usw. und ebenso den ästhetischen. 58 Wenn ein Kunstinhalt in keinerlei Hinsicht interessiert, so kann das Kunstwerk, das ihn gestaltet, ästhetisch vollkommen sein, aber es wird zu denjenigen gehören, welche die öffentliche Meinung im allgemeinen als kalt und langweilig zurückweist. Auf den Inhalt der Kunst paßt gut Voltaires Ausspruch: »Alle Gattungen sind gut außer der langweiligen.« 59 Es versteht sich von selbst, daß ein solches Interesse nicht so konstant sein kann wie das der reinen Wissenschaft, das den Geist als Intellekt betrifft, der auf eine Beherrschung der Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit aus ist. Das ästhetische Interesse dagegen hängt von der komplexen menschlichen Entwicklung ab und ändert sich daher wenigstens teilweise mit den Zeiten, Orten und den anderen Bedingungen. Wie anders z. B. ist das Interesse, das wir modernen Menschen bei der Betrachtung von Kunstwerken wie den Epen Homers und der »Göttlichen Komödie« Dantes aufbringen im Vergleich zu dem, das die Zeitgenossen empfanden! Und wieviel weniger oder wie anders werden sich unsere Nachfahren für Kunstwerke wie die »Kameliendame« oder »Rabagas« interessieren! Es versteht sich von selbst, daß die großen Schöpfungen der Kunst immer etwas zutiefst Menschliches an sich haben, das zu allen Zeiten und unter allen Bedingungen interessiert. Das bedeutet, zierens, als empfundenes und gebildetes, gestaltetes Leben, als ästhetisch begriffene Schönheit«. Diese Kritik kommt zu dem Schluß, daß der Inhalt der Kunst das in seiner Konkretheit dargestellte Leben (die Wirklichkeit) ist, während der Inhalt der Wissenschaft das begriffene oder logisch durchdachte Leben (die Wirklichkeit) ist. Diese Gedankenrichtung wird schon auf den vorhergehenden Seiten eingeschlagen. 58 Denn der Fall kommt häufig vor, daß die Kunst sich durch schöne Schauspiele der Natur inspirieren läßt. Das Kunstwerk ist dann ein schöner Gegenstand, der auf schöne Weise dargestellt wird. Aber der ästhetische Prozeß besteht ganz in dem zweiten Gebrauch des Adjektivs »schön«; und die Kunst gewinnt als ästhetische Tatsache nichts aus jenem Inhalt, der aus ihr fremden Gründen schön ist. Eine andere Meinung vertritt Zumbini in der Abhandlung über die Storia letteraria Settembrinis (Saggi critici, Neapel 1876, S. 300–320). 59 Im Vorwort zum Enfant prodigue.
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daß auch die Vollkommenheit der Darstellung ihre bleibende Attraktivität besitzt; daher ist in gewisser Hinsicht auch jener plastische Vers Carduccis wahr: »Jupiter stirbt, und die Hymne des Dichters bleibt.« 60 Der Inhalt der Kunst läßt sich je nach dem verschiedenen Interesse klassifizieren, das er auslöst. So unterscheidet man die Komödie von der Tragödie, die Portrait- von der Landschaftsmalerei und ähnliches. Das alles sind noch keine verschiedenen Formen, sondern verschiedene Inhalte der Kunst, annäherungsweise unterschieden und benannt. Auf diese Weise unterscheidet sich auch die Tätigkeit der Geschichte von den anderen Hervorbringungen der Kunst. Das ist der Punkt, auf den wir mit dieser scheinbaren Abschweifung hinauswollten. Die Geschichte beschäftigt sich im Vergleich zu den anderen Hervorbringungen der Kunst mit dem historisch Interessanten, d. h. nicht mit dem, was möglich ist, sondern mit dem, was sich wirklich ereignet hat. 61 Sie verhält sich zur Gesamtheit der künstlerischen Produktion wie der Teil zum Ganzen, wie die Darstellung des wirklich Vorgefallenen zur Darstellung des Möglichen. 62 Im heutigen Sprachgebrauch nennt man nur jene Tätigkeit Kunst, die auf die Darstellung des Möglichen ausgerichtet ist. Diesen Sprachgebrauch kann man ohne weiteres übernehmen, solange man sich bewußt hält, daß auch die Darstellung des wirklich Vorgefallenen – die Geschichte – ein im Wesen künstlerischer Vorgang ist und daß er ein ähnliches Interesse hervorruft wie die Kunst.
Sonett A Dante. Zum historischen Interesse vgl. Labriola, I problemi della filosofia della storia, S. 8–9 und unter pädagogischem Aspekt Dell’ insegnamento della storia (Rom, Löscher 1876); ferner die Betrachtungen Simmels, Die Probleme der Geschichtsphilosophie, S. 79 ff. 62 Über die Unterschiede zwischen dem Verfahren des Historikers und dem des Dichters vgl. auch Lazarus, op. cit. S. 9 ff. Der Dichter und der Historiker – sagt er – nehmen beide die Elemente ihrer Schöpfungen aus den empirischen Daten, aber während der Dichter nur vom Prinzip der ästhetischen Verknüpfung geleitet wird, unterliegt der Historiker auch dem der realen Kausalität. 60 61
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Hiermit haben wir die Geschichte von der Kunst im engen Sinn unterschieden. 63 Das historische Interesse ist jedoch so stark und allgemein, daß es eine gewaltige Tätigkeit auslöst und eine große Zahl von Forschern an der Arbeit hält. Der umfangreiche Stoff, mit dem es die historische Tätigkeit zu tun hat, gleicht und übersteigt vielleicht noch den der künstlerischen Tätigkeit. Daher ist man geneigt, die künstlerische und die historische Aktivität als zwei Aktivitäten von gleicher Bedeutung zu betrachten, von denen sich keine der anderen unterordnen kann. Aber die Frage nach dem Umfang einer Tätigkeit ist eine ganz andere als die nach ihrer Natur. Andererseits ist das historisch Interessante nicht immer von großem menschlichen Interesse. Daraus entsteht ein neuer scheinbarer Konflikt zwischen dem Inhalt der Kunst und dem Inhalt der Geschichte, ein Konflikt, der im Grunde genommen nicht existiert. V. Der Begriff der Geschichte und der Geschichtsforschung Nach all dem, was wir gesagt haben, könnte man die Geschichte folgendermaßen definieren: sie ist die Art der künstlerischen Tätigkeit, die die Darstellung des wirklich Vorgefallenen zum Gegenstand hat. Aus dieser Definition ergibt sich, daß die historische Genauig63 Capuana, ein zeitgenössischer italienischer Kritiker, schreibt in seiner Besprechung der von den Brüdern Goncourt verfaßten Biographie Gavarnis: »… man liest sie so gierig wie einen Roman. Vielleicht ist sie das erste Muster dafür, was der zukünftige Roman sein wird: eine einfache biographische Studie, die aus den intimsten Dokumenten erstellt wird« (L. Capuana, Studi di letteratura contemporanea, 2. Folge, Catania, Giannotta 1882, S. 114). Die realistischen Strömungen der Kunst unserer Zeit führen geradezu zur Hervorbringung von Kunstwerken, die zu gleicher Zeit Geschichtswerke oder ganz allgemein Werke mit stärkerer Berücksichtigung der wirklichen oder vorgefallenen Tatsachen sind, In der Kunstepoche, die wir durchlaufen, gewinnt das wirklich Vorgefallene gegenüber dem ideal Möglichen an Boden. In anderen Werken vermischen sich das wirklich Vorgefallene und das ideal Mögliche auf eine solche Weise, daß man nicht mehr weiß, ob man von historischen Romanen oder romanhaften Geschichten sprechen soll.
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keit eine absolute und unaufgebbare Pflicht des Historikers ist. Ebenso wie der Künstler nicht dem Falschen verfallen darf, darf der Historiker nicht dem Imaginären verfallen. Um eine möglichst echte Darstellung zu bringen und das Falsche zu vermeiden, pflegt der Künstler eine Reihe von vorbereitenden Arbeiten zu verrichten, die meistens auf dem sogenannten »Geist der Beobachtung« beruhen und die häufig unbewußt verlaufen. 64 Bei manchen Künstlern sind die vorbereitenden Arbeiten regelrechte und ganz bewußte Spezialuntersuchungen, psychologische, gesellschaftliche, anatomische, physiologische usw. Ebenso muß der Historiker, bevor er an seine Darstellung herangeht, bevor er zu erzählen beginnt, den darzustellenden Stoff zubereiten. Seine vorbereitenden Arbeiten heißen: Forschung, Kritik, Interpretation und historisches Verständnis. Mal sind sie leichter, mal sind sie schwerer, manchmal ist ihnen ein voller Erfolg beschieden, manchmal nicht. Sie sind eine endlose literarische Tätigkeit, im Vergleich zu der die Arbeiten an der Geschichtserzählung nur einen bescheidenen Teil ausmachen. 65
64 Über die Psychologie des Künstlers siehe außer Hartmann, Philosophie des Schönen, Buch II, Kap. VIII, § 3, Die künstlerische Anlage, S. 558–587, das kürzlich erschienene Werk von G. Hirth, Physiologie de l’art (franz. Übers. Paris, Alcan 1892). 65 Wie sehr sich auch die Verfahren gleichen mögen, so bringt die Verschiedenheit des Gegenstandes (das ideal Mögliche für den einen, das wirklich Vorgefallene für den anderen) die besonderen Schwierigkeiten für den Historiker hervor, die sich von denen des Künstlers unterscheiden. Der Künstler setzt selbst die Bedingungen der Wirklichkeit, die er darstellt, z. B. einen Charakter, der durch rein egoistische Motive bewegt wird. Wenn der Ausgangspunkt erst einmal gegeben ist, kann er an dem, was folgt, keine Veränderungen der Wirklichkeit mehr vornehmen (er muß die psychologische Kausalität berücksichtigen, etc.). Der Historiker dagegen setzt die Bedingungen seiner Darstellung nicht, sondern er muß sie suchen, und darin liegt seine besondere Schwierigkeit. Wenn ein Individuum A gegeben ist und eine Tatsache B, so muß der Historiker die beiden in ihren Motivationszusammenhängen darstellen, die nicht gegeben sind. Unter hundert möglichen Erklärungen einer gegebenen Tatsache wählt der Künstler die aus, die ihm gefällt (oder aber er erklärt die Tatsache nach dem Eindruck, den er davon gewinnt) und die subjektiv wahr ist; der Historiker dagegen muß die einzig wahre auswählen, diejenige die objektiv
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Sind nun diese vorbereitenden Arbeiten Geschichte? Die Frage selbst enthält schon ihre Antwort. Ganz sicher nicht. In gewöhnlichem Sprachgebrauch nennen wir sie Geschichtsforschungen, aber im eigentlichen Sinne sind Forschungsarbeiten, die sich damit beschäftigen, festzustellen, welche germanischen und lateinischen Elemente an der Entstehung des Italienischen mitgewirkt haben oder die feststellen wollen, welchen Anteil Maria Stuart am Tode Darnleys hatte, wie es mit der historischen Autorität des Tacitus oder der Echtheit der »Diurnali« des Matteo Spinelli steht, keine Geschichte. Ebensowenig wie die Sammlung von Daten und Beobachtungen, die der Künstler macht, mag sie auch noch so reich an wertvollen Elementen sein, schon ein Kunstwerk ist. 66 Allererste Bedingung für wahre Geschichte (die zugleich ein Kunstwerk ist) ist die Möglichkeit, eine Erzählung herzustellen. Aber es gelingt nicht oft, eine vollendete Erzählung herzustellen. Deshalb stellt unsere Geschichtsdefinition auch ein Ideal dar, das zu verwirklichen dem Historiker nur selten gelingt. Meistens haben wir es mit vorbereitenden Studien und fragmentarischen Darlegungen zu tun, die noch unterbrochen werden von Diskussionen, Zweifeln und Einschränkungen. Der Historiker betrachtet »spähenden Auges« die Dinge, so wie zur Nacht einer den ändern bei Neumond betrachtet, und nicht wie der Künstler im vollen Licht der Mittagssonne. Es ließen sich viele Seiten vollendeter Geschichte anführen, aber nur wenige, vielleicht nicht ein einziges größeres Werk vollendeter Geschichte. 67
wahr ist. Daher kommt das, was man sehr ungenau die größere Freiheit des Künstlers gegenüber dem Historiker nennt. 66 Häufig nennen wir Werke »Geschichtsbücher«, die nichts anderes sind als gelehrte und wohldurchdachte Eingeständnisse unserer Unwissenheit in Bezug auf gewisse historische Tatsachen; es sind »Protokolle der Mängel«, wie Imbriani zu sagen pflegte. 67 Bernheim stimmt mit der Beobachtung dieser Tatsache überein, wenn er sie auch anders erklärt (op. cit. S. 85). Ein gelehrter und sehr scharfsinniger Freund von mir, Professor für Philosophie der Geschichte, bekannte sich bei mir dazu, daß er noch nicht »ein einziges Geschichtsbuch« gefunden habe, das ihm voll und ganz gefallen hätte, und er kam zu
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Das liegt an der menschlichen Unvollkommenheit und an den Grenzen, die der Zufall unserer Tätigkeit setzt. Aber das soll uns nicht daran hindern, deutlich zum Ausdruck zu bringen, wie das Geschichtsideal beschaffen sein muß, selbst wenn es gänzlich unmöglich ist, es voll zu verwirklichen. Denn wenn sich das Ideal mit der Wirklichkeit decken würde, brauchte man nicht mehr zwischen Ideal und Wirklichkeit zu unterscheiden. Die Tatsache, daß sich die Wirklichkeit nicht mit dem Ideal deckt, nimmt letzterem nichts von seinem Wert und befreit den Menschen auch nicht von der Notwendigkeit, alle Anstrengungen zu machen, um es zu verwirklichen oder zumindest danach zu streben und sich danach zu sehnen. Daß die wahre Geschichte Gott schreiben müßte, heißt es an einer Stelle des »Don Carlos«. »Die Zeiten der Vergangenheit sind uns ein Buch mit sieben Siegeln«, sagt Faust zu dem Pedanten Wagner. Hier und da gelingt es uns, ein Siegel aufzubrechen und ein Stück aus jenem Buch zu lesen, das wir nie ganz kennenlernen werden. Auch das Kunstideal ist nicht leicht zu verwirklichen, aber die Bedingungen, denen es unterworfen ist, hängen weniger von äußeren Ursachen ab, und deshalb gelingen der Kunst (im engeren Sinne) vollkommene Schöpfungen häufiger als der Geschichte. 68 Einige Historiker – diejenigen nämlich, die Droysen zu Recht dem Schluß, daß »es leichter sei, Philosophie der Geschichte zu betreiben als Geschichte selbst«. 68 Andererseits haben die künstlerischen Schöpfungen ihre Nachteile gegenüber der historischen Darstellung. Hier scheint es mir angebracht, einige Bemerkungen Labriolas über die erzieherische Wirkung der Geschichte zu zitieren: »Die Situationen (sagt er), die sich im Hergang der Geschichte aus dem Zusammentreffen des Charakters mit dem äußeren oder allgemeinen Lauf der Ereignisse ergeben, disponieren nicht weniger wirkungsvoll als die Poesie zur aufrichtigen und aktiven Anteilnahme des Betrachters. Im Gegenteil, die Geschichte hat gegenüber der Poesie noch den Vorteil, Empfindungen über klare, genaue und individuelle Tatsachen erzeugen zu können, während es Für die Kunst ziemlich schwierig ist, nicht in die Abstraktion der Typik zu verfallen, da der Fall selten eintritt, daß der Autor jenen Grad an Vollkommenheit erreicht, der uns zum Beispiel in den Dramen Shakespeares die Echtheit einer vollkommen stringenten psychologischen Entwicklung bewundern läßt« (Dell’ insegnamento della storia, S. 43–44).
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Die Geschichte [1893]
als Pseudohistoriker bezeichnet und deren Werke er als »rhetorische Kunst« bezeichnet – füllen, getrieben durch den künstlerischen Drang nach vollkommener Schöpfung, die Lücken, die nicht durch Kenntnis der Wirklichkeit geschlossen werden können, mit Phantasieprodukten, die nicht einmal als Vermutungen bezeichnet werden können oder nicht als solche angezeigt werden. So verfährt häufig Renan, aus dessen Büchern wie auch aus denen anderer Historiker, besonders französischer – übrigens redegewandter Schriftsteller mit viel Verve –, man eine Reihe typischer Beispiele für einen Einbruch der Kunst (im engen Sinne: Darstellung des Möglichen) in den Bereich der Geschichte (Kunst des wirklich Vorgefallenen) anführen könnte. Nach alledem, was wir gesagt haben, sieht man, wie abwegig die Befürchtungen der »Historikerkorporation« (wie Buckle sie nennt) sind, daß man der Geschichte etwas von ihrer Genauigkeit und Strenge nimmt, wenn man ihr künstlerische Qualität bescheinigt. Wie gewöhnlich mache ich wieder Bernheim zum Wortführer dieser Befürchtungen: »Es ist nur ein überkommenes Vorurteil, das besagt, daß die Geschichte Kunst sei oder aber Wissenschaft und Kunst zugleich. Ein Vorurteil, das man mit aller Macht bekämpfen muß, weil es den streng wissenschaftlichen Betrieb der Geschichte schädigt.« 69 Nein, so ist es wahrhaftig nicht. Die Frage, ob die Geschichte Wissenschaft oder Kunst ist, hat in diesem Zusammenhang keinerlei praktische Bedeutung. Die Historiker müssen zu jeder Zeit alle jene vorbereitenden Arbeiten ausführen, die Bernheim in seiner bedeutenden Abhandlung so detailliert analysiert und so lehrreich illustriert. Über das Prinzip der Moral diskutieren – so sagte, wenn ich mich nicht tausche, einmal Hegel –, bedeutet nicht, daß man von der Befolgung der zehn Gebote des Herrn befreit ist. Ebenso bedeutet, die Natur der Geschichtsforschung definieren, nicht, daß man die Verfahrensweisen ändern will, die ein richtig empfundener historischer Sinn eingeführt hat. Aber kann man denn abschließend leugnen, daß die ganze vor-
69 »… weil es den streng wissenschaftlichen Betrieb der Geschichte schädigt«, Bernheim, op. cit., S. 88.
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bereitende Arbeit darauf abzielt, Erzählungen über das, was sich ereignet hat, herzustellen? Wenn es sich also erwiesen hat, daß die Erzählung keine Wissenschaft ist, sondern Kunst, wodurch um Himmels willen, hat sie sich denn dann an dem Ernst der Geschichte vergangen? Hiermit sind wir zum Schluß unserer Aufgabe gelangt, die darin bestand, nachzuweisen, daß es in der Tat einen inneren Grund dafür gibt, daß die Worte Geschichte und Kunst so häufig miteinander in Beziehung gesetzt worden sind, und worin die Beziehung wirklich besteht. Indem wir die Geschichte auf den allgemeinen Begriff der Kunst gebracht haben, ist die Aufgabe erfüllt.
ILLUSTRATIONEN UND DISKUSSIONEN [1893–1895]
I. DIE HISTORISCHEN ROMANE 1 [1893] Ein ganz anderes Problem als das eben besprochene, mit dem es aber doch etwas zu tun hat, ist das der historischen Dichtung oder (wie Manzoni sie nannte) »der Kompositionen, die eine Mischung aus Geschichte und Erfindung sind.« Die historische Poesie entsteht aus dem Bedürfnis, die historische Wirklichkeit mit stärkerer anschaulicher Wirksamkeit darzustellen. Das geschieht durch Gestalten aus dem Reich der Phantasie, die in Bezug auf die überlieferten Daten die Aufgabe des Symbols gegenüber der symbolisierten Sache erfüllen. Das, was der Historiker nur als auf Vermutungen beruhende Rekonstruktion darstellt und auch als solche kenntlich macht, wird im historischen Roman ohne weiteres so dargestellt, als ob es sich wirklich ereignet hätte. Zu den von Lazarus analysierten psychologischen Verfahrensweisen der historischen Darstellung kommt geradezu die Erfindung noch hinzu. Manzoni, der nicht nur ein bedeutender Künstler, wie jeder weiß, sondern auch ein Geschichtsforscher von großem Scharfsinn war, widersetzte sich diesem Anspruch, der zu seiner Zeit hauptsächlich von dem in Blüte stehenden historischen Roman vertreten wurde. Das Problem unter dem Aspekt der historischen Darstellung betrachtend, schrieb er in seinem bekannten »Diskurs«: »Die einzige Möglichkeit, die es gibt, einen Zustand der Menschheit oder was es sonst alles an mit Worten Darstellbarem geben mag, zu beschreiben, besteht darin, den Begriff, so wie man ihn selbst davon gewonnen hat, mit den verschiedenen Abstufungen an Gewißheit und Wahrscheinlichkeit, die man an den verschiedenen Dingen entdecken konnte, mit Einschränkungen und Mängeln, die sie aufweisen, weiterzugeben. Kurzum, man kann nur versuchen, den anderen die endgültigen und siegreichen Worte
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Dieser Exkurs begleitete die vorhergehende Akademieabhandlung.
Die historischen Romane [1893]
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zu wiederholen, die man im glücklichsten Augenblick der Beobachtung für sich selbst gefunden hat.« Aber Manzoni ging mit seiner Verurteilung der Formen der Phantasie in der historischen Darstellung zu weit; denn im Hinblick auf die Geschichte genügt es, daß jemand, der so etwas liest, sich darüber klar ist, daß er es nicht mit Erzählungen exakter Geschichte zu tun hat, sondern mit Phantasiekonstruktionen, die auf realen Fundamenten ruhen. So erweisen sich die Werke der historischen Dichtung am Ende doch noch als nützlich, indem sie nämlich mit ihrer wirkungsvolleren Darstellung der Situationen zur Verbreitung historischer Kenntnisse beitragen. Der Charakter des Farinata aus dem Geschlecht der Uberti erscheint in keiner seiner historischen Handlungen so umfassend, wie Dante ihn beschreibt, indem er ihn in phantastische Umstände versetzt, d. h. in die Hölle, aus der er sich »mit Brust und Stirn« emporreckt, als ob er für sie nur »tiefe Verachtung« empfände. Und müßte man in diesem Zusammenhang nicht auch noch das Beispiel der »Verlobten« von Manzoni selbst anführen im Hinblick auf die italienische Geschichte des 18. Jahrhunderts? Alle wissen, wie sehr Manzonis Roman dazu beigetragen hat, uns eine Vorstellung von den moralischen und sozialen, ja sogar von den wirtschaftlichen Verhältnissen zu geben, die zur Zeit spanischer Vorherrschaft in Italien herrschten. 2 Aber Manzoni verurteilte auch die historische Dichtung im Hinblick auf die Kunst. Er wollte zeigen, daß die beiden Elemente, die sich in solchen Werken vereinen, nämlich die historische und die poetische Wahrheit, das historische Ereignis und das ideal Mögliche, im innersten unvereinbar sind. Die Verschmelzung oder Vermischung beider sei weder möglich noch leicht, und wenn und wo sie geschieht, nicht wünschenswert. Der historische Roman ist eine »Komposition, an der die Geschichte und die Fabel beteiligt sein müssen, ohne daß man festsetzen oder angeben könnte, in Das heutige Deutschland besitzt eine reiche Literatur an historischen Romanen, die weniger auf künstlerische Ziele als vielmehr auf Verbreitung ausgerichtet sind. In diesem Genre haben die Namen Dahn (Ein Kampf um Rom, etc.), Freytag (Die Ahnen), Ebers (Die ägyptische Königstochter, etc.) Berühmtheit erlangt. Alle diese Romanschriftsteller sind Historiker von Beruf. 2
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Illustrationen und Diskussionen [1893–1895]
welchem Verhältnis und in welchen Beziehungen zueinander sie daran beteiligt sein müssen. Der historische Roman ist also eine Komposition, für den es kein Rezept gibt; denn seine Aufgabe ist ein Widerspruch in sich selbst.« Der Leser fragt sich in jedem Augenblick, was Geschichte und was Phantasie ist. Mit dieser Frage ist das Urteil über solche Werke gesprochen. Aber Manzoni stand unter dem Zwang eines zwar erhabenen, aber doch zu engen Kunstbegriffs und hatte sich niemals von dem Gedanken gelöst, daß das eigentliche Ziel der Kunst das moralisch Nützliche sei. Es ist infolge dieses Begriffs nur natürlich, daß ihm in der Kunst eine Vermischung des faktisch Wahren mit dem Wahren der Phantasie unannehmbar schien; denn auf diese Weise würde die Kunst nicht mehr auf ein nützliches Ziel gerichtet sein (d. h. auf ihr Ziel), sondern sie würde zum Schaden der Wahrheit und somit des Wohls der Gesellschaft wirken. Wenn man dagegen von einem Begriff autonomer Kunst ausgeht, hat die Unterscheidung von Wirklichkeit und Phantasie keine Berechtigung mehr, da nämlich Wirklichkeit und Phantasie sowohl für den Künstler als auch für den Betrachter ein und dasselbe sind. Wenn der Künstler sich auch abstrakt vornimmt, Kunst und Geschichte miteinander zu verbinden, so vergißt er das doppelte Ziel, sobald er als Künstler am Werke ist, und er ist nur noch darauf bedacht, das darzustellen, was er im Sinn hat, ganz gleich welchen Ursprungs es ist. Und ebenso wie dem Künstler ergeht es dem ästhetischen Leser; denn jener zwischen zwei Interessen hinund hergerissene Leser, wie ihn Manzoni sich vorstellt, ist nicht der ästhetisch gebildete Leser. 3 Nur durch eine nachträgliche kritische Unterscheidung kann der Künstler seine Personen aufteilen in »historische« und »ideale«, so wie es Manzoni z. B. bei seinen Tragödien zu tun pflegte. Goethe warf ihm das vor, als er schrieb: »Für den Dichter ist 3 Man lese hierzu in der Nuova antologia (1. Mai 1892) einen ausgezeichneten Artikel von F. P. Cestaro, La storia nei »Promessi sposi« (wiederabgedruckt in dem Band Studi storici e letterari, Turin 1894), dessen im einzelnen ausgeführte Kritik der Theorie Manzonis im wesentlichen mit der meinen übereinstimmt. In der falschen Vorstellung, die Manzoni vom Verhältnis zwischen Kunst und Geschichte hatte, sieht Cestaro den Grund für manche Kompositionsmängel, die der Roman Die Verlobten aufweist.
Polemische Anmerkungen [1894]
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keine Person historisch; es beliebt ihm, seine sittliche Welt darzustellen, und er erweist zu diesem Zweck gewissen Personen aus der Geschichte die Ehre, ihren Namen seinen Geschöpfen zu leihen.« 4 Wenn der Dichter übrigens nur die Namen der Persönlichkeiten aus der Geschichte nehmen würde, so bestände überhaupt kein Grund dazu, von historischer Dichtung zu sprechen. Jeder holt sich die Namen von wo es ihm gefällt. Balzac pflegte, wie man weiß, auf der Suche nach Namen für die Romanfiguren die Schilder der Pariser Läden zu lesen. Der Dichter will, wenn er »historische Dichtung« im eigentlichen Sinne macht, die Idee, die er sich von einem Abschnitt der Geschichte gemacht hat, mit Hilfe der Phantasie darstellen. Und wenn eine solche Idee falsch ist (wie z. B. in den französischen Tragödien die Idee der griechisch-römischen Antike oder im »Jerusalem« von Torquato Tasso die Idee des Mittelalters und der Kreuzzüge), so wird ein Teil des Interesses, welches das Werk hervorrufen will, verfehlt. Man kann dann von Glück sprechen, wenn der mangelnde historische Wert durch den Wert der künstlerischen Schöpfung ausgeglichen wird. Wenn dagegen die historische Intuition, die dem Kunstwerk zugrundeliegt, richtig ist, und das Kunstwerk mißlungen, so darf man es nur als historische Arbeit betrachten und man muß sehen, welchen Wert es unter diesem Aspekt hat. Ich wollte nur ganz allgemein auf die Beziehungen zwischen der Kunst (im engen Sinne) und der Geschichtsschreibung eingehen, um hervorzuheben, daß die historische Dichtung etwas gänzlich anderes ist als die Geschichte im eigentlichen Sinne, die nämlich ihrem Wesen nach Kunst ist und nicht erst dadurch, daß sie wie die historische Dichtung durch phantastische (poetische) Erfindungen hindurchgeht. II. POLEMISCHE ANMERKUNGEN 1 [1894] In meiner im vergangenen Jahr gehaltenen Akademie-Rede habe ich versucht, den Begriff der Geschichte oder vielmehr der GeÜber den Grafen von Carmagnola (1820), in dem Band Auswärtige Literatur der Werke Goethes. 1 Vorgetragen im Jahre 1894 vor der Akademie Pontaniana. 4
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Illustrationen und Diskussionen [1893–1895]
schichtsschreibung zu klären 2 , indem ich untersuchte, welcher Form menschlicher Geistestätigkeit sie zuzurechnen sei. Ich beantwortete diese Frage, indem ich die drei Definitionen, die man von der Geschichte geben kann oder schon gegeben hat, untersuchte: 1) die Geschichte ist Wissenschaft, 2) die Geschichte ist Kunst, 3) die Geschichte ist etwas sui generis, was für einige in einer gewissen besonderen Kombination von Kunst und Wissenschaft bestehen würde. Die letzte der drei Definitionen schloß ich aus, indem ich zeigte, daß der menschliche Geist nur zwei erkenntnismäßige Tätigkeiten an den Gegenständen seiner Beobachtung ausübt: die wissenschaftliche und die künstlerische. Dann zeigte ich, daß die Geschichte eben eine Tätigkeit der zweiten Art darstellt, eine künstlerische und keine wissenschaftliche, und daß sie deshalb nicht Wissenschaft, sondern Kunst ist. Das ist die Essenz meiner These, wenn auch nicht die genaue Abfolge ihrer Darlegung. Die verschiedenen Kritiker nun, die sich auf meine AkademieRede hin zu Wort gemeldet haben, haben die Verteidigung der beiden von mir verworfenen Thesen übernommen, entweder, daß die Geschichte Wissenschaft, oder, daß sie etwas sui generis sei. Niemand hingegen hat sich für meine These erwärmt, daß die Geschichte Kunst sei, wobei man andere als meine Argumente hätte anführen können, was methodisch gesehen durchaus möglich gewesen wäre. Ich werde also zunächst einmal untersuchen, welche Argumente zur Stützung der von mir verworfenen Thesen vorgebracht worden sind und wie man meine Gegenargumente zu widerlegen versuchte. Dann werde ich mich mit den direkt gegen die von mir vertretene These gerichteten Einwänden auseinandersetzen. Aber bevor wir weitergehen, sollten wir einen grundsätzlichen Einwand beseitigen, der den Wert der behandelten Frage selbst betrifft. 2 Es würde nützlicher sein, man würde immer »Geschichtsschreibung« sagen, um die Erzählung der Tatsache von der Tatsache (»Geschichte«) zu unterscheiden, aber die Sprache gestattet nicht bloß, sondern sie verlangt den Gebrauch des Wortes »Geschichte« in beiden Bedeutungen, der wirklichen und der logischen.
Polemische Anmerkungen [1894]
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»Welchen Nutzen (sagt einer meiner Kritiker) kann man aus der Behauptung ziehen, daß die Geschichte Wissenschaft ist? Welcher Vorteil erwächst der Kultur aus dem Wissen, daß die Geschichte Kunst ist? Keiner; man vermehrt dadurch nur die Last nutzloser Fragen.« 3 Dieser Behauptung könnte ich andere gegenüberstellen, die im Gegenteil davon überzeugt sind, daß es eine sehr wichtige Frage ist. 4 Aber das schiene mir kein gutes und schlüssiges Verfahren zu sein. Meine Meinung ist vielmehr die, daß derjenige, der eine solche Frage für nutzlos hält, die Aufgabe der Wissenschaft verkennt, die sich keinen anderen Nutzen verspricht als die Erkenntnis des Wahren selbst. Die Natur der Dinge erkennen, das ist das Ziel aller wissenschaftlichen Forschung. Wenn diese Erkenntnis dann praktischen Nutzen bringt, so geht das die Wissenschaft nichts an, sondern nur den Menschen, der die Ergebnisse der Wissenschaft in der Praxis verwendet. Damit will ich nicht sagen, daß unser Problem keinerlei praktische Wirkung habe. Ich schrieb zwar, daß, ganz gleich wie die Lösung des Problems aussehen würde, die Verfahrensweisen nicht geändert würden, die vom richtigen geschichtlichen Sinn ursprünglich eingeführt worden sind. Aber andererseits, wer kann schon sagen, ob nicht Schwierigkeiten und Unsicherheiten, die in der Praxis der Geschichtsschreibung auftauchen, leichter behoben würden, wenn man auf ihren philosophischen Begriff zurückginge? Ein Zweifel an der Bedeutung des Geschichtenschreibens, der unlösbar scheinen mag, kann nicht anders gelöst werden als durch die Frage: was ist die Geschichte? Derselbe Kritiker übrigens, der für sich behauptet, daß die Geschichte weder Kunst noch Wissenschaft, sondern Geschichte ist, löst damit doch nicht die von mir behandelte Frage auf. Er erkennt sie sogar an, wenn er auch zu einer anderen Lösung kommt. 3 G. Cimbali, Cosa è la storia, in: Gazzetta letteraria, Turin, Jahrgang XVIH, Heft 3, 20. Januar 1894. 4 »Die Frage, die Croce … behandelt …, gehört nicht, wie es auf den ersten Blick scheinen möchte, zu den müßigen und zu nichts führenden akademischen Fragen« (Riv. stor. ital., Bd. X, 1893, S. 708–709). »Dieser Frage liegt das eigentliche Problem des Ziels und des Werts der Geschichte zugrunde« (Mariano, La storia è una scienza o un’ arte? in: Fanfulla della domenica, Jahrgang XV, Heft 27, 2. Juli 1893).
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Illustrationen und Diskussionen [1893–1895] §I
Bernheim bemerkt dazu in einer der zweiten Auflage seines Lehrbuchs hinzugefügten Anmerkung 5, daß ich den wissenschaftlichen Charakter der Geschichte deshalb bestreiten konnte, weil ich von einem zu engen Begriff der Wissenschaft und einem zu weiten der Kunst ausgehe. Er beruft sich dabei auf die Seiten der zweiten Auflage seines Buches, die von der Wissenschaft der Geschichte handeln6, wo er sagt: »Die Geschichtswissenschaft ist die Wissenschaft der Entwicklung der Menschen in ihren Betätigungen als soziale Wesen«. Ihr Erkenntnisobjekt sind die Entstehung und Entwick5 Lehrbuch der historischen Methode, zweite völlig durchgearbeitete und vermehrte Auflage (Leipzig 1894), S. 599–600: »Benedetto Croce in seiner Abhandlung Die Geschichte auf den allgemeinen Begriff der Kunst gebracht, etc. (Neapel 1893) erklärt die Geschichte für eine Kunst, indem er eine zu weite Definition der Kunst, und eine zu enge Definition der Wissenschaft gibt. Er sagt: Die Geschichte stellt das konkrete Einzelne dar, verarbeitet es nicht zu Allgemeinbegriffen: die Kunst ist auch Darstellung des Einzelnen in seiner Wirklichkeit; also gehört die Geschichte in das Gebiet der Kunst, nicht in das der Wissenschaft, die sich mit Allgemeinbegriffen beschäftigt. Dass letztere Beschränkung des Begriffs der Wissenschaft ungerechtfertigt sei, habe ich S. 111 erörtert: die Einbeziehung der Geschichte in die Kunst kommt bei Croce nur dadurch zu Stande, dass er dem Unterschied zwischen Darstellung der idealen Wirklichkeit in künstlerischen Typen und Darstellung der historischen Dinge in ihrem realen Verlauf keine entscheidende Bedeutung beimisst, wenn er denselben auch bemerkt. Die kritischen Studien sind ihm nur eine Vorbereitung zur künstlerischen Geschichtsdarstellung, in demselben Sinne, wie der Künstler Natur und Menschen studiert, um wahr zu sein. Selbständige Erkenntniszwecke vindiziert er der Geschichte nur in der Form der Geschichtsphilosophie. Ich habe mich in Kap. I gegen ähnliche Ansichten ausgesprochen: die Kenntnis des Hergangs der menschlichen Entwicklung in ihren Einzelheiten ist eben auch ein Erkenntnisgebiet, weder Philosophie, noch Naturwissenschaft, noch Kunst, sondern eben Geschichtswissenschaft in specie. Meine Definition S. 5 entspricht dem, meine ich: Croce findet das nicht, weil er die zweite Hälfte ausser acht gelassen hat. Übrigens bietet Croce’s Schrift, wenn man ihren Resultaten auch nicht zustimmt, viel Anregendes, das ich hier nicht verfolgen kann, und sie unterscheidet sich sehr vorteilhaft von manchen Abhandlungen auf diesem Gebiet durch umfassende Kenntnis der einschlägigen Literatur und eigenartiges Eingehen auf den Kern der Probleme«. 6 Wesen und Aufgabe der Geschichtswissenschaft, S. 108.
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lung sowohl der verschiedenen sozialen Gebilde als auch der verschiedenen menschlichen Individualitäten, wobei sie beide mit den allgemeinen Bedingungen der menschlichen Entwicklung verbindet. Darunter darf man jedoch nicht verstehen (bemerkt er ganz richtig), daß die Geschichte aus den Tatsachen Sätze, Gesetze und allgemeine Ideen herleiten muß. In diesem Sinne ist die Geschichte keine Wissenschaft, zumindest keine Wissenschaft, die in den Ereignissen nach Gesetzen forscht, sie ist keine exakte Wissenschaft wie die Naturwissenschaften. Aber all das zugestanden (fährt er weiter fort), so können doch nur jene den wissenschaftlichen Charakter der Geschichte bestreiten, die den Begriff Wissenschaft ganz willkürlich und einseitig auf die Naturwissenschaften beschränken. »Wer unbefangen den Umkreis und die Art menschlichen Wissens überschaut, wird der Geschichte den vollen Titel einer Wissenschaft nicht vorenthalten, wie immer man auch diesen Begriff näher definieren mag; denn sie vermittelt uns ein in sich zusammenhängendes einheitliches und gesichertes Wissen von einem selbständigen Gebiet der Erscheinungswelt, dessen Erkenntnis uns in hohem und eigenartigem Maße wertvoll ist.« Wenn wir nun die sogenannten Naturwissenschaften beiseite lassen, die hier nicht zur Debatte stehen und von denen und deren Beziehungen zu den sogenannten philosophischen Wissenschaften Bernheim eine einigermaßen verwirrte Vorstellung zu haben scheint, so sind es also zwei Eigenschaften, aufgrund welcher er dem historischen Wissen wissenschaftliche Form zuerkennt: daß das historische Wissen ein zusammenhängendes, organisches und sicheres Wissen eines besonderen Gebietes der Erscheinungswelt ist und daß die Erkenntnis, die es verschafft, in höchster und besonderer Weise wertvoll ist. Nun, wenn diese beiden Eigenschaften die Natur der Wissenschaft ausmachen, was (frage ich) ist dann keine Wissenschaft? Bei den deutschen Autoren ist eine solche Verwirrung häufig, die zum Teil von dem Wort selbst herrührt, mit dem sie die Wissenschaft bezeichnen: Wissenschaft, ein Wort, das in seiner Zusammensetzung das Wort Wissen enthält. Der entscheidende Punkt ist aber (um es auf deutsch zu sagen), daß nicht jedes Wissen Wissenschaft ist. Nicht jedes Wissen ist wissenschaftliches Wissen. 7 7
L. Erhardt, der in der Historischen Zeitschrift (Jahrgang 1890, Bd. 64,
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Bernheim gibt an den schon zitierten Stellen zu, daß man den Begriff der Wissenschaft enger fassen könnte; aber er bemerkt nicht, daß die von ihm gegebene Definition nicht nur nicht eng ist, sondern daß es mit ihr noch nicht einmal gelingt, das Wissen, das ein wissenschaftliches Werk bietet, von dem eines Kunstwerkes zu unterscheiden. Wenn er mir vorwirft, meine Wissenschaftsdefinition sei zu eng, so könnte ich ihm dagegen vorwerfen, seine sei zu weit. Aber es geht hier nicht um zu weit oder zu eng, sondern um das, was das Wesen der Wissenschaft selbst, ihres Begriffs ausmacht. Also, ich habe behauptet und wiederhole es noch einmal (und ich finde bei Bernheim nichts, was meine Überzeugung erschüttert), daß die Wissenschaft darin besteht, die Natur der Dinge zu erforschen, d. h. Begriffe zu bilden. Die einfache Notiz, die Beschreibung, die Erzählung oder Darstellung der Dinge, mögen sie auch noch so wichtig sein, sind keine Wissenschaft. Und deshalb mag die Geschichte sein, was sie wolle, Wissenschaft ist sie nicht. Bitte keine vorschnellen Schlüsse (mahnt mich hier mein erlauchter Freund Renier): ist denn die Wissenschaft niemals beschreibend? Gibt es etwa keine Wissenschaften, die wir geradezu beschreibende nennen, wie die Geographie, die Zoologie, die Botanik (und ich füge noch die Mineralogie und die beschreibende Psychologie hinzu)? »Croce hat schlecht daran getan, darüber hinwegzugehen.« 8 Darüber hinweggegangen bin ich zwar nicht, aber vielleicht hätte ich gut daran getan, etwas näher darauf einzugehen. In meiner Akademie-Rede habe ich mich an diesem Punkte, um nicht noch einmal von Anfang an das aufzurollen, was meines Wissens von anderen schon gut dargestellt war, darauf beschränkt, den Leser auf einige Bemerkungen Wundts hinzuweisen, die ich schon in der Anmerkung erwähnte und die ich jetzt ausführlich bringe: »Der S. 257–259) das zitierte Werk von Labriola rezensiert: »Ich meine, jede richtige Erzeugung von Wissen ist Wissenschaft, und wenn man die Geschichte wissenschaftlich behandelt, so ist sie auch Wissenschaft. Wer den gelehrten Apparat zur Erforschung der Geschichte beherrscht und denselben richtig zu benutzen versteht, mag sich immer bei dem Bewusstsein beruhigen, auch wissenschaftlich zu arbeiten …«. 8 Renier, in: Giornale storica della lett. ital. XXII, 1893, S. 297–298.
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Vergleich mit der Naturgeschichte ist schon um desswillen hinfällig, weil die Gegenüberstellung einer bloß beschreibenden und einer erklärenden Bearbeitung des nämlichen Thatbestandes heute wohl von keinem Naturforscher mehr als richtig zugestanden wird. Zoologie, Botanik, Mineralogie wollen nicht minder wie Physik, Chemie und Physiologie die Objecte ihrer Untersuchung erklären und so viel als möglich in ihren kausalen Beziehungen begreifen. Der Unterschied liegt vielmehr darin, dass jene es mit der Erkenntnis der einzelnen Naturobjekte in ihrem wechselseitigen Zusammenhang, diese es mit der Erkenntnis der allgemeinen Naturvorgänge zu tun haben.« Die Zoologie z. B. handelt nicht von den Eigenschaften dieser Katze oder jenes Pferdes, sondern von der Katze und dem Pferd. Indem sie die Individuen des Tierreiches nach Arten und Gattungen ordnet, beginnt sie mit jener Klassifizierung und Erforschung der Natur der Dinge, die andere Wissenschaften noch weiter treiben, die von den Tierarten zum Begriff des Tieres fortschreiten, von diesem wiederum zu jenem noch allgemeineren des Lebewesens usw. Auf die gleiche Weise klassifiziert die Psychologie die geistigen Erscheinungen des Menschen, indem sie sie in immer allgemeineren Kategorien zusammenfaßt, bis sie beispielsweise zur Unterscheidung der drei Seelenteile gelangt: der Vorstellung, des Gefühls und des Willens, deren Beziehungen untereinander sie erforscht, um zu sehen, ob sie sich in einer grundlegenden psychischen Tatsache vereinigen lassen. Das ist doch wahrhaftig keine beschreibende Arbeit, sondern eine rein wissenschaftliche, die über die konkrete und individuelle Tatsache hinausgeht, indem sie sie unter immer umfassendere Begriffe subsumiert. Die Analogie von Geschichte (Erzählung von Tatsachen, die sich in der menschlichen Gesellschaft ereignen) und Naturgeschichte (Klassifikation der in der Natur vorkommenden Gegenstände) ist schlecht gewählt. Wenn man überhaupt etwas aus der Menschenwelt mit den Naturwissenschaften vergleichen will, so wären das die Ethnologie und die Anthropologie. Wenn man hingegen für die Geschichte eine Analogie in der Welt der Tiere sucht, so müßte man an eine Art von Arbeiten denken, die zwar schon gemacht sind, die aber aufgrund ihrer Seltenheit und ihrer geringen Bedeutung noch keine umfassende Benennung erfahren haben. Es sind (ich wüßte nicht, wie ich es anders sagen soll) die Geschichten von
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einzelnen Tieren: z. B. »Die Geschichte meiner Tiere« von Alexandre Dumas, dem Vater, oder »Die Geschichte der Katzen« von Moncrif oder das berühmte Buch von Champfleury über die gleichen sympathischen Tiere. Aber auch die Hunde und Pferde können stolz sein auf eine Reihe von Biographien, die ihrer beachtlichen Individualität gewidmet sind, und auf manche ausführliche Geschichte von berühmten Individuen ihrer Art. 9 Mit den Naturwissenschaften, den sogenannten beschreibenden, darf man die Geographie nicht verwechseln, für die das noch einmal zu wiederholen ist, was schon zur Geschichte bemerkt worden ist. Die Geographie ist im eigentlichen Sinne eine einfache Beschreibung der Erde. Zwischen einer von einem Künstler exakt abgemalten Landschaft und einer geographischen Karte gibt es keinen wesentlichen Unterschied. Der Unterschied besteht nur im dargestellten Gegenstand, der im ersten Fall in den Linien eines kleinen Ausschnitts eines Ortes besteht, im zweiten Fall in den Linien eines großen Abschnitts der Erde, der für das Auge nur in den allgemeinsten Umrissen dargestellt werden kann. Ebenso gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen den Beschreibungen, die ein Künstler und ein Geograph von einer bestimmten Landschaft machen. Es ist durchaus wahr, daß geographische Arbeiten, wenn sie von jemandem hergestellt sind, der das, was er gesehen hat, gut wahrnehmen und wirkungsvoll darstellen kann, Kunstwerke werden: Humboldts »Kosmos« mag dafür als Beispiel gelten. Auch die anderen sogenannten »historischen« Naturwissenschaften hängen mit der Geographie zusammen.
In meiner Akademierede bemerkte ich schon, daß die Geschichte von einem Interesse geleitet wird, das aus einer Vielzahl von Elementen entspringt. Da ein solches Interesse an den Geschichten der individuellen Tiere fehlt, ist die historische Tätigkeit auf diesem Gebiet selten und häufig eine Folge von komischer Bizarrheit. Wenn Atta Troll die Geschichte schreiben müßte, würde er gewiß nicht die der Menschen schreiben, »der Schlangen auf zwei Beinen«, sondern die der Bären. Im Land der Pferde, in welches Gulliver verschlagen wurde, schrieb man die Geschichte der Pferde und nicht die der »Yahou«, der Menschen, die ihre Haustiere waen. 9
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§ II Mariano hingegen bestreitet, daß das, was man gewöhnlich Geschichte nennt, die historische Erzählung, die wahre Geschichte sei. Für die wahre Geschichte, wie er sie versteht, beansprucht er wissenschaftlichen Charakter. »Die Meinung, die unter Geschichte die Darstellung des Besonderen als solchem versteht, als einfache Erzählung dessen, was vorgefallen ist, ist ebenso verbreitet wie irrig … Die Geschichte ist ihrer Natur nach (oder zumindest sollte sie es sein) Verstehen, Erklären von einer Reihe von Tatsachen und deren Rückführung auf das System ihrer Ursachen.« Aber Mariano versteht darunter nicht die Arbeit, die jeder gute und intelligente Erzähler zu leisten versucht, indem er zwischen den Ereignissen, die er darstellt, die wirklichen Zusammenhänge herstellt. »Diese Ursachen (fährt er fort) sind etwas ganz anderes als die Umstände, die unmittelbaren, gelegentlichen und zufälligen Motive, die Anlaß und Auslöser für die Ereignisse gewesen zu sein scheinen. Die Feststellung von Motiven dieser Art gehört zur Vorbereitung von Geschichte, aber ist noch keine Geschichte.« Und welche wären diese Ursachen, wenn es nicht das ist, was wir Ursachen nennen? Wenn es keine tatsächlichen Ursachen sind, welcher Ordnung gehören sie an? Sie sind die Idee, die sich bestimmt; und die wahre Geschichte begnügt sich nicht mit den Tatsachen gemäß ihrer wirklichen Entstehung, sondern nur mit den Tatsachen gemäß ihrer idealen Entstehung. Sie stellt die Tatsache nicht dar, »sondern den Gedanken der Tatsache, die in ihrem Geist begriffene Tatsache.« Die Geschichte ist alles in allem »mehr oder weniger rationale, begrifflich durchdachte Betrachtung dessen, was wirklich vorgefallen ist.« Wenn eine solche Betrachtung auch keine Wissenschaft ist, so nähert sie sich ihr doch an: die Geschichte ist eine Stufe der Wissenschaft, mit der sie das Ziel gemeinsam hat. Wenn man liest, was Mariano schreibt, möchte es fast scheinen, ich hätte behauptet, die einzige Form der Geschichte sei die Chronik, d. h. die Sammlung nackter Fakten. Aber gewöhnlich versteht man unter Chronik etwas anderes als das, was Mariano darunter versteht, nämlich eine Erzählung, die die historischen Begebenheiten nach rein äußerlichen und chronologischen Zusammenhängen darstellt. Wie ich schon an anderer Stelle bemerken mußte, sind
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die Geschichtswerke Leopold Rankes oder Burckhardts oder, um einige italienische Beispiele zu nennen, »Karl V« von De Leva und »Leo X« von Nitti für einen Hegelianer nicht viel mehr als eine Chronik, Geschichtswerke, die das Höchste an Arbeit darstellen, das der menschliche Geist leisten kann, um ein genaues Bild von den vorgefallenen Ereignissen zu geben. Was mich angeht, so bin ich kein Hegelianer, wenn man mich auch dafür gehalten hat aufgrund meiner Schrift über die Geschichte, die im Gegenteil ganz klar antihegelianisch ist, was einem Hegelianer wie Mariano nicht entgangen ist. Von Hegel übernehme ich nur die ästhetischen Lehren und selbst die noch mit allem Vorbehalt. Übrigens muß ich sagen, daß doch ein großer Unterschied besteht zwischen der Tatsache, kein Hegelianer zu sein, und der Tatsache, einen Hegelschen Gedanken nicht einmal mehr für diskussionswürdig zu halten, weil, wie einer meiner Kritiker schreibt, »er nicht mehr modern ist.« Im Bereich der Wissenschaft wird nichts unmodern und es gibt dort keinen Unterschied zwischen alten und neuen Dingen, sondern nur den zwischen wahren und falschen Dingen. Multa renascentur; und der Hegelsche Gedanke ist so wenig »tot«, daß er jetzt in der Gestalt des Positivismus wieder auftaucht, und das »Werden« nennt sich jetzt »Evolution«. Eine der großartigsten und zugleich absurdesten Auffassungen der Geschichte ist gewiß die, welche Hegel in seiner Geschichtsphilosophie gibt. Und doch ist gerade sie es, die immer wieder in wechselndem Gewand im Leben des Denkens auftauchen wird. Und doch ist die Frage nach der Bedeutung der Geschichte, die Hegel gewiß nicht als erster stellt, durchaus legitim, aber sie gehört in keinem Fall mehr zur Geschichte, sondern zur Philosophie der Geschichte. Ein Thema der Geschichte ist es, den Gang der Ereignisse zu erzählen, durch welche die Freiheits- und Einigungsbewegung Italiens entstand, die schließlich in den Ereignissen von 1859–70 gipfelte. Ein Problem der Philosophie der Geschichte dagegen wäre, in der Entwicklung der Idee und dem Plan Gottes nach der Bedeutung dieses Ereignisses zu forschen. Dem ersten Thema wird man gerecht, indem man erzählt oder eine »Chronik« erstellt, wenn Mariano diese Formulierung lieber ist. Dem zweiten wird man gerecht durch eine Untersuchung, die vielleicht zu dem Schluß führt, daß das gestellte Problem unlösbar ist, weil es außerhalb der Erfahrung liegt. Aber selbst wenn die Schlußfolgerung be-
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jahend sein sollte, wie es bei Mariano der Fall ist, so fällt die neue Untersuchung nicht mehr in den Bereich der Erzähler, sondern der spekulativen Denker, nicht mehr der Historiker, sondern der Philosophen, genauer der Metaphysiker. Ich habe in meiner Akademie-Rede nur von der Geschichte gesprochen, von der verachteten Erzählung von Ereignissen, die Mariano als Rohmaterial für die Arbeit des Denkers betrachtet und die für ihn keine Wissenschaft und auch nicht Kunst ist und die für mich zwar keine Wissenschaft, wohl aber Kunst ist. Ich will noch anmerken, daß ein anonymer Kritiker der »Revue historique« 10 in das gleiche Mißverständnis wie Mariano verfällt, indem er der Definition der Geschichte als Kunst entgegenhält: »Das trifft nur auf die erzählende Geschichte zu. Die Geschichte im ganzen betrachtet ist die Anwendung der wissenschaftlichen Methoden auf die Erforschung der vergangenen Wirklichkeit oder der Ursachen und der Gesetze der Entwicklung der Menschheit. Sie kann im Bericht der Tatsachen ein künstlerisches Ziel verfolgen, aber dieses künstlerische Ziel macht nicht ihr Wesen aus.« Nur ist die Erforschung der Ursachen und der Gesetze, die die Entwicklung der Menschheit regeln, nicht mehr Geschichte, sondern Philosophie der Geschichte, und meine These will eben nur in Bezug auf die »erzählende Geschichte«, die schließlich die Geschichte schlechthin ist, wahr sein. § III In einem wesentlichen Punkt stimme ich mit den übrigen Kritikern überein, nämlich in der Behauptung, daß die Geschichte keine Wissenschaft ist. Uneinigkeit herrscht bei uns in der Bestimmung dessen, was sie ist, wenn sie keine Wissenschaft ist. Francesco Nitti, ein Freund, dessen schöne historische Arbeiten über Machiavelli und die Politik Leos X bekannt sind, schreibt mir hierzu: »Gewiß, die Geschichte zählt nicht zu den Wissenschaften, weil sie keine Begriffe ausarbeitet, weil sie nicht darauf aus ist, allgemeine Gesetze zu finden, unter die sie die Tatsachen unterord-
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Jahrgang XVIII, 1893, Juli–August, S. 460.
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nen kann. Mit Recht finden Sie die Definition Bernheims sinnlos.« Aber dann bringt er, genau wie Bern heim und die anderen, Einwände gegen die Identifizierung von Geschichte und Kunst vor. Bernheim, der meine Definition der Wissenschaft für »zu eng« hielt, behauptet von meiner Kunstdefinition, sie sei »zu weit«. Aber wie seine Definition der Kunst lautet, sagt er nicht, und den Andeutungen nach zu urteilen, die man hier und da in seinem Buch findet, scheint es nicht so, als ob er eine fest umrissene habe. 11 Renier wirft mir vor, ich bewegte mich zu sehr in dem veralteten Hegelschen System. Auch Mariano bekämpft meine Kunstdefinition, weil (sagt er) »die Kunst nicht ausschließlich Darstellung der Wirklichkeit ist. Das Kunstwerk ist das Ideal. Es stellt mithin eine Wirklichkeit dar, die mit Hilfe der Imagination oder der Phantasie auf die Idee gebracht ist, oder umgekehrt eine Idee, die im Kunstwerk in die Wirklichkeit hinabgestiegen ist. Das ist etwas ganz anderes als die Darstellung der nackten und rohen Wirklichkeit.« Cimbali wendet dagegen ein, daß der inhaltliche Unterschied zwischen dem wirklich Vorgefallenen und dem ideal Möglichen nicht etwas von untergeordneter und zweitrangiger Bedeutung ist, sondern »ein richtiger und wahrhaftiger Abgrund«: »Der Bereich der Kunst ist die allgemeine menschliche Wirklichkeit, wogegen die Geschichte, um nicht Kunst zu werden, notwendigerweise sich mit dem Individuellen beschäftigen muß.« Aber es ist nicht wahr, daß die Geschichte individualisiert und die Kunst nicht: die künstlerische Schöpfung ist immer Individualität. Zwischen wirklich und möglich besteht wohl ein Unterschied, aber nicht in der Art der Gestaltung, die jeweils Kunst und Geschichte anwenden. Er wendet auch noch ein, daß »die Kunst Auswahl ist, die Geschichte nicht«: die Kunst stellt aus dem Leben der Menschheit das dar, was ihr gefällt, die Geschichte muß alles darstellen. Aber die Geschichte wählt nicht weniger aus als die Kunst, d. h. sie stellt nicht unterschiedslos alle Dinge dar, sondern immer nur das, was interessiert. Drittens behauptet er, daß es nicht wahr
Er spricht zwar (2. Aufl. S. 100–101) von »künstlerischem Blickpunkt«, von »ästhetischem Vergnügen« und ähnlichem: Worte, die aber zu keinem bestimmten Begriff führen. 11
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sei, daß man mit der Malerei und der Bildhauerei Geschichte schreiben könne, weil »Bilder und Statuen nur Darstellungen von Episoden sind.« Darauf braucht man nur zu antworten, daß sie zwar Episoden seien, aber »historische«, und das genügt. An letzter Stelle bemerkt er, daß »ein neu entdecktes Dokument die Geschichte zerstört, daß sich aber das Kunstwerk jeglicher Überprüfung entzieht. Mag es auch noch so falsch, manieriert und phantastisch sein (?), wenn es gewisse überragende Eigenschaften besitzt, wird es bis zum letzten widerstehen und keinen Schlag fürchten.« Das bedeutet ganz einfach, daß die Wahrheit der Geschichte auf der vorgefallenen Wirklichkeit beruht und die der Kunst auf der möglichen Wirklichkeit: daher auch die unterschiedlichen Schicksale von Kunst- und Geschichtswerken. Viel ernster sind sie Einwände Nittis zu diesem Punkt. Deshalb möchte ich sie aus seiner unveröffentlichten Rezension, d. h. aus einem an mich gerichteten Brief zitieren: 1. »In Ihrer Darlegung wird die Schwierigkeit nicht behoben, daß die Darstellung vollendeter Gegenstände notwendiges Charakteristikum der Kunst ist, während die Unvollständigkeit eine unaufhebbare Eigenschaft des historischen Prozesses und jeder seiner Hervorbringungen ist. Dort, wo das Wirkliche mit dem Möglichen nicht vertauschbar ist und umgekehrt, gibt es in der Tat keine Möglichkeit, vollständige Gegenstände darzustellen. Eine solche Austauschbarkeit, die jedem künstlerischen Prozeß eignet, läßt sich nicht auf den historischen Prozeß übertragen, sie wäre vielmehr dessen Negation.« Ich glaubte, diese Schwierigkeit behoben zu haben, indem ich bestritt, daß die Unvollständigkeit ein wesentliches oder inneres Charakteristikum der historischen Arbeit ist. Sie wird zwar, wenn man so will, sehr häufig auftreten, aber immer zufällig sein. Wenn die Information bis in alle Einzelheiten vollständig ist, wenn die Quellen alles Nötige sagen, wenn die forschende Phantasie mit Sicherheit die Daten der Überlieferung zusammenfügen kann, dann gelingt die Geschichte genauso vollständig wie ein Kunstwerk. 2. »Man kann das künstlerisch Falsche und das historisch Erdichtete nicht über einen Kamm scheren. Das erste, insofern es Negation des möglichen Wirklichen ist, kann vom gewöhnlichen Bewußtsein erkannt werden, von einem Bewußtsein, das mit Intelligenz und Sensibilität begabt ist, die ausreichen, das Mögliche zu er-
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kennen und die Erregung durch das Interessante zu spüren; das zweite hingegen kann nur von einem höchst seltenen Bewußtsein erkannt werden, das die vollkommene Kenntnis des wirklich Vorgefallenen besitzt. Diese außerordentliche Fähigkeit, die Wahrheiten der Darstellung des historisch Wirklichen zu erkennen, ist sehr beschränkt, (noch beschränkter als die, die Wahrheiten der wissenschaftlichen Äußerungen zu erkennen; denn diese werden durch die allgemeinen Ideen gestützt) und somit unvereinbar mit dem reinen Kunstwerk.« Ich möchte sagen, daß Nitti hier, ohne sich dessen bewußt zu sein, von der ontologischen Betrachtung zur psychologischen überwechselt; denn die Natur des künstlerisch Falschen und des historisch Falschen kann nicht korrekt durch subjektive psychologische und veränderliche (Kultur usw.) Bedingungen definiert werden, die zum Erkennen des einen und des anderen nötig sind, abgesehen davon, daß auch für das Erkennen der künstlerischen Wahrheit manchmal ganz besondere Bedingungen kultureller Art und gelebter Erfahrung Voraussetzung sind. 3. »Es ist nicht richtig, die Funktion und den Wert der Mittel und Elemente, die der Künstler anwendet, um sein Werk zu schaffen, gleichzusetzen mit der Funktion und dem Wert der viel beschränkteren historischen Tätigkeiten, aus denen der Historiker seine Erzählung webt; denn durch die künstlerische Tätigkeit werden alle Elemente verwandelt oder verschmolzen, wobei sie ihren Eigenwert als einzelne verlieren oder auswechseln, um einem vollendeten Kunstwerk zu weichen, in dem sehr häufig die einzelnen Elemente nicht mehr erkennbar sind. Die mehr oder weniger unvollständigen Elemente hingegen, die der Historiker heranbringt, sammelt und gruppiert, im Hinblick auf eine umfassendere, wenn auch noch notwendig unvollständige Gestaltung, behalten ihre Ganzheit und ihren Wert unversehrt. An ihnen wird nicht nur nicht, sondern an ihnen darf auch nicht die kleinste Umformung vorgenommen werden. Diese Umformung der konstitutiven Elemente, die in der Kunst wie in jeder Schöpfung notwendig ist, würde in der Geschichte die Negation der historischen Wirklichkeit bedeuten.« Ich will nicht bestreiten, daß die Materialien, deren der Künstler sich bedient, im vollendeten Kunstwerk fast immer an Interesse verlieren. Anders hingegen verhält es sich mit denen des Histori-
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kers, die in Form von Dokumenten, Einzelmonographien und Ähnlichem fast immer von Interesse bleiben. Vom Standpunkt des rein ästhetischen Geschmacks haben die historischen und biographischen Vorgaben, auf denen Dantes »Göttliche Komödie« beruht, keinen Wert, aber für den, der Geschichte studiert, sind die Erzählungen und Dokumente, nach denen Guicciardini seine »Geschichte Italiens« verfaßte, von Bedeutung. Aber das kann entweder nur bedeuten, daß die verwendeten Materialien noch nicht ausgeschöpfte Kenntnisse enthalten, oder, daß Zweifel entstehen können, ob der Historiker die Materialien richtig interpretiert hat. Im Falle des Kunstwerks kommt dieser Zweifel nicht auf; denn wir wollen nicht wissen, was realistischerweise wahr ist, sondern was dem Künstler wahr schien. Schließlich glaubt Nitti in meiner abschließenden Behauptung, daß ein wirklich vollendetes Geschichtswerk fast unmöglich sei, den erneuten Beweis für die Unrichtigkeit meiner These zu sehen. Auch Renier ist der gleichen Meinung, wenn er schreibt: »Alle Überlegungen des Autors dienen nur dazu, die Geschichte so hoch zu erheben, daß sie sich schließlich in einer leeren Idealität verflüchtigt«. Aber das Ideal ist keine leere Sache, und zu behaupten, daß ein Geschichtswerk fast immer unvollkommen ist, gleicht der Feststellung, daß jeder Mensch moralisch unvollkommen ist und daß sogar der Gerechte sieben Mal am Tag sündigt. »Die Geschichte (schließt Nitti) ist die Erforschung der vorgefallenen Tatsachen. Das für sie charakteristische und ihr eigene Element, die vergangene Zeit, der durchlebte Augenblick, mit dem sie es zu tun hat, macht sie unreduzierbar auf den rein künstlerischen und den rein wissenschaftlichen Prozeß. Dadurch entgeht sie auch Ihrem Dilemma und erhält eine eigene Existenz. Der ihr eigene Prozeß, der nicht durch das Mögliche vervollständigt werden kann, ist notwendig ein unvollendeter Prozeß, und deshalb sowohl dem wissenschaftlichen als auch dem künstlerischen Prozeß unterlegen.« Das ist ebenso wahr, nur daß das nicht für die Geschichte gilt, sondern für die einzelnen Geschichten, nicht für die Geschichte, wie sie sein soll, sondern für die Geschichte, wie sie zu sein pflegt. Daraus kann man keine Folgerungen auf die Natur der Geschichte ziehen, ebenso wenig wie man aus dem Satz, »der Mensch ist eine Mischung aus Gutem und Bösem« nicht folgern kann, daß das mo-
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ralische Ideal darin besteht, »Gutes und Schlechtes miteinander vermischt zu tun.« 12 III. ÜBER DIE KLASSIFIKATION DES WISSENS [1895] Die These, die auf den vorhergehenden Seiten dargestellt worden ist, erhält vielleicht größere Evidenz und Strenge, wenn man, statt von der Analyse der drei Begriffe Kunst, Wissenschaft und Geschichte auszugehen, um dann zur Klassifizierung dieser und ähnlicher Produkte des menschlichen Geistes zu gelangen, von der allgemeinen Klassifizierung des Wissens zu der besonderen Frage schreitet: in welche Kategorie (wissenschaftliche oder künstlerische?) muß man die Geschichte einordnen. Aber ein Zweifel stellt sich ein, wenn man die Formen des Wis12 Dr. G. Colella kommt in einem kritischen Artikel (Rassegna pugliese, Bd. XI, Heft 8) zu dem Schluß: »Das Argument oder Problem, ob die Geschichte eine Kunst oder Wissenschaft sei, ist seit 1891 von Professor Pasquale Villari in erstaunlicher, erschöpfender und unübertroffener Weise Studien und geprüft worden, und es ist zumindest seltsam, daß Croce niemals Villaris Studien auf diesem Gebiet erwähnt, auf dem Villari über eine ungewöhnliche Kompetenz verfügt. Fast möchte man sagen, daß Croce die Monographie Villaris geradezu ignoriert, was man ihm nicht verzeihen dürfte«. Aber die Wahrheit ist, daß ich die Monographie Villaris nicht ignoriert habe und daß ich sie sogar in einer Anmerkung (siehe S. 7) zitiert habe, obwohl ich sie für eine der weniger gelungenen Schriften Villaris halte: eine langweilige Tirade ohne Hand und Fuß, in der weder das Problem gut oder zumindest klar gestellt, noch die Ausführung streng gehandhabt wird. Nicht einmal den Nachweis besonders gediegener Belesenheit erbringt Villari, indem er sich mit eigenartiger Vorliebe auf die Autorität einiger dürftiger philosophischer Artikel aus englischen Zeitschriften beruft. Sie besteht aus einer Reihe von Auszügen aus Büchern, vielleicht Notizen für Übungen, die in schlimmster Weise zusammengeflickt sind und die nichts anderes verbindet als die häufige Wiederholung des Wortes »Geschichte«. Ich weiß wohl, daß die Arbeit Villaris schon wiederholt aufgelegt und auch ins Deutsche übersetzt worden ist, aber das hängt mit der Berühmtheit des Autors, des Politikers und seines Rufes als Historiker zusammen, an dessen »ungewöhnlicher Kompetenz« ich mir übrigens in Fragen wie diesen (die nämlich keine historischen, sondern philosophische sind) zu zweifeln gestatte.
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sens betrachtet. Gehört die Kunst in das Reich der Erkenntnis? Oder ist sie ihrem Innersten nach von der Erkenntnis verschieden? Das ist der Fall, wenn man glaubt, daß die Kunst den Zweck verfolgt, Genuß zu bereiten, indem sie, wie man sagt, den ästhetischen Sinn befriedigt. Die Kunst wird entwürdigt, herabgesetzt zur Lusterzeugerin, zur Herstellerin geistiger Leckerbissen! »Laßt diese Dirne doch vorübergehen!« möchte man mit einem Sonettdichter ausrufen. Aber wie würde man in einem solchen Fall das hohe Ansehen erklären, das sie im Leben des Menschengeschlechts stets genossen hat und immer noch genießt, und das jeder von uns ihr in seinem Herzen gewährt? Dann wären also die Schöpfungen Dantes, Shakespeares, Giottos und Donatellos reine Sinnenreize? Auch die Rede, daß die Kunst Genuß sei, aber »edler Genuß«, hat keinen Wert; denn der Genuß als solcher ist weder edel noch unedel. Daß die Kunst »lehrt«, ist etwas, was die Alten viel eher geneigt waren anzuerkennen, als es später der Fall zu sein pflegte. Außerdem sahen sie im Moment des Genusses nicht eine die Kunst kennzeichnende Aufgabe, und darin hatten sie recht. 1 Alle offenen oder verborgenen Strömungen sowohl der Ästhetik als auch der Kritik tendieren dahin, die erkennende Natur der Kunst anzuerkennen. Das ist die Bedeutung der Hegelschen Ästhetik; das ist auch die Bedeutung der Kunstkritik, wie sie sich in unserem Jahrhundert, besonders in Frankreich und Deutschland, später auch in Italien im Gegensatz zur akademischen Kritik und zur Oberflächlichkeit der Kunstgenießer entwickelt hat. Gewiß unterscheidet sich die Erkenntnis der Kunst von den anderen erkenntnismäßigen Formen, erstens weil sie nicht durch den Verstand, sondern durch die Sinne geschieht, eine Erkenntnis durch Bilder, eine cognitio sensitiva, wie Baumgarten sie nannte; zweitens, weil sie keine Erkenntnis der existierenden oder vorgefallenen Wirklichkeit, sondern der möglichen Wirklichkeit ist. Wenn das klar ist, möchte ich daran erinnern, daß man drei Gruppen von Wissenschaften zu unterscheiden pflegt, die unabhängig voneinander sind, selbst wenn sie sich auf die gleichen Gegenstände beziehen: theoretische Wissenschaften, historische WisEs gibt auch intellektuelles und moralisches Gefallen, aber deshalb sind Wissenschaft oder Moral nicht darauf ausgerichtet, Vergnügen zu erzeugen. Das Vergnügen ist nur eine Folge oder unvermeidliche Zugabe. 1
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senschaften und praktische Wissenschaften: Begriffswissenschaften, Tatsachenwissenschaften und Wertwissenschaften. 1) Die theoretischen oder Begriffswissenschaften klassifizieren die Welt der Erfahrung, d. h. sie bringen die Dinge auf ihre Begriffe oder, was dasselbe bedeutet, sie bestimmen ihre Natur oder Entstehung. Hierzu zählen z. B. die Metaphysik, die reine Mathematik, die Psychologie, die Physik, die Chemie, die Mechanik, die Zoologie, die Botanik, die Mineralogie usw. 2) Die historischen Wissenschaften oder die Tatsachenwissenschaften verfolgen die Entwicklung der Dinge in der Zeit, so wie unter den Naturwissenschaften die Kosmogonie, die Geologie, die Paläontologie und ähnliche und unter den Geisteswissenschaften die Geschichte, so wie sie allgemein verstanden wird. 3) Die praktischen Wissenschaften oder Wertwissenschaften geben Aufklärung über die menschlichen Ideale und im allgemeinen über die Regeln, die man befolgen muß, um bestimmte Ziele zu erreichen. Zu ihnen gehören z. B. die Logik (Erkenntnistheorie, Methodologie etc.), die Ethik, die Ästhetik und für den Bereich der Natur die Medizin, die Hygiene und ähnliche. 2 Aber diese dritte Gruppe, selbst wenn sie den beiden anderen richtig zugeordnet worden ist (man darf daran zweifeln), ist gewiß die am wenigsten ausgearbeitete und bestimmte. Werturteile fällen und auf ein bestimmtes Ziel hinarbeiten, ist nicht Sache der Wissenschaft und der Erkenntnis, sondern des Gefühls und der Handlung; denn die Wissenschaft als Wissenschaft wertet nicht und handelt nicht, sondern sie erkennt. Hat denn die Erkenntnis der Werte und der Regeln, der Zwecke und der Mittel selbst irgendein Merkmal, das sie von den Erkenntnissen der beiden ersten Grup2 Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte (Bd. I, Leipzig, Duncker u. Humblot 1883, S. 32–34: »Die einen von ihnen sprechen ein Wirkliches aus, das in der Wahrnehmung gegeben ist: sie enthalten den historischen Bestandteil der Erkenntnis. Die anderen entwickeln das gleichförmige Verhalten von Teilinhalten dieser Wirklichkeit, welche durch Abstraktion ausgesondert sind; sie bilden den theoretischen Bestandteil derselben. Die letzten drücken Werturteile aus und schreiben Regeln vor: in ihnen ist der praktische Bestandteil derselben. Tatsachen, Theoreme, Werturteile und Regeln: aus diesen drei Klassen von Sätzen bestehen die Geisteswissenschaften,«
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pen unterscheidet? Was macht die Ethik, was macht die Ästhetik? Die Ethik stellt den richtigen Begriff der Moral auf, der je nach den verschiedenen Philosophen verschieden ausfällt: mal siedelt sie ihn im Guten an, mal in der Tugend, mal in den ethischen Ideen, mal in der Pflicht, mal im wohlverstandenen Interesse oder wie auch immer die verschiedenen Prinzipien des moralischen Lebens heißen mögen. Die Ästhetik stellt den richtigen Begriff für das ästhetische Ideal auf, mag sie ihn im Angenehmen oder in der moralischen Idealität, in den formalschönen Verhältnissen oder im Prinzip des Ausdrucks ansiedeln. Was macht die Medizin oder die Hygiene? Die Medizin bestimmt die Möglichkeiten und Grenzen der Behandlung und Heilung der Krankheiten, die Hygiene setzt die für die Gesunderhaltung des Organismus notwendigen Bedingungen fest. Was machen die Agrikultur und die Tierzuchtlehre? Sie setzen die Bedingungen für den nutzbringenden Ackerbau und die nutzbringende Tierzucht fest. Sie alle sind also Wissenschaften der Begriffe oder der Beziehungen von Begriffen untereinander und somit von weiteren Begriffen wie die Sittlichkeit, das Ästhetische oder die Heilbarkeit, die Kultivierbarkeit und so weiter. Sie gehören zur ersten Gruppe der theoretischen Wissenschaften oder Begriffswissenschaften. Aber wenn man nun von diesen allgemeinen Untersuchungen zu jenen übergeht, die man »praktische Probleme« nennt (Wie soll ich mich in einer gegebenen Situation des Lebens moralisch verhalten? Wie soll ich eine kritische Ausgabe des »Befreiten Jerusalem« erstellen? Wie soll ich das Individuum A erziehen? Wie soll man die Finanzen Italiens wieder in Ordnung bringen? Wie soll man die Campagna Romana wieder zu einem Kulturland machen? und ähnliches), so ist wohl klar, daß wir es in diesem neuen Fall weder mit theoretischen Wissenschaften noch mit historischen Erkenntnissen zu tun haben, sondern mit ganz etwas anderem. Die Antworten (In einer gegebenen Situation und bei bestimmtem moralischen Ideal muß man sich so und so verhalten; bei Vorhandensein bestimmter Kodices und Editionen und den Begriff des kritischen Textes vorausgesetzt, muß man so und so auswählen; in Anbetracht des Temperaments und des Vorlebens des Individuums A und unter Voraussetzung der Erziehungsziele muß man bestimmte pädagogische Mittel anwenden; in Anbetracht der historischen Lage Italiens und den Begriff eines geordneten Geldwesens vorausgesetzt, muß man die Ausgaben verringern,
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die Steuern reformieren, die Staatsparasiten verjagen usw.; in Anbetracht der Natur des Bodens und der Bedingungen des Marktes und den ökonomischen Begriff des gewinnbringenden Anbaus vorausgesetzt, muß man bestimmte Arbeiten in der Campagna Romana ausführen) gewinnt man gleichsam als »Anwendungen« der Ergebnisse der Wissenschaften der ersten Gruppe auf diejenigen der Wissenschaften der zweiten: Kombinationen von Begriffen und Vorstellungen mit praktischen Zielen, Können diese Anwendungen, Kombinationen und Deduktionen eine Gruppe von Erkenntnissen für sich bilden, die man neben die beiden ersten stellen kann? Es scheint so zu sein und es empfiehlt sich, den Bereich solcher Forschungen oder praktischer Erkenntnisse abzustecken, indem man sie von den Begriffs- und Tatsachen Wissenschaften unterscheidet. Was die Disziplinen angeht, die sich beschreibende Wissenschaften nennen, zu denen sich die Zoologie ebenso wie die Geographie rechnen, muß man zwischen Beschreibung und Beschreibung unterscheiden. Denn es gibt ein Beschreiben, das Klassifizieren ist, Aufsuchen des Allgemeinen im Besonderen, über den Gegenstand, auf den sich die geistige Operation bezieht, Hinausgehen. Solche Art der Beschreibung (unpassenderweise so genannt) praktiziert die Zoologie und andere ähnliche Disziplinen, die deshalb Begriffswissenschaften sind. Aber es gibt auch noch ein anderes Beschreiben, das darin besteht, den beschriebenen Gegenstand in seiner Individualität darzustellen, ihn in seinem räumlichen und zeitlichen Dasein zu erfassen. So sind die Beschreibungen der Geographie und der Geschichte (welche letzteren sich »Erzählungen« nennen). Von der ersten Gruppe der Wissenschaften muß man also jene Disziplinen ausschließen, die auf die zweite Weise beschreiben; und die Geographie wird sich nicht zu den theoretischen oder Begriffswissenschaften rechnen können, da es wahrlich keinerlei Ähnlichkeit der Verfahrensweisen zwischen den geographischen Beschreibungen des Laufs des Po oder der Alpenketten und den Beschreibungen der Tier- und Pflanzentypen gibt. Andererseits könnten sich die historischen Wissenschaften beschreibende nennen; denn sie umfassen sowohl die zeitliche Entwicklung als auch die räumliche Existenz der Dinge. So werden zwei große Kategorien von Erkenntnissen gebildet: die Begriffswissenschaften und die beschreibenden Wissenschaf-
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ten. Zu den ersten gehören, wie schon gesagt worden ist, die Wissenschaft von den Prinzipien der Wirklichkeit, die Mathematik, die Mechanik, die Physik, die Chemie, die sogenannten Naturwissenschaften, die Anthropologie, die Psychologie (die Individualpsychologie oder Sozialsychologie), die Logik, die Ethik, die Ästhetik, die Staatswissenschaft, die Rechtswissenschaft usw. Zu den zweiten zählen die Beschreibung und die Geschichte des globus naturalis nicht weniger als die des globus intellectualis: die Kosmographie, die Kosmogonie, die Geographie, die Geologie, die Ethnologie, die Sozialpsychologie (konkrete), die Statistik, die Sittenlehre, das positive Recht und die Geschichte in all ihren Formen, sowohl der Völker als auch der Individuen (Biographie). 3 Der Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen ist großer als er auf den ersten Blick zu sein scheint; denn die Erkenntnisse der ersten Gruppe zielen auf einen Begriff ab, die der zweiten auf eine Tatsache, die ersten gehen über die einzelnen Dinge hinaus, die zweiten versenken sich in sie. Solchen ontologischen Unterschieden entsprechen die psychologischen des verschiedenen Interesses, das man für die einen und für die anderen aufbringt. Die Erkenntnisse der ersten Art entstehen aus dem wissenschaftlichen Interesse im eigentlichen Sinne, die der zweiten aus dem umfassenden Interesse all unserer Tätigkeiten und aus den allgemeinen Dispositionen des Lebens. Die Tendenz des ersten Interesses ist, das Ganze zu erkennen, die des zweiten Interesses, das zu erkennen, was uns ganz nah berührt. Die beschreibenden Wissenschaften haben ihre Wurzeln in den Interessen des praktischen Lebens. Im Laufe der vorhergehenden Schriften habe ich nur der ersten Gruppe den Namen und die Würde einer Wissenschaft verliehen, und es schiene mir angezeigt, für die andere Gruppe einen anderen Die beiden Kategorien würden den beiden großen Formen des Wissens bei Vico entsprechen, der Philosophie und der Philologie. »Die Philosophie betrachtet die Vernunft, und daraus entsteht die Wissenschaft des Wahren, die Philologie untersucht die Autorität der menschlichen Willkür, und daraus entsteht das Bewußtsein dessen, was gewiß ist. Dieser Grundsatz definiert im 2. Teil als Philologen alle Grammatiker, Historiker, Kritiker, die sich um die Kenntnis der Sprachen und der Taten der Völker bemüht haben, sowohl der inneren Taten, wie Sitten und Gesetze, als auch der äußeren, wie Kriege, Friedensschlüsse, Verträge, Reisen, Handel« (Neue Wissenschaft, Von den Elementen X). 3
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Namen zu finden, der sie innerhalb des Wissens unterscheiden würde. Aber es macht gewiß auch keine Schwierigkeit, beide Gruppen als Wissenschaften zu bezeichnen, indem man die erste als Begriffswissenschaften oder eigentliche Wissenschaften von der zweiten als den beschreibenden oder uneigentlichen Wissenschaften unterscheidet. Das ist eine Frage der Terminologie, auf der ich nicht beharren möchte, und ich bin bereit, jede andere zu akzeptieren, vorausgesetzt, daß sie in Übereinstimmung steht mit den wirklichen Unterschieden. Wenn ich jetzt den unterbrochenen Faden der Betrachtungen über die Kunst wieder aufnehme, ob nämlich die Kunst Erkenntnis, Form von Erkenntnis ist, und wenn nur zwei Formen von Erkenntnis denkbar sind, in welche dieser beiden Gruppen muß man sie dann einordnen? Als Erkenntnis von Dingen, als Erkenntnis durch Bilder gehört sie logischerweise zur zweiten Gruppe, wo sie als Erkenntnis des Möglichen eine besondere Stelle einnimmt. Die Überzeugung von der erkenntnismäßigen Natur der Kunst lag dem Gedanken Vicos zugrunde, der die Philosophen den Verstand und die Dichter den Sinn der Menschheit nannte. Mag der Ausdruck »Kunst« angewandt auf die Geschichte und die Kosmogonie und die Geographie der allgemeinen Gewohnheit auch noch so zuwiderlaufen, so ist doch unbestreitbar, daß in all diesen Disziplinen der Charakter der Kunst vorherrscht, da sie nämlich mehr auf Anschauung als auf begriffliches Verständnis ausgerichtet sind. Wenn den Erkenntnissen der ersten Gruppe die Logik vorausgeht, müßte denen der zweiten Gruppe eine Logik des Sinnlichen vorgeschaltet sein, eine gnoseologia inferior, wie Baumgarten sie nannte, der durch sie angeregt wurde, sich seine neue Wissenschaft der Aesthetica oder ars pulcre cogitandi auszudenken, was sich als ein fruchtbarer Gedanke erwies. Aber mögen sich die beschreibenden Wissenschaften »Künste« oder die Kunst »beschreibende Wissenschaft« nennen, immer handelt es sich um eine Frage der Terminologie, die wir schon für gleichgültig erklärt haben. Nachdem diese beiden Gruppen von Erkenntnissen gebildet worden sind und nachdem die Kunst, die sonst aus der theoretischen Welt ausgeschlossen bleiben müßte, zur zweiten Gruppe gezählt worden ist, wird das Verhältnis von Kunst und Geschichte
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offenkundig. Sowohl die Kunst als auch die Geschichte gehören zur gleichen Gruppe von Erkenntnissen, zu den sogenannten beschreibenden Erkenntnissen, die eine als Erkenntnis des ideal Möglichen, die andere als Erkenntnis des wirklich Vorgefallenen. Aber auch die anderen beschreibenden Wissenschaften, die Kosmographie, die Geographie und die Paläontologie haben die gleiche Beziehung zur Kunst wie die Geschichte. Sie alle unterscheiden sich von den Wissenschaften der ersten Gruppe, und bei der Klassifizierung des Wissens sind sie mit der Kunst enger verwandt als mit der Physik, der Chemie oder der Mechanik. Warum dann scheint für die Geschichte die Verbindung mit der Kunst annehmbarer als für die anderen Disziplinen? Warum ist denn der, sagen wir ruhig, künstlerische Charakter der Geschichte so häufig behauptet oder geahnt worden, während er bei der Geographie oder der Kosmographie gänzlich unbemerkt geblieben ist? Dieses scheint der Grund dafür zu sein: die Kunst und die Geschichte haben es hauptsächlich mit dem gleichen Gegenstandsbereich zu tun, den Leidenschaften und den Schicksalen der Menschen. Angesichts der Gleichheit der Gegenstände und der Übereinstimmung der Verfahrensweisen ist die Ähnlichkeit auch leichter verstanden worden. Wir wollen mit den folgenden Sätzen schließen: 1) Die Kunst ist eine Form der Erkenntnis. 2) Diese Form der Erkenntnis gehört zur Kategorie von Erkenntnissen, die nicht die Begriffe der Dinge bearbeiten, sondern die Dinge selbst oder die Darstellungen. 3) Zu dieser Kategorie gehört auch die Geschichte. 4) Die allgemeine Kategorie, die die Kunst, die Geschichte und die anderen ähnlichen Hervorbringungen umfaßt, ist noch nicht in ihrer ganzen Ausdehnung und inneren Natur erfaßt worden, und deshalb hat sie auch noch keinen besonderen und allgemein anerkannten Namen erhalten. 5) Dieser Mangel an Klarheit und Unterscheidung ist Ursache und zugleich Wirkung der unvollkommenen Entwicklung, an der die Ästhetik leidet.
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Illustrationen und Diskussionen [1893–1895] IV. ÜBER DIE GESCHICHTSPHILOSOPHIE [1895]
Die Geschichtsphilosophie ist lange Zeit als eine Art Offenbarung der Bedeutung der Geschichte betrachtet worden, zu der man durch die Erforschung der Pläne der Vorsehung oder durch die Bestimmung des Rhythmus der Vernunft, der Idee, des universellen Werdens oder wie man auch immer die metaphysische Verkleidung des alten Gottes genannt haben mag, gelangte. Eine solche Forschung mußte notwendig dahin tendieren, die Stelle der eigentlichen Geschichte einzunehmen; denn es schien ein sicherer und kürzerer Weg, von der Idee zur Wirklichkeit hinabzusteigen, als in der harten Erforschung der Wirklichkeit das Licht der Idee wiederfinden zu wollen. Da ferner die Tatsachen auch nicht immer dazu angetan waren, die theologischen und metaphysischen Konstruktionen zu bestärken, ist die bei manchem Anhänger jener Schule anzutreffende naive Überzeugung, die Erforschung der Tatsachen »verdunkele« die Erkenntnis der »wahren Wahrheit«, nicht selten. In Prosa übersetzt ist damit gesagt, daß man mit offenen Augen nicht gut träumen kann. Gegen die Geschichtsphilosophie als Phantasterei und Abweichung von der ernsten Erforschung und dem ernsten Verständnis der historischen Tatsachen wurde nach der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine erfolgreiche Polemik geführt, die nicht nur durch logische, sondern auch durch ethische Gründe bestimmt war. Denn die Behauptung eines prästabilierten Plans in der Geschichte würde logischerweise zu Fatalismus, Akkomodation und individueller Trägheit führen. Wenn diese Behauptung in der Praxis keine ernsthaften Schäden hervorgerufen hat, so ist der Grund dafür darin zu sehen, daß die Menschen sich stärker durch ihre Interessen und Gefühle leiten lassen als durch ihre trügerischen Theorien. Die Geschichte machen wir selbst. Gewiß, wir stellen die objektiven Bedingungen, unter denen wir leben, in Rechnung, aber wir machen die Geschichte mit unseren Idealen, mit unseren Kräften, mit unseren Leiden, ohne daß es uns vergönnt ist, diese Bürde auf die Schultern Gottes und der Idee abzuladen. Aber die Möglichkeit einer Interpretation des Sinns der Geschichte leugnen und die Möglichkeit leugnen, daß man die Geschichte a priori konstituieren kann, heißt, zu gleicher Zeit eine kritische und eine wissenschaftliche Behauptung aufstellen, näm-
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lich die Grenzen und Methoden der menschlichen Erkenntnis festsetzen. Aus dem Zerfall des alten historisch-philosophischen Glaubens ist auf diese Weise eine erste Gruppe von wirklich wissenschaftlichen Fragen über den Sinn der Geschichte hervorgegangen. Nachdem man die historische Betrachtung aus der Welt der Idee in die Welt der Wirklichkeit verlegt hatte, war es natürlich, sich zu fragen: Welche sind die allgemeinen Ursachen oder Gesetze der geschichtlichen Bewegung? Gibt es ein Gesetz der Geschichte? Muß dieses Gesetz in der Zurückführung der Geschichte auf die Wirkung eines einzigen Faktors bestehen, sei es eines natürlichen Faktors wie das Klima, die Rasse und ähnliches oder eines sozialen Faktors wie der Staat, die Wissenschaft, die Religion und ähnliches? Oder wirken alle diese und andere Faktoren zusammen und konvergieren in der Geschichte? Auf welche Weise wirken sie zusammen, getrennt oder vereint? Wie entstehen die sozialen Institutionen, wie ändern sie sich und wie vergehen sie? Auf welche Weise entwickelt sich z. B. der Staat oder das moralische Verhalten? Diese und andere ähnliche Fragen bilden eine zweite Gruppe von Fragen, die man die Fragen nach den Realprinzipien oder nach den historischen Gesetzen oder nach den Begriffen, mit welchen wir die Geschichte denken, genannt hat. Aber da man das Wort Geschichte sowohl auf die objektive Wirklichkeit anwendet als auch auf die Weise unserer Vorstellung davon, also sowohl auf die Geschichte, die geschieht, als auch auf die, die erzählt wird, deshalb wirft die Geschichte auch als Erzählung eine Reihe von Problemen auf, und die Abhandlungen mit dem Titel de conscribenda historia begannen schon in der klassischen Antike, tauchten dann in der Renaissance wieder auf und lebten von da an als Teil der Rhetorik oder der literarischen Übungen weiter. Vom rhetorischen Ballast befreit und mit größerer Strenge formuliert heißen diese Probleme heute: Was aus der endlosen Masse der vorgefallenen Tatsachen interessiert? Unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Methoden lassen sich die Daten der Überlieferung wiederfinden und ergänzen? Welches sind die Möglichkeiten und Grenzen der Behauptungen des Historikers? Welchen logischen Wert hat die historische Vermutung? Und ähnliches. Diese dritte Gruppe von Fragen ist die der Fragen nach der historischen Methode genannt worden.
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Den drei bis jetzt bestimmten Gruppen wird in den letzten Jahren (wie man aus den Arbeiten Labriolas, Simmels, Bernheims und anderer entnehmen kann) der alte Name Geschichtsphilosophie gegeben, der aber so mit neuem Inhalt gefüllt ist. Aber hat man durch diesen terminologischen Gebrauch schon eine Wissenschaft geschaffen? Antwortet die so verstandene Geschichtsphilosophie auf ein bestimmtes Problem? Ich habe nicht den Eindruck, daß die Geschichtsphilosophie in ihrer neuen Bedeutung ein wirklich wissenschaftliches Gebilde ist, was sich schon leicht aus der Beobachtung folgern läßt, daß die Geschichte hier in den zwei Bedeutungen des Wortes verstanden wird, als Geschichte und als Geschichtsschreibung. Da aber eine Wissenschaft nicht zwei Gegenstände haben kann, müßte man zumindest die neue Geschichtsphilosophie in zwei verschiedene Wissenschaften aufteilen, wobei man die zwei ersten Gruppen von Problemen, die sich auf die historische Wirklichkeit beziehen, als Philosophie der Geschichte bezeichnen müßte und der dritten Gruppe den Namen Philosophie der Geschichtsschreibung geben müßte. Aber eine noch aufmerksamere Betrachtung zeigt, daß auch eine solche Aufteilung am Ende nichts nützt. Werden nämlich die Fragen der ersten Gruppe bejahend gelöst, indem man einen Sinn der Geschichte zugibt, dann gehören sie in den Bereich der religiösen oder metaphysischen Betrachtung der Wirklichkeit, wovon die historische Wirklichkeit der Menschen ein Teil ist. Werden sie hingegen verneinend gelöst, indem man die Unmöglichkeit der Erkenntnis dessen behauptet, was die Daten der Erfahrung übersteigt, dann gehören sie in den Bereich der Erkenntnistheorie, die die Begriffe des Erkennens und der Wissenschaft bestimmt. Ebenso ist, was die zweite Gruppe angeht, das historische Leben das Leben der Menschen selbst, das individuelle und soziale, und die Erkenntnis seiner Begriffe oder Prinzipien oder Bedingungen oder Gesetze kann nichts anderes sein als die Wissenschaft vom Menschen als Individuum und als soziales Wesen; und die in einem solchen Sinn verstandene Geschichtsphilosophie würde in der Erforschung der Gesetze, die das individuelle und soziale physische Leben des Menschen regeln, aufgehen und sie würde sich wieder in die verschiedenen Disziplinen, die Natur und Geist zum Gegenstand haben, reihen. Selbst wenn man die Geschichte im engen Sinne nehmen würde, indem man das rein physische oder rein in-
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dividuelle Leben davon ausschließt, könnte die Geschichtsphilosophie als Wissenschaft von den historischen Gesetzen nur zur Gruppe der sozialen und politischen Wissenschaften gehören, die in ihrer Gesamtheit heute »Soziologie« genannt werden. Was nun die dritte Gruppe von Fragen angeht, so ist ihre Rückführung auf Spezialprobleme der Erkenntnistheorie nicht weniger leicht. Die eigentliche Erforschung der Natur der Geschichtsschreibung bildet einen Teil der Erkenntnistheorie oder der Klassifikation des Wissens, wie man es nennen will. Dem stellt sich die Tatsache, daß wir die Geschichte als Kunst betrachtet haben, nicht als Hindernis entgegen; denn gerade auch die Kunst, wie wir versucht haben nachzuweisen, ist eine Form der Erkenntnis. Wenn wir also auch den im Vorhergehenden behandelten Untersuchungen den kritischen und wissenschaftlichen Charakter zugestehen, so können wir uns doch nicht dazu entschließen, aus ihnen eine Spezialwissenschaft mit dem Namen »Geschichtsphilosophie« zu zimmern. Daß die Geschichtsphilosophie, so wie sie heute verstanden wird, kein einheitliches wissenschaftliches Gebilde ist, ist von denen, die sich neuerdings mit der Geschichtswissenschaft beschäftigt haben, mehr oder weniger ausdrücklich anerkannt worden. Labriola beginnt sein schon häufiger zitiertes Werk mit der Bezeugung, daß er den »präzisen Begriff der Geschichtsphilosophie« nicht definieren könne, weil »der Name Philosophie in dieser besonderen Anwendung nicht eine Gesamtheit von Lehren bezeichnet …, sondern stattdessen eine Richtung.« Bernheim behauptet schließlich, nachdem er die Meinung Diltheys, die Geschichtsphilosophie müsse sich als von den anderen Geisteswissenschaften aufgesogen betrachten 1, bekämpft hat: »Selbst wenn jenes der Fall wäre, würde doch bei den innig zusammenhängenden Beziehungen der verschiedenen Probleme zueinander und zum geschichtlichen Verlauf eine einheitliche Durcharbeitung der Resultate jener Einzelwissenschaften unentbehrlich sein.« 2 Das heißt, es wäre 1 In Wahrheit kämpft Dilthey, op. cit. S. 108 ff., nicht gegen die Philosophie der Geschichte im neuen Sinne, sondern gegen die Philosophie der Geschichte oder die philosophische Geschichte im theologischen und im Hegelschen Sinne. 2 Op. cit. S. 551.
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Illustrationen und Diskussionen [1893–1895]
nützlich und angezeigt, sie in ein- und demselben Buch zu behandeln und sie von ein- und demselben Lehrstuhl vertreten zu lassen; das bestreiten wir nicht. Haben die historischen Tatsachen einen Sinn und bieten sie die Möglichkeit einer metaphysischen Interpretation, unabhängig von den allgemeinen metaphysischen Vorstellungen? Werden sie von anderen Realprinzipien bestimmt als die der ganzen Wirklichkeit? Gibt es Methoden, sie zu erkennen, die sich von denen jeder anderen Wissensform unterscheiden? Diese drei Fragen verneinend zu beantworten, bedeutet, die Möglichkeit eines wissenschaftlichen Gebildes der Probleme der »Geschichtsphilosophie« bestreiten, auch in dem ganz bescheidenen und kritischen Sinne, in dem sie heute verstanden wird. 3 3 Da ich oben mit einiger Strenge über die Schrift Villaris La storia è una scienza? gesprochen habe, möchte ich ein kleines Stück daraus (S. 71), das gerade die Philosophie der Geschichte betrifft, als Beispiel zitieren: »Die historische Methode, sagt Villari, muß ihrerseits auf den eitlen Anspruch verzichten, über die sozialen und moralischen Tatsachen und die Gesetze, die sie regulieren, hinauszugehen.« Was hat die historische Methode hiermit zu tun? Ist sie etwas von der Geschichte Verschiedenes? Und wieso nur die sozialen und moralischen Tatsachen und nicht auch die intellektuellen, die ästhetischen, die religiösen usw. die ihrerseits auch zur Geschichte gehören? Wie kann man die Tatsachen und ihre Gesetze, die Gegenstand ganz anderer Forschungen sind, auf dieselbe Ebene stellen? Lesen wir weiter: »Die Geschichte wird niemals eine Philosophie sein und nicht einmal eine Naturwissenschaft oder mathematische Wissenschaft.« Das glaube ich gerne. Wie sollte sie es anstellen, eine mathematische Wissenschaft zu sein? Sie müßte sich mit Zahlen, Mengen, Größen und ähnlichem abgeben. Aber was die Behauptung angeht, daß die Geschichte keine Naturwissenschaft sein könne, so ist zumindest der Ausdruck ungenau. Hat nicht auch die »Natur« ihre Geschichte? Zählt die »Naturgeschichte« zu den Geisteswissenschaften oder zu den Naturwissenschaften? »Und zu diesem Zwecke wird es niemals gelingen, der Geschichte Methoden aufzuerlegen, die anderen Disziplinen eignen.« Auch hier ist das Wort »Methode« aufs Gratewohl gewählt. Diejenigen, die eine naturalistische Interpretation der Geschichte versucht haben, haben der Geschichte nicht die Methode der Naturwissenschaften auferlegt, sondern sie haben nur die Wirksamkeit der Natur (Klima, geographische Beschaffenheit, Rassen etc.) in der Geschichte übertrieben. Ebenso haben
Über die Geschichtsphilosophie [1895]
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diejenigen, die die sogenannte mathematische Interpretation versucht haben, einfach die Bedeutung der zahlenmäßigen Erforschungen, so wie sie der Statistik eignen, in der Geschichtsschreibung übertrieben. »Die Wissenschaft oder Philosophie der Geschichte wird niemals über die Erforschung der Verknüpfung der Tatsachen, der Gesetze, die sie regeln, der Bedeutung, die sie haben, des allgemeinen Plans, dem sie unterworfen sind, hinauskommen können.« Nun, wenn die »Verknüpfung« der Tatsachen Aufgabe der erzählenden Geschichte ist, die die Tatsachen nicht »unverknüpft« darstellen kann, so ist die Erforschung der Gesetze Aufgabe der Wissenschaft oder der Philosophie der Geschichte. Die »Bedeutung« und der »Plan« sind dann geradezu Aufgabe der Metaphysik oder der Theologie. Was soll das heißen, daß die Wissenschaft der Geschichte nicht über all das »hinausgehen« kann? Wo sollte sie denn ankommen! Mit der »Bedeutung« und dem »Plan« befindet man sich schon im Schoß des göttlichen Vaters. »Gesetze«, »Bedeutung«, »allgemeiner Plan« ist viel mehr, als man irgendeiner Philosophie der Geschichte jemals zugestanden hat. »Wenn man darüber hinausgeht«, fährt Villari fort, »gelangt man von der Geschichte zur Philosophie.« Das ist wahrhaftig ein seltsames Sätzchen. Wie? Es wird behauptet, daß die Philosophie der Geschichte über diese und jene Erforschungen nicht hinausgehen kann, und dann wird gefolgert, daß, wenn sie darüber hinausgeht, sie Philosophie werden würde. Die Philosophie, wenn sie diese Grenze überschreitet, wird – Philosophie. So groß ist die Ungenauigkeit der Villarischen Gedankenführung in dieser Schrift. Sicherlich werden nicht wenige über mein Urteil entsetzt sein, aber nichts scheint mir schädlicher als die kritiklose Annahme irgendeiner Sache, mag sie auch einen mehr oder weniger berühmten Namen tragen.
NAMENREGISTER
Balzac, H. de 43 Baumgarten, A. 59, 64 Bernheim, E. VIII, 4, 5, 16, 21, 23, 36, 38, 46–48, 54, 68, 69 Bruno, A. XXI Buckle, H. 18–20, 38 Burckhardt, J. XVIII, 52 Capuana, L. 34 Carducci, J. 30, 33 Cestaro, F. P. 42 Champfleury, J. 50 Cimbali, G. 45, 54 Colella, G. 58 Conti, A. 9 Dahn, F. 41 Dante XXVII, 27, 32, 41, 57, 59 Darnley, H. 36 David, L. 24 Delfico, M. 18–20 Dilthey, W. IX, 24, 60, 69 Donatello 59 Droysen, J. G. VII, XV, 4, 6, 19, 25, 37 Dumas, A. 50 Ebers, G. 41 Erhardt, L. 47 Fester, R. 20 Flaubert, G. XI Flint, R. 20 Freemann, E. A. 3 Freytag, G. 41
Gebhardt, B. 7 Gentile, G. XXVII George, St. XIV, XXIII Gervinus, G. 26 Giolitti, G. XXVII Giotto 59 Giovo, P. 24 Goethe, J. W. von XXVI, XXVII, 27, 43 Goncourt, E. u. J. de 34 Guicciardini, L. 57 Gumplovicz, L. 20 Gundolf, F. XIV Guyau, M. 9 Hamilton, A. 24 Hartmann, E. von X, 8, 10–13, 25, 27, 28, 31, 35 Hegel, G. W. F. X, XI, XIX, XXII, XXVIII, 8, 13, 21, 27, 30, 38, 52, 54, 59, 69 Herbart, J. F. 9–11, 15, 30 Herder, J. G. 20 Hirth, G. 35 Homer 32 Humboldt, A, von 50 Imbriani, V. Jauß, H. R.
13, 36 XV
Kant, I. XIX, 8, 10 Köstlin, C. 10, 31 Labriola, A. XVI, XXVII, 18, 21, 33, 37, 48, 68, 69 Laterza, G. XXVII
74 Lazarus, M. 17, 23, 33, 40 Lecky, W. 25 Leibniz, G. W. 12 Lely, P. 24 Leopardi, G. 12 Lessing, G. E. 27 Leva, G. de 52 Lorenz, O. 20 Löwith, K. XXIV Lübbe, H. IX Machiavelli, N. 27 Mager, W. XX Mauthner, F. XVIII Manzoni, A. 18, 40–42 Mariano, R. 45, 51–54 Martha, C. 29 Mayr, G. 20 Menéndez y Pelayo, M. 7, 9 Mommsen, Th. 27 Moncrif 50 Nahlowski, J. 10 Neudecker, G. 10, 31 Nietzsche, F. XVII, XVIII Nitti, F. 52, 53, 55–57 Pais, E. 21 Paul, H. 21 Pavese, C. XVI Plato 25 Ranke, L. von 52 Renan, E. 38 Renier, R. 48, 54, 57
Namenregister Rickert, H. VII, VIII, XX Rocholl, R. 20 Rollin, C. 24 Sainati, V. XIII Sanctis, F. de 11, 14, 24, 30 Schiller, F. 8 Schopenhauer, A. 16, 20, 24, 25, 29 Shakespeare, W. XXVII, 37, 59 Siebeck, H. 10 Simmel, G. XVI, 19, 21, 24, 33, 68 Spencer, H. 8 Spinelli, M. 36 Stecchetti, L. 30 Stierle, K. XII Stuart, Maria 36 Tacitus 36 Tasso, T. 43 Ullmann, H.
5
Véron, E. 7, 8 Vico, G. B. XXVII, 20, 22, 63, 64 Villari, P. 7, 24, 58, 70, 71 Voltaire 32 Vossler, K. XXVII Windelband, W. VII Wolf, F. 25 Wundt, W. 18, 48 Zimmermann, R. Zumbini, B. 32
10
SACHREGISTER
Analytik, der Geschichte IX, X Anekdote VIII, XXIII Antihistorismus XXIV Ästhetik X, XI, XX, XXI, 7–13, 27–29, 31, 52, 61, 65 Ausdruck XI, XIV, 10–14, 28 Begriff XII, XIII, XIX, XX, XXII, 15, 23, 25, 28, 48, 49, 53, 60–63, 65, 67, 68 Begriffsbildung VII, VIII, XII, 15 Beschreibung XIII, 18, 24, 48–50, 62–65 Chronik
51, 52
Darstellung VIII, XI, XIII, 14–16, 18, 22, 23, 25–27, 29, 33, 34, 37, 38, 40, 46, 54 Dezisionismus XXIV Einfühlung XIV Erkenntnis XII, 4, 15, 44–47, 56, 59–65, 67–69 Erklärung IX, XV, 18, 35, 49 Erzählung VIII, IX, X, XII–XVI, XIX, XXII, XXIII, XXVI, 16– 19, 21, 27, 35, 36, 39, 41, 44, 48, 49, 51–53, 56, 67 Faschismus XXII Form XI, 9–13, 30, 33 Formalismus, ästhetischer 8–11, 30 Forschung, historische VII, XIV, XV, XXI, XXIV, 4, 17, 21, 34– 36, 38, 48, 66 Futurismus XXIV
Genuß, ästhetischer 4, 9, 59 Geschichtsphilosophie XVI, XX, XXII, 7, 16, 19–21, 36, 37, 46, 52, 66–71 Gesetz 19, 20, 47, 53, 67–71 Hermeneutik IX, X Historik IX, X, XII, XVI, 4 Historismus XVII-XIX, XXV Idealismus VII, X, XI, XVII, XIX, XXI, XXIV, XXVII, 11, 20, 25, 30 Idealismus, konkreter X, XIV, 8, 30 Idee XL 12, 17, 25, 26, 29, 43, 47, 51, 52, 54, 56, 66, 67 Individualität VIII, XIII, 16, 17, 47, 50, 54, 68 Inhalt XI, XIV, 9–13, 26, 28, 30–34 Irrationalismus XXIII, XXIV Interessante 31, 33, 34, 55 Interesse X, XV, XVI, XVIII, XXII, 29, 31–34, 42, 43, 50, 54, 56, 57, 63 Intuition XIV, 43 Konkrete XI, XIII, XXI, 17, 22, 23 Kunst VII, VIII, X-XIV, XVII, XVIII, XX, 3–8, 11, 13–15, 22–34, 37–39, 41–46, 53–56, 58, 59, 64, 65, 69 Liberalismus XXVIII
XXIV, XXVII,
76 Mögliches 59, 64
Sachregister 33–35, 38, 54, 55, 57,
Naturalismus Objektivität
XI, XIV, XVII XVIII
Phantasie 38, 40–43, 54, 55 Philosophie XXV, 53 Positivismus VII, XVII, 52 Psychoanalyse XXII Rationalismus 8, 25, 29 Roman, historischer 34, 40–43 Schöne XI, 7–14, 32 Sensualismus 8, 29 Soziologie 69 Spiel 8
Tatsache 17, 19, 21, 29, 34, 35–37, 44, 47, 49, 51, 53, 57, 60, 62, 66, 70, 71 Veranschaulichung VII–IX, XIII XV, XIX Verdichtung XIII, 17, 23 Verismus 30 Vertretung XIII, 23 Wirklichkeit VIII, XI, XIII, XX, XXII, 13–15, 27–29, 31–33, 35, 37, 38, 42, 46, 53–56, 59, 60, 63, 66– 68, 70 Wissen 15, 47, 48, 58–65, 69 Wissenschaft VIII, X, XII, XV, XVIII, XXI, XXII, 3–6, 12, 15– 23, 25, 26, 28–30, 32, 38, 39, 44– 54, 58–65, 67–71