Text auf der Rückseite: David Mamets Vorlesungen über Filmregie, die er 1967 an der Filmschule der Columbia University hielt, zählen in den USA zu den Standardwerken der Regie- und Drehbuchtechnik. "Ein guter Autor wird nur dann besser, wenn er lernt, zu streichen, das Schmückende, das Beschreibende und vor allem das tief Gefühlte und Bedeutungsvolle herauszunehmen. Was bleibt übrig? Die Geschichte bleibt übrig: die wesentliche Entwicklung von Ereignissen, die dem Helden auf dem Weg zu seinem einzigen Ziel widerfahren. Der Sinn, sagt Aristoteles, ist das, was dem Helden widerfährt ... nicht dem Autor. Man braucht nicht sehen können, um eine solche Geschichte zu schreiben. Man muss denken können. Das Drehbuchschreiben ist eine Kunst, die auf Logik beruht. Sie besteht aus der beharrlichen Anwendung einer Reihe von grundlegenden Fragen: Was will der Held? Was hindert ihn daran, es zu kriegen? Was passiert, wenn er es nicht bekommt?" David Mamet "Ein erstaunliches Werk: Kühn schlägt es Bögen von Aristoteles und Ödipus zu Disneys Elefantenbaby Dumbo, beruft sich als Kronzeugen seiner 'Montagetheorie' vor allem auf Hitchcock und Eisenstein und zeigt den berechnenden Erzählfallensteller Mamet als Beschwörer des Unbewussten, des Traum- und Märchenhaften. Mamet wirft mit scharfsinnigen, gern ins Paradoxe überspitzten Einsichten um sich und verbreitet heilsamen Schrecken." Urs Jenny im SPIEGEL David Mamet wurde 1947 in Chicago geboren. Er zählt zu den wichtigsten amerikanischen Autoren der Gegenwart.
David Mamet DIE KUNST DER FILMREGIE Aus dem Amerikanischen von Petra Schreyer Alexander Verlag Berlin
David Mamet im Alexander Verlag Berlin: Vom dreifachen Gebrauch des Messers. Über Wesen und Zweck des Dramas Richtig und Falsch: Kleines Ketzerbrevier samt Common Sense für Schauspieler (Herbst 2001) Dritte Auflage 2003 Die Originalausgabe erschien 1991 unter dem Titel ON DlRECTING FlLM © by David Mamet, 1991 AJ1 rights reserved Die Übersetzung folgt der amerikanischen Penguin-BooksAusgabe von 1992 © 1998 für die deutsche Ausgabe by Alexander Verlag Berlin Alexander Wewerka, Fredericiastr. 12, 14050 Berlin
[email protected] www.alexander-verlag.com Druck und Bindung Interpress, Budapest. Jede Form der Vervielfältigung - auch als Fotokopie - ist ohne die Genehmigung des Verlags nicht gestattet. Alle Rechte vorbehalten ISBN 3-89581-032-0 Printed in Hungary (March) 2003
INHALT INHALT .....................................................................................................................5 VORWORT................................................................................................................7 1. ERZÄHLEN .........................................................................................................10 2. »WO STELLE ICH DIE KAMERA HIN?«.........................................................16 3. ALTERNATIVE ARCHITEKTUR UND DRAMATISCHE STRUKTUR ........53 4. DIE AUFGABEN EINES REGISSEURS............................................................61 5. SCHWEIN-DER FILM ........................................................................................70 SCHLUSS ................................................................................................................88 ANMERKUNGSVERZEICHNIS............................................................................92
Ich danke meiner Lektorin Dawn Seferian für ihre große Geduld sowie Rachel Cline, Scott Zigler, Catherine Shaddix und Elaine Goodall für ihre Hilfe beim Verfassen dieses Buches. Dieses Buch ist Mike Hausman gewidmet »Glücklich sind die, die keine Geschichte zu erzählen haben.« Anthony Trollope, HE KNEW HE WAS RIGHT
VORWORT Dieses Buch basiert auf einer Vorlesungsreihe, die ich im Herbst 1987 an der Filmschule der Columbia University abhielt. Der Kurs hatte »Filmregie« zum Gegenstand. Ich hatte gerade einen Film fertig gestellt, und wie ein Pilot, der nicht mehr als 200 Flugstunden hinter sich hat, war ich ein äußerst gefährliches Wesen. Zweifellos war ich kein blutiger Anfänger mehr, doch es fehlte mir die Erfahrung, die mich in die Lage versetzt hätte, das Ausmaß meines Nichtwissens zu erkennen. Ich mache dies als mildernden Umstand geltend für die Tatsache, dass jemand, der kaum über Erfahrung verfügt, ein Buch über Filmregie geschrieben hat. Was mein Vorhaben jedoch rechtfertigte, war folgende Überlegung: Die Columbia-Vorlesungen beschäftigten sich mit jener Theorie über Filmregie, die ich aus meiner weit umfassenderen Erfahrung als Drehbuchautor gewonnen hatte, und ich versuchte sie näher zu erläutern. Neulich las ich in der Zeitung die Besprechung eines Buches über die Karriere eines Romanschriftstellers, der nach Hollywood ging und mit dem Schreiben von Drehbüchern Erfolg zu haben hoffte. Er gab sich einer Täuschung hin, schrieb der Kritiker, wie hätte er als Drehbuchautor erfolgreich sein können, wo er beinahe vollständig erblindet war! Der Kritiker offenbarte eine bodenlose Ignoranz in Bezug auf die Kunst des Drehbuchschreibens. Man muss nicht sehen können, um einen Film zu schreiben - man braucht Vorstellungskraft für die Dinge. Es gibt ein wundervolles Buch mit dem Titel THE PROFESSION OF THE STAGE DlRECTOR (1) von Georgi Towstonogow. Ein Regisseur, schreibt er darin, fällt in die tiefste Grube, wenn er sich sofort auf eine visuelle oder bildliche Lösung stürzt. Diese Beobachtung hat meinen Werdegang als Bühnenregisseur und später als Drehbuchautor wesentlich beeinflusst und gelenkt. Wenn man versteht, was die Szene bedeutet, und genau dies inszeniert, sagt Towstonogow, macht man seine Arbeit richtig —
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sowohl für den Autor als auch für den Zuschauer. Stürzt man sich gleich auf einen schönen oder bildhaften oder auch nur beschreibenden Ansatz für eine Szene, kann es passieren, dass man sich die größte Mühe geben muss, diese Szene in den logischen Fortgang des Stücks zu integrieren. Und während man hart daran arbeitet, das hübsche Bild zu integrieren, konzentriert man sich so ausschließlich auf seine erfolgreiche Einbeziehung, dass man damit dem Stück als Ganzem schadet. Hemingway beschrieb dieses Prinzip so: »Schreib die Geschichte, nimm alle guten Zeilen heraus, und prüfe, ob die Geschichte immer noch funktioniert.« Die Erfahrung, die ich als Regisseur und Bühnenautor gemacht habe, ist diese: Das Mitreißende des Stücks ist direkt proportional zu der Menge, die der Autor weglassen kann. Ein guter Autor wird nur dann besser, wenn er lernt, zu streichen, das Schmückende, das Beschreibende, das Narrative und vor allem das tief Gefühlte und Bedeutungsvolle herauszunehmen. Was bleibt übrig? Die Geschichte bleibt übrig. Was ist die Geschichte? Die Geschichte ist die wesentliche Entwicklung von Ereignissen, die dem Helden bei der Verfolgung seines einzigen Ziels widerfahren. Wesentlich, sagt Aristoteles, ist das, was dem Helden widerfährt ... nicht dem Autor. Man braucht nicht sehen zu können, um eine solche Geschichte zu schreiben. Man muss denken können. Das Drehbuchschreiben ist eine Kunst, die auf Logik beruht. Sie besteht aus der beharrlichen Anwendung einer Reihe von grundlegenden Fragen: Was will der Held? Was hindert ihn daran, es zu bekommen? Was passiert, wenn er es nicht bekommt? Wenn man die Regeln befolgt, die aus der Anwendung dieser Fragen entstehen, hat man am Ende eine logische Struktur, die Skizze einer Handlung, von der ausgehend das Drama konstruiert werden kann. Beim Schreiben eines Stücks wird die Handlungsskizze der »zweiten Natur« des Bühnenautors übergeben - das strukturierende Ego übergibt die Handlungsskizze dem Es, das den Dialog schreiben wird.
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Diese Vorstellung von einer »zweiten Natur« gilt meiner Meinung nach für den strukturierenden Drehbuchautor, der die dramatische Skizze dem Regisseur übergibt. Ich sah und sehe den Regisseur als die dionysische Fortsetzung des Drehbuchautors - der die Autorschaft auf eine Weise vollendet (und so sollte es immer sein), die die Stumpfsinnigkeit der technischen Arbeit auslöscht. Ich kam als Drehbuchautor zum Regieführen und betrachtete die Kunst der Regie als freudeschaffende Fortsetzung des Drehbuchschreibens - und unter dieser Prämisse unterrichtete ich den Kurs und schrieb ich dieses Buch. David Mamet Cambridge, Massachusetts, im Frühjahr 1990
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1. ERZÄHLEN Die wichtigsten Fragen, die ein Regisseur beantworten muss, sind: »Wo platziere ich die Kamera?«, »Was sage ich den Schauspielern?« und eine sich daraus ergebende Frage: »Worum geht es in dieser Szene?« Es gibt zwei Möglichkeiten, sich dieser Frage zu nähern. Die meisten amerikanischen Regisseure gehen an das Problem heran, indem sie sagen: »Wir folgen einfach dem Schauspieler«, als wäre der Film eine Aufzeichnung dessen, was der Protagonist macht. Wenn der Film eine Aufzeichnung dessen ist, was der Protagonist macht, so sollte es wenigstens interessant sein. Das heißt, mit dieser Herangehensweise kann der Regisseur dem Film neuartige und interessante Sichtweisen geben, indem er oder sie ununterbrochen fragt: »Was ist die interessanteste Position für die Kamera, um diese Liebesszene zu drehen? Wie ist es am interessantesten, sie ganz schlicht zu halten? Was ist die interessanteste Art und Weise, in der ich Schauspieler handeln lassen kann in einer Szene, in der, sagen wir, sie ihm einen Antrag macht?» Auf diese Weise werden die meisten amerikanischen Filme gemacht: als angebliche Aufzeichnung dessen, was richtige Menschen wirklich taten. Es gibt eine andere Möglichkeit, einen Film zu machen, und zwar die, die Eisenstein vorschlug. Diese Methode hat nichts damit zu tun, dem Protagonisten auf Schritt und Tritt zu folgen; vielmehr ist sie eine Kette nebeneinandergestellter Bilder, durch deren Kontrast die Geschichte im Kopf der Zuschauer weiterentwickelt wird. Dies ist eine kurze und prägnante Wiedergabe von Eisensteins Theorie der Montage; es ist auch das erste, was ich über Filmregie wusste, praktisch das einzige, was ich über Filmregie weiß. Du erzählst die Geschichte durch Schnitte. Das heißt, durch das Nebeneinanderstellen von Bildern, die im Wesentlichen unabgewandelte Bilder sind. Eisenstein meint, das beste Bild sei ein nicht abgewandeltes Bild. Die Aufnahme einer Teetasse, die Aufnahme eines Löffels. Die Aufnahme einer Gabel. Die Aufnahme einer Tür. Der Schnitt soll die Geschichte erzählen. Denn sonst hat man am Ende keine Dramaturgie, sondern eine Erzählung. Wenn man ins
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Erzählen abgleitet, ist es, als würde man sagen: »Ihr werdet nie erraten, warum das, was ich euch gerade erzählt habe, wichtig für die Geschichte ist.« Wichtig ist nicht, dass die Zuschauer erraten, warum was wichtig für die Geschichte ist. Wichtig ist, die Geschichte einfach zu erzählen. Die Zuschauer sollen überrascht sein. Schließlich ist der Film viel näher am schlichten Erzählen als das Theater. Wenn man hört, wie Leute Geschichten erzählen, wird man feststellen, dass sie sie filmisch erzählen. Sie springen von einem zum anderen, und die Geschichte entwickelt sich durch die Nebeneinanderstellung von Bildern - das heißt: durch den Schnitt. Leute sagen: »Ich stehe an der Ecke. Es ist ein nebliger Tag. Eine Menge Leute rennen herum wie verrückt. Wegen des Vollmonds wahrscheinlich. Plötzlich fährt ein Wagen heran, und der Typ neben mir sagt ...« Genau besehen haben wir es hier mit einer Liste von Kameraeinstellungen zu tun: 1. ein Mann steht an der Ecke; 2. Aufnahme des Nebels; 3. der Vollmond, der am Himmel scheint; 4. ein Mann sagt: »Ich glaube, um diese Jahreszeit drehen die Leute alle durch«; 5. ein Auto nähert sich. Bilder nebeneinanderzustellen ist gutes Filmemachen. Der Zuschauer folgt der Geschichte. Was, fragt er sich, wird als nächstes passieren? Die kleinste Einheit ist die Einstellung, die größte Einheit ist der Film; und die Einheit, um die sich der Regisseur am ausgiebigsten kümmern muss, ist die Szene. Zunächst die Einstellung: Es ist die Nebeneinanderstellung von Einstellungen, die den Film voranbringt. Die Einstellungen bilden die Szene. Die Szene ist eine formale Abhandlung eines Themas. Sie ist ein kleiner Film. Man könnte sagen, sie ist eine Dokumentation. Dokumentarfilme sind im Grunde unzusammenhängend belichtetes Material, das auf eine Weise nebeneinandergestellt wird, die dem Zuschauer genau den Gedanken vermittelt, den der Filmemacher vermittelt haben will. Sie filmen Vögel, die in den Zweigen rascheln. Sie filmen ein Rehkitz, das den Kopf hebt. Die beiden Aufnahmen haben nichts miteinander zu tun. Sie liegen Tage oder Jahre auseinander und sind Kilometer voneinander entfernt. Und
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der Filmemacher stellt die Bilder nebeneinander, um dem Zuschauer die Idee großer Wachsamkeit zu vermitteln. Die Aufnahmen haben nichts miteinander zu tun. Sie sind keine Aufzeichnung dessen, was der Protagonist macht. Sie sind keine Aufzeichnung davon, wie das Reh auf die Vögel reagiert. Sie sind im Wesentlichen nicht abgewandelte Bilder. Doch sie vermitteln dem Zuschauer die Idee von Wachsamkeit gegen Gefahr, wenn sie nebeneinandergestellt werden. Das ist gutes Filmemachen. Regisseure von Spielfilmen sollten es dem gleichtun. Wir sollten alle Dokumentarfilmer sein wollen. Und wir haben einen Vorteil: Wir können hinausgehen und genau die nicht abgewandelten Bilder inszenieren und aufnehmen, die wir für unsere Geschichte brauchen. Und sie dann nebeneinanderstellen. Im Schneideraum denkt man ständig: »Ich wünschte, ich hätte eine Aufnahme von ...« Nun, vor den Dreharbeiten für den Film hast du alle Zeit der Welt, du kannst entscheiden, welche Einstellungen du später benötigst, und rausgehen und sie aufnehmen. Fast niemand in diesem Land weiß, wie man ein Filmdrehbuch schreibt. Fast alle Drehbücher enthalten Material, das nicht gedreht werden kann. »Nick, ein junger Mann in den Dreißigern mit einem Hang zum Ungewöhnlichen.« Du kannst dies nicht aufnehmen. Wie könntest du das aufnehmen? »Jodie, ein hipper Teenager, sitzt seit dreißig Stunden auf der Bank.« Wie soll man das aufnehmen? So etwas kann man nicht aufnehmen, nur erzählen (visuell oder verbal). Visuell: Jodie sieht auf die Uhr. Überblendung. Jetzt ist es dreißig Stunden später. Verbal: »Ich bin zwar hip, aber dreißig Stunden auf der Bank zu sitzen ist keine reine Freude.« Wenn du feststellst, dass du ohne Erzählung einen Punkt nicht verständlich machen kannst, kannst du hundertprozentig sicher sein, dass dieser Punkt für die Geschichte (das heißt für die Zuschauer) unwichtig ist: Die Zuschauer verlangen keine Information, sondern Drama. Wer aber verlangt nach Information? Dieser furchtbaren, sich dahinschleppenden Erzählweise, mit der sich die meisten amerikanischen Filmdrehbücher blamieren. Die meisten Drehbücher wurden für ein Publikum aus Entscheidungsträgern der großen Studios geschrieben. Diese Leute wissen nicht, wie man Drehbücher liest. Keiner von ihnen. Keiner von
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ihnen kann ein Drehbuch lesen. Ein Drehbuch sollte das Nebeneinanderstellen von nicht abgewandelten Bildern sein, die die Geschichte erzählen. Ein Drehbuch zu lesen und den Film dabei zu »sehen« erfordert entweder ein gewisses Maß an filmischer Ausbildung oder eine Portion Naivität - weder das eine noch das andere findet sich bei den Studiobossen. Die Arbeit des Regisseurs besteht darin, das Drehbuch in einzelne Einstellungen aufzulösen. Die Arbeit am Drehort ist nichts. Alles, was du am Drehort tun musst, ist wach bleiben, deinen Plänen folgen, den Schauspielern dabei helfen, ohne Übertreibung zu spielen, und deine gute Laune nicht verlieren. Beim Erstellen des Drehplans wird der Film gemacht. Die Arbeit am Drehort ist einfach die Aufzeichnung dessen, was zur Aufzeichnung ausgewählt wurde. Es ist der Plan, der den Film macht. Ich habe keine Erfahrung mit Filmschulen, hege aber den Verdacht, dass sie genauso nutzlos sind wie Schreibschulen, mit denen ich allerdings Erfahrung habe. Die meisten Schreibschulen lehren Dinge, die jedermann im normalen Verlauf der Ereignisse ohnehin lernt, und sie hüten sich, die Herren und Damen Studenten der Künste zu beleidigen, indem sie Kurse anböten, in denen überprüfbare Fähigkeiten vermittelt würden. Ich nehme an, in Filmschulen ist es das gleiche. Was sollten Filmschulen lehren? Die Technik zu begreifen, wie unabgewandelte Bilder nebeneinandergestellt werden, um im Geist des Zuschauers das Fortschreiten der Geschichte zu schaffen. Die Steadicam (eine Handkamera) hat - wie viele andere technische Wunder - großen Schaden angerichtet; sie hat dem amerikanischen Film geschadet, weil es mit ihr so einfach ist, dem Protagonisten überallhin zu folgen, ohne denken zu müssen: »Wie soll die Einstellung aussehen?« oder: »Wo soll ich die Kamera positionieren?« Stattdessen denkt man: »Ich kann das Ganze an einem Morgen drehen.« Doch wenn du die Arbeit eines solchen Morgens bei den täglichen Mustern (Vorführung des aufgenommenen Filmmaterials eines jeden Tages) auch liebst, wirst du sie im Schneideraum hassen. Denn das, was du in den Mustern sehen solltest, ist nicht für dein Vergnügen bestimmt; es dürfen keine »kleinen Dramen« sein. Es sollten nicht abgewandelte, kurze
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Einstellungen sein, die am Ende - eine an die andere zusammengeschnitten werden, um die Geschichte zu erzählen. Aus folgendem Grund müssen die Bilder nicht abgewandelt sein: Zwei Männer gehen die Straße hinunter. Der eine sagt zum anderen ... Sie, verehrter Leser, hören jetzt zu: Sie hören zu, weil Sie wissen wollen, was als nächstes passiert. Die Auflösung und die Arbeit am Drehort sollten nicht mehr abgewandelt sein als die Schnitte in dieser kleinen Geschichte. Zwei Männer gehen die Straße hinunter ... der eine sagt etwas zum anderen ... Der Zweck dieser Technik liegt darin, das Unbewusste zu befreien. Wenn du die Regeln gewissenhaft befolgst, sind sie es, die dafür sorgen, dass dein Unbewusstes frei ist. Das ist echte Kreativität. Wenn nicht, wird dein Bewusstsein dich fesseln. Denn das bewusste Denken will immer geliebt werden und will immer interessant sein. Das bewusste Denken wird das Offensichtliche vorschlagen, das Klischee: Diese Dinge bieten Sicherheit, da sie in der Vergangenheit bereits Erfolg gehabt haben. Nur der Geist, der von sich abgelenkt ist und sich einer Aufgabe widmet, hat die Möglichkeit wahrer Kreativität. Das mechanische Funktionieren eines Films ist wie der Mechanismus eines Traums; schließlich ist ein Film letztendlich nichts anderes als ein Traum, nicht wahr? Die Bilder in einem Traum sind von großer Bandbreite, großartig und interessant. Und die meisten sind unabgewandelt. Es ist ihre Zusammenstellung, die dem Traum seine Stärke verleiht. Der Schrecken und die Schönheit des Traums erwachsen aus der Verknüpfung vorher nicht verbundener Alltäglichkeiten des Lebens. So wenig folgerichtig und so sinnlos uns diese Nebeneinanderstellung auf den ersten Blick erscheint - eine fundierte Analyse enthüllt das höchste und das einfachste Organisationsprinzip und somit die tiefste Bedeutung. Das gleiche gilt für einen Film. Ein großer Film ist so weit davon entfernt, eine Aufzeichnung der Bewegungen des Protagonisten zu sein, wie ein Traum. Ich schlage vor, dass diejenigen, die sich dafür interessieren, einen Blick in die psychoanalytische Literatur werfen, die eine unermessliche Fülle von Informationen über Filme liefert. Die beiden Studien sind im Grunde das gleiche. Im Traum und im Film
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werden Bilder nebeneinandergestellt, um Fragen zu beantworten. Ich empfehle zum Beispiel DIE TRAUMDEUTUNG von Sigmund Freud; KINDER BRAUCHEN MÄRCHEN von Bruno Bettelheim, ERINNERUNGEN , TRÄUME , GEDANKEN von CG. Jung. Jeder Film ist eine «Traumsequenz«. Wie unglaublich impressionistisch ist noch der schlechteste, schwerfälligste, amerikanischste Film. PLATOON ist nicht mehr und nicht weniger realistisch als DUMBO. Beide erzählen die Geschichte gut, jeder auf seine Weise. In anderen Worten, es ist alles eine Scheinwelt. Die Frage ist, wie gut diese Scheinwelt ist.
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2. »WO STELLE ICH DIE KAMERA HIN?« Der Entwurf eines Films (Eine Zusammenarbeit mit Studenten der Columbia University Film School)
MAMET: Ich schlage vor, wir machen einen Film aus der Situation, in der wir uns gerade befinden. Eine Handvoll Leute kommt zu einem Kurs zusammen. Was wäre eine interessante Möglichkeit, das zu filmen? STUDENT: Von oben. MAMET: Und warum soll das interessant sein? STUDENT: Es ist interessant, weil es ein neuer Blickwinkel ist: ein Blick aus der Vogelperspektive auf jeden, der hereinkommt, wodurch die Anzahl der Leute betont wird. Wenn eine bestimmte Anzahl von Leuten hereinkommt, möchtest du vielleicht betonen, dass dies von Bedeutung ist. MAMET: Wie weißt du, dass dies eine gute Art und Weise ist, die Szene zu filmen? Es gibt eine unbegrenzte Anzahl von Möglichkeiten, sie zu filmen. Warum ist »von oben« besser als irgendein anderer Winkel? Wie entscheidest du, aufweiche Weise die Szene am besten zu drehen ist? STUDENT: Das hängt davon ab, worum es in der Szene geht. Man könnte sagen, die Szene handelt von einem sehr stürmischen Treffen, und die Leute laufen aufgeregt umher. Diese Szene muss sich von einer Szene, in der die Spannung unterschwellig ist, unterscheiden. MAMET: Das ist ganz richtig. Du musst dich fragen: »Worum geht es in dieser Szene?« Wir lassen die Art des Filmemachens, bei der die Kamera dem Helden folgt, beiseite und fragen uns, worum es in der Szene geht. Wir müssen uns sagen, dass es nicht unsere Aufgabe ist, dem Protagonisten zu folgen. Warum? Weil es unendlich viele Möglichkeiten gibt, eine Gruppe von Leuten in einem Raum zu filmen. Die Szene handelt nicht einfach von einer Gruppe von Leuten in einem Raum; sie handelt von etwas anderem. Wir müssen uns
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entscheiden, worum es in der Szene geht. Wir wissen nichts über die Szene, außer dass es um ein erstes Treffen geht. Also musst du deine Wahl treffen, wovon die Szene handeln soll. Und diese Entscheidung ist die künstlerische Wahl: nicht »eine interessante Art und Weise«, die Szene zu drehen (was immer eine Wahl ist, die auf Neuigkeitsbestreben beruht, und im Grunde nur der Wunsch, gemocht zu werden), vielmehr der Wunsch: »Ich würde gern eine Aussage machen, die auf der Bedeutung der Szene beruht, nicht auf dem Aussehen der Szene.« Also lasst uns überlegen, worum es in der Szene geht. Ich gebe euch einen Hinweis: »Was will der Protagonist?« Denn die Szene endet, wenn der Protagonist es erhalten hat. Was will der Protagonist? Das ist die Frage, die den Film vorwärtstreiben wird. Was will der Protagonist? Was tut er oder sie, um es zu erreichen - das ist es, was die Zuschauer in ihren Sitzen hält. Wenn du das nicht hast, musst du Tricks anwenden, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu fesseln. Kehren wir zurück zu unserer Idee mit dem »Kurs«. Nehmen wir an, es ist das erste Treffen einer Reihe von Leuten. Eine Person versucht vielleicht, beim ersten Treffen den Respekt von anderen zu erlangen. Wie behandeln wir dieses Thema filmisch? In dieser Szene will der Betreffende die Achtung des Lehrers gewinnen. Wir wollen die Geschichte in Bildern erzählen. Wenn ihr Schwierigkeiten habt, sie euch vorzustellen, und euer Kopf leer ist, hört euch selbst zu, wie ihr die Geschichte einem Fremden in der Kneipe erzählt. Wie würdet ihr die Geschichte erzählen? STUDENT: Also dieser Typ kommt ins Klassenzimmer, und das erste, was er tut, ist, sich direkt neben den Lehrer zu setzen und ihn ganz aufmerksam anzusehen ... und er hört ihm ganz aufmerksam zu, und als der Lehrer seine Armprothese fallen lässt, bückt er sich und hebt sie auf und reicht sie dem Lehrer. MAMET: Nun, ja. Das ist es, was Autoren heutzutage machen, Autoren und Regisseure. Wir allerdings wollen versuchen, alles, was »interessant« ist, außen vor zu lassen. Wenn die Figur nicht interessant gemacht wird, ist sie nur dann interessant oder uninteressant, wie die Story es gerade verlangt. Es ist unmöglich, eine Figur »allgemein interessant« zu machen. Handelt die Geschichte von einem Mann, der die Achtung des Lehrers gewinnen will, ist es nicht wichtig, dass der Lehrer einen künstlichen Arm hat. Es ist nicht unsere
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Aufgabe, die Geschichte interessant zu machen. Die Geschichte kann nur interessant sein, weil wir die Entwicklung des Helden interessant finden. Es ist das Ziel des Helden, das uns auf unseren Plätzen hält. »Zwei kleine Kinder gingen in einen dunklen Wald ...« Okay; noch jemand? Ihr schreibt den Film. Das Ziel ist, die Achtung des Lehrers zu gewinnen. STUDENT: Ein Typ in einem Regiekurs kam zwanzig Minuten früher und setzte sich an ein Ende des Tisches. Dann kamen die anderen Kursteilnehmer und der Lehrer, und er nahm seinen Stuhl und versuchte, näher beim Lehrer zu sitzen, und der Lehrer saß am entgegengesetzten Ende des Raums. MAMET: Gut. Jetzt haben wir ein paar Ideen. Wir wollen mit ihnen arbeiten. Ein Schüler kam zwanzig Minuten zu früh in den Kurs. Warum? Um die Achtung des Lehrers zu gewinnen. Er setzte sich an ein Ende des Tisches. Wie können wir das in Einstellungen auflösen. STUDENT: Einstellung, wie er hereinkommt. Einstellung des Klassenzimmers, Einstellung von ihm, sitzend. Einstellung, wie die restliche Klasse hereinkommt. MAMET: Gut. Noch jemand? STUDENT: Einstellung einer Uhr, Einstellung des Moments, in dem er hereinkommt. Einstellung halten, bis er beschließt, wo er sitzen will; Einstellung von ihm, im leeren Zimmer, wartend. Einstellung von vielen Leuten, die hereinkommen. MAMET: Brauchst du die Einstellung der Uhr? Die kleinste Einheit, um die ihr euch kümmern müsst, ist die Einstellung. Die übergeordnete Idee der Szene ist, die Achtung des Lehrers zu gewinnen. Das ist es, was der Held will — es ist das übergeordnete Ziel. Wie können wir den ersten Handlungsschritt der Szene finden? Was machen wir als erstes? STUDENT: Den Charakter etablieren. MAMET: In Wahrheit brauchst du niemals einen Charakter zu etablieren. Erstens gibt es so etwas wie Charakter nicht außer
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gewohnheitsmäßigen Handlungen, wie Aristoteles uns vor zweitausend Jahren sagte. Es gibt ihn einfach nicht. Weder hier noch in Hollywood, noch sonst wo. In Hollywood reden sie immer über Charakter, Tatsache ist aber, dass es so etwas nicht gibt. Es gibt ihn nicht. Der Charakter ist einfach Gewohnheit. »Charakter« ist genau das, was der Held tut, um sein übergeordnetes Ziel zu erreichen, das ist das Ziel der gegebenen Szene. Der Rest zählt nicht. Zum Beispiel: Ein Mann geht in ein Bordell und spricht mit der Madame: »Was kann ich für fünf Kröten bekommen?« Sie sagt: »Sie hätten gestern kommen sollen, denn ...« Nun, als Zuschauer willst du wissen, warum er gestern hätte kommen sollen. Das ist es, was du wissen willst. Wir aber erzählen die Geschichte voll mit Charakterisierungen: Ein Mann, fit, flott und offensichtlich den guten Dingen des Lebens nicht abgeneigt, doch mit einem gewissen Ernst, der vielleicht auf eine Neigung zur Nachdenklichkeit verweist, geht in ein pseudogotisches Fachwerkhaus, in dem in einer ruhigen Wohnstraße in einem früher vornehmen Teil der Stadt das Bordell untergebracht ist. Während er die gefliesten Stufen hochsteigt... So sind die Filme, die wir in Amerika machen. Das Drehbuch und der Film »etablieren« stets irgendetwas. Nun, wir werden keine Dinge »etablieren«. Wir werden die Zuschauer dazu bringen, dass sie sich fragen, was los ist, indem wir sie in die gleiche Lage versetzen wie den Helden. Solange der Held etwas will, will auch das Publikum etwas. Solange der Held hingeht und versucht, dieses Etwas zu erreichen, wird das Publikum sich fragen, ob es ihm gelingen wird oder nicht. In dem Moment, in dem der Held oder der Filmemacher aufhört, etwas erhalten zu wollen, und anfängt, jemanden beeinflussen zu wollen, werden die Zuschauer einschlafen. Im Film geht es nicht darum, eine Figur oder einen Ort zu etablieren, wie es im Fernsehen üblich ist. Werfen wir einen Blick auf die Bordellgeschichte: Werden so nicht die meisten Fernsehsendungen aufgebaut? Die Einstellung beginnt im »Himmel«, dann schwenkt die Kamera nach unten auf ein Gebäude. Schwenk über das Gebäude bis zu einem Schild, auf dem »Elmville General Hospital« steht. Der springende Punkt hier ist nicht »Wo findet die Geschichte statt?«, sondern »Um was geht es?« Das ist es, wodurch sich ein Film vom anderen unterscheidet.
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Kehren wir zu unserem Film zurück. Was ist die erste Idee? Was wird zu einem Baustein, der notwendig ist, »die Achtung des Lehrers zu gewinnen«? STUDENT: ... er kommt früher? MAMET: Genau. Er kommt zu früh zum Kurs. Um zu wissen, ob eine Idee wesentlich ist oder nicht, versuche, die Geschichte ohne sie zu erzählen. Nimm sie heraus und kontrolliere, ob du sie brauchst oder nicht. Wenn sie nichts Wesentliches beiträgt, wirf sie raus. Ob es sich um eine Szene oder eine Einstellung handelt — was nicht wesentlich ist, wird rausgeworfen. »Der Mann sagt zu der Bordellwirtin ...« Natürlich kannst du die Bordellszene so nicht beginnen lassen. Du brauchst etwas davor. »Ein Mann geht in ein Bordell, und die Wirtin sagt ...« In diesem Beispiel ist der erste Baustein »Ein Mann geht in ein Bordell«. Ein weiteres Beispiel: Du musst zum Aufzug gehen, um nach unten zu gelangen. Um nach unten zu gelangen, musst du zum Aufzug gehen und ihn betreten. Das ist wesentlich, um nach unten zu gelangen. Und wenn dein Ziel ist, zur U-Bahn zu gehen, und du befindest dich zu Beginn in einem oberen Stockwerk des Gebäudes, ist der erste Schritt, »nach unten zu gelangen«. Die Achtung des Lehrers zu gewinnen ist das übergeordnete Ziel. Welche Schritte sind wesentlich? STUDENT: Zuerst: zu früh kommen. MAMET: Gut. Ja. Wie werden wir diese Idee des Zufrühkommens darstellen? Wir brauchen uns jetzt um Achtung nicht zu kümmern. Achtung ist das übergeordnete Ziel. Worum wir uns jetzt zu kümmern haben, ist ausschließlich das Zufrühkommen; das ist das erste. Wir werden also die Idee des Zufrühkommens darstellen, indem wir nicht abgewandelte Bilder nebeneinanderstellen. STUDENT: Er fängt an zu schwitzen. MAMET: Okay, was sind die Bilder? STUDENT: Der Mann sitzt allein, er trägt Anzug und Krawatte, er fängt an zu schwitzen. Man könnte sein Verhalten beobachten.
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MAMET: Wie vermittelt uns das die Idee des Zufrühkommens? STUDENT: Es lässt darauf schließen, dass er irgendetwas erwartet. MAMET: Nein, ob er etwas erwartet, interessiert uns im Moment nicht. Alles, was wir in diesem Handlungsschritt wissen müssen, ist, dass er zu früh kommt. Und wir müssen auch kein Verhalten beobachten. STUDENT: Ein leeres Zimmer. MAMET: Okay, das ist gut, das ist ein Bild. STUDENT: Die Einstellung eines Mannes, der allein in einem leeren Zimmer sitzt, wird neben die Aufnahme einer Gruppe von Leuten, die von draußen hereinkommen, gestellt. MAMET: Okay, aber das vermittelt uns noch nicht die Idee des Zufrühkommens, oder? Überlegt mal. STUDENT: Sie könnten alle zu spät kommen. MAMET: Wir wollen versuchen, das in glasklaren, nicht abgewandelten Bildern auszudrücken, die keine zusätzliche Politur nötig haben. Was sind die zwei Bilder, die uns die Idee des Zufrühkommens vermitteln? STUDENT: Ein Mann geht die Straße entlang, und die Sonne geht auf, und die Straßenfeger kommen vorbei, und es herrscht Dämmerung, und auf der Straße ist nicht viel los. Und dann vielleicht ein paar Einstellungen von einigen Leuten, die gerade aufwachen, und dann sieht man diesen Typ, den Mann vom Anfang, der ein Zimmer betritt, und in dem Zimmer sind andere Leute, die gerade eine Arbeit beenden, die Decke streichen oder so was von der Art. MAMET: Dieses Szenario vermittelt uns die Idee von frühem Morgen, doch wir dürfen den Überblick nicht verlieren. Wir müssen auf die kleine Alarmglocke in uns hören, die losgeht, wenn wir zu weit vom Weg abweichen; der Alarm sagt: »Ja - das ist interessant, doch erfüllt es seinen Zweck?« Wir wollen die Idee des
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Zufrühkommens als Baustein für die Idee des Achtung-gewinnenWollens. Die Idee am frühen Morgen brauchen wir nicht unbedingt. STUDENT: Draußen an der Tür könnte ein Schild hängen, auf dem steht: »Der Kurs von Professor Soundso« und dann eine Zeitangabe. Dann könnte eine Einstellung des Mannes, der offensichtlich allein ist und vor einer Uhr sitzt, folgen. MAMET: Okay. Hat jemand das Gefühl, dass es besser wäre, die Finger von der Uhr zu lassen? Warum? STUDENT: Ein Klischee. MAMET: Ja, ist ein bisschen klischeehaft. Nicht dass es in jedem Fall schlecht wäre. Wie Stanislawski uns sagte, dürfen wir vor Dingen nicht zurückscheuen, nur weil sie Klischees sind. Andererseits fällt uns ja vielleicht was Besseres ein. Vielleicht ist die Uhr nicht schlecht, aber wir wollen sie vorerst beiseite lassen, weil es das erste ist, was unserem Geist, faul und feige, wie er ist, einfiel und weil er uns damit vielleicht hereinlegen will. STUDENT: Er ist im Aufzug, nervös, und vielleicht schaut er immer wieder auf seine Armbanduhr. MAMET: Nein, nein, nein, nein. Wir brauchen das nicht, oder? Warum brauchen wir es nicht? STUDENT: Vielleicht eine kleine Uhr ... ? MAMET: ... er braucht nicht einmal nervös auszusehen. Letztendlich ist es das gleiche, was ich auch den Schauspielern sage; wir kommen später darauf zurück. Du kannst dich nicht auf die Darstellung verlassen, um die Geschichte zu erzählen. Er braucht nicht nervös zu sein. Die Zuschauer werden es auch so begreifen. Das Haus muss wie ein Haus aussehen. Der Nagel braucht nicht wie ein Haus auszusehen. Dieser Handlungsschritt, wie wir ihn beschrieben haben, hat nichts mit »Nervosität« zu tun; es geht um zu früh kommen, und das ist alles, worum es geht. Also, was sind die Bilder dafür?
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STUDENT: Wir sehen den Mann den Korridor entlanggehen, und er kommt zu der Tür und will reingehen, dann stellt er fest, dass die Tür verschlossen ist. Also dreht er sich um und sucht den Hausmeister im Korridor. Die Kamera bleibt auf ihm. MAMET: Wie weißt du, dass er den Hausmeister sucht? Alles, was du tun kannst, ist Bilder aufnehmen. Du kannst ein Bild machen von einem Mann, der sich umdreht. Du kannst kein Bild machen von einem Mann, der den Hausmeister sucht. Das musst du mit der nächsten Einstellung erzählen. STUDENT: Könnte man nicht zum Hausmeister schneiden? MAMET: Die Frage ist doch die: Vermittelt die Einstellung eines Mannes, der sich umdreht, und die Einstellung eines Hausmeisters die Idee des Zufrühkommens? Nein, tun sie nicht. Wichtig ist, immer das richtige Kriterium anzulegen. Das ist das Geheimnis des Filmemachens. Alice fragt die Edamer Katze: »Welchen Weg soll ich nehmen?« Und die Edamer Katze sagt: »Wohin willst du gehen?« Und Alice sagt: »Ist mir egal.« Und die Edamer Katze: »Dann ist es egal, welchen Weg du nimmst.« Wenn es dir aber nicht egal ist, wohin du gehst, ist es auch nicht egal, welchen Weg du nimmst. Alles, worüber ihr jetzt nachdenken sollt, ist zu früh kommen. Seht euch die Idee mit der verschlossenen Tür näher an. Wie können wir sie verwenden, sie ist eine sehr gute Idee. Viel spannender als eine Uhr. Nicht im Allgemeinen spannender, doch spannender in Bezug auf die Idee des Zufrühkommens. STUDENT: Er kommt zur Tür, und sie ist verschlossen, und er dreht sich um und setzt sich hin und wartet. MAMET: Was sind die Einstellungen? Die Einstellung eines Mannes, der einen Korridor entlanggeht. Was ist die nächste Einstellung? STUDENT: Die Einstellung einer Tür; er versucht, sie zu öffnen, sie ist verschlossen, sie geht nicht auf. MAMET: Er setzt sich hin?
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STUDENT: Genau. MAMET: Vermittelt uns das die Idee des Zufrühkommens? Wirklich? STUDENT: Wie wäre es, alles zusammen zu nehmen. Wir beginnen mit der aufgehenden Sonne. Die zweite Einstellung ist von einem Hausmeister, der den Korridor wischt; am Ende des Korridors sieht er jemanden vor der Tür sitzen, und der Mann steht auf und deutet auf die Tür, und der Hausmeister sieht auf die Uhr, und der Mann deutet wieder auf die Tür, und der Hausmeister sieht wieder auf die Uhr und zuckt mit den Schultern und schließt die Tür auf. MAMET: Was klingt am saubersten? Was gibt uns in diesem Moment die größte Klarheit? Das Schwierigste beim Schreiben und Regieführen und Schneiden ist, vorgefasste Ideen über Bord zu werfen und zu überprüfen, ob die Kriterien, die du ausgewählt hast, für das Problem die richtigen sind. Wir wollen unsere ersten Grundsätze überprüfen. Der erste Grundsatz im Falle unserer Szene ist der, dass es in dieser Szene nicht darum geht, zu zeigen, wie Leute in ein Zimmer kommen, sondern dass es eine Szene ist über den Versuch, die Achtung des Lehrers zu gewinnen; der zweite, kleine Grundsatz ist der, dass dieser Handlungsschritt etwas über das Zufrühkommen aussagen soll. Das ist das einzige, worüber wir uns Gedanken zu machen brauchen: zu früh kommen. Wir haben zwei Pläne. Welcher ist einfacher? Wenn man die Dinge stets auf die am wenigsten interessante Weise macht, macht man einen besseren Film. Das ist meine Erfahrung. Die Dinge stets auf die am wenigsten interessante, auf die direkteste Art und Weise zu machen. Denn dann vermeidest du das Risiko, mit dem Ziel in der Szene in Konflikt zu geraten, indem du interessant bist: Das langweilt die Zuschauer, die gemeinsam viel klüger sind als ihr und ich und die Pointe bereits begriffen haben. Wie fesseln wir dann ihre Aufmerksamkeit? Bestimmt nicht, indem wir ihnen mehr Informationen liefern, sondern, im Gegenteil, indem wir ihnen Informationen vorenthalten — indem wir ihnen alle Informationen vorenthalten außer jener Information, deren Fehlen die Entwicklung der Geschichte unverständlich machen würde.
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Das ist die K.I.S.S-Regel: Keep it simple, stupid. - Halte es einfach, Blödmann. Wir haben also drei Einstellungen. Ein Mann läuft den Korridor entlang. Drückt die Klinke an der Tür nieder. Nahaufnahme der Klinke, an der gerüttelt wird. Dann setzt sich der Mann hin. STUDENT: Ich glaube, man braucht noch eine Einstellung, um sein Zufrühkommen zu zeigen. Er öffnet seine Mappe und fängt an, seine Bleistifte zu spitzen. MAMET: Halt, halt, du bist schon viel zu weit. Wir haben unsere Aufgabe erledigt, nicht wahr? Wir haben unsere Aufgabe erfüllt, sobald wir die Idee des Zufrühkommens etabliert haben. Wie Wilhelm von Ockham meinte: Wähle von zwei Theorien, die beide eine Erscheinung angemessen beschreiben, immer die einfachere. Was eine andere Art ist, zu sagen: Halte es einfach, Dummkopf. Also, du kannst keinen ganzen Truthahn auf einmal essen, stimmt's? Du schneidest eine Keule ab und nimmst einen Bissen von der Keule. Okay. Schließlich wirst du den ganzen Truthahn geschafft haben. Er wird wahrscheinlich ein bisschen trocken sein, bevor du mit ihm fertig bist, außer du hast einen unglaublich guten Kühlschrank oder einen sehr kleinen Truthahn, aber das sprengt jetzt den Rahmen unseres Kurses. Wir haben also die Keule des Truthahns genommen - der Truthahn ist die Szene. Wir haben von der Keule abgebissen, dieser Biss ist dieser spezifische Handlungsschritt des Zufrühkommens. Jetzt wollen wir die Identität des zweiten Handlungsschritts postulieren. Wir brauchen dem Helden nicht zu folgen, nicht wahr? Welche Frage müssen wir uns als nächste stellen? STUDENT: Was ist der nächste Handlungsschritt? MAMET: Genau. Was ist der nächste Handlungsschritt? Wir haben etwas, womit wir diesen nächsten Handlungsschritt vergleichen können, oder? STUDENT: Den ersten Handlungsschritt.
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MAMET: Etwas anderes, das uns helfen wird, herauszufinden, was es sein wird. Was ist das? STUDENT: Die Szene? MAMET: Das Ziel der Szene, genau. Die Frage, deren Antwort uns unbeirrbar leiten wird, lautet: »Was ist das Ziel der Szene?« STUDENT: Achtung. MAMET: Die Achtung des Lehrers zu gewinnen ist das übergeordnete Ziel der Szene. Dies vorausgesetzt: Wenn wir wissen, dass das erste er kommt zu früh ist, was könnte das zweite sein? Ein positiver und wesentlicher zweiter Handlungsschritt, nachdem er zu früh gekommen ist. Um was zu tun ...? STUDENT: Die Achtung des Lehrers zu gewinnen. MAMET: Ja. Also was kann er tun? Oder anders gefragt: Warum ist er zu früh gekommen? Wir wissen, die Achtung des Lehrers zu gewinnen ist das übergeordnete Ziel. STUDENT: Er könnte das Buch des Lehrers hervorholen und über dessen Lehrmethoden nachlesen. MAMET: Nein. Das ist zu abstrakt. Du bist auf einem zu hohen Abstraktionsniveau. Der erste Handlungsschritt ist zu früh kommen. Also was könnte auf dem gleichen Abstraktionsniveau der zweite Handlungsschritt sein? Er kam früher, um was zu tun? STUDENT: Um sich vorzubereiten. MAMET: Vielleicht um sich vorzubereiten. Noch jemand? STUDENT: Müssen wir uns nicht um die verschlossene Tür kümmern? Er ist auf ein Hindernis gestoßen: Die Tür ist verschlossen; er muss auf dieses Hindernis reagieren. MAMET: Vergiss den Protagonisten. Du musst wissen, was der Protagonist will, weil davon der Film handelt. Doch du brauchst es
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nicht zu photographieren. Hitchcock verunglimpfte amerikanische Filme als »Filme von Leuten, die reden« - und, weiß Gott, das sind die meisten auch. Du erzählst die Geschichte. Lass sie nicht den Protagonisten erzählen. Du erzählst die Geschichte; du führst Regie. Wir brauchen dem Protagonisten nicht auf Schritt und Tritt zu folgen. Wir brauchen seinen »Charakter« nicht etablieren. Wir brauchen nicht jedermanns »Vorgeschichte« zu wissen. Alles, was wir tun müssen, ist, eine Abhandlung zu verfassen, ähnlich einer Dokumentation; das Thema dieser bestimmten Dokumentation ist: die Achtung des Lehrers gewinnen. Die erste Abhandlung ist über Zufrühkommen; was ist das zweite Thema? STUDENT: Könnte es warten sein? MAMET: Warten? Was ist der Unterschied zwischen warten und vorbereiten? STUDENT: Der Held ist aktiver? MAMET: In welchem Fall? STUDENT: Im zweiten. MAMET: In welcher Hinsicht? STUDENT: In Hinsicht seiner Handlungen. Es ist stärker, wenn der Protagonist etwas tut. MAMET: Ich nenne euch einen besseren Test. Sich vorbereiten ist aktiver hinsichtlich dieses bestimmten übergeordneten Ziels. Es ist aktiver im Sinne von die Achtung gewinnen wollen. In diesem Kurs geht es nur um eins: zu lernen, die Frage »Worum geht es?« zu stellen. Der Film handelt nicht von einem Mann. Er handelt von Achtung gewinnen wollen. Der Handlungsschritt handelt nicht von ein Mann kommt herein. Er handelt von zu früh kommen, Das Zufrühkommen haben wir erledigt; sagen wir, der nächste Handlungsschritt ist sich vorbereiten. Erzählt die Idee des Sichvorbereitens, als würdet ihr sie jemandem in der Kneipe erzählen.
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STUDENT: Also dieser Typ saß auf einer Bank und wartete und wartete, wartete einfach. Und er zog ein Buch aus seiner Tasche, das der Lehrer geschrieben hat. MAMET: Wie willst du das drehen? Woher weißt du, dass es ein Buch des Lehrers ist? STUDENT: Wir könnten den Namen des Lehrers an der Tür sehen und mit der gleichen Einstellung den Namen auf dem Buch zeigen. MAMET: Aber wir wissen nicht, dass er sich auf den Kurs vorbereitet. Du brauchst diese ganze literarische Erzählung nicht siehst du, wie Erzählung den Film schwächt? Du musst wissen, dass es in dem Handlungsschritt um sich vorbereiten geht. Das ist eine wichtige Unterscheidung. Wir müssen nicht wissen, dass er sich auf den Kurs vorbereitet. Das wird sich von selbst erklären. Wir müssen wissen, dass es um ein Sichvorbereiten geht. Das Boot muss wie ein Boot aussehen - der Kiel braucht nicht wie ein Boot auszusehen. Wir brauchen das Warten nicht. Warten ist der Versuch, etwas zu wiederholen. Zu früh kommen haben wir bereits. Das haben wir erledigt. Alles, was wir jetzt machen müssen, ist sich vorbereiten. Hört euch selbst zu, wenn ihr die Einstellung beschreibt. Wenn ihr Wörter wie »einfach« und »irgendwie« oder »eine Art von« verwenden, verwässert ihr die Geschichte. Die Einstellungen sollen nicht »einfach«, »irgendwie« oder »eine Art von« sein. Sie sollten direkt sein, so direkt wie die ersten drei Einstellungen des Films. STUDENT: Er kämmt sich das Haar, richtet seine Krawatte. MAMET: Fällt das unter sich vorbereiten? STUDENT: Es ist sich putzen. MAMET: Sich vorbereiten kann heißen, sich körperlich vorzubereiten oder sich auf das nächstliegende Thema vorzubereiten, nämlich die Achtung gewinnen. Was ist für die Szene spezifischer? Was ist für das übergeordnete Ziel, die Achtung des Lehrers gewinnen, spezifischer? Sich körperlich attraktiver zu machen oder sich vorzubereiten?
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STUDENT: Er holt sein Notizheft hervor und liest es schnell durch, dann denkt er nach, nein, er blättert zurück und guckt sich eine bestimmte Seite an. MAMET: Nein, das läuft dem zuwider, was wir besprochen haben, nämlich die Geschichte in Schnitten zu erzählen. Diesen Gedanken werden wir zu unserem Motto machen. Natürlich wird es Momente geben, in denen wir dem Helden folgen müssen, doch nur dann, wenn das die beste Möglichkeit ist, die Geschichte zu erzählen; dies ist aber, wenn wir mit großer Entschiedenheit und einer glücklichen Hand unsere Kriterien anwenden, nur sehr selten der Fall. Also, wenn wir alle Zeit der Welt haben beim Entwerfen des Storyboards, wie hier im Kurs oder zu Hause, sind wir in der Lage, die Geschichte auf die bestmögliche Art und Weise zu erzählen. Und dann können wir an den Drehort gehen und sie drehen. Am Drehort haben wir diesen Luxus an Zeit nicht. Dort müssen wir dem Helden auf Schritt und Tritt folgen, weshalb wir uns lieber eine Steadicam besorgen sollten. (2) Was wir gerade versuchen, ist, zwei oder mehr Bilder zu finden, deren Nebeneinanderstellung uns die Idee des Sichvorbereitens vermittelt. STUDENT: Wie wär's damit: Der Typ hat ein Ringbuch mit drei Ringen. Und er nimmt ein kleines Stück weißen Karton und trennt die perforierten Ränder ab, faltet sie in der Mitte und steckt sie in die kleinen Plastiklaschen, die die Seiten des Ringbuchs unterteilen. MAMET: Das ist eine interessante Idee. Versuchen wir sie in Einstellungen auszudrücken: Er zieht sein Ringbuch hervor, nimmt eine Seite heraus — eine mit einer Lasche. Zwischenschnitt (eine Großaufnahme seiner Hände). Er schreibt etwas auf das Etikett. Er steckt das Stück Papier in das kleine Plastikding. Jetzt schneiden wir zurück zur Master-Szene (auch Master Shot, meist in der Totale oder Halbtotale durchgedrehte Einstellung, die beim Schnitt als Grundlage für eine Szene genommen werden kann, A. d. Ü.). Er schließt das Ringbuch. Das ist alles nicht abgewandelt, nicht wahr? Vermittelt es uns die Idee des Sichvorbereitens? Ich stelle euch noch eine Frage:
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Was ist interessanter - wenn wir lesen, was er auf das Etikett schreibt, oder wenn wir es nicht lesen? STUDENT: Wenn wir es nicht lesen. MAMET: Genauso ist es. Es ist interessanter, wenn wir nicht lesen, was er schreibt. Denn wenn wir lesen, was er schreibt, dann ist der heimliche Zweck der Szene wieder das Erzählen, nicht wahr? Der Zweck ist dann, dem Publikum zu erzählen, wo wir sind. Wenn wir aber keinen heimlichen Zweck in der Szene zulassen, dann geht es in diesem Handlungsschritt einzig und allein um Vorbereitung. Welche Wirkung hat das auf die Zuschauer? STUDENT; Es weckt ihre Neugier. MAMET: Genau. Und es gewinnt ihren Respekt und ihren Dank, denn wir haben sie mit Respekt behandelt und sie nicht dem Unwesentlichen ausgesetzt. Wir wollen wissen, was er schreibt. Es ist offensichtlich, dass er zu früh gekommen ist. Es ist offensichtlich, dass er sich vorbereitet. Wir wollen wissen: zu früh für was?, vorbereiten auf was? Jetzt haben wir das Publikum in die gleiche Lage versetzt wie den Helden. Er brennt darauf, etwas zu tun, und wir brennen darauf, dass er etwas tut, nicht wahr? Also erzählen wir die Geschichte sehr gut. Es ist eine gute Idee. Ich hatte auch eine Idee, aber deine ist besser. Meine Idee war, dass er seine Manschetten nach vorn zieht und sie anschaut, und in einem Zwischenschnitt sehen wir, dass sein Hemd immer noch ein Preisschild hat. Er reißt das Preisschild ab. Nein, ich glaube, deine Idee war besser, weil sie mehr mit der Idee der Vorbereitung übereinstimmt. Meine war irgendwie nett, aber deine hat mehr mit dem Vorbereiten zu tun. Wenn du Zeit hast — und hier haben wir ja Zeit —, vergleichst du deine Idee mit dem Ziel, und weil wir alle gute Philosophen sind und mit der Feder genauso gut umzugehen wissen wie mit dem Schwert, wählen wir immer die Möglichkeit, die näher am Ziel ist, und werfen das über Bord, was einfach nur nett ist oder interessant, und ganz gewiss werfen wir all das über Bord, was für uns »eine tiefe persönliche Bedeutung« hat. Wenn du dich am Drehort befindest und überhaupt keine Zeit zum Nachdenken hast, drehst du vielleicht etwas, einfach nur, weil es eine
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nette Idee war. Wie meine Idee mit den Manschetten - in deiner Phantasie kannst du immer mit dem hübschesten Mädchen auf der Party nach Hause gehen, auf der Party selbst stimmt das nicht immer. Kommen wie zum dritten Handlungsschritt. Worum geht es in dem dritten Handlungsschritt? Wie beantworten wir diese Frage? STUDENT: Wir gehen zurück zum übergeordneten Ziel: die Achtung des Lehrers gewinnen, MAMET: Absolut. Also: lasst uns die Frage anders stellen. Was wäre eine schlechte Idee für den dritten Handlungsschritt? STUDENT: Warten. MAMET: Warten wäre eine schlechte Idee für den dritten Handlungsschritt. STUDENT: Vorbereiten wäre eine schlechte Idee für den dritten Handlungsschritt. MAMET: Ja, weil wir das schon gemacht haben. Es ist wie Treppensteigen. Wir wollen nicht noch einmal die gleiche Treppe hochsteigen. Also noch einmal vorbereiten ist eine schlechte Idee. Warum sollten wir den gleichen Handlungsschritt zweimal spielen? Wir müssen vorankommen. Alle sagen, die beste Möglichkeit, jeden Film besser zu machen, sei, die erste Spule zu verbrennen, und das stimmt. Wir alle machen die Erfahrung fast jedes Mal, wenn wir ins Kino gehen. Nachdem der Film schon zwanzig Minuten läuft, sagen wir: »Also, sie hätten hier mit dem Film beginnen sollen.« Bleibt um Himmels willen nicht stehen. Geht spät in die Szene rein, geht früh aus der Szene raus, erzählt die Geschichte im Schnitt. Es ist wichtig, sich zu erinnern, dass es nicht die Aufgabe des Dramaturgen ist, Konfrontation oder Chaos zu erzeugen, seine Aufgabe ist es, Ordnung herzustellen. Du beginnst mit dem Element, das die Ordnung stört, und der folgende Handlungsschritt handelt von dem Versuch, die Ordnung wiederherzustellen. Wir haben die Situation festgelegt: Dieser Typ will das und das - er hat ein Ziel. Das ist bereits ausreichend Chaos. Er hat ein Ziel. Er will die Achtung des Lehrers
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gewinnen. Dem Typ fehlt etwas. Er wird losgehen, um es sich zu holen. Entropie ist eine logische Entwicklung auf den einfachsten, den geordnetsten Zustand hin. Das gleiche gilt für das Drama.(3) Die Entropie, das Drama, dauert so lange an, bis ein ungeordneter Zustand zur Ruhe gebracht ist. Die Dinge waren in Unordnung, und sie müssen zur Ruhe kommen. Die Unordnung in unserem Falle ist nicht gewaltig; sie ist ziemlich klein: Jemand will die Achtung eines anderen. Wir brauchen uns keine Gedanken zu machen, ein Problem zu schaffen. Wir werden einen besseren Film kriegen, wenn wir uns Gedanken darüber machen, die Ordnung wiederherzustellen. Denn wenn wir uns damit beschäftigen, Probleme zu schaffen, wird unser Held Dinge tun, die interessant sind. Wir wollen aber nicht, dass er das tut. Wir wollen, dass er Dinge tut, die logisch sind. Was ist der nächste Schritt? Wovon handelt der nächste Handlungsschritt, wenn wir unsere ganz bestimmte Entwicklung im Auge haben? Der erste Handlungsschritt ist zu früh kommen. Der zweite Handlungsschritt ist Vorbereitung. Und der dritte? (Immer mit Blick auf das übergeordnete Ziel des Films: die Achtung des Lehrers gewinnen. Das ist euer Test. Das ist der Lackmustest: Achtung gewinnen.) STUDENT: Er stellt sich vor? MAMET: Ja, vielleicht handelt der Handlungsschritt vom Grüßen. Wie nennen wir diese Art von Grüßen? STUDENT: Anerkennung ...? STUDENT: Einschmeicheln ...? MAMET: Sich einschmeicheln, jemandem Ehrerbietung erweisen, jemanden anerkennen, jemanden grüßen, Kontakt aufnehmen. Was davon kommt dem übergeordneten Ziel, Achtung zu gewinnen, am nächsten? STUDENT: Ich glaube, jemandem Ehrerbietung zeigen.
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MAMET: Gut. Wir machen eine kleine photographische Abhandlung über Ehrerbietung zeigen. Je tiefer ihr denkt, desto besser wird sie werden. Tiefer im Sinne von Schreiben bedeutet: »Was würde es für mich sein?« Nicht: »Wie zeigt jemand die Ehrerbietung?«, sondern: »Was bedeutet die Idee der Ehrerbietung für mich?« Dadurch unterscheidet Kunst sich von Dekoration. Was wäre ein guter Ausdruck für Ehrerbietung? STUDENT: Der Lehrer kommt herein, und unser Held tritt auf ihn zu und schüttelt ihm die Hand. MAMET: Okay. Aber das ist ein bisschen wie das mit der Uhr, oder? Zu früh kommen — Uhr. Ehrerbietung zeigen - Hand schütteln. Es ist nicht falsch, doch wir wollen tiefer denken, denn jetzt, da wir Zeit haben, können wir uns das leisten. Was wäre eine schöne Art, Ehrerbietung zu zeigen, etwas, was euch wirklich etwas bedeutet? Denn wenn ihr wollt, dass es den Zuschauern etwas bedeutet, muss es euch etwas bedeuten. Sie sind genau wie ihr - sie sind Menschen: Wenn es euch nichts bedeutet, wird es auch ihnen nichts bedeuten. Der Film ist ein Traum. Der Film sollte wie ein Traum sein. Wenn wir also damit beginnen, in den Kategorien von Träumen zu denken statt in den Begriffen des Fernsehens, was sagen wir? Wir werden eine kleine photographische Abhandlung, eine kleine Dokumentation über Ehrerbietung machen. STUDENT: Wenn Sie sagen: ein Traum, meinen Sie damit, dass es nicht glaubhaft zu sein braucht in dem Sinne, wie es jemand im wirklichen Leben machen würde? MAMET: Nein ... Ich weiß nicht, wie weit wir diese Theorie beanspruchen können, aber wir wollen es herausfinden und sie so weit dehnen, bis sie reißt. Am Ende von EI N PLATZ IM HERZEN fügt Robert Benton eine Sequenz ein, die ich für das Stärkste halte, was in einem amerikanischen Film seit langem gezeigt wurde. Es ist die Sequenz, in der alle, die in dem Film getötet worden waren, wieder lebendig sind. Er schuf etwas, was wie ein Traum in dem Film ist. Er stellt Szenen nebeneinander, die nicht folgerichtig sind, und das Nebeneinanderstellen vermittelt uns eine dritte Idee. Die erste Szene ist: alle sind tot. Die zweite Szene ist: alle leben. Das
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Nebeneinanderstellen erzeugt die Idee eines tiefen Wunsches, das Publikum sagt: »Oh, mein Gott, warum könnte es nicht so sein?« Das ist wie ein Traum. Wie wenn bei Cocteau die Hände aus der Wand kommen. Es ist besser, als dem Helden zu folgen, oder? In der Szene in HAUS DER SPIELE, in der die beiden Kerle um die Waffe kämpfen, schneiden wir weg davon zu einer Einstellung der Begleiterin, der Figur der Professorin, die zuschaut, und dann hört man den Schuss. Das ist ziemlich gutes Filmemachen. Es war vielleicht kein großartiges Filmemachen, aber viel, viel besser als Fernsehen. Stimmt's? Es vermittelt uns die Idee. Sie kämpfen; du schneidest zu der Begleiterin, die daneben steht. Die Idee ist, was wird geschehen, und wir können nichts dagegen tun. Die Idee der Hilflosigkeit wird vermittelt, und darum geht es in dem Handlungsschritt. Die Protagonistin ist hilflos: Wir verstehen das, ohne ihr auf Schritt und Tritt zu folgen. Wir versetzen die Protagonistin in die gleiche Lage wie das Publikum — durch den Schnitt — indem wir dafür sorgen, dass der Zuschauer selbst die Idee im seinem Kopf erschafft, wie Eisenstein meinte. STUDENT: Wie wäre es, wenn der Schüler dem Lehrer etwas überreichen würde? Irgendein besonderes Geschenk. Oder er verneigt sich, wenn der Lehrer hereinkommt, und bietet ihm einen Stuhl an? MAMET: Nein, du versuchst es in der Einstellung zu sagen. Wir wollen es durch den Schnitt sagen. Wie wäre es damit — die erste Einstellung bewegt sich auf der Höhe der Füße, die Kamera folgt einem Paar Füße. Und die zweite Einstellung ist eine Nahaufnahme des Helden, der sitzt, und er wendet schnell den Kopf. Was vermittelt uns das Nebeneinanderstellen dieser beiden Dinge? STUDENT: Ankunft. MAMET: Und? STUDENT: Anerkennung. MAMET: Ja; das ist noch nicht ganz Ehrerbietung zeigen, es ist Aufmerksamkeit. Zumindest haben wir zwei Einstellungen, die eine dritte Idee erzeugen. Die erste Einstellung muss die Idee enthalten, wo
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die Füße sind. Die Füße sind noch weiter entfernt, nicht wahr? Was ergibt — zusammen mit der Idee, dass die Füße entfernt sind und der Typ sie hört — das Nebeneinanderstellen der beiden Dinge? STUDENT: Wachsamkeit. MAMET: Wachsamkeit; vielleicht nicht Ehrerbietung, doch Wachsamkeit oder erhöhte Aufmerksamkeit, die sich der Ehrerbietung vielleicht annähert. Wie wäre es, wenn wir erst die Totale der Füße, die den Korridor entlanglaufen, hätten und dann die Einstellung von unserem Helden, wie er aufsteht? Das würde mehr Ehrerbietung zeigen, wenn er aufsteht. STUDENT: Vor allem, wenn er auf eine unterwürfige Art und Weise aufsteht. MAMET: Er braucht es nicht auf unterwürfige Weise zu tun. Alles, was wir zeigen müssen, ist, wie er aufsteht. Er muss auf gar keine bestimmte Weise aufstehen, er braucht nur aufzustehen. Das Nebeneinanderstellen dieses Bilds mit der Einstellung des Mannes im Korridor vermittelt die Idee von Ehrerbietung. STUDENT: Wie wäre es, wenn der Typ mit gesenktem Kopf aufstehen würde? MAMET: Das würde uns eigentlich nicht mehr sagen. Und es ist mehr abgewandelt, das heißt schlechter fürs Filmemachen. Je mehr wir die Einstellungen »abwandeln« oder »aufladen«, desto weniger wirkungsvoll wird der Schnitt sein. Noch jemand? STUDENT: Eine Einstellung des Helden mit einem Notizblock. Er sieht hoch, steht auf und läuft aus dem Bild. Eine Einstellung unseres Korridors und der Tür mit einer Glasscheibe. Der Protagonist läuft in die Einstellung und öffnet die Tür in dem Moment, in dem ein Mann in die andere Richtung läuft. MAMET: Ja. Gut. Ich sehe, das gefällt euch. Zwei Fragen stellen wir uns. Die erste lautet: Gibt das die Idee der Ehrerbietung wieder? Die zweite: Gefällt mir das? Wenn du die zweite Frage stellst, denkst du vielleicht, nun ja, zum Teufel, ich weiß nicht, ob es mir gefällt oder
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nicht. Bin ich jemand mit gutem Geschmack? Ja. Liegt genauso viel guter Geschmack darin, wie ich glaube, selbst zu haben? Zur Holle, ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Die Frage, die du wirklich stellen willst, ist: Gibt das die Idee der Ehrerbietung wieder: Wenn es die Idee der Ehrerbietung tatsächlich wiedergibt, dann kannst du den zweiten Schnitt machen: Gefällt es mir? Es gibt diese innere Fähigkeit, die Stanislawski »den Richter in dir« nannte, die man als eine gewisse Menge an künstlerischem Geschmack definieren könnte. Diese innere Beurteilung funktioniert auf jeden Fall, weil wir alle einen guten Geschmack haben. Es liegt in der Natur der Menschen, gefallen zu wollen. Wir alle wollen einander gefallen. Es gibt niemanden, der dies nicht will. Es gibt niemanden, der nicht Erfolg haben will. Was wir tun wollen, ist, unser Unterbewusstes für uns arbeiten zu lassen, indem wir die Aufgabe, die wir erfolgreich bewältigen können, sehr einfach halten und sehr technisch, so dass wir uns nicht der Gnade unseres »guten Geschmacks« oder des Kinopublikums ausliefern. Wir brauchen einen wirklichen Test, der es uns erlaubt, zu wissen, wann unsere Aufgabe erfüllt ist, ohne dass wir uns auf unseren Geschmack verlassen müssen. Der Test ist hier: Gibt es die Idee der Ehrerbietung wieder? Füße weit entfernt, Mann steht auf. Ich glaube, ja. Kommen wir zum nächsten Handlungsschritt. Was ist nach Ehrerbietung der nächste Handlungsschritt? Was ist die erste Frage, die wir stellen? STUDENT: Was ist das übergeordnete Ziel? MAMET: Gut. Wie lautet die Antwort? STUDENT: Die Achtung des Lehrers zu gewinnen. MAMET: Also, was ist nach der Ehrerbietung der nächste Handlungsschritt? STUDENT: Eindruck machen. MAMET: Das ist eine Idee zu allgemein. Und es wiederholt im Grunde das übergeordnete Ziel: Eindruck machen, Achtung gewinnen. Sie sind sich zu ähnlich. Alles zu seiner Zeit. Das Boot muss aussehen
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wie ein Boot; das Segel braucht nicht wie ein Boot auszusehen. Jedes Teil erfüllt seine Aufgabe, und der ursprüngliche Zweck des Ganzen wird erreicht - wie durch Zauberhand. Die Handlungsschritte dienen der Szene: so machst du die Szene; genauso sind die Szenen Bausteine für den Film: so machst du den Film. Die Handlungsschritte dienen nicht dem Ganzen, versuche nicht das ganze Stück in der Szene zu wiederholen. Das ist wie: »Möchte irgend jemand eine Tasse Kaffee, weil ich irisch bin?«, stimmt's? Und so werden heutzutage fast alle Rollen gespielt. »Ich bin so froh, Sie heute zu sehen, weil Sie später feststellen werden, dass ich ein Massenmörder bin.« Und? Vorschläge für die nächsten Handlungsschritte? STUDENT: Anerkennung finden? MAMET: Auch zu allgemein. STUDENT: Gefallen wollen? MAMET: Allgemeiner geht's nicht mehr. STUDENT: Zuneigung zeigen? MAMET: Achtung gewinnen, indem man Zuneigung zeigt? Vielleicht; was noch? STUDENT: Selbstbewusstsein zeigen? MAMET: Dynamisch sein. Seht mal, diese Dinge, die ihr vorschlagt, könnten mehr oder weniger an jeder beliebigen Stelle auftauchen; sie würden uns zum Kreisförmigen verlocken, die der epischen Form angemessen ist, nicht aber der dramatischen. Doch was ist die nächste wesentliche Sache, die nach Ehrerbietung zeigen kommen muss? STUDENT: Angeben? MAMET: Würdest du das tun, um jemandes Achtung zu gewinnen? STUDENT: Nein.
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MAMET; Du kannst dir die Frage folgendermaßen stellen: Was würde ich in der besten aller Welten tun, um jemandes Achtung zu erringen? Es ist eine Frage, was du in deiner wildesten Phantasie tun würdest, nicht was du tun würdest, wenn die Fesseln der Höflichkeit dir enge Grenzen setzen. In unseren Filmen wollen wir keine solchen Grenzen erleben. Wir wollen, dass unsere Filme unser Phantasieleben zum Ausdruck bringen. Es gibt noch eine Frage, die wir uns an diesem Punkt vielleicht stellen müssen. Wir müssen uns fragen: Wann werden wir fertig sein?, so dass wir wissen, wann der Film fertig sein wird. Wir könnten mit dem Achtung gewinnen wollen ewig fortfahren. Wir brauchen einen Abschluss. Ohne Abschluss kann die Throughline, das Leitmotiv, das Achtung gewinnen, zu einer Endlosschleife führen, die nur von unserem guten Geschmack abgeschlossen wird. Also brauchen wir vielleicht eine Throughline mit einem positiveren, das heißt eindeutigerem Ende als Achtung gewinnen. Eine Belohnung bekommen zum Beispiel. Eine Belohnung ist ein einfaches und physisch identifizierbares Zeichen für Achtung. Was könnte die Belohnung auf dieser Abstraktionsebene sein? STUDENT: Vielleicht will er, dass der Lehrer ihm einen Gefallen tut. MAMET: Okay; noch jemand? STUDENT: Er will, dass der Lehrer ihm einen Job verschafft. MAMET: Ja; noch jemand? STUDENT: Der Lehrer klopft ihm anerkennend auf die Schulter. MAMET: Das ist nicht so spezifisch wie die anderen beiden Vorschläge, nicht wahr? Ich nehme an, du meinst das Schulterklopfen nicht wörtlich. In diesem Fall wäre das anerkennende Schulterklopfen wieder gleich mit dem Achtung gewinnen; es reicht nicht aus, weil es keinen Abschluss beziehungsweise kein Ziel hat, so dass man nicht weiß, wann man fertig ist. Unsere Aufgabe wird um so vieles leichter, wenn wir sowohl wissen, wohin wir gehen, als auch, wann wir fertig sind. Wenn der Job das Ziel ist, dann ist die Szene vorbei, wenn er
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den Job kriegt oder wenn er eine hundertprozentige Ablehnung erfahrt. Oder sagen wir, die Belohnung, die der Student fordert, ist: Er will, dass der Lehrer eine Note ändert. Dann, wenn der Lehrer die Note geändert hat, wird die Szene vorbei sein; oder wenn der Lehrer sich kategorisch weigert, die Note zu ändern, und keine Hoffnung mehr bleibt, dann ist die Szene vorbei. Wir können also sagen, dass die Throughline dieser Szene in diesem Falle ist, eine Zurücknahme zu erreichen. Dann ist es das, worum alles andere in der Szene sich drehen sollte. Was ist das erste, was getan wird, um die Zurücknahme einer Note zu erreichen? Zu früh kommen, richtig? Was ist das zweite? Sich vorbereiten. Der dritte Handlungsschritt ist Ehrerbietung zeigen. Es ist viel leichter, herauszufinden, was der vierte Handlungsschritt für eine Zurücknahme erreichen ist als fax Achtung gewinnen. Denn jetzt haben wir einen spezifischen Test, um zu wissen, wann der Film vorbei sein wird; wir wissen, wo wir aufhören müssen, und wir können einen Handlungsschritt finden, der uns zu diesem Ende führt. Weiß jemand, was ein MacGuffin ist? STUDENT: Hitchcocks Ausdruck für eine kleine Erfindung, die die Handlung weiterführt. MAMET: Ja. In einem Melodram — Hitchcocks Filme sind melodramatische Thriller — ist ein MacGuffin das Ding, dem der Held nachjagt. Die Geheimdokumente ... das Große Siegel der Republik Dingsbums ... die Überbringung der Geheimbotschaft... Wir, die Zuschauer, wissen nie ganz genau, was es ist. Man erfährt nie Genaueres als »Es sind die Geheimdokumente«. Warum auch? Wir setzen unbewusst solche Geheimdokumente an die Stelle, die für uns wichtig sind. In KINDER BRAUCHEN MÄRCHEN schreibt Bruno Bettelheim über Märchen das gleiche, was Alfred Hitchcock über Thriller gesagt hat: Je weniger der Held des Stücks abgewandelt, identifiziert und charakterisiert ist, desto eher statten wir ihn mit unserer eigenen inneren Bedeutung aus — desto eher identifizieren wir uns mit ihm — , das heißt, um so überzeugter sind wir, dass wir der Held sind.
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»Der Held kam auf einem weißen Pferd.« Man sagt nicht: »Ein kleingewachsener Held kam auf einem weißen Pferd«, denn wenn der Zuhörer nicht selbst klein gewachsen ist, wird er sich nicht mit diesem Helden identifizieren. Man sagt nicht: »Ein großgewachsener Held kam auf einem weißen Pferd«, denn wenn der Zuhörer nicht groß gewachsen ist, wird er sich nicht mit dem Helden identifizieren. Man sagt »ein Held«, und die Zuhörer begreifen im Unbewussten, dass sie der Held sind. Der MacGuffin ist das Ding, das für uns wichtig ist — das Wesentliche. Die Zuschauer werden es beisteuern, jeder einzelne für sich. Wenden wir das auf das Ziel eine Zurücknahme erreichen an. Es ist vielleicht nicht nötig, an dieser Stelle zu wissen, was zurückgenommen werden soll. Der Schauspieler braucht es nicht zu wissen. Die Zurücknahme einer Note, einer Beurteilung, eines Verweises. Sie ist an dieser Stelle der MacGuffin. Je weniger das Ziel abgewandelt ist, desto besser für uns, die Zuschauer. Je weniger uns der Held beschrieben wird, desto besser für uns. Schritt vier. Hat jemand eine Idee? Wir wissen, wohin wir gehen, und wir wissen, wer mit uns geht. Wir wissen, wen wir lieben, aber der Teufel weiß, wen wir heiraten werden. Eine Zurücknahme erreichen. Na los, auf, auf, Kameraden! STUDENT: Man muss um die Zurücknahme bitten. MAMET; Gut. Also, ist das nicht wie eine Prise frische Luft? Die belebende Prise frische Luft, die ein solcher direkter und offener Handlungsschritt in unsere Diskussion bringt, ist die gleiche Prise frische Luft, die er in den Film bringen wird. Jetzt haben wir: zu früh kommen, vorbereiten, Ehrerbietung zeigen und bitten als die vier besten Handlungsschritte für die Geschichte eine Zurücknahme erzielen. STUDENT: Glaubst du nicht, zu früh kommen und vorbereiten sind das gleiche wie Ehrerbietung zeigen?
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MAMET: Du meinst, dass diese beiden unter den größeren Handlungsschritt Ehrerbietung zeigen gefasst werden könnten. Ich weiß nicht. Ich habe eine Frage, was vorbereiten anbelangt; wir werden später darauf zurückkommen. Jetzt seht ihr, dass die Entwicklung, die wir hier verfolgen, darin besteht, das Große umzuformen, um das Kleine besser zu verstehen, und das Kleine umzuformen, um das Große zu verstehen {wir gehen von dem übergeordneten Ziel zu den Handlungsschritten und von den Handlungsschritten zurück zum übergeordneten Ziel und so fort), bis wir einen Plan gefunden haben, der alle unsere Erfordernisse zu erfüllen scheint. Dann setzen wir den Plan in Handlung um und drehen ihn. (4) Vielleicht stellen wir fest — wie es mir ein bisschen bei meinem ersten Film und in einem größeren Ausmaß bei meinem zweiten Film erging — dass wir nach dem Drehen des Films ihn weiter verfeinern müssen. Es handelt sich hier um etwas, was Wissenschaftler der Phänomenologie den Jesusfaktor nennen — ein Terminus technicus, der bedeutet: »Also auf dem Papier hat es richtig funktioniert, doch aus irgendeinem Grund funktioniert es nicht, wenn wir es auf die Füße stellen.« Das kommt vor. Alles, was du dann tun kannst, ist, zu versuchen, daraus zu lernen. Die Antwort ist immer da. Manchmal erfordert sie größere Weisheit, als wir zu dem Zeitpunkt besitzen — doch die Antwort ist immer da. Manchmal lautet die Antwort: »Ich bin noch nicht schlau genug, es herauszufinden«, und wir erinnern uns daran, was Paul de Man sagte: »Ein Gedicht ist niemals fertig — nur im Stich gelassen.« Okay, genug der Sprüche. Wir haben unsere drei Handlungsschritte, und wir haben uns die Throughline angesehen und gesagt: »Vielleicht ist die Throughline nicht besonders gut.« Wir haben es geändert von Achtung gewinnen in eine Zurücknahme erreichen wollen. Jetzt gehen wir zurück zu den Handlungsschritten und erkennen, dass vorbereiten nicht dazu passt. Vielleicht geht es in diesem Handlungsschritt noch um Ehrerbietung zeigen. Ich weiß es nicht. Wir wollen uns weiter vorankämpfen und sehen, ob der vierte Handlungsschritt uns mehr Hinweise liefert. STUDENT: Müssen wir entscheiden, was das Endergebnis ist?
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MAMET: Du meinst, ob der Held die Zurücknahme erreicht? Wer interessiert sich dafür, ob er eine Zurücknahme erreicht oder nicht? Irgendwer? STUDENT: Ich würde es wissen wollen, weil wir dann etwas mit der Reaktion des Lehrers auf die Ehrerbietung machen könnten. Weiß der Lehrer, warum der Typ gekommen ist? Ist er misstrauisch gegen ... MAMET: Nein, nein, nein. Vergesst den Lehrer. Wir wollen beim Protagonisten bleiben. Wir bleiben beim Protagonisten, und das wird uns die Geschichte erzählen. Denn die Geschichte ist seine Geschichte. Wir sind nicht hier, um Unordnung zu schaffen, sondern um Ordnung zu schaffen. Welche Unordnung wohnt der Geschichte inne? »Der andere hat etwas, was ich haben möchte.« Was hat der andere? Die Macht, eine Zurücknahme zu veranlassen. Wann ist die Geschichte zu Ende? Wenn der Held es bekommen hat. Die Unordnung ist der Geschichte innewohnend. Was wir zu tun versuchen, ist, Ordnung zu schaffen. Wenn der Held die Zurücknahme erreicht hat oder herausfindet, dass er sie auf keinen Fall bekommen wird, ist die Ordnung wiederhergestellt. Die Geschichte ist zu Ende, und es gibt keinen Grund mehr, sich dafür zu interessieren. Alles, was wir bis zu diesem Punkt wollen, ist, jenen gesegneten und wonnevollen Zustand zu erreichen, in dem es keine Geschichte mehr gibt. Denn, wie Anthony Trollope uns sagte: »Glücklich sind die, die keine Geschichte zu erzählen haben.« lasst uns weitermachen. Wir wollen gute Wissenschaftler sein und immer einen Schritt nach dem anderen machen. Der nächste Schritt, der vorgeschlagen wurde, war bitten. Welche Alternativen gibt es? STUDENT: Seine Sache darlegen. MAMET: Seine Sache darlegen. Wie ihr seht, haben wir jetzt zwei Geschichten unterschiedlicher Länge. Warum? Seine Sache darlegen wird früher oder später auch bitten umfassen, nicht wahr? Und das ist es, was die Länge einer gut funktionierenden Geschichte festlegt — sie wird festgelegt von der geringsten Anzahl von Schritten, die unbedingt notwendig sind, damit der Held das Ziel erreicht. Wer zieht welchen Handlungsschritt vor — bitten oder seine Sache darlegen?
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Auf welcher Grundlage können wir entscheiden, welche für die Geschichte besser ist? STUDENT: Auf der Grundlage: Warum bittet er um die Zurücknahme? MAMET: Nein. Es interessiert uns nicht, warum. Worum er bittet, ist ein MacGuffin. Weil er es braucht. STUDENT: Aber wir wissen nichts darüber. MAMET: Ich glaube nicht, dass wir etwas darüber wissen müssen. Glaubt jemand, wir sollten etwas darüber wissen? Was ihr meint, ist das, was Analphabeten die »Vorgeschichte« nennen. Ihr braucht sie nicht. Erinnert euch, dass das Vorbild für Drama der schmutzige Witz ist. Der schmutzige Witz beginnt so: »Ein Vertreter klingelt an der Tür eines Bauernhauses ...« Er beginnt nicht: »Wer hätte es für möglich gehalten, dass die beiden grässlichsten Beschäftigungen, die Landwirtschaft und der Haustürverkauf, eines Tages in unserer mündlichen Literatur untrennbar miteinander verknüpft würden? Landwirtschaft, die einsamste aller Beschäftigungen, bringt gute Eigenschaften wie Selbstgenügsamkeit und Nachdenklichkeit hervor; während der Haustür verkauf ...« muss der Protagonist erklären, warum er diese Zurücknahme will? Wem soll er es erklären? Den Zuschauern? Hilft ihm das, sie zu erreichen? Nein. Er darf nur Dinge tun, die ihm dabei helfen, eine Zurücknahme zu erreichen. Alles, was er tun muss, ist, eine Zurücknahme zu erreichen. Der Typ sagt zu dem Mädchen: »Das ist ein hübsches Kleid« — er sagt nicht: »Ich habe schon seit sechs Wochen keine Frau mehr aufs Kreuz gelegt.« Die Frage ist: Auf welcher Grundlage können wir entscheiden, was in diesem Handlungsschritt besser ist — seine Sache darlegen oder bitten? Meinem Gefühl nach ist seine Sache darlegen besser. Warum? Weil ich mich gut amüsiere und deshalb möchte, dass die Geschichte noch ein bisschen weitergeht. Ich glaube nicht, dass ich irgendeine bessere Entscheidungsgrundlage habe als das, aber ich finde, das geht in Ordnung. Aber ich muss es überprüfen, weil ich weiß, dass ich eine gewisse Neigung zur Selbsttäuschung habe. Die Frage, die ich mir stelle, ist also: »Gerät es in Konflikt mit irgendeiner der Regeln, über die wir gesprochen haben, wenn wir an dieser Stelle seine Sache
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darlegen nehmen statt bitten? Ich überprüfe meine Regeln, und die Antwort lautet: Nein, also wähle ich das, was mir gefällt. STUDENT: Darlegen ist eher abgewandelt; ist das dann nicht ein Versuch, interessanter zu sein? MAMET: Ich glaube nicht; und ich glaube, dass es weder mehr noch weniger abgewandelt ist. Ich finde, es ist einfach anders. Ich glaube, es ist eine Alternative. Man kann sagen seine Sache darlegen oder seine Sache vortragen. Nebenbei gesagt, haben wir ja nicht davon geredet, dass die Handlungsschritte nicht abgewandelt sein sollen. Wir sprachen davon, dass die Einstellungen nicht abgewandelt sein müssen. Ehrerbietung zeigen hat vielleicht immanente psychologische Untertöne. Wir hatten bitten, fragen, seine Sache darlegen, seine Sache vortragen. Jedes davon wird in dem Schauspieler Assoziationen hervorrufen. Es sind diese persönlichen, unmittelbaren Assoziationen, die den Schauspieler zum Spielen bringen — und zwar in Übereinstimmung mit den Intentionen des Autors. Das ist es, was das Interesse eines Schauspielers an einem Stück weckt — nicht jene ewige Spirale des Selbstmissbrauchs, also das, was selbsternannte Schauspiellehrerden Leuten als Vorbereitung unterjubeln. STUDENT: Wie wäre es mit verhandeln oder bestechen? MAMET: Okay; betrachten wir diese Ideen hinsichtlich der Struktur. Wir nehmen verhandeln, denn das ist ein bisschen einfacher. STUDENT: Das Problem ist, dass wir mit einer anderen Throughline zu arbeiten angefangen haben. Verhandeln geht nicht mit Achtung gewinnen zusammen, doch es ist eine Möglichkeit, die Zurücknahme zu erreichen. MAMET: Mit diesem Problem werdet ihr beim Aufbau einer dramatischen Struktur oft konfrontiert werden. Denn wenn ihr sie erschafft, entweder beim Entwerfen eures eigenen Films oder aber wenn ihr den Film eines anderen hernehmt und seine immanente dramatische Struktur zu finden versucht: es wird euch kein Engel erscheinen und sagen: »Dies ist die Throughline.« Was passieren wird, ist genau dieser Prozess des Infragestellens und Revidierens — bei der Arbeit, eine Throughline zu schaffen oder zu verwerfen. Wir 44
haben beschlossen, dass eine Zurücknahme erreichen die Throughline für die Szene ist. Wir sind bei dem Handlungsschritt, der auf vorbereiten folgt. Vielleicht ist der nächste Handlungsschritt seine Sache vortragen. Also das ist jetzt unser neuer Handlungsschritt. Was für eine Erleichterung, zu dem neuen Handlungsschritt zu kommen. Wie der Respekt vor uns selbst in uns wächst, weil wir die Bürde dieser Aufgabe auf uns genommen haben, um den Zuschauern die Mühe zu ersparen! Seine Sache vortragen. Unsere Aufgabe jetzt ist es, eine Reihe von nicht abgewandelten Einstellungen zu finden, die uns diese Idee: seine Sache vortragen, vermittelt. Der Student will dem Lehrer seine Sache darlegen. Welchen Schlüssel der Darstellung werden wir finden? Wir haben vier Handlungsschritte. Wir arbeiten gerade an dem vierten Handlungsschritt. Was wird der Schlüssel für diese Einstellung sein? Ein hilfreicher Fingerzeig, um die Sache vortragen zu lösen? STUDENT: Wie wir sich vorbereiten gelöst haben? MAMET: Genau. Der vorangegangene Handlungsschritt wird den Hinweis liefern. Es war sich vorbereiten. Der Handlungsschritt, von dem wir glaubten, er sei angesichts der neuen Throughline falsch, könnte uns in der Tat einen tollen Tipp geben. Also gehen wir zu unserer Auflösung für sich vorbereiten zurück. Es wäre der Sorgfalt wegen gut, wenn wir wüssten, ob wir darin etwas verschwendeten. Irgendein Extraschritt, der das Sichvorbereiten schwächt, die Sache vortragen aber stärken würde. Wie in alten Zeiten die Indianer wollen wir für alle Teile des Büffels Verwendung finden. STUDENT: Die Einstellung, wo er sein Notizbuch öffnet, den Streifen Papier nimmt, ihn in Stückchen reißt, auf eins davon etwas schreibt und es dann in die Lasche für das Etikett steckt. MAMET: Gut, Also was sind die Aufnahmen für die Sache vortragen? STUDENT: Irgendwie muss das Notizheft gezeigt werden. MAMET: Was sind die eigentlichen Einstellungen? Ein Typ kommt in ein Zimmer, ein Typ in einem Zimmer nähert sich dem Pult. Unser Kriterium ist, dass ein Nebeneinanderstellen von Einstellungen uns 45
die Idee vermittelt, die wir in diesem Moment brauchen, nämlich; die Sache vortragen. Wir müssen wissen, wovon wir eine Aufnahme machen. STUDENT: Wir beginnen mit der Einstellung auf ein Pult, auf dem nichts liegt, und dann wird das Notizheft in das Bild geschoben. MAMET: Was ist die nächste Einstellung? STUDENT: Die Reaktion des Lehrers. Entweder Zustimmung oder Ablehnung. MAMET: Nein. Alles, worum es in diesem Handlungsschritt geht, ist die Sache vortragen. Wir brauchen die Reaktion des Lehrers hier nicht. STUDENT: Wäre die erste Einstellung das Vorzeigen des Hefts und die zweite der Blick des Lehrers nach unten, ergäbe die Nebeneinanderstellung dieser beiden Einstellungen nicht die Sache vortragen? MAMET: Vielleicht ist die erste Einstellung das leere Pult und ein Heft, das auf das Pult gelegt wird, und die zweite Einstellung ist der Lehrer hinter dem Pult, der auf das Heft hinunterblickt und dann hoch schaut, und wir schneiden zu einer Einstellung vom Studenten. Ich glaube, wir müssen den Studenten hier haben, denn er trägt die Sache vor. STUDENT: Könnten wir nicht das Notizheft aus der zweiten Szene wiedererkennen? Wir wissen, es ist der gleiche Student, den wir gesehen haben, wie er sich vorbereitete, also brauchen wir doch keine Einstellung von ihm. MAMET: Das Heft wäre ausreichend für eine Identifikation? STUDENT: Ja; wir wissen, es ist das Heft des Studenten. Das Heft steht für den Studenten. MAMET: Sehr gut. Natürlich hast du Recht. Ich habe mich wieder von der Idee einwickeln lassen, dem Protagonisten zu folgen. Gut.
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Aber das bringt uns dazu, das Prinzip der Throughline auch bei den plastischen Elementen der Produktion anzuwenden. Welche Musik spielt? Zu welcher Tages- oder Nachtzeit spielt die Szene? Wie sehen die Kostüme und die Dekorationen aus? Vorhin wurde erwähnt, dass jemand eine Zeitschrift liest. Eine Zeitschrift: welche Zeitschrift? Ich übertreibe nicht; jemand wird diese Entscheidungen treffen, und dieser jemand wird Regisseur genannt. Die Requisite wird fragen: »Wie soll das Notizheft aussehen?« Was sagst du als Regisseur dann? Zunächst, was würde ein Laie sagen? »Herrje, in der Szene geht es darum, eine Zurücknahme zu erreichen, also was für eine Art Notizheft trägt jemand mit sich, der eine Zurücknahme erreichen will?« Wenn euch das ein bisschen dämlich erscheint, schaut euch mal amerikanische Filme an. Denn sie sind alle so gemacht: »Hi, wie geht es Ihnen heute, ich bin übrigens gerade aus Vietnam zurückgekommen.« In Hollywood gibt es ein Komitee von Schurken, das sicherstellen will, dass jedes Wort, jeder Moment, jede Aufnahme, jedes Requisit, jeder Ton und so weiter in einem Film für diesen Film stehen wird und letztendlich Werbung für ihn machen wird. Dieses Komitee heißt Produzenten, und sie sind für die Künste, was das glühende Eisen für die Jurisprudenz war. (5) Was antworten wir der Requisite auf ihre Frage: »Wie soll das Notizheft aussehen?« Was sagt ihr? STUDENT: Hängt das nicht davon ab, was das Ziel ist oder nicht ist? MAMET: Nein, denn du kannst kein »Zurücknahme-Notizbuch« machen, genauso wenig wie du spielen kannst, aus welchem Zimmer du gerade gekommen bist — obwohl es zu ihrer Schande tatsächlich Schauspielschulen gibt, die behaupten, sie könnten genau das lehren. Wie soll das Notizheft aussehen — das »Zurücknahme-Notizheft«. STUDENT: Den Umschlag beschriften? MAMET: Die Zuschauer werden es nicht lesen. Das wäre wie ein Schild. Die Zuschauer wollen kein Schild lesen; sie wollen einen Film sehen, in dem die Geschichte durch den Schnitt fortschreitet.
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STUDENT: Sie müssen es nicht lesen. Es ist eine schwarze Mappe, weißer Aufkleber, sieht aus wie ein Aufsatzheft. MAMET: Warum soll es wie ein Aufsatzheft aussehen? Ich meine, die Idee ist nicht schlecht, dass es wie ein Aufsatzheft aussehen soll, aber warum ist es eine gute Idee? Die Requisite fragt: »Wie sieht es aus?« Was ist die richtige Antwort? Was bewirkt sie? Was bewirkt der Aufsatz? STUDENT: Es trägt die Sache vor. MAMET: Richtig. Was ist jetzt unsere Auflösung für die Sache vortragen? STUDENT: Das offene Heft auf dem Pult. MAMET: Was ist die nächste Einstellung? STUDENT: Das Gesicht des Lehrers. MAMET: Was ist nicht die nächste Einstellung? Das Gesicht des Studenten, stimmt's? Also, wie sieht das Heft aus? STUDENT: Manipuliert. MAMET: Nein. Man kann ein Heft nicht manipuliert aussehen lassen. Man kann es sauber und ordentlich aussehen lassen. Das wäre vielleicht ein guter Effekt, doch das ist für das Requisit nicht das Ausschlaggebende. (6) Denkt an die Auflösung und an das Ziel: die Sache vortragen. Ob das Heft manipuliert, sauber, überzeugend aussieht, wird das Publikum nicht merken. Was aber wird es merken? STUDENT: dass es das gleiche Heft ist wie das, das sie bereits gesehen haben. MAMET: Was also ist die Antwort an das Requisit? STUDENT: Es muss wiedererkennbar sein.
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MAMET: Genau! Gut! Man muss es wiedererkennen können. Das ist das Wichtigste an diesem Heft. Auf diese Weise wendet ihr das Prinzip der Throughline an, um Antworten auf Fragen zu finden, die die Dekoration und die Kostüme betreffen. Das Heft als solches ist nicht wichtig. Wichtig ist das, was es in der Szene leistet. Das Offensichtlichste, was es in der Szene leistet, ist, die Sache vorzutragen. Da wir keine Einstellung des Studenten zu sehen bekommen, muss es an seiner Stelle die Sache vortragen. Diese nicht abgewandelte Einstellung des Buchs muss die Sache vortragen. Da wir wissen, dass sie nicht abgewandelt sein muss, kann die Antwort nicht lauten: »Es ist ein vorbereitetes Heft.« Die Antwort kann nicht lauten: »Es ist ein reumütiges Heft.« Die Antwort muss lauten: »Es ist das gleiche Heft, das wir in der zweiten Einstellung gesehen haben.« Mit der Wahl des Hefts gibst du dem Publikum jenes Ding, ohne das sie den Film nicht verstehen können. In diesem Fall ist es das wesentliche Element der Einstellung. Das Element, ohne das der Handlungsschritt nicht überleben würde, ist, dass es das gleiche Notizheft wie in dem vorangegangenen Handlungsschritt ist. Es ist wesentlich, um die Geschichte zu erzählen. jedes Mal wenn du als Regisseur eine Entscheidung triffst, muss sie darauf basieren, ob das, was zur Debatte steht, für das Erzählen der Geschichte wesentlich ist. Wenn wir die Einstellung des Studenten nicht brauchen, sollten wir ganz, ganz sicher sein, dass die Zuschauer verstehen, es handelt sich um das gleiche Heft. Das Publikum sieht nur die Hauptsache in einem Bild. Du bist verantwortlich dafür, seine Aufmerksamkeit zu lenken. Dieses Prinzip liegt auch der Zauberei zugrunde: Was ist das einzig Wichtige? Machst du es ihnen leicht, die Hauptsache zu sehen, ist deine Arbeit gut. Du brauchst das Heft nicht zu einem Heft über eine Zurücknahme erreichen zu machen. Du musst es allerdings zu demselben Heft machen. Unsere Handlungsschritte sind jetzt: zu früh kommen, vorbereiten, Ehrerbietung zeigen, die Sache vortragen. Was waren die Einstellungen für zu früh kommen? STUDENT: Er kommt und versucht, die Tür aufzumachen. MAMET: Nein. Ich hoffe, ihr haltet mich nicht für einen Erbsenzähler, doch es ist sehr nützlich, sich den Film genau so
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vorzustellen, wie das Publikum den Film sehen wird. Was es in der ersten Einstellung sehen wird, ist, ein Mann geht den Korridor entlang. Was waren die Einstellungen für diesen Handlungsschritt? STUDENT: Mann geht Korridor entlang, Einstellung einer Hand am Türgriff, der gleiche Mann setzt sich auf eine Bank. MAMET: Perfekt. Und warum sind unsere Eisschnellläufer bei der Olympiade alle gestürzt? Die einzige Antwort, die ich kenne, ist, dass sie nicht genügend trainiert haben. Trainiere mit diesen Werkzeugen, bis du sie langweilig findest, und dann trainiere noch ein bisschen länger. Hier ist ein Werkzeug: Wähle die Einstellungen, Handlungsschritte, Szenen, Ziele und beziehe dich auf sie stets mit den von dir gewählten Namen. Was sind die Einstellungen für sich vorbereiten? STUDENT: Mann zieht Schreibheft heraus, reißt ein Etikett ab, schreibt etwas auf ein Etikett, steckt das Etikett in das Plastikding, macht das Heft zu. MAMET: Gut. Ehrerbietung erweisen? STUDENT: Einstellung des Mannes, wie er hochsieht und aufsteht und aus dem Bild geht. Einstellung eines Mannes, der zu einer Glastür läuft. Er öffnet die Tür, ein Mann geht durch sie hindurch. MAMET: Gut. Nächster Handlungsschritt? STUDENT: Die Sache vortragen. Ein leeres Pult. Das Heft wird auf den Tisch gelegt, Einstellung des Mannes, der hinter dem Pult sitzt und auf das Heft hinuntersieht. MAMET: Gut. lasst uns hier aufhören. Wie können wir einen Abschluss erzielen? STUDENT: Der Lehrer betrachtet das Heft. MAMET: Welchen Handlungsschritt versuchen wir hier dramatisch umzusetzen?
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STUDENT: Urteil. MAMET: Okay, die Idee ist Urteil. Man könnte auch Abwägen sagen. Doch hinter der Einstellung des Lehrers, der das Heft betrachtet, steckt wenig Gewicht, was die Montage betrifft. Sie ist im Wesentlichen erklärend. Ein Mann nimmt ein Beweisstück und betrachtet es, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Das ist, wie Aristoteles uns beibringt, kein gutes Erzählen. Die Figur sollte nicht einfach »die Idee rüberbringen«. STUDENT: Warum sollte der nächste Handlungsschritt Urteil sein? Bislang handelten alle Handlungsschritte von dem Verhältnis des Schülers zum Lehrer. Wollen wir nicht den Weg des Schülers verfolgen, statt den Lehrer zu zeigen? MAMET: Was ist deine Idee? STUDENT: Mein Handlungsschritt wäre gewesen: Er wankt und weicht nicht. Er hat die Sache vorgetragen, und man schneidet zu ihm, wie er da steht und wie er eine Ablehnung nicht akzeptiert. Und man schneidet zurück zum Lehrer, der zu dem Jungen hochsieht. MAMET: Gegenvorschläge für den nächsten Handlungsschritt? STUDENT: Er kriegt die Zurücknahme. MAMET: Ja, gute Idee. STUDENT: Er kriegt sie nicht. MAMET: Das ist eigentlich kein Handlungsschritt; das ist ein Ergebnis. Das Ende eines anderen Handlungsschritts. Der Student/ der Darsteller muss auf Erfüllung seines Vorhabens hinarbeiten. STUDENT: An diesem Punkt der Geschichte erwartet der Zuschauer die Reaktion des Lehrers. Der nächste logische Handlungsschritt nach die Sache vortragen wäre eine Urteil: den Fall beurteilen. Wenn der Handlungsschritt vorbei ist, hat er die Zurücknahme entweder erhalten, oder er hat sie nicht erhalten. Wir brauchen dem Studenten nicht zu folgen, um die Throughline abzuschließen, oder?
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MAMET: Nein. STUDENT: Aber es ist die Aufgabe des Jungen, eine Zurücknahme zu kriegen. MAMET: Ja, das ist richtig. Doch wir brauchen nicht das Bild des Jungen. Wir wollen wissen, was als nächstes passiert in Hinsicht auf die Throughline, nicht in Hinsicht auf das, was der Protagonist tut. Welches war unser letztes Bild im letzten Handlungsschritt? STUDENT: Der Lehrer betrachtet das Heft. MAMET: Ja, der Lehrer blickt nach unten auf das Heft. Schnitt zu einer Handvoll Schülern in der Tür. Ein weiterer Junge kommt hinzu, und sie schauen alle in eine Richtung. Wir schneiden zu ihrem Blick auf das leere Klassenzimmer, wo der Junge sitzt und der Lehrer ihn betrachtet. Um die Idee des Urteils zu vermitteln. Jetzt sind wir bereit für eine dramatische Auflösung. Wir sehen den Lehrer in der Totale, er schlägt das Heft auf, er blickt nach rechts unten, wir schneiden zur Schublade, wir sehen, wie er die Schublade aufzieht und ein Stempelkissen herausnimmt. Man sieht ihn das Heft stempeln. Und wir schneiden zu dem Jungen, der lächelt und das Heft nimmt, und wir schneiden zu einer Einstellung von den Händen des Jungen, die das Heft zuschlagen, und vom hinteren Ende des Klassenzimmers sieht man den Jungen, der an seinen Platz geht, und der Lehrer steht und ruft den Rest der Klasse, und sie gehen hinein und setzen sich. Okay? STUDENT: Was wäre, wenn er die Zurücknahme nicht bekäme? MAMET: Ich weiß nicht. Es ist unser erster Film. Was soll's, da können wir auch ein Happy-End haben. Und jetzt sind wir fertig, und wir haben ausgezeichnete Arbeit geleistet.
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3. ALTERNATIVE ARCHITEKTUR UND DRAMATISCHE STRUKTUR In «den aufregenden sechziger Jahren war ich Student an einem alternativen College in Vermont. Zu dieser Zeit und an diesem Ort gab es etwas, was sich Schule für so genannte alternative Architektur nannte. Viele damals hielten die traditionelle Architektur für einengend, und sie entwarfen und bauten jede Menge alternative Gebäude. Diese Gebäude erwiesen sich als unbewohnbar. Die erste Idee zu ihrem Entwurf war nicht der Zweck des Gebäudes: die erste Idee zu ihrem Entwurf war, wie sich der Architekt »fühlt«. Wenn diese alternativen Architekten sich ihre Gebäude im Laufe der Jahre ansahen, wurde ihnen vielleicht klar, dass es für die traditionelle Bauweise gute Gründe gibt. Es gibt einen Grund, warum Türen auf bestimmte Weise eingesetzt werden. Es gibt einen Grund, warum Simse auf eine bestimmte Weise gebaut werden. Alle diese alternativen Gebäude brachten vielleicht die Absicht des Architekten zum Ausdruck, doch sie erfüllten ihren Zweck nicht für die Bewohner. Sie alle stürzten ein oder verfielen langsam und sollten abgerissen werden. Sie sind Schandflecken in der Landschaft, sie altern nicht in Würde, und jedes Jahr, das ins Land geht, kehrt die jugendliche Narrheit jener alternativen Architekten stärker hervor. Ich lebe in einem Haus, das zweihundert Jahre alt ist. Es wurde mit der Axt gebaut, mit den Händen und ohne Nägel. Vorausgesetzt, es kommt nicht zu irgendeiner menschengemachten Katastrophe, wird es auch in zweihundert Jahren noch stehen. Es wurde mit dem grundlegenden Wissen und dem Respekt vor dem Holz, dem Wetter und den häuslichen Bedürfnissen der Menschen gebaut. Es sehr schwer, etwas zu flicken, was schlecht gemacht wurde. Es ist besser, im Voraus zu planen, wenn noch Zeit ist. Es ist wie beim Kleister. Wenn er trocken wird, geht die Zeit, die dir zur Verfügung stand, zu Ende. Kurz bevor er trocken ist, musst du schnelle Entscheidungen treffen, unter Druck arbeiten. Wenn du einen Stuhl entwirfst, kannst du dir alle Zeit der Welt nehmen, ihn richtig zu entwerfen, und ihn dann in Ruhe zusammenbauen. In der Tat bauten die alten Stuhlmacher — das heißt Stuhlmacher bis zur Wende zu unserem Jahrhundert — Stühle ohne Leim, denn sie verstanden nicht
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nur das Wesen von Fugen, sondern auch das Wesen der Hölzer. Sie wussten, welches Holz mit der Zeit schrumpfen und welches Holz sich ausdehnen würde, so dass diese beiden Hölzer richtig zusammengepasst - mit der Zeit den Stuhl stabiler machen würden. Zwei Dinge wurden mir klar, als ich meinen zweiten Film fertig stellte. Während du den Film machst - nachdem du mit der Auflösung fertig bist, doch bevor du mit dem Drehen beginnst —, gibt es einen Zeitabschnitt, der »Preproduction« genannt wird. In der Produktionsvorbereitung kann man sagen: »Wisst ihr was? Wäre es nicht eine gute Idee, ein Schild mit der Aufschrift >Garage< aufzustellen, damit die Zuschauer wirklich verstehen, dass wir uns in einer Garage befinden?« Also setzt du dich mit der Ausstattung zusammen, und ihr quatscht lange über Schilder und probiert eine Menge Schilder aus. Ich habe zwei Filme gemacht und zahlreiche Schilder hergestellt. Man sieht die Schilder in einem Film nicht nie! Man sieht sie einfach nicht. Sie sind einfach nachträgliche Versuche, Dinge, die nicht sauber entworfen wurden, zu stützen. Ein weiteres gern angewandtes, aber nutzloses »Achtung: Wichtig!«-Werkzeug ist das »Looping« oder ADR (Additional Dialogue Recording [Nachsynchronisationstechnik]), um dem Publikum Informationen zukommen zu lassen, die dem Film fehlen. Zum Beispiel, Worte einem Darsteller in den Mund zu legen, dessen Rücken uns zugewandt ist. Zum Beispiel: »Oh, sieh an, jetzt steigen wir die Treppen hinunter, an deren unteres Ende wir zu gelangen versuchen.« Auch das funktioniert nie. Warum? Weil alles, was das Publikum wissen will, ist, wohin führt die Szene — was will der Held? Präziser ausgedrückt: Was ist der wesentliche Aspekt der Aufnahme? Die Zuschauer sind nicht da, um sich Schilder anzusehen, und sie werden sie auch nicht ansehen. Du kannst sie nicht zwingen, die Schilder anzusehen. Es Hegt in der Natur der menschlichen Wahrnehmung, sich dem Interessantesten zuzuwenden; und wie wir es vom schmutzigen Witz her kennen, ist das Interessanteste das, was als nächstes passiert in der Geschichte, die zu erzählen du den Zuschauern versprochen hast. Du kannst sie nicht zwingen, innezuhalten und jenes Zeichen anzusehen. Sie haben nicht die geringste Lust, dein Looping anzuhören, nur um dir einen Gefallen zu tun, und deshalb ist es besser, die Arbeit vorher zu leisten.
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Diese Arbeit wird getan, wenn du die Natur der verwendeten Materialien verstehst und dieses Verständnis dem Entwurf des Films zugrunde legst. Das ist es, was ein Film im Wesentlichen ist: er ist ein Entwurf. All diese persönlichen, tiefgefühlten Aussagen von Leuten, die eine Einstellung mit einer Menge Müll befrachten und mit ständigen Schwenks zeigen wollen, wie sehr ihr Thema sie bewegt: all diese Statements sind genau wie die der alternativen Architektur. Sie sind persönlich, doch sie taugen nicht für die Bewohner, beziehungsweise, in unserem Fall: sie taugen nicht für die Zuschauer, die wissen wollen, was als nächstes passiert. jedes Mal wenn du es versäumst, den nächsten wesentlichen Schritt im Ablauf so zügig wie möglich zu machen, stellst du die Geduld der Zuschauer auf eine harte Probe. Du stellst ihre Gutmütigkeit auf die Probe. Aus politischen Gründen haben sie vielleicht Nachsicht mit dir - und darum geht es doch im überwiegenden Teil der modernen Kunst. Politische Argumente gehen so: »Verdammt, ich mag diese Art von schlechten Filmen« oder: »Ich mag diese Art von alternativen Aussagen. Ich gehöre zu der Gruppe von Menschen, die Sachen von der Art, wie der Typ sie sagen will, zu würdigen wissen.« Das Publikum kann der Trivialität von moderner Kunst beipflichten, mögen kann es sie nicht. Ich schlage vor, Sie achten einmal auf den Unterschied, wenn jemand über irgendeinen Performance-Künstler oder wenn er über Cary Gram spricht. Und all ihr Enthusiasten, die ihr behauptet, der Zweck der modernen Kunst liege nicht darin zu gefallen, euch antworte ich: »Oh, werdet endlich erwachsen.« Die Aufgabe des Regisseurs ist es, die Geschichte durch das Nebeneinanderstellen nicht abgewandelter Bilder zu erzählen — denn das ist das Wesen des Mediums. Es funktioniert am besten über das Nebeneinanderstellen, denn das liegt in der Natur der menschlichen Wahrnehmung: zwei Ereignisse wahrzunehmen, einen Fortschritt festzustellen und wissen zu wollen, was als nächstes passiert. »Performance« funktioniert, als läge es in der Natur der menschlichen Wahrnehmung, zufällige Bilder zugunsten einer vorgefassten übergeordneten Vorstellung zu ordnen. Ein anderes Beispiel dafür ist die Neurose. Die Neurose ist das Ordnen von unzusammenhängenden Ideen oder Bildern zugunsten einer vorgefassten übergeordneten Vorstellung.
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Zum Beispiel: »Ich bin eine hässliche Person« - das ist die vorgefasste übergeordnete Vorstellung. Dann kann ich zwei beliebige unzusammenhängende Ereignisse nehmen und sie so ordnen, dass sie das bedeuten. »Diese Frau kam aus dem Korridor und schien mich nicht zu bemerken; und sie rannte in den Aufzug und drückte schnell auf den Knopf, und die Türen gingen zu, weil ich eine hässliche Person bin.« Das ist es, was eine Neurose ausmacht. Es ist der Versuch eines gestörten Geistes, die Gesetze von Ursache und Wirkung anzuwenden. Beim Zuschauer eines Dramas spielen sich unbewusst die gleichen Dinge ab. Wenn das Licht schwächer wird und der Vorhang aufgeht, ist der vorherrschende Gedanke: »Ein Stück wird aufgeführt« oder: »Jemand wird mir eine Geschichte erzählen.« Das menschliche Gehirn, das dies versteht, wird alle Ereignisse im Stück hernehmen und sie zu einer Geschichte formen, genau wie es aus Wahrnehmungen eine Neurose formt. Es liegt in der Natur der menschlichen Wahrnehmung, unzusammenhängende Bilder zu einer Geschichte zu verbinden, weil für uns die Welt Sinn machen muss. Ist der vorherrschende Gedanke: ein Stück findet statt, werden wir die Bilder, die wir von dem Zeitpunkt, zu dem der Vorhang hochgeht, bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Vorhang fällt, sehen, zu einem Stück formen, ob sie als solches strukturiert wurden oder nicht. Das gleiche gilt für den Film — aus diesem Grund kann schlechtes Filmemachen »erfolgreich« sein. Es liegt in unserer Natur, dass wir in den Ereignissen einen Sinn sehen wollen — wir können nichts dagegen tun. Der menschliche Geist verleiht ihnen Sinn, selbst wenn die Zusammenstellung willkürlich ist. Da an diesem Wesensmerkmal der menschlichen Natur nichts zu ändern ist, wird ein kluger Dramatiker dies zu seinem Vorteil einsetzen und sagen: »Also, wenn das menschliche Gehirn das ohnehin tut, warum tu ich's nicht vorher? Dann werde ich mit dem Fluss gehen, statt gegen die Flut anzukämpfen.« Wenn du keine Geschichte erzählst, die von Bild zu Bild fortschreitet, müssen die Bilder an sich »immer interessanter« werden. Wenn du eine Geschichte erzählst, wird das menschliche Gehirn — im Einklang mit dir - deine Zielrichtung wahrnehmen, sowohl bewusst als auch, und das ist noch wichtiger, unbewusst. Die Zuschauer gehen
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mit deiner Geschichte mit und verlangen weder einen Anreiz in Form visueller Übertreibung noch eine Erklärung in Form einer Erzählung. Sie wollen sehen, was als nächstes passiert. Wird der Mann ermordet werden? Wird das Mädchen ihn küssen? Werden sie den in der alten Mine vergrabenen Schatz finden? Wenn der Film folgerichtig entworfen wurde, wird das Unbewusste sich mit dem Bewussten verbünden, und wir verspüren das Bedürfnis, zu hören, was als nächstes passiert. Das Publikum ordnet die Ereignisse genau so, wie der Autor sie geordnet hat, das heißt, es steht mit dem Bewussten und dem Unbewussten des Autors in Verbindung. Wir wurden in die Geschichte hineingezogen. Wenn es uns gleichgültig ist, was als nächstes passiert, wenn der Film nicht folgerichtig entworfen wurde, werden wir unbewusst unsere eigene Geschichte konstruieren, so wie ein Neurotiker mit seinen höchsteigenen Ursache-Wirkung-Zusammenhängen die Welt um sich herum erklärt, doch die Geschichte, die uns erzählt wird, interessiert uns nicht langer. »Ja, ich habe gesehen, wie das Mädchen den Kessel auf den Herd stellte, und dann lief eine Ratte auf die Bühne«, sagen wir, wenn wir eine »Performance« gesehen haben. »Ja, ich habe das gesehen, doch ich weiß nicht, wohin es führen wird. Ich kann ihm folgen, doch ich werde ganz bestimmt nicht mein unbewusstes Wohlergehen aufs Spiel setzen und mich hineinziehen lassen.« Das ist die Stelle, wo es aufhört, interessant zu sein. Und an dieser Stelle muss ein schlechter Autor, genau wie der alternative Architekt, etwas gegen die Langeweile tun, indem er jedes darauffolgende Ereignis noch unterhaltsamer macht als das vorhergegangene Tricks, um die Aufmerksamkeit des Publikums wach zu halten. Am Ende steht Obszönität. Wir wollen ihre Geschlechtsorgane in echt sehen; wir wollen den Schauspieler tatsächlich in Gefahr sehen durch gefährliche Stunts; wir wollen das Gebäude wirklich brennen sehen. Im Laufe eines Films zwingt dies den Filmemacher dazu, immer bizarrer zu werden; im Laufe einer Karriere zwingt dies einen Filmemacher dazu, immer ausgeflippter zu werden; im Verlauf einer Kultur zwingt dies die Kultur in die Degeneration — das ist es, was wir heute haben.
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Das Interesse an einem Film entsteht aus dem Wunsch, herauszufinden, was als nächstes passiert. Je weniger die Wirklichkeit dem Blick des Neurotikers entspricht, desto bizarrer wird seine Erklärung, und am Ende dieser Entwicklung steht die Psychose »Performance« oder »modernes Theater« oder »moderner Film«. Die Struktur jeder dramatischen Form sollte ein Syllogismus sein, der logische Ausdruck für: wenn A, dann B. Ein Stück oder ein Film geht von der Behauptung: »Wenn A« (durch die ein Zustand der Unruhe geschaffen beziehungsweise postuliert wird) zu einer Schlussfolgerung über: »Dann B« (zu welchem Zeitpunkt die Entropie noch einmal ihren korrigierenden Einfluss geltend gemacht hat und noch einmal ein Zustand der Ruhe erreiche worden ist). In unserem Beispiel haben wir gesehen: Wenn ein Student die Zurücknahme einer Note braucht, wird er eine Reihe von Handlungen verfolgen, die ihn zu dieser Zurücknahme oder zu einer unwiderruflichen Weigerung dieser Zurücknahme führen werden. Die Entropie ist einer der interessantesten Aspekte unseres Lebens überhaupt. Wir werden geboren, bestimmte Dinge geschehen, und wir sterben. Der Geschlechtsakt ist ein sehr gutes Beispiel. Dinge werden in Gang gebracht, die bislang nicht existierten," und das erfordert irgendeine Art von Lösung. Etwas entsteht, was bislang nicht existierte, und die Unruhe, die dieses Neue erzeugt, muss befriedet werden, und wenn sie befriedet ist, ist das Leben, der Geschlechtsakt, das Stück zu Ende. Dann weißt du, dass es Zeit ist, nach Hause zu gehen. Der Mann hat sein Problem im Bordell gelöst. Der Mann hat sein ganzes Geld auf der Rennbahn verloren. Das Paar hat sich wiedergefunden. Der böse König ist gestorben. Wie wissen wir, dass dies das Ende der Geschichte ist? Weil die Machtergreifung des bösen Königs das Problem gewesen ist, dessen Lösung zu sehen wir ins Theater gekommen sind. Wie wissen wir, dass das Ende des Films gekommen ist, wenn sie sich küssen? Weil der Film davon handelte, ob er sie kriegt oder nicht. Die Lösung des am Beginn des Erlebnisses postulierten Problems ist das Ende der Geschichte. Und auf die gleiche Weise wissen wir, wann eine Szene zu Ende ist, nicht wahr? Wir sagten, die Szene ist die Einheit, die man studieren muss. Wenn du die Szene verstehst, verstehst du auch das Stück oder den
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Film. Wenn das von der Szene postulierte Problem gelöst ist, ist die Szene zu Ende. Doch oft möchtest du, wenn du an einem Film arbeitest, aus der Szene herausgehen, bevor das Problem gelöst ist, und die Lösung in der nächsten Szene bringen. Warum? Damit die Zuschauer dir folgen. Sie wollen, denke immer daran, wissen, was als nächstes passiert. Wenn du spät in die Szene hineingehst und früh aus ihr herausgehst, bezeugst du deinem Publikum Respekt. Es ist sehr leicht, ein Publikum zu manipulieren - »besser« zu sein als das Publikum -, denn du hast alle Karten in der Hand. »Ich muss euch gar nichts erzählen; ich kann die Geschichte mittendrin ändern! Ich kann alles sein, was ich will. Zum Teufel mit euch!« Doch man muss darauf achten, wie unterschiedlich es sich anhört, ob Leute über Filme von Werner Herzog oder über Filme von Frank Capra reden. Der eine von den beiden hat vielleicht irgend etwas verstanden oder nicht verstanden, der andere aber hat verstanden, was es heißt, eine Geschichte zu erzählen, und er Willeme Geschichte erzählen, darin liegt das Wesen der dramatischen Kunst - eine Geschichte zu erzählen. Nur dazu ist sie gut. Seit Jahrhunderten versuchen Künstler, mit Hilfe des Dramas das Leben der Menschen zu verändern, Einfluss auszuüben, zu kommentieren, sich auszudrücken. Es funktioniert nicht. Es wäre nett, wenn es funktionieren würde, ruf es aber nicht. Das einzige, wozu die dramatische Form gut ist, ist, eine Geschichte zu erzählen. Wenn du eine Geschichte erzählen willst, ist es vielleicht eine gute Idee, etwas über das Wesen der menschlichen Wahrnehmung zu wissen. So, wie es eine gute Idee ist, etwas über die Schwerkraft und die Einsturzgefahren zu wissen, wenn du ein Dach bauen willst. Wenn du in Vermont aufgewachsen bist und ein Dach mit einem Giebel baust, wird der Schnee herunterrutschen. Baust du ein Baches Dach, wird das Dach unter dem Gewicht des Schnees einfallen - wie es bei der alternativen Architektur der sechziger Jahre häufig geschah. »Vielleicht gibt es gute Gründe dafür, dass Menschen seit zehn Millionen Jahren Geschichten hören wollen«, sagt der PerformanceKünstler, »doch das ist mir egal, weil ich etwas zu sagen habe.« Die Filmindustrie bewegt sich in einer Degenerationsspirale nach unten, denn an ihrer Spitze stehen Leute, die keinen Kompass haben.
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Und das einzige, was du angesichts dieses Niedergangs tun kannst, ist, die Wahrheit zu sagen. jedes Mal wenn irgendjemand die Wahrheit sagt, ist das eine Gegenkraft. Du kannst deine Ziele nicht verbergen. Niemand kann irgendetwas verbergen. Zeitgenössische amerikanische Filme sind fast zu hundert Prozent schlampig, trivial und obszön. Wenn es dein Ziel ist, in der »Industrie« erfolgreich zu sein, ist deine Arbeit — und deine Seele - ihrem zerstörerischen Einfluss ausgesetzt. Strebst du verzweifelt nach Anerkennung durch diese Industrie, wirst du all das, was ich gerade genannt habe. Ein Schauspieler kann seine Absichten nicht verbergen, ein Drehbuchautor kann es nicht, ein Regisseur kann es nicht. Besteht die Absicht darin - und das braucht überhaupt nicht auf bescheidene Art und Weise zu geschehen, denn man wird früh genug bescheiden —, das Wesen des Mediums zu verstehen, wird diese Absicht den Zuschauern vermittelt. Wie? Durch Zauberkraft. Ich weiß nicht, wie. Sie wird vermittelt. Sie kann nicht verborgen werden. Zusätzlich zu dem, was du aufgrund deines Wunsches, es zu verstehen, über das Medium lernst oder nicht lernst, wird der Wunsch selbst manifest werden. Ich beschäftige mich manchmal mit Holzschnitzerei. Es ist zauberisch, wie das Holzobjekt sich selbst erschafft. Man ist wie gebannt und achtet genau auf die Maserung des Holzes, und das Stück Holz sagt dir, wie du es schnitzen sollst. Manchmal widersetzt sich dir das Holz. Wenn du ehrlich an einem Film arbeitest, wirst du feststellen, dass auch er sich dir oft widersetzt. Er sagt dir, wie du ihn schreiben sollst. So, wie wir es gemerkt haben, als wir unseren Film »Eine Zurücknahme erreichen« gemacht haben. Es ist sehr, sehr schwierig, diese sehr, sehr einfachen Probleme zu lösen. Sie kämpfen gegen dich, diese Probleme, doch sie zu meistern ist der Beginn der Meisterschaft in der Filmkunst.
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4. DIE AUFGABEN EINES REGISSEURS Was sage ich den Schauspielern, und wo stelle ich die Kamera hin?
Ich habe Regisseure erlebt, die von einer Einstellung sechzig Aufnahmen machten. Dabei weiß jeder Regisseur, der sich Muster ansieht, dass er sich nach der dritten oder vierten Einstellung an die Qualität der ersten nicht mehr erinnert; beim Drehen kannst du dich nach der zehnten Aufnahme nicht mehr an den Zweck der Szene erinnern. Und nach der zwölften hast du vergessen, warum du geboren wurdest. Warum dann machen Regisseure so viele Aufnahmen? Weil sie nicht wissen, wovon sie ein Bild machen wollen. Und weil sie Angst haben. Wenn du nicht weißt, was du willst, wie willst du wissen, wann du fertig bist? Wenn du weißt, was du willst, drehst du es und lehnst dich zurück. Nehmen wir an, du drehst unseren »Eine Zurücknahme erreichen«-Film. Was wirst du dem Schauspieler sagen, der den ersten Handlungsschritt für dich spielt? Worauf beziehen wir uns, was ist hier unser Kompass? Was ist ein einfaches Werkzeug, auf das wir zurückgreifen können, um diese Frage zu beantworten? Um dem Schauspieler eine Anweisung zu geben, machst du das gleiche, wie wenn du dem Kameramann eine Anweisung gibst. Du verweist auf das Ziel der Szene, in diesem Fall ist es eine Zurücknahme erreichen, und auf die Bedeutung dieses Handlungsschritts, der hier zu früh kommen ist. Auf dieser Grundlage weist du den Schauspieler an, jene Dinge - und nur jene Dinge - zu tun, die er tun muss, damit du den Handlungsschritt Zufrühkommen drehen kannst. Du sagst ihm, er solle zur Tür gehen, an ihr rütteln, sich hinsetzen. Das ist buchstäblich alles, was du ihm sagst. Nicht mehr. Genau wie die Einstellung nicht abgewandelt sein muss, braucht die Darstellung nicht abgewandelt zu sein - sie soll es nicht sein. Das Spiel sollte die Darstellung der einfachen physischen Handlung sein. Punktum. Zur Tür gehen, an der Tür rütteln, hinsetzen. Er braucht nicht auf respektvolle Weise den Korridor entlangzugehen. Das ist die großartigste Lektion, die du als Schauspieler lernen kannst. Stelle die physischen Handlungen, die das Drehbuch verlangt, so einfach wie möglich dar. Was du nicht zu tun brauchst, ist, »dem Drehbuch auf die Sprünge zu helfen«.
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Der Schauspieler braucht sich nicht auf respektvolle Weise hinzusetzen. Er braucht nicht auf respektvolle Weise an der Tür zu rütteln. Diese Arbeit erledigt das Drehbuch. Je angestrengter der Schauspieler will, dass jeder seiner physischen Handlungen die Bedeutung der »Szene« oder des »Stücks« innewohnt, umso mehr ruiniert dieser Schauspieler deinen Film. Der Nagel braucht nicht auszusehen wie ein Haus; er ist kein Haus. Er ist ein Nagel. Wenn das Haus fest stehen soll, muss der Nagel seine Arbeit als Nagel leisten. Um die Arbeit als Nagel zu leisten, muss er wie ein Nagel aussehen. Je ausschließlicher der Schauspieler oder die Schauspielerin sich der einen bestimmten, nicht abgewandelten physischen Handlung hingibt, umso besser ist es für deinen Film, und darin liegt der Grund, weswegen wir die Filmstars von früher so lieben. Sie waren verdammt schrecklich einfach. »Was tue ich in der Szene?« fragten sie. Den Korridor hinuntergehen? Wie? Ziemlich schnell. Ziemlich langsam. Entschlossen. Man beachte diese einfachen Adverbien — die Wahl der Handlungen und der Adverbien macht die Kunst der Schauspielerführung aus. Worum geht es in der Szene? Eine Zurücknahme erreichen: Welche Bedeutung hat der Handlungsschritt? Zu früh kommen. Was sind die einzelnen Einstellungen. Mann geht Korridor entlang, Mann rüttelt an Türklinke, Mann setzt sich hin. Glück ist ein Nebenprodukt guter Planung. Wenn der Schauspieler sagt: »Wie soll ich den Korridor entlanggehen?«, sagst du: »Ich weiß nicht ... schnell.« Warum sagst du das? Weil dein Unterbewusstsein an dem Problem arbeitet. Zu diesem Zeitpunkt hast du deine Schuldigkeit getan und hast das Recht, eine Entscheidung zu treffen, die auf den ersten Blick willkürlich wirkt, die aber auch die unterbewusste Lösung für ein Problem sein kann; und du hast dem Unterbewusstsein Ehre erwiesen, indem du ihm das Problem lange genug überlassen hast, bis es mit einer Lösung herausrückte. Es liegt in der Natur eines Publikums, dass es der Geschichte unter die Arme greifen, einer guten Arbeit helfen will, das heißt einer Arbeit, die seine innerste Natur respektiert, und genauso liegt es im Wesen deines Unterbewusstseins, dass es bei dieser Aufgabe helfen will. Zu vielen Entscheidungen, von denen du glaubst, sie würden willkürlich getroffen, gelangst du durch das einfache und engagierte Wirken deines Unterbewusstseins. Wenn du zurückblickst, sagst du:
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»Da hatte ich aber wirklich Glück, nicht wahr?«, und die Antwort ist: »Ja«, denn du hast dafür bezahlt. Du hast für diese Hilfe deines Unterbewusstseins bezahlt, als du dich mit der Struktur des Films quältest. Mit der Auflösung. Schauspieler werden dir eine Menge Fragen stellen. »Was denke ich hier? Was ist mein Motiv? Woher komme ich gerade?« Die Antwort auf all diese Fragen lautet: Das spielt keine Rolle. Es ist egal, weil du diese Dinge nicht spielen kannst. Ich wette, dass niemand spielen kann, woher er gerade kommt. Wenn du es nicht spielen kannst, wieso solltest du darüber nachdenken? Viel besser ist es, den Schauspieler zu bitten, seine einfachen physischen Handlungen so einfach wie möglich zu spielen. »Bitte lauf den Korridor hinunter und rüttle am Türgriff.« Du brauchst nicht zu sagen: »Rüttle am Türgriff, und die Tür ist verschlossen.« Nur am Griff rütteln und hinsetzen. Filme basieren auf sehr einfachen Ideen. Ein guter Schauspieler wird jedes kleinste Stück so vollständig und so einfach wie möglich ausführen. Leider sind die meisten Schauspieler keine guten Schauspieler. Dafür gibt es viele Gründe, der Hauptgrund liegt darin, dass in unserer Zeit das Theater auf den Hund gekommen ist. Als ich jung war, hatten Schauspieler, wenn sie dreißig wurden, zehn Jahre auf der Bühne hinter sich, wo sie ihren Lebensunterhalt verdienten. Schauspieler tun dies nicht mehr, und sie bekommen keine Gelegenheit, gutes Spielen zu lernen. Buchstäblich alle Schauspieler in den USA sind schlecht ausgebildet. Sie haben gelernt, dass sie für die Szene verantwortlich sind, sie haben gelernt, emotional zu sein, sie haben gelernt, jede Rolle als ein Vorsprechen für die nächste zu nutzen. Jeden kleinen und kostbaren Moment auf der Bühne oder der Leinwand die »Bedeutung« des ganzen Stücks tragen zu lassen und ihre Waren zur Schau zu stellen, das heißt, letztlich nach der Art: »Setzen Sie sich, weil ich der König von Frankreich bin« zu spielen. Es ist nicht so, dass die Schauspieler dumme Leute wären. Ganz im Gegenteil zieht der Job meiner Erfahrung nach Menschen von hoher Intelligenz an; und die meisten von ihnen sind engagierte Leute; gute Schauspieler und schlechte Schauspieler sind in ihrer Mehrzahl engagierte und hart arbeitende Menschen. Leider bringen die meisten Schauspieler nur wenig zustande, weil sie schlecht ausgebildet,
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unterbeschäftigt und besorgt sind, gleichzeitig »gut« zu sein und ihre Karriere zu fördern. Hinzu kommt, dass die meisten Schauspieler versuchen, ihre Intellektualität einzusetzen, um die Idee des Films wiederzugeben. Aber das ist nicht ihre Aufgabe. Ihre Aufgabe besteht darin, so einfach wie möglich die spezifische Handlung, die das Drehbuch und der Regisseur von ihnen fordern, Handlungsschritt um Handlungsschritt auszuführen. Der Zweck der Proben ist es, den Schauspielern genau zu sagen, welche Handlungen, Sequenz um Sequenz, erforderlich sind. Am Drehort dann wird ein guter Schauspieler, der bei den Proben sorgfältig mitgeschrieben hat, diese Handlungen ausfuhren — nicht Gefühle mimen, nicht entdecken, sondern nur das tun, wofür er bezahlt wird, und das heißt, so einfach wie mögliche genau das darzustellen, was sie geprobt haben. Wenn du als Regisseur die Theorie der Montage verstehst, ist es nicht nötig, die Schauspieler in einen echten oder gespielten Zustand von Wut oder Liebe oder Hass oder irgendeiner anderen Emotion zu versetzen. Es ist nicht die Aufgabe des Schauspielers, emotional zu sein — es ist die Aufgabe des Schauspielers, direkt zu sein. Spielen und Dialog fallen in die gleiche Kategorie. Genau wie beim Spielen ist der Zweck des Dialogs nicht der, gegen eine Schwäche in der Auflösung anzugehen. Der Zweck des Dialogs ist es nicht, Informationen über die »Figur« zu transportieren. Der einzige Grund, warum Leute reden, ist, das zu bekommen, was sie haben wollen. Im Film wie auf der Straße gilt: Leute, die sich selbst erklären, lügen. Das ist der Unterschied: Im schlechten Film sagt einer: »Hallo, Jack, ich komme heute Abend zu dir nach Hause, weil ich das Geld brauche, das du von mir geborgt hast.« Im guten Film sagt er: »Wo zum Teufel warst du gestern?« Du brauchst mit Hilfe des Dialogs genauso wenig zu erzählen wie mit Hilfe der Bilder oder der Darstellung. Je weniger du erzählst, desto größer ist die Chance, dass das Publikum sagt: »Wow! Was zum Teufel geht hier vor? Was zum Teufel wird als nächstes geschehen ...?« Wenn du die Geschichte mit Hilfe der Bilder erzählst, ist der Dialog das Sahnehäubchen auf der Torte. Er wirft Glanz auf alles, was geschieht. Die Geschichte wird von den Einstellungen getragen. Im
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Grunde genommen hat der perfekte Film überhaupt keinen Dialog. Du solltest also immer danach streben, einen Stummfilm zu machen. Wenn du das nicht tust, wird mit dir das gleiche passieren, was mit der amerikanischen Filmindustrie passiert ist. Statt eine Auflösung zu machen, wird in unserem Beispiel der Schüler aufstehen und sagen: »Ist dort nicht Mr. Smith? Ich glaube, von ihm werde ich die Zurücknahme bekommen.« Das passierte den amerikanischen Filmen, als der Ton kam, und seither wurden sie immer schlechter. Wenn du lernen kannst, eine Geschichte zu erzählen, einen Film in seine einzelnen Einstellungen aufzulösen und die Geschichte der Montagetheorie entsprechend zu erzählen, dann wird der Dialog, wenn er gut ist, den Film etwas besser machen; wenn er schlecht ist, wird er den Film etwas schlechter machen; doch du erzählst die Geschichte immer noch mit Einstellungen, und sogar ein brillanter Dialog kann herausgenommen werden — so wie sie es machen, wenn ein Film synchronisiert oder untertitelt werden muss —, ein guter Film leidet kaum unter einer solchen Behandlung. Jetzt, da wir wissen, was wir den Schauspielern sagen, brauchen wir eine Antwort auf die eine Frage, die das Filmteam immer wieder stellen wird: »Wo steht die Kamera?« Die Antwort auf diese Frage ist: »Da drüben.« Es gibt Regisseure, die visuelle Meister sind — die eine wunderbare visuelle Schärfe, einen glänzenden Sinn für Bilder zum Filmemachen mitbringen. Zu diesen Leuten gehöre ich nicht. Also gebe ich nur das zur Antwort, was ich weiß. Zufällig weiß ich einiges über den Aufbau eines Drehbuchs, also werde ich darüber sprechen. Die Frage lautet: »Wo soll die Kamera hin?« Das ist die einfache Frage, und die Antwort lautet: »Da drüben, an der Stelle, wo sie die nicht abgewandelte Einstellung machen kann, die notwendig ist, um die Geschichte voranzubringen.« »Ja, aber«, werden viele von euch sagen, »ich weiß, dass die Szene nicht abgewandelt sein soll, aber da es in der Szene um Respekt geht, sollten wir nicht die Kamera in einen respektvollen Winkel stellen?« Nein; so etwas wie einen »respektvollen Winkel« gibt es nicht. Selbst wenn es so etwas gäbe, würdest du die Kamera nicht so stellen wollen - denn dann würdest du verhindern, dass die Geschichte sich
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entwickelt. Es ist, als würde man sagen: »Ein nackter Mann geht die Straße hinunter und kopuliert auf seinem Weg ins Bordell mit einer Hure.« lasst ihn das Bordell erst einmal erreichen. lasst jede Einstellung für sich allein stehen. Die Antwort auf die Frage: »Wo soll die Kamera hin?«, ist also die Frage: »Von was handelt die Einstellung?« Das ist meine Philosophie. Ich weiß es nicht besser. Wenn ich eine bessere Antwort wüsste, würde ich sie euch sagen. Wenn ich eine bessere Antwort für die Einstellung wüsste, würde ich sie euch geben, doch da ich keine habe, muss ich zum allerersten Schritt zurückgehen: »Halte es einfach, Dummkopf, und verletze nicht die Regeln, die du kennst. Wenn du nicht weißt, welche Regel anzuwenden ist, versuche auf jeden Fall, nicht die allgemeineren Regeln zu verletzen.« Ich weiß, es ist die Einstellung eines Mannes, der einen Korridor entlanggeht. Ich werde die Kamera irgendwo aufstellen. Gibt es einen Platz für die Kamera, der besser ist als ein anderer? Wahrscheinlich. Weiß ich, welcher Platz der bessere ist? Nein? Dann muss ich mein Unterbewusstsein einen auswählen lassen und die Kamera dorthin stellen. Gibt es auf die Frage eine bessere Antwort? Vielleicht, und vielleicht ist die bessere Antwort die: Im Storyboard für einen Film oder eine Szene siehst du vielleicht ein Muster zum Vorschein kommen, das dir etwas verrät. Ehrlich gesagt, ist deine Aufgabe als Schöpfer von Einstellungen vielleicht in gewisser Weise die eines »Dekorateurs«. »Was sind die >Eigenschaften< der Einstellung?« Ich glaube nicht, dass das die wichtigste Frage ist, wenn man einen Film macht. Ich glaube, dass die Frage wichtig ist, doch ich glaube nicht, dass es die wichtigste Frage ist. Wenn ich wählen muss, werde ich die Frage zuerst beantworten, die ich für die wichtigste halte, und dann rückwärts argumentieren und die weniger bedeutenden Fragen so gut, wie ich kann, beantworten. Wo stellst du die Kamera hin? Wir drehten unseren ersten Film und hatten eine Reihe von Einstellungen mit dem Korridor hier, einer Tür dort und einem Treppenaufgang drüben. »Wäre es nicht nett«, sagt vielleicht jemand, »wenn wir den Korridor gleich hier um die Ecke von der Tür dort hätten; oder dass
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die Tür hier tatsächlich die Tür ist, die zum Treppenhaus und zur Tür dort führt?« So dass wir die Kamera von einer Position zur anderen bewegen könnten? Es hat mir viel Mühe bereitet, und es bereitet mir immer noch viel Mühe und wird mir weiterhin viel Mühe bereiten, wie folgt zu antworten: Nein, nicht nur, dass es nicht wichtig ist, dass diese Sachen tatsächlich aneinander angrenzen; es ist wichtig, gegen einen solchen Wunsch anzukämpfen; denn dagegen zu kämpfen stärkt unser Verständnis dafür, was Film seinem Wesen nach wirklich ist, und das ist: er besteht aus grundverschiedenen Einstellungen, die zusammengeschnitten werden. Es ist eine Tür, es ist ein Korridor, es ist ein Was-weiß-ich. Stelle die Kamera »dorthin« und nimm diesen Gegenstand so einfach wie möglich auf. Wenn wir nicht verstehen, dass wir die Einstellungen zusammenschneiden können, dass wir sie zusammenschneiden müssen, werden wir, ohne es zu merken, zum Opfer der irrigen Theorie von der Steadicam. Vielleicht wäre es nett, diese Gegenstände nebeneinander zu haben, um zu vermeiden, dass das Team sich bewegen muss, doch es gibt keinen künstlerischen Vorteil, sie buchstäblich nebeneinander zu haben. Du kannst die Einstetlungen zusammenschneiden. Dies alles hängt mit dem zusammen, was ich über das Spielen gesagt habe: Wenn man verschiedene Stücke, verschiedene Szenen, verschiedene Dialogzeilen zusammenschneiden kann, brauchst du nicht in jeder Einstellung jemanden, der dasselbe »gleichbleibende Ziel« hat. Dasselbe »Engagement und Verständnis für die Figur«. Brauchst du nicht. Der Schauspieler muss innerhalb von zehn Sekunden eine einfache physische Handlung ausführen. Sie braucht nicht Teil der »Darstellung des Films« zu sein. Schauspieler sprechen über den »Bogen des Films« oder den »Bogen der Darstellung«. Diesen »Bogen« gibt es nicht auf der Bühne. Er existiert nicht. Die Darstellung deckt beides ab. »Der »Bogen der Darstellung«, der Akt der Kontrolle, das gezielte Austeilen von Emotion da und das Zurückhalten von Emotion dort: gibt es nicht. Das ist so, als würde ein Passagier seine Arme aus dem Flugzeugfenster strecken und mit ihnen wedeln, um das Flugzeug aerodynamischer zu machen. Dieses Engagement ist dann der Bogen des Films — es ist Ignoranz auf Seiten des Schauspielers, seine Unkenntnis über die elementare Natur
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der Filmschauspielkunst, die darin liegt, dass die Darstellung durch das Nebeneinanderstellen von zum größten Teil nicht abgewandelten Einstellungen und einfachen, nicht abgewandelten physischen Handlungen geschaffen wird. Ein Autounfall wird nicht gedreht, indem man jemanden mitten auf die Straße stellt und von einem Auto überfahren lässt und dabei ständig die Kamera draufhält. Ein Autounfall wird gedreht, indem man eine Einstellung von dem Fußgänger macht, der über die Straße läuft, dann eine Einstellung eines Vorübergehenden, der sich umwendet, Einstellung eines Mannes im Innern eines Autos, der hochblickt, Einstellung, wie der Fuß des Mannes aufs Bremspedal tritt, Einstellung Unterseite des Autos mit einem Paar Beinen, die in einem verdrehten Winkel liegen (mit Dank an Pudowkin für dieses Beispiel). Schneide die Einstellungen zusammen, und das Publikum versteht: Unfall. Liegt darin für den Regisseur das Wesen des Films, so ist es ebenso das Wesen des Films für den Schauspieler. Große Schauspieler verstehen das. Humphrey Bogart erzählte folgende Geschichte: In CASABLANCA, in der Szene, in der S. Z. (Cuddles) Sakall zu ihm tritt und sagt: »Sie wollen die Marseillaise spielen, was sollen wir tun? Die Nazis sind hier, und wir dürfen die Marseillaise nicht spielen«, nickt Bogart einfach der Band zu, Schnitt zur Band, und sie fangen an zu spielen: bah, bah, bah, bah. Jemand fragte Bogart, was er gemacht hat, damit diese wunderbare Szene funktionierte. Er sagte: »Sie zitierten mich eines Tages zum Drehort, und Michael Curtiz, der Regisseur, sagte: >Stell dich dort drüben auf den Balkon, und wenn ich sage: Aufnahme!, zögerst du einen Moment, dann nickst du<«, und genau das machte Bogart. Das ist große Schauspielkunst. Warum? Was hätte er sonst noch tun können? Er sollte nicken, und er nickte. Das ist es. Die Zuschauer sind von seiner einfachen Zurückhaltung in einer emotionalen Situation zutiefst bewegt - und das ist der Wesenskern guten Theaters: Gutes Theater besteht darin, dass Menschen außerordentlich bewegende Dinge auf einfachste Weise tun. Unsere zeitgenössischen Bühnenstücke, der Film und die zeitgenössische Schauspielkunst neigen dazu, uns das Umgekehrte aufzutischen:
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Menschen, die gewöhnliche und vorhersehbare Handlungen auf übertriebene Weise ausführen. Ein guter Schauspieler erfüllt seine Aufgabe auf so einfache und unemotionale Weise wie möglich. Dadurch kann das Publikum »den Gedanken verstehen« - genau wie das Nebeneinanderstellen von nicht abgewandelten Bildern im Dienste einer dritten Idee im Kopf der Zuschauer das Stück entstehen lässt. Begreife dies, dann kannst du hingehen und den Film machen. Du findest jemanden, der weiß, wie man ein Bild aufnimmt, oder du lernst, wie man ein Bild aufnimmt; du findest jemanden, der weiß, wie man beleuchtet, oder du lernst, wie man beleuchtet. Das ist keine Zauberei. Einige sind in bestimmten Dingen besser als andere — das hängt von ihrer technischen Meisterschaft und ihrer Begabung ab. Wie Klavierspielen. Jeder kann lernen, Klavier zu spielen. Einigen fällt es sehr, sehr schwer - doch sie können es lernen. Es gibt fast niemanden, der nicht Klavierspielen lernen könnte. Es gibt ein breites Mittelfeld von Menschen, die auf unterschiedlichem Niveau Klavierspielen können; eine sehr, sehr kleine Spitzengruppe von Menschen, die brillant spielen und auf der Grundlage einer einfachen technischen Begabung große Kunst schaffen. Das Gleiche gilt für die Kinematographie und die Tonmischung. Einfach technische Fähigkeiten. Regie ist einfach eine technische Fähigkeit. Mache deine Auflösung.
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5. SCHWEIN-DER FILM Die Fragen, die du als Regisseur stellst, sind die gleichen, die du als Autor stellst, die gleichen, die du als Schauspieler stellst. »Warum jetzt? Was passiert, wenn ich das nicht mache?« Wenn du einmal weißt, was wesentlich ist, dann weißt du, was du schneiden musst. Warum fängt die Geschichte jetzt an? Warum muss Ödipus herausfinden, wer seine Eltern sind? Das ist eine Fangfrage. Die Antwort lautet: Er muss nicht herausfinden, wer seine Eltern sind. Er soll Theben von der Pest befreien. Er findet heraus, dass er selbst die Ursache für den Fluch ist. Seine einfache Suche nach Informationen führt ihn auf eine Reise, die mit seiner Entdeckung endet. Ödipus ist laut Aristoteles das Vorbild für jegliche Tragödie. Dumbo hat große Ohren: Das ist sein Problem. Er wurde so geboren. Das Problem wird schlimmer; die Leute lachen ihn immer mehr aus. Er muss lernen, eine Lösung für sein Problem zu finden. In diesem klassischen Mythos trifft er auf seinem Weg kleine Freunde, die gekommen sind, ihm zu helfen. (Das Studium der Mythen ist für Regisseure äußerst nutzbringend.) Dumbo lernt zu fliegen; er entwickelt ein Talent, von dem er nicht wusste, dass er es besaß, und er lernt sich selbst kennen: dass er nicht schlechter ist als seine Kameraden. Vielleicht auch nicht besser, aber anders, und er muss er selbst sein — wenn ihm dies klar geworden ist, ist die Reise zu Ende. Das Problem seiner großen Ohren ist gelöst worden, nicht durch eine Verkleinerung der Ohren, sondern durch Selbsterkenntnis - und die Geschichte ist zu Ende. DUMBO ist das Beispiel für einen perfekten Film. Zeichentrickfilme anzusehen bringt viel - bringt für Leute, die Regie führen wollen, viel mehr, als sich Spielfilme anzusehen. In den alten Zeichentrickfilmen erkannten die Künstler das Wesen der Montagetheorie, das heißt, sie erkannten, dass sie tun konnten, was immer sie wollten. Es war nicht teurer, etwas von oben oder von weit weg zu zeichnen. Sie brauchten die Schauspieler nicht stundenlang dazubehalten, um hundert Leute statt einer Person zu zeichnen; sie brauchten nicht nach dieser teuren chinesischen Vase zu schicken. Alles basierte auf der Phantasie. Die Einstellung, die wir im Film sehen, ist die Einstellung, die der Künstler in seiner Phantasie
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sah. Wenn du also Zeichentrickfilme siehst, kannst du eine Menge darüber lernen, wie man Einstellungen auswählt, wie man die Geschichte in Bildern erzählt und wie man schneidet. Frage: Was lasst die Geschichte jetzt beginnen? Denn wenn du nicht weißt, was der Auslöser für die Geschichte ist, was ihr Impetus ist, musst du dich auf die »Vorgeschichte« verlassen oder die Historie, all jene gefürchteten Begriffe, mit denen diese Banditen in Hollywood einen Prozess umschreiben, den sie nicht verstehen und der sie im Grunde nicht interessiert. Die Geschichte beginnt nicht, weil der Held »plötzlich eine Idee hat« - sie beginnt durch ein konkretes äußeres Ereignis: die Pest in Theben, die großen Ohren, der Tod von Charles Foster Kane. So beginnst du die Geschichte auf eine Weise, die das Publikum mitnimmt. Es ist bei der Geburt dabei. Deshalb wollen sie wissen, was als nächstes geschieht. Zum Beispiel: »Es war einmal ein Mann, der eine Farm besaß« oder: »Es lebten einmal drei Schwestern.« Wie bei den schmutzigen Witzen. So ist ein Drama strukturiert - und Drama ist, wie der schmutzige Witz, nur eine spezielle Form des Märchens. Das Märchen ist für Regisseure eine großartige Schule. Märchen werden mit den einfachsten Bildern und ohne Ausschmückung und ohne den Versuch der Charakterisierung erzählt. Die Charakterisierung bleibt dem Publikum überlassen. (7) Im Märchen sehen wir, dass es einfach ist, zu wissen, wann man anfangen und wann man aufhören muss. Und wenn man diese einfache Probe auf das ganze Stück anwenden kann, kann man sie auch auf die Szene anwenden, die nur ein kleines Stück ist, und auf den Handlungsschritt, der nur ... und so fort. »Es war einmal ein Bauer, der sein Schwein verkaufen wollte.« Wie weiß ich, wann ich fertig bin. Wenn das Schwein verkauft ist oder wenn der Bauer feststellt, dass er das Schwein nicht verkaufen kann - wenn das Ende des Syllogismus erreicht ist. Jetzt weiß ich nicht nur, wann ich beginnen und wann ich aufhören muss, ich weiß auch, was ich drinlassen muss und was ich rauswerfen muss. Die interessante Begegnung des Bauern mit einer Schweinehirtin, die nichts mit dem Schweineverkauf zu tun hat, sollte womöglich gar nicht im Film sein. Wenn man einen Film entwirft,
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kann man auch die Frage stellen: »Wo liege ich falsch?« Schreite ich von Anfang bis Ende in einer logischen Reihe fort? Und wenn nicht, wo fehlt etwas, was die Reihe logisch machen würde? Hier ist die Geschichte: »Es lebte einmal ein Bauer, der ein Schwein verkaufen wollte.« Wie eröffnen wir den Film? Was sind die Einstellungen? Wie sieht unsere Auflösung aus? STUDENT: Ein schöner Bauernhof als Einführungseinstellung. MAMET: Wieso ein schöner Bauernhof? In Hollywood jammern sie alle immer: »Aber dann wissen wir nicht, wo wir sind ...« Doch ich frage euch, wie oft hat in den Tausenden Filmen, die wir alle gesehen haben, jemand gesagt: »He, wartet mal, ich weiß nicht, wo ich bin?« In Wirklichkeit ist es genau umgekehrt. Du schaltest den Fernseher mitten in einem Film an und weißt genau, was gerade passiert, immer, sofort. Dein Interesse ist geweckt, weil du wissen willst, was als nächstes passiert. Das ist es, was dich interessiert. Was wäre besser als eine Einführungseinstellung von einem Bauernhof? Was wäre die Antwort auf die Frage: »Warum jetzt?« STUDENT: Der Grund, warum er das Schwein verkaufen muss? MAMET: Der Grund, warum er sein Schwein verkaufen muss. Was ist sein Grund? Die Antwort wird uns einen ganz spezifischen Anfang liefern. Einen Anfang, der für diesen Film ganz spezifisch ist nicht spezifisch für einen Film. »Es lebte einmal ein Bauer, der sein Schwein verkaufen wollte« führte uns zu »Es lebte einmal ein Bauer, der sein Schwein verkaufen musste.« Ihr werdet sehen, dass die Beschäftigung mit Semantik — das heißt, wie Wörter Gedanken und Handlungen beeinflussen — für euch als Regisseure eine Riesenhilfe sein kann. Seht euch den Unterschied zwischen den beiden Anfängen genau an: Sie lösen ganz unterschiedliche Gedankenketten aus. Sie werden die Worte verändern, die du verwendest, um deine Ideen den Schauspielern mitzuteilen. Es ist ganz, ganz wichtig, prägnant zu sein. Okay: »Es lebte einmal ein Bauer, der sein Schwein verkaufen musste.«
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STUDENT: Eine Weitwinkelaufnahme von einer Schweineherde auf der Weide. Dann geht der Bauer über die Weide. Die nächste Einstellung ist von einem »Zu verkaufen«-Schild, das er annagelt. MAMET: An sein Schwein? STUDENT: An einen Pfosten. MAMET: Na ja. Die Exposition eines Films ist wie die Exposition in jeder anderen Kunstform. Wenn du die Pointe des Witzes vorher erklärst, werden die Zuschauer sie verstehen, aber sie werden nicht lachen. Die wirkliche, die wesentliche Kunst, die Einstellungen auszuwählen, liegt nicht darin, den Zuschauern das Verständnis zu erleichtern, sondern darin, dass du dein ganzes Selbst in das klare Erzählen der Geschichte investierst. Du bist nicht klüger als sie. Sie sind klüger als du. Verstehst du die Geschichte so gut, wie du kannst, dann werden sie das gleiche tun. Mit einem Schild machst du es dir zu leicht. Es ist nicht immer an sich schlecht, doch ich glaube, uns fällt etwas Besseres ein. Wir können fragen, was die Figur tut, besser aber ist es zu fragen: »Was ist die Bedeutung der Szene?« (Um diesen Unterschied besser zu verstehen, empfehle ich das Kapitel »Analysis« in: A PRACTICAL HANDBOOK FOR THE ACTOR, Bruder, Cohn, Olnek et al.) Geschrieben, auf Papier geschrieben, heißt es: Der Bauer muss sein Schwein verkaufen. Was bedeutet dies in der Szene? Der Wesenskern des Schweine-Verkaufen-Müssen kann alles Mögliche sein. Es könnte sein, ein Mann machte schwere Zeiten durch. Es konnte sein, ein Mann musste das Heim seiner Vorfahren verlassen. Ein Mann musste seinen besten Freund verlassen. STUDENT: Ein Mann musste seine Pflicht tun. STUDENT: Ein Mann hatte zu viele Schweine. MAMET: Nun, ja. Aber du denkst auf einem anderen Abstraktionsniveau. Der springende Punkt sind nicht die Schweine, stimmt's? Der Punkt ist, was bedeutet das Schwein dem Mann? Sein Geschäft zum Beispiel? Was könnte das heißen? Einem Mann wuchs sein Geschäft über den Kopf? Was wir dramatisieren wollen, ist nicht
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die Oberfläche: »Ein Mann muss sein Schwein verkaufen«, sondern das Wesen — was bedeutet der Verkauf des Schweins in dieser Geschichte. Warum muss er das Schwein verkaufen? Je spezifischer ihr über das Wesen der Geschichte nachdenkt, desto leichter denkt ihr übet das Wesen der Szene nach statt über die Erscheinung der Szene und um so leichter findet ihr die Bilder. Es ist viel leichter, spezifische Bilder zu finden für »Ein Mann, der schlechte Zeiten erlebt« als für »Es lebte einmal ein Mann, der ein Schwein verkaufen musste«. Jung schrieb, dass man zu den Bildern, den Geschichten desjenigen, der analysiert wird, keine Distanz wahren kann. Man muss in sie hineingehen. Wenn du in sie hineingehst, bedeuten sie dir etwas. Wenn du es nicht tust, wird dein Unterbewusstsein nicht funktionieren. Du wirst nie etwas zustande bringen, was die Zuschauer zu Hause sich nicht hätten besser ausdenken können. Es ist wie mit dem Schauspieler, der nach Hause geht und herausfindet, worum es bei der Darstellung geht, und dann kommt er auf die Bühne und bringt genau diese Darstellung. Das Publikum versteht diesen Schauspieler und seine Darstellung, doch es lässt sie kalt. (8) »Schwein zu verkaufen.« Warum? Hier fängt das Problem an. Der Film beginnt mit der Darlegung oder der Entdeckung des Problems. Die meisten Filme fangen so an: »Liebling, hat dieses verdammte Schwein, das wir uns gar nicht leisten können, schon wieder die letzten Lebensmittel im Haus aufgefressen?« Ein Filmregisseur, der über großes Können verfügt, hat gelernt, ohne Exposition auszukommen; somit bezieht er das Publikum ein. lasst uns eine dramatische Auflösung machen, die die Idee des »Warum jetzt?« vermittelt. STUDENT: Ein Brief von der Bank kommt an? MAMET: Davon lassen wir lieber die Finger.
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STUDENT: Wir fangen auf dem Friedhof an, und der Bauer steht am Grab, und die nächste Einstellung ist vom Haus, und es ist fast ganz leer, und im Schrank ist kein Essen. MAMET: Wenn wir den leeren Schrank sehen, denken wir: Warum schlachtet er nicht einfach das Schwein? Hier ist eine andere Geschichte: Ein kleines Kind, in Lumpen gekleidet, spielt im Hof, und dann die Einstellung des Schweins, das über den Zaun springt und das Kind angreift. Heh? Mädchen spielt im Hof— sie sieht etwas, will weglaufen. Zweite Einstellung ein Schwein springt das Kind an, quiek, quiek, quiek, quiek; und die dritte Einstellung zeigt den Bauern, der mit dem Schwein die Straße entlangläuft. Erzählt das eine Geschichte? Ja. Doch wie können wir es machen, ohne zu zeigen, wie das Schwein das Kind zerfleischt? Wir wollen nicht zeigen, wie das Schwein das Kind zerfleischt, denn das Ergebnis ist immer eins von zwei Dingen: jedes Mal wenn du den Zuschauern etwas zeigst, was »echt« ist, denken sie entweder: 1. »Ach, was soll das Ganze, ist ja alles gestellt« oder: 2. »Oh, mein Gott, das ist ja echt.« Beide Reaktionen führen das Publikum weg von der Geschichte, die du erzählst (9), und sie sind beide gleich schlecht. »Oh, er vögelt nicht wirklich mit ihr« oder: »Oh, er vögelt wirklich mit ihr« — beides verliert die Aufmerksamkeit des Publikums. Wenn wir die Idee andeuten, ist es besser, als wenn wir sie zeigen. Wie wäre es, wenn wir von dem spielenden Kind im Hof zu Mutti in der Küche schneiden; sie wirbelt herum, dann läuft sie raus, greift sich einen Besen oder so etwas. Die dritte Einstellung ist dann Papa, der das Schwein aus der Scheune treibt. Er ist auf dem Weg, wir sehen ihn, wie er durchs Hoftor geht. Offensichtlich ist er unterwegs, um das Schwein loszuschlagen. STUDENT: Aber er könnte das Schwein einfach erschießen. Sollten wir nicht die leere Vorratskammer zeigen, um zu beweisen, dass er das Schwein verkaufen muss? MAMET: Wenn du versuchst, die Tatsache zu erzählen, dass die Familie arm ist, teilst du deinen Fokus auf. Du teilst ihn zwischen:
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1. »Ich brauche das Geld« und: 2. »Das Schwein hat meine Tochter angegriffen.« Jetzt hat der Mann zwei Gründe, das Schwein zu verkaufen, und das ist nicht so gut wie nur ein Grund, das Schwein zu verkaufen. Zwei Gründe ist gleich kein Grund. Es ist, wie wenn man sagt: »Ich komme zu spät, weil die Busfahrer streiken und weil meine Tante die Treppe runtergefallen ist.« Jetzt haben wir also die Idee: »Es lebte einmal ein Bauer, der ein gefährliches Schwein verkaufen musste. STUDENT: Die erste Einstellung ist von dem Kind, das im Hof spielt. STUDENT: Die zweite ist von dem Schwein, das das Mädchen belauert. STUDENT: Schnitt zu Mutti in der Küche. MAMET: Sie hört etwas, sie dreht sich um, sie nimmt den Besen und rennt aus dem Haus. Schnitt zum Bauern, der das Schwein die Straße hinuntertreibt. Okay. Hier ist eine andere Möglichkeit. Da ist das Innere einer Scheune. Einstellung auf die Tür. Die Tür geht auf, herein kommt ein Bauer in Arbeitskleidung. Er kommt herein und stellt seine Hacke hin, nimmt eine Laterne hoch und zündet sie an. Jetzt dreht er sich um, und es folgt eine Kamerafahrt, die zeigt, wie er an einer Reihe leerer Koben vorbeigeht, bis er zu dem Koben kommt, in dem das Schwein ist. Er beugt sich vor, nimmt einen kleinen Trog und stellt ihn vor das Schwein. Er richtet sich auf und will einen Sack Körner in den Trog schütten. Er dreht den Sack ganz auf den Kopf, bis dieser leer ist. Schnitt zurück zu dem Trog, in den nur zwei oder drei Körner fällen. Am nächsten Tag — das heißt Außen Tag, was den Zuschauern zeigt, dass Zeit vergangen ist. Wir wissen, dass die Sequenz in der Scheune nachts war - der Bauer zündete die Laterne an. Jetzt haben wir eine Außenaufnahme, und es ist Tag. Vielleicht ist das kleinlich, wenn ich sage, dass ein Drehbuch nicht die Beschreibung: »Am nächsten Tag« enthalten sollte — die Zuschauer können nur feststellen, dass es »am nächsten Tag« ist, durch das, was sie auf der Leinwand sehen; vielleicht wäre es heilsam, sich anzugewöhnen, nur die Dinge zu beschreiben, die das Publikum auf der Leinwand zu sehen bekommt.
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Die Einstellung des Bauern, der das Schwein die Straße hinuntertreibt: Funktioniert das? STUDENT: Wir kümmern uns nicht mehr um das Kleinkind? MAMET: Richtig. Wir sind in einer anderen Geschichte. Die eine handelte von einem Mann, der eine Gefahr beseitigen möchte, ein Mann, der sich einer Gefahr entledigt. Die andere handelt von einem Mann, der in wirtschaftliche Not geraten ist. Aber du hast Recht. Mir gefällt das gefährliche Schwein auch besser. Wie wissen wir, wann die Geschichte zu Ende ist? STUDENT: Er verkauft das Schwein, oder er verkauft es nicht. MAMET: Also was passiert jetzt? »John«, der Besitzer des Schweins, läuft mit dem Schwein die Straße entlang. Er kommt zu einer Kreuzung und sieht, wie wir in Chicago sagen, einen wohlhabend aussehenden Mann die Straße entlanggehen. Sie kommen ins Gespräch, und John überredet den Mann, ihm das Schwein abzukaufen. In dem Moment aber, in dem das Geschäft abgeschlossen scheint, passiert was? STUDENT: Das Schwein beißt den Mann. MAMET: Wir sagten, das Wesentliche dieser Szene ist der Mann, der das Schwein loswerden will. Es bietet sich ihm die perfekte Gelegenheit, das Schwein zu verkaufen. Toll, das haben wir nicht erwartet. Wir dachten, wir müssten den ganzen öden Weg bis in die Stadt gehen und den Bus nach Hause nehmen, ohne was zu lesen dabeizuhaben. Jetzt aber kommt da dieser Fremde aus dem Nichts, die ideale Gelegenheit, und was passiert? Das Schwein, das gefährliche Schwein, beißt den Mann. Also, worum geht es in diesem Handlungsschritt? STUDENT: Gescheiterter Versuch. MAMET: Nein, wir wollen versuchen, diesen Handlungsschritt als einen Schritt auf dem Weg zum Ziel der Szene zu betrachten: und das ist, einen gefährlichen Besitz loswerden zu wollen. Wir könnten
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sagen: aus einer günstigen Gelegenheit Kapital schlagen. Das ist das Ziel, auf das der Handlungsschritt aktiv zustrebt. »Gescheiterter Versuch« ist nur das Ergebnis. Das Großartige an dieser Methode ist folgendes: Worum, haben wir gefragt, geht es in dem Film? Ein Mann muss sein Haus von einer Gefahr befreien. Das ist es, was wir drehen werden. Es ist völlig egal, dass all deine Kameraleute und Regieassistenten und Produzenten dich anflehen, mehr von dem Bauernhof zu zeigen. Du sagst ihnen: »Warum? Das ist kein Film über einen Bauernhof. Sie wollen einen Film über einen Bauernhof sehen? Wunderbar. Wissen Sie was? Sehen Sie sich einen Diavortrag an. Sehen Sie sich eine Landkarte an. Dieser Film hier handelt von einem Mann, der sein Haus von einer Gefahr befreien will. Wir wollen diesen Film machen. Das Publikum weiß, wie ein Bauernhof aussieht, oder auch nicht. Das ist seine Sache. Wir wollen die Privatsphäre der Zuschauer respektieren.« Also, ein Mann versucht aus einer günstigen Gelegenheit Kapital zu schlagen. STUDENT: Wir fangen an, wie er mit dem Schwein die Straße entlanggeht; dann sieht er einen anderen Bauern, der am Straßenrand ein Karrenrad flickt. Und er wechselt die Straßenseite und spricht den Mann an. MAMET: Bleib bei den Einstellungen. Unser Mann geht die Straße entlang. Er bleibt stehen, weil er etwas gesehen hat. Von seinem Blickwinkel aus sehen wir: einen Karren mit einem kaputten Rad; zwei Schweine hinten drauf, und einen wohlhabenden Bauern, der das Rad repariert. Nun, was würden wir hinzunehmen? Um die Idee aus etwas Kapital schlagen beizubehalten - wie wäre es, wenn er etwas mit dem Schwein machen würde? STUDENT: Er geht anders, weil er weiß, dass er das Schwein verkaufen wird. MAMET: Die Idee ist aus etwas Kapital schlagen, nicht einen Verkauf tätigen. STUDENT: Er könnte das Schwein herausputzen.
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MAMET: Die Einstellung ist: Er zieht ein Taschentuch heraus und wischt dem Schwein das Gesicht ab. Er will das Schwein verkaufen. STUDENT: Oder er nimmt sein Taschentuch und bindet es dem Schwein um den Hals. MAMET: Das mit dem Taschentuch gefällt mir. lasst uns noch etwas überlegen. Wie könnte er noch mehr Kapital herausschlagen? Er wischt dem Schwein das Gesicht ab, und dann bindet er ihm das Taschentuch um und geht hinüber zu dem zweiten Bauern. Was wird jetzt passieren? STUDENT: Vielleicht hilft er dem anderen bei der Reparatur des Rads. Auf diese Weise gewinnt er dessen Vertrauen. MAMET: Das könnte er tun. Das würde ihm helfen, Kapital herauszuschlagen. Gut. STUDENT: Wenn er dem anderen hilft, hilft ihm das, das Schwein zu verkaufen. MAMET: Ja. Wir haben die Einstellung, wie er das Schwein herausputzt, jetzt eine Einstellung, wie er das Schwein zu dem Bauern hinführt, der gerade den Karren wieder auf die Straße schiebt; vielleicht hilft er ihm bei den letzten Metern, und dann die Aufnahme der beiden Männer, die ein paar Sekunden miteinander reden. Der neue Bauer sieht sich das Schwein an, schaut den Mann an, sie reden, der zweite Mann greift in die Tasche, gibt unserem Bauern eine Handvoll Geld. Komplizierter als das braucht es nicht zu sein. Oder wir lassen das weg, dass er die Hand in die Tasche steckt. Wir haben die zwei Männer, die sich unterhalten, bla, bla, bla ... STUDENT: ... und dann Einstellung von dem Schwein mit dem gleichen Gesichtsausdruck, den es hatte, als es das kleine Mädchen angriff. MAMET: Genau. Wir haben die beiden Männer, die sich unterhalten und sich dann die Hand drücken. Jetzt Einstellung des zweiten Bauern, der das Schwein auf den Wagen hebt. Es ist ein offener
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Karren, deshalb können wir eine Einstellung von dem Schwein im Karren machen, eine Nahaufnahme des Schweins. Wir schneiden zum Blickwinkel des Schweins, durch zwei Stangen hindurch auf die zwei Männer, die miteinander reden. Während der zweite Bauer seine Hand in die Tasche steckt:, um das Geld herauszunehmen, schneiden wir zu einer Einstellung ... STUDENT: ... des Schweins, das vom Karren springt, und die nächste Einstellung ist unser Bauer, der mit dem Schwein die Straße entlanggeht. MAMET: Wunderbar. Jetzt haben wir wirklich die Geschichte »von dem Bauern, der alles versuchte, ein gefährliches Schwein zu verkaufen«: Unser Mann läuft mit dem Schwein die Straße hinunter. Was wird die nächste Begegnung sein? Wo geht er hin? Hat jemand eine Idee? Wir wollen sichergehen, dass wir die Regel gegen die Kreisförmigkeit befolgen. Macht niemals das gleiche zweimal. Diese Kreisförmigkeit oder die Wiederholung des gleichen Vorfalls in neuem Gewand steht im Widerspruch zur dramatischen Form. Es ist das Wahrzeichen des Epischen und der Autobiographie. Darin liegt der Grund, warum es so große Schwierigkeiten bereitet und sowenig Erfolg zeitigt, diese beiden Formen zu einem Drama umzuschreiben. STUDENT: Der Schlachthof. MAMET: Als nächstes gehen wir zum Schlachthof. Richtig. Doch bevor wir dort hinkommen, wollen wir, dass die Geschichte vorwärts geht. Warum war es eine günstige Gelegenheit, als er den Bauern auf der Straße traf? STUDENT: Weil er nicht weitergehen musste. MAMET: Diese eine günstige Gelegenheit hat er vermasselt, was jetzt? STUDENT: Jetzt muss er doch den weiten Weg in die Stadt machen.
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MAMET: Und mit dramatisieren wir das?
welcher
altehrwürdigen
Kinokonvention
STUDENT: Es ist Nacht, vorher war es Tag. MAMET: Es ist Nacht, und wir sind im Schlachthaus. Die dunkle, tintige, ägyptische Dunkelheit ist hereingebrochen, so wie nur die Dunkelheit hereinzubrechen versteht. Ungehindert vom rosigen Schein der Quecksilberdampflampen der Straßenlaternen, den der Smog widerspiegelt, der Smog, der nicht entweichen kann wegen der Inversionsschicht, die verursacht wurde von den Verbrennungsmotoren, ohne die heutzutage die Männer und Frauen in unseren Städten nicht leben zu können glauben und die jene Maschinen antreiben, die zu ihrer Bequemlichkeit entworfen und bestimmt wurden. Die Nacht, ich sage es noch einmal, die Nacht, ist hereingebrochen. Kurz gesagt, die eine Hälfte jenes Zyklus, jenes niemals endenden Kreislaufs von Tag und Nacht. Die Nacht: für die einen die Zeit zu schlafen, für die anderen die Zeit zu wachen, so wie im Falle unseres Bauern. Die Nacht ist hereingebrochen. Nun, unser Bauer kommt in die Stadt, kommt erschöpft in der Stadt an; er geht zum Schlachthof. Hat jemand eine Idee? STUDENT: Der Schlachthof ist verschlossen? MAMET; Der Schlachthof ist verschlossen und dann? Mach es in Einstellungen. STUDENT: Einstellung der nächtlichen Straße mit dem Bauern und dem Schwein. Nächste Einstellung vom Schlachthof. Er treibt das Schwein dorthin. Einstellung des Bauern an der Schlachthoftür, die verschlossen ist. MAMET: Ja. Welchen Gedanken bearbeiten wir hier? STUDENT: Seine letzte Chance, das Schwein zu verkaufen. MAMET: Wir wollen diesen Handlungsschritt das Ende einer beschwerlichen Suche nennen. Es ist nicht seine letzte Chance; es ist das Ende der Geschichte. Jetzt haben wir Glück, und Glück ist immer
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das Nebenprodukt einer guten Planung; da wir so beharrlich waren und die Form genau eingehalten haben, werden wir mit einer zusätzlichen Ausbeute belohnt. Worin besteht diese zusätzliche Ausbeute? Es ist Nacht, weil er so lange brauchte, um zum Schlachthof zu gelangen. Er hat so lange gebraucht, weil ihn der Lastwagen nicht mitgenommen hat. Er wurde nicht mitgenommen, weil das Schwein den Lastwagenfahrer gebissen hat. Eben dieses gefährliche Schwein, über das wir unsere Geschichte konstruieren — so dass sogar die Nacht eine Funktion für unsere Throughline hat. Die Zusatzausbeute besteht darin, dass der Schlachthof verschlossen ist. Nun haben wir eine Einstellung, schräg um die Ecke von der Vorderseite des Schlachthofs, in der wir das Gelände »durchsuchen«, und wir sehen, dass Licht brennt, und wir sehen ins Büro, in ein kleines Büro, und wir sehen das Licht ausgehen. Ein Mann kommt aus dem Büro, sperrt die Tür ab und geht links aus dem Bild, während der Bauer von rechts kommt und an der Tür rüttelt. Hier also ist das Ende der beschwerlichen Suche. STUDENT-. Wie wissen wir, dass es ein Schlachthaus ist? MAMET: Wie wissen wir, dass es ein Schlachthaus ist? Weil hinter ihm ein großer Stall voller Schweine ist. Wir brauchen nicht zu wissen, dass es ein Schlachthof ist. Wir brauchen nur zu wissen, dass es das ist, wohin er gehen wollte. Es ist das Ende der Suche. Da steht ein Gebäude mit einem Stall voller Schweine, und er geht auf dieses Gebäude zu. »Das Ende der Suche« heißt nicht das Ende der Geschichte. Das Ende der beschwerlichen Suche ist nur der Titel dieses Handlungsschritts. Jede Wende führt zu einem neuen Handlungsschritt. Das ist der Grund, warum es eine gute Geschichte ist. Ödipus will die Pest in Theben beenden. Er findet heraus, dass die Pest über Theben gekommen ist, weil jemand seinen Vater getötet hat, und stellt fest, dass er dieser Jemand ist. Jedes gute Drama führt uns tiefer und tiefer zu einer Lösung hin, die gleichzeitig überraschend und unvermeidlich ist. Es ist wie türkischer Honig: schmeckt immer gut und bleibt immer an den Zähnen kleben. STUDENT: Brauchen wir den Mann, der den Schlachthof verlässt?
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MAMET: Ich glaube schon. Doch das ist die gleiche Frage wie: »Wo stellen wir die Kamera hin?« Von einem gewissen Zeitpunkt ab triffst du als Regisseur Entscheidungen, die nach außen willkürlich erscheinen, die aber auf einem stetig wachsenden ästhetischen Verständnis der Geschichte beruht. Meine Antwort auf deine Frage lautet: »Ich glaube schon.« Ende der beschwerlichen Suche. Welches Werkzeug werden wir nehmen, um festzulegen, was als nächstes geschieht? STUDENT: Die Throughline. MAMET: Und wir wissen, die Throughline ist: Er will das Schwein loswerden. STUDENT: Also setzt er sich hin und wartet. MAMET: Er könnte sich hinsetzen und vor dem Schlachthaus warten. STUDENT: Er könnte das Schwein am Schlachthaus festbinden und in die Kneipe am Ende der Straße gehen. Er setzt sich hin und trinkt ein Glas, und dann kommt der Bauer von vorhin herein, und sie fangen eine Schlägerei an. Wir gehen zurück zu dem Schwein, das an dem Seil zerrt und sich losreißt und in die Kneipe rennt und unseren Helden rettet. MAMET: Ah, jetzt kriegen wir doch was zu sehen für unser Geld! Unser Interesse an der Geschichte und für ihre Feinheiten und Merkwürdigkeiten wurde geweckt, und ein mögliches Ende für sie hat sich angeboten. Und der Grund, warum wir über unser Ende lachen, liegt darin, dass es zwei wesentliche Elemente enthält, die wir von Aristoteles gelernt haben: Überraschung und Unvermeidlichkeit. Aristoteles verwendet andere Wörter, da er über die Tragödie spricht und nicht über das Drama: Er nennt die beiden Dinge Furcht und Mitleid. Mitleid für das Schicksal des armen Kerls, der in einer solchen Zwickmühle steckt; und Furcht, weil wir fühlen, dass es auch uns geschehen könnte, wenn wir uns mit dem Helden identifizieren. Der Grund, warum wir uns identifizieren, liegt darin, dass der Autor die Erzählung weggelassen hat. Wir sahen nur die Geschichte.
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Wir können uns damit identifizieren, wenn jemand ein Ziel verfolgt. Es ist viel leichter, sich damit zu identifizieren als mit »Charakterzügen«. Die meisten Filme werden so geschrieben: »Er ist ein ziemlich verrückter Mensch, der ...« Doch damit kann man sich nicht identifizieren. Wir sehen uns nicht in ihm, denn wir sehen seinen Kampf nicht; stattdessen werden uns seine Idiosynkrasien gezeigt, die uns von ihm trennen. Seine »Karatefähigkeiten«, seine verrückte Angewohnheit zu jodeln, wenn er seinen Hund rufen will, seine merkwürdige Vorliebe für alte Autos ... alles wahnsinnig interessant. Es ist gut, dass die Leute in Hollywood keine Seelen haben, denn so müssen sie nicht leiden angesichts des Lebens, das sie leben. Wer hat eine andere Idee für den Schluss? STUDENT: Ich dachte, das Schwein müsste noch einen Menschen anfallen. MAMET: Wie Leadbelly über den Blues sagte: In der ersten Strophe verwendest du ein Messer, um Brot zu schneiden; in der zweiten Strophe verwendest du ein Messer zum Rasieren; in der dritten Strophe verwendest du das Messer, um dein untreues Mädchen zu töten. Es ist immer das gleiche Messer, doch der Einsatz erhöht sich. Und das gleiche gilt für die Art und Weise, wie ein Stück oder ein Film aufgebaut ist. Es geht nicht, dass du das Messer in der ersten Strophe zum Brotschneiden und in der zweiten Strophe zum Käseschneiden verwendest. Wir wissen, dass es Brot schneiden kann. Was kann es noch? STUDENT: Aber sollten wir nicht die Gefährlichkeit des Schweins näher ausfüllten, um den Einsatz zu erhöhen? MAMET: Wir brauchen ihn nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Wir müssen ihn aus Schwierigkeiten befreien. Erinnert euch, unsere Aufgabe ist es nicht, Chaos zu scharfen, sondern in eine chaotische Situation Ordnung zu bringen. Wir brauchen uns keine Gedanken darüber zu machen, wie etwas interessant wird; alles, was uns beschäftigt, ist, das Schwein loszuwerden. Wir wollen für diese Geschichte einen Klasseschluss finden, der zugleich überraschend und unvermeidlich ist - oder zum
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allermindesten angenehm oder zum allermindesten schlüssig. Wir sitzen mit dem Schwein auf der Treppe. Es ist Nacht. Das Schlachthaus hat geschlossen. STUDENT: Nun, die nächste Aufnahme ist: Tag, und da ist ein Mann, der die Stufen zum Schlachthof hochsteigt und die Tür aufschließt. Und man kann erraten, was der Bauer als nächstes macht. Er wird das Schwein verkaufen. MAMET: Und dann ist der Film zu Ende. Okay. STUDENT: Wie wäre es damit: Es ist Morgen, er wacht auf, er denkt, irgendetwas fehlt, oder er tastet nach seiner Brieftasche, und sie ist weg. Dann schneiden wir zu dem Schwein, das friedlich dasitzt, und dann Schnitt zu einem Mann, der tot daliegt und die Brieftasche unseres Helden in der Hand hat. Das Schwein hat ihm sein Geld gerettet. MAMET: Also das Schwein macht seine Vergehen gut, und er kann es freilassen. Das Schwein freilassen erfüllt den ursprünglichen Zweck, nicht wahr? Der ursprüngliche Zweck war, sich von einer Gefahr zu befreien. STUDENT: Warum hat er das Schwein nicht einfach freigelassen? MAMET: Okay. Gut. Du hast eine sehr wichtige logische Lücke in unserem Film entdeckt. Die ganze Zeit hindurch versucht der Held, eine Gefahr loszuwerden. Nach der ersten Sequenz, wenn das Schwein das kleine Mädchen angreift, brauchen wir eine zweite Sequenz, die wir »Die einfache Lösung für ein schwieriges Problem« nennen können. In dieser Sequenz führt der Bauer das Schwein fort. Aufnahme des Schweins, verlassen auf einem Hügel. Schnitt. Blickwinkel des Schweins, das dem sich entfernenden Bauern hinterher sieht. Einstellung des Bauern, der auf sein Haus zugeht. Er bleibt stehen. Einstellung aus seinem Blickwinkel von dem Schwein, das in seinem Stall sitzt. Und dann geht es mit der Geschichte weiter, und die nächste Sequenz nach »Die einfache Lösung« ist »Aus einer günstigen Gelegenheit Kapital schlagen«.
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Gut. Ich glaube, durch diese Entdeckung wird es ein besserer Film. Ich war, nebenbei gesagt, immer der Meinung, dass diese scheinbar belanglosen Dinge fast immer ganz wichtige Informationen enthüllen, wenn ihnen auf den Grund gegangen wird. Sie sind, finde ich, wie die kleineren, halbvergessenen Bilder in einem Traum. Man ist in Versuchung, an ihnen vorüberzueilen und sie als unwichtig anzusehen. Doch in einer logischen Reihe ist kein Schritt unwichtig. Und ich weiß aus eigener Erfahrung, dass ein hartnäckiges Beharren auf diesen »kleinen« Dingen belohnt wird. Ein weiteres mögliches Ende: Es dämmert. Eure Tonabteilung drängt euch, an dieser Stelle Vogelgezwitscher unterzulegen. Na schön. Man sieht den Mann aus dem Büro das Schlachthaus aufschließen; er sieht das Schwein. Er schließt auf und führt das Schwein in den Stall. Unser Mann wacht auf, das Schwein ist weg. Er geht hinein, er will sein Schwein. Der Schlachthaus-Typ sagt: »Wie soll ich wissen, welches Ihr Schwein ist, bla, bla, bla.« Unser Held fängt an, Krach zu schlagen. Er und der Besitzer des Schlachthauses fangen eine Schlägerei an, und der Schlachthausbesitzer will unserem Bauern den Schädel einschlagen, damit der aufhört, ihn wegen des Schweins zu belästigen. Wir schneiden zum Schwein, das durch den Zaun auf unseren Mann blickt. Wir wissen, dass es unser Schwein ist, weil es immer noch das Taschentuch aus der Kapital herausschlageSequenz trägt. Als nächstes haben wir eine Einstellung des Schlachthausbesitzers, der sich abwendet, und dann die Einstellung von unserem Mann, der mit dem Schwein die Straße entlanggeht. Großaufnahme: Unser Mann bleibt stehen, wendet sich ab. Bildwinkel: das Schwein, das die Straße zurückblickt. Einstellung halten. Der Bauer führt das Schwein zurück in die Richtung, in die das Schwein blickt. Schnitt zu unserem Schwein, das irgendetwas anblickt. Aufnahme von unserem Bauern, der dem Schlachthausbesitzer Geld gibt. Schnitt zurück zu der Schwein-Einstellung, zurück zu dem Schlachthausbesitzer, der das Geld nimmt, Schlachthausbesitzer schiebt sich vorsichtig vorbei an unserem Schwein. Unser Schwein blickt durch die Gitterstäbe. Einstellung aus seinem Blickwinkel: Der Schlachthausbesitzer betritt einen Koben mit einem einzelnen Schwein. Er führt das Schwein heraus.
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Jetzt. Schlusssequenz. Unser Bauer läuft die Straße entlang mit zwei Schweinen. Einstellung des Bauernhauses. Die Frau kommt heraus. Einstellung, ihr Blickwinkel: Unser Farmer, der zwei Schweine nach Hause führt. Einstellung des Hofzauns. Das Tor geht auf, die zwei Schweine kommen herein. Aufnahme: Bauer, der zuschaut. Einstellung: die zwei Schweine, die sich küssen. Abblenden, aufblenden. Einstellung: Schwein, das viele kleine Ferkel säugt. Einstellung von »unserem« Schwein mit dem Taschentuch um den Hals, auf dessen Rücken das kleine Mädchen reitet. Einstellung: der Bauer, der zuschaut: Was für ein Schwein! Vielleicht ist das der Film. Er hat sein Problem gelöst. Er ist nicht das Schwein losgeworden, sondern die Gefahr. Jetzt kannst du deine chronologische Aufnahmeliste betrachten und dich fragen: »Was habe ich ausgelassen?« Da du dich bewusst und ehrlich und feinfühlig der Geschichte genähert hast, gibt es in deinem Unterbewusstsein so etwas wie ein Bankguthaben, mit dem du einfache Antworten auf Fragen wie: »Wo stelle ich die Kamera hin?« beibringen kannst — Fragen, deren Beantwortung auch dadurch erleichtert wird, dass du dich stets auf deine Liste von Zielen beziehst: Ein Mann will eine Gefahr beseitigen, ein Mann probiert eine einfache Lösung für ein schwieriges Problem aus, ein Mann versucht aus einer günstigen Gelegenheit Kapital zu schlagen, ein Mann erreicht das Ende einer langen Reise, ein Mann versucht seinen Besitz wiederzuerlangen, ein Mann belohnt eine gute Tat. Das ist die Geschichte, die der Regisseur erzählen muss - die innere Geschichte des Widerstands seines Helden in einer schwierigen Welt. Jeder, der eine Brownie hat, kann einen Film über ein »Schwein« drehen.
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SCHLUSS Es hegt immer an dir, ob du die Geschichte durch das Nebeneinanderstellen von Einstellungen erzählen wirst oder nicht. Es liegt nicht immer an dir zu entscheiden, ob dieser Prozess interessant ist oder nicht. Jede gute Technik basiert auf Dingen, die innerhalb deiner Kontrolle liegen. Alles, was nicht deiner Kontrolle unterliegt, ist keine echte Technik. Wir wollen die Technik des Regieführens und der Analyse erlernen, die so konkret ist wie die Technik des Schuhmachers. Wenn ein Ledergurt reißt, sagt der Schuster nicht: »Donnerwetter! Wisst ihr, ich hab' den Gurt so interessant gemacht, wie ich konnte!« Stanislawski war einmal mit dem Kapitän eines Wolga-Dampfboots essen. Und Stanislawski sagte: »Wie kommt es, dass Sie unter all den großen und kleinen Wegen auf der Wolga - und es gibt so viele und gefährliche — immer einen Weg finden, das Boot sicher zu steuern?« Der Kapitän erwiderte: »Ich halte mich an die Fahrrinne, sie ist markiert.« Und das gleiche gilt auch hier. Wie kommt es, dass wir immer in der Lage sind, eine Geschichte zu erzählen — mit Sparsamkeit und unter Umständen mit Anmut -, wenn wir die vielen, vielen Möglichkeiten, einen Film zu machen, bedenken? Die Antwort lautet: »Halte dich an die Fahrrinne, sie ist markiert.« Die Fahrrinne ist das übergeordnete Ziel des Helden, und die Bojen sind die kleinen Ziele jeder Szene, die kleineren Ziele jeden Handlungsschritts und der kleinsten Einheit von allen, der Einstellung. Die Einstellungen sind alles, was du hast. Mehr hast du nicht. Deine Auswahl der Einstellungen ist alles, was du hast. Daraus wird der Film bestehen. Du kannst es im Schneideraum nicht interessanter machen. Und du kannst dich auch nicht auf die Schauspieler verlassen, dass sie Schwach stellen überspielen. Du kannst dich nicht darauf verlassen, dass sie »es interessanter machen«. Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Du willst, dass sie auf genauso einfache Weise spielen, wie du die Einstellungen auswählst. Wenn du bei den kleinen Dingen korrekt bist, von denen das kleinste die Auswahl einer einzigen nicht abgewandelten Einstellung ist, dann wirst du auch in den größeren Dingen korrekt sein. Und dann wird dein Film so korrekt und so geordnet und so gut sein, wie du es bist. Er kann nie mehr als das sein, doch er wird weniger als das, wenn du unbedingt das Material manipulieren willst oder wenn du hoffst,
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dass Gott intervenieren wird, um dich zu retten - das ist es, was die meisten Leute meinen, wenn sie von »Talent« reden. Vielleicht wartest du auf die Schuhmacher-Heinzelmännchen, die dich retten sollen, doch es ist wunderbar, wenn du die Heinzelmännchen nicht zur Rettung brauchst. Vor allem unter großem Stress ist es entscheidend, dass du dein Handwerk beherrschst. Und Drehbuchschreiben ist ein Handwerk, und Regieführen ist ein Handwerk. Sie sind in vieler Hinsicht das gleiche Handwerk. Wenn du den Preis bezahlst, kannst du das Handwerk erlernen. Und wenn du in deinen Bemühungen nicht nachlässt, wird jene analytische Methode des Denkens einfacher für dich werden. Die Probleme des einzelnen Films werden nicht einfacher - nur für Stümper werden sie einfacher. Die Aufgabe ist immer die gleiche, und du hältst an ihr fest, bis du sie gelöst hast. Es ist nicht dein Job, sie hübsch zu machen. Sie ist so hübsch oder so hässlich, wie Gott es gewollt hat. Es ist dein Job, sie deinen Überzeugungen gemäß korrekt zu machen. Wir haben — genau wie die Protagonisten in unseren Filmen — eine Aufgabe. Bei der Erledigung dieser Aufgabe gehen wir auf möglichst logische Weise von einer Sache zur nächsten. Unsere Arbeit ist wie Bergsteigen. Manchmal ist es gefährlich, meistens ist es anstrengend, doch wir bezwingen nicht den ganzen Berg auf einmal. Alles, was wir tun müssen, ist, an einer Stelle einen Halt zu finden und herauszubekommen, was dieser Handlungsschritt oder diese Einstellung oder diese Szene sein soll; erst wenn wir an dieser Stelle ganz sicher stehen, strecken wir uns, um den nächsten absolut sicheren Halt zu finden. Dramatische Analyse ist ein wenig, wie mit Hilfe eines Kompasses den Kurs auf unwirtlichem Gelände abzustecken. Vom Weg abzukommen versetzt uns in Angst und Schrecken, und wir werden müde und verwirrt; all dies geschieht mit uns auch, wenn wir die Gelegenheit erhalten, Regie zu führen: Wenn wir uns verirren, müssen wir uns an unsere Karte und den Kompass halten. Die Analyse ist nicht der Film, genauso wenig wie die Karte das Gelände ist - doch der richtige Kompass, die richtige Analyse, macht es möglich, durch beides den richtigen Weg zu finden. Je mehr Zeit du investierst und je mehr dein Plan von dir selbst enthält, desto sicherer wirst du dich angesichts von Terror, Einsamkeit und den gefühllosen oder dummen Kommentaren derer fühlen, von denen du jede Menge Geld und Nachsicht forderst.
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Daniel Boone wurde einmal gefragt, ob er sich jemals verirrt habe. Er gab zur Antwort: »Ich habe mich niemals verirrt, aber einmal war ich drei Tage lang ein kleines bisschen verwirrt.« Es ist gut, sagen die Stoiker, dass es Werkzeuge gibt, deren Zahl begrenzt ist und die leicht zu verstehen sind, so dass wir sie jeden Moment auffinden und verwenden können. Ich glaube, dass die Werkzeuge für jede lohnenswerte Unternehmung unglaublich einfach sind. Und sehr schwierig zu beherrschen. Die Aufgabe eines jeden Künstlers ist es nicht, viele, viele Techniken zu lernen, sondern die einfachste Technik perfekt zu lernen. Wenn er das tut, wird das Schwierige einfach und das Einfache zu Gewohnheit, auf dass die Gewohnheit zur Schönheit werde, wie Stanislawski sagt. Wichtig ist, ein Ideal zu verfolgen. Ein Ideal zu verfolgen erhöht die Chancen, dass das Unbewusste sich behauptet, und damit die Chancen, dass in deiner Arbeit Schönheit liegt. Die Navahos, so hat man mir erzählt, weben Fehler in ihre Decken, durch die die Teufel herausfahren können. Ein zeitgenössischer Künstler sagte: »Nun, wir brauchen die Fehler nicht hineinzuweben. Wir können versuchen, ganz perfekt zu weben. Gott wird dafür sorgen, dass noch genügend Fehler enthalten sind; das liegt in der menschlichen Natur.« Die Anwendung dieser Prinzipien wird meiner Erfahrung nach dazu führen, dass du so perfekt webst, wie es menschenmöglich ist das heißt überhaupt nicht besonders perfekt. Widme dich stets der einfachen Aufgabe. Diese Hingabe wird dir große Befriedigung verschaffen. Die Tatsache allein, dass du dem IchKult für eine Zeitlang abschwörst - dem Kult, wie interessant du und dein Bewusstsein sind -, wird sich den Zuschauern mitteilen. Und sie werden sehr, sehr dankbar sein und in jedem Zweifelsfall zu deinen Gunsten entscheiden. Es ist möglich, »alles richtig zu machen« und dennoch am Ende mit einem schlechten Film dazustehen. »Alles richtig zu machen« heißt, Schritt für Schritt philosophisch richtigen Prinzipien gemäß vorwärts zu gehen, so dass die Einschätzung deiner eigenen Arbeit ehrlich ist, und du bist glücklich, dass du die nächstliegende Aufgabe erfüllt hast. Besteht die Möglichkeit, dass du all dies tust und am Ende dennoch einen schlechten Film hast? Wie lässt sich diese Frage
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beantworten? Nun, das hängt von deiner Definition von schlecht ab. Noch einmal die Stoiker: Wenn du, bevor du in die Schlacht ziehst, die Götter um ein Zeichen bittest, und sie sagen dir, dass du die Schlacht verlieren wirst, würdest du nicht trotzdem entschlossen sein, zu kämpfen? Es liegt nicht in deiner Macht, zu entscheiden, ob der Film »gut« oder »schlecht« sein wird; in deiner Macht liegt es, den Job so gut, wie du kannst, zu erledigen; und wenn du fertig bist, darfst du nach Hause gehen. Das ist genau das gleiche Prinzip wie der Gedanke der Throughline. Lerne deine ganz bestimmte Aufgabe zu verstehen, arbeite, bis sie erfüllt ist, und dann hörst du auf.
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ANMERKUNGSVERZEICHNIS (1) Eine Auswahl seiner Schriften erschien 1985 unter dem Titel SPIEGEL DER BÜHNE, herausgegeben und übersetzt von Susanne Rodel, im Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin/DDR. (2) Die Steadicam träge zur Schaffung eines guten Films nicht mehr bei als der Computer zum Schreiben eines guten Romans. Beides sind Geräte, die die Arbeit erleichtern und die geistlosen Aspekte eines schöpferischen Unternehmens angenehmer machen. (3) Ich weiß, dass 'Entropie' im Wörterbuch als das Fortschreiten auf den Zustand größter Unordnung definiert wird — was das betrifft, lasse ich mich gerne auf einen Streit mit allen Wörterbüchern ein. (4) Der Prozess, den wir in diesem Raum hier durchschreiten, ist die Erforschung der Dynamik zwischen dem Augenblick und dem Ziel. Es ist diese Dynamik, die dem Augenblick und dem Ganzen Kraft verleihe — sei es in unserer Diskussion hier, im Film, im Theater. In einem großartigen Drama diene jeder Augenblick dem übergeordneten Ziel und ist in sich selbst großartig. Dient der Augenblick nur dem übergeordneten Ziel, erhalten wir gequältes narratives Pseudodrama, das nur zu Demonstrationszwecken oder für ein Stück mir einer »Botschaft« gut ist. Steht der Augenblick nur für sich selbst, erhalten wir selbstbezogene »Performance«-Kunst. Die Mühe, die der dramatische Künstler auf die Analyse verwendet, befreit ihn und die Zuschauer und erlaubt ihnen, das Stück zu genießen. Spart er sich die Mühe und die Zeit, wird das Theater zum schrecklichsten aller Ehebetten: Der eine Teil jammert: «Liebe mich«, und der andere schmollt: »Überzeuge mich.« (5) Natürlicher kreativer Reichtum und Selbstbewusstsein sind bei einem Künstler wunderbare Dinge. dass daraus keine Arroganz wird, liegt nicht an den Inhalten, sondern an einem Lernprozess. Selbst einen nur wenig seriösen Künstler zwingen die nicht zu überhörenden Anforderungen, die das Handwerk an ihn stellt, immer wieder zur Demut. Diejenigen, die sich zu »Produzenten« stilisieren, hatten nie die Gelegenheit, von diesem Lernprozess zu profitieren, und ihre Überheblichkeit kennt keine Grenzen. Sie sind wie die weißen Sklavenhalter früherer Zeiten, die mit kühlen Drinks auf ihren Veranden sitzen und sich über die angeborene Faulheit der Neger unterhalten. Der »Produzent-, der nie einen Zusammenstoß mit den Forderungen des Handwerks erlebt hat, sieht alle Ideen als grundsätzlich gleich an, nur seine eigene sieht er unter ihnen an erster Stelle, und zwar aus keinem anderen Grund, als dass sie von ihm stammt. Dieser Gedanke ist vielleicht leichter zu verstehen, wenn wir uns an unsere Schulzeit erinnern und an die Kritik eines Lehrers, der meinte; »Das verstehe ich nicht« oder: "Das ist unklar ...«, und unsere insgeheime Reaktion auf eine solche Korrektur war: »Der alte Idiot ... ich verstehe, was ich meine.« Ich habe nicht wenig Stolz, in den sich bestimmt ein Teil Arroganz mischt. Im allgemeinen stehe ich im Wettbewerb mit diesen «Produzenten« auf verlorenem Posten; dann tröste ich mich damit, zu denken, dass ich, zerbricht die Gesellschaft eines Tages, in der Lage sein werde, mir wenigstens ein Dach über dem Kopf und eine Mahlzeit zu verdienen, indem ich Stücke herausbringe, die die Leute
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zum Lachen bringen, während diese »Produzenten« warten müssten, bis ich und meine Kollegen an die Arbeit gehen, bevor sie etwa« zu essen haben werden. Ja, so sehe ich Produzenten". Sie sind von der »Ich bring' die Kuh auf den Markt für dich, mein Junge«-Sorte. (6) Das Publikum akzeptiert alles, solange ihm kein Grund geliefert wird, warum es das nicht glauben sollte. Deshalb muss das Heft ansatzweise sauber und ordentlich aussehen, denn wenn es schlampig wäre, könnte das Publikum an der Ernsthaftigkeit des Wunsches des Helden zweifeln. Die Sauberkeit seines Heftes ist eher eine antiseptische und weniger eine kreative Frage. (7) Bruno Bettelheim, KINDER BRAUCHEN MÄRCHEN (8) Stanislawski meinte, es gebe drei Sorten von Schauspielern. Der erste präsentiert eine ritualisierte und oberflächliche Version menschlichen Verhaltens — diese Art des Spiels ist das Ergebnis der Beobachtung anderer schlechter Schauspieler. Der Schauspieler liefert den Zuschauern eine stereotype Wiedergabe von "Liebe«. »Wut« oder einer anderen Emotion, die der Text an dieser Stelle verlangt. Der zweite Schauspieler studiert das Skript und entwickelt seine eigene, einzigartige und interessante Version des Verhaltens, das die Szene an dieser Steile angeblich erfordere, und er komme auf die Bühne oder zum Drehort und präsentiert dies. Der dritte, den Stanislawski den »organischen« Schauspieler nennt, erkennt, dass der Text kein Verhallen, keine Emotion verlangt — dass der Text nur Handlung verlangt —, und er kommt zum Drehort oder auf die Bühne, bewaffnet lediglich mit seiner Analyse der Szene und ganz darauf eingestellt, von Moment zu Moment, in Reaktion auf das, was in der Darstellung zutage kommt, zu spielen ... nichts zu verleugnen und nichts zu erfinden. Dieser letzte Typus, der organische Schauspieler, ist der Künstler, mit dem der Regisseur arbeiten will. Er ist auch der Künstler, den wir auf der Bühne und im Film am meisten bewundern. Seltsamerweise ist er nicht der Künstler, der oft und gerne ein großartiger Schauspieler genannt wird. Im Laufe der Jahre habe ich festgestellt, dass es zwei Unterarten der thespischen Kunst gibt: Die eine heißt »Schauspielen«, die andere heißt »Großartiges Schauspielen«; und dass diejenigen, die als die »Großartigen Schauspieler«, die ersten Schauspieler ihrer Zeit bezeichnet werden, ohne Ausnahme in die zweite von Stanislawskis Kategorien fallen. Sie bringen intellektuellen Schwillst auf die Bühne und in den Film. Ich glaube, die Zuschauer nennen sie großartig, weil sie sich mit ihnen identifizieren möchten - mit den Schauspielern, nicht mit den dargestellten Figuren. Die Zuschauer wollen sich mit diesen Schauspielern identifizieren, weil diese scheinbar das Recht haben, sich in geschütztem Rahmen arrogant aufzuführen. Schaut euch hingegen alte Charakterdarsteller und Komiker an; Harry Carey, H. B. Warner, Edward Arnold, William Demarest; schaut euch Thelma Ritter, Mary Astor, Celia Johnson an. Diese Leute konnten spielen. (9) Das steckt hinter der Idee »die ästhetische Distanz verlieren«.
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