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»Pulitzerpreisträger Larry McMurtry erzählt die Geschiente des schon legendären siebzehnjährigen Revolverhelden Billy Bone, der als Billy the Kid berühmt wurde. Realistisch, frei von jeglicher Verklärung, zeichnet der Autor das Bild eines Gesetzlosen, der erst nach seinem Tod zum Mythos wurde - ein spannender historischer Roman.« (Hamburger Abendblatt)
ÜBER DAS BUCH: Ben Sippy, ein abenteuerhungriger Schriftsteller aus dem zivilisierten Osten, der sich von einer Reise durch den Wilden Westen neuen Schreibstoff erhofft, macht die Bekanntschaft eines gefürchteten Banditen: Billy Bone, besser bekannt als Billy the Kid. Der legendäre Revolverheld ist ein schmächtiger Siebzehnjähriger, dem ein furchterregender Ruf vorauseilt, der die Wirklichkeit um Längen übertrifft. Tatsächlich ist Billys jungenhafter Charme eine gefährlichere Waffe als seine Colts, mit denen er - gelinde gesagt - nur mäßig treffsicher ist. Ben begleitet Billy auf seinem rast- und ziellosen Weg durch den echten Westen, der in der Westernmythologie endet. Billy tötet und mordet in erster Linie, weil er oder seine Opfer sich am falschen Ort zur falschen Zeit über den Weg laufen und weil er nichts Besseres zu tun hat. Erst im Tod wird er zu der mythischen Figur, die er zeit seines Lebens so gerne gewesen wäre... DER AUTOR: Larry McMurtry, gebürtiger Texaner, zählt zu den erfolgreichsten amerikanischen Autoren. 1986 erhielt er für sein Western-Epos Lonesome Dove den Pulitzerpreis. 1989 wurde er zum Vorsitzenden des amerikanischen P.E.N.-Zentrums gewählt. Zahlreiche seiner Bücher sind mit großem Erfolg verfilmt worden, so unter anderem Zeit der Zärtlichkeit und Die letzte Vorstellung. Larry McMurtry lebt teils in Washington, wo er mit einem Partner eine antiquarische Buchhandlung betreibt, verbringt aber den Großteil seiner Zeit als Autor in Texas.
Larry McMurtry
DESPERADO Roman
Ullstein
ein Uhlstein Buch Nr. 22937 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M - Berlin Titel der amerikanischen Originalausgabe: Anything for Billy Ins Deutsche übertragen von Olaf Kraemer Ungekürzte Ausgabe Umschlagentwurf: Theodor Bayer-Eynck Illustration: Helmut Steiner Agentur M. Hubauer Alle Rechte vorbehalten © 1988 by Larry McMurtry Übersetzung © 1990 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M - Berlin Printed in Germany 1993 Druck und Verarbeitung: Ebner Ulm ISBN 3 548 22937 9 März 1993 Gedruckt auf Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme MacMurtry, Larry: Desperado: Roman / Larry McMurtry. [Ins Dt. übertr. von Olaf Kraemer]: - Ungekürzte Ausg. - Frankfurt/M; Berlin: Ullstein, 1993 (Ullstein-Buch; Nr. 22937) ISBN 3-548-22937-9 NE: GT
Für Margaret Ellen Slack und in Erinnerung an Dorothea Oppenheimer. Die Blume der Freundschaft verblühte nie.
I DES BUTLERS LEID
1. Als ich Billy zum ersten Mal sah, trat er mir aus einer Wolke entgegen. Er hatte in jeder Hand einen Revolver und auf seinem groben jungen Gesicht einen verängstigten Ausdruck. Die Wolke war früher am Tage von den Plains herübergetrieben und hatte über den Hidden Mountains, im Lande der Messy Apachen - so nannten die Büffeljäger die Mescalero -, haltgemacht. Es war eine dichte Wolke, was den Abstieg etwas riskant machte. Ich hatte mir einen Sitzplatz auf einem Felsen gesucht und wartete darauf, daß die Wolke sich irgendwo anders hin verziehen möge. Auf Billy wirkte ich wahrscheinlich ebenso verängstigt wie er auf mich - mein Maultier war außer Atem, mein Revolver leer, meine Ohren knackten, und die Aussicht auf ein paar Mescaleroapachen machte mich nervös. Im einen Augenblick wünschte ich, die Wolke verschwände, im nächsten war ich froh darüber, daß sie da war. Billy wirkte erleichtert, als er mich erblickte. Ich glaube, sein erster Gedanke war, mein Maultier zu stehlen - was nur gesunden Menschenverstand bezeugt hätte. »Das Maultier hier macht's nicht mehr lange«, teilte ich ihm mit, in der Hoffnung, seinen ersten Impuls zunichte zu machen auch wenn ich ihm auf der Stelle die Zügel übergeben hätte, wenn er einen seiner Revolver auf mich gerichtet hätte. Billy ließ mir ein Grinsen seiner angeschlagenen Zähne zukommen. Damals hielt ich ihn für nicht älter als siebzehn und zu klein für sein Alter. Um ehrlich zu sein, war er nicht viel größer als ein Wicht und häßlich wie die Nacht. Sein dreckiger schwarzer Mantel war ihm ungefähr drei Nummern zu groß. Er warf einen kurzen Blick auf Rosy, das Maultier. Sie konnte weder Höhe noch Wolken leiden und befand sich in übler Stimmung. »Ein Apache könnte das Maultier hier nehmen und noch fünfzig Meilen damit reiten«, erklärte er. »Dein Glück, daß ich kein Apache bin.« »Wenn du einer wärst, würde ich dir das Maultier anbieten und aufs beste hoffen«, sagte ich.
Er steckte einen seiner Revolver in ein altes Holster und schob den anderen in die Tasche seines schwarzen Mantels. »Irgendwo hier in der Gegend treibt sich Joe Lovelady rum«, sagte er. »Würde ihm mächtig ähnlich sehen, wenn er mit meinem Pferd auftaucht.« »Mein Name ist Ben Sippy«, sagte ich, in der Annahme, es sei an der Zeit, sich bekanntzumachen. Ich erhob mich und bot ihm meine Hand an. Billy schüttelte sie nicht, doch ließ er mir ein weiteres Grinsen zukommen. Er hatte vorstehende Schneidezähne, und sie waren beide angeschlagen. »Howdy, Mr. Sippy, sind Sie aus Mississippi?« sagte er und brach in Gelächter aus. In jenen Tagen amüsierten Billy seine eigenen Bemerkungen immer. Wenn er über einen seiner eigenen Scherze lachte, dann konnte man einfach nicht umhin, ihn zu mögen - er war ganz einfach ein einnehmendes Kerlchen. Denke ich jetzt allerdings an Billy Bone, wie er über einen seiner kleinen Ergüsse lachte, dann kann ich vor Tränen bald nicht mehr aus den Augen sehen - Sentimentalität, schätze ich. Doch es gab eine Zeit, da hätte ich alles für Billy getan. »Nein, ich bin nur aus Philadelphia«, sagte ich. Er war nicht der erste, der den Mississippiwitz gerissen hatte. »Well, ich bin Billy Bone«, sagte er mit einem bedrohlichen Flackern in den Augen. Ich schätze, ich muß zusammengezuckt oder zurückgewichen sein oder sonst irgend etwas, denn die Drohung verschwand augenblicklich, und er schien sich mit aller Mühe einen erneuten Lachanfall zu verkneifen. Ich selbst halte mich nicht für besonders komisch, doch irgendwie hatte Billy in meiner Gegenwart immer Schwierigkeiten, ein ernstes Gesicht zu bewahren. »Du benimmst dich, als hättest du schon von mir gehört, Mr. Sippy«, sagte er. Selbstverständlich wußte er sehr wohl, daß ich von ihm gehört hatte. Jeder im Westen hatte von ihm gehört, und viele Leute in anderen Teilen der Welt ebenfalls. Seit Wild Bill Hickock sich vor zwei Jahren in South Dakota hatte umbringen
lassen, gab es meiner Ansicht nach keinen lebenden Revolvermann mehr, dessen Reputation sich mit der Billys messen ließ. Doch ich sah ihn einfach an und versuchte es mit einer zwanglosen Bemerkung. »Oh, Sie haben eine Reputation«, sagte ich. »Man sagt, Sie seien ein kaltblütiger Mörder.« »Bin ich auch, aber das kaltblütige Morden beginnt nicht vor November«, sagte er, erneut kichernd. »Um diese Jahreszeit wird hier meistens heißblütig gemordet, Mr. Sippy.« 2. Später merkte ich, daß es klug von mir gewesen war, Billys Reputation jenes kleine abgedroschene Kompliment gezollt zu haben. Hätte ich dies nicht getan, bezweifele ich, daß wir je Freunde geworden wären. Wahrscheinlich hätte er mich einfach erschossen. Billy erwartete von den Leuten, daß sie seine Reputation zur Kenntnis nahmen, auch wenn es mir, einmal mit den Tatsachen vertraut, ein Rätsel blieb, weshalb er zu jener Zeit überhaupt eine solche hatte. Dem Klatsch in den Saloons nach zu urteilen hatte er bereits zehn oder zwölf Weiße und Hunderte von Indianern und Mexikanern umgebracht. Doch als ich ihm das erste Mal begegnete, da lag es noch vor Billy Bone, seinen ersten Mann zu erschießen. Im Alter von dreizehn oder vierzehn Jahren, als er seinen Lebensunterhalt mit dem Säubern von Saloontischen bestritt, hatte ihn ein Rabauke namens Joe Loxton erheblich beleidigt. Joe Loxton beging den Fehler, Billy eines Tages niederzuringen, als dieser gerade ein Rind zerteilte und zufällig ein Schlachtmesser in der Hand hielt. Als die beiden auf dem Boden landeten, steckte das Messer in Joe Loxtons Bauch, und ein oder zwei Tage später war er tot. »Es war eigentlich ein Unfall«, sagte Billy, »obwohl ich den Dreckarsch auch dann erstochen hätte, wenn mir genug Zeit zum Überlegen geblieben wäre.«
Ich will damit nicht sagen, daß Billy ein freundlicher Junge war. Er war gewalttätig, das stimmt schon. In diesem Fall war die Reputation der Gewalt nur vorausgeeilt. Einen Augenblick lang fühlte ich mich etwas seltsam. Da standen wir in einer dichten Wolke auf den Hidden Mountains, nur ein Maultier zwischen uns, und der gefürchtetste junge Revolvermann im ganzen Westen riß Witze über meinen Namen. Bisher war nichts Unfreundliches vorgefallen, doch in manchen Situationen ist es ein kleiner Schritt vom Unfreundlichen zum Tödlichen - und im New Mexico jener Tage wurde dieser kleine Schritt oft getan. Den spärlichen Konversationsvorrat, der uns zur Verfügung zu stehen schien, hatten wir aufgebraucht und standen einfach nur herum. Billy hatte mit dem Kichern aufgehört und wirkte deprimiert. »So weit oben bekomme ich Kopfweh«, sagte er. Ich hatte ein oder zwei Allheilmittelchen bei mir, doch bevor ich Billy etwas anbieten konnte, hob Rosy, mein Maultier, den Kopf und nickerte. Ich war entsetzt. Nun brauchten die Messy Apachen nur noch herbeizureiten und uns niederzumetzeln, es sei denn, Billy könnte sie alle vorher erschießen. Doch Billy zog nicht einmal seinen Revolver - er sah nur verärgert drein. Eine Minute später zockelte Joe Lovelady aus der Wolke; auf einem Pferd ritt er, und ein anderes führte er mit sich. »Siehst du! Ich hab' dir gesagt, es würde ihm mächtig ähnlich sehen!« sagte Billy. Joe führte sein Pferd auf gleiche Höhe und übergab ihm die Zügel, doch Billy machte sich nicht einmal die Mühe aufzusehen. »Es muß langweilig werden, so dammich' kompetent zu sein«, sagte er, in einem Tonfall, der alles andere als dankbar war. »Hast du die Indianer auch noch alle skalpiert, während du diese Klepper hier gerettet hast?« fragte Billy im gleichen verärgerten Ton. »Nein«, sagte Joe Lovelady. »Ich hab' mich bloß angeschlichen und unsere Pferde zurückgestohlen, während sie dabei waren, sich auszuscheißen.«
»Ich dachte, diese verdammten Apachen würden ihr Geschäft verstehen!« sagte Billy in fiesem Ton. Er schien einen Wutanfall zu bekommen, nur weil sein Freund ihre Pferde gerettet hatte. Joe Lovelady, der ruhigste Mann, den ich jemals kannte, ließ sich nicht irritieren. »Es wird nicht gerade früher«, sagte er. »Warum zuckeln wir nicht weiter nach Greasy Corners?« »Bei diesem Nebel?« fragte Billy. »Ich könnte meine Hosentasche nicht finden, ganz zu schweigen von Greasy Corners.« »Ich schätze, bergab finde ich meinen Weg immer, Nebel oder kein Nebel«, sagte Joe Lovelady. Billy erstickte seinen Wutanfall, seufzte und quälte sich auf sein Pferd, einen langbeinigen Rappen, der mindestens siebzehn Handbreit hoch war. »Gentlemen, könnte ich mich Ihnen anschließen, bis wir diese Berge verlassen haben?« fragte ich, als ich bemerkte, daß sie fortreiten und mich einfach zurücklassen wollten. Sie sahen beide auf mich herab. Joe Lovelady war ein junger, gutaussehender Mann mit prächtigem Schnauzbart. Er war höchstens ein- oder zweiundzwanzig und schien mehr Selbstsicherheit zu besitzen, als Billy Bone je haben würde. »Meine Kugeln sind alle, ich habe mich verlaufen und bin nicht besonders gut in den Bergen«, sagte ich und war mir meiner wenig überzeugenden Rede bewußt. Sie zeitigte jedoch gute Wirkung - sie versetzte Billy Bone in bessere Stimmung. »Der Alte ist ein völlig hoffnungsloser Fall, aber nehmen wir ihn trotzdem mit«, sagt er. »Zeigen wir ihm ein bißchen Spaß.« Joe Lovelady wirkte überrascht über diesen Vorschlag. »Wie heißt er?« fragte er, während er mich von Kopf bis Fuß musterte. »Sein Name ist Mr. Sippy, aber er ist nicht aus Mississippi«, sagte Billy und lachte über diesen Scherz noch lauter als beim ersten Mal. Als wir uns auf den Weg bergab machten, lachte er immer noch.
3. Wolke oder keine Wolke, Joe Lovelady legte ein flottes Tempo vor. Rosy wußte dies nicht zu schätzen, doch hatte sie das einsame Leben mit mir über und tat um der Gesellschaft willen ihr möglichstes, um nicht zurückzubleiben. Billys Pferd war so groß, daß man einer Giraffe zu folgen meinte. Ich glaube nicht, daß Billy sich viel aus der Reiterei machte. Seine Reputation hatte er sich hier im Umland erworben, doch für mich sah er aus wie ein Stadtjunge - und in der Tat war er in New York, in der Bowery, geboren und als Baby nach Westen gebracht worden. Irgend etwas von der Bowery war auch an ihm haften geblieben. Noch bevor wir eine volle Stunde geritten waren, langweilte er sich ausreichend, mich zu ihm aufschließen zu lassen und eine kleine Unterhaltung zu führen. »Wir könnten uns alle die Hälse brechen, wenn wir versuchen, Joe Lovelady in diesem Nebel zu folgen«, bemerkte er eher unwirsch. Schließlich erreichten wir auf unserem Weg nach unten das Ende der Wolke und sahen, wie sich vor uns die große Ebene erstreckte. Gegen Mittag waren wir bereits ein gutes Stück aus der Sierra Oscura heraus, doch hatte Joe Lovelady offenbar nicht die Absicht, eine Mittagsrast einzulegen. Ich bemerkte, daß er eine gewisse Unerbittlichkeit an den Tag legte, wenn es darum ging, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Ich schlug Billy vor, in Tularosa Halt zu machen, um einen Bissen zu essen, doch Billy legte sofort Einspruch ein. »Gibt einen Haufen unfreundlicher Scheißkerle in Tularosa«, informierte er mich. Gegen den späten Nachmittag fühlte ich mich allmählich ein wenig verzweifelt. Greasy Corners, unseren Bestimmungsort, kannte ich nur vom Hörensagen. Es galt als übles Loch voller Huren und Halsabschneider, doch machte ich mir deswegen keine Sorgen. Bei den meisten der örtlichen Ansiedlungen handelte es sich um Löcher voller Huren und Halsabschneider.
Meine Hoffnung bestand darin, eines zu finden, das etwas näher gelegen war. Greasy Corners lag irgendwo am Rio Pecos - mindestens einhundertundfünfzig Meilen von der Stelle entfernt, wo wir auf die Ebene gestoßen waren. Ich kannte Rosy gut genug, um zu wissen, daß sie Joe Loveladys Tempo auf keinen Fall über einhundertundfünfzig Meilen tolerieren würde. Sie war ein Maultier mit einem Gutteil Eigensinn. Ich war nicht erpicht darauf, auf dieser gewaltigen, leeren Ebene mit einem störrischen Maultier zurückgelassen zu werden. Abgesehen davon war ich auf dem besten Wege zu verhungern. Gegen Spätnachmittag hatte ich begonnen, mit meinem Fingernagel kleine Lederfitzelchen vom Sattel zu kratzen, nur um irgend etwas im Mund zu haben. Billy Bone schien mir auch ein wenig ausgemergelt. »Du hast nicht zufällig einen Zwieback dabei, oder doch, Mr. Sippy?« fragte er einmal. Ich schüttelte den Kopf. »Meinen Sie, Ihr Freund wird es in Erwägung ziehen, zum Abendessen zu halten?« fragte ich. »Nein, und selbst wenn wir halten sollten, weiß ich noch immer nicht, was es dort zu essen geben sollte«, sagte er. »Ich habe Kopfschmerzen«, fügte er betrübt hinzu. »Wenn du schon keinen Zwieback hat, dann hast du vermutlich auch keine Pille.« Aber ich hatte eine Pille - eine ganze Flasche davon, um genau zu sein. Ich hatte sie vor einigen Monaten in Galveston gekauft und dann vergessen. Es handelte sich lediglich um die üblichen Wunderpillen in Murmelgröße, die versprachen, eine große Anzahl von Krankheiten zu kurieren. Ich kramte sie aus meiner Satteltasche und gab Billy Bone eine Handvoll. »Essen wir einfach die«, sagte ich. »Das sind bloß Wunderpillen. Immer noch besser als zu verhungern.« Billy sagte nichts, doch er schenkte mir einen fragenden, dankbaren Blick. Es ist möglich, daß ich mit dem Teilen dieser Pillen aus Galveston unsere Freundschaft besiegelte. Die großen Pillen mampfend, ritten wir hinaus auf die weite Ebene. Nachdem er ungefähr dreißig gegessen hatte, wurde Billy aufgekratzt.
»Ich könnte so gesund werden, daß ich von diesem Pferd falle«, sagte er, doch bevor er noch gesünder werden konnte, sahen wir, wie Joe Lovelady vorauspreschte und nach irgend etwas mit seinem Lasso schleuderte. »Präriehühner«, sagte Billy. »Wenn's ums Präriehühnerfangen geht, ist er gut. Joe haut sie mit seinem Lasso einfach runter.« Für mich deutete dies darauf hin, daß Mr. Lovelady zumindest an seinen Magen dachte, was sich auch als Tatsache herausstellen sollte. In jener Nacht hielten wir ein Festgelage mit vier fetten Hennen, und unsere Sorgen schienen vorüber. Die großen Pillen sorgten bei mir und Billy für geblähte Bäuche, und wir rülpsten eine Menge, was Joe Lovelady, ein unfehlbar höflicher Mann, nach bestem Gewissen zu ignorieren versuchte. Billy neigte dazu, das Rülpsen zu übertreiben, wie Jugendliche es nun einmal tun - einige seiner gelungeneren Schöpfungen ließen die Pferde scheuen. Während wir dabei waren, Präriehühnerknochen blank zu nagen, sah Joe Lovelady mich an und lächelte plötzlich - sein erstes Lächeln, seitdem wir uns begegnet waren. »Ich weiß, wer du bist«, sagte er. »Sippy. Du bist dieser Yankee, der nicht weiß, wie man Züge überfällt.« »Hey!« sagte Billy. »Bist du der Sippy?« Ich mußte zugeben, daß dies der Fall war. Meine eigene bescheidene Reputation hatte mich wieder einmal eingeholt. 4. Als ich mich daran machte, den neuen Sport des Westens, das Ausrauben von Zügen, zu erproben, glaubte ich, die Züge in New Mexico seien ein gutes Stück kooperativer, als dies in Wirklichkeit der Fall ist. Im Osten halten die Züge alle paar Meilen, um Leute mit Fahrkarten ein- und aussteigen zu lassen, und irgendwie hatte mir dies die Vorstellung verschafft, man brauche nur mit den passenden Eisenwaren neben den Schienen aufzutauchen und der Zug würde anhalten und sich ausrauben lassen.
Im Osten, wo der Zugverkehr zivilisiert ist, hätte diese Vorgehensweise Wirkung zeigen können, doch im Territorium Neu-Mexikos waren die Züge genauso schwer unter Kontrolle zu bringen wie alles andere. Als ich unterhalb der Fort StantonMinen auf den Schienen stand und versuchte, einen Erzzug anzuhalten, mußte ich von der Böschung springen, um nicht zerquetscht zu werden. Ich stand mitten auf den Schienen und feuerte meinen Revolver ab, doch der Zug kam einfach näher. Das nächste Mal beschloß ich, die gleiche Angelegenheit zu ebener Erde auszuprobieren - davon gab es im östlichen Teil des Staates genug. Ich suchte mir einen Zug aus, und Rosy und ich rasten neben der Lokomotive her, und ich schoß meinen Revolver noch einige Male mehr ab, in dem Glauben, der Lokführer würde bald bemerken, daß ein Raubüberfall im Gange war, und die Sache zum Stillstand bringen. Selbstverständlich schoß ich lediglich in die Luft - ich verspürte keinerlei Wunsch, jemanden zu verletzen. Doch der Lokführer lachte bloß, winkte mir mit seiner Kappe und kümmerte sich weiter um die Lok. Möglicherweise war es sein Geburtstag, und er dachte, ich wolle ihm gute Reise wünschen, oder vielleicht hatte seine Frau ein Kind bekommen, und er meinte, ich wolle ihn beglückwünschen - ich werde es nie erfahren. Ich gebe allerdings nicht leicht auf. Für einige Meilen raste ich neben dem Zug her, in der Annahme, der Zugführer würde früher oder später bemerken, daß es mir ernst war. Ich schoß zwanzig- oder dreißigmal in die Luft - doch dann fiel mir mein Revolver bei dem Versuch, ihn während des Rittes neu zu laden, auf den Boden. Der Lokführer war immer noch so guter Dinge wie zuvor - ab und an winkte er mit seiner Kappe und ließ seine Dampfpfeife ertönen. Der sonnige Humor des Lokführers verärgerte mich ein wenig. Ich war bereit, den verdammten Zug bis nach Kansas City zu jagen, doch war Rosy anderer Meinung. Nach sechs oder sieben Meilen gelangte sie zu der Einsicht, das ganze sei lächerlich, und lieferte einen spektakulären Anfall von Bockigkeit. Sie blieb stehen, und für die Dauer von ungefähr drei Stunden bewegte sie keinen Muskel. Hätte ich einen Pinsel
und Staffelei besessen, hätte ich ihr Portrait nehmen können. Meine Drohungen beeindruckten sie nicht, meine Schmeicheleien vermochten nicht, sie zu besänftigen. Es war stockdunkel, als sie sich entschied weiterzureisen. Meinen Revolver habe ich auch nie wieder gefunden. Am nächsten Tag, als ich die Schienen entlang zurück Richtung Las Cruces ritt - dies war der einzige Ort in Süd-NeuMexiko, der über ein anständiges Hotel verfügte, und ich befand mich definitiv in der Stimmung für ein paar Tage Aufenthalt in einem anständigen Hotel -, traf ich auf drei Mexikaner, die an den Gleisen arbeiteten. Sie hatten sich ihren Weg auf einer dieser kleinen Draisinen weit hinaus in die Prärie gepumpt. Ich bin sicher, ich hätte sie ausrauben können immerhin besaß ich noch meine Winchester und meine Derringers. In gewisser Weise wäre dies auch ein Zugüberfall gewesen; wenigstens hätte ich für drei unruhige Wochen etwas vorzuweisen gehabt. Doch ich war hungrig und deprimiert und schenkte ihnen schließlich fünfzig Cents für ein paar Tortillas. Ich glaube, anstatt sie auszurauben, schenkte ich ihnen das große Los, denn bald hatten sie ihre Werkzeuge zusammengepackt und waren auf dem Weg in Richtung Stadt, um die fünfzig Cents anzulegen. Ich wurde von einer niederdrückenden Stimmung überfallen. Ich war nicht mehr in der Lage, mir ins Gedächtnis zu rufen, weshalb ich überhaupt gemeint hatte, ein Zugräuber - oder irgendein anderer Schurke - werden zu können. Es lag nicht in der Natur meiner Erziehung. Das sagte ich auch zu Billy Bone und Joe Lovelady, nachdem ich versucht hatte, ihnen so gut es ging zu erklären, was bei meinen Anstrengungen, Züge zu überfallen, schiefgegangen war. Nach Billys Meinung war die Geschichte, wie ich und Rosy den Zug jagten, das komischste, was ihm je zu Ohren gekommen war. Er rollte vor Lachen fast von seiner Decke. Selbst Joe Lovelady, dem übermütige Ausgelassenheit keinesfalls angenehm war, kicherte ein- oder zweimal.
»Du mußt nebenherreiten und auf den Schaffner schießen, wenn du den Zug anhalten willst«, erklärte Billy, als er sich wieder unter Kontrolle hatte. »Du brauchst ihn nicht unbedingt umzubringen - meist zieht er die Bremse schon, wenn du ihn nur streifst. Ich und Joe machen uns allerdings nichts aus Raubüberfällen«, fügte er hinzu. »Joe hütet lieber Kühe.« Joe Lovelady musterte mich nachdenklich. Beim Zubereiten der Hühner hatte er perfekte Arbeit geleistet und sogar Salz und Pfeffer beigesteuert, die er in einem Pulverbeutel in seiner Satteltasche mitführte. »Du redest, als hättest du Heimweh, Mr. Sippy«, sagte Joe Lovelady. »Ach, deshalb gefällt er dir jetzt«, sage Revolver. »Du hast herausbekommen, daß er Heimweh hat, genau wie du.« Ich nehme an, Billys Worte entsprachen den Tatsachen. Denn da waren wir, beim schwachen Geflacker des Lagerfeuers, auf einer Ebene so weit, daß man an ihr Ende nicht einmal zu denken vermochte, unter einem Himmel so gewaltig wie die Zeit selbst. Dies war der geeignete Ort, um Heimweh zu bekommen, falls man je ein Heim gehabt hatte. Joe Lovelady und ich hatten eines gehabt, doch für den Waisenknaben Billy Bone hatte dieser Begriff wenig Bedeutung. »Du hast 'ne Ma gehabt«, sagte Joe freundlich zu Billy Bone. »Du hast mir erzählt, daß du dich an sie erinnerst.« Dies war nicht das letzte Mal, daß ich Joe Lovelady versuchen hörte, Billy davon zu überzeugen, daß dieser ein Leben wie wir auch hatte. »Oh, ich erinnere mich an sie, Joe«, sagte Billy ruhig. »Sie hat mich immer zwischen ihre Knie geklemmt und Läuse aus meinen Haaren gesucht. Daran erinnere ich mich zumindest.« Joe Lovelady sah mich erneut an. Ich glaube, wir bereuten beide, das Thema Mütter je aufgebracht zu haben. »Was hat dich hier rausgeführt, Mr. Sippy?« fragte er, um dieses schmerzvolle Thema zu verlassen. »Groschenromane«, sagte ich. Das war wahr, allzu wahr. Doch Billy und Joe blickten ausdruckslos drein. Einen Augenblick lang verwirrte mich dies. Ich hätte nie erwartet, mich je in der Gesellschaft zweier Leute zu finden, die noch nie einen
Groschenroman gelesen hatten. Um genau zu sein, befand ich mich in der Gesellschaft zweier Leute, die nicht einmal lesen konnten. Keiner von beiden wäre in der Lage gewesen, einen der zig-hundert Zeitungsartikel zu lesen, die bald über sie geschrieben werden würden. Nun, wenn der Westen mich irgend etwas gelehrt hat, dann daß es verschiedene Arten der Ausbildung gibt. Trotz des langen Tages waren wir alle noch sehr wach. Billy und Joe schienen in der Stimmung zuzuhören, und so redete ich mit ihnen, während die Funken nach oben flogen, und nachdem das Feuer erloschen war, versuchte ich ihnen zu erklären, weshalb ich das sichere Leben in Philadelphia verlassen hatte, um eine Witzfigur m New Mexico zu werden. 5. Es ist die merkwürdige Wahrheit, daß ich, wenn ich nicht zufällig an einem Zigarrenstand auf jenen Halbgroschenroman gestoßen wäre - es handelte sich um Hurricane Nell, Königin Des Sattels Und Des Lassos -, niemals als Akteur in diesem wilden Schauspiel aufgetreten wäre. Ich hätte das komfortable Leben in Philadelphia weitergeführt und nicht mehr zu leiden gehabt als jeder andere Mann mit neun jungen Töchtern und einem frustrierten Weib. Ich bezweifele, daß irgend jemand je einen schlimmeren Fall von Groschenroman-Manie durchzustehen hatte als ich. Zuerst las ich sie, dann mußte ich auch noch versuchen, sie zu schreiben. Bei dem in mir aufsteigenden Fieber handelte es sich um eine Form mentaler Malaria. Selbst jetzt, wo alle Figuren der Geschichte schon lange tot sind - es sei denn, Bloody Feathers wäre noch am Leben, dort oben in seinem schwarzen Land am Fluß der Seelen, oder Katie Garza würde noch immer Revolution in Patagonien oder sonstwo schüren -, lodert das alte Fieber gelegentlich wieder auf. Wenn ich jetzt daran denke, erscheint es mir erstaunlich, daß ein kleiner, unbedeutender Fünf-Cent-Roman wie Hurricane Nell das Leben eines Mannes derartig verändern konnte. Und
doch war dem so. Ohne ihn hätte ich Billy Bone niemals kennengelernt, auch nicht Will Isinglass und seinen hochgewachsenen Mörder, Mesty-Woolah. Nie hätte ich einen Fuß nach Greasy Corners gesetzt oder die Bekanntschaft Des Montaignes und Tully Roebucks gemacht. Ich hätte keine Prärieblumen mit der formidablen Lady Snow gepflückt und wäre auch nicht mit der furchtlosen Katerina Garza geritten. Irgend jemand anderem, nicht mir, hätte es schließlich oblegen, die Grassoden über Joe Lovelady zu häufen, über Simp Dixon und Happy Jack Marco und die meisten der anderen Jungs oder Sweethearts, wie man sie gern nannte -, die im Whiskey Glass-Krieg umkamen. Doch führte Hurricane Nell zu Mustang Merle's Auftrag, und Mustang Merle zu Das Kätzchen Von Kansas. Innerhalb eines Jahres hatte ich Sandycraw, Mann Mit Mumm geschrieben, ein derartig populärer Charakter, daß seine Abenteuer vermutlich noch immer irgendwo am Laufband produziert werden. An Tagen, an denen ich nicht in der Stimmung für den Mann mit Mumm war, schrieb ich über Orson Oxx, Mann Aus Eisen, ein etwas sensiblerer und keinesfalls weniger erfolgreicher Charakter. Ich war ein philadelphianischer Gentleman gewesen, und in angemessenem Rahmen erfüllte ich die Pflichten, die meine Stellung mit sich brachte; jedoch innerhalb weniger Monate wurde ich völlig von ihnen abgelenkt, und stieg jeden Morgen herab ins Meer meiner Töchter mit Prärien im Kopf. Unser Butler mußte sich jeden Morgen um Punkt acht Uhr am örtlichen Zigarrenstand einfinden; um acht Uhr fünfzehn erwartete ich, daß er mit sämtlichen erhältlichen neuen Abenteuern durch die Türe gerannt kam. Ein Tag, der keinen Mustang Merle oder Saul Sabberday (Der idiotische Spion) brachte, war ein Tag der Leere und der Schwermut, unweigerlich und augenblicklich gefolgt von tiefer, unfröhlicher Trunkenheit. Weshalb schrieben die verdammten Schreiber nicht schneller? Hatten sie keinen blassen Schimmer von den schmerzhaften Bedürfnissen, die sie erzeugten? »Was ist ein Butler?« wollte Billy Bone wissen. Seine Leute hatten ihn als sechswöchiges Baby in den Westen, nach
Trinidad, Colorado, gebracht, und seine einzige Vorstellung von Städten war ein kleines Kaff wie Santa Fe. Joe Lovelady war in Texas aufgewachsen und nicht besser im Bilde. Ich versuchte ihnen etwas über Butler zu erzählen selbstverständlich schmerzte mich noch immer sehr, was mit unserem passiert war. Doch Billy verfügte über eine ausgeprägte Neugier. Wie jedes Kind pflegte er Hunderte von Fragen zu stellen. »Klingt wie'n Sklave, der kein Nigger is'«, folgerte er. »Wenn ich jemals 'n Butler wäre, dann würde ich die ganze Familie wahrscheinlich am ersten Tag erschießen.« »Ich glaube, daß du dir keine Sorgen darüber zu machen brauchst, ob du ein Butler wirst oder nicht«, versicherte ich ihm. »Man kann's allerdings nie wissen«, warf Joe Lovelady ein. »Man kann einfach nie wissen.« Später erfuhr ich von Billy, daß es der Tod von Joes junger Frau und seinem ein Monat alten Baby war, der ihm einen tief verwurzelten Sinn für die Unwägbarkeiten des Lebens eingeflößt hatte. 6. Ich versuchte den Jungs zu erklären, wie sehr ich auf dem Höhepunkt meiner Manie die Schreiber haßte. Manchen Tag verfluchte ich ihre Faulheit, ihre Unzuverlässigkeit. Schließlich, nach der (nie erklärten) viermonatigen Abwesenheit von Solemn Sam, Dem traurigen Mann Von San Saba, beschloß ich, seine Rückkehr selbst in die Wege zu leiten, was ich auch tat. Wenn ich keine Abenteuer kaufen konnte, würde ich sie einfach selbst schreiben müssen; nichts geringeres als meine geistige Gesundheit stand auf dem Spiel. Glücklicherweise entdeckte ich bald, daß ich so schnell schreiben konnte wie jeder andere - um genau zu sein, eine ganze Ecke schneller als jener Faulpelz, der dafür verantwortlich war, die Nation über Mustang Merle auf dem laufenden zu halten. Für eine Weile segelte ich einigermaßen glücklich im weiten Kielwasser meiner eigenen Feder.
Doch nur für eine Weile. Je mehr ich las und schrieb, desto heller brannte ich. Jeden Tag saß ich für Stunden - nachdem ich alle verfügbaren Abenteuer gelesen und geschrieben hatte, bis meine Hand steif geworden war und mein Arm sich verkrampft hatte - in einem Zustand aufgeregter Lethargie, starrte aus dem Fenster meines Arbeitszimmers auf die vertrauten Vorgärten von Chestnut Street und sah vor meinem geistigen Auge Horden von bunten Figuren eine endlose Prärie entlangströmen. Cowboys, Indianer, Büffel, Postkutschen wehten gleich Blättern durch meine Vorstellung. Nachts lag ich unruhig, warf mich herum und träumte vom Schwarzen Nick, einem Lustmolch und Banditen mit verrotteten Zähnen, dessen Abenteuer von einer menschlichen Schnecke geschrieben werden mußten, so langsam gelangten sie an die Zeitungsstände. »Das klingt wie Des Montaigenes«, bemerkte Billy, als ich dabei war, den Schwarzen Nick zu beschreiben - und als ich den alten Biberfänger traf, mußte ich zugeben, daß die Ähnlichkeit verblüffend war. In dem Monat, in dem das Fieber seinen Höhepunkt erreichte, wurde klar, daß ich dabei war, den trüben Pfad in Richtung Prärie der Irren zu passieren - Geistesgestörtheit, in weniger blumigen Worten. Zu jener Zeit war ich einer der bekanntesten Groschenromanautoren der gesamten Nation: Orson Oxx zockelte in sein siebzehntes Abenteuer, Sandycraw mit seinem einundzwanzigsten nur knapp vor ihm. Es spielte keine Rolle: Auf einem ungezügelten Roß, wie ein Groschenromanschreiber es ausgedrückt hätte, raste ich auf den Wahnsinn zu. »Man wird nicht einfach vom Bücherlesen verrückt«, bemerkte Billy skeptisch. »Du bist wahrscheinlich sowieso verrückt gewesen, Sippy.« 7. Was das betraf, änderte Billy seine Meinung nie. Natürlich hatte ich ein paar zerfledderte Mustang Merle-Hefte in meinen
Satteltaschen, und wenn in Greasy Corners Flaute war oder wir niemandem hinterherjagten oder von niemandem gejagt wurden, las ich sie Billy und Joe vor. Sie begannen, Groschenromane recht gern zu haben, widmeten den Geschichten große Aufmerksamkeit und übten scharfsinnige Kritik an den zahlreichen Fehlurteilen des impulsiven Merle. Doch blieb Billy unerschütterlich in seiner Überzeugung, daß die Lügengeschichten, wie er sie nannte, nicht der Grund meiner Geistesgestörtheit sein konnten. »Ich würde sagen, du warst in dem Haus mit zu vielen Frauen auf zu engem Raum«, schlußfolgerte er. Doch wie dem auch sei, was mich schließlich zu Bewußtsein brachte, war der plötzliche Tod unseres Butlers, dessen Name, wie ich erfuhr, Chittim gewesen war. Der Name des Mannes war mir nie ganz klar gewesen, und ich hatte Dora darum bitten müssen, sich bei Cook danach zu erkundigen. J. M. Chittim, so teilte man uns mit. Der arme Chittim fiel eines Morgens auf seinem Rückweg vom Zigarrenstand einfach tot um. Während wir auf den Wagen des Begräbnisinstituts warteten, warf ich einen ausgiebigen Blick auf seine Leiche und bemerkte zu meinem Erstaunen, daß er so dünn wie eine Schiene war. Ich war schlichtweg perplex! Ich war der festen Überzeugung, Chittim sei fett gewesen - oder zumindest sehr gut genährt -, als Dora und ich ihn vor ungefähr zwanzig Jahren angestellt hatten. Dora und ich waren damals frisch verheiratet; möglicherweise waren wir glücklich. Am Anfang seiner Ehe schenkt man einem Butler nicht viel Beachtung, obwohl ich mich daran erinnere, daß Doras schreckliche Mutter, die eine gewalttätige Hand gegen Bedienstete führte, sich wegen seiner Unerfahrenheit gegen ihn ausgesprochen hatte. Der junge Chittim war zu jener Zeit noch ein Teenager, höchstens ein oder zwei Jahre älter, und ich bin mir ziemlich sicher, daß er dicklich war. Doch er starb dünn wie eine Schiene. Der Tod schockierte mich, und für die Dauer einiger Tage verwandte ich mehr Gedanken auf J. M. Chittim, als ich es, so fürchte ich, während der ganzen zwanzig Jahre, die er mir treu diente, getan hatte.
»Das beweist, daß du schon verrückt warst«, sagte Billy. »Es gibt keinen Grund, an Tote zu denken. Sie sind nicht mehr. Wenn man seinen Gedanken erlaubt, so herumzuschweifen, dann schleicht sich bestimmt jemand, der nicht tot ist, von hinten an und stiehlt deine Brieftasche.« Billy liebte es vorzugeben, ein pragmatischer, ganz aufs Geschäftliche ausgerichteter Mann zu sein. Ungern ließ er sich daran erinnern, wie abergläubisch er in Wirklichkeit war. »Bei dir ist niemand frisch gestorben, Billy«, bemerkte Joe Lovelady mit traurigem Unterton. Er schnitzte an einem Stock; ab und zu bürstete er die kleinen Holzlocken ins Feuer. »Wenn sie frisch gestorben sind, dann muß man einfach immer an sie denken«, sagte Joe, die Gedanken an sein Baby und seine junge Frau zweifellos zu präsent, um sich wohlzufühlen. Darauf hatte Billy nichts zu sagen. Joes Fähigkeiten mochten ihn ein wenig verärgern, doch für gewöhnlich zollte er der Meinung des älteren Mannes Respekt. Wir sahen zu, wie die kleinen Holzlocken im Feuer aufloderten. 8. Was J. M. Chittim angeht, kam ich zu der bedauernswerten Schlußfolgerung, daß er zum ersten Märtyrer der Groschenromane geworden war. Ich war vielleicht drauf und dran, verrückt zu werden, doch Chittim war auf dem Bürgersteig stehengeblieben und gestorben - und wer vermag zu sagen, daß es nicht deshalb war, weil er es haßte, zum möglicherweise hundertsten Mal einzutreten und mir zu sagen: Nein, Sir, tut mir sehr leid, Sir, keine Spur vom neuen Mustang Merle am heutigen Morgen. Ich weiß es nicht, und er war mein Butler. Eine Zeitlang hörte ich auf, mich geisteskrank zu fühlen, und fühlte mich nur schuldig.
Ob der Tatsache, daß der Butler an meiner Manie gestorben ist, könnte man annehmen, daß meine Familie ähnlich akuten, wenn auch nicht so endgültigen Qualen ausgesetzt war. Keine Rede davon! Auf der gesamten Chestnut Street - oder, in diesem Falle, ganz Philadelphia - residierte kein fröhlicherer Frauenhaufen als Dora und diese Mädchen. Dort waren sie und dort blühten sie, zehn schwere Hindernisse auf dem Weg zur Freiheit der Imagination und auf dem Weg zu den meisten anderen Freiheiten ebenfalls. Ich schließe Dora in die Zählung mit ein, denn Dora und die Mädchen unterschieden sich nur graduell. In ihrer Art ähnelten sie sich wie zehn Steckrüben, und den Aktivitäten - noch weniger den Gefühlen - ihres lieben alten Vaters hätten sie nicht gleichgültiger gegenüberstehen können. Die größeren Mädchen interessierten sich hauptsächlich für Beaus und Tanztees, während die kleineren sich mit Geburtstagsparties und Ponies zufrieden gaben. Nein, den Sippymädchen ging es gut; in der ganzen Stadt beliebt und so glücklich wie Pfirsiche. Und Dora? Ich glaube Dora war noch glücklicher, falls es möglich ist, noch glücklicher als ein Pfirsich zu sein. Dora hatte ihre Feinen Kreise, für eine Frau mit ihren Neigungen eine Quelle vollkommenen Glücks. Billy Bone schien zu meinen, alles über Feine Kreise zu wissen. »Ich habe mal ein Bild davon in einer Zeitung gesehen«, informierte er uns. Joe Lovelady war an Dora interessiert. »Hat deine Frau viele Fragen gestellt?« erkundigte er sich. Ist Wasser naß? hätte ich zurückgeben können. Nie hatte Dora eine Frage unterdrückt. Weder die schwierigen noch die einfachen. »Warum liegst du auf mir und atmest mir ins Gesicht?« war eine ihrer Fragen von früher, an die ich mich erinnerte. »Oh«, sagte ich und stieg herunter. Dies erwähnte ich den Jungs gegenüber selbstverständlich nicht. Über die Jahre modifizierte Dora jene Frage ein wenig. »Warum atmest du noch?« hatte sie mich ein paar Tage, bevor ich mein Heim verließ, gefragt.
Das erwähnte ich gegenüber Joe und Billy - ich versuchte nur ein bißchen Humor ob der kleinen Wechselfälle des Ehelebens walten zu lassen -, doch Billy zürnte bei dem Gedanken, irgendeine Frau könne einem Mann eine derartige Frage stellen. »War sie brünett?« fragte er, und als ich bestätigte, daß Dora tatsächlich einen prächtigen dunklen Haarschopf hatte, murmelte er und warf einen Blick auf Joe - offenbar hatte ich irgendwelche Theorien, die er bezüglich des fragwürdigen Naturells brünetter Frauen hegte, bestätigt. »Wenn er neun Kinder gehabt hat, muß er seine Frau recht gern gemocht haben«, sagte Joe. Billy sah bei dem Gedanken, daß die eigene Ehefrau fragt, weshalb man noch atme, immer noch beleidigt drein. »Gern gemocht!« sagte Billy indigniert. »Wenn eine Frau mich fragen würde, warum ich immer noch atme, dann würde ich ihr schon zeigen, wie gern ich sie hab'. Mit einer großen Bettlatte würde ich ihr das zeigen.« 9. Habe ich Dora gern gemocht? Aus dieser Entfernung kann ich das schwer sagen. Da ist die Tatsache der neun Mädchen, trotzdem kann ich mich nicht daran erinnern, daß Dora und ich je das teilten, was ein glücklicher Mann eine herzliche Umarmung genannt hätte. Ganz gewiß hatte ich früh in unserem Eheleben damit aufgehört, ihr ins Gesicht zu atmen. Oder in ihrem Schlafzimmer. Oder in dem Flur, der zu ihrem Schlafzimmer führte. Oder auf dem Stockwerk des Hauses, in dem ihr Schlafzimmer lag. In der Tat hätte ich mich lieber erwürgen lassen, als es zu riskieren, einen Atemzug in Doras Richtung zu hauchen - und doch, ungeachtet unseres höflichen Einanderausweichens, stellten sich unentwegt kleine Mädchen ein. Ich vermutete immer erst dann ihre Ankunft, wenn ich ein neues Baby aus dem Kinderzimmer schreien hörte.
Selbstverständlich handelte es sich bei Dora um eine tüchtige und vielseitige Philadelphiafrau, schnell bereit, jede Gelegenheit beim Schöpf zu packen, doch in den Angelegenheiten der kleinen Mädchen bleibt mir nichts anderes übrig, als anzunehmen, daß sie etwas im Verborgenen beim Schopf gepackt hatte, während ich betrunken war oder unter Drogen stand. Ich kann es mir wirklich nicht anders erklären. Es war nicht einfach in Philadelphia, einen neuen Butler zu bekommen, soviel kann ich Ihnen sagen; um jeden kompetenten Mann gab es einen erbitterten Wettstreit. Während wir uns unseren Weg durch eine Anzahl unzufriedenstellender Bewerber bahnten, war ich gezwungen, ein gutes Maß Selbstvertrauen zu entwickeln, zumindest was die Beschaffung neuer Groschenromane anging. Bald gewöhnte ich mir an, meinen Buggy mit unheimlichem Zahn Richtung Downtown zu lenken, um den Frühmorgenzug aus New York abzufangen. Groschenromane wurden in jenen Tagen mehr oder weniger wie Heuballen gebündelt; ich gewöhnte mir an, die Frachtplattformen heimzusuchen, und in dem Augenblick, wo ein Ballen der kostbaren Heftlein niederfiel, war ich zur Stelle. Die Zeitungsverkäufer nahmen dies zunächst eher übel, doch war ich ein wohlhabender Mann, und es brauchte nicht mehr als ein paar Goldstücke, um sie davon zu überzeugen, daß es in ihrem Interesse lag, mich auf der Stelle durch die Heftchen fummeln zu lassen. »Genauso ist Des Montaignes mit Nutten«, sagte Billy. Ich war neugierig, weshalb jemand mit einem feinen französischen Namen in Greasy Corners, Neu Mexiko, leben sollte, also erkundigte ich mich. »Weil es der einzige Ort ist, wo jeder so ein waschechter Schurke ist wie er«, sagte Billy. »In den meisten Ortschaften würden sie ihn einfach wie einen Hund niederschießen«, erklärte Joe. »Philadelphia muß eine sonderbare Ortschaft sein«, sagte Billy. »Mich könntest du nicht dabei erwischen, früh aufzustehen, nur um Lügengeschichten zu kaufen.«
»Es ist schwierig, dich für überhaupt irgend etwas zum Aufstehen zu bekommen«, sagte Joe - offensichtlich ein wunder Punkt zwischen den beiden. »Selbst die Sonne steht nicht so früh auf wie du, Joe«, sagte Billy. »Der erste Vogel kriegt den Wurm«, bemerkte Joe. »Yeah, aber wer außer einem Vogel würde einen verdammten Wurm wollen?« gab Billy zurück. Ich schätze, er hatte genug über das Leben in Philadelphia gehört, denn er gähnte wie ein Kind, rollte sich in seine Decke und schlief ein, lange bevor ich die Geschichte darüber beendet hatte, weshalb ich auf einem Felsen in den Hidden Mountains saß, als wir uns trafen. Was Joe Loveladys Vorliebe für frühes Aufstehen anging, hatte Billy recht. Die Sterne schienen immer noch so hell wie Opale auf einem schwarzen Samthalsband über mir -, als ich hörte, wie er das Feuer schürte. Zu dem Zeitpunkt, als die Sterne mit dem aufkommenden Licht verschmolzen waren, hatte Joe sein Pferd gesattelt. Dabei hatte er jedes nur mögliche Geräusch gemacht - es schien, als hoffte er, wir würden ihn hören und den Wink verstehen. Nun, ich verstand den Wink - ohnehin hatte ich keinen großen Fortschritt dabei gemacht, zu lernen, wie man auf der Erde schläft. Bei der Erde mochte es sich um meine Mutter handeln, wie der rote Mann glaubte, doch hieß das nicht, daß sie eine besonders gute Matratze abgab. Ich hatte fünfzig Jahre auf Federn geschlafen, noch dazu auf einem hohen Bett. Auf einem hohen Bett krabbelte nichts schlimmeres als Dora über mich - das konnte man von dem großen Bett der Plains nicht behaupten, besonders dann nicht, wenn sich zwischen ihm und einem selbst nichts weiter als eine Satteldecke befand. Ich setzte mich auf und sammelte für eine Weile Haare aus meinem Mund - offenbar fusselte mein Bart. Joe Lovelady überreichte mir eine Blechtasse mit bitterem Kaffee. Ein Schluck davon löste den Rest der Haare auf und ebenso, was an Schlaf noch in mir steckte. »Wir reisen nich' mit Zucker«, sagte Joe entschuldigend. Es wurde gerade erst hell. Der Himmel über uns und das Gras um
uns herum hatten die gleiche Farbe, ein trübes Grau. Dann fingen die Kojoten an zu husten. Östlich von uns graste eine Herde Antilopen. Als die Sonne begann sich vom Boden abzuheben, schien es für einen Augenblick, als würden die Antilopen am Rand der Welt entlanggehen. Es war ruhig und schön. In der Morgenstille machten die Plains mir nicht allzuviel aus. Erst wenn der Wind die Leere entlangjagte und an allem rupfte, fühlte ich mich ein wenig ausgesetzt. Billy lag flach auf dem Rücken, den Mund offen, leicht schnarchend. Schlafend wirkte er wie zwölf. Und dies sollte der größte Killer im ganzen Westen sein! Ich sah, daß die Pferde bereit waren. Joe hatte sogar Rosy gesattelt - eine bemerkenswerte Tatsache. Oft mußte ich eine Stunde darauf verwenden, ihr unaufrichtige Komplimente zu machen, bevor ich sie dazu bewegen konnte, den Sattel anzunehmen. »Wie hast du Billy kennengelernt?« fragte ich. Aus ihrer Art, miteinander zu verkehren, schloß ich, daß sie bereits seit Jahren Freunde sein mußten. »Nun, wir haben uns gerade getroffen«, sagte er, als sei er erstaunt darüber, daß sich jemand die Mühe machen könne, deswegen Erkundigungen einzuziehen. »Er hat keine Familie mehr und ich auch nicht - wir dachten uns, daß wir mal probieren, wie weit wir als Cowboys kommen.« Für eine Weile schlürfte er seinen Kaffee. »Aber ich weiß nicht, ob aus Billy ein Cowboy wird«, sagte er seufzend. »Ich glaube, das liegt ihm einfach nicht.« Joe Lovelady allerdings lag es. Eins wurde mir bald klar: Falls es so etwas wie den perfekten Cowboy gab, dann war es Joe. Er hatte das Handwerk perfektioniert - und mehr noch, er hatte das entsprechende Temperament. Joe brauchte nicht mehr als Pferde und Vieh, Lassos und Sättel, Gras und Himmel. Es war sein Unglück - nun, sagen wir lieber, seine Tragödie -, unter die Revolvermänner geraten zu sein. Wenn ich an jenem ruhigen Morgen bemerkt hätte, wie schnell sich das alte Rad des Schicksals dreht, dann hätte ich um Geld gekabelt und Joe eine Ranch in Nebraska oder
Montana oder irgendwo anders, so weit wie möglich von New Mexico entfernt, gekauft. Ich mochte ihn von der Sekunde an, wo ich ihn das erste Mal sah, und Geld hatte ich ebenfalls. Doch nehme ich an, daß Joe unter keinen Umständen fortgeritten wäre und Billy im Stich gelassen hätte. Nennen Sie sie Kumpanen, companeros, oder wie es Ihnen beliebt, ich bezweifele, daß sie sich durch irgend etwas hätten trennen lassen, einmal abgesehen von der einen Sache, die sie schließlich auch trennte. »Er schnarcht noch schlimmer, wenn er auf dem Bauch schläft«, bemerkte Joe auf tolerante Art. An der Art, wie er es sagte, konnte man merken, daß der Mann ein wahrer Freund Billy Bones war. 11. Den ganzen Tag über ritten wir in dem schnellen Tempo, das Joe Lovelady vorgab, doch gelangten wir nirgendwo hin - oder zumindest an keinen Ort, den man irgendwo hätte nennen können. Wir mußten fünfundsiebzig Meilen geritten sein, aber auf den Plains sind fünfundsiebzig Meilen nicht mehr als ein Atemzug. Als wir in jener Nacht das Lager aufschlugen, konnten wir immer noch die Berge sehen, in denen wir uns am Tag zuvor befunden hatten - so klar war die Luft. Ich hatte die vergangenen Monate an der Peripherie der Great Plains zugebracht, doch hätte ich mich niemals getraut, einfach darüberzureiten - es sei denn mit einem kompetenten Begleiter vom Schlage Joe Loveladys, dem ich hätte folgen können. Es war eine derartige Fülle von Gras und Himmel! Und wenn man Himmel und Gras sagte, dann hatte man alles gesagt: So weit ein Mensch sehen konnte, war da nichts außer den schwach erkennbaren Höckern der Berge weit im Westen. Ich hatte den Eindruck, mein ganzes Leben über diese Ebene reiten zu können und sie doch nie zu durchqueren. Ich wußte, es gab Orte auf der anderen Seite - Philadelphia lag zum Beispiel dort, und St. Louis und eine Anzahl anderer
Städte -, doch waren die Plains derartig endlos, daß es schien, daß ich mich glücklich schätzen könnte, wenn ich in einer dieser Städte ankam, bevor mir die Stunde schlug. Ich spürte, daß die Plains mich auf irgendeine Weise gefangen hatten; als ich schließlich meine Rückkehr in die Städte des Ostens unternahm, erwies es sich als Belastung, das Leben unter einem solch kleinen Himmel wiederaufnehmen zu müssen. »Du kannst deinen Hut genausogut bis aufs Kinn runterziehen, Sippy«, sagte Billy Bone zu mir - er amüsierte sich über die Angewohnheit von mir, meine Kopfbedeckung bis auf Augenbrauenhöhe zu senken, einen Hut mit weicher, kurzer Krempe, den ich in El Paso erstanden hatte. Billy wußte nicht, daß das Licht des Westens sich vollkommen von dem dünnen, erträglichen Licht Philadelphias unterschied. Es einen ganzen Tag aufzusaugen, verursachte mir derartig heftige Kopfschmerzen, als hätte ich die gleiche Zeit damit verbracht, süßen Wein zu schlürfen. »Oh, das geht schon in Ordnung«, sagte ich. »Weiter als bis zu den Ohren meines Maultiers brauche ich sowieso nicht zu sehen.« »Wenn Old Whiskey und der riesige Neger aus einer dieser Rinnen springen würden, dann müßtest du sehen können«, informierte er mich. »Und nicht nur sehen, sondern auch fliegen.« Er bezog sich auf Will Isinglass, Besitzer der Whiskey Glass Ranch - seine Cowboys nannten ihn Old Whiskey, wegen seiner Angewohnheit, einen Viertelkrug Whiskey an seinem Sattel zu befestigen, bevor er morgens sein Hauptquartier verließ. Er hatte einen gut gepolsterten Beutel anfertigen lassen, um seinen Krug zu schützen - und wenn er das Glück haben sollte, um die Mittagsstunde herum zu seinem Ranchhaus zurückzukehren, dann sicherte er sich einen weiteren Quart für den Nachmittag. Natürlich sprangen Isinglass und Mesty Woolah - sein afrikanischer Krieger - an jenem Tag aus keiner der Rinnen, doch bin ich der Ansicht, daß Billy Bone im Verlauf jenes langen Rittes beschloß, mich mehr oder weniger zu adoptieren. Die
eigentümliche Art, wie ich meinen Hut zu tragen pflegte, schien ihn davon zu überzeugen, daß ich unter keinen Umständen in der Lage war, auf mich selbst achtzugeben. »Weshalb bist du überhaupt hier rausgekommen, Sippy?« fragte er an jenem Abend, als wir zusahen, wie unser zweites Lagerfeuer verlosch. In jener Nacht gab es keine Präriehühner, um sich daran zu laben - bloß ein paar sehnige Kaninchen. »Du hättest die Brünette, die du geheiratet hast, mit einer Bettlatte verprügeln sollen«, sagte er mir. »Dann müßtest du jetzt nicht versuchen an einem Ort zu überleben, von dem du nicht die geringste Ahnung hast.« 12. Es war, um genau zu sein, ein ereignisloser Tag im Groschenromangeschäft, der die Angelegenheit zwischen Dora und mir zu einem Ende brachte. Unweigerlich hatte sich ein Morgen eingestellt, an dem keine Ballen mit Heftchen abgeworfen worden waren. Schweren Herzens fuhr ich heim, niedergedrückt durch das Wissen darum, daß an jenem Tag kein einziger neuer Groschenroman nach Philadelphia gelangen würde. Zu Hause angekommen, trottete ich elendig hinauf in mein Arbeitszimmer, mit dem Gedanken, ein paar Kapitel eines alten Lieblings, Gekocht In Yellowstone; oder, Mustang Merle Zwischen Den Geysiren noch einmal zu lesen. Mein eigener Held, Orson Oxx, war irgendwie nach Afrika verschlagen worden und drauf und dran, selbst gekocht zu werden, wenn auch eher in einem Kannibalenkessel als in einem Geysir. Ich war der Ansicht, es sei das beste, einen bewährten Freund aufzusuchen, um mein eigenes in der Arbeit befindliches Abenteuer zum Siedepunkt zu treiben - im bildlichen Sinne. Und dann, Katastrophe! Mein Arbeitszimmer war ausgeräumt worden! Die Tausende von Groschenromanen, so sorgsam der Reihe nach gestapelt, waren verschwunden. Nicht einer war übriggeblieben, nicht einmal der nur halb zu Ende gelesene
Saul Sabberday, den ich in der Nacht zuvor auf meinem Schreibtisch liegen gelassen hatte. Kreidebleich raste ich hinunter zu Cook, die sich bis zu ihren Ellbogen im Brotteig befand. »Ach, ja«, bestätigte sie. »Der Altpapierhändler kam vorbei und Missus hat ihm gesagt, er solle sie alle mitnehmen. Sie sagte, Ihre Gesichtsfarbe sei in letzter Zeit nicht gut, und dies könnte vom Staub der alten Bücher kommen.« Meine Gesichtsfarbe! Lieber Gott! Ich raste zu dem Altpapierhändler, jedoch vergeblich. Wie Staub zu Staub wird, war Schund zu Schund geworden. Wäre ich zu diesem Zeitpunkt nach Hause geeilt, hätte ich Dora durchaus umbringen und unsere neun fröhlichen Steckrüben mutterlos zurücklassen können. Stattdessen ging ich zu meiner Bank, ließ mir von einem erstaunten Beamten einen beträchtlichen Kreditbrief ausstellen und nahm den Zug nach New York, ohne mich auch nur mit einem Rasierpott zu belasten. Ich brauchte ihn nicht, denn an jenem Tag hörte ich auf, mich zu rasieren und jener Benjamin J. Sippy zu sein, der sein ganzes Leben so unauffällig in der Chestnut Street in Philadelphia residiert hatte. Am folgenden Nachmittag quartierte ich mich in einer kleinen Kabine auf einem Boot nach Galveston, Texas, ein. Eigentlich hatte ich das Schiff nach New Orleans buchen wollen, doch das nach Galveston war im Begriff Anker zu lichten, und so nahm ich es. »Könnte sein, daß Sie in Texas auf'n bißchen Naßforschigkeit stoßen, aber es wird Ihnen gefallen«, sagte der Kapitän. Er war ein dünner, kleiner Yankee mit dem schlechtest sitzenden künstlichen Gebiß, das mir untergekommen ist schon bei mäßigem Seegang klickte es wie ein Telegraph. »Das Gerede über St. Louis können Sie sich sparen«, sagte er. »Ich sage, der echte Westen beginnt in Texas. »Dann habe ich die richtige Wahl getroffen«, sagte ich. »Der echte Westen ist genau das, was ich suche.«
»Oh, der ist echt, mächtig echt«, sagte er forsch, bevor die See wogte und seine Zähne einen eigenen Code zu rattern begannen. 13. »Aber wird sich deine Familie nicht fragen, was aus dir geworden ist?« fragte Joe Lovelady. Ihn schockierte die Tatsache, daß ich Dora und die Steckrüben verlassen hatte, ohne auch nur auf Wiedersehen zu sagen. »Mit Sippy is' es wie mit vielen Leuten hier draußen«, sagte Billy. »Er hat nich' vor, gefunden zu werden.« »Seine Frau macht sich vermutlich trotzdem Sorgen«, insistierte Joe. »Na, laß sie doch!« sagte Billy. »Sie hat ihn gefragt, weshalb er immer noch atmet.« Kurze Zeit später allerdings ließ seine Härte gegenüber Dora ein wenig nach. »Na ja, wahrscheinlich heult sie sich die Augen aus«, sagte er. »Frauen sind nicht so hart.« Am Morgen, an dem er im Sterben lag, würde ich mich an diese Bemerkung erinnern. Ich glaube, lange vor diesem Zeitpunkt war er dazu gezwungen worden, seine Ansichten über die Härte von Frauen aufzugeben. Was ich dachte? Ob ich in dem großen grauen Steinhaufen auf Chestnut Street vermißt wurde und man sich Sorgen um mich machte? War der Familie aufgefallen, daß der alte Vater nicht länger in seinem Arbeitszimmer saß, den Kopf in ein Pamphlet versenkt, und Trübsal blies? Deckte Cook immer noch meinen Platz am Eßtisch? War irgendjemandem aufgefallen, daß ich nicht auftauchte, um meine Sumpfschildkrötensuppe zu schlürfen? Diese Fragen sorgten Joe Lovelady einen guten Teil mehr als mich. Joe war nicht viel länger als ein Jahr verheiratet gewesen, als ihm Frau und Kind genommen wurden - er konnte sich nicht vorstellen, sie wegen einer Nichtigkeit wie Mustang Merle zu verlassen.
Wie konnte ich einem Mann, der in seinem ganzen Leben noch keinen Butler gesehen hatte, erklären, daß Gentlemen meines Standes in Philadelphia ihre Ehefrauen täglich wegen Dienstmädchen verließen? Joe hatte auch niemals ein Dienstmädchen gesehen; vielleicht noch nicht einmal einen der Salons, in denen sie bedienten. Zu den vielen Dingen des weltlichen Lebens, von denen er keinen blassen Schimmer hatte, gehörte die Tatsache, daß es einige sehr anständige Dienstmädchen gibt. Es erschien sinnlos, ihm zu erklären, daß es von Doras Gesichtspunkt aus vermutlich besser war, wenn ich sie wegen Büchern verließ. Das konnte sie schlicht und einfach auf Irrsinn zurückführen, während ein Dienstmädchen nach einer etwas kitzligeren Deutungsweise verlangt hätte. Um genau zu sein, hatte meine einzige familiäre Pflicht darin bestanden, dafür zu sorgen, daß unsere exzellenten Bediensteten pünktlich bezahlt wurden, doch handelte es sich hierbei um eine Wahrheit, die sich zwei jungen Männern, deren einzige Schule das rauhe Grenzland gewesen war, nicht leicht vermitteln ließ. »Ich habe auch eine Frau gehabt«, sagte Joe. Dann hielt er inne und fragte mich, ob ich meine Seereise genossen habe. Ich glaube, er wollte mich über die Dauerhaftigkeit einer Beziehung befragen - mich fragen, wie es ist, eine Ehefrau zu haben, nicht für ein kurzes Jahr, wie es ihm mit seiner Nellie beschieden war, sondern für die mehr als zwanzig Jahre, die ich meine Dora gehabt hatte. Doch ihm blieb die Frage im Hals stecken. Dies bemerkte Billy Bone ebenso wie ich und warf mir einen besorgten Blick zu. Joe Lovelady wollte an Glück glauben. Er brauchte das Gefühl, daß die Dinge so sein konnten, wie sie sein sollten, daß das Leben seine reifen, süßen Früchte an Fähigkeiten und Hingabe verteilen würde. Doch hier war er an zwei Skeptiker geraten, Billy Bone und mich. Vielleicht merkte er, daß wir seine schönen Hoffnungen in der Luft zerreißen würden, und wechselte deshalb zum Thema Boote.
»Ich würde nicht allzuviel Wasser überqueren«, sagte Billy nervös. »Man kann nich' durchsehen. Woher kann man wissen, ob da nicht ein großer Fisch darauf wartet, einen zu beißen?« »Im Boot kann einen kein Fisch beißen«, führte Joe aus. »Nein, aber das Boot kann sinken«, sagte Billy. »Wo bist du dann? Wenn ich heute nacht schlecht träume, dann ist das dein Fehler, Joe. Ich habe schon mehr als einmal schlecht von großen Fischen geträumt.« Nicht willens, das Risiko furchterregender Träume für ihn zu erhöhen, wartete ich, bis er schnarchte, bevor ich meine kleine Bootsfahrt nach Galveston beschrieb. 14. Ich ging mit großen Hoffnungen an Bord dieses Bootes, meinte endlich frei zu sein - frei von Dora und ihren beunruhigenden Fragen, frei von den langweiligen Vorgärten und dem milden Licht auf Chestnut Street und vielleicht sogar frei von den Groschenromanen. Wozu würde ich billige Geschichtchen brauchen, wenn ich einmal in Richtung des echten - gemessen an manchen Standards sogar mächtig echten - Westens unterwegs war? Ich hatte meine gediegenen Gepflogenheiten über Bord geworden, weshalb also nicht auch meine knallbunten Träume? Glücklicherweise war das Boot - es trug den Namen Texas Moon - seetüchtiger, als ich erwartet hatte. Eine gemächliche Kreuzfahrt nach Galveston stellte sich nicht als das unbedingt beste Heilmittel gegen Groschenromanmanie heraus. Kaum hatten wir den Hafen verlassen, durchwühlte ich das Schiff bereits nach Lesbarem, mich selbst für mein hochmütiges Zurückweisen der vielen exzellenten Zeitungsstände verfluchend, die ich in New York passiert hatte. Die Texas Moon war nicht gerade eine schwimmende Bibliothek. Sie war ein altes Viehboot, das, abgesehen von der Besatzung, mir und einer leichten Ladung Trockengüter, leer nach Texas zurückkehrte. Ich trieb eine Seegeschichte mit dem Titel Matrosen-Dan; oder, Die Wasserhose auf, doch die
meisten der Mannschaftsmitglieder sahen nur verwirrt drein, als ich sie nach etwas Lesbarem fragte. Eher knurrig lieh mir der erste Maat eine offensichtlich oft gelesene Ausgabe von Rose, Engel Des Grenzlandes, und der kleine Yankee-Kapitän brachte drei Abenteuer von Red Charlie zum Vorschein; doch unglücklicherweise war Red Charlie; (Der Scout Der Chippewa) eine meiner eigenen Erfindungen, und nicht gerade eine meiner favorisierten. So gab es, nachdem ich Matrosen-Dan und Der Engel Des Grenzlandes verschlugen hatte, nichts weiter zu tun als zu schreiben. Der Verlag Beadle und Adams war gerade mit einer Reihe von Alltags- und Familiengeschichten zu fünf Cent herausgekommen, und ich beschloß - nachdem ich es für immer hinter mir gelassen hatte -, meine Ansichten über das Eheleben zu verbreiten. In Windeseile brachte ich eine Nichtigkeit mit dem Titel Mit Ehering Doch Ohne Liebe; oder, Was War Er Ihr? zustande, worin - ich gebe es zu - ich ein paar längst fällige Rechnungen mit Dora beglich. Sie hatte einen albernen Verehrer namens Waddy Peacock, ein Mann, der meiner Ansicht nach noch langweiliger war als ich selbst, obwohl ich es durchaus für möglich hielt, daß ihre Einschätzung vorteilhafter als die meine ausfiel. Dieser Spekulation verlieh meine Feder Nachdruck, und in der daraus resultierenden Geschichte erhielt Dora die Energien und die Neigungen einer Lola Montez. Zwei Tage, und ich war fertig; doch die Texas Moon bewegte sich immer noch langsam an den Carolinas vorbei. Meine Gedanken drehten sich weiter um Chittim. Ich spürte, daß ich ihm etwas schuldete, doch wie sollte ich es zurückzahlen? Der Mann war tot. Ich hatte seiner Witwe Geld hinterlassen, doch immer noch hatte ich ein Gefühl von Schuld. War irgend jemand je freundlicher zu Chittim gewesen als ich? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Weit entfernt von Heim, Herd und Zeitungsständen wurde ich zur leichten Beute der Sentimentalität. Kaum hatte ich Mit Ehering Doch Ohne Liebe beendet, da begann ich Des Butlers Leid; oder, Chittims Trek.
Es war die Geschichte eines loyalen Butlers, der die SonoraWüste durchquerte, um seiner geliebten jungen Herrin, ein reiches Mädchen, das bald noch reicher werden sollte, im Augenblick aber in Kalifornien kürte, ein wichtiges Dokument zu überbringen. Das Dokument setzte sie darüber in Kenntnis, daß sie soeben einen riesigen Stammsitz geerbt hatte. Der loyale Butler, im Wissen, daß er sich nicht mehr erhoffen konnte, hoffte, die junge Dame würde ihn wenigstens für immer in ihr neues Heim aufnehmen und als Butler behalten, doch der herzlose Drache, verärgert durch die schäbige Erscheinung des Butlers - es hatte die üblichen Auseinandersetzungen mit Apachen und Gilamonstern gegeben -, feuerte ihn auf der Stelle. Derartig groß war die Verzweiflung des Mannes, daß er vom Weg abkam, nach Süden abdriftete und schließlich von Kannibalen in Ecuador verspeist wurde. Für die Dauer eines Tages hielten wir in New Orleans und ich gab die beiden Geschichten auf, kaum ahnend, daß ich soeben den populärsten Groschenroman, der je geschrieben worden war, abgeschickt hatte: Des Butlers Leid. Mit Ehering Doch Ohne Liebe mochte den Nerv einiger verbitterter Ehemänner getroffen haben, doch Des Butlers Leid ging in wenigen Monaten um den gesamten Erdball. Es wurde bekannt als das Buch, das vier Präsidenten gelesen hatten; und neben den vier Präsidenten lasen es der junge Zar, die alte Queen - praktisch jeder auf der ganzen Welt, der des Lesens kundig war. Seine Verkaufzahlen übertrafen selbst die von Der Zerlumpte Dick, und ich habe Berichte gehört - obwohl es sich hierbei um eine Verballhornung handeln kann -, nach denen sich Livingstone, als er schließlich gefunden wurde, bei Stanley erkundigte, ob dieser eine Kopie für ihn mitgebracht habe. Ich schätze, dies bedeutet lediglich, daß mehr Leute das Gefühl kennen, einen Butler schlecht behandelt zu haben, als man gemeinhin annimmt. 15.
In jener Nacht grollte nur ein paar Meilen nördlich von uns ein trockener Sturm über die Plains. Donner krachten und Blitze zerschlitzten die Dunkelheit. Joe Lovelady schlief während des schlimmsten Teils. Ich war ein wenig nervös, doch Billy Bone litt schrecklich. »Also, Blitze hasse ich nun echt«, bekundete er. »Man sagt, sie kochen einen zu schwarzem Speck, wenn sie einen treffen. Ich würde eine Million dafür geben, drinnen zu sein, wo wir uns unter dem Bett verstecken könnten.« Da wir definitiv nicht drinnen waren, versteckte er sich unter seinem Sattel. »Schnell, schmeiß mir die Satteldecke über, Sippy!« sagte er. Ich legte sie über den Sattel, um eine Art Vorhang daraus zu machen, doch Billy zitterte derartig, daß sie bald herunterrutschte. »Ich wäre lieber tot, als dies hier durchzumachen«, sagte er. »Oh, das ist übertrieben«, sagte ich. »So schlimm ist es auch wieder nicht.« »Das kannst du sagen, wenn du zu schwarzem Speck geworden bist!« sagte er bitter. Dann sah er etwas, was ihn noch rasender werden ließ. Er stieß einen Schrei aus, warf den Sattel ab und riß beide Revolver aus seinem Mantel. »Hast du ihn gesehen?« fragte er, was mir einen furchtbaren Schrecken einjagte. Ich nahm an, er habe im Licht eines Blitzes einen Apachen gesehen. Doch es war kein Apache gewesen, sondern etwas, vor dem er sogar noch mehr Angst hatte. Bevor Joe und ich uns noch darüber klar waren, von wem wir angegriffen wurden, hatte Billy beide Revolver in die Dunkelheit entleert, und wenn ich sage entleert, dann meine ich entleert zwölf Schüsse. Selbst Joe Lovelady konnte keine zwölf Schüsse überschlafen. Mit dem Revolver in der Hand rollte er sich herum, gerade als es wieder blitzte. Doch soweit wir beide sehen konnten, war die Ebene leer. »Was war das, Billy?« fragte Joe verwirrt, doch nicht wirklich beunruhigt.
»Es war der Höllenhund«, sagte Billy. Er hatte solche Angst, daß seine Zähne klapperten und er beim Versuch, seine Waffen wieder zu laden, die Kugeln fallen ließ. »Es gibt keinen Höllenhund, Billy«, sagte Joe. Ich glaube, er war ein wenig verärgert darüber, so rüde aus tiefstem Schlaf geweckt worden zu sein. »Es war der Höllenhund!« insistierte Billy. »Er ist keine dreißig Fuß von hier gestanden und hat mich angegrinst. Das bedeutet, ich bin todsicher geliefert.« »Das war nur ein alter Wolf, der gekommen ist, um die Kaninchendärme hier zu fressen«, sagte Joe bestimmt. Er ließ den Hammer seines Revolvers nieder, rollte sich herum und war bald wieder eingeschlafen. Doch Billy Bone konnte nicht mal an Schlafen denken. »Es gibt kein schlimmeres Unglück als den Höllenhund im Licht eines Blitzes zu sehen«, versicherte er mir. Ich wußte, Joe Lovelady hatte Recht - wenn ein Wolf dagewesen sein sollte, dann wahrscheinlich wegen der Kanincheninnereien. Doch wollte ich tun, was in meiner Macht stand, um Billy zu beruhigen; er zuckte immer noch jedes Mal zusammen, wenn ein Blitz in unsere Richtung züngelte. »Wahrscheinlich hat er nach mir gesucht, Billy«, sagte ich. »Ich bin der einzige in dieser Gruppe, der alt genug ist, um in Frage zu kommen.« »Nein, du hast ihn ja nicht gesehen«, sagte Billy. »Ich hab' ihn gesehen. Der Höllenhund läßt sich nur blicken, wenn er dich will.« Den Rest der Nacht schlief keiner von uns beiden, obwohl der Sturm sich bald so weit nach Osten entfernt hatte, daß das Blitzen nicht mehr schlimmer war als das Flackern einer Lampe. Billy behielt seine Waffen die ganze Nacht in der Hand. »Stimmt schon, daß du nicht viel Ahnung davon hast, wie man hier draußen überlebt, Sippy«, sagte er. »Aber ich kenn' dümmere Leute als dich, die immer noch leben.« »Glück«, sagte ich. »Muß wohl so sein«, stimmte er zu. »Du bist mit dem Boot gefahren, und es ist nicht gesunken.«
16. Das Boot war nicht gesunken, aber meine Stimmung war es, als wir schließlich in Galveston landeten. Bei der Insel handelte es sich lediglich um einen niedrigen, schwülen Sandstreifen, dessen Bewohner ihre gesamte Zeit entweder mit Schwitzen oder Kratzen - oder beidem - zu verbringen schienen. Anhand von Nachforschungen innerhalb meiner favorisierten Literaturgattung - dem Groschenroman natürlich - hatte ich den Eindruck gewonnen, daß ein Reisender bei seiner Ankunft in Texas zuallererst die Aneignung einer gewissen Menge Wehrmaterials vor sich nehmen müsse: nämlich Revolver und Messer, und je mehr, desto besser. Konsequenterweise befand ich mich noch keine volle Stunde auf der Insel, als ich schon eine Winchester Rifle, einen Colt Revolver, zwei Derringer - für jeden Stiefel einen - und mehrere Bowie-Messer erstanden hatte. Ich erwartete Angreifer, und bald waren meine Waffen geladen und meine Messer geschärft. Die Angreifer ließen auch nicht auf sich warten; gemein und mit vereinten Kräften tauchten sie in meinem Hotelzimmer auf, unglücklicherweise zu klein, um erschossen, und zu flink, um erstochen zu werden. Bald mußte ich feststellen, daß in all meiner nicht unbeträchtlichen Lektüre über den Westen der Ungezieferfaktor ernstlich vernachlässigt worden war. Auf Apachen war ich vorbereitet; bandidos hätte ich möglicherweise beinahe willkommen geheißen; doch was mich in Galveston erwartete, war Ungeziefer. In Philadelphia verschwenden wir auf Ungeziefer so wenig Gedanken wie auf Butler. Oh, möglicherweise erschlagen wir die gemeine Stubenfliege, und unsere Sommerresidenzen in den Muncy Hügeln mögen den gewöhnlichen Mosquito in Versuchung führen; aber im großen und ganzen nahm Ungeziefer in unserem Leben dort nicht viel Raum ein. Auch in Groschenromanen war es nicht gerade von konstanter Präsenz. Mustang Merle jedenfalls juckte sich nie, soweit ich mich erinnere; Hurricane Nell, obwohl sie den größten Teil ihres Lebens in Präriegras nächtigte, beschwerte
sich nie über Termiten, von schlimmeren Dingen gar nicht zu reden. Doch ich war noch keine vierundzwanzig Stunden an den Gestaden von Texas und hatte mich bereits mit Läusen, Termiten, Mosquitos, Nissen, Zecken, Stubenfliegen, Bremsen, Bettwanzen, Käfern, Ameisen, Spinnen, Schaben, Tausendfüßlern, Skorpionen und Stechmücken zu befassen. So sollte es bei all meinen Spritztouren in den Westen bleiben. Abhängig von Höhe oder Jahreszeit mochte der Bestand ein wenig variieren, doch die Gewalttätigkeit, die ich seitens der zahlreichen Westmänner - und sie waren allerdings gewalttätig - erfahren mußte -, war selten eine so große Bedrohung meiner Moral wie der intensive und hartnäckige Appetit des Ungeziefers des Westens. Um genau zu sein, erschien mir die Insektenpopulation und deren Temperament als ein derartiges Hindernis bei der Erschließung des Westens, daß ich ihr einen meiner besten Groschenromane widmete - mein Buch Das Ungeziefer-Orakel, in welchem das Schicksal eines Mannes durch die Wellenlinien, die eine Schnecke im Sand hinterläßt, vorausgesagt wird. Ich schrieb es, während ich im großen Isinglass-Schloß, nördlich von San Jon die Rolle einer männlichen Scheherazade spielte. Lady Cecily Snow, in allen biologischen Belangen so akkurat, wie sie schön war, setzte mich darüber in Kenntnis, daß es sich bei der Schnecke unter keinen Umständen um ein Ungeziefer handele. Ich schätze, ich wußte dies; jedenfalls änderte ich die Schnecke in der Geschichte widerspruchslos in eine Ameise, denn ich wünschte nicht, Gecilys Unzufriedenheit mit mir wegen einer derartigen Nichtigkeit wie einer literarischen Ungenauigkeit zu erhöhen. Später, als Cecily Snow dahin gegangen war, wo Guinevere sich befindet - ganz sicher war sie das; alles, was man fand, war ihre Satteltasche -, holte ich das Manuskript heraus und änderte die Ameise wieder in eine Schnecke um; mir schien, daß die Leser eine Schnecke als Vorboten des Schicksals akzeptieren mochten; eine Ameise, so meinte ich, würden sie ablehnen.
Billy Bone hielt seine Revolver immer noch fest umklammert. Er zeigte wenig Interesse an meinen Beschreibungen der Ungezieferqualen, die ich auf Galveston erduldet hatte. »Ich hab' heut nacht den Höllenhund gesehen«, erinnerte er mich. »Lieber hätte ich eine Million Zecken und Läuse in den Haaren, als nochmal sein verdammtes Grinsen zu sehen.« »Wer hat dir erzählt, daß es sowas wie einen Höllenhund gibt?« fragte ich. Groschenromane waren natürlich voll mit derartigen Sagengestalten. Immer noch erinnere ich mich an einen mit dem Titel Maria Verlaine; oder, Der Werwolf Von Quebec, der eine dem Höllenhund sehr ähnliche Kreatur zum Gegenstand hatte. »La Tulipe hat es mir erzählt«, sagte Billy. »Du wirst sie morgen treffen, Joe hat nicht viele Alpträume«, fügte er hinzu und warf einen schwermütigen Blick auf seinen Freund. Der angespannte Ausdruck war aus seinem Gesicht gewichen, doch hielten seine Hände noch immer die Revolver umklammert. »Nenn' mir das schlimmste, was dir je zugestoßen ist, Sippy«, sagte er. »Nenn' mir das schlimmste. Vielleicht lenkt es mich von dem alten grinsenden Hund ab.« »Das ist nicht schwierig«, sagte ich. »Das schlimmste, was mir je passiert ist, war meine Postkutschenfahrt von Galveston nach El Paso.« Und damit war mir ernst. Es war nicht übertrieben zu sagen, daß ich in den zehn zermürbenden Tagen, die wir brauchten, um Texas zu durchqueren, eine Fahrt von besonderer Qualität hinter mich brachte. Als ich diese Kutsche in Galveston bestieg, war ich zumindest dem Geiste nach - noch jung. Als ich in El Paso ausstieg, war ich alt. 17. Ich habe mich oft gefragt, ob ich auf jener grauenhaften Fahrt derartig gealtert wäre, wenn ich meinen angestammten Sitz im hinteren Teil der Postkutsche behalten hätte.
Es handelte sich nicht um meine erste Erfahrung mit Postkutschen, auch wenn es bei weitem meine ausgiebigste sein sollte. Wells Fargo hatte ein paar zur großen '76er Feier nach Philadelphia gebracht; Fahrten um den Park kosteten nur fünf Cent, und bevor die Feierlichkeiten endeten, war ich für fünfzig oder sechzig Cent gefahren. Selbst dieses kurze Erlebnis reichte, um mich davon zu überzeugen, daß Postkutschen ein miserables Beförderungsmittel darstellten, nutzvoll in Groschenromanen, doch eine zermürbende Folter im wirklichen Leben. Jene holprigen Fahrten um den Park lehrten mich außerdem, daß die einzige Chance, Rückgratverletzungen, Nierenkrankheiten und mentalem Zerfall zu entgehen, darin bestand, sich einen Rücksitz zu sichern, welcher es einem erlaubte, in Fahrtrichtung zu sitzen. Postkutschen neigen nach hinten; in Philadelphia wurde dies durch sich im hinteren Teil zusammendrängende Kinder verursacht, im Westen war es das Resultat von ungefähr einer Tonne Post, die im Gepäckraum untergebracht war. Auf einem Rücksitz Platz zu nehmen, verschaffte zumindest den Vorteil, sich gegen etwas Festes lehnen zu können - d. h. die Rückwand der Kutsche. Doch wenn das Schicksal einen auf einen der schrecklichen Vordersitze verschlägt, den Blick von den Pferden abgewandt, hatte man, verursacht durch die Schräglage der Kutsche, nicht nur nichts, wogegen man sich lehnen konnte, sondern mußte sich auch noch verzweifelt Stunde um Stunde festklammern, um nicht in den Schoß desjenigen, der einem gegenübersaß, geschleudert zu werden. In meinem Fall handelte es sich bei der gegenübersitzenden Person um eine Frau von beträchtlicher Größe, die den Namen Eliza Bargesley trug und mit ihren wilden Vierlingen nach Westen reiste, um ihren Ehemann in El Paso wiederzutreffen. Selbstverständlich hatte ich einen der Rücksitze reserviert die Fahrt von Galveston nach El Paso schien unabhängig von der Art der Fortbewegung eine Tortur zu sein, und ich wollte sie mir so angenehm wie möglich gestalten. Doch ein Schicksal, fast so böswillig wie Billy Bones Höllenhund, veranlaßte Eliza Bargesley und ihre Bälger dazu,
die gleiche Kutsche zu buchen. Selbstverständlich konnte ich als philadelphianischer Gentleman weder eine Dame noch sonst irgendeine Frau auf dem grauenhaften Vordersitz sitzen lassen, während ich in aller Bequemlichkeit, gegen die Rückwand gelehnt, reiste. Mit einem Fingertippen an meinen neuen breitkrempigen Filzhut trat ich meinen Sitzplatz freundlich an Miss Bargesley ab. Die beiden Männer, zwischen die ich mich jetzt quetschen mußte, ein fetter Handelsreisender in Reitutensilien namens Pope und ein Wiesel von einem Grundstücksspekulanten mit rasiermessergleichen Ellbogen und dem Namen Brisket, sahen mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Seht, dies ist der Herr, der uns seinen schönen Sitzplatz überlassen hat«, sagte Mrs. Bargesley, während sie genau mir gegenüber Platz nahm. So sollten wir bleiben, Knie an Knie, vierundzwanzig Stunden am Tag, für die Dauer der nächsten zehn Tage. Lange bevor ich in ein Müdigkeitsdelirium gefallen war, schien es mir, daß Mrs. Bargesley und ich zu einer Form siamesischer Zwillinge, an den Knien miteinander verbunden, geworden waren. Ich bemerkte, daß sie mich erwählt hatte, ihre Knie zu berühren, nicht den vulgären Pope oder den verschlagenen Brisket, doch lange bevor wir San Antonio erreichten, wurde die Ehre, die ich verspürt haben sollte, überwältigt von dem Drang, weder diese Frau noch einen ihrer Brut jemals wieder zu Gesicht zu bekommen. Ihre Brut - das heißt ihre vier Rangen, alle scheinbar stämmige Burschen - entwickelte alsbald eine Reisekrankheit von einer Intensität, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Wir hatten kaum die Fähre verlassen, die uns von Galveston aufs Festland beförderte, da begannen sie mit einer Reihe gewaltiger Würgereien, die, von wenigen Unterbrechungen abgesehen, die nächsten zehn Tage und Nächte anhalten sollte. Neben diesem Erbrechen wurden sie bald von Fiebern, Durchfällen und wilden spastischen Anfällen, während derer sie sich aneinanderklammerten und sich gegenseitig an den Kleidungsstücken kauten, heimgesucht. In den wenigen ruhigen Momenten betäubte Mrs. Bargesley sie mit einem
rosafarbenen, dickflüssigen Saft aus einer Viertelliterflasche, die sie stets bereithielt. Der schlimmste Straßenkrawall, der sich je in Philadelphia ereignet hatte - und wir haben ein paar überaus bemerkenswerte zu Gesicht bekommen -, war nichts im Vergleich zu dem Gewühle in jener Postkutsche. Pope, der Handelsvertreter zu meiner Rechten, verfiel augenblicklich der Trunksucht, während sich Brisket zu meiner Linken mit einer besonders übelriechenden Sorte Zigarren ausgestattet hatte. Der Rauch hatte zumindest den Effekt, die Mosquitos zu entmutigen. Mir schien, als würde die Kutsche wie ein gigantischer fliegender Ball über Texas hinwegspringen. Obwohl angewidert durch das Gewürge der Bargesleybälger, konnte ich es ihnen schwerlich verübeln. Mit etwas mehr im Magen hätte ich mich auch übergeben. Die Darmwinde waren ebenso schwer unter Kontrolle zu halten. Während ihrer zahlreichen Nickerchen furzte Mrs. Bargesley wie Donnerschlag; unterlief ihr ein nämlicher Ausrutscher, während sie wach war, errötete sie und prügelte wie verrückt den ihr am nächsten sitzenden Jungen und versuchte so, ihm die Schuld zuzuschieben. »Du meinst, sie hat wirklich dort in der Kutsche gefurzt!« fragte Billy, schwerst geschockt. Der furchtsame Ausdruck wich aus seinem Gesicht; irgendwie hatte der Gedanke an Mrs. Bargesleys Fürze den Höllenhund aus seinen Gedanken vertrieben. »Ich hoffe nicht, daß jemals eine Frau in meiner Nähe furzt«, sagte er nervös. »Ich hätte das nicht ausgehalten. Ich wäre rausgeklettert und bei den Kutschern mitgefahren.« Am nächsten Tag, wir waren nicht weiter als zwanzig Meilen von Greasy Corners entfernt, hörte ich, wie er Joe Lovelady die furchtbare Neuigkeit übermittelte: Eine Frau hatte in einer Postkutsche gefurzt. »Hat wahrscheinlich nichts anderes als Bohnen zu essen bekommen«, schlußfolgerte Joe. »Davon kriegt man Blähungen.«
Noch Wochen später murmelte Billy etwas über die schlechten Manieren Mrs. Bargesleys. Für ihn waren Bohnen keine Entschuldigung. In diesen Fragen war er heikel, nervös und heikel; und trotzdem handelte es sich bei ihm nur um einen Jungen, der in den rauhen Goldgräbersaloons von Colorado eine höchst unvollständige Ausbildung erhalten hatte. 18. Tatsächlich hatte ich versucht, bei den Kutschern mitzufahren, wurde jedoch bald als Bedrohung der allgemeinen Sicherheit betrachtet und zurück in die Kutsche gestopft. Offenbar war ich durch einen kurzen Alptraum geweckt worden und hatte versucht, einen der Kutscher zu erwürgen, wobei ich beinahe dafür sorgte, daß wir beide von der Kutsche fielen. An diesen Vorfall habe ich keinerlei Erinnerung. Das letzte auf dieser Reise, woran ich mich erinnere, ist, daß ich die Stunde Aufenthalt, die wir in San Antonio hatten, damit verschwendete, mir einen neuen Hut zu kaufen. Mr. Pope und Mr. Brisket taten das gleiche, denn selbstredend waren all unsere Kopfbekleidungen irgendwo in der Gegend um Houston aus dem Fenster geweht. Allesamt waren wir Narren; sofort hätten wir auf die Erde niederfallen und ein paar Minuten kostbaren Schlafes nehmen sollen - wären wir überfahren worden, hätten unsere Qualen hier ein Ende gehabt. Selbstverständlich wehten unsere neuen Hüte fast auf der Stelle aus dem Fenster; je weiter wir nach Westen reisten, desto windiger und holpriger wurde es. Ich verbrachte ein oder zwei Stunden damit herauszufinden, wieviele Hüte jedes Jahr entlang der Postkutschenroute verlorengingen: Meiner Rechnung nach lag die Zahl irgendwo bei fünfzehnhundert. Wenigstens erklärte dies mir, was ich ansonsten für eine verwirrende Tatsache des Westens hätte halten können: weshalb so viele Indianer und Gesetzlose Hüte trugen, die in Brooklyn hergestellt worden waren. Wenn sie mit irgendeinem bestimmten Hut nicht mehr zufrieden waren, brauchten sie nur
hinüber zur Postkutschenroute zu reiten und sich einen neuen vom Salbeibusch oder Feigenkaktus zu pflücken. Ansonsten verbrachte ich tausend Meilen damit, mich selbst daran zu hindern, durch dünne Luft nach vorn in den breiten Abgrund von Mrs. Bargesleys Schoß zu schleudern - obwohl ich zugeben muß, daß im Verlauf der Reise die Luft immer weniger dünn wurde; der Dank dafür gebührt den außerordentlich stinkenden Zigarren Mr. Briskets. Leroy Pope, der Reitutensilien-Vertreter, war während der gesamten Reise kaum nüchtern, doch war er der erste, dem auffiel, daß es sich bei den Bargesley-Jungen um Vierlinge handelte. Ich hatte meine Augen derartig erfolgreich von den würgenden, klammernden Bälgern abgewandt, daß mir diese Tatsache entgangen war. »Sin' all diese Jungs aus einem Wurf oder seh' ich vierfach!« fragte er eines Morgens, von einem besonders harten Absturz erwachend. Die Jungen säuberten allesamt ihre Mandeln, indem sie einander bespuckten. »Aber ja«, sagte Mrs. Bargesley mit einem Ausdruck mütterlichen Stolzes. »Matt, Mitch, Martin und Monroe, diese Woche vor genau sechs Jahren geboren.« Ich befand mich in trübem Zustand, halb verrückt vor Müdigkeit, doch schien mir, als hätte ich irgendeine schwache Erinnerung daran, vor einigen Jahren etwas über Vierlinge gelesen zu haben. Konnte es in Trenton, New Jersey gewesen sein? Mrs. Bargesley - es ist nur fair, ihr zuzugestehen, daß sie diese grauenhafte Reise ebensowenig genoß wie wir Herren lebte auf, als ich sie fragte, ob die Jungs in Trenton geboren seien. »Oh, ja, es stand alles in den Zeitungen«, gab sie zu. Mein Verstand, bereits die Zügel fahren lassend, wurde durch diese Neuigkeiten merkwürdig beunruhigt: Denn wie hoch standen die Chancen, daß der einzige Groschenromanautor mit Herrensitz auf Chestnut Street in einer westwärts fahrenden Postkutsche seinen Sitz an die Mutter der einzigen Vierlinge, die je in Trenton, New Jersey, geboren worden waren, verlor? Eine Milliarde zu eins schien mir die Chance.
»Ich verschwende keine Zeit damit, Wahrscheinlichkeiten auszurechnen«, bemerkte Billy, als ich meine Berechnungen erwähnte. »Wenn ich wissen will, was los ist, dann frage ich einfach die Tulip.« »Daß sie alt ist, heißt nicht, daß sie Recht hat«, sagte Joe. »Alte Leute können sich auch irren.« »Es ist nicht, weil sie alt ist, es ist, weil sie eine Hexenfrau ist«, gab Billy, der ein wenig verärgert klang, zurück. »Es ist dämlich, Zeit damit zu verschwenden, sich über Dinge Sorgen zu machen, die nie passiert sind«, sagte Joe Lovelady. »Was passiert, passiert. Dann kann man sich Sorgen machen.« »Du und ich werden uns nie einig sein, Joe«, sagte Billy ein bißchen wehmütig. »Ich weiß gar nicht, warum wir überhaupt Kumpel sind.« »Da ist kein Warum dabei«, sagte Joe. »Wir sind es ganz einfach.« Manchmal schwang in ihren Gesprächen ein trauriger Unterton mit. Es machte mich nervös, wenn ich ihn wahrnahm; ich versuchte sie vom jeweiligen Thema abzulenken, selbst wenn ich eine Geschichte erfinden oder eine Lüge erzählen mußte. Gewöhnlich pflegten sie aufmerksam zuzuhören - und gegenüber geringfügigen Übertreibungen sogar Nachsicht walten zu lassen. Ich glaube, sie waren froh, mich dabei zu haben, obwohl ich in beinahe jeder Hinsicht für sie nutzlos war. Immerhin, ich konnte reden, und ich hatte mehr von der Welt gesehen als sie. Beide verfügten sie über eine gute Portion Neugier und waren es leid, unentwegt ihre eigenen Erlebnisse zu diskutieren. Abgesehen davon war ich ein berühmter Groschenromanschreiber und nicht geizig mit der Verwendung von Adjektiven. Ich war in der Lage, einer Geschichte ein wenig Couleur zu verleihen. Der Geschichte meiner Kutschfahrt verlieh ich viel, obwohl ich in Wirklichkeit gleich westlich von San Antonio einer müdigkeitsbedingten geistigen Lähmung anheimfiel und mich an nichts weiter auf dieser Reise erinnern kann. Als mein
Bewußtsein zurückkehrte, lag ich auf dem Boden eines Saloons in El Paso, zu müde, um auch nur den Kopf vom Boden zu heben. Alles, was ich sehen konnte, als ich mich zwang, meine Augen zu öffnen, waren staubige Stiefel mit großen silbernen, mexikanischen Sporen. Ich hatte keine Idee, wie ich in den Saloon gelangt war; ich nehme an, daß ich aus der Kutsche gefallen war und mich irgendeine freundliche Seele hineingeschleppt hatte. Man erzählte mir, daß ich drei Tage dort gelegen sei, ohne daß jemand gewußt oder sich darum geschert hätte, ob ich tot oder lebendig war. Mir schienen meine Leiden überschwenglich, und überschwenglich beschrieb ich sie, doch trotz meiner größten Anstrengungen schien meine Erzählung bei Billy und Joe auf eher taube Ohren zu stoßen. Die harten jungen Männer des Westens wirkten eher amüsiert als mitfühlend. »Meine Güte, Sippy, wenn du so zimperlich bist, hättest du einfach aussteigen und laufen sollen«, war Billys einziger Kommentar. Ich fühlte mich ein wenig verletzt - ich schätze, ich hatte ein wenig mehr innere Anteilnahme erwartet. Doch wir hatten den Arroyo del Macho gekreuzt und umgingen die weißen Narben des Bitter Lakes. Die untergehende Sonne stand hinter uns wie ein goldener Ball, als wir in Greasy Corners eintrabten. Von da an hatte ich wenig Zeit, über alte Abenteuer nachzubrüten. Ebensowenig wie Billy und Joe. Innerhalb weniger Stunden hatten wir viele neue, die uns beschäftigt hielten.
II DER WHISKEY-GLASS-KRIEG
1. Vom Augenblick an, als wir in Greasy Corners einritten - der Ort bestand aus nicht mehr als einem Dutzend Bruchbuden, die aus Adobeziegeln gefertigt worden und am Ufer des alkalischen Pecos verstreut waren -, wußte ich, daß ich an einen der seltsamsten und trostlosesten Orte gekommen war, die ich je in meinem Leben besuchen sollte. Ein oder zwei Schweine drückten sich an den Bruchbuden entlang, und ein paar staubige Köter scharrten auf der Straße, dann und wann mit dem Wind heulend. Die Schweine waren so dünn wie die Hunde, entmutigend für einen Mann, der an die feinen, fetten Schweine Pennsylvanias gewöhnt war. Es sah seltsam aus - mächtig seltsam, wie der kleine Yankee-Kapitän gesagt haben mochte. »Gibt nicht viel zu sehen, was, Sippy?« sagte Billy, als wir eintrabten. Doch dann grinste er - er wirkte aufgeregt, während Joe Lovelady lediglich deprimiert schien. Natürlich war Billy der junge Prinz, der über alles geliebte Junge der Stadt. Er gab seinem Pferd die Zügel und preschte mir und Joe voraus. Joe wirkte so melancholisch wie die Dämmerung, die mittlerweile die langgestreckte Ebene erfaßt hatte. »Du siehst nicht so fröhlich aus«, bemerkte ich. »Nein, mir gefällt Greasy Corners nicht«, sagte er ruhig. »Ich komme nur hierher, um Billy aufzuheitern.« »Ich sehe schon, daß es nicht gerade ein blühender Garten ist«, sagte ich. Das war eine Yankee-Untertreibung schlechthin. Die Scholle war derartig alkalisch, daß die Büffelgrasbüschel aussahen, als hätte man sie gesalzen; die Stiele der Salbeibüsche waren weiß. Ich fühlte mich ein wenig ängstlich. »Worauf muß man am meisten aufpassen?« fragte ich. »Auf die Leute muß man am meisten aufpassen«, sagte Joe. »Leute, die in dieser Stadt bleiben, interessieren sich nur für zwei Dinge.« »Welche?«
»Töten und sterben«, sagte Joe. 2. »Vielleicht werde ich irgendwann sterben, aber ich will verdammt sein, wenn ich es zulasse, enttäuscht zu sein«, sagte Will Isinglass in einer der seltsamen Unterhaltungen, die wir hatten, als ich nördlich von San Jon sein Gefangener war. Er verzehrte ein Beefsteak und hielt inne, um mich über den langen Tisch hinweg, den sein toter Partner, Lord Snow, aus England mitgebracht hatte, in Augenschein zu nehmen. Tropfen des Fleischsaftes befleckten seinen Bart. Er sah aus wie ein alter grauer Büffel - zottelige Mähne, großer Kopf. »Fünfundachtzig Jahre habe ich gelebt und jedes verdammte Ding bekommen, das ich wollte«, fügte er hinzu. »Abgesehen von einem Sohn mit Mumm, will ich wohl meinen«, sagte Cecily Snow. Verachtung tropfte aus ihrer Stimme wie der Saft aus dem Fleisch. Die Engländer wissen, wie man Verachtung Ausdruck verleiht. Einen Augenblick lang studierte Isinglass sie - ihre Feindseligkeit machte ihm so wenig aus wie ein Flohbiß, obwohl es sich bei ihr um eine wunderschöne Frau handelte, Tochter einer Familie, die in England sechshundert Jahre an der Macht gewesen war. »Nun, ein Welpe ist für gewöhnlich eine Last«, sagte Isinglass. »Ich fand's billiger, mir meine Hilfskräfte anzuheuern.« Trotzdem hatte er vier Söhne mit Cecilys Mutter, schwängerte Cecily dreimal, war der Vater von Katerina Garza, Flamme der cantinas, die er mit einer mexikanischen Frau gezeugt hatte, ebenso wie der Vater von Bloody Feathers, Falke der Jicarillas, der von einem Apachenmädchen stammte. Nach all den Jahren wundere ich mich immer noch über den alten Mann. Als die Totenglocke schließlich für all die Sweethearts geläutet hatte; als Cecily Snow von ihm gegangen und selbst Mesty-Woolah gefallen war; als die große Whiskey Glass Ranch ihm weggenommen wurde und ein Jahrhundert
auf seinen Schultern ruhte; als Billy Bone seine vier stummen Söhne getötet hatte und nur noch das mexikanische Mädchen und der indianische Krieger übrig waren, um von seiner Reise durch dieses gewaltige Land zu zeugen - kannte er da Reue? Selbst ich empfand Reue wegen Dora, einer Frau, die ihre Zunge benutzt hatte wie ein Kutscher seine Peitsche. Der eine, dem ich diese Frage stellen konnte, war Tully Roebuck, der traurige Sheriff, einer der Männer, die Isinglass hinter Billy hergejagt hatte, nachdem Mesty-Woolah tot war. Er und ich saßen im Schatten seiner Veranda in Lincoln und hörten zu, wie seine kleine blinde Tochter sanft in ihrem Schlafzimmer sang, als ich ihn fragte, ob er meinte, daß Isinglass zum Ende hin Enttäuschung gespürt habe. »Bezweifle ich«, sagte Tully und kippelte mit seinem Stuhl. »Old Whiskey war kein Mann, der sich selbst in Frage stellte.« 3. Das Außergewöhnliche an Will Isinglass bestand darin, daß er das Leben bis zu einem ungewöhnlichen Grad dazu zwang, seinen Erwartungen zu entsprechen. Die meisten von uns können das nicht - ich bin das beste Beispiel für jemanden, der nicht dazu in der Lage ist. Meine eigenen Erwartungen neigen dazu, abhängig von Richtung und Steifheit der Brise zu steigen oder zu fallen. Zehn Sekunden nachdem Joe Lovelady und ich Billy Bone in den China Pond gefolgt waren, bekamen meine eigenen Erwartungen prompt einen Dämpfer. Es handelte sich lediglich um einen trüben, verrauchten Saloon - weshalb Des Montaignes ihn ausgerechnet China Pond genannt hatte, wurde niemals geklärt. Joe und ich waren gerade durch die Tür getreten und linsten durch den Rauch, um Billy auszumachen, als die Waffen losfeuerten. Ich bin mir im klaren darüber, daß es sich hierbei um eine armselige Beschreibung handelt; niemals würde sie den Anforderungen eines Groschenromans genügen, doch befand ich mich zu jener Zeit auch nicht in einem Groschenroman. Ich
konnte die Männer nicht richtig erkennen - der Saloon war zu finster -, und alles, woran ich denken konnte, waren die feuernden Waffen. Der Lärm in dem kleinen Raum war so groß, daß er mich lähmte. Ich wollte zurück aus der Tür hinausrennen, doch schien die Botschaft nicht von meinem Gehirn zu meinen Beinen transportiert werden zu können. Andere hatten mehr Glück bei der Weiterleitung dieser Botschaft - es herrschte ein derartiger Andrang auf die Tür, daß ich förmlich von den Füßen gehauen wurde. Ich rollte gegen die Bar und versteckte mein Gesicht im Hut. Das war sehr archaisch gedacht - wenn sie dein Gesicht nicht sehen können, dann erschießen sie dich nicht -, aber ich hatte einfach furchtbare Angst. Dann hörten die Waffen auf zu feuern, was die Lage verbesserte. Trotzdem beschloß ich, mich für einige Minuten in meinem Hut versteckt zu halten, so unwürdig das auch sein mochte. Ich war mir nicht sicher, ob die Waffen wirklich mit dem Schießen fertig waren. Mein Verstand, gleich einer rasenden Spindel, versetzte mich zurück nach Philadelphia. Hier lag ich in Staub und Zigarettenkippen und bereute, Kate Molloy, ein äußerst ansprechendes irisches Hausmädchen, das mir gegenüber signalisiert hatte, daß sie dies zulassen würde, nicht geküßt zu haben. Ohne Zweifel sind es immer die ungeküßten Mädchen, an die man sich erinnert, wenn man drauf und dran ist zu sterben. So keß war Kate gewesen, so lebendig - was hatte mich abgehalten? Noch bevor ich darüber nachdenken und mich ob dieser Unterlassung grämen konnte, ergriff jemand meine Hosenbeine und begann mich quer über den staubigen Boden zu ziehen. Es war ein kleiner, wütender Mann in Wildleder mit schmierigem schwarzen Haar und verrottenden Zähnen - das genaue Abbild von Black Nick. Allerdings war er stark und flink. Mit einem Pfeifton fuhr ich über den Boden. Dann erspähte Billy mich.
»Hey, nicht so eilig, Dez«, sagte er. »Das ist mein Freund Mr. Sippy, nicht aus Mississippi. Zieh ihn nicht raus - ich glaub', er ist noch nicht mal getroffen.« »Bin ich auch nicht«, sagte ich duckmäuserisch, obwohl es eigentlich noch zu früh war, um sichergehen zu können. Des Montaignes war sofort beleidigt. Er ließ meine Beine fallen und zog ein mürrisches Gesicht. »Steh' auf, wenn du lebst!« sagte er einigermaßen frustriert. Ich schätze, ich hatte versehentlich die Zeit dieses Mannes verschwendet. Er marschierte hinüber in die Ecke, wo er auch sogleich einen Mann fand, der tatsächlich tot war. Während ich mich auf die Beine machte, zerrte er ihn hinaus. »Dez ist schwer am arbeiten«, sagte Billy. Er schien ungewöhnlich guter Dinge. Seine jungen Augen tanzten. Bald kamen die Leute, die mich auf ihrem Weg nach draußen umgerissen hatten, zurückgeströmt - eine eklektische Mischung ehemaliger Büffeljäger und pensionierter Revolvermänner. Billy riß einen guten Witz darüber, wie Des Montaignes mich für eine Leiche gehalten hatte, und so wurde ich den Sweethearts von Greasy Corners vorgestellt, während sie sich auf meine Kosten vor Lachen ausschütteten. 4. Hill Coe, Pleasant Burnell, Wild Horse Jerry, Simp Dixon, Happy Jack Marco, Moss Kuykendall, Ike Pumpelly und Vivian Maldonado waren im wesentlichen die Revolvermänner, die von Greasy Corners aus operierten, als Billy, Joe und ich dort waren. Unter den anwesenden Büffeljägern befanden sich Nute Rachal, Jim Saul, Hank Leedy, J. C. Smurr und Zack Stuckey. Ich lernte sie alle kennen und fast alle auch schätzen, doch muß ich zugeben, daß ich zu Anfang nervös war. Billy und Joe hatten mich von der absoluten Notwendigkeit überzeugt, die Leute sorgfältig auseinander zu halten, was Beruf und Reputation anging. Es könne, so versicherten sie mir, fatal enden, einen der Büffeljäger mit einem Revolvermann zu
verwechseln. Der Büffeljäger mochte mir auf den Rücken klopfen und mir einen Drink spendieren, wenn ich ihn zum Revolvermann beförderte, doch andersherum würde es nicht so funktionieren. Sollte ich zufällig einen berühmten Revolvermann fragen, wieviele Büffel er erlegt habe, so wäre rüde Behandlung das mindeste, mit dem ich zu rechnen hätte. »Die meisten würden einfach ihren Revolver ziehen und dich einmachen«, sagte Billy sachlich. »Hill Coe und die anderen haben einen Ruf zu wahren.« Hill Coe, der berühmte Marshal von Abilene und Dodge, hatte die kältesten Augen der Stadt und genoß den größten Respekt der Ortsansässigen. Lediglich der italienische Lebemann Vivian Maldonado, der sein Leben als Trapezkünstler aufgegeben hatte, um den Ruhm mit der Waffe zu suchen, schien als einziger geneigt, ihn herauszufordern. Der Rest bestand einfach nur aus den Gesellen des Owlhoot-Trails - ein vergnügter Haufen, wenn vergnügt, und mißmutig, wenn mißmutig. Jeder von ihnen - selbst Hill Coe - nahm sich vor Billy Bone in acht, einem Jungen mit wenig Erfahrung, jedoch rücksichtslosen Augen. »Sie haben keine Ahnung, was Billy anstellen wird«, lautete Joe Loveladys Analyse. »Sie wissen's nicht, und er auch nicht.« 5. Anscheinend verdankte Greasy Corners seine Existenz der reaktionären Natur der Büffeljäger. Wie die meisten menschlichen Wesen waren sie unwillig, sich um das Erlernen eines neuen Gewerbes zu bemühen. Man erzählte mir, daß Jim Saul, Nute Rachal und ihre Leute bis zum Ende in Fort Griffith, Texas, dem letzten großen Umschlagplatz für Büffelhäute, ausgeharrt hatten. »Und eines Tages dann häuteten wir den letzten Büffel und es gab nichts mehr zu tun«, sagte Jim Saul mit einem traurigen, müden Ausdruck in den Augen. Er hatte die Südherde noch in
jenen Tagen gejagt, als diese sich auf Hunderten von Meilen über die Plains erstreckt hatte. »Keiner von uns ist smart genug, sich seinen Lebensunterhalt mit Spielen zu verdienen«, sagte Hank Leedy. »Man braucht ein paar flinke Hände zum Kartenspielen.« »Ich hab' keine Ahnung, wo die ganzen großen Viecher abgeblieben sind«, sagte Nute Rachal - das melancholische Lied des Büffeljägers. Alle waren sie große Männer - das Fell von toten Büffeln abzuziehen, erfordert Muskeln. Den ganzen Tag pflegten sie im Schatten eines alten Unterstandes in Greasy Corners herumzusitzen, schnitzend und spuckend, wieder und wieder traurig über die leeren Plains blickend, wie alte müde Bären, deren Felle sich abgewetzt hatten. Ein paar hundert Büffel von der Südherde fanden ihre Weiden entlang des Rio Pecos. Jim Saul und die anderen waren von Texas herübergekommen und hatten sie getötet. Die Felle waren so schlecht, daß sie am Ende beschlossen hatten, es lohne sich nicht einmal, sie zu verschicken - südlich der Stadt lag immer noch ein riesiger Haufen Häute. Wenn der Wind drehte, war der Geruch stark genug, um einen zum Würgen zu bringen. Gerüchten nach gab es in Montana immer noch einige Büffel, doch die Berufsjäger aus Greasy Corners gingen nicht nach Norden. »Ich denk' lieber dran, daß es dort oben welche gibt«, sagte Jim Saul. »Wenn wir losreiten und sie töten, dann ist es nur die gleiche alte Geschichte.« Sie hatten alle Hoffnung verloren, und jeder wußte es. »Irgendjemand sollte sie einfach erschießen«, sagte Billy Bone. »Ich bin mir nicht sicher, ob sie kämpfen würden.« Doch als Mesty-Woolah mit seinen beinharten Reitern hereinbrach, da kämpften sie. Und Isinglass tötete sie, bis zum letzten traurigen Mann. 6.
Der Vorfall bei meinem ersten Besuch im China Fond war eine heftige Meinungsverschiedenheit zwischen Vivian Maldonado und einem Fremden gewesen, der sich die örtlichen Gebräuche nicht schnell genug aneignen konnte. Der Fremde war es auch, den Des Montaignes zur Hintertür hinauszerrte, nachdem er sich einmal über mich empört hatte. Billy begleitete mich zum Kartentisch, wo sich die Auseinandersetzung zugetragen hatte, und erteilte mir eine kurze Lektion. Selbst Napoleon beschäftigte sich nicht intensiver mit Schlachtplänen als Billy - und doch handelte es sich bei Billys Kämpfen einzig um impulsive Handlungen; erst nachdem die Leichen entfernt worden waren, gab er vor, einen Plan gehabt zu haben. »Der Fehler des Fremden bestand darin, zu dicht am Tisch zu sitzen«, erklärte er. »Jeder weiß, daß man mit Viv nicht zu nah am Tisch sitzen darf - wenn er zwei Blatt nacheinander verliert, neigt er dazu, dir mit einem Schweinepieker ans Leder zu gehen. Nun sieh dir Hill Coe an, seine Position ist perfekt. Er kann seine Karten erreichen, aber ist nicht in der Reichweite eines Messers.« Hill Coe, mit kalten Augen und prächtiger Reputation, kleidete sich wie ein alter Satteltramp. Er gab Karten an Simp Dixon, Happy Jack Marco und Vivian Maldonado. Letzterer lief in einer eleganten weißen Wildlederweste herum und hatte seine Haare pomadiert. »Billy, nimm' ein Blatt«, sagte Maldonado. Ich hatte solche Typen in Neapel gesehen, als Dora und ich eine Europareise machten. »Nein, ich bin heute nicht in der Stimmung, mich mit einem Messer stechen zu lassen, Viv«, sagte Billy scherzhaft. Happy Jack Marco, ein vergnüglich aussehender Kerl mit blauen Augen, saß ebenfalls ein gutes Stück vom Tisch entfernt. »Ich erwäge, mir einen Nigger zu heuern, der mir die Karten hält, wenn Viv übler Dinge ist«, sagte er in einem schleppenden Tonfall, der so zäh wie Melasse war. Happy Jack hatte einen Revolver im Schoß liegen - es schien, als habe in der Tat er den Fremden erschossen. Vivian Maldonado hatte sich in einem Wutanfall über den Tisch
gestürzt und die Kehle des Mannes durchschnitten, doch anstatt einfach ruhig zu sterben, hatte es der Fremde fertiggebracht, eine Waffe hervorzuholen und mehrere ungezielte Schüsse abzufeuern. »Happy Jack hat ihn sauber umgelegt«, sagte Billy bewundernd. »Yeah, Dez, bekomme ich nicht einen Freidrink dafür, die öffentliche Ordnung wiederhergestellt zu haben?« fragte Happy Jack. Des Montaignes war zurückgekehrt und trat Dreck vom Boden in eine Blutlache. »Geh'n Schwein bumsen«, gab Des Montaignes zurück. Derartig rauhe Worte waren in Greasy Corners an der Tagesordnung. »Also die verfluchten kleinen Schweine wollen mich nicht«, sagte Happy Jack. Er erntete allgemeines Gelächter. Selbst Hill Coe brachte ein Lächeln zustande. Dann hörte ich aus einer schummrigen Ecke in der Nähe der Theke sanftes, hohes Singen. Die laute Gesellschaft vernahm es ebenfalls, und mit einem Male wurde es still. Der Gesang stammte von einer alten gelbhäutigen Frau, die auf einem kleinen Hocker nahe dem Ende der Bar hockte. Sie war eine stämmige Frau, mit einer kraftvollen Stimme; und sie sang nicht einfach nur, sie sang in französisch: O fleuve profond, O sombre riviere . . . »Das ist La Tulipe«, sagte Billy. »Sie kennt die Vergangenheit und die Zukunft.« Das Singen der alten Frau wurde lauter - es schien geradezu aus ihrer Kehle zu quellen. Jim Saul und die anderen Büffeljäger standen mit Tränen in den Augen dort und hörten zu - vielleicht erinnerte sie die heisere Stimme La Tulipes an das Muhen der Tiere, das sie alle vermißten. Dann ebbte das Lied wieder zu wortlosem Gesumme ab, während die alte Frau auf ihrem Hocker vor- und zurückschaukelte.
Bevor irgend jemand ihn daran hindern konnte, eilte Des Montaignes hinüber und trat La Tulipe vom Hocker. Sie war seine Frau - ich schätze, er glaubte, das Recht dazu zu haben. Gerade wollte er sie wieder treten, doch bevor er dazu kam, trat Billy Bone vor und hielt ihm einen Revolver an seinen dürren Kiefer. »Du mißhandelst die Tulip nicht«, sagte Billy. »Denn wenn du's tust, könnte ich mich dazu entschließen, dir dein Hirn aus der Hintertür zu blasen.« Des Montaignes war ein gewalttätiger, schmutziger alter Mann. Doch er hatte Biber im Gebiet der Schwarzfußindianer und der Cheyenne im Norden gefangen; er hatte mit den Schoschonen und den Yankton-Sioux gelebt, Sklaven an die Comanchen und die Kiowa verkauft und Hundefleisch mit den Mandans gegessen. Man sagte, er habe ein Vermögen am nördlichen Red River gemacht und es am südlichen wieder verloren. Man behauptete von ihm, daß er jeden Strom und Lagerplatz von den Quellen des Missouri bis zur Mündung des Rio Grande kannte. Kurzum, der Mann hatte Zeit gehabt, ein wenig gesunden Menschenverstand zu sammeln. Er trat seine Frau nicht noch einmal. »Diese traurigen Lieder sind schlecht fürs Geschäft«, sagte er entschuldigend. »Nicht so schlecht, wie wenn ich dir in den Kopf schieße«, bemerkte Billy trocken. Dann steckte er seine Waffe weg und half La Tulipe zurück auf ihren Hocker. »Ein Wolf wird dich fressen und als grüne Pfütze ausscheißen«, sagte sie zu ihrem Ehemann in klarem, wenn auch heiserem, Englisch. Gemessen an den Umständen, war dies den Dingen, die Dora mir für gewöhnlich sagte, nicht unähnlich. 7.
Nachdem Des Montaignes damit aufgehört hatte, sein Weib zu treten, ging er zurück und trat noch ein wenig Dreck auf das Blut, das der Fremde vergossen hatte. Er hatte den Boden entlang einer Wand nicht schlecht durchnäßt. Keiner der Kartenspieler stand auf, um Des zu helfen. Es mag sein, daß das unbeschwerte Leben ein wenig zu viel Sensibilität erzeugt. Ich halte mich nicht für ungewöhnlich zimperlich, doch machte mich der Anblick all dieses frischen Blutes mit einem Mal so empfindlich, daß ich hinauseilte, um ein wenig frische Luft zu atmen. Joe Lovelady war bereits hinausgegangen. Er hockte an eine Wand gelehnt und rauchte. »Ich wünschte, Tully würde auftauchen, damit wir von hier verschwinden können«, sagte er. Tully, das war Tully Roebuck, ein Mann, mit dem Joe und Billy gelegentlich als Cowboys ritten. Einmal waren sie für Isinglass geritten, doch Billy war als Cowboy eine Niete, und als er gefeuert wurde, gingen Joe und Tully aus Loyalität mit. Isinglass hatte natürlich erkannt, daß Joe Lovelady, jedenfalls als Cowboy, ein Juwel war; er bot ihm an, ihn zum Vormann der Whiskey-Glass Ranch zu machen, und dies zu einem Zeitpunkt, als die Ranch über drei Millionen Morgen ausmachte - den größten Teil Neu-Mexikos und ein großes Gebiet von West-Texas. Als Vormann der größten Ranch auf der Welt ausgewählt zu werden, war eine ganz schöne Ehre, doch Joe Lovelady lehnte freundlich ab und ritt mit seinem leichtsinnigen jungen Freund Billy Bone davon. »Außerdem kann ich es nicht leiden, Männer zu kommandieren, die älter sind als ich«, erklärte Joe später. Möglicherweise wirkte ich ein wenig wackelig auf den Beinen, als ich aus dem Saloon kam. »Du benimmst dich so, als wärst du krank«, sagte er. »Nun, im Saloon war es ein wenig schwül«, gab ich zu. Die Präriedämmerung schwand, doch es war noch nicht vollkommen dunkel. Ich hockte mich, in einem Versuch, Joe zu imitieren, an die Wand - in Fragen der Westernetikette und des Benehmens war er zu meinem Vorbild geworden.
»Diese alte Frau singt Lieder, die einem das Gefühl geben, man müsse bald sterben«, sagte Joe. Das war eine angemessene Beschreibung der Musik La Tulipes. »Ich glaube nicht, daß ich mich hier niederlassen würde, wenn ich für ein langes Leben planen würde«, bemerkte ich. »Nein, aber für Revolvermänner ist es ideal«, sagte Joe. »Sie haben keine Pläne.« 8. Als ich die Revolvermänner besser kennenlernte, erkannte ich, daß Joe Recht hatte. Die Mehrheit schaute nie weiter voraus als bis zum nächsten Blatt Karten. Insgesamt waren ihre Aussichten ebenso trübe wie die der Büffeljäger. Der Groschenromanautor mag die Revolvermänner als selbstbewußten, zufriedenen Haufen darstellen - dessen habe ich mich selbst schuldig gemacht -, doch in Wahrheit waren sie vorwiegend enttäuschte Männer. Sie verbrachten ihr Leben in den wüsten Salons häßlicher Städte; sie ernährten sich von schrecklichem Essen und tranken Schnaps von abscheulicher Qualität; wenige von ihnen brachten es fertig, die richtigen Leute zu erschießen, und noch weniger schafften es, glorreich in einem Duell mit ihresgleichen zu sterben. Die Mehrheit von ihnen wurde einfach von irgendeinem dreisten Fremden erschossen wie dem Betrunkenen, der den großen Hickok ermordete. Ein Cowboy wie Joe Lovelady mochte keine festen Pläne haben, doch zumindest hatte er Traume. Ich glaube, Joe sah sich selbst, wie er eine kleine Ranch irgendwo in einem friedlichen Tal betrieb, mit einer Frau und Kindern und Heu in der Scheune und einem guten Reitpferd, das er liebte. Greasy Corners paßte nicht in seine Pläne - er meinte nur, Billy ein wenig Urlaub zugestehen zu müssen. Ich hatte es mir kaum in der Hocke bequem gemacht, als wir das Krachen von Revolverfeuer und den Klang von Hufen, von vielen Hufen, vernahmen. Das Geräusch kam aus dem Süden, aus der Richtung des Bitter Lake.
»Das könnte euer Mann Tully sein«, schlug ich vor. »Nein, das ist er nicht«, sagte Joe. »Tully Roebuck reist meistens allein. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er überhaupt hier auftaucht. Manchmal ist Tully einfach nicht in der Stimmung für Gesellschaft.« Ich war immer noch damit beschäftigt, mich an den Klang von Mündungsfeuer zu gewöhnen - in Philadelphia hört man es recht selten, jedenfalls nicht auf Chestnut Street. »Ich glaube, das sind nur Los Guajolotes, die ein bißchen Spaß haben wollen«, sagte Joe in völliger Ruhe. »Los was?« fragte ich. »Guajolotes«, wiederholte Joe und schrieb mir mehr Spanischkenntnisse zu, als ich besaß. Ich war unwillig, mein Unwissen zur Schau zu stellen, doch wurde das Revolverfeuer lauter - es klang, als würde eine kleine Armee auf die Stadt zureiten. »Was sind Guajolotes?« fragte ich in der Hoffnung, das Wort würde etwas wie Miliz oder irgendetwas Offizielles und Gutartiges bedeuten. »Truthähne«, sagte Joe. »Die Truthähne. So nennt Katie Garza ihre Bande.« 9. Mir ist oft in den Sinn gekommen, daß der Wilde Westen ein sicherer Platz gewesen wäre, wenn man Feuerwerkskörper der Allgemeinheit ein wenig früher zugängig gemacht hätte. Es hätte nichts besonderes sein müssen - lediglich ein paar Knaller und ein bißchen Goldregen, das übliche Zeug vom Unabhängigkeitstag. Niemand macht sich ein Bild davon, wie weit Leute im Westen zu gehen bereit sind, um ein wenig Krach zu hören. Sehen Sie, weite Teile des Landes waren still und leer - die Männer in der einsamen Reihe von Hütten um die IsinglassRanch herum bekamen unter Umständen monatelang nichts anderes zu hören als das Heulen des Windes und der Kojoten. Sie veranstalteten soviel Krach, wie sie nur konnten, indem sie
das Vieh anschrien und anpfiffen. Sie kratzten auf Fideln und bliesen in Mundharmonikas - Lady Snow brachte sogar Billy bei, wie man spielt, obwohl er nie ein vollständiges Lied lernte. Aber die Stille der riesigen Ebene trug weiter als derartig mickrige Klänge. Ich bin mir sicher, daß ein paar Wunderkerzen den meisten der Caballeros, die mit Katerina Garza ritten, genügt hätten; vielleicht hätten sie sogar den meisten Revolvermännern genügt. Ihr Leben war trostlos und langweilig: Die lebhafteren unter ihnen wußten ein wenig Krach an und an zu schätzen und sahen gern ein paar Funken in der Nacht. Und die einzigen Krachmacher und Funkenschläger, über die sie verfügten, waren ihre Revolver. Noch bevor ich mich bei Joe Lovelady danach erkundigen konnte, weshalb eine Banditenlady ihre Bande die Truthähne nannte, raste selbige Bande wild in den Himmel ballernd vor den China Fond. Das Pferd an ihrer Spitze war eine weiße Stute - ich nehme an, das Rennen in die Stadt hatte sie erregt, denn sie kämpfte gegen die Zügel und tänzelte, als ihre Herrin sie zum Stehen brachte. Ein Köter jaulte, worauf sich eines der Banditenpferde aufbäumte. Das Pferd warf den Banditen ab, der daraufhin eine Pistole zog und mehrere Male auf den Hund schoß. Die junge Frau, im Herrensitz auf dem weißen Roß - für mich sind es immer noch Rösser; jetzt sind wir wieder bei den Groschenromanen -, schien verärgert darüber, daß der Caballero versucht hatte, den Hund zu erschießen, der für seinen Sturz verantwortlich war. »Wenn du den Hund triffst, dann kochst und ißt du ihn«, sagte sie. »Es ist nicht der Fehler des Hundes, daß du nicht reiten kannst.« Ich bin mir nicht sicher, ob der Caballero sie gehört hatte gekränkt stampfte er im Kreis herum und schoß ins Leere. »Erschießen wir ihn und nehmen sein Pferd, er kann sowieso nicht reiten«, schlug ein anderer Caballero vor. Das erntete allgemeines Gelächter, was die Laune des wütenden Banditen nicht verbesserte.
»Nein, spart die Kugeln, wir könnten gezwungen sein, ein paar von diesen Weißen zu erschießen«, sagte Katerina. Mit einer selbstbewußten Bewegung schwang sie sich von der weißen Stute - es erinnerte mich an die Art, wie manche Damen sich vom Lager der Liebe erheben. Dann bemerkte sie uns. »Joe, bist du's wirklich?« fragte sie in sanfterem Ton. »Hallo, Katie«, sagte Joe und erhob sich. Dann, zu meiner Überraschung, umarmte er die Banditenkönigin lang und ausgiebig. 10. Während Joe und Katie sich umarmten, trat Billy Bone hinaus - vermutlich hatte die Schießerei ihn neugierig gemacht. So war er: Wo immer er Gewalt finden konnte, suchte er sie auf, und dies war sein Verhängnis, wie ich in meiner kleinen Novelle Billy The Kid; oder, Das Verhängnis Des Wandernden Jungen, die ich schrieb, nachdem alles bereits Geschichte war, versucht habe aufzuzeigen. Meine Geschichte war es, die seinen Spitznamen, Billy the Kid, hervorbrachte - ganz gewiß wäre keiner im ganzen Territorium Neu-Mexikos so töricht gewesen, ihn so zu nennen, während er noch am Leben und gut bewaffnet war. Aber als er an jenem Abend aus dem China Pond trat, begegnete er keiner Gewalt. Stattdessen sah er seinen Freund Joe Lovelady, wie dieser gerade eine Frau umarmte, und ich glaube, das schockierte ihn mehr, als wenn die sieben oder acht Caballeros tot auf dem Boden gelegen hätten. Die Caballeros schockierte es ebenfalls. Der Mann, den sein Pferd abgeworfen hatte, hörte auf, dem längst verschwundenen Hund hinterherzuschießen, und sie standen alle tatenlos herum. »Ich wußte nicht, daß Joe eine Mätresse hat«, flüsterte Billy mir später am Abend zu. Irgendwo hatte er diesen Begriff aufgeschnappt. Wir standen an der Bar im China Pond und sahen zu, wie Katie mit Viv Maldonado tanzte.
Katie war eine Schönheit, mit rabenschwarzem Haar und den dazu passenden Augen. Ihre Weste war mit kleinen Silbernuggets zugeknöpft, die ihr von einem Bewunderer verehrt worden waren, und ihre Bluse hatte sie mit Pailletten übersät, die beim Tanzen glitzerten. La Tulipe, die alte Kreolenfrau, spielte Kastagnetten für die Tänzer. Vivian Maldonado, der sich vielleicht an die alten Tage auf dem Trapez und an den Applaus der Menge erinnerte, gab sich mächtig akrobatisch, doch war sein Schritt niemals zu flink für Katie Garza. »Ich weiß nicht, ob sie seine Mätresse ist, nur weil er sie in den Arm genommen hat«, sagte ich, während wir dem Tanz zuschauten. »Doch das ist sie!« sagte Billy, sich in dieser Angelegenheit völlig sicher. »So ist Joe, nur Geheimnisse - nie weiß man, was er wirklich denkt«, fügte er hinzu. Es wurde deutlich, daß er die Meinung über seinen Freund, der draußen immer noch an der Wand hockte, revidieren mußte. Joe Lovelady mochte keine Saloons, selbst jetzt nicht, wo Katie Garza da war und Leben in die Bude brachte. Und sie brachte sie in Fahrt - was für eine Lebhaftigkeit sie besaß! In Philadelphia wäre sie bald zum Star der größten Bälle geworden. Hill Coe und Pleasant Burnell und einige der anderen Revolvermänner saßen ein wenig aufrechter und versuchten zu glänzen; aber natürlich ist es für einfache amerikanische Revolvermänner schon per se ein aussichtsloses Anliegen, einen italienischen Zirkusartisten übertrumpfen zu wollen. Katie machte sich nur die Tatsache zunutze, daß Vivian tanzen konnte. Augen hatte sie nur für Billy, den unbeholfenen Jungen, der nicht wirklich wußte, was eine Mätresse war, obwohl die Huren der Minenarbeitersaloons in Colorado seine einzigen Tanten und Kindermädchen gewesen waren. »Dieser Joe redet nicht viel«, murmelte er, so verärgert über die Zurückhaltung seines Freundes wie er es am Tage, als wir uns begegneten, über dessen Kompetenz gewesen war.
»Ich schätze, als nächstes wird er heiraten«, sagte er düster. »Dann habe ich keinen Kumpel mehr außer dir, Sippy, und du und ich verhungern, wenn Joe nicht Futter für uns auftreibt.« In dieser Hinsicht hatte er Recht, aber was Joe und Katie anging, irrte er sich - in Liebesangelegenheiten konnte er auf keine Erfahrungen zurückgreifen, lediglich auf seine kindlichen Phantasievorstellungen. Er dachte, Liebe gäbe es nur in Schlagzeilen, doch das wußte ich besser. Dora hatte mir beigebracht, daß es sich bei den meisten Sachen um Kleingedrucktes handelte. »Ich glaube nicht, daß sie heiraten werden, Billy«, sagte ich. Ich hatte die Blicke, die Katie in seine Richtung schleuderte, bereits bemerkt. In Philadelphia war mir häufig aufgefallen, daß Frauen automatisch einen Hang zu Männern mit Reputation haben. »Oh, ganz sicher werden sie heiraten, Joe Lovelady kann es nicht abwarten, sich wieder niederzulassen«, sagte Billy in einem Anfall von Düsterkeit. Die Büffeljäger und die Caballeros standen steif herum, versuchten nicht gegeneinanderzustoßen oder Des Montaignes zu verärgern; die Revolvermänner fuhren mit ihrem förmlichen Kartenspiel fort, obwohl die bloße Anwesenheit Katerinas das Interesse erheblich von den Karten abgelenkt hatte. »Dieser Joe Lovelady erzählt nicht viel, stimmts?« sagte Billy, immer noch beunruhigt wegen der Umarmung. 11. In jenem verstunkenen Saloon, zu der Musik von Kastagnetten, begann die große Liebesgeschichte des Westens. Denn Katie Garza war Billys große Liebe, und Billy war ihre. Katie war mit ebenso lückenhaftem Wissen aufgewachsen wie er; töten oder getötet werden, war ihre Devise, ebenso wie die seine. Ich möchte nicht behaupten, Lady Snow hätte keine Rolle in diesem Schauspiel haben sollen - man kann einen traurigen Jungen wie Billy nicht davor bewahren, eine so
atemberaubende Schönheit zu begehren. Und das war sie an dem Tage, als sie uns in dem kleinen Präriebachbett über den Weg lief. Doch ging es bei der Geschichte mit Cecily Snow mehr um reine Faszination: In der kurzen Zeit, die sie zusammen verbrachten, bot sie ihm kurzzeitig die Möglichkeit zur Flucht von den rauhen Sitten des Landes, in dem Billy sein Leben lebte. »Er mochte sie, weil sie weiß und sauber war«, sagte Katie Garza in ihrer Bitterkeit. Tully Roebuck war es, der von dieser Bemerkung berichtete. Schmerzliche Worte, auch wenn Tully dies nicht bemerkte er leitete die Bemerkung einfach weiter, wie er jede andere weitergeleitet hätte. Katie Garza ging es schlecht an einem verkommenen Ort - es muß sie fast umgebracht haben, daran zu denken, daß sie Billy an eine Frau verloren hatte, die Diener beschäftigte, um ihre Kleider zu bügeln und ihre feinen Laken zu wechseln. Ich passe eigentlich nicht richtig in das Schauspiel - ich nenne es ein Schauspiel -, doch als die Toten sich auf den Plains häuften, schien es mir immer mehr wie eines dieser großen Kriegsepen, Homer oder Roland oder Horatius an der Brücke. Ich folgte lediglich Billy auf seinem blutigen Weg - ein wandernder junge, der seinem Verhängnis nur einen Schritt voraus war. 12. Die Romanze, über die bald der ganze Westen redete, begann mit einem freundschaftlichen Wettschießen zwischen Billy und Katie am Morgen, nachdem sie sich begegnet waren. Die nächtlichen Aktivitäten im China Pond hinterließen eine beträchtliche Menge leerer Flaschen. La Tulipes Aufgabe bestand jeden Morgen darin, einen kleinen Karren mit diesem Leergut zu beladen, und es ungefähr eine viertel Meile weit aus der Stadt an eine Stelle zu schaffen, wo immer noch Teile einer
alten Mauer aus Adobeziegeln standen. Sie besaß einen phlegmatischen Esel namens Bonaparte, der den Wagen zog niemand in Greasy Corners konnte sich erklären, wie sie auf diesen Namen gekommen war. La Tulipe reihte für gewöhnlich die Flaschen oben auf der alten Mauer auf, wenn es ein windstiller Tag war, oder, bei einer steifen Brise, auf den Steinen vor der Mauer. Dann setzte sie sich, rauchte ihre lange Pfeife und sang Bonaparte, dem Esel, kleine Liedchen auf Französisch vor. Die Revolvermänner schüttelten einer nach dem anderen ihre Katerverstimmungen ab und spazierten hinaus zu der Mauer, um ein wenig zu üben. Billy, Joe und ich lagerten am Rio Pecos, nicht weit von der Stadt entfernt. Katie und Los Guajolotes hatten ihre Nachtlager in der Nähe aufgeschlagen - drei oder vier der Caballeros grölten und sangen fast bis zum Tagesanbruch. Beim Frühstück, während Billy schlummerte, schlürfte ich bitteren Kaffee und fragte Joe, wie er Katerina Garza kennengelernt hatte. »Ich bin ihr einmal behilflich gewesen«, sagte er. »Sie reitet diese unheimlichen Pferde. Ich habe sie verletzt in den White Sands gefunden - ihr Pferd hatte sie abgeworfen und an den Kopf getreten.« Ich wartete auf mehr Informationen, doch das war es für den Moment. Wie Billy schon gesagt hatte, war Joe sparsam mit seinen Worten. Einen Monat später ließ Joe einige weitere Worte der Erinnerung verlauten. »Als Nelly und das Baby im Sterben lagen, ist Katie gekommen und bei uns geblieben«, sagte er. »Sie hat mir dabei geholfen, die Gräber auszuheben.« Mehr sagte er nicht darüber, doch ging aus diesen wenigen Worten hervor, daß er immer für Katie Garza zur Verfügung stehen würde. Der Lärm von den Morgenübungen der Revolvermänner weckte Billy schließlich auf. Er setzte sich auf, umfaßte seine Knie und gähnte. Durch sein Haar, das als Tolle in seine Stirn hing, wirkte er sehr jung.
»Komm', gehen wir zuschauen«, sagte er. »Kann nicht schaden zu wissen, wer von diesen Narren schießen kann.« »Hill Coe kann schießen«, sagte Joe. Hill Coe mochte aussehen wie ein alter Satteltramp, seine Morgenübungen nahm er jedoch ernst. Man sagt, daß er jeden Tag seines Lebens fünfzig Schuß zur Übung verschoß. Ich stelle gern kleine Rechnungen an. Als wir zum Schießplatz hinüberspazierten, legte ich Billy und Joe dar, daß er so auf 18250 Kugeln im Jahr kam, ohne die, die er in brenzligen Situationen verschoß. »Achtzehntausend Kugeln im Jahr!« sagte Billy. »Überlegt mal, was das kostet! Soviele Kugeln könnte man nicht mal in La Tulipes Flaschenkarren packen.« Mehr noch als die meisten lebte Billy in seiner eigenen Welt. Joe Lovelady schien die einzige Person zu sein, die Neugier in ihm erzeugte - zumindest so lange, bis Katie auftauchte. Meine kleine Rechnung beeindruckte ihn: Achtzehntausend war vermutlich die höchste Summe, von der er je in seinem Leben gehört hatte. »Beeilen wir uns«, sagte er, seine Tolle unter dem alten Hut versteckend. »Ich würde gern mal sehen, ob er sein Geld aus den Flaschen wieder rauskriegt.« Während wir das Flußufer entlanggingen, stieß Katie Garza zu uns. Sie wirkte ein wenig mürrisch, doch obwohl ihre Haut von Wind und Sonne leicht aufgerauht war, lag immer noch ein Glanz auf ihr. Sie trug eine Pistole und hatte einen Patronengurt über die Schulter geworfen. »Ich würde ihnen raten, mich schießen zu lassen«, sagte sie im Tonfall eines kleinen Mädchens, das nicht sicher ist, ob die Jungs sie mitspielen lassen werden. Als wir ankamen, schossen gerade Pleasant Burnell und Happy Jack. Wild Horse Jerry, ein gemeines kleines Frettchen, verhöhnte sie, und tatsächlich verfehlten die beiden mehr Flaschen als sie zerschossen. Gelegentlich prallte eine Kugel von der Mauer ab und zog mit einem Pfeifton eine Furche durch das Gras. »Wenn das ein Kampf wäre, wärt ihr beide schon in der Hölle«, erklärte Jerry.
Pleasant Burnell, der seinem Namen selten Ehre machte jedenfalls nicht in meiner Gegenwart -, spuckte einen Schwall Kautabaksaft nach seinem Kritiker. »Ich bin froh, wenn der große Nigger kommt und dir deinen Kopf abschneidet«, sagte er - eine Reverenz an Mesty-Woolahs Lieblingsexekutionsmethode. »Der große Nigger kriegt ein Bleifrühstück zu essen, wenn er in meine Nähe kommt«, gab Jerry zurück. Sie beendeten ihren Durchgang, und Hill Goe ging zur Mauer hinüber, um ungefähr dreißig Flaschen sorgfältig aufzureihen. Bisher hatte niemand das Wort an Katie Garza gerichtet - sie ignorierten die Tatsache, daß eine Frau bei ihrem Übungsschießen anwesend war, einfach stillschweigend. Katie war niemand, der mit seiner Ungeduld lange hinter dem Berg hielt. Hill Coe kam zurück an die Schußlinie und zog sich sorgfältig seinen Schießhandschuh über. Die Revolvermänner, von denen die meisten gespuckt und gehustet hatten, versuchten sich ein wenig respektvoller zu versammeln. Billy Bone wirkte belustigt - er hatte vor keinem von ihnen besonders große Hochachtung. Als Full Coe daran ging zu feuern, meldete sich Katie Garza zu Wort. »Mr. Coe, Sie sind ein Spieler«, sagte sie. »Ich fordere Sie zu einem Spiel heraus.« Hill Coe schien verdutzt. Wenige Frauen sprachen ihn so verwegen an. »Ich bin der Meinung, besser schießen zu können als Sie«, sagte Katie. »Ich habe hundert Dollar, die genauso denken.« Die Revolvermänner wirkten größtenteils peinlich berührt, obwohl Wild Horse Jerry uns mit einem gemeinen Grinsen ehrte. Katies Herausforderung wurde als Affront angesehen ein junges Banditenmädchen, das nur hier in der Umgebung eine gewisse Reputation besaß, hatte den berühmten Marshal von Abilene und Dodge herausgefordert. Doch Billy Bone betrachtete sie mit neuen Augen. Dies war genau das, was er selbst unternommen hätte, um seinen Mumm zu beweisen, egal ob er eine Chance hatte oder nicht. »Nun, Miss, es wäre wohl kaum passend, Ihr Geld so früh am Morgen an mich zu nehmen«, sagte Hill Coe eher förmlich.
»Ich glaube nicht, daß du sie schlagen kannst«, sagte Billy laut. Joe Lovelady betrachtete die kleine Szene ruhig, so, wie er den Rest des Lebens betrachtete. Doch die Revolvermänner waren aufgeregt. Selbst unter den besten Umständen waren sie ein unwirscher Haufen und lehnten alles ab, was ihre übliche Routine bedrohte. »Ich glaube, sie wird dir die Haut abziehen, Hill«, sagte Billy und wußte genau, daß er damit den alten Revolvermann auf einen Haken gehängt hatte, von dem dieser nicht wieder herunterkommen konnte. »Die Tulip kann das Geld nehmen«, sagte er. »Ich setze meins auf die Lady.« Hill Coe sah trübselig drein, doch einen Augenblick später nickte er Katie höflich zu und beendete die Adjustierung seines Handschuhs. 13. Bald war man sich über die Regeln des Wettkampfes einig: Jeder Teilnehmer mußte auf zwanzig Flaschen schießen; im Falle eines Unentschiedens würden sie abwechselnd auf die Flaschen zielen, bis einer von ihnen danebenschoß. »Also, Hill kann den ganzen Tag schießen und nicht danebentreffen«, sagte Happy Jack. »Wenn Katie keinen Schnitzer macht, dann müssen wir nach einer Weile rüber nach Roswell rasen und noch ein paar Flaschen holen.« La Tulipe lachte herzhaft. Im Tageslicht sah sie aus wie eine Mulattin, hochgelb, wie man im Süden sagt; es war offensichtlich, daß sie in ihrer Jugend eine Schönheit gewesen war. »Worüber lachst du alte Schlampe?« frage Pleasant Burnell. Zwischen ihm und La Tulipe herrschte Feindschaft. »Ich lache beim Gedanken daran, wie ruhig du sein wirst, wenn du tot bist«, gab La Tulipe zurück. Katie Garza schoß als erste. Sie setzte sich, kreuzte ihre Beine, legte ihren Revolver auf den Unterarm und machte sich
daran, zwanzig Flaschen zu zerschmettern. Es war die kaltblütigste Vorstellung, die man sich denken kann - denn natürlich warteten alle Revolvermänner darauf, daß sie danebenschoß. Als sie nach der achtzehnten zerschossenen Flasche innehielt, um zu laden, herrschte unter den Männern eine nicht unbeträchtliche Spannung - Billy einmal ausgenommen. »Sie hat nicht vor, danebenzuschießen, oder?« flüsterte er. Er selbst war kein guter Schütze, und ich glaube, es erstaunte ihn, daß eine Frau so gut schießen konnte. Seelenruhig zerkrachte Katerina die letzten zwei Flaschen, schüttelte die zwei Hülsen aus, lud wieder und stand auf. »Mit der ersten Runde bin ich zufrieden«, sagte sie. »Nicht schlecht geschossen, Miss Garza«, sagte Hill Coe ausgesprochen liebenswürdig. Er trat an die Schußlinie und wartete zuversichtlich, während Happy Jack seine zwanzig Flaschen oben auf der Mauer aufreihte. Es lag sogar ein wenig Glanz auf ihm möglicherweise nahm er an, daß er es Katie angetan haben könnte und die Herausforderung ein Trick war, um sein Interesse zu erregen. Dann hob er seine Pistole, wie er es achtzehntausendmal im Jahr für viele Jahre getan hatte - und schoß mit seinem ersten und einzigen Schuß sauber daneben. 14. Eine übereilte Bewegung, das Zucken eines Fingers, die kleinste Fehlkalkulation - ich bin der Ansicht, weiter stehen wir alle nicht vom Ruin entfernt. Wußte Chittim, daß er sich auf dem Weg nach meinem morgendlichen Groschenroman, den er doch schon so oft zurückgelegt hatte, auf den Gehsteig liegen und sterben würde? Ich bezweifle, daß er es wußte - genausowenig wie Hill Coe an jenem sonnigen Morgen auf den Plains und in perfektem
Licht gewußt haben konnte, daß sein Lebensbogen brechen würde. Doch da war es passiert: Er schoß daneben. Die Kugel schnitt fünfzig Yard hinter der Mauer ins Präriegras. Die zwanzig Flaschen standen immer noch dort, unberührt: Katerina Garza hatte den Wettstreit gewonnen. Dies kam derartig unerwartet, daß für einen Augenblick niemand von uns glauben konnte, daß es wirklich passiert war. Hatte er die Waffe wirklich abgefeuert und die Flasche verfehlt, oder träumten wir alle? Die Revolvermänner waren einfach sprachlos; nicht ein einziges Wort wurde gemurmelt. Hill Coe blickte auf seine Pistole hinab, auf seinem Gesicht stand ein Ausdruck schwachen Erstaunens - es muß ihm schwergefallen sein zu glauben, daß der Fehlschuß, der da durchs Gras schnitt, aus seiner eigenen, verläßlichen Waffe stammte. Ich glaube, sogar Billy schämte sich für den alten Marshai. »Das hat wirklich nicht lange gedauert«, sagte er mit einem schiefen Grinsen zu Joe. Pleasant Burnell erwachte aus seinem Schock und drehte sich in Windeseile zu La Tulipe herum. »Diese alte, gelbe Niggerin ist schuld«, sagte er. »Sie hat Hill verhext, wir sollten sie ersäufen.« La Tulipe lächelte. »In diesem Land gibt's nich' genug Wasser, um mich zu ersäufen«, sagte sie. »Es gibt auch nicht genug Holz, um mich aufzuhängen.« »Von einer Kugel kannst du allerdings genauso sterben«, legte Wild Horse Jerry dar. »Und genug Dreck zum Gräberschaufeln gibt es in dieser Gegend.« Er blickte sich um, als erwarte er Applaus für seine Schlagfertigkeit. »Wenn hier irgendwelche Gräber geschaufelt werden sollten, dann bist du der erste, der es sich in einem bequem macht, Jerry«, sagte Billy Bone. »Ich halte dich ohnehin für einen Falschspieler.« »Nun, Bill, das ist eine böse Anschuldigung«, sagte Jerry in unfreundlichem Ton.
Ich hatte den Eindruck, daß sich ein Kampf anbahnte, obwohl sich eigentlich niemand bewegt hatte. Katie Garza hielt immer noch ihren Revolver in der Hand. Billy deutete mir, zurück aus der Schußlinie zu treten. »Daß mir keiner den alten Yankee hier erschießt«, sagte er. »Er ist nicht bewaffnet.« Wahrscheinlich hatte er mich heute morgen dabei beobachtet, wie ich meine Derringer aus den Stiefeln genommen habe. Ich hatte nie Gelegenheit, einen von ihnen abzufeuern, und sie erzeugten fürchterliche Blasen. Ich weiß nicht, was geschehen oder wer in dem kommenden Kampf gefallen wäre, wenn Simp Dixon nicht ausgerechnet in diesem Augenblick aufgewacht wäre. Simp, ein kurzer, fetter Mann, der niemals seinen Hemdzipfel in der Hose halten konnte, hatte an einem warmen Plätzchen nicht weit nördlich von der Mauer ein kleines Schläfchen gehalten. Zielschießen schien seinem Schlummer keinen Abbruch zu tun. Unvermittelt sprang Simp auf und schlenderte in unsere Mitte. Seine Hemdzipfel hingen heraus, und seine Augen hatten einen verschlafenen und verkaterten Ausdruck. »Jungs, falls ich an der Reihe sein sollte, ich bin bereit«, sagte er. Niemand sagte ein Wort. Simp betrachtete dies als Ermutigung. Er gähnte, zog seine Pistole heraus und feuerte beiläufig. Sein erster Schuß ließ die Flasche explodieren, die der berühmte Hill Coe soeben verfehlt hatte. »Die erste treff ich immer, aber dann ist's Essig mit meiner Zielgenauigkeit«, sagte Simp. Anschließend machte er sich daran, die Wahrhaftigkeit seiner Behauptung zu beweisen, indem er die nächsten fünf Male danebenschoß - was zum Teil vielleicht daran lag, daß er mit der freien Hand versuchte, seine Hemdzipfel in die Hose zu stecken. Einer der Schüsse prallte von der Mauer ab und kam Happy Jack so nahe, daß dieser wild mit seinem Hut danach schlug. Dann sah er verlegen drein. »Dachte für einen Augenblick, dort wäre eine Hummel gewesen«, erklärte er.
Doch die Tatsache, daß Simp Dixon im Halbschlaf die gleiche Flasche getroffen hatte, die der arme Hill Coe verfehlt hatte, gab dem den Rest. Er schien fast zu erschöpft, seine Pistole zurück in den Holster zu stecken - ich sah, wie er zwei Anläufe nahm, bis es ihm schließlich gelang. Die Revolvermänner, für den Kampf gerüstet, sahen ihn alle an, doch kam er ihnen nicht zu Hilfe. Von Stadt zu Stadt waren sie ihm gefolgt; waren seine Deputies gewesen, hatten an seiner Seite gekämpft, seine Einsatzbefehle abgewartet - einige von ihnen für Jahre. Sein Stolz unterstützte den ihren, soweit sie welchen hatten, und nun war mit dieser einen fehlgegangenen Kugel sein Stolz verlorengegangen. »Nicht schlecht geschossen«, sagte er erneut zu Katerina Garza, und übergab ihr zwei Fünfzigdollarstücke. »Vielen Dank«, sagte Katie, darauf bedacht, die Angelegenheit nicht über Gebühr zu strapazieren. Als Hill Coe den Weg hinab nach Greasy Corners ging, stand auf seinem Gesicht immer noch schwache Verwunderung, und er lief wie ein Mann, der eben neunzig geworden war. Ein oder zwei der Revolvermänner hätten gerne gekämpft, doch verlieh Simp Dixons Benehmen der ganzen Sache eine Wendung ins Lächerliche; und dann ging Hill Coe. Er war ihr Pfeiler gewesen, doch er war zerbröckelt. Pleasant Burnell behielt sein düsteres Aussehen, aber er ging ohne ein weiteres Wort, und die anderen folgten. »Für die Beleidigung wirst du mir irgendwann geradestehen, kleiner Bill«, sagte Wild Horse Jerry im Weggehen. 15. »Ich sollte diesen Wild Horse Jerry erschießen«, murmelte Billy, als die Revolvermänner außer Sicht waren. »Ich habe schon gehört, daß er übellaunig sein soll«, gab Joe Lovelady zu. »Würdest du ihn herausfordern oder in den Rücken schießen?« fragte Katie Garza mit leicht neugierigem Unterton.
Fragen, die ethische Belange angingen, waren Billy unbehaglich, und Katies waren da keine Ausnahme. »Well, ich hasse Falschspieler«, erwiderte er. »Findest du es okay, sie in den Rücken zu schießen?« fragte Katie geradeheraus. La Tulipe kicherte - ich glaube, sie hatte Vergnügen an den beiden jungen Leuten. »Ein Killer kann nicht wählerisch sein«, sagte sie. »Genau der Ansicht bin ich auch!« sagte Billy, froh darüber, einen Verbündeten zu haben. »Ein Mann, der Angesicht zu Angesicht erschossen wird, ist genauso tot.« Katie sah Billy nachdenklich an. Ihre stillschweigende Musterung schien ihn nervös zu machen. »Bring deinen Mann um, und Schluß damit«, sagte er. »Am besten keine Gedanken darüber verschwenden, ob von hinten oder von vorne.« »Komm', schieß mit mir, chapito«, sagte Katie grinsend. »Mr. Coe hat mir keinen Kampf geliefert.« Chapito heißt »kleiner Kurzer«, aber Katie sagte es mit einem Singen in der Stimme, und Billy faßte es nicht als Beleidigung auf. »Schießen wir«, sagte er und stolzierte sogar ein wenig - ich bezweifele, daß je zuvor ein derartig schönes Mädchen Interesse an ihm gezeigt hatte. Joe, ich und La Tulipe saßen bei dem Eselskarren und sahen zu, wie die beiden spielten. Katerina schoß eine weitere Runde mit zwanzig Flaschen und traf achtzehn. Joe meinte später, daß sie zwei mit Absicht verfehlt hätte, um Billy glauben zu lassen, er habe eine Chance. Dann trat Billy vor und verfehlte achtzehn - und von den beiden, die er traf, war eine kaum angeschlagen. Für manche Schüsse zielte er zwei oder drei Minuten, und trotzdem schwirrte die Kugel irgendwoanders hin. Joe Lovelady schämte sich zutiefst für seinen Freund. »Er kann nicht mit dem Revolver schießen«, sagte er. »Ich weiß nicht, warum er glaubt, er könne es.« »Ich hoffe nur, das versetzt ihn nicht in eine seiner verdrießlichen Stimmungen«, fügte er hinzu.
Auch ich hätte nicht gedacht, daß Billy eine derartig hohe Niederlage tolerieren würde - doch Katie setzte sich zu ihm und flirtete so charmant, daß seine Laune alles andere als verdrießlich war. Bald begann er sich über seine schlechten Schießkünste zu amüsieren und fing an zu kichern. Er lud seine beiden Pistolen und knallte beidhändig auf die Flaschen, ohne irgend etwas zu treffen. Dies erschien ihm so lustig, daß er innehalten und sich Tränen aus den Augen wischen mußte. »Schieß du, Joe«, sagte Katie, immer noch guter Dinge. Joe Lovelady schnitt respektabel ab und zerstörte zwölf der zwanzig Flaschen. »Ich hasse es, von einem verdammten Cowboy geschlagen zu werden«, sagte Billy, aber er machte nur Spaß. Mit der lachenden Katie Garza an seiner Seite bewahrte er seine unbekümmerte Haltung. »Kann ich es versuchen?« erkundigte ich mich. »Oh, mach nur, Sippy, führ uns deinen Stil vor«, sagte Billy kichernd. Er gab einen seiner Revolver an mich weiter. »Das wird großartig«, meinte er süffisant lächelnd zu Katerina. Katie hatte mir wenig Beachtung geschenkt, doch als ich zur Schußlinie vortrat, sah sie mich nachdenklich an. »Ich schätze, er weiß, wie man schießt«, sagte sie, obwohl ich nicht weiß, woraus sie ihre Schlußfolgerung zog. »Sippy?« sagte Billy. »Also, der weiß überhaupt nichts. Er hat einen verdammten Zug fast bis nach Kansas verfolgt und war nicht in der Lage, ihn anzuhalten.« Stellen Sie sich seine Überraschung vor, als ich siebzehn Flaschen nacheinander zerschoß. Ein Mann braucht eine gute Auswahl von Hobbys, um ein Jahr mit Dora zu überstehen, und Zielschießen war eines von meinen gewesen. 16. Ich schoß selbstsicher und hätte die nächsten drei Flaschen auch noch zerschießen und Katie Garza schlagen können, doch während ich auf Nummer achtzehn anlegte, erklang der
Donner von Hufen, und Los Guajolotes kamen zum Schießplatz gerast. Einer von ihnen führte Katerinas weiße Stute am Zügel. »Senorita, los caballeros!« rief der Mann, der das Pferd führte. Es war deutlich, daß er scharf darauf war zu verschwinden, genauso wie der Rest der Guajolotes. Katie und Joe sahen nach Norden. Ich sah auch nach Norden und erblickte eine Staubwolke am äußersten Rand der Prärie. Ich denke nicht, daß Billy sie zur Kenntnis nahm - er lümmelte sich immer noch auf dem Gras herum, seine Gedanken bei Katerina. »Da kommt Old Whiskey«, sagte Joe. »Und nicht nur das, da kommt auch Tully.« Er zeigte nach Westen, wo ein einzelner Reiter mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf den Pecos zuraste. Billy Bone stand auf und verlangte den Revolver zurück, den ich gerade abfeuern wollte. »Dieser Tully, immer hat er es eilig«, sagte er und schlug die leeren Hülsen aus seiner Waffe. Er kramte ein paar lose Patronen aus seiner Tasche und machte sich daran zu laden. »Tully ist ein bißchen nervös«, fügte er hinzu. Katie Garza hing ihren Patronengürtel über das Sattelhorn und schwang sich auf ihre weiße Stute. Sie erlaubte der Stute, ein wenig zu tänzeln, während sie den Staub im Norden in Augenschein nahm. »Ich glaube, ich bekomme Lust, für eine Weile nach Mexiko zu gehen«, sagte sie. »Wollt ihr Jungs mitkommen?« »Nun, wir haben Tully gesagt, wir würden auf ihn warten«, sagte Joe Lovelady. »Ich möchte nicht gehen, bevor ich nicht weiß, was Tully dazu zu sagen hat.« »Wie steht's mit dir, chapito?« fragte Katie und sah auf Billy herab. »Also, ich kann nicht einfach gehen und Joe zurücklassen, jedenfalls nicht mit dieser Armee im Anrücken«, sagte Billy. »Ich dachte, Joe wäre ein erwachsener Mann«, sagte Katie. Billy sah ein wenig erschöpft aus - oftmals nach einem ausgedehnten Lach - oder Wutanfall schien er all seine Energie zu verlieren. Katies Bemerkung überraschte ihn - ich
bezweifele, daß es ihm bis zu diesem Augenblick in den Sinn gekommen war, die Welt mit Katie Garza anstatt mit Joe Lovelady bereisen zu können. Der Gedanke verwirrte ihn so, daß er augenblicklich das Thema wechselte. »Tully treibt das Pferd wirklich auf Hochtouren«, sagte er. »Also, das kann nicht gut für das Pferd sein.« In der Tat, der sich nähernde Reiter flog beinahe über das Gras. Ich denke, Katie Garza wußte, daß Billy noch nicht soweit war, um mit ihr davonzureiten, aber es machte ihr Spaß, auf ihrem Standpunkt zu beharren. »Komm', guck' dir ein wenig die Welt an, chapito«, sagte sie. »Wir reiten runter nach San Isidro und essen eine fette Ziege.« Billy blickte sich hilfesuchend nach Joe um. Offensichtlich war er nicht an Frauen gewöhnt, die versuchten ihn wegzulocken. Joe Lovelady betrachtete die große Staubwolke im Norden. Er schien nicht alarmiert - lediglich wachsam. Vielleicht hatte er nicht einmal gehört, wie Katie Billy nach Mexiko eingeladen hatte; falls doch, schien er kein Interesse daran zu nehmen, die Einladung abzulehnen. »Ich glaube, dein Vater kommt, Katie«, sagte Joe. 17. Damals erfuhr ich, daß Katie die Tochter von Isinglass war. »Senorita, in El Paso ist heut' schönes Wetter, wette ich«, sagte einer der Caballeros. »Pa wird uns in Ruhe lassen«, sagte Katie. »Wahrscheinlich sucht er nur nach verirrten Kälbern.« Billy stand da, schüchtern, unbeholfen, häßlich und klein. Er schien auf glühenden Kohlen zu sitzen: Auf der einen Seite wünschte er, daß Katie ginge, auf der anderen, daß sie blieb. »Tully Roebuck, dieser verdammte Narr, weshalb jagt er das Pferd so?« sagte er. Ein anderes Gesprächsthema fiel ihm nicht ein, und dieses hielt nicht lange vor, denn eine Minute später
brachte Tully Roebuck sein schwitzendes Pferd mit einem Ruck genau zwischen Joe Lovelady und Billy Bone zum Stehen. Tully war ein schlaksiger Kerl mit charmantem Lächeln und sanften braunen Augen. »Hallo«, sagte er milde, als sei er wie Feuer über die Prärie gerast, nur um uns zum Tee einzuladen. »Na, Tully«, sagte Joe Lovelady. »Wie steht's mit der Gesundheit? »Meine Gesundheit ist prima«, sagte Tully und zog seinen Hut vor Katerina, »aber ich muß zugeben, ich wäre ruhiger, wenn wir oben in Santa Fe wären und Grog trinken würden.« »Grog kannst du auch hier in Greasy Corners trinken«, sagte Billy. »Dez macht Toddies, die die Federn von der Eule hauen.« »Wenn Old Whiskey hier auftaucht, wird Dez sich wünschen, eine Eule zu sein«, sagte Tully. »Wenn wir sofort abreiten, werden wir vielleicht nicht reingezogen.« »Ich wette, es wird dir in San Isidro gefallen«, sagte Katie zu Billy. »Diese fetten Ziegen sind mächtig schmackhaft.« Billy schien peinlich berührt. Er war um eine Antwort verlegen. »Schätze, ich werde bald zu Besuch kommen«, sagte er höflich. Katie wußte, wann es genug war. Sie lachte und wendete ihre Stute. »Joe, laß dich nicht von Pa provozieren«, sagte sie, und einen Augenblick später wirbelten Los Guajolotes ihre eigene Staubwolke auf, während sie die langgestreckten Plains hinab nach Mexiko ritten. 18. »Was gibt's neues?« fragte Joe Lovelady, nachdem Katie und ihre Männer davongaloppiert waren. »Isinglass hat vor, Greasy Corners zu säubern, das gibt's neues«, sagte Tully. Billy fühlte sich augenblicklich angegriffen. Ich glaube, er bemerkte, daß er sich Katie gegenüber nicht allzu brillant benommen hatte, und er schien entschlossen, andere dafür
zahlen zu lassen - die anderen waren alle die, die ihm krumm kamen. »Säubern! Was geht's ihn an, wie dreckig es dort ist?« fragte er. »Nun, es liegt auf seiner Ranch«, sagte Joe. »Ihm gehört alles hier. Ich nehme an, er kann damit machen, was er will.« »Ich sage, es ist zu viel Land, um einem einzigen Mann zu gehören«, sagte Billy heißblütig. »Das sollte nicht erlaubt sein! Also man sagt, ihm gehört alles bis hinunter nach Kansas. Sie sagen, ihm gehört Texas, oder ein großer Teil davon. Das ist eine Schande - weshalb soll all das einem einzigen alten, häßlichen Bullen gehören?« Tully Roebuck stieg von seinem Pferd. Er schien etwas erstaunt ob Billys Leidenschaft. »Also, Billy, er hat's einfach gekauft«, sagte er. »Wenn man bezahlt hat, dann gehört's einem.« »Ich würde gern wissen, wem er Geld dafür bezahlt hat«, sagte Billy. »Du und ich und Joe leben hier. Hat er uns bezahlt? Hat er die verdammten Apachen bezahlt? Wenn dem alten Scheißkerl dieser ganze Teil der Welt gehört, dann würde ich gern wissen, von wem er glaubt, es gekauft zu haben.« La Tulipe stieg von ihrem Karren und machte sich daran, Bonaparte, den Esel, in die Stadt zurückzuführen. »Vielleicht hat er es vom Staat Texas gekauft, Billy - an die Einzelheiten kann ich mich nicht erinnern«, sagte Tully. »Whiskey Glass war eine Ranch, solange ich zurückdenken kann.« »Ich wette, der alte närrische Rohling hat es sich einfach genommen«, sagte Billy. Tully Roebuck sah ein wenig kläglich drein. Ich glaube, er spürte, daß am eigentlichen Thema vorbeigeredet wurde; und tatsächlich, die Staubwolke verfinsterte nicht länger den Horizont im Norden - sie schlängelte sich mit rapider Geschwindigkeit nach Süden, auf Greasy Corners zu. »Es spielt keine Rolle, ob er es gekauft oder einfach genommen hat«, sagte Tully. »Der Punkt ist, daß es ihm gehört und er nicht möchte, daß die Büffeljäger und die Revolvermänner ihm weiter in die Quere kommen.«
»In die Quere kommen? Aber er kennt sie doch noch nicht einmal«, sagte Billy. »Ich habe gehört, er verdächtigt sie des Viehdiebstahls«, sagte Joe. Auch er schien ob Billys plötzlicher Vehemenz ein wenig überrascht. »Viehdiebstahl? Das ist bloß seine Ausrede«, sagte Billy. »Hill Coe und seine Leute würden keine Kuh nehmen, und wenn sie sie geschenkt bekämen.« »Billy, heute ist es schwierig, etwas zu sagen, womit du übereinstimmst«, sagte Tully und schnitt sich einen Mundvoll Tabak vom Priem, den er aus seiner Hosentasche geholt hatte. »Kommt Isinglass, um sie zu warnen, oder um sie umzubringen?« fragte Joe Lovelady. »Also, das weiß ich wirklich nicht«, sagte Tully. »Schätze, es hängt davon ab, wie ihm das Mütchen steht.« Die Staubwolke im Norden rückte ständig näher. Ich hatte keine Idee, aus wievielen Reitern sie bestand oder wie ihnen das Mütchen stand, um Tullys Phrase zu borgen. »Ich habe mir gedacht, wir verziehen uns nach Van Horn«, sagte Tully. »Ein paar von den Ranches dort unten suchen vielleicht Hilfskräfte.« »Okay«, sagte Joe. »Schönes, luftiges Land dort. Gefällt mir.« »Ich geh' nicht«, sagte Billy Bone unverblümt. »Ich geh' nicht, und damit hat's sich.« 19. Joe Lovelady war ein geduldiger Mann. In der Zeit, in der ich mit den beiden bekannt war, schien ihm Billys Sturheit nicht viel auszumachen, obwohl jene ihm viel Ärger einbrachte. »Du kannst diese Revolvermänner doch noch nicht einmal leiden, Billy«, führte er aus. »Die Hälfte der Zeit würdest du ihnen am liebsten ins Gesicht spucken.« Billy zuckte mit den Achseln. Er verachtete alles, was einem vernünftigen Argument gleichkam.
»Ich gehe nicht, und damit hat's sich«, wiederholte er. »Ich lasse mich weder von Isinglass noch von jemand anderem aus New Mexico vertreiben.« Mit diesen Worten machte er sich zurück auf den Weg in die Stadt und griff im Vorbeigehen nach meinem Arm. »Komm' her, Sippy, nehmen wir einen Drink und bereiten uns vor«, sagte er. »Diese beiden Kuhtreiber wollen wahrscheinlich noch melken gehen, oder irgendsowas.« Bald holten wir La Tulipe ein, die Schwierigkeiten mit Bonaparte hatte. Der Esel hatte haltgemacht, um zu meditieren, genauso wie es Rosy mit Vorliebe tat. La Tulipe zerrte am Kopfseil, doch hatten ihre Anstrengungen so wenig Wirkung, als sei sie ein Vogel, der über dem Esel davonflog. Als Billy vorbeikam, griff er nach dem Schwanz des Esels und drehte ihn scharf herum, und Bonaparte zog mit einer so unerwarteten Geschwindigkeit an, daß Tulipe alle Mühe hatte, aus dem Weg zu kommen, um nicht überrannt zu werden. Sie ließ das Kopfseil los, und Bonaparte und der Karren rasten weiter in Richtung der Ansiedlung - die Bezeichnung Stadt wäre reine Schmeichelei gewesen. »Einen Esel kriegt man nicht am Kopfende zum Laufen«, bemerkte Billy. »Esel startet man am Schwanz.« »Diese Katie will dich mit nach Mexiko nehmen«, sagte La Tulipe zu Billy. »Katie ist hübsch«, gab Billy zu. »Ich hätte nie erwartet, so ein hübsches Mädchen zu treffen.« »In Mexiko lebt der Tod«, sagte La Tulipe. Ich stelle mir vor, daß Billy in irgendwelchen angenehmen Träumen über Katerina schwelgte. Als La Tulipe sprach, wurde er kreidebleich. Jede Erwähnung des Todes ließ Billy kreidebleich werden, es sei denn, es handelte sich um den Tod, den er vorhatte zu verursachen. »Oh, jetzt aber«, sagte er schockiert. La Tulipes Haar war weiß, und ihr plumper Körper schwerfällig, doch ihre Haut war glatt und ihre Augen von klarem Blau.
»Du mußt mit den Flüssen aufpassen, Billy«, sagte sie. »Wenn du den North Canadian kreuzt, wird ein Pferd auf dich fallen und dich zum Krüppel machen.« »Ich werde nich' in die Nähe kommen«, sagte Billy eilig. »Den Rio Animas darfst du auch nicht überqueren«, warnte die alte Frau. »Wenn du das tust, fällt deine Seele ins Wasser und wird weggetragen. Und wenn du den Rio Grande überquerst, dann mußt du sterben.« »Scheiße, ich hatte sowieso nich' vor, viel zu reisen«, sagte Billy. »Wie steht's mit meinem Glück, wenn ich nur den Pecos rauf- und runterreite?« »Blutiges Glück«, sagte Tulipe. »Aber es wird nicht alles dein Blut sein.« Wir hielten am Lager, um unsere Pferde zu holen, und die alte Frau hoppelte weiter. Billy war so weiß wie ein Laken. Zitternd, als habe er den Höllenhund gesehen, setzte er sich auf seine Decke. »Fast wäre ich nach Mexiko gegangen«, sagte er mit wackeliger Stimme. »Wenn Joe nicht auf Tully hätte warten wollen, wäre ich gegangen.« »Nun, Miss Garza ist ein hübsches Mädchen, wie du schon erklärt hast«, sagte ich. »Nicht hübsch genug, um dafür zu sterben«, sagte Billy. 20. Zur Überraschung aller Anwesenden kam Isinglass allein nach Greasy Corners getrabt. Die zwanzig Reiter, die mitgeholfen hatten die Staubwolke zu erzeugen, überquerten den Pecos nördlich der Stadt und ritten nach Osten, in Richtung Texas weiter. Die Erscheinung eines alten Mannes auf einem struppigen alten Pferd war für die Revolvermänner und die Büffeljäger, die sich auf einen gloriosen letzten Kampf vorbereitet hatten, eine beträchtliche Enttäuschung. Man hatte eilig ein riesiges Waffenarsenal versammelt und zahlreiche mutmachende Grogs heruntergestürzt.
Joe Lovelady und Tully Roebuck ritten ein und saßen ein kleines Stück vom Mob entfernt auf ihren Pferden. Billy Bone hatte sich lässig gegen den Pferdepfosten vor dem China Pond gelehnt. Sein Pferd Chip, gewöhnlich schwer zu satteln, hatte an diesem Morgen besondere Schwierigkeiten gemacht. Obwohl ich Chip bei den Ohren hielt und ihn mit einer irischen Weise zu beruhigen versuchte, trat er Billy zweimal, bevor er seinen Sattel akzeptierte. Dies hatte die angenehme Wirkung, Billy wütend zu machen. Bald hatte er Mexiko, Tod und alles andere vergessen, nur nicht, wie wenig er Chip leiden konnte; zu dem Zeitpunkt, als wir am Pond ankamen, befand er sich in idealer Kampfstimmung. Den ernsthaften Kampfvorbereitungen der Büffeljäger schien er nur kalte Verachtung entgegenzubringen. »Schau dir diese Narren an, sind bereit, mit Bravour zu sterben, was?« sagte er und beobachtete, wie Jim Saul Staub aus dem Visier seiner Büffelflinte blies. Die Revolvermänner drängten in einem nervösen Haufen aus dem Saloon. Hill Coe hielt sich wackelig auf den Beinen, er war bereits auf dem besten Weg, jener zittrige Trinker zu werden, der er für den Rest seines Lebens sein sollte. Vivian Maldonado hatte bis zum Morgengrauen getrunken, wie es seine Angewohnheit war - er hatte nicht die Zeit gefunden, sich zurechtzumachen oder sein Haar zu schniegeln; offensichtlich hätte er es vorgezogen, den Endkampf auf eine zivilisiertere Stunde des Tages zu verlegen - dies hätte dem Stil in Neapel entsprochen. Billy war ärgerlich auf Joe und Tully, weil die beiden mehr Zurückhaltung als der Rest der Menge an den Tag legten. Ruhig saßen sie auf ihren Pferden, ein kleines Stückchen die Straße hinab - die absoluten Anstandsvorbilder. »Nun guck dir die an!« rief Billy aus. »Sind sich zu fein für den Pöbel, die beiden.« Er bestand darauf, daß ich einen seiner Revolver nahm den, den ich benutzt hatte, um die Flaschen zu zerschießen. »Jetzt keine falsche Höflichkeit, Sippy«, sagte er. »Erschieß ein paar Cowboys, wenn sich die Gelegenheit bietet.«
»Mit den Cowboys scheinst du's zu haben, Billy«, sagte ich. »Die meisten halte ich für blöde Idioten«, gab er zurück. »Aber dein bester Freund ist ein Cowboy.« »Ja, weil er stur ist«, sagte Billy mit einiger Verärgerung. Dann drehte zu jedermanns Überraschung die Staubwolke nach Osten ab und verfehlte Greasy Corners um mehrere Meilen. »Sie kreisen uns ein«, sagte Happy Jack Marco. »Vielleicht sind es Indianer.« »Vielleicht sind es Engel, doch ich bezweifle es«, sagte Billy, leicht gelangweilt. Dann trabte der alte Mann auf seinem unauffälligen schwarzen Zossen heran. 21. Es wurde deutlich, daß Furcht keinen Platz im Charakter von Isinglass hatte, denn er trabte gleichgültig direkt vor die Tür des China Pond und ignorierte das Waffenarsenal, das aufgeboten worden war, um ihn aufzuhalten. »Guck dir an, wie er reitet, der verdammte alte Hafersack«, sagte Billy, als der krumme alte Mann eintraf. In der Tat, Isinglass gab im Sattel keine anmutige Figur ab. Er saß zusammengesackt, als handele es sich bei dem Pferd um eine Art offene Kutsche; er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, seine Steigbügel korrekt zu adjustieren - die Füße hingen herunter und berührten nur ab und an einen der Querstäbe. In Pennsylvania habe ich ein paar Farmer gesehen, die ähnlich unbeholfen im Sattel wirkten; doch hatten diese Farmer nicht die endlosen Prärien kreuz und quer durchmessen, wie es Old Whiskey sein ganzes langes Leben getan hatte. Des Montaignes, so wütend und verdreckt wie immer, war mit einer rostigen großkalibrigen Schrotflinte herausgetreten. Im hellen Sonnenlicht zwinkerte er ein wenig. Isinglass war vollauf damit beschäftigt, die Lederbänder, die seinen Schnapskrug in der Hülle hielten, zu lösen; er ritt Des
Montaignes praktisch über den Haufen - hätte er jedenfalls, würde das Pferd nicht aus eigenem Willen Halt gemacht haben, Isinglass hob den leeren Krug aus einem dicken, gutgefütterten Lederbeutel und reichte ihn hinab zu Des Montaignes. »Einmal vollmachen, Mister, falls sie Whiskey auf Lager haben sollten«, sagte er. »Ich rate Ihnen, ihn nicht fallenzulassen - es ist mein einziger Krug.« Die Männermenge, die schwer bewaffnet an der Straße stand, schien er kaum zur Notiz zu nehmen. Zu jedermanns Überraschung lehnte Des Montaignes das Schrotgewehr gegen die Adobe-Mauer seines Saloons und ging mit dem Krug hinein. Isinglass schien die Fügsamkeit des Mannes nicht zu überraschen - ohne Zweifel erschien es ihm als ganz natürlich, daß jeder, mit dem er zu tun hatte, tat, was immer er verlangte. Er schien nicht das Bedürfnis zu haben, leichte Konversation zu betreiben, schwere Konversation ebenfalls nicht, er saß lediglich gemütlich und gleichmütig auf dem struppigen schwarzen Pferd, bis Des Montaignes mit dem Krug voll unverschnittenem Schnaps wiederkam. »Sehr verbunden«, sagte Isinglass freundlich, ohne Bezahlung anzubieten. Er hob den Krug und nahm einen großen Schluck. Dann wischte er sich gedankenvoll den Mund, ein paar bernsteinfarbene Schnapstropfen befleckten seinen vollen, ergrauenden Bart. »Bist du der Mann mit der gelben Frau?« fragte er. »Gelb«, gab Des Montaignes zu. »Ich habe eine Geschichte über dich gehört«, sagte Isinglass. »Man sagt, du hast dich das letzte Mal gewaschen, als dich ein Pferd in den Missouri geschmissen hat, das soll vor acht oder zehn Jahren gewesen sein. Jetzt, nachdem ich dich in Augenschein genommen habe, sehe ich, daß die Geschichte stimmt.« Er nahm einen weiteren, ausgiebigen Zug und ließ den Krug wieder vorsichtig in seinen Beutel gleiten. »Man sagt, deine Frau könne die Zukunft voraussagen«, sagte er, als er den Krug zu seiner Zufriedenheit verstaut hatte.
»Sie kennt die Vergangenheit und die Zukunft«, sagte Billy laut. Manchmal platzte er einfach heraus, wie besessen von dem Verlangen, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Isinglass Augen lagen derartig tief, daß man sie kaum sehen konnte, doch wenn man sie sah, versprühten sie ein hartes Funkeln. »Ich dachte, dich hätte ich vor einer Weile von der Ranch gefeuert«, sagte er und blickte Billy an. »Gelähmt oder verkrüppelt scheinst du nicht zu sein, warum also bist du nicht verschwunden?« »Du meinst, dieser Sandhaufen gehört zur Ranch?« fragte Billy mit süffisantem Lächeln. Er liebte es, im Mittelpunkt zu stehen. Isinglass antwortete nicht sofort - er verknotete die Lederneinen, die seinen Krug im Beutel festhielten. »Ich habe dich gefeuert, und du hättest besser daran getan zu verschwinden«, sagte Isinglass, als er aufblickte. »Habe ich versucht, aber mein Pferd hat den Geist aufgegeben«, sagte Billy. »Sowieso muß man verdammt weit zum Meer reiten, um von deinem Besitz runterzukommen. Scheint, als ob alles dir gehört, und das erscheint mir nicht fair.« Isinglass drehte sich in seinem Sattel um und begutachtete die Menge der bewaffneten Männer. »Das ist also die Meinung hier?« fragte er. »Das ist meine Meinung«, sagte Billy hitzig. Die Tatsache, daß Isinglass sich abgewandt hatte, betrachtete er als persönliche Kränkung. Niemand war in diesen kleinen Dingen so empfindlich wie Billy. »Es sind hundert Meilen bis zu deinem großen Haus«, sagte Billy. »Ich würde sagen, hundert Meilen ist weit genug geritten.« »Du bist ein aufdringliches Kerlchen und wirst höchstwahrscheinlich ein schlimmes Ende finden«, sagte Isinglass. »Ich verabscheue langes Gerede, also werde ich nur die Fakten in dieser Angelegenheit darlegen. Meine Nordlinie liegt über dem Cimarron und meine Südlinie kurz vor den Guadalupes. Was dazwischen liegt, gehört mir mit Haut und Haaren. Diese Siedlung hier ist eine illegale Siedlung innerhalb
der Grenzen meiner Ranch, die ich habe bestehen lassen, weil ich mich um andere Dinge zu kümmern hatte. Wir haben die Comanchen in Reservate verfrachtet und ebenso die Apachen, auch wenn dieser Jicarilla-Welpe von mir immer noch kämpfen wird, wenn es ihm in den Kram paßt. Die Pawnee und ein paar andere Banden haben sich ziemlich beruhigt. Und ihr Leute habt euch bis jetzt gut benommen, aber eine Saloongemeinde wie diese hier kann leicht Viehdiebstahl hervorbringen, und ich bin kein Idiot, der Diebstahl irgendeiner Art unterstützt. Neulich habe ich eine Broschüre von Arizona gesehen - es gibt einen Haufen Platz in Arizona und viel schönes, trockenes Sonnenlicht. Ich würde eine Bewegung in diese Richtung innerhalb der nächsten paar Tage empfehlen. Oder, falls euch diese Richtung nicht gefällt, dann bewegt euch ein paar hundert Meilen in irgendeine Richtung, und ich habe euch vom Hals.« Er hielt inne und lächelte, offensichtlich zufrieden mit sich. »Ich bezweifele, daß der Gouverneur selbst eine sauberere Ansprache halten könnte«, sagte er. »Was du meinst, ist, wir sollen verschwinden«, sagte Billy. »Mehr hast du nicht gemeint. Das hättest du auch direkt sagen können.« Wieder sah Isinglass auf die Büffeljäger und die Revolvermänner, alle still wie Stümpfe. »Ich finde dies merkwürdig«, sagte er. »Hier sitze ich zwischen einem Dutzend erwachsener Männer, und niemand außer diesem dreisten Jungen hat ein Wort zu sagen.« »Das Problem mit Arizona ist, daß die Earps schon da sind«, sagte Happy Jack Marco. »Von den verdammten Earps haben wir alle schon genug gesehen, schätze ich.« »Ich habe keine Zweifel daran, daß es sich um garstige Kerle handelt«, sagte Isinglass, »aber sie sind lange nicht so garstig wie Mesty, wenn er sich auf dem Kriegspfad befindet.« Er sah die Straße hinab. Wir alle sahen die Straße hinab, und seit dem Moment, in dein Cook mich darüber in Kenntnis gesetzt hatte, daß J. M. Ghittim gerade verstorben sei, hatte ich keinen derartigen Schock mehr erlitten.
Dort stand ein rotes Kamel, und auf dem roten Kamel saß der größte schwarze Mann, den Greasy Corners je gesehen hatte. 22. In meinem Groschenroman Der Neger Vom Nil; oder, Sohn Des Mahdi, habe ich eine ganze Menge Unsinn über MestyWoolah erfunden, und die Jungs von der Geschichtsschreibung haben später einiges davon mit der Wahrheit vermengt, welche in diesem Falle schnell erzählt ist. Lord Snow, Isinglass Partner, war ein großer Freund von Expeditionen gewesen; eine davon hatte ihn mit dem Vorhaben, einige Kamele als Zuchtbestand zu erwerben, zum Nil geführt. Sein Plan bestand darin, die US Armee für irgendeine Form einer Kamelkavallerie zu interessieren. Mesty-Woolah war nicht der Sohn des Mahdi, dafür aber der größte Kameldieb in jenem Teil Afrikas. Als Lord Snow auf Mesty-Woolah traf, lag Mestys jüngster Sohn im Sterben, erkrankt an einem Fieber, welches Lord Snow augenblicklich mit einer guten englischen Medizin kurierte. Als Dank dafür stimmte Mesty-Woolah zu, Lord Snow nach Texas zu begleiten, um dessen Kamelherde zu betreuen; sie waren kaum angekommen, als Lord Snow, der ewig ohne Jacke herumlief, von einem Plains-Blizzard überrascht wurde und eine Lungenentzündung bekam, die jenseits der Heilkräfte selbst erlesenster englischer Medikamente lag, und daran starb. Weder die Armee noch Isinglass hatten zu dieser Zeit die nötige Geduld mit einer Kamelkavallerie. Ich glaube, die Armee versuchte es später unten im Gebiet Geronimo, allerdings mit eher kläglichem Erfolg. Der größte Teil der Kamelherde Lord Snows verwilderte - mir wurde erzählt, daß es in der texanischen Wüste immer noch wilde Kamele geben soll. Mesty-Woolah stand bei Isinglass nicht in der Schuld, trotzdem blieb er auf der Whiskey-GlassRanch und wurde weit und breit zum meistgefürchtesten Mann des Westens.
»Mesty ist wegen der Kriegereien geblieben«, informierte Isinglass mich während eines jener grimmen Abendessen im Schloß, in deren Verlauf ihm Fleischsaft heruntertropfte und Cecily Snow vor Verachtung triefte. »Man sollte meinen, er hätte reichlich Krieg in Afrika führen können«, sagte ich. »Nicht genug für Mesty«, sagte Isinglass. »Er behauptet, die Araber und die Buschneger haben so ziemlich ihren Mumm verloren. Von den Comanchen als Kriegern hält er viel, und bis zu einem gewissen Punkt schätzt er auch die Apachen.« »Wie steht es mit Ihnen?« fragte ich. »Oh, Mesty hat keinen Respekt vor mir oder irgendeinem weißen Mann«, sagte Isinglass. »Ich bin nur für die Beschaffung der Ziele zuständig.« »Lebende Ziele, versteht sich von selbst«, sagte Cecily unbeschwert. »Wenn er sich einen als Ziel ausgesucht hat, dann lebt der nicht mehr lang«, gab der alte Mann zurück. Genau diesen Punkt wollte er den Einwohnern von Greasy Corners klarmachen. 23. Mesty-Woolah war sieben Fuß groß und trug einen weißen Turban. Eine lange Flinte war gegen einen seiner Schenkel gelehnt. Das rote Kamel, das er ritt, gehörte nicht gerade zu jener Sorte Tier, die man auf einer kleinen amerikanischen Straße an einem schönen Sommermorgen erwartet. Mesty und das Kamel überragten die niedrigen Adobe-Hütten von Greasy Corners - wenn man sie das erstemal zu Augen bekam, hatte man das Gefühl, hinter ihnen müsse eine Pyramide oder vielleicht auch eine Sphinx auftauchen. Doch gab es hinter ihnen keine Pyramide und auch keine Sphinx, nur die weiten offenen Plains. »Er ist schon eine Augenweide, oder etwa nicht?« sagte Isinglass liebenswürdig. »Er ist ein guter Schütze, aber er schlitzt lieber, als daß er schießt.«
Die Revolvermänner und die Büffeljäger waren sprachlos, was Billy verärgerte. »Also, dieser alte Mann hier behandelt uns, als wären wir weiße Indianer«, sagte er. »Er will uns nach Arizona ins Reservat schicken, oder an irgendeinen anderen Ort, an dem es nichts für uns zu tun gibt.« Isinglass blickte sich in der Siedlung mit den dünnen Schweinen und den ungehobelten Männern um. »Ich kann nicht sehen, daß es hier viel mehr zu tun gibt außer zu sterben«, bemerkte er. »Wir werden sehen, wer stirbt, wenn wir belästigt werden«, sagte Billy. Isinglass wendete sein Pferd. »Ich hoffe, ihr Leute laßt ein wenig gesunden Menschenverstand walten«, sagte Isinglass. »Stattet dem Warenlager in Roswell einen Besuch ab, je früher desto besser - dort haben sie eine nette Auswahl von Broschüren, um Auswanderungswillige fortzulocken. In unserem Fall hier könnte es sich als der gesündeste Weg erweisen, einmal einer Versuchung nachzugeben.« Gemächlich ritt er die Straße hinauf, direkt auf Mesty-Woolah zu; dann, nachdem er ein paar Schritte geritten war, schien sich seine Stimmung zu verhärten; für einen Augenblick hielt er inne und sah zurück. »Eigentlich gebe ich selten Ratschläge dieser Art«, sagte er. »Ich hätte einfach einreiten und jeden von euch Rumtreibern töten können, und ich habe wenig Zweifel, daß das die praktischste und problemloseste Vorgehensweise gewesen wäre.« »Wenn du mich töten willst, nimmst du besser ein flinkeres Pferd als das da«, sagte Billy Bone. Der alte Mann gab weder Antwort, noch drehte er sich herum. Zu jedermanns Überraschung zog Wild Horse Jerry seinen Revolver. »Das hier ist ein verdammt trauriges Fest«, erklärte er. »Ich würde lieber Nigger umlegen als Karten spielen, und so ein großer Nigger ist schwer zu verfehlen.«
Augenblicklich feuerte er drei Schüsse ab, und alle drei trafen daneben. Isinglass lenkte sein Pferd auf die Straßenseite, doch blickte er sich weder um, noch beschleunigte er die Gangart. Mesty-Woolah rührte sich nicht. »Was für ein Idiot«, sagte Billy. »Man sollte nicht darüber reden, wie einfach es ist, ein Ziel zu treffen, wenn man es nicht wirklich treffen kann.« Wild Horse Jerry ignorierte Billys höhnische Bemerkung und ging die Straße hinauf, seinen Revolver über den Kopf haltend wie der Starter bei einem Pferderennen. Das rote Kamel bewegte sich in flinken Schritten auf ihn zu, aber Mesty-Woolah war verschwunden. Im einen Augenblick saß er, groß wie ein Turm, im Sattel, und im nächsten Augenblick nicht mehr. Dies verwirrte Jerry, und man kann es ihm nicht verübeln mit wenigen Schritten war das langbeinige Kamel bei ihm, doch der langbeinige Reiter war verschwunden. Für kurze Zeit ließ der Staub von den Hufen des Kamels die Vorgänge undeutlich werden; dann erschien Mesty-Woolah wieder auf dem Kamel, in seiner rechten Hand ein langes, glänzendes Schwert schwingend. Wild Horse Jerry klappte zusammen, als habe er Magenkrämpfe bekommen; dann fiel er aufs Gesicht. Eine Sekunde später richtete er sich auf Hände und Knie auf und stieß einen durchdringenden Schrei aus. »Dieser Riesennigger hat seine Eingeweide mit dem großen Schwert herausgeholt«, sagte Billy verwundert. »Guck, sie hängen unten raus. Aber wie hat er das angestellt?« Ganz gewiß hingen sie raus, mehr, als man in so einem kleinen Mann vermuten würde. Der Anblick seiner eigenen Eingeweide schockierte Wild Horse Jerry derartig, daß er nach diesem einen Schrei starb. Das rote Kamel schritt fast mitten in die Revolvermänner, bevor Mesty-Woolah es abwandte. Sein Gesicht unter dem weißen Turban war kaffeefarben; sein Alter schwer zu schätzen.
Isinglass ritt hinüber und sah auf den toten Mann hinab ohne Zweifel hatte er während der Indianerkriege weit Schlimmeres gesehen. »Diesen Trick hat Mesty von den Comanchen gelernt - sich unter das Reittier lehnen und schlitzen«, sagte er. »Auf einem Kamel ist es einfacher als auf den kleinen Ponies, trotzdem ist es nützlich, lange Arme zu haben, schätze ich.« Er ritt davon, Mesty-Woolah dicht auf seinen Fersen. Des Montaignes, der sich benahm, als sei er der Bürgermeister, ergriff Wild Horse Jerry beim Hosenbein und zerrte ihn zu dem kleinen Friedhof direkt hinter dem China Pond. »Und ab ins Grab mit Jerry«, sagte Billy ohne große Gefühlsregung. »Ist nicht viel aus der Drohung geworden, die er mir heute morgen an den Kopf geschmissen hat, oder?« 24. Das Ausnehmen von Wild Horse Jerry sorgte prompt dafür, daß mein eigener Mageninhalt hochkam, obwohl ich nicht gefrühstückt hatte und sich in meinem Magen außer Furcht nichts befand. Ich ging um die Ecke vom China Pond und erbrach mich eine Weile auf heftigste Weise. Nahebei hockte Des Montaignes und ging Jerrys Taschen durch. Ein paar dünne Huren, die eine Hütte hinter dem Saloon bewohnten, kamen heraus und halfen ihm. Der Zustand der Leiche machte das Fleddern zu einer Schweinerei, doch waren die Huren nicht in einer Position, die es ihnen gestattete, pingelig zu sein, und Des Montaignes besaß offensichtlich eine beträchtliche Toleranz gegenüber Schweinereien. Der Anblick, wie sie Jerry auszogen, war schwerlich dazu geeignet, meinen flatternden Magen zu beruhigen - und als ich aufgehört hatte, mich zu übergeben, fühlte ich mich so schwach und benommen, daß ich mich gegen eine Mauer des Saloons lehnte und mir mit meinem Hut Schatten spendete. Dort saß ich und fühlte mich vollkommen leer, als Joe und Tully mich schließlich fanden.
»Wir dachten, du seist vielleicht fortgelaufen«, sagte Joe. »Ich glaube nicht, daß ich laufen könnte«, sagte ich. »Allerdings bin ich vielleicht in der Lage zu krauchen.« »Nun, es wird Krieg geben«, sagte Joe, nicht aufgeregter, als würde er Regen voraussagen. »Ich glaube nicht, daß der alte Mann noch einige Tage warten wird«, sagte Tully. »Ich erwarte jeden Augenblick seine Rückkehr.« »Du solltest machen, daß du heim kommst, Mr. Sippy«, sagte Joe Lovelady. »Du bist ein gebildeter Mann.« Was er meiner Ansicht nach meinte, war, daß es kein gebildeter Mann riskieren sollte, in einem erbärmlichen Loch wie Greasy Corners zu sterben; er war ein Mann mit guten Absichten, wenn auch ein wenig romantisch, wenn es um die schönen Seiten des Lebens ging, die ihm nie zuteil geworden waren. Doch ich schüttelte seinen Ratschlag ab - einen Augenblick lang sah ich mich als Russell von der Times: Der Whiskey Glass-Krieg würde mein Krimkrieg werden. Vermutlich hatte Russell im Laufe seiner Arbeit schon vor dem Frühstück mitansehen müssen, wie Hunderte von Männern ausgeweidet wurden. »Oh, ich bleibe hier«, sagte ich. »Ich habe Gefallen an diesem Landstrich gefunden - und wer weiß, vielleicht kann ich für Billy von irgendeinem Nutzen sein.« »Der größte Nutzen wäre, wenn du ihn vom Kämpfen abbringen könntest«, sagte Joe. »Dieser große Nigger ist eine Nummer zu hart für Billy.« »Für mich ist er auch eine Nummer zu hart«, sagte Tully Roebuck. »Habt ihr gesehen, wie er sich hinter seinem Kamel versteckt hat? Das war gewieft.« Aus dem Saloon ertönte das Donnern von Revolverschüssen. Die Huren, die gerade versuchten, Jerrys Schuhe auszuziehen, blickten hoffnungsvoll auf. Des Montaignes war hineingegangen. »Das klang wie Billys Revolver«, sagte Joe Lovelady. »Yep, die Debatte hat begonnen«, sagte Tully.
25. Wir drängten uns in den China Pond, wo eine stürmische Auseinandersetzung im Gange war. Billy war wütend auf Nute Rachal, den sanftmütigsten der Büffeljäger, und hatte zwei Schüsse auf ihn abgefeuert, doch Nute hatte sich meine Taktik zu eigen gemacht und sich zu Boden fallen lassen, und die Kugeln hatten lediglich die Wand des Saloons beschädigt. »Steh' auf, du verdammtes Opossum, und stirb«, sagte Billy. Er hatte beide Revolver auf Nute gerichtet, der immer noch am Boden lag. »Nein, Billy, ich habe mir nie etwas daraus gemacht, zu fallen«, sagte Nute mit überraschender Ruhe. »Schätze, ich sterbe lieber im Liegen.« »Was ist der Grund der Auseinandersetzung?« begehrte Joe Lovelady zu wissen. »Nun, der Feigling möchte lieber nach Arizona ziehen«, sagte Billy. »Nun, Billy, sei fair«, sagte Happy Jack Marco. »Alles, was Nute gesagt hat, war, daß wir die Earps umlegen sollten - das kann nun wirklich nichts schaden.« »Ja, und sobald wir sie umgebracht haben, kauft Old Whiskey Arizona auf«, sagte Billy. »Neu Mexiko gehört ihm mittlerweile, was sollte ihn daran hindern, Arizona zu kaufen, wenn wir die Earps aus dem Weg schaffen?« »Doc Holliday müßten wir auch aus dem Weg schaffen«, bemerkte Ike Pumpelly. »Doc ist ein kleiner Knallfrosch.« Abrupt wie immer verlor Billy das Interesse an Nute Rachal und steckte seine Revolver zurück in die Manteltaschen. »Von mir aus kann jeder von euch verschwinden, der ein feiges Opossum is'«, sagte er. »Ich kneife jedenfalls nicht vor diesem alten Wiederkäuer.« »Ich bleibe bei Billy«, sagte Vivian Maldonado. »In Arizona kann man an den Bäumen hängenbleiben.« »Das sind keine Bäume, das sind Kakteen«, sagte Simp Dixon.
»Wir haben 'nen Haufen üble Comanchen hier fertiggemacht«, sagte Jim Saul. »Vielleicht können wir auch Isinglass fertigmachen.« Er bezog sich auf die berühmte Schlacht von Greasy Corners, in der vierzig Büffeljäger vor einigen Jahren dreihundert Comanchen aufgehalten hatten. Jim war unter den vierzig gewesen. »Teufel, ja, das sind doch bloß Cowboys«, sagte Billy. »Der große Nigger is' kein Cowboy«, erinnerte Joe Lovelady ihn. »Abgesehen davon wird der Alte nicht mit Cowboys angerückt kommen«, sagte Tully. »In Lincoln erzählte man, er habe eine Zugladung Revolvermänner geheuert, die ihm die lästige Pflicht abnehmen sollen.« »Das glaube ich nicht«, sagte Billy. »Woher sollte der alte Trottel eine Zugladung Revolvermänner kriegen?« »Süd-Texas«, sagte Tully. »Pah, das ist nur ein Gerücht«, sagte Billy abschätzig. »Wann soll dieser Zug denn ankommen?« »Er ist vor zwei Tagen in Tucumcari eingelaufen«, sagte Tully. »Ich bin hierher geeilt, um dir davon zu erzählen, du warst nur nicht in der Laune zuzuhören.« »Nun, bin ich immer noch nicht«, sagte Billy. »Der alte Mann ist zum Schreien«, sagte Ike Pumpelly. »Weshalb sollte er hierher geritten kommen, um uns zu warnen, wenn eine ganze Armee mit ihm reitet?« La Tulipe kicherte. »Big Whiskey ist nicht gekommen, um euch zu warnen«, sagte sie. »Er ist gekommen, um Leichen aus euch zu machen.« Furcht wehte durch den dunklen Barraum wie Wind durch ein offenes Fenster. Der Gedanke daran, daß Isinglass nur ein Ablenkungsmanöver zum Zwecke ihrer Entwaffnung vorgehabt hatte, ernüchterte die meisten der Trinker auf der Stelle – nur Hill Coe, dessen Schmach immer noch frisch brannte, fuhr fort Whiskey zu trinken. »Dieser verdammte alte Mann«, sagte Simp Dixon, mit düsterem Blick. »Was für ein verdammter, elendiger Lügner er ist.«
Nute Rachal krabbelte behende auf seine Beine und eilte zur Tür. »Ich habe gespürt, wie der Boden zittert«, sagte er. »Ich glaube, sie kommen. Adios, Jungs, falls wir nicht alle die Stellung halten.« 26. Nute hatte bildlich gesprochen, nehme ich an: In Greasy Corners oder in der Nähe gab es keine Stellung, die wir halten konnten. Doch wenn die Männer schon keine Geistesleuchten waren, so waren sie wenigstens äußerst flink. Kein Zweifel, daß sie alle im Laufe ihres Lebens auf den Plains oft zur Eile gezwungen worden waren. Sie strömten aus dem Barraum wie die Bienen und mit nur einem kurzen Blick auf die Linie der Reiter, die von Osten her auf die Stadt zurasten, trafen sie blitzschnelle Entscheidungen. Diejenigen, die kämpfen wollten, sammelten hastig Waffen und Munition, während jene, die es vorzogen zu fliehen, noch hastiger darangingen, Sättel auf ihre Pferde zu schmeißen. Ich war verwirrt und wäre ohne Zweifel als erster verlustig gegangen, wenn Tully Roebuck mich nicht kurzerhand unter seine Fittiche genommen und buchstäblich auf mein Maultier geworfen hätte. »Los geht's!« sagte er. »Drisch auf das Maultier!« Vermutlich war es die allgemeine Aufregung und nicht mein Klatschen und Dreschen, was Rosy aus ihrer gewöhnlichen Lethargie riß; sie raste so unvermittelt los, daß ich fast vom Sattel gefallen wäre, doch waren Tully und ich trotzdem ziemlich weit hinten in der Menge. Alle Revolvermänner schienen sich vor uns zu befinden, Billy und Joe eingeschlossen. Während wir losrasten, bemerkte ich, daß keiner der Büffeljäger bisher aufgesessen war - sie standen alle trübsinnig in der Straßenmitte und beobachteten, wie die beinharten Reiter herankamen.
»Was ist mit denen?« rief ich Tully zu - irgendetwas an ihren großen, bedrückten Gesichtern erschütterte mich. »Sie haben ihre Pferde aufgegessen, das heißt adios, schätze ich!« rief Tully. Kaum hatten wir die Mauer passiert, an der der Schießwettbewerb zwischen Katie und Hill abgehalten worden war, als in Greasy Corners ein weitaus tödlicherer Wettstreit begann. Ich sah nicht zurück - ich versuchte nur, mich auf meinem panischen Maultier zu halten -, doch hörte ich die ersten Donnerschläge der großen Büffeltöter, und das schnellere Hacken der texanischen Gewehre. Russell von der Times wäre vielleicht geblieben und hätte die Story aus erster Hand bekommen - ich drosch nur auf mein Maultier ein und ließ es um mein Leben rennen. 27. Jahre später, in dem kleinen Halbgroschenroman mit dem Titel Nute Rachal; oder, Die Tödliche Auseinandersetzung versuchte ich dem heroischen Kampf der Büffeljäger in Greasy Corners an jenem Tag Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie bildeten eine Art Stellung, indem sie eilig Deckung nahmen hinter dem schimmligen, stinkenden Haufen der unverschickten Büffelhäute am südlichen Ende der Stadt; von dort aus hielten sie die Texaner bis zum Sonnenuntergang in Schach und verloren im Laufe der langen Schlacht nur zwei Männer. Die Texaner versuchten mehrere Male, sie zu überrennen, doch ihre Pferde konnten den Geruch der verfaulenden Häute nicht aushalten. Sie bockten und bebten, aber weigerten sich, das Fort aus Häuten zu nehmen; bei dem Versuch, ihre verängstigten Rösser zu ermutigen, fanden sechs Texaner den Tod. »Schäbiger Kampf«, erzählte Isinglass mir später. »Ich hätte Mesty einfach die versammelte Gemeinschaft alleine niedermetzeln lassen sollen.«
Die Revolvermänner, Joe, Tully, Billy und ich bemerkten nicht sofort, daß die Büffeljäger die Texaner in Schach gehalten hatten. Für zwanzig oder noch mehr Meilen rasten wir weiter über die nackten Plains; und nicht bevor es an der Zeit war, unsere erschöpften Reittiere ausruhen zu lassen, bemerkten wir, daß der einzige aufgewirbelte Staub unser eigener gewesen war. Die Prärie hinter uns war menschenleer. Billy Bone war beschämt und verärgert, als er bemerkte, daß keine Armee von Revolvermännern uns verfolgte. »Nun, wir sind eben bloß Feiglinge«, sagte er indigniert. »Weshalb sind wir geflohen? Wenn die verdammten Büffeljäger die Texaner fertigmachen, dann machen wir uns alle zum Gespött der Leute.« »Sah aus wie 'ne Menge Texaner, Bill«, sagte Simp Dixon. »Nur weil sie noch nicht hier sind, heißt das nicht, daß sie nicht auftauchen werden.« Als die Pferde sich völlig erholt hatten, ritten wir weiter in die Schatten der Abenddämmerung und erreichten nicht lange nach Einbruch der Dunkelheit die zerklüfteten Schluchten des Arroyo del Macho. Die Strategen unserer Gesellschaft waren der Ansicht, der Arroyo sei ein idealer Ort für unser nächtliches Lager. Billy Bone wurde nur noch verdrießlicher. Er meinte, zu einer unnötigen und unwürdigen Flucht gezwungen worden zu sein, und er hielt Joe Lovelady für verantwortlich. »Es ist eine Schande, so davonzulaufen«, sagte er. »Das können wir nie im Leben wieder gutmachen.« »Der Krieg fängt gerade an, Billy«, sagte Joe, durch die üble Stimmung seines Freundes nicht sonderlich berührt. »So sehe ich das auch«, sagte Tully. »Dieser alte Mann wird jedes Jahr widerborstiger.« »Ich werde seiner Widerborstigkeit ein Ende machen, wenn er mir noch einmal in die Nähe kommt«, sagte Billy. »Ich tu ihn da hin, wo der große Nigger Jerry hingetan hat.« Der Arroyo del Macho bot den Reisenden wenig Komfort, doch die Panik des Morgens und die anstrengende Flucht hatten mich erschöpft; für ein paar Stunden schlief ich tief und fest, und unwillig erwachte ich aufgrund irgendeines
Spektakels, das sich um mich herum ereignete. Ich hatte den Eindruck, wir würden angegriffen, und versuchte aufzuspringen, doch meine Glieder wollten nicht; der Sirup meines tiefen Schlafes schien sie verklebt zu haben. »Ist schon in Ordnung, Sippy«, sagte Tully Roebuck beruhigend. »Das ist nur Hank Leedy - er ist durchgekommen.« Hank Leedy war ein ernsthafter, junger Büffeljäger mit einem Hang zum Feierlichen. In den presbyterianischen Kirchen im Osten war sein Typ häufig vertreten. Es schien, als sei er regelrecht in die Schlucht, in der wir schliefen, gestolpert. Er war auf Bonaparte quer über die Prärie geritten, und dieser hatte am Ende der Schlucht haltgemacht und zur Verärgerung vieler der Männer ein lautes Geschrei angehoben. »Erschießt diesen verfluchten Esel, er hat mir meinen Traum ruiniert«, sagte Happy Jack Marco. »Wovon hast du geträumt?« erkundigte sich Simp Dixon. »Es war ein Traum von einer Hure«, gab Happy Jack zurück. Hill Coe und Joe Lovelady waren interessierter an Hank Leedys Geschichte als am unterbrochenen Traum von Happy Jack. »Ich hab' Tulips Esel gestohlen, deshalb bin ich durchgekommen«, sagte Hank. »Wo is' der Rest von den Jungs?« erkundigte sich Tully. »Tot, da bin ich sicher«, gab Hank Leedy einfach zurück. »Wir dachten, wir könnten es in der Dunkelheit schaffen, aber der riesige Nigger hat uns verfolgt.« »Dieser Teufel - wie viele hat er erwischt?« fragte Billy. »Nun, Billy, er hat uns alle erwischt, siehst du denn nicht, daß ich sterbe?« fragte der junge Mann ruhig. »Verdammt, ich habe nicht - es ist stockduster«, sagte Billy entschuldigend. »Mir scheint, ich seh' ein Licht - das muß der Himmel sein«, sagte Hank. »Würdest du den Kerl, der schreiben kann, fragen, ob er einen Brief an meine Schwester schicken kann? Sag' ihr nur, mein Glück hat angehalten - sie ist ziemlich religiös.« »Ich glaube, ich weiß nicht mehr, wo deine Schwester lebt, Hank«, sagte Joe Lovelady.
»Oh, Little Rock Arkansas - einfach nur Jenny Leedy«, sagte Hank. »Ich hoffe, ihr beerdigt mich gut, damit das Viehzeug mich nicht stört.« Er starb kürz vor Sonnenaufgang. Als es hell wurde, erkannten wir, daß er einen Lungenschuß hatte. La Tulipes Esel war mit seinem Blut bedeckt. Der Arroyo del Mache war steinig, und wir hatten nur Messer zum Graben; das Grab, das wir für Hank Leedy auskratzten, wäre seinen Ansprüchen vielleicht nicht gerecht geworden, und deshalb ließen wir die Beerdigungsfeierlichkeiten ganz ausfallen. Die Plains um uns herum waren menschenleer, doch lag in dieser Leere eine Bedrohung. Niemand wußte, wo MestyWoolah oder die Texaner sich aufhielten. Bevor die Sonne aufgegangen war, hatten wir uns aufgeteilt und waren losgeritten. 28. Billy, Joe und ich ritten direkt nach Westen auf die Berge zu. Für die Dauer von ungefähr einer Stunde reiste Tully Roebuck mit uns, begierig, sich von der Bruderschaft der Revolvermänner zu trennen, von denen sich einige an jenem Morgen recht bockig gezeigt hatten. Vivian Maldonado war besonders unwirsch gewesen. »Kein Bett, kein Frühstück, keine Hure!« rief er ungehalten aus und machte deutlich, daß er bessere Unterkünfte gewohnt war, als sie der Arroyo del Macho zur Verfügung stellen konnte. »Wo ist eine Stadt? Ich bin hungrig«, fügte er hinzu. Nach einiger Diskussion beschlossen die Revolvermänner, sich nach Lincoln durchzuschlagen, den am nächsten gelegenen Ort, der die geforderten Annehmlichkeiten bot. »Viv könnte über Hill Coe herfallen, noch bevor der Tag vorüber ist, jetzt, wo Hill entehrt ist«, bemerkte Tully, als wir davonritten. »Na, laß ihn doch«, sagte Billy. »Ich nehme an, der alte Coe kann Viv immer noch umlegen - er ist ein größeres Ziel als eine Bierflasche.«
»Ich weiß wirklich nicht, was dagegen spricht, nach Texas zu gehen«, sagte Joe Lovelady. Ohne Zweifel hegte er immer noch Hoffnungen, Billy könne irgendeinen sicheren Beruf lernen. »Vielleicht ist es clever, aber ganz gewiß wäre es langweilig«, gab Billy zurück. »Laß uns nach Tularosa reiten Katie Garza kommt ab und an nach Tularosa.« Ich erinnerte Billy daran, daß er am Tage unserer Begegnung nicht einmal zum Mittagessen in Tularosa hatte haltmachen wollen. »Stimmt schon, gibt ein paar unfreundliche Scheißkerle dort«, sagte er. »Wenn sie mir in die Quere kommen, lege ich sie einfach um.« Als wir zwischen uns und die Revolvermänner ein gutes Stück gelegt hatten, entschied sich Tully, uns zu verlassen. Er lebte mit seiner Frau, die ein Kind erwartete, am Rio Hondo. Sie hatte nicht gewollt, daß er von ihrer Seite wich, doch war Tully entschlossen gewesen, seine Freunde zu warnen. »Schätze, ich reite zu Bess zurück, sie ist eine von der Sorte, die sich Sorgen macht«, sagte er. Billy hatte La Tulipes Esel geführt, ein Tier, das sich nicht zum schnellen Reisen eignete. »Verdammt, es ist als würde man einen Anker über die Prärie ziehen«, sagte Billy. »Nimm du ihn, Tully. Ich erzähl der Tulip, wenn ich sie das nächste Mal sehe, daß er sicher in deiner Obhut ist.« Tully übernahm die Verantwortung für Bonaparte, aber er schien nicht gerne aufzubrechen. Die Prärie war sonnenerleuchtet und licht; die Feldlerchen sangen, und hoch oben zogen die Falken ihre Kreise. Die Schönheit des Landes war unübertrefflich, mit den herumtollenden Antilopen nahbei und dem endlosen Gras. Trotzdem hatte ich gesehen, wie drei Männer innerhalb eines Tages den Tod gefunden hatten. Ich mußte mich allmählich mit der Tatsache vertraut machen, daß ich in einer Gegend herumritt, in der es ziemlich schwierig war zu überleben.
Tully Roebuck, um einiges erfahrener als ich, schien ebenfalls einer Tatsache ins Auge zu sehen, möglicherweise derselben. »Ich habe keine Ahnung, wann ich euch Jungs wiedersehen werde«, sagte er. »Oh, irgendwann wird der Wind uns in deine Richtung treiben, Tully«, sagte Billy Bone leichthin. »Dieser alte Mann ist ein lästiger Nachbar«, sagte Tully. »Der läßt nicht nach. An eurer Stelle, Jungs, würde ich für eine Weile verschwinden. Vielleicht fällt ein Pferd auf ihn drauf und beruhigt ihn ein wenig.« »Wenn nicht, dann schieße ich ihm fünf oder sechs Kugeln in den Wanst - das sollte ihn beruhigen«, sagte Billy. Er konnte es nicht erwarten, davonzureiten. »Grüße Bess. Ich hoffe, ich komme mal vorbei, um ihren Pudding zu probieren, wenn sie das Kind bekommen hat«, sagte Joe Lovelady. »Komm, wenn du kannst, ich hab' eine kleine Hütte, in der kannst du es dir bequem machen«, sagte Tully und ritt im Sonnenschein davon. »Ich mag den alten Tully, aber irgendwie scheint mir, daß er faul ist», sagte Billy, als wir uns auf den Weg in die Berge machten. Diese Bemerkung schien uns etwas unpassend, denn der Mann hatte gerade einen langen Ritt unternommen, um uns zu warnen; weder ich noch Joe antworteten. Ich hätte glücklich anstatt faul gesagt; Tully Roebuck schien gelassen - und vielleicht war er das auch, als er auf den Rio Hondo zutrabte, Bonaparte hinter sich herziehend. Bess jedoch, seine Frau - Joe Lovelady behauptete, sie mache exzellente Puddings -, bekam Fieber und starb im Kindbett; das kleine Mädchen überlebte, wurde aber bald blind. Tully Roebuck würde niemals wieder gelassen oder glücklich sein; als ich ihn das nächste Mal sah, war er Sheriff von Lincoln County, und sein Revolver stand im Dienste von Will Isinglass. 29.
Zwei Tage später, als wir gerade dabei waren, uns in einer recht ungastlichen Bar in Tularosa mit Chili und Bohnen vollzustopfen - Billy hatte die Stadt richtig eingeschätzt -, wurde Katie Garza mit Glanz und Gloria zur Legende, indem sie den Gouverneur Lew Wallace mit vorgehaltener Waffe ausraubte, als dieser zusammen mit seiner Frau außerhalb der Mission von San Miguel auf seiner Kutsche saß. Das gesamte Territorium lachte auf Kosten des alten Lew, der meiner Meinung nach selbst auch nur ein minderwertiger Groschenromanschreiber war - denn war denn Ben Hur etwas anderes als ein dicker Zweigroschenroman, der im alten Rom spielte? Katie wendete ihre weiße Stute, die Taube, und raste durch das schreckliche Niemandsland, bekannt als Jornada del Muerto - sie kannte ein geheimes Wasserloch, das es ihr ermöglichte, einen Ort aufzusuchen, wohin ihr kein Suchtrupp zu folgen wagte. Selbstverständlich mußte Gouverneur Lew einen Suchtrupp zusammenstellen - mir ist erzählt worden, daß ihm Katies Mumm eher gefallen hatte, doch seine Frau nahm ihre Aufgaben als Gouverneurslady ernst und war ganz und gar nicht amüsiert. Den Suchtrupp stellte er hauptsächlich zusammen, um sein Gesicht zu wahren: Einige der alten Bosque del Apache Häuptlinge, mit denen er zu jener Zeit gerade in Verhandlungen stand, hielten es für höchst komisch, daß ein Mädchen imstande war, einen Gouverneur auszurauben, also mußte er irgend etwas unternehmen. Bis die Geschichte bei uns in Tularosa ankam, war Katie bereits wieder in Mesilla und gab allen Neuankömmlingen in ihrer Lieblingsbar einen aus. »Also, das ist frech!« sagte Billy, als er von dem Abenteuer hörte. Er war schlechter Dinge gewesen, wenn er überhaupt sprach, dann murmelte er nur davon, Isinglass zu töten, oder Mesty-Woolah oder die Texaner. »Laßt uns gehen, Jungs«, sagte er. »Ich habe die letzte verdammte Bohne gegessen, die ich je in diesem häßlichen Tularosa essen will.« »Wohin gehen, Billy;« wollte Joe wissen.
»Katie sehen«, sagte Billy. »Ich will alles über den Überfall hören.« Joe hatte sich gerade mit einem örtlichen Pferdehändler geeinigt, vierzig ungezähmte Fohlen einzureiten, die der Mann erstanden hatte - er hatte sich darauf gefreut, denn Pferde gehörten zum Schönsten in Joes Leben. »Ich habe dem Mann gesagt, ich würde seine Colts einreiten«, erinnerte er Billy. »Dann bleib hier und reite sie ein, ich gehe«, sagte Billy. »Mir ist es hier zu häßlich. Ich nehme nur Sippy mit, damit er mich beschützt. Wenn du es leid hast, von Pferden getreten und gebissen zu werden, kannst du uns weiter unten am Fluß finden.« Zum erstenmal seit Tagen wirkte er munter. Die Hoffnung, Katie Garza zu Gesicht zu bekommen, hatte seine Stimmung verändert. »Ich schätze, ich kann diese Colts in etwa zwei Wochen zugeritten haben«, sagte Joe. »Wozu die Eile? Nimm dir einen Monat«, sagte Billy. »Katie und ich plündern vielleicht ein paar Banken aus, oder möglicherweise kommt der Präsident zu Besuch und wir können ihn ausrauben.« »Ich bezweifle, daß der Präsident so weit nach Westen reist«, sagte Joe. Ich glaube, er bezweifelte die Richtigkeit des Entschlusses, Billy aus seiner Reichweite zu lassen, doch er hatte dem Pferdehändler sein Wort gegeben und brach ungern sein Versprechen. »Versuch, ihn im Zaum zu halten, Mr. Sippy«, sagte er, während wir aufsaßen. »Also, der alte Sippy ist derjenige, auf den man achtgeben muß«, sagte Billy grinsend. »Er könnte einen Zug sehen und ihn nach Kalifornien jagen, oder auf irgendeine andere wilde Idee kommen.« Joe Lovelady sah skeptisch drein, aber wir ritten trotzdem ab. »Immer eine Freude, Tularosa zu verlassen, stimmt's, Sippy? sagte Billy, als wir die Stadt verließen.
30. Mit Billy Bone zu reisen, war eine langsamere Angelegenheit als die Reise mit Tully oder Joe. Der Lauf der Zeit lastete nicht so sehr auf ihm wie auf manch anderen Männern. Wenn wir einen Bach überquerten, konnte ihm einfallen, daß er seine Socken waschen mußte, worauf er prompt anhielt, seine Stiefel auszog und sie tatsächlich wusch. Während unseres Aufenthalts in Tularosa hatte er eine alte Winchester erstanden, und als er auf das Trocknen seiner Socken wartete, übte er sich im Gewehrschießen, indem er auf alles in Sichtweite schoß, ob es nun aufsteigende Falken, in der Luft stehende Bussarde, Kaninchen, Präriehunde oder sogar Eidechsen waren. Bevor wir den halben Weg nach Las Cruces zurückgelegt hatten, waren seine Socken sauber, aber ihm war die Munition für die Winchester ausgegangen. Er hatte auch nichts erlegt - ich habe nie erlebt, daß er mit der Winchester irgend etwas getroffen hätte. Wir ernährten uns von ein wenig Trockenfleisch, auf dessen Mitnahme Joe bestanden hatte. »Katie erinnert sich wahrscheinlich daran, daß ich die Flaschen nicht getroffen habe«, sagte er, als wir in der ersten Nacht ums Lagerfeuer saßen. Wir hatten so viel Holz aufgelegt, daß wir in fünfzig Fuß Entfernung sitzen mußten, um nicht zu verbrennen. »Ich bezweifele, daß sie dir mangelnde Treffsicherheit vorhalten wird«, sagte ich. »Ich wünsche, ich hätte wenigstens fünf oder sechs Flaschen getroffen«, sagte er. »Nichts kann ich richtig, Sippy. Nie habe ich irgendetwas richtig gekonnt.« Im Handumdrehen wurde er von Traurigkeit übermannt. »Nie hat mich jemand gerngehabt, außer Joe, schätze ich«, sagte er. »Also ich mag dich, Billy«, sagte ich. »Tully mag dich, und Katie muß dich auch mögen, oder weshalb sollte sie dich gefragt haben, ob du mit ihr nach Mexiko kommen willst?« »Ich weiß nicht, ob sie es wirklich so gemeint hat«, sagte er. »Vielleicht hat sie auch nur Spaß gemacht.«
»Billy, sie hat dich dreimal gefragt«, erinnerte ich ihn. »Sie hat keinen Spaß gemacht.« »Sie kennt mich aber kaum«, sagte er. »Wenn sie mich erst einmal kennenlernt, glaube ich nicht, daß sie mich noch mag.« Seine Stimmung schien tiefer und tiefer zu sinken, überraschend für mich, denn er war den ganzen Tag über vergnügt gewesen. »Ich bin einfach allein«, sagte er. »Ich bin einfach allein. Ich glaube, so wird's bleiben.« »Was ist mit mir, Billy«, sagte ich. »Ich dachte, wir wären Freunde.« Er sah mich an wie ein Junge, dessen Hündchen gerade vom Milchwagen überfahren worden war - traurig genug, um zu sterben. »Sind wir auch, aber du wirst irgendwann in der nächsten Zeit einfach fortgehen«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß ich nicht allein bin.« »Außerdem bist du verrückt«, fügte er hinzu. »Kann sein, aber Joe nicht«, sagte ich. »Ein Mann, der Joe Lovelady zum Freund hat, kann nicht von sich behaupten, völlig allein zu sein.« »Oh, Joe würde helfen, wenn er könnte«, sagte Billy. »Aber er ist ein Cowboy. Er hat seinen Platz auf dieser Welt.« Dies erschien mir als eine seltsame Bemerkung, denn als ich den beiden begegnete, waren sie die Pfade des Westens gemeinsam entlanggeritten. Doch ohne Zweifel war Billy in einen tiefen Sumpf von Traurigkeit versunken. »Auf dieser Welt ist kein Platz für mich«, sagte er in einem Tonfall, daß es einem das Herz brechen mochte. »Billy, ich verstehe einfach nicht, wie du darauf kommst«, sagte ich. Er antwortete nicht. Wir saßen dort und beobachteten, wie unser lächerliches Feuer Funken in den dunklen Himmel sprühte. »Nun, Hank Leedy hat sich nicht viel daraus gemacht zu sterben«, sagte Billy resigniert. »Vielleicht mach ich mir auch nichts draus.«
»Billy, du bist jung - du fängst gerade an zu leben», sagte ich, obwohl der Ausdruck auf seinem angespannten kleinen Gesicht die Worte hohl erschienen ließ. Er spielte mit einem seiner alten Revolver, ließ die Trommel rollen und testete den Abzugshahn. Zu meiner Überraschung feuerte er plötzlich los - sechs aufeinanderfolgende Schüsse mitten ins Lagerfeuer. Dies sollte bis zum Ende sein Stil bleiben - mindestens sechs Schüsse, wenn nicht zwölf; Menge, nicht Genauigkeit, darin lag Billy Bones Fertigkeit. Dem Lagerfeuer machte es nichts aus, doch schien das Schießen seine düstere Stimmung ein wenig aufzuheitern. »Du denkst vielleicht, ich bin gerade am Anfang - ich glaube, ich bin am Ende«, sagte er. Dann gähnte er und rollte sich zusammen, den Kopf auf dem Sattel. Augenblicklich war er eingeschlafen, erschöpft von seiner eigenen Stimmung. Als das Feuer erlosch und die Nacht kühl wurde, bedeckte ich ihn mit seiner Satteldecke. Ich glaube, ich sehnte mich ein wenig nach meinen Mädchen. 31. Als wir nach Las Crucas kamen, erfuhren wir, daß Katie hinunter nach El Paso geritten war. Ich hätte gern ein oder zwei Tage in Las Crucas verbracht, doch war er fieberhaft darauf bedacht, Katie Garza einzuholen und wollte keine Pause machen. Seine trübe Stimmung war verflogen, und nun war er bereit für neue Taten. »Sie bleibt in Bewegung, das ist gut«, sagte er. »So bin ich auch - ich kann's nicht leiden, zu lang an einem Ort zu sein. Wenn man zu lange bleibt, kriegen die Leute raus, wo sie einen finden können.« Und so zogen wir weiter nach El Paso, wo der Staub unangenehm durch die berühmte Nordpassage wehte. »Meine Augäpfel fühlen sich an wie mit Sandpapier abgeschliffen«, bemerkte ich.
»Dann mach deine Augen zu«, sagte Billy. »Hier gibt es außer mörderischen Texanern nichts zu sehen.« Er schien Texas für weitaus barbarischer zu halten als New Mexico, obwohl meine ungeschulten Augen keine gravierenden Unterschiede ausmachen konnten. »Texaner sind flink und niederträchtig«, beharrte Billy. »Wenn sie dich nicht im Stehen umlegen, dann im Gehen.« Die Bürgerschaft machte nicht gerade einen umgänglichen Eindruck, soviel muß ich zugeben - doch gelang es uns, einige Stunden sicher in einem fliegenfallenartigen Barraum zuzubringen, wo wir an Beefsteaks herumschnitzten, die von ausgesprochen gut trainierten Rindern stammen mußten. »Mein Steak ist zäher, als das Messer scharf ist«, beschwerte ich mich. Von Zeit zu Zeit meldete sich immer noch meine Vorliebe für anständige Küche. »Ihr Yankees seid lästige Nörgler«, bemerkte Billy. An jenem Nachmittag trat Katie Garza, der zu Ohren gekommen war, daß wir nach ihr suchten, in die Bar. Billy hatte die Klientel des Saloons aufdringlich in Augenschein genommen und murmelte heißblütige Todesdrohungen, wenn sich irgendjemand unbändig benahm und ihm dies nicht gefiel. Doch als Katie in den Türrahmen trat, fing er an zu zappeln und schüchtern dreinzuschauen. Eilig nahm er seinen alten, schmutzigen Hut ab und setzte ihn gleich wieder auf. »Hi, Katie«, sagte er lammfromm wie ein Junge, der seine Tante begrüßt. »Hi, Bill«, sagte Katie mit einem Funken in den Augen. »Laß uns abreiten und diesen Platz den Fliegen überlassen.« Wir ritten ungefähr zwanzig Meilen den Fluß entlang in Richtung Süden, der Fluß war tief, aber nicht besonders breit. Auf der anderen Seite, noch ein paar Meilen weiter südlich, konnten wir ein kleines Adobedorf sehen. »Das ist San Isidro«, sagte Katie. »Wo ist deine Bande?« erkundigte sich Billy. Er wirkte ein wenig entspannter.
»Oh, hier und da, sich betrinken oder Frauen nachjagen«, sagte Katie. »Manchmal reite ich mit meinen Truthähnen und manchmal nicht.« »Hier gehen wir rüber«, fuhr sie fort und lenkte die weiße Stute in Richtung Wasser. Billy wollte ihr folgen, aber dann hielt er unvermittelt an. Sein Gesicht wurde weiß. Erstaunt sah sich Katie nach ihm um. »Kommst du nicht mit?« fragte sie. »Ich kann nicht«, sagte Billy, äußerst angespannt. »Ich kann da nicht rüber gehen.« »Weshalb nicht?« wollte Katie wissen. »Wir essen ein wenig cabrito und schießen auf Flaschen.« »La Tulipe hat mich gewarnt«, sagte Billy Bone. »Sie behauptet, ich werde sterben, wenn ich den Rio Grande überquere.« Katie Garza wirkte ein wenig verärgert. »Weshalb kommst du den ganzen Weg hier heruntergeritten, wenn du nicht vorhast, etwas mit mir zu unternehmen?« fragte sie. »Ich hab' vergessen, was die Tulip gesagt hat«, gab Billy peinlich betreten zurück. »Das hier ist bloß ein Fluß«, sagte Katie. »Die Leute überqueren ihn jeden Tag und sterben nicht daran.« »Nein, aber ich würde es«, sagte Billy. »Das hat die Tulip gesagt.“ »Die alte Frau ist eifersüchtig«, sagte Katie geradeheraus. »Sie will nicht, daß du und ich Spaß miteinander haben.« »Ich schätze, sie will dich für sich selbst haben«, fügte sie hinzu, und ihre schwarzen Augen wurden kalt. »Die Tulip?« sagte Billy schockiert. »Es ist nichts dergleichen, überhaupt nichts. Es ist bloß, daß sie in die Vergangenheit und die Zukunft sehen kann.« »Einen hübschen Jungen kann sie sehen, mehr nicht«, sagte Katie Garza. »Alte Frauen stecken voller Lügen.« Sie besann sich einen Moment, während Billy elendig dreinsah. Dann richteten sich ihre kalten, schwarzen Augen auf mich. »Was halten sie davon, Mr. Yankee?« fragte sie. »Glauben Sie der alten gelben Hure?« »Nein, ich glaube nicht an Wahrsagerei«, sagte ich.
»Siehst du, Mr. Yankee glaubt auch nicht daran«, sagte Katie. »Ein Fluß ist nur ein Fluß, der will niemanden umbringen.« Billy litt Qualen - ich bezweifele, daß er jemals zuvor eine Frau verärgert hatte, und er kannte weder das Feuer noch das Eis. Bisher hatte Katie nur das Eis wirken lassen - doch ich sah, daß das Feuer schon bald verglimmen konnte. Billy saß auf seinem großen Pferd Chip und sah besorgt aus. Er hatte Angst, sich dem Fluß zu nähern, aber er fürchtete sich auch davor, was Katie als nächstes sagen mochte. Was sie dann tat, verblüffte ihn sogar noch mehr als ihre kalten Worte. Ein- oder zweimal schüttelte sie verärgert den Kopf, dann stieg sie von ihrem Pferd, und begann sich auszuziehen. »Was ist los?« sagte Billy schockiert, als sie sich aus ihrer Jacke schälte und daranging, ihren Rock auszuziehen. Katie lächelte, als sei ihre kleine Verstimmung vergessen. »Wieso? Nichts«, sagte sie. »Der Fluß führt Hochwasser, und ich möchte nicht, daß meine Kleider naß werden. Du solltest dich auch ausziehen, wenn du mitwillst.« Dann grinste sie uns an wie ein Kind, das sich einen guten Plan ausgedacht hatte, gegen den die Erwachsenen schwerlich Einwände erheben konnten. Bald hatte sie sich bis auf ihr Evakostüm entkleidet und machte ein Bündel aus ihren Kleidern - einen schönen, jungen Körper hatte sie. Ich dachte, Billy würde vor Verlegenheit sterben, ohne auch nur einen Zeh in den Rio Grande gesteckt zu haben - doch wenn Katie Garza überhaupt auch nur im mindesten irritiert war, so ließ sie sich nichts anmerken. Ihr einziges Problem waren ihre Stiefel, die nicht in das handliche Bündel, das sie aus ihren Kleidern gemacht hatte, paßten. »Nasse Stiefel sind schlimmer als nasse Kleider«, sagte sie, während sie aufsaß. Sie brachte es fertig, die Stiefel zwischen sich und den Sattelknauf zu quetschen und das Kleiderbündel darauf zu balancieren.
»Nun komm, Billy, zieh dich aus«, sagte Katie grinsend. »Es gibt hier niemanden, der dich sehen könnte, außer mir und Mr. Yankee, und wir tratschen nicht.« Dann ritt sie in den braunen Fluß. Bald schwamm die weiße Stute, flutete das Wasser über Katie Garzas Beine. Katies langes schwarzes Haar hing an ihrem Rücken hinunter, die Enden berührten beinahe das Wasser. »Ist sie nicht eine Wucht?« sagte Billy. Jetzt, das Objekt seiner Ehrfurcht außer Hörweite, schien er sich wesentlich behaglicher zu fühlen. In der Mitte des Flusses angekommen, drehte Katie sich herum, um uns zuzuwinken - wir sahen das weiße Blitzen ihres Lächelns. Es entledigte Billy nicht seiner Kleider, doch er faßte Mut. »Sie is' einfach 'ne Wucht!« sagte er. »Laß uns gehen, Sippy.« Vielleicht habe ich verwirrt ausgesehen. Eben noch hatte die Furcht ihn so stark in der Zange gehabt, daß ich bezweifelte, irgend etwas - auch nicht der Anblick einer nackten Frau könnte ihn daraus befreien. »Mich erschießen sie sowieso, komm, schauen wir uns die Welt an«, sagte er und lenkte Chip zum Fluß. Rosy rollte vor Ärger mit den Augen, als sie in das Wasser trat, aber einmal drinnen, schwamm sie wie ein Hai. Fünf Minuten später schüttelten wir im sonnigen Mexiko das Wasser von unseren Körpern.
III AM PECOS
1. So verliebten sich Billy und Katie Garza in San Isidro - und in derselben staubigen Stadt, am selben langsam dahinfließenden Fluß, unter demselben sanften Licht des Mondes versank ich in Verzweiflung. Weshalb? Nun, ich bin nicht in der Lage zu sagen, weshalb. Ich verfüge nicht über den Scharfsinn, den es erfordern würde, bis an die Wurzeln jener Traurigkeit, die ich in diesen Wochen spürte, vorzudringen. Der sprießende Baum meiner Traurigkeit könnte aus der Tatsache entwachsen sein, daß ich für alle Zeiten keine Chance mehr haben sollte, Kate Malloy, unser lebhaftes Hausmädchen, zu küssen. Manche mögen dies für ein unbedeutendes oder gar kein Versäumnis halten; und trotzdem verlieh es meinem Lebenslauf eine Neigung nach unten, denn bei Kate hatte es sich um ein äußerst einnehmendes Wesen gehandelt, und ich alterte schnell. Vielleicht würde nie wieder solch eine feine Schöpfung meinen Kuß willkommen heißen. Alte Männer werden vergeßlich, so sagen die Barden; doch ich habe den erstaunten Ausdruck in Kates grauen Augen oder die Wolke der Enttäuschung, die ihr Gesicht überzog, als ich unsere Chance an jenem Tag vermasselte, nicht vergessen. Kurze Zeit später kündigte sie und heiratete. Trotzdem, ich darf das große Buch nicht fälschen, indem ich alle Traurigkeit auf das Versagen mit Kate zurückführe, so wunderbar sie auch gewesen sein mag. Als wir in San Isidro ankamen, war ich lange genug von zu Hause fort, um mich deprimiert und dumm zu fühlen schließlich hatte ich eine blühende Familie verlassen, nur weil ein paar Groschenromane weggeworfen worden waren. Nachdem ich vor kurzem gesehen hatte, wie ein Mann bei lebendigem Leib ausgenommen und zwei andere erschossen wurden, hatte der Verlust meiner kleinen Kollektion ein wenig an Wichtigkeit verloren. Jetzt war ich in einem Land, in dem ich keine Bindungen und keine Pflichten hatte - und was nutzte das? War ich glücklicher? Es schien nicht so.
Schlimmer noch, die einzige Fähigkeit, die ich mir in Philadelphia aufgrund akuter Langeweile angeeignet hatte - die Fähigkeit, Groschenromane zu schreiben -, war hier in wenigen Wochen fast völlig verkümmert. Jeden Tag setzte ich mich in den Schatten eines schönen, alten Mesquitebaumes und kritzelte elendig an einem kleinen Fünf-Cent-Romänchen, doch ich wußte, daß es miserable Arbeit war. Das Können, das ich in Des Butlers Leid und Mit Ehering Doch Ohne Liebe an den Tag gelegt hatte, war offensichtlich verloren gegangen, als ich den Llano entlanggewandert war. Ich hatte keine Vorstellung, wie der Rest meines Lebens verlaufen sollte. Den ganzen Tag saß ich düster unter dem Mesquite und hatte das Gefühl, irgend etwas verpaßt zu haben - etwas Kostbares, etwas, das mir nie wieder angeboten werden würde. Was ich verpaßt hatte? Eine muntere Frau natürlich; und mit ihr hätte sich vielleicht ein Gefühl der Erfüllung eingestellt, das ich - obwohl ein geborener Beschreiber - nicht einmal beschreiben oder mir wirklich vorstellen kann. Ich konnte es nur vermissen. Jedenfalls fühlte ich mich während jener Wochen in San Isidro hoffnungsloser, als ich Grund dazu hatte, denn der Mesquite warf einen prächtigen Schatten und die Ziegen waren so lecker, wie Katie behauptet hatte, und niemand schoß auf mich - ein Luxus, den man im weiten Westen nicht immer voraussetzen konnte. 2. Jetzt kommen die Historiker mit ihren Fragen über Billy und Katie zu mir, denn ich bin der einzige lebende Zeuge, der über den zarten Beginn dieser berühmten Liebe berichten kann. Die federales zerstörten den alten Teil von San Isidro, als sie hinter Villa her waren, oder vielleicht handelte es sich auch um einen anderen ihrer Banditen; was Billy und Katie betrifft,
wissen die Mexikaner, die jetzt dort leben, nur noch das, was sie in ihren Liedern hören. Also kommen die Historiker zu mir, doch verärgert gehen sie wieder, denn meine Haupterinnerung an jene Zeit besteht darin, wie traurig ich mich fühlte und wie schwer es mir fiel, jenen miesen Fünf-Cent-Roman, den ich Schwarze Bohnen; oder, Die Niederlage Der Texaner nannte, zu schreiben. Billy und Katie bekam ich kaum zu Gesicht. An manchen Tagen ritten sie auf ihren Pferden aus; an anderen Tagen hörte ich das Knallen ihrer Revolver, wenn sie am Flußufer Schießübungen machten. Manchmal, spät nachts, sah ich, wie sie an der Bar vorbeigingen, die auf dem Weg zu Katies kleiner Hütte lag, wo sie meiner Schätzung nach das altbekannte Spiel spielten. Doch wenn die Historiker oder Zeitungsleute mich nach der Art ihrer Beziehung fragen, dann habe ich nicht viel zu sagen. Haben Billy und Katie sich geküßt? Haben sie geseufzt? Ich bin mir sicher, daß sie sich küßten, und ich nehme an, sie seufzten, denn es hat immer zum Wesen der Liebe gehört, daß auf das Küssen das Seufzen folgt. Doch ihre Worte und ihre Blicke, ihr Geflüster und ihr Gelächter, die kleinen Freuden, die sie geteilt oder sich vorgestellt haben mögen oder auf die sie sich freuten - den ganzen süßen Austausch der glücklichen, jungen Herzen -, alle diese Dinge entzogen sich mir. Ich weiß nicht, welche List Katie anwandte, um Billys Schüchternheit zu überwinden - er war davor mächtig schüchtern gewesen -, und ich wollte es auch nicht wissen; jene, die einmal von der Liebe Abschied genommen haben, so wie ich, machen sich nichts daraus, Zuschauer in der Liebe zu sein. Die Historiker meinen, ich wolle die ganze Geschichte einfach nur für mich behalten, aber sie irren sich. Manche Dinge weiß ich; über andere kann ich lediglich grobe Vermutungen anstellen; doch die wesentlichen Dinge, die die Professoren und Zeitungsleute über die Romanze zwischen Katie und Billy wissen wollen, diese Dinge sind den Fluß ohne Wiederkehr hinabgeschwommen.
Ich wußte, daß Billy Katie liebte, denn er war ein schnell entschlossener Junge, der seine Gefühle nicht eine Sekunde lang verbergen konnte. Er war verliebt und blubberte über davon. Ich wäre reich, wenn ich für jedes Mal, wenn er Katie ansah und sagte: »Ist sie nich' 'ne Wucht!«, einen Dollar bekommen hätte. Katie dagegen war eine - gelinde gesagt - komplizierte Frau. Sie verbarg ihre Gefühle unter einem Umhang von Geplapper, und der Umhang war fein gewebt. Es war mir nicht möglich, ihn zu durchdringen, und ich schätze, mir war nicht klar, wie innig Katie Garza Billy Bone liebte, bis ich an jenem dunklen Morgen in Chavez County hörte, wie sie über seinem Grabe ihrem gebrochenem Herzen Ausdruck verlieh. 3. Joe Lovelady, ein Mann, der immer zu seinem Wort stand, richtete die Tularosa Colts in nur zwei Wochen ab. An einem Tag, der so heiß und still war, daß man das Ticken einer Uhr über eine Entfernung von dreißig Yards hören konnte, kam er nach San Isidro getrabt. Ich weiß das, denn ich war im Besitz der einzigen Uhr in der Stadt, ein robustes Taschenmodell mit einem bei weitem zu gesunden Ticken. In meinem generell gereizten Zustand dachte ich oft daran, sie einfach mit einem Stein zu zerschlagen, nur um ein wenig Frieden und Ruhe zu erlangen. Einmal legte ich sie in eine Astgabel und ein großer mexikanischer Specht flog herbei und beobachtete sie fast eine Stunde lang, als handele es sich um einen kleinen, runden Vogel mit einem unbekannten Ruflaut. Joe ritt direkt zu dem Tisch, an dem ich mit der Herstellung meines Fünf-Cent-Romanes kämpfte. »Ich hätte mir nicht träumen lassen, daß Billy es wagen würde, diesen Fluß zu überqueren«, sagte er. »Ich schätze, er hat seinen Aberglauben überwunden.« Augenblicklich schoß Billy aus Katies Hütte, er hatte Joes Stimme gehört. Die Tatsache, daß er eine Freundin hatte,
verlieh ihm ein wenig Glanz, und manchmal bürstete er sogar sein Haar mit einem alten Pferdestriegel, den er irgendwo gefunden hatte. »Is' es nicht hervorragend hier unten in Mexiko?« sagte er zu Joe. »Es ist sonnig, aber ich vermisse die Plains«, sagte Joe. »Ich persönlich mag es lieber, wo es grüner ist.« Dann kam Katie in guter Laune herausgehüpft. »Da ist ja unser großer Broncobezwinger«, sagte sie und nahm Joe fest in den Arm. Es war klar, daß sie Joe Lovelady wirklich gern hatte. Billy beobachtete sie mit einigem Argwohn - er war ein eifersüchtiger Junge -, doch befand er sich in zu guter Stimmung, um sich aufzuregen. »Was gibt's Neues in Tularosa?« fragte er. »Hier unten bekommen wir nicht viel mit.« »Oh, auf Whiskey Glass ist immer noch Krieg«, sagte Joe. »Die Texaner haben die Revolvermänner aus Lincoln verscheucht.« »Hat es ein großes Abschlachten gegeben?« erkundigte sich Billy. »Bisher keine offenen Kämpfe«, sagte Joe. »Aber Moss Kuykendall und Ike Pumpelly sind tot. Sie waren auf dem Weg nach Santa Fe und sind in einen Suchtrupp Texaner geraten.« »Diese Männer sind regelrechte Laufkuckucks, stimmt's?« sagte Billy mit einiger Verachtung. »Wohin haben sie sich denn diesmal jagen lassen?« »Anton Chico«, sagte Joe. »Nördlich den Pecos hinauf. Ich erwarte täglich, daß der alte Mann seinen riesigen Nigger hochschickt, um sie auszuräuchern.« »Der alte Idiot sollte die Leute in Frieden lassen«, murmelte Billy. »Einen Idioten würde ich ihn nicht nennen«, sagte Katie. »Pa ist alt, aber ein Idiot ist er nicht.« »Nun, ich kann mit so einem Mann nicht warm werden, selbst wenn er dein Pa ist«, sagte Billy. »Ich wüßte nicht, wie ich seine verdammte Frechheit tolerieren sollte.«
»Laß ihn einfach alt werden und sterben, chapito«, sagte Katie sanft. »Er ist zu zäh, um ihn zu bekämpfen.« Als sie dies sagte, sträubte Billy sich nur noch mehr. Irgend etwas in ihrem Tonfall stichelte seine Eitelkeit an. Er war ein unerfahrener Junge, der einen großen Ruf durch nichts - oder wenig - erreicht hatte, und nun konnte ihn niemand davon überzeugen, daß er diese Reputation nicht verdiente. »Weshalb soll er dazu zu zäh sein?« fragte er. »Er sieht aus wie ein verdammter alter Bauer, und sein altes Pferd würde nicht mal anständige Seife abgeben.« Katie bemerkte ihren Fehler und ließ ab, aber Billy wurde nur noch heißblütiger. Ich glaube, er wollte von uns allen bestätigt haben, daß es im ganzen Westen keinen Mann mit mehr Mumm gab als ihn. »Weshalb meinst du denn, er sei zu zäh, um ihn zu bekämpfen?« fragte er erneut. »Weil alle Leute, die gegen ihn gekämpft haben, tot sind«. sagte Katie. »Die Comanchen haben gegen ihn gekämpft und sind verschwunden. Ich glaube nicht, daß du so hart wie ein Comanche bist.« »Du bist bloß ein Mädchen, du kannst vielleicht gar nicht beurteilen, was hart ist!« schnappte Billy, ohne nachzudenken. Ich glaube, er wünschte augenblicklich, dies nicht gesagt zu haben. Tun wir das nicht alle, wenn wir einer Frau irgendeine vorschnelle Beschuldigung entgegenschleudern? »Also, ich bin stolz darauf, ein Mädchen zu sein«, sagte Katie. Sie war bereit zu streiten. »Wenigstens kann ich mit einem Revolver umgehen«, fügte sie hinzu. »Und der einzige Mann in diesem Land, der es besser kann, ist der Mann, der es mir beigebracht hat.« »Wer soll das denn sein? Ein Freund von dir, den ich noch nicht kennengelernt habe?« fragte Billy ausnehmend trotzig. »Nein, Pa hat es mir beigebracht«, sagte Katie. »Was? Dieser Bauer?« äußerte Billy verächtlich. »Vielleicht denkst du, er zieht sich komisch an, aber er kann dir auf vierzig Fuß Entfernung das Auge ausschießen«, sagte Katie kühl. »Und du hast Glück, wenn du auf die gleiche
Entfernung einen Elefanten triffst, jedenfalls danach zu urteilen, was ich gesehen habe.« Damit, und mit einem Blitzen in ihren Augen, drehte sie sich um und ging zurück in ihre Hütte und ließ uns drei unter dem prächtigen Mesquitebaum stehen. Billy Bone war schockiert. Joe Lovelady und ich jedoch waren nur etwas peinlich berührt. 4. »Und was nun?« fragte Billy schließlich. Weder Joe noch ich sprachen. Wir hatten keine Idee, was wir sagen sollten. Er hatte seine Dame provoziert, und diese Dame war im Zorn, wenn auch in mildem, davongegangen. Billy allerdings war nicht in der Lage, derartige Zwischenfälle einzuschätzen. Ich bin mir sicher, er hatte allmählich angenommen, daß Katie und er ewige Glückseligkeit genießen würden, ohne daß je ein Wort des Streites zwischen ihnen fiel. Obwohl noch vor einem Moment großtuerisch in seinen Gebärden, wirkte er jetzt bleich und kränklich. In Wahrheit war Billy Bone empfindlich, ein Opfer böser Kopfschmerzen und plötzlicher Schwächeanfälle. Er hatte eine harte Kindheit durchgestanden, und man nimmt gemeinhin an, daß derartige Prüfungen einen Menschen abhärten -, doch Billys Gesundheit - zumindest in der Zeit, wo ich mit ihm bekannt war - widerlegte diese Annahme. Seine rauhe Kindheit hatte ihn nicht abgehärtet, sondern geschwächt. Wenn ihn Kopfschmerzen oder ein schwerer Schwächeanfall heimsuchten, konnte er im Handumdrehen so matt aussehen, daß man sein Überleben kaum für möglich hielt. Dies ereignete sich, während wir nervös und verlegen vor der kleinen cantina in San Isidro standen. Billy sah plötzlich so weiß und schwächlich aus, daß ich aufspringen und ihn dazu drängen mußte, sich auf meinem Stuhl niederzulassen. »Das geht schon in Ordnung, Billy, das ist bloß ein Anfall«, sagte ich. »Setz' dich, bevor du umfällst.« Mit zitternden Händen setzte er sich.
»Ich wünschte, wir hätten nicht alle Pillen aufgegessen, Sippy«, sagte er. »Ich kriege wieder die alten Kopfschmerzen.« Joe Lovelady ging hinüber und kam bald darauf mit Katie zurück. Beim Anblick von Billys mattem Gesicht wich ihre Verärgerung augenblicklich der Besorgnis. »Du solltest dich mal sehen, Billy«, sagte Katie. »Kannst du gehen?« »Ich fühle mich ein wenig wackelig«, sagte Billy auf jene förmliche Art, in der er sprach, wenn er todkrank war. »Ich mache mir Sorgen um dich, Bill«, sagte Katie. »Jetzt komm und leg dich drinnen hin, da ist es kühler.« »Oh, mir geht es gleich wieder besser«, sagte Billy. »Das ist nur ein Schwächeanfall.« Als er sich ein wenig besser fühlte, lotste Katie ihn mit List und Tücke über die glühendheiße Plaza in ihre Hütte. Bald kam sie zurück, um Wasser aus dem Fluß zu schöpfen, und danach sahen wir sie für den Rest des Tages nicht mehr. »Ich hoffe, er legt sich nicht an einem Tag, wo ihm einer seiner Anfälle droht, mit Old Whiskey an«, sagte Joe. Wir vertrödelten den langen, heißen Nachmittag an meinem Tisch unter dem Baum. Ich schätze, wir machten uns beide Sorgen - Billys Zustand hatte sich so schnell verschlechtert. »Ich hoffe, er legt sich überhaupt nicht mit ihm an, ob gesund oder krank«, sagte ich. »Was für eine Frau war Katies Mutter?« »Oh, ich habe sie nie kennengelernt«, sagte Joe. »Sie ist schon seit Jahren tot. Allerdings muß sie eine Schönheit gewesen sein - man sagt, Old Whiskey habe ihr angeboten, sie zu heiraten, doch sie lehnte ab.« »Ich bin überrascht, daß sich überhaupt irgend jemand in der Position befand, ihn zurückzuweisen«, sagte ich. Später, im Schloß, als ich Isinglass nach ihr befragte, wirkte er einen kurzen Augenblick lang traurig - einer der wenigen emotionalen Momente, in denen ich ihn je ertappte. Doch er erzählte mir nichts. »Darüber schweige ich, Mister«, sagte er. »Und wenn ich meinen Mund halte, dann halte ich ihn für immer.«
5. Abgesehen vom Zechen gab es in San Isidro nicht viel zu tun, was einen Mann ermüden konnte. Ich war nie ein guter Zecher und habe mich selten darin versucht; folglich erwachte ich gewöhnlich bei Tagesanbruch oder kurz danach. Die Morgen waren lieblich und ruhig - irgend jemand hatte einer Mutterziege eine Glocke umgehängt, und man konnte die Glocke klingeln hören, während die Ziege herumlief; die Tauben flatterten und die Zaunkönige unterhielten sich, doch handelte es sich um einen weit ruhigeren Platz als Philadelphia. Ich hatte die angenehme Gewohnheit entwickelt, einen Frühmorgenspaziergang am Rio Grande zu unternehmen. Ich liebte das Aufleuchten der Farben über den Bergen im Osten bei Sonnenaufgang - die frische Luft und das klare Licht brachten kurzfristige Erholung von der Traurigkeit, mit der ich zu kämpfen hatte. Am Morgen nach Joe Loveladys Ankunft, spazierte ich zurück in Richtung Dorf, immer bemüht, Schlangen aus dem Weg zu gehen - um diese Tageszeit waren sie schwierig auszumachen -, als ich auf Katie Garza traf, die in einem langen weißen Nachtkleid am Fluß saß. Sie hatte einen Eimer Wasser geschöpft und sich dann daneben gesetzt, um zu weinen. Sie blickte sich um und sah mich an, doch unternahm sie keinerlei Anstrengung, ihr Weinen zu verbergen. »Aber Miss Garza«, sagte ich - wir waren über die formelle Anrede noch nicht hinweggekommen - »Sie wirken verzweifelt. Geht es Billy schlechter?« »Nicht schlechter, ihm geht's gut«, sagte sie und wischte ihre nassen Wangen mit dem Saum ihres Nachthemdes ab. Ich war dazu erzogen worden, mich nicht in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen, und ich suchte nach einem Wort der Ermutigung, das ich murmeln konnte, bevor ich meinen Weg fortsetzte. Doch noch bevor ich das Wort fand, riß Katie unvermittelt den Umhang, der für gewöhnlich ihre Gefühle verbarg, zur Seite.
»Er geht!« sagte sie bitter. »Er will nicht bleiben.« »Ach, das ist möglicherweise nur eine Laune des Augenblicks«, sagte ich. »Er ändert seine Meinung häufig, das habe ich schon bemerkt.« Katie schüttelte grimmig den Kopf. »Nein, er geht«, sagte sie. »Er will nicht wegen mir bleiben, und nun würde ich ihn nicht mehr bleibenlassen, selbst wenn er mich darum bäte. Wenn Leute gehen wollen, läßt man sie am besten gehen.« Zu dieser Auffassung war ich selbst gelangt, doch war ich Mitte fünfzig. Für ein kaum zwanzig Jahre altes Mädchen schien mir diese Erkenntnis bemerkenswert. »Entschuldigen Sie meine Neugierde, aber wohin will er denn gehen?« fragte ich. »Na, nach Anton Chico, sich umbringen lassen, natürlich!« sagte sie. »Er hat keinen Grund dort hinzugehen. Er kennt weder diese Revolvermänner noch Pa. Dieser ganze Kampf geht ihn nichts an, aber er denkt anders.« »Vielleicht kann Joe es ihm ausreden«, schlug ich vor. »Joe hat Erfahrung im Umgang mit Billy.« Katie Garzas Tränen waren versiegt, doch der Ausdruck in ihren Augen war weit jenseits von Tränen. »Kann Joe nicht«, sagte sie. »Sie satteln bereits. Joe kann es nicht, und Sie können es nicht, und ich kann es auch nicht, und wir sind die drei einzigen Menschen, die er hat. »Er glaubt, sich einen Ruf schaffen zu müssen«, fügte sie hinzu. »Das ist das einzige, worum es geht - als ob er nicht schon berühmt genug wäre.« Sie griff nach dem Wassereimer, doch ich war schneller. Ich trug ihn für sie, während wir den silbernen Fluß entlanggingen. In ihrem Blick lag die Traurigkeit einer Frau ebenso wie die Traurigkeit eines Kindes. »Ich hatte bisher nicht die Gelegenheit, Ihnen zu Ihren Schießkünsten damals in Greasy Corners zu gratulieren«, sagte ich, in der Hoffnung, ein geeignetes Thema zu finden, das sie aufheitern könnte.
Katie Garza durchschaute mich. »Sie haben ebensogut geschossen«, sagte sie. »Obwohl ich wünschte, mein Pa wäre dort gewesen. Pa könnte uns beide schlagen.« »Obwohl ich Ihren Vater nur kurz gesehen habe, war ich sehr beeindruckt von ihm«, sagte ich. »Ich bin überrascht, daß er Ihnen das Revolverschießen beigebracht hat - eine ungewöhnliche Fähigkeit für eine junge Frau.« »Für einen jungen Mann auch«, sagte sie zu recht. »Joe kann nur einigermaßen schießen und Billy überhaupt nicht.« »Da haben Sie recht«, gab ich zu. Katie seufzte - es handelte sich einwandfrei um einen jener Tage, an denen das Leben eine schwere Bürde ist. »Pa mag mich«, sagte sie. »Er kommt nicht mehr so oft wie früher, um mich zu besuchen, aber er mag mich. Er hat gesagt, ich könnte keine Hilfe vom Gesetz erwarten, also sollte ich besser selbst lernen, mit der Waffe umzugehen. Er sagte, das Gesetz wäre mein Feind, und ich habe bereits festgestellt, daß er recht hatte.« »Miss Garza, dies ist ganz gewiß ein extremer Standpunkt«, sagte ich. »Weshalb sollte das Gesetz Ihr Feind sein?« Sie sah mich voller Unverständnis an. »Weil ich braun bin«, sagte sie. »Und auf der anderen Seite des Flusses Texas ist.« 6. Billy Bone wurde geradezu geschwätzig an jenem Morgen, als er sich bemühte, Katerina Garza davon zu überzeugen, daß seine Abreise nur eine unbedeutende Angelegenheit wäre. »Es ist bloß, daß ich noch nie in Anton Chico gewesen bin und mir diesen Teil des Landes anschauen möchte«, sagte er, während wir bei unseren Pferden standen. »Außerdem würde ich diese Revolvermänner gerne ein oder zwei Tage ärgern und ihnen eventuell ein bißchen Geld beim Spiel abnehmen, bevor dein Pa sie aus dem Land jagt.« Er blickte mich und Joe bittend an, in der Hoffnung, wir würden ihm überzeugende Gründe für seinen Aufbruch, eine
Stunde vor dem Frühstück, liefern. Aber Joe und mir tat Katie leid, die keine Anstrengung unternahm, zu verbergen, wie einsam und verlassen sie sich fühlte. Wir waren ihm nicht behilflich. Billy glaubte selbst nicht, was er sagte - und ich bin auch nicht der Meinung, daß er begriff, weshalb er mit dem festen Entschluß zur Abreise aufgewacht war. Billy Bone war nur eine Marionette seiner Instinkte, wurde von Fäden, deren Zug er nicht voraussagen konnte, mal in die eine, mal in die andere Richtung bewegt. Er mußte gehen: Er wußte nur nicht, weshalb. Joe und ich waren verwirrt, und Katie in Tränen, und er versuchte die Angelegenheit durch Gerede zu verbessern, und selbstverständlich gelang es ihm nicht. »Ich glaub' nicht, daß wir mehr als eine Woche oder so fort sein werden«, sagte er unbeholfen. »Mir steht der Sinn nach zügigem Reisen, und ich habe Joe dabei, der den Weg kennt.« »Mir ist gleichgültig, wie lange du fortbleibst«, sagte Katie. »Ein Jahr kann nicht schlimmer schmerzen als ein Tag.« Dies sagte sie mit erstickter Stimme, wandte sich ab und ging zurück in ihre Hütte, um allein zu weinen. Sie blickte nicht noch einmal in Billys Richtung. Billy wirkte schmerzerfüllt, wie immer, wenn ein anderer Mensch sich weigerte, das Leben so zu betrachten, wie er es tat. »Ich weiß einfach nicht, was mit Katie los ist«, sagte er. »Ich schätze, es spielt keine Rolle, was ich sage, sie wird einfach weinen und weiterzetern.« Joe Lovelady schien ob der bevorstehenden Reise nicht sonderlich enthusiastisch, doch war er aufgesessen und bereit. »Reiten wir nun nach New Mexico?« fragte er. »Oder möchtest du lieber hier sitzen und quasseln?« Mich hatte niemand gefragt, ob ich an einem Weidekrieg teilnehmen wollte, doch hatte Joe Lovelady vorsorglich mein Maultier gesattelt. Billy versuchte so zu tun, als sei ich derjenige, der die Abreise verzögerte. »Nun, kommst du mit kämpfen, Sippy? Oder willst du lieber hier rumsitzen und kritzeln?« erkundigte er sich.
»Oh, wenn mein Maultier mithalten kann, dann komme ich mit«, sagte ich und nahm die Zügel aus Joes Händen. Das kalte Wasser des Rio Grandes stach wie Eis, als wir den Fluß durchschwammen. 7. Den ganzen Tag plapperte Billy, während wir durch die Hueco Berge schritten und das öde, darunterliegende Land durchquerten. Es war eine Ebene, eine trostlose Ebene stundenlang sahen wir kein Leben außer einem Rudel dünner Präriehunde und den gelegentlich aufschnellenden Bussarden. Er plapperte - und bekam von Joe und mir wenig Antworten. Ich glaube, ich hatte gehofft, mich besser zu fühlen, wenn wir einmal in Bewegung waren, doch war die Landschaft von einer Trostlosigkeit, die nicht dazu geeignet war, die Stimmung zu heben. Das Leben in Philadelphia war mir sinnlos erschienen, aber lag wesentlich mehr Sinn darin, mit einem schwierigen Maultier die neumexikanischen Plains in der Gesellschaft eines unbesonnenen Jungen hinauf- und hinabzureiten? Mir schien dies nicht so, und auf dieser Reise war nicht nur ich befremdet. Joe Lovelady war so wenig auf der Höhe, wie ich es noch nie erlebt hatte. Er schaffte es gerade mal, einen der dünnen Präriehunde zu töten, und das war das einzige, was wir an jenem Abend zu essen hatten. Billy hatte es derartig eilig gehabt abzureisen, bevor Katie ihn mit ihren Gefühlen beschämen konnte, daß wir ohne Proviant abgereist waren. »Es gab eine Zeit, da hatte ich für ein Tagwerk mehr vorzuweisen als einen verdammten Präriehund«, sagte Joe Lovelady. Tatsächlich war das Fleisch fett und halb roh; wir hatten kaum genug Gestrüpp zusammenbekommen, um es zu braten. »Wir können uns vollstopfen, wenn wir in die Stadt kommen«, sagte Billy, bemüht, nonchalant zu klingen. Ihm war bewußt, daß wir beide im Augenblick recht wenig beeindruckt von ihm waren. Es kann sein, daß der übereilte
Aufbruch in San Isidro eine Reaktion auf seine Vermutung war, daß Katie, Joe und ich anfingen, ihn leicht lächerlich zu finden. Ich glaube, er hatte vor, uns zu beweisen, daß er ganz genauso gefährlich war, wie man gewöhnlich von ihm behauptete. Er war fest entschlossen, jede Unbequemlichkeit, die auf dem Weg zum Kampf auftauchen mochte, zu ignorieren. »Du hast gesagt, du wolltest Texas mal ausprobieren«, erinnerte Joe ihn - es handelte sich um ein Versprechen, von dem ich nichts wußte. »Werde ich auch - gleich nachdem wir diese verdammten Laufkuckucks ein bißchen hochgenommen haben«, sagte Billy. »Vielleicht verdiene ich genug beim Kartenspielen, um euch ein Festessen auszugeben.« Dies schien eine etwas weit hergeholte Hoffnung, und Joe verlieh dem Ausdruck. »Beim Kartenspielen wirst du überhaupt nichts gewinnen, Viv wird dir bloß die Haut abziehen«, sagte er. »Wir sind nur einen Katzensprung von den Texas-Ranches entfernt. Weshalb überlassen wir das Kriegführen nicht den Kriegern und galoppieren nach San Antonio rüber. Du könntest dir in der Stadt einen feinen Job an Land ziehen, wenn du dich schon nicht für Vieh interessierst.« Für Joes Verhältnisse war das eine lange Rede, und eine gutgemeinte dazu, doch deprimierte das Gehörte Billy Bone sofort. »Ich hasse Texas«, sagte er geradeheraus, »und nach San Antonio gehe ich nicht. Wenn du gehen willst, geh und nimm Sippy mit. Ich komm' in Anton Chico allein zurecht, und auch an jedem anderen Ort, um das klarzustellen.« Joe sagte nichts; er war bereit, das Thema fallen zu lassen. Doch Billy sank weiter. »Ihr wißt nicht, wer ich wirklich bin, keiner von euch«, sagte er in seiner traurigen Stimme. Dann drehte er uns seinen Rücken zu und legte den Kopf auf den Sattel. »Niemand weiß, wer ich wirklich bin«, sagte er mit viel Bitterkeit, ohne sich umzusehen. »Keiner weiß es - aber sie werden es noch erfahren, bevor ich fertig bin.«
8. Am nächsten Morgen war Billy mürrisch. Als er aufgestanden war, brachte er kein Wort heraus, und er ignorierte die Tasse Kaffee, die Joe ihm anbot. Er schmiß seinen Sattel auf Chips Rücken und ritt nach Norden davon. Joe Lovelady und ich sahen uns vor eine Entscheidung gestellt. Texas, das eine friedliche Beschäftigung, zumindest für Joe, bot, lag in unmittelbarer Reichweite. Billy Bone wurde schnell zu einem Pünktchen auf der Prärie. Sollten wir Vernunft oder Loyalität walten lassen? Ich hatte bereits genug Gewalt gesehen, um zu wissen, daß ich weder Lust noch Platz für mehr hatte. Ich mochte Billy und hatte ihm gegenüber ein vaterähnliches Gefühl; ein Mann mit neun Töchtern heißt gewöhnlich einen Sohn willkommen. Doch hatte ich in Greasy Corners furchtbare Angst gehabt und war deshalb mehr als geneigt, Texas einen Besuch abzustatten. »Kann sein, daß er blufft«, bemerkte ich. »Wenn wir es darauf ankommen lassen und nach Texas reiten, meinst du nicht, daß er möglicherweise nachkommt?« »Nix«, sagte Joe. »Wird er nicht. Ein Brecheisen beugt sich eher als Billy.« »Du bist ein Cowboy«, erinnerte ich ihn. »Willst du dich wirklich auf diesen Kampf einlassen?« Joe nahm seinen Sattel auf. »Nix«, sagte er erneut. »Aber ich will auch nicht die ganze Nacht wach liegen und mir Sorgen um Billy machen. Er kennt sich auf diesen Plains nicht aus. Wenn er auch nur eine Kleinigkeit vom Weg abkommt, kann er hundert Meilen entfernt vom nächsten Wasserloch landen. Da draußen ist beinahe eine halbe Armee verhungert, mußt du wissen.« Er bezog sich auf jene unglücklichen Texaner, die versucht hatten, Santa Fe einzunehmen - ihr Scheitern war der Gegenstand meines zur Hälfte fertiggestellten Halbgroschenromans, Schwarze Bohnen. »Das möchte ich nicht auf meinem Gewissen lasten haben«, sagte Joe.
So sattelten wir widerwillig auf - und widerwillig folgten wir Billy nach Norden. Keiner von uns beiden hatte besondere Eile, ihn einzuholen; in zwei oder drei Meilen Entfernung trabten wir hinter ihm her, jeder mit seinen eigenen, eher nüchternen Gedanken beschäftigt, als Joe Lovelady, wachsam wie immer, zwei Reiter, weit vor uns, erspähte. »Also nein, das sind doch die Fay-Brüder«, sagte er in fröhlicher Stimmung. Ich sah auf, doch außer Billy, der selbst nur ein Fleckchen am Horizont war, konnte ich niemanden sehen. Meine Augen, an Panoramen gewöhnt, die die Größe eines prächtigen Vorgartens in Philadelphia nicht überschritten, mußten sich noch an die Dimensionen des Westens gewöhnen. Wir ritten ungefähr drei Meilen weiter, bevor ich imstande war, die FayBrüder als zwei Flecken auszumachen, die noch kleiner waren als Billy Bone. Joe grinste; offensichtlich amüsierte ihn meine amateurhafte Art. »Den Paßgang von Eimers Stute würde ich überall wiedererkennen«, sagte er. »Diese Stute hat mir selbst einmal gehört.« Wir fielen in Galopp, aus seinem Lächeln schloß ich, daß es sich bei den Fay-Brüdern um Freunde handelte, ich bemerkte, daß sich zumindest meine Stimmung aufheiterte. Es war ein wunderschöner Morgen; Gesellschaft konnte unter Umständen sogar Billys üble Laune vertreiben. Mir blieb kaum eine Minute, um meine neugewonnene Moral zu genießen, da krachte es laut; das Geräusch eines Revolverschusses rollte über die leere Ebene. Zu diesem Zeitpunkt befanden wir uns nicht weiter als eine viertel Meile von den Reitern entfernt. Es gab einen weiteren, rollenden Krach, und im Licht der Sonne konnte ich Billys Revolverlauf aufblitzen sehen. Billy und die beiden Reiter waren nur wenige Meter voneinander entfernt. Dann glitt einer der Reiter von seinem Pferd; der andere feuerte einen ungezielten Schuß ab, bevor er sein Pferd wendete und davonraste.
Billy schoß noch vier Mal auf den fliehenden Mann, allerdings ohne Resultat. »Großer Gott, Billy hat Eimer erschossen«, sagte Joe und gab seinem Pferd die Sporen. Der gefallene Mann hatte es fertiggebracht, sich an seinem Zaumzeug festzuhalten. Die Stute scheute und zerrte ihn dreißig oder vierzig Fuß weit mit sich, bevor Joe in der Lage war, sie zu stoppen. Es spielte keine Rolle mehr, der Mann war tot. Billy Bone war nicht abgestiegen. In seiner Hand lag ein leerer Revolver und auf seinem Gesicht ein Ausdruck eiskalter Befriedigung. 9. Zuerst war Joe Lovelady zu schockiert, um zu sprechen. Er kniete neben der Leiche von Eimer Fay, als erwarte er, daß der Mann jeden Moment seine Augen öffnen und sprechen würde, obwohl er genau wie ich wußte, daß der Mann tot war. »Ich glaube, er ist tot, Joe«, sagte ich und stieg ab. »Das hoffe ich, dieser texanische Scheißkerl«, sagte Billy Bone. Er schlug die leeren Hülsen aus seinem Revolver und machte sich daran neu zu laden. »Wenn das ein besserer Revolver wäre, hätte ich den anderen auch noch umgelegt«, fügte er hinzu. »Das ist Eimer Fay«, sagte Joe mit zittriger Stimme. »Ich habe ihn gut gekannt. Weshalb hast du Eimer umbringen müssen?« Ich glaube, Billy hatte nichts außer Lobpreisung erwartet Joes Tonfall und möglicherweise auch der Ausdruck auf unseren Gesichtern verwirrte ihn. »Nun, er hat gesagt, er sei aus Texas - ich habe gedacht, er ist einer von diesen Killern«, sagte Billy. »Sie waren zu zweit. Ich wollte schneller sein und zuerst schießen.« »Du warst verdammt noch Mal zu schnell«, sagte Joe. »Eimer und Jody waren nur Pferdehändler. Du hättest fragen
können, bevor du schießt. Jetzt hast du einen feinen Kerl umgebracht und eine Familie ruiniert.« Billy Bone sah angewidert drein - er hatte die Begrüßung eines Helden erwartet und genoß es nun nicht gerade, kritisiert zu werden. »Klar, natürlich hältst du zu ihm, du bist ja selbst Texaner«, sagte er. »Was macht er hier in der Gegend, wenn er nicht einer der Killer ist?« »Ich nehme an, er war auf dem Weg nach Texas, um weitere Pferde zu holen«, sagte Joe. Eimer Fays Hut war vom Kopf gefallen. Joe ging hin und hob ihn auf. Dann legte er ihn sorgfältig auf das Gesicht seines toten Freundes. »Du warst viel zu schnell mit dem Schießen«, sagte er. »Eimer Fay war ein zuverlässiger Kerl. Es ist sehr schade, daß er tot ist.« »Oh, du bist ja ein richtiger Prediger«, rief Billy laut aus. Joe Lovelady ignorierte ihn. Er nahm die Bettrolle von der Stute des toten Mannes und breitete sie auf dem Gras aus. »Würdest du mir helfen, Sippy? Wickeln wir ihn ein«, sagte er. Ich ergriff das Ende, welches Des Montaignes gewöhnlich nahm - das Fußende -, und half Joe dabei, die Leiche in die Bettrolle zu wickeln. Joe rollte sie sorgfältig ein und schlang sein eigenes Lasso darum. Dann legten wir den Körper quer über die nervöse Stute. Billy Bone sah uns schweigend zu, aber meiner Ansicht nach war er ebenso nervös wie die Stute. Irgend etwas war schiefgegangen. Das Glück hatte ihm etwas zugeführt, das aussah wie eine Möglichkeit, zu jenem Killer zu werden, für den ihn jeder hielt. Doch dieses Glück barg eine dunkle Seite. Er hatte den Freund seines Freundes und noch dazu einen unschuldigen Mann getötet. Ich glaube, er hätte eine hitzige Auseinandersetzung willkommen geheißen, doch bot Joe Lovelady ihm keine an. Joe wirkte ernst und fuhr fort, die Leiche über den Sattel, auf dem noch vor wenigen Minuten sein Freund geritten war, zu schnüren.
»Planst du ein kirchliches Begräbnis?« platzte Billy heraus, unfähig, die Stille zu ertragen. »Weshalb nicht einfach ein Loch schaufeln und den Mann hier einpflanzen?« »Nun, ich kenne die Familie, es wäre eine Unterlassung meinerseits, Eimer nicht nach Hause zu bringen«, sagte Joe. »Wie lange ist es her, seitdem du den Mann das letzte Mal gesehen hast?« erkundigte sich Billy. Er konnte den Gedanken, im Unrecht zu sein, nicht ertragen. »Ich glaube, ich habe Eimer letztes Jahr gesehen«, erwiderte Joe. »Nun, dann weißt du ja doch nicht allzuviel«, insistierte Billy. »Vielleicht hatte er genug vom Pferdegeschäft und hat sich von Isinglass als Killer anheuern lassen. Vielleicht wäre ich der Tote, wenn ich nicht schnell geschossen hätte.« »Nein, Eimer Fay war ein anständiger Kerl«, sagte Joe. »Jody war derjenige mit dem wilden Einschlag. Vor Jody wirst du dich von nun an in acht nehmen müssen. Ich nehme an, er wird seinen Bruder rächen wollen.« »Der? Also, der ist gerannt wie ein Karnickel«, sagte Billy. »Ich bezweifele nicht, daß er überrascht war«, sagte Joe. »Das heißt aber nicht, daß er nicht kommen wird, um dich zu holen, sobald er es sich einmal überlegt hat.« Dann stieg er auf sein Pferd und sah auf mich hinab. »Ich muß Eimer nach Hause bringen«, sagte er. »Möchtest du mir Gesellschaft leisten, Mr. Sippy?« Es ist schwer zu beschreiben, was sich in jenem Moment in mir abspielte. Eimer Fay war ein dünner Kerl gewesen - seine Leiche erinnerte mich an die von Chittim, auch wenn Eimer Fay auf der offenen Prärie und Chittim auf einein Gehsteig in Philadelphia gefallen war. Keinen der beiden Männer hatte ich wirklich gekannt und somit keinen aufrichtigen Grund zu trauern, doch war in beiden Fällen das Ende derartig unvermittelt eingetreten, daß es mich benommen machte. Ich nehme an, jeder Tod tritt plötzlich ein, wenn man genau darüber nachdenkt: Die glücklichsten von uns sind immer noch diejenigen, die zwischen zwei Atemzügen verscheiden; doch das zu verstehen, gelingt erst, wenn man sieht, wie es geschieht.
Kein Zweifel, der verstorbene Mr. Fay hatte gesehen, wie sich ihm ein Junge näherte, und wollte lediglich guten Morgen sagen; nun war er tot. Ich glaube, selbst Joe Lovelady war benommen, auch wenn dies seine Fähigkeiten nicht einschränkte. Einzig Billy Bone, der Übeltäter, stellte all seine Nervosität zur Schau. Er sah, daß sein Freund, Joe Lovelady, im Begriff stand, davonzureiten. Obwohl er keine Entschuldigung anbot, glaube ich, daß diese Tatsache ihn fast zur Verzweiflung brachte. Er wirkte freudlos, schuldbewußt und hoffnungslos. Möglicherweise war es der hoffnungslose Ausdruck in den Augen des kindlichen Mörders, der mein Urteilsvermögen einschränkte - ich weiß es nicht. »Danke, nein«, sagte ich zu Joe Lovelady. »Ich glaube, ich werde mit Billy reiten. Vielleicht kann ich mir das gute alte Texas ein andermal anschauen.« »Nun, das hoffe ich«, sagte Joe, als er davonritt. 10. »Nun ja, Billy war der, über den es Geschichten zu erzählen gab, und du bist ein Geschichtenerzähler«, sagte Tully Roebuck Jahre später zu mir, als wir über die alten Querelen am Pecos sprachen. Ich stellte Spekulationen an über meine Entscheidung, Billy nach Anton Chico zu folgen, obwohl ich gerade gesehen hatte, wie er Eimer Fay ermordete. »Joe Lovelady war nur ein einfacher Cowboy«, fügte Tully hinzu. »Ich bezweifele, daß überhaupt irgendein Artikel über ihn erschienen wäre, hätte er diesem riesigen Nigger nicht eine derartige Verfolgungsjagd geliefert.« »Aber die Jagd war das Beste an der ganzen Geschichte«, protestierte ich - denn der texanische Cowboy auf seinem Kuhtreiberpony hatte den afrikanischen Krieger quer durch die Badlands und die Hügel vom oberen Pecos den ganzen Weg bis zum Mogollon Rim geführt. In meinen Augen war Joe Loveladys Ritt gleichrangig mit Rolands Heldentum am Pass, und die Geschichten und
Hintergrundberichte zollten ihm einige Anerkennung; aber selbstverständlich waren es - damals wie heute - Billy und seine heiße Knarre, die den meisten Platz eingeräumt bekamen. »Joe Lovelady hat keine einzige Seele umgelegt«, sagte Tully, um die Angelegenheit zusammenzufassen. Kaum einen Monat nach unserer Unterhaltung wurde Tully selbst von Brushy Bob Wade hinterrücks ermordet und hinterließ die kleine blinde Tochter, die ihm so viel Kummer bereitet hatte, einer Schwester in Oklahoma zur weiteren Erziehung. 11. Es ist wahr, daß ich zu der Zeit, ich als zusah, wie sich Joe mit Eimer Fays Leichnam auf den Weg nach Texas machte, die kläglichste Phase meiner Karriere als Groschenromanautor durchlief. Mein halbfertiges Buch Schwarze Bohnen war eine klare Niete. Mein alter Held Sandycraw, der sich törichterweise mit den dreisten Texanern zusammengetan hatte, schien alle Kraft seiner Persönlichkeit verloren zu haben; er war ein paar schurkischen Kiowas in die Falle gegangen und erwartete mit ungewohnter Passivität ein furchtbares Schicksal. Tatsächlich hatte ich für zwei Wochen Kritzelei nicht mehr vorzuweisen als ein Durcheinander von Reisenotizen, keine davon so, daß sie den fassungslosen Redakteuren im Hause Beadle und Adams Jubelrufe entlocken würden. Hatte Tully recht? Bin ich mit dem kindlichen Killer nach Norden geritten, um der Buntline des Whiskey Glass-Krieges zu werden? War ich ein derartiger Opportunist? Ich bestreite es. Ich bin nach Norden geritten, weil ich Billy Bone nicht allein lassen konnte, nicht so, wie er dort saß, so niedergeschlagen - nur ein heimatloses Kind des Westens mit einem so einsamen Ausdruck auf seinem häßlichen jungen Gesicht, daß man alles für ihn würde tun wollen. Ich bin aus Mitleid bei ihm geblieben - nicht aus Bewunderung. Niemand von uns bewunderte sein Töten; aber es brachte auch niemand von uns fertig, ihn zu verlassen.
Nach dem Mord an Eimer Fay trennte sich Joe Lovelady im Schock, doch war er rechtzeitig zurück, um den Köder zu spielen, sonst wäre Billy nie im Leben heil aus der Klemme in Skunkwater Flats gekommen. Katie Garza hatte sich in San Isidro im Schmerz abgewandt, doch war es Katie, die es fertigbrachte, Billy jenen Revolver zuzustecken, der ihn davor bewahrte, in Lincoln County gehängt zu werden. Er hatte den Charme des traurigen Jungen - und noch in der Minute, in dem man ihm erlag, würde er einen dazu bringen, dies zu bereuen. Kaum war Joe Lovelady mit der Leiche Eimer Fays außer Sichtweite, da überwand Billy seine freudlose Stimmung und wurde anmaßend wie ein Gockel. »Der Joe ist einfach zu pingelig«, sagte er und sang den ganzen Tag auf dem Pferd Liedchen in gebrochenem Spanisch, die ihm wohl Katerina beigebracht haben mußte. Er war blendender Stimmung. In jener Nacht befanden wir uns so weit draußen auf den Llanos, daß es mir unmöglich war, auch nur ein einziges Holzstückchen zu finden, und wir mußten unser rauchiges Lagerfeuer mit einem Haufen Kuhfladen machen, die ich gesammelt hatte. Alles, was wir zu essen hatten, war ein Stück Trockenfleisch, das ich seit unserem Aufenthalt in Tularosa in meiner Satteltasche hatte. Mit ein wenig Rio Grande-Wasser aus der Feldflasche spülten wir es hinunter. Meine Laune, von Anbeginn nicht besonders gut, war im Laufe des Tages weiter gesunken, doch Billy befand sich in Hochstimmung. »Die Tulip muß mir die Karten falsch gelegt haben«, sagte er. »Ich habe den Rio Grande in beide Richtungen überquert und bin in eine Schießerei geraten und lebe immer noch.« »An deiner Stelle wäre ich ein bißchen bescheidener«, sagte ich. »Morgen triffst du vielleicht auf einen Revolvermann und nicht auf einen Pferdehändler.« Billy sah angewidert drein. »Ich wünschte, du wärst mit Joe gegangen, wenn du schon so pingelig mit dem Töten bist«, sagte er. »Den ganzen Tag bist
du in düsterer Stimmung, und das nur wegen eines einzigen toten Texaners. So was nenne ich unhöflich.« »Ich nehme an, Mr. Fay hatte ein Leben genau wie du und ich«, sagte ich. »Vielleicht machte er sich etwas aus gutem Essen oder tanzte gern. Vielleicht war er seiner Familie ein Trost. Aber all dies ist jetzt verloren, und ohne besonderen Grund.« Billy erkannte eindeutig nicht den Sinn eines solchen Kommentars. »Nun, er kann in der Hölle tanzen, wenn es ihm so viel Spaß macht«, sagte er. »Wenn ich seinen Bruder das nächste Mal treffe, schicke ich ihn zu ihm, dann können sie zusammen tanzen.« Es war meine Absicht gewesen, für ihn ein kleines Bild zu malen, das Leben des toten Mannes ein wenig zu beschreiben, in der Hoffnung, Billy zumindest einen Tropfen Reue ob dieses so abrupt beendeten Lebens zu entlocken - ich wollte ihn dazu bringen, die moralischen Aspekte des Tötens zu bedenken, glaube ich jedenfalls. Doch meine Hoffnung war fehl am Platz. Um genau zu sein, sogar töricht; die einzige Reue, die Billy empfand, war darüber, daß er es nicht auch noch geschafft hatte, Jody Fay umzubringen. »Ich denke, ich sollte mir eine schöne, große Schrotflinte kaufen«, sagte er. »Warum, für die Präriehühner?« fragte ich, mir meines Hungers bewußt werdend. »Nein, nicht für Präriehühner«, sagte er. »Alles, woran ihr Yankees denkt, ist essen. Ich brauche das Schrotgewehr nur, weil ich mit dem Revolver nicht gut bewegliche Ziele treffe. Wenn ich 'ne geladene Zehner-Schrotflinte gehabt hätte, dann wäre dieser verdammte Jody niemals entkommen.« Das erste, was er tat, als wir halbverhungert in Anton Chico ankamen, war, sich fünfzig Dollar von mir zu leihen und diese sogleich für ein Schrotgewehr und einen Sack voll Rehposten im Kaufmannsladen auszugeben.
12. Billy beschloß sofort, daß er Anton Chico nicht mochte, eine Gemeinde, kaum beeindruckender als Greasy Corners. »Zu kühl«, sagte er, als wir am Morgen unserer Ankunft über einer Tasse Kaffee fröstelten. Dunkle Wolken rollten vom Sangre de Cristo heran, die nicht weit entfernt im Norden lagen. Billy wurde von einem Niesanfall heimgesucht, der ihn schwindelig werden ließ. Er gab der Kälte die Schuld. Die Revolvermänner hatten die Stadt ebenfalls nicht gemocht; der einzige, der sich noch dort aufhielt, war Vivian Maldonado, der einem Apachenmädchen verfallen war. Der Rest war zurück den Pecos hinunter nach Puerta de Luna gezogen. »Da werden sie sterben, aber ich nicht«, sagte Vivian. »Ich bin lieber verliebt.« Er hatte einen schweren Poncho erstanden und saß die meiste Zeit tequilatrinkend mit dem Rücken gegen die Adobewand des kleinen Geschäftes gelehnt, in dem Billy sein Schrotgewehr gekauft hatte. Wenn ein Sonnenstrahl die Wolkendecke durchbrach und für die Dauer einer Minute verweilte, rannte Vivian hin, um ihn auszukosten. »Wenn du so verliebt bist, dann verkauf mir deinen Revolver«, sagte Billy. »Mein bester trifft selten, worauf man zielt, und der andere ist völlig wertlos.« »Nein, ich verkauf dir keinen Revolver nicht«, sagte Vivian mit einem neapolitanischen Seufzer. Das Objekt seiner Leidenschaft, ein wohlgebautes, wenn auch etwas rundliches Apachenmädchen von nicht mehr als vierzehn Jahren, mahlte Mais gegenüber auf der Straße. Sie arbeitete für den alcade des Dorfes, einen alten Spanier, dem auch der Kaufmannsladen gehörte, der die einzige Handelseinrichtung der Stadt darstellte. »Aber wenn du verliebt bist und dich vom Kämpfen zurückgezogen hast, brauchst du keine teure Waffe«, argumentierte Billy. Er war entschlossen, die Qualität seines Arsenals anzuheben, obwohl ich der Ansicht war, daß er mit dem, was er besaß, tödlich genug war.
Vivian ignorierte ihn. »Ich sehe Kühe«, sagte er. Er hatte recht. Von Süden her näherten sich der Stadt drei Cowboys und trieben vierzig oder fünfzig Stück Vieh vor sich her. »Ich habe schlechtere Neuigkeiten«, sagte Billy. »Ich sehe Indianer.« Tatsächlich galoppierten drei Indianer auf ihren kleinen Pferden von Nordwesten heran. »Ich mag diesen Ort nicht«, sagte Billy. »Wenn ich gewußt hätte, daß dies Indianerland ist, wäre ich nicht gekommen.« »Es sind bloß drei, wir können sie umbringen«, sagte Vivian. »Vielleicht und vielleicht auch nicht«, sagte Billy zweifelnd. Der Anblick der Indianer hatte ihn deutlich niedergedrückt. »Die Tulip hat immer gesagt, man solle nicht zu weit nach Norden abdriften«, sagte er. »Sie sagte, die gemeinsten Spanier und die zähesten Indianer leben oben im nördlichen Teil des Territoriums.« Die Cowboys waren offenbar auch nicht sonderlich vergnügt über die Ankunft der Indianer. Ungefähr eine halbe Meile südlich von der Stadt stoppten sie ihre kleine Herde und beratschlagten sich kurz. Dann gab einer seinem Pferd die Sporen und raste blitzschnell in die Stadt, die Herde den anderen beiden überlassend. Er raste direkt auf die Wand zu, an der wir uns sonnten, und riß sein Pferd so heftig zurück, daß es auf die Hinterbeine stieg. »Sagt Bloody Feathers, hier sind seine Rinder«, sagte er. Der Name hatte eine elektrisierende Wirkung auf Vivian Maldonado - mit einem Mal sprang er auf die Füße. »Bleedy Feathers, ist er das?« fragte er. »Wir sprechen die Sprache der Apachen nicht«, teilte Billy dem Cowboy in jenem förmlichen Ton mit, den er gebrauchte, wenn er beunruhigt war. »Also, Bloody Feathers spricht so gut amerikanisch wie ihr«, sagte der Cowboy, der offenbar ungeduldig darauf wartete, sich entfernen zu können.
»Er ist der Sohn von Old Whiskey«, fügte er hinzu. »Der alte Mann schickt ihm fünfzig Rinder im Monat, damit er die Kuhtreiber nicht skalpiert.« »Nun, wenn er dich nicht skalpiert, warum hast du's dann so mächtig eilig?« fragte Billy. Der Cowboy war ein schlaksiger Kerl mit großem Schnauzbart und einer offenbar instabilen Gemütsverfassung. »Weil ich kein Idiot bin, du verdammter Kerl!« rief er aus. »Auf so eine lockere Abmachung würde ich kein Haar verwetten. Bloody Feathers kann sich genausogut überlegen, daß er die Rinder und noch ein paar Skalps obendrein haben möchte.« Mit diesen Worten galoppierte er davon, den Pecos hinab, und bald gesellten sich seine beiden Begleiter zu ihm. Die Rinder bewegten sich langsam auf die Stadt zu - es schien, als fühlten sie sich gezwungen, für ihre eigene Zustellung Sorge zu tragen. Bloody Feathers ritt umgeben von einer Aura entspannter Gleichgültigkeit in Anton Chico ein, ähnlich wie sein Vater nach Greasy Corners gekommen war. Er war von dunklerer Hautfarbe und hielt sich weit besser im Sattel - er ritt einen prächtigen Rotschimmel -, aber die Familienähnlichkeit war offensichtlich: der gleiche untersetzte Körperbau, der gleiche große Kopf wie der Vater. In einem ausgefransten Futteral trug er eine Winchester, und um die Stirn hatte er ein schwarzes Stirnband gewickelt. »Los, erschieß ihn!« flüsterte Vivian Billy zu. Doch Billy Bone beobachtete Bloody Feathers wie hypnotisiert - es war klar, daß ihm in diesem Moment nicht der Sinn nach einem Scharmützel stand. Die beiden Indianer, die mit Bloody Feathers gekommen waren, ritten weiter in die Stadt und kreisten das näher kommende Vieh ein, doch Bloody Feathers ritt, ohne uns eines Blickes zu würdigen, dorthin, wo das Indianermädchen Mais mahlte - zu diesem Zeitpunkt hatte sie ihre Arbeit allerdings unterbrochen und starrte furchterfüllt auf den Mann, nicht weniger hypnotisiert als Billy.
Zugegebenermaßen war ich selbst voller Ehrfurcht. Obwohl einfach gekleidet und nicht offensichtlich feindselig, schien Bloody Feathers die gesamte Stadt auszufüllen oder zumindest das gesamte Auge in Beschlag zu nehmen. Angesichts einer solchen Erscheinung würde es einem schwerfallen, seine Arbeit ungerührt fortzusetzen. Er stoppte in der Nähe des arbeitenden Mädchens und sagte in gedämpftem Ton ein paar Worte zu ihr. Das Mädchen legte augenblicklich ihren Mahlstein nieder und kletterte hinter ihm auf den Rotschimmel. »Guck mal da, Viv, der stiehlt dein Mädchen«, sagte Billy. »Ich schätze, du wirst derjenige sein, der ihn erschießen muß.« Man muß Vivian Maldonado zugestehen, daß er reichlich hitzig war. Noch bevor es sich seine dunkelhäutige Helena auf dem Pferd bequem gemacht hatte, kam er protestierend über die Straße gelaufen. »Halt! Du kannst sie nicht mitnehmen!« sagte er laut. Ich glaube, er hätte ebensogern einen Schuß abgefeuert, doch befand sich sein Revolver irgendwo unter dem schweren Poncho und ließ sich nicht so einfach ziehen. Jedenfalls war Viv nicht umsonst ein Zirkusstar gewesen; gewagten Schrittes marschierte er über die Straße, bereit für die Schlacht d'amore. Bloody Feathers grinste - von einem italienischen Akrobaten in einem heruntergekommenen Dorf am Pecos herausgefordert zu werden, amüsierte ihn anscheinend. »Weshalb schmierst du dein Haar mit diesem Stinktierfett ein?« fragte er. Vivian war selbstverständlich pomadiert wie immer. »Diese Frau ist meine Verlobte! Ich muß sie mit in meine Heimat nehmen!« sagte Vivian Maldonado wie ein waschechter Manzoni. »Komm' mit in meine Heimat, und wir lassen dich ein wenig gutes Bärenfett ausprobieren«, sagte Bloody Feathers liebenswürdig, Vivians Erklärung ignorierend. »Ich liebe sie, sie ist meine Sonne und mein Mond«, erklärte Vivian. Selbst Billy mußte über diese Ausdrucksweise lachen, obwohl Bloody Feathers sie nicht für außergewöhnlich zu erachten schien.
»Ich will sie freien!« rief Vivian aus - ich nehme an, er dachte, dies würde den Ausschlag geben. »Heute nicht, Senor«, sagte Bloody Feathers und wendete sein Pferd. »Ihre Großmutter braucht sie zu Haus, sie muß bei den Ziegen helfen.« Er wollte sein Pferd wenden, doch Vivian Maldonado, der passionierte Akrobat, streckte seine Hand aus und griff nach dem Zaumzeug. »Ich gebe dir Geld!« sagte er. »Ich kaufe dir Kühe.« Bloody Feathers hob sein Gewehr -, es befand sich immer noch in dem ausgefransten Futteral - und klopfte Vivian damit ziemlich heftig aufs Handgelenk, worauf Vivian das Zaumzeug losließ. »Bitte komm meinem Pferd nicht zu nahe«, sagte Bloody Feathers. »Es könnte weglaufen. Der Geruch von dem Stinktierfett in deinem Haar hat es bereits aufgeregt.« Vivian hatte sich in heiße, neapolitanische Wut gesteigert auf seiner Stirn trat eine Ader hervor. Er warf den Poncho ab und griff nach seinem Revolver, einem schönen Colt mit Perlmuttgriffen, jene Waffe, die Billy so gerne eingetauscht hätte. Ich muß zugeben, daß er auch flink war - aber der Apache war flinker. Bevor Vivian abdrücken konnte, lehnte er sich vor, ergriff ihn am Ohr und hob ihn vom Boden. Vivian war ein leichter, agiler Kerl, doch mit welcher Leichtigkeit Bloody Feathers ihn vom Boden hob, während er mit den Füßen zappelte, werde ich nie vergessen. Es muß schmerzhaft sein, am Knorpel seines eigenen Ohres gehalten zu werden, denn Vivian ließ einen derartigen Quieker los, daß die davonreitenden Cowboys, die bereits weit unten um Pecos waren, für einen Moment anhielten und zurückschauten, bevor sie weiterrasten. Nachdem er ihn hochgehoben hatte, drehte Bloody Feathers Vivian gerade so weit, daß sein Revolver in unsere Richtung zeigte. »Wenn du unbedingt jemanden erschießen willst, dann die Amerikaner hier«, sagte er in unverwandt liebenswürdigem Ton.
Allerdings hatte Vivian jegliche Gedanken an Mord fahren gelassen; sein Gesicht war fast zur Unkenntlichkeit verzogen, und er fuhr fort, durchdringende Schreie auszustoßen. Bloody Feathers schien nicht angestrengt zu sein und hätte Vivian Maldonado vermutlich für unbestimmte Zeit einen Fuß hoch über dem Boden halten können, doch die beiden Apachen in seiner Begleitung kamen mit dem Vieh zurück. Sie waren äußerst guter Dinge und grinsten über den kleinen Scherz ihres Häuptlings. Bloody Feathers schüttelte Viv ein oder zwei Mal, was dem einige ungeheuerliche Quieker entlockte und ihn dazu brachte, den teuren Revolver fallen zu lassen, worauf ihn Bloody Feathers losließ. Viv rollte im Dreck herum, als habe man ihn angezündet, während Bloody Feathers sich weit von seinem Pferd herunterbeugte und den Revolver aufnahm. »Was für eine schöne kleine Waffe«, sagte er. Dabei sah er Billy an und grinste herausfordernd, bevor er den Revolver in seine Hose steckte. Billy wirkte recht niedergeschlagen - zeitweise schien er ein oder zwei Inch an Größe zu schrumpfen - und ignorierte die Herausforderung, falls es sich um eine gehandelt haben sollte. Die rundliche Schönheit, die die Ursache von allem war, hielt ihre Augen bescheiden gesenkt, während Bloody Feathers an uns vorbeitrabte und seinen Platz neben dem Vieh einnahm. Der Mann, der vor so kurzer Zeit noch um ihre Gunst gebuhlt hatte, stöhnte weiterhin im Staub. »Ich wünschte, das hätte ich nicht gesehen«, sagte Billy, als die Indianer außer Hörweite waren. »Von genau diesen Sachen bekomme ich gräßliche Träume«, sagte er. »Da seh' ich noch lieber den Höllenhund als sowas.« In diesem Moment schien er alles andere als ein gefährlicher Junge zu sein. 13.
Den Rest des Tages verbrachte Vivian Maldonado damit, sich eine mit heißem Maisbrei gefüllte Socke ans wunde Ohr zu halten, zu murren und sich zu beschweren. »Wenn du so ein großer Killer bist, weshalb hast du dann nicht geschossen?« fragte er Billy mehrere Male. »Ich muß einen Mann doch nicht erschießen, nur weil er dich am Ohr hochhält«, gab Billy zurück. Doch seine Stimme klang niedergeschlagen - ich glaube, er spürte, daß er bei der kurzen Begegnung mit Bloody Feathers schlecht abgeschnitten hatte. Dann und wann warf Vivian die Socke herüber zu einer alten mexikanischen Frau, die im Kaufmannsladen arbeitete, damit diese den Brei wieder erwärmen konnte. Während er aufgewärmt wurde, verbrachte er die Zeit damit, in den Spiegel zu schauen. Er sah genauso aus wie vor dem Zwischenfall, außer daß sein Ohr rot wie eine Beete war. »Laß dir die Haare lang wachsen«, schlug ich vor. »Dann wird keiner merken, daß du ein rotes Ohr hast.« »Jetzt bin ich verkrüppelt«, sagte Vivian düster, obwohl dies nicht zutraf. »Wenn ich zum Zirkus zurückgehe, stecken die mich in die Freak-Show.« »Du hättest nicht so dicht bei dem Pferd stehen dürfen«, bemerkte Billy - er war schon wieder bereit, seinen Kommentar zur Kampftechnik Vivians zu geben. »Davon abgesehen, hast du Reden geschwungen«, fügte er ernsthaft hinzu. »Wenn du schießen mußt, schieß - schwing keine Reden.« »Nun werde ich meine Rosanna niemals wiedersehen«, sagte Vivian, dem jetzt in den Sinn kam, daß er sowohl unglücklich verliebt wie auch verkrüppelt war. »Ich habe noch nie eine Indianerin mit dem Namen Rosanna getroffen«, sagte Billy unsentimental. »So habe ich sie genannt«, sagte Vivian Maldonado mit traurigem Schulterzucken. An jenem Nachmittag ritt er nach Puerta de Luna, die Socke mit Brei unverwandt an sein Ohr gedrückt. Ich schlug einen Ausflug nach La Glorieta vor, das Dorf, in dem die texanischen Eindringlinge gefangengenommen worden
waren. Ich dachte mir, daß ein Besuch am Ort ihrer Niederlage mein Interesse an dem halbfertigen Roman Schwarze Bohnen reaktivieren würde. Billy kam ohne Einwände mit. »Auf dem Weg dorthin lebt Schwester Blandina«, sagte er. »Sie ist einer der wenigen Menschen, die mich mögen.« Eine frische Brise blies vom Sangre de Cristo, als wir nach Westen ritten. Billy haßte Temperaturen unter fünfundzwanzig Grad - den ganzen Nachmittag blies er, in seine Decke gewickelt, Trübsal, zitterte und sah deprimiert aus. Glücklicherweise befanden wir uns wieder in einer Gegend, in der es Holz gab. In jener Nacht machten wir ein Feuer, an dem man einen Ochsen hätte braten können. Billy saß so dicht daran, daß die Funken in seine Decke sprangen und Löcher hineinbrannten. »Es wird nicht einfach sein, diesen Indianer umzulegen«, sagte er. Seine Gedanken verweilten immer noch bei der Begegnung in Anton Chico. »Aber du hast doch gar keinen Grund, ihn umzubringen«, führte ich aus. »Er war nicht feindselig. Er ist nur gekommen, um seine Rinder zu holen.« »Er hat Viv ganz schön blöde aussehen lassen«, sagte Billy. »Und Viv ist flink.« »Von diesen Revolvermännern taugt keiner viel«, sagte er ein wenig später. »Hill Coe hat diese Flasche verfehlt, und Viv läßt sich am Ohr hochheben. Man sagt, die beiden seien die besten - wenn das so ist, dann wird der Rest von ihnen nicht mehr lange leben.« »Sie könnten sich einen Beruf suchen«, schlug ich vor. »Was denn, Cowboys, für dreißig Dollar im Monat?« sagte Billy. Der Gedanke kam ihm lächerlich vor, und schätzungsweise war er das auch. »Für Joe Lovelady ist es gut genug«, bemerkte ich. Billy dachte eine Weile darüber nach, auf seinem Gesicht stand ein trauriger Ausdruck. Ich glaube, er vermißte seinen Freund aufrichtig. »Nun, Joe ist nicht bei uns«, sagte er schließlich. »Wenn wir uns die Pferde wieder von den Apachen stehlen lassen, wie
das letzte Mal, als wir hier heraufgekommen sind, dann müssen wir eben selbst versuchen, sie wiederzubekommen.« 14. Schwester Blandina, Billys Freundin, war eine winzig kleine Nonne. Sie war ungefähr so groß wie ein Esel und so aufsässig wie eine Bantanhenne. Als wir vorritten, war sie auf dem Dach der kleinen Kirche und überwachte irgendwelche Reparaturen an den Lehmziegeln. »Also Billy, wo hast du gesteckt?« rief sie herab. »Und wo hast du den Yankee aufgelesen?« »Er hat sich verlaufen, und ich habe ihn zufällig gefunden«, erwiderte Billy. Der Anblick der kleinen, aktiven Nonne schien ihn ausgesprochen aufzuheitern. Sie eilte eine Leiter hinab und versorgte uns umgehend mit vollen Schüsseln pozole, einem Maiskolbeneintopf, der in bestimmten Gegenden Mexikos besonders beliebt ist. Schwester Blandina war es nicht gewohnt stillzusitzen. Während wir aßen, kletterte sie ein paarmal die Leiter hinauf und hinunter, um zu überprüfen, ob die Ziegel richtig gesetzt wurden, assistierte beim Schlachten eines Schafes, wischte den Boden der kleinen Missionsküche und löcherte Billy die ganze Zeit über mit Fragen. »Hast du in letzter Zeit einen Dollar auf ehrliche Art und Weise verdient, Billy?« erkundigte sie sich, während wir aßen. Sie war ungefähr in meinem Alter und hatte blitzende, schwarze Augen. »Ich habe überhaupt keinen Dollar verdient, weder ehrlich noch anders«, gab Billy grinsend zu. »Also, Bill, ich möchte, daß du das Desperadoleben aufgibst«, insistierte Schwester Blandina. »Wenn du willst, kannst du ein anständiger Mensch werden.« »Zumindest habe ich diesen Zahnarzt immer noch nicht erschossen«, sagte Billy. »Nein, und das darfst du auch nicht, du hast mir dein Wort gegeben, daß du ihn in Ruhe läßt.«
Mehr als einmal hatte ich Billy über jenen Zahnarzt in Santa Fe murren hören, der offenbar einen von Billys Zähnen schlecht gezogen hatte und dem eine Kugel nur durch das Eingreifen Schwester Blandinas erspart geblieben war. Billy schien sich sogar ein wenig in ihrem Schimpfen zu sonnen - er benahm sich wie ein Neffe, der von seiner Lieblingstante zurechtgewiesen wird. »Und was machen Sie, Mr. Sippy?« fragte die kleine Nonne höflich. Bis dahin war ich ziemlich von der Konversation ausgeschlossen gewesen. »Ma'am, ich schreibe Büchlein«, sagte ich - es fiel mir immer schwer, meine Groschenromane Bücher zu nennen. »Große Güte, sind Sie der Sippy?« sagte sie und schlug sich mit der Hand vor den Mund. »Sie sind mein Lieblingsautor.« Sie stand auf und verschwand um eine Minute später mit einer Ausgabe von Mit Ehering Doch Ohne Liebe zurückzukommen - die erste Kopie, die ich zu Gesicht bekam. »Ein Zeitungshändler in St. Louis schickt sie«, gab sie zu und dann errötete sie. Ich hätte selbst erröten können. Ich glaube, ich dachte mir, daß Nonnen ausschließlich Gebetbücher und Katechismen lesen; daß diese kleine entgegenkommende Nonne, die ihren Dienst an jenem abgelegenen, einsamen Ort erfüllte, ihre spärliche Lesefreiheit damit verbringen würde, eine wenig verhüllte Darstellung meiner gescheiterten Beziehung mit Dora zu lesen, haute mich einen Augenblick von den Socken. »Abgesehen von Stelldichein Im Zwielicht, halte ich dies für Ihre beste Arbeit«, sagte die Schwester. »Die Cowboygeschichten liegen mir nicht - ich glaube, wenn man selbst tagein, tagaus mit ihnen zu tun hat, dann erscheinen einem die Ihrigen ein wenig zahm.« Eben jene Tatsache hatte begonnen, mir Sorgen zu machen, doch noch bevor ich meine Zustimmung stammeln konnte, lieferte Schwester Blandina eine eher harsche Kritik an Mit Ehering Doch Ohne Liebe. »Ich werde offen sprechen, das tue ich immer«, sagte Schwester Blandina. »Ich glaube, Sie waren der Frau gegenüber nicht fair. Alles, was sie suchte, war doch nur ein
wenig freundliche Zuneigung, und ab und zu vielleicht ein Wort der Liebe. Hätte sie das ihr Zustehende erhalten, dann wäre sie bald gewonnen gewesen.« Freundliche Zuneigung. Worte der Liebe. Das ihr Zustehende erhalten? »Also, die Frau hat das ihr Zustehende erhalten!« rief ich aus, erstaunt, irgendein Leser könne das Gegenteil annehmen. »Also, ich möchte den Mann sehen, der dieser Frau das, was ihr zusteht, oder irgend etwas anderes, das sie begehrt, verweigern könnte!« fügte ich hinzu. Erinnerungen an Doras eiskalte Rationalität in derartigen Angelegenheiten - um genau zu sein, in allen Angelegenheiten - wirbelten wie Staubteufel in meinem Hirn herum. »Puuh, ihr Männer habt so eine beschränkte Auffassungsgabe«, beschwerte die Schwester sich, obwohl ihre Augen immer noch entzückt funkelten. Wir gerieten in eine Diskussion, die fast den ganzen Nachmittag über dauerte, währenddessen ich der energetischen Schwester durch ihre Mission folgte. Sie vernachlässigte ihre lästigen Pflichten nicht, doch müssen lesende Leute, die sich in der Wildnis begegnen, ihr Gespräch über Bücher haben; nachdem wir unsere Meinungsverschiedenheit über Mit Ehering, Doch Ohne Liebe beigelegt hatten, arbeiteten wir uns durch Scott und Thackeray und Mrs. Humphry Ward; dann kamen wir zu den Poeten Mrs. Hemans und Byron. Schwester Blandina rezitierte sogar ihre Lieblingspassagen aus Lalla Rookh. Billy Bone war überrascht, dann gelangweilt, dann angewidert. »Noch nie habe ich einen solchen Redeanfall erlebt - ihr habt beide einen Bücherwahn!« sagte er. Er ging hinaus und verbrachte den größten Teil des Nachmittags damit, sein Messer nach einer warzigen Kröte zu werfen, und den ganzen folgenden Tag war er bockig und mürrisch. Aber da hatten wir die Mission bereits verlassen und waren wieder draußen auf den Plains. Ich fühlte mich sogar ein wenig schuldig - ich schätze, dadurch, daß ich die Schwester in Beschlag nahm, hatte ich
dem Jungen die einzige Quelle mütterlicher Zuneigung entzogen. Er war ganz einfach eifersüchtig, und wann immer der Name der Schwester auftauchte, sprach er verbittert über unseren Bücherwahn. Doch konnte jenes kleine, nagende Schuldgefühl nicht meine Verwunderung darüber auslöschen, daß die Nonne von La Glorieta nach einem arbeitsreichen Tag des Schlachtens, Mauerns, Kochens, Betens und der Belehrung der Heiden nachts eine Kerze mit in ihre Zelle nehmen und ihr Interesse auf etwas wie Mit Ehering Doch Ohne Liebe lenken sollte - eine Geschichte über Familienstreitigkeiten unter den Privilegierten Philadelphias. Ich nehme an, wir alle - selbst Nonnen - träumen von einem anderen Leben als jenem, welches wir auf dieser mittelmäßigen Erde führen. In den hektischen Monaten, die folgten, in denen es aussah, als würde das gesamte Territorium Billy jagen, dachte ich oft an die kleine Nonne mit den lebendigen schwarzen Augen - und fragte mich, was wohl die Gründe für ihren Eintritt ins Klosterleben gewesen sein mochten. Mit ihren schnellen Schritten und ihrer entgegenkommenden Wesensart, bezweifele ich nicht, daß sie genauso alles wie Dora hätte haben können, wenn sie sich für den häuslichen Lebensweg entschieden hätte. Ich schätze, ich war etwas verliebt in sie, so unangebracht dies scheinen mag. Kein Zweifel, wären die Dinge anders gestanden, hätte meine Vernunft versagt, und ich hätte uns beiden Schmerzen bereitet; aber diese Augen waren so dankbar, und die törichten Träume sind bei weitem die süßesten. Das nächste Mal sah ich sie an dem Tag, als sie und Tully Roebuck Billy durch den Mob in Lincoln geleiteten - es war Billys Glück, daß Schwester Blandina an jenem Tag in der Stadt war, denn er hatte zwei Bürger erschossen, und ohne sie an ihrer Seite hätten es weder Tully noch er lebend bis zur Mitte der Straße, geschweige denn in die Sicherheit des Gefängnisses geschafft.
15. Puerta de Luna ähnelte sehr den anderen kleinen Siedlungen am Pecos, die wir während der Flauten im Whiskey Glass-Krieg besuchten. Es gab acht oder zehn Hütten aus Lehmziegeln, alle bis auf zwei von halbverhungerten Mexikanern bewohnt. Eine der Hütten war eine Kombination aus Cantina und Bordell, und eine andere ein kleines Geschäft, welches vorwiegend Munition verkaufte. Die Stadt hätte kaum einer Schar Hühner komfortable Unterkunft gewähren können, dennoch fanden wir hier den Rest der Revolvermänner, die wir zuletzt in Arroyo del Macho gesehen hatten. Moss Kuykendall und Ike Pumpelly, beide von texanischen Kugeln getötet, hatte man durch zwei farbenprächtige Exemplare ersetzt, die gerade aus dem Süden von den Dakotas herangedriftet waren. Einer der Neuankömmlinge, ein Junge, nicht älter als Billy, trug den Namen Henry Knogle - die Revolvermänner nannten ihn vergnügt die Kaulquappe. Der andere arriviste war ganz gewiß keine Kaulquappe, es handelte sich um einen hünenhaften Kerl mit rotem Bart, der den Namen Barbecue Campbell trug. Des Montaignes und La Tulipe waren nicht zu sehen: Sie hatten sich geweigert, Greasy Corners zu verlassen, und niemand war in der Lage, mit absoluter Sicherheit zu sagen, ob sie lebten oder tot waren. »Oh, ich schätze, die Tulip lebt«, sage Billy optimistisch. »Sie hat mir erzählt, daß es an ihrem Todestag ein Erdbeben geben wird, und die Erde hat nicht gebebt, soviel hab' ich gemerkt.« »Vielleicht bebt es noch später am Tag«, sagte Happy Jack Marco düster. »Die Erde könnte sich einfach auftun und eine bestimmte Person verschlucken.« Es schien, als seien wir in einem spannungsgeladenen Moment angekommen - die Freundschaft zwischen Happy Jack und Pleasant Burnell hatte offensichtlich einen Bruch erlitten. Die beiden Männer saßen sich an einem Tisch gegenüber, jeder mit einem Revolver in der einen und einer Gabel in der
anderen Hand. Sie versuchten mittagzuessen, ohne die Augen voneinander abzuwenden, mit dem Resultat, daß ihre Westen reichlich mit Bohnen bekleckert waren, die die Reise in ihre Münder nicht ganz geschafft hatten. Der Anblick war derartig komisch, daß ich lachen wollte, doch sagte mir irgend etwas, daß dies eine falsche, wenn nicht sogar fatale Reaktion gewesen wäre. Ich lachte nicht, und Billy auch nicht. Am Tisch neben ihnen lag Hill Coe, der einstige Stolz Dodge Citys, mit dem Gesicht nach unten, sturzbetrunken. Ihm gegenüber, im dunklen Gehrock, mit bleistiftstrichdünnem Schnurrbart, saß kein Geringerer als Doc Holiday, der berühmte schießende Zahnarzt. »Da ist Billy«, sagte Viv Maldonado, als wir eintraten. Sein Ohr war nicht mehr feuerrot, wenn es auch noch ein oder zwei Flecken aufwies. »Ach, das hier ist der junge Terror? Ich wollte ihn unbedingt treffen«, sagte Doc Holiday in einem Akzent, in dem man Alabama durchhören konnte. Billy nickte dem älteren Mann kühl zu; die Bemerkung hatte einen leicht höhnischen Unterton gehabt, und Billy wußte dies, doch gab er vor, besorgter über die heikle Stimmung zwischen Happy Jack und Pleasant Burnell zu sein. »Ich wünschte, ihr beiden würdet entweder essen oder schießen«, sagte er. »Man kann es sich schlecht bequem machen, wenn man weiß, daß man sich jeden Augenblick vor blauen Bohnen ducken muß.« »Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, kleiner Bill, oder trag die Konsequenzen«, sagte Pleasant Burnell, ohne Billy auch nur anzuschauen. Billy zuckte die Achseln und bewegte sich in Richtung Bar, aber er hatte seine neue großkalibrige Schrotflinte in einer Hand, und in der Sekunde, als er hinter Pleasant Burnell stand, drehte er sich und schlug ihm damit so hart er konnte auf den Schädel. Und es war hart genug - Pleasant Burnell lag so flach, daß der komatöse Hill Coe dagegen beinahe wach wirkte.
»Dieser verdammte Bastard hat mich einmal zu oft kleiner Bill genannt«, sagte Billy. »Ja, und wenn er aufwacht, könnte er noch zu Schlimmerem fähig sein«, bemerkte Happy Jack. Offenbar war er ein wenig perplex über die neue Wendung der Ereignisse, und er hielt seinen Revolver auf den ausgestreckten Mann gerichtet, als befürchtete er, dieser würde sich nur bewußtlos stellen, um sich einen Vorteil zu verschaffen. »Nun, die Manieren hier am Pecos schockieren mich«, sagte Doc Holiday. »In Tombstone würde man es keinstenfalls für den richtigen Ton ansehen, einen Mann mit der Vogelflinte über den Kopf zu schlagen.« »Ich hätte ihn damit auch in zwei Teile schneiden können«, bemerkte Billy. »Was würde man in Tombstone dazu sagen?« Er sah den schießenden Zahnarzt mit einem leicht widerborstigen Blick an - wie alle Revolvermänner war er ausgesprochen sensibel, selbst kleinsten Herabsetzungen gegenüber. »Etwas sehr Pragmatisches«, sagte Doc Holiday mit kaltem Lächeln. »Wenn in Arizona jemandem der Magen rausgeschossen wird, dann stellen wir uns auf und ziehen Karten - niedrige Karte heißt, du mußt das Grab schaufeln, was im guten alten Felsenstaat eine schweißtreibende Angelegenheit sein kann.« »Das ist einer der Gründe, weshalb es Henry und mich nach Dakota verschlagen hat«, bemerkte Barbecue Campbell. »Da oben ist der Boden weicher, zumindest im Sommer, und die ganze Begraberei läßt einen nicht so schwitzen. Natürlich, im Winter wenn der Frost dann da ist, kann man die Toten nur noch in eine Hütte packen und hoffen, daß nichts kommt und sie davonschleppt.« Es schien, als habe der Mann ein eifriges Interesse an Bestattungspraktiken; er setzte seine Ausführungen einige Zeit fort und bewies dabei eine bewundernswerte Beobachtungsgabe. Ich war so dankbar für diese Ausführungen: Nicht nur waren sie an sich interessant, sie verhinderten auch, daß aus dem
Wortgeplänkel zwischen Billy und Doc Holiday ein Revolvergeplänkel wurde, denn noch bevor Barbecue Campbell sämtliche Begräbnisse, bei denen er Hand angelegt hatte, beschrieben hatte, erhob sich Hill Coe aus seinem Stupor und würfelte mit dem schießenden Zahnarzt. Billy Bone, der Bohnen liebte, aß ein oder zwei Pfund davon, und sie entspannten ihn so, daß er in einer Ecke ein Schläfchen halten mußte. Ich sicherte mir einen Tisch, mit einer hellen Kerze und kritzelte ein paar Seiten zu einem Halbgroschenroman mit dem Titel Schwester Der Sangres; oder, Mission In den Bergen, über eine Nonne, die die Reichen ausraubte. Als Pleasant Burnell schließlich erwachte, schien er in einem Zustand gütiger Amnesie zu sein. Er hatte völlig vergessen, daß er Happy Jack mißtraute und daß das Beruhigungsmittel, das ihn schlafen gelegt hatte, der Lauf einer Flinte gewesen war. »Dammich, solange wollte ich niemals schlafen«, sagte er, bevor er aufbrach, um sich auf die Suche nach einer Hure zu machen. 16. An jenem Tag, gegen Sonnenuntergang, während Billy sein Schrotgewehr mit einem öligen Lappen polierte, ritt Joe Lovelady in die Stadt. »Willst auch deinen Spaß, stimmt's?« sagte Billy, als Joe vom Pferd stieg. »Seit Nellie gestorben ist, habe ich keinen Spaß mehr gehabt«, sagte Joe ohne Bitterkeit. »Ihr solltet aufsatteln. Old Whiskey kommt zurück, und diesmal hat er vor, die Arbeit zu beenden.« »Dieser Stinkstiefel«, sagte Billy erfreut, und linste durch den Lauf seines Schrotgewehrs. »Der macht einen ganz schönen Wind, stimmt's?« »Jody Fay hat ihn aufgesucht«, sagte Joe. »Der alte Mann mochte Eimer ziemlich gern.«
»Oh, ich weiß, daß ich den beliebtesten Mann des Landes umgebracht habe«, sagte Billy, doch schien er keine Reue zu spüren. »Er kommt mit ziemlich guten Leuten«, sagte Joe. »Was geht dich das an? Du bist kein Outlaw«, sagte Billy. »Isinglass mag dich. Er würde dich jederzeit zum Boß seiner Ranch machen.« Er hatte in seinem kältesten Tonfall gesprochen. Joe band sein Pferd an und ging hinein, um die anderen Männer zu informieren, die bald aus der cantina herausquollen. Sie waren weniger nonchalant, was die Neuigkeiten anging. »Ich wette, er hat diesmal Züge voller Revolvermänner kommen lassen«, sagte Happy Jack. »Und nun sind die Büffeljäger tot. Nur noch wir sind übrig.« »Nun, Doc Holliday ist hier«, sagte Billy. »Wenn er so gut ist wie sein Ruf, dann kann er in einer Stunde fünfzig Texaner umschießen. Ich kann diese Angelegenheit genausogut verschlafen und alles Doc überlassen.« Da wurde zu jedermanns Erstaunen entdeckt, daß Doc Holliday nicht da war. Niemand hatte gesehen, wie er gegangen war, niemand hatte gehört, daß er vorhatte zu gehen; doch bestätigte ein Suchtrupp, nachdem er die Würfelbude und die Hurenhütten inspiziert hatte, daß der schießende Zahnarzt abwesend war. »Ich schätze, er ist deshalb so berühmt - verschwindet, bevor der Kampf beginnt«, bemerkte Billy sarkastisch. »Ja, und das sollten wir am besten auch tun, solange noch Zeit ist«, sagte Happy Jack. »Ich mach mir nichts draus, an einem häßlichen kleinen Ort wie diesem ausgelöscht zu werden.« »Ach, du bist so verdammt wählerisch«, sagte Billy. Doch seine gute Stimmung war zurückgekehrt. Vermutlich hatte er es in Erwägung gezogen, Doc Holliday herauszufordern, und war nun erleichtert, dies nicht tun zu müssen. Der Gedanke an einen offenen Kampf mit Isinglass und seinen Leuten bereitete ihm nicht im mindesten Sorgen. Fünfzehn Minuten später waren wir alle wieder auf der Straße - obwohl es natürlich keine Straße war, nicht einmal ein
Pfad. Wir galoppierten einfach nach Südwesten, quer über den grünen Grasteppich. Billy Bone, in ausgezeichneter Stimmung, schreckte zwei junge Wölfe auf und jagte sie meilenweit durch die Prärie. 17. In jener Nacht schliefen wir an einem Ort, den man Skunkwater Flats nannte - meines Erachtens das beste Beispiel für die Wunderlichkeit der Nomenklatur des Westens. Zum einen gab es kein Wasser, und die Hütte, in der wir alle nächtigten, lag in einem Graben, nicht auf der Ebene. Gegen Sonnenuntergang hatte ein heftiger Sandsturm zu blasen begonnen, so daß es angenehm war, wenigstens die Hütte zu haben, auch wenn die Tür fehlte, aber es war verwirrend, daß ein trockener Platz in einem Graben Skunkwater Flats genannt wurde. Ich fragte Joe und Billy danach, und sie sahen mich an, als sei ich vollkommen bekloppt. »Das ist doch bloß der Name«, sagte Billy. »Ach, du meinst, Gott hat es Skunkwater Flats getauft?« fragte ich einigermaßen verärgert - meine Augen brannten, und meine Kleider waren durch den Sandsturm voller Staub. »Geh' schlafen, Sippy. Ein Ort heißt, wie er heißt«, sagte Billy. Joe Lovelady wirkte besorgt, allerdings nicht wegen der Nomenklatur. »Wir hätten die ganze Nacht reiten sollen«, sagte er. »Old Whiskey wird es tun.« »Es ist verdammt noch mal zu dunkel und zu windig, um in diesen Graben herumzureiten«, sagte Billy gähnend. »Wenn der alte Mann das versucht, fällt er hinein und bricht sich das Genick. Oder er verläuft sich, und wir sind ihn auch los.« »Nun, man sagt, Old Whiskey habe einen Kompaß in seinem Kopf«, bemerkte Happy Jack. »Man behauptet, er habe sich in seinem ganzen Leben noch nicht verirrt, ob Nacht oder Tag, ob Regen oder Sonne.«
»Wenn er in Reichweite meiner Schrotflinte kommt, blase ich ihm seinen verdammten Kompaß auf der anderen Seite wieder aus dem Schädel«, sagte Billy. Dann schlang er seinen schwarzen Mantel ein wenig enger um sich und war bald eingeschlafen. Hill Coe war nicht in der Lage gewesen, genug Whiskey mitzubringen, um richtig betrunken zu werden, so spielten er, Jack und Pleasant Burnell fast die ganze Nacht Karten. Viv Maldonado, der Sandstürme ebensosehr haßte wie ich, bildete eine Art Zelt aus seinem schweren Poncho und versteckte sich darin, auf italienisch grummelnd und schimpfend. Simp Dixon sagte, er glaube nicht, daß er schlafen könne, er habe Angst vor Skorpionen, da die sich besonders gern an sandigen Orten aufhielten; aber er legte sich trotzdem hin und schnarchte bald. Sein Schnarchen klang ungefähr so wie das Raspeln an einem Pferdehuf. Henry Knogle, die Kaulquappe, pfiff fast die ganze Nacht, während sein großer Begleiter, Barbecue Campbell, aufrecht sitzend schlief, den Kopf auf der Brust. Von Zeit zu Zeit nieste er, da sein eigener, feiner Bart ihn in der Nase kitzelte. Joe Lovelady ging hinaus und steckte die Nase in den Wind; als er zurückkam, führte er zur Überraschung der Spieler vorsichtig sein Pferd herein. »Also, du bist übertrieben vorsichtig«, sagte Hill Coe mit strengem Blick. »Selbst wenn sie uns finden, bezweifele ich, daß sie die Pferde erschießen werden. Das wäre unwirtschaftlich.« Joe antwortete nicht. Sein Pferd war ein junger Wallachfuchs mit prächtigem Kopf. Er stand da, wo Joe ihn hingeführt hatte, und bewegte sich während der ganzen Nacht nicht. Der Wind heulte, und der Sand wehte durch die offene Tür; von Zeit zu Zeit blies der Wind die Kerze aus, doch die Spieler zündeten sie immer wieder an. Joe Lovelady wickelte sich in seine Decke und schlief mit dem Rücken zur Wand, seinen Zaumzügel um ein Handgelenk geknotet. »Joe könnte recht haben, Hill«, bemerkte Pleasant Burnell. »Sie könnten die Pferde erschießen, und wenn sie das machen, sind wir alle gebratener Fisch.«
»Und ich sage, keiner von denen ist Indianer genug, um uns in einer Nacht wie dieser überhaupt zu finden«, gab Hill Coe mit einiger Schroffheit zurück. »Der riesige Nigger ist Indianer genug«, sagte Happy Jack. »Er wird auf seinem Kamel kommen, schätze ich - Kamele mögen Sandstürme.« »Ich werde den riesigen Nigger umlegen, wenn er hier auftaucht«, sagte Hill Coe. Einen Augenblick wirkte er hoffnungsfroh, ich glaube, ihm war gerade gedämmert, daß sein Ruhm, falls er Mesty-Woolah umbringen sollte, so groß wäre, daß es niemand mehr wagen würde, seine Niederlage beim Zielschießen zu erwähnen. Bald griff der Wind erneut nach der Flamme der Kerze. Die Spieler hörten auf, mit ihrem Gold zu klimpern; bald waren alle eingeschlafen. Ich schlief allerdings nicht, meiner Ansicht nach hatte Joe Lovelady recht. Isinglass würde die ganze Nacht durchreiten und am Morgen bei uns sein. Ich wollte nicht sterben, und ich fürchtete mich bei dem Gedanken an eine Schlacht; und doch war ich merkwürdig gelassen. Es war eine Gelassenheit, an die ich mich aus dem Krieg erinnerte. Ich war Telegraphist; ich habe niemals eine Waffe auf einen Rebellen abgefeuert, noch schoß jemals einer auf mich. Aber ich bediente das Kabel bei Gettysburg und viele der Männer in meinem Lager schienen die gleiche hilflose Gelassenheit vor der Schlacht zu empfinden - eine resignierte Gelassenheit, denn die Dinge waren außer Kontrolle geraten, und es gab keine Möglichkeit, den Lauf der Erde aufzuhalten, welcher zuerst das Licht des Tages und dann die Dunkelheit des Todes für viele Tausende bringen würde. Die Armeen, jene gewaltigen geologischen Kräfte, würden gleich Kontinenten zusammenkrachen; wir Männer konnten nur unserm Schicksal harren. Natürlich ließen die Situationen sich nicht vergleichen; jetzt waren wir lediglich ein paar Männer in einem Graben auf den Llanos; in Gettysburg waren im Laufe einer Stunde mehr Männer in mein Büro hinein- und wieder hinausgegangen, als
an diesem ganzen Kampf teilnehmen würden, das heißt, falls es einen Kampf geben sollte. Und doch, obwohl die Größenordnung eine andere war, die Gelassenheit war die gleiche; sie legte eine Art Mantel um meine Furcht, und ich kam ruhig durch die Nacht. Gegen Morgen hatte der Wind sich ausgeblasen, und die Sterne schienen hell. Die Hütte war nicht sonderlich geräumig Simp Dixon lag praktisch unter Joe Loveladys Pferd. Ich war selbst bereits ein wenig eingenickt, aber meine deutlichste und eindrücklichste Erinnerung an jene Nacht ist, wie Simp Dixon sich aufsetzte, ein Streichholz anzündete, kurz auf die große Taschenuhr schaute, die er aus seiner Westentasche holte, und dann zu Joe Loveladys Pferd hinauflächelte, bevor er zurück in seinen Schlummer fiel. Sein Lächeln war so breit und glückselig, daß ich es niemals vergessen habe; und oft habe ich mich gefragt, ob Simp wohl von zu Haus geträumt haben mochte oder von einer Frau, und sein Lächeln für Joe Loveladys Pferd nur falsch adressiert war. Selbstverständlich ist es auch möglich, daß er das Pferd mochte - den passenden Namen trug der arme Simp ja. La Tulipe erzählte mir später, daß Simp sich einmal einen Frosch als Haustier gehalten hatte; er saß auf einem Stein in einer leeren Melasseflasche und lebte von den Motten und Fliegen, die Simp für ihn fing. Ein Mann, der Freundschaft mit einem Frosch schließen konnte, mochte ebensogut ein braves Pferd anlächeln; doch es sollte Simp Dixons letztes Lächeln sein, und oft habe ich mir gewünscht, ich hätte mich erkundigt, was ihn so erfreut hatte, bevor er wieder in den Schlaf fiel. 18. Schließlich schlief ich, flach auf dem Boden liegend, für eine Stunde ein. ich erinnere mich daran, wie ich an jenem grauen Morgen aufwachte, gerade als Barbecue Campbell über mich hinweg an die Tür trat, um sich zu erleichtern. Seine Hand lag an den Knöpfen seiner Hose, und mit der anderen versetzte er
Joe Loveladys Pferd einen milden Stoß, denn das Hinterteil des Pferdes blockierte teilweise die Tür. Barbecue war noch nicht einmal aus der Tür getreten, da wurde er schon von der Salve erwischt: Die texanischen Gewehrschützen, die an den Grabenrändern versteckt lagen, hätten sich kein stattlicheres Ziel wünschen können; es kann sogar sein, daß seine Größe einigen von uns drinnen das Leben rettete. Der Mann war so groß und breit, daß er sich bücken und drehen mußte, um durch die Tür zu gelangen, und die ersten sieben oder acht Kugeln, die ihn trafen, sorgten dafür, daß er nach hinten fiel und sich in der Tür verkeilte. Natürlich war er auf der Stelle tot, und seine Leiche diente den Revolvermännern lange genug als Barrikade, um sich an die Wand zu rollen und jenen Kugeln zu entkommen, die sonst durch die offene Tür geregnet wären. Die erste Salve hielt mehrere Minuten an; die Kugeln schlugen wie Schneeregen von allen Seiten gegen die Wände der Hütte, doch glücklicherweise waren die Adobemauern dick, und keine drang durch. Das Geräusch allerdings war ohrenbetäubend - Billy Bone zog seinen alten Hut über die Ohren und war so weiß, als würde er einen seiner schweren Kopfschmerzanfälle bekommen. Trotz der verzweifelten Lage zeigten die Revolvermänner allesamt eine gewisse Gelassenheit. Bald drangen qualvolle Schreie von den Pferden zu uns, die alle systematisch erschossen wurden. »Also, diese Drecksärsche!« rief Happy Jack aus - eines der Pferde bäumte sich ein letztes Mal, fiel nieder und rollte ausschlagend auf die Seite. »Diese verfluchten Hunde«, sagte Hill Coe. Er hielt zwei geladene Revolver und saß mit einem Gewehr auf dem Schoß da. Zu jenem Zeitpunkt war es unklar, wie viele der verfluchten Hunde sich draußen befanden - offensichtlich war nur, daß wir umzingelt waren und daß alle Pferde außer Joes tot waren. Joe hielt den zitternden Wallach gegen die Wand gedrückt, außerhalb der Schußlinie irgendwelcher Kugeln, die über
Barbecue Campbeils Leiche hinweg durch die Tür eindringen könnten. Die Revolvermänner, weit davon entfernt, in Panik zu geraten, schienen nachdenklich zu sein, jeder saß so dicht wie irgend möglich an die Wand gedrängt mit der Waffe in der Hand und wartete auf einen geeigneten Moment, um zum Angriff überzugehen. Dann stoppte das Gewehrfeuer plötzlich. Draußen war es jetzt vollkommen hell - im Osten, hinter den Gewehrschützen ging die Sonne auf, so daß es unmöglich war, die versammelten Angreifer zu erkennen. »Wir wollen nur diesen verfluchten kleinen Bill!« rief eine Stimme oben vom Grabenrand. »Das ist Jody Fay«, sagte Joe Lovelady. »Ich habe schon befürchtet, daß er kommen würde.« Bill Bone sagte nichts, er saß dort, umklammerte seine neue Schrotflinte und war immer noch weiß im Gesicht. 19. »Schickt diesen verfluchten kleinen Bill raus, und ihr werdet alle verschont!« rief Jody Fay erneut. Ich befürchtete, die Revolvermänner könnten über Billy herfallen und ihn ausliefern - schließlich mochte ihn niemand besonders; er war nur ein Junge und nicht einer der Abenteuergefährten. Doch schien keiner im mindesten daran interessiert zu sein, sich auf das Angebot der Texaner einzulassen. Pleasant Burnell bohrte sich glückselig in der Nase, und die anderen saßen untätig herum, warteten. »Gebt ihn sofort raus!« rief Jody. »Macht schnell und wir garantieren dem Rest von euch sicheren Abzug.« »Sicheren Abzug zum nächsten Baum, das garantieren sie uns«, bemerkte Happy Jack. »Du hättest den verdammten Cowboy erschießen sollen, solange du die Möglichkeit dazu hattest, Billy.«
»Ich weiß«, sagte Billy. »Verdammt, ich hasse den Gedanken, danebengeschossen zu haben.« Ich nehme an, was Billy und die anderen Revolvermänner vereinte, war ihre Entschlossenheit, jeden Befehl zu mißachten, egal von wem er kam oder welche Konsequenzen das hatte. »Was sollen wir deiner Meinung nach tun, Joe?« fragte Billy, er wirkte immer noch erschöpft. »Wir können nichts tun, außer auf den Einbruch der Nacht zu warten, falls wir es solange aushalten«, sagte Joe. »Nachts könnten vielleicht ein paar von uns an ihnen vorbeischleichen.« Natürlich trug diese Strategie nicht zur Verbesserung der Laune Billys bei; es war kaum hell und vor uns lag ein langer, heißer Sommertag. Wir hatten kein Wasser, wenig Essen und waren nicht in der Lage, uns mehr als einen oder zwei Inch in jede Richtung zu bewegen, ohne zu riskieren, durch die Tür erschossen zu werden. Eine beträchtliche Blutlache war bereits aus dem armen Barbecue Campbell ausgelaufen, und die Fliegen summten um ihn herum. Die Situation erforderte Geduld. Joe Lovelady und die meisten der Revolvermänner hatten sie, doch Billy war kein geduldiger Junge. »Ich will verdammt sein, wenn ich hier den ganzen Tag sitzen bleibe«, sagte er. »Greifen wir sie an - dann erwischen wir zumindest ein paar von ihnen.« »Du bist dreist«, sagte Hill Coe. Joe Lovelady hatte mit seinem Taschenmesser einen Spalt in die westliche Wand der Hütte gearbeitet. Ich sah, daß er eine winzige Öffnung gebohrt hatte. Er legte ein Auge daran und deutete mir dann, es ihm nachzutun. Mein erster Versuch schlug fehl - ich bekam lediglich Sand ins Auge. Aber beim zweiten Mal hatte ich einen klaren Blick den Arroyo hinunter. Weit im Westen, weit außerhalb der Reichweite jeder Waffe, saßen zwei Reiter: der alte Mann auf seinem alten Zossen und der riesige Neger auf seinem Kamel. »Ich schätze, Old Whiskey ist mittlerweile so reich, daß er jemanden zum Killen anstellen kann«, sagte Pleasant Burnell, nachdem er durchgeschaut hatte.
Die Texaner, verärgert, weil ihre Forderung nicht sofort erfüllt wurde, fingen wieder an zu schießen. Wieder begann ein Kugelregen gegen die Wände der Hütte zu klatschen. Nach zwanzig Minuten wildem Schießen hörten sie auf. »Frag' nach Verhandlungen«, schlug Hill Coe vor, als es wieder so ruhig war, daß wir uns gegenseitig verstehen konnten. »Wozu?« wunderte sich Happy Jack. »Sie werden verhandeln und hängen uns dann trotzdem auf.« »Ich weiß, aber es ist langweilig, hier herumzusitzen«, sagte Hill. »Verhandlungen verkürzen die Zeit.« »Ich werde reden«, sagte Vivian Maldonado. »Ich kann mexikanisch.« Die Aussicht, zum Botschafter der belagerten Gruppe zu werden, schien ihn aufzuheitern - obwohl die Texaner selbstverständlich englisch sprachen. »Verhandlungen!« rief Pleasant Burnell. »Wir wollen mit Old Whiskey sprechen.« Billy Bone entsicherte sein Schrotgewehr - ich glaube, er dachte, man wolle ihn nun doch ausliefern; aber ich war entschlossen, Hill Coe beim Wort zu nehmen. Er war gelangweilt, und ein kleiner Schwatz bot Erholung von dem Bombardement. »Mr. Isinglass kann gerade nicht kommen!« rief eine Stimme vom Rand des Grabens. »Okay, wir hören auch einen Vertreter an«, gab Pleasant zurück. »Schickt Tully, wenn Tully da ist.« »Tully ist nicht da, ich werde selbst kommen!« rief Jody Fay. »Ab jetzt Waffenstillstand!« »Waffenstillstand!« rief Happy Jack. Eine Minute später begann Jody Fay in den Graben hinabzusteigen, um den Lauf seines Gewehrs ein weißes Taschentuch befestigt. »Old Barbecue wird anfangen zu stinken, bevor der Tag zu Ende ist«, bemerkte Simp Dixon. »Das würdest du auch, wenn man dich erschossen hätte«, sagte Vivian Maldonado. Die Männer kamen auf ihre Füße und
drängten sich am Eingang, um die Ankunft des Texaners zu beobachten. Jody Fay war sogar noch dünner als sein Bruder, und er sah aus wie knappe zwanzig. Doch näherte er sich unerschrocken der Hütte, das Gewehr mit der weißen Fahne lässig über die Schulter gelegt. In Anbetracht aller Umstände, schien er sich in einigermaßen guter Stimmung zu befinden. »Okay, was ist das Verhandlungsangebot?« fragte er ungefähr fünfzehn Fuß vor der Hüttentür. »Du bist zu schnell, um dich einzuholen, aber ich schätze, dieses Mal verfehle ich dich nicht!« sagte Billy Bone, und noch bevor sich irgend jemand bewegen konnte, hatte er beide Läufe seiner Schrotflinte auf Jody Fay abgefeuert, der zurückfiel, als habe ihn ein Brauereipferd getreten. Für einen Augenblick schwiegen die im Graben vor Schock und diejenigen in der Hütte, mich selbst eingeschlossen, waren mindestens ebenso schockiert wie jene am Rand des Grabens. Zurückblickend bin ich mir allerdings sicher, daß wir es hätten voraussehen können: Die Regeln des zivilisierten Krieges bedeuteten Billy nichts. »Gottverdammt, kleiner Bill, warum hast du ihn umgebracht?« fragte Happy Jack. »Er kam mit der weißen Fahne, und nun sind wir alle geliefert.« Bevor Billy Bone antworten konnte, donnerten die Waffen am Grabenrand wieder los. Wir konnten uns nur in den Staub werfen und abwarten. Eine der leeren Hülsen hatte sich in Billys Schrotgewehr verklemmt, und er mußte sie mit seinem Taschenmesser herausfummeln. Später, im Laufe des ruhigen, heißen Nachmittags, als die Texaner ihre Gewehrläufe in Eimern mit Pecoswasser kühlten, und wir uns Schweißperlen von den Oberlippen leckten, stellte Happy Jack die Frage noch einmal. »Warum hast du das getan, Billy«, fragte er. »Warum hast du ihn erschossen, nachdem wir uns alle auf Waffenstillstand geeinigt haben?« »Kann mich nicht daran erinnern, daß ich einen Waffenstillstand wollte«, sagte Billy.
»Aber er hat die weiße Fahne getragen!« sagte Happy Jack. »Warum hast du geschossen?« Billy Bone lächelte jenes verkniffene Lächeln, vor dem wir uns mittlerweile alle fürchteten. »Kam mir zu dem Zeitpunkt einfach lustig vor», sagte Billy. 20. Es war ein langer, brütend heißer, trauriger Tag; es gab nichts zu tun, außer dem Summen der Fliegen über Barbecue Campbells Blut zuzuhören. Billy Bone saß den ganzen Tag still herum, dann und wann spannte er die Hähne seines Schrotgewehrs. Trotz der Hitze war er weiß und wirkte, als sei ihm kalt. Ich glaube, an diesem Tag wurde ihm klar, daß er verloren war - wir alle wußten es, denn was er getan hatte, war selbst im Wilden Westen etwas Furchtbares. Einen Mann grundlos töten; einen anderen unter der weißen Fahne erschießen - so etwas konnte nicht ungeschehen gemacht werden. Niemand in der Gruppe rügte ihn - es war sinnlos. Er war zu dem geworden, wozu er schon lange bestimmt war, ein kaltblütiger Mörder. Noch vor vier Tagen begründete sich sein Ruf lediglich auf Tratsch und Übertreibung: Doch vor der Hütte lag der tote Jody Fay, und das war kein Tratsch. Dann und wann sah ich, wie Billy seinen Blick auf Joe Lovelady lenkte, aber der sah ihn nicht, und Billy sagte kein Wort. Er saß nur dort, mit einem traurigen Ausdruck im Gesicht. Schließlich vollendete die brennende Sonne ihren langgestreckten, sommerlichen Bogen - sie ging hinter der Hütte unter. Durch die kleine Tür, über den steifgewordenen Mann hinweg, beobachteten wir, wie ihr Schein über dem kalkigen Grabenrand im Osten, wo die Texaner warteten, verschwand. Die Revolvermänner in der Hütte wendeten ihre Aufmerksamkeit den Waffen zu. »Es wird nicht sehr dunkel werden«, bemerkte Hill Coe. »Zu viel Mond. Wir versuchen es besser in der Dämmerung.«
»Wieviel, schätzt du, sind da oben?« fragte Happy Jack und suchte den Grabenrand mit den Augen ab. »Ich kann niemanden sehen. Vielleicht sind sie weg.« »Da oben sind viele, und sie sind nicht weg«, sagte Hill Coe. Er klang einigermaßen vergnügt. Die Aussicht auf Aktion, selbst wenn sie sich als tödlich erweisen sollte, wirkte anregend auf ihn - etwas, das seine Gedanken von der schmerzlich vermißten Flasche ablenkte, nehme ich an. Joe Lovelady, der sich den ganzen Tag kaum bewegt hatte, nahm seinen Hut ab und überreichte ihn Billy, der ihn annahm, aber verwirrt aussah. »Gib' mir deinen Hut und deinen Mantel«, sagte Joe. »Wozu?« fragte Billy. »Paßt dir beides nicht.« »Sie könnten mich für dich halten«, sagte Joe. »Ich werde nach Norden reiten - der Rest von euch nach Süden. Wenn ich sie in eine Verfolgungsjagd verwickeln kann, müssen sie sich wenigstens aufteilen.« »Ganz schöner Aufwand«, sagte Billy, doch er legte Hut und Mantel ab, und Joe Lovelady zog beides an. »Gib Billy all deine Waffen, Mr. Sippy«, sagte Joe zu mir gewandt. »Wenn wir erstmal fort sind, ergibst du dich. Ohne Waffen verschonen sie dich vielleicht.« »Also, wenn ich jemals einen Lynchmob gesehen habe, dann hier!« sagte Billy. »Texaner sind alle scharf aufs Hängen. Sippy sollte seine Waffen behalten und ein paar von ihnen erschießen.« »Ich möchte niemanden erschießen«, sagte ich, und gab ihm meine Derringer. Er steckte in jeden Stiefel eine und schüttelte dabei den Kopf ob meiner Weltfremdheit. »Es kann nicht viele Yankees wie dich geben«, sagte er, während er mich freundlich anlächelte. »Wenn es viele von deiner Sorte gäbe, dann hättet ihr den Krieg nie gewonnen.« Joe Lovelady spähte durch das kleine Loch, das er in die Hüttenwand gebohrt hatte. Offensichtlich sah er etwas Interessantes, denn er deutete Billy, zu ihm zu kommen, und Billy warf einen Blick hinaus. Als Billy zurücktrat, grinste er. »Da steht dein verdammtes Maultier«, sagte er. »Muß sich letzte Nacht losgerissen haben.«
Ich spähte nach draußen und tatsächlich stand dort Rosy, eine halbe Meile den Arroyo hinab und graste an einem Salbeibusch. »Wenn du sie erwischst, kommst du vielleicht durch«, sagte Joe zu Billy. »Nun, das ist Sippys Maultier - ich habe keinen Anspruch darauf«, sagte Billy. »Ich bin vielleicht heruntergekommen, aber nicht heruntergekommen genug, um das Maultier eines Freundes während einer Schießerei zu stehlen.« »Billy, sie gehört dir«, sagte ich. »Mir macht es nichts aus, zu Fuß zu gehen.« Wieder warf Billy einen Blick durch den Spalt auf Rosy. »Okay«, sagte er. »Danke, Mr. Sippy. Wenn ich durchkomme, und sie dich nicht gleich aufhängen, komme ich zurück, schlachte den ganzen Haufen ab und hole dich hier raus.« Vivian Maldonado überraschte alle, indem er seine wunderschönen perlmuttverzierten Colts an Billy Bone übergab. »Du wolltest sie, nimm sie, Billy«, sagte er. »Aber womit willst du schießen, Viv?« fragte Billy. »Ich schieße nicht«, sagte Vivian. »Dammich', Viv, hatte keine Ahnung, daß du ein Selbstmörder bist«, sagte Happy Jack. »Ihr seid Selbstmörder, wenn ihr versucht, hier rauszukommen«, sagte Vivian. »Sie werden euch mit zehn Kugeln erschießen - zwanzig Kugeln.« »Ich bleibe bei Mr. Sippy«, fügte er mit einiger Würde hinzu. »Wir werden uns wie Gentlemen benehmen.« Joe Lovelady hatte das schwächerwerdende Licht beobachtet. »Es ist Zeit zu fliehen«, sagte er, vorsichtig seinen Wallach wendend. »Könnte jemand diese Leiche für mich aus der Tür schaffen? Ich will aus der Deckung herausrennen.« Simp Dixon und Hill Coe bezogen neben der Leiche Stellung und bereiteten sich darauf vor, sie auf Joes Signal zur Seite zu reißen.
Joe zog seinen Sattelgurt enger - dann überreichte er Hill Coe seinen Revolver. »Du könntest diesen Extrarevolver brauchen«, sagte er. »Ich werde bloß mein Gewehr behalten .« Dann sah er Billy Bone an, der die Vorbereitungen zum Abritt seines Freundes mit einiger Traurigkeit beobachtete. »Liefere ihnen ein Rennen, Joe«, sagte Billy. »Tut mir leid, daß ich dich in Schwierigkeiten gebracht habe.« Für einen Augenblick überdachte Joe die Situation. Ich weiß nicht, was er seinem Freund gesagt hätte, wenn sie allein gewesen wären - vielleicht hätte er ihm Vorwürfe gemacht oder ihn mit einem freundlichen Wort der Ermutigung zurückgelassen; er hatte ganz gewiß ein nettes Wesen. Aber sie waren nicht allein. Ich glaube, Joe hielt es für das Beste, praktisch zu sein. »Billy, wenn du dich dem Maultier näherst, tu's vorsichtig«, sagte er. »Sie ist ein nervöses Maultier.« Er langte über den Rücken seines Pferdes und schüttelte Billys Hand; dann rüttelte er an seinem Sattel, um zu sehen, ob er zufriedenstellend befestigt war. »Adios, Jungs«, sagte er - und er brach aus der Hütte wie ein Wolf aus seiner Höhle, sich in den Sattel schwingend, gerade als das Pferd den Türrahmen verließ. Die Revolvermänner befanden sich direkt hinter ihm und gaben den Texanern Feuer, so schnell sie schießen konnten. Die Texaner, die den Ausbruch eigentlich erwartet haben müßten, wurden unvorbereitet erwischt - es vergingen einige Sekunden, bevor ihre Gewehre anfingen zu feuern. »Wenn sie Joe niederschießen oder ihn aufhängen, dann lege ich sie allesamt um«, sagte Billy mit zittriger Stimme. Dann ließ er sich auf den Bauch fallen und schlängelte sich aus der Tür. Ich bezweifele, daß die Texaner ihn überhaupt sahen, denn es war alles voller Staub und sie hatten alle Hände voll zu tun, die verstreuten Revolvermänner zu verfolgen. Explodierende Patronen blitzten wie Glühwürmchen den dunkler werdenden Arroyo hinauf und hinab. Vivian Maldonado und ich saßen ruhig, bis das Schießen aufgehört hatte. Im Süden ging es noch mehrere Minuten weiter - das war Hill Coe, der ritterlich Widerstand leistete.
Aber dann ertönte ein letzter Donnerschlag - acht oder zehn Gewehre wurden beinahe im gleichen Augenblick abgefeuert; dann hörte man nur noch die Stille der Sommernacht. »Jetzt können wir den Jungen langsam allein lassen«, sagte Vivian, womit er die Leiche Barbecue Campbells meinte. Es war so ruhig in der Prärie, daß ich ein Stechen der Einsamkeit verspürte - und wenn sie nun alle tot waren, Texaner und Revolvermänner? Viv und ich kletterten aus dem Graben und sahen uns um. »Ich kann ihr Lagerfeuer sehen«, sagte Vivian. Tatsächlich flackerte es eine halbe Meile weiter östlich. Zu meiner Überraschung begann er in die Richtung zu laufen. »Gehen wir nicht in die falsche Richtung?« fragte ich. »Ich bin hungrig«, sagte Vivian. »Ich gebe auf. Am Morgen finden sie uns sowieso. Und wenn nicht, dann werden wir verhungern. Wenn wir uns ergeben, dann füttern sie uns vielleicht und hängen uns später«, fügte er hinzu. Mir schien seine Form der Argumentation eher dubios, doch war ich ebenfalls hungrig und wäre lediglich herumgeirrt und noch hungriger geworden, wenn ich mich von ihm getrennt hätte, also folgte ich ihm in Richtung des fernen Lichts. Als wir am Lagerfeuer ankamen, befand sich dort nur ein einziger Texaner, ein Kuhjunge, nicht viel älter als Billy. Man hatte ihn dort als Wache für die übrigen Pferde zurückgelassen. »Dammich', woher kommt ihr beiden Opossums?« fragte er, als wir uns mit erhobenen Händen näherten. Er konnte vor Angst kaum sprechen, doch nahm er uns offiziell gefangen. Er schoß ein paar Mal in die Luft, um Hilfe herbeizuholen, und dann hielt er sein Gewehr direkt auf uns gerichtet. »Bedient euch selbst von den Bohnen«, sagte er. Fasanenbrüste hätten nicht besser schmecken können als diese Frijoles. Während wir sie in uns hereinschaufelten, ritt Isinglass mit fünf oder sechs Texanern heran, alle strotzen vor Waffen. Mir gefiel die Situation nicht sonderlich, doch der alte Mann saß ab und nahm uns bedächtig in Augenschein. »Bist du nicht dieser Zirkusaffe?« fragte er Vivian Maldonado.
Vivian warf ihm einen hochmütigen Blick zu und aß weiter. »Er ist ein Trapezstar«, erklärte ich eilig. »In ganz Europa ist er berühmt.« »Oh«, sagte Isinglass. »Ich wünschte, meine Ranch wäre so groß wie Europa, aber ich habe mir die Landkarte angeschaut, und sie ist es nicht.« Dann bedeutete er dem Jungen, sein Gewehr zu senken. »Sohn, wenn du vorhast, sie zu erschießen, dann erschieß sie«, sagte er. »Ich habe keinen Zweifel daran, daß sie es verdienen. Aber sitz nicht einfach da und halt dein Gewehr auf Männer, die versuchen zu essen - davon bekommen sie Magengrollen, und das hält sie wach.« Er nahm seine Decke vom Sattel und bettete sich praktisch auf die Asche des Lagerfeuers. »Als Junge habe ich oft im Kalten geschlafen«, sagte er, als er meine Überraschung bemerkte. »Nun kuschle ich mich gern an ein nettes Feuerchen, wenn ich Gelegenheit dazu habe.« Der Junge mit dem Gewehr fütterte die ganze Nacht das Feuer, während der alte Mann daneben schnarchte, und die Texaner ein waches Auge auf uns hatten. »Ich schätze, morgen früh hängen sie uns auf, aber ich bin zu müde, um mir darüber Sorgen zu machen«, sagte Vivian als er sich ausstreckte. »Vielleicht rettet Billy uns«, sagte ich, obwohl ich wußte, daß Billy, falls er noch leben sollte, vermutlich annahm, wir beide seien bereits tot. 21. Der alte Westen ist jetzt verschwunden, und trotzdem ist er auf eine andere Art so aktuell wie noch nie. Ich könnte davon leben, Interviews über die sogenannte Schlacht von Skunkwater Flats zu geben, obwohl keiner der Zeitungsleute oder Historiker ein Wort von dem, was ich sage, wirklich glaubt. Sie haben es alle zu ihrem Studienobjekt gemacht, während ich einfach dabei gewesen bin. Genau die Tatsache, daß ich dort war - ungefähr die einzige Tatsache, die sie nicht
bestreiten können -, macht sie schlicht und einfach nervös; um genau zu sein, macht es sie eifersüchtig und erzeugt einigen Groll. Sie hätten mich lieber tot, wie die anderen mächtigen Männer, die an jenem Tag fielen. Ich versuche ihnen zu erzählen, daß es nichts weiter als ein langer, heißer, langweiliger Tag war, der durch eine bestimmte Menge Angst angereichert wurde, schließlich war ich in eine glühend heiße Hütte gequetscht, zusammen mit einem Pferd und einem Toten und einem Haufen launischer Revolvermänner, die äußerst unwillig waren, sich zu unterhalten. Als der Tag sich schließlich dem Ende neigte, machte Joe Lovelady seinen Ausbruch und führte Mesty-Woolah und ein paar der Texaner in die Irre, während Billy Bone unbemerkt davonkroch und sich mein Maultier schnappte; die Revolvermänner kämpften, bis alle erschossen waren, dann gingen Vivian Maldonado und ich hinüber zum Isinglass Camp und ergaben uns. Das ist es, was sich zugetragen hat, aber für die Geschichtsbücher reicht das nicht aus. Die Schlacht von Skunkwater Flats ist studiert worden, als wäre es Waterloo oder zumindest Custers letzte Schlacht. Jeden Zentimeter haben sie mit ihren Tastzirkeln abgemessen und sind unglücklich darüber, einen wirklichen Teilnehmer unter sich zu haben, der ihre Messungen in Frage stellt. Es gibt zum Beispiel die Theorie, daß Happy Jack gar nicht von Texanern umgebracht worden sei - einige glauben, Pleasant Burnell habe die Chance wahrgenommen, eine alte Rechnung zu begleichen und ihm in den Rücken geschossen. Nun, ich bestreite das. Ich weiß, daß Pleasant Burnell kein wirklich angenehmer Zeitgenosse war, und ich glaube, daß er unter normalen Umständen keine Skrupel gehabt hätte, jemanden von hinten zu erschießen, aber als er aus der Hütte stürzte, wußte er, daß er zwanzig zu eins unterlegen war - es ist unwahrscheinlich, daß er jenen unglücklichen Moment gewählt haben sollte, um einen seiner Verbündeten niederzuschießen. Wenn es ihm durch irgendein Wunder gelingen würde zu
entkommen und er dann noch immer böse war, dann hätte er Happy Jack ein wenig später erschießen können. Sie zitieren mich in dieser Angelegenheit, aber man nennt mich >unzuverlässig<. In der Sache Simp Dixon glauben sie mir ebenfalls nicht. Die Mehrheit der Historiker behauptet jetzt, er sei in einem Umkreis von zehn Fuß von der Hütte erschossen worden. Doch als ich und Vivian herauskamen, war es noch nicht ganz dunkel, und keiner von uns beiden sah seine Leiche. Wahrscheinlich wurde er weiter oben im Arroyo verwundet, versuchte zurück zur Hütte zu krauchen und starb, bevor er sie erreichte. Über eines sind sich die Wissenschaftler einig: Hill Coe lieferte eine glänzende Schlacht. Als seine Leiche zwei Tage später neben den anderen in San Jon, New Mexico, zur Schau gestellt wurde, zählte ein Leichenbeschauer achtzehn Einschußlöcher. Ich habe die Bilder gesehen und mir ist klar, daß sie Hill ein wenig zurechtgemacht haben. Als ich den Wagen mit Leichen nach San Jon kutschierte, fiel mir auf, daß Hills rechtes Ohr fast weggeschossen worden war, doch irgend jemand leistete beim Annähen gute Arbeit, denn auf den Bildern wirkt es ganz normal. Wie viele Texaner Hill tötete, bevor er fiel, wird sich nie übereinstimmend klären lassen. Manche behaupten zwei, andere sechs, und ein radikaler Bursche aus Roswell behauptet, keinen. Er behauptet, Billy Bone sei umhergewandert und habe alle sieben gefallenen Texaner erschossen, bevor er in Richtung Grenze raste. Diese Theorie ist ein Grund dafür, warum es oft so eine hohe Zahl ergibt, wenn Leute Billys Morde zusammenzählen. Ich versuchte für eine Weile mit der Literatur und den Theorien Schritt zu halten, aber erstens ermüdete es mich und dann stimmte es mich traurig: Das Überleben kann eine ziemlich niederdrückende Angelegenheit sein. Jetzt sind sie alle legendär, die Sweethearts, die in Skunkwater Flats starben: Sie starben und wurden zu Ehren erhoben; ich überlebte und wurde bedrückt und alt. Es ist melancholisch deshalb, weil ich jene Revolvermänner, die in dem windigen Graben starben, mochte, so hart sie auch
gewesen sein mögen. Soweit ich es beurteilen kann, bekriegten sie sich lediglich gegenseitig, und sie brachten ein wenig Munterkeit in das langweilige Geschäft des Lebens, eine Munterkeit, die ich zugegebenermaßen vermisse. Happy Jack Marco konnte Witze so lebendig wie kein anderer erzählen; sein Lachen war aufheiternd. Hill Coe erhob sich aus der Schande, um so ehrenhaft wie die Verteidiger von Alamo zu sterben. Ich schätze, ich mache mir einfach nichts aus der Herangehensweise mit Tastzirkeln. Was spielt es jetzt für eine Rolle, ob Simp Dixon zehn Fuß von der Hütte entfernt starb, oder hundert? Denn jetzt sind alle dort, wo Hickok und Custer, und Napoleon und Hector und die anderen großen Gefallenen sind, und selbst das genaueste Ausmessen auf der ganzen Welt kann mich nicht über ihr Hinscheiden hinwegtrösten. 22. Ich schlief tief und fest, als ich das Klatschen der Kugeln hörte, die Vivian Maldonado töteten. Schüsse wecken einen gewöhnlich schnell, aber in diesem Fall war es nicht schnell genug, um es mir zu gestatten, Adieu zur strahlenden Perle von Neapel zu sagen; er mußte voller Schwung und Selbstvertrauen aufgewacht sein, denn er sprang einfach auf das nächstbeste Pferd und versuchte sich davonzumachen, während drei oder vier Texaner ihm zusahen. Möglicherweise meinte Viv, sie seien zu überrascht, um ihn zu treffen, aber da hatte er sich verrechnet. Zwei oder drei von ihnen zielten genau genug, und Vivian fiel tot direkt über das Lagerfeuer gegenüber von Isinglass, der auf seiner Decke saß und Kaffee trank. »Verdammt, weshalb hat er denn das gemacht?« fragte Isinglass. »Jetzt haben wir unsere letzte Möglichkeit zur Unterhaltung verloren.« Er sah mich an, als könnte nur ich eine solche Handlungsweise erklären.
»Vielleicht waren ihm Kugeln lieber als eine Schlinge«, sagte ich eher zittrig - es ist verwirrend, einen Kameraden tot umfallen zu sehen, bevor man richtig wach ist. »Ich hatte noch nicht vor, ihn aufzuhängen«, protestierte Isinglass. »Wir hätten in der großen Scheune ein Trapez installieren und ihn ein paar Shows veranstalten lassen können. In seiner Freizeit hätte er Unterricht geben können. In diesem Teil des Landes herrscht zur Zeit eine furchtbare Knappheit an Lehrkräften.« »Ich bin mir nicht sicher, ob er sich dazu geeignet hätte«, sagte ich. Es fiel mir nicht leicht, mir Vivian in einem Klassenzimmer vorzustellen. »Nun, jetzt eignet er sich ganz bestimmt nicht mehr«, sagte der alte Mann. Zwei der Texaner schleppten den armen Vivian gerade davon. »Leute, die von drüben aus Europa kommen, haben besondere Gehirne, finden Sie nicht«, fragte Isinglass ein wenig später. »Ihre Gehirne funktionieren nicht nach praktischen Gesichtspunkten, wie amerikanische Gehirne. Mein alter Partner, Lord Snow, hat auch selten das Naheliegende getan.« »In Europa sind sie ein wenig über das rein Praktische hinaus«, sagte ich. »Sie sind zivilisiert - einige von ihnen.« »Das sagte Cecily auch«, sagte Isinglass. »Haben Sie Europa besucht?« »Einige Male«, gab ich zu. »Bisher hab ich noch keine Gelegenheit dazu gehabt«, sagte Isinglass. »Ich war zu sehr damit beschäftigt, Land aufzukaufen.« Ich fühlte mich ziemlich mies. Ein kleiner Wagen stand in der Nähe - die Füße von zwei toten Männern ragten darüber hinaus. Ich erkannte die Stiefel Hill Coes und die von der Kaulquappe, Henry Knogle. Ohne Zweifel lagen die anderen ein wenig weiter vorn. Billy Bone war vielleicht tot und ebenso Joe Lovelady. Doch trotzdem fürchtete ich in jenem Moment nicht sonderlich um mein eigenes Leben. Isinglass schien unsere kleine Unterhaltung zu genießen. Als er sah, daß meine Hände
zitterten, goß er mir sogar eine Tasse heißen, bitteren Kaffee ein. »Du hättest näher am Feuer schlafen sollen«, sagte er. »Vielleicht können wir dich als Schullehrer behalten. Irgendwelche Erfahrungen in dieser Hinsicht?« Isinglass' plötzliches Interesse an der Beschaffung eines Pädagogen erregte einen der Texaner. Es handelte sich um einen kleinen Kerl mit heruntergezogener Unterlippe und einem streitsüchtigen Wesen. »Also, der Mann ist ein Yankee!« erklärte er. »Er ist'n Freund vom kleinen Bill. Es ist nich' sicher, so'n Mann am Leben zu lassen. Er könnte abhauen und uns das Gesetz auf den Hals schicken, wenn wir ihn unterrichten lassen.« Isinglass hieß die Unterbrechung nicht willkommen. Er drehte sich zu dem Mann um, und seine alten Augen bargen ein kaltes Funkeln. »Wenn ich einen Ratschlag möchte, beantrage ich ihn schriftlich«, sagte er. Der streitsüchtige Texaner war zu erregt, um der Warnung in den Augen des alten Mannes Beachtung zu schenken. »Wir haben den ganzen Rest von diesen verdammten Schurken umgebracht«, behauptete er. »Ich sage, wir sollten den hier auch umbringen und keine Zeugen zurücklassen!« »Du kannst nicht mal zählen«, gab Isinglass zornig zurück. »Dieser dreiste Junge ist entkommen, und ebenso der Cowboy, der genug Verstand hatte, sein Pferd mit nach drinnen zu nehmen. Ich schätze, Mesty wird den Cowboy zu guter Letzt erwischen, aber das kann ihn einen ganzen Monat kosten. Und wer weiß, wann wir das nächste Mal von diesem Jungen hören?« Müde erhob er sich, ging zu dem Texaner hinüber und streckte seine Hand aus. »Was wollen Sie?« fragte der Texaner überrascht. »Dein Gewehr, ich brauch's für 'ne Minute«, sagte Isinglass. Der einigermaßen erstaunte Mann händigte seine Winchester aus, und noch bevor er sich bewegen konnte, hatte Isinglass ihn damit niedergeschlagen. Er schien sich weder schnell bewegt noch hart geschlagen zu haben, doch an das
dumpfe Geräusch, als der Lauf auf den Kopf des Mannes traf, erinnere ich mich immer noch. »Ich verabscheue lautes Gerede so früh am Tag«, sagte Isinglass. »Um genau zu sein, mag ich überhaupt niemals lautes Gerede, aber an einem friedlichen Morgen wie diesem, da die Sonne kaum aufgegangen ist, erwarte ich ganz gewiß, daß man mich damit verschont.« Einer der Texaner kniete neben dem am Boden liegenden Mann. »Mein Gott, John ist tot«, sagte er. »Er atmet nicht mehr.« »Gut so«, sagte Isinglass. »Er hat mir meinen Morgen einmal zu oft versaut, und außerdem hat dieser Kerl hier nun ein Pferd, auf dem er sitzen kann, wenn wir ihn dann aufknüpfen.« »Ich dachte, Sie wollten ihn nicht hängen«, sagte der weißgesichtige, verwirrte Texaner. »Genau das hat doch John gewollt.« »Ja, aber er war viel zu laut deswegen«, sagte Isinglass. »Ich lasse mir von einem Mann, der nicht einmal in der Lage ist zu zählen, nicht gerne sagen, was ich mit meinen Gefangenen zu tun habe.« »Schätze, ich habe gerade einen Job als Lehrer verloren«, sagte ich sehr ruhig. Isinglass lächelte mich an, ob aus Anerkennung oder wegen des sanften Tonfalls, weiß ich nicht. »Was das angeht, habe ich nur ein wenig vorausgedacht, an die Zeit, wenn wir so zivilisiert sind wie die Europäer«, sagte er. »Im Augenblick gibt es hier keine Kinder, die man lehren kann, und keine Schule zum Unterrichten. Aber ich war immer jemand, der vorausgedacht hat.« Er setzte sich wieder ans Feuer und kramte in seinen Satteltaschen herum. Ich nahm an, er würde nach Kautabak suchen, doch zu meinem Erstaunen holte er ein zerfleddertes und offensichtlich oft gelesenes Exemplar von Orson Oxx Auf Der Pirateninsel; oder, Kapitän Kidds Niederlage hervor. »Ich muß mein Lesepensum in der Früh absolvieren«, sagte er. »Meine Augen sind nicht mehr gut genug, um nachts zu lesen, es sei denn, ich sitze genau unter einer Lampe.«
Er mußte meine Überraschung beim Anblick des Buches bemerkt haben. Das letzte, was ich in den Händen des zwielichtigen brutalen alten Kerls erwartet hätte, war eine meiner eigenen Geschichten. »Nun, hast du das hier gelesen?« fragte er. »Ist ein feines Geschichtchen.« »Mr. Isinglass, ich habe es geschrieben«, sagte ich. 23. Meine Behauptung erstaunte den alten Mann - ein kaltes Funkeln trat in seine Augen, genau wie in jenem Moment, bevor er den Texaner erschlug. »Nicht schlecht, das einfach so zu behaupten«, sagte er. »Du bist wohl selbst so eine Art Zirkusaffe, schätze ich - und würdest das Hängen lieber verpassen.« »Ich möchte tatsächlich lieber nicht gehängt werden«, gab ich zu. »Aber ich habe auch tatsächlich dieses Buch geschrieben, und ebenso die siebzehn anderen in der Reihe. Sie sind alle auf dem Rückumschlag aufgelistet - wenn Sie möchten, zähle ich sie Ihnen auf.« Er drehte das Buch herum, während er mich unverwandt skeptisch musterte. Der eine des Lesens mächtige Texaner kniete hinter ihm und sah ihm über die Schulter. Ich sagte die siebzehn Titel auf, selbstverständlich mit Orson Oxx. Der Mann Aus Eisen beginnend. Dann rezitierte ich als Dreingabe einen Gutteil des aufwühlenden Finales des Romans, eine Schlacht, die mit Rapieren in den Masten hoch über dem brennenden Schiff Kapitän Kidds ausgetragen wurde, und in deren Verlauf Orson Oxx dem verzweifelten Piraten die Kehle durchschneidet, bevor er in haifischverseuchtes Wasser taucht und nach Mobile, Alabama schwimmt. Den Texanern schien mein Vortrag nicht schlecht zu gefallen; sie hörten auf, mit ihren Sporen zu rasseln oder Waffen zu laden, und als ich fortfuhr, Orsons große Schlacht mit dem gigantischen Krokodil, dem er in Mobile begegnet war, Wort für Wort zu schildern, rührte sich niemand, bevor ich nicht mit meiner Beschreibung, wie Orson das
gigantische Reptil über seinen Kopf geschleudert und auf einer felsigen Klippe zu Tode geschmettert hatte, zu Ende war. »Überzeugt?« frage ich Isinglass, nachdem ich aufgehört hatte. »Nö«, sagte der alte Mann, obwohl ich der Ansicht bin, daß er die Rezitation ebenso genossen hatte wie die anderen. »Der Name auf dem Buch ist Benjamin J. Sippy«, sagte ich und warf ihm meine Brieftasche zu. Ich hatte meinen Namen darauf in Gold prägen lassen, und im Inneren befand sich mein Kreditbrief und eine kleine Notiz, die mir vom Polizeipräsidenten in Philadelphia geschickt worden war und in der er mir sagte, wie sehr ihm mein Halbgroschenroman Der Sterbende Polizist; oder, Die Wette Des Würgers gefallen habe. Der Polizeichef lud mich sogar ein, jederzeit im Gefängnis vorbeizuschauen und die Kriminellen nach Herzenslust zu studieren. Diese und noch einige andere Dokumente wurden nun von den Kriminellen, in deren Händen mein Leben lag, genauestens in Augenschein genommen. »Hast du nicht auch Sandycraw Im Lande Der Comanchen geschrieben?« sagte der eine des Lesens kundige Texaner. »Ich erinnere mich, daß es vom gleichen Kerl war, der die OxxGeschichten geschrieben hat.« »Ja, Sandycraw war meine erste Schöpfung«, sagte ich und ging daran, die Titel der zweiundzwanzig Sandycraw-Abenteuer herunterzurasseln. »Siebzehn und zweiundzwanzig ergibt neununddreißig«, sagte Isinglass. »Das sind ein Haufen Bücher für einen einzelnen Menschen.« »Oh, das ist nicht alles«, sagte ich. »Das sind nur die Serien. Insgesamt habe ich schätzungsweise ungefähr fünfundsechzig Bücher geschrieben.« »Das ist schwer zu glauben«, sagte Isinglass. »In diesem Buch sind ein Haufen Wörter. Wenn man diese Wörter nimmt und mit fünfundsechzig, der Anzahl der Bücher, die du behauptest geschrieben zu haben, multipliziert, dann kommt eine verdammte Menge Worte heraus.« »Nicht soviel Worte, wie Sie Hektar haben«, führte ich aus. »Meine Bücher sind nur ungefähr dreißigtausend Worte lang.
Fünfundsechzig von ihnen würden ungefähr zweimillioneneinhundertfünfzigtausend Worte ergeben. Wenn Sie im Besitz von drei Millionen Hektar sind, gehört Ihnen ein Hektar für jedes von mir geschriebene Wort, und noch achthundertfünfzigtausend Hektar mehr. Ich werde noch einige Jahre schreiben müssen, um jedem Ihrer Hektar ein Wort entgegensetzen zu können.« Den alten Mann schien meine Arithmetik zu amüsieren. »Wenn ich dich heute aufhänge, dann wirst du es nie aufholen, stimmt's?« sagte er schelmisch. Ich glaube, ihm gefiel der Gedanke, mehr Hektar versammelt zu haben, als ich Worte geschrieben hatte. »Nicht in diesem Leben«, sagte ich. »Nein, und dieses gute, alte, rauhe Leben ist das einzige, das wir sicher haben, stimmt's?« fragte er und warf meine Brieftasche zurück. Dann stopfte er Orson Oxx zurück in seine Satteltasche und erhob sich. »Am besten nehme ich dich mit nach Hause«, sagte er. »Vielleicht läßt Cecily es durchgehen, daß ich einen Akrobaten umgelegt habe, auch wenn er aus Europa stammte, aber wenn sie rauskriegt, daß ich einen Schriftsteller aufhänge, ohne ihn auch nur zum Tee mitgebracht zu haben, dann ist der Teufel los. Du mußt wissen, daß Cecily auch eine Schriftstellerin ist. Sie schreibt Bücher über die Blumen hier draußen auf der Prärie.« »Wie dem auch sei, mir fallen keine guten Geschichten mehr ein«, fügte er hinzu. »Kannst du immer noch welche schreiben?« »Ich schätze ja«, sagte ich. »Gerade letzte Woche habe ich an einer gearbeitet.« »Hier ist mein Angebot«, sagte er und nahm seinen Sattel auf. »Wenn du Geschichten schreiben kannst, die mich lange genug wachhalten, um mein Abendessen zu verdauen, dann verpflichte ich mich vertraglich, deinen Nacken nicht langzuziehen.« »Das ist liebenswürdig von Ihnen«, sagte ich. »Nein, ist es nicht, wirklich nicht«, sagte er. »Ich werde in letzter Zeit von schweren Verdauungsstörungen geplagt. Ich
habe Pillen ausprobiert - jetzt versuche ich es mit Geschichten. Ich hoffe sie wirken.« »Das hoffe ich auch«, sagte ich.
IV WINDS’ HILL
1. Isinglass bestand darauf, daß ich die Wagenladung Leichen von Skunkwater Flats nach San Jon fuhr, einer Stadt, die er in der Nähe der texanischen Grenze gegründet hatte. »Du fährst die Leichen«, sagte er. »Auf diese Weise kommst du nicht in die Versuchung, etwas Unsinniges anzustellen und Cecilys Teestunde zu verderben.« Die Reise dauerte weitere eineinhalb Tage, in denen der alte Mann vor mir herzockelte und seinen Krug Whiskey trank, den er gegen Spätnachmittag aus einem Faß, das er im Wagen aufbewahrte, wieder auffüllte. Die Texaner, alle hinter uns reitend, warfen dem Faß hoffnungsfrohe Blicke zu, aber ihnen wurde kein Whiskey angeboten. »Ein Mann, der seinen Hilfskräften erlaubt zu trinken, sucht Schwierigkeiten und wird sie auch bald finden«, bemerkte er, bevor er weiter über das grasige Land zockelte. Als wir San Jon schließlich erreichten, bestand es vorwiegend aus alles überragenden Stapeln von Zedernholzpfosten und Tausenden von Drahtrollen - denn Isinglass' Ziel bestand darin, die gesamte Whiskey GlassRanch mit Stacheldraht einzuzäumen, ein Vorhaben, das nur sein unersättlicher Landhunger vereitelte. Kürzlich habe ich in irgendeiner Zeitung einen Artikel über den alten Leon, den Führer von Isinglass' Einzäuntrupp, gelesen, der sein ganzes Leben als Erwachsener mit dem Versuch zugebracht hatte, Whiskey Glass vollständig einzuzäunen. Er hatte sich Jahr für Jahr mit den Maultieren, seinen Männern, den Lochgräbern und seinem Draht auf der endlosen Prärie abgeplagt, nur um dann mit anzusehen, wie Old Whiskey weitere fünfzig Quadratmeilen durch Kauf oder anderweitig erwarb, gerade in dem Augenblick, als Leon glaubte, seine Aufgabe wäre abgeschlossen. Abgesehen von dem Lager, in dem der alte Mann seine Utensilien zum Zaunziehen aufbewahrte, bestand San Jon noch aus vier weiteren Gebäuden, doch irgendwie hatten sich die Neuigkeiten über die Schlacht von Skunkwater Flats verbreitet und eine Menge von ungefähr fünfzig Leuten wartete
darauf, die Leichen der Mitglieder der Greasy Corners Gang, wie sie mittlerweile genannt wurde, zu sehen; obwohl Barbecue Campbell und Henry Knogle nie in Greasy Corners gewesen waren und die anderen dort nur für ein paar Wochen Halt gemacht hatten, weil es ein angenehmer Ort zum Kartenspielen und Herumhuren schien. Bald machte sich der Leichenbestatter ans Werk, und ein Photograph schoß ein Photo nach dem anderen. Mir ist später zu Ohren gekommen, daß der Bestatter Schwierigkeiten mit Barbecue Campbell hatte, die Leichenstarre war eingetreten, während seine Leiche seitlich in diese Hüttentür geklemmt war; ich glaube, sie mußten zwei Ambosse daraufstellen, um sie geradezubiegen, doch selbst das funktionierte nicht richtig. Auf allen Bildern, die ich von der sogenannten Greasy Corners Gang gesehen habe, sieht Barbecue so aus, als wollte er vornüber aufs Gesicht fallen. »Ich frage mich, weshalb Leute so gerne Leichen anschauen«, überlegte Isinglass. Wir luden die Toten einfach ab und setzten die Reise zu den Hauptgebäuden seiner Ranch fort, die immer noch sechzig Meilen weiter nördlich lag. Für diesen Teil der Reise wurde mir erlaubt, ein Pferd zu besteigen. »Ich weiß nicht, ob sie es gerne tun«, sagte ich, »aber irgendwann werden wir alle tot sein. Ich glaube, die Leute meinen, wenn sie nur genügend Leichen ansehen, bringen sie irgendwie in Erfahrung, wie es ist, tot zu sein.« »Es muß eine Möglichkeit geben, ihm ein Schnippchen zu schlage, davon bin ich überzeugt«, sagte Isinglass. Aus dem Mund eines bodenständigen Mannes war dies ein überraschendes Statement. »Falls Sie sich auf den Tod beziehen, bezweifle ich, daß es eine Möglichkeit gibt, ihn zu schlagen«, sagte ich. Der alte Mann sah ausgesprochen düster drein. Er hatte das Whiskeyfaß in San Jon geleert und sein Krug ging allmählich zur Neige, während wir weiterritten. »Du wirst gut mit Cecily auskommen«, sagte er, »Sie ist auch so ein verdammter Pessimist.«
2. »Treten Sie ein, Mr. Sippy - ihr Zimmer befindet sich im ersten Stock, gleich auf der linken Seite. Bertram wird Ihnen beim Bad behilflich sein. Abendessen ist um sieben Uhr dreißig; ich hoffe, Sie werden sich zurechtmachen. Die Kleider meines Vaters sollten Ihnen genau passen.« Diese überraschenden Worte sprach Lady Cecily Snow zu mir, als wir die große Eingangshalle des riesigen Granithaufens, einer Ansammlung von Erkern und Türmchen, betraten, der als Winds' Hill bekannt war. Lady Snow selbst - ihr Humor war im großen und ganzen eher säuerlich - verachtete den Namen; sie nannte den Ort den kleinen Alp, in bezug auf einen kahlen Erdhügel, der auf der ansonsten flachen Prärie herausragte und auf dem das Schloß stand. Ohne ein Wort stapfte Isinglass an ihr vorbei, und ebensowenig würdigte sie ihn eines Blickes. Sie war eine Schönheit, wie man sie bei Scott oder Bulwer erwarten würde: Alabasterstirn, im Überfluß vorhandene dunkle Ringellocken, ein Teint wie fette Sahne und zimtfarbene Sommersprossen hier und dort, ohne Zweifel das Werk der Sonne des Westens. Doch stand Cecily Snow nicht auf den Seiten irgendeines Autors; sie stand vor mir in einer Eingangshalle, so groß, wie man sie in Blenheim finden würde, und trug ein langes weißes Kleid aus Muslin. Die Finger der Hand, die sie mir anbot, waren langgliedrig und schlank. »Ma'am, ich bin zu dreckig«, sagte ich - das war nicht übertrieben; immerhin hatte ich gerade eine Wagenladung Leichen kutschiert. Doch Lady Snow ergriff meine Hand trotzdem und drückte sie fest, wie wir in unseren Büchern zu sagen pflegen. »Gute Güte, Mr. Sippy, ich habe schon Dreck gesehen«, sagte sie. »Wir sind hier alle äußerst amerikanisch - es besteht kein Anlaß für dererlei Förmlichkeiten. »Wir sind alle nur einfache Cowboys«, fügte sie hinzu, obwohl man sie sich beim besten Willen nicht als Cowboy vorstellen konnte. »Wie erstaunlich, daß Sie heute eintreffen, denn gerade habe ich Hat Sie Gesündigt? zu Ende gelesen.«
Bei Hat Sie Gesündigt?; oder, Das Spiel Der Verzweiflung handelte es sich um eine weitere meiner bitteren FamilienGeschichten. »Ein so eindringliches Werk«, sagte Cecily. »Ich fürchte, ich muß mich vor Ihnen ein wenig in acht nehmen - ohne Frage haben sie tiefe Einsicht ins weibliche Herz.« Und dann, so schwöre ich, errötete sie, immer noch meine Hand pressend, bevor sie sich abwandte und jene riesige Halle hinunterrauschte, vorbei an Hirschköpfen, den Tigerfellen auf dem Boden, dem ausgestopften Warzenschwein und den anderen Trophäen von Jagd und Kolonialismus, die hier und dort verstreut waren. Es gab sogar einen ausgehöhlten Elefantenfuß für die Regenschirme der Gäste, wiewohl ich der einzige Gast war und mich nicht im Besitz eines Regenschirms befand. Dies war ein Augenblick, den ich niemals vergessen werde; schmutzig und staubig in jener riesigen Halle zu stehen und von einer strahlenden, jungen englischen Schönheit erzählt zu bekommen, daß ich tiefe Einsicht ins weibliche Herz habe. Das weibliche Herz? Benjamin J. Sippy? Wußte Benjamin J. Sippy überhaupt irgend etwas über das weibliche Herz? Und wenn dem so war, welches weibliche Herz? Hatte Dora eines besessen? Noch bevor ich diese Fragen abwägen konnte, kam ein ledriger alter englischer Diener aus einem kleinen Verschlag, in dem man ihn schätzungsweise vor einer Dekade einer Mumie gleich abgestellt hatte. Zentimeter für Zentimeter machte er sich daran, die lange Treppe zu erklimmen. Es war schwer zu glauben, daß sich so eine alte Person bewegen konnte, aber sie tat es, und ich wußte, es mußte sich um Bertram handeln. Er brauchte beinahe zwanzig Minuten, um den Treppenaufgang zu bewältigen und noch einmal fünf oder sechs, um sich den Flur entlang bis zu meinem Zimmer zu schleppen, wo zu meinem Entzücken ein dampfendes Bad auf mich wartete. Eine Stunde lag ich darin und weichte den Staub NeuMexikos auf. Von Zeit zu Zeit glitt ein ägyptisch aussehender
Kuli, der fast so alt wie Bertram war, in den Raum und brachte Eimer mit frischem heißem Wasser. Bertram schlich währenddessen im Zimmer herum und vollzog ein altes Ritual. Er legte die Abendgarderobe Lord Snows heraus. Die Schuhe bereiteten Bertram große Schwierigkeiten, soviel konnte ich sehen. Er war kaum in der Lage, sich weit genug vorzubeugen, um nach ihnen zu greifen, und mit den schweren Schuhspannern darin konnte er sie fast nicht anheben; schließlich bekam er sie zu fassen, schließlich gelang es ihm, sie hochzuheben; die Schuhspanner aus den Schuhen zu entfernen, schien allerdings jenseits seiner schwindenden Kräfte zu liegen. »Bertram, mach's dir nicht so schwer«, sagte ich. »Das kann ich mit Leichtigkeit selbst machen.« »Nun, ich kann es nicht mit Leichtigkeit machen, Sir«, sagte Bertram. »Aber ich muß es schaffen. Wenn nicht, wird Lady Snow mich feuern, und was mach' ich dann?« »Ich verstehe deinen Standpunkt«, räumte ich ein. Dieser Standpunkt war äußerst einfach zu verstehen, denn die Umgegend von Winds' Hill - oder dem kleinen Alp, wenn Sie so wollen - bestand im Umkreis von Hunderten von Meilen nur aus unberührten und, wie ich mittlerweile zu denken geneigt war, tödlichen Plains. Ein Ort, an dem ein englischer Diener in seinen Neunzigern wohl aller Wahrscheinlichkeit nach keine neue Anstellung mehr finden würde. »Vielen Dank, Bertram«, sagte ich. Bevor er die Spanner aus den Schuhen entfernt hatte, war ich abgetrocknet und angezogen. »Keine Ursache, Sir«, sagte Bertram mit einer Stimme, die in die Tage Prince Alberts oder eines noch früheren Prinzen zu gehören schien. Dann, exakt um sieben Uhr dreißig, bekleidet mit den ausgesprochen gutgefertigten Kleidungsstücken Lord Montstuart Snows, die für den Toten vor mehr als zwanzig Jahren gefertigt worden waren, begab ich mich hinab zum Abendessen.
3. Das Abendessen wurde von Mahmud serviert, dem alten ägyptischen Kuli, in einer großen Halle, an deren Wände rauchfarbene Porträts längst verstorbener Montstuarts und, nicht so häufig vertreten, Cavendishes hingen - die erste Lady Snow, Cecilys Mutter, war eine geborene Cavendish gewesen, auch wenn ich glaube, daß sie von einem der ärmeren Nebenzweige des Cavendish-Geschlechtes abstammte. Wir aßen an einem langen Kirschholztisch aus der Zeit Charles I.: Isinglass am einen, Lady Snow am anderen Ende, ich mehr oder weniger in der Mitte zwischen ihnen. Zu meinem Erstaunen bestand der erste Gang aus Sumpfschildkrötensuppe. »Also, dies ist eine wunderbare Suppe«, sagte ich, und ich meinte es auch. »Aber woher haben sie denn die Sumpfschildkröte?« »Aus dem Aquarium meines Vaters«, sagte Cecily Snow mit gefälligem Lächeln. »Es ist recht gut, auch wenn wir nur noch ein paar Sumpfschildkröten übrig haben. Ich wußte, daß dies eines ihrer Lieblingsgerichte sein mußte, weil Sie es so häufig in Ihren Büchern erwähnen.« »Ich erwähne es?« sagte ich, von ihrer Behauptung so überrascht wie von der Suppe. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals Sumpfschildkrötensuppe in einer meiner Schriften erwähnt zu haben - obwohl ich annahm, daß sich irgendeine zufällige Erwähnung in eine meiner Familiengeschichten geschlichen haben könnte. Doch Cecily Snow hatte recht. Als ich später die Gelegenheit hatte, es nachzulesen, entdeckte ich, daß Orson Oxx am selben Tag, als er Kapitän Kidd losgeworden war, Sumpfschildkrötensuppe gegessen hatte und daß Sandycraw, der Mann mit Mumm, es sogar fertiggebracht hatte, sie zu verzehren, während er das tibetanische Plateau auf seinem Weg nach Lhasa überquerte. Isinglass allerdings aß keine Suppe.
»Auf ausgepreßte Schildkröte kann ich verzichten«, sagte er zu Mahmud. »Bring mir einfach Beefsteak und Chili.« »Sie und ich werden Lamm essen«, teilte mir Lady Snow mit. »Ich bin sicher, daß Sie auf ihren Reisen durch die Prärie ausreichend Beefsteak zu Gesicht bekommen haben. Beziehungsweise sich Ihren Weg >durchbeißen< mußten, wie sie hier sagen.« »Beefsteak und schlimmeres«, gab ich zu. »Obwohl Sister Blandina mir in ihrer Mission durchaus schmackhaftes Lamm servierte. Zumindest in einem Punkt würde die Schwester allerdings nicht mit Ihnen übereinstimmen, Ma'am.« »Oh, was wäre das?« fragte Cecily. »Daß ich etwas von weiblichen Herzen verstehe«, sagte ich. »Sie ist der Ansicht, daß ich davon überhaupt nichts verstehe.« »Nun, was weiß eine Nonne schon darüber?« fragte Cecily. »Ich fürchte, ich werde nichts zurücknehmen. Meiner Meinung nach haben sie ein äußerst ungewöhnliches Verständnis für das weibliche Herz.« »Allerdings nicht, wenn er glaubt, Frauen hätten ein Herz«, bemerkte Isinglass. »Ich habe ein Herz, Sir«, sagte Cecily. »Sie werden ja wohl nicht so ungehobelt sein und dieses abstreiten.« »Die Bärenmutter hat ein Herz, schätze ich«, sagte Old Whiskey. »Comanchenfrauen haben Herzen, und was die mit weißen Männern anstellen, ist auch nicht viel schlimmer als das, was die Damen von Welt tun, wenn man mich fragt.« »Jetzt gibt es aber keine Comanchenfrauen mehr«, sagte Lady Snow in aller Ruhe. »Comanchenmänner auch nicht. Sie haben sie alle umgebracht. Bereuen Sie das?« Isinglass hatte den gleichen Krug Whiskey auf dem Tisch stehen. Er nahm einen ausgiebigen Schluck, bevor er antwortete. »Ich schätze, ich habe einen Haufen guter Comanchen umgebracht«, sagte er. »Ich habe auch ein paar anständige Kiowas getötet, und das nur, um Platz für ein paar jämmerliche Weiße zu schaffen, die ihren Weg nicht von einem Wasserloch zum nächsten finden können. Ich glaube, ich habe armselige Arbeit geleistet.“
»Dies ist eine eher dünne Entschuldigung«, sagte Cecily. »Sie haben ein ganzes Volk ausgelöscht, obwohl ich annehme, daß Ihnen jemand dabei behilflich war.« »Nicht sonderlich«, sagte Isinglass. Er wischte den Fleischsaft seines Beefsteaks mit einem Stück Brot auf. Abgesehen von dem Beefsteak hatte er eine riesige Schüssel feuerscharfen Chilis zu sich genommen. »Kommen wir jetzt zum Vortrag«, sagte er. »Ungefähr um diese Zeit setzen meine Verdauungsstörungen ein.« »Aber es gibt noch Nachtisch«, protestierte Lady Snow. »Ich weiß, Sie essen keinen, aber vielleicht hätte Mr. Sippy gerne welchen.« »Nein, ich will den Vortrag«, insistierte Isinglass. »Ich fange an, mir Sorgen wegen Mesty zu machen. Mittlerweile sollte er mit diesem Cowboy zurück sein. Wenn ich mich zu sehr aufrege, können meine Verdauungsstörungen leicht ausbrechen, und ich könnte in der Lage sein, diesen Kerl hier einfach aufzuknüpfen, nur um meine Nerven zu beruhigen.« »In diesem Fall verschieben wir das Dessert«, sagte Cecily und faltete ihre Serviette. »Sollen wir uns in die Bibliothek zurückziehen?« 4. Wir zogen uns in die Bibliothek zurück, und ich las die ersten fünf Kapitel meines kleinen Romans Schwarze Bohnen vor abgesehen von dem ziemlich holprigen Anfang zu Schwester Der Sangres hatte ich nichts anderes bei mir. Isinglass legte seine Füße auf eine gewaltige Lederfußbank und schlürfte Whiskey, während ich las, Lady Snow faltete nur ihre langgliedrigen Hände und lauschte. »Wie geht es Ihren Verdauungsstörungen?« erkundigte ich mich, als ich am Ende von Kapitel fünf angekommen war - die Gruppe verstreuter Texaner, ohnehin verloren auf den Llanos, war gerade dabei, ihr letztes Maultier zu verspeisen. »Haben sich noch nicht gemeldet - schätze, du hast vierundzwanzig Stunden gewonnen«, sagte Isinglass. Er erhob
sich und wollte aus dem Zimmer trotten, als er für einen Augenblick an der Tür haltmachte. »Genau was ich heute abend gesagt habe«, sagte er. »Die Hälfte der jämmerlichen Weißen, die diese Expedition anführten, könnten ihren Weg zum nächstbesten Wasserloch nicht finden.« Als wir zu unserem Nachtisch zurückkehrten, einem schmackhaften Pudding aus wilden Pflaumen, bemerkte ich, wie der alte Mann aus der Vordertür ging. «Wo will er hin?« fragte ich. »Er schläft zusammen mit den Cowboys in den Mannschaftsquartieren«, sagte Lady Snow. »Aber warum?« fragte ich. Wir befanden uns am Fuß der riesigen Treppe, in den Stockwerken über uns lagen genug Räume für mindestens sechzig Hausbewohner. »In einem Haus dieser Größe sollte er ganz gewiß ein Zimmer finden, das ihm zusagt«, wagte ich zu äußern. »Oh, der Mann ist kein Narr«, sagte die Dame, während sie meinen Arm nahm, um mich zurück in den Speisesaal zu führen. »Er weiß, daß er in diesem Haus keine einzige Nacht überleben würde.« Ich hielt es für einen Witz. »Weshalb, sind die Betten derartig hart?« fragte ich. »Was das angeht, müssen Sie sich Ihr Urteil selbst bilden bald werden Sie in einem davon liegen«, sagte Cecily mit einem amüsierten Ausdruck in den grauen Augen. »Ich verstehe nicht ganz, Ma'am«, sagte ich. »Mr. Isinglass hat achtzig Jahre lang den schlimmsten Gefahren des Westens getrotzt. Was sollte ihn in einem prächtigen Haus wie diesem bedrohen?« »Ich, nur ich«, sagte die Frau, immer noch amüsiert, ihre Hand immer noch auf meinem Arm. «Ma'am, ich glaube, ich komme nicht mehr mit«, sagte ich, während ich ihr in ihren Stuhl an dem langen Tisch half. »Ich kann mich nicht daran erinnern, in meinen Büchern Sumpfschildkrötensuppe erwähnt zu haben, und leider kann ich auch Ihre Andeutung nicht verstehen.«
»Es ist wirklich ganz einfach«, sagte Cecily Snow in ruhigem, sorglosem Tonfall. »Mr. Isinglass hat meinen Vater beraubt, meine Mutter kaputt gemacht, meine Brüder vertrieben und mich ruiniert. Wenn ich ihn schlafend erwische, bringe ich ihn um. Ich hoffe, Sie mögen diesen Pudding. Ich mußte ein ganzes Stück reiten, um diese Pflaumen zu finden.« 5. Die Steine, aus denen Winds' Hill erbaut worden war, stammten aus Texas, doch die Form und der Geist des großen Hauses waren englischen Ursprungs: Es bestand aus Türmchen und Türmen, Balkons und Erkerfenstern, es gab zugige Flure, die niemand beging, und kleine Räume unter langen Treppenfluchten für die Diener, die alle so alt wie Bertram und der Kuli waren. In der Küche hätte man eine Armee versorgen können; es gab eine irische Wäscherei, betrieben von zwei alten Tanten, die nur gälisch sprachen. Die Billardtische waren schön, doch hatten sich die meisten Queues in der Sommerhitze verzogen. Die Bibliothek enthielt alle renommierten Autoren in Gesamtausgaben, Reihe für Reihe: die Griechen in Griechisch, die Römer in Lateinisch, die Franzosen in Französisch und selbstverständlich Tausende von Bänden unserer eigenen guten englischen Autoren, alle in solides Leder gebunden und mit Lord Snows Wappen auf dem Einband. Es gab sogar ein verglastes Arboretum mit einem Künstlerstudio dahinter; im Arboretum pflanzte Cecily Erdbeeren, und das Studio benutzte sie um ihre feinen Zeichnungen von Präriegräsern, Kräutern und Blumen für ihr botanisches Meisterwerk, Die Flora des Llano Estacado anzufertigen, welches erst ein Jahrzehnt nach ihrem Verschwinden veröffentlicht wurde. Ich halte ihr Buch mehr als jedes andere in Ehren - ganz gewiß mehr als meine selbstverfaßten Nichtigkeiten. Mein Augenlicht läßt nach, doch wenn ich durch meine Brillengläser schiele, kann ich immer noch erkennen, wie fein die Zeichnungen sind - welches Maß an Aufmerksamkeit, sogar
Leidenschaft diese begabte Frau dem Salbei, dem Büffelgras und selbst den groben Präriekräutern zuteil werden ließ. An vielen Tagen tue ich nun wenig mehr, als die Seiten von Cecilys großartigem Buch umzublättern - soviel ich weiß, ist es zu einem ziemlich gesuchten Sammlerstück geworden. Die Zeichnungen bringen die Frau selbst vor mein geistiges Auge: ihren klaren Blick, die graziösen Gesten ihrer schlanken Hände beim Sprechen, ihr gedämpftes Lachen und ihren scharfen Verstand. Als ich in jener Nacht auf dem Balkon vor meinein Schlafzimmer stand und zusah, wie der weiße Mond die Prärie überflutete, verstand ich, weshalb Lord Snow den Ort Winds' Hill genannt hatte; in all den Wochen, die ich dort verbrachte, gab es kaum eine Stunde, in der der Wind nicht heftigst seine beunruhigende Symphonie blies, die Dachvorsprünge und die Mauertürmchen und die Fenster des Hauses als Instrumente benutzend. Die Symphonie hatte mehrere Sätze, viele Töne, viele Tempi, harte und weiche Timbres; an manchen Tagen kam der Wind von Kanada heruntergerast, sammelte Tiefe und Klangkraft, während er über die zigtausend Meilen leeren Landes kreischte; an anderen Tagen drehte er und kam sanft von Süden herangeweht, brachte die Wärme Mexikos und manchmal sogar eine Spur Salz vom weit entfernten Golf. Doch so beständig der Wind auch sein mochte, der Willenskampf zwischen dem alten Mann der Plains und der englischen Damenschönheit war nicht weniger konstant, ein Wettstreit genauso intensiv und ebenso tödlich wie alles, was sich in Skunkwater Flats oder Greasy Corners zugetragen hatte. In jener Nacht war ich nicht müde, auch wenn man annehmen könnte, daß ich nach der ganzen Herumreiserei und meinen Sorgen sofort ins Bett gefallen wäre - insbesondere, da es sich bei meiner Schlafstätte um ein geräumiges Himmelbett mit den ersten wirklich sauberen Laken seit Philadelphia handelte. Eine der irischen Tanten hatte sie sogar aufgeschlagen. Doch waren natürlich meine Sorgen längst nicht vorüber. Ich hatte keine Ahnung, was Billy oder Joe zugestoßen sein
mochte; beide konnten bereits tot sein, in welchem Fall meine Chancen, Winds' Hill lebend zu verlassen, sehr gering geworden wären, denn es war klar, daß der alte Mann mich ganz nach Belieben aufknüpfen würde, so lebendig die Geschichtchen, mit denen ich ihn betörte, auch sein mochten. Ich bin kein Schachspieler, doch fiel mir in jener Nacht auf, daß ich zu einer lebenden Schachfigur geworden war - obwohl es noch zu entscheiden galt, wer mich bewegte. Die Tatsache meines Überlebens verdankte ich vermutlich Old Whiskey, auf der einen Seite des Brettes, der hoffte, mich zur Eroberung der schönen, aber schwer greifbaren Königin benutzen zu können. Und was die Strategie der Königin angeht, nun, ich brauchte nicht lange, um dahinter zu kommen. Vor meinem Schlafzimmer befand sich ein kleiner Balkon - dort stand ich für eine Stunde und rauchte eine von Lord Snows feinen Zigarren, während ich zusah, wie der Mond das Grasland beleuchtete. Ich spürte die Anwesenheit einer Person hinter mir, wandte mich um und sah Lady Snow in einem langen Gewand hinter mir stehen, ihr Haar flutete beinahe bis zu ihrer Taille herab, und sie stand direkt neben dem geräumigen Himmelbett. »Würden Sie sich gern mit mir paaren, Mr. Sippy?« fragte sie, so direkt wie nur möglich. »Wie bitte?« fragte ich tölpelhaft - natürlich war ich äußerst überrascht. Daß Sandycraw Sumpfschildkrötensuppe in Tibet zu sich nahm, konnte nicht unwahrscheinlicher erscheinen als das Auftauchen von Cecily Snow, von ihren Worten gar nicht zu reden. »Mir würde es sehr gefallen«, sagte sie ohne Verlegenheit. Sie hatte ihre Haarbürste mitgebracht und war immer noch dabei, ihr langes Haar zu bürsten. Seit einiger Zeit hatte ich angenommen, daß es damit für mich vorbei sei - mit jenem Element des Lebens, welches Cecily ganz einfach paaren nannte. Ich glaubte es für immer verloren zu haben, als ich Kate Molloy ungeküßt verließ. Während meiner Wochen im Territorium Neu-Mexikos war es mir wesentlich wahrscheinlicher erschienen, einer Schlinge oder einer Kugel zu begegnen, als einer Frau, die sich für die fleischliche Liebe interessierte.
Doch da stand eine - nicht bei Scott und auch nicht bei Bulwer - in meinem Schlafzimmer und bürstete bedächtig ihr Haar. »Sehen Sie, die Cowboys tun mir nicht länger den Gefallen«, sagte sie. »Sie haben Angst, daß er sie umbringen könnte.« »Nun, und mich wird er nicht umbringen?« fragte ich und legte die Zigarre ab. »Selbstverständlich, aber Sie tötet er ohnehin«, sagte Cecily. »Ich bezweifle, daß Sie durch Zurückhaltung irgend etwas gewinnen.« »Ma'am, dann also carpe diem«, sagte ich, nahm ihr die Haarbürste aus der Hand, und legte sie auf den Tisch neben dem geräumigen Bett. 6. Am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, stand ich auf meinem luftigen Balkon und sah zu, wie Cecily auf ihrem reinrassigen Braunen davonritt, um nach Wildblumen, Kräutern oder obskuren Präriegräsern zu suchen, die sie zu malen wünschte. Sie wurde von sieben Windhunden und zahlreichen Whippets begleitet und führte einen schwarzen Esel, der ihre Staffelei und verschiedene wissenschaftliche Gerätschaften trug. Isinglass und ungefähr zwanzig Cowboys waren ebenfalls aufgesessen, doch begleiteten sie Lady Snow nicht. Um genau zu sein, verließen sie Winds' Hill in die entgegengesetzte Richtung. Bevor sie außer Sichtweite waren, kroch der alte Mahmud mit meinem Frühstück herein - Nierchen, wie ich hätte voraussagen können, und einige ausgezeichnete Brötchen. Nun, ich muß sagen, ich ließ den Tag nicht untätig verstreichen. Ich bezweifele auch, daß Scheherazade den ganzen Tag damit zubrachte, ihr Haar zu kämmen. Ich aß meine Nierchen und zog mich in die Bibliothek zurück; die Tatsache, daß mir zum Schreiben ein guter Stift und weiches englisches Papier zur Verfügung stand, nachdem ich wochenlang mit den armseligsten Utensilien hatte vorlieb
nehmen müssen, schien meiner Vorstellungskraft Flügel zu verleihen. Als Cecily Snow einige Stunden später schön und staubig hereinrauschte, um Tee zu bestellen, hatte ich zehn neue Kapitel von Schwarze Bohnen fertiggestellt; meine verdreckten Texaner waren jetzt fast am Ende ihres qualvollen Marsches nach Mexiko City angekommen. Der auffällige Stapel von Seiten schien Cecily endlos zu amüsieren. »Also, Sie sind äußerst produktiv«, sagte sie. »Ich bin gern ein oder zwei Tage voraus«, erklärte ich. »Möglicherweise kommt ein Morgen, an dem mein Hirn nicht richtig funktioniert, und es erscheint mir nicht gerade weise, nichts zum Vorlesen zu haben. Die Verdauungsstörungen von Mr. Isinglass könnten sich melden.« »Sie werden sich höchstwahrscheinlich sowieso melden, egal, was sie vorlesen, Mr. Sippy«, sagte sie, während sie sich daran machte, die Treppe hinaufzusteigen. »Ich werde es Ihnen erklären, sobald ich mein Gesicht gewaschen habe.« Bald kam sie zurück, frisch und lieblich, gerade als der alte Kuli den Tee servierte. »Mahmud, erkläre du Mr. Sippy, weshalb der Herr in letzter Zeit so viel Schwierigkeiten mit seiner Verdauung hat«, sagte sie. »Feinglas«, sagte der alte Ägypter, und plötzlich erhellte ein Funkeln seine Augen. »Ich sehr fein mahlen, in Chili tun.« »Feinglas?« fragte ich, als der Mann hinaustatterte. »Er meint Weinglas«, sagte Cecily, die sich ein Brötchen butterte. »Mahmud haßt ihn, Bertram haßt ihn, wir hassen ihn alle. Es bereitet uns großes Vergnügen, die Weingläser zu zermahlen und in sein Chili zu geben, doch leider haben wir fast keine Weingläser mehr, und abgesehen von einer leichten Verdauungsstörung ist Mr. Isinglass so gesund wie eh und je. »Ich würde jeden heiraten, der es schafft, ihn umzubringen«, sagte sie, und sah mich unverblümt an. Dann verzehrte sie genußvoll ihr gebuttertes Brötchen. Ich versuchte mir immer noch die Geschichte mit den Weingläsern vorzustellen - die zwei alten Diener - oder eher vier; ich nahm an, die alten Tanten mischten auch mit - und die
wunderschöne junge Frau, die jeden Tag eines von ihnen zerrieben. Benutzten sie einen besonderen Mahlstein, wie ihn die Indianer zum Maismahlen verwendeten? Makaber wie es war, aber ich wollte die technischen Einzelheiten in Erfahrung bringen. So ignorierte ich den Teil, der sich mit dem Heiraten und Töten beschäftigte, und fragte nach Einzelheiten. »Nein, wir benutzen einen kleinen Mörser«, sagte Cecily und bestrich ein weiteres Brötchen mit Erdbeerkonfitüre. »Es hat immer soviel Spaß gemacht, aber die Ergebnisse sind so enttäuschend gewesen, daß wir es alle ziemlich satt haben wenn Sie wollen, können Sie das für heute Nacht übernehmen, Ben.« Es war das erste Mal seit meiner Ankunft im Westen, daß mich jemand bei meinem Vornamen genannt hatte. 7. »Mein Vater war ein recht guter Freund von Mr. Darwin«, erzählte Cecily ein oder zwei Nächte später auf meinem Bett sitzend. »Mr. Darwin interessierte sich sehr für Mollusken, wie Sie wahrscheinlich wissen - besonders für Rankenfüßler. Doch war er nie sonderlich zufrieden mit seiner Arbeit über ihre Fortpflanzung, die ziemlich kompliziert ist. Er wollte, daß mein Vater die Forschungen fortführt, aber mein Vater mochte Säugetiere lieber. Mr. Darwin hatte mich sehr gern, als ich noch ein kleines Kind war - er merkte, daß ich Köpfchen hatte -, also versuchte er mich dazu zu bringen, mit den Rankenfüßlern weiterzumachen, und für eine Weile tat ich das, um ihm zu gefallen. Doch dann stellte sich heraus, daß ich als Botanikerin wesentlich talentierter war. Zunächst schien es, als sei ich in Botanik besser als im Zeichnen, aber jetzt ist genau der umgekehrte Fall eingetreten. Ich bin eine fähige Botanikerin, doch das Zeichnen liegt mir wirklich am Herzen.« Dann stieg sie aus dem Bett und trat hinaus auf den Balkon, zupfte ihr Nachthemd zurecht, während sie ging. Zur Abwechslung blies der Wind nicht so stark, die Prärie lag fast
geräuschlos da. In der langgestreckten Baracke, in der Isinglass und die Cowboys schliefen, brannte kein Licht. »Ich schätze, er weiß, daß wir uns paaren«, sagte Cecily. »Er ist ein gerissener alter Hund.« Zu jenem Zeitpunkt hatte ich keine Vorstellung davon, was Isinglass wußte oder sich dachte, jeden Tag stapfte er bei Sonnenuntergang herein, aß ein Beefsteak und eine große Schüssel Chili mit einem fein gemahlenen Weinglas darin, spülte das mit ungefähr einem Viertel Whiskey hinunter, hörte sich meine farbenprächtigen Kapitel an und stapfte dann ohne Kommentar ins Bett. Oder, wenn er Kommentare abgab, dann nur, um die Unbeholfenheit meines Helden kurz zu kritisieren. Dann, bei Tagesanbruch, ritt er mit seinen Cowboys davon, während Cecily sich mit ihren Windhunden und ihrer Staffelei auf den Weg machte. Ein oder zwei Mal, an Tagen, an denen ich mehrere Kapitel voraus war, wurde ich eingeladen, Cecily auf ihren botanischen Expeditionen zu begleiten, doch meine völlige Unkenntnis in Botanik, gepaart mit einem kläglichen Interesse an Kräutern oder Gräsern, welche sie leidenschaftlich einnehmend fand, erwies sich bald als Ärgernis für sie. »Ich glaube, ich hoffte, Sie würden nicht leichtfertig sein«, bemerkte sie scharf als wir am zweiten Tag nach Hause ritten. Als sie in jener Nacht in mein Bett kam, hatte sich ihre Schärfe nicht sonderlich gelegt. Mir der Tatsache bewußt, irgendwie in Ungnade gefallen zu sein, wurde ich ziemlich nervös und zögerte etwas; obwohl die Angelegenheit bald vonstatten ging, zumindest zu einem bestimmten Grad, war Lady Snow auffällig gelangweilt. »Das nenne ich jämmerliche Paarung«, sagte sie. »Du bist nicht nur leichtfertig, du bist auch noch schnell.« »Ich habe Sie gewarnt, daß ich eine schlechte Partie wäre«, erinnerte ich sie. Gewöhnlich verließ sie das Bett schleunigst, doch diesmal, obwohl ein wenig verächtlich und mit einem leicht schmollenden Ausdruck im Gesicht, blieb sie, ihr langes Haar über mein Kissen gebreitet.
»Der alte Rohling will sich mit meiner Hilfe vermehren, weißt du«, sagte sie. »Um genau zu sein, hat er das schon zwei Mal getan.« »Isinglass?« fragte ich, äußerst überrascht. »Ich bin allerdings nicht umsonst Botanikerin«, sagte Cecily. »Ich habe mir geschworen, niemals sein Kind auszutragen. Als wir herkamen, gab es hier eine alte Comanchenfrau. Sie zeigte mir eine ausgesprochen nützliche Pflanze. Sie erregt Übelkeit, doch verliert man den Fötus äußerst schnell.« »Die große Leidenschaft meines Vaters war die Genetik«, fuhr sie fort. »Sie brachte ihn zuallererst nach Texas. Er und der alte Rohling dachten, sie könnten Büffel mit Rindern kreuzen, um genau zu sein, tut der alte Willie das immer noch. Sie dachten, sie könnten das perfekte Tier für dieses neue Land züchten. In vielerlei Hinsicht war mein Vater ein solider Biologe, aber er hatte wenig Ahnung von Genetik - auf dem Gebiet war er eher ein Amateur. Meine eigenen Studien an Mollusken gingen weiter als die seinigen.« »Also hat es mit den Büffeln nicht geklappt?« fragte ich. »Das können Sie sich selbst ansehen«, sagte sie. »Wir haben ein kleines Museum mit Mißgeburten hier - wenn Sie eines Tages die Neugier plagt, dann zeige ich es Ihnen. Das einzige, was nicht dort ist, aber dort sein sollte, sind meine Halbbrüder, die Resultate der Bemühungen des alten Rohlings mit meiner Mutter.« Dann lachte sie ein beschwingtes Lachen. »Der alte Rohling ist ein schlechterer Genetiker, als mein Vater war«, sagte sie. »Er nahm an, meine Mutter würde ihm ein perfektes Kind schenken, aber er vergaß in Betracht zu ziehen, daß meine Mutter über mehr als nur einen Schlag ziemlich schlechten spanischen Blutes verfügte. Wären meine Brüder in Spanien geboren, hätte man sie einfach in ein dunkles Zimmer im Escorial eingeschlossen, und niemand außer den Bediensteten hätte sie je wieder zu Gesicht bekommen.« »Wo sind sie?« fragte ich. Keine Frage, in Winds' Hill gab es mehr als genug dunkle Räume.
»In Hütten, hier und dort, an entfernten Orten«, sagte Cecily. »Es sei denn, die kleinen glubschäugigen Kreaturen sind nicht bereits gestorben, was vermutlich ein Segen wäre.« »Sie sind nicht gerade besonders sentimental, stimmt's, Cecily?« sagte ich. Von den Pflanzen, die sie studierten, sprach sie mit mehr Gefühl als von ihren Brüdern. »Bin ich tatsächlich nicht«, sagte sie. »Soll ich das als Vorwurf auffassen?« »Oh, es war nicht als Vorwurf gemeint«, sagte ich. »Es war lediglich eine Beobachtung.« »Ich war noch nicht mal zehn, da wußte ich fast soviel über die Fortpflanzung der Mollusken wie Mr. Darwin selbst«, sagte sie. »Mein Vater züchtete alles, von Kampfhähnen bis zu Büffeln. Er fand nichts dabei, daß ich Wissenschaftlerin wurde, und ließ mich zuschauen und lernen. Ich nehme an, meine Studien haben mich meiner Sentimentalität beraubt, was das Paaren angeht. Ich bin eher an Energie als an Sentimentalität interessiert - obwohl ich versuche warmherzig zu sein.« »Findest du mich nicht warmherzig, Ben?« fragte sie ein wenig später. »Oh, äußerst warmherzig«, sagte ich - denn selbst in ihren Momenten von Verachtung hatte sie sehr einnehmende Augen und war von einer Schönheit, daß man ihre Wortnesseln zu tolerieren bereit war, selbst wenn man von ihnen gestochen wurde. »Du bist ein lästiger Yankee«, sagte sie. »Wirst du jetzt unhöflich, nur weil ich nicht vortäusche, mich in dich verliebt zu haben?« »Cecily, ich möchte nur, daß du heute nacht bleibst«, sagte ich. »Das tust du nie. Sei nicht so herzlos. Ich weiß, daß ich vorhin ziemlich nervös war, aber bestimmt würde ein kleines Schläfchen dies kurieren.« Augenblicklich erhob sie sich vom Bett und nahm ihre Haarbürste von meinem Tisch, auf dem sie sie immer ablegte. »Ganz gewiß werde ich die Nacht nicht hier verbringen«, sagte sie. »Du bist ein anatomischer Idiot, wenn du glaubst, mein Herz sei das Organ, auf das du deine Aufmerksamkeit lenken sollst.«
Narr, der ich war, gefiel mir ihre Ausdrucksweise - keine andere mir bekannte Frau wäre in der Lage gewesen, die Sache so knapp zu fassen, selbst mein äußerst knappes Weib nicht. Cecily machte sich auf den Weg zur Tür, dann drehte sie sich um und schenkte mir eines jener verblüffenden Lächeln, die mich immer noch heimsuchen. »Statte unserem Aquarium einen Besuch ab, Ben«, sagte sie. »Betrachte die Mollusken. Versuch' den Unterschied zwischen den männlichen und den weiblichen festzustellen. Du wirst sie genauer anschauen müssen, als du mich angeschaut hast, daß kann ich dir versichern.« »Du kommst im Dunkeln und du gehst im Dunkeln«, führte ich aus. »Mein Zimmer liegt gleich neben deinem«, sagte sie. »Ich kann mich nicht daran erinnern, daß du auch nur die kleinste Anstrengung unternommen hättest, mich tagsüber aufzuhalten.« »Es scheint, als wärst du immerzu mit deinen Studien beschäftigt«, sagte ich und fühlte mich wieder wie ein Tölpel. »Aber vielleicht werde ich ja das Aquarium besuchen. Was dann?« Wieder lächelte Cecily. »Oh, eines Abends werden wir eine kleine Lektion veranstalten«, sagte sie. »Möglicherweise wirst du eine kleine Prüfung ablegen müssen, um zu beweisen, daß du über die für einen berühmten Autoren notwendige Beobachtungsgabe verfügst.« »Jetzt verspottet du mich«, sage ich. »Ein wenig«, gab sie zu. »Weißt du, Ben, es ist nicht dein Schreibstift, der dich am Leben erhalten hat. Es sind auch nicht all diese Seiten, die du täglich anhäufst. Ich habe dich am Leben erhalten. Wenn ich mich beschwerte, dann würde das alte Biest dich sofort aus dem Weg schaffen, und ich bin äußerst versucht, mich zu beschweren.« »Wo ist das Aquarium?« fragte ich, amüsiert durch ihre Drohung - eine ungewöhnliche, jedenfalls meiner Erfahrung nach.
»So ist's schon besser, wir gehen morgen«, sagte sie. »Das kann unser kleiner Ausflug sein.« Sie lächelte wieder und ging. 8. Ich hatte noch keine Stunde geschlafen, als ich ein furchtbares, heulendes Geräusch aus Cecilys Zimmer vernahm. Zunächst war es nur ein ärgerliches Gegrummel, aber noch bevor ich meine Füße aus dem Bett schwingen konnte, war es zu einem grauenerregenden Schrei angeschwollen. Ich sprang auf und eilte zur Tür. Das Schreien war grauenhaft - ich konnte nur an Skalpieren und brutale Folter denken. Vielleicht hatte ein einsamer Comanche seinen Weg ins Haus gefunden und skalpierte Cecily aus Rache für den Krieg, den Isinglass gegen seinen Stamm geführt hatte. Ich eilte zur Tür und dachte, sie wäre verschlossen, doch war dem nicht so, und bevor ich mein Gleichgewicht wiederfinden konnte, war ich beinahe in Cecily Snows Bett getaumelt. Sie saß aufrecht gegen einen Haufen Kissen gelehnt und las seelenruhig ein großes Buch mit dem Titel PflanzenGeographie. Das Heulen kam aus einem ihrer Schränke. »Aber, Ben«, sagte sie amüsiert. Sie legte ein Lesezeichen in ihr Buch. »Vielleicht habe ich dir Unrecht getan. Ich muß zugeben, daß ich so viel Initiative von dir nicht erwartet habe.« »Aber wer schreit hier?« fragte ich vollkommen verwirrt. In meinem Kopf hielt sich immer noch das Bild eines Comanchen mit blutbeflecktem Messer, der sich an Cecilys reichen Locken weidete - und doch saß die Frau hier und ging kaltblütig ihren Studien nach. »Oh, das ist nur Van Leeuwenhoek, mein kleiner Hyrax«, sagte sie. »Er schreit recht bemerkenswert, nicht wahr? Das heißt, der Nigger kommt. Van Leeuwenhoek haßt den Nigger.» Sie stieg aus dem Bett und ging zu ihrem Schrank, um einen Augenblick später mit einer kleinen, pelzigen und seltsam aussehenden Kreatur wiederaufzutauchen, die nicht größer als
ein Kaninchen war. Das Ding hatte aufgehört zu schreien, stieß jedoch weiterhin ärgerliches Gemurmel aus. »Van Leeuwenhoek stammt aus dem Kongo«, sagte sie. »Er ist ein Baumhyrax, ein Nachttier, aber das ist nicht das Ungewöhnliche an ihm. Beachte seine Fußsohlen.« Sie hielt die zitternde kleine Kreatur in die Höhe, damit ich sehen konnte. Ihre Fußsohlen waren ziemlich seltsam, obwohl ich mich schwerlich dafür interessieren konnte. Viele Tiere haben wahrscheinlich seltsame Pfoten. »Was sagen dir diese Fußsohlen, Ben?« fragte Cecily. »Nun, schau genau hin. Das ist Teil deiner Prüfung.« »Cecily, ich dachte, du würdest skalpiert!« sagte ich. »Die Fußsohlen dieses Tieres sind mir gleichgültig. Ich muß zugeben, es ist seltsam, daß es in der Lage ist, wie eine Frau zu schreien, die gerade skalpiert wird.« »Mr. Balzac wären die Fußsohlen nicht gleichgültig gewesen«, sagte Cecily wütend. »Deshalb bis du auch nur ein Groschenromanschreiber, Ben. Du kannst nichts genau betrachten.« »Ich dachte, du hättest gesagt, ich verfüge über einen ungewöhnlichen Einblick ins weibliche Herz'« sagte ich, etwas verletzt. »Pah, das war nur, um den alten Rohling zu ärgern«, sagte sie. Dann steckte sie eine der Pfoten der kleinen Kreatur praktisch in mein Auge. »Seine Fußsohlen ähneln denen eines Elefanten«, sagte sie. »In der großen Flaue steht ein Elefantenfuß - schau in dir an, wenn du das nächste Mal vorbeigehst. Tatsächlich ist Van Leeuwenhoeks nächster Verwandter ein Elefant. Diese Tatsache finde ich faszinierend, du nicht?« Sie kroch zurück in ihr Bett und drückte das kleine pelzige Geschöpf gegen ihre Brust, als handele es sich um ihr Kind. Es verbarg sein kleines, merkwürdiges Gesicht in Cecilys Locken. »Cecily, kann ich heute nacht nicht bleiben?« fragte ich. »Ich bin ziemlich aufgeregt. Ich dachte, du würdest skalpiert.« »Ach, ich weiß nicht, Ben«, sagte sie. »Mein Hyrax würde furchtbar eifersüchtig werden, wenn du die Nacht über bleibst.
Uns bindet eine gewisse tendresse, mußt du verstehen, und du könntest sie verderben.« »Aber es ist nur ein Tier!« sagte ich, allmählich verärgert. »Ja, ein Tier«, sagte Cecily. »Und was bist du, wenn nicht ein Tier? Mr. Darwin sagte, das einzige Tier, das die meisten Menschen jemals richtig zur Kenntnis nehmen, sei jenes, welches sie im Spiegel sehen, und das ist die gottverdammte Wahrheit.« Noch bevor ich antworten konnte, ließ der Hyrax einen weiteren seiner gräßlichen Schreie vernehmen. Er sprang kreischend auf dem Bett herum und klammerte sich dann an Cecilys Hals, als sei er ihr Baby. »Der Nigger ist in der Nähe«, sagte sie. »Van Leeuwenhoek schreit immer, wenn der Nigger in der Nähe ist.« Ich entschied, daß es sinnlos war zu streiten, und wollte gerade den Raum verlassen, aber bevor ich das konnte, warf Cecily die Decke ein wenig zurück und klopfte mit einer Hand aufs Laken. »Ich mag den Nigger nicht«, sagte sie. »Ich glaube, ich werde warmherzig sein, denn es könnte deine letzte Nacht sein. Ich nehme an, der alte Rohling wird dafür sorgen, daß er dich morgen früh tötet.« Der Hyrax raste in den Schrank zurück, und ich stieg erschöpft zu ihr ins Bett. 9. »Also nein, da ist dieser unnahbare Cowboy«, sagte Cecily am nächsten Morgen. Obwohl sie mir diesen Tag als meinen Todestag vorausgesagt hatte, hatte ich gut geschlafen. Ich war immer noch ein wenig schlaftrunken, als ich auf den Balkon taumelte, um zu sehen, wovon sie sprach. Joe Lovelady und MestyWoolah standen vor dem Mannschaftsquartier und unterhielten sich mit Isinglass. »Das ist Joe Lovelady«, sagte ich. »Ich wußte nicht, daß Sie ihn kennen.«
Lady Snow sah mich mit einem Hauch von Hochmut an. »Er hat einmal hier gearbeitet«, sagte sie. »Ich glaube nicht, daß ich Wert darauf legen würde, ihn näher zu kennen, aber ich hätte mich gern mit ihm ein wenig gepaart. Er wies mich mit der Begründung zurück, daß er verheiratet sei, als ob das eine Rolle spielen würde.« »Nun, für manche Leute schon«, sagte ich. »Nur für euch tumbe Amerikaner«, sagte Cecily. »Ist der Mann ein Freund von dir?« »Nun, ja, Joe ist ein Freund«, sagte ich. »Ich schätze, der alte Rohling hat vor, euch zusammen zu exekutieren«, sagte Cecily. Sie hätte genausogut sagen können, daß er vorhabe, uns beiden eine Zugfahrkarte erster Klasse zu kaufen. Dann durchquerte sie mit der Gelassenheit einer Königin den Flur in Richtung ihres Bades und ließ mich zurück, um selbst das Beste aus der Situation zu machen. Ich sah noch einmal hinaus. Der alte Mann und Joe schienen in eine nette Unterhaltung vertieft, soviel ich sehen konnte - wahrscheinlich übertrieb Cecily die Bedrohung im eigenen Interesse. Ich zog mich an und eilte hinaus. Die drei Männer schlenderten zusammen in Richtung Küchenunterstand, wo die Cowboys ihre Mahlzeit einnahmen. Als ich heraustrat, blieben sie gerade vor dem sogenannten Hühnerhaus stehen - dort hatte Lord Snow einst seine Kampfhähne untergebracht. Cecilys Angaben zufolge hatte er früher ausgezeichnete Kampfvögel gehabt, doch Stinktiere und andere Plünderer hatten es nach und nach dezimiert, bis nur noch ein alter, gewalttätiger Hahn zurückgeblieben war, ein übellauniger Vogel, der sich gegen den Hühnerdraht warf, wenn ihm irgend jemand zu nahe heran kam. Mesty-Woolah hielt inne, als ich mich näherte. Isinglass und Joe Lovelady gingen ein oder zwei Schritte weiter, immer noch schwatzend. Ihrem Benehmen nach zu urteilen, diskutierten sie über das Wetter oder den Viehpreis oder Brandzeichen oder das Kälberfangen oder den Roundup oder über irgendein anderes zwangloses Thema aus dem Ranchbereich - und soweit ich weiß, taten sie das auch.
Joe Lovelady lächelte, als er aufsah und mich erblickte. Ich fand, daß er erschöpft aussah, und ich schätzte, daß er hart geritten war, obwohl ich zu jenem Zeitpunkt keine blasse Ahnung davon hatte, wie hart, geschweige denn wie weit. Ich wollte ihn gerade herzlich begrüßen - ich hatte Joe ausgesprochen gern, und war begierig zu erfahren, wo er sich während der drei Wochen aufgehalten hatte -, als sich etwas ereignete, was ich bis zu diesem Tag weder vergessen noch genau erinnern kann. Es passierte in Sekundenschnelle, so schnell, daß ich mich frage, ob selbst die Netzhaut eines Genies - von Mr. Dickens oder Mr. Darwin - es wahrgenommen haben könnte; wenn ich jetzt versuche mich zu erinnern, erhalte ich nur verwirrende Einzelheiten. Mesty-Woolah bewegte sich; möglicherweise wirbelte er herum: Ich erinnere mich an ein kurzes Aufblitzen, obwohl ich kein Schwert sah; in keiner meiner Erinnerungen an die drei Männer, die an jenem Morgen daherschlenderten, besaß Mesty-Woolah ein Schwert - das heißt, zumindest nicht bis zu dem Augenblick, in dem er es benutzte. Es handelte sieh um die denkbar schnellste Bewegung, ein zischendes Geräusch: Joe Lovelady lächelte mich immer noch an, aber irgend etwas mit seinem Kopf stimmte nicht mehr. Das Lächeln schien mit einem Mal von oberhalb seiner rechten Schulter zu kommen. Dann neigte sein Körper sich leicht, schwankte ein wenig und fiel in Richtung Hühnerhaus. Ein gewaltiger Blutfächer breitete sich auf dem Hühnerhaus aus; meine deutlichste Erinnerung ist die an den perfekt geformten Fächer aus Blut, und dann rollte Joes Kopf an Isinglass vorbei, der einen Fuß ausstreckte und ihn stoppte. Verblüfft schaute mich der alte Mann an. »Der Kopf springt nach rechts«, sagte er. »Man sollte denken, so sauber, wie Mesty schneidet, würde er auf dem Hals bleiben, bis der Körper umfällt. Tut er aber nicht - er springt nach rechts.« Der Klang seiner Worte wurde schwach, als habe er sich in den Himmel zurückgezogen. Es schien mir, als würde ich von einem See schwarzer Tinte verschluckt. Ruhig versank ich
darin, hörte noch Geräusche wie die Stimmen gigantischer Frösche, bevor der schwarze Schlaf mich überkam. 10. »Es ist töricht, einen Kerl mit solchen Fähigkeiten zu tolerieren, wenn er auf der falschen Seite steht«, bemerkte Isinglass an jenem Abend beim Essen. Ich war immer noch ziemlich angeschlagen; die Cowboys hatten mich mit einem Hut voll Wasser aus der Pferdetränke aus meiner Ohnmacht geweckt, und ich kam gerade rechtzeitig zu mir, um zu hören, wie Cecily Snow von ihrem Vollblüter herab Isinglass dafür zurechtwies, daß er dem Afrikaner erlaubt hatte, das Hühnerhaus ihres Vaters mit Joe Loveladys Blut zu bespritzen. »Es muß neu gestrichen werden, und je früher je besser«, sagte sie, bevor sie davonritt. Der Tag war irgendwie herumgegangen; ich war nicht wieder ohnmächtig geworden, doch war ich immer noch so schwach, daß ich meinen Suppenlöffel kaum anheben konnte. Cecily, die meinen Zustand bemerkte, hatte edelmütig eine weitere Sumpfschildkröte geopfert, aber mir stand der Sinn nicht nach Suppe. »Joe Lovelady gehörte nicht zu Ihren Feinden«, sagte ich dem alten Mann. »Er hat immer mit Respekt von Ihnen gesprochen.« »Nun, sein Fehler war, diesen dreisten kleinen Bill zu retten«, sagte Isinglass. »Wenn er mir den Jungen überlassen hätte, wäre er mehr als willkommen gewesen, seinen Kopf zu behalten.« Ich glaube allerdings, daß die Ereignisse des Tages ihn traurig gestimmt hatten - seine Schüssel mit Chili blieb ebenso unangetastet wie meine Suppe. »Ich hätte diesen Mann zu meinem Vormann gemacht«, sagte Old Whiskey. »Ich habe ihm mal einen Job angeboten. Meine Schuld ist es nicht, daß er es vorzog, einen Mörder zu retten. Um genau zu sein, tut es mir leid. Einen Cowboy wie ihn trifft man nur einmal im Leben.«
»Könnten wir das Thema wechseln?« fragte Cecily. »Ich persönlich fand diesen Mann unnahbar bis zur Unhöflichkeit.« Doch weder Isinglass noch ich wollten das Thema wechseln: Wir wollten über Joe Lovelady reden, und wir redeten, weiter und weiter, nicht nur über seinen Tod, sondern über den großen Ritt, der zu seinem Tod geführt hatte. Denn der Cowboy und der Afrikaner hatten einander durch den halben Westen gejagt - den Pecos hinauf, durchs Land der Jicarilla, um den großen Shiprock herum, nördlich der Navaho-Schlucht entlang, von der Monumentenwüste aus nach Süden; Tage des Versteckens, Nächte des Jagens, bis das Pferd des Cowboys schließlich lahmte und das Kamel von Joe Loveladys letzter Kugel erschossen war, woraufhin endlich das Rennen irgendwo am Mogollon Rim endete. Dann ritten die beiden Männer auf Navaho-Ponies zurück, Mesty-Woolahs Füße schleiften am Boden, beide Männer waren zu erschöpft, um zu kämpfen oder zu sprechen. Isinglass und ich hatten damals keine Vorstellung, wie weit die zwei geritten waren, aber wir wußten, daß es weit gewesen sein mußte und daß bald ein Lied in der Prärie und den sie begrenzenden Bergen über diesen Ritt entstehen würde, daß wir beide bis an unser Lebensende hören würden. »Sein Pech, daß er sich mit Mesty angelegt hat«, sagte Isinglass, »denn Mesty war der einzige Mann im Westen, der mit ihm Schritt halten konnte.« »Du meinst, du selbst wärst nicht in der Lage gewesen, ihn zu fangen, Willie?« erkundigte sich Cecily scharf. »Ich bin schockiert«, fuhr sie fort. »Wir haben uns hier draußen alle an die Vorstellung gewöhnt, daß du alles tun kannst, was du willst. Hättest du diesen impertinenten Cowboy wirklich nicht fangen können?« »Nein«, sagte Isinglass einfach. »Ich hätte ihm nicht folgen können - ich sehe nicht mehr gut genug. Abgesehen davon besitze ich kein Pferd, das sich mit seinem Fuchs hätte messen können. Jetzt besitze ich auch kein Kamel mehr, das sich mit ihm messen könnte.« »Das Kamel werde ich nicht vermissen«, sagte Cecily. »Garstiges Biest.«
»Ich weiß nicht recht, aber diese Verfolgungsjagd hat Mesty fertiggemacht«, sagte Isinglass. »Auf mich wirkt er fertig. Den ganzen Tag hat er nichts anderes getan, als auf der Veranda zu sitzen und diese alten Niggerlieder zu singen, die ich ihn seit fünfzehn Jahren nicht habe singen hören. »Er sucht den Schatten«, fügte er düster hinzu. »Und Mesty war nie jemand, der Schatten gemocht hat.« »Also, meinst du, er wird einfach sterben, der Nigger«, fragte Cecily kühl. »Vielleicht stirbt er einfach«, sagte Isinglass. »Erfreuliche Aussicht«, sagte Cecily. »Wenn er stirbt, pflanze ich eine Rose auf dem Grab des Kuhtreibers.« Isinglass und ich sahen sie unwillig an, während Cecily einfach weiteraß. Etwas Großes hatte sich ereignet und ebenso etwas Tragisches. Isinglass hatte die Tragödie angeordnet, und doch schien er genauso traurig zu sein wie ich - vielleicht sogar noch trauriger. Ich glaube, er spürte, daß er an jenem Tag an einen Wendepunkt angekommen war und daß der Weg, den er gewählt hatte, nicht nach oben führte. Von seinem Beefsteak nahm er nur zwei Bissen, und sein Chili rührte er nicht an. »Ich weiß nicht, wer diesen mörderischen kleinen Billy erwischen soll, wenn Mesty nicht mehr kann«, sagte er. »Ich schätze, ich werde Tully Roebuck anheuern.« »Aber Tully ist Billys Freund«, erinnerte ich ihn. »Nun, kann mir vorstellen, daß der Mann Geld braucht«, sagte er. »Dieses blinde Kind wird ihm eine Masse Unkosten bereiten.« »Ich glaube, ich feuere diese verschlampte Köchin«, sagte Cecily. »Sie hat das Lamm schon wieder zu lange gekocht.« 11. Nach dem ersten Morgengrauen konnte man in Winds' Hill kaum noch schlafen. Immer schien sich irgend etwas Seltsames zu ereignen, und was es auch sein mochte, es ereignete sich früh am Tage.
Am Morgen darauf wurde ich von einem Geräusch geweckt, das ich nicht mehr gehört hatte, seit Dora und ich in Kairo gewesen waren, nachdem wir den Nil bereist hatten: der Klang eines mohammedanischen Gebets. In diesem Fall handelte es sich um Mesty-Woolah, der hoch oben in einem der vielen Türme des Schlosses schlief. Er trat aus dem Turm auf einen kleinen Balkon hinaus und betete mit lauter Stimme, sich gegen Mekka verbeugend. Er hätte den Baß in einer Oper singen können - seine tiefe Stimme trug weit in die Prärie. Die Cowboys, von denen die meisten schon aufgesattelt hatten, hielten inne, um zuzuhören. Isinglass reparierte ein Hufeisen am Hinterfuß seines alten schwarzen Zossen; er sah nicht auf. Cecily Snow trat in mein Zimmer und war bereits in ihrem Reitkostüm. »Lärmiger Nigger«, sagte sie. »Da du schon einmal wach bist, dachte ich, du könntest mit mir rüber reiten und das Museum der Mißgeburten inspizieren. Gönn' dir heut' ein wenig Erbauung, Ben.« »Ich habe das Gefühl, selbst in ein derartiges Museum zu gehören«, sagte ich. »Ich möchte kein Gejarnmere«, sagte Cecily. Von den Corrals aus nach Norden reitend, passierten wir das enge Grab, in welches man Joe Loveladys Leiche gelegt hatte. Es war das frischste von ungefähr zwölf Gräbern, die anderen gehörten Cowboys, die den alltäglichen Gefahren des Ranchlebens zum Opfer gefallen waren: Schlangenbisse, Revolverkugeln, Wildpferde, Hochwasser, Blitze oder Stampeden. Am Tag zuvor hatte ich versucht, ein wenig bei dem Begräbnis behilflich zu sein; ich hatte mich ausgesprochen leer und benommen gefühlt. Doch als wir vorbeiritten und ich das ärmliche Grab sah, brach plötzlich eine Tränenflut aus mir hervor. Meine Zügel wurden so schlüpfrig, als ritten wir durch strömenden Regen. Cecily, in ihrem Damensattel thronend und umringt von ihren Hunden, empfand meine Zurschaustellung von Trauer als äußerst anstrengend.
»Dieser Mann war außerordentlich freundlich zu mir«, sagte ich, als ich wieder Kontrolle über mich erlangt hatte. »Dessen bin ich sicher«, sagte Cecily. »Vielleicht lebst du lange genug, um ihm in einem deiner populären Büchlein zur Unsterblichkeit zu verhelfen.« Wir ritten mehrere Meilen in nördliche Richtung über die Plains und trafen schließlich auf eine große Scheune, die man auf dem Boden eines grasbewachsenen Arroyos erbaut hatte. Ein Teil des Arroyos war eingezäunt, und innerhalb dieses Zaunes befanden sich die schrecklichst aussehenden Tiere, die mir je zu Augen gekommen waren: Sie erinnerten entfernt an Vieh, und vielleicht noch entfernter an Büffel; sie waren von matter Farbe, hatten spindeldürre Beine, geschwollene Körper und Köpfe nicht größer als die von Kälbern. Die meisten standen auf furchtbaren X-Beinen und bewegten sich, als würden sie jeden Augenblick vornüber fallen. »Die sind unsere Viecher«, sagte Cecily. »Ich bin nur froh, daß Mr. Darwin nicht hier ist, um sie zu sehen. Ich fürchte, sie stellen einen ziemlichen Schritt nach unten auf der Evolutionsleiter dar.« Innerhalb der großen luftigen Scheune, die durch eine Anzahl geschickt installierter Deckenlichter raffiniert beleuchtet wurde, wurden in großen Glasbottichen mit Formaldehyd weitere Fehlschläge aufbewahrt - Embryos von derartig komplexer Deformation, daß es in manchen Fällen schwierig war zu sagen, welche Arten man miteinander gekreuzt hatte. Auf einer Plattform an einen Ende der Scheune befanden sich vierzehn ausgestopfte Ponys, jedes mit einem Namensschild aus Messing vor sich und einem kleinen Sattel auf dem Rücken. Alle Ponys waren schwarz. »Die Cavendish-Ponys«, informierte mich Cecily. »Was ihre Kindheit anging, war meine Mutter sehr sentimental, und sie hat darauf bestanden, die Ponies mit hierherzubringen.« Abgesehen von den Embryos und einigen Kästen mit verschiedenen Schädeln, war die Scheune ein eher angenehmer Ort, und das Aquarium, das die Größe einer kleinen Hütte hatte, war wirklich bemerkenswert; es hatte beides, Frisch- und Salzwasserbecken und enthielt einen
Oktopus, viele glubschäugige Fische, Schildkröten und Sumpfschildkröten im Überfluß, sowie Hunderte von Cecilys geliebten Mollusken. »Es verursacht natürlich beträchtliche Kosten, Salzwasser soweit ins Land zu schleppen, aber ohne meine Mollusken würde ich vermutlich verblöden«, sagte Cecily. Ein kleines Steingebäude hinter der Scheune beherbergte ein gutausgestattetes Laboratorium. Cecily legte einen Arbeitskittel an, entfernte einige Rankenfüßler von einem Felsen im Aquarium und machte sich daran, mir eine ausführliche Lektion über deren Fortpflanzungsorgane zu halten, wovon der größte Teil über meinen Horizont ging. Alles, was ich erkennen konnte, war eine sich windende Masse; doch empfand ich Dankbarkeit darüber, daß die Feuer der Wissenschaft Cecily etwas erwärmten. In besserer Stimmung hätte ich möglicherweise waches Interesse am Museum der Mißgeburten gezeigt, doch wanderten meine Gedanken immer wieder zurück zu Joe Lovelady. Jetzt, wo ich nicht mehr konnte, gab es soviel, was ich ihn fragen wollte. Ich konnte mir nicht erklären, weshalb er so lammfromm in seinen eigenen Tod lief - es sei denn, seine Müdigkeit war so tiefgreifend, daß sie einer Art Tod gleichkam. »Ach, wir können genausogut wieder gehen, du bist heute ausgesprochen dumpf, Ben«, sagte Cecily. »Eins muß ich dem alten Willie lassen, dumpf ist der äußerst selten. Er ist in der Lage, sich ein Tier anzuschauen - er interessiert sich dafür genauso wie ich.« Auf unserem Weg nach Winds' Hill trabten wir im Bett eines kleinen Baches entlang, als Cecily ihr Pferd plötzlich zum Stehen brachte. Sie hatte irgend etwas im Dreck des niedrigen Bachbettes ausgemacht. »Fossilien«, sagte sie. »Deshalb reite ich immer im Flußbett, wenn es eines gibt. Wenn ich mit der Flora fertig bin, habe ich vor, mich weitaus gründlicher mit den Fossilien zu befassen, als ich es bisher getan habe.« Sie stieg ab und nahm eine kleine Spitzhacke aus ihrer Satteltasche; bald klopfte sie so glücklich auf das niedrige
Bachufer ein, als habe sie soeben Gold gefunden. Mein Angebot, ihr zu helfen, wurde kurzerhand abgelehnt. »Amateure wie du haben schon genug Fossilienbetten ruiniert.« Ich war ziemlich müde und dachte, ich sollte einfach einen kleinen Nachmittagsschlaf halten, während Cecily arbeitete, also streckte ich mich auf der warmen Prärie, den Hut über den Augen gezogen, aus und war fast augenblicklich eingeschlafen. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe - eine Stunde, oder vielleicht auch zwei -, jedenfalls brachte mich eine merkwürdige Musik wieder zu Bewußtsein. Es schien sich um Mundharmonikamusik zu handeln. Dann hörte die Mundharmonika auf zu spielen, und ich vernahm Cecilys beschwingtes Lachen. Ich öffnete meine Augen und dachte, mein Zeitsinn müsse durcheinandergeraten sein, denn ich meinte Rosy, mein längst verlorenes Maultier zu sehen, das neben Cecilys Vollblüter weidete. Kann nicht sein, schloß ich, kurz davor, wieder einzuschlafen. Doch da hob die Mundharmonika wieder an; ich blinzelte ein paar Mal und sah die Pferde erneut an, und es war Rosy. Sie trug sogar noch meinen Sattel. Ich sprang auf und sah das Bachbett hinab. Was ich sah, erstaunte mich über alle Maßen. Eine wohlbekannte Schrotflinte war gegen das Bachufer gelehnt, und Lady Snow, wirklich sehr hübsch und einnehmend anzusehen, spielte auf einer Mundharmonika, dann und wann absetzend, um unbeschwert zu lachen, während sie ihre gewagten Blicke dem jungen Outlaw Billy Bone zuwarf. 12. »Hallo, Sippy«, sagte Billy. »Hast du ausgeschlafen?« Er sah so dreckig und heruntergekommen aus wie immer, und in seiner Stimme schwang ein unterkühlter Ton mit. Es war klar, daß es ihm lieber gewesen wäre, ich hätte noch eine Woche weiter geschlafen, während Cecily Snow ihm Mundharmonikastunden erteilte.
Der kühle Ton verletzte mich ein wenig, denn ich freute mich so sehr, ihn zu sehen, wie ich mich gefreut hatte, Joe zu sehen, doch bemerkte ich bald, daß es töricht war, dem Jungen die Schuld daran zu geben. Er war eben der brillantesten Verführerin des Westens in die Hände gefallen und hatte sich bereits verliebt. Das Auftauchen eines alten Kauzes aus Philadelphia war lediglich dazu geeignet, seine Glückseligkeit zu schmälern. »Billy, es ist wunderbar dich zu sehen«, sagte ich, doch starrte er Cecily derartig ehrfürchtig an, daß ich bezweifle, daß er es hörte. »Es ist so ein wunderbarer Tag, und ich dachte, wir könnten ein wenig Musik vertragen«, sagte Cecily, dann begann sie die alte, traurige Weise »Barbara Allen« zu spielen. Die Frau hatte Begabung, das mußte man ihr lassen »Barbara Allen« spielte sie derartig herzergreifend, daß mir zu meiner Beschämung schon wieder die Tränen kamen. Zuerst dachte ich an Joe in seinem engen Grab, und dann an Simp und Happy Jack und die anderen Jungs, nun allesamt tot; als nächstes zupfte die Erinnerung an meine neun Töchter heftig an den Saiten meines Herzens; dann dachte ich an Kate Malloy, die ich ohne Grund verloren hatte, und an Hoffnungen und Sehnsüchte ohne Ende. Ich weinte so furchtbar, daß ich nichts mehr sehen konnte, und wäre beinahe schamlos heulend vom Ufer des Baches gestürzt. Billy beschämten dererlei Zurschaustellungen, doch nachdem ich meine Sicht wiedergewonnen hatte, bemerkte ich, daß Cecily mich bloß aus kühlen grauen Augen über die Mundharmonika hinweg ansah, ohne Zweifel erfreut über den Effekt ihrer Musik. »Kümmere dich nicht um ihn, er ist ein Yankee«, sagte Billy. Ich schätze, er hatte Angst, mein Geheule könnte Cecily vertreiben - was nur beweist, wie wenig er von Frauen wußte, besonders von dieser hier. »Oh, Billy, wir haben Joe verloren«, murmelte ich schließlich. »Es war eine furchtbare, furchtbare Sache.« »Hat der Nigger ihm wirklich den Kopf abgeschnitten?« fragte Billy. Ich nickte nur.
»So geht das Gerücht in San Jon, aber ich wußte nie, ob ich's glauben sollte«, sagte Billy. »Es stimmt«, sagte ich. »Ich bin zu diesem Zeitpunkt weniger als zwanzig Fuß entfernt gewesen, doch hatte ich keine blasse Ahnung, was passieren würde.« »Dammich, ich werd' nie verstehen, wie Joe zulassen konnte, daß so etwas passiert«, sagte Billy etwas verärgert. »Aber er war unbewaffnet, Billy«, sagte ich. »Nicht am Ende der Jagd«, sagte Billy. »Die Indianer sagen da was anderes.« Zu jenem Zeitpunkt wußte ich selbstverständlich noch nicht, daß viele Navajos und sogar einige Apachen die Jagd verfolgt hatten. »Sie sind durch Indianerland geritten«, sagte Billy. »Einige der Indianer sind ihnen gefolgt. Sie sagen, der große Nigger sei zum Schluß zu müde gewesen, um sein großes Messer auch nur anzuheben. Joe hätte ihn ganz einfach erschießen können, aber statt dessen hat er das Kamel erschossen, und anstatt sich ein Indianerpferd zu schnappen und abzuhauen, hat er sich zwei Pferde geliehen und ist mit dem Nigger zurückgeritten. Warum in aller Welt hat er das getan?« Für mich klang es, als habe Joe Mesty-Woolah gerettet und jener ihn dann umgebracht. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte, Billy auch nicht, doch bald wurden wir durch die knappen, harschen Einsichten Lady Snows über die Tatsachen des Lebens in Kenntnis gesetzt. »Man braucht Talent zum Töten«, sagte Cecily. »Dieser Kuhtreiber hatte es nicht.« Billy starrte sie so atemlos an, als wäre sie das Orakel des Himmels, obwohl sie nichts weiter als eine ziemlich brutale Behauptung aufgestellt hatte. »Das stimmt«, sagte Billy. »Joe konnte diesen Nigger nicht mal erschießen, als er hilflos da rumstand.« »Meinst du, du könntest es besser, Billy?« erkundigte sich Cecily. Ich spürte ein leises Pochen von Verärgerung in mir, daß sie bereits dazu übergegangen war, ihn bei seinem Vornamen zu nennen. Das Verhalten der Frauen wird immer verwirrend
bleiben, so schätze ich. Da saß Billy Bone nun: jung, klein, dreckig, häßlich und gewalttätig - ein Amerikaner, ein Junge ohne Manieren oder Bildung, und doch hatte die hochgewachsene, brillante, schöne Tochter der Cavendishes und der Montstuarts ihn zu ihrem Liebhaber erwählt - soviel war klar ersichtlich. Ich glaube nicht, daß Billy die Frage beim ersten Mal hörte. Er war so verzaubert von Cecily Snow, daß er, wenn man das Atmen vergessen könnte, ohne Zweifel an Ort und Stelle erstickt wäre. »Meinst du, du könntest diesen Nigger umlegen, Billy?« fragte Cecily erneut, und diesmal hörte Billy es. Cecily hatte ein gieriges Glänzen in den Augen. »Klar kann ich ihn umlegen«, sagte Billy. »Ich hab' gehört, er sitzt jeden Morgen herum und betet, wenn die Sonne aufgeht. Hätte ich das gewußt, wäre er schon längst tot. Der Trick besteht darin, abzuwarten, bis die Sonne genau in seine Augen scheint, und ihn abzuknallen, während er betet.« »Brillant!« sagte Cecily. »Das ist der perfekte Plan. Erschieß ihn morgen - ach, mach es!« »Morgen - mach ich, klar«, sagte Billy, obwohl ihn ihr Eifer meiner Ansicht nach ein wenig überraschte. »Hast du ein gutes Gewehr?« fragte Cecily. »Äh, nein«, sagte Billy, beschämt darüber, daß er an eine so elementare Sache nicht gedacht hatte. »Ich schätze, ich muß einfach nur nahe genug an ihn herankommen, um ihn mit meinem Schrotgewehr erschießen zu können«, sagte er. »Von diesem Plan halte ich nicht viel«, sagte Cecily geradeheraus. »Der Nigger hat eine außergewöhnlich gute Nase. Er könnte dich riechen. Mr. Isinglass behauptet, er könne riechen, ob eine Waffe geladen ist oder nicht.« »Aber Isinglass sagt, der Mann sei fertig mit der Welt«, sagte ich. »Er sagt, die Verfolgungsjagd habe ihn erledigt. Warum laßt ihr ihn nicht einfach sterben? Das wäre viel sicherer.« »Unfug, der Nigger könnte sich erholen«, sagte Cecily energisch. »Wir dürfen den Nigger nicht unterschätzen. Es wird äußerst schwierig sein, mit einem Schrotgewehr nahe genug an
ihn heranzukommen, um ihn zu erledigen - meine Windhunde könnten anfangen zu jaulen.« »Schätze, ich kann zurück nach San Jon reiten und eine Winchester kaufen«, sagte Billy. »Wenn ich jetzt losreite, könnte ich morgen zurück sein, falls Sippys verdammtes Maultier nicht bockt.« »Aber nicht doch. Ich möchte nicht, daß du dich derartigen Schwierigkeiten aussetzt, nur um mir einen Gefallen zu tun«, sagte Cecily, wohl wissend, daß er nach China gewandert wäre, um ihr einen Gefallen zu erweisen. »Ich habe ein exzellentes Gewehr«, sagte Cecily. »In Afrika habe ich es oft auf größere Antilopen angelegt und fand es ausgesprochen verläßlich. Ich bin sicher, es würde auch diesen Nigger durchlöchern.« »Wie komme ich da dran?« erkundigte Billy sich. »Ich werde es dir heute Nacht bringen - genau an dieser Stelle«, sagte Cecily. »Das heißt, wenn du so lange warten möchtest.« »Ich werde warten, darauf kannste wetten«, sagte Billy. »Kommen Sie mit, Mr. Sippy«, sagte sie und erhob sich. »Es ist beinahe Zeit für den Tee, wir müssen sehen, daß wir nach Hause kommen.« Dann, als sei es ihr nachträglich eingefallen, überreichte sie Billy ihre Mundharmonika. »Behalt' sie«, sagte sie. »Behalt' sie als Erinnerung an mich.« 13. »Mister Sippy?« fragte ich, als Cecily und ich zurück nach Winds' Hill ritten. Ich wollte nicht, daß sie meinte, ich wäre mir jener kleinen Feinheiten, die sie mit Vornamen verband, nicht bewußt. Sie ignorierte mich auf ihre liebenswürdige, kühle Art. »Die Tatsache, daß wir auf Du-und-Du waren, hat mir einiges Wohlbehagen verschafft, Cecily«, sagte ich. »Weshalb muß ich nun wieder Mister Sippy heißen?«
»Nun, ich habe einen neuen Beau, haben Sie das nicht bemerkt?« fragte sie mit einem Lächeln. »Wir beide müssen uns mit unseren Aktivitäten nun ein wenig vorsehen. Der Hang meines neuen Beaus zum Töten könnte außer Kontrolle geraten, wenn er uns schnäbeln und turteln hört, meinen Sie nicht?« »Ich habe weder Absicht zu schnäbeln noch zu turteln!« informierte ich sie standhaft. »Nichtsdestotrotz sollten sie es tun, wenn ich es verlange, was nicht oft der Fall sein wird, wenn Sie diesen Ton beibehalten«, sagte sie, bevor sie vorausgaloppierte. Als wir uns dem Schloß näherten, wurde ich zunehmend nervös. Man verlangte offensichtlich von mir, zum Mittäter bei Mesty-Woolahs Mord zu werden. Natürlich war Mesty-Woolah nicht gerade ein Engel - er hatte Joe Lovelady vor meinen Augen ermordet; vermutlich konnte man die Unschuldigen, die er auf Isinglass' Geheiß über die Jahre hin abgeschlachtet hatte, nicht mehr zählen. Er war ein professioneller Krieger - es erschien mir als ziemlich pingelig, mich wegen eines derartigen Kerls zu sorgen. Auf der anderen Seite hatte Joe Lovelady offenbar entschieden, ihn zu verschonen, und niemand besaß ein so feines moralisches Barometer, wie Joe Lovelady es gehabt hatte. Es war unwahrscheinlich, daß er es gutgeheißen hätte, den Mann während seines Gebets zu erschießen. Ich hieß es ebenfalls nicht gut, obwohl weder Billy noch Cecily einen Gedanken an diesen Aspekt der Angelegenheit verschwendeten. Und doch konnte ich mich nicht an Isinglass oder den Mann direkt wenden, ohne Billy in Gefahr zu bringen - und trotz seiner tödlichen Manieren konnte ich nicht anders, als Billy zu mögen, einen Jungen mit solch einem einsamen Ausdruck in den Augen. Den ganzen Weg nach Hause machte ich mir Sorgen und fragte mich, was zu tun sei. Old Whiskey war kein Narr, darauf hatte Cecily mich häufig hingewiesen - er konnte von der Sache Wind bekommen, und wenn im Morgengrauen Blut floß, dann war es vielleicht Billys, oder meines, oder sogar Cecilys.
Doch mit solchen Sorgen vergißt man das Glück - so schätze ich -, und vom Glück hängt vieles ab. Wir waren kaum zu Hause angekommen, als deutlich wurde, daß Cecily und Billy offensichtlich die Glückskarte gezogen hatten. »Mr. Isinglass wünscht, daß ich Sie von seiner Abreise in die Quitaques in Kenntnis setze«, deklamierte Bertram in seiner alten Stimme, als wir zum Tee eintrafen. »Oh, gut, wie erfreulich, wo steckt denn der Nigger?« fragte Cecily sofort. »Den haben sie zu Hause gelassen«, sagte Bertram. »Der Master meinte, er könne ein wenig Ruhe vertragen. Das brauche ich auch, doch für den Butler ist keine Ruhe in Aussicht«, fügte er hinzu. »Ach, geh' und setz dich in deinen Schrank, Bertram«, sagte Cecily. »Du hast aber auch eine düstere Art an dir.« 14. »Ich verstehe nicht, weshalb ihr Frauen Gesetzlose so gernhabt«, bemerkte ich, während wir den Tee zu uns nahmen. »Weshalb essen Sie ihr Muffin nicht?« fragte Cecily. Seitdem sie festgestellt hatte, daß Isinglass gegangen war, hatte sich ihre Stimmung beträchtlich verbessert. »Es ist kein besonders gutes Muffin«, sagte ich, obwohl ich glaube, daß es eigentlich völlig in Ordnung war. »Nun, Sie sind kein besonders guter Schriftsteller«, erwiderte Cecily. »Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet.« »Sie haben meine Frage ignoriert«, sagte ich ihr. »Weshalb haben Frauen Outlaws so gern?« »Ich kann nicht für mein Geschlecht sprechen«, sagte Cecily mit vollem Mund. Sie nahm mein unberührtes Muffin und butterte es. »Weshalb mögen Sie sie dann?« insistierte ich. »Sind nicht langweilig, deshalb«, sagte sie, ihre ständige Nahrungszufuhr für einen Augenblick unterbrechend. »Nicht so langweilig wie Sie«, verbesserte sie sich.
»Am Anfang habe ich Sie nicht gelangweilt, stimmt's?« fragte ich. »Nur von dem Augenblick an, als ich Sie zum ersten Male zu Gesicht bekam«, sagte Cecily, während sie sich Tee nachgoß. »Sie sind der langweiligste Mann, der mir je begegnet ist, Ben, einmal abgesehen von meinem Cousin Elphinstone. Ich muß zugeben, daß Elphinstone Ihnen fast gleichkommt.« An dieser Stelle entzog ich mich der Konversation und saß nur noch dort und beobachtete sie beim Essen. 15. In jener Nacht, kurz nach dem Abendessen unternahm Cecily einen Ausritt im Mondlicht. Mit sich trug sie das ausgezeichnete Jagdgewehr, das sie mit so tödlicher Wirkung an den Antilopen Kenias ausprobiert hatte. Ich saß bis spät in der Bibliothek und versuchte einen Roman von Wilkie Collins zu lesen - Arme Miss Finch war der Titel. Meine Bemühungen waren völlig erfolglos; es mag sehr wohl ein vorzüglicher Roman sein, doch kann ich es nicht beurteilen, denn ich brachte es nicht fertig, Cecily Snow lange genug zu vergessen, um Interesse an Miss Finch zu gewinnen, mochte sie arm oder sonst irgendetwas sein. Als Cecily gegen Mitternacht immer noch nicht zurückgekehrt war, ging ich hinauf ins Bett und fühlte mich beinahe so alt wie Bertram. Wo war Cecily? Und was trieben sie? Obwohl ich genau wußte, daß es fast schon dem Wahnsinn gleichkäme, wenn ich es zuließ, mir irgendwelche Gedanken darüber zu machen, was die Frau tat - sie ließ Dora fast menschlich erscheinen -, machte ich mir unglücklicherweise darüber Gedanken. Ich versuchte, mich selbst daran zu hindern, aber es funktionierte nicht: Meine Gefühle hatten jeden Halt verloren. Es schien mir eine lange Nacht, als ich zwischen dem Kissen der Eifersucht und dem Kissen der Schuld hin- und herwechselte - letzteres, weil ich nicht die moralische Courage zusammengebracht hatte, Mesty-Woolah mitzuteilen, daß er seine Gebete möglicherweise einmal ausfallen lassen sollte.
Wieder und wieder erinnerte ich mich an die Tatsache, daß er ein tödlicher Killer war: Ich hatte mit eigenen Augen gesehen, wie er zwei Männer tötete, einer von ihnen sogar mein Freund doch machte dies das Kopfkissen der Schuld nicht weicher. Cecily Snow kehrte in jener Nacht nicht zurück. Als es hell genug geworden war, um etwas erkennen zu können, stand ich auf und sah hinaus, und der Korral, in dem ihr Pferd zu stehen pflegte, war leer. Dann stieg ich zurück ins Bett - die Sonne war noch nicht einmal aufgegangen. Es kam mir in den Sinn, daß die beiden möglicherweise einfach durchgebrannt waren: Die Romanze hatte vielleicht den Sieg über Mord davongetragen. Diese Theorie wurde bald widerlegt. Die Sonne ging auf; Mesty-Woolah kam heraus, sang ein paar Silben seines Gebets, und aus der Umgebung der Scheune donnerten zwei Schüsse. Daß es zwei waren, kam mir seltsam vor - hätte Billy die Gelegenheit gehabt, fünf oder sechs Mal zu schießen, so würde er es nie bei zweien belassen haben. Aber es war ja eine englische Jagdwaffe; diese würde nur zwei Schüsse auf einmal abfeuern. Nach einiger Zeit stieg ich aus dem Bett und trat auf meinen Balkon hinaus. Über den Ostflügel des Hauses hinweg konnte ich auf Mesty-Woolahs Gebetsplattform schauen, dort lag er ausgestreckt, offensichtlich tot. Die meisten der Cowboys waren mit Isinglass geritten; lediglich drei befanden sich auf der Ranch. Später kletterten alle drei hinauf in den Turm und bestätigten den Tod MestyWoolahs. Faul, wie sie waren, rollten sie seinen Körper einfach von der Plattform und ließen ihn hinabfallen. Kurz darauf schossen zwei der Cowboys im Streit darüber, wer das Grab zu schaufeln hatte, mehrmals aufeinander - selbstverständlich würde es ein langes Grab sein müssen, und keiner von ihnen riß sich darum, es auszuheben. Obwohl in der Auseinandersetzung wenigstens zwei Waffen leergefeuert wurden, war niemand verletzt, und ein dünner Cowboy namens
Pedro brachte den Rest des Morgens damit zu, mit Schaufel und Spitzhacke das Grab zu schaufeln. Ich fühlte mich sehr deprimiert. Mahmud kroch mit meinem Frühstück herein. Ich versuchte den Porridge und ließ den Rest stehen. Ich konnte mir keinen Grund vorstellen, der es wert war, am Leben zu bleiben, auch wenn ich keine unmittelbaren Pläne hatte zu sterben. Um elf kam Bertram hereingewackelt, ein kleines Silbertablett tragend, als handele es sich um einen Amboß. Obwohl es bloß ein Silbertablett war, schien es fast, als könne er es nicht bewältigen - wiewohl ich der Fairneß halber zugeben sollte, daß die Mitteilung, die auf dem Tablett lag, auf äußerst schwerem Papier geschrieben war. Lady Snow sparte an nichts. Die Mitteilung selbst war von charakteristischer Knappheit: DEAR MR SIPPY: Treffen Sie mich und Billy am Museum zum Mittagspicknick um ein Uhr dreißig. Cook wird den Korb packen - erinnern Sie sie daran, daß unbedingt Meerrettich dabei sein muß! Bitte tragen Sie ihn vorsichtig, die Teekanne ist recht kostbar. LADY (G.) SNOW P.S. Vielleicht wollen Sie ihre Ausrüstung mitbringen - Sie reisen ab. 16. Meine Ausrüstung, wie Cecily sie zu nennen beliebte, bestand nur aus meinen Kleidern, die ich am Tage, als ich in Winds' Hill angekommen war, auf dem Leib getragen hatte mittlerweile von den alten irischen Tanten gewaschen und ausgebessert. Während meines Aufenthaltes hatte ich die Kleider Lord Snows getragen, doch gab ich sie noch vor Mittag an Bertram zurück, erinnerte die Köchin an den Meerrettich,
achtete darauf, daß die Teekanne gut gepolstert war, und machte mich mit dem Picknickkorb auf den Weg. Natürlich mußte ich am Friedhof vorbei, wo Pedro immer noch versuchte, ein Grab auszuheben, das lang genug war, um den Neger vom Nil aufzunehmen. Der lag tot und ohne Turban auf dem heißen Boden, direkt neben dem frischen Grab von Joe Lovelady. Ich hatte nie einen ausgiebigen Blick auf Mesty-Woolah werfen können - einen, der nicht durch Furcht beeinträchtigt gewesen wäre, meine ich wohl -, also hielt ich an und genehmigte mir einen Blick. Sein Turban war beim Fall von der Plattform hinabgeglitten, und ich konnte erkennten, daß er weißes Haar hatte. Tot sah er aus wie ein alter Mann - nicht so alt wie sein Meister Isinglass, aber ganz gewiß älter als ich. Vielleicht hatte Joe Lovelady ihn deshalb nicht umgebracht, als die beiden schließlich erschöpft am Mogollon Rim standen. Vielleicht hatte er gesehen, daß der Mann alt war. Auf Mestys Gewand befanden sich zwei Blutflecken, in der Nähe des Herzens. In dem Augenblick, als ich sie sah, wußte ich, daß Lady Snow den afrikanischen Krieger umgebracht hatte, ebenso sauber, wie sie einst die kenianischen Antilopen erlegte. Die Historiker und die Legendenmacher diskutieren diesen Punkt noch immer und schreiben Billy eine Treffsicherheit zu, die er nicht im entferntesten besessen hat. Die Schüsse auf Mesty-Woolahs Turm waren aus einer Entfernung von mehr als hundert Fuß von der Scheunenecke abgegeben worden - und Billy Bone hatte in seinem ganzen Leben keinen Mann getötet, der mehr als zwanzig Fuß von ihm entfernt stand. Billy Bone war ein Ballerer und kein Zielschütze. Es kann sogar sein, daß er kurzsichtig war, obwohl die Wahrheit darüber nie ans Tageslicht kommen wird. Selten schoß er mit dem Gewehr, und mit Cecilys Gewehr war er nicht vertraut: Ich bezweifele, daß er in der Lage gewesen wäre, den Turm mit zwei aufeinanderfolgenden Schüssen zu treffen, noch viel weniger Mesty-Woolahs Herz. »Gerade richtig, wir sind halb verhungert!« sagte Cecily, als ich mit dem Picknick ankam. Die beiden lagerten im Schatten
der großen Scheune, Cecily wirkte lieblich und verspielt, sie hatte Grashalme im Haar und war so gierig auf das Mittagessen, daß sie die Hälfte des kalten Lamms verspeist hatte, bevor Billy und ich auch nur die Tischdecke ausbreiten konnten. »Wir brennen durch, Mr. Sippy, sind das nicht großartige Neuigkeiten?« sagte sie in ausgesprochen guter Stimmung - es hätte ein Hausmädchen sein können, das ankündigt, daß sie mit einem Nachfahren der Sackvilles oder der Cecils fortlaufen würde. Zu behaupten, Billy sei vernarrt gewesen, wäre eine ungeheuere Untertreibung gewesen: Er blickte Cecily derartig erstaunt an, so ehrfürchtig wie ein Kind, das zum ersten Mal den Vollmond sieht. »Geht's heute los?« begehrte ich zu wissen. Das wäre ratsam gewesen. Auf der Prärie reisen Neuigkeiten schnell; lange würde es nicht dauern, bis Isinglass in Texas davon Wind bekam, daß Mesty-Woolah nicht mehr lebte. »Gute Güte - wir brauchen doch nicht wie die Diener zu fliehen«, sagte Cecily. »Billy hat noch einige lästige Aufgaben zu erledigen, und ich würde gern mein Werk über die Disteln und Kletten komplettieren - dies ist die perfekte Jahreszeit dafür. Ich nehme an, wir werden uns in ungefähr einem Monat auf die Reise machen.« »Hoffentlich dauert es nicht länger«, sagte Billy. »Ich kann es jetzt schon kaum noch aushallen.« Neben einer blühenden Schönheit wie Cecily Snow wirkt jeder Mann wie ein blasser Organismus, aber wenige verschwanden so vollständig wie Billy, als er an jenem Nachmittag bei ihr saß. Er erinnerte mich an einen jener fast völlig durchsichtigen Fische, die Cecily mir im Aquarium ihres Vaters gezeigt hatte: Ein Umriß zwar sichtbar, aber der Fisch, wie man ihn sich gewöhnlich vorstellt, mit Eingeweiden und Flossen und Schuppen, schien nicht da zu sein. Ebensowenig Billy an jenem Tag. Er war der Junge, den Cecily Snow sich auserwählt hatte, um ihr weibliches Licht daraufzuwerfen, und in diesem Fall war das Licht so stark, daß der Junge fast völlig verschwand. Er sagte wenig und ließ seine
Augen keinen Moment von Cecily, außer, wenn diese ihm einen direkten Blick zuwarf, worauf er eilig einen Grashalm fand, den er betrachten konnte. Derartig groß war Cecilys Appetit, daß Billy und ich uns glücklich schätzen konnten, ein paar Bissen von dem Lamm, jeder ein Bisquit und einige Schluck Tee abzubekommen. »Ich nehme den Picknickkorb mit zurück. Sie gehen mit Billy - und wenn Sie nicht perfekt auf ihn achtgeben, werde ich sehr böse mit Ihnen sein, Ben!« sagte sie streng zu mir, nachdem wir die Überreste eingepackt hatten. Ich war auf einer alten Mähre hinausgeritten, die mir einer der Cowboys überlassen hatte, doch als ich eintraf, bemerkte ich, daß eines von Isinglass besseren Pferden für Billy gesattelt bereit stand - sein Schrotgewehr steckte im Futteral am Sattel. Sie mußten das Pferd ausgesucht haben, während die Cowboys im Turm die Leiche Mesty-Woolahs untersuchten. Als es Zeit zum Abschiednehmen war, stand Cecily keine fünf Fuß von mir entfernt und gab Billy einen derartig leidenschaftlichen Kuß, als handele es sich um Lord Byron - es machte ihn zutiefst verlegen und ließ mich ausgesprochen unbehaglich zumute werden -, bevor sie ihren Vollblüter bestieg. Ich wurde selbstverständlich wieder mit Rosy vereinigt, deren Verhalten so unbestimmt wie eh und je war. »Wir treffen uns hier in einem Monat wieder, nun vergiß mich nicht, Billy«, sagte sie, während sie davonritt. »Ich werde dich nicht vergessen, Snow«, versprach Billy ihr. »Snow?« fragte ich, sobald sich die Frau außer Hörweite befand. »Sie wollte, daß ich sie so nenne - es ist so etwas wie ein Kosename«, sagte Billy.
V LASST MICH FALLEN
1. Wir waren kaum eine Weile geritten, als Billy begann, wieder er selbst zu werden. Cecilys scharfes Licht verblaßte, und der Junge, der nur wie eine Kontur gewirkt hatte, wurde wieder zu Fleisch und Blut. »Billy, sind wir auf dem Weg zu irgendeinem bestimmten Ort?« fragte ich. Wir ritten nach Nord-Westen. »Bloß zum Nordpol«, sagte er und lachte sein vertrautes, kindliches Lachen. »Oh, weiter nicht?« sagte ich scherzhaft. »Ich werde die Welpen von Isinglass umlegen«, sagte er einen Augenblick später. »Snow hat mir erzählt, wo ich sie finden kann.« »Billy, sie haben mit Joes Tod nichts zu tun gehabt«, sagte ich, in der - irrtümlichen - Annahme, er sei entschlossen, einen gräßlichen Akt der Rache für den Mord an Joe Lovelady zu unternehmen. Er sah mich an, als habe ich vollkommen den Verstand verloren. »Wer hat irgendwas von Joe gesagt?« fragte er. »Aber wenn es nicht um Rache geht, weshalb sie dann umbringen?« fragte ich. »Nach dem, was ich gehört habe, leben sie elendig genug.« »Vielleicht sterben sie dann ja gern«, sagte er und wandte mir ein steinernes Gesicht zu. Ich hielt den Mund, und viele Meilen ritten wir, ohne ein Wort zu wechseln. Natürlich, Billy wurde immer mürrisch beim kleinsten Anzeichen, daß irgend etwas derartig Unpraktisches wie Moral auf etwas, was er tat oder tun wollte, angewandt werden sollte - dies galt besonders für das Töten. Damals schockierte mich allerdings nicht so sehr die Tatsache, daß er es in Erwägung zog, Isinglass halbenglische Kinder umzubringen: Es war die Erkenntnis, daß er dabei nicht an seinen toten Freund dachte. Den Rachegedanken konnte ich nachvollziehen - er gehörte zu den Eigenheiten des Landes, vielleicht zu denen der Rasse.
Doch Billy vergoß keine Tränen für Joe Lovelady, möglicherweise den treuesten Freund, den er je hatte. Die von ihm geplanten Morde hatten ein anderes Motiv, und in jener Nacht fand ich heraus, welches das war. Wir saßen um ein Lagerfeuer und verspeisten drei oder vier Bisquits, die Cecily uns großzügigerweise als Reiseproviant überlassen hatte. Billy brachte es nie fertig, lange in einer Laune zu verweilen er schien einen seiner gräßlichen Kopfschmerzanfälle zu haben, und er wirkte einfach nur verlassen und deprimiert. »Wenn Snow nur hätte mitkommen können«, sagte er. »Ein ganzer Monat ist viel Zeit. Sie könnte mich völlig vergessen in einem ganzen Monat.« »Zweifelhaft«, sagte ich. »Wenn es je eine fest entschlossene Frau gegeben hat, dann sie.« »Ich habe Kopfweh«, gab er zu. »Hast du noch welche von diesen Pillen?« Ich hatte ein paar, aus dem gutausgestatteten Medizinschrank in Winds' Hill stibitzt. »Es fühlt sich an, wie wenn eine riesige Hand versucht, mir mein Gehirn aus den Ohren zu quetschen«, sagte er, als ich ihm die Tabletten überreichte. »Meinst du, daß der Teufel dahintersteckt?« »Ich glaube nicht an den Teufel, Billy«, sagte ich. »Die Tulip aber«, sagte er. »Oh, lebt die Tulip?« fragte ich. »Klar lebt sie«, sagte er. »Genauso wie Dezzy. Sie sind immer noch in Greasy Corners.« »Wie geht's Katie Garza?« erkundigte ich mich. »So gut wie immer«, sagte er eilig, in einem Ton der andeutete, daß das Thema damit abgeschlossen sei. »Sie wird ein wenig eifersüchtig sein, wenn du durchbrennst, nehme ich an«, bemerkte ich, seinen Ton ignorierend. »An deiner Stelle würde ich schnell und weit weg reiten.« Mehrere Minuten gab Billy keine Antwort. Dann sagte er etwas Eigenartiges - noch heute erinnere ich mich an den traurigen Ausdruck in seinen Augen, als er es sagte. »Mein Ruf wird zu groß, Sippy«, sagte er. »Manchmal wünsche ich mir, sie würden mich einfach fallenlassen.«
2. Ein wenig später, als die Tabletten wirkten und seine Kopfschmerzen nachließen, besserte sich seine Stimmung beträchtlich, und er enthüllte den wahren Grund für unsere Expedition. »Snow sagt, ich muß diese kleinen glubschäugigen Welpen jetzt sofort umlegen«, sagte er. »Aber weshalb, Billy?« fragte ich. »Es sind ihre eigenen Halbbrüder.« »Sie sagte, sie hassen sie, weil sie schön ist«, sagte er. »Sie sagt, wenn Old Whiskey stirbt, packen sie sie und bringen sie um.« »Oh, ich bezweifele, daß sie Cecily packen werden«, sagte ich. »Meiner Meinung nach wird sie nur gepackt, wenn sie gepackt werden will.« »Sie hat gesagt, du würdest eifersüchtig sein«, bemerkte Billy ohne Boshaftigkeit. »Aber es ist eine Verschwörung im Gange. Deshalb hat sie den riesigen Nigger umgebracht. Er hätte es für die anderen erledigen sollen.« »Cecily hat zu viele billige Groschenhefte gelesen«, sagte ich. »Und selbst wenn, Mesty-Woolah ist tot und Cecily völlig sicher. Wer sollte es wagen, sie umzubringen?« »Tully oder irgend jemand«, sagte er. »Irgendein Revolvermann.« »Billy, das ist Unsinn«, sagte ich. »Niemand plant, Lady Snow umzubringen.« »Wenn Snow es sagt, dann stimmt's, und du solltest sie nicht eine Lügnerin nennen, nur weil du eifersüchtig bist«, sagte er. Er sah mich kalt an. »Billy, würdest du mich umbringen?« fragte ich. »Meinst du, du hast das Recht, jeden zu töten, sogar einen Freund? Ich bin dein Freund, mußt du wissen.« Er sah mich wieder an und brachte schließlich ein verlegenes Grinsen zustande.
»Schätze, du bist mein Freund«, sagte er. »Es ist nur, daß ich mir manchmal wünsche, du würdest nich' so viel reden.« 3. Am nächsten Morgen kreuzten wir den North Candian, zu dieser Jahreszeit nur ein trockener Riß in den Plains, der nur in der Mitte etwas schlammigen Boden aufwies. »Ist das nicht noch einer von diesen Flüssen, die du nicht überqueren solltest?« fragte ich in der Hoffnung, ihn von seiner Mission abzuhalten. Billys Stimmung hatte sich zur Höchstform gesteigert. Aufsässig spuckte er in den Schlamm. »Yep, nun muß ich aufpassen, daß dieser Klepper nicht auf mich drauf fällt«, sagte er. »Wie's die Tulip gesagt hat.« Es war ein wunderschöner luftiger Morgen, getrübt lediglich durch Rosys Verhalten. Sie wollte nicht damit aufhören, ihren Kopf herumzudrehen und an meinen Zehen zu nibbeln. Ein Nibbler hätte beinahe ein paar von ihnen entfernt, was mich derartig verärgerte, daß ich sie ein paarmal mit meiner Satteltasche schlug. »Du hättest ein Pferd stehlen sollen«, sagte Billy. »Dann müßtest du dich nicht mit so einem häßlichen Maultier herumplagen.« »Ich glaube nicht, daß ich Mr. Isinglass noch zusätzliche Gründe liefern möchte, mich aufzuhängen«, sagte ich. »Ich hoffe, wir laufen dem alten Wiederkäuer über den Weg«, sagte Billy. »Er ist auch einer von denen, die Lady Snows Meinung nach umgelegt gehören.« »Ich bezweifele nicht, daß sie so denkt«, sagte ich. »Wenn du Isinglass und ihre Halbbrüder umbringst, ist sie so ungefähr die reichste Frau der Welt. Die ganze Whiskey-Glass-Ranch würde ihr gehören.« Ich sagte dies beiläufig, ohne die Angelegenheit sonderlich zu betonen. Natürlich war mir klar, weshalb Cecily wollte, daß ihre Halbbrüder eliminiert wurden. Glubschaugen oder nicht, sie waren Isinglass Söhne und würden einen Teil der Ranch erben.
Und Isinglass war fünfundachtzig. Wären er und seine Jungen tot, würde Cecily eine Erbin vom Range der Vanderbilts oder der Astors werden. Ich erwartete von Billy nicht wirklich, daß er dies in Betracht zog oder auch nur zur Kenntnis nahm, und selbstverständlich tat er es auch nicht. »Sie hat schon 'nen Haufen Häuser drüben in England«, sagte er. »Schätze, sie ist schon ziemlich reich. Sie sagte, vielleicht nimmt sie mich mit nach Indien und kauft mir einen Elefanten. Was glaubst du, denken die Scheißärsche in Tularosa, wenn ich auf einem Elefanten angeritten komme?« »Ich denke, die meisten würden sofort die Stadt verlassen«, sagte ich. Billys Stimmung stieg weiterhin, während wir über die Prärie hoppelten; und im gleichen Maße, wie die seine stieg, sank die meinige. Ich wußte nicht, was ich tun sollte - ich wollte nicht einfach widerspruchslos an einer tödlichen Mission teilnehmen. Nach Cecilys Angaben waren ihre Brüder hilflose Schwachköpfe. Ich wollte nicht, daß Billy vier Schwachköpfe erschoß. Ein oder zwei Stunden lang überlegte ich, einfach rechts abzubiegen, wenn Billy nach links abbog. Kansas war nicht weit. Womöglich konnte ich einen Planwagenzug erwischen, und es zu irgendeiner Siedlung schaffen, bevor ich den Hungertod erlitt. Doch die Stunden vergingen und die Meilen glitten vorüber, und immer noch ritt ich neben ihm her. Die Ebene war riesig und leer, und diesmal hatten wir keinen Joe Lovelady, um uns zu führen. Billy war kein Mann der Plains und ich auch nicht - es bestand durchaus die Möglichkeit, daß wir die Jungs völlig verpassen und in Denver oder sonst irgendwo landen würden. Billy Bone war ungeduldig und nicht von sonderlichem Durchhaltevermögen - wenn wir die Hütten beim ersten Durchritt verpassen sollten, wäre er durchaus in der Lage, einfach aufzugeben. Außerdem bestand die Möglichkeit, daß ich die Hütten zuerst sehen und ihn vorbeilenken konnte. Dies schien der wahrscheinlichste Weg, die Morde zu vereiteln.
In jener Nacht campten wir am Cimarron River, diesmal ohne Bisquits. Den ganzen Tag über hatten wir nicht einmal ein Kaninchen zu Gesicht bekommen - lediglich ein paar Falken und Bussarde, die hoch in die Lüfte stiegen. Beide waren wir sehr hungrig. »Laß uns den Rest von den Pillen essen«, sagte Billy. »Ich weiß nicht, ob das ratsam ist«, sagte ich. »Ein paar von diesen Pillen sind schon über zwanzig Jahre im Medizinschrank von Cecilys Vater. Die Pillen sind ziemlich alt.« »Ich esse lieber eine alte Pille als gar nichts«, sagte Billy. Ich gab ihm eine Handvoll, und er mampfte sie langsam auf, immer unglücklicher aussehend. »In Zeiten wie diesen vermisse ich Joe«, sagte er. »Du bist auch nicht besser als ich, wenn es darum geht, Futter zu beschaffen, Sippy.« Ich selbst beschloß, mich von den Pillen fernzuhalten, aber nach ungefähr einer Stunde vergaß ich meinen Beschluß und schüttete mir eine Handvoll. Zum zweiten Mal während unserer gemeinsamen Reisen nahm ich mit Billy ein gemeinsames Pillenmahl ein. 4. In jener Nacht hörte ich ein merkwürdiges Geräusch, ausdauernd genug, um mich aufzuwecken. Ich stützte mich auf einen Ellbogen, um zu sehen, was es war. Ein starker Nieselregen fiel. Das Lagerfeuer war am Verlöschen, und Billy Bone saß daneben, schluchzend wie ein geschlagenes Kind. »Was gibt's, Billy?« fragte ich. »Ich hasse es, wenn es regnet«, sagte er. »Bald fängt's auch noch an zu blitzen, und ich werde den Höllenhund dort draußen sehen.« »Das ist nur ein Schauer«, sagte ich. »Das ist kein richtiges Gewitter.« Er blickte mich unglücklich an. »Niemand mag jemanden wie mich, Sippy«, sagte er. »Ich bin ganz einfach allein. Ich war immer allein. Es gibt keinen
Platz, wo ich hingehöre. Ich wünschte, sie würden mich ganz einfach fallenlassen. Joe ist gefallen, und ich wette, er ruht in Frieden.« »Joe hat dich gemocht«, erinnerte ich ihn. »Katie mag dich. Ich mag dich.« »Ich glaube, sie mochte Joe lieber«, sagte Billy nach einer Minute. »Nein, Katie liebt dich«, sagte ich. »Ich weiß, daß sie Joe gerngehabt hat, aber lieben tut sie dich.« »Das spielt überhaupt keine Rolle, ich bin immer noch allein«, sagte Billy hoffnungslos. »Wie steht's mit Cecily Snow?« fragte ich. Wenn Billys Lebensgeister ein bestimmtes Tief erreicht hatten, versuchte man alles Mögliche, um seine Stimmung wenigstens etwas anzuheben. »Ach, Snow hat mich jetzt wahrscheinlich schon völlig vergessen«, sagte er und bewegte sich ein wenig näher an das Feuer heran. Er zog seinen Revolver und überreichte ihn mir. »Schieß auf den Höllenhund, wenn du ihn sehen solltest«, sagte er. »Du bist ein besserer Revolverschütze als ich.« Er zog sein Schrotgewehr aus dem Futteral und spannte die beiden Hähne, dann legte er sich nieder und rollte sich in seine Decke, das Schrotgewehr eng an sich gepreßt. »Billy, schlaf nicht mit den gespannten Hähnen ein«, sagte ich. »Du könntest im Schlaf zusammenzucken oder so und dich selbst erschießen.« Er gab keine Antwort. Ich blieb so lange wach wie möglich, in der Hoffnung, er würde fest einschlafen, damit ich die Hähne seines Schrotgewehr lösen konnte. Doch er schlief nicht. Nach einer Weile legte er das Schrotgewehr an die Seite und machte sich daran, die Mundharmonika zu spielen, die Cecily ihm geschenkt hatte. Er machte nicht wirklich Musik, aber er konnte Klänge hervorlocken, und das tat er immer noch - sanfte, zaghafte Klänge -, als ich einschlief.
5. Am nächsten Morgen verhüllten Dunst und Nieselregen die großen Plains. Billy schlief wie gewöhnlich lange, während ich auf das schlammige Rinnsal starrte, das im Spätsommer den Cimarron bildete. Ich fragte mich, ob sich irgendwelche Fische darin befänden, und wenn dem so war, ob ich einen von ihnen mit dem einzigen mir zur Verfügung stehenden Netz, meinen Hut, würde fangen können. »Alles, was dabei für dich rausspringt, ist ein nasser Hut«, sagte Billy, als ich ihn über meine Spekulationen in Kenntnis setzte. »Ich dachte, ich hätte Schafe gehört«, fügte er hinzu. »Das war mein knurrender Magen«, sagte ich. Ich fühlte mich äußerst hungrig und niedergeschlagen. »Nein, es waren Schafe«, sagte Billy. „Leg' das Feuer nach, ich werde eins töten." Er blieb den ganzen Tag fort, und bis zum Abend hatte ich jeden Stock im Umkreis von fünf Meilen verfeuert. Ich hatte ebenfalls versucht, einen Fisch mit meinem Hut zu fangen, und war ohne Fisch, aber mit nassem Hut, wie Billy es vorausgesagt hatte, zurückgeblieben. In jener Nacht kam es mir in den Sinn, daß Billy einen Unfall gehabt haben mußte. Möglicherweise war die Vorhersage La Tulipes eingetreten - vielleicht war das Pferd auf ihn gefallen. Ich war nervös und fühlte mich schuldig, weil ich einen ganzen Tag hatte verstreichen lassen, ohne diese Möglichkeit mit einzubeziehen. Im Norden wurde die Mesa de Maya bereits dunkel, und mir war klar, daß keine Chance bestand, ihn vor dem nächsten Morgen zu finden. Ich aß die letzten Pillen und verbrachte die Nacht damit, mir Sorgen zu machen und zu rülpsen. Am nächsten Morgen machte ich mich Richtung Norden über den weiten, nebligen Tafelberg auf, mich fragend, wie ich Billy jemals finden sollte. Wenn es ans Spurensuchen ging, war ich ein hoffnungsloser Fall - einer Straßenbahn hätte ich vielleicht folgen können, alles andere jedoch wäre mir ohne Schwierigkeiten entkommen. Falls ich es fertigbringen sollte,
geradeaus zu reiten, würde ich möglicherweise am HöllenfeuerFluß ankommen, einem Strom, an dessen Existenz ich nur vage glaubte. Mir klang er zu sehr nach Dante, obwohl ich zugeben muß, daß ich nicht sehr weit in dem Buch des großartigen Mannes gekommen bin. Falls Billy gestürzt, verletzt oder tot sein sollte, wäre es reiner Zufall, wenn ich ihn fände. Die Wolken schienen tiefer und tiefer zu sinken, wegen des Nebels konnte man kaum eine Viertelmeile weit sehen. Den ganzen Tag über matschte ich über die Mesa de Maya, ziemlich entmutigt, aber ruhig und eher abwesend. Von Zeit zu Zeit sagte ich ein paar Worte zu Rosy, die sich selbst nicht gerade in überschwenglicher Laune befand. Irgendein Idiot hatte mir einmal erzählt, daß das Rezitieren von einigen Versen in Zeiten der Verzweiflung einen aufheiternden Effekt haben sollte. Ich entschied, dies zu probieren, und stellte fest, daß mein mattes Hirn einen Sprung hatte, der es den gesamten Poesiebänden, die dort einmal gelagert waren, erlaubt hatte, herauszusickern. Ich, der ich treulich meinen Tennyson und meinen Browning gelesen hatte, der einstmals Vers für Vers Lalla Rookh oder Mrs. Hemans zitieren konnte, schien nur noch über einen einzigen poetischen Vers zu verfügen, und dieser stammte aus der melancholischen Ballade, welche Cecily Snow für Billy gespielt hatte: / was taken sick, so very sick, Death on my brow was dwelling And none the better will ever be Till I get Barbara Allen... Hierbei handelte es sich um einen Vers, der schwerlich dazu geeignet war, einen verhungernden Reisenden aufzuheitern, der sich an einem regnerischen Tag auf der Mesa de Maya, einzig in der Begleitung eines unhöflichen Maultieres, verirrt hatte. Der Tag schien mindestens eine ganze Woche zu dauern; ich schätze, ich muß in meinem Sattel für einige Augenblicke eingenickt sein, als mein feuchter Nachmittagsschlaf von Rosy rüde unterbrochen wurde, die unvermittelt losraste und mich
fast aus dem Sattel warf. Ich verlor die Steigbügel, aber irgendwie schaffte ich es, den Sattelknauf zu greifen und mich daran festzuhalten. Wir schienen durch irgendwelche am Boden hängenden Wolken zu rasen, die sich, nachdem ich einmal den Schlaf aus den Augen hatte, als eine Herde Schafe herausstellten. Dann vernahm ich lautes Bellen und bemerkte, daß Rosy rannte, weil wir von zwei Hunden, die die Größe von einjährigen Büffeln hatten, verfolgt wurden. Tatsächlich sahen sie so zottelig wie Büffel aus - Rosy übersprang eine ganze Gruppe von Schafen bei dem Versuch, ihnen zu entkommen. »Ruf' die Hunde zurück, es ist Sippy«, hörte ich Billy schreien; dann wie jemand ein Kommando in Spanisch brüllte, das ich in der Hitze der Verfolgungsjagd nicht zu übersetzen versuchte. Glücklicherweise zeitigte das Kommando Wirkung. Augenblicklich beendeten die Hunde ihre Jagd auf uns. Rosy lief noch völlig panisch ein paar Minuten im Kreis - ich glaube nicht, daß sie den Rückzug der Hunde bemerkt hatte. Die Schafe taten ihr Bestes, uns aus dem Weg zu gehen, und ich mein Bestes, nicht herunterzufallen. Als sie schließlich erschöpft war, befanden wir uns am Ufer eines nebligen Flusses. Das Nieseln hatte während unserer Jagd nachgelassen; der Nebel hob sich so weit, daß ich eine niedrige Hütte am südlichen Flußufer ausmachen konnte. Ich ritt darauf zu, Rosy fest am Zügel, denn sie war sich wohl bewußt, daß die Hunde sich immer noch in der Umgebung aufhielten. Noch bevor ich an der Hütte ankam, roch ich gebratenes Lamm, und in meinem Mund begann das Wasser zusammenzulaufen. Vor der Hütte stand Billy. Ein Lamm auf einem Spieß wurde von einem winzig kleinen alten Mann, der den Umhang eines andalusischen Bauern trug, gedreht. »Ich hätte wissen müssen, daß du den ganzen Tag brauchen würdest, um hierher zu kommen«, sagte Billy. 6. Ich war derartig hungrig, daß ich praktisch das ganze Lamm verzehrte, während der alte Estevan - der wirklich ein
andalusischer Bauer war - mir stoisch zusah. Billy Bone, der sich mit ein oder zwei Rippen von meinem Lamm begnügte, hatte früher am Tag selbst ein ganzes verspeist. »Zwei tote Lämmer und zwei tote Menschen am gleichen Tag«, sagte Estevan in perfektem Englisch. »Wenn Sie oft zu Besuch kommen, Senor Billy, dann sind bald keine Schafe und keine Leute mehr übrig.« »Du wirst übrigbleiben, Estevan«, sagte Billy. »So dumm bin ich nicht, daß ich einen guten Koch erschießen würde.« Estevan hatte schneeweißes Haar und ausgesprochen leuchtende, schwarze Augen. Er war kleiner als seine beiden Hunde, zwei Exemplare einer gigantischen Schäferhundrasse, die mir unbekannt war. »Sie kommen von jenseits der Berge«, sagte Estevan, als ich mich nach den Hunden erkundigte. Ich schätze, er meinte die Pyrenäen. Ich war mir ziemlich sicher, daß solche Hunde nicht auf der anderen Seite der Rockies gezüchtet wurden, die im Westen zu sehen waren, nachdem der Regen einmal aufgehört hatte. Billys entspannte Art, mein Hunger und Estevans exzellentes Lamm hatten mich für eine Weile von der tödlichen Mission Billys abgelenkt. »Ich sehe keine toten Menschen«, bemerkte ich. »Sie liegen in der Hütte«, sagte Billy. »Sie waren meine Kleinen«, sagte Estevan. »Als Senora Snow sie zu mir brachte, waren sie nicht größer als meine Schafe. Obwohl sie nie in ihrem Leben ein Wort gesprochen haben, konnte ich sie verstehen.« »Was meinst du damit, nie ein Wort gesprochen?« fragte ich. Cecily hatte mir nie erzählt, daß sie stumm waren. »Nein, Senor«, sagte Estevan. »Sie lebten in Schweigen, aber sie hatten eine gute Hand mit den Schafen. Ich weiß nicht, weshalb Senor Billy sie erschossen hat, aber ich habe auch mein ganzes Leben mit diesen Schafen verbracht. Vieles, was Menschen tun, verwirrt mich.« Ich fragte nicht nach Einzelheiten, doch zündete Estevan später eine Kerze an und drängte mich dazu, die Hütte zu betreten.
»Kommen Sie, betrachten Sie meine Kleinen«, sagte er. »Vielleicht sprechen sie gerade mit den Engeln. Vielleicht war es Vorsehung, daß sie nur im Himmel sprechen sollten.« In der Hütte befanden sich drei schmale Pritschen, zwei davon enthielten Leichen. Die Toten trugen die gleichen rauh gewebten Umhänge wie Estevan. Er hatte eine Art Käseleinen über ihre Gesichter gelegt, zog es aber zurück, um mir die >Kleinen< zu zeigen. Keiner der Jungen war so alt wie Billy; ihre Kinnpartien waren unterentwickelt und die Augen ein wenig glubschig, doch waren sie keinesfalls die Schreckensgestalten, die Cecily beschrieben hatte. Ich legte das Käseleinen zurück über ihre Gesichter. »Wie hat er sie getötet?« fragte ich, verwundert ob der Ironie, daß zwei Söhne des mächtigsten Viehbarons im Westen als Schafshirten gekleidet in einer einsamen Hütte am HöllenfeuerFluß gestorben waren. »Senor Bill?« sagte Estevan. »Er hat sie einfach am Lagerfeuer erschossen, nachdem die Hunde aufhörten zu bellen. Niemand hat ihn irgend etwas gefragt. Ich dachte, er würde auch mich erschießen, aber er hat nur meine Kleinen umgebracht.« »Ich denke, daß war eine mächtig üble Tat, Estevan«, sagte ich. Der alte Mann sah traurig auf die mit Leichentüchern bedeckten Körper der Jungen, um die er sich solange gekümmert hatte. »Das denke ich auch, Senor«, sagte er. »Mir schien es nicht gerecht. Den ganzen Tag habe ich geweint. Doch ich glaube, irgend jemand wird Senor Billy bald umbringen - er wird nicht lange leben. Und wenn meine Kleinen ihre ersten Worte zu den Engeln im Himmel sprechen, dann ist es nicht allzu traurig. Hier unten auf der Erde sind sie nie zum Sprechen gekommen.« 7.
Am darauffolgenden Morgen schien die Sonne wieder hell und heiß. Die einzigen Wolken am Himmel hingen über den Berggipfeln weit im Westen. Estevan war vor mir aufgestanden und damit beschäftigt, die Gräber zu schaufeln. »Gestern wollte ich sie nicht beerdigen«, sagte er. »Wenn ich jemanden begraben muß, ziehe ich einen schönen, warmen Tag vor. Dieser Sonnenschein tut gut, und nach einer Weile ist es unten in der Erde warm. Die Kleinen werden ein schönes, trockenes Grab haben.« Als Billy endlich aufstand, war er ausgezeichneter Stimmung. Er half sogar beim Schaufeln der Gräber. Ein schlechtes Gewissen hatte nie zu den Problemen Billys gehört; oft hatte ich mich gefragt, wie ein derartig liebenswerter Junge so gewissenlos wie ein Stein sein konnte. Allerdings habe ich nie mit einer respektablen Erklärung diesbezüglich aufwarten können. Im Allgemeinen tendierte Billy dazu, sich Gedanken zu machen, wenn es ihm miserabel ging, und dann konzentrierten sich all seine Gedanken auf sein eigenes Elend. Gelegentlich mochte er einen Gedanken an Katie oder Cecily verschwenden, vielleicht mochte er manchmal auch ein paar für Joe Lovelady aufgehoben haben; doch verbrachte Billy ganz gewiß nicht viele Stunden seines Lebens mit Gedanken an seine Mitmenschen. Die Vorstellung, daß sie ein gewisses Anrecht auf Leben hatten, ist ihm vermutlich nie in den Sinn gekommen, und falls doch, erschien es ihm vermutlich ulkig. Kurz gesagt, Leute umzubringen, machte ihm nicht das mindeste aus. Es erregte ihn nicht, wie manche Mörder, doch ich glaube auch nicht, daß irgendeiner seiner Morde ihm nur einen Augenblick lang Depressionen verursacht hat. Sobald wir Estevans Kleine beerdigt und den warmen Dreck über sie geschaufelt hatten, sattelte Billy sein Pferd und bereitete sich auf den langen Ritt zum Rio Animas vor, wo die beiden anderen Kinder von Will Isinglass und der ersten Lady Snow mit Estevans Bruder lebten. Sie hüteten ebenfalls Schafe und waren ebenfalls stumm. »Du beeilst dich lieber und sattelst dein Maultier, oder du bleibst wieder zurück, Sippy«, sagte Billy. Estevan hatte eine
ansehnliche Menge getrockneten Lammfleischs auf einer Leine hinter seiner Hütte hängen, und Billy war dabei, sich die Satteltaschen damit vollzustopfen. »Ich glaube, ich werde nicht mitkommen, Billy«, sagte ich. Er schien überrascht, aber nach einem Augenblick fuhr er fort, sein Trockenfleisch einzupacken. »Nun, dies ist ein freies Land«, sagte er. »Was hast du vor, Estevan dabei zu helfen, diese verdammten, wolligen Schafe zu hüten?« »Das hoffe ich, Senor Billy, Sie haben meine Helfer umgebracht«, erklärte Estevan pragmatisch. »Ich habe eigentlich keine richtigen Pläne«, sagte ich. »Ich will nur nicht dabei sein, wenn du die Morde für Cecily Snow erledigst. Diese Jungs tun nichts weiter, als Schafe zu hüten. Wie um alles in der Welt können sie überhaupt eine Bedrohung für Cecily darstellen?« »Bloß weil du ein Yankee bist, weißt du noch längst nicht alles, Sippy«, sagte er. Er wischte meine Frage ganz einfach zur Seite. »Du glaubst nämlich selbst nicht daran, daß sie eine Bedrohung darstellen«, sagte ich. Er schwang sich auf sein Pferd, immer noch vollkommen liebenswürdig. »Dammich, du streitest mit einem Pfosten, Sippy«, sagte er. »Du weißt, daß ich meine Meinung jetzt nicht mehr ändern werde. Ich ändere fast nie meine Meinung.« »Diesmal solltest du es versuchen, Billy«, sagte ich. »Andernfalls wirst du weit reiten, nur um ein schmutziges Verbrechen zu begehen.« Einen Augenblick sah er mich fragend an - die Erwähnung eines schmutzigen Verbrechens schien ihn zumindest zögern zu lassen. »Billy, bitte, laß dich nicht auf so einen schmutzigen Job ein«, sagte ich. Billy Bone grinste bloß. »Hebt mir ein oder zwei von diesen leckeren Schafen auf, für den Fall, daß ich auf meiner Rückkehr hier vorbeikommen sollte«, sagte er, bevor er nach Westen davonritt.
8. »Ich habe immer noch mein Maultier«, sagte ich zu Estevan. »Vielleicht könnte ich vor ihm am Rio Animas sein und deinen Bruder und die Jungen warnen.« Estevan sah skeptisch drein - er fiel rapide in eine fatalistische Stimmung. »Sie haben nicht einmal eine Waffe, Senor Ben«, sagte er. »Ich meine nicht, daß Sie gehen sollten. Bald wird irgend jemand anders Senor Billy erschießen. Sie brauchen sich diese Mühe nicht zu machen.“ »Aber diese Mühe könnte die beiden anderen Jungen retten«, führte ich aus. Estevan allerdings wurde von seiner eigenen Vision der armen, stummen Jungen, die miteinander im Himmel plapperten, davongetragen. »Nun können sie sich endlich miteinander unterhalten«, sagte er. »Es tut gut, daran zu denken.« Ich sattelte Rosy und ließ ihn daran denkend zurück, obwohl es mich traurig stimmte, diesen alten Mann zu verlassen, der kleiner war als seine riesigen Hunde und nun keine >Kleinen< mehr hatte, um die er sich kümmern konnte. Er bot mir an, ein weiteres Lamm zu opfern, wenn ich bleiben würde - er selbst lebte größtenteils von Trockenfleisch -, doch hegte ich zu jenem Zeitpunkt die ritterliche Vorstellung, Billy Bone den Weg abzuschneiden, und machte mich in großen Sprüngen nach Westen auf. Als ich am gleichen Abend die Stadt Trinidad erreichte, hatte sich meine Ritterlichkeit größtenteils gelegt. Die Entdeckung, daß es dort tatsächlich ein Hotel gab, das heiße Bäder hatte, sorgte für den Rest. Ich blieb länger als eine Woche im Hotel, zwischen häufigen Bädern mit meinem Gewissen ringend. Außerdem gewann ich ein bestimmtes Maß literarischer Inspiration zurück und riß einen Zweigroschenroman mit dem Titel Die Stummen der Mesa; oder, Des Schafhirten Reue
herunter - mit Sicherheit das Beste, was ich seit Des Butlers Leid geschrieben hatte. Bei meinen Ausflügen durch die Stadt stellte ich ein paar Erkundigungen über die beste Route zum Rio Animas an. Billy war ein unberechenbarer Reisender; es lag durchaus im Bereich des Möglichen, daß ich eine Woche vertrödeln und ihn immer noch einholen konnte, jedenfalls redete ich mir das ein. Doch die Maultiertreiber und Händler, die ich befragte, sahen mich nur entsetzt an, und zogen langsam einen Finger über ihre Stirn - eine Geste, die andeuten sollte, daß ich damit rechnen konnte, meinen Skalp zu verlieren, wenn ich darauf bestand, in besagte Richtung zu reisen. »Du könntest auf Bloody Feathers treffen«, sagte einer der Maultiertreiber. »Ich bin schon auf ihn getroffen«, sagte ich. »Er schien gar nicht so feindselig.« »Nun, seine Freunde sind rauhe Burschen«, sagte der Mann und machte deutlich, daß er meine Einschätzung für blauäugig hielt. Ich stattete mich wieder mit einem kompletten Waffenarsenal aus - Revolver, Gewehre, Derringer -, doch die Aussicht, Billy einzuholen, schien immer absurder zu werden; und schließlich, in moralischer Paralyse versunken, schloß ich mich einem kleinen Wagenzug nach Santa Fee an. 9. Damals rechnete ich nicht damit, Billy Bone je wiederzusehen - es schien wahrscheinlich, daß sich unsere Schicksale für immer voneinander getrennt hatten. Und trotzdem traf ich ihn kaum eine Woche später am Rio de la Vacas, am gleichen Tag, als er den Apachenjungen umbrachte, der umstrittenste und unerklärlichste von all seinen Morden. Die Wagenführer, mit denen ich von Trinidad aus nach Süden reiste, waren rauhe Gesellen, die dazu neigten, laut zu fluchen und in ohrbeißerische und augenausstecherische Kämpfe zu verfallen, sobald sie gezecht hatten. Als wir Taos
Pueblo erreichten, kam ich zu dem Entschluß, daß es sich nur um eine Frage der Zeit handeln konnte, bis meine eigenen Augen und Ohren mit Ausstechen und Abbeißen an die Reihe kämen. Ich blieb einen Tag in Taos, Krankheit vortäuschend, doch in Wirklichkeit wollte ich nur eine bestimmte Distanz zwischen mich und den Wagenzug bringen; ich zog sogar einen Besuch bei Schwester Blandina in der Mission von Glorieta in Erwägung. Doch noch bevor ich mich entscheiden konnte, ritt ein junger Indianer von Westen heran und erzählte, er habe ein fabulöses Tier gesehen: einen weißen Berglöwen. Das Geschöpf war mehrere Male nördlich von Jemez Pueblo gesehen worden. Dies sorgte für soviel Gerede, daß ich dachte, es sei das Beste, selbst einmal in jene Richtung zu reiten und nachzuschauen. Ich hatte angefangen zu überlegen, den Westen zu verlassen ein weißer Berglöwe würde einen bemerkenswerten Abschluß darstellen. Natürlich hätte ich es besser wissen sollen, als solchem Jägerlatein Glauben zu schenken. Als ich Jemez Pueblo erreichte, fand ich ein Dorf mit einzigartig unkommunikativen Menschen vor. Lediglich eine alte Frau war des Englischen mächtig, und sie verneinte jedes Wissen über einen weißen Berglöwen. In der Umgebung sei einmal ein alter weißer Wolf umgegangen, doch sei dies Jahre her, so sagte sie. Ich war außerordentlich enttäuscht. In meinem Hirn hatte bereits ein Buch Formen anzunehmen begonnen, welches Orson Oxx und Sitting Bull als Hauptfiguren haben würde, die beide auf der Jagd nach der sagenhaften weißen Katze waren. Der Weiße Cougar; oder, Tod In Den Rockies wäre ein passender Titel gewesen. Doch die Bevölkerung von Jemez Pueblo verleugnete mürrisch die Existenz einer derartigen Bestie. Ihre Skepsis war die Ursache dafür, daß ich den Glauben daran verlor, nichtsdestotrotz machte ich mich auf den Weg, den Rio de las Vacas hinauf, in der Hoffnung irgend etwas Weißes zu sehen zu bekommen. Sogar ein Wolf hätte mir genügt. Zwei Tage lang ritt ich den Fluß in nördlicher Richtung hinauf und bekam außer ein paar braunen Hirschen und einer dünnen
Antilope, die sich verlaufen zu haben schien, nichts zu sehen. Ein weißer Berglöwe tauchte nicht auf. Ich war mir bewußt, daß ich dem Land der Jicarilla näher und näher kam; ich wußte ebenfalls, daß ich keinen weißen Berglöwen zu sehen bekommen würde; doch war ich nicht in der Lage, mich zur Umkehr zu zwingen. Ich wollte die Existenz der fabulösen weißen Katze herbeizwingen, selbst wenn die Katze mich, im Falle des Gelingens, dafür fressen sollte. Nachts, an den gewaltigen Lagerfeuern, die ich aufrichtete, sah ich den weißen Löwen in meinen Träumen. Am Tag jedoch, wenn ich in das zunehmend karger werdende, vom Wind verwehte Land hineinritt, die dünnen Steinformationen fleckig vor schwarzem Erz, sah ich überhaupt wenig Tiere - obwohl einige der vom Wind geformten Hügel selbst äußerst exotische Formationen bildeten, gotische Prachtbauten mit Türmen und Zinnen, geschnitten vom nicht enden wollenden Wind. Ihre Umrisse während der langandauernden Dämmerung zu betrachten, war so unheimlich wie irgend etwas bei Beckford oder Mrs. Radcliffe. Am dritten Morgen erwachte ich ernüchtert, sogar bei klarem Verstand. Die Jagd nach dem sagenhaften weißen Löwen schien mit einem Mal versponnen. Hielt ich mich für den Ahab unter den Groschenromanschreibern? Ich wußte sehr wohl, daß dem nicht so war, obwohl mir der Gedanke daran, Orson Oxx und Sitting Bull in einem Buch zu vereinen, immer noch gefiel. Während ich darauf wartete, daß der Kaffee zu kochen begann, kritzelte ich ein paar Notizen zu diesen Gedanken nieder, und während ich vor mich hin kritzelte, hörte ich, wie jemand Mundharmonika spielte, und zwar ausgesprochen schlecht. Billy Bone kam über einen Hügelkamm getrabt. Er war so anständig und schaute beschämt drein, als er bemerkte, daß ich Zeuge seines unbeholfenen Musizierens geworden war. Er stopfte die Mundharmonika in seine Hemdtasche und galoppierte auf direktem Weg zum Lagerfeuer, sich offensichtlich in äußerst guter Stimmung befindend. »Billy, du hast auch nicht zufällig irgendwelche weißen Berglöwen gesehen, oder?« fragte ich.
»Keinen einzigen. Ich hoffe, du teilst den Kaffee mit mir«, sagte Billy. Dann, zwei Stunden später, nur ein paar Meilen weiter den Rio de las Vacas hinab, schoß er und tötete den jungen Apachen. 10. Cecily Snow verstand etwas von Pferden. Der Graue, den sie für Billy ausgewählt hatte, war ein prächtiges Tier. Sein Gang war um einiges ausladender und schneller als der von Rosy, deshalb befand ich mich ungefähr fünfzig Yard hinter ihm, als Billy den Apachenjungen erschoß. Ich hörte einen Schuß, konnte aber nichts erkennen, als ich hinsah. Ich nahm an, Billy habe lediglich auf eine Schlange oder etwas Ähnliches geschossen, obwohl er dazu selten seinen Revolver benutzte - denn um mit seinem Revolver eine Schlange zu treffen, würde er den ganzen Tag gebraucht haben. Trotzdem, es gibt Glückstreffer. Ich sah, wie er auf irgend etwas hinabblickte, und war immer noch der Ansicht, es handele sich um eine tote Schlange. Ein großer Zweig von einem Salbeibusch verdeckte, was immer er erschossen haben mochte, bis ich fast bei ihm angekommen war: Da lag ein Junge, der aussah, als sei er höchstens zehn. Er war bereits tot. »Oh, Billy!« sagte ich, von meinem Maultier springend. Ich erkannte sofort, daß es nichts mehr zu tun gab. Billy trug seinen steinernen Ausdruck. Für die Dauer einer Sekunde dachte ich, er würde einfach weitermachen und mich auch noch erschießen. »Er wollte mich anspringen«, sagte er. »Jeder Indianerkämpfer wird dir erzählen, daß die Kinder und die Frauen die gefährlichsten sind.« »Aber er war unbewaffnet«, sagte ich. Ich spürte, wie mir schwach wurde. Möglicherweise schwand mir für wenige Sekunden, auf den Füßen stehend, das Bewußtsein. Als ich
wieder zu Sinnen kam, war Billy bereits weitergeritten. Nichts haßte er mehr als Kritik an seinem Gemorde. Dann sah ich das kleine Apachenmädchen, vielleicht fünfzig Yards entfernt, schweigend auf einer Böschung stehen. Da ich nicht wußte, was ich sonst hätte tun sollen, hob ich den toten jungen auf und trug ihn in ihre Richtung. Das kleine Mädchen verschwand, doch als ich über die Böschung kam, sah ich einen kleinen Hogan, ungefähr weitere hundert Yards westlich. Dorthin brachte ich den toten jungen, und hatte das Gefühl, bald selbst sterben zu müssen. Doch befanden sich bei der Hütte lediglich eine alte Frau und zwei Mädchen. Die alte Frau stimmte ein hohes, dramatisches Geheul an, als ich den Jungen niederlegte. Die Mädchen starrten weiter, schweigend und ohne eine Träne zu vergießen. Männliche Verwandte waren nicht zu sehen. Die alte Frau kniete heulend vor dem Hogan, und die beiden schweigenden Mädchen starrten weiter. »Es tut mir leid, sehr leid«, sagte ich. Ich fühlte mich so schwächlich, daß ich kaum in der Lage war, mich auf den Füßen zu halten. Ich taumelte zurück zu Rosy und ritt so schnell ich konnte nach Süden. Nach ungefähr einer Stunde hatte ich Billy eingeholt, der es nicht sonderlich eilig zu haben schien. »Wenn ich du wäre, würde ich ein bißchen schneller reiten«, sagte ich. »Das hier ist das Land von Bloody Feathers. Wenn er herausbekommt, daß du den Jungen erschossen hast, könnte ihm etwas anderes einfallen, als dich am Ohr hochzuheben.« Dies erschreckte Billy ein wenig - selten dachte er über die Vergangenheit nach, aber eine Sache war ihm nachhaltig im Gedächtnis geblieben: wie Bloody Feathers Vivian Maldonado an seinem Ohr in die Höhe hielt. Er sah sich um, als rechnete er damit, Bloody Feathers direkt hinter uns auftauchen zu sehen. »Meinst du, er ist in der Nähe«, fragte Billy. »Das hier ist sein Land«, sagte ich. »Natürlich ist er hier irgendwo in der Nähe.« Wenigstens hatte er genug Verstand, sich zu fürchten. Die Aufsässigkeit verschwand umgehend aus seinem Gesicht.
»Wir sollten uns besser auf die Suche nach Tully machen«, sagte er. »Der kennt sich im Kampf mit Indianern aus.« »Tully ist in Lincoln«, sagte ich. »Und Lincoln ist sehr weit weg.« »Mit Reden werden wir dort nicht hinkommen«, sagte er, seinem langgliedrigen Pferd die Sporen gebend. 11. Es gibt eine ganze Schule von Schreibern, deren Hauptanliegen darin besteht, die Anzahl der Morde, die Billy begangen hat, herunterzuschrauben, und der an dem Apachenjungen ist der erste, den sie versuchen von der Liste zu streichen. Weshalb? Weil der ihn am kaltblütigsten erscheinen läßt, natürlich. Man kann behaupten, daß er die vier stummen Isinglass-Abkömmlinge tötete, weil Cecily Snow ihn verhext hat - das stimmt vermutlich sogar. Man kann behaupten, daß einige seiner anderen Opfer erschossen wurden, weil er Angst hatte, sie würden früher oder später versuchen ihn zu töten: Das wäre präventive Selbstverteidigung gewesen. In den seltenen Momenten, wo Billy überhaupt an seine Morde dachte, betrachtete er die Angelegenheit vermutlich ebenso. Doch der Indianerjunge war ein schwieriges Problem für die, die Billy als einen mißverstandenen Helden verstanden haben wollen. Keiner der großen alten Helden lief durch die Gegend und erschoß unbewaffnete Zehnjährige. Manche von ihnen gehen so weit zu behaupten, es habe überhaupt kein Indianerjunge existiert, was gleichbedeutend mit einem Angriff gegen mich, den einzigen lebenden Augenzeugen, ist. Und so greifen sie mich an und fummeln mit Landkarten und Zeitplänen herum, um zu beweisen, daß ich nicht gesehen haben konnte, was ich behauptete, gesehen zu haben. Der radikale Bursche aus Roswell wollte mir nicht einmal zugestehen, daß ich mich auf jenem Teil der Reise in der Gesellschaft Billys befand, er behauptet, es gäbe Leute, die mich an jenem Tag in Taos gesehen hätten; seine Theorie
besteht darin, daß ich die Geschichte mit dem Indianerjungen erfand, weil ich eifersüchtig darauf war, daß Tully Roebucks kleines Büchlein über Billy mehr Exemplare verkaufte als meines, und dies ungeachtet der Tatsache, daß Bloody Feathers selbst den Mord in mehr als einem Interview bestätigte. Billy war in dieser Angelegenheit selbstverständlich keine große Hilfe. Er gab drei oder vier verschiedene Geschichten über den Indianerjungen zum besten. Katie Garza berichtete, daß er behauptet hätte, der Indianerjunge habe mit einem Messer nach ihm geworfen und er habe sich lediglich geduckt und aus Reflex geschossen; doch als er in Lincoln im Gefängnis saß, erzählte er Tully, daß er auf den Jungen nur geschossen habe, um ihn zu verängstigen, und daß jener zum falschen Zeitpunkt in die falsche Richtung gesprungen sei und das Pech hatte, getötet zu werden. Dann, kurz bevor er entfloh, erzählte er einem Zeitungsmann aus Las Cruces, daß es sich bei dem Indianer um einen achtzehnjährigen Krieger in voller Bewaffnung gehandelt hätte - so daß dieser Unsinn in Bälde gedruckt zu lesen war. Ich nehme an, sie werden sich für immer darüber streiten oder zumindest so lange, bis all der schwarze Dreck endlich von Billy gewaschen ist und er als reine, saubere Legende zurückbleibt. Was mich angeht, habe ich mich aus jener Kontroverse schon vor langer Zeit zurückgezogen. Ich kenne die Wahrheit nur allzugut, doch versuche ich nicht, daran zu denken, denn sie stimmt mich gar zu traurig. Nie werde ich vergessen, wie ich an jenem Salbeizweig vorüberritt und ein totes Kind danebenliegen sah, niedergeschossen von jemandem, der selbst nicht viel älter als ein Kind war, der selbst bald tot sein würde. Mein Herz quillt über vor Leid, wenn ich an diesen Tag überhaupt denke - an das tote Kind und an die Lebenden, die schweigenden Mädchen, den armseligen Hogan, die alte Frau, die wehklagte, wie die trojanischen Frauen für die toten Jungen von Troja wehklagten. Billy und ich haben über den Apachenjungen nur einmal gesprochen, an ebenjenem Nachmittag; wir hatten Halt
gemacht, um unsere Pferde am Rio Salado zu tränken. Ich war schweren Herzens, und ich schätze, man sah mir dies an. Er betrachtete mich etwas mitfühlend, obwohl ich weiß, daß dies merkwürdig klingt: am Morgen einen kleinen Jungen zu erschießen und dennoch am Nachmittag Mitgefühl für einen müden alten Schriftsteller zu zeigen. Aber so ist das Leben. »Guck nicht so traurig, Sippy«, sagte er. »Sie werden mich ziemlich bald umlegen, und dann bleiben dir Tage wie dieser erspart.“ »Billy, ich möchte nicht, daß sie dich umlegen«, sagte ich. »Das möchte ich mir ersparen, wenn mir überhaupt irgend etwas erspart bleibt.« »Weißt du, was ich neulich Nacht geträumt habe?« fragte er heiter. »Keine Ahnung.« »Ich habe geträumt, daß ich tot wäre und der Höllenhund meinen Schädel ableckt«, sagte er. »Ich hatte keinen Körper mehr, aber ich hatte immer noch meine Augen, und dieser alte Hund leckte meinen Schädel ab. Ich kann es gar nicht erwarten, das der Tulip zu erzählen. Das wird ihr ganz sicher gefallen.« »Darauf wette ich«, sagte ich. 12. Wir ritten so schnell nach Süden, wie wir nur konnten, jede Minute zurück über unsere Schultern nach Bloody Feathers Ausschau haltend - beide bekamen wir vom häufigen Zurückschauen steife Nacken. Später erfuhr ich, daß sich Bloody Feathers weit oben im Norden aufgehalten hatte und Elche jagte, als Billy den Jungen tötete; doch in unserer Vorstellung saß er uns direkt im Nacken. Billy war fest davon überzeugt, daß Tully der Mann sei, der ihn am wahrscheinlichsten vor dem Häuptling der Jicarilla retten konnte. Außer, daß wir nachts ein wenig schliefen und die Reittiere ausruhten, wenn sie nicht mehr konnten, rasten wir in einem durch nach Lincoln.
Ich weiß, daß Billy sich wirklich fürchtete, und ich glaube, daß dies mich zu dem trügerischen Schluß führte, Billy würde sich in der Öffentlichkeit wenigstens für ein oder zwei Tage zurückhalten - ich hätte mich nicht gründlicher irren können. Wir waren noch keine Stunde in Lincoln, da hatte er bereits zwei völlig Unbekannte erschossen, einen Bankier und einen Rinderzüchter, war von Tully und seinen beiden Deputies verhaftet worden und wurde fürs erste in einer Eisenwarenhandlung gefangengehalten - der heulende Pöbel auf der Straße war derartig gewalttätig, daß keine Möglichkeit bestand, ihn auf direktem Wege und sicher ins Gefängnis zu bringen. Ich bin nicht Augenzeuge der Morde gewesen. Ich hatte mich im Saloon mit einem Glas Whiskey und einem ausgesprochen wohlschmeckenden Beefsteak erfrischt; doch als ich das Knallen einer großkalibrigen Schrotflinte hörte, wußte ich, daß meine Hoffnungen auf einen Waffenstillstand zunichte waren. Beide Deputies von Tully waren in Sichtweite, als die Morde geschahen, doch einer war in dem Moment damit beschäftigt, einer alten Frau in ihren Kutschwagen zu helfen, und der andere saß auf den Stufen des Saloons, in dem ich mein Beefsteak aß, und versuchte, einen Hufnagel aus seinem Stiefel zu ziehen. Keiner von ihnen war auch nur im mindesten als Zeuge von Nutzen, so daß es, wie gewöhnlich, ein unübersichtliches Gewirr von Theorien darüber gab, was sich in Wirklichkeit ereignet hatte. Einige behaupten, bei dem Bankier und dem Viehzüchter habe es sich um die Anführer des sogenannten Santa Fe Rings gehandelt, einer Geschäftsverbindung mit einem lukrativen Vertrag, der es ihnen gestattete, Vieh an die Mescaleroapachen zu liefern, und daß in Wirklichkeit Isinglass Billy angeheuert habe, um diese umzubringen, damit er den Vertrag übernehmen konnte. Das ist natürlich Blödsinn, meiner Meinung nach. Die einfachere Theorie ist, daß der Bankier, dessen Spitzname >Eimerschnauze< war, einen großen Strahl Tabakssaft ausspuckte, aber schlecht zielte, so daß ungefähr ein halber Liter auf Billys Bein spritzte, woraufhin Billy
augenblicklich sein Schrotgewehr auf den Bankier und seinen Begleiter richtete. Ich war zu diesem Zeitpunkt schon ein wenig abgestumpft; es war irrelevant geworden, weshalb Billy Menschen ermordete. Die Anlässe, die ihn zum Mord trieben, waren so zahlreich, daß es keinen Sinn machte, darüber nachzudenken. »Also, dieser kleine Schurke hat Sam Bradley umgebracht«, sagte der Barkeeper, vorsichtig aus der Tür spähend. »Ich glaube, Eimerschnauze hat er auch erwischt.« »Ich bezweifle, daß er jetzt damit aufhören wird«, sagte ich, und ich bezweifelte es in der Tat. Am hochfahrendsten war Billy immer, nachdem er gerade jemanden getötet hatte. Er versäumte es, sein Schrotgewehr neu zu laden, und bevor er wußte, was geschah, hatten die beiden Deputies sich auf ihn gestürzt. Ich warf einen Blick aus der Tür und sah, wie Tully über die Straße gerannt kam. »Dieser kleine Halunke hat sich einen schlechten Tag ausgesucht - ich schätze, er ist nicht auf dem laufenden, was die Neuigkeiten angeht«, sagte der Barkeeper. Seine Gesichtsfarbe war die eines Radieschens und legte den Schluß nahe, daß er von Zeit zu Zeit seine eigenen Vorräte becherte. »Was sind diese Neuigkeiten«, erkundigte ich mich. Ich konnte sehen, daß Tully und die beiden Deputies Billy in Handschellen gelegt hatten, aber daß sich überraschend schnell eine Menschenmenge sammelte. »Der Richter kommt diese Woche«, sagte der Mann. »Sie wollen am Donnerstag zwei Zugräuber und einen mexikanischen Pferdedieb vor Gericht stellen. Den kleinen Schurken können sie gleich dazunehmen und mit dem Rest der Saubande aufhängen.« 13. Ein vorsichtiger Blick aus der Tür reichte mir, um mich davon zu überzeugen, daß kaum einer in der rapide wachsenden Menschenmasse geneigt war, mit dem Vergnügen des Aufknüpfens bis Donnerstag zu warten. Mehrere Cowboys, die
sich zufällig in der Stadt aufhielten, wurden eilig ihrer Lassos beraubt, und Tully Roebuck wurde lautstark aufgefordert, seinen Gefangenen auszuliefern. Zwei besonders inspirierte Bürger borgten sich Äxte von einem mexikanischen Holzfäller und machten sich daran, einen in der Nähe stehenden Baum abzuhacken - ich nehme an, sie hatten vor, den Baumstamm zu benutzen, um die Tür des Eisenwarenladens einzurammen. Als der Mann, der gerade erst an jenem Morgen mit Billy in die Stadt geritten war - was ziemlich viele von den Aufrührern beobachtet hatten -, war meine Position alles andere als sicher. Die Menge war entschlossen, irgend jemanden zu hängen, und zwar bald; würden Tully und die Deputies unnachgiebig bleiben, könnten die Männer mit den Seilen zu dem Schluß kommen, daß ich eine weniger aufwendige Alternative war, in welchem Fall Orson Oxx und alle meine anderen Helden höchstwahrscheinlich keine gigantischen Krokodile mehr von den Klippen Mobile Bays herunterschleudern würden. Dann ritt in diesen anwachsenden Aufruhr Schwester Blandina, auf einem winzigen Esel. Als ich sie sah, eilte ich sofort aus dem Saloon und hätte sie beinahe auf der Straße umarmt. »Schwester, ich bin so froh, Sie zu sehen!« sagte ich, obwohl ich zu jenem Zeitpunkt nicht davon überzeugt war, daß sie Billy wirklich retten konnte. Ich glaube, ich hoffte lediglich, sie wäre in der Lage, mich zu retten. Schwester Blandina schien nicht sonderlich überrascht darüber, einen Mob auf den Straßen Lincolns vorzufinden, der mit Lassos winkte und versuchte, Bäume zu fällen. »Hallo, Mr. Sippy«, sagte sie, von ihrem Esel absteigend. »Mit was für einem Krawall Sie sich hier herumplagen müssen.“ »Ja, und es kann noch schlimmer werden«, sagte ich. Schwester Blandina wirkte ärgerlich. Sie war so leichtfüßig wie immer und eindeutig nicht erfreut über das Schauspiel öffentlicher Unordnung. »Ich bin der Ansicht, die Wochen, in denen das Gericht tagt, haben einen schlechten Einfluß auf die Menschen«, sagte sie. »Meinen Sie nicht auch, Mr. Sippy?«
»Auf diese Leute hier haben sie keinen guten Einfluß«, stimmte ich zu. »Nun, haben sie nie, Ben - haben sie nie«, sagte Sister Blandina. »Ich werde mich freuen, wenn wir ein paar Theater hier in die Gegend bekommen. Ich bin der Ansicht, die Menschen hier würden sich nicht so gehenlassen, wenn sie mehr Zugang zu Theaterstücken hätten. Aber für viel zu viele ist das Gerichtstheater das einzige, was sie je zu sehen bekommen.« »Dieses Schauspiel schafft es vielleicht gar nicht bis in den Gerichtssaal«, sagte ich. »Was ist passiert?« fragte sie. Billy schüttelte nur den Kopf. Er hatte nicht vor, die Frage zu beantworten, und augenblicklich drehte Schwester Blandina sich mit Tränen auf den Wangen herum und ging. 14. Man sagt, als Custer an jenem Junimorgen fiel, erfuhren die Crow Scouts von General Crook von der Niederlage innerhalb einer Stunde, obwohl sie sich zu jenem Zeitpunkt in Wyoming, hundert Meilen weiter südlich, aufhielten. Niemand kann sich erklären, wie sie es erfuhren, es sei denn, es gäbe einen Windtelegraphen, den die Eingeborenen hören. Die Neuigkeit von Billy Bones Verhaftung in Lincoln verbreitete sich fast ebenso schnell - jedenfalls schnell genug, daß sich bei Sonnenuntergang Katerina Garza und Los Guajolotes nördlich von San Isidro auf ihren Weg machten - zu jener Zeit wußte ich das noch nicht, doch habe ich es Jahre später in einer Sonderbeilage über Katie gelesen, die geschrieben wurde, nachdem sie ein Bananenboot - und, wie manche behaupten, auch sich selbst - in Nicaragua in die Luft gejagt hatte. Der Schreiber behauptete, daß die Bande am darauffolgenden Morgen ankam und daß sich einer der Caballeros als Holzfäller verkleidet in die Stadt schlich, um sofort Alarm geben zu können, falls ein plötzlicher Versuch unternommen wurde, Billy aufzuhängen. Ich glaube, Katie
wollte die Menschenmenge damals an der Spitze ihrer Männer angreifen und Billy entweder retten oder bei dem Versuch ums Leben kommen. Natürlich ereignete sich nichts derartig Dramatisches. Am Morgen trafen die Neuigkeiten ein, daß der Kreisrichter sich auf unbestimmte Zeit verspätete; er hatte seine Hosen mit einem roten Tausendfüßler darin angezogen und war an den Folgen des Stiches fast gestorben. Dies legte eine schwere Last auf Tully Roebucks Schultern, der sich zu jener Zeit mit einem überfüllten Gefängnis und einer bitter enttäuschten Menschenmenge, von denen jeder Einzelne nach ein paar flinken Hinrichtungen gierte, herumplagen mußte. Tully war so knapp mit Leuten, daß er sogar mich zum Deputy ernannte, aber alles, was ich während meiner Tätigkeit als Gesetzeshüter unternahm, war, Domino mit Billy zu spielen, und dies machte nicht im mindesten Spaß. Billy gefiel es nicht, an seine Pritsche gekettet zu sein, und er war weit über das übliche Maß hinaus unhöflich und streitsüchtig. Unverhohlen betrog er und bat mich mindestens hundert Mal darum, ihm einen Revolver zu stehlen. Tully hatte mich mit einem weiteren Deputy zurückgelassen, einem dünnen Kerl namens Snookie Brown, und als Billy genug davon hatte, mich wegen eines Revolvers zu löchern, machte er sich daran, Snookie zu bearbeiten. »Ich würde es schon mit einem Derringer wagen«, sagte er mehrere Male. »Schieb' mir einfach nur'n Derringer zu, Snook ich hau ab nach Mexiko und werde mich nie wieder in Lincoln County blicken lassen.« Ich glaube, Billy war Snookie Brown ziemlich sympathisch, doch ließ er sich nicht dazu überreden, ihn zu bewaffnen oder ihm bei einer Flucht irgendwie behilflich zu sein. »Heute geht's leider nicht, Bill«, sagte Snookie. Er war übermäßig lakonisch. »Nun, wenn du mein Freund wärst, dann würdest du es tun«, sagte Billy. Er hatte seine anfängliche Depression überwunden und war überhaupt nicht bereit, sich damit abzufinden, daß man ihn aufknüpfen wollte.
»Deputy Sippy ist schon länger dein Freund als ich«, bemerkte Snookie wahrheitsgemäß. »Er is'n verfluchter Yankee - die achten zu sehr aufs Gesetz«, bemerkte Billy mit einem abschätzigen Blick in meine Richtung. »Nun, Bill, Tully hat mich davor gewarnt, daß du versuchen würdest, mich zu überreden, dir eine Waffe zu beschaffen«, sagte Snookie. »Spricht allerdings nichts dagegen, es mal bei Tully zu versuchen - er wird jeden Augenblick zurückkommen.« Tully Roebuck verbrachte einen Gutteil seiner Zeit in der Zelle mit Billy, schwatzend, und spielte ab und zu sogar Domino. Über die Morde an Eimerschnauze, dem Bankier, und dem Viehzüchter Sam Bradley wurde nicht viel gesprochen. Allem Anschein nach hatten wenige der Ortsansässigen sie leiden können, und keiner im Gefängnis trug es Billy nach, daß er sie niedergeschossen hatte. Um genau zu sein, entspannte sich die Stimmung in Lincoln nach vierundzwanzig Stunden Hochspannung so sehr, daß es schwierig war, sich an die tödliche Gewalt, die sich noch vor kurzem zugetragen hatte, zu erinnern. Die Dinge entspannten sich so, daß es schwierig war, während der heißen Tage wachzubleiben. Am Morgen, als Tully mich vereidigte, warnte er mich davor, auch nur den Kopf aus dem Gefängnis zu stecken, wenn ich ihn nicht abgeschossen bekommen wollte; am dritten Tag jedoch waren die Leute, die für ein wenig billige Unterhaltung in die Stadt gekommen waren, gezwungen, die Stadt wieder zu verlassen, um ihrem Broterwerb nachzugehen. Bald kam die Zeit, in der ich mitten auf der Straße ein Schläfchen hätte halten können, ohne mich irgendeiner großen Gefahr auszusetzen. So friedlich schien die Situation, daß Tully entschied, er könne es sich erlauben, ein oder zwei Tage freizunehmen. Er hatte ein wenig Vieh in der Nähe von Encinoso und wollte dort vorbeischauen. »Hab' gehört, dem Richter müssen sie vielleicht das Bein absägen«, informierte er Billy, Snookie und mich an jenem Morgen, bevor er losritt.
»Ich würd' lieber bitteres Gift schlucken, als mich von einem verdammten roten Tausendfüßler beißen lassen«, sagte Snookie. »Ich steig nicht in meine Hosen, ohne sie vorher gründlich auszuschütteln.« Billy schnaubte vor Ekel, als er von derart vorsichtigem Verhalten hörte. »Dammich', du bist so vorsichtig, daß du wahrscheinlich zweihundert Jahre alt wirst, Snookie«, sagte er. Dann, am nächsten Morgen, brachte er Snookie Brown um. 15. Hätte ich nicht eine Vorliebe für Chili und Eier entwickelt, so meine ich, wäre es durchaus möglich gewesen, daß Billy an jenem glühendheißen Morgen auch mich umgebracht hätte. Bis zum heutigen Tage glaube ich nicht, daß Billy mich getötet hätte - aber ich glaube auch nicht, daß Snookie dachte, er würde umgebracht werden, und Snookie hatte sich geirrt. Die Flucht selbst verlief nach einem nahezu perfekten Plan. Anstatt einen Kavallerieangriff durch die Stadt zu führen, wartete sie in den Hügeln, bis sie der Meinung war, der Lynchwahn habe sich gelegt und Lincoln sei wieder zurück in seinen normalen, gelähmten Zustand gefallen. Dann schlich sie selbst eine Stunde vor Tagesanbruch herein und hinterließ einen in ein altes Stück Sackleinen gewickelten Colt auf der kleinen Brettertoilette hinter dem Gefängnis. Als Billy zu seiner Morgenvisite dorthin geführt wurde, fand er die Waffe, und sobald er seine Hose wieder zugeknöpft hatte, trat er hinaus und forderte Snookie Brown auf, sich zu ergeben. Der schätzte seinen Gegner falsch ein und versuchte zu entkommen, anstatt Billy einfach die Schlüssel für die Handschellen und die Fußeisen auszuhändigen. Selbstverständlich erschoß Billy ihn, nahm die Schlüssel, entledigte sich der Eisen und rannte ins Gefängnis, um seine Schrotflinte zu holen. Billy hing wirklich an dem Gewehr. Ich befand mich auf der anderen Straßenseite und verzehrte mein Chili mit Eiern; ich hörte den Schuß und dann das
Donnern von Hufen. Als ich die Tür erreicht hatte, waren Katie und ihre Caballeros dort; sie hatten Billys Pferd, und bald war er aufgesessen. Als er sich in den Sattel schwang, sah er mich und winkte. »Du schnappst dir besser dein Maultier und kommst mit uns, Sippy«, rief er. »Wenn sie herausfinden, daß ich weg bin, hängen sie dich für mich.« Die Dinge ereigneten sich äußerst schnell - allein der Anblick der Guajolotes war schockierend -, aber ich wußte, daß Billy die Wahrheit sagte, und brauchte nicht lange, um mich zur Flucht zu entschließen. Da passierte der Unfall. Billys Pferd - das, welches Cecily Snow für ihn von der Whiskey Glass remuda ausgewählt hatte bäumte sich plötzlich auf und fiel nach hinten, so schnell, daß niemand in der Lage war hinzuzuspringen. Bis zu diesem Augenblick hatte sich das Pferd als absolut zuverlässig erwiesen. Ich stand nahe genug dabei, um den Schock in Billys Gesicht zu sehen, als er merkte, daß das Pferd auf die Seite fiel. Fast wäre es Billy gelungen, sich freizumachen - er drehte sich zur Seite, und das Pferd fiel bei dem eigentlichen Sturz nicht auf ihn, doch blieb Billy benommen eine Sekunde länger als das Pferd liegen, und als das Pferd sich auf die Beine kämpfte, trat es Billy ein oder zwei Mal mit den Hufen und rollte über Billys rechtes Bein. Das Pferd kam wieder auf die Beine und stand ruhig dort, aber Billy hatte nicht solch ein Glück: Er rührte sich nicht. Katie Garza gewann ihre Fassung am schnellsten zurück. Sie schrie die Guajolotes an, und diese hoben Billy eilig auf und setzten ihn in den Sattel der weißen Stute. Katie setzte sich hinter ihn, stützte Billy mit den Armen und bereitete sich auf den Abritt vor. »Nimm Billys Pferd mit!« schrie sie mir zu, als sie die Stute wendete. »Er könnte es noch brauchen, bis wir in Mexiko sind.« 16.
Billy Bones rechtes Bein war übel gebrochen und auf seinem Rücken klaffte eine tiefe Wunde dort, wo das Pferd ihn getreten hatte. Noch bevor wir eine Meile von Lincoln entfernt waren, kam er zu Bewußtsein, aber er fiel bald wieder in Ohnmacht und erwies sich als zu schwach, um allein zu reiten. Katie Garza hielt ihn den ganzen Nachmittag im Sattel. Einer der älteren Caballeros verstand etwas von Knochenbrüchen und war in der Lage, das Bein zu richten, als wir am Pecos hielten, um die Pferde zu tränken. Billy schrie und kreischte, fiel aber nicht in Ohnmacht. Als er sich erholt hatte, versuchte Katie ihn dazu zu bewegen, sein eigenes Pferd zu reiten, doch keines ihrer Argumente konnte ihn dazu bewegen aufzusteigen. »Nein«, sagte er, käsegesichtig und grimmig. »Das ist das Pferd, von dem die Tulip gesprochen hat. Sie hat gesagt, es würde eines auf mich fallen, wenn ich den North Canadian überqueren sollte, und das hat gestimmt. Ich würde mich lieber hier aufhängen lassen, als zu riskieren, daß es nochmal auf mich fällt.« Katie sorgte dafür, daß einer der Caballeros sein Pferd mit Billy tauschte, und wir machten uns auf den Weg. »Wir müssen uns beeilen, wenn wir nach Mexiko wollen«, sagte Katie. »Dieses Mal werden Tully und das halbe Territorium hinter dir her sein.« Zu jenem Zeitpunkt hatte sie noch keine Ahnung von dem Apachenjungen oder den vier Stummen, ihren eigenen Halbbrüdern. Meiner Ansicht nach würde Isinglass in Bälde auftauchen und ebenso Bloody Feathers. Katie wußte, daß wir uns beeilen mußten. Ein furchtbarer Sandsturm tobte, als wir uns den Hueco Mountains näherten; der Sand war so scharf wie kleine Glassplitter, aber Katie weigerte sich, Unterstand zu suchen. Sie befahl einen ihrer Männer an jede Seite von Billy, um ihn während seiner Ohnmachtzustände auf dem Pferd zu halten -, und ab ging es in den Sand und den Wind und die bittere Nacht. Lange bevor wir am darauffolgenden Tag San Ysidro erreichten, war ich selbst halb bewußtlos - seit meiner Kutschfahrt durch ähnlich rauhes Land hatte ich keine derartig
lähmende Müdigkeit mehr empfunden. Ich wußte nicht, daß wir in den Rio Grande stiegen, bis ich das kalte Wasser über meine Schenkel steigen fühlte. Ich erinnere mich an irgendein Durcheinander, während der Durchquerung - Billy fiel vom Pferd, doch fand Katie ihn irgendwie und zog ihn durch den Fluß, sich selbst mit einer Hand am Schweif ihres Pferdes festhaltend. Als wir im Dorf ankamen, war ich so müde, daß ich auf meinem Sattel zusammenbrach, sobald ich ihn von Rosys Rücken gezogen hatte - ich schleppte den Sattel einfach zum nächsten Baum und legte mich mit meinem Kopf darauf, ich machte mir nicht einmal die Mühe, meine Decke abzuschnüren, welche sowieso naß war. Den größten Teil des Nachmittags muß ich verschlafen haben, und danach noch eine ganze Nacht; das Glockengeklingel der Dorfziegen weckte mich in der klaren Morgendämmerung. Zu meiner Überraschung saß Katie Garza neben mir, voll bekleidet, im Schoß ein Gewehr. Sie sah besorgt aus und nahm dann und wann einen Schluck aus einer braunen Flasche mit Tequila. »Ich bin zu alt für diese Herumjagerei«, sagte ich. »Keine Energie mehr.« »Du bist ihnen egal, Ben - du kannst so lange schlafen, wie du willst«, sagte Katie. »Billy ist der, hinter dem sie her sind.« »Wir sind hier in Mexiko«, erinnerte ich sie. »Hier kann Tully nicht herkommen.« »Ich mach mir keine Sorgen wegen Tully«, sagte sie und gab mir die Flasche. Der Schnaps war so stark, daß ich meinte, eine Flamme verschluckt zu haben. Wenigstens weckte er mich auf. Katie Garza starrte weiter auf den Fluß. »Billy hat Fieber«, sagte sie. »Er brabbelt von all den Leuten, die er in letzter Zeit umgebracht hat. Stimmt das alles?« »Nun, zumindest teilweise«, sagte ich. »Wie viele hat er umgebracht?« fragte sie geradeheraus.
»Ich würde einen klaren Kopf brauchen, um sicher zu sein«, sagte ich. »In den letzten Tagen habe ich die Übersicht verloren.« »Hat er all die Stummen getötet?« fragte sie. »Zwei von ihnen habe ich tot gesehen«, sagte ich. »Danach trennten wir uns. Ich nehme an, er hat auch die anderen beiden getötet.« »Er spricht von einem Indianerjungen«, sagte Katie. »Hat er einen Indianerjungen getötet?« Ich nickte nur. Katie seufzte. »Sobald sein Fieber nachläßt, machen wir uns besser auf den Weg nach Süden«, sagte sie. »Vielleicht können wir uns in den Bergen verstecken.« »Wer wird deiner Meinung nach kommen?« fragte ich. »Mein Vater und mein Apachenbruder«, sagte sie. »Sie werden sich von diesem kleinen Fluß nicht aufhalten lassen. Ihnen ist es egal, ob sie Billy in Mexiko oder Texas umbringen.« »Das erscheint alles so sinnlos«, sagte ich. »Als ich Billy zum ersten Mal begegnete, da hatte er nur einen einzigen Mann getötet, und das war mehr ein Unfall. Jetzt schießt er die Hälfte der Leute, die ihm über den Weg laufen, nieder. Ich wünschte, er wäre gleich das erste Mal bei dir geblieben.« »Ich auch, aber das ist reines Wunschdenken«, sagte sie mit besorgtem Gesicht. »Ich hoffe nur, er geht nach Süden. Ich will nicht gegen meinen Vater und meinen Bruder kämpfen, aber ich will auch nicht, daß sie Billy töten.« Ich nahm die Flasche wieder entgegen und schluckte eine weitere Flamme. 17. Billys Fieber wütete zwei Tage. Katie wachte die ganze Zeit bei ihm, sorgte dafür, daß er zugedeckt blieb und genügend Wasser bekam, um nicht auszutrocknen. Die nervösen Caballeros wurden dazu eingeteilt, den Fluß zu bewachen und auf Isinglass oder Bloody Feathers zu warten.
In der dritten Nacht ließ das Fieber nach; am nächsten Tag war Billy in der Lage, an einem Tisch in der Sonne zu sitzen, pozole zu essen und ein kleines Bier zu trinken. Doch war sein Griff so schwach, daß er seine Bierflasche mit beiden Händen halten mußte. Er sah klein, blaß und deprimiert aus; wenn man so mit ihm am Tisch saß, fiel es schwer, zu glauben, daß solch ein erschöpfter und schwächlicher Junge in einem Zeitraum von etwas mehr als einem Monat neun Männer getötet hatte. »Lies mir was vor, Sippy«, sagte er. »Ich habe Kopfschmerzen - vielleicht gehen sie weg, wenn ich dir zuhöre.« Ich war nicht der Ansicht, Die Stummen Der Mesa seien unbedingt das richtige, also las ich ihm Schwester Der Sangres und den größten Teil von Schwarze Bohnen vor. Gewöhnlich sank Billys Kopf nach fünf oder zehn Seiten auf den Tisch - er war dann fest eingeschlafen. Doch selbst wenn er wach war, besaß er wenig Energie, wenig Antrieb. Seine Augen waren ohne Leben, und Katies flehentliches Bitten, sich nach Süden aufzumachen, beantwortete er mit einem teilnahmslosen Kopfschütteln. »Mehr habe ich nicht vor, von Mexiko zu sehen«, sagte er eines Tages, nachdem sie ihn bedrängt hatte. »Okay, wenn du nicht mehr leben willst«, sagte Katie. »Es sieht nur so aus, als würdest du gern noch leben.« Billy hatte überhaupt keine Farbe im Gesicht, selbst nicht, nachdem er jeden Tag mehrere Stunden in der Sonne gesessen hatte, und seine Stimme war ebenfalls kraftlos. »Ich hätte gleich auf die Tulip hören sollen«, sagte er. »Aber ich habe es nicht, und jetzt spielt es keine Rolle mehr. Ich kann das Überqueren von diesem verdammten, tödlichen Fluß nicht ungeschehen machen.« »Das ist bloß das Gerede einer alten, betrunkenen Frau«, sagte Katie. »Was weiß die denn schon?« »Sie hat gesagt, ein Pferd würde auf mich fallen, und es ist eins auf mich gefallen«, erwiderte Billy. »Der Sattelgurt dieses Pferdes ist zu eng geschnürt worden, das ist der einzige Grund, weshalb es aufgebäumt ist«, sagte
Katie. »Willst du aufhören zu leben, nur weil ein Pferd zu eilig gesattelt wurde?« »Red' was du willst, ich geh nich' nach Süden«, sagte Billy. »Wenn dein Pa hier auftaucht, werde ich ihn umbringen.« »Und wenn der Indianer kommt?« fragte Katie. Billy lächelte schwach. »Nun, wenn der Indianer kommt, dann wird er vermutlich mich umbringen«, sagte er. 18. Der Indianer kam nicht, und Isinglass auch nicht. Allmählich entspannte sich die Stimmung in San Isidro ein wenig. Katie widmete sich ganz der körperlichen und geistigen Wiederherstellung Billys. Sie fütterte ihn mit dem leckersten Essen, das sie kreieren konnte, und behielt ihn den größten Teil des Tages draußen in der warmen Sonne. Ein alter Holzschnitzer im Dorf hatte ihm eine kleine Krücke geschnitzt. Jeden Tag humpelte er mit Katie zum Fluß hinunter, und sie tranken Bier und schossen. Meiner Ansicht nach verbesserte sich Billys Treffsicherheit nie. »Ich verstehe nicht, wie ein Mann, der einen Berg nicht aus fünfzig Fuß Entfernung treffen kann, es schafft, sich so in Schwierigkeiten zu bringen«, sagte Katie ihm eines Tages, während wir ein leichtes Mittagessen, bestehend aus Tortillas und Bohnen, zu uns nahmen. »Ich schätze, ich brauche eine Brille«, sagte Billy. »Meine Augen tränen, wenn ich zu lange auf ein Ziel starre.« Die Tage waren wunderschön und klar. Ich nahm meine Spaziergänge an jenem friedlichen Fluß wieder auf und kritzelte an den Nachmittagen an einem kleinen Halbgroschenroman mit dein Titel Gelyncht In Lincoln; oder, Der Einbeinige Richter. Die Abende verbrachten Katie und Billy in ihrem Zimmer gelegentlich hörte ich von meinem Platz unter dem Baum, wie er versuchte, auf seiner Mundharmonika zu spielen. Manchmal hörte ich, wie Katie lachte - mit einem Klang mädchenhaften Vergnügens, einem Klang, wie ihn eine meiner glücklichen Töchter hätte machen können.
Ich hoffe, daß es Freude war; Katie Garza hatte ein aufrichtiges Herz, und ich hoffe, Billy und sie sangen in dieser Zeit des Wartens noch ein paar Takte der süßen Melodie der Liebe. Doch kurz war die Zeit und traurig. Billys Morde warfen einen kalten Schatten auf die herzliche Atmosphäre. An manchen Tagen stimmte es mich traurig, mit ansehen zu müssen, wie sehr Katie sich abmühte, denn sie warf all ihre junge Energie und ihre Lebensgeister in die Waagschale, um Billy wieder Lebenslust zu geben und das verwegene Grinsen und den alten, lebendigen Glanz in seine Augen zurückzuholen. Die Wahrheit ist, daß es ihr nicht gelang. Billy humpelte herum, er schoß seine Flinte ab, er pustete in seine Mundharmonika und lümmelte sich mit Katie auf ihrem kleinen Bett im Zimmer hinter der Cantina herum. Vielleicht war er in intimen Momenten, die mir verborgen blieben, für die Dauer einer Stunde der alte Billy, aber selbst das bezweifele ich. Irgendetwas hatte ihn verlassen - nennen Sie es Hoffnung oder Energie oder Vertrauen, oder wie immer Sie wollen: Man muß es nicht benennen können, um zu spüren, daß es fehlte. Sein Lachen hatte keinen Klang, seine Scherze waren kraftlos und ohne Biß. Katie lächelte weiterhin, doch konnte man erkennen, daß ihr Herz schwer war; sie muß sich gefühlt haben, als würde sie versuchen, einen Geist zurück in dessen Körper zu stecken - vielleicht gelang es ihr, ein Bein hineinzubekommen, oder einen Arm, aber dann verflüchtigte sich der Geist, sicher in seiner Abwesenheit. Den Caballeros wurde es leid, den Fluß zu bewachen. Sie kehrten zurück zu Pferderennen, Glücksspiel, Faustkämpfen und Tequila. Ein paar verließen San Isidro, um leichte Raubüberfälle an den Postkutschenrouten im Norden zu begehen; sie kehrten nicht viel reicher zurück, dafür aber mit hervorragenden neuen Yankeehüten ausgestattet. Nachts verließ Katie oft das gemeinsame Zimmer und setzte sich zu mir unter den Baum. Manchmal kritzelte ich bei Laternenlicht - die ausgedehnten Siestas am Nachmittag, die ich mir angewöhnt hatte, hielten mich bis Mitternacht oder länger wach.
»Ich kann mit ihm nichts anfangen, Ben«, sagte sie eines Nachts, sehr elendig. Sie trank eine ganze Flasche Tequila, aber sprach sonst den ganzen Abend über kein einziges Wort. Ich freute mich darüber, daß sie aufgehört hatte, mich Mr. Sippy zu nennen. Ich hatte mich selbst ein wenig in Katie verliebt, obwohl ich bezweifle, daß sie das je bemerkte. Drei Tage später, obwohl sein Bein längst nicht verheilt war, sattelte Billy das Pferd, das auf ihn gefallen war, und bereitete sich darauf vor loszureiten, um sein Rendezvous mit Cecily Snow einzuhalten, deren Name während unseres gesamten Aufenthalts in San Isidro nicht gefallen war. Ich schätze, Billy hatte nur die Tage gezählt und darauf gewartet, daß der Monat vorüberging. Wenige Männer haben je wirklich beherrscht, eine Frau zu verlassen. Der völlig ungeschliffene Billy Bone war darin äußerst schlecht. Als ich hinzukam, standen Katie und er bei dem Pferd, und Billy wirkte genauso nervös wie beim ersten Mal, als er San Isidro verlassen hatte. Ich schätze, im Grunde genommen hatte er genauso viel Angst vor Frauen wie der Rest von uns; ganz gewiß empfand er kein Vergnügen dabei, eine zu verärgern, und dies ist eine fast unvermeidliche Konsequenz des Abschiednehmens, wenn die Frau einen auch nur ein bißchen liebt. Diesmal weinte und schluchzte Katie Garza allerdings nicht. »Jetzt verläßt du mich zum dritten Mal ohne Grund«, erklärte sie mit gedämpfter, kalter Stimme. Sie standen vor der jämmerlichen Cantina. Billy, immer noch ziemlich behindert, kämpfte mit dem Sattel und dann damit, das Pferd zu besteigen. Katie, drei Fuß entfernt von ihm, machte keine Anstalten, behilflich zu sein. Ihre Augen waren tiefschwarz, und auf ihrem Gesicht stand kein liebevolles Lächeln. »Du weißt, daß du auf der anderen Seite des Flusses keinen Monat überlebst«, sagte sie. »Das ist dir doch klar, oder?« Billy war bleich - seine Farbe war nie zurückgekehrt. Ich hatte gelernt, eine bestimmte Blässe als ein Anzeichen für seine Kopfschmerzen zu deuten. Er sah weder glücklich noch gesund aus, aber er war fest entschlossen zu gehen.
»Aw, Katie, ich komme schon zurecht«, sagte er, ihrem kalten, festen Blick ausweichend. »Ich komme dich in einem Monat besuchen«, fügte er hinzu. »Wenn die Nordwinde anfangen zu blasen, werde ich mich nach einem warmen Platz umsehen.« Katie sagte überhaupt nichts. Still wie ein Stein schaute sie ihn an. Billy wollte sein Pferd wenden, doch hielt er inne. Ich schätze, er kam sich selbst zu nachlässig vor. »Danke, daß du mich vor der Krawattenparty bewahrt hast«, sagte er. Dann sah er mich an. »Ich wünschte, du würdest mit mir kommen, Sippy«, sagte er. »Warum?« fragte ich. Ich war äußerst überrascht. »Hölle, ich weiß nicht warum«, sagte er mit einer Andeutung seines alten, schiefen Grinsens. »Schätze, ich habe mich einfach daran gewohnt, einen alten Yankeeschreiberling dabei zu haben.« Wenn ich jetzt zurückdenke, bin ich der Meinung, er mußte für einen Moment Angst gehabt haben. »Geh mit ihm, Ben - er wird jemanden brauchen, der in der Lage ist zu denken«, sagte Katie mit belegter Stimme. Dann, als Billy sich wieder daranmachen wollte, sein Pferd zu wenden, ging sie zu ihm und griff in sein Zaumzeug. »Wenn du mich mit einer Weißen betrügst, wirst du nicht mehr am Leben sein, wenn der Nordwind kommt«, sagte sie. »Weder mein Pa noch mein Bruder werden dich töten müssen. Ich werde dich finden und töten, egal wo du hingehst.« Sie ließ das Pferd los und machte sich auf den Weg zurück in ihr Zimmer. Billy sah überrascht drein. Daß Katie wußte, was er vorhatte, mußte ihm unglaublicher vorgekommen sein als jede Prophezeiung Tulips. Er hatte Lektion eins über Frauen noch nicht gelernt - später an diesem Tag versuchte ich, sie mit ihm durchzugehen, doch war er immer noch zu geschockt, um zuzuhören. Er saß nur auf seinem Pferd und sah Katie an, erstaunt und bestürzt.
Katie ging weiter auf ihr Zimmer zu. Dann stiegen die Schluchzer in ihr auf - ich sah, wie sie kamen. Sie beschleunigte ihren Schritt, dann rannte sie. Sie verschwand in der Dunkelheit des winzigen Raumes, eine Hand an den Mund gepreßt, um ihre Schluchzer zu ersticken; nach Billy drehte sie sich kein einziges Mal um. Abgesehen von meinen Notizen hatte ich nicht viel zu packen. Rosy versuchte mich zu beißen, als ich sie sattelte, aber zumindest kannte ich die Lektion eins über Maultiere. Kurz bevor wir den Fluß überquerten, hielt Billy und blickte mich verärgert an. »Hast du ihr von Snow erzählt?« fragte er. »Natürlich nicht«, sagte ich. »Ich wüßte nicht, wer ihr sonst davon erzählt haben sollte«, sagte er. »Oh, ich nehme an, du hast ihr davon erzählt«, sagte ich. »Habe ich nicht!« erwiderte er, entrüstet darüber, daß ich so etwas überhaupt in Erwägung ziehen konnte. »Billy, du bist bewußtlos gewesen und hast zwei Tage lang gebrabbelt«, sagte ich. »Du hast ihr erzählt, daß du die Stummen umgebracht hast - und den Indianerjungen. Vielleicht hast du auch Cecily Snow erwähnt.« Der entrüstete Ausdruck wich augenblicklich von seinem Gesicht; der Gedanke, seine neue Liebe gegenüber der alten erwähnt zu haben, entgeisterte ihn. Viele wesentlich erfahrenere Männer hätten bei solch einer Erkenntnis gestutzt. »Ich wünschte, ich wäre nie hierher gekommen!« sagte er. »Wenn nicht, hättest du Katie vielleicht nie kennengelernt«, erklärte ich. »Nicht nur, daß sie dich gerettet hat - sie liebt dich.« »Ich bin es nicht wert, geliebt zu werden!« sagte er, den Tränen nahe. »Meinst du wirklich, ich habe über Snow gesprochen, als ich krank war?« »Billy, das spielt keine Rolle«, sagte ich. »Frauen finden so etwas immer heraus. Katie würde von Cecily erfahren haben, und wenn du nie ein Wort gesagt hättest - und vielleicht hast du das auch nicht.« »Aber wie machen sie das, Sippy?« fragte er.
»Ich habe keine Ahnung, aber sie tun's«, sagte ich. Er seufzte und trieb sein Pferd in den Rio Grande. Einige Minuten später befanden wir uns wieder einmal in der texanischen Wüste.
VI ICH BLICKTE NACH OSTEN, ICH BLICKTE NACH WESTEN; ICH SAH SEINEN SARG KOMMEN...
1. Gegen Spätnachmittag kam ein weiterer Sandsturm auf und blies uns in den Rücken. Glasharter Staub wirbelte um uns herum, getrieben von einem scharfen und heulenden Wind. Die bestenfalls öde Landschaft, durch die wir ritten, wurde bald von wogenden Staubschwaden verhüllt. Selbst die Berge, die sich vor uns abgezeichnet hatten, verschwammen bald. In jener Nacht rasteten wir ohne Lagerfeuer. Keiner von uns beiden war hungrig, und beide waren wir zu müde, um uns durch den Wind zu kämpfen und genügend Holz für ein Feuer zu sammeln. Ich war sehr niedergeschlagen, und danach zu urteilen, was ich von Billy zu sehen bekam, fühlte er sich ebenso. Wir drehten dem Wind den Rücken zu, wickelten uns in unsere Decken und versuchten soviel Schlaf wie möglich zu bekommen. Bei Tagesanbruch blies der Sand noch genauso grimmig. Wir ritten schweigend, den Wind den ganzen Tag im Rücken die Sonne war nur noch ein trüber Kreis im Staub. Ich war mir über unseren Standort nicht im klaren und bin mir sicher, daß Billy ebenfalls keine Ahnung hatte, doch noch vor Einbruch der Nacht stießen wir auf einen Fluß, bei dem es sich nur um den Pecos handeln konnte, und wir folgten ihm nach Norden. Mein Zustand war derartig melancholisch, daß es fast eine Erleichterung war, daran zu denken, daß wir wahrscheinlich vor Hunger sterben würden, bevor wir auf eine Ortschaft stießen; ohne Zweifel würde es schmerzhaft sein, aber wenigstens könnte Billy keine Opfer mehr finden, und Cecily Snow würde ihre Flucht mit einem berühmten Outlaw nicht realisieren können. Cecily einen Strich durch die Rechnung zu machen, wenn auch nur in solch einer kleinen Angelegenheit, schien mir in meiner Stimmung Grund genug, um am Ufer eines einsamen Flusses den Hungertod zu sterben. Billy Bone war ebenfalls bitterlich deprimiert. »Hätte Katie mich nur erschossen«, sagte er einmal. »Das wäre einfacher gewesen, als sich die Lungen zwei Tage lang mit Sandpapier abschleifen zu lassen.«
Aber wir taumelten weiter, durch Wetter, das den Tag zum Abend werden ließ und mit der Erwartung, eine weitere Nacht ohne Nahrung und Feuer ertragen zu müssen - als Rosy mit einem Mal den Kopf hob und schrie, bloß um den Antwortschrei eines anderen Esels zu erhalten. Ein oder zwei Minuten später waren wir in der Lage, den Esel auszumachen, und Billy erkannte ihn wieder. »Dammich, das ist der Esel von der Tulip«, sagte er. »Der mit dem komischen Namen.« Und ganz gewiß war es Bonaparte; die trüben Umrisse, an denen wir gerade ohne Interesse vorbeireiten wollten, weil wir sie für kleine Sanddünen hielten, erwiesen sich als die Bruchbuden von Creasy Corners. Zwei Pferde standen angebunden vor dem China Pond. »Also, das nenne ich Glück!« sagte Billy. Seine Laune verbesserte sich augenblicklich. Meine blieb eher am unteren Ende des Thermometers, doch muß ich zugeben, daß ich froh war, ihm in den Saloon und aus dem Sand hinaus zu folgen. 2. Man hört heutzutage oft davon, daß gewisse Dinge eine zeitlose Qualität haben - aber es war ganz eindeutig eine Qualität der Raumlosigkeit, die mir zuteil wurde, als wir in den China Pond drängten. La Tulipe, die alte, gelbe Frau saß auf ihrem Hocker und rauchte ihr Pfeife; zwei staubige, herumziehende Cowboys verhandelten mit einer Hure, während Des Montaignes tabakkauend hinter der Bar stand und häufig ausspuckte. Der Ort hätte eine Hütte auf der alten Seidenstraße sein können, es hätte in Persien, in der Türkei, in Ägypten, im alten Babylon sein können - an jedem Ort, an dem Sand weht und Karawanen durchreisen. Der Anblick Billy Bones verwirrte die Cowboys nicht schlecht, obwohl Des Montaignes und La Tulipe nicht mit der Wimper zuckten.
»Verdammt, du bist's«, sagte der dünnere der beiden Cowboys. Er wirkte eindeutig verängstigt, und ich bin der Ansicht, daß alle Gedanken an die entmutigte Hure mit einem Mal sein Gehirn verließen. Er und sein Begleiter kamen mir irgendwie bekannt vor; es stellte sich heraus, daß sie sich an jenem Tag in San Jon aufgehalten hatten, als Isinglass und ich mit der Wagenladung Leichen eintrafen. »Weshalb sollt ich es auch nicht sein?« fragte Billy höflich. Ich muß sagen, daß der dünne Cowboy - sein Name war Dewey Sharp - die Unverblümtheit fast ein wenig zu weit trieb. »Nun, Billy, du bist schon 'ne ganze Minute hier und hast uns immer noch nicht erschossen«, sagte Dewey mit liebenswertem Grinsen. »Nachdem, was ich gehört habe, überlebt heutzutage niemand deine Gesellschaft länger als eine Minute.« »Dewey, du weißt, ich schieße nicht, wenn es nicht unbedingt notwendig ist«, sagte Billy und grinste ihn an. »Wer ist dein gutaussehender Freund?« »Nun, Waco Charlie, seid ihr euch noch nicht begegnet?« sagte Dewey. »Nein, aber ich freu' mich, daß er hier ist - zu viert können wir Karten spielen«, sagte Billy. »Du hattest recht, ich hätte den North Canadian nicht überqueren sollen«, sagte er zu La Tulip. »Beinahe hätte mich ein verdammtes Pferd umgebracht.« »Dich wird kein Pferd umbringen«, sagte La Tulip. Sie schien sich zu freuen, ihn zu sehen, was man von ihrem Ehemann nicht behaupten konnte. »Du verschwindest, ich will dich nicht hier, Billy!« sagte Des Montaignes mit einigem Nachdruck. »Du verschwindest oder Big Whiskey kommt.« »Ich wußte gar nicht, daß du Angst vor dem alten Wiederkäuer hast, Dez«, sagte Billy an die Bar gelehnt und Des Montaignes aus unmittelbarer Nähe anstarrend. »Allerdings würde ich gern ein großes Glas Whiskey trinken«, fügte er hinzu. Des Montaignes holte zwei dreckige Gläser unter der Bar hervor und goß uns beiden Drinks ein - Billy trank selten viel Alkohol, aber diesen schüttete er mit wenigen Schlucken
hinunter. Trotz all seiner Verwegenheit war er zittrig und bleich. Sein Bein war längst nicht verheilt, doch war er der Krücke bereits überdrüssig und humpelte, so gut er konnte, ohne sie herum. Wie ein furchterregender Killer sah er nicht aus - aber auf der anderen Seite hatte er das eigentlich nie getan. Er verlangte ein weiteres Glas Whiskey von Des Montaignes und nahm es mit hinüber an den Tisch, an dem die Cowboys und die arme Hure saßen. »Was spielt ihr?« fragte er und ließ sich auf einen Stuhl nieder. »Komm mit mir, ich habe ein schönes Bett«, sagte die junge Hure. Sie hatte strähniges braunes Haar und schlechte Zähne. Ich nehme an, sie hatte Dewey Sharp und Waco Charlie abgeschrieben. »Ich heiße Dot«, sagte sie. Billy wußte nicht, wie er auf diese offene Einladung antworten sollte. Trotz seiner jüngsten Erfahrungen war er Frauen gegenüber schmerzhaft schüchtern geblieben. »Frag' Sippy, der ist älter als ich, und reicher«, sagte er. »Du willst also wirklich hier rumsitzen und Karten spielen, bei dem Schlamassel, in dem du sitzt?« fragte Dewey Sharp. »Ich bin in keinem Schlamassel, Dewey«, sagte Billy. »Ich mache hier nur für ein Schläfchen auf meinem Weg nach Chikago halt.« Zum ersten Mal erwähnte er den Ort, an den seine Flucht führen sollte. »Man sagt, Old Whiskey habe Long Dog Hawkins angeheuert, um dich zu töten«, sagte Dewey. »Abgesehen davon hat Tully geschworen, dich zu fangen, tot oder lebendig.« Bei der Erwähnung von Long Dog Hawkins spitzte Billy die Ohren. Er war ein gefürchteter Killer, der sich einen Namen dadurch gemacht hatte, daß er während der Weidekriege in Wyoming Siedler umbrachte. Nach dem Tode Hickoks und Hill Coes war er - von Billy abgesehen - der gefürchtetste Killer des Westens. »Long Dog Hawkins!« sagte er. »Verdammt, ich wußte nicht, daß ich so gefährlich bin.«
»Wenn ich ein bißchen mehr Zeit hätte, dann würde ich hier warten und diesen langen Hund in einen toten Hund verwandeln«, sagte er, und zum ersten Mal seit Wochen lachte er sein jungenhaftes Lachen. Dann stürzte er seinen zweiten Whiskey hinunter und verlangte, daß Waco Charlie die Karten abhob. 3. Des Montaignes war es, der schließlich mit der Hure namens Dot abzog. La Tulipe füllte die eine oder andere Schüssel mit Präriehundgulasch, das so fett war, daß es uneßbar gewesen wäre, wenn Billy und ich nicht am Verhungern gewesen wären. Waco Charlie, fast so stumm wie die Stummen der Mesa, erwies sich nichtsdestotrotz als der weitaus beste Kartenspieler; nach ungefähr einer Stunde hatte niemand von uns auch nur noch einen einzigen Cent Einsatz übrig, also rollte ich mich in einer Ecke vor La Tulipes Ofen zusammen. Billy Bone und Dewey Sharp tauschten immer noch Tratsch über Long Dog Hawkins aus, dessen Spitzname von den langläufigen Colts herrührte, die er für seine mörderische Tätigkeit bevorzugte. »Schön, wieder in New Mexico zu sein«, hörte ich Billy sagen, bevor ich einschlief. Als ich am nächsten Morgen hinaustrat, um mich zu erleichtern, hatte der Wind sich gelegt, aber etwas von dem feinen Staub vom Vortag hing noch in der Luft; die aufgehende Sonne war kupferfarben und gedämpft. Zu meiner Überraschung hatte Billy Bone sein Pferd bereits gesattelt. »Beeil dich, Sippy - heute sollen wir Snow treffen«, sagte er. »Billy, du bist derjenige, mit dem sie durchbrennt«, sagte ich. »Mich wird sie nicht dabeihaben wollen. Ich denke, ich werde einfach hierbleiben.« Billy sah völlig überrascht aus. »Willst du nicht mitkommen?« fragte er. »Snow macht das nichts aus, solange du nicht zu eifersüchtig bist.«
»Ich glaube doch«, sagte ich. »Ich möchte sie auch ganz gewiß nicht verärgern.« Billy wirkte ernstlich verwirrt. Ich glaube, er war davon ausgegangen, daß ich einen Teil seiner Flitterwochengefolgschaft sein würde. »Ich habe aber vergessen, wie man mit ihr spricht«, sagte er. »Was, wenn sie ihre Meinung geändert hat und nicht mehr gehen will? Was mache ich dann?« »Was jeder andere Mann auch tut, wenn eine Frau ihre Meinung ändert«, sagte ich. »Es entweder akzeptieren oder zusehen, daß man die Entscheidung rückgängig machen kann.« Billy schien fast panisch bei dem Gedanken daran, daß ich nicht dabei sein würde, um seinen Umgang mit Cecily zu erleichtern. »Wir gehen nach Chikago«, sagte er. »Sie sagte, wir übernachten in prachtvollen Hotels. Willst du dir Chikago nicht wenigstens mal ansehen und in den prachtvollen Hotels wohnen?« »Ich bin bereits einige Male in Chikago gewesen«, sagte ich. »Es ist eine prächtige Stadt. Ihr beiden werdet dort hervorragend ohne mich zurechtkommen.« Billy schien mit seinem Latein am Ende zu sein, allerdings war er nicht verärgert. Er quälte sich auf sein Pferd und sah mich von oben herab an, auf seinem unruhigen, jungen Gesicht einen traurigen Ausdruck. »Ganz sicher hätte ich nicht gedacht, daß du in Creasy Corners enden würdest, Sippy«, sagte er. »Darüber wird Snow lachen müssen. Sie hält dich sowieso für überspannt, aber dies hier ist ganz sicher nicht so'n überspannter Ort wie Chikago, jedenfalls nicht nach dem, was ich gehört habe.« »Nein, mit Chikago läßt es sich nicht vergleichen«, stimmte ich zu und warf einen Blick auf die Bruchbuden, die die Stadt bildeten. »Schätze, ich werde ihr einfach sagen, daß du zu eifersüchtig warst«, sagte er. Dann wendete er und galoppierte aus der Stadt.
4. Das Reisen mit Billy war interessant, aber niemand konnte behaupten, daß es erholsam war. Als er an jenem Morgen davonritt, bemerkte ich, daß ich viel zu müde war, um über eine Weiterreise nachzudenken. Ich fand eine Schaufel und verbrachte eine Stunde damit, eine der verlassenen Hütten freizuschaufeln; ich schlug das eine oder andere Wespennest ab und setzte eine beträchtliche Anzahl Skorpione und Spinnen nach draußen, aber als ich damit fertig war, bot die Hütte einen anständigen Schlafplatz, und ich schlief - den größten Teil jenes Tages und auch einen gehörigen Teil der folgenden drei Tage. Ich badete häufig im kalten Pecos, und an den Abenden schlenderte ich hinüber zur Cantina, um Karten mit Dewey Sharp und Waco Charlie zu spielen; letzterer gewährte großzügig Kredit. Des Montaignes hatte sich in Dot, die Hure verliebt, und die beiden ließen sich selten blicken, doch schenkte La Tulipe freizügig seinen Whiskey aus und spielte oft mit uns Karten. Dewey und Waco Charlie machten gerade ein Tief in ihrer Karriere als Cowboys durch. Vor kurzem hatte sie noch für Isinglass gearbeitet, doch als dieser ihnen befahl, sich zu einer seiner texanischen Zweigstellen zu begeben, entschieden sie, daß sie keine Lust hatten, in diese Richtung zu reisen, kündigten und ließen sich ihren letzten Lohn auszahlen. Sie hatten vorgehabt, nach Kalifornien zu gehen, wo anscheinend die Möglichkeiten für erfahrene Arbeitskräfte gut waren. Dann, als sie Greasy Corners erreichten, waren sie schnell dem Müßiggang verfallen. »Ist ein weiter Weg nach Kalifornien«, bemerkte Dewey eines Abends. »Wir können auch genausogut bis zum nächsten Jahr warten, um es dann zu probieren.« Nachdem sich Waco Charlie einmal an mich gewöhnt hatte, wurde er fast redselig. »Können wir auch genauso gut bis nächstes Jahr warten«, sagte er.
Am dritten Tag kamen zwei weitere ernüchterte Whiskey Glass - Cowboys in die Stadt. Isinglass hatte ihnen befohlen, der Einzäunmannschaft ein oder zwei Tage behilflich zu sein; dies war für sie als souveräne Reitersmänner erniedrigend, und sie beschlossen, sich nach Powder River aufzumachen. »Der Staat gehört Old Whiskey noch nicht«, sagte Grady Lee, der Ältere der beiden. Außer, daß sie etwas über die Topographie Wyomings spekulierten, redeten sie nur von Billy Bone, dem meistgesuchten Killer im Westen. Die beiden wirkten schockiert, als man sie darüber in Kenntnis setzte, daß Billy sich erst vor wenigen Tagen in ebenjenem Saloon aufgehalten hatte. »Nun, der kleine Schurke macht sich besser aus dem Staub«, sagte Bob Blocker, der andere Cowboy. »Tully stellt einen Trupp zusammen, und Long Dog ist auch irgendwo in der Gegend.« »Wenn das alles ist, ist es nicht genug. Billy ist flink und gut bewaffnet«, warf Dewey Sharp ein. »Das ist aber nicht alles, das sind nur die kleinen Fische«, sagte der Cowboy. »Bloody Feathers hat geschworen, ihn für den Mord an dem kleinen Indianerjungen zu töten, und Old Whiskey überlegt sich, ob er nicht selbst hinter ihm her soll.« Bei der Erwähnung von Bloody Feathers wurde Waco Charlie bleich - er reagierte empfindlich auf die Erwähnung von Blut, selbst wenn es Teil eines Namens war. »Falls Bloody Feathers jemals hinter mir her sein sollte, dann schneide ich mir selbst die Kehle durch, das spart Zeit und Sorgen«, sagte Dewey Sharp. »Dann werden sie den kleinen Billy wohl irgendwo erwischen«, gab Bob Blocker zu. »Hier werden sie ihn erwischen«, sagte La Tulipe. Dann fuhr sie fort, ihre Pfeife zu stopfen. Die Cowboys sahen verwirrt aus, und ich war auch ein wenig erstaunt - ich nahm an, Billy und Cecily wären bereits auf dem Weg nach Chikago. »Aber er ist doch nicht hier, oder?« fragte Grady Lee, nervös die Ecken des Saloons mit den Augen absuchend.
»Er ist gerade auf dem Weg zurück«, sagte La Tulipe, mit einem Glanz in ihren alten Augen. Dewey Sharp kam diese Neuigkeit ganz und gar nicht recht. »Dammich. Powder River, hier komm ich!« sagte er und prägte damit eine Redewendung, die noch für Jahrzehnte durch den Westen schallen sollte. »Wann geht's los?« »Aber weshalb sollte der kleine Bill hierher zurückkommen?« fragte Bob Blocker La Tulipe. »Weil wir ihm ein Grab reserviert haben«, sagte die alte Frau. Ich schätze, die Tulipe machte nur einen kleinen Spaß. Vielleicht hatte sie die Cowboys satt, und wollte sie verscheuchen. Nach allen Gesichtspunkten schien es unwahrscheinlich, daß Billy nach Greasy Corners zurückkehren würde - es war kaum der geeignete Ferienort für die Flitterwochen mit einer großen englischen Lady. Die Erbin der Cavendishes und der Montstuarts würde höchstwahrscheinlich nicht aufblühen im China Pond. Selbst Dot wirkte eine Kleinigkeit zu fein für den China Pond. Auf gewisse Weise bereute ich es allerdings auch, denn, um ehrlich zu sein, vermißte ich Billy. Es schien, als wären meine Reisen mit ihm zuende, als sei das Buch unserer Abenteuer geschlossen. In jener Nacht in meiner armseligen Hütte, hatte ich einen wehmütigen Wachtraum: Ich stellte mir einen besseren Billy vor, frei von all seiner Gewalttätigkeit, seiner Angewohnheit, kaltblütig zu töten, seinen Kopfschmerzen, und seiner Angst vor dem Höllenhund. Ich schätze, daß ich Billy trotz allem, was er angerichtet hatte, mochte, und jetzt, nachdem er verschwunden war und ich ihm höchstwahrscheinlich nie wieder dabei zuschauen würde, wie er einen anderen Mann tötete, setzte sich mein Gehirn in Bewegung und kreierte ein bescheidenes, glückliches Leben für ihn. Ich brachte es nicht ganz fertig, Cecily Snow in dieses Bild zu fügen, aber Billy verlieh ich mein ehemaliges Handwerk, die Telegraphie. Bevor ich einschlief, stellte ich mir vor, wie er ein geschäftiges, kleines Telegraphenbüro irgendwo - vielleicht in Illinois - betrieb.
Aber am nächsten Morgen riß mich der doppelte Knall einer großkalibrigen Schrotflinte aus dem Schlaf, und als ich hinauseilte, sah ich, daß der echte Billy Bone zurückgekehrt war, genau wie La Tulipe vorausgesagt hatte; und nicht nur das, er hatte auch sogleich die Leber aus ihrem Ehemann, Des Montaignes, herausgeschossen. 5. Des Montaignes hatte einen einfachen Fehler gemacht. Unbeeindruckt von ihrer Abstammung oder sonst etwas, war der alte Mann der Berge einfach zu Cecily gegangen und hatte ihr, kaum daß er sie sah, einen unsittlichen Antrag gemacht. Zumindest hatte er die Diskretion, dies auf französisch zu tun - das erzählte mir Cecily später -, aber trotz all seiner Reisen hatte er zuwenig Gelegenheit gehabt, aristokratisches Verhalten zu studieren. Dewey Sharp, der alles gesehen hatte, sagte, Des Montaignes sei recht betroffen gewesen, als Cecily sich zu dem jungen Killer umdrehte und sagte: »Billy, dieses dreckige alte Biest will sich mit mir paaren.« Woraufhin - zumindest nach Deweys Darstellung - Billy rot im Gesicht wurde, sein Schrotgewehr in Des Montaignes Bauch schob und das Gewehr entleerte - ebenso den Magen, wie ich annehme. Als ich eintraf, zitterte Billy immer noch vor Zorn - er versuchte sein Gewehr neu zu laden, damit er noch einmal auf Des Montaignes schießen konnte, obwohl der Mann bereits so tot wie ein Lumpen war. Die beiden leeren Hülsen waren im Lauf steckengeblieben, und Billy war zu wütend, um sie herauszubekommen. »Billy, er ist so tot, wie es nur irgend geht«, erklärte ich. Widerwillig gab Billy seine Anstrengungen auf, die gequollenen Hülsen aus dem blutigen Schrotgewehr zu entfernen. »Nun, ich wünschte, der stinkende Idiot wäre noch am Leben, dann könnte ich ihn noch einmal umbringen«, sagte er.
Cecily Snow stieg von ihrem Vollblut, nickte mir unterkühlt zu, und wies prompt die vier Whiskey Glass-Cowboys an, ihr Zelt aufzustellen - oder, um genau zu sein, das Zelt ihres Vaters; als ich sein fesselndes Buch Schießerei In Simla einige Jahre später las, stellte ich fest, daß Lord Snow es einige Male darin erwähnt hatte. Selbstverständlich war es ein prachtvolles Zelt. Billy und Cecily waren in Begleitung von vier bepackten Maultieren gereist, eines von ihnen allein trug das Zelt; ein anderes war mit Nahrungsmitteln beladen; ein drittes mit Cecilys Kleidern; und das letzte mit ihrer Staffelei, ihren Farben und botanischen Büchern. Offenbar hatte das durchbrennende Paar nicht vor, sonderlich eilig zu reisen. »Ich bin überrascht, daß Sie Mahmud nicht mitgebracht haben«, sagte ich zu Cecily, als ich das Zelt sah - es handelte sich um die Sorte Zelt, die normalerweise mit einem ganzen Team von Kulis geliefert wird. »Konnte ich nicht - der alte Rohling hat ihn aufgehängt. Er ist schließlich doch hinter die Weingläser gekommen«, sagte sie fröhlich. La Tulipe humpelte aus dem China Pond und murmelte auf französisch ein paar Ich-hab's-dir-doch-gesagt über die Leiche ihres verstorbenen Mannes; dann bedeutete sie mir, ein Bein zu greifen, sie nahm das andere, und dann zogen wir beide den Mann mit dem gleichen Mangel an Feierlichkeit davon, wie er selbst mit den plötzlich Verstorbenen umgegangen war. La Tulipe ließ durchblicken, daß sie den Cowboys ein paar Freidrinks anbieten würde, wenn sie das Grab schaufelten. Mir war ein wenig übel, und ich bedurfte dringend einer Säuberung, also machte ich mich auf zum Pecos. Als ich sauber war, und sich mein Magen einigermaßen beruhigt hatte, war das Zelt nicht weit vom Fluß aufgebaut worden, und Cecily hatte ihre Staffelei aufgestellt und war dabei, eine kleine Yuccapflanze zu skizzieren. »Mit diesen Yuccapflanzen bin ich nie zufrieden gewesen, Ben«, sagte sie, als ich heranschlenderte. »Sie sind bemerkenswert subtil.« »Wo ist Billy?« fragte ich.
»Oh, er hat einen von seinen Kopfschmerzanfällen - ich habe ihn auf einem Feldbett schlafen gelegt«, sagte Cecily. »Das diese erbärmliche Kreatur Billy dermaßen aufregen konnte. Er ist ein ziemlich empfindlicher Junge. Findest du nicht?« »Ja, seine Gesundheit ist recht instabil«, sagte ich. »Aber falls ihr beiden vorhabt, weiterhin hierzubleiben, wird das nicht länger der Fall sein.« »Oh?« sagte Cecily, mit einer Spur Kälte in der Stimme. »Ich nehme an, du denkst, daß du genau der Richtige bist, um ihn zu stabilisieren.« »Kaum«, erwiderte ich. »Ich meine, daß seine Gesundheit nicht mehr instabil sein wird, sobald er tot ist. Und wenn ihr hierbleibt, wird er bald tot sein. Einige der besten Killer des Westens sind ihm jetzt auf den Fersen, und zwei Pferde und vier Maultiere hinterlassen eine sehr deutliche Spur. »Puuuh, diese Zeichnung habe ich hoffnungslos verpfuscht«, sagte Cecily, sie von ihrer Staffelei reißend. »Das ist dein Fehler, Ben. Sollen wir uns ausziehen und schwimmen gehen?« »Ich war gerade schwimmen«, sagte ich, nicht sicher, ob ich sie richtig verstanden hatte. »Allerdings nicht mit mir«, sagte Cecily. »In letzter Zeit habe ich in einigen zärtlichen Erinnerungen an dich geschwelgt, Ben. Abgesehen davon, daß du hastig bist, wenn du nervös bist, hatten wir doch ein paar erträgliche Paarungen, nicht wahr?« Forsch klappte sie ihre Staffelei zusammen und legte ihre Farben zur Seite. »Ich bin solch eine armselige Künstlerin, wenn mir der Sinn nach Paarung steht«, sagte sie. »Wie ist das Wasser?« »Sehr naß«, sagte ich. Ich hatte gerade begonnen zu realisieren, daß die Frau es völlig ernst meinte. »Ich gehe nur zurück zum Zelt und hole eine Decke und etwas, womit wir uns abtrocknen können«, sagte sie und nahm ihre Staffelei auf. »Cecily, Billy hat gerade einen Mann über den Haufen geschossen, nur weil er vorgeschlagen hat, was du gerade vorschlägst«, sagte ich zu ihr. »Was meinst du, wird er tun,
wenn er aus seinem Schläfchen erwacht und uns zusammen vorfindet? Abgesehen davon, brennst du nicht mit ihm durch?« »Ja, aber heute Nachmittag werden wir nicht großartig vorankommen. Was ist denn gegen eine kleine Paarung einzuwenden?« fragte sie. »Cecily, er wird uns umbringen«, sagte ich. »Völlig unrichtig, er wird nur dich umbringen«, sagte sie mit einem Ausdruck, der mich wissen ließ, daß sie allmählich ungeduldig wurde. »Ich werde ihn davon überzeugen, daß du mich mit irgendeinem Yankeetrick verdorben hast. Aber was stellst du dich so an Ben - ich versichere dir, daß er fest schläft. Und schließlich wird die Freude am Paaren durch ein wenig Gefahr nur noch gesteigert.« »Nein, danke, das ist mir diesmal zu viel«, informierte ich sie. »Davon abgesehen bist du reichlich unhöflich zu mir gewesen, weißt du.« »Das hoffe ich auch. Du bist ausgesprochen wenig entgegenkommend; jetzt muß ich einen von diesen haarigen Cowboys aufsuchen«, sagte sie hitzig, bevor sie ihre Staffelei aufnahm und zurück zum Zelt marschierte. 6. An jenem Tag fand Cecily keinen willigen Cowboy - um genau zu sein, fand sie überhaupt keinen Cowboy, denn Dewey Sharp und Waco Charlie und die anderen waren keine Blödmänner. Sie stellten Cecilys Zelt auf, schaufelten Des Montaignes ein eiliges Grab und verschwanden dann. Dot, die erkannte, daß ihre Aussichten in Greasy Corners im Augenblick trostlos waren, bat die Jungs, sie mitzunehmen, und die Jungs willigten ein. Als Billy gegen Sonnenuntergang aus dem Zelt kam, war er immer noch bleich und ein bißchen zittrig, aber die Tatsache, daß die meisten Einwohner die Stadt verlassen hatte, schien ihn nicht zu überraschen.
»Sie wollen nicht in der Nähe sein, wenn die Kugeln anfangen zu pfeifen, stimmt's, Sippy?« sagte er zu mir, auf einem von Lord Snows Campingstühlen sitzend. Cecily befand sich im Inneren des Zeltes und machte sich zum Abendessen zurecht, welches aus drei kalten Perlhühnern aus Winds' Hill bestehen würde. »Billy, wenn du schon weißt, daß sie pfeifen werden, weshalb willst du dann bleiben?« fragte ich. »Früher oder später könnte eine genau in dich reinpfeifen.« »Ich weiß, aber Snow mag nicht überhastet reisen«, sagte er. »Ich dachte, ihr seid auf dem Weg nach Chikago«, erinnerte ich ihn. »Wenn ich nicht völlig die Orientierung verloren habe, dann ist das nicht der Weg nach Chikago.« »Nein, jetzt wollen wir nach Galveston«, sagte Billy. »In der Gegend da unten sind Kräuter und so, die Snow malen will.« Ich war im Begriff, die eine oder andere strenge Bemerkung zu machen, doch bevor ich das konnte, trat Cecily Snow heraus, so schön wie Helena, und bei Kerzenschein aßen wir die deliziösen Perlhühner unter einem hochstehenden Mond. Ich spielte Mahmuds Rolle - stellte den Tisch auf, glättete das Leinen und tranchierte die Hennen. Die Weiterreise des glücklichen Paares wurde von niemandem mehr erwähnt, und danach nahm ich einen Teller mit zu La Tulipe, die auf ihrem Hocker vor der verlassenen Kantine saß und ein leises Lied sang. Als ich ihr das Essen anbot, lächelte La Tulipe nur. 7. In jener Nacht schlief ich schlecht. In einem meiner wachen Augenblicke bemerkte ich, daß ich versäumt hatte, mich nach Bertram zu erkundigen. Er war mir doch sehr ans Herz gewachsen. War er mit Mahmud aufgeknüpft worden, oder steckte er immer noch in seinem Schrank in Winds' Hill? Als Cecily mir einen der Campingstühle ihres Vaters zur Verfügung stellte, stand ich schließlich auf, ging hinaus und saß
den Rest der Nacht darin, an die Mauer meiner Hütte gelehnt, den weißen Mond betrachtend und mich fragend, wann der erste Killer auftauchen würde. Ich fühlte mich ruhelos, unbehaglich, verwirrt, dort an meine Hütte gelehnt; doch dann, im Bruchteil einer Sekunde verstand ich Cecilys Beweggründe - sah es mit jener unglücklichen Klarheit, die beim Schachspiel einen Tick zu spät kommt, nachdem der fatale Zug gemacht worden ist: Sie wollte, daß Billy Isinglass umbrachte. Das war der Grund für das Zelt und ihren Aufenthalt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Cecily nicht vor, nach Chikago und ebensowenig nach Galveston zu gehen; hätte sie wirklich in Betracht gezogen, Winds' Hill für immer zu verlassen, wären vier Maultiere nicht genug gewesen, um ihre Kleider zu transportieren. Ohne Zweifel war Isinglass auf einer seiner ruhelosen Wanderungen gewesen, als sie die Vorbereitungen zum Durchbrennen trafen - sonst hätten Cecily und Billy nicht die Muße gehabt, vier Maultiere zu beladen. Genauso sicher würde der alte Mann bald zurückkehren und ihnen folgen - und er war bekannt für seine Fähigkeit, Meilen zu fressen. Wenn Isinglass zuerst einträfe und Billy ihn tötete, dann wäre Cecily die Erbin der größten Ranch der Welt; denn ohne Frage würden Bloody Feathers oder einer der anderen Billy ausradieren, einen unberechenbaren Killer, der irgendwann zu einer Belastung für eine große Dame werden könnte. Dies war eine zynische Beweisführung, das ist mir klar vielleicht tat ich Cecily unrecht. Möglicherweise hegte sie echte Zuneigung für den Jungen, so wie sie es für ihren Hyrax tat. Doch konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, daß Billy Bone in der Falle war und daß Cecily Snow den Köder mit wissenschaftlicher Sorgfalt gelegt hatte. Billy davon zu überzeugen, daß er sich Sorgen machen sollte, war allerdings nicht so einfach. Am nächsten Tag war er bester Stimmung, es war ein schöner, klarer, sonniger Tag, und die meiste Zeit lagen wir am Pecosufer und sahen Cecily aus einiger Entfernung bei der Arbeit an ihrer Staffelei zu. Sie arbeitete mit ernster Konzentration, pausierte nur dann und
wann gerade so lange, um Billy eines ihrer gewinnenden Lächeln zuzublitzen. »Ich hätte nie gedacht, daß ich jemals soviel Glück haben würde, eine wie Snow kennenzulernen - noch viel weniger mit ihr wegzulaufen«, sagte Billy. Er erwiderte Cecilys Lächeln mit einem schüchternen, jungenhaften Blick. »Billy, die Sache ist nur, daß du noch gar nicht wirklich mit ihr weggelaufen bist«, sagte ich. »Du bist bloß einen Tagesritt von Winds' Hill entfernt. Meinst du, Isinglass setzt sich einfach hin und läßt sie gehen?« »Nein, der alte Wiederkäuer wird auftauchen, das weiß ich«, sagte Billy. »Ich muß ihn nur umbringen. Snow sagt, er will sie heiraten und ihr ein Baby machen.« »Isinglass kannst du vielleicht umbringen, aber was ist mit den anderen?« fragte ich. Billy antwortete nicht - ich glaube nicht, daß er mich richtig verstanden hatte. Er lag flach auf dem Rücken und schaute in den tiefen, klaren Himmel über sich, allem Anschein nach völlig sorglos. Er hätte ein Farmerjunge oder ein Cowboy sein können, der sich von irgendeiner pastoralen Tätigkeit ausruhte; und doch klebten immer noch die Spuren von Des Montaignes Blut am Lauf seines Schrotgewehrs. An jenem Tag versuchte ich noch zweimal, Billy zu warnen, ihn zu der Erkenntnis zu bringen, daß ebenso fähige Killer wie er auf dem Weg hierher waren. Ich versuchte nicht, ihm zu erklären, wie ich Cecilys Plan einschätzte, ihn davon zu überzeugen, daß seine große Flucht etwas mit Eigentum zu tun hatte. Er hätte es nicht verstanden, und wenn doch, dann hätte er es mir nicht geglaubt. Jedesmal, wenn ich vorschlug, er und Cecily sollten sich in Bewegung setzen, sah er nur gelangweilt drein. »Sippy, wirst du nie nach Hause gehen?« fragt er am späten Nachmittag, als Cecily dabei war, ihre Staffelei zusammenzupacken. »Vielleicht, Billy, ich weiß es nicht«, sagte ich. In jenem Augenblick verspürte ich eine tiefe Traurigkeit, sie war schwer zu erklären. Er wollte lediglich, daß ich meinen
Mund hielt; man konnte ihn nicht dazu bringen, über die Zukunft nachzudenken. Später schloß ich, daß dies einer der Gründe war, weshalb Billy so leicht und so gewissenlos tötete: Er hatte keinen Begriff von Zukunft, weder von der eigenen noch von der seiner Opfer. Die Gegenwart verschluckte ihn, wie Jonas vom Wal verschluckt wurde. Wir dinierten vor Lord Snows prachtvollem Zelt, diesmal gab es Hasenpfeffer, den Cecilys Köchin eingepackt hatte. Ich bezweifle, daß Billy jemals zuvor Hasenpfeffer zu essen bekommen hatte. Er schien ihn außerordentlich schmackhaft zu finden. »Also, das ist viel besser als die Karnickel, die Joe immer gebraten hat«, sagte er. Cecily lächelte ihn nachsichtig an, bevor sie mich mit einem königlichen Blick bedachte. »Unser Gentleman aus Philadelphia scheint nicht so zu denken«, sagte sie. »War deines nicht nach Geschmack gepfeffert, Ben?« »Es war ausgezeichnet«, sagte ich. »Ich habe nur wenig Appetit, wenn ich nervös bin.« »Sippy gefällt all dies Blutvergießen nicht - er ist hier bloß hergekommen, um Züge auszurauben«, brachte Billy zu meiner Verteidigung vor. »Ja, mir ist aufgefallen, daß er ein pingeliger Mann ist«, sagte Cecily. »Nicht brutal genug für diese Umstände, fürchte ich.« »Ich bin aber brutal genug, stimmt's?« fragte Billy. Die schneidende Art, in der sie mit mir gesprochen hatte, schien ihn einen Augenblick zweifeln zu lassen. »Ganz gewiß bist du das«, sagte Cecily. »Ich glaube, ich müßte die ganze Welt absuchen, um einen besseren kleinen brutalen Kerl als dich zu finden, Billy. Wie sehr ich mich freue, daß du mein bist.« Ich sagte kein Wort mehr, doch Billy Bone sonnte sich immer noch im Glanz jenes seltsamen Komplimentes, als Cecily ihn zum Zelt führte und die Plane zuzog.
8. Ich war zu nervös, um zu schlafen - zu belastet mit Vorahnungen, zu deprimiert. Die Tulipe saß auf ihrem Hocker vor dem China Pond. Abgesehen von den Liebenden im Zelt, waren sie und ich die letzten Bewohner von Greasy Corners. Als ich zu ihr trat, war sie gerade dabei, Tabak in ihre Pfeife zu stopfen. »Ich kann Billy nicht dazu bringen, die Situation genau zu betrachten«, sagte ich unförmlich. »Red' du mit ihm. Überzeug ihn, daß er gehen muß.« La Tulipe schien halb eingeschlafen zu sein, noch während sich ihre alten Finger mit der Pfeife beschäftigten. Sie sagte kein Wort. »Er ist immer noch ein Kind«, sagte ich. »Er könnte sich ändern.« »Sollen die Würmer ihn ändern«, sagte La Tulipe. »Er hat meinen Mann umgebracht.« Es überraschte mich - als wir Des Montaignes davonschleiften, hatte sie keinerlei Anzeichen einer Gefühlsregung gezeigt. Und doch war sie dem alten Händler durch den Westen gefolgt, vom Columbia River Gorge zum Rio Rojo. Ich nehme an, ich hatte begonnen, sie als eine Art Orakel zu sehen - mir war entfallen, daß auch sie über das Herz einer Frau verfügte. »Heute Nacht kommt der Indianer«, sagte sie. »Old Whiskey kommt auch. Sie kommen alle.« Ich ging zurück zu meinem Stuhl, die Vorahnungen nicht im mindesten gemildert. Ich fragte mich, ob ich es wagen sollte, Billy davon zu unterrichten, was die Tulipe gesagt hatte. Bei Bulwer wäre eine solche Nacht dunkel und unheilschwanger gewesen; Blitze hätten den Himmel zerrissen, möglicherweise wäre der Höllenhund erschienen. Aber diese Nacht war so schön wie keine andere, die ich auf den Plains verbracht hatte. Der Mond war eine Scheibe aus Elfenbein, die Sterne leuchteten, eine sanfte Brise wehte. Einmal hörte ich Cecily im Inneren des Zelts seufzen.
Um Mitternacht kam Billy heraus, sein Hemd hing aus der Hose. Er ging in die Nähe meiner Hütte, um sich zu erleichtern, und sah, daß ich dort saß. Ich glaube, er bemerkte sogar, wie angespannt ich war - es ist vielleicht eines der wenigen Male gewesen, an denen Billy mich wirklich zur Kenntnis nahm. »Kannst du nicht schlafen?« fragte er. »Nein, kann ich nicht, Billy«, sagte ich. »Ich mache mir zu viele Sorgen - ich glaube, du schwebst in höchster Gefahr.« Einen Augenblick lang schien er besorgt. »Dammich, Sippy, dein Leben ist zu hart«, sagte er. »Vielleicht solltest du nach Hause gehen und das verdammte Territorium sich selbst überlassen.« »Ich wünschte, du würdest fliehen, Billy«, sagte ich. »Ich wünschte, du würdest dir jetzt sofort ein Pferd schnappen. Reite nach Osten oder Norden und halt nicht an. Ich bin reich, ich kann dir Geld kabeln, sobald du in Kansas City oder Fort Worth angekommen bist.« Mein Plan schien ihn zu erstaunen. »Weshalb sollte ich Snow verlassen, nur um ein paar Killern aus dem Weg zu gehen«, sagte er. »Ich bin selbst ein erstklassiger Killer - die sollen bloß aufpassen.« Er wollte zurück zum Zelt, doch dann hielt er inne. »Hast du noch welche von diesen Pillen?« fragte er. »Ja, ein paar«, sagte ich. »Hast du Kopfschmerzen?« »Oh, ich nicht, mir geht es gut«, sagte Billy. »Ich dachte, du solltest selbst ein paar essen. Sie könnten dir helfen einzuschlafen.« Dann schlüpfte er zurück in Lord Snows Zelt, und ließ mich auf die sternenerleuchtete Ebene starren. 9. Es gibt ein populäres Buch mit dem Titel Die vier Windrichtungen, geschrieben von einem Zeitungsmann, der seine gesamten Ferien damit verbracht hat, Billys Leben zu recherchieren. Es war seine Freizeitbeschäftigung, alle Pfade, die nach Greasy Corners führten, abzureiten. Von dem Ort
selbst ist natürlich nichts mehr übrig - auch die allerletzte Adobemauer ist abgerissen worden, und die Stücke sind als Souvenirs verkauft worden. Wenn man von der Farbe einmal absieht, dann besteht kein Unterschied zu dem, was sie einem in Griechenland oder Rom zu verkaufen versuchen, wenn man Picknick auf der Akropolis oder im Collosseum machen möchte. Dieser Zeitungsmann hat das bisher längste Buch darüber geschrieben, was sich am nächsten Morgen ereignete: Er hat Isinglass und Tully Roebuck, Katie und Bloody Feathers und den Killer Long Dog Hawkins genommen und ist praktisch von ihrer Geburt bis zu ihrer Ankunft bei jenem Haufen von Bruchbuden am Rio Pecos gefolgt. Jede Ankunft hat er verzeichnet, markiert, wer wo gestanden hatte, und sehr einsichtige Theorien darüber entwickelt, wie jeder einzelne vorgehabt hatte, Billy an jenem Morgen umzubringen. Wie alle anderen Historiker und Sammler stieß er auf die unpassende Tatsache, daß ich dort, keine dreißig Fuß vom Ort entfernt, an dem Billy fiel, im Campingstuhl Lord Snows gesessen hatte. Allerdings war er höflich - er kam mich besuchen und erzählte mir, was sich an jenem Tag ereignete, und als ich Einwände erhob und erklärte, wie es sich wirklich zugetragen hatte, da lächelte er nur und gab sich alle Mühe, meine schlechten Manieren zu übersehen. Ich glaube, ich kann diesen Leuten nicht viel zum Vorwurf machen - den Scholaren und den Gläubigen. Billy war einen schlichten Tod gestorben, und doch werden selbst die schlichtesten Ereignisse im Laufe der Jahre moosig. Wenn die Schüler die simple Sichtweise der Ereignisse von früher akzeptierten, wie sollten ihre untrainierten Hirne je Übung erhalten? Nachdem Billy gegen Mitternacht hineingegangen war, entspannte ich ein wenig. Seine Ruhe hatte auf mich gewirkt. Möglicherweise spekulierte ich einfach zuviel. Isinglass reiste manchmal zu so weit entfernten Orten wie New Orleans - es konnte sein, daß er wochenlang nicht zurückkehrte. Tully Roebuck haßte es, seine blinde Tochter allein zurückzulassen vielleicht würde er gar nicht kommen. Das Gerede über Long Dog Hawkins konnte sich als einfaches Gerücht herausstellen -
und niemand wußte genau, ob der Indianerjunge, den Billy umgebracht hatte, überhaupt zum Stamm von Bloody Feathers gehörte. An Katie Garza verschwendete ich keinen Gedanken - von uns allen liebte Katie Billy am meisten; ich nahm an, sie würde lediglich ihr wundes Herz in San Isidro pflegen. Vielleicht waren alle Sorgen umsonst; vielleicht kam niemand. Billy und Cecily hätten eine geruhsame Reise nach Galveston und würden davonsegeln, um für alle Zeiten glücklich in einem großen, ehrwürdigen Cavendish Haus im grauen Norden zu leben. Vielleicht würde Billy seinen schäbigen Sattel aufgeben und lernen, auf die englische Art zu kantern und zu springen - obwohl ich zugeben mußte, daß das nun wirklich schwer vorzustellen war. Während die Nacht dahinschwand, muß ich gedöst haben, doch es war kein tiefer Schlaf, und das Geräusch eines herbeirasenden Pferdes weckte mich. Billy Bone mußte es ebenfalls gehört haben, denn er humpelte aus dem Zelt, das Gesicht vor Schmerzen verzogen. Er benutzte den Schaft seiner Schrotflinte als Krücke. Es war bereits hell; ich konnte alles klar erkennen. Billys altes Hemd hing ihm offen vom Leib, so, wie er es während der Nacht getragen hatte. Wir hatten nach dem Abendessen den Tisch nicht abgeräumt - ich war kein so gut trainierter Diener wie Mahmud. Die Teller standen immer noch auf dem Tisch, und Cecily hatte einen ihrer feinen Elfenbeinkämme liegenlassen. Billy nahm einen Krümel auf - einen Bissen Käse, glaube ich - und erwartete die Ankunft des herannahenden Reiters mit halbwacher Neugier; er schien alles andere als verängstigt. Dann sah ich, wie die weiße Stute aus dem langen Schatten im Süden herangerast kam - Katie ritt beinahe an mir vorbei, bevor sie ihr Pferd zum Stehen brachte. Die Stute war fleckig vor Schweiß. Ich erinnere mich ganz deutlich daran, wie besorgt sie wirkte, als habe sie Angst, zu spät gekommen zu sein. In ihrer Hand lag ein Revolver. »Oh, dammich«, sagte Billy mit einem verschreckten Blick auf Katie. »Davon kriege ich bestimmt Kopfschmerzen.«
Katie schwang sich von der Stute, ließ die Zügel los und erschoß Billy, bevor er sich bewegen konnte. Er fiel nicht ganz um; er hielt das Gewehr fest und glitt in eine sitzende Position. Katie näherte sich ihm, den Hahn ihres Revolvers gespannt; ich sah, wie sie auf den Elfenbeinkamm auf dem Campingtisch schaute. Auf Billys Brust war ein Blutfleck - nicht besonders groß. »Ich schätze, so kann man Kopfschmerzen auch kurieren«, sagte er, sich immer noch an seine Flinte klammernd. Dann kamen aus allen vier Windrichtungen die Verlierer in dem Rennen um seinen Tod aus ihren Verstecken. Isinglass trat hinter dem Zelt hervor ms Blickfeld, eine Winchester in der Armbeuge. Tully Roebuck tauchte aus dem China Pond auf, in jeder Hand einen Revolver. Bloody Feathers stand oben auf dem alten verrottenden Haufen von Büffelhäuten, an dem Jim Saul und seine Leute ihren letzten Kampf ausgefochten hatten. Und ein kleines Wiesel in dunklem Mantel - es war Long Dog Hawkins - tauchte praktisch direkt neben mir mit einem riesigen Colt in der Hand auf: Er hatte sich hinter meiner eigenen Hütte versteckt. »Also nun, gottverflucht, das ist nicht fair!« beschwerte sich Long Dog Hawkins bei Old Whiskey. »Ich bin den ganzen Weg von Wind River geritten, und diese mexikanische Hure hat mich um mein Kopfgeld betrogen.« Katie hob ihre Waffe und erschoß ihn so kaltblütig, wie sie an jenem Morgen ganz in der Nähe auf der Ebene die Bierflaschen zerschossen hatte. Long Dog fiel zurück, fast neben mich, schlug auf und bewegte sich nicht mehr. In seinem Fall befand sich der Blutfleck in der Mitte der Stirn. »Nun, Long Dog is'n toter Hund, genau wie ich's vorausgesagt habe«, sagte Billy, und auch er schlug flach auf den Rücken. Tully Roebuck kam herüber, die Hähne seiner Waffen immer noch gespannt. Bloody Feathers sprang von den Häuten herunter und gesellte sich zu seinem Vater. Katie kniete neben Billy nieder und beschattete seine Augen mit ihrem Hut, denn am Horizont war die Sonne aufgegangen und schoß ihre starken Strahlen in sein Gesicht. Ich trat zu der Gruppe um den gefallenen Jungen.
»Hi, Tully«, sagte Billy mit schwächerwerdender Stimme. Mit einem leicht schiefen Grinsen sah er Katie an. »Du solltest Tully zugestehen, daß er mich erwischt hat«, sagte er. »Tully muß sich um Politik kümmern.« »Beeil dich und stirb, chapito«, sagte Katie sanftmütig. »Ich bin einen langen Weg geritten, und ich muß dieses Pferd tränken.« Diese Bemerkung machte viel Eindruck auf Billy Bone. »Das ist Mumm, stimmt's, Sippy?« sagte er. »Das ist Mumm«, stimmte ich zu, doch noch bevor ich meine Worte zuende sprechen konnte, hatte Billy ihrer Forderung Folge geleistet. Katie Garza legte ihren Hut auf Billys Gesicht. Dann stand sie auf, brach in Schluchzen aus und warf sich in die Arme ihres Vaters. Tully Roebuck - er hatte Billy wirklich gemocht - weinte ebenfalls, und meine eigenen Augen waren auch nicht trocken. Bloody Feathers hatte ein langes Messer in der Hand. Während Katie an Isinglass' Brust schluchzte, ging er zur Leiche von Long Dog Hawkins hinüber und nahm dessen Skalp - wie manche behaupten, der letzte Skalp, der auf den südlichen Plains genommen wurde. »Ich habe Großmutter einen Skalp für den Jungen, den sie verloren hat, versprochen«, sagte er. »Ich schätze, dieser dreckige Haarbüschel wird so gut sein wie jeder andere.« »Dreiste Jungen finden immer ein böses Ende«, sagte Isinglass und sah auf Billy hinab. Da trat Cecily Snow in einem langen weißen Nachthemd aus dem Zelt. Sie bemerkte ihren Kamm, nahm ihn auf und befestigte ihn in ihrer zerzausten Lockenpracht. Dann lächelte sie Isinglass an. Obwohl ihr Plan fehlgeschlagen hatte - falls es ihr Plan war -, zeigte sie keine Anzeichen der Enttäuschung. »Nun, Willie, hast dir ganz schön Zeit dabei gelassen, hier herzukommen«, sagte sie. »Ich nehme an, es ist dir nicht mehr sonderlich wichtig, was für brutale Kerle mich kidnappen.« Dann ging Cecily hinüber und kniete neben Billy nieder. Die Mundharmonika, die sie ihm geschenkt hatte, steckte immer noch in seiner Hemdtasche; sie zog sie heraus. Dann hob sie kurz Katies Hut und legte ihn zurück über seine Augen.
»Nun, mein kleines Biest ist tot«, bemerkte Cecily und sah mich an. »Die Dinge holen einen ein, oder etwa nicht, Ben?« Ich antwortete nicht, ich war zu geschockt ob der Tatsache, daß ihre Feindseligkeit gegenüber Will Isinglass eindeutig nicht absoluter Natur war. Cecily hob ihre Mundharmonika und begann »Barbara Allen« zu spielen - jene Weise, die sie versucht hatte, Billy beizubringen. Dann begann eine leise Stimme das Lied mitzusingen - es war La Tulipe, die bei ihrem Esel stand. Irgendwo hatte die alte gelbe Frau die englische Weise gelernt. Als ich Cecily das Lied zum ersten Mal hatte spielen hören, war ich völlig zusammengebrochen, ebenso dieses Mal. Es war so traurig anzuhören, oben auf der großen amerikanischen Ebene, mit Billy Bone tot im Staub. Katie Garza riß sich von ihrem Vater los und warf Cecily einen angewiderten Blick zu. Ich erwartete, daß Katie sie erschießen würde, doch griff sie statt dessen nach ihrer müden Stute und führte sie hinab an den Rio Pecos, um sie zu tränken. Bloody Feathers wischte sein Messer ab und folgte ihr zum Fluß hinunter. 10. Isinglass pfiff ein paar Cowboys heran, die sich sogleich daran machten, Lord Snows Zelt abzubauen und es zurück auf das Maultier zu packen. Dann ritten er und Cecily davon, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Bloody Feathers tröstete Katie, so gut er konnte, während Tully Roebuck und ich Billys Grab hinter dem China Pond aushoben. Da die Erde über Des Montaignes immer noch frisch war, entschieden wir uns, wirtschaftlich zu arbeiten, was bedeutete, ihn kurz freizulegen, damit wir den kleinen Körper von Long Dog Hawkins dazupacken konnten. Billy allerdings erhielt sein eigenes Grab. »Ist dir jemals aufgefallen, daß all diese berühmten Revolvermänner nicht größer als eine Bierflasche sind?«
bemerkte Tully, während wir arbeiteten. »Hill Coe war auch klein.« »Ich nehme an, ein kleines Ziel abzugeben, hilft einem in diesem Beruf«, sagte ich. Katie weinte und weinte über Billy, bevor sie uns gestattete, Erde auf ihn zu werfen. »Ich wollte nicht, daß er von jemandem getötet wurde, der ihn nicht liebt«, sagte sie. »Deshalb habe ich mich beeilt. Billy war wie ich - er hatte niemals ein Zuhause.« Selbst in Anbetracht ihres Kummers hielt ich diese Bemerkung für ziemlich unangebracht. »Katie, das ganze Land hier ist dein Zuhause«, sagte ich. Sie antwortete nicht. Ihre Augen waren geschwollen. Sie schnitt einen der Silbernuggets von ihrer Weste und legte ihn auf Billys Brust. »Sei der Himmel dein Bett, chapito«, sagte sie. »Soy el tuyo.« Dann stand sie auf und machte sich auf den Weg zurück nach Mexiko, eine Frau mit einem traurigen, zerrissenen Herzen. Mit ihr ritt Bloody Feathers aus der Stadt; als sie gingen, ging auch La Tulipe, mit Bonaparte über die Ebene in Richtung Colorado humpelnd. 11. Tully Roebuck ritt an jenem Nachmittag zurück nach Lincoln, zu seinem Sheriffsposten und seiner blinden Tochter. Ich zog es in Erwägung, nach Winds' Hill zu reiten, um die Erde von Cecily Snow zu befreien, aber natürlich tat ich nichts dergleichen. Stattdessen trabte ich, durch Leben und Tod gefühllos geworden, hinüber zu dem guten Hotel in Las Cruces und machte mich augenblicklich daran, jenen Groschenroman zu schreiben, von dem ich annahm, er würde meinen Ruhm und mein Einkommen sichern. Ich nannte ihn Billy The Kid; oder, Der Fluch Des Wandernden jungen. Ich erwartete großen Ruhm, aber vermutlich hatte ich zu schnell gehandelt, denn das Buch
verkaufte sich schlecht. Das einzige, was haften blieb, war der Spitzname: Jetzt wo Billy zur Legende geworden ist, zum weißen Stern des Westens, wird nur noch von Billy the Kid geredet - von all den Millionen Phrasen, die ich geschrieben hatte, steuerte ich diese eine zum Sprachgebrauch bei, das Buch ist heute allerdings vergessen, und man hat ihm nie Glauben geschenkt. Ironischerweise erhielten Tully Roebucks dümmliche Memoiren, zwei Jahre nach meinem Roman geschrieben, öffentliche Anerkennung. Es war ein furchtbarer Winter gewesen, Tully hatte all sein Vieh verloren und brauchte ohne Frage Geld, also setzt er sich mit einem der BuntlineSchriftführer hin und schrieb Die Wahren, Authentischen Abenteuer Des Berüchtigten Billy The Kid. Es hatte einen jener reißerischen Umschläge, die auch meine Orson Oxx Geschichten hatten, und verkaufte eine Million Exemplare. Tully wurde so reich, daß er anfing, Rennpferde zu kaufen, doch blieb ihm nur ein Jahr, seine Reichtümer zu genießen, dann kam Brushy Bob Wade und erschoß ihn in der Nähe des Bitter Lake aus dem Hinterhalt, schickte ihn dorthin, wo Billy und Hill Coe und all die anderen sind. Tully borgte sich den Spitznamen, den ich erfunden hatte, doch war ich ihm deshalb nicht böse. Was mich immer noch verwirrt, ist, wie sich ein aufrichtiger Kerl wie Tully Roebuck selbst so zum Narren halten und dabei die gesamte Geschichte so verdrehen konnte. Es stimmt, daß Billy im Sterben Katie darum bat, zu behaupten, Tully hätte ihn getötet - ich nehme jetzt an, daß Billy nicht wollte, daß man glaubte, er sei von einer Frau getötet worden - selbst nicht von einer, die ihn geliebt hatte. Doch das Verwirrendste ist, daß Tully es sich irgendwie selbst einredete, er hätte Billy the Kid getötet. In seinem Büchlein behauptet er, eine Sekunde vor Katie gefeuert zu haben, was Unsinn ist - er war noch im China Pond, als Katie schoß. Ich war dabei, ich weiß es; und doch glauben sie Tully und nicht mir. Was es alles noch unverständlicher macht, ist, daß Tully im wesentlichen ein ehrlicher Mann war; trotzdem
überzeugte er nicht nur sich selbst von einer wilden Lüge, er überzeugte sogar die Öffentlichkeit. Selbstverständlich tauchten noch Jahre später Augenzeugen auf - Cowboys, die zufällig im richtigen Moment an Creasy Corners vorbeigekommen waren und alles von hinter einer der Hütten gesehen hatten, unbemerkt von einem der an jenem Morgen tatsächlich Anwesenden, obwohl alle von uns ein völlig ausreichendes Sehvermögen besaßen und herumlungernde Fremde hätten bemerken müssen. Wegen der unterschiedlichen Darstellungen all dieser »Augenzeugen« - und ebenfalls, weil Zeitungsleute und Historiker eifersüchtig darauf sind, daß Romanautoren Dinge erfinden dürfen und sie nicht, und deshalb anfangen zu dichten, wann immer sie meinen, damit durchzukommen - haben die kurzen, klaren Vorkommnisse an jenem Morgen in Greasy Corners bereits mindestens ein Dutzend Theorien hervorgebracht, und werden ohne Zweifel weitere hervorbringen. Für jeden, der sich an jenem Morgen in der Stadt aufgehalten hatte, ist irgendeine »Autorität« aufgetreten, die behauptete, daß derjenige Billy niederschoß. Einige behaupten, Bloody Feathers habe ihn von den Büffelhäuten herab erschossen und sei dann mit dem Messer lediglich herabgesprungen, um seinen Skalp zu nehmen. Einige behaupten, Isinglass habe ihn von hinter dem Zelt erschossen, oder Cecily durch einen Schlitz im Zelt, oder Long Dog Hawkins von hinter der Hütte. Ein Mann behauptet, La Tulipe habe ihn vergiftet, und der radikale Kerl aus Roswell denkt, ich habe ihn erschossen, weil ich auf seine Gunst bei Cecily eifersüchtig war. Die Tatsache, daß ich fünfzig Mal Gelegenheit hatte, ihn zu erschießen, bevor wir in Greasy Corners eintrafen, war dem Mann nicht in den Sinn gekommen. Doch die meisten der »Augenzeugen« schienen Tullys Darstellung zu favorisieren - man kann sagen, daß dies jetzt die akzeptierte Darstellung ist -, und vielleicht aus demselben Grund, aus dem Billy es vorgezogen hatte, Tully zu seinem offiziellen Mörder zu machen: Niemand wollte zugeben, daß ein mexikanisches Mädchen den größten Outlaw jener Zeit getötet
hatte. Das Getue mit dem Liebestod wird in unserem alten Westen nicht gern gesehen. Es sollte ein Mann sein - es ist tatsächlich so einfach -, obwohl Katie, wild vor Herzschmerz, eine ausgezeichnete Karriere im Töten machte, erst Villa und dann Zapata begleitete, federales niederschoß, wann immer sie in ihren Weg kamen, und schließlich den ganzen Weg südwärts nach Nicaragua jagte, um Revolution zu schüren und Bananenboote der Yankees in die Luft zu jagen. Das gestehen ihr die Bücher selbstverständlich zu; sie gestatten ihr jede Anzahl federales und Bananenboote; nur den weißen Stern des Westens, Billy the Kid, den wollen sie ihr nicht zugestehen. Von La Tulipe hörte man nichts mehr, und von Bloody Feathers, dem großen Jicarilla auch nicht viel; er wurde nie zu einem der Paradeindianer, die kurze Zeit später in Washington so populär waren, obwohl man seine Anwesenheit beim Begräbnis seines Vaters verzeichnete, das sich ein Dutzend Jahre nach Billys Tod zutrug. Will Isinglass und Cecily Snow begaben sich zurück nach Winds' Hill, um ihren ermüdenden, aber, wie ich glaube, nicht völlig ungeliebten Machtkampf wiederaufzunehmen. Cecily stellte die Zeichnungen ihres großartigen Buches fertig, allerdings nicht bevor Isinglass sie zum dritten Mal geschwängert hatte. Dieses Mal ließ er sich keinen Strich durch die Rechnung machen. Er fand die nützlichen, von der alten Comanchenfrau empfohlenen Kräuter und nahm sie an sich; mehr noch, er sperrte Cecily in ihren weitläufigen Gemächern im dritten Stock ein - mehrere Monate wurde ihr das Essen in einem kleinen Aufzug hochgesandt, den Lord Snow vor ungefähr zwanzig Jahren in Auftrag gegeben hatte. Am Ende allerdings schlug Cecily sogar Old Whiskey. Sie hatte die Voraussicht besessen, ein Seil, welches Lord Snow in seiner großen Zeit als Alpinist verwandt hatte, zu verstecken. Kurz bevor das Kind fällig war, glitt sie das Seil hinab und entkam auf ihrem Vollblüter während eines Blizzards. Sie bahnte sich den Weg über eine Route, die die Cowboys Dim Trail nennen und kam bis in die Blue Mounds of Kansas. Selbstverständlich wurde augenblicklich eine Expedition nach
ihr ausgesandt, die Hälfte der Cowboys auf den Plains wurde hinter ihr her gejagt, doch wurde nur ihr Damensattel gefunden. Die meisten Leute glauben heute, daß sie im Blizzard ums Leben kam, doch Tully - es war das letzte Mal, das ich mit ihm sprach, kurz vor seinem eigenen Tod - behauptete, mit einem Whiskey Glass-Cowboy gesprochen zu haben, einem Mitglied der Suchmannschaft, welcher behauptete, auf einen Kojoten gestoßen zu sein, der eine menschliche Nachgeburt durch den Schnee zog. Einige der radikaleren Kerle behaupten, Cecily Snow habe den Blizzard überlebt und es zurück nach England geschafft fürchterlich entstellt und schwer verschleiert, so behaupten einige, obwohl mir das mehr nach Lewis' »Der Mönch« klingt und habe ihr Leben dem langen Rechtsstreit gewidmet, der von Lord Snows Neffen angestrengt worden war und letzten Endes die Whiskey Glass Ranch zerstörte. Zu Cecily selbst kann ich nichts sagen - ich habe mir nicht die Mühe gemacht, die Cavendish oder Montstuart Besitztümer nach ihr zu durchsuchen -, aber es steht fest, daß Will Isinglass, die Geißel der Kiowa und Comanchen, langsam am Marterpfahl des Gesetzes auseinanderfiel - bis schließlich die drei Millionen Hektar, die er einst regiert hatte, auf fünfzigtausend geschrumpft waren. In seinen besten Tagen hätten fünfzigtausend Hektar nicht ausgereicht, um seine remuda zu weiden. Von seinem Tod las ich in einer Pension in Trenton, New Jersey, wo ich eine farblose Romanze mit einem streitsüchtigen und affektierten Hausmädchen hatte, das nicht halb so ansprechend wie Kate Malloy war. Es schien, als habe sich Will Isinglass, zu jenem Zeitpunkt fast hundert Jahre alt, ein Automobil zugelegt - das erste, das in die östlichen Plains von New Mexiko geliefert wurde, wo er seine letzten Tage mit ein wenig Vieh und ein paar Hausbüffeln, die er von Quanah Parker erstanden hatte, verbrachte. Der alte Mann wußte, wie man das Vehikel in Gang brachte, doch wie man es stoppte, davon hatte er nur eine vage Idee; das Auto schätzungsweise die neuen Büffel; irgendwann werden sie die Prärien in gewaltigen Herden bevölkern - brannte mit ihm durch
und segelte in einen der Canyons des Canadian, den großen Mann der Plains unter sich begrabend, als es aufschlug. Man sagt, er habe die Trommel seines Revolvers in den Motor entleert, ein vergeblicher Versuch, das Ding zu töten, als der Wagen über den Abhang ging. Das ehemalige Hausmädchen wurde nur noch streitsüchtiger, als ich schweigend mit der Zeitung in der Hand und Tränen in den Augen dasaß - die ganze Geschichte war nur sechs Zeilen lang - und an den großen, gewalttätigen alten Mann dachte. 12. Natürlich ging ich nach Hause - ritt Rosy nach Denver und nahm den Zug. Philadelphia hatte sich nicht verändert, ebensowenig das Familienleben. Eines Morgens entdeckte mich Dora in meinem Arbeitszimmer, musterte mich flink und sagte: »Du solltest diesen häßlichen Bart trimmen«, dann ging sie wieder ihrem Leben nach. Die Mädchen quiekten ein paarmal »Papa!« und taten das gleiche. Cook war die einzige, die mich fragte, wo ich gewesen sei; als ich ihr erzählte, im Westen, nahm sie an, ich meinte Cincinnati, und sprach eine Stunde lang über eine ihrer Schwestern, die nach Ohio ausgewandert war. »Gott sei Dank ist sie noch nicht skalpiert worden«, sagte Cook und rührt ihren Pudding um. Nun, das häusliche Leben bietet vermutlich überall seine kleinen Ärgernisse. Das schlimmste, womit ich mich herumschlagen mußte, war der unerträgliche Waddy Peacock, Doras Beau, der sich eine Querstraße weiter ein Herrenhaus kaufen mußte, damit er immer zur Hand sein konnte, wenn Dora eine Begleitung brauchte, was häufig der Fall war - ihren Geschmack an Bällen und sozialen Anlässen hatte sie nicht verloren. Nach einigem Nachdenken entschied ich mich dagegen, den Bart zu trimmen. Dora faßte diese Zurückweisung als einen Akt puren Trotzes auf und redete nicht mehr mit mir. Sie übernahm Cooks Ansichten, was meine Reisen anging, und verbreitete,
daß ich mir in Cincinatti Hirnfieber zugezogen habe und nicht länger in der Lage sei, die notwendige Kohärenz aufzubringen, die die Erfüllung meiner Pflichten als Ehemann erforderte jedenfalls wurde mir dies von meinen Clubgenossen hinterbracht. Bald gab ich den Club und die Genossen auf, ebenso Familienleben, Hausmädchen und all das andere, um mich der Kunst zu widmen. Zumindest schien mir, daß ich über echte Erfahrungen verfügte, aus denen ich schöpfen konnte, und ich machte mich daran, die ungehobelten Kritzeleien, die ich auf den Llano gemacht hatte, in Bücher zu verwandeln, die meiner Ansicht nach die Popularität von Sandycraw, Orson Oxx oder selbst Des Butlers Leid übertreffen würden. Wie sollte so reiches und farbenprächtiges Material überhaupt fehlschlagen? Es stimmte, Billy The Kid war gefloppt, doch dies tat ich als Pech ab. Also schloß ich mich in meinem Arbeitszimmer ein und produzierte ein Dutzend Bücher, überzeugt davon, endlich von einfachen Geschichten zu literarischen Werken gelangt zu sein, auf die ich stolz sein konnte. Ich schrieb Skunkwater Flats; oder, Die Verzweifelte Schlacht. Ich polierte Die Stummen Der Mesa ebenso auf wie Die Schwester Des Sangre. Ich schrieb das Ende von Schwarze Bohnen neu, um ihm mehr menschliche Tiefe zu geben. Dann widmete ich mich all jenen lebhaften Charakteren, denen ich auf den Plains begegnet war. Ich schrieb Die Verfehlte Flasche; oder, Hill Coes Entehrung, ich schrieb Der Kaiser Der Llanos über Will Isinglass; Die Orphelia Der Prärien über Cecily, worin ich sogar ihr Verhalten großzügig mit geistiger Umnachtung entschuldigte. Das Mädchen, Das Den Gouverneur überfiel; oder, Jornardo Del Muerto war mein erstes Buch über Katie; später schrieb ich Die Flamme Der Cantinas; oder, Die Schönheit Vom Pecos. Mesty-Woolah lebte wieder auf in Der Neger Vom Nil; oder, Sohn Des Mahdi, und ich schluchzte meinen Weg durch Joe Lovelady; oder, Das Klagelied Des Cowboys. Bis zum heutigen Tag muß ich mich nur an diesen freundlichen, einsamen Mann erinnern, um mich ganz entschieden weinerlich zu fühlen.
Die brutale Tatsache ist allerdings, daß all diese Bücher floppten. Früher einmal hatte ich an der Spitze der Autorenliste bei Beadle und Adams gestanden; ich hatte Des Butlers Leid, den populärsten Groschenroman aller Zeiten geschrieben; doch Herausgeber sind nicht besonders sentimental, und nach acht oder neun Flops wurde deutlich, daß sie nicht länger enthusiastisch auf die von mir mit Regelmäßigkeit abgeschickten Päckchen warteten. Schließlich schickten sie eines zurück - es handelte sich um Die Geliebte Des Trappers; oder, Die Gelbe Hexe -, zusammen mit einer unterkühlten schriftlichen Bemerkung eines jungen Redakteurs, von dem ich noch nie gehört hatte. »Lieber Mr. Sippy« - stand da - »Dieses Zeug über den Wilden Westen tut's nicht mehr. Unsere Leser möchten nun keine Cowboys mehr; was wir wollen, sind Detektive, insbesondere Pinkertons. Falls Sie sich die Mühe machen sollten, uns ein paar Pinkertongeschichten zu senden, würden wir sie augenblicklich begutachten. Wir alle hoffen, Sie zu jener Form zurückkehren zu sehen, die sie hatten, als Sie die großartigen SandycrawGeschichten schrieben.« Ich halte mich nicht für sonderlich empfindsam, aber um genau zu sein, erholte ich mich nie wieder von jenem Brief: Der Stachel war zu spitz gewesen. Niemand verlangte nach meinem Wissen, meiner menschlichen Tiefe - sie wollten bloß meine alten, dümmlichen Helden - oder, wenn das nicht ging, Pinkertons. Ich schrieb nie wieder. So abrupt wie es begonnen hatte, hörte es auf. Wie es so geht, sah Dora gerade besonders gut aus: Nach einigen eher schattigen Jahren schien sie aufzuleuchten, und eine Frau kann so herrlich wie ein Glühwürmchen leuchten. Ich entschied - immerhin war ich mit ihr verheiratet -, meine menschliche Tiefe an Dora auszuprobieren, also streckte ich eine Hand aus, nur um sie mit äußerster Entschlossenheit zur Seite geschlagen zu bekommen; genausowenig wie die Herausgeber wollte Dora mein neues, feineres Ich. »Wenn das deine Einstellung ist, kannst du meinetwegen nach Cincinnati zurückkehren«, sagte sie.
Ich tat ihr sogar noch einen größeren Gefallen und nahm am darauffolgenden Tag den nächsten Zug nach New Mexico. Als Schreiber ebenso unerwünscht wie als Ehemann, schien es keinen Grund zu geben, mich mit dem kleinen, verschwommenen Himmel Pennsylvanias und den zweitklassigen Hausmädchen abzufinden, alle weit entfernt vom schimmernden Ideal der verlorenen Kate Malloy. Ich baute ein prächtiges Haus in Las Cruces und las eine Menge - ich erwarb ein Maultier mit besserer Veranlagung als Rosy. Oft ritt ich auf die Höhe des Passes und blickte hinab in den Ozean der Plains, dann und wann reiste ich nach Hause, um eine meiner Töchter zu verheiraten und mit ein wenig Wehmut jenes liebliche Spätlicht, das Dora nie wieder verlieren sollte, zu bestaunen. Obwohl ich nie wieder einen weiteren Groschen- oder Halbgroschenroman schrieb - ich kam nie über die Tatsache hinweg, daß das Leben einen derartig desaströsen Effekt auf meine kreativen Kräfte gehabt hatte -, kamen die Schecks weiterhin hereingeflattert, von Sandycraw, von Orson Oxx und von Des Butlers Leid. Jetzt zurückblickend scheint es, als habe ich, ohne es zu wissen, mit einer nicht enden wollenden Serie von Abschieden begonnen, als J. H. Chittim an jenem Morgen tot auf dem Gehsteig zusammenbrach. Abschied von Chittim, und Cook, Dora und meinen Mädchen, Abschied von der einnehmenden Kate Malloy - wie ich mir wünschte, sie geküßt zu haben. Von da an hieß es lebewohl an jeden: die Büffeljäger und die Büffel, an Hill Coe und Happy Jack und all die anderen Sweethearts von Greasy Corners; La Tulipe und Des Montaignes; an Viv Maldonado und Barbecue Campbell; an Schwester Blandina; an Estevan und die Stummen der Mesa; an Los Guajolotes und ihre gerissene Anführerin Katerina Garza, an Bertram und Mahmud und Mesty-Woolah; an Bloody Feathers und Isinglass und meine liebliche Cecily Snow, deren Zunge so anspruchsvoll war wie ihre Zeichenkunst; an Joe Lovelady und unseren ungehobelten Freund, Billy Bone. Jetzt heißt es sogar Abschied nehmen von den Worten, schätze ich, weil ich sie nicht mehr sehen und lesen kann und
auch nicht mehr schreiben will. Natürlich war ich nie einer der großen Helden der Sprache, so wie Mr. Dickens oder der Poet Longfellow oder W. D. Howells - das war ein Mann, der etwas von Yankees verstand-, aber auf meine Art liebte ich Worte von dem Augenblick an, in dem ich Hurricane Neu, Königin Des Sattels Und Des Lassos in die Hände bekommen hatte, und versuchte mein Bestes mit ihnen. Ich weiß nicht, was aus der alten Sprache jetzt werden soll. Dank eines merkwürdigen Ereignisses hatte ich selbst ein wenig zu ihrer Popularisierung beigetragen. Als ich einmal in Trenton war - vermutlich zu der Zeit, als ich von Isinglass' Tod erfuhr -, trank ich zufällig mit einem Bekannten namens Eddie Porter in einer Taverne. Ich erzählte Eddie von meinem komischen Versagen als Zugräuber, was ihn vor Lachen fast zum Platzen brachte. Je ausführlicher ich ihm darlegte, wie schwer es eigentlich war, einen Zug zum Anhalten zu bringen, damit man ihn ausrauben konnte, desto mehr lachte er. Und ich glaube, es war tatsächlich ein grotesker Gedanke, daß ich irgendetwas ausrauben sollte; doch auf der anderen Seite verfolgten Cowboys und Indianer oft diese Züge nur aus Zeitvertreib, und etwas anderes habe ich in Wirklichkeit auch nicht getan. Ich weiß nicht, was gewesen wäre, wenn einer gehalten hätte: Vermutlich hätte ich eine Fahrkarte nach Hause erstanden. Eddie Porter arbeitete als Kameratechniker für den alten Edison. Als nächstes erfuhr ich, daß er einen Zug gemietet hatte, dazu ein paar Pferde und Cowboykostüme - das war oben in Hast Rutherford, New Jersey - und die Gesellschaft davon überzeugt hatte, einen Kinofilm über meine Abenteuer zu machen. Sie nannten ihn Der Große Zugüberfall. Das Ding war ein Erfolg, und brachte vermutlich mehr Geld ein als Des Butlers Leid. Eddie lud mich zur Vorführung ein, und selbstverständlich nahm ich an. Die Handlung wurde derartig schnell vorangetrieben, daß meine Augen bei dem Versuch zu folgen ein wenig tränten, aber ich merkte, daß meine Geschichten ihn inspiriert hatten. Seine Banditen kriegten den Zug natürlich zum
Halten, was mehr ist, als mir je gelang - die Zuschauer jubelten, als sie gefaßt wurden, als sei alles Wirklichkeit. Genau da habe ich mir gedacht, daß dies auch der Abschied von Groschenroman war: Denn wer würde nicht lieber in einem Vaudevillehaus sitzen, ein Sandwich verspeisen und die ganze Geschichte wie einen Traum vorbeifliegen sehen und danach vielleicht noch ein kurzes burlesques Stück anschauen, als sich die Augen an einem gedruckten Buch zu verderben? Nicht lange danach war ich zufällig in Denver, und wem sollte ich sonst über den Weg laufen als dem alten Whiskey Glass Cowboy Dewey Sharp - einer von denen, die die Voraussicht besessen hatten, Greasy Corners genau ein paar Stunden vor Billy Bones Tod zu verlassen. Aber Dewey war ebenso töricht wie Tully Roebuck; er behauptete steif und fest, daß er Greasy Corners gar nicht verlassen habe; er habe sich von Waco Charlie und den anderen getrennt, sich in einem Planwagen betrunken und sei gerade rechtzeitig aufgewacht, um Zeuge der Schießerei zu werden. Ich stritt mich nicht allzu heftig; zu jenem Zeitpunkt war die Hälfte der Oldtimer des Westens davon überzeugt, daß sie am Tage von Billy Bones Tod in Greasy Corners gewesen waren. Die Sache mit Dewey war, daß er nun endlich bereit war, seine langerwartete Reise nach Kalifornien anzutreten. Er war einem Mann aus dem Filmgeschäft über den Weg gelaufen jene waren so häufig anzutreffen wie einst die Büffeljäger - und hatte ihn voll mit Geschichten über Greasy Corners gestopft, alle handelten vom jungen Galahad, Billy the Kid. Der Mann war Feuer und Flamme und verlangte von Dewey, sich direkt nach Hollywood, Kalifornien zu begeben, damit er einen Kinofilm darüber machen könnte. »Komm mit mir, Sippy - du weißt mehr über die ganze Sache als ich«, sagte Dewey. Dies war ein ungewöhnlich großzügiges Zugeständnis, dachte ich. Da ich anderweitig kaum zu tun hatte, begleitete ich Dewey und sah meine ersten Palmen, seit Dora und ich den Nil bereist hatten. Der Filmmensch war Fan meiner Sandycrawgeschichten und heuerte mich auf der Stelle, um das
Szenario für Deweys Geschichten zu schreiben. Alles, was Dewey zu tun hatte, war mit den Pferden herumzurangeln - dies ärgerte ihn sehr; wir nannten den Film Die Sweethearts Von Greasy Corners, und er erwies sich als der größte Erfolg des Jahres 1908. Ich besaß inzwischen eine bessere Brille, und ich konnte gut sehen. Ich weiß nicht, woher sie diesen kleinen Schauspieler hatten, der Billy spielte, aber in meinen Augen war er nicht nur gut, er war zu gut. Ich weinte alle fünfundzwanzig Mal, die ich den Film sah: Er erinnerte mich an all meine schweren Abschiede, und an meinen mordenden Freund, den wandernden Jungen selbst, Billy Bone, den weißen Stern des Westens, dessen Staub nun eins ist mit den Milliarden und Abermilliarden Partikeln, aus denen die alten Plains bestehen. - Larry McMurtry -